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Full text of "Sämtliche Werke"

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University of Toronto 


http://www.archive.org/details/smtlichewerke02sche . 


Friedrich Wilhelm Joſeph von Schellings 


ſämmtliche Werke. 


Zweite Abtheilung. 


meer Dar? 


Stuttgart und Augsburg. 
u 6 DBerci 
1857. 


IR 
er 
| Philoſophie 


Mythologie 


—Wn 


Friedrich Wilhelm Joſeph von Schelling. 


Stuttgart und Augsburg. 
3 G Eottauſche 


1857. 


Buchtruderei ver I. G. Gotta’fchen Buchhandlung in Stuttgart und Nugsburg. 


Vorwort des Herausgebers. 


Borliegende Daritellung der Bhilofophie der Mythologie wurde 
das legtemal in den Jahren 1842 und 18%/,, in Berlin öffentlich 
vorgetragen, und hatte in Diefer Zeit auch Die legte Nevifton und 
in einigen Partien eine neue Ausarbeitung erhalten. Schon aber 
vom Jahre 1828 an war die Philoſophie dev Mythologie ihrem 
vollftändigen Inhalt nach Gegenitand der Worlefungen Schel- 
linge. Die früheiten Vorträge ber die Mythologie jelbft (nicht 
bloß über die Einleitung oder den allgemeinen Theil derjelben) 
datiren noch weiter zurück, und die Vorarbeiten für diefelbe reichen 
bis in die Zeit, wo die Abhandlung uber die Gottheiten von 
Samothrafe erichien. 

Bon den zwei Büchern, welche hier unter dem gemeinfamen 
Titel der Philoſophie dev Mythologie zufammengefaßt find, enthält 
das erite, „Der Monotheismus”, die Begründung des zweiten, Der 
wirflichen Philoſophie dev Mythologie, 

Anfnüpfend an das Refultat des hiſtoriſchen Theild der 
Einleitung löst das erfte Buch die Frage: wie ift Polytheismus, 
oder — da die Einleitung den Bolytheismus für das Produft 
eines theogonifchen Procefies erflärt hat — wie iſt ein theogonifcher 
Proceß, ſowohl an ftch, als im menichlichen Bewußtieyn, mög— 
lich? Der Ausgangspunft bei diefer Unterfuchung fonnte nur der 


vi 

Monotheismus ſeyn, und zwar wird Diefer ald ein zugeftandener 
Begriff angenommen, dejien Vorausſetzungen in derfelben Canalyti- 
ichen) Weife gefunden werden, wie e8 die hiftorifch- Fritiiche Ein- 
leitung in Bezug auf den Begriff dev Mythologie gethan hat, fo 
daß auch infofern — was das wiflenfchaftliche Verfahren betrifft — 
an den genannten erſten Theil der Einleitung hier wieder ange: 
fnüpft, Dagegen die Ausführung der pofitiven Philoſophie, bie 
zu welcher der Schluß der Einleitung fortgegangen war, für ben 
legten Haupttheil der Gefammtdarftellung aufbehalten wird (vergl. 
S. 7 u). Der Grund hiervon liegt offenbar einestheild in Dem 
natürlichen Beitreben, die frühere, auf die Mythologie unmittelbar 
ſich beziehende Unterfuchung bis in ihr Ende gleichmäßig fortzu- 
führen und auch in ihren legten Prämiffen auseinanderzufegen, 
anderntheils darin, daß der höchfte Standpunkt für diejenige Dar- 
ftellung reſervirt bleiben follte, welche die Aufgabe hat, Die My— 
thologie und die Offenbarung, beide als die in einander greifenden 
Theile des Einen göttlichen Weltplanes zu erflären. Aus dem 
gleichen Grunde behält fich der Autor nach ©. 632 dieſes Bandes 
auch die ausführliche Darftellung der Miyfterienlehre „ald des Höch— 
ften der bloß natürlichen Entwidlung“ für den Zuſammenhang ber 
Philofophie der Offenbarung vor. 

Nach dem fo eben Bemerften hängt alfo die Philofophie ber 
Mythologie formell und unmittelbar nur mit dem hiftorifch-Fritifchen 
Theil der Einleitung, mit dem reinphilofophifchen bloß mittelbar 
zufammen. Dem aufmerffamen Lejer wird es aber nicht entgehen, 
daß zwifchen den philofophifchen Principien, wie fe hier der Phi— 
(ofophie der Mythologie voranftehen, und denen, auf welchen Die 
rationale Philofophie aufgebaut ift, das Verhältniß einer ftufen- 
weile vom Neinrationalen oder Logifchen zum Nealen fortgehenden 
Entfaltung, und in diefer Hinficht ein innerer Bezug beider auf- 
einander ftattfindet: fo verfchieden im Mebrigen der nächite Zweck 


vu 

ift, zu welchem Die gleichen fpeculativen Grundbegriffe beidemal 
angewendet find, indem fie dort (in der Darftellung der rationalen 
Philofophie) dazu gedient hatten, ein in der Idee Letztes — und 
jelbit nicht mehr in die Idee Cingefchlofienes, d. h. das Ideal der 
Vernunft = Gott zu finden, hier aber vielmehr Gott das Vor— 
ausgeſetzte ift, und es fich nur Darum Handelt, deſſen „Eriftenz- 
formen“ (ſiehe die Einleitung in die Ph. d. M. ©. 189 unten) 
zu erpliciven, und aus dieſen ebeniowohl den Inhalt des Mono- 
theismus, wie (unter beftimmten Vorausſetzungen) die Möglichkeit 
des Bolytheismus abzuleiten. Sit Diefes Cim erften Buch) gethan, 
jo tritt die weitere Aufgabe ein, den theogonifchen Proceß durch 
feine einzelnen Momente hindurch zu verfolgen, ihn an den wirk 
lichen Mythologien als folchen nachzumweifen, was der Inhalt des 
zweiten Buchs ift, und womit — da „die Principien jenes Pro— 
cefles zugleich Die Principien alles Seyns und Werdens find" — 
der mythologiiche Proceß wirklich als „Der nur wiederholte allges 
meine oder abjolute Proceß“ erwiefen, d. h. die Mythologie ale 
„Sache der Bhilofophie” oder als ein den bereits anerfannten Ob- 
jeften derjelben ebenbürtiger, und alfo auch zur Philoſophie ge— 
höriger Gegenitand Ddargethan ift, nicht anders, als dieß feiner 
Zeit von Der Naturphilofopbie für die Natur vindicirt worden 
(vergl. die Einleitung in die Philoſophie der Mythologie, ©. 216 
und 217). 

Was die in Diefem Bande benugten Manuferipte anbelangt, 
jo ftanden dem Herausgeber für das erfte Buch, den Monotheis- 
mus, außer den neueren eine Anzahl Älterer Handichriften zu Ge— 
bot. Indem ich mich zur Feititellung des Textes nur an Die er- 
jteren hielt, und unter Diefen wieder ein beitiinmtes, vom Verfaſſer 
jelbjt hiezu bezeichnetes Manuſcript zu Grunde legte, habe ich nicht 
unterlafien, aus den älteren in Form von Anmerfungen und mit 
ausdrudlicher Angabe dieſer Duelle einiges aufzunehmen, was 


VIII 


mir zu dieſem oder jenem Punkt dev Entwicklung etwas Beſon— 
deres hinzuzugeben ſchien. Für das zweite Buch, die Philoſophie 
der Mythologie ſelbſt, lag nur Ein fortlaufendes, in einzelnen 
Theilen aber doppelt ausgearbeitetes, neueres Hauptmanuſcript vor; 
außer dieſem noch ein altes, das beinahe bloß für Die Citate be— 
nutzt wurde, die in demfelben niedergelegt waren. 

Außer der Hauptarbeit über Bhilofophie der Mythologie exi— 
ftiren nun noch verfchiedene Kleinere Auffäse von der Hand Schel- 
lings, die in das Gebiet der Mythologie einfchlagen: einer der— 
felben ift in der Einleitung ©. 117, Anm, 1 bereit8 erwähnt, 
ein anderer ©, 257, Anm, 1 dieſes Bandes, ein dritter behandelt 
eine Stelle des homerifchen Hymnus auf Demeter. Diefe zu ver- 
öffentlichen wird fich in einem fpäteren Bande Raum und Gelegen- 
heit finden. Dagegen ift eine im Jahrgang 1833 des Kunftblatts 
(Nr. 66 und 67) erfchienene Abhandlung über ein neuentdecktes 
MWandgemälde in Bompeji dieſem Bande angehängt worden, weil 
fie einen in die Bhilofophie dev Mythologie felbit eingehenden In— 
halt hat, fich an die zulegt entwidelte griechiiche Götterlehre uns 
mittelbar anfchließt, und überdieß der dazu gehörige Umriß nicht 
bloß das, um defien Deutung es zunächft zu thun ift, fondern 
gewifiermaßen die ganze Theorie der Mythologie, die fich Hier wie 
im Kleinen abfpiegelt, veranfchaulicht. 

Eflingen, im Januar 1857, 


R. F. A. Schelling. 


Inhalts - Heberficht. 
Erites Bud. 
Der Monotheismus. 


Erſte Borlejung. Gegenftand und Art der folgenden Unterfuhung, 
. ©. 1. Das Berhältniß der Wifjenfhaft zum Begriff des Monotheismus, 
S. 10. Die gewöhnliche Erffärung defjelben eine tautologiſche, S. 13. Ebenſo 
die bisherigen Beweiſe für die Einheit Gottes unzureichend (Verhältniß des Dua- 
lismus zum Monotheismus), ©. 16. Reſultat: Was als Begriff des Monotheis- 
mus galt, ift bloß der des (leeren) Theismus. 

Zweite Borlefung. Ausgangspunkt: der Unterſchied zwifchen der abjo- 
futen Einzigfeit Gottes und zwiſchen der Einzigfeit Gottes als ſolchen. Ent» 
widlung des erfteren Begriffs: Der Begriff des Seyenden ſelbſt, ©. 24. 
Fortgang zum Begriff der Einzigfeit Gottes als folchen durch Analyfe des Be— 
griffs des Seyenden jelbft, S. 29. Die Berhältnifje des Seyenden jelbft zum 
Seyn: 1) = jeyn- Könnendes (erfte Geftalt des Seyenden), ©. 34. Wiefern 
diefe Beftimmung Gottes als des jeyn-Könnenden Princip des Pantheismus, 
wobei Erffärung über den Unterjchted zwifchen dem Pantheismus jelbit und ‚dem 
Princip des Pantheismus, S. 35. Wichtigkeit des letteren für die Erklärung 
des Monotheismus, fofern es als bloße Potenz (nicht jeyendes, Möglichkeit) in 
Gott (auch = Grund und Anfang, Natur in Gott), ©. 41. MUebergang zur 
zweiten Geftalt (Form) des Seyenden = rein feyendes. Vorläufige Verſtändi— 
gung über das Eigenthüimliche (das Keftriktive) des Monotheismus, S. 44. 

Dritte Borlefung. Nähere Beitimmung über das Verhältniß des nicht 
jevenden (als der erften Form) zum rein feyenden (als der zweiten Form), ©. 49. 
Fortgang zum dritten Moment oder der dritten Geftalt des Seyenden = dem 
ſich ſelbſt beſitzenden Seynkönnen = Geift, ©. 54. Nefultat: Gott ift der in 
diefen drei Geftalten (Formen) jeyn Könnende: hiemit der vollftändige Begriff 
(unterfchieden vom Dogma) des Monotheismus, ©. 59. Anmerkung über bie 


X 


negativen und bie pofitiven Eigenſchaften und ihr Verhältniß zum bloßen Theis- 
mus (eder Pantheismus) und zum Monotheismus, ©. 62. 

Bierte Borlefung. Das Verhältniß der Mehrheit zur Einheit im Be- 
griff des Monotheismus, ©. 66. Allgemeine Erörterung über bie Drei Denk 
arten: Theismus, Bantheismus, Monotheismus (Spingza, Jacobi), ©. 68. Ueber 
den Zufammenhang zwifchen dem Monotheismus und der Trinitätslehre, ©. 76. 

Fünfte VBorlefung. Fortgang vom potentiellen (begrifflihen) Seyn Gottes 
zum actuellen (won dem in den drei Formen jeyn fünnenden zu dem in den— 
jelben actu jeyenden Gott), Die Scheidung (Spannung) der Potenzen in Folge 
des göttlichen Willens, ©. 80. Schilderung des daraus fich ergebenden Pro— 
ceffes und der Stellung der Potenzen zu einander in diefem Proceß, ©. 84. 
Berhältnif der umgekehrten. Potenzen zu Gott. Das Universum, ©. 89. Cha- 
vafter jenes Proceffes als eines theogonishen im höchften Sinn, ©. 91, Er- 
veichter Standpunkt des Monotheismus als Dogma (nicht mehr bloß als Begriff), 
S. 93. Wichtigkeit der Potenzen fir die Erklärung des Monotheismus und Po- 
Intheismus, ©. 102. 

Scehste Vorleſung. Erplication des theogoniſchen Procefjes als Pros 
cefjes der urjprünglichen Schöpfung, wobei Charakterifirung der Potenzen als 
Schöpfungsurfahen, ©. 108. Allgemeines über den Ausdruck Potenzen und ihre 
Bedeutung in der Erfenntnifwelt, S. 114. Das Ende der Schöpfung — weil 
eines theogonifchen Procefjes — = gottjegendes (und zwar jubftantiell- gott- 
jetsendes) menfhlihes Bewußtſeyn (Zufammentveffen mit dem Reſultat der 
biftorisch-Eritifchen Einleitung), ©. 119. Die freie Stellung der urjprünglichen 
Menfchen zwiichen den Potenzen und die Möglichkeit eines neu gejegten, in 
(mythologiſchen) Vorftellungen verlaufenden theogoniſchen Procefjes im. alterirten 
Bewußtſeyn des Menjchen, defien Ziel der frei erfannte Monotheismus, ©. 122, 
Die mythologiſchen Borftellungen nad) ihrer pſychiſchen Seite, ©. 127. 


Zweites Bud). 
Die Mythologie. 


Siebente Borlejung. Einleitende Bemerkungen über die Philofophie 
der Mythologie, S. 135. Feitftellung des Ausgangspunftes der Entwidlung: 
die Möglichkeit der Alteration des Menjchen, ©. 141. Die diefer Möglich— 
feit in der Mythologie entiprechenden Ausdrüde: der Begriff der Nemefis, der 
Apate (Maja), Begriff der Berfuhung, S. 143. 

Achte Borlejung. Die wirkliche Alteration des Menjhen = Urzufall 
(Fortuna primigenia), ©. 152. Die Spuren diefes Vorgangs in der fpätern 
Mythologie, Die Geftalt der Perfephone, ©. 154. Der erfte Stand der 
Perjephone, verglichen mit dem Aufenthalt im Paradies, ©. 158. Die Doppel- 
heit in der Perjephone nach den alten Philofophen, befonders den Pythagoreern, 
©. 160. Beſchreibung jenes Uebergangs der Perjephone in den Myſterien, 


S. 161. Objektive Folge der Wiedererregung des B dur den Menfchen: 
Anlage zum fuccefjiven Polytheismus, ©. 164. 

Neunte Borlefung. Einleitung des Proceffes im menſchlichen Bewußt— 
jeyn. Erſter Moment: Widerftand des einfeitig im Menjchen geſetzten Princips 
(B) gegen die Ueberwindung durch Die höhere Potenz (AP), ©. 170. Produkt 
Diejes Moments: die aftrale Religion oder der Zabismus im feiner erften ©eftalt. 
Die begleitende Erſcheinung dieſer Alteften Neligion, das Nomadenleben in der 
erften — unzertrennten — Menjchheit, S. 181. Der Begriff der formellen 
Götter, ©. 188. i 

Zehnte Borlefung. Uebergang zum nächften Moment, ©. 189. Die 
Natur diefes Momentes: das Princip (B) materialifirt fih, wird peripheriſch 
und ericheint als das den relatiw-geiftigen Gott Setzende (Gebärende), womit der 
Uebergang zu weiblichen Gottheiten, ©. 193. Der Uraniadienft bei den Per- 
jern, binzufommend zu dem — bereits mit Elementenverehrung verfnüpften — 
Zabismus (Herodot I, 131), ©. 196. Mitra, Mylitta, Aftarte = Urania. 
Etymologie diefer Namen, S. 200. Der Wendepunkt der Mythologie in der 
Urania verglichen mit dem entjprechenden Moment bei der Naturbildung. Das 
feuchte Element Repräjentant diefes Moments, ©. 202, 

Eilfte Borlefung. Die perfiihe Religion als beim Moment der erjten 
Materialifivung ftehen bleibend. Daraus Erklärung des Verhältniſſes der Mitra 
zum Mithras, S. 205. Deduftion der Mithrasreligion, ©. 210. Erflärung 
des Namens Mithras, S. 216. Verhältniß des Mithras zur Zendlehre. Der 
Dualismus der Ietteren, und Nachweifung der Zerdutichlehre als Erzeugnifjes des 
Mithrasbegrifis, S. 218. Das Problem der Mithriaca, ©. 225. Allgemeines 
über die Mithrasiehre als Neaktion gegen den mythologiichen Proceß (Vergleihung 
mit der Erjcheinung des Buddismus), ©. 228. 

Zwölfte Borlejung Der Fortiehritt zur wirklichen Bielgötterei, und 
zwar 1) durch den Uebergang zum entjchiedenen Eultus der weiblichen Gottheit. — 
Dieſer zeigt fih a) im Mylittadienft der Babylonier, ©. 236. Erklärung des 
letzteren, S. 239. b) in der BVorftellung der männlichen Gottheit mit weib- 
lichen Attributen und umgekehrt, der Verwechslung männlicher und weiblicher 
Kleidung (= mimiſche Darftellungen des Uebergangs vom Männlichen zum Weib- 
lichen), ‚den Hierodulen u. j. w., ©. 249. Die männlid)- weiblichen Gottheiten 
den Begriff der Nelativität involvirend, S. 253. — 2) durch gleichzeitiges 
Erſcheinen der Göttin und des zweiten Gottes, wobei diefer (= Dionyjos) noch 
ganz in jener, ihr einverleibt: die Neligion der Arabier, ©. 254. Eregeje 
der Stelle des Herodot III, 8, wobei Erklärung der Namen Urotal und Altlat, 
S. 255. 

Dreizehnte Borlefung. Beftimmtere Firirung des gegenwärtigen Punfts 
der wifjenfchaftlihen Entwicklung, S. 258. Deduftion der num ſich ergebenden 
parallelen Erſcheinung won männlichen und weiblichen Gottheiten und der Stel— 
lung dieſer zueinander, ©. 260. Die Allmählichkeit des Procefjes bezogen auf 
das über demfelben waltende göttlide numen, S. 262. Borläufige Berzeichnung 


XII 


der Stufen des mythologiſchen Proceſſes nebſt den entſprechenden Momenten 
in der Naturbildung, S. 266. Das Leid über den Untergang des erſten 
Gottes, S. 273. Nähere Bezeichnung der anfänglichen Stellung des nun ſelb— 
ſtändig hervortretenden — aber noch in negirtem Zuſtand befindlichen — zweiten 
Gottes, S. 274. Erörterung über die Wichtigkeit der Unterſcheidung zweier 
Zeiten des Gottes, der Zeit ſeiner Unterordnung und Negation und der Zeit 
ſeiner Anerkennung als Gott. Hiebei Allgemeines über die bisherige Behandlung 
dieſes Punktes in der Mythologie, S. 277. Warum die erſte Wirkung des 
zweiten Gottes eine widerſprochene und verwirrende, S. 281. Paralleler Gang 
der mythologiſchen Entwicklung und der Geſchichte der griechiſchen Philoſophie, S. 283. 

Vierzehnte Vorleſung. Moment des Kronos, die Religion der 
Phönikier, S. 286. Kronos — zweite Form des Uranos. Unterſcheidung 
zwiſchen dem relativ ſucceſſiven und dem abſolut ſucceſſiven Polytheiemus, S. 287. 
Weitere Erörterungen über den Begriff des Kronos. Gleiche Deutungen dieſes 
Begriffs bei den Alten, S. 288, Erſter Schritt zur bildlichen Darſtellung. 
Bedeutung diefes Schritts, ©. 293. Berichtigung des Begriffs Fetiſchismus, 
©. 294. Der eigentliche Begriff des Götendienftes, S. 297. Die Zerriffen- 
heit des Bewußtfeyns in diefem Moment des Proceſſes. Aeufere Zeichen dieſes 
Zuftandes, S. 298. Der Begriff der Deifivamonie, S. 299. Die Exrfcheinung 
der Menjchen- (Kuaben-) Opfer, ©. 301. Abweifung unzureichender Erklärun— 
gen derjelben, S. 305. MUebergang zur wirklichen Erklärung durch die Frage 
nah einem Sohn des Kronos — dem Melfarth der Phönifier, ©. 306. 
Beweis, daß Melfartd Sohn des Kronos. Die gleiche Perfönlichkeit bei den 
Aethiopiern, ©. 311. Der Begriff des Melfarth, S. 313. Vergleichung des: 
jelben mit dem Knecht Gottes bei Jeſaias, ©. 315. Poſitive Erklärung ber 
Knabenopfer, S. 321. 

Sünfzehnte Borlefung. Epifode über den griechiſchen Herakles. — 
Borausgehende Erklärung über den ägyptiſchen Herafles, S. 327, Berhältnif 
des Heraflesmythos zur allgemeinen griechiſchen Mythologie, S. 331. Die Be- 
beutung der Herafleen, ©. 332. Die griechifche Heraklesfabel als Umbildung 
der orientalifhen Borftellung an ihren einzelnen Zügen nachgewiefen, ©. 335. 
Rückehr in den mythologiichen Zufammenhang , ©. 348. 

Sehzehnte Borlefung. Der Eintritt der zweiten (vollfommenen) Ma- 
terialifivung (Katabole) des realen Principe. Ankündigung derſelben durch ben 
Drgiasmus, ©. 350. Repräſentant diefes Fortfehritts: die phrygiſche 
Göttermutter, Kybele. Etymologie dieſes Namens, ©. 352. Paralleler Mo- 
ment in dev Naturbildung (Exrdbildung), ©. 354. Der vom Himmel gefallene 
Stein Bild der Kybele: hiebei über den Urfprung der Meteorfteine (und der 
Thermen), ©. 357. Die Bedeutung der Kybele bewieſen aus der Art ihrer 
Erſcheinung, S. 361. 

Siebzehnte Vorleſung. Moment der Coeriftenz der zwei Potenzen 
oder Götter im Bewußtſeyn: der Ofiris-Typhon dev Aegypter, ©. 364. Con- 
ftruftion des Dfiris-Typhon (thierifche Geftalt der Götter — paralleler Moment 


der Thierbildung in der Natur), S. 365. Beftatigung diefer Conftruftion durch 
die Ausjagen des Altertbums, ©. 368. Der. Zerreifungsmythos, S. 372, 
Das in Folge der Löſung des Ofiris-Typhon’ichen Widerfpruchs entftehende Götter- 
verhältnig: Oſiris — vermöge der Spentification des überwundenen Typhon 
mit Ofiris — Herricher der Unterwelt (Hades = Dionyſos). Horos = dem mwiederer- 
ftandenen Ofiris = As. Der Begriff des Horos nah Plutarh, S. 377. Horos 
als Kind (= dem griechiſchen Harpofrates), S. 378. 

Achtzehnte Borlefung Schluß der Erörterung über die einzelnen Ge- 
jtalten der ägyptiſchen Mythologie mit dem Begriff der Bubaftis, ©. 380. 
Das Refultivende der ganzen ägyptiſchen Mpthologie: der dreifache Ofiris (= die 
gelöste Spannung der Potenzen). Entftehung des Monotheismus der ägyptiſchen 
Theologie, ©. 3854. Aus dem Charakter dieſes Monotheismus als einem ge- 
ichichtlich entftandenen erklärt fi) a) das kalendariſche Syſtem, b) die noch immer 
partiell fortdauernde DBerehrung Typhons. Die Typhonien, ©. 386. Entwid- 
lung des Syſtems der ägyptiſchen Theologie und ihrer Trias: Ammon = Gott in 
der Verborgenheit, Phtha = Gott im Moment der Erpanfion, Kneph = Gott 
der verwirflichten Einheit, ©. 391: Zufammenhang zwiſchen der Entftehung 
diefer höheren Theologie und der Bauwerke Aegyptens. rörterungen über die 
letteren und ihr Verhältniß zu den Perioden der ägyptiſchen Gefchichte, insbeſon— 
dere über die Pyramiden, S. 399. 

Neunzehnte Borlefung. MUebereinftimmung der bisherigen Deduktion 
der ägyptiſchen Mythologie und Theologie mit Herodotos und deffen ägyptiſchen 
Götterordnungen. Ueber die erfte Diefer Ordnungen: die acht Alteften Götter. 
Bejondere Erörterung über das Verhältniß des Amun zum Pan, und des Pan- 
Cultus zu dem des Phtha, ©. 408. Der ägyptiſche Hermes als vierte Gottheit. 
Begriff defjelben. Die hermetifhen Bücher, ©. 413. Die Adtzahl vollzählig 
durch Die entjprechenden weiblichen Gottheiten. Darunter die Athor, die Neith, 
S. 416. Herodots zweite Generation: die zwölf Götter, erflart als die Götter 
der kroniſchen — dem jpecifiih ägyptiſchen Weſen vorausgehenden — Zeit, 
©. 417. Die dritte Götterordnung: die Götter des eigentlichen ägyptiſchen Mo— 
ments, S. 419. Erklärung des ägyptiſchen Thiercultus, ©. 421. Aparte Ab- 
leitung des Apisdienftes, ©. 428, 

Zwanzigfte Borlefung. Uebergang zur indiſchen Mythologie. Recht— 
fertigung Der derjelben gegebenen Stellung, ©. 431. Deduktion des indijchen 
Moments in feinem Unterfchied vom äghptiſchen: das Auseinandergehen der 
Potenzen als die eine Seite des indiichen Wefens, S. 435 — gezeigt a) am 
Begriff des Brama und an deſſen Berfchwundenfeyn im Cultus, ©. 441; 
b) am Schiwaismus, ©. 444; c) am Wiſchnuismus. Widerlegung der Anficht 
von Einem über den drei Dejotas ftehenden Gott, ©. 446. Nachweis der rich- 
tigen Aufeinanderfolge der drei Dejotas (Schiwa vor Wiſchnu), fowie ihres logi- 
ihen Zujfammenhangs durch die Lehre von den drei Qualitäten (Trigunaya), 
©. 448. Die Etymologie der indiihen Trias. Beftätigung ihrer Auffaffung 
durch die Kunftdenfmale, S. 453. — Die früheren Momente des mythologiſchen 


Procefjes in Indien durch Sekten (Saktas, Saivas) reprajentirt. Zufammenhang 
mit dem Kaftenweien, S. 455. Die materiellen Götter Indiens und ihre Be— 
deutung, ©. 456. 

Ginundzwanzigfte Vorlefung. Ableitung und Bedeutung der In— 
earnationsmythen. Die Incarnationen des Wiſchnu, ©. 460. Entwicklung der 
andern Seite der indifhen Mythologie — des Myſticismus — mit Rüdficht 
auf die Bedeutung des Buddismus und die Verſuche, denjelben aus den indi— 
ichen Syſtemen zu erklären: 1) das theofophiiche Syſtem der Vedas (wobei zuerft 
Allgemeines über die Vedas, ihre Theile und ihr Alter mit befonderer Rückſicht 
auf Colebrookes Anfichten. Nefultatz die Vedas Fein fpeciell-indiiches Keligions- 
such), ©. 465. 2) die philofophifchen Syſteme Imdiens (die Mimanja, (Be- 
danta), die Nyaja, die Sankhya), ©. 475. 

Zweiundzwanzigftie VBorlefung. 3) Die Lehre der Bhagmwahgita. 
Ihre Nogalehre und deren Verhältniß zu der myſtiſchen Lehre der Vedas, ©. 486. 
Ihre Lehre von den drei Eigenſchaften, S. 492. Pofitive Erklärung des Buddis— 
mus als einer antimythologiichen, dev Mithrasreligion entiprechenden Erſcheinung, 
und daher als einer nicht abftraften, fondern gleich der Zendlehre einen Dualis- 
mus in fich fchließenden Einheitslehre, S. 499. Zwiſchen Bramanismus und 
Buddismus Fein urſächlicher Zuſammenhang, ©. 507. Urfprüngliche VBerwandt- 
ichaft des Altindifhen und des Altperfiihen, S. 508. Nachweis eines früheren 
Tebeneinanderbeftehens des Buddismus und Bramanismus in Indien, ©. 510. 
Gegenfeitiger Einfluß der indifchen Mythologie und des Buddismus aufeinander. 
— Ob die Majalehre urſprünglich auch buddiſtiſch? Möglicher Zufammenhang 
zwifchen ber Mitra triformis und der Trigunaya. — Sichtbarer Einfluß des 
Buddismus auf die indifche Mythologie, ©, 515. Die buddiſtiſche Proſelytenſucht. 
Der mongoliſche (lamaiſche) Buddismus, S. 518. 

Dreiundzwanzigſte Vorleſung. Uebergang zu China. Beſtimmung 
der eigenthümlichen Aufgabe bei der Erklärung des chineſiſchen Weſens, S. 521. 
Das Urprincip der Religion hier in veränderter Bedeutung — nur nach ſeiner 
formellen Seite —, aber mit der gleichen Ausſchließlichkeit wirkend, S. 523. Der 
hiftorifche Beweis für die Nichtigkeit der Deduktion, geführt 1) aus dem Begriff 
des chinefifchen Reichs, wobei Ableitung defjelben von dem aftralen Moment — 
in Folge einer Kataftrophe, ©. 527; 2) aus der Abiolutheit und Stabilität des 
chineſiſchen Reichs, wie fie ſich zeigt a) nach inmen, ©, 529; b) nah außen. 
Der Kaifer Weltherrfcher, auch im phyſiſchen Sinne, ©. 534. Deutung des 
Symbols des hinefifchen Reichs (des Draden), ©. 536. Der rein weltliche — 
priefterlofe — Charakter des chinefifchen Kaifers und Chinas, ©. 538. 

Bierundzwanzigfte Borlefung. Das Abfolute (Unmpthologifche) des 
hinefiihen Princips zeigt fih 3) in der Sprache Chinas — Bemerkungen gegen 
Abel Remufats Leugnung der Einſylbigkeit der chinefiihen Sprade — ©. 541. 
Wahrer Grund der monojyllabischen Natur der chinefiihen Sprache — Rückblick 
auf die Urſprache des Menfchengefchlechts und die Sprachenverwirrung — ©. 544. 
Widerlegung der Ableitung des Charakters der hinefifchen Sprache aus einem 


xV 


Zuftand der Barbarei (Remuſat), S. 548. Gleiche Singularität der chineſiſchen 
Schrift — Parallelismus der Schriftarten und der Sprachen —, ©. 550. Chinas 
Schrift Folge jeiner Sprache, nicht umgekehrt (gegen Nemufat), ©. 553. Das 
— bis in die (abfolut) worgefchichtliche Menjchheit zurüdgehende — Alter der 
Chinefen, S. 555. Ueber die richtige Stellung Chinas in der Entwicklung der 
Mythologie, S. 557. Webergang zu den in China vorhandenen Religionsigftemen: 
1) die Lehre des Eonfucius, ©. 560; 2) das Syſtem des Lao-tjee, ©. 562; 
3) der Buddismus, ©. 564. 

Fünfundzwanzigfte Vorleſung. Recapitulation. Nochmalige Charaf- 
terifivung des Indiſchen. Die Präponderanz des Geelifchen im Indier; Diefer 
entjprechend jeine phyſiſche Beichaffenheit und das Seelenvolle feiner Poeſie (Sa- 
fontala), S. 569. Weiteres iiber den Spiritualismus des Indiers im Vergleich 
zum Materialismus des Aegypters, S. 574. Mebergang zum griechifchen Mo— 
ment, ©. 576. Die Trilogie der ägyptiſchen, indiſchen, griechiſchen Mythologie, 
©. 577, Anfangspunft der hellen iſchen Mythologie in Kronos. Deſſen Affeftio- 
nen (Momente) im griechifchen Bewußtſeyn, Aides, Poſeidon, Zeus, ©. 578. Aides 
und Poseidon gegenüber von Zeus im Berhältniß der Unterordnung (dev Ver— 
gangenheit), S. 583. Darftellung dieſes Verhältniffes in der Ilias, ©. 585. 
Freiheit und Nothwendigkeit in der Bildung der hellenifhen Mythologie, S. 586. 
Pelasger und Hellenen (Herodot IL., 52. 53). 

Schsundzwanzigfte Vorlefung. Charakter der griechiichen Miytho- 
logie als allgemeiner Mythologie (als Götterjyftems). Homer und Heftod in 
ihrer verjchiedenen Stellung zur griechifchen Mythologie, S. 591. Erfter Begriff 
der Theogonie: das Chaos, ©. 5%. Der dem Chaos parallele Begriff des 
Janus in der altitalifchen Mythologie (Verhältniß der letzteren zur hellenifchen My— 
thologie, wobei Bemerkungen über die altgermanifche und die ſcandinaviſche Götter- 
fehre), ©. 598. Deduftion des Chaosbegriffs und Nachweis des gleichen Inhalts 
in der Geftalt (dem Symbol) des Janus, ©. 599. Die alten Zeugniffe über 
die Bedeutung des Janus als der Ureinheit, ©. 604. Der Janustempel in 
Rom. Duirinus = Janus (der Anfang der römischen Gejchichte. Niebuhr), 
©. 607. Das Zeugnif des Opid, ©. 610. Etymologie von Janus. Butt- 
manns Ableitung, ©. 611. 

Siebenundzwanzigfte Borlefung. Die erfte Periode der Theogonie: 
1) der Moment der für fich feyenden Gäa = Moment der erften Materiali- 
firung des Urprincips, Moment des noch unmythologiſchen Zabismus, ©. 615. 
2) der Moment der erften Grundlegung zum Mythologifhen: die Kinder der Gäa 
und des Uranos, a) die Titanen, b) die Kyklopen; deren potentieller Zuftand, 
©. 618. — Die Genealogie der Kinder der Nacht als philoſophiſche Epifode der 
Theogonie, S. 621. — Uebergang der Theogonie zur mythologiſchen Zeit. Die 
Kronogzeit = Entftehungsmoment der griehifchen Mythologie. Die den drei 
Kronosſöhnen entiprechenden weiblichen Gottheiten: Heftia, Demeter, Hera. Heſtia, 
Demeter und Perjephone in ihrem gegenfeitigen Verhältniß, ©. 628. Die Be- 
deutung des Raubs der Perfephone. Die Grenze zwifchen dem Erxoteriſchen und 


xvi 
Eſoteriſchen der griechiſchen Mythologie, S. 630. Zweck und Inhalt der My— 
ſterien, S. 632. Kritik der bisherigen Vorſtellungen von Demeter und Perſephone, 
©. 636. Die Paulus'ſche Erklärung der Myſterien, ©. 640. Wie Exote— 
riſches und Ejoterifches in der griechiſchen Mythologie fich gegenfeitig bedingen, 
©. 642. 

Ahtundzwanzigfte Borlefung. Dualitativer Unterſchied zwifchen dem 
Charakter der griechiſchen Religion und dem der früheren Neligionen, ©. 645. 
Ueber den angeblich nachhomerifchen Urfprung der Myſterien und die Bedeu— 
tung Homers, ©. 647. Die Beichaffenheit der homerifchen Götter, S. 650. 
Die erſte Scheu der griechiſchen Kunft, Götter menſchenähnlich darzuftellen (die 
Stufen der bildenden Kunft bei den Griechen), ©. 653. Erklärung diefer Schen, 
wobei Allgemeines über alte und neue Kunft, ©. 658. 

Neunundzwanzigfte Borlefung. Berhältniß der geſammten griechi- 
ſchen Götterwelt zu Zeus, ©. 661. Wiefern einige Götter der griechifchen My— 
tbologte früher als formelle Götter erfcheinen, die fpäter unter die materiellen zu 
ftehen kommen (Ares. Hephaftos), S. 664. Der Begriff der Athene = der wie- 
berhergeftellte Perjephone, darum die rorropevera, ©. 665. Begriff des Hermes. 
Der eigenthümliche Charakter der beiden Gottheiten: Apollon und Artemis, ©. 667. 
Wieweit innerhalb der griechifchen Mythologie auch eigentliche Erfindungen zuzu— 
geben, ©. 669. Allgemeine Bemerkungen über die Philofophie der Mythologie, 
S. 670. Schlußbetrachtung, ©. 672. 

Anhang. Ueber die Bedentung eines der neuentdeckten Wandgemälde von 
Pompeji, ©. 675. 


Erfies Sud. 


Der Monotheismus. 


Schelling, fämmtl. Werfe. 2. Abth. II. 1 


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Erfte VDorlefung. 


Der Ausorud „Philofophie der Mythologie” jest die Mythologie 
zum voraus in eine Klaffe von Gegenftänden, die nicht bloß zufällig, 
nicht etwas bloß Gemachtes, Faktices (faetitii quid) find, fondern die- 
mit einer Art von Nothmwendigfeit eriftiren. Denn, 3. B. wenn ich 
jage: Philofophie der Natur, fo fete ich damit eine gewiſſe Nothwendigkeit 
der Eriftenz der Natur voraus. Ebenſo, wenn ich fage: Philoſophie 
der Gefchichte, Philofophie des Staats, Philofophie der Kunft. Ob— 
gleich e8 fcheint, daß der Staat etwas von Menfhen Gemachtes fer, 
die Kunſt etwas unleugbar von Menjchen Ausgeübtes ift, fo fee ich 
doch voraus, daß dem Staat fowohl als der Kunſt eine von der Will- 
fir der Menſchen unabhängige Realität zufomme, daß in beiden noch 
andere Mächte walten als menfchlihe Willfür, oder daß dieſe wenig- 
ftens in beiden noch einem höheren Geſetz und einem über fie jelbft 
erhabenen Princip unterworfen ſeyen. Wir wollen, um ven allge 
meinften Ausdruck zu wählen, jagen: In jedem Gegenftand, mit dem 
der Begriff der Philofophie auf Die angezeigte Weife in Verbindung 
gefegt wird, müfjen wir eine Wahrheit vorausfegen; er darf nichts 
bloß Gemachtes, Subjeftives, er muß ein wahrhaft Objeftives feyn, 
wie 3. DB. die Natur ein Objeftives ift. Sprechen wir alfo von einer 
Philofophie der Mythologie, fo müffen wir auch der Mythologie objef- 
tive Wahrheit zufchreiben. Aber eben dieß fühlen wir ung außer Stande 
zu thun, ja gerade das Gegentheil der Wahrheit fehen wir in ber 
Müthologie. Sie erfcheint uns zuerft, wie man auch insgemein ſich 


4 
auszudrüden pflegt, als eine reine Yabelwelt, die wir uns entweder nur 
als eine reine Erdichtung oder wenigftens nur als eine entftellte Wahrheit 
venfen können. An einem folhen Erzeugniß aber hätte die Philoſophie 
nichts zu thun. Das wahre Verhältniß der Philofophie zur Mythologie 
fonnte daher fo lange nicht gefunden werden, als nicht durch eine fort- 
gejegte Kritif, durch Entfernung und Abfonderung alles bloß Hypothe— 
tijchen im der bisherigen Auffafjungs- und Erflärungsweife das rein 
Thatſächliche der Mythologie ermittelt war. Solange man eine 
bloß fubjeftive Entftehungsmeife der Mythologie (mie in allen früheren 
Erklärungen) annahm, jolange man es für möglich anjehen Fonnte, daß 
in der Mythologie ein — religiöfes oder philofophifches — nur aus 
feinen Fugen gefommenes Syſtem enthalten jey, durfte man der Philo- 
fophie Das untergeordnete Geſchäft anmweifen, diefes in der Mythologie 
angeblich begrabene und. gleichfam verſchüttete Syftem zu eruiren und 
aus feinen Bruchftüden wieder zufammenzujegen. Aber das Verhältniß 
ver Philofophie erweist ſich uns jetzt als ein ganz verſchiedenes. Wir 
haben in ven früheren Vorträgen gezeigt, daß die Mythologie eine ganz 
andere Objektivität ift, als irgend ein wilfenfchaftliches oder religiöjes 
Syſtem. Wir haben fie für ein in feiner Art ebenfo reales, nothwen- 
diges und allgemeines Phänomen erfannt, als die Natur if. Der 
theogoniſche Proceß, in dem fte entjteht, erfolgt nicht nach einem be- 
jonderen Geſetz des Bewußtſeyns, fondern nad) einem allgemeinen, wir 
fünnen jagen, nad) einem Weltgejeß — er hat kosmiſche Bedeutung; 
jein Inhalt ift daher ein allgemeiner, feine Momente find wahrhaft 
objeftive Momente, feine Geftalten drücken nothwendige und in dieſem 
Sinne nicht bloß vorübergehende, fondern immer bleibende Begriffe aus. 
Der theogoniſche Proceß ift ſelbſt ein allgemeiner Begriff, d. h. dem 
aud) unabhängig von dem menſchlichen Bewußtjeyn und außer demfelben 
Bedeutung zufommt. Reelle Fortfchritte (von bloßen meift durch fie 
erſt veranlaften formellen Berbefjerungen wohl zu unterfcheiden) hat bie 
Philofophte nie gemacht, als in Folge einer: erweiterten Erfahrung; 
nicht immer, daß neue Thatjachen fi) herworgethan haben, fondern 
daß man genöthigt war, in den befannten etwas anderes zu fehen, ale 


» 
197 





man in ihnen zu fehen gewohnt war. Wie hat fih, abgefehen von 
feinem kritiſchen Verdienſt und bloß materiell genommen, die Welt ver 
Philofophie durch Kant erweitert; wodurch anders, als meil ſich die 
TIhatfache der menjchlichen Freiheit, die felbft einem Geifte wie Leibniz 
viel weniger bedeutet hatte, ihm fo angelegen gemacht hatte, daR er 
eher alles andere aufzugeben ſich bereit erklärte. Nur zu bald nad ihm 
wurde, wie befannt, alles andere wirklich aufgegeber. Da indeß die 
verfchtedenen Seiten des menſchlichen Wilfens fi von felbjt immer 
wieder ins Gleichgewicht jegen (der befte Beweis, daß der ſyſtematiſche 
Zufammenhang derjelben nicht etwas von der Philofophie Gemachtes, 
fondern Objektive und Natürliches ift), jo trat Die andere Seite der 
menſchlichen Erkenntniß nur um fo mächtiger hervor. - Solange man 
die Natur als ein bloß paſſives Weſen betrachtete, das nichts zu thun 
habe als ſich erſchaffen und im feinem Seyn erhalten zu Lafjen, Fonnte | 
man fid) mit dem unverftandenen Begriff der Schöpfung auf der einen, 
und einer bloß. formellen Erkenntniß der Natur auf der andern Seite 
begnügen. Aber feit im Gegenſatz mit einer einfeitig idealiſtiſchen Phi— 
loſophie erkannt worden, daß die Natur Fein bloßes Niht- Ich, nicht- 
Seyendes, jondern felbft auch ein Pofitives, ein Ich, ein Subjeft- 
Objekt ſey, mußte fie als nothwendiges Element in die Philofophie 
eintreten, wodurd allein ſchon diefe in ihrem Innern fo verändert wurde, 
daß es ihr unmöglich wurde, auf einen der früheren Standpunkte zurück— 
zufehren. 

Wie man fich aber im Allgemeinen gegen Erweiterung einmal ge— 
faßter Begriffe fträube, erkannten Thatſachen kann Feine noch fo einge- 
wurzelte Denfart in die Länge widerftehen. Man darf als ficher an- 
nehmen, daß mas einer Zeit als Philofophie gilt, ſtets nur das Nefultat 
einer gewiſſen Summe von Thatſachen, oder, auf diefe berechnet ift; 
was außer diefem bejchränften Kreiſe liegt, wird ignorirt, im Dunfeln 
gehalten, oder durch mehr oder weniger ſeichte Hypotheſen bei Seite zu 
ſchieben geſucht. Natürlich, daß eine gerade geltende Denfart e8 ungern 
fieht, wenn Thatſachen, die fie bejeitigt glaubte, hervorgezogen oder auch 
nur in ein beveutenderes Picht geftellt werden, als fie bisher ihnen zu 


6 
gönnen für gut gefunden hatte. Hat doch felbft Goethe nur langſam 
über fich gewonnen, zuzugeben, daß neue geognoftiihe Wahrnehmungen 
andere Erflärungen nöthig machen Fünnten, als er bis dahin feftgehalten 
hatte '. 

Die Begriffe der nach Fichte gekommenen Philojophie richteten ſich 
nach dem was fie fannte, und aud) jegt nod) können ſich viele nicht 
vorftellen, e8 jey um eine andere Welt zu thun, als die ihnen vor 
50 Jahren gezeigt worden. Aber es ijt außer diefer noch eine nicht 
weniger reelle, welche zu zeigen dieſe Vorträge den Anfang gemacht 
haben, bei denen es freilich manchem, ber eine bloß hiſtoriſche Unter- 
ſuchung erwartete, nicht anders zu Muth jeyn dürfte, als nad) Herakleitos 
denen, die in die Unterwelt hinabfteigen, daß fie nämlid) finden, was 
fie nicht erwarten noch meinen ?. 

Wenn e8 aber gilt, von Unnatur und formeller Aufgeblafenheit zu 
Natur und gefunden, kernigem Wiſſen zurüdzuführen, da darf man 
fi) wohl an die Art erinnern, wie Sofrates in manden platonijchen 
Gefprächen zu Werfe geht, wo-er, von unfheinbaren und auf den erften 
Blick ſogar fremdartigen Veranlaſſungen ausgehend, den Schüler durd) 
Fragen, die und als wahre Kinderfragen erjcheinen, von dem falſch— 
philoſophiſchen Schwulft zu befreien, und dann aber, wenn dieſer wie 
ein Rauch hinmweggeblafen ift?, eben denſelben durch eine unerwartete 
Wendung unmittelbar vor die höchften Gegenftände zu ftellen weiß, fo 
daß ihm, was im unerreichbarer Ferne ſchien, in überrafchender Nähe 
und in einer Klarheit erjcheint, deren Eindrud bleibend ift und ihn 
für immer gegen allen Dünfel und leeren Dunft ficher ftellt. Sofratifche 
Gefpräche find nicht mehr für unfere Zeit, aber auf ähnliche Weife war 
doch das Ausgehen von Mythologie gemeint, und e8 hat zur Zeit, als 
ich diefe Vorträge anfing, dieſes Ausgehen von einer großen, allgemeinen 
und fix jeden offenliegenden Erſcheinung mir auf ähnliche Weife gedient. 


' Nachgelaffene Schriften 11. Th. S. 190. 
Aoou our &iaovraı o0S8 dondovow. Clem. Alex, Strom. IV, 26. 
Anſpielung auf Ausdrücke des Plutarch in der Abhandlung de Deo So- 


eratis. 


Wenn e8 einem bürren Kormalismus unter Begünftigung zufälliger Um- 
ftande gelingen konnte, die Quellen. wahrer Erfenntnig auszutrodnen, 
die Philofophie für eine Zeit lang mit einer Art von Stupor zu ſchlagen 
(stuporem philosophiae inducere), jo durfte man hoffen, daß ſchon 
das Anſchließen an eine friſche, von der Philofophie bis jest unberührt 
gebliebene Thatjache diefer felbft eine neue Bewegung mittheilen werde. 
Wenn enge und beengende Anfichten in der Philofophie eine gleich enge 
Sprache zur Folge gehabt haben, in der feine Auseinanderjegung 
möglich ift, und die, weil fie auf alles nur einen gewiſſen Kreis von 
Formeln und Redensarten anzuwenden hat, zulett in ein wahres Irre— 
reden ausartet, fo ift fehen viel gewonnen, wenn die Unterfuchung auf 
einen Boden verfegt, auf einen Gegenftand gerichtet wird, der neue 
Mittel des Begreifens fordert, und indem er die Anwendung der alten 
verwirrenden Yormeln nicht mehr geftattet, zu freiem und Harem Aus— 
druck nöthigt. 

Wir werden alfo um fo mehr uns aufgefordert fühlen, die That- 
ſache der Mythologie, die wir im erften Theil diefer Vorlefungen zu 
begründen gefucht haben, von dem Punft aus, an welchem wir ftehen 
geblieben find, weiter zu verfolgen, Ohnedieß hat uns die frühere 
Unterfuhung auf ein Reſultat geführt, bei dem wir nicht ftehen bleiben 
fünnen. 

Die Mythologie ift uns erfannt als Erzeugnig eines theogoniſchen 
Procefjes, in den das Innere der Menfchheit mit dem erften wirflichen 
Bewußtſeyn verſetzt ift; aber diefer Begriff des theogoniſchen Procefjes 
ift jelbjt ein bloß durch Schlüffe, unverwerfliche zwar — aber er ift 
nicht ein von fih felbft, von feinen eigenen Pramiffen aus 
gefundener und erkannter. Er ift nur die Grenze, bis zu welcher wir 
auf dem Wege der hiftorifch=philofophifchen Unterfuhung gelangt find, 
der Punkt, an dem mir fie vorerft abgebrochen hatten, Denn da wir 
ung geftehen mußten, daß um einen foldhen, auf einem realen, von ber 
Bernunft unabhängigen Berhältnig des menſchlichen Bewußtſeyns zu 
Gott beruhenden Proceß zu begreifen, die gegenwärtige Philoſophie Feine 
Mittel darbiete, fo veranlafte uns dieß von unferem unmittelbaren 


8 





Gegenſtande eine Zeit lang ums zu entfernen, auf die rein philofophifche 
Entwidlung überzugehen und die ganze vationale Philofophie darzuftellen, 
um zu zeigen, wie dieſe ſelbſt zulegt mit der Forderung der pofitiven 
Philofophie endigt. Wir könnten nun alfo legtere entwideln, fomit den 
Verſuch machen, unmittelbar von den Anfängen der pofitiven Philoſophie 
aus, erſtens zu dem Begriff eines theogoniſchen Proceſſes überhaupt, 
und von da zweitens zu einem ſolchen im Bewußtſeyn zu gelangen. 
Allein dieß iſt jetzt nicht unſere Abſicht; wir behalten uns dieſen Weg 
für einen anderen Vortrag vor, und treten nun vielmehr auf unſern 
früheren (analytiſchen) Weg zurück, indem wir das zuletzt gefundene 
Reſultat wieder in feine Vorausſetzungen verfolgen. 

Die nächſte Borausfegung nun aber des theogonifchen Procefjes ift 
ung bereit8 vorläufig und im Allgemeinen gefunden, Diefe Voraus— 
jegung ift der mit dem Weſen des Menjchen geſetzte potentielle Mono- 
theismus. In jenem angeblich natürlichen Monotheismus des Bemwußt- 
ſeyns, dieſem Monotheismus, den es an fi hat, den es nicht los 
werben fann, — in diefem mit ihm. verwachfenen Monotheismus alfo 
muß der Grund der theogonifchen Bewegung des Bewußtſeyns Liegen. 
Dieß vorausgefett, ift auch leicht Einzufehen, daß der Begriff des Mo- 
notheismus überhaupt das Geſetz und gleihfam den Schlüffel 
der theogonifhen Bewegung enthalten muß. Bon dorther müfjen die 
Faktoren, muß der ganze Inhalt des theogonifchen Procefjes gefunden 
werden. 

Auf diefen Begriff (den des Monotheismus überhaupt) hat ſich— 
nun alfo die nächfte Unterfuchung zu richten, und zwar nicht auf bie 
Weife, daß wir ihn felbft von vorn, d. h. won den allgemeinften Prün- 
cipien abzuleiten fuchen, fondern wie früher die Mythologie, werden wir 
jetzt die ſenn Begriff als eine Thatfache behandeln, und nur fragen, 
was er bedeute, was feim eigentliher Inhalt ſey, wobei 
nichts voraus angenommen ift, als eben nur dieß, Daß er einen Inhalt 
und eine Bedeutung habe. | 

Den Begriff des Monotheismus auf dieſe Weiſe sei gleichſam 
als Thatſache zu behandeln, hat um ſo weniger Schwierigkeit, als unter 





der ganzen Maffe philofophifcher oder religiöfer Begriffe feiner fich 
finden möchte, der in folder Allgemeinheit als der überhaupt wahre 
zugeftanden wäre, wenn auch über feinen Sinn oder eigentlichen Inhalt 
feinesmegs eine ausgeſprochene Uebereinftimmung vorhanden ſeyn follte, 
Er ift 1) der gemeinfchaftliche Mittelpunkt der mythologiſchen und der 
geoffenbarten Religion : im diefer ift er ohne alle Frage der höchſte Des 
griff; erftere aber ift ohne zu Grumde liegenden Monotheismus nicht 
wirklicher Polytheismus; 2) ſelbſt die fogenannte Bernunftreligion will 
ihn wenigftens enthalten ; denn dafür will Doc jeder, der nicht geradezu 
fich als Atheift erklärt, angejehen jeyn, daß er fein Polytheift, alfo daß 
er ein Monotheift ift; ob er e8 darum wirklich und in der wahren Bedeu— 
tung jey, iſt freilich noch eine Frage. 

Mit diefem Vorbehalt alfo, daß fein eigentlicher Inhalt näher be= 
ſtimmt werde (und eben dieß ift unfere Abficht), läßt ihn jeder gelten, 
und e8 möchte Feine Unterfuhung jeyn, die ſich mit allgemeinerer Zu- 
ftimmung anfangen ließe als eben Diele. 

Um daher eine Ueberficht des Weges zu geben, der noch zurüd- 
zulegen ift, fo werden wir 1) den Sinn-oder näheren Inhalt des Be— 
griffs zu erforfchen haben, ein Gejchäft, dem wir bei feiner möglichen 
Anficht uns entziehen Fünnten. In einer Unterfuhung, die den Poly- 
theismus zum Gegenftand hat, muß alles ſchwankend ſeyn, folang man 
nicht mit völliger Sicherheit weiß, was fein Gegentheil bedeutet. In 
der früheren Entwicklung zwar haben wir diefen Begriff ſchon im Gegen- 
jats zum bloßen Theismus, der nur überhaupt oder unbeftinnmter Weife 
Gott fest, theils im Gegenfag zu dem bloß. relativen Monotheismus, 
der im Grunde ſchon Polytheismus ift, beftimmt, in jener Beziehung 
als den beftimmten Begriff des wahren Gottes, in diefer als den 
Begriff des abfolut oder wahrhaft Einen. Vorläufig war dieß hin- 
veichend. Aber eben worin die wahre Einheit und demnach überhaupt 
die Wahrheit Gottes beftehe, dieß ift die Frage, die ung zu beantworten 
bleibt, und find trog aller Bemühung in der bisherigen Entwicklung 
Dunfelheiten oder Unbeftinmtheiten zurücgeblieben, die wir nicht ent- 
fernen fonnten, jo find e8 eben foldhe, die mit der Beantwortung dieſer 


10 u 


Frage zufammenhängen. Bei einer Unterfuchungsweife wie Die gegen- 
wärtige, die vom noch Unbeftimmten ausgehend durch aufeinanderfolgende 
Beftimmungen erft das Wahre erreicht, kann nur das endliche letzte 
Kefultat vollfommene Befriedigung gewähren. Der Lehrer muß bier 
das Vertrauen der Zuhörer in Anfpruch nehmen, daß er fie nicht einen 
vergeblihen Weg führe. Geſetzt ſodann — und wir haben alle Urfache 
dieß anzunehmen — es fänden ſich in dem verftandenen Begriff (des 
Monotheismus) die Elemente, die ung in den Stand fegen, einen 
theogonifhen Proceß überhaupt zu begreifen, fo werden ung 
aud die Mittel gegeben feyn, einen theogonifchen Procef des Be- 
wußtſeyns als einen möglihen, und unter einer gewilfen Boraus- 
jegung nothwendigen einzufehen, und dann erft, wenn die Möglichkeit 
eines theogonifchen. Procefjes im Bewußtfeyn gegeben ift, werben wir 
3) daran denfen dürfen, die Wirflihfeit einer ſolchen (theogonifchen) 
Bewegung des Bewußtſeyns an der Mythologie felbft nachzumeifen. 
Das Letzte wird erft die unmittelbare Erklärung, es wird die Philo- 
jophie der Mythologie felbft feyn. 
* * 

Wir nehmen alſo jetzt den Begriff des Monotheismus als einen 
vorhandenen an, und die Frage iſt bloß, was er enthält. Es 
handelt ſich nicht darum, einen noch überall nicht vorhandenen Be— 
griff zu gewinnen oder zu erzeugen, ſondern nur ſich bewußt zu 
werden, was in einem ſchon vorhandenen und allgemein zugegebenen 
Begriff gedacht werde und was in ihm nicht gedacht werde. Man 
könnte zwar dieſer Erörterung des Begriffs Monotheismus gleich mit 
der Frage entgegentreten, was denn wohl an diefem einfachen und jedem 
Kinde, das einen chriftlichen Keligionsunterricht genoffen hat, befannten 
Begriff viel: zu erörtern feyn werde, und hierauf will ich aud) zuerft 
antworten, — Jede Erörterung eines Begriffs fett einen Zweifel über 
den wifjenfchaftlihen Sinn oder Inhalt des Begriffs voraus. Wie 
fünnte aber der Inhalt eines Begriffs zweifelhaft feyn, in dem wir 
insgefammt geboren und erzogen find, und den wir al8 die legte Grund— 
lage unſrer ganzen geiftigen und fittlichen Bildung erkennen müſſen? 


* 


11 


Wenn irgend ein anderer, müßte doch (fo ſcheint e8) dieſer Begriff 
außer Zweifel geftellt ſeyn, der noch überdieß nicht der bloßen Schule, 
fondern der Menfchheit angehört, und nicht bloß ein wiſſenſchaftlicher, 
ſondern ein weltgeſchichtlicher Begriff iſt. — Zunächſt nun will ich nicht 
leugnen, daß nach der gewöhnlichen Erklärung der Begriff des Mono— 
theismus freilich ein gewiſſermaßen von ſelbſt ſich verſtehender, inſofern 
auch vollkommen klarer iſt. Aber eben dieſes ſich von ſelbſt Verſtehende 
des Begriffs bildet hier die Schwierigkeit. Man ſollte doch glauben, 
ein Begriff, deſſen Feſtſtellung in der Menſchheit ſo lange Kämpfe er— 
forderte, der erſt ſeit etwa anderthalb tauſend Jahren zum herrſchenden 
geworden iſt, und auch jetzt, zwar die beſſere und geſittetere, aber doch 
immer nur noch die kleinere Hälfte des Menſchengeſchlechts beherrſcht 
— ein ſolcher Begriff müſſe ein Begriff von beſonderem Inhalt, 
nicht ein unmittelbar und von ſelbſt ſich verſtehender ſeyn. Je wichtiger 
und durch ſeinen weltgeſchichtlichen Erfolg bedeutender dieſer Begriff ge— 
worden iſt, deſto mehr alſo muß es erlaubt ſeyn zu zweifeln, ob der 
angebliche Inhalt deſſelben auch der wahre und wirkliche ſey. Man 
könnte dagegen zwar einwenden: Wenn dieſer Begriff ſeinem wahren 
Inhalt nach nicht verſtanden iſt, wie konnte er dieſe Herrſchaft über 
den einſichtsvolleren, durch Wiſſenſchaft gebildeten Theil der Menſchheit 
erlangen? Allein auch ſonſt ſind die Sachen in der Menſchheit eher, 
als die wiſſenſchaftlichen Begriffe derſelben, wie das Königthum ſeit un— 
denklichen Zeiten in der Welt iſt, und dennoch, wenn man heute Um— 
frage halten wollte über deſſen eigentlichen Grund und wahre Bedeutung, 
würde man die verſchiedenſten Antworten erhalten. — Wie auch jener 
erſte große Uebergang von der Vielgötterei zur Anerkennung des einigen 
Gottes vermittelt worden, durch Wiſſenſchaft, oder vielleicht überhaupt 
auf eine der vormaligen Menſchheit begreifliche Weiſe, iſt er nicht bewirkt 
worden; es könnte alſo leicht ſeyn, daß die ſpäter hinzutretende Reflexion 
über die eigentliche Urſache, d. h. über den wahren Inhalt des Begriffs, 
durch den dieſe große Veränderung hervorgebracht worden, ſich getäuſcht 
hätte. Iſt nun aber ein erwünſchter und jedem erfreulicher Zuſtand 
begründet, ſo fragt man nicht mehr nach ſeinem Urſprung, man richtet 


12 





fi) darauf ein, ihn zu genießen und zu benugen, ohne feiner Grund- 
(age weiter nachzuforfchen, ja man wagt lange Zeit nicht, dieſe mit 
freiem Blick zu betrachten, zum-Theil aus Furcht, das ganze Gebäude 
der angenommenen Lehren und Begriffe zu erfchüttern. Das allgemeine 
Anerkanntfeyn eines Begriffs Leiftet überhaupt Feine fichere Bürgſchaft 
für deſſen wiſſenſchaftliche Ergründung, und man fünnte vielmehr ohne 
Paradorie behaupten, die wifjenfchaftlihe Ergründung eines Begriffs 
jtehe meiſt im umgefehrten Verhältniß mit der Allgemeinheit feines Ge- 
brauche. In der Kegel find e8 gerade diejenigen Begriffe, deren jeder 
fi berühmt und die gleichjam in beftandiger Anwendung find, die am 
Blindeften gebraucht werden; jeder verläßt fich auf den andern und dent, 
ein ſolcher allgemein gebrauchter Begriff er doch wohl außer allen 
Zweifel geftellt jeyn. 

Dan Fünnte fi) noch fpeciell darüber wundern, daß heutzutage, 
wo manche Theologen in der Philofophie fo frucht- und erfolglos gleichſam 
nicht hoch genug ſich verſteigen Fünnen, es nicht einmal Einem diefer 
Herren, 3. DB. einem Daub, eingefallen ift, nur vorerft diefen erften 
und, wie es jcheint, einfachften Begriff ins Reine zu bringen, .ehe fie 
fi) jo bis in die Unverftändlichfeit verlieren, Wer weiß aber nicht, 
daß es ein allgemeiner Fehler des Menfchen ift, im Weiten und Unge- 
mefjenen zu fuchen, was er ganz in ber Nähe haben Fünnte, und ans 
Complicirteſte fi) zu wagen,» eh’ er die einfachften Begriffe hat. 

Was die Yehren der rationalen Theologen insbefondere betrifft, von 
penen man doch am eheſten erwarten jollte, daß fie über diefen Begriff 
völlig im Klaren wären, fo muß ich aufrichtig geftehen, daß ich. in 
älteren und neueren Pehrbüchern mic) vergebens nad) einem befriedigenden 
Aufſchluß über diefen erſten aller Begriffe umgefehen habe. Bon ven 
philofophifchen Lehrbüchern habe. ich bemerkt, daß fie meift ſachte an 
dent Begriff von der Einheit Gottes vorbeizufchleichen fuchen, wahr: 
ſcheinlich als an einem fich von felbft verftehenden, der zu klar fey, als 
daß man nöthig hätte, bei ihm ſich zu verweilen. Was aber bie 
pofitiven Theologen betrifft, und zwar nicht bloß neuere, fondern felbft 
ältere, jo wird fein Unbefangener umhin können, aud) bei ihnen in der 


13 
Behandlung diefes Begriffs eine auffallende Unficherheit, ein Schwanfen 
jelbft in dem Ausdrucke (3. B. die deutjchredenden wiffen nicht, follen 
fie jagen Einheit oder Einzigfeit Gottes) und eine gewiſſe verdächtige 
Eile wahrzunehmen, mit der fie über dieſen erſten aller Begriffe hin- 
wegzufommen juchen, gleich als vwertrüge er. fein feſtes Auftreten oder 
als brächte tieferes Eindringen Gefahr!. 

Die Urſache dieſer Verlegenheit iſt auch eben nicht ſchwer zu ent— 
decken; denn die Formel, in welcher ſie den Begriff und die Lehre von 
der Einheit Gottes ausdrücken, iſt die bekannte: daß außer Gott 
kein anderer Gott iſt. (Indem ich bei meiner Kritik des Begriffs 
von dieſer Formel ausgehen werde, ſo fordere ich Sie alle auf, ſich zu 
beſinnen, ob Ihnen eine andere Erklärung des Begriffs Monotheismus 
irgendwo jemals vorgekommen iſt). 

Betrachten wir nämlich dieſe Erklärung, ſo leuchtet von ſelbſt ein, 
wie jener Satz: daß außer Gott kein anderer Gott iſt, eigentlich eine 
rein überflüſſige Verſicherung enthält. Denn ich könnte wohl verſucht 
ſeyn, außer einem Gott, den ich angenommen, noch einen oder mehrere 
andere zu denken. Nachdem ich aber einmal nicht einen Gott, ſondern 
Gott ſchlechthin geſetzt habe, iſt ſchlechterdings nicht einzuſehen, welche 


Als Beweis jener Unſicherheit kann ſchon die verſchiedene Stellung ange— 
ſehen werden, die man dieſem Begriff im Ganzen der chriſtlichen Dogmatik ge— 
geben hat. Man ſollte gewiß erwarten, daß dieſer Begriff, der gleichſam zwei 
Welten oder zwei Seiten der Geſchichte, die heidniſche und die chriſtliche, von— 
einander ſcheidet, auch gleich zuerſt, vor allen anderen und als allen- zu Grund 
liegender und darum abjolut jelbftandiger aufgeftellt werde. In älteren Lehr- 
büchern findet man auch wohl noch vor der Abhandlung ‚der einzelnen fogenannten 
Attribute ein bejonderes Kapitel über die Einheit des göttlichen Wejens, noch 
> B. bei Johann Gerhard (f. defjen Loc. Theoll. Vol UI, c. VID), un- 
ftreitig im Gefühl, daß alles, was in der Folge gefagt werden möchte, doch rich- 
tiger Weife nur von dem einzigen Gott zu fagen jeyn würde, Ganz anders 
aber in den fpäteren. Hier hat die Einheit oder Einzigfeit ſchon gleichjam auf- 
gehört, Gegenftand einer bejonderen Lehre zu ſeyn; fie ericheint nicht mehr als 
jolhe hervorgehoben, fondern in der allgemeinen Lehre von den göttlichen Eigen- 
ſchaften, gleichſam verftedt neben und unter anderen, die als gewiffermaßen voraus 
(von ſelbſt) fich werftehende angejehen werden, wie bie Ewigfeit, das von-jelbft-Seyn, 
die Unendlichkeit u. ſ. w 


14 





Beranlaffung ich haben Fünnte, ja wie e8 nur möglid) wäre, Gott nod) 
einmal oder mehrmald zu jegen; es wäre eine reine Ungereimtheit. 
Wenn es aber nicht ein möglicher Irrthum, jondern eine veine Unge- 
veimtheit ift, außer Gott, den ich einmal als Gott geſetzt habe, nod) 
einen Gott oder mehrere zu fegen, fo ift die entgegengejetste Berficherung 
als ausdrückliche Verficherung, als Behauptung vorgetragen, jelbft auch 
eine Ungereimtheit. Hieraus möchte ſich alfo wohl hinlänglich die Art 
von Blödigfeit erklären, welche Theologen anwandelt, wenn fie von dem 
Begriff des einzigen Gottes oder von dem Monotheismus Rechenſchaft 
geben follen. Denn wie foll man beweifen, was niemand einfallen 
kann zu leugnen, oder widerlegen, was ebenfowenig jemand einfallen 
kann zu behaupten ? Wenn ic) außer Gott einen anderen Gott aud) 
nur denken könnte, jo hätte ich jenen ſchon nicht als Gott, fondern 
gleich nur als einen Gott geſetzt. Umgefehrt alfo, wenn ich leugne, 
daß außer Gott ein anderer fey, jo habe ich ihn damit wieder nur als 
Gott, nicht aber als den einzigen Gott gefest, ein Ausdruck, der hier 
völlig pleonaftifch wäre. Es begegnet hier der Theologie gewiffermaßen 
das Gegentheil von” dem, was bei anderen Dogmen, die ihr wegen 
zu großer Dunkelheit zu fchaffen machen; denn hier ift e8 vielmehr Die 
zu große Klarheit, was ihr Ungelegenheit verurfadht; man ſchämt fid) 
gleichſam, als beſondere Lehre, ja als Dogma einen Satz auszuſprechen, 
der ſich fo ganz won felbft verfteht. | 
Wenn die ehemaligen Wolffianer ſich nicht wenig damit mußten, 

aus ihrem fogenannten Prineipium indiscernibilium beweiſen zu Fünnen, Ä 
daß aud) Gott außer Gott, oder Gott noch einmal gejegt, dod nur Ein 
Gott (nicht wirklich ein zweites Weſen, fondern nur dafjelbe Weſen 
nochmals) gedacht fen würde‘: fo hätten fie billig erſt zeigen follen, 
wie jemand das anftellen fönne, außer Gott nod) einmal Gott zu denken. 
Uebrigens dient eben dieſe Anwendung des Grundfages des nicht zu 
Unterfcheidenden zum Beweis, daß man die Lehre von Der Einheit 
Gottes wirklich nicht anders, fondern ebenfo verftanden. In biefem 
Sinn, daß A Gott (wirflih Gott, nicht einen Gott) bedeutete und 


' &, Canzens Usus philos. Leibniz. in Theologia p. 275. 


15 


dann oh A-A-+A... gejett würde, hat e8 niemals Polythersmus 
geben können; alfo kann auch das Gegentheil, in demfelben Sinne ge- 
dacht, nicht Monotheismus feyn. Denn entweder denke ich überhaupt 
nicht Gott, fo iſt dieß Atheismus, oder ich denfe Gott, jo habe ich ihn 
ſchon als den fchledhthin einzigen gedacht. Für Polytheismus ift hier 
nirgends Raum. In diefem Sinne hatte Hermann ganz Recht, wenn 
er den Polytheismus als eine Unmöglichkeit anfah, und wenn er dem— 
gemäß alles aufbot, dem gejchichtlich vorhandenen wenigftens in feinem 
Urſprung einen andern und uneigentlihen Sinn zu fuchen. ft aber 
der Polytheismus eine Unmöglichkeit, fo iſt Monotheismus als befonderer 
Begriff nicht weniger- eine Unmöglichkeit. Beide Begriffe ftehen und fallen 
miteinander. 

Ich erinnere Sie daran, daß noch weiter vermöge einer alten, 
aber eben darum gedanfenlos gewordenen Nothwendigfeit, wenn von 
dem einzigen Gott die Rede ift, das Epitheton wahr hinzugefügt 
zu werden pflegt, indem man fagt: der einzigwahre Gott, und man 
jollte daraus jchliegen, der wahre Gott und der einzige Gott. feyen 
jelbft gleichbeveutende Begriffe, die Wahrheit Gottes beftehe eben in 
feiner Einzigfeit, und umgekehrt, feine Einzigfeit ſey zugleich feine 
Wahrheit. Demgemäß bejtimmt würde jener Sat fo lauten: Außer 
dem einzig wahren Gott ift fein anderer. Aber wer ift denn nun 
der Gott, von welchem in diefem Sat geredet wird, alſo das 
Subjeft des Sates? Antwort: das Subjeft des Satzes ift jelbft ſchon 
der einzige Gott. Die Ausfage fest felbft ſchon den einzigen Gott 
voraus; denn fie jagt nur von dem einzigen Gott, daß fein anderer 
außer ihm ſey. Wer tft denn num aber diefer einzige Gott, von dem 
fie jagt, daß fein anderer außer ihm jey ? Etwa wieder derjenige, außer 
dem fein anderer it? Unmöglih! Da lautete ver Sab fo: der Gott, 
außer dem Fein anderer ift, ift der, außer dem fein anderer ift, und 
die legte Tautologie wäre ärger als die erſte. Die Einzigfeit, welche 
im Subjeft des Sages ſchon gejegt ift, muß aljo eine andere Einzigfeit 
jeyn, als die in der eigentlichen Ausfage behauptet wird. Nun ift Die 
legte al8 Einzigfeit nad) außen gemeint, wie darans erhellt, daß nur 


16 





von dem gefprochen wird, das außer Gott nicht ift. Alfo kann die 
erfte, die hen im Subjekt des Satzes ausgeſprochen, nicht auch die 
Einzigkeit nach außen, ſie kann nur die innere Einzigkeit ſeyn, die Ein— 
zigkeit Gottes bezogen auf ſich ſelbſt, d. h. die Einzigkeit Gottes als 
j olchen, und nur in dieſer kann vorausſichtlich der eigentliche Begriff 
des Monotheismus enthalten jeyn. 

Man hat Beweife für jenen Sat aufgeftellt; denn Beweiſe be- 
darf es, damit der Schein einer bejonderen Lehre entfteht.. Eine ber 
gewöhnlichften Argumentationen für die Einheit oder Einzigfeit Gottes 
— denn, wie gejagt, jelbjt über diefe Ausdrücke ift man nicht ganz einig 
— beruht auf dem Begriff der höchſten Urſache. Nun iſt zwar nicht 
zu leugnen, daß eine höchſte Urſache, inwiefern ſie dieß iſt und als 
ſolche, immer nur Eine ſeyn kann * aber dieſe Einzigkeit wäre doch 
nicht jene ganz unbedingte, die man mit dem Begriff Gott verbindet; 
eine ſolche Einzigkeit würde ſich noch immer auch mit einem bloßen 
Primat oder Principat vertragen, den man Gott in der Hervor— 
bringung der Dinge zuſchriebe, ſie würde aber nicht verhindern, ihm 
eine zweite Urſache an die Seite, zu ſetzen, die ſogar an ſich, d. h. ab— 
gefehen von der Wirfung, ganz eben das fern Fünnte was Er ift, fo, 
daß derjenige, den wir nun Gott nennen, nicht durch fein Wejen, 
Sondern bloß durch die abſolute Superiorität feiner Wirfung — bei 
Hervorbringung der Welt ein ausschließliche Recht auf den Namen 
Gott behauptete. Man fünnte fid) das Verhältniß etwa fo worftellen, 
daß man annähme, jener Gott, welcher die höchſte und als ſolche 
einzige Urſache ift, ſey dem andern in der erften Anlage zu einer 
Schöpfung nur zuvorgefommen, dieſem aber, der num feinen Raum 
fir eine eigne Schöpfung habe finden fünnen — indem alle Möglich- 
feiten einer ſolchen ſchon durch die erſte erfüllt gewefen — dieſem ſey, 
ohne daß er eben als von Natur böfe zu denfen wäre, aber wenn er 
nicht zu einer völligen und immermwährenden Unthätigfeit ſich felbft be- 
ftimmen wollte, jo fey ihm nichts weiter übrig geblieben, als einen 
Einfluß auf die Schöpfung des andern zu gewinnen, wodurch dieſem 
dann feine Schöpfung natürlich) verfümmert worden ; der erſte Urheber 


17 





habe dem DVerderben zwar mit aller Kraft zu ſteuern gefucht, aber die 
Wirkung einer ihm weſentlich oder an fich gleihmächtigen Urſache 
doch nicht völlig aufzuheben vermocht; auf dieſe Weiſe ſey dann dieſe 
gemiſchte Welt entſtanden, in der ein ſteter Wechſel von Entſtehen und 
Vergehen wahrgenommen werde, in der eines immer gegen das andere 
geſetzt, nichts in ſeiner völligen Lauterkeit, und gleichſam ohne einen 
verborgenen Feind ſey, der es in ſeinem Daſeyn untergrabe; an dieſer 
gemiſchten Welt habe alſo auf ſolche Art der andere doch auch ſeinen, 
zwar beſtrittenen und untergeordneten, aber denn doch auch ſeinen 
Theil gehabt. So ungefähr könnte man alſo der höchſten Urſache, 
ohne dieſen Begriff aufzuheben, ſogar einen andern, einen Gegengott 
an die Seite ſtellen. Wollte man ihr aber auch nicht einen andern 
Gott an die Seite ſetzen, ſo würde der bloße Begriff der höchſten Ur— 
ſache wenigſtens eine geringere Miturſache nicht ausſchließen, etwa eine 
urſprünglich aller Ordnung und aller Regel widerſtrebende Natur, über 
welche dann erſt gleich dem Anaxagoreiſchen vovg die an ſich verſtändige, 
als eine ſtärkere, gekommen wäre‘, und fie Ordnung und Verſtand 
gelehrt, die widerſtrebende und unwillige der Regel und Form unter— 
worfen hätte. Keine dieſer beiden Anſichten läßt ſich aus dem bloßen 
Begriff der höchſten Urſache widerlegen; noch weniger aber ließe ſich, 
wenn man unter der höchſten Urſache eine jede Mitwirkung abſolut 
ausſchließende verſtehen wollte, — noch weniger ließe ſich eine höchſte 
Urſache in dieſem Sinn aus dem Anblick der Welt ſelbſt beweiſen, 
die uns vielmehr durchgängig offenbar zwei in ihrer Wirkung voneinander 
unabhängige Principien zeigt, deren eines aller Form und Geſtalt zu 
widerſtreben ſcheint, das andere ſtets wieder alles in die Schranke und 
das Maß zurückführt; aber ob das eine dieſer Principien, und zwar 
das nach unſrer Anſicht minder gute von dem beſſeren (was auf jeden 
Fall ſchwer begreiflich zu machen wäre), oder ob beide gemeinſchaftlich 
von einem höheren abſtammen, oder ob ſie von jeher in gegenſeitiger 
Unabhängigkeit coexiſtirt haben, darüber kann wenigſtens die Welt kein 

! Eira voſßç ν arra dıerooundev, wird als anaragoreiich an— 
geführt. 

Schelling, ſämmtl Werke. 2. Abth, I. 2 


18 

Zeugniß ablegen. Geſetzt aber endlich, es Liege fich aus dem Anblid 
der Welt, aus welcher doch allein auf die Urſache zu ſchließen wäre, 
geſetzt, es ließe ſich aus diefer ein völlig überzeugender Schluß ziehen 
auf die abfolute, fchlechterdings Feine Mitwirkung zulaffende Einheit 
der erften Urfache, fo wäre auch dann diefe höchfte. Urſache, oder Gott, 
doch nur, wie man zu ſagen pflegt, der That nach, ipso actu, einzig, 
nicht aber der Natur nach. Die Theologen nennen aber die Einzigkeit 
Gottes eine Einzigkeit der Natur oder dem Weſen nach, ſo daß eigent— 
lich nicht bloß kein anderer Gott außer ihm iſt, wie ſie gewöhnlich ſich 
ausdrücken, ſondern keiner ſeyn kann, daß es Gott durch ſeine Natur 
unmöglich iſt, etwas außer ſich zu haben, ſowohl das ihm gleich, als 

das ihm ungleich wäre '. Ä 
Es jheint, man hat bis jegt bei der Entwidlung des Begriffs 
Monotheismus immer nur an den eigentlichen Polytheismus gedacht. 
Allein das eben angeführte Syftem läßt ſich nicht Als direkter Gegenſatz 
tes Monotheis mus anfehen, denn es ift in der That nicht Poly- 
theismus. Man fann nicht jagen, dieſe Lehre je unmittelbar der Lehre 
von dem einzigen Gott entgegen; denn auch ihr ift der von ihr gut ges 
nannte Gott doch in der That der einzige wahre Gott, der andere aber 
der Nicht-Gott, der falfche, der unrechte Gott. Und dennod, betrachten 
wir diefe Lehre als ein falfches, der wahren Keligion entgegengejetstes 
Syſtem. Denn der wahre Gott des dualiſtiſchen Syſtems iſt eigentlich 
nur zufällig der wahre, wie er auch nur zufällig der gute heißt. Denn 
der andere, der im Syſtem der zwei Principien als Princip oder Urſache 
des Böſen betrachtet wird, hat angenommenermaßen mit dem erſten 
völlig gleiche Macht, und alſo auch völlig gleichen Fug und gleiches Recht, 
zu ſeyn, d. h. ſich zu äußern und zu wirken, ſich mit einem Seyn zu 
Deus autem est unicus non modo actu ipso, ut tamen plures 
Dii essent possibiles, sed quia contrarium ne fieri quidem potest. 
Unde patet (ut hoc obiter moneam) hanc unitatem non debere probari 
ex sufficientia unius Dei; ostenderet haec ratio, non opus esse, ut 
actu ipso plus quam unus existat Deus, non vero plurium possibi- 


litatem refellit, utpote quae, si cetera essent paria, tamen locum habere 
posset. Weissmann, Institt. Theol. p. 198. 


19 
umgeben, fi) ein Seyn, ein Reich zu erfchaffen; alfo hat er mit dem 
erjten auch ganz dafjelbe Recht, das was ihm entgegenfteht und wo— 
von er fi in feinem Seyn gehemmt, gehindert, oder angegriffen und 
beftritten fühlt, böfe zur nennen — ihm ift das Böſe, mas für ung, 
die wir in der Schöpfung des andern Gottes leben, das Gute ift, ımd 
umgefehrt, ihm ift das das Gute, was für ung das Böfe: es fommt 
alles nur auf den Standpunkt an; es ift daher unbegreiflih, wie ein 
nenerer Schriftfteller (Friedrich Schlegel) von feinem Eifer gegen das 
Syſtem des Pantheismus fid) jo weit fortreißen ließ, das Syften des 
Dualismus vorzüglich darum zur preifen und als das beffere darzuftellen, 
weil es den ewigen Unterfchied von Gut und Bös als. einen abjoluten 
feftftelle. Davon haben wir jo eben das Gegentheil gefehen, wie nämlich 
vielmehr gerade der Dualismus diefen Gegenfag in einen bloß relativen 
verwandelt, der jederzeit nur von einem partiellen — alſo partetifchen 
Standpimft gemacht wird. Wenn demnach der Dualismus, der in einer 
vollftändigen Aufzählung der möglichen religiöfen Syſteme nicht über- 
gangen werden darf — e8 ıft eine befannte Sache, daß in einem Ganzen 
zufammengehöriger und auf denjelben Gegenftand fich beziehender Be— 
griffe kein einzelner ohne die anderen vollftändig zu beftimmen ift — 
es kann bei diefer Berückſichtigung oder Erwähnung des Dualismus 
übrigens ganz dahin geftellt bleiben, ob das Syſtem, in dem Sinn, 
in welchem es hier genommen worden, hiſtoriſch jemals eriftirt hat, 
namentlich fann ganz dahingeftellt bleiben, ob der parfiiche Dualismus 
in jeinem Urſprung wirklich als Dualismus gemeint war; es ift 
genug, daß der Dualismus als ein von Polytheismus und Monotheis- 
mus gleich unterjchtedenes Syftem umter den möglichen veligiöfen Sy— 
jtemen eine bejondere Stelle einnimmt — wenn aljo diefes Syſtem 
einerſeits ein unftreitig faljches und verwerfliches ift, andrerſeits aber 
doch nicht unmittelbar oder direft dem Monotheismus entgegengeſetzt ift, 
ſo muß es in Widerſpruch ſtehen mit einem andern Begriff, jedoch 
mit einem ſolchen, der zum wahren Syſtem, alſo zum Monotheismus 
erforderlich, der alſo vom Monotheismus ſelbſt ſchon vorausgeſetzt wird, 
Denn der wahre Begriff iſt überall der letzte, der finale und vollſtändige, 


20 

der, zu welchem fortgegangen wird, für den es aber eben darum 
einen Ausgangspunkt gibt. Diefer Ausgangspunkt für den Monotheis- 
mus kann num nichts anderes ſeyn als der bloße Theismus, und 
wir werden daher das Verhältniß ganz richtig beftimmen, wenn wir 
jagen: der Polytheismus ftehe dem Monotheismus, der Dualismus eben 
Schon dem Theismus entgegen. Was nun aber unter dem bloßen Theis- 
mus in der Unterfcheidung von Monotheismus zu verftehen fey, dieß 
wird ſich durch die weitere Reflexion erklären, zu der wir jetzt fortgehen. 

Die Formel, in welcher der Monotheismus gewöhnlich ausgeſprochen 
wird, iſt eine leere, tautologiſche. Dieß war unſer erſter Punkt. Sie 
iſt aber 2) auch rein illuſoriſch. Denn auf dem Standpunkt, wo bie 
Theologen von der Einheit Gottes reden, muß, wenn man hört, daß 
außer ihm kein anderer Gott ſey, ganz natürlich die Frage ent— 
ſtehen, ob denn etwas anderes außer ihm ſey. Dieſe Frage können 
die Theologen aber nur verneinen. Denn ſie ſelbſt rechnen die Einheit 
oder Einzigkeit unter diejenigen Eigenſchaften, die Gott vor allem Thun, 
vor allem Actus, merä natur& zukommen. Auf dieſem Standpunkt 
müſſen fie alfo felbft jagen, daß nichts außer Gott jey, weil fie alles 
außergöttliche Seyn jelbft nur von der freien Caufalität Gottes her— 
leiten (wie. denn alles, was vor allem Actus außer Gott wäre, ala 
ein unabhängig von ihm Vorhandenes, ihm glei urſprünglich und 
inſofern überhaupt äquipollent ſeyn müßte, ſo daß — auch aus dieſem 
Grunde — der Satz: „es iſt kein anderer Gott außer Gott“, auf dem 
gegenwärtigen Standpunkt nur ſo viel heißen würde: es iſt nichts außer 
ihm). Wenn nun aber außer Gott nicht bloß kein anderer Gott, ſon— 
dern nichts iſt, ſo iſt ja ſoweit Gott nicht der einzige Gott, ſondern 
der ſchlechthin Einzige (nur 6 uovog, nicht aber 6 u6vog Feög). Dit 
nicht die Eriftenz eines anderen Gottes, fondern jede Eriftenz hier zu 
leugnen, jo handelt es ſich auch nicht um die Einzigfeit Gottes als 
ſolchen, jondern nur um die abjolute Einzigfeit Gottes’, — Um aber 
pen Schein hervorzubringen;, als wäre das, was nur die abjolute 


' Darauf (daß nämlich außer Gott nichts ift) führen auch die Beweife, welche 
die Theologen fir die Einzigfeit aus der Natur Gottes führen, 3. B. der von 


Einzigfeit iſt, die Einzigfeit Gottes als ſolchen, jhalten fie jenes „fein 
anderer Gott” ein, und dadurch verwickeln fie fid) in jene Tautologie 
oder rein überflüſſige Verficherung. 

Die Theologen (unter denen ich nicht gerade immer die gewöhn— 
lic jo genannten, fondern auch die Philofophen werftehe, inwiefern fie 
mit fpefulativer Theologie ſich beſchäftigen), dieſe wifjen alfo im Grunde 
von feiner anderen Cinzigfeit, als die ich Schon ausſpreche, indem ich 
ſage: Gott (nit: ein Gott). Fragt man aber nad) dem Sinn dieſer 
abſoluten Einzigkeit, oder fragt man, warum Gott nicht ein Gott, ſon— 
dern Gott iſt, ſo kann ich darauf nicht wieder antworten: weil kein 
anderer außer ihm iſt, denn damit würde ich nur in einem Cirkel mich 
herum drehen; daß er alſo Gott iſt, kann nicht darauf beruhen, daß 
fein anderer, ſondern nur darauf, daß nichts außer ihm iſt (was frei— 
lic) vorerft auch noch nicht erklärt, was er jelbft it). Hinwiederum 
dadurch, daß nichts außer ihm tft, komme ich immer wieder nur auf 
den Begriff Gott oder des ſchlechthin Einzigen, nicht aber auf den Be- 
griff des einzigen Gottes. Es wäre daher zwar leicht möglich, dent ge— 
wöhnlihen Ausdruck eine Form zu geben, in der er allerdings etwas 
fagte und die Tautologie des gewöhnlichen vermieden würde. Man 
müßte nämlid) den Sat jo ausfprechen: daß nicht ein Gott ift, außer 
dem noch einer oder mehrere andere jeyn könnten, — fondern nur Gott; 
allein bei diefem Ausdruck wäre es dann auch offenbar, daß der Satz 
nicht mehr enthielte als der frühere: Gott Iſt; es wäre offenbar, daß 
der Sag nicht etwas über Gott fagte, d. h. nicht etwas über Gott 
Hinausgehendes ausſpräche — daß er nichts von Gott ausfagte, ſondern 
nur eben den Begriff Gott felbft wiederholte; d. h. alfo, es wäre 
offenbar, daß der Sa nicht Monotheismus, fondern eben bloßen Theis- 
mus enthielt. Um ven Gehalt diefes Satzes: es ift — nicht ein 
Gott, außer dem einer oder mehrere andere ſeyn könnten, ſondern — 
nur Gott, um den Gehalt diefes Satzes auszudrüden, wäre das Wort 
Theismus vollfonnmen hinreichend, das zufanmengejegte Monotheismus 


der Unendlichkeit bergenommene; fie beweifen alle zur wiel; fie beweiſen nicht nur, 
daß außer Gott fein anderer Gott, fondern daß nichts außer ihm jey. 


22 
aber völlig. überflüffig‘. Hieraus erhellt, daß die herkömmliche Er— 
klärung des Begriffs Monotheismus, wenn fie auf ihren wahren 
Werth zurüdgeführt, d. h. von ihrem bloß Scheinbaren, eigentlich aber 
nur Tautologifchen befreit wird, nur Theismus, nicht aber Monotheis- 
mus enthält. Dieß ift ein ſehr wichtiger und großer Unterſchied. Deſſen 
ohngeachtet möchte ich nicht behaupten, daß es nicht foldye geben könnte, 
welche fi damit vollfommen zufrieden erflärten und der Meinung 
wären, es bebürfe in der Theologie nichts Weiteres, es ſey am bloßen 
Theismus genug und ein bejonderer Begriff unter dem Namen Mono» 
theismus ein veiner Ueberfluß. Zwar in früherer Zeit war der Name 
Theismus nicht zum beften angefchrieben, und wenn man von irgend 
jemand ſagte: er fey-ein bloßer Theift, fo hieß dieß faſt ebenfo viel 
als er jey ein Atheift, nämlich ein foldher, der nicht den wahren 
Gott, jondern ftatt deffen irgend ein bloßes Phantom’oder simulacrum 
des wahren Gottes behaupte. Aber dieſer unangenehme Nebenbegriff, 
der mit dem Wort Theismus fonft verbunden war, hat ſich neuerer 
Zeit gänzlich, ja es hat ſich beinah’ die Erinnerung daran verloren? 
Es ſcheint zwar, daß man in der riftlichen Glaubenslehre den Begriff 
des Monotheismus nicht wohl entbehren fünne und daß man ſchon darum 
den bisherigen tautologifchen Begriff beibehalten müfjfe. Man wird we— 
nigftens da dieſes Begriffs bedürfen, wo der Unterfchied des Chriften- 
thums von dem Heidenthum zu erwähnen ift, eine Erwähnung, bie 


! Schleiermacher fieht die wahre Bewandtniß der Sache wohl ein, 'wenn er 
jagt (chriſtl. Glaube 1. Th. ©. 306), die Einheit Gottes könne ebenfowenig be- 
wiefen werben, als Das Seyn Gottes, was fo viel heißt, als fie enthalte nicht 
mehr, als jchon der bloße Theismus für fich enthalte. | 

? Man möchte wohl fragen: Wie kann Theismus = Atheismus ſeyn? Antwort: 
Man kann gar nicht von Gott überhaupt reden, wenn man wirflih won Gott 
redet. Wer nur von Gott überhaupt redet, redet nicht von dem wahren Gott, 
alfo von irgend etwas anderem, das er nur mit dem Namen Gott belegt. Sein 
Theismus ift alfo = Atheismus, dieß Wort im negativen Sinn genommen. Der 
bloße Begriff Gott, 9eos, ift an ſich leer, ein bloßes Wort; um von dem wirk 
Iihen Gott zur reden, der nicht bloß "eos, ſondern, wie felbft die Griechen unter: 
ſcheiden, 0 Feos ift, der beftimmte Gott, muß eine Beftimmung hinzukommen. 
Dan fagt auch nicht: Fels ift Einer, fondern 0 Weog eig &gıv. 


23 





doch wohl nicht umgangen werden kann. Allein auch das ift, bei den 
Anfihten, welche bisher über die Bedeutung des Polytheismus jo ziem- 
(id) allgemein angenommen find, nicht fo gar nothmwendig. Denn es 
ift ja doc ganz einfacdy zu jagen: Monotheismus hatte urfprünglic) nur 
Sinn und Bedeutung in Bezug auf Polytheismus und im Gegenfat 
mit ihm. Nachdem num aber die Gefahr und felbft jede Möglichfeit 
der Vielgötterei für und verfchwunden ift, fo verhindert nichts, den Mo— 
notheismus als befonderen Begriff, wie ſchon längſt ftillfehweigend, end— 
ih auch ausdrücklich verſchwinden zu laffen; nichts verhindert, daß der 
tautologifjhe und im Grunde nur pleonaftifche Ausdruck: der einzige 
Gott, in den höheren, allgemeineren, in den Begriff Gott fi auflöfe, 
der feines Zuſatzes bedarf. Denn eigentlich gibt es doch nur Theiſten 
und Atheiſten. Theiſten ſind vor allem die Juden, von denen unſer 
Glaube ſich herſchreibt, dann wir die Chriſten, und die Muhammedaner, 
die von uns beiden ausgegangen ſind. Einen Polytheismus gibt es 
eigentlich gar nicht. Die ſogenannten Götter der Heiden haben nur zu— 
fällig religiöfe Bedeutung erhalten, und find an ſich nicht Götter, ſon— 
dern 3. B. bloße perfonificirte Naturkräfte; das. Theiftifche in ihren 
Borftellungen ift nur ſcheinbar und urfprünglid ohne alle religiöfe Be: 
deutung. Die Anhänger der Vielgötterei find alfo eigentlich nur Atheiften. 
Man Fönnte fi hinſichtlich dieſer Erklärung, nad welcher die Poly— 
theiften eigentlich num Atheiften find, ſogar auf die Autorität eines Apo- 
ftels berufen, der zu den Ephejern jagt: ”Hre dhiPeou &v TO x00uw, 
ihr wart ohne Gott — als Atheiften — in der Welt. Sie jehen, 
welche Wichtigkeit für unfere Unterfuhung der Begriff des Monotheis- 
mus hat, daß er jogar über die Eigentlichfeit oder Uneigentlichfeit der 
Mythologie entjcheidet. 


Bweite Vorlefung. 


Ic komme auf die frühere Behauptung zurüd, daß, jo jeltfam es 
jcheine, der Begriff des Monotheismus bis jegt nicht richtig beftimmt 
worden, Es liegt uns nun alfo ob, an bie Stelle des Unrichtigen das 
Richtige zu ſetzen. Dieß wird nicht anders gejchehen Fünnen, als, 
indem wir zufolge der vorläufig erfannten Unterſcheidung zwiſchen der 
abfoluten Einzigfeit Gottes und zwiſchen der Einzigfeit Gottes als ſolchen 
jede von diefen ihrer eigentlichen Bedeutung nach genau zu beftimmen 
ſuchen. Hiebei können wir aber nicht wohl anders als von der abfo- 
Iuten Einzigfeit ausgehen, die fi auch jedem zuerjt darftellt. Denn 
jeder, der das Wort Gott ausfpricht, fühlt, daß er damit ſchon eine 
Einzigfeit — nicht ſowohl ausgejprochen, als vielmehr vorausgeſetzt hat, 
eine Einzigkeit, die er ſchon denken muß, damit er Gott (nicht: einen 
Gott) denke, mit der er alfo eben damit eigentlich noch nicht Gott jelbft 
gedacht hat. Wäre außer Gott ein anderer — nicht wirklich, ſondern 
— möglid), fo wäre er ſchon nicht Gott, fondern ein Gott. Alfo das 
ift zum voraus, jo zu jagen noch eh’ er Gott ift, ausgemacht, daß er 
das ift, was feines Gleichen — nicht, wie man gewöhnlic jagt, nicht 
hat, jondern — nit haben kann. Was ift nun aber das, mas 
jeines Gleichen nicht haben fan? Was feines Gleichen hat, hat mit 
diefem etwas gemein, und wäre es aud) nur das Seyn: dann iſt ſowohl 
Es ſelbſt, das von dem wir reden, als das was wir ihm vergleichen 
oder als ſeines Gleichen anſehen — beides iſt ein Seyn. Ebenſo wenn 
etwas außer Gott iſt, ſo hat er mit dieſem eben das Seyn gemein, 


25 
d. h. jowohl Er ift, als Dieſes. Wenn alfo nichts außer ihm feyn 
fann, jo kann er ſelbſt nicht ein Seyn feyn, d. h. ein foldhes, was 
an dem Seyn nur Theil hat (wie 3. B. was. ein Weißes oder ein 
Kothes oder ein Schönes ift, nur an dem Weißen, an dem Kothen, 
an dem Schönen Theil hat, nicht aber das Weife, das Rothe, das 
Schöne jelbft ift). Iſt nun Gott nicht ein Seyn, etwas das an dem 
Seyn nur Theil hat, jo bleibt nichts übrig, als daß er das Seyende 
jelbft jey, ipsum Ens, «euro. zo "Ov, und dieß ift denn auch 
jener nothwendige Borbegriff Gottes, den wir jegen müfjen, damit wir 
Gott (nicht: einen Gott) ſetzen. Gott ift alfo das Seyende felbft. Aber 
dieß, das Seyende zur jeyn, tft nicht die Gottheit an ihm, ſondern nur 
die Vorausſetzung feiner Gottheit. Nur das, was das Seyende jelbit 
ift, kann Gott jeyn, aber das Seyende ift darum nod) nicht für fich 
jelbft audy Gott, ſondern e8 muß eine Beftimmung hinzukommen, daß 
es Gott jey‘, und inwiefern das, was eine Beftimmung annimmt oder 
zu erhalten fähig ift, im logiſchen Sinn die Materie genannt wird, fo 
fönnen wir jagen: das Seyende zu ſeyn, fey die Materie der Gottheit, 
aber nicht die Gottheit ſelbſt. Wäre Gott nichts als das Seyende, 
jo wäre es abſurd von einem einzigen Gott zu reden. Denn fo wenig 
als ich von dem, mas das Weiße oder das Kothe jelbit ift, ſage, es 
jet) das einzige Weiße oder Rothe (dieß ließe fi) immer nur von einem 
beftimmten. Weißen oder Nothen jagen), fo wenig kann ich von dem, 
was das Seyende jelbit ift, jagen, es je das einzige Seyende. Da— 
gegen nun eben weil dieß: das Seyende ſelbſt, das allgemeine Weſen 
(daS Ens universale) zu jeyn, weil dieß, wie gejagt, die Materie 
ber Gottheit ift, jo kann ich nun allerdings zwar nicht von dem Seyen- 
den felbft jagen: es ſey das einzige Seyende; wohl aber fann ich von 
Gott jagen: er jey der einzige Gott; ich kann dieß nicht jo fagen, als 
wäre er es bloß zufällig, ſondern ic) muß hinzu denfen, daß er es 
nicht bloß zufällig, ſondern daß er es nothwendig tft, und dieß läßt ſich 
nicht durch den Sat ausdrüden, daß außer Gott fein anderer Gott ift, 
oder, daß Gott feines leihen nicht Hat (wie auch Schleiermacher ſich 


' Die hinzufommende Beftimmung ift zunächſt, daß er es actu jey. 


26 
ausdrückt‘). Denn wenn Gott von dem Seyenden (dem Ens universale) 
zwar unterfchieden ift (oder wenn in feinem Begriff noch mehr 
gedacht wird, als der des bloßen Seyenden), aber feine Einzigfeit 
nur davon hergeleitet wird, daß er das Seyende felbft ift, wenn 
ſich dieß fo verhält, fo ift dieſe Einzigfeit nur feine nothmwendige Ein- 
zigfeit, und es laßt fih nur jagen, daß Fein anderer außer ihm jeyn 
fann. Es ift aljo nicht feine faktiſ che Einzigkeit, wie die im Mo— 
notheismus gedachte. Denn dieſe kann doch wohl nur ſeine faktiſche Ein— 
zigfeit feyn. Wäre die im Monotheismus gedachte Einzigkeit eine noth— 
wendige, wie wollte man fic erklären, daß derfelbe erft in Folge des 
Chriſtenthums, d. h. feit ungefähr 1500 Jahren, allgemein anerfannter 
Begriff geworben ift. Diefe Einzigfeit, die im Monotheismus behauptet 
wird, muß wohl eine foldhe feyn, won der man nur fagen kann, daß 
fie Iſt, nicht daß fie fchlechterdings nicht ſeyn könnte; es iſt feine ſich 
von ſelbſt verſtehende Einzigkeit. Dieß hat unter anderm auch ein Mann 
von großer Erfahrung und praktiſchem Verſtand, der berühmte H. Gro— 
tius wohl eingeſehen, der über dieſe Lehre gerade das Gegentheil von 
Schleiermacher äußert. Letzterer ſagt, wie ſchon bemerkt, die Einzigkeit 
Gottes bedürfe ſo wenig der Erörterung, als das Daſeyn Gottes. 
Hugo Grotius aber — nicht, wie Sie denken möchten in ſeinem ſehr 
empfehlenswerthen Buch: de veritate religionis christianae, ſondern 
in feinem nicht weniger berühmten Werf: de jure belli et pacis? — 
bier jagt Grotius: der Begriff der Einheit Gottes ſey weniger ewident, 
al8 der feiner Eriftenz (evident hieß der ehemaligen Philofophie alles, 
was aus irgend einem Begriff mit Nothwendigkeit folgt, — Hugo Gro— 
tius muß alſo bei der Einheit Gottes etwas anderes gedacht haben, 
als jene aus ſeinem Begriff nothwendig folgende). Ein ſpäterer, wegen 
ſeines Scharfſinns bekannter Theolog (Dr. Storr) geht noch weiter, 
indem er dem Menſchen eine bloße suspicio Vermuthung) der Einheit 
Gottes beilegt, was er nicht könnte, wenn er nicht in der Lehre vom 
einzigen Gott mehr geſehen hätte, als was mit Nothwendigkeit 


Chriſtl. Glaube Th. 1, S. 305. 
2 Lib. II, 47. 


27 
aus dem bloßen Begriff Gott folgt; denn an einen Sag, der aus 
dem Begriff eines Weſens mit Nothwendigfeit folgt, kann man vielleicht 
nit denken — dieß ift möglid —, wenn man aber einmal an ihn 
denkt, fo ift e8 nicht mit einer bloßen suspieio oder Bermuthung, jon- 
bern fo, daß man feiner gewiß ift als eines folchen, deſſen Gegentheil 
unmöglich iſt. Alſo, um von dieſer Zmifchenerörterung zuriichzufommen, 
bitteih Sie jebt, zwei Auffaffungsweifen zu unterfcheiden. Ich kann 1) bei 
dem Wort Gott überall nichts denken, als eben nur das Seyende jelbit, 
oder das allgemeine Weſen. In dieſem Fall kann ic, das Wort einzig gar 
nicht als Prädicat anwenden; eben weil ic) fage: Gott ift das Seyende 
ſelbſt, kann ich nicht fagen: er ift das einzige Seyende; wie ich jage: er tft 
das Seyende ſelbſt, jo muß ich aud) jagen: er ift das Eine ſelbſt, womit 
eben ausgedrüdt wird, daß ihm die Einheit gar nicht als Prädicat zuges 
ſchrieben, nicht von ihm (d. h. jo daß er als terminus a quo dabei ange- 
jehen wird) von ihm au Sgefagt wird, fondern er ift felbft das Eine‘. Hier 
alfo, wo ich die Einheit nicht zum Pradicat machen kann, wäre jede Ausjage 
der Einzigfeit unmöglich, und ſchon darum gäbe e8 auf diefem Stand- 
punkte nichts, Das man Monotheismus nennen Fünnte. Dover 2) id) 
unterfcheive allerdings Gott von dem bloßen Seyenden, d. h. ich denke 
in Gott noch etwas anderes und mehr, als das Seyende felbft, wie— 
wohl ich ihn aud) als diefes denke. Hier ift zwar eine Ausſage mög- 
ih, ic) fan jagen: Gott ift der einzige Gott; aber diefe Ausjage hat 
den Sinn: er ift nothwendig der einzige Gott. Der Sat lautete 
nicht jo, daR außer Gott fein anderer ift, fondern daß außer ihm fein 
anderer ſeyn kann. Nämlich hier, wo ich Gott von dem bloßen Seyen⸗ 
den, dem bloß allgemeinen Weſen, unterſcheide, habe ich dieſes ſchon 
beſtimmt als die Materie ſeiner Gottheit (bereits bemerkt, daß hier 
nichts Korperliches — Materie im logiſchen und metaphyſiſchen Sinn 
genommen werden muß). Der Satz: er iſt der nothwendig einzige 
Gott, d. h. er iſt der Gott, außer dem fein anderer ſeyn kann, hat 


' Auf diefem Standpunkt gilt jenes alte Wort: unitas non superadditur 
essentiae, die Einheit kommt nicht über das Wefen hinzu, d. h. fie darf nicht 
als Prädicat gedacht werben; vergl. Gerhard, Loc. Theoll. T. I, p. 106. 


