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Full text of "Sämtliche Romane und Novellen;"

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in 2011 with funding from 
University of Toronto 


http://www.archive.org/details/smtlicheromaneunO06dost 


F. M. Doſtojewſki 
Saͤmtliche Romane und Novellen 
Sechſter Band 


724 & N Bm С 


Ein Нее Held 
Onkelchens Traum 


* 
Zwei Novellen 


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F. M. Doſtojewſki 


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5 4084 

75 übertragen von H. Roh! 12 
Im Inſel-Verlag zu Leipzig / 1922 

7 


3 $ unbekannten Memoiren) 15 


N 1 


ch war damals noch nicht ganz elf Jahre alt. Im Juli 
J wurde ich nach einem in der Naͤhe von Moskau gelegenen 
Gute zum Beſuche bei einem Verwandten von mir, Herrn 
T'*xw, geſchickt, bei dem zu jener Zeit etwa fuͤnfzig Gaͤſte ver— 
ſammelt waren; vielleicht waren es auch noch mehr, ich erinnere 
mich nicht, gezaͤhlt habe ich ſie nicht. Es ging laͤrmend und luſtig 
her. Es machte den Eindruck, als wuͤrde ein Feſt gefeiert, das 
dort begonnen haͤtte, um niemals zu enden. Unſer Wirt hatte ſich, 
wie es ſchien, vorgenommen, ſein ganzes rieſiges Vermoͤgen ſo 
ſchnell wie moͤglich alle zu machen, und es iſt ihm auch vor kurzem 
gelungen, dieſe Vermutung zu beſtaͤtigen, das heißt alles, aber 
auch abſolut alles, bis auf die letzte Kopeke durchzubringen. Alle 
Augenblicke kamen neue Gaͤſte angefahren; Moskau war ja nur 
einen Katzenſprung weit entfernt; ſo machten denn die Weg— 
fahrenden nur anderen Gaͤſten Platz, und das Feſt nahm ſeinen 
Fortgang. Eine Beluſtigung loͤſte die andere ab, und von den 
Amuͤſements war kein Ende abzuſehen. Bald wurden in ganzen 
Trupps Spazierritte in der Umgegend unternommen, bald 
Spaziergaͤnge im Tannenwalde oder Kahnfahrten auf dem 
Fluſſe; es wurden Picknicks und Diners auf freiem Felde und 
Soupers auf der großen Terraſſe am Hauſe veranſtaltet. Dieſe 
Terraſſe war ringsum mit drei Reihen koſtbarer Blumen beſetzt, 
die die friſche Nachtluft mit ihren Duͤften erfuͤllten; dazu kam 
eine ſtrahlende Beleuchtung, die unſere Damen, welche auch 
ohnedies faſt ſaͤmtlich huͤbſch waren, noch reizender erſcheinen 
ließ mit ihren von den Erlebniſſen des Tages freudig erregten 
Geſichtern, mit ihren blitzenden Augen, mit dem Kreuzfeuer 
ihrer mutwilligen, von glockenhellem Lachen fortwaͤhrend unter— 
brochenen Reden. Da wurde getanzt, muſiziert und geſungen; 
und wenn der Himmel ein finſteres Geſicht machte, wurden 
LXXV. 1 


8 Ein Heiner Held 


lebende Bilder geftellt und Scharaden und Sprichwörter aufge: 
führt; auch Theater wurde im Haufe geſpielt. Es fanden fich 
geiſtvolle Koͤpfe, die huͤbſche Reden, Erzaͤhlungen und Bonmots 
zum beſten gaben. 

Einige Perſonen ſtanden, ſich von den andern ſcharf ab— 
hebend, im Vordergrunde. Natuͤrlich war auch uͤble Nachrede 
und Klatſcherei im Gange, da ohne ſolche die Welt nun einmal 
nicht beſtehen kann und Millionen von Menſchen vor Langerweile 
wie die Fliegen ſterben wuͤrden. Aber da ich erſt elf Jahre alt 
war, ſo bemerkte ich damals, von ganz anderen Dingen in An— 
ſpruch genommen, dieſe Perſonen gar nicht, und ſelbſt wenn ich 
etwas bemerkte, ſo bemerkte ich doch nicht alles. Erſt ſpaͤter 
erinnerte ich mich an einiges. Bei meinem kindlichen Alter konnte 
mir nur die glaͤnzende Seite des Bildes in die Augen fallen, und 
dieſer allgemeine Rauſch, Glanz und Laͤrm, dieſes ganze Trei⸗ 
ben, wie ich es bis dahin nie geſehen oder gehoͤrt hatte, machte 
auf mich einen ſo ſtarken Eindruck, daß ich in den erſten Tagen 
vollſtaͤndig die Faſſung verlor und mein kleiner Kopf ganz 
wirblig wurde. 

Aber ich rede immer von meinen elf Jahren, und allerdings, 
ich war noch ein Kind, nicht mehr als ein Kind. Viele dieſer 
ſchoͤnen Frauen liebkoſten mich, ohne ſich uͤber mein Lebensalter 
Gedanken zu machen. Aber ſeltſam: ein mir ſelbſt unverſtaͤnd— 
liches Gefuͤhl hatte ſich meiner bereits bemaͤchtigt, und es regte 
ſich in meinem Herzen ſchon eine mir bisher unbekannte Emp— 
findung, von der mein Herz manchmal zu brennen und, wie er— 
ſchrocken, heftig zu ſchlagen begann und mein Geſicht ſich oft mit 
einer ploͤtzlichen Nöte uͤberzog. Mitunter ſchaͤmte ich mich ge— 
wiſſermaßen und fuͤhlte mich ordentlich gekraͤnkt dadurch, daß 
man mir als einem Kinde allerlei Privilegien einraͤumte. Ein 


Ein kleiner Held 9 


andermal ergriff mich eine Art von Staunen, und ich ging 
irgendwohin, wo mich niemand ſehen konnte, gleichſam um 
Atem zu holen und mich auf etwas zu beſinnen, was ich, wie mir 
ſchien, bis dahin ſehr gut im Gedaͤchtniſſe gehabt und jetzt auf 
einmal vergeſſen hatte, woran ich mich aber notwendig erinnern 
mußte, weil ich mich ſonſt nirgends zeigen und uͤberhaupt nicht 
exiſtieren konnte. 

Und endlich ſchien es mir auch manchmal, als ob ich etwas vor 
aller Augen verbaͤrge und um keinen Preis zu jemandem etwas 
davon ſagen wuͤrde, weil ich kleiner Knabe mich daruͤber bis zu 
Traͤnen haͤtte ſchaͤmen muͤſſen. Bald kam es dahin, daß ich mitten 
in dem Wirbel, der mich umgab, mich gewiſſermaßen vereinſamt 
fuͤhlte. Es waren zwar auch andere Kinder da; aber dieſe waren 
ſaͤmtlich entweder ſehr viel jünger oder ſehr viel Alter als ich; 
uͤbrigens fuͤhlte ich mich auch nicht zu ihnen hingezogen. Aller— 
dings haͤtte ſich mit mir auch nichts zugetragen, wenn ich mich nicht 
in einer iſolierten Stellung befunden haͤtte. In den Augen aller 
dieſer ſchoͤnen Damen war ich immer noch ein kleines, unent— 
wickeltes Weſen, das zu liebkoſen ihnen manchmal Vergnuͤgen 
machte, und mit dem ſie wie mit einer kleinen Puppe ſpielen 
konnten. Beſonders eine von ihnen, eine entzuͤckende Blondine 
mit ſo uͤppigem, dichtem Haar, wie ich es nachher nie wieder ge— 
ſehen habe und wahrſcheinlich nie wieder zu ſehen bekommen 
werde, hatte ſich, wie es ſchien, vorgenommen, mir keine Ruhe 
zu goͤnnen. Das um uns herum erſchallende Gelaͤchter, welches 
ſie alle Augenblicke durch die ausgelaſſenen, mutwilligen Streiche 
hervorrief, die ſie mit mir angab, ſetzte mich in Verwirrung und 
erheiterte ſie; dieſes Treiben bereitete ihr offenbar ein rieſiges 
Vergnuͤgen. In einem Penſionate haͤtte ſie unter ihren Freun— 
dinnen gewiß den Beinamen „die Range“ bekommen. Sie war 


10 Ein kleiner Held 
wunderbar ſchoͤn, und es lag in ihrer Schoͤnheit etwas, was 


einem gleich beim erſten Blick in die Augen ſprang. Allerdings 
hatte fie keine Ahnlichkeit mit jenen kleinen, ſchuͤchternen Blon⸗ 


dinen, die ſo weiß ſind wie Flaumfedern und ſo ſanft wie weiße 
Maͤuschen oder Paſtorentoͤchter. Sie war von kleiner Statur 
und ein wenig voll, aber mit zarten, feinen, wundervoll де: 
zeichneten Geſichtszuͤgen. In dieſem Geſichte leuchtete es manch⸗ 
mal blitzartig auf, und in ihrem ganzen Weſen hatte ſie mit dem 
Feuer Ahnlichkeit: ſo lebhaft, ſchnell und leicht war ſie. Aus 
ihren großen, weit geoͤffneten Augen ſchienen Funken zu ſpruͤhen; 
dieſe Augen blitzten wie Diamanten, und niemals wuͤrde ich 
ſolche blauen funkenſpruͤhenden Augen hingeben, um irgend— 
welche ſchwarzen dafuͤr einzutauſchen, ſelbſt wenn ſie ſchwaͤrzer 
wären als die ſchwaͤrzeſten Augen, die man bei den Andalufies 
rinnen findet; ja, meine Blondine gab wahrlich jener beruͤhmten 
Bruͤnette nichts nach, die ein bekannter, vortrefflicher Dichter 
beſungen hat, der in ſo herrlichen Verſen vor ganz Kaſtilien 
geſchworen hat, er ſei bereit, ſich den Hals zu brechen, wenn 
ihm erlaubt würde, auch nur mit einer Fingerſpitze die Man: 
tille ſeiner Schoͤnen zu beruͤhren. Man nehme noch hinzu, 
daß meine Schoͤne die luſtigſte von allen Schoͤnen der Welt, 
von einer ausgelaſſenen Lachluſt und mutwillig wie ein Kind 
war, und das alles, trotzdem ſie ſchon ſeit fuͤnf Jahren einen 
Mann hatte. Das Lachen wich nie von ihren Lippen, die friſch 
waren wie eine Roſe am Morgen, welche ſoeben beim erſten 


Sonnenſtrahle ihren purpurroten, duftenden Kelch erſchloſſen 


hat, an dem die kalten, dicken Tautropfen noch nicht weg— 
getrocknet ſind. 

Ich erinnere mich, daß am Tage nach meiner Ankunft eine 
Theaterauffuͤhrung im Haufe ftattfand. Der Saal war gedrängt 


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Ein kleiner Held | 11 


voll; kein einziger freier Platz war vorhanden, und da ich mich 
aus irgendwelchem Grunde verſpaͤtet hatte, ſo ſah ich mich ge— 
noͤtigt, die Vorſtellung ſtehend zu genießen. Aber das luſtige 
Spiel zog mich immer mehr nach vorn, und ich arbeitete mich ип: 
vermerkt zu den vorderſten Reihen hindurch, wo ich endlich ſtehen 


blieb, mich mit den Armen auf die Lehne eines Seſſels ſtuͤtzend, 


auf dem eine Dame ſaß. Es war meine Blondine; aber wir 
kannten uns noch nicht. Und da verſenkte ich mich von ungefaͤhr 
in die Betrachtung ihrer wundervoll gerundeten, verfuͤhreriſchen 
Schultern, welche voll und weiß wie Milchſchaum waren, ob— 
gleich es mir im Grunde ganz gleich war, was ich betrachtete: 
ein Paar wundervolle Frauenſchultern oder die mit feuerroten 
Bändern verzierte Haube, die das graue Haar einer wuͤrdigen 
Matrone in der erſten Reihe bedeckte. Neben der Blondine ſaß 
eine alte Jungfer, eine von denen, die, wie ich ſpaͤter Gelegen— 
heit gehabt habe zu beobachten, ſich immer gern in moͤglichſter 
Naͤhe junger, huͤbſcher Frauen halten, wobei ſie ſich ſolche aus— 
ſuchen, die die junge Maͤnnerwelt nicht von ſich ſcheuchen. Indes 
handelt es ſich jetzt nicht darum; aber kaum hatte dieſe alte Jung: 
fer bemerkt, worauf meine Augen gerichtet waren, als ſie ſich 
zu ihrer Nachbarin hinbeugte und ihr kichernd etwas ins Ohr 
fluͤſterte. Die Nachbarin wendete ſich auf einmal um, und ich 
erinnere mich noch ganz deutlich: ihre feurigen Augen blitzten 
mich im Halbdunkel dermaßen an, daß ich, auf dieſe Begegnung 
nicht vorbereitet, zuſammenfuhr, als ob ich mich verbrannt haͤtte. 
Die ſchoͤne Frau laͤchelte. 

„Gefaͤllt Ihnen das Stuͤck, das geſpielt wird?“ fragte fie, in— 
dem ſie mir ſchelmiſch und ſpoͤttiſch in die Augen ſah. 

„Ja,“ antwortete ich und blickte ſie dabei immer noch mit 
einer Bewunderung an, die ihr offenbar gefiel. 


12 Ein Heiner Held 


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„Aber warum ftehen Sie denn? Sie werden müde werden; 
haben Sie denn keinen Sitzplatz?“ 

„Das iſt es ja eben, daß keiner da iſt,“ erwiderte ich, in dieſem 
Augenblicke mehr mit meiner Sorge als mit den funkenſpruͤhen⸗ 
den Blicken der ſchoͤnen Frau beſchaͤftigt und aufrichtig Darüber 
erfreut, daß ich endlich ein gutes Herz gefunden hatte, dem ich 
meinen Kummer mitteilen konnte. „Ich habe ſchon geſucht; 
aber alle Stuͤhle ſind beſetzt,“ fuͤgte ich hinzu, als wenn ich ihr 
mein Leid klagen wollte, daß alle Stühle beſetzt ſeien. 

„Komm hierher,“ ſagte ſie ſchnell; denn ſie war raſch in der 
Ausführung jeder tollen Idee, die in ihrem mutwilligen Kopfe 
aufblitzte. „Komm hierher, zu mir, und ſetze dich auf meinen 
Schoß.“ 

„Auf Ihren Schoß?“ erwiderte ich ganz betroffen. 

Ich habe ſchon geſagt, daß ich mich uͤber meine Privilegien 
ernſtlich zu ärgern und zu ſchaͤmen anfing. Dieſe Blondine aber 
trieb es damit zum Spaß und Spott doch gar zu arg. Zudem 
begann ich, der ich ohnehin ſchon immer ein ſchuͤchterner, ver: 
ſchaͤmter Knabe geweſen war, mich zu jener Zeit ganz beſonders 
vor Frauen zu genieren, und daher wurde ich furchtbar ver— 
legen. 

„Nun ja, auf meinen Schoß! Warum willſt du nicht auf тей 
nem Schoße ſitzen?“ antwortete fie, auf ihrer Einladung Ве: 
harrend, und kicherte immer ſtaͤrker und ftärfer, fo daß ſchließlich 
ein lautes Gelächter daraus wurde; weiß der Himmel, worüber 
fie eigentlich lachte, vielleicht über ihren eigenen Einfall oder 
vor Freude daruͤber, daß ich ſo verlegen geworden war. Aber 
eben das hatte ſie gewollt. 

Ich erroͤtete und ſah mich in meiner Verwirrung rings um, 
wohin ich mich wohl davonmachen koͤnnte; aber ſie kam mir zu— 


Ein Eleiner Held 13 


vor, indem ſie flink meine Hand ergriff, eben zu dem Zwecke, 
damit ich nicht davonginge, ſie zu ſich hinzog und ſie, fuͤr mich 
ganz unerwartet, zu meinem groͤßten Erſtaunen ſchmerzhaft in 
ihren mutwilligen, heißen Fingerchen druͤckte; ſie quetſchte mir 
die Finger ſo heftig zuſammen, daß ich alle Anſtrengungen 
machen mußte, um nicht aufzuſchreien, und dabei die komiſchſten 
Grimaſſen ſchnitt. Außerdem war ich im hoͤchſten Grade ver— 
wundert, erſtaunt, ja erſchrocken zu ſehen, daß es ſolche komiſchen, 
boshaften Damen gibt, die mit Knaben ſolche Torheiten reden 
und ſie dabei, Gott weiß weshalb, ſo ſchmerzhaft kneifen, noch 
dazu in aller Leute Gegenwart. Wahrſcheinlich ſpiegelte ſich auf 
meinem ungluͤcklichen Geſichte mein ganzes verſtaͤndnisloſes Er— 
ſtaunen wieder; denn die Schelmin lachte mich unverhohlen an 
wie eine Verruͤckte und kniff und quetſchte unterdeſſen meine 
armen Finger immer ſtaͤrker und ſtaͤrker. Sie war außer ſich vor 
Entzuͤcken, daß es ihr gelungen war, einen ſolchen Streich aus— 
zufuͤhren und einen armen Jungen verlegen zu machen und in 
ſo arge Not zu bringen. Meine Lage war eine verzweifelte. 
Erſtens brannte ich vor Scham, weil faſt alle um uns herum ſich 
zu uns hinwandten, die einen verwundert, die andern, welche 
ſogleich merkten, daß die Schoͤne irgendwelchen Unfug trieb, 
lachend. Außerdem hatte ich die groͤßte Luſt, aufzuſchreien, weil 
ſie meine Finger gerade in der Abſicht, mich zum Schreien zu 
bringen, auf das grauſamſte mißhandelte; aber ich nahm mir 
wie ein Spartaner vor, den Schmerz auszuhalten; denn ich 
fuͤrchtete durch einen Schrei einen Aufruhr hervorzurufen, und 
was waͤre dann aus mir geworden! In einem Anfalle voͤlliger 
Verzweiflung begann ich endlich einen Kampf und bemuͤhte mich 
aus aller Kraft, meine Hand an mich zu ziehen; aber meine 
Tyrannin war weit ſtaͤrker als ich. Zuletzt konnte ich es nicht 


14 Ein kleiner Held 


mehr ertragen und ſchrie auf; darauf hatte ſie nur gewartet! 
Augenblicklich ließ ſie mich los und wandte ſich von mir ab, als 
ob nichts geſchehen waͤre, oder als ob nicht ſie, ſondern irgendein 
anderer einen tollen Streich begangen haͤtte, akkurat wie ein 
Schulknabe, der, ſobald der Lehrer ſich umgedreht hat, flink 
einem ſeiner Nachbarn einen Poſſen ſpielt, etwa einen kleinen, 
ſchwaͤchlichen Jungen kneift, ihm ein paar Naſenſtuͤber oder бий: 
tritte verſetzt, ihm den Ellbogen auf den Tiſch ftößt, und ſich fos 
fort wieder wegwendet, ſich ordentlich hinſetzt, die Naſe ins Buch 
ſteckt, ſeine Aufgabe zu lernen anfaͤngt und auf dieſe Weiſe den 
erzuͤrnten Herrn Lehrer, der auf den Laͤrm hin wie ein Habicht 
herbeigeſtuͤrzt kommt, in Ratloſigkeit verſetzt, ſo daß er mit langer 
Naſe wieder abziehen muß. 

Aber zu meinem Gluͤcke war die allgemeine Aufmerkſamkeit 
in dieſem Augenblicke durch das meiſterhafte Spiel unſeres 
Wirtes gefeſſelt, der in dem aufgefuͤhrten Stuͤcke, einem Scribe⸗ 
ſchen Luſtſpiel, die Hauptrolle übernommen hatte. Alle klatſch⸗ 
ten Beifall; waͤhrend des Laͤrms glitt ich aus den Stuhlreihen 
hinaus und lief ganz an das Ende des Saales, in die entgegen⸗ 
geſetzte Ecke, von wo ich, hinter einer Säule verborgen, angſt⸗ 
voll dahin zuruͤckblickte, wo die hinterliſtige Schoͤne ſaß. Sie 
lachte immer noch, indem ſie ihre Lippen mit dem Taſchentuche 
bedeckte. Und noch lange drehte ſie ſich um und ſuchte in allen 
Ecken nach mir mit den Augen; wahrſcheinlich tat es ihr ſehr 
leid, daß unſer unſinniger Kampf ſo ſchnell ein Ende gefunden 
hatte, und ſie uͤberlegte nun, wie ſie noch etwas Tolles angeben 
koͤnne. 

Damit hatte unſere Bekanntſchaft begonnen, und ſeit dieſem 
Abend wich ſie nicht mehr von meiner Seite. Sie verfolgte mich 
in einer ganz maßloſen, gewiſſenloſen Weiſe und wurde mein 


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1 


Ein Heiner Held 15 


Plagegeiſt, meine Tyrannin. Die ganze Komik ihres Verhaltens 
zu mir beſtand darin, daß ſie tat, als ſei ſie bis uͤber die Ohren 
in mich verliebt, und mich vor allen Leuten blamierte. Natuͤr⸗ 
lich war mir, einem bloͤden, ſcheuen Jungen, das alles ſo pein— 
lich und aͤrgerlich, daß ich faſt weinte; ja, manchmal war meine 
Lage ſo ernſt und kritiſch, daß ich nahe daran war, mich mit 
meiner heimtuͤckiſchen Verehrerin zu pruͤgeln. Meine naive Ver: 
legenheit, mein verzweifelter Kummer munterten ſie, wie es 
ſchien, dazu auf, ihre Verfolgungen immer weiter fortzuſetzen. 
Sie kannte kein Erbarmen, und ich wußte nicht, wo ich vor ihr 
bleiben ſollte. Das um uns herum ertoͤnende Gelaͤchter, welches 
ſie ſo geſchickt hervorzurufen verſtand, ſpornte ſie nur noch zu 
neuen Streichen an. Aber ihre Scherze gingen ſchließlich denn 
doch etwas gar zu weit. Wie ich mich jetzt erinnere, erlaubte ſie 
ſich mit einem ſolchen Kinde, wie ich es war, wirklich gar zu viel. 

Aber das lag nun einmal in ihrem Charakter; ſie war eben 
ein verwoͤhntes Weſen, wie es im Buche ſteht. Ich habe ſpaͤter 
gehoͤrt, daß ihr eigener Mann derjenige war, der ſie am meiſten 
verwoͤhnte, ein ſehr dicker Herr von ſehr kleiner Statur, mit ſehr 
rotem Geſichte, ſehr reich und ſehr geſchaͤftstuͤchtig; wenigſtens 
machte er dieſen Eindruck: bei ſeiner Beweglichkeit und Ge— 
ſchaͤftigkeit konnte er nicht zwei Stunden lang an einem Orte 
bleiben. Täglich fuhr er von uns nach Moskau, mitunter zwei⸗ 
mal, und immer, wie er ſelbſt verſicherte, in geſchaͤftlichen Эт: 
gelegenheiten. Etwas Luſtigeres und Gutmuͤtigeres als dieſe 
komiſche und dabei doch immer wohlanſtaͤndige Phyſiognomie 
wäre ſchwer zu finden geweſen. Er liebte feine Frau nicht nur 
dermaßen, daß es ſchon eine Schwaͤche zu nennen war, ſondern 
betete ſie geradezu wie einen Abgott an. 

Er legte ihr in keiner Hinſicht irgendwelche Beſchraͤnkungen 


16 Ein kleiner Held 


auf. Sie hatte eine Menge Freunde und Freundinnen. Erftens 
gab es wenige Leute, die fie nicht liebten, und zweitens war fie 
bei ihrem Leichtſinn ſelbſt nicht beſonders bedenklich in der Aus— 
wahl ihrer Freunde, obgleich ihr Charakter im Grunde ein viel 
ernſterer war, als man es nach dem von mir jetzt Erzaͤhlten 
vielleicht annimmt. Aber von allen ihren Freundinnen war ihr 
die liebſte und werteſte eine junge Frau, die mit ihr entfernt 
verwandt war und jetzt ebenfalls zu unſerer Geſellſchaft gehoͤrte. 
Es beſtand zwiſchen ihnen ein zartes, feines Verhaͤltnis, eines 
jener Verhaͤltniſſe, wie ſie ſich manchmal bei der Begegnung 
zweier Charaktere herausbilden, die oft einander völlig entgegen 
geſetzt ſind, von denen aber der eine ernſter, tiefer und reiner iſt 
als der andere, waͤhrend dieſer im Gefuͤhl der ganzen moraliſchen 
Überlegenheit des erſteren ſich ihm mit groͤßter Demut und edler 
Selbſterkenntnis willig unterordnet und die Freundſchaft mit 
ihm im Herzen als ein Gluͤck empfindet. Dann aber beginnen 
jene zarten, edlen, feinen Wechſelbeziehungen ſolcher Charaktere: 
Liebe und Nachſicht auf der einen Seite, Liebe und Hochſchaͤtzung 
auf der andern, eine Hochſchaͤtzung, die bis zu einer Art von 
Furcht und Angſt geht, man koͤnne in den Augen deſſen, den 
man ſo hoch ſchaͤtzt, gar zu viel verlieren, und die den eifer— 
ſuͤchtigen, heißen Wunſch hervorruft, mit jedem Schritte im 
Leben dem Herzen des andern immer naͤher und naͤher zu 
kommen. Die beiden Freundinnen ſtanden im gleichen Lebens⸗ 
alter; aber zwiſchen ihnen beſtand ein unermeßlicher Unterſchied 
in allen Dingen, von der Art der Schoͤnheit angefangen. Frau 
M++* war ebenfalls ſehr ſchoͤn; aber in ihrer Schönheit lag 
etwas Beſonderes, wodurch fie ſich ſcharf aus der Menge von 
huͤbſchen Frauen abhob; in ihrem Geſichte war etwas, was ihr 
ſogleich alle Herzen gewann, oder, richtiger geſagt, etwas, was 


Ein kleiner Held 17 


bei jedem, der mit ihr zuſammenkam, eine ſchoͤne, edle Sym— 
pathie erweckte. Es gibt ſolche gluͤcklichen Geſichter. In ihrer 
Naͤhe wurde einem jeden wohler, freier, waͤrmer ums Herz, 
und doch blickten ihre großen, traurigen Augen, die voll Feuer 
und Kraft waren, zaghaft und unruhig wie in ſteter Furcht vor 
etwas Feindlichem, Drohendem; und dieſe ſeltſame Zaghaftig— 
keit uͤberzog ihre ſtillen, ſanften, an die klaren Geſichter italieni= 
ſcher Madonnen erinnernden Züge manchmal mit ſolcher еб: 
mut, daß dem, der ſie anſah, bald ebenſo truͤb zumute wurde 
wie bei einem eigenen, perſoͤnlichen Kummer. Dieſes blaſſe, 
magere Geſicht, auf welchem durch die tadelloſe Schoͤnheit der 
reinen, regelmaͤßigen Linien und den wehmuͤtigen Ernſt des 
ſtummen, verborgenen Grames hindurch noch ſo oft der ur— 
ſpruͤngliche kindlich-klare Ausdruck hervorſchimmerte, der Ab— 
glanz eines noch nicht weit zuruͤckliegenden vertrauensvollen 
Lebensalters und vielleicht eines naiven Gluͤckes, und dieſes 
ſtille, ſchuͤchterne, unſichere Laͤcheln: alles dies erweckte eine ſo 
innige Teilnahme fuͤr dieſe Frau, daß in dem Herzen eines jeden 
unwillkuͤrlich ein ſuͤßes, heißes Mitgefuͤhl rege wurde, welches 
ſchon von ferne laut zu ihren Gunſten ſprach und ſelbſt einen 
Fremden gleichſam zu ihrem Verwandten machte. Aber dieſe 
Schoͤne machte den Eindruck der Schweigſamkeit und Ver— 
ſchloſſenheit, obgleich es doch kein ſorglicheres, liebevolleres 
Weſen als ſie geben konnte, wenn jemand der Teilnahme be— 
durfte. Es gibt Frauen, die im Leben gewiſſermaßen den Be— 
ruf barmherziger Schweſtern ausuͤben. Man braucht ihnen nichts 
zu verbergen, wenigſtens nichts, was es in der Seele Krankes und 
Wundes gibt. Wer da leidet, der moͤge dreiſt und hoffnungsvoll 
zu ihnen gehen, ohne Furcht, ihnen laͤſtig zu fallen; denn nur 
wenige von uns wiſſen, wieviel unendlich geduldige Liebe, 
LXXV. 2 


18 Ein kleiner Held 


tiefes Mitleid und alles verzeihende Guͤte in manchem Frauen— 
herzen wohnt. Ganze Schaͤtze von Mitgefühl, Злой und Hoff: 


nung ruhen in dieſen reinen Herzen, die ſo oft ebenfalls ver⸗ 


wundet werden (denn ein Herz, das viel liebt, leidet viel), wo 
aber die Wunde vor neugierigen Blicken ſorgfaͤltig verſteckt ge⸗ 
halten wird, da tiefes Leid meiſt ſchweigt und ſich verbirgt. 
Dieſe Frauen ſchreckt weder die Tiefe einer Wunde zuruͤck, noch 
ihr garſtiger Eiter, noch ihr widriger Geruch: wer ſich vertrauens⸗ 
voll an ſie wendet, der iſt dadurch ſchon ihrer wuͤrdig; ſie aber 
ſind gewiſſermaßen dazu geboren, große, edle Taten zu ver⸗ 
richten ... Frau M*** war von hohem Wuchſe, geſchmeidig 
und ſchlank, aber etwas mager. Alle ihre Bewegungen hatten 
etwas Ungleichmaͤßiges: bald waren ſie langſam, weich und де: 
wiſſermaßen wuͤrdevoll, bald in kindlicher Art raſch und haſtig; 
zugleich aber ſprach aus ihren Gebärden eine Art von ſchuͤchter— 
ner Demut, eine aͤngſtliche Wehrloſigkeit, die aber von nie⸗ 
mandem Schutz erbat und erflehte. 

Ich habe bereits geſagt, daß die wenig loͤblichen Attacken ber 
hinterliſtigen Blondine mir peinlich waren, mich verletzten, mich 
bis aufs Blut kraͤnkten. Aber es ſteckte noch ein geheimer, ſonder⸗ 
barer, dummer Grund dahinter. Dieſen Grund verbarg ich; 
ich zitterte davor, daß er bekannt werden koͤnnte; ja, bei dem 
bloßen Gedanken an ihn, wenn ich ganz allein mit niedergebeug⸗ 


tem Kopfe irgendwo in einem verſteckten, dunklen Winkel ſaß, 


wohin kein forſchender, ſpoͤttiſcher Blick einer blauaͤugigen Schel⸗ 
min drang, bei dem bloßen Gedanken daran ſtockte mir faſt der 
Atem vor Verwirrung, Scham und Furcht, — kurz, ich war ver: 
liebt; das heißt, ich gebe zu, daß ich da einen Unſinn geſagt habe: 
das war ja ein Ding der Unmoͤglichkeit; aber warum feſſelte 


von allen Perſonen, die mich umgaben, nur dieſe eine meine 


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Ein kleiner Held 19 


Aufmerkſamkeit? Warum war ſie die einzige, die ich gern mit 
meinem Blicke verfolgte, obgleich mir damals entſchieden nichts 
daran gelegen war, Damen anzuſchauen und mit ihnen bekannt 
zu werden? Am haͤufigſten geſchah das abends, wenn ſchlechtes 
Wetter alle in die Zimmer bannte, und wenn ich, einſam in 
einem Winkel des Saales verſteckt, ziellos um mich ſah; denn ich 
fand abſolut keine andere Beſchaͤftigung, da mit Ausnahme 

meiner Verfolgerinnen ſelten jemand mit mir ſprach; ſo lang— 
weilte ich mich denn an ſolchen Abenden in einer unertraͤglichen 
Weiſe. Zu ſolchen Zeiten betrachtete ich die Perſonen, die mich 
umgaben, und hoͤrte die von ihnen gefuͤhrten Geſpraͤche mit an, 
von denen ich oft kein Wort verſtand, und ſiehe da, da waren es 
die ſtillen Blicke, das ſanfte Laͤcheln und das ſchoͤne Geſicht der 
Frau M*** (denn fie war es), die, Gott weiß warum, meine 
Aufmerkſamkeit erregten und mich bezauberten, und dieſes mein 
ſeltſames, undefinierbares aber unbegreiflich ſuͤßes Gefühl haftete 
dann unausloͤſchbar in meinem Herzen. Oft konnte ich mich 
ganze Stunden lang nicht von ihr losreißen; ich ſtudierte jede 
ihrer Gebärden, jede ihrer Bewegungen, horchte auf jeden 
Klang ihrer vollen, ſilberhellen, aber etwas gedaͤmpften Stimme, 
und ſeltſam: aus allen meinen Beobachtungen reſultierte bei 
mir neben jener zaghaften, ſuͤßen Empfindung eine Art von un: 
begreiflicher Neugier. Ich befand mich in einer ähnlichen Stim— 
mung, wie wenn ich einem Geheimniſſe nachſpuͤrte. 

Am unangenehmſten waren mir jene Spoͤttereien, wenn 
Frau M** zugegen war. Dieſe Spoͤttereien und komiſchen 
Angriffe hatten nach meiner Auffaſſung fuͤr mich ſogar etwas 
Entwuͤrdigendes. Und wenn dann manchmal ein allgemeines 
Gelächter auf meine Koſten erſcholl, an welchem ſogar Frau 
Mis ſich mitunter unwillkuͤrlich beteiligte, dann riß ich mich, 


20 Ein kleiner Held 


ganz verzweifelt und außer mir vor Gram, von meinen Tyran— 
ninnen los und lief nach oben auf mein Zimmer, wo ich den 
uͤbrigen Teil des Tages einſam verbrachte, da ich es nicht wagte, 
mich nochmals im Saale blicken zu laſſen. Übrigens verſtand ich 
den Grund meiner Scham und meiner Aufregung ſelbſt noch nicht; 
dieſer ganze Prozeß vollzog ſich in meinem Innern unbewußt. 
Mit Frau M*** hatte ich bisher kaum ein paar Worte gefprochen 
und haͤtte es natuͤrlich meinerſeits auch nicht gewagt. Aber eines 
Abends, nach einem fuͤr mich unertraͤglichen Tage, war ich auf 
einem Spaziergange hinter den andern zuruͤckgeblieben; ich war 
furchtbar muͤde geworden und wanderte langſam durch den 
Garten nach dem Hauſe hin. Da erblickte ich in einer einſamen 
Allee auf einer Bank Frau M***, Sie ſaß dort ganz allein, wie 
wenn ſie ſich dieſen einſamen Ort abſichtlich ausgeſucht haͤtte, 
hielt den Kopf auf die Bruſt herabgeneigt und drehte mechaniſch 
ihr Taſchentuch in den Haͤnden hin und her. Sie war ſo in ihre 
Gedanken verſunken, daß ſie mein Herankommen gar nicht hoͤrte. 

Als ſie mich bemerkte, ſtand ſie ſchnell von der Bank auf, 
wandte ſich ab, und ich ſah, daß ſie ſich ſchnell die Augen mit dem 
Taſchentuche trocknete. Sie hatte geweint. Nachdem ſie ſich die 
Augen getrocknet hatte, laͤchelte ſie mir zu und ſchlug mit mir 
zuſammen die Richtung nach dem Hauſe ein. Ich erinnere mich 


nicht mehr, worüber wir miteinander ſprachen; aber fie ſchickte 


mich alle Augenblicke unter verſchiedenen Vorwaͤnden von ſich 
weg: bald bat ſie mich, ihr eine Blume zu pfluͤcken, bald zuzu⸗ 
ſehen, wer da in der benachbarten Allee reite. Und wenn ich von 
ihr fortging, fuͤhrte ſie ſofort wieder das Tuch an die Augen und 
wiſchte ſich die ungehorſamen Traͤnen weg, die ſich gar nicht 
ſtillen laſſen wollten, ſondern immer von neuem aus ihrem 
Herzen aufſtiegen und aus ihren armen Augen floſſen. Ich be— 


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Ein Heiner Held 21 


griff, daß ich ihr offenbar ſehr zur Laſt war, da fie mich fo häufig 
wegſchickte; und fie ſelbſt ſah bereits, daß ich alles bemerkt hatte, 
aber ſie konnte ſich nicht beherrſchen, und dadurch wurde mein 
Mitleid mit ihr noch mehr geſteigert. Ich aͤrgerte mich in dieſem 
Augenblicke uͤber mich ſelbſt beinahe bis zur Verzweiflung, ver— 
fluchte mich wegen meines hölzernen Weſens und meiner geiſti— 


gen Unbeholfenheit und wußte doch nicht, wie ich ſie in geſchick— 


ter Weiſe verlaſſen koͤnnte, ohne zum Ausdruck zu bringen, daß 
ich ihren Kummer bemerkt hatte; ich ging in traurigem Staunen, 
ja tief erſchrocken neben ihr her; ich war ganz faſſungslos und 
fand ſchlechterdings auch nicht ein einziges Wort, um unſer ver: 
ſiegendes Geſpraͤch im Gang zu halten. | 

Dieſe Begegnung hatte auf mich einen fo tiefen Eindruck ge: 
macht, daß ich den ganzen Abend uͤber mit geſpannter Neugier 
Frau M*** heimlich beobachtete und kein Auge von ihr ver: 
wandte. Aber es traf ſich, daß ſie mich zweimal unvermutet bei 
meinen Beobachtungen ertappte; als fie es das zweitemal Бе: 
merkte, laͤchelte ſie. Das war ihr einziges Laͤcheln an dem ganzen 
Abend. Die Traurigkeit war noch nicht von ihrem Geſichte ge— 
wichen, das jetzt ſehr blaß ausſah. Die ganze Zeit uͤber fuͤhrte 
ſie ein leiſes Geſpraͤch mit einer boshaften und zaͤnkiſchen alten 
Dame, die niemand wegen ihres Umherſpionierens und ihrer 
Klatſchſucht leiden konnte; aber alle hatten vor ihr Furcht und 
ſahen ſich deswegen genoͤtigt, ſich mit ihr auf guten Fuß zu 
ſtellen, mochten ſie es nun wollen oder nicht. 

Um zehn Uhr traf Frau M'“ s Mann ein. Bis dahin hatte 
ich ſie ſehr aufmerkſam beobachtet, ohne die Augen von ihrem 
traurigen Geſichte wegzuwenden; jetzt aber, bei dem uner— 
warteten Eintritte ihres Mannes ſah ich, wie ſie am ganzen 
Leibe zu zittern anfing und ihr ohnehin ſchon blaſſes Geſicht auf 


22 Ein kleiner Held 


einmal weiß wie Leinwand wurde. Das war fo auffällig, daß 
auch andere es bemerkten: ich hoͤrte abſeits das Bruchſtuͤck eines 
Geſpraͤches mit an, aus dem ich mit einiger Muͤhe entnahm, daß 
die arme Frau M*** es nicht beſonders gut habe. Es wurde де: 
ſagt, ihr Mann ſei eiferſuͤchtig wie ein Mohr, nicht aus Liebe, 
ſondern aus Selbſtſucht. Vor allen Dingen war er ein Ver— 
ehrer weſteuropaͤiſchen Weſens, ein moderner Menſch, mit einer 
Muſterkarte von neuen Ideen, auf die er ſehr eitel war. Was 
ſein Außeres anlangt, ſo war er ein ſchwarzhaariger, hochge⸗ 
wachſener, ſehr kraͤftig gebauter Herr, mit einem Backenbarte 
nach weſteuropaͤiſcher Faſſon, mit ſelbſtzufriedenem Geſichte, ge⸗ 
ſundem Teint, zuckerweißen Zaͤhnen und dem tadelloſen Be⸗ 
nehmen eines Gentleman. Man nannte ihn einen „klugen 
Kopf“. So nennt man in manchen Kreiſen eine beſondere 
Gattung von Menſchen, die auf fremde Koſten dick und fett ge: 
worden ſind, abſolut nichts tun, abſolut nichts tun wollen, und 
bei denen infolge der lebenslänglihen Traͤgheit und Nichts⸗ 

tuerei ſich das Herz in ein Stuͤck Fett verwandelt hat. Man 
kann aus ihrem Munde alle Augenblicke die Bemerkung. hören, 
ihre Untaͤtigkeit ſei die Folge irgendwelcher verwickelter feind⸗ 
licher Umſtaͤnde, die „ihr Genie laͤhmten“, und ſie boͤten daher 
„einen traurigen Anblick“. Das Ш nun einmal {о eine hoch: 
muͤtige Phraſe bei ihnen, ihr mot d'ordre, ihre Parole und 
Loſung, eine Phraſe, mit der dieſe feiſten Dickbaͤuche überall und 
fortwaͤhrend um ſich werfen, und man iſt deſſen als offenbarer 
Heuchelei und leeren Geredes laͤngſt uͤberdruͤſſig geworden. 
Manche dieſer komiſchen Käuze, die gar keine Beſchaͤftigung für 
ſich finden koͤnnen (uͤbrigens haben ſie niemals nach einer ſolchen 
geſucht), beabſichtigen geradezu alle zu dem Glauben zu bringen, 
daß ſie ſtatt des Herzens nicht etwa ein Stuͤck Fett, ſondern im 


Ein kleiner Held 23 


Gegenteil, allgemein ausgedruckt, etwas „ſehr Tiefes“ haben, 
was aber eigentlich, daruͤber wuͤrde ſich ſelbſt der allererſte 
Chirurg in Schweigen huͤllen, allerdings aus Hoͤflichkeit. Das 
ganze Streben dieſer Herren in der Welt iſt darauf gerichtet, 
alles in grober Weiſe zu verſpotten und kurzſichtig zu verurteilen, 
und ſie bekunden dabei einen maßloſen Hochmut. Da ſie nichts 


weiter zu tun haben als fremde Fehler und Schwaͤchen heraus— 


zufinden und laut zu verkuͤnden, und da ſie genau ſoviel Gut⸗ 
herzigkeit beſitzen, wie davon der Auſter zuteil geworden iſt, ſo wird 
es ihnen nicht ſchwer, unter Anwendung der notwendigen Vor— 
ſichtsmaßregeln ohne Anſtoß in der Welt zu leben. Darauf ſind 
ſie außerordentlich ſtolz. Sie ſind zum Beiſpiel beinahe davon 
uͤberzeugt, daß nahezu die ganze Welt ihnen abgabenpflichtig 
iſt; daß alle Menſchen außer ihnen Dummloͤpfe find; daß jeder 
ihrer Mitmenſchen dazu da iſt, von ihnen wie eine Zitrone oder 
wie ein Schwamm nach Beduͤrfnis ausgepreßt zu werden; daß 
fie die Herren Über alles find, und daß dieſe ganze loͤbliche Ord⸗ 
nung der Dinge nur davon herruͤhrt, daß ſie ſelbſt eine ſolche 
Klugheit und einen fo feſten Charakter beſitzen. In ihrem maß⸗ 
loſen Stolze raͤumen ſie nicht ein, daß auch ſie Maͤngel haͤtten. 
Sie gleichen jener Sorte von Gaunern, den geborenen Tartuͤffs 
und Falſtaffs, die dermaßen zu Gaunern geworden ſind, daß 
fie ſchließlich ſich ſelbſt die Überzeugung zu eigen gemacht haben, 
es muͤſſe eben ſo ſein, das heißt, ſie muͤßten leben und Gaune⸗ 
reien ausführen; fie haben allen fo oft verſichert, fie feien ehr: 


liiUche Leute, daß fie zuletzt ſelbſt zu dem Glauben gelangt find, fie 


ſeien tatſaͤchlich ehrliche Leute und ihre Gaunerei ſei eine ehrliche 
Handlungsweiſe. Innerlich uͤber ſich ſelbſt Gericht zu halten und 
eine unbefangene Selbſtkritik zu uͤben, dahin bringen ſie es nie⸗ 
mals; fuͤr manche Dinge ſind ſie eben gar zu dick und fett. In 


24 Ein Heiner Held 


erfter Linie ſteht bei ihnen immer und in jeder Hinficht ihre 
eigene koſtbare Perſoͤnlichkeit, ihr Moloch und Baal, ihr vor— 


treffliches Ich. Die ganze Natur, die ganze Welt iſt fuͤr ſie nichts 


anderes als ein einziger praͤchtiger Spiegel, der dazu geſchaffen 
iſt, daß unſer Goͤtze ſich ununterbrochen in ihm bewundern koͤnne, 
ohne außer ſich ſonſt jemand oder ſonſt etwas zu ſehen; unter 
ſolchen Umſtaͤnden iſt es nicht zu verwundern, daß ihm alles 
auf der Welt ſo haͤßlich vorkommt. Fuͤr alles hat er eine Phraſe 
in Bereitſchaft und (was bei ihnen der Gipfel der Geſchicklichkeit 
iſt) die allermodernſte Phraſe. Sie befoͤrdern ſogar ſelbſt dieſe 
Mode, indem ſie einen Gedanken, von dem ſie wittern, daß er 
Erfolg haben werde, ohne Beweis auf allen Gaſſen verbreiten. 
Sie beſitzen einen beſonderen Inſtinkt, um eine ſolche Mode— 
phraſe aufzuſpuͤren und fie ſich früher als andere Leute anzu: 
eignen, ſo daß der Anſchein erweckt wird, als ſtamme ſie von 
ihnen her. Namentlich verſorgen ſie ſich mit einem Vorrat von 
Phraſen, um ihre tiefſte Sympathie mit der Menſchheit zum 
Ausdruck zu bringen, und um klarzumachen, worin die korrekteſte 
von der Vernunft gebilligte Philanthropie beſtehe, und endlich, 
um unaufhoͤrlich auf die Romantik zu ſchelten, das heißt oft auf 
alles Schoͤne und Wahre, wovon jedes Atom wertvoller iſt als 
ihre ganze molluskenartige Sippſchaft. Aber mit ihren ſtumpfen 
Organen erkennen ſie die Wahrheit nicht in einer abweichenden, 
unfertigen Übergangsform und ſtoßen alles von ſich, was noch 
nicht ausgereift iſt, ſich noch nicht geklaͤrt hat und noch gaͤrt. So 
ein wohlgenaͤhrter Menſch hat ſein ganzes Leben in Freuden 
verbracht, alles in Huͤlle und Fuͤlle gehabt, ſelbſt nichts getan 
und weiß gar nicht, wie ſchwer die Verrichtung jeder Arbeit iſt; 


und daher wehe dem, der irgendwie mit rauher Hand feine 


fetten Gefuͤhle verletzt: das verzeiht er niemals; das traͤgt er 


Ein kleiner Held 25 


dem Betreffenden immer nach und raͤcht ſich dafuͤr mit Genuß. 
Um alles zuſammenzufaſſen: ein ſolcher Held iſt nicht mehr und 
nicht weniger als ein rieſiger, zum Platzen aufgeblaſener Sack 
voll Sentenzen, Modephraſen und Schlagwoͤrtern aller Art. 

Indeſſen hatte Herr M*** auch feine Beſonderheit und war 
ein beachtenswerter Menſch: er war witzig, verſtand ein Geſpraͤch 
geſchickt zu führen und erzählte intereſſant, und in den Salons 
ſammelte ſich immer um ihn ein Kreis von Zuhoͤrern. An jenem 
Abend gelang es ihm beſonders, Senſation zu erregen. Er be— 
herrſchte die Konverſation; er war gut disponiert, heiter, uͤber 
irgend etwas vergnuͤgt und zog die Blicke aller auf ſich. Aber 
Frau M* ** war die ganze Zeit über wie eine Kranke; ihr Фе: 
ſicht war ſo traurig, daß ich alle Augenblicke glaubte, es wuͤrden 
gleich wieder wie kurz vorher die Tränen an ihren langen Wim— 
pern zittern. Alles dies machte auf mich, wie ſchon geſagt, einen 
ſtarken Eindruck und verſetzte mich in das groͤßte Erſtaunen. Ich 
ging mit dem Gefuͤhle einer ſeltſamen Neugier fort und traͤumte 
die ganze Nacht von Herrn M***, während ich doch bisher nur 
ſelten haͤßliche Träume gehabt hatte. 

Am andern Tage wurde ich fruͤh morgens zu einer Probe 
lebender Bilder gerufen, bei denen auch ich eine Rolle hatte. 
Lebende Bilder, eine Theaterauffuͤhrung und ein Ball, dieſe 
Vergnuͤgungen ſollten, alle an einem einzigen Abend, in kurzer 
Zeit, ſchon in fuͤnf Tagen, aus Anlaß eines haͤuslichen Feſtes 
ſtattfinden, naͤmlich des Geburtstages der juͤngſten Tochter 
unſeres Wirtes. Zu dieſem beinahe improviſierten Feſte waren 
aus Moskau und den umliegenden Landhaͤuſern noch etwa 
hundert Gaͤſte eingeladen, ſo daß es viel Geſchaͤftigkeit, Unruhe 
und Wirrwarr gab. Die Probe oder, richtiger geſagt, die Be— 
ſichtigung der Koſtuͤme war auf eine ungewoͤhnlich fruͤhe Stunde 


_ 26 Ein kleiner Held 


angeſetzt, weil unſer Regiſſeur, der namhafte Kuͤnſtler R***, ein | 


Freund und бай unſeres Wirtes, der 14 aus Freundſchaft hatte 
bereit finden laffen, die Kompoſition und das Stellen der leben: 


den Bilder und zugleich die Unterweiſung der Mitwirkenden zu 


übernehmen, es jetzt eilig hatte, nach der Stadt zu fahren, um 
die erforderlichen Requiſiten einzukaufen und die definitiven 
Vorbereitungen zu dem Feſte zu treffen, ſo daß keine Zeit zu 


verlieren war. Ich war bei einem Bilde mit Frau M*** zus 


ſammen beteiligt. Das Bild ſtellte eine Szene aus dem Leben 
des Mittelalters vor und hieß: „Die Burgherrin und ihr Page.“ 

Ich war unſaͤglich befangen, als ich mit Frau M*** bei der 
Probe zuſammenkam. Es kam mir ſo vor, als werde ſie ſofort 
aus meinen Augen alle die Gedanken, Zweifel und Vermutun⸗ 
gen leſen, die ſich ſeit dem vorhergehenden Tage in meinem 
Kopfe gebildet hatten. Außerdem hatte ich immer die Emp⸗ 
findung, als hätte ich mir ihr gegenüber dadurch etwas zu: 
ſchulden kommen laſſen, daß ich ſie tags zuvor in Traͤnen ge— 
troffen und ſie in ihrem Kummer geſtoͤrt hatte; ich meinte, ſie 
muͤſſe mich als einen unerwuͤnſchten Zeugen und ungebetenen 
Mitwiſſer ihres Geheimniſſes unwillkuͤrlich mit feindlichen 
Blicken betrachten. Aber Gott ſei Dank, die Sache ging ohne 
groͤßere Schwierigkeiten ab; ſie beachtete mich einfach gar nicht. 
Sie ſchien uͤberhaupt mit ihren Gedanken weder bei mir noch 
bei der Probe zu ſein: ſie war zerſtreut, traurig und in ein 
truͤbes Nachdenken verſunken; es war augenſcheinlich, daß eine 
große Sorge fie quälte. Als ich mit meiner Rolle fertig war, 
lief ich weg, um mich umzukleiden, und trat zehn Minuten darauf 
auf die Terraſſe hinaus, die nach dem Garten zu lag. Faſt gleiche 
zeitig trat aus einer andern Tür auch Frau M*** hinaus, und 
uns gegenuͤber erſchien gerade ihr ſelbſtgefaͤlliger Gatte, der aus 


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Ein kleiner Held 27 


dem Garten zuruͤckkehrte, nachdem er ſoeben einen ganzen 
Schwarm von Damen dorthin begleitet und ſie dort der Obhut 
eines gewandten cavalier servant übergeben hatte. Das Зи: 
ſammentreffen von Mann und Frau war offenbar ein un— 
erwartetes. Frau M*** wurde aus einem mir unbekannten 
Grunde auf einmal verlegen, und in ihren haſtigen Bewe⸗ 
gungen kam ein leichter Arger zum Ausdruck. Der Gatte, der 
ſorglos eine Arie gepfiffen und auf dem ganzen Wege mit tief— 
ſinniger Miene ſeinem Backenbarte eine ſchoͤnere Form ver— 
liehen hatte, machte jetzt, bei der Begegnung mit ſeiner Frau, 
ein finſteres Geſicht und ſah ſie, wie ich mich jetzt erinnere, mit 
einem entſchieden inquiſitoriſchen Blicke an. 

„Sie gehen in den Garten?“ fragte er, als er den Sonnen⸗ 
ſchirm und das Buch in den Haͤnden ſeiner Frau bemerkte. 

„Nein, in das Waͤldchen,“ antwortete ſie und erroͤtete ein 
wenig. | | 

„Alle in?“ | 

„Mit ihm... erwiderte Frau M***, auf mich zeigend. „Ich 
pflege morgens allein ſpazieren zu gehen,“ fuͤgte ſie mit un⸗ 
ſicherer Stimme hinzu, ſo wie wenn jemand zum erſtenmal in 
ſeinem Leben luͤgt. 

„Hm. . . Ich meinerſeits habe ſoeben eine ganze Geſellſchaft 
dorthin begleitet. Es verſammeln ſich da alle bei der Blumen— 
laube, um Herrn N***oi das Geleit zu geben. Er reift ab, wie 
Sie willen... Es iſt da bei ihm ein Malheur paſſiert, in 
Odeſſa ... Ihre Kuſine“ (er ſprach von der Blondine) „lacht 
und weint beinah, alles zugleich; man wird nicht aus ihr klug. 
Sie hat mir uͤbrigens geſagt, Sie ſeien aus irgendwelchem 
Grunde über Herrn N***oi aufgebracht und wollten ihm 
darum nicht das Geleit geben. Es iſt doch gewiß Unſinn?“ 


28 Ein kleiner Held 


„Sie macht ſich luſtig,“ antwortete Frau M*** und ſtieg die 
Stufen der Terraſſe hinab. 

„Alſo das iſt Ihr cavalier servant?“ fügte Herr M*** hinzu, 
indem er den Mund ſchief zog und ſeine Lorgnette auf mich 
richtete. 

„Page!“ rief ich, ärgerlich über die Lorgnette und den ſpoͤtti— 
ſchen Ton, und ihm gerade ins Geſicht lachend, ſprang ich mit 
einem Satze die drei Stufen der Terraſſe hinunter. 

„Viel Vergnügen!” brummte Herr M*** und ging feines 
Weges weiter. 

Natürlich war ich ſofort zu Frau M*** hingetreten, als fie im 
Geſpraͤch mit ihrem Manne auf mich zeigte, und hatte ſo getan, 
als ob ſie mich ſchon eine ganze Stunde vorher aufgefordert 
haͤtte, und als ob ich ſchon einen ganzen Monat lang mit ihr 
morgens ſpazieren gegangen waͤre. Aber ich konnte gar nicht 
daraus klug werden: warum war ſie in ſolche Verwirrung ge— 
raten, ſo verlegen geworden, und in welcher Abſicht hatte ſie 
ſich entſchloſſen, zu dieſer kleinen Luͤge zu greifen? Warum hatte 
ſie nicht einfach geſagt, daß ſie allein gehe? Jetzt wußte ich nicht, 
wie ich ſie anſehen ſollte; aber in meiner Verwunderung fing 
ich doch allmaͤhlich hoͤchſt naiv an, ihr ins Geſicht zu ſehen; indes 
bemerkte ſie ebenſo wie eine Stunde vorher bei der Probe weder 
meine heimlich forſchenden Blicke noch meine ſtummen Fragen. 
Auf ihrem Geſichte, in ihrer Erregung, in ihrem Gange praͤgte 
ſich immer noch ebendieſelbe quälende Sorge aus, nur noch deut— 
licher, noch ſtaͤrker als damals. Sie hatte es eilig, irgendwohin 
zu kommen, beſchleunigte ihren Schritt immer mehr und blickte, 
ſich am Rande des Gartens haltend, in jede Allee, in jede 
Schneiſe des Waͤldchens hinein. Auch ich erwartete etwas. Auf 
einmal erſcholl hinter uns Pferdegetrappel. Es war eine ganze 


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Ein kleiner Held 29 


Kavalkade von Reitern und Reiterinnen, die jenem Herrn N** Koi 
das Geleite gaben, der unſere Geſellſchaft fo plößlich verließ. 

Unter den Damen befand ſich auch meine Blondine, von der 
Herr M* geſprochen hatte, indem er von ihren Traͤnen er: 
zählte. Aber nach ihrer Gewohnheit lachte fie wie ein Kind und 
ſprengte raſch auf einem ſchoͤnen Braunen einher. Als ſie uns 
eingeholt hatten, nahm Herr N***oi den Hut ab, hielt aber nicht 
an und ſagte zu Frau M*** kein Wort. Bald war der ganze 
Schwarm unſeren Blicken entſchwunden. Ich ſah Frau M*** 
an und haͤtte beinah laut aufgeſchrien vor Erſtaunen: ſie ſtand 
da, blaß wie Leinwand, und große Traͤnen drangen aus ihren 
Augen. Zufällig begegneten ſich unſere Blicke: Frau M*** 
erroͤtete ploͤtzlich, wandte ſich einen Augenblick ab, und ein deut— 
licher Ausdruck von Beunruhigung und Verdruß huſchte uͤber 
ihr Geſicht. Ich war hier uͤberfluͤſſig, in noch hoͤherem Grade als 
tags zuvor; das war ſonnenklar, aber wo ſollte ich hin? 

Auf einmal ſchlug Frau M***, wie wenn fie meinen Wunſch 
erraten haͤtte, das Buch auf, das ſie in der Hand trug; und indem 
ſie erroͤtete und ſich offenbar Muͤhe gab, mich nicht anzuſehen, 
ſagte ſie, wie wenn ſie deſſen eben erſt inne wuͤrde: 

„Ach! Das iſt der zweite Band; ich habe mich vergriffen; 
bitte, hole mir doch den erſten!“ 

Wie haͤtte ich das nicht verſtehen ſollen! Meine Rolle war zu 
Ende, und es war nicht moͤglich, mich auf einfachere Weiſe fort— 
zujagen. 

Ich lief mit ihrem Buche fort und kehrte nicht wieder zuruͤck. 
Der erſte Band blieb an dieſem Morgen ruhig auf dem Tiſche 
liegen. 

Aber ich war ganz verſtoͤrt; das Herz klopfte mir heftig wie in 
beſtaͤndiger Angſt. Ich vermied es aus aller Macht, mit Frau 


30 Ein kleiner Held 


M*“ irgendwie zuſammenzutreffen. Dafür betrachtete ich mit 
ſcheuer Neugier die ſelbſtgefaͤllige Perſon des Herrn M*“, 
als ob an ihm jetzt unbedingt etwas Beſonderes zu ſehen ſein 
muͤſſe. Ich begreife abſolut nicht, welchen Grund dieſe komiſche 
Neugier hatte; ich erinnere mich nur, daß ich in einem fonder: 
baren Erſtaunen uͤber all das befangen war, was ich an dieſem 
Morgen zu ſehen bekam. Aber dieſer Tag hatte eben erſt be⸗ 
gonnen und war fuͤr mich uͤberreich an Erlebniſſen. | 

Das Mittageſſen fand diesmal ſehr früh ftatt. Für den Abend N 
war eine gemeinſame Vergnuͤgungspartie nach einem benach⸗ 
barten Dorfe geplant, zu einem laͤndlichen Feſte, das dort де: 
rade begangen wurde, und daher mußte nach dem Mittageſſen 
noch Zeit bleiben, um alles dazu vorzubereiten. Ich hatte mir 
ſchon ſeit drei Tagen von dieſer Partie etwas vorphantaſiert, 
von der ich mir außerordentlich viel Vergnuͤgen verſprach. Zum 
Kaffeetrinken verſammelten ſich faſt alle auf der Terraſſe. Ich 
ſchlich vorſichtig hinter den andern her und verbarg mich hinter 
der dreifachen Reihe von Lehnſtuͤhlen. Es zog mich die Neugier 
hin, und doch wollte ich um keinen Preis Frau M*** unter die 
Augen kommen. Aber der Zufall wollte, daß ich nicht weit von 
meiner Verfolgerin, der Blondine, zu ſitzen kam. Diesmal war 
mit ihr ein Wunder geſchehen, etwas Unmoͤgliches hatte ſich 
ereignet: ſie war noch einmal ſo ſchoͤn geworden wie ſonſt. Ich | 
weiß nicht, wie das geſchieht, und woher es kommt; aber mit 
Frauen begeben ſich ſolche Wunder gar nicht fo ſelten. Es Бе: 
fand ſich in jenem Augenblicke ein neuer Gaſt unter uns, ein 
hochgewachſener junger Mann mit blaſſem Geſichte, ein aus: 
geſprochener Verehrer unſerer Blondine; er war ſoeben erſt 
aus Moskau zu uns gekommen, gleichſam expreß um den ab— 
reiſenden Herrn N* oi zu erſetzen, über den das Gerücht ging, 


Ein kleiner Held 31 


daß er in unſere Schoͤne ſterblich verliebt ſei. Was den An— 
koͤmmling anlangt, ſo ſtand er ſchon lange mit ihr in denſelben 
Beziehungen wie Benedikt mit Beatrice in Shakeſpeares „Viel 
Laͤrm um nichts“. Kurz, unſere Schoͤne feierte an dieſem Tage 
einen großartigen Triumph. Ihre Scherze und ihr Geplauder 
waren fo anmutig, von einer ſolchen zutraulichen Naivität, von 
einer ſolchen verzeihlichen Unvorſichtigkeit, und ſie war mit einer 
ſo anmutigen Zuverſicht davon uͤberzeugt, der Gegenſtand des 
allgemeinen Entzuͤckens zu ſein, daß ihr tatſaͤchlich die ganze Zeit 
uͤber eine Art von beſonderer Verehrung dargebracht wurde. 
Um ſie herum draͤngte ſich ununterbrochen ein dichter Kreis er— 
ſtaunter, bewundernder Zuhoͤrer, und noch nie war ſie ſo reizend 
geweſen. Jedes Wort von ihr war verfuͤhreriſch und intereſſant, 
wurde begierig aufgenommen und in die Runde weitergegeben, 
und kein einziger ihrer Scherze, keine einzige ihrer mutwilligen 
Außerungen fiel ins Waſſer. Niemand hatte, wie es ſchien, von 
ihr ſoviel Geſchmack, Witz und Geiſt erwartet. Alle ihre guten 
Eigenſchaften lagen für gewoͤhnlich in dem ausgelaſſenſten Ци: 
ſinn, in dem eigenſinnigſten Übermute vergraben, der beinah 
bis zur Poſſenreißerei ging; ſelten bemerkte jemand dieſe guten 
Eigenſchaften, und wenn er ſie bemerkte, ſo glaubte er nicht an 
ſie, ſo daß jetzt ihr ungewoͤhnlicher Erfolg mit einem allgemeinen 
begeiſterten Fluͤſtern aufgenommen wurde. 

Übrigens wirkte zu dieſem Erfolge noch ein Umſtand mit, ein 
ziemlich heikler Umſtand, heikel wenigſtens im Hinblick auf die 
Rolle, die dabei Frau M' Mann ſpielte. Die ſchelmiſche 
Blondine hatte beſchloſſen (und ich muß hinzufuͤgen: faſt zum 
allgemeinen Vergnuͤgen, oder wenigſtens zum Vergnuͤgen des 
geſamten jungen Volkes), eine grimmige Attacke auf ihn aus— 
zufuͤhren; ſie hatte dazu eine ganze Menge Gruͤnde, die in ihren 


32 Ein kleiner Held 


Augen wahrſcheinlich ſehr gewichtig waren. Sie vollfuͤhrte gegen 
ihn ein ordentliches Schnellfeuer von Witzen, Spoͤttereien und 
Sarkasmen, und zwar war das Charakteriſtiſche dieſer Angriffe 
nicht nur ihre unwiderſtehliche Heftigkeit, ſondern auch ihre Ge— 
wandtheit, Hinterliſt und ſchlangenartige Glaͤtte; ſie gehoͤrten 
eben zur Gattung derjenigen Angriffe, die direkt ihr Ziel treffen, 
aber von keiner Seite dem Angegriffenen die Möglichkeit bieten, 
einzuhaken und ſich zu verteidigen; das arme Opfer erſchoͤpft 
nur ſeine Kraͤfte in nutzloſen Anſtrengungen und wird zur Raſe— 
rei und zur komiſchſten Verzweiflung gebracht. 

Ich weiß es nicht mit Sicherheit, glaube es aber, daß dieſer 
extravagante Streich vorher uͤberlegt und nicht etwa improviſiert 
war. Schon beim Mittageſſen hatte dieſes hartnaͤckige Duell Бе: 
gonnen. Ich ſage „hartnaͤckig“, weil Herr M*** nicht jo bald die 
Waffen ſtreckte. Er mußte ſeine ganze Geiſtesgegenwart, ſeinen 
ganzen Witz, ſeine ganze ſeltene Schlagfertigkeit zuſammen— 
nehmen, um nicht voͤllig aufs Haupt geſchlagen zu werden und 
ſich nicht mit Schimpf und Schande zu bedecken. Die Sache ging 
unter ununterbrochenem, unhemmbarem Gelaͤchter aller Zeugen 
und Teilnehmer des Kampfes vor ſich. Jedenfalls befand ſich 
Herr M* ** an dieſem Tage in einer ganz anderen Situation als 
am vorhergehenden. Man konnte merken, daß Frau M*** 
mehrere Male den Verſuch machte, ihre unbeſonnene Freundin 
zuruͤckzuhalten, die ihrerſeits dem eiferſuͤchtigen Gatten durchaus 
eine Schellenkappe aufſetzen, ihn als Blaubart koſtuͤmieren 
wollte. So faſſe ich es wenigſtens auf nach dem, was mir da— 
von im Gedaͤchtnis geblieben iſt, und nach der Rolle, die mir 
ſelbſt in dieſer Affaͤre zu ſpielen beſchieden war. 

Dies geſchah ploͤtzlich, auf die laͤcherlichſte Weiſe und ganz 
unerwartet; es traf ſich gerade, daß ich in dieſem Augenblicke 


} 


Ein kleiner Held 33 


frei ſichtbar daſtand, ohne etwas Schlimmes zu argwoͤhnen; ich 
hatte ſogar die Vorſichtsmaßregeln von vorhin ganz vergeſſen. 
Auf einmal wurde ich ganz in den Vordergrund geruͤckt durch 

die Behauptung, ich ſei Herrn M's geſchworener Feind und 
| natürlicher Nebenbuhler; ich fei in feine Frau ganz raſend ver: 
liebt, bis über die Ohren. Und das verſicherte meine Tyrannin 
mit ihrem Worte und beſchwor es und ſagte, fie habe dafuͤr Be— 
weiſe und habe zum Beiſpiel erſt heute im Walde geſehen, 
daß i 

Aber ich ließ ſie den Satz nicht zu Ende ſprechen, ſondern 
unterbrach ſie in dieſem fuͤr mich ſo entſetzlichen Augenblicke. 
Dieſer Streich war mit ſo ſchaͤndlicher Berechnung ausgeſonnen, 
ſo verraͤteriſch gerade fuͤr das Ende, fuͤr einen ſpaßhaften Ab— 
ſchluß vorbereitet und in einer ſo humoriſtiſchen, komiſchen Weiſe 
ins Werk geſetzt, daß eine ganze Salve allgemeinen, unhemm— 
baren Gelächters dieſen letzten tollen Angriff begrüßte. Und 
obwohl ich gleich damals ahnte, daß nicht ich derjenige war, dem 
die aͤrgerlichſte Rolle dabei zugefallen war, ſo war ich doch der— 
maßen verwirrt, gereizt und erſchrocken, daß ich mit weinenden 
Augen, voll Schmerz und Verzweiflung und faſt erſtickend vor 
Scham durch zwei Reihen von Stuͤhlen hindurchdrang, vortrat 
und, zu meiner Tyrannin gewendet, mit einer Stimme, die mir 
vor Traͤnen und Entruͤſtung faſt verſagte, ausrief: 

„Schaͤmen Sie ſich denn nicht... laut... vor den Ohren 
aller Damen ... eine fo haͤßliche Unwahrheit zu ſagen!? ... 
Wie ein kleines Mädchen... vor den Ohren aller Maͤnner ... 
Was werden die davon denken? ... Und Sie find doch ſchon ers 
wachſen .. . und verheiratet! ...“ 

Aber ich konnte nicht zu Ende ſprechen; denn es erſcholl ein 
betaͤubendes Beifallklatſchen. Mein mutiges Auftreten rief 
LXXV. 8 


34 Ein kleiner Held 


einen wahren Sturm der Begeiſterung hervor. Meine naiven 
Gebaͤrden, meine Traͤnen und namentlich der Umſtand, daß ich 
gewiſſermaßen als Herrn M***8 Beſchuͤtzer auftrat, alles dies 
erzeugte ein ſo gewaltiges, herzliches Gelaͤchter, daß mir ſogar 
jetzt bei der bloßen Erinnerung furchtbar laͤcherlich zumute wird. 
Ich war außer mir, faſt von Sinnen vor Erregung; und mit 
brennendem Kopfe, das Geſicht in den Haͤnden verbergend, 
ſtuͤrzte ich hinaus, ſtieß in der Tuͤr einen hereinkommenden 
Diener ſo an, daß er ſein Praͤſentierbrett fallen ließ, und lief 
nach oben, nach meinem Zimmer. Ich riß den Schluͤſſel, der 
von außen in der Tuͤr ſteckte, heraus und ſchloß von innen zu. 
Daran hatte ich recht getan; denn ich wurde verfolgt. Es war 
noch keine Minute vergangen, als ein ganzer Schwarm unſerer 
huͤbſcheſten Damen meine Tuͤr belagerte. Ich hoͤrte ihr helles 
Lachen, ihr munteres Reden, ihre wohlklingenden Stimmen; 
ſie zwitſcherten alle zuſammen wie die Schwalben. Alleſamt 
baten ſie mich und flehten ſie mich an, ich moͤchte doch wenigſtens 
fuͤr eine Minute die Tuͤr aufmachen; ſie ſchworen, es werde mir 
nicht das geringſte Üble widerfahren; fie wollten mich nur tot— 
kuͤſſen. Aber was konnte es noch Schrecklicheres geben als dieſe 
neue Drohung? Ich gluͤhte vor Scham hinter meiner Tür, ver: 
barg das Geſicht im Kopfkiſſen und ſchloß nicht auf; ja, ich ant— 
wortete nicht einmal. Sie klopften noch lange und baten mich; 
aber ich war gefuͤhllos und taub, wie es ein Elfjaͤhriger nur ſein 
kann. 

Aber was ſollte ich jetzt tun? Alles war aufgedeckt, alles ent— 
huͤllt, mein ganzes Geheimnis, das ich ſo eiferſuͤchtig gehuͤtet 
und verborgen hatte! Ich war fuͤr mein ganzes Leben mit 
Schimpf und Schande bedeckt! In Wahrheit war ich ſelbſt nicht 
imſtande, dasjenige zu benennen, worum ich ſo gebangt hatte 


Ein kleiner Held 35 


und was ich ſo gern geheim gehalten hätte; aber doch hatte ich 
um etwas gebangt und vor der Enthuͤllung dieſes „Etwas“ wie 
Eſpenlaub gezittert. Nur eins hatte ich bis auf dieſen Augenblick 
nicht gewußt: wie beſchaffen dieſes Etwas ſei, ob ſchicklich oder 
unſchicklich, ruͤhmlich oder ſchimpflich, loͤblich oder tadelnswert. 
Jetzt aber, in meiner Qual und in meinem ſchrecklichen Leide, 
erkannte ich, daß es laͤcherlich und ſchimpflich war! Inſtinktiv 
fuͤhlte ich gleichzeitig, daß dieſes Verdikt unrichtig und unmenſch— 
lich und roh war; aber ich war zerſchlagen und vernichtet; der 
Denkprozeß war in meinem Innern gewiſſermaßen in Ver— 
wirrung geraten und ins Stocken gekommen; ich war nicht im— 
ſtande, mich gegen dieſes Verdikt aufzulehnen oder auch nur 
eine ordentliche Kritik an ihm zu uͤben: mein Geiſt war wie in 
einen Nebel gehuͤllt; ich empfand nur, daß mein Herz in un— 
menſchlicher, ſchamloſer Weiſe verletzt worden war, und vergoß 
ohnmaͤchtige Traͤnen. Ich befand mich in heftiger Erregung; in 
mir kochten Empoͤrung und ein Haß, wie ich ihn bis dahin niemals 
gekannt hatte, weil ich jetzt zum erſtenmal in meinem Leben 
ernſtes Leid, tiefe Kraͤnkung und Beleidigung erfahren hatte; 
und alles dies war tatſaͤchlich fo, ohne alle Übertreibungen. In 
mir, dem Kinde, war das erſte, noch unerfahrene, erſt keimende 
Gefuͤhl mit rauher Hand beruͤhrt, das erſte duftige, wirkliche 
Schamgefuͤhl ſo fruͤh entbloͤßt und beſchimpft und das erſte, viel— 
leicht ſehr ernſte aͤſthetiſche Empfinden verlacht worden. Aller: 
dings kannten und ahnten diejenigen, die mich verſpottet hatten, 
vieles von meinen Qualen nicht. Zur Haͤlfte wirkte dabei auch 
ein verborgener Umſtand mit, den ich bisher noch nicht hatte 
klarlegen koͤnnen; ja, ich fuͤrchtete mich gewiſſermaßen, dies zu 
tun. In Kummer und Verzweiflung blieb ich auf meinem Bette 
liegen und verbarg mein Geſicht in den Kiſſen; Hitze und Froſt— 


36 Ein Eleiner Held 


Schauer überliefen mich abwechſelnd. Zwei Fragen waren es, 
die mich quaͤlten: was hatte die nichtswuͤrdige Blondine heute 
im Waͤldchen zwiſchen mir und Frau M*** vorgehen ſehen, und 
was konnte ſie uͤberhaupt geſehen haben? Und dann die zweite 
Frage: wie und mit welchen Augen und durch welches Mittel 
konnte ich jetzt Frau M “*** ins Geſicht ſehen, ohne in demſelben 
Augenblicke auf dem Fleck vor Scham und Verzweiflung zu 
vergehen? | 
Ein ungewöhnlicher Lärm auf dem Hofe weckte mich ſchließ— 
lich aus der halben Bewußtloſigkeit, in der ich mich befand. Ich 
ſtand auf und trat an das Fenſter. Der ganze Hof war gedraͤngt 
voll von Equipagen, Reitpferden und geſchaͤftigen Dienern. Es 
ſchien, daß alle im Aufbruch begriffen waren; mehrere Reiter 
ſaßen ſchon auf ihren Pferden; andere Gaͤſte nahmen in den 
Equipagen Platz. Da fiel mir der bevorſtehende Ausflug ein, 
und allmaͤhlich fuͤllte ſich mein Herz mit einer ſtarken Unruhe; 
ich hielt auf dem Hofe eifrig Ausſchau nach meinem Pferd— 
chen; aber dieſes war nicht da; man hatte mich alſo vergeſſen. 
Ich konnte mich nicht laͤnger beherrſchen und lief Hals uͤber 
Kopf nach unten, ohne an die Moͤglichkeit unangenehmer 
Begegnungen oder an die mir ſoeben angetane Schmach zu 
denken. | 
Eine ſchreckliche Kunde erwartete mich. Es war diesmal für 
mich weder ein Reitpferd noch ein Platz in einem Wagen vor 
handen: alles war vergriffen und mit Beſchlag belegt, und ich 
mußte hinter anderen zuruͤckſtehen. 
Bekuͤmmert uͤber dieſes neue Ungluͤck blieb ich auf den Stufen 
vor der Haustuͤr ſtehen und blickte traurig auf die lange Reihe 
von Kutſchen, Kabrioletts und Kaleſchwagen hin, in denen fuͤr 
mich nicht das kleinſte Plaͤtzchen vorhanden war, und auf die дез 


Ein kleiner Held 37 


putzten Reiterinnen, unter denen die ungeduldigen Pferde von 
einem Beine auf das andere traten. 

Einer der Reiter verſpaͤtete ſich aus irgendwelchem Grunde. 
Man wartete nur auf ihn, um aufzubrechen. An der Auffahrt 
ſtand ſein Pferd, nagte am Gebiß, zerwuͤhlte mit den Hufen die 

Erde, zuckte alle Augenblicke ſchreckhaft zuſammen und baͤumte 
ſich. Zwei Stallknechte hielten es vorſichtig am Zuͤgel, und alle 
hielten ſich aͤngſtlich in reſpektvoller Entfernung von ihm. 

Es hatte in der Tat ein recht unangenehmer Vorfall ſtatt— 
gefunden, infolgedeſſen ich an der Partie nicht teilnehmen 
konnte. Abgeſehen davon, daß neue Gaͤſte eingetroffen waren 
und alle Wagenplaͤtze und Pferde beſchlagnahmt hatten, waren 
auch noch zwei Reitpferde erkrankt, von denen eines mein Pferd— 
chen war. Aber ich war nicht der einzige, der durch dieſen Vor— 
fall zu leiden hatte: es hatte ſich herausgeſtellt, daß fuͤr unſern 
neuen Gaſt, jenen blaſſen jungen Mann, von dem ich ſchon ge— 
ſprochen habe, ebenfalls kein Reitpferd da war. Um aus der 
unangenehmen Lage herauszukommen, hatte ſich unſer Wirt 
genoͤtigt geſehen, zum letzten Mittel ſeine Zuflucht zu nehmen, 
naͤmlich ſeinen wilden, nicht zugerittenen Hengſt zur Verfuͤgung 
zu ſtellen; allerdings hatte er, um fein Gewiſſen nicht zu bes 
ſchweren, hinzugefuͤgt, es ſei unmoͤglich, auf dem Tiere zu 
reiten, und er habe es ſchon laͤngſt wegen ſeiner Wildheit ver— 
kaufen wollen, wenn ſich nur ein Käufer dafür gefunden hätte. 
Aber der Gaſt hatte dieſer Warnung gegenuͤber erklaͤrt, er ſei 
ein tuͤchtiger Reiter und jedenfalls bereit, ſich auf jedes beliebige 
Pferd zu ſetzen, um nur mitzureiten. Der Wirt hatte darauf ge— 
ſchwiegen ; jetzt aber kam es mir fo vor, als ſpiele ein zweideutiges, 
ſchlaues Lächeln um feine Lippen. In Erwartung des Reiters, 
der ſich ſeiner Kunſt geruͤhmt hatte, hatte er ſelbſt ſein Pferd 


38 Ein kleiner Held 


noch nicht beſtiegen, rieb ſich ungeduldig die Haͤnde und blickte 
alle Augenblicke nach der Tuͤr hin. Etwas Ahnliches hatte ſich 
ſogar den beiden Stallknechten mitgeteilt, die den Hengſt hielten 
und ſich vor Stolz kaum zu laſſen wußten, da das ganze Publi- 
kum ſie bei einem Pferde ſah, das jeden Augenblick ohne weiteres 
einen Menſchen zu Tode bringen konnte. Etwas dem ſchlauen 
Laͤcheln ihres Herrn Ahnliches ſpiegelte ſich auch in ihren Augen 
wider, die fie vor geſpannter Erwartung weit aufgeriſſen hatten 
und ebenfalls auf die Tuͤr gerichtet hielten, durch die der kuͤhne 
Gaſt erſcheinen mußte. Ja, auch das Pferd benahm ſich ſo, als 
haͤtte es ſich gleichfalls mit dem Wirte und den Knechten ver— 
abredet: es betrug ſich ſtolz und hochmuͤtig, als fuͤhle es, daß ein 
paar Dutzend neugieriger Augen es beobachteten, und als bruͤſte 
es ſich vor allen Leuten mit ſeinem ſchlechten Rufe, gerade wie 
mancher unverbeſſerliche Galgenſtrick mit ſeinen uͤblen Streichen 
prahlt. Der Hengſt ſchien den Wagehals herauszufordern, der 
fo dreiſt wäre, ein Attentat auf feine Freiheit zu unternehmen. 

Endlich erſchien dieſer Wagehals. Sich ſchaͤmend, daß er auf 
ſich hatte warten laſſen, und ſich eilig die Handſchuhe anziehend, 
ſchritt er, ohne nach etwas hinzublicken, vorwaͤrts, ſtieg die 
Stufen vor der Haustuͤr hinab und hob die Augen erſt dann in 
die Hoͤhe, als er die Hand ausſtrecken wollte, um das ungeduldig 
wartende Pferd am Riſt zu faſſen, wurde aber ploͤtzlich durch 
deſſen wuͤtendes Aufbaͤumen und einen warnenden Zuruf der 
ganzen erſchrockenen Zuſchauerſchaft in Beſtuͤrzung verſetzt. Der 
junge Mann trat zuruͤck und blickte befremdet das wilde Pferd 
an, das am ganzen Leibe wie Eſpenlaub zitterte, vor Grimm 
ſchnaubte, mit den blutunterlaufenen Augen wild um ſich ſah 
und ſich alle Augenblicke auf die Hinterbeine ſtellte und die 
Vorderbeine in die Hoͤhe hob, wie wenn es ſich anſchickte, in die 


Ein kleiner Held 39 


Luft hinaufzuſtuͤrmen und die beiden haltenden Stallknechte mit 
ſich fortzufuͤhren. Eine kleine Weile ſtand der junge Mann ganz 
betroffen da; dann erroͤtete er in leiſer Verwirrung ein wenig, 
hob die Augen auf, ſchaute rings um ſich und betrachtete die er— 
ſchrockenen Damen. 

„Ein ſehr gutes Pferd!“ ſagte er, wie wenn er zu ſich ſelbſt 
ſpraͤche; „und meiner Anſicht nach muß es ſehr angenehm ſein, 
auf ihm zu reiten; aber ... aber wiſſen Sie was? Ich für meine 
Perſon werde nicht mitreiten,“ ſchloß er, zu unſerm Wirte ge: 
wendet, mit ſeinem breiten, gutmuͤtigen Laͤcheln, das ſeinem 
guten, klugen Geſichte ſo gut ſtand. 

