Skip to main content

Full text of "Sämtliche Romane und Novellen;"

See other formats


0.0 18990 191.5 


"АО ОАО ВА 


Digitized by the Internet Archive 
in 2011 with funding from 
University of Toronto 


http://www.archive.org/details/smtlicheromaneun18dost 


HP АЯ 


#* 
| 


у” 
22 


4 
| 


1 


Зоо 


il) 


Ч 
1 


И 


и 


en = 1 


te 
n 


= 
< 
— 
< 
> 
= 
у = 
= 
= 
< 
z 
$ 
= 
5 
< 
D 
— 
— 
— 


Achtzehnter Band 


A 
* 
— 


Roman 


* von 


N 3, 


Er 


. M. Doſtojewski 


+ 


"rn 
; у = 
us 3 f р ? Ра . 1 
к: Derbe Ce, eco ий K Вел e.. 
r . 

5 7 a 


Erfter Band 


— 
‚м 
\ 
‚2 
| 
| 
1 
RN x 
— 5 | 


С Übertragen von H. Röhl .. 


Im Inſel⸗Verlag zu Leipzig 9 


гам 
3 


. 
ЗИ 


* N | 
‚ра 1 3 


„4 


o 
are h — $ * * 


4 


Hat der Teufel ſich verſchworen 

Gegen uns, fuͤhrt uns im Kreis, 

Haben uns im Schnee verloren, 

Daß ich keinen Ausgang weiß. 

Hu! Das iſt ein ſchaurig Klingen! 

Doch wer mag den Sinn verſtehn? 
Ob ſie Hochzeitsreigen ſchlingen, 

Ob ein Totenfeſt begehn? 

A. Puſchkin.“ 


1 


* +” 4 


f Ss weidete in daſelbſt eine große Herde Saͤue auf dem Berge. 5 


6 bat. ihn, daß er ihnen erlaubte, in dieſe zu fahren. Und 
bt es ihnen. Da fuhren die Teufel aus von dem Menſchen 
ind f 1 in die Saͤue; und die Herde ſtuͤrzte ſich von dem Abhange 
in de a und erſoff. Da aber die Hirten ſahen, was da geſchah, 
fi ben fie und verkuͤndigten's in der Stadt und in den Dörfern. Da 
ingen п die Einwohner hinaus, zu feben, was da geſchehen war, und 
en zu Jeſu und fanden den Menſchen, von welchem die Teufel 
abren waren, ſitzend zu den Fuͤßen Jeſu, bekleidet und вет: 
n ar ftig; und fie erſchraken. Und die es geſehen hatten, verkuͤndig⸗ 
п’ ihnen, wie der Beſeſſene gefund geworden war. 
? A Eo. Luca 8, 32—36. 


m Gedichte: „Die boͤſen Geiſter“, nach der Überfegung von 
Em im Schneeſturm verirrter Kutſcher ſpricht zu ſeinem 
Anmerkung des Überſetzers. 


V 


. er * 
B 12 . 
eh LI ee, 


a 


Erſtes Kapitel 


Statt der Einleitung: einige Einzel⸗ 
heiten aus der Lebensgeſchichte des 
hochgeachteten Stepan Trofimowitſch 
N Werchowenſki 


5 Indem ich mich anſchicke, die ſehr merkwuͤrdigen Ereig— 
8 niſſe zu ſchildern, die ſich kuͤrzlich in unſerer, bis 
dahin durch nichts ausgezeichneten Stadt zugetragen 
haben, ſehe ich mich durch meine ſchriftſtelleriſche Uner— 
fahrenheit genoͤtigt, etwas weiter auszuholen und mit 
einigen biographiſchen Angaben uͤber den talentvollen, 
hochgeachteten Stepan Trofimowitſch Werchowenſki zu 
и. beginnen. Dieſe Angaben ſollen nur als Einleitung zu 
x der in Ausſicht genommenen Erzählung dienen; die Ge- 
298 ſchichte ſelbſt, die ich zu ſchreiben beabſichtige, ſoll dann 
nachfolgen. 

TJch will es geradeheraus jagen: Stepan Trofimowitſch 
hat unter uns beſtaͤndig ſozuſagen eine beſtimmte Cha- 
rakterrolle, die Rolle eines politiſchen Charakters, geſpielt 
N und ſie leidenſchaftlich geliebt, dermaßen, daß er meines 
Erachtens ohne ſie gar nicht leben konnte. Nicht, daß 
Е ich ihn mit einem wirklichen Schauſpieler vergleichen 
moͤchte: Gott behuͤte; das kommt mir um fo weniger in 
den Sinn, als ich ſelbſt ihn ſehr hoch achte. Es mochte 
be 1 alles Sache der Gewohnheit ſein b richtiger 


lichen Traͤumereien uͤber ſeine ſchoͤne police ain 
hinzugeben. Er gefiel ſich zum Beiſpiel außerordentlich 


10 Die Teufel 


bannter“. Dieſe beiden Worte umgibt ein eigenartiger 
klaſſiſcher Glanz, der ihn ſeinerzeit verfuͤhrt hatte, ihn 
dann allmaͤhlich im Laufe vieler Jahre in ſeiner eigenen 
Meinung gehoben und ihn ſchließlich auf ein ſehr hohes 
und fuͤr ſeine Eigenliebe ſehr angenehmes Piedeſtal ge— 
ſtellt hatte. In einem ſatiriſchen engliſchen Romane des 
vorigen Jahrhunderts kehrte ein gewiſſer Gulliver aus 
dem Lande der Liliputaner zuruͤck, wo die Menſchen nur 
vier Zoll groß waren, und hatte ſich waͤhrend ſeines 
Aufenthaltes unter ihnen ſo daran gewoͤhnt, ſich fuͤr einen 
Rieſen zu halten, daß er, auch wenn er in den Straßen 
Londons umherging, unwillkuͤrlich den Fußgaͤngern und 
Wagen zurief, ſie ſollten ſich vorſehen und ihm ausweichen, 
damit ſie nicht zertreten wuͤrden; denn er bildete ſich 
ein, er ſei immer noch ein Rieſe und ſie Zwerge. Man 


lachte ihn deswegen aus und ſchimpfte auf ihn, und grobe 


Kutſcher ſchlugen ſogar mit der Peitſche nach dem Rieſen; 
aber ob mit Recht? Was kann nicht die Gewohnheit Бег 
wirken? Die Gewohnheit brachte auch Stepan Trofi⸗ 
mowitſch zu einem ſehr aͤhnlichen Verhalten, das ſich 
aber in einer noch unſchuldigeren und harmloſeren Weiſe 
zeigte, wenn man ſich ſo ausdruͤcken kann; denn er war 
ein ganz praͤchtiger Menſch. 

Ich glaube allerdings, daß er in der letzten Zeit von 
allen und uͤberall vergeſſen war; aber man kann keines⸗ 
wegs ſagen, daß er auch fruͤher ganz unbekannt geweſen 
wäre. Es laͤßt ſich nicht beſtreiten, daß auch er eine Zeit- 
lang zu einer angeſehenen Gruppe hervorragender Maͤn— 
ner der vorigen Generation gehörte, und daß eine Zeit- 
lang (freilich nur waͤhrend einer ganz, ganz kurzen Spanne 


Erſter Teil 11 


a 


* Zei viele, die damals lebten, uͤbereilterweiſe ſeinen 
Namen beinah in eine Reihe mit den Namen Tſchaada⸗ 
jews, Bjelinſkis, Granowſkis und des damals ſoeben im 
Auslande aufgetretenen Herzen ſtellten. Aber Stepan 
] Trofimowitſchs Tätigkeit endete faft in demſelben Augen 
blicke, in dem fie begonnen hatte, angeblich „infolge des 
Wirbelſturmes der zuſammengekommenen Umſtaͤnde“. 
Aber wie ſtand es damit? Es hat ſich ſpaͤter heraus- 
g geſtellt, daß es damals keinen „Wirbelſturm“, ja nicht 

einmal irgendwelche „Umſtaͤnde“ gegeben hat, wenigſtens 

nicht in dieſem Falle. Ich habe erſt jetzt, in dieſen Tagen, 

zu meinem groͤßten Erſtaunen, aber mit voͤlliger Sicherheit 

n, daß Stepan Trofimowitſch bei uns, in unſerm 

Gouvernement, ganz und gar nicht, wie man bei uns all⸗ 
gemein glaubte, als Verbannter gewohnt, ſondern nicht 
* einmal irgendwann unter Aufſicht geſtanden hat. Wie groß 
у muß alſo ſeine eigene Einbildungskraft geweſen fein! Er 

* ſein ganzes Leben lang aufrichtig geglaubt, daß man 
in gewiſſen hoͤheren Kreiſen beſtaͤndig vor ihm auf der 
| But ſei, daß alle ſeine Schritte fortwaͤhrend kontrolliert 
und in Erfahrung gebracht wuͤrden, und daß jeder der 
drei Gouverneure, die einander bei uns in den letzten 
zwanzig Jahren abgeloͤſt haben, ſchon bei ſeiner Ankunft 
im Gouvernement eine beſonders feindſelige Meinung 
uͤber ihn mitgebracht habe, die ihm von oben her als eine 
Sache von beſonderer Wichtigkeit bei Übergabe der Ver⸗ 
. ern des Gouvernements eingeflößt worden ſei. 
Haͤtte jemand damals dem ehrenwerten Stepan Trofi⸗ 
n owitſch den unwiderleglichen Beweis geliefert, daß er 
überhaupt nichts zu befürchten habe, fo würde er ſich 
ſicherlich ſehr gekraͤnkt gefühlt haben. Und dabei war er 


12 Die Teufel 


ein ſehr kluger, begabter Menſch, ſogar ſozuſagen ein 
Mann der Wiſſenſchaft; allerdings in der Wiſſen— 
ſchaft .. . na, kurz geſagt, in der Wiſſenſchaft leiſtete 
er nicht viel oder wohl uͤberhaupt nichts. Aber das iſt in 
unſerm lieben Rußland bei Maͤnnern der Wiſſenſchaft 
etwas ganz Gewoͤhnliches. 

Er kehrte aus dem Auslande zuruͤck und glaͤnzte aus⸗ 
gangs der vierziger Jahre als Lektor auf einem Univerſi— 
taͤtskatheder. Er hielt nur einige wenige Vorleſungen, 
wenn ich nicht irre, uͤber die Araber; auch verteidigte er 
eine glaͤnzende Diſſertation uͤber die im Entſtehen be— 
griffene politiſche und hanſeatiſche Bedeutung der deut— 
ſchen Stadt Hanau in der Zeit zwiſchen 1413 und 1428, 


ſowie uͤber die ſpeziellen unklaren Urſachen, weswegen 


dieſe Bedeutung dann doch nicht zuſtande kam. Dieſe 
Diſſertation verſetzte in geſchickter Weiſe den damaligen 
Slawophilen ſchmerzhafte Seitenhiebe und verſchaffte 
ihm dadurch unter ihnen zahlreiche erbitterte Feinde. 
Ferner ließ er (uͤbrigens fiel dies bereits in die Zeit nach 
dem Verluſte des Lehrſtuhls), gewiſſermaßen um ſich zu 
raͤchen und um der gebildeten Welt zu zeigen, was fuͤr 
einen Mann ſie an ihm verloren habe, in einer liberalen 
Monatsſchrift, welche Überſetzungen aus Dickens brachte 
und die Anſchauungen von George Sand vertrat, den 
Anfang einer ſehr tiefſinnigen Unterſuchung drucken, ich 
glaube uͤber die Urſachen des hohen ſittlichen Adels irgend— 
welcher Ritter in irgendwelcher Periode der Weltgeſchichte 
oder ein aͤhnliches Thema. Jedenfalls behandelte er 
darin einen ſehr hohen und außerordentlich edlen Ge— 
danken. Es hieß ſpaͤter, die Fortſetzung dieſer Unter— 
ſuchung ſei ſchleunigſt verboten worden, und das liberale 


— ** и = 
F 


len 


3 1 8 
SSS 1 


en 


2 


Я NN i 0 
r Erſter Teil 13 


$ zurnal habe ſogar wegen des Druckes der erften Hälfte 
р M ßregelungen zu erdulden gehabt. Sehr möglich; denn 
was geſchah damals nicht alles! Aber im vorliegenden 
Falle iſt es doch wahrſcheinlicher, daß nichts Derartiges 
geſchah, und daß einfach der Verfaſſer ſelbſt zu faul war, 
die Unterſuchung zu beenden. Der Grund, weswegen er 
ſeine Vorleſungen uͤber die Araber abbrach, war, daß 
irgendwie von irgend jemand (offenbar von einem feiner 


ум 


auch u behauptet, in aeg % gleichzeitig ein 
gewaltiger ſtaatsfeindlicher Klub entdeckt worden, der 
aus dreizehn Mitgliedern beſtanden und e das 
Staatsgebaͤude erſchuͤttert habe. Man ſagte, ſie haͤtten 
. ſogar vorgehabt, die Schriften von Fourier! zu uͤber⸗ 
E ſetzen. Es war ein eigentuͤmliches Zuſammentreffen, daß 
£ ge ade in dieſer Zeit in Moskau auch ein Gedicht Stepan 


* im vorigen Jahre in einer „ neuen 
lbſchrift von Stepan Trofimowitſch ſelbſt erhalten; es 
trägt ſeine Unterſchrift und iſt prächtig in roten Saffian 


N 1 Marie Charles Fourier, 1772—1837, phantaſtiſcher 
ft. Anmerkung des uͤberſetzers. 


ar 
т 
x . 
Bi к 
ar * 


14 Die Teufel 


und bekundet fogar einiges Talent; es ift ja freilich etwas 
ſeltſam; aber damals (das heißt genauer in den dreißiger 
Jahren) ſchrieb man haͤufig in dieſem Genre. Wenn ich 
aber den Inhalt erzählen ſoll, jo bringt mich das in Ver⸗ 
legenheit, da ich tatſaͤchlich nichts von ihm verſtehe. Es 
ЦЕ eine Art Allegorie in lyriſch-dramatiſcher Form und 
erinnert an den zweiten Teil des „Fauſt'. Zuerſt erſcheint 
auf der Buͤhne ein Frauenchor, dann ein Maͤnnerchor, 
dann ein Chor von irgendwelchen Naturkraͤften, und ganz 
zuletzt ein Chor von Seelen, die noch nicht leben, aber gern 
leben möchten. Alle dieſe Chöre fingen etwas ſehr Un- 
beſtimmtes, großenteils Verwuͤnſchungen jemandes, aber 
mit einer Beimiſchung erhabenſten Humors. Aber auf 
einmal aͤndert ſich die Szene, und es beginnt eine Art 
„Lebensfeſt“, bei dem ſogar Inſekten fingen, eine Schild- 
kroͤte mit lateiniſchen religioͤſen Formeln auftritt und ſo⸗ 
gar, wenn ich mich recht erinnere, ein Mineral, alſo ein 
ganz lebloſer Gegenftand, etwas ſingt. Überhaupt fingen 
alle ohne Unterbrechung, und wenn ſie reden, ſo ſchimpfen 
ſie einander in einer unbeſtimmten Weiſe, aber wieder mit 
einem Beiklang hoͤchſter Bedeutſamkeit. Zuletzt aͤndert 
ſich die Szene wieder, und es zeigt ſich eine wilde Gegend; 
zwiſchen den Felſen wandert ein ziviliſierter junger Menſch 
umher, der irgendwelche Kraͤuter ausreißt und an ihnen 
ſaugt und auf die Frage einer Fee, warum er an dieſen 
Kraͤutern ſauge, antwortet, er fuͤhle eine Überfuͤlle von 
Leben in ſich, ſuche Vergeſſenheit und finde ſie in dem 
Safte dieſer Kräuter; fein größter Wunſch aber ſei, mög 
lichſt bald den Verſtand zu verlieren (vielleicht ein un- 
noͤtiger Wunſch). Dann kommt auf einmal ein unbe- 
ſchreiblich ſchoͤner Juͤngling auf einem ſchwarzen Roſſe 


4 „ „„ 
r 


Erſter Teil 15 


hereingeſprengt, und ihm folgt eine unabſehbare Menge 
aller moͤglichen Voͤlker. Der Juͤngling ſtellt den Tod vor, 
und alle Voͤlker duͤrſten nach ihm. Und endlich, in der 
allerletzten Szene, erſcheint auf einmal der babyloniſche 
Turm, und eine Anzahl von Athleten baut ihn unter 
einem Geſange, der von neuer Hoffnung ſpricht, zu Ende, 
und als ſie ihn bis zur oberſten Spitze fertiggeſtellt haben, 
da laͤuft der Herrſcher, allerdings nur der des Olymps, 
in komiſcher Weiſe davon, und die Menſchheit, die das 
gemerkt hat, nimmt ſeinen Platz ein und beginnt ſogleich 
ein neues Leben mit voller Erkenntnis der Dinge. Alſo 
dieſes Gedicht fand man damals gefaͤhrlich. Ich habe 
im vorigen Jahre Stepan Trofimowitſch den Vorſchlag 
gemacht, es drucken zu laſſen, da es in unſerer Zeit voll⸗ 
kommen harmlos ſei; aber er lehnte dieſen Vorſchlag mit 
ſichtlichem Mißvergnuͤgen ab. Meine Anſicht von der voll⸗ 
kommenen Harmloſigkeit ſeines Gedichtes gefiel ihm nicht, 
und ich fuͤhre darauf ſogar eine gewiſſe Kaͤlte ſeinerſeits 
gegen mich zuruͤck, welche volle zwei Monate dauerte. 
Aber was geſchah? Auf einmal, und faſt zu derſelben 
Zeit, wo ich ihm den Vorſchlag gemacht hatte, das Gedicht 
у hier drucken зи laſſen, wurde unſer Gedicht anderwaͤrts 
gedruckt, naͤmlich im Auslande, in einem revolutionaͤren 
Sammelwerke, und zwar ganz ohne Stepan Trofimo— 
witſchs Wiſſen. Er war anfangs ſehr erſchrocken, ſtuͤrzte 
zum Gouverneur hin und ſchrieb einen ſehr edlen Recht— 
fertigungsbrief nach Petersburg, las ihn mir zweimal vor, 
ſandte ihn aber nicht ab, da er nicht wußte, an wen er 
ihn adreſſi ieren ſollte. Kurz, er war einen ganzen Monat 
g in Aufregung; aber ich bin uͤberzeugt, daß er ſich 
* den geheimen Falten ſeines Herzens hoͤchſt geſchmeichelt 


E 


у.“ 


16 Die Teufel 


fühlte. Er nahm das ihm uͤberſandte Exemplar des Sam⸗ 
melwerkes bei Nacht mit ins Bett, verſteckte es bei Tage 
unter der Matratze und duldete nicht einmal, daß das 
Dienſtmaͤdchen das Bett zurechtmachte. Und obgleich er 
alle Tage von irgendwoher ein unheilvolles Telegramm 
erwartete, machte er doch eine hochmuͤtige Miene. Ein 
Telegramm kam nicht. Da verſoͤhnte er ſich auch mit mir, 
was von der außerordentlichen Guͤte ſeines ſtillen, nicht 
nachtragenden Herzens Zeugnis ablegt. 


II 
Ich will ja nicht behaupten, daß er von ſeiten der Re⸗ 
gierung uͤberhaupt gar nicht zu leiden hatte; aber ich bin 
doch jetzt voͤllig uͤberzeugt, daß er ſeine Vorleſungen uͤber 
die Araber haͤtte fortſetzen koͤnnen, ſolange es ihm beliebte, 
wenn er nur die noͤtigen Zuſicherungen abgegeben haͤtte. 
Aber er ließ ſich nur durch ſein Ehrgefuͤhl leiten und 
hatte nichts Eiligeres zu tun, als ſich ein fuͤr allemal die 
Überzeugung zurechtzumachen, ſeine Karriere ſei fuͤr ſein 
ganzes Leben durch den „Wirbelſturm der Umſtaͤnde“ ver— 
nichtet worden. Wenn man aber die ganze Wahrheit ſagen 
ſoll, ſo war der wirkliche Grund zu der Veraͤnderung ſei— 
nes Lebensweges ein ihm ſchon fruͤher gemachter und jetzt 
erneuerter hoͤchſt zartfuͤhlender Vorſchlag Warwara Pes 
trowna Stawroginas, der Gemahlin eines Generalleut— 
nants und ſchwer reichen Mannes, naͤmlich der Vorſchlag, 
als paͤdagogiſcher Oberaufſeher und Freund die Erziehung 
und geſamte geiſtige Ausbildung ihres einzigen Sohnes zu 
uͤbernehmen; von dem glaͤnzenden Gehalte wollen wir gar 
nicht erſt reden. Dieſer Antrag war ihm zum erſten Male 
ſchon in Berlin gemacht worden, und zwar gerade zu der 


Erfter Teil 17 


Zeit, als er zum erſten Male Witwer geworden war. 
Seine erſte Frau war ein leichtſinniges Maͤdchen aus 
unſerm Gouvernement geweſen, die er als noch ſehr junger, 
urteilsloſer Menſch geheiratet hatte, und es ſcheint, daß 
er mit ihr, übrigens einem reizenden Perſoͤnchen, viel Kum⸗ 
mer durchzumachen hatte, aus Mangel an Mitteln zu 
ihrem Unterhalt und außerdem noch aus anderen, zum 
Teil etwas delikaten Gruͤnden. Sie ſtarb in Paris, nach— 
dem ſie die letzten drei Jahre von ihm getrennt gelebt 
hatte, und hinterließ ihm einen fuͤnfjaͤhrigen Sohn, „die 
Frucht der erſten, frohen, noch ungetruͤbten Liebe“, ein 
Ausdruck, der ſich dem ſchwergebeugten Stepan Trofimo— 
witſch einmal in meiner Gegenwart entrang. Der Knabe 
wurde alsbald nach Rußland geſchickt, wo er die ganze 
Zeit uͤber in der Obhut einiger entfernter Tanten an 
irgendeinem abgelegenen Orte heranwuchs. Stepan Tro— 
fimowitſch lehnte damals Warwara Petrownas Vorſchlag 
ab und verheiratete ſich ſchnell, ſogar noch vor Ablauf 
eines Jahres, von neuem, und zwar mit einer Deutſchen, 
einer Berlinerin, die ſehr ſchweigſam und vor allen Dingen 
ſehr anſpruchslos war. Aber außer dieſem Grunde hatte 
er noch einen andern Grund gehabt, die Erzieherſtelle abzu— 
lehnen: der hohe damalige Ruhm eines gewiſſen unver— 
geßlichen Profeſſors hatte fuͤr ihn etwas Verfuͤhreriſches, 
und jo flog denn auch er auf das Katheder, für das er 
ſich vorbereitet hatte, um feine Adlerfittiche zu erproben. 
Jetzt nun, wo er ſich ſeine Fittiche bereits verſengt hatte, 
war es nur natürlich, daß er ſich an den Vorſchlag erin— 
nerte, der ihn auch früher ſchon in feinem Entſchluſſe bei— 
nahe wankend gemacht hatte. Der ploͤtzliche Tod auch 
ſeiner zweiten Frau, die mit ihm nicht einmal ein Jahr 
1 


18 Die Teufel 


lang zuſammengelebt hatte, führte die definitive Entſchei⸗ 
dung herbei. Ich ſage geradezu: ausſchlaggebend war 
dabei die warme Teilnahme und die wertvolle und ſozu⸗ 
jagen klaſſiſche Freundſchaft (wenn man von einer Freund- 
ſchaft dieſen Ausdruck gebrauchen kann), die ihm War⸗ 
wara Petrowna erwies. Er warf ſich in die Arme dieſer 
Freundſchaft, und ſo wurde ein feſter Bund geſchloſſen, 
der mehr als zwanzig Jahre Beſtand hatte. Ich gebrauche 
den Ausdruck „er warf ſich in die Arme“; aber Gott 
behuͤte, niemand darf dabei an etwas Ungehoͤriges, Un- 
paſſendes denken; dieſe Arme ſind nur in einem hoͤchſt 
moraliſchen Sinne aufzufaſſen. Das reinſte, zarteſte Band 
vereinte dieſe beiden ſo merkwuͤrdigen Perſoͤnlichkeiten fuͤr 
alle Zeit. 

Er nahm die Erzieherſtelle auch deswegen an, weil das 
ſehr kleine Gut, das ihm ſeine erſte Frau hinterlaſſen hatte, 
ganz dicht bei Skworeſchniki lag, dem praͤchtigen, nahe 
bei der Stadt gelegenen Stawroginſchen Gute. Auch hatte 
er immer die Moͤglichkeit, in der Stille ſeines Arbeits— 
zimmers, und ohne durch die maſſenhafte Univerſitaͤts— 
taͤtigkeit abgezogen zu werden, ſich der Wiſſenſchaft zu 
widmen und die vaterlaͤndiſche Literatur durch die tief— 
ſinnigſten Unterſuchungen zu bereichern. Dieſe Unter— 
ſuchungen erſchienen nun allerdings nicht; aber dafür - 
konnte er ſein ganzes uͤbriges Leben lang, alſo mehr als 
zwanzig Jahre, ſozuſagen als lebendiger Vorwurf vor dem 
Vaterlande daſtehen, nach dem Ausdrucke, den ein 902 
tuͤmlicher Dichter von einem zur Untaͤtigkeit verurteilten 
Vorkaͤmpfer fuͤr die Ideale des Liberalismus gebraucht: 

„Vor dem Vaterlande ſtand er 
Ein lebend'ger Vorwurf da.“ 


3" 
: 
3 


Erſter Teil 19 


Aber die Perſoͤnlichkeit, von der ſich der volkstuͤmliche 
Dichter jo ausgedruckt hat, hatte vielleicht auch ein Recht, 
das ganze Leben lang in dieſer Abſicht eine theatraliſche 
Stellung beizubehalten, wenn ſie Luſt dazu hatte, wiewohl 
die Sache recht langweilig iſt. Unſer Stepan Злой? 
mowitſch dagegen war, die Wahrheit zu ſagen, ſolchen 
Perſoͤnlichkeiten gegenuͤber nur ein Nachahmer und wurde 
auch vom Stehen muͤde und legte ſich auf die faule Seite. 
Aber auch wenn er ſich auf die faule Seite legte, ſo blieb 
er doch auch in dieſer Haltung ein lebendiger Vorwurf 
(dieſe Gerechtigkeit muß man ihm widerfahren laſſen), 
und zwar um ſo eher, als fuͤr unſer Gouvernement auch 
eine ſolche Haltung genuͤgte. Man mußte ihn bei uns 
im Klub ſehen, wenn er ſich zum Kartenſpiel hinſetzte. 
Seine ganze Miene beſagte: „Karten! Ich ſetze mich 
mit euch zum Whiſt hin! Paßt das etwa zu meiner Per— 
ſoͤnlichkeit? Aber wer traͤgt die Verantwortung dafuͤr? 
Wer hat meiner geiſtigen Taͤtigkeit einen Riegel vor— 
geſchoben und mich gezwungen, ſie dem Whiſt zuzuwenden? 
Na, dann mag Rußland zugrunde gehn!“ Und er trumpfte 
wuͤrdevoll mit Coeur. 

In Wirklichkeit ſpielte er leidenſchaftlich gern Karten 
und hatte deswegen, namentlich in der letzten Zeit, haͤufige 
ſcharfe Scharmuͤtzel mit Warwara Petrowna, um ſo mehr, 
da er beſtaͤndig verlor. Aber davon ſpaͤter. Ich bemerke 

nur noch, daß er ein ſehr gewiſſenhafter Menſch war 
(das heißt manchmal) und deswegen häufig traurig wurde. 
Waͤhrend der ganzen zwanzigjaͤhrigen Dauer der Freund— 
ſchaft mit Warwara Petrowna verfiel er drei- oder vier⸗ 
nal im Jahre in das, was man bei uns politiſchen Katzen⸗ 
jammer nennt, das heißt einfach in Hypochondrie; aber 


Er 


3 
85 
2 


20 Dte Teufel 


jener Ausdruck gefiel der hochachtbaren Warwara Petrowna 
beſonders gut. In der Folge befiel ihn außer dem poli⸗ 
tiſchen Katzenjammer manchmal auch ein heftiger Drang 
zum Champagnertrinken; aber die wachſame Warwara 
Petrowna behuͤtete ihn lebenslaͤnglich vor allen unwuͤr⸗ 
digen Neigungen. Und er bedurfte auch einer ſolchen 
Kinderfrau, da er ſich mitunter ſehr ſonderbar benahm: 
mitten im erhabenſten Grame begann er bisweilen in der 
plebejiſchſten Weiſe zu lachen. Es kamen Augenblicke vor, 
wo er ſich ſogar uͤber ſich ſelbſt humoriſtiſch ausſprach. 
Aber nichts mochte Warwara Petrowna ſo wenig leiden 
wie den Humor. Sie war eine klaſſiſche Maͤcenatin und 
hatte bei allem, was ſie tat, nur die hoͤchſten Ideen im 
Auge. Der Einfluß, den dieſe hochgeſinnte Dame im 
Laufe von zwanzig Jahren auf ihren armen Freund aus⸗ 
uͤbte, war außerordentlich groß. Von ihr muͤßte man 
beſonders ſprechen, und das werde ich auch tun. 


III 

| Es gibt ſonderbare Freundſchaften; beide Freunde 
moͤchten einander faſt auffreſſen vor Ingrimm, verbringen 
ihr ganzes Leben in dieſem Zuſtande und bekommen es 
doch nicht fertig, ſich voneinander zu trennen. Eine Tren⸗ 
nung iſt ſogar ganz unmoͤglich. Derjenige von bei⸗ 
den, der in eigenſinniger Laune das Band der Freund— 
ſchaft zerreißt, iſt der erſte, der infolgedeſſen krank wird 
und wowoͤglich ſtirbt, wenn es ПФ fo trifft. Ich weiß 
zuverlaͤſſig, daß Stepan Trofimowitſch mehrmals und 
bisweilen, nachdem er ſich mit Warwara Petrowna unter 
vier Augen in der intimſten Weiſe ausgeſprochen hatte, 
wenn ſie weggegangen war, auf einmal vom Sofa auf⸗ 


Erſter Teil 21 


ſprang und mit den Faͤuſten gegen die Wand zu ſchlagen 
begann. 
Und er tat das ganz und gar nicht im uͤbertragenen 
Sinne, ſondern ſo, daß er einmal ſogar den Kalk von der 
Wand losſchlug. Vielleicht fragt jemand, woher ich eine 
ſo ſpezielle Einzelheit habe in Erfahrung bringen koͤnnen. 
Aber wie, wenn ich ſelbſt Zeuge geweſen bin? Wie, wenn 
Stepan Trofimowitſch ſelbſt mehr als einmal an meiner 
Schulter geſchluchzt und mir ſein ganzes geheimes Leid 
in grellen Farben hingemalt hat? (Und was fuͤr Dinge 
hat er mir dabei nicht mitgeteilt!) Und nun hoͤre man, 
was ſich faſt immer begab, nachdem er in ſolcher Weiſe 
geſchluchzt hatte: am andern Tage hatte er ſchon die 
größte Luft, ſich ſelbſt wegen feines Undanks zu kreuzigen; 
er ließ mich eilig zu ſich rufen oder kam auch ſelbſt zu mir 
gelaufen, einzig und allein um mir mitzuteilen, daß War⸗ 
тата Petrowna ein Engel von Ehrenhaftigkeit und Zart- 
gefuͤhl ſei und er das reine Gegenteil davon. Und er kam 
nicht nur zu mir gelaufen, ſondern ſchrieb auch mehr als 
einmal all dies ihr ſelbſt in ſchoͤn ſtiliſierten Briefen und 
machte ihr zum Beiſpiel mit ſeiner vollen Unterſchrift Ge⸗ 
ſtaͤndniſſe von folgender Art: er habe erſt am vorhergehen— 
den Tage einer fremden Perſoͤnlichkeit erzählt, daß fie ihn 
nur aus Eitelkeit um ſich behalte und ihn um feine Gelehr- 
ſamkeit und um ſeine Talente beneide, daß ſie ihn haſſe und 
ſich nur deshalb ſcheue, ihren Haß offen auszuſprechen, 
| weil ſie fuͤrchte, er koͤnne von ihr weggehen und dadurch 
ihrem literariſchen Rufe ſchaden; infolge dieſer feiner 
ußerungen verachte er ſich ſelbſt und habe beſchloſſen, ſich 
das Leben zu nehmen; von ihr erwarte er das letzte, ent⸗ 
idende Wort, und ſo weiter, und ſo weiter, alles in 


22 Die Teufel 


dieſem Genre. Danach kann man ſich eine Vorſtellung da⸗ 
von machen, welchen Grad von Überreizung die nervoͤſen 
Anfaͤlle dieſes unſchuldigſten aller fuͤnfzigjaͤhrigen Kinder 
manchmal erreichten! Ich ſelbſt habe einmal einen fol- 
chen Brief geleſen, den er ihr nach einem Streite zwiſchen 
ihnen geſchrieben hatte, welcher aus nichtiger Urſache 
entſtanden, aber in ſeinem weiteren Verlaufe ſehr bitter 
geworden war. Ich bekam einen Schreck und bat ihn 
inſtaͤndig, den Brief nicht abzuſenden. 

„Es muß fein... es Ш ehrenhafter ... es iſt meine 
Pflicht .. . es Ш mein Tod, wenn ich ihr nicht alles 
bekenne, ſchlechthin alles!“ antwortete er beinahe fiebernd 
und ſchickte den Brief ab. 

Darin lag eben ein Unterſchied zwiſchen ihnen, daß 
Warwara Petrowna ihm niemals ſolche Briefe ſandte. 
Er allerdings hatte eine ſinnloſe Paſſion fuͤr das Brief— 
ſchreiben und ſchrieb an ſeine Goͤnnerin ſogar in der Zeit, 
als er mit ihr in demſelben Hauſe wohnte, und in Faͤllen 
nervoͤſer Überreizung ſelbſt zweimal an einem Tage. Ich 
weiß beſtimmt, daß ſie dieſe Briefe immer mit der groͤßten 
Aufmerkſamkeit durchlas, ſogar wenn ſie zwei an dem— 
ſelben Tage erhielt, und daß ſie ſie nach dem Durchleſen, 
mit dem Eingangsdatum verſehen und wohlgeordnet, in 
einem beſonderen Fache aufhob; außerdem bewahrte ſie 
ſie in ihrem Herzen auf. Nachdem ſie dann ihren Freund 
einen ganzen Tag lang ohne Antwort gelaſſen hatte, ver- 
kehrte ſie mit ihm, als ob nichts geſchehen waͤre und als 
ob ſich am vorhergehenden Tage nichts Beſonderes zuge— 
tragen haͤtte. Mit der Zeit richtete ſie ihn ſo ab, daß er 
ſelbſt nicht mehr wagte, der Ereigniſſe des vorigen Tages 
Erwaͤhnung zu tun, ſondern ihr nur eine Weile in die 


= 


Erſter Teil — 


Augen ſah. Aber ſie vergaß nichts, waͤhrend er mitunter 
nur zu ſchnell vergaß und, durch ihr ruhiges Benehmen 
ermutigt, nicht ſelten gleich an demſelben Tage, wenn 
Freunde zu Beſuch gekommen waren, beim Champagner 
lachte und Tollheiten trieb. Mit welchem Ingrimm ſah 
ſie ihn in ſolchen Augenblicken an, ohne daß er etwas 
davon gemerkt haͤtte! Etwa nach einer Woche, nach 
einem Monat oder auch erſt nach einem halben Jahre fiel 
ihm bei irgendeinem beſonderen Anlaß irgendein Aus— 
druck aus einem ſolchen Briefe wieder ein, und demnaͤchſt 
der ganze Brief mit allen Begleitumſtaͤnden; dann ſtieg 
eine heiße Scham in ihm auf, und ſeine Pein war manch⸗ 
mal ſo groß, daß er an einem ſeiner Cholerineanfaͤlle er⸗ 
krankte. Dieſe ihm eigentuͤmlichen cholerineartigen An⸗ 
fälle bildeten den gewöhnlichen Ausgang einer Nerven- 
erſchuͤtterung und waren eine in ihrer Art merkwuͤrdige 
Kurioſitaͤt ſeiner Koͤrperkonſtitution. 
Allerdings war es ſicher, daß ihn Warwara Petrowna 
haßte, und zwar ſehr oft haßte; aber waͤhrend er dies 
bemerkte, nahm er etwas anderes an ihr bis zu ſeinem 
Lebensende nicht wahr, daß er naͤmlich ſchließlich fuͤr ſie 
geleichſam ihr Sohn, Fleiſch von ihrem Fleiſche, ihr Ge⸗ 
ſchoͤpf, ja man kann ſagen ihre Erfindung geworden war, 
und daß ſie ihn keineswegs nur deswegen bei ſich behielt 
und unterhielt, weil ſie ihn, wie er ſich ausdruͤckte, um ſeine 
Talente beneidete. Wie mußte ſie ſich alſo durch ſolche 
Vermutungen gekraͤnkt fuͤhlen! Mitten unter dem unauf⸗ 
hoͤrlichen Haß, der ſteten Eiferſucht und der dauernden 
Geringſchaͤtzung lag in ihrem Herzen eine warme Liebe zu 
ihm verborgen. Sie behuͤtete ihn vor jedem Luͤftchen, 
ſorgte zweiundzwanzig Jahre lang fuͤr ihn wie eine Kin⸗ 


24 Die Teufel 


derfrau und haͤtte ganze Naͤchte nicht geſchlafen vor Sorge, 
wenn ſein Ruhm als Dichter, als Gelehrter und als Poli- 
tiker in Gefahr geweſen waͤre. Sie hatte ihn ſich aus— 
geſonnen und war die erſte, die an das Produkt ihres eige— 
nen Geiſtes glaubte. Er war gewiſſermaßen ein Gebilde 
ihrer Phantaſie. Aber dafuͤr forderte ſie von ihm auch 
wirklich viel, manchmal ſogar einen ſklaviſchen Gehorſam. 
Nachtragend war ſie in ganz unglaublichem Grade. Bei 
dieſer Gelegenheit moͤchte ich zwei Geſchichtchen erzaͤhlen. 


IV 
Eines Tages (es war zu der Zeit, als ſich eben erſt das 
Geruͤcht von der Befreiung der Bauern verbreitet hatte 
und ganz Rußland ploͤtzlich aufjubelte und ſich zu einer 
voͤlligen Wiedergeburt anſchickte) erhielt Warwara Pe— 
trowna den Beſuch eines durchreiſenden Barons aus 
Petersburg, der ſehr hohe Verbindungen beſaß und dieſem 
Vorgange ſehr nahe ſtand. Warwara Petrowna legte 
auf ſolche Beſuche außerordentlich viel Wert, weil ihre 
Verbindungen mit den hoͤchſten Geſellſchaftskreiſen nach 
dem Tode ihres Mannes ſich immer mehr gelockert und 
zuletzt ganz aufgehoͤrt hatten. Der Baron blieb eine 
Stunde bei ihr und trank Tee. Andere Gaͤſte waren nicht 
anweſend; aber Stepan Trofimowitſch war eingeladen 
worden und wurde zur Schau geſtellt. Der Baron hatte 
bereits früher über ihn einiges gehört oder tat wenigſtens 
ſo, als ob er etwas uͤber ihn gehoͤrt haͤtte, beachtete ihn aber 
beim Tee nur wenig. Selbſtverſtaͤndlich ſollte Stepan Tro⸗ 
fimowitſch nach dem Willen feiner Goͤnnerin nicht im Hin- 
tergrunde bleiben, und er beſaß ja auch ſehr feine Um⸗ 
gangsformen. Wiewohl er meines Wiſſens nur von ge— 


Erſter Teil 25 


ringer Herkunft war, hatte es ſich doch ſo gemacht, daß er 
ſchon von fruͤheſter Kindheit an in einem Moskauer Hauſe 
gelebt und daher eine vorzuͤgliche Erziehung erhalten 
} hatte; Franzoͤſiſch ſprach er wie ein Pariſer. Auf dieſe 
Weiſe ſollte der Baron gleich auf den erſten Blick erkennen, 
mit was fuͤr Leuten ſich Warwara Petrowna auch in der 
Abgeſchiedenheit der Provinz umgab. Indeſſen kam es 
anders. Als der Baron die voͤllige Glaubwuͤrdigkeit der 
ſich damals erſt ſoeben verbreitenden Gerüchte über die 
große Reform poſitiv beſtaͤtigte, da konnte ſich Stepan 
Trofimowitſch auf einmal nicht mehr halten und rief: 
„Hurra!“ ja, er machte ſogar mit dem Arm eine Gebaͤrde, 
die ſein Entzuͤcken zum Ausdruck brachte. Er rief ja zwar 
nicht laut und ſogar in einer eleganten Manier; ſein Ent⸗ 
zuͤcken war ſogar vielleicht ein vorheruͤberlegtes und die 
Gebaͤrde eine halbe Stunde vor dem Tee abſichtlich vor 
dem Spiegel einſtudiert; aber die Sache mußte doch wohl 
bei ihm nicht richtig herausgekommen ſein, da der Baron 
ſich erlaubte zu laͤcheln, obgleich er ſofort mit außerordent- 
licher Hoͤflichkeit eine Redewendung uͤber die allgemeine, 
erklaͤrliche Ruͤhrung aller ruſſiſchen Herzen angeſichts des 
großen Ereigniſſes einfließen ließ. Bald darauf brach er 
auf und vergaß beim Abſchiede nicht, Stepan Trofimo⸗ 
witſch zwei Finger hinzuſtrecken. Als Warwara Petrowna 
in den Salon zuruͤckkehrte, ſchwieg ſie zunaͤchſt etwa drei 
Minuten lang und tat, als ob ſie etwas auf dem Tiſche 
che; plotzlich aber wandte fie ſich zu Stepan Trofimo- 
witſch und murmelte leiſe mit blaſſem Geſichte und fun- 
kelnden Augen: 
3 „Das werde ich Ihnen nie vergeſſen!“ 


26 Die Teufel 


Am andern Tage verkehrte ſie mit ihrem Freunde, als 
ob nichts vorgefallen waͤre; das Geſchehene erwaͤhnte ſie 
niemals. Aber dreizehn Jahre ſpaͤter, in einem tragiſchen 
Augenblick, kam ſie darauf zuruͤck und machte ihm Vor⸗ 
wuͤrfe, wobei ſie ebenſo blaß wurde wie dreizehn Jahre 
vorher, als ſie ihn zum erſten Male deswegen geſcholten 
hatte. Nur zweimal in ihrem ganzen Leben ſagte ſie zu 
ihm: „Das werde ich Ihnen nie vergeſſen!“ Der Fall mit 
dem Baron war bereits der zweite derartige Fall; der 
erſte iſt in ſeiner Weiſe ſo charakteriſtiſch und hatte, wie 
ich meine, fuͤr Stepan Trofimowitſchs Lebensſchickſal eine 
ſolche Wichtigkeit, daß ich mich dazu entſchließe, auch ihn 
zu erzaͤhlen. 

Es war im Jahre 1855, im Fruͤhling, im Mai, bald 
nachdem in Skworeſchniki die Nachricht von dem Tode des 
Generalleutnants Stawrogin eingelaufen war, eines leicht⸗ 
lebigen alten Herrn, der auf der Reife nach der Krim, 1002 
hin er zur aktiven Armee kommandiert war, an einer Ma⸗ 


genverſtimmung geſtorben war. Warwara Petrowna war. 


Witwe geworden und hatte tiefe Trauer angelegt. Sehr 
betruͤbt konnte ſie allerdings nicht ſein; denn in den letzten 
vier Jahren hatte ſie infolge des ſchlechten Zuſammen— 
paſſens der beiderſeitigen Charaktere von ihrem Manne 
voͤllig getrennt gelebt und ihm ein Jahrgeld gezahlt. (Der 
Generalleutnant ſelbſt beſaß nur hundertfuͤnfzig Seelen 
und ſein Gehalt, ſowie außerdem ſein Anſehen und ſeine 
Konnexionen; der ganze Reichtum aber, darunter auch 
das Gut Skworeſchniki, gehoͤrte Warwara Petrowna, der 
einzigen Tochter eines ſehr reichen Branntweinpaͤchters.) 
Nichtsdeſtoweniger war ſie durch die unerwartete Nachricht 
tief erſchuͤttert und zog ſich ganz von der Geſelligkeit zuruͤck. 


| 
4 


F 


Erſter Teil 27 


Selbſtverſtaͤndlich befand ſich Stepan Trofimowitſch be— 
ſtaͤndig um ſie. 

Der Mai war in voller Bluͤte; die Abende waren wun— 
dervoll. Der Faulbaum duftete. Die beiden Freunde kamen 
jeden Abend im Garten zuſammen, ſaßen bis zur Nacht 
in einer Laube und ſprachen einer dem andern ſeine Ge— 
fuͤhle und Gedanken aus. Es waren poetiſche Stunden. 
Warwara Petrowna ſprach unter dem Eindrucke der in 
ihrem Schickſal eingetretenen Veraͤnderung mehr als ge— 
woͤhnlich. Sie ſchmiegte ſich gewiſſermaßen an das Herz 
ihres Freundes, und ſo dauerte das mehrere Abende. Da 
fuhr dem braven Stepan Trofimowitſch ploͤtzlich ein fon- 
derbarer Gedanke durch den Kopf: ob die untroͤſtliche 
Witwe nicht vielleicht auf ihn ſpekuliere und am Ende des 
Trauerjahres einen Antrag von ihm erwarte. Es war ein 
frivoler Gedanke; aber gerade durch die hohe Vollkommen— 
heit der ſeeliſchen Organiſation wird mitunter die Neigung 
zu frivolen Gedanken befoͤrdert, ſchon allein infolge der 
Vielſeitigkeit der Entwicklung. Er begann darüber nachzu— 
denken und fand, daß es allerdings danach ausſehe. 
dachte: „Es ИЕ ein gewaltiges Vermögen; aber ..“ In 
der Tat, Warwara Petrowna konnte keinen Anſpruch dar— 
auf erheben, eine Schoͤnheit genannt zu werden: ſie war 
eine hochgewachſene, gelbliche, knochige Frau mit unver— 
haͤltnismaͤßig langem Geſichte, das einigermaßen an 
einen Pferdekopf erinnerte. Immer mehr und mehr geriet 
Stepan Trofimowitſch ins Schwanken; er quaͤlte ſich mit 
Zweifeln und weinte ſogar ein paarmal aus Unfchlüffig- 

г keit (er weinte überhaupt ziemlich oft). Abends aber, das 
heißt in der Laube, begann fein Geſicht unwillkuͤrlich einen 
launiſchen, ſpoͤttiſchen, koketten und gleichzeitig hoch⸗ 


5 
* — 


28 Die Teufel 


muͤtigen Ausdruck anzunehmen. So etwas pflegt unver- 
ſehens und unwillkuͤrlich zu geſchehen, und je edler der 
betreffende Menſch ИЕ, um fo leichter iſt ein ſolcher Aus— 
druck bemerkbar. Es iſt ſchwer, daruͤber etwas zu behaup⸗ 
ten, aber das wahrſcheinlichſte ift, daß in Warwara Pe- 
trownas Herzen ſich nichts regte, wodurch Stepan Trofimo⸗ 
witſchs Verdacht haͤtte gerechtfertigt werden koͤnnen. Auch 
hätte fie ihren Namen Stawrogina wohl nicht mit dem 
ſeinigen vertauſchen mögen, mochte dieſer auch noch fo 
beruͤhmt ſein. Vielleicht lag ihrerſeits weiter nichts vor 
als ein Spiel mit dieſem Gedanken; es dokumentiert ſich 
darin eben ein unbewußtes weibliches Beduͤrfnis, das in 
manchen außerordentlichen Situationen des Weibes ſehr 
natuͤrlich iſt. Übrigens kann ich dafuͤr keine Buͤrgſchaft 
uͤbernehmen; die Tiefen des Frauenherzens ſind bis auf 
den heutigen Tag noch unerforſcht. 

Man muß annehmen, daß ſie im ſtillen den ſeltſamen 
Geſichtsausdruck ihres Freundes gar bald verſtanden 
hatte; denn ſie war achtſam und ſcharfſichtig, er dagegen 
bisweilen nur allzu harmlos. Aber die Abende nahmen 
ihren bisherigen Verlauf, und die Geſpraͤche waren ebenſo 
poetiſch und intereſſant wie vorher. Eines Abends hatten 
ſie ſich bei Einbruch der Nacht nach einem hoͤchſt lebhaften, 
poetiſchen Geſpraͤche in freundſchaftlicher Weiſe mit einem 
warmen Haͤndedruck voneinander an der Tür des Neben— 
gebaͤudes getrennt, in welchem Stepan Trofimowitſch 
wohnte. Jeden Sommer zog er aus dem rieſigen Herr— 
ſchaftsgebaͤude von Skworeſchniki in dieſes faſt im Garten 
ſtehende Nebengebaͤude um. Kaum war er in ſein Zimmer 
gekommen, hatte ſich in unruhvollem Nachdenken eine 
Zigarre genommen, aber noch nicht Zeit gefunden, ſie an⸗ 


‚&rfter Teil 29 


zurauchen, hatte ſich müde, wie er war, ans offene Fen⸗ 
ſter geſtellt und betrachtete nun, regungslos daſtehend, 
die leichten, weißen Federwoͤlkchen, die an dem klaren 
Monde voruͤberglitten, als plöglich ein leichtes Geraͤuſch 
ihn zuſammenfahren ließ und ihn veranlaßte, ſich umzu⸗ 
wenden. Vor ihm ſtand wieder Warwara Petrowna, die 
er erſt vor vier Minuten verlaſſen hatte. Ihr gelbes Ge— 
ſicht war faſt blaͤulich geworden; die feſt zuſammengepreß⸗ 
ten Lippen zuckten an den Mundwinkeln. Etwa zehn Se⸗ 
kunden lang ſah ſie ihm ſchweigend mit feſtem, unerbitt⸗ 
lichem Blicke in die Augen und fluͤſterte auf einmal haſtig: 

„Das werde ich Ihnen nie vergeſſen!“ 

Als Stepan Trofimowitſch erſt zehn Jahre ſpaͤter, nach⸗ 
dem er vorher die Tuͤr verſchloſſen hatte, mir fluͤſternd 
dieſe traurige Geſchichte erzaͤhlte, da ſchwur er mir, er ſei 
damals ſo ſtarr vor Schreck geweſen, daß er weder gehoͤrt 
noch geſehen habe, wie Warwara Petrowna wieder ver— 
ſchwunden ſei. Da ſie nachher nie ihm gegenuͤber eine 

Anſpielung auf dieſen Vorgang machte und alles feinen 
Gang nahm, als ob nichts geſchehen waͤre, ſo neigte er ſein 
ganzes Leben lang zu der Annahme, daß dies alles eine 
Halluzination vor einer Krankheit geweſen ſei, um ſo mehr 
weil er in derſelben Nacht wirklich fuͤr volle zwei Wochen 
erkrankte, was ſehr gelegen auch den Zuſammenkuͤnften 
in der Laube ein Ende machte. 
Aber trotzdem er halb und halb an eine Halluzination 
glaubte, erwartete er doch ſein ganzes Leben lang taͤglich 
Br: gewiſſermaßen eine Fortſetzung dieſes Ereigniſſes, eine 
155 Loͤſung dieſes Raͤtſels. Er glaubte nicht, daß die Sache 
5 damit zu Ende ſei! Unter dieſen Umſtaͤnden konnte er nicht 


85 
4 


2 
* 


+ Pi 


30 Die Teufel 


umhin, ſeine Freundin mitunter in * Weiſe 
anzuſehen. 
У 

Sie hatte ſogar ſelbſt fuͤr ihn ein Koſtuͤm entworfen, in 
dem er denn auch lebenslaͤnglich ging. Dieſes Koſtuͤm war 
geſchmackvoll und charakteriſtiſch: ein langſchoͤßiger, 
ſchwarzer, faſt bis oben zugeknoͤpfter, aber elegant ſitzender 
Oberrock; ein weicher Hut (im Sommer ein Strohhut) 
mit breiter Krempe; ein weißes batiſtnes Halstuch mit 
einem großen Knoten und herabhaͤngenden Enden; ein 
Spazierſtock mit ſilbernem Knopf; dazu bis auf die Schul⸗ 
tern reichendes Haar. Er war dunkelblond, und erſt in 
der letzten Zeit begann ſein Haar ein wenig zu ergrauen. 
Den Bart raſierte er weg. Es wurde geſagt, er ſei in 
ſeiner Jugend ſehr huͤbſch geweſen. Aber meiner Anſicht 
nach war er auch im Alter noch außerordentlich anziehend. 
Und kann man uͤberhaupt ſchon von Alter reden, wenn 
jemand dreiundfuͤnfzig Jahre alt iſt? Aber aus einer Art 
von politiſcher Koketterie machte er ſich nicht nur nicht 
juͤnger, ſondern war gewiſſermaßen auf ſein hoͤheres, ge— 
ſetztes Lebensalter ſtolz, und in ſeinem Koſtuͤme, bei ſeinem 
hohen Wuchſe, ſeiner Magerkeit und mit dem auf die 
Schultern reichenden Haare glich er einigermaßen einem 
Patriarchen oder, noch richtiger, dem lithographierten 
Bilde des Dichters Kukolnik, das einer in den dreißiger 
Jahren gedruckten Ausgabe ſeiner Gedichte beigegeben 
war. Die Ahnlichkeit trat beſonders hervor, wenn Stepan 
Trofimowitſch im Sommer im Garten auf einer Bank 
unter einem bluͤhenden Fliederſtrauche ſaß, ſich mit beiden 
Haͤnden auf ſeinen Stock ſtuͤtzte, ein aufgeſchlagenes Buch 
neben ſich liegen hatte und ſich in poetiſche Gedanken uͤber 


4 


N 
» 
* 
— 
* 


* 


Erſter Teil 31 


den Sonnenuntergang verſenkte. Was Buͤcher anlangt, 
ſo bemerke ich, daß er gegen das Ende ſeines Lebens immer 
mehr davon zuruͤckkam, ſolche zu leſen. Übrigens war das 
erſt ganz kurz vor ſeinem Ende der Fall. Zeitungen und 
Journale, deren Warwara Petrowna eine große Menge 
hielt, las er beſtaͤndig. Fuͤr die Erfolge der ruſſiſchen 
Literatur intereſſierte er ſich gleichfalls dauernd, ohne da— 
bei ſeiner eigenen Wuͤrde etwas zu vergeben. Eine Zeit— 
lang fing er ſchon an, ſich durch das Studium der hoͤheren 
zeitgenoͤſſiſchen Politik auf dem Gebiete der inneren und 
aͤußeren Angelegenheiten feſſeln zu laſſen; aber bald gab 
er dieſe Beſchaͤftigung geringſchaͤtzig wieder auf. Auch das 
kam nicht ſelten vor, daß er Tocqueville mit in den Garten 
nahm und einen Band Paul de Kock in der Taſche ver- 
ſteckt trug. Indeſſen das ſind Lappalien. 

Über das Bild Kukolniks bemerke ich in Parentheſe fol— 
gendes. Dieſes Bild war Warwara Petrowna zum erſten— 
mal in die Haͤnde gekommen, als ſie ſich noch als junges 
Maͤdchen in einer vornehmen Moskauer Penſion befand. 
Sie verliebte ſich ſofort in dieſes Bild, wie es die Gewohn— 
heit aller jungen Penſionaͤrinnen iſt, ſich in alles zu ver— 
lieben, was ihnen vor Augen kommt, zugleich auch in ihre 
Lehrer, namentlich in die Schreib- und Zeichenlehrer. 
Merkwuͤrdig war aber dabei nicht das Verhalten des 
jungen Maͤdchens, ſondern vielmehr der Umſtand, daß Ват: 


wara Petrowna noch, als fie ſchon fünfzig Jahre alt war, 


dieſes Bild unter ihren liebſten Koſtbarkeiten aufbewahrte 
und vielleicht nur deswegen für Stepan Trofimowitſch 
ein Koſtuͤm entwarf, das mit dem auf dem Bilde darge— 


= 
ſtellten einige Ahnlichkeit hatte. Aber auch das ift natürlich 
unwichtig. 


82 Die Teufel 


In den erften Jahren oder, genauer gejagt, in der 
erſten Haͤlfte ſeines Aufenthaltes bei Warwara Petrowna 
hatte Stepan Trofimowitſch immer noch an dem Gedanken 
feſtgehalten, eine Abhandlung zu ſchreiben, und es ſich taͤg— 
lich ernſthaft vorgenommen. Aber in der zweiten Haͤlfte 
begann er offenbar ſchon das zu vergeſſen, was er fruͤher 
gewußt hatte. Immer haͤufiger ſagte er zu uns: „Ich 
moͤchte meinen, daß ich zur Arbeit vorbereitet bin, das 
Material beiſammen habe, und doch ſchaffe ich nichts! Es 
kommt nichts zuſtande!“ und er ließ in truͤber Stimmung 
den Kopf haͤngen. Ohne Zweifel mußte dies ihm als 
einem Maͤrtyrer der Wiſſenſchaft in unſeren Augen eine 
noch hoͤhere Bedeutung verleihen; aber er ſelbſt wollte noch 
auf etwas anderes hinaus. „Man hat mich vergeſſen; 
niemand bedarf meiner!“ Dieſe Klage entrang ſich nicht 
ſelten feiner Bruſt. Dieſe gefteigerte Hypochondrie bes 
maͤchtigte ſich ſeiner beſonders ganz am Ende der fuͤnfziger 
Jahre. Warwara Petrowna gelangte ſchließlich zu der 
Erkenntnis, daß die Sache ernſt ſei. Auch konnte ſie den 
Gedanken nicht ertragen, daß ihr Freund vergeſſen ſei und 
niemand ſeiner beduͤrfe. Um ihn zu zerſtreuen und zugleich 
ſeinen Ruhm wieder aufzufriſchen, nahm ſie ihn damals 
mit nach Moskau, wo ſie mit mehreren hervorragenden 
Literaten und Gelehrten bekannt war; aber auch Moskau 
brachte nicht die gewuͤnſchte Wirkung hervor. 

Es war damals eine eigenartige Zeit; es kuͤndigte ſich 
etwas Neues an, das der bisherigen Stille ſehr unaͤhnlich 
war, etwas ſehr Seltſames, das aber uͤberall geſpuͤrt 
wurde, ſogar in Skworeſchniki. Allerlei Geruͤchte drangen 
bis dorthin. Die Tatſachen waren im allgemeinen mehr . 
oder minder bekannt; aber es war klar, daß außer den 


ое бала АЯ 
* 


Erſter Teil 33 


Tatſachen auch gewiſſe ſie begleitende Ideen aufgetaucht 
waren und, was die Hauptſache war, in außerordentlicher 
Menge. Aber gerade das richtete Verwirrung an: es war 
ſchlechterdings unmoͤglich, ſich darin zu orientieren und 
ſich ordentlich daruͤber klar zu werden, was dieſe Ideen 
nun eigentlich zu bedeuten hatten. Warwara Petrowna 
wollte ihrer weiblichen Natur zufolge darin abſolut ein 
Geheimnis ſpuͤren. Sie machte ſich ſelbſt daran, Zeitungen 
und Journale, auslaͤndiſche verbotene Buͤcher und ſogar 
die damals aufkommenden Proklamationen zu leſen (all 
dies konnte ſie ſich verſchaffen); aber davon wurde ihr 
nur der Kopf ſchwindlig. Sie machte ſich daran, Briefe 
zu jchreiben; aber man antwortete ihr wenig und aus je 
weiterer Ferne um ſo unverſtaͤndlicher. Sie forderte Ste— 
pan Trofimowitſch feierlich auf, ihr alle dieſe Ideen ein 
für allemal zu erklaͤren; aber fie war mit ſeinen Erklaͤ— 
rungen entſchieden nicht zufrieden. Stepan ЗтоНто» 
witſchs Urteil uͤber die allgemeine Bewegung war im 
hoͤchſten Grade hochmuͤtig; bei ihm kam alles darauf hin— 
aus, daß er ſelbſt vergeſſen ſei und niemand ſeiner beduͤrfe. 
Endlich erinnerte man ſich auch feiner, zuerſt in auslän- 
diſchen Publikationen, als eines verbannten Dulders, und 
| Е. dann ſofort auch in Petersburg als eines früheren Sternes 
in einem bekannten Sternbilde; man verglich ihn ſogar 
aus irgendwelchem Grunde mit Radiſchtſchew. Dann ließ 
jemand drucken, Stepan Trofimowitſch ſei bereits geſtor— 
A ben, und ftellte einen Nekrolog von ihm in Ausſicht. In 
einem Nu war Stepan Trofimowitſch von den Toten 
auferſtanden und nahm nun eine ſehr wuͤrdevolle Haltung 
Nu. Der ganze Hochmut ſeines Urteils uͤber die Zeit— 
genoſſen trat auf einmal zu Tage, und es entbrannte in 


Di. 


34 Dte Teufel 


ihm der ſchwaͤrmeriſche Wunſch, ſich der Bewegung anzu⸗ 
ſchließen und ſeine Kraft zu zeigen. Warwara Petrowna 
glaubte ſofort von neuem an alles und wurde von einem 
großen Eifer ergriffen. Es wurde beſchloſſen, ohne den 
geringſten Verzug nach Petersburg zu reiſen, alles an 
Ort und Stelle in Erfahrung zu bringen, perſoͤnlich in 
dieſe Kreiſe einzudringen und womoͤglich voll und ganz 
ſich einer neuen Taͤtigkeit zu widmen. Unter anderm er— 
klaͤrte ſie, ſie ſei bereit, ein eigenes Journal zu gruͤnden 
und dieſem von nun an ihr ganzes Leben zu weihen. Als 
Stepan Trofimowitſch ſah, bis zu welchem Punkte die 
Sache gekommen war, wurde er noch hochmuͤtiger und 
begann ſich unterwegs gegen Warwara Petrowna ſogar 
goͤnnerhaft zu benehmen, was ſie ſogleich in ihrem Herzen 
deponierte. Übrigens hatte ſie auch noch einen andern ſehr 
wichtigen Grund zu dieſer Reiſe, naͤmlich die Auffriſchung 
ihrer Beziehungen zu hochgeſtellten Perſoͤnlichkeiten. Sie 
mußte ſich in der guten Geſellſchaft moͤglichſt wieder in 
Erinnerung bringen oder dies wenigſtens verſuchen. Der 
Hauptvorwand fuͤr die Reiſe war ein Wiederſehen mit 
ihrem einzigen Sohne, der damals ein Petersburger Ly— 
zeum beſuchte. | 


VI 
Sie fuhren hin und verlebten in Petersburg faſt die 
ganze Winterſaiſon. Aber um die großen Faſten platzte 
alles entzwei wie eine regenbogenfarbene Seifenblaſe. 
Die Zukunftstraͤumereien verflogen, und der unſinnige 
Wirrwarr klaͤrte ſich nicht nur nicht auf, ſondern wurde 
noch widerwaͤrtiger. Zunaͤchſt: es gelang faſt gar nicht, die 
Verbindungen mit hochgeftellten Perſoͤnlichkeiten wieder 


1337 92 
» 


Erſter Teil 35 


anzuknuͤpfen, außer in ganz mikroſkopiſchem Umfange und 
nur mittels demuͤtigender Anſtrengungen. Im Gefuͤhl der 
erlittenen Kraͤnkung ſtuͤrzte ſich Warwara Petrowna ganz 
in die „neuen Ideen“ und richtete ſich einen Abend ein. 
Sie wuͤnſchte ſich Literaten als Gaͤſte, und die wurden ihr 
denn auch ſogleich in Menge zugefuͤhrt. Demnaͤchſt kamen 
ſie auch von ſelbſt, ohne Einladung; einer brachte den an— 


dern mit. Sie hatte noch nie ſolche Literaten zu ſehen be— 


kommen. Sie waren unglaublich eitel, aber in ganz offe— 
ner Weiſe, wie wenn ſie damit eine Pflicht erfuͤllten. 
Manche (wiewohl bei weitem nicht alle) erſchienen in War⸗ 
wara Petrownas Salon ſogar in betrunkenem Zuſtande, 
aber als ob ſie ſich damit einer beſonderen, erſt geſtern 
entdeckten Schoͤnheit bewußt waͤren. Alle waren ſie auf 
irgend etwas ſo ſtolz, daß es ganz ſeltſam herauskam. Auf 
allen Geſichtern ſtand geſchrieben, daß ſie ſoeben erſt ein 
außerordentlich wichtiges Geheimnis entdeckt haͤtten. Sie 
zankten ſich untereinander und rechneten ſich dieſes Be— 
nehmen zur Ehre an. Es war ziemlich ſchwer, in Erfah— 
rung zu bringen, was ſie eigentlich ſchrieben; aber es gab 
da Kritiker, Romanſchriftſteller, Dramatiker, Satiriker 
und Polemiker. Stepan Trofimowitſch drang ſogar in 
ihren hoͤchſten Kreis ein, von wo aus die Bewegung ge— 
leitet wurde. Bis zu dieſen leitenden Perſoͤnlichkeiten war 
es unglaublich hoch; aber ſie begegneten ihm freundlich, ob⸗ 
wohl keiner von ihnen uͤber ihn etwas wußte oder gehoͤrt 
hatte, außer daß er „eine Idee vertrete“. Er manoͤvrierte 
jo geſchickt um fie herum, daß er auch fie trotz all ihrer olym= 


piſchen Hoͤhe ein paarmal dazu brachte, Warwara Pe— 


trownas Salon zu beſuchen. Es waren ſehr ernſte, ſehr 


hoͤfliche Männer; fie betrugen ſich gut; die übrigen hatten 


Вики 


36 Die Teufel 


offenbar Furcht vor ihnen; aber es war augenſcheinlich, 
daß ſie keine Zeit hatten. Es erſchienen dort auch zwei 
oder drei fruͤhere literariſche Zelebritaͤten, mit denen War⸗ 
тата Petrowna ſchon ſeit laͤngerer Zeit die beſten Be— 
ziehungen unterhielt, und die ſich damals zufaͤllig in 
Petersburg aufhielten. Aber zu Warwara Petrownas 
Erſtaunen waren dieſe wirklichen und unzweifelhaften 
Zelebritaͤten wie um den Finger zu wickeln, und manche 
von ihnen ſchmeichelten geradezu dieſem ganzen neuen Ge— 
ſindel und buhlten in ſchmaͤhlicher Weiſe um ſeine Gunſt. 
Anfangs hatte Stepan Trofimowitſch Gluͤck; man Бе 
muͤhte ſich um ihn und ſtellte ihn in oͤffentlichen literari⸗ 
ſchen Verſammlungen zur Schau. Als er zum erftenmal 
an einem oͤffentlichen literariſchen Vortragsabende als 
einer der Vorleſenden die Rednerbuͤhne betrat, erſcholl ein 
raſendes Haͤndeklatſchen, das fuͤnf Minuten lang nicht 
verſtummte. Er erinnerte ſich daran neun Jahre ſpaͤter 
mit Traͤnen in den Augen, uͤbrigens mehr infolge ſeiner 
Kuͤnſtlernatur als aus Dankbarkeit. „Ich ſchwoͤre Ihnen 
und wette darauf,“ ſagte er ſelbſt zu mir (aber nur zu 
mir und im geheimen), „daß unter dieſem ganzen Publi⸗ 
kum niemand von mir auch nur das geringſte wußte!“ 
Ein beachtenswertes Bekenntnis: alſo beſaß er doch einen 
ſcharfen Verſtand, wenn er gleich damals auf der Redner— 
buͤhne ſeine Situation trotz ſeines Freudenrauſches ſo klar 
zu erfaſſen vermochte, und andrerſeits beſaß er keinen 
ſcharfen Verſtand, wenn er noch neun Jahre nachher daran 
nicht ohne ein Gefuͤhl der Kraͤnkung zuruͤckdenken konnte. 
Man bat ihn, zwei oder drei Kollektivproteſte zu unter- 
ſchreiben (wogegen, das wußte er ſelbſt nicht); er unter- 
ſchrieb. Auch Warwara Petrowna wurde um ihre Unter— 


Erſter Teil 37 


ſchrift unter einem „Proteſt gegen das ungehoͤrige Ver⸗ 
halten jemandes“ erſucht; auch ſie unterſchrieb. Übrigens 
hielten die meiſten dieſer neuen Maͤnner, wenn ſie auch 
Warwara Petrowna beſuchten, doch aus nicht recht ver— 
ſtaͤndlichem Grunde ſich für verpflichtet, mit Gering— 
ſchaͤtzung und unverhohlenem Spotte auf ſie herabzuſehen. 
Stepan Trofimowitſch deutete mir ſpaͤter in Augenblicken 
der Bitterkeit an, daß ſie ihn ſeitdem ſogar beneidet habe. 
Sie ſah allerdings ein, daß ſie mit dieſen Menſchen nicht 
verkehren koͤnne; aber trotzdem empfing ſie ſie bei ſich mit 
großer Befliſſenheit und echt weiblicher nervoͤſer Unge— 
diuld, da fie (und das war die Hauptſache) immer erwar⸗ 
tete, daß bald etwas kommen werde. Bei den Abendgeſell— 
ſchaften redete ſie wenig, obgleich ſie ſehr wohl imſtande 
geweſen waͤre zu reden; aber ſie hoͤrte meiſt zu. Man 
ſprach uͤber die Abſchaffung der Zenſur und der ſtummen 
Endbuchſtaben, uͤber den Übergang von der ruſſiſchen 
Schrift zur lateiniſchen, uͤber die tags zuvor erfolgte 
Verbannung irgend jemandes, uͤber eine Skandal— 
geſchichte, die in der Paſſage vorgekommen war, uͤber die 
Z3weckmaͤßigkeit einer Zerſtuͤckelung Rußlands in einzelne 
* Voͤlkerſchaften mit einem freien foͤderativen Bundesver— 
haͤltnis, uͤber die Abſchaffung der Armee und der Flotte, 
uͤber die Wiederherſtellung Polens am Dnujepr, tiber die 
baͤuerliche Reform und die Proklamationen, über die Ab- 
ſchaffung des Erbrechts, des Familienlebens, der privaten 
4 Kindererziehung und der Geiſtlichkeit, uͤber die Frauen⸗ 
Е rechte, uͤber Krajewſkis Haus, das niemand Herrn Kra— 
| jewfki verzeihen konnte, uſw. uſw. Es war klar, daß ſich 
ыы m dieſer Geſellſchaft von neuen Männern viele Schurken 
befanden; aber unzweifelhaft waren darunter auch viele 


Bi 


38 Die Teufel 


ehrenhafte, ſogar ſehr anziehende Perſoͤnlichkeiten, wenn 
ſie auch einige verwunderliche Faͤrbungen aufwieſen. Die 
ehrenhaften waren weit unverſtaͤndlicher als die unehren— 
haften und groben; aber es war nicht zu erkennen, wer 
den andern in ſeiner Gewalt hatte. Als Warwara Pe— 
trowna von ihrer Abſicht, ein Journal herauszugeben, 
Mitteilung machte, ſtroͤmte ihr noch mehr Volk zu; aber 
ſofort wurde ihr auch die ebenſo dreiſte wie uͤberraſchende 
Beſchuldigung ins Geſicht geſchleudert, ſie ſei eine Kapi— 
taliſtin und beute die Arbeitenden aus. Der hochbejahrte 
General Iwan Iwanowitſch Droſdow, ein früherer 
Freund und Kamerad des verſtorbenen Generals Staw— 
rogin, ein (notabene in feiner Art) ſehr achtungswerter 
Mann, den wir alle hier kannten, ein aͤußerſt ſtarrkoͤpfiger, 
reizbarer Menſch, der gewaltig viel zu eſſen pflegte und 
den Atheismus gewaltig verabſcheute, der geriet auf einer 
Abendgeſellſchaft bei Warwara Petrowna mit einem be— 
ruͤhmten Juͤnglinge in Streit. Dieſer ſagte ihm gleich zu 
Anfang des Wortwechſels: „Wenn Sie ſo reden, ſind Sie 
ein General“, womit er ſagen wollte, daß er ein ſtaͤrkeres 
Schimpfwort als „General“ uͤberhaupt nicht finden koͤnne. 
Iwan Iwanowitſch brauſte heftig auf: „Ja, mein Herr, 
ich bin General, und zwar Generalleutnant und habe 
meinem Kaiſer gedient; aber Sie, mein Herr, ſind ein 
gruͤner Junge und ein Gottesleugner!“ Es folgte eine 
haͤßliche Skandalſzene. Am andern Tage wurde der Fall 
in der Preſſe eroͤrtert, und man begann Unterſchriften zu 
einem Kollektivproteſt gegen Warwara Petrownas „unge— 
hoͤriges Verhalten“ zu ſammeln, weil ſie dem General nicht 
hatte ſogleich die Tür weiſen wollen. In einem illuftrier- 
ten Journale erſchien eine boshafte Karikatur, in welcher 


u - 
Bir ie 


Erſter Teil 39 


auf ein und demſelben Bildchen Warwara Petrowna, der 
General und Stepan Trofimowitſch als drei reaktionaͤre 
Freunde dargeſtellt waren; dem Bildchen waren auch 
einige Verſe beigefuͤgt, die ein Volksdichter expreß fuͤr 
den vorliegenden Fall verfaßt hatte. Ich bemerke noch 
von mir aus, daß tatſaͤchlich viele Perſonen im Generals— 
rang die laͤcherliche Gewohnheit haben zu ſagen: „Ich 
habe meinem Kaiſer gedient“, gerade wie wenn ſie nicht 
denſelben Kaiſer haͤtten wie wir einfachen Staatsbuͤrger, 
ſondern einen beſonderen fuͤr ſich. | 
Länger in Petersburg zu bleiben war natuͤrlich nicht 
moͤglich, um ſo weniger da auch Stepan Trofimowitſch 
ein entſchiedenes Fiasko machte. Er hatte ſich nicht ent- 
halten koͤnnen, uͤber die Rechte der Kunſt zu ſprechen, 
und da lachte man ihn noch mehr aus als ſchon vorher. 
Bei ſeiner letzten Vorleſung gedachte er durch politiſche 
Beredſamkeit zu wirken; er bildete ſich ein, es werde ihm 
gelingen, die Herzen zu ruͤhren, und rechnete darauf, daß 
man ihn wegen der „Verfolgungen“, denen er ausgeſetzt 
geweſen ſei, reſpektieren werde. Er gab die Wertloſigkeit 
und Laͤcherlichkeit des Wortes „Vaterland“ widerſpruchs— 
los zu; auch mit der Anſchauung, daß die Religion ſchaͤd⸗ 
lich ſei, erklaͤrte er ſich einverſtanden; aber er ſprach ſich 
laut und mit Feſtigkeit dahin aus, daß Puſchkin mehr wert 
ſei als ein Paar Stiefel, ſogar erheblich viel mehr. Er 


wurde erbarmungslos ausgepfiffen, ſo daß er gleich auf 


dem Fleck, ohne von der Rednerbuͤhne hinabzuſteigen, in 
aller Offentlichkeit in Traͤnen ausbrach. Warwara Pe— 
trowna brachte ihn mehr tot als lebendig nach Hauſe. 
„On m'a traité comme un vieux bonnet de coton!“ 
ſtammelte er halb bewußtlos. Sie pflegte ihn die ganze 


40 Die Teufel 


Nacht über, gab ihm Kirſchlorbeertropfen und wieder: 
holte ihm bis zum Tagesgrauen: „Sie find auf der 
Welt noch nuͤtzlich; Sie werden noch zeigen, was Sie 
leiſten koͤnnen; Sie werden an einem andern Orte ge— 
buͤhrend gewuͤrdigt werden.“ 

Gleich am andern Tage erſchienen bei Warwara Pe— 
trowna fruͤh morgens fuͤnf Literaten, von denen ihr drei 
ganz unbekannt waren; ſie hatte ſie nie geſehen. Sie 
erklaͤrten ihr mit ernſter Miene, fie hätten die Angelegen⸗ 
heit mit ihrem Journal erwogen und daruͤber Beſchluß 
gefaßt. Warwara Petrowna hatte abſolut nie und nie— 
mandem den Auftrag gegeben, in betreff ihres Journals 
etwas zu erwägen und einen Beſchluß zu faſſen. Der Зе: 
ſchluß beſtand darin, ſie ſolle, ſobald ſie das Journal werde 
gegruͤndet haben, ihnen dasſelbe ſofort mitſamt dem erfor— 
derlichen Kapitale uͤbergeben, und zwar mit den Rechten 
einer freien Handelsgeſellſchaft; fie ſelbſt ſolle nach Skwo— 
reſchniki zuruͤckreiſen und nicht vergeſſen, Stepan Trofi- 
mowitſch mitzunehmen, „der ſchon recht alt geworden ſei“. 
Aus Zartgefuͤhl erklaͤrten ſie ſich bereit, ihr das Eigen— 
tumsrecht zuzuerkennen und ihr jaͤhrlich ein Sechſtel des 
Gewinnes zuzuſenden. Das ruͤhrendſte war dabei, daß 
von dieſen fuͤnf Leuten aller Wahrſcheinlichkeit nach vier 
keinerlei eigennuͤtzige Abſicht hatten, ſondern ſich nur im 
Namen der „gemeinſamen Sache“ ſo viel Muͤhe machten. 

„Wir waren, als wir abfuhren, wie betaͤubt,“ erzaͤhlte 


Stepan Trofimowitſch; „ich konnte keinen klaren Ge⸗ 


danken faſſen, und ich erinnere mich, daß ich beim 
Klappern der Waggonraͤder immer nur ein paar ſinnloſe 
Verſe vor mich hinmurmelte, bis dicht vor Moskau. Erſt 
in Moskau kam ich wieder ordentlich zur Beſinnung, als 


Erſter Teil 41 


ob ich dort tatſaͤchlich in eine andere Atmoſphaͤre gelangt 


wäre.“ „O meine Freunde!“ rief er manchmal in edler 


Erregung aus, „Sie koͤnnen es ſich gar nicht vorſtellen, 


welche Betruͤbnis und welcher Ingrimm die ganze Seele 
erfuͤllen, wenn unverſtaͤndige Menſchen eine große Idee, 
die man ſchon lange heilig geachtet hat, aufgreifen und 


zu ebenſolchen Dummföpfen, wie fie ſelbſt es find, auf die 


Straße ſchleppen und man ſie dann auf einmal auf dem 
Troͤdelmarkte wiederfindet, kaum wiederzuerkennen, mit 
Schmutz beſudelt, in abgeſchmackter Art in einem Winkel 
zur Schau geſtellt, wo es an aller Proportion und Har⸗ 
monie fehlt, ein Spielzeug fuͤr dumme Kinder! Nein, da 
war es doch zu unſerer Zeit anders, und wir haben andere 
Ziele verfolgt. Ja, ja, ganz andere Ziele! Ich erkenne 
die Welt gar nicht wieder ... Aber unſere Zeit wird 
wiederkommen und wird alles, was jetzt ſchwankt und 
taumelt, auf den feſten Weg fuͤhren. Was ſoll denn auch 


ſonſt aus der Welt werden?... 


VII 


м Geeich nach der Ruͤckkehr aus Petersburg ſchickte War— 


wara Petrowna ihren Freund „zu ſeiner Erholung“ ins 
Ausland; auch war es erforderlich, daß ſie ſich fuͤr einige 
Zeit voneinander trennten, das fuͤhlte ſie. Stepan Tro⸗ 
fimowitſch fuhr ganz entzuͤckt ab: „Dort werde ich ein 


neues Leben beginnen!“ rief er aus. „Dort werde 


3 


| 


vergeſſen! Hier in Berlin hat mich alles an meine alte 


С, 


ich mich endlich wieder der Wiſſenſchaft widmen!“ Aber 
gleich in den erſten Briefen aus Berlin ſtimmte er wieder 
die alte Leier an: „Mein Herz iſt zerriſſen,“ ſchrieb er an 
Warwara Petrowna; „ich kann die Vergangenheit nicht 


42 Die Teufel 


Zeit erinnert, an meine erſten Wonnen und an meine 
erſten Qualen. Wo Ш fie? Wo find jetzt dieſe 
beiden weiblichen Weſen? Wo ſeid ihr, ihr meine 
beiden guten Engel, deren ich nie wert geweſen 
bin? Wo iſt mein Sohn, mein geliebter Sohn? Wo iſt 
endlich mein eigenes fruͤheres Ich geblieben, ich, der ich 
ehemals ſtark wie Stahl und unerſchuͤtterlich wie ein Fels 
war, waͤhrend jetzt ſo ein Andrejew, ein rechtglaͤubiger, 
baͤrtiger Hansnarr, peut briser mon existence en deux“, 
uſw. uſw. Was Stepan Trofimowitſchs Sohn anlangt, 
ſo hatte er ihn nur zweimal in ſeinem ganzen Leben ge— 
ſehen, das erſtemal, als er geboren wurde, und das 
zweitemal kuͤrzlich in Petersburg, wo der junge Menſch 
ſich zum Eintritt in die Univerſitaͤt vorbereitete. Die ganze 
Zeit her war der Knabe, wie bereits gejagt iſt, bei feinen . 
Tanten im Gouvernement O***, fiebenhundert Werft von 
Skworeſchniki entfernt, (auf Warwara Petrownas Koften) 
erzogen worden. Was nun jenen Andrejew anlangt, ſo 
war das ganz einfach unſer hieſiger Kaufmann und Laden⸗ 
beſitzer Andrejew, ein großer Sonderling, archaͤologiſcher 
Autodidakt, leidenſchaftlicher Sammler ruſſiſcher Alter— 
tuͤmer, der ſich manchmal vor Stepan Trofimowitſch mit 
ſeinen Kenntniſſen und namentlich mit ſeiner patriotiſchen 
Geſinnung aufſpielte. Dieſer achtbare Kaufmann mit 
ſeinem grauen Barte und ſeiner großen ſilbernen Brille 
hatte von Stepan Trofimowitſch einige Deſjaͤtinen Wald 
auf deſſen kleinem, bei Skworeſchniki gelegenen Gute 
zum Abſchlagen gekauft, war aber mit der Zahlung von 
vierhundert Rubeln im Ruͤckſtand geblieben. Obgleich 
Warwara Petrowna ihren Freund, als ſie ihn nach Ber— 
lin ſchickte, reichlich mit Geldmitteln ausgeſtattet hatte, 


n 
Eu. 5. у 
1 


Erſter Teil 43 


hatte Stepan Trofimowitſch doch auf dieſe vierhundert 
Rubel vor ſeiner Abreiſe noch beſonders gerechnet, wahr— 
ſcheinlich fuͤr ſeine geheimen Ausgaben, und hatte beinah 
geweint, als Andrejew bat, ihm einen Monat Friſt zu 
geben; übrigens hatte dieſer ſogar ein Recht auf einen 
ſolchen Aufſchub; denn er hatte die erſten Raten faſt ein 
halbes Jahr vor den Terminen bezahlt, weil Stepan Tro— 
fimowitſch ſich damals in beſonderer Geldklemme befun— 
den hatte. Warwara Petrowna las dieſen erſten Brief 
mit lebhaftem Intereſſe durch, unterſtrich mit Bleiſtift 
den Ausruf: „Wo ſind jetzt dieſe beiden weiblichen We— 
ſen?“ vermerkte darauf das Eingangsdatum und ſchloß 
ihn in das Schubfach. Er hatte natuͤrlich ſeine beiden 
verſtorbenen Frauen gemeint. In dem zweiten Briefe, 
der aus Berlin eintraf, war die Tonart eine etwas andere: 
„Ich arbeite zwoͤlf Stunden taͤglich, („na, wenn's auch 
nur elf ſind,“ murmelte Warwara Petrowna), „ſtoͤbere 
in den Bibliotheken umher, kollationiere, kopiere, laufe 
herum; ich bin bei vielen Profeſſoren geweſen. Ich habe 
die Bekanntſchaft mit der praͤchtigen Familie Dundaſow 
erneuert. Wie reizend iſt Nadeſchda Nikolajewna noch 
immer! Sie laͤßt Sie gruͤßen. Ihr junger Gatte und alle 
drei Neffen ſind in Berlin. Abends unterhalte ich mich 
mit der Jugend bis zum Morgengrauen, und wir haben 
ſomit beinah attiſche Nächte, aber nur was Geiſt und Ge— 
ſchmack anlangt; es geht alles ſehr geſittet zu; viel Muſik, 
5 ſpaniſche Melodien, Phantaſien von der Erneuerung des 
ganzen Menſchengeſchlechtes, die Idee der ewigen Schoͤn⸗ 
MH heit, die ſirtiniſche Madonna, Licht mit ſtellenweiſer Dun— 
kelheitz aber auch die Sonne hat ja ihre Flecken! O meine 
5 Freundin, meine edle, treue Freundin! Mit meinem Фет: 
* 


44 Die Teufel 


zen bin ich bei Ihnen und der Ihrige; mit Ihnen allein 
moͤchte ich immer zuſammen ſein en tout pays, und waͤre 
es ſelbſt dans le pays de Makar et de ses veaux, von 
dem wir Sie werden ſich erinnern) ſo oft mit Zittern 
und Zagen in Petersburg vor meiner Abreiſe geſprochen 
haben. Ich erinnere mich daran mit einem Laͤcheln. Nach— 
dem ich die Grenze uͤberſchritten hatte, fuͤhlte ich mich 
ſicher, ein ſeltſames, neues Gefuͤhl, zum erſtenmal 
nach fo langen Jahren ...“ uſw. uſw. 

„Na, das iſt lauter dummes Zeug!“ ſagte Warwara 
Petrowna, indem ſie auch dieſen Brief weglegte. „Wenn 
er bis zum Morgengrauen attiſche Naͤchte verlebt, 
dann kann er nicht zwoͤlf Stunden taͤglich bei den Buͤchern 
ſitzen. Ob er das in betrunkenem Zuſtande geſchrieben 
hat? Wie kann dieſe Frau Dundaſowa ſich erdreiſten, 
mich gruͤßen zu laſſen? Übrigens, mag er meinetwegen 
ein bißchen bummeln ...“ 

Der Ausdruck „dans le pays de Makar et de ses 
veaux“ bedeutete: „wohin Makar ſeine Kaͤlber nicht ge⸗ 
trieben hat“.“ Stepan Trofimowitſch uͤberſetzte manch— 
mal abſichtlich in der duͤmmſten Art und Weiſe echt ruſ— 
ſiſche Sprichwoͤrter und Redensarten ins Franzoͤſiſche, 
obwohl er ſie ohne Zweifel richtig verſtand und ſie 
hätte beſſer uͤberſetzen konnen; aber er tat das aus 
einer eigenartigen Geſchmacksrichtung heraus und fand 
es geiſtreich. 

Aber ſein Bummelleben dauerte nicht lange; er hielt 
es nicht vier Monate aus und eilte nach Skworeſchniki 
zuruͤck. Seine letzten Briefe beſtanden nur aus Erguͤſſen 
der gefuͤhlvollſten Liebe zu ſeiner abweſenden Freundin 


1 Eine Wuͤſtenei, z. B. Sibirien. Anmerkung des Überſetzers. 


Erſter Teil 45 


und waren buchſtaͤblich von Traͤnen durchnaͤßt, die er uͤber 
die Trennung vergoſſen hatte. Es gibt Naturen, die ſich 
außerordentlich an das Haus gewoͤhnen, wie Stuben 
hunde. Das Wiederſehen der Freunde war entzuͤckend. 
Nach zwei Tagen ging alles wieder im alten Gleiſe und 
ſogar langweiliger als vorher. „Mein Freund,“ ſagte 
Stepan Trofimowitſch nach vierzehn Tagen zu mir unter 
dem Siegel des tiefſten Geheimniſſes, „mein Freund, ich 
habe etwas Neues entdeckt, was fuͤr mich ganz ſchrecklich 
iſt: Je suis un einfacher Paraſit et rien de plus! Mais 
r-r-rien de plus!“ | 


| VIII 
Darauf trat bei uns eine ſtille Zeit ein, die beinah dieſe 
ganzen neun Jahre dauerte. Die Anfaͤlle von krankhafter 
Traurigkeit, bei denen er an meiner Schulter ſchluchzte, 
ſetzten ſich in regelmaͤßiger Wiederkehr fort, ohne uns in 
unſerer Gluͤckſeligkeit zu ſtoͤren. Ich wundere mich, daß 

Stepan Trofimowitſch in dieſer Zeit nicht dick wurde. 
Nur ſeine Naſe roͤtete ſich ein wenig, und ſeine Sanftmut 
nahm noch zu. Allmaͤhlich bildete ſich um ihn ein Verein 
von Freunden, der uͤbrigens immer nur klein war. War⸗ 

wara Petrowna kam mit unſerem Vereine nur wenig in 
Beruͤhrung; aber dennoch erkannten wir ſie alle als un⸗ 
ſere Patronin an. Nach der ſchmerzlichen Lehre, die ihr 
in Petersburg zuteil geworden war, hatte ſie ſich endguͤl— 
ug in unſerer Stadt niedergelaſſen; im Winter wohnte ſie 
in ihrem Stadthauſe und im ae auf ihrem in der 

Nahe der Stadt gelegenen Gute. Noch nie hatte ſie in 
Fr beſſeren Geſellſchaft unſerer Gouvernementsſtadt fo 


т, viel Bedeutung und Einfluß gehabt wie in den letzten fie- 
у 
* 


46 Die Teufel 


ben Jahren, das heißt bis zur Ernennung unſeres jetzigen 
Gouverneurs. Unſer fruͤherer Gouverneur, der unver— 
geßliche, milde Iwan Oſipowitſch, war ein naher Ver— 
wandter von ihr und hatte ehemals von ihr viele Wohl— 
taten empfangen. Seine Gemahlin zitterte bei dem bloßen 
Gedanken, daß Warwara Petrowna ihr etwas uͤbelneh— 
men koͤnne; und die Verehrung, die die Geſellſchaft der 
Gouvernementsſtadt ihr erwies, hatte ſchon beinah etwas 
Suͤndhaftes. Eine Folge davon war, daß auch Stepan 
Trofimowitſch es gut hatte. Er war Mitglied des Klubs, 
verlor wuͤrdevoll im Kartenſpiel und genoß die allgemeine 
Achtung, obgleich viele in ihm nur einen „Gelehrten“ 
ſahen. Als ihm im Laufe der Zeit Warwara Petrowna 
erlaubte, in einem andern Hauſe zu wohnen, fuͤhlten wir 
uns noch ungenierter. Wir verſammelten uns bei ihm 
zweimal in der Woche; es ging meiſt heiter her, nament— 
lich wenn er den Champagner nicht ſparte. Der Wein 
wurde im Laden des ſchon genannten Andrejew auf Borg 
entnommen. Alle Halbjahr bezahlte Warwara Petrowna 
die Rechnung, und der Tag der Bezahlung war faſt immer 
auch ein Tag der Cholerine. 