28 

daher den Sinn: es fehlt gleihjfam an der Materie, an dem Stoff zu 
einem anderen Gott; das, was das Seyende ſelbſt ift, kann nicht mehr- 
mals feyn, weil es in dem Sinn, in welchen allein ein mehrmals-Seyn 
möglich ift, überhaupt nicht feyn Kann. Was aber wahrer Gott ift, 
muß voraus, an und gleichfam vor ſich felbft‘, d. h. vor feiner Gott- 
heit, fhon das Seyende jelbft, das allgemeine Wefen, feyn, oder es 
hat zur Grundlage, zum Vroxeiuevov, zur Materie feiner Gottheit 
bieß, daß es das allgemeine Wefen ift. Iſt aber dieß, das allgemeine 
Weſen zu feyn, die Grundlage der Gottheit, fo verhindert die abfolute 
Einheit des allgemeinen Weſens, welches eben das Eine jelbft ift, die 
abfolute Einheit des allgemeinen Weſens macht unmöglid, daß es 
mehr als Einen Gott gebe, weil nämlich die Grundlage, der Stoff 
für einen zweiten nicht mehr vorhanden ift, jo daß eigentlich nicht ein 
anderer Gott (wie e8 die Theologen. ausdrüden), fondern die Möglich- 
feit (die Borausfegung, die Materie) eine andern geleugnet wird. 
Diefe Beftimmung ift wichtig, denn gar viele Philofophen und Theo— 
logen, welche die Schwierigkeit in dieſer Lehre fühlten und ihr auf 
verſchiedene Weife zu entgehen fuchten, haben unter anderm aud) dieje 
Einzigfeit Gottes, von welcher jetzt die. Rede ift, daraus zu beweifen 
geſucht, daß zur vollfommenen Erklärung der Welt nicht mehr als Ein 
Gott nöthig, oder Ein Gott dazu hinreichend, vollkommen ſufficient 
ſey. Damit wird aber der Sinn des Begriffs ganz entſtellt. Es wird 
angenommen, als ob von Seiten der Gottheit allerdings mehr als Ein 
Gott möglich wäre?: wenn und die Erſcheinung der Welt nöthigte, 
mehr als Einen Gott anzunehmen, fo würde von Seiten der Gottheit 
diefer Annahme nichts im Wege ftehen. Man fieht auch hier ein Be— 
ftreben, von dem nothwendig Einzigen hinwegzufommen, d. h. ein 
Gefühl, daß der eigentliche Monotheismus, dag eigentliche Dogma won 
dem einzigen Gott, nicht in jener nothwendigen Einzigfeit enthalten ſeyn 
fönne, die ſchon daraus folgt, Daß ich fage: Gott (nidht: ein Gott); fo 

'.Daß nur fo richtig gefagt werde, nicht an und für fich felbft, was zu ver— 


kehrten Anwendungen Gelegenheit gegeben, kann hier nebenbet bemerkt werden, 
2 Bol, die ©. 18 citirte Stelle, | 


29 

wie eben dieß, daß ich nämlich: Gott fage (nicht: ein Gott) davon her- 
fommt (oder was dafjelbe ift, von der Einzigfeit herfommt, die ihren - 
Grund darin hat), daß ich in ihm nicht. ein Seyendes, fondern das 
Seyende felbft gedacht habe. Wenn diefe Nothwendigfeit davon ſich 
herleitet, daß Gott das Seyende jelbit it, jo kommt dieſe Einzigfeit 
nicht won feiner Gottheit her, nicht von dem, was er als Gott ift, 
fondern von dem, was er an und gleichjam vor fich ſelbſt, d. h. vor 
feiner Gottheit ift: fie fommt won der Grundlage, gleichſam von ber 
Materie feiner Gottheit her. Ich denke alſo — auch in dieſer noth- 
wendigen Einzigfeit — Gott nicht fpeciell als den einzigen Gott, ſon— 
dern nur als den überhaupt Einzigen, nicht als den feiner Gott» 
heit nad, jondern als den bloß fubftantiell (der Subftanz nad — 
substantia est id quod substat; Subftanz ift daher mit Grundlage, 
vnoxeiusvov dafjelbe), ich denke ihn als den bloß fubftantiell-, nicht 
aber als den der Gottheit nach einzigen, d. h. ich denfe in diefer Ein- 
zigfeit überhaupt nicht Monotheismus. Iſt Monotheismus ein Dogma, 
d. h. etwas, das ausprüdlich behauptet werden muß, jo kann die in 
ihm gedachte Einzigfeit nicht dieſe nothwendige ſeyn, deren Gegentheil 
unmöglich ift; fie kann felbft nur eine ſaktiſche feyn, denn nur das 
Taftifche wird eigentlich behauptet. — Dieje nothwendige Einzigfeit, die 
von dem bloß Subftantiellen Gottes herfommt, ift noch immer jeine 
Einzigfeit überhaupt oder abjolute Einzigfeit: ich kann vermöge der— 
jelben ebenfowohl jagen, daß außer Gott nichts ſeyn kann, als jagen, 
daß außer ihm Fein anderer Gott ſeyn kann; oder vielmehr, nur 
darum kann fein Gott außer ihm feyn, weil überhaupt nichts außer 
ihm jeyn kann, weil überhaupt fein Stoff, feine Möglichkeit des Seyns 
außer ihm, weil Er das allgemeine Weſen ift. 

Es wird alfo nun darauf anfommen, von diefer abfoluten Einzig- 
feit aus den Weg zur Einzigfeit Gottes als ſolchen zu finden. Denn 
mit Diefer wird ung erft das Dritte, Monotheismus, gegeben ſeyn. 
Zu dem Ende müfjen wir. aber unjern Ausgangspunft nod) genauer, 
als bisher nöthig war, beftimmen. 

Unſer Ausgangspunkt ift der Sag: Gott ift das Seyende felbft. 


30 

Bedenken Sie nun wohl diefen Begriff, von dem man jagen fan, er 
- jey aller Begriffe Begriff, der hödhjfte, von dem überhaupt. aus- 
zugehen ift, der höchfte eben darum auch aller Philofophie. Ich fage: 
er ift der Begriff aller Begriffe; denn jeder Gegenftand wird von mir 
nur gedacht, inwiefern ich das Seyende in ihm denke, der legte Inhalt 
jedes Begriffs ift eben nur das Seyende, das Ens universale, was 
die alte ſcholaſtiſche Philofophie wohl eingefehen. Wenn das Thier die 
Dinge nit denkt, fo.ift es eben, weil ihm der Begriff des Seyen— 
ven fehlt; diejer Begriff des Seyenden, in deſſen Beſitz dev Menfd) ift, 
macht den ganzen Unterjchtedn vom Thier aus. Erkennen Sie nun vor 
allem in dieſem Begriff, daß er noch fein wirkliches Seyn in ſich 
ſchließt; vielmehr iſt er nur, daß ich ſo ſage, der Titel, das allgemeine 
Subjekt, die allgemeine Möglichkeit zu einem Seyn, aber er für ſich 
ſchließt noch kein wirkliches Seyn in ſich. Dieſes alſo (das wirkliche 
Seyn) iſt es, dazu ein Fortgang möglich iſt; denn das, wozu ich fort— 
gehen ſoll, muß mit dem, von dem ich fortgehe, noch nicht geſetzt ſeyn. 
In dieſer Richtung hat ſich alſo auch unſere Unterſuchung zu bewegen, 
inwiefern ſie, wie wir ſagten, von der abſoluten Einzigkeit, die eben nur 
darauf beruht, daß Gott das Seyende ſelbſt iſt, zur Einzigkeit Gottes 
als ſolchen fortgehen foll, | | 

Es würde übrigens ganz natürlich feyn, wenn man ung nad) dem 
eben Borgetragenen folgende Frage entgegenhielte: Wenn das Seyende 
jeloft nody die bloße allgemeine Möglichkeit zu dem Seyn ift (vie alte 
Scholaſtik jagte: aptitudo ad existendum; dieß ift aber ein Ausdrud, 
wodurd das Seyende jelbft als bloß paſſiv erſcheint, als bloß dispo— 
nibel zum wirklichen Seyn, was nicht der wahre Sinn ift) — wenn 
das Seyende jelbit die bloße allgemeine Möglichkeit zu dem Seyn iſt, 
und ich e8 demnach nicht felbft als jeyend denke, eben weil es bloß 
noch der Titel zu einem Seyn, wie ſoll id es denken? Nicht als 
jeyend, wie wir jo eben gehört, und doch fann ich es auch nicht als 
Ihlechterdings nicht feyend denken, — es muß, auc) als bloßes- allge- 
meines Subjeft des Seyns, dennod auf gewiffe Weife feyn. Hier ift 
nun alſo eine Unterfcheidung nothwendig zwifchen dem Seyn, das eben 


31 
ihon damit gegeben ift, daß es das Seyende felbft ift, und dem Sehn, 
zu dem es erft die allgemeine Möglichkeit if. Diefes legte Seyn tft, 
wie Sie wohl fehen, ein erft zu ihm Hinzufommendes, alſo vom ge- 
genwärtigen Standpunkt zufünftiges. Ferner, weil e8 zu ihm hinzu— 
fommt, und nur durd einen Actus hinzukommen kann, ift es das 
actuelle (wirkliche) Senn; jenes Seyn aber, das in ihm damit ſchon 
gejett ift, daß wir es als das Seyende jelbjt denken, ift eben das bloße 
Seyn im Begriff, und Sie ſehen eben daraus, daf das Seyende 
jelbft, da es fein Seyn außer feinem Begriff hat, jelbit nur als 
Begriff eriftirt, und daß hier der Ort ift, wo man jagen kann, 
daß der Begriff und der Gegenftand des Begriffs eins find, was eben 
fo viel heißt, daß. hier der Gegenftand- felbft Feine andere Eriftenz 
als Die des Begriffs hat, oder wie man dieß ſonſt ausgevrüdt hat, daß 
hier Begriff und Seyn eins ift, was aber nur fo viel heißt, daß hier das 
Seyn nicht außer dem Begriff, jondern im Begriff felbit ift. Das was 
das Seyende ſelbſt ift hat fein Seyn ſchon in feinem Begriff, nicht außer 
demjelben als etwas Bejonderes und von ihm Verſchiedenes. Ste jehen 
aber von felbft, wie dürftig, wie eng dieſer Begriff ift, und wie wenig 
eigentlich mit dieſer Einheit des Seyns und Begriffs anzufangen ift, weil 
fie in der That ganz bloß negativ ift. Es gehört eben hieher auch die For- 
mel, die in der Philofophie und Theologie jehr gebräuchlich ift, daß in Gott 
Weſen und Seyn eins ift, die aud nicht mehr jagt, als daß in Gott 
(nämlich nur auf einem gemifjen Standpunkt, — auf eben dem, wo er 
bloß als das Seyende felbft gedacht wird —), daß in Gott fein vom 
Wejen verjchievenes, über das Weſen hinausgehendes Seyn, ſondern 
eben nur dasjenige gedacht werde, welches jchon gedacht wird, indem 
er als das Seyende felbft beftimmt ift. Diejer Sat würde aber 
ganz faljch jeyn, wenn er won Gott überhaupt, d. h. für jeden mög- 
lichen Standpunkt, gejagt würde. Er gilt, wie gejagt, nur für den, 
wo in der That Gott: nur nod) als das Seyende jelbjt gedacht wird. 
Das Interefje der Philoſophie ift es Feineswegs, in Diefer Enge zu 
bleiben, und das wäre eine traurige und höchſt beengte Philojophie, 
welche won Gott nur wüßte, inwiefern in ihm das Seyn mit dem Weſen 


32 

eins oder jelbft das Wefen tft. Das Intereſſe der Philofophie ift viel- 
mehr eben, Gott von diefem mit dem Weſen tventifchen Seyn, in das 
vom Wefen verfehiedene, in das ausprüdliche, wirflihe Seyn hinaus- 
zuführen, und darin eigentlich ift der Triumph der Philofophie. Will 
man dieſes mit dem Weſen iventiiche Seyn das nothwendige Seyn 
nennen, fo ift nichts Dagegen einzuwenden. Nur ift es alsdann nicht 
das Seyn Gottes als ſolchen, fondern aud) nur das Seyn Gottes an 
und vor fi. In feinem An-und-vor-fid) ift Gott das nothwendige 
Seyn, d. h. dasjenige, dem das Seyn in das Weſen zurüdgeht, und 
in jo fern fein wejentliches, aber nicht wirkliches: ift. 

Das Seyende jelbft ift darum, weil e8 vorerft nur der allgemeine 
Titel zu dem Seyn ift, Feineswegs nichts, oder ein 00x Ov. Es ift 
zwar nicht das, was ſchon Iſt, wenn ich nämlich unter dem Seyn 
das zu dem Weſen hinzufommende, das außer dem Weſen, alfo nod) 
beſonders gefetste verftehe — ich Fünnte e8 auch das eigenfchaftliche nen- 
nen, das, was von ben Weſen ausgefagt, präbicirt werden fann, was 
bei jenem nicht der Fall ift, Das dem Seyenden ſelbſt nicht eigentlich) 
zufommt, nicht beigelegt werben fan, weil es eben nichts von ihm 
ſelbſt Verſchiedenes ift — alfo: das Seyende felbft ift zwar nicht das, 
was Schon ft, namlid in dem eben beſtimmten Sinn, darum aber 
nicht Nichts, vielmehr ift e8 das, was ſeyn wird. Dieſe letzte Be— 
ftimmung wird Ihnen die Sache vollends deutlich madyen. Das, was 
feyn wird, ift zwar eben darum noch nicht ſeyend, aber e8 ift dod) 
nicht Nichts, und jo tft das, was das Sehende ſelbſt ift, rein als 
joldyes gedacht, zwar noch nicht feyend, aber darum nicht Nichts; denn 
es ift ja Das, was ſeyn wird. „Gott ift Das Seyende ſelbſt“ heißt 
nad) dem eben Gefagten fo viel als: Gott an und vor ſich felbft, in 
feinem reinen Wefen betrachtet, ift bloß das, was ſeyn wird; umd 
hier erinnere id) Sie wieder daran, wie in der allerälteften Urkunde, 
in der von dem wahren Gott die Rede iſt, dieſer Gott fich felbft den 
Namen gibt: Ich werde feyn '; wobei e8 jehr natürlid) ift, daß eben 
derjenige, welcher, wenn er in der erften Perfon, alfo von fidh felbft 

' &, Einleitung in die Ph, der Mythologie S. 171, vgl. mit ©. 169. 


33 


redet, fi) Aejaeh nennt, d. h. ich werde feyn, daß dieſer, wenn von 
ihm in der dritten Perfon die Rede ift, wenn ein- anderer von ihm 
jpricht, Jehwo oder Jiwaeh, furz: Er wird jeyn, genannt wird. 
Und diefes führt uns nun eigentlich erft auf den höchſten Begriff Got— 
tes, inwiefern er als der Seyende felbft beftimmt wird. Nämlich wir 
jehen, daß darin ein freies Verhältniß Gottes zu dem Seyn ausge 
drüdt ift, daß er beſtimmt tft als ver nicht bloß vom Seyn noch 
freie, mit dem Seyn unbehaftete (alles, was ein Seyendes ift, ift 
dem Seyn gleihjam verpflichtet, verhaftet, e8 hat, jomweit es ein Seyn 
ift, nit die Wahl zu ſeyn oder nicht zu ſeyn, fo oder nicht jo zu 
jeyn, "und es beruht eben darauf die uralte Meinung von der Unfelig- 
feit alles Seyns, oder, wie ein franzöſiſcher Philofoph dieß ausgedrückt 
hat, von dem malheur de l’Existence). Gott ift in dieſem Sinne 
außerdem Seyn, über dem Seyn, aber er ift nicht bloß an ſich 
jelbft frei von dem Seyn, reines Wefen, fondern er ift aud frei 
gegen das Seyn, d. h. eine lautre Freiheit zu feyn oder nicht zu ſeyn, 
ein Seyn anzunehmen oder nicht anzunehmen; was auch in dem: „Ich 
werde ſeyn, der ich ſeyn werde“ liegt. Man kann dieß überfegen: der 
ich ſeyn will — ich Kin nicht das nothwendig Sehende (im dieſem 
Sinn),. fondern Herr des Seyns. Sie jehen daraus, wie ſchon da— 
durch, daR Gott ald das Seyende felbft erklärt ift, er auch gleich als 
Geiſt beftimmt tft; denn Geift ift eben das, was feyn und nicht ſeyn, 
was ſich äußern oder nicht Aufern kann, was ſich nicht äußern muß, 
wie der Körper, der. feine Wahl hat, feinen Kaum zu erfüllen, ver 
ihn erfüllen muß, während ich z. B. als Geift ganz frei bin mich 
zu Außern oder nicht zu äußern, mic, fo oder anders zu äußern, dieſes 
von mir zu Außern und ein-anderes nicht zu äußern. Sie fehen eben 
darum auch, wie eine Philofophie, die bis auf das Seyende felbft 
zurüd und von diefen ausgeht, wie diefe unmittelbar und durch fich 
jelbft ſchon auf ein Syftem der Freiheit führt und won der Nothwendig— 
keit ſich befreit hat, die auf alle, beim bloßen Seyn ſtehen bleibende, 
nicht zum Seyenden ſelbſt ſich erhebende Syſteme wie ein Alp drückt, 

mögen ſie auch noch ſo viel von Bewegung ſchwatzen. Ueber das 

Schelling, ſämmtl. Werke. 2. Abth. I. 3 


34 
Seyn hinaus, und felbft in freies Verhältniß zu ihm zu fommen, dieß 
ift das. eigentliche Streben der Philofophte. Das Sehende jelbit ıft 
ihon an ſich ſelbſt auch das vom Seyn und gegen das Seyn Freie, 
und überhaupt nur. das Seyende ſelbſt ift ung wichtig. Am Seyn 
liegt nichts, das Seyn ift auf jeden Fall nur ein Aeceffortum, ein 
Hinzufommendes deffen, was Iſt. Dieß wollen wir erfennen, und die 
Erfenntniß defjen, was Iſt, ift eigentlich diejenige, welche in der Philo- 
Sophie gefucht wird. Wenn alle andern Wiljenfchaften, geſetzt jelbft fie 
fcheinen ficy mit dem Seyenven abzugeben, am Ende nur mit dem 
Seyn, oder wenigftend nicht mit dem Seyenden ſelbſt, ſich beſchäftigen, 
ſo unterſcheidet ſich die Philoſophie eben dadurch von allen andern 
Wiſſenſchaften, daß fie nach dem fragt: was Iſt (nicht nad) dem Seyn), 
daß ſie Wiſſenſchaft des Weſens (denn Weſen nennen wir das, was 
Iſt, oder das Seyende ſelbſt), daß fie scientia Entis, &mory7un ToV 
’Ovroe ift, wie fie ganz richtig erklärt wird, wenn gleich in der Folge, 
wie wir fehen werben, noch eine Beftimmung hinzukommen muß. - Die 
Philofophie vom Seyn anfangen, heißt fie geradezu auf ven Kopf ftellen, 
heißt ſich verdammen, nun und nimmermehr zur Freiheit durchzudringen. 

Ehen darum nım aber, weil das Seyende felbft nur der allgemeine 
Titel, das allgemeine Subjekt zum Seyn ift, find wir veranlagt, von ihm 
zu dem Seyn fortzugehen. Zu dieſem Seyn verhält es ſich ſelbſt als das 
Prius, und da wir von ihm ausgehen, ſo kommen wir dadurch 
ſelbſt in ein aprioriſches Verhältniß zu dem Seyn, oder wir ſind ſo 
geſtellt, dieſes Seyn a priori zu beſtimmen. Und da leicht einzuſehen, 
daß alles Seyn nur das Seyn des Seyenden jelbft oder Dejfen 
was Iſt ſeyn fann, fo werden wir, indem wir die Modalität oder 
Modalitäten des Seyenden felbft ableiten, die Modalität oder Modali— 
täten alles Seyns ableiten und beftimmen. 

Es läßt fi) nun aber gar fein anderes unmittelbares Verhältniß 
defien, was das Seyende felbft ift, zu dem Seyn .venfen, als daß 
e8 das unmittelbar und von ſich felbft aus (ohne irgend eine Dazwiſchen— 
funft) ſeyn Könnende ift, ja die beiden Begriffe, ver des Seyenden 
jelbft und der des von fich felbft aus ſeyn Könnenden fallen jo 


3) 


unmittelbar zufammen, daß fie faft nicht zu trennen find, und man 
den zweiten. Begriff gleich an die Stelle des erften ſetzen könnte. Wir 
hätten demgemäß die nothwendige Einzigfeit Gottes auch fo ableiten 
fünnen. Gott ift zugeftandener Maßen das, außer dem nichts ſeyn 
fann, d. h. nichts die Macht hat zu eriftiren. Alfo Gott ift allein 
die Macht zur eriftiren. Er ift das, — penes quod solum est Esse 
(bei dem allein das Seyn ift), alfo das allgemeine Princip des Seyns, 
die allgemeine potentia existendi, woraus denn folgt, daß alles Seyn 
nur das Seyn Gottes ift. Das Yebte nennt man nun gewöhnlich Ban- 
theismus. Darin alfo, in der Beftimmung, daß Gott das unmittelbar 
jeyn Könnende ift (ich bemerfe, daß das Seynkönnen hier nicht in jenem 
pafjiven Sinn zu denken ift, in weldhem wir von zufälligen Dingen 
jagen, daß fie ſeyn und nicht feyn können, nämlich unter gewifjen Be— 
dingungen und wenn dieſe gegeben find; bier tft aber ein unbedingtes 
Seynfönnen, eine lautere Macht und Gewalt zu exiftiven, verftanden, 
und wenn wir fagen: Gott ift das unmittelbar jeyn Könnende, jo wollen 
wir damit ausdrüden, daß er feyend ſeyn kann durch fein bloßes Wollen, 
ohne daß er etwas anderes bevarf, als eben zu mollen) — dieſe Bes 
ftimmung nun alfo, Daß Gott das unendlich jeyn Könnende ift, kann 
man allerdings anfehen als Princip des Pantheismus, und wenn 
Theologen und PBhilofophen nur dieſes fagten, würden wir ihnen 
nicht widersprechen. Denn Pantheismus befteht zwar nicht, wie man 
ſich vorzuftellen pflegt, Darin, daß gefagt wird, alles Seyn ſey nur 
das Seyn Gottes. Denn noch niemand hat die Mittel gefunden, dieß 
zu leugnen, wenn man gewöhnlicdy auch nicht zugeben will, daß es be= 
hauptet werde. Aber nicht darin befteht der Pantheismus, ſondern 
darin, Gott ein blindes, und in. diefem Sinne nothmwendiges 
Seyn zuzufchreiben, ein Seyn, in dem er ohne feinen Willen und 
in dem er aller Freiheit beraubt ift, wie dieß 3. B. im Syſtem des 
Spinoza der Fall ift. Nur dieß könnte Pantheismus genannt werden, 
wenn man überhaupt diefen Namen beibehalten wollte In dieſem 
Sinn nun fage ich, jenes Princip, welches das erfte Verhältniß Got— 
te8 zum Seyn ausdrückt, ſey Princip des Pantheismus. Es tft aud) 


36 
von andern fehon bemerkt worden, daß die Beftänvigfeit, mit welcher 
diefes Syſtem in den verſchiedenſten Zeitaltern, 3. DB. im Zeitalter des 
indifchen Buddha fo gut als in dem des griechifchen Kenophanes, und 
ebenſo auch in den verſchiedenſten Weltgegenven, 3. B. auf ven Berg- 
höhen TibetS wie in den Nieverungen Hollands, fic) erzeugt hat, — daß 
diefe Bejtändigfeit nicht erlaube, daſſelbe als ein bloß zufälliges 
Erzeugniß anzufehen, es müſſe ein natürliches Erzeugniß feyn, deſſen 
Keim ſchon in den nothwendigen Urbegriffen alles Seyns liege. Und 
eben vieß entdeckt fich hier. Wir können nicht umhin, Gott zu beftim- 
men als die unmittelbare potentia existendi. Wäre er nun nichts 
als diefes, fo würde dieß unvermeidlich auf Pantheismus, d. h. auf 
ein Syftem des blinden Seyns führen, wobei Gott jelbft nur Potenz 
feines Seyns. Existentia sequitur essentiam (causa sul) — Deus 
non alio modo causa Terum quam suae Existentiae. Man fann 
daher fagen, hierin ſey das Princip des Pantheismus, aber e8 ift vor- 
ichnell zu fagen, dieß ſey Pantheismus. Ich fage: der bloße aus- 
ſchließlich oder allein gefetste Begriff der potentia existendi, des un⸗ 
mittelbar ſeyn⸗?, in das Seyn übergehen - Künnenden- würde ‘auf Pan- 
theismus führen. Ich. erfläre dieß näher auf folgende Weiſe. Eine 
reine potentia existendi fann, nicht bloß in Actus übergehen, ſich 
ins Seyn erheben, ſondern es iſt ihr ſogar natürlich, überzugehen; 
bloß natürlicher Weiſe wird ſie unmittelbar ſowie ſie iſt in das wirk— 
liche Seyn ſich erheben. Denn alles Können iſt eigentlich nur ein noch 
nicht wirklich wollendes, alſo ruhendes Wollen. Der Wille iſt die Po— 
tenz, die Möglichkeit des Wollens, das Wollen felbft iſt Actus. Aber es iſt 
dem Willen natürlich zu wollen, in demſelben Sinn, wie wir von dem 
mit freier Bewegungskraft ausgeſtatteten Geſchöpf ſagen, es ſey ihm 
natürlich ſich zu bewegen, d. h. (denn dieß iſt der eigentliche Sinn die— 
ſes Ausdrucks) es bedürfe dazu keines beſondern Wollens, ſondern nur 
des nicht Nicht-Wollens, eigentlich alſo wäre ein entgegengeſetzter (aus— 
drücklicher) Wille erforderlich, daß es ſich nicht bewegte. Auch jener 
ruhende Wille, der in der abſoluten potentia existendi angenommen 
wird, bedarf alfo, um zum Seyn überzugehen, nicht® weiter, als zu 


37 


wollen, und zwar nicht Etwas zu wollen (venn er hat nichts vor 
fih, das er wollen könnte, er ift der abfolut gegenftandlofe Wille), 
fondern nur überhaupt zu wollen. Nichts ift fchwieriger, als urſprüng— 
liche Seyns-Entftehung oder -Erzeugung zu begreifen. Allein viele 
Dinge find nur darum ſchwer, weil fie ung fo nahe liegen. In der 
That jedes Seyn ift Actus, mie ja im allgemeinen philofophifchen 
Sprachgebrauch anerkannt iſt. Jeder nicht urfprüngliche Actus aber, 
d. h. jeder Actus, der eine Potenz zur Vorausfegung bat, kann nur 
Wollen jeyn, alle urjprüngliche Seyns- Erzeugung findet daher nur 
im Wollen -ftatt. Jeder Wille, der in meinem zuvor ruhenden Ge— 
müth entjteht, ift ein Seyn, das zuvor nicht da war und das eben 
im bloßen Wollen befteht. Die reine potentia existendi ift alſo 
jelbjt noch ein lautrer, nicht wollender Wille, und bloß dadurch Schon, 
daß fie will, gibt fie fih ein Seyn over zieht ſie ſich ein Seyn zu; 
fie iſt ſeyend im Wollen, oder das Wollen. felbft iſt ihr das Senn. 
Zwifhen dem Nichtjeyn und Seyn fteht ihr nichts in der Mitte als 
eben das bloße Wollen, d. h. das bloße wirfend, pofitiv, aftiv Werden 
des Willens, der, weil er nichts wor ſich hat, das er wollen könnte, 
aud eigentlich nicht Etwas wollen, — jondern nur fi in ſich felbit 
entzünden, aftiv werden kann. Nun ift-aber Leicht einzufehen, daß die 
auf ſolche Art, durch unmittelbare Erhebung ex potentia in actum 
ſeyend gewordene Potenz nicht mehr Potenz, alſo auch nicht mehr Wille, 
fondern das nun willenlos und in dieſem Sinn nothwendig 
Seyende jeyn würde; e8 ift die außer ſich gefeßte, von ſich gekommene 
Potenz, was über dem Seyn aufgehört hat das Seyende zu jeyn: — 
nämlich es ift zwar jett aud) das Seyende, aber in umgefehrtem Sinn 
von dem, in welchem wir e8 das Seyende felbft nannten. Dort näm— 
li) dachten wir e8 als das vom Seyn freie, das noch über dem Seyn 
ift, hier aber ift e8 das mit dem Seyn behaftete und befangene, das 
infofern unter dem Seyn ift (existentiae obnoxium); es ift nicht mehr 
wie zuvor Subjeft des Seyns, fondern das bloß noch objektiv 
Seyende (wie man von jeher und wie ſchon Fichte won der Subftanz 
des Spinoza gejagt hat, fie ſey bloßes Objekt, d. h. das blindlings 


38 
und nothwendig Seyende) — e8 tft allerdings das Eriftirende, aber 
diefes Wort im Sinne des griehiihen &F/orauaı genommen, von dem 
das lateinische existo offenbar herfommt. Das jet Seyende ift ein 
Efıotcuevov, ein außer ſich gefettes, fich jelbft nicht mehr beſitzendes, 
befinnungslofes,. und in diefem Sinn nothwendig, nämlich blindlings 
Seyendes, das im Seyn aufgehört hat Duelle des Seyns zu feyn, 
und zur blinden willenlofen Subftanz, alfo zum gerade Entgegengefegten 
von Gott, zum wahren Ungott wird, den Spinoza zwar causa sui 
(Urfache feiner jelbft) nennt, der aber in ver That aufgehört hat causa 
(Urſache) zu ſeyn und bloß noch Subftanz ift. Ich bitte übrigens das 
Bisherige nicht fo zu verftehen, al8 ob der wirklich als Syſtem hervor— 
getretene Pantheismus jelbit bi8 auf das lautre Wefen, vie abjolute 
potentia existendi zurüdginge. Der wahre Pantheismus fennt Diefe 
potentia existendi gar nicht anders, als wie fie bereits gleichſam an— 
gefommen und untergegangen iſt im Seyn. Er wäre nicht das blinde 
Syſtem, das er tft, wenn er etwas vor dem blinden, fich jelbft nicht 
faffenden und nur darum unendlichen und fchranfenlofen Seyn erfennte, 
d. h. wenn er ſich ſelbſt in feinem Urſprung begriffe. Aber vielmehr 
theilt er die Blinpheit feines Gegenftandes. Ueberraſcht und übereilt 
gleichſam won dem blindlings über ihn heveinftürzenden Seyn, verliert er 
gegen dieſes — dem er in der That feinen Anfang weiß, und das 
ihm daher als das anfangloje, ewige, ſowie, weil e8 in der That das 
- Seyn ift, das feine Vorausfegung verloren hat, als das grundlofe er- 
ſcheinen muß — gegen dieſes Seyn -alfo, dem er allerdings kei— 
nen Anfang, nichts vorauszufegen weißt, gegen das er aljo feine Ge— 
walt hat, gegen das er ganz ohnmächtig ift — im Verhältniß zu dieſem 
Seyn aljo verliert er ſelbſt alle Freiheit und muß ſich ihm blindlings 
gleichſam hingeben, ohne auch in der Folge etwas über vafjelbe zu ver- 
mögen, wie z. B. Spinoza gar keine Rechenſchaft darüber geben 
kann, wie in dieſes blinde und ſeiner Natur nach unendliche Seyn dennoch 
Einſchränkungen, Affektionen, Modificationen (Beſtimmungen des Ver— 
ſtandes) kommen, die er annehmen muß, weil er ſich ohne Einſchrän— 
kungen deſſelben keine einzelne, endliche Seyende denken kann. In ſeinem 


39 

Prineip liegt Schlechterdings fein Grund folder Mopificationen; denn 
wenn er auch vwerjichert, die einzelnen endlichen Dinge folgen aus ver 
Natur Gottes auf Feine andere Weife, als auf welche aus der Natur 
des Dreieds folgen, daß Die Summe feiner Winfel = 2 rechten ſey, 
wobei ev aljo eine bloß log iſche Yolge zwiſchen Gott und den Dingen 
annimmt, jo ift doch felbit die eine bloße Berficherung. Die Geometrie 
zeigt, daß aus der Natur des Dreieds jener Sat folge, aber Spinoza 
fann nicht zeigen, daß aus der Natur feiner Subftanz nothmwendig 
und von ſelbſt endliche Dinge folgen — er jagt es nur. 

Kehren wir von diefer Erklärung über den Pantheismus in den Zu— 
jammenhang unſrer Entwidlung zurüd, jo verhält ſich aljo die Sache nun 
fo. Auch von Gott, wenn er lautres Wefen und das Seyende felbft ift, 
fünnen wir den Begriff des unmittelbar und von jelbft ſeyn Könnens nicht 
ausjchliegen; denn das Weſen ift Prius des Seyns, ift das vor dem 
Seyn Gedachte, und kann daher unmittelbar nichts anderes feyn als eben 
potentia existendi. Dieſes Prineip nun tft das mögliche Princip 
des PBantheismus, wie jo eben gezeigt worden. Aber das Prineip des 
Pantheismus ift darum nod nicht ſelbſt Pantheismus. Die heutigen 
Theologen find aber von einem jo blinden Schreden vor dem Pantheis- 
mus befallen, daß fie, anftatt ihn im feinem Princip aufzuheben, die 
jes Princip felbft zu ignoriren ſuchen, ihm auch nicht einmal erlauben 
wollen ſich zu zeigen (dieß ift auch der Hauptgrund, warum fie der 
abjoluten Einzigfeit Gottes lieber gleich die Einzigkeit Gottes als fol 
hen, d. h. den Deonotheismus, unterfchieben). Aber un wirklich auf- 
gehoben, um gründlich negirt zur werden, muß fich jenes Princip wirf- 
lic) zeigen, und muß anerfannt werden wenigſtens als daſeyend, 
als nicht auszufchliegendes. Man fann es nicht bloß ftillichweigend be— 
jeitigen. . Durch bloßes Ignoriren wird es nicht überwunden. Es muß 
ihm ausdrücklich widerjprochen werden; denn es ift ein feiner Natur 
nach nicht auszuſchließendes, — ein unumgänglicher Begriff. Darum, 
weil ſie vor dieſem Princip die Augen verſchließen, bleibt ihre ganze 
Theologie ſchwankend; denn jenem Prineip muß Genüge geſchehen. 
Daß bei Gott allein das Seyn und daher alles Seyn mur das Seyn 


40 


Gottes ift, diefen Gedanken läßt ſich weder die Vernunft noch das Ge- 
fühl rauben. Er ift der Gedanke, dem allein alle Herzen fchlagen; felbft 
die ftarre, lebloſe Philofophie des Spinoza verdankt jene Gewalt, vie 
fie von jeher auf die Gemüther, umd zwar nicht auf die feichteften, fon- 
dern gerade auf die religiöfen, ausgeübt hat, diefe Gewalt verdankt fie 
ganz und allein jenem Grundgedanken, der in ihr allein ſich noch findet. 
Indem die Theologen auch das Princip des Pantheismus nicht wollen 
(offenbar weil ſie ſich nicht zutrauen es beſchwören zu können), berauben 
ſie ſich des Mittels, wahren Monotheismus zu erlangen. Denn der 
wahre Monotheismus iſt vielleicht nichts anderes als die Ueberwindung 
des Pantheismus. Es läßt ſich auch zum voraus ſchon denken, daß 
der Monotheismus nur die zur Einzigkeit Gottes als ſolchen umge— 
lenkte abſolute Einzigkeit ſey“. 

Alſo — um jetzt dieſen Uebergang zu zeigen — jenes Princip des 
unmittelbaren Seyns, die unmittelbare Macht ſich in das Seyn zu 
erheben, womit alles Verhältniß des Seyenden zu dem Seyn anfängt, 
iſt von Gott nicht auszuſchließen, aber — er hat fie nicht im ſich als 
die Materie feines Seyns überhaupt, fondern feines als Gott Seyns. 
Denn träte er in jenem Seyn, deſſen unmittelbare Potenz er iſt, wirk— 
lich hervor, ſo wäre er in dieſem Seyn das blinde Seyn, d. h. der 


Der die bloße Einzigkeit des Weſens oder der Subſtanz ausſagende Satz 
kann nicht ſelbſt Monotheismus, ſondern nur die negative Seite deſſelben ſeyn. 
Hätte der Monotheismus zu ſeinem Inhalte jene abſolute Einzigkeit, ſo müßte 
Spinoza ebenſo gut für einen Monotheiſten gelten, als nur immer der überzeugteſte 
Chriſt ein Monotheiſt heißen kann. Wirklich führt Hegel in ſeiner Encyklopädie 
das eleatiſche Syſtem, das des Spinoza und andere ähnliche als Monotheismus 
an, ja — ſpricht von Monotheismen im Pluralis, wodurch er zeigt, daß er, der 
die kirchlichen Dogmen mit ſeiner Philoſophie in Verbindung zu ſetzen ſuchte, 
dieſen erſten aller Begriffe niemals unterſucht hatte. Denn Monotheismen (im 
Pluralis) ſollte man denken, ſollte es ebenſowenig geben können, als etwa mehrere 
einzige Götter. Eines ſo widerſprechend als das andere. Noch merkwürdiger 
freilich iſt, wie andere ein Syſtem, welches nicht einmal einen ſo weſentlichen, 
die ganze chriſtliche Lehre beſtimmenden und enthaltenden Begriff, wie den 
des Monotheismus, ins Reine gebracht hatte, zur Grundlage nehmen konnten, 
um mit dieſem Syſtem eine vermeintlich umſtürzende Kritik gegen das ganze Ge— 
bäude chriſtlicher Wahrheiten zu richten. 


41 


Ungeift (aljo auch ver Ungott), aber inden er fi als den Ungeift 
negirt, gelangt er durch diefe Negation eben dazu ſich als Geift zu ſetzen, 
und fo muß jenes Princip felbft zu feinem als Gott Seyn dienen. Gott 
iſt alfo nicht bloß das Seyende jelbit, ſondern (hier ergibt fi dann 
die Beftimmung, von der wir fagten, daß fie zu dem. Begriff des 
Seyenden felbft hinzufommen müffe, damit der Begriff ganz iven- 
tifch werde mit dem Begriff Gottes) — Gott ift das Seyende felbft, das 
es ift, d. h. das es wahrhaft ift — er ift zO Övrwc ov, und dieß 
heißt hier jo viel: Er ift das Seyende felbft, das auch im Seyn nicht 
aufhört, das Seyende felbft, d. h. Geift zu feyn (das auch im Seyn 
fi) als Wefen, als das Seyende felbft, d. b. als Geift, erhält). Dem- 
gemäß wird es num nicht mehr ſchwer feyn, den Uebergang zum Mono- 
theismus zu zeigen. 

Gott, inwiefern er das Sehende felbft ift, ift er aud) das unmit— 
telbar ing Seyn übergehen, fi) ind Seyn erheben Könnende. Die 
diefes leugnen und Gott abftreiten, das unmittelbar ins Seyn her- 
vortreten — infofern aus fich ſelbſt herausgehen Könnende zu ſeyn, 
die ihm dieß abftreiten, berauben ihn eben dadurch jeder Möglich— 
feit von Bewegung und verwandeln ihn, nur auf andere Weife als Spi- 
noza, in ein nicht minder unbewegliches und abjolut unvermögendes 
Weſen, daher fie fid) denn auch genöthigt fehen zu befennen, daß 
3. B. jede eigentliche Schöpfung etwas der Vernunft rein Unbegreif- 
liches ſey. Hiedurch entſteht jener ſchaale, abſolut impotente, durchaus 
nichts zu erklären vermögende Theismus oder Deismus, der der einzige 
Inhalt unſrer ſogenannten rein moraliſchen und aufgeblaſenen Religions— 
lehren iſt. Jene Macht des unmittelbaren Seyns, des aus ſich Heraus— 
gehens, des ſich ungleich Werdens, jene Macht der Ekſtaſis iſt die eigent— 
liche Zeugungskraft in Gott, der ſie ihn alſo mit jenem Princip zu— 
gleich berauben. Denn eben daran, daß er das iſt (die unmittelbare 
Macht zu ſeyn), hat er nicht mehr bloß die allgemeine Materie, ſon— 
dern den nächſten Stoff ſeiner Gottheit. Dieſe Potenz iſt allerdings 
in ihrer Hinaus wendung die Potenz des ungöttlichen, ja gegengött- 
(then Seyns, aber eben darum in ihrer Hineinmendung die Potenz, 


42 


der Grumd, der Anfang, das Setzende des göttlichen Seyns — ro 
yörıuov, oder wenn id) mir den Fühnen Ausorud eines Apoftels 
erlauben darf, ro oneounx ro®V Feov. Gott ift nicht Gott durch diefe 
Potenz, aber er ift ebenfomenig Gott ohne fie. Der wahre Begriff 
Gottes (von der Wirklichkeit ift noch nicht Die Rede, ich bitte Sie 
dieß wohl zu bemerken), aber der wahre Begriff Gottes tft: das 
nur durch Negation des gegentheiligen Seyns als Weſen, als Geift 
ſeyn Fünmende Weſen zu feyn. Nehmen Sie aljo die Potenz jenes 
gegentheiligen Seyns hinweg, fo nehmen Sie von Gott die Möglichkeit 
hinweg, als Geift zu feyn, fich zu ſetzen, fich zu zeugen als Geift. 
Die Möglichkeit des gegentheiligen Seyns ift eben gegeben in jenem 
unmittelbaren Seynfönnen. Aber Gott — feinen Begriff nad) ift-er das 
Seynkönnende, nicht um das ihm (dem Seynfönnenden) gemäß Seyende 
(alfo das blindlings Seyende) zu feyn, fondern um es nicht zu ſeyn, um 
alfo dieſes Seyn in ſich als bloß mögliches, als bloßen Grund (mas 
nur Grumd ift, ift immer felbft nicht feyend) als bloßen Anfang feines 
Seyns zu haben. Wundern Sie fid) nicht, daß ich hier von einem Anfang 
des göttlichen Seyns rede; da ich diefes Ausdrucks mich hier zum erſten 
Male beviene, jo will ich ihn auch erklären. Ste fehen von jelbit, 
daß hier nicht von einem äußern, fondern von einem innern Anfang 
des göttlichen Seyns die Rede ift, der eben darum felbft nur als ein 
ewiger, d. h. als ein immer bleibender und immerwährender, gedacht 
werden kann, nicht als ein Anfang, der einmal Anfang iſt und dann 
aufhört es zu feyn, fondern der immer Anfang ift, und heute nicht 
weniger Anfang ift, als er e8 vor undenflichen Zeiten war. Der ewige, 
immerwährende Anfang des göttlichen Seyns, im den ſich Gott nicht 
Einmal gefetst hat und nun nicht wieder feßt, fondern worin er ewig 
fich zu jegen anfängt, iſt — jene als bloßer Grund geſetzte unmittel- 
bare Macht zu feyn. Man pflegt fonft zu fagen, in Gott ſey weder 
Anfang noch Ende. Betrachtet man das Seyende felbft, noch abstracte 
von dem Seyn, fo ift dem Seyenven jelbft allerdings weder Anfang 
noch Ende. Aber ſowie wir zu dem Seyn übergehen, d. h. fowie 
wir das, mas das Seyende felbft ift, nun auch als feyend wollen ober 


43 


denfen, fo ift in diefem Seyn nothwendig Anfang, Mittel und Ende — 
aber wie gejagt, ewiger Anfang, emwiges Mittel, ewiges Ende — und 
der Sat: in Gott fey weder Anfang noch Ende, heißt in Bezug auf 
das, göttliche Seyn nur fo viel: in Gott ift fein Anfang feines An- 
fangs und fein Ende feines Endes. Dieß erit ift der pofitive Begriff 
des Emigen und der Ewigfeit, während jene gewöhnliche Formel: Aeter- 
num est; quod fine et-initio caret, nur der negative Begriff der 
Ewigkeit ift. Wenn man fagt, daß in dem reinen Begriff des Seyen— 
ven felbft fein Anfang und fein Ende gedacht wird, fo ift damit nur 
gefagt, daß Anfang und Ende noch nicht gefegt find, d. h. es wird in 
diefer Abmwefenbeit von Anfang und Ende nicht etwas Pofitives, nicht 
ein Bollfommenes, fondern im Gegentheil nur eine Negation, ein Man- 
gel gedacht, wie denn auch der Begriff des Seyenden erft in dem Be— 
griff Gott feine Vollendung erhält. Ohne Anfang und ohne Ende 
zu jeyn, ift feine VBollfommenheit, fondern unvollfommen, tft Negatton 
alles Actus; denn wo Actus ift, da ift Anfang, Mittel und Ende. 
Man beftimmt Gott fonft auch al8 das Abſolute. Aber das latei- 
niſche Wort absolutum bedeutet nichts anderes als das Voll-Endete, 
alfo nicht das, mas fein Ende im ſich hat, nicht das fchlechthin Unend- 
liche, ſondern das im fich ſelbſt Geendete und Befchloffene, wie es die 
lateiniſche Sprache vollftändiger durch den Ausdruck bezeichnet: id quod 
omnibus nüumeris absolutum est; in jedem Actus, in jeder Bewegung 
find aber nur drei Momente oder Zahlen weſentlich, Anfang, Mittel 
und Ende; was alfo diefe in fich ſelbſt hat, ift ganz vollendet, oder 
omnibus numeris absolutum. 

Wir fünnen zu weiterer Erläuterung auch jagen, jene Boten Des 
unmittelbaren Seyns ſey das Natürliche oder auch die Natur in Gott, 
wie wir früher ſchon bemerften, es ſey ihm natürlich überzugehen. 
Im Begriff der Natur wird ſelbſt nur ein Können gedacht. Unter der 
Natur eines Wejens, einer Pflanze 3. B., verfteht man das, was fie 
befähigt eine Pflanze zu ſeyn, vermöge deſſen fie eine Pflanze. jeyn 
fann. Die Natur eines Weſens wird eben darum von dem wirk 
lichen Wefen felbft noch unterſchieden: die Natur eines Weſens ift das 


44 


Prius des Weſens, das wirfliche Wefen felbft das Pofterius. Aber 
eben durch das nicht Seyn deſſen, was er merä naturä, bloß natür- 
licher Weife, feyn würde, gerade dadurch ift er Gott, d. h. der Ueber- 
natürliche. Dem Begriff Gottes gemäß ift, daß er ſich in jener Po- 
tenz als nicht ſeyend fege (daß er fie eben als bloße Potenz, als bloße 
Möglichkeit behalte), — ic) fage, fo ift jene Potenz durch den Be- 
griff Gottes beftimmt; denn von der Wirklichkeit, wie ſchon erinnert, 
ift noch gar nicht die Rede, es ift bloß von dem Begriff Gottes, 
inwiefern er Iſt, die Rede, — es ift ein Begriff a priori, den mir 
aufftellen — wir beftimmen zum voraus, welches Seyn göttliches 
Seyn ſeyn wird oder.fehn kann, und wir fagen: im Begriff des gütt- 
lichen Seyns ift jenes. unmittelbare Seyn, welches: durd unmittel- 
baren Uebergang a potentia ad actum gefett wäre, dieſes Seyn ift 
im Begriff des göttlichen Seyns als das Negirte, als bloß poten- 
tielles gefeßt. Der Begriff Gottes bringt es alfo mit fih, daß er fi 
in jenem Seyn als nicht ſeyend fege, aber er kann ſich nicht in die— 
fem als nicht feyend fegen, ohne ſich in einem andern als feyend zu 
jegen, und zwar in diefem nun als rein feyend, d. h. als jeyend ohne 
Uebergang a potentia ad actum. Dieſe letzte Beftimmung laffen wir 
einftweilen fallen, um fie fpäter genauer zu erklären. Vor jet kommt 
e8 nur darauf an, diefes Verhältniß zwifchen einem Boransgehenden 
und Folgenden überhaupt oder im Allgemeinen und deutlich zu 
machen. Gott feinem Begriff gemäß und demnach als Gott fett ſich 
in jenem erſten Seyn als nicht feyend, aber nur um ſich in einem zwei— 
ten Seyn als rein feyend zu fegen. Jenes erfte Seyn, in feiner 
Negation, ift alfo die Möglichkeit oder Potenz des zweiten, oder dieſes 
zweite hat an jenem erften, und zwar an dent negirten erſten, feine 
Potenz, feine Möglichkeit, wir können auch jagen, feinen Stoff. Die 
beiden, das nicht Seyende dort und das rein Seyende hier, find alſo un- 
auflöslich aneinander gefettet und fünnen fid) nicht von einander trennen. 
Fragen wir alfo, was denn nun eigentlich Gott als folder jey, fo 
ift offenbar, daß er weder insbefondere jenes negirte Seyn, das wir 
durdy 1 bezeichnen wollen, nod) jenes pofitive Seyn, das wir durch 


45 


2 bezeichnen wollen, daß er als feines diefer beiden insbefondere Gott 
ift, ſondern Gott ift nur Gott in 1 + 2,2 h. als ver durch 
Negation von 1 in 2 als feyend gefegte; und weil er nicht ale 1 
und nicht als 2, fondern nur als 1 + 2 Sott ift, fo find .eben 
darum nicht zwei Götter, fondern es ift doch nur Ein Gott gefekt, 
obgleich Zwei gefett find, nur nicht zwei Götter, — mir fünnen nur 
jagen zwei Geftalten des Einen, in 1 + 2 feyenden Gottes, Sie 
jehben hier zum voraus (denn die nähere Beitimmung von 2 mir vor- 
behaltend laſſe ic) auf diefe Erörterung mid nur ein, damit Sie um 
jo williger mir folgen, indem Ste jehen, wo die Sache hinausgeht) — 
Ste bemerken hier, fage ich, zum voraus, wie num allerdings etwas 
entjteht, von dem wir jagen fünnen, daß es eine Einheit Gottes als 
jolden oder der Gottheit nach enthält, alfo etwas, welches die 
Einheit oder Einzigfeit wirklich auf die Gottheit einfchränft. 

Daß im Begriff des Monotheismus etwas Einfchränfendes, Re— 
ftriftives liege, war auch in jener, übrigens, wie gezeigt, unftatthaften 
Art, ſich darüber auszudrüden, anerfannt. Man fühlte, daß es zum 
Monotheismus nicht hinreihe, zu leugnen, daß etwas anderes über- 
haupt außer Gott eriftire, man leugnete alfo nun, daß fein anderer 
Gott außer ihm fey, d. h. man fehränfte die Negation in dem 
Sate auf die Gottheit ein. Der Fehler aber war, daß man da- 
ber bloß an den Einzigen nah außen dachte, anftatt die Einzigfeit 
auf Gott ſelbſt zurickzubeziehen. Man fah als unmittelbaren Inhalt 
des Monotheismus nicht den Begriff des einzigen Gottes, fondern 
gleich die Ausfage der Einzigfeit an. Da man nun die Einzigfeit 
bloß auf der Seite ver Ausfage fuchte, fo blieb auf der Seite des 
Subjekt der Ausfage nur der unbeftimmte und allgemeine Begriff Gott 
übrig. Wenn man nun aber angenommen hat, wie man annehmen 
muß, daß im Begriff des einzigen Gottes, d. h. im Begriff des Mo- 
notheismus, nicht von etwas außer Gott, fondern nur von Gott felbft 
die Rede ſeyn Fünne, zugleid) aber denkt, daß in diefem Begriff noth- 
wendig eine Keftriftion liegt, d. h. daß die Einzigfeit auf den Gott ala 
ſolchen, d. h. auf die Gottheit Gottes, eingeſchränkt wird, fo ift der einzige 


46 
noch übrig bleibende Sinn diefer, daß Gott nur einzig — als Gott 
oder feiner Gottheit nad, alfo in anderer Hinſicht, oder von feiner 
Gottheit abgefehen, nicht einzig, fondern — da ein anderer Gegenfatz 
bier nicht- denkbar — Mehrere ift. 

Gleich anfänglic hätte unter den gegen die gewöhnlichen Erflärungen 
des Monotheismus vorgebrachten Gründen aud) diefer angeführt werben 
fönnen, daß der Monotheismus als Dogma, als unterfchievene Lehre, was 
er doch ift, einen pefitiven Inhalt haben müffe, und nicht in einer bloßen 
Negation beftehen fünne, wie jene ift, wo bloß werfichert wird, daß ein an- 
derer oder mehrere andere Götter außer ihm nicht feyen, oder, wie man 
eigentlich. jagen müßte, nicht ſeyn können. Hierin ift durchaus feine 
Behauptung. Eine Behauptung kann nun aber auch überhaupt 
nicht darin liegen, daß Gott Einer ift; denn damit ift immer nur ges 
jagt, daß er nicht Mehrere ift, alfo es ift eine bloße Negation, Die 
eigentliche Behauptung kann alſo vielmehr gerade nur im Gegentheil 
liegen, in der Ausſage, daß er nicht Einer, Mehrere ift, obwohl 
nicht al8 Gott oder der Gottheit nad. Der Fehler des gewöhnlichen 
Bortrags befteht demnach darin, daß man fich vorftellt, das, was in 
dem Begriff des Monothersmus unmittelbar behauptet werde, ſey 
die Einheit, da das unmittelbar Behauptete vielmehr die Mehrheit iſt, 
und nur mittelbar, nämlich erſt im Gegenſatz mit dieſer, die Einheit, 
nämlich die Einheit Gottes als ſolchen behauptet wird. Aufs Ge— 
naueſte ausgedrückt müſſen wir alſo vielmehr ſagen: weit entfernt, daß 
in dem richtigen Begriff die Einheit unmittelbar behauptet wird, iſt 
fie vielmehr das unmittelbar Wiverfprochene, es wird geleugnet, daß 
Gott einzig in dem Sinn fey, in weldhem Ein Princip, — 3. B. das 
von uns durch 1 bezeichnete, Eines ift. In dieſem Sinn ift Gott 
vielmehr nicht einzig. Im richtigen Gefühl der in dDiefem Sinn (im 
Sinn der Ausſchließlichkeit) vielmehr geleugneten Einzigfeit haben 
die ganz alten Theologen, 3. B. Johann von Damasf, von dem ſich 
jo ziemlich alles herfchreibt, was in unfrer bisherigen Theologie Spe- 
fulatives iſt, diefer hat gejagt: Gott ſey nicht ſowohl einzig, als über— 
einzig: mehr als nur Einer, unus sive singularis quis. Die Mehrheit 


47 


wird nicht von Gott überhaupt, fondern nur von Gott als ſolchem 
geleugnet. Gott ift nur als Gott Einer, d. h. nicht Mehrere, oder: er 
ift nur nicht mehrere Götter; aber vdieß verhindert nicht, fondern, 
wenn er in der That der einzige Gott, der der Gottheit nach einzige 
ift, jo fordert diefe Ausfage, daß er in anderer Hinfidt, d.h. fo- 
fern er nicht Gott ift, Mehrere jey. — Daß Gott als Gott der ein- 
zige ift, hat erft Sinn, und kann alsdann erft Gegenftand einer Ber- 
fiherung werden, wenn er niht überhaupt einzig, wenn er alſo — 
nicht als Gott oder außer feiner Gottheit betrachtet Mehrere iſt. 
Ueberhaupt, wenn man wiſſen will, was ein ſolcher weltgeſchichtlicher 
Begriff bedeutet, muß man nicht Lehrbücher und Compendien fragen. 
Denn wie man fi) aud) die erjte Entftehung jenes Begriffs des einzigen 
Gottes in der Menfchheit venfe, durd) bloße Keflerion und Schulmeis- _ 
beit ift er ficher nicht entftanden, Insbeſondere wiſſen wir, daß wir, 
d. h. die neuere Menjchheit, überhaupt diefen Begriff nicht erfunden 
haben, daß er uns bloß durch das Chriftenthbum zu Theil geworden. 
Es läßt ſich aber gar wohl erklären, warum man in der Folge für 
gut gefunden hat, das eigentlich Pofitiwe dieſes Begriffs zu verbergen, 
als ein Geheimniß zu behandeln, jo daß dieſes Pofitive eben dadurch 
verloren gehen mußte, und nicht weniger ift begreifli, daß dieſer Be— 
griff, jowie er nur überhaupt erft Gewalt erlangt hatte, fogleich zum 
Kanen aller höheren Forfhung, zur unantaftbaren Borausjegung er— 
hoben, aber eben dadurch zugleich aller Kritif entzogen wurde. Will man 
alſo den wahren, ven wirklichen Sinn eines foldhen Begriffs, der. nicht 
der Schule, jondern der Menjchheit angehört, kennen lernen, jo muß 
‚man jehen, wie er zuerjt in der Welt fi angefündigt. Nun gibt e8 
aber fein urfundlicheres Wort über die Einheit Gottes, als jenes kapi— 
tale und Elaffische, jene Anrede an Iſrael: „Höre Iſrael, Jehovah dein 
Elohim iſt ein einziger Jehovah — "IMIR mm “—; 08 heißt nidt: 
„er tft einzig“; „er ift II“ oder Einer schlechthin, jondern: „Er ift 
ein einziger Jehovah“, d. h. er tft nur einzig als Jehovah, als 
der wahre Gott oder feiner Gottheit nad), womit alſo zugelafjen 
ift, daß er abgefehen von feinem Jehovah-Seyn Mehrere ſeyn 


48 


fann ‘. Hier alfo, in dem erften Wort, durd welches die Lehre von 
dem einzigen Gott verlautet, Haben wir jene Neftriftion, die im Be— 
griff des Monotheismus gedacht werden muß, mit deutlichen Flaren 
Worten ausgedrüdt. 


Es liegt weder in der Grammatif, noch in dem Genius der bebräifchen 
Spracde, foweit fie mir befannt, irgend etwas, das verhindert hatte, anſtatt 


TR min TIPR MN), Iehovah dein Gott ift ein einziger Jehovah, 
zu jagen: "TTTN TITOR MM’, Jehovah dein Gott ift einzig; man muß 


alfo annehmen, daß jene Wiederholung des Hauptmworts abfichtlih ift. Vergl. 
Zach. 14, 9. ’ 


Dritte Vorlefung. 


Ich habe nun vorläufig und im Allgemeinen den Uebergang von 
der abjoluten Einzigfeit zur Einzigfeit Gottes als ſolchen gezeigt. 
Sie jehen, daß das, was in Gott Grund der abfoluten Einzigfeit ift, 
jelbft zum Clement feiner Einzigfeit al8 Gott, alfo was Princip des 
Pantheismus ift, jelbft zum Element des-Monotheismus werde, Ich 
werde nım aber fuchen, das beſondere Verhältniß jener beiden zuerft 
gefundenen Elemente der Mehrheit näher zu erklären. 

Das Seyende ift in feinem Fortgang zum — Seyn im erften Mo— 
ment bloß feyn Könnendes, aber nur um in einem zweiten Moment 
das vein Seyende zu ſeyn, d. h. das Seyn, in dem nun ebenfowenig 
von einem Können ift, als in jenem erften etwas von einem Seyn 
ift. Das Seyende in diefen beiden Momenten, demnach als 1 + 2 
betrachtet, tft dag die unendliche potentia existendi als bloße Potenz, 
als bloßes Können in ſich enthaltende Weſen. Als das fie Enthal- 
tende kann e8 nicht eben das feyn, was das Enthaltene ift,- fondern 
im Gegentheil, um jene Potenz des Seyns enthalten zu Fünnen, muß 
e8 das ebenfo überfchwenglich feyende feyn, wie jene unendliche Kön— 
nen, d. h. unendliches niht Seyn if. Der unendlihe Mangel an 
Seyn in dem einen fann nur durch den unendlichen Ueberfluß von 
Seyn in dem andern begnügt und erfteres eben dadurd im Können 
erhalten werden. Denn das unmittelbar jeyn Könnende ift von der Art, 
daß erft eine Möglichkeit es im. Können zu erhalten gegeben oder 


erflärt jeyn muß. Das, was ein anderes enthält, ift immer zugleid) 
Schelling, fämmtl. Werfe. 2. Abth. I. 


80 
das Begnügende deſſelben. Enthalten heißt im Lateinifchen continere, 
und wir fünnen fagen: quod continet, contentum reddit id quod 
continet, d. h. was enthält, begnügt das, was von ihm enthalten ift; 
eontentum esse aliqua re, wirklich durch etwas oder von etwas ent- 
halten feyn, bedeutet fo viel als von etwas begnügt, zufrieden ſeyn. 
Das überfchwengliche Seyn in dem Zweiten bringt alfo das eigne Seyn 
in dem andern zum Echweigen, fo daß dieſes als pura potentia, als 
reines Können ftehen bleibt, und nicht verlangt in ein eignes Seyn 
überzugehen . Wie das Erfte potentia pura (lautres Können) ift, jo 
ift das Zweite actus purus, d. h. e8 ift. das nicht erft a potentia ad 
actum Uebergehende, jondern das gleich Actus ift. Das Seyende in 
feinem zweiten Moment (id) fage Moment: Moment, befanntlid fo- 
viel als movimentum, von moveo, — und was wir hier betrachtet, 
ift ja der Fortgang, d. h. die Bewegung, des Eeyenden zu dem Seyn, 
alſo jene Unterfchiede find in der That Bewegungs- oder Durchgangs— 
punfte des göttlichen Seyns, wir fünnen fie daher auch Momente nennen, 
oder auch, weil fie die das göttliche Seyn möglich machenden Momente, 
aljo die Möglichkeiten des göttlichen Seyns find, mögen wir fie wohl 
auch Potenzen des göttlichen Seyns nennen): — in feinem erften 
Moment alfo, oder in der erften Potenz feines Seyns ift das Seyende 
reines Können, potentia pura, im zweiten Moment ebenfo reines 
Seyn, actus purus, aber es ift reines Können im erften nur fofern 
reines Seyn im zweiten, und umgefehrt, e8 kann im zweiten nur actus 
purus jeyn, inwiefern es im erften potentia pura ift; — obgleid) alfo 
1 das Erfte, Vorausgehende, 2 das Zweite oder Folgende ift, jo tft hier 
doch Fein wirkliches Bor oder Nah, fondern wir müffen ung beide 
als zugleich gefetst denken; das unmittelbar: nicht ſeyende ift nicht fo- 
bald geſetzt, als aud) das vein ſeyende gefett ift; zwifchen beiden ift 
eben darum die höchfte Annehmlichkeit (fie nehmen fich gegenfeitig am), 
weil das, was in dem einen negirt, in dem andern gefeßt ift, und 

‘ In der Einheit find 1 und 2 das ewige Genüge: fie ftellen beide zufammen gleich-. 


jam Armuth und Ueberfluß vor, aus deren Berbindung jene befannte platonifche Dich» 
tung Eros hervorgehen läßt. (Einem andern Manufeript entnonmener Sab.) 


umgefehrt. — Das, mas als potentia pura ſich verhält, iſt infofern bloß 
Subjeft, aber nicht Subjeft von ſich felbft (denn va wäre es zu— 
gleich Objekt), fondern Subjeft des Zweiten oder dem Zweiten, es ift 
Subjeft ohne Objeft zu feyn. So ift hinwiederum das Zweite (das wir 
das rein= oder unendlich Seyende genannt haben), viejes ift reines 
Dbjeft, aber nicht für fich felbft; denn da wär’ es auch Subjekt; fon- 
dern es ift reines Objeft dem Erfteren, und aljo bloßes Objeft, ohne 
Subjekt zu ſeyn. Jedes iſt in feiner. Art gleich unendlich, das eine 
unendliches Subjeft, das andere unendlihes Objekt. Wir haben 
alfo hier gleich ein endlich-Unendliches, d. h. ein gebilvetes, nicht ein 
formlofes, ſondern, ich möchte fagen, vorganifches Unendliches, denn 
jedes ift gegen Das andere (Inwiefern es nicht ift, mas das andere ift) 
endlich, in fi) jelbft betrachtet aber unendlih. Wir fünnen, nad dem 
was ſchon früher über die Natur des Könnens bemerft worden tft, 
das Erfte (das Seyende als potentia pura) vergleichen mit einem 
ruhenden, d. h. nicht wollenden, Willen. Das Seyende als das rein 
jeyende dagegen, müfjen wir jagen, fey gleich einem lauter, gleiche 
ſam willenlofen Wollen: als Beifpiel eines folchen willenlofen Wollens 
können wir die überfliegende Güte eines fid) gleichſam nicht verfagen 
fönnenden Weſens anfehen. Die potentia pura tft von den beiden 
das, was fid) verfagen kann oder verfagen könnte; nämlich wenn es 
Subjekt, Möglichkeit, Potenz feiner ſelbſt ſeyn wollte, d. h. wenn es 
ein eignes Seyn wollte oder annähme, dann würde es eben dadurch 
dem Zweiten ſich verſagen und es von ſich ausſchließen. Die potentia 
pura iſt der ſelbſtiſch ſeyn könnende, aber, eben weil bloß ſeyn kön— 
nende, nicht ſelbſtiſch ſeyende, alſo doch unſelbſtiſche Wille. Aber das 
Zweite iſt das ſich gar nicht verſagen Könnende, das an ſich Selbſtloſe, 
das ſich dem Erſten nur geben Könnende. Das Erſte iſt der Zauber, 
die Magie, wodurch das Zweite über alle Selbſtheit gehoben zum reinen 
überfließenden Seyn gebracht oder beſtimmt wird. Je tiefer die Ver— 
tiefung, d. h. die Negation der Selbſtheit in dem einen, deſto größer 
die Erhöhung über alle Selbſtheit in dem andern. Das Erſte muß 
Nichts ſeyn (nämlich nichts ſelbſt ſeyn), damit das überſchwenglich Seyende 


2 

ihm Etwas werde, und umgekehrt, das Zweite muß das unendlich) Seyende 
ſeyn, damit e8 das Erfte in feinem nicht-felbft-Seyn erhalte. In beiden 
ift alfo eine gleiche Selbftlofigfeit oder, um einen veralteten aber treff- 
lichen Ausdruck zurückzurufen, völlig gleiche Selbſtunannehmlichkeit, alſo 
eben damit die größte gegenſeitige Annehmlichkeit, indem das Erſte 
abſolute Negation des außer-ſich-Seyns, das Zweite eine ebenſo 
vollkommene Negatien des in-ſich-Seyns iſt. Das Erſte (die potentia 
pura) zteht fid) das Seyn nicht an, das als Möglichkeit in ihm ift, 
aber eben darum ift das Zweite das niht Sid Seyende, jondern das 
nur dem Erften Seyende, ja das nur diefem feyn Könnende, und es 
alſo Voransfegende Denn das Erfte, der Anfang kann überall nur 
Subjekt feyn. Das Seyende kann nicht unmittelbar Objekt ſeyn; Objeft- 
jeyn ift das Zweite, und fett das woraus, dem es Objekt ift. Daher 
kann das Sehende unmittelbar bloß Subjekt ſeyn, und es ift reines 
Subjeft, bloßes Subjeft, wenn es nicht Subjeft von ſich ſelbſt, 
d. h. fo ift, daß e8 zugleich ſich Objekt ift. Das Seyende ift alfo 
nothmwendig ein anderes, inwiefern e8 Subjeft, und ein anderes, inwie— 
fern es Objekt iſt; es ift zwar baffelbe Seyende, aber daſſelbe 
Seyende iſt ein anderes als 1, ein anderes als 2, es iſt alſo eine wirk— 
liche Mehrheit. Es iſt als 1 Subjekt von ſich ſelbſt als 2, inſofern 
iſt es daſſelbe Seyende, aber 1 und 2 find nicht daſſelbe, ſondern jedes 
ein anderes, indem jedes gerade das ausſchließt und nicht iſt, was das 
andere iſt. 2 iſt bloß Objekt, und eben darum kann es nur 2, nur 
secundo loco ſeyn, d. h. e8 fett ein anderes voraus. Dagegen jenes 
bloße unendlihe Können, dieſes kann Anfang feyn, und ift eben 
dadurch — wiewohl vorerft bloß innrer — Anfang, e8 ift eben dadurch 
Anfang, daß es ſich jenes unendlich Seyende als Objekt anzieht. 
Denn Anfangen oter, wie man ja auch fagt, Anfahen und An- 
ziehen ift nur Ein Wort, Der Anfang liegt im Anziehen, das An- 
ziehende aber muß Mangel feyn, Armuth an eignem Seyn;. wie Chriftus 
jagt: Selig find die arm find dem Geift, d.h. für ven Geift, fo daß 
fie den Geift fi) anziehen. Denn wäre es des eignen Seyns voll‘, 

’ wäre es felbftiich. 


Id 
jo fünnte e8 fein Seyn ansziehen, fondern würde es zurückſtoßen. 
(Sie fühlen von ſelbſt, welche tief fittliche Bedeutung in diefen höch— 
ften Begriffen liegt. Aber eben dieß ift zugleich der höchfte Beweis ter 
Wahrheit diefer Begriffe, und gerade diefe fittliche Bedeutung macht zu⸗ 
gleich die Verſtändlichkeit dieſer Begriffe). Aber auch in der andern 
Bedeutung, die das Wort anziehen hat, da es ſo viel bedeutet als 
bekleiden, auch in dieſer iſt die erſte Potenz die anziehende der 
andern; nämlich jenes bloße (alles Seyns entblößte) nackte Können, 
indem es das unendliche Seyn anzieht, bekleidet es ſich gleichſam 
oder überzieht ſich mit dieſem Seyn, ſo daß wir nur dieſes, aber 
nicht es ſelbſt ſehen; es ſelbſt iſt das in der Tiefe Verborgene, das 
eigentliche Myſterium des göttlichen Seyns, das, in ſich alles Seyns 
ermangelnd, äußerlich mit dem unendlich Seyenden ſich bedeckt, und 
indem es ſelbſt für ſich nichts iſt, eben darum ein anderes (nämlich 
das unendlich Seyende) iſt. Denn der wahre Sinn des Ausdrucks: 
etwas ſeyn tft eben dieſer. Wenn nämlich das Seyn cum emphasi 
gefagt wird, jo ift der Ausorud: etwas ſeyn — dem, diefem Etmas 
Subjeft jeyn. Das ift, die Copula in jedem Sabe, 3. B. in dem 
Sate: A ift B, wenn fie nämlich überhaupt bedeutend, emphatiſch, d. h. 
die Copula eines wirflihen Urtheils ift, fo bedeutet „A ift B“ fo viel 
als: A ift vem B Subjekt, d. h. es ift nicht felbft -und feiner Natur 
nad) B (in diefem Fall wäre der Sat eine leere Tautologie), fondern: 
A ift das auch nicht B jeyn Könnende. Wäre das, was in dem Sat 
an der Stelle.des Subjefts fteht, wäre alfo im obigen Fall A fo be- 
ichaffen, daß e8 das an der Stelle des Pradicats Stehende nur — 
jeyn, nicht auch nicht feyn Fünnte, jo wäre dieſer Saß ein nichts— 
fagender, beveutungslofer. Ich kann von einem Menfchen: er tft ge 
fund, nur jagen, inwiefern ich vorausjeße, nicht daß er außer und über 
aller Möglichkeit des Frank Seyns ift (denn dann wäre der Saß ein 
nichtsfagender), fondern vielmehr nur, daß dieſe Möglichkeit in ihm 
unterworfen, d. h. daß fie bloß Subjeft oder — latent ift. Indem 
ich, leugne, daß er Frank ift, laſſe ich zugleich die Möglichkeit des 
Gegentheils durchſcheinen (die eigentliche Bedeutung des Worte 


54 





Emphafis'). Ebenſo wenn ich von irgend einer geometriſchen Figur, fie 
fey num an der Tafel verzeichnet oder fürperlic) dargeſtellt, fage: dieß ift 
ein Cirfel, oder es ift eine Ellipfe, jo ift dieß ein Urtheil. Das Sub- 
jeft in diefem Sage ift das was ich fehe, die Materie, mit welcher 
die Figur dargeftellt ift. Wenn ich alfo urtheile, diefes ift ein Cirkel 
oder diefes ift eine Ellipfe, fo drüde ic) damit aus, daß eben. diejes 
was ic) fehe und was jest ein Cirkel ift, wohl aud eine andere geo- 
metrifche Figur oder auch gar feine ſeyn könnte; nur inwiefern ich dieß 
vorausſetze, ſage ich mit Beſtimmtheit oder cum emphasi: dieſes iſt 
ein. Cirkel oder dieſes iſt eine Ellipſe. Und in eben dieſem Sinne 
fagen wir nun bier: das unendliche Können, das unendliche nicht 
Seyende ift das unendliche Seyn, dag unendliche Seyende. — Wun— 
bern Ste ſich nicht, daß ich bei der Erklärung dieſer Potenzen und 
ihres Verhältniffes fo lange verweile; denn es find eben dieſe Potenzen, 
mit denen wir in der Folge zu thun. haben werden, deren Bedeutung 
und Berhältniffe wir daher wohl ins Auge faffen müffen, um ſie in 
allen ihren Geftalten und Verkleidungen immer wieder zu erkennen. 

Es iſt nun aber ſofort einzuſehen, daß wir auch bei der Zweiheit 
nicht werden ſtehen bleiben können. Nämlich die Abſicht dieſer Ent— 
wicklung iſt doch eigentlich, zu zeigen oder darzuthun, wie das Seyende 
ſelbſt ſey. Nun iſt aber das Seyende ſelbſt immer doch eigentlich 
Subjekt, Macht zu ſeyn. Nur unmittelbar, wie wir jetzt geſehen, 
nur primo impetu, daß ich fo ſage, können wir die Macht zu ſeyn 
nicht auch als ſeyend fegen. Denn das hier gemeinte Seyn ift dag 
gegenftändliche, objektive. Nichts ift aber unmittelbar Gegenftand, 


ı Die Bedeutung der Emphafis muß man nicht nachdem modernen Gebraud), 
z. B. dem „avec emphase“ der Franzofen, worin nur noch ein Theil won ihr 
übrig ift, jondern nach den Erklärungen des Quinctilianus beurtheilen, der 
(Institut. orat. 9, 2, 3) das Wort dur) „plus quam dixeris significa- 
tionem“ erffärt, und anderwärts won ihr fagt: non ut intelligatur „efficit, 
sed ut plus intelligatur (8, 2, 11), oder: altiorem praebens intelleetum, 
quam verba per se ipsa declarant (8, 3, 83). Zu dem oben gebrauchten 
Wort latent führe ih an 9, 2, 64: Est emphasis, cum ex aliquo dieto 
latens aliquid eruitur. 


55 





es iſt nur Gegenſtand für ein anderes, d. h. inwiefern es ein anderes 
vorausſetzt. Alſo kann das Seyende ſelbſt im erſten Moment, alſo in— 
wiefern ihm noch nichts anderes vorausgeſetzt wird, nur als reines 
Subjekt, als lautre Macht zu ſeyn, aber mit der ausdrücklichen Be— 
ſtimmung des nicht ſeyns, geſetzt werden. Das Seyende iſt darum im 
erften Moment nur potentia pura. In einem zweiten Moment 
jett e8 fi wieder, nun als Objekt (weil es Subjeft ſchon ift), aber 
nun ift es eben das ganz bloß objektiv, d. h. als das Gegentheil 
von ſich ſelbſt gefetste Subjeft. — Subftantiell, der bloßen Sub- 
ftanz nad, ift auch in 2 das Subjekt (denn es fanır nichts ſeyn, als 
was Subjeft iſt; Subjekt und Objekt find in dieſem Sinn vafjelbe, 
das Subjekt ift das nur als Subjeft, das Objeft ift das nur als Ob— 
jeft gejegte Subjekt), bloß jubjtantiell genommen tft alfo auch im Zwei: 
ten das Subjeft, aber das ganz in das Objektive, in das Seyn (näm— 
ih in das Dbjeft) umgewendete, jo daß in ihm mun das Subjeftive 
ebenfo latent, verborgen, zum Schweigen gebracht ift, wie in 1 das 
Seyn oder das Objektive als Iatent und verborgen geſetzt war. Wir 
fönnten fagen, wie in 1 das Seyn (worunter hier immer das eigen- 
Ihaftliche, gegenftändliche werftanden wird), wie in 1 das Seyn, Jo ift 
in 2 das Subjeft, die Selbftheit, als bloße Möglichkeit und dem— 
nad) völlig latent. Wir haben alfo nun in dem einen, in 1, zwar das 
reine OV (das reine Ens in fubjeftivem Sinn, das was Jft aber 
ohne alles Seyn, mit Enthaltung von allem Seyn); im andern, in 2, 
haben wir audy das reine OV, aber im umgefehrten, im bloß gegen- 
ſtändlichen Sinn, als das ganz in das Seyn Ergofjene, ohne Rückkehr 
auf ſich jelbft, ohne Subjektheit, ohne Selbftheit. Nun tft aber offen- 
bar in feinem von beiden für fi) das was wir wollen, ob es glei) 
unvermeidlich ift, daß wir beide zuerft jegen, in welchen das, was wir 
eigentlich wollen, nur getrennt vorhanden if. Denn was wir eigentlich 
wollen, ift Subjekt, lautre Macht zu feyn, die als folche ſeyend ift; 
wir wollen alfo das Subjeft, das als ſolches und ohne daß es 
aufhört Subjekt, d. h. lautre Macht zu feyn, Objekt ift, und wir 
wollen das Objekt, das darum, daß es Objekt — ſeyend — ift, 


86 
nicht aufhört Subjekt, lautre Macht, potentia pura existendi zu 
ſeyn. Aber eben diefe Beſtimmungen Ichliegen fi) unmittelbar aus. 
Wir können unmittelbar oder primo momento nur das reine Sub- 
jeft fegen ohne Seyn, secundo momento nur das reine Seyn ohne 
Subjeftheit, und erft an einer dritten Stelle, erft als exelusum tertium, 
als ausgejchloffenes Drittes, werden wir das Objekt ſetzen können, das 
als folches auch Subjekt, oder das Subjekt, das als ſolches nicht weniger 
auch Objekt oder feyend ift. Nur an der dritten Stelle, fage ih, d. h. 
nur inwiefern wir die beiven andern ihm vorausfesen. Denn denfen 
Sie fi, daß wir verfuchen, von dieſem legten Begriff anzufangen, fo 
wird er doch ſogleich ſich uns zerfegen. Der Begriff ift: das als ſolches 
gejeßte oder feyende Subjeft. Aber alles Seyn ift ein Hinaus- 
gefett-jeyn, ein Exponirt-ſeyn, ein gleichſam Hinausftehen, wie im 
lateiniſchen Exstare ausgedrüdt ift, aber da wir der Vorausſetzung 
nad) nichts haben, wogegen das Subjeft hinaus-geſetzt, er = ftirend 
ſeyn könnte, jo fällt es uns in das Centrum, in die Tiefe feiner bloßen 
Subjeftheit zurüd,. und wir haben alfo doch, ob wir gleich mit dem 
höhern, mit dem vollfommenen Begriff anfangen wollten, wir haben 
doc das bloße Subjekt, und zwar als das nicht jeyende, als das non 
ex-stans, sed in-stans (Inneftehende). Diefer Anfang mit dem nicht 
jeyenden ift der unumgängliche, unvermeivliche, es iſt nicht Das was 
wir wollen, und wir feßen diefen Anfang nicht weil wir wollen, 
jondern weil wir nicht anders fünnen, ev ift dad nicht Gewollte (als 
folder wird er uns felbft jpäter in der Mythologie erſcheinen), er ift 
das nicht eigentlich Gefegte, fondern das nur nicht nicht zu Setzende, 
das nicht eigentlich) Seyende, fondern nur nicht nicht-feyn Könnende, 
das wir nicht umhin können zu fegen. Nun mögen wir von dieſem 
Punkt aus weiter gehen, und jegt ift ung verftattet, dad Seyn zu 
jegen: — aber num geht uns über dem Seyn, dem Objekt, das Sub— 
jeft verloren; wir haben jett das rein, ja unendlich Seyende, aber wir 
haben es nicht als Macht zu feyn. Denn was Macht zu feyn ift, 
iſt auch Macht nicht zu ſeyn; aber eben diefer Macht auch nicht zu 
jeyn, iſt das Zweite gleichſam entſetzt; es ift Das nicht ſich verfagen 


97 





Könnende, oder e8 ift das nur ſeyn Könnende, d. h. das nothwendig, 
alſo aud) das rein, das unendlich Seyende, es ift dag ganz Ereentrifche, 
wie 1 das abſolut Centriſche. Erft an einer dritten Stelle, da das 
Seyende nicht mehr ausweichen fann — weder zur Rechten nod) zur 
Linken —, erft das in einem britten Moment gefette Seyende, da «8 
weder reines Subjekt feyn kann (denn die Stelle des reinen Subjefts 
ift Schon genommen durch 1), od) reines Objekt (denn deſſen Stelle ift 
jhen genommen durch 2), da ihm, im Gegenfag oder in der Aus— 
ſchließung won 1, nichts übrig bleibt als Objekt, im Gegenfaß oder in 
der Ausichliefung von 2 nichts übrig bleibt als Subjekt zu jeyn: da 
muß das Seyende wohl ftehen bleiben als das unzertrennliche Subjeft- 
Dbjeft, als das im Seyn oder als feyend, indem es alſo — 2 (dem 
Zweiten gleich ift), Macht zu ſeyn (alfo frei vom Seyn), alfo = 1 bleibt, 
und umgekehrt, indem es lautre Macht zu feyn, infofern = 1 ift, um 
nichts weniger ſeyend, alfo = 2 ift; das, meil es im Seyn frei 
vom Seyn (Macht zu jeyn) bleibt, das fich ſelbſt beſitzende ſeyn Können, 
die fich ſelbſt Kefigende Macht zu feyn ift (das fich ſelbſt Beſitzende ift 
es, weil es als Subjeft, d. h. als das was befißt, zugleich Objekt, d. h. 
der Gegenftand ſeines Befites ift): wir fünnen mit andern Ausdrücken 
aud) jagen, es tft Das was immermwährend Actus tft, ohne daß es auf- 
hört Potenz (Duelle des Seyns) zu feyn, das im Seyn feiner felbft 
mächtig bleibt, und umgefehrt, indem es Potenz ift, darum nicht weniger 
Actus ift — das fi) nicht verlieren Könnende, das bei-fich- Bleibende. 
Im bei=fidh- Bleiben liegt zweierlei, nämlich a) das von fid) Weggehen, 
das außer-ſich-Seyn, wie 2. Denn was nicht von ſich weggehen, nicht 
excentriſch ſeyn kann, ift bloß an fih, an fich gleichjam gebunden, wie 
1. Bon dem, was bloß an fi ift, nicht won fi) weggeht, fann man 
eigentlich nicht fagen, daß es bei fih if. Bei-ſich-ſeyn heift 
im aufßer-fih- Seyn an ſich (in feinem Wefen) bleiben und 
beftehen, fein An-ſich, fein Weſen, fein Selbſt nicht verlieren im 
außer-ſich-Seyn. Für dieſes ſich ſelbſt Beſitzende, bei - fi) - Dleibende, 
das im Actus Potenz, im Seyn Macht zu ſeyn bleibt, hat nun aber 
die Sprache kein anderes Wort als Geiſt. Dem Geiſt allein iſt es 


98 

gegeben, im Actus Potenz, im Wollen Duelle des Wollens, d. h. Wille, 
zu bleiben, und umgekehrt, lautrer Wille zu feyn, indem er wollend 
ift. Damit alfo, mit diefem dritten Moment oder diefer dritten Potenz 
ift erft erreicht, was wir von Anfang gewollt, daß nämlich das Seyende 
jelbft als ſolches feyend ift, aber wir dürfen nie vergeffen, daß dieſes 
nicht unmittelbar, fondern nur durd ein Fortſchreiten von einer Ge⸗ 
ſtalt des Seyns zur andern, durch eine (nicht äußre, aber innre) Be— 
wegung möglich iſt, in welcher das bloße und demnach nicht ſeyende 
Seyende der ewige Anfang, das bloß (d. h. rein) ſeyende und demnach 
ſeiner ſelbſt nicht mächtige Seyende das ewige Mittel, das im Seyn 
frei vom Seyn, d. h. Macht zu ſeyn, bleibende Seyende das ewige 

Ende iſt. | 
Nah ver lebten Entwidlung müſſen wir ums zurüdcufen, was 
gleich anfangs bemerft worden, daß vor jest und alfo bis hieher nur 
noch von dem Begriff des göttlichen Seyns, noch nicht von einem 
wirklichen Seyn die Rede ſey. Der bisher entwickelte Begriff iſt nur 
der Begriff des göttlichen Seyns a priori, d. h. der Begriff, den wir noch 
vor dem wirklichen Seyn von diefem Seyn haben, Alles was wir bis jet 
jagen fünnen, ift, daß Gott (der an fich nicht feyend, jondern der 
lautre Freiheit zu ſeyn oder nicht zu ſeyn iſt, der Ueber ſeyende, wie 
ihn auch Aeltere ſchon genannt haben), daß Gott, wenn er ift, der 
auf diefe Weife, in diefen drei Formen oder Geftalten des Seyns jeyn 
fünnende ift — aber daß er Iſt, davon ift jet noch nicht Die Rede. 
Sehen wir das Seyn oder den Actus als das Politive und demnad) 
das nicht Seyn oder die bloße Potenz als das Negative an, und nennen 
wir das Seyende felbft A, fo ift alfo (idy erinnere wieder an die ſchon 
befannten Zeichen) das Seyenve im erften Moment oder in der erften 
Potenz feines Seyns — A (womit wir eben ausdrüden, daß es hier 
das nicht ſeyende, nicht Objekt ift); im der zweiten Potenz feines Seyns 
iſt es P4 (in dem nichts von einer Negirung iſt, das rein und unendlich 
Seyende), in feiner dritten Potenz ‚oder Geftalt ift es das als ſolches 
ſeyn Könnende, die als ſolches feyende Macht zu ſeyn, alfo + A'. 
' Hier bebeutet aljo das HA nicht jene negative Inbifferenz, die das A an 


59 





Um dieje Bezeichnungen gleich hier anzumenden, fo fage ich: es ift mit 
allem Bisherigen nichts gegeben als der VBorbegriff des göttlichen Seyns; 
Gott ift uns vor jet nod) bloß der nur in diefen drei Formen, ald — A 
AHA, jeyn Könnende, aber nod) nicht der Seyende, Wirkliche. 
Nur die Form des göttlichen Lebens ift gegeben, noch nicht das wirk— 
liche Leben, der lebendige Gott jelbft. Aber eben durch diefen Begriff 
ift doc zum voraus beftimmt, was hernad) feyn wird, Durch den 
Begriff Gottes ift zum voraus beftimmt, daß er die immittelbare Po- 
tenz des Seyns ift, nicht unbeftimmter Weife, als unbejtimmte Zwei— 
heit, als Zogıorog Avds, um einen Ausdrud der Alten zu brauchen, 
als Potenz, die ebenſowohl Potenz bleiben, als in das Seyn übergehen 
(aljo- Potenz zu ſeyn aufhören) kann. Durdy den Begriff, oder 
wie wir auch jagen fünnen (denn es ift ganz dafjelbe), durch die Na- 
tur Gottes, alfo a priori, ift beftimmt, daß er die unmittelbare Po- 
tenz des Seyns nur tft im der Hineinwendung, in der Verborgenheit, 
im Geheimniß. Diefe Potenz ift aljo das urjprüngliche (weil durch 
jeine Natur ſchon gefette), unvordenflihe Myſterium feiner Gottheit, 
das vor allem Denken, ſchon durd) die Natur Gotteg (noch ift von 
feinem Actus die Rede) als untergeorvnet, als latent Gejette der Gott— 
heit; fie ift alfo aud) das nicht Durd) die Natur Gottes, fondern, wenn 
jie offenbar jeyn wird, nur durd feinen Willen offenbar feyn Kön— 
nende (jehen Sie jchon hier das Große, was durch unfere Entwicdlung 
möglich gemacht iſt); jene Potenz iſt alfo das, was wir in der Folge, 
wie wir fie aud) finden mögen, immer finden werden als das durd) 
die göttliche Natur. zum Myſterium (zur Potenz) Beftimmte. 

Iſt uns nun mit dem Bisherigen zwar nur der Begriff, aber denn 
doch der Begriff Gottes gegeben, jo ift uns auch damit gegeben, was 
wir bei der gegenwärtigen Gelegenheit allein eigentlich fuchen, der Be- 
griff des Monotheismus, und zwar jest in feiner Vollſtändigkeit. Nämlich 


fi) vor aller Beftimmung hat, ſondern die pofitive deſſen, was weder mehr bloß 
— A, no bloß — A, aljo das Dritte ift, die poſitive, Indifferenz, jene 
pofitive Gleichgültigkeit, welche wir in der abjoluten Freiheit, zu jeyn und 
nicht zu ſeyn, fih zu äußern und nicht zu äußern, denfen müſſen. 


60 


den nur auf ſolche Weife, nur al8 — A + A + A ſeyn Könnenden, 
durch deſſen Begriff alfo diefe Formen und Geftalten des Seyns ſchon 
vor allem wirklichen Seyn unauflöslich vereinigt find, diefen müffen 
wir wohl den, umd zwar den natur& sus Al-Einen nennen, Er ift 
der All-Eine, Denn diefe Formen find nicht eine bloße unbeftinmte, 
jondern eine in ſich beſchloſſene Mehrheit, d. h. ſie ſind ein wahres 
All oder zav, und was wir ſchon zum voraus, als nothwendige Folge 
des Begriffs, daß Gott derjenige Iſt, bei dem allein das Seyn ift,- pe- 
nes quem solum est Esse, was wir ala nothwendige Folge dieſes Be- 
griffs eingefehen haben, daß die. Modalitäten des göttlichen Seyns die 
Modalitäten alles Seyns ſeyn müſſen“: dieß ließe ſich jegt auch beftimmt 


- * Anmerf. des Herausg. Im Manufeript ift hier „Hegels Logik, erfter 
Theil, ©. 33." am Rand beigefchrieben. ° Dort findet ſich die befannte Kritik 
der Potenzenlehre. Ich jetze fie zur Vergleichung bei. Sie lautet: „Befonders ift e8 
das Potenzenverhältniß, welches in neuerer Zeit auf Begriffsbeftim- 
mungen angewendet worden ift. Der Begriff in feiner Unmittelbarfeit wurde 
die erfte Potenz, in feinem Andersſeyn oder der Differenz, dem Dafeyn feiner 
Momente, die zweite, und in feiner Rückkehr in fich oder als Totalität die 
Dritte Potenz-genannt. Hingegen-fallt ſogleich auf, daß die Potenz fo gebraucht 
eine Kategorie ift, die dem Quantum wefentlich angehört; es ift bei diefen Po-- 
tenzen nicht. an die potentia, Ivvanız des Ariftoteles gedacht. So drüdt das 
Potenzenverhältniß die Beftimmtheit aus, wie Diefelbe als der Unterfchied, wie 
er im befonderen Begriffe des Quantums tft, zu feiner Wahrheit gelangt, 
aber nicht wie derjelbe am Begriffe-als folhem if. Das Quantum enthält die 
Negatiwität, welche zur Natur des Begriffs gehört,. noch gar nicht in deſſen 
eigenthümlicher Beftimmung geſetzt; Unterjchtede, die dem Quantum zufom- 
men, find oberflächlihe Beftimmungen für den Begriff ſelbſt; fie find weit 
entfernt, beftimmt zu ſeyn, wie fie es tim Begriffe find. Es ift in der Kindheit 
des Philofophivens, daß wie von Pythagoras Zahlen — und erfte, zweite 
Potenz u. ſ. f. haben infofern vor Zahlen nichts voraus — zur Bezeichnung 
allgemeiner, wejentlicher Unterfchiede gebraucht worden find. Es war dieß eine 
Berftufe des veinen denfenden Erfaſſens, nach Pythagoras erſt find die Gedanfen- 
beftimmungen jelbft erfunden, d. i. für fich zum Bewußtſeyn gebracht: worden. 
Aber von folhen weg zur Zahlenbeftimmungen zurüdzugehen, gehört einen fich 
unvermögend fühlenden Denfen an, das nun im Gegenſatze gegen vorhandene 
philoſophiſche Bildung, die an Gedankenbeftimmungen gewohnt ift, felbft das 
Lächerliche hinzufügt, jene Schwäche fiir etwas Neues, Bornehmes "und für einen 
Fortichritt geltend machen zu wollen... .. “— Allgemeines über die Be- 
deutung der Potenzenlehre findet fih unten, im Anfang der jechsten Vorlefung. 


61 





nachweiſen, wenn ich mir dieß nicht für eine fpätere Auseinanderfegung 
vorbehielte. Nehmen Sie indeg au, daß in jenen drei Formen alle 
Möglichkeiten, alle Principe des Seyns enthalten find (und in der That 
jene drei Begriffe find die wahren Urbegriffe, Urpotenzen alles Seyns; 
in ihnen liegt die ganze Logif, wie die ganze Metaphyſik), nehmen Sie 
dieß an, fo ift auch in diefem Sinne Gott der All-Eine; er ift der 
All-Eine — nicht weil er etwas von fid) ausſchließt, wie im Pantheis- 
mus, der Gott nur als blind Seyenden kennt, jondern — weil er 
nichts ausſchließt; aber er ift nicht bloßes Al, ſondern er ift ebenfo- 
wohl der All-Eine, weil er nicht in einer diefer Formen für fi, nicht 
als — A, nicht als + A, felbft nicht ald + A Gott ift. Diefe For: 
men find nur Durchgangspunkte feines Seyns, mithin-als feine derſel— 
ben für fid) ift er Gott, fondern nur als die unauflösliche (geiftige, 
perjünliche) Einheit und Berfettung derjelben; injofern iſt er alfo der All— 
Eine — und zwar der feinem Begriff oder feiner Natur nad und eben 
darum wejentlich, unauflöslich und nothwendig All-Eine, aber eben dieß, 
daß er der All-Eine ift, oder ‚vielmehr, wie wir auf dem gegenwärti— 
gen Standpunfte uns noch ausdrücken müfjen, dev nur all=einig feyn 
Könnende, dieß ift num auch der. einzige wahre Inhalt des Begriffs 
Monotheismus. Wir haben alfo damit was wir juchten, aber, meil 
wir Gott vorerſt bloß als den feinem Begriff nad (als den mejent- 
lich) All-Einen fennen, ſo haben wir aud) ven Monotheismus nod) bloß 
als Begriff oder im Begriff, noch nicht als Dogma; dieß jteht uns 
noch bevor, dazu haben wir erft fortzugehen; aber wir haben den Mo— 
notheismus als Begriff. Denn der einzige Gott kann nur derjenige 
genannt werden, ber feinem Begriff nad) der All-Eine ift, der nicht 
einzig im negativen, ausſchließlichen Sinne tft '. 
Man vergleiche auch, was über den Gebrauch der Zahlen in der Philofophie 
in der Einleitung zur Philofophie der Mythologie S. 312 bemerkt ift. 

' Wir können nämlich die abſolute Einzigfeit, won der wir ausgingen, auch Die 
negative nennen, weil fie, gar fein Verhältniß Gottes begreift. — Wenn die 
Theologie für die Lehre von dem einzigen Gott Feine andere Stelle weiß, als 


unter den fogenannten negativen Attributen, d. h. die Gott vor und außer allem 
Thun, alfo auch vor und außer allem Berhältniß zukommen, wenn fie auf dieje 


62 


Art die Bedentung des Monotheismus nur in diefer negativen Einzigfeit beſtehen 
läßt, jo ift offenbar, daß es der Theologie bis jett an dem eigentlichen Begriff 
des Monotheismus gebricht. — Bekanntlich jegen die Theologen den negativen 
Attributen die pofitiven entgegen. Unftreitig beruht diefe jehr alte Unterfcheidung 
zwiſchen negativen umd pofitiven Attributen auf einer noch älteren dogmatifchen 
Ueberlieferung, die jedoch ſchon in den früheften Datftellungen ins Populäre herab- 
gezogen worden umd ihren wiffenjchaftlichen Charafter verloren hat. Man fünnte 
jagen : unter den angenommenen göttlichen Attributen feyen die negativen die bloß 
theiftifchen, die pofitiwen feyen die monotheiftifchen oder die erft mit dem Mono- 
theismus möglichen und hinzufommenden. Dean kann eben defiwegen leicht er- 
warten, daß diejenigen, welche eine VBorneigung zum bloßen Theismus empfinden, 
meift, um Gott zu bezeichnen, die negativen Attribute anwenden, wie 3. B. die 
Sranzojen, wenn fie Gott nennen, fagen: l’Eternel, der Ewige, l’&tre infini, 
das unendliche Weſen u. ſ. w., was freilich won Gott a wahr ift, aber feines- 
wegs die eigentliche Gottheit Gottes ausdrüct. Es ift nicht bemerft worden, daß 
von den negativen Attributen zu den pofitiven fein Uebergang ftattfindet, indem 
e8 3. B. noch niemand gelungen ift, zu zeigen, daß Ewigkeit, Unendlichkeit u. |. w. 
Weisheit, Güte. und Gerechtigkeit mit fih bringen, indeß es ganz leicht ift, eine 
diefer negativen Eigenfchaften aus der andern abzuleiten, 


* * 
* 


Anmerkung des Herausgebers. Eingehenderes über letzteren Gedanken (über die 
Dialektik ter negativen und poſitiven Eigenſchaften) findet ſich in einem älteren Manufeript. 
Obſchon die Darſtellung in dieſem Manuſcript eine von der gegenwärtigen verſchiedene iſt, 
ſo wird doch die nachſtehende Mittheilung aus demſelben den Leſer, wie ich ie nicht 
zerftreuen. 

* * 
* 

Wenn man den Erklärungen der Neuern folgte, ſo wären unter negativen 
Eigenſchaften keine anderen als ſolche Prädicate zu verſtehen, die durch Ausdrücke 
entſtehen, in welchen irgend eine Unvollkommenheit von Gott entfernt wird, z. B. 
Unfichtbarfeit, Unkörperlichkeit, Sterblichkeit u. |. w. Die alten Theologen jedoch, 
von denen er an fie Durch Weberlieferung gekommen, haben noch etwas anderes 
und Tieferes bei diefem Begriff gedacht. Davon findet fi wenigſtens noch die 
Spur, wie wenn einer fich jo ausdrückt: das, was von Gott bejahend (zarapa- 
rırög) ausgefagt werde, zeige nicht die Natur, fondern das was um die Natur 
ift (ra meol rnv puoıwv), d. h. Doch wohl was zu der Natur und über die 
Natur, fie gleihfam einhüllend und bedeckend, binzufommt; und was der eine 
Natur nennt, heißt einem andern Wefen, der fagt: Das heilig-, das gerecht- 
Seyn folge der Natur (zuoenerau 77 pVocı), zeige aber nicht das Weſen 
jelbit (ovx aurrv de anv oxciav InLor)*. Inder That, wenn man, abgejehen 
von ihren Erklärungen, unterfucht, welche Eigenichaften die Nenern unter Die 
negativen, und welche fie unter die pofitiven zählen, fo wird man fich bald über— 
zeugen, daß fie, unftreitig ebenfalls in Folge einer Meberlieferung, zu den exften 


* Suicer. Tom. I, p. 488. 1376. 


63 


lauter folche nehmen, die auch der bloße Theismus und daher der Pantheismus 
nicht weniger als der Monotheismus anerkennt, nämlich das von = felbft - Seyn 
(aseitas), die Ewigkeit, die Unendlichkeit, die Einzigfeit u. f. w., außer denen 
(poſitiv-, reell- gemachten) Spingza zu feinem Syſtem feiner andern bedarf. Zu 
den pofitiven aber vechnen fie den Berftand, den freien Willen und was von 
beiden herfommt, Weisheit, Güte, Gerechtigkeit u. |. w., kurz Diejenigen, welche 
im eigentlichen Verftand nur der Monotheismus anerkennt. 

Nun laſſen fie aber diefe beiden Klaſſen von Eigenjchaften nebeneinander 
ftehen, ohne zu erklären, wie entweder die pofitiven über die blinden, negativen 
Herr geworden, oder wie dieſe in jene hinübergefommen und fi ihnen als ne- 
gative unterworfen haben. Hier ift eigentlich der leere Punkt in der bisherigen 
Theologie. Bon daher jchreibt fih das wiſſenſchaftlich Schwanfende derjelben und 
ihr unficherer Stand gegen bloßen Theismus und Pantheismus. In der That, 
dev Hebergang von den negativen zu den pofitiven Eigenjchaften ift nichts anderes 
als der Uebergang vom Theismus zum Monotheismus felbft. Zufolge der erften 
Eigenfchaften, wenn fie nämlich alfein gedacht werden, wäre nichts als blinde, 
anfang- und endlofe, alles verzehrende Subftanz. Nun kann aber eben das, was 
von felbft nur diefes (blinde Subftanz) jeyn würde, nicht ebenfalls von jelbft 
auch frei wollendes Subjekt, bejonnene Weisheit, Liebe und Güte jeyn. Nur 
durch Vermittlung eines Zweiten ift es möglich, daß daſſelbe Subjekt, welches an 
und vor fich oder vorangehender Weife (antecedenter, a priori) nur das blind» 
Iings Seyende jeyn kann, nachfolgender Weiſe (consequenter oder a posteriori) 
lautre Liebe und die abjolute Intelligenz jey. Die erften Eigenfchaften find, 
wenn wir die Verhältniffe in der Offenbarung dafiir anwenden, die bloße Natur 
des Vaters, abftraft won dem Sohne betrachtet, die andern die Eigenfchaften des 
Baters als folhen oder in jeinem Berhältmiß zu dem Sohn, denn nur gegen den 
Sohn und im Sohn ift er Vater. So wahr ift e8 auch. dem ſtreng wiljenfchaft- 
lichen Sinn: niemand fommt zum Vater als durch den Sohn. 

Ließe fih von den Eigenfchaften der erften zu denen der zweiten Art ein un— 
vermittelter und nothwendiger Uebergang finden, fo würden ihn wohl auch bie 
Bantheiften gefunden haben. 

An die Stelle der Unterfcheidung von pofitiven und negativen ſetzen jpätere 
Theologen die übrigens gleichbedeutende von ruhenden und thätigen oder 
eine Wirkung anzeigenden Eigenſchaften (attributa quiescentia et operativa) *. 
Es iſt zwar nicht wohl einzujehen, wie fie unthätige Eigenjchaften mit dem Lehr— 
ja, daß Gott lautres Wirken jey, in Hebereinftimmung bringen wollten, wenn 
fie nicht dieſes Wirken eben in das unthätig (unwirffam) Machen des jenen 
Eigenfchaften zu Grunde Liegenden fetten. Dann mußten alfo lettere nicht als 
etwas uriprünglich Unwirkſames, jondern nur als ein zur Unwirkſamkeit Gebrachtes 
oder mit einem, bei ung ſehr gewöhnlichen, wiewohl weder fonderlich beliebten, 


* &3 wäre nicht unerwünfcht, zu wiffen, von welchen Theologen und mit welchen Er- 
tlärungen jene Ausdrücke zuerft eingeführt worven. 





noch als arger Soldeismus empfehlungswerthen Ausdruck Quiescirtes vorgeftellt 
werden. 

Die negativen Attribute find alfo Eigenfchaften des wirflichen Gottes, aber 
die nur vermöge dev Subftanz, d. h. vermöge des negativ, nämlich als bloß we— 
ſentlich Gejetten von ihm ausgefagt werden. Sie find alfo 1) nicht Eigenfchaften 
Gottes an ſich: Gott ſchlechthin ift nicht einzig, nicht ewig u. f. w., fondern der Ein- 
sige, der Ewige u. |. w., d. h. das was fpäterhin im wirklichen Gott als Pradicat 
(posterius) geſetzt wird, ift in Gott jehlechthin noch als das Subjekt (al8 das prius), 
geſetzt. Daher denn freilich überall die Unmöglichkeit, fie als pofitive Eigenfchaften 
auszufagen. Denn dort, mo noch pofitiv, find fie nicht Prädicate, und hier, wo Prä- 
dicate, find fie vielmehr werneint als bejaht. Poſitiv jedoch können fie auch dort 
nicht wegen des wirklichen Seyns heißen, jondern nur wegen der noch beftehenden 
Möglichkeit deffelben; negativ aber (obwohl nicht Eigenfchaften) eben darum, 
weil in ihnen noch fein wirkliches Seyn gefett ift, wie das ‚Subjekt in einem Cab 
negativ heißen kann, weil es nicht Gegenftand, nicht das eigentlich Gewollte ift, 
denn fie find das von felbft, d. h. ohne Actus, ohne Denken ſich Darbietende, 
Das Denken, wie in Gott das Wollen, fangt erft mit ihrer Negation als wirk- 
licher an. Sie fünnen negativ heißen in dem Sinn, wie der Ausgangspunkt 
(terminus a‘quo) einer Bewegung relativ gegen diefe fo heißen kann, weil er 
jelbft nicht ein Erzeugniß der Bewegung, oder durch die Bewegung gefeßt, fondern 
von ihr vorausgejeßt wird. - Doch als negativ geiett, d. h. wirklich als pofitiwe 
negirt, werden fie erft, indem fie als Prädicate gefetst werden. Dort alfo find 
fie nicht Eigenschaften, fondern nur verfchiedene Anfichten oder Ausdrücke des 
einen abſoluten Subjetts, daher fie fich mechfeffeitig immer ineinander auflöfen 
und voneinander herleiten laffen, wie im den fogenannten Beweiſen von jeher 
geichehen, indeß noch niemand für möglich gehalten hat, die Pofitiven Attribute 
aus. den negativen abzuleiten und 3. B. zu zeigen, daß das, was das Ewige ift, 
auch feiner Natur nach weiſe, gütig u. |. w. ſeyn müffe, 

Zu Eigenſchaften werden fie 2) in dem wirklichen Gott, jedoch nur indem 
er fie als reelle negirt, oder als folche fett, die er nur an ſich hat, nicht zur 
Wirklichkeit in fich erhebt. Da Gott nur wirklicher Gott ift in der Ueberwindung 
feines uriprünglichen ausjchlieglichen Wefens, fo ift eben diefes das nicht vor— 
übergehende, jondern ewige und immerwährende Prius feines Gottfeyns, Im 
wirklichen Gott ift 1) das von-jelbft-Seynnegirt, obwohl als negirt auch gefekt, 
namlich als Grundlage des höhern Lebens, in welchem er nicht von felbft, d. h. 
von Natur ift, jondern durch lauter Wollen und Freiheit ift, als wahre-causa 
sui (d. h. die im Seyn Urfache bleibt, nicht wie die Spinoziftifche, Die im Seyn 
ſich jelbft verzehrt und Subftanz wird) *, im übernatürliden Seyn, welches 
ja num zu denken ift im der wirklichen Erhebung. über ein natürliches, ſo daß 


* Bekannt ift Platons Wort: goyageraı ra te al)a zai davrov. Noch be- 
ftimmter vie fpäteren Neuplatoniker: „Gott ift nicht wie es fich trifft, ſondern wie er felbft 
wirft und will“, 


65 


wo feine Natur (in der Ueberwindung oder Unterordnung) auch fein Uebernatür- 
liches wahrhaft gedacht werden fanır. Der Ausdrud a se esse (und das daraus 
gebildete barbarifche aseitas) ift alfo unrichtig und fagt eigentlich das Gegentheil 
von dem, was er jagen will. Sponte, ultra, naturä& suä esse wäre das 
Richtige, ohne daß man jedoch davon Spontaneität in demjelben Sinn jagen dürfte, 
da dieſes Wort wenigftens in der neuern philofophifchen Sprache ganz anders ge- 
braucht wird. Die natürliche Unmöglichkeit nicht zu feyn, welche in Gott an und 
vor fich ift, zur Wirfung gefommen, wäre Emwigfeit; denn das fchon immer Da- 
jeyende und im Senn jelbft Anfang und Ende, Urfache und Wirkung, Princip 
und Erzeugtes Verſchlingende ift das mit Vernichtung alles Anfanges und Endes 
Ewige. Aber auch diefe Ewigkeit ift in dem wirklichen Gott nur als ſubſtantiell 
oder wejentlich geſetzt, als die nicht einmal war, fondern vor allem Seym zur 
Bergangenheit wurde umd im dieſem gegen das Höhere bloß wejentlich - Werden 
jenen Ausgangspunkt bildet, den man meint, wenn man jagt: Gott fey von 
Emwigfeit. Denn dieß ift der Ausdrud der pofitiven Emigfeit Gottes, wie dagegen 
der Ausdrud: Gott ift ewig nur von der wefentlichen, negativen Ewigkeit ver- 
ftanden werden kann. (Ebenfo ift das von-ſelbſt-Seyn das Negative, das von- 
jih-Seyn das Pofitive). Hier, indem ex feiner wirffihen Ewigkeit die Ewigfeit 
jelbft, die weſentliche nämlich, zum Grunde gibt, macht Gott, d. h. der fubftanz- 
(oje Wille, der allein Gott zu nennen ift, Anfang und Ende auseinander halten, 
fich jelbft zum ewigen Anfang feiner jelbft. Daffelbe gilt 3) von der Unendlichkeit, 
indem Gott, das an und vor fih oder abjolut betrachtet Unendliche, indem er 
fih in die drei Geftalten einführt, ſich gegen ſich jelbft endlich macht. Und 
jo wie diefe ift denn auch 4) die Einzigfeit eine bloße negatiwe Eigenfchaft des 
wirklichen Gottes, indem er nämlich die abjolute, die ausjchliefliche Einzigfeit zum 
Grund einer ganz andern, nämlich feiner Einzigfeit als Gott, der nichts aus- 
jchließenden macht, der pofitiven, aufer der nicht nichts jeyn kann, fondern 
nichts Iſt. Inſofern freilich ift mit der zur Ruhe gebrachten ausichließlichen 
Einzigfeit allerdings ſchon Monotheismus geſetzt, aber nicht dieſe Einzigfeit, ab- 
jolut betrachtet, ift Inhalt des Monotheismus, und eben wie fie zur Ruhe ge- 
bracht werde, muß erft gezeigt werden, ehe man in ihr den Grund des Mono: 
theismus erfennen fann. 