„Und ich halte Sie dennoch fuͤr einen vorzuͤglichen Reiter; 
das ſchwoͤre ich Ihnen,“ antwortete der erfreute Beſitzer des 
unnahbaren Pferdes und druͤckte ſeinem Gaſte warm und ſogar 
ordentlich dankbar die Hand; „dafür halte ich Sie gerade des— 
wegen, weil Sie gleich von vornherein gemerkt haben, mit was 
fuͤr einer Beſtie Sie da zu tun haben,“ fuͤgte er mit wuͤrdevollem 
Ernſte hinzu. „Werden Sie es mir glauben: ich bin dreiund— 
zwanzig Jahre Huſar geweſen und habe ſchon dreimal durch die 
Gnade dieſes Rackers das Vergnuͤgen gehabt, auf der Erde zu 
liegen, das heißt, gerade ſo oft, wie ich ihn beſtiegen habe, dieſen 
unnuͤtzen Freſſer ... Tankred, mein Freund, wir taugen hier 
alle nicht fuͤr dich; der Reiter, der dich zu baͤndigen vermag, iſt 
offenbar noch nicht geboren. Na, dann fuͤhrt ihn wieder weg! 
Er hat hier die Menſchen genug erſchreckt! Es iſt zwecklos ge— 
weſen, daß ihr ihn hergefuͤhrt habt,“ ſchloß er und rieb ſich dabei 
wohlgefaͤllig die Haͤnde. 

Ich muß dabei bemerken, daß Tankred ihm nicht den gering— 
ſten Nutzen brachte, ſondern nur, ohne etwas zu leiſten, ſein 
Futter fraß; außerdem hatte der alte Huſar durch ihn ſein ganzes 


40 Ein Heiner Held 


früheres Renommee als Remonteoffizier eingebuͤßt, da er einen 
fabelhaften Preis für einen nutzloſen Freſſer bezahlt hatte, der 
nur durch ſeine Schoͤnheit imponierte. Aber doch war unſer Wirt 
jetzt darüber entzüdt, daß fein Tankred feiner Würde nichts ver⸗ 
geben, ſondern wieder einmal einen Reiter abgeſchreckt und ſich 
dadurch neue Lorbeeren, wenn auch von ſinnloſer Art, erworben 
hatte. | 

„Wie? Sie reiten nicht mit?“ rief die Blondine, die diesmal 
ihren cavalier servant unbedingt bei ſich haben wollte. „Haben 
Sie wirklich Furcht?“ 

„Ja, die habe ich wahrhaftig!“ antwortete der junge Mann. 

„Sagen Sie das im Ernſt?“ 

„Hoͤren Sie, wuͤnſchen Sie wirklich, daß ich mir den Hals 
breche?“ 

„Dann ſetzen Sie ſich ſchnell auf mein Pferd: ſeien Sie un⸗ 
beſorgt, es iſt ſehr fromm. Wir werden keinen Aufenthalt ver⸗ 
urſachen; die Sättel laffen ſich in einem Augenblicke vertauſchen! 
Ich will verſuchen, Ihr Pferd zu nehmen; Tankred wird doch 
gewiß nicht immer ſo unhoͤflich ſein.“ 

Geſagt, getan! Der Tollkopf ſprang aus dem Sattel und 
ſtand bei Beendigung des letzten Satzes ſchon vor uns. 

„Da kennen Sie aber Tankred ſchlecht, wenn Sie glauben, 
er werde ſich Ihren unbequemen Sattel auflegen laſſen! Und ich 


werde auch nicht dulden, daß Sie ſich den Hals brechen; das waͤre 


doch wirklich ſchade!“ ſagte unſer Wirt, indem er in dieſem 
Augenblicke innerer Befriedigung ſeiner ſteten Gewohnheit ge— 
maͤß die auch ohnedies ſchon affektierte und gekuͤnſtelte Derb— 
heit, ja Grobheit ſeiner Ausdrucksweiſe gefliſſentlich noch mehr 
ſteigerte, was ihn ſeiner Meinung nach als einen guten Kerl 
und alten Militaͤr erſcheinen ließ und namentlich den Damen 


RN. — 


Ein Heiner Held 41 


gefallen mußte. Es war dies eine fixe Idee von ihm, fein uns 
allen wohlbekanntes Steckenpferd. 

„Nun, und du, du weinerliches Juͤngelchen, willſt du es nicht 
probieren? Du hatteſt ja ſo große Luſt mitzureiten,“ ſagte die 
mutige Reiterin, als ſie mich bemerkte, und deutete ſpoͤttiſch mit 
einer Kopfbewegung auf Tankred hin. Sie ſagte das eigentlich 
nur, um nicht ganz unverrichteter Sache fortgehen zu muͤſſen, 
da ſie ſchon vergeblich vom Pferde geſtiegen war, und um mich 
nicht ohne ein ſpitzes Wort davonzulaſſen, da ich ſelbſt die Ци: 
achtſamkeit begangen hatte, ihr wieder vor Augen zu kommen. 

„Du biſt gewiß nicht fo einer wie... nun, was bedarf es da 
noch der Worte, du biſt ja als Held bekannt und wirſt dich ſchaͤ— 
men, dich feige zu zeigen, beſonders wenn alle nach dir hinſehen, 
du ſchoͤner Page,“ fuͤgte ſie mit einem ſchnellen Seitenblick nach 
Frau M*** hinzu, deren Equipage am naͤchſten an der Haus— 
tuͤr ſtand. 

Haß und Rachſucht hatten mein Herz geſchwellt, als die ſchoͤne 
Amazone mit der Abſicht, ſich auf Tankred zu ſetzen, zu uns ge— 
treten war. Aber ich vermag nicht zu ſchildern, was ich bei dieſer 
unerwarteten Herausforderung der mutwilligen Dame emp— 
fand. Es wurde mir ordentlich dunkel vor den Augen, als ich den 
Blick auffing, den fie auf Frau M*** richtete. In einem Augen: 
blicke flammte in meinem Kopfe eine Idee auf... ja, es war 
nur ein Augenblick, noch weniger als ein Augenblick, wie ein 
Aufblitzen von Schießpulver. Entweder war das Maß uͤbervoll 
geworden, und ich empoͤrte mich nun ploͤtzlich mit meinem 
ganzen wiedererwachten Mute, und zwar ſo, daß ich auf einmal 
Luſt bekam, alle meine Feinde ſchamrot zu machen und mich an 
ihnen fuͤr alles und vor aller Augen zu raͤchen, indem ich jetzt 
zeigte, was ich fuͤr ein Menſch ſei; oder aber es unterrichtete mich 


42 Ein kleiner Held 


durch eine Art von Wunder jemand in dieſem Augenblicke in der 
Geſchichte des Mittelalters, von der ich bis dahin noch keine 
Ahnung gehabt hatte, und in meinem von Schwindel ergriffenen 
Kopfe blitzten allerlei romantiſche Vorſtellungen auf: Turniere, 
Paladine, Helden, ſchoͤne Damen, Schwerterklirren, Beifalls— 
rufen und -klatſchen der Menge, und zwiſchen all dieſem Laͤrm 
ein ſchuͤchterner Aufſchrei eines angſtvollen Herzens, der dem 
ſtolzen Geiſte ſuͤßer und teurer iſt als Sieg und Ruhm — ich weiß 
nicht mehr, ob all dieſer Unſinn damals wirklich in meinem 
Kopfe vorhanden war oder, wohl richtiger, nur eine Ahnung 
dieſes Unſinns, den ich ſpaͤter einmal unvermeidlich kennen— 
lernen mußte: ich war mir nur bewußt, daß meine Stunde ge— 
ſchlagen hatte. Mein Herz huͤpfte und zitterte, und ich erinnere 
mich ſelbſt nicht mehr, wie ich mit einem Satze die Stufen hinab⸗ 
ſprang und nun neben Tankred ſtand. 
„Glauben Sie, daß ich mich fuͤrchte?“ rief ich dreiſt und ſtolz. 
Vor fieberhafter Erregung wurde es mir dunkel vor den Augen, 
der Atem ſtockte mir, und ich erroͤtete ſo, daß mir die Traͤnen auf 
den Backen brannten. „Da! Sehen Sie her!“ Und Tankred 
am Riſt faſſend, trat ich mit dem einen Fuße in den Steigbuͤgel, 
ehe noch jemand die geringſte Bewegung machen konnte, um 
mich zuruͤckzuhalten; aber in dieſem Augenblicke richtete ſich 
Tankred auf den Hinterbeinen auf, warf den Kopf in die Hoͤhe, 
riß ſich mit einem maͤchtigen Sprunge aus den Haͤnden der er— 
ſtarrt daſtehenden Stallknechte los und flog wie ein Wirbelwind 
davon, gefolgt von einem allgemeinen Aufſchrei des Schreckens. 
Gott weiß, wie es mir gelang, im vollen Dahinjagen den 
andern Fuß in den Steigbuͤgel hineinzubringen; auch iſt es mir 
unbegreiflich, wie es zuging, daß ich die Zuͤgel nicht verlor. 
Tankred ſprengte mit mir aus dem Gittertore hinaus, machte 


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Ein Heiner Held 43 


dann eine ſcharfe Wendung nach rechts und preſchte am Gitter 
entlang, aufs Geratewohl, ohne ſich um den Weg zu kuͤmmern. 
Erſt in dieſem Augenblicke hoͤrte ich hinter mir das Geſchrei von 
fünfzig Stimmen, und dieſes Geſchrei erweckte in meinem er: 
ſterbenden Herzen ein ſolches Gefuͤhl der Befriedigung und des 
Stolzes, daß ich dieſen tollen Moment meines Kinderlebens nie 
vergeſſen werde. Alles Blut ſtroͤmte mir nach dem Kopfe, be— 
taͤubte mich und uͤberſchwemmte und erſtickte meine Furcht. Ich 
wußte nicht von mir ſelbſt. Tatſaͤchlich war, wie ich mich jetzt 
erinnere, in alledem gewiſſermaßen geradezu etwas Ritter— 
haftes. | 

Indeſſen begann und endete mein Rittertum in weniger als 
einem Augenblicke; ſonſt waͤre es auch dem Ritter uͤbel ergangen. 
Auch ſo weiß ich nicht, wie ich gerettet wurde. Zu reiten ver— 
ſtand ich; das hatte ich gelernt. Aber mein Pferdchen hatte mehr 
Ahnlichkeit mit einem Schafe als mit einem richtigen Reitpferde. 
Selbſtverſtaͤndlich waͤre ich von Tankred abgeflogen, wenn er 
nur Zeit gehabt haͤtte, mich abzuwerfen; aber nachdem er etwa 
fünfzig Schritte galoppiert war, ſcheute er ploͤtzlich vor einem 
großen Steine, der ihm im Wege lag, und ſtuͤrzte blindlings 
zuruͤck. Er wendete ſo kurz auf dem Flecke um, daß es mir noch 
jetzt ein Raͤtſel iſt, wie es zuging, daß ich nicht wie ein Ball 
zwoͤlf Schritte weit aus dem Sattel flog und zerſchmettert liegen 
blieb, und daß Tankred ſich bei einer ſo kurzen Schwenkung nicht 
die Beine verrenkte. Er ſtuͤrmte zum Tore zuruͤck, indem er 
zornig mit dem Kopfe herumſchlug, von einer Seite zur andern 
ſprang, ſinnlos vor Wut die Beine, wie es ſich traf, in die Luft 
ſchleuderte und bei jedem Sprunge mich von ſeinem Ruͤcken ab— 
zuſchuͤtteln verſuchte, wie wenn ein Tiger auf ihn hinaufge— 
ſprungen waͤre und die Zaͤhne und die Krallen in ſein Fleiſch 


44 Ein kleiner Held 


hineingeſchlagen haͤtte. Noch ein Augenblick, und ich waͤre 
heruntergeflogen; ich war bereits im Fallen begriffen, aber 
ſchon kamen einige Reiter zu meiner Rettung herbeigejagt. 
Zwei von ihnen verſperrten dem Hengſte den Weg ins freie 
Feld; zwei andere galoppierten auf beiden Seiten dicht neben 


ihm her und zwaͤngten ihn mit den Flanken ihrer eigenen Pferde 


ſo zuſammen, daß ſie mir faſt die Beine zerquetſchten; beide 
hielten ihn ſchon an den Zuͤgeln feſt. In wenigen Sekunden 
waren wir wieder an der Haustür. 

Bleich und kaum atmend wurde ich vom Pferde gehoben. 
Ich zitterte am ganzen Leibe wie ein Grashalm im Winde; 
Tankred ſtand, ſich mit dem ganzen Koͤrper nach hinten ſtem— 
mend, da, ohne ſich zu ruͤhren, als ob er mit den Hufen in der 
Erde feſtgewachſen waͤre, ſtieß heftig den gluͤhenden Atem aus 
den roten, dampfenden Nuͤſtern, zitterte ebenfalls in kleinen 
Schauern am ganzen Leibe wie ein Blatt und war gleichſam 
ſtarr vor Empoͤrung und Wut daruͤber, daß die Dreiſtigkeit des 
Kindes ungeftraft geblieben war. Um mich herum erſchollen 
Ausrufe der Beſtuͤrzung, des Erſtaunens und des Schreckens. 

In dieſem Augenblicke begegnete mein umherirrender Blick 
dem Blicke der erregten, ganz blaß gewordenen Frau M***, 
und ich kann das nie vergeſſen: ploͤtzlich wurde mein Geſicht von 
dunkler Roͤte uͤbergoſſen und begann wie Feuer zu brennen; ich 
weiß nicht mehr, was mit mir geſchah; aber verwirrt und er— 
ſchreckt durch mein eigenes Gefuͤhl ſchlug ich ſchuͤchtern die Augen 
zu Boden. Jedoch mein Blick war bemerkt, abgefaßt, aufge— 
fangen worden. Aller Augen wandten ſich zu Frau M*** hin, 
und überrafcht von der allgemeinen Aufmerkſamkeit, die ſich 
plotzlich auf fie richtete, erroͤtete fie in einer unwillkuͤrlichen, 
naiven Empfindung ſelbſt wie ein Kind und bemuͤhte ſich mit 


Ein Fleiner Held 45 


— —— — — —V— R— — —— 


großer Anſtrengung, aber mit ſehr geringem Erfolge, ihr Er— 
roͤten durch Lachen zu verdecken. 

Alles dies war natuͤrlich vom Standpunkte eines Unbeteilig— 
ten aus ſehr laͤcherlich; aber in dieſem Augenblicke rettete mich 
vor dem allgemeinen Gelaͤchter eine ſehr naive, unerwartete 
Handlung, die dem ganzen Ereigniſſe ein beſonderes Kolorit 
verlieh. Die Urheberin des ganzen aufregenden Vorfalls, ſie, 
die bisher meine unverſoͤhnliche Feindin geweſen war, meine 
ſchoͤne Tyrannin, ſtuͤrzte auf einmal auf mich zu, um mich zu 
umarmen und zu kuͤſſen. Sie hatte ihren Augen nicht getraut, 
als ſie ſah, daß ich es wagte, ihre Herausforderung anzunehmen 
und den Handſchuh aufzuheben, den ſie mir mit einem Seiten— 
blick auf Frau M*** zuwarf. Sie war vor Angſt um mich und 
vor Gewiſſensbiſſen beinah geſtorben, als ich auf Tankred dahin— 
flog; jetzt aber, wo alles zu Ende war, und beſonders wo ſie 
mit den andern zuſammen meinen Frau M* * zugeworfenen 
Blick aufgefangen und meine Verwirrung und mein ploͤtzliches 
Erroͤten geſehen hatte, und wo ſie es fertig gebracht hatte, 
meiner Handlungsweiſe vermoͤge der romantiſchen Veranlagung 
ihres leichtſinnigen Koͤpfchens eine neue, geheime, unausge— 
ſprochene Bedeutung beizulegen, jetzt, nach alledem, geriet ſie 
über meine „Ritterlichkeit“ in ein ſolches Entzuͤcken, daß fie auf 
mich zu ſtuͤrzte und voller Ruͤhrung, voller Stolz auf mich und 
voller Freude mich an ihre Bruſt druͤckte. Einen Augenblick 
darauf hob ſie ihr Geſichtchen, das einen ſehr naiven, ſehr 
ernſten Ausdruck trug, und auf dem zwei kleine, kriſtallhelle 
Traͤnchen zitterten und glaͤnzten, zu allen, die um uns beide 
herumſtanden, in die Höhe und fagte in einem wuͤrdig⸗ernſten 
Tone, wie man ihn von ihr noch nie gehoͤrt hatte, indem ſie auf 
mich zeigte: „Mais c'est tr&s sérieux, messieurs, ne riez pas!“ 


46 Ein kleiner Held 


ohne zu bemerken, daß alle wie bezaubert vor ihr ſtanden und 
ſich an dem Anblicke ihres reinen, aufrichtigen Entzuͤckens шей: 
deten. Dieſe ganze unerwartete, ſchnelle Handlung von ihrer 
Seite, dieſes ernſte Geſichtchen, dieſe gutherzige Naivitaͤt, dieſe 


ernfthaften Traͤnen, die man ihr bisher nicht zugetraut hatte, 


und die jetzt ihre ſonſt immer lachenden Augen fuͤllten, dies 
alles war an ihr ein ſo unerwartetes Wunder, daß alle, die vor 
ihr ſtanden, von ihrem Blicke und von ihren ſchnellen, lebhaften 
Worten und Gebaͤrden wie elektriſiert waren. Es ſchien, daß 
niemand die Augen von ihr abwenden mochte, weil er ſich den 
ſeltenen Anblick der Begeiſterung auf ihrem Geſichte nicht еп 
gehen laſſen wollte. Selbſt unſer Wirt wurde rot wie eine Tulpe, 
und manche verſicherten, nachher aus ſeinem Munde das Ge— 
ftändnis gehört zu haben, er ſei „zu feiner Schande“ beinah eine 
ganze Minute lang in ſeinen ſchoͤnen Gaſt verliebt geweſen. 
Nun, es verſteht ſich von ſelbſt, daß ich nach allem, was vorge— 
gangen war, als ein Ritter, als ein Held angeſehen wurde. 

„Delorges, Toggenburger!“ wurde ringsumher W 

Es erſcholl Haͤndeklatſchen. 

„Donnerwetter, dieſe heranwachſende Generation!“ fuͤgte 
unſer Wirt hinzu. 

„Aber er ſoll mitkommen, er ſoll unbedingt mit uns mit⸗ 
kommen!“ rief die Schoͤne. „Wir muͤſſen und werden einen 
Platz fuͤr ihn finden. Er ſoll neben mir ſitzen, auf meinem 
Schoße .. . oder nein, nein! Ich habe mich verſprochen!“ ver: 
beſſerte ſie ſich kichernd; ſie konnte bei der Erinnerung an unſere 
erſte Bekanntſchaft das Lachen nicht unterdrüden. Aber während 
ſie lachte, ſtreichelte ſie zaͤrtlich meine Hand und bemuͤhte ſich 
aus allen Kraͤften, mich zu liebkoſen, damit ich Em nicht be: 
leidigt fühlen möchte. 


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Ein Eleiner Held 47 


„Unbedingt, unbedingt!“ ſtimmten ihr mehrere bei; „er тиб 
mitkommen; er hat 14 einen Platz erobert.“ 

Und die Angelegenheit wurde ſofort in Ordnung gebracht. 
Eben jene alte Jungfer, die meine Bekanntſchaft mit der Blon— 
dine herbeigefuͤhrt hatte, wurde ſofort von allen jungen Leuten 
mit Bitten uͤberhaͤuft, ſie moͤchte doch zu Hauſe bleiben und mir 
ihren Platz abtreten, und ſie ſah ſich genoͤtigt, einzuwilligen, 
aͤußerlich laͤchelnd, innerlich vor Wut ziſchend. Ihre Goͤnnerin, 
um die ſie herum zu ſein pflegte, meine fruͤhere Feindin und 
neue Freundin, rief ihr, waͤhrend ſie ſchon auf ihrem feurigen 
Pferde losgaloppierte und wie ein Kind lachte, zu, ſie beneide 
ſie und wuͤrde ſelbſt gern mit ihr zu Hauſe bleiben, da es gleich 
regnen werde und wir alle naß werden wuͤrden. 

Und den Regen hatte ſie richtig prophezeit. Eine Stunde 
darauf brach ein gehoͤriger Plaßregen los, und unſere Partie 
wurde gruͤndlich verdorben. Wir mußten mehrere Stunden 
lang in Bauernhaͤuſern warten und konnten erſt nach neun Uhr 
in der noch vom Regen feuchten Luft die Ruͤckfahrt antreten. 
Ich hatte ein wenig Fieber bekommen. Gerade in dem Augen— 
blicke, als wir einſteigen und abfahren wollten, trat Frau M*** 
zu mir und wunderte ſich daruͤber, daß ich nur eine Jacke anhatte 
und in bloßem Halſe war. Ich antwortete, ich haͤtte keine Zeit 
gehabt, meinen Mantel mitzunehmen. Sie nahm eine Nadel 
und ſteckte mir den Umlegekragen meines Hemdes weiter oben 
zuſammen; dann nahm ſie ein rotes Batiſttuͤchlein von ihrem 
Halſe und band es mir um, damit ich mir nicht den Hals er— 
kaͤlten moͤchte. Hierauf entfernte ſie ſich ſo eilig, daß ich nicht 
einmal Zeit hatte, ihr zu danken. 

Als wir aber nach Hauſe gekommen waren, fand ich ſie in 
dem kleinen Salon mit der Blondine und dem blaſſen jungen 


48 Ein Eleiner Held 


Manne zufammen, der ſich an dieſem Tage den Ruf eines tuͤch— 
tigen Reiters dadurch erworben hatte, daß er ſich gefuͤrchtet 
hatte, Tankred zu beſteigen. Ich trat zu ihr, um mich zu be— 
danken und ihr das Tuch zuruͤckzugeben. Aber jetzt, nach all 
meinen Abenteuern, ſchaͤmte ich mich gewiſſermaßen; ich wollte 
ſo ſchnell wie moͤglich nach oben gehen und dort in Ruhe alles 
uͤberdenken und mit mir ins klare kommen. Ich war uͤbervoll 
von Gefuͤhlen. Als ich ihr das Tuch zuruͤckgab, wurde ich wie 
gewoͤhnlich rot bis uͤber die Ohren. 

„Ich wette darauf, daß er das Tuch gern behalten moͤchte,“ 
ſagte der junge Mann lachend; „man ſieht es ihm an den Augen 
an, daß es ihm ſchmerzlich ift, ſich von Ihrem Tuche zu trennen.“ 

„Gewiß, gewiß!“ fiel die Blondine ein. „Nein, ſo einer!“ 
ſagte ſie kopfſchuͤttelnd mit fingiertem Arger, hielt aber ſchnell 
vor einem ernſten Blick der Frau M*** inne, die nicht wuͤnſchte, 
daß der Scherz zu weit getrieben werde. 

Ich ging ſo bald wie moͤglich weg. 

„Na, aber was biſt du fuͤr ein Menſch!“ ſagte die Schelmin, 
die mich im anſtoßenden Zimmer einholte und freundſchaftlich 
meine beiden Haͤnde ergriff. „Du haͤtteſt das Halstuch doch ein— 
fach nicht zuruͤckgeben ſollen, wenn dir an ſeinem Beſitze ſoviel 
lag. Du konnteſt ja ſagen, du haͤtteſt es irgendwo verlegt, und 
die Sache waͤre erledigt geweſen. Was biſt du fuͤr ein Menſch! 
Haſt ſo etwas nicht zu machen verſtanden! So ein ſchnurriger 
Kauz!“ 

Sie gab mir mit dem Finger einen leichten Schlag unter das 
Kinn und lachte daruͤber, daß ich rot wie eine Mohnblume 
wurde. 

„Ich bin ja doch jetzt deine Freundin, nicht wahr? Unſere 
Feindſchaft iſt zu Ende, ja?“ 


Ein Eeiner Held 49 


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Ich lachte und druͤckte ihr ſchweigend die Hand. 

„Na alſo! ... Wovon biſt du denn jetzt jo blaß und zitterſt 
ſo? Haſt du Fieber?“ 

„Ja, ich bin nicht wohl.“ 

„Ach, du Armer! Das kommt von den ſtarken Aufregungen! 
Weißt du was? Das beſte iſt, wenn du dich ſchlafen legſt, ohne 
auf das Abendbrot zu warten. Dann vergeht es uͤber Nacht. 
Komm!“ 

Sie fuͤhrte mich nach oben und ſchien ſich in ihrer Sorge fuͤr 
mich gar nicht genug tun zu koͤnnen. Sie verließ mich, damit ich 
mich auskleiden koͤnne, lief nach unten, beſtellte Tee fuͤr mich und 
brachte ihn mir ſelbſt, nachdem ich mich ſchon hingelegt hatte. 
Sie brachte mir auch eine warme Decke. Ich war ganz über: 
raſcht und geruͤhrt, daß ſie mich in dieſer Weiſe pflegte und 
wartete; oder war ich auch ſchon durch die Ereigniſſe des ganzen 
Tages, durch die Ausfahrt und das Fieber in eine ſolche Stim— 
mung verſetzt: genug, als ich ihr Gute Nacht ſagte, umarmte 
ich ſie feſt und innig wie den beſten, naͤchſten Freund, und alle 
Empfindungen, die ich an dieſem Tage durchgemacht hatte, 
drangen zugleich auf mein ganz matt gewordenes Herz ein; ich 
ſchmiegte mich an ihre Bruſt und weinte beinahe. Sie bemerkte 
meine empfindſame Stimmung, und ſie, meine Schelmin, ſchien 
ſelbſt ein bißchen geruͤhrt zu ſein. 

„Du biſt ein ſehr guter Junge,“ fluͤſterte ſie und ſah mich mit 
ſanften Augen an. „Bitte, ſei mir nicht mehr boͤſe, nein?“ 

Kurz, wir waren die zaͤrtlichſten, treueſten Freunde geworden. 

Es war noch recht fruͤh, als ich erwachte; aber die Sonne 
durchflutete ſchon das ganze Zimmer mit hellem Lichte. Ich 
ſprang aus dem Bette und fuͤhlte mich vollſtaͤndig geſund und 
friſch, als ob ich tags zuvor gar kein Fieber gehabt haͤtte; ſtatt 
LXXV. 4 


50 Ein kleiner Held 


ſeiner empfand ich jetzt eine unausſprechliche Freude. Ich rief 
mir den vorhergehenden Tag ins Gedaͤchtnis zuruͤck und fuͤhlte, 
daß ich wer weiß was darum gegeben haͤtte, wenn ich in dieſem 
Augenblicke meine neue Freundin, die blonde Schoͤne, wie 
geſtern haͤtte umarmen koͤnnen; aber es war noch ſehr fruͤh, 
und alle ſchliefen. Eilig zog ich mich an und ging hinunter in 
den Garten und von da in das Waͤldchen. Ich durchſchritt es 
bis zu einer Stelle, wo das Gruͤn am dichteſten und der Harz— 
geruch der Baͤume am kraͤftigſten war, und wohin die Sonnen— 
ſtrahlen am luſtigſten hineinſchauten, ſich freuend, daß es ihnen 
hier und da gelang, das neblige Dunkel des Laubwerks zu durch— 
dringen. Es war ein herrlicher Morgen. 

Unvermerkt kam ich immer weiter und weiter und gelangte 
ſchließlich an das andere Ende des Waͤldchens, an die Moskwa. 
Sie floß ungefaͤhr zweihundert Schritte vor mir, am Fuße des 
Berges. Am gegenuͤberliegenden Ufer wurde Gras gemaͤht. 
Ich konnte mich gar nicht daran ſatt ſehen, wie ganze Reihen 
ſcharfer Senſen bei jedem Ausholen der Schnitter gleichzeitig 
aufleuchteten und dann ploͤtzlich wieder verſchwanden, gleich 
feurigen Schlaͤnglein, die ſich irgendwohin verſteckten, und wie 
das von der Wurzel abgeſchnittene Gras in dichten, fetten Haͤuf— 
chen zur Seite flog und ſich in langen, geraden Schwaden 
lagerte. Ich erinnere mich nicht mehr, wieviel Zeit ich mit 
dieſem Zuſehen verbracht hatte, als ich ploͤtzlich zur Beſinnung 
kam, da ich in dem Waͤldchen, etwa zwanzig Schritte von mir 
entfernt, in einer Schneiſe, die ſich von der Chauſſee nach dem 
Gutshauſe hinzog, das Schnauben und ungeduldige Stampfen 
eines Pferdes hoͤrte, das mit dem Hufe die Erde zerwuͤhlte. 
Ich weiß nicht, ob ich dieſes Pferd jetzt eben erſt hoͤrte und der 
Reiter ſoeben erſt herbeigekommen war und angehalten hatte, 


Ein kleiner Held 51 


oder ob das Geraͤuſch ſchon lange an mein Ohr gedrungen war, 
dieſes aber nur erfolglos gekitzelt hatte, ohne mich aus meinen 
Traͤumereien erwecken zu koͤnnen. Neugierig trat ich in das 
Waͤldchen zuruͤck und vernahm, nachdem ich ein paar Schritte 
gegangen war, Stimmen, die ſchnell, aber leiſe ſprachen. Ich 
ging noch naͤher heran, bog behutſam die Zweige der letzten 
Buͤſche auseinander, die die Schneiſe einſaͤumten, und prallte 
ſogleich erſtaunt zuruͤck: vor meinen Augen ſchimmerte ein 
wohlbekanntes weißes Kleid, und eine ſanfte Frauenſtimme 
widerhallte in meinem Herzen wie Muſik. Es war Frau M***, 
Sie ſtand neben einem Reiter, der eilig vom Pferde herab zu 
ihr ſprach, und zu meiner Verwunderung erkannte ich in ihm 
Herrn N** koi, jenen jungen Mann, der ſchon geſtern morgen 
von uns weggereiſt war, und mit dem Herrn M***s Gedanken 
ſo ſehr beſchaͤftigt geweſen waren. Aber damals hatte es ge— 
heißen, er reife ſehr weit weg, irgendwohin, nach Suͤdrußland, 
und darum wunderte ich mich ſehr, ihn wieder bei uns zu ſehen, 
jo früh am Morgen und allein mit Frau M***. 

Sie war ſo lebhaft und erregt, wie ich ſie noch nie geſehen 
hatte, und auf ihren Wangen glitzerten Traͤnen. Der junge 
Mann hielt ihre Hand gefaßt und kuͤßte ſie, indem er ſich vom 
Sattel hinabbeugte. Ich hatte den Augenblick getroffen, wo ſie 
bereits voneinander Abſchied nahmen. Sie ſchienen große Eile 
zu haben. Zuletzt zog er einen verſiegelten Brief aus der Taſche, 
reichte ihn ihr hin, umſchlang ſie mit einem Arme, und zwar 
wie vorher ohne vom Pferde zu ſteigen, und kuͤßte ſie lange und 
innig. Einen Augenblick darauf verſetzte er ſeinem Pferde einen 
Schlag mit der Reitpeitſche und jagte wie ein Pfeil an mir vor— 
über. Frau M*** folgte ihm einige Sekunden lang mit den 
Augen und ſchlug dann nachdenklich und niedergeſchlagen den 


52 Ein Heiner Held 


Weg nach dem Haufe ein. Aber nachdem fie einige Schritte in 
der Schneiſe gemacht hatte, ſchien fie ſich plotzlich eines anderen 
zu beſinnen, zerteilte eilig die Buͤſche und ging durch das 
Waͤldchen. 

Ich folgte ihr, verwirrt und erſtaunt über alles, was ich де: 
ſehen hatte. Mein Herz ſchlug heftig wie vor Schreck. Ich war 
wie erſtarrt, wie von einem Nebel umfangen; meine Gedanken 
waren zerſtreut und wie zerſchlagen; aber ich erinnere mich, daß 
mir furchtbar traurig zumute war. Ab und zu ſchimmerte vor 
mir ihr weißes Kleid durch die Buͤſche. Mechaniſch folgte ich 
ihr, ohne ſie aus den Augen zu laſſen; aber ich zitterte bei dem 
Gedanken, daß ſie mich bemerken koͤnne. Endlich trat ſie auf 
den Steig hinaus, der in den Garten fuͤhrte. Ich wartete eine 
halbe Minute und tat dann dasſelbe; aber wie groß war mein 
Erſtaunen, als ich ploͤtzlich auf dem roten Sande des Steiges 
einen verſiegelten Brief bemerkte, den ich auf den erſten Blick 
erkannte: es war jener ſelbe Brief, den Frau M*** zehn Minuten 
vorher erhalten hatte. 

Ich hob ihn auf: er wies auf allen Seiten weißes Papier, 
ohne Aufſchrift; dem Außern nach war er nicht groß, aber dick 
und ſchwer, wie wenn drei oder noch mehr Bogen Briefpapier 
darin waͤren. 

Was hatte dieſer Brief zu bedeuten? Ohne Zweifel enthielt 
er die Erklaͤrung des ganzen Geheimniſſes. Vielleicht war darin 
das dargelegt, wovon Herr N***oi bei der Kürze des eiligen 
Rendezvous nicht hatte hoffen koͤnnen, daß er die Möglichkeit 
haben werde, es auszuſprechen. Er war ja nicht einmal vom 
Pferde geſtiegen. Hatte er ſo große Eile gehabt, oder hatte er 
vielleicht gefuͤrchtet, in der Stunde des Abſchieds ſeinem Vor— 
ſatze untreu zu werden — Gott mochte es wiſſen ... 


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Ein kleiner Held 53 


Ich blieb ſtehen, ohne auf den Weg hinauszutreten, warf den 
Brief auf ihn an einer recht ſichtbaren Stelle hin und wandte 
die Augen nicht von ihm ab, in der Annahme, Frau M*** werde, 
ſobald ſie den Verluſt bemerke, umkehren und ſuchen. Aber 
nachdem ich ungefaͤhr vier Minuten lang gewartet hatte, hielt 
ich es nicht mehr aus, hob meinen Fund wieder auf, ſteckte ihn 
in die Taſche und machte mich daran, Frau M*** einzuholen. 
Ich erreichte ſie erſt im Garten, in der großen Allee; ſie ging 
geradeswegs nach dem Gutshauſe, mit ſchnellen, eiligen Schrit— 
ten, aber nachdenklich und die Augen auf den Boden geheftet. 
Ich wußte nicht, was ich tun ſollte. Sollte ich an fie heran— 
treten und ihr den Brief uͤbergeben? Das haͤtte ſoviel geheißen 
als ihr ſagen, daß ich alles wiſſe, alles geſehen hätte. Ich hätte 
mich beim erſten Worte verraten. Und mit welchen Augen haͤtte 
ich ſie anſehen ſollen? Mit welchen Augen wuͤrde ſie mich an- 
geſehen haben? Ich erwartete immer noch, daß ſie an den Brief 
denken, nach ihm greifen, den Verluſt bemerken und denſelben 
Weg zuruͤckgehen werde. Dann hätte ich unbemerkt den Brief 
auf den Weg werfen koͤnnen, und fie hätte ihn gefunden. Aber 
nein! Wir naͤherten uns ſchon dem Hauſe; man hatte ſie ſchon 
bemerkt 

Es traf ſich, daß an dieſem Morgen faſt alle ſehr fruͤh aufge— 
ſtanden waren, weil ſie ſchon geſtern infolge der verungluͤckten 
Partie eine neue in Ausſicht genommen hatten, von der ich 
nichts wußte. Alle machten ſich zum Aufbruch fertig und fruͤh— 
ſtuͤckten auf der Terraſſe. Ich wartete ungefähr zehn Minuten, 
um nicht mit Frau M*** zuſammen geſehen zu werden, machte 
im Garten einen Umweg und kam von einer anderen Seite zum 
Hauſe, erheblich ſpaͤter als ſie. Sie ging blaß und erregt auf der 
Terraſſe auf und ab; die Arme hielt fie auf der Bruſt ver: 


54 Ein Heiner Held 


ſchraͤnkt, und aus allen Anzeichen war zu erſehen, daß ſie ſich 
aus aller Kraft bemühte, den quälenden, verzweifelten Kummer 
in ihrem Innern zu erſticken, der ſich in ihren Augen, in ihrem 
Gange, in jeder Bewegung deutlich bekundete. Manchmal ſtieg 
ſie die Stufen hinab und ging einige Schritte zwiſchen den 
Blumenbeeten in der Richtung nach dem Garten zu; ihre Augen 
ſuchten haſtig, unruhig, ja unvorſichtig etwas auf dem Sande 
der Steige und auf dem Fußboden der Terraſſe. Es war kein 
Zweifel: ſie hatte den Verluſt wahrgenommen und ſchien zu 
glauben, daß fie den Brief irgendwo dort, in der Nähe des 
Hauſes, verloren habe; ja, fo war es, fie war davon über- 
zeugt! 

Ihr blaſſes Ausſehen und ihre Aufregung fielen jemandem, 
und dann auch anderen, auf. Sie wurde mit Fragen nach ihrem 
Befinden, mit laͤſtigen Ausdruͤcken des Bedauerns uͤberſchuͤttet 
und mußte ſcherzen, lachen, ſich heiter ſtellen. Ab und zu warf 
ſie einen Blick nach ihrem Manne hin, der im Geſpraͤche mit 
zwei Damen am Ende der Terraſſe ſtand, und die arme Frau 
wurde von demſelben Zittern und derſelben Verwirrung be— 
fallen wie damals, am erſten Abend ſeiner Ankunft. Ich ſtand, 
die Hand in der Taſche haltend und den Brief feſt mit ihr um— 
ſchließend, etwas entfernt von allen da und flehte das Schickſal 
an, daß Frau M*** mich bemerken möchte. Ich wollte ſie gern 
ermutigen und beruhigen, wenn auch nur durch einen Blick, 
ihr fluͤchtig und verſtohlen etwas ſagen. Aber als ſie mich 
zufällig anſah, fuhr ich zuſammen und ſchlug die Augen 
nieder. | 

Ich ſah ihre Qual und irrte mich nicht. Ich kenne auch 
heutigen Tages ihr Geheimnis nicht und weiß nichts als das, 
was ich ſelbſt geſehen und ſoeben erzählt habe. Vielleicht war 


Ein kleiner Held 55 


dieſes Verhaͤltnis gar nicht von der Art, wie man es auf den 
erſten Blick vermuten konnte. Vielleicht war dieſer Kuß ein 
Abſchiedskuß geweſen; vielleicht war er der letzte ſchwache Lohn 
für das Opfer geweſen, das Herr N***oi durch feine Abreiſe 
ihrer Ruhe und ihrer Ehre gebracht hatte. Er war abgereiſt; er 
hatte ſie verlaſſen, vielleicht fuͤr immer. Und was ſchließlich ſo— 
gar dieſen Brief betraf, den ich in der Hand hielt, wer wußte, 
was er enthielt? Wie konnte man daruͤber urteilen, und wer 
durfte den Stab uͤber ſie brechen? Aber doch (daran war kein 
Zweifel) waͤre die ploͤtzliche Enthuͤllung des Geheimniſſes ein 
Donnerſchlag, eine Kataſtrophe in ihrem Leben geweſen. Ich 
erinnere mich noch deutlich an ihr Geſicht in jenem Augenblicke: 
es war kein tieferes Leid denkbar. Zu fuͤhlen, zu wiſſen, daß 
das Ungluͤck herannahte, davon uͤberzeugt zu ſein, wie auf die 
eigene Hinrichtung darauf zu warten, daß in einer Viertelſtunde, 
in einer Minute vielleicht alles aufgedeckt werde, indem jemand 
den Brief finde und aufhebe; er war ohne Aufſchrift; man wuͤrde 
ihn öffnen, und dann ... was dann? Welche Hinrichtung konnte 
ſchrecklicher ſein als die, welche ihrer wartete? Sie ging zwiſchen 
ihren kuͤnftigen Richtern umher. Im naͤchſten Augenblick wuͤrden 
ihre laͤchelnden, liebenswuͤrdigen Geſichter ſich in finſtere, uner— 
bittliche verwandeln. Sie wuͤrde Spott, Schadenfreude und 
eiſige Verachtung auf dieſen Geſichtern leſen, und dann wuͤrde 
in ihrem Leben eine ſtete Nacht anbrechen ohne einen nachfol— 
genden Morgen . .. Ja, ich begriff damals alles dies nicht fo, 
wie ich jetzt daruͤber denke. Ich konnte nur vermuten und ahnen 
und mich im Herzen wegen ihrer Gefahr graͤmen, die ich nicht 
einmal ganz zu ermeſſen vermochte. Aber welches auch der In— 
halt ihres Geheimniſſes ſein mochte, durch die traurigen Mi— 
nuten, deren Zeuge ich war, und die ich nie vergeſſen werde, 


56 Ein kleiner Held 


war vieles geſuͤhnt, wenn uͤberhaupt etwas geſuͤhnt zu werden 
brauchte. 

Aber da erſcholl der froͤhliche Ruf zur Abfahrt; alle gerieten 
in freudige Bewegung; von allen Seiten erklang munteres 
Reden und Lachen. Zwei Minuten darauf war die Terraſſe 
leer geworden. Frau M*** hatte auf die Teilnahme an der 
Partie verzichtet, indem ſie endlich eingeſtand, daß ſie nicht wohl 
ſei. Aber zum Gluͤck hatten es alle mit dem Aufbruche ſehr eilig 
und fanden keine Zeit mehr, ihr mit Ausdruͤcken des Bedauerns, 
Fragen und Ratſchlaͤgen laͤſtig zu fallen. Nur wenige waren zu 
Hauſe geblieben. Ihr Mann ſagte ein paar Worte zu ihr; ſie 
antwortete, ſie werde noch heute wieder geſund werden; er moͤge 
ſich nicht beunruhigen; ſie habe keinen Grund ſich hinzulegen, 
ſondern werde in den Garten gehen, allein ... mit mir ... Hier 
ſah ſie mich an. Nichts konnte ſich gluͤcklicher fuͤgen! Ich erroͤtete 
vor Freude. Eine Minute darauf waren wir unterwegs. 

Sie ging dieſelben Alleen, Steige und Fußpfade, auf denen 
fie kurz vorher aus dem Waͤldchen zuruͤckgekehrt war. Sie er: 
innerte ſich inſtinktiv ihres fruͤheren Weges, blickte ſtarr vor ſich 
hin, ohne die Augen von der Erde wegzuwenden und ſuchte 
etwas auf ihr; ſie gab mir keine Antworten und hatte vielleicht 
uͤberhaupt vergeſſen, daß ich mit ihr mitging. 

Aber als wir beinahe zu der Stelle gelangt waren, wo ich den 
Brief aufgehoben hatte, und wo der Steig aufhoͤrte, blieb Frau 
M' ploͤtzlich ſtehen und ſagte mit ſchwacher, vor Kummer faſt 
verſagender Stimme, es ſei ihr ſchlechter geworden, und ſie wolle 
nach dem Hauſe zuruͤckkehren. Als fie jedoch bis an das Gartens 
gitter gelangt war, blieb ſie wieder ſtehen und dachte ungefaͤhr 


eine Minute lang nach; ein Lächeln der Verzweiflung zeigte fich . 


auf ihren Lippen, und ganz entkraͤftet und zermartert, zu allem 


* * 
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— Ре уча». бы. М>. ЧЩ an! 


Ein Heiner Held 57 


entſchloſſen und ſich in alles ergebend, kehrte ſie ſchweigend auf 
den erſten Weg zuruͤck, wobei ſie diesmal ſogar vergaß, mir ein 
Wort daruͤber zu ſagen. 

Das Herz wollte mir brechen vor Gram, und ich wußte nicht, 
was ich tun ſollte. 

Wir gingen oder, richtiger geſagt, ich fuͤhrte ſie zu jener 
Stelle, von der aus ich eine Stunde vorher das Stampfen des 
Pferdes und ihr Geſpraͤch gehoͤrt hatte. Hier befand ſich bei einer 
dichtbelaubten Ulme eine aus einem gewaltigen Steinblock ge— 
hauene Bank, mit Efeu umſponnen und von wildem Jasmin 
und Hundsroſen umwachſen. (Dieſes ganze Waͤldchen war mit 
Bruͤckchen, Lauben, Grotten und ähnlichen Überraſchungen uͤber— 
jät.) Frau M*** ſetzte ſich auf die Bank und blickte gedankenlos 
auf die wundervolle Landſchaft hin, die ſich vor uns ausbreitete. 
Ein Weilchen darauf oͤffnete ſie das Buch und ſtarrte, ohne ſich 
zu rühren und ohne die Blätter umzuſchlagen, hinein; fie las 
nicht und wußte kaum, was ſie tat. Es war ſchon halb zehn. 
Die Sonne war bereits hoch geſtiegen und ſchwamm glaͤnzend 
uͤber uns am blauen, tiefen Himmel; es ſchien, als zerſchmoͤlze 
ſie an ihrem eigenen Feuer. Die Maͤher waren ſchon weit ent— 
fernt; man konnte ſie von unſerem Ufer aus kaum mehr ſehen. 
Hinter ihnen zogen ſich endloſe Schwaden friſchgemaͤhten Graſes 
hin, und ab und zu trug ein kaum merklicher Windhauch den 
aromatiſchen Duft desſelben zu uns heruͤber. Ringsumher er— 
tönte das unermuͤdliche Konzert derer, die „nicht ſaͤen und nicht 
ernten“, ſondern frei ſind wie die Luft, die ſie mit ihren munteren 
Fluͤgeln durchſchneiden. Es ſchien, als ob in dieſem Augenblicke 
jedes Bluͤmchen und das geringſte Haͤlmchen, von Opferduft 
dampfend, zu ſeinem Schoͤpfer ſagte: „Vater, ich bin froh und 
gluͤcklich!ꝰ “ 


58 Ein kleiner Held 


Ich blickte nach der armen Frau hin, die inmitten all dieſes 
frohen Lebens einer Toten glich: an ihren Wimpern hingen un— 
beweglich zwei große Traͤnen, die der bittere Gram aus ihrem 
Herzen heraufgetrieben hatte. In meiner Macht ſtand es, dieſes 
arme, faft vergehende Herz wieder zu beleben und gluͤcklich zu 
machen, und ich wußte nur nicht, wie ich es angreifen, wie ich 
den erſten Schritt tun ſollte. Ich zermarterte mein Gehirn. 
Hundertmal war ich nahe daran, zu ihr hinzutreten, und jedes— 
mal fing mir das Geſicht wie Feuer zu brennen an, und ich 
unterließ es. 

Auf einmal erhellte mich ein gluͤcklicher Gedanke. Das Mittel 
war gefunden; ich fuͤhlte mich wie neugeboren. 

„Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen ein Bukett pfluͤcken!“ 
ſagte ich in fo freudigem Tone, daß Frau M*** plößlich den Kopf 
in die Hoͤhe hob und mich aufmerkſam anſah. 

„Tu das!“ ſagte ſie endlich mit ſchwacher Stimme und laͤchelte 
dabei leiſe; dann aber verſenkte ſie die Augen ſogleich wieder in 
ihr Buch. 

„Sonſt wird auch hier womoͤglich das Gras abgemaͤht, und 
dann iſt's mit den Blumen vorbei!“ rief ich und machte mich 
wohlgemut ans Werk. 

Bald hatte ich mein Bukett beiſammen; es war ſchlicht und 
aͤrmlich, und man haͤtte ſich ſchaͤmen muͤſſen, es ins Zimmer zu 
bringen; aber wie froͤhlich ſchlug mir das Herz, waͤhrend ich es 
ſammelte und band! Hundsroſen und wilden Jasmin pfluͤckte 
ich gleich an der Stelle, wo wir waren. Ich wußte, daß nicht 
weit davon ein Feld mit reifem Roggen war. Dorthin lief ich, 
um Kornblumen zu holen. Ich untermengte ſie mit langen 
Roggenaͤhren, wobei ich die goldigſten und vollſten ausſuchte. 
Ebendort, nicht weit davon, ſtieß ich auf einen ganzen Fleck voll 


Ein kleiner Held 59 


Vergißmeinnicht, und mein Bukett begann bereits voll zu werden. 
Weiterhin auf dem Felde fanden ſich blaue Glockenblumen und 
Feldnelken, und um gelbe Waſſerlilien zu holen, lief ich an das 
Ufer des Fluſſes hinab. Endlich, als ich mich ſchon auf dem Ruͤck— 
wege nach der Bank befand und auf einen Augenblick in den 
Hain hineinging, um mir einige hellgruͤne, handfoͤrmige Ahorn— 
blaͤtter zu beſchaffen und mit ihnen das Bukett einzufaſſen, da 
ſtieß ich zufällig auf eine ganze Kolonie von Stiefmuͤtterchen, 
und in ihrer Nähe verriet mir zu meiner Freude der aromatiſche 
Duft eine Menge Veilchen, die in dem ſaftigen, dichten Graſe 
verborgen und noch ganz mit glaͤnzenden Tautropfen bedeckt 
waren. Das Bukett war fertig. Ich band es mit langen duͤnnen 
Grashalmen zuſammen, die ich zu einer Art Schnur zuſammen— 
drehte, und ſteckte den Brief behutſam hinein; er war in den 
Blumen verborgen, aber ſo, daß man ihn ſehr gut bemerken 
konnte, wenn man meinem Bukette auch nur ein wenig т 
merkſamkeit zuwandte. 

Ich trug es zu Frau M*** hin. 

Unterwegs ſchien es mir, daß der Brief gar zu ſichtbar ſei, 
und ich verbarg ihn etwas mehr. Als ich noch naͤher kam, ſchob 
ich ihn noch tiefer in die Blumen hinein, und endlich, als ich 
ſchon beinahe bis zur Bank hingelangt war, druͤckte ich ihn auf 
einmal ſo tief in das Innere des Buketts hinein, daß nun von 
außen gar nichts mehr davon zu bemerken war. Die Backen 
brannten mir wie Feuer. Ich haͤtte am liebſten das Geſicht mit 
den Haͤnden bedeckt und waͤre auf der Stelle davongelaufen; 
aber ſie ſah meine Blumen ſo an, als ob ſie ganz vergeſſen 
Бане, daß ich fie ausdruͤcklich für fie gepflüdt hatte. Mechaniſch, 
faſt ohne hinzublicken, ftredte fie die Hand aus und nahm mein 
Geſchenk entgegen, legte es aber ſogleich auf die Bank, als haͤtte 


60 Ein kleiner Held 


ich es ihr nur zu dieſem Zweck uͤbergeben, und verſenkte, wie 
felbftvergeffen, die Augen von neuem in ihr Buch. Ich war nahe 
daran, uͤber das Mißlingen meines Planes in Traͤnen auszu⸗ 
brechen. „Aber wenn nur mein Bukett in ihrem Beſitze bleibt,“ 
dachte ich; „wenn ſie es nur nicht vergißt!“ Ich legte mich nicht 
weit davon auf das Gras, ſchob den rechten Arm unter den Kopf 
und ſchloß die Augen, als ob mich der Schlaf uͤberkaͤme. Aber 
ich verwandte keinen Blick von ihr und wartete. 

So vergingen etwa zehn Minuten; es kam mir ſo vor, als 
ob fie immer blaſſer und blaſſer wuͤrde ... Auf einmal kam mir 
ein geſegneter Zufall zu Hilfe. | 

Es war dies eine große, goldfarbene Biene, die ein gütiger 
Windhauch zu meinem Gluͤcke herfuͤhrte. Sie ſummte zuerſt uͤber 
meinem Kopfe herum und flog dann zu Frau M*** hin. Diefe 
ſuchte ſie einmal und noch einmal mit der Hand wegzuſcheuchen; 
aber die Biene wurde wie mit Abſicht immer zudringlicher. End⸗ 
lich ergriff Frau M*** mein Bukett und ſchwenkte es vor ihrem 
Geſichte hin und her. In dieſem Augenblicke flog der Brief aus 
den Blumen heraus und fiel gerade auf das aufgeſchlagene Buch. 
Ich fuhr zuſammen. Eine kleine Weile blickte Frau M***, vor 
Erſtaunen ſprachlos, bald nach dem Briefe, bald nach den 
Blumen hin, die fie in der Hand hielt; fie ſchien ihren Augen 
nicht zu trauen. Auf einmal wurde ſie dunkelrot und ſah nach 
mir hin. Aber ich hatte ihren Blick rechtzeitig bemerkt, machte 
die Augen feſt zu und ſtellte mich ſchlafend; um keinen Preis der 
Welt haͤtte ich ihr jetzt gerade ins Geſicht geſehen. Mein Herz 
wollte vergehen und zuckte wie ein Voͤgelchen, das einem kraus⸗ 
haarigen Bauernjungen in die derben Haͤnde geraten iſt. Ich 
erinnere mich nicht, wie lange ich fo mit geſchloſſenen Augen da> 
lag: es mochten zwei oder drei Minuten ſein. Endlich wagte ich 


Ein kleiner Held 61 


es, ſie wieder zu öffnen. Frau M*** las begierig den Brief, 
und aus ihren brennenden Wangen, aus ihrem glaͤnzenden, 
traͤnenfeuchten Blicke, aus ihrem ſtrahlenden Geſichte, in wel— 
chem jeder Muskel vor freudiger Ruͤhrung bebte, aus alledem 
konnte ich entnehmen, daß dieſer Brief ſie gluͤcklich machte und 
ihr ganzer Gram wie leichter Rauch verflogen war. Ein ſchmerz— 
lich⸗wonniges Gefuͤhl erfuͤllte mein Herz; es wurde mir ſchwer, 
meine Verſtellung beizubehalten. 

Nie werde ich dieſen Augenblick vergeſſen! 

Auf einmal ließen ſich, noch fern von uns, Stimmen ver— 
nehmen: 

„Frau M***! Natalie! Natalie!“ 

Frau M*** antwortete nicht; aber fie erhob ſich ſchnell von 
der Bank, trat zu mir und beugte ſich uͤber mich. Ich fuͤhlte, daß 
ſie mir gerade ins Geſicht blickte. Meine Wimpern zuckten; aber 
ich beherrſchte mich und oͤffnete die Augen nicht. Ich bemuͤhte 
mich, moͤglichſt gleichmaͤßig und ruhig zu atmen; aber das auf— 
geregte Schlagen meines Herzens erſtickte mich faſt. Ihr heißer 
Atem brannte auf meinen Backen; ſie buͤckte ſich ganz nahe zu 
meinem Geſichte herab, als ob ſie es pruͤfend betrachtete. End— 
lich kuͤßte ſie meine Hand, diejenige, die auf meiner Bruſt lag, 
und ihre Traͤnen fielen darauf. Sie kuͤßte ſie zweimal. 

„Natalie! Natalie! Wo biſt du?“ wurde von neuem gerufen, 
und jetzt ſchon ſehr nahe bei uns. 

„Ich komme gleich!“ ſagte Frau M*** mit ihrer ſilberhellen 
Stimme, die aber von Traͤnen gedaͤmpft war und zitterte, und 
fo leiſe, daß nur ich allein dieſes „Ich komme gleich!“ Hören 
konnte. 

Aber in dieſem Augenblicke verriet mich mein Herz endlich 
doch und trieb mir, wie ich glaube, alles Blut ins Geſicht. In 


62 Ein kleiner Held 


demſelben Augenblicke brannte ein ſchneller, heißer Kuß auf N 


meinen Lippen. Ich ſchrie leiſe auf und öffnete die Augen; aber 


ſogleich ſenkte ſich das Batiſttuͤchlein von geſtern uͤber ſie herab 


— als ob ſie mich damit vor der Sonne ſchuͤtzen wollte. Einen 


Augenblick darauf war ſie ſchon nicht mehr da. Ich hoͤrte nur 
das leiſe Geraͤuſch ſich eilig entfernender Schritte. Ich war 
allein N 

Ich riß ihr Tuͤchlein von meinem Geſichte und kuͤßte es, ganz 
außer mir vor Entzuͤcken; mehrere Minuten lang war ich wie 
von Sinnen! Kaum imſtande zu atmen, ſtuͤtzte ich mich mit dem 
Ellbogen auf das Gras und blickte unbewußt und regungslos 
vor mich hin: auf die umliegenden, von bunten Wieſen und 
Feldern bedeckten Huͤgel, auf den Fluß, der ſie in Kruͤmmungen 
umfloß und in der Ferne, ſoweit das Auge nur reichte, ſich 
zwiſchen neuen Huͤgeln und Doͤrfern dahinſchlaͤngelte, die wie 
Puͤnktchen in der ganz von Licht uͤbergoſſenen Ferne ſchimmer— 
ten, auf die blauen, nur ſchwach ſichtbaren Waͤlder, die am 
Rande des gluͤhenden Himmels zu dampfen ſchienen, und ein 
ſuͤßer Friede, den mir die feierliche Stille des Landſchaftsbildes 
gleichſam zuwehte, beruhigte allmaͤhlich mein aufgeregtes Herz. 
Es wurde mir leichter zumute, und ich atmete freier. Aber meine 
ganze Seele war von einer dumpfen, ſuͤßen Pein erfuͤllt, wie 
in Vorausſicht oder Vorahnung von etwas Kuͤnftigem. Mein 
erſchrockenes Herz erriet irgend etwas ſchuͤchtern und freudig und 
zitterte leiſe vor Erwartung. Und auf einmal erbebte meine 
Bruſt wie von einem ſie durchdringenden Schmerze, und Traͤnen, 
füße Tränen ſtuͤrzten aus meinen Augen. Ich bedeckte das Фе: 
ſicht mit den Haͤnden, und am ganzen Leibe zitternd wie ein 
Grashalm, uͤberließ ich mich widerſtandslos dem erſten Bewußt— 
ſein und der erſten Offenbarung meines Herzens, der erſten noch 


Ä 
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2 


Ein Heiner Held 63 


unklaren Erkenntnis meiner Natur. Meine erſte Kindheit endete 
mit dieſem Augenblicke. 

Als ich zwei Stunden darauf nach Hauſe zuruͤckkehrte, fand 
ich Frau M*** nicht mehr vor. Sie war aus irgendwelchem 
plößlic eingetretenen Anlaſſe mit ihrem Manne nach Moskau 
gefahren. Ich bin nie wieder mit ihr zuſammengetroffen. 


У 


Onkelchens Traum 


(Aus der Chronik der Stadt Mordaſo w) 


Erftes Kapitel 


Mas Alexandrowna Moſkalewa iſt natürlich die erfte Dame 
in Mordaſow; daran kann kein Zweifel ſein. Sie benimmt 
ſich ſo, als habe ſie keinen Menſchen nötig, ſondern vielmehr alle 
Menſchen ſie. Allerdings kann ſo gut wie niemand ſie leiden, und 
ſehr viele haſſen ſie ſogar von Herzen; aber dafuͤr fuͤrchten ſie 
alle, und gerade das iſt's, was fie haben will. Ein ſolches Зе: 
duͤrfnis ift aber offenbar ein Zeichen hoher Klugheit. Woher 
kommt es zum Beiſpiel, daß Marja Alexandrowna, die doch 
Klatſchereien überaus liebt und die ganze Nacht nicht ſchlafen 
kann, wenn ſie nicht am Abend etwas Neues erfahren hat, — 
woher kommt es, daß ſie trotzalledem ſich ſo zu benehmen ver⸗ 
ſteht, daß niemand, der ſie anſieht, auf den Gedanken kommen 
kann, dieſe wuͤrdige Dame ſei die erſte Klatſchbaſe der Welt oder 
wenigſtens der Stadt Mordaſow? Im Gegenteil moͤchte man 
meinen, alle Klatſchereien müßten in ihrer Gegenwart ver— 
ftummen ; die Klatſchmichel müßten erröten und wie Schulbuben 
vor dem Herrn Lehrer zittern, und das Geſpraͤch müßte ſich nur 
um die hoͤchſten Gegenftände drehen. Sie weiß zum Beiſpiel 
über dieſen und jenen Einwohner von Mordaſow ſo arge, 
ſkandaloͤſe Dinge, daß, wenn fie fie bei paſſender Gelegenheit 
vorbraͤchte und fo bewieſe, wie fie fie zu beweiſen verſteht, ſich 
in Mordaſow eine Art Erdbeben von Liſſabon ereignen wuͤrde. 
Jedoch iſt fie, was dieſe Geheimniſſe anlangt, überaus ſchweig— 
ſam und erzaͤhlt ſie hoͤchſtens im aͤußerſten Beduͤrfnisfalle und 
nur den intimſten Freundinnen. Sie macht den Leuten nur 
angſt, deutet an, daß ſie etwas weiß, und laͤßt den betreffenden 
Herrn oder die betreffende Dame lieber in ſteter Furcht ſchweben, 
als daß ſie ihnen den entſcheidenden Schlag verſetzen ſollte. Das 
heißt Klugheit, das heißt Taktik! Marja Alexandrowna hat ſich 
LXXV. 5 


68 Onkelchens Traum 


bei uns jederzeit durch ihr tadelloſes comme il faut ausgezeich⸗ 
net, das ſich alle zum Muſter nehmen. Was dieſes comme il 
kaut anlangt, hat ſie in Mordaſow keine Rivalinnen. Sie ver⸗ 
ſteht es zum Beiſpiel, eine Rivalin durch ein einziges Wort zu 
zerfleiſchen, zu toͤten, zu vernichten (davon ſind wir Zeugen ge⸗ 
weſen), gibt ſich aber dabei den Anſchein, als habe ſie gar nicht 
bemerkt, daß ſie dieſes Wort ausgeſprochen habe. Es iſt aber 
bekannt, daß ein derartiges Verhalten eine beſondere Eigen- 
tuͤmlichkeit der hoͤchſten Geſellſchaftskreiſe iſt. Überhaupt leiſtet 
ſie in all ſolchen Feinheiten das Menſchenmoͤgliche. Ihre Be— 
ziehungen ſind außerordentlich weit ausgedehnt. Viele Be— 
ſucher Mordaſows waren bei der Abreiſe entzuͤckt über den Emp⸗ 
fang, den ſie bei ihr gefunden hatten, und unterhielten in der 
Folge mit ihr einen Briefwechſel. Einer verfaßte ſogar ein an 
ſie gerichtetes Gedicht, das Marja Alexandrowna dann voller 
Stolz allen Leuten zeigte. Ein von auswaͤrts gekommener 
Schriftſteller widmete ihr eine ſeiner Novellen und las ſie bei 
ihr auf einer Abendgeſellſchaft vor, was einen ganz außer— 
ordentlichen Effekt machte. Ein deutſcher Gelehrter, der expreß 
von Karlsruhe hergereiſt war, um eine beſondere Art von Wuͤr— 
mern mit kleinen Hoͤrnern zu unterſuchen, die in unſerm 
Gouvernement vorkommen, und uͤber dieſe Wuͤrmer vier Quart— 
baͤnde geſchrieben hat, war von dem liebenswuͤrdigen Empfange 
bei Marja Alexandrowna ſo begeiſtert, daß er bis jetzt mit ihr 
von Karlsruhe aus eine hoͤchſt reſpektvolle, wohlanſtaͤndige 
Korreſpondenz fuͤhrt. Man hat Marja Alexandrowna ſogar in 
gewiſſer Hinſicht mit Napoleon verglichen. Selbſtverſtaͤndlich 
haben das ihre Feinde im Scherz getan, mehr im Sinne einer 
Karikatur als einer wahren Ahnlichkeit. Aber obgleich ich die 
Seltſamkeit eines ſolchen Vergleiches durchaus zugebe, wage ich 


Erſtes Kapitel il 


doch eine unſchuldige Frage aufzuwerfen und um ihre Зе: 
antwortung zu bitten: woher kam es, daß dem Kaiſer Napoleon 
ſchließlich ſchwindlig wurde, als er zu fo gewaltiger Höhe hinauf: 
geſtiegen war? Die Anhaͤnger des alten Herrſcherhauſes fuͤhrten 
dies darauf zuruͤck, daß Napoleon nicht von koͤniglicher Abkunft, 
ja überhaupt nicht einmal ein gentilhomme von guter Abkunft 
ſei; daher habe er natuͤrlicherweiſe ſchließlich uͤber ſeine eigene 
Hoͤhe einen Schreck bekommen und habe ſich daran erinnert, an 
welchen Platz er eigentlich gehoͤrte. Trotz der evidenten Scharf— 
ſinnigkeit dieſer Vermutung, die an die glaͤnzendſten Zeiten des 
alten franzoͤſiſchen Hofes erinnert, wage ich meinerſeits eine Зе: 
merkung hinzuzufuͤgen: woher kommt es, daß unſerer Marja 
Alexandrowna niemals und unter keinen Umſtaͤnden ſchwindlig 
wird und ſie immer die erſte Dame in Mordaſow bleibt? Es 
ſind zum Beiſpiel Faͤlle vorgekommen, wo alle Leute ſagten: 
„Na, wie wird ſich nun Marja Alexandrowna in einer ſo ſchwie— 
rigen Situation verhalten?“ Aber die ſchwierige Situation 
ging, wie ſie gekommen war, ſo auch wieder voruͤber, und — 
es war nichts geſchehen! Alles war in guter Ordnung ge— 
blieben wie fruͤher, ja ſogar noch beſſer geworden. Alle denken 
zum Beiſpiel noch daran, wie ihr Gemahl, Afanaſi Matwje— 
jewitſch, ſein Amt verlor, als er durch ſeine Unfaͤhigkeit und 
Geiſtesſchwaͤche den Zorn eines von außerhalb gekommenen 
Reviſors erregt hatte. Alle glaubten damals, Marja Alexan— 
drowna werde kleinmuͤtig werden, ſich demuͤtigen, bitten und 
flehen, kurz, die Fluͤgel haͤngen laſſen. Nichts derart begab 
ſich: Marja Alexandrowna, welche einſah, daß durch Bitten 
nichts mehr zu erreichen war, arrangierte ihre Verhaͤltniſſe ſo, 
daß ſie ihres Einfluſſes auf die Geſellſchaft in keiner Weiſe 
verluſtig ging und ihr Haus immer noch fuͤr das erſte in 


70 Onkelchens Traum 


Mordaſow gilt. Die Frau Staatsanwalt, Anna Nikolajewna 
Antipowa, Marja Alexandrownas geſchworene Feindin, wie⸗ 
wohl äußerlich ihre Freundin, ſtieß ſchon in die Siegestrompete. 
Aber als man ſah, daß Marja Alexandrowna ſich nicht ſo 
leicht beirren ließ, da merkte man, daß ſie in der Geſellſchaft 
weit tiefer Wurzel geſchlagen hatte, als man ſich vorher hatte 
traͤumen laſſen. | 

Da wir Marja Alexandrownas Gemahl Afanafi Matwjeje⸗ 
witſch einmal erwähnt haben, fo wollen wir die Gelegenheit be= 
nutzen, auch uͤber ihn einige Worte zu ſagen. Erſtens hat er ein 
ſehr ftattlihes Außeres und ſogar ſehr anftändige Lebensgrund- 
ſaͤtze; aber in kritiſchen Lagen weiß er ſich nicht zu helfen und ſteht 
da wie die Kuh vor dem neuen Tore. Er nimmt ſich außerordent⸗ 
lich wuͤrdevoll aus, namentlich wenn er in ſeiner weißen Hals⸗ 
binde an Diners zur Feier von Namenstagen teilnimmt. Aber 
dieſer ganze Eindruck der Wuͤrde und Stattlichkeit dauert nur 
bis zu dem Augenblicke, wo er zu reden anfaͤngt. Dann moͤchte 
man ſich (Pardon!) am liebſten die Ohren zuſtopfen. Er iſt es 
entſchieden nicht wert, Marja Alexandrownas Mann zu ſein; 
das iſt die allgemeine Meinung. Auch ſeine amtliche Stellung 
hat er einzig und allein dank der Genialitaͤt ſeiner Gemahlin be⸗ 
kleidet. Nach meiner vollen Überzeugung waͤre es laͤngſt Zeit 
geweſen, ihn als Vogelſcheuche in einen Gemuͤſegarten zu ſtellen. 
Dort, und nur dort, haͤtte er ſeinen Kompatrioten wirklichen, 
zweifelloſen Nutzen bringen koͤnnen. Und daher war es von 
Marja Alexandrowna ſehr richtig gehandelt, daß ſie Afanaſi 
Matwjejewitſch auf ihr drei Werſt von Mordaſow entfernt 
liegendes Gut ſchickte, wo ſie hundertundzwanzig Seelen beſitzt, 
beiläufig geſagt ihr geſamtes Beſitztum, mit deſſen Ertrage ſie 
in fo wuͤrdiger Weiſe die vornehme Stellung ihres Hauſes auf: 


Erſtes Kapitel 71 


recht erhält. Alle ſahen klar, daß fie Afanaſi Matwjejewitſch 
lediglich deswegen bei ſich behalten hatte, weil er ein Amt be— 
kleidete und ein Gehalt bezog und... auch noch andere Ein— 
nahmen hatte. Sobald aber ſein Gehalt und ſeine anderen Ein— 
nahmen aufgehoͤrt hatten, da entfernte ſie ihn auch ſogleich 
wegen ſeiner Unbrauchbarkeit und voͤlligen Nutzloſigkeit. Und 
alle Leute lobten Marja Alexandrowna wegen der Klarheit 
ihres Urteils und der Entſchloſſenheit ihres Charakters. Auf dem 
Gute fuͤhlt ſich Afanaſi Matwjejewitſch wie in Abrahams Schoße. 
Ich habe ihn dort beſucht und eine ganze Stunde mit ihm ſehr 
angenehm verlebt. Er probiert ſich weiße Halsbinden um und 
putzt ſich eigenhaͤndig die Stiefel, nicht weil er es noͤtig haͤtte, 
ſondern einzig und allein aus Liebe zur Kunſt, da er es gern hat, 
wenn ſeine Stiefel ſo recht glaͤnzen; dreimal am Tage trinkt er 
Tee, geht mit großem Vergnuͤgen baden und — iſt zufrieden. 
Erinnern Sie ſich wohl noch, was fuͤr ein garſtiges Gerede bei 
uns vor anderthalb Jahren uͤber Sinaida Afanaſjewna, die 
einzige Tochter Marja Alexandrownas und Afanaſi Matwjeje— 
witſchs, im Umlauf war? Sinaida iſt unſtreitig eine Schoͤnheit, 
auch vorzüglich erzogen; aber fie ift ſchon dreiundzwanzig Jahre 
alt und bis jetzt noch nicht verheiratet. Unter den Urſachen, mit 
denen man es ſich erklaͤrt, daß Sinaida bis jetzt noch nicht ver— 
heiratet iſt, betrachtet man als eine der wichtigſten die dunklen 
Geruͤchte uͤber eine ſonderbare Liaiſon, die ſie vor anderthalb 
Jahren mit einem Kreisſchullehrer gehabt haben ſoll, Geruͤchte, 
die auch jetzt noch nicht verſtummt ſind. Man ſpricht noch heute 
von einem Liebesbriefe, den Sinaida geſchrieben habe, und der 
in Mordaſow von Hand zu Hand gegangen ſei; aber ſagen Sie 
mir: wer hat dieſen Brief geſehen? Wenn er von Hand zu Hand 
gegangen iſt, wo iſt er eigentlich geblieben? Alle Leute haben 


72 Onkelchens Traum 


von ihm gehoͤrt, aber niemand hat ihn geſehen. Ich wenigſtens 
habe niemand getroffen, der dieſen Brief mit eigenen Augen ges 


ſehen hätte. Wenn jemand im Geſpraͤche mit Marja Alexan— 
drowna darauf anſpielt, ſo verſteht ſie einen einfach nicht. 
Nehmen wir nun einmal an, daß tatſaͤchlich etwas ſtattgefunden 
und Sinaida einen ſolchen Brief geſchrieben hat (ich glaube ſo— 
gar, daß es beſtimmt ſo geweſen iſt), wie geſchickt iſt dann Marja 
Alexandrownas Verfahren geweſen! Wie gut hat ſie die haͤß— 
liche, ſkandaloͤſe Angelegenheit unterdruͤckt und vertuſcht! Voll: 
ſtaͤndig totgeſchwiegen hat ſie ſie! Marja Alexandrowna ſchenkt 
jetzt dieſer ganzen gemeinen Klatſchgeſchichte nicht die geringſte 
Beachtung; und doch hat fie vielleicht Gott weiß wie angeſtrengt 
gearbeitet, um die Ehre ihrer einzigen Tochter unangetaſtet zu 
bewahren. Daß aber Sinaida noch unverheiratet iſt, iſt doch 
ſehr begreiflich: was gibt es denn hier für Bewerber? Ein Maͤd⸗ 
chen wie Sinaida kann doch nur einen regierenden Fuͤrſten hei— 
raten. Haben Sie irgendwo eine ſo auserleſene Schoͤnheit ge— 
ſehen? Allerdings iſt ſie ſtolz, ſehr ſtolz. Man ſagt, daß ſich 
Moſgljakow um fie bewerbe; aber es wird ſchwerlich zu einer 
Hochzeit kommen. Was iſt denn Moſgljakow für ein Menſch? 
Es iſt wahr, er iſt jung, huͤbſch, ein Elegant, Beſitzer von hundert: 


fünfzig nicht mit Hypotheken belaſteten Seelen, ein Peters 


burger. Aber erſtens iſt mit ſeinem Kopfe nicht viel los. Er iſt 
ein Windbeutel, ein Schwaͤtzer und hat neuzeitliche Ideen! Und 
dann, was wollen hundertfuͤnfzig Seelen beſagen, namentlich 


wenn einer neuzeitliche Ideen hat! Es wird nicht zu einer Hoch— | 


zeit kommen! 
Alles, was der wohlgeneigte Leſer jetzt geleſen hat, habe ich 
vor fuͤnf Monaten geſchrieben, lediglich aus meinem warmen 


Gefühle heraus. Ich geſtehe von vornherein, ich habe ein ges 


ee 


Erſtes Kapitel 73 


222 — — ——ͤ 
wiſſes Tendre für Marja Alexandrowna. Ich hätte am liebſten 
ſo eine Art von Lobrede auf dieſe praͤchtige Frau geſchrieben 
und dieſe Lobrede in die Form eines ſcherzhaften Briefes an 
einen Freund gekleidet, nach dem Muſter der Briefe, die ehe: 
mals in der guten alten, aber Gott ſei Dank fuͤr immer dahin— 
geſchwundenen Zeit in der „Nordiſchen Biene“ und anderen 
| Zeitſchriften gedruckt zu leſen waren. Aber da ich keinen ſolchen 
Freund beſitze und außerdem in Sachen der Schriftſtellerei an 
einer gewiſſen angeborenen Schüchternheit leide, fo blieb mein 
Schriftwerk in meinem Tiſchkaſten liegen, als ſchriftſtelleriſche 
Federprobe und zur Erinnerung an eine friedliche Zerſtreuung 
in Stunden vergnuͤglicher Muße. Es vergingen fuͤnf Monate — 
und auf einmal begab ſich in Mardaſow ein erſtaunliches Ereig⸗ 
nis: eines Morgens früh kam Fürft K. in die Stadt gefahren und 
ſtieg in Marja Alexandrownas Hauſe ab. Die Ankunft dieſes 
Fuͤrſten hatte weitgehende Folgen. Der Fuͤrſt verweilte in 
Mordaſow nur drei Tage; aber dieſe drei Tage waren verhaͤng— 
nisvoll und hinterließen eine unausloͤſchliche Erinnerung. Ich 
will noch mehr ſagen: der Fuͤrſt führte in gewiſſem Sinne ge: 
radezu eine Umwaͤlzung in unſerer Stadt herbei. Der Bericht 
über dieſe Umwaͤlzung bildet zweifellos eine der bedeutſamſten 
Seiten in der Chronik der Stadt Mordaſow. Dieſe Seite lite— 
rariſch zu bearbeiten und dem Urteile des verehrlichen Publikums 
zu unterbreiten, habe ich mich nach einigem Schwanken ent: 
ſchloſſen. Meine Erzählung enthält die vollftändige, те 
wuͤrdige Geſchichte der Erhöhung, des Ruhmes und des groß: 
artigen Sturzes unſerer Marja Alexandrowna und ihres ganzen 
Hauſes in Mordaſow: ein wuͤrdiger, verlockender Stoff fuͤr einen 
Schriftſteller. Selbftverftändlid muß ich vor allen Dingen aus— 
einanderſetzen, was denn Erſtaunliches daran war, daß Fuͤrſt K. 


* . ВИА 7 % Их 1 * ee N 7 
74 Onkelchens Traum 1 


in die Stadt gefahren kam und bei Marja Alexandrowna аб: 
ſtieg, und zu dieſem Zwecke muß ich natuͤrlich auch uͤber den 
Fuͤrſten felbft ein paar Worte ſagen. Das will ich denn auch tun. 
Zudem iſt die Biographie dieſes Fuͤrſten abſolut notwendig zum 
Verſtaͤndniſſe des ganzen weiteren Ganges unſerer Erzaͤhlung. 
Alſo, ich fange an. 


Zweites Kapitel 

Ich beginne mit der Mitteilung, daß Fuͤrſt K. noch nicht ſo uͤber⸗ 
maͤßig alt war; aber doch kam einem, wenn man ihn anſah, un— 
willkuͤrlich der Gedanke, er werde im naͤchſten Augenblicke зи: 
ſammenbrechen: ſo ſtark gealtert oder, richtiger geſagt, ſo ver— 
lebt war er. In Mordaſow hatte man ſich uͤber dieſen Fuͤrſten 
hoͤchſt ſonderbare Dinge erzählt, Dinge der phantaſtiſchſten Art. 
Man hatte ſogar geſagt, der alte Herr ſei verruͤckt geworden. Зе: 
ſonders ſeltſam kam es allen vor, daß ein Gutsbeſitzer, der vier: 
tauſend Seelen beſaß, ein Mann mit vornehmer Verwandt: 
ſchaft, der, wenn er es gewollt hätte, im Gouvernement eine 
hervorragende Stellung haͤtte einnehmen koͤnnen, ganz allein, 
wie ein vollftändiger Einſiedler, auf feinem prächtigen Gute 
lebte. Viele hatten den Fuͤrſten vor ſechs oder ſieben Jahren, 
zur Zeit ſeines Aufenthaltes in Mordaſow, gekannt und ver— 
ſicherten, er ſei damals der ausgeſprochene Feind eines zuruͤck— 
gezogenen Lebens geweſen und habe mit einem Einſiedler nicht 
die geringſte Ahnlichkeit gehabt. 

Ich ſetze jedoch nun alles hierher, was ich uͤber ihn mit einiger 
Sicherheit habe in Erfahrung bringen koͤnnen: | 

Einſtmals, in feinen jungen Jahren (was übrigens ſchon recht 
weit zuruͤcklag), war der Fuͤrſt in glaͤnzender Weiſe ins Leben 
eingetreten, hatte gejeut, ſeine Liebſchaften gehabt, ſich mehr— 


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Zweites Kapitel 75 


mals im Auslande aufgehalten, Lieder geſungen und Witze ge: 
macht, ohne ſich jedoch jemals durch glaͤnzende geiſtige Faͤhig— 
keiten auszuzeichnen. Natürlich verſchwendete er ſein ganzes 
Vermoͤgen und ſah ſich, als er alt geworden war, ploͤtzlich kaum 
im Beſitze einer Kopeke. Da riet ihm jemand, ſich doch auf ſein 
Gut zu begeben, das bereits ſubhaſtiert werden ſollte. Er tat 
dies und kam ſo nach Mordaſow, wo er volle ſechs Monate blieb. 
Das Leben in der Gouvernementsſtadt gefiel ihm außerordent— 
lich, und er brachte in dieſen ſechs Monaten alles, was ihm noch 
geblieben war, bis auf den letzten Reſt durch, indem er zu ſpielen 
fortfuhr und mit den Damen der Öouvernementsftadt allerlei 
zarte Beziehungen unterhielt. Dabei war er ein ſehr gutherziger 
Menſch, wiewohl ſelbſtverſtaͤndlich nicht ohne einige beſonderen 
fuͤrſtlichen Gewohnheiten, die indes in Mordaſow für eine Eigen— 
tuͤmlichkeit der hoͤchſten Geſellſchaftskreiſe galten und daher ſtatt 
Arger zu erregen, ſogar Effekt machten. Beſonders die Damen 
waren allezeit von ihrem liebenswuͤrdigen Gaſte entzuͤckt. Es 
haben ſich viele intereſſante Erinnerungen an ihn erhalten. Unter 
anderm wurde erzaͤhlt, der Fuͤrſt verwende mehr als die Haͤlfte 
des Tages auf ſeine Toilette und ſcheine ganz aus allerlei kleinen 
Stuͤcken zuſammengeſetzt zu ſein. Niemand wußte, wann und 
wo er es fertig gebracht hatte, ſeinen Koͤrper ſo defekt zu machen. 
Er trug eine Peruͤcke, einen falſchen Schnurrbart, einen falſchen 
Backenbart und ſogar eine falſche Fliege unter der Unterlippe, - 
alles bis auf das letzte Haͤrchen war unecht und von praͤchtiger 
ſchwarzer Farbe; er ſchminkte ſich täglich weiß und rot. Es wurde 
behauptet, er ziehe mittels kleiner federnder Apparate die Run— 
zeln auf ſeinem Geſichte glatt, und dieſe Apparate ſeien auf eine 
beſondere Weiſe in feinen Haaren verſteckt. Ferner wurde Бег 
hauptet, er trage ein Korſett, weil er bei einem ungeſchickten 


76 Onkelchens Traum 


Sprunge aus dem Fenſter anlaͤßlich eines Liebesabenteuers in 
Italien eine Rippe eingebuͤßt habe. Er hinkte auf dem linken 
Beine; man behauptete, dieſes Bein ſei ein kuͤnſtliches, das 
richtige ſei bei einem andern Abenteuer in Paris draufgegangen; 
dafuͤr habe er ſich ein eigenartiges neues aus Kork machen laſſen. 
Aber was reden die Menſchen nicht alles! Wahr jedoch war 
jedenfalls, daß ſein rechtes Auge ein Glasauge war, wiewohl 
eine aͤußerſt kunſtvolle Imitation. Seine Zaͤhne waren eben— 
falls unecht. Ganze Tage verbrachte er damit, ſich mit allerlei 
patentierten Waͤſſern zu waſchen, ſich zu parfuͤmieren und zu 
pomadiſieren. Man erinnert ſich jedoch, daß der Fuͤrſt damals 
ſchon merklich anfing hinfällig zu werden und unerträglich viel 
zu ſchwatzen. Seine Laufbahn ſchien zu Ende zu ſein. Alle Welt 
wußte, daß er keine Kopeke mehr beſaß. Da auf einmal ſtarb 
ganz unerwartet eine ſehr nahe Verwandte von ihm, eine ſehr 
alte Dame, die beſtaͤndig in Paris gelebt hatte, und von der er 
in keiner Weiſe eine Erbſchaft hatte erwarten koͤnnen; dieſe ſtarb, 
nachdem ſie einen Monat vor ihrem Tode ihren legitimen Erben 
begraben hatte. Der Fuͤrſt wurde ganz unerwartet ihr legitimer 
Erbe. Eine praͤchtige Beſitzung mit viertauſend Seelen, ſechzig 
Werſt von Mordaſow entfernt, fiel ihm allein ungeteilt zu. Un⸗ 
verzuͤglich machte er ſich auf nach Petersburg, um ſeine Ge— 
ſchaͤfte zu ordnen. Ihrem ſcheidenden Gaſte zu Ehren gaben die 
Damen ein praͤchtiges Diner auf Subſkription. Man erinnert 
ſich noch, daß der Fuͤrſt bei dieſem letzten Diner in einer be— 
zaubernden Weiſe aufgeraͤumt war, Witze machte, lachte, die 
ſonderbarſten Geſchichtchen erzaͤhlte, das Verſprechen gab, ſo 
bald als moͤglich nach Duchanowo (ſeinem neuerworbenen Gute) 
zu ziehen, und ſein Wort verpfaͤndete, es wuͤrden dann bei ihm 
fortwährend Feſte, Picknicks, Bälle und Feuerwerke ftattfinden. 