Das aͤlteſte Mitglied unſeres Vereins war der Gou⸗ 


vernementsbeamte Liputin, ein nicht mehr junger Mann, 
ein großer Fortſchrittler; in der Stadt galt er auch fuͤr 
einen Atheiſten. Er war zum zweitenmal verheiratet, mit 
einer jungen, huͤbſchen Frau, die ihm eine betraͤchtliche 
Mitgift gebracht hatte; außerdem hatte er drei Toͤchter 
im Backfiſchalter. Seine ganze Familie hielt er zur Got 
tesfurcht und zu einem ſehr haͤuslichen Leben anz er war 
außerordentlich geizig und hatte ſich von ſeinen Erſpar— 


niſſen im Dienſte ein Häuschen angeſchafft und ein Заре 


Erſter Teil 47 


tal angeſammelt. Er war ein unruhiger Menſch, auch 
bekleidete er nur ein niedriges Amt; in der Stadt genoß 
er wenig Achtung, und in die beſſere Geſellſchaft hatte er 
keine Aufnahme gefunden. Zudem war er ein notoriſches 
Laͤſtermaul, wofür er ſchon mehrmals und empfindlich Бег 
ſtraft worden war, einmal von einem Offizier und ein 
anderes Mal von einem achtbaren Familienvater, einem 
Gutsbeſitzer. Aber wir liebten ſeinen ſcharfen Verſtand, 
ſeine Wißbegierde, ſeine eigenartige, boshafte Luſtigkeit. 
Warwara Petrowna mochte ihn nicht leiden; aber er 
verſtand es immer, ihr gegenuͤber den Liebenswuͤrdigen 
zu ſpielen. 
Auch Schatow erfreute ſich nicht ihrer Gunſt, der erſt 
im letzten Jahre Mitglied unſeres Vereines geworden 
war. Schatow war fruͤher Student geweſen, aber in— 
folge einer ſtudentiſchen Skandalgeſchichte von der Uni- 
verſitaͤt verwieſen worden; als Kind hatte er Stepan 
Trofimowitſchs Unterricht genoſſen; geboren war er als 
Leibeigner Warwara Petrownas, und zwar als Sohn 
ihres verſtorbenen Kammerdieners Pawel Fjodorow, 
und er hatte von ihr viele Wohltaten empfangen. Sie 
mochte ihn nicht leiden wegen ſeines Stolzes und wegen 
ſeiner Undankbarkeit und konnte es ihm nie verzeihen, daß 
er nach ſeiner Relegation von der Univerſitaͤt nicht ſo— 
gleich zu ihr gekommen war; ja, auf einen Brief, den fie 
damals expreß an ihn geſchrieben hatte, hatte er ihr nicht 
einmal geantwortet, ſondern es vorgezogen, ſich bei einem 
einigermaßen kultivierten Kaufmann als Lehrer der Kin⸗ 
h der desſelben zu verdingen. Er war mit der Familie dieſes 
Kaufmanns ins Ausland gefahren, mehr in der Stellung 
eines Aufſehers der Kinder als eines Erziehers; aber es 


48 Die Teufel 


zog ihn damals außerordentlich nach dem Auslande. Bei 
den Kindern befand ſich auch noch eine Gouvernante, ein 
friſches ruſſiſches Fraͤulein, die ebenfalls erſt kurz vor 
der Abreiſe in das Haus eingetreten und hauptſaͤchlich der 
Wohlfeilheit halber angenommen war. Nach zwei Mo⸗ 
naten jagte ſie der Kaufmann „wegen ihrer freien An— 
ſchauungen“ weg. Nach ihr machte ſich auch Schatow da⸗ 
von und ließ ſich bald darauf mit ihr in Genf trauen. Sie 
lebten etwa drei Wochen zuſammen; dann trennten fie 
ſich wieder als freie, durch nichts gebundene Menſchen, 
allerdings auch wegen ihrer Armut. Lange Zeit trieb er 
ſich darauf allein in Europa umher und lebte Gott weiß 
wovon; es heißt, er habe auf der Straße Stiefel geputzt 
und ſei in einem Hafen Laſttraͤger geweſen. Vor einem 
Jahre war er endlich in ſeinen Heimatort zuruͤckgekehrt 
und hatte ſich daſelbſt mit einer alten Tante zuſammen 
niedergelaſſen, die er nach einem Monate begrub. Mit 
ſeiner Schweſter Daſcha, die ebenfalls ein Pflegekind 
Warwara Petrownas war und in einer Guͤnſtlingsſtel⸗ 
lung bei ihr auf ſehr vornehmem Fuße lebte, unterhielt 
er nur ſehr ſpaͤrliche und entfernte Beziehungen. Unter 
uns war er beſtaͤndig muͤrriſch und ſchweigſam; aber 
mitunter, wenn jemand ſeine Überzeugungen antaſtete, 
zeigte er eine krankhafte Reizbarkeit und ließ dann ſeiner 
Zunge die Zügel ſchießen. „Schatow muß man zuerſt bin= 
den; ей dann kann man mit ihm disputieren,“ ſagte Ste⸗ 
pan Trofimowitſch manchmal; aber er hatte ihn gern. Im 
Auslande hatte Schatow einige feiner früheren ſozia— 
liſtiſchen Anſichten vollftändig geändert und war zum ent» 
gegengeſetzten Extrem uͤbergegangen. Er war eine jener 
idealen ruſſiſchen Naturen, die irgendeine ſtarke Idee 


Erſter Teil 49 


ploͤtzlich uͤberkommt und ſofort gleichſam mit ihrer Laſt 
niederdruͤckt, manchmal ſogar fuͤr das ganze Leben. Sie 
verſtehen niemals mit ihr fertig zu werden, glauben aber 
an ſie leidenſchaftlich, und ſo vergeht denn ihr ganzes Le— 
ben wie in einem Todeskampfe unter dem auf ihnen la⸗ 
ſtenden und ſie ſchon halb zermalmenden Steine. Scha— 
tows Außeres entſprach vollſtaͤndig ſeinen Anſchauungen: 
er war unbeholfen, blond, ſtrublig, klein von Wuchs, 
breitſchulterig, hatte dicke Lippen, ſehr dichte, uͤber— 
haͤngende, hellblonde Augenbrauen, eine finſtere Stirn 
und einen unfreundlichen, hartnädig auf den Boden ge⸗ 
richteten Blick, als ob er ſich uͤber etwas ſchaͤmte. Unter 
ſeinem Haare gab es einen Buͤſchel, der ſich abſolut nicht 
glattkaͤmmen ließ und immer in die Hoͤhe ſtand. Er war 
ungefaͤhr ſiebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre 
alt. „Ich wundere mich nicht mehr daruͤber, daß ſeine Frau 
von ihm weggelaufen iſt, bemerkte Warwara Petrowna 
einmal, nachdem ſie ihn aufmerkſam betrachtet hatte. Er 
bemuͤhte ſich trotz ſeiner außerordentlichen Armut, ſich 
ſauber zu kleiden. An Warwara Petrowna wandte er 
ſich auch jetzt nicht um Hilfe, ſondern ſchlug ſich durch mit 
dem, was ihm der Zufall an Verdienſt zufuͤhrte; auch bei 
Kaufleuten war er taͤtig. Einmal war er Verkaͤufer in 
einem Laden; dann ſollte er auf einem mit Waren belade— 
nen Dampfſchiffe als Gehilfe des Faktors wegfahren, 


wurde aber unmittelbar vor der Abfahrt krank. Man 
kann ſich ſchwer eine Vorſtellung davon machen, eine wie 


* 

— 
— 
| 


arge Armut er zu ertragen imftande war, ohne an fie über- 


haupt zu denken. Warwara Petrowna ſchickte ihm nach 


ſeiner Krankheit heimlich und anonym hundert Rubel. Er 


erfuhr indes das Geheimnis, uͤberlegte, was er tun ſollte, 


LI. 4 


50 Die Teufel 


nahm das Geld an und ging zu Warwara Petrowna, um 
ſich zu bedanken. Dieſe empfing ihn mit freundlicher 
Waͤrme; aber auch jetzt taͤuſchte er ſchmaͤhlich ihre Erwar⸗ 
tungen: er blieb nur fuͤnf Minuten ſitzen, waͤhrend welcher 
Zeit er ſchwieg, ſtumpfſinnig zu Boden blickte und dumm 
laͤchelte; dann ploͤtzlich ſtand er an der intereſſanteſten 
Stelle des Geſpraͤches auf, ohne zu Ende zu hoͤren, was 
fie ſagte, verbeugte ſich ſchief und ungeſchickt, ſchaͤmte ſich 
furchtbar, ſtieß an ihren Naͤhtiſch an, warf dieſes koſt— 
bare, mit eingelegter Arbeit verzierte Moͤbelſtuͤck um, ſo 
daß es zerbrach, und ging, halbtot vor Beſchaͤmung, weg. 
Liputin ſchalt ihn nachher heftig dafuͤr aus, daß er dieſe 
hundert Rubel, als eine Gabe ſeiner ehemaligen Gutsher— 
rin und Deſpotin, nicht mit Verachtung zuruͤckgewieſen 
und nicht nur angenommen hatte, ſondern ſogar noch hin- 
gegangen war, um ſich zu bedanken. Er lebte einſam am 
Rande der Stadt und ſah es nicht gern, wenn jemand zu 
ihm kam, mochte es ſogar einer von uns ſein. Zu den 
abendlichen Zuſammenkuͤnften bei Stepan Trofimowitſch 
erſchien er regelmaͤßig und las dort Zeitungen und Buͤcher. 

Zu dieſen Abenden erſchien auch noch ein junger 
Menſch, ein gewiſſer Wirginſki, ein hieſiger Beamter, der 
einige Ahnlichkeit mit Schatow hatte, wiewohl er an— 
ſcheinend in jeder Hinſicht das volle Gegenſtuͤck zu ihm 
war; aber auch er war „Ehemann“. Er war ein kuͤmmer⸗ 
licher, außerordentlich ſtiller junger Menſch, uͤbrigens 
ſchon ungefähr dreißig Jahre alt, mit einer nicht unbe— 
traͤchtlichen Bildung, die er ſich größtenteils ſelbſt ange 
eignet hatte. Er war arm, verheiratet, und unterhielt eine 
Tante und eine Schweſter ſeiner Frau. Seine Frau, ſowie 
auch die übrigen Damen der Familie, hatten die extremſten 


r 
n 


Erſter Teil 51 


Anſichten; aber alles kam bei ihnen etwas grob heraus; 


gerade hier konnte man ſagen, daß „die Idee auf die 
Straße geraten war“, wie ſich Stepan Trofimowitſch ein 


mal bei anderem Anlaß ausgedruͤckt hatte. Dieſe Damen 


hatten alles aus Buͤchern geſchoͤpft, und auf den erſten 
Wink aus den fortſchrittlichen Konventikeln der Reſidenz 
waren ſie bereit, jede beliebige aͤltere Anſchauung, die ſie 
noch hatten, aus dem Fenſter zu werfen, wenn man ihnen 
dazu riet. Madame Wirginſkaja uͤbte bei uns in der Stadt 
den Beruf einer Hebamme aus; in ihrer Maͤdchenzeit hatte 
ſie lange in Petersburg gelebt. Wirginſki ſelbſt war von 
einer Reinheit des Herzens, wie man ſie ſelten findet, und 
ſelten iſt mir ein ehrlicheres Feuer der Seele vorgekom— 
men. „Niemals, niemals werde ich dieſe leuchtenden Hoff- 
nungen aufgeben,“ ſagte er zu mir mit ſtrahlenden Augen. 


Über dieſe „leuchtenden Hoffnungen“ ſprach er immer 


ruhig, mit einem Wonnegefuͤhl, beinah fluͤſternd, als ob 
es ſich um ein Geheimnis handelte. Er war von ziemlich 
großer Statur, aber ſehr duͤnn und in den Schultern 
ſchmal, und hatte recht ſpaͤrliches Haar von roͤtlicher Faͤr— 
bung. Alle hochmuͤtigen Spoͤttereien Stepan Trofimo⸗ 


$ witſchs über einige feiner Anſichten nahm er ш Sanft⸗ 


75 
=. 
й 


mut hin und gab ihm manchmal mit großem Ernſte Er- 
widerungen, durch die er ihn nicht ſelten verbluͤffte. Ste⸗ 
pan Trofimowitſch verkehrte mit ihm freundlich, wie er 
ſich denn uns allen gegenuͤber eines vaͤterlichen Tones 
bediente. 

„Ihr ſeid alle ‚unausgebrütet‘,“ bemerkte er ſcherzend, 
indem er ſich zu Wirginſki wandte. „Darin ſind ſie alle 


3 Ihnen ähnlich, wiewohl ich an Ihnen, Wirginſki, nicht 


jene Be⸗ſchraͤnkt⸗ heit wahrgenommen habe, wie ich fie 


Bi 
Br; 


52 Die Teufel 


in Petersburg chez ces seminairistes angetroffen habe; 
aber trotzdem find Sie noch ‚unausgebrütet. Schatow 
moͤchte gern ausgebruͤtet werden; aber auch er hat das 
noch nicht erreicht.“ 

„Und ich?“ fragte Liputin. { 

„Sie halten fich einfach auf der goldenen Mittelftraße 
und finden ſich daher überall zurecht .. . in Ihrer Weiſe.“ 

Liputin fuͤhlte ſich gekraͤnkt. | 

Man erzählte von Wirginffi, und leider ſehr glaubhaft, 
daß feine Frau, nachdem fie noch nicht ein Jahr mit ihm 
verheiratet geweſen ſei, ihm auf einmal erklaͤrt habe, ſie 
gebe ihm den Abſchied und ziehe einen gewiſſen Lebjadkin 
vor. Dieſer Lebjadkin, der von auswaͤrts zugezogen war, 
erwies ſich ſpaͤter als eine hoͤchſt verdaͤchtige Perſoͤnlichkeit 
und war überhaupt nicht Stabsfapitän! a. D., wie er ſich 
titulierte. Er verſtand weiter nichts, als ſich den Schnurr— 
bart zu drehen, zu trinken und das toͤrichteſte Zeug zu 
ſchwatzen, das man ſich nur denken kann. Dieſer Menſch 
war ſogleich in der taktloſeſten Weiſe zu ihnen gezogen, 
freute ſich, an fremdem Tiſche eſſen zu koͤnnen, ſchlief auch 
bei ihnen und begann ſchließlich, den Hausherrn von oben 
herab zu behandeln. Man behauptete, Wirginſki habe, 
als ihm von ſeiner Frau der Abſchied erteilt worden ſei, 
zu ihr geſagt: „Liebe Frau, bisher habe ich dich nur 
geliebt; jetzt achte ich dich hoch“; aber ſchwerlich hat er 
einen ſolchen altroͤmiſchen Ausspruch getan; er ſoll im Ge- 
genteil bitterlich geweint haben. Eines Tages, es war 
zwei Wochen nach der Verabſchiedung, begaben ſie ſich 
alle, die ganze „Familie“, vor die Stadt in ein Waͤldchen, 


1 Die naͤchſte Charge unter dem Hauptmann. | 
Anmerkung des Überſetzers. 


r = 
Ger 
ur er 
4 


Erſter Teil 53 


um dort mit Bekannten Tee zu trinken. Wirginſki befand 
ſich in einer fieberhaft luſtigen Stimmung und beteiligte 
ſich am Tanze; aber auf einmal packte er, ohne daß ein 
Streit vorhergegangen waͤre, den huͤnenhaften Lebjadkin, 
der gerade ein Cancanſolo ausfuͤhrte, mit beiden Haͤnden 
bei den Haaren, zog ihn herunter und begann kreiſchend, 
ſchreiend und weinend ihn zu raufen. Der Huͤne zeigte 
ſich dermaßen feige, daß er ſich nicht einmal verteidigte 
und die ganze Zeit uͤber, waͤhrend der andere ihn an den 
Haaren riß, faſt vollſtaͤndig ſchwieg; aber nach dieſer 
Mißhandlung ſpielte er mit dem ganzen Zorne eines 
edlen Menſchen den Beleidigten. Wirginſki flehte die 
ganze Nacht uͤber ſeine Frau auf den Knien an, ihm zu 
verzeihenz aber es wurde ihm keine Verzeihung gewaͤhrt, 
weil er ſich doch nicht dazu verſtehen wollte, zu Lebjadkin 
hinzugehen und ihn um Entſchuldigung zu bitten; außer⸗ 
dem machte ihm ſeine Frau Beſchraͤnktheit der Anſchau⸗ 
ung und Dummheit zum Vorwurf, letztere deswegen, weil 
er bei dieſem Geſpraͤche mit ihr auf den Knien gelegen 
habe. Der Stabskapitaͤn verſchwand bald darauf und 
erſchien in unſerer Stadt erſt in der allerletzten Zeit wie⸗ 
der, mit ſeiner Schweſter und mit neuen Abſichten; aber 
davon ſpaͤter. Unter dieſen Umſtaͤnden war es kein Wun⸗ 
der, daß der arme „Ehemann“ bei uns Erholung ſuchte 
und ein Beduͤrfnis nach unſerer Geſellſchaft fuͤhlte. Über 
ſeine haͤuslichen Angelegenheiten ſprach er ſich uͤbrigens 
bei uns nie aus. Nur einmal, als er mit mir von Stepan 


| Trofimowitſch heimging, machte er einen entfernten ше 
er dazu, von feiner Lage zu ſprechen; aber ſogleich rief 
er auch, indem er mich bei der Hand ergriff, mit flammen⸗ 


der * 


54 | Die Teufel 


„Das hat nichts zu beſagen; das iſt nur eine Privat- 
angelegenheit und kann fuͤr die gemeinſame Sache in keiner 
Weiſe ein Hemmnis bilden, in keiner Weiſe!“ 

Auch Gaͤſte ſtellten ſich in unſerem Vereine gelegentlich 
ein: ſo kamen der Jude Ljamſchin und der Hauptmann 
Kartuſow. Eine Zeitlang erſchien ein wißbegieriger alter 
Herr; aber dieſer ſtarb. Liputin führte uns einen ver- 
bannten roͤmiſch-katholiſchen Geiſtlichen namens Slon— 
zewſki zu, und einige Zeit geſtatteten wir ihm aus Grund— 
ſatz den Beſuch unſerer Abende, dann aber nicht mehr. 


IX 
Eine Zeitlang hieß es von uns in der Stadt, unſer Verein 
ſei eine Pflanzſtaͤtte der Freigeiſterei, der Liederlichkeit und 
der Gottloſigkeit, und dieſes Geruͤcht verſtaͤrkte ſich immer 
mehr. Und doch fand bei uns nur das harmloſeſte, netteſte, 
echt ruſſiſche, luſtige liberale Geſchwaͤtz ſtatt. „Der hoͤchſte 
Liberalismus“ und „der hoͤchſte Liberale“, das heißt der 
Liberale ohne jedes Ziel, ſind nur in Rußland moͤglich. Ste⸗ 
pan Trofimowitſch brauchte, wie jeder geiſtreiche Menſch, 
notwendig einen Zuhörer, und außerdem mußte er notwen⸗ 
digerweiſe das Bewußtſein haben, daß er die hoͤchſte 
Pflicht, fuͤr die Idee Propaganda zu machen, erfuͤlle. Und 
ſchließlich mußte er auch jemand haben, um mit ihm 
Champagner zu trinken und gewiſſe vergnuͤgliche Gedan— 
ken uͤber Rußland und den „ruſſiſchen Geiſt“, uͤber Gott 
im allgemeinen und den „ruſſiſchen Geiſt“ im beſonderen 
auszutauſchen und ruſſiſche Skandalgeſchichten, die ein 
jeder kannte und auswendig wußte, zum hundertſten Male 
zu wiederholen. Auch dem Stadtklatſch waren wir nicht 
abgeneigt und gelangten dabei manchmal zu ſtrengen, hoch— 


Sit: 


я. Erſter Teil 55 


moraliſchen Urteilsſpruͤchen. Auch allgemein menſchliche 
Dinge zogen wir in den Kreis unſerer Eroͤrterungen; wir 
ſprachen ernſt uͤber das zukuͤnftige Schickſal Europas und 
der Menſchheit, ſagten im Profeſſorentone voraus, daß 
Frankreich nach dem Caͤſarismus mit einem Male auf die 
Stufe eines Staates zweiten Ranges herabſinken werde, 
und waren voͤllig davon uͤberzeugt, daß dies ſehr bald und 
ſehr leicht geſchehen koͤnne. Dem Papſte hatten wir ſchon 
laͤngſt vorausgeſagt, daß er in dem geeinigten Italien die 
2 Rolle eines einfachen Metropoliten ſpielen werde, und 
zweifelten nicht im geringſten daran, daß die Loͤſung 
dieſer ganzen ein Jahrtauſend alten Frage in unſerm Zeit- 
alter der Humanitaͤt, der Induſtrie und der Eiſenbahnen 
eine Bagatelle ſei. Aber anders ſtellt ſich ja „der hoͤchſte 
ruſſiſche Liberalismus“ zu den Dingen uͤberhaupt nicht. 
Stepan Trofimowitſch ſprach auch manchmal uͤber die 
Kunſt und immer gut, nur etwas zu abſtrakt. Auch ge⸗ 
dachte er mitunter ſeiner Jugendfreunde, lauter in der 
Geſchichte unſerer Geſamtentwickelung hervorragender 
Perſoͤnlichkeiten; er gedachte ihrer mit Ruͤhrung und Ver⸗ 
ehrung, aber, wie es ſchien, zugleich mit etwas Neid. 
Wenn es einmal gar zu langweilig wurde, ſo ſetzte der 
Jude Ljamſchin, ein niederer Poſtbeamter und vorzuͤglicher 
Klavierſpieler, ſich an das Inſtrument, und zwiſchen den 
einzelnen Stuͤcken, die er ſpielte, imitierte er allerlei Toͤne: 
ein Schwein, ein Gewitter, eine Entbindung mit dem 
erſten Schrei des Kindes uſw. uſw; nur deswegen wurde 
er auch eingeladen. Hatten wir ſehr ſtark getrunken (und 
das kam vor, wiewohl nicht oft), jo gerieten wir in Be⸗ 
geiſterung und ſangen ſogar einmal im Chor mit Ljam⸗ 
Wins Klavierbegleitung die Marſeillaiſe; aber ob es 


* 


56 Die Teufel 


gerade ſehr gut klang, weiß ich nicht. Den großen Tag des 
19. Februar! begruͤßten wir enthuſiaſtiſch und leerten 
in den folgenden Jahren noch lange ihm zu Ehren unter 
Trinkſpruͤchen unſere Glaͤſer. Das liegt ſchon weit, weit 
zuruͤck, damals gehoͤrten Schatow und Wirginſki unſerem 
Vereine noch nicht an, und Stepan Trofimowitſch wohnte 
noch mit Warwara Petrowna in demſelben Hauſe. Einige 
Zeit vor dem großen Tage hatte Stepan Trofimowitſch es 
ſich angewoͤhnt, ein paar Verſe vor ſich hinzumurmeln, die 
allerdings ziemlich ſinnlos waren und wohl von einem 
fruͤheren liberalen Gutsbeſitzer herruͤhrten: 
„Mit Beilen ſieht man Bauern gehn; 
Gewiß wird Schreckliches geſchehn.“ 

So ungefaͤhr war es; auf den Wortlaut kann ich mich 
nicht beſinnen. Warwara Petrowna hoͤrte das einmal 
zufaͤllig mit an, rief ihm zu: „Unſinn, Unſinn!“ und wurde 
ſehr zornig. Liputin aber, der gerade zugegen war, be— 
merkte, zu Stepan Trofimowitſch gewendet, boshaft: 

„Es wuͤrde doch zu bedauern ſein, wenn den Herren 
Gutsbeſitzern ihre fruͤheren Leibeigenen wirklich in der 
Freude ihres Herzens eine Unannehmlichkeit bereiten 
ſollten!“ 

Dabei fuhr er ſich mit dem Zeigefinger um den Hals. 

„Cher ami,“ erwiderte ihm Stepan Trofimowitſch ди 
muͤtig, „Sie koͤnnen glauben, daß dies“ (er wiederholte die 
Fingerbewegung um den Hals) „weder den Gutsbeſitzern 
noch uns allen insgemein irgendwelchen Nutzen bringen 
wuͤrde. Auch ohne Koͤpfe wuͤrden wir nicht verſtehen, eine 
brauchbare Einrichtung zu treffen, obwohl gerade unſere 


Am 19. Februar 1861 wurde die Leibeigenſchaft aufgeboben. 
Anmerkung des Überfegers, 


Erſter Teil 57 


Koͤpfe es ſind, die uns am meiſten daran hindern, etwas 
zu verſtehen.“ 

Ich bemerke, daß viele bei uns glaubten, am Tage des 
Manifeſtes werde etwas Ungewoͤhnliches geſchehen, etwas 
von der Art, wie es Liputin und alle ſogenannten Kenner 
des Volkes und des Staates vorherſagten. Es ſcheint, 
daß auch Stepan Trofimowitſch dieſer Anſicht war und 
ſogar in ſolchem Grade, daß er kurz vor dem großen Tage 
auf einmal Warwara Petrowna um die Erlaubnis bat, 
ins Ausland reiſen zu duͤrfen; kurz, er befand ſich in 
großer Unruhe. Aber als der große Tag und dann noch 
eine gewiſſe Zeit vergangen war, da zeigte ſich wieder auf 
Stepan Trofimowitſchs Lippen das frühere hochmuͤtige 
Laͤcheln. Er ſprach vor uns als Zuhoͤrern einige bemer— 
kenswerte Gedanken uͤber den Charakter des Ruſſen im 
allgemeinen und des ruſſiſchen Bauern im beſonderen aus. 

„Haſtig, wie wir nun einmal ſind,“ ſchloß er die Reihe 
ſeiner intereſſanten Gedanken, „haben wir uns mit unſern 
Bauern uͤbereilt. Wir haben ſie in Mode gebracht, und 
ein ganzer Zweig unſerer Literatur hat ſich mehrere Jahre 
hintereinander mit ihnen wie mit einem neuentdeckten 
Kleinode beſchaͤftigt. Wir haben Lorbeerkraͤnze auf ver⸗ 
lauſte Koͤpfe geſetzt. Das ruſſiſche Dorf hat im Laufe 
eines ganzen Jahrtauſends uns weiter nichts gegeben als 
den Kamarinſki.“ Ein bedeutender ruſſiſcher Dichter, 
dem es nicht an klugem Verſtande mangelt, rief, als er 
zum erſtenmal die große Rachel auf der Buͤhne ſah, ent— 

zuͤckt aus: Ich gebe die Rachel nicht für einen Bauer hin!‘ 
Ich moͤchte noch weiter gehen und ſagen: ich gebe alle 
ruſſiſchen Bauern für die eine Rachel hin. Es iſt Zeit, 

Ein Bauerntanz. Anmerkung des Überfegers. 


58 Die Teufel 


daß wir die Sache etwas nuͤchterner betrachten und nicht 
unſern heimiſchen derben Teer mit bouquet de l’impera- 
trice vermiſchen.“ 

Liputin ſtimmte ihm ſogleich bei, bemerkte aber, daß es 
damals doch fuͤr die liberale Richtung unumgaͤnglich not⸗ 
wendig geweſen ſei, auch gegen die eigene Überzeugung 


die Bauern zu loben; haͤtten doch ſelbſt Damen der hoͤch⸗ 


ſten Geſellſchaftskreiſe bei der Lektuͤre von ‚Anton, der 
Ungluͤcksmenſch“* Tränen vergoſſen, und manche von 
ihnen haͤtten ſogar aus Paris an ihre Verwalter ge— 
ſchrieben, fie ſollten von nun an die Bauern moͤglichſt 
human behandeln. 

Es begab ſich, und zufaͤllig gerade nach jenen Geruͤchten, 
daß auch in unſerm Gouvernement, nur fuͤnfzehn Werſt 
von Skworeſchniki entfernt, Mißhelligkeiten vorkamen, 
ſo daß man in der erſten Hitze ein Militaͤrkommando hin⸗ 
ſchickte. Bei dieſem Anlaß regte ſich Stepan Trofimowitſch 
dermaßen auf, daß auch wir darüber einen Schreck be— 
kamen. Er rief im Klub, es ſei mehr Militaͤr noͤtig; man 
ſolle aus einem andern Kreiſe telegraphiſch welches her— 
beirufen. Er lief zum Gouverneur und verſicherte ihm, 
daß er bei der Sache ganz unbeteiligt ſeiz er bat, man 
moͤchte ihn nicht etwa auf Grund alter Erinnerungen in 
dieſe Affaͤre hineinmengen, und erſuchte den Gouver— 
neur, uͤber dieſe ſeine Erklaͤrung unverzüglich nach Peters⸗ 
burg an die zuſtaͤndige Stelle zu berichten. Ein Gluͤck, 
daß dies alles ſchnell voruͤberging und ſich in nichts auf— 
loͤſte; aber ich habe mich damals über Stepan Trofimo⸗ 
witſch hoͤchlichſt gewundert. 


1 Eine im Jahre 1847 erſchienene Erzählung von Grigorowitſch. 
Anmerkung des Überſetzers. 


1 
| 
a 


} 


j 


18 1 Erſter Teil 59 


Drei Jahre darauf fing man bekanntlich an von Na⸗ 
tionalitaͤt zu ſprechen, und es entſtand die „öffentliche 
Meinung“. Stepan Trofimowitſch lachte daruͤber herzlich. 
„Meine Freunde, ſagte er in lehrhaftem Tone, 
„unſere Nationalität, wenn fie wirklich ‚geboren iſt', wie 
die Leute jetzt in den Zeitungen behaupten, ſitzt noch in der 
Schule, in einer deutſchen Kinderſchule, bei einem deut⸗ 
ſchen Buche, und lernt ihre ewige deutſche Aufgabe, und 
der deutſche Lehrer laͤßt ſie noͤtigenfalls zur Strafe nieder— 
knien. Wegen des deutſchen Lehrers lobe ich ſie; aber das 
wahrſcheinlichſte iſt, daß uͤberhaupt nichts geſchehen und 
nichts Derartiges geboren iſt, ſondern alles ſo weitergeht, 
wie es bisher gegangen iſt, das heißt unter Gottes Schutze! 
Meiner Anſicht nach genuͤgt das auch fuͤr Rußland, pour 
notre sainte Russie. Zudem find dieſes ganze Alljlawen- 
tum und dieſe ganze Nationalitaͤt viel zu alt, um neu zu 
ſein. Die Nationalitaͤt, kann man wohl ſagen, iſt bei uns 
noch nie etwas anderes geweſen als ein phantaſtiſcher, 
aus vornehmen, noch dazu Moskauer, Klubs herſtammen⸗ 
der Einfall. Ich rede natuͤrlich nicht von der Zeit Igors.“ 
Und ſchließlich rührt das alles vom Muͤßiggange her. Da- 
her ruͤhrt bei uns alles, auch das Gute und Schoͤne. Alles 
rührt von unſerm herrſchaftlichen, lieben, gebildeten, lau— 
niſchen Muͤßiggange her! Das werde ich nie muͤde werden 
zu wiederholen. Wir verſtehen es nicht, von unſerer Arbeit 
5 zu leben. Und was machen ſie jetzt fuͤr ein Gerede von 
einer angeblich bei uns entſtandenen oͤffentlichen Mei— 
nung? Iſt die ſo ploͤtzlich ohne weiteres vom Himmel ge— 
fallen? Verſtehen dieſe Menſchen denn nicht, daß, um 
in den Beſitz einer eigenen Meinung zu gelangen, vor 


3 


7. Fuͤrſt von Nowgorod, 1151—1202. Anmerk. des Überſetzers. 
* 


R 


60 Die Teufel 


allen Dingen Arbeit nötig ift, eigene Arbeit, eigene Ini⸗ 
tiative, eigene Praxis? Ohne Müh und Arbeit wird nie 
etwas erreicht. Wenn wir arbeiten werden, werden wir 
auch eine eigene Meinung haben. Aber da wir nie arbeiten 
werden, ſo werden an unſerer Statt auch immer dieje— 
nigen eine Meinung haben, die ſtatt unſer bisher gear— 
beitet haben, das heißt Weſteuropa, die Deutſchen, die ſeit 
zwei Jahrhunderten unſere Lehrer find. Überdies iſt Ruß— 
land ein zu großes Raͤtſel, als daß wir allein, ohne die 
Deutſchen und ohne Arbeit, es loͤſen koͤnnten. Schon ſeit 
zwanzig Jahren laͤute ich Sturm und rufe zur Arbeit auf! 
Ich habe mein Leben dieſem Aufrufe geweiht, und ich Tor 
habe an einen Erfolg geglaubt! Jetzt glaube ich daran 
nicht mehr; aber ich laͤute und werde laͤuten bis zu mei— 
nem Ende, bis zum Grabe; ich werde den Glockenſtrick 
ziehen, bis man zu meiner Seelenmeſſe laͤutet!“ 

Leider ſtimmten wir ihm lediglich bei. Wir klatſchten 
unſerm Lehrer Beifall, und mit welchem Eifer! Aber, 
meine Herren, hoͤrt man nicht auch jetzt noch auf Schritt 
und Tritt ſolchen „huͤbſchen“, „verſtaͤndigen“, „liberalen“, 
altruſſiſchen Unſinn? 

An Gott glaubte unſer Lehrer. „Ich begreife nicht, war— 
um mich hier alle als Gottesleugner hinſtellen?“ ſagte er 


manchmal. „Ich glaube an Gott; mais distinguons: ich 
glaube an ihn wie an ein Weſen, das ſich ſeiner nur in 
mir bewußt wird. Ich kann eben nicht in der Weiſe an 


ihn glauben wie meine Naſtaſja“ (das Dienſtmaͤdchen), 
„oder wie ein Hausherr, der unter allen Umftänden‘ 


glaubt, oder wie unſer lieber Schatow, — uͤbrigens nein, 


Schatow ſcheidet hier aus. Schatow glaubt zwangsweiſe, 


als Moskauer Slawophile. Was aber das Chriſtentum 


4 
` 


4 
4 
8 


Erſter Teil 61 


anlangt, jo bin ich bei all meiner aufrichtigen Hochach— 
tung gegen dasſelbe doch kein Chriſt. Eher bin ich ein 
antiker Heide wie der große Goethe oder wie die alten 
Griechen. Man nehme ſchon allein den Umſtand, daß das 
Chriſtentum kein Verſtaͤndnis fuͤr das Weib gehabt hat, 
wie das George Sand in einem ihrer genialſten Romane 
ſo praͤchtig dargelegt hat. Was Verbeugungen, Faſten 
und all dergleichen anlangt, ſo ſehe ich nicht ab, wen meine 
Anſicht daruͤber etwas angeht. Moͤgen auch unſere hie— 
ſigen Denunzianten eine noch ſo rege Taͤtigkeit entwickeln, 
ſo will ich doch kein Jeſuit ſein. Im Jahre 1847 ſchickte 
Bjelinſki, der damals im Auslande war, ſeinen bekannten 
Brief an Gogol und machte dieſem darin heftige Vorwuͤrfe 
darüber, daß er an irgendwelchen Gott‘ glaube. Entre 
nous soit dit, ich kann mir nichts Komiſcheres vorſtellen 
als den Augenblick, wo Gogol (der damalige Gogol!) die— 
ſen Ausdruck und den ganzen Brief las! Aber ich laſſe 
die Laͤcherlichkeit beiſeite, und da ich in allem Weſentlichen 
einverſtanden bin, ſo ſage ich und ſpreche es aus: das 
waren Maͤnner! Sie verſtanden es, ihr Volk zu lieben; 
ſie verſtanden es, fuͤr dasſelbe zu leiden; ſie verſtanden es, 
für das ſelbe alles zu opfern, und fie verſtanden es gleich— 
zeitig, wo das noͤtig war, auf ein Zuſammengehen mit ihm 
zu verzichten und ihm in gewiſſen Anſchauungen nicht 
nach dem Munde zu reden. Es war doch auch wirklich 
unmoͤglich, daß ein Bjelinſki die Erloͤſung in Faſtenoͤl oder 
in Rettich mit Erbſen ſuchte! ..“ 
Aber hier erhob Schatow Einſpruch. 
„Niemals haben dieſe Ihre Maͤnner das Volk geliebt, 
fuͤr dasſelbe gelitten und ein Opfer gebracht, wenn fie ſich 
das auch ſelbſt zu ihrem Troſte eingebildet haben moͤgen!“ 


62 Die Teufel 


brummte er grimmig, indem er die Augen auf den Boden 
richtete und ſich ungeduldig auf ſeinem Stuhle hin und her 
drehte. 

„Dieſe Maͤnner, die ſollten das Volk nicht geliebt 
haben!“ rief Stepan Trofimowitſch klagend. „O, wie 
haben ſie Rußland geliebt!“ 

„Weder Rußland noch das Volk!“ rief nun Schatow 
ebenfalls erregt; ſeine Augen funkelten. „Man kann nicht 
lieben, was man nicht kennt, und ſie haben keinen Begriff 
vom ruſſiſchen Volke gehabt! Alle dieſe Maͤnner und Sie 
mit ihnen haben das ruſſiſche Volk durch eine Brille be— 
trachtet, und Bjelinſki ganz beſonders; das geht ſchon 
aus ebendieſem ſeinem Briefe an Gogel hervor. Bjelinſki 
hat, genau ſo wie der Wißbegierige in der Krylowſchen 
Fabel, den Elefanten im zoologiſchen Muſeum nicht Бег 
merkt! und feine ganze Aufmerkſamkeit auf die franzo- 
ſiſchen ſozialiſtiſchen Kaͤferchen gerichtet; dabei iſt er bis 
zu ſeinem Lebensende verblieben. Und der war doch noch 
verſtaͤndiger als Sie alle! Und nicht genug damit, daß 
Sie das Volk verkennen, empfinden Sie gegen dasſelbe auch 
Ekel und Geringſchaͤtzung, ſchon allein deswegen, weil 
Sie ſich unter einem Volke nur das franzoͤſiſche Volk vo⸗ 
ſtellen, und auch von dem nur die Pariſer, und ſich ſchaͤmen, 
daß das ruſſiſche Volk nicht von derſelben Art iſt. Das iſt 
die nackte Wahrheit! Wer aber kein Volk hat, der hat auch 
keinen Gott! Glauben Sie ſicher: jeder, der ſein Volk 
zu verſtehen aufhoͤrt und die Verbindung mit ihm verliert, 
verliert auch im ſelben Augenblick und im ſelben Maße 
den vaͤterlichen Glauben und wird entweder ein Atheiſt 


1 Dieſer hat Kleingetier, wie Kaͤfer u. dgl., betrachtet und daruͤber 
den Elefanten nicht geſehen. Anmerkung des Überfegers. 


Erſter Teil 63 


oder gleichguͤltig. Ich ſpreche die Wahrheit! Das iſt eine 
Tatſache, die ſich belegen laͤßt. Das iſt der Grund, wes— 
halb Sie alle und wir alle jetzt entweder ſchaͤndliche Athe— 
iſten oder indifferentes, liederliches Geſindel find und 
weiter nichts! Und ich ſchließe auch Sie, Stepan Trofi⸗ 
mowitſch, ganz und gar nicht aus; was ich geſagt habe, 
war ſogar ausdruͤcklich auf Sie gemuͤnzt. Das moͤgen 
Sie wiſſen!“ 
Gewoͤhnlich ergriff Schatow nach einem ſolchen laͤnge— 
ren Erguß (wie er bei ihm oft vorkam) ſeine Muͤtze und 
ſtuͤrzte zur Tuͤr, feſt uͤberzeugt, daß nun alles zu Ende ſei, 
und daß er feine freundſchaftlichen Beziehungen zu Ste: 
pan Trofimowitſch vollſtaͤndig und fuͤr alle Zeit zerſtoͤrt 
habe. Aber der hielt ihn immer noch rechtzeitig zuruͤck. 
„Wollen wir uns nun nicht nach all dieſen freundlichen 
Worten verſoͤhnen, Schatow?“ pflegte er zu ſagen und ihm 
von ſeinem Lehnſtuhl aus gutmuͤtig die Hand hinzuſtrecken. 
Der plumpe, aber ſich leicht ſchaͤmende Schatow mochte 
Zaͤrtlichkeiten nicht leiden. Seinem aͤußeren Weſen nach 
grob und derb, beſaß er doch, wie ich glaube, im ſtillen 
ein großes Zartgefuͤhl. Er uͤberſchritt zwar oft das rechte 
Maß, war aber ſelbſt der erfte, der darunter litt. Nach- 
dem er auf Stepan Trofimowitſchs einladende Worte 
etwas vor ſich hingebrummt und wie ein Bär auf dem- 
ſelben Flecke herumgetreten hatte, laͤchelte er auf einmal 
unerwartet, legte ſeine Muͤtze wieder hin und ſetzte ſich auf 
ſeinen fruͤheren Platz, wobei er hartnaͤckig auf den Boden 
. blickte. Natuͤrlich wurde Wein gebracht, und Stepan Tro⸗ 
finowitſch brachte einen paſſenden Toaſt aus, zum Зе 
ſpiel auf das Andenken einer der fruͤheren Größen der 
| Politik und Literatur. 


2 


Ki 


64 Die Teufel 


Zweites Kapitel 
Prinz Harry. Die Brautwerbung 


I 
Es gab auf der Erde noch ein Weſen, zu welchem War- 
wara Petrowna nicht mindere Zuneigung empfand als 
zu Stepan Trofimowitſch, und das war ihr einziger Sohn 
Nikolai Wſewolodowitſch Stawrogin. Fuͤr ihn war ja 
auch Stepan Trofimowitſch als Erzieher angenommen 
worden. Der Knabe war damals acht Jahre alt, und der 
leichtſinnige General Stawrogin, ſein Vater, lebte damals 
ſchon von feiner Frau getrennt, jo daß das Kind aus— 
ſchließlich unter ihrer Obhut aufwuchs. Man muß Stepan 
Trofimowitſch die Gerechtigkeit widerfahren laſſen, an— 
zuerkennen, daß er es verſtand, ſeinen Zoͤgling an ſich zu 
feſſeln. Sein ganzes Geheimnis dabei beſtand darin, daß 
er ſelbſt noch ein Kind war. Ich ſtand damals mit ihm 
noch in keiner Beziehung; er bedurfte aber beſtaͤndig eines 
aufrichtigen Freundes. Er trug kein Bedenken, den Klei⸗ 
nen, ſowie er nur ein wenig heranwuchs, zu ſeinem 
Freunde zu machen. Sie ſtimmten in ihrem Weſen ſo gut 
zuſammen, daß ſich zwiſchen ihnen nicht der geringſte Ab— 
ſtand fuͤhlbar machte. Nicht ſelten weckte er ſeinen zehn— 
oder elfjaͤhrigen Freund in der Nacht auf, einzig und allein 
um ihm unter Traͤnen ſein gekraͤnktes Herz auszuſchuͤtten 
oder ihm irgendein haͤusliches Geheimnis zu entdecken, 
ohne daran zu denken, daß das durchaus unerlaubt ſei. 
Sie fielen einander in die Arme und weinten. Der Knabe 
wußte, daß ſeine Mutter ihn ſehr liebte; aber er ſelbſt 
liebte ſie kaum. Sie redete wenig mit ihm und legte ſeinem 
Willen nur ſelten Beſchraͤnkungen auf; aber er fuͤhlte, daß 


у 


Erſter Teil 65 


ihr Blick ihn immer unverwandt verfolgte, und das war 
ihm peinlich. Übrigens ſetzte die Mutter in allem, was 
den Unterricht und die moraliſche Erziehung des Knaben 
anlangte, auf Stepan Trofimowitſch volles Vertrauen. 
Sie glaubte damals an ihn noch ohne Einſchraͤnkung. 
Man muß wohl annehmen, daß der Paͤdagog das Nerven— 
ſyſtem ſeines Zoͤglings in Unordnung gebracht hatte. Als 
dieſer im Alter von ſechzehn Jahren auf das Lyzeum ge— 
bracht wurde, war er ſchwaͤchlich und blaß und in auf⸗ 
faͤlliger Weiſe ſtill und nachdenklich. (In der Folge zeich— 
nete er ſich durch außerordentliche Koͤrperkraft aus.) Man 
muß auch annehmen, daß die beiden Freunde, wenn ſie 
ſich nachts umarmten, nicht immer nur uͤber haͤusliche 
Vorkommniſſe weinten. Stepan Trofimowitſch verſtand 
es, in dem Herzen ſeines Freundes die verborgenſten 
Saiten anzuruͤhren und in ihm das erſte, noch unbeſtimmte 
Gefuͤhl jenes ewigen, heiligen Sehnens zu erwecken, wel— 
ches manche auserwaͤhlte Seele, nachdem ſie es einmal ge— 
koſtet und kennen gelernt hat, nachher nie mehr mit einer 
billigen Zufriedenheit vertauſchen moͤchte. (Es gibt auch 
ſolche Liebhaber dieſes Sehnens, die dasſelbe ſogar hoͤher 
ſchaͤtzen als eine abſolute Zufriedenheit, wenn eine 
ſolche ſelbſt moͤglich waͤre.) Aber jedenfalls war es gut, 
daß der Zoͤgling und der Erzieher voneinander getrennt 
wurden, wenn es auch erſt etwas ſpaͤt geſchah. 

Vom Lyzeum aus kam der junge Menſch in den beiden 
erſten Jahren zu den Ferien nach Hauſe. In der Zeit, als 


Warwara Petrowna und Stepan Trofimowitſch ſich in 


| Petersburg aufhielten, war er manchmal bei den lite: 


rariſchen Abendgeſellſchaften anweſend, die bei ſeiner 
Mutter ſtattfanden, hoͤrte zu und beobachtete. Er ſprach 
LXIII. 5 f 


66 Die Teufel 


— 


wenig und war immer noch wie fruͤher ſtill und ſchuͤchtern. 
Gegen Stepan Trofimowitſch betrug er ſich wie fruͤher 
freundlich und reſpektvoll, aber doch etwas zuruͤckhalten- 
der: von hohen Gegenſtaͤnden und von Erinnerungen an 

die Vergangenheit mit ihm zu reden vermied er offenbar. 

Nachdem er die Schule durchgemacht hatte, trat er dem 
Wunſche ſeiner Mutter gemaͤß beim Militaͤr ein und 

wurde bald bei einem der vornehmſten Garde-Kavallerie- 

regimenter eingeſtellt. Er kam nicht nach Hauſe, um ſich 
ſeiner Mutter in Uniform zu zeigen, und ſeine Briefe aus 
Petersburg fingen an ſelten zu werden. Geld ſchickte ihm f 
Warwara Petrowna freigebig, obwohl nach der Reform 
die Einkuͤnfte von ihrem Gute ſo zuruͤckgegangen waren, 
daß ſie in der erſten Zeit nicht die Haͤlfte der fruͤheren 
Einnahme bekam. Übrigens hatte fie durch lange Spar- 

ſamkeit ein nicht unbetraͤchtliches Kapital angeſammelt. 

In hohem Grade intereſſierten fie die Erfolge ihres Soh- 
nes in der hoͤchſten Petersburger Geſellſchaft. Was ihr 

ſelbſt nicht gelungen war, das gelang nun dem jungen, 1 
reichen, hoffnungsvollen Offizier. Er erneuerte Bekannt 
ſchaften, auf deren Erneuerung ſie fuͤr ſich ſelbſt gar nicht 
mehr zu hoffen gewagt hatte, und wurde uͤberall mit dem 
größten Vergnügen aufgenommen. Aber ſehr bald began- 
nen der Mutter recht ſeltſame Gerüchte zu Ohren zu kom⸗ 
men: es hieß, der junge Menſch treibe es auf einmal ganz 
ſinnlos. Nicht, daß er angefangen haͤtte zu ſpielen oder 
uͤbermaͤßig zu trinken; ſondern man erzaͤhlte von einer 
wilden Zuͤgelloſigkeit, von Menſchen, die er mit ſeinen 
Trabern überfahren habe, von feinem brutalen Beneh—⸗ 
men gegen eine Dame der guten Geſellſchaft, mit der er 
in Beziehungen geſtanden und die er dann oͤffentlich bes 


— . in 2 


г, 


RE 


Erſter Teil 67 


leidigt habe. Hierbei handelte es ſich offenbar um eine 
recht ſchmutzige Geſchichte. Man fuͤgte noch hinzu, er ſei 
ein Raufbold, ſuche Haͤndel und beleidige andere Men— 
ſchen aus reinem Vergnuͤgen. Warwara Petrowna geriet 
Darüber in große Aufregung und grämte ſich. Stepan Tro- 
fimowitſch verſicherte ihr, das ſeien nur die erſten unge— 
ſtuͤmen Ausbruͤche einer ſehr reich begabten Natur; die 
Wogen dieſes Meeres wuͤrden ſich ſchon legen; all das 
habe große Ahnlichkeit mit der von Shakeſpeare geſchil— 
derten Jugend des Prinzen Harry, der mit Falſtaff, 
Poins und Mrs. Quickly Tollheiten treibe. Diesmal rief 
ihm Warwara Petrowna nicht zu: „Unſinn, Unſinn!“ 
was ſie ſich in der letzten Zeit gewoͤhnt hatte ihm zuzu⸗ 
rufen, ſondern ſie hoͤrte im Gegenteil ſehr aufmerkſam zu, 
ließ ſich das von der Jugend des Prinzen Harry noch 
eingehender auseinanderſetzen, nahm ſelbſt den Shake⸗ 
jpeare zur Hand und las jenes unſterbliche Drama außer— 
ordentlich achtſam. Aber dieſe Lektuͤre diente nicht zu 
ihrer Beruhigung, auch fand fie die Ahnlichkeit nicht ge⸗ 
rade groß. Mit fieberhafter Ungeduld erwartete ſie die 
Antworten auf mehrere Briefe, die ſie an Bekannte in 
Petersburg geſchrieben hatte. Die Antworten blieben 
nicht lange aus; nach kurzer Zeit erhielt ſie die verhaͤng— 
nisvolle Nachricht, daß Prinz Harry faſt zu gleicher Zeit 
zwei Duelle gehabt habe und bei beiden der einzig Schul— 
dige geweſen jei; einen ſeiner Gegner habe er auf dem 
Fleck getötet, den andern zum Kruͤppel gemacht; infolge 
dieſer Handlungen ſei er vor Gericht geſtellt worden. Die 
Sache endete damit, daß er zum Gemeinen degradiert, 
ſeiner Vorrechte beraubt und ſtrafweiſe in ein Linien⸗ 


Ay, 


68 Die Teufel 


Infanterieregiment verſetzt wurde. Und auch damit 
hatte man es nur aus beſonderer Gnade bewenden 
laſſen. 

Im Jahre 1863 gelang es ihm, ſich auszuzeichnen; er 
erhielt das Kreuz und wurde zum Unteroffizier befoͤrdert, 
bald darauf auch zum Offizier. Waͤhrend dieſer ganzen 
Zeit ſchickte Warwara Petrowna wohl hundert Briefe 
mit Geſuchen und Bitten nach der Hauptſtadt. Sie ет: 
laubte es ſich in einem ſo ungewoͤhnlichen Falle, ſich etwas 
zu demuͤtigen. Nach ſeiner Befoͤrderung nahm der junge 
Menſch auf einmal ſeinen Abſchied, kam aber wieder 
nicht nach Skworeſchniki und hoͤrte voͤllig auf, an ſeine 
Mutter zu ſchreiben. Man erfuhr endlich von anderer 
Seite, daß er ſich wieder in Petersburg befinde, in ſeiner 
fruͤheren Geſellſchaftsſphaͤre aber gar nicht mehr anzu⸗ 
treffen ſeiz er halte ſich irgendwo verborgen. Nachfor— 
ſchungen ergaben, daß er in einer ſonderbaren Geſellſchaft 
lebte und ſich an den Abſchaum der Petersburger Bevoͤl— 
kerung angeſchloſſen hatte, an ſtiefelloſe Beamte, verab- 
ſchiedete Militaͤrs, die in anſtaͤndiger Form um Almoſen 


baten, und Trunkenbolde, daß er die ſchmutzigen Familien 


dieſer Leute beſuchte, Tag und Nacht in obſkuren Spelun⸗ 
ken und Gott weiß was für Winkelgaſſen zubrachte, her⸗ 


untergekommen und zerlumpt war und offenbar an dieſem 


Leben Gefallen fand. Er bat ſeine Mutter nicht um Geld; 


er hatte ein eigenes kleines Gut, das Doͤrfchen, welches 


dem General Stawrogin gehoͤrt hatte, wenigſtens einigen 
Ertrag gab, und das er den Geruͤchten zufolge an einen 


$ 


Deutſchen aus Sachſen verpachtet hatte. Schließlich bat 


ihn die Mutter inſtaͤndig, zu ihr zu kommen, und Prinz 


1 


Harry erſchien in unſerer Stadt. Das war das erſtemal, 


. 


Erſter Teil 69 


wo ich ihn erblickte; bis dahin hatte ich ihn nie zu ſehen 
bekommen. 

Er war ein ſehr ſchoͤner junger Mann von etwa fuͤnf— 
undzwanzig Jahren, und ich muß bekennen, daß ich von 
ſeiner Erſcheinung uͤberraſcht war. Ich hatte erwartet, 
einen ſchmutzigen, zerlumpten, von Ausſchweifungen ab— 
gemergelten, nach Branntwein riechenden Menſchen vor 
mir zu ſehen. Aber er war ganz im Gegenteil der ele— 
ganteſte Gentleman, der mir je vor Augen gekommen iſt, 
außerordentlich gut gekleidet und mit einer Haltung, wie 
ſie nur ein an den feinſten Anſtand gewoͤhnter Herr auf— 
weiſen kann. Und ich war nicht der einzige, welcher 
ſtaunte; es ſtaunte die ganze Stadt, der natuͤrlich Herrn 
Stawrogins ganze Biographie bereits bekannt war und 
ſogar mit ſolchen Details, daß man ſich wundern mußte, 
wie ſie hatten in die Offentlichkeit gelangen koͤnnen; und 
das wunderbarſte dabei war, daß ſich die Haͤlfte dieſer 
Details als wahr erwies. Alle unſere Damen waren uͤber 
den neuen Gaſt in Aufregung. Sie teilten ſich in ſcharfer 
Sonderung in zwei Parteien; die einen vergoͤtterten ihn, 
die andern haßten ihn toͤdlich; aber in Aufregung waren 
die einen wie die andern. Fuͤr die einen hatte es einen 
beſonderen Reiz, daß auf ſeiner Seele vielleicht ein ver— 
haͤngnisvolles Geheimnis laſtete; andere fanden entſchie— 
den Gefallen daran, daß er ein Moͤrder war. Es ſtellte 
ſich auch heraus, daß er eine ganz huͤbſche Bildung und 
ſogar einige wiſſenſchaftliche Kenntniſſe beſaß. Kennt⸗ 
niſſe waren allerdings nicht viele erforderlich, um uns 
in Verwunderung zu verſetzen; aber er war imſtande, auch 
über intereſſante Tagesfragen zu ſprechen und, was da⸗ 
bei das wertvollſte war, mit bemerkenswerter Beſonnen— 


70 Die Teufel 


heit. Als eine Seltſamkeit erwaͤhne ich dies: wir alle 
fanden faſt vom erſten Tage an, daß er ein außerordentlich 
vernuͤnftiger Menſch ſei. Er war ziemlich ſchweigſam, 
geſchmackvoll ohne Kuͤnſtelei, erſtaunlich beſcheiden und 
dabei gleichzeitig kuͤhn und ſelbſtvertrauend wie bei uns 
ſonſt niemand. Unſere Stutzer blickten auf ihn mit Neid 
und wurden von ihm vollſtaͤndig in den Schatten geſtellt. 
Auch fein Geſicht uͤberraſchte mich: das Haar war dunkel⸗ 
ſchwarz, ſeine hellen Augen ſehr ruhig und klar, die Ge— 
ſichtsfarbe ſehr zart und weiß, die Roͤte der Wangen etwas 
zu grell und rein, die Zaͤhne wie Perlen, die Lippen wie 
Korallen; — man glaubte, das gemalte Portraͤt eines 
ſchoͤnen Mannes zu ſehen, und doch wirkte ſein Geſicht 
abſtoßend. Manche ſagten, ſein Geſicht erinnere an eine 
Maske; uͤbrigens wurde vieles geredet, unter anderm 
ſprach man auch von ſeiner ungewoͤhnlichen Koͤrperſtaͤrke. 
Was feine Natur anlangt, fo konnte man ihn beinahe hoch— 
gewachſen nennen. Warwara Petrowna blickte auf ihn 
mit Stolz, aber auch mit ſteter Unruhe. Er lebte bei uns 
etwa ein halbes Jahr, matt, ſtill und ziemlich muͤrriſch; 
er zeigte ſich auch in der Geſellſchaft und erfuͤllte mit ſteter 
Achtſamkeit die Vorſchriften der in unſerer Gouverne— 
mentsſtadt herrſchenden Etikette. Mit dem Gouver— 
neur war er von Vaterſeite her verwandt und wurde in 
ſeinem Hauſe wie ein naher Verwandter aufgenommen. 
Aber einige Monate waren vergangen, da zeigte die 
Beſtie auf einmal ihre Krallen. 

Ich bemerke bei dieſer Gelegenheit in Parentheſe, daß 
unſer lieber, milder früherer Gouverneur Iwan Oſipo— 
witſch einige Ahnlichkeit mit einem alten Weibe hatte, 
aber von guter Familie war und wertvolle Konnerionen 


Erſter Teil 71 


6 beſaß, wodurch es ſich auch erklaͤrt, daß er bei uns ſo viele 


Jahre in ſeinem Amte verblieb, obwohl er ſich gegen jede 


Arbeit ſtraͤubte. Wegen ſeiner Gaſtfreiheit haͤtte er in der 


a 


guten alten Zeit zum Adelsmarſchall getaugt, aber nicht 
zum Gouverneur in einer jo unruhvollen Zeit wie die 
unſrige. In der Stadt hieß es beſtaͤndig, das Gouverne— 


ment werde nicht von ihm verwaltet, ſondern von Вахе 


wara Petrowna. Das war allerdings eine biſſige Be— 
merkung, aber auch eine vollſtaͤndige Unwahrheit. In— 
deſſen auf ſolche Bemerkungen wurde bei uns viel Witz 
verwandt. Aber Warwara Petrowna hatte ſich ganz im 
Gegenteil in den letzten Jahren gefliſſentlich jeder ſtaͤrke— 
ren Einwirkung auf die Verwaltung enthalten, trotz der 
außerordentlichen Hochachtung, die ihr die ganze Geſell— 
ſchaft entgegenbrachte, und ihre Taͤtigkeit freiwillig in 
ſtrenge, von ihr ſelbſt geſteckte Grenzen eingeſchloſſen. 
Statt ſolcher Einwirkung auf die Verwaltung hatte ſie 
auf einmal angefangen, ſich mit der Gutswirtſchaft zu 
beſchaͤftigen, und in zwei, drei Jahren den Ertrag ihres 
Gutes beinah auf die fruͤhere Hoͤhe gebracht. Statt der 
fruͤheren ſchwaͤrmeriſchen Anwandlungen, wie es die 
Reiſe nach Petersburg, die beabſichtigte Gruͤndung eines 
Journals und anderes mehr geweſen waren, hatte ſie 
angefangen zuſammenzuſcharren und zu geizen. Sogar 
ihren Freund Stepan Trofimowitſch hatte ſie von ſich 
etwas weiter entfernt, indem ſie ihm erlaubt hatte, ſich 
eine Wohnung in einem andern Hauſe zu mieten, worum 
er ſie ſchon lange unter verſchiedenen Vorwänden gebeten 
Patte. Allmaͤhlich begann Stepan Trofimowitſch ſie eine 


proſaiſche Frau oder noch ſcherzhafter feine proſaiſche 


Freundin zu nennen. Selbſtverſtaͤndlich erlaubte er ſich 


72 Die Teufel 


dieſe Scherze nur in der reſpektvollſten Form, und nachdem 
er lange auf einen geeigneten Augenblick gewartet hatte. 

Wir alle, die wir ihr nahe ſtanden, merkten (und Ste— 
pan Trofimowitſch fuͤhlte das noch mehr heraus als wir 
uͤbrigen), daß ſich fuͤr ſie an ihren Sohn eine neue Hoff— 
nung, ja ein neuer Zukunftstraum knuͤpfte. Ihre leiden- 
ſchaftliche Liebe zu ihrem Sohne hatte begonnen, als er 
in der Petersburger Geſellſchaft ſo reuſſierte, und war 
noch beſonders in dem Augenblicke gewachſen, als ſie die 
Nachricht von ſeiner Degradation zum Gemeinen erhalten 
hatte. Aber gleichzeitig fuͤrchtete ſie ſich offenbar vor ihm 
und machte ihm gegenuͤber den Eindruck einer Dienerin. 
Man konnte merken, daß ſie etwas Unbeſtimmtes, Ge— 
heimnisvolles fuͤrchtete, was ſie ſelbſt nicht naͤher haͤtte 
bezeichnen koͤnnen, und oft betrachtete fie heimlich und un 
verwandt ihren Nikolai und uͤberlegte etwas und ſuchte 
etwas zu erraten ... und ſiehe da, ploͤtzlich ſtreckte die 
Beſtie ihre Krallen heraus. 


II 
Unſer Prinz beging auf einmal aus heiler Haut zwei, 
drei unglaubliche Dreiſtigkeiten gegen verſchiedene Per— 
ſonen; die Hauptſache war dabei, daß dieſe Dreiſtigkeiten 
ganz unerhoͤrt waren, alles uͤberſtiegen, gar keine Ahnlich— 
keit mit ſolchen hatten, wie ſie gang und gaͤbe ſind, ganz 
gemein und bubenhaft waren und jedes Anlaſſes vollſtaͤn— 
dig entbehrten. Einer der hochachtbaren Vorſteher имея 
res Klubs, Peter Pawlowitſch Gaganow, ein bejahrter 
und ſogar verdienſtvoller Mann, hatte die unſchuldige Ge— 
wohnheit angenommen, zu jedem Satze zornig hinzuzu- 


ee 


Erſter Teil 73 


| fügen: „Nein, ich werde mich nicht an der Naſe herum— 
fuͤhren laſſen!“ Nun, mochte er! Aber als er wieder 
einmal im Klub aus Anlaß eines hitzigen Disputs dieſes 
Spruͤchlein zu einem um ihn verſammelten Haͤufchen von 
Klubgaͤſten (lauter Maͤnnern hoͤheren Ranges) geſagt 
hatte, da trat Nikolai Wſewolodowitſch, der etwas abſeits 
allein ſtand, und an den ſich uͤberhaupt niemand gewendet 
hatte, auf einmal an Peter Pawlowitſch heran, faßte ihn 
unerwartet, aber kraͤftig mit zwei Fingern bei der Naſe 
und zog ihn zwei, drei Schritte weit im Saale hinter ſich 
her. Irgendwelchen Groll konnte er gegen Herrn Ga— 
ganow nicht haben. Man haͤtte dies fuͤr einen reinen 
Schuͤlerſtreich, ſelbſtverſtaͤndlich allerdings für einen ии? 
verzeihlichen, halten koͤnnen; aber Nikolai war, wie ſpaͤ⸗ 
ter erzählt wurde, im Augenblick der Tat faſt nachdenklich, 
„wie wenn er den Verſtand verloren gehabt haͤtte“; indes 
war es erſt ſpaͤter, daß man ſich daran erinnerte und ſich 
daruͤber klar wurde. In der erſten Erregung erinnerten 
ſich alle nur an den zweiten Augenblick, wo Nikolai das 
Getane ſicherlich ſchon in ſeiner wahren Geſtalt begriffen 
hatte, aber ſtatt verlegen zu werden vielmehr im Gegen— 
teil boshaft und heiter laͤchelte, „ohne die geringſte Reue“. 
Es erhob ſich ein ſchrecklicher Laͤrm; man umringte ihn. 
Nikolai Wſewolodowitſch drehte ſich nach allen Seiten 
um und ſah alle an, gab aber niemandem eine Antwort 
und betrachtete neugierig die Geſichter der ihn Anſchreien— 
den. Endlich machte er ploͤtzlich, wie wenn er wieder nach— 
denklich würde (jo erzählte man wenigſtens), ein finſteres 
Geſicht, ging feſten Schrittes auf den beleidigten Peter 
Pawlowitſch zu und murmelte haſtig und anſcheinend ver- 
droſſen: 


* 


74 Die Teufel 


„Sie entſchuldigen wohl ... Ich weiß wirklich nicht, 
wie ich auf einmal Luft dazu bekam ... Es war eine 
Dummheit.“ 

Die Nachlaͤſſigkeit der Entſchuldigung kam einer neuen 
Beleidigung gleich. Ein noch aͤrgeres Geſchrei erhob ſich. 
Nikolai Wſewolodowitſch e mit den Wen und ging 
hinaus. 

Dies alles war ſehr dumm, um noch nicht ı von der 
Unanſtaͤndigkeit zu reden, einer, wie es auf den erſten 
Blick ſchien, wohluͤberlegten, beabſichtigten Unanftändig- 
keit, die ſomit eine beabſichtigte, im hoͤchſten Grade freche 
Beleidigung unſerer ganzen Geſellſchaft bildete. So wurde 
die Sache denn auch allgemein aufgefaßt. Das erſte war, 
daß man unverzuͤglich und einmuͤtig Herrn Stawrogin 
aus dem Klub ausſchloß; dann beſchloß man, ſich im Na⸗ 
men des ganzen Klubs an den Gouverneur zu wenden und 
ihn zu bitten, er möge ſofort, ohne ein formelles Gerichts 
verfahren abzuwarten, „den gemeingefaͤhrlichen Haͤndel⸗ 
ſucher und großſtaͤdtiſchen Raufbold mittels der ihm an— 
vertrauten Adminiſtrativgewalt unſchaͤdlich machen und 
ſo die Ruhe der geſamten anſtaͤndigen Geſellſchaft unſerer 
Stadt gegen dreiſte Angriffe ſchuͤtzen.“ Mit boshafter 
Harmloſigkeit wurde noch hinzugefügt, „es werde ſich viel- 
leicht auch gegen Herrn Stawrogin ein Geſetz finden laſ— 
ſen.“ Gerade dieſe Wendung hatte man für den Gou- 
verneur ausgeſucht, um ihm wegen ſeiner Beziehungen 
zu Warwara Petrowna einen Stich zu verſetzen. Das 
beſprach man mit vielem Vergnuͤgen. Es traf ſich, daß der 
Gouverneur damals nicht in der Stadt warz er war nicht 
weit davon zur Kindtaufe zu einer netten, kuͤrzlich Witwe 
gewordenen Dame gefahren, die ihr Mann in interefjan- 


Erſter Teil 75 


ten Umftänden zuruͤckgelaſſen hatte; aber man wußte, daß 
er bald zuruͤckkehren werde. In der Zwiſchenzeit bereitete 
man dem allgemein verehrten, beleidigten Peter Pawlo— 
witſch eine vollſtaͤndige Ovation: man umarmte und kuͤßte 
ihn; die ganze Stadt machte bei ihm Viſite. Man plante 
ſogar ihm zu Ehren ein Diner auf Subſkription und nahm 
nur auf ſeine dringenden Bitten von dieſem Gedanken 
wieder Abſtand, vielleicht weil man ſich ſchließlich ſagte, 
der Mann habe ſich ja doch an der Naſe herumziehen laſ— 
ſen, und es ſei ſomit kein Anlaß, ihn beſonders zu feiern. 
Aber wie, wie war das nur zugegangen? Wie hatte 
das nur geſchehen koͤnnen? Bemerkenswert war nament— 
lich der Umſtand, daß niemand bei uns in der ganzen 
Stadt dieſes rohe Benehmen auf Wahnſinn zuruͤckfuͤhrte; 
denn man meinte, ſich von Nikolai Wſewolodowitſch, 
auch wenn er bei Verſtande ſei, ſolcher Handlungen ver— 
ſehen zu muͤſſen. Ich fuͤr meine Perſon weiß noch bis auf 
den heutigen Tag nicht, wie ich mir die Sache erklaͤren 
ſoll, trotzdem ein bald danach ſtattfindender Vorfall alles 
zu erklaͤren ſchien und alle anſcheinend verſoͤhnlich ſtimmte. 
Ich fuͤge noch hinzu, daß vier Jahre nachher Nikolai Wſe— 
wolodowitſch auf meine vorſichtige Frage nach jener Be— 
gebenheit im Klub mir mit finſterer Miene antwortete: 
„Ja, ich war damals nicht ganz wohl.“ Aber es liegt kein 
Grund vor, der Erzaͤhlung vorzugreifen. 
Agntereſſant war mir auch der Ausbruch des allgemeinen 
Haſſes, mit dem alle bei uns damals über den „Händel: 
ſucher und großſtaͤdtiſchen Raufbold“ herfielen. Sie woll⸗ 
ten in ſeinem Verhalten unbedingt einen frechen Vorſatz 
und die wohluͤberlegte Abſicht, die ganze Geſellſchaft mit 
* Mal zu beleidigen, ſehen. In der Tat hatte er 


76 Die Teufel 


waͤhrend ſeines bisherigen Aufenthaltes ſich niemanden 
zum Freunde gemacht, ſondern im Gegenteil alle gegen 
ſich aufgebracht; wodurch eigentlich? Vor dieſem letzten 
Falle hatte er nie mit jemand Streit gehabt und nie— 
manden beleidigt, ſondern war ſo hoͤflich geweſen wie 
ein Herr auf einem Modebilde, wenn man ſich ſo aus— 
druͤcken darf. Ich nehme an, daß man ihn wegen ſeines 
Stolzes haßte. Sogar unſere Damen, die ihn anfangs 
vergoͤttert hatten, erhoben gegen ihn jetzt ein noch ſchlim— 
meres Verdammungsgeſchrei als die Maͤnner. 

Warwara Petrowna bekam einen furchtbaren Schreck. 
Sie geſtand ſpaͤter ihrem Freunde Stepan Trofimowitſch, 
daß ſie das alles laͤngſt geahnt habe, dieſes ganze Halb— 
jahr uͤber, jeden Tag, und ſogar etwas „gerade in dieſer 
Art“, ein merkwuͤrdiges Bekenntnis von ſeiten einer leib— 
lichen Mutter. „Nun hat es angefangen!“ dachte ſie 
zuſammenfahrend. Am Morgen nach dem verhaͤngnis— 
vollen Abend im Klub ſchickte fie ſich vorſichtig, aber ent⸗ 
ſchloſſen zu einer Ausſprache mit ihrem Sohne an; aber 
trotz ihrer Entſchloſſenheit zitterte die Armſte an allen 
Gliedern. Sie hatte die ganze Nacht nicht geſchlafen 
und war ſogar am frühen Morgen zu Stepan Trofimo- 
witſch gegangen, um ihn um Rat zu fragen, und hatte bei 
ihm geweint, was ihr noch nie in Gegenwart anderer be— 
gegnet war. Sie wuͤnſchte, Nikolai moͤchte ihr wenigſtens 
ein Wort uͤber die Sache ſagen, ſie einer erklaͤrenden Mit— 
teilung wuͤrdigen. Nikolai, der ſich ſonſt immer gegen 
ſeine Mutter ſo hoͤflich und reſpektvoll benahm, hoͤrte ſie 
eine Weile mit finſterem Geſichte, aber ſehr ernſt an; auf 
einmal ſtand er, ohne ein Wort zu erwidern, auf, kuͤßte 
ihr die Hand und ging hinaus. Gleich an demſelben Tage 


— 


* 


Erſter Teil 77 


aber, als wenn es Abſicht geweſen wäre, erfolgte abends 
noch eine andere Skandalgeſchichte, die zwar erheblich 
zah mer und gewöhnlicher war als die erſte, aber nichts— 
deſtoweniger infolge der allgemeinen Stimmung das Ge— 
rede in der Stadt ſehr vermehrte. 

Diesmal war unſer Freund Liputin der davon Be— 
troffene. Er kam zu Nikolai Wſewolodowitſch, gleich 
nachdem dieſer die Begegnung mit ſeiner Mutter gehabt 
hatte, und bat ihn inſtaͤndigſt, ihm an dieſem ſelben Tage 
die Ehre ſeines Beſuches zu einer kleinen Abendgeſellſchaft 
zu erweiſen, die bei ihm anlaͤßlich des Geburtstages ſeiner 
Frau ſtattfinde. Warwara Petrowna hatte ſchon lange 
mit Unruhe und Beſorgnis die niedrige Geſchmacksrichtung 
beobachtet, die ihr Sohn bei der Wahl feiner Befannt- 
ſchaften bekundete, wagte aber nicht, ihm etwas daruͤber 
zu jagen. Er hatte außer der in Rede ſtehenden Bekannt⸗ 
ſchaft auch ſchon einige andere ebenfalls in der dritten 
Geſellſchaftsſchicht unſerer Stadt angeknuͤpft und ſogar 
noch tiefer; dazu neigte er nun eben. Bei Liputin hatte er 
bisher noch nicht im Hauſe verkehrt, wiewohl er mit ihm 
ſelbſt anderweitig zuſammengetroffen war. Er erriet, daß 
Liputin ihn jetzt infolge des geſtrigen Skandals im Klub 
einlade und als Liberaler ſich über dieſen Skandal hoͤch— 
lichſt freue und aufrichtig der Anſicht ſei, ſo muͤſſe man alle 
Vorſteher des Klubs behandeln, und es ſei ſehr gut, daß 
ein Anfang gemacht ſei. Nikolai Wſewolodowitſch lachte 
und verſprach zu kommen. 

Es hatten ſich eine Menge Gaͤſte eingefunden, nicht vor— 
nehme, aber geiſtig rege Leute. Der ſelbſtſuͤchtige, nei— 
diſche Liputin gab nur zweimal im Jahre Geſellſchaften; 
aber bei dieſen beiden Gelegenheiten zeigte er ſich dann 


78 Die Teufel 


auch nicht knauſerig. Der anſehnlichſte Gaſt, Stepan | 


Trofimowitſch, war krankheitshalber nicht gekommen. Es 
wurde Tee gereicht; auch war ein reichlicher kalter Imbiß 


mit Likoͤren aufgeſtellt; an drei Tiſchen wurde Karte ger 


ſpielt; die Jugend aber amuͤſierte ſich in Erwartung des 
Abendeſſens damit, nach dem Klavier zu tanzen. Nikolai 


Wſewolodowitſch forderte Madame Liputina auf, eine 


ſehr huͤbſche Dame, die vor ihm ſchreckliche Bange hatte, 
und tanzte mit ihr einige Touren; dann ſetzte er ſich neben 
ſie, unterhielt ſich mit ihr und brachte ſie zum Lachen. Da 
er ſchließlich bemerkte, wie huͤbſch ſie war, wenn ſie lachte, 
faßte er ſie ploͤtzlich vor den Augen aller Gaͤſte um die 
Taille und kuͤßte fie dreimal hintereinander nach Herzens— 
luſt auf den Mund. Die arme Frau fiel vor Schreck in 
Ohnmacht. Nikolai Wſewolodowitſch ergriff ſeinen Hut, 
trat an den Ehemann heran, der in der allgemeinen Er- 
regung wie betaͤubt daſtand, wurde, als er ihn anblickte, 
ebenfalls verlegen, murmelte ihm ſchnell zu: „Seien Sie 
nicht boͤſe!“ und ging hinaus. Liputin lief ihm nach ins 
Vorzimmer, reichte ihm eigenhaͤndig den Pelz und be— 
gleitete ihn unter Verbeugungen die Treppe hinunter. Aber 
gleich am folgenden Tage hatte dann dieſe vergleichsweiſe 
wirklich harmloſe Geſchichte ein ganz amuͤſantes Nachſpiel, 
welches ſeitdem Herrn Liputin ſogar zu einem gewiſſen 


Anſehen verhalf, das er zu ſeinem Vorteil auszunutzen 


verſtand. 

Um zehn Uhr morgens erſchien in Frau Stawroginas 
Hauſe Liputins Magd Agafja, ein gewandtes, flinkes, 
rotbackiges Frauenzimmer im Alter von ungefaͤhr dreißig 
Jahren; ſie war von ihm mit einer Beſtellung zu Nikolai 
Wſewolodowitſch geſchickt und wuͤnſchte ſogleich „den 


— 


4 


у 


4 


ir ER . 


Erſter Teil 79 


jungen Herrn ſelbſt zu ſprechen.“ Er hatte ſtarke Kopf⸗ 
ſchmerzen, kam aber doch heraus. Warwara Petrowna 
war bei der Ausrichtung der Beſtellung anweſend. 

„Sergei Waſiljewitſch“ (das heißt Liputin), begann 

Agafja flink zu plappern, „laͤßt ſich Ihnen erſtens beſtens 
empfehlen und ſich nach Ihrer Geſundheit erkundigen, 
wie Sie nach dem geſtrigen Abend geruht haben, und 
wie Sie nach dem geſtrigen Abend ſich befinden.“ 

Nikolai Wſewolodowitſch laͤchelte. 

„Beſtelle wieder eine Empfehlung, Agafja, und ich ließe 
beſtens danken; und ſage deinem Herrn von mir, er waͤre 
der kluͤgſte Menſch in der ganzen Stadt.“ 

„Und dann hat er mir befohlen, Ihnen darauf zu ant⸗ 
worten,“ erwiderte Agafja noch flinker, „das wiſſe er 
auch ohne Sie, und er wuͤnſche Ihnen ebendasſelbe.“ 

„Nun ſieh mal an! Wie konnte er denn wiſſen, was ich 
dir ſagen wuͤrde?“ 

„Das weiß ich nicht, woher er das wußte; aber als ich 
hinausgegangen und ſchon die ganze Gaſſe hinunterge— 
gangen war, da hoͤrte ich, wie er mir nachgelaufen kam, 
ohne Muͤtze. „Du, ſagte er,, Agafja, wenn er etwa zu dir 

ſagen ſollte: Beſtelle deinem Herrn, daß er der kluͤgſte 
Mann in der ganzen Stadt iſt, dann antworte ihm doch 
ſogleich: Das weiß er ſelbſt recht gut und wuͤnſcht Ihnen 
ebendasſelbe.“ 


8 III 

Endlich fand nun auch die Auseinanderſetzung mit dem 
Gouverneur ſtatt. Kaum war unſer lieber, milder Iwan 

Oſtpowitſch zuruͤckgekehrt, als ihm auch ſofort die ener⸗ 
giſche Beſchwerde des Klubs vorgelegt wurde. Ohne 


у у 
т * 


80 Die Teufel 


Zweifel mußte etwas geſchehen; aber er war in Verlegen⸗ 
heit. Unſer gaſtfreundlicher alter Herr hatte ebenfalls 
Furcht vor ſeinem jungen Verwandten. Er beſchloß indes. 
ihm zuzureden, er moͤchte den Klub und den Beleidigten 
um Entſchuldigung bitten, aber in einer zufriedenſtellen— 
den Weiſe und, wenn es verlangt werde, auch ſchriftlich; 
und dann wollte er ihm in freundlicher Form den Rat 
geben, uns zu verlaſſen und zum Beiſpiel aus Wißbegierde 
nach Italien zu fahren, jedenfalls irgendwohin ins Aus— 
land. Im Saale, wohin er diesmal ging, um Nikolai 
Wſewolodowitſch zu empfangen (zu anderen Zeiten wan— 
derte dieſer mit dem Rechte eines Verwandten unbehindert 
im ganzen Hauſe umher), war Aloſcha Teljatnikow, ein 
wohlerzogener Sekretaͤr und Hausgenoſſe des Gouver— 
neurs, in einer Ecke an einem Tiſche damit beſchaͤftigt, 
Briefe zu oͤffnen, und im anſtoßenden Zimmer ſaß an 
dem der Saaltuͤr zunaͤchſt gelegenen Fenſter ein von aus⸗ 
waͤrts gekommener dicker, geſund ausſehender Oberſt, ein 
Freund und fruͤherer Kamerad von Iwan Oſipowitſch, 
und las den Golos, natuͤrlich ohne irgendwie auf das zu 
achten, was im Saale vorging; er wendete ihm ſogar den 
Ruͤcken zu. Obgleich Iwan Oſipowitſch in weiter Ent 
fernung von ihm ſprach und faſt fluͤſterte, war er doch 
etwas verlegen. Nikolai ſah ſehr unfreundlich aus, gar 
nicht wie ein Verwandter, war blaß, ſaß mit niederge— 
ſchlagenen Augen da und hoͤrte mit zuſammengezogenen 
Brauen zu, wie wenn er einen heftigen Schmerz unter— 
druͤckte. 

„Sie haben ein gutes Herz, Nikolai, ein edles Herz,“ 
ſagte der alte Herr nach vielem andern zum Schluſſe; 
„Sie ſind ein gebildeter Menſch, haben in den hoͤchſten 


— 


Erſter Teil 81 


Kreiſen verkehrt, ſich auch hier bisher muſterhaft gehalten 
und dadurch das Herz Ihrer uns allen teuren Mutter be- 
ruhigt. Und nun erſcheint alles auf einmal wieder in einer 
ſo raͤtſelhaften und fuͤr alle gefaͤhrlichen Faͤrbung! Ich 
rede als Freund Ihres Hauſes, als Ihr bejahrter Ver— 
wandter, der Sie aufrichtig liebt, und von dem Sie ſich 
nicht beleidigt fuͤhlen koͤnnen. Sagen Sie, was veranlaßt 
Sie zu ſolchen argen Ausſchreitungen, die allen herkoͤmm⸗ 
lichen Formen und Regeln des Umgangs zuwiderlaufen? 
Was bedeuten ſolche Extravaganzen, die mit den Hands 
lungen eines Fieberkranken Ahnlichkeit haben?“ 

Nikolai hoͤrte verdroſſen und ungeduldig zu. Ploͤtzlich 
aber blitzte in ſeinem Blicke fuͤr einen Moment ein liſtiger, 
ſpoͤttiſcher Ausdruck auf. 

„Nun, dann will ich Ihnen meinetwegen ſagen, was 
mich dazu veranlaßt,“ antwortete er muͤrriſch und bog ſich, 
nachdem er um ſich geſehen hatte, zu Iwan Oſipowitſchs 
Ohre hin. 

Der wohlerzogene Aloſcha Teljatnikow entfernte ſich 
noch drei Schritte weiter nach dem Fenſter zu, und der 
Oberſt huſtete hinter ſeinem Golos. Der arme Iwan 
Oſipowitſch hielt eilig und vertrauensvoll fein Ohr hin; 
er war aͤußerſt neugierig. Und da geſchah etwas ganz 
Unerhoͤrtes und doch andrerſeits in gewiſſer Hinſicht nur 
zu Klares. Der alte Herr fuͤhlte auf einmal, daß Nikolai, 
ſtatt ihm ein intereſſantes Geheimnis zuzufluͤſtern, plöß- 

lich den oberen Teil ſeines Ohres mit den Zaͤhnen faßte 
und ziemlich feſt zwiſchen ihnen zuſammenklemmte. Er 
fing an zu zittern, und der Atem ſetzte ihm aus. 

„Nikolai, was ſind das fuͤr Spaͤße!“ ſtoͤhnte er mecha⸗ 
niſch mit ganz fremdklingender Stimme. 

XXII. e 


о 


82 Die Teufel 


Aloſcha und der Oberſt hatten den Vorgang noch nicht 
verſtanden, konnten ihn auch nicht ordentlich ſehen und 
meinten immer noch, daß die beiden miteinander fluͤſter— 
ten; indes beunruhigte ſie doch das verzweifelte Geſicht 
des Alten. Sie ſahen ſich mit weit aufgeriſſenen Augen 
an und wußten nicht, ob ſie der Verabredung gemaͤß zu 
Hilfe eilen oder noch warten ſollten. Nikolai bemerkte 
das vielleicht und kniff das Ohr ſchmerzhafter. 

„Nikolai, Nikolai!“ ſtoͤhnte das arme Opfer von neuem. 
„Nun laſſen Sie es genug fein mit dem Scherze ...“ 

Noch ein Augenblick, und der Arme waͤre vor Angſt ge— 
ſtorben; aber der Unmenſch hatte Erbarmen und ließ das 
Ohr los. Dieſe ganze Todesangſt hatte eine volle Minute 
gedauert, und der Alte bekam nachher einen Schwaͤche— 
anfall. Aber eine halbe Stunde darauf wurde Nikolai 
arretiert und abgefuͤhrt, vorlaͤufig nach der Wache, wo 
er in eine beſondere Zelle eingeſchloſſen wurde, mit einer 
beſonderen Schildwache vor der Tuͤr. Dieſe Maßregel 
war hart; aber unſer milder Chef war dermaßen in Zorn 
geraten, daß er beſchloſſen hatte, die Verantwortung da⸗ 
für ſogar Warwara Petrowna ſelbſt gegenüber auf ſich 
zu nehmen. Zu allgemeinem Erſtaunen wurde dieſer 
Dame, als ſie eilig und in groͤßter Aufregung zum Gou⸗ 
verneur gefahren kam, um unverzüglich Aufklaͤrung zu ver— 
langen, am Portal der Eintritt verweigert; ſo fuhr ſie 
denn, ohne aus dem Wagen ausgeſtiegen zu ſein, wieder 
nach Hauſe; ſie wußte gar nicht, wie ihr geſchehen war. 

Und endlich klaͤrte ſich alles auf! Um zwei Uhr nachts 
fing der Arreſtant, der bis dahin erſtaunlich ruhig geweſen 
war und ſogar geſchlafen hatte, plöglic an zu laͤrmen; er 
ſchlug wuͤtend mit den Faͤuſten gegen die Tür, riß mit un- 


Erſter Teil 83 


natürlicher Kraft das eiſerne Gitter von dem Fenſterchen 
in der Tuͤr ab, zerſchlug die Scheibe und zerſchnitt ſich 
dabei die Haͤnde. Als der wachhabende Offizier mit eini— 
gen Soldaten und den Schluͤſſeln herbeigelaufen kam und 
die Zelle aufſchließen ließ, damit fie ſich auf den Raſen⸗ 
den wuͤrfen und ihn baͤnden, ſtellte es ſich heraus, daß ſich 
dieſer im ſtaͤrkſten Delirium befand; er wurde nach Haufe 
zu ſeiner Mutter gebracht. Nun war mit einem Schlage 
alles klar! Unſere ſaͤmtlichen drei Arzte ſprachen ihre 
Meinung dahin aus, daß der Kranke ſich auch ſchon drei 
Tage vorher im Fieberzuſtande befunden haben koͤnne; 
er habe zwar Bewußtſein und eine gewiſſe Schlauheit Бег 
ſeſſen, aber nicht mehr ſeine geſunde Vernunft und einen 
klaren Willen, was übrigens durch die Tatfachen beftä- 
tigt wurde. Es ergab ſich ſomit, daß Liputin fruͤher als 
alle andern das Richtige erraten hatte. Iwan Oſi⸗ 
powitſch, ein ſehr zartfuͤhlender, weich empfindender 


Menſch, war ſehr verlegen; aber intereſſant war doch, 


daß auch er alſo Nikolai Wſewolodowitſch jeder wahn— 
ſinnigen Handlung auch bei vollem Verſtande fuͤr faͤhig 
gehalten hatte. Auch im Klub ſchaͤmte man ſich und war 
Darüber erſtaunt, daß fie alle den Elefanten nicht bemerkt 
und nicht auf die einzig moͤgliche Erklaͤrung dieſer wunder— 


lichen Handlungen verfallen waren. Allerdings fanden 


ſich auch Skeptiker; aber ſie vermochten ſich nicht lange zu 
behaupten. 
Nikolai lag laͤnger als zwei Monate. Aus Moskau 


wurde ein beruͤhmter Arzt zur gemeinſamen Beratung mit 


den hieſigen Arzten herbeigerufen; die ganze Stadt machte 


bei Warwara Petrowna Viſiten. Sie verzieh allen. Als 
Nikolai im Fruͤhjahr bereits vollſtaͤndig wiederhergeſtellt 


4 ‹ 


. 


84 Die Teufel 


war und ohne jeden Widerſtand dem Vorſchlage feiner 
Mutter, nach Italien zu reiſen, beigeſtimmt hatte, da bat 
ſie ihn, uns allen Abſchiedsbeſuche zu machen und dabei 
da, wo es noͤtig ſei, ſich nach Moͤglichkeit zu entſchuldigen. 
Nikolai war mit großer Bereitwilligkeit einverſtanden. 
Im Klub wurde bekannt, daß er mit Peter Pawlowitſch 
Gaganow in deſſen Hauſe eine ſehr zartfuͤhlende Aus— 
ſprache gehabt hatte, durch die dieſer vollſtaͤndig zufrieden- 
geſtellt worden ſei. Bei ſeinen Viſitenfahrten war Nikolai 
ſehr ernſt und ſogar etwas traurig. Alle empfingen ihn 
anſcheinend mit großer Teilnahme; aber alle fuͤhlten ſich 
doch einigermaßen verlegen und freuten ſich daruͤber, daß 
er nach Italien fuhr. Iwan Oſipowitſch vergoß ſogar 
Traͤnen, konnte ſich aber aus einem gewiſſen Grunde nicht 
entſchließen, ihn zu umarmen, auch nicht im Augenblicke 
des Abſchiedes ſelbſt. Allerdings verblieben einige von uns 
bei der Überzeugung, daß der Taugenichts ſich einfach 
uͤber uns alle luſtig gemacht habe und die ganze Krankheit 
fingiert geweſen ſei. Auch bei Liputin machte er einen 
Beſuch. 

„Sagen Sie,“ fragte er ihn, „wie konnten Sie das, 
was ich uͤber Ihren Verſtand ſagen wuͤrde, im voraus 
erraten und Ihrer Agafja eine Antwort darauf mit⸗ 
geben?“ | | 

„Nun, ganz einfach,“ erwiderte Liputin lachend: „auch 
ich halte Sie fuͤr einen klugen Menſchen; daher konnte ich 
Ihre Antwort vorherſehen.“ 

„Immerhin iſt es ein merkwuͤrdiges Zuſammentreffen. 
Aber erlauben Sie noch eine Frage: Sie haben mich alſo 
fuͤr einen vernuͤnftigen Menſchen gehalten, als Sie Agafja 
zu mir ſchickten, und nicht fuͤr einen Verruͤckten?“ 


Erſter Teil 85 


„Fuͤr einen ſehr klugen und vernünftigen; ich ſtellte mich 
nur, als hielte ich Sie für geſtoͤrt ... Und Sie ſelbſt haben 
ja auch meine Gedanken damals ſofort erraten und mir 
durch Agafja ein Zeugnis uͤber meine Klugheit zugeſchickt.“ 

„Nun, in dieſem Punkte irren Sie ſich ein bißchen; ich 
war wirklich nicht wohl ...“ murmelte Nikolai Wſewo⸗ 
lodowitſch mit finſterer Miene. „Bah!“ rief er, „glauben 
Sie denn wirklich, daß ich bei vollem Verſtande faͤhig waͤre, 
uͤber Menſchen herzufallen? Was ſollte ich denn dabei 
fuͤr einen Zweck haben?“ 

Liputin kruͤmmte ſich zuſammen und wußte nicht, was 
er darauf antworten ſollte. Nikolai wurde etwas blaß; 
wenigſtens ſchien es Liputin ſo. 

„Jedenfalls haben Sie eine ſehr amuͤſante Art der Ge— 
dankenbildung,“ fuhr Nikolai fort. „Und was Agafja an⸗ 
langt, ſo begreife ich natuͤrlich, daß Sie ſie zu mir ge— 
ſchickt haben, um mich auszuſchimpfen.“ 

„Ich konnte Sie doch nicht zum Duell fordern?“ 

„Ach ja, ſehen Sie mal! Ich habe ja ſo etwas gehoͤrt, 
daß Sie ein Gegner des Duells ſind ...“ | 

„Warum fol man das von den Franzoſen heruͤber— 
nehmen?“ erwiderte Liputin, ſich wieder zuſammenkruͤm⸗ 
mend. | 

„Sie find ein Anhänger der Nationalitaͤtsidee?“ 

Liputin kruͤmmte ſich noch mehr zuſammen. 

„Ah, ah! Was ſehe ich!“ rief Nikolai auf einmal, als 
er auf dem Tiſche an der ſichtbarſten Stelle einen Band 
von Gonfiderant! bemerkte. „Sie find doch nicht etwa 
Fourieriſt? Na ſo etwas! Iſt denn das etwa nicht eine 


Ein Anhänger Fouriers. Anmerkung des Überſetzers 


86 Die Teufel 


Überſetzung aus dem Franzoͤſiſchen?“ ſagte er lachend 
und klopfte mit den Fingern auf das Buch. 

„Nein, das iſt keine Überſetzung aus dem Franzo- 
ſiſchen!“ verſetzte Liputin und ſprang mit einem gewiſſen 
Ingrimm auf. „Das iſt eine Überſetzung aus der univer— 
ſellen Sprache der Menſchheit und nicht nur aus dem 
Franzoͤſiſchen! Aus der Sprache der univerſellen ſozialen 
Republik und Harmonie; ſo iſt es! Und nicht nur aus 
dem Franzoͤſiſchen! ...“ 

„Donnerwetter! So eine Sprache gibt es ja gar nicht!“ 
erwiderte Nikolai weiter lachend. 

Manchmal nimmt ſogar eine Kleinigkeit unſere Auf- 
merkſamkeit ausſchließlich und lange in Anſpruch. Über 
Herrn Stawrogin werde ich noch recht viel zu ſagen haben; 
aber jetzt bemerke ich der Kurioſitaͤt halber, daß von allen 
Eindruͤcken waͤhrend der ganzen Zeit, die er in unſerer 
Stadt verlebte, ſich ſeinem Gedaͤchtniſſe am ſchaͤrfſten die 
unſcheinbare und beinah gemeine Geſtalt Liputins ein— 
praͤgte, dieſes geringen Gouvernementsbeamten, eifer— 
ſuͤchtigen Ehemannes und groben Familiendeſpoten, ar— 
gen Geizhalſes und Wucherers, der die Überreſte vom 
Mittageſſen und die Lichtſtuͤmpfchen wegſchloß und gleich— 
zeitig ein fanatiſcher Anhaͤnger Gott weiß welcher kuͤnfti— 
gen „ſozialen Harmonie“ war, ſich nachts bis zur Be— 
rauſchtheit bei den phantaſtiſchen Vorſtellungen von einem 
kuͤnftigen phalanstere! entzuͤckte und an deſſen nahe Ver⸗ 
wirklichung in Rußland und in unſerm Gouvernement ſo 
feſt wie an ſeine eigene Exiſtenz glaubte. Und das an 
einem Orte, wo er ſelbſt ſich von ſeinem zuſammen⸗ 

1 Das Gemeindehaus im Fourierſchen Syſteme. мт 

Anmerkung des Überſetzers. 


„ 


Erſter Teil 1687 


geſcharrten Gelde ein Haͤuschen gekauft, wo er ſich zum 
zweitenmal verheiratet und mit feiner Frau ein Suͤmm— 
chen Geld bekommen hatte, und wo es vielleicht auf hun⸗ 
dert Werſt im Umkreiſe keinen Menſchen gab (mit ihm 
ſelbſt angefangen), der auch nur aͤußerlich einem zukuͤnf— 
tigen Mitgliede der „univerſellen, die ganze Menſchheit 
umfaſſenden ſozialen Republik und Harmonie” ähnlich ges 
weſen waͤre. 

„Weiß Gott, wie ſich eine ſolche Sorte von Menſchen 
herausbilden kann!“ dachte Nikolai erſtaunt, wenn er ſich 
manchmal an dieſen uͤberraſchenden Fourieriſten erinnerte. 


IV 
Unſer Prinz reiſte mehr als drei Jahre lang, ſo daß man 
ihn in unſerer Stadt beinahe ganz vergaß. Uns Naͤher— 
ſtehenden war durch Stepan Trofimowitſch bekannt, daß 
er ganz Europa bereiſt hatte, ſogar in Agypten geweſen 
war und Jeruſalem beſucht hatte; dann hatte er ſich 
irgendwo einer wiſſenſchaftlichen Expedition nach Island 
angeſchloſſen und war wirklich in Island geweſen. Es 
hieß auch, er habe einen Winter uͤber an einer deutſchen 
Univerfität Vorleſungen gehört. An feine Mutter ſchrieb 
er nur wenig, einmal im Halbjahr und ſogar noch ſeltener; 
aber Warwara Petrowna nahm es ihm nicht uͤbel und 
fühlte ſich dadurch nicht gekraͤnkt. Die Beziehungen zu 
ihrem Sohne nahm ſie ſo, wie ſie ſich nun einmal heraus— 
gebildet hatten, ohne zu murren ergebungsvoll hin, ſehnte 
ſich unaufhoͤrlich nach ihrem Nikolai und uͤberließ ſich in 
betreff ſeiner allerlei phantaſtiſchen Zukunftstraͤumereien. 


Weder von dieſen Traͤumereien noch von ihren Klagen 


machte ſie irgend jemandem Mitteilung. Sogar von 


88 Die Teufel 


Stepan Trofimowitſch zog fie ſich anſcheinend etwas zu— 
ruͤck. Sie machte im ſtillen gewiſſe Plaͤne und wurde, wie 
es ſchien, noch geiziger als vorher, begann noch eifriger 
Geld zuſammenzuſcharren und über Stepan Trofimo⸗ 
witſchs Verluſte im Kartenſpiel boͤſe zu werden. 