Schelling, fämmtl. Werfe, 2. Abth. I. 5 


Vierte Vvorleſung. 


Der Monotheismus ift Schon überhaupt ein reftriftiver Begriff. 
Er ift dieß ſchon infofern, als er nicht behauptet, daß nur Eines über- 
haupt (was aud) eine bloße todte Subftanz ſeyn könnte), jondern daß 
nur Ein Gott ſey. Er hat aber, wie wir früher gefehen, entweder 
gar feinen, oder hat den befonderen Sinn, daß Gott nur feiner Gott— 
heit nah Einer if. Nur in diefem Sinne, wie wir ung überzeugt 
haben, ift zu jagen, er ſey der einzige Gott. Dieß läßt ſich num aus 
unferm Begriff vollfommen herleiten. Denn Gott ift nad) dieſem Be- 
griff nicht überhaupt nur Einer, jondern allerdings Mehrere, er ift 1, 
er ift 2, er ift 3. Aber meil er nicht al8 1, nicht als 2, nicht ale 3 
insbefondere, jondern nur aft a8 1 +2 + 3 Gott ift, fo ift er, 
obwohl Mehrere, doch nicht mehrere Götter, fondern nur Ein Gott!. 

Es ijt hier eine Mehrheit gejegt, nicht eine Vielheit. Biel- 
heit namlich ıft, wenn B, O, D gejett find, deren feines das andere 
und doch eins ift was Das andere, etwa A, jo daß in diefer Hinficht 
B+C+D=A+A + A; wobei dann A, inwiefern es weder 
insbeſondere B nod) insbeſondere C over D ift, ſich als gemeinſchaft— 
licher oder Gattungsbegriff von dieſen verhält. Nun können aber die 
drei Potenzen weder überhaupt unter einen gemeinfchaftlichen Gattungs- 


' Nun ift auch ein Unterfchied zu erfennen zwifchen den Ausdrüden „Einzigkeit“ 
und „Einheit“. Wenn nämlich die Einzigfeit nicht mehr in die Subftanz (Die 
Materie Gottes, ſ. S. 50), ſondern in Gott gelegt ift: hier muß die Einzigfeit, 
in Rüdficht auf jene Mehrheit, Einheit genannt werben. 


67 


begriff ‘gebracht werden, indem fie ſelbſt die höchſten Gattungen oder 
Arten (summa genera, sive &207,) des Seyns find, noch kann ins- 
befondere Gott der Gattungsbegriff von ihnen heißen; denn Gott ift fie 
jelbft, individuell, indem fie nicht getrennt, jondern nur zufammen oder 
in der Einheit betrachtet Gott find, ao B+C+D hier nidt = 
A+A+A, fondern nur = A (Östt) ift. Es find alfo nicht etwa 
drei Naturen oder drei Subjtanzen geſetzt. Obgleich man jagen fann, 
daß diefe drei Potenzen an die Stelle der Subftanz getreten find, bie 
allerdings nur Eine tft, fo find fie doch felbft nicht Subftanzen, fondern 
reine Actualitäten, weil fie außer dem Actus (der Einheit) nichts ſeyn 
würden, aljo aud) feine für fi, d.h. in der Trennung von den an- 
deren, jondern jede nur in unauflöslicher actueller Einheit das ift, was 
fie ift. Und weil nun dieſes Mehrere-Seyn in Anfehung Gottes eben 
jein Gott-Seyn ift, fo fünnen fie auch nicht mehrere Götter ſeyn!. 


Es ift aus der Genefis des Monotheismus, wie fie im Bisherigen gezeigt 
worden, offenbar, daß im demſelben die Einzigkeit der Subftanz, welche früher 
allein da war, fih zu einer wahren Mehrheit von Potenzen anfhebt, die wir eine 
jubftantielle nennen können, theils weil ihr jene Einzigfeit der Subftanz wirklich 
zu Grunde liegt, weil fie an die Stelle derſelben ebenfo tritt, wie wir num um- 
gefehrt jagen Fünnen, daß jene Einzigfeit ftatt ihrer und infofern ftatt aller 
(omnium instar) war, theils weil diefe Botenzen, obgleich höchſt lebendig in fich, 
doch gegen jenen ewigen Willen, vermöge deſſen fie allein da find, und der 
allein das reale Band ihrer Einheit, demnach allein eigentlich der Gott ift, weil 
fie gegen dieſen, fage ich, in dem nichts Subftantielles ift, fich wirklich 
nur als fubftantiell verhalten. Wenn die urfprüngliche Einzigfeit dev Subftanz 
die Materie der drei Potenzen genannt werden kann, jo find wieder Die drei 
Potenzen anzufehen als die unmittelbare Materie des in ihnen auf- und abjtei- 
genden Willens, der eigentlich der Gott ift, Der Ausdrud fubftantielle Mehr- 
beit, oder daß Gott, nur als folder — einzig gefett, nothwendig der Sub- 
ftanz nach Mehrere jey, Könnte nur infofern Anftoß erregen, als man fich damit 
die urjprüngliche Einzigkeit der Subftanz als gleichfam vernichtet und auf Feine 
Weiſe mehr fortdauernd dachte. Aber der Sinn ift nur, daß fie nicht als ‚eine 
feyende, gegenwärtige, nicht aber, daß fie nicht als eine nicht jeyende, und 
gleichjam als eine beftändige (bleibende) Vergangenheit fortdaure ; denn eigentlich 
ift fie nur in einer immerwährenden Aufhebung und Auffchliegung in die Mehr- 
beit begriffen ; um aber immerfort aufgehoben zu werden, muß fie auch immterfort 
(nunquam non) dafeyn. Sie ift eben das immerfort nur Dafeyende, nie 
zum wirklichen Seyn ſich Exrhebende, das nur in der beftandigen Verneinung 


68 


Der Monotheismus fteht noch bejonders dem Pantheismus ent- 
gegen, weil nad) diefem Gott in der That nur Einer, nämlich der 
blind Seyende ift, was in dem wahren Begriff bloß als eine Potenz 
des göttlichen Seyns vorfommt. Infofern ift der Pantheismus eigent- 
lich nichts weniger als Pan-Theismus, weil er feinen legten Grund 
nur in dem Begriff hat, nad) welchem Gott die unendliche potentia 
existendi tft, ob er gleich, wie wir gefehen, felbft nicht auf dieſen Be— 
griff zurücgeht. Aber nicht diefe unmittelbare Macht des Seyns, Die, 
für fi und abjolut genommen, nur zum blinden, unbeweglichen, fic) felbft 
nicht wiffenden Seyn der Spinoziſchen Subftanz führen könnte, ſondern 
nur erſt das ſie negirt oder als Potenz Enthaltende iſt der wahre 
Begriff, der Begriff Gottes im eigentlichen Sinn. Aber eben darum iſt 
dieſe unmittelbare Macht zu ſeyn, in ihrer Unterordnung, durch welche 
der Pantheismus ſelbſt in der bloßen Möglichkeit erhalten wird, alſo 
können wir ſagen, der Pantheismus ſelbſt in feiner bloßen Möglichkeit 
iſt der Grund der Gottheit und aller wahren Religion. Darin liegt, 
wie ſchon bemerkt, der Zauber, den der Pantheismus zu allen Zeiten 
auf ſo viele ausgeübt hat, ein Zauber, den die Reden derjenigen nicht 
aufheben können, die ſelbſt nicht bis auf dieſen Urbegriff zurückgehen. 


Vorhandene, immer Vorfindliche, das nur geſetzt wird, nicht um geſetzt, ſondern 
um nicht geſetzt, um aufgehoben zu werden, das nur im Nichtſetzen zu Setzende, 
nichtwiſſend (d. h. indem ſie nie zum Gegenſtand des Wiſſens, zum wirklichen 
Seyn erhoben wird) Gewußte, woraus unter anderem erhellt, was von den— 
jenigen zu halten iſt, die dieſes im Nichtwiſſen Gewußtwerden (ignorando 
cognoscitur) auf Gott ſelbſt übertragen. Dieſes immer Dafeyende, nicht 
Gewollte, von jelbft ſich Einftellende ift eben jenes-Wunderliche, auf das alle 
Philofophte unter dem einen oder andern Namen ftoßen muß, und mit dem 
ih die Meiften fonderbar gebärden, weil der Philojoph gewiffermaßen fich 
weigern- muß es zu feßen, und doch ebenjowenig e8 wegbringen kann oder nicht 
jeßen, woraus eben folgt, daß er es nichtjeend jeen muß, und eben das, was - 
ihn daran irrt, muß er zur Erklärung machen und es ausfprechen, als das eigentlich 
nur gejeßt wird, um werneint und alfo eigentlich nicht gefetst zu werden, aber um es 
verneinen zu fünnen, doch ebenfalls zu Setende, jedoch nur gleichfam nicht wollend 
und jo, daß wir ung feiner bewußt find als des nicht Gewollten; denn das eigentliche 
Wollen, wie das eigentliche Denken, fangt wielmehr erft mit der Verneinung, mit 
dem Nichtwollen deffelben an. (Aus einem andern Manufeript beigezogen.) 


69 





Der Monotheismus tft gerade nichts anderes als der eſoteriſch, Intent, 
innerlich) gewordene, er ift nur der überwundene Pantheismus — nicht 
der bloß verdammte, gejcholtene over auch bloß weibiſch beflagte, fon- 
dern, mie gejagt, der überwundene Pantheismus. Nichts hat je über 
die Gemüther der Menfchen wahre Gewalt erlangt, dem nicht eigent= 
lid) diefer nur überwundene, zur Ruhe gebrachte und befriedigte (zum 
Frieden gebrachte) Pantheismus zu Grunde lag. Das beftändige Weh- 
ven und Polemifiren gegen Pantheismus. von manchen Bhilofophen und 
Theologen zeigt nur, daß fte ſelbſt feiner nicht Meifter geworden, daß 
fie jenes ihn wirklich zur Ruhe bringende, begütigende. Syſtem, das 
nur im Monotheismus jeyn Fan, nicht gefunden haben; indem fie viel- 
mehr diefen jchon in ihrem Theismus zu haben meinten, mußte früher 
oder fpäter gerade dieſe Vermengung des Theismus mit dem Mono- 
theismus die unfägliche Verwirrung und das Unheil erzeugen, daß jelbft 
religiös feyn Wollende den Pantheismus als Das einzige wiljenfchaftlich 
nothwendige Syſtem fich vorftellen Eonnten, dem fie nichts als einen 
jeichten Glauben entgegenzuftellen wußten. Jener Grundbegriff, Der 
aud die Borausjegung des Monotheismus ſelbſt ift, ohne welchen es 
auch feinen Monotheismus, fondern bloß ſchaalen Theismus geben würde, 
der Grundbegriff, nach welchem Gott die unmittelbare Potenz des Seyns, 
aljo die Potenz alles Seyns, nad welchem alfo auch hinwiederum 
alles Seyn nur das Seyn Gottes ift, dieſer Grundgedanke ift der Nerv 
alles religiöfen Bewußtſeyns, der nicht berührt werden darf, ohne die— 
jes im Tiefften zu bewegen. Wo dasjenige fehlt, was durch Die wahre 
Idee Gottes überwunden ift, da kann aud) dieſe Idee ſelbſt nicht ſeyn, 
und inſofern iſt der bloße Theismus, der eben jenes Princip in Gott zu er— 
kennen fid) weigert, der bloße Theismus ift darum ein für das Gefühl, wie 
für den Berftand gleich unbefviedigendes Syſtem. Gerade auf jenes Princip, 
wornad) alles Seyn nur bei Gott und das Seyn Gottes ift, bezieht ſich das 
wahre Gefühl. — Da es nicht nur für Die gegenwärtige Zeit, fondern da es 
insbejondere auch für die Folge der gegenwärtigen Unterfuhung höchſt 
wichtig ift, daß Sie diefe drei Denfarten, die man durch Theismus, Pan— 
theismus und Monotheismus bezeichnet, wohl unterfcheiden und dieſe 


70 

Unterfchiede ſich tief einprägen, fo will ih bei biefer Gelegenheit nod) 
einiges über dieſe Verſchiedenheit der religiöfen Denkart bemerfen, unter 
denen Die zwei, Monotheismus und Pantheismus, auf jeven Ball ein- 
ander näher Liegen und fid verwandter find, als einer von ihnen dem 
Theismus ift. | 

Weil es nicht darauf ankommt, Gott bloß überhaupt zu erfen- 
nen, d. h. in ihm nur das Seyende überhaupt zu ſehen, fondern in 
ihm den aud) als Geift feyenden, das beftimmte Seyende, das Seyenbe, 
das es ift, zu fehen, darum ift, wie jchon früher bemerkt, zu dem 
Wort Theismus ein Zufat nöthig. Theismus ift derjenige Begriff, in 
welchem nur überhaupt Gott (FEög) geſetzt ift, nicht der beftimmte 
Gott (6 Feöc), der Gott, der e8 ift!. Der wahre Gott, ver als 
Geift auch feyende, kann, wie bewiefen, nur der Al-Einige ſeyn. 
Unter Theismus fann man daher die Denfart verftehen, die zur Gr- 
fenntniß des lebendigen, d. h. des allzeinigen Gottes nur nicht fortge- 
gangen ift. Soweit ift Theismus ein bloßer Mangel; infofern kann 
wahre, d. h. wiffenfchaftliche Philofophie nicht bei ihm bleiben, fondern 
geht nothwendig entweder zu Pantheismus oder zu Monotheismus fort. 
Der Theismus ift das Unbeftimmte; die richtige Denkart zu bezeichnen, 
ift jedenfalls ein Zufag nöthig. Der Zufammenfegungen mit Theis— 
mus gibt es aber nur zwei: Pantheismus und Monotheismus. Beide 
Denfarten haben das miteinander gemein, mehr als bloßer Theismus 
zu feyn. Jacobi, der fi rühmte, veiner Theift zu feyn, obgleich er 
nebenbei behauptete, nad) Begriffen der Bernunft fey der Gedanke des 
perfönlichen, alfo des lebendigen Gottes ein unmöglicher, Jacobi hat in 


Es muß übrigens ſchon im Begriff Gottes eine Eigenthümlichfeit Tiegen, die 
den Grund davon enthält, daß Gott auch unbeſtimmter Weife, bloß als Heog 
gejetst werden kann, nicht beftimmter Weife, als 4 Hess. Diefes 0 Hess heißt 
im Griechiſchen foviel als 6 dv Hess, was wir umfchreiben müffen: der Gott, 
der es ift. Dieſem Gott, der es ift, fteht nicht gerade der Gott, der es nicht 
ift, fondern nur der Gott, der es nicht ift, entgegen, ein Unterfchied, den bie 
deutſche Sprache ebenfalls Schwierigkeit hat auszudrücken; der Gott der es nicht 
ift, wäre griehiich 0 ovn av Deus, der Gott, der es nur nicht ift (dem nur 
etwas fehlt zum eigentlichen Begriff Gottes), wäre nur 0 un ov beog. 


71 


jeiner Polemif gegen die jogenannte Soentitätsphilofophie Das Wort 
Pantheismus ganz gemüthsruhig durch All-Eins- oder All- Einheits- 
Lehre überjett, unftreitig um fie Damit als Spinozismus darzuftellen. 
Er hatte nicht überlegt, daß längft im allgemeinen wie im chriftlichen 
Sprachgebraud der einzige Gott gleichfalls der all-einige genannt wird, 
daß alfo nicht bloß der Bantheismus, fondern aud) der Monotheismus 
eine All- Einheitslehre ift. In der All- Einheit für fid) und ohne nähere 
Beitimmung kann aljo der Unterſchied der beiden Lehren oder Begriffe 
nicht Liegen. Im Gegentheil eben dieß ift beiden gemein, mehr als eine 
bloße leere Einheit, eine All-Einheit zu behaupten. Ihr Unterfchied 
aber ift diefer: Der Pantheismus, jo wie er fih im Spinozismus aus- 
geſprochen, kennt an fich allerdings nur Ein Prineip, Die blinde Sub- 
ftanz. Aber mit dem bloßen blinden Seyn laßt ſich fein Syftem machen, 
und jo fieht ſich Spinoza denn doc genöthigt, neben der Einheit eine 
Allheit zu ſtatuiren. Seine Philofophie ift feine leere Einheitslehre ‘, 
— Spingza ift fein bloßer Nachfolger der Eleaten, fein Eins ift nicht 
die abjtrafte parmenideiſche Eins, fondern ein wahres All-Eins, Er, 
in dem fich der reifende Verſtand eines herangewachfenen und die Sache 
jelbjt wollenden Zeitalters zuerſt ausſprach, er konnte auf jene dürfti— 
gen Elemente, deren Armuth ſchon die fofratiiche Dialeftif gezeigt hatte, 
und in denen nur etwa eine antifofratifche Dialektik unferes Zeitalters 
eine hohe. Weisheit jehen kann, — auf diefe Elemente der erſt anfan- 
genden abftraften Spekulation konnte ein Geift, wie Spingza, nicht 
zurüdfehren. Seine Subjtanz ift nicht ein bloßes leeres Eins, er hat 
fie -al3 die ausgedehnte und denkende Subftanz‘. Seine ausgedehnte 
Subftanz ift offenbar nichts anderes als das a potentia ad actum 
Uebergegangene, das fich felbft als Wefen, als Subjeft, als Potenz 
verloren hat; fie entjpricht unferm Seynfönnenden der eriten Potenz, 

' Man Fann daher in Bantheismus felbft wieder einen mehr negativen, und einen 
im Berhältniß zu diefem pofitiven unterfcheiden. Der rein negative Pantheismus 
ift der, welcher nichts als die bloße Unendlichkeit kennt, die veine unterſchiedloſe 
Subftanz. Diejes ift die Einheitslehre und, wenn man will, der Pantheismus 


des Parmenides. Der im DVerhältniß zu jenem pofitive ift der, welcher gleich- 
wohl in dieſer Subftanz Unterfchiede, und in diefem Sinn eine Allheit hat. 


72 


das im Seyn allerdings nicht mehr Potenz, fondern jelbftlos, zur 
substantia extensa geworden ift. (Schon der pafjive Ausprud sub- 
stantia extensa zeigt, daß fie ihrer Wurzel nad) etwas anderes, und 
daß fie als substantia extensa ein nur Geworbenes if). Das Denken 
als das zweite Attribut, unter dem Spinoza die Subftanz betrachtet, 
fönnte mit unfrer zweiten Potenz gleichgeftellt werben, ber die erfte 
als Subjekt, als durch fie Mopdificables dient. Aber dieſes zweite Attri- 
but hat Spinoza im Grunde bloß von artefius aufgenommen, ber 
neben der Ausdehnung das Denken als-felbftändiges Princip aufgeftellt 
hatte, und Spinoza laßt auch die beiden Attribute ebenfo gleichgültig, 
ohne gegenfeitige Einwirkung. nebeneinander, als. fie Carteſius gelafjen 
hatte; fie find ihm bloß durch die gemeinjchaftlihe Subftanz vermittelt, 
und fo fällt Spinoza da, wo ung die dritte Potenz als Geift fteht, in 
die todte allgemeine Subftanz zurüd. Er weiß an der Stelle unjeres 
Dritten nur eben die Subftanz jelbjt wieder zu feßen, das im Denfen- 
den und im Ausgevehnten gleiche Wefen, — die bloße Indifferenz. 
Der Fehler des Spinoza liegt alſo nicht darin, daß er eine All-Einheit 
behauptet, ſondern darin, daß dieſe All-Einheit eine todte, unbewegliche, 
unlebendige iſt. Die Polemik gegen ven Pantheismus könnte alſo eine 
doppelte ſeyn. Man kann ihm vorwerfen, daß er mehr als Theis— 
mus, daß er eine All-Einheit überhaupt, daß er nicht einen bloß lee— 
ren, nichts in ſich enthaltenden und in dieſem negativen Sinn Einen 
Gott ſtatuirt. Dieß iſt die Polemik des ſeinerſeits mit dieſem bloß 
negativen Eins zufriedenen, aber ſeinem eignen Geſtändniß nach impo— 
tenten Theismus. Bis jetzt kannte dieſer leere Theismus nur Einen 
Gegenſatz, den eigentlichen Pantheismus. An Monotheismus hatte er 
nicht gedacht, es fiel ihm nicht ein, daß es außer Theismus und Pan- 
theismus nody ein Drittes gebe, nämlich eben Monotheismus; ich Darf 
fagen, daß ich in meinen Borlefungen zuerft wieder diefen Begriff 
geltend machte, Mit bloßem Theismus laßt fic) allerdings der Pan- 
theismus nicht widerlegen. Die wahre Widerlegung in der PVhilofophie 
bejteht überhaupt nicht darin, fogenannte Einwürfe gegen ein Syſtem 
oder eine Behauptung zu machen, ſondern darin, ſein poſitives Gegentheil 


73 


aufzuftellen. So viel vermochten nun die Theiften nicht in Bezug 
auf Pantheismus. Denn fein pofitives Gegentheil ift Monotheismus, 
zu dem fie jelbjt nicht fortgingen. Der bloße Theismus ſchließt von 
Gott die Allheit, alfo eben damit das Pofitive im Begriff des Mono- 
theismus aus, Der Panthersmus hat vor ihm die Allheit voraus, da— 
gegen begreift er die Einheit in diefer Allheit als eine bloß ſubſtan— 
tielle. Da indeß eine Einheit, melche nicht eine fubftantielle Allheit zur 
Grundlage hat, jelbft nit über dem bloß Subftantiellen zu erhalten 
ift, jo finft die im Theismus behauptete Einheit ebenfalls zur. bloß ſub— 
ftantiellen herab. In Bezug auf die Einheit find alſo Theismus und 
Pantheismus einander gleih. Der Gott des Spinoza ift auch ein Gott, 
außer dem fein anderer ift, und wenn die Erklärung, welche ein viel- 
belobter Theologe (Reinhard) von der Einheit Gottes gibt, indem’ er, 
jagt: die Einheit jey illud attributum Dei, quo negatur plures sub- 
stantias infinitas esse, eine. richtige ift, jo ift Spinoza ein ebenfo gu— 
ter Monotheift als diefer Theologe. Wodurch will ſich alfo der. Theis- 
mus von dem bloßen Pantheismus wiſſenſchaftlich unterfcheiden ? 
Gewöhnlich jagt man, der Gott des Spinsza fer) - ein unperfönlicher, 
der des Theismus ein perfönlicher. Aber zwifchen der geleugneten und 
der angeblich zwar geglaubten, aber zugeftandenermaßen nicht zu be- 
greifenden, ja fogar als unmöglich einzufehenden Perſönlichkeit Gottes 
iſt kein wiſſenſchaftlicher Unterſchied. — Es gehört allerdings auch 
Glaube zur Wiſſenſchaft, aber hier vorzüglich heißt es: Zeige mir dei— 
nen Glauben mit deinen Werken, dann will ich an deinen Glauben glau— 
ben. Wer aber ſeinem Glauben mit ſeinen Behauptungen widerſpricht, 
z. B. wenn er ſagt: ein perſönlicher Gott ſey unmöglich, alſo unver— 
nünftig, deſſen Glaube kann wenigſtens nicht ein Vernunftglaube heißen. 
Eine andere gewöhnliche Unterſcheidung iſt: „der Gott des Pantheismus 
ſey ein bewußtloſer, der des Theismus ein ſelbſtbewußter“. Aber 
ein Selbſtbewußtſeyn iſt doc) nicht denfbar, ohne in dem Selbſtbewußten 
wenigſtens drei innere Unterſchiede zu ſetzen. Der Selbſtbewußte iſt 
1) der, der ſich bewußt, 2) der, deſſen er ſich bewußt iſt, und nur 
weil dieſer nicht ein anderer und außer jenem vorhandener, ſondern 


74 

einer und derſelbe mit ihm ift, alfo tertio loco erft kann er als ber 
Selbſtbewußte gedacht werden. In der leeren, unterfchienlofen Unend— 
lichkeit, die der bloße Theismus in Gott fett, ift das Selbſtbewußtſeyn 
fo unbegreiflich als die Perfönlichfeit, — ja man muß fogar mit Fichte, 
der deßhalb vor länger als 30 Jahren des Athersmus beſchuldigt wurde, 
behaupten, daß in einer bloßen leeren —E— — Bewußtſeyn und 
Perſönlichkeit rein unmöglich ſeyen. 

In Bezug auf die Schöpfung iſt der Theismus ebenſo unvermögend 
oder vielmehr unvermögender als der Pantheismus. Der Theismus fagt 
zwar auch, daß alles Seyn bei Gott ift, aber dieß ift bloß negativ gemeint, 
es ſoll damit nur gefagt ſeyn, daß feine Möglichkeit des Seyns außer Gott 
ift, aber bei ihm ſelbſt ift auch Feine ſolche Möglichkeit, er ift daher ein ab- 
folut impotenter Gott. — Jacobi, dem, wie fein eigner Freund 3. ©. 
Hamann fagt, der Spinozismus als ein harter Stein im Magen liegen ge— 
blieben ift, gab vor, ven Pantheismus nicht zu wollen, aber er wollte dod) 
auch nicht das, was ihn eigentlich aufhebt, vielmehr drückte er eine ganz 
gleiche Apprehenfion aus gegen alles, was über den ſchaalen Theismus 
der fogenannten Aufflärungsepodhe, die auch ihn fich allmählich, affimilirt 
hatte, hinausgeht. Aber der Pantheismus läßt ſich nicht ſtillſchweigend 
befeitigen; um ihn wegzubringen, muß man fein Gegentheil wollen. 
Unter diefen Umſtänden blieb namentlich dem genannten Philofophen 
nichts übrig als dem Pantheismus theoretiſch Recht zu geben. Jacobi 
war tolerant gegen den Pantheismus: er war. im Grunde ber einzige 
Inhalt feiner eignen Philofophie. Er mußte die Fortdauer des Pan- 
theismus wollen, denn diefer gab feiner Philofophie das einzige In— 
tereffe; wie e8 Perfonen gibt, die frank feyn wollen, weil ihnen dieß 
Gelegenheit gibt, von ſich felbft zu reden und ihre fonft durch nichts 
intereffante Berfünlichkeit durch ſolches Reden intereffant zu machen. — 
Dem Spingza fehlte der Begriff der Steigerung, fo wie die Idee des 
lebendigen Proceffes. Aber gerade dieß war vermuthlich die Urſache, 
warum ev von jenem leeren Theismus nod) anerkannt. oder dod) tolerirt 
wurde, Sowie aber eine fpätere Bhilofophie aus der. todten und unbeweg- 
lichen All-Einheit des Spinoza eine innerliche und eben darum ſchöpferiſche, 


75 

produftive zu machen ſuchte — jest ſchien felbft ver Name Bantheismus 
nicht mehr verurtheilend genug; Jacobi nannte diefe Philofophie, in der 
freilich allerdings von einer Genefis, einem Werden, einem Proceß die 
Kede war, baaren Naturalismus, dem er feinen reinen Theismus 
entgegenjegte, unbefümmert darum, oder wahrjcheinlicd nicht wiſſend, 
daß in der theologischen Sprache Naturalismus und Theismus völlig 
gleichbedeutende Begriffe waren. 

Tiefere Theologen übrigens fennen aud) die wahre Tiefe des Pantheis- 
mus und wiſſen, daß er nicht durch bloße Worte, daß er nur durch ein 
ihm entgegengejeßtes pofitives Wiſſen zu überwinden ift. Bedenkt man aber, 
Daß gerade diejenigen, welche veine Theiften zu ſeyn ſich rühmen, am mei- 
jten gegen hereinbrechenden Banthersmus fchreien und warnen, nicht etwa 
bloß in gelehrten Schriften oder auf Kathedern, fondern felbft von der Kan— 
zel, ja in Lehrbüchern für Schulfnaben, fo ift e8 nothiwendig zu denken, daß 
hinter dieſer Angjt vor dem Pantheismus nur die vor dem Monotheis— 
mus verborgen jey, d. h. Die Angft, daß es in der Wiſſenſchaft doch endlich) 
zu etwas Pofitivem fommen möchte und das leere theiftiiche Gerede, das 
feit langer Zeit fidy in den allgemeinen und bis in den Bolfsunterricht 
verbreitet hat, daß diejes in Verbindung mit dem erbaulichen Heben 
von einem bloß perjünlichen Gefühl, womit die Redner nicht Gott, 
jondern eigentlich nur ſich felbft verherrlichen wollen, worin allein ihre 
Perfon noch etwas zu jeyn jcheinen Tann, daß dieß alles der Yülle 
einer wahren und pofitiven Erkenntniß weichen müfje, von der fie viel- 
leicht nicht jo Unrecht haben zugleich den Untergang vdesjenigen zu 
fürchten, was fie ihre Denffreiheit nennen, worunter fie nämlid) eigent- 
lich ihre Freiheit vom Denken, ihre Freiheit nicht zu denken, verftehen, 
die Freiheit des felbftbeliebigen und gedanfenlojen Redens über die höd)- 
ften Angelegenheiten des Staats, der Wifjenfchaft und der Religion. 

Nachdem ich gezeigt hatte, dag der Monotheismus nur Stun hat, 
wenn er als der Begriff verftanden wird, nad) welchem Gott eigentlich, 
nicht Einer, fondern Mehrere, und nur als Gott oder der Gottheit 
nach Einer ift, mußten Sie unwillfürlih und von ſelbſt an eine Lehre 
erinnert werden, die insgemein als eine ſpeciell chriſtliche angejehen 


76 

wird, die Lehre von der Dreieinheit Gottes. Es wäre Affeftation, 
wenn idy über diefen Zufammenhang mid zu erklären wermeiven 
wollte. Ich will alfo nun gleich bemerfen, daß, wenn ftatt der All-Ei- 
nige der Dreieinige gejagt würde, dieß nur der beftimmtere Ausorud 
des All-Einigen ſeyn würde. Es fann dieß manchem unerwartet ſcheinen, 
entweder weil er die Lehre, in welcher der Ausdruck dreieinig vorfommt, 
als eine ausſchließlich hriftliche, ja als eine bloß willfürliche, zufällige 
Satung des Chriftenthbums anzufehen gewohnt ift, oder weil er die 
Lehre von dem breieinigen Gott als ein undurchdringliches und unbe— 
greifliches Geheimniß ſich vorzuftellen gewohnt ift. Beiden muß uner- 
wartet ſeyn, dieſe Lehre als eine allgemein menfchliche. nachgewiejen zu 
ſehen und als eine foldhe, die ſchon mit dem Begriff des Monothei- 
mus, d. b. des all-einigen Gottes, gegeben ift. Was die Erften be- 
trifft, Die verwundert jeyn könnten, eine Lehre, die fie für eine 
partiell chriftliche halten, und der fie aus diefem Grunde allein ſchon 
den Beifall deſſen, was fie ihre Vernunft nennen, verjagen zu müſſen 
glauben, — dieſe Lehre im letzten Princip als identiſch mit einer 
Lehre zu finden, auf die fie felbft bauen, die fie ſich nicht zu wider— 
ſprechen getrauen würden, nämlich der Lehre von dem einzigen Gott: 
jo will id) nur Eine Frage an fie richten. Wenn jene dem Chriften- 
thum angeblich allein angehörige Lehre von dem dreieinigen Gott nicht 
auf irgend eine beſondere Weiſe zufammenhäangt, ja im letten Princip 
identifch ift mit dem Monotheismus, wie wollen fie erflären, was doch 
am Tage liegt und fie auf feinen Fall in Abrede ziehen können, daß 
der Monotheismus erft mit dem Chriftenthum und durch dafjelbe welt- 
geſchichtlich geworden it? Die andern aber, welche jene chriftliche 
Lehre zwar nicht im abfoluten Geheimniß (denn gepredigt fol fie doch 
werden), aber wenigſtens gern in der Unverftändlichfeit erhalten wollen, 
möchte ich fragen, ob fie denn nicht ſchon an der offenbaren und nicht 
zu verhüllenden Verlegenheit, in der fie ſich befinden, wenn fie die Lehre 
von dem einzigen Gott entwideln follen, bemerken könnten, daß auch 
dieſe feineswegs eine fo ganz won felbft fich verftehende Lehre ift, als 
insgemein und von ihnen jelbft angenommen wird. 


77 





Wenn nach allem diefem jede Lehre, der e8 an dem Begriff des all- 
einen Gottes fehlt, nur Theismus feyn kann, fo war e8 ein richtiger Takt, 
welcher die der Offenbarung und daher auch allen pofitiven Lehren ver- 
jelben Abholden, die von ihren Gegnern Naturaliften genannt wurden, be- 
wog fich ſelbſt Deiften zu nennen. Insbeſondere verfteht man unter Deiften 
die fogenannten Unitarier, d. h. alle, die die Mehrheit in Gott leugnen. 
In neuerer Zeit (genau weiß ich nicht, wen dieſe finnreiche Erfindung 
gebührt) haben ſich die Theiften won ihnen unterfcheiden wollen, wahr- 
Iheinlih nur um ſich nicht unbedingt als Naturaliften zu befennen, oder 
weil jede Sefte gern noch eine andere unter ſich hat, gegen die fie fich 
als rein und lauter darſtellen fann. Kant erklärt den Unterfchied fo: 
Deift ſey derjenige, dem Gott eine bloße blinde Wurzel des Seyns, 
alfo vorzüglich etwa der Spinoziſt; Theift aber ſey der, welcher einen 
vernünftigen Welturheber annehme. Aber die, welche ſich ehmals De- 
iften nannten, 3. B. die engliſchen Naturaliften des 17. Jahrhunderts, 
waren auch nicht alle Spingziften, und im Gegentheil, die meiften der— 
jelben waren vielleicht zur gemäßigte und vernünftige Leute, als daß fie 
den Glauben an einen vernünftigen Welturheber nicht ebenfo gut mit 
ihrem KRationalismus zu vereinigen gewußt hätten, als manche, die fich 
heutzutag reine Theiften oder Rationaliften nennen. Denn beides fommt 
doch auf eins heraus. Was nicht Monotheismus ift, heiße es nun 
Deismus oder Theismus, ift dem Chriſtenthum nicht angemefjen; denn 
letteres ift wefentlic Monotheismus, fo daß fein ganzer Unterfchied von 
der jogenannten bloßen Bernunftreligion nur darin beſteht, Monotheis- 
mus zu jeyn, und daß die Annahme oder Berwerfung diefes Monotheismus 
über die Annahme oder Verwerfung des Chriſtenthums ſelbſt entjcheibet. 

Es ift mir unmöglich, hier eine andere auf die Theologie ſich be- 
ziehende Bemerkung zu unterdrüden. Wenn e8 an dem ift, und id) 
glaube den unwiderleglichen Beweis davon geführt zu haben, daß wir 
nur erſt wirklich) won Gott reden, wenn wir von dem — weſentlich 
oder wirklich — Al: Einigen reden, jo kann man fragen, wofür wohl 
dasjenige zu halten jey, was in der gewöhnlichen Theologie im dem 
Artikel de Deo vorgetragen wird, dem der Artifel de Deo ut trino erft 


78 

folgt? Was fann man dort, wo man die Drei- d. h. die All-Einheits- 
[ehre des eigentlichen Monotheismus nody ausjchließt, anders vortragen 
als eben bloßen Theismus? Wenn dem fo ift, fo kann man fich nicht 
fonderlic wundern, daß der Kampf, den die Theologen gegen den Ra— 
tionalismus führen, bisher von fo weniger Folge begleitet war; denn 
er ift nicht auf dem Punkt, wo .er big jest geführt wird, zu entjcheiden, 
er muß viel früher entjchieden werden. Auch lehnen fich die Rationaliften 
doch nur gegen die Unverftandlichkeit der Hauptlehren auf, mit denen 
das Chriftenthum fteht oder fällt, und übrigens ift es ein ganz billiges 
Derlangen, daß jeder mit den was ihm zu glauben angemuthet wird, 
wenn er es auch nicht ganz einfieht (dazu gehört freilich mehr), aber 
daß er doch wenigftens einen Begriff, irgend einen Sinn over Berftand 
damit verbinde. Die Kationaliften verlangen allgemein menſchliche 
Lehren. Nur fehen fie diefe freilich. in den chriftlichen nicht — aber die 
Theologen auch nicht; beide haben fid) alfo nichts vorzumwerfen. Die 
Unverftändlichkeit aber kommt nicht von den Lehren felbft, fondern von den 
Grundſätzen her, welche die Theologen felbft gleich vornherein aufftellen. 
Bon dieſen aus gibt e8 allerdings feinen Weg in das Chriftenthum, 
denn fie find fo leer, in fich fo wenig pofitiv (in dem Sinn, in wel— 
hem auch die Lehren der Philofophie pofitive ſeyn follen), daß von 
jolher Leerheit und Negativität zu ven chriftlichen Lehren kein verftänd- 
licher Uebergang ift, nicht weil fie chriftliche oder ihrer Entftehung 
nad) pofitive, fondern weil fie ihrem Inhalt nach pofitive find. 

Was aber die Meinung betrifft, daß ver Begriff der Dreieinheit 
ein ausſchließlich chriftlicher fey, fo werden wir in der Folge Gelegenheit 
genug haben, zu zeigen, daß er dieß nicht fey. Bon jeher war e8 daher 
gewöhnlih, Fußtapfen und Anzeigen der hriftlichen Idee in dei heid- 
niſchen Keligionen aufzufuchen. Man braucht nicht gerade nur an die 
indiſche Trimurti zu denfen, die, wie ſich fpäter ergeben wird, nur eine 
jehr partielle Form diefer Idee ift, — aber eine Dreizahl von Poten- 
zen zeigt fi) als eigentliche Grundlage verjelben!. Was foll es aber 


* Dian jehe nur, wie Plutarch, ohne won diefer hriftlichen Lehre etwas zu wiffen, 
dieß nachzumeifen fucht, de Isid. et Osir. e. 36. 


79 

überhaupt heißen: dieſe Idee fe eine fpeciell chriftlihe? Aus dem Mo- 
notheismus ift alle Religion, alfo natürlic) auch die hriftliche erwachſen. 
Das wahre Verhältniß ift daher gerade das umgefehrte von dem, was man 
damit ausprüden will. Nicht das Chriftenthum hat diefe Idee, fondern 
umgefehrt, diefe Idee hat das Chriftenthum erfchaffen; fie ift ſchon 
das ganze Chriftenthum im Keim, in der Anlage, fie muß darumı älter 
ſeyn, als das in der Geſchichte erfcheinende Chriftenthum. Uebrigens 
ift meine Meinung nur diefe: die letzte Wurzel der chriftlichen Drei— 
einigfeit Liege in der All-Einheits-Idee. Niemand denke alfo, es jey mit 
dem, was bis jet vorgetragen worden, mit dem Begriff des Mono— 
theismus, auch ſchon jene hriftliche Lehre mit all’ ihren Beſtimmungen 
gegeben (unfere ganze gegenwärtige Entwidlung hat überhaupt die My— 
thologie, nicht die Offenbarung im Auge). Es läßt fi) wohl denfen, 
daß dieſer Baum aller Religion, der feine Wurzeln im Monothersmus 
bat, zuletzt nothwendig in die höchſte Erſcheinung des Monotheismus, 
d. h. in das Chriftenthum, ausgehe. Die hriftlihe Dreieinigfeitslehre 
enthält materiell dafjelbe, was unfer Begriff des Monotheismus ent- 
hält, aber fie enthält es in einer Steigerung, bis zu welcher wir jeßt 
nicht fortgehen fünnen‘. Daher ich nun vielmehr wünſchen muß, daß 
Sie diefe Erinnerung vorerft ganz bei Seite jegen und der fernern 
Entwicklung als einer rein philofophiichen folgen. Ich habe diejes Zu- 
fammenhangs nicht erwähnt, um etwas darauf zu gründen, vielmehr um 
jede voreilige Einmifhung abzuwehren, und fehre daher in die rein wij- 
jenfchaftlihe Entwicklung zurüd. 


Es find nur die erften Linien gezogen, welche vielleicht am Ende und tm der 
letzten Ausführung bis in jene hohe Lehre fortreichen; aber dieß muß fich erft 
zeigen. Noch größer Unrecht würde mir aber gejchehen, wenn man meine Er- 
Örterung, die, wie gejagt, fi auf den Begriff des Monotheismus rein bejchränft 
und noch fein weiteres Abfehen hat, wenn man dieje Erörterungen jenen Deduf- 
tionen der Dreieinigfeitsfehre gleichftellen wollte, mit denen man beutzutag jo 
leicht bei der Hand ift. 


Fünfte Vorlefung. 


Wir haben bis jett den bloßen Begriff des Monotheismus. Gott, 
wenn er wirklich ift, kann nur als der Al-Einige ſeyn; dieß ift Reſultat 
des Bisherigen. Von einen wirflihen Seyn war nod) überall nicht 
die Rede. Jetzt aber fragt es ſich um das wirkliche Seyn. Die beftimm- 
tere Frage ift: Wie kann Gott auf die jest zum voraus beftimmte 
Weife jeyn? Unter diefem Seyn wird ein wirkliches, ein mit Actus ver— 
bundenes Seyn verftanden. Denken wir uns nun Gott unmittelbar 
auf die vorbeftimmte Weife ſeyend, nämlid jo, daß er in der erften 
Potenz als das rein nicht Seyende (ald — A), in ber zweiten als 
das rein Seyende (reineg + A), in der dritten als im nicht Seyn 
(d. h. im Potenz-Seyn) ſeyend, und umgekehrt im ſeyend-Seyn als 
nicht jeyend (als Potenz, als Macht zu feyn) gefett ift: denken wir 
ihm auf dieſe Weife feyend, fo ift leicht einzufehen, daß in dieſem 
Seyn durchaus fein Actus, daß alfo dieſes Seyn auch Fein actuelles, 
wirkliches feyn würde. Ich fage: in dieſem Seyn wäre fein Actus. 
Denn Actus, der immer zugleich Bewegung ift, ift nur, wo Anfang, 
Mittel und Ende außer einander und ſich ungleic) find, Wo Anfang, 
Mittel und Ende in eins fallen oder ineinander find, da ift Nicht- 
bewegung, Nichtactus, Nun find aber in dem angenommenen Seyn 
diefe drei termini, ber terminus a quo, der terminus per quem 
und der terminus ad quem, dieſe drei find nicht wirklich ausein- 
ander zu bringen, Denn das feyn Könnende, folange e8 nur dieſes 
und nicht das wirflich Seyende ift (fo lang nicht felbft ſeyend), jo lang 
ift e8 ja dem rein Seyenden oder dem Zweiten Subjeft, oder: es tft 


81 

das Zweite (in dem prägnanten Sinn, ven wir dem tft früher vindicirt 
haben), alfo es ift ihm nicht ungleich, fondern gleih. Ihm ungleich 
wird es erſt, wenn es ſich ſelbſt in das Seyn erhebt; folang es aber inner- 
halb des nicht Seyns ftehen bleibt, ift es was 2 ift, nämlich, wie wir 
ebenfalls früher gefehen haben, eine völlig gleiche Selbftlofigfeit mit 
diefem. Alle Unterfheidung macht die Selbftheit; mo feine Selbftheit, 
ift fein Gegenfag. Das Seynfönnende ift in dem rein Seyenden ohne 
Störung und ohne Widerfprud. Wir haben 1 (die erfte Potenz) be- 
ftimmt als das ſelbſtiſch ſeyn Könnende, 2 (die zweite Potenz) als 
das nicht ſelbſtiſch ſeyn Könnende, als das an ſich Unſelbſtiſche. Aber 
das ſelbſtiſch bloß ſeyn Könnende, nicht Seyende, ſolang es dieſes iſt, 
iſt wie das an ſich Unſelbſtiſche. Beide ſchließen ſich nicht aus; das 
ſelbſtiſch bloß ſeyn Könnende ſchließt das Unſelbſtiſche von ſich erſt aus, 
wenn es wirklich ſelbſtiſch iſt. Die Identität beider Geſtalten beruht 
eben darauf, daß ſie gegeneinander keine Selbſtheit haben. 1 haben 
wir beſtimmt als das nicht actu Seyende. Aber auch die zweite Po— 
tenz, das rein Seyende, + A, das wir als actus purus bejtimmt 
haben, ift eben darum, weil ed actus purus ift, Fein actu Seyen- 
des, und inſofern ift der actus purus — der potentia pura. Ich 
jage: was actus purus tft, tft eben darum Fein actu Seyhyendes. 
Denn ein actu-Seyn wird nur da wahrgenommen und angenommen, 
wo ein Uebergang a potentia ad actum ftattfindet, wo durd) das Seyn 
irgend ein Widerſtand überwunden wird. - Aber gerade dieß fehlt hier, 
denn als actus purus haben wir eben das erklärt, das jeyend ift ohne 
Uebergang a potentia ad actum. Das auf jolche Weife jeyende ift da- 
her auch = Nichts, inwiefern es nicht als ein actu, mit Actus Seyendes 
gedacht werden kann. 

Bergleichen wir die beiden erſten — mit der dritten, ſo iſt 1, 
das lautere Seynkönnen, wie das als ſolches ſeyende Seynkönnen, alſo 
wie 3. Denn 3 iſt von I mur dadurch unterſchieden, daß es das als ſolches 
ſeyende Seynkönnen iſt. Aber dieß iſt eine bloße Beſtimmung in unſerem 
Begriff, in unſerem Denken, weil 3 doch nicht wirklich das als ſolches 
ſeyende Seynkönnen iſt. Das als ſolches ſeyende könnte es nur ſeyn, 

Schelling, ſämmtl. Werke, 2. Abth. II. 6 


32 


wenn 28 das nicht - als ſolches ſeyende von ſich ausſchlöße. Da aber der 
Borausfegung nad) 1 (die erfte Potenz) auch noch reines Seynkönnen ift, jo 
kann 3 e8 nicht von ſich ausfchliegen, d. h. es kann fich nicht ihm gegenüber 
als ſolches fegen. Solange 1 felbft lauteres Seynkönnen bleibt, ift 
es eodem loco mit 3 und von diefer Stelle nicht zu vertreiben. Um 
ung dieß anfchaulich zu machen, wollen wir uns jo ausdrüden: Die 
erfte Potenz ift durch den Begriff Gottes als das nicht jeyn Sollende 
(als das zum nicht Seyn, zum Myſterium Beſtimmte) gejeßt, Dagegen 
ift durch eben dieſen Begriff die dritte Potenz gejegt ald das, mas 
er-iftiren, das offenbar ſeyn ſoll, als das, dem gebührt zu ſeyn, 
als das feiner Natur nad) Seyende, wie 1 das feiner Natur nad) nicht 
Seyende ift. Das nicht feyn Sollende aber, folang e8 nur dieſes ift, 
nicht wirklich herwortritt, ift e8 dem ſeyn Sollenden nicht ungleich; es 
wird ihm. erft ungleich, wenn es wirklich ift, wie z. B. in dem Kind 
das Böfe noch im Guten verborgen und nicht von ihm auszufchliegen 
ift. Bergleihen wir num ebenſo die zweite Potenz mit der dritten, jo 
ift die dritte die als ſolches ſeyende Potenz. "Nun haben wir aber ſchon 
gezeigt: actus purus — potentia pura. Aljo ſchließen fid) auch Diefe 
beiden nicht aus. Wir haben zwar die dritte Potenz (das als ſolches 
ſeyende Seynkönnen) als ausgefchloffenes Drittes beftimmt, aber dieſe 
Ausſchließung ift feine reelle, ſondern eine bloß logifche. Die drei find 
eodem loco; denn auch 2 tritt, weil e8 das nicht actu, jondern Das 
nur feiner Natur, feinem Wejen nad) feyende ift, jo tritt es nicht 
iiber das Wefen heraus, und alle Unterfchieve gehen in das bloße 
Weſen zurüd. Das feiner Natur nad nicht Seyende, jolang es 
das actu nit Seyende ift, und das feiner Natur nad) Seyende, jo- 
lang es das auch nicht actu feyende ift, find ſich eben darin gleid, 
daß jedes bloß natur&, d. h. bloß weſentlich ift, was es ift. 
Faffen wir diefes Verhältniß vom höchſten Standpunkt auf, jo ift 
Gott von dem bloßen Wefen nur dadurch umterjchieden, daß er das 
als ſolches ſeyende Wefen ift. Aber das als ſolches ſeyende Weſen 
ift wie das bloße Wefen; es ift wohl ein Unterfchted im Begriff, im 
Denken, aber fein realer Unterfchied, Fein Unterfchied im Seyn, denn 


83 


das Seyn des als folches jeyenden Weſens ift felbft noch (bis jekt 
nämlich und wenn nichts anderes geſchieht) = dem Wefen oder ein vom 
Weſen nicht unterfcheivbares Seyn. Deutlicher vielleicht: das als foldhes 
jeyende Weſen iſt vorläufig — ſoweit wir es bis jetzt erkannt haben — 
ſelbſt auch nur noch im Weſen, im Begriff, nicht im Seyn geſetzt. Ich 
will mich des ſchon früher gebrauchten Gleichniſſes wieder bedienen. 
Der geometriſche Punkt läßt ſich auch anſehen als Kreis von unendlich 
kleinem Durchmeſſer, wo alſo Peripherie, Durchmeſſer und Mittelpunkt 
zuſammenfallen. Wie ſich nun der Punkt, der Kreis iſt, d. h. den 
ich als Kreis denke, zu dem bloßen Punkt verhält, ſo verhält ſich das 
als ſolches ſeyende Weſen, ſolange ich dieß ſelbſt noch bloß denke, 
zu dem bloßen Weſen. Nun können Sie aber dem Punkt, den ich hier 
etwa an die Tafel machte, nicht anſehen, ob er bloßer Punkt iſt, oder 
Punkt, der Kreis iſt; dieſer Unterſchied liegt bloß in meinem Gedanken. 
Der bloße Punkt und der Punkt, der Kreis iſt, ſind dem Seyn nach 
von einander nicht verſchieden; das Seyn des letzten iſt wie das Seyn 
des erſten. In dem letzten denke ich zwar Unterſchiede, aber ich kann 
dieſe gedachten Unterſchiede nicht auseinander bringen. Die Peripherie 
iſt eben das, was der Mittelpunkt iſt — nämlich Punkt, und ebenſo 
der Durchmeſſer iſt was die Peripherie und was der Mittelpunkt iſt — 
nämlich Punkt. Gerade ſo nun iſt der Unterſchied des bloßen Weſens 
und des als ſolchen ſeyenden Weſens ein bloßer Unterſchied im Be— 
griff, nicht im Seyn, denn ich kann die Unterſchiede (die Potenzen) 
im letzteren nicht auseinander bringen; das nicht Seyende, das ich 
in ihm denke, iſt das nicht actu, ſondern das nur ſeiner Natur 
nach nicht Seyende, und inwiefern das rein Seyende, das ih in 
ihm gedacht habe, auch nur das feiner Natur nach, nicht actu, jeyende 
ift, jo find dieſe beiden nicht reell unterſchieden, und eben dieß gilt auch 
von dem Dritten; denn das Dritte ift vorerft auch nur das feiner 
Natur nah Potenz und Actus zugleih Seyende!. Zu einem 


' In Platons viertem Buch von den Geſetzen findet ji) eine merkwürdige 
Stelle, die dort als ein malaıog Aoyog eitivt wird — als eine Sentenz der 
Drphifer vielleicht oder Pythagoreer, die, wenn man in ihren wahren Sinn 


84 


wirklichen Seyn alfo würde es erft fommen, wenn das vorjegt 
bloß feiner Natur nad nicht Seyende zum actu nidt Seyenden 
wirde. Aber dieß kann es nicht anders werden, als indem es durch 
einen wirflihen Actus als nicht feyend geſetzt wird, und ein folcher 
Actus feines nicht-feyend-Werdens fett, wie Ste ſelbſt fehen, vor— 
aus, daß es zuvor feyend geſetzt ſey; denn, wenn es ſchon nicht jenend 
ift, Kann es nicht als nicht feyend gefett werden. - Nun fann es aber 
aud) wieder vermöge des bloßen Begriffs oder vermöge der bloßen Natur 
Gottes nicht als feyend gefegt werden (denn eben vermöge dieſes Begriffs 
ift e8 nicht feyend) ; alfo bleibt nichts übrig, als daß es durch göttlichen 
Willen, durch göttliche That als feyend _gefegt werde. Nun möchten 
Sie vielleicht fagen: aber eben damit würde ja der: göttliche Begriff 
aufgehoben, und weit entfernt, daß dadurch Gott als wirflich jeyend 
gefegt wäre, würde er dadurch vielmehr als nicht ſeyend geſetzt. Aber 


eingedrungen ift, etwa fo zu überjegen wäre: Gott Anfang, Mittel und Ende der 
Dinge in ſich begreifend, macht fich durch feine That einen Weg, oder: dringt zur 
Bewegung duch, mährend er feiner Natur nad umwandeln würde, ‚Dieß ift 
fo zur verſtehen: Wenn Anfang, Mittel und Ende in eins zufammenfallen, jo ift 
feine Bewegung. Damit eine Bewegung jey, muß der Anfang oder terminus a 
quo, das Mittel oder terminus per quem und Ende, terminus ad quem, außer: 
einander feyn. Im göttlichen Begriff find, wie wir gefehen, Anfang, Mittel und 
Ende eins und fchließen fich nicht aus. Das Seynfönnende, das das Seyn noch 
vor fi hat (das lautere Seynkönnen), und das als nicht ſeyendes nod) Das Ge- 
gentheil feiner felbft, das blind Seyende, feyn kann (dieß das Nächſte am Seyn, 
aljo der- Anfang) dieſes ift noch = dem als folhen jeyenden und daher blei- 
benden Seynfönnen, das das Seyn hinter fih und gleichfam ſchon überwunten 
bat (welches das Ende ift); und ebenſo das, was das Mittel ift, weil e8 actus 
purus, aber nicht actu, jondern feiner Natur nach ift, ift es felbjt dem Seyn— 
. fönnenden =, und da e8 dem erften,, ift e8 auch dem dritten =. Die Potenzen find 
aljo vermöge des bloßen göttlichen Begriffs nicht auseinander zu bringen. Wollte 
man fich hier, folang Gott bloß in feinem Weſen oder feiner Natur ift, eine Be- 
wegung benfen, jo könnte dieß nur eine votatorifche ſeyn. Denn eine rotatorifche 
Bewegung ift die auf Einem Punft bleibende. Darum heißt e8 in jener Stelle: 
ſoll e8 zu einer wirffihen Bewegung kommen, zu einem wirkfihen Weg Gottee 
(denn Bewegung kommt von Weg, und von einem Weg Gottes jpricht nicht bloß 
das U. T. und andere morgenländifche Schriften, fondern im Zujammenhang 
jener Stelle auch Platon, ferner Pindar), fol e8 zu einem wirklichen Weg kommen, 
jo müfjen Anfang, Mittel und Ende fich ungleich werben. 


85 


fo ift es nicht. Vielmehr eben weil Gott feinem Begriff, aljo feiner 
Natur nah, der jo feyende, nämlih ver — A + A + A feyende, 
oder kürzer „gejagt, weil Gott der feiner Natur nad) und demnach der 
nothwendig und unaufheblih all=einige (= abfolute Perſönlichkeit) ift, 
eben darum kann er actu das Gegentheil feyn, inden er, vermöge 
der Unaufheblichfeit feiner Natur, dadurd doch nicht wahrhaft ein an- 
derer wird. Daraus eben, .. daß im feinem Begriff fehon die erfte 
Potenz als folhe und demnach als das nicht Seyende, als — A, ge- 
jet wird, daraus folgt, daß wenn fie auch wirflich oder actu das 
Gegentheil davon ift, fie dieſes Gegentheil nur ift, um als foldyes ne- 
girt zu werben, und aljo doch actu wieder — A zu ſeyn. Daraus, 
daß Gott der feiner Natur nad) und demnach unauflöslicd alleinige 
ift, folgt gerade, daß, wenn er in jener Potenz, die durch feine 
Natur zur bloßen Potenz beftimmt ift, wirklich hervortritt, zwar das 
rein Seyende (+ A) von ihr nun ausgejchloffen wird, aber fie wird 
darum nicht aufgehoben (dieß erlaubt die göttliche Natur nicht, welche 
die unzertrennlich all=einige ift). Das Leste (daß aufgehoben) ift unmög- 
(ic), weil Gott nicht aufhören kann, der All-Einige, d. h. die Einheit 
der drei Potenzen, zu jeyn. Das rein Seyende (+ A) wird alfo da— 
Dur), daß das nicht Seyende pofitiv oder jeyend wird, nicht aufge- 
hoben, jondern im ©egentheil, da es zuvor oder dem bloßen Begriff 
nad) das nicht ſich Seyende war, wird es durch die Ausjchliegung von 
der erften. Potenz nur jest ein ſich Seyendes, d. h. es tritt in ein 
eignes Seyn. Indem die erfte Potenz ihm nicht mehr Subjeft 
iſt (dieß kann fie ihn nur seyn, jolang ſie nicht ſelbſt ſeyend tft), in— 
dem die erſte Potenz ſich ihm verſagt, ihm nicht mehr Statt gibt, — 
nicht mehr das es Setzende iſt, ſo wird es eben dadurch genöthigt, in 
fi) ſelbſſt zurückzutreten, ſelbſt Subjekt zu werden, und indem es 
zuvor das rein Seyende ohne alles Können war, befommt das rein 
Seyende — eben durch die Ausſchließung oder Negation,. die die erſte 
Potenz auf e8 ausübt, jelbft ein Können, eine Potenz in fi), e8 wird 
jelb ständige Potenz; da aber dieſes Können gegen feine Natur ift (denn 
e8 ift feiner Natur nad) das rein feyende), fo muß es ftreben, diefes 


86 


Können, diefe Negation (denn alles Können ift eine Negation des Seyns) 
in fich wieder aufzuheben, ſich in- das mas es feiner Natur nad) ift, 
in actus purus wieder herzuftellen; dieß kann es aber nur, indem e8 
jeinerfeit8 ftrebt, da8 e8 Negirende (das e8 in Negation — in Potenz 
— Segende), indem es ftrebt, das, gleichjam gegen die Natur oder 
gegen den Begriff feyend, pofitiv Gewordene — eben dieſes wieder in 
fein urfprüngliches nicht Seyn, in die ihm gebührende und zufommende 
Potentialität zurückzuführen, fo daß es ſich als Actus verwirklicht, nicht 
jowohl durch einen Uebergang a potentia ad actum in ſich felbft, ala 
durch einen umgefehrten Uebergang ab actu ad potentiam außer ihm. 
— Eben weil e8 das feiner Natur nad) nicht Potenz, jondern actus 
purus Seyende iſt, kann es fich nicht unmittelbar wie das Erfte ver- 
wirklichen, das an ſich Potenz ift und daher unmittelbar a potentia, 
d. h. von ſich aus, ad actum übergehen kann, ihm muß exft eine Po— 
tenz gegeben werden, um actu zu ſeyn!: — alſo es ift das nur an 
der zweiten Stelle ſeyn Könnende, das Seynkönnende der zweiten 
Potenz, und wenn wir das Seynkönnende überhaupt durch A bezeichnen, jo 
wäre alfo das unmittelbar a potentia ad actum übergehen Könnende, 
weil es ſich unmittelbar, ohne etwas anderes als ſich ſelbſt vorauszu— 
ſetzen, verwirklichen kann, ſo wäre dieſes das Seynkönnende der erſten 
Potenz, alſo A'; das rein Seyende aber, weil es nicht von ſelbſt ſich 
verwirklichen, d. h. a potentia ad actum übergehen kann, weil ihm 
erſt gegeben werden muß, das Leben, d. h. die Beweglichkeit in das 
Seyn in ſich ſelbſt zu haben, ſo iſt das rein Seyende das Seynkön— 
nende der zweiten Ordnung, A?. (Leicht zu begreifen iſt jedoch, daß 
jene erſte Potenz das Seynkönnende der erſten Ordnung und demnach 
A' nur iſt, ſofern ſie das ſeyn Könnende bleibt, in ihrer Latenz, im 
Nichthervortreten [nur als — A iſt fie A]; denn ſowie ſie hervortritt, 
hört ſie, wie früher ſchon gezeigt, auf, Potenz, alſo A zu ſeyn; über 
dem Seyn hört ſie auf, Macht oder Quelle des Seyns zu ſeyn, ſie 


Das hingegen, was ihm eine Potenz gibt, von dem es in Potenz geſetzt wird, 
fan nicht ſelbſt ein urſprünglich ſeyendes, dieſes muß ein erſt durch Uebergang 
a potentia ad actum ſeyendes ſeyn. 


un 


87 


wird ein Anderes, ein ſich ſelbſt Ungleiches, wir wollen alſo jagen, fie 
hört auf A zu ſeyn und wird B. Durd) B wollen wir auch in ber 
Folge dieſe erfte Potenz in ihrer Erhebung — in ihrem Andersgewor: 
denjeyn — in ihrem blinden Seyn bezeichnen). Dagegen nun das rein 
Seyende, dieſes wird gerade durch die Ausjchliefung, durd die Nega- 
tion, welche die erſte Potenz in ihrem-jetigen Zuftande als B auf es aus- 
übt, — dadurch wird das rein Seyende erft in die Potenz erhoben, 
als das nicht mehr Seyende, fondern bloß feyn Könnende, demnad) 
als A? gejegt. Weil aljo durch das feiner Natur nad) nicht feyende 
und demnach nicht ſeyn Sollende, weil durd) diefes, wenn es feyend 
wird, das feiner Natur nad Seyende nicht aufgehoben wird (dieß er— 
laubt die göttliche Alleinigfeit nicht, welche eine durch den Begriff Gottes 
gejegte, aljo eine nothwendige und unaufhebliche ift), und weil die bei- 
den ſich jett gegenfeitig ausjchliegenden Potenzen (B und A?) doch nicht 
auseinander können, jondern, indem fie fid ausfchliegen, durch Die 
göttliche Einheit dennoch, gezwungen find uno eodemque puncto zu 
jeyn, jo kann hieraus nichts anderes entjtehen, als ein Proceß, in 
welchem das, was das rein Seyende ſeyn follte, jest aber in jenem 
Seyn gehenmt und negivt ift, eben das, von Dem es negirt ift, jeiner- 
jeitS wieder zu negiven, es wieder in fein anfängliches Nichts, in feine 
PBotentialität zurücdzubringen, und jo ſich jelbft als das rein Seyende, 
als actus purus wieder herzuftellen fucht. Wir nehmen hier, wie Ste 
jehen, eine Ueberwindlichfeit dev dem rein Seyenden entgegenftehenden 
Potenz an. Diefe Ueberwindlichkeit wird Ihnen begreiflich feyn, wenn 
Sie fich zurücdrufen, was früher bemerkt worden ift, daß nämlidy jene 
Potenz des Anfangs, jenes unmittelbar Seynkönnende eigentlich nichts 
iſt, als ein ruhender Wille, der durch bloßes Wollen ſich entzündet, 
activ wird, daß alſo das Seyn dieſes erſten, oder, wie wir es ein— 
mal genannt haben, daß B nichts anderes iſt als ein Wollen. Nun 
ift in der Welt nichts, das widerfteht, als ein Wollen (alle Wi- 
derftandsfraft befteht nur in einem Wollen), und jo wie nichts wider- 
fteht als ein Wollen, fo ift auch nichts überwindlich als ein Wollen. 
Wie ein Wollen, das ſich unverfehens in uns erhebt (z. B. ein Zorn) 


88 
und in diefer Erhebung für einen Augenblid das Beſſere und „Höhere 
unfver Natur gleihfam von feiner Stelle verdrängt und ausfchliekt, 
wie ein folches Wollen durch befänftigenden Zufprudy dennoch wieder 
in fich felbft zurückzubringen, in fein anfängliches Nichts, die bloße 
Potenz, aus der e8 hervorgetreten war, wieder zurüdzuführen ift, und 
num allen jenen höhern und befjern Mächten wieder Naum gibt, daß 
fie unfer Inneres wieder erfüllen können: gerade jo ift auch jenes 
Wollen, in melden das urfprüngliche Seynkönnen ſich als feyend er- 
hob, und das wir, — als einen Willen, der eigentlich. nicht wirken, 
nicht wollen Sollte, in feinem wirflichen Seyn, ven Unwillen nen- 
nen fünnen (ſowie Unthat nicht eine That. bedeutet, "die nicht geſchehen 
ift, fondern die nicht geſchehen follte), gerade fo, ſage ich, iſt auch jener 
Unmille, d. h. jener gegen die Natur, gegen das was feyn ſollte, wir- 
fend gewordene Wille für die höhere Potenz überwindlih. Es fucht 
num aber diefe — die höhere Potenz ſucht jenes nicht ſeyn Sollende 
des Seyns wieder zu entfegen, nicht um dieſes (das Seyn) für 
fi) zu nehmen, fondern im Gegentheil um ſich des eignen Seyns, Das 
ihr durch jenes aufgedrungen war, zu entledigen, fid) in die urfprüng- 
liche Selbftlofigfeit de8 Actus purus wieder herzuftellen. Die erfte 
Potenz aber kann das eigne Seyn, in das fie ſich erhoben hatte, nicht 
aufgeben, ohne an ihrer Stelle, gleichfam an die Stelle, die fie jebt 
leer und unerfüllt laßt, ein anderes als feyend zu fegen, und fo geht 
eigentlich der Proceß nur dahin, daß an die Stelle des nicht feyn 
Sollenden wieder das gefett werde, dem gebührt zu feyn, das eigent- 
lich jeyn Sollende, und die zweite Potenz überwindet die erfte, nicht 
um felbft zu feyn, fondern damit diefe, indem fie zum fich - felbft - Auf- 
geben, zur Erfpiration gebracht wird, damit diefe in ihrer Erfpiration 
wieder (wie fie es dem Begriff oder der Natur des göttlichen Seyns 
nad) ift), damit fie in diefer Erfpiration zum Aushauchenden, zum Seßen- 
den, oder, um uns gleich in mythologiſcher Sprache auszudrücken, zum 
Sitz und Thron jenes Höchſten werde, dem allein gebührt zu ſeyn, 
und das, weil ihm das actuelle Seyn durch zwei Potenzen vermittelt 
iſt, weil es nicht geſetzt iſt von der erſten, noch von der zweiten, ſondern 


89 
nur von der durch die zweite überwundenen erften, weil e8 alfo beide 
vorausfegt, jo tft e8 das nur tertio loco ſeyn Könnende, das Sehn- 
fönnende der dritten Ordnung, das wir darum in der Folge, wo wir 
es der Kürze halber nöthig finden, durch As bezeichnen. werden, und 
Das, wie wir früher gefehen haben, der als foldher feyende, der ſich 
jelbft befitende Geift, das ungertrennlihe Subjeft-Objefkt ift. 

Diejes Seynfünnende der dritten Potenz, das wir alfo das unger- 
trennliche Subjeft - Objekt. nennen, iſt der bei fich bleiben müfjende, der 
nothwendige ©eift, der aber aud als folher immer nur eine der 
Potenzen, obwohl vie höchſte, ift, nicht das Ueberſchwengliche ſelbſt, 
nicht Gott. Sie fünnen hier den Unterfchted dieſes Dritten, das 
Geift und doch nicht Gott ift, beftimmter und deutlicher als früher 
auffaffen. Es ift, fagten wir, der nothwendige Geift, d. h. was noth- 
wendig Geift ift, nur Geift ſeyn kann. Aber Gott ift mehr als dieß, 
über dieß; er ift ver freie Geift, d. b. der auch über das, worin er 
Geiſt ift, ſich ſchwingt und frei davon ift, auch an fi) als Geift nicht 
gebunden, auch diefen nur als eine Potenz von ſich behandelt, der aljo 
nicht bloß Geift, jondern ebenfowohl die andern Potenzen ift, ob— 
wohl feine von ihnen für fi), fondern nur in der unauflöslichen und 
unzerreißbaren Einheit. Denn Gott ift nur in den drei PVotenzen, als 
der alles in allem wirfende, aber eben darum über fie erhabene, und 
obgleich in ihnen wirkend, doc von ihuen durch das Unauflösliche feiner 
Einheit oder All» Einheit unterfchiedene. 

Bergleichen wir den jett dargeftellten Proceß mit dem früher ab- 
geleiteten Begriff, fo ift in diefem jene erfte Potenz des Seyus aller- 
dings bejtimmt als das nicht Seyende, als das dem Höheren -Unter- 
worfene, was ihm Subjekt und gegen es felbft nicht jeyend ift. Es ift 
beftinnmt als das nicht Seyende, aber es ift nicht gefagt, ob es dieß 
unmittelbar oder mittelbar jey. Vermöge des göttlihen Begriffs 
fann es allerdings nur — A feyn, aber nichts verhindert, daß es durch 
göttlichen Willen, göttliche Freiheit, pofitiv, activ werde. Diefe Freiheit 
ift Gott eben durch die Nothwendigfeit feiner Natur, — dadurch ge- 
geben, daß feine All-Einheit eine nothwendige ift, woraus folgt, daß Er 


90 


immer und nothwendig der All-Eine ift, wie er aud fey. In dieſem 
Sinn oder auf diefem Standpunft kann man fagen, daß die Noth- 
wendigfeit Gottes feine Freiheit, infofern Nothwendigfeit und Frei— 
heit eins “in ihm ift. Aber es kommt bei folden Formeln alles auf 
den richtigen Verſtand derjelben an. Das Gefährliche der Philoſophie 
ift eben, daß durch bloße formelle Combination manche Formel heraus— 
zubringen ift. Aber die Philofophie ift nicht wie die Mathematik, bie 
Formeln aud für nicht wirkliche Dinge hat. In der Philofophie nützt 
mir die Formel nichts ohne die Suche, und es kann der Philofophie 
nichts Schlimmeres gefchehen, als wenn Formeln, die fidy auf die Kennt— 
niß der Sache gründeten, von ſolchen nachgefprochen oder angenommen 
werden, welche nie von der Sache wußten. Nichts verhindert, jagte 
ich, daß jene Potenz des Seyns, welche dem Begriff nad) immer Potenz 
jeyn ſollte, in Actus fih erhebe — nicht um Actus zu bleiben, fon- 
dern um actu negirt, aetu als Potenz gefett zu werden, wodurch alfo 
der Begriff (oder die an ſich unaufhebliche und unauflösliche göttliche 
Natur) fich dennoch behauptet. Gott ift nur äußerlich und dem Schein 
nad) ein anderer, innerlich derſelbe. Die Potenzen in ihrer‘ gegenfeitigen 
Ausihliegung und ihrer gegeneinander verfehrten Stellung find nur der 
durch göttliche Ironie äußerlich verftellte Gott; fie find der werlehrte 
Eine, inwiefern, dem Schein nad), das was verborgen, nicht wirfend 
ſeyn follte, offenbar und wirfend, das was pofitiv, offenbar ſeyn follte, 
negirt und in Potenz-Zuftand gefegt ift. Die Potenzen in diefer Stel- 
lung find infofern das heraus» oder umgefehrte Eine (deſſen Inneres 
äußerlich, deſſen Aeußeres innerlich ift), Universum (denn dieß Wort 
bedeutet eben nichtS anderes als das gleichjam umgewenvete Eine. Die 
Philologen unter Ihnen werden nicht als Einwendung dagegen an- 
jehen, daß Lucretius, der einzige Dichter, bei dem meines Willens 
das Wort universus oder ein davon abgeleiteted vorkommt, bie erſte 
Sylbe kurz braucht, während die erjte von unus lang ift. Das Wort 
war eben im Hexameter nicht anders zu brauchen und kann nichts an- 
vers feyn als eben — unum versum). — Wenn wir indeß die Potenzen 
in ihrer jegigen Geftalt das Univerfum nennen, jo dürfen Ste darımter 


91 


noch nicht das materielle Univerfum denken, das Univerfum inwiefern 
es aus concreten Dingen befteht. Diefes Univerfum ift noch die Welt 
der reinen Potenzen, und infofern nod immer eine rein geiftige Welt. 

Die Potenzen find in dieſer Stellung, worin fie das unmittelbar 
Aeußerliche der Gottheit find, durch eine universio gefeßt; diefe uni- 
versio ift das reine Werf des göttlichen Wollen und der göttlichen 
Freiheit. Indem jene Potenz des Anfangs, die, nad) dem Begriff, 
nit ſeyend ſeyn jollte, jeyend ift, fo ift fie inſoweit afftrmirt, aber 
da fie nur affirmirt ift, um negirt zu werden, fo ift fie ja doch eigent- 
lich negirt, und die ſcheinbare Affirmation iſt nur das Mittel ihrer 
actuellen Negation, ſowie die jcheinhare Negation der andern Poten- 
zen nur das Mittel ihrer actuellen Afftrmation oder Pofitien. Das 
göttliche Seyn tft im jener Spannung der Potenzen nicht aufgehoben, 
fondern nur ſuſpendirt, aber die Abficht diefer Suſpenſion ift Feine 
andere, als es wirklich, actu zu fegen, was auf andere Weife nicht 
möglid> war. Diefer ganze Proceß ift nur Proceß der Erzeugung 
des göttlihen Seyns — der theogoniſche Proceß, deſſen allge: 
meinfter und höchſter Begriff alfo nun gefunden, deſſen Begriff 
als ein höchſt reeller dargethan ift. Und fo ift denn nun durch dieſes 
Wunder der Umftellung oder Umfehrung der Potenzen das 
Geheimniß des göttlihen Seyns und Lebens felbft erklärt. Es ift da— 
mit zugleich ein allgemeines Gefeß der göttlihen Handlungsweife auf 
das höchſte Problem aller Wiſſenſchaft, auf die Erklärung der Welt 
angewendet. 

Schon immer haben die, weldhe am Tiefften in das Geheimniß der 
göttlichen Wege hinein gefehen, behauptet, daß Gott alles zer rıva 
olxovoulev, d. h. nad) einer gewifjen Verftellung thue, daß er meift das 
Gegentheil darlege von dem, was er eigentlich will!. Niemand hat daran 
gedacht, dieß auch auf die Erflärung der Welt felbft anzumenden. Auch das 
Dafeyn einer von Gott verfchtedenen Welt (denn die Potenzen in ‚ihrer 


' Kar oixovouiav fieri aliquid dieitur, cum aliud quidpiam specie tenus 
geritur, quam quod vel intenditur, vel revera subest. Suicer, Th. E. 
TI, p 35% 


92 


Spannung find nicht mehr Gott) beruht auf einer göttlichen Verſtellungs— 
funft, die zum Schein bejaht, was ihre Abficht ift zu negiren, und um— 
gekehrt zum Schein negirt, was ihre Abficht ift zu bejahen. Was die Welt 
überhaupt erklärt, erklärt audy den Yauf der Welt, viele große und 
ſchwere Räthſel, die das menschliche Leben im Ganzen und im Einzel— 
nen darbietet. Nicht umfonft werden wir darum jo oft in der Schrift 
erinnert, Aug zu feyn — nicht im gemeinen Sinn des Worte, ſon— 
dern daß wir ung durch den äußern Anfchein der Dinge und des Welt- 
(aufs nicht täufchen Iaffen, fondern im Seyn das Nichtſeyn, im Nicht- 
jeyn das Seyn erkennen. Gott ift, wie die Schrift felbft jagt, ein 
wunderlicher Gott '. 

Ich bemerfe über den jest erreichten Begriff eines theogonifchen 
Proceſſes noch Folgendes: Unfere gegenwärtige Unterfudung wurde eben 
veranlagt durch den Begriff des theogontfchen Procefjes, auf den und 
formell nothwendige Schlüffe geführt haben, aber mit dem wir feinen 
Gedanken zu verbinden mußten. Unfere Meinung war nämlich, daß 
jener. theogonifche Proceß im Bewußtſeyn felbft objeftive Bedeutung habe. 
Dieß angenommen aber muß der Begriff theogonif her Proceß 
aud) unabhängig vom menſchlichen Bewußtfeyn eine Bedeutung haben. 
Eine Bewegung aber, in der Gott wirklich fich erzeugte oder erzeugt 
würde, ſcheint allen angenommenen Begriffen zu widerftreben. Da Gott 
jelbft oder feinem Wefen nad unerzeugt ift, könnte wenigftend der Be— 
griff eines gotterzeugenden Procefjes ſich nur auf. ein aufgehobenes gütt> 
liches Seyn beziehen. Aber ein ſolches aud) nur zu denfen, fehlten ung 
alle Mittel. Durch die bisherige Erörterung über den Begriff des Mono- 
theismus fehen wir ung nun auf einen Punkt geftellt, wo eine folche 
Aufhebung des göttlichen Seyns nicht mehr fo ganz unverſtändlich ſcheint. 

' Schon vor vielen Jahren fehrieb ich einem berühmten Franzoſen aus der 
guten alten Zeit, der fo ziemlich atheiftiich gefinnt, dabei aber ein ſehr gutmüthiger 
Mann war, wie viele diefer Art (gutmüthiger als die Bigotten, -die ihm gefolgt 
find), in fein Stammbuch: „Die Welt ift nur das jufpendirte göttliche Seyn. 
Er lacht über die, die fich dadurch anführen faffen, und in Berüdfichtigung des 


Bergnügens, das ihm ihre Voreiligfeit gewährt, wird er ihnen einft gnädiglich 
verzeihen, ihn geleugnet zu haben“. 


— 


Die Aufhebung des göttlichen Seyns, welche die Vorausſetzung des 
theogoniſchen Proceſſes iſt, kann natürlich nicht ſchlechthin geſchehen: 
dieß iſt unmöglich. Die Aufhebung iſt eine bloß temporäre, ſie iſt nur 
Suſpenſion. Hiebei verhält ſich nun, wie Sie wohl ſehen, jenes con— 
träre Seyn zunächſt und unmittelbar als das das göttliche Seyn negi— 
rende, mittelbar aber und in feinem Ende — wo es nämlidy wieder in’ 
das Können, ins urfprüngliche nicht Seyn überwunden ift, verhält es 
fich als das das göttliche Seyn ausdrücklich jegende, Gott bejahende, 
im Uebergang aber,..d. h. im Proceß, als das das göttliche Seyn 
erzeugende, theogonifche Princip. Ehe wir jedoch dieß näher entwicdeln, 
liegt ung daran, zu. zeigen, wiefern num mit der universio und ber 
dadurd bewirften Scheidung der Potenzen Monotheismus als Dogma 
gegeben, eben damit aber auch die (objektive) Möglichkeit des Polytheis- - 
mus vorhanden tft. | 
Betrachten wir nämlich das Ganze nad) oder in der universio, 
jo find die einander ausjchliefenden und im gegenfeitiger Spannung be 
findlichen Potenzen das Aeußere und Eroterifche der Gottheit. Sie find 
num eine wahre, eine wirkliche Mehrheit — (da fie im Begriff, 
wie wir gefehen, nicht auseinander zu bringen waren, fi) nicht ausſchloſſen, 
ſchließen fie ſich jet wirflid) aus, inden jede der drei Potenzen in ihr 
eignes Selbft und -in Spannung gegen die andern getreten ift. Der 
Grund der Ausſchließung, die alles ausjchliegende, alles in Spannung 
ſetzende Potenz iſt eben die erſte, jenes Princip des Anfangs, das nicht 
jeyend ſeyn follte; dieſes als omnia exeludens tft, wenn wir an bie 
andere Bedeutung des lateinischen excludere denken, wo es fo viel als 
parere bedeutet, die omniparens natura oder potentia '). Die Botenzen 


' Bon den drei Potenzen verhält fich die erfte als das jelbft nicht Auszufchließende, 
aber alles andere Ausjchließende. Als das nur nicht Auszujchließende — nicht 
eigentlich zu Bejahende, jondern nur nicht zu Verneinende haben wir fie ſchon 
gleih anfangs kennen gelernt. Aber eben als die jelbft nicht auszufchliegende ift 
fie die alles ausjchliegende (omnia excludens), wobei e8 ganz zwedmäßig ift, 
nicht bloß die logiſche, jondern zugleich die veale Bedeutung des Worts excludere 
im Auge zu haben = parere. (Hier fieht man, wte die logifchen Begriffe zu- 
gleich reale, lebendige Begriffe find, was fie durch ihre eigne, d. h. jelbjt wieder 


94 


in ihrer gegenfeitigen Ausſchließung alfo find das Aeußere, Exoteri— 
iche, das Innere, Ejoterifche aber ift Gott. Er ift der in allen Poten- 
zen eigentlich Seyende, Er ift eg, der im nicht Seyn feyend ift, Er der 
alles wirkende, wie ein Apoftel ſagt: 6 ra ndvra Eveoywv zarte Tv 
Bovimv Tov Heinuarog wvroV |, wo jogar der doppelte Wille an- 
gedeutet iftz denn das Heirua it der Aufere, der die Spannung 
jegende Wille (der als ungerreißbarer Wille, als abjolut Urjächliches 
bleibt, jelbft nicht in die Spannung eingeht, ob er gleich auch jest 
ebenfowenig, als in der urfprüngliden Einheit, außer den Poten— 
zen zu denken ift — etwa als Biertes, noch befonders Griftirendes ?, 
fondern er ift in ihnen, ohne darum fie felbft zu feyn — er ift eben 
darum in ihnen als der allergeiftigfte — er ift nicht außer den wer- 
fehrten, fondern in den werfehrten, der alles in allen wirkende), die 
Bovin ift der eigentliche Wille, der Wille, in dem die Abſicht ift?, 
der die Spannung nur als Mittel und vielmehr die Einheit will, die 
im bloßen Begriff unwirflih war — die Einheit: alfo als eine ver- 
wirflidte*t Nun ift Gott, der in jeder Potenz etwas anderes thut 
und will (nämlich) dem 84400 oder dem äußern Willen nad)); denn 
in B will ex das blinde Seyn, das er in A? negirt und überwindet; aber 
dem wahren, inneren Willen nad) ift er nur. Einer, der nur Eines, näm— 
(ich die Einheit will: fie ift die Abfiht. Man kann jagen: Gott fey 
in jeder Potenz eine andere Perſönlichkeit; denn die Perfönlichkeit, welche 
B will, ift offenbar eine andere, als die, welche B überwindet; aber 
er jelbft wird dadurch nicht Viele oder Mehrere; Er jelbft bleibt Einer. 
Auf diefem Standpunkt ift alfo nun etwas der chriftlichen Lehre von 


bloß Logifche Bewegung niemals werden fünnen. Gegen diefe zugleich logischen 
und realen Begriffe mit den bloß logischen Begriffen angehen zu wollen, ift 
nicht viel beffer, als mit bleiernen Soldaten gegen wirkliche, lebende zu Feld ziehen). 

'&p. 1, 11: 

? Bergl. den vorhergehenden Band ©. 313. 

Vergl. Das bedeutende „BovAmheig“ Jac. I, 18. | 

* Gott macht die in feinem Selbftbegriff geſetzte Einheit, damit fie wirklich geſetzt 
jey, zum Ziel und Ende eines Procefjes, der darum nothwendig won einer Um— 
fehrung der Einheit ausgeht. 


95 
den drei PBerfönlichkeiten Gottes Aehnliches, und wir fehen, wie biefe 
Lehre mit dem Monotheismus zwar zufammenhängt, aber fchon eine 
höhere Anwendung des im legten gedachten Begriffs ift!. Dürfen wir 
annehmen, mas noch nicht nachgewieſen ift, aber noch nachgewieſen 
werben wird, daß der durch die universio gefegte Proceß der Proceß 
der Schöpfung tft, jo beruht die Schöpfung eigentlich auf der Wirkung 
Gottes in drei verfchiedenen Perſönlichkeiten. Es find dieſe Elohim, 
welche die innere, die efoteriiche Gejchichte der Schöpfung bilden, wie 
fie denn in der moſaiſchen Schöpfungsgefchichte worgeftellt find, wo fie 
miteinander berathichlagen über die Schöpfung, indem fie fagen: Yafjet 
ung Menſchen mahen! Wäre nun der Menſch im Innern geblieben, 
wie er es urfprünglihd war, jo würde er mit diejen göttlichen 
Perjönlichfeiten als ſolchen, diefen Elohim ſelbſt verkehren. Aber ver 
Menſch ift aus dem Innern hevausgeworfen, und auf dieſem bloß 
äußern oder eroterifchen Standpunkt ift er aud den bloßen Potenzen 
für fi anheimgefallen. Auf diefem Standpunkt ift num der Polytheis- 
mus möglich, und auf eben diefem Standpunkt hat nun aud) der Mo— 
notheismus als Dogma erft Bedeutung. Dogma tft nur was einen 
Gegenſatz hat. Die Lehren der Mathematif, der reinen Vernunftwifjen- 
Ihaften überhaupt, die feinen Gegenſatz kennen, apodiktiſche Wahrheiten 
find feine Dogmen ? Erſt auf dem gegenwärtigen Standpunkt alſo hat 
der Monotheismus als Dogma Sinn. Hier erft ift mit DVerftand zu 
fagen: daß außer Gott, nämlid) außer dem wefentlich AU -Einigen fein 
anderer Gott ift (nicht: Fein anderer Gott feyn kann, wie auf dem 
frühern Standpunkt, wo alles Seyn bei Gott, außer ihm alſo — nicht 


' Der Monotheismus hangt mit der Dreieinigfeitslehre (j. oben ©. 79) zu— 
fammen, aber ift nicht dafjelbe. 

2 Seit Kant ift e8 allgemein angenommen, den Spinozismus vorzugsweiſe als 
Dogmatismus, ja als das allvollendete Syftem des Dogmatismus vorzuftellen, 
wogegen, wenn bloß von der Methode die Rede ift, nichts Exrhebliches einzumwer- 
den ſeyn möchte. Soll es fih aber auf den Inhalt des Syftems beziehen, fo 
muß man im Gegentheil jagen: die Eigenthümlichfeit defjelben beftehe vielmehr 
im gänzlichen Mangel alles Dogmatiſchen und Poſitiven, und es ſey das vollendete 
Spitem des Undogmatismus. 


96 
fein anderer, fondern nicht die Möglichkeit eines andern ift. Hier 
aber fünnen wir num fagen, daß außer Gott, aufer dem wejentlich, dem 
nothwendig alleinigen fein anderer ift, oder daß der weſentlich Al-Einige ver 
einzige Gott ift‘. Dazu — dieß jagen zu können, — dazu gehört 1) daß 
überhaupt erſt etwas außer Gott fey. Denn auch hier ift der Monothets- 
mus veftriftiv; es wird nicht geleugnet, daß etwas außer Gott, ſondern 
nur, daß das außer Gott Seyende (was demnac) hier ſchon worausgefegt 
wird, auf dem allererften Standpumfte aber, mo Gott nur nod) das Seyende 
jelbft, das allgemeine Wefen ift, nicht vorausgejegt werden fann), es wird 
nicht geleugnet, daß etwas außer Gott ſey, ſondern nur, daß das außer 
Gott Seyende Gott fey, nicht das Seyn, nur die Gottheit wird von dieſem 
geleugnet. Der Sinn des Satzes ift nicht: nur der All-Einige Sit, ſon— 
dern: nur der All-Einige als folder, d..h. der weſentlich All-Einige (der 
Al-Einige, der es ift, und als folcher felbft in der Zertrennung befteht) 
ift der wahre Gott. So wie nämlic auf diefem Standpunft erft von 
dem einzigen Gott die Rede feyn kann in dem. Sinn, daß ein Gott 
außer ihm geleugnet wird, jo kann auch hier erft von dem wahren 
Gott die Rede feyn, mie aus Folgenden erhellen wird. Nämlich um 
jagen zu fünnen, daß außer Gott fein anderer Iſt, dazu gehört 1) (mie 
ſchon gejagt) daß überhaupt Etwas außer ihm iſt, was erft auf dem 
gegenwärtigen Standpunft der Fall ift, da die Potenzen allerdings 
etwas außer Gott (wenn nicht extra doch praeter Deum) find; 2) ge- 
hört dazu, daß diefes außer Gott Sehyende nicht fchlechthin Nicht- 
Gott ſey, wie es z.B. die conereten und bloß gewordenen Dinge find, 
die ja gar feine Vergleihung mit Gott zulaffen (wollte man jagen, es 
werden doch im Polytheismus aud) concrete Dinge güttlid) verehrt, 3. B. 
von Fetifh-Anbetern ſogar Steine, Klöge, Thierklauen u. ſ. w., jelbft 


' Dort fam die Einzigfeit nicht vom Gottſeyn; denn vermöge jener Ausjchließ- 
lichkeit (abjoluten Einzigfeit, wie wir fie nannten) ift er vielmehr felbft erſt Gott. 
Hier aber fommt die Einzigfeit vom Gottſeyn. Wir könnten jagen: fie ift nicht 
bloße Einzigfeit Gottes, fondern Gottes-Einzigfeit. — Es ift hier eine Ein- 
zigfeit behauptet, die in Gott felbft ift: nicht eine bloß natürliche, mate- 
vielle, ihm bloß vermöge deffen, was gerade nicht Er ſelbſt ift, zufommende, 
jondern eine formelle, actuelle, geiftige und mit einem Wort göttliche Einzigfeit. 


97- 

in Aegypten jey Thieren, wie dem heiligen Stier Apis, göttliche Ver- 
ehrung erzeigt worden — allein 1) wäre ja möglich, daß ſelbſt inner- 
halb des PBolytheismus wieder Entartungen oder Ausartungen ftattge- 
funden hätten; die urfprünglidhe Berehrung im Polytheismus bezog 
fi) gewiß auf etwas anderes als auf concrete Dinge; 2) wenn man 
dieß nicht annehmen will, jo it 3. B. ſelbſt bei dem Fetifch- Anbeter 
nod) ſehr zweifelhaft, ob feine Verehrung dem Conereten als ſolchem 
gilt, und ob dieſes nicht etwas bloß Zufälliges bei feiner Andacht ift) 
alfo um fagen zu Fünnen, daß außer Gott fein anderer Gott iſt, gehört 
2) dazu, daß das außer Gott Seyende nicht etwas ift, das gar nicht 
als Gott gedacht werben kann, wie die bloß gewordenen Dinge, fondern 
das allerdings auf gewiſſe Weife als Gott gedacht werden kann, ob 
es gleich nicht Gott tft, und eben dieß ift die Natur der jetzt in 
Spannung und gegenfeitiger Ausſchließung gefetsten Potenzen des gött- 
lihen Seyns: denn fie find allerdings aliquid praeter Deum. Aus 
der Einheit gefett find fie nicht Gott, aber fie find darum nicht Nichts, 
jondern allerdings Etwas, und von der andern Geite- ebenjomwenig 
ihon concrete Dinge, fondern geiftige Wejen, potentiae purae et ab 
omni concretione liberae et immunes, wie man lateiniſch fagen 
fünnte, äußere Elohim, wenn fie auch nicht jene inneren find, und ob- 
wohl nicht Gott, doc auch nicht fchlechthin Nicht-Gott, nämlich nicht 
auch dem Stoff nad) nicht Gott; fie find die aus ihrer Gottheit ge- 
jetsten Potenzen, die aber eben darum die Möglichkeit an fi haben 
wieder im ihre Gottheit gefett zu werben, daher fie, zwar nicht actu, 
aber potentiä oder Öuvduesı allerdings Gott find, fo wie fie ſchon 
jett und jelbft in ihrer gegenfeitigen Ausſchließung wenigftens Die Gott- 
erzeugenden, die theogonifchen Botenzen find. — (Ste fehen, wie wir 
dem Gegenftand unfrer Unterfuhung nun jchon ganz nahe gefommen. 
Nach griechiſchem Spradhgebraud) find Mythologie und Theogonie gleid)- 
bedeutende Ausdrücke. Herodotos fpricht ſogar von einer Theogonie der 
Perſer. Unfere Hauptquelle für griechiiche Mythologie ift das Gedicht 
des Hefiodos, welches Theogonie genannt if), 

Man kann den Monotheismus als Lehre, als Dogma auch jo 

Schelling, fämmtl. Werfe. 2. Abtb. 11. 7 


98 
ausdrücken: Nur der, welcher der Einzige ift, der feines Gleichen nicht hat, 
ift Gott. Dieft fett aber voraus, daß es andere gibt, die nicht Einzige find, 
fondern die ihres Gleichen haben, und dieß ift der Fall mit den Potenzen, 
die unter fich ihres Gleichen und deren feine in dem Sinn einzig ift, daß 
fie ihres Gleichen nicht hätte. Es ift, als ob man vem, welchen man 
Monotheismus lehrt, ſagte: Halte nicht die für Gott, deren Mehrere 
find und die ihres Gleichen haben, fondern den, den dur als den Einzigen 
erblidft, als der nicht auf gleicher Pinie mit den Mehreren fteht, ſon— 
dern als ihre Einheit über ihnen ift. Damit aber diefer Unterricht 
verftändlich ey, wird vorausgeſetzt, daß der jo Belehrte wirklich neben 
und anfer dem Einzigen Mehrere fehe, und auch diefe Mehrere müfjen 
von einer folhen Art ſeyn, daß man von ihnen nicht fhlechthin, ſon— 
dern nur fofern fie Mehrere (aufereinander, fid) ausſchließende find) 
fagt: fie find nicht Gott. Der Monotheismus (nicht mehr bloß als Begriff, 
fondern als Lehre) hätte alfo feinen Sinn, wenn nicht in der That Mehrere 
fich gegenfeitig ausfchließende und zwar ſolche ta wären, die nicht abſolut, 
fondern nur als Mehrere und in der gegenfeitigen Ausſchließung nicht 
Gott find, an denen ntan alfo zugleich anerfennt, daß fie im Der 
Einheit allerdings Gott ſeyn würden, die als äußere Elohim (mie 
fie jetst find) freilich nicht Gott find, aber als innere Elohim Gott ſeyn 
würden. Wie fünnten wir auch von dem wahren Gott fprechen, wie wir 
in dem als Lehre ausgefprocdhenen Monotheismus von ihm ſprechen — 
denn deſſen Sinn ift: derjenige ift der wahre Gott, der der Einzige ift' —, 
wie fönnte id) fo veden, wenn ich nicht außer dem wahren Gott Meh- 
vere vorausfette, die bloß materiell betrachtet nicht ſchlechthin nicht 
Gott, fondern die nur nicht der wahre Gott, die alfo allerdings fchein- 
bare Götter find ?? Die gewöhnliche Theologie hat außer Gott nichts 


' Gin Apoftel drüct den Monotheismus als Dogma mit den Worten aus: 
6 eos els &orı (Galater 30, 20), welches man fo überjegen fann : derjenige, der 
Gott ift, ift einzig oder ift Einer. 

2 Am Monotheismus als bloßen Begriff (nicht als Dogma) war diefe Mehr- 
heit eine bloß potentielle, und es war die Möglichkeit gegeben, diefe Mehrheit als 
eine mögliche Mehrheit von Göttern zu leugnen, und durch eine Art von 
Anticipation oder PVorausbehauptung (Prolepfis) zu jagen, daß dieſe Mehrere, 


99 
als die concereten, die erichaffenen Dinge; der Sab, daß nichts außer 
Gott Gott ift, hat alfo bei ihr nur den Sinn, daß die Dinge nicht 
Gott find: aber die bloßen Dinge können weder als falfche, noch als 
wahre - Götter betrachtet werden.  Yaljhe Götter Fünnen nur. diejenigen 
jeyn, die wenigftens einen Schein von Göttern haben. Aber die bloßen 
Dinge find nicht einmal fcheinbare Götter. Dagegen die Potenzen in 
ihrer Zertrennung können, wiewohl irrthümlich, dennoch können fie 
als Götter betrachtet werden, weil fie freilich nicht der wahre Gott, 
aber doch nicht in jenem Betracht Nicht-Gott find. Obgleich fie in die— 
jer Spannung und fomweit fie in derſelben begriffen find, in der That 
nicht mehr Gott find, fo hören fie darum doch nicht auf, eben das 
zu ſeyn, was in ſeiner Einheit Gott ift, und find nicht nur nicht 
Nichts, und aud) nicht etwa — Dinge, ſondern lautre Potenzen, 
reine und in ofern göttliche Mächte, die, obgleid, in der Zertrennung | 
nicht Gott, doch eben. darum, nur nit actu Gott find, alfo nicht ſchlecht— 
hin, nicht in jedem Sinn, nämlich aud der bloßen Kraft nad Nicht- 
Gott find; aber eben darauf, wie etwas nit der wahre Gott, 
und dod auch nicht ſchlechterdings Nicht-Gott, jondern in der That 
eine herrichende Macht ſeyn könne, kommt e8 bei der gegenwärtigen 
Unterfuhung an, inwiefern fie nichts anderes zum Zweck hat, als vie 
Erklärung des Heivdenthums oder des Polythersmus. Auch das A. T. 
widerspricht in fehr vielen Stellen nicht die Realität der Götter; fon- 
dern jagt nur, daß feiner von ihnen der wahre, der eigentliche Gott 
ift?. Der wahre, der eigentliche Gott, lehrt das A. T., ift immer nur 


wenn fie auch wirklich als jolche herwortreten, doch nicht mehrere Götter jeyn 
werden, welches fo viel ift als jagen, daß fie feine möglichen Götter find. War 
dieß ein woraus für unmöglich Erklären fünftiger wirklicher Götter, fo enthält 
Dagegen der Monotheismus als ausgejprochenes Dogma, daß außer Gott feine 
wirflihen Götter feyen. Beide Behauptungen aber feßen voraus, daß dieſe 
Mehrere allerdings jeheinbare Götter find. 

' Das Zertrennende, die Einheit Durchkreuzende (70 Hraßd22ov nv &vornta) 
ift = erite Potenz. 

23.8. 2. Sam. 7, 23. Mofes ruft aus: Wer ift unter den Göttern, wie 

du? (2. Mof. 15, 11). 


100 , 
der Einzige, d. h. der, welcher der einzige ift‘. — Als diefer Einzige, 
in feiner Einzigfeit erfcheint ev wenn die Potenzen in Spannung ge- 
fetst find. Denn die Potenzen find ihm — und doch nicht Er jelbft. 
Setst ex fie daher in Spannung, fo daß fie ihm nicht mehr —, fo erfcheint 
er nun als Er felbft und fteht, nachdem er gleichjam die Materie feines 
Seyns von fich ausgeftoßen hat, in jeiner abfoluten Bloßheit da, wo ihm 
das Wefen — (ftatt des) Seyns?. Der Monotheismus in diefem Sinne 
ift dem Spinozismus geradezu entgegengefeßt, wo Gott Die allgemeine 
Subftanz oder das Eine if. Solange nämlich Gott bloß abjolut 
gefetst ift, ift der Gott ſelbſt (Er felbit) gleichfam nod) zugevedt von 
jenem Seyn, das er als ein Verborgenes in fi hat. Dort ift er eben- 
fowohl zav: er muß fi) alfo davon befreien Fünnen, um in feiner 
wahren Einzigfeit zu erſcheinen. — Das urſprüngliche Seyn Gottes ift 
eben dieß, daß er die Einheit aller Potenzen ift. Umgekehrt aljo bie 
Potenzen in ihrer Einheit, Nicht- Differenz, find das Seyn Gottes. 
Indem er fie alfo in Spannung fest, gibt er dieß Seyn eigentlich) 
auf, und fo fteht er felbft nun da, nur als Er jelbft, im feiner über 
alles erhabenen Einſamkeit und Einzigfeit. Im Begriff der Einzigfeit 
liegt der Begriff der Abfonderung, der Ausſcheidung, und man 
fann jagen, eben dieß fey der Urbegriff Gottes, der von allem anderen 
Abgefonderte und, weit entfernt das allem Gleiche, vielmehr ver 
nichts Gleiche (Zrepog Twv Eike, wie die Pythagoreer fagen) 
und in diefem Sinn Einzige zu ſeyn?. Man hat oft gefagt, der höchfte 


ı Sei. 45, 18: 

als oösia vreoodcıog, Überfubftantielles Wefen, wie die alten Theologen 
ſich ausdrückten, ſo Bachymeres zu Dion. Areop. de div. Nom. c. 5: Kvpiosg 
ovdia dri Feov ovn av Atyoıro, &orı yap vreoorsıog. Bon Späteren vergl. 
J. Gerhard, Loc. Theoll. T. III, p. 251. $. 60. Johann von Damask jagt 
in diefem Sinne fogar, Gott ſey dvovoıog. Die Beftimmung der vrepovsıorng 
ift übrigens ſchon damit gefeßt, daß er ein Er, fein bloßes Es ift (denn mas 
ein Ex ift, fann freilich immer auch als ein Es betrachtet werben, aber nicht um- 
gekehrt). 

®* Gott jelbft ift nicht abfolute Indifferenz (= der, dem nichts ungleich jeyn 
fann), jondern abjolute Differenz (= der, dem nichts gleich), Daher das ſchlecht— 
hin Beftimmte (id quod absolute praeeisum est), durch feine Natur von 


101 


Begriff, unter dem Gott gedacht werden fünne, ſey der Heilige. Aber 
der Heilige iſt ſelbſt ſprachgemäß, mwenigftens im Hebräifchen, woher 
uns diefer Begriff doch eigentlich fomımt, der Begriff des von allem 
Ab gefonderten". 


allem Abgeichnittene, das abſolut Einfame, und mit einem Wort im höchften 
Sinn Einzige, ein Wort, das ganz faljch angewendet wäre, wenn Gott nur das 
allgemeine Wejen wäre. 

i Anmerfung de3 Herausgebers. Sn einem der vorhandenen älteren Manu- 
feripte, welche Arbeiten über die Theorie des Monotheismus enthalten, (dem ſchon erwähn— 
ten), findet fi über die Anmenpbarkeit des Begriffs des Numerifhen auf Gott 
Folgendes, zu deſſen Mittheilung Hier ver Ort zu ſeyn fcheint. Es heißt dort: 

Bon diefem Gott, der lautrer Actus ift, und fofern er nicht abjolut, fondern 
mit ausdrüdlicher Unterſcheidung won der Subftanz gedacht wird, von dem wirk— 
lichen Gott als ſolchem alfo läßt fih nun allerdings mit richtigen Sinn fagen, 
was von Gott jchlechthin, wie gezeigt, nicht ohne eine völlig leere Tautologie, 
ja fogar nicht ohne Widerfinn zu jagen war, namlich daß er nah außen einzig, 
oder daß fein anderer außer ihm fey. Denn bier ift das Subjekt des 
Satzes ein anderes als dort. Dort war das Subjeft Fein anderes als eben der 
nur ausſchließlich ſeyn Könnende, von welchem zu werfichern, daß fein anderer außer 
ihm ſey, rein überflüffig war. Hier aber ift das Subjekt vielmehr der (fubftantiell) 
nit Einzige, und jene abſolute, urftändfiche, umeigenfchaftliche Einzigkeit ift 
bier eben diefem nur aetu Einzigen, indem er jenes ausjchließlihe Seynkönnen 
gleichſam zur Unterlage feines al8-Gott-Seyns macht, bloß eigenjchaftlich geworden. 
Selbft numeriſch einzig kann der beſtimmte Gott, wohlzumerfen in ber 
Abstraktion von der Subftanz, genannt werden. Numeriſche Vielheit, deren Aus- 
ruft AHA+A... ift, beruht nämlich darauf, daß Mehrere find, die dem 
zu Grunde Liegenden (der Materie, dem Weſen = A) nad) eines, dem Actus 
der Eriftenz nach aber verfchieden find. Inwiefern nun der wirkliche Gott als 
Actus unterjcheidbar ift von dem zu Grunde Liegenden, ift er dadurch im All— 
gemeinen denjenigen Dingen gleich, die numeriſch viele feyn können (während 
die Anwendung diefes Begriffs auf Gott ſchlechthin abſolut unmöglich war, ‚weil 
in ihm noch weder von einem zu Grunde Liegenden, was nur im Verhältniß zu 
einem Actus gedacht werden kann, noch eben darum von einem Actus die Rebe 
ſeyn kann). Nach jener Unterjcheidung alſo fällt der wirkliche Gott als jolcher 
unter den Begriff des Numerifchen überhaupt. Allein im Bejondern ift er ben 
Dingen, die numerifch viele jeyn können, wieder dadurch ungleich, daß das letzteren 
zu Grunde Liegende ein unbeftimmbar fi) wiederholen Könnendes, während das 
ihm zu Grunde Liegende das feiner Natur nach nicht mehrmals ſeyn Könnende ift. 
Inſofern wird er alfo aus diefer Kaffe wieder herausgenommen, und er ift einzig 
in einem Sinne, in welchem nichts anderes einzig ift — jo daß er des eben an- 
“ geführten Grundes halber nur einzig jeyn kann. 