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Zweites Kapitel 77 


Ein ganzes Jahr lang nach ſeiner Abreiſe redeten die Damen 
von dieſen verſprochenen Feſten und warteten mit der groͤßten 
Ungeduld auf ihren lieben Alten. Waͤhrend dieſer Zeit des 
Wartens aber wurden ſogar Spazierfahrten nach Duchanowo 
arrangiert, wo ſich ein altmodiſches Herrenhaus und ein Garten 
befand, mit Akazienbuͤſchen, die zu Loͤwen zurechtgeſchnitten 
waren, mit kuͤnſtlich aufgeſchuͤtteten praͤhiſtoriſchen Grabhuͤgeln, 
mit Teichen, auf denen Kaͤhne ſchwammen, mit hoͤlzernen 
Tuͤrken, die auf Schalmeien blieſen, mit Lauben, Pavillons, 
Monplaiſirs und anderen Ergoͤtzlichkeiten. 

Endlich kehrte der Fuͤrſt zuruͤck, kam aber zur allgemeinen 
Verwunderung und Enttaͤuſchung gar nicht nach Mordaſow, ſon— 
dern ließ ſich in ſeinem Duchanowo nieder und fuͤhrte dort voll— 
ftändig das Leben eines Einſiedlers. Es verbreiteten ſich ſelt— 
ſame Geruͤchte, und uͤberhaupt wird die Geſchichte des Fuͤrſten 
von dieſer Epoche an nebelhaft und phantaſtiſch. Erſtens wurde 
erzählt, es ſei ihm in Petersburg nicht alles nach Wunſch де: 
lungen; einige ſeiner Verwandten, ſeine kuͤnftigen Erben, haͤtten 
wegen der Geiſtesſchwaͤche des Fuͤrſten die Einſetzung einer Art 
von Vormundſchaft uͤber ihn erwirken wollen, wahrſcheinlich in 
der Befuͤrchtung, er werde wieder alles verſchwenden. Ja noch 
mehr: einige fuͤgten hinzu, man habe ihn ſogar ins Irrenhaus 
bringen wollen; aber einer ſeiner Verwandten, ein hochgeſtellter 
Herr, ſei fuͤr ihn eingetreten, indem er den uͤbrigen klar bewieſen 
habe, daß der arme Fuͤrſt, der ſchon zur Haͤlfte tot und unecht 
ſei, wahrſcheinlich bald ganz ſterben werde, und dann werde das 
Beſitztum ihnen auch ohne Irrenhaus zufallen. Ich wiederhole 
noch einmal: was reden die Menſchen nicht alles, beſonders bei 
uns in Mordaſow! Alles dies habe, ſo wurde erzaͤhlt, den 
Fuͤrſten furchtbar erſchreckt, dermaßen, daß er feinen Charakter 


78 Onkelchens Traum 


vollſtaͤndig geändert und 14 in einen Einſiedler verwandelt 


habe. Einige Herrſchaften aus Mordaſow fuhren aus Neugier 
zu ihm hin, um ihm zu gratulieren; aber ſie wurden entweder 
gar nicht oder auf eine höchft ſonderbare Weiſe empfangen. Der 
Fuͤrſt erkannte ſeine fruͤheren Bekannten nicht einmal wieder; 
man behauptete, er habe ſie nicht wiedererkennen wollen. Auch 
der Gouverneur beſuchte ihn. 

Er kehrte mit der Nachricht zuruͤck, daß ſeiner Meinung nach 
der Fuͤrſt tatſaͤchlich etwas geiftesgeftört ſei, und machte ſpaͤter 
immer eine ſaure Miene, wenn man ihn an ſeine Fahrt nach 
Duchanowo erinnerte. Die Damen aͤußerten laut ihren Un⸗ 
willen. Endlich erfuhr man einen ſehr wichtigen Umſtand, naͤm⸗ 
lich, daß den Fuͤrſten eine gewiſſe unbekannte Stepanida 
Matwjejewna unter ihre Herrſchaft gebracht habe, Gott weiß 
was fuͤr ein Frauenzimmer, das mit ihm aus Petersburg ge— 
kommen ſei, eine ſchon bejahrte, dicke Perſon, die in Kattun— 
kleidern und mit den Schluͤſſeln in der Hand umhergehe; der 
Fuͤrſt gehorche ihr in allen Stuͤcken wie ein Kind und wage keinen 
Schritt ohne ihre Erlaubnis zu tun; ſie waſche ihn ſogar eigen— 
haͤndig, haͤtſchele ihn, trage ihn umher und warte ihn wie ein 
kleines Kind; fie ſei es auch, die alle Beſucher von ihm fernhalte 
und namentlich ſeine Verwandten, die nun allmaͤhlich anfingen, 
nach Duchanowo zu kommen, um Erkundigungen einzuziehen. 
In Mordaſow wurde uͤber dieſes unbegreifliche Verhaͤltnis viel 
geredet, namentlich von ſeiten der Damen. Zu alledem wurde 
noch hinzugefuͤgt, daß Stepanida Matwjejewna das ganze Gut 
des Fuͤrſten unumſchraͤnkt und nach ihrem Belieben verwalte, 
Inſpektoren und Dienerſchaft entlaſſe und die Einkuͤnfte in Emp— 
fang nehme; aber ſie fuͤhre die Verwaltung gut, ſo daß die 
Bauern ſich wegen ihres Loſes gluͤcklich prieſen. Was aber den 


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Zweites Kapitel 79 


Fuͤrſten ſelbſt anlangt, ſo erfuhr man, daß er ſeine Tage faſt voll— 
ſtaͤndig mit ſeiner Toilette ausfuͤlle und ſich Peruͤcken und Fracks 
anprobiere; die übrige Zeit verbringe er mit Stepanida Matwje⸗ 
jewna, ſpiele mit ihr „Eigene Truͤmpfe“ und lege ſich Karten; 
mitunter reite er auch auf einer frommen engliſchen Stute ſpa— 
zieren, wobei Stepanida Matwjejewna ihn unfehlbar in einem 


geſchloſſenen Wagen begleite, fuͤr jeden Fall, da der Fuͤrſt mehr 


aus Eitelkeit reite und ſich kaum noch im Sattel halten koͤnne. 
Man hatte ihn auch manchmal zu Fuß geſehen, im Überzieher 
und mit einem breitkrempigen Strohhute, um den Hals ein roſa 
Damentuͤchelchen, das Monokel im Auge, in der linken Hand ein 
Strohkoͤrbchen zum Sammeln von Pilzen, Kornblumen und 


anderen Feldblumen; Stepanida Matwjejewna aber begleitete 


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ihn bei ſolchen Gelegenheiten immer; hinter ihnen gingen zwei 
baumlange Lakaien und fuhr, fuͤr jeden Fall, eine Kutſche. 
Wenn ihnen dann ein Bauer begegnete, zur Seite trat, ſtehen 
blieb, die Muͤtze abnahm, ſich tief verbeugte und ſagte: „Guten 


Tag, Vaͤterchen Fuͤrſt, Euer Durchlaucht, unſere liebe Sonne!“ 
dann richtete der Fuͤrſt ſofort feine Lorgnette auf ihn, nickte höf- 
lich mit dem Kopfe und ſagte freundlich zu ihm: „Bonjour, mon 
ami, bonjour!“ Und noch viele aͤhnliche Gerüchte waren in 


Mordaſow im Umlaufe; man konnte den Fuͤrſten nicht vergeſſen: 
er wohnte ja in ſo naher Nachbarſchaft! Wie groß war nun das 


allgemeine Erſtaunen, als ſich eines ſchoͤnen Morgens das Ge— 


ruͤcht verbreitete, der Fuͤrſt, der Einſiedler, der wunderliche Kauz, 
ſei in eigener Perſon nach Mordaſow gekommen und bei Marja 
Alexandrowna abgeſtiegen! Alles war in Verwunderung und 
Aufregung. Alle waren geſpannt auf die Aufklaͤrung; alle frag— 
ten einander: was hat das zu bedeuten? Manche ſchickten ſich 


ſchon an zu Marja Alexandrowna hinzufahren. Allen erſchien 


80 Onkelchens Traum 


die Ankunft des Fuͤrſten wie ein reines Wunder. Die Damen 


ſchrieben einander Billette, machten ſich Beſuche und ſchickten 
ihre Zofen und ihre Männer aus, um Erkundigungen einzus 
ziehen. Beſonders ſeltſam kam es allen vor, warum der Fuͤrſt 
gerade bei Marja Alexandrowna abgeſtiegen war und nicht bei 


ſonſt jemandem. Am meiſten aͤrgerte ſich Darüber Anna Nikola- 


jewna Antipowa, weil der Fuͤrſt mit ihr, wenn auch nur ſehr 


entfernt, verwandt war. Aber um auf alle dieſe Fragen die Ant— 


wort zu finden, muͤſſen wir uns unbedingt zu Marja Alexan⸗ 


drowna ſelbſt begeben, zu der wir auch den geneigten Leſer ſich 
hinzubemuͤhen bitten. Es iſt allerdings jetzt erſt zehn Uhr тот: 


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gens; aber ich bin davon überzeugt, daß fie es nicht ablehnen 
wird, gute Bekannte zu empfangen. Uns wenigſtens wird ſie 


ſicherlich annehmen. 


Drittes Kapitel 


Zehn Uhr morgens. Wir befinden uns in Marja Alexandrownas 
Haufe an der Hauptſtraße, in eben dem Zimmer, das die Haus— 
frau bei feierlichen Gelegenheiten ihren Salon nennt. Marja 
Alexandrowna beſitzt auch ein Boudoir. In dieſem Salon iſt der 
Fußboden gut geſtrichen und die Wände mit huͤbſchen auslaͤndi⸗ 
ſchen Tapeten beklebt. Bei den ziemlich plumpen Moͤbeln 
herrſcht die rote Farbe vor. Es iſt ein Kamin da, über dem Ka⸗ 
min ein Spiegel, vor dem Spiegel eine Bronzeuhr mit einem 


Mer: =». 


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recht geſchmackloſen Amor. An den Fenſterpfeilern befinden fih 
zwei Spiegel, von denen die Überzüge bereits abgenommen find. 


Vor den Spiegeln ſtehen auf kleinen Tiſchchen wieder Uhren. 
An der hinteren Wand ſteht ein vorzuͤglicher Flügel, der für 
Sinaida von auswärts bezogen iſt; Sinaida ЦЕ muſikaliſch. Um 
den geheizten Kamin herum ſind Lehnſtuͤhle aufgeſtellt, nach 


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Drittes Kapitel 81 


Möglichkeit in maleriſcher Unordnung; zwiſchen ihnen ein kleines 
Tiſchchen. Am andern Ende des Zimmers ſteht ein anderer 
Tiſch, mit einem blendend weißen Tiſchtuche bedeckt; auf dem 
Tiſche ſiedet ein ſilberner Samowar, und daneben iſt ein huͤbſches 
Teeſervice aufgeſtellt. Über den Samowar und den Tee waltet 
eine Dame, die als entfernte Verwandte bei Marja Alexan— 
drowna lebt, namens Naſtaſja Petrowna Sjablowa. Zwei Worte 
uͤber dieſe Dame. Sie iſt Witwe, etwas uͤber dreißig Jahre alt, 
bruͤnett, mit friſchem Teint und lebhaften, dunkelbraunen Augen. 
Überhaupt iſt ſie recht huͤbſch. Sie hat ein heiteres Gemuͤt, lacht 
viel, iſt recht ſchlau, ſelbſtverſtaͤndlich ein Klatſchmaul und ver— 

ſteht ſich auf ihren Vorteil. Sie hat zwei Kinder, die irgendwo 
die Schule beſuchen. Sie würde ſich ſehr gern wieder verhei- 
raten. Sie benimmt ſich mit einem ziemlichen Selbſtbewußt— 
ſein. Ihr Mann iſt Offizier geweſen. — Marja Alexandrowna 
ſelbſt ſitzt am Kamin, in vorzuͤglicher Stimmung und in einem 
hellgruͤnen Kleide, das ihr ſehr gut ſteht. Sie freut ſich gewaltig 
uͤber die Ankunft des Fuͤrſten, der in dieſem Augenblicke im 
oberen Stockwerke mit ſeiner Toilette beſchaͤftigt iſt. Sie freut 
ſich dermaßen, daß ſie ſich nicht einmal bemuͤht, ihre Freude zu 

verbergen. Vor ihr ſteht in etwas gezierter Haltung ein junger 
Mann und erzaͤhlt ihr etwas mit beſonderer Lebhaftigkeit. Man 
kann ihm an den Augen anſehen, daß er feinen Zuhoͤrerinnen ge= 
fallen moͤchte. Er iſt fuͤnfundzwanzig Jahre alt. Sein Be— 

nehmen wuͤrde tadellos ſein, wenn er nicht ſo oft in Entzuͤcken 
geriete und außerdem nicht fo ſehr danach ſtreben wollte, humo— 
riſtiſch und witzig zu ſein. Er iſt vorzuͤglich gekleidet, hat blondes 
Haar und ein huͤbſches Außeres. Aber wir haben ſchon von ihm 
geſprochen: es iſt Herr Moſgljakow, ein junger Mann, der große 
Hoffnungen erweckt. Marja Alexandrowna findet im ſtillen, 
LXXV. 6 


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82 Onkelchens Traum 1 


daß ſein Kopf ein bißchen hohl ſei, nimmt ihn aber immer ſehr 
gut auf. Er bemuͤht ſich um die Hand ihrer Tochter Sinaida, 
in die er, wie er ſich ausdruͤckt, wahnſinnig verliebt iſt. Er wendet 
ſich alle Augenblicke an Sinaida und verſucht, durch ſeinen Witz 
und durch feine Heiterkeit ihren Lippen ein Lächeln zu ent⸗ 
locken. Die aber benimmt ſich ihm gegenuͤber offenſichtlich kuͤhl 
und gleichguͤltig. In dieſem Augenblicke ſteht ſie etwas abſeits 
am Fluͤgel und blaͤttert in einem Kalender. Sie iſt eines der 
weiblichen Weſen, die allgemeines Erſtaunen und Entzuͤcken her⸗ 
vorrufen, wenn ſie in einer Geſellſchaft erſcheinen. Sie iſt un- 
denkbar ſchoͤn: hochgewachſen, bruͤnett, mit wundervollen, faſt 
ganz ſchwarzen Augen, ſchlank, mit ſtarker, praͤchtiger Bruſt. 
Ihre Schultern und Arme erinnern an antike Statuen; die Fuͤß— 
chen ſind verfuͤhreriſch, der Gang der einer Koͤnigin. Sie iſt heute 
ein bißchen blaß; aber dafür werden Sie von ihren vollen, pur= 
purnen, wundervoll geſchnittenen Lippen, zwiſchen denen die 
gleichmaͤßigen kleinen Zaͤhne wie aufgereihte Perlen ſchimmern, 
drei Nächte hintereinander träumen, wenn Sie fie auch nur ein⸗ 
mal anſehen. Der Ausdruck ihres Geſichtes iſt ernſt und ſtreng. 
Monſieur Moſgljakow fuͤrchtet ИФ, wie es ſcheint, vor ihrem 
feſten Blicke; wenigſtens kruͤmmt er ſich ordentlich zuſammen, 
wenn er es wagt, ſie anzuſehen. Ihre Bewegungen haben etwas 
Hochmuͤtiges, Nachlaͤſſiges. Sie traͤgt ein einfaches weißes 
Muſſelinkleid. Die weiße Farbe ſteht ihr vorzuͤglich; aber ihr 
ſteht eben alles. An einem ihrer Finger ſteckt ein aus Haar ge— 
flochtener Ring; nach der Farbe zu urteilen, iſt er nicht aus dem 
Haare ihrer Mutter geflochten. Moſgljakow hat nie gewagt, fie 

zu fragen, weſſen Haar es И. An dieſem Morgen iſt Sinaida 
ganz beſonders ſchweigſam, ja traurig, als ob ſie von einer Sorge 
erfuͤllt waͤre. Im Gegenſatz zu ihr moͤchte Marja Alexandrowna 


Drittes Kapitel 83 


am liebften ohne Unterlaß reden, obwohl fie ebenfalls ab und 
zu mit einem beſonderen, mißtrauiſchen Blicke nach ihrer Tochter 
hinſieht; indes tut ſie es nur verſtohlen, als ob auch ſie vor 
Sinaida Furcht haͤtte. 

„Ich bin ſo gluͤcklich, ſo gluͤcklich, Pawel Alexandrowitſch,“ 
plappert ſie, „daß ich es am liebſten allen Leuten aus dem Fenſter 
zurufen möchte. Ich rede gar noch nicht einmal von der liebens— 
wuͤrdigen Überraſchung, die Sie uns, mir und meiner Tochter 
Sinaida, dadurch bereitet haben, daß Sie zwei Wochen fruͤher 
wieder hergekommen ſind, als Sie es verſprochen hatten; das 
verſteht ſich von ſelbſt! Aber ich bin ganz glüdlich darüber, daß 
Sie dieſen lieben Fuͤrſten hierher gebracht haben. Haben Sie 
wohl eine Vorſtellung davon, wie ſehr ich dieſen bezaubernden 
alten Herrn liebe? Aber nein, nein! Sie werden mich nicht 
verſtehen! Sie, als junger Menſch, werden mein Entzüden nicht 
begreifen, trotz all meiner Beteuerungen! Wiſſen Sie wohl, was 
er mir in fruͤherer Zeit geweſen iſt, vor ſechs Jahren, erinnerſt 
du dich wohl noch, Sinaida? Aber ich vergeſſe ganz: du warſt 
ja damals bei deiner Tante zu Beſuch ... Sie werden es nicht 
glauben, Pawel Alexandrowitſch: ich war ſeine Fuͤhrerin, ſeine 
Schweſter, ſeine Mutter! Er war mir folgſam wie ein Kind! 
Es lag ſo etwas Naives, Zartes, Edles in unſerem wechſelſeitigen 
Verhaͤltniſſe; ſogar gewiſſermaßen etwas Idylliſches ... ich 
weiß nicht recht, wie ich es nennen ſoll! Das iſt der Grund, warum 
er ſich jetzt einzig und allein an mein Haus dankbar erinnert, 
ce pauvre prince! Wiſſen Sie wohl, Pawel Alexandrowitſch, 
daß Sie ihn vielleicht dadurch gerettet haben, daß Sie ihn zu 
mir brachten? Mit tiefem Weh im Herzen habe ich dieſe ſechs 
Jahre uͤber an ihn gedacht. Sie werden es nicht glauben: es 
hat mir ſogar von ihm getraͤumt. Man ſagt, dieſes Ungeheuer 


84 Onkelchens Traum 


von einem Weibe habe ihn behext, ihn beinah zugrunde gerichtet. | 
Aber nun haben Sie ihn ihr endlich aus den Klauen geriſſen! 
Nein, nun muß man die Gelegenheit benutzen und ihn voll⸗ 
ſtaͤndig retten! Aber erzaͤhlen Sie mir noch einmal, wie Ihnen 
das alles gelungen И! Beſchreiben Sie mir auf das eingehendſte 
Ihr ganzes Zuſammentreffen mit ihm! Vorhin habe ich in der 
Eile meine Aufmerkſamkeit nur der Hauptſache zugewandt, waͤh⸗ 
rend doch alle dieſe Details ſozuſagen der Sache erſt den rich- 
tigen Geſchmack geben. Ich hoͤre außerordentlich gern Details; 
ſogar bei den wichtigſten Dingen richte ich meine Aufmerkſam⸗ 
keit in erſter Linie auf die Details... und... ſolange er noch 
mit feiner Toilette beſchaͤftigt iſt ...“ 
„Ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen ſchon er: 4 
zaͤhlt habe, Marja Alexandrowna,“ faͤllt Moſgljakow bereitwillig 
ein; er würde die Geſchichte gern ſelbſt zum zehntenmal er⸗ 
zaͤhlen, ein ſolches Vergnuͤgen macht es ihm. „Ich fuhr die 
ganze Nacht hindurch; ſelbſtverſtaͤndlich ſchlief ich die ganze Nacht 
nicht; Sie koͤnnen es ſich vorſtellen, wie eilig ich es hatte!“ fuͤgt 
er, zu Sinaida gewendet, hinzu; „kurz, ich forderte auf den 
Stationen unter Schreien und Schimpfen Pferde und machte ; 
deswegen ſogar einen Mordsſkandal: wenn man das alles drucken 
wollte, würde ein ganzes Dichtwerk im modernſten Geſchmack 
herauskommen! Aber das alles nur beiläufig! Punkt ſechs Uhr 


Obwohl ich ganz durchfroren war, wollte ich mich doch nicht erſt 
aufwaͤrmen, ſondern ſchrie: ‚Pferde!‘ Die Frau des Stations 
aufſehers, die ein Kind an der Bruſt hatte, bekam daruͤber einen 
furchtbaren Schreck; ich glaube, es hat ihr die Milch verſchlagen. .. 
Ein entzuͤckender Sonnenaufgang! Wiſſen Sie, dieſer Froſtſtaub 
ſchimmert ganz purpurn und ſilbern! Aber ich kuͤmmerte mich 

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Drittes Kapitel 85 


um nichts; kurz, ich ſuchte [о ſchnell wie irgend möglich weiter: 
zukommen. Die Pferde erlangte ich nur durch Kampf; ich nahm 
fie einem Kollegienrate weg und forderte ihn beinah zum Duell. 
Es wurde mir geſagt, eine Viertelſtunde vorher ſei ein Fuͤrſt von 
der Station abgefahren; er fahre mit eigenen Pferden und ſei 
dort uͤber Nacht geblieben. Ich hoͤrte kaum danach hin, ſtieg ein 
und jagte davon, als haͤtte ich mich von der Kette losgeriſſen. 
Etwas Ahnliches kommt in einer Elegie bei Fet! vor. Gerade 
neun Werſt von der Stadt, da wo ſich der Weg nach dem Kloſter 
Swjetoſerſk abzweigt, ſehe ich, daß ſich ein erſtaunliches Begeb— 
nis zugetragen hat. Ein Reiſeſchlitten von gewaltiger Groͤße 
liegt auf der Seite; der Kutſcher und zwei Diener ſtehen ratlos 
davor, und aus dem auf der Seite liegenden Schlitten dringen 
herzzerreißende Hilferufe und Schmerzenslaute heraus. Ich 
wollte zuerſt vorbeifahren, denn ich dachte: „Meinetwegen kannſt 
du auf der Seite liegen bleiben; du gehoͤrſt nicht zu unſerm Я: 
ſpiel!' Aber es ſiegte doch die Menſchenliebe, die, wie Heine 
ſich ausdruͤckt, uͤberall ihre Naſe hineinſteckt. Ich ließ halten. Ich, 
mein Semjon und der Poſtkutſcher, auch ſo eine echt ruſſiſche 
Seele, wir eilten zu Hilfe, und auf dieſe Weiſe richteten wir zu 
ſechſen endlich die Kutſche wieder auf und ſtellten ſie auf die 
Beine; nun, Beine hatte ſie ja allerdings nicht, ſie war auf 
Kufen. Auch ein paar Bauern, die mit Holz nach der Stadt 
fuhren, halfen mit und bekamen von mir dafuͤr ein Trinkgeld. 
Ich dachte, das iſt gewiß der Fuͤrſt, der vor mir abgefahren iſt! 
Ich ſehe hin: mein Gott, das iſt ja er ſelbſt, Fuͤrſt Gawrila! Iſt 
das einmal ein Zuſammentreffen! Ich rufe ihm zu: Fuͤrſt! 
Onkelchen!' Er erkannte mich allerdings beim erſten Blick bei— 


1 Pſeudonym des Lyrikers Schenſchin, 1820 — 1892. Anmerkung des 
Überſetzers. 


86 Onkelchens Traum 


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nahe nicht; aber dann erkannte er mich fofort beinahe... beim 5 


zweiten Blicke. Ich muß Ihnen jedoch geftehen, daß er auch jetzt 
kaum weiß, wer ich eigentlich bin, und mich anſcheinend fuͤr 
einen andern hält und nicht für feinen Verwandten. Ich habe 
ihn vor ungefähr ſieben Jahren in Petersburg geſehen; nun, da= 


mals war ich ſelbſtverſtaͤndlich noch ein ganz junger Burſche. 
Ich meinerſeits erinnerte mich ſeiner ſehr gut; er hatte einen 
ſtarken Eindruck auf mich gemacht; na, aber er, wie ſollte er ſich 


meiner erinnern! Ich ſtellte mich ihm vor; er war entzuͤckt, um⸗ 
armte mich, zitterte aber dabei am ganzen Leibe vor Schreck 
und weinte, bei Gott, er weinte, ich habe es mit meinen eigenen 
Augen geſehen! Ein Wort gab das andere, und ich uͤberredete 
ihn ſchließlich, in meinen Schlitten hinuͤberzuſteigen und wenig— - | 


ſtens auf einen Tag nach Mordaſow zu fahren, ши ИФ wieder 


zu erholen; er war ohne Widerrede damit einverſtanden. Er 
ſetzte mir auseinander, er ſei auf der Fahrt nach dem Kloſter 
Swjetoſerſk, zu dem Moͤnchprieſter Miſail, den er ſehr hoch 
ſchaͤtze und verehre; Stepanida Matwjejewna (wer von uns Зет: 
wandten haͤtte nicht ſchon von Stepanida Matwjejewna gehoͤrt? 
mich hat ſie im vorigen Jahre aus Duchanowo mit dem Ofen— 


2 11 * 


beſen weggejagt), dieſe Stepanida Matwjejewna habe einen 


Brief erhalten, in dem geſtanden habe, daß jemand von ihren 
Angehoͤrigen in Moskau in den letzten Zuͤgen liege: ihr Vater 
oder ihre Tochter, ich weiß nicht recht wer, und es intereſſiert 
mich auch nicht, das zu wiſſen; vielleicht der Vater mitſamt der 


Tochter, vielleicht auch noch dazu ein Neffe von ihr, der dort im 


Departement der alkoholiſchen Getraͤnke angeſtellt iſt. Tatſache 
iſt jedenfalls dies: ſie war uͤber dieſe Nachricht ſo beſtuͤrzt, daß 
ſie ſich dazu entſchloß, ſich auf zehn Tage von ihrem Fuͤrſten zu 


trennen, und nach der Hauptſtadt eilte, um ſie durch ihre An- 


Drittes Kapitel 87 


weſenheit zu verſchoͤnern. Der Fürft ſaß einen Tag und noch 
einen Tag zu Hauſe, probierte Peruͤcken an, pomadiſierte ſich, 
faͤrbte ſich den Bart, legte ſich Karten und befragte vielleicht 
auch das Bohnenorakel; aber ohne Stepanida Matwjejewna 
konnte er es auf die Dauer zu Hauſe doch nicht aushalten! Er 
ließ anſpannen und wollte nach dem Kloſter Swjetoſerſk fahren. 
Einer von den Hausleuten, der vor Stepanida Matwjejewna 
auch in ihrer Abweſenheit Angſt hatte, wagte zwar gegen die 
Fahrt Einwendungen zu machen; aber der Fuͤrſt beharrte auf 
ſeinem Sinne. Geſtern nach dem Mittageſſen fuhr er von Hauſe 
ab, blieb in Igiſchewo uͤber Nacht, fuhr dann fruͤh morgens von 
der Station weiter und waͤre gerade da, wo ſich der Weg zu 
dem Moͤnchprieſter Miſail abzweigt, beinah mit ſeiner Schlitten— 
kutſche in eine Schlucht hinabgeſtuͤrzt. Nachdem ich ihn gerettet 
hatte, redete ich ihm zu, zu unſerer gemeinſamen Freundin, der 
hoch verehrten Marja Alexandrowna, zu fahren; er ſagte von 
Ihnen, Sie ſeien die bezauberndſte Dame, die er jemals kennen 
gelernt habe — und fo find wir denn jetzt hier; der Fuͤrſt aber 
bringt jetzt oben ſeine Toilette in Ordnung, mit Hilfe ſeines 
Kammerdieners, den er nicht vergeſſen hat mitzunehmen, und 
den mitzunehmen er niemals und unter keinen Umſtaͤnden ver— 
geſſen wird; denn er wuͤrde lieber ſterben als vor Damen ohne 
gewiſſe Zuruͤſtungen oder, richtiger geſagt, Verbeſſerungen er: 
ſcheinen. Das iſt der ganze Hergang! Eine allerliebſte Ge⸗ 
ſchichte!“ | 
„Aber was er für ein Humoriſt Ш, Sinaida!“ rief Marja 
Alexandrowna nach Anhoͤrung dieſes Berichtes; „wie huͤbſch er 
das erzaͤhlt! Aber hoͤren Sie, Pawel Alexandrowitſch, eine 
Frage: ſetzen Sie mir doch einmal Ihre Verwandtſchaft mit dem 
Fuͤrſten ordentlich auseinander! Sie nennen ihn Onkel?“ 


88 Onkelchens Traum 


„Bei Gott, Marja Alexandrowna, ich weiß nicht, wie ich mit 
ihm verwandt bin: ich glaube, was man fo nennt, um die ſechſte 
Ecke herum. Ich bin nicht ſchuld daran, daß ich ihn Onkel nenne; \ 
ſchuld an alledem ИЕ vielmehr meine Tante Aglaja Michailowna. 1 
Übrigens hat Tante Aglaja Michailowna weiter nichts zu tun, 
als Verwandtſchaften an den Fingern herzuzaͤhlen; ſie iſt es auch 
geweſen, die mich ordentlich mit Gewalt dazu gebracht hat, im 
vorigen Jahre zu ihm nach Duchanowo zu fahren. Sie haͤtte nur 
ſelbſt hinfahren ſollen! Ich nenne ihn ganz einfach Onkelchen, 
und er läßt es ſich gefallen. Da haben Sie unſere ganze Der: 
wandtſchaft, ſoviel ich wenigſtens heute davon zu ſagen weiß..." 

„Aber ich wiederhole doch, daß nur Gott Ihnen den Gedanken 
eingeben konnte, ihn geradeswegs zu mir zu bringen! Ich zittere, 
wenn ich mir vorſtelle, was mit dem Armſten geſchehen waͤre, 
wenn er zu jemand anders hingeraten waͤre als zu mir. Die 
Leute haͤtten ihn hier geradezu in Stuͤcke zerriſſen und ver⸗ 
ſchlungen! Sie hätten ſich auf ihn geſtuͤrzt wie auf eine Gold: 
grube, wie auf ein Diamantenlager — ſie haͤtten ihn womoͤglich 
einfach beſtohlen! Sie koͤnnen ſich gar nicht vorſtellen, was fuͤr 
gierige, niedrigdenkende, heimtuͤckiſche Menſchen es hier gibt, 
Pawel Alexandrowitſch!“ Er 

„Ach, mein Gott, aber zu wem hätte er ihn denn überhaupt 
bringen follen als zu Ihnen? Wie können Sie nur fo reden, 
Marja Alexandrowna!“ fiel Naſtaſja Petrowna ein, Ме Witwe, 
die den Tee eingoß. „Zu Anna Nikolajewna haͤtte er ihn ja 3 
doch wohl nicht bringen können, was meinen Sie?“ к 

„Aber, daß er noch immer nicht herunterkommt! Das ift doch . 
ſeltſam!“ ſagte Marja Alexandrowna und ftand ungeduldig auf. 

„Mein Onkelchen? O, ich glaube, der wird ſich oben noch 


fuͤnf Stunden lang anziehen! Und außerdem hat er, da er gar x 


Drittes Kapitel 89 


kein Gedächtnis beſitzt, vielleicht ſchon vergeſſen, daß er zu Ihnen 
zu Beſuch gekommen iſt. Er iſt ja ein ganz wunderbarer Menſch, 
Marja Alexandrowna!“ 

„Aber ich bitte Sie; was reden Sie! RR Sie doch fo 
etwas nicht!“ 

„Ja, Sie ſagen: ‚Was reden Sie!“ Marja Alexandrowna; 
aber es iſt die reine Wahrheit! Er iſt ja zur Hälfte ein Kunſt⸗ 
produkt und kein Menſch! Sie haben ihn vor ſechs Jahren ge— 
ſehen, aber ich vor einer Stunde. Er iſt ja eine halbe Leiche! 
Er iſt ja nur die Erinnerung an einen Menſchen; man hat ja 
nur vergeſſen, ihn zu beerdigen! Er hat ja eingeſetzte Augen 
und Korkbeine und bewegt ſich nur durch ein Federwerk; auch 
reden tut er nur durch ein Federwerk!“ 

„Mein Gott, was ſind Sie doch fuͤr ein leichtfertiger Menſch, 
wenn man Sie ſo reden hoͤrt!“ rief Marja Alexandrowna und 
nahm eine ſtrenge Miene an. „Sie muͤßten ſich doch ſchaͤmen, 
als junger Menſch und als Verwandter jo von dieſem ver: 
ehrungswuͤrdigen alten Manne zu ſprechen! Ganz zu geſchweigen 
von ſeiner beiſpielloſen Herzensguͤte“ (hier nahm ihre Stimme 
den Ton der Ruͤhrung an), „fo ſollten Sie doch nicht vergeſſen, 
daß er ein Überreſt, ſozuſagen ein Truͤmmerſtuͤck unſerer Ariſto— 
kratie iſt. Mein Freund, mon ami! Ich verſtehe vollkommen, 
daß Ihr leichtfertiges Benehmen die Folge gewiſſer neuer Ideen 
iſt, die Sie ſich zu eigen gemacht haben, und von denen Sie fort— 
während ſprechen. Aber, mein Gott! Ich bin ſelbſt eine An: 
haͤngerin Ihrer neuen Ideen! Ich verſtehe vollkommen, daß die 
Grundlage Ihrer neuen Richtung eine edle und ehrenhafte iſt. 
Ich fuͤhle, daß in dieſen neuen Ideen ſogar etwas Erhabenes 
liegt; aber alles dies hindert mich nicht, auch die naͤchſtliegende, 
ſozuſagen die praktiſche Seite der Sache zu ſehen. Ich habe in 


90 Onkelchens Traum 
der Welt gelebt, ich habe mehr geſehen als Sie, und ſchließlich 


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bin ich Mutter, Sie aber ſind noch ſehr jung. Er iſt ein alter 
Mann, und daher erſcheint er uns komiſch! Ja, Sie haben das 
vorigemal ſogar geſagt, Sie haͤtten die Abſicht, Ihre Bauern frei- 


zulaſſen, und man muͤſſe doch auch etwas fuͤr die neue Zeit tun; 


und das kommt alles daher, daß Sie uͤbermaͤßig viel in Ihrem 


Shakeſpeare geleſen haben! Glauben Sie mir, Pawel Alexan⸗ 
drowitſch, Ihr Shakeſpeare hat ſein Leben laͤngſt hinter ſich, 
und wenn er auferſtaͤnde, ſo wuͤrde er mit all ſeinem Verſtande 


von unſerem Leben auch nicht das geringſte verſtehen. Wenn 


es etwas Ritterliches und Großartiges in unſerer zeitgenoͤſſiſchen 
Geſellſchaft gibt, ſo iſt das gerade in der hoͤchſten Geſellſchafts— 
ſchicht zu finden. Ein Fuͤrſt bleibt auch in einem groben Kittel 
ein Fuͤrſt; ein Fuͤrſt wird auch in einer elenden Huͤtte derſelbe 
ſein wie in einem Schloſſe! Sehen Sie, da hat ſich der Mann 


von Natalja Dmitrijewna ein Haus gebaut, das beinah ein 


Schloß zu nennen iſt, und dennoch ift er nur Natalja Dmitri— 
jewnas Mann und weiter nichts! Und auch Natalja Dmitri— 
jewna ſelbſt bleibt, mag fie ſich auch fünfzig Krinolinen anziehen, 
doch immer die fruͤhere Natalja Dmitrijewna und fuͤgt ihrem 
Werte nichts hinzu. Auch Sie ſind zum Teil ein Repraͤſentant 
der hoͤchſten Geſellſchaftsſchicht, weil Sie aus ihr hervorgegangen 


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ſind. Und ich glaube ihr ebenfalls nicht fernzuſtehen — das iſt 
aber ein ſchlechter Vogel, der fein eigenes Neſt beſchmutzt! In- 


deſſen, Sie werden das alles ſpaͤter noch beſſer einſehen als ich, 
mon cher Paul, und werden Ihren Shakeſpeare vergeſſen. Das 
kann ich Ihnen vorherſagen. Ich bin uͤberzeugt, daß Sie ſogar 
auch jetzt nicht aufrichtig ſind und nur um der Mode willen ſo 
reden. Aber ich bin ins Plaudern hineingeraten. Bleiben Sie 
hier unten, mon cher Paul; ich werde nach oben gehen und mich 


Drittes Kapitel 91 


nach dem Fuͤrſten erkundigen. Vielleicht bedarf er irgend etwas, 
und mit meinen Dienftboten iſt ja nichts anzufangen ...“ 

Damit verließ Marja Alexandrowna, in Erinnerung an die 
Unbrauchbarkeit ihrer Dienſtboten, eilig das Zimmer. 

„Marja Alexandrowna ſcheint ſich ſehr daruͤber zu freuen, daß 
der Beſuch des Fuͤrſten nicht dieſer Modenaͤrrin, der Anna 
Nikolajewna, zuteil geworden iſt. Die hatte immer behauptet, 
mit ihm verwandt zu ſein. Da wird ſie gewiß jetzt vor Arger 
platzen!“ bemerkte Naſtaſja Petrowna. Aber es fiel ihr auf, daß 
ſie keine Antwort bekam; ſie warf einen Blick nach Sinaida und 
Pawel Alexandrowitſch hin, erriet ſofort, wie die Sache ſtand, 
und ging, anſcheinend um etwas zu beſorgen, hinaus. Indeſſen 
entſchaͤdigte fie ſich dafür auf der Stelle dadurch, daß fie an der 
Tuͤr ſtehen blieb und horchte. 

Pawel Alexandrowitſch wandte ſich ſogleich an Sinaida. Er Без 
fand ſich in ſchrecklicher Aufregung, und die Stimme zitterte ihm. 

„Sinaida Afanaſjewna, Sie ſind mir doch nicht boͤſe?“ le 
er mit ſchuͤchterner, flehender Miene. 

„Ihnen boͤſe? Warum ſollte ich Ihnen boͤſe ſein?“ erwiderte 
Sinaida, leicht erroͤtend, und hob ihre wundervollen u zu 
ihm auf. 

„Weil ich {о ſchnell wieder hergekommen bin, Sinaida Afa— 
naſjewna! Ich konnte es nicht laͤnger aushalten; ich konnte nicht 
noch vierzehn Tage warten . .. Ich habe ſogar von Ihnen ge: 
träumt. Ich bin hergeeilt, um mein Schickſal zu erfahren ... 
Aber Sie machen ein finſteres Geſicht; Sie ſind mir boͤſe! Soll 
ich wirklich auch jetzt nichts Beſtimmtes erfahren?“ 

Sinaida hatte tatſaͤchlich die Brauen zuſammengezogen. 

„Ich habe es erwartet, daß Sie wieder davon zu reden an— 
fangen wuͤrden,“ antwortete ſie, indem ſie die Augen wieder 


92 Onkelchens Traum 


niederſchlug; ihre Stimme klang feſt und ernſt; aber man hoͤrte 
es derſelben doch an, daß fie ſich aͤrgerte. „Und da dieſer Zus 
ſtand der Erwartung mir ſehr peinlich war, ſo iſt es mir lieb, 
wenn die Sache ſo ſchnell wie moͤglich erledigt wird. Sie fordern 
wieder eine Antwort, das heißt, Sie bitten um eine ſolche. Nun 
gut, ich will ſie Ihnen noch einmal wiederholen; denn meine 
Antwort iſt ganz dieſelbe wie fruͤher: warten Sie! Ich wieder⸗ 
hole Ihnen: ich habe mich noch nicht entſchieden und kann Ihnen 
nicht das Verſprechen geben, Ihre Frau zu werden. Ein ſolches 
Verſprechen kann man nicht mit Gewalt fordern, Pawel Alexan⸗ 
drowitſch. Aber zu Ihrer Beruhigung fuͤge ich hinzu, daß ich 
Ihren Antrag noch nicht endguͤltig ablehne. Beachten Sie auch 
noch dies: wenn ich Ihnen jetzt die Hoffnung auf eine guͤnſtige 
Entſcheidung laſſe, ſo tue ich das einzig und allein, weil mir Ihre 
Ungeduld und Aufregung leid tun. Ich wiederhole Ihnen, daß 
ich in meiner Entſchließung vollkommen frei bleiben will, und 
wenn ich Ihnen ſchließlich ſagen ſollte, daß ich Ihren Antrag 
ablehne, fo dürfen Sie mir keine Vorwuͤrſe machen, als ob ich 
Ihnen Hoffnung gemacht hätte. Alſo das merken Sie ſich!“ 
„Aber was beſagt denn das, was beſagt denn das?“ rief 
Moſgljakow in klaͤglichem Tone. „Iſt denn das wirklich eine 
Hoffnung? Kann ich aus Ihren Worten irgendwelche Hoffnung 
entnehmen, Sinaida Afanaſjewna?“ & 
„Denken Sie an alles, was ich Ihnen gefagt habe, und ent⸗ 
nehmen Sie daraus alles, was Ihnen beliebt! Das ſteht Ihnen я 
frei. Aber ich füge nichts weiter hinzu. Ich gebe Ihnen noch 
keine abfchlägige Antwort; ich ſage nur: warten Sie! Aber ich 
wiederhole Ihnen: ich behalte mir das volle Recht vor, Ihren | 
Antrag abzulehnen, wenn mir das gut ſcheinen ſollte. Ich 1 
moͤchte noch eines bemerken, Pawel Alexandrowitſch: wenn Sie 


ЖЕ: 


. > 


Drittes Kapitel 93 


vor dem für die Antwort feſtgeſetzten Termine in der Abſicht 
hergekommen ſein ſollten, auf Umwegen zu wirken, etwa in der 
Hoffnung auf fremde Protektion, zum Beiſpiel auf den Einfluß 
meiner Mutter, ſo haben Sie ſich in Ihrer Spekulation ſehr ge— 
irrt. Dann werde ich Ihnen geradezu eine Abſage erteilen, 
hoͤren Sie wohl? Aber jetzt genug davon, und, bitte, erinnern 
Sie mich bis zur beſtimmten Zeit an dieſe ganze Sache mit 
keinem Worte!“ 

Dieſe ganze Rede ſprach ſie in trockenem, feſtem Tone und 
ſo fließend, als ob ſie ſie vorher auswendig gelernt haͤtte. Pawel 
Alexandrowitſch fühlte, daß er abgeblitzt war. In dieſem Augen: 
blicke kehrte Marja Alexandrowna zuruͤck und nach ihr, faſt gleich— 
zeitig, Frau Sjablowa. 

„Ich glaube, er wird ſogleich herunterkommen, Sinaida! 
Naſtaſja Petrowna, kochen Sie recht ſchnell neuen Tee!“ Marja 

Alexandrowna befand ſich ſogar in einiger Aufregung. 

„Anna Nikolajewna hat ſchon hergeſchickt, um Erkundigungen 
einzuziehen. Ihre Anjutka iſt in die Küche gelaufen gekommen 
und hat dort gefragt. Die wird ſich jetzt boſen!“ berichtete 
Naſtaſja Petrowna und eilte zum Samowar hin. 

„Was geht mich das an?“ erwiderte ihr Marja Alexandrowna 
uͤber die Schulter weg. „Als ob ich mich dafuͤr intereſſierte, was 
Ihre Anna Nikolajewna denkt! Sie koͤnnen mir glauben: ich 
werde niemanden zu ihr in die Kuͤche ſchicken. Und ich wundere 
mich, wundere mich entſchieden, warum Sie mich immer fuͤr 
eine Feindin dieſer armen Anna Nikolajewna halten, und nicht 
Sie allein, ſondern die ganze Stadt. Ich berufe mich auf Sie, 
Pawel Alexandrowitſch! Sie kennen uns beide; nun, warum 
ſollte ich ihre Feindin ſein? Wegen des Vorranges? Aber an 
dieſem Vorrange iſt mir nicht das geringſte gelegen. Mag ſie 


94 Onkelchens Traum 


doch den erſten Platz einnehmen, mag ſie! Ich werde gern die 


erſte ſein, die zu ihr hinfaͤhrt, um ihr zu ihrem Vorrange zu 


gratulieren. Und ſchließlich ſind doch alle gegen ſie gerichteten 


Beſchuldigungen ungerecht. Ich trete fuͤr ſie ein; es iſt meine 
Pflicht, für fie einzutreten! Sie wird verleumdet. Warum 
fallen Sie alle uͤber ſie her? Sie iſt jung und putzt ſich gern; iſt 
das der Grund? Aber meiner Meinung nach iſt es doch beſſer, 
ſich zu putzen, als etwas anderes zu tun, wie zum Beiſpiel dieſe 
Natalja Dmitrijewna, die Dinge treibt, von denen man gar nicht 
einmal reden kann. Oder weil Anna Nikolajewna fortwaͤhrend 
Beſuche macht und nicht zu Hauſe bleiben kann? Aber, mein 
Gott! Sie hat keinerlei Bildung genoſſen, und da faͤllt es ihr 


natürlich ſchwer, zum Beiſpiel ein Buch aufzuſchlagen und ſich 


mit etwas zwei Minuten lang zu beſchaͤftigen. Sie kokettiert 
und liebaͤugelt mit jedem, der auf der Straße voruͤbergeht. Aber 
warum verſichert man ihr denn, daß ſie huͤbſch ſei, waͤhrend ſie 
doch nur ihr weißes Geſicht hat und weiter nichts? Sie bringt 
die Zuſchauer beim Tanzen zum Lachen, das gebe ich zu. Aber 
warum verſichert man ihr denn, ſie tanze wundervoll Polka? 
Sie traͤgt ſchauderhafte Coiffuͤren und Huͤte; aber was kann ſie 
dafuͤr, daß ihr Gott keinen Geſchmack, ſondern dafuͤr ein ſolches 
Quantum von Leichtglaͤubigkeit gegeben hat? Verſichern Sie 
ihr, daß es huͤbſch ausſieht, wenn man ſich ein Bonbonpapier 
ins Haar ſteckt, und ſie wird das tun. Sie iſt eine Klatſchbaſe; 
aber das Ш hier der Brauch: wer klatſcht hier nicht? Herr 
Suſchilow mit dem ſchoͤnen Backenbarte beſucht ſie morgens und 
abends und womoͤglich auch noch in der Nacht. Ach, mein Gott! 
Ihr Mann ſollte nicht bis fuͤnf Uhr morgens Karten ſpielen! 
Und dazu nehme man noch, daß es hier ſo viele ſchlechte Bei— 
ſpiele gibt! Schließlich iſt das alles vielleicht auch nur Vers 


Viertes Kapitel 95 


eng Kurz, ich werde immer, immer r für ſie eintreten! 
Aber, mein Gott! Da kommt der Fuͤrſt! Er iſt es, er iſt es! 
Aus Tauſenden erkenne ich ihn heraus! Endlich ſehe ich Sie 
wieder, mon prince!“ rief Marja Alexandrowna und eilte dem 
eintretenden Fuͤrſten entgegen. | 


Viertes Kapitel 


Beim erſten fluͤchtigen Blicke werden Sie dieſen Fuͤrſten ganz 
und gar nicht fuͤr einen alten Mann halten, und erſt wenn Sie 
ihn naͤher und genauer anſehen, werden Sie erkennen, daß das 
eine Art Leiche auf Sprungfedern iſt. Alle Mittel der Kunſt 
ſind zur Anwendung gebracht, um dieſe Mumie als Juͤngling 
zu koſtuͤmieren. Die Peruͤcke, der Backenbart, der Schnurrbart 
und die Fliege, ſaͤmtlich falſch, aber bewundernswert nach— 
gemacht, zeigen eine prachtvolle ſchwarze Farbe und bedecken 
das halbe Geſicht. Das Geſicht iſt außerordentlich kunſtvoll weiß 
und rot geſchminkt und weiſt faft gar keine Runzeln auf. Wo 
ſind ſie geblieben? Das weiß man nicht. Gekleidet iſt er voll⸗ 
ftändig nach der Mode, als ob er aus einem Modebilde aus— 
geſchnitten waͤre. Er traͤgt eine Art von Viſitenanzug oder 
etwas Ahnliches; ich weiß wahrhaftig nicht, was es eigentlich 
iſt; aber jedenfalls iſt es etwas hoͤchſt Modernes, Neues, ſpeziell 
fuͤr Morgenviſiten Geſchaffenes. Die Handſchuhe, die Hals— 
binde, die Weſte, die Waͤſche und alles übrige iſt von einer 
blendenden Friſche und zeugt von feinem Geſchmack. Der Fuͤrſt 
hinkt ein wenig; aber er hinkt ſo geſchickt, als ob auch dies nach 
den Geſetzen der Mode notwendig waͤre. Im einen Auge traͤgt 
er ein Monokel, und zwar in eben dem Auge, das ſelbſt von 
Glas iſt. Der Fuͤrſt iſt von Wohlgeruͤchen durchtraͤnkt. Beim 
Sprechen zieht er manche Worte in einer beſonderen Weiſe in 


96 Onkelchens Traum 


die Laͤnge, vielleicht aus Altersſchwaͤche, vielleicht daher, weil 


ſeine Zaͤhne ſaͤmtlich falſch ſind, vielleicht auch um des wuͤrde— 
volleren Eindrucks willen. Gewiſſe Silben ſpricht er mit uͤberaus 
ſuͤßem Tone aus; beſonders liebt er dabei den Vokal e. „Ja“ 
klingt bei ihm wie „jje“, aber nur noch etwas ſuͤßer und weicher. 
In ſeinem ganzen Benehmen liegt eine gewiſſe Laͤſſigkeit, die 


er ſich im Laufe ſeines ganzen ſtutzerhaften Lebens angelernt 


hat. Aber wenn ſich etwas von dieſem ſeinem fruͤheren ſtutzer— 


haften Leben erhalten hat, ſo hat es ſich nur unbewußt erhalten, 
in Form einer unklaren Erinnerung, in Form einer dahin- 


geſtorbenen und begrabenen alten Zeit, die leider keine kosme⸗ 


WN 


* 


tiſchen Mittel, keine Korſetts, keine Parfümerie handler und keine 
Peruͤckenmacher wieder ins Leben zuruͤckrufen koͤnnen. und 
darum werden wir am beſten tun, wenn wir gleich von vorn⸗ 
herein bekennen, daß der alte Herr infolge ſeines Alters zwar 


noch nicht den Verſtand, wohl aber ſchon laͤngſt das Gedaͤchtnis 


verloren hat, ſich alle Augenblicke verheddert, ſich wiederholt und 
ſogar vollſtaͤndigen Unſinn redet. Es bedarf ſogar einer beſon⸗ 


deren Kunſt, um mit ihm zu reden. Aber Marja Alexandrowna ; 


3 ЛА 


vertraut auf ihre Geſchicklichkeit und gerät beim Anblick des 


Fuͤrſten in unausſprechliches Entzuͤcken. 


„Aber Sie haben ſich ja gar nicht, nicht im geringſten ver⸗ 
aͤndert!“ ruft fie, indem fie beide Hände des Gaſtes ergreift und т 
ihn auf einen bequemen Lehnſtuhl nötigt. „Setzen Sie ſich, 
ſetzen Sie ſich, Fuͤrſt! Sechs Jahre lang, ganze ſechs Jahre lang 


haben wir uns nicht geſehen, und keinen einzigen Brief, ja nicht 
eine einzige Zeile habe ich in dieſer ganzen Zeit von Ihnen er⸗ 


*. 


halten! Oh, wie ſchlecht find Sie gegen mich geweſen, Fuͤrſt! 


Und иле Бе war ich auf Sie, mon cher prince! Aber Tee, 
Tee! Ach mein Gott, Naſtaſja Petrowna, Tee!“ 


Viertes Kapitel 97 


„Ich dan-ke Ihnen, dan-ke Ihnen und bitte um Ver;zei— 
hung!“ liſpelt der Fuͤrſt (wir haben vergeſſen zu ſagen, daß er 
ein wenig liſpelt; aber auch das tut er wie nach einer Vorſchrift 
der Mode). „Ver⸗zei⸗hung! Und denken Sie ſich: noch im vorigen 
Jahre wollte ich un-be⸗dingt hierher fahren,“ fuͤgt er hinzu, 
waͤhrend er das Zimmer durch die Lorgnette betrachtet. „Aber 
man machte mir Этой: es hieß, hier fei die Cho⸗le ra.“ 

„Nein, Fuͤrſt, bei uns iſt keine Cholera geweſen,“ ſagt Marja 
Alexandrowna. 

„Eine Viehſeuche war hier, Onkelchen!“ wirft Moſgljakow 
dazwiſchen, der ſich gern bemerklich machen moͤchte. Marja 
Alexandrowna mißt ihn mit einem ſtrengen Blicke. 

„Nun ja, eine Vieh⸗ſeu⸗che oder ſo etwas Ahnliches. So blieb 
ich denn zu Hauſe. Nun, wie geht es Ihrem Manne, meine liebe 
Anna Nikolajewna ? Iſt er immer noch als Staats-an-walt tätig?” 

„Ich moͤchte darauf wetten, daß Onkelchen eine Verwechſe— 
lung begeht und Sie fuͤr Anna Nikolajewna Antipowa haͤlt!“ 
ruft der findige Moſgljakow, hält aber ſofort inne, da er merkt, 
daß auch ohne dieſe Erklaͤrungen Marja Alexandrowna ſich ſchwer 
gekraͤnkt fuͤhlt. 

„Nun ja, ja, für Anna Nikolajewna . . . ich vergeſſe immer den 
Familiennamen ... nun ja, Antipowa, richtig, Antipowa,“ bes 
ftätigt der Fuͤrſt. | 

„Nein, nein, Fuͤrſt, Sie irren ſich ſehr,“ ſagt Marja Alexan⸗ 
drowna mit einem bitteren Laͤcheln. „Ich bin gar nicht Anna 
Nikolajewna, und ich muß geſtehen, ich haͤtte nicht erwartet, 
daß Sie mich nicht erkennen wuͤrden! Sie ſetzen mich in Er— 
ſtaunen, Fuͤrſt! Ich bin Ihre ehemalige Freundin Marja Alexan— 
drowna Moſkalewa. Erinnern Sie ſich noch an Marja Alexan— 
drowna, Fuͤrſt?“ 

XXVI. 7 


98 Onkelchens Traum 


„Marja Alexandrowna! Nun ſehen Sie einmal an! Und ich 
dach⸗te gerade, Sie waͤren (wie war doch der Name?) — nun 
ja! Anna Waſiljewna ... C'est délicieux! Alſo da bin ich nach 
einer falſchen Stelle hingefahren. Und ich dachte, mein Freund, 
du braͤch⸗teſt mich gerade zu dieſer Anna Matwjejewna. C'est 
charmant! Aber das begegnet mir häufig... Ich fahre häufig 
nach einer falſchen Stelle hin! Ich bin aber immer zufrieden, 
immer zufrieden, wie es ſich auch treffen mag. Alſo Sie ſind 
nicht Naſtaſja Waſiljewna? Das iſt intereſſant ...“ | 

„Marja Alexandrowna, Fürft, Marja Alexandrowna! Oh, 
wie weh Sie mir getan haben! Wie konnten Sie nur Ihre beſte 
Freundin vergeſſen, Ihre beſte Freundin!“ 

„Nun ja, meine be⸗ſte Freundin ... pardon, pardon!“ liſpelt 
der Fuͤrſt und betrachtet angelegentlich Sinaida. 4 

„Und das ift meine Tochter Sinaida. Sie kennen fie noch 
nicht, Fuͤrſt. Sie war bei Ihrer vorigen Anweſenheit nicht hier; 
erinnern Sie ſich noch, vor ſechs Jahren?“ g 

„Das iſt Ihre Tochter! Charmante, charmante!“ murmelt 
der Fuͤrſt, während er Sinaida begehrlich durch die Lorgnette 
betrachtet. „Mais quelle beauté!“ flüftert er, offenbar ſehr über: 
raſcht. $ 
„Bitte, nehmen Sie Tee, Fuͤrſt!“ ſagt Marja Alexandrowna 
und lenkt die Aufmerkſamkeit des Fuͤrſten auf den Diener, einen : 
Knaben in Koſakentracht, der mit einem Praͤſentierteller in der 
Hand vor ihm ſteht. Der Fuͤrſt nimmt eine Taſſe und betrachtet 4 
den Knaben, der volle, rote Baͤckchen hat. 5 

„A⸗a⸗ah, das ift Ihr Soͤhnchen?“ ſagt er. „Was für ein huͤb— 
ſcher Kna-be! U-u⸗und gewiß auch ſehr ar-tig, nicht wahr?“ 

„Aber, Fuͤrſt,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna eilig, „ich 
habe von dem furchtbaren Ereigniſſe gehoͤrt! Ich muß geſtehen, 


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Viertes Kapitel 2) 


ich war ganz faſſungslos vor Schreck. .. Haben Sie ſich auch 
nicht beſchaͤdigt? Nehmen Sie ſich damit nur recht in acht! So 
etwas darf man nicht vernachlaͤſſigen!“ 

„Er hat mich umgeworfen! Er hat mich umgeworfen! Mein 
Kutſcher hat mich umgeworfen!“ ruft der Fuͤrſt mit ungewoͤhn— 
licher Lebhaftigkeit. „Ich dachte ſchon, es kaͤme der Weltunter— 
gang oder ſo etwas Ahnliches, und bekam einen ſolchen Schreck, 
daß ich (die Heiligen moͤgen es mir verzeihen!) den Himmel fuͤr 

ein Schaffell anſah! Das hatte ich nicht erwartet, das hatte ich 
nicht erwartet! Das hatte ich ganz und gar nicht er-war-tet! 
Und an alledem Ш nur mein Kutſcher Fe⸗o-fil ſchuld! Ich ver— 
laſſe mich ganz auf dich, mein Freund: nimm du die Sache in 
die Hand und unterſuche ſie ordentlich! Ich bin davon uͤ-ber— 
zeugt, daß er es auf mein Leben ab⸗ge-ſe⸗-hen hatte.“ 

„Schoͤn, ſchoͤn, Onkelchen,“ antwortet Pawel Alexandrowitſch 
„ich werde alles unterſuchen! Aber wiſſen Sie was, Onkelchen: 
verzeihen Sie ihm doch, dem heutigen Tage zu Ehren, ja? Was 
meinen Sie?“ 

„Unter keinen Um:ſtaͤn⸗den werde ich ihm verzeihen! Ich 
din davon uͤberzeugt, daß er es auf mein Leben ab-ge⸗-ſe⸗hen 
hatte! Er und auch noch Lawrenti, den ich zu Hauſe gelaſſen 
hatte. Denken Sie ſich nur: er hat irgendwelche neuen Ideen 
gufgeſchnappt, wiſſen Sie! Es iſt bei ihm ſo eine Art von 
Feindſchaft gegen die beſtehenden Verhaͤltniſſe zum Vorſchein 
gekommen . .. Kurz, er iſt ein Kommuniſt, im vollen Sinne 

des Wortes! Ich fuͤrchte mich ſogar davor, mit ihm zuſammen— 
zukommen!“ | 

„Ach, wie wahr ift das, was Sie da geſagt haben, Fuͤrſt!“ 
ruft Marja Alexandrowna aus. „Sie glauben gar nicht, wie— 
viel ich ſelbſt durch die Untauglichkeit der Dienſtboten zu leiden 


100 Onkelchens Traum 


habe! Stellen Sie ſich das nur vor: ich habe jetzt zwei meiner 
Leute gewechſelt, und ich muß geſtehen, die neuen ſind ſo dumm, 
daß ich geradezu vom Morgen bis zum Abend mich mit ihnen 
herumplagen muß. Sie glauben gar nicht, wie dumm ſie ſind, 
Fuͤrſt!“ 

„Nun ja, nun ja! Aber ich muß Ihnen geſtehen, ich habe es 
ſogar ganz gern, wenn ein Diener ein bißchen dumm Ш,” be: 
merkt der Fürft, der, wie alle alten Leute, fich freut, wenn man 
fein Geſchwaͤtz ehrerbietig anhört. „Einem Diener ſteht das gut 
— und es verleiht ihm fogar eine eigene Würzde, wenn er ет: 
fältig und dumm iſt. Selbſtverſtaͤndlich nur in gewiſſen Fälzlen. 
Er macht dadurch einen ſtatt-li-che⸗ren Eindruck; fein Geſicht Бе: 
kommt etwas Fei⸗er⸗li⸗ches; kurz, die Wohlerzogenheit tritt mehr 
hervor, und von einem Diener verlange ich vor allen Dingen 
Wohlerzogenheit. Da iſt zum Beiſpiel mein Te-ren-ti. Du er: 
innerſt dich wohl noch an Te-ren-ti, mein Freund? Sowie ich 
den zum erſtenmal anſah, fagte ich ſogleich zu ihm: ‚Du mußt 
Portier werden!‘ Er iſt von einer phaͤ-no-me-nalen Dummheit! 
Er macht ein Geſicht wie ein Hammel, der aufs Waſſer blickt! 
Aber was iſt er fuͤr eine ſtatt-li⸗che, fei⸗er⸗ liche Erſcheinung! Was 
hat ſein Doppelkinn fuͤr eine friſche, roſige Farbe! Nun, und 
ſo mit der weißen Halsbinde und in voller Gala, da macht er 
wirklich Effekt! Ich habe ihn von Herzen liebgewonnen. Manch— 
mal betrachte ich ihn und kann mich an ihm gar nicht ſattſehen: 
als wenn er eine Diſſertation verfaßte, eine ſo wichtige Miene 
macht er. Kurz, er iſt der richtige deutſche Philoſoph Kant oder, 
noch richtiger geſagt, ein gemaͤſteter, fetter Truthahn. Er beſitzt 
das vollſtaͤndige comme il faut für einen Diener! ...“ 

Marja Alexandrowna lacht ganz entzuͤckt und begeiſtert und 
klatſcht ſogar in die Hände. Pawel Alexandrowitſch ſekundiert 


Viertes Kapitel 101 


ihr von ganzem Herzen: er amuͤſiert ſich über den Onkel 
hoͤchlichſt. Auch Naſtaſja Petrowna lacht. Sogar Sinaida 
laͤchelt. 

„Aber wieviel Humor, wieviel Heiterkeit, wieviel Witz be⸗ 
ſitzen Sie, Fuͤrſt!“ ruft Marja Alexandrowna. „Was fuͤr eine 
unſchaͤtzbare Fähigkeit, die feinſten, komiſchſten Züge zu Ве: 
merken! ... Und daß Sie fo aus der Geſellſchaft verſchwunden 
ſind und ſich ganze fuͤnf Jahre lang von aller Welt abgeſchloſſen 
haben! Mit einem ſolchen Talente! Aber Sie koͤnnten ja ſchrift— 
ſtelleriſch tätig fein, Fuͤrſt! Sie koͤnnten ein zweiter Fonwiſin 
oder Gribojedow oder Gogol werden! ...“ 

„Nun ja, nun ja!“ ſagt der Fuͤrſt ſehr zufrieden; „das könnte 
ich .. . und wiſſen Sie, ich bin in früherer Zeit außerordentlich 
witzig geweſen. Ich habe ſogar ein Vau-de-ville für die Bühne 
geſchrieben. Es kamen darin ein paar ent;zuͤk-kende Couplets 
vor! Es iſt übrigens nie geſpielt worden ...“ 

„Ach, wie nett waͤre es, wenn wir es zu leſen bekaͤmen! Und 
weißt du, Sinaida, das wuͤrde ſich gerade jetzt ſehr gut treffen! 
Man beabſichtigt naͤmlich bei uns, eine Theatervorſtellung zu— 
ſtande zu bringen, zu einem patriotiſchen Zwecke, Fuͤrſt, zum 
Beſten der Verwundeten ... dazu ſollten Sie uns Ihr Vaude: 
ville geben!“ 

„Gewiß! Ich bin ſogar bereit, es noch einmal zu ſchreiben ... 
aber ich habe es vollſtaͤndig vergeſſen. Ich erinnere mich jedoch, 
es kamen darin zwei oder drei derartige Witze vor, daß ...“ 
(der Fuͤrſt kuͤßte feine Fingerſpitzen). „Überhaupt machte ich, 
als ich im Aus-lan⸗de war, geradezu fu-ro-re. Ich befinne mich 
noch auf Lord Byron. Wir verkehrten miteinander freundſchaft— 
lich. Er tanzte auf dem Wiener Kongreß ganz entzuͤckend einen 
Krakowiak.“ 


102 Onkelchens Traum 


ſagen Sie da?“ 

„Nun ja, Lord Byron. Aber vielleicht war es auch nicht Lord 
Byron, ſondern jemand anders. Richtig, es war nicht Lord 
Byron, ſondern ein Pole! Jetzt erinnere ich mich vollſtaͤndig. 


4 
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„Lord Byron, Onkelchen! Ich bitte Sie, Di Onzelchen, was 


4 


Und ein ganz oerisgisneller Menſch war dieſer Pole; er gab ſich 


fuͤr einen Grafen aus; aber nachher ergab ſich, daß er ein Speiſe— 
wirt war. Indes den Krakowiak tanzte er ent-zuͤk-kend, und zu⸗ 
letzt brach er ſich ein Bein. Ich habe damals auf dieſes Begeb— 
nis einen Vers gemacht: 
Unſer Pole tanzte ſchoͤn, 
So was hab' ich nie geſehn. 
Aber dann... aber dann, wie es weiterging, daran erinnere 
ich mich nicht mehr; ich glaube: 
Doch als er ſich brach das Bein, 
Ließ er wohl das Tanzen ſein ...“ | 
„Gewiß wird es [о geweſen fein, Onkelchen!“ ruft Mofgljas 
kow, der in immer größere Begeiſterung gerät. 
„Ich glaube, es war jo, mein Freund,“ antwortet Onkelchen, 


„oder wenigſtens ſo aͤhnlich. Vielleicht war es uͤbrigens auch 


anders; aber jedenfalls waren es ſehr wohlgelungene Verſe ... 
Überhaupt habe ich jetzt manches, was ich erlebt habe, vergeſſen. 
Das kommt von meinen vielen Beſchaͤftigungen.“ 


„Aber ſagen Sie, Fuͤrſt, womit haben Sie ſich denn dieſe 
ganze Zeit uͤber in Ihrer Einſamkeit beſchaͤftigt?“ fragt 
Marja Alexandrowna lebhaft intereſſiert. „Ich habe ſo oft an 
Sie gedacht, mon cher prince, daß ich, wie ich offen geſtehe, 


diesmal von Ungeduld brenne, daruͤber Naͤheres zu er— 
fahren .. 


„Womit ich mich beſchaͤftigt habe? Nun, wiſſen Sie, es gib“ 


Viertes Kapitel 103 


überhaupt viele Be⸗ſchaͤf⸗ti⸗zgungen. Manchmal erholt man fich 
ja auch; aber oft, wiſſen Sie, gehe ich ſo dahin und ſtelle mir 
allerlei Dinge vor ...“ 

„Sie haben gewiß ein außerordentlich ſtarkes Vorſtellungs— 
vermoͤgen, Onkelchen?“ 

„Ja, ein außerordentlich ſtarkes, mein Lieber. Ich ſtelle mir 
manchmal ſolche Dinge vor, daß ich ſogar ſelbſt daruͤber nachher 
ganz er⸗ſtaunt bin. Als ich in Kadujew war .. . А propos! Du 
biſt ja, glaube ich, Vizegouverneur in Kadujew geweſen?“ 

„Ich, Onkelchen? Aber ich bitte Sie, was reden Sie!“ ruft 
Pawel Alexandrowitſch. | 

„Nun denk mal an, mein Freund! Und ich habe dich immer 
für den Vizegouverneur gehalten, und ich dachte noch: der hat 
ja auf einmal ein ganz anderes Ge-ſicht bekommen? Jener, 
weißt du, hatte ſo ein recht wuͤr-de-volles, kluges Geſicht. Er 
war ein au-ßer⸗or⸗dentlich kluger Menſch, und immer machte er 
Ge⸗dich⸗te, bei allen moͤglichen Gelegenheiten. Von der Seite 
geſehen hatte er einige Ahnlichkeit mit Karo-Koͤnig ...“ 

„Nein, Fuͤrſt,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna, „ich 
kann Ihnen beſtimmt vorherſagen, daß Sie ſich durch ein ſolches 
Leben zugrunde richten werden! Wie kann man ſich nur fuͤnf 
Jahre in der Einſamkeit vergraben, ohne einen Menſchen zu 
ſehen und ohne etwas zu hoͤren! Aber Sie ſind ein verlorener 
Menſch, Fuͤrſt! Fragen Sie, wen Sie wollen, von denen, die 
Ihnen treu ergeben ſind: jeder wird Ihnen ſagen, daß Sie ein 


verlorener Menſch ſind!“ 


„Wirklich?“ ruft der Fuͤrſt. 

„Ich verſichere Sie; ich rede zu Ihnen als Freundin, wie eine 
Schweſter! Ich ſage Ihnen das deswegen, weil Sie mir teuer 
ſind, weil das Andenken der Vergangenheit mir teuer iſt! Was 


104 


hätte ich für Vorteil davon, wenn ich heucheln wollte? Nein, 
Sie muͤſſen Ihre Lebensweiſe von Grund aus aͤndern; ſonſt 
werden Sie Ihre Kraft erſchoͤpfen, Sie werden krank werden, 
Sie werden ſterben ...“ 

„Ach, mein Gott! Werde ich wirklich ſo bald ſterben?“ ruft 
der Fuͤrſt erſchrocken. „Und denken Sie nur, Sie haben es er: 
raten: mich quälen in hohem Grade meine Hämorrhoiden, Бе: 
ſonders ſeit einiger Zeit. Und wenn ich derartige Anfälle Ве: 
komme, dann treten dabei überhaupt ganz wun-der-bare Фут: 
ptome auf; ich werde Sie Ihnen in aller Ausfuͤhrlichkeit be: 
ſchreiben. Erſtens ...“ 

„Erzählen Sie das lieber ein andermal, Onkelchen!“ fällt ihm 
Pawel Alexandrowitſch ins Wort. „Aber jetzt ... Ш es nicht 
Zeit, daß wir wegfahren?“ 

„Nun ja, auch gut, ein andermal. Vielleicht iſt es auch nicht 
beſonders intereſſant, es zu hören. Das ſage ich mir jetzt ſelbſt ... 
Aber doch iſt es eine hoͤchſt merkwuͤrdige Krankheit. Es kommen 
dabei allerlei Epiſoden vor. Erinnere mich doch daran, mein 
Freund, ich werde dir ſpaͤter, am Abend, einen ſolchen Fall aus⸗ 
fuͤhrlich erzaͤhlen ...“ 

„Aber hoͤren Sie, Fuͤrſt, Sie ſollten es doch mit einer Kur 
im Auslande verſuchen,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna 
noch einmal. 

„Im Auslande? Nun ja, nun ja! Ich werde unter allen 
Umſtaͤnden ins Ausland fahren. Ich erinnere mich, als ich in 
den zwanziger Jahren im Auslande war, da war es dort au-ßer⸗ 
or⸗dentlich vergnuͤglich. Ich haͤtte mich beinah verheiratet, mit 
einer Vikomteſſe, einer Franzoͤſin. Ich war damals ſchrecklich 
verliebt und wollte ihr mein ganzes Leben weihen. Aber am 
Ende heiratete nicht ich ſie, ſondern ein anderer. Und was fuͤr 


Onkelchens Traum 


Viertes Kapitel 105 


ein ſonderbarer Zufall: ich hatte mich nur auf zwei Stunden 
von ihr entfernt, da trug der andere den Sieg davon; es war 
ein deutſcher Baron; er hat ſpaͤter noch eine Zeitlang im Irren— 
hauſe geſeſſen.“ 

„Aber, cher prince, ich habe davon geſprochen, um Sie dar: 
auf aufmerkſam zu machen, daß Sie ernſtlich auf Ihre Geſund— 
heit bedacht ſein muͤſſen. Im Auslande gibt es ſo tuͤchtige 
Arzte .. . und außerdem, wieviel hilft nicht ſchon allein eine 
Veraͤnderung der Lebensweiſe! Sie muͤſſen entſchieden, wenig— 
ſtens fuͤr einige Zeit, Ihr Duchanowo verlaſſen.“ 

„Un⸗be⸗dingt! Ich habe dieſen Entſchluß ſchon laͤngſt gefaßt, 
und wiſſen Sie, ich beabſichtige, eine hy-dro⸗pa⸗thiſche Kur vor: 
zunehmen.“ 

„Eine hydropathiſche Kur?“ 

„Allerdings. Ich habe mich ſchon früher einmal hy⸗-dro-pa⸗ 
thiſch behandeln laſſen. Ich war damals in einem Badeorte. 
Dort war eine Moskauer Dame; ich habe ihren Familiennamen 
vergeſſen; aber fie war eine hoͤchſt poetiſch veranlagte Dame; 
ſie mochte etwa ſiebzig Jahre alt ſein. Bei ihr befand ſich noch 
ihre Tochter, eine ungefähr fünfzigjährige Witwe; auf dem 
einen Auge hatte ſie den Star. Die redete ebenfalls faſt nur 
in Verſen. Später hatte fie noch ein unangenehmes Er-leb-nis: 
ſie ſchlug im Zorn ihr leibeigenes Dienſtmaͤdchen tot und wurde 
deswegen vor Gericht gezogen. Alſo dieſe beiden Damen kamen 
auf den Gedanken, mich mit Waſſer zu kurieren. Ich muß ge— 
ſtehen, ich war damals abſolut nicht krank; na, aber ſie ſetzten 
mir zu: ‚Unternehmen Sie die Kur, unternehmen Sie die Kur!“ 
Aus Liebenswuͤrdigkeit und Hoͤflichkeit fing ich auch tatſaͤchlich 
an, Waſſer zu trinken; ich dachte: vielleicht werde ich mich wirk— 
lich davon leich⸗ter fühlen. Ich trank und trank, trank und trank; 


в. 


ich trank einen ganzen Waſſerfall aus, und wiſſen Sie, ме е \ 
Hydropathie ift eine ſehr nüßlihe Sache und hat mir außer: 
ordentlich viel geholfen, ſo daß, wenn ich nicht zuletzt krank ge⸗ 
worden waͤre, ich vollſtaͤndig geſund ſein wuͤrde, das kann ich 
Ihnen verſichern ...“ 

„Das iſt eine durchaus richtige Schlußfolgerung, Onkelchen. 
Sagen Sie, Onkelchen, haben Sie ſich einmal mit dem Studium 
der Logik beſchaͤftigt?“ 

„Mein Gott! Was ſtellen Sie fuͤr Fragen!“ bemerkt Marja 
Alexandrowna, die ganz empoͤrt iſt, in ſtrengem Tone. 

„Jawohl, das habe ich getan, mein Freund; nur iſt es ſchon 
ſehr lange her. Ich habe auch in Deutſchland Philoſophie ſtudiert 
und einen ganzen Kurſus durchgemacht; aber ich habe gleich 
damals alles wieder vollſtaͤndig vergeſſen. Aber... ich muß 
Ihnen geſtehen ... Sie haben mich durch dieſe Krankheiten {о 
erſchreckt, daß ich ganz beſtuͤrzt bin. Übrigens, ich komme ſogleich 
wieder zuruͤck . ..“ 

„Aber wo wollen Sie denn hin, Fuͤrſt?“ ruft Marja Alexan— 
drowna erſtaunt. 

„Ich komme gleich wieder, gleich .. J will nur einen neuen 
Gedanken aufſchreiben ... au revoir. 

„Nun, wie gefaͤllt er Ihnen?“ ruft Pawel ere 
und will ſich ausſchuͤtten vor Lachen. 

Marja Alexandrowna verliert die Geduld. 

„Ich verſtehe nicht, verſtehe abſolut nicht, woruͤber Sie 
lachen!“ beginnt ſie heftig. „Wie kann man nur uͤber einen 
achtungswerten alten Herrn, einen Verwandten, lachen, ſich 
uͤber jedes Wort, das er ſpricht, luſtig machen und ſeine engel— 
hafte Herzensguͤte ſo mißbrauchen! Ich habe mich uͤber Ihr 
Benehmen geſchaͤmt, Pawel Alexandrowitſch! Aber ſagen Sie 


106 Onkelchens Traum 


1 


Viertes Kapitel 107 


doch nur, was denn nach Ihrer 1 an ihm laͤcherlich it! 
Ich habe nichts Laͤcherliches an ihm gefunden.“ 
„Was ſagen Sie dazu, daß er keinen Menſchen wieder— 
erkennt, und daß er manchmal den reinen Unſinn redet?“ 
„Aber das iſt doch nur eine Folge feiner ſchrecklichen Lebens— 
weiſe, ſeiner furchtbaren fuͤnfjaͤhrigen Abgeſchloſſenheit unter 
der Aufſicht dieſes teufliſchen Weibes. Man muß ihn bedauern, 
aber ſich nicht uͤber ihn luſtig machen. Er hat ſogar mich nicht 
erkannt; Sie waren ſelbſt Zeuge. Das iſt geradezu ſozuſagen 
himmelſchreiend! Man muß ihn entſchieden retten! Wenn ich 
ihm eine Reiſe ins Ausland vorſchlage, ſo tue ich das einzig 
und allein in der Hoffnung, daß er vielleicht dadurch von Бы 
gemeinen Weibsbilde loskommt!“ 
„Wiſſen Sie was? Man muͤßte ihn verheiraten, Dar 
Alexandrowna!“ ruft Pawel Alexandrowitſch. | 
Ч „Sie ſpotten ſchon wieder! Sie find wirklich с. 
Monſieur Moſgljakow!“ 
„Nein, Marja Alexandrowna, nein! Diesmal rede ich voll— 
ſtäaͤndig im Ernſt! Warum ſollte man ihn nicht verheiraten? Das 
iſt doch auch eine Idee! C'est une idee comme une autre! 
Bitte, ſagen Sie einmal: was kann ihm das ſchaden? Im Gegen: 
teil befindet er ſich in einer ſolchen Lage, daß eine derartige 
Maßregel ihn nur retten kann! Nach dem Geſetze kann er noch 
heiraten. Erſtens wird er von dieſer Hexe (entſchuldigen Sie 
den Ausdruck!) freikommen. Zweitens, und das iſt die Haupt: 
ſache: denken Sie ſich einmal, daß er ſich ein liebes, gutherziges, 
kluges, ſanftes und vor allen Dingen armes Maͤdchen oder noch 
beſſer eine ſolche Witwe ausſucht, eine weibliche Perſon, die ihn 
dann wie eine Tochter pflegt und Verſtaͤndnis dafuͤr beſitzt, daß 
er ihr eine Wohltat erwieſen hat, indem er fie zu ſeiner Frau 


108 Onkelchens Traum 


machte. Und was koͤnnte fuͤr ihn beſſer ſein, als daß ein liebes, 
treues, edles Weſen immer um ihn iſt ſtatt dieſes ... Weibes? 
Selbſtverſtaͤndlich muß die Betreffende huͤbſch ſein; denn Onkel⸗ 
chen hat noch immer ſeine Freude an huͤbſchen weiblichen Weſen. 
Haben Sie wohl bemerkt, wie er ſich an Sinaida Afanaſjewna 
gar nicht ſattſehen konnte?“ 

„Aber wo werden Sie eine ſolche Braut fuͤr ihn finden?“ 
fragt Naſtaſja Petrowna, die ſehr achtſam zugehört hat. 