Endlich, im April des laufenden Jahres, empfing ſie 
einen Brief aus Paris von der Generalin Praſkowja Iwa— 
nowna Droſdowa, einer Jugendfreundin von ihr. Praſ— 
kowja Iwanowna, mit der Warwara Petrowna waͤhrend 
eines Zeitraumes von acht Jahren weder zuſammenge— 
kommen war noch korreſpondiert hatte, teilte ihr in dieſem 
Briefe mit, daß Nikolai Wſewolodowitſch bei ihnen viel im 
Hauſe verkehre, mit Liſa (ihrer einzigen Tochter) Freund⸗ 
ſchaft geſchloſſen habe und die Familie im Sommer nach 
der Schweiz, nach Vernex-Montreux, zu begleiten vor— 
habe, trotzdem er in der Familie des Grafen K* ** (einer 
in Petersburg ſehr einflußreichen Perſoͤnlichkeit), der ſich 
jetzt in Paris aufhalte, wie ein leiblicher Sohn Aufnahme 
gefunden habe, ſo daß er beinahe ganz bei dem Grafen 
lebe. Der Brief war kurz und ließ ſeinen Zweck klar er— 
kennen, obgleich er nur die oben angefuͤhrten Tatſachen, 
aber keine Schlußfolgerungen aus ihnen enthielt. War⸗ 
wara Petrowna uͤberlegte nicht lange; in einem Augen— 
blick hatte ſie ihren Entſchluß gefaßt, machte ſich fertig, 
nahm ihre Pflegetochter Daſcha (Schatows Schweſter) 
mit und fuhr Mitte April nach Paris und dann nach der 
Schweiz. Im Juli kehrte ſie allein zuruͤck, indem ſie Daſcha 
bei Droſdows gelaſſen hatte; Droſdows ſelbſt hatten, 
nach einer Nachricht, die ſie mitbrachte, verſprochen, Ende 
Auguſt zu uns zu kommen. 

Die Droſdows waren ebenfalls eine Gutsbeſitzer— 


Erſter Teil 89 


familie in unſerem Gouvernement; aber der Dienſt des Ge— 
nerals Iwan Iwanowitſch (der mit Warwara Petrowna 
befreundet und ein Kamerad ihres Mannes geweſen war) 
hatte ſie beſtaͤndig gehindert, jemals ihr praͤchtiges Gut 
zu beſuchen. Nach dem im vorigen Jahre erfolgten Tode 
des Generals hatte die untroͤſtliche Praſkowja Iwanowna 
ſich mit ihrer Tochter ins Ausland begeben, unter anderm 
auch in der Abſicht, eine Traubenkur zu gebrauchen, die 
ſie in der zweiten Haͤlfte des Sommers in Vernex-Mon⸗ 
treur vorzunehmen gedachte. Nach ihrer Ruͤckkehr in das 
Vaterland hatte ſie vor, ſich in unſerm Gouvernement 
dauernd niederzulaſſen. In der Stadt hatte ſie ein großes 
Haus, das ſchon viele Jahre leer ſtand und deſſen Fenſter 
mit Brettern verſchlagen waren. Sie waren ſehr reiche 
Leute. Praſkowja Iwanowna, in erſter Ehe Frau Tu- 
ſchina, war, wie ihre Penſionsfreundin Warwara Pe— 
trowna, ebenfalls die Tochter eines Branntweinpaͤchters 
der fruͤheren Zeit und hatte ebenfalls bei ihrer Verheira— 
tung eine große Mitgift erhalten. Der Rittmeiſter a. D. 
Tuſchin war ſelbſt bemittelt geweſen und hatte einige 
Faͤhigkeiten beſeſſen. Bei ſeinem Tode vermachte er ſeiner 
ſiebenjaͤhrigen einzigen Tochter Liſa ein huͤbſches Kapital. 
Jetzt, wo Liſaweta Nikolajewna ſchon ungefaͤhr zweiund— 
zwanzig Jahre alt war, konnte man ihr Vermoͤgen kuͤhn 
auf zweihunderttauſend Rubel eigenen Geldes ſchaͤtzen, 
ungerechnet das Vermoͤgen, das ihr ſeiner Zeit als Erb— 
ſchaft von ihrer Mutter zufallen mußte, die in ihrer злое 
ten Ehe keine Kinder gehabt hatte. Warwara Petrowna 
war mit dem Erfolge ihrer Reiſe anſcheinend ſehr zufrie— 
den. Ihrer Meinung nach hatte ſie ſich mit Praſkowja 


Iwanowna bereits in befriedigender Weiſe geeinigt, und 


90 Die Teufel 


fie teilte gleich nach ihrer Ankunft alles Stepan Trofi- 
mowitſch mit; ſie war ihm gegenuͤber ſogar ſehr offen, 
was ſchon ſeit langer Zeit bei ihr nicht der Fall gewe— 
ſen war. 

„Hurra!“ rief Stepan Trofimowitſch und ſchnippte 
mit den Fingern. 

Er war hoͤchſt entzuͤckt, um ſo mehr, da er die ganze Zeit 
der Trennung von ſeiner Freundin in groͤßter Nieder— 
geſchlagenheit verbracht hatte. Bei ihrer Abreiſe ins Aus— 
land hatte ſie von ihm nicht einmal ordentlich Abſchied 
genommen und „dieſem alten Weibe“ nichts von ihren 
Plaͤnen mitgeteilt, vielleicht in der Befuͤrchtung, daß er 
etwas weiterplaudern werde. Sie war damals auf ihn 
wegen eines beträchtlichen Verluſtes im Kartenſpiel aͤrger— 
lich geweſen, der ploͤtzlich zutage gekommen war. Aber 
ſchon, als ſie noch in der Schweiz war, hatte ſie in ihrem 
Herzen gefuͤhlt, daß ſie den zuruͤckgeſetzten Freund bei 
ihrer Ruͤckkehr belohnen muͤſſe, um ſo mehr, da ſie ihn 
ſchon ſeit laͤngerer Zeit unfreundlich behandelt habe. Die 
ſchnelle, geheimnisvolle Trennung hatte Stepan Trofi⸗ 
mowitſchs ſchuͤchternes Herz befremdet und verwundet, 
und ungluͤcklicherweiſe drangen gleichzeitig auch noch andere 
Sorgen auf ihn ein. Es quaͤlte ihn eine recht bedeutende, 
ſchon lange beſtehende pekuniaͤre Verpflichtung, die ohne 
Warwara Petrownas Beihilfe ſchlechterdings nicht in 
befriedigender Weiſe erledigt werden konnte. Außerdem 
hatte im Mai des laufenden Jahres die Taͤtigkeit unſeres 
guten, milden Iwan Oſipowitſch als Gouverneur endlich 
ein Ende genommen; er wurde durch einen Nachfolger ab— 
gelöft, und ſogar nicht ohne Unannehmlichkeiten. Darauf 
war, ebenfalls in Warwara Petrownas Abweſenheit, die 


— UT I TE 


КТ, ТТИ 


W 
ь, m ”„ 


Erſter Teil 91 


Ankunft unſeres neuen Chefs, Andrei Antonowitſch 
v. Lembke, erfolgt; damit gleichzeitig hatte ſofort auch 
eine merkliche Veraͤnderung in den Beziehungen faſt der 
ganzen hoͤheren Geſellſchaft unſerer Gouvernementsſtadt 


zu Warwara Petrowna und folglich auch zu Stepan Tro⸗ 
fimowitſch begonnen. Wenigſtens hatte er bereits mehrere 


unangenehme, wiewohl wertvolle Beobachtungen gemacht 
und war, wie es ſchien, ſo allein, ohne Warwara Petrowna, 
тебе aͤngſtlich geworden. In großer Aufregung argwoͤhnte 
er, daß er dem neuen Gouverneur ſchon als ein gefaͤhrlicher 


Menſch denunziert ſei. Er hatte als ſicher erfahren, daß 


mehrere unſerer Damen ihre Beſuche bei Warwara Pe— 
trowna einzuſtellen beabſichtigten. Über die kuͤnftige Frau 
Gouverneur (die bei uns erſt zum Herbſt erwartet wurde) 
hieß es allgemein, ſie ſei zwar dem Vernehmen nach ſehr 
ſtolz, aber dafuͤr eine echte Ariſtokratin, „eine ganz andere 
Sorte als unſere ungluͤckliche Warwara Petrowna.“ Allen 
war es irgendwoher mit Einzelheiten glaubwuͤrdig be— 
kannt, daß die neue Frau Gouverneur und Warwara 
Petrowna ſchon fruͤher einmal in der Geſellſchaft einander 
begegnet, aber als Feindinnen voneinander geſchieden 
ſeien, jo daß ſchon die bloße Erwähnung des Namens 
der Frau v. Lembke auf Warwara Petrowna einen реше 
lichen Eindruck machen werde. Aber Warwara Petrownas 
mutige, ſiegesbewußte Miene und der geringſchaͤtzige 
Gleichmut, mit dem fie die Mitteilungen über die Mei— 


nungen unſerer Damen und uͤber die Aufregung der Ge— 


ſellſchaft anhoͤrte, belebten die geſunkenen Lebensgeiſter 
des furchtſamen Stepan Trofimowitſch von neuem und 


machten ihn in einem Augenblicke wieder heiter. Mit 


freudiger Dienſtwilligkeit und beſonderem Humor begann 


92 Die Teufel 


er ihr von der Ankunft des neuen Gouverneurs zu er- 
zaͤhlen. 

„Es iſt Ihnen, excellente amie, ohne Zweifel bekannt,“ 
ſagte er, indem er die Worte in gezierter, ſtutzerhafter 
Weiſe in die Laͤnge zog, „was ein ruſſiſcher Verwaltungs— 
beamter allgemein geſagt und insbeſondere ein neuer, das 
heißt neugebackener, neuernannter ruſſiſcher Verwaltungs— 
beamter zu bedeuten hat. Aber Sie haben wohl kaum bis⸗ 
her aus eigener Erfahrung kennen gelernt, was es mit dem 
Beamtenkoller auf ſich hat, und was das eigentlich fuͤr ein 
Ding iſt?“ 

„Beamtenkoller? Nein, ich weiß nicht, was das iſt.“ 

„Das Ш... Vous savez, chez nous ... En un mot, 
man ſtelle einen ganz wertloſen Menſchen als Verkaͤufer 
von elenden Eiſenbahnbilletten an, und dieſer wertloſe 
Menſch wird ſich ſogleich fuͤr berechtigt halten, auf Sie 
wie ein Jupiter herabzuſehen, wenn Sie ein Billett loͤſen 
wollen, pour vous montrer son pouvoir. ‚Warte, 
denkt er, ‚ich werde dir mal meine Macht zeigen!! Und 
ſo kommt es bei dieſen Leuten zum Beamtenkoller. En un 
mot, da habe ich neulich geleſen, daß im Ausland in einer 
unſerer Kirchen ein Kuͤſter (mais c'est très curieux) 
unmittelbar vor dem Beginn des Faſtengottesdienſtes 
(vous savez ces chants et le livre de Iob) eine vor- 
nehme engliſche Familie, les dames charmantes, aus der 
Kirche hinausgejagt hat, das heißt buchſtaͤblich hinaus— 
gejagt, einzig und allein mit der Begruͤndung, es paſſe 
ſich nicht, daß ſich Fremde in den ruſſiſchen Kirchen um— 
hertrieben; ſie ſollten zu der dafuͤr angeſetzten Zeit kom— 
men. Die Damen fielen beinah in Ohnmacht. Dieſer 


Erſter Teil 93 


Kuͤſter hatte einen Anfall von Beamtenkoller, et il a 


montrè son pouvoir 


„Faſſen Sie ſich kurz, Stepan Trofimowitſch, wenn es 
Ihnen moͤglich iſt!“ 

„Herr v. Lembke hat alſo jetzt das Gouvernement be— 
reiſt. En un mot, dieſer Andrei Antonowitſch iſt zwar 
ein Deutſchruſſe rechtglaͤubiger Konfeſſion und ſogar (das 
will ich ihm konzedieren) ein auffallend huͤbſcher Mann 
in den Vierzigen 

„Woher haben Sie das, daß er ein huͤbſcher Mann iſt? 
Er hat Hammelaugen.“ 

„Im hoͤchſten Grade. Aber ich konzediere das aus Kon— 
nivenz gegen das Urteil unſerer Damen ...“ 

„Bitte, laſſen Sie uns von etwas anderem reden, Ste— 
pan Trofimowitſch! Apropos, Sie tragen ein rotes Hals— 
tuch; tun Sie das ſchon lange?“ 

„Ich ... ich habe erſt heute ...“ 

„Und machen Sie ſich auch gehoͤrig Bewegung? Gehen 
Sie taͤglich Ihre ſechs Werſt ſpazieren, wie es Ihnen 
der Arzt verordnet hat?“ 

„Nicht ... nicht immer.“ 

„Das habe ich doch gewußt! Schon, als ich noch in der 
Schweiz war, ahnte es mir!“ rief ſie in gereiztem Tone. 
„Jetzt werden Sie nicht ſechs, ſondern zehn Werſt taͤglich 
gehen! Sie ſind furchtbar heruntergekommen, furchtbar, 
ganz furcht⸗bar! Sie find nicht ſowohl alt geworden, fon- 


dern ſchlaff und matt. Ich habe einen Schreck bekommen, 


als ich Sie vorhin ſah, trotz Ihres roten Halstuches ... 
quelle idee rouge! Fahren Sie nun über Lembke fort, 
wenn Sie wirklich etwas uͤber ihn zu ſagen haben, und 
machen Sie, bitte, bald ein Ende; ich bin muͤde.“ 


94 Die Teufel 


„En un mot, ich wollte nur noch ſagen, daß er einer 
jener Verwaltungsbeamten iſt, die erſt mit vierzig Jahren 
hervorzutreten beginnen, bis dahin unbeachtet vegetieren 
und dann auf einmal durch eine ploͤtzliche Heirat oder 
ſonſt ein nicht minder unwuͤrdiges Mittel Karriere machen 

Jetzt ИЕ er nun weggefahren ... Ich wollte noch 
ſagen, daß man ſich, was mich betrifft, beeilt hat, ihm von 
verſchiedenen Seiten zuzufluͤſtern, ich verduͤrbe die Ju⸗ 
gend und machte hier im Gouvernement Propaganda fuͤr 
den Atheismus. Er hat denn auch ſofort Erkundigungen 
eingezogen.“ 

„Iſt das wahr?“ 

„Ich habe mich ſogar genoͤtigt geſehen, meine Maß— 
regeln dagegen zu ergreifen. Als man ihm über Sie Бег 
richtete‘, Sie hätten das Gouvernement verwaltet, vous 
savez, da erlaubte er ſich die Bemerkung: ‚Sp etwas wird 
nicht mehr vorkommen. 

„Hat er das geſagt?“ 

„Ja, ‚jo etwas wird nicht mehr vorkommen“, und avec 
cette morgue .. . Seine Gemahlin Julija Michailowna 
werden wir Ende Auguſt hier zu ſehen bekommenz ſie 
kommt direkt aus Petersburg.“ 

„Vielmehr aus dem Auslande. Ich bin mit ihr zuſam⸗ 
mengetroffen.“ 

„Vraiment?“ 

„In Paris und in der Schweiz. Sie iſt mit Droſdows 
verwandt.“ 

„Verwandt? Was fuͤr ein merkwuͤrdiges Zuſammen— 
treffen! Es heißt, ſie ſei ſehr ehrgeizig und habe hohe 
Konnexionen?“ 

„Unſinn! Ihre Konnexionen ſind ganz unbedeutend! 


Erſter Teil 95 


Bis zum Alter von fünfundvierzig Jahren war fie eine 
alte Jungfer ohne eine Kopeke Geld; nun iſt es ihr ge— 
lungen, ihren Lembke zu kapern, und jetzt geht natuͤrlich 
ihr ganzes Dichten und Trachten darauf, ihm zu einer 
Karriere zu verhelfen. Sie ſind beide Intriganten.“ 


„Man ſagt, ſie ſei zwei Jahre aͤlter als er?“ 


„Fuͤnf Jahre älter. Ihre Mutter machte mir in Mos⸗ 
kau gewaltig den Hof. Sie wurde nur aus Mitleid zu 
den Baͤllen eingeladen, die ich zu Wſewolod Nikolaje— 
witſchs Lebzeiten gab. Und dieſe jetzige Frau v. Lembke 
ſaß manchmal die ganze Nacht uͤber ohne einen Taͤnzer 
in der Ecke, mit ihrer Tuͤrkismouche auf der Stirn, ſo 
daß ich nach zwei Uhr ihr den erſten Kavalier zuſchickte. 
Sie war damals ſchon fuͤnfundzwanzig Jahre alt, wurde 
aber immer noch wie ein kleines Maͤdchen im kurzen 
Kleidchen ausgeführt. Man mußte ſich genieren, die bei⸗ 
den bei ſich zu haben.“ 

„Es iſt mir, als ob ich dieſe Mouche vor mir ſaͤhe!“ 

„Ich ſage Ihnen, ich kam hin und ſtieß ſofort auf eine 
Intrige. Sie haben ja doch ſoeben Frau Droſdowas Brief 
geleſen; was konnte klarer ſein? Was aber fand ich? 
Frau Droſdowa, dieſe Naͤrrin (ſie ЦЕ immer eine Naͤrrin 
geweſen), ſieht mich fragend an, warum ich denn eigentlich 
gekommen ſei? Sie koͤnnen ſich mein Erſtaunen vorſtellen! 
Ich merkte ſehr ſchnell, daß dieſe Lembke um fie #182 
ſchwaͤnzelte, und bei ihr war dieſer Vetter, ein Neffe des 
alten Droſdow; nun war mir alles klar! Selbftverftänd- 
lich brachte ich alles in einem Augenblicke wieder ins rechte 
Geleiſe, und Praſkowja iſt nun wieder auf meiner Seite; 
aber ich war doch empoͤrt uͤber die Intrige!“ 


{ 

2 
3 
. 


96 Die Teufel 


„Über die Sie jedoch den Sieg davongetragen haben. 
O, Sie ſind ein Bismarck!“ | 

„Auch ohne ein Bismarck zu fein, bin ich imftande, 
Falſchheit und Dummheit zu erkennen, wo ich ihnen be— 
gegne. Die Lembke iſt falſch, und Praſkowja iſt dumm. 
Selten habe ich eine apathiſchere Frau geſehen, und dazu 
hat ſie noch geſchwollene Fuͤße, und dazu iſt ſie noch gut— 
muͤtig. Was kann duͤmmer ſein als ſo eine dumme, gute 
Seele?“ 

„Ein moraliſch ſchlechter Dummkopf, ma bonne amie, 
ein moraliſch ſchlechter Dummkopf iſt noch duͤmmer,“ 
widerſprach Stepan Trofimowitſch ihr in wohlanſtaͤndiger 
Weiſe. 

„Da haben Sie vielleicht recht. Sie erinnern ſich wohl 
noch an Liſa?“ 

„Charmante enfant!“ 

„Aber jetzt iſt ſie nicht mehr ein enfant, ſondern eine 
junge Dame, und eine junge Dame mit ausgepraͤgtem 
Charakter. Sie iſt edeldenkend und feurig, und ich liebe 
es an ihr, daß fie ſich ihrer Mutter, dieſer vertrauens— 
ſeligen Naͤrrin, nicht fuͤgt. Um dieſes Vetters willen iſt 
es da beinah zum Krach gekommen.“ 

„Und dabei iſt er ja mit Liſaweta Nikolajewna eigent⸗ 
lich gar nicht einmal verwandt ... Hat er denn Ab— 
ſichten?“ 

„Sehen Sie, er iſt ein junger Offizier, ſehr ſchweig— 
ſam und ſogar beſcheiden. Ich bemuͤhe mich immer, ge— 
recht zu ſein. Mir ſcheint, daß er ſelbſt gegen dieſe ganze 
Intrige iſt und keine Wuͤnſche nach dieſer Richtung hat, 
und daß nur die Lembke ſchlau manoͤvriert. Er achtete 
Nikolai ſehr. Sie verſtehen: die ganze Sache haͤngt von 


Erſter Teil 97 


Liſa ab; aber als ich abreiſte, war ihr Verhaͤltnis zu 
Nikolai das allerbeſte, und Nikolai ſelbſt hat mir ver— 
ſprochen, jedenfalls im November zu uns zu kommen. Alſo 
es intrigiert da einzig und allein die Lembke, und Praſkowja 
iſt einfach blind. Auf einmal ſagte ſie zu mir, mein ganzer 
Verdacht ſei nur eine Einbildung; ich antwortete ihr ins 
Geſicht, ſie ſei eine Naͤrrin. Ich bin bereit, das beim 


Juͤngſten Gericht zu erhaͤrten. Und wenn mich nicht Niko— 


lai gebeten haͤtte, es vorlaͤufig zu unterlaſſen, ſo waͤre ich 


von da nicht weggefahren, ohne dieſes falſche Weib ent— 


larvt zu haben. Sie hat ſich durch Nikolais Vermittlung 
beim Grafen K* ** eingeſchmeichelt; fie hat Mutter und 
Sohn veruneinigen wollen. Aber Liſa iſt auf unſerer 
Seite, und mit Praſkowja bin ich zu einer Einigung ge— 
langt. Wiſſen Sie, daß Karmaſinow mit der Lembke ver- 
wandt iſt?“ 

„Wie? Der iſt mit Frau v. Lembke verwandt?“ 

„Allerdings. Entfernt verwandt.“ 

„Karmaſinow, der Novelliſt?“ 

„Nun ja, der Schriftſteller; was iſt Ihnen dabei ver— 
wunderlich? Er ſelbſt haͤlt ſich freilich fuͤr ein großes Tier. 


Ein aufgeblaſener Patron! Sie wird mit ihm zuſammen 


herkommenz jetzt brüftet fie ſich dort mit ihm. Sie beab— 
ſichtigt, hier etwas einzufuͤhren, ſo eine Art von lite— 


rariſchem Kraͤnzchen. Er wird auf einen Monat herkom— 


men; er will hier ſein letztes Gut verkaufen. Ich waͤre in 


der Schweiz beinahe mit ihm zuſammengetroffen, was mir 
ſehr wenig erwuͤnſcht geweſen waͤre. Übrigens hoffe ich, 
daß er mir hier die Ehre erweiſen wird, mich wieder: 


zuerkennen. In alter Zeit hat er Briefe an mich geſchrie⸗— 


ben und in meinem Hauſe verkehrt. Es waͤre mir lieb, 
LXII. 7 


3 


98 Die Teufel 


wenn Sie ſich beſſer kleideten, Stepan Trofimowitſch; 
Sie werden mit jedem Tage ſchlumpiger. Ach, was habe 
ich mit Ihnen fuͤr Quaͤlerei! Was leſen Sie denn jetzt? 

„Ich i 

„Ich verſtehe ſchon. Bei Ihnen iſt alles wie früher: 
der Verkehr mit den Freunden, das Trinken, der Klub 
und die Karten, und der Ruf eines Atheiſten. Dieſer 
Ruf gefaͤllt mir nicht, Stepan Trofimowitſch. Ich mag 
nicht, daß man Sie einen Atheiſten nennt; beſonders jetzt 
mag ich das nicht. Ich habe es auch fruͤher nicht gemocht, 
weil das ja doch mit dem Atheismus alles nur leeres Ge— 
rede iſt. Das muß ich Ihnen endlich einmal ſagen.“ 


с 


„Mais, ma chere ... 

„Hören Sie, Stepan Trofimowitſch, in allen gelehrten 
Dingen bin ich natuͤrlich Ihnen gegenuͤber arg unwiſſend; 
aber waͤhrend der Herreiſe habe ich viel an Sie gedacht. 
Ich bin zu einer Überzeugung gelangt.“ 

„Zu welcher denn?“ 

„Zu der Überzeugung, daß wir beide, Sie und ich, nicht 
die kluͤgſten Menſchen auf der Welt ſind, ſondern daß es 
noch kluͤgere gibt als wir.“ 

„Geiſtreich und treffend! Es gibt kluͤgere Leute; das 
heißt, es gibt Leute, die das Richtige beſſer erkennen als 
wir; alſo koͤnnen wir uns irren, nicht wahr? Mais, ma 
bonne amie, geſetzt auch, ich irre mich, ſo habe ich doch 
mein allgemein menſchliches, dauerndes, hoͤchſtes Recht, 
frei nach meinem Gewiſſen zu handeln. Ich habe das 
Recht, wenn ich will, kein Froͤmmler und kein Fanatiker 
zu ſein, und aus dieſem Grunde werden mich naturgemaͤß 
verſchiedene Herren bis zum Ende aller Dinge haſſen. 


выл 


Erſter Teil 99 


Et puis, comme on trouve toujours plus de moines 
que de raison, und da ich völlig dieſer Meinung bin ... 
„Wie war das? Was haben Sie geſagt?“ 
„Ich ſagte: on trouve toujours plus de moines que 


de raison, und da ich völlig...“ 


| 


* 


„Das ruͤhrt gewiß nicht von Ihnen her; das haben Sie 
gewiß irgendwoher entlehnt?“ 

„Das hat Paſcal geſagt.“ 

„Das habe ich mir doch gedacht, daß es nicht von Ihnen 
herruͤhrte! Warum reden Sie ſelbſt nie in dieſer Weiſe, ſo 
kurz und treffend, ſondern ziehen alles immer ſo in die 
Laͤnge? Dieſer Ausſpruch iſt weit beſſer, als was Sie 
vorhin über den Beamtenkoller ſagten ... 

„Ma foi, chère . . . warum ich nicht in dieſer Weiſe 
rede? Erſtens deswegen, weil ich wahrſcheinlich kein 
Paſcal bin, et puis ... zweitens, weil wir Ruſſen nichts 
in unſerer Sprache auszudruͤcken verſtehen ... Wenigſtens 
haben wir es bisher nicht verſtanden ...“ 

„Hm! Das iſt vielleicht doch nicht richtig. Mindeſtens 
ſollten Sie ſich eine Anzahl ſolcher Sentenzen aufſchrei— 
ben und ſie vorbringen, wiſſen Sie, falls das Geſpraͤch 
einen ſolchen Gang nimmt ... Ach, Stepan Trofimo⸗ 
witſch, ich beabſichtigte, mit Ihnen ernſtlich zu reden, ſehr 
ernſtlich.“ 

„Chere, chere amie!“ 

„Jetzt, wo alle dieſe Lembkes, alle dieſe Karmaſinows 
herkommen ... O Gott, wie find Sie heruntergekommen! 
Ach, was habe ich mit Ihnen für Quaͤlerei! .. . Ich möchte, 
daß dieſe Leute Hochachtung vor Ihnen empfaͤnden, weil 
ſie nicht ſoviel wert ſind wie Ihr Finger, wie Ihr kleiner 
Finger; aber wie halten Sie ſich? Was werden dieſe Leute 


100 Die Teufel 


zu ſehen bekommen? Was kann ich ihnen praͤſentieren? 
Statt in wohlanſtaͤndiger Weiſe als ein Zeuge fuͤr das 
Gute und Rechte dazuſtehen und mit Ihrer eigenen Perſon 
ein Muſter zu geben, ſtatt deſſen umgeben Sie ſich mit 
irgendwelchem Geſindel, haben widerwaͤrtige Gewohn— 
heiten angenommen, find ſchlaff und matt geworden, fün- 
nen ohne Wein und Karten nicht leben, leſen nur Paul 
de Kock und ſchreiben nichts, waͤhrend die da alle ſchrei— 
ben; Sie fuͤllen Ihre ganze Zeit nur mit leerem Geſchwaͤtz 
aus. Iſt es erlaubt, mit einem ſolchen Subjekt befreundet 
zu ſein, wie es Ihr Liputin iſt, von dem Sie unzertrennlich 
ſind?“ 

„Warum denn ‚mein‘ und unzertrennlich'?“ proteſtierte 
Stepan Trofimowitſch ſchuͤchtern. 

„Wo iſt er jetzt?“ fuhr Warwara Petrowna in ſtrengem, 
ſcharfem Tone fort. 

„Er ... er verehrt Sie grenzenlos und ЦЕ nach S***f 
gefahren, um die Hinterlaſſenſchaft ſeiner Mutter in Emp⸗ 
fang zu nehmen.“ 

„Ich glaube, er tut uͤberhaupt nichts anderes als Geld 
einnehmen. Und wie ſteht es mit Schatow? Iſt er immer 
noch derſelbe?“ | 

„Irascible, mais bon.“ 

„Ich kann Ihren Schatow nicht leiden; er iſt ein ſchlech— 
ter Menſch und von ſich zu ſehr eingenommen!“ 

„Wie befindet ſich Darja Pawlowna?“ 

„Sie fragen nach Daſcha? Wie kommen Sie darauf?“ 
fragte Warwara Petrowna und blickte ihn forſchend an. 
„Sie iſt geſund; ich habe fie bei Droſdows gelaſſen ... 


1 Die eigentliche Form des Namens, von welcher die Kofeform 
Daſcha gebildet iſt. Anmerkung des Überſetzers. 


Erſter Teil 101 


Ich habe in der Schweiz etwas uͤber Ihren Sohn gehoͤrt, 
Schlechtes, nichts Gutes.“ 

„Oh, c'est une histoire bien bète! Je vous attendais, 
ma bonne amie, pour vous raconter ...“ 

„Laſſen Sie es nun genug ſein, Stepan Trofimowitſch, 
und gönnen Sie mir Ruhe; ich bin ganz erſchoͤpft. Wir 
werden ſpaͤter noch Zeit genug haben, miteinander zu ſpre— 
chen, namentlich uͤber das Schlechte. Sie fangen an, Spei— 
chel aus dem Munde zu ſpritzen, wenn Sie lachen; das Ш 
auch ſchon ein Symptom von Hinfaͤlligkeit! Und in wie 
ſeltſamer Manier Sie jetzt immer lachen! ... O Gott, was 
fuͤr eine Menge ſchlechter Gewohnheiten haben Sie ange— 
nommen! Karmaſinow wird Ihnen keinen Beſuch machen! 
Und hier ſind die Leute ſowieſo ſchon uͤber alles moͤgliche 
ſchadenfroh ... Erſt jetzt zeigen Sie ſich in Ihrer wahren 
Geftalt. Nun genug, genug, ich bin müde! Man muß dem 
Menſchen auch endlich einmal Ruhe goͤnnen!“ 

Stepan Trofimowitſch „goͤnnte dem Menſchen Ruhe“; 
aber er entfernte ſich in großer Verwirrung und Ver— 
ſtimmung. 


V 
Bei unſerm Freunde hatten ſich in der Tat nicht wenige 
ſchlechte Gewohnheiten feſtgeſetzt, beſonders in der aller— 
letzten Zeit. Er war ſichtlich und ſchnell herunterge— 
kommen, und es war richtig, daß er in ſeiner aͤußeren 
Erſcheinung unordentlich geworden war. Er trank mehr, 
war weinerlicher und hatte ſchwaͤchere Nerven. Sein 
Geſicht hatte die ſonderbare Faͤhigkeit erlangt, ſich аи 
fallend ſchnell zu veraͤndern und zum Beiſpiel von dem 
feierlichſten Ausdrucke zu dem lächerlichften und ſogar zu 


. 
U 
и 


102 Die Teufel 


dem duͤmmſten uͤberzugehen. Er konnte das Alleinſein 
nicht ertragen und hatte ein ſtetes, ungeduldiges Ver— 
langen nach Zerſtreuung. Man mußte ihm unbedingt eine 
Klatſchgeſchichte erzaͤhlen, eine Stadtbegebenheit, und 
zwar alle Tage etwas Neues. Wenn laͤngere Zeit nie— 
mand zu ihm gekommen war, wanderte er unruhig durch 
die Zimmer, trat ans Fenſter, kaute nachdenklich an den 


Lippen, ſeufzte tief und fing am Ende beinah an zu 


ſchluchzen. Er ahnte etwas und fuͤrchtete immer etwas 
Unerwartetes, Unvermeidliches; er wurde ſchreckhaft und 
achtete ſehr auf ſeine Traͤume. 

Dieſen ganzen Tag ſowie den Abend verbrachte er in 
ſehr truͤber Stimmung; er ließ mich holen, war ſehr auf: 
geregt, ſprach lange, erzaͤhlte lange, aber alles ſehr un⸗ 
zuſammenhaͤngend. Warwara Petrowna wußte ſchon 
lange, daß er vor mir keine Geheimniſſe hatte. Zuletzt 
gewann ich den Eindruck, daß ihn etwas Beſonderes 
quaͤle, etwas, woruͤber er ſich vielleicht ſelbſt nicht klar 
werden konnte. Wenn wir früher unter vier Augen zu⸗ 
ſammen waren und er mir etwas vorklagte, wurde faſt 
immer nach einiger Zeit ein Flaͤſchchen gebracht, und 
alles gewann dann eine weit freundlichere Faͤrbung. 


Diesmal erſchien kein Wein, und er unterdruͤckte offen⸗ 


bar den mehrmals bei ihm rege werdenden Wunſch, wel— 
chen holen zu laſſen. 

„Und woruͤber iſt ſie immer ſo aufgebracht?“ klagte 
er alle Augenblicke wie ein Kind. „Tous les hommes de 
genie et de progrès en Russie Etaient, sont et seront 
toujours des Kartenſpieler et des Trinker, qui boivent 
periodiſch .. . und ich bin noch gar kein ſolcher Karten⸗ 
ſpieler und kein ſolcher Trinker ... Sie macht mir Vor⸗ 


Erſter Teil 103 


wuͤrfe, warum ich nichts ſchriebe! Ein ſonderbarer Ge— 
danke! ... Warum ich ſtill laͤge! Sie jagt: ‚Sie muͤſſen 
als Muſter und als Vorwurf daftehen.‘ Mais entre nous 
soit dit, was ſoll denn ein Menſch, deſſen Beſtimmung 
es iſt, als Vorwurf dazuſtehen, anders tun als ſtill lie— 
gen? Kann ſie das ſagen?“ 

Und ſchließlich wurde mir der hauptſaͤchlichſte, befon- 
dere Kummer klar, der ihn diesmal ſo hartnaͤckig quaͤlte. 
Viele Male an dieſem Abend trat er zum Spiegel und 
blieb lange vor ihm ſtehen. Endlich wendete er ſich vom 
Spiegel ab und zu mir hin und ſagte in ſeltſamer Ver— 
zweiflung: 

„Mon cher, je suis un heruntergekommener Menſch!“ 

Ja, in der Tat, bis dahin, bis auf dieſen Tag hatte er, 
trotzdem Warwara Petrowna oft zu „neuen Anſchau⸗ 

ungen“ uͤberging und ihre „Ideen wechſelte“, doch an 
einer Überzeugung unwandelbar feſtgehalten, naͤmlich 
daß er immer noch ihr weibliches Herz bezaubere, das heißt 
nicht nur als Verbannter oder als beruͤhmter Gelehrter, 
ſondern auch als ſchoͤner Mann. Zwanzig Jahre lang 
hatte dieſe fuͤr ihn ſchmeichelhafte und beruhigende Über— 
zeugung in ſeiner Seele feſt gewurzelt, und vielleicht fiel 
ihm unter allen ſeinen Überzeugungen die Trennung von 

dieſer am ſchwerſten. Ahnte er an dieſem Abend, welch 
eine gewaltige Pruͤfung ihm in der naͤchſten Zukunft be⸗ 
vorſtand? 


УТ 
Ich komme jetzt zu der Schilderung des zum Teil ſpaß⸗ 
haften Ereigniſſes, mit welchem meine Erzählung eigent⸗ 
lich erſt beginnt. 


* 5 
K 
Er - 


104 Die Teufel 


In den letzten Tagen des Auguſt kehrten endlich auch 
Droſdows zuruͤck. Ihr Eintreffen erfolgte etwas fruͤher 
als die von der ganzen Stadt ſeit langem erwartete An— 
kunft ihrer Verwandtin, unſerer neuen Frau Gouverneur, 
und brachte einen bemerkenswerten Eindruck in der Ge— 
ſellſchaft hervor. Aber uͤber all dieſe intereſſanten Er— 
eigniſſe werde ich ſpaͤter reden; jetzt beſchraͤnke ich mich 
auf die Bemerkung, daß Praſkowja Iwanowna der ſie 
ungeduldig erwartenden Warwara Petrowna ein ſehr 
beunruhigendes Raͤtſel mitbrachte: Nikolai hatte ſich 
von ihnen ſchon im Juli getrennt und, nachdem er am 
Rhein mit dem Grafen Я*** zuſammengetroffen war, 
ſich mit dieſem und der Familie desſelben nach Peters— 
burg begeben (NB. Der Graf hatte drei erwachſene 
Toͤchter). | 
„Von Liſaweta habe ich infolge ihres Stolzes und ihrer 
Verſtocktheit nichts erfahren koͤnnen,“ ſchloß Praſkowja 
Iwanowna; „aber ich habe mit meinen eigenen Augen 
geſehen, daß zwiſchen ihr und Nikolai Wſewolodowitſch 
etwas vorgefallen iſt. Ich weiß die Urſachen nicht; aber 
ich glaube, es wird zweckmaͤßig ſein, wenn Sie, meine 
liebe Freundin Warwara Petrowna, nach den Urſachen 
Ihre Darja Pawlowna fragen. Meiner Anſicht nach iſt 
Liſa gekraͤnkt worden. Ich bin heilfroh, daß ich Ihnen 
endlich Ihren Liebling Darja Pawlowna habe wieder- 
bringen koͤnnen, und uͤbergebe ſie Ihnen hiermit. Nun bin 
ich ſie los.“ 

Sie ſprach dieſe giftigen Worte in merklicher Gereizt— 
heit. Es war klar, daß die „apathiſche Frau“ ſie ſich ſchon 
vorher zurechtgelegt und ſich im voraus auf ihre Wirkung 
gefreut hatte. Aber Warwara Petrowna war nicht die⸗ 


Erſter Teil 105 


jenige, die ſich durch affektvolle Reden und durch Raͤtſel 
verbluͤffen ließ. Sie verlangte energiſch ganz genaue, 
ausreichende Erklaͤrungen. Praſkowja Iwanowna 
ſtimmte ihren Ton ſofort herab, brach ſchließlich ſogar in 
Traͤnen aus und ging zu den waͤrmſten Freundſchafts— 
verſicherungen uͤber. Dieſe reizbare, aber gefuͤhlvolle 
Dame hatte ebenſo wie Stepan Trofimowitſch fortwaͤh— 
rend ein Beduͤrfnis nach wahrer Freundſchaft, und ihre 
hauptſaͤchlichſte Klage uͤber ihre Tochter Liſaweta Niko— 
lajewna beſtand gerade darin, daß ihre Tochter nicht ihre 
Freundin ſei. 

Aber aus allen ihren Erklaͤrungen und Herzenserguͤſſen 
ergab ſich mit Sicherheit nur das eine, daß tatſaͤchlich 
zwiſchen Liſa und Nikolai ein Zerwuͤrfnis ſtattgefunden 
hatte; aber von welcher Art dieſes Zerwuͤrfnis war, dar— 
uͤber konnte Praſkowja Iwanowna ſich offenbar keine 
beſtimmte Vorſtellung machen. Schließlich zog ſie nicht 
nur die Beſchuldigungen, die fie gegen Darja Pawlowna 
ausgeſprochen hatte, vollſtaͤndig zuruͤck, ſondern ſie bat 
auch ausdruͤcklich, ihren Worten von vorhin keinerlei Be— 
deutung beizulegen, weil ſie ſie „in der Erregung“ ge— 
ſprochen habe. Kurz, alles kam ſehr unklar heraus, ſogar 
verdaͤchtig. Nach ihrer Darſtellung hatte Liſas „eigen— 
ſinniges, ſpoͤttiſches Weſen“ den erſten Anlaß zu dem 
Zerwuͤrfniſſe gegeben; der „ſtolze“ Nikolai Wſewolodo— 
witſch habe trotz all ſeiner Verliebtheit die Spoͤttereien 

nicht ertragen koͤnnen und ſei ſelbſt ſpoͤttiſch geworden. 
„Bald darauf“, erzaͤhlte ſie, „wurden wir mit einem 

jungen Manne bekannt, ich glaube, einem Neffen 
Ihres Profeſſors; er führt auch denſelben Familien- 
namen 


* 


106 Die Teufel 


»Es iſt ſein Sohn, nicht fein Neffe,“ verbeſſerte War⸗ 
wara Petrowna. 

Praſkowja Iwanowna hatte auch früher Stepan Tro- 
fimowitſchs Familiennamen niemals behalten koͤnnen und 
ihn immer den „Profeſſor“ genannt. 

„Nun, meinetwegen ſein Sohn, um ſo beſſer; mir ganz 
gleich. Es iſt ein gewoͤhnlicher junger Menſch, ſehr leb— 
haft und ungeniert; aber etwas Beſonderes iſt nicht an 
ihm. Nun, da hat nun Liſa ſelbſt ſich nicht richtig benom⸗ 


men; fie zog den jungen Mann an ſich heran, um Nifo- ° 


lai Wſewolodowitſchs Eiferſucht zu erregen. Ich will 
daruͤber nicht zu ſtreng urteilen; die jungen Maͤdchen 
machen es nun einmal ſo; es iſt etwas ganz Gewoͤhnliches 
und nimmt ſich ſogar recht nett aus. Aber ſtatt eiferſuͤch⸗ 
tig zu werden, befreundete ſich vielmehr Nikolai Wſewo— 
lodowitſch ſelbſt mit dem jungen Menſchen, als ob er 
nichts ſaͤhe und ihm alles gleich waͤre. Daruͤber war nun 
Liſa empoͤrt. Der junge Menſch reiſte bald ab (er mußte 
ſehr eilig irgendwohin); Liſa aber ſuchte nun bei jeder 
Gelegenheit mit Nikolai Wſewolodowitſch Haͤndel. Als 
ſie bemerkte, daß dieſer mit Daſcha einige Male ſprach, 
da geriet ſie in Wut; ich konnte es ſchon gar nicht mehr 
aushalten, liebe Freundin. Die Arzte hatten mir jede 
Aufregung verboten, und ihr geprieſener See war mir 
ſchon ganz zuwider geworden; nur die Zaͤhne taten mir 
von ihm weh, einen ſolchen Rheumatismus hatte ich be— 
kommen. Man kann es auch gedruckt leſen, daß man vom 
Genfer See Zahnſchmerzen bekommt; das iſt nun einmal 
ſo eine Beſonderheit von ihm. Aber da erhielt Nikolai 
Wſewolodowitſch auf einmal einen Brief von der Graͤfin 
und reiſte ſofort von uns ab; an einem einzigen Tage 


Erſter Teil 107 


machte er fich reiſefertig. Abſchied nahmen die beiden 
voneinander in freundſchaftlicher Weiſe, und Liſa war, 
als ſie ihn zur Bahn begleitete, ſehr heiter und vergnuͤgt 
und lachte viel. Aber das war alles nur Maske. Sowie 
er weg war, wurde ſie ſehr nachdenklich, ſprach gar nicht 
mehr von ihm und wollte auch nicht, daß ich ihn er— 
waͤhnte. Und auch Ihnen, liebe Warwara Petrowna, 
möchte ich raten, jetzt im Geſpraͤch mit Liſa nicht von die⸗ 
ſem Gegenſtande anzufangen; Sie wuͤrden die Sache 
dadurch nur verderben. Wenn Sie dagegen ſchweigen, ſo 
wird ſie zuerſt mit Ihnen davon zu reden beginnen; dann 
werden Sie mehr zu hoͤren bekommen. Meiner Anſicht 
nach werden die beiden jungen Leute ſich wieder zuſam— 
menfinden, wenn nur Nikolai Wſewolodowitſch bald her— 
kommt, wie er verſprochen hat.“ 

„Ich werde ſofort an ihn ſchreiben. Wenn alles ſich ſo 
verhält, dann iſt es mit dem Zerwuͤrfnis nicht weit her. 
Es iſt alles Unſinn. Auch Darja kenne ich hinreichend; 
Unſinn!“ 

„An der lieben Daſcha habe ich mich mit meinem Ber: 
dachte verſuͤndigt und bereue es. Es waren nur Geſpraͤche 
ganz gewoͤhnlicher Art, und ſie wurden laut gefuͤhrt. 
Aber das alles hat mich damals gar zu ſehr aufgeregt, 
liebe Freundin. Und auch Liſa ſelbſt iſt, wie ich geſehen 
habe, mit ihr wieder zu dem fruͤheren freundſchaftlichen 
Verhaͤltniſſe zuruͤckgekehrt ...“ 

Warwara Petrowna ſchrieb noch gleich an demſelben 
Tage an Nikolai und bat ihn dringend, wenigſtens einen 
Monat vor dem von ihm in Ausſicht genommenen Ter⸗ 
mine zu kommen. Aber doch blieb ihr hier manches un⸗ 
klar und unverſtaͤndlich. Sie dachte den ganzen Abend 


я 


108 Die Teufel 


und die ganze Nacht darüber nach. Praſkowjas Mei: 
nung ſchien ihr gar zu harmlos und gefuͤhlvoll. 

„Praſkowja iſt ihr Lebelang zu gefuͤhlvoll geweſen, 
ſchon von der Penſionszeit an,“ dachte ſie. „Nikolai iſt 
nicht der Mann danach, vor den Spoͤttereien eines Maͤd— 
chens davonzulaufen. Da ſteckt ein anderer Grund da- 
hinter, wenn wirklich ein Zerwuͤrfnis ſtattgefunden hat. 
Dieſer Offizier iſt aber doch hier; den haben ſie mitge— 
bracht, und er wohnt bei ihnen im Hauſe wie ein Ver— 
wandter. Und auch was Darja angeht, hat Praſkowja 
gar zu ſchnell ſich ſelbſt beſchuldigt; gewiß hat ſie etwas 
fuͤr ſich behalten, was fie nicht ſagen wollte ...“ 

Am Morgen war in Warwara Petrownas Kopfe der 
Plan zur Reife gelangt, wenigſtens einen Zweifel mit 
einemmal zu erledigen, ein merkwuͤrdiger, uͤberraſchender 
Plan. Was in ihrem Herzen vorging, als ſie dieſen Plan 
entwarf, das iſt ſchwer zu ſagen, und ich unternehme es 
nicht, im voraus all die Widerſpruͤche zu erklaͤren, die er 
enthielt. Als Chroniſt beſchraͤnke ich mich darauf, die 
Ereigniſſe in ihrer richtigen Geſtalt darzuſtellen, genau 
jo, wie fie ſich zugetragen haben, und ich kann nichts da— 
fuͤr, wenn ſie den Eindruck der Unwahrſcheinlichkeit 
machen. Aber ich muß doch noch einmal bezeugen, daß am 
Morgen bei Warwara Petrowna kein Verdacht gegen 
Daſcha mehr zuruͤckgeblieben war, und daß ſie einen 
ſolchen ſtrenggenommen nie gehegt hatte; dazu war ſie 
ihrer zu ſicher. Auch konnte ſie es gar nicht fuͤr moͤglich 


halten, daß ihr Nikolai ſich in ihre Daſcha verliebt haben 


ſollte. Am Morgen, als Darja Pawlowna am Teetiſch 
den Tee eingoß, blickte Warwara Petrowna ſie lange 
pruͤfend an und ſagte vielleicht zum zwanzigſten Male 


| 
| 


Erſter Teil 109 


ſeit dem geſtrigen Tage im ſtillen aus voller Überzeu— 
gung: 

„Es iſt alles Unſinn!“ 

Es fiel ihr nur auf, daß Daſcha ein ſo muͤdes Ausſehen 
hatte und noch ſtiller und apathiſcher als fruͤher war. 
Nach dem Tee ſetzten ſie ſich gemaͤß der ein fuͤr allemal 
eingeführten Ordnung beide an eine Handarbeit. War— 
wara Petrowna forderte ſie auf, ihr einen vollſtaͤndigen 
Bericht uͤber die Eindruͤcke zu erſtatten, die ſie im Aus— 
lande empfangen hatte, namentlich uͤber die Natur, die 
Bewohner, die Staͤdte, die Gebraͤuche, die Kunſtwerke, 
die Induſtrie, uͤber alles, was ſie wahrgenommen habe. 
Aber uͤber Droſdows und das Leben bei dieſen ſtellte ſie 
auch nicht eine Frage. Daſcha, die neben ihr am Naͤh— 
tiſche ſaß und ihr beim Sticken half, hatte ſchon eine halbe 
Stunde lang mit ihrer gleichmaͤßigen, eintoͤnigen, aber 
etwas ſchwachen Stimme erzaͤhlt. 

„Darja,“ unterbrach Warwara Petrowna ſie ploͤtzlich, 
„haft du nichts Beſonderes, was du mir netteilen 
möchteft?“ 

„Nein, ich habe nichts,“ antwortete Daſcha nach ganz 
kurzem Nachdenken und blickte Warwara Petrowna mit 
ihren hellen Augen an. 

„Haſt du nichts auf dem Herzen, auf dem Gewiſſen?“ 

„Nein,“ wiederholte Daſcha leiſe, aber mit einer Art 
von muͤrriſcher Feſtigkeit. 

„Das habe ich gewußt! Und ich will dir ſagen, Darja, 

daß ich niemals an dir zweifeln werde. Jetzt ſetze dich hin 
und hoͤre einmal zu! Setz dich dort auf den andern Stuhl, 
mir gegenuͤber; ich moͤchte dir voll ins Geſicht ſehen. So 
iſt es gut! Alſo hoͤre: moͤchteſt du dich verheiraten?“ 


. 


110 Die Teufel 


Daſcha antwortete mit einem langen, fragenden, üb- 
rigens nicht allzu verwunderten Blicke. 

„Warte! Sei ſtill! Erſtens iſt ein Unterſchied in den 
Jahren, ein ſehr bedeutender; aber du weißt ja am beſten, 
daß das dummes Zeug iſt. Du biſt ein vernuͤnftig den⸗ 
kendes Maͤdchen, und daher werden in deinem Leben keine 
Fehler vorkommen. Übrigens iſt er noch ein huͤbſcher 
Mann. .. Kurz, ich meine Stepan Trofimowitſch, den 
du immer ſehr geſchaͤtzt haſt. Nun?“ 

Der fragende Ausdruck in Daſchas Geſichte ſteigerte 
ſich noch; ſie blickte ihre Goͤnnerin jetzt nicht nur verwun⸗ 
dert an, ſondern erroͤtete auch merklich. 

„Halt, ſchweig! Keine Überſtuͤrzung! Du wirſt zwar 
nach meinem Teſtamente eine Summe Geldes erhalten; 
aber wenn ich ſterbe, was wird dann aus dir werden, 
auch mit dem Gelde? Man wird dich betruͤgen und dir 
das Geld abnehmen, und dann biſt du verloren. Aber 
wenn du ihn heirateſt, biſt du die Frau eines angeſehenen 
Mannes. Nun betrachte die Sache von der anderen 
Seite: wenn ich jetzt ſterbe, was wird dann aus ihm 
werden, auch wenn ich ihn in meinem Teſtamente be- 
denke? Da ſetze ich nun meine Hoffnung auf dich. Warte, 
ich bin noch nicht zu Ende. Er iſt leichtſinnig, ſchlaff, 
ohne Mitgefuͤhl, ſelbſtiſch, hat unwuͤrdige Gewohnheiten; 
aber habe du dennoch Achtung vor ihm, ſchon deswegen, 
weil es noch weit ſchlechtere gibt. Ich will dich doch nicht 
irgendeinem Lumpen zur Frau geben, um dich loszu— 
werden; das haft du doch nicht gedacht? Aber die Haupt⸗ 
ſache iſt: weil ich dich darum bitte, deshalb mußt du ihn 
ſchaͤtzen und achten,“ brach ſie auf einmal gereizt ab. 
„Hoͤrſt du wohl? Warum ſperrſt du dich?“ 


Erſter Teil 111 


Daſcha hoͤrte noch immer ſchweigend zu. 

„Halt, warte noch! Er iſt ein altes Weib; aber um ſo 
beſſer fuͤr dich. Sogar ein klaͤgliches altes Weib; er ver— 
dient es durch ſeine Perſoͤnlichkeit gar nicht, daß ihn eine 
Frau liebt. Aber er verdient es wegen ſeiner Schutzbe— 
duͤrftigkeitz liebe du ihn um derentwillen! Du verſtehſt 
mich doch? Verſtehſt du mich?“ 

Daſcha nickte bejahend mit dem Kopfe. 

„Nun, das wußte ich; ich habe nichts anderes von dir 
erwartet. Er wird dich lieben, weil er muß, weil er muß; 
er muß dich vergoͤttern!“ kreiſchte Warwara Petrowna in 
beſonders gereiztem Tone. „Übrigens wird er, auch ohne 
es zu muͤſſen, ſich in dich verlieben; ich kenne ihn ja. 

Außerdem werde ich ſelbſt nach dem Rechten ſehen. Sei 
unbeſorgt; ich werde immer nach dem Rechten ſehen. Er 
wird ſich uͤber dich beklagen, wird dich verleumden, wird 
dem erſten beſten etwas uͤber dich ins Ohr fluͤſtern, wird 
wimmern, ewig wimmernz er wird dir von einem Zimmer 
nach dem andern Briefe ſchreiben, zwei Stuͤck an einem 
Tage, und wird doch ohne dich nicht leben koͤnnen, und 
das iſt die Hauptſache. Zwinge ihn, dir zu gehorchen; 
wenn du ihn dazu nicht zu zwingen verſtehſt, biſt du dumm. 
Wenn er ſich aufhaͤngen will und dir damit droht, ſo 
glaube ihm nicht; das iſt nur dummes Zeug! Glaube es 
nicht; aber paß dennoch gut auf; am Ende tut er es doch 
einmal; das kommt bei ſolchen Menſchen vor; nicht aus 
Staͤrke, ſondern aus Schwaͤche haͤngen ſie ſich auf; und 

darum treibe ihn nie bis zum Außerſten; das iſt die erſte 

Regel in der Ehe. Vergiß auch nicht, daß er ein Dichter 
iſt. Hoͤre, Darja: es gibt kein hoͤheres Gluͤck als ſich 
ſelbſt aufzuopfern. Und außerdem tuſt du mir damit einen 


Ц 
т * 


112 Die Teufel 


großen Gefallen, und das iſt die Hauptſache. Denke nicht, 
daß ich aus Dummheit ſoeben toͤrichtes Zeug geredet habe: 
ich weiß ſehr wohl, was ich ſage. Ich bin egoiſtiſch; ſei 
du es auch! Ich zwinge dich ja nicht gegen deinen Willen; 
du haſt voͤllig freie Hand; wie du ſagſt, ſo wird es ge— 
ſchehen. Nun, warum ſitzt du ſo da? Sprich ein Wort!“ 

„Mir iſt alles gleich, Warwara Petrowna, wenn ich 
mich denn einmal durchaus verheiraten ſoll,“ ſagte Daſcha 
in feſtem Tone. 

„Durchaus? Was willſt du damit andeuten?“ fragte 
Warwara Petrowna und blickte fie ſtreng und unver— 
wandt an. 

Daſcha ſchwieg und kratzte mit der Nadel an ihren 
Fingern herum. 

„Du biſt ja ſonſt ein verſtaͤndiges Maͤdchen, haſt aber 
doch eben Unſinn geredet. Es iſt zwar richtig, daß ich 
jetzt ernſtlich daran gedacht habe, dich zu verheiraten, aber 
nicht weil es unbedingt noͤtig waͤre, ſondern nur weil ich 
mir das ſo ausgeſonnen hatte, und nur mit Ruͤckſicht auf 
Stepan Trofimowitſch. Waͤre Stepan Trofimowitſch 
nicht da, ſo wuͤrde ich gar nicht daran denken, dich ſogleich 
zu verheiraten, obgleich du ſchon zwanzig Jahre alt biſt ... 
Nun?“ 

„Ich werde ganz nach Ihren Wuͤnſchen handeln, War— 
тата Petrowna.“ 

„Alſo du biſt einverſtanden! Halt, ſei ſtill, wohin haſt 
du es denn ſo eilig? Ich bin noch nicht fertig mit dem, 
was ich ſagen wollte. In meinem Teſtamente habe ich dir 
fuͤnfzehntauſend Rubel ausgeſetzt. Ich werde ſie dir jetzt 
gleich geben, nach der Trauung. Davon gib ihm acht⸗ 
tauſend, das heißt nicht ihm, ſondern mir. Er hat Schul⸗ 


Erſter Teil 113 


den im Betrage von achttauſend Rubeln; die will ich be— 
zahlen; aber er muß wiſſen, daß es mit deinem Gelde 
geſchieht. Die andern ſiebentauſend behaͤltſt du in deinen 
Händen; davon gib ihm nie auch nur einen Rubel! Be- 
zahle nie ſeine Schulden! Tuſt du es einmal, ſo kommſt 
du nachher nicht wieder davon los. Übrigens werde ich 
immer nach dem Rechten ſehen. Ihr werdet von mir 
jährlich zwoͤlfhundert Rubel zu eurem Unterhalt befom- 
men, mit einer Extrazuwendung fuͤnfzehnhundert, außer 
Wohnung und Beföftigung, die ihr gleichfalls von mir 
erhalten werdet, genau ebenſo, wie er das alles jetzt ge— 
nießt. Nur eigene Bedienung muͤßt ihr euch halten. 
Das Jahrgeld werde ich dir alles mit einemmal geben, 
und zwar dir in deine eigene Hand. Aber ſei auch 
gut gegen ihn; gib ihm manchmal ein bißchen und er— 
laube, daß ſeine Freunde einmal in der Woche zu ihm 
kommen; wenn ſie oͤfter kommen, ſo jage ſie weg! 
Aber ich werde auch ſelbſt nach dem Rechten ſehen. Und 
wenn ich ſterbe, ſo wird euer Jahrgeld bis zu ſeinem Tode 
weiterbezahlt werden; hoͤrſt du wohl: bis zu ſeinem Tode; 
denn es iſt ſein Jahrgeld und nicht das deinige. Und dir 
will ich außer den jetzigen ſiebentauſend Rubeln, die du 
dir, wenn du nicht ſelbſt dumm biſt, unangebrochen er— 
halten wirft, noch weitere achttauſend Rubel teftamen- 
tariſch hinterlaſſen. Weiter wirſt du von mir nichts be— 
kommen; das mußt du wiſſen. Nun, biſt du einverſtanden, 
wie? Nun antworte aber auch endlich!“ 
„Ich habe ja ſchon geantwortet, Warwara Petrowna.“ 
„Vergiß nicht, daß du voͤllige Willensfreiheit haſt; wie 
du willſt, ſo wird es geſchehen.“ 
„Geſtatten Sie eine Frage, Warwara Petrowna: hat 
LXIII. 8 


. 


114 Die Teufel 


denn Stepan Trofimowitſch ſchon mit Ihnen darüber 
geſprochen?“ 

„Nein, er hat noch nicht geſprochen und weiß auch noch 
nichts davon; aber ... er wird ſogleich reden!“ 

Sie ſprang augenblicklich auf und warf ihr ſchwarzes 
Umſchlagetuch um. Daſcha erroͤtete wieder ein wenig und 
folgte ihr mit einem fragenden Blicke. Warwara Pe— 
trowna wandte ſich plotzlich zu ihr um und ſagte mit zorn- 
rotem Geſichte, indem ſie wie ein Habicht auf ſie losſchoß: 
„Du Naͤrrin! Du undankbare Naͤrrin! Was denkſt du 
dir denn? Glaubſt du etwa, daß ich dich auch nur im 
geringſten kompromittieren werde? Er ſelbſt wird dich 
fniefällig bitten; er muß ganz vergehen vor Gluͤckſeligkeit; 
ſo wird das arrangiert werden! Du weißt ja doch, daß 
ich dir mit der Verheiratung nichts zuleide tun will! Oder 
meinſt du, daß er dich um dieſer achttauſend Rubel willen 
nehmen wird und ich jetzt hinlaufe, um dich zu verkaufen? 
Du Naͤrrin, du Naͤrrin, ihr ſeid alle undankbare Narren! 
Gib mir meinen Regenſchirm!“ 

Und ſie lief zu Fuß das feuchte Ziegeltrottoir entlang 
und uͤber die hölzernen Bruͤckchen zu Stepan Trofimo⸗ 


witſch. 


VII 
Es war die Wahrheit, daß ſie Darja nicht verheiratete, 
um ihr etwas zuleide zu tun; im Gegenteil hielt ſie ſich 
jetzt erſt recht fuͤr deren Wohltaͤterin. Die edelſte, gerech— 
teſte Entruͤſtung flammte in ihrer Seele auf, als ſie beim 
Umlegen des Schaltuches bemerkte, daß ihre Pflegetochter 
ſie verlegen und mißtrauiſch anſah. Sie liebte ſie auf— 
richtig von der Zeit an, wo dieſe noch ein kleines Kind 


Erſter Teil 115 


geweſen war. Praſkowja Iwanowna hatte Darja ам» 
lowna mit Recht als ihren Liebling bezeichnet. Schon 
laͤngſt hatte ſich Warwara Petrowna ein für allemal де2 
ſagt, Darjas Charakter habe mit dem ihres Bruders (das 
heißt Iwan Schatows) keine Ahnlichkeit; fie ſei ſtill und 
ſanft und ſehr aufopferungsfaͤhig; fie zeichne ſich durch 
Anhaͤnglichkeit, durch außerordentliche Beſcheidenheit, 
durch eine ſeltene Verſtaͤndigkeit und vor allen Dingen 
durch Dankbarkeit aus. Bisher hatte Darja anſcheinend 
alle ihre Erwartungen erfuͤllt. „In dem Leben dieſes 
Maͤdchens werden keine Fehler vorkommen,“ hatte Зах: 
wara Petrowna geſagt, als Daſcha zwoͤlf Jahre alt war, 
und da es in ihrem Weſen lag, jede Idee, die ſie feſſelte, 
jeden neuen Einfall, den ſie hatte, jeden Gedanken, der 
ihr gluͤcklich ſchien, auch ſogleich hartnaͤckig und leiden- 
ſchaftlich zur Ausfuͤhrung zu bringen, ſo hatte ſie ſich ſo— 
fort entſchloſſen, Daſcha wie eine leibliche Tochter zu er— 
ziehen. Sie legte fuͤr ſie unverzuͤglich ein Kapital beiſeite 
und nahm eine Gouvernante, eine Miß Criggs, ins Haus, 


die bis zum ſechzehnten Lebensjahre der Pflegetochter bei 


ihnen blieb; dann aber wurde ihr auf einmal aus irgend— 
welchem Grunde gekuͤndigt. Nun folgten Lehrer aus dem 


Gymnaſium, darunter ein Nationalfranzoſe, der Daſcha 


im Franzoͤſiſchen unterrichtete. Auch dieſem wurde ploͤtz— 


lich gekuͤndigt; ja, er wurde beinahe weggejagt. Eine 


arme, von auswaͤrts zugezogene Dame, eine Witwe von 


Adel, gab ihr Klavierunterricht. Aber der eigentliche Er— 


> 
* 


у 


zieher war doch Stepan Trofimowitſch. In Wirklichkeit 
war er es geweſen, der als der erſte Daſcha entdeckt hatte: 
er hatte das ſtille Kind ſchon zu einer Zeit unterrichtet, 
als Warwara Petrowna an dasſelbe noch gar nicht dachte. 


. 
у a 


116 Die Teufel 


Ich wiederhole, was ich ſchon einmal gejagt habe: es war 
erſtaunlich, wie die Kinder an ihm hingen. Liſaweta Nifo- 
lajewna Tuſchina war von ihrem achten bis zu ihrem 
elften Lebensjahre ſeine Schülerin geweſen (паи 
unterrichtete Stepan Trofimowitſch ſie ohne Honorar und 
haͤtte ein ſolches von Droſdows unter keinen Umſtaͤnden 
angenommen). Aber er verliebte ſich ſelbſt in das reizende 
Kind und erzaͤhlte ihr eine Art von Dichtungen uͤber die 
Einrichtung der Welt und der Erde und uͤber die Ge— 
ſchichte der Menſchheit. Die Unterrichtsſtunden uͤber den 
erſten Menſchen und die erſten Voͤlker waren intereſſanter 
als arabiſche Maͤrchen. Liſa, die fuͤr dieſe Erzaͤhlungen 
ſchwaͤrmte, kopierte bei ſich zu Hauſe ihren Lehrer Stepan 
Trofimowitſch in außerordentlich laͤcherlicher Weiſe. Die— 
ſer erfuhr davon, kam einmal unerwartet dazu und über- 
raſchte ſie dabei. In hoͤchſter Verlegenheit warf Liſa ſich 
in feine Arme und fing an zu weinen; Stepan Trofimo— 
witſch weinte ebenfalls, aber vor Entzuͤcken. Aber Liſa 
reiſte bald weg, und es blieb nur Daſcha uͤbrig. Als zu 
Daſcha Lehrer ins Haus kamen, hörte Stepan Trofimo— 
witſch auf, ſie zu unterrichten, und kuͤmmerte ſich bald 
gar nicht mehr um ſie. So verging eine lange Zeit. Ein— 
mal, als ſie ſchon ſiebzehn Jahre alt war, war er ploͤtzlich 
von ihrer lieblichen Erſcheinung uͤberraſcht. Dies war in 
Warwara Petrownas Hauſe, bei Tiſche. Er knuͤpfte mit 
dem jungen Maͤdchen ein Geſpraͤch an, war mit ihren 
Antworten ſehr zufrieden und machte ſchließlich den Vor— 
ſchlag, mit ihr einen ernſthaften, umfaſſenden Kurſus der 
ruſſiſchen Literatur durchzunehmen. Warwara Petrowna 
lobte ihn fuͤr den ſchoͤnen Gedanken und dankte ihm; 
Daſcha aber war entzuͤckt. Stepan Trofimowitſch be— 


Erſter Teil 117 


reitete ſich auf dieſ e Unterrichtsſtunden beſonders vor, und 
endlich begannen dieſelben. Er fing mit der aͤlteſten Pe- 
riode an; die erſte Unterrichtsſtunde nahm einen ſehr 
intereſſanten Verlauf; Warwara Petrowna war dabei 
zugegen. Als Stepan Trofimowitſch geſchloſſen hatte und 
ſeiner Schuͤlerin beim Weggehen mitteilte, er werde das 
naͤchſtemal an die Wuͤrdigung des „Liedes vom Heeres— 
zuge Igors“ gehen, da ſtand Warwara Petrowna auf 
einmal auf und erklaͤrte, die Unterrichtsſtunden ſollten 
nicht fortgeſetzt werden. Stepan Trofimowitſch kruͤmmte 
ſich zuſammen, ſchwieg aber; Daſcha wurde dunkelrot 
vor Erregung. Damit hatte das Vergnuͤgen ein Ende. 
Das hatte ſich genau drei Jahre vor Warwara Petrownas 
jetzigem unerwarteten Einfall begeben. 

Der arme Stepan Trofimowitſch ſaß allein zu Go 
und ahnte nichts. In truͤbem Nachdenken blickte er ſchon 
lange durch das Fenſter, ob nicht irgendein Bekannter 
zu ihm komme. Aber es wollte niemand kommen. Es fiel 
ein feiner Spruͤhregen, und es war kalt geworden; es 
war noͤtig, den Ofen zu heizen; er ſeufzte. Auf einmal 
bot ſich ſeinen Augen eine ſeltſame Viſion dar: Warwara 
Petrowna kam in ſolchem Wetter und zu ſo ungewoͤhn— 
licher Stunde zu ihm! Und zu Fuß! Er war ſo verbluͤfft, 
daß er vergaß, ſein Koſtuͤm zu wechſeln, und ſie ſo, wie 
er war, empfing: in feiner ewigen roſafarbenen, wattier— 
ten Hausjacke. 

„Ma bonne amie!,.. 
Stimme entgegen. 

„Sie ſind allein; das freut mich; ich kann Ihre Freunde 


Eines der aͤlteſten Dokumente der ruſſiſchen Nationalpoeſie. 
Anmerkung des uterſetzers, 


‘‘ 


rief er ihr mit ſchwacher 


118 Die Teufel 


nicht leiden! Wie Sie immer rauchen! Mein Gott, was 
iſt das fuͤr eine Luft! Sie haben auch Ihren Tee noch 
nicht ausgetrunken, und dabei iſt es ſchon zwoͤlf Uhr! Sie 
finden Ihre ganze Seligkeit in der Unordnung und Ihren 
ganzen Genuß im Schmutze! Was ſind das fuͤr zerriſſene 
Papiere auf dem Fußboden? Naſtaſja, Naſtaſja! Was 
macht denn Ihre Naſtaſja? Mach die Fenſter und die 
Türen auf, Naftafja, alles ſperrangelweit! Und wir wol⸗ 
len in den Salon gehen; ich komme in einer ernſten Ange- 
legenheit zu Ihnen. Fege doch wenigſtens einmal im 
Leben aus, Naſtaſja!“ 

„Er macht ja doch alles gleich wieder ſchmutzig und 
unordentlich!“ erwiderte Naſtaſja in gereiztem, klagen⸗ 
dem Tone. | | 

„Fege du nur aus; fege fünfzehnmal am Tage aus! 
Einen elenden Salon haben Sie“ (ſie waren inzwiſchen 
in den Salon getreten). „Machen Sie die Tuͤr feſter zu; 
ſie wird horchen. Sie muͤſſen den Salon unbedingt um⸗ 
tapezieren laſſen. Ich habe Ihnen ja doch den Tapezier 
mit Muſtern zugeſchickt; warum haben Sie ſich keines 
ausgeſucht? Setzen Sie ſich, und hoͤren Sie zu! So ſetzen 
Sie ſich doch endlich hin, ich bitte Sie! Wo wollen Sie 
hin? Wo wollen Sie hin? Wo wollen Sie hin?“ 

„Ich .. . ſofort!“ rief Stepan Trofimowitſch aus dem 
anſtoßenden Zimmer. „Da bin ich wieder!“ 

„Ah, Sie haben den Anzug gewechſelt!“ ſagte ſie ſpoͤt— 


tiſch, indem fie ihn muſterte. (Er hatte einen Oberrock 


uͤber die Hausjacke gezogen.) „Das wird in der Tat zu 
unſerem Geſpraͤche beſſer paſſen. Setzen Sie ſich doch end⸗ 
lich hin, ich bitte Sie!“ 

Sie ſetzte ihm alles mit einem Male auseinander, 


Erſter Teil 119 


ſcharf und eindringlich. Sie deutete auch auf die acht— 
tauſend Rubel hin, die er dringend noͤtig hatte. Ausfuͤhr— 
lich ſprach ſie von der Mitgift. Stepan Trofimowitſch 
riß die Augen auf und fing an zu zittern. Er hoͤrte alles; 
aber er vermochte nicht, es klar zu erfaſſen. Er wollte 
etwas erwidern; aber immer verſagte ihm die Stimme. 
Er wußte nur, daß alles ſo geſchehen werde, wie ſie es 
ſagte, daß ein Widerſpruch, eine Ablehnung ein Ding der 
Unwoͤglichkeit und er ſelbſt unwiderruflich ein verheirate— 
ter Mann war. | 

„Mais, ma bonne amie, zum drittenmal und in meinen 
Jahren .. . und mit einem ſolchen Kinde!“ fagte er end— 
lich. „Mais c'est une enfant!“ 

„Ein Kind, das gluͤcklicherweiſe ſchon zwanzig Jahre 
alt iſt! Verdrehen Sie doch nicht ſo die Augen, ich bitte 
Sie; Sie ſind hier nicht auf dem Theater. Sie ſind ein 
ſehr kluger gelehrter Mann; aber Sie verſtehen nichts 

vom Leben; auf Sie muß beſtaͤndig eine Wärterin auf— 
paſſen. Ich werde ſterben, und was wird dann aus Ihnen 
werden? Aber ſie wird fuͤr Sie eine gute Waͤrterin ſein: 
ſie iſt ein beſcheidenes, energiſches, vernuͤnftiges Maͤd— 
chen; außerdem werde ich ſelbſt nach dem Rechten ſehen; 
ich werde nicht gleich ſterben. Sie iſt haͤuslich; ſie iſt 
ein Engel an Sanftmut. Dieſer gluͤckliche Gedanke iſt 
mir ſchon gekommen, als ich noch in der Schweiz war. 
Verſtehen Sie auch wohl, was das heißen will, wenn ich 
ſelbſt Ihnen ſage, daß ſie ein Engel an Sanftmut iſt?“ 
ſchrie fie plöglich heftig. „Bei Ihnen ſieht es wuͤſt und 
unſauber aus; da wird ſie fuͤr Reinlichkeit und Ordnung 
ſorgen, und alles wird wie ein Spiegel ſein ... Na, Sie 
bilden ſich wohl ein, wenn ich Ihnen ein ſolches Kleinod 


а 
`. 
* 


120 Die Teufel 


bringe, müßte ich mich noch tief vor Ihnen verbeugen, 
Ihnen alle Vorteile aufzaͤhlen und Ihnen wer weiß wie 
zureden! Nein, Sie müßten auf den Knien . .. O, Sie 
einfaͤltiger, kleinmuͤtiger Menſch!“ 

„Aber .. . ich bin ein alter Mann!“ 

„Was wollen Ihre dreiundfuͤnfzig Jahre beſagen! 
Fuͤnfzig Jahre ſind nicht das Ende, ſondern die Mitte 
des Lebens. Sie ſind ein ſchoͤner Mann und wiſſen das 
ſelbſt. Sie wiſſen auch, wie ſehr ſie Sie verehrt. Wenn 
ich ſterbe, was wird dann aus ihr werden? Aber als Ihre 
Frau kann ſie ruhig ſein, und auch ich bin dann be— 
ruhigt. Sie beſitzen Anſehen, einen Namen, ein liebendes 
Herz; Sie erhalten ein Jahrgeld, das zu zahlen ich fuͤr 
meine Pflicht halte. Sie werden ſie vielleicht retten, ja 
retten! In jedem Falle werden Sie ihr eine Ehre er— 
weiſen. Sie werden ſie fuͤr das Leben bilden, ihr Herz 
entwickeln, ihren Gedanken die Richtung geben. Wie 
viele Menſchen gehen heutzutage zugrunde, weil ihre Ge— 
danken eine uͤble Richtung haben! Zugleich wird auch 
Ihr Werk fertig werden, und Sie werden ſich mit einem 
Male auf ſich ſelbſt beſinnen.“ 

„Ich habe gerade vor,“ murmelte er, durch Warwara 
Petrownas geſchickte Schmeichelei gekitzelt, „ich habe ge— 
rade vor, mich an meine ‚Erzählungen aus der ſpaniſchen 
Geschichte‘ zu machen ...“ 

„Na ſehen Sie wohl! Sehen Sie, wie gut das ſtimmt!“ 

„Aber ... fie? Haben Sie ſchon mit ihr geſprochen?“ 

„Beunruhigen Sie ſich nicht uͤber ſie; da brauchen Sie 
nicht neugierig zu ſein. Natuͤrlich muͤſſen Sie ſie ſelbſt 
bitten, ſie anflehen, Ihnen die Ehre zu erweiſen; Sie ver— 
ſtehen? Aber beunruhigen Sie ſich nicht; ich werde ſelbſt 


Erſter Teil 121 


nach dem Rechten ſehen. Außerdem lieben Sie ſie ja 
doch!“ | 

Dem guten Stepan Trofimowitſch ſchwindelte der 
Kopf: die Waͤnde drehten ſich um ihn herum. Aber da 
war noch ein ſchrecklicher Gedanke, mit dem er in keiner 
Weiſe zurechtkommen konnte. 

„Excellente amie!“ ſagte er, und ſeine Stimme zitterte 
ploͤtzlich, „ich .. . ich hätte nie geglaubt, daß Sie ſich ent— 
ſchließen würden, mich ... mit einer andern Frau ... zu 
verheiraten!“ 

„Sie find kein Mädchen, Stepan Trofimowitſch; nur 
Maͤdchen werden verheiratet; aber Sie heiraten ſelbſt,“ 
erwiderte Warwara Petrowna biſſig. 

„Qui, j'ai pris un mot pour un autre. Mais... c'est 
egal,“ verſetzte er, indem er fie faſſungslos anftarrte. 

„Ich ſehe, daß c'est Egal,“ antwortete ſie veraͤchtlich. 
„O Gott, da wird er gar ohnmaͤchtig! Naſtaſja, Na- 
ſtaſja! Waſſer!“ 

Aber die Anwendung des Waſſers war nicht mehr 
noͤtig. Er kam von ſelbſt zu ſich. Warwara Petrowna 
griff nach ihrem Regenſchirm. 

„Ich ſehe, daß mit Ihnen jetzt nicht zu reden И...“ 

„Qui, oui, je suis incapable.“ 

„Aber bis morgen werden Sie ſich erholen und ſich die 
Sache uͤberlegen. Bleiben Sie zu Hauſe; wenn etwas 
vorfallen ſollte, ſo benachrichtigen Sie mich, ſelbſt wenn 
es in der Nacht iſt. Schreiben Sie mir aber keine Briefe; 
ich werde ſie nicht leſen. Morgen um dieſe Zeit werde ich 
ſelbſt allein herkommen, um mir die endguͤltige Antwort 
zu holen, und ich hoffe, daß ſie eine befriedigende ſein 
wird. Sorgen Sie dafuͤr, daß niemand hier iſt, und daß 


122 Die Teufel 


es nicht ſchmutzig und unordentlich iſt; denn jetzt ficht es 
ja unerhört aus. Naſtaſja, Naſtaſja!“ 

Natürlich erklaͤrte er ſich am andern Tage einverftan- 
den; er konnte auch gar nicht anders. Es lag da ein be- 
ſonderer Umſtand vor ... 


VIII | 

Das Gut, das wir bisher Stepan Trofimowitſchs Gut 
genannt haben (es enthielt nach alter Rechnung fuͤnfzig 
Seelen und lag dicht bei Skworeſchniki), war uͤberhaupt 
nicht das ſeinige, ſondern hatte ſeiner erſten Frau gehoͤrt 
und war ſomit jetzt das Eigentum ihres und ſeines Soh— 
nes Peter Stepanowitſch Werchowenſki. Stepan Trofi⸗ 
mowitſch war nur deſſen Vormund geweſen und hatte 
dann, als der junge Vogel fluͤgge geworden war, das Gut 
auf Grund einer von dieſem ausgeſtellten formellen Voll- 
macht verwaltet. Die Abmachung war fuͤr den jungen 
Mann vorteilhaft: er erhielt von ſeinem Vater jaͤhrlich 
feſt tauſend Rubel als Einnahme von dem Gute, waͤhrend 
dieſes nach der Reform nur fuͤnfhundert und vielleicht 
noch weniger einbrachte. Gott weiß, wie eine ſolche Ab— 
machung hatte getroffen werden koͤnnen. Übrigens ſchickte 
dieſe ganzen tauſend Rubel Warwara Petrowna hin, 
während Stepan Trofimowitſch nicht einen einzigen Ru 
bel dazu beitrug. Vielmehr behielt er die ganze Einnahme 

vom Gute in ſeiner Taſche und ruinierte dasſelbe außer— 
dem dadurch in Grund und Boden, daß er es an einen 
Geſchaͤftsmann verpachtet und ohne Warwara Petrow— 
nas Wiſſen ein Waͤldchen, in welchem der Hauptwert des— 
ſelben ſteckte, zum Abholzen verkauft hatte. Dieſes Wäld- 
chen hatte er ſchon laͤngſt dann und wann in einzelnen 


Erſter Teil | 123 


Portionen verkauft. Es war zuſammen mindeſtens acht— 
tauſend Rubel wert geweſen, und er hatte nur fuͤnftauſend 
dafuͤr bekommen. Aber ſeine Spielverluſte im Klub waren 
manchmal gar zu groß, und er ſcheute ſich dann, Warwara 
Petrowna um Geld zu bitten. Sie knirſchte mit den Zaͤh— 
nen, als ſie endlich alles erfuhr. Und nun teilte der Sohn 
auf einmal mit, er werde ſelbſt kommen, um ſein Gut 
um jeden Preis zu verkaufen, und beauftragte den Vater, 
unverzuͤglich ſich um den Verkauf zu bemuͤhen. Es war 
verſtaͤndlich, daß Stepan Trofimowitſch bei jeiner edel— 
muͤtigen, ſelbſtloſen Geſinnung ſich vor ce cher fils ſchaͤmte, 
den er uͤbrigens zum letzten Male vor ganzen neun Jahren 
in Petersburg als Studenten geſehen hatte. Urſpruͤng— 
lich hatte das ganze Gut dreizehn- oder vierzehntauſend 
Rubel wert ſein koͤnnen; jetzt haͤtte jemand kaum auch 
nur fuͤnftauſend dafuͤr gegeben. Ohne Zweifel war Stepan 
Trofimowitſch nach dem Wortlaute der formellen Voll— 
macht vollſtaͤndig berechtigt geweſen, den Wald zu ver— 
kaufen, und wenn er in Rechnung ſtellte, daß dem Sohne 
ſo viele Jahre lang jaͤhrlich puͤnktlich tauſend Rubel ge— 
ſchickt waren, die doch aus dem Gute nicht hatten verein— 
nahmt werden koͤnnen, fo konnte er ſich damit bei der Ab— 
rechnung hinreichend verteidigen. Aber Stepan Trofimo— 
witſch war ein Menſch von edler Geſinnung mit einem 
Streben nach Hoͤherem. In ſeinem Kopfe blitzte ein Ge— 
danke von wunderbarer Schoͤnheit auf: wenn der liebe 
Peter kommen werde, auf einmal den Maximalwert des 
Gutes, das heißt fuͤnfzehntauſend Rubel, ohne den ge— 
ringſten Hinweis auf die bisher uͤberſandten Summen 
edelmuͤtig auf den Tiſch zu legen, ce cher fils unter Traͤnen 
feſt an die Bruſt zu druͤcken und damit die ganze Abrech⸗ 


124 Die Teufel 


nung beendet fein zu laſſen. Ganz von weitem und mit 
großer Vorſicht hatte er begonnen, dieſes Bild vor War— 
тата Petrownas geiſtigem Blick zu entrollen. Er hatte 
angedeutet, daß eine ſolche Handlungsweiſe dem freund— 
ſchaftlichen Verhaͤltniſſe zwiſchen ihm und ſeinem Sohne, 
der „Idee“ dieſes Verhaͤltniſſes, ſogar eine beſondere, 
edle Faͤrbung verleihen werde. Dadurch wuͤrden die der 
aͤlteren Generation angehoͤrigen Vaͤter und uͤberhaupt die 
Menſchen der aͤlteren Generation gegenuͤber der moder— 
nen, leichtſinnigen, ſozialiſtiſch geſinnten Jugend uneigen- 
nuͤtzig und hochherzig erſcheinen. Er hatte noch vieles der 
Art geredet; aber Warwara Petrowna hatte immer dazu 
geſchwiegen. Schließlich hatte ſie ihm trocken erklaͤrt, ſie 
ſei bereit, das Gut zu kaufen, und wolle dafuͤr den Maxi⸗ 
malwert, das heißt ſechs- bis ſiebentauſend Rubel, geben 
(es war auch fuͤr viertauſend zu haben). Von den uͤbrigen 
achttauſend, die das Gut mit dem Walde verloren hatte, 
ſagte ſie keine Silbe. 

Dies war einen Monat vor der Brautwerbung ge— 
ſchehen. Stepan Trofimowitſch war beſtuͤrzt geweſen und 
ſehr nachdenklich geworden. Fruͤher war wenigſtens noch 
die Hoffnung moͤglich geweſen, daß der liebe Sohn viel- 
leicht uͤberhaupt nicht kommen werde; das heißt Hoff— 
nung vom Standpunkte eines Fremden aus, im Sinne 
eines Unbeteiligten. Stepan Trofimowitſch dagegen, als 
Vater, haͤtte ſchon den bloßen Gedanken an eine ſolche 
Hoffnung mit Entruͤſtung von ſich gewieſen. Wie dem 
nun auch ſein mochte, jedenfalls waren uns bisher uͤber 
Peter recht ſonderbare Geruͤchte zu Ohren gekommen. 
Als er vor ſechs Jahren ſeinen Kurſus auf der Univerſitaͤt 
abſolviert hatte, hatte er ſich zunaͤchſt in Petersburg ohne 


Erſter Teil 125 


Beſchaͤftigung umhergetrieben. Auf einmal erhielten wir 
die Nachricht, er habe ſich an der Abfaſſung einer ge— 
heimen Proklamation beteiligt und ſei in dieſe Sache ver— 
wickelt. Dann erfuhren wir, er ſei plotzlich im Auslande, 
in der Schweiz, in Genf, erſchienen; er war alſo am Ende 
gar ein Fluͤchtling. 

„Das kommt mir ganz wunderbar vor,“ hatte ſich 
Stepan Trofimowitſch, der daruͤber in ſtarke Unruhe ge— 
raten war, damals uns gegenuͤber geaͤußert, „der gute 
Peter, c'est une si pauvre tete! Er iſt brav, edelgefinnt, 
ſehr gefuͤhlvoll, und ich habe mich damals in Petersburg 
gefreut, wenn ich ihn mit der modernen Jugend verglich; 
aber c'est un pauvre sire tout de meme... Und 
wiſſen Sie, das kommt davon her, daß die jungen Leute 
nicht ordentlich ausgebruͤtet, daß ſie zu gefuͤhlvoll ſind! 
Was ſie feſſelt, ИЕ nicht der Realismus, ſondern die emp- 
findſame, ideale Seite des Sozialismus, ſozuſagen ſeine 
religioͤſe Färbung, feine Poeſie ... die allerdings aus 
einer fremden Sprache ſtammt. Und daß das mir, gerade 
mir begegnen mußte! Ich habe ſowieſo jchon hier fo viele 
Feinde und dort in Petersburg noch mehr; da wird man 
alles dem väterlichen Einfluſſe zuſchreiben ... O Gott! 
Mein Peter ein Aufwiegler! In was fuͤr Zeiten leben 
wir!“ 

Peter ſchickte uͤbrigens aus der Schweiz ſehr bald ſeine 
genaue Adreſſe, damit ihm das Geld wie gewoͤhnlich zu— 
geſandt werde: alſo war er doch nicht vollſtaͤndig ein 
Emigrant. Und ſiehe da: nachdem er etwa vier Jahre 
im Auslande gelebt hatte, erſchien er jetzt auf einmal 
wieder in ſeinem Vaterlande und meldete ſeine baldige 
Ankunft; alſo lag doch keine Anklage gegen ihn vor. Ja, 


* 


126 Die Teufel 


noch mehr: es ſchien ſich ſogar jemand für ihn zu inter- 
eſſieren und ihn zu protegieren. Er ſchrieb jetzt aus Suͤd— 
rußland, wo er ſich in jemandes privatem, aber wichtigem 
Auftrage befand und irgendein ſchwieriges Geſchaͤft zu 
erledigen hatte. Das war ja alles ſehr ſchoͤn; aber woher 
ſollte Stepan Trofimowitſch nun die übrigen ſieben-, acht⸗ 
tauſend Rubel nehmen, um in anſtaͤndiger Weiſe den 
Maximalwert des Gutes voll zu machen? Wie aber, wenn 
Peter ein Geſchrei erhob und es nicht zu jenem herrlichen 
Bilde, ſondern zu einem Prozeſſe kam? Eine innere 
Stimme ſagte dem beſorgten Stepan Trofimowitſch, daß 
der gefuͤhlvolle Peter auf nichts, was ihm zuſtehe, verzichten 
werde. „Woher kommt das (ich habe das beobachtet),“ 
fluͤſterte mir in jener Zeit einmal Stepan Trofimowitſch 
zu, „woher kommt das, daß alle dieſe enragierten Sozia— 
liſten und Kommuniſten gleichzeitig ſo unglaublich geizig, 
habgierig und egoiſtiſch ſind, und zwar in der Weiſe, daß, 
je mehr einer Sozialiſt iſt, je weiter er dabei geht, er auch 
um ſo egoiſtiſcher iſt; woher kommt das? Ruͤhrt das 
wirklich auch von der Empfindſamkeit her?“ Ich weiß 
nicht, ob an dieſer Bemerkung Stepan Trofimowitſchs 
etwas Wahres iſt; ich weiß nur, daß Peter uͤber den Ver— 
kauf des Waldes und anderes Nachrichten erhalten hatte, 
und daß Stepan Trofimowitſch wußte, daß ſein Sohn 
daruͤber orientiert ſei. Ich bekam auch gelegentlich Briefe 
Peters an ſeinen Vater zu leſen: er ſchrieb nur aͤußerſt 
ſelten, einmal im Jahre und noch ſeltener. Nur in der 
letzten Zeit, wo er ſeine nahe bevorſtehende Ankunft mel— 
dete, ſchickte er zwei Briefe faſt unmittelbar nacheinander. 
Alle ſeine Briefe waren kurz und trocken und beſtanden 
nur aus Anordnungen, und da Vater und Sohn ſich noch 


Erſter Teil 127 


von Petersburg her nach moderner Sitte duzten, ſo hatten 
Peters Briefe eine entſchiedene Ahnlichkeit mit den Ver— 
fuͤgungen, die in aͤlterer Zeit die Gutsbeſitzer aus den 
Reſidenzen denjenigen ihrer Untergebenen zugehen ließen, 
welche ſie mit der Verwaltung ihrer Guͤter betraut hatten. 
Und da kamen nun auf einmal dieſe achttauſend Rubel, 
um die ſich die Sache drehte, nach Warwara Petrownas 
Vorſchlage herbeigeflogen, wobei ſie deutlich zu verſtehen 
gab, daß ſie von anderswoher ſchlechterdings nicht wuͤr— 
den herbeigeflogen kommen. Natuͤrlich erklaͤrte ſich Stepan 
Trofimowitſch einverſtanden. 

Sowie Warwara Petrowna ihn verlaſſen hatte, ließ er 
mich rufen; vor jedem andern Beſuch aber ſchloß er ſich 
den ganzen Tag uͤber ein. Natuͤrlich weinte er ein biß— 
chen; er redete viel und gut, befand ſich in ſtarker Ver— 
wirrung und machte gelegentlich Wortſpiele, mit denen 
er ſehr zufrieden war; dann kam eine leichte Cholerine, 
kurz, alles nahm feinen ordnungsmaͤßigen Gang. Dar: 
auf zog er ein Bild ſeiner ſchon vor zwanzig Jahren ver— 
ſtorbenen Frau, der Deutſchen, hervor und wimmerte klaͤg⸗ 
lich: „Wirſt du es mir verzeihen?“ Überhaupt benahm er 
fi), wie wenn er den Verſtand verloren hätte. Vor Kum- 
mer tranken wir auch ein bißchen. Übrigens ſchlief er bald 
und ruhig ein. Am Morgen band er ſich ſein Halstuch 
aͤußerſt kunſtvoll, zog ſich elegant an und trat oft vor den 
Spiegel, um ſich zu beſehen. Er beſpritzte ſein Taſchentuch 
mit Parfuͤm, indeſſen nur ganz wenig, und kaum ſah er 
durchs Fenſter, daß Warwara Petrowna kam, als er auch 
ſchleunigſt ein anderes Taſchentuch nahm und das par— 
fuͤmierte unter das Kiſſen ſchob. 

„Nun, das iſt ja ſchoͤn!“ lobte ihn Warwara Petrowna, 


128 Die Teufel 


als fie hörte, daß er einwilligte. „Erſtens haben Sie eine 
edle Entſchloſſenheit bewieſen, und zweitens haben Sie 
auf die Stimme der Vernunft gehoͤrt, auf die Sie in 
Ihren Privatangelegenheiten nur ſo ſelten hoͤren. Be— 
ſondere Eile iſt uͤbrigens nicht erforderlich,“ fuͤgte ſie hin— 
zu, als ihr der Knoten ſeines weißen Halstuches ins 
Auge fiel; „ſchweigen Sie vorlaͤufig davon, und ich werde 
ebenfalls ſchweigen. Naͤchſtens iſt Ihr Geburtstag, da 
werde ich mit ihr zuſammen bei Ihnen ſein. Geben Sie 
eine Abendgeſellſchaft, Tee, aber bitte ohne Spirituoſen 
und ohne kalten Imbiß; uͤbrigens werde ich alles ſelbſt 
arrangieren. Laden Sie Ihre Freunde dazu ein; wir wol— 
len zuſammen die Auswahl treffen. Tags zuvor koͤnnen 
Sie mit ihr reden, wenn es noͤtig ſein ſollte; aber auf 
Ihrer Abendgeſellſchaft wollen wir nichts proklamieren 
und keine Verlobung feiern, ſondern es nur ſo andeuten 
und zu verſtehen geben, ohne alle Feierlichkeit. Und dann 
zwei Wochen darauf ſoll die Hochzeit ſtattfinden, moͤg— 
lichſt ohne Aufſehen. Sie koͤnnten ſogar beide gleich nach 
der Trauung auf einige Zeit verreiſen, zum Beiſpiel nach 
Moskau. Vielleicht werde ich mit Ihnen mitfahren. Aber 
die Hauptſache iſt: ſchweigen Sie bis dahin!“ 

Stepan Trofimowitſch war erſtaunt. Er wollte ſtot⸗ 
ternd einwenden, das ginge doch nicht, er muͤſſe doch mit 
der Braut reden; aber Warwara Petrowna fuhr ihn in 
gereiztem Tone an: 

„Wozu das? Erſtens wird vielleicht uͤberhaupt nichts 
daraus werden ...“ 

„Wie meinen Sie das: es wird nichts daraus werden?“ 
murmelte der Braͤutigam, der wie betaͤubt war. 