Nämlich: der wirkliche Gott als ſolcher ift allerdings (nad) — was hier 


102 


Läßt fich der Polytheismus ohne die Potenzen nicht erklären, und 
hat der Monotheismus als Lehre nur Sinn im Verhältniß zu diefen 


zunächſt immer hinzugedacht werden muß) actu einzig, weil ev eben felbft Actus 
ift. Gleihwohl, und obſchon der wirklich (actu) eriftivende, ift er doch nit 
bloß (oder je nachdem man es nimmt, überhaupt nicht) Dur den Actus 
jeiner Eriftenz einzig, denn er.ift fo einzig, daß das Gegentheil unmöglich 
ift. Diefe jcheinbar widerfprechenden Beſtimmungen — denn das numeriſch Einzig- 
ſeyn ſetzt jehlechterdings Actus voraus, das nur einzig in diefem Sinn ſeyn Kön— 
nen aber ift etwas Wejentliches, Subftantielles — diefe Beftimmungen Yaffen ſich 
nur in Folge unfrer Herleitung vereinigen. Nämlich der wirkliche Gott in ber 
Abftraktion (nicht in der bloßen Unterjcheidung) von der Subftanz betrachtet, ift 
feineswegs der wejentlih und in dieſem Sinn nothwendig Einzige (dev. nur 
einzig ſeyn Könnende). Denn es ift in ihm nichts Wefentliches, weil er lautrer 
Actus iſt. Diefer für fich ſelbſt, abstracte won dem betrachtet, was ihm zur 
Materie geworden, würde nicht der nothwendig einzige feyn,  jondern wenn eben 
diejes, was fich zu ihm als bloßes Weſen (Nichtactuelles) verhält, nicht Das nur 
einzig ſeyn Könnende wäre, fo wäre im Begriff des actuellen felbft nichts, das 
binderte, daß auch ein zweiter actueller wäre. Da aber dieſes das ausjchließlich 
jeyn Könnende oder das ausſchließlich Seyendein der bloßen Möglichkeit 
ift, dem es jeiner Natur nach unmöglich‘ ift mehrmals zu feyn, jo ift in- 
jofern ein zweiter Gott unmöglich. Der wirkliche Gott ift alſo numeriſch einzig 
fofern Actus, der nur numeriſch einzig ſeyn fünnende (infofern auch nicht 
numerifch einzig) zufolge des Weſens. Der wahre Sinn des die Einzigfeit 
nad) außen ausfprechenden Satzes ift: Der, welcher actu der einzige oder der 
einzige eriftirende ift, ift zugleich der einzige mögliche .exiftivende. Der 
Grund diefer Einzigfeit Tiegt nicht im Actus, er liegt in der Möglichkeit. Es fehlt 
nur an dev Möglichkeit, an der Vorausjegung und gleichfam, damit wir uns 
vecht deutlich machen, an der Materie zu einem zweiten Gott. Nicht der Gott, 
der es ift, jchließt andere von fich aus, denn der Begriff Ausfchließlichfeit findet 
anf Gott durchaus Feine Anwendung, fondern weil jene Möglichkeit Gottes ſelbſt 
ſchlechthin ausschließlicher Natur ift und nicht mehrmals eriftiren kann, darum ift 
der actuelle Gott nur Einer, 

Eben dieſe Anficht erklärt nun auch manches andere, z. B. warum die 
Theologen, wie man fi) bei 3. Gerhard überzeugen kann, fo zu fagen, in Einem 
Athem die numerifche Einzigfeit bald ſetzen, bald als eine ſolche wieder aufheben. 
Berner die Verſchiedenheit des Ausdruds, warum fie nämlich, obwohl Feiner. unter 
ihnen ift, der nicht dieſe Einzigfeit nach aufen als eine nothwendige - anerkennt, 
dann meift fich begnügen zu jagen, daß aufer "Gott fein anderer ſey. Denn 
von bem, der lautrer Aetus ift, kann man auch in dev That nur fagen, daß er 
einzig ſey, obwohl dieß nicht aufpebt, daß er in anderer Hinficht, nämlich der 
—— nach, nur einzig ſeyn könne. Ferner die rein negative Erklärung dieſer 
Einzigleit. Denn wenn man den Ausſpruch hört: Gott iſt einzig, ſo erwartet man 


Potenzen, fo läßt ſich leicht einfehen, warum Philofophen und Theole- 
gen nicht nur große Schwierigkeit gefunden haben, den Polytheismus 
zu erflären, fondern daß ſie auch den Monotheismus felbft (die erfte 
und wejentlichite aller Lehren) nicht einmal auf folche Weife ausſprechen 
fünnen, daß er einen wirklichen Sinn hat und nicht als eine bloße leere 
Tautologie erfcheint. Nach der gewöhnlichen Erklärung hätte der Mono— 
theismus nur die Bedeutung, daß außer dem alleinigen Gott nicht nod) 
einer ift, der auch der all=einige ift, was eine finnlofe Ausjage ift, 
Der Bolytheismus kann nicht darin beftehen, daß der wahre Gott, 
d. h. der wefentlich all-einige, mehrmals, jondern nur darin, daß dieſer 
überhaupt nicht, ſondern ftatt feiner nur die zertrennten Potenzen erfannt 
und für eine Mehrheit von Göttern genommen werben. Wenn ſodann 
die Jertrennung der Potenzen, wie wir annehmen müfjen, einen Proceß 
zur Folge Hat, ſo ift alfo auf jeder Stufe der Gott gleichſam im 
Werden, auf jeder Stufe demnad eine Geftalt dieſes werdenden 
Gottes — ein Gott, und da diefes Werden ein fortichreitendes ift, jo 
entjteht damit eine Folge, eine Succeffion von Göttern, und jo erft 
eigentlicher Bolytheismus — Bielgötterer, | 
Nur diefes alfo: daß ein und dafjelbe, nämlich Gott, Eins und 
niht Eins ſeyn kann, oder daß eben das, was im feiner über: 
jubftantiellen Einheit Gott iſt, als Subjtanz zertrennt werden kann 
(und nicht diefes leugnet der Monotheismus, jondern nur daß Die 
ſes Zertrennte Gott ſey), dieß allein macht Polytheismus möglich. 
Wenn daher Verſchiedene, die über die Mythologie philoſophirt haben, 
an dem Begriff des Monotheismus ein Mittel zu beſitzen glaubten, 
um die Unmöglichkeit eines eigentlichen Polytheismus darzuthun, 
und damit ihrer Hypotheſe, wonach die Götter des Heidenthums 
nur mißverſtandene Perſonificationen von Naturkräften ſeyn ſollten, un— 
ter die Arme zu greifen, ſo zeigt ſich dadurch eigentlich nur, daß das, 
was dieſe Erklärungen Monotheismus nennen, nicht wirklich Monotheis— 
mus iſt. Der Monotheismus kann nicht eine nothwendige Einzigkeit 


natürlich den poſitiven, in Gott ſelbſt, nämlich in dem, von dem die Einzigkeit 
ausgeſagt wird, liegenden Grund derſelben zu vernehmen. 


104 





in dem Sinn behaupten, daß Polytheismus eine abjolute Unmög- 
fichfeit wäre. Der Monotheismus kann vielmehr ſelbſt nur Dogma 
jeyn, inwiefern der Polytheismus etwas und zwar objektiv Mög— 
liches ift. Dogma bedeutet bekanntlich, wie das Iateinifche deeretum, 
das ja ebenfalls von Behauptungen, von Lehrjägen gebraucht wird, 
einen Entſchluß und dann erft eine Behauptung. Dogma tft etwas, 
das behauptet werden muß, das ſich alfo ohne einen Widerſpruch (einen 
Gegenſatz) nicht denken läßt. Der Olaube, daß ein einiger Gott fey, 
welcher nad dem Ausfprud) eines Apoftels die Teufel, d. h. die von 
der göttlichen Einheit völlig abgewendeten Naturen erzittern macht, muß 
ein ganz anderer und fräftigerer Glaube feyn, als der unferer moralifi- 
venden Theologen, welche, wie man im Sprüchwort fagt, Gott nur 
einen guten Mann jeyn laffen und ihn meit ab von der Welt und 
höchftens in einen bloß negativen Bezug zu der in der Welt gejetten 
Zertrennung der Potenzen denken. Wenn die Potenzen, deren überfub- 
ftantielle Einheit Gott ift, in der Welt das Aeußere und Offenbare find, 
Gott Dagegen das DBerborgene, und wenn das menfchliche Bewußtſeyn 
nit fernem erſten Schritt über die urſprüngliche Wefentlichfeit hinaus 
jenem Neid) der zertrennten Potenzen anheimfiel, fo war der Polytheis- 
mus ihm etwas Natürliches, und der Monotheismus hätte ihm im 
Gegentheil nur erjcheinen können als etwas bloß im Widerſpruch mit 
der Wirklichkeit zu Behauptendes. Wenn ung dieß anders feheint, wenn 
ung der Monotheismus das Einfachfte von der Welt zu ſeyn dünkt, fo 
fommt dieß nur daher, weil unfer Bewußtfeyn — auf eine Weife frei» 
lidy, die jet noch nicht erklärbar ift — aus der reellen Spannung ver 
Potenzen gejegt ift, in ver fi) die frühere Menfchheit befand; aber in 
Folge der Nichtung, melche- feitvem die freie Neflerion mehr und mehr 
genemmen hat, find wir damit .ebenfo fehr oder ebenfo wohl aud) 
aus der lebendigen Einheit gefett und fo in die völlige Nullität ge- 
vathen, welche fie heutzutag die rein geiftige oder auch die rein mora— 
liſche Religion nennen“. Oper liegt es nicht am Tage, daß zugleich und 


, Die lebendige Einheit ift die, welche zugleich Allheit iſt; durch die Allpeit 
wird bie Einheit eine erfüllte, lebendige, 


105 
in demſelben Verhältniß, in welchem die Natur immer mehr jeder Gött- 
(ichfeit entledigt, zum bloßen, todten Aggregat herabfanf, auch der leben— 
dige Monotheismus ſich immer mehr in einen leeren, unbeftimmten, 
inhaltslofen Theismus verflüchtigte? War es bloßer Zufall und nicht 
vielmehr ein ganz richtig fühlender Inſtinkt, wenn gegen die wieder- 
erwachende höhere Anficht der Natur ganz insbefondre und vor allen 
andern die Anhänger jenes bloß negativen, abfolut impotenten Theismus 
fich erhoben? Ein heutiger Kationalift dünkt ſich weit über dem blinden 
Heidenthum ftehend. Aber das worüber man ftehen fol muß man be- 
griffen haben, nicht es mit armfeligen oder abjurden Hhpothefen 
wegerflären. Das wahre Urtheil über die Bildung des großen Haufens 
der fogenannten Gebildeten möchte dahin ausfallen, daß diefe mit ihrer 
jogenannten Bildung ſich nur auf der entgegengejegten Seite der Un- 
wiſſenheit und der Blindheit befinden, von welcher das Heidenthum in 
feiner Blindheit die andere darſtellte. 

Erft auf dem jett erreichten Punkt der Entwicklung erfennen wir 
den Monotheisnus, wie ev im allgemeinen Bewußtſeyn und im Leben 
hervortritt. Allein er mußte jelbft im Leben immer mehr feine Bedeu— 
tung verlieren, da zu diefer Bedeutung jchlechterdings etwas erfordert 
wird, das außer Gott ift, und doch nicht fchlechthin nicht Gott ift. 
Kun fteht aber unſrer Theologie und Philoſophie ſchon feit geraumer 
Zeit zwifchen Gott und den concreten Dingen nichts in der Mitte, fie 
fennen nichts außer Gott als Die concreten Dinge. Von diefen nun 
aber, welche alle Abzeichen des Gewordenen und zwar des höchſt zu- 
fällig, ja nur durd) eine Keihe von Zufällen, fo wie fie find, Ge 
wordenen an ſich tragen, von diefen jagen, daß fie nicht Gott find, dieß 
ift doch wahrlich fein befonderer Behauptung werther Inhalt. Wer 
fonft nichts zu jagen wüßte, könnte ſich mit diefer Lehre höchſtens an 
die Negervölfer im Innern Afrifas oder an andere Fetiſch-Anbeter 
wenden. 

Wenn diefe Theorie vom Meonotheismus zuerjt die Entftehung 
des Heidenthums wahrhaft begreiflich macht, jo erklärt vielleicht auch 
die Unterſcheidung zwifchen dem Gott als folden, oder dem Gott in 


106 





ſich, dem unfichtbaren, und dem Gott außer fi), wie er in den zer 
trennten Potenzen noch immer ift (denn fie find, wie gefagt, nicht fchlecht- 
hin nicht Gott, fondern nur der außer ſich gefette Gott, nur der ver- 
fehrte, der umgekehrte Gott felbft); es erflärt vielleicht dieſe Unter- 
ſcheidung zugleich manches Räthjelhafte insbefondere des A, T., nament- 
lich manche Ausdrücke deffelben, die auf den eigentlichen Gott, den Jeho— 
vah, im feiner abjoluten Geiftigfeit unanwendbar find, von dem andern 
aber mit zu viel Eigentlichfeit gebraucht werden, als daß fie auf die 
gewöhnliche Art als bloß figürliche Redensart erklärt werden könnten. 
Nämlich) — figürlich find fie freilich, aber nur inwiefern Gott durch 
jene von ihm frei geſetzte Zertrennung der Potenzen, die gleichwohl in 
diefer Spannung immer eins bleiben, — nie abſolut getrennt werben, 
jo daß nie und feinen Augenblid die eine für fich feyu könnte —, im 
Gegentheil werben fie eben in der Zertrennung fortwährend als eins 
gefett, und eben dieß fett fie in die Nothwendigkeit des Proceſſes; denn 
fönnten fie ganz auseinander, jo wäre fein. Procef: — da fie alfo 
immer auf gewiffe Weife eins bleiben, ja nur das umgefehrte Eine 
find, jo find fie in der That nur der aus fid) ſelbſt herausgeſetzte, 
figürliche Gott, und auf dieſe Weiſe, ſo nämlich daß jene ſogenannten 
figürlichen Ausdrücke zwar nicht von Gott nach ſeinem Weſen, aber 
wohl ſofern er in den geſpannten Potenzen exiſtirt, gebraucht werden, 
— nur auf dieſe Weiſe kann man jene Ausdrücke figürlich nennen. 
Es ift ein großer Unterfchied, ob Die Potenzen für den Gott felbft, 
oder ob fie überall nicht für Gott, nämlich auch nicht für den figürlichen 
Gott erkannt werden — auch dieß ift eine Art von Atheismus, und 
eben darum zeigt fi) der bloß abftrafte Theismus fo ganz unfähig, 
nicht nur jene Ausdrücke!, fondern aud) ſo mandye andere Erſcheinungen 
zu begreifen, unter denen eben die des Heidenthums und der Mytho- 
logie die hervorragenpfte ift. | 


Bielleicht gehört hieher auch jene nicht feltene Ironie, wenn gegen die ge- 
wöhnliche Art das Hauptwort Gott im Singularis mit dem (ein Thun anzeigenden) 
Zeitwort in der Mehrzahl verbunden wird, wie Siob 35, 10: „Gott, meine Schöpfer“ 
d. bh. die (actu) Mehrere fcheinen und nur Einer find. 


107 

Und fo habe ih Ihnen denn nicht bloß den wahren Begriff des Mo— 
notheismus, ſowohl fofern er bloß Begriff als inwiefern er Ausfage ift, 
gezeigt, ſondern auch gezeigt, wie von diefem aus Polytheismus als etwas 
gewifjermaßen Natirliches — nicht außer aller Möglichkeit Liegendes — 
erfcheine. Nachdem ich nun die vom Monotheismus im Allgemeinen 
gezeigt, bleibt mir nod übrig, den Monotheismus im menschlichen Be- 
wußtſeyn und von diefem den Uebergang zur Mythologie (zum Poly- 
theismus) ebenfalls im menschlichen Bewußtſeyn zu zeigen. 


Sechste Vorlefung. 


Wir fragen aljo: Hat der Monotheismus ein urfprünglides 
Berhältnig zum menfhlihen Bewußtſeyn? Um aber diefe Frage 
zu beantworten, müfjen wir zuvor den Proceß erflären, durch welchen 
Bewußtſeyn überhaupt gefegt if. Wir fehren daher wieder auf den 
durch die göttliche universio gefeßten Proceß zurüd, won welchem 
wir bereits wiffen, daß er ein theogonifcher ift. Die ganze Lebendige 
Verfettung, in der wir bie Botenzen während der Spannung ſehen, mo 
fie fi) gegenfeitig ausichließen, ohne doch auseinander zu können, dieſe 
ganze lebendige Verkettung ift nur die Verwirklichungsweiſe des (auf 
andere Art) nicht jeyn könnenden abfoluten Geiftes, der in feiner letten 
Produktion, int Ziel diefes ganzen, feinen Zwed per contrarium er- 
reihenden Wirfens, der alfo, wenn die drei Potenzen ſich wieder deden, 
wenn das blind Seyende zum reinen Seynkönnenden zurückgebracht ift 
— dem als ſolchem gejetten Geift ift — dann, fage ich, ift jener 
Geift wirflid) al8 abjoluter, über allen Potenzen ſtehender Geiſt ver- 
wirklicht. | 

Wozu nun aber, kann man fragen, diefer Proceß, in welchem ſich 
der Gott als folcher verwirklicht?! Für ihn felbft bedarf es dieſer 


' Bor dem Proceß hat ſich Gott im Vorbegriff feines Seyns als den All-Einen. 
Es wurde diefes auch fein urfprüngliches Seyn genannt. Durch den Procef 
verwirklicht er fi als den All-Einen, d. h. er macht fih actu zu dem, was 
er zubor ſchon naturä iſt. Wäre er nicht naturä oder dem Begriff nach der 
AU -Eine, könnte er fich auch nicht actu dazu machen. 


109 





Berwirflihung nicht. Auch ohne diejelbe weiß er ſich als den unüberwind— 
lichen Al-Einen. Für ihn wäre alfo diefe Bewegung, diefer Proceß ohne 
Reſultat. Was kann ihn alfo zu dem freien Entſchluß bewegen, in 
diefem Proceß hervorzutreten? Der Grund zu diefem Entſchluß Tann 
nicht ein Zweck jeyn, den er in Bezug auf ſich erreichen wollte. Es 
muß etwas außer ihm (praeter ipsum) ſeyn, was er durch diefen Proceß 
erreichen will, das noch nicht ift, aber durch diefen Proceß entftehen 
fol. Diefes nody nit Seyende, aber durd jenen Proce Mögliche 
fönnte nun, wie Sie leicht einfehen, nur das Geſchöpf ſeyn, das Gott 
als ein Fünftiges, mögliches erjähe. Hieraus folgt alfo, daß jenem 
Proceß, den mir bereits als theogonijchen bezeichnet haben, entweder 
fein Zweck zu denken, oder daß er zugleich der Proceß der Schöpfung 
ſeyn muß. Dieß iſt aber vorerſt ein bloß dialektiſcher Schluß. Es iſt 
noch nicht durch die That nachgewieſen und gezeigt. Es muß alſo dar— 
gelegt werden, daß der von uns als theogoniſch erkannte Proceß zu— 
gleich der Proceß der Schöpfung (der indeß von Schöpfungsthat zu un— 
terſcheiden, nur die Folge von dieſer iſt), es muß gezeigt werden, daß 
die Principien oder Potenzen, die wir als Potenzen eines theogoniſchen 
Proceſſes kennen gelernt haben, daß eben dieſe zugleich als Urſachen 
eines möglichen Entſtehens zuvor nicht vorhandener Dinge ſich 
verhalten. Bemerken Sie hiebei: bis jetzt war noch nichts Concretes. 
Bis hieher war in unſrer Entwicklung noch alles rein geiſtig. Selbſt 
jenes conträre Princip, das als Stoff, als modificables Subjekt dem 
ganzen Proceß zu Grunde liegt, iſt für ſich noch nichts Concretes, es 
iſt — einem wirkend gewordenen Wollen, bis jetzt, d. h. ehe es von 
der entgegengeſetzten Potenz afficirt iſt, in feiner Schrankenloſigkeit viel- 
mehr das allem Concreten Entgegengefegte. Hier gehen wir alſo erft 
zum Gonereten fort, Denn diejes entjteht erft aus der Zufammenmwirkung 


' Bon der Schöpfungst hat kann erſt in der Darftellung der pofitiven Philoſophie 
die Rede feyn, nicht hier, wo die Abficht nur die war, auf analytifhem Wege 
den Monotheismus zu begreifen und mit diefem den Schlüffel zum Verſtändniß 
des Polytheismus (dev theogoniſchen Bewegung) zu finden. Die Schöpfungstheorie 
wird nur entwidelt, ſoweit e8 für dieſen Zweck nöthig if. D. ©. 


110 


der Potenzen. Um dieſes zu zeigen, und alſo zugleich zu zeigen, 
wie aus diefer Zufammenwirfung zuvor nicht Vorhandenes hervorgehe, 
miüffen wir ung nody einmal den durch die Spannung und die gegen- 
feitige Ausſchließung der Potenzen gefegten Proceß im Allgemeinen ver- 
gegenwärtigen. Sch wiederhole gern. Denn mit diefen Potenzen haben 
wir im ganzen folgenden Verlauf zu thun. Es ift wichtig, fie oft zu 
betrachten «und mit ihnen vertraut zu werden, um fie Fünftig im jeder 
Geftalt wieder zur erfennen. 

Werl die Potenzen ſich gegenfeitig ausjchliegen und doch nicht 
abſolut auseinander Fünnen, fondern genöthigt find, in einem und dem— 
jelben zu beftehen, gleichſam in einem und vemjelben Punkte zu ſeyn, 
ift zwifchen den ſich ausjchliefenden und doch nicht: abjolut auseinander 
fönnenden nothwendig ein Proceß geſetzt. Jenes durch unmittelbaren 
göttlichen Willen entftehende Seyn wirft ausfchliefend auf das vein 
Seyende. Diejes alfo ift num negirt und tritt in fich felbft zurück. Es 
wird eben durch die Ausichliegung genöthigt, ein für fi) Seyendes zu 
jeyn; alfo e8 wird durch diefe Ausſchließung hypoſtaſirt, ſubſtantialiſirt. 
Durd) das gleichfam unverjehens entftandene, völlig nee Seyn, durch 
B, wird e8 felbft ex actu puro gefest, potentialifirt (alfe diefe Aus— 
drüde jagen nur daſſelbe); die Negation, over daß es als nicht ſeyend 
geſetzt wird, gibt ihm in fich felbft zu feyn, zuvor war e8 außer fd, 
ohne Rückkehr auf fich ſelbſt; die Negation macht es zum ſeyn (fi) in 
das Seyn herftellen) Müffenden, das nicht frei ift zu wirken oder nicht 
zu wirfen, es fann feiner Natur nad) nichts anders feyn, als ver Wille, 
jenes Princip, das eigentlich nicht feyn follte, wieder in feine urfprüng- 
liche Potenz zurüdzubringen (mie ein Wille zurüdgedracht werben fann). 
Aber diefes, feiner Natur nad) bloß vermittelnde Princip negirt Das 
erfte, nicht jeyn follende, nicht um das Seyn, das diefe Potenz aufgibt, 
für ſich jelbft zu nehmen, fondern, wie gefagt, um das überwundene, 
zum ſich jelbft aufgeben gebrachte, um dieſes felbft zum Setenden jenes 
Höchſten zu machen, des Seynfollenden, defjen, dem allein gebührt zu 
jeyn, weldes der als foldher feyende Geift ift. Diefes Seynſollende ift 
das erſt tertio loco jeyn Könnende. Denn das feyn Sollende ift wirklich 


111 





nur durch Heberwindung des nicht ſeyn Sollenden = B; jein Wirk 
lichwerden fest daher voraus 1) das nicht ſeyn Sollende = B dieſes 
muß zuerſt wirklich ſeyn), 2) ſetzt es voraus das das nicht ſeyn Sol— 
(ende Negirende oder Ueberwindende = A? Es ſelbſt iſt alſo erſt das 
Seynkönnende der dritten Ordnung, AP, Es ſelbſt kann nicht (unmit- 
telbar) das nicht ſeyn Sollende überwinden, denn ſonſt wäre es das 
ſeyn Müſſende, und käme im Seyn an als das Wirkende, nicht als 
das, dem es freiſteht zu wirken oder nicht zu wirken, das mit ſeinem 
Seyn thun und anfangen kann, was es will“. Der Proceß alſo iſt 
dieſer. Erſt wird durch bloßes göttliches Wollen das nicht ſeyn Sol— 
[ende = B geſetzt (nicht als Böſes zu denken; denn nichts was durch 
göttlichen Willen ift, und fofern es durch diefen ift, kann böfe ſeyn, e8 
ift nur nicht das, was feyn foll, nicht was Zweck ift, d. h. es iſt 
Mittel. Kein Mittel ift das, mas eigentlic) feyn ſoll; denn fonft wäre 
es Zweck, nicht Mittel. Darum ift aber das Mittel an fich nicht böfe). 
Das zuerft im Seyn Hervorgetretene = B wirft unmittelbar aus- 
Ichliegend auf das rein Seyende und fett es ald das Seynmüſſende, 
mittelbar aber aud) auf das Dritte; denn wo das nicht ſeyn Sollende 
iſt, kann das jeyn Sollende nicht jeyn. Wenn aber jenes PBrincip, 
das im Seyn hervortretend alles andere vom Seyn ausjchliegt, wieder 
in ſich zurüdgebracht ift, jo läßt es ven Kaum, den es zuvor einnahm, 
jo zu jagen, unerfüllt, e8 kann daher nicht felbft in das nicht Seyn 
zurücktreten, ohne an ſeiner ſtatt, an der von ihm jetzt leer gelaſſenen 
Stelle ein anderes zu ſetzen, — nicht das, von dem es überwunden 
worden, und welches eben nur Iſt, um es zu überwinden, und das 
gar nichts anderes verlangt, als in fein urfprüngliches potenzlofes, 


' Mit andern Worten: Als das jeyn Sollende, infofern niht Seyende, muß 
es negirt, vom Seyn abgehalten jeyn; damit es. aber jey, muß dieſe Negation 
überwunden werden, aber nicht durch es jelbft ; denn jonft käme es in der Wirklichkeit 
nicht an als das reine Freiheit ift, zu thun und nicht zu thun. Die Negation muß 
alfo, überwunden werden durch ein Mittleres, Bermittelndes, jo daß alfo das 
ſeyn Sollende beides vorausjeßt, jowohl das, durch welches es ausgejchloffen 
it vom Seyn, als das, wodurch dieſes es Ausjchließende zum Nichtfeyn, zur 
Eripiration gebracht wird. 


112 

gelaffenes Seyn zurückzutreten (gelafjeneg — in dem fein Wille ift; dev 
Wille iſt erſt durch Negation in es geſetzt; es hat nichts zu wollen, 
denn es ift ja das rein Seyende, es muß nicht-feyend werden um zu 
wollen): B alfo, wenn zur Erjpivation gebracht, laßt den Raum, den 
es jelbft einnahm, daß ich fo fage, leer und kann daher nicht in das 
nicht Seyn zurüdtreten, ohne an jener ftatt ein anderes zu jegen, 
nicht das, von dem es überwunden worden, ſondern ein Drittes, näm— 
lich eben jenes feyn Sollende, -von dem wir auch zum voraus ſchon 
eingefehen, daß es nur an der dritten Stelle jeyn kann. 

In den. Votenzen find alfo ebenfo viele Urſachen (airdaı) 
überhaupt gegeben, und zwar reine (veingeiftige) Urſachen, insbeſondere 
aber jene drei Urfachen, welche ftetS zufammenwirfen müſſen, damit 
irgend etwas entftehe oder zu Stande fomme, und die vor Ariftoteles 
ſchon die Pothagoreer erkannten. Nämlich) 1. die causa materialis (jo 
wird diejenige genannt, aus welder etwas entfteht). Die causa ma- 
terialis ift das nicht jeyn Sollende = B; denn diefes ift, was in dem 
Proceß verändert, modificirt, ja ſucceſſiv in nicht Seyn, in bloßes 
Können umgewandelt wird. 2. Die causa efliciens, durch melde 
alles wird. Diefe ift in dem gegenwärtigen Proceß A?; denn dieſe iſt 
das Berwandelnde, Umändernde der erſten Potenz, des B. 3. Die 
causa finalis, zu welcher oder in melde als Ende oder. Zweck alles 
wird. Dieje ift das A®. Damit etwas zu Stande fomme, ift immer 
eine causa finalis nothwendig. Denn zu Stande fommen heißt zum 
Stehen fommen, wie e8 im A. T. von Gott heißt: Er ſpricht und es 
ſteht (micht wie gewöhnlich überfegt wird: es fteht da), d. h. es bleibt 
jtehen, es entwidelt ficy nicht weiter; denn nur dadurch ift e8 dieſes, 
dieſes Beſtimmte, nichts anderes. — Eine andere Art, diefe drei Urfachen 
auszudrüden, iſt diefe, welche ebenfalls ſchon bei den Alten fic findet: 
Das erſte Princip, B, ift die airdaz mooxuraoxrıx) , die voranfan- 
gende Urſache, welche den erften Anlaß und Anfang zum ganzen Proceß 
gibt, die zweite ift die aiz/a Önwovoyırn, die eigentlich ſchöpferiſche 
Urſache, die dritte ift die Teisıwrırn), die alles zur Bollendung 
bringende, die gleichjam jedem Entftehenden das Siegel aufdrückende. 


113 

Diefe drei Urfachen aber werden zu gemeinjchaftlicher . Wirkung 
und zulett einträchtiger Hervorbringung nur durch den beftimmt, wel- 
cher die causa causarum, die Urſache der Urfachen, ift, wie ſchon die 
Pythagoreer Gott genannt haben. Der Wille, in welchen vie drei 
Urfachen zur Hervorbringung eines bejtimmten Gewordenen ſich ver- 
ftehen, fann immer nur der göttliche, der Wille der Gottheit ſelbſt ſeyn. 
Inſofern ift jedes Gewordene das Werk eines göttlichen Willens. Es 
ift eine ganz gewöhnliche Redensart: in jedem Ding offenbare fich die 
Gottheit, nur in dem einen unvollfommener, verdedter, in dem andern 
vollfommener, offenbarer. Was die drei Potenzen thun, thut die Gott— 
heit, und umgefehrt. Die natürliche Erflärung der Dinge (die Erflä- 
rung aus den drei Urfachen) ſchließt daher die religiöfe nicht aus, und 
umgefehrt. 

Diefe Urfachen find die Principien oder aoya/, deren Unter- 
juhung und Erforſchung von den älteften Zeiten an als Hauptauf- 
gabe ver Philofophie betrachtet worden. Philoſophie ift nichts anderes 
als Emuorjun Tov E0xov, Wiſſenſchaft der reinen Prineipien. Sie 
fünnen auf verjchiedene Weiſe abgeleitet und benannt werden, aber ihr 
Berhältnig und das Wefen einer jeden 20%7, wird ſich unter jedwedem 
Ausdruck als dafjelbe darſtellen. Annähernd an die platonifche Darftellung 
verhält ſich das erſte Princip als das aus feiner Potenz und dadurch 
aus jeiner Schranfe gejette, ald das unbegrenzte, To dreıoon, 
das eimer Grenze bedürftige. Die zweite Zox7 verhält ſich als die 
bejtimmende, als die ratio determinans der ganzen Natur, als die 
Grenze jegende. (Wo etwas ift, das + oder —, feyend und nidjt- 
jeyend ſeyn kann, da muß eitte determinirende Urfache jeyn). Die dritte 
20x% iſt die ſich felbft beftimmende Urfache, die Urfache, die ſich 
jelbft Stoff oder Gegenftand und Urfache ver Beftimmung und Be— 
grenzung ift: Subjeft und Objekt = Geift. Die Folge ftellt ſich alfo 
bier jo dar: 1. das Unbegrenzte, Unbejtimmte, 2. das DBegrenzende, 
Beitimmende, 3. die fich ſelbſt begreifende, ſich ſelbſt beftimmende Sub- 
ftanz, als welche fi) nur der Geift varftellt. 

Wir haben diefe Urfachen oder Principien Potenzen genannt, 

Schelling, ſämmtl. Werke. 2 Abth. IL. 8 


weil fie ſich als ſolche wirklich verhalten — im göttlichen Vorbegriff 
als die Möglichfeiten des noch Fünftigen, von Gott verfchiedenen Seyns 
— im wirflihen Proceß (nachdem fie jelbft in Wirkung geſetzt wor— 
den) als Votenzen des göttlichen, gottgleihen Seyns, das durch fie 
hervorgebracht werden foll!. Man hat den Ausdruck Potenzen, befon- 
ders den einer erften, zweiten, britten Potenz, tadeln wollen als einen 
aus der Mathematif in die Philofophte herübergenommenen. Allein 
diefer Tadel beruht auf bloßer Unwifjenheit und Unkenntniß der Sache. 
Potenz (Öövezwe) ift ein mindeftens ebenſo urſprünglicher Aus— 
drud der Philofophie als der Mathematik. — Potenz bedeutet Das 
jeyn Könnende, TO Evöeyöuevov elvaı, wie es Ariftoteles nennt. 
Nun haben wir gejehen, daß das Seynfönnende, unter dem wir ſpe— 
ciell das unmittelbar feyn Könnende verftehen, das Seynmüſſende 
und das Seynſollende, — daß dieſe insgefammt Seynfönnende, dem— 
nach PBotenzen find, nur Seynkönnende verfchiedener Ordnung, indem 
das fpeciell jo genannte — das unmittelbar feyn Könnende, das 
Seynmüſſende nur mittelbar feyn Könnendes ift, das ſeyn Sollende aber 
das doppelt vermittelte, alfo das Seynfünnende der dritten Ordnung. 
Etwas anderes wird nicht gemeint, wenn wir von einem A der erften, 
einem A ver zweiten und einem A der dritten Potenz ſprechen — 
nicht8 anderes wird gemeint, als daß das Seynkönnende hier wirklich 
in einer Steigerung und auf verfchiedenen Stufen erfcheint. Was aber 
dieje Lehre allerdings manchen unverftändlich oder unannehmlich macht, 
ift Folgendes. Die Meiften begreifen nur das Concrete oder das 
Palpable, was ihnen als. einzelner Körper, als einzelne Pflanze u. f. w. 

' Bor dem Proceß ift in ihnen nichts von Potenz und fie können daher auch 
nicht eigentlich Potenz genannt werden. Ihre Potenz, d. h. ihre Möglichkeit, auch das 
Gegentheil won dem zu feyn, was fie im göttlichen Borbegriff find, ift ganz aufger _ 
hoben durch den Actus des urfprünglichen göttlichen Lebens; fie find ganz hinge- 
riſſen gleichfam und verfchlungen in das göttliche Leben und feine etwas für fich. 
Aber um fie zu denfen als die in dem göttlichen Leben aufgegangenen, müffen 
wir fie nothwendig auch denken als die unabhängig vom göttlichen Leben etwas 
jeyn könnten. Wir negiven ihr für-fih-Seyn, aber um e8 zu negiven, denken 
wir e8 unwillkürlich, und infofern können wir fie dann als Potenzen bezeichnen. 
(Aus einem anderen Manufeript hinzugefiigt.) 


115 

vor die Sinne tritt. Ein Palpables nun find jene reinen Urfachen nicht, 
jondern fie find nur mit dem reinen Berftanve zu fafjen und zu ergreifen. 
Außer dem Sinnenfälligen, Palpablen finden mande in fi nichts 
weiter als einen Borrath abjtrafter Begriffe, denen durchaus feine Ext: 
jtenz außer ung zufommt, Begriffe wie: Dafeyn, Werden, Quantität, 
Dualitat, Subftantialität, Caufalität u. |. w., ja eine neuere Philofo- 
phie hat fogar geglaubt, auf ein Syſtem diefer abjtraften Begriffe — 
wobei fie übrigens felbft auch ein fucceſſives Auffteigen von Begriff zu 
Begriff, eine fuccefjive Steigerung, ein Fortſchreiten vom inhaltsleerften 
Begriff zum erfüllteften als Methode annahm — die ganze Bhilofophie 
begründen zu fünnen. Dieſes Kunftftüd einer übel angewendeten und 
daher auch nicht verftandenen Methode jcheiterte aber und erlitt einen 
Ihmählihen Schiffbruch, ſowie diefe Philofophie zur wirklichen Eriftenz, 
zunächſt zur Natur, fortzugehen hatte, 

Die Potenzen, von denen wir reden, ſind weder etwas Palpables, 
noch ſind ſie bloße Abſtraktionen (abſtrakte Begriffe); ſie ſind reale, 
wirkende, inſofern wirkliche Mächte, ſie ſtehen zwiſchen dem Concreten 
und den bloß abſtrakten Begriffen inſofern in der Mitte, als ſie nicht 
weniger wie dieſe, nur in einem höheren Sinn, wahre Universalia 
find, die Doc zugleich Wirklichfeiten find, nicht wie abftrafte Begriffe 
Unmirflichfeiten. Aber eben diefe Negion der wahren, d. h. reellen 
Univerfalten ift ſehr vielen unzugänglich. Kraſſe Empirifer jprechen, 
als ob in der Natur nichts wie Concretes und Palpables wäre, fie 
jehen nicht, daß z. B. Schwere, Licht, Schall, Wärme, Eleftricität, 
Magnetismus, daß dieß feine palpablen Dinge, fondern wahre Uni- 
versalia find, noch weniger bemerken fie, daß eben dieſe allgemei- 
nen Potenzen der Natur das allein der Wiſſenſchaft Werthe, Intelli— 
genz und mifjenfchaftlihe Forſchung Beichäftigende find. Zu dieſen 
Univerfalien in der Natur (Schwere, Licht) verhalten fi) unfere nur 
noch mit dem Verſtande zu fafjenden, und in diefem Sinn rein intelligibeln 
Potenzen als die Universalissima, und es wird fi wohl aud in 
diefer Entwicklung Gelegenheit finden zu zeigen oder wenigftens anzu- 
deuten, daß jene Universalia nur von dieſen Universalissimis abgeleitet 


116 


find. Sch bemerfe übrigens hier gelcgenheitlich noch, daß jene doyezi, 
Potenzen oder Principien ebenſowohl einer ſtreng und rein rationalen 
Ableitung fähig ſind!, wie ſie hier, der beſonderen Natur des Gegen— 
ſtands gemäß, von einem Standpunkt abgeleitet wurden, auf welchem 
Gott bereits vorausgeſetzt iſt. 

Nach dieſen Erklärungen nun, welche ſich auf die wirkenden Urſachen, 
Mächte oder Potenzen des Proceſſes beziehen, den wir 1) als einen theogo— 
niſchen bezeichnet haben, weil in ihm das aufgehobene göttliche Seyn wie— 
derhergeſtellt, erzeugt wird, 2) als Proceß der Schöpfung, indem gezeigt 
wurde, wie aus der Zuſammenwirkung der unauflöslich verketteten Poten- 
zen nothwendig concretes Seyn entfteht, Das zuvor nicht war, gehen wir 
jet zu weiterer Betrachtung des Procefjes jelbft fort. Wenn diefer Proceß 
— Proceß der Schöpfung ift, jo wird er nicht bloß concretes Seyn über- 
haupt, jondern das concrete Seyn im der ganzen Mannichfaltigfeit feiner 
Abftufungen und DVerzweigungen hervorbringen müffen. Zu diefem Ende 
ift nun aber jchlechterdings vorauszufegen oder anzunehmen, daß jener 
Proceß bloß ftufenweife gefchehe, d. 5. Daß das Prineip, das im 
Proceß Gegenftand der Ueberwindung ift, nur ſucceſſiv überwunden 
werde, was freilich nur denkbar ift als Folge des ausdrücklichen gött— 
lichen Willens, daß eine Mannichfaltigfeit von Gott verfchiedener 
Dinge hervorgebracht werde, 

Würde jenes Princip, welches das Umoxedusvov, das Subjekt, 
die Unterlage oder der Gegenftand des ganzen Procefjes ift, wire 
diefes im einer unabſetzlichen Wirkung oder That, gleichſam im Nu 
überwunden, ſo würde die Einheit unmittelbar wiederhergeſtellt ohne 
alle Mittelglieder; nach der göttlichen Abſicht aber ſollen Mittelglieder 
ſeyn, damit alle Momente des Proceſſes nicht bloß als unterſcheidbare, 
ſondern als wirklich unterſchiedene in das letzte Bewußtſeyn ein— 
gehen, um das es eigentlich zu thun iſt. Wird nun aber einmal 
eine ſucceſſive Ueberwindung angenommen, ſo wird nicht ſogleich jene 
höchſte Einheit erreicht werden, Die das Ziel des Procefjes iſt; indeſſen 
wird Doch in jedem Moment jener Wille, welcher Gegenftand der Ueber- 

' die in der rein rationalen Philofophie gegeben if. D. 9. 


117 





windung it, von dem wir jagen können, daß er nur Sic will, auf 
eine gewiſſe Weife überwunden ſeyn, der andere Wille aber, der ihn 
überwindet, und der nur in dem übermundenen oder negirten erften 
Willen fich ſelbſt verwirklicht, diefer alfo wird ebenfalls in jedem Mo— 
ment in gewiſſem Maß verwirklicht ſeyn, und alfo wird aud) immer 
und nothwendig auf gewiſſe Weiſe das Dritte, das eigentlich feyn Sol- 
(ende geſetzt ſeyn. Auf diefe Weife erzeugen ſich alfo beftimmte Formen 
oder Bildungen, die alle mehr oder weniger Abbildungen jener höchften 
Einheit find, die das Urbild alles Concreten, das immateriell Concrete 
ift, wie die Dinge das materiell Concrete, — es erzeugen fi), ſage ich, 
Formen oder Bildungen, die alle mehr oder weniger Abbildungen jener 
höchſten Einheit find, Bildungen, die darum, weil fie alle Potenzen in 
jich darftellen, auch in fich ſelbſt vollendet, abgeſchloſſen, d. h. eigentliche 
Dinge feyn werden. Diefe Dinge, von denen nun nicht einzufehen 
wäre, wo wir fie ſonſt zur juchen hätten als eben in den wirklichen 
Dingen der reellen Natur, diefe Dinge find alle Erzeugnifje des aus 
ver bloßen Potenz hervorgetretenen, aber in fie mehr oder weniger zu— 
rüdgebrachten Seyns, doc eben darum nicht diefes allein, jondern 
ebenfowohl der e8 in die Potenz zurüdbringenden Urfache, und weil das 
überwundene nur ſich aufgeben kann, um das höchſte, Das eigentlic) 
jeyn Sollende zu ſetzen, das ihm gleichjam als Mufter, als die Idee 
dient, nad) der es fich richtet, Die e8 in fich auszudrüden ſucht, fo find 
die entjtehenden Dinge ebenfofehr auch Werke der höchſten, alles voll- 
endenden und bejchliegenden Potenz. Alfo jedes Ding ift das gemein- 
ſchaftliche Werf der drei Potenzen, darum heißt e8 ein concretes, gleich— 
jam aus mehreren zufammengewachfenes. Weil aber in jedem, jo ent- 
rernt e8 auch nody won der höchſten Einheit ſeyn mag, auf gewiſſe 
Weiſe die Einheit jchon geſetzt ift, und weil der Wille, in welchem die 
drei Potenzen zur Hervorbringung eines beftimmten Dings einig oder 
einträchtig werden, immer nur der Wille der Gottheit felbft jeyn 
fann, fo geht durch jedes Ding wenigſtens ein Schein der Gottheit, 
oder, um einen leibnizifchen Ausdruck zu gebrauchen, jedes Ding ift 
wenigitens eine coruscatio divinitatis. Sie begreifen, daß alle dieſe 


118 


Beftimmungen, jo wichtig fie in anderer Beziehung find, doc hier nur 
berührt werden können. 

Es ift alfo hiemit gezeigt, auf welche Weife der von uns als theo- 
goniſch bezeichnete Proceß zugleich der Proceß der Schöpfung jey. Es 
ergibt fi) hierans, daß der wahre Monotheismus die (freie) Schöpfung 
mit fich bringt, und umgefehrt Schöpfung num denkbar und begreiflic) 
ift mit Monotheismus. 

Shen damit ift ferner gezeigt (und dieß ift ein neuer Punft), daß 
diefer Proceß auch der menjchliches Bewußtſeyn fegende ift. Denn 
das menfchliche Bewußtfeyn ift das Ziel und Ende des ganzen Natur- 
procefjes. Im menſchlichen Bewußtſeyn alſo wird jener Punkt evreicht 
ſeyn, wo die Potenzen wieder in ihrer Einheit, d. h. wo das Gott 
Aufhebende des Proceſſes (dafür iſt früher ſchon B erklärt worden), wo 
alfo dieſes Gott Aufhebende wieder in das Gott Segende umgemwen- 
det ift. 

Alle anderen Dinge find nur verfehobene Bilder der Einheit; zwar 
jedes ift eine gewifje Einheit der Potenzen, aber nicht die Einheit jelbit, 
nur ein Idol, ein Scheinbild derſelben. In allen andern Dingen tft 
nur ein Schein der Gottheit, in dem Menjchen, als Ende des Ganzen, 
tritt die verwirklichte Gottheit felbft ein. Der urſprüngliche Menſch iſt 
aber wefentlih nur Bewußtjeyn; denn er ift weſentlich nur das in 
fich ſelbſt zurückgebrachte, zu ſich felbft wiedergefommene B; das zu ſich 
ſelbſt Gefommene ift aber eben das ſich ſelbſt Bewußte. 

Die Subftanz des menſchlichen Bewußtſeyns ift daher eben jenes 
B, das in der ganzen übrigen Natur mehr oder weniger außer fid, 
im Menfchen in fich ift; aber eben dieſes B hat fi ung in feiner 
Potentialität oder Centralität, e8 hat fi) im Vorbegriff als ver 
Grund der ganzen Gottheit, als das Gott ſetzende gezeigt; in feiner 
Ereentricität, wo es einem nothwendigen Proceß unterworfen tft, zeigt 
es fi) al das Gott nur mittelbar, nämlid eben durch einen 
Proceß wieder ſetzende, d. h. e8 zeigt ſich als das Gott erzeugende, 
theogoniſche. Als ſolches, als theogonifches Princip, geht es durch 
die ganze Natır. Im menſchlichen Bewußtſeyn, wo es zu ber 


urjprünglichen Stellung wieder gebracht, im ſich jelbjt zurücgewendet 
und wieder = A geworben ift, verhält es fi) wieder als das Gott 
jeßende. Doch ift e8 dieß nur, fofern es in dieſer feiner reinen In— 
nerlichkeit beharrt, nicht wieder Heraustritt und zu einem neuen Seyn 
jich erhebt. Alſo ift die reine Subjtanz des menjchlichen Bewußtſeyns 
(das ihm zu. Grunde Liegende), und zwar im feiner reinen Subftanz, 
d. h. vor allem Actus, an ſich ift es das natürlich (von Natur, 
jeinem erften Herfommen nad) Gott fegende; und daher freilich 
nicht von einem urjprünglichen Atheismus laſſen wir das menfchliche 
Bewußtjeyn ausgehen, aber ebenfowenig von einem Monotheismus, dem 
entweder ſelbſt erfundenen oder durch Offenbarung ihm mitgetheilten. 
Denn vor aller Erfindung und Wiſſenſchaft, und ebenſo vor aller 
Offenbarung, ja eh’ eine ſolche möglich) ift, mit Einem Wort, ſchon 
durch jeine Natur, durch die Subftanz jeines Bewußtſeyns ſelbſt iſt es 
das — nit actu, nicht mit Wiffen und Wollen, für ‚welches alles 
bier fein Raum it, jondern vielmehr das im Nicht- Actus, im Nicht 
Wollen, Nicht- Wiffen Gott ſetzende Princip. 

Hier jehen wir uns demnach zurüdgeführt auf jene Subftauz des 
Bewußtſeyns, Die ſich uns früher ald der wahre Anfangs- und Aus- 
gangspunkt jeder die Mythologie erklärenden Entwicklung dargeſtellt 
hatte. Das erſte wirkliche Bewußtſeyn zeigte ſich als ein ſchon mytho— 
logiſch afficirtes; jenſeits des erſten wirklichen Bewußtſeyns ließ ſich 
aber nichts mehr denken, als die reine Subſtanz des Bewußtſeyns; an 
dieſer alſo mußte dem Menſchen der Gott haften!. Die Subſtanz 
des menſchlichen Bewußtſeyns aber iſt eben jenes Prius, jenes Prin— 
cip der Schöpfung, das als widerſtrebend der Einheit und in dieſer 
feiner Anderheit = B ift; aber im ſich ſelbſt zurückgewendet und wieder 
— A geworden, ift es eben menſchliches Bewußtſeyn und zugleic) 
nun das Gott Seßende. 

Denfen Sie fih die Sache nun jo: als B ift diefes Princip, 
wie früher bemerft, das außer Sich feyende, außer fich ſelbſt ge- 
ſetzte. In fich ſelbſt zurüdgebradht und wieder — A geſetzt, it es 

'i. die Einleitung in die Philofophie der Mythologie ©. 185 ff. 


120 
alfo das zu fich jelbft wie dergebrachte, das zu fid) gekommene, 
alfo Bewußtſeyn. Aber eben diefes ift das ing Gott Setende wieder 
umgewendete, und aljo das in dieſem feinem Inneftehen nothwen dig 
Gott jegende. Alfo ift auch das menjchliche Bewußtſeyn an und vor ſich, 
vor dem Wiederanfang einer neuen Bewegung, in feinem Inneftehen 
ift e8 das — nicht actu, vielmehr das im Nicht-Actus Gott feßende, 
Alfo (um es zu wiederholen) weit entfernt von der Behauptung eines 
ursprünglichen A-theismus des menschlichen Bewußtfeyns, zu dem fid) 
alle diejenigen befennen müßten, welche eine Götterlehre ohne Gott 
herausbringen wollen‘, bin ich doc) eben fo weit entfernt, die Menfch- 
heit von einem Syſtem oder aud nur von einem Begriff Gottes 
ausgehen zu laſſen. Das menjchliche Bewußtfeyn ift vielmehr urfprüng- 
(ich mit dem Gott gleichſam verwachfen — (denn es ift felbft nur das 
Erzeugniß des in der Schöpfung. ausgeſprochenen Monotheismus, 
der verwirflichten All-Einheit)? — das Bewußtſeyn hat den Gott an fidh, 
nicht als Gegenftand vor fih. Schon durch feine erfte Bewegung ift 
das Bewußtſeyn dem theogonifchen Proceß unterworfen. Wir fünnen 
alfo nicht fragen, wie e8 zu dem -Gott fomme. Es hat feine Zeit, 
fich erſt Borftellungen oder Begriffe von Gott zu maden, und 
dann wieder ebenſowenig Zeit, diefe Begriffe in fich zu verdunkeln 
oder zu entjtellen. Seine erjte Bewegung ift nicht eine Bewegung, 
durch die e8 den Gott fucht, fondern eine Bewegung, durch die e8 
fi) von ihm entfernt. Es hat alfo den Gott a priori, d. h. vor 
aller wirklichen Bewegung oder — weſentlich an ſich. Diejenigen, melde 
die Menfchheit von einem Begriff Gottes ausgehen laffen, werden 
niemals erflären fünnen, wie aus diefem Begriff Mythologie entftehen 


' Wenn wir überhaupt die unbedingte Eigentlichfeit der Mythologie in Bezug 
auf den Begriff der Götter behaupten, fo verbindet ſich uns damit der beftimmte 
Begriff, daß den Göttern wirffih Gott zu Grunde liege, Gott alſo die wahre 
Materie und der leßte Inhalt der mythologiſchen Vorftellungen fey. 

* Man hat diefe Verwachſenheit oft durch das Bild einer Bermählung des 
menſchlichen Weſens mit Gott dargeftellt, eine Anfiht, die den mythologiſchen 
—— verwandter ſich zeigen wird, als man vorläufig ſich vorſtellen 
möchte. 


121 





konnte; aber nicht bloß dieß, jondern fie haben wohl aud) nicht über- 
legt, daß, wie immer fie fi die Entjtehung dieſes Begriffs denken, 
mögen fie den Menfchen diefen Begriff durch eigne Thätigkeit erwerben 
oder durch Offenbarung erlangen laſſen, daß fie in beiden Fällen felbft 
einen urfprünglichen Atheismus des Bewußtſeyns behaupten, dem fie in 
anderer Hinficht ſich entgegenftellen. 

Es iſt weder eine mitgetheilte, nod eine felbfterzeugte Erfennt- 
niß Gottes, die wir dem urfprünglichen Menfchen zufchreiben; es ift 
ein allen Denfen und Wiſſen vorausgehender Grund, es ift fein 
Weſen felbft, durch welches er dem Gott zum voraus und vor allem 
wirflihen Bewußtſeyn verpflichtet ift. Denn das Princip der Ander— 
heit, oder B, welches nicht in feiner Abjolutheit, jondern nur in feiner 
Ueberwindung der Grund des menschlichen Bewußtſeyns ift, ift in eben 
diefer Ueberwindung oder reinen Potentialität auch das unmittelbar Gott 
jetende. Es ift daher das Gott fegende nicht fofern es ſich bewegt, 
jondern ſofern es ſich nicht bewegt, in feiner reinen Weſentlichkeit oder 
Nichtactualität. Wenn wir nun aber fagen: es ift das Gott fetende 
nicht fofern e8 ſich bewegt, ſondern fofern es fich nicht bewegt, fo 
jcheinen wir worauszufegen, daß es allerdings ſich bewegen, den Drt, 
an dem es erfchaffen worden, wieder verlafjen Fünne, daß e8 frei 
jey von dieſem Drt wieder auszugehen, an dem es nur als reine 
Potenz ſeyn kann, — alfo frei, wieder pofitiv zu werden. Wie 
läßt fich diefes denken? Die Antwort liegt in unfrer ganzen bisherigen 
Entwicklung. 

Das Weſen, die Subftanz des menfchlihen Bewußtſeyns iſt nicht 
mehr — dem bloßen lautern B, welches das Prius der Schöpfung 
ift; denn es ift vielmehr das aus B in A umgemandelte B, B, das 
— A geſetzt ift, alſo es ift ein eignes, von B unabhängiges Wejen. 
Es ift aber von der andern Seite ebenfowenig einfaches, bloßes A, 
fondern es ift A, dem B zur Grumde liegt. Es ift hier etwas Neues 
entjtanden. Vorher war nur reines B auf der einen und reines A? 
auf der andern Seite. Das menfchlihe Bewußtſeyn ift ein Mittleres, 
Drittes gegen beide, und wie es dadurch, daß es A ift, unabhängig 


122 
ift von dem B, fo ift e8 von der andern Seite dadurch, daß es nicht 
einfaches A ift, fondern A, dem B als Potenz zu Grunde liegt, dadurch 
ift es ebenfo unabhängig von der zweiten — von der es als A 
fegenden Potenz —, und indem es auf diefe Weife in die Mitte zu 
ftehen kommt zwischen die erfte Potenz, die lauteres B ift, und zwifchen 
die zweite, welche die dem B entgegengefeßte, e8 als A fegende Potenz 
ift — vermöge diefer Mitte zwifchen beiden Potenzen wird e8 von beiden 
frei, d. h. e8 wird ein von beiden verſchiedenes, eignes, unabhängiges 
Weſen. Diejes eigne, neuerzeugte Wefen, das vorher auf Feine Weife 
da war, welches durch. das an ihm hervorgebrachte A unabhängig ift 
von dem bloßen B, und dadurd), daß e8 in fi B, zwar nur als Po— 
tenz, aber doch als Potenz bewahrt, unabhängig ift von der A an ihm 
hervorbringenden Urſache, dieſes eigne Wefen, welches auf Diefe Art 
— frei ift, tft eben geradezu der Menſch (verfteht fich, der urſprüng— 
lihe Menſch), den wir daher aud) befchreiben ald A, das B als Po- 
tenz in fi) hat, das alfo eben dieſes potentielle B audy durch eigne 
That, unabhängig von Gott, wieder in Wirfung feßen, wieder in 
fich erheben fan. Eben darum auch, wenn diefe im Menfchen gejebte 
Potenz! ſich wieder zum wirklichen B aufrichtet, ift es nicht das urjprüng- 
lihe, der Schöpfung zu Grund liegende, fondern es ift das ſchon gei- 
jtige B, e8 ift das ſchon einmal in A umgewanbelte und zurücgebrachte 
B, das mit der Geiftigfeit, die e8 dem früheren Proceß verdankt, ſich 
wieder erhebt, aber, weil es doch feiner Natır nad nur das Gott 
jetende jeyn kann, durch diefe Wiedererhebung unmittelbar nur einem 
neuen Proceß anheimfällt, durch den e8 in das ursprüngliche Berhältniß 
zurückgebracht, alfo wieder in das Gott ſetzende verwandelt wird, und 
der darum als theogonifcher erkannt werden muß. Diefer theogonijche 
Proceß Fann nur eine Wiederholung des urſprünglichen Procefjes 
jeyn, Durch den das menjchliche Wefen das Gott ſetzende geworben war. 
Der Anfang und der Anlaß — ferner das Bermittelnde und ebenfo 
das Ziel dieſes Procefjeg — alfo überhaupt die Potenzen dieſes 


ſie ift im ihm nicht wernichtet, fondern nur als So gejetst, aber eben da— 
durch beftätigt. 


123 

theogoniſchen Proceſſes find durchaus die jener früheren, allgemeinen theo- 
goniſchen Bewegung; nur iſt hier Gott nicht mehr initium (nidht mehr 
der Urheber), e8 ift eine natürliche Bewegung, und es unterjcheidet 
fich Diefe zmeite Bewegung, diefe Bewegung im Bewußtſeyn, von ber 
erften und allgemeinen nur dadurch, daß daſſelbe Princip denjelben 
Meg ins Menſchliche, Gott Setzende (beides ift eins, es ift nur menſch— 
liches, inwiefern Gott jegendes, und umgekehrt), daß es denjelben Weg 
ins Menfchliche, Gott Setende, nur nahdem es ſchon Princip des menſch— 
lihen Bewußtſeyns geworden ift. und als foldhes zurüdlegt, woraus 
folgt, daß Diefer ganze Proceß, obwohl an ſich ein realer, d. h. ein 
von der Freiheit und dem Denfen des Menfchen unabhängiger — ins 
fofern objektiver — doch nur im Bewußtfeyn, nicht außer demfelben, 
alfo nur durdy Erzeugung von Borftellungen verläuft‘, 

Ueber das zuletzt Vorgetragene wird, hoffe ich, folgende Bemerkung 
ein erwünjchtes Licht verbreiten. 

Jenes hinlänglich beichriebene Prius der Natur, dieſes jest als 
ausichlieklidh angenommene Wejen ift als ſolches außer Gott, ein 
außergöttlihes. Denn das Ausjchliegliche eben ift pas Gegentheil 
der göttlichen Natur; Gott ift der nichts ausfchliegende, der All-Einige. 
Gott — ift allerdings der unmittelbar wollen oder, was daſſelbe tft, 
der unmittelbar ſeyn Könnende, aber er ift dieß im fich ſelbſt nicht 

' Wäre unjere Meinung etwa diefe: der Menſch von einem mächtig, aber dunkel, 
unentwidelt in ihm liegenden Begriff getrieben, den Gott zu fuchen, kann nur 
ftufenweife, von Gegenftand zu Gegenftand fortfchreiten, bis einer nach dem andern 
ihm zur bloßen Hülle herabfinft, und er den Gott zulett gar nicht mehr anders, 
als außer und über allen Dingen, ja über der Welt, rein geiftig zu denken ver— 
mag, wäre aljo dieſes und dem Aehnliches (denn pſychologiſche Erklärungen der 
Art find, wie befannt, unendlicher Abanderungen fähig) der Sinn unfrer Er- 
klärung: jo könnten wir hoffen verjtanden zu werden und vielleicht ſogar Beifall 
zu finden ; höchftens würde das Gefuchte des Ausdruds getadelt werden, daß wir 
nämlich ein ſolches Fortichreiten eine jubjektive Theogonie genannt hätten. Aber 
dieß ift nicht unjere Meinung. Die Mythologie. erzeugende Bewegung ift eine 
jubjeftive, immiefern fie im Bewußtjeyn vorgeht, aber das Bewußtſeyn ſelbſt ver- 
mag nichts über fie; es find vom Bewußtſeyn ſelbſt (wenigftens jetst) unabhängige 
Mächte, welche die Bewegung erzeugen und unterhalten ; aljo die Bewegung ift 
im Bewußtſeyn ſelbſt doch eine objektive. 


124 
ausschließlich, und nicht als diefes, nicht ald 1, fondern nur als 1 + 
2 +3, als der Al-Einige — ift er Gott. Eben darum ift er in jenem 
Willen, wenn er für fi) oder in der Ausſchließung hervortritt, nicht 
Gott; diefer anschließende Wille ift infofern außer Gott. Nun haben 
wir aber angenommen, diefer Wille jey im jeiner Ausſchließung nur 
hervorgetreten, um wieder in jenes Verhältniß zurückgebracht zu werben, 
wo er anftatt der ausjchliegende der anderen Potenzen, vielmehr durch 
fein eigen niht-Seyn ihnen Subjekt, ihr Seßendes, ihnen Sitz und 
Thron ift. Diefe Ueberwindung oder Ummendung könnte nun jo ver— 
ftanden werben, als ob dadurch der Wille, in Gott ſelbſt zurückgeſetzt, 
aufhörte ein außergöttlicher zu feyn. Aber dann wäre nur wieber bie 
allererfte Einheit gefegt, wir wären wieder eben da, wo wir im Anfang 
waren. So fanı e8 alfo nicht gemeint ſeyn. Jener ausſchließliche 
Wille bleibt in ſich felbft, was er im Anfang war, ein Außergött- 
liches, etwas das relativ außer Gott ift; denn Gott nimmt nichts zurüd ; 
was er einmal gethan hat, bleibt gethan ; alfo der Wille hört im Proceß 
nicht auf in Bezug auf Gott etwas Aeußeres zu ſeyn. Die Abficht ift 
eben, daß er in diefer Aeußerlichkeit oder als ein aufergöttlicher wieder 
in die Innerlichkeit (nämlich in feine eigne) zurüdgebracht werde; er 
ſoll ein aufßergöttlicher bleiben und in dieſer Aufßergöttlichkeit wieder 
ein göttlicher feyn — ihn ganz zurüdzunehmen, wäre gegen bie erfte 
Abficht, denn da würde nichts hervorgebracht; indem er aber im jeiner 
Außergöttlichkeit bleibt, aber im dieſer zur Göttlichkeit (nämlich zur 
Immerlichkeit, zur Nicht ausſchließlichkeit) zurücgebracht wird, jo tft eben 
damit etwas von Gott Verjchievenes (aliquid praeter Deum) hervor— 
gebracht, das doch Gott — ift,"ein Aufergöttlic - Göttliches, und dieß 
ift der (urſprüngliche) Menſch, der in der That nur der äußerlich her- 
vorgebrachte, der gejchaffene, gewordene Gott ift, der Gott in Freatürlicher 
Geftalt. Eben darum aber, weil jener ausſchließliche Wille, weil das 
B nicht eigentlich in Gott zu rückgeht — aus dieſem Grunde bleibt 
es aud im Weſen des Menfchen als Möglichkeit, als Potenz aufbe- 
wahrt, was nicht feyn Könnte, wenn es Gott zurüdgenommen hätte. 
Das was jet gejeßt ift und was Sie als Gegenftand der ferneren 


125 

Betrachtung ins Auge faſſen müffen, ift A, das B als Potenz in fich 
enthält, ein völlig nener Begriff; denn von Gott, obwohl er von einer 
jeiner Seiten betrachtet ver B ſeyn Könnende war, von Gott könnte 
man darum Doc) nicht jagen, daß er B als Potenz enthalte, er war 
Herr, B zu ſeyn und nicht zu ſeyn, wie ich Herr bin, meinen Arm 
zu bewegen oder nicht zu bewegen, aber B lag nicht als eine Möglichkeit 
in ihm, jo etwa wie in dem gefunden Menjchen die Krankheit als Po- 
tenz, als Möglichkeit Tiegt, dagegen in dem Menfchen ift B allerdings 
als Potenz, als Möglichkeit gefett, die er wieder in Bewegung ſetzen 
fann. Denn der Menjch ift nichts anderes als das fich ſelbſt Beſitzende 
der Natur. Das Beſitzende ft = A (das Hervorgebradhte an ihm), 
das als was es ſich befißt (subjectum) ift B, das ad potentiam 
zurückgebrachte. Er befitt es alſo nur als Potenz, um es als Potenz 
zu. bewahren. Gleichwohl als der es Beſitzende kann er es auch wieder 
bewegen — aus feiner Ruhe ſetzen. (Daß er frei ift, aljo eines un— 
abhängigen Thuns fähig, haben wir bereitS gejehen). Aber das Weſen 
des Menſchen ift auf folhe Weife mit dem göttlichen verwachſen, daß 
es fidy nicht bewegen kann, ohne daß fich ihm der Gott felbft bewegt. 
Unmittelbar durch jeine Wiedererhebung ſchließt B zunächſt diejenige 
Potenz von fi) aus, Die in feiner Ueberwindung (in der Ueberwindung 
von B) ſich jelbft verwirklichen follte (A? — denn ich habe früher ſchon 
gezeigt, daß A? nicht durch Uebergang a potentia ad actum in ihm 
jelbft, jondern nur durch einen umgekehrten Uebergang ab actu ad 
potentiam außer ihm fich verwirklichen fann. Indem es B ab actu 
ad potentiam bringt und dadurch jelbjt actus purus wird, ift es in 
dieſem jetst potentiell geſetzten B verwirklicht ; dieſes ift gleichfam ver 
Stoff feiner Berwirflihung). Zunächſt alfo jchließt das miedererhobene 
B — A?, mittelbar aber auch A? (die höchſte Potenz) aus: es ift 
alfo wieder dieſelbe Spannung der Potenzen, wie in der urſprünglichen 
universio; nur jest bloß im Bewußtſeyn geſetzt, d. h. es find alle 
Faktoren eines theogonifchen Procefjes wieder gegeben, jedoch eines bloß 
im Bewußtſeyn worgehenden. 

Die Macht oder die Gewalt, welche das menjchliche Bewußtſeyn in 


126 
diefer Bewegung fefthält, kann nicht eine zufällige ſeyn — alfo auch nicht 
ein bloß zufälliges Wiffen von Gott; — ebenfowenig kann es fein 
eignes Wollen jeyn, wodurch e8 in diefer Bewegung feftgehalten ift; wir 
haben alle Urfache anzunehmen, daß e8 dieſer Bewegung gern entfliehen 
möchte, wenn e8 Fünnte: alfo nur durch fein Wefen, das unabhängig 
von ihm jelbft und eher tft als es jelbft in feinem jegigen zugezogenen 
Seyn — nur durch dieſes kann es in der Bewegung erhalten werben. 
Das Tieffte im (urſprünglichen) Menfchen ift das Gott Setende nur 
an ſich — nicht durch Actus, jondern durch Nicht-Actus. Es ift das 
Gott Setende ohne fein Zuthun, ohne eigne Bewegung, nicht fo, daß 
e8 der Bewegung, durch die e8 das Gott Setende geworden ift, fich ſelbſt 
bewußt ſeyn könnte. Denn es ift erft Bewußtſeyn am Ende des ganz 
zen Wegs, den es, gleichfam durch die Stufen der Schöpfung hin- 
dur, geführt worden. Inſofern ift alfo zu fagen, daß eg — um 
diefes Wegs ſich bewußt zur werben, um biefen ganzen-Weg felbit 
mit Bewußtſeyn zurüczulegen — um alfo jenes letzte Gottesbewußtſeyn, 
das es gleichſam von Natur, ohne ſich ſelbſt, ohne ſein Zuthun, 
ohne eignes Verdienſt iſt, daß es, ſage ich, um dieſes mit Bewußt— 
ſeyn zu ſeyn, daß es zu dieſem Ende aus ſeiner urſprünglichen Ver— 
wachſenheit mit dem Gott ſich habe losreißen, daß zu dieſem Ende 
jene Potenz des Gott Setens wieder aus diefem Verhältnig habe herans- 
treten müfjen. Denn dadurch fegte er fi) zwar in Widerfpruch mit 
der allgemeinen theogoniſchen Bewegung, die wir in der Schöpfung 
nachgewiefen haben, aber eben diefe Gewalt der allgemeinen Bewegung, 
welche das menſchliche Weſen als ihr eignes wahres Ende, als ihren 
eignen Auhepunft fordert, eben dieſe Gewalt der allgemeinen Be— 
wegung führt den Menjchen, obgleich widerftrebend, in dieſelbe zurüd, 
und unterwirft ihn einem Procefje, deſſen Ende ift, daß er als der 
an fid) Gott fegende auch für fid) felbft verwirklicht iſt. Man-fann daher 
den ganzen folgenden Proceß anfehen als Uebergang von jenem bloß 
weientlihen, in das Wefen des Menfchen gleichfam eingewachfenen 
Vionotheismus zum frei erkannten Monotheismus, eine Anficht, bei wel- 
her der Polytheismus als Uebergangserfheinung eine andere Bedeutung 


127 
und in Bezug auf den allgemeinen Plan der Weltuorfehung eine andere 
Rechtfertigung erhält, als bei jener andern Annahme, welche den Poly— 
theismus erflärt — aus einem zu nichts führenden, zu nichts als Ueber— 
gang dienenden, für nichts und wieder nichts erfolgenden Auseinander- 
gehen eines — für urfprünglich ausgegebenen, eigentlich aber felbft nur als 
Lehre, als Syſtem, d. h. als zufällig vorgeftellten — Monotheismus. 

Nach allem diefem find wir nun alfo berechtigt, die Mythologie zu 
erklären als Erzeugniß eines Procefjes, in den das Bewußtſeyn des 
Menjchen im erften Uebergang zur Wirklichkeit verwidelt wird, eines 
Procefjes, der nur Wiederholung der allgemeinen theogonifchen Bewe— 
gung tft, und von diefer nicht etwa durch das Princip felbft, fondern 
nur dadurch ſich unterjcheivet, daß dafjelbe Princip den Weg ins Menſch— 
liche, Gott Setende num als Princip des menfhlihen Bewußtſeyns, 
oder nachdem es ſchon Princip des menjchlichen Bewußtſeyns gemor- 
den ift, alfo auf einer höheren Stufe durchläuft, den e8 im der 
Schöpfung auf einer früheren Stufe zurücdgelegt hatte, daher denn diefer 
Proceß, gleich feinem Princip oder feinem Grunde — ebenfowohl 
als feinen Urſachen nad ein realer, objeftiver, dennoh nur im Be- 
wußtſeyn verläuft, alfo auch zunächſt nur durch Veränderungen diejes 
Bewußtſeyns fi kundgibt, die fid) als Vorftellungen verhalten !. 

Hier jehen wir uns alfo auf das Pſgchiſche, auf die pſychiſche 
Seite der mythologiſchen Borftellungen geführt, worüber ich denn zum 
Schluß diefer Unterfuhung, ehe wir zur Mythologie felbft fortgehen, 
folgende Sätze aufftellen will. | 

1. Die mythologiſchen Borftellungen verhalten fi) im Allgemeinen 
als reine innere Ausgeburten des menſchlichen Bewußtſeyns. Cie 


' Da fi in dem mythologiſchen Proceß der Proceß der Schöpfung wiederholt, 
jo kann e8 uns zum voraus nicht wundern, daß die Miythologie jo viele Beziehungen 
auf die Natur darbietet, wie denn auch zum voraus erhellt, daß indem wir den 
Mythologie erzeugenden Proceß darjtellen werden, eben damit eine Naturphilojophie 
nur gleichſam in einem höheren Reflex gegeben jeyn werde. Der Bezug, den die 
mythologiſchen Vorftellungen auf die Natur haben, ift felbft ein natürlicher, und 
braucht nicht etwa daraus erklärt zu werden, daß man als Urheber der Mytho— 
logie eine Art von philojophiichen Naturforichern in der Urzeit anninımt. 


128 

fünnen nicht von außen im den Menjchen hineinkommen, er kann ſich 
derfelben nicht als bloß äußerlich an ihn gebrachter (etwa wie Hermann 
meint, durch Lehre mitgetheilter) bewußt ſeyn. Wären fie an das Be— 
wußtſeyn nur von außen gebracht worden, jo hätte ſich dieſes, Das 
übrigens in den gewöhnlichen Theorien als unſerm gegenwärtigen Be— 
wußtſeyn ganz ähnlich und gleich angenommen wird, gegen jene Vor— 
ſtellungen nicht anders als das unſrige verhalten, d. h. es hätte ſie 
ebenſowenig in ſich aufnehmen können, als unſer Bewußtſeyn ſie auf— 
und annimmt. Der Menſch mußte ſich dieſer Vorſtellungen als in ihm 
ſelbſt mit unwiderſtehlicher Gewalt erzeugter bewußt ſeyn; ſie konnten 
nur mit dem einmal außer ſich ſelbſt geſetzten Bewußtſeyn entſtanden 
und gewachſen ſeyn. Sie konnten alſo 

2) nicht als Erzeugniſſe irgend einer beſondern Thätigkeit, z. B. 
der Phantaſie u. ſ. w. erſcheinen, ſondern nur als Erzeugniſſe des Be— 
wußtſeyns ſelbſt in ſeiner Subſtanz. Dadurch allein begreift ſich ihre 
Subſtantialität, ihr Verwachſenſeyn mit dem Bewußtſeyn, jene Untrenn— 
barkeit mit demſelben, die allein erklärt, wie es eines Jahrtauſende 
langen, in einem Theil der Menſchheit ja noch nicht geendigten, mit 
Gräueln aller Art verbundenen Kampfes bedurfte, um ſie mit ihren 
Wurzeln aus dem Bewußtſeyn zu reißen. Von Anfang an zeigen ſich 
die polytheiſtiſchen Vorſtellungen auf eine Weiſe mit dem Bewußtſeyn 
verwebt, wie niemals Vorſtellungen, die Erzeugniſſe der beſonnen— 
ſten Ueberlegung und einer aller Gründe ſich bewußten Erkenntniß ſind, 
mit dieſem verwebt ſind. Doch können ſie 

3) auch nicht betrachtet werden als Hervorbringungen des Bewußt— 
ſeyns in ſeiner reinen Weſentlichkeit oder Subſtantialität, ſondern als 
Hervorbringungen zwar nur des ſubſtantiellen, aber des aus ſeiner 
Weſentlichkeit herausgetretenen, infofern außer ſich ſeyenden und 
einem unwillkürlichen Proceß hingegebenen Bewußtſeyns. Ferner, ob— 
wohl Hervorbringungen des menſchlichen Bewußtſeyns, ſind ſie doch 

4) nicht Erzeugniſſe deſſelben, ſofern es menſchliches Bewußtſeyn 
iſt, ſondern im Gegentheil, ſofern das Princip des menſchlichen Be— 
wußtſeyns aus dem Verhältniß herausgetreten iſt, in welchem allein es 


Grund des menfhlihen Bewußtſeyns ift, nämlich aus dem Verhält- 
nig der Ruhe, der reinen Wefentlichfeit oder Potentialität. Sie find 
Erzeugnifje des aus feinem Grunde hervorgetretenen menſchlichen 
Bewußtſeyns, das erft wieder durch diefen Proceß in das Verhältniß 
zurüdgeführt wird, wo es wirklich menfchliches Bewußtſeyn ift. Inſo— 
fern können ‚oder müfjen die mythologiſchen Vorſtellungen betrachtet 
werben als Erzeugniffe. eines relativ vormenſchlichen Bewußtſeyns — 
nämlich zwar als Erzeugnifje des menjchlihen Bewußtſeyns (auch info- 
fern des jubjtantiellen Bewußtſeyns), aber fofern dieſes wieder in fein 
vormenjchliches Verhältniß zurüdverfegt if. Man fann in dem von 
ung angegebenen Sinn die mythologifchen Borftellungen mit den Bil- 
dungen und Hervorbringungen der vormenjchlichen Zeit der Erde ver- 
gleichen, wie Alerander v. Humboldt — in welchem Sinn getraue id) 
mir freilid) nicht zu beftimmen — gethan hat (der doch wohl ſchwerlich das 
Ungeheure beider hat andeuten wollen). Ich fan hiebei nicht umhin, die 
Bemerkung einzufchalten, wie völlig werfehrt es ift, die Mythologie Ge- 
genftände der. wirflichen Natur perſonificiren zu laſſen. Die Ideen der 
Mythologie gehen über die Natur und über den gegenwärtigen Zuſtand 
der Natur hinaus. Das menjhlihe Bewußtſeyn ift in dem Mytho— 
(ogie erzeugenden Proceß wieder in jene Zeit des Kampfs zurüdgejegt, 
der eben mit dem Eintritt des men ſchlichen Bewußtſeyns — in der 
Schöpfung des Menfchen fein Ziel gefunden hatte. Die mythologijchen 
Borftellungen entftehen gerade dadurch, daß die in der äußern Natur 
Ichon befiegte Vergangenheit im Bewußtſeyn wieder hervortritt, jenes 
in der Natur ſchon unterworfene Prineip jest noch einmal ſich des Be- 
wußtſeyns jelbit bemächtigt, Weit entfernt, in der Erzeugung der my— 
thologifhen Borftellungen innerhalb ver Natur zu feyn, ift der Menſch 
vielmehr außerhalb verjelben, aus ver Natur gleichſam entrüdt und einer 
Gewalt anheim gefallen, die man gegen die bejtehende (zum Stehen, 
zur Ruhe gefommene) Natur oder im Vergleich mit diefer eine überna— 
türlie oder doch aufernatürliche Gewalt nennen muß. Aus diejer 
Genefis der mythologiſchen VBorftellungen begreift ſich num endlich 

5) erſt auch, was noch feiner andern Entjtehungsmeife begreiflich 

Schelling, fämmtl, Werke. 2. Abth. I. 9 


130 

war, wie diefe Vorftellungen der in ihnen befangenen Menjchheit jelbft 
als objeftiv-wahre und wirfliche erjcheinen konnten. Zuerft negativ, 
da fie ſich nämlich dieſer Vorftellungen ‚nicht als von ihr ſelbſt herrüh— 
render, frei erzeugter bewußt ſeyn konnte, denn ſie waren Erzeugniſſe 
eines gegen den Menſchen objektiv gewordenen — das Verhältniß, in 
welchem es Grund des menſchlichen Bewußtſeyns iſt, überſchreitenden 
— Princips, Das nur zuletzt in feiner wiederhergeſtellten Subjektivität 
wieder menſchliches Bewußtſeyn ſetzt. 

Aber auch poſitiv mußten fie als objeftiv-wahre erſcheinen, weil der 
erzeugende Grund dieſer Vorſtellungen das objektiv oder an ſich 
theogoniſche Princip iſt, wodurch es eben geſchieht, daß das Bewußtſeyn 
ſeine eigne Bewegung als eine Bewegung Gottes empfindet. Nur da⸗ 
durch wird die Realität erklärt, die wir dem Götterglauben zugeſtehen 
müſſen. Denn ſolange wir es nicht dahin bringen, begreiflich zu 
machen, wie der Göttergläubige ſelbſt von der Realität dieſer Vorſtel— 
lungen auf eine allen Zweifel benehmende Weiſe überzeugt ſeyn mußte, 
werden wir wohl dieß und jenes verſuchen das Phänomen zu erklären, 
aber es nie wirklich begriffen und eigentlich ergründet haben. Die My— 
thologie war nicht ein Werk oder eine Erfindung des Menſchen — ſie 
beruht auf der unmittelbaren Gegenwart der wirklichen theogoniſchen Po— 
tenzen —, es ſind die urſprünglichen, die an ſich theogoniſchen Kräfte, 
deren Streit im menſchlichen Bewußtſeyn die mythologiſchen Vorſtellun— 
gen erzeugt. Wenn aus dieſem Grunde jemand ſich vielleicht berechtigt 
glaubte zu ſagen, die Mythologie ſey durch eine Art von Eingebung, von 
Inſpiration, hervorgebracht, ſo hätte ich nichts dagegen einzuwenden, wenn 
man nur darunter nicht eine göttliche, ſondern eine ungöttliche Inſpiration 
verſteht. Denn jener theogoniſche Grund, wenn er im Menſchen ſich wie— 
der bewegt und aus ſeiner Stille hervortritt, iſt inſofern nicht göttlich zu 
nennen; göttlich wie menſchlich wird er erſt im Moment ſeiner völligen 
Zurückbringung, da wo er in ſein urſprüngliches Myſterium zurücktritt!. 


Das Bewußtſeyn iſt auch urſprünglich nur ein göttlich geſetztes, nur in dieſem 
Sum göttliches; da nur ein geſetztes, jo bleibt die Möglichkeit in ihm, wieder nicht 
göttliches zu werden. 


131 

Es fünnte wohl auch andere geben, welche die Vorausjegung eines 
jolden Procefjes im. Bewußtſeyn der Menfchen mit der göttlichen 
Vorſehung nicht vereinigen zu können glaubten, wie man ja auch wegen 
des vielen andern, Widerwillen und zum Theil Entjegen Erregenden in 
der Natur gewifjermaßen eine Entſchuldigung und Rechtfertigung Gottes 
nöthig findet. Allein es iſt zu bemerfen, daß wenn die Mythologie 
erzeugende Bewegung in ihrem DBerlauf eine unwillfürliche ift, und. fo- 
gar in ihrem Urfprung als eine in gewiſſem Sinn unvermeidliche er- 
Iheint (wie das Heraustreten des Menſchen aus Gott überhaupt auf 
gewilfe Weile — nämlich bloß natürlich genommen — als ein unver- 
meidliches erjcheint), daR deſſen ohngeadhtet der erfte Anfang und An- 
(aß diefer Bewegung nur des Bewußtſeyns eigne, wenn aud ihm jelbft 
in der Folge unergründliche, That ift — und fo find wir denn auf 
den wirklichen Anfang der theogoniſchen, d. h. der Mythologie er- 
zeugenden Bewegung geführt und eben damit an den Anfang einer wirf- 
lihen Philoſophie der Mythologie geftellt. 












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Die Mythologie. 


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Siebente Voriefung. 


Bisher wurde die Mythologie allgemein als Gegenjtand bloß 
empiriſch-geſchichtlicher Forſchung betrachtet, woran die Philofophte nur 
den Antheil haben fünne, der ihr an jeder, auch übrigens rein empirifchen, 
Unterfuhung zuftehen muß. Es war daher natürlich, wenn ſchon der 
Titel Bhilofophie der Mythologie Anſtoß erregte. Auch in der Alter- 
thums- wie in der Naturwiffenichaft gibt es jogenannte reine, d. h. alle 
Philofophie ausjchliegende Empirifer, und man ftellt fi den veinen 
Empirifer gewöhnlich vor — und er felbjt gibt fich meift — als einen 
jolden, der nur reine Thatfachen zulaffe. Wie dieß in den Natur- 
wifjenfchaften gemeint, erhellt aus der Unzahl von Hypothefen in allen 
möglichen empiriichen Forſchungen, am Deutlichften an den jogenannten 
phyfifaliichen Theorien, Die großentheils auf Vorausſetzungen beruhen, 
die gerade empirifch ganz unerweislich find, z. DB. die fogenaumten 
Molecülen, mit denen man jegt wieder felbft zum Theil in Deutſch— 
land die geiftigen Erfcheinungen des Lichtes und die ſtöcheometriſchen That- 
jachen ver Chemie erklärt. Warum finden nun deſſenungeachtet Theorien 
diefer Art Beifall oder werden menigftens tolerivt, während fofort ein 
Geſchrei fi) erhebt, wenn eine Idee laut wird, welche die Forſcher zu 
denfen auffordert? Die Urſache des Beifalls, den jene Theorien finden, 
fan eben mur die feyn, daß fie jemanden in den Stand fegen, ſich 
den Hergang der Erſcheinungen ohne alle Anwendung höherer geiftiger 
Facultäten, ja nöthigenfalls und fogar ohne Anwendung der höheren 


geiftigen Sinne, etwa mit Hülfe des bloßen Taſtſinnes, vorzuftellen; 
denn 3. B. jenes Hin- und Herſchieben von Moleciilen, aus. denen zu= 
mal franzöfifhe Phyſiker optiſche und andere Erſcheinungen erklären, 
fann man fi) allenfall8 auch bloß mit Hülfe der fünf Finger ver- 
deutlichen. Ein großer Theil unferer optifchen Theorien ift von der 
Art, dag man fie, wenn es jeyn müßte, fogar den Blinden erflären 
fönnte, und es ift in diefem Sinn allerdings möglich, daß der Blinde 
von der Farbe redet. Wenn man nun, um zu unferm Gegenftand zu- 
rückzugehen, den Ernft betrachtet, mit welchem z. B. Hermann in feiner 
Erklärung der Mythologie Dinge vorträgt, die er fchlechterdings nicht 
wiffen. kann — von den Weifen im Morgenland, die über die Natur 
nachdachten, Theorien erfannen, und wie fünftlic) fie es angeftellt, daß 
das Volk ihre poetifch eingefleiveten Ideen verftehen konnte, Doch nicht 
ihlechthin werftehen mußte u. f. w. — wer alfo dieſen Ernft, ja die 
Salbung fieht, mit welcher ein übrigens fo achtungswerther Alterthums— 
forſcher folche ſchlechterdings unerweisliche Dinge vorbringt, während er 
alles, was nur von fern auf eine geiftige Idee zielt, Schwärmerei 
nennt, der wird geftehen müſſen, daß vielmehr eine folche unerweisliche 
Thatſachen erdichtende Theorie, eine — höchſt nüchterne zwar und von 
aller Idee verlaffene — aber darum doc nicht weniger eine wahre 
Schwärmerei ſey. Und doch wird man ſeine Theorie nicht ſo nennen, 
weil ſie die Erſcheinung der Mythologie aus keinen andern Verhältniſſen 
oder Ereigniſſen zu erklären ſucht, als ſich täglich bei uns zutragen 
können, oder die im Kreis unſrer gemeinen Erfahrung vorkommen; 
deßwegen nennt man dann eine ſolche Theorie eine beſonnene, eine bei 
ſich bleibende, d. h. eigentlich eine bei uns, im Kreis unſrer alltäglichen 
Erfahrung bleibende Theorie; wogegen es leicht geſchehen könnte, daß 
eine Theorie, die es unternähme, eine Erſcheinung, die an Tiefe, Dauer 
und Allgemeinheit nur der Natur ſelbſt vergleichbar iſt, auch aus all— 
gemeinen Urſachen zu erklären, ſchwärmeriſch geſcholten würde, ge— 
ſetzt ſelbſt, daß ſie wirklich erklärt, was nach allen bisherigen Theorien 
ganz unerklärbar war. 

Es ſind noch nicht 50 Jahre, da hätten über einen Ausleger, der 


137 

ven Steinregen, der im Bud) Joſua erwähnt ift, für einen wirklichen 
Steinregen und nicht für ein bloßes Hagelmetter erklärt hätte, alle alt 
teftamentlichen Philologen ſich luftig gemacht; denn das ift ja die ein- 
fachfte Gemüthserleichterung, die fich jemand gegen ihm ungelegen Fom- 
mende „Ideen geben kann. Dafjelbe wäre dazumal jedem gefchehen, ber 
den berühmten, bei Aegos Potamos gefallenen Meteorftein oder die 
häufig wiederfehrenden Erzählungen des Livius, lapidibus pluisse, nicht 
für leere Fabeleien und finnlofen Aberglauben erflärt hätte. Heutzutag 
wird dieß freilich, was die Erzählung vom Steinregen betrifft, nicht 
mehr gejchehen, und fo darf man hoffen, es werde in der Folge aud) 
das nicht mehr auffallen, wenn den mythologiſchen Borftelungen Wahr- 
heit zugefchrieben wird, verfteht ſich, mit jolchen nähern Beftimmungen, 
als wir früher mit diefer Behauptung verbunden haben. 

Bei jeder Erklärung iſt das Erfte, daß fie dem zu Erflärenden 
Gerechtigkeit widerfahren laſſe, e8 nicht herabdrüde, herabdeute, ver- 
fleinere oder verftümmle, damit e8 leichter zu begreifen ſey. Hier fragt 
fih nicht, welche Anficht muß von der Erſcheinung gewonnen werden, 
Damit fie irgend einer Philojophie gemäß fich bequem erflären lafje, jondern 
umgefehrt, welche Philofophie wird gefordert, um dem Gegenftand ge- 
wachſen, auf gleicher Höhe mit ihm zu ſeyn. Nicht, wie muß Das 
Phänomen gewendet, gepreht, vereinjeitigt oder vwerfümmert werben, 
um aus Grundfägen, die wir ums einmal vorgefegt nicht zu über- 
ſchreiten, noch allenfalls erflärbar zu feyn, fondern: wohin müſſen 
unſere Gedanken fi erweitern, um mit dem Phänomen in Verhältniß 
zu ftehen. Wer aber aus was immer für einer Urfache wor einer folchen 
Gedanfen- Erweiterung Scheu trüge, der follte, anftatt die Erſcheinung 
zu feinen Begriffen herabzuziehen und zu verflachen, wenigftens jo auf- 
richtig feyn, fie in die Zahl der Dinge zu fegen, deren es für jeden 
Menſchen nod immer fehr viele gibt, in die Zahl der Dinge, die er 
nicht begreift; und wenn er unfähig ift, fich felbft zu dem den Erjchei- 
nungen Gemäßen zu erheben, follte ev wenigftens fi) hüten das ihnen 
völlig Unangemefjene auszusprechen. 

In früheren Beftrebungen die Mythologie zu erklären mar es 


138 


nicht Schwer, den Einfluß gewiffer, vor aller Unterfuhung und ganz 
unabhängig von den Thatſachen (a priori, wie man fagt) angenommener 
und fir philoſophiſch gehaltener Grundfäge zu erfennen; daher auch bier 
dafjelbe unlautere Gemiſch von Empirie und vermeinter Vhilofophie, das 
wir in andern Wiljenfchaften unter dem Namen der Theorien antreffen, 
wo nämlih Philofophte und Empirie nebeneinander ftehen, ohne fid) 
gegenſeitig durchdrungen zu haben. Wer aber feine Philofophie nicht 
dahin erweitern kann, daß fie dem Gegenftande glei” — auf derfelben 
Höhe mit ihm — fteht, fo daß er im Stande ift eime Theorie auf- 
zuftellen, die zugleich ganz wiſſenſchaftlich und ganz gefchichtlih, ganz 
empiriſch und ganz philoſophiſch ift, ſollte ſich überhaupt bejcheiden 
eine ſolche aufzuſtellen. | 

Eine Theorie; welche die mythologiſchen Borftellungen nur in 
ihrer Bereinzelung und nur ohngefähr erklärt, ohne ihren ebenfo 
tiefen, als weitgreifenden Zufammenhang zu zeigen, und ohne fie in 
ihrer Beftimmtheit wiederzugeben, zeigt fi) ſchon dadurch als we— 
der wahrhaft geſchichtlich, noch wahrhaft wifjenfchaftlih. Das wahr- 
haft Gefdhichtlihe ift mit dem Wifjenfchaftlihen ganz eins. Ein 
Gegenſatz von hiſtoriſcher und philofophifeher Schule ift in Bezug auf 
Gegenftände, wie der vorliegende, ganz unftatthaft. Denn das wahr- 
haft Gefchichtliche befteht nicht darin, daß man zu feinen Behauptungen 
einzelne Thatjachen äußerlich hinzubringt (wer kann das nicht, be— 
fonders in der Altertfumsforfhung? Hat doch vor nicht allzu langer 
Zeit ein nicht ungelehrter Mann Thatfachen aufgefunden, mit denen er 
belegt, daß das Paradies im Königreich Preußen gelegen habe). - Das 
wahrhaft Gejchichtliche befteht darin, daft man dem in dem Gegen- 
ſtand jelbft liegenden, alfo den innern, objektiven Entwicklungsgrund 
auffindet; fowie aber dieſes Princip der Entwidlung im Gegenftand 
jelbft gefunden ift, müffen dann alle vworgreifenden, eignen Gedanken 
gleichſam verleugnet werden; von nun an muß man bloß dem Gegen- 
ſtand in feiner Selbftentwidlung folgen. 

Bon einer ſolchen zugleich philofophifchen und empiriſchen, wiſſen— 
Ihaftlihen und gefchichtlihen — an und mit dem Gegenftand fich ſelbſt 


entwidelnden — Theorie ift alfo in ver Folge allein die Rede. Auf 
ven Standpunft, von dem wir jet die Mythologie betrachten werben, 
haben nicht wir die Mythologie, ſondern hat die Mythologie uns ge- 
jtellt. Bon nun an alfo ift der Inhalt dieſes Vortrags nicht die von 
uns erklärte, jondern die jich ſelbſt erflärende Mythologie. Bei 
diejer Selbfterflärung der Mythologie werden wir au nicht genöthigt 
jeyn die Ausprüde der Mythologie jelbjt zu vermeiden, wir werben fie 
großentheils ihre eigne Sprache reden lafjen, nachdem ung diefe Durch 
den jegt gewonnenen Standpunft verftändlich geworden tft. Die Aus- 
prüde der Mythologie, jagt man, find bildlich. Dieß ift auf gewiſſe 
Weiſe wahr, aber fie find für das mythologijche Bewußtſeyn nicht un— 
eigentlicher, als der größte Theil unſrer ebenfalls bildlichen Ausdrücke 
für das wiſſenſchaftliche Bewußtſeyn uneigentlich iſt. Indem wir aljo. 
dieſe — der Mythologie eigentlichen — Ausdrücke in unſrer Entwick— 
lung da ſetzen, wo ſie zufolge des Zuſammenhangs verſtändlich werden 
müſſen, erlangen wir, daß nicht wir die Mythologie, ſondern dieſe 
ſich ſelbſt erklärt, und daß wir. nicht nöthig haben, den mythologiſchen 
Vorſtellungen einen uneigentlichen Sinn (sensum improprium) zu 
juchen, fie allegorifch zu verftehen, wie 3. B. die Rationaliften, wenn 
im Chriftenthum von einem Sohn Gottes die Rede ift, dieß nur un- 
eigentlidy, allegoriich verftehen wollen. Wir werden die mythologiſchen 
Borftellungen in ihrem eignen Sinn belafjen, weil wir in den Stand 
gefegt find fie in ihrer Eigentlichfeit zu verftehen. Wäre dann aber 
jemand, der diefe Selbjterflärung dev Mythologie nicht allzumohl über- 
einftimmend fände mit feiner eignen, ſchon anderwärts fertigen und 
bereiten Philofophie, jo müßten wir diefen bitten, die Sache nicht mit 
ung, jondern mit der Mythologie felbft auszumachen, inden es wicht 
in unver Gewalt fteht, diefe den gewöhnlichen, oder gerade jett oder 
in einem gewiſſen Kreis geltenden Begriffen gerecht und gemäß, oder 
überhaupt anders zur machen. 

Schon die Hartnädigfeit, mit welcher ſich die Mythologie bisher 
allen Erklärungen. verjchloffen zeigte, dient zum Beweis, daß jie unter 
die Dinge gehörte, deren vollfommenes Verſtändniß von einer höhern 


140 

Entwicklung des menfchlihen Bewußtſeyns felbft abhing; daß man nicht 
hoffen Fonnte, das Dunfel, das ebenfowohl ihren Sinn, als ihren 
Urſprung umgibt, anders- zu überwinden, als in Folge einer. allge- 
meinen Erweiterung der menfchlichen Gedanken. Solange die Philo- 
fophie überhaupt den gegenwärtigen Zuftand der Dinge und des menſch— 
lichen Bewußtfeyns als allgemeinen und alleingültigen Maßſtab vorausfegte, 
diefen Zuftand als einen nothwendigen, im logifchen Sinn ewigen 
anfah, fo lange fonnte fie nichts begreifen, was über den gegenwärtigen 
Zuftand des menschlichen Bewußtſeyns hinausgeht, ihn transjcendirt. 
Wire die Mythologie durch pſychologiſche Ableitungen der gewöhnlichen 
Art, duch geſchichtliche Boransjegungen, die den im Bereich unjrer 
Kenntniß liegenden analog find, wäre fie überhaupt aus Erflarungsgrün- 
den begreiflich, wie fie in dem gegenwärtigen Bewußtſeyn fich finden, 
fie müßte langft begriffen ſeyn, während jeder aufrichtige Denker geftehen 
wird, Daß Diefe, übrigens in allen Zeiten fo viel beachtete, Erſcheinung 
bis jest noch immer als ein unbegriffenes Phänomen in der Gejchichte 
der Menjchheit daftand. Diefe Thatfache wird und aber ganz erflärlich, 
wenn wir annehmen, daß die Mythologie unter Verhältniffen entftanden 
ift, die mit denen des gegenwärtigen Bewußtfeyns feine Bergleihung 
zulafjen und die man nur begreift, inwiefern man es wagt über viefe 
hinauszugehen. 

Wir finden darum aud nicht, daß die Erften, welche auf dieſe 
Erſcheinung frei vefleftirten und übrigens ihrer Entftehung jo viel näher 
ftanden als wir, fie am beften begriffen hätten. Im Gegentheil, gerade 
die erften Verfuche der Griechen, diefes ihnen um jo viel näher liegende 
Phänomen begreiflih zu machen, zeigen ſich der Tiefe deſſelben völlig 
unangemefjen, ja jedes Verſtändniß der Mythologie fcheint abgefchnitten, 
jobald fie da und völlig erzeugt ift, d. h. fobald die freie Wiſſenſchaft 
eintritt, zum Beweis, daß die Entftehung derfelben einem ganz andern 
Bewußtſeyn angehört, als dem, weldyes mit der freien Reflexion ein- 
tritt, und daß hier, wie e8 auch fonft oft der Fall ift, nicht Die ber 
Zeit nad Näherftehenden, fondern gerade die Entfernteren befjer 
jehen, nämlich die, welche felbft ſchon wieder der leßten Entwiclung 


141 

des gegenwärtigen Bewußtſeyns näher ftehen. Darum ift die Erforfchung 
des Entftehens und der Bereutung der Mythologie eine wichtige und der 
Philofophte unfrer Zeit würdige Aufgabe. Es war nicht Zufall, nicht 
die Abficht, mich in ein neues, meinen frühern Arbeiten ſcheinbar fremdes 
Fach zu werfen, mas mic insbejondere bewogen hat, öffentlich über 
diefen Gegenftand zu reden. Was mid) dazu beftimmte, war vielmehr 
die natürliche Berbindung, in melcher die Erforfchung dieſes Gegenftands 
mit den eigenthümlichften Forderungen, ja mit den tiefften Anliegen 
unfrer — ſich jelbjt und ihre Aufgabe, wenn nicht immer deutlich er- 
fennenden, doc recht wohl fühlenden Zeit fteht. 

Dieje Erklärung hielt ic) noch für nöthig, um Ihnen die Art der 
folgenden ſpeciellen Entwicklung zum voraus begreiflich und mein Ver— 


fahren bei derſelben vollkommen verſtändlich zu machen. Jetzt zur Sache. 


* * 
* 


Das Princip, der Ausgangspunkt der Entwicklung iſt uns durch 
die frühere Auseinanderſetzung gegeben. Der Menſch (der urſprüngliche, 
verſteht ſich) iſt nichts anderes als jenes Seynkönnende, das in der 
ganzen Natur außer ſich war, im Menſchen aber zu ſich ſelbſt wieder— 
gebracht, alſo das ſich ſelbſt Gegebene, ſich ſelbſt Beſitzende, ſeiner ſelbſt 
mächtige Seynkönnen iſt. Dieſes ſeiner ſelbſt mächtige Seynkönnen (der 
Menſch) iſt demnach 1) das des Seynkönnens Mächtige, aber 2) eben 
darum hat es das Seynkönnen als das, deſſen es mächtig, gleich— 
ſam als unſichtbare Ay — als Materie ſeiner Macht — in ſich. 
Es iſt, ſo zu ſagen, ein doppeltes Seynkönnen: 1) das, welches des 
Seynkönnens mächtig iſt, 2) das, deſſen jenes mächtig ift, und dieſes 
Seynkönnen ift zwar jegt — actu, wirflih — das im fid) (nicht mehr 
außer fi) Seyende, aber nur die Wirflichfeit, nicht auch die Möglich— 
feit des außer-ſich-Seyns ift an ihm überwunden, und eben dieſe an 
ihm haftende, von ihm nicht wegzubringende — nicht eigentlich gefette, 
aber aud nicht zu vwerneinende Möglichkeit — diefe an ihm haftende, 
nicht auszufchliegende Möglichkeit des Andersſeyns — dieſe unüber- 
wundene und unüberwindliche Doppelheit iſt der — obwohl Auferlid) 
noch verborgene und vor jest bloß mögliche, aber doch mögliche 


142 





Anfang einer neuen Bewegung —: diefes Seynkönnen, das in dem feiner 
ſelbſt Mächtigen befteht, kann fid) wieder umwenden, diefe Möglichkeit 
ift ihm nicht benommen, es ift die zweidentige Natur (natura anceps), 
To mepıpeoeg, Wie die Pythagoreer dieſes Princip nannten, was fid) 
umdrehen fann und unter der Hand ein anderes werben; es ift bie 
Zweiheit oder Dyas, denn Hvdg oder Zweiheit ift feiner Natur nad) 
jedes Princip, welches das, was es ift, z. B. A, ift und nicht ift: 
ift, jest nämlich und fofern es fich nicht bewegt, nicht ift, nicht fo 
nämlich, daß es nicht das Gegentheil nody werden könnte. Die bloße 
Möglichkeit jedoch ift für ſich nichts, fie ift nur Etwas, wenn fie ven 
Willen, das, in deſſen Gewalt jie gegeben ift, an ſich zieht, wenn das 
feiner ſelbſt Mächtige felbft ſich zu ihr ſchlägt, — fie will. Info 
fern, als diefe Möglichkeit für fi) nichts vermag und unfruchtbar ift 
(nichtS gebiert), wenn nicht der Wille (das feiner jelbft mächtige Seyn— 
fönnende) ſich zu ihr ſchlägt, — infofern erſcheint diefe Möglichkeit 
als bloße Weiblichkeit, der Wille als Männlichfeit — hier iſt ſchon 
ein mythologiſcher Ausprud, und hier ift ſchon der Grund gelegt zu der 
nachher immer fortgehenden und immer weiter. fid) verzweigenden Ge— 
ichlechtspoppelheit der mythologiſchen Gottheiten. — Wir müfjen nun 
ferner fogar bemerken: Als abfolnt=erftes Moment ift zu denken, daß 
diefe Möglichfeit dem feiner felbft Mächtigen ſich noch gar nicht zeigt, 
wo diefes noch in feliger Unwiffenheit über fie ift. Aber eben dieſes 
noch in der Unmifjenheit über fich felbft Seyn macht das ganze Seyn 
diejes Moments, das Seyn des feiner felbit Mächtigen jelbjt zum 
zufälligen, infofern auch anders ſeyn fönnenden und jo weit jelbft 
noch zmweideutigen Seyn. Diefe Zweiveutigfeit darf, fo zu jagen, nicht 
bleiben, fie muß entfchieven werden. Sie darf nicht bleiben, ſage 
ih, und fpreche damit gleichfam ein Geſetz aus, das verbietet, daR 
etwas in der Unentſchiedenheit verharre, ein Geſetz, das fordert, daß 
nichts verborgen bleibe, alles offenbar werde, alles Far, beſtimmt und 
entichieden jey, damit jeder Feind überwunden und jo erſt das vollfommene, 
berubigte Seyn geſetzt werde. In der That eben dieß ift das all- 
einige, das höchfte über allem ſchwebende Weltgeſetz. 


143 

Inwiefern alfo von dem feiner ſelbſt mächtigen Seynkönnen jene 
Möglichkeit nicht auszufchliegen ift, wodurch e8 auch das Gegentheil 
jeiner jelbft werden fann, muß dieß entſchieden werden; entſchieden 
werden aber kann es nur, inwiefern der Wille jener Möglichkeit inne 
wird. Demnach iſt e8 vermöge deſſelben Weltgefeges auch nothwendig, 
daß dieſe Möglichkeit dem Willen gezeigt werde (denn erſt, wenn das, 
in welchem die Möglichkeit iſt, dieſe Möglichkeit erſehen hat und ſie 
nicht will, iſt es mit ſeinem eignen Wollen das, mas es iſt, und 
alſo an dem Ort befeſtigt, an dem es jetzt zwar iſt, aber unabhängig 
von ſich ſelbſt, d. h. relativ auf ſich ſelbſt bloß zufällig iſt). Zufolge 
jenes höchſten und einzigen Weltgeſetzes, das nichts Zufälliges duldet, 
iſt es, ſage ich, nothwendig, daß jenem ſeiner ſelbſt mächtigen Seyn— 
können, jenem bis jetzt noch ruhenden Willen die an ihm — ohne 
ſein Wiſſen und Wollen haftende — Möglichkeit gezeigt werde, oder 
vielmehr es iſt nothwendig, daß ſie in ihm erregt, und daß ſie auf 
dieſe Weiſe in den Stand geſetzt werde, ſich ihm zu zeigen, ſich vorzu— 
ſtellen. Als die Urſache dieſer Anregung, wodurch der bis jetzt einige 
Wille auch für ſich ſelbſt ein doppelter, oder der ruhende Wille erſt 
in den Fall geſetzt wird zu wollen oder nicht zu wollen, als die Ur— 
ſache dieſer Anregung kann eben nur jenes höchſte Weltgeſetz ſelbſt ge— 
dacht werden. Dieſes Weltgeſetz, die dem Ungewiſſen, dem Zweideuti— 

gen, ſowie dem Zufälligen überhaupt abholde Macht iſt Nemeſis. 
Wenn wir die Erklärung anwenden, welche Ariſtoteles in der 
Rhetorik von dem Wort veueoav gibt, jo iſt Nemeſis nichts anderes 
als die Macht, die unwillig iſt über den unverdient, ohne ſein Verdienſt 
Glücklichen“. Ein ſolches ohne ſein Verdienſt, ohne ſein eignes Zu— 
thun Glückliches war jenes ſeiner ſelbſt mächtige Seynkönnen in ſeiner 
Lauterkeit, da es Gott gleich war, und der Gott, der nicht will, daß 
es das, was es iſt, bloß zufällig ſey, der Gott ſelbſt iſt inſofern 
der, welcher die Möglichkeit, das, was es iſt, auch nicht zu ſeyn, ihm 
zeigt, — nicht damit es das Gegentheil wirklich werde, ſondern damit 
Arist. Rhet. IX. (Eylb. 80, 7): ei yao &orı ro veuedav, Avzelöchau Emi 


— —— 2 * 
TO pawousva avasios suroayeiv. 