„Da bringen Sie mich auf einen Gedanken: Sie koͤnnten es 
ja ſelbſt ſein, wenn Sie Luſt dazu haben! Geſtatten Sie die 
Frage: weshalb ſollten Sie nicht eine paſſende Braut fuͤr den 
Fuͤrſten ſein? Erſtens ſind Sie huͤbſch; zweitens Witwe; drittens 
adlig; viertens arm (denn Sie ſind tatſaͤchlich nicht reich); fünf: 
tens find Sie eine ſehr verſtaͤndige Dame und werden ihn folg: 
lich lieben, ihm das Leben behaglich machen, jenes Frauen: 
zimmer mit Schimpf und Schande aus dem Hauſe jagen, ihn 
ins Ausland bringen, ihn mit Mannabrei und Konfekt fuͤttern, 
und alles dies bis zu dem Augenblicke, wo er dieſe irdiſche Welt 
verlaſſen wird, was nach einem Jahre, vielleicht aber auch ſchon 
nach drittehalb Monaten geſchehen kann. Dann ſind Sie eine 
Fuͤrſtin, Witwe und reich und heiraten zum Lohn fuͤr Ihren 
mutvollen Entſchluß einen Marquis oder einen Generalinten— 
danten! C'est joli, nicht wahr?“ 

„Weiß der Himmel, ich glaube, ich wuͤrde mich ſchon allein 
aus Dankbarkeit in ihn verlieben, den guten Menſchen, wenn 
er mir nur einen Heiratsantrag machen wollte!“ ruft Frau 
Sjablowa, und ihre dunklen, ausdrucksvollen Augen blitzen auf. 
„Aber das iſt doch alles nur dummes Zeug!“ 

„Dummes Zeug? Wenn Sie wollen, wird es Ernſt! Bitten 
Sie mich mal recht ſchoͤn, und wenn ich es dann nicht noch heute 


Viertes Kapitel 109 


fertigbringe, Sie zu feiner Braut zu machen, dann dürfen Sie 
mir einen Finger abſchneiden! Es ift ja nichts leichter, als Onkel— 
chen zu etwas zu uͤberreden oder zu verleiten! Er ſagt immer: 
Nun ja, nun ja!“ Sie haben es ja ſelbſt gehört. Wir wollen ihn 
verheiraten, ohne daß er es ſelbſt merkt. Verhelfen wir ihm 
immerhin durch Taͤuſchung zu einer Frau; es iſt ja doch nur zu 
ſeinem Beſten, ich bitte Sie! . .. Sie ſollten ſich wenigſtens für 
jeden Fall ein bißchen putzen, Naſtaſja Petrowna!“ 

Monſieur Moſgljakows Begeiſterung für feine Idee geht in 
eine Art von Fanatismus uͤber. Und was Frau Sjablowa an— 
langt, fo waͤſſert ihr, wie verftändig ſie auch iſt, doch der Mund. 

„Ich weiß, auch ohne daß Sie es mir ſagen, daß ich heute 
recht ſchlumpig ausſehe,“ antwortet ſie. „Ich habe ganz auf— 
gehoͤrt, auf mein Außeres Sorgfalt zu verwenden, und gebe 
mich ſchon lange keinen Traͤumereien mehr hin ... Ich fehe 
wohl wirklich wie eine Koͤchin aus?“ 

Dieſe ganze Zeit uͤber ſaß Marja Alexandrowna mit einem 
ganz ſeltſamen Geſichtsausdrucke da. Ich irre mich nicht, wenn 
ich ſage, daß ſie Pawel Alexandrowitſchs ſonderbaren Vorſchlag 
mit einem gewiſſen Schreck anhoͤrte und ordentlich die Faſſung 
verlor... Endlich ſammelte fie ihre Gedanken wieder. 

„All das iſt ja zwar ſehr ſchoͤn; aber es iſt doch alles toͤricht 
und abgeſchmackt und vor allen Dingen ganz unpaſſend!“ wandte 
fie ſich in ſcharfem Tone an Moſgljakow. 

„Aber warum, beſte Marja Alexandrowna, warum ſoll denn 
das toͤricht und unpaſſend ſein?“ 

„Aus vielen Gruͤnden und beſonders deshalb, weil Sie ſich 
in meinem Hauſe befinden und der Fuͤrſt mein Gaſt iſt und ich 
niemandem erlauben werde, den Reſpekt gegen meinen Gaſt 
außer acht zu laſſen. Ich faſſe Ihre Worte nur als Scherz auf, 


110 Onkelchens Traum | 


2 
% 


Pawel Alexandrowitſch. Aber Gott fei Dank, da kommt der 
Fuͤrſt!“ | / 
„За bin ich wieder!” ruft der Furſt beim Eintritt ins Sie 
„Es ИЕ erftaunlich, cher ami, wieviel mannigfache Ideen ich 
heute habe. Zu anderer Zeit (du wirſt es vielleicht gar nicht 
glauben) kommen mir manchmal uͤberhaupt keine in den Kopf. 
Ich ſitze dann oft den ganzen Tag ſo fuͤr mich da.“ 

„Das kommt wahrſcheinlich von dem heutigen Umwerfen mit 
dem Schlitten her, Onkelchen. Das hat Ihre Nerven erſchuͤttert, 
und infolgedeſſen ...“ | 
„Auch ich, mein Freund, führe es auf ebendieſen Umſtand 
zuruͤck und finde dieſes Begebnis ſogar nuͤtz-lich, fo daß ich Бе: 
ſchloſſen habe, meinem Fe⸗o⸗fil zu verzeihen. Weißt du was? 
Es will mir doch ſcheinen, daß er mir nicht nach dem Leben ge— 
trachtet hat; wie denkſt du daruͤber? Zudem iſt er ohnehin ſchon 
neulich durch das Abraſieren des Bartes beſtraft worden.“ f 
„Durch das Abraſieren des Bartes, Onkelchen! Aber er hat 
ja einen Bart von der Groͤße eines deutſchen Fuͤrſtentumes!“ 

„Nun ja, von der Groͤße eines deutſchen Fürftentumes. Über: 
haupt, mein Freund, haft du vollkommen recht mit deinen Schluß: 
fol⸗ge⸗rungen. Aber das iſt ein kuͤnſtlicher Bart. Denken Sie 
ſich nur dieſen Zufall: es wird mir auf einmal ein Preiskurant 
zugeſchickt. Es war aus dem Auslande eine neue Sendung Baͤrte 
eingegangen, vorzuͤgliche Baͤrte fuͤr Kutſcher und fuͤr Herren: 
Kinnbaͤrte, ſowie Backenbaͤrte, Fliegen, Schnurrbaͤrte und ſo 
weiter, und alles von beſter Qualitaͤt und zu ſehr maͤßigen 
Preiſen. Na, ſchoͤn,“ dachte ich, ‚ich werde mir einen Kinnbart 
kommen laſſen, um ihn wenigſtens anzuſehen, wie er ſich macht.“ 
Ich ließ mir alſo einen Kutſcherbart kommen, und wirklich: der 
Bart nahm ſich ſtattlich aus! Aber es ſtellte ſich heraus, daß 


| 


un 


* 


Viertes Kapitel 111 


Feofils eigener Bart faſt noch einmal ſo ой war. Alſo da еп 
ſtand natürlich die ſchwierige Frage: follte ich ihm feinen eigenen 
abraſieren laſſen oder den zur Anficht uͤberſandten wieder zuruͤck— 
ſchicken und ihn feinen natürlichen Bart weitertragen laſſen? Ich 
dachte lange daruͤber nach und entſchied mich endlich dafuͤr, daß 
es das beſte ſei, wenn er den kuͤnſtlichen Bart trage.“ 

„Wahrſcheinlich deswegen, weil die Kunſt uͤber der Natur 
ſteht, Onkelchen?“ 

„Eben deswegen. Und was fuͤr ein Seelenſchmerz es fuͤr ihn 


war, als ihm der Bart abraſiert wurde! Als ob mit dem Barte 


ihm feine ganze Karriere zerſtoͤrt ſei ... Aber iſt es nicht Zeit, 
daß wir fahren, mein Lieber?“ 

„Ich bin bereit, Onkelchen.“ 

„Aber ich hoffe, Fuͤrſt, daß Sie nur zum ое fahren 
werden!“ ruft Marja Alexandrowna in großer Aufregung. „Sie 


gehoͤren jetzt mir, Fuͤrſt, und find den ganzen Tag über ein Mit- 


glied meiner Familie. Ich werde Ihnen natürlich nichts über 
die hieſige Geſellſchaft ſagen. Vielleicht wuͤnſchen Sie, auch bei 


Anna Nikolajewna einen Beſuch zu machen, und ich bin nicht 
berechtigt, Ihnen Ihre guͤnſtigen Vorſtellungen von dieſer Dame 


zu nehmen; außerdem bin ich feſt davon uͤberzeugt, daß die 
Zeit alles ans Licht bringen wird. Aber vergeſſen Sie eines 


nicht: daß ich dieſen ganzen Tag uͤber Ihre Wirtin, Ihre Schwe— 
ſter, Ihr Muͤtterchen, Ihre Waͤrterin bin, und ich muß geſtehen, 


ich zittere um Sie, Fuͤrſt! Sie kennen dieſe Menſchen nicht, 
nein, Sie kennen fie nicht vollſtaͤndig, wenigſtens einſtweilen 


noch nicht! ...“ 
„Verlaſſen Sie ſich auf mich, Marja Alexandrowna! Es wird 


alles ſo geſchehen, wie ich es Ihnen verſprochen habe,“ ſagt 


Moſgljakow. 


112 Onkelchens Traum 


„Ja, Sie! Sie ſind ein Windhund! Auf Sie iſt kein Verlaß! 
Ich erwarte Sie zum Mittageſſen, Fuͤrſt. Wir ſpeiſen fruͤh. Und 
wie ſehr bedaure ich, daß mein Mann gerade auf dem Gute iſt! 
Wie ſehr wuͤrde er ſich freuen, Sie wiederzuſehen! Er verehrt 
Sie ſo ſehr und liebt Sie von ganzem Herzen!“ 

„Ihr Mann? Haben Sie denn auch einen Mann?“ fragt der 
Fuͤrſt. 

„Ach, mein Gott! Wie vergeßlich Sie ſind, Fuͤrſt! Aber Sie 
haben ja alles Fruͤhere vollſtaͤndig vergeſſen, vollſtaͤndig! Mein 
Mann, Afanaſi Matwjejewitſch, erinnern Sie ſich wirklich nicht 
an ihn? Er iſt jetzt auf dem Gute; aber Sie haben ihn fruͤher 
tauſendmal geſehen. Erinnern Sie ſich nur, Fuͤrſt: Afanaſi 
Matwjejewitſch! ...“ 

„Afanaſi Matwjejewitſch! Auf dem Gute; nun denken Sie 
einmal; mais c'est délicieux! Alſo haben Sie auch einen Mann? 
Was fuͤr ein ſeltſamer Zufall! Das iſt gerade wie in einem 
Vaudeville: „ЗИ aus der Tür der Eheherr, So fährt die Frau 
ſogleich nach ... entſchuldigen Sie, ich habe vergeſſen, wie es 
weiterging! Aber die Frau fuhr auch irgendwohin; ich glaube 
nach Tula oder nach Jaroſlawl; kurz, es iſt ſehr komiſch.“ 

„Iſt aus der Tuͤr der Eheherr, So faͤhrt die Frau ſogleich 
nach Twer“, fo heißt es, Onkelchen,“ hilft Moſgljakow ein. 

„Nun ja, nun ja! Ich danke dir, mein Freund; richtig: nach 
Twer.“ Charmant, charmant! So paßt es auch gut zuſammen. 
Du findeſt immer den Reim, mein Lieber! Ja, ja, es ſchwebte 
mir fo vor: ‚nach Jaroflawl' oder ‚nach Koſtroma'; aber jeden— 
falls fuhr die Frau auch irgendwohin! Charmant, charmant! 
Übrigens habe ich ein wenig vergeſſen, wovon ich angefangen 
hatte zu reden... Ja! Alſo dann wollen wir fahren, mein 
Freund. Au revoir, madame; adieu, ma charmante demoi- 


Fuͤnftes Kapitel 113 


selle,“ fuͤgte der Fuͤrſt hinzu, indem er ſich an Sinaida wandte 
und ſeine Fingerſpitzen kuͤßte. 

„Kommen Sie alſo zum Mittageſſen, Fuͤrſt, zum Mittag— 
eſſen! Vergeſſen Sie ja nicht, recht bald zuruͤckzukehren!“ ruft 
ihm Marja Alexandrowna nach. 


Fuͤnftes Kapitel 
„Sie ſollten einmal in der Kuͤche nach dem Rechten ſehen, 
Naſtaſja Petrowna!“ ſagt ſie, nachdem ſie den Fuͤrſten hinaus— 
begleitet hat. „Ich habe ſo eine Ahnung, daß dieſer ent— 
ſetzliche Nikitka das Mittageſſen beſtimmt verderben wird! 
Ich glaube ſicher, daß er ſchon betrunken iſt.“ 

Naſtaſja Petrowna gehorcht. Beim Hinausgehen wirft ſie 
einen mißtrauiſchen Blick nach Marja Alexandrowna hin und 
bemerkt an ihr eine ungewoͤhnliche Aufregung. Statt in die 
Kuͤche zu gehen und den entſetzlichen Nikitka zu beaufſichtigen, 
geht Naſtaſja Petrowna durch den Saal, von dort auf dem Flur 
nach ihrem Zimmer und von dort in ein dunkles Zimmerchen, 
eine Art Rumpelkammer, wo allerlei Kaſten ſtehen, alte Kleider 
haͤngen und die ſchmutzige Waͤſche des ganzen Hauſes, in Buͤndel 
gebunden, aufbewahrt wird. Sie ſchleicht auf den Fußſpitzen 
zu einer verſchloſſenen Tuͤr, haͤlt den Atem an, buͤckt ſich, ſieht 


durch das Schluͤſſelloch und horcht. Dieſe Tuͤr iſt eine der drei 


Tuͤren eben jenes Zimmers, wo jetzt Sinaida und ihre Mutter 
zuruͤckgeblieben ſind; ſie iſt immer feſt verſchloſſen und zugenagelt. 

Marja Alexandrowna iſt der Anſicht, daß Naſtaſja Petrowna 
eine ſchlaue, leichtfertige Perſon ſei. Allerdings iſt ihr ſchon 
manchmal der Gedanke gekommen, daß Naſtaſja Petrowna ſich 


wohl auch nicht geniere, zu horchen. Aber im gegenwaͤrtigen 


Augenblicke iſt Frau Moſkalewa ſo beſchaͤftigt und aufgeregt, daß 
LXXV. 8 


114 Onkelchens Traum 


fie ganz vergeſſen hat, gewiſſe Vorſichtsmaßregeln zur An- 


wendung zu bringen. Sie ſetzt ſich auf einen Lehnſtuhl und a 
blickt Sinaida bedeutſam an. Sinaida fuͤhlt, daß der Blick ihrer 


Mutter auf ſie gerichtet iſt, und ein unangenehmes, peinliches 
Gefuͤhl zieht ihr das Herz zuſammen. 
„Sinaida!“ 


Sinaida wendet ihr blaſſes Geſicht langſam zu ihr hin und 


hebt ihre ſchwarzen, melancholiſchen Augen in die Hoͤhe. 


„Sinaida, ich beabſichtige, mit dir uͤber eine außerordentlich 


wichtige Sache zu reden.“ 
Sinaida wendet ſich vollſtaͤndig zu ihrer Mutter hin, legt die 


a 


Haͤnde zuſammen und ſteht erwartungsvoll da. Ihr Geſicht 


nimmt einen aͤrgerlichen, ſpoͤttiſchen Ausdruck an, was ſie in— 
deſſen zu verbergen ſucht. 


„Ich moͤchte dich fragen, Sinaida, welchen Eindruck heute 


dieſer Moſgljakow auf dich gemacht hat.“ 

„Sie wiſſen doch ſchon laͤngſt, wie ich uͤber ihn denke,“ ant⸗ 
wortet Sinaida widerwillig. 

„Ja, mon enfant; aber mir ſcheint, er wird gar zu zudringlich 
mit ſeiner Bewerbung.“ 


„Er ſagt, er ſei in mich verliebt; da iſt ſeine Zudringlichkeit } 


entſchuldbar.“ 

„Sonderbar: früher warſt du nicht ſo gern bereit, ihn zu еп 
ſchuldigen. Im Gegenteil fielſt du immer uͤber ihn her, wenn ich 
von ihm zu ſprechen anfing.“ 

„Ebenſo iſt es ſonderbar, daß Sie ihn immer verteidigt haben 
und durchaus wollten, ich ſollte ihn heiraten, und jetzt die erſte 
ſind, die uͤber ihn herfaͤllt.“ 

„Ja, beinahe iſt es ſo. Ich leugne es nicht, Sinaida: ich haͤtte 
dich gern als Moſgljakows Frau geſehen. Es war mir ſchmerz⸗ 


Fuͤnftes Kapitel | 115 


lich, deinen ſteten Kummer und deine Leiden zu ſehen, die ich 
zu verſtehen imſtande bin (was du auch immer von mir denken 
magft!), und die mir den Schlaf meiner Nächte rauben. Ich 
war ſchließlich zu der Überzeugung gelangt, daß nur eine erheb- 
liche Veraͤnderung in deinem Leben dich retten kann! Und dieſe 
Veraͤnderung muß die Ehe ſein. Wir ſind nicht reich und koͤnnen 
zum Beiſpiel keine Reiſe ins Ausland unternehmen. Die hieſigen 
Eſel wundern ſich, daß du dreiundzwanzig Jahre alt und noch 
nicht verheiratet biſt, und erfinden Hiſtoͤrchen daruͤber. Aber 
kann ich dich denn ſo einem hieſigen Rat oder unſerm Fiskal 
Iwan Iwanowitſch zur Frau geben? Gibt es etwa hier Maͤnner 
für dich? Moſgljakow iſt ja freilich ein Hohlkopf, aber doch immer 
noch beſſer als die andern. Er iſt aus guter Familie, hat eine 
angeſehene Verwandtſchaft und beſitzt hundertfuͤnfzig Seelen; 
das iſt doch beſſer als von Raͤnken und Beſtechungsgeldern und 
Gott weiß was fuͤr Dingen zu leben; deshalb hatte ich denn auch 
mein Augenmerk auf ihn gerichtet. Aber ich verſichere dich, wirk— 
liches Gefallen habe ich nie an ihm gefunden. Ich bin uͤberzeugt, 
daß der Allerhoͤchſte ſelbſt mich gewarnt hat. Und ſollte Gott dir 


jetzt etwas Beſſeres ſchicken, oh, wie gut waͤre es dann, daß du 


ihm noch nicht dein Wort gegeben haſt! Du haſt ihm doch wohl 
heute nichts Beſtimmtes geſagt, Sinaida?“ 

1 „Wozu dieſe gekuͤnſtelten Wendungen, Mama, wenn ſich doch 
die ganze Sache in wenigen Worten erledigen laͤßt?“ erwiderte 
Sina gereizt. 

„Gekuͤnſtelte Wendungen, Sinaida, gekuͤnſtelte Wendungen! 
Wie kannſt du ſo etwas zu deiner Mutter ſagen! Aber was 
wundere ich mich? Du haſt ja ſchon laͤngſt kein Vertrauen mehr 
zu deiner Mutter! Du haͤltſt mich ſchon laͤngſt nicht fuͤe deine 
Mutter, ſondern fuͤr deine Feindin.“ 


116 Onkelchens Traum 
„Ach, hoͤren Sie doch auf, Mama! Wir werden uns doch nicht 


um einen Ausdruck ſtreiten! Verſtehen wir einander denn nicht 


mehr? Ich meine, wir haben doch Zeit genug gehabt, um uns 
verſtehen zu lernen.“ 

„Aber du kraͤnkſt mich, mein Kind! Du willſt nicht glauben, 
daß ich gern alles, ſchlechthin alles tue, um dir eine geſicherte 
Exiſtenz zu ſchaffen.“ 

Sinaida blickte ihre Mutter ſpoͤttiſch und aͤrgerlich an. 

„Wollen Sie mich am Ende dieſem Fuͤrſten zur Frau geben, 
um mir eine geſicherte Exiſtenz zu ſchaffen?“ fragte ſie mit einem 
ſonderbaren Laͤcheln. 

„Ich habe kein Wort davon geſagt; aber da du es er— 
waͤhnt haſt, ſo will ich ſagen: wenn es ſich ſo machte, daß du den 
Fuͤrſten heirateteſt, [о wäre das dein Gluͤck, und nicht etwa eine 
Torheit.“ 

„Ich aber finde, daß es geradezu ein Unſinn iſt!“ rief Sinaida 
heftig. „Ein Unſinn, ein Unſinn! Ich finde auch, Mama, daß 
Sie ſich gar zu ſehr poetiſchen Schwaͤrmereien hingeben; Sie 
ſind eine Dichterin, im vollen Sinne dieſes Wortes; ſo nennen 
die Leute Sie hier ja auch. Sie haben beſtaͤndig allerlei Plaͤne 
im Kopfe. Die Unmoͤglichkeit und Torheit derſelben ſchreckt Sie 
nicht ab. Schon als der Fuͤrſt noch hier ſaß, ahnte es mir, daß 
Ihnen dies durch den Kopf ging. Als Moſgljakow feine Dumm— 
heiten hinredete und ſagte, man muͤſſe dieſem alten Manne eine 
Frau geben, da las ich alle Ihre Gedanken auf Ihrem Geſichte. 
Ich moͤchte darauf wetten, daß Sie daran denken und gerade in 
dieſer Abſicht das Geſpraͤch mit mir angefangen haben. Aber 
da Ihre unaufhoͤrlichen Projekte in betreff meiner Perſon an— 
fangen, mir toͤdlich langweilig zu werden und mich zu peinigen, 
ſo bitte ich Sie, davon zu mir kein Wort zu reden, hoͤren Sie 


Fuͤnftes Kapitel 117 


wohl, Mama, kein Wort; und es waͤre mir lieb, wenn Sie das 
nicht vergeſſen wollten!“ Sie konnte vor Zorn kaum atmen. 

„Du biſt ein Kind, Sinaida, ein reizbares, krankes Kind!“ ant⸗ 
wortete Marja Alexandrowna mit geruͤhrter Stimme, der man 
die nahen Traͤnen anhoͤrte. „Du ſprichſt mit mir reſpektlos und 
kraͤnkſt mich. Keine andere Mutter würde das ertragen, was ich 
von dir taͤglich ertrage! Aber du biſt gereizt, du biſt krank, du 
leideſt; ich aber bin eine Mutter und vor allen Dingen eine 
Chriſtin. Es iſt meine Pflicht zu dulden und zu verzeihen. Aber 
ein Wort, Sinaida: wenn ich nun wirklich an eine ſolche Ver— 
bindung gedacht haͤtte, warum haͤltſt du denn das fuͤr Unſinn? 
Meiner Anſicht nach hat Moſgljakow noch nie vernünftiger ge— 
ſprochen als vorhin, wo er darlegte, daß der Fuͤrſt ſich notwendig 
verheiraten muͤſſe — natuͤrlich aber nicht mit dieſer Schlumpe 
Naſtaſja. Was er hiervon ſagte, war Faſelei.“ 

„Hoͤren Sie mal, Mama! Sagen Sie geradeheraus: fragen 
Sie mich danach nur ſo aus Neugier oder in ernſter Abſicht?“ 

„Ich frage nur: warum erſcheint dir das als ſolcher Un— 
ſinn?“ 

„Ach, wie graͤßlich! Was iſt mir doch fuͤr ein widerwaͤrtiges 
Schickſal beſchieden!“ rief Sinaida und ſtampfte vor Empoͤrung 
mit dem Fuße auf die Erde. „Nun, dann will ich Ihnen ſagen, 
warum, wenn Sie es noch nicht wiſſen: von allen andern Ab— 
jurditäten will ich gar nicht einmal reden, aber den Umſtand auszu— 
nutzen, daß der alte Mann geiſtesſchwach geworden iſt, ihn zu 
detruͤgen, ihn, den Kruͤppel, zu heiraten, um ihm das Geld ab— 
zunehmen, und dann taͤglich und ſtuͤndlich ſeinen Tod herbei— 
zuwuͤnſchen, das iſt meiner Anſicht nach nicht nur Unſinn, ſon— 
dern uͤberdies ſo gemein, ſo grundgemein, daß ich Sie zu einem 
ſolchen Gedanken nicht begluͤckwuͤnſchen kann, Mama!“ 


| ах ва 
118 Onkelchens Traum и 


Es trat ein Stillſchweigen ein, das etwa eine Minute lang 
dauerte. 

„Sinaida! Denkſt du wohl noch an das, was vor zwei Jahren 
geſchehen iſt?“ fragte Marja Alexandrowna auf einmal. 

Sinaida zuckte zuſammen. 

„Mama!“ ſagte ſie in ſtrengem Tone, „Sie haben mir damals 
feierlich verſprochen, das niemals zu erwaͤhnen.“ 

„Jetzt aber, mein Kind, bitte ich dich feierlich um die Erlaub— 
nis, nur ein einziges Mal dieſes Verſprechen außer acht laſſen 
zu duͤrfen, das ich bisher ſtets gehalten habe. Sinaida! Die Zeit 
iſt gekommen, wo wir uns miteinander voͤllig ausſprechen 
muͤſſen. Dieſe zwei Jahre des Schweigens waren ſchrecklich! So 
kann es nicht weitergehen! . . . Ich bin bereit, dich auf meinen 
Knien darum zu bitten, daß du mir erlauben moͤchteſt, zu reden. 


Hoͤrſt du wohl, Sinaida, deine leibliche Mutter fleht dich auf 


ihren Knien an! Und gleichzeitig gebe ich dir mein feierliches 
Wort, das Wort einer ungluͤcklichen Mutter, die von einer ab— 
goͤttiſchen Liebe zu ihrer Tochter erfüllt ift, daß ich niemals, 
unter keiner Bedingung, unter keinen Umſtaͤnden, ſelbſt nicht, 
wenn es ſich um die Rettung meines Lebens handeln ſollte, 
ſpaͤter noch einmal davon reden werde. Dies wird das letzte— 
mal ſein; aber jetzt iſt es unumgaͤnglich notwendig!“ 

Marja Alexandrowna rechnete auf eine volle Wirkung dieſer 
Worte. 

„So ſprechen Sie denn!“ erwiderte Sinaida, die merklich blaß 

geworden war. 

„Ich danke dir, Sinaida. Vor zwei Jahren kam zu beinem 
inzwiſchen verſtorbenen Heinen Bruder Dmitri ein Lehrer... 

„Aber wozu dieſe feierliche Einleitung, Mama! Wozu alle 
dieſe Schoͤnrednerei, alle dieſe Einzelheiten, die doch ganz un— 


Fünftes Kapitel 119 


find?" unterbrach Sinaida fie voll Ärger und Widerwillen. 
„Der Grund ift der, mein Kind, daß ich, deine Mutter, mich 


jetzt genoͤtigt ſehe, mich dir gegenuͤber zu rechtfertigen! Der 


Grund iſt der, daß ich dir dieſe ganze Sache von einem voͤllig 
anderen Geſichtspunkte aus darſtellen will und nicht von jenem 
fehlerhaften Geſichtspunkte aus, von dem du ſie anzuſehen ge— 
wohnt biſt. Der Grund iſt endlich der, daß ich dir ein leichteres 
Verſtaͤndnis der Schlußfolgerung ermoͤglichen moͤchte, die ich 
aus alledem zu ziehen beabſichtige. Glaube nicht, mein Kind, 
daß ich mit deinem Herzen mein Spiel treiben will! Nein, 
Sinaida, du wirſt an mir eine wahre Mutter finden und wirſt 
vielleicht, von Traͤnen uͤberſtroͤmt, zu meinen Fuͤßen, zu den 
Füßen der ‚gemeinen Perfon‘, wie du mich ſoeben genannt haft, 
ſelbſt um die Verſoͤhnung bitten, die du bisher ſo lange und mit 
ſolchem Hochmute abgelehnt haſt. Nun weißt du, warum ich 
alles ausſprechen will, Sinaida, alles, ganz von Anfang an; 
ſonſt werde ich ſchweigen!“ 

„So ſprechen Sie denn!“ ſagte Sinaida noch einmal; fie ver: 
wuͤnſchte von ganzem Herzen das Beduͤrfnis ihrer Mutter, ſchoͤne 
Reden zu halten. 

„Ich fahre fort, Sinaida: dieſer Kreisſchullehrer, faſt noch ein 
Knabe, macht auf dich einen mir ganz unbegreiflichen Eindruck. 
Ich rechnete zu ſehr auf deine geſunde Vernunft, auf deinen 
edlen Stolz und hauptſaͤchlich auf ſeine Geringwertigkeit (denn 
ich muß doch alles ſagen), als daß ich haͤtte argwoͤhnen ſollen, 
es koͤnnte ſich zwiſchen euch etwas anſpinnen. Und ploͤtzlich 
kommſt du zu mir und erklaͤrſt mir mit aller Entſchiedenheit, du 
haͤtteſt die Abſicht, ihn zu heiraten! Sinaida! Das traf mein 
Herz wie ein Dolchſtich! Ich ſchrie auf und verlor die Beſinnung. 


120 Onkelchens Traum 


Aber du haſt das alles ja im Gedaͤchtniſſe! Natuͤrlich hielt ich es 
fuͤr notwendig, meine ganze Macht anzuwenden, die du Tyrannei 
nannteſt. Bedenke nur: ein blutjunger Menſch, ein Kuͤſterſohn, 
der monatlich zwoͤlf Rubel Gehalt bekommt und ein paar elende 
Gedichte zuſammengeſudelt hat, die aus Mitleid in der „Зее: 
bibliothek abgedruckt worden find, und der nur von dieſem ver- 
dammten Shakeſpeare zu reden verſteht, dieſer Knabe ſollte 
dein Mann werden, Sinaida Moſkalewas Mann! Das war ja 
ganz im Stile der Hirtinnen in Florians Schaͤferromanen! Ver— 
zeih mir, Sinaida, aber ſchon die bloße Erinnerung bringt mich 
ganz außer mir! Ich gebe ihm eine abſchlaͤgige Antwort; aber 
keine Macht der Erde vermag dich zuruͤckzuhalten. Dein Vater 
zwinkert natuͤrlich nur mit den Augen und verſteht nicht einmal, 
was ich ihm auseinanderſetze. Du ſetzt den Verkehr mit dieſem 
jungen Menſchen fort, haſt ſogar Rendezvous mit ihm, und was 
das Allerſchrecklichſte iſt, du entſchließt dich ſogar dazu, mit ihm 
in einen Briefwechſel zu treten. Schon beginnen allerlei Ge— 
ruͤchte ſich in der Stadt zu verbreiten. Man verſetzt mir Stiche 
durch Anſpielungen; die Leute freuen ſich ſchon und poſaunen 
die Sache nach Leibeskraͤften aus, und auf einmal gehen alle 
meine Prophezeiungen auf das vollkommenſte in Erfüllung. Ihr 
geratet uͤber irgend etwas in Streit; er erweiſt ſich als ein deiner 
durchaus unwuͤrdiger Bube (einen Mann kann ich ihn nicht 
nennen!) und droht dir, deine Briefe in der Stadt bekannt zu 
machen. Bei dieſer Drohung geraͤtſt du, voller Empoͤrung, 
außer dir und gibſt ihm eine Ohrfeige. Ja, Sinaida, auch dieſer 
Umſtand ift mir bekannt! Ich weiß alles, alles! Der Ungluͤck— 
liche zeigt noch an demſelben Tage einen deiner Briefe dem 
Taugenichts Sauſchin, und eine Stunde darauf befindet ſich 
dieſer Brief ſchon in den Haͤnden meiner Todfeindin Natalja 


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Fuͤnftes Kapitel 121 


Dmitrijewna. Noch an demſelben Abend macht der verruͤckte 
Menſch, von Reue ergriffen, einen ungeſchickten Verſuch, ſich zu 
vergiften. Kurz, es entſteht eine graͤßliche Skandalgeſchichte! 
Dieſe Schlumpe Naſtaſja kommt ganz erſchrocken mit der furcht— 
baren Nachricht zu mir gelaufen: der Brief befinde ſich ſchon 
eine ganze Stunde lang in Natalja Dmitrijewnas Haͤnden; in 
zwei Stunden werde die ganze Stadt von deiner Schande wiſſen! 
Ich uͤberwinde mich und falle nicht in Ohnmacht; aber wie tief 
hatteſt du mein Herz verwundet, Sinaida! Dieſes ſchamloſe 
Frauenzimmer, dieſe graͤßliche Naſtaſja, fordert zweihundert 
Rubel Silber und verſpricht, dafuͤr den Brief zuruͤckzuverſchaffen. 
Ich laufe ſelbſt in leichten Schuhen durch den Schnee zu dem 
Juden Bumſtein und verſetze bei ihm meinen Halsſchmuck, ein 
Andenken von meiner ſeligen Mutter! Zwei Stunden darauf 
iſt der Brief in meinen Haͤnden. Naſtaſja hat ihn geſtohlen. Sie 
hat die Schatulle, in die er eingeſchloſſen war, erbrochen, und 
deine Ehre iſt gerettet; es ſind keine Beweisſtuͤcke da! Aber in 
welcher Aufregung habe ich um deinetwillen jenen ſchrecklichen 
Tag verlebt! Gleich am andern Tage bemerkte ich zum erſten 
Male in meinem Leben einige graue Haare auf meinem Kopfe, 
Sinaida! Du ſelbſt haſt jetzt uͤber das Benehmen dieſes jungen 


Menſchen ein richtiges Urteil gewonnen. Du gibſt jetzt ſelbſt, 


vielleicht mit einem bitteren Laͤcheln, zu, daß es der Gipfel der 
Unvernunft geweſen waͤre, ihm dein Schickſal anzuvertrauen. 
Aber ſeitdem quaͤlſt und marterſt du dich, mein Kind; du kannſt 
ihn nicht vergeſſen oder, richtiger geſagt, nicht ihn (er iſt immer 
deiner unwuͤrdig geweſen), ſondern das Traumbild deines ver— 
gangenen Gluͤckes. Dieſer Ungluͤckliche liegt jetzt auf dem Sterbe— 
bette; man ſagt, er habe die Schwindſucht; aber du mit deiner 
Engelsguͤte willſt dich, ſolange er noch lebt, nicht verheiraten, 


122 Onkelchens Traum 


um ihm nicht das Herz zu zerreißen; denn er quaͤlt ſich immer 
noch mit Eiferſucht, obgleich ich davon uͤberzeugt bin, daß er 
dich nie in echter, edler Weiſe geliebt hat! Als er von Moſglja- 
kows Bewerbung gehoͤrt hatte, da hat er (das weiß ich) Spionage 
betrieben, hat heimlich hergeſchickt und Erkundigungen einge— 
zogen. Du haft Mitleid mit ihm, mein Kind; ich habe deine Ge: 
fuͤhle erraten, und Gott weiß, mit wie bitteren Traͤnen ich mein 
Kiffen benetzt habe! ...“ 

„Aber ſo laſſen Sie doch das alles weg, Mama!“ unterbrach 
Sinaida ſie in unbeſchreiblicher Qual. „Ihr Kiſſen war wohl da— 
bei ſehr notwendig,“ fügte fie ſpoͤttiſch hinzu. „Geht es denn gar 
nicht ohne Pathos und Phraſen?“ 

„Du glaubſt mir nicht, Sinaida! Sei nicht ſo feindlich gegen 
mich geſinnt, mein Kind! Meine Augen ſind in dieſen zwei 
Jahren nicht trocken geworden; aber ich habe meine Traͤnen vor 
dir verborgen und verſichere dir, daß ich ſelbſt mich im Laufe 

dieſer Zeit in vielen Stuͤcken umgewandelt habe! Ich habe fuͤr 
deine Gefuͤhle ſchon vor laͤngerer Zeit Verſtaͤndnis erlangt und 
geſtehe, daß ich nun erſt die ganze Groͤße deines Kummers be— 
griffen habe. Kann man mir einen Vorwurf daraus machen, 
liebes Kind, daß ich dieſe Zuneigung als eine romantiſche 
Schwaͤrmerei betrachtet habe, hervorgerufen durch dieſen ver— 
dammten Shakeſpeare, der feine Naſe uͤberall da hineinſtecken 
muß, wo man ihn nicht braucht? Welche Mutter kann wegen 
meiner damaligen Angſt, wegen der von mir ergriffenen Maß— 
regeln, wegen der Strenge meines Urteils den Stab uͤber mich 
brechen? Aber jetzt, jetzt, wo ich zwei Jahre lang geſehen habe, 
wie du leideſt, jetzt verſtehe und wuͤrdige ich deine Gefuͤhle. 
Glaube mir, daß ich dich vielleicht weit beſſer verſtehe, als du dich 
ſelbſt verſtehſt. Ich bin uͤberzeugt, daß du nicht ihn liebſt, dieſen 


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abſonderlichen Knaben, ſondern deine goldenen Zukunfts— 
traͤumereien, dein verlorenes Gluͤck, deine hohen Ideale. Ich 
habe ſelbſt geliebt und vielleicht ſtaͤrker als du. Ich habe ſelbſt 
gelitten; auch ich habe meine hohen Ideale gehabt. Und darum: 
wer kann mir jetzt einen Vorwurf machen, und vor allen Dingen, 
kannſt du mir etwa einen Vorwurf deswegen machen, weil ich 
der Anſicht bin, daß die Verbindung mit dem Fuͤrſten die beſte 
Rettung, das einzig Notwendige fuͤr dich in deiner jetzigen 
Lage iſt?“ 

Sinaida hatte mit Verwunderung dieſe lange Tirade ange— 
hoͤrt; ſie wußte ganz genau, daß ihre Mama dieſen Ton nie ohne 
Urſache anſchlug. Aber die letzte, unerwartete Schlußfolgerung 
verſetzte ſie doch in das groͤßte Erſtaunen. 

M Alſo haben Sie wirklich im Ernſte vor, mich dieſem Fuͤrſten 
zur Frau zu geben?“ rief fie und ſah ihre Mutter erſtaunt, bei- 
nah erſchrocken an. „Alſo waren das Ihrerſeits nicht bloße 
Phantaſien, vage Projekte, ſondern Ihre feſte Abſicht? Alſo 
hatte ich richtig geraten? Und... und... inwiefern iſt denn 

dieſe Heirat fuͤr mich eine Rettung und eine Notwendigkeit in 
meiner jetzigen Lage? Und .. . und ... in welchem Zuſammen— 
hange ſteht denn das alles mit dem, was Sie jetzt eben erwaͤhnt 
haben .. mit dieſer ganzen Geſchichte? ... Ich verſtehe Sie 
abſolut nicht, Mama!“ 

VD ch aber wundere mich, mon ange, wie du das alles nicht ver: 

ſtehen kannſt!“ rief Marja Alexandrowna, die nun ihrerſeits leb— 

haft wurde. „Erſtens ſchon allein dies, daß du in eine andere 

Geeſellſchaft, in eine andere Welt uͤbergehſt! Du wirft für immer 
dieſen widerwaͤrtigen Kraͤhwinkel verlaſſen, der fuͤr dich voll 
ſchrecklicher Erinnerungen iſt, wo du keinen wirklichen Freund 
haſt, wo man dich verleumdet hat, wo alle dieſe Tratſchweiber 


Fünftes Kapitel 123 


124 Onkelchens Traum 


dich wegen deiner Schoͤnheit haſſen. Du kannſt ſogar noch in 
dieſem Fruͤhjahr ins Ausland fahren, nach Italien, nach der 
Schweiz, nach Spanien, Sinaida, nach Spanien, wo die ЭП: 
hambra iſt und der Guadalquivir, und nicht das hieſige haͤß— 
liche Fluͤßchen mit dem unanſtaͤndigen Namen ...“ 

„Aber erlauben Sie, Mama, Sie reden ſo, als ob ich ſchon 
verheiratet wäre oder wenigſtens der Fuͤrſt mir ſchon einen An— 
trag gemacht haͤtte!“ | 

„Darüber beunruhige dich nicht, mein Engel; ich weiß, was 
ich rede. Aber erlaube mir fortzufahren! Das erſte habe ich Бе: 
reits geſagt; jetzt kommt das zweite: ich verſtehe, mein Kind, mit 
welchem e du dieſem Moſgljakow deine RR geben 
wuͤrdeſt .. 

„Ich weiß auch ohne Ihre Worte, daß ich ihn niemals heiraten 
werde!“ antwortete Sinaida heftig, und ihre Augen blitzten. 

„Und wenn du wuͤßteſt, wie ſehr ich deinen Widerwillen ver: 
ſtehe, liebes Kind! Es iſt ſchrecklich, vor Gottes Altar einem 
Manne Liebe zu ſchwoͤren, den man nicht lieben kann! Es iſt 
ſchrecklich, jemandem anzugehoͤren, den man nicht einmal zu 
achten imſtande iſt! Er aber verlangt deine Liebe; zu dieſem 
Zwecke will er dich heiraten; ich merke das an der Art, wie er 
nach dir hinſieht, wenn du dich abwendeſt. Und wie ſchwer iſt 
es, ſich zu verſtellen! Ich ſelbſt habe das fuͤnfundzwanzig Jahre 
lang durchgemacht. Dein Vater hat mich ungluͤcklich gemacht. 
Er hat mir, das kann ich wohl ſagen, meine ganze Jugend ver— 
dorben, und wie oft haſt du meine Traͤnen geſehen!“ 

„Papa iſt auf dem Gute; bitte, ſagen Sie nichts Schlechtes 
von ihm!“ ſagte Sinaida. 

„Ich weiß, du nimmſt ihn immer in Schutz. Ach, Sinaida! 
Mir hat das Herz geblutet, als ich aus Berechnung deine Ver— 


Fünftes Kapitel 125 


heiratung mit Moſgljakow wuͤnſchte. Aber bei dem Fuͤrſten 
brauchſt du dich nicht zu verſtellen. Es verſteht ſich von ſelbſt, 
daß du ihn nicht lieben kannſt ... mit wirklicher Liebe, und er 
ſelbſt iſt auch gar nicht in der Lage, eine ſolche Liebe fordern zu 
koͤnnen ...“ | 

„Mein Gott, was iſt das Ни Unfinn! Aber ich verſichere 
Ihnen, daß Sie ſich von Anfang an getaͤuſcht haben, gleich von 
vornherein, in der Hauptſache! So moͤgen Sie denn wiſſen, daß 
ich uͤberhaupt nicht heiraten will, niemanden; ich will ledig 
bleiben! Sie haben mir zwei Jahre lang deswegen zugeſetzt, 
weil ich mich nicht verheirate. Nun, Sie werden ſich damit eben 
abfinden muͤſſen. Ich will nicht; das genuͤgt. Und dabei wird 
es bleiben!“ 

„Aber mein Herzchen, liebſte Sinaida, um Gottes willen, 
werde nur nicht heftig, bevor du mich zu Ende gehoͤrt haſt! Was 
бай du nur für ein hitziges Köpfchen, wirklich! Wenn du mir ge— 
ſtatten willſt, dir die Sache von meinem Geſichtspunkte aus zu 
zeigen, ſo wirſt du mir ſofort zuſtimmen. Der Fuͤrſt wird noch 
ein, hoͤchſtens zwei Jahre leben, und meiner Anſicht nach iſt es 
beſſer, eine junge Witwe als eine alte Jungfer zu ſein, ganz zu 
geſchweigen davon, daß du nach ſeinem Tode eine Fuͤrſtin, frei, 
reich und unabhaͤngig ſein wirſt! Mein liebes Kind, du blickſt 
vielleicht verächtlich auf alle dieſe Spekulationen — Spekula⸗ 
tionen auf ſeinen Tod! Aber ich bin eine Mutter, und welche 
Mutter wird mir meine weitblickende Fuͤrſorge zum Vorwurfe 
machen? Und noch eins: wenn du in deiner engelhaften Guͤte 
dieſen jungen Menſchen immer noch bemitleideſt, ihn dermaßen 
bemitleideſt, daß du dich nicht einmal verheiraten willſt, ſolange 
er noch lebt (wie ich vermute), ſo bedenke doch, daß du durch 
eine Heirat mit dem Fuͤrſten ihn gleichſam wieder zum Leben 


126 Onkelchens Traum 


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erweckſt, ihm eine große Freude bereiteft! Wenn er auch nur 
eine Spur von geſunder Vernunft beſitzt, ſo wird er doch natuͤr— 
lich begreifen, daß Eiferſucht auf den Fuͤrſten ein Ding der Un— 
moͤglichkeit, etwas Laͤcherliches ſein wuͤrde; er wird begreifen, 
daß du aus Berechnung, unter dem Druck der Notwendigkeit 
geheiratet haft. Schließlich wird er begreifen ... das heißt, ich 
will einfach ſagen, daß du nach dem Tode des Fuͤrſten dich wieder 
verheiraten kannſt, mit wem du willſt . ..“ 5 

„Alſo ganz einfach: ich ſoll den Fuͤrſten heiraten, ihn aus— 
plündern und dann auf ſeinen Tod ſpekulieren, um den Ger 
liebten zu heiraten. Sie ſuchen Ihren Zweck auf eine ſchlaue 
Weiſe zu erreichen! Sie wollen mich verfuͤhren, indem Sie mir 
vorſchlagen ... Ich verſtehe Sie, Mama, ich verſtehe Sie оо: 
kommen! Sie koͤnnen ſich doch ſchlechterdings nicht enthalten, 
edle Gefuͤhle herauszukehren, ſogar bei einer garſtigen Sache. 
Hätten Sie doch lieber einfach und geradezu gejagt: ‚Sinaida, 
es iſt eine Gemeinheit; aber ſie bringt Vorteil; darum willige 
ein!“ Das wäre wenigſtens aufrichtiger geweſen.“ 

„Aber, mein Kind, warum willſt du die Sache denn durchaus 
von dieſem Geſichtspunkte aus anſehen, von dem Geſichtspunkte 
des Betruges, der Hinterliſt und der Selbſtſucht? Du haͤltſt 
meine Spekulationen fuͤr eine Gemeinheit und fuͤr einen Be— 
trug? Aber ich bitte dich bei allem, was heilig iſt, wo ſteckt denn 
da ein Betrug, was iſt daran fuͤr eine Gemeinheit? Betrachte 
dich doch nur im Spiegel: du biſt ſo ſchoͤn, daß man gar 
wohl fuͤr dich ein Koͤnigreich hingeben kann! Und da bringſt du, 
du, eine ſolche Schönheit, dem alten Manne deine beſten Lebens 
jahre zum Opfer! Du wirft wie ein ſchoͤner Stern feinen Lebens⸗ 
abend erleuchten; du wirſt dich wie gruͤner Efeu um ſein Alter 
ſchlingen, du, und nicht dieſe Brenneſſel, dieſes widerwaͤrtige 


Fünftes Kapitel 127 


Frauenzimmer, das ihn behext hat und ihm gierig den Lebens— 
ſaft ausſaugt! Sind etwa ſein Geld und ſein Fuͤrſtentitel mehr 
wert als du? Wo ſteckt da Betrug und Gemeinheit? Du weißt 
ſelbſt nicht, was du redeſt, Sinaida!“ 

„Dieſe Dinge muͤſſen doch wohl viel wert ſein, wenn ich um 
ihretwillen einen Kruͤppel heiraten ſoll! Betrug bleibt immer 
Betrug, Mama, mag der Zweck ſein, welcher er will!“ 

„Nicht doch, liebe Sinaida, nicht doch! Man kann die Sache 
ſogar von einem hohen, ſogar vom chriſtlichen Geſichtspunkte aus 
anſehen, mein Kind! Du haſt einmal in einem Augenblicke der 
Ekſtaſe zu mir geſagt, du wollteſt Barmherzige Schweſter wer— 
den. Dein Herz hat viel gelitten und ſich verhaͤrtet. Du ſagteſt 
(ich weiß das noch), dein Herz koͤnne nicht mehr lieben. Wenn 
du nicht mehr an Liebe glaubſt, ſo wende deine Gefuͤhle einem 
anderen, höheren Gegenſtande zu, tue das aufrichtig wie ein 
5 Kind, mit vollem Glauben und voller Hingebung — und Gott 
wird dich ſegnen. Dieſer alte Mann hat ebenfalls viel gelitten; 
er iſt ungluͤcklich; er wird befeindet; ich kenne ihn ſchon mehrere 
Jahre und habe immer eine beſondere Zuneigung zu ihm emp— 
funden, eine Art Liebe, gerade als ob mir etwas geahnt haͤtte. 
> Sei ſeine Freundin, fei feine Tochter, fei nötigenfalls ſogar fein 
Spielzeug — wenn ſchon alles herausgeſagt werden ſoll! Aber 
erwaͤrme ſein Herz, und du wirſt das um Gottes und der Tugend 
willen tun! Er iſt komiſch; beachte das nicht! Er iſt nur ein 
halber Menſch; habe Mitleid mit ihm: du biſt eine Chriſtin! 
U'berwinde dich ſelbſt; ſolche Taten erfordern Selbſtuͤberwin— 
dung. Nach unſerer Auffaffung iſt es eine ſchwere Aufgabe, im 
Krankenhauſe Wunden zu verbinden, und wir ekeln uns, die 
verdorbene Lazarettluft einzuatmen. Aber es gibt Engel Gottes, 
die das ausfuͤhren und Gott fuͤr ihren Beruf preiſen. Das waͤre 


128 Onkelchens Traum | 


eine Arznei für dein krankes Herz, ein Beruf, eine Großtat — 
dadurch wuͤrdeſt du deine Wunden heilen. Wo iſt da Egoismus, 
wo iſt da Gemeinheit? Aber du glaubſt mir nicht! Du denkſt 
vielleicht, ich verſtelle mich, wenn ich von Pflicht und Großtaten 
rede. Du kannſt es nicht verſtehen, daß ich, eine eitle Weltdame, 
ein Herz und Gefuͤhle und moraliſche Grundſaͤtze haben kann. 
Nun gut, glaube mir nicht, kraͤnke deine Mutter; aber gib zu, 
daß ihre Worte vernuͤnftig ſind und den Weg zur Rettung 
zeigen! Stelle dir meinetwegen vor, daß nicht ich zu dir rede, 
ſondern ein anderer; ſchließe die Augen, drehe dich nach der Ecke 
zu; bilde dir ein, daß eine unſichtbare Stimme zu dir ſpricht! .. 
Du nimmſt hauptſaͤchlich daran Anſtoß, daß dies alles um des 
Geldes willen geſchehen ſoll, als ob es eine Art Verkauf oder 
Kauf waͤre. So verzichte doch meinetwegen auf das Geld, wenn 
dir das Geld ſo verhaßt iſt! Behalte nur ſoviel, wie notwendig 
iſt, für dich und verteile alles übrige unter die Armen! Hilf zum 
Beiſpiel wenigſtens ihm, dieſem Ungluͤcklichen auf dem Sterbe⸗ 
bette!“ 

„Er wird keine Hilfe annehmen,“ ſagte Sinaida leiſe, als ob 
ſie fuͤr ſich ſpraͤche. 

„Er wird fie nicht annehmen; aber feine Mutter wird fie an⸗ 
nehmen,“ antwortete Marja Alexandrowna triumphierend; „пе 
wird ſie ohne ſein Wiſſen annehmen. Du haſt vor einem halben 
Jahre deine Ohrringe verkauft, die deine Tante dir geſchenkt 
hatte, und ihr geholfen; ich weiß das. Ich weiß, daß die alte 
Frau Waͤſche fuͤr die Leute waͤſcht, um ihren ungluͤcklichen Sohn 
zu unterhalten.“ 

„Er wird bald keiner Hilfe mehr beduͤrfen!“ | 

„Ich weiß auch, worauf da damit hindeuteſt,“ fiel Marja 
Alexandrowna ein und eine Begeiſterung, eine wirkliche Bes 


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Fuͤnftes Kapitel 129 


geiſterung erfaßte fie; „ich weiß, wovon du redeſt. Es heißt, er 
habe die Schwindſucht und werde bald ſterben. Aber wer ſagt 
das denn eigentlich? Ich habe neulich Kaliſt Staniſlawitſch er: 
preß nach ihm gefragt: ich intereſſierte mich für ihn, weil ich ein 
Herz habe, Sinaida. Kaliſt Staniſlawitſch antwortete mir, die 
Krankheit ſei allerdings gefaͤhrlich; aber er ſei bis jetzt noch der 
Überzeugung, daß der Kranke nicht die Schwindſucht, ſondern 
nur eine andere ziemlich ſtarke Bruſtaffektion habe. Frage ihn 
ſelbſt! Er ſprach ſich mir gegenuͤber zuverſichtlich dahin aus, daß 
unter veränderten Verhaͤltniſſen, beſonders bei einem Wechſel 
des Klimas und der aͤußeren Eindruͤcke, der Kranke geneſen 
könne. Er ſagte mir, in Spanien (das habe ich auch ſchon früher 
gehoͤrt und ſogar geleſen), da gebe es eine merkwuͤrdige Inſel, 
ich glaube, Malaga (jedenfalls hat ſie denſelben Namen wie ein 
Wein), wo nicht nur Bruſtkranke, ſondern ſogar richtige Schwind— 
ſuͤchtige bloß durch das Klima vollſtaͤndig wiederhergeſtellt 
wuͤrden; und es begaͤben ſich viele Leute expreß zur Kur dort— 
hin, ſelbſtverſtaͤndlich nur hohe Herren oder wohl auch Kauf— 
leute, aber nur ſehr reiche. Schon allein dieſe zauberhafte 
Alhambra, dieſe Myrten, dieſe Zitronenbaͤume, dieſe Spanier 
auf ihren Maultieren! Schon das allein wird auf eine poetiſch 
veranlagte Natur einen gewaltigen Eindruck machen. Du meinſt, 
er werde deine Hilfe, dein Geld zu dieſer Reiſe nicht annehmen? 
So taͤuſche ihn, wenn er dir leid tut! Eine Taͤuſchung zum 
Zwecke der Rettung eines Menſchenlebens iſt verzeihlich. Mach 
ihm Hoffnung; verſprich ihm ſelbſt deine Liebe; ſag ihm, du 
werdeſt ihn heiraten, ſobald du werdeſt Witwe ſein! Man kann 
alles in der Welt auf eine edle Art ſagen. Deine Mutter wird 
dich nichts Unedles lehren, Sinaida; du tuſt das zur Rettung 
ſeines Lebens, und daher iſt alles entſchuldbar! Du wirſt ihn 
LXXV. 9 


130 Onkelchens Traum 


durch die Hoffnung neu beleben; er wird ſelbſt anfangen, auf 
ſeine Geſundheit zu achten, die Kur innezuhalten, auf die Arzte 
zu hoͤren. Er wird ſich bemuͤhen, die Geſundheit wiederzuer— 
langen, um gluͤcklich zu werden. Wenn er geneſen iſt, dann wirſt 
du, wenn du ihn auch nicht heirateft, ihn doch wenigſtens geſund 
gemacht, ihn gerettet, ihn ins Leben zuruͤckgerufen haben! Und 
ſchließlich kann man ihm ja auch eine gewiſſe Sympathie zu— 
wenden! Vielleicht hat ihn dann das Schickſal belehrt und zum 
Beſſeren umgewandelt, und wenn er wirklich deiner wuͤrdig 
ſein wird, dann kannſt du ihn ja meinetwegen auch heiraten, ſo— 
bald du wirſt Witwe geworden ſein. Du kannſt, wenn du ihn 
kuriert haſt, ihm eine Stellung in der Welt verſchaffen, ihm eine 
gute Karriere ermoͤglichen. Deine Verheiratung mit ihm wird 
dann eher entſchuldbar ſein als jetzt, wo ſie geradezu unmoͤglich 
iſt. Was wuͤrde euch beide erwarten, wenn ihr euch jetzt zu einem 
jo unſinnigen Schritte entſchloͤſſet? Allgemeine Verachtung, Ar— 
mut, Durchpruͤgeln von Schulbuben (denn das iſt mit ſeinem 
Amte notwendig verbunden), wechſelſeitiges Vorleſen von 
Shakeſpeare, lebenslaͤngliches Wohnen in Mordaſow und end: 
lich ſein naher, unvermeidlicher Tod. Wenn du ihm dagegen 
wieder zur Gefundheit verhilfſt, jo ermoͤglichſt du ihm ein nuͤtz— 
liches, ſittlich gutes Leben; und wenn du ihm verzeihſt, ſo wird 
er dich vergoͤttern. Ihn quaͤlt jetzt die Reue uͤber ſeine damalige 
haͤßliche Handlung; aber wenn du ihm die Möglichkeit zu einem 
neuen Leben gibſt und ihm verzeihſt, ſo bringſt du ihn dahin, 
wieder zu hoffen und ſich mit ſich ſelbſt zu verſoͤhnen. Er kann 
in den Staatsdienſt treten und dort aufruͤcken. Und ſchließlich, 
ſelbſt wenn er nicht wieder geſund werden ſollte, ſo wird er als 
ein Gluͤcklicher ſterben, verſoͤhnt mit ſich ſelbſt, in deinen Armen 
(denn du ſelbſt kannſt in dieſen Augenblicken bei ihm ſein), uͤber⸗ 


Fuͤnftes Kapitel 131 


zeugt davon, daß du ihn liebſt und ihm verziehen haſt, im Schat— 
ten der Myrten und Zitronenbaͤume, unter dem dunkelblauen 
exotiſchen Himmel! O Sinaida! Das alles haſt du in der Hand! 
Alle Vorteile find auf deiner Seite — und alles das dadurch, daß 
du den Fuͤrſten heirateſt.“ 

Marja Alexandrowna war zu Ende. Es trat ein ziemlich 
langes Stillſchweigen ein. Sinaida befand ſich in unbeſchreib— 
licher Aufregung. 

Wir unternehmen es nicht, Sinaidas Gefuͤhle zu ſchildern; 
wir koͤnnen fie nicht erraten. Aber es ſcheint, daß Marja Aleran: 
drowna den richtigen Weg zu ihrem Herzen gefunden hatte. Da 
ſie nicht wußte, in welchem Zuſtande ſich das Herz ihrer Tochter 
jetzt befand, ро hatte fie alle möglichen Situationen, in denen es 
ſich befinden konnte, durchprobiert und zuletzt gemerkt, daß fie 
auf den richtigen Weg gekommen war. Sie hatte die krankſten 
Stellen an Sinaidas Herzen mit rauher Hand beruͤhrt und natuͤr— 
lich nach ihrer Gewohnheit nicht umhin gekonnt, edle Gefuͤhle 
herauszukehren, durch die ſich Sinaida allerdings nicht ver— 
blenden ließ. „Aber was ſchadet es, daß ſie mir nicht glaubt,“ 
hatte Marja Alexandrowna gedacht, „wenn ich ſie nur zum 
eigenen Nachdenken bringen kann! Wenn ich ihr nur recht ge— 
ſchickt das andeuten kann, wovon ich nicht geradezu ſprechen 
darf!“ So hatte ſie gedacht und ihr Ziel erreicht. Sie hatte die 
gewuͤnſchte Wirkung hervorgebracht. Sinaida hatte geſpannt 
zugehoͤrt. Ihre Wangen gluͤhten, ihre Bruſt wogte. 

„Hoͤren Sie, Mama,“ ſagte ſie endlich in entſchloſſenem Tone, 
obgleich die Blaͤſſe, die ihr Geſicht ploͤtzlich uͤberzog, deutlich 
zeigte, wieviel ihr dieſer Entſchluß koſtete. „Hören Sie, Mama...” 

Aber ein ploͤtzliches Geraͤuſch, das vom Vorzimmer her hoͤr— 
bar wurde, und eine ſcharfe, kreiſchende Stimme, die nach Marja 


132 Onkelchens Traum 


Alexandrowna fragte, zwangen Sinaida innezuhalten. Marja 
Alexandrowna ſprang auf. 

„Ach, mein Gott!“ rief ſie, „da fuͤhrt mir der Teufel dieſe 
ſchwatzhafte Elſter, die Frau Oberſt, her! Und dabei habe ich ſie 
vor vierzehn Tagen beinah aus dem Hauſe gejagt!“ fuͤgte ſie 
faft in Verzweiflung hinzu. „Aber . .. aber es ift unmöglich, fie 
jetzt abzuweiſen! Unmoͤglich! Sie hat gewiß irgendwelche 
Neuigkeiten; ſonſt wuͤrde ſie es nicht wagen, ſich bei mir zu 
zeigen. Das iſt wichtig, Sinaida! Ich muß wiſſen, was ſie 
bringt. Wir duͤrfen jetzt nichts unbeachtet laſſen! — Aber wie 
dankbar bin ich Ihnen für Ihren Beſuch!“ rief fie, der Eintreten 
den entgegeneilend. „Wie lieb von Ihnen, ſich meiner zu 
erinnern, teuerſte Sofja Petrowna! Welch eine ent-zuͤk⸗ken⸗de 
Überraſchung!“ 

Sinaida lief aus dem Zimmer. 


Sechſtes Kapitel 1 
Die Frau Oberſt Sofja Petrowna Karpuchina glich nur geiftig 
einer Elſter. Koͤrperlich hatte ſie mehr Ahnlichkeit mit einem 
Sperling. Sie war eine kleine, fuͤnfzigjaͤhrige Dame mit ſchar⸗ 
fen, kleinen Augen und mit Sommerſproſſen und gelben Flecken 
uͤber das ganze Geſicht. Ihr kleines, ausgetrocknetes Koͤrperchen, 
das auf duͤnnen, aber kraͤftigen Sperlingsbeinchen ruhte, ſteckte 
in einem dunklen Seidenkleide, das fortwaͤhrend raſchelte, weil 
die Frau Oberſt auch nicht zwei Sekunden lang ruhig bleiben 
konnte. Sie war eine hoͤchſt boshafte, rachſuͤchtige Klatſchbaſe 
und maßlos ſtolz darauf, daß ſie eine Frau Oberſt war. Mit 
ihrem Manne, einem penſionierten Oberſt, wurde ſie ſehr oft 
handgemein und zerfraßte ihm das Geſicht. Außerdem trank fie 
jeden Morgen vier Glaͤſer Schnaps und jeden Abend ebenſoviel 


Sechſtes Kapitel 133 


und hatte einen wuͤtenden Haß auf Anna Nikolajewna Anti— 
рота, von der fie in der vorigen Woche aus dem Haufe hinaus: 
gejagt worden war, und desgleichen auf Natalja Dmitrijewna 
Paſkudina, die dabei aſſiſtiert hatte. 

„Ich bin nur auf ein Augenblickchen zu Ihnen gekommen, 
mon ange,“ plapperte ſie. „Es hat eigentlich keinen Zweck, daß 
ich mich hingeſetzt habe. Ich bin nur herangekommen, um Ihnen 
zu erzaͤhlen, was fuͤr wunderliche Dinge bei uns geſchehen. Die 
ganze Stadt hat geradezu den Verſtand verloren infolge der 
Ankunft dieſes Fuͤrſten! Unſere Schlaubergerinnen (vous com— 
prenez!) machen auf ihn Jagd, ſchleppen ihn um die Wette zu 
ſich, ſetzen ihm Champagner vor — Sie werden es gar nicht 
glauben! Sie werden es gar nicht glauben! Wie haben Sie ihn 
nur von ſich weglaſſen koͤnnen? Wiſſen Sie auch wohl, daß er 
jetzt bei Natalja Dmitrijewna iſt?“ 

„Bei Natalja Dmitrijewna?“ rief Marja Alexandrowna und 
ſprang von ihrem Stuhle ein wenig in die Hoͤhe. „Aber er wollte 
doch nur zum Gouverneur fahren und dann vielleicht zu Anna 
Nikolajewna, und zwar nicht auf lange!“ 

„Na ja, nicht auf lange! Nun koͤnnen Sie ihm nachpfeifen! 
Den Gouverneur hat er nicht zu Hauſe getroffen; darauf iſt er 
zu Anna Nikolajewna gefahren und hat ihr ſein Wort gegeben, 
bei ihr zu Mittag zu ſpeiſen; Natalja Dmitrijewna aber, die jetzt 
immer bei ihr zu finden iſt, hat ihn zu ſich nach Hauſe geſchleppt, 
damit er vor dem Mittageſſen bei ihr fruͤhſtuͤcke. So macht es 
der Fuͤrſt!“ 

„Aber was tut denn Moſgljakow dabei? Er hatte mir doch 
verſprochen ...“ ö 

„Bleiben Sie mir mit Ihrem geprieſenen Moſgljakow vom 
Leibe! Der iſt ja auch mit ihnen mitgefahren! Paſſen Sie auf: 


134 Onkelchens Traum 


wenn man ihn dort an den Kartentiſch ſetzt, verſpielt er wieder 
alles wie im vorigen Jahre! Und auch den Fuͤrſten werden ſie 
an den Kartentiſch ſetzen und ratzekahl auspluͤndern. Und was 


ſie für Geſchichten erzählt, dieſe Natalja Dmitrijewna! Sie 


macht ein großes Geſchrei, als ob Sie den Fuͤrſten an ſich lockten, 
na, naͤmlich .. . in gewiſſer Abſicht — vous comprenez? Sie 
ſetzt es ihm ſelbſt auseinander. Er verſteht natuͤrlich nichts von 
dem, was ſie ihm ſagt, ſondern ſitzt da wie eine naſſe Katze und 
jagt zu allem: ‚Nun ja, nun ja!“ Und fie ſelbſt, wie macht fie es 
ſelbſt! Sie hat ihre Sonja hereinkommen laſſen — ſtellen Sie 
ſich das vor: die iſt doch ſchon fuͤnfzehn Jahre alt, und ſie laͤßt 
ſie immer noch in kurzen Kleidern gehen! Nur bis ans Knie, 
denken Sie nur! Und dann hat ſie auch dieſes Waiſenkind, die 
Maſchka, holen laſſen, ebenfalls in einem kurzen Kleide, das aber 
noch nicht einmal bis zum Knie herabreichte — ich habe es mir 
durch meine Lorgnette angeſehen. Auf die Koͤpfe ſetzte ſie den 
beiden ſo eine Art von roten Muͤtzen mit Federn — ich weiß 
nicht, was das vorſtellen ſollte! Und dann mußten die beiden 
Mädchen nach dem Klavier dem Fuͤrſten den Koſakentanz vor— 
tanzen! Na, Sie kennen wohl die Schwaͤche des Fuͤrſten? Er 
war ganz hin vor Entzüden: Dieſe Formen, fagte er, dieſe 
Formen!“ Ich habe mir die Tänzerinnen durch die Lorgnette 
angeſehen; ſie taten ihr Beſtes, bekamen ganz rote Koͤpfe und 
renkten ſich die Beine aus — kurz, es war ſchon nicht mehr ſchoͤn! 
Pfui, ſo ein Tanz! Ich habe ſelbſt den Schaltanz getanzt, als 


ich aus dem vornehmen Penſionat von Madame Jarni abging; 


aber mein Tanz machte einen wahrhaft vornehmen Eindruck! 
Sogar Senatoren klatſchten mir Beifall! Das war ein Inſtitut, 
in dem Fuͤrſten- und Grafentoͤchter erzogen wurden! Aber dies 
hier war geradezu ein Cancan! Ich gluͤhte vor Scham, ich gluͤhte, 


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Sechſtes Kapitel 135 


gluͤhte nur ſo! Es war mir einfach unmoͤglich, bis zu Ende dabei 
zu ſitzen! ...“ 

„Aber ... find Sie denn ſelbſt bei Natalja Dmitrijewna ge: 
weſen? Sie find ja doch ...“ 

„Nun ja, ſie hat mich in der vorigen Woche beleidigt. Ich ſage 
das allen Leuten ganz offen. Mais, ma cheère, ich wollte doch 
gar zu gern dieſen Fuͤrſten ſehen, und waͤre es auch nur durch 
die Tuͤrritze geweſen, und ſo fuhr ich denn hin. Wo haͤtte ich ihn 
denn auch ſonſt ſehen koͤnnen? Waͤre es nicht um dieſes wider— 
waͤrtigen Fuͤrſten willen geweſen, ſo wuͤrde ich ganz beſtimmt 
nicht zu ihr gefahren ſein! Denken Sie ſich: allen wurde Schoko— 
lade gereicht, nur mir nicht, und die ganze Zeit uͤber hat ſie mit 
mir auch nicht ein Wort geſprochen. Das war von ihr ent— 
ſchieden Abſicht ... So ein Trampeltier! Aber ich werde es ihr 
heimzahlen! Aber nun leben Sie wohl, mon ange; ich bin jetzt 
eilig, ſehr eilig... Ich muß unbedingt zu Akulina Panfilowna 
und ihr erzählen... Aber die Hoffnung, den Fuͤrſten wieder: 
zuſehen, geben Sie nur auf! Der wird jetzt nicht mehr zu Ihnen 
kommen. Wiſſen Sie, er hat ja kein Gedaͤchtnis, und da wird ihn 
Anna Nikolajewna ſicherlich zu ſich ſchleppen und bei ſich feſt— 
halten! Alle fürchten, daß Sie... бт... Sie verſtehen? In 
bezug auf Sinaida ...“ 

„Quelle horreur!“ 

„Ich verſichere Ihnen, daß es ſo iſt! Die ganze Stadt macht 
davon Geſchrei. Anna Nikolajewna will ihn durchaus zum 
Mittageſſen bei ſich behalten, und dann fuͤr immer. Das tut ſie, 
um Sie zu aͤrgern, mon ange. Ich habe bei ihr auf dem Hofe 
durch den Tuͤrſpalt in die Kuͤche geſehen. Da herrſcht ein 
eifriges Treiben: ein großartiges Diner wird zugeruͤſtet; es wird 
mit Meſſern gehackt; es iſt nach Champagner geſchickt worden. 


136 Onkelchens Traum 


Beeilen Sie ſich, beeilen Sie ſich, und fangen Sie ihn unter⸗ 
wegs ab, wenn er zu ihr faͤhrt. Sie ſind ja doch die erſte ges 
weſen, der er zum Mittageſſen zugeſagt hat! Bei Ihnen iſt er 
zu Gaſte und nicht bei ihr! Dieſes ſchlaue Weib, dieſe Уп: 
trigantin, dieſe Rotznaſe ſoll nicht uͤber uns lachen! Sie iſt nicht 
ſoviel wert wie meine Schuhſohle, wenn ſie auch eine Frau 
Staatsanwalt iſt! Ich ſelbſt bin eine Frau Oberſt! Ich bin in 
der vornehmen Penſion der Madame Jarni erzogen worden. 
Mais adieu, mon ange! Ich habe meinen Schlitten vor der 
Tuͤr; ſonſt würde ich mit Ihnen mitfahren ...“ 

Die zweibeinige Zeitung eilte davon; Marja Alexandrowna 
zitterte vor Aufregung; aber der Rat der Frau Oberſt war ſehr 
einleuchtend und praktiſch. Es war keine Zeit zu verlieren. Aber 
es blieb noch die größte Schwierigkeit zu überwinden. Marja 
Alexandrowna eilte in Sinaidas Zimmer. 

Sinaida ging mit verſchraͤnkten Armen und mit geſenktem 
Kopfe, blaß und verftört, im Zimmer auf und ab. Die Augen ſtan- 
den ihr voll Tränen; aber in dem Blicke, den fie auf ihre Mutter. 
richtete, funkelte eine feſte Entſchloſſenheit. Eilig verbarg ſie ihre 
Traͤnen, und auf ihren Lippen erſchien ein ſpoͤttiſches Lächeln. 


„Mama,“ ſagte ſie, ihrer Mutter zuvorkommend, „Sie haben 
ſoeben viel, gar zu viel Beredſamkeit an mich verſchwendet. Aber 
Sie haben mich nicht verblendet. Ich bin kein Kind. Mir ſelbſt 1 
einzureden, daß ich die Großtat einer Barmherzigen Schweſter 


vollbrächte, während ich doch dazu nicht den geringſten Beruf 
habe, und eine unwuͤrdige, nur aus Egoismus ausgefuͤhrte 
Handlung mit edlen Zielen zu entſchuldigen, — das alles iſt ein 
Jeſuitismus, der mich nicht еп konnte. So hören Sie alfo: 
das hat mich nicht taͤuſchen koͤnnen, und ich will, daß Sie das 
unter allen Umſtaͤnden wiſſen!“ 


Sechſtes Kapitel ö 137 


„Aber, mon ange! . .. rief Marja Alexandrowna beaͤngſtigt. 

„Reden Sie noch nicht, Mama; haben Sie die Geduld, mich 
bis zu Ende anzuhören. Trotzdem ich mir völlig bewußt bin, 
daß das alles nur Jeſuitismus iſt, und trotzdem ich die voͤllige 
Überzeugung habe, daß ein ſolches Verfahren ganz unehrenhaft 
iſt, nehme ich dennoch Ihren Vorſchlag vollſtaͤndig an, hoͤren 
Sie: vollſtaͤndig und erklaͤre Ihnen, daß ich bereit bin, den 
Fuͤrſten zu heiraten, und ſogar bereit bin, alle Ihre Bemuͤhungen 
zu unterſtuͤtzen, um ihn dahin zu bringen, mir einen Heirats— 
antrag zu machen. Warum ich das tue, das brauchen Sie nicht 
zu wiſſen. Es muß Ihnen genuͤgen, daß ich mich dazu ent— 
ſchloſſen habe. Ich habe mich zu allem entſchloſſen: ich werde 
ihm die Stiefel reichen, ich werde ſeine Magd ſein, ich werde 
ihm zu feinem Vergnügen etwas vortanzen, um meine Ge: 
meinheit in ſeinen Augen wieder gutzumachen; ich werde 
alles, was nur irgend moͤglich iſt, tun, damit er es nicht bereut, 
mich geheiratet zu haben! Aber zum Lohn fuͤr meinen Ent— 
ſchluß verlange ich, daß Sie mir aufrichtig ſagen, auf welche 
Weiſe Sie das alles zuſtande bringen wollen. Wenn Sie in ſo 
energiſcher Manier davon zu reden angefangen haben, ſo wer— 
den Sie (darin kenne ich Sie) das nicht getan haben ohne einen 
feſten Plan im Kopfe. Seien Sie wenigſtens ein einziges Mal 
im Leben aufrichtig; Aufrichtigkeit, das iſt die Bedingung, die 
ich mit aller Beſtimmtheit ſtelle! Ich kann mich nicht entſchließen, 
wenn ich nicht ſicher weiß, wie Sie das alles ins Werk ſetzen 
werden.“ 

Marja Alexandrowna war durch Sinaidas unerwarteten Ent— 
ſchluß ſo uͤberraſcht, daß ſie eine Weile ſtumm und regungslos 
vor Erſtaunen ihr gegenuͤberſtand und ſie mit großen Augen 
anſtarrte. Sie war darauf gefaßt geweſen, mit der hartnaͤckigen 


138 Onkelchens Traum 


romantiſchen Anſchauungsweiſe ihrer Tochter, deren ſtrenges 
Anſtandsgefuͤhl ſie beſtaͤndig fuͤrchtete, einen harten Kampf be— 
ſtehen zu muͤſſen, und nun hoͤrte ſie auf einmal, daß die Tochter 
mit ihr vollſtaͤndig einverſtanden und zu allem, ſogar gegen ihre 
Überzeugung, bereit war! Dadurch wurde alſo die ganze Sache 
auf feſte Beine geſtellt — und die Freude funkelte ihr aus den 
Augen. 


„Liebſte Sinaida!“ rief fie ganz entzuͤckt, „liebſte Sinaida! 


Du biſt mein Fleiſch und Blut!“ 

Mehr konnte ſie nicht herausbringen; ſie ſtuͤrzte zu ihrer 
Tochter hin, um ſie zu umarmen. 

„Ach, mein Gott! Ich wuͤnſche Ihre Umarmungen nicht, 
Mama!“ rief Sinaida voll nervoͤſen Widerwillens. „Ich kann 
ſolche Ausbruͤche Ihres Entzuͤckens nicht leiden! Ich verlange 
von Ihnen eine Antwort auf meine Frage, weiter nichts.“ 

„Aber Sinaida, ich liebe dich ja! Ich vergoͤttere dich, und du 
ſtoͤßt mich zuruͤck . . . ich gebe mir ja alle dieſe Mühe nur um 
deines Gluͤckes willen ...“ 

Und in ihren Augen glaͤnzten unverſtellte Traͤnen. Marja 
Alexandrowna liebte Sinaida wirklich, wenn auch auf ihre be— 


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ſondere Art, und diesmal hatten der Erfolg und die Aufregung 
ſie beſonders gefuͤhlvoll gemacht. Sinaida ſah zwar zur Zeit 


die Sache nur mit beſchraͤnkter Zuſtimmung an; aber ſie begriff 
doch, daß die Mutter ſie liebte, und — fuͤhlte ſich durch dieſe 
Liebe bedruͤckt. Es waͤre ihr ſogar leichter ums Herz geweſen, 
wenn die Mutter fie gehaßt hätte... | 

„Nun, ſeien Sie mir nicht böfe, Mama; ich bin fo aufgeregt,“ 
ſagte ſie, um ſie zu beruhigen. 

„Ich bin nicht boͤſe, ich bin nicht boͤſe, mein Engelchen!“ fiel 
Marja Alexandrowna, die ſofort wieder ganz munter wurde, 


Sechſtes Kapitel 139 


eilig ein; „ich ſehe ja ſelbſt, daß du aufgeregt bift. Siehſt du, 
liebes Kind, du verlangſt Aufrichtigkeit. Nun gut, ich werde 
aufrichtig ſein, vollkommen aufrichtig, verſichere ich dich! Nur 
mußt du mir dann auch glauben! Erſtens alſo muß ich dir ſagen, 
daß ich einen vollſtaͤndig beſtimmten, das heißt einen in allen 
Einzelheiten ausgearbeiteten, Plan noch nicht habe, liebe Sinaida, 
und einen ſolchen auch noch nicht haben kann; du haſt ja ein 
kluges Koͤpfchen und wirſt den Grund verſtehen. Ich ſehe ſogar 
einige Schwierigkeiten voraus... Da hat mir zum Beiſpiel 
dieſe Klatſchbaſe ſoeben allerlei vorgetratſcht ... (Ach, mein 
Gott! Ich müßte mich ja eigentlich beeilen !). Siehſt du, ich bin 
vollkommen aufrichtig! Aber ich verſichere dich, ich werde das 
Ziel erreichen!“ fuͤgte ſie ordentlich begeiſtert hinzu. „Meine 
Überzeugung hat nicht das geringſte mit poetiſcher Schwaͤrmerei 
zu ſchaffen, wie du vorhin ſagteſt, mein Engel; ſie gruͤndet ſich 
auf Tatſachen. Sie gruͤndet ſich auf die vollſtaͤndige Geiſtes— 
ſchwaͤche des Fuͤrſten; er iſt ſozuſagen ein Kanevas, auf dem 
man alles Beliebige ſticken kann. Die Hauptſache iſt, daß man 
uns nicht ſtoͤrt! Aber dieſe dummen Frauenzimmer ſollen mich 
nicht uͤberliſten!“ rief ſie; ſie ſchlug mit der Hand auf den Tiſch, 
und ihre Augen funkelten. „Dafuͤr werde ich ſchon ſorgen. Zu 
dieſem Zwecke aber iſt das Notwendigſte, daß wir die Sache moͤg— 
lichſt ſchnell in Angriff nehmen; es muß ſogar gleich heute die 
Hauptſache, wenn irgend moͤglich, ins reine gebracht werden.“ 

„Gut, Mama; aber hoͤren Sie noch ein offenherziges Ge— 
ſtaͤndnis: wiſſen Sie wohl, warum ich mich mit ſolchem Intereſſe 
nach Ihrem Plane erkundige und kein Vertrauen auf ſein Ge— 
lingen ſetze? Weil ich mich nicht auf mich ſelbſt verlaſſen kann. 
Ich habe Ihnen ſchon geſagt, daß ich mich zu dieſer unwuͤrdigen 
Handlungsweiſe entſchloſſen habe; aber wenn die Einzelheiten 


140 Onkelchens Traum 


Ihres Planes gar zu abſtoßend, gar zu ſchmutzig ſein ſollten, 


dann kuͤndige ich Ihnen an, daß ich das nicht ertragen, ſondern 


die ganze Sache wieder hinwerfen werde. Ich weiß, daß das 1 


eine neue Schaͤndlichkeit ift: fich zu einer Gemeinheit zu ent⸗ 


ſchließen und ſich vor dem Schmutze zu fuͤrchten, in dem ſie 


ſchwimmt; aber was ſoll ich machen? Ich werde das ganz be— 
ſtimmt tun! ...“ 


„Aber, liebſte Sinaida, um was fuͤr eine beſondere Gemein- 


heit handelt es ſich denn hier, mon ange?“ erwiderte Marja 


Alexandrowna ſchuͤchtern. „Es handelt ſich doch nur um eine | 
vorteilhafte Heirat, und da verfahren doch alle fo! Man braucht 
die Sache nur von dieſem Geſichtspunkte aus anzuſehen, dann 


erſcheint alles als durchaus anſtaͤndig ...“ 


„Ach, Mama, ich bitte Sie inftändig, laſſen Sie doch mir 
gegenuͤber dieſe ſchlauen Manoͤver beiſeite! Sie ſehen, ich bin 
mit allem einverſtanden, mit allem! Was wollen Sie noch mehr? 


Bitte, erſchrecken Sie nicht, wenn ich die Dinge mit ihrem wahren 
Namen nenne. Vielleicht iſt das jetzt mein einziger Troſt.“ 

Ein bitteres Laͤcheln ſpielte um ihre Lippen. 

„Nun, nun, gut, mein Engelchen, man kann ja verſchiedener 
Anſicht ſein und einander doch achten. Aber wenn du dich um 
die Einzelheiten beunruhigſt und fuͤrchteſt, ſie koͤnnten ſchmutzig 
ſein, ſo uͤberlaß alle dieſe Sorgen mir; ich ſchwoͤre dir, daß auf 
dich auch nicht ein Troͤpfchen Schmutz ſpritzen wird. Will ich 
dich etwa vor allen Leuten bloßſtellen? Verlaß du dich nur auf 
mich, und alles wird in ganz vorzuͤglicher, hoͤchſt anſtaͤndiger 
Weiſe arrangiert werden; was die Hauptſache iſt: in hoͤchſt an— 


ſtaͤndiger Weiſe! Es wird keinen Skandal geben; und wenn es 


ja ein kleines, unvermeidliches Skandaͤlchen dabei geben ſollte, 
nun .. . ſei es drum! Dann find wir ja ſchon weit weg! Wir 


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Sechſtes Kapitel 141 


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werden ja doch nicht hier bleiben! Moͤgen ſie aus voller Kehle 
ſchreien; was ſcheren wir uns darum! Sie werden es ja nur tun, 
weil ſie uns beneiden! Es iſt ja nicht der Muͤhe wert, ſich um 
dieſe Leute Sorgen zu machen! Ich wundere mich ſogar uͤber 
dich, liebe Sinaida (aber ſei mir nur nicht böfe!), daß du bei 
deinem Stolze ſie fuͤrchteſt.“ 

„Ach, Mama, ich fuͤrchte ſie durchaus nicht! Sie verſtehen 
mich eben gar nicht!“ antwortete Sinaida gereizt. 