„Nun ja. Ich werde ей noch einmal ſehen ... Üb— 


BR 


Erſter Teil 129 


rigens wird alles ſo geſchehen, wie ich geſagt habe, und 
Sie brauchen ſich gar keine Sorge zu machen; ich werde 
das Maͤdchen ſelbſt vorbereiten. Sie haben gar nichts da— 
mit zu tun. Alles, was noͤtig iſt, wird geſagt und getan 
werden; aber Sie ſind dabei ganz unbeteiligt. Wozu 
wollen -Sie dabei mitwirken? Was wollen Sie dabei für 
eine Rolle ſpielen? Kommen Sie ſelbſt nicht hin, und 
ſchreiben Sie auch keine Briefe! Und laſſen Sie nichts 
verlauten, bitte ich Sie. Ich werde ebenfalls ſchweigen.“ 
Sie wollte abſolut keine weiteren Erklaͤrungen geben 
und ging, offenbar ſehr verſtimmt, weg. Es ſchien, daß 
Stepan Trofimowitſchs uͤbermaͤßige Bereitwilligkeit ſie 
befremdet hatte. Leider hatte er ſchlechterdings kein Ver— 
ſtaͤndnis fuͤr ſeine Lage und betrachtete die Frage nur 
von einem ganz einſeitigen Geſichtspunkte aus. Er ſchlug 
ſogar jetzt einen neuen, ſiegesgewiſſen, leichtfertigen Ton 
an. Er war ſehr mutig geworden. | 
„Das gefällt mir!“ rief er, indem er vor mir ſtehen 
blieb und mit den Armen in der Luft umherfuhr. „Haben 
Sie es gehoͤrt? Sie wird es noch dahinbringen, daß ich, 
ich ſchließlich nicht will. Ich kann ja doch auch die Geduld 
verlieren und nicht wollen! ‚Bleiben Sie zu Haufe!‘ ſagt 
fie; ‚Sie brauchen da nicht hinzugehen'; aber ſchließlich, 
warum muß ich denn unbedingt heiraten? Nur weil ſie 
einen laͤcherlichen Einfall gehabt hat? Aber ich bin ein 
ernſthafter Menſch und habe vielleicht keine Luſt, mich den 


muͤßigen Launen eines unvernuͤnftigen Weibes unterzu— 


ordnen! Ich habe Pflichten gegen meinen Sohn und... 
und gegen mich ſelbſt! Ich bringe ein Opfer; hat ſie dafuͤr 
auch Verſtaͤndnis? Vielleicht habe ich nur deswegen ein— 
gewilligt, weil mir das Leben langweilig geworden und 
LXIII. 9 


130 Die Teufel 


mir alles gleich iſt. Aber ſie kann mich reizen, und dann 
wird mir nicht mehr alles gleich ſein; ich werde mich Бе 
leidigt fühlen und mich weigern. Et enfin le ridicule . 
Was wird man im Klub dazu ſagen? Was wird Liputin 
dazu ſagen? ‚Vielleicht wird nichts daraus werden!! Un- 
erhoͤrt! Das ЦЕ der Gipfel! Das Ш... ja, was iſt das 
eigentlich? Je suis un forgat, un Badinguet, ein an die 
Wand gedruͤckter Menſch! ...“ 

Und zugleich blickte durch all dieſe klaͤglichen Jammer⸗ 
reden eine Art von launiſcher Selbſtgefaͤlligkeit, eine Art 
von leichtfertiger Koketterie hindurch. Am Abend tranken 
wir wieder etwas. 


Drittes Kapitel 


Fremde Suͤnden 


I 
Es verging ungefähr eine Woche, und der Schwebezu⸗ 
ſtand der Sache wurde peinlich. 

Ich bemerke in Parentheſe, daß ich in dieſer ungluͤck⸗ 
lichen Woche viel auszuſtehen hatte, da ich in meiner 
Eigenſchaft als naͤchſter Vertrauter faſt ununterbrochen 
bei meinem armen verlobten Freunde blieb. Was ihn 
quaͤlte, war beſonders das Gefuͤhl der Scham, obwohl 
wir in dieſer Woche keinen Menſchen zu ſehen bekamen 
und immer allein ſaßen; aber er ſchaͤmte ſich ſogar vor 
mir, und das ging ſo weit, daß er, je mehr er ſich vor mir 
decouvrierte, um ſo mehr deswegen auf mich aͤrgerlich 
wurde. Bei ſeiner Neigung zum Argwohn bildete er ſich 
ein, daß ſchon alles allen, der ganzen Stadt bekannt ſei, | 


Erſter Teil 131 


und fuͤrchtete ſich davor, im Klub, ja ſelbſt in feinem Ver⸗ 
ein zu erſcheinen. Auch Spaziergaͤnge zum Zwecke der 
notwendigen Bewegung unternahm er nur, wenn es ſchon 
vollftändig dunkel geworden war. 

Eine Woche war vergangen, und er wußte immer noch 
nicht, ob er Braͤutigam war oder nicht, und vermochte das 
auf keine Weiſe trotz all ſeiner Bemuͤhungen mit Sicher— 
heit zu erfahren. Mit der Braut war er noch nicht зи 
ſammengekommen; er wußte nicht einmal, ob fie feine 
Braut ſei; er wußte nicht einmal, ob an der ganzen Sache 
uͤberhaupt etwas Ernſthaftes war. Aus unbekanntem 
Grunde lehnte Warwara Petrowna es entſchieden ab, ihn 
zu empfangen. Auf einen ſeiner erſten Briefe (er hatte deren 
eine ganze Menge an ſie geſchrieben) antwortete ſie ihm 
geradezu mit der Bitte, fie für einige Zeit von jedem Ver⸗ 
kehr mit ihm zu dispenſieren, weil fie ſehr beſchaͤftigt ſei; 
ſie habe ihm auch ihrerſeits viele, ſehr wichtige Mittei— 
lungen zu machen, warte aber damit abſichtlich auf eine 
minder beſetzte Zeit, als es die jetzige ſei, und werde es 
ihn ſelbſt ſeinerzeit wiſſen laſſen, wann er wieder zu ihr 
kommen koͤnne. Weitere Briefe aber werde ſie ihm uner— 
öffnet zuruͤckſchicken; denn das ſei doch nur Torheit. Diefe 
Zuſchrift habe ich mit eigenen Augen geleſen; er hat ſie 
mir ſelbſt gezeigt. 

Aber der Verdruß daruͤber, daß Warwara Petrowna 
ihn ſo grob behandelte und in Ungewißheit ließ, war 
nichts im Vergleiche mit ſeiner Hauptſorge. Dieſe Sorge 
quälte ihn außerordentlich und ohne Aufhoͤren; fie bewirkte, 
daß er abmagerte und kleinmuͤtig wurde. Es handelte ſich 
dabei um etwas, woruͤber er ſich am allermeiſten ſchaͤmte, 
und worüber er nicht einmal mit mir reden wollte; viel- 


132 Die Teufel 


mehr log er, wenn das Geſpraͤch darauf kam, und machte 
vor mir Ausfluͤchte wie ein kleiner Knabe; trotzdem aber 
ließ er mich ſelbſt alle Tage zu ſich rufen; er konnte es 
nicht zwei Stunden ohne mich aushalten; er hatte mich 
noͤtig, wie man Waſſer oder Luft noͤtig hat. 

Ein ſolches Benehmen beleidigte mein Ehrgefuͤhl eini— 
germaßen. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ich dieſes ſein 
Hauptgeheimnis ſchon laͤngſt im ſtillen erraten hatte und 
voͤllig durchſchaute. Nach meiner tiefſten damaligen 
Überzeugung haͤtte die Enthuͤllung dieſes Geheimniſſes, 
dieſer Hauptſorge Stepan Trofimowitſchs, ihm keine Ehre 
gemacht, und daher war ich, als ein noch junger Menſch, 
uͤber die Niedrigkeit ſeiner Gedanken und die Haͤßlichkeit 
gewiſſer argwoͤhniſcher Vermutungen, die er hegte, etwas 
entruͤſtet. In meiner Hitze (und ich muß bekennen, weil 
es mir langweilig wurde, fein Vertrauter zu ſein) be⸗ 
ſchuldigte ich ihn vielleicht zu hart. In meiner Grauſam⸗ 
keit zwang ich ihn, mir alles zu bekennen, obwohl ich mir 
ſagte, daß manches davon zu bekennen allerdings recht 
peinlich ſei. Er durchſchaute mich ſeinerſeits voͤllig, das 
heißt, er ſah klar, daß ich ihn durchſchaute und auf ihn 
aͤrgerlich war, und er war ſelbſt auf mich aͤrgerlich, weil 
ich auf ihn aͤrgerlich war und ihn durchſchaute. Vielleicht 


war meine Gereiztheit kleinlich und dumm; aber es ſchadet 


manchmal der wahren Freundſchaft ſehr, wenn zwei 
Freunde zu lange miteinander allein zuſammen ſind. Von 
einem gewiſſen Geſichtspunkte aus faßte er einige Seiten 
ſeiner Lage richtig auf und definierte ſogar ſeine Lage ſehr 
genau in denjenigen Punkten, bei denen er nicht fuͤr noͤtig 
fand, ſich zu verſtecken. 

„Oh, was war ſie damals fuͤr eine Frau!“ ſagte er 


Erſter Teil 133 


manchmal zu mir mit Bezug auf Warwara Petrowna. 
„Was war ſie fruͤher fuͤr eine Frau, wenn ich mich mit ihr 
unterhielt! Wiſſen Sie wohl, daß ſie damals noch zu 
reden verſtand? Koͤnnen Sie es glauben, daß ſie damals 
noch Gedanken hatte, eigene Gedanken? Jetzt hat ſich 
alles veraͤndert! Sie ſagt, das ſei alles nur altmodiſches 
Gerede! Sie verachtet das Frühere... Jetzt hat fie fo 
etwas Subalternes, Plebejiſches, Erbittertes; immer iſt 
fie aufgebracht ...“ 

„Warum iſt ſie denn jetzt aufgebracht, obwohl Sie doch 
ihr Verlangen erfuͤllt haben?“ erwiderte ich ihm. 

Er ſah mich mit einem feinen Laͤcheln an. 

„Cher ami, wenn ich nicht eingewilligt haͤtte, waͤre ſie 
furchtbar zornig geworden, ganz furcht-bar! Aber doch 
weniger als jetzt, wo ich eingewilligt habe.“ 

Dieſer ſein pointierter Ausſpruch gefiel ihm ſehr gut, 
und wir tranken an dieſem Abend ein Flaͤſchchen. Aber 
das dauerte nur einen Augenblick; am andern Tage war 
er verdrießlicher und muͤrriſcher als je zuvor. 

Aber am meiſten aͤrgerte ich mich uͤber ihn deswegen, 
weil er ſich gar nicht entſchließen konnte, zu den nunmehr 
eingetroffenen Droſdows zu gehen und ihnen zur Erneue— 
rung der Bekanntſchaft den notwendigen Beſuch zu 
machen, was ſie dem Vernehmen nach ſelbſt wuͤnſchten, 
da ſie, wie es hieß, nach ihm gefragt hatten; und auch er 
ſehnte ſich alle Tage zu ihnen hin. Von Liſaweta Nikola⸗ 
jewna redete er mit einem mir unbegreiflichen Entzuͤcken. 
Ohne Zweifel hatte er ſie in der Erinnerung, wie ſie einſt 
als Kind geweſen war, wo er ſie außerordentlich gern 
gehabt hatte; aber außerdem hatte er eigentuͤmlicherweiſe 
die Vorſtellung, daß er beim Zuſammenſein mit ihr fo» 


134 Die Teufel 


gleich eine Erleichterung all feiner jetzigen Qualen ver- 
ſpuͤren und ſogar über feine wichtigſten Zweifel ins 
klare kommen werde. Er erwartete in Liſaweta Niko— 
lajewna ein ganz ungewoͤhnliches Weſen vorzufinden. 
Und doch ging er nicht zu ihr hin, wiewohl er es 
ſich taͤglich vornahm. Die Hauptſache war, daß ich 
damals ſelbſt den lebhaften Wunſch hatte, ihr vorgeſtellt 
zu werden, wobei ich einzig und allein auf Stepan Tro- 
fimowitſch angewieſen war. Großen Eindruck machten 
auf mich damals meine haͤufigen Begegnungen mit ihr, 
natuͤrlich nur auf der Straße, wenn ſie auf einem ſchoͤnen 
Pferde in Begleitung ihres ſogenannten Verwandten, des 
huͤbſchen Offiziers, des Neffen des verſtorbenen Generals 
Droſdow, ſpazieren ritt. Meine Verblendung dauerte nur 
ganz kurze Zeit, und ich erkannte dann ſehr bald ſelbſt 
die ganze Ausſichtsloſigkeit meiner Schwaͤrmerei; aber 
wenn ſie auch nur kurze Zeit dauerte, jo war fie doch tat- 
ſaͤchlich vorhanden, und daher kann man ſich denken, wie 
empoͤrt ich damals manchmal uͤber meinen armen Freund 
wegen ſeines eigenſinnigen Einſiedlerlebens war. 

Alle Mitglieder unſeres Vereins waren gleich zu Anz 
fang offiziell benachrichtigt worden, daß Stepan Trofi- 
mowitſch eine Zeitlang niemanden empfangen werde und 
bitte, ihn vollſtaͤndig in Ruhe zu laſſen. Er hatte auf 
einer Mitteilung an jeden einzelnen beſtanden, obwohl 
ich ihm davon abgeraten hatte. Auf ſeine Bitte ging ich 
bei allen herum und ſagte ihnen, Warwara Petrowna 
habe unſerm „Alten“ (ſo nannten wir alle Stepan Tro⸗ 
fimowitſch unter uns) eine beſondere Arbeit aufgetragen, 
naͤmlich eine mehrjährige Korreſpondenz in Ordnung zu 
bringen; er habe ſich eingeſchloſſen, und ich ſei ihm dabei 


| 
| 


Erſter Teil 135 


behilflich uſw. uſw. Nur zu Liputin war ich noch nicht ge⸗ 
gangen und ſchob dies immer auf; richtiger geſagt, ich 
fuͤrchtete mich davor, zu ihm hinzugehen. Ich wußte vor⸗ 
her, daß er mir kein Wort glauben, ſondern unfehlbar 
denken werde, es ſtecke da ein Geheimnis dahinter, das man 
gerade vor ihm allein verbergen wolle, und daß er, ſowie 
ich von ihm weggegangen ſein wuͤrde, ſogleich durch die 
ganze Stadt laufen werde, um ſich zu erkundigen und es 
weiterzuklatſchen. Waͤhrend ich all das bei mir bedachte, 
traf es ſich, daß ich mit ihm zufaͤllig auf der Straße zu⸗ 
ſammenſtieß. Es erwies ſich, daß er von unſeren Leuten, 
die durch mich ſoeben benachrichtigt waren, bereits alles 
erfahren hatte. Aber merkwuͤrdig: er zeigte gar keine Neu⸗ 
gier und erkundigte ſich nicht weiter nach Stepan Trofi⸗ 
mowitſch, ſondern unterbrach mich ſogar im Gegenteil, 
als ich mich entſchuldigen wollte, daß ich nicht fruͤher zu 
ihm gekommen waͤre, und ſprang ſogleich auf ein anderes 
Thema uͤber. Allerdings hatte ſich bei ihm auch viel Ge⸗ 
ſpraͤchsſtoff angeſammelt; er befand ſich in ſehr angeregter 
Stimmung und freute ſich daruͤber, daß er an mir einen 
Zuhoͤrer gefunden hatte. Er begann uͤber die Stadtneuig⸗ 
keiten zu reden, uͤber die Ankunft der Frau Gouverneur, 
welche „neue Geſpraͤchsthemata“ mitgebracht habe, uͤber 
die Oppoſition, die ſich bereits im Klub bilde, uͤber das 
Geſchrei, das alle von den neuen Ideen machten, und wie 
dies den einzelnen ſtehe uſw. uſw. Er ſprach in dieſer Art 


etwa eine Viertelſtunde, und jo amuͤſant, daß ich mich 


nicht losreißen konnte. Obgleich ich ihn nicht leiden 
konnte, ſo muß ich doch bekennen, daß er die Gabe beſaß, 
einen Zuhoͤrer zu feſſeln, beſonders wenn er uͤber etwas 
ſehr aufgebracht war. Dieſer Menſch war meiner Anſicht 


136 Die Teufel 


nach der richtige, geborene Spion. Er wußte in jedem 
Augenblicke die ſaͤmtlichen letzten Neuigkeiten und alle 
Geheimniſſe unſerer Stadt, namentlich die von ſkanda— 
loͤſem Genre, und man mußte ſich daruͤber wundern, wie 
ſehr er ſich fuͤr Dinge intereſſierte, die ihn manchmal gar 
nichts angingen. Ich hatte von ihm immer den Eindruck, 
daß der Hauptzug ſeines Charakters der Neid ſei. Als 
ich am Abend desſelben Tages Stepan Trofimowitſch er— 
zaͤhlte, daß ich am Morgen Liputin getroffen haͤtte, und 
was wir miteinander geſprochen haͤtten, da geriet dieſer 
zu meinem Erſtaunen in große Aufregung und fragte mich 
ganz wild: „Weiß Liputin es oder nicht?“ Ich ſetzte ihm 
auseinander, daß es für jenen ein Ding der Unmöglichkeit 
ſei, die Sache ſo ſchnell in Erfahrung zu bringen; von 
wem ſolle er auch etwas gehoͤrt haben; aber Stepan Tro— 
fimowitſch verblieb bei ſeiner Anſicht: 

„Mögen Sie es nun glauben oder nicht,“ ſchloß er ии 
erwartet, „aber ich bin uͤberzeugt, daß ihm nicht nur alles 
mit allen Einzelheiten über unſere“ (jo!) „Lage bereits bes 
kannt iſt, ſondern daß er auch außerdem noch etwas weiß, 
was weder ich noch Sie bisher wiſſen, und was wir viel— 
leicht niemals erfahren werden oder erſt erfahren werden, 
wenn es ſchon zu ſpaͤt iſt und keine Umkehr mehr moͤglich 
. | 

Ich ſchwieg; aber dieſe Worte enthielten doch viele Ans 
deutungen. Nach dieſem Geſpraͤche taten wir ganze fuͤnf 
Tage lang Liputins mit keinem Worte Erwähnung; es 
war mir klar, daß Stepan Trofimowitſch es ſehr be— 
dauerte, mir gegenuͤber einen ſolchen Verdacht geaͤußert 
und ſich verplappert zu haben. 


Erſter Teil 137 


II 
Eines Morgens, naͤmlich am ſiebenten oder achten Tage, 
nachdem Stepan Trofimowitſch eingewilligt hatte, Braͤu— 
tigam zu werden, gegen elf Uhr, als ich wie gewoͤhnlich zu 
meinem betruͤbten Freunde eilte, hatte ich unterwegs ein 
Erlebnis. 

Ich begegnete Karmaſinow“, dem „großen Schrift— 
ſteller“, wie Liputin ihn nannte. Karmaſinows Schriften 
hatte ich ſeit meiner Kindheit geleſen. Seine Novellen 
und Erzaͤhlungen ſind der ganzen vorigen Generation und 
ſogar noch der unſrigen bekannt; ich hatte mich an ihnen 
berauſcht; ihre Lektuͤre war mir in meinem Knaben- und 
Juͤnglingsalter ein Genuß geweſen. Spaͤter war ich den 
Produkten ſeiner Feder gegenuͤber etwas kuͤhler gewor— 
den; die Tendenznovellen, die er in der letzten Zeit ge— 
ſchrieben hatte, gefielen mir nicht mehr ſo gut wie ſeine 
erften, urſpruͤnglichen Schoͤpfungen, die ſoviel unmittel⸗ 
bare Poeſie enthielten, und ſeine letzten Schriften ge— 
fielen mir gar nicht. 

Wenn ich es wagen darf, uͤber einen ſo heiklen Gegen— 
fand auch шеше Meinung zum Ausdruck zu bringen, fo 
moͤchte ich allgemein Folgendes ſagen. All dieſe unſere 
Herren Landsleute, die mit einem Talente mittlerer Sorte 
begabt ſind, aber zu ihren Lebzeiten gewoͤhnlich beinah 
fuͤr Genies gehalten werden, verſchwinden nicht nur mit 
ihrem Tode ploͤtzlich und faſt ſpurlos aus dem Gedaͤchtnis 
der Menſchen, ſondern es kommt auch vor, daß ſie ſchon 
bei ihren Lebzeiten unglaublich ſchnell von allen gering— 
geſchaͤtzt und vergeſſen werden, naͤmlich ſobald eine neue 


1 Mit dieſer Figur iſt Turgenjew gemeint. 
Anmerkung des uberſeteers. 


138 Die Teufel 


Generation heranwaͤchſt und an die Stelle derjenigen 
tritt, zu deren Zeit ſie gewirkt haben. Das vollzieht ſich bei 
uns ſo ploͤtzlich wie ein Dekorationswechſel im Theater. 
Oh, da geht es ganz anders zu als bei Männern wie Ди 
kin, Gogol, Moliere, Voltaire und all dieſen Großen, die 
vor die Welt hintraten, um Neues zu verkuͤndigen! Auch 
das iſt wahr, daß bei uns dieſe mit nur mittelmaͤßigem 
Talente begabten Herren ſich gegen das Ende ihres an 
Ehren reichen Lebens gewoͤhnlich in der klaͤglichſten Weiſe 
ausſchreiben, ohne es auch nur zu bemerken. Nicht ſelten 
dokumentiert ein Schriftſteller, dem man lange Zeit eine 
außerordentliche Tiefe der Ideen zugeſchrieben und von 
dem man eine bedeutende, ernſte Einwirkung auf die gei- 
ſtige Bewegung der Mitwelt erwartet hat, gegen das 
Ende feines Lebens eine ſolche Duͤrftigkeit und Kuͤmmer⸗ 
lichkeit ſeines Fundamentalideechens, daß es niemand 
auch nur bedauert, daß er es fertiggebracht hat, ſich ſo 
ſchnell auszuſchreiben. Aber die grauhaarigen alten Her- 
ren bemerken das nicht und werden aͤrgerlich. Ihre Eitel⸗ 
keit nimmt, namentlich gegen das Ende ihrer Laufbahn, 
mitunter erſtaunliche Dimenſionen an. Gott weiß, wofuͤr 
ſie ſich dann zu halten anfangen, aber mindeſtens fuͤr Goͤt⸗ 
ter. Von Karmaſinow erzaͤhlte man, daß ihm ſeine Be— 
ziehungen zu einflußreichen Leuten und zu den hoͤchſten 
Geſellſchaftskreiſen faſt wertvoller ſeien als ſein eigenes 
Leben. Man erzaͤhlte von ihm, er empfange diejenigen, die 
zu ihm kaͤmen, freundlich, benehme ſich gegen ſie liebens— 
wuͤrdig, entzuͤcke und bezaubere ſie durch ſeine Guther— 
zigkeit, namentlich wenn er ihrer irgendwie beduͤrfe, 
und ſelbſtverſtaͤndlich wenn ſie ihm vorher gut empfohlen 
ſeien. Aber ſowie ein Fuͤrſt hereintrete oder eine Graͤfin 


Erſter Teil 139 


oder jemand, den er fuͤrchte, halte er es fuͤr ſeine heiligſte 

Pflicht, jene andern Beſucher mit der beleidigendſten 
Geringſchaͤtzung wie Holzſpaͤnchen oder Fliegen unbe— 
achtet zu laſſen, und zwar ſofort, ehe ſie noch aus der Tuͤr 
ſeienz das halte er in allem Ernſte für den feinſten und 
beſten Ton. Trotz ſeiner genauen Kenntnis und vollſtaͤn⸗ 
digen Beherrſchung der guten Umgangsformen ſei er ſo 
eitel und empfindlich, daß er ſeine Reizbarkeit als Autor 
nicht einmal in denjenigen Geſellſchaftskreiſen verbergen 
koͤnne, in denen man ſich für die Literatur wenig interef> 
ſiere. Wenn ihn aber zufällig jemand durch feine Gleich⸗ 
guͤltigkeit befremde, ſo fuͤhle er ſich tief gekraͤnkt und ſuche 
ſich zu raͤchen. 

Vor einem Jahre habe ich in einer Zeitſchrift einen 
Artikel von ihm geleſen, der gewaltige Anſpruͤche darauf 
erhob, naive Poeſie und feine pſychologiſche Beobach— 
tungen zu enthalten. Er ſchilderte den Untergang eines 
Dampfers an der engliſchen Kuͤſte, bei dem er ſelbſt Zeuge 

geweſen war und geſehen hatte, wie Untergehende gerettet 
und Ertrunkene herausgezogen wurden. Dieſer ganze 
ziemlich lange und redſelige Artikel war einzig und allein 
in der Abſicht geſchrieben, den Verfaſſer ſelbſt in das 
rechte Licht zu ſtellen. Man konnte es ordentlich zwiſchen 
den Zeilen leſen: „Intereſſiert euch fuͤr meine Per— 
ſoͤnlichkeit; ſeht, wie ich mich in dieſen Augenblicken be⸗ 
nommen habe! Was kuͤmmert euch das Meer, der Sturm, 
die Felſen, die zerbrochenen Planken des Schiffes? Ich 
bin es ja geweſen, der euch das alles in großartigem Stile 
geſchildert hat! Wozu blickt ihr nach dieſer ertrunkenen 
Frau mit dem toten Kinde in den toten Armen? Seht 
lieber mich an, wie ich dieſes Schauſpiel nicht ertragen 


ь 

| 
Er 

1 


140 Die Teufel 


konnte und mich von ihm abwandte! Ich drehte ihm 
den Ruͤcken zu; ich war vor Angſt nicht imſtande zuruͤckzu⸗ 
blicken; ich kniff die Augen zu. .. nicht wahr, das iſt 
intereſſant?“ Als ich Stepan Trofimowitſch meine Mei: 
nung uͤber den Karmaſinowſchen Artikel mitteilte, ſtimmte 
er mir bei. | 

Als es nun vor kurzem bei uns hieß, Karmaſinow werde 
in unſere Stadt kommen, da wurde natuͤrlich bei mir ein 
ſtarkes Verlangen rege, ihn zu ſehen und, wenn moͤglich, 
ſeine Bekanntſchaft zu machen. Ich wußte, daß ſich dies 
durch Stepan Trofimowitſchs Vermittlung erreichen ließ; 
denn die beiden waren fruͤher einmal befreundet geweſen. 
Und da begegnete ich ihm nun ploͤtzlich an einer Straßen- 
kreuzung. Ich erkannte ihn ſofort; er war mir erſt drei 
Tage vorher gezeigt worden, als er in einer Equipage zur 
Frau Gouverneur fuhr. 

Er war ein ſehr kleiner, gezierter alter Herr, uͤbrigens f 
nicht über fünfzig Jahre alt, mit ziemlich friſchem Фей» 
chen, mit dichten, grauen Loͤckchen, die unter ſeinem Zylin⸗ 
derhute hervorquollen und ſich um ſeine ſauberen, roſa— 
farbenen kleinen Ohren kraͤuſelten. Sein ſauberes Ge— 
ſichtchen war nicht beſonders huͤbſch, die Lippen ſchmal, 
lang und ſchlau zuſammengekniffen, die Naſe etwas flei— 
ſchig; die kleinen Augen hatten einen ſcharfen, klugen 
Blick. Er war etwas altmodiſch gekleidet und trug eine 
Art Mantel zum Umwerfen, wie man ihn in dieſer 
Jahreszeit etwa in der Schweiz oder in Oberitalien traͤgt. 
Aber wenigſtens alle kleineren Beſtandteile ſeines Ko— 
ſtuͤms: die Hemdknoͤpfchen, der Chemiſettkragen, die Rock- 
knoͤpfe, die Schildpattlorgnette an einem ſchmalen, 
ſchwarzen Bande, der Ring am Finger, waren ſaͤmtlich 


Erſter Teil 141 


von der Art, wie man ſie bei Leuten von untadelhaft gutem 
Tone findet. Ich bin uͤberzeugt, daß er im Sommer be— 
ſtimmt in Halbſtiefeln von farbigem Wollenſtoff mit Perl- 
mutterknoͤpfen an der Seite geht. Als wir zuſammen⸗ 
trafen, blieb er an der Straßenecke ſtehen und ſah mich 
aufmerkſam an. Da er bemerkte, daß ich ihn neugierig be— 
trachtete, fragte er mich mit einem ſuͤßlichen, wiewohl 
etwas kreiſchenden Stimmchen: 

„Geſtatten Sie die Frage: wie komme ich am naͤchſten 
nach der Bykowa⸗Straße?“ 

„Nach der Bykowa⸗Straße? Die iſt hier gleich,“ rief 
ich in großer Aufregung. „Immer dieſe Straße gerade— 
aus und dann bei der zweiten Ecke nach links.“ 

„Ich danke Ihnen beſtens.“ 

Verflucht ſei dieſer Augenblick! Ich glaube, ich war 
verlegen geworden und machte ein knechtiſches Geſicht! 
Im Nu hatte er alles bemerkt und gewiß ſofort alles durch— 
ſchaut, naͤmlich daß ich bereits wußte, wer er war, und 
daß ich ſeine Schriften ſeit meiner Kindheit geleſen und 
ihn verehrt hatte, und daß ich jetzt verlegen geworden war 
und ein knechtiſches Geſicht machte. Er laͤchelte, nickte mir 
noch einmal mit dem Kopfe zu und ging geradeaus weiter, 
wie ich es ihm angegeben hatte. Ich weiß nicht, warum ich 
umdrehte und ihm nachging; ich weiß nicht, warum ich 
zehn Schritte neben ihm herlief. Auf einmal blieb er wie- 

der ſtehen. | 
„Koͤnnten Sie mir nicht angeben, wo hier in der Nähe 
Droſchken ſtehen?“ kreiſchte er mir wieder zu. 

Ein widerwaͤrtiges Kreiſchen, eine widerwaͤrtige 

Stimme! 


142 Die Teufel 


„Droſchken? Droſchken find hier ganz nah... beim 
Dom ſtehen ſie; da ſtehen immer welche.“ 

Beinah haͤtte ich mich umgedreht und waͤre hingelaufen, 
um ihm eine Droſchke zu holen. Ich vermute, daß er eben 
dies auch von mir erwartet hatte. Natürlich kam ich ſo— 
fort zur Beſinnung und blieb ſtehen; aber er hatte meine 
Bewegung recht wohl bemerkt und mit demſelben wider— 
waͤrtigen Laͤcheln verfolgt. Nun begab ſich etwas, was 
ich nie vergeſſen werde. 

Er ließ auf einmal einen kleinen Sack fallen, den er 
in der linken Hand trug. Übrigens war es eigentlich 
kein Sack, ſondern eine Art Schaͤchtelchen oder richtiger 
ein Portefeuille oder noch beſſer ein Ridikuͤl von der Art, 
wie ihn früher die Damen trugen; uͤbrigens weiß ich nicht 
genau, was es warz ich weiß nur, daß ich darauf zuſtuͤrzte, 
um es aufzuheben. 5 

Ich bin vollkommen uͤberzeugt, daß ich es nicht aufge— 
hoben haͤtte; aber die erſte Bewegung, die ich machte, war 
unbeſtreitbar; ſie ließ ſich nicht mehr verbergen, und ich 
wurde rot wie ein Dummkopf. Der ſchlaue Patron nutzte 
dieſen Umſtand ſofort auf die denkbar beſte Weiſe aus. 

„Bemühen Sie ſich nicht; ich kann ja ſelbſt ...“ ſagte er 
in bezaubernd liebenswuͤrdigem Tone; das heißt, erſt als 
er ſich vollftändig davon uͤberzeugt hatte, daß ich ihm ſeinen 
Ridikuͤl nicht aufheben wuͤrde, erſt da hob er ihn auf, wie 
wenn er mir zuvorkommen wollte, nickte mir noch einmal 
zu und ging ſeines Weges weiter, indem er mich wie 
einen dummen Jungen ſtehen ließ. Es kam ganz auf das⸗ 
ſelbe hinaus, wie wenn ich ihm feinen Ridikuͤl wirklich 
ſelbſt aufgehoben haͤtte. Etwa fuͤnf Minuten lang war ich 
der Anſicht, daß ich voͤllig und fuͤr mein ganzes Leben 


we a У HIN 
— 4} u 


Erſter Teil 143 


entehrt ſeiz aber als ich mich Stepan Trofimowitſchs 
Haufe näherte, lachte ich plotzlich laut auf. Die Begeg- 
nung kam mir ſo laͤcherlich vor, daß ich mir ſofort vor⸗ 
nahm, mit der Erzaͤhlung davon Stepan Trofimowitſch 
zu erheitern und ihm die ganze Szene ſogar mimiſch vor⸗ 
zufuͤhren. 


| III 

Aber diesmal fand ich ihn zu meiner Verwunderung 
ganz veraͤndert vor. Er eilte mir allerdings, ſowie ich 
eintrat, mit einem gewiſſen Eifer entgegen und begann, 
mir zuzuhoͤren; aber er hoͤrte mit ſo zerſtreuter Miene zu, 
daß er anfangs offenbar gar nicht verſtand, was ich ſagte. 
Aber kaum hatte ich den Namen Karmaſinow ausgeſpro— 
ſten, als er auf einmal ganz außer ſich geriet. 

„Reden Sie mir nicht von ihm! Nennen Sie ſeinen 
Namen nicht!“ ſchrie er wie raſend. „Da, da, ſehen Sie, 
ſehen Sie! Leſen Sie!“ 

Er zog ein Schubfach auf, nahm drei kleine Zettel her 
aus und warf fie auf den Tiſch; fie waren eilig mit Blei— 
ſtift geſchrieben, ſaͤmtlich in Warwara Petrownas Hand— 
ſchrift. Das erſte Billett war vom vorgeſtrigen Tage, das 
zweite vom geſtrigen, und das letzte war erſt an dieſem 
Tage gekommen, erſt vor einer Stunde. Der Inhalt war 
ganz unwichtig: alle bezogen ſie ſich auf Karmaſinow und 
bekundeten Warwara Petrownas unruhige, ehrgeizige Auf⸗ 
regung und Beſorgnis, Karmaſinow koͤnne es vergeſſen, 
ihr einen Beſuch zu machen. Hier iſt der erſte, der zwei 
(wahrſcheinlich uͤbrigens drei oder vier) Tage alt war. 

„Wenn er Sie heute endlich beehren ſollte, ſo ſagen 

Sie, bitte, von mir keine Silbe! Nicht die geringſte 


144 Die Teufel 


Andeutung! Fangen Sie von mir nicht an, und er- 
waͤhnen Sie mich nicht! W. S.“ 


Der vom vorletzten Tage: 

„Wenn er ſich endlich entſchließt, Ihnen heute vor— 
mittag einen Beſuch zu machen, ſo wird es meines Er— 
achtens das paſſendſte fein, ihn überhaupt nicht anzu— 
nehmen. So denke ich daruͤber; ich weiß nicht, wie 
Sie die Sache auffaſſen. W. S.“ 


Der vom laufenden Tage, der letzte: 

„Ich bin uͤberzeugt, daß in Ihren Zimmern eine 
Fuhre Schmutz liegt und alles dick iſt von Tabaksqualm. 
Ich werde Ihnen Marja und Fomuſchka ſchicken; die 
ſollen bei Ihnen eine halbe Stunde lang aufraͤumen. 
Aber ſtoͤren Sie ſie nicht dabei, und ſitzen Sie ſo lange 
in der Kuͤche, bis ſie fertig ſind! Ich ſende Ihnen einen 
buchariſchen Teppich und zwei chineſiſche Vaſen, die ich 
Ihnen ſchon laͤngſt ſchenken wollte, und außerdem 
meinen Teniers (dieſen leihweiſe). Die Vaſen koͤnnen 
Sie aufs Fenſterbrett ſtellen, und den Teniers haͤngen 
Sie rechts auf, unter das Portraͤt Goethes; da iſt er 
am beſten zu ſehen, und vormittags iſt da immer Licht. 
Wenn er endlich erſcheint, ſo empfangen Sie ihn mit 
vollendeter Höflichkeit; aber geben Sie ſich Mühe, nur 
von Lappalien, von irgendetwas Gelehrtem zu reden, 
und machen Sie dabei ein Geſicht, als wenn Sie ſich 
erſt geſtern von ihm getrennt haͤtten! Von mir keine 
Silbe! Vielleicht komme ich heute abend zu Ihnen 
heran. W. S. | 

P. S. Wenn er heute nicht kommt, jo kommt er über» | 
haupt nicht.“ 


Erſter Teil 145 


Ich las die Zettel durch und wunderte mich, daß er uͤber 
dieſe Poſſen in ſolche Aufregung geraten war. Als ich ihn 
fragend anblickte, bemerkte ich auf einmal, daß er, waͤhrend 
ich las, ſein ſtetiges weißes Halstuch mit einem roten ver— 
tauſcht hatte. Sein Hut und ſein Stock lagen auf dem 
Tiſche. Er ſelbſt war blaß, und es zitterten ihm ſogar 
die Haͤnde. 

„Ich will von ihrer Aufregung nichts wiſſen!“ ſchrie 
er wuͤtend als Antwort auf meinen fragenden Blick. „Je 
m’en fiche! Es beliebt ihr, ſich über Karmaſinow auf— 
zuregen, und mir antwortet ſie nicht auf meine Briefe! 
Da, da liegt ein unerbrochener Brief von mir, den ſie mir 
geſtern zuruͤckgeſchickt hat, da auf dem Tiſche, unter dem 
Buche, unter L’Homme qui rit. Was kuͤmmert es mich, 
daß fie ſich um ihren ſuͤßen Nikolai graͤmt! Je m'en fiche 
et je proclame ma liberté. Au diable le Karmazinoff! 
Au diable la Lembke! Ich habe die Vaſen im Vorzimmer 
verſteckt und den Teniers in der Kommode und habe von 
ihr verlangt, ſie ſolle mich ſofort empfangen. Hoͤren Sie 
wohl: ich habe es verlangt! Ich habe ihr ebenſo einen 
Zettel geſchickt, mit Bleiſtift geſchrieben, unverſiegelt, 
durch Naſtaſja, und warte nun. Ich will, daß Darja Paw⸗ 
lowna ſelbſt ſich mir gegenuͤber ausſpricht, mit eigenem 
Munde und vor dem Angeſichte des Himmels oder wenig— 
ſtens in Ihrer Gegenwart. Vous me seconderez, n'est- ce 
pas, comme ami et témoin. Ich will nicht erroͤten; ich 
will nicht luͤgen; ich will keine Geheimniſſe; ich werde 
nicht dulden, daß es in dieſer Sache Geheimniſſe gibt! 
Moͤgen ſie alles bekennen, in offener, ehrlicher, anſtaͤndi— 

ger Weiſe, und dann ... dann werde ich vielleicht die 
ganze jetzt lebende Generation durch meine Selengroͤße in 
LXIII. 10 


146 Die Teufel 


Erſtaunen verſetzen! ... Bin ich ein Schurke, mein Herr?“ 
ſchloß er plotzlich, indem er mich drohend anſah, wie wenn 
ich ihn fuͤr einen Schurken hielte. 

Ich bat ihn, ein Glas Waſſer zu trinken; ich hatte ihn 
noch nie in einer ſolchen Verfaſſung geſehen. Die ganze 
Zeit, waͤhrend er redete, war er im Zimmer von einer Ecke 
nach der andern gelaufen; nun aber blieb er ploͤtzlich vor 
mir in einer ungewoͤhnlichen Poſe ſtehen. 

„Glauben Sie wirklich,“ begann er von neuem mit 
krankhaftem Hochmute und ſah mich dabei vom Kopfe bis 
zu den Fuͤßen an, „koͤnnen Sie wirklich meinen, daß ich, 
Stepan Werchowenſki, in mir nicht genug ſittliche Kraft 
finden ſollte, um den Bettelſack auf meine ſchwachen 
Schultern zu legen, aus dem Haustore zu gehen und von 
hier fuͤr immer zu verſchwinden, wenn das die Ehre und 
das hohe Prinzip der Unabhaͤngigkeit fordern? Es waͤre 
nicht das erftemal, daß Stepan Werchowenſki einem Deſ— 
potismus mit Seelengroͤße entgegentritt, wenn es ſich hier 
auch nur um den Deſpotismus eines verruͤckten Weibes han— 
delt, das heißt um den beleidigendſten, grauſamſten Deſ— 
potismus, den es nur auf der Welt geben kann, trotzdem Sie 
ſich ſoeben, wie es ſcheint, erlaubten, uͤber meine Worte 
zu laͤcheln, mein Herr! Oh, Sie glauben nicht, daß ich in 
mir ſo viel Seelengroͤße zu finden vermag, um mein Leben 
als Hauslehrer bei einem Kaufmann zu beſchließen oder 
hinter einem Zaune zu verhungern! Antworten Sie, аи 
worten Sie unverzuͤglich: glauben Sie es, oder glauben 
Sie es nicht?“ 

Aber ich ſchwieg abſichtlich. Ich tat ſogar, als koͤnne ich 
mich nicht entſchließen, ihn durch eine verneinende Ant— 
wort zu kraͤnken, ſei aber nicht imſtande, bejahend zu ant⸗ 


Erſter Teil 147 


worten. Зи dieſem ganzen gereizten Benehmen meines 
Freundes lag etwas, was mich entſchieden verletzte, nicht 
mich perſoͤnlich, o nein! Aber ... ich werde das ſpaͤter 
erklaͤren. 

Er war ſogar blaß geworden. 

„Vielleicht find Sie meiner Geſellſchaft uͤberdruͤſſig, 
G***p,“ (dies Ш mein Familienname), „und würden 
wuͤnſchen ... Ihre Beſuche bei mir ganz einzuſtellen?“ 
ſagte er in jenem Tone gekuͤnſtelter Ruhe, der gewoͤhnlich 
einem heftigen Ausbruche vorhergeht. 

Ich ſprang erſchrocken auf; in demſelben Augenblicke 
kam Naſtaſja herein und reichte ihrem Herrn ſchweigend 
einen Zettel, auf dem etwas mit Bleiſtift geſchrieben ſtand. 
Er ſah ihn an und warf ihn mir hin. Auf dem Zettel 
ſtanden von Warwara Petrownas Hand nur die wenigen 
Worte: „Halten Sie ſich zu Hauſe!“ 

Stepan Trofimowitſch nahm ſchweigend Hut und Stock, 
ging ſchnell zur Tuͤr und oͤffnete ſie, um das Zimmer zu 
verlaſſen. Ploͤtzlich wurden auf dem Flur Stimmen und 
das Geraͤuſch ſchneller Schritte vernehmbar. Er blieb 
ſtehen wie vom Donner geruͤhrt. 


„„Das iſt Liputin! Ich bin verloren!“ fluͤſterte er, in⸗ 
dem er mich bei der Hand ergriff. 
In demſelben Augenblicke trat Liputin ins Zimmer. 


| IV 

Inwiefern Liputins Ankunft bewirken koͤnne, daß er 
verloren ſei, das wußte ich nicht; ich legte auch dieſem 
Ausdrucke keine Bedeutung beiz ich ſchrieb alles feiner 
Nervenerregung zu. Aber {ет Schreck war doch ein ſehr 


148 Die Teufel 


auffallender, und ich nahm mir vor, den weiteren Зет: 
lauf aufmerkſam zu beobachten. 

Schon die bloße Miene des eintretenden Liputin ließ 
erkennen, daß er diesmal trotz aller Verbote ein beſonderes 
Recht zum Eintritt habe. Er brachte einen unbekannten 
Herrn mit, der von auswaͤrts gekommen ſein mußte. In 
Erwiderung auf den faſſungsloſen Blick des ganz ſtarr 
gewordenen Stepan Trofimowitſch rief er ſogleich laut: 

„Ich bringe einen Gaſt mit, und einen beſonderen Gaſt! 
Ich wage es, Sie in Ihrer Einſamkeit zu ſtoͤren. Herr 
Kirillow, ein hervorragender Ingenieur und Architekt. 
Die Hauptſache aber iſt: der Herr kennt Ihren Sohn, 
den hodjverehrten Peter Stepanowitſch; ſehr gut ſogar; 
und er hat einen Auftrag von ihm. Der Herr hat ihn 
eben erſt beſucht.“ j 

„Was Sie von einem Auftrage ſagen, ИЕ Ihr Zuſatz,“ 
bemerkte der Gaſt in ſcharfem Tone. „Einen Auftrag 
habe ich überhaupt nicht erhalten; aber Werchowenſki 
kenne ich allerdings. Ich habe ihn vor zehn Tagen im 
Gouvernement Ch*** verlaſſen.“ 


Stepan Trofimowitſch reichte ihm mechaniſch die Hand 


und forderte ihn auf, Platz zu nehmen; dann blickte er 
mich an, blickte Liputin an und ſetzte ſich ploͤtzlich, wie 
wenn er zur Beſinnung kaͤme, ſchnell ſelbſt hin, wobei er 
aber Hut und Stock immer noch in der Hand behielt, 
ohne es zu bemerken. 

„Ah, Sie wollten ſelbſt ausgehen! Und mir war geſagt 
worden, Sie ſeien vor vieler Arbeit ganz krank gewor— 
den.“ 

„Ja, ich bin auch krank und wollte eben ſpazieren 


gehen; ich ...“ 


Ä 


Erſter Teil 149 


Stepan Trofimowitſch ſtockte, warf ſchuell den Hut und 
den Stock auf das Sofa und — erroͤtete. 


Ich hatte unterdeſſen ſchnell den Gaſt gemuſtert. Es 
war ein noch junger Mann von ungefähr ſiebenundzwan⸗ 
zig Jahren, anſtaͤndig gekleidet, ſchlank und mager, bruͤ— 
nett, mit blaſſem, etwas unreinem Teint und ſchwarzen, 
glanzloſen Augen. Er ſchien etwas nachdenklich und zer— 
ſtreut zu ſein, ſprach abgebrochen und nicht ganz gram— 
matiſch richtig, ſtellte die Worte etwas ſonderbar und ver— 
wirrte ſich, wenn er einen laͤngeren Satz bilden mußte. 
Liputin bemerkte ſehr genau, was fuͤr einen Schreck 
Stepan Trofimowitſch bekommen hatte, und war davon 
ſichtlich befriedigt. Er ſetzte ſich auf einen Rohrſtuhl, den 
er beinah in die Mitte des Zimmers gezogen hatte, um ſich 
in gleicher Entfernung zwiſchen dem Wirte und dem 
Gaſte zu befinden, die einander gegenuͤber auf zwei gegen— 
uͤberſtehenden Sofas Platz genommen hatten. Seine ſchar— 
fen Augen fuhren neugierig in allen Winkeln umher. 


„Ich .. . ich habe Peter ſchon lange nicht geſehen ... 
Sie ſind im Auslande mit ihm zuſammengetroffen?“ 
fragte Stepan Trofimowitſch muͤhſam murmelnd den 
Gaſt. 

„Sowohl hier als im Auslande.“ 


„Alexei Nilowitſch kommt ſoeben ſelbſt nach vierjaͤhri— 
ger Abweſenheit aus dem Auslande,“ fuͤgte Liputin hinzu. 
„Er iſt gereiſt, um ſich in ſeinem Spezialfache zu vervoll— 
kommnen, und jetzt zu uns gekommen, weil er begruͤndete 
Hoffnung hat, eine Anſtellung beim Bau unſerer Eiſen— 
bahnbruͤcke zu erhalten; er wartet jetzt auf die Antwort. 
Er iſt durch Peter Stepanowitſch mit den Droſdowſchen 


1 


150 Die Teufel 


Herrſchaften, mit Liſaweta Nikolajewna, bekannt ge- 
worden.“ 

Der Ingenieur ſaß mit finſterem Geſichte da und hoͤrte 
unbehaglich und ungeduldig zu. Es ſchien mir, daß er ſich 
uͤber etwas aͤrgerte. 

„Der Herr iſt auch mit Nikolai Wſewolodowitſch be— 
kannt.“ | 

„Sie kennen auch Nikolai Wſewolodowitſch?“ erkun⸗ 
digte ſich Stepan Trofimowitſch. 

„Ja, den auch.“ 

„Ich .. . ich habe Peter außerordentlich lange nicht ge— 
ſehen und... habe ſomit kaum ein Recht, mich feinen Vater 
zu nennen ... c'est le mot; ich ... wie haben Sie ihn 
verlaſſen?“ 

„Nichts Beſonderes zu ſagen daruͤber ... Er wird ſelbſt 
herkommen,“ erwiderte Herr Kirillow wieder eilig, um 
von der Frage loszukommen. 

Er war entſchieden aͤrgerlich. 

„Er wird herkommen! Endlich werde ich ... Sehen 
Sie, ich habe Peter ſchon gar zu lange nicht geſehen!“ 
verſetzte Stepan Trofimowitſch, der an dieſer Phraſe 
haͤngen blieb. „Ich erwarte jetzt meinen armen Jungen, 
gegen den .. . o gegen den ich mich fo vergangen habe! 
Das heißt, ich will eigentlich ſagen, daß ich, als ich ihn 
damals in Petersburg verließ ... kurz gejagt, ich hielt 
ihn fuͤr eine Null, quelque chose dans ce genre. Wiſſen 
Sie, der Junge war nervoͤs, ſehr empfindſam und... 
aͤngſtlich. Wenn er ſich ſchlafen legte, machte er tiefe Ver⸗ 
beugungen vor dem Heiligenbilde und bekreuzte ſein 
Kopfkiſſen, um nicht in der Nacht zu ſterben ... je m' en 
souviens. Enfin, kein Gefuͤhl fuͤr das Schoͤne, das heißt 


у ры: A ТМ 
1 il RR . 

* 1 9 
А 4 


Erſter Teil 151 


fuͤr etwas Hoͤheres, Fundamentales, kein Keim einer 
kuͤnftigen Idee .. свай comme un petit idiot. ЦВ. 
rigens bin ich, wie mir vorkommt, ſelbſt verwirrt; ent⸗ 
ſchuldigen Sie, 14... Sie treffen mich heute ...“ 

„Sagen Sie das im Ernſt, daß er fein Kopfkiſſen be⸗ 
kreuzte?“ erkundigte ſich der Ingenieur mit beſonderer 
Neugier. 

tat er 

„Ich tue ſo etwas nicht; fahren Sie fort!“ 

Stepan Trofimowitſch blickte Liputin fragend an und 
wandte ſich dann wieder an den Fremden. 

„Ich bin Ihnen ſehr dankbar fuͤr Ihren Beſuch; aber 
ich muß geſtehen, ich bin jetzt ... nicht imſtande ... ег 
ſtatten Sie aber die Frage: wo wohnen Sie?“ 

„In der Bogojawlenſkaja⸗Straße, im Filippowſchen 
Hauſe.“ 

„Ach, das iſt dasſelbe Haus, in dem Schatow wohnt,“ 
bemerkte ich unwillkuͤrlich. 

„Ganz richtig, in demſelben Hauſe,“ rief Liputin; „nur 
wohnt Schatow oben, im Halbgeſchoß, und dieſer Herr 
hier hat ſich unten einquartiert, beim Hauptmann Lebjad⸗ 
kin. Er kennt auch Schatow, und auch Schatows Frau 
kennt er. Er iſt im Auslande mit ihr in ſehr nahe Be— 
ruͤhrung gekommen.“ 

„Comment! Alſo wiſſen Sie wirklich etwas von der 
ungluͤcklichen Ehe de ce pauvre ami und kennen dieſe 
Frau?“ rief Stepan Trofimowitſch, auf einmal von feinem 
Gefühle fortgeriſſen. „Ich habe noch nie jemand getrof— 
fen, der dieſe Frau perſoͤnlich gekannt haͤtte; Sie ſind 


der erſte; und wenn пит...” 


152 Die Teufel 


„Was für dummes Zeug!“ unterbrach ihn der In— 
genieur, ganz rot vor Arger. „Wie koͤnnen Sie nur ſo 
etwas hinzuerfinden, Liputin! Ich habe Frau Schatowa 
gar nicht geſehen; nur einmal von weitem; aber naͤher 
kennen tue ich fie nicht ... Schatow kenne ich. Warum 
erſinden Sie denn allerlei hinzu?“ 

Er drehte ſich mit kurzer Wendung auf dem Sofa herum 
und griff nach ſeiner Muͤtze; dann legte er ſie wieder hin, 
nahm ſeine fruͤhere Haltung wieder ein und richtete ſeine 
ſchwarzen Augen mit dem Ausdrucke zorniger Herausfor— 
derung auf Stepan Trofimowitſch. Ich vermochte mir 
eine ſo ſonderbare Gereiztheit ſchlechterdings nicht zu er— 
klaͤren. 

„Verzeihen Sie mir,“ bemerkte Stepan Trofimowitſch 
im Tone eindringlicher Bitte; „ich begreife, daß das viel— 
leicht eine ſehr zarte Angelegenheit Ш...“ 

„Hier gibt es keine ſehr zarte Angelegenheit; das iſt 
ein ganz falſcher Ausdruck; aber daß ich rief: Dummes 
Zeug!“ das war nicht fuͤr Sie beſtimmt, ſondern fuͤr 
Liputin, weil er immer etwas hinzuerfindet. Schatow 
kenne ich; feine Frau aber kenne ich gar nicht ... gar nicht 
kenne ich ſie!“ 

„Ich verſtehe, ich verſtehe, und wenn ich mir eine Frage 
erlaubte, ſo tat ich es nur deshalb, weil ich unſern armen 
Freund, notre irascible ami, liebe und mich immer für 
ihn intereſſiert Бабе... Dieſer Menſch hat meiner An— 
ſicht nach ſeine fruͤheren vielleicht zu jugendlichen, aber 
doch richtigen Anſchauungen in gar zu ſchroffer Weiſe 
gewechſelt. Und er erhebt jetzt gegen notre sainte Russie 
ſo vielerlei Anklagen, daß ich dieſen Umſchwung in ſeinem 
Organismus (anders kann ich es nicht bezeichnen) ſchon 


р 
. 
N 
— 
De 
Air 
* 
— 
* 
* 
1 
* 
г 
* 
Г 


Erſter Teil 153 


laͤngſt auf die ſtarke Erſchuͤtterung feines Familienlebens 
und ſpeziell auf ſeine ungluͤckliche Ehe zuruͤckfuͤhre. Ich, 
der ich mein armes Rußland ſtudiert habe und kenne wie 
meine eigenen Finger und dem ruſſiſchen Volke mein gan— 
zes Leben geweiht habe, ich kann Ihnen verſichern, daß er 
das ruſſiſche Volk nicht kennt und uͤberdies ...“ 

„Ich kenne das ruſſiſche Volk auch gar nicht, und ... 
ich habe gar keine Zeit dazu, es zu ſtudieren!“ unterbrach 
ihn der Ingenieur von neuem und drehte ſich wieder kurz 
auf dem Sofa herum. 

Stepan Trofimowitſch war in der Mitte ſeiner Aus— 
einanderſetzung unterbrochen worden. 

„Der Herr ſtudiert es, er ſtudiert es,“ fiel Liputin ein; 
„er hat dieſes Studium bereits begonnen und verfaßt eine 
intereſſante Abhandlung uͤber die Urſachen der Zunahme 
der Selbſtmorde in Rußland und uͤberhaupt uͤber die Ur— 
ſachen, welche die Verbreitung des Selbſtmordes in der 
menſchlichen Geſellſchaft befoͤrdern oder hemmen. Er iſt 
zu ſtaunenswerten Reſultaten gelangt.“ 

Der Ingenieur geriet in eine ſchreckliche Erregung. 

„Dazu haben Sie gar kein Recht,“ murmelte er zornig; 
„ich ſchreibe gar keine Abhandlung. Solche Dummheiten 
mache ich nicht. Ich habe Sie vertraulich gefragt, nur 
ganz zufällig. Von einer Abhandlung iſt hier überhaupt 
nicht die Rede; ich veroͤffentliche nichts, und Sie haben 
nicht das Recht.“ 

Liputin hatte offenbar ſeine Freude daran. 

„Pardon,“ ſagte er, „vielleicht habe ich mich falſch 
ausgedruͤckt, wenn ich Ihre literariſche Arbeit eine Ab— 
handlung nannte. Der Herr ſammelt nur Beobachtungen 
und laͤßt ſich auf den eigentlichen Kern der Frage oder 


154 Die Teufel 


ſozuſagen auf ihre moraliſche Seite überhaupt nicht ein 
und lehnt ſogar die Moralitaͤt ſelbſt voͤllig ab und haͤlt ſich 
an den neueſten Grundſatz der allgemeinen Zerſtoͤrung 
zum Zwecke der Erreichung guter Endziele. Er fordert 
ſchon mehr als hundert Millionen Köpfe, um die geſunde 
Vernunft in Europa zur Herrſchaft zu bringen, alſo weit 
mehr, als auf dem letzten Weltkongreß gefordert wurden. 
In dieſem Gedanken geht Alexei Nilowitſch weiter als 
alle andern.“ 

Der Ingenieur hatte mit einem geringſchaͤtzigen, ſchwa— 
chen Laͤcheln zugehoͤrt. Etwa eine halbe Minute lang 
ſchwiegen alle. 

„Das ſind lauter Dummheiten, Liputin,“ ſagte ſchließ⸗ 
lich Herr Kirillow mit einer gewiſſen Wuͤrde. „Wenn 
ich Ihnen zufaͤllig einige Punkte geſagt habe und Sie ſie 
aufgeſchnappt haben, ſo iſt das Ihre Sache. Aber Sie 
haben kein Recht, es zu erwähnen, weil ich nie mit jeman⸗ 
dem darüber rede. Es widerſteht mir, Darüber zu reden... 
Wenn es Überzeugungen gibt, fo iſt es für mich klar ... 
aber damit haben Sie dumm gehandelt. Ich ſtelle keine 
Erwaͤgungen uͤber jene Punkte an, wo ſchon alles erledigt 
iſt. Ich kann die Erwaͤgungen nicht leiden. Ich mag nie 
Erwaͤgungen anſtellen ...“ 

„Vielleicht tun Sie daran ganz recht,“ konnte Stepan 
Trofimowitſch ſich nicht enthalten zu bemerken. 

„Ich entſchuldige mich bei Ihnen; aber ich bin hier 
auf niemand zornig,“ fuhr der Gaſt mit fieberhafter Ge— 
ſchwindigkeit fort. „Ich habe vier Jahre lang nur mit 
wenigen Menſchen verkehrt ... Ich habe vier Jahre lang 
nur wenig geſprochen und mich bemuͤht, nicht mit andern 
zuſammenzukommen, um meiner Ziele willen, um die es 


7; 


Erſter Teil 155 


ſich hier nicht handelt, vier Jahre lang. Liputin hat das 
laͤcherlich gefunden und lacht daruͤber. Ich verſtehe das 
und kuͤmmere mich nicht darum. Ich bin nicht empfind⸗ 
lich; ich aͤrgere mich nur uͤber ſeine Ungeniertheit. Wenn 
ich Ihnen aber meine Ideen nicht auseinanderſetze,“ ſchloß 
er unerwartet, indem er uns alle der Reihe nach mit feſtem 
Blicke anſah, „ſo unterlaſſe ich das ganz und gar nicht 
deswegen, weil ich von Ihnen eine Denunziation bei der 
Regierung fuͤrchte; das nicht; denken Sie, bitte, nicht Tor⸗ 


heiten in dieſem Sinne ...“ 


Auf dieſe Worte antwortete niemand mehr etwas; wir 
ſahen einander nur an. Sogar Liputin ſelbſt vergaß zu 
kichern. 

„Meine Herren, es tut mir ſehr leid,“ ſagte Stepan 
Trofimowitſch, indem er entſchloſſen vom Sofa aufſtand; 
„aber ich fuͤhle mich unwohl und leidend. Entſchuldigen 
Sie mich!“ | 

„Aha, das bedeutet, daß wir fortgehen ſollen,“ ſagte 
Herr Kirillow mit ploͤtzlichem Verſtaͤndnis und griff nach 
ſeiner Uniformmuͤtze. „Es iſt gut, daß Sie es noch einmal 
geſagt haben; ich bin ſo vergeßlich.“ 

Er ſtand auf und trat mit gutmuͤtiger Miene und mit 
ausgeſtreckter Hand auf Stepan Trofimowitſch zu. 

„Schade, daß Sie unwohl ſind und ich gekommen bin.“ 

„Ich wuͤnſche Ihnen bei uns allen Erfolg,“ antwortete 
Stepan Trofimowitſch, indem er ihm wohlwollend und in 
Ruhe die Hand druͤckte. „Ich begreife vollkommen, daß, 
wenn Sie nach Ihrer Mitteilung ſo lange im Auslande 


. gelebt und um Ihrer Ziele willen die Menſchen gemieden 


und Rußland vergeſſen haben, Sie ſchließlich uns Stock— 
ruſſen unwillkuͤrlich mit einer gewiſſen Verwunderung 


156 Die Teufel 


anſehen muͤſſen, und ebenſo wir Sie. Nur eins ift mir 
nicht recht verſtaͤndlich: Sie wollen unſere Bruͤcke bauen 
und erklaͤren gleichzeitig, Sie vertraͤten das Prinzip der 
allgemeinen Zerſtoͤrung! Man wird Ihnen den Bau un⸗ 
ſerer Bruͤcke nicht uͤbertragen!“ | 

„Wie? Was haben Sie da gejagt? ... Donnerwetter, 
ja!“ rief Kirillow uͤberraſcht und brach auf einmal in ein 
helles, heiteres Lachen aus. 

Fuͤr einen Augenblick nahm ſein Geſicht einen ganz 
kindlichen Ausdruck an, der ihm meines Erachtens ſehr 
gut ſtand. Liputin rieb ſich die Haͤnde, ganz entzuͤckt uͤber 
Stepan Trofimowitſchs wohlgelungene Bemerkung. Ich 
aber wunderte mich immer noch im ſtillen, weshalb 
Stepan Trofimowitſch einen ſolchen Schreck uͤber Lipu⸗ 
tins Ankunft bekommen und warum er, als er ihn hoͤrte, 
gerufen hatte: „Ich bin verloren!“ 


V 
Wir ſtanden alle bei der Tuͤrſchwelle. Es war jener 
Augenblick, wo Wirte und Gaͤſte ſchnell die letzten, liebens— 
wuͤrdigſten Redensarten auszutauſchen und dann befrie- 
digt auseinanderzugehen pflegen. 

„Daß der Herr heute ſo muͤrriſch iſt,“ warf Liputin, 
der ſchon ganz aus dem Zimmer hinausgegangen war, auf 
einmal noch wie beilaͤufig hin, „das kommt nur daher, daß 
er mit dem Hauptmann Lebjadkin vorhin wegen der 
Schweſter desſelben einen heftigen Zuſammenſtoß gehabt 
hat. Hauptmann Lebjadkin ſchlaͤgt feine ſchoͤne, irrſinnige 
Schweſter taͤglich mit der Peitſche, einer richtigen Koſaken— 
peitſche, morgens und abends. Aus dieſem Grunde iſt 
Alexei Nilowitſch ſogar in ein Seitengebaͤude desſelben 


к | Erſter Teil 157 


Hauſes gezogen, um davon nichts зи ſehen und zu hören. 
Nun, auf Wiederſehen!“ 

„Seine Schweſter? Eine Kranke? Mit der Peitſche?“ 
ſchrie Stepan Trofimowitſch auf, wie wenn er ſelbſt einen 
Hieb mit der Peitſche erhalten haͤtte. „Was fuͤr eine 
Schweſter? Was iſt das fuͤr ein Lebjadkin?“ 

Die frühere Angſt war ſofort zuruͤckgekehrt. 

„Lebjadkin? Das iſt ein Hauptmann a. D.; fruͤher 
bezeichnete er ſich nur als Stabskapitaͤn ...“ 

„Ach, was kuͤmmert mich ſein Rang? Was fuͤr eine 
Schweſter? Mein Gott ... Sie jagen Lebjadkin? Aber 
bei uns war ja ein Lebjadkin ..“ 

, „Eben der ift eg, ии {ет Lebjadkin; Sie erinnern ſich 
wohl, er wohnte bei Wirginſki?“ 

„Der iſt ja aber mit falſchen Banknoten abgefaßt 
worden.“ g 

„Nun iſt er zuruͤckgekehrt, ſchon vor faſt drei Wochen, 
und zwar unter ganz beſonderen Umſtaͤnden.“ 

„Aber da iſt er ja ein Nichtswuͤrdiger!“ 


„Als ob es bei uns keine nichtswuͤrdigen Menſchen 

geben koͤnnte!“ ſchmunzelte Liputin auf einmal und ſah 

Stepan Trofimowitſch mit feinen liſtigen Augen an, wie 
wenn er ihn betaſtete. 

„Ach, mein Gott, das will ich ja gar nicht ſagen ... wie⸗ 
wohl ich uͤbrigens uͤber dieſen Nichtswuͤrdigen mit Ihnen 
daurchaus einer Meinung bin, ſpeziell mit Ihnen. Aber 
was weiter, was weiter? Was wollten Sie damit ſagen? 
Sie wollen doch ſicherlich damit etwas ſagen!“ | 

„Ach, das find ja alles ſo unwichtige Dinge! ... Alſo 
dieſer Hauptmann iſt damals allem Anſchein nach nicht 


158 Die Teufel 


wegen falſcher Banknoten von uns weggereift, ſondern 
lediglich, um dieſe ſeine Schweſter zu ſuchen, die ſich, wie 
es ſcheint, vor ihm an einem unbekannten Orte verborgen 
hielt; na, aber jetzt hat er ſie hergebracht; das iſt die 
ganze Geſchichte. Warum haben Sie denn einen ſolchen 
Schreck bekommen, Stepan Trofimowitſch? Übrigens 
habe ich alles, was ich da ſage, von ihm ſelbſt gehoͤrt, als 
er in der Betrunkenheit ins Schwatzen gekommen war; 
wenn er nüchtern iſt, ſchweigt er darüber. Er iſt ein reiz- 
barer Menſch und ſozuſagen ein militaͤriſcher Aſthetiker, 
der aber einen ſchlechten Geſchmack hat. Dieſe Schweſter 
aber iſt nicht nur irrſinnig, ſondern auch lahm. Es ſcheint, 
daß ſie von jemand entehrt worden iſt, und daß Herr 
Lebjadkin dafür ſchon {ей vielen Jahren von dem Ver⸗ 
fuͤhrer eine jaͤhrliche Rente bezieht, wenigſtens iſt das 
aus feinem Geſchwaͤtze zu entnehmen — aber meiner Mei- 
nung nach iſt das nur Gerede eines Betrunkenen. Er 
prahlt einfach. Das kann man allerdings auch tun, wenn 
man weniger Geld hat. Daß er aber bedeutende Summen 
beſitzt, das iſt ganz ſicher; vor anderthalb Wochen ging er 
barfuß, und jetzt (das habe ich ſelbſt geſehen) hat er Hun⸗ 
derte in Haͤnden. Seine Schweſter hat taͤglich eine Art 
von Anfaͤllen; ſie kreiſcht dann, und er bringt ſie in Ord— 
nung‘, naͤmlich mit der Peitſche. ‚Einem Weibe‘, ſagt er, 
‚muß man Reſpekt einfloͤßen. Ich begreife nur nicht, wie 
Schatow noch uͤber ihnen wohnen bleiben kann. Alexei 
Nilowitſch hat nur drei Tage bei ihnen gewohnt (er war 
mit ihm noch von Petersburg her bekannt); jetzt bewohnt 
er infolge der ſteten Aufregung ein Seitengebaͤude.“ 

„Iſt das alles wahr?“ wandte ſich Stepan Trofimo- 
witſch an den Ingenieur. 


- 
— 


* 


8 


ee . 
a 5. 


Erſter Teil 159 


„Sie ſchwatzen ſehr viel, Liputin,“ brummte dieſer 
zornig. 

„Geheimniſſe, Heimlichkeiten! Woher gibt es nur auf 
einmal bei uns ſo viele Geheimniſſe und Heimlichkeiten?“ 
konnte Stepan Trofimowitſch ſich nicht enthalten aus⸗ 
zurufen. 

Der Ingenieur machte ein finſteres Geſicht, erroͤtete, 
zuckte mit den Achſeln und wollte das Zimmer verlaſſen. 

„Alexei Nilowitſch hat ihm ſogar die Peitſche aus der 
Hand geriſſen, ſie zerbrochen, aus dem Fenſter geworfen 
und ſich heftig mit ihm gezankt,“ fuͤgte Liputin hinzu. 

„Warum ſchwatzen Sie ſoviel, Liputin? Das iſt dumm. 
Warum tun Sie das?“ ſagte Alexei Nilowitſch und 
drehte ſich augenblicklich wieder um. 

„Warum ſoll man denn aus Beſcheidenheit die edelſten 
Regungen ſeiner Seele verbergen? Das heißt, ich rede 
von Ihrer Seele, nicht von meiner eigenen.“ 

„Wie dumm das ЦЕ... und ganz unnoͤtig ... Lebjadkin 
iſt ein ganz dummer Menſch, ein Hohlkopf und fuͤr unſere 
Aktion nicht zu gebrauchen; er kann da nur ſchaden. 
Warum ſchwatzen Sie allerlei Zeug? Ich gehe weg.“ 

„Ach, wie ſchade!“ rief Liputin mit heiterem Laͤcheln. 
„Sonſt haͤtte ich Sie, Stepan Trofimowitſch, noch durch 
ein kleines Geſchichtchen erheitert. Ich bin ſogar mit der 
Abſicht hergekommen, es Ihnen mitzuteilen, obwohl Sie 
es uͤbrigens wahrſcheinlich ſchon ſelbſt gehoͤrt haben. 
Nun, dann alſo ein andermal; Alexei Nilowitſch hat es ſo 
eilig... Auf Wiederſehen! Das Geſchichtchen iſt mir mit 
Warwara Petrowna paſſiert; ſie hat mich vorgeſtern zum 
Lachen gebracht; fie ließ mich erpreß rufen; es war zum 
Kranklachen. Auf Wiederſehen!“ 


N 


160 Die Teufel 


Aber nun klammerte ſich Stepan Trofimowitſch ordent⸗ 
lich an ihm feſt: er faßte ihn bei der Schulter, drehte ihn 
kurz um, zog ihn ins Zimmer zuruͤck und zwang ihn, ſich 
auf einen Stuhl zu ſetzen. Liputin wurde beinah aͤngſtlich. 

„Nun ja,“ begann er von ſelbſt, indem er Stepan Tro⸗ 
fimowitſch von feinem Stuhle aus vorſichtig anſah, „fie 
ließ mich auf einmal rufen und fragte mich ‚vertraulich‘, 
wie ich perſoͤnlich daruͤber daͤchte: ob Nikolai Wſewolodo— 
witſch geiſtesgeſtoͤrt ſei oder ſeinen Verſtand habe. Iſt 
das nicht erſtaunlich?“ 

„Sie find verruͤckt geworden,“ murmelte Stepan Tro- 
fimowitſch, der ganz außer ſich geraten war. „Liputin, Sie 
wiſſen ganz genau, daß Sie nur deshalb hergekommen 
ſind, um mir eine gemeine Geſchichte von dieſer Art mitzu⸗ 
teilen und ... noch etwas Schlimmeres!“ 

In demſelben Augenblicke fiel mir ſeine Vermutung ein, 
daß Liputin in unſerer Angelegenheit nicht nur mehr wiſſe 
als wir, ſondern auch noch etwas, was wir ſelbſt nie er— 
fahren wuͤrden. 

„Erbarmen Sie ſich, Stepan Trofimowitſch!“ шит: 
melte Liputin, wie wenn er ſchreckliche Furcht haͤtte. „Er— 
barmen Sie ſich ...“ 

„Schweigen Sie, und fangen Sie an! Herr Kirillow, 
ich bitte Sie dringend, ebenfalls wieder umzukehren und 
dabei anweſend zu ſein; dringend bitte ich Sie darum! 
Nehmen Sie Platz! Und Sie, Liputin, fangen Sie nun 
an: geradezu, einfach, ohne die geringſten Umſchweife!“ 

„Haͤtte ich gewußt, daß Sie das ſo aufregen wuͤrde, 
dann hätte ich uͤberhaupt nicht davon angefangen ... 
Und ich dachte, es wäre Ihnen ſchon alles durch War— 
тата Petrowna ſelbſt bekannt!“ 


4 


Erfter Teil 161 


„Das haben Sie gar nicht gedacht! Fangen Sie an, 
fangen Sie an, ſage ich Ihnen!“ 

„Tun Sie mir den Gefallen und ſetzen Sie ſich ſelbſt 
hinz wie kann ich denn daſitzen, wenn Sie in ſolcher Auf— 
regung vor mir hin und her laufen? Das kommt ja un⸗ 
paſſend heraus.“ 

Stepan Trofimowitſch tat ſich Gewalt an und ließ ſich 
in eindrucksvoller Weiſe auf einen Lehnſeſſel nieder. Der 
Ingenieur ſtarrte finſter auf den Fußboden. Liputin be⸗ 
trachtete beide mit größtem Genuſſe. 

„Ja, wie ſoll ich denn anfangen? Sie haben mich ganz 
wirr gemacht. 


VI 
„Vorgeſtern ſchickte ſie auf einmal ihren Diener zu mir: 
„Die gnaͤdige Frau‘, ſagte er, ‚läßt Sie morgen um zwoͤlf 
Uhr zu ſich bitten. Koͤnnen Sie ſich das vorſtellen? Ich 
ließ alſo geſtern meine Arbeit liegen und klingelte bei ihr 
Punkt zwoͤlf. Ich wurde geradeswegs in den Salon ge— 
führt; ich wartete etwa eine Minute, da kam fie; fie for⸗ 
derte mich auf, Platz zu nehmen, und ſetzte ſich ſelbſt mir 
gegenuͤber. Da ſaß ich nun und traute meinen eigenen 
Sinnen nicht; Sie wiſſen ſelbſt, wie fie mich immer be- 
handelt hat! Sie begann geradezu und ohne Umſchweife 
zu reden, wie das ſtets ihre Art ЦЕ. ‚Sie erinnern ſich, 
ſagte Пе, daß vor vier Jahren Nikolai Wſewolodowitſch, 


als er krank war, einige ſonderbare Handlungen begangen 


hat, ſo daß die ganze Stadt erſtaunt war, bis ſich alles auf⸗ 
Härte. Eine dieſer Handlungen betraf Sie perſoͤnlich. Ni⸗ 
kolai Wſewolodowitſch hat Ihnen damals nach ſeiner Ge— 
neſung auf meine Bitte einen Beſuch gemacht. Es iſt mir 


LI. 11 


162 Die Teufel 


auch bekannt, daß er auch früher ſchon mehrere Male mit 
Ihnen geſprochen hatte. Sagen Sie offen und ehrlich, wie 
Sie... (hier ſtockte fie ein wenig) ‚wie Sie damals Nifo- 
lai Wſewolodowitſch gefunden haben. Wie haben Sie uͤber— 
haupt uͤber ihn geurteilt? Welche Meinung haben Sie 
ſich damals über ihn gebildet, und... welche Meinung 
haben Sie jetzt von ihm?' Hier geriet fie nun gaͤnzlich 
ins Stocken, ſo daß ſie ſogar eine ganze Minute wartete 
und auf einmal rot wurde. Ich bekam einen Schreck. Da 
fing ſie wieder an, nicht etwa in geruͤhrtem Tone (der 
wuͤrde ihr nicht ſtehen), ſondern ſo recht nachdruͤcklich: 
Ich wuͤnſche, ſagte fie, ‚Daß Sie mich genau und richtig 
verſtehen. Ich habe Sie jetzt rufen laſſen, weil ich Sie 
fuͤr einen ſcharfſichtigen, klugen Menſchen halte, der faͤhig 
iſt, richtig zu beobachten. (Was ſagen Sie zu dieſen Koms 
plimenten?) ‚Sie werden gewiß verſtehen, ſagte fie, ‚Daß 
es eine Mutter iſt, die mit Ihnen ſpricht. Nikolai Wſe⸗ 
wolodowitſch hat in ſeinem Leben mancherlei Ungluͤck 
und viele Umwaͤlzungen durchgemacht. Alles das, ſagte 
ſie,, konnte auf feine Geiſtesverfaſſung einwirken. Selbſt⸗ 
verſtaͤndlich', ſagte fie, rede ich nicht von Irrſinn; der iſt 
voͤllig ausgeſchloſſen!! Das ſprach fie in feſtem, ſtolzem 
Tone. ‚Aber e8 konnte ſich bei ihm etwas Seltſames, Be— 
ſonderes herausbilden, eine gewiſſe Gedankenrichtung, 
eine Neigung zu einer beſonderen Anſchauungsweiſe.“ 
(Alles dies ſind ihre eigenen Worte, und ich bin erſtaunt, 
Stepan Trofimowitſch, mit welcher Genauigkeit War— 
wara Petrowna eine Sache klarzumachen verſteht; ſie iſt 
eine geiſtig hochbegabte Dame!) ‚Wenigſtens', ſagte fie, 
habe ich ſelbſt an ihm eine beſtaͤndige Unruhe und eine 
Richtung auf beſondere Neigungen wahrgenommen. 


Erſter Teil 163 


Aber ich bin die Mutter, und Sie ſind ein Fremder und 
deshalb bei Ihrem Verſtande faͤhig, ſich eine unab— 
haͤngigere Meinung zu bilden. Ich bitte Sie nun inſtaͤn⸗ 
dig, (jo drückte fie ſich aus: ‚ich bitte Sie inftändig ), ‚mir 
die ganze Wahrheit zu jagen, ohne alle Grimaſſen; und 
wenn Sie mir dabei noch das Verſprechen geben, nachher 
nie zu vergeſſen, daß ich Ihnen das im Vertrauen geſagt 
habe, ſo koͤnnen Sie darauf rechnen, daß ich ſtets durch— 
aus bereit ſein werde, mich Ihnen bei jeder moͤglichen 
Gelegenheit dankbar zu zeigen.“ Nun, was jagen Sie 
dazu?“ 

„Sie... Sie haben mich fo uͤberraſcht ...“ ſtammelte 
Stepan Trofimowitſch, „daß ich Ihnen nicht glauben ...“ 

„Nein, beachten Sie dies, beachten Sie dies,“ fiel Lipu⸗ 
tin ein, wie wenn er nicht gehoͤrt haͤtte, was Stepan Tro— 
fimowitſch ſagte: „wie groß mußte ihre Aufregung und 
Unruhe ſein, wenn ſie ſich mit einer ſolchen Frage von 
ihrer Hoͤhe herab an einen ſolchen Menſchen, wie ich, 


wandte und ſich obendrein dazu herabließ, mich ſelbſt um 


Verſchwiegenheit zu bitten! Wie iſt das zu erklaͤren? 
Haben Sie irgendwelche unerwarteten Nachrichten uͤber 
Nikolai Wſewolodowitſch erhalten?“ 

„Ich weiß von keinen Nachrichten ... ich bin mehrere 
Tage nicht mit ihr zuſammengekommen; aber ... aber ich 
muß Ihnen doch bemerken ... ſtotterte Stepan Trofis 
mowitſch, der offenbar Muͤhe hatte, ſeine Gedanken zu 


ſammeln, „ich muß Ihnen doch bemerken, Liputin, daß, 


wenn Ihnen dies im Vertrauen mitgeteilt iſt und Sie jetzt 
vor aller Ohren 

„Vollſtaͤndig im Vertrauen! Und Gott ſtrafe mich, wenn 
ich .. Aber wenn ich hier .. . was iſt denn da dabei? 


164 Die Teufel 


Sind wir denn etwa Fremde, auch Alexei Nilowitſch 
eingeſchloſſen?“ 

„Ich kann Ihre Anſchauung nicht teilen; ohne Zweifel 
werden wir drei hier das Geheimnis bewahren; aber was 
Sie, den vierten, anlangt, ſo habe ich da meine Befuͤrch— 
tungen und traue Ihnen gar nicht.“ 

„Aber wie koͤnnen Sie nur ſo etwas ſagen? Ich habe 
doch von uns allen das groͤßte Intereſſe daran, daß die 
Sache nicht auskommt, da mir für dieſen Fall lebenslaͤng⸗ 
liche Dankbarkeit verſprochen ЦЕ! Aber ich wollte eigent— 
lich bei eben dieſem Anlaß auf eine ſehr ſonderbare Tat— 
ſache hinweiſen, die uͤbrigens ſozuſagen mehr pſycholo— 
giſch intereffiert als einfach ſonderbar iſt. Geſtern abend, 
wo ich noch unter der Einwirkung des Geſpraͤches mit War- 
wara Petrowna ſtand Sie koͤnnen ſich vorſtellen, welchen 
Eindruck es auf mich gemacht hatte), wandte ich mich an 
Alexei Nilowitſch mit der beilaͤufigen Frage: Sie haben 
ja‘, ſagte ich, ‚jowohl im Auslande als auch ſchon früher 
in Petersburg Nikolai Wſewolodowitſch gekannt; wie 
urteilen Sie über ihn, ſagte ich, was Verſtand und де 
ſtige Faͤhigkeiten anlangt?“ Da antwortete er mir jo 
lakoniſch, wie das ſeine Art iſt, er ſei ein Menſch von 
feinem Verſtande und geſunder Urteilskraft. Aber haben 
Sie nicht im Laufe der Jahre‘, ſagte ich, eine gewiſſe 
Schieflenkung der Ideen oder eine beſondere Verdrehung 
der Denktaͤtigkeit oder ſozuſagen eine Art von geiſtiger 
Störung an ihm bemerkt?“ Kurz, ich wiederholte War— 
wara Petrownas Frage. Stellen Sie ſich vor: Alexei Ni⸗ 
lowitſch wurde auf einmal nachdenklich und runzelte die 
Stirn geradeſo wie jetzt und ſagte: ‚Sa, ich habe manch⸗ 
mal an ihm etwas Sonderbares bemerkt. Und beachten 


Erſter Teil 165 


| Sie dabei noch dies: wenn ſelbſt Alexei Nilowitſch an ihm 


etwas Sonderbares bemerken konnte, wie mag es dann 
erſt in Wirklichkeit geweſen ſein? Nicht wahr?“ 

„Iſt das wahr?“ wandte ſich Stepan Trofimowitſch an 
Alexei Nilowitſch. 

„Ich moͤchte nicht gern davon ſprechen,“ antwortete 
Alexei Nilowitſch; er hob ploͤtzlich den Kopf in die Höhe, 
und ſeine Augen blitzten. „Ich beſtreite Ihnen das Recht 
dazu, Liputin. Sie haben kein Recht, bei dieſer Sache von 
mir zu reden. Ich habe uͤberhaupt nicht meine ganze Mei— 
nung ausgeſprochen. Wenn ich auch in Petersburg mit 
ihm bekannt war, fo Ш das doch ſchon lange her; und 
wenn ich ihn auch jetzt getroffen habe, ſo kenne ich Nikolai 
Stawrogin doch nur ſehr wenig. Ich bitte Sie, mich aus 
dem Spiele zu laſſen, und ... das alles ſieht wie ein elen- 
der Klatſch aus.“ 

Liputin breitete die Arme auseinander, wie wenn er 
eine verfolgte Unſchuld waͤre. 

„Ich ein Klatſchbruder! Warum nicht auch ein Spion? 
Sie haben gut kritiſieren, Alexei Nilowitſch, wenn Sie 
ſelbſt ſich von der ganzen Sache fernhalten. Aber Sie 
koͤnnen gar nicht glauben, Stepan Trofimowitſch, was 
fuͤr ein Menſch dieſer Hauptmann Lebjadkin iſt; er iſt ſo 
dumm wie ... man ſchaͤmt ſich ordentlich, auch nur zu 
ſagen, wie dumm; es gibt im Ruſſiſchen einen Vergleich, 
der dieſen hoͤchſten Grad bezeichnet. Er meint auch von 
Nikolai Wſewolodowitſch beleidigt zu ſein, wiewohl er 
dem Scharfſinne desſelben Bewunderung zollt; „ich 
bin über dieſen Menſchen ganz erſtaunt, fagte erz 


‚er iſt klug wie eine Schlange‘ (das find feine eige— 


nen Worte). Alſo zu dem ſagte ich, immer noch 


166 Die Teufel 


unter der Einwirkung des geſtrigen Geſpraͤches mit War— 
wara Petrowna und erſt nach dem Geſpraͤche mit Alexei 
Nilowitſch: ‚Hören Sie mal, Hauptmann, ſagte ich, ‚wie 
urteilen Sie Ihrerſeits daruͤber: iſt Ihre kluge Schlange 
verruͤckt oder nicht?‘ Da war es doch (können Sie 
es glauben?), als ob ich ihm hinterruͤcks ohne ſeine 
Erlaubnis einen Peitſchenſchlag verſetzt haͤtte; er ſprang 
geradezu von feinem Sitze auf.. Ja, ſagte er, ja, ſagte er, 
‚aber das kann keinen Einfluß darauf haben‘... aber 
worauf es keinen Einfluß haben koͤnne, das ſagte er nicht. 
Und dann verfiel er in ein ſolches Nachdenken, in ein ſo 
truͤbes Nachdenken, daß ſogar ſein Rauſch davon verflog. 
Ich ſaß mit ihm in dem Filippowſchen Reſtaurant. Und 
erſt nach einer halben Stunde ſchlug er auf einmal mit der 
Fauſt auf den Tiſch: ‚Sa, ſagte er, vielleicht iſt er auch 
verruͤckt; aber das kann keinen Einfluß darauf haben‘, 
und er ſagte wieder nicht worauf. Ich gebe Ihnen natürs 
lich nur einen Extrakt aus dem Geſpraͤche; aber der Sinn 
desſelben iſt ja verſtaͤndlich. Man mag fragen, wen man 
will, allen kommt ſofort ein und derſelbe Gedanke, auch 
wenn er vorher keinem von ihnen durch den Kopf ge— 
gangen iſt: „За, ſagen fie, er ИЕ verruͤckt; ein ſehr kluger 
Menſch, aber vielleicht dabei auch verruͤckt.“ 

Stepan Trofimowitſch ſaß in Gedanken verſunken da 
und uͤberlegte angeſtrengt. 

„Aber woher weiß Lebjadkin das?“ 

„Iſt es Ihnen vielleicht gefaͤllig, danach Alexei Nilo— 
witſch zu fragen, der mich ſoeben hier einen Spion ge— 
nannt hat? Ich bin ein Spion und weiß nichts; aber Alexei 
Nilowitſch kennt das ganze Geheimnis und ſchweigt.“ 

„Ich weiß nichts oder doch nur wenig,“ antwortete der 


Erſter Teil 167 


Ingenieur in demſelben gereizten Tone. „Sie machen 
Lebjadkin betrunken, um etwas zu erfahren. Sie haben 
auch mich hierher gefuͤhrt, um mich zum Reden zu bringen 
und etwas zu erfahren. Mithin ſind Sie ein Spion!“ 

„Ich habe ihm noch nichts zu trinken gegeben, und er iſt 
auch mit all ſeinen Geheimniſſen nicht ſo viel Geld wert; 
ſo viel“ (er ſchnippte mit den Fingern) „ſind mir ſeine Ge— 
heimniſſe wert; wieviel ſie Ihnen wert ſind, weiß ich nicht. 
Im Gegenteil iſt er es, der mit Geld um ſich wirft, waͤh— 
rend er vor zwölf Tagen zu mir kam, um mich um fuͤnf— 
zehn Kopeken zu bitten; und jetzt traktiert er mich mit 
Champagner, nicht ich ihn. Aber Sie bringen mich da 
auf einen guten Gedanken, und wenn es noͤtig ſein ſollte, 
werde ich ihn betrunken machen, ſpeziell um all Ihre 
kleinen Geheimniſſe zu erfahren, und vielleicht wird mir 
das auch gelingen,“ antwortete Liputin boshaft und biſſig. 

Stepan Trofimowitſch blickte erſtaunt die beiden Strei— 
tenden an. Beide verrieten ſich ſelbſt und, was die Haupt- 
ſache war, legten ſich keinen Zwang auf. Ich hatte den 
Eindruck, daß Liputin dieſen Alexei Nilowitſch gerade in 
der Abſicht zu uns gebracht habe, um ihn durch eine dritte 
Perſon in ein Geſpraͤch hineinzuziehen, das er nicht ver— 
meiden koͤnne — ein Lieblingsmanoͤver von ihm. 

„Alexei Nilowitſch iſt mit Nikolai Wſewolodowitſch 
ſehr gut bekannt,“ fuhr er gereizt fort; „aber er verheim— 
licht es. Und wenn Sie mich nach dem Hauptmann Leb— 
jadkin fragen, fo iſt Nikolai Wſewolodowitſch fruͤher als 
wir alle mit ihm in Petersburg bekannt geweſen, vor fuͤnf 
oder ſechs Jahren, in jener (wenn man ſich ſo ausdruͤcken 
kann) halbdunklen Periode des Lebens Nikolai Wſewo— 
lodowitſchs, wo er noch nicht daran dachte, uns bier mit 


168 Die Teufel 


jeiner Ankunft zu begluͤcken. Man muß annehmen, daß 
unſer Prinz damals einen ziemlich ſeltſamen Bekannten⸗ 
kreis um ſich geſammelt hatte. Damals iſt er, wie es 
ſcheint, auch mit Alexei Nilowitſch bekannt geworden.“ 

„Nehmen Sie ſich in acht, Liputin; ich warne Sie: 
Nikolai Wſewolodowitſch wollte bald РВ herfommen, 
und er fteht feinen Mann.” 

„Wofür koͤnnte er ſich an mir rächen? Ich bin der erfte, 
der es laut ausſpricht, daß er ein Mann vom groͤßten, 
feinſten Verſtande iſt, und auch Warwara Petrowna habe 
ich geſtern in dieſer Hinſicht völlig beruhigt. ‚Für feinen 
Charakter“, habe ich zu ihr gejagt, kann ich allerdings 
keine Buͤrgſchaft übernehmen.‘ Lebjadkin ſprach ſich 
geſtern ebenfalls in demſelben Sinne aus: ‚Unter feinem 
Charakter“, ſagte er, ‚habe ich zu leiden gehabt. Ach, 
Stepan Trofimowitſch, Sie haben gut ſchreien, daß ich 
der Klatſcherei und Spionage ſchuldig ſei; aber wohlge- 
merkt, Sie tun das erſt, nachdem Sie ſelbſt alles aus mir 
herausgefragt haben, und noch dazu mit ſolcher maßloſen 
Neugier. Aber wie machte es Warwara Petrowna? Die 
ging geſtern gleich auf den Hauptpunkt los: Sie ſind bei 
der Sache perſoͤnlich intereſſiert geweſen, ſagte fie; ‚dar— 
um wende ich mich an Sie. Und ob ich dabei intereſ— 
ſiert geweſen bin! Was koͤnnte ich alſo mit Klatſch und 
Spionage fuͤr Ziele verfolgen, da ich doch vor den Augen 
der ganzen Geſellſchaft eine perſoͤnliche Beleidigung von 
Seiner Exzellenz erlitten habe? Ich moͤchte meinen, ich 

habe meine eigenen Gruͤnde, mich fuͤr ihn zu intereſſieren, 
und bedarf keines Klatſches. Heute druͤckt er Ihnen die 
Hand, und morgen verſetzt er Ihnen ohne jeden Anlaß 
in Gegenwart der ganzen verehrlichen Geſellſchaft zum 


ре > 


Erſter Teil 169 


Dank für Ihre Gaſtfreundſchaft nach Herzensluſt Backen⸗ 
ſtreiche. Ihn ſticht der Hafer! Aber die Hauptſache iſt 
bei dieſen Herren das weibliche Geſchlecht; ſie ſind 
Schmetterlinge und tapfere Haͤhnchen! Gutsbeſitzer mit 
Fluͤgelchen, wie die antiken Amoretten, Frauenjaͤger à la 
Petſchorin“. Sie, als fanatiſcher Hageſtolz, Stepan Tro— 
fimowitſch, koͤnnen es ſich leiſten, ſo zu reden und mich 
um Seiner Exzellenz willen einen Klatſchbruder zu nen⸗ 
nen. Aber wenn Sie eine junge, huͤbſche Frau nehmen 
ſollten, wie Sie denn noch ein friſcher, kraͤftiger Mann 
ſind, dann rate ich Ihnen, vor unſerm Prinzen Ihre Tuͤr 
zuzuſchließen und in Ihrem eigenen Hauſe Barrikaden 
zu errichten! Wahrhaftig, waͤre dieſe Mademoiſelle Leb— 
jadkina, die mit der Peitſche geſchlagen wird, nicht irr- 
ſinnig und krummbeinig, ſo wuͤrde ich wirklich glauben, 
daß auch ſie ein Opfer der Begierden unſeres hohen Herrn 
ſei, und daß er ſelbſt derjenige geweſen ſei, von welchem 
Hauptmann Lebjadkin ‚in feiner Familienehre' gekraͤnkt 
worden iſt, wie er ſich ſelbſt ausdruͤckt. Nur ſtimmt es 
vielleicht nicht zu ſeinem feinen Geſchmacke; aber das 
macht ihm wohl nichts aus. Ihm ſchmeckt jede Beere, 
wenn ſie bei ihm die richtige Stimmung trifft. Sie reden 
von Klatſcherei; aber bin ich es denn, der ſchreit, wo doch 
ſchon die ganze Stadt Lärm macht und ich nur zuhoͤre 
und ja ſage? Und ja zu ſagen iſt doch nicht verboten.“ 
„Die Stadt macht Geſchrei? Woruͤber macht die Stadt 
Geſchrei?“ f | 
„Ich meine, Hauptmann Lebjadkin macht in betrunke⸗ 
nem Zuſtande in der ganzen Stadt Geſchrei; na, und 


In Lermontows Roman: Ein Held unſerer Zeit. 
Anmerkung des Überſetzers. 


170 Die Teufel 


Ш das nicht dasſelbe, wie wenn der ganze Marktplatz 
ſchriee? Was trifft mich fuͤr eine Schuld? Ich rede uͤber 
dieſe Sache nur unter Freunden und glaube doch hier 
unter Freunden zu ſein,“ ſagte er und ließ mit harmloſer 
Miene ſeine Augen uͤber uns alle hingleiten. „Da iſt 
eine merkwuͤrdige Geſchichte paſſiert, denken Sie nur: es 
kommt heraus, daß Seine Exzellenz noch aus der Schweiz 
durch ein hochachtbares junges Mädchen, naͤmlich durch 
eine beſcheidene Waiſe, die zu kennen ich die Ehre habe, 
dreihundert Rubel zur Aushaͤndigung an Hauptmann 
Lebjadkin hergeſchickt hat. Aber bald darauf hat Lebjad— 
kin die ganz zuverlaͤſſige Nachricht erhalten (ich ſage 
nicht von wem, aber ebenfalls von einer hochachtbaren 
und ſomit durchaus glaubwuͤrdigen Perſoͤnlichkeit), daß 
nicht dreihundert, ſondern tauſend Rubel abgeſchickt 
find! .. . Infolgedeſſen macht Lebjadkin Geſchrei, das 
junge Maͤdchen habe ihm ſiebenhundert Rubel unterſchla— 
gen, und beabſichtigt, die Hilfe der Polizei anzurufen; 
wenigſtens droht er damit und erhebt in der ganzen Stadt 
einen großen Lärm...“ 

„Das iſt gemein! Das iſt gemein von Ihnen!“ rief 
der Ingenieur und ſprang von ſeinem Stuhle auf. 