144 





es, das Gegentheil vielmehr nicht wollend, das, was es ift, mit Frei— 
heit, mit freiem Willen ſey. So hoch ift im feinen Augen die Frei- 
willigfeit angefehen, daß er es nicht achtet, das Höchſte, feine erjte 
Schöpfung, wieder nur als den möglichen Grund einer zweiten Schöpfung, 
einer zweiten, aber eben darum nur höhern Offenbarung feiner felbit 
zu behandeln. In der That, was tft die Natur gegen bie lebensvolle 
Geſchichte, die ſich aufthut, indem der Menſch den in der Natur ſchon 
abgeſchloſſenen Kreis wieder eröffnet! Die ganze Natur ſinkt zum bloßen 
Moment herab — ſie hat gleichſam keine Geſchichte mehr, wird unge— 
ſchichtlich, alles Intereſſe iſt jener höhern Geſchichte zugewendet, deren 
Urheber der Menſch iſt. 

Die Anſicht, daß die Gottheit ſelbſt jene willenloſe Seligkeit des 
Geſchöpfs nicht will und das menſchliche Weſen abſichtlich in den Dop— 
pelfall ſetzt, jene Seligkeit entweder als eine ſelbſterworbene zu beſitzen 
oder ihrer verluſtig zu werden, dieſe Anſicht iſt keineswegs bloß eine 
heidniſche. Die Art, wie in der Erzählung des A. T., die ich hier 
gar nicht einmal als göttliche Offenbarung, ſondern nur als Urkunde 
einer dem Heidenthum entgegengeſetzten Religion betrachten will, die 
Art, wie hier dem Menſchen die Möglichkeit des Gegentheils, die Mög— 
lichkeit, das, was er iſt, auch nicht zu ſeyn, aber darum, es mit ſeinem 
Willen zu ſeyn — die Art, ſage ich, wie ihm der Gott dieſe Mög— 
lichkeit zeigt, beſteht bekanntlich darin, daß der Gott ihm verbietet, die 
Frucht von dem Baum der Erkenntniß des Guten und des Böſen zu 
eſſen. Aber eben durch dieß Verbot, durch das Geſetz wird ihm die 
Möglichkeit des Gegentheils geoffenbart, wie der Tiefſinnigſte der Apoſtel 
ſagt: Ich wüßte nichts von der Luſt, wo das Geſetz nicht geſagt hätte: 
Laß dic nicht gelüften — die Sünde nahm Urſach am Gebot — uud 
ohne das Geſetz war die Sünde todt (wie jene Möglichkeit todt war, 
d. h. war, aber als wäre fie nicht) — da aber das Gebot fam, warb 
die Sünde lebendig. Wenn nun felbft nach der chriftlichen Anficht das 
Geſetz und zwar das Gottgegebene Gefeb die veranlaffende Urfache der 
Sünde, d. h. die Abweichung von dem urfprünglichen Seyn war, fo 
iſt Die mythologiſche Vorftellung, nad) welcher Nemeſis die Urfache des 


145 » 





unheilbringenden Uebergangs ift, dem weſentlichen Gedanken nad ganz 
diefelbe, wie ohnehin ſchon 26406 (das Geſetz) und yeusoıg dem 
Wortlaut und der Etymologie nad) Verwandte find. 

Ich kann jedoch nicht umhin, zur Verhütung von Mißverftand hier 
folgende Bemerkung einzuſchalten. Einmal mythologiſch affieirt, einmal 
jener e8 als menſchliches Bewußtſeyn aufhebenden und überjchreiten- 
den Gewalt anheimgefallen (eine ſolche ift in der Mythologie, ver Menſch 
durch dieſelbe in den vormenſchlichen Zuftand zurücverfegt) ift das Be— 
wußtſeyn dadurch von feinem frühern Seyn abgefchnitten, und es 
folgt ihm in den gegenwärtigen Zuftand Feine Erinnerung aus dem 
früheren. Wenn ic daher unter den verſchiedenen mythologifchen Ge— 
ftalten die Nemefis als diejenige bezeihne, welche gedacht worden ſey 
als Beranlafjerin jenes Uebergangs, jo iſt meine Meinung nicht, daß 
diefe Vorſtellung der Nemefis fi) von dem Urfprung der Mythologie 
jelbft herjchreibe. Vielmehr, wenn im Anfang des mythologiſchen Pro- 
cejies das Bewußtſeyn einer wöllig blinden und ihm ſelbſt unbegreiflichen 
Gewalt anheimgegeben ift, wie ich dieß im Allgemeinen fchon und in 
der Folge noch bejtimmter zeigen werde, jo wird das mythologiſche Be- 
wußtjeyn über feinen Anfang erft im Ende ſich Klar, da nämlid), wo 
jene blinde Gewalt für. es jelbft und in ihm felbft chen wieder über- 
wunden oder doch der Ueberwindung näher gebracht ift. Der Begriff der 
Nemefis ſelbſt jhreibt ſich aljo aus ven legten Zeiten der ſchon über 
ſich jelbft frei gewordenen, fich ſelbſt zu begreifen fuchenden und zu be- 
greifen anfangenden Mythologie her. Und in der That, zuerſt fommt 
ſie bet Heſiodos vor, deſſen theogonifches Gedicht, wie Ste ſich erinnern 
werden, ſchon früher erklärt worden ift für ein Erzeugniß nicht der ent» 
jtehenden, jondern der ſchon über ſich jelbit Far zu werden anfangenden, 
ſich jelbft bewußt werdenden Mythologie. (Die Mythologie fann im An- 
fang nicht jich ſelbſt erklären, ihren eignen Anfang begreifen, aber 
wir erklären ihren Anfang jo, wie die zu Ende gefommene und fi) 
bewußt gewordene ihn jelbft erflart hat.) Die Nemeſis erfcheint bet 
Hefiodos unter den Kindern der Nacht, d. h. der erjten Unentjchievenheit, 


jener Indifferenz des Willens — „es gebar aber auch Die verderbliche 
Schelling, fämmtl. Werfe. 2, Abtb. II 10 


146 
(Berderben bringende) Nyr Nemefis, ein Unheil den Sterblihen“, d. h. 
die den Sterblichen unheilbringende Nemefis !. - Jene ganze Stelle des 
Hefiodos, wo von den Kindern der Nacht, alſo aud) von ber Nemefis 
die Rede ift, enthält offenbar die Trümmer einer tiefen, obwohl nicht 
dem Urfprung der Mythologie gleichzeitigen, übrigens noch mit mytho- 
logiſcher Verworrenheit kämpfenden philoſophiſchen Anficht. echt deutlic) 
ſieht man hier, wie Philoſophie — nicht der Mythologie voraus, aber — 
wie ſie aus ihr hervorgeht, wie das von ihr ſich losreißende, ihr ent— 
kommende Bewußtſeyn ſich unmittelbar zu Philoſophie wendet. Der 
Zuſatz, mit dem Heſiodos die Nemeſis bezeichnet, zaua Gvmroroı 
Booroicıw — Unheil des ſterblichen Menſchengeſchlechts — ſpricht 
hinlänglicy für unfere Deutung derjelben, nad) welcher fie gedacht ift 
als die Veranlafferin jenes Uebergangs in den Zuftand der Unjeligfeit, 
dem die jeßt fterbliche Menſchheit unterworfen ift. Nicht weniger jpricht 
für diefe Deutung ein jpäterer Name der Nemefis. Sie hieß auch 
Adrafteia: nicht, wie einige fpätere Griechen erflärten, von einem 
Altar, den der König Adraftos ihr errichtet. In ſolchen Erklärungen 
kann man fid) nur wenig auf Die Griechen verlaſſen, auch bedarf viel- 
mehr dieſer König Adraſtos, der in einer Erzählung des Herodot eben- 
falls als eine mythologiſche Perſon erfcheint, jelbft der Erklärung. Sein 
Name ift jo gut als der Name Adraften ein mythologijch- entjtandener und 
mythologifch-beveutender. Adraſtea heit Nemefis als Die, welche das 
Ungefchehene zum Gefchehen, das bloß Mögliche zur Vollendung, zur 
That bringt. To döoworov bedeutet das Unbewegliche, was ſich 
nicht bewegen, nicht von der Stelle will. Adraſtea ift aljo die Macht, 
welche das gegen die Bewegung fid) Sträubende, gleichſam fid) zu be 
wegen noch Zweifelhafte, ven Willen, zur: Bewegung bringt, und id) 
brauche Ihnen nicht auseinanderzufegen, wie ganz dieß mit unfrer 
Erklärung der Nemefis übereinftimmt. Denn Nemefis ift nichts anderes 


' Tinte Öö nal Neussw, anua bynroidı Pooroicı 
Ni£ olon. Theog. v. 223 — (ed. van Lennep). 
? Ereuzers Zufammenftellungen Theil II, ©. 501 und 502, würden hier noch 


j zu manchen Beſtätigungen und Erläuterungen Anlaß geben. 


147 
ale die Macht eben jenes höchiten, alles in Bewegung bringenden 
Meltgefeges, das nicht will, daß irgend etwas verborgen bleibe, das 
alles Verborgene zum Hervortreten antreibt und gleichlan moraliſch 
zwingt ſich zu zeigen. Bei Pinvar! heißt Nemeſis die doppelwillige 
(dıx6ßovrog MN£usoıs), die einen doppelten Willen hat. Wie dieß 
zu verftehen ſey, Dürfen wir nicht weit ſuchen. Es reiht hin, an das 
Horaziſche: tollere in altum, ut lapsu graviore ruat, zu denken. 
Hier ift ein doppelter Wille; zuerft erhebt jte das zum Untergang Be— 
ftimmte — diefes ift ihr unmittelbarer Wille —, aber fie erhebt es 
nur, damit e8 defto tiefer ftürze; dieß tft der zweite Wille, wobei id) 
nicht unterlaffen will, mid) gelegenheitlid über ein Wort zu erklären, 
deſſen ich mich oft bedient habe und aud in der Folge wohl noch bee 
dienen werde. Ich meine, daß ich jenen unheilbringenden Uebergang 
eine. MWiedererhebung genannt habe (nämlich eine Wiedererhebung aus 
der Potenz), da man fonft gewohnt ift, Dielen Mebergang als einen 
Fall zu befchreiben. Beides ftimmt aber wohl zufammen. Wenn ich 
diefen Uebergang als Erhebung bejchreibe, fo nenne ich das antecedens; 
wer ihn als einen Fall befchreibt, nennt Das consequens pro antecedente. 

Es iſt übrigens hier nur um die Urbedeutung der Nemefis zu 
thun. Diefe hat man nicht mehr im Zeiten zu juchen, Die von* der 
Entjtehfung der Mythologie zu weit entfernt find. Wenn alfo fpäterhin 
ver Begriff der Nemefis ficy mit dem anderer weiblicher Gottheiten, 
3. B. dem der Aphrodite, vermiſcht haben follte, jo ift dieß nicht be- 
weiſend: — wie man fi denn wor nichts mehr zu hüten hat, als 
vor einem „neinander= Arbeiten des Spätern und des Frühern. Wenn 
unter anderm nad) einer befannten Erzählung der Künftler Agorafritos 
(Schüler des Phidias) das Bild in Athen, das bei einem Wettkampf 
den Preis als Aphrodite nicht erhalten hatte, der Stadt Rhamnus (mo 
vorzüglich Nemefis verehrt wurde) mit dem Beding überläßt, daß es 
dert als Bild der Nemefis aufgeftellt werde ?, IE beweist dieß nichts 


' Olymp. VIIL, 114. 
? Bol. Winfelmanns Anmerkungen zur Gejchichte der Kunft S. 90 ne 
Ausg.), der jedoch eine Vermuthung anderer Art zur Hülfe nimmt. 


148 


gegen jene erſte Bedeutung der Nemeſis, die bei Heſiodos befonders 
auch dadurd) fichtbar wird, daß ihr dieſer ſogleich auch) den Betrug, 
die Andrn, als Schwefter beigefellt. Diejen Zufammenhang zu er- 
flären, will ich Yolgendes bemerken Jenes Können, welches ſich dem 
Bewußtſeyn darftellt, als ein tranfitives ift es ein bloß ſcheinbares, 
betrügliches. Es ift Können, aber nur an fih, nur intranfitio, 
d. h. wenn es innerlich bleibt, in der Immanenz; aber e8 hört auf 
Können zu jeyn, ſowie es äußerlich, tranfitio wird. Jenes Können tft 
Potenz eined Seyns, aber nicht um jeyend zur jeyn, nicht um ing Seyn 
überzugehen, jondern um Können zu bleiben. Die ’/n&ry unter den 
älteſten Weſen des Hefiodos bedeutet alſo nicht gemeinen Trug oder 
gewöhnliche Täuſchung, ſondern die Ur-täuſchung, diejenige, von der 
alle nachfolgenden, von der Das ganze täuſchungsvolle Leben des jeinem 
Urfeyn entfremdeten Menfchen feinen Uxfprung hat. Wie tief dieſe 
’Anctn von den riechen empfunden worden, dürfte man vielleicht 
daraus fchliefen, daß fie ein eignes Yet unter dem Nanıen Apaturien 
(Zrugfeft) hatte; jedenfalls iſt es zu bedauern, daß wir von dieſer Feier 
ſo wenig nähere Kenntniß haben. Creuzer will die griechiſchen Apaturien 
aus Indien herleiten. Solche hiſtoriſche, übrigens hiſtoriſch unerweis— 
liche Herleitungen mag man verſuchen, ſolang man die mythologiſchen 
Begriffe als bloß zufällige anzuſehen gewohnt iſt. Hat man ſſich da— 
gegen überzeugt, daß diefe Begriffe, zumal die Urbegriffe der Mytho— 
(ogie (worunter aud) die Arcrr gehört) nicht zufällige, jondern noth- 
wendige und in ihrer Art ewige find, jo kann man von dergleichen 
hiftorifchen Herleitungen nidyt8 mehr halten; fie find nicht befjer, als 
wenn man 7. B. die Begriffe Materie und Form, Urſache und Wir- 
fung, oder Ähnliche allgemeine, aus Indien herleiten wollte, weil ſich 
ihrer unftreitig die Indier früher als die Griechen bedient, oder wenn 
man, weil die ältefte befannte Logik eine in Sansfritfpradhe verfaßte 
ift, in welcher, wie ganz natürlich, die Eigenjchaften und Yormen des 
Syllogismus nicht viel anders als ſpäter von Ariftoteles abgehandelt 
find, wie wenn man aus dieſem Grunde jagen wollte: der Shyllogis— 
mus ſey won den Indiern erfunden. Greuzer bringt behufs jener 


149 





Herleitung die Ancktn des Heſiodos mit der indiſchen Maja zujammen. 
Aber diefe gehört mehr der indiſchen Philoſophie als ver indischen Mytho— 
logie an, Beides wird nur verwechjelt, weil die indiſche Philofophie 
überhaupt, beſonders gegenüber den abſtrakten Philoſophien der Europäer, 
ſelbſt einen durchaus mythiſchen Charakter hat. Die indiſche Maja iſt 
allerdings auch die Möglichkeit des anders- oder des außer-ſich-Seyns, 
aber die Urmöglichkeit nicht, inwiefern fie dem Menjchen oder dem Ur- 
bewußtſeyn fich darftellt, fie bedeutet in der indiſchen Bhilofophie die dem 
Schöpfer ſich felbft darftellende Möglichfeit des anders-Seyns, und dem- 
nad) der Welthervorbringung. Sie wird vorgeftellt als die Nee des 
Scheins (Diefer ift eben das andere Seyn), als Die Netze des Scheins 
ausjpannend, um damit den Schöpfer zu fahen, der nur in einer Art 
von fcheintrunfner Selbftvergefjenheit die Welt wirklich hervorbringt. 
Das Weſen der ganzen Welt ift nach der indiſchen Philoſophie Maja, 
Magie, es ift fein- wahres, es ift bloß täuſchendes Seyn; der, welcher 
der Welt fi hingibt, Liegt in den Banden diefer Maja gefangen. 
Die Wahrheit diefes Seyns, das in der Sinnenwelt ung vorgejpiegelt 
wird, liegt im feinem nicht Seyn, wenn e3 wieder in die bloße Mög- 
(ichfeit zurücfehrt, wie es in dem reinen- UÜrbewußtfeyn, in dem Men- 
jchen, wieder in die bloße Möglichkeit zurückgebracht war. Daß im 
Allgemeinen die indishe Maja jene Urmöglichkeit ift, Die (aud) nadı 
unjrer Anficht) dem Schöpfer ſich darftellt, dieß möchte übrigens ſchon 
aus dem Namen erhellen. Ich hatte früher die Vermuthung geäußert, 
die indifhe Maja könnte mit Magia zufammenhangen. In feiner Aus- 
gabe des Bhagawadgita hat A. W. Schlegel in der Iateinifchen Ueber- 
jegung überall dem Wort Maja in Parenthefe Magia beigefügt, auch 
W. v. Humboldt in feiner Abhandlung über diefes indiſche Gedicht thut 
dafjelbe. Im Perfiichen heißt Mog (mit dem Gai): der Magier. Die 
jegige, in Folge der muhammedaniſchen Eroberung verſtümmelte perſiſche 
Sprache fennt fein Zeitwort, von dem dieß Subftantiv herzuleiten wäre. 
Um ſo weniger zweifle ich, bei der anerkannten Grundverwandtichaft, Die 
zwijchen der perfiichen Sprache insbefondere und den germanifchen Spra- 
hen ftattfindet, dag das Perfiihe Mog feine Wurzel in einem, unſerm 


150 

deutſchen Mögen entfprechenden perfifhen Wort hatte, Bon deutjchen 
Mögen aber ſtammt unfer deutſches Möglichkeit, Macht, ſowie noch in 
vielen Mundarten Deutſchlands: ih mag nicht, fo viel bedeutet als: ich 
fann nicht. Magie und fo aud) die indische Maja beveutet daher aud) 
nichts anderes als Macht, Möglichkeit. Und in der That, das ganze 
Wejen jenes noch im Willen ruhenden Könnens ift — Magie. Denn 
nach innen gewendet, iſt e8 das alles Vermögende, das jelbft den Gott 
an fich zieht und feſt hält. Diejes Können in feiner Hineinwendung, 
diejeg eben iſt das Gott Seßende, wie es in feiner Herauswendung 
das Gott im Bewußtſeyn Aufhebende wird. Es ift das — Gott, wie 
wir uns ausprücten, nicht durch Actus, jondern im Gegentheil, durch 
Nicht-Actus, alfo vecht eigentlich; magiſch Setende, Denn magiſch wird 
alles gewirkt, was nicht durch den wirfenden, fondern den bloß wejent- 
lichen, d. h. ruhenden Willen gewirkt wird. Dafjelbe aber, was in 
jeiner Hineinwendung das alles (ſelbſt Gott) Vermögende it, inwiefern | 
es dem Willen ſich als Potenz eines andern Seyns darftellt, infofern 
it e8 aud eine Magie, ein durd Willen an ſich lockender Zauber, 
aber es ift nicht die wahre, es ift Die falſche, die täufchende Magie. 
Es liegt hier der Grund, warum in dem Alten Teftament die Abgötterei 
nit falfcher Magie zufammenhangend, ja als eins mit verjelben ange- 
ſehen wird. So weit alfo will ich die Bergleichung der heſiodiſchen dar 
mit der indischen Maja oder Magia zugeben. 

Alſo — um in den Zufammenhang zuriidzufehren — die erite 
Veranlafferin der Bewegung ift Nemefis, welche dem nod nicht wollen- 
den Willen die in ihm ruhende Möglichkeit, das in ihm ruhende Kön— 
nen zeigt. Aber jet ftellt ſich dieſes Können felbft dem Willen dar. 
Diejes Können ift jedod nur ein Können, wenn e8 in fich bleibt, alſo 
e3 ift nur em ſcheinbares Können, nämlich nicht auch ein Können 
für das Seyn, oder wenn es aus fi, heraustritt; inwiefern es ſich 
aber dem Bewußtſeyn varftellt als unbedingtes Können, injofern ift e8 
ein trügliches Können, eine betrügliche Magie, eine Anarny. In die— 
jem, ſich dem Willen fich als unbedingt darftellenden Können liegt die 
Berfuhung. Eine Verſuchung bedarf es jedenfalls, um den Willen 


151 

zum Heraustreten aus ſich zu bewegen. Darüber ift in allen Vorftellun- 
gen des Altertbums fein Zweifel. Das unmittelbar Verfuchende war 
eben jene-nicht auszufchliegende, täufchende Möglichkeit, deren Doppel- 
finnigfeit nur fpät befiegt wird; fie ift die alte Schlange, weil fte die 
mit dem Menſchen geborene und fo alt ift als das Bewußtſeyn ſelbſt, 
die. er in feinem Buſen hegt, jowie er da ift — die Schlange, die 
ebenjo ſpät auch befiegt wird, Die ein neuteftamentliches Bud) nur am 
Ende der Dinge in dem Abgrumd- verfiegelt werden läßt. Schlangen 
vereinigen fich mit allem, was in den Gebräuchen des Alterthums auf 
diefen geheimnißvollen Vorgang Bezug hat. In Geftalt einer Schlange 
nähert ſich, wie wir bald hören werden, nach dem griechiſchen Mythus 
dem bis dahin freien und über alle Nothwendigfeit erhabenen Bewußt— 
jeyn die bethörende Macht, von der es in den mythologiſchen Proceß 
fortgezogen wird. Eine Schlange wurde in gewiſſen Einweihungen, von 
denen Clemens der Alerandriner fpricht, dem Einzumweihenden durch den 
Buſen gezogen '. Ein Sinnbild jener unglüdlichen Doppelfinnigfeit war 
die Schlange wohl darum, weil fie in ſich ſelbſt ſich zurückkrümmend, das 
zu ſich ſelbſt Gebrachte darftellend, ein Bild der Ruhe, des in fich 
jelbft Beſchloſſenen ift, aber wenn fie fid) aufthut, unverfehens fich auf- 
richtet und erhebt, mit tödtlichem Biß verwundet. Sp weit wäre aljo 
nun erklärt, wie dem Willen die Möglichkeit gezeigt wird. 


‘ Clem. Alex. Protrept. p. 14. 


Achte Vorlefung. 


Wir find bisher durd) folgende Momente fortgefchritten: a) Menſch— 
liches Bemwußtjeyn, und zwar Urbewußtſeyn — Bewußtſeyn in 
jeiner reinen Subjtantialität. Dieſes haben wir- gleichgejett dem zu 
fich jelbit gebrachten, aljo feiner ſelbſt mächtigen Seynfönnen; in diefem 
aber ift als nicht Auszufchliegendes, weil ihm zu Grunde Liegendes, 
die Möglichkeit wieder in das Seyn überzugehen. b) Die Macht, die’ 
das bloß Zufällige nicht duldet. Zufällig nennen. wir insgemetn das, 
was feyn konnte und nicht ſeyn Fonnte; aber auch das bloß ſeyn und 
nicht jeyn kann, ift ein Zufälliges, weil e8 das, mas es ift, nämlich 
Seynfönnendes, ift und nicht ift, namlich nicht jo ift, daß es nicht 
das Gegentheil ſeyn könnte, Ein Zufälliges ift ferner auch, was un— 
abhängig von fich felbjt, alfo in Anfehung feiner felbft zufällig — 
ohne fein Wollen — ift, was e8 ift. Ein Zufälliges ift eben darum 
auch das unverdient Glückliche. Die Macht alfo, welche (um dieſe ver: 
ſchiedenen Bedeutungen zufanmenzufafjen) dem unentſchiedenen, dent, 
das, was es ift, bloß zufällig — infofern unverdient — Seyenden, 
abgeneigt ift, diefe Macht ift Nemefis. Dieſe alfo ift es auch, welche 
dem bis jett bloß zufällig als feiner ſelbſt Mächtiges Geſetzten die Mög— 
lichfeit zeigt, aus der reinen Subftantialität herworzutreten, ihm jene 
in ihm verborgene Potenz zeigt. Das dritte Moment (e) ift daher eben 
dieſe Möglichkeit, fofern fie wirklich dem Bewußtſeyn ſich darftellt. 
Diefe Möglichkeit ift aber, wie ſchon gezeigt, eine täufchende, trüge- 
riſche, ja fie ift gleichjam der erfte Betrug. Im diefem Stun ift die 


153 


"Anerı bei Hefiodos zu verftehen, welche er ebenfalls zur Tochter der 
NvVE macht. 

Nachdem num aljo dem Willen diefe Möglichkeit gezeigt und er in 
den Fall gefett iſt ji zu entjcheiven, jo ift das Nächfte auf unferm 
Weg, alfo das vierte Moment (d), daß der bis jett ruhende Wille das 
ihm gezeigte Seyn wirflid will, aljo aus dem lautern Seynfönnen, 
das er ift, fich wirflich erhebt in das zufällige, zugezogene Seyn. Don 
dem Vorgang jelbit läßt fi) num weiter nichts jagen, als eben, daß er 
fich ereignet, daß er ſich begeben hat; ev ift, dar ich fo rede, die Ur: _ 
thatjache ſelbſt (Anfang der Gefchichte), das Factum — das Gefchehene 
zart &8oyyjv. Er ift in Anſehung des menjchlichen Bewußtſeyns das 
Erſte, was ſich überhaupt begibt, das Urereiguiß, die unmiderrufliche 
That, die, einmal gefchehen, nicht zurücdgenommen, nicht wieder unge- 
ichehen gemacht werden fan, Diefer Vorgang fällt — wie ohnedieß 
alles ihm ſelbſt Borausgegangene — noch ganz ins Uebergejchichtliche, 
und ift das, deſſen ſich Das Bewußtſeyn jelbjt in der Folge nicht mehr 
bewußt ſeyn kann. Er tft jener übergefchichtlihe Anfang der Mytho— 
logie, auf den wir früher geführt worden. Er ift der älteſte Urzufall 
jelbit, er in jener Fortuna primigenia dargeftellt, welche zu Prä— 
nejte als ein uraltes, bis vom Urjprung des römischen Staats ſich her- 
jchreibendes Bild verehrt wurde, im welcher das jeyn und nicht ſeyn 
Könnende (das ift Fortuna) als das erfte Princip, die erfte Macht 
alles Seyns gefeiert war. Jener Borgang ift das unvordenflidye Ver- 
hängniß; Das unvordenkliche, weil er der Borgang ift, vor dem ſich das 
Bewuhtjeyn nichts denken, nämlich nichts ji erinnern kann. Ein 
Berhängniß aber tft er, nicht allein weil er in einem zwiſchen Be— 
finnung und Befinnumgslofigfeit zweifelhaften — in der Mitte ſchwe— 
benden — Zuftand ſich ereignend gedacht werden muß, fondern vorzüg- 
(ich, weil ſich der Wille durch den Erfolg, den nicht beabjichteten, 
auf eine ihm jelbft in der Folge nicht mehr begreifliche Weife überrafcht 
jieht. Denn er glaubte, in der Wirklichkeit noch. eben daſſelbe bleiben 
zu fünnen, was er in der Möglichkeit war, aber eben darin findet er 
fich getäufcht, er ift alſo jelbit von der Folge feiner That überrajcht, 


154 





fie ftellt fich ihm dar als das nicht Gewollte, Unverjehene, Uner- 
wartete. 

Nur die Folge der That bleibt im Bewußtſeyn. Bis zu dem 
Vorgang felbft. reicht Feine Erinnerung zurüd. Denn das jest — nad) 
der That — entjtehende Bewußtſeyn ift das erfte wirkliche Bewußt— 
jeyn (vor ihm tft nur das Bewußtſeyn in feiner reinen Subftantialität): 
diefes erjte wirkliche Bewußtfeyn kann aber des Acts, durch dem e8 
entftanden ift, nicht fich felbft wieder bewußt feyn, meil es durch dieſen 
Act ein völlig anderes geworden und von feinem früheren Zuftand ab- 
geichnitten ift. Zur Erinnerung gehört Identität (Einerleiheit) des jet 
Seyenden (fi Erinnernden) und defjen, welches Gegenftand der Erin- 
nerung tft. Wo dieſe Identität aufgehoben ift, findet Feine Erinnerung 
ftatt, wie und die fogenannten Somnambülen zeigen, die im höchften 
Zuftande der fogenannten elairvoyance ein ſehr helles, erleuchtetes 
Bewußtſeyn zeigen, aber im darauf folgenden wachenden Zuftand fich 
nichts von dem erinnern, was fie während des Hellfehens gethan oder 
geiprodhen haben, meil e8 in der That eine andere Perſon ift, die fich 
im jenem, und eine andere, die fi) in dem gewöhnlichen wachen Zu= 
ſtande befindet. 

Jener Borgang felbft alfo, durch welchen das Bewußtfeyn von nun 
an einem unabwendlichen Schieffal unterworfen ift, diefer Vorgang ver- 
finft für das nun wirklich gewordene, fich felbft enffremdete Bewußtſeyn 
nothwendig in eine ihm unergründliche Tiefe. 

Die dunfeln Spuren dieſes Vorgangs finden ſich darum erft in 
der fpätern Mythologie. Denn was im Anfang eines Proceffes ift, 
wird erft durch das Ende Flar. Die Mythologie entſteht aber in einem 
Proceß, deſſen Ende in der griehifchen Mythologie iſt. Deßwegen 
finden wir die Geftalten, welche dieſen erften Momenten des mytholo- 
giihen Proceſſes entfprechen, vorzüglich exft in der griechifchen Mytho— 
logie. So in Anfehung der Nemefis, oder der erften, veranlaffenden 
Urjache des Proceſſes. Und fo aud die Spuren des wirklichen Bor- 
gangs, durch den das Bewußtſeyn der mythologijchen Nothwendigkeit 
unterworfen worden, auch dieſe finden fi nur in der griechifchen 


155 
Mythologie, insbejondere in den zur Berfephone-Lehre gehörigen My— 
then, welche ich darum zulegt erwähne, weil wir in der Geftalt der Perfe- 
phone für ſich allein alle jene bis jetzt unterfchiedenen Momente vereint 
antreffen. Eh’ ich jedoch ausführlich den Begriff der Perjephone er- 
kläre, ift e8 nöthig, einiges. vorauszufchiden. 

Das urjprüngliche Wejen des Menjchen ift das jeiner jelbft Mäch— 
tige = A, aber nicht bloßes A, fondern es ift A, das B, zwar nur 
als Materie und jo als Potenz, aber eben darum als Möglichkeit des 
anders-, des niht = A-Seyns in fich hat. An diefem A, das B ale 
Potenz in ſich hat, tft A das Hervorgebradhte, Erſchaffene, A tft der 
eigentliche Menſch (B ift älter als der Menſch, das verführende Prineip, 
darum aud mächtiger als der Menfh)'. Diefem A, aljo dem Men- 
chen, iſt jene Potenz gleichjam zur Bewahrung übergeben, fte iſt in 
jeine Gewalt gegeben, over A felbft ift eben der Wille, in den B ge 
jtellt ift. Wir bemerften dabei zugleich, daß dieſe Möglichkeit für ſich 
nichts ſey und nichts vermöge, wenn fich der Wille nicht zu ihr jchlage, 
und wir fahen uns dabei unwillfürlih veranlaßt zu jagen, dieſe für 
fich nichts vermögende Möglichkeit jey bloße Weiblichkeit, ver Wille 
deſſen, durch den fie erjt etwas jey oder werben fünne, Männlichkeit. 
Dieſer Ausdruck war nicht ein Fünftlicher, jondern ein natürlicher und 
von ſelbſt ſich ergebender, und darum auch dem mythologijchen Bewußt— 
ſeyn nur natürlich. — Nicht von der Geſchlechtsdoppelheit in der Natur 
iſt er hergenommen und nur übergetragen auf jene intelligibeln Princi— 
pien, ſondern umgekehrt, von dem erſten Princip alles Daſeyns leitet 
ſich die Geſchlechtsdoppelheit in der Natur her. Hat doch ein ſpäteres, 
ſchon philoſophiſches Bewußtſeyn in den Pythagoreern nicht umhin ge— 
konnt, die Zahlen als Kinder anzuſehen, welche die Monas (die Ein— 
heit, als das Männliche) mit der Dyas (dem — und — ſeyn Können— 
den, als dem Weiblichen) erzeuge. War aber jene im Bewußtſeyn ge— 
ſetzte Möglichkeit des anders-Seyns einmal als weiblich gedacht, ſo wurde 
ſie unvermeidlich auch als Perſon vorgeſtellt. Es bedurfte dazu keiner 


I Sowie es B ift, iſt es nicht mehr Er (dev Menſch). Er iſt es, inwiefern A. 
Dem A tft das Erichaffene. 


156 
fimftlichen Perfonification. Können doch wir ſelbſt, wenn wir von jener 
Urmöglichfeit fprechen, die dem Schöpfer ſich darftellte, uns nicht ent- 
halten, fie als weibliches Weſen, und demnach al8 perjünlich zu denken, 
um jo mehr, als wir fie ja als die Urmöglichfeit, d. h. als die Mög— 
lichkeit, die ihres Gleichen nicht hat, gedacht haben, wodurch fie ja 
ſchon etwas Individuelles und Perſönliches erhält. Freilich, die bloß 
abftraften Begriffe einer gewöhnlichen Philofophie wird man nicht ver 
ſucht jeyn als Perfonen vorzuftellen. Aber die Philofophte, auf deren 
Boden wir ung bier befinden, hat nicht mit bloßen Begriffen, fondern 
mit wahren Realitäten, wirklichen Wefenheiten zu thun. Jene Urmög- 
lichkeit ift nicht eine Kategorie, fie ıft ein wirkliches, wenn aud bloß 
mit dem Verſtand zur faffendes, intelligibles Weſen, und nichts Allge- 
meines (nicht die Möglichkeit überhaupt), jondern die beftimmte Mög- 
lichfeit, welche Die einzige in ihrer Art ift, die nur einmal exiftirt. 
Ebenjo nun, wenn wir jagen: die im Urbewußtfeyn geſetzte, ihm zu 
Grunde liegende Potenz des anders-Seyns, die ſe Potenz ift Perfephone, 
jo meinen wir nicht, fie werde durch Perfephone bedeutet; der my— 
thologifchen Vorſtellung ift fie Perjephone, und umgekehrt, Perſephone 
bedeutet nicht bloß jene Potenz des Urbewußtjeyns, fie ift fie ſelbſt. 
Nun muß id) aber nody an etwas erinnern, Das fi) auch früher ſchon 
gezeigt hat. Das feiner jelbjt mächtige Seynfönnen hat, eben weil das 
jeiner ſelbſt mächtige — weil Bewußtſeyn —, ſich als Möglichkeit 
in fi); diefe im Bewußtſeyn geſetzte Möglichkeit, alſo dieſes im Be— 
wußtſeyn gefeste Seynfönnende und das im Bewußtſeyn Seyende 
find aljo nicht zweierlei, nicht außereinander, jondern ineinander und 
wahrhaft ein und daffelbe. Inwiefern alfo im Bewußtſeyn das Seyende 
(das fih als Männliches oder als Wille verhält) und das Seynkön— 
nende (die Möglichkeit des anders-Seyns, die ſich als Weibliches ver- 
hält) nod) ineinander find — fie find aber noch ineinander, „denn Das 
bloße nicht A feyn Könnende ift infoweit felbft noch — A, und von 
dent A fjeyenden nicht verſchieden —, inwiefern fie alfo ineinander 
find, infofern find in dem Bewußtſeyn aud) Männliches und Weibliches 
ineinander, d. h. das Bewußtſeyn felbft ift gleichſam androgyner Natur. 


157 
Diefes vorausgefegt — vorausgefegt, daß Perſephone nichts anderes 
ift als die Möglichfeit des anders-Seyns, die fich aber dem Willen nad) 
gar nicht gezeigt hat, audy nicht einmal als entgegenftehenv, d. h. ala 
Weibliches, ſich weiß —, ſolang alſo jene Potenz aud im Nichtwiffen 
über ſich ſelbſt iſt, iſt ſie, wie wir ja auch zu ſagen gewohnt ſind, im 
Zuſtande der Unſchuld, da Männliches und Weibliches nicht geſchieden 
find (feine Unterſcheidung beider ift). Unſchuld, die won Geſchlechts— 
doppelheit nichts weiß, ift Jungfräulichkeit — Jungfräulichkeit iſt nicht 
insbefondere Weiblichkeit (fie kann ja aud) von dem männlichen Geſchlecht 
prädicirt werden), jondern Gejchlechtsunentfchievenheit. Perſephone tft 
daher die Jungfrau, #607, und zwar zur 2£oyjv, da fie jo, 7 
Köon, die Jungfrau genannt wird. Perſephone ift im Bewußtſeyn 
das Seynkönnende — injofern das Weibliche, aber das dem Männlichen 
noch nicht entgegengeftellt, noch nicht als das Weibliche gejett ift — 
daher das Jungfräuliche. Solang nun das Seynfönnende in diefer reinen 
Wefentlichfeit (Gegenjaglofigfeit) bleibt, tft e8 feiner Nothwendigfeit un— 
terworfen, über alle Anfechtung erhaben!. Darum alſo wird Perſe— 
phone ſchon in Älteren (noch griehiichen) mythologiſchen Philofophemen 
dargeftellt, als in einer unzugänglichen Burg wohnend, feiner Gefahr 
zugänglich, als die, der nichts anzuhaben, die gegen jeden Umfturz ge- 
jichert ift. Dieſer Ausdruck: Perſephone ſey wie in einem fichern Ber- 
wahrjam, erinnert an das Wort der Pythagoreer, indem fie nämlich 
jagten: Umo ToV FEOV WONEO Ev P00oVog Neoıeılmpöaı ro nav 
(von Gott fey das Al’ wie in einem Verwahrſam gehalten; erinnern 
Sie fih, was ſich früher gezeigt, wie insbejondere der Menſch zwifchen 
den drei göttlichen Potenzen eingefchlofjen ſeyſ. Aber näher nod) Liegt, 
daß ganz überemftimmend damit die ältefte Erzählung (die moſaiſche) 
den urjprünglihen Menjchen in den Ort der Freude, der Wonne ver: 
jegt, und zwar der Freude, der Seligfeit zur’ &£oyyv. Denn hier 
ift alles urfprünglich; wie die Möglichkeit, von der wir reden, die Ur- 
möglichkeit ift, die Möglichkeit aller andern Möglichkeiten, wie der Zır 
fall, daß der Menſch von feinem Weſen abweicht, ihm abtrünnig wird, 
' Bol. hiezu Creuzer Th. IV, ©. 546. 


158 
nicht ein bloß zufälliger Zufall, ſondern der Urzufall ift, Die wahre 
Fortuna primigenia, der Zufall, von dem erft alle andern Zufälle 
berfommen, ſo ift aud) jener Drt der Freude, der Ort der Freude 
zur 8Eoyıv. Was nun in jenem Mythus won der Perfephone, 
fowie bei den Pythagoreern, eine göttliche Burg oder Verwahrſam ge- 
nannt wird, ift in der Erzählung des A. T., die ich auch hier: wieder 
nur als Urkunde des höchſten Alterthums betrachte, im Grunde ganz 
ebenfo bezeichnet. Denn auch diefer ift jener Ort der Freude ein um: 
hegter Raum, auch fie verſetzt den urfprünglichen Menſchen nicht in 
das Weite und Grenzenlofe (Emreıoov) — dahin wird er vielmehr 
ipäter hinausgeftogen —, fondern jener Ort der Freude ift ihr ein Gar- 
ten. Ein Garten ift aber aud) nichts anderes als ein gejchlofjener, 
verwahrter Raum. Das Berbum, von dem das Wort Garten im He- 
bräifchen herfommt, bedeutet: eircumelusit, circum - munivit, septo 
conclusit, das arabiſche: texit, protexit, tutatus est.. Auch der Begriff 
göttlicher Beihirmung gehört hieher. Das Große ift ſich überall gleich; 
die Gefühle, durch die ein Sophofles uns bewegt, die Gedanken, durch 
die ung Pindar anlodt, ebenjo was in der Mythologie Wahres iſt 
(und das eben ſuchen wir, nicht der Meinung, ſie ſey eitel Fabel), 
und die Anſichten, die dieſe Alten vom menſchlichen Schickſal und 
Leben ausſprachen, ſie lagen bereits in der Mythologie und waren in 
dieſer präformirt, und die Anſichten dieſer großen Alten, ſie finden ſich 
auch im Hiob und in den Pſalmen. Perſephone vor ihrem Fall iſt 
wie in göttlichem Verwahrſam — und ſelig, ſagt ein Pſalm, der 
Menſch, der im Schatten des Höchſten ruht und im Schirm des 
Allmächtigen wohnt. Derjenige wohnt im Schirm des Allmächtigen, 
der ſein Können bewahrt, es nicht vergeudet. Denn wie derjenige 
ein edler Mann heißt, der nicht alles thut was er kann (z. B. er 
könnte ſich rächen, aber er rächt ſich nicht), ſo verdient der ein From— 
mer zu heißen, der ſein Können Gott unterwirft, es in Gott verſchließt 
und bewahrt. Die Principien, mit denen wir hier uns beſchäftigen, 
ſind auch die innerſten der Philoſophie; aber eben daran erkennt man 
die Tiefe in der Wahrheit philoſophiſcher Principien, daß ſie zugleich 


159 


von der tiefften fittlihen Bedeutung find. Sehen Ste daher diefe fitt- 
lichen Betrachtungen nicht als Abjchweifung an. Erfennen Sie daran 
den tiefen Ernft der Prineipien, die ih Ihnen zu verdeutlichen fuche, 
— Aud im Deutjchen bedeutet das. Wort Garten urfprünglich jeven 
eingejchlofjenen, verwahrten Platz; — verwandt mit dem franzöfifchen 
garder, behüten, hat e8 die allgemeine Bedeutung eines befriedigten, 
umſchirmten, eingehegten Raumes, ja in den älteften Zeiten beveutete 
Gard auch eine Burg, ‚wie aus den Namen fo vieler auf „gard“ fich 
endenden Schlöffer und feiten Städte erhellt. 

Wenn ich einen Zug der Perjephonelehre mit dem verglichen habe, 
was die Erzählung der Genefis von dem Aufenthalt des erften Men- 
ſchen fagt, fo würde. eine ſolche Uebereinftimmung ganz unrecht benugt, 
wenn man fie anwenden mollte, zu bewerten, daß alle mythologifchen 
Borftellungen nur Entjtellungen biblifcher, geoffenbarter Wahrheiten jeyen. 
Dieß könnte nur jeyn, wenn wir jene Borftellung jelbit als bloß zu— 
fallige anjehen dürften. Alleın ich habe gezeigt, oder vielmehr die Natur 
diefer Borftellungen jelbft hat gezeigt, daR fie mit Nothwendigfeit fich 
erzeugende find, aus ber tiefften, innerften Natur des Bewußtſeyns her- 
vorgehen. Sie find aus derfelben Duelle geſchöpft, aus welcher auch 
die. Offenbarung geſchöpft ift, nämlich aus der Quelle der Sade felbft, 
und wenn id) auf dieſe Uebereinſtimmungen aufmerfiam gemacht, jo war 
es hauptjählih, um Ihnen diefe Gevanfen als nothwendige Ge- 
danfen zu zeigen, wie e8 überhaupt felbft Abficht diefer ganzen Entwid- 
lung ift, Ste wieder auf jene uralten, jene Urgevanfen zu leiten, die, 
wie die Urberge, an denen jo viele Menjchengefchlechter vorübergegangen 
find, nod) ftehen werden, wenn jo manche Gedanken, die nur von ge- 
jtern find, völlig verweht jeyn werden. — So viel überhaupt zur Erflä- 
rung der Yungfräulichfeit ver Perſephone, d. h. eben des Urbewußtſeyns 
in jeinem Urzuftand, zur Erklärung insbejondere jenes Ausdrucks, daß fie 
in dieſem Zuftand wie geborgen in einer unzugänglichen Burg war, er- 
haben über alle Nothwendigkeit. Indeß eben die, welche in diefer Inner- 
lichkeit und Abgeſchiedenheit fich jelbft gleich ift, kann ſich ungleich, wer- 
den. Schon griedhifche Philoſophen, Pythagoreer und dann wieder 


160 

Neuplatonifer, haben daher die Doppelheit in der Perjephone erfannt und 
eine doppelte Perfünlichfeit unterjchteden, 1) die, wie fie jagen, ganz 
drinnen, innerlich bleibende (Evdov 647 uevovoe'‘), 2) die herausge- 
gangene (mooieroe). Selbſt in dem lateinifchen Namen Pro-serpina 
ift der Ausdrud des unerwarteten Hervor= oder Herausgehens zu finden, 
Das eigentlihe Seyende diefes Moments ift das aufgerichtete feiner 
jelbft mächtige Seynfönnen, aber eben dieſes hat das Seynkönnen (Die 
Potenz des anders-Seyns) in fic) als etwas won dem es nichts weiß; 
die Potenz ift das vom Seyenden nur nicht Auszufchließende, das ohne 
fein Wifjen in ihm iſt. Wie ſie aber in dem Seyenden tft, ohne von 
ihm bemerkt zu jeyn, ſo hat fie für dieſes, wenn fie ihm erſcheint 
und fid) bemerflich macht, etwas Ueberrafchendes und durch Ueberra- 
ihung e8 Bethörendes. Dieſes Hervortreten ift infofern ein pro -ser- 
pere; es liegt in diefem Ausdruck die Andentung des Stillen, Uner— 
warteten, nicht Vorgefehenen der Bewegung, und aud) hier erinnert der 
Name (Proserpina) wie die Sache an die Schlange (serpens), die eben 
von der unbemerften, leifen Bewegung ihren Namen hat. 

In ihrem Herausgang alfo (in ihrem 7060006, ein Wort, das 
die Pothagoreer von der Dyas gebraucht haben), wie fie. zuerft (ideal) 
hervortritt und im Seyenden ſich zeigt, ift fie das Unverſehene, Nicht: 
gedachte, ſchon als dieſes wird fie darum auch Fatum, Verhängniß, 
M60o0g genannt, deßgleichen Fortuna (alles Begriffe, mit denen ſchon 
ältere Philofophen das Wefen der Perfephone bezeichnen). Fortuna im 
Allgemeinen ift das ſtets Bewegliche, ſich jelbft niemals Gleiche, 
das Unftete überhaupt. Aber als wirklich hevvorgetretene iſt Perſe— 
phone beftimmt Fortuna adversa, Unglück, Mißgeſchick, und zwar 
wird fie wieder, nicht als das felbft bloß zufällige Unglüd gedacht, ſon— 
dern als das Unglück zer’ e$oyyv, als das erfte Unglüd, als ver 
Ur-Unfall, von dem erft alle andern Unfälle ſich herfchreiben?, lauter 
Beftimmungen, dert freilid) das mythologiſche Bewußtſeyn in der erſten 
Erzeugung dieſer ſeiner Vorſtellungen ſich nicht ſelbſt bewußt ſeyn konnte, 


Vgl. ebendaſelbſt ©. 546. 
Ebendaſelbſt S. 543. 


161 

die es aber doch in Folge eier uns wohl begreiflihen Nothwendigkeit 
in derjelben niederlegte. Uebrigens bemerfe ich noch, daß die Pytha— 
goreer nicht die Perfephone aus ihrer Lehre von der Dyas, fondern 
umgefehrt ihre Lehre won der Dyas durch Anspielungen und Beziehun- 
gen auf die Perfephone zu erläutern fuchten. Die Övas ift ven Py— 
thagoreern nichts anderes als die Potenz, die hineingewendet der words 
gleich, erjt herausgewendet ihr ungleich ift. (Der Begriff diefer Potenz 
mit dem Anfang der Philoſophie.) Wer fi über diefen Zufammenhang 
weiter unterrichten will, den verweiſe ich auf das Creuzerſche Werf, 
wo er einen eignen Excurs über den Zufammenhang der Perjephone 
mit der. Dyas finden wird; denn ein Vorzug des genannten Werks ıft 
eben diefer, daß es gerade die Perfephone-Lehre mit befonderer Liebe 
und großer Ausführlichfeit behandelt hat. In der That ift im dieſen 
auf Perſephone fich beziehenden Mythen der Schlüfjel ver ganzen My— 
thologte durch dieſe jelbit gegeben, und es ift injofern nur zu verwun— 
dern, wie diefe bis in die innerften Tiefen des menſchlichen Daſeyns 
und Bewußtſeyns zurücdgehenden Anfänge der Mythologie, die ſich eben 
in. dev Perſephone-Lehre darftellen, wie diefe den gelehrten Creuzer nicht 
davon liberzeugten, daß die Quellen der Mythologie tiefer zu juchen 
find, als in einem bloß empiriſch, bloß äußerlich und geſchichtlich in 
der Menjchheit vorauszufegenden Monotheismus. Die Mythologie it 
mit ihren legten Wurzeln, wie eben die Perſephone-Lehre zeigt, in das 
Urbewußtſeyn des Menſchen ſelbſt eingewachſen. 

Aelter als jene auf die Perſephone-Lehre Bezug nehmenden Phi— 
loſopheme der Pythagoreer find Die auf Die Perſephone ſich beziehen- 
den Lehren der griechiſchen Myſterien. Unter den Myſterien verfteht 
man befanntlich eine neben der öffentlihen Götterlehre (dev Mythologie) 
hergehende und neben ihr beftehende, geheime, d. h. nur den Einge- 
weihten mitgetheilte Götterlehre. Da die Myfterien nichts anderes als 
das Innere, das Eſoteriſche der Mythologie ſelbſt ſind, und dieſes, 
wie mehrmals bemerkt, erſt am Ende des Proceſſes dem Bewußtſeyn 
ſelbſt ſich erklärt, ſo gehören auch die Myſterien allerdings nicht der 
Urzeit der Mythologie, ſondern ihrer letzten Entwicklung an, wie ſich 

Schelling, ſämmtl Werke. 2. Abth. I. 11 


162 
uns dieß in der Folge noch genauer zeigen wird. Die myfteriöfen Bor» 
ftellungen find alfo immer noch Erzeugniffe des mythologiſchen, aber 
gegen das Ende des Procefjes auch über die Anfänge far gewordenen 
Bewußtſeyns. Inſofern freilich find fie nicht der mythologiſchen Urzeit 
gleichzeitige, aber darum doc nicht weniger von Urjprung der Mytho— 
logie fich herſchreibende Vorftellungen, wie die Frucht einer Pflanze ver 
äußern Erſcheinung nad) das Letzte ift und dennoch im Keim ſchon prä- 
deftinivt war. In einer folhen, zur Myſterienlehre gehörigen Vorſtel— 
(ung wird alfo der Uebergang jo bejchrieben: die bis jett jungfräuliche 
und in jungfräulicher Abgeſchiedenheit verborgene Perjephone wird in 
Geftalt einer Schlange von Zeus (Yupiter) befchlichen, der ihr Gewalt 
thut (Sudlereı Uno rov Arös), alfo fie aus ihrer Yungfräulichfeit 
jeßt. — Daß es hier erftens überhaupt der Gott ift, der Perjephone zu 
Fall bringt, ift ganz natürlid. Denn eben meil das Bewußtjeyn in 
der Folge fid) der eignen That nicht erinnert, fo ſchreibt e8 auch dieſen 
Uebergang in den Zuftand der Unfeligfeit der Gewalt zu, die ihm über 
haupt ein Gott angethan. Daß es aber Zeus, d. h. das Haupt der legten 
Götterdynaſtie, darum felbft ver legte unter den mythologiſchen, auf- 
einander folgenden Göttern ift, der dieſe Gewalt verübt, zeigt nur wieder 
an, was wir fchon wiſſen, daß dieſe myſteriöſe Borftellung der fpäteften 
Zeit des mythologiſchen Bewußtſeyns angehört; erflärt aber wird es 
durch folgende Erwägung. Für das mythologifche Bewußtſeyn der Griechen 
hatten alle früheren Götter in Zeus geendigt. Alle früheren Götter waren 
nur Uebergänge zu ihm. Infofern waren nun aud) alle früheren Götter 
Zeus; denn alles Fortichreitende wird in der Kegel nad) dem benannt, 
wozu e8 ſich zulegt bejtimmt. In allen früheren Göttern war eigentlich 
nur Zeus, fie waren alle nur vorläufige und daher unvollfommene 
Erſcheinungen defjen, der in feiner legten Geftalt als Zeus hervortrat. 
Hier entftand der befannte Spruch der DOrphifer: Zeus der erfte und 
Zeus der legte, Zeus der Anfang, das Mittel und das Ende. Inwie— 
fern alfo Zeus gleichfam ver Erbe aller früheren Götter war, fonnte 
die mythologiſche Imagination ihm auch das zufchreiben, was unbeftimm- 
bar lange vor feiner Zeit fid) ereignet hatte. Zeus, können wir jagen, 


163 


ift dad Ende, alſo aud) die Endurſache der ganzen mythologiſchen Be— 
wegung der Griechen, und wird darum aud) als bewirfende Urſache 
vorgeftellt. Ohne das Herausgehen der Perfephone wäre gar Feine My— 
thologie, und ohne Mythologie fein Zeus. Es iſt daher, fo zu reden, 
das Intereſſe, und demnach auch, wenn man aufs Ende fieht, das 
Verf des Zeus. Doch folang Perjephone, die Botenz des Urbewußt— 
ſeyns, im jener reinen, fich ſelbſt nicht kennenden Abgeſchiedenheit bleibt, 
ift fie durch) nichts. zu bewältigen, gleichfam an einem fichern Ort, gegen 
alle Gefahr geborgen. Aber ſowie fie fid) als die unheilbringende Mög- 
lichfeit wer, iſt fie ſchon die leidige Dyas, ſchon in Gefahr, der Lau- 
terfeit verluftig zu werden. Sobald fie ſich aber wirklich aus der jung- 
fräulichen Zurücdgezogenheit erhebt, ſich nach außen wendet, da fie viel» 
mehr als die göttlich gefeßte, Gott jeßende, innerlich, in einem nicht 
bloß umeigentlihen, jondern im eigentlichen, ja wörtlichen Verftand in 
Gott, das wahre Innere der Gottheit bleiben follte — ſowie ſie ſich 
wirflih nad) außen neigt, ift fie von nun an einem unabwendlichen 
Proceß unterworfen und jchon jett eigentlid) das dem Untergang ge- 
weihte Bewußtſeyn; denn dem zugezogenen Seyn nad) ift fie ja das nicht 
jeyn Sollende, und jo — als die vom Anfang an dem Untergang 
geweihte, dem Gott der Unterwelt, dem Hades, ver fie in der Folge 
wirflidy raubt, verfallene, wird Perſephone durchgängig, und zwar nicht 
bloß in den Myſterien, fondern aud in der öffentlichen Götterlehre, in 
der eigentlichen Mythologie dargeftellt. 

Perjephone fommt in der wirklichen Mythologie, fie kommt z. B. 
in dem theogonifchen Gedicht des Hefiodos nicht eher vor, als da, wo 
jie dem Hades wirklich verfällt, von ihm geraubt wird. Aber — fie Sit 
von Anfang an in ver Mythologie; fie wird als das, was jte tft, 
nur erſt erfannt, indem fie auch im mythologiſchen Bewußtſeyn jelbit 
ald das nicht jeyn Sollende, ald das Unrechte, das Siniftre, er- 
flärt wird. 

Sp viel nun vor jegt von Perfephone, die das dem mythologiſchen 
Bewußtſeyn unterworfene, den ganzen Proceß erduldende Bewußtjeyn 
ift, und fo viel überhaupt von jenem verhängnißvollen Uebergang, durch 


164 
den in weiterer Folge der mythologiſche Proceß als eine unausweichliche 
Nothwendigkeit geſetzt iſt. 

Faſſen wir alle bisherigen Beſtimmungen zuſammen, ſo wird dieſer 
Uebergang veranlaßt: erſtens durch eine Selbſttäuſchung des Bewußtſeyns, 
in der jene Möglichkeit — die dem Menſchen anvertraute und gleichſam 
zur Bewahrung übergebene Potenz, ihm erfcheint als eine ihm aud) 
zur Berwirflihung übergebene, da fie ihm doc num übergeben ift, um 
fie als Möglichkeit zu erhalten. Der Menſch, d. h. das Seyende des 
Bewußtſeyns, ftellt fi vor, jene Potenz oder Möglichkeit werde ihm 
auch dann noch unterthan ſeyn, wenn fie fid) zur Wirflichfeit erhebt, 
da fie ihm doch nur unterthan ift als Potenz und jofern fie innerhalb 
der Schranken des bloßen Könnens bleibt. Aber wenn er fie zur Wirk- 
lichfeit erhebt, wendet fie fih gegen ihn ſelbſt und zeigt ihm ein ganz 
anderes Antlis, und ftatt ihm unterthan zu ſeyn, macht fie vielmehr 
Ihn ſich unterthan, und Er ift nun vielmehr in der Gewalt dieſes 
Principe, das auch nicht mehr in ven Schranken des menjchlichen Be- 
wußtſeyns ſich hält. Denn das zu Grunde Liegende des menſchlichen 
Bewußtſeyns war es eben als bloße Möglichkeit. Zur Wirklichkeit 
wieder erhoben überjchreitet e8 vdiefe Schranfen. Der Menſch war 
darin Gott gleih, daR er jenes Urprincip des Seyns in fich hatte, 
aber er hatte es nur im fi) als ein ihm gegebenes, feineswegs fo, 
wie e8 Gott in fich Hatte, als ein ganz in feiner Freiheit jtehenves. 
Indem der Menſch e8 wieder in Wirkung fest, will er wie. Gott jeyn; 
aber dieſes Princip ward ihm nur übergeben, um es als Möglichkeit zu 
bewahren, und nicht, um es in Wirkung zu jegen. In der Erzählung 
des U. T. heißt e8 von dem Menjchen: Gott jegte ihn in den Garten, 
daß er ihn bauete und bewahrete (beive Ausdrüde). Bauen wird im 
Hebräifchen durch ein Wort ausgevrüdt, das, wie das colere, Deum 
und terram beveutet. Die Grundbedeutung von colere ſchimmert viel- 
leicht noch in oceulere (verbergen) dur. Jenes Princip, das im Ge— 
heimniß, verborgen, erhalten, beftändig verfühnt werden foll, ift ver 
Gegenftand alles urfprünglihen Eultus. Denn indem der Menfch 
dieſes Princip in ſich niederhält, erbaut er gleichfam vie Gottheit in 


ſich (mat «8 zum Grund der Gottheit), Jenes Prineip war ihm 
übergeben, um es in feinem Esse, alfo in ver Potenz, zu erhalten, 
und um es zu bauen, d. h. e8 in dieſer Subjeftion (als Grund der 
Gottheit) zu erhalten, daß die früheren, durch den Naturproceß ſchon 
überwundenen Gewalten nicht wieder aufſtehen. Er jedoch will das 
Princip, das ihm nur übergeben-ift, um es als Möglichkeit zu bewah— 
ren, wie Gott in Wirkung ſetzen und inſofern als Gott ſeyn!. 

Aber eben dadurch, daß der Menſch jenes Princip wieder poſitiv 
(herrſchend) macht, geht er ſeiner Gottähnlichkeit verluſtig. Bekanntlich 
ſagt in der Erzählung des A. T. der Jehovah von dem Menſchen nach 
dem Fall: Siehe, der Menſch iſt worden wie einer von uns. Von 
jeher war dieſe Stelle ein wahres Kreuz der Auslegung, denn ſie konnte 
nicht umhin, jene mutationem in pejus, die ſich mit dem urſprüng-⸗ 
lichen Menſchen zugetragen hatte, als einen Verluft der Gottähnlichkeit 
anzujehen, und doc jagt in der Erzählung des A. T. der Gott, der 
jo eben dem Menſchen die Folgen feines Ungehorfams angefündigt hat, 
‚mit deutlichen Worten: Siehe, der Menſch ift worden als unfer einer, 
worin alfo zu liegen fcheint, dag er tem Gott vielmehr ähnlich als 
unähnlich geworden ſey. Alle bisherigen Verſuche, dieſe Schwierigfeit 
zu heben, müſſen einer unbefangenen und vorurtheilsfveien Prüfung als 
bloße Nothhülfe erfcheinen. 3. B. hätte man gern überjegt: Siehe, der 
Menſch iſt geweſen mie unfer einer; aber außer dem, daß dieß, 
nad) dem mas vorhergegangen, eine jehr überflüffige Aeußerung ge- 
wejen feyn würde, jo erlaubt auch die Analogie der Sprache diefe 
Ueberjegung nicht. Man half fih alſo damit, die Stelle ironisch zu 

' Mit dem „Bauen des Gartens” fonnte ja nicht gemeint ſeyn, daß der Menſch 
das Feld des Gartens bearbeiten jollte; die Arbeit wird vielmehr erft nach dem 
Tal als Fluch verhängt. Den Garten bauen wird aljo hier nur analogiſch ge— 
jagt. Die göttlihe Offenbarung (wenn wir die Erzählung im A. T. als eine 
folhe betrachten) Fonnte den Vorgang nur den Schranken des damaligen menſch— 
(ihen Bewußtjeyns gemäß darftellen. ine Analogie findet hier wirklich ftatt. 
Auch der Feldbau ift ein Kampf gegen das wilde, widerftrcbende Prineip der 
Natur, Das niedergehalten werden muß. Auch Tateinifch jagt man subigere 
agrum, worin aljo ein subjicere liegt, ebenjo wie im hebräiſchen Worte (729), 
das auch tranfitiv bedeutet: zum Sklaven machen, unterwerfen. i 


166 
erklären, als ob fie diefen Sinn hätte: Adam iſt ſchön wie. unfer einer 
geworden. Aber diefer Hohn über den eben gefallenen Menfchen wäre, aud) 
bloß menjchlic genommen, im Munde der Gottheit empörend. Zudem 
haben alle dieſe Erflärumgen den gemeinfchaftlichen Uebelftand, daß dieſe 
Revensart: „Adam ift worden wie unfer Einer”, jo lautet, als ob 
wirklich mehrere Götter wären, zu denen einer hinzukommen könnte. 
Das kann der Sinn nicht ſeyn. Allein man überjege nur wörtlich, 
nicht: Adam ift worden wie wir, fondern: er tft worden wie Eimer von 
uns, fo ift der Sinn: Siehe, der Menſch ift worden wie Einer von 
uns (nämlid) ven Elohim), d. h. wie könnte man es anders verjtehen, 
als wie ich es früher bereit in anderer Abficht erklärt habe!: ber 
Menſch, der der ganzen Gottheit gleich war, ift Einem von ung — 
nämlich dem, der B ift — gleich geworden, er hat fi) aus der göttlichen 
Einheit, in die er erjchaffen war, wieder gejest, und iſt nur noch = 
Einem von uns, aber eben dadurch nicht mehr — der Gottheit. So 
verftanden, drückt alſo die Stelle gerade aus, was man in ihr ausge: 
drückt wünſchte, nämlich, daß der Menſch Gott unähnlich geworben, 
jeine Aehnlichfeit mit Gott verloren habe. Denn Gott ift nicht Einer 
im Sinn ausſchließlicher Einzigfeit, jondern, wenn er Einer, d. h. 
ausſchließlich ift, tft er ſoweit felbft außer feiner Gottheit, ein anderer 
von Sid. Der Menſch alfo, indem er ift wie Einer von ven Elohim, 
ift eben dadurch Gott unähnlich. 

Aber noch mehr — dieß iſt eigentlich der Hauptpunft, der ung 
num erft den Uebergang zum wirklichen Anfang des Polytheismus ge- 
währt — der Eine, welcher die andern ausjchlieft, und fofern er 
fie ausjchließt, ift nicht der wahre Gott; denn der wahre Gott ift 
nie bloß B oder 1, fondern ftets 1 + 2 + 335 aljo wenn «8 
möglih wäre, Gott als bloß B zu feßen, fo würde nicht der 
wahre, fondern der falſche Gott, der Ungott gejegt. Nun aber 
eben dieß thut ver Menſch. Was an fih, d. h. in Anfehung Got: 
tes jelbft unmöglich ift, gefchieht in menfchlichen Bewußtſeyn. Die 
in dieſem gefette Potenz, die dem Menfchen übergeben war, um 
fie als Potenz — als Myſterium — zu bewahren, indem er biefe 


167 
wieder ın das Seyn erhebt, ſchließt er eben damit die nächft höhere 
Potenz, das göttliche A? von fih aus, d. h. er negirt es in Bezug 
auf fih, denn dieſes A? Hatte fich eben in dem völlig übermundenen, 
als Potenz gejetsten B verwirklicht. Wenn aber irgend eine Materie, 
irgend ein Stoff jeine, durch eine höhere Potenz in ihm gejette, Be: 
ihaffenheit ändert, jo ſchließt er dieſe nothwendig von fid) aus. Um 
dieß durch ein aus der Natur hergenommenes Beifpiel zu erflären, fo 
ift befannt, daR jede flüfjige Subftanz eine gewiffe Quantität Wärme, 
wie man jagt, abjorbirt, d. h. ale Wärme unwirkſam und unfühl- 
bar macht; man nennt dieſe eben darum latente Wärme — fie 
ericheint nicht als Warme; denn fie wird blog verwendet, um das 
Flüffige, das Waſſer 3. B., in diefem Zuftande zu erhalten. Die 
Wärme erjcheint dabei als der flüffigen Subftanz völlig inwohnend, 
mit ihr -iventificirt, in ihr jo verwirklicht, daß fie fein Seyn außer 
ihr hat, nicht als foldhe fühlbar wird. Dagegen wenn nun diefe Sub» 
ftanz auf irgend eine Weiſe veranlaft wird, ihren Zuftand zu ändern, 
nämlich ftarr zu werden, wenn fie 3.3. gefriert, jo wird im Moment 
diejes Uebergangs die zuvor abjorbirte, in dem Flüſſigen gleihjam vers» 
(orene Wärme auf einmal fühlbar, d. h. das jegt Erftarrende jchließt 
fie im Moment des Erftarrens von fid aus, fie wird gleihjam bloß— 
geftellt und eben damit als ſolche fühlbar. Analogien, die dem Vor— 
gang, um vejjen Erklärung es bier zu thun iſt, noch näher Liegen, 
würde allerdings die organische Natur darbieten; ein großer Theil, und 
zwar der fignificanteften Krankheitserfcheinungen oder Symptome, 3. B. 
die. Hitze beim Fieber, fordert eine ganz ähnliche Erflärung; fie ent— 
jtehen ebenfalls durch die Ausjchliegung eines höhern Principe, dem der 
organifche Stoff nicht mehr angemefjen ift. Dieß würde uns jedod) 
hier zu weit abführen, und ſchon jenes aus der allgemeinen Naturlehre 
bergenommene Gleichniß reicht völlig hin den gegenwärtigen Borgang 
zu erklären. Denn ganz fo verhält es ſich mit dem Princip des Be— 
wußtſeyns, das wir durch B bezeichnen. In dem überwundenen B 
hat fich die höhere Potenz verwirklicht; denn dieſe höhere Potenz hat 
gar feinen andern Willen, oder iſt vielmehr jelbjt nichts anderes, als 


168 
der Wille, jenen vorausgehenden conträren Willen in feine Potenz, 
und dadurch zur Ruhe zurüdzubringen; nur in dem beruhigten verwirf- 
licht fie fi) demnach. Sowie alfo jenes Princip aus feiner Ruhe 
hevaustritt, fi ins Bewußtſeyn wieder erhebt, das Bewußtſeyn gleich- 
ſam einnimmt, anftatt bloß deſſen Grund zu ſeyn, ſchließt es 
die höhere Potenz wieder von fih aus, und zwar nicht zufälliger, 
jondern nothwendiger Weife; denn es verfagt ihr gleichlam ven 
Kaum, die Stätte oder Statt, die e8 ihr gegeben hatte. Ferner, 
wie, wir früher gejehen: eben dieſes durch A? völlig überwundene 
B, indem es ſich jelbft aufgibt, — im feiner Erfpiration, indem 
es gleichſam den eignen Geift aufgibt, — fett e8 A?, den wahren 
Geiſt. Wenn es alſo jein Leben wieder an fi) nimmt, gleichfam durd) 
eine neue Inſpiration, verſagt es ſich aud) der höchften Potenz, deren 
Sit und Thron es war, und fchließt fie von fi) aus. Es ift alfo mit 
Einem Wort in dem Bewußtſeyn jest bloß B, B abgefchnitten von 
A? und A?, ja im Gegenfat mit diefen geſetzt. Alfo der im Bewußt- 
jeyn verwirflichte Gott ift wieder aufgehoben. Darum aber, daß die 
höheren Potenzen vom Bewußtſeyn ausgefchloffen, find fie nicht überall 
negivt, völlig aufgehoben; denn fie find objektive, vom Bewußtſeyn 
unabhängige Mächte, fie find vielmehr nun eben nur als vom 
Bewußtſeyn ausgejchlofjene, wenn gleich nicht fiir das Bewußtſeyn felbft 
gejegt, denn eben dadurch, daß in ihm B ausjchlieglich herrſchend ift, 
hat e8 ſich für die höheren Potenzen verfchloffen, ſich unempfänglic) 
für fie gemacht; aber fie find — wenn aud) nicht fogleic für das 
Bewußtſeyn ſelbſt, doch für ung — als vom Bewußtfeyn ausgefchlofjene, 
die ſich in ihm wieder verwirklichen follen, gejegt. Aber eben damit ift 
die Anlage zu einem fünftigen ſucceſſiven Polytheismus ſchon jetzt vor— 
handen. Denn das im Bewußtſeyn Herrfchende ift der ausſchließliche 
— der falſch-Eine Gott, der den andern Potenzen die Gottheit ver- 
jagt. In diefer Ausfchliegung find fie aber auch nicht der wahre Gott, 
und da fie doch nicht Nichts und auch nicht ſchlechthin nicht Gott: find, 
jo find fie als Götter geſetzt. An die Stelle des Einen, des alleinigen 
Gottes find daher jet drei Potenzen gefeßt, die aber erſt ſucceſſiv, 


169 

alſo auch num als ſucceſſive Götter ins Bewußtſeyn eintreten. Die 
Anlage zum ſucceſſiven Polytheismus (eine Erplication) ift daher ge- 
geben, obwohl noch nicht er jelbft. Denn noch ift das Bewußtſeyn 
ausjchlieklich eingenommen von B und daher verjchlofjen für die höheren 
Potenzen. Inder kann es doch auf feinen Fall fo bleiben; jchon darum, 
weil das Bewußtſeyn in diefem Zuftand gleichjam einen Kaum vor- 
jtellt, der dem göttlichen Leben entzogen und verjchloffen if. Das 
göttliche Leben aber ift won nichts auszufchliegen und nimmt gegen alles 
ich ihm Entziehende die Geftalt des nothwendig Seyenden, nothwendig 
ſich Wiederherftellenden an. Ein Proceß ift alfo vorauszujehen, obgleic) 
er im gegenwärtigen Augenblif noch nicht angefangen hat, fondern nur 
deſſen Vorbedingung gegeben tft. 

Dis jest find zugleich Die Präliminarien der Mythologie, nicht wie 
vorher philoſophiſch, ſondern in der Mythologie ſelbſt nachgewiejen, fo 
wie ſich die Mythologie jelbft ihrer bewußt geworden ift. | 


Neunte Vorlefung. 


Das jetst im Bewußtſeyn Herrſchende ift nicht das wahre mar, 
das nichts ausjchliegende, fondern das einfeitige, ausſchließliche, in ſo— 
fern widergöttlihe zav. Dieß kann nun nicht unmittelbar wieder in 
jeine Potenz zurücktreten, nur durch einen Proceß fann e8 dahin zurüd- 
gebracht werden, und nicht von felbft, fondern nur durch die nothwen— 
dige Wirfung der zweiten Potenz ift es in die Innerlichkeit, in die 
Potenz zurücdzubringen. Aber um von der höheren Potenz überwunden, 
muß es ihr zuerft zugänglich werden; noch aber gibt e8 diefer gar 
Feine Statt, noch ift dieſe gänzli von ihm ausgeſchloſſen. Zwar in 
dieſer abſoluten Ausſchließlichkeit kann es im Bewußtſeyn fo wenig bleiben, 
als in der Natur, und wie e8 ſich in der erften Schöpfung gleich zur 
Heberwindung anlaffen muß — ebenfo aud im Bewußtfeyn. Es fragt 
ſich nur, was dieß heiße: fich zur Ueberwindung anlajjen. Eh es 
wirklich liberwunden wird, muß es Gegenftand einer mögliden 
Ueberwindung ſeyn, e8 muß fi) der höhern Potenz iberwind Lich 
machen, es muß ihr zum Gegenftaud und gegen fie peripherijd) 
werden. Um dieß zu erklären, bitte ich Sie Folgendes zu überlegen. 
Das, was jett als B erfcheint, ift urfprünglih der Grund, alſo das 
Tieffte, das Innerſte, das Subjeft = Urftand des Bewußtſeyns — das 
fann e8 aber nur in feiner Negation jeyn, nur inwiefern e8 reine P o- 
tenz tt; ſowie es aljo pofitiv wird, müßte e8 ausgeftoßen wer- 
den von dem Ort, an dem nur das lautere Seynfönnen feyn kann, es 


171 
müßte loco cedere, aus dem Centrum weichen, objektiv und peripherifch 
werden. Aber eben gegen diefe Ausftogung fest es fih, es will, ob- 
wohl fi jelbft ungleich geworden, no immer eodem loco ſeyn, 
wo e8 zuvor war, noch immer als Urftändliches, Inneres, Centrales 
fich behaupten. — Als lauteres Seynfönnen war es Geift und dem Geift 
gleich; übergegangen in das Seyn, iſt es feiner Natur nad) ungeiftig, 
und follte ſich auch als jolches erkennen, der höhern Potenz ſich unter- 
ordnen, ſich gegen fie materialifiren, ihr zur Materie, zum jelbitlos 
Seyenden werden, um jo wieder in feine Patenz und die Geiftigkeit, 
die ihm allein auf dieſe Weile zufteht, zurüdzufommen !. Dieſem 
Materiellmerden (als nothmwendigem Uebergang) widerjett es fich aber 
in jeiner Blindheit, und der nächite Moment — der zweite, jenem erften 
des Andersgewordenfeyng unmittelbar folgende Moment — ift daher 
ein Moment des Kampfes, in weldhenm das zum falichen Seyn erho— 
bene Brincip der ftillen Gewalt jener göttlichen Nothwendigkeit, die es als 
Sentrum, als Geift, nicht mehr duldet, entgegen fi) doch noch als 
Geiſt behaupten will. Hier verhält fi) alſo das Prineip, in deſſen 
Gewalt ji) das Bewußtſeyn befindet, einerjeitS als ein durch höhere 
Nothwendigkeit immerwährend materiell, peripheriſch geſetztes, durch ſeine 
eigne Blindheit aber ebenſo immerwährend wieder als Centrum ſich 
ſetzendes. Aus dieſem Kampf alſo zwiſchen einem ſich als geiſtig zu 
behaupten Strebenden und einer es als ungeiſtig ſetzenden Potenz, aus 
dieſem Kampf eines materiell ſeyn ſollenden, aber der Materia— 
liſirung ſich widerſetzenden, in ſofern ſelbſt noch geiſtigen Princips — 
wir können auch ſagen: aus dieſem Kampf eines central, d. h. ſtatt 
alles andern und ausſchließlich ſeyn wollenden, aber durch die ſtille 
Gewalt einer höheren Potenz ſtets wieder vom Centro ausgeſtoßenen, 


In der urſprünglichen Lauterkeit, als reines Seynkönnen war es Subjekt 
im Sinne von Urſtand — der Zauber, der alles an ſich zog; ſowie es aber 
aus jener Lauterkeit hervortritt, kann es nicht mehr Subjekt in dieſem Sinne 
ſeyn, in dem Sinne nämlich, wo Subjekt ein ſeiner ſelbſt Mächtiges bedeutet; 
aus ſeiner Urſprünglichkeit geſetzt, kann es nur noch Subjekt ſeyn in dem Sinn, 
daß es das dem Höheren Unterworfene, nicht Urſtand, ſondern Unterſtand, Un— 
terlage, Materie ſeiner Verwirklichung iſt. 


172 

peripherifch gefetten Princips, durch diefen Kampf muß eine Zer- 
veißung entftehen, in welcher dem Bewußtſeyn jenes Eine, das es 
als das fchlehthin oder ausfchlieklic Eine, als abfolutes Centrum be- 
haupten will, unvermeidlich zu einer Vielheit gebrochen, in eine Vielheit. 
verwandelt wird, Die es nicht will, in der es daher auch immer nod) 
nur die Einheit zu jegen jucht, und da es der im Bewußtſeyn herr- 
ichende Gott ift, der ihm auf diefe Art zerriffen, in eine Vielheit verfehrt 
wird, jo iſt das nothwendige Erzeugniß diefes Kampfes für das Be— 
wußtieyn die erfte Götter- oder vielmehr Gottesvielheit, der erfte fimul- 
tane Polytheismus. Ich habe Schon in der allgemeinen Einleitung ' be— 
merkt, daß der bloß fimultane Polytheismus noch immer auf gewiffe 
Weiſe Monotheismus ift, hier aber ift dieß ganz befonders der Tall, 
wie aus folgender näherer Betrachtung erhellen wird. 

Wie bereits bemerft, fo ift die hier entftehende Vielheit eine von 
Bewußtſeyn nicht gewollte, eine ihm unwillfürlich, ja gegen fein Wollen 
entftehende, in der e8 eben darum die Einheit noch immer zu behaupten 
ſucht; die entftehende Vielheit ift alfo nicht eine bloße PVielheit, ſondern 
fie ift nur das in PVielheit heraus» oder umgewendete Eine =B. Das 
Bewußtſeyn hält e8 immer nod als das Eine feit, dieſes ift das 
Weſentliche, die Vielheit, die e8 für das Bewußtſeyn gegen deſſen Wil- 
len annimmt, ift das Zufällige — auch im Sinn des nicht Gewollten. 
Die Bielheit ift wahrhaft nım das als Vielheit gefe te Eine, fie tft 
nur ein unum versum. Das hier im PVielheit gebrochene Eine ift 
nur das falſch-Eine. Das bier gejette Univerfum entjteht durch Die 
Materialifirung des an fi immateriellen und noch immer, wenn aud) 
faljch=geiftigen B. Hier alfo ift e8 ein zwar noch nicht materielles, 
aber doch auf dem Uebergang zur Matertalifirung befindliches Univer- 
ſum, von dem wir reden. Ummittelbar jest das Bewußtſeyn immer 
nod die Einheit; daß e8 dieſe Einheit nur als eine DVielheit ſetzen fann, 
ift das von ihm nicht Gewollte, Unwillfürlihe. Daher ift die Bielheit 
nicht eine aufgelöste, in der feine Einheit mehr ift, ſondern eine folche, 
in der die Einheit noch immer befteht und feftgehalten wird; noch 

' Einleitung in die Philofophie der Mythologie, S. 120 ff. 





immer umd in jedem Clement wird eigentlich nur das ausſchließlich Eine 
gejeßt, nırr das allgemeine Seyn empfunden. B ift hier noch nicht in 
wirflicher Ueberwindung, jondern im Kampf gegen die Entjelbftung, 
Matertalifirung, welche Bedingung, Vorausſetzung der wirklichen Ueber- 
windung ift. Es befindet fi) hier noch im Uebergang von abfoluter 
Immatertalität (wo es fi zu Nichts als Materie, als dmoxe/usvor, 
als Objekt verhält) zur Materialität, unter welcher hier nod) nicht kör— 
perliche zu verjtehen tft, ſondern nod) unförperliche Materialität. (Wenn 
wir jagen, B joll zur Materie der höheren Potenz werden, jo nehmen 
wir hiev Materie noch immer im philofophiihen Sinn, wo Materie das 
nicht mehr jelbft Seyende, jondern einem andern als Stoff feiner 
Berwirflihung fid) Unterordnendes bedeutet). 

Die in dem gegenwärtigen Kampf zwifchen Immaterialität und 
Materialität entjtehenden Elemente haben ſich uns demnach jo beftimmt: 
1) als jolhe, die tm ihrer Vielheit doch nur das ertendirte Eine jelbft 
find, im denen alfo das ausjchlieglih Eine noch immer fortbefteht; 
2) als folhe, in denen eben darım noch fein verfchiedenartiges, ſon— 
dern bloß Das Eine, überall ſich jelbft. gleiche, wüjte, leere Seyn 
empfunden wird. Aber 3) als entjtanden aus einem Streit, in wel- 
hem das Eine oder B beftändig Centrum zu jeyn verlangt, aber ebenjo 
unabläfjig wieder vom Centrum ausgeſchieden und peripherifch gejett 
wird, müſſen fie überhaupt als in einem beftändigen Streben be- 
griffene, als ftrebende, alſo nie ruhig jeyende, und daher in einer 
unabläffigen Bewegung erjcheinen. Denn fie ftreben, oder in ihnen 
ftrebt B nach dem Drt, an dem es nicht jeyn kann, dem Centrum, 
während es an dem Drt, au dem es jeyn Fünnte, der Peripherie, nicht 
jeyn will, alſo beftandig aus dieſem Ort fidy wieder erhebt, fi ihm 
entzieht. Sie erfcheinen daher als joldhe, die von einer höheren Macht 
ftet8 peripherifch gefett werden, aber dieſem Drt, d. h. der Materia- 
(ifirung, beftändig wieder zu entwerden, fich zu entziehen juchen, und 
wenn für das Bewußtſeyn (das wir ung in einem völlig unfreien, außer 
fich geſetzten, efftatifchen Zuftand zu denken haben) — wenn für diejes 
durch die Zerreifung des Einen, fubitantiellen Princips überhaupt zuerft 


174 
ein Außereimander von Elementen entjtebt, jo werben diefe Elemente 
dem Bewußtſeyn erſcheinen als räumliche überhaupt, ingbejondere 
aber als immer ftrebende, unabläſſig bewegliche, Da ſie aber an die 
Stelle, nad) der fie ftreben, nicht gelangen, und dagegen an ben Ort, 
ben fie nicht wollen und zu verlaffen juchen, immer wieder gejegt 
werden, fo wird ihre Bewegung im Reſultat = Nicht bewegung fern, 
Bewegung, die — Ruhe ift: eine ſolche Bewegung ift aber nur bie 
nicht fortjchreitende, immer in fich ſelbſt zurückkehrende, Freisartige. 
Daher werden jene Elemente 4) erjcheinen nicht bloß als in einer unab- 
läſſigen Bewegung überhaupt, fondern als in einem beftändigen Umlauf 
begriffene. — Wenn daher feine anderen Gründe entgegenftünden, Fönnte 
man gar wohl der Meinung des Platon beipflichten, der im Kratylos 
die alten Pelasger ihre erften Götter von dem immerwährenden Lauf 
(vom Berbum HEw) Heoüg benennen läßt‘. Und ic, brauche nun weiter 
nicht hinzuzufegen, daß jene räumlichen Götter, in welche ſich dem Be— 
wußtſeyn zuerſt das ausſchließlich Seyende verwandelt, Sterngötter find. 
Denn als folche natürlich wandelnde, in einem ihnen nicht zufälligen, 
jondern weſentlichen, zu ihrer Natur gehörigen Umlauf begriffene 
Weſen fennen wir nur die Sterne. 

Ich hätte Sie nun alfo zu dem Punkt geführt, wo erhellt, daß 
der erfte Polytheismus jene’ aftrale Religion war, welche nicht jowohl 
die Sterne als Götter, jondern umgekehrt die Götter als Sterne an- 
ſah. Denn es iſt aus meiner ganzen Ableitung erfichtlih, daß ich nicht 
gemeint bin, die fogenannte Sternenverehrung von außen, Durch eine 
empiriſche Anſchauung und darauf erfolgte Vergötterung der wirklichen, 
noch dazu etwa als förperlic vorgeftellten Sterne entftehen zu lafjen. 
Dieß ift die gewöhnliche Erklärung. „Die wohlthätigen und mächtigen Wir- 
fungen der Himmelsförper (zunächft doch wohl nur der Sonne und des 
Monds) mußten den noch finnlihen Menſchen veranlafjen, dieſen Him- 
melslichtern eine bejondere Berehrung zuzuwenden“. Ich gebe die ge- 
rühmte Leichtigkeit diefer Erklärung zu (wenig Mühe), aber daß Die 
Geſtirne erft für bloße materielle Lichter oder Körper gehalten, — dann 

'‘ Plat. Cratyl. p. 397 D. 


175 

vergöttert worden, ift gegen alle Natur. Meine Meinung ift vielmehr, 
daß dieſe aftrale Religion ganz von innen heraus, durch eine innere 
Nothwendigkeit entftanden jey, in der man fi das Bewußtſeyn fo gut. 
im Anfang wie im Berlauf des Polytheismus zu denken hat. Daß 
dieſe Anficht die richtige tft, würde ſich auch geſchichtlich in ſo fern er— 
weiſen laſſen, als es nicht ſchwer iſt, geſchichtlich zu zeigen, daß unter 
den urſprünglich verehrten Sterngöttern nicht körperliche Weſen gedacht 
wurden. Der Gegenſtand dieſer älteſten Verehrung war vielmehr noch 
immer das reine B, d. h. eben das rein Aſtrale. Wir ſind zwar ge— 
wohnt die Sterne Weltkörper zu nennen, aber jeder nur einiger— 
maßen Nachdenkende wird ſich unſchwer überzeugen, daß das eigentliche 
Geſtirn — der Erde z. B. — oder daß die Erde als rein aſtrales 
und kosmiſches Weſen doch eher ſeyn mußte, als die einzelnen fürper- 
lihen Dinge, die auf oder in ihr angetroffen werden, daß daher die 
Erde als Geftirn, ald astrum, nicht körperlich ift. Das eigentliche Ge— 
ftir, das eigentliche und wahre Selbjt des nur jo genannten und 
nur außerlicd und in bloß partieller Auffafjung fo erjcheinenden 
Weltförpers kann ſelbſt nichts Körperliches, jondern nur etwas Ueber- 
förperliches ſeyn. 

Kun eben dieſes Ueberförperliche, diejes vein Aftrale, das eigent- 
liche Geftirn war es, was für göttlich geachtet wurde. Das allein ur- 
ſprünglich Gemeinte und Gewollte war nichts Concretes, jondern das 
veine B, d. h. jenes reine Ur-jeyn, das, wenn e8 herworträte, gegen 
das jpätere, gebildete Seyn nur verzehrend erjcheinen fünnte, das eben 
zur Materie einer höheren Potenz werden muß, damit das einzelne, 
concrete Seyn entitehe. Das Seyn in feiner Bloßheit (Ungeformtheit) 
ift gegen die Fülle und Mannichfaltigfeit des jpäter gebildeten Seyns 
öde und wüfte, daher es aud im Anfang der Genefis heißt: Die Erde 
(die eben gejchaffene) war öde und wüſte. Man fanıı die Sterne unter 
feine der Kategorien des concreten Seyns ſubſumiren; fie find nicht un- 
organische, nicht organische Wejen, nicht Stein, nicht Pflanze, nicht 
Thier. Nicht die Natur, jondern was nod vor und über der Natur ift, 
wurde in ihnen verehrt. Das Bewußtſeyn wandelte hier noch in einer 


176 
höhern Negion über der Natur, wie das Geſtirn ſelbſt einer höher 
Sphäre als der bloßen Natur angehört. Wer empfände nicht ein Wider— 
ſtreben, die Sterne in demſelben Sinn Werke der Natur zu nennen, 
in welchem wir unbedenklich die andern Dinge ſo heißen? Auch iſt es 
bezeichnend, daß der Name „Geſtirn“ nach der Analogie ſolcher Wör— 
ter gebildet iſt, von denen man den Pluralis ungern braucht. In allem 
Geſtirnartigen iſt das eigentliche Geſtirn nur Eins, und dieſes Eine 
war Gegenſtand jener älteſten Religion, die das erſte wirkliche Be— 
wußtſeyn der Menſchen war. Die urſprüngliche Verehrung galt ſogar nicht 
einmal den einzelnen Geſtalten, in welche jenes Urſeyn gebrochen erſcheint, 
den Sternen ſelbſt, z. B. Sonne und Mond (dieſe materielle Stern— 
verehrung iſt von ſpäterem Datum, es wird ſich uns wohl in der Folge 
der Uebergang zu dieſer zeigen), aber die urſprüngliche Verehrung bezog 
ſich alſo nicht einmal unmittelbar auf die Sterne, auf dieſe einzelnen 
Geſtalten als ſolche, ſondern nur auf jenes reine Seyn ſelbſt, das 
zwar ſchon gebrochene, aber innerlich noch immer poſitive Princip, das 
in dieſer äußern Welt längſt überformt, erſt in dieſer Ueberformung 
das individuelle Seyn zum Produkt gibt, jenes Princip, das eben 
darum mit ſinnlichem Auge nicht geſehen werden kann, weil es, um 
fihtbar zu ſeyn, eben ſchon überwunden ſeyn muß. Wenn nun dieß 
der Sinn jener Älteften aftralen Religion war, fo find wir berechtigt, 
von diefem Sinn aud) wieder umgekehrt auf ven Urfprung zu ſchließen, 
und da ergibt fich denn von jelbft: 1) die ältefte Menichheit konnte 
nicht von der finnlichen Anſchauung aus auf jenes Aſtrale geführt wer- 
den, jenes Aftrale war nicht ſinnlich anzufhauen, es ift gerade das 
nicht ſinnlich Anzuſchauende. Ebenſowenig wird man 2) fi) geneigt 
fühlen zu behaupten, daß jene ältefte Menfchheit dieſes Urprincip des 
Seyns mit dem Berftande erfannt habe, fo wie wir e8 allerdings mit 
dem Berftande erkennen. Man wird alfo auch genöthigt jeyn, zuzu- 
geben, dar die ältefte Menjchheit nur durch einen innern, wenn aud) 
ihr ſelbſt unbegreiflihen Vorgang in die Sphäre jenes rein Aftralen 
verjegt wurde, und daß, mas fie in den Sternen allein eigentlic) 
meinte und verehrte, nicht das Bewegliche, Meaterielle jelbft, ſondern 


177 
vielmehr das Princip, der innere verborgene Grund aller himmlifchen 
oder ſideriſchen Bewegung war '. 

Ich habe nody einen Beweis hinzuzufügen, aus weldem meines 
Erachtens unmwiderfprechlich erhellt, daß dieſe älteſte Religion nicht auf 
einer ſubjektiven Vorſtellung, ſondern auf einem realen Grunde beruhte, 
dem das Bewußtſeyn unterworfen war. Doch eh' ich dieſen auseinander 
ſetze, will ich meine Erklärung der aſtralen Religion noch einmal zu— 
ſammenfaſſen; es iſt von Wichtigkeit, daß Sie gleich dieſe erſte Stufe 
des mythologiſchen Proceſſes ſich deutlich einprägen. 

Das Bewußtſeyn des gegenwärtigen Moments will eigent— 
lich das ausſchließliche Seyn, den ausſchließlichen Gott; aber eben die— 
ſer wird ihm durch eine höhere Gewalt — zwar auf eine ihm ſelbſt 
nicht begreifliche Weiſe (denn noch iſt ihm ſelbſt jene Gewalt nicht offen— 
bar) — aber jener ausſchließliche Gott wird ihm unwillkürlich, ja 
gegen ſeinen Willen in eine Vielheit, das Eine in ein All verwandelt. 
Die hier entſtehenden Götter ſind eigentlich nicht Götter, ſondern der 
Eine in Vielheit auseinander geſetzte Gott. Auf feinen Fall find fie mate- 
rielle Götter. Die Vielheit entiteht zwar aus einem Kampf des ſich 
als immtateriell behaupten wollenden Princips und der entgegenftehenden 
Potenz, die e8 als Materie fi) unterordnen will. Aber das eigentlich) 
Gewollte und daher auch eigentlich als göttlich Verehrte ift nicht dag 
Meaterielle, fondern eben jenes der Materialifirung widerftrebende Im— 
materielle; das eigentlich Gewollte ift nicht die Vielheit, dieſe iſt das 
immer Negirte, das Gewollte ift das Eine, das ausſchließlich Seyende, 
das durch eine dem Bewußtſeyn jelbft noch unfichtbare, nicht erkannte, 
bloß fühlbare Macht gleichſam gebeugt, zur Meaterialifirung gebracht 





' Da das Bewußtſeyn jener Zeit doch ein Verhältniß zu diefem Princip hatte, 
jo ift Ear, da es fein ideales ſeyn fonnte, daß es ein reales feyn mußte, 
. und diefes reale Verhältniß zu jenem Princip, aus dem allein die Altefte aftrafe 
Religion zu erklären ift, Diejes reale Verhältniß jelbft wieder laßt fih nur den— 
fen als eine wirffiche Verjegung (VBerzudung) des Bewußtfeyns in jenen inneren 
Eiderismus, jo nämlich, daß das Bewußtſeyn dem Aftralen, deſſen Gewalt 
äußerlich ſchon zur Vergangenheit geworden war, innerlich wieder unterworfen 
wurde, 

Schelling, fämmtl, Werke. 2. Abtb 1 12 


werden fol, aber wegen jeines Widerftrebens nur eben zerbrochen oder 
zerriffen wird. Diefe in Vielheit gebrochene Einheit entjteht dem Be- 
wußtſeyn durch denfelben Streit, durch welchen urſprünglich das Welt- 
ſyſtem entfteht (denn durch die Wiedererhebung des ausſchließlich Seyen- 
den in ſich ift das Bewußtſeyn wieder dem Anfang, dem Prints der 
Natur, d. h. dem Aftralen, anheimgefallen). Aus diefem Grunde aljo 
find auch die dem Bewußtſeyn hier entftehenden Götter den Sternen 
ähnliche, d. h. Sterngötter. Denn auch die Sterne find ja nichts als 
ebenjo viele peripherifch gefette Centra, an denen eben deßhalb die. ur- 
ſprüngliche Tendenz, Centrum, ausjchlieglid) Seyendes zu ſeyn, noch 
immer, obwohl eben bloß als Tendenz, als Streben, als Sollicitatton, 
Zuckung, erjcheint, und der Grund der immerwährenden, unabläfjigen 
Bewegung ift. — Nicht von den wirflidhen, den finnlic erkannten 
Sternen ging das Bewußtſeyn aus, um fie zu vergöttern. Der eigent- 
fiche Hergang ift ein ganz anderer. Das urjprünglice Bewußtjeyn, das 
ja feiner Subftanz nad nichts anderes als das zu fich jelbit oder in 
fich felbft zurücdgefommene Wefen der Natur, alfo das durch die ganze 
Natur hindurchgegangene ift, dieſes urfprüngliche Bewußtſeyn bewahrt, 
und hat alſo gleichſam in ſich aufgehoben, alle jene früheren Momente, 
durch Die es hindurchgegangen iſt — gerade fo, wie jeder einzelne 
Menſch alle Erfahrungen feines Lebens in feinem gegenwärtigen Be— 
wußtjeyn, feiner gegenwärtigen Bildung bewahrt —, aber diefe früheren 
Momente find in dem Bewußtſeyn gleichfam beſchworen, niedergehalten, 
als Vergangenheit gejett. Das menſchliche Bewußtſeyn follte fie als 
Einheit dermaßen unter fi (ſich unterworfen) enthalten, daß fie in 
ihrer Succeſſion — in ihrer gegenfeitigen Ausſchließung — nicht mehr 
hervortreten. Aber eben dieſe Einheit hat das Bewußtſeyn, wie wir 
jest vorausfegen, in fic) aufgehoben; indem es jenes Prius des An— 
fangs, jene erfte Grundlage feines eignen Seyns, jenes Princip der 
Natur, in fi) wieder ereitirt, wirffam gemacht hat, ſchließt e8 eben 
damit alle ſpäteren Momente von ſich aus, und indem es wieder ganz 
jenem erſten Moment anheimgefallen, indem es jelbft wieder geworben 
it, mie es im jenem erften Moment war, ift e8 weſentlich ſelbſt 


179 
aftral'; es ift für alles andere als das Aftrale verfchloffen, e8 lebt und 
ift nur in diefer Region; gleichwie denn überhaupt diefer erfte Moment den 
höchften- Grad des von- oder außer-ſich-Seyns, ver Efftafis der 
Menfchheit, darſtellt. Es gab hier für das Bewußtſeyn noch gar 
feine Außenwelt, die Natur war für den Menfchen wie gar nicht wor- 
handen. Die Genefis diefer aftralen Religion liegt daher nur in dem 
Berhältnig des Bewußtſeyns zu dem Princip, zu dem reinen B, und 
diefer Zabismus (ic) werde mich ſogleich über diefes Wort äußern) — 
Zabismus im Bewußtſeyn — ift der erſte. Alles iſt hiernach ein in— 
nerer, ganz nur im Innern vworgehender Procef. Die Sterne find 
noch im einer Innenwelt?. Zu eigentlichen Sterngöttern entſchließt das 
Bewußtſeyn ſich erjt ſpäter. 

Ich begreife ſehr wohl, und würde mich nicht im Geringſten 
darüber verwundern, wenn den meiſten die Erklärung dieſer älteſten 
aſtralen Religion aus einem rein innern Vorgang des Bewußtſeyns 
abſtrus, ja unglaublich vorkäme, und wenn ſie uns jene gewöhnliche, 
man kann behaupten, allgemein angenommene Erklärung entgegenhalten, 
die, wie ſie ſagen, doch ſo leicht und einfach ſey. 

Ich nannte die aſtrale Religion Zabismus. Ich wünſchte nämlich 
ſtatt des gewöhnlichen Sternverehrung, Sternendienſt u. ſ. w., der doch 
immer den Nebengriff von einer Verehrung der materiellen Sterne mit 
ſich führt, einen einfachen und für uns wenigſtens nicht dieſem Neben— 
begriff unterworfenen Ausdruck zu gebrauchen. Als ein ſolcher bietet ſich 
der ſchon bekannte und angenommene Name Sabeismus dar. Nur 
muß ich bemerken, daß dieſe Form des Worts nicht ganz richtig iſt. 
Wahrſcheinlich zuerſt von Franzoſen gebraucht, iſt ſie nachher auch von 
Deutſchen, z. B. Leſſing in ver Erziehung des Menſchengeſchlechts, an— 
genommen worden. Dieſe Form kann unter anderm auch zu dem Miß— 
verſtändniß verleiten und hat dazu verleitet, als käme dieſer Name der 


Das ausſchließlich Seyende in der Natur gebrochen-— peripheriſch geſetzt 
— Aſtrales. Auf gleiche Weiſe alſo auch das Bewußtſeyn ins Aſtrale verſetzt. 

2 Zn Außenwelt gehts erſt mit Urania über (Randbemerkung im Manuſeript). 

“49 


180 
älteften Neligion von den Sabäern her, einem befannten Volk des 
glücklichen Arabiens, die zufällig auch Sternverehrer waren '; allein bie 
wahre Ableitung des Worts (von der man nicht glauben follte, daß fie 
je hätte angezweifelt werben Fünnen) ift von dem ebräiſchen und arabi- 
ichen Zaba, das Heer (exereitus) und dann insbefondere das himmlische 
Heer, wovon aud der altteftamentliche Name Jehovah Zebaoth, Herr 
der Heerichaaren, herkommt. Denn da der mythologiſche Proceß ein 
allgemeiner war und von dem die ganze Menjchheit ergriffen, jo mußte 
auch die Offenbarung ihre Sprache und zum Theil felbjt ven Inhalt 
ihrer Lehre den verjchtedenen Stufen und Momenten jenes Procefjes 
gleichfam annähern; denn daß alle Offenbarung nur eine ſucceſſive, nicht 
auf einmal enthüllende ift, wird ja zugeftanden — im. Gegenſatz aljo 
gegen jene Völker, die das himmlische Heer und zwar in jpäterer Aus— 
artung nım ſchon die materiellen Sterne felbft anbeteten, im Gegen— 
fat gegen folche (denn dieſer Name wird erft in den fpätern Büchern 
zur Zeit der Könige gebraucht) wurde an den Herrn der Heerichaaren, 
den wahren geiftigen Gott, erinnert. Don dem Wort Zaba heißt im 
Arabifhen Zabi, oder nad) der gelinderen Ausſprache Sabi, ein Stern- 
verehrer, Zabiah die Sternverehrung felbft, woraus erhellt, daß bie 
richtige Form des Worts Zabiismus, zufammengezogen Zabismus ift, 
deſſen ich mich daher in der Yolge bedienen werde. Im Koran werben 
die Zabier mehrmals neben den Juden mit Ehren als Unitarier, An- 
hänger eines einzigen Gottes, genannt, und ihnen aud) ein beſſeres Loos 
in der fünftigen Welt als den Gößenanbetern verfprochen. Auch unter 
den erften Anhängern Muhammeds werben fie genannt, ja Muhammed 
wurde jelbft ein Zabi genannt, wahrſcheinlich von den idololatrifchen 
Arabern, die feine Lehre von dem einzigen Gott als eine Rückkehr zum 
Zabismus anfahen. Späterhin beveutet das Wort nicht mehr einen 
Sternanbeter insbefondere, fondern jeden, der nicht der wahren Religion 
anhängt. Wenigſtens wird e8 in der arabifchen Ueberſetzung des N. T. 


So auch v. Bohlen, die Genefis hiſtor. krit. erläutert, ©. 124, vergl. mit 
©. 496. Allein der Name wird ganz anders gejchrieben, als das arabifche Wort 
für Sternverehrer im Koran. 


einmal fo gebraucht für "EAArv, d. h. Heide im Gegenjat des Juden. 
Diefe allgemeine Bedeutung von Götteranbetern hat das Wort D’NIX 
auch in dem ziemlich confuſen und unhiſtoriſchen Traktat des Maimoni- 
des über den Urfprung der Ipololatrie, den Gerhard Voß feinem Werf 
de origine Idololatriae angehängt hat. Hier werden unter Zabiim ſchon 
völlige idololatrae verftanden, ganz gegen den urſprünglichen Stun, 
Unter anderm hat fi) Spencer aud) verleiten laffen, aus den Zabiern 
eine Art von weitwerbreitetem Urvolf zu machen. Allein die Wort 
bedeutet urjprünglich fein befonderes Volf, fondern die Alteften Verehrer 
des ausfchlieglichen (und in diefem Sinn Einen) Gottes, des kosmischen, 
des Weltgottes, und jo mittelbar auch der Sterne als derjenigen Ele 
mente, in welchen die innerlidhe, nod) ungebrocdhene Kraft dieſes 
Gottes gegenwärtig ift. Unftreitig find unter Ihnen mehrere, die aud) 
von Zabiern oder Sabäern in einem andern Sinn gehört haben, nämlich 
den jogenannten Yohanneschriften, deren Keligionsbücher in neuerer 
Zeit die Aufmerkffamfeit europäifcher Gelehrten erregt haben. Ich be- 
merfe aljo nur mit Einem Wort, daß dieſe hieher gar nicht gehören, 
und daß ihr Name auch von einem ganz andern Wort herfommt, näm— 
lich von Zaba (mit y), das im Syrijchen taufen bedeutet. Sie heißen 
Täufer al8 Anhänger Johannis des Täufers‘. 

Nach diefer Bemerkung werde ich alfo fünftig dieſe altefte Religion 
Zabismus nennen. 

Daß der Zabismus nicht auf einer bloß fubjektiven Vorftellung, 
jondern auf einer realen Gewalt beruhte, der das Bewußtſeyn unter- 
worfen war, erhellt, um nun den letten Beweis anzuführen, auch 
daraus, daß diefe Gewalt nicht bloß die Vorftellung, ſondern ebenſo— 
wohl. das Leben der älteften Menfchheit beftimmte und beherrjchte. 
Der Zabismus beruht, wie gezeigt, zulett auf einem aufer= fid)- Seyn 
des Bewußtſeyns, indem das, was in ihm ruhen, der Grund des 
Bewußtſeyns ſeyn jollte, als ſolcher aufgehoben, weil in Wirfung ge 
feßt ift. Diefes außer -fich - Seyn des Bewußtſeyns zeigt ſich num ebenfo 

' Bergl. Neanders Kirchengeſchichte, zweite Auflage, zweiter Band, erfte Abth., 
S. 650. 


182 

in dem äußern Leben jener älteften Menfchheit. Denn der Zabismus 
ijt die Religion desjenigen Theil der Menjchheit, der noch nicht zum 
geichichtlichen Leben, zum Völferleben übergegangen iſt. Das Leben 
der vorgefhichtlihen Menjchheit ift das unftete, herumjchweifende, das 
man das nomadische nennt. Solang der Menſch von jenem aus- 
ichlieglihen, dem beftimmten, conereten Leben fid) widerſetzenden und 
in diefem Sinn allgemeinen Princip eingenommen und beherrjcht ift, 
kann er auch jelbft nicht zu einem beftimmten, concreten Leben gelan- 
gen, deſſen erſte Bedingung fefte, bleibende Wohnfise find, jo lang 
fucht er auch jelbft das Weite, Grenzenloſe, Unbejchlofjene auf. Die 
Wüſte ift fein natürlicher Aufenthalt. Sich felbft fremd, weil er in 
einem Zuftand der Selbftentfremdung fich befindet, ift er aud) ein Fremd— 
ling auf der Erde, heimathlos wie der ſchweifende Stern (deſſen PBrin- 
cip B — stare loco neseit), ohne feftes, d. h. unbewegliches Eigen- 
thum (fein Eigenthum iſt felbft nur ein bemegliches, jeine Heerde). 
Einen Drt der Ruhe gibt es nach feinem Begriff nur für die Todten — 
die Vorväter der Israeliten 3. B. blieben lange noch Nomaden, als 
andere Völker ſchon zum gejchichtlichen Leben übergegangen waren, und 
der erite Ader, den Abraham von den ſchon feſten Beſitz Fennenden 
Hethitern faufte, ift für das Erbbegräbniß bejtimmt' —, alfo nur die 
Seftorbenen gelangen zur Ruhe; die Lebenden find Yremdlinge auf Er- 
den, nirgends angefiedelt; die Zeit ihres Lebens tft, wie der fterbende 
Jakob fi) ausdrückt, die Zeit ihrer Wallfahrt. (Sch erinnere hier 
an das früher über ven Namen Ibri Bemerfte ?). 