„Nun, nun, mein Herzchen, ſei nicht boͤſe! Ich meine nur, 
daß Пе ſelbſt alle Tage Schaͤndlichkeiten begehen und du es nur ein 
einziges kleines Mal in deinem Leben tuſt ... aber was rede ich 
Törin! Es iſt ja überhaupt keine Schaͤndlichkeit dabei! Was iſt 
dabei fuͤr eine Schaͤndlichkeit? Im Gegenteil, die Sache iſt 
hoͤchſt anſtaͤndig. Ich werde dir das klar beweiſen, liebe Sinaida. 
Erſtens wiederhole ich noch einmal: es kommt alles darauf an, 
von welchem Geſichtspunkte aus man die Sache betrachtet ...“ 

„So hoͤren Sie doch mit Ihren Beweiſen auf, Mama!“ rief 
Sinaida zornig und ſtampfte ungeduldig mit dem Fuße. 

„Nun, mein Herzchen, ich bin ja ſchon ſtill, ich bin ja ſchon ſtill! 
Ich war wieder ins Reden hineingekommen ...“ 

Es trat ein kurzes Stillſchweigen ein. Marja Alexandrowna 
blickte voller Demut und Unruhe ihrer Tochter nach den Augen, 
wie ein kleines Huͤndchen, das etwas begangen hat und nun nach 
den Augen ſeiner Herrin blickt. 

„Ich verſtehe gar nicht, wie Sie die Sache angreifen wollen,“ 
fuhr Sinaida mit einer Miene des Ekels fort. „Ich bin davon 
überzeugt, daß dabei für Sie nichts weiter als eine Beſchaͤmung 
herauskommen wird. Ich verachte die Meinung dieſer Leute; 
aber Sie werden ſich dabei Schande zuziehen.“ 

„Oh, wenn dich weiter nichts beunruhigt, mein Engel — 


142 Onkelchens Traum 


bitte, beunruhige dich nicht! Ich bitte dich, ich flehe dich an! 
Wenn wir beide nur miteinander einig ſind; um mich brauchſt 
du dir keine Sorgen zu machen. Ach, wenn du wuͤßteſt, aus was 
fuͤr Faͤhrlichkeiten ich mir in meinem Leben ſchon mit heiler 
Haut herausgeholfen habe! Und was habe ich nicht ſchon für 
Dinge zuſtande gebracht! Na, laß es mich nur wenigſtens pro— 
bieren! Jedenfalls muͤſſen wir vor allen Dingen dafuͤr ſorgen, 
daß wir moͤglichſt bald mit dem Fuͤrſten allein zuſammen ſind. 
Das iſt das allererſte! Alles uͤbrige wird davon abhaͤngen! Aber 
auch von dem uͤbrigen habe ich ſchon ſo eine Ahnung. Alle 


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Weiber in der Stadt werden empört fein; aber das tut nichts 


Ich werde ihnen ſchon gehoͤrig dienen! Ein bißchen Sorge macht 
mir Moſgljakow ...“ 

„Moſgljakow?“ fragte Sinaida geringſchaͤtzig. 

„Nun ja, Moſgljakow; aber habe du keine Bange vor ihm, 
liebe Sinaida! Ich verſichere dich auf das beſtimmteſte: ich 
werde es dahin bringen, daß gerade er uns noch helfen wird! 
Du kennſt mich noch nicht, liebe Sinaida! Du weißt noch nicht, 
was ich auf praktiſchem Gebiete leiſten kann! Ach, liebe Sinaida, 
mein Herzchen! Als ich vorhin von der Ankunft dieſes Fuͤrſten 
hoͤrte, da flammte mir ſogleich ein Gedanke im Kopfe auf! Es kam 
auf einmal uͤber mich eine Art Erleuchtung von oben. Und wer, 
wer haͤtte auch erwarten koͤnnen, daß er gerade zu uns kommen 
werde? Eine ſolche guͤnſtige Gelegenheit wird ja in tauſend 
Jahren nicht wiederkehren! Liebe Sinaida! Mein Engelchen! 
Nicht das iſt ehrlos, daß du einen alten Mann und Kruͤppel hei— 
raten wirſt; ehrlos wäre es, wenn du jemand heirateteſt, den du 
nicht leiden kannſt, und deſſen Frau du doch in Wirklichkeit 
ſein wuͤrdeſt! Dem Fuͤrſten aber wirſt du keine wirkliche Frau 
ſein. Das iſt ja keine richtige Ehe. Das iſt einfach ein haͤuslicher 


Sechſtes Kapitel 143 


Kontrakt! Er, der Dummkopf, hat den Vorteil davon; ihm, dem 
Dummkopf, wird ein ſolches unſchaͤtzbares Gluͤck zuteil! Ach, wie 
ſchoͤn du heute biſt, liebe Sinaida! Geradezu von einer idealen 
Schoͤnheit! Wenn ich ein Mann waͤre, wuͤrde ich dir ein halbes 
Königreich verſchaffen, wenn du es verlangteſt! Eſel find fie 
alle, die Maͤnner! Iſt es nicht ein Genuß, dieſes Haͤndchen zu 
kuͤſſen?“ Und Marja Alexandrowna druͤckte heiße Kuͤſſe auf die 
Hand ihrer Tochter. „Das iſt ja mein eigener Leib, mein Fleiſch 
und Blut! Mit Gewalt muß man ihn noͤtigenfalls verheiraten, 
den Dummkopf! Und was fuͤr ein ſchoͤnes Leben werde ich dann 
bei dir fuͤhren, liebe Sinaida! Du wirſt ja doch deine Mutter 
nicht von dir jagen, wenn du gluͤcklich geworden ſein wirſt? Wenn 
wir uns auch manchmal geſtritten haben, mein Engelchen, ſo 
бай du doch keine beſſere Freundin als mich; ich bin doch ...“ 

„Mama, wenn Sie ſich nun einmal dazu entſchloſſen haben, 
ſo ſollten Sie nicht zoͤgern, etwas zu tun. Sie verlieren hier nur 
Ihre Zeit!“ ſagte Sinaida ungeduldig. 

„Ja, es iſt Zeit, liebe Sinaida, es iſt Zeit! Ach, ich war ſo 
ins Reden hineingekommen!“ erwiderte Marja Alexandrowna, 
zur Beſinnung kommend. „Sie wollen uns dort den Fuͤrſten 
ganz und gar abſpenſtig machen. Ich werde mich ſogleich in den 
Schlitten ſetzen und hinfahren! Ich werde vorfahren und 
Moſgljakow herausrufen laſſen und dann... Noͤtigenfalls 
werde ich ihn mit Gewalt wegholen! Lebewohl, liebe Sinaida, 
lebewohl, mein Taͤubchen, habe keine Angſt, zweifle nicht am 
Gelingen und ſei nicht traurig; vor allen Dingen ſei nicht traurig! 
Es wird alles auf die ſchoͤnſte, anſtaͤndigſte Weiſe in Ordnung 
gebracht werden! Die Hauptſache iſt, von welchem Geſichts— 
punkte aus man die Sache anſieht .. . nun, lebewohl, lebe: 
wohl!.“ | 


144 Onkelchens Traum 


Marja Alexandrowna bekreuzte Sinaida, eilte aus dem Zim— р 
mer, drehte 14 in ihrem eigenen Zimmer einen Augenblick vor 


dem Spiegel herum und fuhr ſchon zwei Minuten darauf in 


ihrer Schlittenkutſche durch die Straßen von Mordaſow; denn 


dieſe Kutſche ſtand alle Tage um dieſe Stunde angeſpannt bereit 


fuͤr den Fall, daß Marja Alexandrowna ausfahren wollte. Ja, 


Marja Alexandrowna lebte en grand. 


„Nein, ihr ſollt mich nicht uͤberliſten!“ dachte fie, während fie 
fo in ihrer Kutſche ſaß. „Sinaida iſt einverftanden, alſo ift die 
halbe Arbeit ſchon getan, und euch gegenuͤber ſollte ich den 
kuͤrzeren ziehen? Unſinn! Nein, dieſe Sinaida! Endlich hat 
auch fie ſich einverſtanden erklaͤrt! Alſo auch auf dein Koͤpfchen 


koͤnnen mancherlei Berechnungen wirken! Ich habe ihr aber 


auch eine verlockende Perſpektive hingemalt! Die hat's ge⸗ 
macht! Aber es iſt zum Erſtaunen, wie ſchoͤn ſie heute iſt! Wenn 
ich ihre Schoͤnheit beſaͤße, wuͤrde ich halb Europa nach meiner 
Pfeife tanzen laſſen! Na, warten wir es аб... Der Shakeſpeare | 
wird ſich ſchon verflüchtigen, wenn fie erſt Fürftin fein und etwas 
von den Genuͤſſen des Lebens kennen gelernt haben wird. Was 


kennt fie denn jetzt? Mordaſow und ihren Lehrer! ... Hm.. 


Aber was wird ſie auch fuͤr eine Fuͤrſtin ſein! Ich liebe an ihr | 


dieſen Stolz, dieſe Kuͤhnheit. Und wie unnahbar fie iſt! Wenn 
ſie einen anſieht, ſo iſt einem, als ſaͤhe einen eine Koͤnigin an. 


Nun, wie ſollte ſie denn ihren Vorteil nicht einſehen? Sie hat 
ihn ja auch endlich eingeſehen! Sie wird auch das uͤbrige bes 
greifen ... Ich werde ja doch immer um fie fein. Sie wird ſchließ⸗ 


lich in allen Punkten mit mir einer Anſicht ſein! Aber ohne mich 
wird es nicht gehen! Ich werde ſelbſt eine Fuͤrſtin ſein; auch in 


Petersburg wird man mich kennen lernen. Lebewohl, du elender 
Kraͤhwinkel! Dieſer Fuͤrſt wird ſterben, und dieſer junge Men; 


Sechſtes Kapitel 145 


wird auch ſterben, und dann werde ich ſie einem regierenden 
Fuͤrſten zur Frau geben! Nur eines macht mich beſorgt: habe 
ich auch nicht zuviel Vertrauen auf ſie geſetzt? Bin ich nicht zu 
offenherzig geweſen, bin ich nicht zu gefuͤhlvoll geworden? Sie 
macht mir Sorgen, ach ja, Sorgen!“ 

Und Marja Alexandrowna verſank in Gedanken. Es iſt nicht 
in Abrede zu ſtellen, daß dieſe Gedanken recht ſorgenvoll waren. 
Man ſagt ja auch mit Recht, daß ein leidenſchaftlicher Wunſch 
der ſchlimmſte Tyrann ſei. 

Als Sinaida allein geblieben war, ging ſie lange mit ver— 
ſchraͤnkten Armen nachdenklich im Zimmer auf und ab. Sie 
überlegte vieles. Oft und faſt unbewußt ſagte fie vor ſich hin: 
„Es iſt Zeit, es iſt Zeit, es iſt hohe Zeit!“ Was bedeutete dieſer 
kurze Ausruf? Mehrmals blitzten Traͤnen an ihren langen, 
ſeidigen Wimpern. Sie dachte nicht daran, ſie zu trocknen oder 
zu hemmen. Aber ohne Not beunruhigte ſich ihre Mutter und 
ſuchte in die Gedanken ihrer Tochter einzudringen: Sinaida war 
vollſtaͤndig entſchloſſen und hatte ſich auf alle Folgen gefaßt ge— 
macht 

„Na warte du!“ dachte Naſtaſja Petrowna, als ſie nach der 
Abfahrt der Frau Oberſt ihre Rumpelkammer wieder verließ. 
„Und ich wollte mir ſchon um dieſes elenden Fuͤrſten willen eine 
roſa Schleife anſtecken! Und ich Naͤrrin glaubte, er würde mich 
heiraten! Da haſt du's mit deiner Schleife! Aber Sie, Marja 
Alexandrowna! Sie ſagen, ich ſei eine Schlumpe, eine Bettlerin, 
ich haͤtte fuͤr etwas Unrechtes zweihundert Rubel genommen. 
Das fehlte auch noch, daß ich fuͤr Sie etwas gratis taͤte, Sie 
Zierpuppe! Ich habe das Geld auf anſtaͤndige Weiſe bekommen; 
ich habe es fuͤr die mit der Arbeit verknuͤpften Auslagen er— 
halten ... Vielleicht habe ich ſelbſt erſt jemand beſtechen muͤſſen! 
LXXV. 10 


146 Onkelchens Traum 


Was geht es Sie an, daß ich es nicht fuͤr unter meiner Wuͤrde 
gehalten habe, das Schloß eigenhaͤndig zu erbrechen? Fuͤr Sie 
habe ich gearbeitet, Sie vornehme Muͤßiggaͤngerin! Sie moͤchten 
am liebſten immer nur auf Kanevas ſticken! Na, warten Sie, 
ich werde Ihnen das Kanevasſticken zeigen! Ich werde es Ihnen 
beiden zeigen, was ich fuͤr eine Schlumpe bin! Sie ſollen 
Naſtaſja Petrowna in ihrer ganzen Sanftmut kennen lernen!“ 


Siebentes Kapitel 


Aber Marja Alexandrowna war von den Eingebungen ihres 


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Genies ganz begeiftert. Sie überdachte einen großen, kuͤhnen— 
Plan. Ihre Tochter an einen ſchwer reichen Mann, einen Fuͤrſten 


und Kruͤppel, ohne daß es jemand merkte, unter Benutzung der 
Geiſtesſchwaͤche und Hilfloſigkeit ihres Gaſtes zu verheiraten, ſie 
auf diebiſche Weiſe mit ihm zu verheiraten, wie ſich Marja 
Alexandrownas Feinde ausdruͤcken wuͤrden: das war nicht nur 
kuͤhn, ſondern geradezu verwegen. Allerdings war das Projekt 
vorteilhaft; aber im Falle des Mißlingens bedeckte ſich ſeine Er— 
finderin mit arger Schande. Marja Alexandrowna wußte das; 
aber ſie ließ den Mut nicht ſinken. „Aus was fuͤr Faͤhrlichkeiten 
habe ich mir nicht ſchon mit heiler Haut herausgeholfen!“ hatte 
ſie zu Sinaida geſagt, und das war die Wahrheit. Was waͤre 
ſie denn auch ſonſt fuͤr eine Heldin geweſen! 

Unſtreitig hatte dieſes ganze Unternehmen einige Ähnlich: 
keit mit Straßenraub; aber Marja Alexandrowna ließ ſich auch 
das nicht allzuſehr anfechten. In dieſer Beziehung hatte ſie 
einen erſtaunlich richtigen Gedanken: „Wenn ſie erſt getraut 
ſind, koͤnnen ſie nicht mehr geſchieden werden,“ ein einfacher 
Gedanke, der aber durch die Vorſtellung ſo außerordentlicher 
Vorteile ſo viel Verlockendes fuͤr die Phantaſie hatte, daß Marja 


Siebentes Kapitel 147 


Alexandrowna bei der bloßen Vorſtellung dieſer Vorteile zu 
zittern anfing und am ganzen Koͤrper ein Kribbeln wie von 
Ameiſen verſpuͤrte. Überhaupt befand ſie ſich in gewaltiger 
Aufregung und ſaß in ihrer Schlittenkutſche wie auf Nadeln. 
Als geniale Frau mit unzweifelhafter ſchoͤpferiſcher Begabung 
hatte ſie bereits ihren Aktionsplan entworfen. Aber dieſer Plan 
war nur ſo in großen Zuͤgen, nur ſo en grand fertig und ſchwebte 
ihr nur erſt unklar vor. Es waren noch eine Unmenge Einzel— 
heiten zu erwaͤgen, und ſie mußte ſich auf vielerlei unvorher— 
geſehene Faͤlle gefaßt machen. Aber Marja Alexandrowna be— 
ſaß ein ſtarkes Selbſtvertrauen: ſie ließ ſich nicht durch die Furcht 
vor einem Mißlingen aufregen, o nein! Sie wuͤnſchte weiter 
nichts als recht bald anzufangen, moͤglichſt ſchnell den Kampf zu 
beginnen. Ungeduld, eine edle Ungeduld quaͤlte ſie bei dem Ge— 
danken an die möglichen Hemmniſſe und Verzögerungen. Aber. 
da wir die Hemmniſſe erwaͤhnt haben, ſo bitten wir um die Er— 
laubnis, unſern Gedanken ein wenig erlaͤutern zu duͤrfen. Die 
hauptſaͤchlichſte Gefahr ahnte und erwartete Marja Alexan— 
drowna von ſeiten ihrer edlen Mitbuͤrger, der Einwohner von 
Mordaſow, und beſonders von ſeiten derjenigen Mordaſower 

Damen, die die vornehme Geſellſchaft bildeten. Sie wußte aus 
Erfahrung, wie maßlos ſie von dieſen gehaßt wurde. Sie wußte 
zum Beiſpiel beſtimmt, daß man in der Stadt im gegenwaͤrtigen 
Augenblicke vielleicht ſchon alle ihre Abſichten kannte, obgleich 
noch niemand zu jemand etwas daruͤber geſagt hatte. Sie wußte 
aus wiederholter trauriger Erfahrung, das es kein noch ſo ge— 
heimes Begebnis in ihrem Hauſe gab, das, wenn es ſich am 
Morgen zugetragen hatte, nicht ſchon am Abend jedem Markt— 
weibe und jedem Ladendiener bekannt geweſen waͤre. Aller— 
dings ahnte Marja Alexandrowna dieſe Gefahr bis jetzt nur; 


148 Onkelchens Traum 


aber ſolche Ahnungen hatten fie noch ше getäufcht. Sie taͤuſch— 
ten ſie auch jetzt nicht. Wir ſetzen dasjenige hierher, was ſich 
tatfächlich ereignet hatte, und was fie noch nicht mit Beſtimmt— 
heit wußte. Um Mittag, das heißt genau drei Stunden nach 
der Ankunft des Fuͤrſten in Mordaſow, hatten ſich in der Stadt 
ſeltſame Geruͤchte verbreitet. Von wo ſie ihren Ausgang ge— 
nommen hatten, iſt unbekannt; aber ſie verbreiteten ſich faſt 
momentan. Alle begannen auf einmal einer dem andern zu 
verſichern, daß Marja Alexandrowna bereits ihrer Sinaida, 
trotzdem dieſe keine Mitgift bekomme und ſchon dreiundzwanzig 
Jahre alt fei, den Fuͤrſten zum Manne verſchafft habe; Mofgljas 
kow habe den Laufpaß bekommen, und alles ſei ſchon eine voll— 
ſtaͤndig beſchloſſene und abgemachte Sache. Was war die Urſache 
dieſer Geruͤchte? Kannten alle Marja Alexandrowna wirklich 
bis zu dem Grade, daß ſie ſofort auf den Kernpunkt ihrer ge— 
heimſten Gedanken und Ideale verfielen? Weder der Umftand, 
daß ein ſolches Geruͤcht mit der gewoͤhnlichen Ordnung der 
Dinge unvereinbar war, da derartige Angelegenheiten ſich nur 
ſehr ſelten in Zeit von einer einzigen Stunde abmachen laſſen, 
noch auch der augenſcheinliche Mangel an einer greifbaren Unter— 
lage fuͤr eine ſolche Nachricht, da niemand etwas uͤber ihren Ur— 
ſprung hatte in Erfahrung bringen koͤnnen: nichts vermochte die 
Mordaſower von ihrer Meinung abzubringen. Das Geruͤcht 
wuchs mit ungewoͤhnlicher Schnelligkeit heran und ſchlug immer 
feſtere Wurzeln. Das allererſtaunlichſte war, daß es ſich gerade 
zu derſelben Zeit zu verbreiten anfing, als Marja Alexandrowna 
jene (vorhin berichtete) Unterredung mit Sinaida uͤber eben 
dieſen Gegenſtand erſt begann. Eine ſo feine Naſe haben die 
Provinzler! Der Inſtinkt der Neuigkeitskraͤmer in der Provinz 
grenzt manchmal an das Wunderbare, und das hat natuͤrlich 


Siebentes Kapitel 149 


ſeine Gruͤnde. Es beruht dies darauf, daß ſie einander aus 
groͤßter Naͤhe, mit dem lebhafteſten Intereſſe und viele Jahre 
lang ſtudieren. Jeder Provinzler lebt ſozuſagen unter einer 
Glasglocke. Es iſt ſchlechterdings keine Moͤglichkeit vorhanden, 
irgend etwas vor den verehrten Mitbuͤrgern geheimzuhalten. 
Sie kennen einen auswendig und wiſſen ſogar das, was man 
ſelbſt von ſich nicht weiß. Der Provinzler muͤßte, wie man meinen 
ſollte, ſchon von Natur ein Pſycholog und Herzenkenner ſein. 
Dies iſt der Grund, weshalb ich mich manchmal aufrichtig ge— 
wundert habe, wenn ich in der Provinz ſtatt der Pſychologen 
und Herzenkenner ſehr haͤufig außerordentlich viele Eſel antraf. 
Aber dies nur beilaͤufig; das iſt ein Gedanke, der nicht hierher 
gehört. Die Nachricht wirkte wie ein Donnerſchlag. Eine Ver: 
heiratung mit dem Fuͤrſten erſchien allen dermaßen vorteilhaft 
und glaͤnzend, daß nicht einmal jemandem die ſeltſame Seite 
der Sache auffiel. Wir merken hier noch einen Umſtand an: 
Sinaida wurde faſt noch mehr gehaßt als Marja Alexandrowna; 
warum, das ift ſchwer zu jagen. Vielleicht war zum Teil Фики 
das Schoͤnheit der Grund davon. Vielleicht auch der Umſtand, 
daß Marja Alexandrowna doch wenigſtens von demſelben Schlage 
war wie alle Mordaſower, desſelben Geiſtes Kind wie ſie. Haͤtte 
ſie die Stadt verlaſſen, wer weiß, man wuͤrde das vielleicht be— 
dauert haben. Durch die Dinge, die ſie fortwaͤhrend anſtellte, 
brachte ſie Leben in die Geſellſchaft. Ohne fie waͤre es lang= 
weilig geweſen. Im Gegenſatze zu ihr benahm ſich Sinaida ſo, 
als ob ſie in den Wolken lebte und nicht in der Stadt Mordaſow. 
Sie war von anderer Art als dieſe Leute, nicht ihresgleichen und 
betrug ſich, vielleicht ohne es ſelbſt zu bemerken, ihnen gegenuͤber 
mit unertraͤglichem Hochmute! Und auf einmal ſollte nun eben 
dieſe Sinaida, uͤber die ſchon ſkandaloͤſe Geſchichten im Umlauf 


150 Onkelchens Traum 


waren, dieſe hochmuͤtige, ſtolze Sinaida, eine Millionärin und 
Fuͤrſtin werden und in die vornehmſte Geſellſchaft eintreten! In 
zwei Jahren, wenn ſie wuͤrde Witwe geworden ſein, wuͤrde ſie 
einen Herzog, vielleicht ſogar einen General heiraten: womoͤg— 
lich gar einen Gouverneur (und es traf ſich gerade, daß der 
Gouverneur von Mordaſow Witwer war und ein beſonderes 
Tendre fuͤr das weibliche Geſchlecht hatte). Dann wuͤrde ſie die 
vornehmſte Dame in der Gouvernementsſtadt ſein, und ſelbſt— 
verſtaͤndlich war ſchon allein dieſer Gedanke unertraͤglich, und 
niemals hatte eine Nachricht eine ſolche Empoͤrung in Mordaſow 
hervorgerufen wie die Nachricht von Sinaidas Verheiratung mit 
dem Fuͤrſten. Sofort erhob ſich ein Wutgeſchrei von allen 
Seiten. Man ſchrie, das ſei eine Suͤnde, ja eine Gemeinheit; 
der alte Mann habe nicht mehr ſeinen Verſtand; er ſei unter 
Ausnutzung ſeiner Geiſtesſchwaͤche betrogen, hinters Licht ge— 
fuͤhrt, uͤbertoͤlpelt worden; man muͤſſe ihn aus dieſen blut— 
gierigen Krallen retten; das ſei ja geradezu Raͤuberei, eine ganz 
unmoraliſche Handlung; und ſchließlich, inwiefern ſeien denn 
andere junge Maͤdchen ſchlechter als Sinaida? Es koͤnnten doch 
auch andere junge Maͤdchen mit genau demſelben Rechte den 
Fuͤrſten heiraten. Daß in dieſer erregten Weiſe geredet wurde, 
konnte Marja Alexandrowna einſtweilen nur vermuten; aber fuͤr 
fie genügte auch das ſchon. Sie wußte beſtimmt, daß alle, aber 
auch entſchieden alle, mit dem groͤßten Eifer das Moͤgliche und 
das Unmoͤgliche tun wuͤrden, um ihr bei der Ausfuͤhrung ihres 
Planes hinderlich zu ſein. Wollten ſie doch jetzt den Fuͤrſten mit 
Beſchlag belegen, ſo daß es beinah einen Kampf koſten wuͤrde, 
ihn wieder zuruͤckzuholen. Und ſchließlich, wenn es ihr auch ge— 
lang, des Fuͤrſten wieder habhaft zu werden und ihn zuruͤck— 
zubringen, ſo konnte ſie ihn doch nicht dauernd an der Kette 


Siebentes Kapitel 151 


halten. Und wer buͤrgte dafuͤr, daß nicht gleich heute, nach zwei 
Stunden, die ſaͤmtlichen Mordaſower Damen in corpore bei ihr 
im Salon erſchienen, unter einem derartigen Vorwande, daß 
man fie nicht zuruͤckweiſen konnte? Und wenn ſie ſie nicht zur 
Tuͤr hereinließ, ſo war ihnen zuzutrauen, daß ſie durch das 
Fenſter hereinkamen: das erſcheint faſt als ein Ding der Unmoͤg— 
lichkeit, war aber doch ſchon in Mordaſow vorgekommen. Kurz, 
es war keine Stunde, nicht die geringſte Spanne Zeit zu ver— 
lieren, und dabei war das Werk noch nicht einmal begonnen. 
Auf einmal blitzte in Marja Alexandrownas Kopfe ein genialer 
Gedanke auf und reifte ſofort heran. Von dieſer neuen Idee 
werden wir nicht unterlaſſen am richtigen Platze zu reden. Jetzt 
wollen wir nur ſagen, daß in dieſem Augenblicke unſere Heldin 
voll ingrimmiger Begeiſterung durch die Straßen von Mordaſow 
flog, ſogar zu wirklichem Kampfe entſchloſſen, wenn ſich ein 
ſolcher zur Wiedergewinnung des Fuͤrſten als notwendig heraus— 
ſtellen ſollte. Sie wußte noch nicht, wie ſich das geſtalten und 
wo ſie ihn treffen wuͤrde; aber dafuͤr wußte ſie beſtimmt, daß 
eher ganz Mordaſow in die Erde verſinken würde, als daß auch 
nur ein Jota von ihren jetzigen Plaͤnen unausgefuͤhrt bliebe. 

Der erſte Schritt gelang auf die denkbar beſte Weiſe. Sie 
bekam den Fuͤrſten auf der Straße zu faſſen und brachte ihn zu 
ſich zum Mittageſſen. Wenn jemand fragen ſollte, auf welche 
Weiſe es ihr trotz aller Raͤnke ihrer Feindinnen gelungen ſei, 
ihren Willen durchzuſetzen und der boͤſen Anna Nikolajewna das 
Nachſehen zu laſſen, ſo muß ich erwidern, daß ich eine ſolche 
Frage geradezu als eine Beleidigung fuͤr Marja Alexandrowna 
anſehe. Sie ſollte uͤber ſo eine Anna Nikolajewna Antipowa 
nicht den Sieg davontragen? Sie arretierte den Fuͤrſten ganz 
einfach, als dieſer bereits bei dem Hauſe ihrer Rivalin vorfuhr, 


152 Onkelchens Traum 


und ohne ſich um irgend etwas zu kuͤmmern, auch nicht um die 
Einwendungen Moſgljakows ſelbſt, der einen Skandal ſcheute, 
zwang ſie den alten Mann, in ihre eigene Kutſche umzuſteigen. 
Eben dadurch zeichnete ſich Marja Alexandrowna vor ihren Ri— 
valinnen aus, daß ſie in kritiſchen Augenblicken ſelbſt vor einem 
Skandal nicht zuruͤckſchrak, indem ſie den Satz, daß der Erfolg 
alles rechtfertige, als eine unumſtoͤßliche Wahrheit betrachtete. 
Selbſtverſtaͤndlich leiſtete der Fuͤrſt keinen nennenswerten Wider: 
ſtand, vergaß nach ſeiner Gewohnheit alles ſehr bald und war 
dann ſehr zufrieden. Beim Mittagseſſen ſchwatzte er ununter- 
brochen, war außerordentlich vergnuͤgt, brachte Bonmots vor, 
machte Witze und erzaͤhlte Anekdoten, die er aber nicht beendete, 
oder bei denen er von der einen in eine andere hineingeriet, 
ohne es ſelbſt zu merken. Bei Natalja Dmitrijewna hatte er drei 
Glaͤſer Champagner getrunken. Beim Mittageſſen trank er 
weiter und wurde ganz ſchwindlig; hier ſchenkte ihm Marja 
Alexandrowna immer ſelbſt ein. Das Mittageſſen war ſehr an— 
ftändig. Der entſetzliche Nikitka hatte es nicht verdorben. Die 
Hausfrau belebte die Tafelrunde durch ihre bezaubernde Liebens— 
wuͤrdigkeit. Aber im Gegenſatz dazu waren die uͤbrigen An— 
weſenden ungewoͤhnlich langweilig. Sinaida war von einer 
feierlichen Schweigſamkeit. Moſgljakow fuͤhlte ſich offenbar un⸗ 
behaglich und aß wenig. Er war mit irgendwelchen Gedanken 
beſchaͤftigt, und da das bei ihm nur ziemlich ſelten vorkam, ſo 
beunruhigte ſich Marja Alexandrowna ſehr daruͤber. Naſtaſja 
Pterowna ſaß mit muͤrriſcher Miene da und machte Moſgljakow 
ſogar heimlich ſonderbare Zeichen, die dieſer aber gar nicht be— 
merkte. Ohne die bezaubernd liebenswuͤrdige Wirtin haͤtte das 
Diner mit einem Leichenſchmauſe Ahnlichkeit gehabt. 

Aber dabei befand ſich Marja Alexandrowna in einer unaus— 


Siebentes Kapitel 153 
ſprechlichen Aufregung. Schon allein Sinaida floͤßte ihr durch 


ihre traurige Miene und durch ihre verweinten Augen eine ge— 


waltige Angſt ein. Und da war noch eine andere Schwierigkeit: 
es war die groͤßte Eile vonnoͤten; aber dieſer „verdammte Moſ— 
gljakow“ ſaß wie ein Klotz da, der ſich um nichts kuͤmmert und 


nur ſtoͤrt! Man konnte doch eine ſolche Sache wahrhaftig nicht 


in ſeiner Gegenwart in Angriff nehmen! Marja Alexandrowna 
erhob ſich vom Tiſche in ſchrecklicher Unruhe. Wie groß war da— 


her ihr Erſtaunen und ihr freudiger Schreck, wenn man ſich ſo 
ausdruͤcken kann, als Moſgljakow gleich nach Aufhebung der 


Tafel ſelbſt zu ihr trat und auf einmal ganz unerwartet erflärte, 


er muͤſſe (ſelbſtverſtaͤndlich zu ſeinem groͤßten Bedauern) not— 
wendigerweiſe ſogleich aufbrechen. 

„Wo wollen Sie denn hin?“ fragte ihn, ebenfalls mit außer— 
ordentlichem Bedauern, Marja Alexandrowna. 

„Ja, ſehen Sie, Marja Alexandrowna,“ begann Moſgljakow 
mit einer gewiſſen Unruhe und ſogar einigermaßen verlegen, „es 
iſt mir da eine ſehr wunderliche Geſchichte paſſiert. Ich weiß 
nicht einmal recht, wie ich es Ihnen fagen ſoll ... ich bitte Sie 
inſtaͤndig, mir einen Rat zu geben!“ 

„Aber was gibt es denn?“ 

„Mein Pate Borodujew, Sie kennen ihn ja, der Kaufmann, 
der begegnete mir heute. Der alte Mann iſt recht boͤſe auf mich; 


er macht mir Vorwürfe und ſagt, ich ſei ſtolz geworden. Ich bin 
jetzt ſchon zum dritten Male in Mordaſow und habe mich bei 
ihm noch nie blicken laſſen. Komm doch heute zum Tee zu mir!‘ 


ſagte er. Jetzt iſt es gerade vier Uhr, und ſeinen Tee trinkt er 
nach alter Mode immer zwiſchen vier und fuͤnf, wenn er von 
feinem Mittagsſchlaͤfchen aufwacht. Was ſoll ich nun tun? Es 


iſt ja freilich keine vornehme Bekanntſchaft, Marja Alexan— 


154 Onkelchens Traum 


drowna; aber bedenken Sie andrerſeits: er hat ja meinem ver: 
ſtorbenen Vater aus der Not geholfen, als der ſtaatliches Geld 
verſpielt hatte. Aus dieſem Anlaß iſt er damals auch mein Pate 
geworden. Wenn meine Heirat mit Sinaida Afanaſjewna zu— 
ſtande kommt, ſo habe ich nur hundertfuͤnfzig Seelen. Aber er 
beſitzt eine Million Rubel oder, wie die Leute ſagen, ſogar 
noch mehr. Er hat keine Kinder. Wenn er Geſchmack an mir 
findet, hinterlaͤßt er mir wohl teſtamentariſch ſo ein hundert— 
tauſend Rubel. Und er iſt ſiebzig Jahre alt, bedenken Sie das 
nur!“ 

„Ach, mein Gott, was reden Sie da noch? Warum zaudern 
Sie?“ rief Marja Alexandrowna, die kaum einen Verſuch machte, 
ihre Freude zu verbergen. „Fahren Sie hin, fahren Sie hin! 
Damit iſt nicht zu ſpaßen. Darum ſah ich auch beim Mittag— 
eſſen, daß Sie ſo ſtill waren! Fahren Sie hin, mon ami, fahren 
Sie hin! Sie haͤtten ihm ſchon heute vormittag einen Beſuch 
machen und zeigen ſollen, daß Sie ſeine Freundlichkeit zu ſchaͤtzen, 
zu wuͤrdigen wiſſen! Aber ach, die heutige Jugend, die heutige 
Jugend!“ 

„Aber Sie ſelbſt, Marja Alexandrowna,“ rief Moſgljakow ет: 
ſtaunt, „Sie ſelbſt haben mir doch wegen dieſer Bekanntſchaft 
Vorhaltungen gemacht! Sie ſagten ja, er waͤre ein ungebildeter 
Menſch, ſo ein langbaͤrtiger Kaufmann und ſtehe mit Schank— 
wirten, Winkeladvokaten und aͤhnlichem Geſindel auf derſelben 
Stufe?“ 

„Ach, mon ami! Was redet man nicht alles ſo unbedacht hin! 
Auch ich kann mich ja doch irren; ich bin keine Heilige. Ich er— 
innere mich uͤbrigens nicht daran; aber vielleicht war ich damals 
ſchlecht aufgelegt ... Und dann bewarben Sie ſich damals auch 
noch nicht um meine liebe Sinaida .. . Das Ш ja freilich von 


—_ 


Siebentes Kapitel 155 


meiner Seite Egoismus; aber jetzt muß ich unwillkuͤrlich die 
Sache von einem anderen Geſichtspunkte aus anſehen und — 
welche Mutter kann mir in dieſem Falle einen Vorwurf machen? 


Fahren Sie hin; zaudern Sie keinen Augenblick! Bringen Sie 


auch den Abend bei ihm zu! Und hoͤren Sie: bringen Sie das 
Geſpraͤch auch auf mich! Sagen Sie ihm, daß ich ihn hoch— 
ſchaͤtze, ihn liebe, ihn verehre; aber machen Sie das recht де: 
ſchickt, recht gut! Ach, mein Gott! Daß mir das hat entfallen 
koͤnnen! Ich haͤtte von ſelbſt darauf kommen muͤſſen, Ihnen 
dieſen Rat zu geben!“ 

„Sie geben mir das Leben wieder, Marja Alexandrowna!“ 
rief Moſgljakow ganz entzuͤckt. „Ich werde jetzt Ihren Rat in 
ſeinem ganzen Umfange befolgen, das ſchwoͤre ich Ihnen! Und 
ich hatte geradezu Angſt gehabt, es Ihnen zu ſagen! ... Nun, 
dann leben Sie wohl; ich will mich auf den Weg machen! Ent— 
ſchuldigen Sie mich bei Sinaida Afanaſjewna! Ich komme aber 
jedenfalls wieder her ...“ 

„Ich ſegne Sie, mon ami! Vergeſſen Sie nur nicht, von mir 
mit ihm zu reden! Er iſt wirklich ein ſehr liebenswuͤrdiger alter 
Mann. Ich habe ſchon lange meine Meinung uͤber ihn ge— 
ändert... Ich habe übrigens immer an ihm dieſes altruſſiſche, 
unverftellte Weſen gern gemocht ... Au revoir, mon ami, au 
revoir!“ 

„Wie gut, daß ihn der Teufel wegfuͤhrt! Oder nein, Gott 


ſelbſt ſteht mir bei!“ dachte ſie, ganz außer ſich vor Freude. 


Pawel Alexandrowitſch ging in das Vorzimmer und zog ſich 
ſchon den Pelz an, als ploͤtzlich Naſtaſja Petrowna vor ihm ſtand. 


Sie hatte auf ihn gewartet. 


„Wo wollen Sie hin?“ ſagte ſie, ihn am Arme feſthaltend. 
„Zu Borodujew will ich, Naſtaſja Petrowna! Er iſt mein 


156 Onkelchens Traum 


Pate; er hat mich aus der Taufe gehoben ... Er iſt ein reicher 
alter Mann und wird mir etwas hinterlaffen; da muß ich ihm 
ein bißchen um den Bart gehen! ...“ 

Pawel Alexandrowitſch befand ſich in vorzuͤglicher Laune. 

„Zu Borodujew! Na, dann geben Sie nur die Hoffnung auf 
die Braut auf!“ ſagte Naſtaſja Petrowna in ſcharfem Tone. 

„Was ſoll das heißen: die Hoffnung aufgeben?“ 

„Nun ja! Sie dachten, Sie haͤtten ſie ſchon ſicher! Aber nun 
ſoll der Fuͤrſt ſie zur Frau bekommen. Ich habe es ſelbſt ge— 
hoͤrt.“ 

„Der Fuͤrſt? Erbarmen Sie ſich, Naſtaſja Petrowna!“ 

„Was Ш da zu erbarmen! Haben Sie Luft, es ſelbſt zu ſehen 
und zu hoͤren? Legen Sie Ihren Pelz wieder ab, und kommen 
Sie mit!“ 

Ganz betaͤubt warf Pawel Alexandrowitſch ſeinen Pelz wie— 
der hin und ging auf den Fußſpitzen hinter Naſtaſja Petrowna 
her. Sie fuͤhrte ihn in eben jene Rumpelkammer, wo ſie am 
Vormittag durch das Schluͤſſelloch geſehen und gehorcht hatte. 

„Aber ich bitte Sie, Naſtaſja Petrowna, ich verſtehe 1 
dings nicht, was Sie da ſagen! ...“ 

„Sie werden es ſchon verſtehen, wenn Sie ſich an das 
Schluͤſſelloch büden und horchen. Die Komoͤdie wird gewiß 
gleich anfangen.“ 

„Was fuͤr eine Komoͤdie?“ 

„Sſſt! Reden Sie nicht ſo laut! Die Komoͤdie beſteht darin, 
daß man Sie einfach betruͤgt. Vorhin, als Sie mit dem Fuͤrſten 
weggefahren waren, hat Marja Alexandrowna eine ganze Stunde 
lang Sinaida beredet, dieſen Fuͤrſten zu heiraten; ſie ſagte, es 
ſei nichts leichter als ihn zu uͤbertoͤlpeln und zum Heiraten zu 
bringen, und ſetzte ihrer Tochter dabei ſolche Kniffe und Finten 


Siebentes Kapitel 157 


auseinander, daß mir ordentlich übel wurde. Ich habe von hier 


aus alles mit angehoͤrt. Sinaida hat ſich einverſtanden erllaͤrt. 


Und wie ſchlecht die beiden von Ihnen geſprochen haben! In 
deren Augen ſind Sie einfach ein Dummkopf, und Sinaida hat 
geradezu geſagt, ſie wuͤrde Sie um keinen Preis heiraten. Und 


ich bin auch eine rechte Naͤrrin geweſen! Wollte mir eine rote 


a 1 ae = 


* 


Schleife anſtecken! Aber ſo horchen Sie doch, horchen Sie 
doch!“ 

„Aber das iſt ja eine ganz gottloſe Hinterliſt, wenn es ſich ſo 
verhält!" fluͤſterte Pawel Alexandrowitſch und blickte Naſtaſja 
Petrowna mit hoͤchſt dummem Geſichte an. 

„So horchen Sie doch nur, dann werden Sie noch ganz andere 
Dinge zu hoͤren bekommen.“ 

„Wo ſoll ich denn horchen?“ 

„Buͤcken Sie ſich nur; da durchs Schluͤſſelloch ...“ 

„Aber, Naſtaſja Petrowna, ich ... ich bin unfähig, jemanden 
zu behorchen ...“ 

„Ach, was iſt das fuͤr eine Idee! Laſſen Sie hier mal Ehre 
Ehre ſein, lieber Freund; Sie ſind einmal hergekommen, nun 


horchen Sie auch nur!“ 


„Aber ich moͤchte doch ...“ 
„Wenn Sie dazu wirklich nicht faͤhig ſind, dann laſſen Sie 
ſich in Gottes Namen betruͤgen! Ich habe mit Ihnen Mitleid 


gehabt, und nun ſpielen Sie den Stolzen. Was habe ich davon? 


Um meinetwillen tue ich es ja doch nicht. Ich bleibe ſowieſo 
nicht bis zum Abend hier!“ 
Pawel Alexandrowitſch uͤberwand ſeine Abneigung und buͤckte 


ſich zum Schluͤſſelloch hinab. Sein Herz ſchlug heftig; das Blut 


pochte ihm in den Schlaͤfen. Er wußte kaum, was mit ihm vor— 
ging. 


158 Onkelchens Traum 


Achtes Kapitel 
„Alſo Sie ſind bei Natalja Dmitrijewna recht vergnuͤgt geweſen, 
Fuͤrſt?“ fragte Marja Alexandrowna, die mit dem Blicke eines 
Raubtieres die Staͤtte des bevorſtehenden Kampfes uͤberſchaute 
und das Geſpraͤch auf eine recht unſchuldige Art zu beginnen 
wuͤnſchte. Das Herz ſchlug ihr ſtark vor Aufregung und Er— 
wartung. 

Nach dem Mittageſſen war der Fuͤrſt ſogleich in den Salon 
gefuͤhrt worden, in dem er auch am Vormittag empfangen wor— 
den war. Alle feierlichen Handlungen und Empfaͤnge gingen 
bei Marja Alexandrowna in dieſem Salon vor. Sie war auf 
dieſes Zimmer ſtolz. Der alte Herr war von den getrunkenen 
ſechs Glaͤſern Champagner ganz benommen und hielt ſich nicht 
feſt auf den Beinen. Dafuͤr ſchwatzte er unaufhoͤrlich. Seine 
Schwatzhaftigkeit war ſogar groͤßer geworden, als ſie vorher ge— 
weſen war. Marja Alexandrowna war ſich daruͤber klar, daß 
dieſe Lebhaftigkeit nur eine voruͤbergehende ſei und der vom 
Weine beſchwerte Gaſt bald ſchlaͤfrig werden wuͤrde. Sie mußte 
den Augenblick benutzen. Bei dem Blicke uͤber den Kampfplatz 
hatte ſie mit großer Genugtuung bemerkt, daß der ſinnliche alte 
Mann mit beſonderer Luͤſternheit Sinaida betrachtete, und ihr 
Mutterherz war vor Freude erzittert. 

„Au⸗ßer⸗or⸗dentlich vergnuͤgt,“ antwortete der Fuͤrſt; un 
wiſſen Sie, пе ift eine ganz vor-treff-liche Frau, dieſe Natalja 
Dmitrijewna, eine ganz vor⸗-treff-liche Frau!“ 

Wie ſehr Marja Alexandrowna auch mit ihren großen Plaͤnen 
beſchaͤftigt war, ſo gab ihr doch ein ſo volltoͤnendes Lob ihrer 
Rivalin einen Stich mitten ins Herz. 

„Aber ich bitte Sie, Fuͤrſt!“ rief ſie mit funkelnden Augen. 


РА 


Achtes Kapitel 159 


„Wenn bei Ihnen ſchon Natalja Dmitrijewna eine ganz vor: 
treffliche Frau iſt, dann weiß ich gar nicht, was ich von Ihnen 


denken ſoll! Dann kennen Sie eben die hieſige Geſellſchaft gar 
nicht! Das iſt ja uͤberall nur ein Zurſchauſtellen der eigenen un— 


erhoͤrten Vortrefflichkeit, der eigenen edlen Gefuͤhle, nur eine 
Komoͤdie, nur eine aͤußere vergoldete Schale. Luͤften Sie dieſe 
Schale ein wenig, und Sie werden eine ganze Hoͤlle unter den 
Blumen erblicken, ein ganzes Weſpenneſt, wo Sie vollſtaͤndig 
aufgefreſſen werden, ſo daß kein Knoͤchelchen uͤbrigbleibt!“ 
„Wahrhaftig?“ rief der Fuͤrſt. „Das ſetzt mich in Erſtaunen!“ 
„Aber ich ſchwoͤre Ihnen, daß es ſo iſt! Ah, mon prince! 
Hoͤre einmal, Sinaida, es iſt doch meine Pflicht und Schuldig— 
keit, dem Fuͤrſten zu erzaͤhlen, wie komiſch und unwuͤrdig ſich 
dieſe Natalja vor vierzehn Tagen benommen hat, erinnerſt du 
dich? Ja, Fuͤrſt, das betrifft eben jene Natalja Dmitrijewna, 
von der Sie ſo entzuͤckt ſind. O mein liebſter Fuͤrſt! Ich ſchwoͤre 
Ihnen, ich bin keine Klatſchlieſe! Aber ich muß Ihnen das ип: 
bedingt erzaͤhlen, einzig und allein um Sie zu erheitern, um 
Ihnen an einem lebendigen Proͤbchen, ſozuſagen unter dem 


Mikroſkop, zu zeigen, was das hier für Menſchen find. Vor vier: 


zehn Tagen kommt dieſe Natalja Dmitrijewna zu mir. Ich ſetzte 


ihr Kaffee vor und verließ aus irgendwelchem Grunde fuͤr kurze 


Zeit das Zimmer. Ich erinnere mich ganz genau, wieviel Zucker 
in der ſilbernen Zuckerdoſe vorhanden war: ſie war ganz voll. 
Als ich zuruͤckkomme, ſehe ich hin: es liegen nur drei Stuͤckchen 
auf dem Boden. Außer Natalja Dmitrijewna war niemand im 
Zimmer geweſen. Was ſagen Sie dazu? Sie beſitzt ein eigenes 
ſteinernes Haus und eine Menge Geld! Das ift ein laͤcherlicher, 


komiſcher Vorfall; aber Sie koͤnnen danach uͤber die Moralitaͤt 
der hieſigen Geſellſchaft urteilen.“ 


зай 


160 Onkelchens Traum 


-=— 


„Wie iſt es mög lich!“ rief der Fürft in ungeheucheltem Er: 
ſtaunen. „Welch eine unnatuͤrliche Habgier! Hat ſie das wirk— 
lich alles allein aufgegeſſen?“ 

„Da ſehen Sie, was ſie fuͤr eine vortreffliche Frau iſt, Fuͤrſt! 
Die gefällt Ihnen dieſes fchmähliche Benehmen? Ich glaube, 
ich wuͤrde in demſelben Augenblicke ſterben, in dem ich mich zu 
einer jo abſcheulichen Handlung entſchloͤſſe!“ 

„Nun ja, ja ... Aber, wiſſen Sie, fie iſt doch eine ſolche belle 
femme.“ 

„Natalja Dmitrijewna! Ich bitte Sie, Fuͤrſt; ſie iſt ja einfach 
ein Trampeltier! Ach, Fuͤrſt, Fuͤrſt! Was reden Sie da! Ich 
hatte gemeint, daß Sie einen weit beſſeren Geſchmack beſaͤßen ...“ 

„Nun ja, ein Trampeltier ... aber, wiſſen Sie, fie hat fo 
eine Figur... Nun, und dieſes junge Mädchen, das da tanzte, 
das hatte ebenfalls jo eine Figur ...“ 

„Sonja? Aber die iſt ja noch ein Kind, Fuͤrſt! Sie iſt erſt 
vierzehn Jahre alt!“ 

„Nun ja .. . aber, wiſſen Sie, fie ift ein jo behendes Mädchen, 
und es entwickeln ſich bei ihr ebenfalls ... ſolche Formen. Ein 
al⸗ler⸗liebſtes Maͤdchen! Und die andere, die mit ihr zuſammen 
tanzte .. . die entwickelt ſich ebenfalls . ..“ 

„Ach, das iſt eine ungluͤckliche Waiſe, Fuͤrſt! Sie laden ſie 
oft zu ſich ein.“ 

„Eine Wai⸗ſe! Übrigens war fie ſehr ſchmutzig; fie hätte ſich 
vorher wenigſtens die Hände waſchen ſollen ... Aber, fie war 
ebenfalls ver-fuͤh⸗re-riſch ...“ 


Waͤhrend er das ſagte, betrachtete der Fuͤrſt mit wachſender 


Begehrlichkeit Sinaida durch ſeine Lorgnette. 
„Mais quelle charmante personne!“ murmelte er halblaut, 
faſt vergehend vor Wonne. 


Achtes Kapitel 161 


„Sinaida, ſpiele uns etwas vor, oder nein, ſinge lieber! Wie 
ſchoͤn ſie ſingt, Fuͤrſt! Man kann ſagen, ſie iſt eine Virtuoſin, 
eine richtige Virtuoſin! Und wenn Sie wuͤßten, Fuͤrſt,“ fuhr 
Marja Alexandrowna halblaut fort, als Sinaida zum Fluͤgel 
ging, mit ihrem leiſen, ſchwebenden Gange, bei deſſen Anblick 
der arme Alte ſich faſt zuſammenkruͤmmte vor Vergnuͤgen, „wenn 
Sie wuͤßten, was ſie fuͤr eine Tochter iſt! Wie ſie zu lieben ver— 
ſteht, wie zaͤrtlich ſie gegen mich iſt! Was fuͤr Gefuͤhle, was fuͤr 
ein Herz!“ 

„Nun ja ... Gefuͤhle . . . und, wiſſen Sie, ich habe in meinem 
ganzen Leben nur eine einzige Frau gekannt, die man mit ihr 
an Schönzheit vergleichen koͤnnte,“ unterbrach fie der Fuͤrſt, den 
Speichel hinunterſchluckend. „Das war die verſtorbene Graͤfin 
Nainſkaja; fie iſt vor ungefähr dreißig Jahren geſtorben. Sie 
war eine ent⸗-zuͤk⸗ken⸗de Frau, von unbeſchreiblicher Schönheit; 
йе heiratete nachher noch ihren Koch ...“ 

„Ihren Koch, Fuͤrſt?“ 

„Nun ja, ihren Koch ... einen Franzoſen, im Auslande. Sie 
hatte ihm im Aus- lan⸗de den Grafentitel verſchafft. Er war ein 
ſtattlicher Mann und außerordentlich gebildet, mit ſo einem 
kleinen Schnurr⸗-baͤrt⸗chen.“ 

„Und . . . und... wie lebten fie denn miteinander, Fuͤrſt?“ 

„Nun ja, ſie lebten ganz gut miteinander. Übrigens trennten 
ſie ſich bald wieder. Er pluͤnderte ſie aus und ging davon. Sie 
hatten ſich wegen einer Sauce gezankt ...“ 

„Mama, was ſoll ich ſpielen?“ fragte Sinaida. 

„Singe uns lieber etwas, Sinaida! Wie ſchoͤn ſie ſingt, Fuͤrſt! 
Lieben Sie die Muſik?“ 

„O ja! Charmant, charmant! Ich liebe die Muſik ſehr. Ich 
bin im Auslande mit Beethoven bekannt geweſen.“ 

LXXV. 11 


* 


162 Onkelchens Traum 


„Mit Beethoven! Denke dir nur, Sinaida, der Fuͤrſt iſt mit 
Beethoven bekannt geweſen,“ ruft Marja Alexandrowna ent: 
zuͤckt. „Ach, Fuͤrſt! Sind Sie wirklich mit Beethoven bekannt 
geweſen?“ 

„Nun ja, ich habe mit ihm auf freund-ſchaft-lichem Fuße де: 
ſtanden. Er hatte immer die Naſe voll Schnupftabak. So ein 
komiſcher Menſch!“ | 

„Beethoven?“ 

„Nun ja, Beethoven. Übrigens war es vielleicht auch nicht 
Beet⸗ho⸗-ven, ſondern ein anderer Deutſcher. Es gibt da ſehr 
viele Зеи фе... Ich glaube, ich begehe eine Ver-wech-ſe⸗ 
lung.“ 

„Was ſoll ich denn ſingen, Mama?“ fragte Sinaida. 

„Ach, Sinaida! Singe doch das Lied, in dem ſoviel von 
Rittertum vorkommt, du erinnerſt dich wohl; es handelt von einer 
Burgherrin und ihrem Troubadour . .. Ach, Fuͤrſt! Wie ich 
dieſe Ritterzeit liebe! Dieſe Burgen, dieſe Burgen! Dieſes 
mittelalterliche Leben! Dieſe Troubadours, Herolde, Turniere.. 
Ich werde dich begleiten, Sinaida. Setzen Sie ſich hierher, 
Fuͤrſt, naͤher heran! Ach, dieſe Burgen, dieſe Burgen!“ 

„Nun ja, die Burgen. Ich liebe die Burgen auch,“ murmelte 
der Fuͤrſt voll Entzuͤcken und ſog ſich mit ſeinem einzigen Auge 
ordentlich an Sinaida feſt. „Aber .. . mein Gott!“ rief er,, dieſes 4 
Lied! ... Aber . .. ich kenne dieſes Lied! Dieſes Lied habe ich 
ſchon vor langer Zeit gehört... Das erinnert mich [о an ... 
Ach, mein Gott!“ № 

Ich unternehme nicht zu ſchildern, was mit dem Fürften vor- 
ging, waͤhrend Sinaida ſang. Sie ſang ein altes franzoͤſiſches 
Lied, das fruͤher einmal ſehr Mode geweſen war. Sinaida ſang 
es ſehr ſchoͤn. Ihr reiner, klangreicher Alt hatte etwas zum 


* 


1 5 


* 


Achtes Kapitel 163 


Herzen Dringendes. Ihr ſchoͤnes Geficht, die wundervollen 
Augen, die fein gedrechſelten Finger, mit denen ſie die Noten— 
blaͤtter umſchlug, das dichte, ſchwarze, glaͤnzende Haar, die 
wogende Bruſt, die ganze ſtolze, ſchoͤne, edle Geſtalt: alles dies 
bezauberte den armen Alten endguͤltig. Er ſah ſie, waͤhrend ſie 
ſang, unverwandt an und wußte ſich vor Aufregung gar nicht 
zu laſſen. Sein Greiſenherz, erwärmt von dem Champagner, 
der Muſik und den erwachenden Erinnerungen (und wer haͤtte 
keine lieben Erinnerungen), klopfte immer ſchneller und ſchnel— 
ler, fo wie es ſeit langer Zeit nicht geklopft hatte... Er war 
nahe daran, vor Sinaida niederzuknien, und weinte beinah, als 
| fie zu fingen aufhoͤrte. 
„O, ma charmante enfant!“ rief er, indem er ihre Finger: 
ſpitzen kuͤßte, „vous me ravissez! Ich komme jetzt erſt wieder 
zu mir, jetzt ей... Aber ... aber... о ma charmante en- 
nt. 

Der Fuͤrſt war nicht imſtande zu Ende zu ſprechen. 

Marja Alexandrowna fuͤhlte, daß fuͤr ſie der Augenblick zum 
Handeln gekommen war. 
„Warum richten Sie ſich ſelbſt zugrunde, Fuͤrſt?“ rief fie 
pathetiſch. „Soviel Gefühl, ſoviel Lebenskraft, ſoviel ſeeliſcher 
Reichtum, und dabei ſich für das ganze Leben in der Einſam— 
keit zu vergraben! Von den Menſchen, von den Freunden zu 
fliehen! Das iſt doch unverzeihlich! Kommen Sie zur Beſin— 
nung, Fuͤrſt! Schauen Sie das Leben mit hellem Blicke an! 
Rufen Sie in Ihrem Herzen die Erinnerungen an die Vergangen— 
heit wach, die Erinnerungen an Ihre goldene Jugend, an Ihre 
goldenen, ſorgloſen Tage; rufen Sie ſie wach, rufen Sie ſie 
wach! Beginnen Sie wieder in der Geſellſchaft, unter den Men: 
ſchen zu leben! Fahren Sie ins Ausland, nach Italien, nach 


164 Onkelchens Traum 


Spanien — nach Spanien, Fuͤrſt! . .. Brauchen Sie einen 
Fuͤhrer, ein Herz, das Sie liebt, Sie verehrt, mit Ihnen fuͤhlt? 

Aber Sie haben doch Freunde! Rufen Sie ſie, rufen Sie ſie, 

und ſie werden in Scharen herbeikommen! Ich werde die erſte 

ſein, die alles verlaͤßt und ſich auf Ihren Ruf einſtellt. Ich er— 

innere mich an unſere Freundſchaft, Fuͤrſt; ich werde meinen 

Mann verlaſſen und mit Ihnen mitgehen ... und wenn ich noch 

jung waͤre, wenn ich ſo gut und ſchoͤn waͤre wie meine Tochter, 

ſo wuͤrde ich Ihre Gefaͤhrtin, Ihre Genoſſin, Ihr Weib werden, 

wenn Sie es wollten!“ 

„Und ich bin davon überzeugt, daß Sie ſeinerzeit une char- 
mante personne waren,“ ſagte der Fuͤrſt und ſchneuzte ſich in 
ſein Taſchentuch. Seine Augen waren feucht von Traͤnen. 

„Wir leben in unſeren Kindern fort, Fuͤrſt,“ erwiderte Marja 
Alexandrowna mit tiefer Empfindung. „Auch ich habe meinen 
Schutzengel! Und das iſt ſie, meine Tochter, die Genoſſin meiner 
Gedanken, die Freundin meines Herzens, Fuͤrſt! Sie hat ſchon 
ſieben Heiratsantraͤge abgelehnt, weil ſie ſich nicht don mir 
trennen wollte.“ 

„Dann wird ſie alſo wohl mit Ihnen mitkommen, wenn Sie 
mich ins Ausland be-glei-ten? Wenn es fo iſt, dann werde ich 
unbedingt ins Ausland reiſen,“ rief der Fuͤrſt begeiſtert. „Un— 
be⸗dingt werde ich hinreiſen! Und wenn ich mir mit der Hoff- 
nung ſchmeicheln koͤnnte . . . Aber ſie iſt ein entzuͤckendes, ein 
ent- zuͤk⸗kendes Kind! O, ma charmante enfant! ...“ Und der 
Fuͤrſt begann von neuem, ihr die Haͤnde zu kuͤſſen. Der arme 
Menſch, er wollte ſogar vor ihr niederknien. 

„Aber .. . aber, Fürft, Sie ſagen: ob Sie ſich mit der Hoff— 
nung ſchmeicheln koͤnnen?“ ergriff Marja Alexandrowna wieder 
das Wort; ſie fuͤhlte, daß ihr neue, ſchoͤne Redewendungen zu— 


Achtes Kapitel 165 


ſtroͤmten. „Aber Sie find ſonderbar, Fuͤrſt! Glauben Sie denn 
wirklich, daß Sie der Beachtung von ſeiten der Frauen bereits 
unwert ſeien? Nicht Jugend iſt es, was die Schoͤnheit ausmacht. 
Denken Sie daran, daß Sie ein Mitglied der hoͤchſten Ariſto— 
kratie ſind! Sie ſind ein Repraͤſentant der feinſten, ritterlichſten 
Gefühle und . .. Manieren! Hat ſich etwa Marija nicht in den 
alten Mazeppa verliebt? Ich erinnere mich geleſen zu haben, 
daß Lauzun, dieſer bezaubernde Marquis am Hofe Ludwigs ... 
ich habe vergeſſen des wievielten .., noch in vorgeruͤckten 
Jahren, noch als Greis das Herz einer der erſten Schoͤnheiten 
des Hofes gewann? ... Und wer hat Ihnen gefagt, daß Sie 
ein alter Mann ſeien? Wer hat Ihnen das in den Kopf geſetzt? 
Werden denn Maͤnner wie Sie uͤberhaupt jemals alt? Sie 
mit einem ſolchen Reichtum an Gefuͤhlen, an Gedanken, an 
Heiterkeit, an Witz, an Lebenskraft, an glaͤnzenden Manieren! 
Aber zeigen Sie ſich jetzt einmal irgendwo im Auslande in einem 
Badeorte mit einer jungen Frau, mit einer ſolchen Schoͤnheit, 
wie es zum Beiſpiel meine Sinaida iſt (ich rede nicht von ihr, ich 
ziehe ſie nur zum Vergleiche heran), und Sie werden ſehen, 
welchen koloſſalen Eindruck Sie beide machen, Sie, ein Mitglied 
der hoͤchſten Ariſtokratie, und ſie, eine auserleſene Schoͤnheit! 
Sie fuͤhren fie feierlich am Arme; fie ſingt in der glaͤnzendſten 
Geſellſchaft, Sie Ihrerſeits werfen mit geiſtreichen Bemerkungen 
um ſich — alle Kurgaͤſte werden zuſammenlaufen, um Sie beide 
anzuſehen! Ganz Europa wird einen Ruf der Bewunderung 
ausſtoßen; denn alle Zeitungen, alle Feuilletons in den Bade— 
orten werden nur eine Stimme darüber fein... Fuͤrſt, Fuͤrſt! 
Und da fragen Sie, ob Sie ſich mit der Hoffnung ſchmeicheln 
koͤnnen?“ 

„Die Feuilletons . . . nun ja, nun ja! . . . Das Ш in den 


166 Onkelchens Traum 


Zeitungen ...“ murmelte der Fürft, der Marja Alexandrownas ь 
Geſchwaͤtz nur zur Hälfte verſtanden hatte und immer mehr 
unterlag. „Aber ... mein Kind, wenn Sie nicht er-muͤ⸗det find, 
ſo ſingen Sie mir doch, bitte, das Lied, das Sie ſoeben geſungen 
haben, noch einmal!“ 

„Ach, Fuͤrſt! Aber ſie ſingt ja auch noch andere Lieder, noch 
ſchoͤnere ... Erinnern Sie ſich noch an L’hirondelle, Fuͤrſt? 
Sie haben das Lied früher gewiß ſchon gehört?” Ä 

„Ja, ich erinnere mich ... oder, richtiger gefagt, ich habe es 
ver⸗geſſen. Nein, nein, das vorige Lied, dasſelbe, das ſie ſoeben 
ge⸗ſun⸗gen hat! L'hirondelle will ich nicht! Ich will dieſes 
Lied .. .“ bat der Fuͤrſt bettelnd, wie ein kleines Kind. 

Sinaida ſang das Lied noch einmal. Der Fuͤrſt konnte ſich 
nicht mehr beherrſchen und ließ ſich vor ihr auf die Knie nieder. 
Er weinte. 

„O, ma belle chätelaine!“ rief er mit feiner vor Alter und 
Aufregung zitternden Stimme. „O, ma charmante chätelaine! 
O, mein liebes Kind! Sie haben ſo viele Erinnerungen т. 
mir wach⸗ge⸗ru⸗fen .. . an Dinge, die laͤngſt vergangen find... 
Ich dachte damals, alles wuͤrde beſſer werden, als es nachher 
geworden iſt. Ich fang damals Duette ... mit einer Vikom⸗ | 
teſſe ... dieſes ſelbe Lied... aber jetzt ... Ich weiß nicht, was 
a . 


Waͤhrend dieſer ganzen Rede ging dem Fuͤrſten mehrmals der 


Atem aus, und er verſchluckte ſich zu wiederholten Malen. Eks 
war zu merken, daß ihm die Zunge ſteif wurde. Einige Worte 
waren faſt gar nicht zu verſtehen. Man {аб nur, daß er im höch⸗ 
ſten Grade geruͤhrt war. Marja Alexandrowna goß unverzuͤglich 
Ol ins Feuer. 

„Fuͤrſt! Aber Sie verlieben ſich am Ende gar noch in meine 


Achtes Kapitel 167 


Sinaida!“ rief fie, da fie fühlte, daß der kritiſche feierliche Augen— 
blick gekommen war. 

Die Antwort des Fuͤrſten uͤbertraf ihre hoͤchſten Erwar— 
tungen. f 

„Ich bin bis zum Wahnſinn in ſie verliebt!“ rief der alte 
Mann, der ploͤtzlich ganz lebendig wurde; er lag noch immer auf 
den Knien und zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe. „Ich 
moͤchte mein Leben fuͤr ſie hingeben! Und wenn ich nur hoffen 
koͤnnte ... Aber heben Sie mich auf; ich bin ein wenig matt 
ge⸗wor⸗den ... Ich... wenn ich nur hoffen koͤnnte, daß ich ihr 
mein Herz anbieten darf, fo... ich ... fie wuͤrde mir alle Tage 
Lieder vor⸗ſin⸗gen, und ich würde fie immerzu anſehen .. . fie 
immerzu anſehen ... Ach, mein Gott!“ 

„Fuͤrſt, Fuͤrſt! Sie machen ihr ja einen Heiratsantrag! Sie 
wollen ſie mir wegnehmen, meine Sinaida, mein teures Kind, 
meinen Engel, meine Sinaida! Aber ich laſſe dich nicht von mir, 
Sinaida! Nur mit Gewalt ſoll man ſie aus meinen Armen, aus 
meinen Mutterarmen reißen!“ Marja Alexandrowna ſtuͤrzte zu 
ihrer Tochter hin und umſchlang ſie feſt mit den Armen, obgleich 
ſie fuͤhlte, daß ſie recht ſtark zuruͤckgeſtoßen wurde. Die Mama 
trug ein bißchen zu ſtark auf. Sinaida empfand das mit ganzer 
Seele und blickte mit unbeſchreiblichem Ekel auf dieſe ganze 
Komoͤdie. Indeſſen, fie ſchwieg; und das war alles, was Marja 
Alexandrowna brauchte. 

„Sie hat neun Antraͤge abgewieſen, nur um ſich nicht von 
ihrer Mutter trennen zu muͤſſen!“ rief ſie. „Aber jetzt ahnt mein 
Herz, daß die Trennung bevorſteht! Schon vorhin habe ich be— 
merkt, daß Пе Sie fo eigentuͤmlich anſah ... Sie haben ihr durch 
Ihr ariſtokratiſches, feines Weſen imponiert, Fuͤrſt! ... Oh, 
Sie werden uns voneinander trennen; das ahne ich! ...“ 


2 
168 Onkelchens Traum 


„Ich ver⸗goͤt⸗tere fie!” murmelte der Fuͤrſt, der immer noch 


wie ein Eſpenblatt zitterte. 

„Alſo du wirſt deine Mutter verlaſſen!“ rief Marja Alexan⸗ 
drowna und warf ſich noch einmal ihrer Tochter um den Hals. 

Sinaida beeilte ſich, der peinlichen Szene ein Ende zu machen. 
Sie ſtreckte dem Fuͤrſten ſchweigend ihre ſchoͤne Hand hin und 
zwang ſich ſogar zu einem Laͤcheln. Der Fuͤrſt ergriff dieſe Hand 
ehrfurchtsvoll und bedeckte ſie mit Kuͤſſen. 

„Ich be⸗gin⸗ ne erſt jetzt zu leben,“ murmelte er; er konnte vor 
Entzuͤcken kaum reden. 

„Sinaida!“ ſagte Marja Alexandrowna feierlich, „ſiehe dieſen 
Mann an! Das iſt der ehrenhafteſte, edelſte Menſch, den ich 
kenne! Das iſt ein Ritter des Mittelalters! Aber ſie weiß das, 
Fuͤrſt; fie weiß es, zum Schmerze meines Herzens ... Oh! 
warum ſind Sie hergekommen! Ich uͤbergebe Ihnen mein 
Kleinod, meinen Engel! Behuͤten Sie ihn, Fuͤrſt! Eine Mutter 


fleht Sie darum an, und welche Mutter wird mich wegen meines 


Schmerzes tadeln?“ 

„Mama, laſſen Sie es genug ſein!“ fluͤſterte Sinaida. 

„Sie werden ſie gegen jede Kraͤnkung verteidigen, Fuͤrſt? 
Ihr Degen wird dem Verleumder oder dem Frechling entgegen— 
blitzen, der ſich erdreiſten ſollte, meine Sinaida zu beleidigen?“ 

„Hoͤren Sie auf, Mama, oder ich ...“ 

„Nun ja, entgegenblitzen .. .“ murmelte der Fuͤrſt. „Ich Бе: 
ginne erſt jetzt zu leben ... Ich will, daß die Hochzeit jetzt gleich 
ſtattfindet, augenblicklich . . . ih... Ich will fofort nach Du— 
cha-no⸗wo ſchicken. Da habe ich Bril-lan-ten. Die will ich ihr 
zu Füßen legen ...“ 

„Welch eine Glut! Welch eine Begeiſterung! Welch ein Adel 
der Geſinnung!“ rief Marja Alexandrowna. „Und Sie haben 


Achtes Kapitel 169 


es fertiggebracht, Fuͤrſt, Sie haben es fertiggebracht, ſich von der 
Welt zuruͤckzuziehen? Das werde ich Ihnen tauſendmal vor— 
halten! Ich bin außer mir, wenn ich an dieſes teufliſche Weib 
denke.“ 5 

„Was ſollte ich denn tun? Ich hatte ſolche Furcht,“ murmelte 
der Fuͤrſt, vor Aufregung ſchluchzend. „Sie wollten mich ins 
Ir⸗ren⸗haus bringen... Da bekam ich ſolche Angſt!“ 

„Ins Irrenhaus! O dieſe Ungeheuer! O dieſe erbarmungs— 
loſen Menſchen! O dieſe gemeine Tuͤcke! Fuͤrſt, ich habe davon 
gehoͤrt! Aber das iſt ja Wahnſinn von ſeiten dieſer Menſchen! 
Aber weshalb wollten ſie denn das tun, weshalb?“ 

„Ich weiß ſelbſt nicht weshalb!“ antwortete der alte Mann 
und ließ ſich vor Schwaͤche in einen Lehnſtuhl ſinken. „Wiſſen 
Sie, ich war auf einem Bal⸗le und erzählte da eine A-nek⸗do⸗te, 
und die hat ihnen nicht ge-fal-len. Nun, und daraus entſtand 
ein großer Skandal!“ 

„Wirklich nur deshalb, Fuͤrſt?“ 

„Nein. Ich ſpielte nach-her noch Karten, mit dem Fuͤrſten 
Peter De⸗ment⸗jitſch, und blieb ohne ſechs. Ich hatte zwei 
Koͤ⸗ni⸗ge und drei Damen ... oder, richtiger geſagt, drei Damen 
und zwei Koͤ⸗ni⸗ge ... Nein! einen Koͤ⸗nig! Und dann waren 
da auch noch Damen ...“ 

„Und deshalb? Deshalb! O dieſe teufliſche Unmenſchlich— 
keit! Sie weinen, Fuͤrſt! Aber jetzt wird ſich ſo etwas nicht 
wiederholen! Jetzt werde ich um Sie ſein, mein Fuͤrſt; ich werde 
mich nicht von Sinaida trennen, und dann wollen wir einmal 
ſehen, ob dieſe Menſchen noch wagen werden, auch nur ein Wort 
zu ſagen! ... Und wiſſen Sie, Fuͤrſt, Ihre Heirat wird ihnen 
geradezu imponieren. Sie wird ſie beſchaͤmen! Denn ſie wer— 
den ſehen, daß Sie noch fähig ſind . . . das heißt, fie werden Ве: 


170 Onkelchens Traum 


— — — 


54 
Pax 
* 


„ 


greifen, daß eine ſolche Schoͤnheit nicht einen Irrſinnigen ge— 2 


heiratet haben wuͤrde! Jetzt koͤnnen Sie ſtolz das Haupt ет: 
heben. Sie werden allen gerade ins Geſicht ſehen ...“ 

„Nun ja, ich werde ihnen ge-ra⸗-de ins Geſicht ſehen,“ тит: 
melte der Fuͤrſt und ſchloß die Augen. 

„Aber er iſt ja ganz benommen,“ dachte Marja Alexandrowna. 
„Ich verſchwende unnuͤtz meine Worte!“ 


„Sie ſind aufgeregt, Fuͤrſt, ich ſehe das; Sie muͤſſen ſich un- 


bedingt beruhigen, ſich von Ihrer Aufregung erholen,“ ſagte ſie 
und beugte ſich muͤtterlich zu ihm herab. 

„Nun ja, ich möchte mich gern ein wenig hin-le⸗gen,“ ſagte er. 

„Ja, ja! Beruhigen Sie ſich, Fuͤrſt! Зее Aufregungen ... 
Warten Sie, ich werde Sie ſelbſt begleiten . .. Ich werde Sie 
ſelbſt zu Bett bringen, wenn es noͤtig iſt. — Warum ſehen Sie 
dieſes Portraͤt ſo an, Fuͤrſt? Es iſt das Portraͤt meiner Mutter; 
ſie war ein Engel von Frau! Oh, warum iſt ſie jetzt nicht unter 
uns! Sie war eine Heilige, Fuͤrſt, eine Heilige! Anders kann 
ich ſie nicht nennen!“ 

„Eine Hei⸗li⸗ge? c'est joli ... Ich habe auch eine Mutter 
gehabt... eine princesse . .. und denken Sie ſich: fie war eine 
außerordentlich kor-pu-len⸗te Frau... Aber ich wollte etwas 
anderes ſagen . . . Ich bin ein wenig müde geworden. Adieu, 


ma charmante enfant! ... Ich werde mit Wonne ... ich werde 


heute... oder morgen . . . Nun, ganz gleich! au revoir, au 
revoir!“ Hier wollte er Sinaida eine Kußhand zuwerfen; aber 
er ſtrauchelte und waͤre beinahe an der Schwelle gefallen. 


„Seien Sie vorſichtiger, Fuͤrſt! Stuͤtzen Sie ſich auf meinen 


Arm!“ rief Marja Alexandrowna. 
„Charmant, charmant!“ murmelte er beim Hinausgehen. 
„Jetzt beginne ich erſt zu leben ...“ 


> — 


Neuntes Kapitel 171 


— ————— äʒœ’ͤê 


Sinaida blieb allein im Zimmer zuruͤck. Ein unbeſchreiblicher 
Druck laſtete auf ihrer Seele. Sie fuͤhlte ſich ſo angeekelt, daß 
ihr ordentlich uͤbel wurde. Sie war nahe daran, ſich ſelbſt zu 
verachten. Ihre Wangen brannten. Die Haͤnde zuſammen— 
preſſend, die Zaͤhne aufeinander druͤckend, den Kopf herab— 
haͤngen laſſend, ſo ſtand ſie da, ohne ſich vom Fleck zu ruͤhren. 
Tränen der Scham rollten aus ihren Augen... In dieſem 
Augenblicke öffnete ſich die Tuͤr, und Moſgljakow ſtuͤrzte ins 
Zimmer herein. 


Neuntes Kapitel 


Er hatte alles gehoͤrt, alles! 

Er trat tatſaͤchlich nicht ins Zimmer, ſondern ſtuͤrzte herein, 
blaß vor Aufregung und vor Wut. Sinaida ſah ihn erſtaunt an. 

„Alſo ſo ſind Sie!“ rief er keuchend. „Endlich habe ich er— 
fahren, was Sie fuͤr eine ſind!“ 

„Was ich fuͤr eine bin?“ wiederholte Sinaida, ihn wie einen Irr— 
ſinnigen anblickend, und ihre Augen begannen vor Zorn zu funkeln. 

„Wie koͤnnen Sie es wagen, in dieſer Weiſe mit mir zu 
reden!“ rief ſie und trat auf ihn zu. 

„Ich habe alles gehört!" rief Moſgljakow noch einmal trium— 
phierend, wich aber unwillkuͤrlich einen Schritt zuruͤck. 

„Sie haben es gehoͤrt? Sie haben an der Tuͤr gehorcht?“ 
fragte Sinaida, ihn veraͤchtlich anblickend. 

„Ja, das habe ich getan! Ja, ich habe mich zu einer ſo un— 
wuͤrdigen Handlungsweiſe entſchloſſen; aber dafuͤr habe ich er— 
fahren, daß Sie ſelbſt eine hoͤchſt .. . Ich weiß nicht einmal, wie 
ich mich ausdruͤcken ſoll, um Ihnen zu ſagen . . . als was für eine 
Sie ſich jetzt herausgeſtellt haben!“ antwortete er; aber er wurde 
unter Sinaidas Blicke immer zaghafter. 


И: 


172 Onkelchens Traum 


„Aber ſelbſt wenn Sie alles gehoͤrt haben, in welcher Hinſicht 
koͤnnen Sie mir einen Vorwurf machen? Welches Recht haben 
Sie, mir Vorwuͤrfe zu machen? Welches Recht haben ши. in 
diefer dreiſten Art mit mir zu reden?“ 

„Ich? Welches Recht ich habe? Das fragen Sie noch? Sie 
wollen den Fuͤrſten heiraten, und ich ſoll kein Recht haben, ſo 
zu fragen! Und Sie haben mir doch Ihr Wort gegeben; das 
iſt die Sache!“ 

„Wann haͤtte ich das getan?“ 

„Welche Frage!“ 

„Ich habe Ihnen doch noch heute morgen, als Sie in mich 
drangen, mit aller Entſchiedenheit geantwortet, daß ich Ihnen 
nichts Beſtimmtes ſagen koͤnne.“ 

„Aber Sie haben mich nicht fortgewieſen, meinen Antrag 
nicht endguͤltig abgelehnt; alſo haben Sie mich als Reſerve 
zuruͤckbehalten! Alſo haben Sie mich angelockt.“ 

Auf dem Geſichte der erzuͤrnten Sinaida wurde eine ſchmerz— 
liche Empfindung ſichtbar, wie von einem ſcharfen, durch— 
dringenden inneren Schmerze; aber ſie uͤberwand dieſes Ge— 
fuͤhl. 

„Wenn ich Sie nicht fortgewieſen habe,“ antwortete ſie klar 
und langſam, obgleich ihrer Stimme ein faſt unmerkliches Zittern 
anzuhoͤren war, „ſo habe ich das nur aus Mitleid unterlaſſen. 
Sie haben mich ſelbſt darum gebeten, die Entſcheidung noch auf— 
zuſchieben, Ihnen nicht jetzt gleich nein zu ſagen, ſondern Sie 
erſt näher kennen zu lernen; Sie fagten: ‚Dann, dann, wenn Sie 
ſich davon uͤberzeugt haben werden, daß ich ein achtenswerter 
Menſch bin, dann werden Sie mich vielleicht nicht zuruͤckweiſen.“ 
Das waren Ihre eigenen Worte gleich beim Beginn Ihrer Be— 
werbung. Sie koͤnnen dieſe Ihre Worte nicht ableugnen! Sie 


Neuntes Kapitel 173 


haben gewagt, mir jetzt zu ſagen, ich hätte Sie angelockt. Aber 
Sie haben ſelbſt meinen Widerwillen geſehen, als ich Sie heute 
wiederſah, zwei Wochen vor dem Termine, bis zu dem Sie fort— 
zubleiben verſprochen hatten, und dieſen Widerwillen habe ich 
Ihnen nicht verheimlicht, ſondern offen an den Tag gelegt. Sie 
haben das ſelbſt bemerkt; denn Sie haben mich ſelbſt gefragt, 
ob ich auch nicht boͤſe daruͤber ſei, daß Sie ſchon fruͤher wieder— 
gekommen waͤren. Sie werden wiſſen, daß man den nicht an— 
lockt, dem man ſeinen Widerwillen gegen ihn nicht verheim— 
lichen kann und vor allen Dingen nicht verheimlichen will. Sie 
haben zu ſagen gewagt, ich haͤtte Sie als Reſerve zuruͤckbehalten. 
Darauf antworte ich Ihnen, daß ich mir uͤber Sie dieſen Ge— 
danken zurechtgelegt hatte: Wenn er auch nicht mit ſehr großem 
Verſtande begabt iſt, ſo iſt er doch vielleicht ein guter Menſch, 
und man kann ihn darum heiraten.‘ Aber jetzt habe ich mich zu 
meinem Gluͤcke davon uͤberzeugt, daß Sie ein Dummkopf und 
obendrein ein Dummkopf mit einem ſchlechten Charakter ſind, 
und daher bleibt mir nichts anderes uͤbrig, als Ihnen Gluͤck auf 
den Lebensweg und Gluͤck auf die Reiſe zu wuͤnſchen. Leben 
Sie wohl!“ 

Nach dieſen Worten wandte ſich Sinaida von ihm ab und 
ging langſam zur Tuͤr. 

Moſgljakow, welcher merkte, daß für ihn alles verloren war, 
ſchaͤumte vor Wut. 

„Ah, alſo bin ich ein Dummkopf!“ ſchrie er, „alſo bin ich jetzt 
ſchon ein Dummkopf! Nun gut! Leben Sie wohl! Aber ehe 
ich abreiſe, werde ich es der ganzen Stadt erzaͤhlen, wie Sie und 
Ihre Mama den Fuͤrſten betrunken gemacht und uͤbertoͤlpelt 
haben! Allen Leuten werde ich es erzählen! Sie ſollen Moſglja— 
kow kennen lernen!“ 


174 Onkelchens Traum 


Sinaida zuckte zuſammen und wollte ſchon ſtehen bleiben, um 
ihm zu antworten; aber nachdem fie einen Augenblick lang über: 
legt hatte, zuckte ſie nur veraͤchtlich mit den Achſeln und ſchlug 
die Tuͤr hinter ſich zu. 