„Aber Sie ſelbſt find ja die hochachtbare Perſoͤnlichkeit, 
die dem Hauptmann Lebjadkin von Nikolai Wſewolodo— 
witſch die Nachricht gebracht hat, daß nicht dreihundert, 
ſondern tauſend Rubel uͤberſandt ſeien. Mir hat es ja 
der Hauptmann ſelbſt in der Betrunkenheit mitgeteilt.“ 

„Das . . . das iſt ein ungluͤckliches Mißverſtaͤndnis. 
Irgend jemand hat ſich geirrt, und nun hat es ſolche 
Folgen .. . Es iſt Unſinn, und Sie haben gemein gehan— 
BEIEL u,” 


> a Зы Erf 
x 1 
< м - "> 
an * 


Erſter Teil 171 


„Auch ich will gern glauben, daß es Unſinn iſt, und 
habe es mit Bedauern gehoͤrt, weil dadurch erſtens ein 
hochanſtaͤndiges Maͤdchen in die Geſchichte mit den ſieben— 
hundert Rubeln hineingezogen wird und zweitens ihre 
intimen Beziehungen zu Nikolai Wſewolodowitſch offen— 
kundig werden. Aber was macht ſich Seine Exzellenz dar— 
aus, ein anſtaͤndiges Maͤdchen zu kompromittieren oder 
eine fremde Frau zu entehren, aͤhnlich wie er es in meinem 
Falle tat? Wenn ihm ein hochgeſinnter Mann vorkommt, 
dann zwingt er ihn, fremde Suͤnden mit ſeinem ehrlichen 
Namen zu verdecken. Eben das habe ich erdulden muͤſſen; 
ich rede von mir ſelbſt. 

„Nehmen Sie ſich in ER Liputin!“ rief RN: Trofi⸗ 
mowitſch, indem er ſich von ſeinem Lehnſtuhl erhob; er 
war ganz blaß geworden. | 

„Glauben Sie es nicht, glauben Sie es nicht! Es hat 
ſich irgend jemand geirrt, und Lebjadkin ЦЕ ein Trunken- 
bold!“ ſchrie der Ingenieur in unbeſchreiblicher Aufre— 
gung. „Es wird ſich alles aufklaͤren; aber ich kann nicht 
mehr .. . und ich halte es für eine Niedertraͤchtigkeit ... 
Genug davon, genug!“ 

Er rannte aus dem Zimmer. 

„Was haben Sie denn? Ich komme ja mit Ihnen mit!“ 
rief Liputin eilig, ſprang auf und lief hinter Alexei Nilos 
witſch her. 


VII 
Stepan Trofimowitſch ſtand eine Minute lang in Ge— 
danken verſunken da, blickte mich an, ohne mich zu ſehen, 
nahm dann ſeinen Hut und Stock und ging ſachte aus dem 
Zimmer. Ich folgte ihm wieder wie vorher. Als wir aus 


172 Die Teufel 


dem Tor traten, bemerkte er, daß ich ihn begleitete, und 
ſagte: 

„Ach ja, Sie koͤnnen als Zeuge dienen ... de P’accident. 
Vous m’accompagnerez, nest-ce pas?“ 

„Stepan Trofimowitſch, wollen Sie denn wirklich wie— 
der dorthin? Überlegen Sie doch, was die Folge ſein 
kann!“ 

Mit einem klaͤglichen, faſſungsloſen Laͤcheln, einem 
Laͤcheln, in welchem Scham und voͤllige Verzweiflung und 
gleichzeitig ein ſonderbares Entzuͤcken zum Ausdruck ka⸗ 
men, fluͤſterte er mir, einen Augenblick ſtehen bleibend, zu: 

„Ich kann doch nicht ‚fremde Sünden“ heiraten!“ 

Auf dieſes Wort hatte ich nur gewartet. Endlich war 
dieſes bedeutungsvolle Wort ausgeſprochen worden, das 
er mir eine ganze Woche lang durch allerlei Winkelzuͤge 
und Ausfluͤchte zu verbergen geſucht hatte. Ich kam ge⸗ 
radezu außer mir. 

„Und ein ſo ſchmutziger, ein ſo gemeiner Gedanke konnte 
bei Ihnen entſtehen, bei Stepan Werchowenſki, in Ihrem 
hellen Verſtande, in Ihrem guten Herzen, und ... und 
ſogar noch vor Liputins Mitteilungen!“ 

Er ſah mich an, antwortete aber nicht und ging auf 
demſelben Wege weiter. Ich wollte ihn nicht verlaſſen. 
Ich wollte bei Warwara Petrowna Zeuge ſein. Ich haͤtte 
ihm verziehen, wenn er in ſeinem weibiſchen Kleinmute 
nur Liputin Glauben geſchenkt haͤtte; aber jetzt war es 
deutlich, daß er ſchon lange vor Liputins Einfluͤſterungen 
ſich in ſeinem Kopfe alles in dieſer Weiſe zurechtgelegt 
und daß Liputin jetzt nur ſeinen Verdacht beſtaͤrkt und 
Ol ins Feuer gegoſſen hatte. Er hatte kein Bedenken 
getragen, das junge Maͤdchen gleich vom erſten Tage an 


Erſter Teil 173 


zu beargwoͤhnen, noch ehe er irgendwelche Gruͤnde dafuͤr 


hatte, nicht einmal die von Liputin vorgebrachten. Wars 
wara Petrownas deſpotiſches Verfahren erklaͤrte er ſich 
nur aus ihrem Wunſche, um jeden Preis ſo ſchnell wie 
moͤglich durch die Heirat mit einem achtbaren Manne die 
adligen Suͤnden ihres teuren Nikolai zu vertuſchen! Ich 
wuͤnſchte von Herzen, daß er dafuͤr beſtraft werden moͤchte. 

„O! Dieu, qui est si grand et si bon! Oh, wer wird 
mir meine Ruhe wiedergeben?“ rief er aus, nachdem er 
noch hundert Schritte weitergegangen war, und blieb 
ploͤtzlich ſtehen. 

„Kommen Sie ſchnell nach Hauſe; da will ich Ihnen 
alles erklaͤren!“ rief ich und drehte ihn mit Gewalt um, 
nach ſeinem Hauſe zu. 

„Er iſt es! Stepan Trofimowitſch, ſind Sie es? Wirk— 
lich?“ ertoͤnte eine friſche, muntere, jugendliche Stimme, 


die wie Muſik klang, in unſerer Naͤhe. 


Wir ſahen nichts; aber neben uns erſchien ploͤtzlich 
eine Reiterin, Liſaweta Nikolajewna, mit ihrem ſtaͤndigen 
Begleiter. Sie hielt ihr Pferd an. 

„Kommen Sie, kommen Sie ſchnell her!“ rief ſie laut 
in luſtigem Tone. „Ich habe ihn zwoͤlf Jahre lang nicht 
geſehen und doch erkannt; aber er ... Erkennen Sie mich 
wirklich nicht?“ 

Stepan Trofimowitſch ergriff die Hand, die ſie ihm 
entgegenſtreckte, und kuͤßte ſie ehrfurchtsvoll. Er blickte 
ſie an mit einem Geſichte, als ob er betete, und konnte 
kein Wort herausbringen. 

„Er hat mich erkannt und freut ſich! Mawriki Nifo- 
lajewitſch, er iſt entzuͤckt daruͤber, daß er mich wiederſieht! 
Warum ſind Sie denn die ganzen zwei Wochen nicht zu 


174 Die Teufel 


uns gekommen? Die Tante wollte mir einreden, Sie 
waͤren krank und duͤrften nicht aufgeregt werden; aber 
jetzt ſehe ich, daß ſie mich belogen hat. Ich habe immer 
mit den Fuͤßen geſtampft und auf Sie geſchimpft; aber 
ich wollte unbedingt, unbedingt, daß Sie von ſelbſt zuerſt 
kommen ſollten; darum habe ich nicht zu Ihnen geſchickt. 
O Gott, und er hat ſich gar nicht veraͤndert!“ fuͤgte ſie 
hinzu, indem ſie ſich vom Sattel herabbeugte und ihn naͤher 
betrachtete. „Es iſt ordentlich laͤcherlich, wie er unver— 
aͤndert geblieben iſt! Ach nein, da ſind Faͤltchen, viele 
Faͤltchen um die Augen und auf den Backen, und auch 
einige graue Haare ſind da; aber die Augen ſind dieſelben 
geblieben! Aber habe ich mich veraͤndert? Ja? Habe 
ich mich veraͤndert? Aber warum reden Sie denn gar 
nicht?“ 

In dieſem Augenblicke erinnerte ich mich an die Er— 
zaͤhlung, daß ſie ordentlich krank geworden ſei, als man 
ſie als elfjaͤhriges Kind nach Petersburg brachte. Sie 
habe in der Krankheit geweint und nach Stepan Trofi— 
mowitſch verlangt. 

„Sie ... ich ...“ ſtammelte er jetzt; aber die Stimme 
verſagte ihm vor Freude. „Ich habe ſoeben gerufen: ‚Wer 
wird mir meine Ruhe wiedergeben?‘ und da ertoͤnte Ihre 
Stimme . . . Ich halte das für ein Wunder, et je com- 
mence ä croire.“ | 

„En Dieu? En Dieu, qui est 1А haut et qui est si 
grand et si bon? Sehen Sie, ich weiß alles, was Sie 
mir beigebracht haben, noch auswendig. Mawriki Niko— 
lajewitſch, was hat er mich damals fuͤr einen Glauben 
en Dieu, qui est si grand et si bon, gelehrt! Erinnern 
Sie ſich an Ihre Erzaͤhlung davon, wie Kolumbus Amerika 


Erſter Teil 175 


entdeckte, und wie alle ſchrien: ‚Land, Land'? Meine 
Waͤrterin Alona Frolowna jagt, ich hätte nachher in der 
Nacht phantaſiert und im Schlafe ‚Land, Land!‘ gerufen. 
Und wiſſen Sie noch, wie Sie mir die Geſchichte vom 
Prinzen Hamlet erzaͤhlten? Und wiſſen Sie noch, wie 
Sie mir beſchrieben, wie die armen Auswanderer von 
Europa nach Amerika transportiert werden? Es war 
alles unwahr; ich habe es nachher alles erfahren, wie ſie 
transportiert werden; aber wie huͤbſch hat er mir damals 
alles vorgelogen, Mawriki Nikolajewitſch; es war beinah 
ſchoͤner als die Wahrheit! Warum ſehen Sie denn Maw— 
riki Nikolajewitſch ſo an? Das iſt der beſte, treueſte 
Menſch auf dem ganzen Erdball, und Sie muͤſſen ihn 
unbedingt ebenſo lieb gewinnen wie mich! II fait tout 
ce que je veux. Aber mein Taͤubchen, Stepan Trofi⸗ 
mowitſch, Sie ſind alſo wieder ungluͤcklich, wenn Sie 
mitten auf der Straße ausrufen: „Wer wird mir meine 
Ruhe wiedergeben?“ Sie find ungluͤcklich, nicht wahr, 
nicht wahr?“ 

„Jetzt bin ich gluͤcklich ...“ 

„Hat die Tante Ihnen etwas zuleide getan?“ fuhr ſie, 
ohne auf ihn zu hoͤren, fort. „Sie iſt noch immer dieſelbe 
boͤſe, ungerechte und uns allen ewig teure Tante! Wiſſen 
Sie noch, wie Sie ſich im Garten mir in die Arme warfen 
und ich Sie troͤſtete und weinte? Fuͤrchten Sie ſich nur 
nicht vor Mawriki Nikolajewitſch; er weiß uͤber Sie alles, 
alles, ſchon lange; Sie koͤnnen an ſeiner Schulter weinen, 
ſoviel wie Ihnen beliebt; er wird, ſolange es Ihnen be— 
liebt, ſtehen bleiben! ... Schieben Sie Ihren Hut ein 
bißchen zuruͤck, oder nehmen Sie ihn fuͤr einen Augenblick 
ganz ab, ſtrecken Sie den Kopf vor, und ſtellen Sie ſich auf 


176 Dte Teufel 


die Zehen; ich will Sie gleich auf die Stirn kuͤſſen, wie 
ich Sie das letztemal gekuͤßt habe, als wir vonein- 
ander Abſchied nahmen. Sehen Sie nur, jenes Fräu- 
lein da beobachtet uns aus dem Fenſter ... Nun, näher, 
naͤher! O Gott, wie grau er geworden iſt!“ 

Sie beugte ſich im Sattel herunter und kuͤßte ihn auf 
die Stirn. 

„Nun, jetzt will ich Sie bei Ihnen zu Hauſe beſuchen! 
Ich weiß, wo Sie wohnen. Ich werde gleich bei Ihnen 
ſein. Ich werde Ihnen den erſten Beſuch machen, Sie 
eigenſinniger Menſch, und Sie dann fuͤr den ganzen Tag 
zu mir ſchleppen. Gehen Sie, und bereiten Sie ſich auf 
meinen Beſuch vor!“ 

Dann ſprengte ſie mit ihrem Kavalier davon. Wir 
kehrten nach Hauſe zuruͤck. Stepan Trofimowitſch ſetzte 
ſich auf das Sofa und brach in Traͤnen aus. 

„Dieu, Dieu!“ rief er. „Enfin une minute de bon- 
heur!“ | 

Schon nach zehn Minuten erfchien fie ihrem Verſprechen 
gemäß, und zwar in Begleitung ihres Mawriki Niko⸗ 
lajewitſch. 


„Vous et le bonheur, vous arrivez еп тете temps!“ 


ſagte er, indem er aufſtand und ihr entgegenging. 
„Da haben Sie ein Bukett; ich bin eben zu Madame 


Chevalier herangeritten; die hat den ganzen Winter uͤber 


Buketts fuͤr Damen, die ihren Namenstag feiern. Und 
da iſt auch Mawriki Nikolajewitſch; bitte, machen Sie 
ſich mit ihm bekannt. Ich wollte Ihnen ſchon eine Paſtete 


ſtatt des Buketts mitbringen; aber Mawriki Nikolaje⸗ 


witſch verſichert, das ſei in Rußland nicht Ton.“ 


Dieſer Mawriki Nikolajewitſch war Artilleriehaupt⸗ 


< 


Erſter Teil 177 


mann, ungefaͤhr dreiunddreißig Jahre alt, hochgewachſen, 
von ſchoͤnem, tadellos anſtaͤndigem Außern, mit einem 
ernſten Geſichtsausdruck, der auf den erſten Blick ſogar 
ſtreng erſchien, trotz ſeines bewundernswerten Zartge— 
fuͤhls und ſeiner großen Herzensguͤte, Eigenſchaften, von 
denen ſich ein jeder faſt vom erſten Augenblicke der Be— 
kanntſchaft an uͤberzeugte. Er war uͤbrigens ſchweigſam, 
ſchien ſehr kaltbluͤtig zu ſein und draͤngte ſich niemandem 
als Freund auf. Viele erklaͤrten ſpaͤter, er {ет ein Бег 
ſchraͤnkter Kopf; aber das war durchaus nicht zutreffend. 

Liſaweta Nikolajewnas Schoͤnheit zu beſchreiben will 
ich nicht unternehmen. Die ganze Stadt redete bereits 
von ihrer Schönheit, obgleich mehrere unſerer verheirate- 
ten Damen und unſerer jungen Maͤdchen unwillig wider— 
ſprachen. Es gab unter ihnen ſogar einige, die Liſaweta 
Nikolajewna bereits haßten, erſtens wegen ihres Stolzes: 
Droſdows hatten bisher kaum angefangen, Beſuche zu 
machen, was man als eine Kraͤnkung empfand, wiewohl 
tatſaͤchlich Praſkowja Iwanownas ſchlechter Geſundheits— 
zuſtand die Schuld an der Verzoͤgerung trug. Zweitens 
haßte man ſie deswegen, weil ſie eine Verwandte der 
Frau Gouverneur war; drittens deswegen, weil ſie taͤg— 
lich ſpazieren ritt. Bis dahin hatte es bei uns noch nie 
Amazonen gegeben; es war nur natuͤrlich, daß die Ge— 
ſellſchaft ſich durch Liſaweta Nikolajewnas Erſcheinen, 
die ſpazieren ritt und noch keine Beſuche gemacht hatte, 
beleidigt fuͤhlte. Übrigens wußten alle bereits, daß ſie auf 
ärztliche Verordnung ritt, und ſprachen nun auch noch 
giftig uͤber ihre Krankheit. Aber ſie war wirklich krank. 
Was an ihr auf den erſten Blick auffiel, das war ihre 
beftändige, krankhafte nervoͤſe Unruhe. Ach, die Armſte 
LXII. 12 


178 Die Teufel 


hatte viel zu leiden, und alles wurde in der Folgezeit klar. 
Wenn ich jetzt an die Vergangenheit zuruͤckdenke, ſo kann 
ich nicht mehr ſagen, daß ſie die Schoͤnheit war, als die 
fie mir damals erſchien. Vielleicht hatte fie ſogar über- 
haupt kein ſchoͤnes Außeres. Hochgewachſen und etwas 
duͤnn, aber biegſam und kraͤftig, fiel ſie ſogar durch die 
Unregelmaͤßigkeit ihrer Geſichtszuͤge auf. Ihre Augen 
ſtanden kalmuͤckenartig ſchief; ſie war blaß und mager 
im Geſicht und hatte ſtarke Backenknochen; aber es lag 
in dieſem Geſichte etwas Anziehendes, Sieghaftes! In 
dem feurigen Blicke ihrer ſchwarzen Augen kam eine ſtarke 
Macht zum Ausdruck; ſie erſchien „als Siegerin und mit 
dem Zweck zu ſiegen“. Sie ſchien ſtolz, mitunter ſogar 
dreiſt; ich weiß nicht, ob es ihr gelang, gut zu ſein; aber 
ich weiß, daß fie es ſehnlich wuͤnſchte und ſich quälte, um 
ſich dahinzubringen, daß ſie einigermaßen gut ſei. In 
dieſer Natur lagen ſicherlich viele ſchoͤne Triebe, und es 
waren die beſten Anſaͤtze vorhanden; aber alles in ihr 
ſuchte fortwaͤhrend gewiſſermaßen ins Gleichgewicht zu 
kommen, ohne daß dies doch gelang; alles befand ſich in 
Unordnung, in Aufregung, in Unruhe. Vielleicht ſtellte 
ſie auch gar zu ſtrenge Anforderungen an ſich und fand 
in ſich nicht die Kraft, dieſen Anforderungen zu genuͤgen. 

Sie ſetzte ſich auf das Sofa und ſah ſich im Zimmer um. 

„Warum wird mir in ſolchen Augenblicken immer ſo 
traurig zumute? Erklaͤren Sie mir das, Sie gelehrter 
Mann! Ich habe mein ganzes Leben lang gedacht, daß 
ich mich Gott weiß wie ſehr freuen wuͤrde, wenn ich Sie 
wiederſaͤhe und mir alles ins Gedaͤchtnis zuruͤckriefe, und 
nun bin N. eigentlich gar nicht froh, obgleich ich Sie 
liebe ... Ach Gott, da haben Sie ja mein Bild hängen! 


4 


< 


Erſter Teil 179 


Geben Sie es einmal her! Ich erinnere mich daran, ich 
erinnere mich daran!“ 

Vor zehn Jahren hatten Droſdows aus Petersburg an 
Stepan Trofimowitſch ein vorzuͤgliches, kleines Aquarell— 
portraͤt der zwoͤlfjaͤhrigen Liſa geſchickt. Seitdem hing 
es beſtaͤndig bei ihm an der Wand. 

„Bin ich wirklich ein ſo huͤbſches Kind geweſen? Iſt 
das wirklich mein Geſicht?“ | 
Sie ſtand auf und ſchaute mit dem Porträt in der Hand 
in den Spiegel. 

„Nehmen Sie es ſchnell hin!“ rief ſie, indem ſie ihm 
das Portraͤt zuruͤckgab. „Haͤngen Sie es jetzt nicht wieder 
auf; laſſen Sie das bis nachher; ich mag es jetzt nicht 
ſehen.“ Sie ſetzte ſich wieder auf das Sofa. „Ein Leben 
verging, und ein zweites begann; dann verging auch das 
zweite, und es begann ein drittes, und keines hatte einen 
rechten Abſchluß. Der Abſchluß war immer wie mit einer 
Schere weggeſchnitten. Sehen Sie, was ich fuͤr alte Dinge 
erzähle; aber es iſt viel Wahres daran!“ 

Sie laͤchelte, indem ſie mich anſah; ſchon mehrmals 
hatte ſie mich angeblickt; aber Stepan Trofimowitſch hatte 
in ſeiner Aufregung vergeſſen, daß er mir verſprochen 
hatte, mich vorzuſtellen. 

„Aber warum haͤngt mein Bild bei Ihnen unter Dol⸗ 
chen? Und wozu haben Sie uͤberhaupt ſo viele Dolche 
und einen Saͤbel?“ 

Es hingen bei ihm wirklich an der Wand, ich weiß nicht 
wozu, zwei gekreuzte Jatagans und daruͤber ein echter 
tſcherkeſſiſcher Saͤbel. Waͤhrend ſie die obige Frage ſtellte, 
ſchaute ſie mir ſo gerade ins Geſicht, daß ich ſchon etwas 


180 Die Teufel 


antworten wollte; aber ich unterdruͤckte es. Stepan Trofi- 
mowitſch merkte endlich, wie es ſtand, und ſtellte mich vor. 

„Ich kenne Sie, ich kenne Sie,“ ſagte ſie. „Ich freue 
mich ſehr. Auch Mama hat ſchon viel uͤber Sie gehoͤrt. 
Machen Sie ſich auch mit Mawriki Nikolajewitſch be— 
kannt; er iſt ein vortrefflicher Menſch. Ich habe mir von 
Ihnen ſchon eine komiſche Vorſtellung gemacht; Sie ſind 
ja wohl Stepan Trofimowitſchs Vertrauter?“ 

Ich erroͤtete. 

„Ach, verzeihen Sie mir, bitte; ich habe einen falſchen 
Ausdruck gebraucht; er ſollte keinen komiſchen Klang 
haben, ſondern nur einen ganz einfachen Sinn ...“ (Sie 
war rot und verlegen geworden.) „Übrigens brauchen Sie 
ſich nicht daruͤber zu ſchaͤmen, daß Sie ein ſo vortrefflicher 
Menſch ſind. Aber es wird Zeit, daß wir gehen, Mawriki 
Nikolajewitſch! Stepan Trofimowitſch, in einer halben 
Stunde muͤſſen Sie bei uns ſein. O Gott, wieviel wollen 
wir miteinander reden! Jetzt werde ich Ihre Vertraute 
ſein, und zwar in allen Stuͤcken, in allen Stuͤcken, ver⸗ 
ſtehen Sie wohl?“ 

Stepan Trofimowitſch bekam ſofort einen Schreck. 

„Oh, Mawriki Nikolajewitſch weiß alles; vor dem 
brauchen Sie nicht verlegen zu werden!“ 

„Was weiß er denn?“ 

„Sie fragen noch!“ rief ſie erſtaunt. „Alſo iſt es wahr, 
daß es geheimgehalten werden ſoll! Ich wollte es gar 
nicht glauben. Und Daſcha wird auch verborgen gehalten. 
Die Tante ließ mich neulich nicht zu ihr, mit der Begruͤn— 
dung, Daſcha habe Kopfſchmerzen.“ 

„Aber ... aber wie haben Sie es denn erfahren?“ 


< 


Erſter Teil 181 


„Ach mein Gott, ebenſo wie alle. Das war kein Kunſt⸗ 
ſtuͤck!“ 

„Wiſſen es denn alle?“ 

„Nun ja, gewiß. Die Wahrheit iſt: Mama hat es zu— 
erſt von Alona Frolowna, meiner alten Kinderfrau, ges 
hoͤrt; zu der war Ihre Naſtaſja angelaufen gekommen und 
hatte es ihr geſagt. Sie haben es ja doch zu Naſtaſja ge— 
ſagt? Sie gibt an, daß Sie es ihr ſelbſt geſagt haͤtten.“ 

„Ich .. ich habe einmal davon geredet ...“ ftam- 
melte Stepan Trofimowitſch, der ganz rot geworden 
war; „aber ... ich habe nur eine Andeutung gemacht ... 
jetais si nerveux et malade et puis 

Sie lachte. 

„Und der Vertraute war gerade nicht bei der Hand, und 
Naſtaſja kam Ihnen in den Wurf, — da iſt es ja ganz 
erklaͤrlich! Die aber hat die ganze Stadt zu Gevatterin- 
nen. Nun, laſſen wir es gut fein; es iſt ja auch ganz gleich; 
moͤgen ſie es immerhin wiſſen, ſogar um ſo beſſer. Kommen 
Sie nur recht bald; wir eſſen früh zu Mittag ... Ja, das 
hatte ich vergeſſen,“ ſagte ſie und ſetzte ſich wieder hin; 
„hoͤren Sie mal: was fuͤr ein Menſch iſt Schatow?“ 

„Schatow? Das iſt Darja Pawlownas Bruder ...“ 

„Das weiß ich, daß er ihr Bruder iſt; wie koͤnnen Sie 
jo antworten, wahrhaftig!“ unterbrach fie ihn ungedul- 
dig. „Ich will wiſſen, was er eigentlich iſt, was fuͤr eine 
Art Menſch?“ 

„C'est une pense-creux d'ici. C'est le meilleur et 
le plus irascible homme du monde.“ 

„Das habe ich ſelbſt ſchon gehört, daß er etwas jonder- 
bar iſt. Darum handelt es ſich uͤbrigens nicht. Ich habe 
gehört, daß er drei Sprachen beherrſcht, auch das Eng⸗ 


182 Die Teufel 


fische, und eine literarische Arbeit ausführen kann. Wenn 
dem fo ift, fo hätte ich für ihn viel Arbeit. Ich brauche 
einen Gehilfen, und je eher 14 einen befomme, um fo 
beſſer. Wird er eine Arbeit übernehmen oder nicht? Man 
hat ihn mir empfohlen.“ 

„Oh, jedenfalls, et vous ferez un мешай...“ 

„Ich tue es durchaus nicht um des bienfait willen; es 
iſt mir ſelbſt an einem Gehilfen gelegen.“ 

„Ich bin mit Schatow ziemlich gut bekannt,“ ſagte ich, 
„und wenn Sie mich mit einer Beſtellung an ihn beauf— 
tragen wollen, ſo will ich ſofort zu ihm hingehen.“ 

„Beſtellen Sie ihm, er möchte morgen mittag um zwoͤlf 
Uhr zu mir kommen. Wunderſchoͤn! Ich danke Ihnen. 
Mawriki Nikolajewitſch, ſind Sie fertig?“ 

Sie gingen weg. Ebenſo natuͤrlich ich, um ſofort zu 
Schatow zu laufen. 

„Mon ami!“ ſagte Stepan Trofimowitſch zu mir, der 
mir nacheilte und mich auf den Stufen vor der Haustuͤr 
einholte, „ſeien Sie jedenfalls um zehn oder elf Uhr bei 
mir, wenn ich zuruͤckkomme. Oh, ich ſtehe ſehr, ſehr ſchuld— 
beladen vor Ihnen da und... vor allen, vor allen!“ 


VIII 
Schatow traf ich nicht zu Hauſe; ich ging zwei Stunden 
darauf noch einmal heran: er war wieder nicht da. End⸗ 
lich, es war ſchon ſieben durch, begab ich mich noch einmal 
zu ihm, um ihn entweder anzutreffen oder einen Zettel 
fuͤr ihn dazulaſſen; aber auch diesmal traf ich ihn 
nicht. Seine Wohnung war verſchloſſen, und er wohnte 
allein, ohne alle Bedienung. Ich wollte unten bei Haupt⸗ 
mann Lebjadkin vorſprechen, um nach Schatow zu fragen; 


Erſter Teil 183 


aber auch da war zugeſchloſſen und kein Laut zu hoͤren 
und kein Licht zu ſehen; es ſchien kein Menſch da zu ſein. 
Neugierig ging ich unter der Nachwirkung der kurz vor— 
her gehoͤrten Erzaͤhlungen an Lebjadkins Tuͤr vorbei. 


Schließlich entſchied ich mich dafuͤr, am naͤchſten Tage 


recht fruͤh wiederzukommen. Auch auf den Zettel ſetzte ich, 
um die Wahrheit zu ſagen, nicht viel Hoffnung. Sehr 
moͤglich, daß Schatow ſich nicht darum kuͤmmerte; er war 
ſo ein eigenwilliger, ſcheuer Menſch. Mein Mißgeſchick 
verwuͤnſchend ging ich ſchon aus dem Torwege, als ich 
plotzlich auf Herrn Kirillow ſtieß; er ging ins Haus und 
erkannte mich zuerſt. Da er ſelbſt zu fragen begann, fo er⸗ 
zaͤhlte ich ihm alles in den Hauptpunkten und ſagte auch, 
daß ich einen Zettel bei mir haͤtte. 

„Kommen Sie mit!“ ſagte er; „ich werde alles erle— 
digen.“ 5 

Ich erinnerte mich, daß er nach Liputins Mitteilung 
ſeit dem Vormittage ein auf dem Hofe gelegenes hoͤlzernes 
Seitengebaͤude bewohnte. In dieſem Seitengebaͤude, das 
fuͤr ihn ſehr viel Platz bot, wohnte mit ihm zuſammen eine 
alte taube Frau, die bei ihm die Aufwartung hatte. Der 
Beſitzer dieſes Hauſes hatte in einer andern Straße in 
einem andern ihm gehoͤrigen, neuen Hauſe ein Reſtau⸗ 
rant und hatte dieſe alte Frau, wohl eine Verwandte von 
ihm, zuruͤckgelaſſen, um das ganze alte Haus zu beauf- 
ſichtigen. Die Zimmer in dieſem Seitengebaͤude waren 
ziemlich ſauber gehalten, aber die Tapeten ſchmutzig. In 
demjenigen Zimmer, in das wir eintraten, waren die 
Moͤbel bunt zuſammengewuͤrfelt, nicht zueinander paſ⸗ 
ſend und von ſehr geringem Werte: zwei L'hombretiſche, 
eine Kommode von Erlenholz, ein großer Brettertiſch aus 


184 Die Teufel 


einer Bauernſtube oder einer Küche, ein paar Stühle und 
ein Sofa mit einer Lattenlehne und harten Lederkiſſen. 
In einer Ecke befand ſich ein altertuͤmliches Heiligenbild, 
vor welchem die Alte ſchon vor unſerem Eintritte das 
Laͤmpchen angezuͤndet hatte, und an den Waͤnden hingen 
zwei große, dunkel gewordene Portraͤts in Ol; das eine 
ſtellte den ehemaligen Kaiſer Nikolai Pawlowitſch dar 
und war, nach dem Ausſehen zu urteilen, in den zwan— 
ziger Jahren dieſes Jahrhunderts gemalt; das andere 
war das Bild irgendeines Biſchofs. 

Herr Kirillow zuͤndete, ſobald er eingetreten war, ein 
Licht an und holte aus ſeinem Koffer, der in der Ecke ſtand 
und noch nicht ausgepackt war, ein Kuvert, Siegellack 
und ein kriſtallenes Petſchaft heraus. 

„Siegeln Sie Ihren Zettel ein, und ſchreiben Sie die 
Adreſſe auf das Kuvert!“ 

Ich erwiderte, das ſei eigentlich nicht noͤtig; aber er 
beſtand darauf. Nachdem ich das Kuvert adreſſiert hatte, 
griff ich nach meiner Muͤtze. | | 

„Ich dachte, Sie würden bei mir Tee trinken,“ ſagte er; 
„ich habe Tee gekauft. Moͤgen Sie?“ 

Ich lehnte es nicht ab; die alte Frau brachte bald den 
Tee, das heißt eine maͤchtige Kanne mit heißem Waſſer, 
ein kleines Kaͤnnchen mit ſehr ſtarkem Tee, zwei große, 
grob bemalte Taſſen von Steingut, Semmeln und einen 
ganzen Teller voll Stuͤckenzucker. 

„Ich trinke gern Tee,“ ſagte er; „nachts; ich gehe viel 
hin und her und trinke; bis zum Morgengrauen. Im 
Auslande iſt das Teetrinken bei Nacht unbequem.“ 


„Sie legen ſich erſt gegen Morgen hin?“ 


< < 


Erſter Teil 185 


„Ja, immer; ſchon lange. Ich eſſe wenig; immer Tee. 
Liputin iſt ſchlau, aber ungeduldig.“ 

Es wunderte mich, daß er ſich auf ein Geſpraͤch einlaf- 
ſen wollte; ich beſchloß, den guͤnſtigen Augenblick zu Бег 
nutzen. 

„Es ſind vorhin unangenehme Mißverſtaͤndniſſe vor— 
gekommen,“ bemerkte ich. 

Er machte ein ſehr finſteres Geſicht. 

„Das ſind Dummheiten; das ſind lauter Poſſen. Das 
ſind lauter Poſſen, weil Lebjadkin ein Trunkenbold iſt. Ich 
habe zu Liputin nichts geſagt, ſondern nur erklaͤrt, daß es 
Poſſen ſind; denn jener Menſch hat gelogen. Liputin hat 
viel Phantaſie; aus einer Muͤcke macht er einen Elefanten. 
Ich habe ihm geſtern geglaubt.“ 

„Und heute glauben Sie mir?“ fragte ich lachend. 

„Sie wiſſen ja ſchon von vorhin uͤber alles Beſcheid. 
Liputin iſt entweder ſchwach oder ungeduldig oder boͤs— 
willig oder .. . neidiſch.“ 

Das letzte Wort fiel mir auf. 

„Sie haben da ſo viele Kategorien aufgeſtellt, daß es 
nicht wunderbar iſt, wenn er in eine von ihnen hineinge- 
hört.“ 

„Oder auch in alle zuſammen.“ 

„Ja, auch das koͤnnte ſein. Liputin iſt ein reines Chaos. 
Hat er das wirklich heute erlogen, daß Sie eine Abhand⸗ 
lung ſchreiben wollen?“ 

„Warum ſoll er das erlogen haben?“ erwiderte er, wie— 
der mit finſterer Miene und zu Boden blickend. 

Ich bat um Entſchuldigung und verſicherte ihm, daß ich 
ihn nicht ausfragen wolle. Er wurde rot. 


186 Die Teufel 


„Er hat die Wahrheit gejagt; ich ſchreibe. Aber das ift 
ganz egal.“ 

Ein Weilchen ſchwiegen wir beide; auf einmal trat auf 
ſein Geſicht das kindliche Laͤcheln, das ich ſchon von vorhin 
kannte. 

„Das von den Koͤpfen hat er ſelbſt aus einem Buche 
entnommen und mir ſelbſt zuerſt geſagt; er verſteht aber 
ſchlecht, was ich vorhabe. Ich ſuche nur die Urſache, wes— 
wegen die Menſchen es nicht wagen, ſich das Leben zu 
nehmen; weiter nichts. Und das iſt ganz egal.“ 

„Was meinen Sie damit, daß die Menſchen es nicht 
wagen? Gibt es denn etwa ſo wenig Selbſtmoͤrder?“ 

„Sehr wenige.“ 

„Finden Sie das wirklich?“ 

Er antwortete nicht, ſtand auf und begann nachdenk⸗ 
lich auf und ab zu gehen. 

„Was haͤlt denn Ihrer Anſicht nach die Menſchen vom 
Selbſtmorde zuruͤck?“ fragte ich. 

Er ſah mich zerſtreut an, wie wenn er ſich zu beſinnen 
ſuchte, wovon wir geſprochen haͤtten. 

„Ich ... ich bin mir darüber noch nicht ganz im 
klaren ... Zwei vorgefaßte Meinungen find es, die die 
Menſchen zuruͤckhalten; zwei Dinge, nur zwei; ein ſehr 
kleines und ein anderes ſehr großes. Aber das kleine iſt 
auch ſehr groß.“ | 

„Was iſt denn das kleine?“ 

„Der Schmerz.“ 

„Der Schmerz? Iſt denn das jo wichtig... in einem 
ſolchen Falle?“ 

„Das ſteht an erſter Stelle. Es gibt zwei Arten von 
Selbſtmoͤrdern: ſolche, die ſich entweder aus großem Kum⸗ 


| 


Erſter Teil 187 


mer töten oder aus Ingrimm oder im Wahnſinn oder aus 


ähnlichem Grunde... die tun es alle ploͤtzlich. Die den⸗ 
ken wenig an den Schmerz, ſondern tun es ploͤtzlich. Aber 
diejenigen, die es mit Überlegung tun, die denken viel 
daruͤber nach.“ 

„Aber gibt es denn ſolche, die es mit Überlegung tun?“ 

„Sehr viele. Wenn die vorgefaßte Meinung nicht da 
waͤre, wuͤrden es noch mehr ſein; ſehr, ſehr viele; alle.“ 

„Nun, nun! Wirklich alle?“ 

Er ſchwieg. 

„Gibt es denn kein Mittel, um ſchmerzlos zu ſterben?“ 
fragte ich. 

„Denken Sie ſich,“ erwiderte er, indem er vor mir 
ſtehen blieb, „denken Sie ſich einen Stein von ſolcher 
Groͤße wie ein großes Haus; er haͤngt, und Sie befinden 
ſich unter ihm; wenn er herunterfällt, Ihnen auf den 
Kopf, wird Ihnen das weh tun?“ 

„Ein hausgroßer Stein? Gewiß, das iſt ja furchtbar.“ 

„Von der Furcht rede ich nicht; wird es weh tun?“ 

„Ein Stein wie ein Berg? Ein Stein, der Millionen 
Pud ſchwer iſt? Selbſtverſtaͤndlich wird es nicht weh 
tun.“ 

„Aber obwohl Sie das einſehen, werden Sie doch, ſo— 
lange er haͤngt, ſehr fuͤrchten, daß es weh tun werde. Der 
groͤßte Gelehrte, der kluͤgſte Mann, alle, alle werden ſie 
das ſehr fuͤrchten.“ 

„Nun, und die zweite Urſache, die große?“ 

„Das Jenſeits.“ | 

„Das heißt: die Beſtrafung?“ 

„Ganz egal; das Jenſeits; nur das Jenſeits.“ 


188 Die Teufel 


„Gibt es nicht ſolche Atheiſten, die uͤberhaupt nicht an 


ein Jenſeits glauben?“ 

Er ſchwieg wieder. 

„Sie urteilen vielleicht nach ſich?“ fragte ich. 

„Jeder kann nur nach ſich urteilen,“ ſagte er er— 
roͤtend. „Die volle Freiheit wird dann da ſein, wenn es 
dem Menſchen ganz egal ſein wird, ob er lebt oder nicht. 
Das iſt das Ziel fuͤr die Geſamtheit.“ 

„Das Ziel? Aber dann wird vielleicht niemand mehr 
leben wollen?“ 

„Nein, niemand,“ erwiderte er in entſchiedenem Tone. 

„Der Menſch fuͤrchtet den Tod, weil er das Leben liebt; 
ſo faſſe ich das auf,“ bemerkte ich, „und ſo hat es die 
Natur gewollt.“ 

„Das iſt gemein, und hierin ſteckt der Betrug!“ Seine 
Augen funkelten. „Das Leben iſt Schmerz, das Leben 
iſt Furcht, und der Menſch iſt ungluͤcklich. Jetzt iſt alles 
Schmerz und Furcht. Jetzt liebt der Menſch das Leben, 
weil er den Schmerz und die Furcht liebt. Das Leben 
wird einem jetzt gegeben zum Zwecke des Schmerzes und 
der Furcht, und hierin ſteckt der ganze Betrug. Jetzt iſt der 
Menſch noch nicht der richtige Menſch. Es wird einen 
neuen Menſchen geben, einen gluͤcklichen und ſtolzen 
Menſchen. Wem es ganz egal ſein wird, ob er lebt oder 
nicht, der wird ein neuer Menſch ſein. Wer den Schmerz 
und die Furcht uͤberwindet, der wird ſelbſt ein Gott ſein. 
Und jener Gott wird dann nicht ſein.“ 

„Alſo exiſtiert jener Gott doch nach Ihrer Anſicht?“ 

„Er eriftiert nicht; aber Er eriftiert. Der Stein be- 
reitet keinen Schmerz; aber die Furcht vor dem Stein Без 
reitet Schmerz. Gott iſt der Schmerz der Todesfurcht. 


EN A 
че м 


Erſter Teil 189 


Wer den Schmerz und die Furcht uͤberwindet, der wird 
ſelbſt ein Gott. Dann wird ein neues Leben ſein und ein 
neuer Menſch; alles wird neu jein... Dann wird man 
die Geſchichte in zwei Teile teilen: vom Gorilla bis zur 
Vernichtung Gottes und von der Vernichtung Gottes 
в...“ 

„Bis zum Gorilla?“ 

„bis zur phyſiſchen Umgeſtaltung der Erde und bis 
zur phyſiſchen Umgeſtaltung des Menſchen. Der Menſch 
wird ein Gott ſein und wird ſich phyſiſch umgeſtalten. 
Auch die Welt wird ſich umgeſtalten, und die Dinge wer— 
den ſich umgeſtalten und die Gedanken und alle Empfin— 
dungen. Wie denken Sie daruͤber: wird ſich dann der 
Menſch phyſiſch umgeſtalten?“ 


„Wenn es den Menſchen ganz egal ſein wird, ob ſie 
leben oder nicht, dann werden ſich alle toͤten, und darin 
wird vielleicht die Umgeſtaltung beſtehen.“ 

„Das iſt ganz egal. Der Betrug wird getoͤtet werden. 
Jeder, der die voͤllige Freiheit erlangen will, muß es 
wagen, ſich zu töten. Wer es wagt, ſich zu töten, der hat 
das Geheimnis des Betruges erkannt. Eine höhere Frei— 
heit gibt es nicht; das iſt alles, daruͤber hinaus gibt es 
nichts. Wer es wagt, ſich zu toͤten, der iſt ein Gott. Jetzt 
kann jeder bewirken, daß Gott nicht exiſtiert und nichts 
eriftiert. Aber es hat es noch nie jemand getan.“ 

„Es hat doch Millionen von Selbſtmoͤrdern gegeben.“ 

„Aber alle haben es nicht deswegen getan, alle mit 
Furcht und nicht zu dieſem Zwecke. Nicht um die Furcht 
zu toͤten. Wer ſich nur deswegen toͤtet, um die Furcht zu 
toͤten, der wird ſogleich ein Gott werden.“ 


190 Die Teufel 


„Er wird dazu vielleicht Feine Zeit mehr haben,” be- 
merfte 14. 

„Das iſt ganz egal,“ antwortete er leiſe mit ruhigem 
Stolze, beinah geringſchaͤtzig. „Es tut mir leid, daß Sie 
anſcheinend ſich daruͤber luſtig machen,“ fuͤgte er nach 
einer halben Minute hinzu. 

„Es kommt mir ſonderbar vor, daß Sie vorhin ſo reiz— 
bar waren und jetzt mit ſolcher Ruhe, wenn auch mit 
großem Eifer reden.“ 

„Vorhin? Das war eine laͤcherliche Geſchichte,“ ver- 
ſetzte er laͤchelnd. „Ich ſtreite nicht gern und lache nie⸗ 
mals,“ fuͤgte er traurig hinzu. 

„Ja, Sie verbringen Ihre Naͤchte beim Tee gewiß nicht 
froͤhlich.“ 

Ich ſtand auf und griff nach meiner Muͤtze. 

„Meinen Sie?“ fragte er laͤchelnd und einigermaßen 
erſtaunt. „Warum denn? Nein, ich . . ich weiß nicht“ 
(er geriet auf einmal in Verwirrung), „ich weiß nicht, 
wie es bei andern iſt; aber ich habe das Gefuͤhl, daß ich 
nicht ſo kann wie jeder. Jeder denkt daran und denkt dann 
gleich wieder an etwas anderes. Ich kann an nichts 
anderes denken; ich denke das ganze Leben uͤber nur an 
das Eine. Mich hat Gott das ganze Leben uͤber gequaͤlt,“ 
ſchloß er ploͤtzlich mit erſtaunlicher Mitteilſamkeit. 

„Aber ſagen Sie doch, wenn Sie die Frage geſtatten, 
woher kommt es, daß Sie das Ruſſiſche nicht korrekt ſpre— 
chen? Haben Sie es wirklich im Auslande in den fuͤnf 
Jahren verlernt?“ 

„Spreche ich es denn inkorrekt? Ich weiß es nicht. Nein, 
nicht deshalb weil ich im Auslande geweſen bin. Ich habe 


n 


— 


Erſter Teil 191 


mein ganzes Leben lang jo geſprochen ... es iſt mir ganz 
egal.“ 

„Noch eine delikatere Frage: ich glaube Ihnen vollkom- 
men, daß Sie keine Neigung haben, mit Menſchen zu ver- 
kehren, und daß Sie wenig mit Menſchen reden. Warum 
haben Sie ſich dann aber mit mir jetzt in ein Geſpraͤch ein⸗ 
gelaſſen?“ 

„Mit Ihnen? Sie haben vorhin ſo nett dabeigeſeſſen, 
und Sie... übrigens ЦЕ das ganz egal ... Sie haben 


eine große Ahnlichkeit mit meinem Bruder, eine ſehr 
große, ganz außerordentliche,“ ſagte er erroͤtend. „Er 


ſtarb vor ſieben Jahren; der aͤlteſte; eine ſehr, ſehr große.“ 

„Da hat er gewiß großen Einfluß auf Ihre Denkweiſe 
gehabt?“ 

„N⸗nein, er ſprach wenig; er ſagte nichts. Ich werde 
Ihren Zettel abgeben.“ 

Er begleitete mich mit einer Laterne zum Sie um 
hinter mir zuzuſchließen. 

„Selbſtverſtaͤndlich ein Verruͤckter!“ ſagte ich mir im 
ſtillen. Im Tore hatte ich ein neues Zuſammentreffen. 


IX 
Kaum hatte ich den Fuß über die hohe Schwelle des 
Pfoͤrtchens geſetzt, als mich auf einmal eine ſtarke Hand 
an der Bruſt packte. 

„Werda?“ bruͤllte eine Stimme. „Freund oder Feind? 
Steh Rede!“ 

„Es iſt einer von den Unſrigen, einer von den Unſri— 
gen!“ kreiſchte daneben Liputins ſchwache Stimme. „Es 
iſt Herr G***m, ein junger Mann, der eine klaſſiſche 
Bildung hat und in den hoͤchſten Kreiſen verkehrt.“ 


192 Die Teufel 


„Das gefällt mir, in den hoͤchſten Kreiſen, Hajj.-.- 
klaſſiſch . . . alſo ſehr ge-gebildet ... Hauptmann a. D. 
Ignat Lebjadkin; ſtehe der Welt und den Freunden zu 
Dienſten .. . wenn fie treu find, wenn fie treu find, die 
Schurken!“ 

Hauptmann Lebjadkin, ein Huͤne von Geſtalt, dick, flei- 
ſchig, kraushaarig, rot im Geſicht und ſtark betrunken, 
konnte kaum vor mir auf den Beinen ſtehen und brachte 
die Worte nur mit Muͤhe heraus. Ich hatte ihn uͤbrigens 
auch fruͤher ſchon von weitem geſehen. 

„Ach, auch der iſt da!“ bruͤllte er wieder, als er Kirillow 
erblickte, der mit ſeiner Laterne immer noch nicht fortge- 
gangen war. Er wollte ſchon die Fauſt erheben, ließ ſie 
aber ſogleich wieder ſinken. 

„Ich verzeihe Ihnen wegen Ihres Wiſſens! Ignat 
Lebjadkin iſt ein hoch-hoch⸗ge⸗ gebildeter. 


Die Liebe fiel mit ſuͤßem Schmerz 
Wie eine Bombe in mein Herz. 
Ich buͤßte (o wie kummervoll!) 
Den Arm ein bei Sewaſtopol. 


Ich bin allerdings nicht bei Sewaſtopol geweſen und 
bin auch nicht einmal einarmig; aber was ſagen Sie zu 


den Verſen?“ Dabei kam mir der Betrunkene mit ſeinem 


uͤbelriechenden Geſichte näher. 

„Der Herr hat keine Zeit, keine Zeit; er muß nach Hauſe 
gehen,“ redete ihm Liputin zu. „Er wird morgen alles 
Liſaweta Nikolajewna wiedererzaͤhlen.“ 

„Liſaweta! ...“ heulte er wieder. „Halt! Gehen Sie 

nicht weg! ... Noch ein andres Gedicht: 


2 


N 

2 
* 
PP 
1 *. 8 


‚м W 


Erſter Teil 193 


Vergleichbar dem leuchtenden Sterne, 
Jagt die Reit'rin einher wie der Wind; 
Es gruͤßt mich mit Laͤcheln von ferne 
Das ari⸗ſto⸗kratiſche Kind. 


An die ſterngleiche Reiterin.“ 

Ja, ſehen Sie wohl, das iſt ein Hymnus! Das iſt 
ein Hymnus, wenn Sie kein Eſel ſind! Die Tagediebe, 
die haben kein Verſtaͤndnis dafür! „Halt!“ ſchrie er und 
klammerte ſich an meinen Paletot feſt, obwohl ich mich 
mit aller Kraft durch das Pfoͤrtchen draͤngte. „Beſtellen 
Sie ihr, daß ich ein Ritter bin, der Ehre im Leibe hat; 
und Daſcha .. dieſe Daſcha werde ich mit zwei Fin- 
gern ... Dieſe leibeigene Magd wird nicht wagen ...“ 

Hier fiel er hin, weil ich mich mit Gewalt aus ſeinen 
Haͤnden riß und auf die Straße lief. Liputin folgte mir 
dorthin. 

„Alexei Nilowitſch wird ihn ſchon aufheben. Wiſſen 
Sie, was ich ſoeben von ihm erfahren habe?“ ſchwatzte 
er eifrig. „Haben Sie die Verſe gehoͤrt? Nun, dieſe 
ſelben Verſe an die ‚fterngleiche Reiterin' hat er drucken 
laſſen und wird fie morgen mit feiner vollen Namens⸗ 
unterſchrift an Liſaweta Nikolajewna ſchicken. Was ſagen 
Sie zu einem ſolchen Menſchen?“ 

„Ich moͤchte darauf wetten, daß Sie ſelbſt ihn dazu ver⸗ 
anlaßt haben.“ 

„Sie werden die Wette verlieren!“ verſetzte Liputin 
lachend. „Er ift verliebt, verliebt wie ein Kater, und И? 
ſen Sie wohl, daß die Geſchichte mit Haß begonnen hat? 
Er hat Liſaweta Nikolajewna anfangs wegen ihres 
Reitens dermaßen gehaßt, daß er beinahe auf der Straße 
LXIII. 13 


194 Die Teufel - 


laut auf fie geſchimpft hat; und er hat es auch wirklich 
getan! Noch vorgeſtern hat er auf ſie geſchimpft, als ſie 
vorbeiritt; zum Gluͤck hoͤrte ſie es nicht. Und nun auf ein⸗ 
mal heute Verſe! Wiſſen Sie wohl, daß er es wagen 
will, ihr einen Antrag zu machen? Im Ernſt, im Ernſt!“ 


„Ich muß mich über Sie wundern, Liputin; uͤberall, 
wo ſolch ekelhaftes Treiben ſtattfindet, uͤberall ſind Sie 
der Anfuͤhrer!“ rief ich zornig. 


„Da übertreiben Sie doch, Herr G***m! Hat Ihnen 
nicht das Herzchen gepuckert aus Angſt vor dem Neben- 
buhler? Wie?“ 


„Wa⸗a⸗as?“ rief ich, ſtehen bleibend. 


„Sehen Sie, nun werde ich Ihnen zur Strafe auch 
nichts weiter ſagen! Und wie gern wuͤrden Sie es hoͤren! 
Schon allein das, daß dieſer Dummkopf jetzt kein ein⸗ 
facher Hauptmann iſt, ſondern ein Gutsbeſitzer unſeres 
Gouvernements, und noch dazu ein ziemlich bedeutender, 
da Nikolai Wſewolodowitſch ihm ſein ganzes Gut, ſeine 
fruͤheren zweihundert Seelen dieſer Tage verkauft hat, 
und Gott ſtraf mich, ich luͤge Ihnen nichts vor. Ich habe 
es eben erſt erfahren, aber dafuͤr aus ganz zuverlaͤſſiger 
Quelle. Na, jetzt taften Sie ſich nur ſelbſt mit Ihrem 
Spuͤrſinn weiter; mehr werde ich Ihnen nicht ſagen. Auf 
Wiederſehen!“ 


X 
Stepan Trofimowitſch erwartete mich in krampfhafter 
Aufregung. Er war ſchon vor einer Stunde zuruͤckgekehrt. 
Als ich ihn ſah, machte er den Eindruck eines Betrunkenen; 


% 


Erſter Teil 195 


wenigſtens glaubte ich die erſten fuͤnf Minuten lang, daß 
er betrunken ſei. Der Beſuch bei Droſdows hatte ihn 
leider vollkommen wirr im Kopfe gemacht. 


„Mon ami, ich habe jetzt den Faden des Zuſammen— 
hanges ganz und gar verloren ... Was Liſa angeht, jo 
liebe und verehre ich dieſen Engel wie fruͤher, ganz wie 
fruͤher; aber es ſcheint mir, daß die beiden Damen mich 
nur erwartet haben, um etwas zu erfahren, das heißt, um 
einfach irgend etwas aus mir herauszuholen und mich 
dann meiner Wege zu ſchicken ... So ſteht es.“ 


„Schaͤmen Sie ſich!“ rief ich, nicht imſtande, mich zu 
beherrſchen. 


„Mein Freund, ich ſtehe jetzt vollſtaͤndig allein da. 
Enfin c'est ridicule. Denken Sie nur: auch dort iſt alles 
mit Geheimniſſen vollgepfropft. Sie ſtuͤrzten auf mich 
los und verlangten Auskunft über dieſe Naſen- und 
Ohrengeſchichten und uͤber einige Petersburger Geheim— 
niſſe. Sie hatten beide erſt hier zum erſtenmal von den 
Tollheiten gehoͤrt, die Nikolai hier vor vier Jahren ange— 
geben hat; „Sie ſind ja hier geweſen; Sie haben es mit— 
erlebt, ſagten fie; ‚ift es wahr, daß er verruͤckt ИЕ? Und 
wie fie auf dieſe Idee gekommen find, das ИЕ mir un— 
begreiflich. Warum will Praſkowja durchaus, daß Niko⸗ 
lai ſich als Verruͤckter herausſtellt? Und das will dieſes 
Weib, das will ſie! Ce Maurice oder, wie ſie ihn nennen, 
Mawriki Nikolajewitſch, iſt ein brave homme tout de 
meme; aber ſollte fie das wirklich in feinem Intereſſe 
wuͤnſchen, und nachdem ſie ſelbſt zuerſt aus Paris an 
cette pauvre amie jenen Brief geſchrieben hat? ... Enfin, 
dieſe Praſkowja, wie fie von cette chere amie genannt 


196 Die Teufel 


wird, ЦЕ ein Typus; fie ЦЕ Gogols Frau Korobotjchkat, 
und zwar in außerordentlich vergroͤßertem Maßſtabe.“ 
„Nun, wenn ſie es in vergroͤßertem Maßſtabe iſt, dann 
kommt wohl eine gehoͤrige Schachtel heraus?“ 
„Na oder in verkleinertem Maßſtabe; das iſt ganz 


gleichguͤltig; unterbrechen Sie mich nur nicht; mir iſt der 


Kopf ſowieſo ſchon ganz wirbelig. Dort haben ſich die 
Weiber vollſtaͤndig verzankt; außer Liſa, die immer noch 
„Tantchen, Tantchen' jagt; aber Liſa iſt ſchlau, und da 
ſteckt noch etwas anderes dahinter. Geheimniſſe. Aber 
mit der Alten hat es einen großen Zank gegeben. Cette 
pauvre Tante tyranniſiert allerdings alle ſchrecklich. Aber 
da iſt nun die Frau Gouverneur, und die Reſpektloſigkeit 
der Geſellſchaft, und die Reſpektloſigkeit Karmaſinows; 
und dazu nun noch auf einmal die Idee, Nikolai ſei viel⸗ 
leicht geiſtesgeſtoͤrt, und ce Lipoutine, ce que je ne com- 
prends pas... und es heißt, fie habe ſich Eſſigumſchlaͤge 
um den Kopf gemacht, und dann noch Sie und ich mit 
unſeren Klagen und mit unſeren Briefen ... Oh, wie 
habe ich fie gequält, gerade in einer ſolchen Zeit! Je suis 
un ingrat! Denken Sie ſich: ich komme zuruͤck und finde 
einen Brief von ihr vor; leſen Sie ihn, leſen Sie ihn! 
Oh, wie undankbar habe ich mich benommen!“ 

Er gab mir den Brief, den er ſoeben von Warwara 
Petrowna erhalten hatte. Sie ſchien ihre ſchroffe An— 
weiſung vom Vormittage: „Halten Sie ſich zu Hauſe!“ 
zu bereuen. Das Briefchen war höflich, aber doch ent— 
ſchieden und wortkarg. Sie erſuchte Stepan Trofimo— 
witſch, uͤbermorgen, am Sonntage, puͤnktlich um zwoͤlf 
In Gogols Roman „Tote Seelen“; der Name bedeutet Schaͤch— 
telchen. Anmerkung des Überfegers. 


а 


Erſter Teil 197 


Uhr zu ihr zu kommen, und riet ihm, einen ſeiner Freunde 
(in Klammern ſtand meine Name) mitzubringen. Sie 
verſprach, ihrerſeits Schatow, als Darja Pawlownas 
Bruder, hinzuzuziehen. „Sie koͤnnen von ihr eine end- 
guͤltige Antwort erhalten; wird Ihnen das genuͤgen? 
Legen Sie auf dieſe Formalitaͤt ſolchen Wert?“ 

„Beachten Sie am Schluſſe dieſe gereizte Redewendung 
von der Formalitaͤt! Arme, arme Freundin meines gan— 
zen Lebens! Ich bekenne, dieſe ploͤtzliche Entſcheidung, 
die das Schickſal trifft, hat mich niedergedruͤckt ... Ich 
bekenne, ich hoffte immer noch; aber jetzt tout est dit; 
ich weiß jetzt, daß alles zu Ende ЦЕ; e' est terrible. O wenn 
es doch dieſen Sonntag gar nicht gaͤbe, ſondern alles wie 
fruͤher waͤre: Sie wuͤrden zu mir kommen, und ich wuͤrde 
Be: 

„Sie haben ſich durch all die Gemeinheiten und Klat— 
ſchereien, die Liputin heute vorgebracht hat, ganz aus dem 
ruhigen Geleiſe bringen laſſen.“ 

„Mein Freund, Sie haben ſoeben mit Ihrem Freundes— 
finger einen andern wunden Punkt berührt. Dieſe Freun⸗ 
desfinger ſind uͤberhaupt erbarmungslos und manchmal 
unvernuͤnftig, pardon; aber (werden Sie es glauben?) 
ich hatte dies alles, dieſe Gemeinheiten beinah vergeſſen, 
das heißt vergeſſen hatte ich ſie durchaus nicht; aber die 
ganze Zeit uͤber, waͤhrend ich bei Liſa war, bemuͤhte ich 
mich in meiner Dummheit, gluͤcklich zu ſein, und redete 
mir ein, daß ich gluͤcklich ſei. Aber jetzt .. . o jetzt denke 
ich an dieſe großmuͤtige, humane, gegen meine haͤßlichen 
Mängel jo nachſichtige Frau; das heißt, fie ift nicht durch— 
weg nachſichtig geweſen, aber was bin ich auch fuͤr ein 
Menſch mit meinem ſchwaͤchlichen, haͤßlichen Charakter! 


. 


198 Die Teufel 


Ich bin ja ein eigenfinniges Kind und Бейве den gan- 
zen Egoismus eines Kindes, aber ohne deſſen Unſchuld. 
Sie hat mich zwanzig Jahre lang wie eine Kinderwaͤrterin 
gepflegt, dieſes arme ‚Tantchen‘, wie Liſa fie jo anmutig 
nennt ... Und auf einmal, nach zwanzig Jahren, will 
das Kind ſich verheiraten, ‚verheirate mich, verheirate 
mich! jagt es und ſchreibt Brief auf Brief, und fie hat ſich 
Eſſigumſchlaͤge gemacht, und ... und da hat es nun am 
naͤchſten Sonntag erreicht, was es wollte, und iſt ein ver- 
heirateter Mann; es klingt komiſch! ... Und warum habe 
ich denn ſelbſt darauf beſtanden und die Briefe geſchrie— 
ben? Ja, das hatte ich noch vergeſſen zu ſagen: Liſa iſt 
entzuͤckt von Darja Pawlowna; wenigſtens ſagt Пе es; fie 
ſagt von ihr: ‚C'est un ange; fie verſteckt es nur etwas.“ 
Beide haben ſie mir dazu geraten, ſogar Praſkowja 
uͤbrigens hat mir Praſkowja nicht dazu geraten. Oh, 
wieviel Gift liegt in dieſer Frau Korobotſchka verborgen! 
Und auch Fifa hat mir eigentlich nicht dazu geraten: ‚Wozu 
wollen Sie eine Frau nehmen, ſagte Пе; ‚Sie haben doch 
an den gelehrten Genuͤſſen genug.“ Dazu lachte fie. Ich 
habe ihr ihr Lachen verziehen, weil ihr ſelbſt nicht wohl 
ums Herz iſt. Aber fie ſagten beide: ‚Ohne Frau koͤnnen 
Sie nicht zurechtkommen. Die Jahre der Altersſchwaͤche 
ruͤcken bei Ihnen heran; da wird dann die Frau Sie be— 
treuen‘, oder wie fie da ſagten ... Ma foi, ich habe auch 
ſelbſt in dieſer ganzen Zeit, waͤhrend ich hier mit Ihnen 
zuſammenſaß, bei mir gedacht, daß wohl die Vorſehung 
ſelbſt ſie mir beim Ausgange meiner ſtuͤrmiſchen Tage 
ſendet, und daß ſie mich betreuen wird, oder wie ſie da 
ſagten ... Enfin, fie iſt in meiner Wirtſchaft notwendig. 
Was herrſcht bei mir fuͤr eine Unſauberkeit! Und ſehen 


De 


в * 


Erſter Teil 199 


Sie nur: alles liegt herum; vorhin habe ich befohlen auf— 
zuraͤumen, und nun liegt noch ein Buch auf der Erde! 
La pauvre amie hat ſich immer daruͤber geaͤrgert, daß 
es bei mir jo unreinlich ausſieht ... Oh, jetzt wird ihre 
Stimme hier nicht mehr ertoͤnen! Vingt ans! Und ſie 
haben, wie es ſcheint, anonyme Briefe erhalten, in denen 
ſteht, denken Sie nur, Nikolai habe ſein Gut an Leb— 
jadkin verkauft. C'est un monstre: et enfin, was fuͤr 
ein Menſch ИЕ dieſer Lebjadkin? Liſa hörte mit geſpann⸗ 
ter Aufmerkſamkeit zu; nein, wie fie zuhoͤrte! Ich habe ihr 
ihr Lachen verziehen; ich ſah, mit was fuͤr einem Geſichte 
fie zuhoͤrte, und ce Maurice ... ich möchte jetzt nicht an 
ſeiner Stelle fein, brave homme tout de m&me, aber 
etwas blöde; uͤbrigens wuͤnſche ich ihm alles Gute ...“ 

Er ſchwieg; er war müde und konfus, ſaß mit geſenktem 
Kopfe da und blickte mit matten Augen ſtarr auf den 
Fußboden. Ich benutzte dieſe Pauſe und erzaͤhlte von 
meinem Beſuche im Filippowſchen Hauſe, wobei ich in 
ſcharfem, trockenem Tone meine Meinung dahin aus— 
ſprach, daß Lebjadkins Schweſter (die ich nicht geſehen 
hatte) tatſaͤchlich einmal Nikolais Opfer geworden {ет 
koͤnne, in jener rätjelhaften Periode feines Lebens, wie 
ſich Liputin ausgedruͤckt hatte, und daß es ſehr moͤglich 
ſei, daß Lebjadkin aus irgendwelchem Grunde von Nikolai 
Geld empfange; das ſei aber auch alles. Was die Klat- 
ſchereien uͤber Darja Pawlowna anlange, ſo ſei das alles 


nur dummes Zeug, Verdrehungen des Schurken Liputin; 


wenigſtens verſichere das Alexei Nilowitſch mit großer 


Waͤrme, und es ſei kein Grund vorhanden, dieſem zu 


mißtrauen. Stepan Trofimowitſch hoͤrte meine Verſiche— 
rungen mit zerſtreuter Miene an, wie wenn ihn die Sache 


Mk 
. 


200 Die Teufel 


gar nichts anginge. Ich erwähnte bei dieſer Gelegenheit 
auch mein Geſpraͤch mit Kirillow und fuͤgte hinzu, Kirillow 
ſei vielleicht geiſtesgeſtoͤrt. 

„Er iſt nicht geiſtesgeſtoͤrt; aber er gehört zu den Men: 
ſchen mit beſchraͤnktem Geſichtskreiſe,“ murmelte er matt 
und anſcheinend nur mit Überwindung. „Ces gens-lä 
supposent la nature et la societ& humaine autres que 
Dieu ne les a faites et qu'elles ne sont reellement. 
Manche ſcherzen mit dieſen Leuten; aber Stepan Wercho— 
wenſki tut das jedenfalls nicht. Ich habe ſie damals in 
Petersburg geſehen, avec cette chère amie (oh, wie habe 
ich dieſe Freundin damals gekraͤnkt!), und habe mich 
nicht nur ihren Schimpfreden, ſondern auch ihren Lob— 
ſpruͤchen gegenuͤber furchtlos bewieſen. Ich fuͤrchte ſie 
auch jetzt nicht; mais parlons d' autre chose . .. ich habe, 
wie es ſcheint, ſchreckliche Dinge angerichtet; denken Sie 
ſich: ich habe geſtern einen Brief an Darja Pawlowna 
abgeſchickt, und ... wie verwuͤnſche ich mich nun des⸗ 
wegen!“ 

„Was haben Sie ihr denn geſchrieben?“ 

„O mein Freund, Sie koͤnnen mir glauben: es war alles 
ein Ausfluß edler Geſinnung. Ich teilte ihr mit, daß ich 
ſchon fuͤnf Tage vorher an Nikolai geſchrieben haͤtte, und 
zwar in demſelben Sinne.“ 

„Jetzt verſtehe ich!“ rief ich erregt. „Und welches Recht 
hatten Sie, die beiden ſo miteinander zu konfrontieren?“ 

„Aber, mon cher, druͤcken Sie mich doch nicht voll⸗ 
ſtaͤndig zu Boden, und ſchreien Sie mich nicht ſo an; ich 
bin ja ſo ſchon zerquetſcht wie... wie eine Schabe; 
und ich glaube doch auch, daß meine ganze Handlungs⸗ 
weiſe durchaus edel iſt. Nehmen Sie an, daß dort, en 


. 


, 
A 
. У 


Erſter Teil 201 


Suisse, wirklich etwas geſchehen Ш... oder ſich ange— 
bahnt hat. Da muß ich doch vorſichtshalber ihre Herzen 
befragen, damit... enfin, damit ich ihren Herzen nicht 
hinderlich werde und ihnen wie ein Pfahl im Wege 
ſtehe .. . Ich habe nur aus edler Geſinnung gehandelt.“ 

„O Gott, wie dumm haben Sie gehandelt!“ entfuhr 
es mir unwillkuͤrlich. 

„Dumm, dumm!“ fiel er ordentlich eifrig ein. „Das 
iſt das Kluͤgſte, was Sie je gejagt haben; c’Etait bete, 
mais que faire, tout est dit. Ich werde ja doch unter 
allen Umſtaͤnden heiraten, auch wenn ‚fremde Suͤnden' 
vorliegen; alſo wozu brauchte ich da ей noch zu ſchrei⸗ 
ben? Nicht wahr?“ 

„Sie kommen wieder auf dasſelbe zuruͤck!“ 

„Oh, jetzt laſſe ich mich nicht durch Ihr Geſchrei er— 
ſchrecken; jetzt haben Sie nicht mehr jenen früheren Ste- 
pan Werchowenſki vor ſich; der И begraben; enfin, 
tout est dit. Und warum machen Sie ein ſolches 
Geſchrei? Einzig und allein deswegen, weil Sie 
ſelbſt nicht heiraten und auf dieſe Art nicht in die 
Lage kommen, den bekannten Kopfſchmuck zu tragen. Ar⸗ 
gert Sie dieſe Bemerkung wieder? Mein armer Freund, 
Sie kennen das Weib nicht; ich aber habe im Leben kaum 
etwas anderes getan als das Weib ſtudiert. Wenn du 
die ganze Welt uͤberwinden willſt, ſo uͤberwinde dich 
ſelbſt!!“ Das iſt der einzige gute Ausſpruch, der einem 
andern, Ihnen ähnlichen Romantiker, Schatow, dem Bru⸗ 
der meiner kuͤnftigen Frau, gelungen iſt. Gern nehme ich 
dieſen Gedanken von ihm heruͤber. Nun, ſehen Sie: auch 
ich bin bereit, mich ſelbſt zu uͤberwinden, und heirate; 
aber was werde ich ſtatt der ganzen Welt erobern? O 


202 Die Teufel 


mein Freund, die Ehe iſt der geiſtige Tod jeder ſtolzen 
Seele, jeder Unabhaͤngigkeit. Das Eheleben wird mich 
verderben, mir die Energie rauben, mir den Mut be— 
nehmen, der guten Sache zu dienen; es werden Kinder 
kommen, die noch dazu moͤglicherweiſe nicht die meinigen 
ſind, das heißt, die ſelbſtverſtaͤndlich nicht die meinigen 
ſind: der Weiſe ſcheut ſich nicht, der Wahrheit ins Geſicht 
zu ſchauen ... Liputin hat mir heute geraten, mich vor 
Nikolai durch Barrikaden zu ſchuͤtzen; er iſt dumm, dieſer 
Liputin. Das Weib betruͤgt ſelbſt das Auge, das alles 
ſieht. Le bon Dieu wußte, als er das Weib ſchuf, gewiß, 
was er wollte; aber ich bin uͤberzeugt, daß das Weib ſelbſt 
ihn an der Ausfuͤhrung ſeiner wahren Abſicht gehindert 
und ihn dahingebracht hat, ſie ſo zu ſchaffen, wie ſie 
jetzt iſt, und mit ſolchen Eigenſchaften; wer wuͤrde ſich 
ſonſt ohne Not fo viele Mühe und Sorgen aufladen? Na: 
ftafja wird mir allerdings vielleicht wegen meiner Frei— 
denkerei zuͤrnen; aber... Enfin, tout est dit.“ 

Er waͤre nicht er ſelbſt geweſen, wenn er es unterlaſſen 
haͤtte, ein billiges, freidenkeriſches Spaͤßchen zu machen, 
wie dergleichen damals en vogue waren; jedenfalls 
troͤſtete er ſich jetzt durch ein ſolches Spaͤßchen; aber der 
Troſt hielt nicht lange vor. 

„Oh, warum faͤllt nicht dieſes Übermorgen, dieſer 
Sonntag ganz fort!“ rief er plotzlich, nunmehr in völliger 
Verzweiflung, aus. „Warum kann nicht wenigſtens dieſe 
eine Woche ohne Sonntag ſein, si le miracle existe? 
Nun, was wuͤrde es denn der Vorſehung ausmachen, aus 
dem Kalender dieſen einen Sonntag auszuſtreichen, waͤrs 
auch nur, um den Atheiſten ihre Macht zu zeigen et que 
tout soit dit! O wie habe ich ſie geliebt! Zwanzig Jahre 


№ * Bu Ar: : _ N * 
| Erſter Teil 203 


lang, ganze zwanzig Jahre lang, und niemals hat ſie 
mich verſtanden!“ 

„Aber von wem reden Sie denn?“ fragte ich ihn er⸗ 
ſtaunt. „Auch ich verſtehe Sie nicht.“ 

„Vingt ans! Und kein einziges Mal hat ſie mich ver— 
ſtandenz oh, das ЦЕ hart! Und glaubt fie denn wirklich, 
daß ich aus Furcht, aus Not heirate? O welche Schmach! 
Tante, Tante, ich tue es um deinetwillen! Oh, möge fie 
es erfahren, dieſe Tante, daß ſie die einzige Frau iſt, die 
ich zwanzig Jahre lang angebetet habe! Das muß ſie er— 
fahren; ſonſt wird nichts daraus; ſonſt wird man mich 
nur mit Gewalt unter das ſchleppen koͤnnen ce qu'on 
appelle la Krone.“ 

Ich hoͤrte zum erſten Male dieſes ſo energiſch ausge— 
ſprochene Bekenntnis. Ich will nicht leugnen, daß ich die 
groͤßte Luſt hatte, laut loszulachen. Ich hatte unrecht. 

„Nur er, nur er iſt mir jetzt geblieben; er iſt meine ein— 
zige Hoffnung!“ rief er und ſchlug die Haͤnde zuſammen, 
wie wenn er ploͤtzlich von einem neuen Gedanken uͤber— 
raſcht waͤre. „Jetzt wird nur er, mein armer Junge, mich 
retten und ... oh, warum kommt er nicht? O mein 
Sohn, o mein Peter! ... Ich verdiene zwar eher den 
Namen eines Tigers als den eines Vaters, aber ... lais- 
sez moi, mon ami: ich will mich ein bißchen hinlegen, 
um meine Gedanken zu ſammeln. Ich bin ſo muͤde, ſo 

muͤdez und auch fuͤr Sie, glaube ich, iſt es Zeit, ſchlafen 
zu gehen; voyez- vous, es iſt ſchon zwölf Uhr ...“ 

1 Bei der Trauung werden über dem Brautraar Kronen gebalten. 

Anmerkung des Überſetzers. 


204 Die Teufel 


Viertes Kapitel 


Die Lahme 


1 f 

Schatow benahm ſich nicht eigenſinnig und erſchien ше 
folge meines Zettels um zwoͤlf Uhr bei Liſaweta Niko— 
lajewna. Wir traten faſt gleichzeitig ein; ich war eben- 
falls gekommen, um meinen erſten Beſuch zu machen. Sie 
ſaßen alle, das heißt Liſa, die Mama und Mawriki Niko⸗ 
lajewitſch, in dem großen Salon und ſtritten ſich mit- 
einander. Die Mama hatte verlangt, Liſa ſolle ihr einen 
beſtimmten Walzer auf dem Klavier vorſpielen; als dieſe 
aber den verlangten Walzer angefangen hatte, hatte die 
Mama behauptet, das ſei nicht der richtige. Mawriki 
Nikolajewitſch war in ſeiner ſchlichten Aufrichtigkeit fuͤr 
Liſa eingetreten und hatte verſichert, daß es wirklich eben 
jener Walzer ſei; die Alte aber hatte vor Arger ange— 
fangen zu weinen. Sie war krank und konnte nur mit 
Muͤhe gehen. Die Fuͤße waren ihr geſchwollen, und ſo 
hatte ſie denn ſeit einigen Tagen nichts anderes getan 
als die uͤbrigen durch ihre Launen gequaͤlt und mit ihnen 
Haͤndel geſucht, trotzdem ſie vor Liſa immer etwas Furcht 
hatte. Über unſer Kommen freuten ſie ſich. Liſa wurde 
ganz rot vor Freude und ſagte zu mir merci natuͤrlich mit 
Bezug darauf, daß ich Schatow zum Kommen veranlaßt 
hatte; dann trat fie zu ihm hin und betrachtete ihn neu⸗ 
gierig. 

Schatow war linkiſch an der Tuͤr ſtehen geblieben. 
Nachdem ſie ihm fuͤr ſein Kommen gedankt hatte, fuͤhrte 
ſie ihn zur Mama. 


A Ла,’ Tr 
о. 
r > 


e 


<. 


Erſter Teil 205 


„Dies iſt Herr Schatow, uͤber den ich ſchon mit Ihnen 
geſprochen habe, und dies Ш Herr G***m, ein guter 
Freund von mir und von Stepan Trofimowitſch. Maw⸗ 
riki Nikolajewitſch ИЕ geſtern auch ſchon mit ihm bekannt 
geworden.“ 

„Und welcher von beiden iſt der Profeſſor?“ 

„Ein Profeſſor iſt uͤberhaupt nicht da, Mama.“ 

„Aber du haſt doch ſelbſt geſagt, es werde ein Profeſſor 
herkommen; gewiß ift es der,“ ſagte fie, indem fie пад: 
laͤſſig auf Schatow zeigte. 

„Ich habe nie zu Ihnen geſagt, daß ein Profeſſor zu 
uns kommen werde. Herr G** * w ИЕ Beamter, und Herr 
Schatow iſt früher Student geweſen.“ 

„Student, Profeſſor, das kommt doch auf eins heraus; 
die ſind beide von der Univerſitaͤt. Du willſt immer nur 
ſtreiten. Der in der Schweiz trug einen Vollbart.“ 

„Mama nennt den Sohn von Stepan Trofimowitſch 
immer Profeſſor,“ ſagte Liſa und fuͤhrte Schatow nach 
dem andern Ende des Salons zu einem Sofa. „Wenn 
ihr die Fuͤße geſchwollen ſind, iſt ſie immer ſo; Sie 
verſtehen wohl: ſie iſt krank,“ fluͤſterte ſie Schatow zu 


und fuhr dabei fort, ihn und beſonders den aufrecht— 


ſtehenden Haarbuͤſchel auf ſeinem Kopfe mit groͤßtem 
Intereſſe zu betrachten. 
„Sind Sie beim Militaͤr?“ fragte mich die Alte, der 


mich Liſa erbarmungslos uͤberlaſſen hatte. 


. 1 
у 8 
. 
р» 
er. 


„Nein, ich bin Beamter 

„Herr G***yp iſt ein guter Freund von Stepan Trofi⸗ 
mowitſch,“ rief Liſa ſogleich. 

„Sind Sie bei Stepan Trofimowitſch angeſtellt? Der 
iſt ja auch Profeſſor?“ 


206 Die Teufel 


„Ach Mama, Sie träumen gewiß auch in der Nacht 
von Profeſſoren!“ rief Liſa aͤrgerlich. 

„Ich habe auch ſchon bei Tage genug davon! Aber 
du mußt doch auch immer deiner Mutter widerſprechen. 
Waren Sie hier, als Nikolai Wſewolodowitſch vor vier 
Jahren herkam?“ 

Ich antwortete bejahend. 

„War da ein Englaͤnder mit Ihnen zuſammen hier?“ 

„Nein, es war keiner hier.“ 

Liſa lachte. 

„Siehſt du wohl, es iſt gar kein Englaͤnder dageweſen; 
alſo iſt das Schwindel. Warwara Petrowna und Stepan 
Trofimowitſch ſchwindeln alle beide. Alle Menſchen 
ſchwindeln.“ 

„Naͤmlich die Tante und Stepan Trofimowitſch“, | 
ſagte Liſa erflärend zu uns, „fanden geftern eine gewiſſe 
Ahnlichkeit zwiſchen Nikolai Wſewolodowitſch und dem 
Prinzen Harry in Shakeſpeares Heinrich dem Vierten, 
und daher fragt Mama, ob kein Englaͤnder dageweſen 
e | 

„Wenn fein Harry da war, dann war auch kein Eng 
laͤnder da. Nikolai Wſewolodowitſch hat ſeine Tollheiten 
allein begangen.“ 

„Ich verſichere Ihnen, daß Mama abſichtlich ſo redet,“ 
fand Liſa für nötig zu Schatow zur Erklaͤrung zu fagen. | 
„Sie weiß ſehr gut mit Shakeſpeare Beſcheid. Ich habe 
ihr ſelbſt den erſten Akt des Othello vorgeleſen; aber 
ſie iſt jetzt ſehr leidend. Mama, hoͤren Sie? Es ſchlaͤgt 
zwoͤlf; es iſt Zeit, daß Sie Ihre Medizin einnehmen.“ 

„Der Doktor iſt gekommen,“ meldete das Stubenmaͤd⸗ 
chen, das in der Tür erſchien. | 


— = 


Erſter Teil 207 


Die alte Dame ſtand auf und rief ihr Huͤndchen: 
„Semirka, Semirka, komm mit mir mit!“ 

Das kleine, alte, haͤßliche Huͤndchen Semirka ge- 
horchte indeſſen nicht, ſondern kroch unter das Sofa, auf 
dem Liſa ſaß. 

„Du willſt nicht? Dann will ich dich auch gar nicht 
haben. Leben Sie wohl, mein Lieber; ich kenne Ihren 
Vor⸗ und Vatersnamen nicht,“ wandte ſie ſich an mich. 

„Anton Lawrentjewitſch ..“ 

„Nun, es iſt ganz gleich, ob ich es hoͤre oder nicht; ſo 
etwas geht bei mir zum einen Ohre herein und aus dem 
andern hinaus. Sie brauchen mich nicht zu begleiten, 
Mawriki Nikolajewitſch; ich hatte nur Semirka gerufen. 
Ich kann ja, Gott ſei Dank, noch allein gehen, und mor⸗ 
gen will ich ſpazieren fahren.“ 

Argerlich verließ ſie den Salon. 

„Anton Lawrentjewitſch, unterhalten Sie ſich ſolange 
mit Mawriki Nikolajewitſch; ich verſichere Ihnen, daß 
Sie beide Gewinn davon haben werden, wenn Sie ein— 
ander naͤher kennen lernen,“ ſagte Liſa und laͤchelte dem 
Offizier freundlich zu, deſſen Geſicht unter ihrem Blick 
freudig aufleuchtete. 

Es war weiter nichts zu machen; es blieb mir nichts 
übrig, als mich mit Mawriki Nikolajewitſch zu unter⸗ 
halten. 


II 
Zu meiner Verwunderung ſtellte es ſich heraus, daß 
Liſaweta Nikolajewna mit Schatow tatſaͤchlich nur 
uͤber ein literariſches Unternehmen ſprechen wollte. Ich 
weiß nicht warum, aber ich hatte mir eingebildet, ſie 


208 Die Teufel 


habe ihn zu irgendeinem andern Zwecke zu ſich kommen 
laſſen. Da wir, das heißt ich und Mawriki Nikolaje⸗ 
witſch, ſahen, daß die beiden aus der Sache kein Geheim— 
nis vor uns machten und ganz laut ſprachen, ſo fingen 
wir an zuzuhoͤren; dann wurden wir ſogar zu Rate ge— 
zogen. Die ganze Sache beſtand darin, daß Liſaweta 
Nikolajewna ſchon lange die Herausgabe eines ihrer 
Meinung nach nuͤtzlichen Buches plante, aber bei ihrer 
voͤlligen Unerfahrenheit eines Mitarbeiters bedurfte. 
Der Ernſt, mit welchem ſie ſich daran machte, Schatow 
ihren Plan auseinanderzuſetzen, ſetzte mich geradezu in 
Erſtaunen. 

„Alſo auch eine von der modernen Richtung,“ dachte 
ich; „ſie ſcheint nicht umſonſt in der Schweiz geweſen zu 
ſein.“ 

Schatow hörte, den Blick auf den Boden geheftet, auf: 
merkſam zu und bekundete nicht die geringſte Verwun⸗ 
derung daruͤber, daß eine durch ganz andere Intereſſen 
in Anſpruch genommene Dame der höheren Geſellſchafts— 
kreiſe ſich mit ſolchen ihr anſcheinend fernliegenden Din⸗ 
gen abgab. 

Das literariſche Unternehmen war von folgender Art. 
Es erſcheinen in Rußland in den Hauptſtaͤdten und in der 
Provinz eine Menge von Zeitungen und anderen Jour— 
nalen, und in ihnen wird taͤglich uͤber eine Menge von 
Ereigniſſen berichtet. Das Jahr geht zu Ende, die Zei— 
tungen werden uͤberall entweder in Schraͤnke gepackt oder 
beſchmutzt und zerriſſen oder zum Einwickeln und zu 
Nachtmuͤtzen verwendet. Viele der publizierten Tat— 
ſachen machen Eindruck und haften eine Weile im Ge— 
daͤchtniſſe, werden aber dann im Laufe der Jahre vergeſſen. 


* 


a 
ER 
Bi 


Erſter Teil 8 209 


Viele Leute moͤchten ſich dann gern uͤber ſolche Dinge 
informieren; aber was iſt es fuͤr eine Arbeit, in dieſem 
Meere von Blaͤttern etwas zu ſuchen, wenn man oft weder 
den Tag noch den Monat des betreffenden Ereigniſſes 
kennt? Wenn aber alle dieſe Tatſachen fuͤr ein ganzes 
Jahr in einem einzigen Buche nach einem beſtimmten 
Plane und einer beſtimmten Idee vereinigt wuͤrden, mit 
Inhaltsverzeichniſſen und Hinweiſungen, nach Monaten 
und Tagen geordnet, dann wuͤrde ein ſolches Sammel— 
werk eine vollſtaͤndige Charakteriſtik des ruſſiſchen Lebens 
für ein Jahr bieten koͤnnen, auch wenn von allen Tat⸗— 
ſachen, die ſich wirklich begeben haben, nur ein verhaͤlt— 
nismaͤßig ſehr kleiner Teil veroͤffentlicht wuͤrde. 

„Statt einer Menge von Blaͤttern haͤtten wir dann 
ein paar dicke Buͤcher; das waͤre alles,“ bemerkte 
Schatow. 

Aber Liſaweta Nikolajewna verteidigte ihren Ge— 
danken mit Waͤrme, obwohl es ihr bei ihrer Unerfahren— 
heit Muͤhe machte ſich auszudruͤcken. Es ſollte nur ein 

einziges Buch werden, nicht einmal ſehr dick, verſicherte 
fie. Aber ſelbſt wenn es dick würde, ſo würde es doch klar 
und uͤberſichtlich fein; denn die Hauptſache ſei die ganze 
Anlage und die Art, in der die Tatſachen dargeſtellt wuͤr— 
den. Allerdings duͤrfe man nicht alles ſammeln und ab— 
drucken. Kaiſerliche Erlaſſe, Verfuͤgungen der Regie— 
rung, Anordnungen der Lokalbehoͤrden, Geſetze, all das 
ſeien zwar ſehr wichtige Tatſachen; aber in der beabſich— 
tigten Ausgabe koͤnnten derartige Tatſachen ganz fortge— 
laſſen werden. Man koͤnne gar vieles fortlaſſen und ſich 
auf eine Auswahl von Ereigniſſen beſchraͤnken, die fuͤr 
das ſittliche individuelle Leben des Volkes, fuͤr die In— 
LXIII. 14 


210 Die Teufel 


dividualitaͤt des ruſſiſchen Volkes in einem beſtimmten 
Zeitabſchnitte mehr oder weniger charakteriſtiſch waͤren. 
Natuͤrlich koͤnne allerlei aufgenommen werden: Kurioſa, 
Feuersbruͤnſte, Spenden, gute und ſchlechte Handlungen 
aller Art, Ausſpruͤche und Reden aller Art, vielleicht auch 
Nachrichten von Überſchwemmungen, vielleicht auch 
einige Regierungsverfuͤgungen; aber es muͤſſe aus dem 
Geſamtmaterial nur das ausgewaͤhlt werden, was die 
betreffende Periode kennzeichne. Bei der Aufnahme muͤſſe 
ein beſtimmter Geſichtspunkt, eine beſtimmte Abſicht, 
eine beſtimmte Idee maßgebend ſein, eine Idee, die das 
Ganze, die ganze Sammlung durchleuchte. Und endlich 
muͤſſe das Buch auch eine intereſſante, leichte Lektuͤre 
abgeben, ganz abgeſehen von ſeiner Unentbehrlichkeit als 
Nachſchlagewerk! Es würde das ſozuſagen ein Bild des 
geiſtigen, ſittlichen, inneren ruſſiſchen Lebens innerhalb 
eines ganzen Jahres fein. „Alle muͤſſen es kaufen; das 
Buch muß ein weitverbreitetes Handbuch werden,“ ſagte 
Liſa nachdruͤcklich. „Ich ſehe ſehr wohl ein, daß dabei 
alles auf die Anlage ankommt, und deshalb wende ich mich 
an Sie,“ ſchloß ſie. Sie war ſehr in Eifer geraten, und 
trotzdem fie ſich nur unklar und unvollſtaͤndig ausgeſpro— 
chen hatte, begann Schatow doch ſie zu verſtehen. 

„Alſo es wird etwas mit einer beſtimmten Tendenz her— 
auskommen, eine nach einer beſtimmten Tendenz getrof— 
fene Auswahl von Tatſachen,“ murmelte er, noch immer 
ohne den Kopf in die Hoͤhe zu heben. 

„Durchaus nicht; die Auswahl darf nicht tendenzioͤs 
ſein; eine Tendenz iſt ausgeſchloſſen. Die einzige Tendenz 
muß die Unparteilichkeit ſein.“ 

„Eine Tendenz waͤre kein Schade,“ verſetzte Schatow, 


маны 


« 


Erſter Teil 211 


der nun in Bewegung kam; „und ſie laͤßt ſich auch nicht 
vermeiden, ſobald man ans Auswaͤhlen geht. In der Aus— 
wahl der Tatſachen wird auch ein Hinweis darauf liegen, 
wie ſie aufzufaſſen ſind. Ihre Idee iſt nicht uͤbel.“ 

„Alſo iſt ein ſolches Buch moͤglich?“ fragte Liſa erfreut. 

„Das muß man noch naͤher uͤberlegen und erwaͤgen. Es 
iſt ein gewaltiges Unternehmen. Mit einemmal kann man 
es nicht durchdenken. Man muß erſt Erfahrungen machen. 
Und auch wenn wir das Buch herausbringen, werden wir 
kaum ſchon den beſten Modus erkannt haben. Vielleicht 
nach vielen Verſuchen; aber der Gedanke wird ſich durch 
die Eierſchale hindurchpicken. Der Gedanke iſt nuͤtzlich.“ 

Er hob endlich die Augen in die Hoͤhe, und ſie leuchteten 
ſogar vor Vergnuͤgen, ſo intereſſierte er ſich fuͤr die Sache. 

„Haben Sie ſich das ſelbſt ausgedacht?“ fragte er Liſa 
freundlich und gewiſſermaßen, als ob er ſich ſchaͤmte. 

„Das Ausdenken war nicht ſchwer; was ſchwer iſt, das 
iſt die Anlage,“ erwiderte Liſa laͤchelnd. „Ich verſtehe 
wenig von ſolchen Dingen und bin nicht ſehr klug und ver— 
folge nur das, was mir ſelbſt klar Ш...” 

„Sie verfolgen es?“ 

„Das iſt wohl nicht der richtige Ausdruck?“ fragte Liſa 
ſchnell. 

„Man kann jo jagen; ich habe nichts dagegen einzu— 
wenden.“ 

„Schon als ich noch im Auslande war, habe ich mir 
geſagt, auch ich koͤnnte irgendwie nuͤtzlich ſein. Ich beſitze 
eigenes Geld, das unnuͤtz daliegt; warum ſollte nicht auch 
ich für die gemeinſame Sache arbeiten? Zudem kam mir 
dieſe Idee auf einmal ganz von ſelbſt; ich habe ſie nicht 
mühjam erſonnen und freute mich ſehr über fie; aber ich 


212 Die Teufel 


ſah ſogleich ein, daß ich ohne einen Mitarbeiter nichts 
würde ausrichten koͤnnen, weil ich ſelbſt nichts davon ver— 
ſtehe. Der Mitarbeiter wird natuͤrlich zugleich Mitheraus— 
geber des Buches werden. Wir wollen jeder die Hälfte Бе 
ſteuern: Sie den Entwurf des Planes und die Arbeit, 
ich die erſte Idee und die Mittel zur Herausgabe. Das 
Buch wird ſich ſchon bezahlt machen!“ 

„Wenn wir die richtige Anlage finden, dann wird das 
Buch gehen.“ 

„Ich ſage Ihnen von vornherein, daß ich es nicht des 
Gewinnes wegen tue; aber ich wuͤnſche dem Buche ſehr 
einen guten Abſatz und werde auf den Gewinn ſtolz ſein.“ 

„Nun, und wie ſoll ich mich bei der Sache beteiligen?“ 

„Ich fordere Sie ja auf, mein Mitarbeiter zu ſein; wir 
machen halbpart. Sie ſollen den Plan zur Anlage ent⸗ 
werfen.“ 

„Woher glauben Sie denn, daß ich imſtande bin, einen 
ſolchen Plan zu entwerfen?“ 

„Man hat mir von Ihnen erzaͤhlt, und hier habe ich von 
Ihnen gehört... ich weiß, daß Sie ſehr klug find und... 
ſich mit ernſter Arbeit beſchaͤftigen und .. viel denken; 
Peter Stepanowitſch Werchowenſki hat in der Schweiz zu 
mir von Ihnen geſprochen,“ fuͤgte ſie eilig hinzu. „Er iſt 
ein ſehr kluger Menſch, nicht wahr?“ 

Schatow ſah ſie mit einem ſchnellen, huſchenden Blicke 
an, ſchlug dann aber ſogleich die Augen nieder. 

„Auch Nikolai Wſewolodowitſch hat mir viel von Ihnen 
geſagt.“ 

Schatow erroͤtete ploͤtzlich. 

„Übrigens, hier ſind ſchon einige Zeitungen,“ fuhr Liſa 
fort, indem ſie ſchnell ein bereitliegendes, zuſammenge— 


— 


< 


Erſter Teil 213 


bundenes Paket Zeitungen von einem Stuhle nahm. „Ich 

habe hier verſuchsweiſe eine Anzahl von Tatſachen fuͤr 

die Sammlung ausgewaͤhlt, angeſtrichen und numeriert 
.. Sie werden ja ſehen.“ 

Schatow nahm das Paͤckchen hin. 