Mit dem feften Befiß kommt auch erft bürgerliche Geſellſchaft, 
bürgerliches Gefeß und Berfaffung. Beſitzen kann nur, was fid) jelbft 
befigt. Etwas befigen heißt etwas in feiner Gewalt haben. Aber der 
Menſch ift jett felbft in fremder Gewalt; fowie er felbft etwas in feine 
Gewalt bekommt (und die heit Befit), ift dieß ein Zeichen, daß er 
jelbjt nicht mehr in fremder Gewalt. Der Befefjene (sui haud com- 
pos) fann nicht befigen. In dem gegenwärtigen Zuftand aber ift ver 


‘1. Moſ. 23. 
° j. Einleitung in die Ph. d. M. ©. 157. 


183 





Menſch ſich jelbjt entfremdet, außer ſich felbft gejett. Obgleich nun 
aber von einer blinden Gewalt regiert — von derfelben Gewalt, welche 
auch die Sterne in ihrer Bahn erhält — fühlt er ſich nicht unfrei. 
Unfrei fühlt fi nur der, der von zwei Principien beherrſcht und zwi— 
ſchen viefen zweifelhaft ift. Alles Entſchiedene erjcheint als frei. Im 
Menjchen herrſcht bloß B, das feiner Natur nad) Grenzenlofe, Allge- 
meine, Weit entfernt alfo, daß in dem gegenwärtigen Zuftand er fich 
unfrei fühlte, folgt ev dem Zug diefer ihn außer ſich jegenden Gewalt 
vielmehr mit dem Gefühl einer weit vollfommmeren Freiheit, als ihm 
jpäter fie zu Theil wird, wenn jenes allgemeine Princip ihm anfangt 
innerlich begrenzt. zu werden, und das Gefühl der individuellen 
Hreiheit entfteht, das ihn vom Ganzen und Allgemeinen abzieht, ihn 
in Zwieſpalt ebenfowohl mit ſich felbft als mit der Welt jest. Als 
goldnes Weltalter, d. h. als Weltalter des lautern, ganzen, unverküm— 
merten und Darum gefunden Seyns, jchwebt daher das Bild diefer vor 
der Freiheit noch freien Zeit aud) den fpäteften Völkern, der längft mit 
fi) jelbjt und dem Allwaltenden entzweiten Menfchheit vor. — An den 
beiden Endpunkten des fittlichen Lebens erjcheinen Freiheit und Noth- 
wendigfeit al8 Eins, die bloße Nothwendigfeit, von der im gegenwär— 
tigen Moment der Menſch beherricht ift, wird als Freiheit empfunden, 
wie an dem entgegengefegten Ende die Freiheit in ihrem höchiten Selbit- 
bewußtjeyn wieder als mit Nothwendigfeit handelnd erjcheint, z. B. in 
den fittlichen Herven. Weil der Menſch jener Urzeit das Gefeg, dem 
er folgt, als Geſetz des reinen, noch ungefränften Seyns empfindet, 
darum folgt er dem Zug vefjelben mit jenem ftolzen, durch feinen 
Gegenſatz gedemüthigten Gefühl der Freiheit, von dem wir nur etwa 
noch in jenen. Söhnen der Wüfte, die fid) den Wirfungen der fpätern 
Zeit bi jet zu entziehen gewußt haben, ein Bild jehen, oder von dem 
wir ung jene Thiere der Wildniß befeelt denfen mögen, von denen in 
dem großen alten Naturgedicht Gott jagt: Wer hat das Wild jo frei 
gehen lafjen, wer hat die Bande des Wilds gelöst, dem ich Das 
Feld zum Haufe gegeben habe und die Wüfte zur Wohnung ? 

Es bedarf nicht erſt des Beweiſes — denn e8 ift nicht beftritten 


184 
worden —, daß jene Keligion, die dem Menfchen die Erde entzog, ihn 
verhinderte auf der Erde ſich anzubauen, ihn einen Fremdling auf 
Erden feyn ließ — daß der Zabismus mit Einem Wort das ſchlechthin 
ältefte Syftem der Menfchheit jey. Ich fage: dieß ſey nie beftritten 
worden; denn wenigftens hiſtoriſch ift e8 nicht zur beftreiten; dagegen 
indiveft durch die gewöhnlichen Erklärungen ift e8 freilich beſtritten wor— 
den. Diefe Erklärungen halten für möglich, daß die Menjchen in den 
Sternen — wir wiſſen nicht genau was — aber auf jeden Yall etwas 
anderes als Götter gefehen haben; hernach aber — man weiß nicht, 
nach wie langer Zeit — in Folge der empfundenen wohlthätigen Wir- 
fungen und hierauf gegründeten Ueberlegung haben fie wohlbewußt und 
willfürlich diefelben Sterne als Götter ſich vorgeftellt. Allein was der 
Mensch einmal- für etwas anderes genommen, verwandelt er fich nicht fo 
leicht und fo willfürlich in einen Gott. Diefe Erklärungen lauten, als 
könnte der Menfch fi) zum Gott machen, was er wollte, Aber dem 
Selbftgemachten hätte die Menjchheit fic) nie fo unterwerfen können, wie 
wir die älteſte Menfchheit jener aftralen Religion unterworfen. jehen. 
Die Menjchen hatten gar nicht erft die Zeit, von einem natürlichen Stand- 
punft ausgehend durch Neflerion oder Nachdenken. zu einer Religion zu 
gelangen. In feiner. erften Bewegung ſchon zog fid) das Bewußtſeyn 
die Nothwendigfeit des mythologiſchen Procefjes zu, und ſchon früher 
ift bemerft worden, daß der Meufh, indem er dem mythologiſchen 
Proceß anheimfiel, nicht etwa, wie man wohl gerne ji) vworftellt, in 
die Natur zurüdfiel, daß er vielmehr. der Natur entrüdt, durch eine 
wahre Berzauberung außer die Natur verfest, in jenes nod) vor-materielle 
— noch geiftige — Prius aller Natur (das reine noch nicht unterworfene 
B) verſetzt wurde, das die Natur als ſolche für ihn aufhob. — Es ift wohl 
eine nothwendige Aufgabe zu erklären, wie dev Menſch aus diefer Ver— 
zauberung wieder ſich losgewunden und zu dee menſchlichen Anficht der 
Natur ſich befreit habe. Aber das Umgefehrte für möglich halten, ihn 
erft in demfelben freien und befonnenen Verhältniß zur Natur zu den- 
fen, in welchem wir uns jeßt befinden — ihm aljo die Sterne 3. B. 
als bloße Naturgegenftände empfinden und hernac erſt fie willkürlich 


185 


vergöttern lafjen — dieß kann man nicht anders als abjurd nennen. 
Wer num aber überdieß nicht den einzelnen Moment, fondern den gan- 
zen Derlauf in Betracht zieht, wird wohl in der Mythologie eine vom 
erften Keim Sich herjchreibende Nothwendigfeit entveden, die alle zu— 
fallige Entftehung, welche mit der Anregung durch finnliche Eindrücke 
und auf dieſelbe gebaute Schlüffe nothwendig verbunden ift, auch von 
dem erften Syſtem entſchieden ausſchließt. Der Zabismus beruhte 
darauf, daß das Bewußtſeyn den Gott, der fih ihm zu materialifiren 
brohte, noch immer. als immateriellen, geiftigen und eben damit aus- 
Ichlieglichen behauptete, Daraus entjtand die aftrale Neligion. Ohne 
jenen ganz geiftigen Sinn hätte fich der Begriff der himmlifchen Heer- 
ſchaaren nicht mit dem Begriff von Engel iventificıren können, wie 
offenbar im A. T. gejchehen tft, wo im Bud) Nehenta gefagt ift: das 
himmlifche Heer betet Did) an, was doch von bloß materiellen Lichtern 
nicht zur jagen war !, 

Der Zabismus ift das älteſte Syſtem überhaupt, insbefondere nun 
aber das Syſtem der noch ungetrennten Menjchheit. Wenn e8 einer 
Urſache bedarf, welche die Zertrennung der Menjchheit in Völker er- 
klärt, jo bedarf es. nicht minder eines Principe, um die der Zertren- 
nung vorausgegangene Einheit des menfchlichen Geſchlechts begreiflic, 
zu machen? Nur jene allgemeine, das Seyn überall einförmig und 
fich felbjt gleich erhaltende, dem mannichfaltigen, frei entwicelten Leben 
unholde Macht erklärt die Ruhe und die Stille der vorgefchichtlichen 
Zeit, Die nur der tiefen, feierlichen Stille des Himmels vergleichbar ift. 
Denn wie der Himmel feine Ereigniſſe kennt und in lautlofer Stille 
ift heute wie vor Yahrtaufenden, jo jene Zeit. Wenn dem vorgefchicht- 
lichen Menjchengefchhleht die Natur immer nur diefes einförmige Ange— 
ficht zumendet, wenn nur das Allgemeine, das Allwaltende in ihr 
ein Verhältniß zu ihm hat, dagegen der Reiz des unendlicd mannichfalti- 
gen und wechjelnden Lebens an feinem Gemüth ohne Rührung und 
gleichjam ſpurlos vorübergeht, unvermögend, ven hohen Exrnft des nur 


Nehemia 9, 6. 
? Bol. Einleitung in die Ph. d. M. ©. 104. 


186 


dem ausjchlieglih Einen zugewendeten Bewußtſeyns zu ftören, wenn 
auf dieſe Weife der reine Himmelsverehrer auch geiftig wie in der Wüfte 
febt, fo läßt ſich dieß aus einer bloß fubjeftiven Vorſtellung oder An- 
ficht nicht erklären, es laßt fi nur erklären, wenn man ihn ganz ein- 
genommen denft won einer Gewalt, die ihn in das ausſchließlich Seyende 
jelbft verjegt und feinen Blick für die freie, lebensvolle Natur verfchließt. 

Wir haben früher Theorien kennen gelernt, nad) welchen zur Ent- 
ftehung der Mythologie nichts weiter erfordert wird, als daß eine mill- 
fürliche Phantaſie nad) Belieben oder nad zufälliger Einfiht, jetzt die— 
fen, jett einen andern Gegenftand aus der Natur heraushebt, um eine 
Eigenfhaft oder irgend ein Vermögen vdefjelben perſönlich worzuftellen. 
Nach einer ſolchen Theorie gibt es, wie Sie leicht jehen, Feine gejeß- 
liche Aufeinanderfolge, feine beftimmte Abftufung in der Entjtehung der 
mythologiſchen Vorſtellungen. Gewöhnlid läßt man diefes Perfonificiven 
von den nächiten Ericheinumgen und Kräften anfangen, wie dieß auch 
— eine folhe Entftehungsweife angenommen — ganz natürlich ſeyn 
würde, indeß gejchichtlich die Mythologie in der That vom Entfernteften, 
vom Himmel angefangen hat; fo früh fi) aud) dem Menfchen der wohl- 
thätige Einfluß der Dinmelslichter bemerflic, gemacht haben mag, andere 
concrete Gegenftände lagen ihm doch materiell näher. Geſetzt aber 
auh, man ließe dieſes Perfonificiven zufällig vom Himmel anfangen, 
entweder, daß die Weltförper felbft, oder die fie bewegenden und um— 
treibenden Kräfte als Götter vorgeftellt wurden, jo wäre doch fein Ver— 
weilen. Diejes willfürliche Berjonificiren, einmal im Zug, würde nicht 
ſäumen, aud mit den andern, mehr jpeciellen Naturfräften daſſelbe zu 
thun; e8 würde alfo der ganze Haufe der mythologiſchen Vorftellungen 
im bunten Durcheinander auf einmal entjtehen. Dieß ift aber gegen 
alle Gefchichte und ein neuer Beweis, wie fehr jene Theorien, die fid) 
angeblicd) auf dem rein empirifchen Standpunkt halten, vielmehr ver wahren 
Erfahrung, welche hier die wahre Gejchichte ift, entgegenftehen. Denn 
die Gefchichte zeigt mit unwiderleglicher Beftimmtheit, daß in der Mytho- 
logie verfchiedene Syfteme nacheinander hervorgegangen find, eines dem 
andern gefolgt, und je das frühere dem fpätern zu Grunde gelegt worden ift. 


Diejes Verweilen des. mythologiſchen Bewußtſeyns in den einzelnen 
Momenten ift eine unleugbare Thatfache, welche feine wahre oder aud) 
nur auf Bollitändigfeit Anſpruch machende Theorie aus den Augen jegen 
oder unbeächtet lafjen darf. In dieſem Bermeilen eben zeigt es jid), 
daß die Entwidlung feine gejeßloje tft, jondern nad) einem beftimm- 
ten Geſetz erfolgt, daß auch dieſe fcheinbar ganz vegellofe Bewegung 
des Gott entfremdeten Bewußtſeyns nicht sine numine geſchieht. 

Es war nicht zufällig, wenn die ältefte Menjchheit den Mächten 
des Himmels diente, nicht zufällig, wenn fie dem inneren Leben gleich 
jam geftorben und ganz entfremdet, jenem äußern, bloß aftralen, fos- 
mifchen Geift anheimfiel. Eine höhere Macht erhielt fie unter dem 
Geſetz diefer Religion; es war die Zeit, in der nach dem großartigen 
Ausdrud des A. T. der Herr das Heer des Himmel3 verordnet hatte 
allen Bölfern, d. 5. der noch ungetheilten Menfchheit '. In der 
Himmelsverehrung, als der erjten Keligion des Menfchengejchlechtes, er- 
hielt fi) das veligiöfe Bewußtſeyn überhaupt — damit mar die 
veligiöfe Bedeutung des ganzen folgenden Procefjes gegeben. Ein Kir— 
henvater jagt: Gott gab ihnen Sonne und Mond zur DBerehrung, er 
machte fie ihnen, damit fie nicht ganz Gottlofe (ZıFeos) würden? Gegen 
den jpätern, auf hinfällige und vergängliche Dinge ſich beziehenden Aber- 
glauben wurde die Himmelsverehrung aud von Kirchenvätern als eine 
reinere Religion, noch immer als ein relativer Monotheismus betrachtet, 
ebenfo wie von Muhammed, der die Zabier den Heiden entgegenfegt. 
Eme höhere Macht alfo war e8, die die Menjchheit unter dem Geſetz 
diefer Religion erhielt. Die Menſchheit jollte im dieſem Zuſtand des 
außer -fih- Seyns bleiben, bis die Zeit der Einfehr in ſich ſelbſt, aber 
eben damit auch die der innern gegenfeitigen Abftogung und der Zer— 
trennung der Menfchheit gefommen war. 

' 5. Mof. 4, 19. 

* Clemens von Alerandrien. Die Stelle lautet: "Edonev dd zai rov NAıov 
zai ınv deinvnv, zaira aöroa eis Vonöreiav, 4 &moindev 0 "eog roig 
zdvedın, Iva um releov absoı yevouevor Teidoz zal dıapydapadır. oi di 
zav TAUTN yevouevor T) EvroÄl ayvauoves, yAunroig moogeymaores ayal- 
uadı, zdv un ueravonöwoı, zoivovrar. Stromat. Lib. VI, e. 14. 


Wie ein ſchwüler Himmel z0g ſich diefe noch nicht in wirkliche 
Vielheit aufgefchloffene, nur mit Bielheit ſchwangere Einheit, diefer ftumme 
Monotheismug über die Welt, und erhielt fie in der Stille und Erwar— 
tung der Dinge, die da fommen follten, in einem Zuftand von Vorbe— 
veitung für die Fünftige lebensvolle Bewegung. In dieſem Zuſtand, 
der feiner Natur nach nicht bleiben Fonnte, und von Anfang an ſchon 
zum Grund eines folgenden beftimmt war, wurde der Stoff der Fünfti- 
gen Völker vorbereitet. Hier ift gleichfam die Werkftätte und die Vor— 
rathskammer, aus welcher Er die Völker hervorruft, jedes zu feiner 
Zeit und in dem Augenblid, wo der Moment des theogoniſchen Pro- 
ceffes gefommen ift, den jedes in ſich ausfprechen und darſtellen fol. 

Die Dauer diefer vorgefhichtlichen Zeit ift daher eine durchaus 
relative. Denn die Meinung ift nicht, daß die Völker alle zugleich, 
fondern daß fie in gemeffener Folge aus jenem Zuſtand hervorgetreten 
feyen, woraus folgt, daß manche noch in diefer worgefhichtlichen Zeit 
und unter dem Geſetz derfelben zurücdbehalten wurden, als bereit8 andere 
zum gefchichtlichen Leben fich losgeriſſen hatten. 

Ich bemerfe noch zum Schluß: Die drei Potenzen, von denen wir 
vor dem Uebergang zur aftralen Neligion jagten, fie jeyen nun als — 
ſucceſſive — Götter an der Stelle des wahrhaft- Einen, des all= einigen 
Gottes gefetst (gefeßt zwar noch nicht für das Bewußtſeyn, aber Doc re- 
lativ auf das Bewuftfeyn) — fie find gleichfam die Urgötter, nämlich die 
eigentlich werurfachenden Götter, die fid) in dem ganzen Proceß als 
Urſachen vefjelben verhalten; mir werben fie aud) die formellen 
Götter nennen, Aus ihrer Wirkung erft entftehen die nicht verurjachen- 
den, die materiellen Gottheiten. 


Behnte Vorlefung. 


Jener Zuftand, den wir bisher bejchrieben, Fonnte nicht bleiben. 
Dieß folgt ſchon daraus, daf er auf einem Kampf, einem Streben, 
einer Spannung beruhte, jede Spannung aber endlich erjchlafft, jeder 
_ Kampf endlich fein Ziel. findet, und alles, wie es ſich auch ftraube 
und widerjege, doc zulest an die ihm -gebührende Stelle treten muß. 
Da aljo der Uebergang natürlich und nothwendig tft, jo bedarf es nicht 
erſt des Beweiſes für einen folgenden Moment, jondern es fann nur 
darauf anfommen, die Art und Weife des Fortgangs zu einem folgenden 
Moment deutlich und beftimmt zu erfennen. 

Schon der vorhergehende Moment ging darauf, das ausjchliegliche 
Princip gegen die höhere Potenz zu materialifiven und jo überhaupt 
eine Succefjton einzuleiten, nur daß es ſich diefer Materialifirung wider- 
jetste. Dieſes Beitreben, das, was beftimmt ift materiell zu werben, nod) 
als geiftig feitzuhalten, erzeugte den Zabismus ‘. Der nächſte Moment 
muß aljo der jeyn, wo das ſchlechthin Ausjchliegliche feine Ausſchließung 
aufgebend, fich gegen ein Höheres wirklich zur Materie, d. h. ihr über- 
windlich, macht. 

Ste fünnen fi) den Begriff, um den es bier zu thun ift, und der, 
wie Sie von jelbjt und ohne mein Erinnern begreifen, nicht bloß für 
die Mythologie, jondern allgemein wichtig iſt, audy jo denfen. Jenes 


! Der Zabismus im Bewußtſeyn ift die wüllige Flucht des B, das nun, um zu 
beftehben, fih maäterialiſiren muf. 


190 


gegen die Beftimmung (nachdem einmal unterworfen) pofitio gemorbene 
Princip ſoll nicht etwa unmittelbar wieder in das Verhältniß des nicht 
Seyenden zurüctreten — dieß wäre ein völlig rüdgängiger, finnlofer Pro- 
ceß — nicht zurüdtreten, fondern poſitiv bleiben joll es, und dennoch, 
indem es pofitio bleibt, nicht in ſich ſelbſt zwar, aber relativ gegen die 
höhere Potenz potentiell werden. (Ueberwindlich werden — zur Materie 
werden — zur Potenz werden — dieß find lauter ganz gleichbedeutende 
Begriffe. Die reine Materie z. B. ift einerjeits mehr als reine Potenz 
und doc) verhält fie ſich wieder als die bloße Möglichkeit, als der bloße 
Keim aller der materiellen Dinge, die aus ihr hervorgehen, d. h. die 
fie für fich felbft nicht hervorbringen würde, wenn fie nicht eine höhere 
Potenz an und aus ihr hervorriefe). Alſo: das pofitiv gewordene 
Princip foll pofitiv bleiben, aber als diefes in ſich pofitive nicht in ſich 
— denn dieß wäre ein Widerfpruch — wohl aber relativ, nämlich eben 
gegen jene höhere Potenz, doc zur Potenz, potentiell werden. 

Hier entfteht uns alfo der Begriff einer bloß relativen Potentiali- 
tät, oder der Begriff eines actu-potentiellen Weſens, d. h. eines We- 
ſens, das in fich actuell und dennod) zugleich nad) außen oder gegen ein an- 
deres Princip potentiell ift, feyend — nicht feyend. Der Begriff eines jol- 
hen actu-potentiellen Wejens ift aber eben gerade der Begriff der Materie, 
inwiefern dieſe bereitS als reelle, wenn gleich nicht fürperliche, Materie 
verftanden wird. (So: B foll der höheren Potenz zur Materie werben: jo 
allgemein gefprodhen könnte e8 dieß auch werden, wenn es ganz zurlid- 
ginge in die abjolute Potentialität. Aber in diefem Sinn geht e8 nicht in 
die Botentialität zurücd; ſondern in relative Potentialität geht es zurüd, 
und dieß — reelle Materie', die jedoch von körperlicher Materie noch im— 
mer umnterjchieven werden muß). Umgekehrt können wir jagen: die Auflö- 
fung jenes ſcheinbaren Widerſpruchs, daß ein und dafjelbe zugleich in ſich 
actırell und relativ gegen ein anderes potentiell jeyn ſoll — die Auflöjung 
dieſes Widerſpruchs wird eben angefchaut im Begriff der reinen, d. h. 
noch unförperlichen Materie. 


‘oder phyſiſche — Materialität; vergleihe ©. 423 ff. des worhergehenden 
Bandes. D. 9. 


191 

Ich verſuche diefen allerdings ſchwierigen Uebergang noch auf eine 
andere Weiſe, oder durch einen andern Ausdruck deutlich zu machen. 

Solang das im Bewußtſeyn gegen die urfprüngliche Abficht und 
Beſtimmung poſitiv gewordene Princip in diefem Zuftande der Erhebung, 
der Aufrichtung blieb, war es blind für die höhere Potenz. Aber be- 
ftändig beftritten von diefer höheren, obwohl noch unerfannten Gewalt, 
und unfähig ſich gegen fie zu behaupten, fann und will e8 won der 
andern Seite doch auch nicht in die innere Potentialität zurüd (denn 
dieß wäre ein völlig. rüdgängiger Proceß). Im diefem Drang feiner 
Noth aljo, da es nicht wieder ſchlechthin potentiell werden kann und 
doch von der andern Seite ebenjo wenig ſchlechthin (nämlich ausſchließlich) 
actuell bleiben kann — in dieſem Drang feiner Noth findet e8 die 
Auskunft oder Ausflucht (id) bediene mic, dieſes Auspruds nicht will- 
kürlich, fondern als eines foldhen, der in der Mythologie jelbft begründet 
ift) e8 findet, ſage ich, Die Auskunft oder Ausflucht, jeyend in fih und 
doch zugleich auch nicht jeyend zu ſeyn, gegen eine höhere Potenz — 
wir wollen jagen, e8 wird ein Drittes, indem es nicht nichtfeyend (nicht 
bloßes Können), und doch aud nicht mehr im Gegenſatz oder in 
der Ausichliegung gegen die höhere Potenz ſeyend ift. Aber eben damit 
daß es aufhört das ausſchließliche Seyn zu feyn, und infofern 
zwar nicht in die innere Potentialität zurüdtritt, aber wenigſtens äußerlich 
potentiell wird, öffnet e8 fid) zugleich der höhern Potenz, und wird zum 
Gewahrwerden, zum Erfennen der erft ausgefchlofjenen relativ geiftigen 
Potenz gebracht‘. 

Sp — die relativ geiftige Potenz — wollen wir das jett auf- 
tretende A? nennen. Denn gegen das jebt zur Materie werdende 
Princip — gegen B, jofern es fi zur Materie bingibt — ift die 

! Solange es fih noch im Centrum behaupten will, fchlieft es die höhere Po- 
tenz von fih aus und ift ihr unzugänglich. Obgleich daher ſchon jet von ihr 
beftritten, erkennt es fie doch nicht. Denn eben durch fein Streben im Centro 
zu bleiben verſchließt es fi) ihr. Es konnte darum bis jett auch noch nicht 
davon die Rede jeyn, daß es durch die höhere Potenz wirflich überwunden, ſondern 


nur daß es ihr zugänglich (obnoxium), d. h. überwindlich werde, und an diefem 
Punkt find wir nun. 


192 

höhere Potenz relativ die geiftige. Jenes hat das Centrum verlaffen, 
darum ift nun diefe (A?) im Centro. Denn indem die gegen die ur- 
ſprüngliche Beftimmung pofitiv gewordene Potenz = B ihre Ausſchließung 
aufgibt, kann fie nicht in die Latenz des Subjekts zurücd, aus der fie 
fi) eben erhoben hat — da wäre wieder alles wie zuvor; es wäre 
ein rückgängiger, Fein fortjchreitender Proceß —, wohl aber kann fie 
das Subjeft-Seyn jelbft aufgeben, fid zum Objekt entjchliegen, um an 
ihrer Statt das, was zuvor das Ausgejchlofjene und infofern Objekt 
war — Statt ihrer nun Diefes als Subjeft zu fegen; jie kann peri- 
pherifch werden und dem zuvor Ausgefchloffenen, d. h. Peripheriſchen, 
pas Centrum überlaffen ; oder — denn alle dieſe verfchtedenen Ausdrücke 
jagen nur dafjelbe — fie kann ſich materialifiven, entgeiftigen, um das 
zuvor Ausgejchloffene als Selbft, als relativ geiftige Potenz zu jeßen. 
Sie thut dieß zwar nur, weil fie nicht anders fan. Denn die höhere 
Macht, welche da iſt, will B immer wieder in die Potentialität zurüd- 
ziehen, dem entgegen es aber veal (ausjchliegend, infofern nicht ma— 
teriell) bleiben will, das am Ende dadurch fi) ausgleiht, daß B 
objektiv, peripherifch, A? fubjeftiv gefetst wird Wenn das gejchieht, 
fo erfcheint die zum Nichtfubjeft gewordene Potenz als das den relativ 
geiftigen Gott Segende. Denn daß die Potenzen dem Bewußtſeyn 
fucceffiv zu Götter werden, haben wir fchon gezeigt. Auf dieſe Art 
wird das zuvor den relativen Gott Ausjchliegende, Negivende zum 
Setzenden des Gottes, aber 1) weil es nicht innerlich, nur äußerlich 
gegen ihn potentiell wird, auch nur das äußerlich Setzende des Gottes, 
2) da es das Seßende des Gottes wird, ‚nicht fofern es actuell, jondern 
gerade fofern es relativ potentiell, materiell wird, kann es nicht als 
das zeugende, ſondern als das gebärende Princip des Gottes erjcheinen. 
Die liegt Schon in dem, daß wir fagten, es materialifirt fi, d. h. 
es macht fi zur Materie künftiger Verwirklichung für die höhere Po— 
tenz. Es macht fi zur Materie, heißt: e8 macht fid) zur Mutter 

' Das pofitio gewordene Brincip (B) hat, daß ich fo fage, feine centrafe Stellung 


verwirkt, und foll nun auch wirklich (Auferlich) peripherifch werden — was es als 
aus feiner Innerlichkeit herausgetretenes von Nechtswegen ſchon ift. 


193 





des Höheren. Mater und materia find im Grunde nur ein Wort, wie 
die Sache felbft im Begriff übereinftimmt. Das dem Bewußtſeyn zu 
Grunde liegende Princip, das ſich aber aus feiner Tiefe erhoben hatte 
und ſelbſt pofitiv geworden war — wir wollen e8 als das zu Grunde 
liegende das fubftantielle nennen — das jubftantielle Princip des Be— 
wußtſeyns — B materialifirt fi, heißt: der Gott ſelbſt, den das 
Bewußtſeyn im Zabismus noch geiftig erhalten wollte, materialifirt ſich 
(denn B, ſowie e8 aufgehört hat A — reine Potenz — zu jeyn, wird 
vom Bewußtſeyn nicht mehr enthalten, es wird eine das Bewußtſeyn 
überfchreitende, gegen e8 objektive Macht, e8 wird ihm zum Gott): dieſer 
Gott = B materialifirt fi alſo jest dem Bewußtſeyn“. Im Zuftande 
der Erhebung, in der Spannung, welche zugleich eine Ausjchliegung der 
höhern Botenz war, konnte der Gott dem Bewußtſeyn nur als männlid 
erfcheinen; inſofern kann ſich der Uebergang von der höchſten Spannung 
gegen ven bisher ausgejchlofjenen Gott zur Selbftunterorpnung unter 
den Gott, diefer Mebergang, ſage ich, des erften Gottes won der höch— 
ften Spannung zur Erſchlaffung — ein Uebergang, der noch überdieß 
als ein plößlicher gedacht werden muß — diefer fann fi) dem Bes 
wußtſeyn nicht wohl anders darftellen, als wie ein Uebergang vom 
Männlihen zum Weiblihen, d. 5. wie ein weiblih Werden des 
erft Männlichen — nicht vermöge einer fünftlihen, bloß willfürlichen, 
poetijirenden Einfleivung, wie man dieß fonft erklärt, jondern vermöge 
einer in der Natur der Sache jelbft liegenden Nothwendigfeit, alſo ver- 
möge einer durchaus natürlichen, ja nothwendigen Borftellung. 

Ich begreife es wohl, daß e8 manchem bei folchen Ausdrüden un- 
heimlich werden fann, aber nicht ich mache diefe Ausdrüde, jondern bie 
Mythologie felbft drückt fich jo fühn aus; meine Aufgabe tft, die Saden, 
wie fie find, zu zeigen, und an der rechten Stelle jederzeit auch das 
eigentliche, das natürliche Wort zu jegen, wie e8 ſich dem mythologiſchen 
Bewußtſeyn ſelbſt mit Nothwendigfeit aufgedrungen hat. 

Jener Uebergang zur bloß relativen oder äußerlichen Potentialität 
war aljo ein Uebergang von Männlichkeit zu Weiblichkeit, von dem 


' Die Einheit wird dann zum bloßen Grund. 
Schelling, fämmtl. Werke. 2. Abth. 11. 13 


194 

männlichen Gott zu einer weiblichen Gottheit. An die Stelle des himm— 
lichen Herrichers, jenes Königs des Himmels, der in ver erſten Re⸗ 
ligion ausſchließlich verehrt wurde, tritt daher jetzt die Himmels-Königin, 
Melaekaeth haschamaim — wie fie ausdrücklich im U. T. genannt 
wird! —, und jener Uebergang zur relativen oder äußerlichen Potentin- 
lität ift daher in allen Mythologien der Vorwelt bezeichnet durch die an 
die Stelle des himmlischen Herrfchers tretende weibliche Gottheit, die 
unter verfchiedenen Namen als Mylitta, als Aftarte, als Urania 
von fo vielen Völkern verehrt wurde. — Urania ift nad) diefer Ableitung 
nur Uranos jelbft in weiblicher Geftalt, der weiblich gewordene Uranos, 
d. h. der reale Gott, der feine Spannung gegen den höhern, den rela- 
tiven geiftigen Gott, wie wir ihn ſchon benannten, aufgegeben hat, 

Die griechiſche Mythologie, die einem viel ſpätern Momente, ja 
die dem letten Moment der mythologiſchen Entwicklung angehört, hat 
darım die frühern Momente nicht weniger in fid), nur, wie fi) verfteht, 
auf eigenthümliche Art aufgenommen. In einer andern Wendung fonnte 
nämlich jener Uebergang ja auch vorgeftellt werden als ein entmänn- 
(icht, entmannt Werden des zuerjt ausſchließlich herrſchenden Gottes. 
So ift der Uebergang in der hellenifhen Mythologie vorgeftellt, wo 
Uranos entmannt wird — warum fie ihn durch jenen Sohn Kronos 
entmannen läßt, der ihm in der Herrjchaft folgt, ift nicht Schon begreiflich, 
wird fic) aber in der Folge erklären. — Hiedurch unterfcheivet ſich aljo 
die hellenifche von der aſiatiſchen Vorſtellung, welche an die Stelle des 
männlichen Gottes unmittelbar eine weibliche Gottheit, die Urania, ſetzt; 
aber die wejentliche Identität der hellenifchen Vorftellung mit der afta- 
tifchen zeigt fid) darin, daß die griechiiche Theogonie aus dem Schaum 
der abgejchnittenen und ins Meer geworfenen Zeugungstheile des Uranos 
die Aphrodite entftehen laßt, die in der That nur das hellenifche Gegen- 
bild der afiatifchen Himmelsfönigin ift, und infofern ja ebenfalls Urania 
heißt, wenn es auch nicht gerade eine Tiedge'ſche ift. Hier ift aljo 
Aphrodite oder Urania menigftens mittelbar Folge der Entmannung 
des Uranos; auf jeden Fall geht-ihr diefe voraus. Sowie das Bewußtſeyn 

' Xerem. 7, 18, 44, 17. 18. 19. 25. 


195 
fi) innerlich zu dem Uebergang neigt, wird ihm jein Verhältniß zu 
dent ausgejchloffenen Gott als Spannung fühlbar. Das plößliche 
Nachlaſſen dieſer Spannung kann ihm nur erfcheinen als ein dem Gott 
weich, nachgiebig, weiblid Werden, als ein IyAvverdu To eo, 
eine Borftellung, die fo tief eingewurzelt in. den Gedanfen des Heiden- 
thums, dag ein in feinen Schriften vorzüglich mit dem Heidenthum und 
jeinem Verhältniß zum Chriſtenthum bejchäftigter Kirchenvater, daß 
Clemens von Alerandrien jogar feinen Anftand nimmt, mit Anjpielung 
auf ein hohes Geheimniß des Chriftenthums, die fühnen Worte zu 
brauchen: „Das Unausſprechliche Gottes ift der Vater, aber das 
ung DBerwandte in ihm wurde Mutter, liebend wurde der Bater 
weiblid) '. 

Es ift hier nit der Ort zu unterfuchen, in welhem Sinn etwa 
dieſe Aeußerung des Kirchenvaters ſich verftehen ließe; ich führe fie nur 
an als Beweis, mit welcher von aller Willfir des Einfleidens unab- 
hangigen Nothwendigfeit aud dem philoſophiſchen Bewußtſeyn diefe Aus- 
drücke von männlich und weiblich, ferner von weiblich-werden fich erzeugen 
mußten, wie natürlid aljo im Grunde. die Mythologie ift: 

Wir haben hiemit der Urania eine bejtimmte Stelle angewiejen. 
Um nun aber dieje Stelle noch genauer, als es bisher durd die Na— 
tur der Sache gejchehen it, nämlich auch hiſtoriſch zu rechtfertigen, jo 
wird dieſe Stellung der Urania hauptſächlich dadurch beftätigt, daß 
Herodotos, der in allem, was er gejehen und gehört, unjer größtes 
Bertrauen verdient, diefe Verehrung der Urania gerade von den älteſten 
geichichtlichen Völkern herfommen läßt, d. h. von denen, die zuerft aus 
der Einheit der urſprünglichen Menfchheit ausgefchieven, den Affyriern, 
Arabiern, Perjern. Am deutlichſten als angehörig jener erften Zeit des 
Hervorgehens aus dem Zabismus ift fie insbeſondere betätigt duch das, 


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Clem. Alex. Tis 0 Owsouevog; cap. T: Eorı ds Hai aurog 0 Oeoç 

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aydan, nal di ayaznv nuiv &bhnAuvdn Hal To. Lv appnrov aurov 
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EdnyAüvin' zal Tovurov usya Omueiov, övr aurog &yevundev &5 davrov 


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196 





was Herodotos in Beziehung auf die Verehrung der Urania von den 
Perjern jagt. 

Ich werde die ſämmtlichen Stellen des Herodotos, * von der 
Urania handeln, nacheinander durchgehen, zuerſt aber von derjenigen 
ausgehen, wo ſie bei Gelegenheit der Perſer erwähnt iſt, weil da die 
Stellung am deutlichſten. 

Hier ſagt er: Die Perſer opfern auf den Gipfeln der höchſten Ge— 
birge, vor allem dem allgemeinen Himmelsumſchwung, als dem höchſten 
Gotte, dem Zeus, und dann aud) der Sonne, dem Mond, dem Teuer, 
dem Wafjer und ven Winden‘. Hier tft Verſchiedenes in Erwägung 
zu ziehen. 1) Herodotos jagt, daß fie T0v xUxAov MEvra TOV 000uv0oV 
Zeus nennen. Gewöhnlich: der ganze Umkreis de8 Himmels, Allein 
xVx)Log iſt hier vielmehr aftiv zu nehmen als die Umfretfung, als der 
Umſchwung, mit dem die Urjache (als umzertvennlich) gemeint ift. Aud) 
hier galt die urfprüngliche Verehrung dem großen Einen, defjen unüber— 
windlihe Kraft fid) vorzüglich in dem lebendigen Eirfel der Himmels- 
bewegungen fund gibt. Diefes war ihnen Zeus, d. h. es war ihr 
bhöchfter Gott. Denn die Bemerfung, daß Herodotos hier. vielleicht ſo— 
gar den perfiichen Namen des höchften Gottes, der nämlich im Perſiſchen 
Dew gelautet, durch Ada habe ausprüden wollen, ift ganz grundlos. 
Herodotos nimmt auch anderwärts nicht Anftand, den höchften Gott 
3. B. der Sfythen mit dem griechifchen Namen Zeus zu benennen. Bei 
dem Bewußtſeyn der imnern Identität zwijchen ihren Gottheiten und 
denen der andern Völker hatten die Griechen fein Bedenken, auch dieſe 
mit griechiſchen Namen zu benennen, wovon ſich in der Folge mehr als 
ein Beijpiel zeigen wird. Was alſo aus diefer Stelle fi) ‚abnehmen 
laßt, ift nur, daß die Berfer den erften, den höchften Gott eben in dem 
lebendigen Himmelsumjchwung erfannt und verehrt haben, und dann 
erft an zweiter Stelle al8 untergeorpnete Naturen Sonne, Mond, ferner 
dann aud das Feuer, das Waffer, die Winde, d. h. die Luft in ihren 

' Lib. I, e. 131. Ebenſo jagt Strabo (L. XV, c. 3, p. 732) von ben 
Perſern: Iuovaı SE dv vıpnAo rono. Deßgleihen Kenophon (ſ. die Stelle S. 206) 
ini TOv arpav (=nin2). Vgl. Hoseas 4, 13. 


197 


Bewegungen, furz die Elemente verehrt haben. — Hier werden wir 
alfo auf die Verbindung geführt, in welcher fich überall die Verehrung 
der Elemente mit dem Sternendienft zeigt. Ich halte nämlich Teßteren 
für das urſprüngliche; daß aber fi) den Sternen bald, oder wenigfteng 
nach der Erjcheinung der Urania, d. h. nad) der eingetretenen Materiali- 
firung des veinen Zabismus, aud) die Elemente beigefellt, ift begreiflich. 
Denn auch die Elemente haben, um vorerft nur dieß anzuführen, mit 
den Sternen gemein, daR fie ebenjomenig als diefe in eine beftinmte 
Klaſſe von Körpern gejegt werden können, auch fie in einem gewiſſen 
Sinn noch überförperlich find. Feuer: dieß am meiften jener alles ver: 
zehrenden Kraft, jenem Prius der Natur verwandt, das eigentlich noch 
nicht Natur, fondern Gegenfag der Natur ift, daher Heraflit jagt: 
Das Feuer lebt den Tod der Erde!. Ferner, wein die Alten jagten: 
die Sterne jeyen reines Feuer, jo iſt dieß eines mit unſrer Anficht 
ganz übereinftimmenden Sinnes. Aber aud in den andern Elementen, 
als in welche alles ſich auflöst, wie alles aus ihnen hervorzugehen 
ſcheint, kann man jenes allverzehrende Weſen gegenwärtig glauben, das 
in den Sternen urjprünglich allein verehrt wurde, Wer fanın die der 
Luft, dem Waſſer inwohnende, verzehrende Kraft verfennen? — Die 
Luft insbejondere jcheint, mie jenes erjte, pafjiv gewordene Princip nur 
relativ materiell, aber in jich ſelbſt nod ganz geiftig zu ſeyn, wie 
ja außer der Fortpflanzung des Schalls ſchon jene alles verzehrende 
oder afjimilivende Kraft beweijen würde, mit der fie alles, was von der 
Dberfläche der Erde fid) erhebt, in ſich aufnimmt, aber fogleich derge— 
jtalt verwandelt, daß feine Spur von ihm weiter zu finden ift. Dieſe 
bloß relative Materialität der Luft bemeifen ebenjo ſehr die neueren 
Verſuche über die ſogenannte gegenſeitige Perſpirabilität der Luftarten, 
woraus offenbar erhellt, daß verſchiedene Luftarten in demſelben Raum 
ſich nicht ausſchließen, daß ſie alſo gegeneinander oder unter ſich 
nicht Eörperlich find. — Auch das andere Element, das Waſſer, gehört 

' Man vgl; die Stelle bei Brandis, Handbuch der Geſchichte der griechiich- 


römischen Philofophie, I. Theil, S. 160, Anm. ec. (vgl. mit S. 162, Anm. g 
und h). 


198 

noch nicht der concreten, Fürperlichen Natur an. Ich erinnere nur an 
das gänzliche Verfchwinden des Wafjers im Dunftfreis und fein Wieber- 
hervortreten im Regen. — Die Erde, die man fonft als viertes Ele- 
ment nennt, wurde natürlich nicht als Element, fondern unmittelbar 
als Geftirn verehrt, wobei ich übrigens bemerfe, daß die Sterne (4.2. 
im N. T.) ebenfo gut Elentente ororyer« ToV x00u0V genannt werben, 
als die einzelnen Clemente. So viel zur Erklärung davon, daß mit 
der Sternenverehrung fich überall zugleich die Verehrung der Elemente 
verbindet, in denen felbft noch etwas Himmliſches ift, wobei ich nur 
noch daran erinnern will, daß nicht nur die Erde im Ganzen kosmiſch 
ift, fondern ebenfo aud) das Wafjer in dev Ebbe und Fluth des Meers 
fosmifche, alſo geftirnartige Natur zeigt. Ebenſo die Luft in ihren regel- 
mäßigen Bewegungen, zu denen z. B. die beſtändigen Winde, hauptjächlich 
innerhalb der Wendefreife gehören ; und jelbjt in ihren weniger beſtän— 
digen Bewegungen zeigt fie ſich kosmiſchen Einflüffen, Negungen jener 
alles durchwaltenden Kraft unterthan, der auch die himmliſchen Naturen 
folgen, für deren bloß irdiſche Stellvertreter man eben darum die Elemente 
anfehen konnte. 

Unftreitig alfo, jolang der Zabismus ſich in feiner urfprünglichen 
Geiftigfeit erhielt, wurde auch in den Elementen das Geiftige verehrt. 
Die Elemente wurden ebenjomwenig als die Sterite perfonifieirt. Die 
Perjer verehrten die Erde, die Gewäfler, das Feuer, die Winde; fie 
perjonificirten fie aber nicht, fondern fie hielten fie -für geiftige Wefen, 
oder doch für Erſcheinungen geiftiger Wefen, in der Sprache des A. T. 
gleihfam für Engel; wie denn in diefem auch von Gott gejagt it: 
Er macht jeine Engel zu Winden und feine Diener zu Yeuerflammen ', 
und wie es im erften Vers des zweiten Kapiteld der Genefis heißt: 
Alſo ward vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer, wo 
das Wort Zaba, von dem Zabismus herfommt, zum Beweis dient, 
daß auch die Elemente der Erde mit zu den allgemeinen, zu den kosmiſchen 
Weſen gerechnet wurden. 

Auch der Elementardienft alfo hatte urſprünglich geiftige Bedeutung; 

Pſalm 104, 4. 


199 





als aber der urſprüngliche Zabismus eben in jenem llebergang zum 
Theil in materiellen Sternendienft ausartete, oder dazu herabfanf, ver- 
lor natürlich auch die Verehrung der Elemente ihre urfprüngliche, geiftige 
Bedeutung. 

Eine zweite Bemerkung, zu der uns diefe Stelle des Herodotos 
Anlaß gibt, ift folgende. Herodotos erfennt oder fieht ſehr beftimmt 
das noh Unmythologiſche in der Religion der Berfer. In demfelben 
Zufammenhang, in welchem er jagt, daß fie auf den Gipfeln der Berge 
vorzüglich dem Himmelsumſchwung opfern, bemerkt er, daß fie von 
Tempeln, Altären, Götterbildern und überhaupt menjfhenartigen 
Göttern nichts wifjen, „ja, jagt er, fie ftrafen Diejenigen, welche folche 
errichten, und zwar, wie ich glaube, weil fie ſich die Götter nicht men— 
ihenartig vorſtellen“. In der That, jene Götter, die im Zabismus 
verehrt. wırrden, waren nod weit von menjhenähnlichen Göttern und 
jolhen, die man durch Bilder darzuftellen zu können glaubte, entfernt. 
Der Zabismus war noch nicht Soololatrie, und wenn man nicht auf 
das Fortjehreitende der ganzen Bewegung fieht, kann man fogar nicht 
umbin zu jagen, daß der Zabismus noch eine veinere Keligion war, 
wenn man darımter die umfinnlichere verftehen will, als die der jpäteren 
menjchenähnlichen und durch Bilder darftellbaren Götter. Herodotos 
jtellt alfo die Perfer noch dar als jenfeits des. eigentlihe Mythologie 
erzeugenden Procefjes ſtehend. In der That ift der Zabismus für fid) 
noch unmythologiſch und ungejchichtlich, weil Fein einzelnes Glied für 
ji) ſchon eine Folge, eine Fortſchreitung bildet; was aber nicht ver- 
hindert, daß er wenigſtens für uns auch jest ſchon jenes erjte Glied 
und Element der fünftigen Yortfchreitung, d. h. der künftigen Mytho— 
logie jey, das im Allgemeinen ſchon zum voraus erfannt ift. 

Nachdem nun aber Herodotos die Himmelsverehrung der Perjer 
bezeugt, erwähnt er der Urania als Uebergang ins Mythologifche mit 
den Worten, die ic) glei) anführen werde. „Sie opferten dem Himmels— 
umſchwung als höchſtem Gott, der Sonne, dem Mond u. |. w.“ Diefer 
Stelle fügt er folgende Worte bei: „Wenigſtens opferten fie anfänglich 
nur diefen; dazu haben fie aber auch von den Afjyriern und Arabiern 


200 

gelernt ' der Urania opfern, welche die erſten Mylitta, die zweiten 
Aftarte, fie ſelbſt Mitra nennen“. Diefe Worte des Herodotos find 
alfo vollfommen beftätigend für die Stelle, welche wir der Urania an- 
gewiefen. Herodotos läßt ihre Verehrung bei den Perfern unmittelbar 
folgen auf die Verehrung des Himmels, der Sterne und der Elemente. 
Urania ift alfo überhaupt die erfte Gottheit, welche auf den veinen 
Zabismus folgt; fie tft der unmittelbare Uebergang zu der gefchichtlichen, 
d. h. zu der eigentlihen Mythologie. Wenn das erfte ausjchließliche 
Princip = B dem höhern überwindlich geworden, dann fängt die wirk- 
liche Succeſſion an, dem ausfchlieglichen Gott fann ein anderer, der gegen 
ihn oder relativ geiftige, folgen. Damit ift juccefjiver Polytheismus 
gejegt. Urania alfo ift der Wendepunkt zwijchen der ungefchichtlichen und 
geichichtlichen Zeit der Mythologie. 

Deftätigend für unfere Erklärung der Urania ift aber nicht minder 
der Name Mitra. Daß diefer Name nichts anderes als die Mutter 
bedeutet, nämlich, die Mutter zer’ &£oy 77V , die erfte, die höchfte Mutter, 
fann um jo weniger bezweifelt werden, als durch alle Sprachen des Sprad)- 
ftamms, zu dem die perfifche gehört, diefer Name mit geringen Verände— 
rungen derjelbe ift, und im Perfiichen in ver That mader Mutter beveutet ?, 

Da ic hier über den Namen Mitra vede, fo will ich über den 
andern, Mylitta bemerken, daß derfelbe nicht etwa von Ns (Molävät), 
was Nachfommenjchaft heißt, herfommt. Dieſe Ableitung ift ſchon ver 
Form nad) falſch, vielmehr fommt er von dem Verbum VIN (Malath), 
das in der pafjiven Form errettet werden, entkommen, bedeutet. Miylitta 
ift hienad) effugium, salus, Ausflucht, Auskunft, wie wir früher uns 
ausgedrüdt. 


" "Emuenadnanoev, alfo nit bloß praeterea addidicerunt, was aus 
der lateiniſchen Ueberſetzung ſich weiter verbreitet hatte, uud die gejchichtliche Folge 
aufhebt, Die gerade für uns wichtig ift, indem dadurch. die Stelle, aljo der wahre 
Sinn des Uraniadienftes erhellt. Zu vergl. ift damit: or &rıyevouevor TOUTG 
sopısrai II, 49. . 

® Schon Seldenus, de Diis Syris II, p. 255, berief fih darauf, und 
Abraham Hinkelmann in Detectis fündament. Böhm. ſoll — Herleitung 
wiederholt haben. 


201 





Das, was nachher als Materie ericheint, ift daſſelbe Princtp, das 
wir. ung urjprünglicd im Gedräng eines Widerſpruchs vorftellen müfjen, 
der nur dadurch ausgeglichen wird, daß das B feine Stellung im 
Innern oder als Subjekt, wo es eben auf die höhere Potenz ausſchließend 
wirft, aufgibt, dagegen ihm nun als Objekt, als Nichtfubjeft, pofitiv 
zu bleiben verftattet ift. Die Materie in ihrem legten Zuftande ift alfo 
das Entfommen eines Widerſtreits und heißt als ſolche Mylitta. 

Mylitta ift nur eine andere Form des Namens, den die phönifiichen 
Schiffer (die phönikiſche Sprache ift auch ein jemitifcher und zmar dem 
Hebräiſchen nächft verwandter Dialekt) der Inſel Melite, heutzutage 
Malta, gaben, weil fie ein Zufluchtsort für Schiffbrüdige war; wie 
der Apoftel Paulus dort nad) erlittenem Schiffbrud zu Lande kommt. 
— Es ift derfelbe Gedanke, der in dem 90. Pſalm jo ausgedrüdt iſt: 
Herr Gott, du bift unfere Zuflucht für und für; nämlid) indem Gott 
jein verzehrendes Princip materiell gemacht hat, iſt er unfere Zuflucht, 
da in jenem Princip nichts Concretes oder Gejchöpfliches bleiben fünnte 
— du gewähreft uns Raum, eine Stätte, wo wir. bleiben fünnen, wie 
das Princip B zum Bleiben oder Beftehen gelangt, indem es ſich ma- 
terialifirt. 

Dieſer Borgedanfe, daß die Materie Entkommenes, erettetes 
ift, erftrect fich, wie wir ſchon in einem früheren Zufammenhang gefe- 
ben ', in der griechiichen Sprache fogar nod) auf den Ausdruck für Körper. 

Aſtarte betreffend, fo kommt diefe häufig im A. Teftament unter 
dem Namen Ajtharoth vor. Nur leider weiß man diefem felbjt Feine 
jichere Etymologie zu finden, Denn fi) auf das Syriſche berufen, wo 
das Subjtantiv Esthra für Stern gebraucht wird, ift unſicher, da in 
die ſyriſche Sprache fo viel aus der griechiſchen aufgenemmen ift, und 
jenes Subftantiv im Syrifehen wohl nur das aufgenommene griechijche 
&ortoov iſt. 

Uranta ift alſo in der Mythologie die erjte Niederwerfung des einſt 
im Zuftand der Aufrichtung befindlichen Principe, daß ich jo mid) aus— 
drücke, die erfte Katabole. Sie ift in der Mythologie derjelbe Moment, 

S. Einleitung in die Ph. d. M. ©. 432. | 


202 

den wir ums in der Natur als den eigentlichen Anfang der Natur, als 
Mebergang zu ihr, denken müfjen, als aus dem urfprünglich Geiftigen 
alles fich allmählich zur Materie anließ, die dann erft der höhern, de— 
miurgiſchen Potenz zugänglich wurde; e8 ift der Moment, wo der Welt 
Grund gelegt wird, d. h. wo das, was erft felbft Seyendes, Aufgerich- 
tetes ift, zum relativ nicht Seyenden, zum Grund wird; zum Grund 
der eigentlihen Welt, wenn man unter Welt den Inbegriff der mannid)- 
faltigen, voneinander abgeftuften und  verfchiedenen Dinge, furz die 
Welt des getheilten Seyns verfteht. Denn zuvor ift nur ungetheiltes 
Seyn. 

Hiebei, bei dem Schluß, den wir auf die perfifche Mitra bei Hero- 
dotos gründen, iſt jedoch nun zu erwähnen, daß eben dieſe von Hero— 
dotos genannte Mitra infofern zu Bedenken Anlaß gibt, als man e8 
auffallend findet, daß, wie man vorgibt, er allein von einer perfifchen 
Mitra Spricht, von der andere Schriftfteller nichts wifjen, während er 
dagegen von einer andern männlichen Perfönlichfeit — dem Mithras — 
nichts weiß, won der nicht bloß bei griechifchen und römifchen Schrift- 
ftellern, ſoviel ihrer perfifcher Dinge erwähnen, die Rede ift, ſondern 
deren Eriftenz und große Bedeutung durch die heiligen Schriften der 
Perfer, die unter dem Namen des Zendavefta, der Zendbücher, bekannt 
find, ſowie durch zahlreiche Denkmäler bezeugt if. Zur Löſung dieſes 
Räthſels bedarf e8 nun einer befonderen Erörterung, die ſich nicht allein 
auf den Mithras und feine Bedeutung, fondern in Folge Davon auf 
die ganze, dem Serdufcht oder Zoroaſter zugefchriebene Lehre zu erftreden 
hat. Was aber die Mitra betrifft, jo laßt fi ein Irrthum des Hero- 
dotos unmöglich annehmen. Gewiß hatte er Heiligthümer verjelben ge- 
jehen ; offenbar aber verwundert es ihn ſelbſt, dieſe weibliche Gottheit 
bet den Perfern anzutreffen, denen fie fo fremd ſcheint, daß er fie dieſe 
Gottheit eben deßwegen von den Affyriern und Arabiern annehmen läßt. 
Sie erfcheint ihm als etwas zur der urfprünglichen Neligton der Perfer 
nur Hinzugefonmenes: „errumeuadtrjansev‘; was, wie bereits be- 
merft worden, nicht außerdem (praeterea) heißt, fondern Dazu, zu 
den Göttern, melchen fie urfprünglich allein opferten: alfo nad) dieſen 


203 
lernten fie au der Mitra opfern. Um fo weniger, da er fi) darüber 
verwundert, ift hier an einen Irrthum zu denfen.. Er muß Heiligthümer 
der Mitra gejehen haben. Daß er jolche fehen konnte, würde fchon aus 
einer Erzählung des Plutardy im Leben des Themiftofles ' erhellen, die 
zugleich zeigt, daR keineswegs Herodotos allein von einer perfiichen Mitra 
weiß. Jener nämlich bejchaute unter anderm, während feiner unmill- 
fommenen Muße zu Sardes, wohin er von Athen geflohen war, auch 
einmal die Einrichtung dev Tempel und die daſelbſt aufbewahrten Werh- 
gefchenfe und fand unter anderm in dem Tempel der Mutter, 
&v Mntoos ieoo, nit ohne große Gemüthsbewegung das mafjer- 
tragende Mädchen von Erz, zwei Ellen body, das er felbft in Athen 
einjt als Borfteher ver Wafferleitungen aus den Geldftrafen der Waſſer 
Stehlenden und heimlich Ableitenden hatte verfertigen laffen und das 
Xerres auf feinem Yeldzug nad) Griechenland geraubt hatte? Die 
Gottheit, welche hier die Mutter jchlechthin genannt wird und die ein 
Heiligthum zu Sardes hatte, mußte wohl dieſelbe feyn, die Hero— 
dotos Mitra nennt; denn unter den andern etwa befannten. perfijchen 
Gottheiten kommt feine weibliche vor, der man vden- Namen Mutter 
jo geradezu beilegen konnte. Es ift zu bedauern, daß in den bisherigen 
Unterfuchungen diefe Stelle überfehen worden. Mit der Annahme, daß 
jene perfiihe Mryjrno die Mitra gemefen, ftimmi auch der Umſtand 
überein, daß das Bild des wafjertragenden Mädchens 00006006 
Köor) in ihren Heiligthum aufgeftellt war. Denn eben jene erſte weib- 
liche Gottheit wurde durchgängig als die dem feuchten Element ver- 
wandte gedacht. Das Waſſer ſchien der reinfte Ausdruck jener erften 
Materialifirung, des zuvor ausjchlieglichen, alles verzehrenden Princips. 
Waſſer ift nur das gedämpfte, materialifirte Feuer, wie ja im Grunde 
die neuere Chemie unwiderſprechlich dargethan hat. Daher jene erſte 
weibliche Gottheit, dieſes erſte paſſive Princip der Mythologie, in andern 
afiatiichen Mythologien jogar ausdrüdlich als Waflergottheit erjcheint, 
t cap. 31. > 


2 Ich bemerfe, daß bier von Tempel-bildern die Rede ift: von den alten 
Göttern ift befannt, daß fie tempel- und bildlos. 


204 


namentlich in der fyrifchen Derfeto, die halb menſchlich, halb fiſch— 
artig abgebildet wird, und felbft in der griechiſchen Mythologie taucht 
Aphrodite aus dem Meer auf und ſchwimmt, von den Meereswellen 
getragen, an das kypriſche Eiland. Wenn alfo Themiftofles ein Heilig: 
thum der Mitra in Sardes ſah, jo fonnte wohl Herodotos, der nicht 
allzulang nad) ihm in Perfien war, ebenfalls ein ſolches gejehen haben. 

Nach diefen Thatfachen, der fi in der Folge noch andere beige- 
jellen werben, möchte e8 ſchwer feyn zu leugnen, daß „jene weibliche 
Gottheit, welche wir bei allen andern unmittelbar aus dem Zabismus 
hervorgetretenen Völfern finden, im perfifchen Bewußtfeyn ganz gefehlt 
habe. Wenn die Mitra dem. fpäteren perfifchen Syftem, der Lehre 
von den zwei Principien, der mehr antimythologiſch als mythologiſch zu 
nennenden Lehre des Serdutſch fremd feheint, oder vielmehr wenn fie 
durch dieſe zurückgedrängt ift, fo folgt daraus nur, daß dieſe Yehre 
jpäteren Urfprungs ift, ja daß vielleicht eben diefe Zertrennung des Be— 
wußtſeyns in eine männliche und eine weibliche Gottheit, die als Mutter 
der erfien gedacht wurde, die Beranlaffung zu jenem fogenannten Dua— 
lismus wurde, der die beiden Principien, das die Kreatur ausjchliekende, 
ihr infofern feindliche, und das ihr wohlwollende zu einer abjoluten 
Einheit verband, und fo die mythologiſche Bewegung aufhielt, ‚der die 
anderen Völker unaufhaltfam zu folgen beftimmt waren, 


Eilfte Vorlefung. 


Am Schluſſe meines legten Vortrags habe ich auf ein antimytho- 
logifhes Element innerhalb der Mythologie hingeveutet. Indem wir 
nämlich den Uebergang zum nicht aufzuhaltenden mythologiſchen Proceß 
machen, müfjen wir bemerfen, daß gleich im Anfang eine Oppofition 
gegen denſelben vorhanden war und ein der Mythologie entgegengejettes 
Syſtem vom Anfang bis herab in die indiihe Mythologie ſich in der 
Stille immer fort erhalten hat, das freilich nicht umhin konnte ſelbſt auch 
mit ins Derderben geriffen zu werben. Obgleich nun das wirkliche 
Hervortreten dieſer antimythologiſchen Richtung erſt in einen jpäteren 
Zeitraum fällt, ſo ſind wir doch veranlaßt, ſchon hier auf dieſelbe ein— 
zugehen, theils weil ſie von dieſem Punkt der Entwicklung ihren Aus— 
gang genommen hat (alſo am einfachſten abzuleiten iſt), theils aber auch 
weil es uns dadurch möglich wird, die bereits angeregte Schwierigkeit 
wegen des Mithras und ſeiner Nichterwähnung durch Herodotos, wie 
wir hoffen, befriedigend zu löſen. Denn auffallend bleibt es immer, 
theils daß Herodotos von einem männlichen Mithras nichts weiß, theils 
daß im Gegentheil in ſpäteren Denkmälern die Spur der Mitra beinahe 
verſchwindet. Auf jeden Fall, da der männliche Mithras durch ſo viele 
Denkmäler beſtätigt iſt, muß erklärt werden, in welchem Verhältniß 
derſelbe zu der Mitra ſteht. Um nun hierüber ins Klare zu kommen, 
wollen wir noch einmal uns deutlich vorſtellen, was Herodotos von per— 
ſiſcher Götterlehre weiß. Er kennt alſo nur jene alten, ohne Tempel, 
Altäre und Bilder, angebeteten Götter, welche auch in der ſpäteren 


206 
perfiihen Geſchichte noch immer als die altwäterlichen Götter, als 
Feoi TaTEDoı, und demnach im Gegenſatz mit jüngeren Göttern 
erwähnt werden, jenen höchften Gott des Himmels, den aud) andere 
Griechen den perfifhen Zeus nennen, Sonne und Mond ſammt den 
Elementen. Wer erinnert fich nicht an jenes Opfergebet des Kyros in 
der Kyropädie: Väterlicher Zeus und die Sonne und alle Götter nehmt 
dieß an !; einer Menge ähnlicher Stellen nicht zu erwähnen, aus denen 
noch erhellt, daß jene alten Götter in Perfien nicht antiquirt waren, 
noch immer verehrt wurden, woraus zu fchliegen ift, daß die jpätere 
religiöfe Entwidlung in Perfien nicht denſelben Weg wie unter anderen 
Völkern, 3. B. den Griechen, genommen hat, welche auf Verehrung von 
Sonne und Mond als barbariich herabjahen . Außer jenen alten 
Göttern, deren Verehrung Herodotos in Perſien noch ganz als beftehend 
und allgemein herrſchend antrifft, lernte er nun noch jene weibliche Gott- 
beit fennen, die er jelbft als eine neuere bezeichnet, Dieß liegt in dem 
ſchon mehrfach erwähnten Erruusurdryanoav: fie lernten dazu — 
alfo auf jeven Fall auch hernach — die Urania fennen, und jelbit 
darin, daß er nicht jagt, mie ich eben anführte: „ie lernten“, jondern: 
„fie haben aber auch gelernt, der Urania opfern, die fie Mitra 
nennen“, liegt der Ausorud von etwas Späterem, Neuerem und in 
Bezug auf das Erfte und Aeltere Fremden; ja die Mitra ericheint ihm 
etwas jo wenig zu dem übrigen perfiichen Syſtem Pafjendes, daß er 
fie eben darum die Perſer von den Affyriern und Arabiern annehmen 
läßt. Warum weiß er nun nichts won Mithras? Man fann freilich 
fagen, Herodoto8 weiß auch nichts von einem Zoroaſter. Bekanntlich 
gejchieht die erjte Erwähnung des Zoroafter in dem für pſeudo—platoniſch 
erfannten Geſpräch, dem erſten Alkibiades. Es fünnte jogar begreif- 
licher erjcheinen, daß Herodotos von Mithras nichts erfahren, ald daß 


' Die Stelle lautet: EiFög ovv japßov lepsia &yve Aut re zaroda nal 
'Hiio nal rois alloıg Yenig ini TÖv drowov, og Il&osaı Yvovoıy, ode 
Erevyönevog: Zed maroße nal 'Hlıe nal aavreg "eoi... Lib. VII, 
1,83 

? Man findet diefe Stellen bei Brissonius, de reg. Pers. prine. p. 347. 


207 
er von Zoroafter nichts vernommen. Immer bleibt die Frage, da jo- 
wohl eine Mitra als ein Mithras (gleichviel, ob von jeher und gleich— 
zeitig) verehrt wurden, wie hängen beide zufammen? Denn daß beide 
gar Fein Verhältniß zueinander gehabt haben follen, ſcheint doch zu 
unglaublid. Es läge jehr nahe, das Verhältniß beider fich fo zu denfen. 
Mitra iſt jene erfte weibliche Gottheit, zu welcher. der erſt ausjchliefliche 
Gott erfinkt, indem er feine Ausfchließlichfeit, feine Centralität aufgibt, 
alfo peripheriſch wird und nun ftatt feiner jelbft im Centro den relatiw- 
geiftigen Gott, unjer A?, jest. Inſofern erfcheint dieſe erſte weibliche 
Gottheit zugleich als Setendes und zwar als materiell Setzendes, 
d. h. als Mutter jenes höheren Gottes. Wie natürlich alfo zu venfen, 
Mitra jey die Mutter, Mithras der Sohn, aljo er fey eben jener 
relativ geiftige Gott! So hat das Berhältnif unter anderen Greuzer 
genommen '. Aber diefe Vorſtellung wird durch anderes, durch Attri- 
bute des Mithras widerſprochen, der jelbft noch in den Zendbüchern 
weit mehr das Anfehen.eines jelbft materiellen, als eines relativ, d. h. 
einjeitig geiftigen Gottes hat. Zwar ift dieß nicht jo zu verftehen, als 
wäre diefer höhere Gott der der Materie und alſo der Leiblichfeit über— 
haupt entgegengejette, denn vielmehr iſt er ja der materialifirende. 
Ohne ih feine Materie, wie feine Mannichfaltigkeit. Aber eben, weil 
er dieß, iſt er nicht jelbjt der materielle. Yu den Zendbüchern . heißt 
aber Mithras z. B. der Keim der Keime, d. h. der Urpotentielle.. Daß 
dieß auf den relativ geiftigen Gott, der vielmehr der Gegenjag des 
Potentiellen, reiner Actus ift, nicht paßt, leuchtet ein. Ferner waren 
ihm vorzüglid) Grotten und natürliche Höhlen eigen geweiht; in 
ſolchen wurden auch jeine Myſterien begangen, Auch dieß bezeichnet 
mehr den großen, allgemeinen Naturgott als einen einfeitig geiftigen 
Gott. Ferner wäre Mitra die Mutter, Mithras der Sohn, jo wäre 
es unbegreiflih, wie der Mithras die Mitra jo ganz hätte verdrängen 
fönnen; in diejem Verhältniß konnten nicht bloß, jondern beide mußten 
zufammen bejtehen. Wenn Mithras der Sohn, jo feste er die Mutter 
voraus; war er der ind Geiftige erhöhte Gott, der Gott der höheren 


A. a. O. Th. J, ©. 734. 


208 
Potenz (A?), jo jegte er das ihn —* die — * der niederen 
Potenz, voraus. 

Aber wie wurde denn nach unſrer Anficht Mitra jo auffallend 
durch Mithras verdrängt? Dieß tft eine nothwendige Frage, und mur 
durdy Beantwortung derfelben werden wir uns über Diefes ganze Ver— 
hältniß, ſowie über die eigentliche Natur der — Religion völlig 
aufklären. 

Um dieſe Frage zu beantworten, muß ich zunächſt wieder an Frühes 
res erinnern. Jener erfte, ausfchliekliche Gott, den wir Uranos nen- 
nen fönnen, will ſich natürlich nicht aus dem Bewußtſeyn, aus dem 
Centrum verdrängen lafjen, er widerſetzt ſich der Succeſſion; er iſt der 
ſeiner Natur nach ungeſchichtliche Gott, der Gott, der nicht in die Zeit 
will — geſchichtlich wird er eben nur, indem er als Vergangenheit 
geſetzt wird. Ferner jener erſt ausſchließliche Gott, indem er nun 
von ſeiner Stelle gewichen und peripheriſch geworden iſt, hat ſich dem 
höheren nur eben erſt überwindlich gemacht, aber noch iſt er nicht über— 
wunden. Er iſt nur gegen den höheren Gott äußerlich, d. h. relativ 
potentiell geworden, aber in ſich, alſo innerlich noch immer was er 
zuvor war, poſitiv oder reines B. Aber da mit dieſer ſeiner Stellung 
wenigſtens die Möglichkeit der Ueberwindung gegeben iſt, ſo fängt nun 
die wirkliche Ueberwindung, der eigentliche Kampf an. Aus dieſem 
Kampf zwiſchen dem nun erſt als überwindlich geſetzten Gott und dem 
höheren, relativ geiſtigen Gott, welcher den materiellen überwindet, aus 
dieſem Kampf entwickeln ſich, wie wir ſeiner Zeit ſehen werden, die 
ſpäteren Momente der Mythologie, entwickelt ſich z. B. das Götterſyſtem 
der Phönikier, der Karthager, der Aegypter, der Indier und ſelbſt der 
Hellenen. Nun aber eben dieſe ſpäteren Momente fehlen in der perſi— 
ſchen Religion ganz. Noch zu Herodots Zeiten verehren die Perſer 
den Himmel, Sonne, Mond und die Elemente, tempel- und bilderlos, 
auf eine Weiſe, wie ſie weder von den Phönikiern, noch von den 
Aegyptern, Indern oder Griechen verehrt werden. Bei allen Geboten, 
Opfern und andern heiligen Gebräuchen werden noch immer jene väter— 
lichen, d. h. die alten Götter zuerſt angerufen. Die Perſer haben ſich 


209 
aljo offenbar jenem jpäteren mythologiſchen Proceß entzogen. Und gleich— 
wohl zeigt fich bei ihnen der Uebergang zu demfelben in der Mitra. 
Wie foll man ſich dieß erklären, dieſes Stillftehen auf den Wege des 
mythologiſchen Proceſſes? — Dieſes Stillftehen ift ein Factum, und wir 
begreifen num erft dadurch die Art, wie Herodotos von der Mitra ſpricht. 
Sie war das einzige Weſen der Perſer, das er mit ähnlichen anderer 
aſiatiſcher Völker vergleichen konnte, das ihn an die Mylitta der Baby— 
lonier, die Alitta der Arabier u. ſ. w. erinnerte. Und dennoch ſieht er 
unter den Perſern nicht die Folge, die ſie unter den andern Völkern 
hatte. Aus dieſem Grunde, weil ſie für die Perſer ohne Conſequenz, 
meint er, ſie hätten ſie nur von den Aſſyriern und Arabiern ange— 
nommen — gelernt, wie er jagt. Dieſe Vermuthung iſt nun freilich 
ungegründet. Ich bin überzeugt, daß die Perſer ebenſo urſprünglich 
auf die Mitra, als die Aſſyrier auf die Mylitta und mehr oder weniger 
alle Völker auf dieſelbe Gottheit gefommen find. Denn ihr Begriff iſt 
nicht ein zufälliger Begriff, jondern das natürliche Erzeugniß eines noth» 
wendigen Uebergangs. Aber Herodotos ift felbft da, wo er eine irrige 
Bermuthung vorträgt, nod) lehrreid). 

Wie follen wir e8 alfo nun erflären, daß die Mitra jo ohne 
Conſequenz für die Perfer blieb? Wären die mythologiſchen Gottheiten 
freie, willfürliche Erfindungen, jo könnte man fich dieß- freilich nicht 
erklären; man würde nicht einfehen, warum die Phantafie einmal auf 
dem Weg einer vollftandigen mythologiſchen Götterlehre plötzlich ftill 
ftünde. Aber die mythologifhen Göttervorftellungen find, wie ich hin- 
länglich bewiefen, unwillfürlicye Exrzeugniffe eines außer ſich ſelbſt ge— 
ſetzten Bewußtſeyns; alfo auch für das perfiihe Bewußtſeyn war jene 
weibliche Gottheit nur eine unwillfürliche Anwandlung, aber, indeR andere 
Bölfer der mythologifhen Anmuthung folgten, war es nicht unmöglid) und 
es erſcheint fogar (meil doch im jeder gefchichtlichen Entwidlung in ver 
Kegel alle Möglichkeiten vepräfentirt werden) als natürlich, daß unter 
einem Bolf das Bewußtſeyn gerade bei diefem Punkt ftehen blieb, ber 
mweitern Folge, ſobald e8 viefe gewahr wurde, fid) widerſetzte. In 
Israel felbft fehen wir das Volk denfelben natürlichen Anwandlungen 

S chelling, fämmtl. Werfe, 2. Abth. II. 14 


210 
zum mythologiſchen Polytheismus ausgefegt, die wir unter den anderen, 
ven fogenannten heidnifchen Bölfern finden. Wäre Herodotos nad) Yeru- 
ſalem gefommen zur Zeit abgöttiicher Könige, vielleicht wußte er auch 
nur von den Sterngöttern der Ajtarte und nichts von dem Jehovah. 
Diefer Hang des Volks wird von den Prieftern und Propheten immer- 
während — obſchon großentheild ohne Erfolg — beftritten. Dagegen 
Scheint e8 in Verfien einer mächtigen Priefterfchaft wirklich gelungen zu 
jeyn, dem Proceß, der in andern Völkern unaufhaltiam, in ‚Indien 
bis zur äußerſten Verwirrung fi) fortfegte, Einhalt zu thun und ihn 
zu hemmen. Aud) in der perfiihen Keligion hatte das Bewußtſeyn den 
Uebergang gemacht, den wir in der Mythologie aller Völker durch die 
Urania bezeichnet finden. Aber eben bier, wo nun das Bewußtſeyn der 
andern Völker gleihfam in ein Doppeltes fich fchied, in das Bewußt— 
jeyn des realen Gotte8 auf der einen und des ihm entgegen- 
ftehenden geiftigen auf der andern Seite, widerſetzte fi) das per— 
ſiſche Bewußtſeyn diefer Entzweiung; es hielt auch noch jetzt die Einheit 
feft, d. h. der materiell gewordene Gott, zu dem der Uebergang in der 
Mitra gefhehen war, und der relativ geiftige Gott, gegen welchen ver an- 
dere fich materialifirte — alfo der matertalifirte und der materialifivende — 
waren ihm Ein Gott, der nun nothwendig ein abfoluter Gott, ein 
Allgott war — fein Gott, der einen andern (A?) neben fid) hat —, 
und diefer war Mithras. An die Stelle des relativen Monotheis- 
mus des vorhergehenden Moments, der eben durch die Krifis des Be— 
wußtſeyns, welcher durch die Urania bezeichnet ift, als ein relativer auch 
erflärt wurde (denn früher war er dem Bewußtſeyn allerdings abjolut) 
— an die Stelle des bloß noch relativ Einen Gottes, der nur der 
relativ Cine war, weil ihm der andere, der geiftige, entgegenftand 
(menigftens potentiell der relative) trat ein Allgott, der eine Zweiheit 
in fi, aber eben darum nicht relativ, fondern abſolut Einer war. 
Diejer (materielle) Allgott war Mithras, der alfo der materialifirende 
und matertalifirte in Einem ift. — Indem fid) das perfiiche Bewußtjeyu 
dem entjchievenen Volytheismus widerſetzte, fonnte e8 zwar nicht mehr. zu 
dem vormateriellen, geiftigen Gott zurüd, der Gott blieb ihm materiell, 


211 


aber. nicht velativ gegen einen höheren, ſondern jo, daß er eben als 
viefer materielle ſelbſt ver höchſte und abfolute wurde, und auch nicht 
erichien als der gegen einen höheren, fondern als der durch ſich felbft, 
durch fein eignes Wollen materiell gewordene, als der freiwillig aus 
jener unzugänglichen Geiftigfeit, aus der Geiftigfeit, die feine Kreatur 
zuließ, ſich jelbit herausgefegt und zur Natur gemacht hat. Daß Mi- 
thras diejer Gott war, nicht ein einzelner, fondern ver höchfte, der 
abfolute, dieß erhellt ſchon aus einer Gloffe bei Hefychios, wo er 
0 nowrog &v Deoouıs Feog genannt wird. Diefer Allgott aber 
fonnte dem Bewußtſeyn nicht wohl anders erfcheinen als wie der Gott, 
der aus Liebe zur Kreatur fich ſelbſt materialifirt, d. h. fich felbft 
peripheriih und zur Natur gemacht. hatte. In dieſem Sinn ift jene 
Rede des perfiihen Chiliarchen, der dem Themiftofles jagt: das ſey 
ihre fchönftes Gefeß, den König ehren als Bild des alles errettenden 
oder befreienden Gottes!. Hier wird aljo der Gott, deß Bild ver 
König ift, angefehen als der alles errettende, Jede Errettung aber 
jest eine Gefahr, eine Enge, angustias, voraus. Diefe Enge war 
eben das uriprünglich centrale Seyn, das für die Kreatur feinen Raum 
ließ. Wie die entjprechende weibliche Gottheit, nach dem was ich gleich 
anfangs erinnert und in der Folge noch beftimmter nachweifen werde, 
wie diefe ebenfalls angefehen wurde als die erfte Errettung, als die 
erste. Ausbreitung, als der erjte Sieg über das Centrum, ebenjo war 
Mithras der Gott, der fich felbft materialifirend Natur überhaupt fette 
und dem Gefchöpf Raum gab, ver alles Errettende, d. h. der das Ge— 
Ihöpf gleihfam aus dem Feuer, aus dem Centrum der urfprünglichen 
Einheit herausrettete in die Weite des materiellen, des Naturſeyns. 
Ehen darum hieß Mithras auch vorzugsweife der Vater Mithras, was 
von feinem einzelnen Gott wäre gefagt worden, Schöpfer von. Allem, 
des Werdens Herr (yevdoewng Ösonörng?), bei dem es ftand, ob 
überhaupt ein Werden ftatthaben follte?. Aber diefe Materialifirung 


! sinova Jeod Tod ra zavra 6WLovrog. 
? Bei Porphyrius de antro Nymph. p. 22. ed. van Goens. 
3 „Mithras omnipotens“ in mehreren Injchriften bei Gruter, p. 33, 10, 34, 1. 


212 
des Gottes war nicht etwas einfürallemal Gefchehenes, fondern im— 
merfort Gefchehendes. Denn wenn der Gott einfürallemal die Im— 
materialität aufgab, jo war er ein todtes Materielles, ein Gewor— 
denes, nichts weiter Vermögendes. So aber erjchien er dem perfiichen 
Bewußtſeyn nicht. Ein ſolcher todter Pantheismus, eine folhe todte 
Subftanz, der die Dinge als bloße Affeftionen, an denen fie jelbt- fei- 
nen thätigen Theil hat, nur pafjiver Weife inhärtren, war der fpäteren 
Zeit der philoſophiſchen Abftraktion vorbehalten. Dem Bewußtjeyn der 
Perſer blieb vielmehr der Gott die ſtets lebendige, ewig bewegliche 
Mitte zwiichen Erpanfion und Contraftion, er war ſtets ebenſowohl 
der der Kreatur wohlmollende, als der der Kreatur entgegengefeßte, fo 
daß fein Weit-Werden (alfo der Kreatur Raum-Geben) ftets als ein 
durchaus freimilliges, liebewolle8 und eben darum preiswürdiges, den 
Dank und Jubel der Gefhöpfe forderndes erfchien. 

Diefe Mitte zwifchen Contraftion und Erpanfion, wovon jene als 
das Geſchöpfwidrige, dieſe als das dem Geſchöpf Holde erſchien, dieſe 
Mitte des Mithras erhellt auch aus den zu Ehren des Mithras gefeier— 
ten Feſten und deren Unterſchied. Denn natürlich nur jene gegen das 
Geſchöpf liebevolle Eigenſchaft des Mithras wurde mit Freudenfeſten 
begangen“. So wurde im alten Perſien wenige Tage nach der winter— 
lichen Sonnenwende, wenn die Sonne wieder ſteigt und der Tag zu— 
nimmt, ein großes Mithrafeſt unter dem Namen Mihragan gefeiert. 
Denn Mithras war es, der die Sonne zurückführte. Er war, wie die 
Zendbücher ſich ausdrücken, der Erde zum Mittler gegeben, ſie weit zu 
machen in Ormuzds Reich, d. h. im Reiche des Lichts. Dieſe Feſte, 
welche ſich auf die Expanſion des Mithras in die Natur bezogen, wa— 
ren öffentliche, allgemeine Volksfeſte. Unſtreitig war eben dieſes nach 
der Winter-Sonnenwende gefeierte Feſt jener Mithrastag, von welchem 
das bei Creuzer angeführte Bruchſtück des Geſchichtſchreibers Duris 
redet; denn dieſer Mithrastag wird beſchrieben als ein Feſt ver Ausge— 
laſſenheit, d. h. eben der Exrpanfion, des Wohllebens. Wie vie baby- 
loniſche Mylitta jelbft die Aus- und Freigelaffene — die Ansflucht ans 

'‘ Hyde, Historia Vet. Persarum, p. 245. 


213 





der erjten, urſprünglichen Einheit — mar, jo erjchten dem perſiſchen 
Bewußtſeyn die ganze wiederbelebie Natur als Moment einer Ent- 
lafjung, Auslafjung aus dem centralen Seyn, als eine Exrpanfion des 
Mithras. An diefem Tage der Ausgelafjenheit allein ziemte es auch 
dem Könige bis zur Trunfenheit zu trinfen, am diefem Tag allein ven 
Bolfstanz zu tanzen!. Diejes aljo war das öffentliche, das allgemeine 
Felt. Dagegen wird ausdrücklich bemerkt, daß die Mithrasmpfterien 
im Frühjahr, alfo um die Frühlings-Tag und Nachtgleiche gefeiert wur— 
den, um die Zeit, wo Contraftion und Erpanfion, Naht und Tag, 
Finſterniß und Licht gleich gewogen erjcheinen. (NB. Diefe Feier ge— 
ihah in Kom, nicht in Perfien; alfo wenn die römischen Mithras- 
möfterien faljche waren, beweist dieß nichts.) - Hieraus erhellt denn wohl, 
daß jene höchſte Idee des Mithras als Bermittler, als das zwijchen 
Bofitivem und Negativem, Erpanfion und Contraftion in der Mitte ftehen- 
den, der Geheimlehre, den Myſterien angehörte. (In den Miyiterien 
überhaupt eigentlich der Eultus. Die der Kreatur entgegengejeßte Kraft 
war der eigentliche Gegenftand des Cultus. Ste war id quod colen- 
dum erat, was verſöhnt werden mußte). Die pofitive Seite war die 
allgemeine, allen verftandliche umd zugängliche; Die negative Seite 
des Mithras, alſo auch Mithras, fofern er zwifchen poſitiv und nega— 
tiv ift, gehörte nur dem. höheren Wiffen an, im welches außer dem 
König und dem herrjchenden Stamm. der Pafargaden niemand einge» 
weiht wurde, wodurch denn ganz begreiflich wird, daß Herodotos von 
Mithras nichts weiß, während die fpäteren, in Perjien nad) der mace= 
doniſchen Eroberung mehr einheimifchen Griechen von ihm als dem 
Hauptgott der Perfer allein reden, indem nun vielmehr die Geftalt der 
Mitra ihnen unbedeutend blieb, als die nur Uebergang gewejen war, 
nur als Uebergang gedient ‚hatte und natürlich gegen vie höhere Idee 
des Mithras mehr und mehr verichwinden mußte. 

Da ic hier das Verhältniß der Mithrasfefte zu den verſchiedenen 
Bunften der Sonnenbahn berührt habe, fo kann ich nicht umhin, von 
vem Berhältuig des Mithras zu der Sonne jelbjt etwas” zu fagen. 


Creuzer a. a. O. Th. I, ©. 732. 


214 


Unftreitig Haben jene Mithrasfefte Veranlaſſung gegeben, den Meithras 
mit der Sonne zu verwechfeln, was jo allgemein und ſelbſt von Grie— 
hen, 3. B. Strabo, gefchehen ift, und was einige ſogar dahin ausdehnen 
zu dürfen glaubten, die, weibliche Mitra alsdann für den Mond zu er- 
flären und die für Herodotos Meinung zu halten, eine Meinung, bie 
in dem Zufammenhang, in welchem er von der Mitra fpriht, durchaus 
feinen Sinn hätte. Ex läßt, wie wir wiljen, dieſe Vorftellung der 
Mitra auf den Altern Sternen und Clementendienft folgen, und er- 
wähnt dev Mitra offenbar in einem gewiſſen Gegenfag mit diefen früheren 
Gottheiten; welchen Sinn hätte nun die Stelle, wenn nad) ſeiner eige— 
nen Meinung die Mitra nur wieder der Mond, der Mithras, den er nur 
unterlaſſen hätte ausdrücklich zu nennen, die Sonne wäre? Am weite— 
ſten hat dieſe Identität des Mithras mit der Sonne der bekannte Du— 
puis ausgedehnt, der in feiner Origine de tous les Cultes überhaupt 
alles auf Sonnendienft zurüdführt und fo weit geht zu behaupten, weil 
in verjelben- Zeit, wo in Perfien der Mithrastag begangen wurde, um 
das Winterfolftitium, in Nom der Natalis solis invieti. gefeiert wurde, 
und weil die hriftliche Kicche für gut fand, das Geburtsfeft des Welt: 
erlöfers auf diefelbe Zeit zu verlegen, fo ſey Chriftus jelbft jener sol 
invietus, Eins mit Mithras, und das Chriftentfum nur ein Zweig, 
nur eine bejondere Sefte der Mithrasgeheimniffe. Die Frühlingsfonne 
war allerdings nur das Zeichen des wiebererfcheinenden Mithrag, näm— 
(id) des Mithras von der Seite der Erpanfion genommen; die Sonne 
war gleichjam die beftändige Begleiterin des Mithras, weil durch fie 
nad) der Starrheit und Dunkelheit des Winter die Erde wieder weit 
wurde; daher fo wiele Inſchriften: Deo invieto mithrae et socio (zu= 
weilen auch comiti) soli sacrum !. Mithras war der unbefiegliche Gott, 
weil er aus jeder Verdunkelung — Contraftion — wieder fiegreih, in 
neuer Erpanfion hervortrat. Die Sonne aber erjcheint ftet3 nur in 
jeinem Geleit oder Gefolge. Nicht Er kommt mit der Sonne, fondern 
fie fommt mit ihm, wenn er die Welt. wieder weit madt. 


ı Diefe Infehrift: D. I. M. ET. SOCIO, SOLI. SAC. findet ſich in Muratoris 
Anecdotis T. I, p. 128. 


215 


(Warum fteigt die Sonne wieder? Dieß bedurfte einer Erklärung). Auf 
einigen Inſchriften fteht allerdings aud) Deus Sol invietus Mithras, 
jo daß die Sonne jelbft Mithras und Mithras sol genannt zu werben 
scheint. Aber theils kann ja dieß immer noch nur als eine Nebefigur 
ausgelegt werden, theils folgt Daraus bloß, daß in jenen Zeiten, welchen 
biefe ſämmtlichen Infchriften angehören — die ja nicht aus Perſien 
jelbit abftammen —, daß alfo in fpätern Zeiten allerdings Mithras 
zum Theil mit der Sonne verwechfelt worden, was unter den angegebe- 
nen Umſtänden ebenfo leicht als im unfern Zeiten gejchehen Fonnte. 
Denn daß die Verwechslung nicht allgemein war, erhellt aus den zahl- 
reihen andern Infchriften, wo die Sonne als bloßer comes des Mi— 
thras ausdrüdlid von dieſem unterfchteden wird. ES käme nod) darauf 
an zu unterjuchen, welche von beiden Iufchriften die Alteren jind. In 
vielen Injchriften zu Ehren des Mithras ift fie nicht einmal erwähnt. 

Daß Mithras in den Zendbüchern nicht die Sonne ift, darüber 
find die beveutenpften Auftoritäten einig. Anquetil (der erfte Heraus. 
geber der Zendbücher), Kleufer (der deutſche Bearbeiter des Zendavefta), 
jelbft Eichhorn gefteht es zu; ftatt aller aber brauchte ich Bloß Silveftre 
de Sach zu nennen, einen Manır, der durd) feinen Charakter ebenfo ſehr 
als durd) feine Kenntniffe verdient, in allem, was das Drientalifche be- 
trifft, als ein Drafel verehrt zu werden. 

Ic) kehre zurüd auf die Idee des Mithras als Mittler, für welche 
ic) noch eine bedeutende Beftätigung anzuführen habe. 

Dem Herodotos freilich mußte der perfiiche Mithras gewilfermaßen 
ihen durch feine Bedeutung unzugänglich ſeyn; denn der mythologiſche 
Grieche — und Herodotos insbeſondere zeigt ſich noch ganz in die 
mythologiſchen Vorſtellungen eingetaucht — konnte für eine unmytholo— 
giſche Religion, die außer allem Vergleich ſtand mit dem, was er ſonſt 
kannte, keinen Sinn haben. Wenn ihm alſo ſchon darum die Idee 
des perſiſchen Mithras ferne lag, wenn außerdem das Geheimniß, in 
welchem die wahre Idee des Mithras erhalten wurde, auf der einen, 
und die fortdauernde, allgemeine Verehrung der alten väterlichen Göt— 
ter des Himmels, der Himmelslichter und der Elemente von der andern 


216 

Seite ihm Die Kenntniß des Mithras entzogen — und Sie begreifen 
jehr leicht, wie jener von. fid) jelbft matevialifirte Gott, jener Naturgott 
(denn dieß ift ein und derjelbe Begriff), wie jener allgemeine Naturgott 
Mithras die ältefte Verehrung der Sterne und Elemente nicht ausſchloß —, 
wenn es alfo überhaupt jest ganz begreiflich wird, daß Herodotos von 
dem Mithras nichts weiß, jo ift e8 dagegen ebenfo begreiflih, daß 
die fpäteren Griechen, die Schon innerlich mehr abgewendet von ihrem 
Polytheismus für orientalifche Ideen, befonders für die des orientalischen 
Pantheismus (der jedod auf gewiffe Art auch ein Monotheismus fcheinen 
fonnte) empfanglicher, daß diefe ſpäteren, nach der macedoniſchen Erobe- 
vung lebenden Griechen den perfifchen Mithras nicht nur überhaupt vor— 
zugsweife fennen, jondern daß fie auch die richtige Idee deſſelben Fennen ; 
und in diefer Hinficht halte ich die vielbefprochene Stelle des Plutarch, in 
welcher er jagt, daß die Berfer den Mithras ven Mittler nennen, für eine 
auf wirklicher Kenntniß gegründete Aeußerung und durch das, was ic, für 
diefe Bedeutung des Mithras bereit angeführt habe, ebenfo beftätigt, als 
hinwiederum für unfere Anficht beftätigend'. Und hier, nachdem durch eine 
fo unverwerfliche Auftorität unfere Erklärung des Mithras beftätigt ift, 
will ich denn auc noch ein Wort über den Namen hinzufügen. 

Im Mithras (dem von fich ſelbſt miaterialifirten) war nun ber 
Moment der Materialifirung und demnach Mita ebenfalls gejegt; denn 
Mitra ift ver Moment der Materialifirung. Mitra war aber nur als 
ein Berfchwindendes gefegt, und jo begreift fi, wie jpäterhin, wenn 
auch äußerlich noch Heiligthümer dev Mitra bejtanden, dennoch in der 
eigentlichen religiöfen Vorſtellung Mitra durch Mithras gleichſam ver- 
ſchlungen erjcheint. Ich habe nun den Namen Mitra. als gleichbedeutend 
mit uzrno erklärt. Obgleich nun Mithras etwa ebenfalls den mate- 
vialifirten Gott beveuten könnte, jo feheint dieſe Erklärung doch 
unftatthaft, weil man genau wiſſen will, wie der Name des Mithras 


' Die Stelle Plut. de Isid. et Osiride e. 46 lautet: Ovrog (Zwosadroıg) 
Endhsı rov tv "Roouägnv Tov Ö’’Aosıudviov' nal apogarepaivero — — 
ı1E6ov daugpoiv rov Midonv elva‘ ÖL nal Midenv Ileosaı rov Medirnv 


) 1 
OVOMGOGOVGIV. 


perjiich gejchrieben wurde, und da würde fich denn finden, daß er mit 
dem perjiichen mader nicht8 gemein hätte. Man müßte alfo dann aus 
nehmen, daß Mitra und Mithras des zufälligen Gleidylauts ungeachtet 
zwei verſchiedene Namen feyen. Dafür wäre etwa anzuführen, daß 
Herodotos den Namen Mitra mit dem 7 fchreibt, während Mithras 
(— es) mit dem + gejchrieben wird. Dagegen tft zu bemerken, daß 
Herodotos, wenn er des Mithras jelbft nicht erwähnt, wenigſtens Na- 
men nennt, die von Mithras fich herichreiben, Mitradatas (— den 
gewöhnlichen Mithrivates) und Mitrabatas,. die er ebenfalls mit einem 
bloßen = jchreibt. Daraus ließe ſich alfo auf eine Differenz beider Na— 
men nicht jchließen. Defto mehr aber daraus, wenn der eigentlicd) per- 
fifche Name für Mithras Meher wäre, wie allgemein behauptet wird. 
Dieß Scheint man aber nicht daraus zu fchliefen, daß man irgendwo den 
Namen Mithras wirklich ſo geſchrieben gefehen hätte, ſondern theils aus dem 
Kamen der früher erwähnten Sonnenfefte, wovon das eine Mihragan 
heißt; allein Mihr heißt im Perſiſchen wirflih Sonne ', Mihragan kann 
alfo gar wohl bloß Sonnenfeft, und braucht nicht Mithrasfeft zu bedeuten, 
ob es gleich auch ein Mithrasfeft war; theils inwiefern man ſelbſt ven Mi- 
thras mit der Sonne iventificirte, was ich ſchon für falfch erklärt habe. 
Ferner wenn der perfiihe Name des Mithras Mihr, woher alsdann das 
9 in dem Namen Mithras? Hhde jucht dieß daher zu erklären, daß 
die Griechen in der Mitte des Worts feine einfache Ajpiration aus- 
prüden können, daher haben fie das J in der Mitte des Worts durd) 
eine Aspirata, durch 9 bezeichnet. Wie fommt e8 aber, wenn im 
perfiichen Wort fein J vorfam, daß der Name Mithrivates hebräiſch 
n7Inn geſchrieben wird (im Bud Eſra zweimal); die Hebräer 
fonnten doch eine einfache Aipiration in der Mitte ausprüden. Daraus, 
daß bei Tacitus ein Sohn des Phraortes, Meherdates, vorkommt, 
fann nichts folgen; denn diefer Name bedeutet eben den von der Sonne 
Gegebenen, wie Mithrivates den von Mithras Gegebenen. 


‘ Hyde a. a. O. p. 105 jagt: At in religionis negotio Sol praecipue 
appellatur Mihr, qua voce primario significatur Amor. 
= 13.8, #2, 


218 


Ic) bleibe alfo vorjetzt wenigftens und bis id) eines Beſſern belehrt 
werde, bei meiner Erflärung der Mitra, nach welcher fich diefes Wort 
auf mater, materia bezieht, und vermuthe etwas Achnliches in Mithras, 
der feinem Begriff nad) in der That der summus materiator (materiator 
sui ipsius) ift, wenn man nicht etwa annehmen will, daß im Namen 
Mithrag eben die Eigenfhaft des Mittlers ausgedrücdt geweſen. Plu- 
tarch Spricht aber von dieſer Mittlerbedeutung des Mithras hauptfäch- 
ih in Bezug auf den Gegenfag des Ormuzds, Oromazes, d. h. des 
das Licht, das Gute wollenden Gottes, und des Ahriman, der als der dem 
Guten und dem Licht feindliche Gott gedacht wurde. „Zorvafter, fagt 
Plutarh, nannte den einen Gott Dromazes, den andern Arimanios, 
tn der Mitte zwijchen beiden aber iſt Mithras, deßhalb ihn denn bie 
Perſer auch Mittler nennen”. Daß ihn die Perfer den Mittler 
nennen, ift ein Yactum, das Plutarch anführt und das er zu erflä- 
ven jucht, indem er diefe Mittlerbeveutung auf und Ahriman 
bezieht. 

Es gibt mir dieß natürliche Veranlaſſung, mid, ebenfall8 über das 
Verhältniß des Mithras zu dem Dualismus des Zoroafter oder der 
Zendlehre zu erklären, der von jeher als ein großes Problem in der 
Geſchichte der Keligion und des menfchlichen Geiftes VEN betrach⸗ 
tet wurde. 

Mithras iſt der Naturgott, aber nur in einem beſtändigen Auf— 
ſchluß, ſo demnach, daß er ſtets in der Mitte iſt zwiſchen Contraktion 
und Expanſion, und alſo die Contraktion immer auch beſteht. Contrak— 
tion — Zurückgehen in die urſprüngliche, alle Mannichfaltigkeit, alſo 
auch das Geſchöpf, ausſchließende Einheit; Expanſion dagegen iſt der 
die Mannichfaltigkeit, alſo auch das Geſchöpf, vielmehr ſetzende Wille 
ſelbſt. Der Gott nun, der der Kreatur wohl will, erſcheint dem Be— 
wußtſeyn überhaupt als der gute, holde, der entgegengeſetzte als der 
ungute, unholde. Mithras iſt alſo nach ſeiner urſprünglichen Idee 
allerdings die Mitte, der Mittler zwiſchen dem guten und dem un— 
guten Princip, und es begreift ſich hieraus, wie Mithras auch Mittler 

S. die Anmerkung ©. 216. 


219 


zwiichen Ormuzd und Ahriman. Als pofitiv ift er Ormuzd, als negativ 
Ahriman. 

Dagegen tft nur einzuwenden, daß im Syften Zoroafters Ormuzd 
und Ahriman, wie man gewöhnlich annimmt, als zwei völlig ge 
trennte Potenzen aufgeftellt- waren, zwifchen denen gar feine Ein- 
heit. ftattfindet. Nun ift e8 zwar etwa denkbar, wie eine foldhe bie 
Bernunft völlig zerreißende und gleichjam zur Verzweiflung bringende 
Meinung von zwei abjolut ftreitenden und fid) entgegengejetten Brinct- 
pien im Kopf eines Einzelnen entjtehen, — ſchon ſchwerer ließe fich 
denken, wie fie im feinem Kopfe ſich behaupten und in die Länge be- 
ftehen fönne, aber ganz unglaublid ift, wie ein ſolcher zerreißender 
Dunlismus fogar unter einem Volk wie die Perfer ſich behaupten 
konnte. — Verner, wenn Ormuzd und Ahriman zwei unabhängige und 
jo ziemlich gleiche Mächte, wer könnte wifjen, wie ihr Kampf enbigte 
und worauf es hinausfäme, wenn nicht ein höheres Weſen für den 
Triumph des Ormuzds Gewähr leiftete'? Diver vielmehr, wie tft über- 
haupt Kampf möglich, wenn fie nicht auf irgend eine Weife Eins, wenn 
jie abjolut aufßereinander, wenn fie nicht genöthigt uno eodemque 
loco zu jeyn? 

Man hat von jeher gejucht, in dieſem perſiſchen Dualismus Doc) 
irgendwie eine Einheit zu entdeden; nur, glaube ich, ift es nicht auf 
vie rechte Weife angefangen worden. Man hat angeführt, daß nad) 
dem Syſtem des Zoroafter das gute Princip doch infoferne gewiſſer— 
maßen das ftärkere iſt, als man annimmt, daß ein endlicher Steg des 
Guten über das Böſe, eine endliche völlige _Niederlage oder abjolute 
Erſchöpfung des böfen Prineips in ihm gelehrt werde. Daraus würde 
allerdings Folgen, daß das perfiiche Syſtem nicht ein [older Dualismus 

Nach dem Zendavefta iſt die Dauer der Welt zwölf Millionen Jahre, eins 
getheilt im wier Abjchnitte: 1) Ahriman, obgleich eriftirend noch in die erfte Fin— 
jterniß verfunfen, Ormuzd infofern ohne Gegner (aljo Ahrimans Wirfung doch 
ein Wiedererheben) ; 2) Ormuzd überwiegend ; 3) abmwechjelndes Webergewicht ; 
4) Uebermacht des Ahriman, der nahe daran ift, Ormuzd und alle himmlischen 


Genien aus der Welt zu vertreiben. Gleichwohl am Ende des Zeitraums abjoluter 
Sieg des Ormuzd. 


220 





jey, wobei beide Principien als völlig gleihmächtige angenommen wer- 
den. Aber der urſprüngliche Dualismus wäre damit nicht aufgeho- 
ben, es wäre denn,‘ daß man zugleich einen. frühern Abfall des böfen 
von dem guten Prineip, alfo ein urſprüngliches Gutſeyn des böfen 
Princips annähme, Aber eben dieß, fo nahe es natürlid) unſern Ge— 
danken liegt, möchte ſich durchaus nicht aus den Urkunden der Zend- 
(ehre erweifen laſſen. Alles fpricht dafür, daß das gute und das böfe 
Princip als zwei gleich urfprüngliche gedacht werden. Man war daher 
jehr froh, als man in dem Bundeheſch, obgleich dieß felbft Fein Zend- 
buch, eher ein Kommentar über die Zendlehre und erjt im fiebenten 
Sahrhundert der hriftlihen Zeitrechnung gefchrieben ift, indem es die 
Dynaftie der Saſſaniden erwähnt, eine Aeußerung fand, welche auf- 
eine urfprüngliche Einheit der beiden Principien zu deuten ſchien und 
in welcher, wie e8 ſcheint, Shen frühere antivualiftiiche Sekten in Per— 
jien, vorzüglid) aber neuere Gelehrte, Kleufer, Creuzer u, a. einen höch— 
jten über Ormuzd und Ahriman gleich erhabenen Gott jehen wollten. 
Die Stelle lautet fo: „Ormuzd und Ahriman, beide gab Zeruane Afhe- 
vene, die Zeit, die ohne Grenzen ift“!. Offenbar aber ift diefe Stelle 
für fi mehr als Eines Sinnes fähig. Einige haben fie jo gedeutet, 
daß Ahriman ein erft im Lauf der Zeit entitandenes, alfo ein vom 
urſprünglich Guten abgefallenes Böfe fey. Aber wozu zwei — gleid) 

! Schon Shariftani (ſchrieb im zwölften Sahrhundert v. Chr.) erwähnt übrigens 
einer, wie es jcheint, antidualiftiichen Sekte, die ev Zervaniten nennt, Die 
aljo wohl jene Stelle des Bundeheſch ſchon benutten (j. Hyde a. a. O. p. 298). 
Allein was können dieſe ſpäteren philofophiichen Sekten, die ſchon längſt ‚mit 
griechiſchen und andern philofophiichen Sdeen befannt waren, für den urjprüng> 
lihen Sinn beweifen ? In den Zendbüchern jelbft wird zwar Zeruane Afherene 
auch einmal erwähnt (Kleukers Zendavefta im Kl. Th. 2, ©. 33). Hier jagt 
aber Zoroafter zu Ahriman (nicht aber zu Ormuzd): die grenzenloje Zeit hat Dich 
geichaffen. — Anquetil (Mem. de l’Acad. 39, p. 768) jagt: En quel endroit 
des livres Zend il est dit, qu’ Ormuzd et Ahriman soient sortis de Dieu 
par la voie de la ereation? — J’ai prouve, qu’ Ormuzd dans les livres 
Zend n’avait aucun principe de son Existencee. A plus forte raison doit 
on le dire d’Ahriman, qui certainement n’a point été produit. Um ſich 


num wegen des Zaruam zu helfen, unterfcheidet Foucher (ib. p. 760) einen dop- 
pelten Zoroafter, der erfte war reiner Dualift, der zweite veformirte diefen Irrthum. 


221 
gute Principten? Man müßte denn nur den Ahriman als Geſchöpf des 
Drmuzd erklären. Dem wiverfpricht aber der Inhalt der Zendbiicher 
jo fehr, daß ſelbſt der alles mit chriftlichen Ideen anfehende, aber 
Wahrheit liebende Kleuker nicht über ſich vermag, dieß zu behaup— 
ten, und ebenfall8 beide für urfprünglich erffärt. Ich glaube alfo, 
daß die Stelle einen noch jpeculativeren Sinn hat, nämlich diefen: vor 
der Zeit, d. h. ehe Zeit überhaupt war, als fih der Gott nod 
überall nit ausgefproden, noch nit in der Natur, dem 
Geſchöpf, erpandirt hatte, fonnte auch die Contraftion, die. dem 
Geſchöpf entgegengefegte und gleichjam feindliche Kraft, nod nicht als 
ſolche ſich äußern. Der Gegenſatz entſtand alſo zwar nicht in der Zeit, 
aber mit der Zeit — mit der Zeit war erſt Expanſion und Contrak— 
tion als ſolche geſetzt. Gibt man der Stelle dieſen Sinn, fo erklärt 
fich von felbft, mas dem Gegenſatz vorausgehend gedacht werden muß, 
nicht eine Einheit beider, fondern das Eine Princip. Denn der vor 
dem Gegenfaß gedachte Gott ift eben der, ver ſich nody nicht erpan- 
dirt hat. Inwiefern er ſich noch nicht exrpandirt hat, infofern ift er 
Negation der Erpanfion, alfo — Contraftion. Aber der in der Con- 
traftion gedachte iſt eben derſelbe, welcher ſich in der Folge erpandiren 
wird. Hier ift alſo die Einheit, aber freilich auf eine ganz andere 
Art, als man diefe jonft fich worzuftellen pflegt. Es zeigt fih, woran 
man bisher am allerwenigften gedacht hat, daß Ahriman auf gewiffe 
Weiſe, nämlich freilich nicht al8 Gegenfas der Exrpanfion, wohl aber 
als bloße noch = nicht» Erpanfion gedadht, daß in diefem Sinn gerade 
Ahriman der ältere ift; denn der Contraftion geht die Erpanfion voraus. 
Das Ganze, d.h. das was jest ald + und —, als Erpanfion und 
Sontraftion ericheint, war erft nır Eines, nur Contraftion = nicht-Ex— 
panfion, und umgefehrt, das, was jegt nur noch Eines iſt (die Contraf- 
tion) war erft das Ganze oder alles. Denn weil die Contraftion aud) in 
der Erpanfion nicht aufgehoben ift (eine unbedingte Expanfion würde 
ebenjowenig auf das Gefchöpf führen), fo ift mit. der eintretenden Ex— 
panſion Contraftion und Erpanfion gejeßt, d. h. das, was zuvor das 
Ganze war (die Contraftion) ift zum Theil geworden, e8 ift nur 


222 
nod) das Eine von zwei Principien. Man fünnte ſich dabei an jene 
Stelle in Goethe's Fauſt erinnern, wo Mephiftopheles von fich ſelbſt ſagt: 
Ih bin ein Theil des Theils, der erft das Ganze war, 
Die Nacht, die ſich Das ftolze Licht gebar. 