In dieſem Augenblicke erſchien Marja Alexandrowna auf der 
Schwelle. Sie hatte Moſgljakows letzte Worte gehört, erriet in 
einem Moment, wie die Sache lag, und bekam einen argen 
Schreck. Moſgljakow war noch nicht weggefahren; Moſgljakow 
befand ſich noch in der Umgebung des Fuͤrſten; Moſgljakow 
wollte in der Stadt Laͤrm ſchlagen, und doch war die Geheim— 
haltung der Sache, wenn auch nur fuͤr ganz kurze Zeit, dringend 
notwendig! Marja Alexandrowna ſtellte ihre Berechnungen an: 
in einem einzigen Augenblicke erwog ſie alle Umſtaͤnde, und ſchon 
war auch der Plan zur Beſaͤnftigung Moſgljakows entworfen. 

„Was iſt Ihnen, mon ami?“ ſagte ſie, indem ſie zu ihm heran— 
trat und ihm freundſchaftlich die Hand entgegenſtreckte. 

„Sie ſagen: ‚mon ami'!“ ſchrie er wütend. „Nach allem, was 
Sie machiniert haben, ſagen Sie noch: ‚mon ami'! Darauf falle 
ich nicht herein, gnaͤdige Frau! Glauben Sie wirklich, daß ich 
mich noch einmal von Ihnen werde taͤuſchen laſſen?“ 

„Es tut mir leid, ſehr leid, daß ich Sie in einer ſo ſeltſamen 
Stimmung ſehe, Pawel Alexandrowitſch. Was ſind das fuͤr 
Ausdruͤcke! Sie vermoͤgen ſich nicht einmal einer Dame gegen— 
uͤber zu beherrſchen.“ 

„Einer Dame gegenüber! Sie ... Sie find alles, was Sie 
wollen, aber keine Dame!“ ſchrie Moſgljakow. Ich weiß nicht, 
was er eigentlich mit dieſem Ausrufe ſagen wollte, aber wahr— 
ſcheinlich etwas ſehr Grobes. 

Marja Alexandrowna ſah ihm mit ſanftem Blicke ins Geſicht. 

„Setzen Sie ſich!“ ſagte ſie traurig und wies ihm denſelben 


Neuntes Kapitel 175 


Lehnſeſſel an, auf dem eine Viertelſtunde vorher der Fuͤrſt ſich 
ausgeruht hatte. 

„Aber hören Sie mal, Marja Alexandrowna!“ rief Moſglja— 
kow verblüfft. „Sie ſehen mich fo an, als ob nicht Sie ſich gegen 
mich vergangen haͤtten, ſondern ich mich gegen Sie! Das iſt ja 
doch unerhoͤrt! . . . Ein ſolcher Ton! ... Das „ doch 
ſchließlich das Maß der Ki ea Geduld. Wiſſen Sie 
das wohl?“ 

„Mein Freund!“ antwortete Marja Alexandrowna, „er— 
lauben Sie mir, Sie immer noch ſo zu nennen; denn Sie haben 
keinen beſſeren Freund als mich, mein Freund! Sie leiden, Sie 
zermartern ſich, Sie ſind im tiefſten Herzen verwundet — und 
daher iſt es nicht erftaunlich, daß Sie zu mir in dieſem Tone 
reden. Aber ich bin entſchloſſen, Ihnen alles zu entdecken, Ihnen 
mein ganzes Herz offenzulegen, um ſo mehr, da ich mich Ihnen 
gegenuͤber ſelbſt ein bißchen ſchuldig fuͤhle. Setzen Sie ſich hin, 
und laſſen Sie uns miteinander reden!“ 

Marja Alexandrownas Stimme klang weich und ſchmerzlich. 
In ihrem Geſichte praͤgte ſich ein inneres Leid aus. Erſtaunt 
ſetzte ſich Moſgljakow neben ſie auf einen Lehnſeſſel. 

„Sie haben an der Tuͤr gehorcht?“ fuhr ſie fort, ihm vor— 
wurfsvoll ins Geſicht blickend. 

„Ja, das habe ich getan! Und gut, daß ich es getan habe; 
ſonſt waͤre ich jetzt ein betrogener Toͤlpel! Wenigſtens habe ich 
alle Ihre gegen mich gerichteten Intrigen erfahren,“ antwortete 
Moſgljakow grob; durch feinen eigenen Zorn machte er ſich Mut 
und reizte ſich auf. 

„Und Sie, Sie, ein ſo wohlerzogener Mann mit ſo vortreff— 
lichen Grundſaͤtzen, konnten ſich zu einer ſolchen Handlungsweiſe 
entſchließen? O mein Gott!“ 


176 Onkelchens Traum 


Moſgljakow war jo empört, daß er ſogar vom Stuhle аш: 
ſprang. 

„Aber, Marja Alexandrowna,“ rief er, „ſo etwas anzuhoͤren, 
das iſt doch geradezu unertraͤglich! Denken Sie doch daran, 
wozu Sie ſelbſt ſich mit Ihren vortrefflichen Grundſaͤtzen ent— 
ſchloſſen haben, und dann verurteilen Sie andere Leute!“ 

„Noch eine Frage,“ ſagte ſie, ohne auf ſeinen Vorwurf zu 


Pr 


antworten; „wer hat Sie denn auf den Gedanken zu horchen ge- 


bracht, wer hat Ihnen etwas erzaͤhlt, wer hat hier ſpioniert? 
Das moͤchte ich gern wiſſen.“ 
„Sie muͤſſen ſchon entſchuldigen — das werde ich nicht ſagen.“ 
„Gut. Ich kann es auch ſelbſt in Erfahrung bringen. Ich habe 
geſagt, Pawel Alexandrowitſch, daß ich mich Ihnen gegenüber 
ſchuldig fuͤhle. Aber wenn Sie alles, alle Umſtaͤnde ſorgſam 
pruͤfen, ſo werden Sie einſehen, daß, wenn ich mich auch ſchuldig 


gemacht habe, dies einzig und allein deswegen geſchehen iſt, weil 


ich Ihnen moͤglichſt viel Gutes wuͤnſchte.“ 

„Mir? Gutes? Das geht denn doch uͤber allen Spaß! Ich 
kann Ihnen verſichern, daß Sie mich nicht noch einmal hinters 
Licht fuͤhren werden! Ein ſo dummer Junge bin ich nicht!“ 


Er warf ſich auf feinem Lehnſtuhl fo heftig herum, daß dieſer 


knackte. 
„Ich bitte Sie, mein Freund, ſeien Sie kaltbluͤtiger, wenn es 


Ihnen moͤglich iſt! Hoͤren Sie mich aufmerkſam an, und Sie 


werden mir ſelbſt in allen Stuͤcken beiſtimmen. Erſtens: ich 
wollte Ihnen unverzuͤglich alles auseinanderſetzen, alles, und 
Sie haͤtten die ganze Sache mit den geringſten Einzelheiten aus 
meinem Munde erfahren, ohne daß Sie ſich zum Horchen haͤtten 
zu erniedrigen brauchen. Und wenn ich es Ihnen nicht ſchon 
fruͤher, ſchon vorhin auseinandergeſetzt habe, fo habe ich das nur 


Neuntes Kapitel 177 


deswegen unterlaſſen, weil ſich die ganze Sache noch im Stadium 

des bloßen Projektes befand. Es war ſehr moͤglich, daß uͤber— 
haupt nichts zuſtande kam. Sie ſehen: ich bin gegen Sie voll— 
ſtaͤndig offenherzig. Zweitens: meſſen Sie meiner Tochter keine 
Schuld bei! Sie liebt Sie wahnſinnig, und es hat mir unglaub— 
liche Anſtrengungen gekoſtet, ſie Ihnen abwendig zu machen 
und ſie dahin zu bringen, daß ſie einwilligte, den Antrag des 
Fuͤrſten anzunehmen.“ 

„Ich hatte ſoeben das Vergnuͤgen, den vollſten Beweis dieſer 
wahnſinnigen Liebe zu hören,” bemerkte Moſgljakow ironiſch. 

„Gut. Aber wie haben Sie zu ihr geſprochen? Darf ein Ver— 
liebter in dieſem Tone ſprechen? Spricht denn ein Mann von 
Lebensart uͤberhaupt in dieſer Weiſe? Sie haben ſie beleidigt 
und gereizt!“ 

„Na, um den Ton handelt es ſich jetzt nicht, Marja Alexan— 
drowna! Aber heute vormittag, nachdem Sie beide mir ſo 
freundliche Geſichter gemacht hatten, da haben Sie, als ich mit 
dem Fuͤrſten weggefahren war, in netten Ausdruͤcken von mir 
geredet! Sie haben mich ſchlecht gemacht, das will ich Ihnen 
nur ſagen. Ich weiß alles, alles!“ 

„Und gewiß aus ebenderſelben ſchmutzigen Quelle?“ be— 
merkte Marja Alexandrowna mit einem veraͤchtlichen Laͤcheln. 
„Ja, Pawel Alexandrowitſch, ich habe ſchlecht von Ihnen ge— 
ſprochen, Übles von Ihnen geredet und, wie ich geſtehen muß, 
mir damit nicht wenig Muͤhe gegeben. Aber ſchon allein der 
Umſtand, daß ich mich genoͤtigt ſah, ihr erſt Schlechtes uͤber Sie 
zu ſagen, Sie vielleicht ſogar zu verleumden, ſchon allein dieſer 
Umſtand beweiſt, wie ſchwer es fuͤr mich war, ihr die Einwilli— 
gung zur Losſage von Ihnen abzuringen! O Sie kurzſichtiger 
Menſch! Wenn fie Sie nicht liebte, hätte ich dann erſt nötig де: 
LXXYV. 12 


178 Onkelchens Traum 


a. | 2 * 
* Le . 


habt, Schlechtes von Ihnen zu reden, Sie in einem laͤcherlichen, 
unwuͤrdigen Lichte darzuſtellen, zu ſolchen extremen Mitteln 
meine Zuflucht zu nehmen? Und Sie wiſſen noch nicht alles! 
Ich mußte erſt von meiner muͤtterlichen Autoritaͤt Gebrauch 
machen, um Sie ihr aus dem Herzen zu reißen, und erreichte erſt 
nach unglaublichen Anſtrengungen ihre nur aͤußerliche Ein- 
willigung. Wenn Sie uns jetzt behorcht haben, ſo muͤſſen Sie 
doch bemerkt haben, daß ſie mit keinem Worte, mit keiner Ge— 
baͤrde mich dem Fuͤrſten gegenuͤber unterſtuͤtzt hat. Waͤhrend 
dieſer ganzen Szene hat ſie kaum ein Wort geſprochen, und ge— 
ſungen hat ſie wie ein Automat. Ihre ganze Seele war voll 
Gram und Leid, und aus Mitleid mit ihr fuͤhrte ich endlich den 
Fuͤrſten von hier fort. Ich bin uͤberzeugt, daß ſie geweint hat, 
ſobald ſie allein geblieben war. Als Sie hier hereinkamen, muͤſſen 
Sie ihre Tränen bemerkt haben ...“ 

Moſgljakow erinnerte ſich tatſaͤchlich, daß er beim Herein— 
ſtuͤrzen in das Zimmer Sinaida in Traͤnen gefunden hatte. 

„Aber Sie, Sie, warum ſind Sie ſo gegen mich geweſen, 
Marja Alexandrowna?“ rief er. „Warum haben Sie Schlechtes 
von mir geredet und mich verleumdet, wie Sie das jetzt ſelbſt 
zugeben?“ 
„Ah, das iſt eine andere Sache! Sehen Sie, wenn Sie dieſe 
vernuͤnftige Frage gleich zu Anfang geſtellt haͤtten, ſo wuͤrden 
Sie ſchon laͤngſt eine Antwort darauf erhalten haben. Ja, Sie 
haben recht! Das alles habe ich getan, ich allein. Miſchen Sie 
Sinaida da nicht mit hinein! Und warum ich es getan habe? 
Darauf antworte ich: erſtens um Sinaidas willen. Der Fürft 
iſt reich, ſteht in hohem Anſehen und beſitzt bedeutende Vers 
bindungen; wenn Sinaida ihn heiratet, macht ſie alſo eine 
glaͤnzende Partie. Und wenn er ſterben ſollte (was ſich vielleicht 


Neuntes Kapitel 179 


ſehr bald ereignet, denn wir muͤſſen alle früher oder ſpaͤter 
ſterben), dann iſt Sinaida eine junge Witwe, eine Fuͤrſtin, ein 
Mitglied der hoͤchſten Geſellſchaft und vielleicht ſehr reich. Dann 
kann ſie heiraten, wen ſie will, und vielleicht eine ſehr reiche 
Partie machen. Aber ſelbſtverſtaͤndlich wird ſie denjenigen hei— 
raten, den ſie liebt, denjenigen, den ſie fruͤher geliebt hat, dem 
ſie durch ihre Heirat mit dem Fuͤrſten das Herz zerriſſen hat. 
Schon allein die Reue wuͤrde ſie dahin bringen, ihr Verſchulden 
dem fruͤheren Geliebten gegenuͤber wieder gutzumachen.“ 

„Hm!“ brummte Moſgljakow, der nachdenklich feine Stiefel 
betrachtete. 

„Zweitens, und das will ich nur in aller Kürze erwähnen,“ 
fuhr Marja Alexandrowna fort; „denn Sie werden dafuͤr viel— 
leicht überhaupt kein Verſtaͤndnis haben. Sie еп Ihren 
Shakeſpeare und ſchoͤpfen aus ihm alle Ihre edlen Empfin— 
dungen; aber im praktiſchen Leben find Sie, wenn auch ein 
herzensguter Menſch, ſo doch noch ſehr jung; ich aber bin eine 
Mutter, Pawel Alexandrowitſch! So hoͤren Sie denn: ich gebe 
Sinaida dem Fuͤrſten teilweiſe auch um ſeiner ſelbſt willen zur 
Frau; denn ich will ihn durch dieſe Ehe retten. Ich habe dieſen 
edlen, ſeelenguten, ritterlich-ehrenhaften Mann auch früher ſchon 
geliebt. Wir waren Freunde. Er iſt ungluͤcklich in den Krallen 
dieſes teufliſchen Weibes. Sie wird ihn noch ins Grab bringen. 
Gott weiß es, daß ich Sinaida nur dadurch zur Einwilligung in 
eine Heirat mit ihm gebracht habe, daß ich ihr die ganze Heilig— 
keit einer ſolchen Tat der Selbſtverleugnung vor Augen geſtellt 
habe. Ihr edles Empfinden, der Zauber, den die Großtat aus— 
übte, das war's, wovon fie ſich hinreißen ließ. Es ſteckt in ihr 
ſelbſt ſo etwas Ritterliches. Ich habe ihr vorgeſtellt, daß es ein 
im hoͤchſten Sinne chriſtliches Werk iſt, die Stuͤtze, der Troſt, die 


180 Onkelchens Traum 


Freundin, das Kind, das Schoͤnheitsideal, der Abgott eines 
Mannes zu ſein, der vielleicht nur noch ein Jahr zu leben hat. 
Nicht jenes graͤßliche Weib, nicht Angſt und Mutloſigkeit, ſondern 
Licht, Freundſchaft, Liebe wuͤrden ihn in den letzten Tagen ſeines 
Lebens umgeben. Er wuͤrde an ſeinem Lebensabende die Emp— 
findung haben, daß er im Paradieſe ſei! Wo ſteckt da Egoismus, 
ſagen Sie, bitte ſelbſt! Das iſt eher das edle Werk einer Barm— 
herzigen Schweſter, aber kein Egoismus!“ 

„Alſo haben Sie es nur um des Fuͤrſten willen getan, nur 
als das edle Werk einer Barmherzigen Schweſter?“ brummte 
Moſgljakow ſpoͤttiſch. 

„Auch dieſe Frage verſtehe ich, Pawel Alexandrowitſch; ſie 
iſt deutlich genug. Sie glauben vielleicht, daß ich hier den Vor: 
teil des Fuͤrſten in jeſuitiſcher Weiſe mit meinem eigenen Bor: 
teile verquickt habe? Nun, vielleicht hat in meinem Kopfe auch 
dieſe Berechnung ſtattgefunden; nur iſt ſie dann eben keine 
jeſuitiſche, ſondern eine unwillkuͤrliche geweſen. Ich weiß, daß 
Sie uͤber ein ſo offenherziges Bekenntnis erſtaunt ſind; aber um 
eines bitte ich Sie, Pawel Alexandrowitſch: miſchen Sie Sinaida 
in dieſe Sache nicht mit hinein! Sie iſt rein wie eine Taube; alle 
Berechnungen ſind ihr fremd; ſie verſteht nur zu lieben — das 
liebe, liebe Kind! Wenn wirklich jemand Berechnungen ange— 
ſtellt hat, ſo bin ich es geweſen, ich allein! Aber erſtens, fragen 
Sie einmal ſtreng Ihr Gewiſſen, und ſagen Sie: wer hätte an 
meiner Stelle in einem aͤhnlichen Falle keine Berechnungen an— 
geſtellt? Wir berechnen unſern Vorteil ſogar bei unſern hoch— 
herzigſten, uneigennuͤtzigſten Handlungen; wir tun das, ohne 
uns deſſen ſelbſt bewußt zu werden, ganz unwillkuͤrlich! Aller— 
dings betruͤgen dabei faſt alle Menſchen ſich ſelbſt, indem ſie ſich 
einreden, daß ſie nur aus Edelmut handeln. Ich aber will mich 


Pe I tn 


Neuntes Kapitel 181 


nicht betrügen: ich bin mir bewußt, daß ich, wie edel auch meine 
Ziele find, doch auch rechne. Aber überlegen Sie einmal, ob ich 
wohl in meinem eigenen Intereſſe rechne! Ich brauche nichts 
mehr, Pawel Alexandrowitſch! Ich habe mein Leben hinter 
mir. Ich habe fuͤr ſie gerechnet, fuͤr meinen Engel, fuͤr mein 
Kind, und — welche Mutter kann mir in dieſem Falle einen Vor: 
wurf machen?“ 

In Marja Alexandrownas Augen blitzten Traͤnen. Pawel 
Alexandrowitſch hörte dieſe offenherzige Beichte voller Er: 
ſtaunen und blinzelte verſtaͤndnislos mit den Augen. 

„Nun ja, welche Mutter ...“ ſagte er ſchließlich. „Was Sie 
da ſagen, klingt alles ſehr ſchoͤn, Marja Alexandrowna; aber... 
aber Sie hatten mir doch Ihr Wort gegeben! Sie hatten mir 
Hoffnung gemacht ... Überlegen Sie nur, wie mir jetzt zumute 
ſein muß! Sehen Sie, ich kann ja jetzt mit langer Naſe abziehen!“ 

„Aber glauben Sie denn, daß ich nicht auch an Sie gedacht 
habe, mon cher Paul? Vielmehr handelte es ſich bei all dieſen 
Berechnungen um einen ſo gewaltigen Vorteil fuͤr Sie, daß 
gerade der mich hauptſaͤchlich dazu veranlaßt hat, mich auf dieſes 
ganze Unternehmen einzulaſſen.“ 

„Mein Vorteil!“ rief Moſgljakow, der diesmal wie vor den 
Kopf geſchlagen war. „Wieſo?“ 

„Mein Gott, kann jemand wirklich ſo ſchwer von Begriffen 
und ſo kurzſichtig ſein?“ rief Marja Alexandrowna, gen Himmel 
blickend. „Ja, die heutige Jugend, die heutige Jugend! Da 
ſieht man, was dabei herauskommt, wenn man ſich in dieſen 
Sphakeſpeare vertieft und ſich Traͤumereien uͤberlaͤßt und ſich ein= 
bildet, ein eigenes Leben zu fuͤhren, waͤhrend man doch nur 
einem fremden Verſtande folgt und fremde Gedanken wieder— 
holt! Sie fragen, mein guter, lieber Pawel Alexandrowitſch, 


182 Onkelchens Traum 


wo da Ihr Vorteil ſteckt? Erlauben Sie mir der Deutlichkeit 
halber eine Heine Abſchweifung: Sinaida liebt Sie — das ift 
zweifellos! Aber ich habe bemerkt, daß trotz ihrer offenbaren 
Liebe ſich in ihrer Seele ein gewiſſes Mißtrauen gegen Sie, 
gegen die Beſtaͤndigkeit Ihrer Gefuͤhle und Ihrer Zuneigung 


verbirgt. Ich habe bemerkt, daß ſie mitunter wie abſichtlich ſich 


Zwang auferlegt und ſich gegen Sie kuͤhl benimmt, eine Folge 
ihres Zweifels und Mißtrauens. Haben Sie das nicht ſelbſt be⸗ 


merkt, Pawel Ale xandrowitſch?“ 


„Be- merkt ha-be ich es; ſogar heute noch ... Aber was wollen 


Sie damit ſagen, Marja Alexandrowna?“ 


„Nun ſehen Sie, alſo Sie haben es ſelbſt bemerkt. Mithin N 


habe ich mich nicht getaͤuſcht. Es ftedt in ihr ein ſeltſames Miß— 


trauen gegen die Beſtaͤndigkeit Ihrer Zuneigung. Ich bin die | 


Mutter und follte das Herz meines Kindes nicht verftehen? 
Stellen Sie ſich nun vor, daß Sie, ſtatt mit Vorwuͤrfen, ja mit 
Schimpfworten ins Zimmer zu ſtuͤrzen und ſie, die Reine, 


Schöne, Stolze, zu reizen, zu kraͤnken, zu beleidigen und fie das 


durch unwillkuͤrlich in ihrem Mißtrauen betreffs Ihrer uͤblen 
Eigenſchaften zu beſtaͤrken — ſtellen Sie ſich vor, daß Sie dieſe 


Nachricht mit Sanftmut, mit Tränen des Bedauerns oder viel- 


leicht auch der Verzweiflung, aber mit hohem Edelmute des 
Herzens aufgenommen haͤtten ...“ 
m! 


„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Pawel Alexandrowitſch! 


Ich will Ihnen dieſes ganze Bild vor Augen ſtellen, das fuͤr Ihre 
Einbildungskraft etwas Imponierendes haben wird. Stellen 
Sie ſich vor, daß Sie zu ihr gekommen waͤren und geſagt haͤtten: 
‚Sinaida! Ich liebe dich mehr als mein Leben; aber Gründe, 


8 


die in den Familienverhaͤltniſſen liegen, trennen uns. Ich habe 


Neuntes Kapitel 183 


fuͤr dieſe Gruͤnde Verſtaͤndnis. Sie zielen auf de in Gluͤck ab, und 
ich wage nicht mehr, gegen fie anzukaͤmpfen, Sinaida! Ich ver: 
zeihe dir. Sei gluͤcklich, wenn du es kannſt!“' und dann hätten Sie 
einen Blick auf ſie gerichtet, den Blick eines Opferlammes, wenn 
man ſich fo ausdruͤcken kann — ſtellen Sie ſich das alles vor, und 
uͤberlegen Sie, welchen Eindruck dieſe Worte auf ihr Herz ge— 
macht haͤtten!“ 

„Ja, Marja Alexandrowna, nehmen wir an, daß ſich das alles 
то verhält; ich verſtehe das alles ... aber wenn ich das nun auch 
geſagt hätte, fo wäre ich doch leer ausgegangen ...“ 

„Nein, nein, nein, mein Freund! Unterbrechen Sie mich 
nicht! Ich will unbedingt Ihnen das ganze Bild vor Augen 
ſtellen, mit allen Folgen, damit es eine edle, imponierende Wir— 
kung auf Sie ausuͤbe. Stellen Sie ſich vor, daß Sie ihr ſpaͤter, 
nach einiger Zeit, in der hoͤchſten Geſellſchaft wiederbegegnen, 
auf einem Balle, bei glaͤnzender Beleuchtung, bei berauſchender 
Muſik, inmitten der herrlichſten Frauen; und inmitten all dieſes 
Feſtgetuͤmmels ſind Sie allein einſam, traurig, melancholiſch, 
blaß, ſtehen an eine Saͤule gelehnt da (aber ſo, daß man Sie 
ſehen kann) und folgen ihr in dem Gewoge des Balles mit 
Ihren Blicken. Sie tanzt. Die berauſchenden Klaͤnge eines 


Straußſchen Walzers umfluten Sie; die geiſtreichen Geſpraͤche 

der hoͤchſten Geſellſchaft ſchwirren umher — aber Sie ſind ein— 
ſam, blaß, von Ihrer Leidenſchaft zerſchmettert! Was meinen 
Sie, welchen Eindruck wird das auf Sinaida machen? Mit was 


für Augen wird fie Sie anſehen? „Und ich,‘ wird fie denken, 
zich konnte an dieſem Menſchen zweifeln, der mir alles, alles zum 
Opfer gebracht und fein Herz um meinetwillen zermartert hat!“ 
Natuͤrlich wird die fruͤhere Liebe in ihrem Herzen mit Е unwider⸗ 
ſtehlicher Kraft wieder hervorbrechen!“ 


184 Onkelchens Traum 


Marja Alexandrowna hielt inne, um Atem zu ſchoͤpfen. 
Moſgljakow drehte ſich auf dem Lehnſtuhl fo heftig herum, daß 
dieſer wieder knackte. Marja Alexandrowna fuhr fort: 

„Mit Ruͤckſicht auf die Geſundheit des Fuͤrſten faͤhrt Sinaida 
mit ihm ins Ausland, nach Italien, nach Spanien — nach 
Spanien, wo Myrten und Zitronen ſind und blauer Himmel 
und der Guadalquivir, in das Land der Liebe, wo man nicht 
leben kann ohne zu lieben, wo Roſen und Kuͤſſe ſozuſagen in der 
Luft umherfliegen! Sie fahren ebendorthin, ihr nach; Sie laſſen 
Ihr Amt, Ihre Konnexionen, alles um ihretwillen im Stich! 
Dort beginnt eure Liebe mit unwiderſtehlicher Gewalt; Liebe, 
Jugend, Spanien — o Gott! Natuͤrlich iſt eure Liebe eine 
makelloſe, heilige; aber freilich wird es euch ſchließlich eine 
Qual ſein, einander ſo anzuſehen. Sie verſtehen mich, mon 
ami! Allerdings werden ſich gemeine, boshafte Menſchen fin— 
den, Kanaillen, die da behaupten werden, es ſei uͤberhaupt nicht 
verwandtſchaftliche Zuneigung zu dem leidenden alten Manne 
geweſen, was Sie ins Ausland gelockt habe. Ich habe abſichtlich 
eure Liebe eine makelloſe genannt, weil dieſe Menſchen ihr am 
Ende eine ganz andere Bedeutung beilegen werden. Aber ich 
bin eine Mutter, Pawel Alexandrowitſch; wie ſollte ich Sie etwas 
Schlechtes lehren? Freilich wird der Fuͤrſt nicht imſtande ſein, 
euch beide zu beaufſichtigen; aber das tut nichts zur Sache! 
Kann man etwa darauf eine ſo ſchmaͤhliche Verleumdung gruͤn— 
den? Schließlich wird er ſterben und ſich noch auf dem Sterbe— 
bette wegen ſeines Geſchickes gluͤcklich preiſen. Nun ſagen Sie, 
bitte: wen anders als Sie wird Sinaida dann heiraten? Und 
Ihre Verwandtſchaft mit dem Fuͤrſten iſt ſo weitlaͤufig, daß ſie 
in keiner Weiſe ein Ehehindernis bilden kann. Sie heiraten die 
junge, reiche, vornehme Witwe, und zu welcher Zeit? Zu einer 


Neuntes Kapitel 185 


Zeit, wo die Vornehmſten der Vornehmen auf eine Heirat mit 
ihr ſtolz fein koͤnnten! Durch fie werden Sie in den hoͤchſten Ge: 
ſellſchaftskreiſen Aufnahme finden; durch ſie werden Sie auf 
einmal ein hohes Amt und alle damit verbundenen Ehren und 
Wuͤrden erhalten. Jetzt beſitzen Sie nur hundertfuͤnfzig Seelen; 
aber dann werden Sie reich ſein; der Fuͤrſt wird in ſeinem 
Teſtamente alles in dieſem Sinne ordnen; das nehme ich auf 
mich. Und ſchließlich die Hauptſache: ſie wird dann den feſten 
Glauben an Sie, an Ihr Herz, an Ihre Gefuͤhle gewonnen 
haben, und Sie werden auf einmal fuͤr ſie ein Held der 
Tugend und der Selbſtverleugnung geworden fein! ... Und 
da fragen Sie noch, worin der Vorteil fuͤr Sie beſteht? Aber 
man muß ja geradezu blind ſein, um dieſen Vorteil nicht zu 
bemerken, ihn ſich nicht mit der Denkkraft vorzuſtellen, ihn 
ſich nicht auszurechnen, wenn ſie zwei Schritte vor Ihnen 
ſteht, Sie anſieht, Sie anlaͤchelt und ſelbſt ſagt: Da bin ich, 
dein Vorteil!‘ Pawel Alexandrowitſch, ich bitte Sie um alles 
in der Welt!“ 

„Marja Alexandrowna!“ rief Moſgljakow in größter Auf: 
regung; „jetzt habe ich alles verſtanden! Ich habe mich roh, un— 
wuͤrdig und gemein benommen!“ 

Er ſprang vom Stuhle auf und griff ſich in die Haare. 

„Und außerdem haben Sie keine Berechnungen fuͤr die Zu— 
kunft angeſtellt,“ fuͤgte Marja Alexandrowna hinzu. „Das iſt 
die Hauptſache: keine Berechnungen fuͤr die Zukunft!“ 

„Ich bin ein Eſel, Marja Alexandrowna!“ ſchrie er ganz ver— 
zweifelt. „Jetzt iſt alles verloren; denn ich habe ſie wahnſinnig 
geliebt!“ 

„Vielleicht ift noch nicht alles verloren,“ ſagte Frau Moſka— 
lewa leiſe, wie wenn ſie uͤber etwas nachdaͤchte. 


186 Onkelchens Traum 


„Oh, wenn das möglich wäre! Helfen Sie mir! Belehren 
Sie mich! Retten Sie mich!“ | | 

Moſgljakow brach in Tränen aus. | 

„Mein Freund!“ ſagte Marja Alexandrowna mitleidsvoll, 
indem fie ihm die Hand reichte; „Sie haben das in der Hitze der 
Erregung getan, in aufwallender Leidenſchaft, alſo gerade aus 
Liebe zu ihr! Sie waren in Verzweiflung, Sie wußten von ſich 
ſelbſt nicht! Das alles muß fie ja doch einſehen ...“ 

„Ich liebe ſie wahnſinnig und bin bereit, alles fuͤr ſie hin- 
zugeben!“ rief Moſgljakow. 

„Hoͤren Sie, ich werde Sie bei ihr entſchuldigen ...“ 

„Marja Alexandrowna!“ 

„Ja, ich nehme das auf mich! Ich werde Sie mit ihr zuſam— 
menfuͤhren. Legen Sie ihr alles ſo dar, wie ich es Ihnen ſoeben 
auseinandergeſetzt habe!“ 

„O Gott! Wie gut Sie find, Marja Alexandrowna! ... 
Aber ... koͤnnten wir das nicht jetzt gleich tun?“ 

„Gott behuͤte! Oh, wie unerfahren Sie ſind, mein Freund! 
Sie iſt ſo ſtolz! Sie wird das als eine neue Grobheit, als eine 
Frechheit auffaſſen! Gleich morgen werde ich alles arrangieren; 
aber jetzt gehen Sie fort, irgendwohin, zum Beiſpiel zu dieſem 
Kaufmann ... kommen Sie meinetwegen am Abend wieder 
her; aber raten kann ich Ihnen auch dazu nicht!“ 

„Ich werde fortgehen, ich werde fortgehen! O Gott, Sie 
geben mir das Leben wieder! Aber noch eine Frage: wie, wenn 
nun der Fuͤrſt nicht ſo bald ſtirbt?“ | 

„Ach, mein Gott, wie naiv Sie find, mon cher Paul! Im 
Gegenteil, wir muͤſſen fuͤr ſeine Geſundheit beten. Wir muͤſſen 
dieſem lieben, dieſem guten, dieſem ritterlich ehrenhaften alten 
Manne von ganzem Herzen ein langes Leben wuͤnſchen! Und 


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Neuntes Kapitel 187 


ich vor allen werde Tag und Nacht fuͤr das Gluͤck meiner Tochter 
beten. Aber leider ſcheint es, daß der Geſundheitszuſtand des 
Fuͤrſten hoffnungslos iſt! Außerdem muß er jetzt in die Reſidenz 
fahren und Sinaida in die vornehme Geſellſchaft einfuͤhren. Ich 
fuͤrchte, ach, ich fuͤrchte, daß ihm das voͤllig den Garaus macht! 
Aber — wir werden beten, cher Paul; das uͤbrige ſteht in Gottes 
Hand! . .. Sie gehen ſchon? Ich ſegne Sie, mon ami! Hoffen 
Sie, dulden Sie, zeigen Sie ſich als Mann; vor allen Dingen: 
zeigen Sie ſich als zen). Ich habe nie an dem Adel Ihrer Ge⸗ 
ſinnung gezweifelt .. 
Sie druͤckte ihm fest die Hand, und Moſgljakow verließ ou 
den Fußſpitzen das Zimmer. 

„Na, den einen Dummkopf haͤtte 156 betört!" ſagte ſie trium⸗ 

phierend. „Nun noch die uͤbrigen .. 

Die Tuͤr oͤffnete ſich, und Sinaida trat herein. Sie war un: 
gewoͤhnlich blaß. Ihre Augen blitzten. 

„Mama,“ ſagte ſie, „bringen Sie die Sache ſchnell zu ende, 
oder ich halte es nicht mehr aus! All das iſt ſo ſchmutzig und ge— 
mein, daß ich am liebſten aus dem Hauſe laufen moͤchte. Quaͤlen 
Sie mich nicht, reizen Sie mich nicht! Es wird mir uͤbel, hoͤren 

Sie wohl? es wird mir uͤbel von all dieſem Schmutz!“ 

„Sinaida, was Ш dir, mein Engel? Du... du haft an der 

Tuͤr gehorcht!“ rief Marja Alexandrowna und blickte Sinaida 
pruͤfend und beunruhigt an. 

„Ja, das habe ich getan. Wollen Sie mir etwa daruͤber Vor— 
haltungen machen wie dieſem Dummkopfe? Hoͤren Sie, ich 
ſchwoͤre Ihnen: wenn Sie mich noch länger fo quälen und mir 
in dieſer gemeinen Komoͤdie allerlei gemeine Rollen zuweiſen, 
ſo werde ich alles hinwerfen und der ganzen Geſchichte mit einem 
Schlage ein Ende machen. Es iſt genug daran, daß ich mich zu 


188 Onkelchens Traum 


der Hauptgemeinheit entſchloſſen habe! Aber ... ich kannte mich 
ſelbſt nicht! Ich erſticke in dieſem uͤblen Geruche! ...“ 

Sie ging hinaus und ſchlug die Tuͤr heftig hinter ſich zu. 

Marja Alexandrowna ſah ihr ſtarr nach und wurde ſehr nach— 
denklich. 

„Ich muß mich beeilen, ich muß mich beeilen!“ rief ſie, ſich 
ploͤtzlich aufraffend. „Sie iſt das Haupthindernis, die groͤßte 
Gefahr, und wenn alle dieſe nichtswuͤrdigen Menſchen uns nicht 
die Sache allein unter uns zu Ende bringen laſſen, ſondern ſie 
in der ganzen Stadt auspoſaunen (was ſicherlich ſchon geſchehen 
iſt), ſo iſt alles verloren! Sie wird dieſen ganzen Wirrwarr nicht 
ertragen koͤnnen und ſich weigern. Um jeden Preis und ohne 
Verzug muß ich den Fuͤrſten auf unſer Gut bringen! Ich werde 
ſelbſt zuerſt ſchnell hinfahren und meinen Toͤlpel von dort hier— 
her ſchleppen; er muß doch wenigſtens zu etwas zu gebrauchen 
ſein! Unterdeſſen wird ſich der Fuͤrſt ausſchlafen — und dann 
fahren wir alle zuſammen hin!“ 

Sie klingelte. 

„Iſt der Schlitten bereit?“ fragte ſie den eintretenden Diener. 

„Schon lange,“ antwortete dieſer. 

Die Pferde waren in dem Augenblicke angeſpannt worden, 
als Marja Alexandrowna den Fuͤrſten nach oben geleitete. 

Sie zog ſich an, lief aber vor der Abfahrt noch zu Sinaida, 
um ihr ihren Plan in den Hauptzuͤgen mitzuteilen und ihr einige 
Inſtruktionen zu geben. Aber Sinaida war nicht imſtande, ſie 
anzuhoͤren. Sie lag auf dem Bette, mit dem Geſichte in den 
Kiſſen. Sie vergoß heiße Traͤnen und raufte ſich ihr langes, 
wundervolles Haar; ihre weißen Arme waren bis zum Ellbogen 
entbloͤßt. Mitunter zuckte ſie zuſammen, wie wenn ein kurzer 
Froſtſchauder durch alle ihre Glieder liefe. Marja Alexandrowna 


92 
ee 


Zehntes Kapitel 189 


begann zu ihr zu ſprechen; aber Sinaida hob nicht einmal den 
Kopf in die Hoͤhe. 

Nachdem Marja Alexandrowna einige Zeit neben der Da— 
liegenden geſtanden hatte, ging ſie in ſtarker Unruhe hinaus, und 
um ſich nach einer anderen Seite hin ſchadlos zu halten, ſtieg ſie 
in den Schlitten und befahl dem Kutſcher, ſo ſchnell wie nur 
moͤglich zu fahren. 

„Recht verdrießlich iſt, daß Sinaida mein Geſpraͤch mit 
Moſgljakow behorcht hat!“ dachte fie, während fie im Schlitten 
ſaß. „Ich habe ihn faſt mit denſelben Worten beredet, deren ich 
mich ihr gegenuͤber bedient habe. Sie iſt ſtolz und fuͤhlt ſich viel— 
leicht beleidigt... Hm! Aber die Hauptſache, die Hauptſache 
iſt, alles ſchnell zu erledigen, bevor meine Widerſacherinnen es 
ausſchnuͤffeln! Das waͤre ein Malheur! Na, wenn nun das Un— 
gluͤck wollte, daß mein Dummkopf nicht zu Hauſe waͤre; was 
dann?“ 

Bei dieſem bloßen Gedanken bemaͤchtigte ſich ihrer eine Wut, 
die dem armen Afanaſi Matwjejewitſch nichts Gutes verhieß; 
ſie drehte ſich auf ihrem Platze hin und her vor Ungeduld. Die 
Pferde jagten dahin, ſo ſchnell ſie laufen konnten. 


Zehntes Kapitel 
Der Schlitten flog nur ſo. Wir haben bereits geſagt, daß in 
Marja Alexandrownas Kopfe bereits am Vormittage, waͤhrend 
ſie in der Stadt auf den Fuͤrſten Jagd machte, ein genialer Ge— 
danke aufblitzte. Wir verſprachen, auf dieſen Gedanken am ge— 
hoͤrigen Orte zuruͤckzukommen. Aber der Leſer kennt ihn jetzt 
bereits. Dieſer Gedanke war: ſich ihrerſeits des Fuͤrſten zu Ве: 
maͤchtigen und ihn moͤglichſt ſchnell nach ihrem in der Naͤhe der 
Stadt gelegenen Gute zu bringen, wo der geiſtig beſchraͤnkte 


9 
ме. 
А 
7 
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Afanaſi Matwjejewitſch in aller Harmloſigkeit vegetierte. Wir 
verheimlichen nicht, daß Marja Alexandrowna je laͤnger je mehr 
von einer unerklaͤrlichen Unruhe befallen wurde. Das kommt 
ſelbſt bei wirklichen Helden vor, namentlich zu der Zeit, wo ſie 
ihr Ziel nahezu erreicht haben. Eine Art von Inſtinkt ſagte ihr, 
daß es gefaͤhrlich ſei, in Mordaſow zu bleiben. „Wenn wir aber 
erſt einmal auf dem Gute ſind,“ meinte ſie, „dann kann ſich 
meinetwegen die ganze Stadt auf den Kopf ſtellen!“ Allerdings 
war auch auf dem Gute keine Zeit zu verlieren. Es konnte alles 
moͤgliche paſſieren, alles moͤgliche, geradezu alles, wenn wir 
auch den nachher über meine Heldin von Übelwollenden ver: 
breiteten Gerüchten keinen Glauben ſchenken, daß fie in dieſem 
Augenblicke ſogar vor der Polizei Bange gehabt habe. Kurz, 
ſie ſah ein, daß Sinaidas Trauung mit dem Fuͤrſten moͤglichſt 
beſchleunigt werden muͤſſe. Die Mittel dazu hatte ſie an der 
Hand. Auf dem Gute konnte die beiden auch der Dorfgeiſtliche 
trauen. Man konnte die Trauung ſogar ſchon uͤbermorgen ſtatt— 
finden laſſen, noͤtigenfalls ſogar ſchon morgen. Hatte es doch 
ſchon Eheſchließungen gegeben, die nach zwei Stunden vollzogen 
worden waren! Dem Fürften mußte man dieſe Eile, dieſen Fort: 
fall aller Feſte, Verlobungsfeiern, Polterabende als das not⸗ 
wendige comme il faut bezeichnen; man mußte ihn nachdruͤcklich 
belehren, daß dies vornehmer, grandioſer ſei. Auch konnte man 
ihm alles als ein romantiſches Abenteuer darſtellen und auf 
dieſe Weiſe die empfindſamſte Saite in ſeinem Herzen anſchlagen. 
Schlimmſtenfalls konnte man ihn ja auch durch Wein zu allem 
Erforderlichen anregen oder, noch beſſer, ihn in einem dauern— 
den Zuſtande von Trunkenheit erhalten. Und mochte dann nach- 
her paſſieren, was da wollte, Sinaida wuͤrde doch eine Fuͤrſtin 
ſein! Wenn es aber nachher nicht ohne einen Skandal abgehen 


190 Onkelchens Traum 


* 


Zehntes Kapitel 191 


ſollte, zum Beiſpiel in Petersburg oder in Moskau, wo der Fuͤrſt 
Verwandte hatte, ſo gab es da einen Troſt. Erſtens lag das alles 
noch in ziemlicher Ferne; und zweitens glaubte Marja Alexan— 
drowna, daß es in der hoͤchſten Geſellſchaft faſt nie ohne Skandal 
abgehe, namentlich bei Heiratsſachen, und daß das ſogar zum 
guten Tone gehoͤre, wiewohl Skandale in der hoͤheren Geſell— 
ſchaft nach ihrer Vorſtellung immer etwas Beſonderes, Gran— 
dioſes haben mußten, ſo etwas in der Art des Grafen von Monte— 
criſto oder der Mémoires du Diable. Und endlich, meinte fie, 
brauche Sinaida nur in der hoͤchſten Geſellſchaft zu erſcheinen 
und ihre Mama ſie zu unterſtuͤtzen, dann wuͤrden alle, abſolut 
alle im ſelben Augenblicke beſiegt ſein, und keine von all dieſen 
Graͤfinnen und Fuͤrſtinnen wuͤrde imſtande ſein, ſo eine echt 
Mordaſower Kopfwaͤſche auszuhalten, wie ſie, Marja Alexan⸗ 
drowna, ſie ihnen zu verabfolgen befaͤhigt ſei, entweder allen 
zuſammen oder einer jeden einzeln. Infolge aller dieſer Er— 
waͤgungen jagte Marja Alexandrowna jetzt nach ihrem Gute, um 
Afanaſi Matwjejewitſch zu holen, deſſen Anweſenheit nach ihrem 
Urteile jetzt unumgaͤnglich notwendig war. In der Tat: den 
Fuͤrſten nach dem Gute bringen, das bedeutete ihn zu Afanaſi 
Matwjejewitſch bringen, mit dem der Fuͤrſt vielleicht gar nicht 
bekannt zu werden wuͤnſchte. Wenn aber Afanaſi Matwjejewitſch 
ſelbſt die Einladung ausſprach, ſo nahm die Sache ein ganz an— 
deres Geſicht an. Zudem konnte das Erſcheinen des bejahrten, 
wuͤrdigen Familienvaters, in Frack und weißer Binde, mit dem 
Hute in der Hand, der auf die erſte Nachricht von der Ankunft 
des Fuͤrſten erpreß aus der Ferne herbeigekommen war, einen 
ſehr angenehmen Eindruck machen und ſogar der Eitelkeit des 
Fuͤrſten ſchmeicheln. Eine ſo dringliche, feierliche Einladung 
würde ſich auch ſchwer ablehnen laſſen, dachte Marja Ale xan— 


192 Onkelchens Traum 


drowna. Endlich hatte der Schlitten die drei Werſt lange Strecke 
durchflogen, und der Kutſcher Sofron brachte ſeine Pferde vor 
der Anfahrt eines langgeſtreckten, einſtoͤckigen, hoͤlzernen Ge— 
baͤudes zum Stehen, das ſchon recht alt und von der Zeit ge— 
ſchwaͤrzt ausſah, eine lange Reihe von Fenſtern aufwies und 
ringsum von alten Linden umſtanden war. Das war Marja 
Alexandrownas Gutshaus und Sommerreſidenz. Im Hauſe 
brannte bereits Licht. 

„Wo iſt der Toͤlpel?“ ſchrie Marja Alexandrowna, die wie 
ein Sturmwind in die Wohnung hereinbrach. „Warum liegt 
dieſes Handtuch hier? Ach, du haſt dich abgetrocknet! Haſt du 
wieder gebadet? Und immer ſchluͤrft er ſeinen Tee! Na, was 
reißt du die Augen auf, du unverbeſſerlicher Dummkopf? War— 
um iſt dein Haar nicht geſchnitten? Griſchka! Griſchka! Griſchka! 
Warum haſt du dem Herrn nicht das Haar geſchnitten, wie ich 
es dir in der vorigen Woche befohlen habe?“ 

Als Marja Alexandrowna die Wohnung betrat, hatte ſie 
Afanaſi Matwjejewitſch viel freundlicher zu begruͤßen beabſich— 
tigt; aber als ſie ſah, daß er aus dem Bade gekommen war und 
nun mit Genuß Tee trank, geriet ſie in eine heftige Entruͤſtung, 
die ſie nicht unterdruͤcken konnte. In der Tat: ſoviel Muͤhe und 
Sorge auf ihrer Seite und ſoviel ruhige Behaglichkeit auf ſeiten 
des zu keinem vernuͤnftigen Werke tauglichen und verwendbaren 
Afanaſi Matwjejewitſch: ein ſolcher Kontraſt verſetzte ihr ſofort 
einen Stich mitten ins Herz. Unterdeſſen ſaß der Toͤlpel oder, 
wenn wir uns hoͤflicher ausdruͤcken wollen, derjenige, den ſie 
Toͤlpel genannt hatte, beim Samowar und ſtarrte, vor Angſt 
ſinnlos, Mund und Augen weit aufreißend, ſeine Gattin an, die 
ihn durch ihr Erſcheinen faſt in Stein verwandelt hatte. Aus 
dem Vorzimmer kam die plumpe Geſtalt des verſchlafenen 


Zehntes Kapitel 193 


Griſchka herein; mit den Augen blinzelnd betrachtete er dieſe 
ganze Szene. 

„Er erlaubt ja nicht, daß ich ihm das Haar ſchneide; darum 
habe ich es nicht getan,“ ſagte er muͤrriſch mit heiſerer Stimme. 
„Zehnmal bin ich mit der Schere zu ihm gekommen und habe 
geſagt: ‚Die gnaͤdige Frau wird herkommen, und dann kriegen 
wir es beide; was fangen wir dann an?' Aber der Herr ſagte: 
‚Nein, warte noch damit; ich will mir zum Sonntag Locken 
brennen; dazu muß das Haar lang ſein.“ 

„Was? Er brennt ſich Locken! Alſo du laͤßt dir beikommen, 
dir ohne mein Wiſſen Locken zu brennen? Was find tag für 
Faxen? Ja, ſteht dir denn das zu deiner dummen Viſage? 
Mein Gott, was iſt hier fuͤr eine Unordnung! Wonach riecht 
es? Ich frage dich, du Greuſal, wonach es hier riecht!“ ſchrie die 
Gattin, die immer heftiger auf den unſchuldigen, ſchon ganz be— 
taͤubten Afanaſi Matwjejewitſch eindrang. 

„У... Muͤtterchen!“ murmelte der erſchrockene Gatte, 
ohne von ſeinem Platze aufzuſtehen, und blickte ſeine Gebieterin 
mit flehenden Augen an; „Хи... Muͤtterchen! ...“ 

„Wie oft habe ich es dir ſchon in deinen dummen Kopf 
eingepaukt, daß ich überhaupt nicht dein Muͤtterchen“ bin? 
Wie koͤnnte ich dein Muͤtterchen ſein, du geiſtiger Zwerg! Wie 
kannſt du es wagen, dieſe Benennung einer vornehmen Dame 
beizulegen, die ihren Platz in der hoͤchſten Geſellſchaft hat 
und nicht neben einen ſolchen Eſel hingehoͤrt, wie du einer 
biſt!“ | 

„За... ja, aber, Marja Alexandrowna, du bift doch meine 
angetraute Ehefrau, und darum, ſiehſt du wohl, ſage ich ſo zu 
dir .. . wie der Mann zu feiner Frau zu ſagen pflegt ...“ ver⸗ 
ſuchte Afanaſi Matwjejewitſch einzuwenden und hob gleichzeitig 
LXXV. 18 


194 Onkelchens Traum 


beide Haͤnde zu ſeinem Kopfe in die Hoͤhe, um ſein Haar zu 
ſchuͤtzen. | 
„Ach, du Fratze! Ach, du Holzkopf! Hat man wohl je eine 
duͤmmere Antwort gehoͤrt? Angetraute Ehefrau! Was gibt es 
denn jetzt noch für ‚angetraute Ehefrauen“? Bedient ſich denn 
jetzt noch ein Menſch in den hoͤchſten Geſellſchaftskreiſen dieſes 
dummen, pfäffifchen, widerwaͤrtig gemeinen Ausdrucks ange- 
traut‘? Und wie kannſt du es wagen, mich daran zu erinnern, 
daß ich deine Frau bin, wo ich mich doch mit aller Anſtrengung, 
mit aller Kraft meiner Seele bemuͤhe, es zu vergeſſen? Warum 
bedeckſt du deinen Kopf mit den Haͤnden? Nun ſehe mal einer, 
wie ſein Haar ausſieht! Quatſchnaß, quatſchnaß! Das wird in 
drei Stunden nicht wieder trocken! Wie ſoll ich ihn nun hin— 
bringen? Wie ſoll ich ihn nun den Leuten zeigen? Was ſoll ich 
jetzt anfangen?“ 5 
Marja Alexandrowna rang die Haͤnde vor Wut und lief im 
Zimmer hin und her. Das Ungluͤck war ja allerdings nicht groß 
und ließ ſich wieder gutmachen; aber die Sache war die, daß 
Marja Alexandrowna ihren herrſchſuͤchtigen, ſich alles unter- 
taͤnig machenden Фей nicht zuͤgeln konnte. Es war ihr ein Be⸗ 
duͤrfnis, unaufhoͤrlich ihren Zorn uͤber Afanaſi Matwjejewitſch 
auszuſchuͤtten; denn die Tyrannei iſt eben eine Gewohnheit, die 
zum Beduͤrfnis wird. Und dann iſt es ja auch allgemein bekannt, 
daß manche feinen Damen einer gewiſſen Geſellſchaftsſphaͤre bei 
ſich zu Hauſe hinter den Kuliſſen zu einem Benehmen faͤhig ſind, ; 
das mit demjenigen, das fie in der Öffentlichkeit beobachten, 
einen außerordentlichen Kontraft bildet, und gerade dieſen Kon 
traſt wollte ich zur Anſchauung bringen. Afanaſi Matwjejewitſch 
verfolgte angſtvoll alle Bewegungen ſeiner Gattin, und es drang 1 
ihm dabei fogar der Schweiß aus den Poren. 


Zehntes Kapitel 195 


„Griſchka!“ ſchrie fie endlich; „zieh den Herrn ſofort an! Frack, 
Beinkleider, weiße Binde, weiße Weſte — ſchnell! Und wo iſt 
ſeine Kopfbuͤrſte, wo iſt ſeine Kopfbuͤrſte?“ 

„Muͤtterchen! Aber ich komme ja aus dem Schwitzbade: ich 
kann mich ja erkaͤlten, wenn ich jetzt nach der Stadt fahre ...“ 

„Du wirft dich nicht erkaͤlten!“ 

„Aber mein Haar iſt ja noch ganz naß ...“ 

„Das werden wir gleich trocken bekommen! Griſchka, nimm 
die Kopfbuͤrſte und buͤrſte ihn trocken; feſter, feſter, feſter! So 

iſt's recht, ſo iſt's recht!“ 

unter dieſem Kommando begann der eifrige, treue Griſchka 
das Haar ſeines Herrn aus Leibeskraͤften zu buͤrſten, wobei er 
ihn zu groͤßerer Bequemlichkeit an der Schulter faßte und gegen 
das Sofa druͤckte. Afanaſi Matwjejewitſch runzelte die Stirn 
und fing beinah an zu weinen. 

„Jetzt komm hierher! Heb ihn in die Hoͤhe, Griſchka! Wo iſt 

die Pomade? Buͤck dich, buͤck dich, du Taugenichts; buͤck dich, du 
Muͤßiggaͤnger!“ 
Und Marja Alexandrowna machte ſich daran, ihren Gatten 
eigenhaͤndig zu pomadiſieren, und zerzauſte dabei erbarmungs— 
los ſein dichtes, graumeliertes Haar, das er ſich zu ſeinem Un— 
gluͤck nicht hatte kurz ſchneiden laſſen. Afanaſi Matwjejewitſch 
raͤuſperte ſich und ſeufzte; aber er ſchrie nicht und hielt die ganze 
Operation demutsvoll aus. 

„Alle meine Kraft haſt du mir ausgeſogen, du Schmutz— 
fink!“ ſchalt Marja Alexandrowna. „Buͤck dich noch mehr, buͤck 
dich!“ 0 

„Wieſo habe ich dir denn die Kraft ausgeſogen, Muͤtterchen?“ 
ſtammelte der Gatte, waͤhrend er den Kopf herunterbog, ſoweit 
er nur konnte. 


196 Onkelchens Traum 


„Toͤlpel! Verſtehſt nicht einmal einen bildlichen Ausdruck! 
Jetzt kaͤmme dich; und du zieh ihn an, aber ſchnell!“ 

Unſere Heldin ſetzte ſich auf einen Lehnſtuhl und verfolgte mit 
dem Blicke eines Inquiſitors die ganze Prozedur, wie Afanaſi 
Matwjejewitſch angekleidet wurde. Inzwiſchen hatte er ſich ſchon 
wieder ein bißchen erholt und Mut geſchoͤpft, und als es zum 
Umbinden der weißen Krawatte kam, erkuͤhnte er ſich ſogar, ſo 
etwas wie eine eigene Meinung uͤber die Form und Schoͤnheit 
des Knotens laut werden zu laſſen. Und als der ehrenwerte 
Mann zuletzt den Frack anzog, war er ſchon wieder ganz fura= 
giert geworden und betrachtete ſich im Spiegel mit einer gewiſſen 
Selbſtachtung. 

„Wo willſt du mich denn hinbringen, Marja ехали 
fragte er, ПФ zurechtputzend. 

Marja Alexandrowna traute ihren Ohren nicht. 

„Na, nun hoͤre mal einer an! Ach, du Vogelſcheuche! Wie 
kannſt du dich erdreiſten zu fragen, wo ich dich hinbringen will!“ 

„Aber ich muß das doch wiſſen, Muͤtterchen ...“ 

„Halt den Mund! Und wenn du mich noch ein einziges Mal 
Muͤtterchen nennſt, beſonders dort, wo wir jetzt hinfahren, dann 
ſollſt du einen ganzen Monat lang keinen Schluck Tee zu trinken 
bekommen!“ 

Ganz erſchrocken ſchwieg der Gatte. 

„Nun ſeh einer, keinen einzigen Orden hat er in ſeiner Dienſt— 
zeit bekommen, ſo eine Vogelſcheuche!“ fuhr ſie mit einem ver— 
aͤchtlichen Blick auf Afanaſi Matwjejewitſchs ſchwarzen Frack 
fort. | 

Afanaſi Matwjejewitſch fühlte ſich nun ſchließlich doch де: 
krankt. 

„Die Orden verleiht die АЕ Behörde, Muͤtterchen; ich 


Zehntes Kapitel 197 


aber bin ein Rat und keine Vogelſcheuche!“ ſagte er mit ап: 
ſtaͤndigem Unwillen. 

„Was, was, was? Haſt du hier raͤſonieren gelernt? Ach du 
Bauer! Ach, du Rotznaſe! Schade nur, daß ich jetzt keine Zeit 
habe, mich mit dir abzugeben; ſonſt würde ich ... Na, ich werde 
ſpaͤter daran denken! Gib ihm den Hut, Griſchka! Gib ihm den 
Pelz! Hier muͤſſen, waͤhrend ich weg bin, alle dieſe drei Zimmer 
ſauber gemacht und aufgeraͤumt werden; auch das gruͤne Eck— 
zimmer. Nimm ſofort die Buͤrſte und den Beſen zur Hand! Von 
den Spiegeln muͤſſen die Uberzuͤge abgenommen werden; ebenfo 
von den Uhren; in einer Stunde muß alles fertig ſein. Und du 
zieh ſelbſt den Frack an und gib den Leuten Handſchuhe; haſt 
du gehoͤrt, Griſchka, haſt du gehoͤrt?“ 

Sie ſetzten ſich in den Schlitten. Afanaſi Matwjejewitſch 
wunderte ſich verſtaͤndnislos. Unterdeſſen uͤberlegte Marja 
Alexandrowna im ſtillen, wie fie ihrem Gatten gemilfe für fein 
weiteres Verhalten notwendige Inſtruktionen am beſten ver— 
ſtaͤndlich machen und einpraͤgen koͤnne. Aber der Gatte kam ihr 
zuvor und fing zuerſt an zu reden. 

„Weißt du, Marja Alexandrowna, ich habe heute einen ganz 
originellen Traum gehabt,“ mit dieſer Mitteilung unterbrach er 
ganz unerwartet das beiderſeitige Stillſchweigen. 

„Schaͤme dich was, du verdammte Vogelſcheuche! Ich dachte 
wunder was du ſagen wollteſt! Einen Traum hat er gehabt! 
Wie kannſt du es wagen, mich mit deinen baͤueriſchen Traͤumen 
zu behelligen! Einen originellen Traum! Verſtehſt du denn 
uͤberhaupt noch, was das bedeutet: originell? Hoͤr mal, ich ſage 
es dir zum letztenmal: wenn du dich heute bei mir unterſtehſt, 
auch nur ein Wort von deinem Traume zu erwaͤhnen oder von 
irgend etwas anderem, dann werde ih... ich weiß gar nicht, 


198 Onkelchens Traum 


was ich dann mit dir machen werde! Paß mal recht auf: Fuͤrſt K 
iſt zu mir zu Beſuch gekommen. Beſinnſt du dich noch auf "Ч 
Fuͤrſten K.?“ 

„Ja, ich beſinne mich auf ihn, Mütterchen, ich beſinne 8 
auf ihn. Warum ift er denn zu dir gekommen?“ 

„Halt den Mund! Das geht dich nichts an! Du mußt ihn als | 
Hausherr mit befonderer Liebenswuͤrdigkeit ſogleich zu uns auf 
das Gut einladen. Zu dieſem Zwecke hole ich dich eben. Wir 
werden uns gleich heute in den Schlitten ſetzen und aus der Stadt 1 
wegfahren. Aber wenn du dich erdreiſten ſollteſt, auch nur ein 
Wort den ganzen Abend über zu ſagen oder morgen oder übers 
morgen oder zu irgendwelcher anderen Zeit, dann laſſe ich dich 
ein ganzes Jahr lang die Gaͤnſe hüten! Rede nichts, kein eins 
ziges Wort! Das iſt deine ganze Obliegenheit. Verſtanden?“ 

„Na, aber wenn mich nun jemand fragt?“ 

„Ganz egal; ſchweig du nur ſtill!“ b 

„Aber das geht doch nicht, daß ich immer ſtillſchweige, Marja 
Alexandrowna!“ 

„Im Notfalle gib eine einſilbige Antwort; ſage zum Beiſpiel: 
„Hm!“ oder etwas Ahnliches, um zu zeigen, daß du ein kluger 
Menſch biſt und nachdenkſt, bevor du antworteſt.“ 

„Hm!“ 

„Verſteh mich recht! Ich werde dich hinbringen und ſagen, 
du haͤtteſt von der Ankunft des Fuͤrſten gehoͤrt und ſeieſt, ganz Е 
entzüdt über feinen Beſuch, fofort herbeigeeilt, um ihm deinen | 

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Reſpekt зи bezeigen und ihn auf das Gut einzuladen; haft du 
verſtanden?“ 
„Hm!“ | 7 
„Jetzt ſollſt du nicht m' ſagen, Dummkopf! Mir ſollſt du 
antworten.“ 


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Zehntes Kapitel 199 


„Gut, Muͤtterchen; es wird alles nach deinem Willen ge: 
ſchehen; aber warum ſoll ich denn den Fuͤrſten einladen?“ 

„Was, was? Willſt du ſchon wieder ſelbſt denken? Was geht 
es dich an, warum du das tun ſollſt? Wie kannſt du dich unter— 
ſtehen, danach zu fragen?“ 

„Aber ich muß darauf zuruͤckkommen, Marja Alexandrowna: 
wie ſoll ich ihn denn einladen, wenn du mir befiehlft zu 
ſchweigen?“ 

„Ich werde fuͤr dich reden; du brauchſt dich nur zu verbeugen, 
hoͤrſt du wohl? nur zu verbeugen und den Hut in der Hand zu 
halten. Haſt du verſtanden?“ 

„Ja, ich habe es verſtanden, Muͤt . .. Marja Alexandrowna.“ 

„Der Fuͤrſt iſt ſehr geiſtreich. Wenn er etwas ſagt (mag er 
es auch nicht zu dir ſagen), ſo antworte auf alles mit einem 
gutmuͤtigen, heiteren Laͤcheln, hoͤrſt du?“ 

„Hm!“ 
„„Schon wieder fagt er ‚hm‘! Wenn du mit mir ſprichſt, ſollſt 
du nicht ‚hm‘ ſagen. Antworte einfach und geradezu: haft du 
gehoͤrt oder nicht?“ 

„Ich habe es gehoͤrt, Marja Alexandrowna, ich habe es ge— 
hoͤrt; wie ſollte ich es nicht gehoͤrt haben! Ich ſage nur zur 
Übung ‚hm‘, wie du befohlen haft. Aber ich komme immer dar: 
auf zuruͤck, Muͤtterchen: wie ſoll ich das machen: wenn der Fuͤrſt 
etwas ſagt, dann ſoll ich ihn nach deinem Befehle anſehen und 
lücheln; aber wenn er mich nun etwas fragt, was dann?“ 

„Nein, was iſt dieſer Holzkopf ſchwer von Begriffen! Ich 
habe dir ſchon geſagt: halte den Mund! Ich werde an deiner 

Stelle antworten; du brauchſt ihn nur anzuſehen und zu laͤcheln.“ 
| „Aber da wird er ja denken, daß ich ſtumm bin,“ brummte 
Afanaſi Matwjejewitſch. 


200 Onkelchens Traum 


— 


„Das waͤre ja noch kein Ungluͤck! Mag er das denken; dafuͤr 
verbirgſt du es vor ihm, daß du ein Dummkopf biſt.“ 

„Om... Na, aber wenn mich nun andere nach etwas 
fragen?“ 

„Es wird dich niemand fragen; es wird weiter niemand da 
fein. Sollte aber doch (was Gott verhüte!) jemand kommen und 
dich nach etwas fragen oder etwas zu dir ſagen, dann antworte 
ſofort mit einem ſarkaſtiſchen Laͤcheln. Weißt du denn auch, was 
das iſt: ein ſarkaſtiſches Laͤcheln?“ 

„Das iſt ein geiſtreiches Lächeln, nicht wahr, Muͤtterchen?“ 

„Schwatz keinen Unſinn, Toͤlpel; ein geiſtreiches Laͤcheln! Wer 
wird von dir Dummrian ein geiſtreiches Laͤcheln verlangen? Ein 
ſpoͤttiſches Lächeln, verſtehſt du? ein ſpoͤttiſches, geringſchaͤtziges 
Laͤcheln.“ 

„Hm!“ 

„Ach, dieſer Toͤlpel macht mir rechte Sorge!“ fluͤſterte Marja 
Alexandrowna vor ſich hin. „Er legt es entſchieden darauf an, 
mich muͤrbe zu machen! Es waͤre wahrhaftig das beſte, ihn gar 
nicht hinzubringen!“ 

Mit ſolchen Gedanken beſchaͤftigt, ſteckte Marja Alexandrowna 
voll Unruhe und Unzufriedenheit fortwaͤhrend den Kopf aus 
dem Fenſter der Schlittenkutſche hinaus und trieb den Kutſcher 
zur Eile an. Die Pferde flogen nur ſo dahin; aber ihr erſchien 
die Fahrt doch noch zu langſam. Afanaſi Matwjejewitſch ſaß 
ſchweigend in ſeiner Ecke und wiederholte in Gedanken ſeine 
Aufgaben. Endlich fuhr der Schlitten in die Stadt ein und hielt 
vor Marja Alexandrownas Hauſe. Aber kaum war unſere Hel— 
din auf die Stufen vor der Haustuͤr hinausgeſprungen, als ſie 
ploͤtzlich ſah, daß ein zweiſpaͤnniger, zweiſitziger Verdeckſchlitten 
bei dem Hauſe vorfuhr, eben der Schlitten, in welchem Anna 


Elftes Kapitel 201 


Nikolajewna Antipowa auszufahren pflegte. In dem Schlitten 
ſaßen zwei Damen. Die eine von ihnen war natuͤrlich Anna 
Nikolajewna ſelbſt und die andere Natalja Dmitrijewna, ſeit 
kurzem ihre intime Freundin und Anhaͤngerin. Marja Alexan— 
drowna bekam einen Todesſchreck. Aber ſie hatte noch nicht Zeit 
gehabt, einen Schrei auszuſtoßen, als noch ein anderer Schlitten 
vorfuhr, in dem offenbar noch mehr Beſucherinnen ſaßen. Es 
erſchollen freudige Ausrufe: 

„Da ſind Sie ja, Marja Alexandrowna! Und mit Aanafi 
Matwjejewitſch zufammen! Sie find wohl eben angekommen? 
Von wo denn? Wie gut ſich das trifft! Wir wollten zu Ihnen, 
auf den ganzen Abend! Welch eine Überraſchung!“ 

Die Beſucherinnen huͤpften aus den Schlitten und zwitſcher— 
ten wie die Schwalben. Marja Alexandrowna traute BR 
Augen und Ohren nicht. 

„Hol euch der Teufel!“ dachte ſie bei ſich. „Das ſieht wie eine 
Verſchwoͤrung aus! Das muß ich feſtſtellen! Aber ihr ſollt mich 
nicht uͤberliſten, ihr Klatſchbaſen ... Wartet nur! ...“ 


Elftes Kapitel 


Als Moſgljakow aus Marja Alexandrownas Haufe trat, war er 
anſcheinend ganz getroͤſtet. Sie hatte ihn vollſtaͤndig enthuſias— 
miert. Zu Borodujew ging er nicht, da er das Beduͤrfnis hatte, 
allein zu ſein. Die heroiſchen, romantiſchen Zukunftstraͤumereien, 
die ſeine Seele uͤberfluteten, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. 
Es ſchwebte ihm eine feierliche Ausſprache mit Sinaida vor, 
dann die edlen Traͤnen ſeines allesverzeihenden Herzens, ſeine 
Blaͤſſe und Verzweiflung auf dem glaͤnzenden Petersburger 
Balle, Spanien, der Guadalquivir, ſeine Liebe und der ſterbende 
Fuͤrſt, der ihre Haͤnde vor ſeiner Todesſtunde vereinigte. Dann 


202 Onkelchens Traum 


eh, 


feine wunderſchoͤne Frau, die ihm treu ergeben war und ihn 


beſtaͤndig wegen feines Heroismus und feiner erhabenen Ge— 
fuͤhle bewunderte; beilaͤufig im ſtillen auch das entgegenkom— 
mende Benehmen irgendwelcher Graͤfin aus den hoͤchſten Gefell: 
ſchaftskreiſen, in die er durch ſeine Verheiratung mit Sinaida, 
der Witwe des Fuͤrſten K., unfehlbar wuͤrde aufgenommen 
werden; der Poſten eines Vizegouverneurs, eine Menge Geld — 
kurz, alles, was ihm Marja Alexandrowna mit ſo beredten Wor— 
ten ausgemalt hatte, zog noch einmal vor ſeiner hoͤchſt zufrie— 
denen Seele voruͤber, reizte und lockte ihn und ſchmeichelte vor 
allen Dingen ſeiner Eitelkeit. Aber ſiehe da (und ich weiß wirk— 
lich nicht, wie ich das erklaͤren ſoll), als er ſchon von all ſeinem 


Entzuͤcken müde zu werden anfing, da kam ihm plößlich ein recht 


verdrießlicher Gedanke: naͤmlich daß alles dies jedenfalls erſt in 
der Zukunft lag, er jetzt aber doch mit langer Naſe abzog. Als 
ihm dieſer Gedanke kam, bemerkte er, daß er beim Umherwandern 
in eine ſehr abgelegene Gegend, in eine einſame, ihm unbekannte 
Vorſtadt von Mordaſow, geraten war. Es wurde dunkel. Auf 
den Straßen, an denen zu beiden Seiten kleine, halb in die Erde 
geſunkene Haͤuschen ſtanden, bellten wuͤtend die Hunde, die ſich 
in den Provinzſtaͤdten namentlich in denjenigen Stadtteilen in 
ſchrecklicher Menge vermehren, wo nichts zu bewachen und nichts 
zu ſtehlen iſt. Feuchte Schneeflocken begannen herabzufallen. 


Nur ſelten begegnete ihm ein verſpaͤteter Kleinbuͤrger oder ein 
Weib in Schafpelz und Stiefeln. Über alles dies begann ſich 
Pawel Alexandrowitſch aus nicht recht verſtaͤndlichem Grunde 
zu aͤrgern — ein recht uͤbles Zeichen, da uns doch vielmehr, wenn 
die Dinge eine gute Wendung genommen haben, alles in freund- 
lichem, roſigem Lichte erſcheint. Pawel Alexandrowitſch er: 
innerte ſich unwillkuͤrlich daran, daß er bisher beſtaͤndig in Mor⸗ 


Я wi 


2 


Elftes Kapitel 203 


daſow den Ton angegeben hatte; es hatte ihm Vergnügen ge: 
macht, wenn man ihm in allen Häufern zu verſtehen gegeben 
hatte, daß er ein willkommener Heiratskandidat fei, und ihn zu 
dieſer Wuͤrde begluͤckwuͤnſcht hatte. Er war ſogar ſtolz darauf 
geweſen, daß er fuͤr eine gute Partie galt. Und nun ſtand er auf 
einmal vor aller Augen als ein Abgewieſener da! Es war zu 


erwarten, daß daruͤber ſehr gelacht wurde. Und er konnte doch 


wirklich nicht allen Leuten auseinanderſetzen, daß die Sache ſich 
ganz anders verhielt, konnte ihnen nicht von den Petersburger 
Baͤllen mit den Saͤulen und vom Guadalquivir erzaͤhlen! Bei 
dieſen truͤben, verdrießlichen Überlegungen geriet er ſchließlich 
auf einen Gedanken, der ſchon ſeit laͤngerer Zeit, ohne daß er 
ſich deſſen recht bewußt geworden waͤre, an ſeinem Herzen ge— 
nagt hatte: „Aber iſt das auch alles wahr? Wird das auch alles 
ſo in Erfuͤllung gehen, wie Marja Alexandrowna es ausgemalt 
hat?“ Dabei erinnerte er ſich, daß Marja Alexandrowna eine 
ſehr ſchlaue Dame war, und daß ſie, wie ſehr ſie auch der all— 
gemeinen Hochachtung wuͤrdig war, doch vom Morgen bis zum 
Abend Klatſchgeſchichten erzählte und log. Er ſagte ſich, daß fie, 


wenn ſie ihn jetzt aus dem Hauſe entfernt habe, wahrſcheinlich 


ihre beſonderen Gruͤnde dafuͤr gehabt habe, und daß Zukunfts— 


| bilder auszumalen ſchließlich eine Kunſt ſei, die jeder verſtehe. 
Er dachte auch an Sinaida und erinnerte ſich an ihren Abſchieds— 
blick, der ganz und gar keine verborgene, leidenſchaftliche Liebe 


ausgedruͤckt hatte; und gleichzeitig fiel ihm ein, daß er doch vor 
einer Stunde von ihr ein Dummkopf genannt worden war. Bei 


dieſer Erinnerung blieb Pawel Alexandrowitſch auf einmal wie 


angenagelt ſtehen und erroͤtete vor Beſchaͤmung ſo ſtark, daß ihm 


beinah die Traͤnen kamen. Und es traf ſich uͤbel, daß ihm gerade 


im naͤchſten Augenblicke etwas Unangenehmes paſſierte: er ſtol— 


204 Onkelchens Traum 


perte und fiel von dem hölzernen Trottoir in eine Schneewehe. 


Waͤhrend er in dem Schnee zappelte, kam eine Schar Hunde, 
die ihn ſchon lange mit ihrem Gebell verfolgt hatte, von allen 
Seiten auf ihn losgeſtuͤrzt. Einer von dieſen Koͤtern, ein ganz 
kleines, boshaftes Tier, haͤngte ſich ſogar an ihn, indem er mit 
den Zaͤhnen den Schoß ſeines Pelzes packte. Nachdem er ſich 
von den Hunden losgemacht hatte, ſchleppte ſich Pawel Alexan— 
drowitſch endlich, laut ſchimpfend und ſein Schickſal verfluchend, 
mit zerriſſenem Pelzſchoße und mit unertraͤglichem Kummer im 
Herzen bis zur naͤchſten Straßenecke und bemerkte erſt jetzt, daß 
er ſich verirrt hatte. Bekanntlich kann jemand, der ſich in einem 
unbekannten Stadtteil verirrt hat, und beſonders bei Nacht, ab: 
ſolut nicht eine Straße gerade entlanggehen: alle Augenblicke 
iſt es, als gebe ihm eine unſichtbare Kraft einen Stoß und ver: 
anlaſſe ihn, in allerlei Straßen und Gaſſen, die ihm auf ſeinem 
Wege vorkommen, einzubiegen. Nach dieſer Methode verirrte 
ſich denn auch Moſgljakow gruͤndlich. „Hole der Teufel all dieſe 
hohen Ideen!“ ſagte er bei ſich und ſpuckte vor Arger aus. „Und 
hole euch alle der Teufel mit euren hohen Gefuͤhlen und Guadal⸗ 
quiviren!“ Ich ſage nicht, daß Moſgljakow in dieſem Augenblicke 
ein reizender junger Mann geweſen waͤre. Endlich gelangte er 
nach zweiſtuͤndigem Umherirren muͤde und matt wieder zu Marja 
Alexandrownas Haustuͤr. Beim Anblick der vielen dort halten— 
den Schlitten wunderte er ſich. „Iſt denn wirklich Beſuch da? 


U 


Hat ſie wirklich Gaͤſte zum Abend eingeladen?“ fragte er ſich. 


„Was hat ſie dabei fuͤr eine Abſicht?“ Er erkundigte ſich bei 
einem Diener, der ihm begegnete, und erfuhr, daß Marja Alexan— 
drowna auf dem Gute geweſen ſei und Afanaſi Matwjejewitſch, 
in weißer Binde, von dort mitgebracht habe; der Fuͤrſt ſei ſchon 
aufgewacht, aber noch nicht zu den Gaͤſten heruntergekommen. 


Elftes Kapitel 205 


Ohne ein Wort zu fagen ging Pawel Alexandrowitſch nach oben 
zu ſeinem Onkel. In dieſem Augenblicke befand er ſich gerade 
in jener Gemuͤtsverfaſſung, wo ein Menſch von ſchwachem Cha— 
rakter imſtande iſt, ſich aus Rachſucht zu einer ſchrecklichen, ſchaͤnd— 
lichen Gemeinheit zu entſchließen, ohne daran zu denken, daß 
er ſie vielleicht ſein ganzes Leben lang wird bereuen muͤſſen. 

Als er nach oben kam, fand er den Fuͤrſten vor ſeinem Reiſe— 
neceſſaire auf einem Lehnſtuhl ſitzend, mit vollſtaͤndig kahlem 
Kopfe, aber ſchon mit der Fliege und dem Backenbarte. Seine 
Peruͤcke befand ſich in den Haͤnden ſeines alten, graukoͤpfigen 
Kammerdieners und Lieblings Iwan Pachomytſch; dieſer 
kaͤmmte fie mit tiefſinniger, reſpektvoller Miene zurecht. Was 
den Fuͤrſten anlangt, ſo bot er ein ſehr klaͤgliches Bild, da er ſich 
von dem vorher genoſſenen Weine noch nicht recht erholt hatte. 
Er ſaß ganz zuſammengeſunken, matt und ſchlaff da, blinzelte 
mit den Augen und {аб Moſgljakow an, als ob er ihn nicht er— 
kenne. 

„Wie befinden Sie ſich, Onkelchen?“ fragte dieſer. 

„Wie... Ach, du biſt es,“ erwiderte Onkelchen endlich. „Ich 
war ein bißchen eingeſchlafen, mein Lieber. Ach, mein Gott!“ 
rief er, plotzlich lebhaft werdend, „ich habe ja ... keine Peruͤcke 
auf!“ 

„Beunruhigen Sie ſich darum nicht, Onkelchen! Ich ... ich 
werde Ihnen behilflich ſein, wenn es Ihnen recht iſt.“ 

„Siehſt du, da haſt du nun mein Geheimnis erfahren! Ich 
habe doch gejagt, die Tür müßte zu-ge-ſchloſ-ſen werden. Nun, 
mein Freund, du mußt mir un-ver-zuͤg-lich dein Ehrenwort dar: 
auf geben, daß du von meinem Geheimnis keinen Gebrauch 
machen und niemandem ſagen wirſt, daß ich falſches Haar 
trage.“ 


| 


„Aber ich bitte Sie, Onkelchen! Halten Sie mich denn einer 
fo gemeinen Handlungsweiſe fuͤr fähig?" rief Moſgljakow, der 
ſich den Fuͤrſten gern geneigt machen wollte ... im Hinblick auf 
ſeine weiteren Abſichten. 

„Nun ja, nun ja! Und da ich ſehe, daß du ein anſtaͤndig den— 
kender Menſch biſt, ſo werde ich dich in Gottes Namen einmal 
in Erſtaunen verſetzen ... und dir alle meine Geheimniſſe еп 
huͤllen. Wie gefaͤllt dir mein Schnurr-bart, lieber Freund?“ 

„Er ſieht ausgezeichnet aus, Onkelchen! Ganz wundervoll! Wie 
haben Sie es nur fertiggebracht, ihn ſich ſo lange zu erhalten?“ 

„Da biſt du im Irrtume, mein Freund; er iſt nach-ge-macht!“ 
erwiderte der Fuͤrſt und ſah Pawel Alexandrowitſch trium— 
phierend an. 

„Wirklich? Das iſt ſchwer zu glauben! Na, aber der Backen— 
bart? Geſtehen Sie es nur, Onkelchen, den faͤrben Sie ſich 
gewiß?“ 

„Ob ich ihn faͤrbe? Nein, das tue ich nicht; aber er iſt voll— 
ſtaͤndig kuͤnſtlich.“ 

„Kuͤnſtlich? Nein, Onkelchen, da moͤgen Sie ſagen, was Sie 
wollen, das glaube ich nicht. Sie machen ſich uͤber mich luſtig!“ 

„Parole d'honneur, mon ami!“ rief der Fuͤrſt triumphierend, 
„und ſtel⸗le dir das vor: alle, ab⸗ſo-lut alle, laſſen ſich ebenſo wie 
du taͤu⸗ſchen. Sogar Stepanida Matwjejewna glaubt es nicht, 
obgleich fie ihn mir ſelbſt manchmal an-macht. Aber ich bin Фа: 
von uͤberzeugt, mein Freund, daß du mein Geheimnis bewahren 
wirft. Gib mir dein Ehrenwort ...“ 

„Mein Ehrenwort, Onkelchen; ich werde es bewahren. Ich 
wiederhole Ihnen noch einmal: halten Sie mich denn einer 
ſolchen Gemeinheit fuͤr faͤhig?“ Ä 

„Ach, mein Freund, was habe ich heute, während du fort 


206 Onkelchens Traum 


1 
С * 
1 


Elftes Kapitel 207 


warſt, fuͤr einen ſchweren Fall getan! Feofil hat mich wieder 


mit dem Schlitten um⸗-ge-wor-fen.“ 


„Wieder umgeworfen! Wann denn?“ 

„Wir waren ſchon nahe beim Kloſter ...“ 

„Ich weiß, Onkelchen, heute fruͤh.“ 

„Nein, nein, vor zwei Stunden; länger ift es noch nicht her. 
Ich fuhr nach dem Kloſter, und er warf mich ohne weiteres mit 


| dem Schlitten um; ich habe einen ſolchen Schreck be-kom-men; 


mein Herz hat ſich noch immer nicht beruhigt.“ 


„Aber, Onkelchen, Sie haben ja doch geſchlafen!“ ſagte 


р Moſgljakow erftaunt. 