„Nehmen Sie es mit nach Hauſe, und ſehen Sie es in 
Ruhe durch; wo wohnen Sie denn?“ 

„In der Bogojawlenſkaja⸗Straße, im Filippowſchen 
Haufe.“ 

„Ach ja, ich weiß. Da wohnt ja wohl, wie es heißt, auch 
ein Hauptmann mit Ihnen, ein Herr Lebjadkin?“ fragte 
Liſa in derſelben raſchen Art wie vorher. 

Schatow ſaß mit dem Paͤckchen in der Hand eine volle 
Minute lang in derſelben Haltung, wie er es hingenom— 
men hatte, ohne zu antworten da und blickte zu Boden. 

„Fuͤr dieſe Angelegenheiten muͤßten Sie ſich einen 
andern ausſuchen; ich werde Ihnen da nicht dienen koͤn⸗ 
nen,“ ſagte er ſchließlich auffallend leiſe, faſt fluͤſternd. 

Liſa wurde dunkelrot. 

„Von was fuͤr Angelegenheiten reden Sie? Mawriki 
Nikolajewitſch!“ rief ſie. „Bitte, geben Sie doch den 
geſtrigen Brief her!“ | 

Ich ging ebenfalls hinter Mawriki Nikolajewitſch her 
zum Tiſche hin. 

„Sehen Sie einmal dies hier an!“ wandte ſie ſich auf 

einmal an mich, indem ſie in großer Aufregung den Brief 
auseinanderſchlug. „Haben Sie je etwas Ahnliches ge— 
ſehen? Bitte, Геи Sie es laut vor; ich moͤchte, daß es 

$ auch Herr Schatow hört.“ 

Mit nicht geringem Erſtaunen las ich laut folgende Epi⸗ 

55 ſtel: 


9 * 


214 Die Teufel 


„An das in jeder Hinſicht vollkommene Fraͤulein Tu⸗ 
ſchina. 
Gnaͤdiges Fraͤulein 
Jeliſaweta Tuſchina! 
Schoͤn und allerliebſt iſt ja 
Liſaweta Tuſchina, 
Wenn ſie mit ihrem Verwandten auf dem Damen⸗ 
ſattel reitet geſchwind 
Und ihre Locken flattern im Wind, 
Oder wenn ſie mit ihrer Mutter in der Kirche kniet 
Und man die Roͤte der andaͤchtigen Geſichter ſieht. 
Dann geht nach den Freuden der Ehe mein Sehnen, 
Und ich vergieße hinter ihr und ihrer Mutter Traͤnen. 
Gedichtet von einem Ungelehrten 
infolge einer Wette. 


Gnaͤdiges Fraͤulein! 

Am meiſten bedauere ich, daß ich nicht in Sewaſtopol 
einen Arm um des Ruhmes willen verloren habe; ich 
bin uͤberhaupt nicht da geweſen, ſondern war waͤhrend 
des ganzen Feldzuges bei der Austeilung gemeinen Pro- 
viants taͤtig, was ich fuͤr unwuͤrdig hielt. Sie ſind eine 
Goͤttin des Altertums; ich aber bin ein Nichts und habe 
die Grenzenloſigkeit geahnt. Sehen Sie das Obige als 
Verſe an; denn Verſe ſind dummes Zeug, und man darf 
in ihnen das ſagen, was in Proſa fuͤr Dreiſtigkeit gilt. 
Kann die Sonne dem Infuſionstierchen zuͤrnen, wenn 
dieſes an ſie aus dem Waſſertropfen ſchreibt, wo ihrer 
eine Menge vorhanden find, wenn man durchs Mikro— 
ſkop ſieht? Sogar jener Verein bei der hoͤchſten Geſell— 
ſchaft in Petersburg, der gegen die großen Tiere ſo men— 


— 


Erſter Teil 215 


ſchenfreundlich iſt und mit den Hunden und Pferden 
Mitleid hat, verachtet das winzige Infuſionstierchen und 
erwaͤhnt es gar nicht, weil es ſo klein iſt. Auch ich bin 
ein kleines Weſen. Der Gedanke an eine Ehe koͤnnte 
humoriſtiſch erſcheinen; aber ich werde bald zweihundert 
fruͤhere Seelen durch einen Menſchenfeind beſitzen, der 
Ihrer Verachtung wert iſt. Ich kann vieles mitteilen 
und erbiete mich auf Grund von ſchriftlichen Beweiſen 
ſogar nach Sibirien. Verachten Sie meinen Antrag nicht. 
Das von dem Infuſionstierchen Geſagte iſt poetiſch ge— 


meint. Hauptmann Lebjadkin, Ihr ergebenſter 
Freund und hat viel freie Zeit.“ 


„Das hat einer in der Betrunkenheit geſchrieben und 
zugleich ein Taugenichts!“ rief ich empoͤrt. „Ich kenne 
den Menſchen.“ 

„Dieſen Brief habe ich geſtern erhalten,“ ſagte uns 
Liſa zur Erklaͤrung; ſie war rot geworden und ſprach 
haſtig. „Ich ſah ſofort ſelbſt, daß er von einem Narren 
herruͤhrt, und habe ihn Mama bis jetzt noch nicht gezeigt, 
um ſie nicht noch mehr aufzuregen. Aber wenn er damit 
fortfahren ſollte, ſo weiß ich nicht, wie ich mich verhalten 
ſoll. Mawriki Nikolajewitſch will hingehen und es ihm 
verbieten. Da ich Sie als meinen Mitarbeiter betrachte,“ 
fuhr fie, zu Schatow gewendet, fort, „und da Sie in dem— 
ſelben Hauſe wohnen, ſo wollte ich Sie fragen, um be— 
urteilen zu koͤnnen, was noch weiter von ihm zu erwarten 
iſt. 

„Er iſt ein Trunkenbold und ein Taugenichts,“ mur⸗ 
melte Schatow wie mit Überwindung. 

„Iſt er immer ſo dumm, wie?“ 


216 Die Teufel 


„O nein, wenn er nicht betrunken iſt, ift er gar nicht 
ſo dumm.“ 

„Ich habe einen General gekannt, der genau eben— 
ſolche Verſe ſchrieb,“ bemerkte ich lachend. 

„Sogar aus dieſem Briefe iſt zu erſehen, daß es ihm 
nicht an Verſtand fehlt,“ warf der ſchweigſame Mawriki 
Nikolajewitſch unerwartet dazwiſchen. 

„Er lebt, wie es heißt, mit einer Schweſter zuſam⸗ 
men?“ fragte Liſa. 

„Ja, allerdings!“ 

„Und es wird geſagt, er tyranniſiere ſie; iſt das wahr?“ 

Schatow blickte Liſa wieder an, machte ein finſteres 
Geſicht und brummte: „Was kuͤmmert es mich?“ Dann 
ging er zur Tuͤr. 

„Ach, warten Sie doch!“ rief Liſa erregt. „Wo wollen 
Sie denn hin? Wir haben ja noch ſo vieles miteinander 
zu beſprechen ...“ 

„Woruͤber ſollen wir denn noch reden? Ich werde Sie 
morgen benachrichtigen .. 

„Über das Wichtigſte, die Druckerei. Sie koͤnnen mir 
glauben, daß ich keinen Scherz treibe, ſondern ernſtlich 
etwas leiſten will,“ verſicherte Liſa in immer wachſender 
Erregung „Wenn wir uns dazu entſchließen, das Buch 
herauszugeben, wo werden wir es dann drucken laſſen? 
Das iſt ja doch die wichtigſte Frage; denn nach Moskau 
werden wir doch deswegen nicht reiſen, und in einer 
hieſigen Druckerei iſt die Herſtellung einer ſolchen Aus— 
gabe unmoͤglich. Ich habe mich ſchon laͤngſt dafuͤr ent— 
ſchieden, eine eigene Druckerei einzurichten, wenn auch 
auf Ihren Namen, und Mama wird es ſicherlich er— 


- 


Erſter Teil 217 


lauben, vorausgeſetzt, daß es auf Ihren Namen ge: 
ſchieht ...“ 8 

„Woher wiſſen Sie denn, daß ich mit dem Drucken 
Beſcheid weiß?“ fragte Schatow grimmig. 

„Peter Stepanowitſch hat mir, als ich noch in der 
Schweiz war, ausdruͤcklich geſagt, Sie koͤnnten eine 
Druckerei leiten und verſtaͤnden ſich auf dieſes Metier. Er 
wollte mir ſogar ein Briefchen an Sie mitgeben; aber 
ich habe es vergeſſen.“ 

In Schatows Geſicht ging, wie ich mich noch jetzt er— 
innere, eine auffällige Veränderung vor. Er blieb noch 
einige Sekunden ſtehen und ging auf einmal aus dem 
Zimmer. 

Liſa wurde aͤrgerlich. 

„Geht er immer ſo weg?“ fragte ſie, ſich an mich wen⸗ 
dend. 

Ich zuckte die Achſeln; aber ploͤtzlich kehrte Schatow 
zuruͤck, ging geradeswegs auf den Tiſch zu und legte das 
Zeitungspaket, das er mitgenommen hatte, darauf. 

„Ich werde nicht Ihr Mitarbeiter ſein; ich habe keine 
Zeit.“ 

„Warum denn nicht? Warum denn nicht? Es ſcheint, 
daß Sie etwas uͤbelgenommen haben?“ fragte Liſa in 
betruͤbtem, bittendem Tone. 

Dieſer Ton ſchien auf ihn Eindruck zu machen; ein 
paar Augenblicke ſah er ſie unverwandt an, wie wenn er 

geradezu in ihre Seele hineinſchauen wollte. 

„Ganz gleich!“ murmelte er leiſe. „Ich will nicht ...“ 

Damit ging er endguͤltig fort. Liſa war ganz beſtuͤrzt, 

anſcheinend ſogar mehr, als es die Sache verdiente; 
wenigſtens hatte ich dieſen Eindruck. 


N 1 
р * 3 


218 Die Teufel 


„Ein hoͤchſt ſonderbarer Menſch!“ bemerkte Mawriki 
Nikolajewitſch laut. 


III 

Sonderbar war er allerdings; aber die ganze Sache 
war doch außerordentlich unklar. Es mußte etwas da— 
hinterſtecken. Ich glaubte entſchieden nicht an dieſe Her— 
ausgabe eines Buches; ferner dieſer dumme Brief, in 
dem ſehr deutlich eine Denunziation „auf Grund von 
ſchriftlichen Beweiſen“ offeriert wurde; uͤber dieſen 
Punkt aber hatten alle geſchwiegen und es vorgezogen, 
von etwas ganz anderem zu ſprechen. Dazu dann endlich 
noch dieſe Druckerei und der Umſtand, daß Schatow ploͤtz⸗ 
lich weggegangen war, gerade weil Liſa von der Druk— 
kerei zu reden angefangen hatte. Alles dies brachte mich 
auf den Gedanken, daß hier ſchon vor meinem Beſuche 
etwas vorgegangen ſei, wovon ich nichts wiſſe, daß ich 
mithin uͤberfluͤſſig ſei und die ganze Sache mich nichts 
angehe. Auch war es Zeit, daß ich wegging: fuͤr einen 
erſten Beſuch war ich ſchon lange genug dageweſen. Ich 
trat an Liſaweta Nikolajewna heran, um mich zu verab- 
ſchieden. 

Sie ſchien voͤllig vergeſſen zu haben, daß ich im Zimmer 
war, und ſtand immer noch in Gedanken verſunken auf 
demſelben Flecke am Tiſche; den Kopf hielt ſie geneigt 
und blickte regungslos auf einen beſtimmten Punkt im 
Teppich. 

„Ah, Sie wollen auch gehen; auf Wiederſehen!“ ſagte 
fie in ihrem gewoͤhnlichen, freundlichen Tone. „Emp- 
fehlen Sie mich Stepan Trofimowitſch, und reden Sie 
ihm zu, recht bald zu mir zu kommen! Mawriki Nifos 


Erſter Teil 219 


lajewitſch, Anton Lawrentjewitſch geht fort. Entſchul⸗ 
digen Sie, Mama kann nicht kommen, um Ihnen Adieu 
zu ſagen 

Ich ging hinaus und war ſchon die Treppe hinabge— 
ſtiegen und vor die Haustuͤr gelangt, als mich ein Diener 
einholte. 

„Das gnaͤdige Fräulein laͤßt Sie ſehr bitten, noch ein⸗ 
mal zuruͤckzukommen.“ 

Ich fand Liſa nicht mehr in jenem großen Salon, wo 
wir ſoeben geſeſſen hatten, ſondern in dem anſtoßenden 
Empfangszimmer. Die Tuͤr nach dem Salon, in welchem 
jetzt Mawriki Nikolajewitſch allein zuruͤckgeblieben war, 
war vollſtaͤndig zugemacht. 

Liſa lächelte mich an; aber fie war blaß. Sie ftand 
mitten im Zimmer, ſichtlich unentſchloſſen und ſichtlich 
mit ſich kaͤmpfendz aber auf einmal faßte fie mich bei der 
Hand und fuͤhrte mich ſchweigend ſchnell ans Fenſter. 

„Ich will unverzuͤglich dieſes Maͤdchen ſehen,“ fluͤſterte 
ſie, indem ſie einen leidenſchaftlichen, energiſchen, unge— 
duldigen Blick auf mich richtete, der nicht den geringſten 
Widerſpruch duldete. „Ich muß ſie mit meinen eigenen 
Augen ſehen und bitte Sie um Ihre Hilfe.“ 

Sie war ganz außer ſich und in Verzweiflung. 

„Wen wollen Sie ſehen, Liſaweta Nikolajewna?“ 
fragte ich erſchrocken. 

„Dieſes Fräulein Lebjadkina, dieſe Lahme ... Iſt es 
wahr, daß ſie lahm iſt?“ 

Ich war ſtarr vor Erſtaunen. 

„Ich habe ſie nie geſehen; aber ich habe gehoͤrt, daß ſie 
lahm ſei; noch geſtern habe ich es gehoͤrt,“ ſtammelte ich 
eilig und dienſtfertig und ebenfalls fluͤſternd. 


220 Die Teufel 


„Ich muß fie unbedingt ſehen. Könnten Sie das noch 
heute ſo einrichten?“ 

Sie tat mir ſchrecklich leid. 

„Das iſt unmoͤglich; ich weiß abſolut nicht, wie ich 
das machen ſollte,“ begann ich; „ich will zu Schatow 
gehen ...“ 

„Wenn Sie es nicht bis morgen einrichten koͤnnen, ſo 
gehe ich ſelbſt zu ihr, ganz allein; denn Mawriki Niko— 
lajewitſch hat ſich geweigert. Sie ſind meine einzige Hoff— 
nung; außer Ihnen habe ich niemanden; dummerweiſe 
habe ich mit Schatow geſprochen ... Ich bin überzeugt, 
daß Sie ein durchaus ehrenhafter Mann und vielleicht 
mir ergeben ſind; machen Sie es doch moͤglich!“ 

Es wurde in mir der leidenſchaftliche Wunſch rege, ihr 
in allem behilflich zu ſein. 

„Alſo ich werde es ſo machen,“ ſagte ich nach kurzer 
Überlegung: „ich will heute ſelbſt hingehen und es unter 
allen Umſtaͤnden durchſetzen, daß ich ſie zu ſehen bekomme! 
Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort; nur muͤſſen Sie 
mir erlauben, mich mit Schatow ins Einvernehmen zu 
ſetzen. “. 

„Sagen Sie ihm, daß es mein dringender Wunſch iſt, 
und daß ich nicht laͤnger warten kann, daß ich ihn aber 
ſoeben nicht zu taͤuſchen geſucht habe. Er iſt vielleicht 
deshalb weggegangen, weil er ſehr ehrenhaft iſt und es 
ihm mißfallen hat, daß ich ihn anſcheinend zu taͤuſchen 
ſuchte. Ich habe ihn nicht zu taͤuſchen geſucht; ich will 
wirklich das Buch herausgeben und eine Druckerei 
gründen..." 

„Er ift ein ehrenhafter, durchaus ehrenhafter Mann,“ 
beſtaͤtigte ich mit warmer Empfindung. 


— < 


Erſter Teil | 


„Wenn es ſich übrigens bis morgen nicht einrichten 
laͤßt, dann will ich ſelbſt hingehen, mag daraus entſtehen, 
was da will, und wenn es auch alle erfahren.“ 


„Vor drei Uhr kann ich morgen nicht bei Ihnen ſein,“ 
bemerkte ich nach einiger Überlegung. 


„Alſo um drei Uhr? Alſo habe ich geſtern bei Stepan 
Trofimowitſch richtig vermutet, daß Sie mir ein klein 
wenig ergeben ſind?“ ſagte ſie laͤchelnd, druͤckte mir eilig 
zum Abſchiede die Hand und ging ſchnell zu dem allein- 


gelaſſenen Mawriki Nikolajewitſch. 


Ak 


Als ich hinauskam, fühlte ich mich ganz niedergedruͤckt 
durch mein Verſprechen und begriff gar nicht, was 
eigentlich vorgegangen war. Ich hatte eine Frau in 
wahrer Verzweiflung geſehen, ſo daß ſie ſich nicht davor 
gefuͤrchtet hatte, ſich durch ihr Vertrauen zu einem ihr faſt 
ganz unbekannten Manne zu kompromittieren. Ihr weib— 
liches Laͤcheln in einem fuͤr ſie ſo ſchweren Augenblicke 
und der Hinweis darauf, daß ſie ſchon geſtern meine 
Gefuͤhle bemerkt habe, gaben mir gewiſſermaßen einen 
Stich ins Herz; aber ſie tat mir leid, ſehr leid; das wars! 
Ihre Geheimniſſe wurden für mich ploͤtzlich etwas Hei- 


liges, und wenn man ſie mir ſogar jetzt haͤtte enthuͤllen 


wollen, ſo haͤtte ich mir vermutlich die Ohren zugeſtopft 
und nichts weiter hören wollen. Ich ahnte nur etwas... 


Und doch begriff ich gar nicht, auf welche Weiſe 


ich hier etwas ermoͤglichen koͤnnte. Ja, ich wußte noch 


nicht einmal, was ich eigentlich ermoͤglichen ſollte: eine 


Begegnung? Aber was fuͤr eine Begegnung? Und wie 
ſollte ich die beiden zuſammenbringen? Meine ganze 
Hoffnung beruhte auf Schatow, obgleich ich im voraus 


> Te 


222 Die Teufel 


wiſſen konnte, daß er mir nicht behilflich ſein werde. 
Aber dennoch eilte ich zu ihm. 


IV 
Erſt am Abend, es war ſchon ſieben durch, traf ich ihn 
zu Hauſe. Zu meinem Erſtaunen hatte er Beſuch: Alexei 
Nilowitſch war bei ihm und noch ein mir nur wenig be— 
kannter Herr, ein gewiſſer Schigalew, ein Bruder von 
Frau Wirginſkaja. 

Dieſer Schigalew hielt ſich ſchon ſeit zwei Monaten 
in unſerer Stadt auf; ich wußte nicht, wo er herge— 
kommen war; ich hatte über ihn nur gehört, daß er einen 
Aufſatz in einer fortſchrittlichen Petersburger Zeitſchrift 
habe drucken laſſen. Wirginſki hatte mich mit ihm ge- 
legentlich auf der Straße bekannt gemacht. In meinem 
ganzen Leben habe ich nie einen Menſchen mit ſo fin— 
ſterem, muͤrriſchem, verdroſſenem Geſichte geſehen. Er 
ſah aus, als erwarte er den Weltuntergang, und zwar 
nicht etwa irgendwann auf Grund von Prophezeiungen, 
die auch truͤgen koͤnnten, ſondern mit völliger Beftimmt- 
heit, alſo zum Beiſpiel uͤbermorgen vormittag um zehn 
Uhr und fuͤnfundzwanzig Minuten. Wir hatten uͤbrigens 
damals kaum ein Wort miteinander gewechſelt, ſondern 
einander nur wie zwei Verſchwoͤrer die Hand gedruͤckt. 
Am meiſten waren mir an ihm die Ohren aufgefallen, die 
von unnatuͤrlicher Groͤße, lang, breit und dick waren und 
in eigentuͤmlicher Weiſe vom Kopfe abſtanden. Seine 
Bewegungen waren ungeſchickt und langſam. Wenn 
Liputin ſich manchmal in Zukunftstraͤumereien daruͤber 
erging, daß die Fourierſchen ſozialiſtiſchen Phantaſien 
ſich in unſerm Gouvernement verwirklichen wuͤrden, ſo 


< 


A 
7 у: +4 > 


Erſter Teil 223 


wußte dieſer aufs genaueſte Tag und Stunde, wann 
das geſchehen werde. Er machte mir einen unheimlichen 
Eindruck; ich war erſtaunt, ihn jetzt bei Schatow zu tref⸗ 
fen, um ſo mehr da Schatow Beſuch uͤberhaupt nicht gern 
bei ſich ſah. 

Schon als ich noch auf der Treppe war, hoͤrte ich, daß 
ſie ſehr laut ſprachen, alle drei zugleich, und, wie es ſchien, 
miteinander ſtritten; aber ſowie ich erſchien, verſtummten 
ſie alle. Sie hatten ſtehend geſtritten; nun aber ſetzten 
ſie ſich auf einmal alle hin, ſo daß auch ich mich ſetzen 
mußte. Das dumme Stillſchweigen wurde etwa drei volle 
Minuten lang nicht unterbrochen. Obgleich Schigalew 
mich wiedererkannte, tat er doch, als kenne er mich nicht, 
und das tat er gewiß nicht aus Feindſchaft, ſondern ohne 
beſonderen Grund. Mit Alexei Nilowitſch begruͤßte ich 
mich leichthin, aber ſchweigend und ohne Haͤndedruck. 
Schigalew begann endlich, mich ernſt und finſter anzu- 
ſehen, in dem ſehr naiven Glauben, ich wuͤrde auf einmal 
aufſtehen und hinausgehen. Schließlich erhob ſich Scha— 
tom von ſeinem Stuhle, und alle andern ſprangen ploͤtz⸗ 
lich ebenfalls auf. Sie gingen hinaus, ohne Lebewohl 
zu ſagen; nur ſagte Schigalew, als ſie ſchon in der Tuͤr 
waren, zu Schatow, der ihnen das Geleit gab: 

„Vergeſſen Sie nicht, daß Sie Rechenſchaft ſchuldig 
ſind.“ 

„Ich ſchere mich den Kuckuck um Ihre Rechenſchaft und 
bin keinem Teufel etwas ſchuldig,“ erwiderte Schatow 
und legte, als die beiden heraus waren, den Haken vor 
die Tuͤr. 

„Narren!“ ſagte er, indem er mich anblickte und das 
Geſicht zu einem ſchiefen Laͤcheln verzog. 


1 


224 Die Teufel 


Er ſah zornig aus, und es kam mir ganz ſeltſam vor, 
daß er von ſelbſt zu ſprechen anfing. Gewoͤhnlich war 
fruͤher der Hergang der geweſen: wenn ich zu ihm kam 
(was uͤbrigens nur ſehr ſelten geſchah), ſo ſetzte er ſich 
finſter in eine Ecke, gab aͤrgerliche Antworten, wurde 
erſt nach langer Zeit lebendig und begann dann mit Ver— 
gnuͤgen zu reden. Dafuͤr machte er beim Abſchiede wieder 
jedesmal unfehlbar ein muͤrriſches Geſicht und entließ 
ſeinen Gaſt, wie wenn er ſich einen perſoͤnlichen Feind 
vom Halſe ſchaffte. 

„Ich habe bei dieſem Alexei Nilowitſch geſtern Tee 
getrunken,“ bemerkte ich. „Er ſcheint ja ein fanatiſcher 
Atheiſt zu ſein.“ 

„Der ruſſiſche Atheismus iſt noch nie uͤber die Witzelei 
hinausgekommen,“ brummte Schatow, waͤhrend er eine 
neue Kerze an Stelle des bisherigen Stuͤmpfchens auf— 
ſteckte. | | 

„Nein, dieſer ſchien mir nicht auf Witzeleien auszu— 
gehen; er verſteht nicht einmal einfach zu reden, ge— 
ſchweige denn Witze zu machen.“ 

„Es ſind ſchlappe Kerle; das kommt alles von der 
lakaienhaften Denkweiſe,“ bemerkte Schatow ruhig, 
ſetzte ſich in eine Ecke auf einen Stuhl und ſtuͤtzte ſich mit 
beiden Handflaͤchen auf die Knie. 

„Haß iſt auch dabei,“ ſagte er, nachdem er etwa eine 
Minute lang geſchwiegen hatte. Sie wuͤrden die erſten 
fein, die kreuzungluͤcklich wären, wenn Rußland ploͤtzlich 
auf irgendwelche Weiſe umgeſtaltet wuͤrde, ſelbſt nach 
ihren Wuͤnſchen, und auf einmal unermeßlich reich 
und gluͤcklich wuͤrde. Dann haͤtten ſie niemand, den 
ſie haſſen und verhoͤhnen koͤnnten, nichts, woruͤber 


< 


Erſter Teil 225 


fie ſpotten koͤnnten! Bei ihnen Ш nur ein tieri- 
ſcher, grenzenloſer Haß gegen Rußland zu finden, der 
ſich in ihren Organismus hineingefreſſen hat... Und 
von Tränen hinter dem ſichtbaren Lachen, von ‚Tränen, 
die die Welt nicht ſieht', iſt bei ihnen nicht die Rede! Noch 
nie iſt in Rußland etwas Verlogeneres geſagt worden 
als dieſes Wort von den ungeſehenen Traͤnen!“ rief er 
beinah wuͤtend. 

„Nun, nun, Sie ſind ja aber ganz wild!“ ſagte ich 
lachend. f 

„Und Sie find ein ‚gemäßigter Liberaler“,“ erwiderte 
Schatow laͤchelnd. „Wiſſen Sie,“ fügte er plotzlich hinzu, 
„ich habe den Ausdruck lakaienhafte Denkweiſe' vielleicht 
falſch gegriffen; Sie werden mir gewiß ſofort ſagen: 
„Du ſelbſt biſt als Sohn eines Lakaien geboren; aber ich 
fuͤr meine Perſon bin kein Lakai.“ 

„Das wollte ich durchaus nicht ſagen ... Was reden 
Sie da!“ 

„Entſchuldigen Sie ſich nicht; ich fuͤrchte Sie nicht. 
Fruͤher war ich nur der Sohn eines Lakaien; aber jetzt 
bin ich ſelbſt ein Lakai geworden, ein ebenſolcher wie Sie. 
Unſer ruſſiſcher Liberaler iſt vor allen Dingen ein Lakai 
und lauert nur darauf, jemandem die Stiefel zu putzen.“ 

„Was fuͤr Stiefel? Was iſt das fuͤr ein bildlicher 

Ausdruck!“ 
„Das iſt gar kein bildlicher Ausdruck! Ich ſehe, Sie 
lachen ... Stepan Trofimowitſch hat ganz recht, wenn 
er ſagt, daß ich zuſammengequetſcht, aber noch nicht totges 
druͤckt unter einem Steine liege und mich windez das iſt 
ein ſehr treffender Vergleich von ihm.“ 
ILXII. 15 


N 


226 Dte Teufel 


„Stepan Trofimowitſch behauptet, daß Sie in die 
Deutſchen vernarrt ſeien,“ bemerkte ich lachend. „Und 
wir haben ja auch viel geiſtiges Eigentum der Deutſchen 
in unſere Taſche geſteckt.“ 

„Zwanzig Kopeken haben wir von ihnen genommen 
und hundert Rubel eigenes Geld hingegeben.“ 

Etwa eine Minute lang ſchwiegen wir beide. 

„Dieſe Anſchauungsweiſe hat er ſich zu eigen gemacht, 
als er in Amerika dalag.“ 

„Wer? Wieſo dalag?“ 

„Ich meine Kirillow. Ich und er haben da vier Monate 
lang in einer Huͤtte auf dem Fußboden gelegen.“ 

„Sind Sie denn in Amerika geweſen?“ fragte ich ver- 
wundert. „Sie haben ja nie davon geſprochen.“ 

„Was iſt davon zu erzaͤhlen? Vor zwei Jahren fuhren 
wir zu dreien auf einem Auswandererdampfer fuͤr unſer 
letztes Geld nach den Vereinigten Staaten, um an uns 
das Leben eines amerikaniſchen Arbeiters zu erproben 
und auf dieſe Art durch ein am eigenen Leibe vorgenom- 
menes Experiment den Zuſtand des Menſchen in ſeiner 
ſchlimmſten ſozialen Stellung zu fonftatieren‘. In dieſer 
Abſicht begaben wir uns dorthin.“ 

„Herrgott!“ rief ich lachend; „da haͤtten Sie nur in 
unſerem Gouvernement zur Erntezeit irgendwohin als 
Arbeiter zu gehen brauchen, um das durch ein Experiment 
am eigenen Leibe zu erproben; die Fahrt nach Amerika 
konnten Sie ſich ſparen!“ 4 

„Wir verdingten uns da als Arbeiter bei einem Unter⸗ 
nehmer; Ruſſen waren wir insgeſamt ſechs Mann: 
Studenten, ſogar Gutsbeſitzer, die eigene Guͤter hatten, 


A 
=, Fr, 1 * . ый 


Erſter Teil 227 


ſogar Offiziere, und alle mit demſelben großartigen Ziele. 
Nun, wir arbeiteten und quaͤlten uns, daß wir ganz her— 
unterkamen; ſchließlich gingen Kirillow und ich weg; 
wir waren krank geworden und konnten es nicht mehr 
aushalten. Der Unternehmer uͤbervorteilte uns gehoͤrig 
bei der Abrechnung: ſtatt der kontraktmaͤßigen dreißig 
Dollar bezahlte er mir acht und ihm fuͤnfzehn; auch waren 
wir dort wiederholt gepruͤgelt worden. Na, da lagen wir 
denn, Kirillow und ich, ohne Arbeit in einem kleinen 
Staͤdtchen vier Monate hintereinander auf dem Жив? 
boden; er hing ſeinen Gedanken nach und ich den 
meinigen.“ a 

„Hat der Unternehmer Sie wirklich gepruͤgelt? Ge— 
ſchieht ſo etwas in Amerika? Na, aber gewiß hatten Sie 
ihn geſchimpft!“ 

„Durchaus nicht. Im Gegenteil, Kirillow und ich waren 
ſogleich zu der Einſicht gekommen, daß ‚wir Ruſſen den 
Amerikanern gegenuͤber kleine Kinder ſind, und daß man 
in Amerika geboren ſein oder wenigſtens lange Jahre 
mit den Amerikanern zuſammengelebt haben muß, um 
mit ihnen auf gleichem Niveau zu ftehen‘. Ja, wenn man 
uns fuͤr einen Gegenſtand, der eine Kopeke wert war, 
einen Dollar abverlangte, ſo zahlten wir ihn nicht nur 
mit Vergnuͤgen, ſondern ſogar mit Begeifterung. Wir lob— 
ten alles: den Spiritismus, das Lynchgeſetz, die Revolver, 
die Vagabunden. Einmal fuhren wir auf der Bahn, da 
griff einer in meine Taſche, zog meine Haarbuͤrſte heraus 
und buͤrſtete ſich damit; Kirillow und ich wechſelten nur 

einen Blick miteinander und ſagten uns im ſtillen, daß 
dieſes Benehmen in der Ordnung ſei und uns ſehr ge— 
falle...“ 


228 Die Teufel 


„Sonderbar, daß bei uns mancher ſich den Gedanken 
an ein ſolches Experiment nicht nur durch den Kopf gehen 
laͤßt, ſondern ihn auch zur Ausfuͤhrung bringt.“ 

„Aber die meiſten ſind ſchlappe Kerle,“ ſagte Schatow 
noch einmal. 

„So uͤber den Ozean zu fahren, auf einem Auswan— 
dererſchiffe, nach einem unbekannten Lande, mit der Ab— 
ſicht, durch ein am eigenen Leibe vorgenommenes Ex— 
periment zu erfahren‘ und ſo weiter: darin liegt doch 
wirklich eine hochſinnige Feſtigkeit ... Aber wie find Sie 
denn von dort zuruͤckgekommen?“ 

„Ich ſchrieb an jemand in Europa, und er ſchickte mir 
hundert Rubel.“ 

Schatow hatte, waͤhrend er ſprach, die ganze Zeit uͤber 
nach ſeiner Gewohnheit hartnaͤckig auf die Erde geblickt, 
ſelbſt wenn er in Eifer geriet. Nun hob er auf einmal 
den Kopf in die Hoͤhe: 

„Wollen Sie den Namen des Menſchen wiſſen?“ 

„Wer war es denn?“ 

„Nikolai Stawrogin.“ 

Er ſtand ploͤtzlich auf, wandte ſich zu feinem Schreib- 
tiſche aus Lindenholz und begann auf ihm herumzu— 
kramen. Bei uns ging ein dunkles, aber glaubwuͤrdiges 
Geruͤcht, daß ſeine Frau eine Zeitlang in Paris ein Ver— 
haͤltnis mit Nikolai Stawrogin gehabt habe, und zwar 
gerade vor zwei Jahren, alſo als Schatow in Amerika 
war, allerdings ſchon lange, nachdem Пе ihn in Genf ver— 
laſſen hatte. „Wenn es ſo ſteht, wie kommt er dann jetzt 
auf den Einfall, den Namen zu nennen und von der Ge— 
ſchichte zu reden?“ dachte ich. | | 

„Ich habe fie ihm bis jetzt noch nicht zurückgegeben,” | 


au LA 
3 


— < 


Erſter Teil 229 


ſagte er, indem er ſich wieder zu mir wandte; dann ſetzte 

er ſich, mich unverwandt anſehend, auf ſeinen fruͤheren 

Platz in der Ecke und fragte kurz in ganz anderem Tone: 
8 „Sie find doch gewiß mit einer Abſicht hergekommen; 
wass ſteht zu Ihren Dienſten?“ 

Ich erzaͤhlte ihm ſogleich alles in genauer hiſtoriſcher 
Ordnung und fuͤgte hinzu, obgleich ich von meiner 
fruͤheren Verliebtheit bereits zur Beſinnung gekommen 
ſei, befaͤnde ich mich doch in noch groͤßerer Verlegenheit: 
ich ſaͤhe ein, daß es ПФ hier um etwas ſehr Wichtiges 
fuͤr Liſaweta Nikolajewna handle, und haͤtte den 
dringenden Wunſch, ihr zu helfen; aber das ganze Un— 
gluͤck beſtehe darin, daß ich nicht wuͤßte, wie ich das ihr 
gegebene Verſprechen halten ſolle, ja, mir jetzt nicht ein 
mal daruͤber im klaren ſei, was ich ihr eigentlich ver— 
ſprochen haͤtte. Darauf verſicherte ich ihm mit allem 
Nachdruck, daß es ihr durchaus ferngelegen habe, ihn 
taͤuſchen zu wollen; es liege irgendein Mißverſtaͤndnis 
vor, und ſie ſei ſehr betruͤbt daruͤber, daß er heute in ſo 
ungewoͤhnlicher Art weggegangen ſei. 

Er hatte ſehr aufmerkſam zugehoͤrt. 

„Vielleicht habe ich nach meiner Gewohnheit wirklich 
heute eine Dummheit gemacht ... Nun, wenn ſie ſelbſt 
nicht verſtanden hat, warum ich ſo weggegangen bin, um 
wo beſſer fuͤr fie.“ 

Er ſtand auf, trat zur Tuͤr, oͤffnete ſie ein wenig und 
horchte nach der Treppe zu. 

„Sie wuͤnſchen dieſe Perſon ſelbſt zu ſehen?“ 

„Gerade das möchte ich; aber wie iſt es zu machen?“ 
rief ich, erfreut aufſpringend. 


\ 


у 


230 Die Teufel 


„Wir wollen einfach hingehen, ſolange ſie noch allein 
iſt. Wenn er kommt und erfaͤhrt, daß wir dageweſen ſind, 
dann ſchlaͤgt er ſie. Ich gehe oft heimlich zu ihr. Ich habe 
ihn heute durchgewalkt, als er wieder anfing, ſie zu 
ſchlagen.“ 

„Was Sie ſagen!“ 

„Allerdings; an den Haaren habe ich ihn von ihr weg— 
geriſſen; er wollte mich dafuͤr pruͤgeln; aber ich habe ihn 
eingeſchuͤchtert, und damit war die Sache zu Ende. Ich 
fuͤrchte, wenn er betrunken zuruͤckkommt und ſich daran 
erinnert, ſo ſchlaͤgt er ſie gehoͤrig dafuͤr.“ 

Wir gingen ſogleich nach unten. 


v 
Die Tür zu der Lebjadkinſchen Wohnung war nur zu⸗ 
gemacht, aber nicht verſchloſſen, und wir traten unge⸗ 
hindert ein. Ihre ganze Behauſung beſtand aus zwei 
haͤßlichen kleinen Zimmern mit verraͤucherten Waͤnden, 
an denen die ſchmutzigen Tapeten buchſtaͤblich in Fetzen 
hingen. Es war dort fruͤher einige Jahre lang eine 
Speiſewirtſchaft geweſen, bevor der Hausbeſitzer Filip— 
pow ſie in ſein neues Haus verlegt hatte. Die uͤbrigen 
Zimmer, die zur Speiſewirtſchaft gedient hatten, waren 
jetzt zugeſchloſſen, und dieſe beiden waren dem Haupt: 
mann Lebjadkin uͤberlaſſen worden. Das Mobiliar be— 
ſtand aus einfachen Baͤnken und Brettertiſchen, dazu noch 
aus einem ſehr alten Lehnſtuhl ohne Seitenlehnen. In 
dem zweiten Zimmer ſtand in einer Ecke ein mit einer 
baumwollenen Decke zugedecktes Bett, welches Mademoi— 
ſelle Lebjadkina gehörte; der Hauptmann ſelbſt warf ſich, 
wenn er ſich ſchlafen legte, jedesmal auf den Fußboden, 


- 


Erfter Teil 231 


nicht ſelten in den Kleidern. Überall waren Speiferefte, 
Schmutz und Naͤſſe zu ſehen; ein großer, dicker, ganz 
naſſer Lappen lag im erſten Zimmer mitten auf dem Fuß⸗ 
boden, und ebendort lag in einer Lache ein alter ausge— 
tretener Schuh. Es war klar, daß ſich hier niemand um 
etwas kuͤmmerte; die Ofen wurden nicht geheizt, Speiſen 
nicht zubereitet; nicht einmal einen Samowar hatten 
fie, wie mir Schatow ausdruͤcklich erzählte. Der Haupt⸗ 
mann war mit ſeiner Schweſter in groͤßter Armut hier 
angekommen, wie Liputin geſagt hatte, und tatſaͤchlich 
anfangs in einigen Haͤuſern betteln gegangen; dann 
aber hatte er unerwartet Geld erhalten, ſogleich ange— 
fangen zu trinken und war vom Branntwein ſo dumm 
und duſelig geworden, daß er ſich um den Haushalt gar 
nicht mehr kuͤmmerte. 

Mademoiſelle Lebjadkina, die ich ſo ſehr zu ſehen 
wuͤnſchte, ſaß ſtill und ruhig im zweiten Zimmer in einer 
Ecke auf einer Bank an einem bretternen Kuͤchentiſch. 
Sie redete uns nicht an, als wir die Tuͤr oͤffneten, und 
ruͤhrte ſich nicht einmal vom Platze. Schatow ſagte, die 
Tuͤren wuͤrden bei ihnen nie zugeſchloſſen, und einmal 
habe die Flurtuͤr die ganze Nacht uͤber ſperrangelweit 
aufgeſtanden. Bei dem matten Scheine eines duͤnnen Lich— 
tes, das in einem eiſernen Leuchter ſteckte, erblickte ich 
eine weibliche Perſon von vielleicht dreißig Jahren, von 
ſchrecklicher Magerkeit, bekleidet mit einem alten dunklen 
Kattunkleide; der lange Hals war unbedeckt, die duͤnnen, 
dunklen Haare im Nacken in einen kleinen Kauz zuſam⸗ 
mengefaßt, der nicht größer war als die Fauſt eines zwei— 
jährigen Kindes. Sie blickte uns ganz heiter an; außer 
dem Leuchter befanden ſich vor ihr auf dem Tiſche ein 


232 Die Teufel 


kleiner Spiegel in einem Holzrahmen, ein altes Spiel 
Karten, ein abgegriffenes Liederbuͤchelchen und eine 
Semmel, von der ſchon ein- oder zweimal abgebiſſen war. 
Bemerkenswert war, daß Mademoiſelle Lebjadkina ſich 
weiß und rot ſchminkte und ſich die Lippen mit etwas be— 
ſtrich. Auch malte ſie ſich die Augenbrauen ſchwarz, die 
auch ohnedies lang, ſchmal und dunkel waren. Auf ihrer 
ſchmalen, hohen Stirn zeichneten ſich trotz der weißen 
Schminke drei lange Runzeln ziemlich ſcharf ab. Ich 
wußte bereits, daß ſie lahm war; aber diesmal ſtand ſie 
waͤhrend unſerer Anweſenheit nicht auf und ging nicht. 
Fruͤher einmal, in der erſten Jugend, mochte dieſes abge— 
magerte Geſicht ganz ſchoͤn geweſen ſein; aber die ſtillen, 
freundlichen grauen Augen waren auch jetzt noch merk— 
wuͤrdig; aus ihrem ſtillen, offenen, beinah froͤhlichen 
Blicke leuchtete eine ſanfte Traͤumerei heraus. Dieſe 
ſtille, ruhige Froͤhlichkeit, die auch in ihrem Laͤcheln zum 
Ausdruck kam, ſetzte mich nach allem, was ich von der 
Koſakenpeitſche und den Roheiten des Bruders gehört 
hatte, in Erſtaunen. Sonderbar: ſtatt des peinlichen und 
ſogar aͤngſtlichen Gefuͤhles, das man gewoͤhnlich in Ge— 
genwart all ſolcher von Gott geſtraften Weſen empfindet, 
war es mir gleich vom erſten Augenblicke an beinah an— 
genehm, ſie anzuſehen, und das Gefuͤhl, das ſich nachher 
meiner bemaͤchtigte, war nur Mitleid, aber keineswegs 
Widerwillen. 

„So ſitzt ſie nun buchſtäblich Tage lang allein da, ohne 
ſich zu ruͤhren, legt ſich Karten oder ſieht in den Spiegel,“ 
ſagte Schatow, auf ſie hinweiſend, als wir auf der 
Schwelle ſtanden. „Er gibt ihr nichts zu eſſen. Die alte 
Frau aus dem Seitengebaͤude bringt ihr manchmal etwas 


+ 
‘ 


< = 


Erſter Teil 233 


aus Barmherzigkeit. Da ſitzt fü ie nun hier jo allein beim 
Lichte!“ 

Zu meiner Verwunderung redete Schatow laut, wie 
wenn ſie gar nicht im Zimmer waͤre. 

„Guten Abend, lieber Schatow!“ ſagte Mademoiſelle 
Lebjadkina freundlich. 

„Ich habe dir einen Gaſt mitgebracht, Marja Timofe— 
jewna,“ ſagte Schatow. 

„Nun, der Gaſt ſoll mir willkommen ſein. Ich weiß 
nicht, wen du da hergebracht haſt; ich kann mich auf ſo 
einen nicht beſinnen,“ erwiderte ſie, indem ſie mich ein 
Weilchen unverwandt hinter dem Lichte hervor betrach— 
tete; dann aber wendete ſie ſich ſogleich wieder zu Scha— 


tom; um mich kuͤmmerte ſie ſich nun waͤhrend des ganzen 


Geſpraͤches gar nicht mehr, wie wenn ich uͤberhaupt nicht 


anweſend waͤre. 


„Es iſt dir wohl langweilig geworden, ſo allein in 
deinem Zimmer umherzuwandern?“ ſagte ſie lachend, 


wobei zwei Reihen wunderſchoͤner Zaͤhne ſichtbar wurden. 


„Ja, es wurde mir langweilig, und dann wollte ich dich 
auch gern beſuchen.“ 


Schatow ruͤckte eine Bank an den Tiſch, ſetzte ſich hin 


und forderte mich auf, neben ihm Platz zu nehmen. 


„Ein Geſpraͤch habe ich immer gern; aber du kommſt 


mir doch laͤcherlich vor, lieber Schatow; du ſiehſt ja aus 
wie ein Moͤnch. Wann haſt du dich denn zuletzt gekaͤmmt? 
Komm, ich werde dich wieder einmal kaͤmmen!“ Mit 


И dieſen Worten zog fie ein Kaͤmmchen aus der Taſche. 

„Seit ich dich zum letzten Male gekaͤmmt habe, haſt du 
wohl dein Haar nicht mehr angeruͤhrt?“ 

2 


234 Die Teufel 


„Ich habe ja keinen Kamm!“ verſetzte Schatow 
lachend. 

„Wirklich nicht? Dann werde ich dir meinen ſchenken; 
nicht dieſen hier, ſondern einen andern; aber du mußt 
mich daran erinnern.“ | 

Mit dem ernfteften Geſichte machte fie ſich daran, ihn 
zu kaͤmmen, zog ihm ſogar einen Scheitel auf der Seite, 
bog ſich ein wenig zuruͤck, um zu ſehen, ob alles gut ge— 
lungen war, und ſteckte den Kamm wieder in die Taſche. 

„Weißt du was, lieber Schatow,“ ſagte ſie, den Kopf 
hin und her wiegend, „du biſt doch ſonſt ein vernuͤnftiger 
Menſch, aber doch langweilſt du dich. Ich muß mich wun⸗ 
dern, wenn ich euch alle ſo anſehe: ich verſtehe gar nicht, 
wie ſich die Leute langweilen koͤnnen. Sehnſucht iſt nicht 
langweilig. Ich bin ganz vergnuͤgt.“ 

„Auch wenn dein Bruder da iſt?“ 

„Du meinſt Lebjadkin? Der iſt mein Bedienter. Es 
iſt mir ganz gleich, ob er da iſt oder nicht. Wenn ich ihm 
befehle: ‚Lebjadkin, bring Waſſer! Lebjadkin, gib die 
Schuhe her!‘ dann läuft er nur fo; manchmal verſuͤndige 
ich mich ſogar und lache uͤber ihn.“ 

„Und das iſt wirklich genau ſo,“ ſagte Schatow wieder 
laut und ungeniert, indem er ſich zu mir wandte. „Sie 
behandelt ihn ganz wie einen Bedienten; ich habe ſelbſt 
gehört, wie fie ihn anherrſchte: Lebjadkin, bring Waſſer!' 
und dazu lachte; der Unterſchied beſteht nur darin, daß 
er nicht nach Waſſer laͤuft, ſondern ſie dafuͤr ſchlaͤgt; 
aber ſie fuͤrchtet ſich gar nicht vor ihm. Sie hat beinahe 
taͤglich eine Art von Nervenanfaͤllen, die ihr das Ge— 
daͤchtnis benehmen, ſo daß ſie nach ihnen alles vergißt, 
was ſoeben geſchehen iſt, und immer die Zeiten verwech— 


* ud Fu > < _ 
“ 2 


Erſter Teil 235 


ſelt. Sie denken wohl, daß fie ſich daran erinnert, wie 
wir hereingekommen ſind? Vielleicht tut ſie es; gewiß 
aber hat ſie alles ſchon in ihrer Weiſe umgeſtaltet und 
haͤlt uns jetzt fuͤr ganz andere Menſchen, obwohl ſie ſich 
erinnert, daß ich der liebe Schatow bin. Daß ich laut 
ſpreche, tut nichts; wenn man nicht mit ihr ſpricht, hoͤrt ſie 
ſofort auf zuzuhoͤren und uͤberlaͤßt ſich ihren Traͤumereien, 
in denen fie ganz verſinkt. Sie iſt eine erſtaunliche Traͤu⸗— 
merin; fie ſitzt manchmal acht Stunden, ja einen ganzen 
Tag lang auf einem Fleck. Da liegt nun eine Semmel; 
ſie hat vielleicht ſeit dem Morgen nur einmal davon ab— 
gebiſſen und wird ſie erſt morgen zu Ende eſſen. Da! 
Jetzt hat fie angefangen, ſich Karten zu legen ...“ 

„Ich lege und lege, lieber Schatow; aber es kommt 

nicht ordentlich heraus,“ fiel auf einmal Marja Timofe⸗ 
jewna ein, die die letzten Worte gehört hatte; und ohne 
hinzuſehen, ſtreckte ſie die linke Hand nach der Semmel 
aus; wahrſcheinlich hatte ſie auch gehoͤrt, daß dieſe er— 
waͤhnt wurde. 

Endlich erfaßte ſie die Semmel; aber nachdem ſie ſie 
eine Weile in der linken Hand gehalten hatte, ließ ſie 
ſich durch das neu in Gang kommende Geſpraͤch feſſeln 
und legte ſie, ohne abgebiſſen zu haben, wieder auf den 
Tiſch; fie war ſich dieſer Handlungen gar nicht bewußt 
geworden. 

„Es kommt immer dasſelbe heraus: eine Reiſe, ein 
boͤſer Menſch, eine Hinterliſt jemandes, ein Sterbebett, 
ein Brief von irgendwoher, eine unerwartete Nachricht, 
— ich meine, das iſt alles Lug und Trug; wie denkſt du 

daruͤber, lieber Schatow? Wenn die Menſchen luͤgen, 

warum follten die Karten nicht auch luͤgen?“ Sie miſchte 


Я 
2 


236 Die Teufel 


die Karten. „За ее ſagte ich auch einmal zu Mutter 
Praſkowja; das war eine ſehr achtbare Frau, die kam 
immer zu mir in meine Zelle gelaufen, um ſich ohne Wiſ— 
ſen der Mutter Abtiſſin Karten legen zu laſſen. Und 
es kamen auch noch andere mit ihr mitgelaufen. Da 
ſagten fie nun, Ach!“ und, Oh!' und wiegten die Köpfe hin 
und her und redeten und ſchwatzten; aber ich lachte: ‚Na, 
Mutter Praſkowja, ſagte ich, ‚mie werden Sie denn 
einen Brief bekommen, wenn zwoͤlf Jahre lang keiner 
angekommen ИЕ? Ihre Tochter hatte der Mann der— 
ſelben irgendwohin in die Tuͤrkei mitgenommen, und es 
war zwoͤlf Jahre lang nichts von ihr zu hoͤren geweſen. 
Aber da ſaß ich am folgenden Tage abends zum Tee bei 
der Mutter Abtiſſin (ſie war aus einer fuͤrſtlichen Fami— 
lie), und bei ihr ſaß auch eine Dame von auswaͤrts, eine 
große Phantaſtin, und auch ein Moͤnch vom Berge Athos, 
ein ſehr komiſcher Menſch nach meiner Anſicht. Und was 
meinſt du wohl, lieber Schatow? Dieſer ſelbe Moͤnch 
hatte an demſelben Morgen der Mutter Praſkowja aus 
der Tuͤrkei von ihrer Tochter einen Brief gebracht, — 
ſiehſt du, da iſt Karo-Bube, eine unerwartete Nach» 
richt! Alſo wir tranken da Tee, und der Moͤnch vom Athos 
ſagte zur Mutter Abtiſſin: ‚Und am allermeiſten, ehr— 
wuͤrdige Mutter Abtiſſin, hat Gott Ihr Kloſter dadurch 
geſegnet, daß Sie einen ſo koſtbaren Schatz in ſeinen 
Mauern bewahren.“ ‚Was für einen Schatz?“ fragte die 
Mutter Abtiſſin. ‚Die gottwohlgefaͤllige Mutter Liſa— 
weta, antwortete der Moͤnch. Dieſe gottwohlgefaͤllige 
Mutter Liſaweta war in der Umfaſſungsmauer des Klo— 
ſters eingemauert, in einem Kaͤfig, der drei Ellen lang 
und zwei Ellen hoch war, und ſaß da hinter einem eiſernen 


| 


Erſter Teil | 237 


Gitter ſchon ſiebzehn Jahre, Sommer und Winter im 
bloßen haͤnfenen Hemde, und ſtach immer mit einem 
Strohhalm oder einem Stoͤckchen in ihr Hemd, in die 
Leinwand, hinein und redete nichts und kaͤmmte ſich 
nicht und wuſch ſich nicht, die ganzen ſiebzehn Jahre lang. 
Im Winter ſchob man ihr einen Schafpelz durchs Gitter 
und alle Tage ein Koͤrbchen mit Brot und einen Krug 
Waſſer. Die Wallfahrer ſahen fie an, ſtaunten, ſeufzten 
und legten Geld hin. Na, ja, ein ſchoͤner Schatz, ver— 
ſetzte die Mutter Abtiſſin (ſie aͤrgerte ſich; denn ſie konnte 
Liſaweta gar nicht leiden); ‚Liſaweta ſitzt da nur aus Bos— 
heit, nur aus Eigenſinn; es iſt alles nur Verſtellung.“ 
Das gefiel mir nicht; ich wollte mich damals ſelbſt ein— 
ſperren laſſen. ‚Meiner Anſicht nad), ſagte ich, ‚ift Gott 
und die Natur ein und dasſelbe. Da riefen ſie alle wie 
aus einem Munde: Aber jo etwas! Die Abtiſſin lachte, 
у fing an mit der fremden Dame zu flüftern, rief mich zu 
ſich und ftreichelte mich, und die Dame ſchenkte mir ein 
N roſa Band; wenn du willſt, werde ich es dir zeigen. Na, 
und der Moͤnch hielt mir eine belehrende Rede und ſprach 
ſo freundlich und ruhig und gewiß auch ſehr verſtaͤndig, 
und ich ſaß da und hörte zu. „Бай du es verftanden?‘ 
fragte er. ‚Nein, antwortete ich, ich habe nichts verftan- 
denz laſſen Sie mich nur ganz in Ruhe!‘ Seitdem ließen 
$ fie mich ganz in Ruhe, lieber Schatow. Aber als ich ein— 
. mal aus der Kirche kam, da fluͤſterte mir eine unſerer 
hi Nonnen, die bei uns Buße tun mußte für ihre Weig- 
ſagungen, leiſe zu: ‚Was ift die Muttergottes? Was 
meinſt du?‘ ‚Die Muttergottes“, antwortete ich, ‚ift die 
Hoffnung des Menſchengeſchlechtes. „Ja, ſagte fie, die 
Muttergottes iſt die kuͤhle Mutter Erde, und ſie ſchließt 


238 ‚Die Teufel 


für den Menſchen große Freude ein. Und jeder irdifche 
Kummer und jede irdiſche Traͤne wird uns zur Freude; 
und wenn du mit deinen Traͤnen die Erde unter dir eine 
halbe Elle tief getraͤnkt haben wirſt, dann wirſt du dich 
ſogleich uͤber alles freuen. Und du wirſt keinen, gar keinen 
Kummer mehr haben, ſagte ſie; ‚eine ſolche Prophe— 
zeiung gibt es. Dieſes Wort prägte ſich mir damals ein. 
Seitdem fing ich an, beim Gebete, wenn ich die tiefen 
Verbeugungen machte, jedesmal die Erde zu kuͤſſen; ich 
kuͤßte ſie und weinte. Und ich kann dir ſagen, lieber 
Schatow: dieſe Traͤnen ſind etwas Gutes; und wenn du 
auch keinen Kummer haſt, ſo fließen deine Traͤnen doch 
vor lauter Freude. Die Traͤnen fließen von ſelbſt, das 
iſt ſicher. Ich ging manchmal an das Seeufer: auf der 
einen Seite lag unſer Kloſter und auf der andern unſer 
ſpitzer Berg; er hieß darum auch der Spitzberg. Ich ſtieg 
auf dieſen Berg hinauf und wandte mich mit dem Ge— 
ſichte nach Oſten, fiel auf die Erde nieder, weinte und 
weinte und konnte mich nicht erinnern, wie lange ich ge— 
weint hatte, und konnte mich damals an nichts erinnern 
und wußte damals nichts. Dann ſtand ich auf und wandte 
mich um, und die Sonne ging unter, ſo groß und praͤch— 
tig und herrlich, — ſiehſt du gern in die Sonne, lieber 
Schatow? Es iſt ein ſchoͤner, aber trauriger Anblick. 
Dann wandte ich mich wieder nach Oſten, und der Schat— 
ten, der Schatten unſeres Berges lief wie ein Pfeil weit 
uͤber den See hin, ſchmal und lang, ganz lang, uͤber eine 
Werſt weit, bis zu der Inſel im See, und da zerſchnitt 
er dieſe ſteinige Inſel in zwei Haͤlften, und wenn er ſie 
in zwei Haͤlften zerſchnitten hatte, dann ging die Sonne 
ganz unter, und alles erloſch plotzlich. Dann wurde ich 


— < 


4 | Erſter Teil 239 


ganz traurig; dann fam mir auf einmal die Erinnerung 
wieder, und ich fürchtete mich vor der Dunkelheit, lieber 
Schatow. Und am meiſten weinte ich um mein Kind- 
chen f 

„Haſt du denn eines gehabt?“ fragte Schatow, der die 
ganze Zeit uͤber ſehr aufmerkſam zugehoͤrt hatte, und 
ſtieß mich mit dem Ellbogen an. 

„Gewiß doch! Ein ganz kleines, roſiges, mit ſo win— 
zigen Naͤgelchen, und mein ganzer Kummer iſt, daß ich 
mich nicht erinnern kann, ob es ein Knabe oder ein Mäd- 
chen war. Bald iſt es mir, als ſei es ein Knabe, bald, als 
ſei es ein Maͤdchen geweſen. Und als ich es damals ge— 
boren hatte, wickelte ich es gleich in Batiſt und Spitzen 
und umwand es mit roſa Baͤndern und beſtreute es mit 

Blumen und putzte es an und verrichtete ein Gebet uͤber 

5 ihm und trug es ungetauft weg; ich trug es durch einen 

Wald und fuͤrchtete mich vor dem Walde, und mir war 
ſo bange, und am meiſten weinte ich daruͤber, daß ich 
es geboren hatte und meinen Mann nicht kannte.“ 

„рай du denn einen gehabt?“ fragte Schatow vor- 
ſichtig. 

„Du kommſt mir laͤcherlich vor, lieber Schatow, mit 
deinen Einwendungen. Ich hatte einen, ich werde wohl 
einen gehabt haben; aber was hilft mir das, wenn es 
ganz ebenſo iſt, als ob ich keinen gehabt haͤtte? Da haſt 

du ein leichtes Raͤtſel; nun rate mal!“ fuͤgte ſie laͤchelnd 
hinzu. 

„Wo haſt du das Kind denn hingetragen?“ 

„In den Teich habe ich es getragen,“ antwortete ſie 

ſeufzend. 
\ Schatow ſtieß mich wieder mit dem Ellbogen an. 
$ 


= 


4 


240 Die Teufel 


„Wie aber, wenn du überhaupt kein Kind gehabt haft 
und das alles nur ein Hirngeſpinſt ift, wie?“ 

„Da legſt du mir eine ſchwere Frage vor, lieber Scha— 
tow,“ antwortete ſie nachdenklich und ohne uͤber eine 
ſolche Frage irgendwie erſtaunt zu ſein. „Daruͤber kann 
ich dir nichts ſagen; vielleicht habe ich auch keins gehabt; 
meiner Meinung nach iſt das von dir nur Neugier. Aber 
jedenfalls werde ich immer uͤber das Kindchen weinen; 
habe ich es denn nicht im Traume geſehen?“ Und große 
Traͤnen glaͤnzten in ihren Augen. „Lieber Schatow, 
lieber Schatow, iſt das wahr, daß dir deine Frau weg— 
gelaufen iſt?“ fragte ſie, indem ſie ihm ploͤtzlich beide 
Hände auf die Schultern legte und ihn mitleidig ans 
blickte. „Sei mir nicht boͤſe wegen der Frage; mir iſt ja 
auch traurig ums Herz. Weißt du, lieber Schatow, mir 
hat getraͤumt, er kaͤme wieder zu mir und riefe lockend: 
Komm her, mein Kaͤtzchen; komm zu mir, mein Kästchen!“ 
Am meiſten freute ich mich darüber, daß er ‚mein Käß- 
chen ſagte; er liebt mich noch, dachte ich.“ 

„Vielleicht wird er auch in Wirklichkeit kommen,“ mur⸗ 
melte Schatow halblaut. 

„Nein, lieber Schatow, das war ein Traum... in 
Wirklichkeit kann er nicht kommen. Kennſt du das Lied: 
‚Statt deines Prunkgemachs erwaͤhle 

Ich dieſe enge Zelle mir; 

Daß meiner und auch deiner Seele 

Sich Gott erbarme, bet’ ich hier.‘ 
Ach, mein lieber, guter Schatow, warum fragſt du mich 
nie nach etwas?“ 

„Du ſagſt ja doch nichts; deshalb frage ich dich erſt 
gar nicht.“ | 


Erſter Teil 241 


„Ich werde nichts ſagen, ich werde nichts ſagen, und 
wenn man mich in Stuͤcke reißt; ich werde nichts ſagen,“ 
fiel ſie ſchnell ein. „Und wenn man mich brennt, werde 

ich nichts ſagen. Was ich auch erdulden muß, ich werde 
nichts ſagen, die Leute werden nichts erfahren.“ 

„Nun, ſiehſt du, ſo hat alſo jeder ſein Geheimnis,“ 
ſagte Schatow noch leiſer und ließ den Kopf immer tiefer 
herabſinken. 

„Aber wenn du mich baͤteſt, wuͤrde ich es vielleicht 
doch ſagen!“ wiederholte ſie verzuͤckt. „Warum bitteſt du 
mich nicht? Bitte mich, bitte mich huͤbſch, lieber Schatow; 
vielleicht werde ich es dir ſagen; bitte mich inſtaͤndig, 
lieber Schatow, damit ich es gern ше... lieber Schatow, 

lieber Schatow!“ 

Aber der liebe Schatow ſchwieg; das allgemeine 
Schweigen dauerte ungefähr eine Minute lang. Die 
Traͤnen rannen ſtill über ihre blaſſen Wangen; fie ſaß 
da, ohne zu wiſſen, daß ihre beiden Haͤnde noch auf 
Schatows Schultern lagen; aber ſie blickte ihn nicht 
mehr an. 

„Ach was! Was gehſt du mich an! Es iſt ſogar un- 
recht!“ rief Schatow und erhob ſich ploͤtzlich von der 
Bank. „Stehen Sie auf!“ Er zog mir aͤrgerlich die Bank 

unter dem Leibe weg und ſtellte ſie an ihren fruͤheren 
Platz. 

V„p„ Damit er nichts merkt, wenn er kommt. Es iſt Zeit, 
daß wir gehen.“ 

„Ach, du ſprichſt immer von meinem Bedienten!“ ſagte 
Marja Timofejewna auflachend. „Du haſt Angſt vor ihm! 
9 Nun, lebt wohl, meine lieben Gaͤſte; aber höre noch einen 
seule was ich ſagen will! Heute kam dieſer Nilo- 


LI zu 


cn ic 


242 Die Teufel 


witſch mit dem rotbärtigen Hauswirt Filippow her, 
gerade als mein Bedienter auf mich losſtuͤrzte. Nein, wie 
der Hauswirt ihn packte und durch das Zimmer ſchleifte 
und mein Bedienter immer ſchrie: ‚Sch trage keine 
Schuld; ich leide für fremde Sünden! Kannſt du es 
glauben: wir alle, die wir da waren, ſchuͤttelten uns nur 
jo vor Lachen ...“ 

„Ach was, Timofejewna, das war ja ich und nicht der 
Rotbart; ich habe ihn ja heute an den Haaren von dir 
weggeriſſen. Der Hauswirt aber iſt vorgeſtern zu euch 
gekommen, um euch zu ſchimpfen. Das haſt du ver⸗ 
wechſelt.“ 

„Warte mal, das habe ich wirklich verwechſelt; viel- 
leicht biſt du es geweſen. Nun, wozu ſollen wir uͤber 
Kleinigkeiten ſtreiten; ihm kann es ganz gleich ſein, wer 
ihn wegreißt,“ ſagte ſie lachend. 

„Kommen Sie!“ rief Schatow und zog mich fort. 
„Das Tor hat geknarrt; wenn er uns hier antrifft, ſchlaͤgt 
er fie.” 

Wir waren kaum die Treppe hinaufgelaufen, als am 
Tore das Geſchrei eines Betrunkenen und maſſenhafte 
Schimpfworte hoͤrbar wurden. Schatow ließ mich in 
ſeine Wohnung hinein und ſchloß die Tuͤr zu. 

„Sie muͤſſen ein Weilchen hier warten, wenn Sie nicht 
einen großen Skandal hervorrufen wollen. Hoͤren Sie, 
er ſchreit wie ein Schwein; gewiß iſt er wieder uͤber die 
Schwelle geſtrauchelt; jedesmal ſchlaͤgt er da lang hin.“ 

Ohne Skandal ging es jedoch nicht ab. 


Erſter Teil 243 


VI 
Schatow ſtand an ſeiner verſchloſſenen Tuͤr und horchte 
nach der Treppe hin; auf einmal ſprang er zuruͤck. 

„Er kommt hierher! Wußte ich es doch!“ fluͤſterte er 
wuͤtend. „Nun werden wir ihn vielleicht vor Mitter— 
nacht nicht los.“ 

Es erſchollen einige ſtarke Fauſtſchlaͤge gegen die Tuͤr. 

„Schatow, Schatow, mach auf!“ bruͤllte der Haupt⸗ 


mann. „Schatow, lieber Freund! ... 


$ 


Bach 


ги”. 
Ады: 


‚Kam, dir meinen Mo⸗morgengruß zu bringen, 

Dir zu mesmelden, daß die liebe Sonne 

Schon am Himmel ſtr⸗x⸗rahlt, die Voͤglein fingen 

Hell in Wald und Feld vor Lebenswonne, 

Dir zu melden, daß auch ich erwachte, (hol dich der 

Teufel!), 

„Froh erwachte auf der Ba⸗bank von Raſen, (wie auf 

| der Pruͤgelbank, ha⸗hal), 

‚Dir zu melden 
daß ich etwas trinken werde. Trinkt ja auch jedes 3692 
lein ein Schluͤckchen. Aber ich weiß nicht, was ich trinken 
werde. Na, hol der Teufel die dumme Neugier! Schatow, 
verſtehſt du auch wohl, wie ſchoͤn es ſich auf der Welt 
lebt?“ 

„Antworten Sie ihm nicht!“ fluͤſterte mir Schatow 
wieder zu. 

„Mach doch auf! Verſtehſt du auch wohl, daß es etwas 
Hoͤheres gibt als Pruͤgelei. . . bei der Menſchheit? Es gibt 
bei einem e⸗edlen Menſchen Augenblicke ... Schatow, ich 
bin ein guter Menſch; ich verzeihe dir... Schatow, hol 
der Teufel die Proklamationen, was?“ 

Schweigen. 


244 Die Teufel 


„Verſtehſt du auch wohl, du Eſel, daß ich verliebt bin? 
Ich habe mir einen Frack gekauft; ſieh mal, einen Liebes⸗ 
frack, für fünfzehn Rubel; die Liebe eines Hauptmanns 
verlangt ein anſtaͤndiges aͤußeres Auftreten... Mach 
auf!“ bruͤllte er auf einmal wild und ſchlug wieder raſend 
mit den Faͤuſten an die Tuͤr. 

„Scher“ dich zum Teufel!“ ſchrie Schatow ploͤtzlich. 

„Kne⸗knecht! Ein leibeigner Knecht biſt du, und deine 
Schweſter iſt eine Magd und... eine Diebin!“ 


„Du aber haſt deine Schweſter verkauft.“ 


„Du luͤgſt! Ich leide ohne meine Schuld und kann durch 
eine einzige Ausſage ... verſtehſt du wohl, wer fie Ш?“ 

„Nun, wer?“ fragte Schatow und trat neugierig an 
die Tuͤr heran. 

„Verſtehſt du es auch wohl?“ 

„Ich werde es ſchon verſtehen; ſage nur, wer ſie iſt!“ 

„Ich habe den Mut, es zu ſagen! Ich habe immer den 
Mut, alles öffentlich zu ſagen! ...“ 

„Na, du wirft wohl kaum den Mut dazu haben,“ höhnte 
Schatow und winkte mir mit dem Kopfe, ich moͤchte zu⸗ 
hoͤren. 

„Ich habe nicht den Mut dazu?“ 

„Meiner Meinung nach haſt du ihn nicht.“ 

„Ich habe nicht den Mut dazu?“ 

„So rede doch, wenn du nicht zu fuͤrchten haſt, daß dich 
ein Herr und Gebieter durchpeitſchen läßt... Du biſt 
ein Feigling, und das will ein Hauptmann ſein!“ 

„Ich ich. , ИМ... Ш iſt , Е 
Hauptmann aufgeregt mit zitternder Stimme. 


„Nun?“ Schatow hielt das Ohr hin. 


Па”, < 
ем и 
у * 9 


Erſter Teil 245 


Es trat ein Stillſchweigen ein, das mindeſtens eine 
halbe Minute dauerte. 

„Schu⸗ſchurke!“ ertoͤnte es endlich auf der anderen 
Seite der Tuͤr, und der Hauptmann retirierte, wie ein 
Samowar ſchnaufend, ſchnell nach unten, wobei er auf 
jeder Treppenſtufe geraͤuſchvoll ſtolperte. 

„Nein, er iſt ſchlau; auch wenn er betrunken iſt, ver- 
plappert er ſich nicht,“ ſagte Schatow und trat von der 
Tuͤr zuruͤck. i 

„Was bedeutet denn das alles?“ fragte ich. 

Schatow machte eine mißmutige Handbewegung, ſchloß 
die Tuͤr auf und horchte wieder nach der Treppe hin; er 
heorchte lange und ſtieg ſogar leiſe ein paar Stufen hin- 
unter. Endlich kehrte er zuruͤck. | 

„Es iſt nichts zu hörenz er hat fie nicht geſchlagen; alfo 
hat er ſich ohne weiteres hingeworfen und iſt eingeſchla— 
fen. Es iſt Zeit, daß Sie gehen.“ 
5 „Hören Sie, Schatow, was ſoll ich denn jetzt aus alle- 
dem ſchließen?“ | 

„Ach was! Schließen Sie daraus, was Sie wollen!“ 
antwortete er muͤde und verdroſſen und ſetzte ſich an 

ſeinen Schreibtiſch. 

Ich ging weg. Ein ſonderbarer Gedanke befeſtigte ſich 
immer mehr in meinem Kopfe. Mit Sorge dachte ich an 
den morgigen Tag... 


A 


u). УП 

= Dieſer „morgige Tag“, das heißt eben jener Sonntag, 
9 an welchem ſich Stepan Trofimowitſchs Schickſal un 
widerruflich entſcheiden ſollte, war einer der merkwuͤr— 
digſten Tage der Geſchichte, die ich hier erzähle. Es war 


246 Die Teufel 


ein Tag der Überraſchungen, ein Tag, an welchem frühere 
Knoten ihre Loͤſung fanden und neue ſich ſchuͤrzten, ein 
Tag greller Aufklaͤrungen und noch aͤrgerer Verwir— 
rungen. Am Mittag ſollte ich, wie dem Leſer bereits be— 
kannt iſt, meinen Freund zu Warwara Petrowna beglei— 
ten, und um drei Uhr nachmittags ſollte ich bereits bei 
Liſaweta Nikolajewna ſein, um ihr, ich wußte ſelbſt nicht 
was, zu erzaͤhlen und ihr, ich wußte ſelbſt nicht wobei, 
behilflich zu ſein. Aber alles geſtaltete ſich in einer Weiſe, 
die niemand hatte vorausſehen koͤnnen. Kurz, es war 
ein Tag, an dem eine Anzahl von Zufaͤllen wunderbar 
zuſammentrafen. | 

Es begann damit, daß wir, Stepan Trofimowitſch und 
ich, als wir bei Warwara Petrowna ihrer Beſtimmung 
gemaͤß puͤnktlich um zwoͤlf Uhr erſchienen, ſie nicht zu 
Haufe trafen; fie war noch nicht von der Meſſe zuruͤck— 
gekehrt. Mein armer Freund befand ſich in einer ſolchen 
Stimmung oder, richtiger geſagt, in einer ſolchen Zer— 
ruͤttung, daß dieſer Umſtand ihn ſogleich niederſchmet⸗ 
terte; halb ohnmaͤchtig ſank er im Salon auf einen Lehn⸗ 
ſtuhl. Ich bot ihm ein Glas Waſſer an; aber obwohl er 
ganz blaß im Geſicht ausſah und ihm ſogar die Haͤnde 
zitterten, wies er dies doch wuͤrdevoll zuruͤck. Ich be— 
merke beilaͤufig, daß ſich ſein Koſtuͤm bei dieſer Gelegen— 
heit durch ungewoͤhnliche Eleganz auszeichnete: er trug 
faſt ballmaͤßige geſtickte Batiſtwaͤſche, ein weißes Hals— 
tuch und neue ſtrohgelbe Handſchuhe; in der Hand hielt 
er einen neuen Hut, und er hatte ſich ſogar ein ganz klein 
wenig parfuͤmiert. Kaum hatten wir uns hingeſetzt, als 
Schatow, von dem Kammerdiener gefuͤhrt, hereintrat; 
offenbar war auch er offiziell eingeladen worden. Stepan 


* 


Erſter Teil 247 


Trofimowitſch ſchickte ſich ſchon an, aufzuſtehen, um ihm 
die Hand zu reichen; aber Schatow drehte, nachdem er 
uns beide aufmerkſam angeſehen hatte, ſich kurz um, ohne 
uns auch nur zuzunicken, ging in eine Ecke und ſetzte 
ſich dort hin. Stepan Trofimowitſch blickte mich wieder 
erſchrocken an. 

So ſaßen wir noch mehrere Minuten in voͤlligem Still- 
ſchweigen da. Stepan Trofimowitſch fing an, mir etwas 
тебе ſchnell zuzufluͤſtern; aber ich konnte ihn nicht ет: 
ſtehen, und er ſelbſt ſprach vor Aufregung nicht zu Ende, 
ſondern brach ab. Der Kammerdiener kam noch einmal 
herein, um etwas auf dem Tiſche in Ordnung zu bringen, 
wahrſcheinlicher aber, um uns anzuſehen. Ploͤtzlich wandte 
ſich Schatow an ihn mit der lauten Frage: | 

„Alexei Jegorowitſch, wiſſen Sie nicht, ob Darja Фа: 
lowna mit ihr mitgefahren iſt?“ 

„Warwara Petrowna ſind allein nach dem Dom ge— 
fahren, und Darja Pawlowna ſind oben in ihrem Zimmer 
geblieben; Fraͤulein ſind nicht ganz wohl,“ meldete Alexei 
Jegorowitſch feierlich und zeremonioͤs. 

Mein armer Freund warf mir wieder einen fluͤchtigen, 
unruhigen Blick zu, ſo daß ich mich endlich von ihm ab— 
wandte. Ploͤtzlich fuhr an der Haustuͤr eine Equipage 
vor, und eine entfernte Bewegung im Hauſe benachrich⸗ 
tigte uns, daß die Hausfrau zuruͤckgekehrt ſei. Wir 


ſprangen ſaͤmtlich von unſeren Plaͤtzen auf; aber es be- 


gab ſich wieder etwas Unerwartetes: es wurde das Ge— 
raͤuſch vieler Schritte hoͤrbar, woraus ſich entnehmen ließ, 
daß die Hausfrau nicht allein zuruͤckgekehrt war, und dies 
war wirklich einigermaßen ſonderbar, da ſie uns doch 
ſelbſt dieſe Stunde beſtimmt hatte. Zuletzt hoͤrten wir, 


248 Die Teufel 


daß jemand mit ungewoͤhnlicher Schnelligkeit herbeikam 
oder geradezu lief; ſo konnte doch Warwara Petrowna 
nicht kommen? Und auf einmal kam ſie ins Zimmer her— 
eingeſtuͤrzt, ganz atemlos und in hoͤchſter Aufregung. 
Hinter ihr folgte in einigem Abſtande und weit ruhiger 
Liſaweta Nikolajewna und mit Liſaweta Nikolajewna 
Arm in Arm — Marja Timofejewna Lebjadkina! Wenn 
mir das getraͤumt haͤtte, ſo haͤtte ich es nicht einmal da 
geglaubt. 

Um dieſes voͤllig unerwartete Ereignis zu erklaͤren, muß 
ich eine Stunde zuruͤckgreifen und ausfuͤhrlich das unge— 
woͤhnliche Erlebnis erzaͤhlen, das Warwara Petrowna 
im Dom gehabt hatte. 

Zur Meſſe hatte ſich an dieſem Sonntage faſt die ganze 
Stadt zuſammengefunden, ich meine damit die hoͤchſte 
Schicht unſerer Geſellſchaft. Man wußte, daß die Frau 
Gouverneur zum erſtenmal nach ihrer Ankunft bei uns 
in der Kirche erſcheinen werde. Ich bemerke, daß bei 
uns ſchon Gerüchte im Umlauf waren, fie ſei eine Frei 
denkerin und huldige „neuen Prinzipien“. Ferner war 
allen Damen bekannt, daß fie praͤchtig und mit außer- 
ordentlichem Geſchmack gekleidet ſein werde; und des— 
halb zeichneten ſich die Koſtuͤme unſerer Damen diesmal 
durch beſondere Eleganz und Koftbarfeit aus. Nur Wars 
wara Petrowna trug wie immer ihr beſcheidenes ſchwar— 
zes Kleid; ſo war ſie unveraͤnderlich die ganzen letzten 
vier Jahre gegangen. Als ſie in den Dom gekommen 
war, nahm ſie auf ihrem gewoͤhnlichen Sitz links in der 
erſten Reihe Platz, und ein Diener in Livree legte ein 
Samtkiſſen für das Niederknien vor ihr auf den Fuß⸗ 
boden; kurz, es war alles wie gewoͤhnlich. Aber man 


ee 


Erſter Teil 249 


konnte bemerken, daß ſie dieſesmal waͤhrend des ganzen 

Gottesdienſtes beſonders eifrig betete; man behauptete 
ſogar nachher, als man ſich alles ins Gedaͤchtnis zuruͤck— 
rief, es haͤtten ihr die Traͤnen in den Augen geſtanden. 
| Endlich war die Meſſe zu Ende, und unſer Bischof, Vater 
Pawel, kam heraus, um eine feierliche Predigt zu halten. 
Seine Predigten waren bei uns ſehr beliebt und wurden 
ſehr geſchaͤtzt; man hatte ihm ſogar ſchon oft zugeredet, ſie 
drucken zu laſſen; er hatte ſich aber dazu noch nicht ent⸗ 
ſchließen koͤnnen. Diesmal fiel die Predigt beſonders 
lang aus. 


Und ſiehe da, als die Predigt ſchon begonnen hatte, 
fuhr beim Dome eine Dame in einer leichten Droſchke 
alter Bauart vor, das heißt in einer jener Droſchken, in 
enen Damen nur ſeitwaͤrts ſitzen koͤnnen, ſich an dem 
Leibgurt des Kutſchers feſthalten muͤſſen und von den 
Stoͤßen des Wagens wie ein Halm auf dem Felde 
im Winde hin und her ſchwanken. Solche Droſch— 
K ken fahren in unſerer Stadt immer noch. Die Droſchke 

hielt an der Ecke des Domes (denn am Portale ſtanden 
eine Menge Equipagen und ſogar Gendarmen); die Dame 
р flieg aus und reichte dem Kutſcher vier Kopeken. 


& 2 2 u „ 
„„Das iſt wohl zu wenig, Kutſcher?“ rief fie, als fie 


ſah, was er für eine Grimaſſe ſchnitt. „Aber es iſt alles, 
was ich habe,“ fuͤgte ſie in klaͤglichem Tone hinzu. 

р „Na, in Gottes Namen; ich habe vorher keinen Preis 
5 feſtgemacht!“ ſagte der Kutſcher mit einer Handbe— 
1 7 wegung des Verzichtes und ſah ſie an, wie wenn er dachte: 
„Es waͤre ja auch Suͤnde, zu dir ein boͤſes Wort in 
been. 


250 Die Teufel 


Dann ſteckte er fein ledernes Geldbeutelchen vorn in 
die Bruſt, trieb ſein Pferd an und fuhr davon, von den 
Spöttereien der dabeiſtehenden Droſchkenkutſcher beglei- 
tet. Ausdruͤcke des Spottes und der Verwunderung be— 
gleiteten auch die Dame die ganze Zeit uͤber, waͤhrend ſie 
ſich zwiſchen den Equipagen und den auf das baldige 
Herauskommen ihrer Herrſchaften wartenden Dienern 
hindurch nach dem Domportale hinarbeitete. Und es lag 
auch wirklich etwas Ungewoͤhnliches und fuͤr alle Über— 
raſchendes in dem Umſtande, daß eine Dame dieſer Art 
auf einmal von irgendwoher auf der Straße unter dem 
Volke erſchien. Sie war von einer krankhaften Mager⸗ 
keit und hinkte; das Geſicht war ſtark weiß und rot ge⸗ 
ſchminkt, der lange Hals ganz bloß; fie trug kein Tuch 
und keinen Mantel, ſondern nur ein altes, dunkles Kleid 
trotz des kalten und windigen, wenn auch hellen Septem- 
bertages; der Kopf war voͤllig unbedeckt; in die Haare, 
die im Nacken in einen winzigen Kauz zuſammengefaßt 
waren, war auf der rechten Seite nur eine kuͤnſtliche Roſe 
hineingeſteckt, von der Art, wie man ſie zum Schmucke der 
Oſterengel benutzt. Einen ſolchen Oſterengel mit einem 
Kranze aus Papierroſen hatte ich Tags zuvor, als ich bei 
Marja Timofejewna ſaß, in der Ecke unter den Heiligen— 
bildern bemerkt. Die Verwunderung wurde aufs hoͤchſte 
geſteigert dadurch, daß die Dame zwar mit beſcheiden 
niedergeſchlagenen Augen, aber doch gleichzeitig mit 
einem heiteren, ſchlauen Laͤcheln einherging. Haͤtte ſie 
noch einen Augenblick gezaudert, ſo wuͤrde man ſie viel- 
leicht gar nicht in den Dom hineingelaſſen haben. Aber 
es gelang ihr hineinzuſchluͤpfen, und als ſie das Gottes⸗ 


Erſter Teil 251 


haus betreten hatte, draͤngte ſie ſich unauffaͤllig nach 
vorn. 
Obgleich es mitten in der Predigt war und die ganze 
dicht gedraͤngte Menge, die das Gotteshaus anfuͤllte, ihr 
mit voller, lautloſer Aufmerkſamkeit lauſchte, ſo ſchielten 
doch einige Augen neugierig und erſtaunt nach der Ein- 
getretenen hin. Sie warf ſich auf den Flieſenſteinen der 
Kirche nieder, beugte ihr blaſſes Geſicht zu ihnen hinab, 
lag lange ſo da und ſchien zu weinen; aber als ſie den 
Kopf wieder in die Hoͤhe gehoben und ſich von den Knien 
aufgerichtet hatte, war ſie ſehr bald wieder gefaßt und 
munter. Heiter und mit ſichtlichem, großem Vergnuͤgen 
ließ ſie ihre Augen uͤber die Anweſenden und uͤber die 
Waͤnde des Doms hingleiten; mit beſonderer Neugier 
betrachtete ſie einige Damen und hob ſich zu dieſem Zwecke 
ſogar auf die Fußſpitzen; ja, ſie lachte ſogar ein paarmal 
mit ſeltſamem Kichern. Aber nun war die Predigt zu 
Ende, und es wurde das Kreuz herausgetragen. Die 
Frau Gouverneur war die erſte, die auf das Kreuz zu— 
ging; aber als ſie noch nicht zwei Schritte gemacht hatte, 
blieb ſie ſtehen, in der offenkundigen Abſicht, Warwara 
Petrowna den Vortritt zu laſſen, die ihrerſeits gerades 
wegs darauf losging, als ob ſie niemanden vor ſich be— 
merkte. In der ungewöhnlichen Hoͤflichkeit der Frau 
Gouverneur lag zweifellos eine deutliche und in ihrer Art 
kluge Stichelei; ſo faßten es alle auf; ſo faßte es jeden⸗ 
falls auch Warwara Petrowna auf; aber fie tat wie vor- 
her, als ob ſie niemanden bemerke, kuͤßte mit einer Miene 
unerſchuͤtterlicher Würde das Kreuz und begab ſich ſo— 
1 gleich zum Ausgange. Ihr Livreediener bahnte ihr den 
Weg, obgleich auch ohne dies alle auseinandertraten. 


re 


8 


* 
5 
и 
2 
8 


252 Die Teufel 


Aber unmittelbar am Ausgange, in der Vorhalle, ver- 
ſperrte ein dicht zuſammengeballter Menſchenhaufe ihr 
fuͤr einen Augenblick den Weg. Warwara Petrowna 
blieb ſtehen, und auf einmal drängte ein ſeltſames, auf: 
fallendes Weſen, eine Frauensperſon mit einer Papier— 
roſe im Haar, ſich durch die Menſchen hindurch und fiel 
vor ihr auf die Knie. Warwara Petrowna, die ſich nicht 
leicht aus der Faſſung bringen ließ, namentlich nicht in 
der Offentlichkeit, blickte ſie wuͤrdevoll und ſtreng an. 

Ich beeile mich hier moͤglichſt kurz zu bemerken, daß 
Warwara Petrowna zwar in den letzten Jahren außer⸗ 
ordentlich oͤkonomiſch, wie man ſich ausdruͤckte, und ſogar 
geizig geworden war, manchmal aber, und beſonders zu 
wohltaͤtigen Zwecken, mit dem Gelde nicht knauſerte. Sie 
war Mitglied eines Wohltaͤtigkeitsvereins in der Haupt- 
ſtadt. In dem vorigen Hungerjahre hatte fie nach Peterg- 
burg an das Hauptkomitee zur Annahme von Unter- 
ſtuͤtzungen für die Notleidenden fuͤnfhundert Rubel ge- 
ſchickt, woruͤber bei uns viel geſprochen worden war. 
Ferner hatte ſie in der allerletzten Zeit vor der Ernen⸗ 
nung des neuen Gouverneurs die Gruͤndung eines loka— 
len Damenkomitees zur Unterſtuͤtzung der aͤrmſten Woͤch⸗ 
nerinnen in der Stadt und im uͤbrigen Gouvernement 
bereits ſo gut wie zuſtande gebracht. Man tadelte bei uns 
heftig ihren Ehrgeiz; aber das bekannte Ungeſtuͤm ihres 
Charakters, verbunden mit ihrer Ausdauer, hatte bei— 
nahe ſchon alle Hinderniſſe uͤberwunden; der Verein hatte 
ſich faſt ſchon konſtituiert, und der urſpruͤngliche Gedanke 
entwickelte ſich in der entzuͤckten Phantaſie der Gruͤnderin 
zu groͤßeren Dimenſionen: ſie traͤumte ſchon von der 
Gruͤndung eines ebenſolchen Komitees in Moskau und 


Erſter Teil 253 


von der allmählichen Ausbreitung der Wirkſamkeit des⸗ 
ſelben uͤber alle Gouvernements. Aber ſiehe da, durch 
den plöglichen Perſonalwechſel in der Verwaltung des 
Gouvernements geriet alles ins Stocken; die neue Frau 
Gouverneur hatte, wie man ſagte, in der Geſellſchaft be— 
reits einige ſpitze und, was die Hauptſache war, zutref⸗ 
fende ſachliche Einwendungen in betreff der Undurch— 
fuͤhrbarkeit der Grundideen eines ſolchen Komitees zum 
Ausdruck gebracht, was, ſelbſtverſtaͤndlich mit Ausſchmuͤk⸗ 
kungen, Warwara Petrowna bereits hinterbracht wor— 
den war. Nur Gott kennt die Tiefen des Menſchenher- 
zeng; aber ich glaube, daß Warwara Petrowna jetzt ſogar 
mit einem gewiſſen Vergnuͤgen am Portal des Domes 
ſtehen blieb, da ſie wußte, daß im naͤchſten Augenblicke 
die Frau Gouverneur und nach dieſer alle andern Damen 
an ihr vorbeikommen mußten. Sie ſagte ſich: „Mag ſie 
mit eigenen Augen ſehen, wie gleichguͤltig es mir iſt, was 
ſie uͤber mich denkt, und was ſie uͤber die Eitelkeit meiner 
Wohltaͤtigkeitsbeſtrebungen witzelt. Nun koͤnnt ihr alle 
zuſehen!“ 

„Was wollen Sie, liebes Kind? Um was bitten Sie?“ 
fragte Warwara Petrowna, indem ſie die vor ihr 
Kniende aufmerkſam betrachtete. | 

Dieſe jah mit einem überaus zaghaften, ſchuͤchternen, 
aber beinah andaͤchtigen Blicke zu ihr auf und lachte auf 
einmal in derſelben ſonderbaren kichernden Manier wie 
vorher. 

„Was hat ſie? Wer iſt ſie?“ 

Warwara Petrowna ließ ihren befehlshaberiſchen, 
fragenden Blick bei den Umſtehenden herumgehen. Alle 


ſchwiegen. 


254 Die Teufel 


„Sind Sie ungluͤcklich? Beduͤrfen Sie einer Unter- 
ſtuͤtzung?“ 

„Ja . . . ich bin gekommen ...“ ſtammelte die „Un⸗ 
gluͤckliche“ mit einer Stimme, die vor Aufregung ver— 
ſagte. „Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Hand zu 
kuͤſſen ...“ Und wieder kicherte fie. 

Mit einem ganz kindlichen Blicke, ſo wie Kinder 
blicken, wenn ſie ſchmeichelnd um etwas bitten, ſtreckte 
fie den Arm aus, um Warwara Petrownas Hand zu er- 
greifen, zog ihn aber, wie erſchrocken, auf einmal wieder 
zuruͤck. 

„Nur deswegen ſind Sie gekommen?“ fragte War⸗ 
wara Petrowna mit mitleidigem Laͤcheln, zog aber ſofort 
ihr Perlmutterportemonnaie aus der Taſche, entnahm ihm 
einen Zehnrubelſchein und reichte ihn der Unbefann- 
ten hin. 

Dieſe nahm ihn. Warwara Petrownas Intereſſe war 
ſtark angeregt, und ſie hielt die Unbekannte offenbar nicht 
fuͤr eine gewoͤhnliche Bittſtellerin. 

„Nun ſeht mal an, zehn Rubel hat ſie ihr gegeben!“ 
ſagte jemand in der Menge. 

„Geſtatten Sie mir, bitte, Ihre Hand!“ ſtammelte die 
„Ungluͤckliche“; ſie hielt mit den Fingern der linken Hand 
die empfangene Banknote an einer Ecke feſt, ſo daß ſie 
im Winde wehte. 

Warwara Petrowna runzelte ein wenig die Stirn (es 
mußte ihr wohl etwas mißfallen) und hielt ihr mit ernſter, 
faſt ſtrenger Miene die Hand hinz; dieſe kuͤßte fie ehr— 
furchtsvoll. In ihrem dankbaren Blicke leuchtete ſogar 
eine Art von Entzuͤcken. Und gerade in dieſem Augen 
blicke kam die Frau Gouverneur heran, und hinter ihr her 


7% =. 


Erſter Teil 255 


ſtroͤmte die ganze Schar unſerer Damen und hoͤchſten 
Wuͤrdentraͤger. Die Frau Gouverneur mußte notge⸗ 
drungen einen Augenblick im Gedraͤnge ſtehen bleiben; 
und ebenſo die andern. 

„Sie zittern ja; frieren Sie?“ fragte Warwara Pe— 
trowna pyloͤtzlich. 

Sie warf ihren Mantel ab, den der Diener im Fallen 
auffing, nahm ihr ſchwarzes, ſehr koſtbares Schaltuch 
von den Schultern und huͤllte den entbloͤßten Hals der 


immer noch knienden Bittſtellerin eigenhaͤndig damit ein. 


„Aber ſtehen Sie doch auf; erheben Sie ſich; ich bitte 
Sie darum!“ 

Jene ſtand auf. 

„Wo wohnen Sie? Weiß denn wirklich niemand, wo 
ſie wohnt?“ fragte Warwara Petrowna ungeduldig und 
ſah ſich rings um. 

Aber die fruͤhere Volksmenge war nicht mehr da; es 
waren nur bekannte, der beſſeren Geſellſchaft angehoͤrige 
Perſonen zu ſehen, die den Vorgang verfolgten, die einen 
mit großem Erſtaunen, andere mit ſchlauer Neugier und 
zugleich mit einer unſchuldigen Freude un einem kleinen 
Skandal; wieder andere fingen ſogar an, ſich daruͤber 
luſtig zu machen. 

„Ich glaube, ſie iſt eine Angehoͤrige eines gewiſſen 
Lebjadkin,“ meldete ſich ſchließlich ein gutmuͤtiger Menſch 
mit einer Antwort auf Warwara Petrownas Frage, naͤm— 
lich unſer achtungswerter und von vielen hochgeſchaͤtzter 
Kaufmann Andrejew mit der Brille, dem grauen Barte, 
der ruſſiſchen Tracht und dem in der Hand gehaltenen 
Zylinderhute. „Sie wohnen im Filippowſchen Hauſe in 


der Bogojawlenſkaja⸗Straße.“ 


256 Die Teufel 


„Lebjadkin? Im Filippowſchen Haufe? Davon habe 
ich ſchon etwas gehört... Ich danke Ihnen, Nikon 
Semjonowitſch; aber wer iſt dieſer Lebjadkin?“ 

„Er nennt ſich Hauptmann und iſt, man muß ſagen, 
ein unſolider Menſch. Dies aber iſt jedenfalls ſeine 
Schweſter. Ich denke mir, daß fie jetzt der Aufſicht ent- 
laufen iſt,“ fuͤgte Nikon Semjonowitſch leiſer hinzu und 
blickte Warwara Petrowna bedeutſam an. 

„Ich verſtehe Sie, ich danke Ihnen, Nikon Semjono— 
witſch. Sie find Fräulein Lebjadkina, liebes Kind?“ 

„Nein, ich heiße nicht Lebjadkina.“ 

„Aber vielleicht iſt Lebjadkin Ihr Bruder?“ 

„Ja, Lebjadkin iſt mein Bruder.“ 

„Alſo, da werde ich es ſo machen: ich werde Sie jetzt 
mit mir in meine Wohnung mitnehmen, liebes Kind, und 
von da ſollen Sie zu Ihrer Familie gebracht werden. 
Wollen Sie mit mir mitfahren?“ | 

„Ach ja, gern!“ antwortete jene und klatſchte in die 
Haͤnde. 