Nichterpanfion — Nacht ift erft das Ganze: jetzt durch die einge- 
tretene Erpanfien — Licht nur nod) Theil — und hier erft wird es (das 
Prineip der Kontraktion) auch zum Gegenſatz. Vorher, da noch 
überall feine Erpanfion war, fonnte e8 diefer nicht als Kontraktion 
entgegentreten, da erjchten alfo eben das, was jett allerdings der Ex— 
panfion abholdes, entgegengefetstes Princip ift, noch keineswegs ala 
Gegenſatz derjelben; denn noch hatte der Gott überhaupt nicht gewollt 
(er ift neh nicht Erpanfion, aber er ift auch nicht Kontraftion mit 
jeinem Willen; alſo weder gut noch böfe); Aber fowie er ſich expan— 
Dirt, ift das unbedingte Princip der Contraftion Schon überwunden und 
unterworfen, es iſt als Bergangenheit gejegt, als das, was war und 
nicht mehr tft, und dadurch ift es ein anderes gegen das erpanfive, wel- 
ches Das jetzt ſeyende und im Verhältniß zur jenem gleichjam das 
jüngere und fpäter geborne ift. Aus dieſem Verhältniß, in weldem 
das ältere, vorausgegangene Princip der Contraftion als unterworfen 
einem jüngern und nachgefolgten erfcheint, läßt ſich alsdann übrigens 
erflären, wie im diefem Verhältniß Das zuerft geweſene und zwar nicht 
anfgehobene (denn - eine unbedingte Sxrpanfion ift auch nichts für bie 
Kreatur), wie, jage ich, das zuerft gewejene, nachher unterworfene, 
zum bloßen Theil herabgejegte, eingefhränfte Prineip der Con— 
traftion, wie diefes nicht bloß überhaupt als Gegenfaß zur Exrpanfion — 
als Ahriman — erſcheinen kann, fondern wie es fogar. möglich) ift, 
daß es aus diefer Unterordnung hervorftrebend (und dieß muß e8) mit 
dem guten der Streatur holden Princip (dem Ormuzd) in einem immer- 
fort thätigen Widerſpruch fich befinde, der nicht einfürallemal über— 
wunden ift, fondern immerfort überwunden werden muß. 

Auf diefe Weife alfo gedacht, wäre nit mur Ormuzd, der. als 
der Wille zur Erpanfion — als der Wille, der nur die Exrpanfion 
will — gegen das Urprincip der Contraftion das Spätere und nad) 


223 


ihm Entftandene ıft, nicht nur Ormuzd, fondern auch Ahriman, 
als nunmehr wirklicher, pofitiner Gegenfag der Erpanfion, was er 
ja zuvor nicht war: — beide alſo, Ormuzd und Ahriman, in ihrem 
Gegenfat wären zwei, nicht im der Zeit, aber doch erft mit ver 
Zeit entjtandene Principien. In dieſem hohen Sinn Fünnte gefagt wer— 
ben: die Zeit gab beide, in dem hohen, über die Welt hinausgehenven 
Sinn, in welden ich in dem früher Dargeftellten die Zeit genommen 
habe, oder audh in dem Sinn, in welchen eine andere Stelle des 
Zendaveſta jagt: der wahre Schöpfer ift die Zeit. 

Nochmals: Bor der Erpanfion in die Natur ift der noch un- 
ausgefprochene Gott nicht Erpanfion, und doch aud) nicht das pofi- 
tive Gegentheil davon, alſo in der Mitte zwifchen beiden, infofern 
Ihon Mithras, nur noch nicht der wirflide Mithras — Mithras 
nod) als bloße Iudifferenz von Erpanfion und Contraftion gedacht, In 
der wirflihen Erpanfion aber wird das, was zuvor war, als Con— 
traftion, aber zugleid als Vergangenes, als Untergeordnetes, und damit 
als das der Expanſion Entgegenmirfende geſetzt, und da das eigent- 
ih göttlidy Gemwollte die Erpanfion ift, die Contraftion aber nur 
noch die Bedeutung desjenigen hat, ohne welches die Expanſion das 
eigentlich Gemwollte nicht ſeyn fünnte, jo ift das num erſt als gegen- 
wirfend gejette Princip der Contraftion von den beiden Principien aller- 
dings das Wivdergöttliche (TO avrideon); es iſt alſo hiemit Gott und 
Gegengott, e8 ift jener Kampf, der den Inhalt der Zerdufchtlehre ausmacht‘. 

Denken wir uns den Hergang auf die hier auseinandergefette 

' Das Unvermeidlihe, daß wenn der Gott die Erpanfion wollte, er die Con— 
traftion (das Gegentheil) mit wollen mußte, fonnte, wie uns dieß eine noch in 
anderer Hinficht bemerfenswerthe Stelle von Theodor von Mopsveftia zeigt, wohl 
auch als Zufall (ruyn) vorgeftellt werden. Die Stelle (Phot. Bibl. ed. de 
Rouen, Genève 1693, cod. 81, p. 199) lautet: ’Exridera: (sc. Theodorus) 
ro ııaoov r@v ITeooov doyla, 0 Zaspadng eisnynoaro, nroı meoi Tod 
Zapovdt, 0v doynyov aavrov Lıdayeı, ov zal Tuynv ralel, ral orı 
orevdov, Iva tern Oouishav Erexev Eneivov nal (?) zov Jaraväv, zal (SC. ro 
döyua) zeoi Tis avrov ainoukiaz. Merkwirdig ift auch, was hier von der 
Blutvermifchung beider gejagt if. NB. Zaruam (bei Theodor von Mopsweftia 
was jonft Zaruane heißt) ift jelbit die Tuyn. 


Weife, fo kann die an fi) und ihrer Abſicht nach antimythologiſche 
Lehre des Zerdufcht ihre Verwandtichaft mit den mythologiſchen Princt- 
pien doch nicht verleugnen. Eben weil antimythologiſch, tft die My— 
thologie darin, nur als Aufgehobenes. Der Uebergang zum Mytho— 
fogifhen ift die Zweiheit, aber da tft das reale Princip (B) noch bloß 
überwindlid. Wenn es aber zum wirklichen. Proceß kommt, wird 
es nicht mehr als weibliches, rein pafjives, ſondern als widerftrebendes, 
wenigftens als eine Art von böfem Prineip erfcheinen, zu welchem der 
Parfismus nur darum früher kommt, weil er. die Zweiheit gleich auf 
hebt, die beiden Principien gleich als Eins, als untrennbar und daher 
auch gleich in Kampf fest." Eben dafjelbe Princip, was im Parfismus 
als Ahriman fich Darftellt, werden wir in den folgenden Mythologien 
als das der wirklichen Ueberwindung Widerftrebende, z. DB. in dem 
ägyptiſchen Typhon, oder um den allgemeiner bedeutſamen Namen zır 
nennen, in dem griechiichen Kronos finden. Wer Plutarch und andere 
Griechen gelefen, weiß, daß fie ven Ahriman durchaus mit dem Kronos 
vergleichen (mie einzelne von Unthaten), jowie denn nicht Mithras, wie 
Ereuzer meint, fondern Ormuzd — dem relativ geiftigen Gott, dem 
Dionyfos, ift. Die Keligion der Perfer hatte infofern im Grunde doch 
diefelben Elemente mit den Keligionen ver zunächſt folgenden Völker 
nur in anderer Stellung; nämlich Zerduſchts Lehre hat jenes finftere 
Prineip, mit deſſen Geftalten die andern Miythologien zu ringen haben, 
den Ahriman mit feinem ganzen Heer gleich untergeordnet. In den 
Zendbüchern jelbft wird Zerpufcht im Kampf dargeftellt gegen Priefter 
der Finfternig (die mythologiſchen Religionen), die das Volk auf den 
Weg des Ahriman und die faljhe Magie zu verloden ſuchen. Dieß 
find wahrhaft hifterifche Stellen, vie bejtätigen, mas wir, behaupten, 
daß das perfiiche Syſtem durch eine Reaktion gegen den mythologiſchen 
Proceß entitanden, indem das perfiiche Bewußtſeyn (und Zerduſcht nichts 
anderes als Kepräfentant dieſes perfifhen Bewußtſeyns) fi dem um- 
abhängigen Hervortreten des realen Princips entgegenjeßte, wodurch 
das perfiiche Volk abgehalten wurde, den Weg der andern Völker zu 
gehen, den eigentlichen Polytheismus anheimzufallen. 


225 

Nach ver jetzt vorgetragenen Anficht ift es einleuchtend, wie bie 
Zerbufchtlehre ein nothwendiges Erzeugniß des urfprünglicdien Mithras- 
begriffs ift; und wie früher der Uebergang gezeigt wurde von dem ur- 
väterlichen Glauben der Perfer, von Zabismus oder der älteften himm— 
liſchen Keligion zu der Mithrasivee (Anlaß dazu war der mit Mithra 
geſetzte Dualismus), fo haben wir jett wieder den nothwendigen Ueber— 
gang von der Mithrasivee zu der Zerdufchtlehre gezeigt. Die Lehre der 
Zendbücher tft nichts anderes als die praftifche, im Kampf dargeſtellte 
Mithrasidee. Die Zendbücher find nichts weniger als fpeculativ, oder 
auch nur theoretifch, fie enthalten durchaus nur moralifche Borfchriften, 
Anmweifungen für das Leben und für religiöfe Gebräuche, Gebets- und 
liturgiiche Formeln. Die Zenvlehre ift die Mithraslehre auf den praf- 
tiihen Standpunkt verjegt. Ihr Inhalt ift nur ein immer fic) wieder- 
holender Aufruf zum Kampf gegen die Mächte der Finſterniß, der 
Menſch nach Zerduſcht nur ein Streiter Ormuzds auf Erden, berufen 
durch Pflege der Natur, durch reinlichen und forgfamen Aderbau, durch 
Keinerhaltung des eignen Leib und der eignen Seele das Webergewicht 
des erpanfiven Princips zu erhalten. 

Nun liegt ung aber nod) ein anderes Problem vor, welches durch 
die zahlreichen Denfmäler entjteht, die fi) auf die fogenannten Mithriaca 
(seil. mysteria) beziehen, melche ſich über das ganze fpätere römiſche 
Reich verbreitet zu haben jcheinen. Denkmäler diefer Art find zwar 
nirgends in. Perfien, aber außer Perfien in Italien, in Frankreich bis 
zu den Ufern des Rheins, ſelbſt in Kärnthen und Salzburg gefunden 
und vielfady herausgegeben und commentirt worden. Der Grund aber, 
warum diefe Denkmäler als problematifcdy erjcheinen, oder wodurch fie 
zu Erörterungen Anlaß geben, ift diefer: man ift gewohnt, die Zend- 
und alſo aud) die Mithraslehre al8 eine relativ veinere und gewilfer- 
maßen unmythologiſche Religion anzufehen. Dagegen finden fi nun 
in jenen Mithrasmonumenten jo manche Borftellungen, die weit mehr 
mit den BVorftellungen anderer, im eigentlihen Sinn mythologijcher 
Bolfer, namentlich mit indifhen, als mit Ideen der reinen Zerduſcht— 


lehre gemein haben. Was wir bejonders von den Formen oder 
Schelling, fämmtl. Werfe, 2. Abtb. II. 15 


226 
Ceremonien der römischen Mithrasgeheimniffe wiſſen, fteht in folcher 
Oppoſition mit der veinen Mithraslehre, daß viele ber Erwägung diefes 
Sontraftes verfucht worden find ihre wirkliche Abftammung aus Perfien 
in Zweifel zu ziehen, So waren 3. B. in den Mithrasiveen außeror— 
dentliche Kafterungen und Kreuzigungen des Fleiſches gewöhnlich, für 
männliche und weibliche Eingeweihte. Für die höchften Grade wurde 
der jungfränliche, chelofe Stand erfordert. Selbft Menfchenopfer fanden 
statt ohne Unterſchied des Alters und Geſchlechts, in deren Eingeweiden 
man nach der Zukunft forfchte. Nichts kann Der reinen Zendlehre Ent: 
gegengeſetzteres gedacht werden, als diefe Faſten, viefer Cölibat, dieſe 
Menichenopfer. Namentlich was die Eheloſigkeit betrifft,, jo ift es ſogar 
Borihrift der Zendlehre, die Kinder frühe zu verheirathen, und gefchteht 
es, daß fie vor diefer Zeit fterben, fo muß dieſer Mangel durch eine 
Geremonie ſupplirt werden, die bei Hyde ausführlich beſchrieben ift. 
Ein jeder, der ohne Kinder ſtirbt, jagt ein canoniſches Bud), die Sad- 
der, welches Verdienſt ex fonft haben möge, wird ausgeſchloſſen feyn 
von Paradies: Das durchaus Menfchlihe und Menfchenliebenvde in ver 
Zenvlehre eontraftirt aufs Entſchiedenſte mit den nicht bloß ftrengen und 
harten, fondern grauſamen, ja das Leben felbft gefährdenden Prüfungen, 
denen ſich derjenige zu unterwerfen hatte, der in die Mithriaca einge- 
weiht jeyn wollte. Endlich fieht man aud) auf jenen Monumenten nichts 
von dent, was die gewöhnlichen Darftellungen perfiicher Opfer oder 
Geremonien auszeichnet, 3. B. feine dem Feuer geweihten Altäre, die 
in der perfiichen Neligion etwas fo Wefentliches find. Dagegen finden 
ſich Genien mit Fackeln. Alle diefe Beobachtungen haben ſchon in der 
Mitte des vorigen Jahrhunderts den. franzöfiihen Akademiker Freret, 
der überhaupt das Verdienft hat viele alterthumforſchende Unterfuchungen 
zuerft angeregt zu haben, auf die Meinung gebracht, daß die römischen 
Mithriaca gar nicht aus Berfien herfommen; er wollte fie aus Chaldäa 
herleiten‘. Nun ift e8 aber jener Wiverfprüche ohnerachtet von ber 
andern Seite ganz unmöglich das Perſiſche mancher "Symbole zu ver- 
kennen. Manche Figuren auf dieſen Monumenten ftimmen mit ven 
' M&moires de l’Acad. des Inser. T. XVI. 


227 
Bildern, die man auf den Mauern won Perjepolis (Tſchilminar) ſowie 
auf den perfepolifchen Cylindern antrifft, wöllig überein. Die Borftel- 
lungen jeltiamer, fabelhafter Thiere auf den Mauern von Perfepolig, 
denen der Monarch den Dolch in die Bruft drückt, und in denen ein 
befannter Göttinger Profeffor Jagdbeluſtigungen perfifcher Könige dar- 
geftellt glaubte, erinnern an die portentosa simulacra, an die feltfamen 
Thiergeftalten, die nad) St. Hieronymus in den Mithrasmpfterien den 
Einzumweihenden erjchienen, ſey es als Schredbilder oder als Symbole 
von den zu befimpfenden Mächten der Finfternig. Noch entjcheivenver 
ift Folgendes. ine ganz eigenthümliche Vorftellung der gegen die ganze 
Natur liebevollen Perjerlehre ift die von den Feruers, worunter fie gleich 
fam die geiftigen Urbilder jeves Geſchöpfs verftehen, und die man daher oft 
mit den platonifchen Ideen verglichen hat. Jede Pflanze, jedes Thier, 
jeder Menſch hat feinen Feruer. Die menſchlichen Feruers z. B. der 
Könige auf den Wänden zu Perſepolis erſcheinen als menſchliche geflü— 
gelte Halbfiguren. Gerade ſolche findet man auch auf den Mithras— 
denkmälern von übrigens römiſcher Arbeit und ſogar mit römiſchen In— 
ſchriften. Nicht weniger findet man auf dieſen Denkmälern die Embleme 
der Izeds oder Dämonen, welche die Parſenlehre allen Elementen der 
Natur vorſetzt. Neuere haben daher in den römiſchen Mithrasmonu— 
menten zwar urſprünglich perſiſche Symbole, aber mit indiſchen Zu— 
thaten vermiſcht, ſehen wollen, wie Hammer'!. Selbſt Silveſtre de 
Sacy läßt die urſprünglich perſiſchen Vorſtellungen wenigſtens erſt noch 
durch ein anderes, andern Vorſtellungen ergebenes Volk hindurchgehen, 
und auf dieſe Weiſe alterirt werden?“ Allein wenn man dieſes Volk 
weder namhaft machen, noch erklären kann, wie ein anderes Volk dazu 
gekommen perſiſche Ideen ſich anzueignen, ſo kann man auch dieſe Aus— 
kunft nicht anders als unbefriedigend finden. Der bekannte Meiners 
hat die Meinung aufgeſtellt: dieſe Mithriaca, wie man fie ſpäter im 
römischen Neich findet, feyen gar erft zur Zeit Alerander d. Gr. in 
' Wiener Jahrb. für Fit. 1816. ©. 146, ff. 


2 in den Anm. zu St. Croix, Recherches sur les mysteres du Paganisme, 
p. 145. 


228 





Perfien eingeführt worden, fie ſeyen daher ein Gemiſch von urfprünglid) 
griehiichen Vorſtellungen mit perfifhen Ideen. Aber alle dieſe ver- 
ſchiedenen Hypotheſen laffen einen Hauptumftand, und zwar einen höchſt 
auffallenden, ganz unerflärt, dieſen nämlih, dag man Monumente 
diefer Art zwar faft über die ganze Oberfläche des alten römiſchen 
Reichs verbreitet, aber auch nicht die Spur eines folden in Perfien 
jelbft gefunden hat. Man wollte dieß daraus erklären, daß muhamme- 
daniſche Eroberer alle dieſe Monumente zerftört haben. Wie kann man 
aber dieß annehmen, da, wie Silveftre de Sach bemerft, doch eben 
diefe jo viele andere Spuren der alten Landesreligion in Perfien übrig 
gelafjen haben ? | 

Ueberlegen Sie aljo mit mir, ob etwa folgende aus unfern frühern 
Entwidlungen fid) ergebende Anfiht im Stande ift, die hier fi) dar— 
bietenden Widerſprüche auszugleichen. 

Die Mithraslehre ift allerdings im Vergleich mit andern Religionen 
des Alterthums eine unnythologifhe, wenn man mythologiſch nur Die 
entjchiedene Vielgötterei nennt. Aber fie ift keineswegs eine abfolut un 
mythologiſche; Das perfiihe Syſtem enthält vielmehr, wie gejagt, alle 
Elemente der Mythologie, nur in anderer Stellung. Das perfilche Be— 
wußtſeyn machte denjelben Uebergang von dem ausjchließlichen Gott zu 
dem der Mannichfaltigfeit Kaum gebenden ganz jo wie das Bewußtjeyn 
der andern Völker. Als Beweis dient die der Urania in Perfien ent- 
iprechende Mitra. Auch das perſiſche Bewußtſeyn unterjcheidet den 
realen, fi der Expanſion widerſetzenden Gott und den idealen; nur 
darin liegt die Differenz, daß das perfiiche Bewußtſeyn den realen und 
den idealen Gott nicht auseinander ließ, ſich der eigentlichen Vielgütteret, 
d. h. dem fuccefjiven Polytheismus verſagte, den fie eben durch den 
Allgott Mithras aufhob. In den polytheiftiichen Neligionen find es 
zwei Götter, der relativ geiftige und der ungeiftige, in dem perſiſchen 
Syſtem ift e8 nur Ein Gott, Mithras, der die beiden ift, umd fie, 
obgleich fie. ſich beſtändig befämpfen, nicht auseinander läßt. Aber eben 
darum fann man fagen: die Mithraslehre ift die nur in potentia er- 
haltene — die gleichlam unterdrüdte, gehemmte Mythologie. Ich habe 


229 

bereit8 der Stellen ver Zendbücher erwähnt, aus denen erhellt, daß Die 
Zendlehre wirklich gegen den hervortretenden mythologifchen Polythersmus 
zu fümpfen hatte. Diefer war immer da, und wenn er auch öffentlich 
nicht auftreten durfte, jo konnte er doch nicht abjolut aufgehoben werben. 
Die Mithriaca wären alfo eine Abweichung von der reinen Mithras- 
lehre — entftanden aus polytheiftiihen Anmwandlungen, denen das Volk 
oder ein Theil des Volks fo gut unterlegen wie das ifraelitifhe, troß 
alles Abwehrens der Priefter und gottbegeifterter Propheten. Man darf 
alſo dag, was fi) in den Mithrasmonumenten findet, nicht unmittelbar 
vergleichen mit der reinen Lehre in den Zendbüchern, die zu diefer Rein— 
heit exit zu der Safjanivenzeit erhoben worden. Diefe ift gleichfam bie 
reine Theorie, die Mithriaca find die mythologiſche, die abgöttiſche 
Seite der Mithras- Religion. } 

Die perfiihe Lehre entftand nur durch eine Reaktion gegen den 
mythologiſchen Proceß. Dadurch ift in ihr wenigftens ein Analogon 
der wahren Keligion bewahrt. Noch erkannte das perfiihe Bewußtſeyn 
einen, wenn auch in die Materie verfunfenen, doc) ſich ſelbſt bewußten 
und liebevollen Schöpfer. Auch die Perfer konnten fid) anfehen als ein 
gleihjam göttlich bewahrtes Volk, wie die Iſraeliten. (Merkwürdig iſt 
auch jener leichte Uebergang perſiſcher Ideen in jüdiſche Vorſtellungen 
nach dem babyloniſchen Exil). Man kann die Perſer in vieler Hinſicht 
mit den Ifſraeliten vergleichen; fie waren, wie geſagt, in ihrer Art ein 
von anderen Völkern ebenſo abgefonvertes Volk, wie die Juden. Konnte 
nun jelbjt unter diefen der mythologifche Polytheismus nicht unterdrückt 
werden, jo kann uns ein ähnliches Phänomen in dem perfifchen Volk 
nicht wundern. Dieß führt alfo nothwendig auf den Gedanken, daß 
jene Mithriaca, die fpäter über das römische Reich fich verbreiteten, aller- 
dings aus Perfien hervorgetreten waren, daß fie.aber dort fchon (in 
ihrem ursprünglichen Vaterland) nur insgeheim gefeiert, in Perfien felbft 
Myſterien, aber im ſchlechten Sinn, Myſterien einer unreinen Art, 
Myſterien der Finfternig waren, die dort nicht öffentlich hervortraten, 
von denen eben darum in Berfien felbft feine Spur übrig geblieben 
(Saffaniven), und die ſich frühzeitig außer Perfien in Die angrenzenden 


230 
Länder flüchten mußten; denn nad) Nom find erweislichermaßen vie 
Mithriaca nicht unmittelbar aus Perfien gefommen, mit dem doch die 
Römer gerade in fpäteren Zeiten fo manden Verkehr hatten, zum Bes 
weis, daß fie fih um diefe Zeit in Perfien gar nicht mehr vorfanden. 
Plutarch berichtet‘, daß bei Gelegenheit der Zerftörung der. Seeräuber 
durch Pompejus d. Gr. an der Küfte von Cilicien die Römer, alfo, mie 
es jcheint, zuerft das römiſche Heer (und unter diefem müfjen fie be= 
jonder8 verbreitet gewefen jeyn, nad den Mithrasmonumenten zu 
jchließen, die in ehemaligen Standlagern vömifcher Legionen gefunden 
wurden) die Mithrasmpfterien kennen lernte. Es ift eine höchſt merk 
würdige Erſcheinung, wie mit dem ſich annähernden Untergang des rö— 
mischen Reichs die frühern mythologiſchen Vorftellungen für die Menſch— 
heit auf einmal ihre Bedeutung verlieren, wie fie anfangen das. Be— 
wußtſeyn der Meuſchheit völlig leer zu laſſen — ein übrigens natürlicher 
Erfolg; denn das Bewußtſeyn fonnte von diefen Vorftellungen nur 
während des Procefjes erfüllt jeyn. Der ganze Proceß ging ja eben 
dahin, ein falſches Princip, das im Bewußtſeyn der Menjchheit ſich er- 
hoben hatte, wieder aus demſelben binwegzufhaffen, das Bewußtjeyn 
von ihm leer und frei, eben darum empfänglich für die wahre Keligion 
zu machen. Unglaublid ift die Sehnfucht und Begierde, mit welcher 
in dieſen Zeiten des allgemeinen Verfalls das menſchliche Gemüth nad) 
dem orientalifchen Pantheismus griff, ja jelbft wieder bis zur Sonnen— 
verehrung zurüdging. Es war um eben dieſe Zeit, daß fid) die Mi- 
thriaca mit Schnelligkeit im römiſchen Neid) verbreiteten, ja mit einer 
Art von Leidenschaft ergriffen wurden. Menſchen aller Klaſſen und 
Stände juchten in diefe eingemeiht zu werden, und ber feinfinnige, aber 
gegen das Chriftenthun feinpfelige Kaifer Julianus glaubte gerade in 
diefer eigenthümlichen Mifchung der Mithriaca, durch welche die mytholo— 
giſchen Ideen nod) eine höhere Bedeutung erhalten zu können ſchienen, 
das Mittel gefunden zu haben, fein Zeitalter bein Hetventhum zu er— 
halten. Die Mithriaca waren ihm fo werth, daß wer feine- Gunft 
erlangen wollte, ſich in diefe Geheimniffe einmweihen ließ. 
' Pompej. c. 24. 


231 


Wenn nun diefe Erklärung von dem Urfprung der römiſchen Mi- 
thriaca der Aufgabe vellftändig entipriht, jo werden wir nicht nöthig 
haben anzunehmen, var fie durch irgend ein außerperfiiches Volk hin- 
durchgehen mußten, um fich mit den ver veinen Mithraslehre fremden 
Borftellungen zu imprägniven; denn weil diefe Borftellungen in dem 
Bewußtſeyn der Menfchheit überhaupt vorhanden waren, jo konnte Die 
Mithraslehre in ihrer Heimath ſelbſt in ſolche DVorftellungen ausarten, 
die denen der andern Völker analoge waren‘. 


' Wie dunkel die Ältefte Geſchichte Aſiens, wie dunkel insbejondere die Verhält— 
niffe des aſſyriſchen, baftrifchen und babyloniſchen Reichs find, ift jedem aus ber 
allgemeinen Geſchichte hinlänglich befannt. Es ift nicht meine Aufgabe, in bloß 
biftorifche Unterfuchungen bier einzugehen... Meine eigentliche Aufgabe tft nur eine 
philoſophiſche Erklärung der religiöfen und mythologiſchen Syſteme. Unfere ganze 
Anficht der Mythologie aber gewährt einen Standpunkt, won dem aus wohl auch 
ein Strahl auf die Dunkelheiten der Gefchichte füllt. Freret, wie ich angeführt, 
wollte die Mithrasmüfterien aus Chaldäa herleiten. Aber wenn der großen affy- 
riſchen Monarchie, die etwa um 720 v. Chr. ihren höchften Glanzpunkt erreicht 
hatte, auch PBerfien und Medien unterworfen, zu derjelben Zeit Babylonien eine 
affyriiche Provinz war, jo ift nicht weniger Grund vorhanden, einen früheren 
Einheits- oder gemeinfchaftlihen Ausgangspunkt zwiſchen Perfien und Babylon zu 
denken. Bekanntlich ift ein Stand der Magier in Babylon wie unter den Per- 
jern, ja der Name Chaldaeus bei Griechen und Römern ift ganz gleichbedeutend 
mit Magier. Auch im Daniel und anderen Büchern des A. T. erjcheinen die 
Kasdim, d. h. die Chaldäer, als die Inhaber aller höheren Wiſſenſchaft, befonders 
auch der Sternfunde. Man bat in neueren Zeiten die Frage aufgeworfen, ob 
der Magismus in Babylon eher, zu. Haufe war, als es von Perfien erobert 
wurde. Man jollte, jcheint es, an der früheren Eriftenz von Magiern in Babylon 
nicht zweifeln, inwiefern unter den Fürften oder Großen, die mit Nebufadnezar 
zur Eroberung Serufalems fommen, auch ein 4272) genannt wird (Jerem. 39, 3), 


bei dem man fich nicht gut-etwas anderes als-einen Oberſten der Magier denken 
kann. (Zu vergleichen „Dtanes“, Xerres Begleiter auf dem Zug gegen die Griechen ; 
Herodot VII, 61). Dennoch urtheilt u. a. Gefenius, es jey Fein Grund vor— 
handen, wor der perfiichen Eroberung Babylons eine Verbindung zwifchen ‚der 
Priefterichaft beider Völker anzunehmen. Mir ſcheint aber, ein hinlänglicher Grund, 
einen folhen Zufammenhang anzunehmen, liegt ſchon darin, daß die Religion 
der Babylonier ganz demjelben Moment des mythologiſchen Bewußtſeyns angehört, 
dem auch die perfiche Religion angehört — nämlich dent Moment jener erften 
Krifis, in welcher fich der Polytheismus entſchied. Sollte nun nicht, indem das 
babyloniſche Volk fih für den Polytheismus entichted, den Weq der Mythologie 


232 

Ich ſchließe nun diefe Unterfuchung mit einer allgemeineren, auch 
auf die Folge ſich erftredenden Reflexion. 

Mithras ift der zwiſchen Exrpanfion und Gontraftion freie Gott. 
Diefer Gott mußte in der wirklichen Exrpanfion, weil das urfprüng- 
liche Princip der Kontraktion dabei das untergeoronete wurde, als Kampf 
zwifchen diefer und zwifchen ber dem Geſchöpf wohlwollenden, expanſiven 
Eigenſchaft des Schöpfers erſcheinen, ein Kampf, aus welchem ſelbſt 
wieder in der Wirklichkeit Mithras hervorgehen ſollte. Dieſes Princip 
der Contraktion, das auf ſolche Art als das ältere dem jüngeren (wie 
Eſau dem Jakob) zu dienen gezwungen wurde, konnte ſeine Urſprüng— 
lichkeit und Priorität nicht aufgeben, und ſo war denn mit der wirklichen 
Erpanfion nothwendig der Kampf geſetzt, und eben dieſer Kampf gegen 
das Princip der alten, unvordenflihen Finfterniß, das, wenn e8 frei 
hervortreten dürfte, die dem Moloh, dem Typhon, dem Kronos und 
ähnlichen Gottheiten anderer Völker analoge Wefen erzeugen würde, 
diefer Kampf erfüllte das perfifche Bewußtfeyn. Aber eben darum waren 
bie Götter der andern Völker vom perfiihen Bewußtſeyn nicht abjolut 
ausgeſchloſſen, d. h. dieſes war fein abſo lut unmythologiſches. Man kann 
inſofern die ganze Mithraslehre und die perſiſche Religion vergleichen 
mit jenen Formationen der Natur, die ihr Daſeyn im Allgemeinen der 
organiſchen Richtung verdanken, von der die Erde ergriffen wurde, die 
ohne dieſe Richtung gar nicht entſtanden wären, ob ſie gleich eigentlich 
einſchlug, im Innern eben dieſes Volks eine Kaſte geweſen ſeyn, die ebenſo noch 
an der Einheit feſthielt, wie das perſiſche Bewußtſeyn, und ſollte dieſe Kaſte 
nicht eben die Kasdim geweſen ſeyn? Ich will nur noch daran erinnern, daß 
man unter den Ruinen von Babylon ebenfewohl als in Perfien und namentlich 
bei Perſepolis gefchnittene Steine unter ver Form von Walzen und Cylindern, 
und mit einer der perfiichen mwenigftens jehr ähnlichen Keiljchrift findet. Ueberhaupt 
vergißt man bei dieſer hiftorifchen Frage nur zu leicht, daß die Völker nur jurc- 
cejjiv fich getrennt haben, und daß eine Zeit gedacht werden muß, wo Perſer 
und Babylonier nicht jo gejchieden waren, wie fie in den ſpäteren . gejchichtlichen 
Zeiten erjcheinen. Und in diefem Sinn könnte man denn wohl auch fagen: bie 
Mithriaca haben ein chaldäifches Element in fich, in demfelben Sinn, in welchem 
die Alten ebenjowohl von einem affyriichen als einem perſiſchen Zorvafter fprechen 


und ein Vorfteher der Mithrasgeheimniffe in einer von Freret angeführten Inſchrift 
Antistes Babylonius genannt wird, 


233 

einen Wiverftand gegen diefelbe, eine Reaktion gegen das Leben find. 
Formationen der Art gibt e8 nun aud) in der Mythologie, nämlich 
Bildungen, die ohne eine Anwandlung zur Mythologie nie entjtanden 
jeyn würden, die infofern der mythologiihen Entwicklung angehören, 
aber weil fie eigentlich einer Reaktion gegen diefe ihren Urſprung ver- 
danfen, infofern auch wieder im Gegenſatz mit ver — 
Entwicklung erſcheinen. 

Es iſt nicht undenkbar, daß an verſchiedenen Punkten des mytho— 
logiſchen Wegs ſolche Formationen ſich finden. Das Allgemeine oder 
Gemeinſchaftliche, wodurch ſie ſich auszeichnen, iſt eben, daß ſie als 
eine Reaktion, als eine Hemmung des mythologiſchen Procefjes erſcheinen, 
oder daß fie in den Augenblid, wo eigentlich Schon Polytheismus im Be— 
wußtſeyn gefett ift, noch die Einheit, aljo einen Monotheismus, be 
haupten wollen, der aber, eben weil er mit Polytheismus verſetzt und 
nur gehemmter, an> oder aufgehaltener Polytheismus ift, als Ban theis- 
mus erſcheint. Man hat oft, befonders neuerer Zeit, ven Polytheismus 
als zerfplitterten Pantheismus fich begreiflich zu machen gefucht. Allein 
ich bin eher der umgefehrten Meinung, und möchte den in der Yinte 
der mythologiſchen Entwidlung ſelbſt an beftimmten Stellen herwortre- 
tenden Pantheismus vielmehr als gehemmten, angehaltenen Polytheismus 
erflären. Bei der Mithraslehre ift dieß ganz offenbar. Sie fällt, wie 
auch hiſtoriſch durch die Erwähnung des Herodotos außer Zweifel ift, 
in den Punkt der Entwidlung, wo im Bewußtſeyn der andern Völker 
dem erſt centralen, jet aber peripherifch gewordenen Gott ein anderer 
und neuer Gott, der relativ geiftige, entgegentritt. Diefer erjte Mo- 
ment des peripherifch Werdens des zuvor centralen, ift bezeichnet durch 
die weibliche Gottheit, welche Herodotos auch bei ven Berfern nachweist. 
Die Anführung des Herodotos hat alfo um fo größeren Werth für 
uns, als fie zum Beweis dient, daß auch das perfiiche Bewußtſeyn jenen 
Uebergang in Bielgötterer erreicht hatte. Die perfiiche Religion hat mit 
den andern Mythologien den Ausgangspunft gemein, das im Bewußtjeyn 
pofitiv gewordene B, das ihm (dem perſiſchen Bewußtſeyn) ebenfalls pe- 
ripherifch wurde. Aber eben bei viefem Punkte. trat die Reaktion ein. 


Irgend ein mächtiger befonnener Geift, jey fein Name nun Serduſcht 
oder welcher andere, hielt gleihfam im Moment, wo der Uebergang 
in Zweiheit geſchehen follte, die Einheit noch feit, und fo entftand jenes 
mittlere Syſtem, das in der Mithraslehre, d. h. in der altperfifchen 
Lehre, nicht zu verfennen ift. Indeß blieb jene weibliche Gottheit, die 
Mitra, nod als Uebergang ftehen, und erhielt, wie es feheint, üffent- 
liche Dpfer, während die eigentlihe Mithrasidee ihrer Natur nad) als 
eine in der That fpeculative und doftrinelle auch nur in der eigentlichen 
Doftrin, in der eigentlichen Lehre beftand. Das Einzige, was gleid)- 
jam von diefer Idee noch ins wirkliche Leben -hineinreichte, war ver 
Kampf der beiden Prineipien, des Guten und des Böſen. Ormuzd 
und Ahriman im beftändigen Streit waren allein gleichjan der fichtbare 
Mithras: Nur durch diefen Kampf konnte die Einheit fi) darftellen, 
Denn war überall feine Einheit, d. h. war fein Vermittler, Fein Mi- 
thras, fo begriff fich nicht, warum. nicht jedes der beiden Principien 
für fih war und gleichjfam in feine eigne Welt ging. Eben der Kampf 
ſelbſt alfo ift ver außere, fichtbare Ausdrud der Einheit, denn er fonnte 
nur entjtehen, indem die beiden Prineipien gendthigt waren, an einer 
und derfelben Stelle, uno eodemque loco zu jeyn. Wenn von diefem 
Kampfe der Prineipien Herodetos nichts weiß, wenn er noch weniger 
von der Einheit, vom Mithras, etwas weiß, jo erklärt fich dieß, wie 
bereit8 angedeutet, jhon daraus, daß ein Hellene, wie Herodotos 
nod) war, weder für dieſen Kampf noch für jene Einheit Sinn hatte. 
Wir fehen ihn fpäterhin ebenfo in Aegypten nur dasjenige auffaffen, 
wovon er eine gewilfe Analogie mit hellenifchen Borftellungen wahr- 
nimmt. Sch habe ſchon bemerft, daß der Name Zorvafters das erite 
Mal zur Zeit Platons oder bald nad Platon gehört wird, aber aud) 
nur der Name; die Sache, die Lehre felbft, nämlich die Lehre von den 
zwei gleich urfprünglichen Principien, ihren Gegenfag und Kampf er— 
wähnt zu allererft Ariftoteles in der befannten Stelle feiner Metaphyfif. 
Aleranders d. ©. Eroberung ift alfo ver Zeitpunft, we den riechen 
jicy zuerft der Blick in das Innere des Parſismus öffnet. Ein Grund 
ltegt wohl darin, daß ein erobertes Yand, indem es unterjocht wirt, 


235 

dem Eroberer zugleich” auch feine geiftigen Schätze aufſchließt, wie es 
uns Deutjchen im neuerer Zeit gegangen ift. Aber der Hauptgrund ift 
der große Unterfchied zwiichen der Zeit, in der Herodotos lebte, und 
der Zeit eines Platon und Ariſtoteles. Nachdem erft Geifter, wie die 
beiden eben genannten, unter der griechiichen Welt ſich erhoben hatten, 
war den Griechen überhaupt ein ganz anderer Sinn für jene Ideen 
entjtanden, für die e8 ihnen früher an aller Empfänglichfeit fehlte. 

Ich habe Shen ahnden laſſen, daß die Mithraslehre wohl nicht 
das einzige Beifpiel ift, einer durch Reaktion gegen den mythologifchen 
Proceß entftandenen und daher mythologiſch- unmythologifchen Formation. 
In einem ſpätern, abermals. entſcheidenden Moment werden wir eine 
ganz analoge Formation an der Buddalehre finden, dem Buddismus, 
deſſen einerfeits ifolirte Stellung zwiihen den übrigen Mythologien 
Aſiens wie andererfeitS fein offenbarer Zuſammenhang mit denfelben, 
namentlich mit der indischen Braminenlehre, ihn beinahe zu einem nod) 
größeren Näthjel gemacht hat, ale die Mithraslehre. Budda tft der 
Gott jenes Syſtems, das aus dem diefjeitigen Indien offenbar nicht 
ohne blutigen Kampf durch Die mehr mythologiſche Braminenlehre ver— 
drängt, von dort aus von allen Religionen des Orients die weiteſte 
Berbreitung erhalten hat — im Süden von Hindoſtan nad Ceylon, 
wo die Buddalehre ihren Hauptſitz aufihlug, nad) Batum und Tibet, 
gegen Dften nach allen zwijchen Bengalen und China liegenden Yändern, 
endlich nad) China und Japan felbft und unter die mongoliſchen Stämme. 
Denn die lanraifche Keligion ift nur ein Zweig der Buddalehre. Aud) 
Budda ift im Gegenfaß gegen die einzelnen und die vielen Götter des 
indifhen Syſtems wie Mithras ein-Allgott, er iſt zugleicy wie dieſer 
der in die Natur übergegangene Gott, der, indem er jede Form des 
Dajeyns annimmt, fi) mit der ganzen Natur befreundet, deren Freuden 
und Leiden er theilt. Mitten unter den Wandelbarkeiten feiner Außer, 
vom Strom des Werdens fortgeriffenen Ericheinung bleibt er innerlich 
unbeweglich, bleibt fein Charafter unverändert, Wie der perfiiche Mi- 
thras Licht und Finfternig, Gutes und Böſes in fid) vereinigt, jo hat 
wohl jeder, der von der Buddalehre audy nur wenig gehört hat, aud) 


dieß gehört, daß fie ein niythologifcher Pantheismus ſey, daß fie Böfes 
und Gutes, wie man fagt, imdifferenziire — gewiß in feinem andern 
Sinn, als in welchen man dieß auch von der Zerbufchtlehre jagen 
fann, nämlich nur jo, daß auch fie das contrare Princip zum Beftehen 
der erichaffenen Welt für ebenfo nothwendig hält als die Parfilehre. 

Die legte Unterfuhung, meil fie fi auf ein der Mythologie ent- 
gegengejettes Syſtem bezog, Fonnte eine Digreſſion jcheinen, aber es 
heißt auch hier: Exceptio firmat regulam. Denn e8 hat fich gezeigt, 
daß das der Mythologie entgegengefette Syitem der Perfer doch auf 
der Mythologie beruht, ganz auf ihrem Grund erbaut ift. 


Bwolfte Vorlefung. 


Wenn jener Moment des Bewußtſeyns gefommen ift, wo das cen- 
trale Prineip, das im reinen Zabismus nod) als ein folches fich zu be- 
haupten jucht, peripherifch werden muß, jo kann zweierlei gefchehen: 
a) entweder behauptet das Bewußtſeyn auch jest noch die Einheit des 
Gottes, fo daß das jet untergeordnet gefette und das höhere Princip 
in einem und demfelben Bewußtſeyn feitgehalten werden, dann entfteht 
der Gott, der Erpanfion und Contraftion — das dem Geſchöpf Holve 
und Unholde — beides in fi) und unter ſich enthält, ein Gott mie der 
perfiiche Mithras; oder b) das Bewußtſeyn gibt die Einheit auf, dann 
tritt dem jeßt peripherifch gewordenen und untergeordneten Gott der 
höhere, jett centrale, als ein zweiter entgegen; e8 ift zum erften Male 
wirkliche BVielgötterei gefeßt. Diefer Weg alfo war der Weg derje- 
nigen Bölfer, welche beftimmt waren, dem mythologiſchen Proceß ohne 
Aufenthalt zu folgen. Als das erfte nennt Herodotos die Babylo- 
nier oder Alfyrier‘, denn er nimmt den Namen Aſſyrien in dem weis 
tern Sinn von Chaldäa und Babylonien?. Dort in Babylon, dem 


'‘ Lib. I, e. 131. 199. gl. Macrob. Sat. L. 1, c. 23: zowroıs — 
Yooaav 'A6doveioıg zartorn 6Eßesyraı nv Oboavinv, usra dt 'A6ovoioug 
Kvzotoıs, Hapioıg x. r. }. cf. Pausan. L. I, c. 14 extr. 

2 Daß die Affyrier erft die Chaldäer, diejes rohe Volk, von feinen karduchiſchen 
Gebirgen herabgerufen und ihm in Mefopotamien Wohnſitze angewiefen, wird aus 
einer jo dunfeln Stelle, als Jeſaias 23, 13 ift, zu ſchnell geſchloſſen. (Vgl. Ge- 
jenius, Commentar zum Jeſaias ©. 740 ff.). Da Xenophon (vgl. ebendaf.) einen 


238 


Babylon, dem anerkannten Urfig der VBölferverwirrung, dem Ausgangs- 
punft des Heidenthums, wurde vorzugsweife jene erfte weibliche Gott— 
heit unter dem Namen Mylitta verehrt. Im Bezug auf diefe nun erzählt 
Herodotos einen der feltfanften Züge des vermwilderten religiöſen Be— 
wußtſeyns. Ich kann es nicht unterlaffen, diefen Zug zu erwähnen, 
denn eben an Thatfachen diefer Art muß fi die Wahrheit und Rich— 
tigfeit “unfrer Theorie erproben. In Babylon legte, wie Herodotos 
erzählt, ein einheimifches Geſetz jeden eingebornen Weibe die Pflicht 
auf, einmal in ihrem Leben im Tempel der Miylitta einem fremden aus— 
ländiſchen Manne fi) Preis zu geben!. Am Factum iſt nicht zu zwei— 
feln; es ift auch durch Stellen des A. T. betätigt. Diefes Gefeg der 
Babylonier, welches Herodotos felbft das ſchändlichſte ihrer Geſetze nennt, 
gehört ebenfalls zu den unaufgelösten, fittlichen Räthſeln, welche bie 
Geſchichte der Menfchheit in fo großer Zahl varbietet. Allgemein hat 
man ſich bis jett begnügt, diefen nicht nur nad) unſerm fittlichen Urs 
theil Shändlihen, fondern, was noch mehr ift, aller fonft befannten 
Sitte des Drients widerftreitenden Gebrauch ganz einfady aus den wol- 
füftigen Charafter des babylonıfchen Volks herzuleiten. Sah man aber 
zu, woher diefer fonft befannt fey, fo wurde man in einem offenbaren 
Cirkel eben wieder auf dieſen Gebrauch vwerwiefen. Auc könnte man 
ja höchſtens die babyloniſchen Weiber einer ſolchen Neigung zur Wolluft 
anflagen, ven Männern fünnte man nur eine überall, aber beſonders im 
Drient, unerhörte Nachficht vorwerfen. Auch fieht man, den Charakter 


bebeutenden Stamm derſelben in feinen alten Wohnfiten und als der alten noma- 
diſchen Lebensweiſe treu geblieben (ohne Aderbau, als ein freies, Friegerifches 
Bolf auf den armenifchen, namentlich farduchifchen Gebirgen) kennt, da auch Strabo 
noch andere Chaldäer in der Gegend von Colchis nennt, welche ſich von Eijen- 
arbeiten nähren und anderwärts Chalyber heißen, jo fünnte hieraus gefolgert 
werden, daß DT v2 ein allgemeiner Name für nomadifch lebende Völker jey 
— ohne daß darum bie Chaldäer, welche in Babylon genannt werden, mit jenen 
andern Chaldäern Ein Bolfeftamm wären — befonders, da nur in Babylon 
vorzugsweiſe die Inhaber der Wiffenfchaft, namentlich die Aftrologen, 
beißen. Strabo XVI, 1, $. 6. Diod. 2, 24. Arrian. 7, 16. - 

' L. I, c. 199: er de nalkovdı rnv 'Apoodirnv ’Aoovoroı“. Ebenſo 
Strabo * XVI, e. 1: „nach einem Orakel vara rı Aoyıov)“. 


239 

zugegeben, nicht ein, warum ſich eine folche zügellofe Wolluft ge- 
vade auf Ausländer, Fremde, befchränft hätte. Wenn man foldye Züge 
des Alterthums erklären will, jo muß man fie mit allen Umftänvden 
erklären. Herodotos gibt zu jener Erflärung durchaus feinen Anlaß; 
im Gegentheil, wenn man die ganze Stelle liest, enthält fie die bün— 
digfte Wiverlegung jener gedanfenlofen Erklärung. Seine Erzählung 
lautet ohngefähr jo: Keim Weib darf irgend einen der eben (nämlid) 
bei dem Diylittafeft) anmwejenden Fremden abweiſen, der ihr das Geld 
in den Schooß wirft und dabei jagt: ich rufe dich auf im Namen der 
Mylitta — fie darf ihn nicht abweifen, ſey das Geld auch nod) fo 
wenig, oder der Ausländer noch jo unanfehnlicy und gering; fie folgt 
aljo dem erſten Aufrufenden; hat fie aber feinen Willen gethan, jo 
geht fie nun, der Göttin verföhnt und geweiht, in ihr Haus zurüd. 
Bon nun an, fährt Herodotos fort — und dieß ſcheint man ganz über- 
jehen zu haben — von nun an fünnteft du ihr feinen Preis bieten, der 
groß genug wäre, fie zu gewinnen. Außerden jagt ja Herodotos aus- 
drücklich, daß die babylonifhe Frau dadurd der Mylitta genug ge 
than, fi) ihr geweiht zu haben glaubte. Die Proftitution war aljo 
in der That, jo gräaßlid uns ein folder Mißbrauch des Wortes vor— 
fommen mag, doch in der Meinung der Babylonter wirklich eine relt- 
giöſe Handlung. 

. Die follen. wir aber nun das Keligiöje in diefem Gebrauch uns 
denfen? Erinnern Sie ſich alfo, daß die ganze Erſcheinung diefer weib— 
lichen. Gottheit erklärt wurde als Erjcheinung des erften gegen ven 
höhern Gott weiblich Werdens des Bewußtſeyns, ja des in ihm zuvor 
ausſchließlich gefegten Gottes ſelbſt; überlegen wir zugleid), daß dem 
von der Strenge und Ausjchließlichkeit des erften Gottes herfommenden 
Bewußtſeyn der es zuerſt anwandelnde zweite oder neue Gott als ein 
durhaus fremder ſich anfündigen mußte, wie denn in allen Religionen 
und unter allen Bölfern, wo nur eine Kunde diefes zweiten Gottes, 
wie wir ihn der Kürze halber einftweilen nennen wollen — daß vom Kau— 
kaſus an bis in das fünliche Amerika und von da bis in den hoben 
ſtandinaviſchen Norden, furz überall, wo nur eine Kunde deſſelben 


240 


angetroffen wird, diefer Gott, der an die Stelle des erften thierähnlichen 
Lebens menschliche Sitte fette, als der von der Fremde, fernher ge- 
fommene angefehen wird: nehmen wir, jage ich, dieß alles zuſammen, 
io werden wir wohl nicht irren, wenn wir in diefem Zug eines gräßlich 
verivrten religiöfen Bewußtſeyns, in diefem ganzen Benehmen nur den 
Ausdruck des erjten, dunfeln Gefühls des dem Bewußtfeyn nod) frems 
den, eben erft fommenden, im Kommen begriffenen Gottes zu erhliden 
glauben. Denn der Gott konnte dem Bewußtſeyn zuerft nur als ein 
fommender und im Kommen begriffener erjcheinen. Noch war er ja 
nicht verwirklicht, denn er verwirklicht ſich erft in dem wirflid, überwun- 
denen B des erften Bewußtſeyns, aber bis jest hat das Bewußtſeyn 
nur nod überhaupt ein Verhältniß zu ihm, das Bewußtſeyn ift ihm 
bis jegt nur noch überwindlich, aber nicht wirklich überwunden. Er 
war alfo big jest nur eben der ins Seyn fommende Gott, und einer 
jeit8 ein dem Bewußtſeyn fremder und unbegreiflicher (denn bis jett 
war e8 ganz erfüllt gewefen von dem erften Gott, und hat diefem aus- 
ichlieplich angehört), andererfeits ein abſolut unabweislicher, deſſen das 
Bewußtſeyn fid) nicht erwehren, den e8 fo wenig abweiſen konnte, als 
die babylonifche Frau nad) Herodotos Erzählung den Fremdling abweifen 
durfte. Das Gefühl des Bewußtſeyns alfo in diefem Zuftande, in Die 
jem erſten Berhältniß zum neuen Gott konnte nicht wohl ein anderes 
jeyn als das eines unmilligen und unmuthigen Preisgegebenfeyns. Die 
möchte nun wohl jedem fo ziemlich einleuchtend ſeyn. Aber, Fünnte 
man mir nun fagen, daß das Bewußtjeyn den Gott ald einen fremden, 
als einen von ferne fommenden, als einen zugleich unabweislichen em— 
pfand, daß die erfte Anmwandlung des Gottes (ſelbſt dieſes deutſche 
Wort Anwandelung deutet ja auf ein Herbeifommen), daß das Be— 
wußtſeyn dieſe erjte Anwandlung als eine Aufforderung, ſich dem höhern 
Gott Preis zu geben, empfand, ift begreiflih, aber daß nun in Folge 
diefes Gefühls die babylonifhen Frauen ſich fremden Männern preis- 
gegeben haben, — diefe praftifche Folge — ift nicht eben einleuchtend, 
weder im Allgemeinen, nod in diefer Beftimmtheit. Darin fann man 
nun feinem Unvecht geben, der nod ein Fremdling ift im biefen 


241 
Forſchungen über die ſeltſamen religiöfen und fittlichen Züge im Charakter 
bejonders des höhern Alterthums. Wer aber, um zuerjt über das 
Praktiſche (in Handlungen ſich Aeußernde) religiöſer Vorftellungen uns 
zu erffären, die höchſt finnliche Naivetät, Gradheit und derbe Unbefan- 
genheit in allen, bejonders aber in den-veligtöfen Gebräuchen des 
Alterthums auf der einen, auf der andern Seite die grobe, praktiſche 
Zuthätigfeit oder Aufpringlichfeit, welche die mythologiſchen Ideen auf 
pie frühere Menjchheit ausübten, aus einer größern Zahl von Beijpielen 
fennen gelernt hat, der wird auch dieſen Zug einer verwilderten Keli- 
gion wohl begreifen. Eben weil jene mythologiſchen Borftellungen nicht 
freie, fondern blinde Erzeugniffe des Bewußtſeyns waren, wurden fie 
unmittelbar praftiich, das Bewußtſeyn wurde zu That und Handlung 
durch fie getrieben, und mußte fie durch That und Handlung ausjprechen, 
wie e8 eine allgemeine pſychologiſche Wahrnehmung ift, daß der Menſch 
Vorſtellungen, die ihm unwillkürlich entſtehen, die er geiſtig nicht bewäl— 
tigen, nicht ſich geiſtig gegenſtändlich machen kann, in That und Hand— 
lung ausdrückt. Dieß im Allgemeinen, warum ſich jenes Gefühl in 
Handlungen ausdrückte. Aber warum nun gerade in dieſer Handlung ? 
Dffenbar war jene Handlung der babylonifchen Frauen eine der Miylitta 
erzeigte Huldigung, fie hatten fid) durch die Handlung der Miylitta ge— 
weiht, wie Herodotos ausprüdlid jagt. Was war nun aber die My— 
litta? Antwort: fie war die erſte weibliche Gottheit, welche das Be— 
wußtſeyn gleichſam werleitete, dem erften, dem ausſchließlichen Gott, 
dem es zuvor allein angehörte, dem es gleichſam vermählt war, untreu 
zu werden, ſich dem zweiten, dem neuen Gott Preis zu geben. Das Be: 
wußtſeyn mußte alfo, um vie Mylitta zu ehren, die Treue, die e8 dem 
ersten Gott gelobt hatte, gleichſam brechen, es war ein Ehebruch, ven 
es gegen den erjten Gott beging. Wer Fennt nicht dieſes Bild aus 
vem U. T., welches allein von allen jchriftlihen Denfmälern, die auf 
uns gekommen find, durch Denfart - und Sprache hinaufreicht bie in 
jene Zeit und uns ein Bild jener Zeit geben kann, in welcher ber 
Dienft ver Miylitta entjtand und noch herrſchend war? Wer erinnert 


fih nicht an jene rührenden Stimmen der Propheten, welche Israel an 
Schelling, fämmtl. Werte, 2. Abtb. 11. 16 





die Zeit feiner Hugend erinnern, wo Jehovah in einen Bund mit ihm 
fi begab, daß es fein (Jehovahs) ſeyn follte', wo dem abtrünnigen 
Israel zugerufen wird: Kehre wieder, kehre wieder zu dem Gemahl deiner 
Jugend, zu dem Gott, deinem Herrn? Auch Israels Abtrünnigfeit won 
dem wahren Gott wird an Israel als Ehebruch geſtraft (der natürliche 
Ausdruck für jedes ausſchließliche Verhältniß ift die Ehe), und der 
Uebergang zu andern, zu neuen Göttern, wie fie auch im A. T. genannt 
werben, wird. daher vorgeftellt, als ein andern Göttern Nachhuren. 
Wenn wir aud) nur diefen Ausdruck des A. T. fennten, fo müßte uns 
jene babylonifche Obfervanz begreiflicher werben. Aus diefem Grunde 
alfo auch find e8 Frauen; es find, wie aus der ganzen Erzählung 
des Herodotos erhellt, verehelichte Frauen, die auf diefe Weiſe der My— 
fitta dienen. Von Jungfrauen ift nicht die Rede. Ein gewiſſer Ar- 
häolog zwar, ven ich nicht nennen will, und der alle vergleichen Dinge 
mit befonderer Liebe, vecht eigentlih” con amore ausführt, nämlich) 
auch noch erweitert, indem er vom Eignen binzufügt, dieſer läßt bie 
Jungfrauen in ven Tempeln der Mylitta ihre Unfchuld opfern. Aber 
Herodotos ift ganz unſchuldig an diefer ihm zugedachten Erweiterung. 
Nur von Frauen, und, wie der ganze Zufammenhang zeigt, won ver- 
mählten Frauen ift die Rede. Daß nun jener Archäolog die Sache jo 
oorftellt, nimmt mich weiter nit Wunder. Aber wenn es aud) andere 
thun, 3. B. ein neuerer Schriftfteller über die Religion der Babylonier, 
fo muß man faft glauben, daß fie den Herodotos nicht einmal ange- 
fehen haben. Wenn es Jungfrauen waren, die ihre Unſchuld opfern 
mußten, fo brauchte Herodotos nicht zu fagen, jede habe die Einmal 
in ihrem Leben thun müffen, denn es verftand ſich von felbft, daß fie 
ihre Unſchuld nicht zwei over dreimal opfern Fonnten; jo abgefhmadt 
ſchreibt Herodotos nicht. Ein ganz anderes Verhältniß unverehelichter 
Jungfrauen in Babylonien zeigt eine andere Erzählung des Herodotos, 
die ich hernach mittheilen werde. Genug alſo, es waren Frauen, ver— 
ehelichte Frauen, die der Mylitta auf ſolche Art ſich weihten. Die 
Handlung, mit welcher der Mylitta eine Ehre, ein Dienſt erzeigt wurde, 
GEzechiel 16, 8, vgl. mit 43. 


243 
follte ein Ehebruch ſeyn, die ganzliche Hingabe an Mylitta, und 
dadurch an den fremden Gott, follte durch einen ausprüdlichen Ehebruch 
erklärt werden. Nachdem die babylonifche Frau dieſen feierlichen Chebruch 
begangen hatte, war fie, wie Herodotos fagt, der Mylitta geweiht, hatte 
fie ihre Devotion gegen Mylitta bezeugt, ver Miylitta fich ergeben, durch 
eine feierliche Handlung dem ausfchlieglihen Gott gleichſam abgefagt. 

Iſt diefe Erklärung die richtige, fo gibt fie von felbft zu folgender 
Betrachtung Anlaß. 

Das Gefühl der Kealitat jener mythologiſchen Vorſtellung mußte 
doch ein unüberwindliches jeyn, um einen Gebrauch beglaubigen un 
rechtfertigen zu können, der nicht nur das allgemeine fittliche Gefühl 
empört ‚ Sondern zumal im Orient als die größte Anomalie erſcheint, 
wo das Weib unter Schloß und Kiegel gehalten wird, wo an manden 
Orten die glühende, die wüthende Eiferfucht ver Männer den zufälligen, 
unverſchuldeten Anblid eines weiblichen Weſens an dem unglüdlichen 
Fremden oder Reiſenden durch augenblidliche Ermordung zu rächen ge- 
wohnt ift. Wunderliche Philofopheme, die einen foldhen Gebrauch hätten 
veranlafien, einführen und befeftigen können, und zwar unter einem 
Bolf, dem ſonſt die Ehe heilig war! Auch der orientalifche Geift, von 
dem fo viele reden, ohne ſonderlich von ihm unterrichtet zu feyn, reicht 
hier nicht aus. Ebenſo wenig will ein anderes gewöhnliches Erflä- 
rungsmittel genügen, Prieftermacht, das überhaupt nichtsfagend iſt; denn 
erſt müßte erklärt werden, wie eine Prieſterſchaft ſelbſt auf einen allem 
Menſchlichen jo geradezu widerſtrebenden Gebrauch fallen konnte. Auch 
die mächtigſte Prieſterſchaft wäre nicht mächtig genug, einen ſolchen alle, 
nicht bloß menſchliche, ſondern insbeſondere orientaliſche Sitte empören— 
den Gebrauch einzuführen, wenn er dem Volk nicht durch eine innere 
Nothwendigkeit ſeines eignen Bewußtſeyns aufgedrungen würde. 

Ich konnte den zuletzt angeführten Zug einer verwilderten Natur— 
religion nicht übergehen, eben durch das Craſſe jenes babyloniſchen Ge— 
brauchs wird er für unſere ganze Anſicht eine unſchätzbare Thatſache. 

Ich habe ſchon vorläufig einer andern Erzählung des Herodotos 
erwähnt, woraus erhelle, was in Anſehung unvermählter Jungfrauen 


244 
für ein Gebrauch in Babylonten herrichte. Herodotos nennt diefen Ge- 
brauch weife, und mer an die anderweitige Behandlung des meiblichen 
Geſchlechts im Drient fi) erinnert, wird ihm menigftens menſchlich 
finden. Die Erzählung des Herodotos fteht faft unmittelbar vor jener, 
welche den Cultus der Mylitta ſchildert, und lautet jo: „Geſetze beftehen 
bei ihnen folgende, worunter nach meiner Meinung diefes das meifefte 
war, In jeglicher Gemeinde führte man einmal im Jahr alle heirathbar 
gewordenen Jungfrauen an einem Ort zufammen. Um fie herum ftellte 
fih eine Schaar Männer. Nun ftand ein Herold auf und fing an 
jede einzelne zum Kauf auszubieten, zuerſt die ſchönſte von allen, dann 
nachdem diefe um eine große Summe Geldes verfauft war, bot. er eine 
andere aus, die nad) jener die Ichönfte war; und zwar wurden fie zum _ 
Zweck der Ehe verkauft. Welche nun unter den heirathsluftigen Baby» 
(oniern die Begütertften waren, überboten ſich wechjelfeitig, um bie 
ihönften zu kaufen. Die heivathsfähigen Männer aus den Volk aber, 
denen an Schönheit nichts gelegen war, nahmen Geld und dazu bie 
häßlichen unter den Yungfrauen. Nachdem der Herold mit dem Verkauf 
der ſchönſten fertig war, fing er mit der ungeftaltetften an, oder wenn 
eine einen örperlichen Fehler hatte, bot er diefe aus, und fragte, wer 
um die geringfte Summe Geldes dieſe heirathen wolle, bis das Mäd— 
chen dem zufiel, der am mwenigften forderte. - Das Geld dazu aber fam 
von den jchönen Jungfrauen, und fo fteuerten die fchöngeftalteten die 
häßlichen, mißgeftalteten aus. Es durfte aber der Käufer fein Mädchen 
nicht ohne Bürgſchaft fortführen, fondern erft, wenn er Bürgen geftellt 
hatte, daß er fie wirklich heirathen werde, durfte er fie mit ſich fort- 
nehmen. — Diejes aljo war ihr beftes Geſetz, aber gegenwärtig befteht 
es nicht mehr, fondern fie haben jest etwas anderes ausgedacht, damit 
die Mädchen nicht zu kurz fommen, noch in fremde Städte fortgeführt 
würden. Denn nachdem ſich durd die Eroberung ihre Umftände ver- 
ichlechtert haben und fie in ihrem Vermögen zurüdgefommen find, läßt 
jeder aus dem Volk, der nur kümmerlich zu leben hat, feine weiblichen 
Kinder durch Unzucht Geld verdienen“ '. 
' Lib. I; c. 1%. 


245 


Ich will diefer Stelle nur einige Bemerkungen beifügen: erftens vie 
Yungfrauen wurden bloß für die Ehe verfauft, und der, melder ein 
Mädchen für Geld zu fich genommen, mußte Bürgichaft ftellen, daß er 
fie entweder ehelichen oder das mit ihr empfangene Geld zurüdgeben 
» wolle. Sitte und Geſetz erlaubte ihn nicht ein außereheliches Verhältniß 
zu derjelben. Diejer Gebraud hatte ſich nun allervings nach der per- 
fiihen Eroberung verloren; jeitdem, jagt Herodotos, oder num ift es 
jedem Bürger, der durch die Eroberung feines Wohnorts Schaden ge- 
litten hat, unverwehrt, jeine Töchter auf eine unfittlihe Weiſe Geld 
verdienen zu lafjen, was z. DB. unter den Lydiern und andern Völkern 
von jeher angenommen war. — Herodotos jagt alfo ausdrücklich, dieß 
ſey erft jett feit der Eroberung Babylons gewöhnlich“. Zu der Zeit 
aljo, aus welcher jid ver Miylittadienft in Babylon und der mit ihm 
zufammenhängende Gebraud) herjchrieb, herrfchte noch jene ältere Sitte, 
nad) welcher mannbare Jungfrauen entweder an die Meiftbietenden over 
Wenigftnehmenden verkauft, wohl zu merfen für die Ehe verfauft wurden. 

Wie vertrügen ſich nun die beiden Erzählungen, wenn aud) die, 
welche fid) auf die angegebene Weife der Miylitta meihten, Jungfrauen 
gewejen wären? Es iſt daher rein unbegreiflih, wie auch Creuzer, nad) 
feiner faſt träumerifhen Art alles mit allem zu verbinden, bei dem 
Miylittadienft der lydiſchen Mädchen erwähnen kann, die ſich ihre Mit- 
gift durch Ausſchweifungen verdient ”. Ausprüdlic jagt Herodotos, daß 


' Daß aber der Moylittadienft und der mit demfelben verbundene Gebrauch weit 
über dieſe Zeit, ins höchſte Altertbum — bis zum Anfang der Nation jelbft 
binaufreicht, liegt in der Natur defjelben. Daß er zur Zeit der perſiſchen Herr- 
ihaft über Babylon nicht mehr entftehen fonnte, ift jo einleuchtend, daß es gar 
feiner Auseinanderjegung bedarf. Einem jolhen Gebrauch unterwirft fih ein Volk 
überhaupt nicht- mehr im Lauf feiner Gejchichte; er muß gleich zuerft mit ibm 
jelbft, mit feiner Gejchichte entftanden jeyn. Der Moplittadienft war alſo uralt, 
d. h. feit Menjchengedenfen einheimiſch in Babylonien. Auch nennt ihn Herodotos 
ausdrüdlich ein einheimiſches Geſetz. 

?® Herod. Lib. I, c. 94, Dan vgl. biezu Strabo Lib. XI extr., wo vom 
Dienfte der Anaitis bei den Armeniern die Rede ift, den Strabo mit dem ver- 
gleicht, was Herodotos won den lydiſchen Mädchen erzählt, und woraus die völlige 
Unähnlichkeit diefer Gebräuche mit dem babyloniſchen genugſam erhellt. 


246 
dieß im Babylon erft nach der perfiichen Eroberung Sitte wurde (aud) 
jpricht er ja immer nur bon yvvorass). Auf diefen ſpätern Stand der 
Dinge beziehen ſich alfo die Erzählungen, welche man bei Curtius und 
andern fpätern Schriftftellern über babyloniſche Sittenlofigkeit findet !. 

Waren es nun verehelichte Frauen, yuvaixes, die auf ſolche Weife . 
der Mylitta dienten, fo erhöht ſich dadurch allerdings die. Unbegreiflich- 
feit eines fo auffallenden Gebrauchs unter einem Volk, dem die Ehe und 
eheliche Verbindung ein Gegenftand fo großer Sorgfalt war, und nur 
eine religiöfe (verfteht ſich, eine falſch veligiöfe) Vorftellung war im 
Stande, urjprünglic einen ſolchen Gebrauch einzuführen und zu be- 
glaubigen. Uebrigens gerade ver Umftand, daß die Entfernung von 
dem älteften Gott als. Ehebrudy) empfunden wurde — ein Gefühl, 
das bei den nächſten Völkern ſchon verloren ift, das Volk Iſrael ſchon 
muß daran erinnert: werden — gerade jener Umftand deutet nod) auf 
das erite Erfchreden des Bewußtſeyns und bezeichnet die Babylonier 
wohl überhaupt als die älteſten Verehrer der Urania. 

Indeß ſind nun weiter zwei Anſichten möglich. Entweder, daß 
jener Gebrauch, durch den ſie ſich der Mylitta weihten, alſo dem aus— 
ſchließlichen Gott abſagten, daß dieſer gleichſam als Hohn und Verſpot— 
tung jener früheren Gewalt, der ſie ſich hiemit entzogen, gemeint war. 
Darin wäre dann ein pſychologiſcher Zug erkennbar, der im der Ge— 
ichichte des Aberglaubens allezeit nicht felten wahrgenommen wird. Ins 
bejondere wird jeder, der die Erjcheinungen, welche die erfte Entftehung 
der Mythologie begleiten, aufmerkſam beobachtet und verfolgt hat, Die 
Bemerkung gemacht haben — und wir felbft werden in der Folge nod) 
mehrmals Gelegenheit haben diefe Bemerkung zu machen —, daß jeber- 
zeit die Verehrung zuerft hervortretender weiblicher Gottheiten durch Un— 
gebundenheit, durch ausjchweifende, zügellofe Luft. fid) verkündet. Denn 
jede folche weibliche Gottheit deutet auf die Ueberwindung eines frühern 


' Bei Curtius heißt es V, 1: Nihil urbis ejus corruptius moribus, nihil 
ad irritandas illiciendasque immodicas voluptates instructius. Liberos 
conjugesque cum hospitibus: stupro coire, modo 'pretium 
flagitii detur, parentes maritique patiuntur. 


247 





Princips hin, won deſſen erdrüdender Gewalt ſich das. Bewußtjeyn 
plöglich befreit fühlt, während e8 dagegen einem andern Princip, das 
es noch nicht faſſen kann, ſich Preis gegeben fühlt, und fo gleichjam 
feiner ſelbſt ohnmächtig, taumelnd wird. Die Furt und das Entfegen 
vor einer frühern Gewalt, wenn diefe plöglich zuſammenſinkt oder ver- 
nichtet wird, verwandelt ſich natürlicherweife in Hohn und Spott gegen 
diefelbe. Man darf, um dieß zu begreifen, nur Acht geben, wie ein 
jflavifch gefinntes Volk ſich benimmt gegen einen plößlich geftürzten 
Gewaltherrſcher oder einen Großen, der eine mißbrauchte Macht unver: 
jehens verliert. Wenn alfo jene Handlung, die eine öffentliche war, 
als eine Berfpottung der früheren Gewalt betrachtet wurde, fo wäre 
damit nicht8 angenommen, was nicht in der menſchlichen Natur läge. 
Jedoch aus der Erzählung des Herodotos erhellt nicht, daß die baby- 
loniſche Frau jenes Geſetz mit Luſt erfüllt, e8 war ein Opfer, das fie 
brachte, unftreitig ein jchmerzliches Opfer. Das Opfer war fein frei 
williges. Nach jener Stelle des apokryphiſchen Buchs (Baruch ) fiten 
die Weiber vor dem Tempel der Miylitta „mit Striden” umgürtet, 
erſcheinen alſo recht eigentlich als prava religione obstrietae. Der 
Mann, dem die aufgerufene Frau folgt, ift nicht der Mann ihrer 
Wahl, fie folgt ihm nicht aus Verehrung; denn auch dem unanjehnlich- 
ften gehorcht fie; nicht aus Eigennutz; denn aud) der geringſte Preis 
genügt, und auch diefer gehört nicht ihr, ſondern dem Tempelſchatz. 
In allen diefen Zügen fehen wir ein unabweisliches Verhältniß des 
Bewußtſeyns zu dem neuen Gott, der dem erften ausſchließlichen folgt, 
und der in Babylon noch nicht einmal mit Namen genannt, vdefjen 
Kommen nur indireft angebeutet ift. Wir fehen das Bewußtſeyn im 
Zuftande der erften Anwandlung des zweiten Gottes, wo er nod) 
nicht einmal eigentlih ausgefprodhen ift. Auch das aber war nicht 
zufällig, daß dieſes noch ſtumme Bewußtſeyn in einer folennen Hand- 
lung ſich ausdrüdte. Gerade weil das Bewußtſeyn Fein freies Verhält— 
niß zu feinen Borftellungen hat, weil e8 die Borftellung des Gottes 
noch nicht einmal ausfpredyen kann, darum muß es ſie durch Außerliche, 
' Kap. 6, 42. 


248 


und zwar durch eine feierliche Handlung ausdrücken. Darin wird 
die Realität jener. Borftellungen am Beftimmteften erfannt. Weil jedoch 
Beifpiele hier mehr als Raiſonnement wirken, fo will ich zum Beweis, 
wie mächtig in dem ganzen Alterthum, und zwar je höher wir in 
vaffelbe hinauffteigen, deſto mächtiger, diefer Drang zur äußern Dar- 
jtellung einer Vorftellung war, zum Beweis davon will ich eine Reihe 
von Beifpielen aus. demfelben Kreis anführen, zunächft aber eines aus 
einem - ganz andern Kreis, aus dem A. T., von welchem wir ſchon 
vorläufig gejehen, daß es die Verbindung des Volks mit Jehovah mit 
dem ehelichen Bande vergleicht. Was ich aber hier anführen will, it 
jogar eine von Jehovah befchlene Handlung. 

Bon allen Propheten des U. T. bedient ſich Hoſeas vielleicht am 
häufigsten jenes von dem Ehebruch hergenommenen Gleichniffes. Nun 
eben diefem Propheten jagt Jehovah gleich im Anfang feines Propheten- 
Amts: „Sehe hin und nimm ein ehebrecherifch Weib, denn das Land 
ift dem Herrn untreu durch Ehebrecherei”, und diefer Befehl wird voll- 
zogen, denn e8 heißt: „Und er (dev Prophet) nahm Gomer, die Toch— 
ter Diblaims“. — Späterhin ! Spricht der Herr noch einmal zu ihm: 
„Sehe noch einmal hin und buhle um ein buhlerifch, ehebrecherifch. Weib, 
wie denn der Herr um die Kinder Sfrael buhlt, und fie doc) fidy zu 
fremden Göttern ehren und mit ihnen buhlen um Kuchen“ (eine An— 
iptelung auf die Opferfuchen, die heiönifchen Göttern dargebracht wur— 
den); auc hier wieder folgt die Erzählung: „Und ic) warb mit einem 
Weib eins um 15 Silberlinge und fprady zu ihm: Halte dic zu mir 
eine Zeitlang und buhle nicht, denn ich will mic) auch zu Dir halten“. 

In diefem Beiſpiel oder vielmehr biefen zwei Beiſpielen gejchieht 
nur auf andere Weiſe vaflelbe, was wir fir unfere Erklärung bes 
Miylittadienftes in Babylon angenommen haben. 

Man ift heutzutage gewohnt, dergleichen Handlungen mit einem 
Yieblingswort ſymboliſche Handlungen zu nennen. Aber es gibt 
deren, -die wohl mehr als nur ſymboliſch find. Symboliſche Hand— 
lungen -find nur als freie, überlegte zu denken, dieſe aber find 


ı Kapn..3, 1. 


: 249 

nicht Freie, fondern durch einen inneren, wirklichen Zuſtand unmittelbar 
gebotene, gleichſam infpirirte Handlungen. Wir werden in der Folge 
fanatifche Prieſter kennen lernen, die in heiliger Wuth ſich ſelbſt ent- 
mannen. Creuzer ſagt zur Erklärung, ſie haben damit die gegen die 
winterliche Sonnenwende abnehmende Zeugungskraft der Sonne ſymbo— 
liſch ausdrücken oder darſtellen wollen. Glaube eine ſolche Erklärung, 
wer es kann. Ich kann nicht glauben, daß einer ſolchen froſtigen Idee 
zu lieb irgend ein Prieſter ſich entmannt hätte. Jene Handlung geſchah 
vielmehr zur Nachahmung eines, wie Uranos, entmannten Gottes; denn 
das Bewußtſeyn iſt in dieſem ganzen Proceß fo eins mit dem Gott, 
jo verwachſen mit ihm, daß es alles, was ihm felbit widerfährt, empfins 
det, als ob e8 dem Gott widerfahre und umgekehrt. 

Kun aber andere Beiſpiele diefer fogenannten Symbolif, und zwar 
aus eben dieſem Kreife (der Urania). | 

Wir haben früher gezeigt, daß Urania nur der meiblicd gewordene 
Uranos jey. Die Vorftellung dieſer erften weiblichen Gottheit war 
darum auch nicht die Vorftellung einer bloß weiblichen, fondern einer 
aus männlich weiblich gemordenen. Auch diefe Beltimmung nun fuchte 
das Bewußtſeyn Feftzuhalten. Dieje Beftimmung wurde dadurch aus- 
gedrüdt, daß die Gottheit bald als weiblich mit männlichen, bald um- 
gekehrt als männlich mit weiblichen Attributen vorgeftellt wurde. Ein 
Beijpiel der erften Art ift die gewaffnete und friegerifche weibliche Gott- 
heit zu Paſargadä (zugleih mit ein Beweis, daß die Mitra den Per- 
fern nicht fremd war), Die wir mit der von Paufanias erwähnten friege- 
rischen und Waffen tragenden Aphrodite zu Kythere vergleichen. Ein 
Beijpiel der umgefehrten Art ift jenes Bild der Aphrodite auf Kypros, 
von dem Macrobius berichtet, daß das Bild bärtig von männlicher 
Statur mit einem Scepter in der Hand, aber mit weiblicher Stletvung 
vorgeftellt jey; offenbar um anzuzeigen, daß diefe weibliche Gottheit nur 
eine äußerlich mit Weiblichkeit angethane, innerlich aber noch immer 
männliche, daß fie gleichfam nur -eine verfleidete männliche Gottheit ſey. 
Diefe männliche Aphrodite wurde eben darum auch Agpoodırog genannt. 


'‘ Saturn. Lib. II, ce. 8: Signum ejus (Veneris) est Cypri: barbatum 


250 
Diefer Begriff eines bloß relativ weiblichen Wefend, der dem Bewußt— 
ſeyn Durch einen innern Vorgang gleichſam unmittelbar eingegeben war, 
wurde alfo auf diefe Art in dem Bild der Gottheit vorgeftellt. 

Aber damit begnügte fid) das Gefühl noch nicht, fondern weil die— 
fer Uebergang von Männlichkeit in Weiblichkeit nur vorgeftellt wurde als 
ein in beftandigen Aufihluß geſchehender, jo entjtand das Bedürfniß, 
auch durch Handlung dieß auszudrücken. Dieß geſchah, indem z. B. 
nach dem Zeugniß des Philochoros eben jener männlichen Aphrodite die 
Männer in weiblicher Kleidung, die Weiber in männlicher opferten — 
alfo bei dem Opfer fich verkleiveten '.- „Hier haben Ste alſo wieder ein 
Beifpiel von der mimiſchen Darftellung eines innern Vorgangs. Eben 
dahin gehört auch, was Julius Firmicus von den Prieftern der afjyri- 
ſchen Aphrodite (aljo eben der Mylitta) erzählt, daß fie (bie Priefter) 
ihr Geſicht verweiblichen, die Haut glätten und durch weiblichen Anzug 
das männliche Geſchlecht ſchänden, oder, um die lateinischen Worte felbft 
anzuführen: aliter ei servire nequeunt, nisi effeminent vultum, cutem 
poliant, et virilem sexum ornatu muliebri dedecorent?. Daß aber 
nicht bloß Priefter, fondern auch Verehrer diefer Gottheit überhaupt 
fich auf diefe Weiſe verfleiveten, erhellt aus der ſchon angeführten Stelle 
des Philochoros, und beſonders aus dem Geſetz, welches unter ben 
mofaifhen vorkommt und die Allgemeinheit dieſes Gebrauchs in jenem 
Zeitalter ſchon allein beweifen würde: Ein Weib ſoll nicht Mannesge- 
räthe (d. h. Mannsfleiver) tragen, und ein Mann fol nicht Weiberfler- 
der anthun. Denn daß in diefem Verbot nicht Verkleidungen im All 
gemeinen, wie fie ja auch heutzutage noch ftattfinden und tolerirt 
werden, fondern Verkleidungen, mit denen eine abgöttifhe Abficht 


corpore, sed veste muliebri, cum sceptro ac statura virili, et putant, 
eundem marem et feminam esse. Aristophanes eam "Agpoodırov 
appellat. 

'‘ De Error. profan. rell. p. 6. 

2 Saturn. loc. eit.: Philochorus quoque in Atthide eandem affırmat 
esse Lunum, nam etsi sacrificium facere viros cum muliebri veste, 
mulieres cum virili veste. DBergl. auch Servius zu Aeneid. Lib. II, 
v. 632. — Bergl, Maimonides, Mor. Nev. III, 27. 


2 


verbunden war, gemeint find, erhellt aus dem Zufag: Wer olches thut, 
ift dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel '. 

Hier haben mir alfo ganz flare Beifpiele, wie die von jenem Aber- 
glauben Ergriffenen ſich berufen und aufgefordert fühlen, das, was inner- 
(ih in ihrem Bewußtſeyn vorging, äußerlich und zwar an ſich felbit 
nachzubilden. 

Eine noch weiter gehende Nachbildung des relativen weiblich Werdens 
will ich nicht erwähnen; ſie übertrifft ſelbſt den babyloniſchen Greuel. 
Es iſt genug, an die Kediſchim? zu erinnern, die im A. T. in Ver— 
bindung mit Aſtharoth, d. h. mit der. Aſtarte, einem andern Namen 
der Urania, erwähnt werden. Der griehifche Name der männlichen 
Hierodulen feheint nur Ueberſetzung dieſes orientalifhen. Eine große 
Menge folder männlihen Hierodulen erwähnt Strabo, befonderd da, 
wo er von dem Dienft der Göttin Komana in Kappadofien fpricht ?. 
Der Dienft diefer Göttin Romana, melde Strabo "Evvo, Bellona, 
nennt, die aljo auch mit männlichen Attributen vorgeftellt wurde und 
deren Fefte mit Friegerifchen Tänzen gefeiert wurden, war einer ber 
älteften Zweige der Verehrung der Urania !. Eben hieher gehören auch) 
die Schändlichfeiten der fabazifhen Orgien, über welche in dem ganzen 
Alterthum nur Eine Stimme ift. Sabazios ift wie der Name zeigt, der 
Gott des Zabismus — der Himmelsgott —, aber der mweichlid), weib— 
(ich gewordene, daher die Ausichweifungen bei feinen Myfterten, deren 
Beichaffenheit man ganz aus dem Verfahren des römischen Senats gegen 
fie fennen lernen kann, das Livius im 39. Buch ausführlich erzählt ®. 

5. Mof. 22, 5. Dal. Spencer, de legg. Hebr. ritu, Lib. U, e. 29. 

23.8. 2. Kon. 23, 7. Hieher gehört and) die von Heſychius angeführte be- 
iondere Bedeutung von Tırav. 

-® L. XII bald zu Anfang: Detorov uevroı TOv Veopoonrov Ayhog, nai 
ro Tov leoodoviwr Ev avrı). 

a Creuzer Th. I, ©. 29. — Plutarh im Sulla, cap. 9, vergleicht fie mit 
der Athene. 

> cap. 8— 19. — Dieſe fogenannten Myſterien beziehen fich alfo allerdings auf 
den Gott des Zabismus, aber (wie ihr Inhalt näher zeigt) des. ſchon auf. dem 


Uebergang befindlichen. Dieje in Aſien entftandene Feier mag fich dort auch das 
nachfolgende Sabrhundert erhalten haben, vielleicht fchon Dort ins Geheimniß zurück— 


252 


Doch es mag an diefen Anführııngen genug ſeyn; denn ich glaube nad) 
diefen Beifpielen wird jeder Zweifel verſchwunden und bie Nichtigkeit 
unfver Erklärung jenes babylonifchen Gebrauchs hinlänglich begrün- 
det ſeyn. . 

Eben daher, d. h. von dem Punkt, wo wir jett ftehen, ſchreibt 
fi) der Greuel, junge Knaben zu verfchneiden, um auf diefe Art das 
Männliche weiblich zu machen, ein. Greuel, der feit den älteften Zeiten 
im Orient einheimifch, leider bis in die chriftliche und bis in unfer 
Jahrhundert fi) fortgefetst hat. Dieſe Sitte fommt von den Babylo- 
niern ber; wenigftens laßt fie Hellenifus von dieſen zu den Perfern 
übergehen, und Herodotos erwähnt unter den Einkünften des perfifchen 
Königs 500 verjchnittene Knaben, welche Babylon und das übrige Aſſy— 
rien ihm jährlich liefern mußte. Es fcheint alfo, daß in Perfien jelbft 
feine Knaben verjchnitten wurden. 

Ich habe nun das, was früher aus dem Innern der mythologi— 
ſchen Entwidlung ſelbſt abgeleitet worden, auch thatſächlich, hiſtoriſch 
nachgemwiefen, nämlich 1) daß Urania der Wendepunkt ift zwifchen dem 
frühern noch unmythologifhen Zabismus und dem fpätern mythologiſchen 
gedrängt Durch eine jpätere Neligion und nur noch in der Form von Myſterien be⸗ 
gangen, um jo gewiſſer völliger Corruption anheimgeſallen ſeyn. Dem römi— 
ſchen Bewußtſeyn aber waren die Sabazien völlig fremd; ſie hatten ſich etwa 
im jechsten Jahrhundert der Stadt eingeſchlichen und — unter dem Deckmantel 
des Geheimnifjes — vielleicht nicht allzulange beftanden, als der römiſche Senat 
von ihnen Kunde erhielt und gegen fie ein peinliches Verfahren einleitete. Die 
Sabazien waren alfo in Nom niemals in anderer Form als in der einer religio 
peregrina. Der Einfluß folder, vom eigentlichen römifchen Bewußtjeyn zurück— 
geftoßener fremder Religion war eines der Vorzeichen des inneren, moralischen 
Verfalls der Republif, wie denn ſpäter zur Kaiſerzeit eindringende fremde Religionen 
und Geremonien im römiſchen Neich, wo fie jedoch nie aus dem Dunfel des 
Geheimniſſes hervortraten, die Symptome des Untergangs der altwäterlichen 
Religion nicht nur, jondern des Staats jelbjt waren. Schon zu Tiberius Zeiten 
war Rom voll orientalifhen Aberglaubens. Unter den nachfolgenden Kaijern 
verbreiteten fich bejonders die Mithriaca (seil. mysteria) über den ganzen Um— 
fang des römischen Reichs. Die Isiaca waren noch früher in Nom eingedrungen. 
In dem Berhältniß als die mythologifche Neligion ihrem Ende fich zuneigte, griff 
man wieder in die Vorzeit zurüd, und hoffte, wie e8 oft gejchieht, unter alter- 
thümlicher Form noch behalten zu können, was bereits dem Untergang zueilte, 


253 


Polytheismus, daß ſie eben ven Uebergang von jenem zu diefem macht, 
wie fie denn eben darum auch Herodotos vorzeitlich als Gottheit der 
älteften, alfo erften zum gefchichtlichen Leben übergegangenen Bölfer er- 
wähnt; 2) daß dieſe Gottheit nicht gedacht wurde als urfprünglich 
weiblich, ſondern als aus männlich meiblich gewordene. Alle zulegt 
angeführten Gebräuche find nichts anderes als Abbildungen, Wieverholun- 
gen jenes Uebergangs aus Männlichkeit in Weiblichkeit; fie drücken zu 
gleiher Zeit aus, daß jene Weiblichkeit eine bloß relative ift und 
dafjelbe, was gegen ein Höheres weiblich fidy verhält, an fi) männlich 
ift und umgefehrt — wie ung denn an der Stelle der weiblichen Gott- 
heiten bald wieder männliche erjcheinen werden. Es erhellt hieraus zu- 
gleich, daß in allen männlicd) = weiblichen Gottheiten nicht, wie man es 
gewöhnlidy nimmt, ein monftröfes Zugleich oder Zufammenfeyn beider 
Geſchlechter, ein wirklicher Hermaphroditismus, gedacht wird; fie follen 
vielmehr eben nur den Uebergang ausprüden oder den Begriff feft- 
halten, daß das nun weiblich Gefegte doch nicht ein urſprünglich Weib- 
liches, fondern ein nur in Weiblichfeit umgewandeltes Männliches ift, 
das fi in andern Beziehungen aud als ein folches zeigen Fann. 

Das Bewußtſeyn, weldyes zu der Borftellung einer in Weiblichkeit 
herabgeſetzten Gottheit nur durd eine Art von unmillfürlicher Krifis ge- 
langen fonnte, mußte um jo mehr den Begriff der bloßen Kelativität 
derſelben fefthalten, und leichter gelang ihm dieß, als fpäter der Wiſſen⸗ 
ſchaft, den Begriff des relativ nicht Seyenden, in ſich ſelbſt aber Seyen— 
den wieder aufzufinden, ohne den, wie beſonders Platon gezeigt hat, 
kein ſicherer Schritt in der Erkenntniß möglich iſt. 

Aber jene Umwandlung kann auch nur geſchehen, inwiefern in dem— 
ſelben Vorgang dem Bewußtſeyn der andere höhere Gott wird. Jene 
weibliche Natur kann die Stelle, an der ſie zuvor war und zu ſeyn 
trachtete, das Centrum, nicht verlaſſen, ohne an derſelben Stelle den 
andern Gott zu ſetzen oder ſtatt ihrer zurückzulaſſen. Dieß der dritte 
Punkt. Weder urſprünglich, noch an ſich, nur gegen den Höhern iſt 
fie weiblich, peripheriſch. Dieſen nothwendigen Zuſammenhang und die 
gleichzeitige Erſcheinung der Göttin und des Gottes konnten wir in dem, 


294 


was Herodotos von dem Dienft der babyloniſchen Mylitta berichtet, nur, 
jo zu fagen, indiveft nachweifen. Dagegen finden wir eben dieje Gleich— 
zeitigkeit entſchieden und deutlich ausgeſprochen, wenn wir nach Anleitung 
des Herodotos, der, wie Sie ſich erinnern, die weibliche Gottheit der 
Perſer von den Aſſyriern und von den Arabiern herleitet, wenn wir 
mit Herodotos jetst zu den Arabiern übergehen, die ich mit Herodotos 
fo nennen will, um fie von den insgemein fo genannten Arabern, den 
Arabern ver Wüfte, zu unterfcheiden. Denn die arabifhen Nationen 
waren befanntlicy in dem fogenannten wüſten Arabien Nomaden, in 
dem glüclihen Arabien aderbautreibende Bölfer, die fih duch Fleiß 
und Handel bereicherten. 

Bon dieſen alfo, welche er ſchon gelegentheitlich der Perfer im 
ersten Buch erwähnt hat, fagt Herodotos im dritten Buch: „Sie halten 
ven Dionylos allein für Gott und die Urania”! Hier wird er alfo 
zuerst genannt, jener den Afiyriern noch unbefannte und ungenannte 
Gott, der fi) 6i8 dahin dem Bewußtſeyn nur nod) al8 ein fremder, 
von ferne her fommender angekündigt hatte; er wird von Herodotos 
natürlich mit feinem griechiſchen Namen genannt — denn Herodotos, 
dem alle diefe Begriffe nicht, wie neuern Mythologen, als bloß zufällig 
entftandene erfchienen, ver vielmehr jelbft noch ein Gefühl ihrer Allge- 
meinheit und Nothwendigfeit hatte, Fonnte fein Arg daraus haben, 
diefen Gott, wo er ihn fand, mit dem griedhifchen Namen zur belegen, 
wie auch wir eben darum feinen Anftand nehmen werben, da, wo es 
darauf anfommt, den allgemeinen Begriff irgend einer Gottheit zu be 
zeichnen, fie mit dem griechif—hen Namen zu nennen, ohne darum biefe 
Gottheit glei im Anfang ſchon mit allen den Beftimmungen zu denken, 
die fie fpäter erſt im griechiſchen Bewußtſeyn erhält. — Dionyſos, 
jener zweite Gott, ift den ganzen mythologiſchen Proceß hindurch ein 
kommender, ein im Kommen begriffener — denn erſt im Ende und Ziel 
dieſes Proceſſes hat er ſich vollſtändig verwirklicht. Dieß verhindert 
uns aber nicht, ihn auch gleich im Anfang mit dem Namen des Dionyſos 


L. II, c. 8: Auvusov de Heov uodvov nal mv Odpavinv nyedvraı 


elvaı. Bergl. Arrian. VII, 20. Strabo XVI, 1 (p. 741). 


zu belegen, wenn er gleich hier nicht die Beftimmungen haben fann, die 
er am Ende hat. 

Um jedoch auch für die, welche in der hifteriichen Kenntniß der 
Mythologie etwa nod Neulinge jeyn möchten, verftändlich zu ſeyn, 
will ich bemerfen, daß man freilich manches ältere Compendium ver 
Mythologie durchlefen könnte, ohne auf den Namen des Dionyfos zu 
ftoßen, oder ihn anders als in Parenthefe bei dem gemöhnlichern, meil 
den Römern gebräudhlichern, Namen Bachus zu finden, bei dem man 
nur an den Gott des Weins zu denfen gewohnt ift und der befonders 
durch den Mißbrauch vieler Dichterlinge gar fehr abſchätzig geworden. 
Bachus ift zwar auch ein griechtiicher Name des Dionyſos. Aber er 
bezeichnet bei den Griechen nicht den Dionyfos überhaupt, fondern einen 
bejtimmten Begriff. des Dionyfos. Wir. werden uns eben darum ftet8 
nur dieſes griechiichen Namens bedienen, der zugleich der allgemeine 
ift. Auffallend. wird auch dem, der an die gewöhnlichen Compendien 
gewöhnt ift oder auch nur die Theogonie des Hefiodos im Auge hat, 
die Ordnung feyn, in welcher wir die Gottheiten folgen laffen., Warum 
fie aber in der Theogonte zum Theil in ganz anderer Folge erfcheinen, 
wird ſich fpäterhin als ganz natürlich erflären.. Es gehört mit zır den 
großen Berdienften Creuzers, daß er unter den Neueren zuerft ven 
Dionyfos wieder aus der Bergefjenheit gezogen, an die ihm gebührende 
Stelle gejegt und überhaupt geahndet hat, daß in der Dionyſoslehre 
ein Schlüffel der ganzen. griechiſchen Mythologie gegeben ſey. So viel 
nun davon. Was aber die Stelle des Herodotos betrifft, fo kann es 
nicht zufällig feyn, daß er fi auf diefe, im Grunde widerfprechende 
Art ausprüdt: „fie (die Arabier) halten den Dionyſos und die Urania 
allein für Gott“, da es eigentlich heißen follte: fie halten den Dionyſos 
und die Urania allein für Götter, Es ift daher fehwerlich in ven Wor- 
ten zu viel gefucht, wenn man den Sinn darin findet, daß nach ver 
Borftellung der Arabier die beiden Gottheiten nur als eine unzertrenn- 
liche, zufammengehörige betrachtet werden, mie fie. in der That find, 
indem Urania nur da ift im beftandigen Seen oder Gebären des an- 
dern Gottes, und ald Mutter gleichjam feinen Augenblid gedacht werden 


256 


fannn ohne diefen, der Gott aber ebenfall® nur da ift im bejtandigen 
Geboren- und Geſetztwerden durch die erfte, Urania ift nicht bloß Urania, 
fondern die den Dionyſos im fich verborgen (ingualirt) hat. Daß dieß 
nicht ur die Meinung des Herodotos, fondern die Borftellung ver 
Arabier jelbft war, erhellt aus den Namen, wie fie Herodotos gibt. 
„Sie nennen, jagt Herodotos den Dionyſos Urotal (nad) ver ge— 
wöhnlichen Lesart), die Urania aber Alilat“. Das Leste hat man 
auf verſchiedene Art zu erklären gefucht ' und mwunderlicd genug an die 
einfachfte Erklärung nicht gedacht. Al ift der befannte arabifche Artikel, 
wie in jo vielen andern arabifchen Wörtern, die in die neuern occiden— 
talifchen Sprachen übergegangen find, 3. B. Algebra. lat ift (wiewohl 
begreiflicher Weife bet muhamedaniſchen Schriftftellern nicht vorfommend) 
das Femininum von Ilah oder Elah, ein Gott; Al-Jlat alſo ift fein 
nomen proprium, ſondern bedeutet die Göttin fchlechthin. Der andere 
arabiihe Name AArrra, den Herodotos da anführt, wo er von den 
Perjern fpricht,. wenn man ihn nicht nur für eine andere Form von 
Altlat halten will, wird am wahrfcheinlichjten aus dem arabischen Waleda 
oder Walida erklärt, was Herodotos im Griechischen, welches das u als 
Sonfonant oder ein w nicht Fennt, nicht wohl anders als Alitta fchreiben 
konnte. Nach diefer Erklärung heißt Alitta nichts anders als die Ge— 
barerin, die Mutter. — Der Name des arabijchen Dionyſos iſt Urotal, 
wie jeit Wefjeling allgemein im-Tert fteht. Die früheren Ausgaben 
hatten Urotalt, eine Bodleyaniſche Handſchrift, die Pococke anführt 2, 
hat jogar Urotalat. Ich bin fehr geneigt, dieß für Die richtige zu 
nehmen. Nehmen wir nun diefe Lesart au, jo bedeutet (eine unzählige 
mal bejonders in Namen vorkommende Verwechslung von x und [- 
vorausgejegt) Urotalt oder Ulodalt oder Ulod-Allat (vom zufammenges 
zogenen Allah) nichts anderes als der Sohn, das Kind der Göttin ®, 

' Dean hat es aus dem arabijchen Hilal abgeleitet, mas Mond bedeutet (eigentlich 


nur das erfte Licht nach dem Neumond) ; aber von dem Mond ift hier nicht mehr 
die Rebe. 

* jelbft von dem neueften Herausgeber nicht bemerkt. 

’ Warum wurde wohl nicht das gewöhnliche Ihn (= Sohn) gebraucht ? Eben 
weil gemein und gewöhnlich. — In maronitifchen Familien, ebenfo bei den mweftlichen 


257 
Jenes Verhätniß der Zuſammengehörigkeit iſt alſo auch in den Namen 
ausgedrückt!. 

Wir haben demnach jetzt den zweiten (den relativ geiſtigen) Gott 
als nothwendiges Correlatum der Urania, d. h. der weiblich gewordenen 
Gottheit, gerade io wie wir ihn aus dem nothwendigen Gang des 
mythologiſchen Proceßes deducirt hatten, auch hiſtoriſch nachgemwiefen. 


Arabern wird zwar der Name ganzer Stämme auch auf die ſonſt gewöhnliche 
Weiſe gebildet, z. B. Beni Amer, aber weit häufiger, wie ſchon aus Zeitungen 
zu lernen, mit Ulod, z. B. Uled-Maadi; übrigens auch bei einzelnen Namen 
findet ſich dieſe Zuſammenſetzung, z. B. der Kaid eines Beduinenſtamms in der 
Nähe von Bona Uled-Soliman; ein Kabylenhäuptling Uled-Uraba. Bei Stämmen 
doublirt. 

Die weitere Ausführung dieſer etymologiſchen Bemerkungen enthalt ein bes 
ſonderer, ſpäter mitzutheilender Vortrag des Verfaſſers „über die arabiſchen Na— 
men des Dionyſos“. D. H. 


— —— — —— 


Schelling, ſämmtl. Werke. 2. Abth. II. 17 


Dreizehnte Vorlefung. 


Wir find, nachdem die urſprüngliche Einheit und Ausjchlieglichkeit 
des Zabismus gebrochen, und ebenfowohl auch diejenige Einheit auf- 
gegeben ift, welche das Bewußtfeyn in der perfifchen Lehre noch zu be- 
baupten fuchte — wir find jet aus der Einheit heraus zur wirklichen 
Zmeiheit und fomit an den Anfang des von nun an unaufhaltfam fort- 
ſchreitenden mythologiſchen Procefjes geftellt. Kein Wunder, wenn das 
fpätere, ver Enge des Zabismus entfommene, diefem Proceß nun völlig 
dahingegebene und fich deſſelben freuende Bewußtſeyn die erfte Erſchei— 
nung jener weiblichen Gottheit als einen Sieg feierte; ich erinnere nur 
an die fiegbringende Aphrodite, an die Venus vietrix der Römer, die 
hieher gehören. Eben dieß liegt, wie wir gefehen, tm Namen der My— 
litta = Zuflucht, eigentlich Bleib- und Wohnftätte. Diefe erfte Nieder- 
werfung (da die verzehrende Kraft übernatürlic gebeugt ift. Kraft 
nämlich ift nur im Gegenſatz des reinen Seyns, im reinen Seyn— 
fönnen. Das Seyn, das lautere, ift unvermögend; denn e8 ift der 
Gegenfab des Könnens — [der Sohn fein Leben in fih] —) diefe 
erſte Niederwerfung oder Zugrundlegung, diefe Katabole, welche erft 
dem folgenden Proceß zu einer Unterlage, zu einem Stoff verhilft, if 
nicht weniger auch ein Wendepunft in der Wifjenfchaft, die ohne dieſes 
vermittelnde nie in Die concrete Wirklichkeit hereinfommen könnte. Die 
Philofophie der Mythologie ift nicht der Intention, aber der Sache nad) 
Naturphilofophie — in höherer Sphäre —. Diefer Vorgang, in welchem 
das erft unnahbare, ausſchließlich Eine fi) zum Stoff, zur Unterlage 


259 
macht, kann eben darum auch als ein Herauswenden diejes Einen, als 
eine universio betrachtet werden. Das Bewußtſeyn, dem auf dieſe Art 
der Gott ſich materialifirt hat, hat aber dieſen nun nicht weniger an 
fih, als zuwor, im Gegentheil hält e8 den Gott nun erft in der 
Materie oder als materiellen feft, der ihm zuwor übermateriell war. 
Das Bewußtſeyn hat ſich mit dem Gott gleichfam verfegt; es kann 
num erſt recht eigentlich das mit dem Gott behaftete heißen. Der mate- 
rialifirte Gott, derjelbe, der er aud) zuvor war, in fich noch immer 
— B, nur relativ gegen den höheren Gott hat er ſich paſſiv, materiell 
gemacht. Durch fein Ausweichen, fein peripheriic Werben hat er fid) 
diefem nur erft zugänglich gemacht (ei obnoxium). In dem frühern 
Moment war der höhere Gott für das Bewußtſeyn abjolut ausge 
ichloffen, Das Bewußtſeyn völlig blind für denfelben. - Im gegenwärtigen 
Moment ift er aber doch nur als Potenz zugelaffen, als der nod) 
nicht als wirklicher ift, fondern ſich zu verwirklichen hat. Der gegen- 
wärtige Moment geht alfo gerade nur bis zur Geburt des relativ 
höheren Gottes, der nun eben erft im Seyn angefommen, als Potenz 
gejegt und gewußt iſt; von einer Wirkung des Gottes ift noch nicht 
die Rede. Aber an diefen Punkt knüpft fi nun jogleid) die Wirfung 
des Gottes, alſo der wirkliche Proceß an. Denn er ift, wie wir willen, 
nicht frei, zu wirken oder nicht zu wirken, fondern fowie ihm nur 
Kaum oder Möglichkeit gegeben ift zu wirfen, der nothwendig, der 
jener Natur nad) wirkende. Seine Wirkung befteht aber bloß darin, 
das ihm entgegenftehende nicht feyn Sollende wieder ins nicht Seyn zu 
überwinden; er hat daher feinen andern Willen, als dieſes gegen feine 
Beftimmung wirfend Gewordene, in das Weſen, in das lautere Seyn— 
können, und dadurch in das Gottſetzende, das es urſprünglich war, wieder 
umzuwenden!. 

Es find zwei Momente, die wir in der geſchichtlichen Erſcheinung des zweiten 
Gottes unterſchieden haben, jeder von einem anderen Volke repräfentirt: 1) Der, 
wo fich der zweite Gott nur erft anfündigt, noch gar nicht in das Seyn einge- 
treten ift, aljo auch nicht benannt (durch einen Namen unterfchieden) wird. Diejer 


Moment ift in dem Bewußtjeyn der Babylonier zu erfennen. 2) Der, wo er, 
wenn auch als bloße Potenz, doch wirklich eingetreten ift in das Seyn, und 


260 

Im Berhältniß gegen den zweiten höhern Gott erjcheint demnach 
jenes außer ſich geſetzte Princip ald ein doppeltes. Es ift das außer 
ſich gefetste, aber Das wieder innerlich gefett, zu fich felbft zurückgebracht 
werden kann — nicht Durch ſich jelbft, aber durch die Wirkung eines an- 
dern Gottes. Hier ftellt fi) alfo die unüberwindliche Doppelfeitigfeit 
jener erjten Natur nur in umgefehrtem Sinn wieder her; fie ift aud) 
hier wieder Avde. Wie fie urfprünglic das Geiftige war, aber das 
ungeiftig jeyn konnte, fo tft fie hier das Ungeiftige, aber das geiftig 
wieder jeyn kann. Als das zweierlet ſeyn Könnende, während der. Gott 
nur einerlet feyn kann und nur Eins wollen kann, verhält e8 fich gegen 
diefen al8 Dyas gegen die Monas, und daher nad) alter Lehre als 
weiblid gegen Männliches. Aber es ift auch in ſich felbft beides, 
denn von der einen Seite dem Gott zugänglid) und geneigt fih von 
ihm überwinden zu lafjen, verhält es ſich als weiblich, von der andern 
aber ſich ihm widerfegend, und fofern e8 im blinden Seyn ’beftehen 
will, iſt es männlich. In dieſer Stellung gegen den höhern vorzuge- 
weiſe wirkenden Gott liegt der Grund, warum auch die aus ihm her— 
vorgehenden Götter, die wir ſubſtantiell nennen, weil ſie nämlich aus 
der Subſtanz jenes jetzt überwindlich werdenden Princips, des materiell 
gewordenen B entftehen, und nur verſchiedene Formen, Geſtalten des B 
jind, warum dieſe während des ganzen folgenden Proceſſes ftet8 in dop— 
pelter Geſtalt, theils männlich, theils weiblich erſcheinen. 


daher nun auch mit Namen genannt wird. Dieſer Moment im Bewußtſeyn der 
Arabier. Aber unmittelbar an dieſen Moment ſchließt ſich nun der eigentliche 
Proceß an, zu welchem der vorhergehende der zaraßorn (Der Materialifirung 
des zuerſt geiſtigen Gottes) nur den Stoff oder die Unterlage (das vrzoxeiuevov) 
gegeben hat. Der höhere, erft vom Seyn ſchlechthin ausgefchloffene, jetzt menig- 
ftens als Potenz oder als Subjekt zugelafjene und geſetzte Gott hat die Aufgabe, 
durch Heberwindung des ihn nur als Potenz zulaffenden und infofern noch immer 
ihm entgegenftehenden Seyns fich zu verwirklichen, d. h. fich in den urjprünglichen 
Actus wieder herzuftellen (B ift das e potentia ad actum Hervorgetretene, Das 
wieder Potenz, A? ift das ex actu in potentiam gejette, das wieder Aetus 
werden ſoll — fo ftehen fich beide entgegen). Die natürliche Wirkung des ale 
Potenz Geſetzten ift, das aufer fich feyende Princip, das bis jetst nur noch Gegen- 
ftand einer möglichen Weberwindung ift, wirklich zu überwinden. 