„Nun ja, ich habe geſchlafen ... aber dann bin ich gefahren. 


| Indeſſen habe ich ... indeſſen habe ich das vielleicht ... ach, wie 
ſeltſam das iſt!“ 


„Ich verſichere Ihnen, Onkelchen, daß Sie das nur getraͤumt 


haben! ER haben ganz ruhig geſchlafen, gleich vom Mittag: 
eſſen an.“ 


n 


„Wirklich?“ Der Furſt dachte nach. 

„Nun ja, ich habe es in der Tat vielleicht nur getraͤumt. Aber 
ich erinnere mich genau an alles, was mir getraͤumt hat. Zuerſt 
traͤumte mir von einem ſchrecklichen Ochſen mit Hoͤrnern; und 


2 dann träumte mir von einem Staats-an⸗walt, ebenfalls mit 
Hoͤr nern..“ 


„Das war gewiß Nikolai Waſiljewitſch Antipow, Onkelchen?“ 
„Nun ja, vielleicht war es der. Und dann traͤumte mir von 


Napoleon Bonaparte. Weißt du, mein Freund, alle Leute ſagen 


mir, ich hätte mit Napoleon Bonaparte Ahnlichkeit ... und im 
Profil ſoll ich genau ſo ausſehen wie ein alter Papſt! Wie 


urteilſt du darüber, mein Lieber: habe ich mit einem Papſte 
Ahnlichkeit?“ 


208 Onkelchens Traum 


„Ich glaube, daß Sie mehr wie Napoleon ausſehen, Onkel⸗ 


chen!“ 

„Nun ja, en face. Übrigens glaube ich das auch ſelbſt, mein Lie: 
ber. Und es traͤumte mir von ihm, wie er ſchon auf der Inſel ſaß, 
und weißt du, er war ein ſo geſpraͤchiger, ſchlagfertiger, luſtiger 
Patron, daß ich mich außer⸗ordentlich über ihn amuͤſierte ...“ 

„Sie ſprechen von Napoleon, Onkelchen?“ ſagte Pawel 
Alexandrowitſch, indem er den Onkel nachdenklich anblickte. Ein 
ſonderbarer Gedanke begann in ſeinem Kopfe zu daͤmmern, ein 
Gedanke, von dem er ſich ſelbſt noch nicht ordentlich Rechenſchaft 
geben konnte. 

„Nun ja, von Na⸗-po-leon. Ich ſprach mit ihm von Philo— 
ſophie. Aber weißt du, mein Freund, es tat mir ſogar leid, daß 
fie mit ihm fo ſtreng verfahren find... die Eng-laͤn-der. Ge⸗ 
wiß, haͤtte man ihn nicht an die Kette gelegt gehabt, ſo wuͤrde 
er ſich ſogleich wieder auf die Menſchen geſtuͤrzt haben. Ich haͤtte 
ihn anders „ Ich haͤtte ihn auf eine un-be-wohnte 
Inſel geſetzt .. 

„Warum 51 auf eine unbewohnte?“ RR Moſgljakow 
zerſtreut. 

„Nun, meinetwegen auch auf eine be-wohn-te; aber ſie muͤßte 
nur von vernuͤnftigen Menſchen bewohnt ſein. Nun, und dann 
hätte ich allerlei Zer-ſtreu-ungen für ihn eingerichtet: Theater, 
Muſik, Ballett, und alles auf Staatskoſten. Spazieren zu gehen 
haͤtte ich ihm natuͤrlich nur unter Aufſicht erlaubt; denn ſonſt 
hätte er ſich ſogleich wieder da-von-ge-macht. Er aß eine де: 
wiſſe Sorte von Paſteten ſehr gern. Nun, da haͤtte ich ihm auch 
dieſe Paſteten alle Tage zubereiten laſſen. Ich haͤtte ihn ſozu— 
ſagen vaͤ⸗ter-lich behandelt. Er würde bei meiner Behandlung 
auch {ст fruͤheres Tun bereut haben ...“ 


H 


Elftes Kapitel 209 


Moſgljakow hörte das Geſchwaͤtz des erſt halb wachen alten 
Mannes zerſtreut mit an und biß ſich vor Ungeduld auf die 
Naͤgel. Er wollte gern das Geſpraͤch auf die Heirat bringen; er 
wußte ſelbſt noch nicht warum, aber in ſeinem Herzen kochte eine 
grenzenloſe Wut. Auf einmal ſchrie der Alte vor Erſtaunen auf. 

„Ach, mon ami! Das habe ich ja ganz vergeſſen, dir zu 


ſagen! Denke dir nur, ich habe ja heute einen Hei-rats⸗an⸗trag 


gemacht!“ 

„Einen Heiratsantrag, Onkelchen!“ rief Moſgljakow, der 
plotzlich lebendig wurde. 
„Nun ja, einen Hei-rats⸗an⸗trag. Pachomytſch, gehſt du 
ſchon? Nun gut. C'est une charmante personne. Aber 


ich muß dir geſtehen, mein Lieber, ich habe da un-be-dacht ge⸗ 


handelt. Ich komme erſt jetzt zu dieſer Erzfenntenis. Ach, mein 
Gott!“ 

„Aber erlauben Sie, Onkelchen, wann haben Sie denn dieſen 
Heiratsantrag gemacht?“ 
„Ich muß dir geſtehen, mein Freund, ich weiß ſelbſt nicht 
genau wann. Ob ich auch das nur getraͤumt habe? Ach, wie 


ſon⸗der⸗bar das doch alles iſt!“ 


Moſgljakow zitterte vor Entzuͤcken. Ein neuer Gedanke blitzte 
in ſeinem Kopfe auf. 

„Aber wem und wann haben Sie denn den Heiratsantrag 
gemacht, Onkelchen?“ fragte er noch einmal ungeduldig. 

„Der Tochter vom Haufe, mon ami, .. . à cette belle per- 
sonne... übrigens habe ich vergeſſen, wie fie heißt. Aber, 


ſiehſt du, mon ami, ich kann ja doch gar nicht hei-ra-ten. Was 


ſoll ich nun machen?“ 

„Ja, Sie werden ſich allerdings zugrunde richten, wenn Sie 
heiraten. Aber erlauben Sie mir, Ihnen noch eine Frage vor— 
LXXV. 14 


210 Onkelchens Traum 


Be 


zulegen, Onkelchen! Sind Sie feſt davon überzeugt, daß Sie 
wirklich einen Heiratsantrag gemacht haben?“ 

„Ja, ich ... ich bin davon uͤberzeugt.“ 

„Aber wenn Ihnen nun das alles nur getraͤumt hat, ebenſo 
wie das, daß Sie zum zweitenmal mit dem Schlitten um— 
geworfen ſeien?“ 

„Ach, mein Gott! In der Tat, vielleicht habe ich auch das 
nur getraͤumt! Daher weiß ich jetzt gar nicht, wie ich mich dort 
blik⸗ken laſ⸗ſen ſoll. Könnte man wohl zu- ver⸗laͤſ⸗ſig in Ст: 
fahrung bringen, mein Freund, auf irgendwelchem in-di-rek-ten 
Wege, ob ich einen Heiratsantrag gemacht habe oder nicht? 
Denn in welcher Lage befinde ich mich ſonſt, denke doch 
nur!“ 

„Wiſſen Sie was, Onkelchen? Ich glaube, es iſt da uͤberhaupt 
nichts in Erfahrung zu bringen.“ 

„Wieſo?“ 

„Ich glaube ſicher, daß Sie es nur getraͤumt haben.“ 

„Ich ſelbſt glaube es ebenfalls, mein Lie-ber, um {о mehr, 
da ich oft Ahnliches traͤume.“ 

„Nun ſehen Sie wohl, Onkelchen! Bedenken Sie, daß Sie 
beim Fruͤhſtuͤck ein bißchen getrunken haben, und dann beim 
Mittageſſen, und ſchließlich ...“ | 

„Nun ja, mein Freund, vielleicht kommt es gerade da-her.“ 

„Ich glaube das um ſo mehr, Onkelchen, da Sie, wenn Sie 
auch noch ſo enthuſiasmiert waren, doch unter keinen Umſtaͤnden 
einen ſo unvernuͤnftigen Heiratsantrag in wachem Zuſtande 
machen konnten. Soweit ich Sie kenne, Onkelchen, ſind Sie 
ein im hoͤchſten Grade vernünftiger Menſch und ...“ | 

„Nun ja, nun ja.“ 4 

„Erwaͤgen Sie nur das eine: wenn das Ihre Verwandten er⸗ 


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Elftes Kapitel 211 


fuͤhren, die ſowieſo ſchon ſchlecht auf Sie zu ſprechen ſind, was 


wuͤrde dann wohl geſchehen?“ 

„Ach, mein Gott!“ rief der Fuͤrſt erſchrocken; „ja, was wuͤrde 
dann geſchehen?“ 

„Ich bitte Sie! Ihre Verwandten wuͤrden alle wie aus 
einem Munde ſchreien, Sie haͤtten das nicht bei vollem Ver— 
ſtande getan; Sie ſeien irrſinnig; man muͤſſe Sie unter Kuratel 
ſtellen; Sie ſeien betrogen worden. Und am Ende wuͤrden ſie 
Sie irgendwo unter Aufſicht einſperren.“ 

Moſgljakow wußte, wodurch man den alten Mann in Angſt 
ſetzen konnte. 

„Ach, mein Gott!“ rief der Fuͤrſt, wie Eſpenlaub zitternd. 
„Wuͤrden ſie mich wirklich einſperren?“ 

„Überlegen Sie daher ſelbſt, Onkelchen: haͤtten Sie wohl 
einen ſo unvernuͤnftigen Heiratsantrag in wachem Zuſtande 
machen koͤnnen? Sie verſtehen ſich doch ſelbſt auf Ihren Vorteil. 


Ich bin in vollem Ernſte davon uͤberzeugt, daß Sie das alles 


nur getraͤumt haben.“ 


„Sicherlich habe ich es nur geträumt, ſi-cher-lich habe ich es 


nur geträumt!" ſtimmte ihm der Fuͤrſt ganz erſchrocken bei. „Ach, 


wie verſtaͤndig du das alles auseinandergeſetzt haſt, mein Lie— 


[ 


ber! Ich bin dir von Herzen dankbar, daß du mich darüber auf: 


ge⸗klaͤrt haſt.“ 


„Und ich freue mich außerordentlich, Onkelchen, daß ich heute 


noch einmal mit Ihnen zuſammengekommen bin. Stellen Sie 


ſich das nur vor: ohne mich haͤtten Sie ſich tatſaͤchlich irren und 


denken koͤnnen, Sie ſeien ein Braͤutigam; und dann waͤren Sie 


als Braͤutigam hinuntergegangen. Stellen Sie ſich das nur vor, 
wie gefaͤhrlich das geweſen waͤre!“ 
„Nun ja... ja, gefaͤhrlich!“ 


212 Onkelchens Traum 


„Denken Sie nur daran, daß dieſes Maͤdchen dreiundzwanzig 
Jahre alt iſt; niemand will ſie zur Frau nehmen, und auf ein— Я 
mal erfcheinen Sie, ein reicher, vornehmer Mann, und glauben 
ihr Bräutigam zu fein! Da würden dieſe Leute dieſen Ge- 
danken fofort aufgreifen, Ihnen verfichern, daß Sie in der Tat 
ihr Braͤutigam ſeien, und Sie mit ihr, vielleicht ſogar mit Ge— 
walt, verheiraten. Und dann wuͤrden ſie darauf ſpekulieren, daß 
Sie vielleicht bald ſterben werden.“ 

„Wirklich?“ 

„Und ſchließlich ſollten Sie nicht vergeſſen, RN, daß 
ein Mann mit Ihren vortrefflichen Eigenſchaften ... | 

„Nun ja, mit meinen vortrefflichen Eigenſchaften ...“ 

„Mit Ihrem Verſtande, mit Ihrer Liebenswuͤrdigkeit ...“ 

„Nun ja, mit meinem Verſtande, ja! ...“ 

„Und ſchließlich, Sie ſind ein Fuͤrſt. Wuͤrden Sie ſich wohl 
eine ſolche Partie ausſuchen, wenn Sie wirklich aus irgend— 
welchem Grunde ſich genoͤtigt ſaͤhen zu heiraten? Bedenken Sie 
nur: was wuͤrden Ihre Verwandten dazu ſagen?“ | 

„Ach, mein Freund, fie würden mich in Stüde reißen! Ich 
habe von ihnen ſchon ſoviel Tuͤcke und Bosheit erfahren .. 
Denke nur, ich vermute, daß ſie mich ins Ir-ren-haus ſperren 
wollten. Nun, ich bitte dich, mein Freund, hat das einen Sinn? 
Nun, was ſollte ich denn da machen ... im Ir-ren-hau⸗ſe?!“ 

„Selbſtverſtaͤndlich, Onkelchen, und darum werde ich jetzt 
nicht von Ihrer Seite weichen, wenn Sie nach unten gehen. 
Es ſind jetzt Gaͤſte dort.“ 

„Gaͤſte? Ach, mein Gott!“ 

„Beunruhigen Sie ſich nicht, Onkelchen; ich werde bei Ihnen - 
fein.“ % 
„Aber wie dank; bar bin ich dir, mein Lieber; du БШ geradezu 


Elftes Kapitel 213 


mein Retter! Aber weißt du was? Ich werde lieber weg— 
fahren.“ 

„Morgen, Onkelchen, morgen fruͤh um ſieben Uhr. Heute 
aber muͤſſen Sie ſich allen empfehlen und ſagen, daß Sie weg— 
fahren werden.“ 

„Ganz beſtimmt werde ich wegfahren ... zu Vater Miſail ... 
Aber, mein Freund — wenn ſie mich nun dort zum Braͤutigam 
machen?“ | 

„Seien Sie unbeſorgt, Onkelchen; ich werde bei Ihnen fein. 
Und ſchließlich: moͤgen die Leute Ihnen andeuten und zu Ihnen 
ſagen, was ſie wollen, ſagen Sie nur geradeheraus, daß Sie 
das alles nur geträumt hätten... wie es ja auch wirklich der 
Fall geweſen iſt ...“ 

„Nun ja, ich habe es be-ſtimmt nur geträumt! Aber, weißt 
du, mein Freund, es war doch ein ent-zuͤk-ken⸗der Traum! Sie 

iſt wunderbar ſchoͤn, und, weißt du, ſolche Formen ...“ 
„Na, adieu, Onkelchen; ich gehe nach unten, und Sie ...“ 

„Wie! Du willſt mich allein laſſen!“ rief der Fuͤrſt erſchrocken. 

„Nein, Onkelchen; wir wollen nach unten gehen, aber ge— 
trennt; zuerſt ich und dann Sie. Das wird das beſte ſein.“ 

„Nun gut. Ich muß noch einen Gedanken niederſchreiben.“ 

„Schoͤn, Onkelchen; ſchreiben Sie Ihren Gedanken nieder, 
und kommen Sie dann ohne Verzug herunter. Morgen fruͤh 
aber“ 

„Morgen fruͤh fahre ich zum Moͤnchprieſter, unbedingt zum 
Moͤnch⸗prie⸗ſter! Charmant, charmant! Aber, weißt du, mein 
Freund, fie ift wun⸗der⸗bar ſchoͤn ... ſolche Formen... und 
wenn ich einmal durchaus heiraten müßte, fo würde ich ...“ 

„Gott moͤge Sie davor bewahren, Onkelchen!“ 

„Nun ja, Gott möge mich davor bewahren! . .. Nun, dann 


214 Onkelchens Traum 2 


adieu, mein Lieber; ich werde ſogleich .. . ich will das nur erſt 
nie⸗der⸗ſchrei-ben. A pro- pos, ich wollte dich ſchon laͤngſt fragen: 
haſt du die Memoiren von Caſanova geleſen?“ 

„Ja, ich habe ſie geleſen, Onkelchen; wieſo?“ 

„Nun ja... Siehſt du, ich habe jetzt wieder ver-geſ-ſen, was 
ich dich fragen wollte ...“ 

„Es wird Ihnen ſchon ſpaͤter einfallen, Onkelchen. Auf 
Wiederſehen!“ Ч 

„Auf Wiederſehen, mein Freund, auf Wiederfehen! Aber 
es war doch ein entzüdender Traum, ein ent⸗-zuͤk⸗ken⸗der 
Traum!“ | 


rd = 


Zwoͤlftes Kapitel | 
„Wir kommen alle zu Ihnen, alle! Auch Praſkowja Iljinitſchna 
wird kommen, und Luiſa Karlowna wollte ebenfalls kommen,“ 
zwitſcherte Anna Nikolajewna beim Eintritt in den Salon und 
ſah ſich neugierig nach allen Seiten um. f 

Sie war ein recht huͤbſches kleines Daͤmchen, bunt, aber reich 
gekleidet, und ſie wußte auch ſelbſt recht wohl, daß ſie huͤbſch 
war. Sie hatte erwartet, den Fuͤrſten mit Sinaida in irgend: 
einer Ecke verſteckt zu erblicken. | 

„Auch Katerina Petrowna wird kommen, und Feliſata 
Michailowna wollte gleichfalls hier ſein,“ fuͤgte Natalja Dmitri⸗ $ 
jewna hinzu, eine Dame von koloſſalem Körperbau, deren 
Formen dem Fuͤrſten ſo gefallen hatten, und die auffallend 
einem Grenadier glich. 

Sie trug ein winziges roſa Huͤtchen, das ganz auf dem Hinter- 
kopfe ſaß. Schon {ей drei Wochen war fie Anna Nikolajewnas 
intimſte Freundin, nachdem fie ſchon lange um fie herum 
ſcherwenzelt und ihr den Hof gemacht hatte. Dem aͤußeren An- 


19055 = 
Zwoͤlftes Kapitel 215 


ſehen nach zu urteilen konnte man glauben, daß fie imſtande 
war, ihre Freundin auf einen Schluck zu verſchlingen, mitſamt 
allen Knoͤchelchen. 

„Ich will gar nicht von dem (ich kann wohl ſagen) Entzuͤcken 

reden, das ich daruͤber empfinde, Sie beide bei mir zu ſehen, und 
noch dazu fuͤr einen Abend,“ ließ ſich Marja Alexandrowna in 
verbindlichſter Manier vernehmen, nachdem ſie von dem erſten 
Erſtaunen wieder zu ſich gekommen war; „aber ſagen Sie mir, 
bitte, welches Wunder Sie heute zu mir gefuͤhrt hat, nachdem 
ich ſchon ganz daran verzweifelt war, dieſe Ehre zu haben.“ 
„50 mein Gott, Marja Alexandrowna, wie Sie aber auch 
find!" ſagte Natalja Dmitrijewna in einem affektierten, ſuͤß⸗ 
lichen, piepigen Tone, der einen merkwuͤrdigen Gegenſatz zu 
ihrem Außeren bildete. 

„Mais, ma charmante, zwitſcherte Anna Nikolajewna, „es 
iſt ja doch notwendig, unbedingt notwendig, daß wir endlich ein— 
mal mit unſeren Vorbereitungen zu dieſer Theatervorſtellung 
fertig werden. Noch heute ſagte Peter Michailowitſch zu Kaliſt 
Staniflawitſch, er bedauere ſehr, daß dieſe unſere Angelegenheit 
nicht vom Fleck komme und wir uns immer nur miteinander 
ſtritten. Da find nun heute wir vier zuſammengekommen und 
haben gedacht: wir wollen zu Marja Alexandrowna fahren und 
alles mit einemmal in Ordnung bringen! Natalja Dmitrijewna 
hat auch den andern davon Mitteilung gemacht. Sie werden 
ſaͤmtlich kommen. Da können wir uns nun über alles einigen, 
und die Sache wird gut gelingen. Man ſoll nicht ſagen, daß wir 
g uns immer nur ſtritten, nicht wahr, mon ange?“ fuͤgte ſie neckiſch 
hinzu und kuͤßte Marja Alexandrowna. — „Ach, mein Gott! 
Sinaida Afanaſjewna! Aber Sie werden ja von einem Tage 

zum andern immer ſchoͤner!“ 


216 Onkelchens Traum 


Anna Nikolajewna eilte auf Sinaida zu, um ſie zu kuͤſſen. 

„Sie hat ja auch weiter nichts zu tun, als ſchoͤner zu werden,“ 
fuͤgte Natalja Dmitrijewna ſuͤßlich hinzu und rieb ſich die großen, 
plumpen Haͤnde. 

„Ach, hole dieſe Bande der Teufel! An die Theatervorſtellung 
habe ich ja gar nicht gedacht! Das haben ſie ſchlau gemacht, 
dieſe nichtswuͤrdigen Weiber!“ ſagte Marja Alexandrowna im 
ſtillen für ſich; fie war außer ſich vor Wut. 

„Und zu unſerem Entſchluſſe, herzukommen, mein Engel,“ 
fuͤgte Anna Nikolajewna noch hinzu „hat auch noch der Umſtand 
weſentlich mitgewirkt, daß Sie jetzt dieſen lieben Fuͤrſten bei ſich 
im Hauſe haben. Sie wiſſen ja, in Duchanowo war unter den 
fruͤheren Beſitzern ein Theater. Wir haben uns ſchon erkundigt 
und haben erfahren, daß da all dieſe alten Dekorationen, ein 
Vorhang und ſogar Koſtuͤme noch irgendwo aufbewahrt wer— 
den. Der Fuͤrſt war heute bei mir; aber ich war von ſeiner An— 
kunft ſo uͤberraſcht, daß ich ganz vergeſſen habe, von dieſen 
Dingen mit ihm zu reden. Jetzt wollen wir die Rede abſichtlich 
auf das Theater bringen; Sie werden uns dabei helfen, und der 
Fuͤrſt wird Befehl geben, uns dieſen ganzen alten Kram her— 
zuſchicken. Bei wem koͤnnte man denn auch hier ſo etwas wie 
eine Dekoration machen laſſen? Die Hauptſache iſt aber: wir 
wollen auch den Fuͤrſten ſelbſt fuͤr unſere Theatervorſtellung 
intereſſieren. Er muß unbedingt ſubſkribieren; es iſt ja zum 
Beſten der Armen. Vielleicht uͤbernimmt er ſogar eine Rolle; 
er iſt ja ſo liebenswuͤrdig und mit allem einverſtanden. Dann 
wird ſich alles wunderſchoͤn machen!“ | | 

„Gewiß wird er eine Rolle übernehmen. Man kann ihn ja 
jede beliebige Rolle ſpielen laſſen,“ fügte Natalja Dmitrijewna 
mehrdeutig hinzu. 


Zwoͤlftes Kapitel 217 


Anna Nikolajewna hatte zu Marja Alexandrowna nicht die 
Unwahrheit geſagt: alle Augenblicke kamen noch mehr Damen 
angefahren. Marja Alexandrowna fand kaum Zeit, ſie zu be— 
gruͤßen und diejenigen Ausrufe zu tun, die in ſolchen Fällen 
von dem Anſtande und dem feinen Tone verlangt werden. 

Ich unternehme es nicht, alle Beſucherinnen zu ſchildern. Ich 
ſage nur, daß in dem Blicke einer jeden eine ganz beſondere Tuͤcke 
lag. Allen ſtand eine ſtarke Spannung und eine lebhafte Un— 
geduld auf dem Geſichte geſchrieben. Einige der Damen waren 
mit der entſchiedenen Abſicht gekommen, Zeuginnen eines un— 
gewoͤhnlichen Skandals zu werden, und wuͤrden ſich ſehr ge— 
ärgert haben, wenn fie hätten wieder auseinandergehen muͤſſen, 
ohne einen ſolchen mitangeſehen zu haben. Außerlich benahmen 
ſich alle aͤußerſt liebenswuͤrdig; aber Marja Alexandrowna Ве: 
reitete ſich feſten Mutes darauf vor, von ihnen angegriffen zu 
werden. Sie wurde mit Fragen nach dem Fuͤrſten uͤberſchuͤttet, 
die durchaus harmlos zu ſein ſchienen; aber doch ſteckte in einer 
jeden eine Andeutung, ein geheimer Nebenſinn. Es wurde Tee 
gebracht, und alle nahmen Platz. Eine Gruppe okkupierte den 
Fluͤgel. Sinaida antwortete auf die Aufforderung zu ſpielen 
und zu ſingen in trockenem Tone, ſie fuͤhle ſich nicht ganz wohl. 
Die Blaͤſſe ihres Geſichtes beſtaͤtigte das. Sogleich regnete es 
bedauernde Fragen, und ſogar dabei fand ſich die Moͤglichkeit, 
ſich nach dieſem und jenem zu erkundigen und Anſpielungen zu 
machen. Manche fragten auch nach Moſgljakow und wandten 
ſich mit dieſen Fragen ſpeziell an Sinaida. Marja Alexandrowna 
verzehnfachte ſich in dieſer kritiſchen Zeit; ſie ſah alles, was in 
jeder Ecke des Zimmers vorging, hoͤrte, was jede der Beſuche— 
rinnen ſagte, obgleich ihrer etwa zehn waren, und antwortete 
ſofort auf alle Fragen, wobei ſie ſelbſtverſtaͤndlich bewies, daß 


218 Onkelchens Traum 3 


fie nicht auf den Mund gefallen war. Sie aͤngſtigte ſich um 
Sinaida und wunderte ſich daruͤber, daß dieſe nicht hinausging, 
wie ſie es bisher immer bei ſo zahlreichem Beſuche getan hatte. 
Auch Afanaſi Matwjejewitſch erregte die Aufmerkſamkeit der 
Damen. Sie pflegten ſich ſonſt immer alle uͤber ihn luſtig zu 
machen, um Marja Alexandrowna durch den Spott uͤber ihren 
Gatten zu kraͤnken. Jetzt aber hielten ſie es fuͤr moͤglich, von dem 
beſchraͤnkten und offenherzigen Afanaſi Matwjejewitſch einiges 
in Erfahrung zu bringen. Marja Alexandrowna beobachtete mit 
Unruhe, wie ihr Gatte von den Damen umlagert wurde. Zu— 
dem gab er auf alle Fragen ſein „Hm“ mit einer ſo ungluͤcklichen, 
gezwungenen Miene zur Antwort, daß ſie allen Grund hatte, 
wuͤtend zu werden. 

„Marja Alexandrowna! Afanaſi Matwjejewitſch will uͤber— 
haupt nicht mit uns reden!“ rief ein keckes Daͤmchen mit ſcharfen 
Augen, das ſich entſchieden vor niemand fuͤrchtete und nie ver: 
legen wurde. „Befehlen Sie ihm doch, gegen Damen hoͤflicher 
zu ſein!“ 

„Ich weiß wirklich ſelbſt nicht, was mit ihm heute iſt,“ апё 
wortete Marja Alexandrowna heiter laͤchelnd, indem fie ihr Ge: 
ſpraͤch mit Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna unter⸗ 
brach; „er iſt ſo wortkarg! Auch mit mir hat er kaum ein Wort 
geredet. Warum antworteſt du denn Feliſata Michailowna 
nicht, Athanase? Wonach haben Sie ihn denn gefragt?“ f 

„Aber . .. aber... Muͤtterchen, du Бай doch ſelbſt ...“ 
murmelte Afanaſi Matwjejewitſch ganz erſtaunt und verwirrt. 
Er ſtand in dieſem Augenblicke gerade an dem geheizten Kamin, 5 
hatte die eine Hand in einer maleriſchen Poſe, die er ſich ſelbſt 
erſonnen hatte, in die Weſte geſteckt und hielt in der andern die 
Teetaſſe. Die Fragen der Damen hatten ihn ſo verlegen ge— A 


TER: 


Zwoͤlftes Kapitel 219 


macht, daß er rot geworden war wie ein junges Maͤdchen. Als 
er ſeine Rechtfertigung begann, begegnete er einem ſo furcht— 
baren Blicke ſeiner erzuͤrnten Gattin, daß er vor Schreck beinahe 
das Bewußtſein verlor. Da er nicht wußte, was er tun ſollte, 
ſich aber zunaͤchſt einigermaßen zu erholen und ſich dann in der 
Achtung zu reſtituieren wuͤnſchte, ſo wollte er ſeinen Tee ſchluͤr— 
fen, aber der Tee war ſehr heiß. Weil er den Schluck nicht richtig 
bemeſſen hatte, verbrannte er ſich furchtbar, ließ die Taſſe fallen, 
verſchluckte ſich und huſtete ſo heftig, daß er ſich genoͤtigt ſah, das 
Zimmer auf eine Weile zu verlaſſen, was bei allen Anweſenden 
Erſtaunen hervorrief. Kurz, fuͤr Marja Alexandrowna war alles 
klar: ſie merkte, daß ihre Gaͤſte ſchon alles wußten und mit den 
| ſchlimmſten Abſichten bei ihr zufammengelommen waren. Die 
Lage war gefaͤhrlich. Sie konnten den geiſtesſchwachen alten 
Fuͤrſten in ſeinem Vorhaben, Sinaida zu heiraten, irre machen, 
ihm in ihrer eigenen Gegenwart davon abraten. Sie konnten ihn 
ſogar noch an dieſem ſelben Abend mit ihr veruneinigen, ihn ihr abs 
5 ſpenſtig machen und mit ſich fortlocken. Es war von ihnen alles 
zu erwarten. Aber das Schickſal hielt fuͤr ſie noch eine andere 
Prüfung bereit: die Tür öffnete ſich, und es erſchien Moſgljakow, 
den ſie bei Borodujew glaubte, und den ſie an dieſem Abend 
j abſolut nicht erwartete bei ſich zu ſehen. Sie fuhr zufammen, 
wie wenn ihr jemand einen Stich verſetzt haͤtte. 

Moſgljakow blieb in der Tür ſtehen und ließ, etwas verlegen, 
feinen Blick bei allen Anweſenden herumgehen. Er war nicht 
imſtande, ſeine Aufregung zu unterdruͤcken, die ſich deutlich auf 
ſeinem Geſichte auspraͤgte. 

„Ach, mein Gott! Pawel Alexandrowitſch!“ riefen mehrere 
Damen. 
„Ach, mein Gott! Da iſt ja Pawel Alexandrowitſch! Und Sie 


220 Onkelchens Traum 


ſagten doch, Marja Alexandrowna, er Indy zu асы ge: 
gangen? Es wurde uns gefagt, Sie hätten ſich bei Borodujew 
verſteckt, Pawel Alexandrowitſch!“ ſagte Natalja Dmitrijewna 
mit ihrer piepigen Stimme. 

„Verſteckt?“ erwiderte Moſgljakow mit einem ſchiefen 
Lächeln. „Ein ſonderbarer Ausdruck! Entſchuldigen Sie, 
Natalja Dmitrijewna! Ich verberge mich vor niemand und be— 
abſichtige niemand zu verbergen,“ fügte er mit einem bebeut= 
ſamen Blick auf Marja Alexandrowna hinzu. 

Marja Alexandrowna begann plotzlich zu zittern. 

„Wie? Sollte auch dieſer Toͤlpel rebelliſch werden?“ dachte 
ſie und ſah ee forſchend an. „Das waͤre das Schlimmſte 
von allem. | 

„Iſt das wäh, Pawel Alexandrowitſch, daß Sie den Abſchied 
bekommen haben .. . ich meine natürlich im Dienſte?“ erlaubte 
ſich die dreiſte Feliſata Michailowna zu fragen und ſah ihm 
ſpoͤttiſch gerade ins Geſicht. 

„Den Abſchied? Wieſo den Abſchied? Ich laſſe mich einfach 
verſetzen. Ich bekomme eine Stelle in Petersburg,“ antwortete 
Moſgljakow trocken. 

„Nun, dann wuͤnſche ich Ihnen Gluͤck,“ fuhr Feliſata Michai— 
lowna fort. „Und wir bekamen ſchon einen Schreck, als wir 
hörten, daß Sie es auf eine Stelle bei uns hier in Mordaſow 
abgeſehen haͤtten. Hier bieten die Stellen keine Sicherheit, 
Pawel Alexandrowitſch; man wird im Handumdrehen abge— 
halftert.“ 

„Hoͤchſtens noch die Lehrerſtellen an der Kreisſchule; da iſt 
es noch moͤglich, eine Vakanz zu finden,“ bemerkte Natalja 
Dmitrijewna. 

Die Anſpielung war ſo plump und deutlich, daß Anna Nitolar 


Zwoͤlftes Kapitel 221 


— 


jewna verlegen wurde und ihre he Freundin heimlich mit 
dem Fuße ſtieß. 

„Glauben Sie wirklich, daß Pawel Alexandrowitſch ſich dazu 
entſchließen wuͤrde, eine Lehrerſtelle anzunehmen?“ warf Feli— 
ſata Michailowna dazwiſchen. 

Aber Pawel Alexandrowitſch fand darauf keine rechte Ant— 
wort. Er drehte ſich um und ſtieß auf Afanaſi Matwjejewitſch, 
der ihm die Hand entgegenſtreckte. Moſgljakow aber nahm 
hoͤchſt dummerweiſe dieſe Hand nicht, ſondern machte ihm 
ſpoͤttiſch eine tiefe Verbeugung. Im hoͤchſten Grade gereizt 
ging er geradeswegs zu Sinaida hin und fluͤſterte, indem er ihr 
wuͤtend ins Geſicht ſah: 

„Das alles habe eich Ihnen zu verdanken. Warten Sie, ich 
werde Ihnen noch heute abend zeigen, ob ich ein Dummkopf 
bin oder nicht.“ 

„Wozu wollen Sie das aufſchieben? Das ſieht man ja auch 
jetzt,“ antwortete Sinaida laut und maß voller Widerwillen 
ihren fruͤheren Bewerber mit den Augen. 

Erſchrocken darüber, daß fie jo laut geſprochen hatte, wandte 
ſich Moſgljakow eilig von ihr ab. 

„Kommen Sie von Borodujew?“ еп ов ſich Marja Alexan— 
drowna endlich zu fragen. 

„Nein, ich komme von meinem Onkel.“ 

„Von Ihrem Onkel? Alſo ſind Sie jetzt beim Fuͤrſten ge— 
weſen?“ 

„Ach, mein Gott! Alſo iſt der Fuͤrſt chen aufgewacht? Und 
uns wurde geſagt, er ſchliefe noch!“ fuͤgte Natalja Dmitrijewna 
mit einem boshaften Blick auf Marja Alexandrowna hinzu. 

„Beunruhigen Sie ſich nicht wegen des Fuͤrſten, Natalja 
Dmitrijewna!“ antwortete Moſgljakow; „er iſt aufgewacht und 


3 


222 a Onkelchens Traum 


Gott ſei Dank jetzt wieder bei vollem Verſtande. Vorher war er 
betrunken gemacht worden, zuerſt bei Ihnen und dann hier 
vollends, ſo daß er ganz den Gebrauch der Denkkraft verloren 
hatte, die bei ihm ſowieſo nicht die ſtaͤrkſte iſt. Aber jetzt haben 
wir, Gott ſei Dank, uns miteinander ausgeſprochen, und er hat 
wieder angefangen vernünftig zu denken. Er wird fogleich Бет: 
kommen, um ſich von Ihnen, Marja Alexandrowna, zu verab— 
ſchieden und Ihnen fuͤr all Ihre Gaſtfreundſchaft zu danken. 
Morgen aber werden wir bei Tagesanbruch zuſammen nach dem 
Kloſter fahren, und ich werde ihn dann unfehlbar ſelbſt nach 
Duchanowo begleiten, um ein nochmaliges Umwerfen mit dem 
Schlitten, wie es ſich heute ereignet hat, zu verhuͤten; dort aber 
wird ihn aus meinen Händen Stepanida Matwjejewna in Emp= 
fang nehmen, die dann gewiß ſchon aus Moskau zuruͤckgekehrt 
ſein wird und ihn kuͤnftig um keinen Preis noch einmal wird 
wegreiſen laſſen — dafuͤr uͤbernehme ich jede Garantie.“ 

Waͤhrend Moſgljakow das ſagte, blickte er Marja Alexandrowna 
grimmig an. Dieſe ſaß da, als ob ſie vor Überraſchung die 
Sprache verloren haͤtte. Mit Betruͤbnis geſtehe ich, daß meine 
Heldin, vielleicht zum erſtenmal in ihrem Leben, es mit der 
Angſt bekam. 

„Alſo morgen bei Tagesanbruch wird er wegfahren? Wie 
geht das zu?“ fragte Natalja Dmitrijewna, ſich an Marja 
Alexandrowna wendend. 

„Wie geht das zu?“ wurde unter den Beſucherinnen in 
naivem Tone gefragt. „Und wir hatten gehört, daß... Nein, 
das iſt doch wirklich ſonderbar!“ ^ 

Aber die Hausfrau wußte nicht mehr, was fie antworten 
ſollte. Auf einmal wurde die allgemeine Aufmerkſamkeit in 
einer hoͤchſt ungewoͤhnlichen, exzentriſchen Weiſe hiervon ab⸗ 


4 


Zwoͤlftes Kapitel 223 


gelenkt. Aus dem anſtoßenden Zimmer wurde ein auffallender 

Laͤrm und eine ſcharfe, laute Stimme vernehmbar, und ploͤtz— 

lich kam völlig unerwartet Sofja Petrowna Karpuchina in 

Marja Alexandrownas Salon hereingeſtuͤrzt. Sofja Petrowna 

war unſtreitig die exzentriſchſte Dame in ganz Mordaſow, ſo ex— 
zentriſch, daß ſogar unlaͤngſt in Mordaſow der Beſchluß gefaßt 
worden war, ſie in Geſellſchaft nicht mehr zu empfangen. Ich 
muß noch bemerken, daß ſie regelmaͤßig jeden Abend Punkt 
ſieben Uhr etwas Likoͤr genoß (um des Magens willen, wie fie 
ſagte) und ſich nachher jedesmal in einem hoͤchſt emanzipierten 
Geiſteszuſtande befand, um keinen ſtaͤrkeren Ausdruck zu ge— 
brauchen. Gerade jetzt, wo fie fo unerwartet zu Marja Alexan— 
drowna hereingeſtuͤrzt kam, befand ſie ſich wieder in dieſem 
Geiſteszuſtande. 

„Ah, alſo ſo machen Sie es, Marja Alexandrowna,“ ſchrie ſie 
ſo laut, daß es alle im Zimmer Anweſenden hörten, „alſo fo be— 
5 handeln Sie mich! Laſſen Sie ſich nicht ſtoͤren; ich bin nur auf 

ein Augenblickchen herangekommen; ich werde mich bei Ihnen 
nicht hinſetzen. Ich bin expreß hergefahren, um zu hoͤren, ob 
das wahr iſt, was man mir geſagt hat. Ah! alſo bei Ihnen finden 
Baͤlle, Bankette und Verlobungsfeiern ſtatt; aber Sofja 
5 Petrowna kann bei ſich zu Hauſe ſitzen und Struͤmpfe ſtricken! 
Die ganze Stadt haben Sie eingeladen, aber mich nicht! Und 
vorhin, als ich hergekommen war, um Ihnen zu erzaͤhlen, was 
Natalja Dmitrijewna bei ſich zu Haufe mit dem Fürften ап: 
ſtellte, da nannten Sie mich Ihre liebe Freundin und mon 
ange. Und jetzt ſitzt dieſe ſelbe Natalja Dmitrijewna, auf die Sie 
vorhin mit den ſtaͤrkſten Ausdruͤcken geſchimpft haben, und die 
ſelbſt auf Sie geſchimpft hat, die ſitzt jetzt bei Ihnen als Gaſt. 
Beunruhigen Sie ſich nicht, Natalja Dmitrijewna! Ich brauche 


224 Onkelchens Traum 


Ihre Schokolade à la santé nicht, die Tafel zu zehn Kopeken. i 
Ich trinke bei mir zu Haufe öfter als Sie welche!“ ö 
„Auch anderes; das ſieht man!“ bemerkte Natalja Dmitri— 

jewna. 

„Aber, ich bitte Sie, Sofja Petrowna,“ rief Marja Alexan— 
drowna, die vor Arger ganz rot geworden war, „was iſt denn 
mit Ihnen? So kommen Sie doch zur Beſinnung!“ 

„Beunruhigen Sie ſich nicht um mich, Marja Alexandrowna; 
ich weiß alles, alles; ich habe alles erfahren!“ ſchrie Sofja 
Petrowna mit ihrer ſcharfen, kreiſchenden Stimme, umringt 
von allen Beſucherinnen, die ſich, wie es ſchien, an dieſer un— 
erwarteten Szene hoͤchlichſt ergoͤtzten. „Ich habe alles erfahren! 
Ihre Naſtaſja iſt zu mir gelaufen gekommen und hat mir alles 
erzaͤhlt. Sie haben dieſen Fuͤrſten geangelt, ihn betrunken ge— 
macht und ihn dazu veranlaßt, Ihrer Tochter einen Heirats— 
antrag zu machen, die ſchon kein Mann mehr heiraten mag; und 
nun hoffen Sie auch ſelbſt ein großes Tier zu werden, eine 
Herzogin in einem Spitzenkleide, pfui Teufel! Beunruhigen 
Sie ſich nicht; ich bin ſelbſt eine Frau Oberſt! Wenn Sie mich 
nicht zu der Verlobungsfeier eingeladen haben, ſo ſpucke ich 
darauf! Ich habe mit feineren Leuten verkehrt, als Sie 
ſind. Ich habe bei der Graͤfin Salichwatſkaja diniert, und 
der Oberkommiſſar Kurotſchkin hat ſich um meine Hand be— 
worben! Da habe ich wohl Ihre Einladung ſehr nötig; pfui 
Teufel!“ 

„Hören Sie, Sofja Petrowna,“ antwortete Marja Alexan-⸗ 
drowna, die ganz außer ſich war; „ich muß Sie darauf aufmerk— 
ſam machen, daß man nicht in dieſer Weiſe in ein anſtaͤndiges 
Haus eindringt, und noch dazu in ſolchem Zuſtande, und daß, 
wenn Sie mich nicht ſofort von Ihrer Gegenwart und von 


Zwoͤlftes Kapitel 225 


Ihrem Wortſchwall befreien, ich unverzuͤglich meine Maßregeln 
ergreifen werde.“ 

„Ich weiß, Sie werden Ihren Domeſtiken Befehl geben, mich 
hinauszufuͤhren! Seien Sie unbeſorgt, ich werde den Weg auch 


allein finden. Leben Sie wohl; bringen Sie unter die Haube, 


wen Sie wollen; Sie aber, Natalja Dmitrijewna, brauchen nicht 
uͤber mich zu lachen; ich ſpucke auf Ihre Schokolade! Wenn ich 
hier auch nicht eingeladen worden bin, ſo habe ich doch auch vor 
keinem Fuͤrſten den Koſakentanz getanzt. Und Sie, Anna 
Nikolajewna, warum lachen Sie? Suſchilow hat ſich das Bein 
gebrochen; jetzt eben hat man ihn nach Hauſe gebracht! Und 


wenn Sie, Feliſata Michailowna, Ihrer barfuͤßigen Matroſchka 


nicht befehlen, Ihre Kuh rechtzeitig hereinzulaſſen, damit ſie 
nicht jeden Tag vor meinen Fenſtern bruͤllt, ſo werde ich Ihrer 
Matroſchka die Beine entzweiſchlagen. Leben Sie wohl, Marja 


Alexandrowna; laſſen Sie es ſich gut gehen! Pfui Teufel!“ 


Sofja Petrowna verſchwand. Die Damen lachten. Marja 
Alexandrowna war aͤußerſt verlegen. 

„Ich glaube, ſie hatte getrunken,“ aͤußerte Natalja Dmitri— 
jewna in ſuͤßem Tone. 

„Aber trotzdem, welche Dreiſtigkeit!“ 

„Quelle abominable femme!“ 

„Na, Sie hat uns wieder einmal zum Lachen gebracht!“ 

„Ach, was fuͤr unpaſſende Dinge ſie geredet hat!“ 

„Aber was hat ſie da von einer Verlobungsfeier geſagt? Was 
iſt das fuͤr eine Verlobungsfeier?“ fragte Feliſata Michailowna 
ſpoͤttiſch. 

„Aber das iſt ja entſetzlich!“ brach endlich Marja Alexandrowna 
los. „Dieſe Ungeheuer ſind es, die mit vollen Haͤnden die ab— 
ſurdeſten Gerüchte ausſaͤen! Das Erftaunliche, Feliſata Michai— 
LXXV. 15 


ВАЗА 
К, Го. 


226 Onkelchens Traum 


lowna, iſt nicht, daß ſich ſolche Damen in unſerer Geſellſchaft be⸗ 
finden; nein, das Allererſtaunlichſte iſt, daß man die Dienſte 
dieſer Damen annimmt, ſie anhoͤrt, ſie unterſtuͤtzt, ihnen glaubt, 3 
era. 
„Der Fuͤrſt, der Fuͤrſt!“ riefen auf einmal alle Beſucherinnen. 
„Ach, mein Gott! Ce cher prince!“ | 
„Na, Gott ſei Dank! Jetzt werden wir das ganze Geheimnis | 
erfahren!“ flüfterte Feliſata Michailowna ihrer Nachbarin zu. 


Dreizehntes Kapitel 


Der Fuͤrſt trat ein und laͤchelte anmutig. Die ganze Unruhe, 
in die Moſgljakow eine Viertelſtunde vorher fein Haſenherz ver: у 
ſetzt hatte, verſchwand beim Anblicke der Damen. Er zerſchmolz 
gewiſſermaßen ſogleich wie ein Stüdchen Konfekt. Die Damen 
begruͤßten ihn mit hellem Freudengeſchrei. Überhaupt muß 
man ſagen, daß die Damen unſern alten Herrn immer ſehr 
freundlich behandelten und ſich gegen ihn außerordentlich 
familiaͤr benahmen. Er beſaß die Eigenſchaft, ihnen durch ſeine 
Perſon unglaublich viel Vergnuͤgen zu bereiten. Feliſata 
Michailowna hatte ſogar am Vormittag beteuert (natuͤrlich nicht 
im Ernſt), ſie ſei bereit, ſich auf ſeine Knie zu ſetzen, wenn ihm 
das angenehm waͤre; denn er ſei ein gar zu lieber, lieber alter 
Herr, unendlich lieb und nett! Marja Alexandrowna heftete ihre 
Augen feſt auf ihn; ſie wuͤnſchte, wenigſtens etwas auf ſeinem 
Geſichte zu leſen, um daraus ſchließen zu koͤnnen, welchen Aus: 
gang ihre kritiſche Lage haben werde. Soviel war klar, daß 
Moſgljakow etwas Schlimmes angerichtet hatte, und daß ihr 
ganzes Unternehmen ſtark ins Wanken gekommen war. Aber 
auf dem Geſichte des Fuͤrſten war nichts zu leſen. Er war eben 
wie vorher, ebenſo wie immer. 


Dreizehntes Kapitel 227 


„Ach, mein Gott! Da iſt ja der Fuͤrſt! Wir haben ſchon jo 
auf Sie gewartet!“ riefen mehrere Damen. 

„Mit ſolcher Ungeduld, Fuͤrſt, mit ſolcher Ungeduld!“ zwitſcher⸗ 
ten andere. 

„Das iſt mir außerordentlich ſchmei-chel-haft,“ liſpelte der 
Fuͤrſt und ſetzte ſich an den Tiſch, auf dem der Samowar ſiedete. 
Die Damen umringten ihn ſogleich. Bei Marja Alexandrowna 
blieben nur Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna zuruͤck. 
Afanaſi Matwjejewitſch lächelte reſpektvoll. Moſgljakow lächelte 
ebenfalls und blickte Sinaida mit herausfordernder Miene an; 
dieſe aber wandte ihm nicht die geringſte Aufmerkſamkeit zu, 
ſondern ging zu ihrem Vater und ſetzte ſich neben ihm auf einen 
Lehnſeſſel am Kamin. 

„Ach, Fuͤrſt, iſt es wahr, was da geſagt wird, daß Sie von uns 
wegfahren wollen?“ zirpte Feliſata Michailowna. 

„Nun ja, mesdames, ich will wegfahren. Ich will un-ver⸗ 
zuͤg⸗lich ins Ausland fahren.“ 

„Ins Ausland, Fuͤrſt, ins Ausland!“ riefen alle im Chor. 
„Wie ſind Sie nur auf dieſen Einfall gekommen?“ 

„Nun ja, ins Ausland,“ erwiderte der Fuͤrſt mit einem ge— 
wiſſen Stolze. „Und wiſſen Sie, ich will beſonders wegen der 
neuen IJ⸗dee⸗en hinfahren.“ 

„Wieſo wegen der neuen Ideen? Was ſind das fuͤr neue 
Ideen?“ ſagten die Damen und ſahen ſich untereinander an. 

„Nun ja, wegen der neuen Ideen,“ wiederholte der Fuͤrſt im 
Tone groͤßter Sicherheit. „Alle fahren jetzt wegen der neuen 
I⸗dee⸗en hin. Sehen Sie, da möchte ich mir auch neu-e I⸗dee⸗en 
zulegen.“ 

„Sie wollen doch nicht etwa in eine Freimaurerloge ein— 
treten, liebſtes Onkelchen?“ warf Moſgljakow dazwiſchen, der 


298 Onkelchens Traum 


augenſcheinlich vor den Damen mit feinem Eſprit und mit feiner — 


Ungeniertheit paradieren wollte. 
„Nun ja, mein Freund, du haſt dich nicht geirrt,“ antwortete 


* 


der Onkel zur allgemeinen Überraſchung. „Ich habe tat-ſaͤch-lich 


vor vielen Jahren im Auslande einer Freimaurerloge an-ge— 


hört und hatte ſogar perſoͤnlich ſehr viele hochherzige Ideen. Ich 
hatte damals ſogar vor, vieles für die mo-der-ne Auf-klaͤ rung 
zu tun, und war in Frankfurt ſchon ganz entſchloſſen, meinen 
Sidor, den ich ins Ausland mitgenommen hatte, frei-zu⸗ 


Та еп. Aber zu meiner Verwunderung lief er von ſelbſt von 


mir fort. Er war ein hoͤchſt ſon-der-ba-rer Menſch. Spaͤter 


begegnete ich ihm einmal in Pa-ris; er ſah wie ein Stutzer 
aus, trug einen Backenbart und ging mit einer Mamſell 
auf dem Boulevard. Er ſah mich an und nickte mir mit dem 
Kopfe zu. Und die Mamſell, die er bei ſich hatte, war ſo ein 


keckes Ding, mit munteren Augen, ein versfühsresrifches Per: 


ſoͤnchen ...“ 


„Na, Onkelchen! Da werden Sie wohl, wenn Sie diesmal 


ins Ausland reifen, alle Ihre Bauern freilaſſen!“ rief Moſglja- 


kow und lachte aus vollem Halſe. 

„Du haft meine Abſicht vollkommen er-ra-ten, mein Lieber,“ 
antwortete der Fuͤrſt, ohne ſich bedenken. „Eben das habe ich 
vor, ſie alle freizulaſſen.“ 


„Aber ich bitte Sie, Fuͤrſt, die werden ja dann alle ſofort von 
Ihnen weglaufen, und wer wird Ihnen dann den Pachtzins 


bezahlen?“ rief Feliſata Michailorona 

„Gewiß, ſie werden alle auseinanderlaufen,“ ſtimmte Anna 
Nikolajewna ihr aufgeregt bei. 

„Ach, mein Gott! Werden ſie denn wirklich weg-lau— fen e 
rief der Fuͤrſt erſtaunt. 


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4 


Dreizehntes Kapitel 229 


— 


„Sie werden weglaufen; ſofort werden ſie alle weglaufen 
und Sie allein laſſen,“ verſicherte Natalja Dmitrijewna. 

„Ach, mein Gott! Nun, dann werde ich fie nicht freislaf-fen. 
Übrigens war das nur fo ein Gedanke von mir.“ 

„Das iſt auch das beſte, Onkelchen!“ bekraͤftigte Mofgl- 
jakow. 

Bis dahin hatte Marja Alexandrowna ſchweigend zugehoͤrt 
und beobachtet. Es ſchien ihr, daß der Fuͤrſt ſie vollſtaͤndig ver— 
geſſen habe, und daß das ſehr auffallend ſei. 

„Geſtatten Sie, Fuͤrſt,“ begann ſie laut und wuͤrdevoll, „daß 
ich Ihnen meinen Mann, Afanaſi Matwjejewitſch, vorſtelle. Er 
ЦЕ erpreß vom Gute hergefahren, ſobald er hörte, daß Sie in 
meinem Hauſe abgeſtiegen ſeien.“ 

Afanaſi Matwjejewitſch laͤchelte und nahm eine wichtige 
Miene an. Er hatte die Vorſtellung, daß er gelobt worden ſei. 

„Ach, ich freue mich ſehr,“ ſagte der Fuͤrſt. „A-fa-naſi 
Matwjejewitſch! Erlauben Sie, da kommt mir eine Er-in-ne⸗ 
rung. A⸗fa⸗naſi Mat⸗wje⸗jewitſch. Nun ja, das iſt der, der auf 
dem Gute wohnt. Charmant, charmant; ich freue mich ſehr. 
Mein Freund,“ rief der Fuͤrſt, ſich zu Moſgljakow wendend, „das 
iſt ja ebenderſelbe, du erinnerſt dich wohl, der vorhin in dem 
Verſe vor⸗kam. Wie war es doch nur? ‚ЭЙ aus der Tuͤr der 
Eheherr, So fährt die Frau ſogleich nach ... nun ja, die Frau 
fuhr ebenfalls nach ir-gend-ei⸗ner Stadt.“ 

„Ach, Fuͤrſt, ganz richtig: ‚„Iſt aus der Tuͤr der Eheherr, So 
fährt die Frau ſogleich nach Twer; ' das iſt ja aus dem Vaudeville, 
das die Schauſpieler bei uns im vorigen Jahre geſpielt haben,“ 
fiel Feliſata Michailowna ein. | 

„Nun ja, richtig: nach Twer; ich ver-geſ⸗ſe es immer. Char- 
mant, charmant! Alſo eben der ſind Sie? Ich freue mich 


230 Onkelchens Traum 


außerordentlich, Ihre Be-kannt-ſchaſt zu machen,“ ſagte der 
Fuͤrſt und ftredte, ohne vom Lehnſtuhl aufzuftehen, dem lächeln 
den Afanaſi Matwjejewitſch die Hand hin. „Nun, wie ſteht es 
mit Ihrer Geſundheit?“ 
n 4 
„Er ift geſund, Fuͤrſt, ganz geſund,“ antwortete Marja Alex 
androwna eilig. | 1 
„Nun ja, das ſieht man auch, daß er ge-ſund ift. Und Sie 
wohnen immer auf dem Gute? Nun, ich freue mich ſehr. Aber 
wie rot⸗bak⸗kig er ausfieht, und immer lacht er ...“ 
Afanaſi Matwjejewitſch hatte fortwaͤhrend geläͤchelt, ſich ver- 
beugt und ſogar Scharrfuͤße gemacht. Aber bei der legten Be: 
merkung des Fuͤrſten konnte er ſich nicht halten und pruſtete auf 
einmal ohne rechten Anlaß in der duͤmmſten Weiſe vor Lachen 
los. Alle lachten. Die Damen kreiſchten vor Vergnuͤgen. 
Sinaida wurde dunkelrot und ſah mit funkelnden Augen ihre 
Mutter an, die ihrerſeits vor Arger beinah platzte. Es war Zeit, 
das Geſpraͤchsthema zu wechſeln. F 
„Wie haben Sie geſchlafen, Fuͤrſt?“ fragte fie mit honigſuͤßer ö 
Stimme und gab gleichzeitig durch einen drohenden Blick ihrem 3 
Manne zu verſtehen, daß er fich ſofort an feinen Platz zu ſcheren 
habe. | 2 
„Ach, ich habe ſehr gut geſchlafen,“ erwiderte der Fuͤrſt; „und 
wiſſen Sie, ich habe einen entzuͤk-kenden Traum gehabt, einen 
ent⸗zuͤk⸗ken⸗Den Traum!“ 3 
„Einen Traum! Ich hoͤre ſchrecklich gern Träume erzählen!" " 
rief Feliſata Michailowna. | 
„Ich auch, ich höre es auch ſehr gern!“ fügte Natalja Dmitri⸗ 
iewna hinzu. Е 
„Einen ent-zuͤk⸗ken-den Traum!“ wiederholte der Fürft mit 


190 < 
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1 


Dreizehntes Kapitel 231 


einem ſeligen Lächeln. „Aber dafür ift dieſer Traum auch das 
tiefſte Geheimnis!“ 

„Wie, Fuͤrſt? Laͤßt er ſich wirklich nicht erzählen? Das ift де: 
wiß ein ganz wunderbarer Traum?“ bemerkte Anna Nikola— 
jewna. 

„Das tief⸗ſte Ge⸗heim-nis,“ wiederholte der Fuͤrſt, dem es 

ein Genuß war, die Neugier der Damen zu reizen. 

„Dann iſt es gewiß furchtbar intereſſant!“ riefen die Damen. 

„Ich moͤchte darauf wetten, daß der Fuͤrſt im Traum vor 
irgendeiner ſchoͤnen weiblichen Perſon auf den Knien gelegen 
und ihr eine Liebeserklaͤrung gemacht hat!“ rief Feliſata 
Michailowna. „Nun, geſtehen Sie nur, Fuͤrſt, daß es ſo iſt! 

Liebſter Fuͤrſt, geſtehen Sie es!“ 

„Geſtehen Sie es, Fuͤrſt, geſtehen Sie es!“ wurde von allen 
Seiten gerufen. 

Der Fuͤrſt hoͤrte dieſes ganze Geſchrei mit einem wonnevollen 
Gefühle des Triumphes. Die Vermutung der Damen ſchmei- 
chelte ſeiner Eitelkeit außerordentlich, ſo daß er ſich beinah die 
Lippen leckte. 

„Obgleich ich geſagt habe, daß mein Traum des tiefſte Ge— 
heimnis iſt,“ antwortete er endlich, „ſo ſehe ich mich doch ge— 
noͤtigt einzugeſtehen, daß Sie, gnaͤdige Frau, ihn zu meinem 
Erſtaunen faſt vollsftändig er-raten haben.“ 

„Ich habe es erraten!“ rief Feliſata Michailowna ganz ent— 
züdt. „Nun, Fuͤrſt! Jetzt mögen Sie machen, was Sie wollen, 

aber Sie muͤſſen es uns entdecken, wer dieſe Ihre ſchoͤne weib— 
liche Perſon iſt!“ 

„Das muͤſſen Sie uns unbedingt entdecken!“ 

„Iſt es eine Hieſige oder eine Auswaͤrtige?“ 

„Liebſter Fuͤrſt, entdecken Sie es uns!“ 


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232 Onkelchens Traum 


„Liebes Seelchen, beſter Fuͤrſt, entdecken Sie es uns! Und 


wenn es Ihnen das Leben koſtet, aber entdecken Sie es uns!“ 


rief man von allen Seiten. 
„Mesdames, шездалиез!.., Wenn Sie denn fo hart⸗naͤk⸗kig 


darauf beſtehen, es zu erfahren, fo kann ich Ihnen nur eines ent⸗ 


decken: daß es das ent-zuͤk-kendſte und, ich kann wohl fagen, 


ma⸗kel⸗lo⸗ſeſte junge Mädchen iſt, das ich kenne,“ ſagte, vor 


Seligkeit faſt vergehend, der Fuͤrſt unter Kaubewegungen. 
„Das entzuͤckendſte junge Mädchen! Und... eine Hieſige! 

Wer koͤnnte das ſein?“ fragten die Damen, indem ſie einander 

bedeutſam anſahen und ſich wechſelſeitig zublinzelten. 
„Selbſtverſtaͤndlich wird es diejenige ſein, die hier fuͤr die 


erſte Schoͤnheit gilt,“ ſagte Natalja Dmitrijewna; ſie rieb ihre 


großen, roten Haͤnde und blickte mit ihren Katzenaugen nach 


Sinaida hin. Mit ihr gleichzeitig richteten auch alle andern ihre 


Blicke auf Sinaida. 


„Aber wenn Sie ſo etwas traͤumen, Fuͤrſt, warum ſollten 


Sie dann nicht auch in Wirklichkeit heiraten?“ fragte Feliſata 
Michailowna und ließ einen bedeutſamen Blick bei allen herum— 
gehen. 


„Und eine wie gute Braut wir Ihnen verſchaffen wuͤrden!“ 


fiel eine andere Dame ein. 

„Liebſter Fuͤrſt, heiraten Sie doch!“ winſelte eine dritte. 

„Heiraten Sie doch, heiraten Sie doch!“ ertönte es von über: 
all her. „Warum ſollten Sie nicht heiraten?“ 

„Nun ja... warum ſollte ich nicht heiraten?“ ſtimmte ihnen 
der Fuͤrſt bei, der durch all dieſes Geſchrei ganz wirr geworden 
war. 

„Onkelchen!“ rief Moſgljakow. 

„Nun ja, mein Freund, ich ver-ſte-he dich! Ich wollte Ihnen 


„< 
* 


— 


ки RR: 


Dreizehntes Kapitel 233 


eigentlich jagen, mesdames, daß ich nicht mehr imſtande bin zu 
heiraten und, nachdem ich einen entzuͤckenden Abend bei unſerer 
liebenswuͤrdigen Wirtin werde verlebt haben, mich gleich morgen 
zu dem Moͤnchprieſter Miſail in das Kloſter begeben und dann 
geradeswegs ins Ausland reifen werde, um dort die eu-xro— 
paͤiſche Aufklaͤrung bequemer verfolgen zu koͤnnen.“ 

Sinaida wurde blaß und ſah mit einem unausſprechlichen 
Ausdrucke von Leid ihre Mutter an. Aber Marja Alexandrowna 
hatte bereits ihren Entſchluß gefaßt. Bis dahin hatte ſie nur 
abgewartet und ſondiert, obwohl ſie merkte, daß die Sache arg 
verdorben war, und daß ihre Feinde ihr einen großen Vor— 
ſprung abgewonnen hatten. Jetzt endlich begriff ſie alles und 
beſchloß, auf einmal, mit einem Schlage, die hundertkoͤpfige 
Hydra zu vernichten. Wuͤrdevoll erhob ſie ſich von ihrem Lehn— 
ſeſſel, naͤherte ſich feſten Schrittes dem Tiſche und maß mit 
einem ſtolzen Blicke ihre zwerghaften Feinde. In dieſem Blicke 
leuchtete das Feuer einer hoͤheren Eingebung. Sie hatte ſich 
vorgenommen, alle dieſe boshaften Klatſchbaſen in Erſtaunen 
zu verſetzen und aus der Faſſung zu bringen, den nichtswuͤrdigen 
Moſgljakow wie eine Schabe zu zerquetſchen und durch einen 
einzigen entſchloſſenen, kuͤhnen Schlag ihren ganzen verlorenen 
Einfluß auf den idiotiſchen Fuͤrſten wieder zuruͤckzuerobern. 
Selbſtverſtaͤndlich war dazu eine außerordentliche Dreiſtigkeit 
erforderlich; aber dieſe Eigenſchaft beſaß Marja Alexandrowna 
in hohem Maße! 

„Mesdames,“ begann ſie feierlich und wuͤrdevoll (Marja 
Alexandrowna war uͤberhaupt eine große Freundin feierlichen 
Weſens), „mesdames, ich habe Ihr Geſpraͤch und Ihre munte— 
ren, geiſtreichen Scherze lange mit angehoͤrt und finde, daß es 
fuͤr mich Zeit iſt, auch meinerſeits ein Wort zu ſagen. Sie wiſſen, 


234 Onkelchens Traum 


wir haben uns hier alle ganz zufällig zuſammengefunden (und 
ich freue mich fo, freue mich fo ſehr daruͤber) ... Niemals würde 
ich mich dazu entſchloſſen haben, ein wichtiges Familiengeheim⸗ 
nis als erſte auszuſprechen und es fruͤher zu verlautbaren, als | 
dies das gewöhnliche Gefühl für Anſtand verlangt. Im bez 
ſonderen bitte ich meinen lieben Gaſt um Verzeihung; aber es 
ſchien mir, daß er ſelbſt durch entfernte Anſpielungen auf dieſen 
ſelben Umſtand mir zu verſtehen geben will, daß eine foͤrmliche, 
feierliche Enthuͤllung unſeres Familiengeheimniſſes ihm nicht 
unangenehm fein werde, ja daß er dieſe Enthuͤllung ſogar 
wuͤnſche . . . Nicht wahr, Fuͤrſt, ich habe mich nicht geirrt?“ 

„Nun ja, Sie haben ſich nicht geirrt ... und ich freue mich 
ſehr, ſehr .. .“ antwortete der Fuͤrſt, der abſolut nicht begriff, 2 
um was es ſich handelte. 3 

Marja Alexandrowna hielt des größeren effettes halber einen 
Augenblick inne, um Atem zu ſchoͤpfen, und ließ ihren Blick uͤber 
die ganze Geſellſchaft hinſchweifen. Alle Beſucherinnen horch- 
ten in hoͤchſter Aufregung und Neugier auf ihre Worte. Moſglja- 
kow fuhr zuſammen; Sinaida errötete und erhob ſich von ihrem 
Lehnſtuhl. Afanaſi Matwjejewitſch ſchnob ſich, in Erwartung 
von etwas Ungewoͤhnlichem, fuͤr jeden Fall die Naſe. 1 

„Ja, mesdames, ich bin mit Freuden bereit, Ihnen mein | 
Familiengeheimnis anzuvertrauen. Heute nach Tiſche hat der 
Fuͤrſt, hingeriſſen von der Schönheit und... den vortrefflichen 
Eigenſchaften meiner Tochter, ihr die Ehre eines Heirats- 
antrages erwieſen. Fuͤrſt!“ ſchloß fie, und ihre Stimme zitterte 
vor Tränen und Aufregung, „lieber Fuͤrſt, Sie dürfen, Sie 
koͤnnen mir nicht zuͤrnen wegen meiner Indiskretion! Nur die 
außerordentliche Freude uͤber dieſes Familienereignis hat mei- 
nem Herzen dieſes liebe Geheimnis vor der Zeit entreißen 


Dreizehntes Kapitel 235 


koͤnnen, und... welche Mutter kann mir in dieſem Falle einen 
Vorwurf machen?“ 

Ich finde keine Worte, um die Wirkung zu ſchildern, die dieſer 
unerwartete Schritt Marja Alexandrownas hervorbrachte. Alle 
waren ſtarr vor Staunen. Die treuloſen Beſucherinnen hatten 
beabſichtigt, Marja Alexandrowna dadurch zu erſchrecken, daß 
ſie ihr Geheimnis ſchon wuͤßten; ſie hatten beabſichtigt, ſie durch 
die vorzeitige Aufdeckung dieſes Geheimniſſes niederzuſchmet— 
tern; ſie hatten beabſichtigt, ſie vorlaͤufig nur durch bloße An— 
ſpielungen zu peinigen: und nun waren ſie durch eine ſolche 
kuͤhne Offenherzigkeit wie vor den Kopf geſchlagen. Eine fo 
furchtloſe Offenherzigkeit ließ auf innere Staͤrke ſchließen. „Alſo 
wird der Fuͤrſt tatſaͤchlich nach feinem eigenen Willen Sinaida 
heiraten? Alſo iſt er nicht angelockt, betrunken gemacht und ge— 
taͤuſcht worden? Alſo wird er nicht heimlicher, ſpitzbuͤbiſcher 
Weiſe zur Heirat gezwungen? Alſo fuͤrchtet Marja Alexan— 
drowna niemanden? Alſo iſt es nicht mehr möglich, dieſe Heirat 
zu hintertreiben, wenn der Fuͤrſt, ohne gezwungen zu ſein, 
heiratet?“ Ein ganz kurzes Gefluͤſter wurde vernehmbar, das 
ſich auf einmal in helle Freudenrufe verwandelte. Als erſte 
. ſtuͤrzte Natalja Dmitrijewna auf Marja Alexandrowna zu, um 
ſie zu umarmen; nach ihr Anna Nikolajewna und nach dieſer 
Feliſata Michailowna. Alle ſprangen von ihren Plaͤtzen in die 
Hoͤhe und rannten bunt durcheinander; viele der Damen waren 
blaß vor Wut. Sie begannen die verlegene Sinaida zu beglüd: 
wuͤnſchen; fie klammerten ſich ſogar an Afanaſi Matwjejewitſch. 
Marja Alexandrowna breitete maleriſch die Arme aus und druͤckte 
beinahe mit Gewalt ihre Tochter an ihre Bruſt. Nur der Fuͤrſt 
blickte auf dieſe Szene mit einem ſonderbaren Erſtaunen, ob— 
gleich er wie vorher laͤchelte. Übrigens gefiel ihm die Szene 


7 


236 Onkelchens Traum 


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zum Teil. Als er ſah, wie die Mutter ihre Tochter umarmte, 
zog er ſein Taſchentuch heraus und wiſchte ſich ſein Auge, in 
welches ein Traͤnchen getreten war. Natürlich ftürmten fie auch 
auf ihn mit Gluͤckwuͤnſchen ein. 

„Wir gratulieren, Fuͤrſt! Wir gratulieren!“ wurde von allen 
Seiten gerufen. 

„Alſo Sie heiraten?“ 

„Alſo heiraten Sie wirklich?“ 

„Liebſter Fuͤrſt, alſo Sie heiraten!“ 

„Nun ja, nun ja,“ antwortete der Fuͤrſt, der mit den Glüd: 
wuͤnſchen und dem allgemeinen Entzüden ſehr zufrieden war, 
„und ich geſtehe Ihnen, daß mir am allermeiſten Ihre liebens-⸗ 
wuͤrdige Anteilnahme gefällt, die ich nie-mals vergeſſen werde, 
nie-mals ver-geſ-ſen werde. Charmant! Charmant! Sie haben 
mich ſogar bis zu Traͤ-⸗nen ge-ruͤhrt ...“ 

„Geben Sie mir einen Kuß, Fuͤrſt!“ rief Feliſata Michailowna 
alle uͤbertoͤnend. $ 

„Und ich muß Ihnen geſtehen,“ fuhr der Fürft, häufig durch 
Ausrufe von allen Seiten unterbrochen, fort, „ich wundere mich 
am allermeiſten darüber, daß Marja Iwa-now-na, unſere ver- 
ehrte Wirtin, meinen Traum mit ſo außerordentlichem Scharf— 
ſinn erraten hat. Gerade als ob ſie ſtatt meiner dieſen Traum 
gehabt hätte. Ein au-ßer⸗or⸗dent⸗licher Scharfſinn! Ein au-ßer⸗ 
or⸗dent-licher Scharfſinn!“ 

„Ach, Fuͤrſt, reden Sie wieder von einem Traume?“ 

„Geſtehen Sie es doch ein, Fuͤrſt, geſtehen Sie es doch ein!“ 
riefen alle Damen, ihn umringend. 

„Ja, Fuͤrſt, es iſt kein Grund mehr, es zu verheimlichen; es 
iſt Zeit, dieſes Geheimnis offenzulegen!“ ſagte Marja Alexan— 
drowna in entſchiedenem, ernſtem Tone. „Ich habe Ihre feine 


Dreizehntes Kapitel 237 


bildliche Ausdrucksweiſe verſtanden und weiß das bezaubernde 
Zartgefuͤhl zu wuͤrdigen, mit dem Sie mir angedeutet haben, 
daß Sie eine Veroͤffentlichung Ihrer Verlobung wuͤnſchten. Ja, 
mesdames, das iſt die Wahrheit: der Fuͤrſt iſt heute vor meiner 
Tochter niedergekniet und hat ihr in wachem Zuſtande, und nicht 
im Traum, einen feierlichen Heiratsantrag gemacht.“ 

„Es war vollſtaͤndig wie in wachem Zuſtande, und ſogar die 
naͤ⸗he-ren Um:ſtaͤnde waren dieſelben,“ beſtaͤtigte der Fuͤrſt. 
„Mademoiſelle,“ fuhr er mit außerordentlicher Hoͤflichkeit fort, 
indem er ſich an Sinaida wandte, die von ihrem Erſtaunen 
immer noch nicht wieder zu ſich gekommen war, „Mademoiſelle! 
Ich ſchwoͤre Ihnen, daß ich nie gewagt haben wuͤrde, Ihren 
Namen auszuſprechen, wenn ihn nicht andere vor mir ausöge— 
ſpro⸗chen hätten. Es war ein entzuͤckender Traum, ein entzuͤk— 
kender Traum, und ich bin doppelt gluͤcklich, daß es mir vergoͤnnt 
iſt, Ihnen dies jetzt aus-zu⸗ſprechen. Charmant! Charmant !...“ 

„Aber ich bitte Sie, was ſtellt denn das vor? Er redet 
ja immer von einem Traume!“ fluͤſterte Anna Nikolajewna 
der aufgeregten und etwas blaß gewordenen Marja Alexan— 
drowna zu. 

Ach, Marja Alexandrownas Herz empfand auch ohne ſolche 
unheilverkuͤndenden Bemerkungen ſchon laͤngſt einen dumpfen 
Schmerz und bebte angftvoll. 

„Wie haͤngt das zuſammen?“ fluͤſterten die Damen und 
tauſchten bedeutſame Blicke aus. 

„Aber ich bitte Sie, Fuͤrſt,“ begann Marja Alexandrowna 
mit einem ſchmerzlich verzerrten Laͤcheln, „ich verſichere Ihnen, 
daß Sie mich in Erſtaunen verſetzen. Was iſt das bei Ihnen fuͤr 
eine ſonderbare Idee, daß Sie das nur getraͤumt haͤtten? Ich 
muß Ihnen geſtehen, ich habe bis jetzt geglaubt, daß Sie einen 


238 Onkelchens Traum 


Scherz machten; aber... Wenn es ein Scherz ift, fo iſt es ein 
ſehr übel angebrachter Scherz ... 1 will es gern auf Rede 
nung Ihrer Zerſtreutheit ſetzen, aber. к 

„Es iſt bei ihm vielleicht tatfächlich eine he von Zeritreufsg ; 
heit,“ liſpelte Natalja Dmitrijewna. N 

„Nun ja... vielleicht ift es eine Folge von Zerſtreutheit,“ 
ſtimmte ihr der Fuͤrſt bei, der immer noch nicht ganz verſtand, 
was man von ihm verlangte. „Und denken Sie ſich, da will ich 
Ihnen gleich ein Gezjchichtschen erzählen. Ich wurde in Peters: 
burg zu einer Be-erdigungsfeier eingeladen, in einer gewiſſen 
Familie, maison bourgeoise, mais honnéte, und ich glaubte irr⸗ 
tuͤmlich, zur Feier eines Namenstages eingeladen zu ſein. Aber | 
die Feier des Namenstages hatte ſchon in der vorhergehenden 
Wosche ſtatt⸗ge⸗funden. Ich beſtellte ein Kamelienbukett für die 
Dame, die, wie ich glaubte, ihren Namenstag beging. Ich trete 
ein, und was ſehe ich? Ein achtungswerter, aͤlterer Mann liegt 
als Leiche auf dem Tiſche, fo daß ich ganz erzftaunt war. Ich 
wußte gar nicht, wo ich mit dem Bu⸗kett blei⸗ben ſollte.“ 3 

„Aber, Fuͤrſt, um Geſchichtchen handelt es ſich hier nicht!“ 
unterbrach ihn Marja Alexandrowna aͤrgerlich. „Meine Tochter 
hat es wahrhaftig nicht noͤtig, auf Bewerber Jagd zu machen; 
aber heute nach Tiſche haben Sie ſelbſt hier an dieſem Flügel 
ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe Sie nicht dazu an- 
geregt ... Dieſer Antrag hat mich, ich kann wohl ſagen, 
frappiert ... Selbſtverſtaͤndlich ging mir damals ein Gedanke 
durch den Kopf; aber ich verſchob das alles bis zu Ihrem Erz 
wachen. Indes, ich bin eine Mutter, und fie iſt meine Tochter ... 
Sie ſelbſt haben ſoeben von einem Traume geſprochen, und ich 
glaubte, daß Sie in dieſer bildlichen Einkleidung von Ihrer Ver- 
lobung Mitteilung machen wollten. Ich weiß ſehr wohl, 5 Er 


N 


Dreizehntes Kapitel 239 


man Sie vielleicht irre macht ... ich habe f ogar eine Vermutung 
darüber, wer das tut... aber ... geben Sie jetzt recht ſchnell 
eine befriedigende Erklaͤrung ab, Fuͤrſt! In dieſer Weiſe darf 
man mit einer anſtaͤndigen Familie nicht Scherz treiben ...“ 

„Nun ja, in dieſer Weiſe darf man mit einer anſtaͤndigen 
Familie nicht Scherz treiben,“ pflichtete ihr der Fuͤrſt verſtaͤnd— 
nislos bei; indes begann er ſchon allmaͤhlich unruhig zu werden. 

„Aber das iſt keine Antwort auf meine Frage, Fuͤrſt. Ich 
bitte Sie, mir eine buͤndige Antwort zu geben; beſtaͤtigen Sie, 
beſtaͤtigen Sie hier ſogleich in Gegenwart aller, daß Sie vorhin 

meiner Tochter einen Heiratsantrag gemacht haben!“ 

„Nun ja, ich will es gern beſtaͤtigen. Übrigens habe ich das 
alles bereits erzaͤhlt, und Feliſata Jakowlewna hat meinen 
Traum ganz richtig erraten.“ 

„Es war kein Traum! Es war kein Traum!“ rief Marja 
Alexandrowna aufgebracht. „Es war kein Traum, ſondern Sie 
befanden ſich in wachem Zuſtande, Fuͤrſt, in wachem Zuſtande, 
hoͤren Sie wohl, in wachem Zuſtande!“ 

| „In wachen Zuſtande!“ rief der Fürft und erhob ſich er— 

ſtaunt von ſeinem Lehnſeſſel. „Nun, mein Freund, wie du es 
vorhin prophezeit haſt, ſo iſt es wirklich eingetroffen!“ fuͤgte er, 
zu Moſgljakow gewendet, hinzu. „Aber ich verſichere Ihnen, 
verehrte Marja Stepanowna, daß Sie ſich irren! Ich bin voll— 

kommen davon uͤberzeugt, daß ich das nur getraͤumt habe!“ 

5 O Gott, erbarme dich!“ rief Marja Alexandrowna. 

„Regen Sie ſich nicht auf, Marja Alexandrowna!“ miſchte 

ſich Natalja Dmitrijewna ein. „Der Fuͤrſt hat es vielleicht ver— 
geſſen . . . Er wird ſich wieder daran erinnern.“ 

„Ich bin erſtaunt uͤber Sie, Natalja Dmitrijewna,“ erwiderte 
Marja Alexandrowna empoͤrt; „kann man denn ſolche Dinge 


240 Onkelchens Traum 


vergeſſen? Iſt denn das menſchenmoͤglich? Ich bitte Sie, Fuͤrſt! 
Machen Sie ſich uͤber uns luſtig? Oder ahmen Sie vielleicht 
einen der von Dumas geſchilderten leichtfertigen Patrone aus 


der Zeit der Regentſchaft nach? So einen Fairelacour oder 


Lauzun? Aber abgeſehen davon, daß das nicht zu Ihren Jahren 
paßt, verſichere ich Ihnen, daß Ihnen das nicht gelingen wird! 


Meine Tochter iſt keine franzoͤſiſche Vikomteſſe. Vorhin hat ſie 


hier, ſehen Sie, hier an dieſer Stelle Ihnen ein Lied geſungen, 


und entzuͤckt von ihrem Geſange ſind Sie vor ihr auf die Knie 


gefallen und haben ihr einen Heiratsantrag gemacht. Phan— 


tafiere ich denn etwa? Schlafe ich denn? Reden Sie, Fuͤrſt: 


ſchlafe ich oder nicht?“ 
„Nun ja... übrigens vielleicht nicht ...“ antwortete der 


Fuͤrſt, der ganz verwirrt war. „Ich will nur ſagen, daß ich jetzt, 


wie ich glaube, nicht ſchlafe. Sehen Sie, vorhin habe ich ge— 
ſchlafen und habe geträumt, weil ich eben ſchlief ...“ 

„Mein Gott, was heißt das: nicht ſchlafen, ſchlafen, ſchlafen, 
nicht ſchlafen! Weiß der Teufel, was das heißen ſoll! Reden 
Sie im Fieber, Fuͤrſt?“ 

„Nun ja, weiß der Teufel... übrigens bin ich jetzt ſchon ganz 


konfus geworden, glaube ich .. .“ verſetzte der Fuͤrſt und ließ 


ſeine unruhigen Blicke rings umhergehen. 
„Aber wie koͤnnen Sie denn das getraͤumt haben,“ rief Marja 


Alexandrowna aufgeregt, „wenn ich doch Ihnen ſelbſt Ihren 


eigenen Traum mit ſolchen Einzelheiten erzaͤhle, obgleich Sie 


ihn noch niemandem von uns erzaͤhlt haben?“ | 
„Aber vielleicht hat ihn der Fürft doch ſchon jemandem er: 
zaͤhlt,“ meinte Natalja Dmitrijewna. 


"Ч 9 - 
А = 3 er 
* * 


„Nun ja, vielleicht habe ich ihn wirklich jemandem erzaͤhlt,“ 


ſtimmte ihr der Fuͤrſt, ganz faſſungslos, bei. 


dal 
Bad, 


a 


Dreizehntes Kapitel 241 


„Iſt das einmal eine Komödie!” flüsterte Feliſata Michai⸗ 
lowna ihrer Nachbarin zu. 

„Ach, du mein Gott! Aber da hoͤrt doch wirklich alle Geduld 
auf!“ rief Marja Alexandrowna und rang ganz außer ſich die 
Haͤnde. „Sie hat Ihnen doch ein Lied geſungen, ein Lied ge— 

ſungen! Haben Sie denn auch das nur getraͤumt?“ 

„Nun ja, es iſt mir wirklich, als ob ſie ein Lied geſungen haͤtte,“ 
murmelte der Fuͤrſt nachdenklich. 

Und auf einmal belebte eine Erinnerung ſein Geſicht. 