„Tante, Tante! Nehmen Sie mich auch mit!“ rief 
Liſaweta Nikolajewna. 

Ich bemerke, daß Liſaweta Nikolajewna mit der Frau 
Gouverneur zuſammen der Meſſe beigewohnt hatte, 
waͤhrend Praſkowja Iwanowna unterdeſſen auf aͤrztliche 
Vorſchrift ſpazieren gefahren war und zu ihrer Zerſtreuung 
Mawriki Nikolajewitſch mitgenommen hatte. Nun verließ 
Liſa auf einmal die Frau Gouverneur und trat eilig zu 
Warwara Petrowna heran. 

„Liebes Kind, du weißt, daß ich mich immer uͤber das 
Zuſammenſein mit dir freue; aber was wird deine Mut- 
ter ſagen?“ begann Warwara Petrowna wuͤrdevoll, 


een: 
R 


Erſter Teil 257 


ſtutzte aber ploͤtzlich, da ſie Liſas ungewoͤhnliche Aufregung 
bemerkte. 

„Tante, Tante, ich muß jetzt unter allen Umſtaͤnden 
mit Ihnen mit,“ bat Liſa inſtaͤndig und kuͤßte Warwara 
Petrowna. 

„Mais qu'avez-vous donc, Lise?“ fragte die Frau 
Gouverneur erſtaunt und nachdruͤcklich. 

„Ach, verzeihen Sie, mein Taͤubchen, chere cousine, 
ich muß zu meiner Tante!“ erwiderte Liſa, indem ſie ſich 
ſchnell zu ihrer unangenehm uͤberraſchten chere cousine 
umwendete und ſie zweimal kuͤßte. „Und ſagen Sie doch 
zu Mama, ſie moͤchte gleich mit dem Wagen zur Tante 
fahren, um mich abzuholen; Mama wollte ganz beſtimmt, 
ganz beſtimmt mit herankommen; fie hat es vorhin ſelbſt 
geſagt; ich habe vergeſſen, es Ihnen mitzuteilen,“ ſagte 
Liſa eilig. „Pardon! Seien Sie nicht boͤſe, Julie, chere 

cousine . . . Tante, ich bin bereit!“ 

„Wenn Sie mich nicht mitnehmen, Tante, ſo laufe ich 
hinter Ihrem Wagen her und ſchreie Ihnen nach,“ fluͤ⸗ 
ſterte ſie ſchnell und in Verzweiflung dicht an Warwara 
Petrownas Ohr. 


Es war nur gut, daß es niemand gehört hatte. War- 
wara Petrowna trat ſogar einen Schritt zuruͤck und ſah 
das wahnſinnige Maͤdchen mit einem durchdringenden 
Blicke an. Dieſer Blick entſchied alles: ſie beſchloß, Liſa 
unter allen Umſtaͤnden mitzunehmen. 

„Dem muß ein Ende gemacht werden!“ entfuhr es ihr 
leiſe. „Nun gut, ich werde dich mit Vergnuͤgen mit— 
nehmen, Ца,“ fügte fie ſogleich laut hinzu, „ſelbſtverſtaͤnd⸗ 
lich nur, wenn Julija Michailowna einwilligt, dich fortzu— 
LXIII. 17 


258 Die Teufel 


laſſen,“ wandte fie ſich mit offener Miene und natür- 
licher Wuͤrde unmittelbar an die Frau Gouverneur. 

„Oh, gewiß; ich will Sie dieſes Vergnuͤgens nicht 
berauben, um fo weniger, da ich ſelbſt ...“ begann Julija 
Michailowna auf einmal mit erſtaunlicher Liebenswuͤr— 
digkeit zu plaudern, „da ich ſelbſt recht wohl weiß, was 
fuͤr ein phantaſtiſches, eigenwilliges Koͤpfchen wir auf 
unſeren Schultern haben.“ Hier laͤchelte Julija Michai⸗ 
lowna bezaubernd. 

„Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar,“ verſetzte 
Warwara Petrowna mit einer hoͤflichen, wuͤrdevollen 
Verbeugung. 

„Und es iſt mir um ſo angenehmer,“ fuhr Julija Mi⸗ 
chailowna in ihrem Geplauder fort, die nun ſchon ganz 
entzuͤckt war und vor angenehmer Erregung erroͤtete, „da, 
abgeſehen von dem Vergnuͤgen, mit Ihnen zuſammen zu 
ſein, Liſa ſich jetzt auch durch ein ſo ſchoͤnes, durch ein, 
man kann ſagen, jo edles Gefühl hinreißen 198... 
durch das Mitleid ...“ (Мег warf fie einen Blick auf 
die „Ungluͤckliche“) „. .. und ... und gerade in der 
Vorhalle des Gotteshauſes ...“ 

„Eine ſolche Anſchauung macht Ihnen Ehre,“ verſetzte 
Warwara Petrowna in wuͤrdigem, beifaͤlligem Tone. 

Julija Michailowna ſtreckte ihr eifrig die Hand hin, 
und Warwara Petrowna beruͤhrte dieſelbe ſehr bereit— 
willig mit ihren Fingern. Der allgemeine Eindruck war 
ein ſehr guter; die Geſichter mehrerer Anweſenden ſtrahl— 
ten vor Vergnuͤgen, und es erſchien auf ihnen ein ſuͤßes, 
ſchmeichleriſches Laͤcheln. 

Kurz, es wurde der ganzen Stadt auf einmal klar, 
daß nicht etwa Julija Michailowna durch Unterlaſſung 


Erſter Teil 259 


einer Viſite bisher eine Geringſchaͤtzung gegen Warwara 
Petrowna an den Tag gelegt, ſondern umgekehrt dieſe 
letztere „die Frau Gouverneur in einem gewiſſen Ab— 


ſtande von ſich gehalten habe, waͤhrend dieſelbe doch 


vielleicht ſogar zu Fuß zu ihr gelaufen waͤre, um ihr 
einen Beſuch zu machen, wenn ſie nur uͤberzeugt geweſen 
wäre, daß Warwara Petrowna ihr nicht die Tür weiſen 
werde“. Warwara Petrownas Anſehen hatte ſich außer 
ordentlich gehoben. 

„Steigen Sie ein, liebes Kind!“ ſagte Warwara Pe— 
trowna zu Mademoiſelle Lebjadkina und wies auf den 
Wagen, der vorgefahren war. 

Die „Ungluͤckliche“ lief froͤhlich zu dem Wagenſchlage 


hin, wo ihr der Lakai beim Einſteigen behilflich war. 


„Wie? Sie hinken?“ rief Warwara Petrowna ganz 
erſchrocken und wurde blaß. Alle bemerkten dies da— 
mals, ohne es zu verſtehen . 

Die Equipage rollte davon. Warwara Petrownas 
Haus lag nicht weit vom Dom. Liſa erzaͤhlte mir ſpaͤter, 
Fraͤulein Lebjadkina habe waͤhrend der drei Minuten 
dauernden Fahrt fortwaͤhrend hyſteriſch gelacht und 
Warwara Petrowna habe „wie in einem magnetiſchen 
Schlafe“ dageſeſſen; das war Liſas eigener Ausdruck. 


Fuͤnftes Kapitel 
Die kluge Schlange 
1 


Warwara Petrowna zog an der Klingelſchnur und 


warf ſich in einen Lehnſtuhl am Fenſter. 


260 Die Teufel 


„Setzen Sie ſich dorthin, liebes Kind!“ ſagte ſie zu 
Marja Timofejewna, indem ſie ihr einen Platz in der 
Mitte des Zimmers an dem großen runden Tiſche аи; 
wies. „Stepan Trofimowitſch, was hat das zu bedeuten? 
Da, da, ſehen Sie dieſes Mädchen anz was hat das zu 
bedeuten?“ 

„Ich ... ich ...“ ſtammelte Stepan Trofimowitſch. 

Aber ein Diener trat ein. 

„Eine Taſſe Kaffee, ſofort, ſo ſchnell wie irgend moͤg— 
lich! Die Pferde ſollen nicht ausgeſpannt werden!“ 

„Mais, chere et excellente amie, dans quelle in- 
quietude! ...“ rief Stepan Trofimowitſch mit matter 
Stimme. | 

„Ach, franzoͤſiſch, franzoͤſiſch! Da ſieht man gleich, 
daß man in vornehmer Geſellſchaft iſt!“ rief Marja Ti⸗ 
mofejewna, vor Vergnuͤgen in die Haͤnde klatſchend, und 
ſchickte ſich ganz begeiſtert an, das franzoͤſiſche Geſpraͤch 
mit anzuhoͤren. 

Warwara Petrowna ſtarrte beinah aͤngſtlich nach ihr 
hin. 

Wir ſchwiegen ſaͤmtlich und warteten auf eine Auf⸗ 
loͤſung des Raͤtſels. Schatow hob den Kopf nicht in die 
Hoͤhe, und Stepan Trofimowitſch ſah ſo beſtuͤrzt aus, als 
ob er an allem ſchuld waͤre; der Schweiß trat ihm an 
den Schlaͤfen heraus. Ich ſah nach Liſa hin; ſie ſaß in 
einer Ecke, ziemlich nahe bei Schatow. Ihre Augen wan⸗ 
derten mit ſcharfem Blicke von Warwara Petrowna zu 
dem lahmen Maͤdchen und wieder zuruͤck; ihre Lippen 
verzogen ſich zu einem unangenehmen Laͤcheln. Ват» 
wara Petrowna ſah dieſes Laͤcheln. Inzwiſchen ſchwamm 
Marja Timofejewna in Wonne; mit Entzuͤcken und ohne 


* 2 


Erſter Teil 261 


die geringſte Verlegenheit betrachtete ſie Warwara Pe— 
trownas ſchoͤnen Salon: die Moͤbel, die Teppiche, die 
Bilder an den Waͤnden, die altertuͤmliche gemalte Decke, 
das große bronzene Kruzifix in der Ecke, die Porzellan— 
lampe, die Albums, die Nippſachen auf dem Tiſche. 

„Alſo du biſt auch hier, lieber Schatow!“ rief ſie auf 
einmal. „Kannſt du dir das vorſtellen: ich ſehe dich ſchon 
lange an und denke bei mir: er iſt es nicht; wie ſoll er 
hierherkommen?“ 

Und ſie lachte froͤhlich auf. 

„Sie kennen dieſes Maͤdchen?“ wandte ſich Warwara 
Petrowna ſogleich an ihn. 

„Ja, ich kenne ſie,“ murmelte Schatow; er ruͤhrte ſich 
auf ſeinem Stuhle, blieb aber ſitzen. 

„Was wiſſen Sie denn von ihr? Bitte, ſchnell!“ 

„Was ſoll ich von ihr wiſſen?“ erwiderte er mit einem 
unmotivierten Laͤcheln und ſtockte dann. „Sie ſehen ja 
ſelbſt ...“ 

„Was ſehe ich? So reden Sie doch etwas!“ 

„Sie wohnt in demſelben Haufe wie ich ... mit ihrem 
Bruder .. er iſt Offizier.“ 

„Nun?“ 

Schatow ſtockte wieder. 

„Es lohnt nicht, davon zu reden ...“ brummte er und 
verſtummte nun endgültig. Er erroͤtete ſogar vor Ent- 
ſchloſſenheit. 

„Natuͤrlich, von Ihnen kann man nichts anderes er— 
warten!“ rief Warwara Petrowna unwillig. 

Es war ihr jetzt klar, daß alle etwas wußten, dabei 
aber ſaͤmtlich etwas fuͤrchteten, ihren Fragen auswichen 
und ihr etwas verheimlichen wollten. 


262 | Die Teufel 

Der Diener trat ein und praͤſentierte auf einem kleinen 
ſilbernen Teller die ſo dringlich verlangte Taſſe Kaffee; 
aber auf ihren Wink ging er damit ſogleich zu Marja 
Timofejewna. 

„Sie haben vorhin ſehr gefroren, liebes Kind; trinken 
Sie recht ſchnell, und erwaͤrmen Sie ſich!“ 

„Merci!“ ſagte Marja Timofejewna, indem ſie die 
Taſſe hinnahm. 

Ploͤtzlich aber brach fie in ein Gelächter darüber aus, 
daß fie zu dem Diener „merci“ geſagt hatte. Als fie je— 
doch Warwara Petrownas drohendem Blicke begegnete, 
wurde ſie aͤngſtlich und ſtellte die Taſſe auf den Tiſch. 

„Tante, Sie ſind doch nicht boͤſe?“ ſtammelte ſie mit 
einer Art von leichtfertiger Scherzhaftigkeit. | 

„Wa⸗a⸗as?“ rief Warwara Petrowna aufſchreckend 
und richtete ſich in ihrem Lehnſeſſel gerade. „Bin ich 
denn Ihre Tante? Was wollen Sie damit ſagen?“ 

Marja Timofejewna, die einen ſolchen Zorn nicht er⸗ 
wartet hatte, begann am ganzen Leibe mit kleinen krampf⸗ 
haften Zuckungen wie bei einem Anfalle zu zittern und 
ſank gegen die Lehne des Stuhles zuruͤck. 

„Ich .. . ich dachte, fo müßte ich ſagen,“ fluͤſterte fie 
und blickte Warwara Petrowna mit weit geoͤffneten 
Augen an. „So hat Liſa Sie doch genannt.“ 

„Was fuͤr eine Liſa?“ 

„Nun, das Fraͤulein da,“ antwortete Marja Timofe⸗ 
jewna, mit dem Finger hinzeigend. 

„Heißt die bei Ihnen auch ſchon Liſa?“ 

„Sie haben ſie doch vorhin ſelbſt ſo genannt,“ verſetzte 
Marja Timofejewna etwas mutiger. „Und im Traum 


Erſter Teil 26 3 


habe ich eine ganz ebenſolche ſchoͤne Dame geſehen,“ 
fügte fie hinzu und lächelte dabei, anſcheinend unwillkuͤr— 
lich. 

Warwara Petrowna uͤberlegte und beruhigte ſich ein 
wenig; fie lächelte ſogar ganz leiſe über Marja Timofe— 
jewnas letzte Bemerkung. Als dieſe das Laͤcheln bemerkte, 
ſtand ſie auf und hinkte ſchuͤchtern zu ihr hin. 

„Nehmen Sie; ich habe vergeſſen, es zuruͤckzugeben; 
ſeien Sie nicht boͤſe wegen meiner Unachtſamkeit!“ ſagte 
ſie und nahm das ſchwarze Schaltuch von den Schultern, 
das ihr Warwara Petrowna vorhin umgelegt hatte. 

„Legen Sie es ſofort wieder um, und behalten Sie es 
fuͤr immer! Gehen Sie, und ſetzen Sie ſich hin; trinken 
Sie Ihren Kaffee, und haben Sie nur keine Furcht vor 
mir, liebes Kind; bitte beruhigen Sie ſich! Ich fange an, 
Sie zu verſtehen.“ 

„Chere amie .. wagte Stepan Trofimowitſch wie⸗ 
der zu beginnen. 

„Ach, Stepan Trofimowitſch, hier kann man auch ſchon 
ohne Ihre Bemerkungen die Faſſung verlieren; ſchonen 
wenigſtens Sie mich! ... Bitte, ziehen Sie einmal da 
an dem Klingelzuge, neben Ihnen; er führt zum Mäb- 
chenzimmer.“ 

Es trat ein laͤngeres Stillſchweigen ein. Ihr argwoͤh— 
niſcher, gereizter Blick glitt uͤber unſer aller Geſichter hin. 
Agaſcha, ihre Lieblingszofe, erſchien. 

„Bring mir das karrierte Tuch, das ich in Genf ge— 
kauft habe! Was macht Darja Pawlowna?“ 

„Das Fraͤulein befindet ſich nicht ganz wohl.“ 

„Geh hin und bitte ſie hierher zu kommen! Sage, ich 


ließe ſie ſehr bitten, auch wenn ſie nicht wohl ſei.“ 


264 Die Teufel 


In dieſem Augenblicke wurde aus den anftoßenden 
Zimmern wieder ungewoͤhnliches Geraͤuſch von Schritten 
und Stimmen, aͤhnlich dem von vorhin, vernehmbar, und 
ploͤtzlich erſchien auf der Schwelle atemlos und aufgeregt 
Praſkowja Iwanowna, auf Mawriki Nikolajewitſchs 
Arm geſtuͤtzt. 

„Ach Herr Gott, ich habe mich nur mit Muͤhe herge— 
ſchleppt; Liſa, du Unſinnige, was tuſt du deiner Mutter 
an!“ jammerte ſie und brachte in dieſem Gejammer nach 
der Gewohnheit aller ſchwaͤchlichen, leicht reizbaren Per— 
ſonen alles zum Ausdruck, was ſich an Erregung bei ihr 
angeſammelt hatte. 

„Liebſte Warwara Petrowna, ich komme zu Ihnen, um 
meine Tochter zu holen!“ 

Warwara Petrowna warf ihr einen muͤrriſchen Blick 
zu, erhob ſich nur wenig zu ihrer Begruͤßung und ſagte 
mit kaum verhehltem Arger: 

„Guten Tag, Praſkowja Iwanownaz ſei ſo freundlich 
und nimm Platz! Das habe ich mir gedacht, daß du 
kommen wuͤrdeſt.“ 


II 
Für Praſkowja Jwanowna konnte in einem ſolchen Emp⸗ 
fange nichts Überraſchendes liegen. Warwara Petrowna 
hatte ihre ehemalige Penſionsfreundin ſchon immer, ſeit 
den Tagen der Kindheit, deſpotiſch und unter dem Scheine 
der Freundſchaft beinah veraͤchtlich behandelt. Aber im 
vorliegenden Falle war die Lage noch eine ganz beſondere. 
In den letzten Tagen war es zwiſchen den beiden Haͤuſern 
zu einem vollſtaͤndigen Bruche gekommen, wie ich das 
auch bereits beilaͤufig erwaͤhnt habe. Die Urſachen dieſes 


4 


Е 


Erſter Teil 265 


Bruches waren fuͤr Warwara Petrowna vorlaͤufig noch 
ein Geheimnis und infolgedeſſen um ſo kraͤnkender; aber 
die Hauptſache war, daß Praſkowja Iwanowna ihr 
gegenuͤber ein außerordentlich hochmuͤtiges Benehmen an— 
genommen hatte. Warwara Petrowna fuͤhlte ſich ſelbſt— 
verſtaͤndlich dadurch verletzt, und dabei waren auch be— 
reits gewiſſe ſonderbare Geruͤchte zu ihr gedrungen, die 
ſie ebenfalls maßlos aufregten, und zwar gerade durch 
ihre Unbeſtimmtheit. Warwara Petrownas Charakter 
war offen und ſtolz; ſie war eine Draufgaͤngerin, wenn 
dieſer Ausdruck erlaubt iſt. Am allerwenigſten konnte 
ſie geheime, verſteckte Anſchuldigungen leiden und zog 
den offenen Krieg immer vor. Wie dem nun auch ſein 
mochte, jedenfalls hatten die beiden Damen einander ſeit 
fuͤnf Tagen nicht mehr geſehen. Der letzte Beſuch war 
von Warwara Petrownas Seite erfolgt, die von der 
„Droſdowſchen“ tief gekraͤnkt und verſtimmt weggefahren 
war. Ich kann ohne Gefahr eines Irrtumes ſagen, daß 
Praſkowja Iwanowna jetzt in der naiven Überzeugung 
hereinkam, Warwara Petrowna muͤſſe aus irgendwelchem 
Grunde vor ihr Angſt haben; das konnte man ſchon an 
ihrem Geſichtsausdrucke ſehen. Aber uͤber Warwara Pe— 
trownas Herz gewann jedesmal der Hochmutsteufel die 
Herrſchaft, ſobald fie auch nur im entfernteſten argwoͤh— 
nen konnte, daß jemand über ihr zu ſtehen glaubte. Pra⸗ 
ſkowja Iwanowna aber zeichnete ſich, wie viele ſchwaͤch— 
liche Perſonen, die ſich lange ohne Proteſt haben be— 
leidigen laſſen, durch beſondere Heftigkeit des Angriffs 
aus, ſobald einmal die Sache eine fuͤr fie guͤnſtige Wen 
dung nahm. Allerdings war ſie jetzt krank, und waͤhrend 
einer Krankheit wurde fie ſtets reizbarer. Ich fuͤge end— 


266 Die Teufel 


lich noch hinzu, daß wir alle, die wir uns im Salon be— 
fanden, durch unſere Gegenwart die beiden Jugendfreun— 
dinnen nicht beſonders genieren konnten, falls wirklich 
ein Streit zwiſchen ihnen entbrennen ſollte; denn wir 
galten als Familienangehoͤrige und beinahe als Unter— 
gebene. Ich erwog das gleich damals nicht ohne Beſorg— 
nis. Stepan Trofimowitſch, der ſich ſeit Warwara Pe— 
trownas Ankunft nicht wieder hingeſetzt hatte, ließ ſich 
kraftlos auf einen Stuhl niederſinken, als er Praſkowja 
Iwanownas Gejammer hoͤrte, und ſuchte in ſeiner Ver— 
zweiflung meinen Blick aufzufangen. Schatow drehte ſich 
in ſcharfer Wendung auf ſeinem Stuhle herum und 
brummte etwas vor ſich hin. Es kam mir ſo vor, als 
wolle er aufſtehen und weggehen. Liſa hatte ſich nur ein 
klein wenig erhoben, ſich aber ſogleich wieder zuruͤckſinken 
laſſen und dem Gejammer ihrer Mutter nicht einmal die 
ſchuldige Aufmerkſamkeit zugewendet, aber nicht infolge 
ihres „eigenſinnigen Charakters“, ſondern weil ſie ſich 
offenbar ganz im Banne einer anderen maͤchtigen Emp— 
findung befand. Sie blickte jetzt irgendwohin in die Luft, 
beinah zerſtreut, und wandte ſelbſt Marja Timofejewna 
nicht mehr die fruͤhere Aufmerkſamkeit zu. 


| III 
„Ach, hierher!“ ftöhnte Praſkowja Iwanowna, indem 
ſie auf einen Lehnſeſſel am Tiſche zeigte, und ließ ſich 
mit Mawriki Nikolajewitſchs Hilfe ſchwerfaͤllig auf ihn 
niederſinken. „Ich wuͤrde mich bei Ihnen nicht hinſetzen, 
liebe Freundin, wenn nicht die Beine waͤren!“ fuͤgte ſie 
mit matter Stimme hinzu. 

Warwara Petrowna hob den Kopf ein wenig in die 


< 


Erſter Teil 267 


Höhe, drückte mit ſchmerzlichem Geſichtsausdruck die Fin- 
ger der rechten Hand gegen die rechte Schlaͤfe, in der ſie 
anſcheinend einen heftigen Schmerz (tie douloureux) 
empfand. 

„Was redeſt du, Praſkowja Jwanowna? Warum ſoll⸗ 
teſt du dich denn bei mir nicht hinſetzen? Ich habe mein 
ganzes Leben lang die aufrichtige Freundſchaft deines 
ſeligen Mannes genoſſen, und wir beide, ich und du, 
haben, als wir noch kleine Maͤdchen waren, in der Pen— 
ſion zuſammen mit Puppen geſpielt.“ 

Praſkowja Iwanowna winkte abwehrend mit den 
Haͤnden. 

„Das wußte ich doch, daß das kommen wuͤrde! Immer 
und ewig fangen Sie von der Penſion an, wenn Sie mir 
Vorwuͤrfe machen wollen; das iſt ſo ein ſchlaues Manoͤver 
von Ihnen. Aber meiner Anſicht nach iſt das nur eine 
ſchoͤnklingende Redensart. Ich mag von Ihrer Penſion 
nichts wiſſen.“ 

„Du biſt, wie es ſcheint, ſchon in ſehr ſchlechter Laune 
hergekommen. Was machen deine Fuͤße? Da wird dir 
Kaffee gebracht; bitte, lange zu, trink und ſei nicht boͤſe!“ 

„Liebe Warwara Petrowna, Sie behandeln mich, als 
ob ich ein kleines Kind waͤre. Ich mag keinen Kaffee!“ 

Sie winkte dem Diener, der ihr Kaffee praͤſentierte, 


aͤrgerlich ab. (Übrigens dankten für Kaffee auch die an- 


dern außer mir und Mawriki Nikolajewitſch. Stepan 
Trofimowitſch nahm eine Taſſe, ſtellte ſie aber auf den 
Tiſch. Marja Timofejewna hatte zwar ſehr große Luſt, 
eine zweite Taſſe zu nehmen, und ſtreckte ſchon die Hand 


danach aus; aber ſie beſann ſich anders und lehnte in 


268 Die Teufel 


manierlicher Weiſe ab, wobei fie N mit ihrem Be⸗ 
nehmen ſehr zufrieden war.) 

Warwara Petrowna laͤchelte ſpoͤttiſch. „Weißt du was, 
liebe Praſkowja Iwanowna, du haſt dir gewiß wieder 
irgendeine Einbildung zurechtgemacht, mit der du dann 
hergekommen biſt. Du haſt dein ganzes Leben uͤber immer 
in der Einbildung gelebt. Du ereiferteſt dich ſoeben dar— 
uͤber, daß ich von der Penſion ſprach; aber weißt du 
wohl noch, wie du hinkamſt und der ganzen Klaſſe ver— 
ſicherteſt, der Huſarenoffizier Schablykin habe um deine 
Hand angehalten, und wie Madame Lefebure dich ſofort 
der Luͤge uͤberfuͤhrte? Aber du hatteſt nicht gelogen; du 
hatteſt dir das einfach zu deinem Amuͤſement eingebildet. 
Nun ſage, was du jetzt mitgebracht haſt? Was haſt du 
dir wieder eingebildet? Womit biſt du unzufrieden?“ 

„Sie aber haben ſich in der Penſion in den Popen 
verliebt, der uns Religionsſtunde gab. Da haben Sie es, 
wenn Sie anderen von jener Zeit her noch Schlechtes 
nachreden! Ha⸗-ha⸗ha!“ 

Sie lachte hoͤhniſch und geriet dabei ins Huſten. 

„A⸗ah, alſo den Popen haft du nicht vergeſſen ...“ 
verſetzte Warwara Petrowna und warf ihr einen haß— 
erfuͤllten Blick zu. 

Ihr Geſicht war ganz gruͤnlich geworden. Praſkowja 
Iwanowna nahm auf einmal eine wuͤrdevolle Haltung 
an. 

„Mir iſt jetzt nicht zum Lachen zumute, meine Liebe; 
warum haben Sie meine Tochter angeſichts der ganzen 
Stadt in Ihre Skandalgeſchichte mit hineingezogen? Des— 
halb bin ich hergekommen.“ 


—_ 


Erſter Teil 269 


„In meine Skandalgeſchichte?“ fragte Warwara Pe— 
trowna und richtete ſich drohend gerade. 

„Mama, auch ich bitte Sie dringend, ſich zu maͤßigen,“ 
ſagte Liſaweta Nikolajewna auf einmal. 

„Was haſt du geſagt?“ rief die Mama, die ſich an— 
ſchickte wieder loszujammern; aber ſie ſtockte ploͤtzlich 
unter dem funkelnden Blicke ihrer Tochter. 

„Wie koͤnnen Sie von einer Skandalgeſchichte reden, 
Mama?“ ereiferte ſich Liſa. „Ich bin auf meinen eigenen 
Wunſch und mit Julija Michailownas Erlaubnis hierher— 
gefahren, weil ich die Geſchichte dieſer Ungluͤcklichen er— 
fahren wollte, um ihr nuͤtzlich zu ſein.“ 

„Die Geſchichte dieſer Ungluͤcklichen!“ ſagte Praſkowja 
Iwanowna gedehnt mit boshaftem Lachen. „Paßt es ſich 
etwa, daß du dich in ſolche Geſchichten hineinmiſchſt? Ach, 
meine Liebe, von Ihrem Deſpotismus haben wir jetzt 
genug!“ wandte ſie ſich wuͤtend zu Warwara Petrowna. 
„Man ſagt, mags nun wahr ſein oder nicht, Sie haͤtten 
hier die ganze Stadt tyranniſiert; aber jetzt iſt es augen 
ſcheinlich damit zu Ende!“ 

Warwara Petrowna ſaß gerade aufgerichtet da; ſie 
glich einem Pfeile, der bereit iſt, vom Bogen zu fliegen. 
Etwa zehn Sekunden lang hielt ſie einen ſtrengen Blick 
unverwandt auf Praſkowja Iwanowna geheftet. 

„Nun, du kannſt Gott danken, Praſkowja, daß wir hier 
unter uns ſind,“ ſagte ſie endlich mit unheilverkuͤndender 
Ruhe. „Du haſt viel Ungehoͤriges geſagt.“ 

„Ich fuͤr meine Perſon, meine Liebe, fuͤrchte die Mei— 
nung der Welt nicht ſo, wie es manche andern Leute tun; 
Sie ſind es, die unter dem Scheine des Stolzes vor der 


270 Die Teufel 


Meinung der Welt zittert. Und daß hier nur gute Freunde 
find, das iſt für Sie beſſer, als wenn Fremde zuhoͤrten.“ 

„Du biſt wohl in dieſer Woche ſehr klug geworden, 
wie?“ 

„Ich bin in dieſer Woche nicht weiter klug geworden; 
aber offenbar iſt die Wahrheit in dieſer Woche ans Licht 
gekommen.“ | 

„Was fuͤr eine Wahrheit fol in dieſer Woche ans Licht 
gekommen ſein? Hoͤre, Praſkowja Iwanowna, reize mich 
nicht; ſprich dich augenblicklich deutlich aus, ich bitte dich 
inſtaͤndig: was fuͤr eine Wahrheit iſt ans Licht gekommen, 
und was willſt du damit ſagen?“ 

„Da ſitzt ja die ganze Wahrheit!“ rief Praſkowja 
Iwanowna und wies mit dem Finger auf Marja Timofe⸗ 
jewna; fie zeigte jene Entſchloſſenheit zum Außerſten, die 
nicht mehr an die Folgen denkt, wenn ſie nur im Augen⸗ 
blick kraͤftig wirken kann. f 

Marja Timofejewna, die die ganze Zeit über mit hei- 
terer Neugier nach ihr hingeblickt hatte, lachte vergnuͤgt 
auf, als ſie den Finger der zornigen Beſucherin auf ſich 
gerichtet ſah, und bewegte ſich vergnuͤgt in ihrem Lehn⸗ 
ſeſſel hin und her. 

„Herr Jeſus Chriſtus, ſind denn hier alle verruͤckt ge— 
worden?“ rief Warwara Petrowna und ſank erbleichend 
gegen die Lehne zuruͤck. 

Sie war ſo blaß geworden, daß eine allgemeine Auf— 
regung entſtand. Stepan Trofimowitſch war der erſte, 
der zu ihr hineilte; auch ich trat naͤher heran; ſogar Liſa 
ſtand von ihrem Platze auf, obgleich ſie bei ihrem Lehn— 
ſeſſel ſtehen blieb; aber am meiſten erſchrak Praſkowja 


— р 4 


Erſter Teil 271 


Iwanowna ſelbſt: fie ſchrie auf, erhob ſich, jo gut es ging, 
und heulte faſt mit weinerlicher Stimme: 

„Liebe Freundin, Warwara Petrowna, verzeihen Sie 
mir meine boshafte Dummheit! Aber gebe ihr doch 
jemand wenigſtens Waſſer!“ 

„Bitte, plinze nicht, Praſkowja Iwanowna, und Sie, 
meine Herren, treten Sie, bitte, zuruͤck; tun Sie mir den 
Gefallen; ich brauche kein Waſſer!“ ſagte Warwara 
Petrowna mit blaſſen Lippen in feſtem Tone, wenn auch 
nicht laut. 


„Liebe Freundin!“ fuhr Praſkowja Iwanowna fort, 
nachdem ſie ſich ein wenig beruhigt hatte, „liebſte War— 
wara Petrowna, ich habe mich allerdings durch unvor— 
ſichtige Worte vergangen; aber ich bin auch gar zu ſehr 
durch dieſe anonymen Briefe gereizt worden, mit denen 
mich ſchlechte Menſchen bombardieren; na, ſie ſollten die 
Briefe doch lieber an Sie ſchicken, da ſie ſich ja doch auf 
Sie beziehen; aber ich habe eine Tochter, liebe Freundin!“ 

Warwara Petrowna ſah ſie mit weit geoͤffneten Augen 
ſprachlos an und hörte erſtaunt zu. In dieſem Augen- 
blicke oͤffnete ſich geraͤuſchlos in einer Ecke eine Seitentuͤr, 
und es erſchien Darja Pawlowna. Sie blieb einen Aus 
genblick ſtehen und ſah um ſich; unſere Aufregung Бег 
fremdete fie. Marja Timofejewna, von deren Anweſen⸗ 
heit niemand ſie vorher benachrichtigt hatte, fiel ihr wohl 


nicht ſogleich in die Augen. Stepan Trofimowitſch war der 


erſte, der ſie bemerkte; er machte eine ſchnelle Bewegung, 
erroͤtete und rief, man wußte nicht recht wozu, laut: 
„Darja Pawlowna!“ jo daß die Augen aller ſich mit 
einem Male nach der Eintretenden hinwandten. 


272 Die Teufel 


„Wie? Alſo das iſt eure Darja Pawlowna!“ rief 
Marja Timofejewna. „Nun, lieber Schatow, deine 
Schweſter ſieht dir nicht aͤhnlich! Wie konnte nur mein 
Teuerſter ein jo reizendes Weſen „die leibeigene Magd 
Daſcha' nennen!“ 

Darja Pawlowna hatte ſich inzwiſchen ſchon Warwara 
Petrowna genaͤhert; aber uͤberraſcht von Marja Timofe— 
jewnas Worten wandte ſie ſich ſchnell um, blieb ſtehen 
und ſah die Irre mit einem langen, ſtarren Blicke an. 

„Setz dich, Daſcha!“ ſagte Warwara Petrowna mit 
erſchreckender Ruhe; „naͤher bei mir, ſo; du kannſt dieſes 
Maͤdchen auch im Sitzen anſehen. Kennſt du ſie?“ 

„Ich habe ſie nie geſehen,“ antwortete Daſcha leiſe 
und fuͤgte nach kurzem Stillſchweigen ſofort hinzu: „Es 
iſt gewiß die kranke Schweſter eines Herrn Lebjadkin.“ 

„Auch ich ſehe Sie, meine Liebe, jetzt zum erſtenmal, 
obgleich ich ſchon lange ſehr gewuͤnſcht habe, Sie kennen 
zu lernen; und in jeder Ihrer Bewegungen erkenne ich 
die gute Erziehung!“ rief Marja Timofejewna entzuͤckt. 
„Und was da mein Bedienter ſchimpft, wie waͤre es denn 
uͤberhaupt denkbar, daß Sie ihm Geld weggenommen 
haͤtten, ein ſo gebildetes, liebenswuͤrdiges Fraͤulein? 
Denn Sie ſind liebenswuͤrdig, liebenswuͤrdig, liebens— 
wuͤrdig; das ſage ich Ihnen aus eigener Überzeugung!“ 
ſchloß ſie enthuſiaſtiſch mit lebhaften Geſtikulationen. 

„Verſtehſt du etwas davon?“ wandte ſich Warwara 
Petrowna mit ſtolzer Wuͤrde an ihre Pflegetochter. 

„Ich verſtehe alles.“ 

„Haſt du das von dem Gelde gehoͤrt?“ 

„Das iſt gewiß dasſelbe Geld, das ich auf Nikolai 
Wſewolodowitſchs Bitte, als ich noch in der Schweiz 


Ра r e 0 rr 
N KA a СИНА | 
т * 5 * * Е a 4 7 

* > Е - A 


— — 


Erſter Teil 273 


war, dieſem Herrn eie ihrem Bruder, zuzuſtellen 
uͤbernahm.“ 
Es folgte ein Stillſchweigen. 
„Hat Nikolai Wſewolodowitſch ſelbſt die Bitte an dich 
gerichtet, es zu uͤbergeben?“ 
„Es lag ihm ſehr daran, dieſes Geld, es waren drei— 
hundert Rubel, Herrn Lebjadkin zu uͤberſenden. Und da 
er deſſen Adreſſe nicht kannte, ſondern nur wußte, daß er 
in unſere Stadt ziehen werde, ſo beauftragte er mich da— 
mit, es Herrn Lebjadkin zuzuſtellen, falls dieſer herkaͤme.“ 
„Was fuͤr Geld ЦЕ denn... verloren gegangen? 02 
von redete dieſes Maͤdchen eben?“ 
„Das weiß ich allerdings nicht; auch mir iſt zu Ohren 
gekommen, daß Herr Lebjadkin laut von mir geſagt habe, 
ich haͤtte ihm nicht alles abgeliefert; aber dieſe Behauptung 
iſt mir unverſtaͤndlich. Es waren dreihundert Rubel, 
und ich habe ihm dreihundert Rubel uͤberſandt.“ 
Darja Pawlowna hatte ſich bereits faſt vollſtaͤndig be— 
ruhigt. Und uͤberhaupt bemerke ich, daß es ſchwer war, 
dieſes Maͤdchen durch irgend etwas auf laͤngere Zeit in 
Verwirrung und aus der Faſſung zu bringen, welches 
auch immer innerlich ihre Empfindungen ſein mochten. 
Sie gab jetzt alle ihre Antworten ohne Eile, antwortete 
ſogleich auf jede Frage beſtimmt, leiſe, gleichmäßig, ohne 
die geringſte Spur ihrer urſpruͤnglichen plöglichen Er— 
regung und ohne irgendwelche Verwirrung, die von einem 
Schuldbewußtſein hätte zeugen koͤnnen. Warwara Pe⸗ 
trowna hatte die ganze Zeit uͤber, waͤhrend ſie ſprach, den 
* Blick nicht von ihr abgewandt und dachte nun etwa eine 
' Minute lang nach. 


x „Wenn,“ ſagte fie endlich in feſtem Tone und Te 
14 III. 1ͤ 


а. Die Teufel 


zu den Zuhörern, obgleich fie nur Daſcha anfah, „wenn 
Nikolai Wſewolodowitſch ſich mit ſeinem Auftrage nicht 
an mich gewandt, ſondern dich gebeten hat, jo hat er ge- 
wiß ſeine Gruͤnde dazu gehabt, ſo zu verfahren. Ich halte 
mich nicht fuͤr berechtigt, nach ihnen zu forſchen, wenn 
mir aus ihnen ein Geheimnis gemacht wird. Aber ſchon 
allein deine Beteiligung bei dieſer Angelegenheit be— 
ruhigt mich in dieſer Hinſicht vollſtaͤndig; das ſollſt du 
vor allen Dingen wiſſen, Darja. Aber ſiehſt du, liebes 
Kind, du konnteſt auch mit reinem Gewiſſen aus Un- 
kenntnis der Welt eine Unvorſichtigkeit begehen, und du 
haſt eine ſolche begangen, indem du es uͤbernahmſt, dich 
mit einem ſchlechten Menſchen in Verbindung zu ſetzen. 
Die Geruͤchte, die dieſer Taugenichts ausgeſprengt hat, 
beſtaͤtigen deinen Fehler. Aber ich werde uͤber ihn Er— 
kundigungen einziehen, und da ich deine Beſchuͤtzerin bin, 
ſo werde ich dich zu verteidigen wiſſen. Jetzt aber muß 
dieſe ganze Sache ein Ende haben.“ 


„Wenn er zu Ihnen kommt,“ fiel Marja Timofejewna, 
ſich aus ihrem Lehnſtuhl vorſtreckend, ploͤtzlich ein, „ſo 
ſchicken Sie ihn am beſten in die Bedientenſtube. Da kann 
er mit den andern auf der Wandbank Karten ſpielen, und 
wir wollen hier ſitzen und Kaffee trinken. Allenfalls 
koͤnnen Sie ihm auch eine Taſſe Kaffee hinſchicken; aber 
ich verachte ihn tief.“ i 

Sie ſchuͤttelte energiſch den Kopf. 

„Dieſe Sache muß ein Ende haben,“ ſagte Warwara 
Petrowna, die Marja Timofejewnas Außerung aufmerf- 
ſam angehoͤrt hatte, noch einmal. „Bitte, klingeln Sie, 
Stepan Trofimowitſch!“ 


Erſter Teil | 275 


Stepan Trofimowitſch klingelte und trat plotzlich in 
großer Aufregung vor. 

„Wenn. .. wenn ich... begann er eifrig, erroͤtend, 
ſtockend und ſtammelnd, „wenn ich ebenfalls dieſe hoͤchſt 
widerwaͤrtige Geſchichte oder, richtiger gejagt, Verleum- 
dung angehört habe, jo habe ich es nur... mit der 
‚größten Entruͤſtung ... enfin, c'est un homme perdu 
et quelque chose comme un forgat Evade.“ 

Er brach ab, ohne zu Ende zu ſprechen; Warwara 
Petrowna betrachtete ihn, die Augen zuſammenkneifend, 
vom Kopf bis zu den Fuͤßen. Der korrekte Alexei Jegoro— 
witſch trat ein. 
| „Den Wagen!“ befahl Warwara Petrowna. „Und 
du, Alexei Jegorowitſch, mach dich fertig, um Fräulein 
Lebjadkina nach Hauſe zu bringen; wohin, wird ſie dir 
ſelbſt angeben.“ 

„Herr Lebjadkin wartet ſchon einige Zeit ſelbſt unten 
auf das Fraͤulein und hat ſehr gebeten, ihn zu melden.“ 

„Das Ш unmoͤglich, Warwara Petrowna,“ ſagte 
Mawriki Nikolajewitſch, der die ganze Zeit über voll- 
ſtaͤndig geſchwiegen hatte, nun aber in ſtarker Unruhe 
vortrat. „Geſtatten Sie die Bemerkung: das iſt kein 
Menſch, der in anſtaͤndiger Geſellſchaft empfangen wer— 
den kann; dag... das... das iſt ein ganz unmöglicher 
Menſch, Warwara Petrowna.“ 

„Er ſoll warten!“ wandte ſich Warwara Petrowna zu 
Alexei Jegorowitſch, und dieſer verſchwand. 
| „C'est ип homme malhonnéte et je crois méme, 


que c'est un forgat Evad& ou quelque chose dans се 


genre,“ murmelte Stepan Trofimowitſch wieder, wobei 
er wieder erroͤtete und wieder nicht zu Ende redete. 


276 Die Teufel g 


„Liſa, es iſt Zeit, daß wir fahren,“ rief Praſkowja 
Iwanowna in verdroſſenem Tone und erhob ſich von 
ihrem Platze. Es war ihr wohl bereits leid geworden, 
daß ſie vorhin im Schrecken ſich ſelbſt dumm genannt 
hatte. Schon waͤhrend Darja Pawlowna ſprach, hatte 
ſie mit einem hochmuͤtigen Zuge um die Lippen zugehoͤrt. 
Aber am allermeiſten ſetzte mich das Ausſehen Liſaweta 
Nikolajewnas, ſeit Darja Pawlowna hereingekommen 
war, in Erſtaunen: in ihren Augen funkelten Haß und 
Verachtung, und zwar ganz unverhohlen. | 

„Warte noch ein Augenblickchen, Praſkowja Iwa⸗ 
nowna, ich bitte dich darum,“ ſagte Warwara Petrowna 
immer mit der gleichen erſtaunlichen Ruhe. „Tu mir den 
Gefallen und ſetze dich; ich beabſichtige, mich vollſtaͤndig 
auszuſprechen, und dir tun die Füße weh. So iſt's ſchoͤnz 
ich danke dir. Vorhin habe ich meine Ruhe verloren und 
dir ein paar haſtige Worte gejagt. Sei ſo gut und ver- 
zeihe ſie mir: ich habe dumm gehandelt und bereue das 
von ganzem Herzen, weil ich in allen Dingen Gerechtig— 
keit liebe. Allerdings biſt auch du außer dir geraten und 
haſt anonyme Briefe erwaͤhnt. Jede anonyme Denunzia⸗ 
tion verdient ſchon allein deswegen Verachtung, weil 
ſie keine Unterſchrift traͤgt. Wenn du darin anderer An⸗ 
ſicht biſt, ſo beneide ich dich nicht. Jedenfalls haͤtte ich 
an deiner Stelle derartige gemeine Schriftſtuͤcke nicht aus 
der Taſche hervorgeholt und mich damit nicht beſchmutzt. 
Du dagegen haft das getan. Aber da du damit ange- 
fangen haft, fo will ich dir ſagen, daß auch ich vor etwa 
ſechs Tagen einen albernen anonymen Brief erhalten 
habe. Darin verſichert mir irgendein Taugenichts, Niko- 
lai Wſewolodowitſch habe den Verſtand verloren und ich 


Erſter Teil 277 


muͤſſe mich vor einer lahmen Frauensperſon huͤten, die 
‚in meinem Lebensſchickſal eine wichtige Rolle ſpielen 
werde‘, ich habe den Ausdruck im Gedaͤchtnis behalten. 
Ich dachte nach, und da ich weiß, daß Nikolai Wſewolo⸗ 
dowitſch außerordentlich viele Feinde hat, fo ließ ich ſo— 
gleich einen hieſigen Einwohner, einen geheimen, be— 


ſonders rachſuͤchtigen, verachtenswerten Feind meines 


Sohnes, zu mir kommen und uͤberzeugte mich im Ge— 
ſpraͤche mit ihm augenblicklich von dem veraͤchtlichen Ur 
ſprunge des anonymen Briefes. Wenn auch du, meine 
arme Praſkowja Jwanowna, um meinetwillen mit ſolchen 
veraͤchtlichen Briefen belaͤſtigt und, wie du dich ausge— 
drückt haft, bombardiert worden biſt, fo tut es mir auf— 
richtig leid, daß ich die unſchuldige Urſache davon ge— 
weſen bin. Das iſt alles, was ich dir zur Erklaͤrung ſagen 
wollte. Mit Bedauern ſehe ich, daß du ſo muͤde und ſo 
außer dir biſt. Ferner bin ich feſt entſchloſſen, ſogleich 


dieſen verdaͤchtigen Menſchen hereinkommen zu laſſen, 


von welchem Mawriki Nikolajewitſch geſagt hat, es ſei 
unmöglich, ihn zu ‚empfangen‘; dieſer Ausdruck paßt hier 
freilich nicht. Aber ſpeziell Liſa wird dabei nichts zu tun 
haben. Komm zu mir her, liebe Liſa, und laß dich noch 
einmal kuͤſſen!“ 

Liſa durchſchritt das Zimmer und blieb ſchweigend vor 
Warwara Petrowna ſtehen. Dieſe kuͤßte ſie, faßte ſie an 
beiden Haͤnden, ſchob ſie ein wenig von ſich zuruͤck und 
betrachtete ſie mit warmer Empfindung; dann bekreuzte 
ſie ſie und kuͤßte ſie noch einmal. 

„Nun, dann lebewohl, Liſa“ (Warwara Petrownas 
Stimme klang faſt, als ob fie die Tränen unterdruͤckte), 
„ſei uͤberzeugt, daß ich niemals aufhoͤren werde, dich zu 


278 Die Teufel 


lieben, was dir auch das Schickſal von nun an bringen 
mag . . . Gott ſei mit dir! Ich habe mich immer willig in 
das gefuͤgt, was Seine heilige Hand uͤber uns ver— 
hängt...“ 

Sie wollte noch etwas hinzufuͤgen, beherrſchte ſich aber 
und ſchwieg. Liſa ging, immer noch in gleicher Weiſe 
ſchweigend und wie in Gedanken verſunken, nach ihrem 
Platze zu, blieb aber ploͤtzlich vor ihrer Mutter ſtehen. 

„Ich werde noch nicht fortfahren, Mama; ich werde 
noch eine Weile bei der Tante bleiben,“ ſagte ſie leiſe; 
aber aus dieſen leiſen Worten konnte man eine eiſerne 
Entſchloſſenheit heraushoͤren. 

„Herr du mein Gott, was ſtellt das nun wieder vor!“ 
jammerte Praſkowja Iwanowna und ſchlug kraftlos die 
Haͤnde zuſammen. 

Aber Liſa antwortete nicht und ſchien nicht einmal zu 
hoͤren; ſie ſetzte ſich in ihre fruͤhere Ecke und begann wieder 
irgendwohin in die Luft zu ſehen. 

Ein ſtolzes Siegesbewußtſein leuchtete in Warwara 
Petrownas Geſichte auf. 

„Mawriki Nikolajewitſch, ich habe eine große Bitte 
an Sie: tun Sie mir doch den Gefallen, nach unten zu 
gehen und ſich dieſen Menſchen anzuſehen; und wenn es 
einigermaßen moͤglich iſt, ihn hereinzulaſſen, ſo bringen 
Sie ihn hierher!“ 

Mawriki Nikolajewitſch verbeugte ſich RN ging hin⸗ 
aus. Eine Minute darauf kehrte er mit Herrn Lebjadkin 
zuruͤck. 


. 


Erſter Teil 279 


IV 

Ich habe ſchon einiges von dem Außeren dieſes Herrn 
geſagt: er war ein hochgewachſener, kraushaariger, vier— 
ſchroͤtiger Mann, etwa vierzig Jahre alt, mit rotem, etwas 
ſchwammigem, aufgedunſenem Geſichte, in welchem die 
Backen bei jeder Kopfbewegung zitterten, mit kleinen, 
blutunterlaufenen, manchmal ſehr ſchlau blidenden Augen, 
mit Schnurrbart und Backenbart und mit einem vor— 
ſtehenden, fleiſchigen Kehlkopf von recht haͤßlichem Aus— 
ſehen. Aber am meiſten uͤberraſchte bei ihm der Umſtand, 
daß er jetzt im Frack und mit reiner Waͤſche erſchien. 
„Bei manchen Leuten ſieht reine Waͤſche geradezu unan— 
ſtaͤndig aus,“ hatte Liputin einmal geſagt, als ihm Stepan 
Trofimowitſch einen ſcherzhaften Vorwurf wegen ſeiner 
Unſauberkeit machte. Der Hauptmann hatte auch ſchwarze 
Handſchuhe, von denen er den rechten noch nicht ange— 
zogen hatte, ſondern in der Hand hielt, waͤhrend der 
linke, ſtraff anliegend und nicht zugeknoͤpft, nur zur 
Haͤlfte ſeine dicke linke Tatze bedeckte, in welcher er einen 
ganz neuen, glaͤnzenden und gewiß zum erſten Male in 
Gebrauch genommenen Zylinderhut hielt. Es erwies ſich 
alſo, daß der „Liebesfrack“, von dem er Schatow geſtern 
etwas zugeſchrien hatte, tatſaͤchlich exiſtierte. Alles dies, 
das heißt der Frack und die Waͤſche, war, wie ich nachher 
erfuhr, auf Liputins Rat fuͤr irgendwelche geheimen 
Zwecke angeſchafft worden. Und wenn er jetzt hierher 
gefahren war (in einer Droſchke!), ſo war auch dies 
zweifellos nach fremder Anweiſung und mit jemandes 
Beihilfe geſchehen; allein wuͤrde er es in Zeit von etwa 
dreiviertel Stunden nicht fertig gebracht haben, auf dieſen 
Einfall zu kommen, ſich zu entſchließen, ſich anzukleiden 


280 Die Teufel 


und fertigzumachen, angenommen ſogar, daß die Szene 
in der Vorhalle des Domes ſogleich zu ſeiner Kenntnis 
gelangt waͤre. Er war nicht betrunken, befand ſich aber 
in dem peinlichen, benommenen, dumpfen Zuſtande eines 
Menſchen, der nach mehrtaͤgiger Betrunkenheit auf ein- 
mal zur Beſinnung kommt. Ich glaube, man haͤtte ihn 
nur ein paarmal mit der Hand an der Schulter hin und 
her zu biegen gebraucht, und er waͤre ſofort wieder be— 
trunken geweſen. 5 

Er wollte ſchnell und forſch in den Salon eintreten, 
ſtolperte aber an der Tuͤr uͤber den Teppich. Marja Ti⸗ 
mofejewna lachte ſich daruͤber beinah tot. Er ſah ſie mit 
einem wilden Blicke an und machte ploͤtzlich einige ſchnelle 
Schritte auf Warwara Petrowna zu. 

„Ich bin gekommen, gnaͤdige Frau ...“ begann er 
trompetenhaft loszuſchmettern. 

„Tun Sie mir den Gefallen, mein Herr,“ ſagte War⸗ 
wara Petrowna, ſich gerade aufrichtend, „und nehmen 
Sie dort Platz, auf jenem Stuhle! Ich kann Sie auch 
von dort aus hoͤren und werde Sie von hier aus beſſer 
anſehen koͤnnen.“ 

Der Hauptmann blieb ſtehen und ſtarrte ſtumpfſinnig 
vor ſich hin, drehte ſich aber dann doch um und ſetzte ſich 
auf den angewieſenen Platz, dicht an der Tür. Ein ftar- 
kes Mißtrauen gegen ſich ſelbſt, zugleich damit aber auch 
Frechheit und eine ſtaͤndige Reizbarkeit kamen auf ſeinem 
Geſichte zum Ausdruck. Er hatte ſchreckliche Angſt, das 
war augenſcheinlich; aber auch ſein Selbſtgefuͤhl hatte 
ſchwer zu leiden, und man mußte darauf gefaßt ſein, daß 
er aus verletztem Selbſtgefuͤhl trotz ſeiner Angſt ſich bei 
Gelegenheit zu irgendwelcher Frechheit entſchließen werde. 


e 3 ( EN 


— . Ä . 


— — 


Erſter Teil | 281 


Augenſcheinlich machte ihm jede Bewegung feines unge— 
ſchlachten Körpers Sorge. Bekanntlich find bei all fol- 
chen Herren, wenn dieſelben durch einen wunderlichen 
Zufall in gute Geſellſchaft hineingeraten, das Hauptun⸗ 


gluͤck ihre eigenen Haͤnde und das dauernde Bewußtſein, 


daß ſie ſie nicht anſtaͤndig unterzubringen wiſſen. Der 
Hauptmann ſaß ſtarr auf ſeinem Stuhle, mit ſeinem Hute 
und den Handſchuhen in der Hand, und wandte ſeinen 
gedankenloſen Blick nicht von Warwara Petrownas ern— 
ſtem Geſichte ab. Er haͤtte vielleicht gern aufmerkſamer 
um ſich geſehen, wagte das aber vorlaͤufig noch nicht. 
Marja Timofejewna, die ſeine Figur wahrſcheinlich 
wieder furchtbar laͤcherlich fand, kicherte von neuem los; 
aber er ruͤhrte ſich nicht. Warwara Petrowna ließ ihn 
lange, eine ganze Minute lang, ohne Erbarmen in dieſer 
Poſitur verbleiben, indem ſie ihn ſchonungslos muſterte. 


„Erlauben Sie mir zunaͤchſt, Sie ſelbſt nach Ihrem 
Namen zu fragen,“ ſagte fie dann in gemeſſenem, nach⸗ 


drücklichem Tone. 


„Hauptmann Lebjadkin,“ donnerte der Hauptmann. 
„Ich bin gekommen, gnaͤdige Frau ...“ er wollte ſich 
wieder von ſeinem Platze ruͤhren. 

„Erlauben Sie!“ unterbrach ihn Warwara Petrowna 
und hielt ihn durch eine Handbewegung zuruͤck. „Iſt dieſe 
bemitleidenswerte Perſon, die in ſo hohem Grade meine 


Teilnahme erweckt hat, wirklich Ihre Schweſter?“ 


„Jawohl, ſie НЕ meine Schweſter, gnaͤdige Frauz fie iſt 
der Aufſicht entronnen; denn fie befindet ſich in einem fol- 
chen Zuſtande ...“ 


5 Er ſtockte plotzlich und wurde dunkelrot. 


282 Die Teufel 


„Faſſen Sie das nicht falſch auf, gnaͤdige Frau,“ fuhr 
er dann in ſchrecklicher Verwirrung fort; „der leibliche 
Bruder wird nichts Beſchimpfendes ſagen ... in einem 
ſolchen Zuſtande, das bedeutet nicht in einem ſolchen Зиг 
ſtande ... in einem den Ruf befleckenden Sinne ... in 
der letzten Zeit ...“ 

Er brach ploͤtzlich ab. 

„Mein Herr!“ Warwara Petrowna hob den Kopf in 
die Hoͤhe. 

„Sehen Sie: in einem ſolchen Zuſtande!“ ſchloß er 
plotzlich, indem er ſich mit dem Finger mitten auf die 
Stirn tippte. 

Es trat fuͤr eine Weile Stillſchweigen ein. 

„Leidet fie daran ſchon lange?“ fragte Warwara Pe- 
trowna langſam. 

„Gnaͤdige Frau, ich bin gekommen, um Ihnen fuͤr die 
Großmut, die Sie ihr in der Vorhalle des Domes erwieſen 
haben, auf echt ruſſiſche Art bruͤderlich zu danken ...“ 

„Bruͤderlich?“ 

„Das heißt, nicht bruͤderlich, ſondern nur in dem 
Sinne, daß ich der Bruder meiner Schweſter bin, gnaͤ⸗ 
dige Frau, und ſeien Sie uͤberzeugt, gnaͤdige Frau,“ 
fuhr er, die Anrede haͤufig wiederholend, fort und 
wurde wieder dunkelrot, „daß ich nicht ſo ungebildet bin, 
wie ich in Ihrem Salon auf den erſten Blick vielleicht 
erſcheine. Ich und meine Schweſter ſind ein Nichts, 
gnaͤdige Frau, im Vergleiche zu der Pracht, die wir hier 
wahrnehmen. Außerdem haben wir Feinde, die uns ver— 
leumden. Aber auf ſeinen Ruf iſt Lebjadkin ſtolz, gnaͤdige 
Frau, und .. . und . .. ich bin gekommen, um zu danken 
Hier iſt das Geld, gnaͤdige Frau!“ 


Erſter Teil 288 


x Er zog eine Brieftafche hervor, entnahm ihr ein Paͤck— 
chen Banknoten und begann unter ihnen mit zitternden 
Fingern in einem wuͤtenden Anfall von Ungeduld zu 
ſuchen. Offenbar wollte er noch moͤglichſt ſchnell etwas 
zur Erklaͤrung ſagen, und das war ja auch ſehr notwen— 
dig; aber da er wahrſcheinlich ſelbſt merkte, daß das Her- 
umkramen in dem Gelde ihm ein noch duͤmmeres Anſehen 
gab, ſo verlor er den letzten Reſt von Selbſtbeherrſchung; 
das Geld wollte ſich abſolut nicht zuſammenzaͤhlen laſſen; 
feine Finger hinderten ſich gegenſeitig, und um die Bla- 
mage voll zu machen, glitt ein gruͤner Schein aus der 
Brieftaſche heraus und flatterte im Zickzack auf den Tep⸗ 
pich. 

„Zwanzig Rubel, gnaͤdige Frau,“ ſagte er und ſprang 
mit einigen Banknoten in der Hand auf; ſein Geſicht war 
von der ausgeſtandenen Qual mit Schweiß bedeckt; als 
er auf dem Fußboden die hingefallene Banknote bemerkte, 
wollte er ſich ſchon buͤcken, um ſie aufzuheben, ſchaͤmte ſich 
aber aus irgendwelchem Grunde und machte eine verzich⸗ 
tende Handbewegung. 


„Fuͤr Ihre Leute, gnaͤdige Frau, fuͤr den Bedienten, 
der es aufheben wird; mag er ſich an Lebjadkin erinnern!“ 
„Das kann ich unter keinen Umſtaͤnden zulaſſen,“ ver⸗ 
ſetzte Warwara Petrowna eilig und ein wenig aͤngſtlich. 
„Nun dann“ 


N Er buͤckte ſich, hob den Schein auf, wurde dunkelrot, 
trat plotzlich auf Warwara Petrowna zu und hielt ihr 
das abgezaͤhlte Geld hin. 

] „Was ift das?“ fragte fie; Пе war jetzt ganz erſchrocken 
und bog ſich ſogar in ihrem Lehnſtuhl zuruͤck. 


PPP Te zu да ай 


Ne r * 


e . Си" 
. ой > wer 3 * 


284 Die Teufel 


Mawriki Nikolajewitſch, ich und Stepan Trofimo⸗ 
witſch taten jeder ein paar Schritte vorwaͤrts. 

„Beruhigen Sie ſich, beruhigen Sie ſich; ich bin nicht 
verruͤckt; ich bin wahrhaftig nicht verruͤckt,“ verſicherte 
der Hauptmann in großer Aufregung nach allen Seiten 
hin. 

„Doch, mein Herr; Sie haben den Verſtand verloren.“ 

„Gnaͤdige Frau, das verhaͤlt ſich alles anders, als Sie 
meinen! Ich bin freilich nur ein unbedeutendes Glied 
in der Kette ... Oh, gnaͤdige Frau, Ihre Prunkgemaͤcher 
ſind reich, und armſelig iſt die Wohnung meiner Schweſter 
Marja Namenlos, geborenen Lebjadkina; aber wir nen- 
nen fie vorläufig Marja Namenlos, vorläufig, gnä- 
dige Frau, nur vorläufig; denn für die Dauer wird 
das Gott ſelbſt nicht zulaſſen! Gnaͤdige Frau, Sie 
haben ihr zehn Rubel gegeben, und fie hat fie an- 
genommen, aber nur weil ſie von Ihnen kamen, gnaͤ⸗ 
dige Frau! Hoͤren Sie, gnaͤdige Frau! Von keinem andern 
in der Welt nimmt dieſe Marja Namenlos etwas an; 
ſonſt muͤßte ſich ja ihr Großvater, der Stabsoffizier, der 
im Kaukaſus vor Jermolows eigenen Augen fiel, im 
Grabe umdrehen; aber von Ihnen, gnaͤdige Frau, von 
Ihnen nimmt ſie alles an. Aber mit der einen Hand 
nimmt ſie an, und mit der andern reicht ſie Ihnen hier я 
zwanzig Rubel, in Geftalt einer Spende für eines der 
hauptſtaͤdtiſchen Wohltaͤtigkeitskomitees, deren Mitglied 
Sie, gnaͤdige Frau, Пир... wie Sie ja ſelbſt, gnaͤdige 
Frau, in den „Moskauer Nachrichten“ angezeigt haben, 
daß bei Ihnen hier in unſerer Stadt das Gabenbuch einer 
wohltaͤtigen Geſellſchaft ausliegt, in das ſich jeder ein— 
tragen kann .. 


Erſter Teil 285 


Der Hauptmann brach ploͤtzlich ab; er atmete muͤhſam, 
wie nach einer ſchweren Heldentat. Alles, was er uͤber 
i das Wohltaͤtigkeitskomitee geſagt hatte, war wahrſchein⸗ 
lich vorher zurechtgelegt, vielleicht ebenfalls unter Lipu⸗ 
ö tins Redaktion. Er ſchwitzte jetzt noch aͤrger; der Schweiß 

ſtand ihm in großen Tropfen an den Schlaͤfen. War⸗ 
wara Petrowna blickte ihn durchdringend an. 


| „Dieſes Buch“, erwiderte fie in ſtrengem Tone, „bes 
findet ſich immer unten bei dem Portier meines Hauſes; 
dort koͤnnen Sie Ihre Gabe eintragen, wenn Sie wollen. 
Deshalb bitte ich Sie, Ihr Geld jetzt einzuſtecken und nicht 
damit in der Luft herumzufuchteln. So iſt's ſchoͤn. Fer⸗ 
ner bitte ich Sie, Ihren früheren Platz wieder einzu⸗ 
nehmen. So iſt's ſchoͤn. Ich bedauere ſehr, mein Herr, 
daß ich mich in betreff Ihrer Schweſter geirrt und ihr 
eine Unterſtuͤtzung gegeben habe, waͤhrend ſie ſo reich iſt. 
Nur eines verſtehe ich nicht: warum ſie von mir allein 
etwas annehmen kann, von andern aber um keinen Preis 
etwas annehmen will. Sie haben darauf einen ſolchen 
Nachdruck gelegt, daß ich eine ganz genaue Erklaͤrung zu 
erhalten wuͤnſche.“ i 
„Gnaͤdige Frau, das iſt ein Geheimnis, das vielleicht 
erſt im Sarge begraben ſein wird!“ antwortete der 
Hauptmann. 
„Warum denn?“ fragte Warwara Petrowna, aber ihr 
Ton war nicht mehr ganz ſo feſt. 
„Gnaͤdige Frau, gnaͤdige Frau!...“ 


Er ſchwieg mit finſterer Miene, blickte zu Boden und 
legte die rechte Hand auf das Herz. Warwara Petrowna 
wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden. 


3 


> 


A 


* 


286 Die Teufel 


„Gnaͤdige Frau!“ brüllte er auf einmal los, „erlauben 
Sie, daß ich Ihnen eine Frage vorlege, nur eine einzige, 
aber offen, geradezu, in echt ruſſiſcher Art, von Herzen?“ 

„Bitte ſehr.“ 

„Haben Sie in Ihrem Leben gelitten, gnaͤdige Frau?“ 

„Sie wollen einfach ſagen, daß Sie ſelbſt von jeman⸗ 
dem zu leiden gehabt haben oder noch zu leiden haben?“ 

„Gnaͤdige Frau, gnaͤdige Frau!“ Er ſprang auf ein⸗ 
mal wieder auf, wahrſcheinlich ohne ſich deſſen ſelbſt Бе: 
wußt zu werden, und ſchlug ſich gegen die Bruſt. „Hier 
in dieſem Herzen hat ſich ſo viel angeſetzt von allem, was 
darin geſiedet hat, ſo viel, daß beim Juͤngſten Gerichte Gott 
ſelbſt ſich wundern wird, wenn es zutage kommt!“ 

„Hm! Das iſt ſtark ausgedruͤckt.“ 

„Gnaͤdige Frau, ich ſpreche vielleicht in etwas gereiz- 
tem Tone 

„Seien Sie unbeſorgt; ich weiß ſchon ſelbſt, wann es 
noͤtig ſein wird, Sie anzuhalten.“ 

„Darf ich Ihnen noch eine Frage vorlegen, gnaͤdige 
Frau?“ | 

„Tun Sie das!“ 

„Kann man einzig und allein an Edelmut des Herzens 
ſterben?“ 

„Das weiß ich nicht; ich habe mir dieſe Frage noch 
nicht vorgelegt.“ 

„Sie wiſſen es nicht! Sie haben ſich dieſe Frage noch 
nicht vorgelegt!“ ſchrie er mit ſpoͤttiſchem Pathos. 
„Wenn's ſo iſt, wenn's ſo iſt, dann 

‚Schweig ſtill, mein hoffnungsleeres Herz!“ 
Und er ſchlug ſich wuͤtend gegen die Bruſt. 


м — < 


Erſter Teil k | 287 


Er ging ſchon wieder im Zimmer auf und ab. Eine 
Eigenheit dieſer Leute beſteht darin, daß fie völlig außer⸗ 
ſtande ſind, ihre Wuͤnſche in ihrem Innern zuruͤckzuhal⸗ 
ten, und vielmehr einen unuͤberwindlichen Drang ver- 
ſpuͤren, dieſelben ſofort nach ihrem Entſtehen zu aͤußern, 
ſogar in ihrer ganzen Haͤßlichkeit. Wenn ein ſolcher Herr 
in eine Geſellſchaft hineingeraͤt, in die er nicht hinein⸗ 
paßt, ſo benimmt er ſich gewoͤhnlich anfangs ſchuͤchtern; 
aber ſobald man ihm die Zuͤgel auch nur ein klein wenig 

locker laͤßt, geht er ſofort zu Dreiſtigkeiten uͤber. Der 
Hauptmann war bereits in Hitze geraten; er ging hin 
und her, ſchwenkte die Arme, hoͤrte nicht auf Fragen und 
redete in ſehr ſchnellem Tempo von ſich ſelbſt, ſo daß die 
Zunge manchmal nicht mitkonnte und er, ohne den Satz 
zu Ende zu bringen, auf einen andern uͤberſprang. Зет: 
dings war er nicht ganz nuͤchtern; auch ſaß Liſaweta 
Nikolajewna dabei, nach der er zwar nie hinblickte, deren 
Gegenwart aber bei ihm anſcheinend ein ſtarkes Gefühl 
des Schwindels hervorrief. Übrigens war das von mir 
nur eine Vermutung. Es mußte alſo einen Grund geben, 
weshalb Warwara Petrowna mit Überwindung ihres 
Widerwillens ſich entſchloß, einen ſolchen Menſchen an⸗ 
zuhören. Praſkowja Iwanowna zitterte einfach vor Angſt; 
allerdings ſchien ſie nicht ganz zu verſtehen, um was es 
ſich handelte. Stepan Trofimowitſch zitterte ebenfalls, 
aber im Gegenſatze zu ihr, weil er immer geneigt war, 
zuviel zu verſtehen. Mawriki Nikolajewitſch ſtand in der 
Haltung des gemeinſamen Beſchuͤtzers da. Liſa war 
etwas blaß und blickte mit weit geöffneten Augen unver⸗ 
wandt nach dem wilden Hauptmann hin. Schatow ſaß 
in ſeiner früheren Haltung da; aber was das Allerſelt— 


У 


288 Die Teufel 


ſamſte war, Marja Timofejewna hatte nicht nur aufge⸗ 
hört zu lachen, ſondern war ſogar ſchrecklich traurig ge- 
worden. Sie hatte ſich mit dem rechten Ellbogen auf den 
Tiſch geſtuͤtzt und verfolgte mit einem langen, traurigen 
Blicke ihren ſchwadronierenden Bruder. Nur Darja 
Pawlowna ſchien mir ruhig zu ſein. 

„Das iſt ja lauter toͤrichtes allgemeines Geſchwaͤtz!“ 
rief Warwara Petrowna endlich aͤrgerlich. „Sie haben 
noch nicht auf meine Frage „warum' geantwortet. Ich 
warte immer noch auf Ihre Antwort und dringe darauf.“ 

„Ich habe nicht geantwortet ‚warum? Sie erwarten 
eine Antwort auf die Frage „warum!?“ erwiderte der 
Hauptmann, mit den Augen zwinkernd. „Dieſes kleine 
Woͤrtchen ‚warum‘ iſt ſeit dem erſten Schoͤpfungstage 
durch das ganze Weltall ausgegoſſen, gnaͤdige Frau, und 
die ganze Natur ſchreit ihrem Schoͤpfer in jedem Augen⸗ 
blicke zu: ‚warum?‘ und erhält ſchon ſiebentauſend Jahre 
lang keine Antwort. Soll wirklich nur Hauptmann Leb⸗ 
jadkin darauf antworten? Kann man dieſe Forderung als 
gerecht anſehen, gnaͤdige Frau?“ 

„Das iſt lauter Unſinn und keine Antwort, wie ſie ſich 
gehört!" Warwara Petrowna war zornig geworden und 
hatte die Geduld verloren. „Das iſt allgemeines Gerede; 
zudem erlauben Sie ſich allzu hochfahrend zu ſprechen, 
mein Herr, was ich fuͤr eine Dreiſtigkeit halte.“ 

„Gnaͤdige Frau,“ redete der Hauptmann weiter, wie 
wenn er nicht gehoͤrt haͤtte, „ich wuͤrde vielleicht wuͤnſchen 
Erneſte zu heißen, während ich genötigt bin, den plebeji— 
ſchen Namen Ignat zu tragen; warum? wie denken Sie 
daruͤber? Ich wuͤrde wuͤnſchen Fuͤrſt de Montbard zu 
heißen, waͤhrend ich Lebjadkin heiße, von dem Worte 


< 


Erſter Teil 289 


lebed!; warum? Ich bin ein Dichter, gnädige Frau, ein 
Dichter aus tiefſtem Drange der Seele, und koͤnnte taus 
ſend Rubel von einem Verleger erhalten, während ich ge—⸗ 
noͤtigt bin, in einem Spuͤleimer zu leben; warum, ja 
warum? Gnaͤdige Frau! Meiner Anſicht nach iſt Ruß⸗ 
land ein Spiel der Natur, nichts weiter!“ 

„Sind Sie wirklich nicht imſtande, etwas mehr zur 
Sache Gehoͤrendes zu ſagen?“ 

„Ich kann Ihnen das Gedicht die Schabe' deklamieren, 
gnaͤdige Frau!“ 

„Wa⸗a⸗ as?“ 

„Gnaͤdige Frau, ich bin noch nicht verruͤckt! Ich werde 
einmal verruͤckt werden, gewiß; aber ich bin noch nicht 
verruͤckt! Gnaͤdige Frau, ein Freund von mir, ein Mann 
von edelſter Geſinnung, hat eine Krylowſche Fabel mit 
der Überſchrift „Die Schabe‘ geſchrieben; darf ich fie 
Ihnen vortragen?“ 

„Sie wollen mir eine Krylowſche Fabel vortragen?“ 

„Nein, ich will Ihnen keine Krylowſche Fabel vortra— 
gen, ſondern eine Fabel von mir, mein eigenes Produkt! 
Sie koͤnnen, ohne ſich ſelbſt zu nahe zu treten, glauben, 
gnaͤdige Frau, daß ich nicht dermaßen ungebildet und ver— 
kommen bin, um nicht zu wiſſen, daß Rußland den großen 
Fabeldichter Krylow beſitzt, dem der Kultusminiſter im 
Sommergarten ein Denkmal errichtet hat, damit die Kin: 


der drum herumſpielen. Sie fragen ‚warum‘, gnaͤdige 


Frau? Die Antwort ſteht mit feurigen Lettern auf dem 
Grunde dieſer Fabel geſchrieben!“ 


„Nun, dann tragen Sie Ihre Fabel vor!“ 


Der Schwan. Anmerkung des Überſetzers. 
LXIII. 19 


290 | Die Teufel 


„Eine Schabe, flach und ſchwaͤrzlich, 
Lebte ohne Neid und Haß; 
Leider fiel fie (oh, wie ſchmerzlich!) 
In ein volles Fliegenglas.“ 


„Was ſoll das heißen: ein Fliegenglas?“ rief War⸗ 
wara Petrowna. 

„Das heißt, wenn im Sommer,“ erklaͤrte der Haupt⸗ 
mann eilig unter gewaltigen Geſtikulationen, mit der reiz— 
baren Ungeduld eines Autors, den man verhindert, ſein 
Werk vorzutragen, „wenn im Sommer die Fliegen in ein 
Glas hineinkriechen, ſo wird das ein Fliegenglas; das 
verſteht doch jeder Dummkopf; unterbrechen Sie mich 
nicht; Sie werden ſchon ſehen, Sie werden ſchon ſehen. ..“ 
(er fuchtelte mit den Haͤnden in der Luft umher): 


„Und bei Zeus erhob Beſchwerde 
Alſobald der Fliegen Chor, 

Daß der Raum verengert werde, 
Der kaum ausgereicht zuvor. 
Waͤhrend man ſich ſo beklagte, 
Trat Nikifor ſchnell hinzu, 

Er, der edle, hochbetagte ... 


„Weiter habe ich das Gedicht noch nicht fertig; aber 
das iſt ganz egal, ich werde es Ihnen in Proſa ſagen!“ 
fuhr der Hauptmann fort zu ſchwatzen. „Nikifor nimmt das 
Glas und ſchuͤttet trotz alles Geſchreies die ganze Komoͤdie, 
Fliegen und Schabe, in den Spuͤleimer, was er ſchon laͤngſt 
haͤtte tun ſollen! Aber beachten Sie das wohl, beachten 
Sie das wohl, gnaͤdige Frau: die Schabe murrt nicht! Das 
ift die Antwort auf Ihre Frage: ‚marum‘,“ rief er trium⸗ 
phierend. „Die Scha be murrt nicht! Was aber Niki⸗ 


— 


Erſter Teil 291 


for anlangt, ſo repräfentiert er die Natur,“ fügte er eilig 


hinzu und ging ſelbſtzufrieden im Zimmer auf und ab. 

Warwara Petrowna war wuͤtend. 

„Geſtatten Sie die Frage: was hat es für eine Be- 
wandtnis mit dem Gelde, das Sie angeblich von Nikolai 
Wſewolodowitſch erhalten haben, und das Ihnen angeb— 
lich nicht vollſtaͤndig ausgezahlt ИЕ, und wegen deſſen Sie 
eine zu meinem Hauſe gehoͤrige Perſon zu beſchuldigen 
gewagt haben?“ 

„Verleumdung!“ bruͤllte Lebjadkin und hob ſchauſpieler⸗ 
haft den rechten Arm in die Hoͤhe. 

„Nein, das iſt keine Verleumdung.“ 

„Gnaͤdige Frau, es gibt Umſtaͤnde, die jemanden 
zwingen koͤnnen, lieber Schande der Familie zu ertragen 
als laut die Wahrheit zu verkuͤnden. Lebjadkin wird nicht 
mehr ſagen, als er darf, gnaͤdige Frau!“ Е 

Er war wie ein Geblendeter; er war in Begeifterung; 
er fühlte feine Wichtigkeit; gewiß ſchwebte ihm etwas der 
Art vor. Jetzt verlangte es ihn, zu beleidigen, Schaden 
anzurichten, ſeine Macht zu zeigen. 

„Bitte, klingeln Sie, Stepan Trofimowitſch!“ bat 
Warwara Petrowna. 

„Lebjadkin iſt ſchlau, gnaͤdige Frau!“ ſagte er haͤßlich 


laͤchelnd und mit den Augen zwinkernd; „er iſt ſchlau; 


aber auch fuͤr ihn gibt es ein Hindernis, eine Vorhalle der 


| Leidenſchaften! Und dieſe Vorhalle, das ЦЕ die alte Hu— 


Re e 9 


ſaren⸗Feldflaſche, die Denis Dawydow beſungen hat. Und 


wenn er ſich in dieſer Vorhalle befindet, gnaͤdige Frau, 
dann kommt es vor, daß er einen hochpoetiſchen Brief ab— 
ſendet, einen ganz praͤchtigen Brief, den er aber nachher 
mit den Traͤnen ſeines ganzen Lebens wieder zuruͤckkaufen 


292 Die Teufel 


moͤchte; denn die Empfindung des Schoͤnen wird verletzt. 
Aber wenn der Vogel einmal ausgeflogen iſt, kann man 
ihn nicht mehr am Schwanze faſſen! In dieſer Vorhalle 
alſo, gnaͤdige Frau, konnte Lebjadkin auch uͤber ein edles 
Maͤdchen etwas in Geſtalt einer edlen Entruͤſtung ſeiner 
durch Kraͤnkungen aufgewuͤhlten Seele ſagen, was dann 
ſeine Verleumder ausgenutzt haben. Aber Lebjadkin iſt 
ſchlau, gnaͤdige Frau! Und vergebens ſitzt der boͤſe Wolf 
lauernd neben ihm und gießt ihm alle Augenblicke ein und 
wartet auf das ſchließliche Ergebnis; aber Lebjadkin ver- 
plappert ſich nicht, und auf dem Boden der Flaſche findet 
ſich jedesmal ſtatt der erwarteten Auskunft — Lebjadkins 
Schlauheit! Aber genug davon, oh, genug davon! Gnaͤ⸗ 
dige Frau, Ihre praͤchtigen Gemaͤcher koͤnnten dem Edel⸗ 
ſten aller Sterblichen gehören; aber die Schabe murrt 
nicht! Achten Sie wohl darauf, achten Sie wohl darauf, 
daß die Schabe nicht murrt, und erkennen Sie ihre 
Geiſtesgroͤße an!“ 

In dieſem Augenblicke ertoͤnte von unten, aus der Por- 
tierloge, die Glocke, und unmittelbar darauf erſchien, 
etwas verſpaͤtet nach Stepan Trofimowitſchs Klingeln, 
Alexei Jegorowitſch. Der alte wuͤrdige Diener befand fi, 
in ungewoͤhnlicher Aufregung. 

„Nikolai Wſewolodowitſch ſind ſoeben angekommen 
und kommen hierher,“ ſagte er als Antwort auf Warwara 
Petrownas fragenden Blick. 

Ich erinnere mich mit beſonderer Deutlichkeit an ihr Aus⸗ 
ſehen in dieſem Augenblicke: zuerſt wurde ſie blaß; dann 
fingen ihre Augen auf einmal an zu funkeln. Sie richtete 
ſich in ihrem Lehnſtuhl mit der Miene feſteſter Entjchlof- | 
ſenheit gerade auf. Aber auch alle übrigen waren über- 


- 
9 т. 

= 

4 

4 


= 


Erſter T. Teil 293 


р Nikolai Wſewolodowitſchs ganz unerwartete An— 
kunft, die wir erſt etwa in einem Monat erwartet hatten, 
erſchien nicht nur durch ihre Ploͤtzlichkeit ſeltſam, ſondern 
beſonders auch durch ihr verhaͤngnisvolles Zuſammen— 
treffen mit der augenblicklichen Situation. Sogar der 
Hauptmann blieb wie ein Pfahl mitten im Zimmer ſtehen, 
ſperrte den Mund auf und blickte mit furchtbar dummem 
Geſichte nach der Tuͤr. 

Da ließen ſich aus dem anſtoßenden Saale, einem 
langen, großen Raume, Schritte vernehmen, die ſich 
ſchnell naͤherten, kleine, außerordentlich raſch aufeinander 
folgende Schritte; es war, als ob jemand angerollt kaͤme; 
und plotzlich kam der Ankoͤmmling in den Salon hinein- 
geeilt, — aber es war gar nicht Nikolai Wſewolodowitſch, 
ſondern ein uns allen voͤllig unbekannter junger Menſch. 


V 
Ich erlaube mir, hier einen Augenblick ſtehen zu bleiben 
und, wenn auch nur mit ein paar fluͤchtigen Strichen, 
dieſe ploͤtzlich erſchienene Perſon zu ſkizzieren. 

Es war ein junger Menſch von ungefaͤhr ſiebenund— 
zwanzig Jahren, ein wenig über Mittelgröße, mit din- 
nem, blondem, ziemlich langem Haar und ſpaͤrlichem, 
kaum bemerkbarem Schnurr- und Kinnbart. Er war ſau⸗ 
ber und ſogar nach der Mode, aber nicht ſtutzerhaft ge- 


kleidet; auf den erſten Blick ſchien er krumm und unbe⸗ 


holfen zu ſein; er war aber ganz und gar nicht krumm und 
ſogar recht gewandt. Er machte den Eindruck eines wun⸗ 
derlichen Geſellen, und doch fanden alle nachher ſeine 
Manieren ſehr anſtaͤndig, und was er redete, ſehr paſſend 
und ſachgemaͤß. 


294 Die Teufel 


Niemand kann ſagen, daß der junge Menſch haͤßlich 
waͤre; aber doch gefaͤllt ſein Geſicht niemandem. Sein 
Kopf iſt hinten verlängert und wie von den Seiten zu— 
ſammengedruͤckt, ſo daß ſein Geſicht ſpitzig erſcheint. Seine 
Stirn iſt hoch und ſchmal, aber die Geſichtszuͤge fein, die 
Augen ſcharf, das Naͤschen klein und ſpitz, die Lippen lang 
und duͤnn. Sein Geſichtsausdruck hat etwas Krankhaftes; 
aber das ſcheint nur ſo. Eine magere Falte zieht ſich uͤber 
die Backen und neben den Backenknochen hin, was ihm 
das Ausſehen eines Rekonvaleſzenten nach einer ſchweren 
Krankheit verleiht. Und doch iſt er voͤllig geſund und 
fräftig und ſogar überhaupt nie krank geweſen. 


Er geht und bewegt ſich ſehr ſchnell, haftet aber nie 
mals. Es ſcheint, daß ihn nichts in Verwirrung bringen 
kann; er bleibt in jeder Situation und in jeder beliebigen 
Geſellſchaft derſelbe. Er beſitzt eine große Selbſtgefaͤl— 
ligkeit, bemerkt ſie aber an ſich gar nicht. 


Er ſpricht ſchnell und eilig, dabei aber ſelbſtbewußt 
und iſt nicht auf den Mund gefallen. Seine Gedanken 
ſind ruhig und trotz der aͤußerlichen Eile genau praͤziſiert; 
und was beſonders auffaͤllt, an dem, was er einmal geſagt 
hat, aͤndert er nachher nichts mehr. Seine Ausſprache iſt 
erſtaunlich deutlich; die Worte rieſeln ihm aus dem 
Munde wie gleichmaͤßige, große, tadelloſe Koͤrner, die 
dem Hörer ſofort zu Dienſten ſtehen. Anfangs gefällt 
einem das; aber dann wird es einem widerwaͤrtig, und 
zwar gerade wegen dieſer allzu deutlichen Ausſprache und 
wegen dieſes perlenartigen Gerieſels ſtets dienſtbereiter 
Worte. Man kommt auf den Gedanken, er muͤſſe eine 
Zunge von beſonderer Geſtalt im Munde haben, unge— 


— 


Erſter Teil 295 


woͤhnlich lang und ſchmal, ſehr rot, mit beſonders feiner, 
ſich ununterbrochen und unwillkuͤrlich bewegender Spitze. 

Alſo dieſer junge Mann kam jetzt eilig in den Salon, 
und wirklich, ich habe noch bis auf den heutigen Tag die 
Vorſtellung, er habe ſchon im anſtoßenden Saal zu ſpre⸗ 
chen angefangen und ſei ſprechend hereingekommen. In 
einem Augenblicke ſtand er vor Warwara Petrowna. 

„ . . Stellen Sie ſich das vor, Warwara Petrowna,“ 
ließ er die Worte herausrieſeln, „ich komme herein und 
denke, er wird ſchon ſeit einer Viertelſtunde hier ſein; vor 
anderthalb Stunden iſt er angekommen; ich bin mit ihm 
bei Kirillow geweſen; er machte ſich von dort vor einer 
halben Stunde direkt hierher auf und ſagte mir, ich moͤchte 
nach einer Viertelſtunde ebenfalls hierher kommen ...“ 

„Aber wer denn? Wer hat Ihnen geſagt, Sie moͤchten 
hierher kommen?“ fragte Warwara Petrowna. 

„Nun, Nikolai Wſewolodowitſch! Alſo erfahren Sie 
das wirklich erſt in dieſem Augenblick? Aber ſein Ge— 
paͤck muß doch wenigſtens ſchon hier angekommen fein; 
wie geht es zu, daß Ihnen das nicht gemeldet iſt? Dann 
bin ich alſo der erſte, der Sie davon benachrichtigt. Man 
koͤnnte ihn ja zwar von einer gewiſſen Stelle abholen laſ— 
ſen; aber er wird gewiß gleich von ſelbſt erſcheinen, und 
wie es ſcheint, gerade in einem Zeitpunkte, der in wun⸗ 
derbarer Weiſe ſeinen Erwartungen und, ſoweit ich es 


wenigſtens beurteilen kann, auch feinen Wuͤnſchen ent: 


ſpricht.“ Hier ließ er ſeine Augen durch das Zimmer 


ſchweifen und heftete ſie mit beſonderer Aufmerkſamkeit 


auf den Hauptmann. „Ah, Liſaweta Nikolajewna, wie 
freue ich mich, Ihnen hier gleich beim erſten Schritt zu 


begegnen; ich freue mich ſehr, Ihnen die Hand zu druͤk— 


296 | Die Teufel 


ken!“ Damit flog er ſchnell zu ihr hin, um die Hand zu 
ergreifen, die Liſa ihm heiter laͤchelnd entgegenſtreckte. 
„Und ſoviel ich bemerken kann, hat auch die hochverehrte 
Praſkowja Iwanowna, wie es ſcheint, ihren ‚Profefjor‘ 
nicht vergeſſen und iſt nicht mehr zornig auf ihn, wie ſie 
es immer in der Schweiz war. Aber wie geht es Ihnen 
hier mit den Füßen, Praſkowja Smanowna? Haben die 
Schweizer Arzte recht damit gehabt, daß ſie Ihnen das 
heimatliche Klima verordneten? ... Wie? Wundwaſſer? 
Das mag wohl ſehr nuͤtzlich ſein. Aber wie ſehr habe ich 
bedauert, Warwara Petrowna“ (er drehte ſich ſchnell 
wieder um), „daß ich Sie damals nicht mehr im Auslande 
traf und Ihnen nicht mehr perſoͤnlich meinen Reſpekt be⸗ 
zeigen konnte; und zudem hatte ich Ihnen ſo vieles mit— 
zuteilen. Ich habe dieſe Mitteilungen allerdings hierher 
an meinen Vater geſchrieben; aber es ſcheint, daß er nach 
ſeiner Gewohnheit ...“ 

„Peter!“ rief Stepan Trofimowitſch, der nun aus 
ſeiner Erſtarrung zu ſich kam; er ſchlug erſtaunt die Haͤnde 
zuſammen und ſtuͤrzte zu ſeinem Sohn hin. „Pierre, mon 
enfant, ich habe dich ja gar nicht erkannt!“ Er umſchlang 
ihn mit ſeinen Armen; die Traͤnen rollten ihm aus den 
Augen. 

„Na, mach nur keine Geſchichten, keine Geſchichten! 
Ohne Gehabe! Na, nun genug, nun genug, ich bitte 
dich!“ murmelte Peter eilig und ſuchte ſich aus der Um— 
armung frei zu machen. 

„Ich habe es dir gegenuͤber immer, immer an mir fehlen 
laſſen!“ 

„Na, genug davon; darüber koͤnnen wir ja ſpaͤter noch 
reden. Das habe ich mir doch gedacht, daß du eine große 


a 
2 
| 


Erſter Teil 297 


Geſchichte machen wuͤrdeſt. Na, rege dich nur nicht fo 
auf, ich bitte dich.“ | 

„Aber ich habe dich ja zehn Jahre lang nicht geſehen!“ 

„Um ſo weniger Anlaß iſt zu ſolchen Gefuͤhlser— 
guͤſſen .“ 

„Mon enfant!“ 

„Na, ich glaube ja, ich glaube ja, daß du mich liebſt; 
nimm nur deine Arme weg! Du ſtoͤrſt ja die andern .. 
Ah, da iſt ja auch Nikolai Wſewolodowitſch! Na, nun 
laß endlich die Torheiten, ich bitte dich!“ 

Nikolai Wſewolodowitſch war tatſaͤchlich bereits im 
Zimmer; er war ſehr leiſe eingetreten, war einen Augen 
blick in der Tuͤr ſtehen geblieben und uͤberſchaute mit ruhi⸗ 
gem Blicke die Verſammelten. 

Wie vor vier Jahren, als ich ihn zum erſtenmal ſah, 
ſo war ich auch jetzt beim erſten Blick auf ihn uͤberraſcht. 
Ich hatte ihn keineswegs vergeſſen; aber es gibt, wie es 
ſcheint, Phyſiognomien, die immer, jedesmal wenn ſie 
einem vorkommen, gleichſam etwas Neues mit ſich bringen, 
etwas, was man an ihnen noch nicht bemerkt hat, wenn 
man ihnen auch hundertmal vorher begegnet iſt. Anſchei⸗ 
nend war er ganz derſelbe wie vor vier Jahren, ebenſo 
elegant, ebenſo gemeſſen, ebenſo wuͤrdevoll in ſeinem 
Gange wie damals, ſogar beinah ebenſo jung. Sein leiſes 
Laͤcheln zeigte dieſelbe foͤrmliche Freundlichkeit und die⸗ 


ſelbe Selbſtzufriedenheit; ſein Blick war ebenſo ernſt, 
nachdenklich und anſcheinend zerſtreut. Kurz, es war mir, 


als haͤtten wir uns erſt geſtern voneinander getrennt. 
Aber eines uͤberraſchte mich: wenn man ihn auch fruͤher 
ſchoͤn gefunden hatte, ſo hatte ſein Geſicht doch tatſaͤchlich 
einer Maske aͤhnlich geſehen, wie ſich die boͤſen Zungen 


298 Die Teufel 


mehrerer Damen unferer höheren Geſellſchaftskreiſe aus⸗ 
gedruͤckt hatten. Jetzt aber, jetzt aber erſchien er mir, ich 
weiß nicht warum, gleich beim erſten Blick entſchieden 
und unbeſtreitbar als ein ſchoͤner Mann, ſo daß man in 
keiner Weiſe mehr ſagen konnte, fein Geſicht habe Ahn— 
lichkeit mit einer Maske. Ob dies daher kam, daß er 
etwas blaſſer geworden war als fruͤher und anſcheinend 
auch etwas magerer? Oder leuchtete jetzt vielleicht in 
ſeinem Blicke eine neue Sinnesart? 


„Nikolai Wſewolodowitſch!“ rief Warwara Petrowna, 
indem ſie ſich in ihrem Lehnſtuhle gerade aufrichtete, ſich 
aber nicht von ihm erhob, und hielt ihren Sohn durch 
eine gebieteriſche Handbewegung zuruͤck, „bleib da noch 
einen Augenblick ſtehen!“ 


Aber um die ſchreckliche Frage verſtaͤndlich zu machen, 
die auf dieſe Handbewegung und dieſen befehlenden An— 
ruf folgte, eine Frage, die ich ſogar in Warwara Petrow- 


nas Munde nicht fuͤr moͤglich gehalten haͤtte, muß ich 


den Leſer bitten, ſich daran zu erinnern, wie eigenartig 
Warwara Petrownas Charakter waͤhrend ihres ganzen 


Lebens war, und von welcher ungewoͤhnlichen Heftigkeit 4 


er in manchen außerordentlichen Augenblicken fein konnte. 
Ich bitte den Leſer auch zu bedenken, daß trotz der großen 
ſeeliſchen Feſtigkeit und trotz der bedeutenden Portion von 
Vernunft und von praktiſchem, ja ſozuſagen ſogar wirt- 
ſchaftlichem Taktgefuͤhl, welche ſie beſaß, es doch in ihrem 
Leben nicht an Momenten fehlte, in denen ſie ſich auf ein⸗ 
mal ganz und, wenn man ſich ſo ausdruͤcken kann, voͤllig 
zuͤgellos gehen ließ. Schließlich bitte ich noch, in Betracht 
zu ziehen, daß der gegenwärtige Augenblick tatſaͤchlich für 


* 


9 = 


Erſter Teil 299 


ſie einer von denen ſein konnte, in denen ſich ploͤtzlich wie 


‚in einem Brennpunkte der geſamte Inhalt des Lebens, der 


ganzen Vergangenheit, der ganzen Gegenwart und wo— 
moͤglich auch der ganzen Zukunft konzentriert. Ich erinnere 
auch noch beilaͤufig an den anonymen Brief, den ſie emp⸗ 
fangen und von dem ſie kurz vorher in ſo gereiztem Tone 
zu Praſkowja Iwanowna geſprochen hatte, wobei ſie, wie 
es ſchien, den weiteren Inhalt des Briefes verſchwiegen 
hatte; aus dieſem Briefe erklärte es ſich aber vielleicht, 
wie ſie dazu kam, ſich ploͤtzlich mit dieſer ſchrecklichen 
Frage an ihren Sohn zu wenden. 