W Mein Freund,“ rief er, ſich zu Moſgljakow wendend, „ich 
vergaß vorhin dir zu ſagen, daß da wirklich ſo ein Lied geſungen 
wurde, und in dieſem Liede kamen immer Burgen vor, eine 

ganze Menge Burgen; und dann war da auch fo ein Troubadour! 
Nun ja, an alles das erinnere ich mich ... es war fo ruͤhrend, 
daß ich ſogar weinte ... Aber jetzt, ſiehſt du, bin ich wirklich 
bedenklich geworden und moͤchte glauben, daß ſich das in 
Wahrheit zugetragen hat und ich es nicht bloß getraͤumt 
habe.“ 

„Ich muß Ihnen geftehen, Onkelchen,“ antwortete Moſglja— 
kow mit moͤglichſter Ruhe, obgleich ihm die Stimme vor Auf— 

regung zitterte, „ich muß Ihnen geſtehen, es ſcheint mir, daß 

es ſehr leicht iſt, dieſe ganze Sache in befriedigender Weiſe zu 
erklaͤren. Ich glaube, Sie haben tatſaͤchlich Geſang gehoͤrt. 
Sinaida Afanaſjewna ſingt vorzuͤglich. Nach dem Mittageſſen 
ſind Sie hierhergefuͤhrt worden, und Sinaida Afanaſjewna hat 
Ihnen ein Lied vorgeſungen. Ich war damals nicht hier; aber 
Sie ſind wahrſcheinlich geruͤhrt geworden und haben ſich an alte 
Zeiten erinnert; vielleicht haben Sie ſich an eben jene Vikomteſſe 
erinnert, mit der Sie ſelbſt einmal Lieder geſungen haben, und 
von der Sie ſelbſt uns am Vormittag erzaͤhlt hatten. Nun, und 
LXXV. 16 


242 Onkelchens Traum 


als Sie ſich dann fchlafen gelegt hatten, da hat Ihnen infolge 
der angenehmen Empfindungen getraͤumt, daß Sie verliebt 
waͤren und einen Heiratsantrag machten ...“ 

Marja Alexandrowna war geradezu ſtarr über eine ſolche 
Frechheit. . 

„Ach, mein Freund, ſo wird es auch tatſaͤchlich geweſen ſein!“ 
rief der Fuͤrſt ganz entzuͤckt. „Eben infolge der angenehmen 
Empfindungen! Ich erinnere mich wirklich, daß mir ein Lied 
vorgeſungen wurde und ich deswegen im Traume heiraten 
wollte. Und die Erinnerung an die Vikomteſſe war mir eben- 
falls lebendig geworden... Ach, wie klug du das entraͤtſelt 
бай, mein Lieber! Nun, ich bin jetzt vollſtaͤndig davon uͤber- 
zeugt, daß ich das alles nur getraͤumt habe! Marja Waſiljewna! 
Ich verſichere Ihnen, daß Sie ſich geirrt haben! Es war ein 
Traum. Ich würde mir ja auch nicht erlauben, mit Ihren edel⸗ 
ſten Empfindungen mein Spiel zu treiben ...“ 

„Ah, jetzt ſehe ich deutlich, wer die ganze Sache verdorben 
hat!“ rief Marja Alexandrowna außer ſich vor Wut, indem fie 
ſich zu Moſgljakow wandte. „Sie, mein Herr, Sie ehrloſer 

Menſch, haben das alles angeſtiftet! Um ſich dafuͤr zu raͤchen, 
daß Sie ſelbſt einen Korb erhalten hatten, haben Sie мет 1 
ungluͤcklichen Idioten den Kopf wirr gemacht! Aber dieſen 
ſchaͤndlichen Streich ſollen Sie mir buͤßen, Sie nichtsmürdige: 
Menſch! Den ſollen Sie mir buͤßen, buͤßen, buͤßen!“ 

„Marja Alexandrowna!“ rief ſeinerſeits Moſgljakow, der rot 
wie ein Krebs geworden war. „Ihre Worte find dermaßen .. 
Ich weiß gar nicht, wie ich Ihre Worte bezeichnen ſoll . 
Keine feine Dame wird ſich erlauben... wenigſtens trete ich 
fuͤr meinen Verwandten ein. Sie muͤſſen doch ſelbſt ſagen, ih 
ſo zu verlocken ...“ 


un 


Dreizehntes Kapitel 243 


„Nun ja, ſo zu verlocken .. .“ echote der Fuͤrſt, der ſich hinter 
Moſgljakow zu verſtecken ſuchte. 

„Afanaſi Matwjejewitſch!“ kreiſchte Marja Alexandrowna mit 
einer Stimme, die gar nicht wie ihre eigene klang. „Hoͤren Sie 
denn nicht, wie man uns beſchimpft und entehrt? Oder haben 
Sie ſich ſchon vollſtaͤndig von all Ihren Pflichten losgeſagt? 
Sind Sie wirklich nicht ein Familienvater, ſondern ein haͤßlicher 
Holzklotz? Warum blinzeln Sie mit den Augen? Ein anderer 
Mann haͤtte ſchon laͤngſt die ſeiner Familie zugefuͤgte Be⸗ 
leidigung mit Blut abgewaſchen! ...“ 

„Liebe Frau!“ begann Afanaſi Matwjejewitſch mit wichtiger 
Miene, ſtolz darauf, daß man auch ſeiner zu benoͤtigen anfing. 
„Liebe Frau! Haſt du nicht wirklich das alles getraͤumt und dann 
beim Erwachen alles auf deine Art durcheinander gewirrt ...“ 

Aber es war ihm nicht beſchieden, ſeine ſcharfſinnige Ver— 
mutung vollſtaͤndig auszuſprechen. Bis dahin hatten die Gaͤſte 
ſich noch beherrſcht und ſich heimtuͤckiſcherweiſe den Anſchein 
wohlanſtaͤndiger Ehrbarkeit gegeben. Aber nun erfüllte eine 
laute Salve des unbaͤndigſten Gelaͤchters das ganze Zimmer. 
Marja Alexandrowna vergaß alle Regeln des Anſtandes und 
machte Miene, auf ihren Gatten loszuſtuͤrzen, wahrſcheinlich um 
ihm ſofort die Augen auszukratzen. Aber man hielt ſie mit Ge— 
walt feſt. Natalja Dmitrijewna benutzte die Umſtaͤnde und 
traͤufelte wenigſtens noch ein Troͤpfchen Gift hinzu. 

„Ach, Marja Alexandrowna, vielleicht iſt es auch wirklich ſo 
zugegangen; aber Sie regen ſich ſo auf,“ ſagte ſie in honigſuͤßem 
Tone. 

„Wie ſoll es zugegangen ſein? Was ſoll geſchehen ſein?“ 
ſchrie Marja Alexandrowna, die noch nicht recht verſtanden 
hatte. 


244 Onkelchens Traum 


„Ach, Marja Alexandrowna, ſo etwas kommt doch manchmal 
Bor 
„Was kommt denn vor? Wollen Sie mich foltern?“ 
„Vielleicht haben Sie es wirklich nur getraͤumt.“ | 
„Getraͤumt? Ich geträumt? Und Sie wagen es, mir das 
gerade ins Geſicht zu ſagen?“ 
„Nun, vielleicht iſt es doch wirklich ſo geweſen,“ miſchte ſich 
Feliſata Michailowna hinein. N 
„Nun ja, vielleicht ift es doch wirklich fo geweſen,“ eme 
auch der Fuͤrſt. 
„Auch er, auch er haut wieder in denſelben Kerb! Herr du 
mein Gott!“ rief Marja Alexandrowna und ſchlug die Haͤnde | 
zufammen. 
„Wie Sie fich aufregen, Marja Alexandrowna! Denken Sie 
doch daran, daß Traͤume von Gott kommen. Und wenn Gott 
etwas will, ſo kann Ihn niemand hindern, und alles geſchieht 
nach Seinem heiligen Willen. Sich daruͤber zu erzuͤrnen, iſt 
zwecklos.“ 
„Nun ja, ſich daruͤber zu erzuͤrnen, iſt zwecklos,“ wiederholte 
der Fuͤrſt. | 
„Aber halten Sie mich denn für eine Wahnſinnige, wie?“ 
brachte Marja Alexandrowna nur mit Muͤhe hervor, da die Wut 
ihr den Atem verſetzte. Das ging ſchon uͤber menſchliche Kraft 
hinaus. Sie ſuchte eilig einen Stuhl und fiel in Ohnmacht. Es 
entſtand ein wildes Durcheinander. 
„Sie ift doch nur aus Anſtand in Ohnmacht gefallen,“ fluͤſterte 
Natalja Dmitrijewna ihrer Freundin Anna Nikolajewna ins Ohr. 
Aber in dieſem Augenblicke, in dem Augenblicke, wo die ver⸗ 
ſtaͤndnisloſe Verwunderung der Anweſenden ihren Gipfelpunkt 
erreicht hatte und die Spannung dieſer ganzen Szene auf den 


Vierzehntes Kapitel 245 


hoͤchſten Grad geftiegen war, trat plößlich eine bis dahin ſtumme 
Perſon hervor — und ſofort aͤnderte ſich der ganze Charakter 
der Szene... 


Vierzehntes Kapitel 


Sinaida Afanaſjewna hatte in ihrem ganzen Weſen eine ſehr 
romantiſche Anſchauungsweiſe. Wir wiſſen nicht, ob dies, wie 
Marja Alexandrowna ſelbſt behauptete, daher kam, daß ſie 
„dieſen dummen“ Shakeſpeare mit „ihrem jaͤmmerlichen Schul: 
meiſter“ zuviel geleſen hatte; aber noch nie waͤhrend ihres ganzen 
Lebens in Mordaſow hatte ſich Sinaida eine ſo ungewoͤhnlich 
romantiſche oder, richtiger geſagt, heroiſche Handlung erlaubt, 
wie die, welche wir jetzt ſogleich ſchildern werden. 

Blaß, mit entſchloſſenem Blicke, aber faſt zitternd vor Auf— 
regung, wunderbar ſchoͤn in ihrer Empoͤrung, trat ſie vor. Nach— 
dem ſie einen langen, herausfordernden Blick uͤber alle An— 
weſenden hatte hingleiten laſſen, wandte ſie ſich, inmitten des 
ploͤtzlich eintretenden Stillſchweigens an ihre Mutter, die bei der 
erſten Bewegung der Tochter ſogleich wieder aus ihrer Ohn— 
macht zu ſich gekommen war und die Augen geoͤffnet hatte. 

„Mama,“ ſagte Sinaida, „wozu die Betruͤgerei? Wozu 
ſollen wir uns noch durch Luͤge beflecken? Alles iſt ſchon jetzt 
dermaßen ſchmutzig, daß es wirklich nicht die erniedrigende Muͤhe 
lohnt, dieſen Schmutz zu verbergen!“ 

„Sinaida! Sinaida! Was iſt mit dir? Komm zur Beſin— 
nung!“ rief Marja Alexandrowna erſchrocken und ſprang von 
ihrem Lehnſtuhl auf. 

„Ich habe Ihnen geſagt, ich habe Ihnen von vornherein ge— 
ſagt, Mama, daß ich all dieſe Schmach nicht ertragen werde,“ 
fuhr Sinaida fort. „Iſt es denn unumgänglich nötig, daß wir 


246 Onkelchens Traum 


uns noch mehr erniedrigen, uns noch mehr beſchmutzen? Wiſſen 
Sie aber, Mama, daß ich alles auf mich nehmen werde, weil ich 
die groͤßte Schuld trage. Ich, ich habe durch meine Einwilligung 
dieſe garſtige Intrige ermöglicht! Sie find eine Mutter; Sie 
lieben mich; Sie wollten auf Ihre Art und nach Ihren Be⸗ 
griffen mein Gluͤck zimmern. Ihnen kann man noch verzeihen, 
aber mir, mir niemals!“ i 
„Sinaida, willſt du denn wirklich alles erzählen?... O Gott, | 
ich ahnte es, daß dieſer Dolchſtoß meinem Herzen nicht erfpart 
bleiben würde!” 
„Ja, Mama, ich werde alles erzählen! Ich bin beſchimpft; 
Sie und wir alle ſind beſchimpft!“ : 
„Du uͤbertreibſt, Sinaida! Du bift außer dir und weißt nicht, 
was du redeſt! Und wozu willſt du alles erzaͤhlen? Das hat ja 
keinen Sinn ... Wir brauchen uns nicht zu ſchaͤmen. Ich werde 
ſofort nachweiſen, daß wir uns nicht zu ſchaͤmen brauchen ...“ 
„Nein, Mama!“ rief Sinaida mit einer Stimme, die vor 
Zorn zitterte, „ich will nicht länger vor dieſen Leuten ſchweigen, 
deren Meinung ich verachte, und die nur hergekommen ſind, um 
ſich über uns luſtig zu machen! Ich will keine Beleidigungen von 
ihnen ertragen; keine von dieſen Damen hat das Recht, mich mit 
Schmutz zu bewerfen. Sie wuͤrden alle auf der Stelle bereit 
ſein, Dinge zu tun, die dreißigmal ſchlimmer waͤren als das, was 
ich und Sie getan haben! Dürfen fie es wagen, find fie dazu ges 
eignet, unſere Richterinnen zu ſein?“ 
„Nun, das iſt ja nett! Höre mal einer, in welchem Tone die 
redet! Was ſoll das vorſtellen? Wir werden hier beleidigt!“ 
wurde von allen Seiten gerufen. 
„Sie weiß ofſenbar ſelbſt nicht, was ſie redet,“ ſagte Natalja 
Dmitrijewna. 3 


9 


an: 
u 
33 


Vierzehntes Kapitel 247 


Wir bemerken in Parentheſe, daß Natalja Dmitrijewna recht 


hatte. Wenn Sinaida dieſe Damen nicht fuͤr wuͤrdig hielt, ſie 


zu richten, welchen Zweck hatte es dann, ihnen ſolche Ent— 
huͤllungen und Bekenntniſſe zu machen? Überhaupt uͤbereilte 
ſich Sinaida Afanaſjewna gar zu ſehr. Das war in der Folge 
auch die Meinung der beſten Koͤpfe in Mordaſow. Alles haͤtte 


ſich noch zurechtſchieben und in Ordnung bringen laſſen! Aller— 


dings hatte auch Marja Alexandrowna an dieſem Abende durch 


ihre Eilfertigkeit und durch ihren Hochmut ſich ſelbſt geſchadet. 


Sie haͤtte ſich nur uͤber den idiotiſchen alten Mann luſtig zu 


machen und ihn aus dem Hauſe zu jagen brauchen! Aber Sinaida 


wandte ſich, als ob ſie abſichtlich gegen alle geſunde Vernunft 


und gegen die Mordaſower Weisheitsregeln handeln wollte, an 


den Fuͤrſten. 

„Fuͤrſt,“ ſagte fie zu dem alten Manne, der ſich ſogar reſpekt— 
voll von feinem Stuhle erhob, fo imponierte fie ihm in dieſem 
Augenblicke. „Fuͤrſt! Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie uns! 
Wir haben Sie getaͤuſcht, wir haben Sie verlockt ...“ 

„Willſt du wohl ſchweigen, Ungluͤckliche!“ rief Marja Alexan— 
drowna außer ſich. 

„Gnaͤdige Frau, gnaͤdige Frau! Ma charmante enfant.“ 
murmelte der konſternierte Fuͤrſt. 

Aber Sinaidas ſtolzer, impulſiver und im hoͤchſten Grade 


phantaſtiſcher Charakter riß fie in dieſem Augenblicke fort, gegen 


alle von dem realen Leben geforderten Anſtandsruͤckſichten. Sie 
vergaß ſogar ihre Mutter, die infolge dieſer Geſtaͤndniſſe geradezu 
von Kraͤmpfen befallen wurde. 

„Ja, wir haben Sie beide getaͤuſcht, Fuͤrſt: meine Mutter 
dadurch, daß ſie Sie dahin brachte, mir einen Heiratsantrag zu 


machen, und ich dadurch, daß ich meine Zuſtimmung dazu gab. 


соя 


248 Onkelchens Traum 


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Sie wurden mit Wein halb trunken gemacht; ich willigte ein, 
Ihnen etwas vorzuſingen und mich Ihnen gegenüber zu ver 
ſtellen. Wir haben Sie, den Schwachen, Schutzloſen, über: 
tölpelt, wie ſich Pawel Alexandrowitſch ausgedruͤckt hat; wir 
haben Sie uͤbertoͤlpelt wegen Ihres Reichtums und wegen Ihres 
Fuͤrſtentitels. Alles das war furchtbar gemein, und ich bereue 
es tief. Aber ich ſchwoͤre Ihnen, Fuͤrſt, daß ich mich zu dieſer 
Gemeinheit nicht aus gemeinen Motiven entſchloſſen hatte. Ich 
wollte... Aber was rede ich! Es iſt eine doppelte Gemeinheit, 
ſich in einer ſolchen Sache rechtfertigen zu wollen! Aber ich 
verſichere Ihnen, Fuͤrſt, daß ich, wenn ich etwas von Ihnen er: 
halten haͤtte, dafuͤr Ihr Spielzeug, Ihre Magd, Ihre Taͤnzerin, 
Ihre Sklavin geweſen wäre... das hatte ich mir geſchworen, 
und ich wuͤrde meinen Schwur gewiſſenhaft gehalten haben!“ 
Ein heftiger Krampf in der Kehle zwang ſie in dieſem Augen— 
blicke innezuhalten. Alle Gaͤſte waren geradezu ſtarr geworden 
und hörten mit weit geöffneten Augen zu. Das uͤberraſchende 
und ihnen ganz unbegreifliche Auftreten Sinaidas hatte ſie voll— 
ſtaͤndig verbluͤfft. Nur der Fuͤrſt war bis zu Traͤnen geruͤhrt, 
obwohl er kaum die Haͤlfte von dem verſtanden hatte, was 
Sinaida geſagt hatte. 
„Aber ich werde Sie heiraten, ma belle enfant, wenn Sie es 
wirklich wuͤn-⸗ſchen,“ murmelte er „und das wird für mich eine 
große Ehre fein! Nur verſichere ich Ihnen, daß es tat⸗-ſaͤch- lich 
wie ein Traum war... Nun, was träume ich nicht alles zu- 
ſammen? Wozu regen Sie ſich alſo fo auf? Ich habe ſogar 
eigentlich noch nichts begriffen, mon ami,“ fuhr er, zu Moſglja- 
kow gewendet, fort; „bitte, mach wenigſtens du mir dir Sache 
9 3 
„Und Sie, Pawel Alexandrowitſch,“ unterbrach ihn Sinaida, 


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Vierzehntes Kapitel f 249 


ſich ebenfalls an Moſgljakow wendend, „Sie, den ich eine Zeit⸗ 
lang ſchon beinahe als meinen kuͤnftigen Gatten betrachtete, 


} Sie, der ſich jetzt ſo grauſam an mir gerächt hat, konnten auch 


Sie ſich auf die Seite dieſer Leute ſchlagen, um mich zu de— 
muͤtigen? Und Sie ſagten, daß Sie mich liebten! Aber es ſteht 
mir nicht zu, Sie moraliſches Verhalten zu lehren! Ich bin 
ſchuldiger als Sie. Ich habe Ihnen Übles getan; denn ich habe 
Sie tatſaͤchlich durch Verſprechungen hingehalten, und meine 
heutigen Außerungen waren Luͤge und Hinterliſt! Ich habe Sie 
nie geliebt, und wenn ich mich entſchloſſen haͤtte, Sie zu heiraten, 
ſo haͤtte ich es einzig und allein getan, um von hier irgendwohin 
wegzukommen, weg aus dieſer verdammten Stadt, und um all 
dieſen Schmutz einmal loszuwerden. Aber ich ſchwoͤre Ihnen: 
wenn ich Sie geheiratet haͤtte, ſo waͤre ich Ihnen eine gute, 
treue Frau geweſen ... Sie haben ſich grauſam an mir geraͤcht, 
und wenn das Ihrem Stolze ſchmeichelt ...“ 

„Sinaida Afanaſjewna!“ rief Moſgljakow. 

„Wenn Sie immer noch einen Haß gegen mich hegen ...“ 

„Sinaida Afanaſjewna!!“ 

„Wenn Sie mich jemals,“ fuhr Sinaida, ihre Traͤnen nieder— 
kaͤmpfend, fort, „wenn Sie mich jemals geliebt haben ...“ 

„Sinaida Afanaſjewna!!!“ 

„Sinaida, Sinaida, meine Tochter!“ rief Marja 1 
drowna klaͤglich. 

„Ich bin ein Schurke, Sinaida Afanaſjewna, ich bin ein 
Schurke und weiter nichts!“ verſicherte Moſgljakow, und alle 
gerieten in eine gewaltige Aufregung. Ausrufe des Erſtaunens 
und der Entruͤſtung ließen ſich vernehmen; aber Moſgljakow 
ſtand wie angeſchmiedet auf ſeinem Flecke, unfaͤhig zu denken 
und ratlos... 


250 Onkelchens Traum 


Zür ſchwache, hohle Charaktere, die an beſtaͤndige Unter 
ordnung gewoͤhnt ſind und endlich einmal den Entſchluß faſſen, 
ſich aufzulehnen und zu empoͤren und feſt und konſequent zu . 
fein, gibt es immer eine nicht fo ferne Grenzlinie ihrer Feſtig⸗ 
keit und Konſequenz. Ihre Auflehnung iſt anfangs gewoͤhnlich 
recht energiſch. Ihre Energie geht ſogar bis zur Raſerei. Sie 
ſtuͤrzen gleichſam mit zugekniffenen Augen auf die Hinderniſſe 1 
los und laden ſich immer eine ihre Kräfte faft überfteigende Laſt 
auf die Schultern. Aber wenn der Raſende bis zu einem be: 
ſtimmten Punkte gelangt iſt, ſo macht er ploͤtzlich, als ob er vor 
ſich ſelbſt einen Schreck bekaͤme, wie betäubt halt und legt ſich 
die ſchreckliche Frage vor: „Was habe ich da angerichtet?“ Dann 
wird er ſofort matt, ſchluchzt, verlangt eine Ausſprache, faͤllt auß 
die Knie, bittet um Verzeihung und fleht, es moͤge alles beim 
Alten belaffen werden; aber nur ſchnell, fo ſchnell wie irgend 
möglich, möchte er feine Bitte erhoͤrt ſehen! ... Faſt dasſelbe 
begab ſich jetzt mit Moſgljakow. Nachdem er außer ſich geraten 
und wuͤtend geworden war, nachdem er ein Unheil angerichtet 
hatte, das er jetzt in feinem ganzen Umfange nur ſich allein zus 
ſchrieb, nachdem er feiner Entruͤſtung und feinem verletzten Ehr⸗ 
gefühl Genuͤge getan und wegen feiner Handlungsweiſe einen J 
Haß auf ſich ſelbſt geworfen hatte: da machte er auf einmal, von 
Gewiſſensbiſſen gequält, vor Sinaidas unerwartetem, kuͤhnem 
Schritte halt. Ihre letzten Worte ſchlugen ihn voͤllig zu Boden. 
Der Übergang von einem Extrem in das andere war das Werk 
eines Augenblickes. 5 

„Ich bin ein Eſel, Sinaida Afanaſjewna!“ rief er in einem 
Anfall wuͤtender Reue. „Nein, was fage ich: cin Eſel'?? Das 
ift noch gar nichts gefagt! Ich bin unvergleichlich viel ſchlechter 

als ein Eſel! Aber ich werde es Ihnen beweiſen, Sinaida 


x 


Vierzehntes Kapitel 251 


Afanaſjewna, ich werde es Ihnen beweiſen, daß auch ein Eſel 

ein anftändiger Menſch fein kann!... Onkelchen! Ich habe 

Sie betrogen! Ich, ich, ich habe Sie betrogen! Sie haben es 

nicht getraͤumt; Sie haben wirklich, in wachem Zuſtande, einen 

Heiratsantrag gemacht, und ich, ich Schurke, habe aus Rach— 

ſucht, weil ich einen Korb bekommen hatte, Ihnen eingeredet, 
daß Sie das alles nur getraͤumt haͤtten.“ 

„Da kommen ja erſtaunlich merkwuͤrdige Dinge zutage,“ 
ziſchelte Natalja Dmitrijewna ihrer Freundin Anna Nikolajewna 
ins Ohr. 

„Mein Freund,“ antwortete der Fuͤrſt, „bitste, be⸗ru⸗hi⸗ge 
dich; du haſt mich wirklich durch dein Schreien erſchreckt. Ich 
ver⸗ſi⸗che⸗re dir, daß du dich irrſt ... Ich bin ja meinetwegen 
bereit zu heiraten, wenn es nun einmal nöstig iſt; aber du ſelbſt 
бай mich ja davon uͤberzeugt, daß es nur ein Traum war ...“ 

„Oh, wie ſoll ich Sie nun vom Gegenteil uͤberzeugen! Wer 
gibt mir an, wie ich ihn jetzt vom Gegenteil uͤberzeugen kann? 
Onkelchen, Onkelchen! Das iſt ja doch eine wichtige Sache, eine 
hoͤchſt wichtige Familienangelegenheit! Sammeln Sie doch 
Ihre Gedanken! Denken Sie nach!“ 

„Nun gut, mein Freund, ich werde nach-den-ken. Warte mal; 
geſtatte, daß ich mir alles nach der Reihe ins Gedaͤchtnis zuruͤck— 
rufe. Zuerſt traͤumte mir von meinem Kutſcher Fe⸗o-fil ...“ 

„Ach! Um Feofil handelt es ſich jetzt doch nicht, Onkelchen!“ 

„Nun ja, nehmen wir an, daß es ſich jetzt nicht um ihn han— 
delt. Dann war da Na-po⸗-le-on; und dann war mir, als ob wir 
Tee traͤnken und eine Dame kaͤme und uns allen Zucker weg— 
aße 

„Aber Onkelchen,“ platzte Moſgljakow in einer temporären 
Verdunkelung ſeines Verſtandes heraus, „das hat Ihnen ja Marja 


252 Onkelchens Traum 


Alexandrowna ſelbſt heute uͤber Natalja Dmitrijewna erzaͤhlt! 
Ich bin ja dabei geweſen und habe es ſelbſt gehoͤrt! Ich hatte 
mich verſteckt und belauſchte Sie durch das Schluͤſſelloch ...“ 

„Wie, Marja Alexandrowna!“ unterbrach ihn Natalja Dmitri⸗ 
jewna, „alſo haben Sie auch ſchon dem Fuͤrſten erzaͤhlt, daß ich 
bei Ihnen Zucker aus der Doſe geſtohlen haͤtte! Alſo komme ich 
zu Ihnen, um Zucker zu ſtehlen!“ 

„Hinaus! Machen Sie, daß Sie aus meinem Hauſe kom— 
men!“ ſchrie Marja Alexandrowna, die nun ganz in Verzweif— 
lung geraten war. 

„Nein, nicht ‚hinaus‘, Marja Alexandrowna; erlauben Sie 
ſich nicht, fo zu mir zu reden! . . . alſo ich ſtehle bei Ihnen Zucker? 
Ich habe ſchon laͤngſt gehoͤrt, daß Sie ſolche Schaͤndlichkeiten 
uͤber mich in Umlauf bringen. Sofja Petrowna hat es mir aus— 
fuͤhrlich erzaͤhlt ... Alſo ich ſtehle bei Ihnen Zucker? ...“ 

„Aber, mesdames,“ rief der Fuͤrſt, „das habe ich ja doch nur 
geträumt! Was träume ich nicht alles zuſammen? ...“ 

„So ein verdammtes Trampeltier!“ murmelte Marja Alexan— 
drowna halblaut. 

„Was? Ich bin ein Trampeltier?“ kreiſchte Natalja Dmitri⸗ 
jewna. „Aber Sie, was ſind Sie denn fuͤr eine? Ich weiß 
laͤngſt, daß Sie mich ein Trampeltier nennen! Ich habe wenig— 
ſtens einen richtigen Ehemann; aber Sie, Sie haben einen 
Dummkopf zum Manne ...“ | 

„Nun ja, ich erinnere mich, es war auch ein Златгре Нет 


da,“ murmelte der Fuͤrſt unbewußt vor ſich hin, in Erinnerung м 


an das Geſpraͤch, das er nach Tiſche mit Marja Alexandrowna 
gehabt hatte. 

„Wie? Auch Sie erdreiſten ſich, eine adlige Dame mit 
Schimpfworten zu belegen? Wie koͤnnen Sie ſich unterſtehen, 


Vierzehntes Kapitel 253 


Fuͤrſt, fo etwas zu einer adligen Dame zu ſagen? Wenn ich ein 
Trampeltier bin, dann find Sie ein einbeiniger Kruͤppel ...“ 

„Wer? Ich ein einbeiniger Kruͤppel?“ 

„Na ja, ein einbeiniger Kruͤppel; und Zaͤhne haben Sie auch 
nicht. Nun haben Sie es gehoͤrt, was Sie fuͤr einer ſind!“ 

„Und dazu iſt er auch noch einaͤugig!“ rief Marja Alexan— 
drowna. | 

„Sie tragen ein Korfett ftatt der Rippen!” fügte Natalja 
Dmitrijewna hinzu. 

„Die Geſichtshaut iſt durch Sprungfedern geſpannt!“ 

„Eigenes Haar hat er auch nicht! ...“ 

„Und der Schnurrbart des Dummrians iſt ebenfalls falſch!“ 
verſicherte Marja Alexandrowna. 

„Aber meine Naſe werden Sie doch wenigſtens echt ſein 
laſſen, Marja Stepanowna!“ rief der Fuͤrſt, ganz betaͤubt durch 
dieſe ploͤtzlichen Offenherzigkeiten. „Mein Freund! Daran biſt 
du ſchuld; du haſt mich verraten; du haſt erzaͤhlt, daß ich falſches 
Haar trage ...“ 

„Onkelchen!“ 

„Nein, mein Freund, ich kann hier nicht laͤnger bleiben! 
Bringe mich irgendwo anders hin... Quelle société! Wohin 
haſt du mich hier gebracht, mein Gott!“ 

„Sie Idiot, Sie Schuft!“ ſchrie Marja Alexandrowna. 

„Mein Gott!“ ſagte der Fuͤrſt, der ganz blaß geworden war, 
„ich habe nur ein we-nig ver:gef-fen, warum ich eigentlich Мет: 
her gekommen bin; aber ich werde mich ſo-gleich darauf Бег 
ſin⸗nen. Bringe mich fort, lieber Freund, irgendwohin; ſonſt 
zer⸗rei⸗ßen fie mich hier noch! Und außerdem... muß ich un: 
ver⸗zuͤglich einen neuen Gedanken niederſchreiben ...“ 

„Kommen Sie, Onkelchen, es iſt noch nicht ſpaͤt; ich werde 


254 Onkelchens Traum 


Sie ſogleich in ein e bringen und I ſelbſt mit рлел | 
dort einquartieren. 

„Nun ja, in ein Saft: haus. Adieu, ma а enfant. 
Sie allein .. . nur Sie allein ... find tugendhaft. Sie find ein 


ed⸗les Maͤd⸗chen! Laß uns gehen, mein Lieber! O mein Gott!“ 


Aber ich werde nicht ſchildern, wie dieſe unangenehme Szene 
nach dem Fortgange des Fuͤrſten endete. Die Gaͤſte fuhren | 
unter Geſchrei und Schimpfworten ab. Marja Alexandrowna 
blieb endlich allein zuruͤck, inmitten der Ruinen und Truͤmmer 
ihres fruͤheren Ruhmes. O weh! Ihre Macht, ihr Ruhm, ihr 
Anſehen, alles war an dieſem einen Abend dahingegangen. 
Marja Alexandrowna ſah ein, daß ſie ſich nie wieder zu ihrer 
fruͤheren Hoͤhe wuͤrde erheben koͤnnen. Der langjaͤhrige Deſpo⸗ 
tismus, den ſie uͤber die ganze Geſellſchaft ausgeuͤbt hatte, war 
unwiederbringlich vernichtet. Was blieb ihr jetzt uͤbrig zu tun? 
Sich philoſophiſch zu tröften? Aber das lag nicht in ihrem Weſen. 
Sie wuͤtete die ganze Nacht hindurch. Sinaida war entehrt; es 
wuͤrde einen endloſen Klatſch geben! Schauderhaft! 

Als wahrheitsliebender Hiſtoriker muß ich erwaͤhnen, daß der— 
jenige, der bei Marja Alexandrownas katzenjaͤmmerlicher Stim— 
mung die meiſte Schelte abbekam, Afanaſi Matwjejewitſch war. 
Er verkroch ſich ſchließlich in eine Rumpelkammer, wo er bis zum 
Morgen arg fror. Endlich brach auch der Morgen an; aber auch 
der brachte nichts Gutes. Ein Ungluͤck kommt nie allein. | 


Fuͤnfzehntes Kapitel 
Wenn das Schickſal einmal jemanden mit Ungluͤck heimſucht, 
fo folgt auch Schlag auf Schlag ohne Ende. Das iſt ſchon laͤngſt 
beobachtet worden. An der Schmach und Schande, von der 
Marja Alexandrowna am vorhergehenden Tage betroffen wor⸗ 


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| 


Fuͤnfzehntes Kapitel 255 


den war, war es noch nicht genug! Nein! Das Schickſal hatte 
noch Argeres, Schlimmeres für fie in Bereitſchaft. 

Schon vor zehn Uhr morgens verbreitete ſich auf einmal in 
der ganzen Stadt ein ſeltſames und faſt unglaubliches Geruͤcht, 
das von allen mit der boshafteſten Schadenfreude aufgenommen 
wurde, das heißt in der Weiſe, wie wir gewoͤhnlich jede außer— 
ordentliche Skandalgeſchichte aufnehmen, die ſich mit einem von 
unſeren Bekannten zutraͤgt. „Bis zu einem ſolchen Grade ſich 
von Scham und Gewiſſen loszuſagen!“ wurde von allen Seiten 
gerufen; „bis zu einem ſolchen Grade ſich zu erniedrigen; bis zu 
einem ſolchen Grade alle Bande zu zerreißen!“ und ſo weiter, 
und ſo weiter. Was ſich aber zugetragen hatte, war folgendes. 
Fruͤh morgens, es war eben erſt ſieben Uhr, kam ein armes, 
klaͤgliches altes Weib in Verzweiflung und Traͤnen in Marja 
Alexandrownas Haus gelaufen und bat das Stubenmaͤdchen, ſo 
ſchnell wie moͤglich das gnaͤdige Fraͤulein zu wecken, nur das 
gnaͤdige Fraͤulein, und zwar heimlich, damit Marja Alexan— 
drowna es ja nicht merke. Sinaida kam, blaß und erſchrocken, 
ſogleich zu der Alten herausgelaufen. Dieſe fiel vor ihr nieder, 
kuͤßte ihr die Fuͤße, benetzte ſie mit Traͤnen und flehte ſie an, 
ohne Verzug mit ihr zu ihrem kranken Waſili zu kommen, der 
die ganze Nacht uͤber ſo krank, ſo krank geweſen ſei, daß er dieſen 
Tag nicht mehr uͤberleben werde. Die Alte ſagte ſchluchzend zu 
Sinaida, Waſili ſelbſt ließe ſie zu ſich rufen, um in ſeiner Todes— 
ſtunde von ihr Abſchied zu nehmen; er beſchwoͤre ſie bei allen 
heiligen Engeln, bei allem, was fruͤher geweſen ſei; und wenn 
ſie nicht komme, ſo werde er in Verzweiflung ſterben. Sinaida 
entſchloß ſich ſogleich dazu, mitzugehen, obwohl die Erfuͤllung 
einer ſolchen Bitte offenbar allen fruͤheren boshaften Geruͤchten 
über eine zutage gekommene Korreſpondanz, Über ihr ſkanda— 


256 Onkelchens Traum 


lojes Benehmen und fo weiter zur Beſtaͤtigung dienen mußte. | 


Ohne ihrer Mutter etwas davon zu ſagen, warf fie einen Mantel 


um und lief ſogleich mit der alten Frau durch die ganze Stadt 


nach einer der aͤrmlichſten Vorſtaͤdte Mordaſows, nach einer ganz 
einſamen Straße, wo ein altes, ſchief gewordenes, halb in die 
Erde geſunkenes Haͤuschen ſtand, mit einer Art von Ritzen ſtatt 
der Fenſter und rings von hohen Schneewehen umgeben. 

In dieſem Haͤuschen, in einem kleinen, niedrigen, dumpfigen 
Stuͤbchen, in dem der gewaltige Ofen die Haͤlfte des ganzen 
Raumes einnahm, lag auf einem aus unangeſtrichenen Brettern 
zuſammengeſchlagenen Bette, auf einer Matratze, die ſo duͤnn 
war wie ein Eierkuchen, ein junger Mann, mit einem alten 
Mantel zugedeckt. Sein Geſicht war blaß und ausgemergelt; 
die Augen glaͤnzten krankhaft; die Arme waren duͤnn und hart 
wie Stoͤcke; er atmete muͤhſam und heiſer. Es war ihm anzu— 
ſehen, daß er einmal ſchoͤn geweſen ſein mußte; aber die Krank— 
heit hatte die feinen Zuͤge ſeines huͤbſchen Geſichtes zerſtoͤrt, 
welches ſchrecklich und klaͤglich anzuſchauen war, wie das Geſicht 
eines jeden Schwindſuͤchtigen oder, richtiger geſagt, Sterbenden. 
Seine alte Mutter, die ein ganzes Jahr lang, beinah bis zur 
letzten Stunde, auf die Geneſung ihres Waſili gewartet hatte, 
ſah nun endlich ein, daß er nicht mehr lange leben werde. Sie 
ſtand jetzt neben ſeinem Bette, von Gram gebeugt, mit ge— 
falteten Haͤnden, ohne Traͤnen, ſah ihn an und konnte ſich an ihm 
nicht ſattſehen und vermochte, obgleich ſie es wußte, dennoch 
nicht zu begreifen, daß nach einigen Tagen ihren Waſili, ihr 
Goldkind, dort auf dem Armenkirchhof die gefrorene Erde unter 
den Schneewehen bedecken werde. Aber Waſili blickte in dieſem 
Augenblicke nicht nach ihr hin. Sein ganzes abgemagertes 
Maͤrtyrergeſicht atmete jetzt Seligkeit. Er ſah endlich diejenige 


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Fuͤnfzehntes Kapitel 257 


vor ſich, von der er ganze zwei Jahre lang getraͤumt hatte, 
im Wachen und im Schlafe, in den langen, ſchmerzerfuͤllten 
Naͤchten ſeiner Krankheit. Er verſtand, daß ſie ihm verziehen 
hatte, da ſie wie ein Engel Gottes in ſeiner Todesſtunde bei ihm 
erſchienen war. Sich uͤber ihn beugend druͤckte ſie ihm die Haͤnde, 
weinte, laͤchelte ihm zu, blickte ihn wieder mit ihren wunder— 
vollen Augen an, und — und alles Fruͤhere, unwiederbringlich 
Verlorene, erſtand in der Seele des Sterbenden von neuem. 
Das Leben flammte noch einmal in ſeinem Herzen auf, und es 
ſchien, als wollte es in dem Augenblicke, wo es ihn verließ, den 
Dulder empfinden laſſen, wie ſchwer es ſei, von ihm zu ſcheiden. 

„Sinaida,“ ſagte er, „liebe Sinaida! Weine nicht uͤber mich, 
graͤme dich nicht, ſei nicht traurig, erinnere mich nicht daran, daß 
ich bald ſterben werde. Ich werde dich anſehen, ſo wie ich dich 
jetzt anſehe, und werde fuͤhlen, daß unſere Seelen wieder ver— 
einigt ſind, daß du mir verziehen haſt; ich werde wieder deine 
Haͤnde kuͤſſen wie fruͤher und werde vielleicht ſterben, ohne den 
Tod zu merken! Du biſt mager geworden, liebe Sinaida! Du 
mein Engel, mit welcher Herzensguͤte du mich jetzt anſiehſt! 
Erinnerſt du dich wohl noch, wie du fruͤher gelacht haſt? Er— 
innerſt du dich wohl noch ... Ach, Sinaida, ich bitte dich nicht 
um Verzeihung; ich will das Geſchehene nicht einmal erwaͤhnen; 
denn, liebe Sinaida, wenn auch du mir vielleicht verziehen haſt, 
ſo werde doch ich ſelbſt mir niemals verzeihen. Es hat lange 
Nächte gegeben, Sinaida, ſchlafloſe, ſchreckliche Nächte, und in 
dieſen Naͤchten habe ich hier auf dieſem Bette gelegen und nach— 
gedacht, lange und viel hin und her gedacht, und ich bin ſchon 
laͤngſt zu der Erkenntnis gelangt, daß es fuͤr mich das beſte iſt, 
wenn ich ſterbe, weiß Gott, das beſte! ... Ich tauge nicht zum 
Leben, liebe Sinaida!“ IRA 
LXXV. 17 


258 Onkelchens Traum 


Sinaida weinte und druͤckte ſtumm feine Hände, als wollte 
ſie ihm dadurch das Weiterreden wehren. 4 
„Warum weinſt du, mein Engel?“ fuhr der Kranke fort. 
„Weinſt du deswegen, weil ich ſterbe, nur deswegen? Aber alles 
uͤbrige iſt ja ſchon laͤngſt geſtorben, ſchon laͤngſt begraben! Du 
biſt kluͤger als ich, du haft ein reineres Herz, und daher weißt du 
ſchon laͤngſt, daß ich ein ſchlechter Menſch bin. Kannſt du mich 
denn noch lieben? Und wie ſchwer ift es mir geworden, den Ge⸗ 
danken zu ertragen, daß du es weißt, daß ich ein ſchlechter, hohler 
Menſch bin! Aber wieviel Eigenliebe dabei war, vielleicht auch 
Eigenliebe von edler Art... ich weiß es nicht! Ach, meine 
Teure, mein ganzes Leben war eine phantaſtiſche Traͤumerei. 
Ich habe mich immer meinen phantaſtiſchen Traͤumereien übers 
laſſen, aber ich habe nicht gelebt; ich bin ſtolz geweſen und habe 
den großen Haufen verachtet; aber worauf bin ich den Menſchen 
gegenuͤber ſtolz geweſen? Ich weiß es ſelbſt nicht. Auf meine 
Herzensreinheit, auf den Adel meiner Gefuͤhle? Aber das wa 
ja alles nur in meinen Traͤumereien vorhanden, Sinaida, wenn 
wir Shakeſpeare laſen; aber wenn es zum Handeln kam, dann 
zeigte ich, wie es mit meiner Herzensreinheit und mit dem Ade 
meiner Gefuͤhle ſtand ...“ | 
„Hoͤr auf!“ ſagte Sinaida, „Hör auf! ... Das ift alles un- 
richtig; du marterſt dich ohne Grund!“ | 
„Warum willſt du, daß ich aufhöre, Sinaida? Ich weiß, du 
haſt mir verziehen, mir vielleicht ſchon laͤngſt verziehen; aber du 
haſt uͤber mich zu Gericht geſeſſen und erkannt, was ich fuͤr ein 
Menſch bin; das iſt es, was mich quaͤlt. Ich bin deiner Liebe 
unwuͤrdig, Sinaida! Du biſt auch im Handeln ehrenhaft 15 
hochherzig geweſen; du bift vor deine Mutter hingetreten und 
haſt ihr geſagt, du werdeſt mich heiraten und keinen andern, und 


Fuͤnfzehntes Kapitel 259 


du haͤtteſt dein Wort gehalten; denn bei dir ſtehen die Taten 


nicht im Widerſpruch zu den Worten. Aber ich, ich! Als es 
zum Handeln kam ... Weißt du wohl, Sinaida, daß ich damals 


nicht einmal begriff, was du mir für ein Opfer braͤchteſt, wenn 


du mich heirateteſt! Nicht einmal dafuͤr hatte ich Verſtaͤndnis, 
daß du, wenn du mich heirateteſt, vielleicht Hungers ſterben 
wuͤrdeſt. Ja, dieſer Gedanke kam mir uͤberhaupt nicht! Ich 
dachte nur, du wuͤrdeſt mich, den großen Dichter (natuͤrlich den 
großen Dichter, der ich zu werden hoffte), heiraten, und wollte 
die Gruͤnde nicht gelten laſſen, die du zur Unterſtuͤtzung deiner 
Bitte um Aufſchub der Hochzeit anfuͤhrteſt; ich quaͤlte dich, 
tyranniſierte dich, machte dir Vorwuͤrfe, verachtete dich, und es 
kam ſchließlich dahin, daß ich dir mit einer Veröffentlichung jenes 
Briefes drohte. Ich war in dieſem Augenblicke nicht einmal ein 
richtiger Schurke. Ich war einfach ein jaͤmmerlicher Kerl! Oh, 
wie mußteſt du mich verachten! Nein, es iſt gut, daß ich ſterbe! 


Es iſt gut, daß du mich nicht geheiratet haſt! Ich haͤtte nichts 
von deinem Opfer begriffen; ich haͤtte dich gequaͤlt, dich wegen 


unſerer Armut gepeinigt; ja, nach einer Reihe von Jahren haͤtte 
ich dich vielleicht ſogar als ein Hemmnis meines Lebens gehaßt. 
Aber jetzt iſt es beſſer! Jetzt haben wenigſtens meine bitteren 
Traͤnen mein Herz gereinigt. Ach, liebe Sinaida! Liebe mich, wenn 
auch nur ein klein bißchen, ſo wie du mich fruͤher liebteſt! Wenn 
auch nur in dieſer letzten Stunde... Ich weiß ja, daß ich deiner 
Liebe nicht würdig bin, aber... aber... o du mein Engel!“ 
Waͤhrend dieſer ganzen Rede hatte Sinaida, die ſelbſt ſchluchzte, 
ihn mehrmals am Weiterreden zu hindern verſucht. Aber er 
hatte nicht auf ſie gehoͤrt; es quaͤlte ihn das Verlangen, ſich ganz 
auszuſprechen, und er hatte fortgefahren zu reden, wiewohl nur 
muͤhſam, keuchend, mit heiſerer, faſt verſagender Stimme. | 


260 Onkelchens Traum 


„Wenn du mir nicht begegnet waͤreſt und mich nicht lieb ge- 


wonnen haͤtteſt, ſo waͤreſt du am Leben geblieben!“ ſagte | 
Sinaida. „Ach, warum, warum find wir zuſammengekommen!“ 


„Nein, meine Teure, nein, mache dir keine Vorwuͤrfe des- 
wegen, weil ich ſterbe,“ fuhr der Kranke fort. „Ich allein bin 
an allem ſchuld! Und wieviel Eitelkeit und Romantik war dabei! 
Hat man dir das Naͤhere uͤber die Dummheit erzaͤhlt, die ich da— 
mals beging, Sinaida? Siehſt du, es war hier vor etwa drei 
Jahren ein Unterſuchungsgefangener, ein Boͤſewicht und Moͤr⸗ 
der; aber als er nun verurteilt war und koͤrperlich gezüchtigt 
werden ſollte, da erwies er ſich als der kleinmuͤtigſte Menſch. 
Da er wußte, daß an einem Kranken die Züchtigung nicht voll⸗ 
ſtreckt wird, fo verſchaffte er ſich Branntwein, ſchuͤttete Schnupf⸗ 
tabak hinein und trank es aus. Er bekam davon ein ſo heftiges, 
ſo andauerndes Bluterbrechen, daß es ihm die Lungen ruinierte. | 
Er wurde ins Lazarett gebracht und ſtarb nach einigen Monaten 
an der Schwindſucht. Nun, ſiehſt du, mein Engel, an dieſen Ge: 
fangenen erinnerte ich mich gleich an jenem Tage... nun, du 
weißt ſchon, nach der Geſchichte mit dem Briefe... und ich be⸗ 
ſchloß, mich ebenſo umzubringen: aber was meinſt du wohl, 
weshalb ich gerade die Schwindſucht waͤhlte? Warum erhaͤngte 
oder ertraͤnkte ich mich nicht? Hatte ich Furcht vor einem 
ſchnellen Tode? Vielleicht auch das, — aber ich habe immer die 
Vorſtellung, liebe Sinaida, als ob es bei mir auch damals nicht 
ohne ſuͤße romantiſche Dummheiten abging! Ich hatte immer 
den Gedanken: wie ſchoͤn wird es fein, wenn ich als Schwind 
ſuͤchtiger ſterbend auf meinem Bette liegen werde und du dich 
quälen und martern wirft, weil du an meiner Schwindſucht 
ſchuld ſeieſt; du wirſt ſelbſt mit dem Bekenntnis deiner Schuld 
zu mir kommen und vor mir auf die Knie fallen. Ich werde dir 


Fuͤnfzehntes Kapitel 261 


— 


verzeihen und in deinen Armen ſterben ... Das Ш dumm, liebe 
Sinaida, ſehr dumm; nicht wahr?“ 

„Denke nicht an dieſe Dinge!“ ſagte Sinaida. „Sprich nicht 
davon! Ein ſolcher Menſch biſt du nicht ... laß uns lieber an 
anderes zuruͤckdenken, an unſere ſchoͤne, gluͤckliche Zeit!“ 

„Es iſt mir ein bitterer Schmerz, meine Teure; darum rede 
ich davon. Zwei Jahre lang habe ich dich nicht geſehen! Jetzt 
moͤchte ich meine ganze Seele offen vor dich hinlegen! Dieſe 
ganze Zeit uͤber, von damals an, bin ich ja voͤllig allein geweſen, 
und ich glaube, es iſt keine Minute geweſen, wo ich nicht an dich 
gedacht haͤtte, mein Engel, mein Augapfel! Und weißt du was, 
liebe Sinaida? Wie gern haͤtte ich etwas getan, mich irgendwie 
ſo verdient gemacht, daß ich dich gezwungen haͤtte, deine Mei— 
nung uͤber mich zu aͤndern. Bis auf die letzte Zeit hatte ich nicht 
geglaubt, daß ich ſterben würde; ich war ja nicht ſogleich Вен: 
laͤgerig geworden, ich ging noch lange mit kranker Bruſt umher. 
Und wie viele laͤcherliche Plaͤne ich hatte! Ich phantaſierte zum 
Beiſpiel davon, auf einmal ein großer Dichter zu werden, in 
den ‚Vaterlaͤndiſchen Aufzeichnungen‘ ein ſolches Gedicht ет 
ſcheinen zu laſſen, wie bisher noch keines auf der Welt exiſtiert 
hat. Ich gedachte, in dieſem Gedichte alle meine Gefuͤhle auszu— 
ſtroͤmen, meine ganze Seele, ſo daß, wo du auch ſein moͤchteſt, 
ich immer bei dir waͤre und dich unaufhoͤrlich durch meine Verſe 
an mich erinnerte; und meine ſchoͤnſte Traͤumerei war die: du 
wuͤrdeſt endlich nachdenklich werden und ſagen: ‚Nein, er iſt doch 
kein fo ſchlechter Menſch, wie ich gedacht habe!“ Das war dumm, 
liebe Sinaida, ſehr dumm, nicht wahr?“ 

„Nein, nein, Waſili, nein!“ ſagte Sinaida. 
Sie warf ſich an ſeine Bruſt und kuͤßte ſeine Haͤnde. 
„Und wie eiferſuͤchtig ich die ganze Zeit uͤber geweſen bin! 


262 Onkelchens Traum 


Ich glaube, ich waͤre geſtorben, wenn ich von deiner Hochzeit 
gehoͤrt haͤtte! Ich habe heimlich zu dir geſchickt und ausſpionieren u 
laſſen, was du tateſt ... Пе" (er wies durch eine Kopfbewegung 
auf ſeine Mutter hin) „hat das immer beſorgt. Du haſt dieſen 
Moſgljakow doch nicht geliebt, liebe Sinaida? O mein Engel! 
Wirſt du auch an mich denken, wenn ich werde geſtorben ſein? 
Ich weiß, daß du es tun wirſt; aber die Jahre werden vergehen, 
und dein Herz wird erkalten, und es wird Winter in deiner Seele 
werden, und du wirſt mich vergeſſen, liebe Sinagida!“ ö 
„Nein, nein, niemals! Ich werde auch nicht heiraten... Du 
bift der erſte, den ich liebgewonnen habe; ich werde dich lebens- 
länglich lieben ...“ | 
„Alles ftirbt, liebe Sinaida, alles, ſogar die Erinnerungen. 
Auch unſere edlen Gefuͤhle ſterben. An ihre Stelle tritt die Ver⸗ 
nunft. Daruͤber darf man nicht murren! Genieße das Leben, 
Sinaida, lebe lange, lebe gluͤcklich! Liebe auch einen andern, 
wenn er dir gefaͤllt; einen Toten kannſt du ja doch nicht lieben! 
Nur vergiß mich nicht; denke wenigſtens mitunter an mich; an 
das Schlechte denke nicht zuruͤck, verzeihe das Schlechte; es hat 
ja in unſerer Liebe doch auch Gutes gegeben, liebe Sinaida! 
O die goldenen, unwiederbringlichen Tage! ... Höre, mein 
Engel, ich habe immer die Abendzeit, die Stunde des Sonnen- 
unterganges geliebt. Erinnere dich meiner ab und zu in dieſer 
Stunde! O nein, nein! Warum muß ich ſterben? O wie gern 
moͤchte ich jetzt ein neues Leben beginnen! Gedenke, meine 
Teure, gedenke, gedenke jener Zeit! Damals war Fruͤhling, und 
die Sonne ſchien ſo hell, die Blumen bluͤhten, rings um uns war 
gleichſam ein Feiertag ... Aber jetzt! Sieh hin, ſieh hin!“ 
Und der Arme wies mit ſeiner abgezehrten Hand nach dem 
befrorenen trüben Fenſter. Dann ergriff er Sinaidas Hände, 


wg 


Fuͤnfzehntes Kapitel 263 
druͤckte fie an feine Augen und ſchluchzte bitterlich. aa Schluch⸗ 


zen ſprengte faſt ſeine gequaͤlte Bruſt. 


Den ganzen Tag über litt er, haͤrmte ſich und weinte. Sinaida 
tröftete ihn, fo gut fie konnte; aber fie ſelbſt war vor Seelen— 
ſchmerz dem Tode nahe. Sie ſagte, ſie werde ihn nie vergeſſen 
und nie einen andern ſo lieben, wie ſie ihn geliebt habe. Er 
glaubte es ihr, lächelte und kuͤßte ihr die Hände; aber die Er— 
innerungen an die Vergangenheit hatten nur die Wirkung, ſeine 
Seele zu quälen und zu martern. So verging der ganze Tag. 
Unterdeſſen hatte die erſchrockene Marja Alexandrowna wohl 
zehnmal zu Sinaida geſchickt und ſie bitten laſſen, ſie moͤchte doch 
nach Hauſe zuruͤckkehren und ihr Renommee bei der Geſellſchaft 


nicht vollſtäͤndig verderben. Endlich, als es ſchon dunkel wurde, 


entſchloß fie ſich, vor Angſt faſt kopflos, ſelbſt zu Sinaida Вт: 
zugehen. Sie ließ ihre Tochter in die andere Stube rufen und 


flehte ſie beinah fußfaͤllig an, „ihrem Herzen doch dieſen letzten, 
ſchlimmſten Dolchſtoß zu erſparen“. Sinaida, ganz krank, mit 


gluͤhendem Kopfe, hörte die Bitten ihrer Mutter an, ohne fie 
zu verſtehen. Marja Alexandrowna ging endlich wieder fort, 
voller Verzweiflung, da Sinaida ſich vorgenommen hatte, in 
dem Hauſe des Sterbenden zu uͤbernachten. Die ganze Nacht 
uͤber wich ſie nicht von ſeinem Bette. Aber der Zuſtand des 
Kranken verſchlimmerte ſich immer mehr. Ein neuer Tag brach 


an; aber es war keine Hoffnung mehr, daß der Dulder ihn bis 


zu Ende erleben werde. Die alte Mutter war wie eine Irr⸗ 
ſinnige; ſie ging umher, als ob ſie nichts begriffe, und reichte 
ihrem Sohne die Arzneien; dieſer wollte ſie jedoch nicht mehr 
nehmen. Sein Todeskampf dauerte lange. Er konnte nicht mehr 
reden, und nur unzuſammenhaͤngende, heiſere Laute brachen 
aus ſeiner Bruſt hervor. Bis zum letzten Momente ſah er immer 


264 Onkelchens Traum 


nach Sinaida hin, ſuchte ſie immer mit ſeinen Blicken, und als 
es ihm ſchon dunkel um die Augen wurde, taſtete er immer noch 
mit unſicherer, irrender Hand nach der ihrigen, um ſie in der 
ſeinigen zu druͤcken. Unterdeſſen verging der kurze Wintertag. 
Und als endlich der letzte ſcheidende Strahl der Sonne das Бе: 
frorene einzige Fenſterchen der kleinen Stube vergoldete, da flog 
die Seele des Dulders aus dem entkraͤfteten Koͤrper dieſem 
Strahle nach. Als die Mutter den Leichnam ihres heißgeliebten 
Waſili vor ſich liegen ſah, ſchlug ſie die Haͤnde zuſammen, ſchrie 
auf und warf ſich an die Bruſt des Toten. 4 

„Du argliftige Schlange, du bift es geweſen, die ihn behext 
hat!“ ſchrie ſie in ihrer Verzweiflung Sinaida zu. „Du haſt ihn 
mir entriſſen, du Verfluchte; du haſt ihn zugrunde gerichtet, du 
Übeltaͤterin!“ | 

Aber Sinaida hörte nichts mehr. Sie ſtand wie denkunfaͤhig 
neben dem Toten. Endlich beugte ſie ſich uͤber ihn, bekreuzte 
ihn, kuͤßte ihn und ging mechaniſch aus der Stube hinaus. Ihre 
Augen brannten, der Kopf war ihr ſchwindlig. Die qualvollen 
Empfindungen und die zwei faſt ſchlafloſen Naͤchte hatten ſie 
beinahe des Verſtandes beraubt. Sie hatte das unklare Gefühl, 
daß ihre ganze Vergangenheit ſich gewiſſermaßen von ihrem 
Herzen losriß und ein neues, finſteres, unheildrohendes Leben 
begann. Aber ſie war noch nicht zehn Schritte gegangen, als 
Moſgljakow wie aus der Erde gewachſen vor ihr ſtand; er ſchien 
abſichtlich an dieſer Stelle auf ſie gewartet zu haben. | 

„Sinaida Afanaſjewna,“ begann er fluͤſternd; er ſchien ſich 
vor etwas zu fürchten und blickte ſich eilig nach allen Seiten um; 
denn es war noch ziemlich hell; „Sinaida Afanaſjewna, ich bin 
allerdings ein Eſel! Das heißt, eigentlich bin ich jetzt kein Eſel 
mehr; denn, ſehen Sie, ich habe mich doch anſtaͤndig benommen. 


Fuͤnfzehntes Kapitel 265 


Aber doch bereue ich, daß ich ein Eſel war... Ich bin, glaube 
ich, etwas verwirrt, Sinaida Afanaſjewna; aber . . . Sie werden 
es entſchuldigen; das hat verſchiedene Gründe..." 

Sinaida ſah ihn an, faſt ohne ſich deſſen bewußt zu ſein, und 
ſetzte ſchweigend ihren Weg fort. Da auf dem hohen Holz— 
trottoir zwei Perſonen nebeneinander nur knapp Platz hatten, 
Sinaida aber nicht aus der Mitte wegtrat, ſo ſprang Pawel 
Alexandrowitſch vom Trottoir hinunter und lief unten neben ihr 
her, wobei er ihr fortwaͤhrend ins Geſicht blickte. 

„Sinaida Afanaſjewna,“ fuhr er fort, „ich habe uͤber die Sache 
nachgedacht, und wenn Sie ſelbſt wollen, ſo moͤchte ich meinen 
Heiratsantrag erneuern. Ich bin ſogar bereit, alles zu vergeſſen, 
Sinaida Afanaſjewna, den ganzen ſchmaͤhlichen Vorgang zu 
vergeſſen und zu verzeihen, aber nur unter einer Bedingung: 
ſolange wir noch hier ſind, muß alles geheim bleiben. Sie fahren 
von hier moͤglichſt bald weg, und ich heimlich Ihnen nach; wir 
laſſen uns irgendwo an einem abgelegenen Orte trauen, ſo daß 
kein Menſch etwas davon erfaͤhrt, und reiſen dann ſofort nach 
Petersburg, meinetwegen mit Relaispferden; Sie koͤnnen alſo 
nur einen kleinen Koffer mitnehmen ... was meinen Sie dazu? 
Sind Sie einverſtanden, Sinaida Afanaſjewna? Antworten Sie 
ſo ſchnell wie moͤglich! Ich kann nicht warten; man koͤnnte uns 
zuſammen ſehen.“ 

Sinaida gab ihm keine Antwort und ſah ihn nur an, aber mit 
einem ſolchen Blicke, daß er ſogleich alles verſtand, den Hut ab— 
nahm, ſich verbeugte und bei der erſten Straßenkreuzung ſeit— 
waͤrts abbog. 

„Wie geht das zu?“ dachte er. „Vorgeſtern abend war ſie 
noch ſo geruͤhrt und legte ſich die Schuld an allem bei? Da ſieht 
man, daß ein Tag nicht wie der andere iſt!“ 


266 Onkelchens Traum 


Unterdeſſen jagten in Mordaſow die Ereigniſſe einander nur 
fo. Es begab ſich etwas recht Tragiſches. Der Fuͤrſt, der von 
Moſgljakow in ein Gaſthaus gebracht worden war, erkrankte 
noch in derſelben Nacht, und zwar recht gefährlich. Die Ein- 
wohner von Mordaſow erfuhren dies am naͤchſten Morgen. 
Kaliſt Staniſlawitſch wich faſt nicht vom Bette des Kranken. 
Am Abend wurde ein Konſilium aller Mordaſower Arzte ver⸗ 
anſtaltet. Die Einladungen dazu waren an ſie in lateinifher 
Sprache ergangen. Aber trotz des Lateins verlor der Fuͤrſt ſchon р 
ganz dag Gedächtnis, phantaſierte, bat Kalift Staniſlawitſch, ihm | 
ein gewiſſes Lied zu fingen, und redete von irgendwelchen 3 
Peruͤcken; manchmal ſchien er über etwas zu erſchrecken und 
fing an zu ſchreien. Die Arzte ſprachen ihre Anſicht dahin aus, Е 
der Fuͤrſt habe von der Mordaſower Gaſtfreundſchaft eine 
Magenentzuͤndung bekommen, die auf irgendeine Weiſe (wahr⸗ 
ſcheinlich ſo en passant) auch in den Kopf gelangt ſei. Auch eine 
gewiſſe ſeeliſche Erſchuͤtterung ſtellten ſie nicht in Abrede. Sie 
ſchloſſen ihr Gutachten mit der Bemerkung, der Fuͤrſt ſei ſchen 
ſeit laͤngerer Zeit zum Sterben disponiert geweſen und werde a 
daher unfehlbar ſterben. In dem letzten Punkte hatten ſie ſich 
nicht geirrt; denn der arme alte Mann ſtarb wirklich am folgen⸗ 
den Tage im Gaſthauſe. Das verſetzte die Einwohner von 
Mordaſow in Aufregung. Niemand hatte erwartet, daß die . 
Sache eine ſo ernſte Wendung nehmen werde. Sie ſtuͤrzten in 
Scharen nach dem Gaſthofe hin, wo der noch nicht zurecht⸗ 
gemachte Leichnam lag, erörterten den Fall, disputierten mit⸗ 
einander, ſchuͤttelten die Köpfe und fällten ſchließlich ein ſcharfes 
Verdammungsurteil uͤber „die Moͤrderinnen des ungluͤcklichen 
Fuͤrſten“, worunter ſie natuͤrlich Marja Alexandrowna und ihre 
Tochter verſtanden. Alle hatten die Empfindung, daß dieſer Vor⸗ 

$ 


Fuͤnfzehntes Kapitel 267 


fall, ſchon allein wegen feines ſkandaloͤſen Charakters, eine uns 
angenehme Publizitaͤt gewinnen koͤnne, vielleicht ſogar in ferne= 
ren Gegenden bekannt werden wuͤrde, und was nicht ſonſt noch 
alles geredet und geſchwatzt wurde. Waͤhrend dieſer ganzen Zeit 
war Moſgljakow in geſchaͤftiger Taͤtigkeit, rannte haſtig nach 
allen Seiten und wurde zuletzt ganz ſchwindlig. In dieſem 
Seelenzuſtande hatte er ſich befunden, als er mit Sinaida zu— 
ſammentraf. In der Tat war ſeine Lage eine ſchwierige. Er 
ſelbſt hatte den Fuͤrſten in die Stadt gebracht; er ſelbſt hatte ihn 
dann in das Gaſthaus transportiert; aber jetzt wußte er nicht, 
was er mit der Leiche anfangen, wie und wo er ſie begraben 
laſſen und wem er Mitteilung machen ſollte. Sollte er die Leiche 
nach Duchanowo ſchaffen? Überdies galt er als Neffe. Die Be— 
fuͤrchtung, man koͤnnte ihm die Schuld an dem Tode des ver— 
ehrten alten Herrn beimeſſen, brachte ihn zum Zittern. „Am 
Ende wird die Geſchichte gar noch in Petersburg bekannt, in den 
Kreiſen der hoͤchſten Geſellſchaft!“ dachte er, vor Schreck zu— 
ſammenfahrend. Von den Mordaſowern konnte er keinerlei Rat 
erhalten; alle hatten auf einmal vor irgend etwas Bange be— 
kommen, zogen ſich von der Leiche zuruͤck und ließen Moſgljakow 
in trauriger Vereinſamung zuruͤck. Aber auf einmal aͤnderte ſich 
die ganze Szene. Am naͤchſten Tage kam fruͤh morgens ein 
Fremder in die Stadt gefahren. Von dieſem Fremden ſprach 
ſofort ganz Mordaſow, aber nur heimlich und fluͤſternd, und als 
er durch die Hauptſtraße zum Gouverneur fuhr, da beobachtete 
man ihn durch alle Ritzen und Fenſter. Sogar Peter Michailo— 
witſch ſelbſt ſchien es mit der Angſt zu bekommen und nicht zu 
wiſſen, wie er ſich dem Ankoͤmmling gegenuͤber zu verhalten habe. 
Der Fremde war der ziemlich bekannte Fuͤrſt Schtſchepetilow, 
ein Verwandter des Verſtorbenen, faſt noch ein junger Menſch, 


268 Onkelchens Traum 


etwa fuͤnfunddreißig Jahre alt, mit Oberſtenepauletts und 
Achſelſchnuͤren. Alle Beamten ergriff eine ganz beſondere 
Furcht vor dieſen Achſelſchnuͤren. Der Polizeimeiſter zum Bei- 
ſpiel verlor vollftändig die Faſſung; er erſchien zwar perſoͤnlih, 
um feine Aufwartung zu machen, aber mit ſehr aͤngſtlichem Ge⸗ 
ſichte. Es wurde ſogleich bekannt, daß Fuͤrſt Schtſchepetilow aus 
Petersburg kam und unterwegs nach Duchanowo herangefahren 
war. Da er in Duchanowo niemanden vorgefunden hatte, war 
er ſeinem Onkel nach Mordaſow nachgefahren, wo er bei der 
Nachricht von dem Tode des alten Mannes und bei all den Ge: 
ruͤchten uͤber die naͤheren Umſtaͤnde ſeines Todes wie vom 
Donner gerührt war. Peter Michailowitſch war ſogar einiger 
maßen verlegen, als er ihm die notwendigen Mitteilungen 
machte, und auch alle Leute in Mordaſow machten gewiſſer⸗ 
maßen ſchuldbewußte Geſichter. Überdies hatte der Ankoͤmm⸗ 
ling eine recht ſtrenge, unzufriedene Miene, obgleich man haͤtte 
meinen ſollen, daß die Erbſchaft keinen Grund zur Unzufrieden⸗ 
heit bot. Er nahm die Sache ſofort ſelbſt und perſoͤnlich in die 
Hand; Moſgljakow aber räumte unverzüglich in ſchmaͤhlicher 
Weiſe das Feld vor dem richtigen und ſich nicht nur ſelbſt ſo 
nennenden Neffen und verſchwand, niemand wußte wohin. Der 
Ankoͤmmling ordnete an, es folle die Leiche des Verſtorbenen 
ſofort nach dem Kloſter geſchafft und dort auch das Totenamt 
abgehalten werden. Alle feine Befehle gab er in kurzer, trodes 
ner, ſtrenger, aber durchaus taktvoller, anſtaͤndiger Form. Am 
folgenden Tage verſammelte ſich die ganze Einwohnerſchaft der 
Stadt im Kloſter, um dem Totenamte beizuwohnen. Unter den 
Damen hatte ſich das ſinnloſe Geruͤcht verbreitet, Marja Alexan⸗ 
drowna werde perſoͤnlich in der Kirche erſcheinen, vor dem Sarge 
niederknien und laut um Verzeihung bitten; all das müffe nach 


Fuͤnfzehntes Kapitel 269 


dem Geſetze fo fein. Selbſtverſtaͤndlich ftellte ſich das alles als 
Unſinn heraus, und Marja Alexandrowna erſchien nicht in der 
Kirche. Wir haben vergeſſen zu ſagen, daß, gleich nachdem 
Sinaida nach Hauſe zuruͤckgekehrt war, ihre Mama ſich noch an 
demſelben Abend entſchloſſen hatte, mit ihr nach dem Gute zu 
fahren, da ſie es fuͤr unmoͤglich erachtete, laͤnger in der Stadt 
zu bleiben. Dort horchte ſie unruhig von ihrem abgelegenen 
Winkel aus auf die in der Stadt umlaufenden Geruͤchte, ſchickte 
Leute aus, um uͤber den Ankoͤmmling Erkundigungen einzu— 
ziehen, und befand ſich die ganze Zeit uͤber in fieberhafter Auf— 
regung. Der Weg von dem Kloſter nach Duchanowo fuͤhrte in 
einer Entfernung von weniger als einer Werft an Marja Alexan— 
drownas laͤndlichem Hauſe vorbei, und daher konnte ſie bequem 
die lange Prozeſſion beobachten, die ſich nach dem Totenamte 
vom Kloſter nach Duchanowo hinbewegte. Der Sarg wurde auf 
einem hohen Leichenwagen gefahren; hinter ihm zog ſich die 
lange Reihe der Equipagen hin, die dem Verſtorbenen das Ge— 
leite bis dahin gaben, wo der Weg zur Stadt abbog. Und noch 
lange blieb auf dem weißbeſchneiten Felde der ſchwarze, duͤſtere 
Leichenwagen ſichtbar, wie er ſich langſam, mit geziemender 
Wuͤrde dahinbewegte. Aber Marja Alexandrowna mochte dieſes 
Schauſpiel nicht lange betrachten und trat vom Fenſter zuruͤck. 
Eine Woche darauf ſiedelte ſie mit ihrer Tochter und mit 
Afanaſi Matwjejewitſch nach Moskau uͤber, und einen Monat 
ſpaͤter erfuhr man in Mordaſow, daß Marja Ale xandrownas bei 
der Stadt gelegenes Gut und ihr Stadthaus verkauft wuͤrden. 
So verlor Mordaſow für alle Zeit eine Dame mit dem hoͤchſten 
comme il faut! Auch bei dieſer Gelegenheit ging es nicht ohne 
uͤble Nachrede ab. Zum Beiſpiel wurde behauptet, das Gut 
werde mitſamt Afanaſi Matwjejewitſch verkauft ... Es ver: 


270 Onkelchens Traum 


ging ein Jahr und noch ein Jahr, und man vergaß Marja 
Alexandrowna faſt vollſtaͤndig. Leider geht es in der Welt 
immer ſo zu! Es wurde uͤbrigens erzählt, fie habe ſich ein anderes 
Gut gekauft und ſei in eine andere Gouvernementsſtadt ge— 4 
zogen, wo fie felbftverftändlich auch ſchon alle unter ihre Herr— 4 
ſchaft gebracht Бабе; Sinaida ſei immer noch unverheiratet, und 
Afanaſi Matwjejewitſch ... Aber es hat keinen Zweck, dieſe 
Gerüchte wiederzugeben; all das ЦЕ ſehr unzuverlaͤſſig. 


* 


Drei Jahre ſind vergangen, ſeit ich die letzte Zeile der erſten 
Abteilung der Mordaſower Chronik niedergeſchrieben habe, und 
wer haͤtte gedacht, daß ich noch einmal Anlaß haben wuͤrde, mein 
Manufkript wieder aufzuſchlagen und zu meiner Erzählung noch 
eine Mitteilung hinzuzufuͤgen. Aber zur Sache! Ich beginne 
mit Pawel Alexandrowitſch Moſgljakow. Nachdem er aus Mor: 
daſow verſchwunden war, hatte er ſich direkt nach Petersburg 
begeben, wo er denn auch gluͤcklich das Amt erhielt, das man ihm 
ſchon lange verſprochen gehabt hatte. Bald hatte er alle Morda-⸗ 
ſower Ereigniſſe vergeſſen, ſich auf der Waſili-Inſel und am 
Galeerenhafen in den Strudel des lebemaͤnniſchen Treibens ge⸗ 
ſtuͤrzt, dem Jeu gefroͤnt, geflirtet, war nicht „hinter ſeiner Zeit 
zuruͤckgeblieben“, hatte einen Heiratsantrag gemacht, noch ein⸗ 
mal eine abſchlaͤgige Antwort hinunterſchlucken muͤſſen und, noch 
ehe er ſie recht verdaut hatte, infolge der Leichtfertigkeit ſeines 
Charakters und aus Langerweile ſich um eine Stelle bei einer 
Expedition bemuͤht, die nach einem der fernſten Gebiete unſeres 
weitausgedehnten Vaterlandes abgehen ſollte, um dort eine Nez 
viſion vorzunehmen, oder zu irgendwelchem andern Zwecke, 
genau weiß ich das nicht. Die Expedition durchquerte gluͤcklich 3 


Fuͤnfzehntes Kapitel 271 


alle Wälder und Einoͤden und erſchien endlich nach langer Reife 
in der Hauptſtadt jenes fernen Gebietes bei dem General— 
gouverneur. Dies war ein hochgewachſener, hagerer, ernſt— 
blickender General, ein alter, in Schlachten verwundeter Krieger, 
mit zwei Ordensſternen auf der Bruſt und mit einem weißen 
Ordenskreuze am Halſe. Er empfing die Expedition zere— 
1101158 und wuͤrdevoll und lud alle Mitglieder derſelben zu ſich 
zu einem Balle ein, der bei ihm gerade an dieſem Abende an— 
laͤßlich des Namenstages der Frau Generalgouverneur ſtatt— 
fand. Pawel Alexandrowitſch war daruͤber ſehr erfreut. Ange— 
tan mit ſeinem eleganten Petersburger Koſtuͤm, in dem er einen 
großen Effekt zu machen hoffte, trat er ungeniert in den großen 
Saal, wurde aber ſogleich beim Anblicke der vielen dicken 
Epauletts und der ordengeſchmuͤckten Beamtenuniformen etwas 
beſcheidener. Es war erforderlich, daß er der Frau General— 
gouverneur, uͤber die er ſchon gehoͤrt hatte, daß ſie jung und ſehr 
ſchoͤn ſei, ſeine Verbeugung machte. In ſtutzerhafter Manier 
trat er zu ihr hin und wurde ploͤtzlich ſtarr vor Staunen. Vor 
ihm ſtand Sinaida, in einem prachtvollen Ballkleide, mit Bril— 
lanten geſchmuͤckt, ſtolz und hochmuͤtig. Sie erkannte Pawel 
Alexandrowitſch gar nicht. Ihr Blick glitt nachlaͤſſig uͤber ſein 
Geſicht hin und wandte ſich ſofort einem andern Herrn zu. Ver— 
blüfft trat Moſgljakow zur Seite und ſtieß in dem Schwarme auf 


einen ſchuͤchternen jungen Beamten, der zum erſtenmal auf 


einen Ball beim Generalgouverneur geraten war und ſich dort 


ſehr unbehaglich fühlte. Pawel Alexandrowitſch machte ſich un— 


verzuͤglich daran, ihn auszufragen, und erfuhr von ihm hoͤchſt 
intereſſante Dinge. Er erfuhr, daß der Generalgouverneur ſchon 
vor zwei Jahren geheiratet habe, als er aus dem „fernen Ge— 
biete“ nach Moskau gereiſt ſei, und daß er ein ſehr reiches Maͤd— 


272 Onkelchens Traum 


chen aus einem vornehmen Hauſe zur Frau genommen habe. 
Die Generalin ſei ſehr ſchoͤn, ja man koͤnne ſagen eine Schoͤnheit 
allererſten Ranges; aber ſie benehme ſich ſehr ſtolz und tanze 
nur mit Generaͤlen; auf dieſem Balle ſeien im ganzen neun 
teils ortsangehoͤrige, teils von auswaͤrts zugereiſte Generäle an= 
weſend, mit Einſchluß der Wirklichen Staatsraͤte; die Generalin 
habe auch eine Mutter, die mit ihr zuſammen lebe; dieſe Mutter 
habe in Moskau vor ihrer Überſiedelung zu den hoͤchſten Ge— 
ſellſchaftskreiſen gehoͤrt und ſei ſehr klug; aber auch ſie ordne 
ſich bedingungslos dem Willen ihrer Tochter unter, und der 
Generalgouverneur ſelbſt koͤnne ſich an ſeiner Gemahlin gar 
nicht ſatt ſehen. Moſgljakow ließ ein Wort über Afanaſi Matwje⸗ 
jewitſch fallen; aber von dem hatte man in dieſem „fernen Ge— 
biete“ keinerlei Kenntnis. Nachdem Moſgljakow wieder etwas 
Mut gefaßt hatte, wanderte er durch die Zimmer und erblickte 
bald auch Marja Alexandrowna, welche, praͤchtig geputzt, ſich 
mit einem teuren Faͤcher Luft zufaͤchelte und mit einem hohen 
Beamten in lebhaftem Geſpraͤche begriffen war. Um ſie herum 
drängte ſich eine Anzahl von Damen, die ſich um ihre Gunſt Бе: 
muͤhten, und Marja Alexandrowna ſchien gegen alle aͤußerſt 
liebenswuͤrdig zu fein. Moſgljakow wagte es, ſich vorzuſtellen. 
Marja Alexandrowna zuckte anſcheinend ein wenig zuſammen, 
faßte ſich aber ſofort wieder, faſt in demſelben Augenblicke. Sie 
geruhte in liebenswuͤrdiger Weiſe, Pawel Alexandrowitſch 
wiederzuerkennen, fragte ihn, was er in Petersburg fuͤr Be— 
kanntſchaften gemacht habe, und warum er nicht im Auslande 
ſei. Von Mordaſow ſagte ſie keine Silbe, als ob dieſer Ort uͤber— 
haupt nicht auf der Welt waͤre. Schließlich nannte ſie noch den 
Namen eines hochangeſehenen Petersburger Fuͤrſten und erkun— 
digte ſich nach deſſen Geſundheit, obgleich Moſgljakow von dieſem 


Fuͤnfzehntes Kapitel 273 


Fuͤrſten keine Ahnung hatte; dann aber wandte fie fich fachte zu 
einem herantretenden hohen Wuͤrdentraͤger mit parfuͤmiertem, 
grauem Haare und hatte einen Augenblick darauf den vor ihr 
ſtehenden Pawel Alexandrowitſch vollſtaͤndig vergeſſen. Mit 
einem ſarkaſtiſchen Laͤcheln und mit dem Hute in der Hand kehrte 
Moſgljakow in den großen Saal zuruͤck. Da er ſich aus irgend— 
welchem Grunde fuͤr gekraͤnkt, ja fuͤr beleidigt hielt, ſo beſchloß 
er nicht zu tanzen. Eine grimmige, zerſtreute Miene und ein 
beißendes, mephiſtopheliſches Laͤcheln wichen den ganzen Abend 
uͤber nicht von ſeinem Geſichte. Er lehnte ſich maleriſch an eine 
Saͤule (eine beſondere Fuͤgung hatte es gewollt, daß der Saal 
mit Saͤulen ausgeſtattet war), ſtand waͤhrend des ganzen Balles, 
mehrere Stunden lang, auf einem Fleck und verfolgte Sinaida 
mit ſeinen Blicken. Aber ach, alle ſeine Kunſtſtuͤcke, alle ſeine 
beſonderen Poſen, ſeine enttaͤuſchte Miene und ſo weiter und 
ſo weiter, alles war vergeblich. Sinaida bemerkte ihn ſchlechter— 
dings nicht. Raſend vor Ingrimm, mit ſchmerzenden Fuͤßen 
vom langen Stehen und hungrig, da er in ſeiner Eigenſchaft 
als Verliebter und Dulder nicht zum Souper bleiben konnte, 
kehrte er endlich in fein Logis zuruͤck, ganz abgemattet und mit 
einem Gefuͤhle, als haͤtte ihn jemand durchgepruͤgelt. Lange 
Zeit mochte er ſich nicht ſchlafen legen, ſondern dachte an laͤngſt 
vergeſſene Dinge. Am andern Morgen bot ſich fuͤr eines der 
Expeditionsmitglieder die Moͤglichkeit, ſich mit einem beſonderen 
Auftrage abkommandieren zu laſſen, und Moſgljakow erbat ſich 
mit großem Genuſſe dieſen Auftrag. Er wurde ſeeliſch wieder 
ordentlich friſch, als er aus der Stadt hinausfuhr. Auf der 
grenzenloſen, einſamen Flaͤche lag der Schnee wie ein blendend 
weißes Tuch. Nur ganz am aͤußerſten Horizonte waren dunkle 
Waͤlder wahrnehmbar. 

LXXV. 18 


274 Onkelchens Traum 


Die . Pferde jagten dahin und warfen mit den Sufen 
den Schneeſtaub in die Höhe. Das Gloͤckchen Hang hell. Pawel 
Alexandrowitſch wurde nachdenklich und verſank dann in Traͤume⸗ Е 
reien; dann aber ſchlummerte er ein und fchlief recht ruhig. Er 
erwachte erſt auf der dritten Station, friſch und gefund und mit 
ganz anderen Gedanken. 8 


Ein Heiner Held 
Onkelchens Traum 


Inhalt 


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Druck der Roßberg'ſchen 
Buchdruckerei in Leipzig 


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University of Toronto 
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