„Nikolai Wſewolodowitſch,“ ſagte ſie, indem ſie jedes 
Wort mit feſter Stimme und im Tone einer drohenden 
Herausforderung deutlich artikulierte, „ich bitte Sie, 
ſagen Sie ſogleich, ohne von dieſem Platze wegzugehen: 
iſt es wahr, daß dieſe ungluͤckliche, lahme Frauensperſon 
(die da, ſehen Sie йе an!), iſt es wahr, daß Пе... Ihre 
legitime Ehefrau iſt?“ 

Ich erinnere mich ſehr genau an dieſen Augenblick; 
Nikolai Wſewolodowitſch zuckte mit keiner Wimper und 
blickte ſeine Mutter unverwandt an; auf ſeinem Geſichte 
vollzog ſich nicht die geringſte Veraͤnderung. Endlich laͤ— 
chelte er langſam mit einer Art von Herablaſſung, trat, 
ohne ein Wort zu erwidern, ſachte an ſeine Mutter heran, 
ergriff ihre Hand, fuͤhrte ſie reſpektvoll an die Lippen 


und kuͤßte ſie. Und ſein ſteter, unwiderſtehlicher Einfluß 


auf ſeine Mutter war ſo ſtark, daß ſie auch jetzt es nicht 
wagte, die Hand wegzuziehen. Sie blickte ihn nur, ganz 


Frage, ganz Spannung, an, und ihre ganze Erſcheinung 
beſagte, daß Пе die Ungewißheit keinen Augenblick laͤnger 
ertragen koͤnne. 


300 Die Teufel 


Aber er ſchwieg weiter. Nachdem er feiner Mutter die 
Hand gekuͤßt hatte, ließ er ſeinen Blick noch einmal durch 
das ganze Zimmer umherwandern und ging dann mit 
derſelben Ruhe wie vorher geradeswegs auf Marja Ti— 
mofejewna zu. Es iſt ſehr ſchwer, den Geſichtsausdruck 
der Menſchen in manchen Augenblicken zu beſchreiben. 
Ich erinnere mich zum Beiſpiel, daß Marja Timofejewna, 
halb tot vor Schreck, ſich zu ſeinem Empfange erhob und, 
als ob ſie ihn anflehen wollte, die Haͤnde vor der Bruſt 
faltete; zugleich aber erinnere ich mich auch an das Ent⸗ 
zuͤcken, das ſich in ihrem Blicke ausſprach, ein ſinnloſes 
Entzuͤcken, das beinah ihre Geſichtszuͤge entſtellte, ein 
Entzuͤcken, wie es Menſchen nur ſchwer ertragen koͤnnen. 
Es war bei ihr wohl beides vorhanden, Schreck und Ent: 
zuͤcken; aber ich erinnere mich, daß ich ſchnell zu ihr heran⸗ 
trat (ich ſtand nicht weit von ihr), da es mir ſchien, daß 
ſie im naͤchſten Augenblick in Ohnmacht fallen werde. 

„Sie koͤnnen hier nicht bleiben,“ ſagte Nikolai Wſe⸗ 

wolodowitſch zu ihr mit freundlicher, wohlklingender 
Stimme, und in feinen Augen leuchtete eine große Зал» 
lichkeit auf. 
Er ſtand in der reſpektvollſten Haltung vor ihr, und in 
jeder ſeiner Bewegungen kam die aufrichtigſte Hochach— 
tung zum Ausdruck. Das arme Mädchen ſtammelte haſtig, 
halb fluͤſternd und nur muͤhſam atmend: 

„Aber darf ich . .. jetzt gleich ... vor Ihnen nieder— 
knien?“ | 
„Nein, das geht nicht,“ antwortete er mit einem präd)- 
tigen Laͤcheln, ſo daß auch ſie auf einmal freudig laͤchelte. 


Dann fuͤgte er mit derſelben wohlklingenden Stimme, 


— < 


Erſter Teil 301 


indem er ihr wie einem Kinde zaͤrtlich zuredete, ernſt 
hinzu: 

„Bedenken Sie, daß Sie ein Maͤdchen ſind, und daß 
ich zwar Ihr treueſter Freund, aber doch kein Angehoͤriger 
von Ihnen bin, weder Ihr Mann, noch Ihr Vater, noch 
Ihr Braͤutigam. Nehmen Sie meinen Arm, und kommen 


Siez ich werde Sie zum Wagen führen und Sie, wenn 


. У 


Sie erlauben, ſelbſt nach Ihrer Wohnung begleiten.“ 


Sie hatte zugehoͤrt und ließ nun, wie nachdenkend, den 
Kopf ſinken. 


„Wir wollen gehen,“ ſagte ſie ſeufzend und nahm ſeinen 
Arm. 


Aber nun begegnete ihr ein kleines Ungluͤck. Wahr⸗ 
ſcheinlich hatte ſie eine unvorſichtige Wendung gemacht 
und war dabei auf ihr krankes, zu kurzes Bein getreten; 
kurz, ſie fiel mit der ganzen Seite auf den Lehnſtuhl und 
waͤre, wenn dieſer nicht dageſtanden haͤtte, auf den Fuß⸗ 
boden gefallen. Im ſelben Augenblick ergriff Nikolai 
Wſewolodowitſch ſie, richtete ſie auf, faßte ſie kraͤftig unter 
den Arm und fuͤhrte ſie teilnahmsvoll und behutſam zur 
Tuͤr. Sie war offenbar betruͤbt uͤber ihren Fall, wurde 
verlegen, erroͤtete und ſchaͤmte ſich ſchrecklich. Schwei⸗ 
gend, zur Erde blickend und ſtark hinkend wankte ſie neben 
ihm herz fie hing beinah an feinem Arme. So verließen 


ſie das Zimmer. Liſa ſprang, wie ich ſah, waͤhrend die 


beiden hinausgingen, aus irgendwelchem Grunde von 
ihrem Seſſel auf und verfolgte ſie mit einem ſtarren Blicke 
bis zur Tuͤr. Dann ſetzte ſie ſich ſchweigend wieder hin; 


aber uͤber ihr Geſicht lief ein krampfhaftes Zucken hin, 


als ob fie ein Reptil berührt hätte. 


302 Die Teufel 


Während dieſe ganze Szene zwiſchen Nikolai Wſewo⸗ 
lodowitſch und Marja Timofejewna vorging, hatten alle 
erſtaunt geſchwiegen; man hätte eine Fliege hören koͤn⸗ 
nen; aber kaum waren die beiden hinausgegangen, als 
ploͤtzlich alle zu reden anfingen. 


VI 
Geredet wurde uͤbrigens nur wenig; groͤßtenteils wurde 
geſchrien. Ich habe jetzt nicht mehr genau im Kopfe, in 
welcher Reihenfolge dies alles damals vorging; denn es 
herrſchte ein gewaltiger Wirrwarr. Stepan Trofimowitſch 
rief etwas auf franzoͤſiſch und ſchlug vor Erſtaunen die 
Hände zuſammen; aber Warwara Petrowna hatte feine 
Luſt, ſich mit ihm abzugeben. Sogar Mawriki Nikolaje⸗ 
witſch brummte ein paar abgebrochene Bemerkungen 
ſchnell vor ſich hin. Aber den groͤßten Eifer von allen ent⸗ 
wickelte Peter Stepanowitſch; er gab ſich unter vielen Ge— 
ſtikulationen die denkbar groͤßte Muͤhe, Warwara Petrow⸗ 
na von etwas zu uͤberzeugen; aber ich konnte lange Zeit 
nichts davon verſtehen. Auch an Praſkowja Iwanowna 
wandte er ſich und an Liſaweta Nikolajewnaz er ſchrie in 
ſeinem Eifer ſogar feinem Vater etwas zu; kurz, er bes 
wegte ſich gefchäftig im ganzen Zimmer umher. Warwara 
Petrowna, die ganz rot im Geſicht geworden war, ſprang 
von ihrem Platze auf und ſchrie Praſkowja Iwanowna zu: 
„Haſt du gehoͤrt, haſt du gehoͤrt, was er hier eben zu ihr 
geſagt hat?“ Aber dieſe war nicht mehr imſtande zu ant⸗ 
worten und murmelte nur mit abwehrenden Handbewe— 
gungen etwas vor ſich hin. Die Armſte hatte ihre eigene 
Sorge: ſie drehte alle Augenblicke den Kopf nach Liſa hin 
und blickte ſie in grenzenloſer Angſt an; aber aufzuſtehen 


4 
у 
| 
£ 


< 


Erſter Teil 303 


und fortzufahren, bevor ſich ihre Tochter erhob, das wagte 
ſie nicht. Inzwiſchen ließ der Hauptmann deutlich den 
Wunſch erkennen, ſich fortzuſchleichen. Dies bemerkte 
ich. Er befand ſich von dem Augenblicke an, wo Nikolai 
Wſewolodowitſch erſchienen war, zweifellos in ſtarker 
Angſt; aber Peter Stepanowitſch ergriff ihn am Arme 
und ließ ihn nicht weggehen. 

„Das iſt unbedingt notwendig, unbedingt notwendig,“ 
redete er in ſeiner gewandten Weiſe auf Warwara Pe— 
trowna ein, immer noch bemuͤht, ſie zu uͤberzeugen. 

Er ſtand vor ihr; fie hatte ſich bereits wieder auf den 
Lehnſtuhl geſetzt, und ich erinnere mich, daß ſie ihm eifrig 


‚zuhörte; er hatte dies erreicht und ihre Aufmerkſamkeit 


gefeſſelt. 

„Das iſt unbedingt notwendig. Sie ſehen ſelbſt, War⸗ 
wara Petrowna, daß hier ein Mißverſtaͤndnis vorliegt; 
dem Anſcheine nach iſt hier vieles wunderbar, in Wirk— 
lichkeit aber iſt die Sache ſonnenklar und außerordentlich 
einfach. Ich bin mir ſehr wohl bewußt, daß mich niemand 


4 ermächtigt hat, die Sache zu erzählen, und daß ich mich 


vielleicht laͤcherlich mache, wenn ich mich ſelbſt dazu auf: 
draͤnge. Aber erſtens legt Nikolai Wſewolodowitſch ſelbſt 
dieſer Sache keine Bedeutung bei, und dann gibt es Fälle, 
in denen es dem Betreffenden ſchwer wird, ſich zu einer 
perſoͤnlichen Darlegung zu entſchließen, und dies notwen⸗ 


digerweiſe ein dritter uͤbernehmen muß, dem es leichter 
wird, gewiſſe delikate Dinge auszuſprechen. Glauben 
Sie mir, Warwara Petrowna, Nikolai Wſewolodowitſch 


K hat ganz recht gehandelt, wenn er Ihnen ſoeben auf Ihre 
Frage keine erſchoͤpfende Erklaͤrung gab, trotzdem die 
Sache eine Lappalie ИЕ; ich kenne fie ſchon von Peters⸗ 


304 Die Teufel 


burg her. Außerdem macht die ganze Geſchichte ihm nur 
Ehre, wenn man dieſes unbeſtimmte Wort ‚Ehre‘ einmal 
gebrauchen ſoll ...“ 

„Wollen Sie ſagen, daß Sie Zeuge eines Ereigniſſes 
geweſen ſind, aus dem dieſe unverſtaͤndliche Situation 
hervorgegangen iſt?“ fragte Warwara Petrowna. 

„Zeuge und Teilnehmer,“ verſicherte Peter Stepano— 
witſch eilig. 

„Wenn Sie mir Ihr Wort darauf geben koͤnnen, daß 
Nikolai Wſewolodowitſch, der mir nichts zu verbergen 
pflegt, dadurch nicht in ſeinem Zartgefuͤhl verletzt wird, 
und wenn Sie außerdem davon uͤberzeugt ſind, daß Sie 
ihm damit ſogar einen Gefallen erweiſen ...“ 

„Ganz beſtimmt erweiſe ich ihm damit einen Gefallen, 
und eben deswegen wird es mir ein beſonderes Ver- 
gnuͤgen ſein. Ich bin uͤberzeugt, daß er ſelbſt mich darum 
bitten wuͤrde.“ 

Das aufdringliche Verlangen dieſes ploͤtzlich vom Him⸗ 
mel herabgefallenen Herrn, fremde Erlebniſſe zu erzaͤhlen, 
war allerdings recht ſonderbar und verſtieß gegen die 
uͤblichen Formen des Verkehrs. Aber er hatte nun einmal 
Warwara Petrowna an ſeiner Angel gefangen, indem er 
ihren wundeſten Punkt beruͤhrt hatte. Ich kannte damals 
den Charakter dieſes Menſchen noch nicht voͤllig und noch 
weniger ſeine Abſichten. 

„Nun, dann werde ich zuhoͤren,“ ſagte Warwara Pe— 
trowna zuruͤckhaltend und vorſichtig; ihre Nachgiebigkeit 
kam ihr offenbar ſchwer an. 

„Die Geſchichte iſt nur kurz; man kann ſogar ſagen, 
daß es eigentlich gar keine Geſchichte Ш,” begann das 
Wortgerieſel. „Übrigens koͤnnte ein Romanſchriftſteller, 


| Erſter Teil | 305 


wenn er Langeweile hat, daraus einen Roman zurecht— 
kneten. Es iſt eine ganz intereſſante kleine Affaͤre, Pra— 
ſkowja Iwanowna, und ich bin uͤberzeugt, daß Liſaweta 
Nikolajewna ſie mit lebhafter Teilnahme anhoͤren wird, 
weil darin viele wenn auch nicht wunderbare, ſo doch 
wunderliche Dinge vorkommen. Vor fuͤnf Jahren lernte 
Nikolai Wſewolodowitſch in Petersburg dieſen Herrn 
kennen, ebendieſen Herrn Lebjadkin hier, der mit offenem 
Munde daſteht und anſcheinend ſoeben große Luſt hatte zu 
verſchwinden. Entſchuldigen Sie, Warwara Petrowna! 
Ich rate Ihnen uͤbrigens nicht, ſich davonzumachen, Herr 
Proviantbeamter a. D. (Sie ſehen, ich erinnere mich 
Ihrer ganz genau). Sowohl mir als auch Nikolai Wſe⸗ 
wolodowitſch ſind Ihre hieſigen Streiche ſehr gut be— 
kannt, und Sie werden, vergeſſen Sie das nicht, Rechen— 
ſchaft davon ablegen muͤſſen. Ich bitte noch einmal um 
Entſchuldigung, Warwara Petrowna. Nikolai Wſewo— 
lodowitſch nannte dieſen Herrn damals ſeinen Falſtaff; 
das muß wohl“, fuͤgte er zur Erklaͤrung hinzu, „fruͤher 
einmal ein burlesker Charakter geweſen ſein, uͤber den 
alle ſich luſtig machten, und der ſelbſt nichts dagegen 
hatte, daß alle uͤber ihn lachten, wenn ſie ihm nur Geld 
gaben. Nikolai Wſewolodowitſch fuͤhrte damals in Pe— 
tersburg ein ſozuſagen ſpoͤttiſches Leben; mit einem an⸗ 
dern Ausdruck kann ich es nicht bezeichnen: Blaſiertheit 
liegt ihm fern, eine ernſte Beſchaͤftigung aber verſchmaͤhte 
er damals. Ich rede nur von der damaligen Zeit, War— 
wara Petrowna. Dieſer Lebjadkin hatte eine Schweſter, 
ebendieſelbe, die ſoeben hier geſeſſen hat. Bruder und 
Schweſter hatten keine eigene Wohnung und nomadiſier— 
ten bei anderen Leuten. Er trieb ſich in den Bogengaͤngen 
ILXIII. 20 


306 Die Teufel 


des Kaufhofes umher, wobei er ſtets ſeine fruͤhere Uni— 
form trug, und hielt anſtaͤndig ausſehende Paſſanten an, 
und was er bekam, vertrank er. Seine Schweſter naͤhrte 
ſich wie die Vögel unter dem Himmel. Sie half in frem- 
den Wohnungen und verrichtete Magddienſte fuͤr den 
notwendigſten Unterhalt. Es war ein wuͤſtes, unordent⸗ 
liches Leben, von dem ich keine genauere Schilderung 
geben will; aber an dieſem Leben beteiligte ſich damals 
infolge einer wunderlichen Laune auch Nikolai Wſewo⸗ 
lodowitſch. Ich rede nur von der damaligen Zeit, War⸗ 
wara Petrowna, und was die wunderliche Laune anlangt, 
ſo iſt das ſein eigener Ausdruck. Er iſt gegen mich ſehr 
offenherzig. Auf Mademoiſelle Lebjadkina, mit der Niko⸗ 
lai Wſewolodowitſch eine Zeitlang haͤufig zuſammentraf, 
machte ſein Außeres großen Eindruck. Er war ſozuſagen 
ein Brillant auf dem ſchmutzigen Hintergrunde ihres 
Lebens. Ich verſtehe mich ſchlecht auf die Schilderung 
von Gefuͤhlen und gehe deshalb daruͤber hinweg; aber 
elende Geſellen machten das Maͤdchen ſofort zur Ziel⸗ 
ſcheibe ihres Spottes, und da verſank ſie in Traurigkeit. 
Man hatte ſich dort uͤberhaupt von jeher uͤber ſie luſtig 
gemacht; aber fruͤher hatte ſie das gar nicht bemerkt. Ihr 
Kopf war ſchon damals in Unordnung, wenn auch nicht 
ſo wie jetzt. Es iſt Grund zu der Annahme vorhanden, 
daß ſie in ihrer Kindheit durch eine Wohltaͤterin eine leid— 
liche Erziehung und Bildung erhalten hat. Nikolai Wſe⸗ 
wolodowitſch wandte ihr nie die geringſte Aufmerkſam⸗ 
keit zu und ſpielte lieber mit alten ſchmutzigen Karten 
um eine Viertelkopeke Preference mit kleinen Beamten. 
Aber einmal, als ſie von einem ſolchen Beamten belei— 
digt wurde, da faßte er, ohne viel zu fragen, dieſen am 


6 
u 


— 


Erſter Teil 307 


Rockkragen und warf ihn aus dem zweiten Stockwerk 


durchs Fenſter. Von ritterlicher Entruͤſtung zugunſten 
der beleidigten Unſchuld war dabei nicht die Rede; der 
ganze Vorgang ſpielte ſich unter allgemeinem Gelaͤchter 
ab, und am meiſten von allen lachte Nikolai Wſewolodo⸗ 
witſch ſelbſt; und als alles gluͤcklich abgelaufen war, ver- 
ſoͤhnten ſie ſich und fingen an, Punſch zu trinken. Aber 
die verfolgte Unſchuld ſelbſt vergaß dieſe Begebenheit 
nicht. Natuͤrlich endete die Sache mit einer vollſtaͤndigen 
Zerruͤttung ihrer geiſtigen Faͤhigkeiten. Ich wiederhole, 
ich verſtehe mich ſchlecht auf die Schilderung von Ge— 
fühlen; aber hier war die Hauptſache ein Hang zu phan⸗ 
taſtiſcher Traͤumerei. Und Nikolai Wſewolodowitſch 
naͤhrte wie mit Abſicht dieſen Hang bei ihr noch mehr: 
ſtatt uͤber ſie zu lachen, begann er auf einmal ihr mit uͤber⸗ 
raſchender Hochachtung zu begegnen. Kirillow, der dort 
lebte (er iſt ein außerordentliches Original, Warwara 
Petrowna, und ein aͤußerſt wortkarger Menſch; Sie wer— 
den ihn vielleicht einmal zu ſehen bekommen; denn er 
wohnt jetzt hier), na alſo dieſer Kirillow, der gewoͤhnlich 
immer ſchweigt, der wurde da auf einmal hitzig und ſagte, 
wie ich mich erinnere, zu Nikolai Wſewolodowitſch, dieſer 
behandle das Fraͤulein wie eine Marquiſe und richte ſie 
damit vollſtaͤndig zugrunde. Ich fuͤge hinzu, daß Nikolai 
Wſewolodowitſch vor dieſem Kirillow eine gewiſſe Ach— 


tung empfand. Und was meinen Sie, daß er ihm ant⸗ 
wortete? „Sie glauben, Herr Kirillow, ſagte er, ‚daß 


ich mich uͤber ſie luſtig mache; aber ſeien Sie verſichert, 
ich ſchaͤtze Пе wirklich hoch; denn fie ИЕ beſſer als wir alle.“ 
Und wiſſen Sie, das ſagte er in durchaus ernſtem Tone. 
Dabei hatte er in dieſen zwei, drei Monaten außer 


308 Die Teufel 


„Guten Зав und ‚Adieu' in Wirklichkeit zu ihr kein Wort 
geſprochen. Ich, der ich damals dort lebte, erinnere mich 
zuverlaͤſſig, daß ſie ſchließlich dahin gelangte, ihn fuͤr 
ihren Liebhaber zu halten, der einzig deswegen nicht wage, 
ſie zu entfuͤhren, weil er viele Feinde habe oder in ſeiner 
Familie auf Hinderniſſe ſtoße oder aus ähnlichen Gruͤn— 
den. Es wurde dort viel daruͤber gelacht. Die Sache 
endete damit, daß Nikolai Wſewolodowitſch, als er da— 
mals hierher reiſen mußte, vorher fuͤr ihren Unterhalt 
ſorgte, und zwar in der Weiſe, daß er ihr eine ziemlich 
betraͤchtliche jaͤhrliche Penſion ausſetzte, mindeſtens drei— 
hundert Rubel, wenn nicht mehr. Kurz, wir koͤnnen an⸗ 
nehmen, daß das alles von ſeiner Seite ein mutwilliges 
Spiel war, die Laune eines vor der Zeit muͤde Gewor— 
denen, oder auch ſchließlich, wie Kirillow ſagte, eine neue 
pſychologiſche Studie eines Überſaͤttigten, um zu ſehen, 
wie weit man einen geiſtesgeſtoͤrten Kruͤppel treiben 
kann. „Sie haben ſich', ſagte Kirillow, abſichtlich das 
elendeſte Weſen ausgeſucht, ein verkruͤppeltes Weſen, 
das lebenslaͤnglich nur Schande und Schlaͤge kennen 
gelernt hat, und von dem Sie obendrein wiſſen, 
daß es in komiſcher Weiſe in Sie verliebt iſt; und nun 
machen Sie ſich abſichtlich daran, dieſes Maͤdchen zu be— 
truͤgen, lediglich um zu ſehen, was dabei herauskommt!“ 
Schließlich: trifft denn einen Mann wirklich ein {о be- 
ſonderer Vorwurf, wenn eine geiſtesgeſtoͤrte Frauensper— 
ſon, mit der er, wohlgemerkt, die ganze Zeit uͤber kaum 
ein paar Worte gewechſelt hatte, auf phantaſtiſche Ideen 
gerät? Es gibt Dinge, Warwara Petrowna, uͤber die 
man nicht verſtaͤndig ſprechen kann, ja, uͤber die uͤber— 
haupt zu reden unverſtaͤndig iſt. Nun, mag es ſchließlich 


m. < 


Erſter Teil 309 


auch eine wunderliche Laune geweſen ſein; aber einen 
ſtaͤrkeren Ausdruck kann man jedenfalls nicht dafuͤr an⸗ 
wendenz und trotzdem hat man jetzt eine Skandalgeſchichte 
daraus gemacht .. . Es iſt mir zum Teil bekannt, War⸗ 
wara Petrowna, was hier vorgeht.“ 

Der Erzaͤhler brach ploͤtzlich ab und wollte ſich an 
Lebjadkin wenden; aber Warwara Petrowna hielt ihn 
davon zuruͤck; fie befand ſich in einer hochgradigen бт: 
regung. 

„Sind Sie zu Ende?“ fragte ſie. 

„Nein, noch nicht; um der Vollſtaͤndigkeit wegen muß 
ich, wenn Sie erlauben, dieſen Herrn hier uͤber etwas 
befragen ... Sie werden ſofort ſehen, um was es ſich 
handelt, Warwara Petrowna.“ 

„Genug davon; laſſen Sie das bis nachher; warten 
Sie einen Augenblick; ich bitte Sie. O wie gut habe ich 
daran getan, daß ich Sie reden ließ!“ 

„Und bitte, beachten Sie das wohl, Warwara Pe— 
trowna,“ rief Peter Stepanowitſch erregt: „Konnte etwa 
Nikolai Wſewolodowitſch Ihnen dies alles ſelbſt vorhin 
auseinanderſetzen, als Antwort auf Ihre Frage, die viel⸗ 
leicht etwas zu ſchroff war?“ 

„Ja, das war ſie!“ 

„Und hatte ich nicht recht, wenn ich ſagte, daß es in 
manchen Faͤllen fuͤr einen dritten weit leichter iſt, eine 
Erklaͤrung zu geben, als fuͤr den Beteiligten ſelbſt?“ 

„Ja, ja! .. . Aber in einem Punkte haben Sie ſich 
geirrt und irren ſich, wie ich zu meinem Bedauern ſehe, 
auch noch.“ 

„Wirklich? Worin denn?“ 


310 Die Teufel 


„Sehen Sie ... Aber wollen Sie ſich denn nicht ſetzen, 
Peter Stepanowitſch?“ | 

„Oh, wie es Ihnen beliebt; ich bin allerdings müde; 
ich danke Ihnen.“ 

Im Nu hatte er einen Lehnſtuhl herbeigezogen und 
ſo gedreht, daß er zwiſchen Warwara Petrowna auf der 
einen Seite und Praſkowja Iwanowna am Tiſche auf 
der andern Seite ſaß und Herrn Lebjadkin ſich gegen: 
uͤber hatte, von dem er ſeine Augen auch nicht einen 
Augenblick wegwandte. 

„Sie irren ſich darin, daß Sie dies eine wunderliche 
Laune nennen 

„Oh, wenn es nur das iſt ...“ 

„Nein, nein, nein, warten Sie!“ hielt ihn Warwara 
Petrowna zuruͤck, die ſich offenbar zu einer laͤngeren, 
affektvollen Außerung anſchickte. 

Sobald Peter Stepanowitſch dies bemerkte, war er 
ſofort ganz Ohr. 

„Nein, das war etwas Hoͤheres als eine wunderliche 
Laune, und ich verſichere Sie, ſogar etwas Heiliges! Er 
iſt ein ſtolzer, in fruͤher Jugend gekraͤnkter Menſch, der 
Schließlich dahin gelangt iſt, jenes ‚fpöttifche Leben“ zu 
fuͤhren, von dem Sie ſo treffend geſprochen haben; kurz, 
er iſt ein Prinz Harry, mit dem ihn damals Stepan Trofi⸗ 
mowitſch ſo praͤchtig verglich; und das wuͤrde vollſtaͤndig 
richtig ſein, wenn er nicht noch mehr Ahnlichkeit mit 
Hamlet haͤtte, wenigſtens meiner Anſicht nach.“ 

„Et vous avez raison,“ rief Stepan Trofimowitſch 
gefuͤhlvoll und nachdruͤcklich. 

„Ich danke Ihnen, Stepan Trofimowitſch, und danke 


| 
4 
| 


— < 


Erſter Teil 311 


Ihnen ganz beſonders dafuͤr, daß Sie nie den Glauben 


an Nikolai, den Glauben an ſeine Seelengroͤße und an 


ſeinen hohen Beruf verloren haben. Dieſen Glauben 
haben Sie auch bei mir gekraͤftigt, als ich kleinmuͤtig 
geworden war.“ 

„Chere, chère 

Stepan Trofimowitſch wollte ſchon vortreten; aber er 
bedachte, daß es gefaͤhrlich ſei, ſie zu unterbrechen, und 
blieb auf ſeinem Platze. 

„Und wenn Nikolai immer“ (Warwara Petrowna war 
bereits in einen etwas ſingenden Ton geraten) „einen 
ſtillen, in ſeiner Ruhe großen Horatio um ſich gehabt 
haͤtte (ein anderer ſchoͤner Ausdruck von Ihnen, Stepan 
Trofimowitſch), dann waͤre er vielleicht ſchon laͤngſt von 
dem traurigen ‚Dämon der Ironie‘, der ihn fein ganzes 
Leben lang gepeinigt hat, befreit. (Der Daͤmon der 
Ironie, das iſt wieder ein wundervoller Ausdruck von 
Ihnen, Stepan Trofimowitſch.) Aber Nikolai hat nie 
weder einen Horatio noch eine Ophelia gehabt. Er hatte 


66 


nur ſeine Mutter; aber was kann eine Mutter allein tun, 


und in ſolchen Umſtaͤnden? Wiſſen Sie, Peter Stepano— 
witſch, es iſt mir ſogar außerordentlich verſtaͤndlich, daß 
ein Menſch wie Nikolai es fertiggebracht hat, ſich in 
jenen ſchmutzigen Spelunken zu zeigen, von denen Sie 
erzählt haben. Ich ſtelle mir jetzt mit völliger Klarheit 
dieſes „ſpoͤttiſche Leben' vor (ein erſtaunlich treffender 
Ausdruck von Ihnen!), dieſen unerſaͤttlichen Durſt nach 
dem Kontraſte, dieſem dunklen Hintergrund des Bildes, 
von dem er ſich wie ein Brillant abhebt; wieder ein Ver— 


gleich von Ihnen, Peter Stepanowitſch. Und da trifft 


er nun ein von allen Menſchen gequaͤltes, verkruͤppeltes, 


312 Die Teufel 


halbirres Weſen, das gleichzeitig vielleicht von den edel— 
ſten Gefühlen erfüllt iſt! ...“ 
Hm . . . Ja, nehmen wir das an!“ 

„Und unter dieſen Umſtaͤnden iſt es Ihnen nicht be— 
greiflich, daß er uͤber dieſes Maͤdchen nicht lacht wie alle 
andern? O ihr Menſchen! Habt ihr denn kein Verſtaͤnd⸗ 
nis dafuͤr, daß er ſie gegen ihre Beleidiger verteidigt, ihr 
‚wie einer Marquiſe' Achtung erweiſt (dieſer Kirillow 
muß eine ungewoͤhnlich tiefe Menſchenkenntnis beſitzen, 
wiewohl auch er Nikolai nicht verſtanden hat). Moͤg⸗ 
licherweiſe iſt das Ungluͤck gerade infolge dieſes Kon— 
traſtes entſtanden; hätte die Ungluͤckliche in anderen Зет: 
haͤltniſſen gelebt, ſo waͤre ſie vielleicht nicht zu ſolchen 
wahnwitzigen Phantaſien gelangt. Nur eine Frau, nur 
eine Frau kann das verſtehen, Peter Stepanowitſch, und 
wie ſchade, daß Sie ... das heißt nicht, daß Sie keine 
Frau ſind, ſondern daß Sie es nicht wenigſtens fuͤr dieſes 
Mal ſind, um die Sache verſtehen zu koͤnnen!“ 

„Alſo in dem Sinne, wie man ſagt: je ſchlimmer, um 
ſo beſſer; ich verſtehe, ich verſtehe, Warwara Petrowna. 
Das iſt ungefaͤhr ſo wie in der Religion: je ſchlechter es 
einem Menſchen geht, oder je geplagter und aͤrmer ein 
Volk iſt, um ſo hartnaͤckiger traͤumen ſie von den Beloh— 
nungen im Paradieſe; und wenn dabei noch hunderttau— 
ſend Geiſtliche eifrig taͤtig ſind, die dieſe phantaſtiſchen 
Hoffnungen anfachen und auf ſie ihre Spekulationen 
gründen, dann .. . ich verſtehe Sie, Warwara Petromna; 
ſeien Sie unbeſorgt!“ 

„Ganz allerdings doch wohl nicht; aber ſagen Sie: 
ſollte Nikolai wirklich, um dieſe phantaſtiſche Idee in 
dieſem ungluͤcklichen Organismus zu vernichten“ (warum 


x 
x 


u 


— - 


Erſter Teil 313 


Warwara Petrowna hier das Wort „Organismus“ ge- 


brauchte, war mir nicht verſtaͤndlich), „ſollte er wirklich 


auch ſeinerſeits uͤber ſie lachen und mit ihr ſo umgehen, 
wie es jene gemeinen Geſellen taten? Verwerfen Sie wirk— 
lich jenes hohe Mitleid, jenes edle Zittern des ganzen 
Organismus, mit welchem Nikolai Herrn Kirillow ernſt 
zur Antwort gab: Ich lache nicht über fie‘? Eine edle, 
eine heilige Antwort!“ 

„Sublime!“ murmelte Stepan Trofimowitſch. 

„Und beachten Sie auch dies: er iſt keineswegs ſo reich, 
wie Sie meinen; ich bin reich, nicht er, und er erhielt 
damals von mir faſt gar nichts.“ 

„Ich verſtehe, ich verſtehe das alles, Warwara Pe— 
trowna,“ verſetzte Peter Stepanowitſch, der ſich bereits 


etwas ungeduldig auf feinem Stuhle hin und her be- 


wegte. 

„Oh, das iſt mein eigener Charakter! Ich erkenne mich 
ſelbſt in Nikolai wieder. Ich erkenne dieſe Jugendlichkeit 
wieder, dieſe Neigung zu ſtuͤrmiſchen, heftigen Aus— 
bruͤchen ... Und wenn wir beide einander einmal näher 
treten ſollten, Peter Stepanowitſch, was ich meinerſeits 
aufrichtig wuͤnſche, um ſo mehr, da ich Ihnen bereits zu 
Dank verpflichtet bin, dann werden Sie vielleicht den 
Drang begreifen ...“ 

„Oh, glauben Sie mir, ich wuͤnſche es auch meiner⸗ 


ſeits,“ murmelte Peter Stepanowitſch kurz. 


„Sie werden dann den Drang begreifen, vermoͤge deſſen 
man in der Blindheit des Edelmutes auf einmal nach 


einem Menſchen greift, der unſer in keiner Beziehung 


wert iſt, nach einem Menſchen, der uns abſolut nicht ver⸗ 
ſteht und es fertigbringt, uns bei jeder Gelegenheit zu 


314 Die Teufel 


quälen. Und in einem ſolchen Menfchen ſieht man dann 
trotz alledem die Verkoͤrperung eines Ideales, des eigenen 
Traumgebildes und ſetzt auf ihn all ſeine Hoffnungen; 
man beugt ſich vor ihm, liebt ihn das ganze Leben lang, 
ohne im geringſten zu wiſſen, wofuͤr, — vielleicht eben⸗ 
deswegen, weil er dieſer Liebe nicht würdig ЦЕ... Oh, 
wie ich mein ganzes Leben lang gelitten habe, Peter 
Stepanowitſch!“ 

Stepan Trofimowitſch wollte mit ſchmerzlicher Miene 
meinen Blick auffangen; aber ich wandte mich noch recht⸗ 
zeitig ab. 

„. . . Und erft vor kurzem, erſt vor kurzem — oh, wie 
habe ich mich gegen Nikolai vergangen! ... Sie koͤnnen 
es gar nicht glauben: von allen Seiten haben ſie mich 
gequaͤlt, alle, alle, meine Feinde, und elende Menſchen, 
und meine Freunde; und die Freunde vielleicht noch mehr 
als die Feinde. Als ich den erſten veraͤchtlichen anonymen 
Brief erhielt, Peter Stepanowitſch, da ließ ich es (Sie 
werden es nicht glauben) an der gebuͤhrenden Verachtung 
als Antwort auf dieſe ganze Schaͤndlichkeit fehlen ... 
Niemals, niemals werde ich mir meinen Kleinmut ver- 
zeihen!“ 

„Ich habe ſchon ein wenig von den hieſigen anonymen 
Briefen gehoͤrt,“ bemerkte Peter Stepanowitſch, der nun 
auf einmal wieder lebhaft wurde, „und ich werde den 
Schreiber derſelben ſchon ausfindig machen; ſeien Sie 
unbeſorgt!“ | 

„Aber Ste fünnen 14 gar nicht vorftellen, was hier 
für Intrigen begonnen haben! Sogar unfere arme Pra- 
ſkowja Iwanowna hat man gequält; und warum fie 
eigentlich, warum fie? Ich habe mich vielleicht dir gegen 


Erſter Teil 315 


über heute arg vergangen, meine liebe Praſkowja Iwa⸗ 
nowna,“ fügte fie in einem Anfalle von hochherziger Ruͤh— 
rung, aber nicht ohne eine gewiſſe triumphierende Ironie 
hinzu. 

„Laſſen Sie es gut ſein, meine Liebe!“ murmelte jene 
mißvergnuͤgt. „Meiner Anſicht nach ſollte man nun der 
ganzen Sache ein Ende machen; es iſt ſchon zuviel dar⸗ 
uͤber geredet worden 

Sie ließ wieder einen ſchuͤchternen Blick zu Liſa hin⸗ 
uͤberſchweifen; aber dieſe ſah nach Peter Stepanowitſch 
hin. „ 
„Aber dieſes arme, ungluͤckliche Weſen, dieſe Irrſin— 


nige, die alles verloren und ſich nur ihr Herz bewahrt 


c 


hat, die beabſichtige ich jetzt ſelbſt an Kindes Statt anzu⸗ 
nehmen!“ rief Warwara Petrowna ploͤtzlich. „Das iſt 
eine heilige Pflicht, die ich gewiſſenhaft zu erfüllen Бег 
abſichtige. Von dieſem Tage an nehme ich ſie unter 
meinen Schutz!“ 

„Und das wird in gewiſſer Hinſicht ſogar ſehr gut 


fein!“ ſagte Peter Stepanowitſch mit großer Lebhaftig- 


keit. „Entſchuldigen Sie, ich war vorhin mit dem, was 
ich jagen wollte, nicht zu Ende gekommen. Ich wollte ges 
rade noch uͤber die Notwendigkeit eines Schutzes reden. 
Koͤnnen Sie ſich das vorſtellen, daß damals nach Nikolai 
Wſewolodowitſchs Abreiſe (ich fange genau an der Stelle 


wieder an, wo ich ſtehen blieb, Warwara Petrowna) 


dieſer Herr, eben dieſer Herr Lebjadkin hier, ſich ſofort 
fuͤr berechtigt hielt, uͤber die ſeiner Schweſter ausgeſetzte 
Penſion reſtlos zu verfuͤgen? Und er verfuͤgte daruͤber. Ich 
weiß nicht genau, welche Einrichtungen Nikolai Wſewolo⸗ 
dowitſch damals getroffen hatte; aber als er nach einem 


316 Die Teufel 


Jahre (ег befand ſich zu dieſer Zeit ſchon im Auslande) 
das Vorgefallene erfuhr, ſah er ſich genoͤtigt, dieſe Ein- 
richtungen abzuaͤndern. Die Einzelheiten daruͤber ſind 
mir wieder nicht bekannt; er wird ſie ja ſelbſt erzaͤhlen; 
ich weiß nur, daß die intereſſante Perſon in einem fernen 
Kloſter untergebracht wurde, ſogar in recht komfortabler 
Weiſe, aber unter freundlicher Aufſicht — Sie verſtehen? 
Und was meinen Sie, was Herr Lebjadkin nun unter— 
nahm? Er machte zunaͤchſt die groͤßten Anſtrengungen, 
um herauszubekommen, wo man ſeinen Pachtacker, das 
heißt ſeine Schweſter, vor ihm verſteckt hatte; erſt vor 
kurzem erreichte er ſeinen Zweck, nahm ſie aus dem Kloſter 
heraus, indem er eine Art von Recht auf ſie geltend 
machte, und brachte ſie geradeswegs hierher. Hier gibt 
er ihr nichts zu eſſen, ſchlaͤgt fie, tyranniſiert fie, erhält 
ſchließlich auf irgendwelchem Wege von Nikolai Wſewo⸗ 
lodowitſch eine beträchtliche Geldſumme und fängt 02 
gleich an zu trinken. Statt aber dankbar zu fein, be- 
nimmt er ſich gegen Nikolai Wſewolodowitſch mit der 
unverſchaͤmteſten Dreiſtigkeit, ſtellt ihm ſinnloſe Forde⸗ 
rungen und droht, wenn die Penſion kuͤnftig nicht zu 
ſeinen eigenen Haͤnden bezahlt werde, mit dem Gerichte. 
Auf dieſe Weiſe faßt er Nikolai Wſewolodowitſchs frei— 
willige Gabe als einen ſchuldigen Tribut auf, — koͤnnen 
Sie ſich das vorſtellen? Herr Lebjadkin, iſt alles, was 
ich ſoeben geſagt habe, wahr?“ 
Der Hauptmann, der bisher ſchweigend und mit nieder 
geſchlagenen Augen dageſtanden hatte, trat ſchnell zwei 
Schritte vor und wurde dunkelrot. 5 
„Peter Stepanowitſch, Sie ſind grauſam mit mir ver⸗ 
fahren,“ ſagte er und ſtockte dann. | 


Erſter Teil 317 


„Wieſo grauſam? Warum? Aber erlauben Sie, uͤber 
Grauſamkeit oder Milde koͤnnen wir nachher reden; jetzt 
bitte ich Sie nur, auf meine erſte Frage zu antworten: 
iſt alles, was ich gejagt habe, wahr oder nicht? Wenn 
Sie finden, daß es unwahr iſt, ſo koͤnnen Sie unverzuͤg— 
lich Ihre Gegenerklaͤrung abgeben.“ 

„Ich .. . Sie wiſſen ſelbſt, Peter Stepanowitſch ...“ 

murmelte der Hauptmann; dann brach er ab und ver- 

ſtummte. 

Ich muß bemerken, daß Peter Stepanowitſch auf einem 

| Lehnſtuhl ſaß und ein Bein über das andere geſchlagen 

hatte, der Hauptmann aber in reſpektvollſter Haltung vor 
ihm ſtand. 

Herrn Lebjadkins Zaudern ſchien Peter Stepanowitſchs 
großes Mißfallen zu erregen; ſein Geſicht verzog ſich 

ö krampfartig zu einem boͤſen Ausdruck. 

VW Wollen Sie nicht doch eine Erklaͤrung abgeben?“ 

fragte er, den Hauptmann liſtig anblickend. „In dieſem 

Falle ſeien Sie ſo gut; wir warten darauf.“ 

„Sie wiſſen ſelbſt, Peter Stepanowitſch, daß ich keine 

Erklaͤrung abgeben kann.“ 

„Nein, das weiß ich nicht; ich hoͤre es ſogar zum erſten 
Male; warum koͤnnen Sie es denn nicht?“ 

Der Hauptmann ſchwieg und blickte zu Boden. 

„Erlauben Sie mir, wegzugehen, Peter Stepano— 
witſch,“ ſagte er in entſchloſſenem Tone. 

„Aber nicht eher, ehe Sie nicht eine Antwort auf meine 
erſte Frage gegeben haben: iſt alles, was ich geſagt habe, 
wahr?“ 

„Ja, es iſt wahr,“ antwortete Lebjadkin dumpf und 
richtete die Augen auf ſeinen Peiniger. 


318 Die Teufel 


Es trat ihm ſogar der Schweiß an den Schlaͤfen 
heraus. 

„Iſt alles wahr?“ 

„Ja, alles.“ 

„Haben Sie nichts hinzuzufuͤgen, zu bemerken? Wenn 
Sie finden, daß wir ungerecht ſind, ſo ſprechen Sie das 
aus; proteſtieren Sie dagegen; erklaͤren Sie laut Ihre 
Unzufriedenheit!“ 

„Nein, ich habe nichts.“ 

„Haben Sie vor kurzem Nikolai Wſewolodowitſch ge- 
droht?“ 

„Das .. . das war mehr der Wein, Peter Stepano⸗ 
witſch.“ Er hob auf einmal den Kopf in die Hoͤhe. 
„Peter Stepanowitſch! Wenn die Ehre der Familie und 
eine Schande, die das Herz nicht verdient hat, in einem 
aufheulen, ЦЕ dann ... ift dann wirklich der Menſch ſchul⸗ 
dig?“ bruͤllte er, indem er ſich ploͤtzlich wieder in der Art 
wie vor einem Weilchen vergaß. 

„Sind Sie jetzt nuͤchtern, Herr Lebjadkin?“ fragte 
Peter Stepanowitſch und ſah ihn durchdringend an. 

„Ich ... bin nuͤchtern.“ 

„Was a denn das: ‚die Ehre der Familie und 
eine Schande, die das Herz nicht verdient hat?“ 

„Das bezieht ſich auf niemand; ich habe damit niemand 
gemeint. Ich ſprach nur von mir .. .“ verſetzte der Haupt⸗ 
mann, der wieder zuſammenſank. 

„Sie ſcheinen ſich durch die Ausdruͤcke, die ich von 
Ihnen und Ihrem Benehmen gebraucht habe, ſehr be— 
leidigt zu fühlen? Sie find ſehr empfindlich, Herr Leb⸗ 
jadkin. Aber erlauben Sie, ich habe ja noch gar nichts 


Erſter Teil 319 


von Ihrem wirklichen Benehmen geſagt. Von Ihrem 
wirklichen Benehmen werde ich noch reden. Das werde 
ich tun, das kann ſehr wohl noch geſchehen; aber bis 
jetzt habe ich von Ihrem wirklichen Benehmen noch 
nicht geſprochen.“ 

Lebjadkin fing an zu zittern und ſtarrte Peter Stepano⸗ 
witſch wild an. 

„Peter Stepanowitſch, ich fange erſt jetzt an aufzu⸗ 
wachen!“ 

„Hm! Und da bin ich es wohl, der Sie aufgeweckt hat?“ 

„Ja, Sie haben mich aufgeweckt, Peter Stepanowitſch; 
ich habe vier Jahre lang unter einer uͤber mir haͤngenden 
Gewitterwolke geſchlafen. Darf ich mich nun endlich ent⸗ 
fernen, Peter Stepanowitſch?“ 

„Das dürfen Sie jetzt, vorausgeſetzt, daß nicht Зах: 
тата Petrowna ſelbſt für nötig findet ...“ 

Aber dieſe winkte ablehnend mit der Hand. 


Der Hauptmann verbeugte ſich, machte zwei Schritte 
nach der Tuͤr zu, blieb ploͤtzlich ſtehen, legte die Hand 
aufs Herz, ſchien etwas ſagen zu wollen, ſagte aber nichts, 
ſondern ging ſchnell hinaus. Aber in der Tuͤr ſtieß er 
gerade mit Nikolai Wſewolodowitſch zuſammen; dieſer 
trat zur Seite; der Hauptmann kruͤmmte ſich ordentlich 
vor ihm zuſammen und blieb regungslos auf dem Flecke 
ſtehen, ohne feine Augen von ihm abzuwenden, wie ein 
Kaninchen eine Rieſenſchlange anſtarrt. Nikolai Wſe⸗ 
wolodowitſch wartete einen Augenblick; dann ſchob er ihn 
ſacht mit der Hand zur Seite und trat in den Salon. 


320 Die Teufel 


УП 
Er war heiter und ruhig. Vielleicht war ihm ſoeben 
etwas ſehr Gutes begegnet, das uns noch unbekannt war; 
jedenfalls ſchien er mit etwas ſehr zufrieden zu ſein. 

„Verzeihſt du mir, Nikolai?“ rief Warwara Petrowna, 
die ſich nicht mehr beherrſchen konnte, und erhob ſich 
eilig, um ihm entgegenzugehen. 

Aber Nikolai lachte laut auf. 

„Na, da haben wir's!“ rief er gutmuͤtig und 7 8 | 
haft. „Ich jehe, daß den Herrſchaften ſchon alles bekannt 
iſt. Als ich von hier weggegangen war, dachte ich im 
Wagen: „Haͤtteſt doch wenigſtens ein Geſchichtchen er— 
zählen ſollen; wer geht auch {о weg?“ Aber als mir dann 
einfiel, daß ja Peter Stepanowitſch hiergeblieben war, 
da verſchwand meine Sorge.“ 

Waͤhrend er ſprach, ſah er ſich fluͤchtig ringsum. 

„Peter Stepanowitſch hat uns eine alte Petersburger 


Geſchichte aus dem Leben eines wunderlichen Kauzes er⸗ 


zaͤhlt,“ ſagte Warwara Petrowna in hellem Entzuͤcken, 
„aus dem Leben eines launenhaften, verdrehten Men- 
ſchen, der aber immer eine hohe Geſinnung hegt, де" 
ritterlich und edel denkt. | 
„Ritterlich? Wie find Sie nur auf den Gebanken ge⸗ 
kommen?“ unterbrach Nikolai ſie lachend. „Übrigens bin 
ich Peter Stepanowitſch diesmal fuͤr ſeine Eilfertigkeit 
ſehr dankbar“ (hier wechſelte er mit ihm einen ſchnellen 
Blick). „Sie muͤſſen wiſſen, Mama, daß Peter Stepano⸗ 
witſch der allgemeine Friedensſtifter iſt; das iſt nun ein— 
mal ſeine Rolle, ſeine Krankheit, ſein Steckenpferd, und 
ich empfehle ihn Ihnen in dieſer Hinſicht angelegentlich. 
Ich kann mir denken, worüber er Ihnen hier Bericht er 


Erſter Teil 321 


ſtattet hat. Wenn er erzaͤhlt, kommt es immer wie eine 
Berichterſtattung heraus; er hat ein Buͤro im Kopfe. Be⸗ 
achten Sie, daß er als Realiſt nicht luͤgen darf und ihm 
die Wahrheit wertvoller iſt als der Erfolg .. . ausgenom— 
men natuͤrlich die beſonderen Faͤlle, wo ihm der Erfolg 
wertvoller iſt als die Wahrheit.“ (Waͤhrend des Redens 
blickte er fortwaͤhrend um ſich.) „Sie ſehen alſo klar, 
Mama, daß Sie mich nicht um Verzeihung zu bitten 
haben, und daß, wenn hier irgendwo eine Verruͤcktheit 
vorliegt, ſie jedenfalls vor allen Dingen auf meiner Seite 
zu ſuchen iſt, und daß ich ſomit letzten Endes doch verruͤckt 
in, — ich muß doch den Ruf, in dem ich hier früher ge- 
ſtanden habe, aufrechterhalten.“ 
Dann umarmte er ſeine Mutter zaͤrtlich. 
„Jedenfalls iſt jetzt durch Peter Stepanowitſchs Er— 
zaͤhlung dieſe Sache erledigt, und wir koͤnnen alſo damit 
aufhoͤren,“ fuͤgte er hinzu; ſeine Stimme hatte bei dieſen 
orten einen etwas trockenen, harten Klang. 
Warwara Petrowna bemerkte dieſen Klang; aber ihr 
Enthuſiasmus verſchwand nicht, im Gegenteil. 
65 hatte dich erſt in einem Monat erwartet, Niko⸗ 


„Ich werde Ihnen natuͤrlich alles erklaͤren, Mama; 
a 

Er ging zu Praſkowja Iwanowna. 

Aber dieſe drehte kaum den Kopf zu ihm hin, trotzdem 
ſie eine halbe Stunde vorher bei ſeinem erſten Erſcheinen 
wie betäubt geweſen war. Jetzt aber hatte fie wieder neue 
Sorgen: von dem Augenblicke an, wo der Hauptmann 
hinausgegangen und in der Tür mit Nikolai Wſewolodo⸗ 
itſch zuſammengeſtoßen war, hatte Liſa auf einmal an⸗ 


IXI. 21 


322 Die Teufel 


gefangen zu lachen, zuerſt leiſe und in Abſaͤtzen, aber dann 
hatte ihr Lachen immer mehr zugenommen und war immer 
lauter und vernehmlicher geworden. Ihr Geſicht war 
ganz rot. Der Kontraſt mit der finſteren Miene, die ſie 
ſoeben noch gezeigt hatte, war uͤberraſchend. Waͤhrend 
Nikolai Wſewolodowitſch mit Warwara Petrowna 
ſprach, hatte ſie ein paarmal Mawriki Nikolajewitſch zu 
ſich herangewinft, wie wenn fie ihm etwas zufluͤſtern 
wollte; aber ſowie er ſich zu ihr herabgebeugt hatte, war 
ſie in ein Gelaͤchter ausgebrochen, ſo daß es ausſah, als 
ob ſie uͤber den armen Mawriki Nikolajewitſch ſelbſt 
lachte. Sie ſuchte ſich uͤbrigens offenbar zu beherrſchen 
und druͤckte das Taſchentuch gegen die Lippen. Nikolai 
Wſewolodowitſch wandte ſich mit dem unſchuldigſten, gut⸗ 
muͤtigſten Geſichte zu ihr und begruͤßte ſie. 

„Bitte, entſchuldigen Sie!“ ſagte fie haſtig. „Sie... 
Sie haben gewiß auch Mawriki Nikolajewitſch geſehen ... 
Mein Gott, wie unerlaubt groß Sie doch ſind, Mawriki 
Nikolajewitſch!“ 

Sie lachte von neuem. Mawriki Nikolajewitſch war 
allerdings nicht klein, aber ganz und gar nicht „unerlaubt 
groß.“ 

„Sind Sie . .. find Sie ſchon lange hier?“ murmelte 
ſie; ſie beherrſchte ſich wieder und war ſogar verlegen 
geworden, aber ihre Augen funkelten. 

„Etwas über zwei Stunden,“ antwortete Nikolai, ше 
dem er ſie aufmerkſam betrachtete. Ich bemerke, daß er 
ſich ungewoͤhnlich gemeſſen und hoͤflich benahm, aber, von 
der Hoͤflichkeit abgeſehen, einen ganz gleichmuͤtigen, ſogar 
matten Geſichtsausdruck zeigte. 

„Wo werden Sie denn wohnen?“ 


5 Mens 
2 u N 
x 


Erſter Teil 323 


„Hier.“ 

Warwara Petrowna richtete ihre Aufmerkſamkeit eben- 
falls auf Liſa; aber plotzlich machte ein Gedanke, der ihr 
kam, ſie ſtutzig. 

„Wo biſt du denn bis jetzt dieſe ganzen zwei Stunden 
und mehr geweſen, Nikolai?“ fragte ſie herantretend. 
„Der Zug kommt doch um zehn Uhr an.“ 

„Ich habe zuerſt Peter Stepanowitſch zu Kirillow ge— 
bracht. Peter Stepanowitſch hatte ich in Matwejewo“ 
(drei Stationen von unſerer Stadt entfernt) „getroffen, 
und wir waren dann in demſelben Abteil hierher ge— 
fahren.“ 

„Ich hatte vom Morgengrauen an in Matwejewo war— 
ten muͤſſen,“ fiel Peter Stepanowitſch ein. „Bei unſerm 
Zuge waren in der Nacht die hinterſten Waggons aus 
den Schienen geſprungen; wir hätten uns dabei die Beine 
brechen koͤnnen.“ | 

„Die Beine brechen!“ rief Liſa. „Mama, Mama, und 
wir beide, Sie und ich, wollten in der vorigen Woche nach 
Matwejewo fahren; da haͤtten wir uns auch die Beine 
brechen koͤnnen!“ | 

„Um Gotteswillen!“ rief Praſkowja Iwanowna und 
bekreuzte ſich. 

„Mama, Mama, liebe Mama, erſchrecken Sie nicht, 
wenn ich wirklich einmal beide Beine breche; das kann 
mir ſehr leicht paſſieren; Sie ſagen ja ſelbſt, daß ich alle 
Tage einen halsbrecheriſchen Galopp reite. Mawriki 
Nikolajewitſch, werden Sie mich fuͤhren, wenn ich lahm 
bin?“ Sie lachte wieder. „Wenn das paſſiert, werde ich 
mich von niemand als von Ihnen fuͤhren laſſen; darauf 
koͤnnen Sie ſich ſicher verlaſſen. Ich nehme an, daß ich 


324 Die Teufel 


nur ein Bein breche ... Nun, ſeien Sie doch Tiebens- 
wuͤrdig und ſagen Sie, daß Sie das fuͤr ein Gluͤck halten 
werden!“ 

„Was ſoll das fuͤr ein Gluͤck ſein, wenn man nur ein 
Bein hat?“ erwiderte Mawriki Nikolajewitſch ernſt mit 
finſterem Geſichte. 

„Dafuͤr werden Sie auch mein Fuͤhrer ſein, Sie allein, 
ſonſt niemand!“ 

„Sie werden auch dann meine Fuͤhrerin ſein, Liſaweta 
Nikolajewna,“ brummte Mawriki Nikolajewitſch noch 
ernſter. 

„O Gott, jetzt hat er einen Witz machen wollen!“ rief 
Liſa ordentlich erſchrocken. „Mawriki Nikolajewitſch, 
wagen Sie ſich nie auf dieſes Gebiet! Aber was ſind Sie 
fuͤr ein ſchrecklicher Egoiſt! Ich bin zu Ihrer Ehre davon 
überzeugt, daß Sie ſich jetzt ſelbſt verleumden; Sie wer- 
den mir dann vielmehr vom Morgen bis zum Abend ver— 
ſichern, daß ich ohne das Bein noch intereſſanter ſei! Nur 
eines iſt ein Übelſtand, der ſich nicht wird beſeitigen laſ— 
ſen: Sie ſind ſo ſchrecklich groß, und ich werde ohne das 
Bein ſehr klein ſeinz wie werden Sie mich dann am Arm 
fuͤhren? Wir werden nicht richtig zuſammenpaſſen!“ 

Sie lachte krampfhaft auf. Ihre Scherze und An— 
ſpielungen waren geringwertig geweſen; aber es lag ihr 
augenſcheinlich nicht daran, Ehre damit einzulegen. 

„Hyſterie!“ fluͤſterte Peter Stepanowitſch mir zu. 
„Man muͤßte ihr ſchnell ein Glas Waſſer geben.“ 

Er hatte recht; einen Augenblick darauf waren alle in 
eifriger Bewegung und brachten Waſſer. Liſa umarmte 
ihre Mama, kuͤßte fie herzlich und weinte an ihrer Schul⸗ 
ter; dann wich ſie wieder ein wenig zuruͤck, blickte ihr ins 


Erſter Teil 325 


Geſicht und fing an zu lachen. Schließlich ſchluchzte auch 
die Mama los. Warwara Petrowna fuͤhrte beide zu ſich 
in die Wohnſtube, und zwar durch dieſelbe Tuͤr, durch 
welche Darja Pawlowna zu uns hereingekommen war. 
Aber ſie blieben dort nicht lange, nur etwa vier Minuten, 
nicht mehr. 

Ich gebe mir Muͤhe, mich jetzt an ech Einzelheit der 
letzten Augenblicke dieſes denkwuͤrdigen Vormittags zu 
erinnern. Ich erinnere mich, daß, als wir damals allein 
geblieben waren, ohne die Damen (nur Darja Фа» 
lowna war noch anweſend, die ſich nicht vom Fleck ruͤhrte), 
Nikolai Wſewolodowitſch bei uns allen herumging und 
jeden begruͤßte, mit Ausnahme Schatows, der in ſeiner 
Ecke zu ſitzen fortfuhr und den Kopf noch tiefer geſenkt 
hielt als vorher. Stepan Trofimowitſch wollte mit Niko— 
lai Wſewolodowitſch uͤber irgendeinen Gegenſtand ein 
ſehr geiſtreiches Geſpraͤch anfangen; dieſer entfernte ſich 
jedoch eilig von ihm, um zu Darja Pawlowna zu gehen. 
Aber unterwegs faßte ihn Peter Stepanowitſch beinah 
mit Gewalt und zog ihn ans Fenſter, wo er ihm ſchnell 
etwas zuzufluͤſtern anfing; nach ſeinem Geſichtsausdrucke 
und den Geſtikulationen zu urteilen, mit denen er ſein 
Gefluͤſter begleitete, mußte es ſich wohl um etwas ſehr 
Wichtiges handeln. Nikolai Wſewolodowitſch aber hoͤrte 
nur ſehr laͤſſig und zerſtreut mit feinem foͤrmlichen Lä- 


* cheln zu, und gegen das Ende bekundete er ſogar Unge— 


duld, wie wenn er ſich losmachen und fortgehen wollte. 
Er ging vom Fenſter gerade in dem Augenblicke weg, als 
unſere Damen zuruͤckkehrten. Warwara Petrowna drang 


in Liſa, ſich wieder auf ihren fruͤheren Platz zu ſetzen; ſie 


verſicherte, ſie muͤßten unbedingt wenigſtens noch zehn 


326 Die Teufel 


Minuten warten und ſich erholen; wenn Liſa ſofort an 
die friſche Luft kaͤme, ſo wuͤrde das ihren kranken Nerven 
ſchwerlich gut tun. Sie war außerordentlich beſorgt um 
Liſa und ſetzte ſich ſelbſt neben ſie. Peter Stepanowitſch 
kam, ſobald er frei geworden war, unverzuͤglich zu ihnen 
geſprungen und begann ſchnell und heiter zu plaudern. 
Und nun ging Nikolai Wſewolodowitſch endlich in ſeinem 
ruhigen Gange zu Darja Pawlowna hinz dieſe geriet bei 
ſeiner Annaͤherung auf ihrem Platze in lebhafte Bewegung 
und ſprang dann in ſichtlicher Erregung und das ganze 
Geſicht von roter Glut uͤbergoſſen ſchnell auf. 

„Man kann Ihnen wohl Gluͤck wünschen... oder noch 
nicht?“ fragte er; in ſeinem Geſichte bildete ſich dabei 
eine beſondere Falte. 

Daſcha antwortete ihm etwas; aber es war ſchwer zu 
verſtehen. | 

„Verzeihen Sie meine Indiskretion,“ fagte er mit er- 
hobener Stimme. „Aber Sie wiſſen ja wohl, daß ich aus⸗ 
druͤcklich davon benachrichtigt worden bin. Iſt Ihnen das 
bekannt?“ 

„Ja, ich weiß, daß Sie ausdruͤcklich benachrichtigt wor⸗ 
den ſind.“ 

„Ich hoffe doch, daß mein Gluͤckwunſch keinen Scha⸗ 
den angerichtet hat,“ meinte er lachend; „und wenn 
Stepan Trofimowitſch ...“ 

„Wozu wird Ihnen Gluͤck gewuͤnſcht, wozu?“ fragte | 
Peter Stepanowitſch, der ploͤtzlich hinzuſprang. „Wozu | 
wird Ihnen Gluͤck gewuͤnſcht? Ei, gewiß zu dem wichtig⸗ 
ſten Ereignis, das es gibt? Ihre Roͤte bezeugt, daß ich 
richtig geraten habe. In der Tat, wozu gratuliert man 
unſeren ſchoͤnen jungen Damen am meiſten, und uͤber 


Erſter Teil 327 


welche Gratulationen pflegen ſie am meiſten zu erroͤten? 
Nun, nehmen Sie auch von mir, wenn ich richtig geraten 
habe, den beſten Gluͤckwunſch entgegen, und bezahlen Sie 
Ihre Wette: Sie erinnern ſich, Sie haben in der Schweiz 
gewettet, Sie würden ſich nie verheiraten. .. Ach ja, 
apropos Schweiz ... was mache ich nur! Denken Sie 
ſich: ich bin halb und halb gerade deswegen hergefahren, 
und nun haͤtte ich es beinah vergeſſen: ſage mir doch,“ 
wandte er ſich ſchnell zu Stepan Trofimowitſch um, „wann 
faͤhrſt du denn nach der Schweiz?“ 
3 „Sch... nach der Schweiz?“ erwiderte Stepan Trofi⸗ 
mowitſch erſtaunt und verlegen. 
. „Wie? Faͤhrſt du etwa nicht hin? Aber du verhei⸗ 
ö rateſt dich ja ebenfalls ... Du haft es mir ja geſchrieben!“ 
У „Pierre!“ rief Stepan Trofimowitſch. 
N „Ach was, Pierre... Sieh mal, wenn du das gern 
| hörft, ſo will ich dir ſagen: ich bin hierher geflogen, um 
dir mitzuteilen, daß ich nicht das geringſte dagegen 
| habe, da du doch nun einmal durchaus gewuͤnſcht бай, 
meine Meinung ſo ſchnell wie moͤglich zu hoͤren; wenn es 
aber notwendig iſt, dich zu retten“ (die Worte rieſelten 
ihm nur ſo aus dem Munde), „wie du gleichzeitig in 
demſelben Briefe ſchreibſt und inſtaͤndig bitteft, fo ſtehe 
| ich auch darin zu deinen Dienſten. Iſt es wahr, daß er 
ſich verheiraten wird, Warwara Petrowna?“ wandte er 
ſich ſchnell an dieſe. „Ich hoffe, daß ich nicht indiskret 
bin; er ſchreibt mir ja ſelbſt, die ganze Stadt wiſſe es 
und gratuliere ihm, ſo daß er, um dem aus dem Wege zu 
gehen, nur bei Nacht ausgehe. Ich habe den Brief in 
der Taſche.“ Er zog ihn heraus. „Aber koͤnnen Sie es 
glauben, Warwara Petromna, daß ich in dem Briefe 


328 Die Teufel 


nichts begreife? Sage mir nur das eine, Stepan Trofi- 
mowitſch: ſoll man dir Gluͤck wuͤnſchen oder dich ‚retten‘? 
Sie werden es gar nicht glauben: neben Zeilen voll der 
hoͤchſten Gluͤckſeligkeit ſtehen bei ihm Zeilen voll der ärg- 
ſten Verzweiflung! Zuerſt bittet er mich um Verzeihung; 
nun, das liegt ja allerdings fo in feiner Art... Übrigens, 
ich muß ſagen: denken Sie ſich, er hat mich im Leben nur 
zweimal geſehen, und auch da nur zufaͤllig, und jetzt auf 
einmal, wo er ſich zum dritten Male verheiraten will, 
bildet er ſich ein, er verletze dadurch mir gegenüber irgend» 
welche Vaterpflichten, und bittet mich inſtaͤndig auf tau⸗ 
ſend Werſt Entfernung, deswegen nicht boͤſe zu ſein und 
es ihm zu erlauben! Bitte, fuͤhle dich nicht beleidigt, 
Stepan Trofimowitſch; deine Handlungsweiſe liegt im 
Charakter deiner Zeit; ich habe einen weiten Blick und 
verurteile nicht leicht jemanden, und deine Geſinnung 
macht dir ja auch alle Ehre uſw uſw. Aber um es noch 
einmal zu ſagen: die Hauptſache iſt, daß ich die Haupt⸗ 
ſache nicht verſtehe. Hier ſteht etwas von Suͤnden in 
der Schweiz‘. Ich heirate“, ſchreibt er, „wegen gewiſſer 
Sünden‘ oder ‚um fremder Sünden willen“, oder wie es 
ſonſt heißt; kurz: ‚Sünden‘ kommen ein paarmal vor. 
„Das Mädchen‘, ſagt er, ‚ИЕ eine Perle, ein Diamant‘; 
na, und natuͤrlich iſt er ‚ihrer unwuͤrdig“ — das iſt fo 
ſein Stil; aber wegen gewiſſer dortiger Suͤnden und Um— 
ftände ſei er ‚genötigt zu heiraten und nach der Schweiz 
zu fahren‘; darum ‚laß alles ſtehn und liegen und eile her— 
bei, um mich zu retten!! Verſtehen Sie davon etwas? 
Übrigens ... uͤbrigens ſehe ich an dem Ausdruck der Ge— 
ſichter“ (er drehte ſich mit dem Briefe in der Hand herum 
und betrachtete mit unſchuldigem Laͤcheln alle Geſichter), 


у% 2 


Erſter Teil 329 


„daß ich nach meiner Gewohnheit wohl wieder irgend— 


einen Bock geſchoſſen habe, infolge meiner dummen Offen- 
herzigkeit oder, wie Nikolai Wſewolodowitſch es nennt, 
Übereilung. Aber ich dachte, wir waͤren hier lauter gute 
Freunde, das heißt, es waͤren alles deine guten Freunde, 
Stepan Trofimowitſch, deine guten Freunde; denn ich 
bin tatſaͤchlich ein Fremder und ſehe ... und ſehe, daß 
alle etwas wiſſen und gerade ich nichts weiß.“ 

Er fuhr fort, ſeinen Blick umhergehen zu laſſen. 

„Hat Ihnen Stepan Trofimowitſch das geſchrieben, 
daß er fremde, in der Schweiz begangene Suͤnden heirate, 
und daß Sie hereilen moͤchten, um ihn zu retten, mit die⸗ 
ſen ſelben Ausdruͤcken?“ fragte auf einmal Warwara 
Petrowna, die herangetreten war. Sie ſah ganz gelb aus; 
ihre Geſichtszuͤge hatten ſich verzerrt; ihre Lippen zuckten. 
„Daß heißt... jehen Sie... wenn ich da etwas nicht 
verftanden habe,“ erwiderte Peter Stepanowitſch ans 
ſcheinend ſehr erſchrocken und noch haſtiger als zuvor, „ſo 
iſt natuͤrlich er daran ſchuld, weil er ſo ſchreibt. Da iſt 
der Brief. Wiſſen Sie, Warwara Petrowna, er hat mir 
endlos lange Briefe geſchrieben, und ohne Aufhoͤren, in 


den letzten zwei, drei Monaten immer Brief auf Brief, 


und ich muß geſtehen, ich habe ſie zuletzt manchmal nicht 
bis zu Ende durchgeleſen. Nimm mir mein dummes Be— 
kenntnis nicht uͤbel, Stepan Trofimowitſch; aber du mußt 


ja ſelbſt zugeben, daß du die Briefe zwar an mich adreſ— 


ſiert, aber doch mehr fuͤr die Nachwelt geſchrieben haſt; 
alſo kann es dir ja ganz gleich fein, ob ich Пе vollſtaͤndig ge⸗ 
leſen habe... Nun, nun, ſei nicht boͤſe: du und ich, wir 


ſind ja doch gute Freunde! Aber dieſen Brief, Warwara 
Petrowna, dieſen Brief habe ich bis zu Ende geleſen. 


330 Die Teufel 


Diefe ‚Sünden‘, dieſe ‚fremden Sünden‘, das find gewiß 
irgendwelche kleinen Sünden, die wir felbft begangen 
haben, und ich moͤchte darauf wetten: Suͤnden allerun⸗ 
ſchuldigſter Art; aber wir haben auf einmal den Einfall 
gehabt, daraus eine furchtbare Geſchichte mit hochedlem | 
Anſtrich zu machen; und eben wegen des hochedlen An— | 
ſtrichs haben wir dieſen Einfall auch ausgeführt. Und 
hier (bitte, ſehen Sie!) will bei uns im Rechnungsweſen 
etwas nicht ſtimmen; das muͤſſen wir ſchließlich einge⸗ 
ſtehen. Wiſſen Sie, wir haben ſo eine kleine Paſſion fuͤr 
das Kartenſpiel ... aber was ich da ſage, iſt ungehoͤrig, 
ganz ungehoͤrig; Pardon; ich bin zu ſchwatzhaft; aber weiß 
Gott, Warwara Petrowna, er hat mir einen Schreck ein⸗ 
gejagt, und ich habe mich wirklich darauf vorbereitet, ihn 
nach Kräften zu ‚retten‘. Schließlich ſchaͤme ich mich auch 
ſelbſt. Wie? Setze ich ihm denn etwa das Meſſer an die 
Kehle? Bin ich denn ein unerbittlicher Glaͤubiger? Er 
ſchreibt hier etwas von einer Mitgift ... Übrigens, wirft 
du dich denn nun wirklich verheiraten, Stepan Trofimo⸗ 
witſch? Die Sache wird ja wohl zuſtande kommen; wir 
machen ja hier viel Gerede, aber doch mehr wegen der Aus— 
drucksweiſe . . . Ach, Warwara Petrowna, ich fuͤrchte, daß 
Sie mir jetzt zuͤrnen, und namentlich wegen deſſen, was 
ich über die Ausdrucksweiſe geſagt habe ...“ 

„Im Gegenteil, im Gegenteil; ich ſehe, daß Sie die 
Geduld verloren haben; und gewiß haben Sie dazu Ihre 
Gruͤnde gehabt,“ erwiderte Warwara Petrowna boshaft. 

Sie hatte mit boshaftem Genuſſe das ganze „wahr— 
heitsgemaͤße“ Wortgerieſel Peter Stepanowitſchs ange— 
hoͤrt, der offenbar eine Rolle ſpielte (was fuͤr eine, das 
wußte ich damals nicht; aber daß es eine Rolle war, 


r 
р. — 
4 


Erſter Teil 331 


unterlag keinem Zweifel; er ſpielte ſie ſogar ziemlich 
plump). 

„Im Gegenteil,“ fuhr ſie fort, „ich bin Ihnen ſehr 
dankbar dafuͤr, daß Sie geſprochen haben; ohne Sie haͤtte 
ich das alles nicht erfahren. Zum erſtenmal ſeit zwanzig 
Jahren oͤffne ich die Augen. Nikolai Wſewolodowitſch, 
Sie ſagten vorhin, auch Sie ſeien ausdruͤcklich benach⸗ 
richtigt worden: hat Stepan Trofimowitſch auch an Sie 
in demſelben Sinne geſchrieben?“ 

„Ich habe von ihm einen ſehr unſchuldigen und... 
und ... ſehr edlen Brief erhalten .. 

„Sie find verlegen, Sie ſuchen nach Worten... das 
genuͤgt! Stepan Trofimowitſch, ich erwarte von Ihnen 
eine außerordentliche Gefaͤlligkeit,“ wandte ſie ſich ploͤtz⸗ 
lich mit funkelnden Augen an ihn. „Haben Sie die Guͤte, 
uns jetzt ſofort zu verlaſſen und in Zukunft nie mehr uͤber 
die Schwelle meines Hauſes zu kommen!“ 

Ich bitte den Leſer, ſich an Warwara Petrownas vor— 
herige ſtarke Aufregung zu erinnern, die auch jetzt noch 
nicht voruͤber war. Allerdings war Stepan Trofimowitſch 
wirklich ſchuldig! Was mich aber damals am meiſten in 


Erſtaunen verſetzte, das war die bewundernswerte Wuͤrde, 


mit der er ſowohl die „Entlarvung“ durch Peter, ohne ein 
Wort dazwiſchen zu werfen, als auch die „Verfluchung“ 
durch Warwara Petrowna uͤber ſich ergehen ließ. Woher 


nahm er ſoviel Mut? Ich hatte nur das eine bemerkt, daß 


er vorher bei der erſten Begegnung mit Peter und nament⸗ 
lich bei der Umarmung ſich unzweifelhaft tief beleidigt 
gefuͤhlt hatte. Das war, wenigſtens in ſeinen Augen, 
ein tiefes, echtes Herzensleid. Er hatte in dieſem Augen⸗ 
blicke auch noch ein anderes Leid, naͤmlich das ſchmerzliche 


332 Die Teufel 


eigene Bewußtſein, daß er eine gemeine Handlung be⸗ 
gangen hatte; das hat er mir ſpaͤter ſelbſt mit aller Offen⸗ 
heit geſtanden. Nun aber iſt ein echtes, unzweifelhaftes 
Leid imſtande, ſogar einen phaͤnomenal leichtſinnigen 
Menſchen manchmal geſetzt und ſtandhaft zu machen, 
wenigſtens auf kurze Zeit; ja, durch ein wirkliches, echtes 
Leid werden ſogar Dummkoͤpfe manchmal klug, natuͤrlich 
ebenfalls nur für eine gewiſſe Zeit; das iſt eben eine eigen 
tuͤmliche Wirkung des Leides. Wenn ſich das aber ſo 
verhaͤlt, was konnte da mit einem ſolchen Menſchen wie 
Stepan Trofimowitſch vorgehen? Eine vollſtaͤndige Um- 
wandlung, — allerdings auch nur fuͤr eine gewiſſe Zeit. 
Er verbeugte ſich wuͤrdevoll vor Warwara Petrowna, 
ohne ein Wort zu ſprechen; und in der Tat blieb ihm auch 
nichts anderes uͤbrig. Er wollte auch ſchon in dieſer 
Weiſe ganz weggehen; aber er konnte es doch nicht uͤber 
ſich gewinnen und trat zu Darja Pawlowna heran. Dieſe 
ſchien das geahnt zu haben; denn ſie begann ſofort ganz 
erſchrocken ſelbſt zu ſprechen, als wenn ſie ſich beeilte, ihm 
zuvorzukommen. | 
„Bitte, Stepan Trofimowitſch, um Gottes willen, 
ſagen Sie nichts!“ ſagte ſie in fieberhafter Haſt mit 
ſchmerzerfuͤllter Miene und ſtreckte ihm eilig die Hand hin. 
„Seien Sie uͤberzeugt, daß ich Sie immer in gleicher 
Weiſe hochachten werde .. . und verehren werde, und ... 
denken Sie von mir ebenfalls gut, Stepan Trofimowitſch; 
das wird mir ſehr, ſehr viel wert ſein ...“ : 
Stepan Trofimowitſch machte ihr eine tiefe, tiefe Ver- 
beugung. | | 
„Tu, was du willſt, Darja Pawlowna; du weißt, daß 
du in dieſer ganzen Sache voͤllige Freiheit haſt! So iſt 


A RE 


| 


a 


Erſter Teil 333 


es geweſen, jo iſt es jetzt, und ſo wird es auch in Zukunft 
fein,“ ſagte Warwara Petrowna mit großem Nachdruck. 

„Ach! Nun begreife ich alles!“ rief Peter Stepano⸗ 
witſch und ſchlug ſich vor die Stirn. „Aber... aber in 
was fuͤr eine Situation bin ich nun dadurch geraten? 
Darja Pawlowna, bitte, verzeihen Sie mir!... Was 
haſt du mir da angerichtet?“ wandte er ſich an ſeinen 
Vater. 

„Pierre, du koͤnnteſt dich mir gegenuͤber anders aus— 
druͤckenz nicht wahr, mein Lieber?“ ſagte Stepan Trofi⸗ 
mowitſch ganz ruhig. 

„Schrei nicht ſo, ich bitte dich!“ verſetzte Peter und 
bewegte abwehrend beide Haͤnde. „Glaube mir, das 
kommt alles von deinen alten, kranken Nerven, und 
Schreien taugt dabei gar nichts. Sage mir lieber (denn 
du mußteſt dir doch vorherſagen, daß ich gleich von vorn— 
herein davon zu reden anfangen wuͤrde): warum haſt du 
mich nicht vorher orientiert?“ 

Stepan Trofimowitſch ſah ihn durchdringend an. 

„Pierre, du, der ſo viel von den hieſigen Vorgaͤngen 
weiß, du ſollteſt wirklich von dieſer Sache nichts gewußt, 
nichts gehoͤrt haben?“ 

„Wa⸗a⸗as? Na, du biſt mir ſchoͤn! Alſo nicht genug, 
daß ich ein altes Kind ſein ſoll, ich ſoll auch noch ein boͤſes 


Kind ſein! Warwara Petrowna, haben Sie gehoͤrt, was 


er gejagt hat?“ 
Es erhob ſich ein großer Lärm; aber da brach ploͤtzlich 
ein Ereignis herein, das niemand hatte erwarten koͤnnen. 


334 Die Teufel 


VIII 

Vor allen Dingen muß ich erwaͤhnen, daß in den letzten 
zwei, drei Minuten ſich Liſaweta Nikolajewnas eine neue 
Unruhe bemaͤchtigt hatte; fie fluͤſterte ſchnell mit ihrer Ma⸗ 
ma und mit Mawriki Nikolajewitſch, der ſich zu ihr herab- 
beugte. Ihr Geſicht war erregt, druͤckte aber gleichzeitig 
eine große Entſchloſſenheit aus. Endlich ſtand ſie von 
ihrem Platze auf; ſie hatte es offenbar eilig, fortzufahren, 
und trieb auch ihre Mama zur Eile an, welcher Mawriki 
Nikolajewitſch beim Aufſtehen aus dem Lehnſtuhl behilf- 
lich war. Aber es war ihnen nicht beſchieden, wegzu⸗ 
fahren, ehe ſie nicht alles bis zu Ende geſehen hatten. 

Schatow, der, von allen vollſtaͤndig vergeſſen, in ſeiner 
Ecke nicht weit von Liſaweta Nikolajewna ſaß und an⸗ 
ſcheinend ſelbſt nicht wußte, warum er daſaß und nicht 
lieber fortging, ſtand ploͤtzlich vom Stuhle auf, ging, ohne 
Eile, aber mit feſtem Schritte, durch das ganze Zimmer, 
zu Nikolai Wſewolodowitſch hin und ſah ihm gerade ins 
Geſicht. Dieſer hatte ſchon von weitem ſeine Annaͤherung 
wahrgenommen und ganz leiſe gelaͤchelt; aber als Scha⸗ 
tow dicht vor ihn hintrat, hoͤrte er mit dem Laͤcheln auf. 

Als Schatow ſchweigend vor ihm ſtehen blieb, ohne ein 
Auge von ihm abzuwenden, bemerkten dies plotzlich alle 
Anweſenden und verſtummten, zuletzt von allen Peter 
Stepanowitſch; Liſa und ihre Mama blieben mitten im 
Zimmer ſtehen. So vergingen etwa fuͤnf Sekunden; der 
Ausdruck dreiſter Verwunderung auf Nikolai Wſewolo— 
dowitſchs Geſichte ging in den Ausdruck des Zornes uͤberz 
er zog die Augenbrauen finſter zuſammen, und ploͤtzlich . 

Und plotzlich holte Schatow mit feinem langen, ſchweren 
Arme aus und ſchlug ihn aus aller Kraft auf die Backe. 


+ 


Erſter Teil 335 


Nikolai Wſewolodowitſch taumelte ſtark auf der Stelle, 
wo er ſtand. 

Schatow hatte aber auch auf eine beſondere Weiſe ge⸗ 
ſchlagen, ganz und gar nicht ſo, wie man nach herkoͤmm⸗ 
lichem Brauche Ohrfeigen zu geben pflegt, wenn man ſich 
ſo ausdruͤcken kann, nicht mit der flachen Hand, ſondern 
mit der ganzen Fauſt, und ſeine Fauſt war groß, ſchwer, 
knochig, mit roͤtlichem Flaum bewachſen und mit Som⸗ 
merſproſſen bedeckt. Wäre der Schlag auf die Naſe ge- 
gangen, ſo haͤtte er die Naſe zerſchmettert. Aber er ging 
auf die Backe und traf den linken Mundwinkel und die 
Oberzaͤhne, von wo denn auch ſofort Blut floß. 

Ich glaube, es erſcholl ein momentaner Aufſchreiz; viel⸗ 
leicht hatte ihn Warwara Petrowna ausgeſtoßen; ich er⸗ 
innere mich nicht daran, weil alle ſogleich wieder ſtarr 
ſtanden. Übrigens dauerte die ganze Szene nicht laͤnger 
als ungefaͤhr zehn Sekunden. 

Nichtsdeſtoweniger ereignete ſich in dieſen zehn Sekun⸗ 
den außerordentlich viel. 

Ich erinnere den Leſer wieder daran, daß Nikolai Wſe— 
wolodowitſch zu denjenigen Naturen gehoͤrte, die keine 
Furcht kennen. Beim Duell konnte er vor der Piſtole des 
Gegners kaltbluͤtig daſtehen, ſelbſt zielen und mit einer 
tieriſch zu nennenden Ruhe toͤten. Haͤtte ihn jemand auf 
die Backe geſchlagen, ſo wuͤrde er, wie ich glaube, den Be— 
leidiger nicht zum Duell gefordert, ſondern gleich auf dem 
Fleck getoͤtet haben; gerade das lag in ſeinem Weſen, und 
er wuͤrde ihn mit vollem Bewußtſein und keineswegs in 
ſinnloſer Erregung getoͤtet haben. Es ſcheint mir ſogar, 


daß er auch jene Zornesausbruͤche nicht kannte, die den 


| 


N 
RR 


Menſchen blind machen und der Überlegung berauben. 


* 


336 


Dte Teufel 

Bei dem grenzenloſen Ingrimm, der ſich ſeiner manchmal 
bemächtigte, vermochte er doch immer vollſtaͤndige Selbft- 
beherrſchung zu bewahren und ſomit auch es ſich gegen— 
waͤrtig zu erhalten, daß er fuͤr einen nicht im Duell be⸗ 
gangenen Totſchlag unfehlbar zur Zwangsarbeit nach 
Sibirien verſchickt werden wuͤrde; aber trotzdem haͤtte er 
den Beleidiger totgeſchlagen, und zwar ohne im gering— 
ſten zu zaudern. 

Ich habe Nikolai Wſewolodowitſch in der ganzen letzten 
Zeit genau ſtudiert und weiß infolge beſonderer Umſtaͤnde 
jetzt, wo ich dies ſchreibe, ſehr viele Tatſachen uͤber ihn. 
Ich moͤchte ihn mit einigen Herren aus dem vergangenen 
Zeitalter vergleichen, an welche ſich bei uns noch jetzt ge— 
wiſſe legendenhafte Erinnerungen erhalten haben. Man 
erzählte zum Beiſpiel von dem Dekabriſten! L* Xn, er 
habe ſein ganzes Leben lang die Gefahr abſichtlich auf- 
geſucht, ſich an dem Gefuͤhl der Gefahr berauſcht und dieſes 
Gefuͤhl zu einem Beduͤrfnis ſeiner Natur gemacht; in 
ſeiner Jugend habe er ſich oft ohne jeden Grund duelliert; 
in Sibirien ſei er, nur mit einem Meſſer bewaffnet, auf 
den Baͤren losgegangen; er ſei in den ſibiriſchen Waͤldern 
gern mit entlaufenen Straͤflingen zuſammengetroffen, die, 
nebenbei bemerkt, noch furchtbarer find als der Bär. Un- 
zweifelhaft waren dieſe legendenhaften Herren faͤhig, das 


Gefuͤhl der Furcht zu empfinden, vielleicht ſogar in hohem 


Grade; ſonſt waͤren ſie weit ruhiger geweſen und haͤtten 
nicht das Gefuͤhl der Gefahr zu einem Beduͤrfniſſe ihrer 
Natur gemacht. Aber die in ihnen ſteckende Feigheit zu 
überwinden, das war es, was fie reizte. Die ununter- 


1 Ein Teilnehmer an der Verſchwoͤrung im Jahre 1825. 
Anmerkung des Überſetzers. 


8 


Erſter Teil 337 


brochene Siegestrunkenheit und das Bewußtſein, keinen 
Staͤrkeren uͤber ſich zu haben, das hatte fuͤr ſie eine große 
Anziehungkraft. Dieſer L* * un hatte ſchon vor ſeiner Ver⸗ 
ſchickung eine Zeitlang mit dem Hunger gekaͤmpft und ſich 
ſein Brot durch ſchwere Arbeit erworben, einzig und 
allein weil er ſich den Forderungen ſeines reichen Vaters 
nicht fuͤgen wollte, die er fuͤr ungerecht hielt. Alſo ver— 
ſtand er ſich auf vielen Gebieten darauf, zu kaͤmpfen und 
zu ringen; nicht nur dem Baͤren gegenuͤber und nicht nur 
in Duellen legte er Wert darauf, Feſtigkeit und Charaf- 
terſtaͤrke zu beweiſen. 

Aber ſeitdem ſind viele Jahre vergangen, und bei der 
nervoͤſen, abgequaͤlten und zerſpaltenen Natur der Men⸗ 
ſchen unſerer Zeit kann jetzt uͤberhaupt kein Beduͤrfnis 
nach jenen ſtarken, vollen Empfindungen aufkommen, 
nach denen damals manche von ruhiger Taͤtigkeit nicht 
befriedigte Herren der guten alten Zeit ſo begierig waren. 
Nikolai Wſewolodowitſch hätte auf einen L***n vielleicht 
von oben herabgeſehen und ihn wohl gar einen ſtets tapfer 
tuenden Feigling, ein Haͤhnchen genannt; allerdings 
wuͤrde er das nicht laut ausgeſprochen haben. Er wuͤrde im 
Duell auf den Gegner geſchoſſen haben und einem Bären 
entgegengetreten ſein, wenn es noͤtig geweſen waͤre, und 
im Walde ſich eines Raͤubers erwehrt haben, alles ebenſo 

erfolgreich und ebenſo furchtlos wie L* *Ln, aber ohne jede 
Luſtempfindung, ſondern lediglich infolge der unangeneh— 
men Notwendigkeit, matt, traͤge, ſogar gelangweilt. Was 
Bosheit anlangte, war er natuͤrlich einem ®***и und ſogar 
einem Lermontow weit uͤberlegen. Bosheit beſaß Nikolai 
Wſewolodowitſch vielleicht mehr als dieſe beiden zufam- 
men; aber dieſe Bosheit war eine kalte, ruhige und, wenn 
LXIII. 2 


338 Die Teufel 


man ſich jo ausdruͤcken kann, eine vernünftige, alſo die 
abſcheulichſte und furchtbarſte, die es nur geben kann. Ich 
wiederhole noch einmal: ich hielt ihn damals und halte ihn 
noch jetzt (wo alles ſchon zu Ende iſt) entſchieden fuͤr einen 
Menſchen, der, wenn er einen Schlag ins Geſicht oder 
eine aͤhnliche Beleidigung von gleicher Staͤrke empfangen 
haͤtte, ſeinen Gegner unverzuͤglich totgeſchlagen haben 
wuͤrde, ſofort, auf der Stelle und ohne ее ва 
zum Duell. 

Und doch geſchah im vorliegenden Falle etwas ganz 
Anderes, etwas Seltſames. 

Kaum hatte er ſich wieder geradegerichtet, nachdem er 
ſich infolge der erhaltenen Ohrfeige ſo ſchmaͤhlich beinah 
bis zur halben Hoͤhe ſeines Wuchſes zur Seite gebeugt 
hatte, und noch war, wie es mir vorkam, im Zimmer der 
gemeine und gewiſſermaßen feuchte Klang von dem Fauſt⸗ 
ſchlage ins Geſicht nicht verhallt, als er ſofort Schatow 
mit beiden Haͤnden an den Schultern faßte; aber unmit⸗ 
telbar darauf, faſt in demſelben Augenblicke, zog er auch 
ſeine beiden Arme wieder zuruͤck und verſchraͤnkte ſie hinter 
ſeinem Ruͤcken. Er ſchwieg, blickte Schatow an und wurde 
bleich wie Leinwand. Aber ſonderbar: ſein Blick war wie 
erloſchen. Nach zehn Sekunden blickten ſeine Augen kalt 
und (ich bin uͤberzeugt, daß ich nicht die Unwahrheit rede) 
ruhig. Er war nur furchtbar blaß. Natuͤrlich weiß ich 
nicht, was in ſeinem Innern vorging; ich ſah nur die 
Außenſeite. Mir ſcheint, wenn es jemanden gaͤbe, der 
zum Beiſpiel eine rotgluͤhende Eiſenſtange ergriffe und 
mit der Hand feſthielte, um feine Standhaftigkeit zu er- 
proben, und dann zehn Sekunden lang den entſetzlichen 
Schmerz zu uͤberwinden ſuchte und ihn ſchließlich wirklich 


Erſter Teil 339 


uͤberwaͤnde, dann wuͤrde, glaube ich, dieſer Menſch eine 
ähnliche Empfindung haben wie jetzt Nikolai Wſewolo— 
dowitſch in dieſen zehn Sekunden. 

Der erſte von den beiden, der die Augen niederſchlug, 
war Schatow, und offenbar, weil er ſich gezwungen ſah, 
ſie niederzuſchlagen. Dann drehte er ſich langſam um und 
ging aus dem Zimmer, aber keineswegs mehr mit demſel— 
ben Gange, mit dem er ſoeben an ſeinen Gegner heran— 
getreten war. Er ging leiſe fort, zog in einer eigentuͤm⸗ 
lich unbeholfenen Weiſe die Schultern von hinten in die 
Hoͤhe, ließ den Kopf herunterhaͤngen und ſchien etwas bei 
ſich zu uͤberlegen. Mir war, als ob er etwas vor ſich hin 
fluͤſterte. Er ging vorſichtig bis an die Tür, ohne an 
etwas anzuſtoßen oder etwas umzuwerfen, und oͤffnete die 
Tuͤr nur ein wenig, ſo daß er ſich durch die Offnung bei⸗ 
nahe ſeitwaͤrts hindurchſchob. Waͤhrend er hindurch⸗ 
ſchluͤpfte, war der auf ſeinem Hinterkopfe aufragende 
Haarbuͤſchel beſonders auffaͤllig. 

Dann erſcholl, noch vor allen anderen Ausrufen, ein 
furchtbarer Schrei. Ich ſah, wie Liſaweta Nikolajewna 
ihre Mama an der Schulter und Mawriki Nikolajewitſch 
bei der Hand faßte und zwei⸗, dreimal den Verſuch machte, 
ſie hinter ſich her aus dem Zimmer zu ziehen, ploͤtzlich aber 
aufſchrie und der Laͤnge lang ohnmaͤchtig zu Boden ſtuͤrzte. 
Bis heute noch iſt es mir, als hoͤrte ich, wie ſie mit dem 
Hinterkopfe auf den Teppich aufſchlug. 


A 
Li 
er 


FRAU 
B 

{ 
OR 
7 De 
ei au 


я 


„ 
1 


in Leſpzig 


Druck von E. Haberland 


et A, 9 
Я — > m 
— „5 
A 7 : 
* мм 
N — — ie . 
$ — м. к — y 
— 2 
. », „N € a Pt 
— * > 
„ — In 
— 1 — > 
a Мк > . 
— Pr Pi > 
ware ver er. 
DATA EN 
Fr 
ten? Wehe $ 
Bu т 
RT — 
* r 
5 » 
— - 
3 wre 
— > 
irn -: 
> 
* * — 
I т — — 
— — 
— 
> 


© 
— 
= 
© 
— 
© 
— 
— 
© 
— 
5 
— 
DD 
= 
= 
— 


REMOVE 
POCKET 


"ST Тод 
| "Tyoy°H uoA I ® 
B -USTTSAON рип suwwoy SyaTTtueg 37314 
UOTAOTTBUNTII хорэцт ASA SO 


— ————— . — ß