261 

Daß diefe Erflärung die richtige ift, erhellt daraus, daß es namtent- 
lich in der griechiſchen Theogonie oder Göttergefchichte ſtets die Gattin, 
alfo die weibliche Seite des herrfchenden Gottes ift, die mit dem Fort⸗ 
ſchreiten, dem ſich der männliche Gott widerſetzt, einverſtanden iſt und 
es begünſtigt. Schon die alte Gäa beleidigt und innerlich erſeufzend 
darüber, daß Uranos den nachgebornen Kindern, Die eigentlich ſchon 
einer fpätern Zeit angehören, von der er nichts wiffen will, daß er 
diefen das Licht nicht gönnt und fie in die Tiefe verfchließt, birgt den 
frevelnden Schn in den Hinterhalt, aus welchem vworgreifend er ven 
Vater, den nichts ahndenden, entmannt. In der folgenden Zeit it es 
wieder hen, Kronos Gemahl, die ebenfo entrüftet über ihrer Kinder 
2008, die das Ungethüm immer in der Geburt fchon verfchlingt, mit 
den alten Gottheiten Gäa und Uranos, der nun feine Urfache mehr 
hat das Fortjchreiten nicht zu wollen, und im Gegentheil wollen muß, 
daß das Schickſal, deſſen Opfer er jelbft. war, fich vollende, — mit 
diefem alfo geht Rhea zu Rath, wie fie es anftelle, den jüngften Sohn 
heimlich zu gebären. Der Anfchlag, den ihr jene Gottheiten gaben, 
gelingt, der geflüchtete Zeus, herangewachfen, bezwingt den Vater und 
nöthigt ihn auch die zuvor Verſchlungenen wieder von ſich zu geben, 
und befreit zugleich jene noch Altern, bis jest in die Tiefe verfchlofjfenen 
Uranosjöhne, die ihm den Donner und den Blitz geben, die Welt- und 
Götterherrfchaft zu behaupten. — In dem legten, bleibenden Götterge- 
ſchlecht muß fi dann aber allervings das Verhältniß umkehren. In 
den frühern ift ftets die weibliche Gottheit des Moments das in- 
ftabile, unbeftandige Prineip, in der letten Generation, wo fein weiterer 
Umfturz möglich ift, muß alfo vielmehr die weibliche Gottheit vie 
Wandelbarkeit fürhten. Here, Zeus Gemahlin, zeigt eben in ver 
Furcht vor einem Umfturz ihre eigne, der Wandelbarfeit verwandte 
Natur; daher fie alles anfeindet und verfolgt, was eine neue Zeit an- 
zufünden fcheint, ihm jelbjt aber, dem Zeus, geziemt e&, nichts zu 
fürchten und über feine Weltherrfchaft fiher zu ſeyn, und gerade hierin 
zeigt ſich die Männlichkeit. 

Wenn man den Gefchlehtsunterfchied viefer fpäteren Götter 


erklären will, jo müſſen auch zugleich diefe befonderen Verhältniſſe erklärt 
werden. Auch bier darf man ſich nicht mit einer allgemeinen, bloß 
ohngefähren Erklärung begnügen. 

Durch diefe Stellung alfo gegen den höhern Gott ift unmittelbar 
die Beranlafjung zu. einem neuen Proceß gegeben, und unmittelbar an 
das vorhergegangene Ereigniß der Katabole — welches eben darum bie 
für ſich noch unmythologiſche Zeit von der mythologiſchen ſcheidet — 
knüpft ſich eine neue, von der vorigen völlig abgeſetzte Bewegung an. 
Die älteſten Völker, auch noch die zuletzt erwähnten Arabier, blieben in 
jenem Moment des Bewußtſeyns ſtehen, wo das Verhältniß zwiſchen 
der höhern und zwiſchen der untergeordneten Potenz nur noch ein ſtilles, 
wirkungsloſes war. Aber dem Bewußtſeyn der Völker, in denen die 
eigentliche Mythologie ſich erzeugen ſollte, ſtand ein tieferer Kampf be— 
vor, von dem wir uns nur vorläufig einen allgemeinen Begriff zu ver⸗ 
ſchaffen ſuchen. 

Die natürliche Wirkung des höheren Gottes auf das Bewußtſeyn 
iſt, jenes außer ſich ſeyende Princip des Bewußtſeyns, das jetzt, d. h. 
ſoweit wir die Entwicklung verfolgt haben, nur erſt als Gegenſtand einer 
möglichen Ueberwindung geſetzt iſt, wirklich zu überwinden, d. h. in 
ſein Weſen, in ſeine Innerlichkeit und damit ſeine wahre Gottheit 
zurückzubringen. Dem widerſetzt ſich aber eben dieſes Princip im Be— 
wußtſeyn. Es will frei von dem zweiten Gott bleiben, nicht zur wirk— 
lichen Materie deſſelben werden. Darum nimmt es jetzt wieder gegen 
den Gott geiſtige Eigenſchaft an. Sowie es zur wirklichen Ueber— 
windung kommt, wird es aus paſſiv wieder aktiv: inſofern iſt jetzt eine 
doppelte Geiſtigkeit in ihm, a) die, welche ihm durch den höhern Gott 
angemuthet wird, der es in ſich zurückbringen, dadurch wieder als Geiſt 
ſetzen will, b die ungeiſtige Geiſtigkeit, mit der es ſich jener ihm an— 
gemutheten Geiſtigkeit widerſetzt. 

Man könnte hier, wo wir für den folgenden Proceß eine ſucceſſive 
Ueberwindung fordern, die Frage aufwerfen, warum denn überhaupt 
Wiverftand ſey. Warum, könnte man fagen, gejchieht dieſe Wiederum— 
wendung ins Geiftige nicht mit Einemmal und gleichjam mit Einen 


263 





Schlag? Ic) antworte: Aus demjelben Grunde, aus welchem es über- 
haupt eine Entwidlung gibt. Warum überhaupt zögert alle Entwidlung ? 
Warum, jo oft das Ziel nahe jcheint, werden aud) im allgemeinen Yauf 
der Dinge immer wieder neue, die Entſcheidung auf unbeftimmte Zeit 
hinausfegende Mittelglieder eingejchaltet oder dazwiſchen gejchoben ? 
Hierauf gibt es nur Eine Antwort: Bon Anfang an ift alles auf Die 
höchfte Freiwilligfeit berechnet. Es ſoll eben nichts mit bloßer Gemalt 
durchgefegt werden. Es ſoll zuletzt alles aus dem Widerſtehenden jelbft 
fommen, welches eben darum jeinen Willen haben muß bis zur let- 
ten Erjchöpfung. Die Ummandlung, die ihm zugedacht iſt, ſoll nicht 
von außen, gewaltſam, jondern von innen, und jo erfolgen, daß es 
ſtufenweiſe dazu gebracht wird ſich ihr freiwillig hinzugeben. Nur in— 
dem das Bewußtſeyn Durch alle zwiſchen Anfang und Ende möglichen. 
Stufen hindurchgeführt wird, Fanıı die legte Erkenntniß, um die es zu 
thun iſt, ein Erzeugniß vollſtändiger und durchaus erſchöpfter Erfahrung 
ſeyn. In jenem, obgleich jetzt von ſeinem wahren Weſen abgekommenen 
Princip, das urſprünglich (nämlich kraft der in der Schöpfung erhaltenen 
Beſtimmung) nicht das ſelbſt Seyende, ſondern das bloße Gottſetzende 
war: in dieſem, obgleich jetzt außer ſich, außer ſeinem wahren Weſen 
geſetzten Princip, in ihm liegt doch allein die wahre und letzte Kraft 
der Erkenntniß: es darf nicht zerſtört werden, wenn nicht die Erkennt— 
niß ſelbſt zerſtört werden ſoll. In der Allmählichkeit, Stufenmäßigkeit 

der Ueberwindung zeigt ſich das Geſetz, zeigt ſich die auch über dieſer 
Bewegung waltende Vorſehung. 

Indem wir von Vorſehung reden, iſt es eine Frage, die ſich wohl 
auch einmal aufdringen muß in dieſer Unterſuchung, warum die gött— 
liche Vorſehung den großen Theil der Menſchheit dieſen, wie wir ſchon 
jetzt geſehen, und auch in der Folge ſehen werden, mit Greueln ſo ver— 
ſchiedener Art befleckten Weg habe gehen laſſen, während ſie ein kleines, 
unanſehnliches Volk von dieſem zurückhielt, zurückzuhalten verſuchte. Auf 
Fragen dieſer Art gibt es keine Antwort, als die abſolute, an kein 
Geſetz gebundene Freiheit Gottes, oder jenen Ausruf des Apoſtels in 
ähnlichem Zuſammenhang: Wie unerforſchlich ſind ſeine Gerichte und 


unbegreiflich feine Wege! Nur darauf will ich aufmerkſam machen, wie 
theuer jenes Feine, gegen das Menſchengeſchlecht unbedeutende Bolf den 
ſcheinbar parteiifchen Vorzug, den ihm die göttliche Vorſehung gegeben, 
bezahlen mußte. An ihm hat es ſich bewahrheitet: die Erſten werben 
die Letzten und die Letzten die Erften ſeyn; denn jeit 2000 Jahren ift 
eben jenes Volk den andern Bölfern zur Beute gegeben und wird von 
ihnen zertreten bis auf diefen Tag, während Die, Die vormals fern 
ftanden und Heiden waren, die, wie der Apoftel fid) ausprüdt, Gott 
dahingegeben im ihren verfehrten Sinn ihre eignen Leiber zu jchänden, 
während, fage ich, eben dieſe, jett zugelaffen find und im Beſitz aller 
zuerft jenem Volk zugedachten Gnaden find, fo daß recht eigentlich Japhet 
in Sems Hütten wohnt, wie der zweite Vater des Menfchengejchlechts 
prophezeite. - Es wurde bereit8 angedeutet, daß es übrigens ſelbſt der 
bejondern göttlichen Vorſehung nicht gelang, das erwählte Volk vor allen 
Greueln der Heiden zu bewahren. Leſen wir feine eignen Geſchichts— 
bücher, jo finden wir, daß der größere Theil deſſelben heimlich ſchon in 
der Wüfte, öffentlich zur Zeit der Richter wie der Könige, von feinem 
der Greuel frei war, den wir unter den Babyloniern, unter ven Kana— 
nitern, Phönikiern und allen gleichzeitigen Bölfern antreffen. Der Mo- 
notheismus war Geſetz, der Polytheismus Praris. Einen gründlichen 
und bleibenden Abjcheu gegen alle Abgötterei fafjen die Iſraeliten erft, 
als fie aus dem babylonifhen Exil zurückkehren, nicht, wie man dieß 
gemöhnlich erklärt hat, weil fie dort das Beifpiel einer veineren Religion, 
eines geiftigen Monotheismuns fanden, fondern weil um eben dieſe Zeit 
der mythologiſche Proceß in der Menfchheit überhaupt feine Gewalt ver- 
loren hatte. 

Das Princip des Bewußtſeyns alſo, welches Gegenftand der Ueber- 
windung ift, fol und muß widerftehen. Sein natürlicher Wille — 
jein Wille, fofern es fich felbft überlaffen ift — ift, reines, d. h. von 
Geiftigfeit * nicht afftcirtes blindes Princip = B zu bleiben. Da es 
aber die Wirkung des Gottes doc nicht ganz abwehren kann, iſt es 
jtet® im gewiffen Maßen auch geiftig affiert und = A, nit mehr 


Innerlichkeit. 


265 


reine, fondern geiftig afficirte Materie, auch nicht mehr. bloß eine 
Gleichmöglichkeit von beiden, wie es zuvor aud) war, da es als B aud) 
das A ſeyn fünnende war, fondern es ift jest wirklich ein geiſtig-un— 
geiftiges, wirflid) beides, oder ein foldhes, in dem beide verwachſen find. 
Dieje mit Geiftigfeit verwachfene Ungeiftigkeit bildet das Concrete. Das 
vein pofitive Princip der Materie, das wir freilich nirgends Jehen, 
weil es eben, um ung fihtbar zu feyn, ſchon mit Innerlichkeit afficirt 
jeyn muß, dieſes vein Pofitive der Materie alfo ift gegen das jest Ent- 
ftehende no) immer reines +, das nur in der Möglichkeit iſt aud) 
— (negativ) zu feyn. Das jest Entftehende aber ift das wirflid in 
+ — Beſtehende. (Diefe Ausdrüde, die jedem aus dev Naturwifjen- 
ſchaft befannt jeyn müfjen, wo von + und — Eleftricität, Magnetis- 
mus u. ſ. w. die Rede ift, muß man uns hier ebenfalls zugeben, da 
wir die mythologiſche Bildung ganz nad) der Art und Weiſe betrachten, 
wie wir jonft gewohnt find Erjcheinungen und Bildungen der Natur 
zu betrachten). Das hier Entftehende alfo ift nicht mehr reine Materie, 
es find ſchon concrete materielle Bildungen, und wir können daher den 
Uebergang, der hier ftattfindet, vorerft bezeichnen al8 Uebergang ins 
Goncrete - überhaupt, wo zuerſt freie Bielheit und Mannichfaltigkeit 
entſteht. | | 
Folgendes wird noch zu weiterer Erklärung dieſes Uebergangs 
dienen. Ts 
Der Gott, der im erjten Moment ausjchlieglich herrſchte, ift ver 
höhern Potenz, die er zuvor ausſchloß, zugänglich, überwindlich ge- 
worden, ohne darum wejentlich (ich bitte Sie dieß wohl zu merfen) 
ein anderer geworden zu feyn; nur feine Stellung gegen die erjt aus- 
gejchloffene Potenz hat fid) verändert; nur gegen diefe, alfo überhaupt 
bloß relativ, ift er weiblid) geworden, in fich ſelbſt aber ift er noch 
immer derſelbe — B, und muß e8 auch) jeyn, eben damit ein Proceß 
möglich jey. Die erjte, natürliche Bewegung des Bewußtſeyns, ſowie 
es die Wirkung der höheren Potenz empfindet, ift alfo ſich ihr zu wider- 
jeßen, ihr die Anerkennung — nicht als jeyenden, aber — als Gott 
zu verjagen, alſo dem erſten Gott noch ebenfo als den ausjchlieklichen 


* 


266 

zu behaupten, wie er früher ausſchließlich jeyend war. Dennoch aber 
kann es die Wirkung der höheren Potenz nicht ganz abweifen, B ift ihm 
alfo nicht mehr bloß B, jondern ftetS auf gewiſſe Weife auch A, d. h. 
geiftig. Dadurch aber, daß der Gott der au ſich ungeiftige aber mit 
Geiftigfeit angethane ift, ift er zugleich der concrete. Dieß ift ein neuer 
Begriff. Denn der Gott des vorhergehenden Moments war nod) der 
Ihlechthin allgemeine und jo wenig conceret, als 3. B. das reine Feuer 
etwas Concretes iſt; er war der Gott, von dem fi) das Bewußtſeyn 
fein Bildniß noch Gleichniß machen konnte; aber eben diefer zuvor all- 
gemeine Gott verwandelt fi jest im Bewußtſeyn zunächft in einen 
concreten. Denn das Concrete fällt eben nur in den Uebergang. Gleich— 
wie nämlich der Gott, der reines B ift, nicht ein concreter war, eben- 
jowentg würde der Gott, der wieder veine Potenz oder reines A wäre, 
der conerete jeyn. Das Concrete ift B, das zugleich A ift, mit Einem 
Wort das Gezweite. Der Ausgangspunkt alfo des Proceſſes ift der 
Gott, der reines B ift, das Ende des Procefjes ift das völlig über- 
wundene B, das erft im dieſer Ueberwindung wieder das wahrhaft Gott- 
jegende ift. Denn nur durch Ueberwindung des Ungottes kann für das 
einmal geftörte und zertrennte Bewußtfeyn der wahre Gott wieder ver- 
mittelt werden. Aber zwifchen dieſen zwei Endpunkten Liegen nothwendig 
Momente in der Mitte, Die wir unterfcheiden müffen, um dadurch zu 
einer vorläufigen Ueberficht des ganzen, won nun an unaufhaltjam bis 
im jein Ende fortjehreitenden, mythologifchen Procefjes zu gelangen. 

Der erfte Moment alſo wird nothwendig derjenige jeyn, wo die 
Geiftigfeit, welche dem realen Princip, dem B angemuthet wird, nur 
eben noch als Anmuthung ericheint, d. h. wo dieſes noch mächtig 
genug ift, um diefe ihm angemuthete Geiftigfeit immer wieder in Aeußer— 
lichkeit oder in Materie zu verfehren und gleichſam zu erfticen. In der 
Natur ftellt fi) jener Moment dar durd) die erfte Erjcheinung des 
Körperlichen. Das Körperliche ift nicht mehr die reine Materie, welde 
ohne alle Spur von Geiftigkeit ift, und wenn wir überhaupt drei Mo- 
mente unterfcheiden fönnen: 1) das pofitive Princip der Materie, das 
ſich noch als geiftiges, übernatürliches behaupten will (dieſes Moment 


267 





war im reinen Zabismus gejegt); 2) daſſelbe pofitive Princip der Materie, 
inwiefern es der höhern, relativ- geiftigen Potenz ſich untergeoronet, ſich 
gegen diefe, obwohl nody immer bloß relativ materialifirt hat (Diefer 
Moment war in der Mythologie durdy die Urania bezeichnet) ; 3) daſſelbe 
pofitive Princip der Materie, inwiefern es ſchon von der höheren geiftigen 
Gewalt zum Theil in feine Potentialität zurückgeſetzt, Schon geiftig afficirt 
ift, — wenn wir alfo überhaupt diefe drei Momente unterjcheiven, jo ift 
das Körperliche erft das Dritte. Das Körperliche ſteht daher, wenn wir 
auf das Fortfchreiten des Procefjes im Ganzen fehen, ſchon höher, als 
das pofitive Princip der Materie in feiner reinen, noch durch feinen 
Gegenſatz gefränften und eingejchränften Kealität. Alles am Kürper- 
(then, was nicht bloßes blindes Seyn, reine Materie ift, alles, was 
als Form, als Begriff erfcheint, ift [chen das Werk jener anderen Po— 
tenz, von der wir jagen, daß fie zwar nicht jelbjt der Berftand, ber 
vovg, der Geift ſey — denn fie ift, wie gezeigt, ein nicht wollend oder 
frei, alſo blindlings Wirfendeg — wohl aber: fie jey. das Bewirkende, 
das Hervorbringende des Berftandes, B wird zum Berftande. Sie 
fönnen hieraus im Borbeigehen zugleich abnehmen, wie leer, lediglich 
formell und eigentlich nichtsfagend jene Beſtimmung ift, nach welcher 
die Natur überhaupt nur als Form der Aeuferlichkeit, des Andersjeyns 
gedacht wird. Mit dem Andersſeyn allein ift die Natur nicht zu er- 
klären. Das Princip der Anderheit, das andere Selbft, wäre unfer B, 
das aber, folang es noch vein pofitiv oder aud) in der bloßen Mög— 
lichfeit ift überwunden zu werden, noch nicht wirklich Natur ift, ſondern 
die bloße VBorausjegung der Natur. Was wir wirklich Natur nennen 
fönnen, liegt nicht auf dem Wege des erften Herausgehens, fondern 
ihon auf dem Wege der Wiederummendung, der Wiedervergeiftigung. 
Alles Körperliche ift in der That Schon ein vergeiftigtes, ein verinner— 
Lichtes Miaterielles. Ber dem Körperlichen fpricht man fchon von einem 
Inneren. Unter dieſem Inneren kann man doc) aber nicht das bloß re— 
lativ oder zufällig Innerliche, was ich durch mechaniſche Theilung zu 
einem Aeußeren machen fann, verftehen. Das wahre Innere des Kör— 
perlichen iſt ein Geiftiges, Umnfichtbares, aber zur fichtbaren Erſcheinung 


268 

des Körperlichen Mitwirfendes, — Der erſte Begriff des Körperlichen ift, 
ein Zufammenhaltendes zu jeyn. Da tft alfo ein Subjeft und ein 
Objekt ; jenes (— der Kantiſchen Attraktion) die durch A? gefette Ne- 
gation, dieſes — der Kantiſchen Erpanfionsfraft der Materie. Aber 
das Körperliche ift in jedem Punft Subjeft und Objekt in diefem Sinn, 
Anztehendes und Angezogenes; die wahre Cohärenz ift demnach ſelbſt 
nicht ein Förperlicher, fondern ein rein geiftiger Zufammenhang. Die 
wahre Cohärenz tft eigentlich Concreſcenz, aber nicht von felbft fehon 
förperlichen Theilen oder Moleculen, fondern von geiftigen Potenzen 
(geiftig nämlich als Gegenfat des ſchon Concreten genommen). Das, 
was man insgemein Cohärenz nennt, ſollte man nur Zerreißbarkeit 
nennen. Dieſe äußere Zerreißung, in welcher nur das ſchon Concrete, 
das bloße Produkt, getrennt wird, ohne daß es in den getrennten 
Theilen ſelbſt ein anderes würde, dieſe bloß äußere Zerreißung iſt ſelbſt 
nur möglich gemacht und iſt Die Folge von jener innern Unzerreiß— 
barfeit oder Untrennbarkeit. Könnte man Leib und Seel, Materte und 
Form, Fünnte man jene unförperlichen Botenzen ſcheiden, jo würde die 
Erſcheinung des Körperlichen ſelbſt aufgehoben. 

In dem mi ſthologiſchen Proceß alſo ift der gegenmärtige Moment 
derjenige, wo dem Bewußtſeyn zuerft überhaupt concrete, körper— 
liche Götter entftehen. Dieſe förperlichen Götter bilden einen großen 
Abftand oder Abfall gegen die frühern, noch immer als unkörperlich 
betrachteten Götter, wie and) in den Elementen noch immer das allge- 
meine und unförperliche Seyn verehrt wird. Das Geftirn ift identiſch, 
überall ſich felbft gleih. Da ift feine Mannichfaltigfeit. Hier aber 
entfteht zuerft wirkliche, d. 5. ungleiche und ungleichartige Bielheit. 
Wir treten heraus aus der erften Dede des noch müßten und leeven 
Seyns. Freie Mannichfaltigfeit erfcheint an der Stelle, wo zuvor nur 
todte Einförmigfeit war. Solang das in allem Seyende nur Eines 
it (lautres 4), läßt ſich nur ein abftraft Vieles denken. Wenn aber 
wei find, die fi) um das Seyn gleichſam ftreiten oder im das Seyn 
ſich theilen, dann erft ift wirkliche Vielheit. Denn jedes Verhältniß 
zwiſchen zwei ftreitenden Potenzen oder Principien ift feiner Natur nad) 


269 





ein, alfo unendlich, Ungleihes, ein unendlicher Verfchiedenheit Fähiges, 
alfo ein Unbegrenztes, ein ameıoöv Te im platonifchen Sinn des 
Worts. Die fimultane Vielheit, die hier entfteht, ift alfo auch ſchon 
eine ungleichartige, mannichfaltige Vielheit, und ‚der herrichende Gott 
diefes Moments wird alfo ſchon nicht mehr der Gott des Himmels — 
des überall Einen und gleihförmigen Seyns — fondern ſchon der Gott 
der förperlichen und verjchtedenartigen Welt jeyn. Aber das rein Kör— 
perliche tft jelbjt Doch nur Uebergang. Die Abficht des jest eingeleiteten 
Procefjes ift, jenes Princip des Bewußtſeyns, das in ihm gegen die 
urjprüngliche Beſtimmung wirfend geworden ift und dadurd die ur- 
ſprüngliche Einheit des Bewußtſeyns aufgehoben hat, eben dieſes Princip 
zur Gripivation, d. h. zum Aufgeben feines Seyns, zu bringen, nicht 
zum Aufgeben des Seyns überhaupt, jondern nur dieſes ihm nicht zu= 
ftehenden Seyns; nicht daß es gar nichts, fondern vielmehr daß es in 
diefev Erſpiration, in dieſem nicht ſelbſt Seyn das Setzende jenes 
Höheren jey, den allein gebührt, zu jeyn, des As, des Geiftes als 
jolhen. Wir müſſen daher, um den Proceß bis zu Ende zu verftehen, 
die Dritte Potenz in Betracht ziehen. 

Die erſte aljo, jenes aus ſich ſelbſt herausgegangene, außer ſich 
geſetzte, inſofern blinde Princip = B foll dur den Procek ſich felbft 
zurüdgegeben, in ſich jelbft zurüdgeführt, wieder zum Urftand des Ganzen 
werden. Der in ji, jelbft zurückgeführte Urftand aber ift der Verſtand, 
jedoch der gewordene Verſtand. B ift alſo auch Princip des Ver— 
ſtandes, aber des Verſtandes bloß in der Möglichkeit. Zum wirk— 
lichen Verſtand wird es nur durch die Wirkung der zweiten Potenz. 
Der ganze folgende Proceß iſt alſo für das blinde Princip, für B, der 
Uebergang von der Blindheit "und Verſtandloſigkeit zum Verſtand; 
jo ſtellt ſich dieſer Proceß in der Natur dar, umd fo wird er aud in 
der Mythologie fi) darftellen. Jenes unleugbare Mittlere von Ver— 
ftand und völliger Blindheit, das wir nicht etwa bloß in ver Natur 
der Thiere wahrnehmen, deren blinde Handlungen zum Theil verftän- 
digen und befonnenen ähnlich ericheinen — aber nicht erft in diefer, 
ſchon in der jogenannten todten Natur, mitten in der Blindheit derfelben 


270 

finden‘ wir in der Configuration der unorganifchen Körper, z. B. dev 
ſtereometriſch regelmäßigen Kryftallifation, einen offenbaren Aborud des 
Berftandes. — Diefe unleugbare Identität des BVerftändigen und des 
Berftandlofen, die wir auch ſchon in den vein förperlichen Naturbingen 
antreffen, mühte den rohen Materialiften ebenfo wie den leeren Idea— 
(iften zur Verzweiflung bringen. Wenn das in der Materie Seyende 
ein abfolut verftandlofes ift, wie die Idealiſten jagen, wenn es nicht 
menigftens ein des BVerftandes Fähiges, zum Verſtand werden Künnen- 
des ift, wie läßt ſich jener vecht eigentlich mit dem Weſen der Materie 
vermachfene Berftand, der ſchon in der Bildung unorganifcher Körper 
fich zeigt, wie läßt ſich aber vollends jene offenbare und unleugbare 
Zweckmäßigkeit in den organifchen Bildungen begreifen ? Niemand fann 
fid) überreden, daß diefes Gepräge von Verftand den Dingen bloß 
äußerlich aufgedrückt ſey. Der Werfmeifter kann hier ſchlechterdings 
nicht außer ſeinem Werke gedacht werden, er kann ſich nicht wie ein 
bloßer Künſtler verhalten, der einem an ſich verſtandloſen Stoff bloß 
äußerlich ein Gepräge des Verſtandes aufdrückt; der Werkmeiſter muß 
hier als unzertrennlich von ſeinem Werke, als ihm ſelbſt einwohnend 
und mit ihm eins gedacht werden. Dieſer, alles von innen, aus dem 
Innern der Materie, hervorbildende Werkmeiſter kann nicht die äußere 
demiurgiſche Potenz (unſer A?) ſeyn, denn dieſe kann für ſich nichts 
bilden, — nichts bilden, wozu ſie ſich nicht jenes inneren Princips ſelbſt 
als Werkzeugs bediente. Aber, ſagt man, dieſes Princip iſt ein blindes, 
beſinnungsloſes. Freilich für ſich iſt es ein blindes und verſtandloſes, 
doch nicht ſchlechthin, nicht ſo, daß es nicht zum Verſtand werden könnte, 
zwar nicht von ſich ſelbſt, aber durch jene andere, von ihm unabhängige, 
beziehungsweiſe äußere Potenz. 

Sich ſelbſt überlaſſen, würde alſo dieſes blinde Princip auch immer 
in ſeiner Blindheit beharren, und daher nichts Beſtimmtes hervorbringen. 
Allein es iſt eben nicht ſich ſelbſt überlaſſen, ſondern den Wirkungen 
jener höhern Potenz ausgeſetzt (obnoxium). In dieſem Zuſtand alſo 
iſt es beſtändigen Erleuchtungen unterworfen, die ihm von der andern, 
relativ auf es ſelbſt äußeren und von ihm unabhängigen Potenz kommen. 


271 

Ich nenne den Zuftand, in den es durch dieſe verſetzt wird, einen Zu— 
ſtand von Erleuchtung. Indem es von der höheren Potenz in ſich ſelbſt, 
in ſein Weſen zurückgebracht wird, iſt ihm gleichſam die Freiheit ge— 
geben, ſein blindes Seyn aufzugeben, indem es aber zu ſeiner Blindheit 
zurückkehrt, kann es die an ihm hervorgebrachte Wirkung der andern 
Potenz doch nicht abſolut aufheben. Es kann fie nur gleichſam in Ma— 
terie ertödteu; es zeigt ſich auf dieſe Art als bloß werkzeuglicher, das 
Verſtändige nicht ſelbſt wollender, ſondern vielmehr nicht wollender, 
alſo das Verſtändige auch nur nichtwollend, als bloßes Werkzeug her— 
vorbringender, ausdrückender und ausführender Verſtand. Ich glaube 
nicht, daß dieſer Begriff eines werkzeuglichen Verſtandes weder je erklärt 
worden iſt, noch erklärt werden kann, als durch dieſes Verhältniß. 
Dieſer bloß werkzeugliche Verſtand, den wir in der ganzen Natur wahr— 
nehmen, läßt ſich nur erklären aus dem Verhältniß des urſprünglich 
blinden, in der Materie wirkenden Princips zu einer höheren, es augen— 
blicklich gleichſam erleuchtenden Potenz, der es ſich jedoch noch immer 
widerſetzt, ſo daß der Verſtand, den es in ſeinen Bildungen andeutet, 
obwohl er aus ihm ſelbſt kommt, nnd inſofern ein den Dingen ein- 
wohnender, immanenter Verſtand zu feyn feheint, Doc) zugleich als ein 
ihm fremder erjcheint. 

Wenden wir alfo diefes auf den nächften Moment des mythologifchen 
Procefjes an, fo wird er der ſeyn, wo das blinde Princip noch jo das 
Uebergewicht behauptet, daß es den Berftand gleichſam bloß leidet 
und fi) gegen die ihm angemuthete Geiftigfeit unwillig verhält. Wir 
werden den Gott diefes Moments, der alfo an die Stelle von Uranos 
getreten, und der jchon al8 der Gott der concreten förperlichen Natur 
erjcheint, aber die dritte Potenz, den Geift, noch ausſchließt und abjolut 
zurücjtößt, in den Religionen der Phönikier, Kananiter und aller 
mit, dieſen verwandter Völker nachweifen, 

Diefem Moment wird ein zweiter folgen, wo Geiftigfeit und Ma— 
terie zur gleichen Macht, zur Aequipollenz gelangt, alſo in offnem Kampfe 
begriffen find. Hier werden jchon einzelne Blige felbft jener höchften 
Potenz, die der Geift ſelbſt ift, die Nacht des Bewußtſeyns leuchtend 


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272 — 
| WW _ e 

durchbrechen, aber von diefer auch beftändig wieder verſchlungen werden. 
Können wir den vorhergehenden Moment mehr den unorganiſchen 
Schöpfungen der Natur gleichſtellen, ſo wird dieſer Moment des my⸗ 
thologiſchen Bewußtſeyns wohl am eheſten mit der — aber 
vormenſchlichen Schöpfung ſich vergleichen laſſen. In dieſen Moment 
fällt die ügyptiſche und die indiſche Mythologie, die, ſowie jede 
befondere Mythologie, hier nur als Momente der allgemeinen Entwicklung 
in Betracht kommen können. 

Endlich wird der letzte Moment folgen, wo der Sieg entſchieden 
und jenes auf der Ungeiſtigkeit beſtehende Princip als ſolches eben im 
Zergehen, das Bewußtſeyn in der völligen Wiederaufrichtung zum Geiſt 
begriffen iſt. Ich ſage begriffen iſt; denn wo jenes Prineip ſchon 
völlig zur reinen Potentialität zurückgebracht iſt, da hat der mytholo— 
giſche Proceß ein Ende. Das Ende ſelbſt kann nur das ſeyn, wo das 
Bewußtſeyn eben in der letzten Entbindung und Befreiung begriffen iſt, 
wo es ſo eben ganz vollends zum Setzenden jenes Höchſten wird, das 
der Geiſt ſelbſt iſt; wo es alſo zwar noch nicht dieſes Höchſte ſelbſt, 
aber doch nur ſolche Götter ſetzt, die eben ſo viele Formen oder Ge— 
ſtalten dieſes Höchſten, des A° find. Dieſes alſo iſt der Entſtehungs— 
moment jener rein geiſtigen Götter, die wir nur in der griechiſchen 
Mythologie finden. Dieſer Moment kann dem Moment der Menſch- 
werdung (der Entſtehung des Menſchen) in. der Natur — 
werden. 

Dieſes alſo wäre eine allgemeine Verzeichnung des Wegs, den wir 
nun noch zu durchwandeln haben (die freilich die Fehler jeder ſolchen 
allgemeinen Berzeichnung hat). An dem einen. Ende des Wegs liegt 
jener rein reale Polytheismus, den wir in den Sternen- und Elemen- 
targöttern erkennen, ‚an dem. andern der rein ideale und geiftige Poly- 
theismus der griechiſchen Mythologie und dieſer erſcheint zum voraus 
als Ziel. Aber zwifchen viefem Ziel eines rein ideellen oder geiftigen 
Bolytheismus und dem Punkt, bei dem wir jett noch ftehen, liegt ein 
langer Weg, bezeichnet durch die fehmerzlichften Kämpfe, ja vielleicht 
die tiefften Wehen ver Menjchheit, die fie auf ihrem ganzen langen Weg 


erfahren. Denn an dem materiellen Gott, der Ihm untergegangen und 
der an feiner Statt einen immateriellen und geiftigen zurüdlaffen fol, 
haftet dem Bewuftfeyn vorerſt der Gott überhaupt, und es befürchtet, 
mit dem materiellen überhaupt den Gott zu verlieren, und nicht ohne 
fich jelbjt innerlich verwundet und zerrifjen -zu fühlen, ja nicht ohne 
jelbft dur eine Art von Tod und Sterben hindurchzugehen, kann es 
von dem wmateriellen Gott befreit werden. Diefe Umwandlung, welche 
der materielle Gott erfährt, der, jelbit ins Unfichtbare zurüdtretend, an 
feiner Statt einen immateriellen zurüdläßt, diefer Untergang des mate- 
riellen Gottes wurde gleichfam als das frühefte Leid empfunden. Hero- 
dotos erwähnt des Klaggefangs, der im Phönikien, Cypern und noch 
an vielen andern Orten nur unter verjchiedenen Benennungen gefungen 
wurde, den auch die Hellenen unter dem Namen Linos fangen; eben | 
diejer Klaggeſang, jagt Herodotos !, ſey der ältefte der Aegyptier, er habe 
dem vor der Zeit untergegangenen Uranos gegolten, aus tem die |pätere 
Gabel den eingebornen Sohn ihres erjten Königs, d. H. ihres erften 
Gottes, gemacht habe. Durd) die ganze Mythologie geht diefe Wehflage 
um ben verlorenen Gott, die Sehnſucht folgt ihm und ruft ihn zurüd, 
der in die Ferne gezogen ift, an dag Ende der Erde, wie es in Hefiods 
Tag und Werf heit, weit ab von dem gegenwärtigen unfrommen Men- 
ſchengeſchlecht?, wie e8 bei eben dieſem heißt; fliehend vor dem vom 
Aufgang kommenden Gott nad) dem Niedergang, jagt ein Grieche von 
dem verdrängten Kronos?. Cicero jagt von demjelben: Saturnus, quem 
vulgo maxime colunt ad Oceidentem* — dahin alſo entfloh der 
Gott vor dem frevelnden, jpateren Gejchledhte, an den Weftrand ber 
Erde, wo er auf fiherem meerumflofjenen Eilande noch ein frömmteres 
Menjchengejchleht mit janftem Scepter weidet und ihnen das golvene 
Zeitalter bejtändig erhält, deſſen das Menſchengeſchlecht im Ganzen langt 
verluftig geworden. 


FLib. IE 9. 

* Zeug rnlodı valov — eig zeioara yannz — dıy avdooran. 

* &v roig 700g &önepav roxoıg dvsrndasrnv Badilsıav. Diod. Sie. III, 61. 
4 


De Natura Deorum III, 17. 
Schelling, ſämmtl. Werfe. 2. Abth. 11. 18 


So ſchwer fiel e8 der Meufchheit, won dem unmittelbar im Seyn 
jeyenden Gott fi) zu trennen, zum Unfichtbaren ſich wieder zu erheben. 
Ja durch den tiefjten Irrthum des Bewußtſeyns erſchien ihm dieſe Er- 
hebung felbft als Frevel. Wie num in diefem Zuftand des Bewußtſeyns 
jener vergeiftigende Gott angefehen worden, der den realen, materiellen 
aus dem Bewußtſeyn mehr und mehr vertrieb, laßt fih won felbft er: 
mefjen, jedoch um dieſes Verhältnig genauer einzufehen, ift Folgendes in 
Erwägung zu ziehen. | 

Solange zwifchen der Gottheit der erften Zeit und dem folgenden 
Gott jenes vuhige und gewifjermaßen gleichgültige Verhältniß befteht, 
welches wir zwijchen der Urania und dem Dionyfos der Arabier gefehen 
haben, verjchmelzen fie für das Bewußtſeyn zu Einem Gott; fie find 
nicht zwei Götter, fondern die zwei Seiten derfelben gemeinfamen Gott— 
heit. Urania ift der Gott von der mütterlichen, Dionyſos der Gott 
von der männlichen Seite. Aber die Abficht der ganzen Bewegung er- 
(aubt nicht, daß dieſes ruhige Zufammenfeyn beftehe. Die Abficht- ift 
vielmehr, Daß jenes erfte Princip des Bewußtſeyns eine Ummandlung 
erfahre, in abfolute Innerlichkeit, reine Wefentlichkeit zurückgebracht werde. 
Sobald nun aber diefe Umwandlung wirklich beginnt, d. h. ſowie bie 
beiden Gottheiten nicht nur überhaupt in ein thätiges Verhältniß, ſondern 
in jenes thätige Verhältniß zueinander treten, das durch das Geſetz 
und die Abficht der ganzen Bewegung gefordert ift, find fie dem Be— 
wußtſeyn nicht mehr Ein Gott, wie Herodotos von den Arabiern fagt: 
fie halten ven Dionyſos und die Urania allein für Gott (nicht Götter); 
jondern nun find es getrennte, ſich entgegenftehende, ja feindliche Potenzen. 
Das erfte Prineip nun kann zwar die andere Potenz nicht mehr von 
dem Seyn ausſchließen, nachdem es ihr einmal ftattgegeben; wohl 
aber kann es fie von der Gottheit ausſchließen, und injofern erſcheint 
alſo die zweite Potenz nicht als Gott ſeyend. — Es kann dieſer andere, 
dem Bewußtſeyn noch neue, den erſten beſtreitende nicht als ein ſub— 
ſtantiell anderer Gott angeſehen werden; denn die Gottheit iſt noch 
immer nur bei dem erſten, bei dieſem allein iſt die Macht, Materie 
der Gottheit; um als Gott zu erſcheinen, muß dieſer ihm erſt Antheil 


geben an der Gottheit, d. h. er muß ihm Kaum geben, fich felbft da— 
gegen als eine bloße Potenz der Gottheit erkennen. Dieß will er aber 
nicht, noch ift er nicht eine bloße Potenz der Gottheit, ſondern der 
allgemeine Gott felbft, und der feine Gottheit mit feinem andern ge- 
mein machen will. Der zweite Gott erfcheint alfo vorerft als ausge- 
ſchloſſen won der Gottheit; er muß den erften, den allgemeinen Gott 
erft in eine Botenz der Gottheit, in A', überwinden. So lang erjcheint 
der zweite Gott, nicht als ſchon Gott feyend, fondern als der fid 
die Gottheit erjt zu erwerben hat durd) Ueberwindung des erften, 
nicht daß er dieſem das Gottſeyn, fondern nur das ausjchliegliche Gott- 
ſeyn beftreite, Diejer zweite und dem Bewußtſeyn neue Gott ift nicht 
an ſich und von fid) Gott, wie der erfte; er ift überhaupt nur actu 
Gott, nämlich der nur durd die That Gott ſeyn könnende. Aber 
noch hat er fich nicht durch Ueberwindung des erſten verwirflicht, und 
als Gott kann ihn das Bewußtſeyn erft anerfennen, wenn er jenen 
der ausſchließlichen Gottheit wirklich entfegt hat. Er fann daher dem 
Bewußtſeyn, da nicht als Gott, nur als ein unbegreiflihes Mittelwefen 
zwiichen Menſch und Gott, als ein Damon erjcheinen (fo erſchien auch 
Dionyſos wirklich zuerft, zum Gott wurde er nur am Ende des Pro- 
cejjes). Ferner, dem mit dem erften Gott behafteten Bewußtfeyn fann 
auch die Anwandlung des andern Gottes nur als eine zufällige 
erjheinen. Darum kann ſich aud das, was im ihm felbft jenem 
andern Gott zugethan, verwandt ift, nur als etwas bloß Zufälliges, 
d. h. Menfchliches, darftellen, und es wird ihm daher der Gott zuerft 
‚auch nur als Sohn eines fterblichen Princips erjcheinen. Dionyſos er- 
ſcheint in der griehiichen Miythologie als Sohn einer Sterblichen, der 
Semele, aber am Ende der Mythologie find beide für göttlich) erfannt, 
fowohl der Gott als das Setende des Gottes im Bewußtſeyn — „nun 
aber find beide Gott”, wie es in. der Theogonie heißt ‘. 

Die erfte natürliche Bewegung des Bewußtſeyns ift alfo, ſich ihm 


' Kaduein d’aoa oi Zeut)n tere paidıuov viov — 
'Adtavarov Jonen vov Ö'auporeooı Jeoi Eıdıv. 


Theog. v. 940. 942. 


276 


entgegen zu ſetzen, ihm die Anerkennung als Gott zu verfagen. Auf 
jeden Fall ift er der Gott, den das Bewußtſeyn bloß leidet, zu dem es 
fein freies Verhältniß hat, der in die Ruhe des erjten Bewußtſeyns nur 
wie ein Gericht, wie ein Schiefal tritt, und nicht als der befreiende, 
der er ift, fondern nur als der verwirrende, ſchonungslos aufregende, 
darum Wahnfinn verhängende erfcheint. Wir müffen, um dieſes Ge- 
fühl zu begreifen, uns erinnern, daß der Gott nicht etwa frei ift- zu 
wirken oder nicht zu wirken, fondern feiner Natur nad wirfend, ber 
nur wirkende, alfo der blindlings wirkende if. Wem ift nicht jene 
Borftellung des Dionyſos als in Wahnfinn verjegenden Gottes von 
den erften Zeiten an bis herab zu jenen fpäteren Nachklängen bei römifcheu 
Dichtern, 3. B. dem Horaziſchen: Quo me rapis Bacche, befannt ? 
Die Wirfung des Gottes ift für das Bewußtſeyn eine verhängnigmäßige, 
der es fich nicht entziehen kann; injofern wird es ihn als eine höhere, 
obwohl ihm unbegreiflihe Macht anjehen, aber als Gegenſatz deſſen, 
der dem Bewußtſeyn ausfhlieglih ausſchließlicher Gott ift; es wird 
ihn nicht al8 Gott, jondern eher als Feind des Gottes empfinden, der 
darum auch won dem ausſchließlichen Gott gleichfam feinpfelig behandelt 
wird — (Homer) —. Zunächſt finden wir ihn demgemäß als leidenden 
Gott im phönififchen Herakles. Weil er vom Bewußtfeyn nur am Ende 
als Gott begriffen wird, fo wird er dieſem al8 Gott jünger erjcheinen, 
denn alle aus der Subftanz des erften bervorgegangenen materiellen 
Götter; und da im Bewußtſeyn zunächft nur diefe hervortreten, ber 
Gott aber, der fie erzeugt, als Urſache jelbft außer dem Bewußt— 
jeyn bleibt, fo wird Er, der erft im völlig überwundenen Bewußtjehn 
fi) als Gott verwirklicht, überhaupt als der jüngfte der Götter er- 
ſcheinen, jünger nicht nur als Kronos, fondern als Zeus und als alle 
mit diefem zugleich gefegten Götter ; nicht daß er wirklich ſpäter als 
diefe wäre, denn ohne ihn, ohne feine Wirfung wäre das Bewußtſeyn 
überhaupt nicht bis zu diefen geiftigeren Göttern fortgefchritten, ſondern 
weil er erft, nachdem fein Werk gethan ift, d. h. erit am Ende bes 
ganzen mythologiſchen Proceffes, als göttliche Perſönlichkeit erfannt wird. 
Deßhalb ift Dionyſos z. B. auch in der Theogonie des Heſiodos nicht 


277 

da zu ſuchen, wo wir zuerft feiner erwähnen, ſondern viel jpäter, 
nachdem alle andern Götter ſchon da find; denn die Göttergefchichte 
fann ihn als Gott erft aufnehmen, nachdem er fich für das mythologiſche 
Bewußtſeyn als Gott verwirklicht hat. Verwirflicht aber ift er für Diefes 
exit, nachdem jenes an dem blinden, realen Gott haftende Princip über- 
wunden, alſo erjt nachdem der vollfommen geiftige, ideale Polytheismus 
geſetzt ift. 

Ausdrücklich jagt Herodotos felbft von den Pelasgern, d. h. von 
ven Urhellenen, daß fie den Namen diefes Gottes fpäter als ven 
aller andern Götter erfahren haben '; er felbft gibt dem Gott Fein 
höheres Alter, als etwa 1060 Jahre vor feiner Zeit? — werfteht fid), 
dem als Gott erfannten Gott. 

Die erfte Erfheinung oder Wirfung des Gottes im Bewußtſeyn, 
und die erjte Anerfennung des Gottes als ſolchen muß alſo wohl unter- 
jchieden werden. Denn nicht jogleih, wie er im Bewußtſeyn überhaupt 
fi) anfündigt oder zu wirfen anfängt, kann er auch als. Gott erfannt, 
und als ein dem Bewußtſeyn bis jetzt unbegreifliches Weſen auch nicht 
ſogleich benanut werden. Dieſe Unterſcheidung iſt ſehr wichtig. Um 
dieſen Punkt dreht ſich das jedem Verſtehenden widerwärtige Gezänke, 
das J. H. Voß gegen Creuzer erhoben hat. Freilich, wenn Creuzer 
die ganze Dionyſoslehre als gleichzeitig mit den Anfängen der Mytholo— 
gie, ja ſogar als das Urjprüngliche darjtellt, ſo irrt er unftreitig. 
Als Gott ift Dionyfos fehr neu. Wenn aber von der andern Seite 
Voß, deſſen wiſſenſchaftlicher Ideenkreis ohngefähr von demfelben Um- 
fang war wie der Kreis ſeiner großentheils häuslich-ökonomiſchen Poeſie, 
und der ſich demgemäß auch die griechiſche Mythologie auf ſolche Weiſe 
zurecht gemacht hatte, wenn Voß auch in dem Dionyſos urſprünglich 
nur einen ſolchen rein wirthſchaftlichen Gott erkennen will, deſſen höhere 
Bedeutung erſt ſpäter Orphiker, Myſtiker, Pfaffen u. ſ. w. eingeſchwärzt 
haben, ſo iſt zwar nicht zu leugnen, daß ſolche Worte auf eine gewiſſe 
Wirkung berechnet ſind; denn es gibt zu jeder Zeit eine Menge 

' Lib. I, 52. 
2 11,145, 


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Menfchen, denen, fo viel fie ſich auf ihre Aufklärung zu gut thun, dennoch) 
ein fo ſchwaches Bewußtſeyn derjelben und eine fo ängftliche Beſorgniß 
für ihren Verſtand beiwohnt, daß fie ein Schauer überläuft, wenn fie 
nur von Pfaffen, Objeuranten u. vergl. hören. Mit folden, auf 
populäre Wirkung berechneten Ausprüden läßt fi) aber die Wiffenfchaft 
nicht abjchreden. Denn nicht einmal das Gefchichtliche der Unterfuchung 
hat Voß vollftändig uud freu aufgefaßt. Wenn Herodotoß, defjen un- 
gemeine Genauigkeit durch alle neueren Forſchungen nur immer mehr 
beftätigt wird, in dem ägyptiſchen Dfivis das dem griechifchen Dio- 
nyſos verwandte und Ähnliche Weſen fieht, und fo freilich in Dionyſos 
etwas Höheres erfennt, was Voß myſtiſch nennt: jo heißt er im dieſer 
Beziehung den Herodotos einen von ägyptiſchen Pfaffen beſchwatzten 
Fabler. Das wirft auf ſchwache Geifter. Zum Unglüd vergaß der 
eifrige Mann, daß Herodotos diefelbe Uebereinſtimmung auc zwiſchen 
dem arabifchen und griechiichen Dionyfos fand. Herodotos hätte alfo 
müſſen auch von arabiſchen Pfaffen befhwast jeyn, von denen freilich 
nicht jo viel zu erzählen war, als won den ägyptiſchen. Aber nicht die 
Arabier fagten dem Herodotos, „der Gott, den fie ihm als das Kind 
der Göttin bezeichneten (denn Ulodalt ift fein Name), ſey Dionyſos“ — 
was wußten Die Arabier von dem griechifchen Dionyſos. Es ift das 
eigne Urtheil des Gefchichtfchreibers, der damit nur die Identität des 
Begriffs austrüden wollte und dieſe Identität des Begriffs zu er- 
fennen unftveitig viel gefchiekter und competenter war als ein neuerer. 
Herodotos fah im Dionyfos etwas Allgemeines, wozu fi) Voß nie er- 
heben fonnte, der in ihm nur etwas Zufälliges und auf Griechenland 
Beichranftes zu fehen vermochte. Dem Herodotos war Dionyfos- ein 
allgemeiner und ewiger Begriff fehon darum, weil er ihm ein Gott 
war. Denn daß das Altertum in Stande gewefen, wie Voß und 
Gleichdenkende fich vorftellen, zufällige Fiktionen, in denen nichts All- 
gemeines und Nothwendiges war, für Götter zu halten und als Güt- 
ter zu verehren, dieſe Meinung braucht nicht erſt in ihrer Ungereimt- 
heit nachgemiefen zu werden. Als einen Gott konnte das Alterthum 
nur einen ewigen und nothwendigen Begriff erfennen. Nur darum 


279 

aljo, weil ihm Dionyfos ein Gott uud ſchon deßhalb ein ewiger, 
nicht zufälliger Begriff, nur darum erfennt ihn auch Herodotos, wo 
er ihn findet, und Diejenigen, welche die Allgemeinheit und Ewigkeit in 
diefent Begriff nicht erfennen, weil ihnen überhaupt nur für Zufällig 
feiten Stun gegeben tft, ſprechen Daher im Grunde gar nicht von Dio- 
nyſos, und man kann mit ihnen nicht ftreiten, weil e8 ihnen am Be— 
griff der Sache fehlt, über die. geftritten wird. 

Der Sinn meiner Meirung ift einfach diefer: Die Potenz, welche 
Urſache der hier anfangenden Bewegung tft, ift der Gott, den die 
Hellenen als Dionyfos, der Semele Sohn, zu welcher Zeit immer, er- 
fannt und benannt haben. Uns iſt es nicht um diefen Namen zu thun, 
noch wollen wir in Anfehung des Namens irgend etwas feftfegen, nenne 
man den Gott, von dem wir reden, wie man wolle, meinetwegen 
X oder H, oder was hier näher läge, mit der von und gewählten Be— | 
zeichnung A?; fein Dafeyn und feine Wirfung in der Mythologie 
von dem Augenblide an, da das Bewußtſeyn fich für die mythologiſche 
Bewegung entjcheidet, alfo jeit jenem Vorgang, den wir als Kata— 
bole bezeichnet haben, iſt unverkennbar und von uns aus der Natur 
und dem nothwendigen Verlauf des Mythologie erzeugenden Proceſſes 
ſelbſt dargethan. Nicht dem Namen, aber dem Begriff, dem Weſen 
nach iſt Dionyſos ſo alt als die Urania, ſo alt als der Hervor— 
gang des Menſchengeſchlechts aus dem Zabismus. Ich habe ſeine 
Gegenwart, ſein, wenn auch noch unerkanntes und unausgeſprochenes 
Daſeyn (denn in jeder Zeit und in jedem Zeitalter wirkt ein noch 
unerkanntes Princip, Das erſt dann erkannt wird, wenn es ſeine 
Wirkung gethan hat; jede Urſache wird erſt in der vollendeten Wir— 
kung erkannt, daher der Schein, als käme die Wirkung vor der 
Urſache), alſo das erſte, wenn auch noch unerkannte Daſeyn des Dio— 
nyſos habe ich ſchon nachgewieſen im jenen, nach ſittlichen Begriffen ver— 
werflichen Gebrauch der Babylonier, und den Arabiern ſchreibt Herodo— 
tos ausdrücklich zwar nicht den Namen (denn Ulodalt iſt kein Name) 
aber doch den Begriff des Gottes zu. Was übrigens den helleniſchen 
Dionyſos betrifft, ſo iſt aus dem Vorgetragenen ſchon von ſelbſt 


einleuchtend, daß die vollſtändige Einficht 'n die geſammte Dionyfoslehre 
nicht eher möglich ift als am Ende diefer Entwicklung. 

Diefe Bemerkung, daß Dionyfos erſt am Ende ganz herwortrete, 
gibt eine Berlaffung, noch eines andern fonveränen Mittels zu erwäh— 
nen, welches Voß und einige ihm gleich) Denkende zu befigen glauben, 
um jede höhere, und befonders philoſophiſche, Entwidlung der Mytho— 
logie in der That unmöglich zu machen. Das Mittel befteht nämlich 
in der Vorſchrift, die fie ihren Schülern einfhärfen: um den hiftorifchen 
Gang der Mythologie gründlich zu erforfchen und kennen zu lernen, 
müffe man genau der chronologiſchen Ordnung der Schriftiteller folgen, 
man müffe alfo 3. B. von Homer anfangen und in den urfprünglichen 
Begriff des Dionyjos nichts aufnehmen als was ber Homer fid) finde; 
was man erjt bei jpätern Schriftitellern antreffe, müfje dann fogleid) 
unbejehen als Zufag, Erweiterung, ja fogar als allmählich hinzugefügte 
Berfälfhung m. |. w. angefehen werden. Diefer Grundfag, an dem 
Bor, wie gefagt, ein unbefiegliches Mittel, feine hausbadene Anficht 
aufrecht zu erhalten, zu befigen wähnte, der Grundſatz zeigt ſchon, 
daß es dem, der ihn aufftellt, an jedem Begriff eines organiſchen Ent- 
ftehens, eines andern Entjtehens als durd Aggregation gebricht. . Denn 
in allem, was ein organifch Werdendes ift, wird ver Anfang erft in 
dem Ende Far. Dem Kind kann man nicht anfehen, was der Mann 
jeyn wird, der Newton in den Windeln zeigte nicht den fchöpferifchen 
Geift, der der Mathematik und Aftronomie eine andere Geftalt geben 
jollte. Dem größten Pflanzenfenner will ich eine Handvoll verfchieden- 
artiger Samen vorlegen, ev wird wahrfcheinlich Die wenigften zu bes 
nennen wifjen; jeder neugefundene Same einer Pflanze ift ein unbe 
fannter, von dem niemand weiß was er ift; der Botaniker, der ihn 
wifjenfchaftlich beftimmen will, muß den Samen fäen und den Blüthen- 
ftand erwarten, dann kann er die Pflanze beftimmen und darnach auch 
ven Samen benennen. Ueberall alfo legt hier das Spätere Zeugniß 
über die Bedeutung des Früheren ab, Wenn man aber jogar von 
einem organifchen Werden in dem Sinn, in welchem wir e8 annehmen, 
bei der Mythologie ganz abjehen, wenn man ihr Werden und ihre 


281 


Entftehung nur nad) der Analogie anderer heutzutag ſich ereignender Dinge 
beurtheilen wollte, jo müßte der, welcher jenen Grundfaß annimmt, die 
täglich und unmittelbar nach den Begebenheiten erfcheinende Zeitung für 
ewige Zeiten als die vorzüglichite Duelle der Gefchichte und aller ge- 
ſchichtlichen Beurtheilung betrachten, indeß jedermann weiß, daß gerade 
von den bedeutendſten Begebenheiten oft erft eine ziemlich entfernte Zur 
funft die eigentlichen Umftände und befonders die wahren Urfachen auf- 
deckt, jo daß alfo gerade hier ver fpätere Schriftfteller mehr Licht gibt, 
als der gleichzeitige. 

Un num aber auf den Dionyfos zurücdzufehren, der feine verhäng- 
nigmäßige Wirfung aud jest noch infofern auszuüben fcheint, als 
mande von ihm nicht reden können, ohne fofort gewiffermafßen ver- 
rückt zu werden, fo. habe ich hinlänglich gezeigt, daß der Gott felbft - 
alter ift als fein Name, feine Wirkung früher als feine Aner- 
feunung als Gott, feine Gegenwart im Bewußtſeyn älter als feine 
vollfommene Berwirklihung in demſelben. 

Denn nicht ohne Widerfprucd wurde er angenommen, ben heftig- 
ften Widerfpruch fand feine erfte Wirkung. Nein menſchlich genom— 
men, fonnte der Gott zuerft nur als Verderber des vein Großen, Ein- 
fahen und Einartigen ericheinen; jo mußte er einem Bewußtſeyn ſich 
darftellen, im deſſen Schägung nichts groß war, als die unendliche 
Wüfte, das öde Meer, und der ebenfo öde Weltraum, der Aether, ven 
Homer mit denfelben Beiwort des unfruchtbaren belegt. Die Erſchei— 
nungen, welche die erſte Wirkung des Dionyſos hervorbringt, wieder- 
holen fih in jedem Zeitalter, wo ein einfach großartiger Zuftand unter- 
geht, um einer neuen, geiftig entwickelteren Zeit Platz zu machen. Wer 
fühlt ſich nicht durch den Anblick der Rieſengebirge einer früheren Ur— 
welt gehoben, aber eben dieſe Gebirge mußten erniedrigt werden, 
Gebirgen von geringerer Erhöhung Platz machen, endlich in flaches 
Land ſich verlieren, wenn organiſches, wenn endlich wahrhaft menſch— 
liches Leben in ſeiner ganzen Fülle ſich verbreiten ſollte. Nicht anders 
iſt es in der Geſchichte. Die Felſenburgen unſerer deutſchen Vorzeit 
erfüllen uns noch in ihren Trümmern mit der Vorſtellung einer kühnen 


282 





Zeit, eines in manchem Betracht Fräftigeru und herrlichern Gefchlechts, 
als das, unter dem wir jett wandeln, aber dieſelbe Zeit, die fie zer- 
brach, verbreitete den frieplichen Aderbau, erhob den Wohlftand und 
das Gewerbe der Städte, und ein freier Bürgerftand konnte fich gleich- 
fam nur auf ihren Trümmern erheben. Wenn in unferer Zeit manche 
gar nicht begreifen fünnen, daß von jenen vealen Berhältniffen, die einſt 
das menfchliche Leben zufammenbhielten und feftigten, eins nach dem an— 
bern fich auflöfe, daß von jenem großen Syſtem einer vielfach abge- 
ftumpften und geglieverten, aber eben darum unter mehrere getheilten 
Herrlichkeit auch die legten Spuren zu verſchwinden anfangen, und alles 
darauf abgefehen ſcheine, die menfchliche Gefellfchaft, wie viele klagen, in 
Atome aufzulöfen, fo müffen wir uns erinnern, daß e8 hier, im einer 
ganz andern Sphäre, doc ebenfo wie im Zabismus nur eine reale 
Einheit ift, die zu Grunde geht, und daß diefe nur zu Grunde gebt, 
um einer höhern, ivealen Einheit Pla zu machen. Denn ohne Ein- 
heit kann die Menfchheit und die menſchliche Geſellſchaft nicht beftehen, 
und der Untergang der einen ift alfo nur die Anfündigung einer andern 
und nothwendig höheren. Wenn man fagt, daß ein großer Theil der 
populärften Beftrebungen unferer Zeit ‘ nur dazu zu dienen fcheint, den 
Staat immer mehr zu verflachen und feinen majeftätifchen Gang in 
lauter einzelne und Heine Bewegungen aufzulöfen, jo fann der mahr- 
haft Unterrichtete in diefer Auflöfung des großartigen Zuftandes doch 
nur das Wehen jenes höheren Geiftes erfennen, für den der Staat mit 
feinem ganzen Apparat, für den die Neiche diefer Welt felbft nur Ge— 
vüfte find, die er nad) Umftänden und nad) feinen Zweden aufbaut, 
verfegt oder gar-abbricht, weil fie in der That nicht um ihrer felbft 
willen errichtet find, fondern um ein ganz anderes Reich zu erbauen, 
das ewig währet und nicht zerftört werben kann. In der Hinaufjegung 
des Staats über alles zeigt fi) der Servilismus der Gefinnung. Im 
Intereſſe der Freiheit liegt e8 nicht, wie man insgemein fid) worftellt, 
daß die herrfchende Gewalt des Staats, die vielmehr nicht fräftig 
genug ſeyn Fann, fondern daß der Staat felbjt bejchränft werbe. 
' geichrieben im Jahre 1842, D. 9. 


283 

Gewöhnlich indeß wiſſen weder Die Zerftörer, die ſich dabei als bloße 
Werkzeuge verhalten, noch die über die Zerftörung Wehklagenden, mas 
der Gott will, von dem Herodotos jagt, daß er niemand erlaubt 
Großes zu wollen als nur ſich felbft. Uebrigens kann die wahre Zu- 
funft nur das gemeinjchaftliche Erzeugniß zugleich) der zerftörenden und 
der erhaltenden Macht jeyn. Eben darum find es nicht die ſchwachen, 
von jedem Evangelium einer neuen Zeit zuerft ergriffenen, fondern nur 
vie ftarfen, zugleid an der Vergangenheit fefthaltenden Geifter, welche 
die wahre Zukunft zu erfchaffen vermögen. Auch in dem dur Dieny- 
108 angefangenen Proceß war es der Natur nad) nur das widerftrebende 
Bewußtſeyn, und gejchichtlic waren e8, wie aus Erzählungen, welche 
in der Geſchichte des Dionyſos felbft vorfommen, erhellt, gerade die 
Widerftrebenden, durch welche die Sache des Gottes zulett in ihr 
wahres Ende hinausgeführt wurde, 

Und da ich einmal an vie Analogie erinnert habe, welche ver 
Gang der mythologiſchen Entwidlung mit dem jeder großen Entwidlung 
hat, jo will ich nod die Bemerkung hinzufügen, daß es nicht ſchwer 
jeyn würde, jelbjt in der Gefchichte der griechiihen Philoſophie, deren 
Anfänge, weil man fie ganz zufällig zu nehmen pflegt, wenig zufam- 
menzuhangen fcheinen, einen ähnlichen Weg der Entwicklung nachzu— 
weifen. Denn z. B. jene erſten griechifchen Philoſophen, die man mit 
den Namen der Phyfifer zu belegen pflegt, was waren fie anders als 
Berehrer der Elemente, in denen fie das Allgemeine der Dinge zu er- 
fennen glaubten, Gegner des Anthropomorphismus in der VBolfsreligien? 
Noch der tieffinnige Geift des Herafleitos ift ganz mit dem ewig leben- 
den, welterzeugenden Feuer beihäftigt, das er in abwechſelnden Paufen 
entbrennen und wieder erlöfchen läßt. In den Eleaten zieht fich ver 
zöouog in den Begriff des abjtraften Allgemeinen oder Einen zu— 
jammen, Aber eben damit war der Gegenfag der Vielheit gefchärft, 
man fünnte den Zeno den Kronos der Philofophie nennen, weil er alles 
in der Unbeweglichfeit zu erhalten ftrebte und gegen die Vielheit kämpfte. 
Bis zu den Eleaten geht die vordionyfiihe Zeit der griechiſchen Philo— 
Sophie. — Der Zerftörer jener Einheit, der Mann, deſſen Erfcheinung 


284 


in der Gefchichte des philofophirenden Geiftes feine geringere Epoche 
macht, als welche in der mythologifchen Bewegung die Erjcheinung des 
Dionyfos gemacht hat, der wahre Dionylos der Philofophie ift jener 
dämoniſche Mann — Sofrates, der zuerjt jene unbewegliche Einheit 
der Elentifer durch eine nicht felbft wieder dahin zurücführende, alſo 
nur Scheinbare, fondern durch eine wirkliche, zerftörende Dialeftif auf- 
Löste, freiem Leben, freier unterſchiedener Mannichfaltigkeit Raum fchaffte, 
Sofrates, von dem em Alter jagt, daß er den Schwulſt der Eleaten 
und der nur von ihnen herfommenden Sophiften ſcherzend und ſpielend 
wie einen Rauch hinwegblies, von dem gerühmt wurde,» daß er zulegt 
die Philofophie won dem Himmel auf die Erde geführt habe, gewiß in 
feinem andern Sinn, als in welchem durd die Wirfung des Gottes, 
dem er gleicht, die Neligion aus den Negionen des Himmels, des 
Unendlichen und überall Einen, auf die Erde, ven Schauplag des man— 
nichfaltigen und wechjelnden Lebens herabgefommen war, der die Philo- 
jophie aus der Enge des bloß fubftantiellen und unfreien Wiſſens in 
die Weite und Freiheit des verftändigen, unterſcheidenden, auseinander- 
jeßenden Wiſſens führte, in welchem allein eim Ariftoteles möglich war. 
Auch die mythologiſche Darftelungsart des Sofrates möchte aber eine 
andere Beurtheilung zulaffen, als jene platte und gemeine, die nichts 
darin fieht, als den Mangel der Wiffenfhaft. Das Große im Sofra- 
tes iſt das Bewußtſeyn, daß gewiſſe Tragen feine rationelle, fondern 
bloß geihichtliche Antworten zulaffen. Er hätte wohl gern an die Stelle 
von Mythen die wirkliche Gefchichte gefest, hätten ihm dazu nicht große 
und nothwendige Data gefehlt, in deren Befig wir gefommen find. 
Man kann weder des Dionyſos noch tes Sofrates gedenken, 
ohne am den Ariftophanes erinnert zu werben. Gewiß erſchien aud) 
Dionyſos zuerft in verachteter und den ſtolzen Geiſtern ärgerlicher Ge— 
ftalt, wovon die Spur noch in Ariftophanes ift. Auch Sofrates, wie 
das Todesurtheil beweist, durch das er, wie Hermann fagt, der Ge— 
meinſchaft an dem legten Schickſal der Propheten und Gerechten ge- 
würdigt wurde, unerfannt von feinem Volk, nur von wenigen feiner 
Schüler begriffen, konnte feiner Zeit nur als ein fie verwirrender Geift 


285 


ericheinen, und Ariftophanes zürnt ihm nur, weil er in ihm bie ganze 
Macht jenes Princips erkennt, vermöge deſſen in Folge eines unauf- 
haltfamen Uebergangs eben damals auch in der Entwidlung des Staats 
und des öffentlichen Lebens das Einfache und Einartige der alten Zeit 
einer mehr und mehr verwirrenden Mannichfaltigfeit und Pielartigfeit 
der Verhältniſſe Pla machen mußte. 

Die nächften und unmittelbaren Urſachen des mythologiſchen Pro— 
ceffes find nun dargelegt. Mit dem Gegenfaß zwifchen dem realen und 
dem relativ geiftigen, idealen Gott find die Principien gegeben, und jo 
fann ich denn gleich zum erften Moment des eigentlichen Procefies 
fortgehen. | 


Dierzehnte Vorlefung. 


Um nun alfo den Proceß darzuftellen, won welchem vorauszufegen 
ift, daß er uns vollends bis zur letzten Entſtehung der Mythologie, 
des vollftändigen Polytheismus, führen werde, jo bemerfe ih, daß im 
Anfang dieſes Procefjes das Bewußtſeyn zwar den Anmuthungen des 
geiftigen Gottes, nachdem es ihm einmal ftattgegeben, nicht fich völlig 
zu entziehen vermag, aber gleihwohl ftarf genug ift feine Wirfung 
immer wieder zu vernichten, indem es auf dem blinden Seyn befteht, 
an welchem der Gott ihn haftet, den e8 allein bis jest anerfennt und 
mit dem es gleichſam verwachſen ift. In diefem Moment ift alfo zwar 
ein beftändiges Aufbliden von Geiftigfeit, aber das ftetS wieder von 
der Nacht des blinden Seyns verfchlungen wird. Zwar der reale Gott 
erfcheint injofern nicht mehr als ausjchlieglih, als eine andere Potenz 
ihm entgegenfteht, aber dieſes Afftcirtfeyn durch die geiftige Potenz dient 
nur dazu, die frühere Ruhe und Gleichgültigfeit zum aktiven Gegen- 
fat, zum Kampf gegen alles Geiftige zu entflammen. Der Gott, defjen 
Anhauch das Bewußtſeyn empfindet, ſchließt e8 nur auf, damit es fid) 
wieder verichließe. Es iſt alfo hier ein fteter Wechjel von Entſtehen 
und Bergehen des Geiftigen, das zwar immer gefegt, aber immer aud) 
wieder in Materialität verjenft wird. 

Diefer Widerſpruch des gleichſam abwechjelnd ſich öffnenden und 
verjchließenden Bewußtſeyns ift in der Mythologie ausgedrückt durd die 
Geftalt des Gottes, den ich mit dem hellenifchen Namen Kronos belegen 
will, ohne darum hier ſchon von dem Kronos der Hellenen zu veben. 


In der hellenifhen Mythologie kommt Kronos al8 eine bloße Vergan- 
genheit vor, hier aber ift die Nede won dem Kronos, fofern er nod) 
ein im Bewußtſeyn der Menfchheit Iebender und gegenmwärtiger Gott 
ift. Denn eben diefer Gott, der für die Hellenen nur vergangener, 
war für die früheren Völker ein gegenwärtiger. Die legte Mytholo— 
gie, die vollendete Göttergefchichte, nimmt die Götterlehren früherer 
Bölfer ale Momente ihrer Vergangenheit auf. In der That zeigt fich 
der jenem Begriff entjprechende Gott als der Gott aller der Bölfer, 
Die in der erften Anwandlung des geiftigen Polytheismus begriffen find 
und nad) den früher genannten zuerft im Licht der Geſchichte hervortreten, 
wie ich vorläufig Schon bemerkt, der Phönikier und aller diefen 
parallelen Bölfer. Urania ift nur Uebergang, Kronos aber ift wie: 
der Uranos in anderer, ſchon geiftigerer Geftalt. Kronos ift der Sub- 
ftanz nad) nicht ein anderer Gott als fein Vorgänger Uranos; nur ift 
Uranos nod der ſchlechthin allgemeine, Kronos dagegen der Gott, der 
ſchon einen Gegenjag hat, der Gott einer beftimmten Zeit, der ſchon 
geiftig afficirte Uranos, und infofern ein concreter Gott. 

In diefer ganzen Yortichreitung tft der reale Gott immer nur 
einer und derſelbe, ver bloß verfchiedene Formen annimmt, Kronos 
und Uranos — beide find derſelbe reale Gott nur im verfchtedenen 
Momenten betrachtet. In beiden herrſcht vaffelbe, der Bewegung wider- 
ftrebende Princip, das von Succeſſion nichts wifjen will, das höchſtens 
fimultanen Polytheismus zulaffen würde. Aber eben dieſes der Suc- 
cefjion widerſtrebende Princip ift im Gegenfag mit dem relativen geifti= 
gen Gott jelbft genöthigt, etwas. Succefjives anzunehmen, von Geftalt 
zu Geſtalt fortzugehen, und wenn wir ung früher begnügen konnten, 
fimultanen und juccefjiven Polytheismus nur überhaupt zu unterfcheiden !, 
jo müfjen wir jest ſelbſt einen juccefjiven Polytheisinus in zweierlei 
Verſtand unterfcheiden, den bloß relativ over beziehungsweise und ven 
abjolut ſucceſſiven. 

Der bloß beztehungsweife fuccefjtve entfteht durch die Succefjion 
der Formen, durdy welche im Conflift mit dem geiftigen Gott der reale, 

©. Einl. in die Phil. der Myth., S. 120 ff. 


288 

indem er der Ummendung fich widerſetzt, hindurchgeht — alſo z. B. Ura— 
nos und Pronos find die erften Glieder diefes bloß beziehungsmeife 
ſucceſſiven Polytheismus. Das abjolut Succefjive findet dagegen zwiſchen 
den drei verurfachenden Potenzen ftatt, von denen der reale Gott -in 
allen feinen Formen nur die eine iſt. Diefen abſolut ſucceſſiven Poly- 
theismus kennen aber bis jegt nur wir, noch ift ev nicht in das Be— 
wußtſeyn felbft eingetreten, denn das dem realen Gott gleichjan ver» 
haftete Bewußtfeyn weist den Gott der zweiten Potenz, den idealen Gott 
noch als ſolchen ab, oder. hält ihn won fi, alſo von der Gottheit, aus 
geſchloſſen. — Kronos ift alfo immer noch auf gemiffe Weiſe Uranog, 
nur der dem andern, dem idealen Gott, jett ſchon reell zugängliche, 
wiewohl feineswegs ihm ſchon überwundene Gott. Auch in Kronos wal- 
tet noch das Geſtirn, daher auch er felbft noch — nur als ſchon con- 
ereterer Himmelsfönig zum Theil betrachtet wird. Der Gott der erften 
Zeit, des reinen Zabismus, tft der ohne Widerſpruch blind ſeyende Gott, 
Kronos aber iſt eben dieſer Gott, ſchon zum Theil in ſich, ins Innere 
zurückgewendet, der aber deßhalb um nichts weniger, ſondern jetzt nur mit 
Willen und Befinnung im blinden Seyn ſich behauptet und eiferfüchtig 
über diefem Seyn hält. Kronos ift alfo gegen Uranos der geiftigere Gott, 
aber der dieſes gleichfam nur benugt, um mit Geift und Willen das zu 
jeyn, mas zuvor er von Natur war, ber im blinden Seyn beftehende Gott. 

Der von uns bisher aufgeftellte allgemeine Begriff des Kronos 
ergibt fich folgereht aus dem nothwendigen Gang der Yortjchreitung 
jelbft; um jedoch zu zeigen, daß er auch andern Philofophen fi) ebenfo 
dargeftellt habe, will ich einige Stellen won Neuplatonifern anführen, 
von denen Creuzer, wie mir fcheint, nicht Duchgängig den vechten Ge⸗ 
brauch gemacht hat. In Bezug auf das Beiwort &yavkountns; 
das Homeros dem Kronos gibt, fagt einer derfelben: „Homer führt ven 
Kronos ein, nicht als nad) außen wirfend, noch, einen Laut von ſich 
gebend, ſondern als der wahrhaft &yxvAounzng ift, der in ſich zurüd- 
gefrümmte, zurückgewendete“!. Kronos wird alfo,. wenn wir den Sinn 


Creuzer, Symbolik und Mythologie I, S. 523. Anm, 307: og eig davrov 
ömeörpapue&vov (Proclus in Platonis Cratyl.). 


280 


auf unfere. Weiſe ausprüden, durch dieſes Beiwort vorgeftellt, als ver 
die ihm gegebene Yunerlichfeit nur benugt, um ficd) tiefer zu verfchlieken, 
der nur egoiftifch mit fich ſelbſt befchäftigt ıft, eben darum äußerlich 
als ſtumm erfcheint, in ſich gefehrt (vie die Hauptfache) und gleichſam 
brütend über Anfchlägen, wie er die Wirfung des dem freien, dem ge- 
jchiedenen Yeben holven Gottes zu nichte mache. ben dieſes Nebenbe: 
griffs wegen von hinterlijtigen Gedanken, der in dem Wert &yxvRo- 
wjtng liegt, kann ich nicht, wie Creuzer, dieſes Beiwort beziehen auf 
den noch völlig verborgenen, abjoluten Gott — dieſer kommt in der 
Theogonie überhaupt nicht vor, und wenn er vorfäme, jo müßte er im 
Anfang der Theogonie ftehen, nicht gleihfam in der Mitte. — Creuzer 
icheint das in fi) Zurücdgemwendete des Kronos von dent Zuftand der 
Ueberlegung und Beichliegung zu verftehen, in welchem Gott wor der 
Schöpfung gedacht wird, ch’ er ſich entſchließt in Diefer hevvorzutreten. 
Allein Diefe einem ganz andern Ideenkreis angehörtgen Begriffe dürfen 
nicht in die Miythologie eingemifcht werden, und, wie gejagt, der Neben- 
begriff von Berjchlagenheit, ver in dem Wort liegt, erlaubt nicht, ihm 
eine jo hohe Deutung zu geben. Kronos ift nicht, wie Ereuzer ihn er— 
klärt, der noch überhaupt nicht offenbare Gott, im Gegentheil, er tft 
der ſchon äußerliche Gott, ja fogar der, welcher eben darauf jinnt, 
fih in der Aeuferlichkeit zu behaupten und die Anmuthung der Gettig- 
keit abzuweiſen. Diejes Sinnen ift gerade das Hinzugefommene bei 
ihm. Wollte man, wie Creuzer, in jedem bejondern Gott, in jeder 
ſchon conereten Geftalt immer nur wieder den abjoluten Gott jehen, 
jo würde damit alles Succefjive in der Miythologie aufgehoben, und 
bald wüßte man in ihr nichts mehr zu unterfcheiven. Auch hier 
gilt es: die Erflärung oder der richtige Begriff jedes Gottes iſt 
beftimmt und gegeben durch die Stelle, die er in der Aufeinander- 
folge einnimmt; außer diefer Stelle wäre Kronos nicht Kronos, er 
ift nur der Gott diefer Stelle, nicht außer ihr — alſo nicht der abjo- 
Inte Gott. | 

Eine andere, unjerer Erklärung, d. h. der Stelle, die Kronos in 


unjerer Entwidlung einnimmt, zufagende Deutung iſt folgende: „Ex 
Schelling, fämmtl. Werke. 2. Abth. 11. 19 


290 

ſey die Verftanplofigfeit und die Verdunklung des Berftandes“ '. Darin 
ift das Nichtige, daß er nicht völlige Abwefenheit des Verſtandes iſt, 
fondern nur Verdunklung des Berftandes. Denn er kann den Auf- 
ſchluß in Geiftigkeit nicht völlig hindern, aber der Verſtand erjcheint in 
ihm nur, um alsbald wieder verdunfelt zu werden. In jedem Augen- 
blick erſcheint Innerlichfeit, aber die fogleich wieder in Aenferlichfeit 
umgewendet und vernichtet wird. Der Verftand kann das blinde Princip 
noch nicht bewältigen, fondern umgekehrt, die blinde Gewalt nimmt den 
Berftand gefangen, verftarrt und verfteinert ihn, wie 3. B. die ftereome- 
trifch regelmäßige Bildung der Kryftalle ein jold) verftarrter und ver—⸗ 
fteinerter Verſtand ift. Gerade an diefem Punft alfo ift die größte Ver— 
dunklung des Geiftigen, denn einestheils ift das Seyn nicht mehr in 
feiner Lauterfeit, alfo auch nicht mehr in feiner relativen Geiftigfeit — 
denn das reine Seyn, als ein noch nicht concretes, ift verhältnigmäßig 
gegen diefes noch immer ein geiftigeg —, aber hier ift Schon nicht mehr 
das reine, fondern bereit$ das durch einen Gegenftand afficirte uud 
gleichjam gefränfte Seyn gefegt, ohne daß doch anderntheild der Ver— 
ftand feiner Meifter würde, moraus folgt, daß weder das eine nod) 
das andere in feiner Lauterkeit, ſondern beide gegenfeitig Durcheinander 
getrübt und verfinftert erfcheinen, von welcher DBerfinfterung dann eben 
die fürperliche Materie die äußere Erſcheinung ift. 

Platon läßt den Sofrates in Scherz Kronos von x6006, die Sätti- 
gung, ableiten; G. Hermann leitet ihn ernfthafter von gouivor ab, 
was doch urfprünglidy nur erfüllen beveutet. Die Römer erklären Sa- 
turnus von satur, doc natürlid) nur annis. Wollte man auf dieſe 
Ableitung irgend einen Werth legen, jo fünnte man jagen: Kronos be- 
deutet den von Materie gefättigten, d. h. in der chemifchen Bedeutung 
dieſes Worts den von der Materie gebundenen Geift, und umgekehrt die 
von dem Berftand gefättigte, alfo ihrerfeitS gebundene Materie. 

Noch eine andere, ebenfall8 won Creuzer angeführte Erklärung ift, 
Kronos jey der den mooyeroıouög, d. h. die Anlage, den Entwurf 


' Ebenfalls bei Ereuzer Th. II, ©. 439: # dvondia nal r rov vod duvdo- 
Aodıc. 


291 





der fünftigen Schöpfung in fih fehende Gott. Allerdings enthält 
Kronos ſchon Die ganze Fünftige Götterfchöpfung, wenigſtens ver 
Anlage nah, in fi — und diefe fünftige Göttervielheit ift als ganz 
parallel zu betrachten mit der freien Vielheit und Mannidjfaltigfeit in 
der Natur —. Auch nad) der griechiichen Theogonie ift Kronos der 
Gott, in welchem die fünftigen geiftigen Götter ſchon gleichſam auf- 
blifen, aber fie erjcheinen eben nur in ihm, ohne aus ihm herauszu- 
treten, fie erfcheinen ohne wirkliche Scheidung, Auseinanderfegung, noch 
eingefchloffen und verborgen in der dunkeln Geburtsftätte, in dem bloß 
noch in fich freifenden, nicht wirflich gebarenden Gotte. Der geiftige 
Polytheismus ift etwas in ihm nur nod) fi) Zeigendes, aber nur um 
fo ftarrer verjchließt er fih, daß dieſe Geburten nicht das Licht jehen. 

Nicht nur aber, daß er innerlich die Bielheit unterdrückt, fest er 
ſich auch außerlih der Mehrheit entgegen, d. h. er ift ver, melcher 
feinen Gott außer ſich dulvet, im Alleinbefig des realen Seyns ſich be- 
hauptet, das er mit feinem andern theilen will. Denn der geiftige Gott 
iſt zugelafjen, aber nur als Potenz, das wirflihe Seyn ift noch 
ausschließlich bei dem Erjten, der ihm feinen Theil an demfelben gibt. 
In Kronos bejteht infofern nod immer formeller Monotheismus, und 
wenn man fid bloß an den einzelnen Moment halten will, ohne die 
Succeſſion in Betracht zu ziehen, iſt es leicht, wie früher beſonders 
Theologen, die in den mythologiſchen Borftellungen überall nur ent- 
ftellte, geoffenbarte Wahrheiten ſehen wollten, aud) in Kronos die Idee 
des höchſten Gottes noch zu entdecken. Für feine Zeit war er freilich 
der höchſte und auf gewiſſe Weife auch der einzige. Denn eben ver 
Alleinbefit des Seyns macht die Einzigfeit aus. Aus diefer von Kro— 
n08 noch immer behaupteten Einzigfeit folgt auch, daß er feinen Gott 
nad) fih und außer fi) dulden, ſich nicht in die Succeffion, in das 
Gejhichtlihe ergeben will, ſowie aus diefem Widerftreben gegen alle 
Succefjion erhellt, in welchem Sinn Kronos Gott der Zeit ift und in 
welchem nicht. Nämlich er ift nicht etwa, mie dieß insgemein verftan- 
den wird, Gott der wirflihen Zeit, im Gegentheil ift er der die 
wirfliche Zeit verneinende, der für fich die Zeit abweiſende, wicht in 


292 

die Zeit wollende. Indem er felbft nicht zur Bergangenheit werden 
will, hindert er den Aufſchluß in Vergangenheit, Gegenwart und Zu- 
funft, d. h. in wirkliche Zeit; denn wirfliche Zeit ift nur geſetzt, 
indem uno eodemque actu Bergangenheit, Gegenwart und Zufunft 
gefegt werden, d. h. wirflihe Zeit gibt es erft, indem irgend etwas 
als Vergangenheit gejegt wird; er ift alfo nur der Gott der noch nicht 
aufgefchlofjenen wirklichen, nur der Gott der chaotiſchen, ihre Ge— 
burten immer wieder verjchlingenden Zeitz ex ift die mit der Zeit aller- 
dings ringende, aber ſie nicht zugebende Simultaneität, aljo keineswegs 
die fortichreitende, alles hervorbringende, aber aud) wierer verſchlingende 
Zeit. Wenn Kronos feine eignen Geburten verfchlingt, fo ift dieß nicht 
in dem Sinn, in welchem die Zeit eben das, mas fie hervorgebracht 
hatte, auch wieder zurüdnimmt. Denn Kronos bringt nichts hervor, 
verjehlingt jeine Kinder Schon in der Geburt, noch eh’ fie das Licht er- 
bliden, nicht wie die Zeit, welche ihre Kinder gebiert, eriftiren laßt, 
und dann wieder verfchlingt. Daher ich gelegenheitlich zum voraus be- 
merfen will, daß jenes DVerfchlingen der eignen. Kinder, welches wir 
jpäter in der griechifchen Theogonie antreffen werden, etwas weit Be— 
ftimmteres ift, als nur ein zufällig gewählter Ausdruck, um jene allge- 
meine Eigenfchaft der Zeit auszudrüden, daß fie nämlich immerfort ge— 
biert und das Geborene wieder zurüdnimmt. Aus der Idee Des Zeit- 
gottes glaubte man auch erklären zu können, daß Kronos in alten Bild— 
werfen mit einer Sichel vorgeftellt ift; dieſe fol nämlich die alles 
mähende Sichel der Zeit ſeyn. So noch Buttmann. Ich erinnere mic) 
wohl in neueren Allegorien u. f. mr diefe allegorifche Bezeichnung der Zeit 
gejehen zu haben, ob fie aber aud) antik ift, iſt mir nicht befannt. Aber 
alle Wahrfcheinlichkeit fpricht dafür, daß jene Sichel nur das befannte 
Werkzeug andeuten fol, mit welchem Kronos ven Vater Uranos ent- 
mannt hat, und die man z. B. auf der Infel Zanfle vorzeigte. 

Noch immer alfo, ‚weil er weder durd äußeren (fucceffiven) nod) 
durdy inneren (fimultanen) Polytheismus bezwungene Einzigfeit ift — 
nod immer ift Kronos Gegenftand einer ftreng an der Einzigfeit haf- 
tenden Berehrung, eines relativen, nıtr auf den ausfchlieglic und info- 


fevn freilich nicht auf den wahrhaft Einen Gott fich beziehenden Mono— 
theismus. ALS jolhen finden wir ihn unter dem Namen eines Him- 
melsföniges (Baal, Moläh) als ven Gott der Kananäer, Phönikier, 
Tyrer, Karthager, deren Mythologie daher ganz dieſem Moment der 
theogoniſchen Bewegung angehört. Darum iſt er aber doch keineswegs 
dem Uranos gleichzuhalten, ſondern ſchon der näher beſtimmte und ein— 
geſchränkte Uranos. Wenn daher der unendliche, alles erfüllende, eben 
darum bildloſe Gott der früheren Zeit ſich in Kronos bereits zur be— 
ſtimmten, individuellen Gottheit zuſammengezogen hat, ſo iſt zu erwarten, 
daß hier das Bewußtſeyn auch ſchon den erſten Schritt wage zu einer 
bildlichen Darſtellung. 

Daß dieß ein großer und bedeutender Schritt iſt, brauche ich nicht 
zu bemerken. Ebenſo natürlich wird es aber ſeyn, daß dieſe Bilder noch 
als höchſt ünförmliche erſcheinen, nicht, wie man dieß insgemein erklärt, 
wegen Rohheit der Kunſt, ſondern weil das Bewußtſeyn ſich ſträubt 
den Gott in menſchenähnliche Geſtalt einzuſchließen, und im Gegentheil 
den Gott um ſo weniger zu entweihen glaubt, je entfernter von allem 
Menſchlichen ſie ihn darſtellt, je weniger ſie ihm menſchenähnliche Züge 
mittheilt. Damit ſtimmt alles überein, was wir von den Bildern des 
Moläch unter den Kananäern, Karthagern und ſelbſt ven Israeliten 
wiſſen. Aelter aber als alle Bilder, und noch der früheſten Zeit ange— 
hörig, iſt die Verehrung, welche ganz unförmlichen, unorganiſchen und 
beſonders von Menſchenhänden unbearbeiteten Maſſen erzeigt wurde. 
Denn in dem lebloſen Gediegenen, dem rein Maſſenhaften, an welchem 
die Form noch am wenigſten Theil hat oder als zufällig erſcheint und 
auch innerlich das Geiſtige am meiſten getödtet und verfinſtert ſich zeigt, 
in dieſem konnte man am eheſten den in ſich ſelbſt verſchloſſenen, aller 
Geiſtigkeit widerſtrebenden, auf der Materie beſtehenden Gott gegenwärtig 
glauben. Es gehört hieher die ſelbſt in Griechenlands Urzeit den 
kiFoıs Coyoıs, d. h. den unbehauenen und beſonders von Menſchen— 
hand unberührten Steinen, erzeigte Verehrung. Denn wie der dem 
ausschließlichen Gott entgegenftehende, velativ geiftige Gott als Herr 
und ala Freund alles Menſchlichen erſcheint — felbft in dem Namen 


294 
des Dionylos wird ein Kenner des Arabiichen leicht diefe Bedeutung 
entdecken, und ich nehme feinen Anftand, diefe Schon früher gemachte 
Bemerkung zu wiederholen, da e8 nad) Herodotos gewiß ift, daß Dio- 
nyſos zuerft von den Arabtern als befondere Perfünlichkeit unterfchieven 
wurde, wie denn Die andern Namen des Gottes, z. B. Baflareus, 
nad) Pococke ſelbſt der Name Bacchos offenbar arabifchen Urfprungs 
find; doch dieß im Vorbeigehen — auch unabhängig von tiefer Etymolo- 
gie, ift Dienyfos der Herr und Schöpfer des wahrhaft menfchlichen 
Lebens, der dem Menfchen und der Menfchlichfeit holvde. — Da nun 
Kronos zunächft der den Dionyfos ausſchließende Gott ift, fo erfcheint 
er eben darum felbft als der dem Menſchlichen ſich entgegenftellenve 
Gott, und Hinwiederum alles Menfchliche erfcheint als gegen ihn feind- 
lich. Der Menſch als der, in dem jenes Princip zu fterben, zu exſpi— 
viren beftimmt iſt, oder um einen kühnen herafleitifchen Ausdruck zu 
gebrauchen, der Menſch, der den Tod dieſes Gottes (nämlich dieſes 
falfchen Gottes, diefes Ungottes) zu leben beftimmt ift, ver Menſch er— 
ſcheint deßhalb als Feind diefes Gottes, und nur was am weiteften 
von allem Menjchlichen entfernt ift, fcheint noch den verfchlofienen, allem 
gefchiedenen Leben, und jo befonders dem menfchlichen Leben, abholven 
Gott vergegenwärtigen zu fünnen. Dennoch ift diefe Berehrung unförm— 
licher Maſſen, folang fie nod ein wirklicher Moment der theogonifchen 
Bewegung ift, nicht als Fetiſchismus zu bezeichnen. — Dieſes Wort ift 
überhaupt in neuerer Zeit ganz ungebührlicd) ausgedehnt worden. Ur— 
Iprünglicy brachten e8 die Portugiefen, aus der Sprache der Neger am 
Senegal, mit nad) Europa. In der Negerfprache ‘bedeutet Fetisso einen 
Zauberflog. Man follte alfo das Wort Fetiſchismus überhaupt nur 
von der auf unorganiſche Mafjen oder Körper fich bezichenden Berch- 
vung brauchen. Aber bejonders ſeit Des Brofjes, deſſen Schrift sur 
le Culte des Dieux Fetiches ein Hauptbud) über diefe Materie ift 
und das Wort Fetiſchismus erft allgemein verbreitet hat, jeitvem be- 
ſonders wird das Wort Fetiſchismus gegen feinen urjprünglichen Sinn 
viel zu allgemein gebraucht, indem es ſchon Des Brofjes auch auf den 
"Bol. Einl. in die Phil, der Myth., S. 149. 


295 
Thierdienft ausdehnte. Späterhin haben e8 andere nody weiter getrieben, 
und 3. B. aud die Sonne, inwiefern fie göttlich verehrt wurde, einen 
Fetifch genannt, in der neueften Zeit hat man fogar die griechiichen 
Götter für bloße verwandelte Fetiſche, den griechiichen Cultus als einen 
bloß idealiſirten Fetiſchismus zu erklären verſucht, was id) fir nichts 
anderes als eine wahre Barbarei halten kann. Man follte alfo 1) 
diefes Wort überhaupt wieder zurüdführen oder ausjchlieglid anwenden 
auf Die unorganifchen Maſſen erzeigte Verehrung; 2) aber ſollte auch 
in dieſem Sinne das Wort ausſchließlich für jene Stämme oder Völ— 
kerſchaften vorbehalten werden, die gerade bei dieſem Moment des 
theogoniſchen Proceſſes ausgeſchieden wurden, und fortan nicht mehr als 
lebendige Glieder deſſelben zählten, ſondern der Vergangenheit anheim— 
gefallen ſind, wie wir den Fetiſchdienſt als feſte, ſtehen gebliebene 
Form nur unter ſolchen Völkerſchaften finden, die ſeit undenklichen Zeiten 
von der lebendigen Bewegung, in welcher allein die Menſchheit als ſolche 
ſich erhält und fortdauert, vollkommen ausgeſchloſſene, ſchlechthin unge⸗ 
ſchichtliche Vöolker ſind, wie der größte Theil der Negerſtämme, aus 
deren Sprache das Wort genommen iſt, und denen man daher auch 
den Begriff allein laſſen ſollte. Hieraus erhellt denn auch, daß der 
eigentliche Fetiſchismus, d. h. der Fetiſchismus, inwiefern wirklich in 
ihm nur noch der todte Klotz oder der todte Stein oder eine Vogelfeder 
oder Klaue verehrt wird, nicht als ein wirklicher Moment der eigent— 
lichen mythologiſchen Bewegung betrachtet werden kann. Ein mytholo— 
giſcher Moment liegt ihm allerdings zu Grunde, aber in ihm eben 
hat er aufgehört Moment der mythologiſchen Bewegung zu ſeyn. Er 
exiſtirt nur unter jenen Völkern, die bei dieſem Punkt der theogo— 
niſchen Bewegung gleichſam als bloße, fortan nur todte und ſtill— 
ſtehende Produkte ausgeſchieden wurden. In dieſer ganzen Entwicklung 
hat jede Affektion des Bewußtſeyns nur Sinn an ihrer Stelle; ſowie 
dieſe Stelle, dieſer Moment des Bewußtſeyns zurückgelegt iſt, wird ſie 
gleichſam ſinnlos (wie der Stein ſinnlos wird, der in ſeiner Zeit eine 
Bedeutung für die Bewegung hatte, uns jetzt nichts mehr ſagt, uns 
gleichgültig ıft). Es verhält ſich alſo mit dieſer Verwandlung, welche 


296 
einem Moment der theogenifhen Bewegung widerfährt, ſewie er zur 
Vergangenheit wird, nicht anders, als mit den Verwandlungen, die 
wir auch in der großen Entwicklungsgeſchichte der Erde annehmen müffen, 
in der die Geologen eben darum fo vieles nicht erklären können, weil 
fie jedes Gebild, jede Formation als urfprünglid das ſeyend venfen, 
was e8 doch erft wurde, indem es durch eine fortichreitende Entwicklung 
als vergangen gefett wurde. Denn das, was einmal als Vergangenheit 
ausgejchieden ift, wird dadurch ſelbſt ein anderes, und ift nicht daſſelbe, 
was es zuvor war, als e8 noch lebendiges Glied der Fortjchreituug 
war, — eine jehr wejentliche Bemerkung, vie vieles jet Unbegreifliche 
erflärt, die man aber erſt dann anzuwenden wiljen wird, wenn die all- 
aemeinen Geſetze des Werdens und Entjteheus, wie fie in der gegen- 
wärtigen Unterfuhung zwar nirgends ausgefprochen, aber überall auge- 
dentet und in. der Anwendung gezeigt werden, wenn diefe zu allgemeiner 
Anerkennung. werden gelangt feyn. 

In einem ganz andern Sinne gewiß ftand ver Hellene, der den 
kihtoıs Goyoıs eine gewiſſe Verehrung erwies, auf diefer Stufe als 
der eigentliche Fetiſchdiener auf derfelben fteht, der auf ihr ftehen ges 
blieben, aber eben- dadurch von dem lebendigen Proceß ausgeſchieden 
wurde, So blieb auch von dem urfprünglichen geiftigen Zabismus, 
nachdem die theogenische Bewegung einmal diefen Moment verlafjen 
hatte, gleichſam als ein Reſiduum oder caput mortuum die bloße mate— 
vielle Sternenverehrung zurück. Der verwirrente Srrthum ift aber jene 
von der Gefchichte ausgeftoßenen und infofern allerdings ungeſchichtlichen 
Völker, zu denen auch die Fetifchanbeter gehören, diefe ungefchichtlichen 
Bölfer mit den worgefchichtlichen zu verwechfeln. In Folge dieſes Irr— 
thums hat man ſich berechtigt gehalten, den Fetiſchismus eben als das 
Urfprünglichfte anzufehen, wie nicht bloß G. Hermann, fondern vor 
und nad) ihm die bei weitem meiften Erflärer gethan haben. Doch 
wei ich nicht, wodurd in der neueren Zeit- dieſe Hhpothefe zu einer. 
jolden Gewißheit oder Evidenz gelangt ift, die fie berechtigt, neuerdings 
ſogar in eine chriftliche Dogmatif aufgenommen zu werden. Wenn man 
einmal ſolche von allem gefchichtlichen Yeben ausgeſtoßene Nacen, die, 


297 

wie gejagt, nur als todte Reſidua eines frühern, ihnen ſelbſt nicht mehr 
begreiflihen, ja nicht einmal erinnerlihen Proceſſes ſtehen geblieben 
jind, wein man einmal diefe gleichſam zu Mufterbildern der urjprüng: 
lichen Menſchheit erheben will, fo -ift nicht einzufehen, warum man 
nicht gleich noch tiefer herabfteigt, und das Bild der allerfrüheften Re— 
ligion bei jenen Wilden des Laplata- Stromes auffucht, die nad Azara 
gar feine haben, d. h. jchlechterdings nichts, nicht einmal Holz und 
Steine verehren. 

Eine analoge Bemerkung ift hier einzuschalten über den eigentlichen 
Begriff des Götzendienſtes. In dem urſprünglichen, noch lebendigen 
theogoniſchen Bewußtſeyn gibt es keine Götzen. Das Bewußtſeyn meint 
und will in den unwillkürlich ihm entſtehenden Göttern doch eigentlich 
immer nur den lebendigen Gott. Aber ſowie der Moment der erſten 
lebendigen Erzeugung vorüber iſt, und dieſe Bilder nur noch als Er— 
zeugniſſe und Vergangenheit daſtehen, werden ſie zu Götzen. Inwiefern 
jedoch todte Naturformen, in welchen Götter verehrt werden, etwas 
ſchon an ſich Ungeiſtiges ſind, das menſchlich-ſchöne Götterbild des 
Hellenen dagegen, wie es an ſich geiſtig iſt, auch immer wieder neu 
geiſtig aufgefaßt und reproducirt werden kann, inſofern wäre nichts da— 
gegen einzuwenden, wenn man ſagte, alle Götter jener Art ſeyen 
Götzen, die der Hellenen allein ſeyen wahre Götter. 

Ich kann von dieſem Punkte nicht hinweggehen, ohne noch eine 
allgemeine, auch auf ähnliche Fälle anwendbare Bemerkung hinzuzufügen. 

Vergleicht man die auf concrete Naturgegenftände fich beziehende 
Berehrung mit dem urfprünglichen, den reinen Mächten des Himmels ge— 
weihten Dienft, jo erjcheint die Menjchheit in jener als tief gejunfen, 
und diefe Verehrung erſcheint als ohne Vergleich reiner und geiftiger. 
Dennoch, wenn man nicht auf den einzelnen Punkt, fondern auf Die 
ganze Yinte der Fortichreitung fieht, jo liegt diefer Moment des Be— 
wußtſeyns wirflih auf den Punkt des Uebergangs und Fortichreiteng 
insg Höhere, nämlid) in den idealen Polytheismus, der allerdings höher 
jteht, als jener bloß veale des Anfangs. Sie fönnen hieraus die für 
viele Fälle anmwenpbare Kegel entnehmen, daR in einer ftufenweife fort- 


298 


_ 


ichreitenden Bewegung der Anfang einer höheren Stufe gegen das Ende 
einer früheren nothwendig zurüdfteht, d. h. auf feiner Stufe unvoll- 
kommener ift, als das Ende der. vorhergegangenen in feiner Stufe, 
daß infofern fein Fortgang ohne ſcheinbaren Nüdgang, der nur gleid)- 
jam als Anlauf zu betrachten ift, der nöthig ift, um das in der höheren 
Stufe Gewollte zu erreichen. Diefe Bemerkung kann Täufchungen be- 
jeitigen, denen man unterworfen ſeyn könnte im Entwerfen natürlicher 
Syſteme in der Thier- oder Pflanzengefhichte, fie Fann auch zum Troft 
dienen, wenn wir auf einer. höheren Stufe wieder Meinungen over 
Tendenzen hervortreten ſehen, die wir längft befeitigt-glauben mußten, 
die aber doch ihre legte und vollfommene Ueberwindung noch er: 
warten. Es gehört hieher auch die Trage: ob ein ſtetiges oder ein 
durch ſcheinbare Rückgänge unterbrocdhenes Fortſchreiten des —— — 
geſchlechts ſtattfinde. 

Bisher haben wir die Natur des Gottes zu beſtimmen geſucht, 
der den gegenwärtigen Moment des Bewußtſeyus entſpricht. Jetzt un— 
terſuchen wir näher den Zuſtand des Bewußtſeyns ſelbſt, welches in 
dieſer Mitte zwiſchen dem blinden, ganz in das Seyn herausgekehrten 
Gott und dem geiſtigen, deſſen Anhauch es nicht widerſtehen kann, als 
das in ſich ſelbſt irre und zweifelhafte erſcheint, als in die Angſt geſetzt, 
in der es im eigentlichen Sinne nicht aus und nicht ein weiß. Nicht 
aus, denn es kann ſich nicht völlig dem blinden Seyn und der Aeußer— 
lichkeit überlaſſen, weil es den Anmuthungen des andern, des relativ 
geiſtigen Gottes nicht ganz widerſtehen kann; nicht ein, denn es kann 
von dem Seyn, mit dem es ſelbſt und zugleich der Gott ihm verwachſen 
iſt, nicht laſſen, außer unter den ſchmerzlichſten Empfindungen: Es em— 
pfindet die Trennung von dem Gott als eine blutige Zerreißung, die in 
einigen dieſem Moment angehörigen Religionen ſogar durch wirkliche äußer— 
liche Verwundung dargeſtellt wurde. So erzählt das erſte Buch der Kö— 
nige!, daß die Prieſter des Baal, als ihr Gott fie nicht hört, laut 
rufen und fidy rigen mit Mefjern und Pfriemen nad) ihrer Weife, daß 
das Blut darnad) geht. Der Zufag „nady ihrer Weife” zeigt an, daß 

' Kap. 18. 


299 

dieß nicht etwas Zufälliges oder Außerordentliches, fondern ein gewöhn— 
licher Gebraud war. Bon denfelben wird erzählt: Sie hinketen um den 
Altar, den fie dem Baal erbaut hatten. Es ift früher im Allgemeinen 
bemerft und an andern jchlagenden Beifpielen gezeigt worden, wie 
vermöge einer innern Nothwendigfeit das Bewußtſeyn fein Gefühl von 
dem Gott turd Gebärden, Bewegungen und äußere Handlungen, gleich» 
ſam mimiſch, austrüdt, und fo werden wir wohl nicht irren, wenn 
wir jagen, daß auch dieſes Hinfen nicht ohne Bedeutung war; und was 
anders fonnte e8 wohl ausprüden, als: das Gefühl des bereits ein 
jeitig ftatt allfeitig, wie er zuvor war, gewordenen Gottes — einfeitig, 
weil ihm nun ſchon eine andere Potenz entgegen fteht, da er zuvor das 
einzige, das ausſchließlich Seyende war? Auf gleiche Weiſe läßt auch 
die griechiſche Mythologie den Hephäftos in der Berfammlung der olym- 
piſchen Götter als hinkend erſcheinen, denn auch er ift ein chemals all- 
waltender, aber in der Folge durch die entjtandene ideale Götterwelt 
gleichfam einfeitig gewordener Gott, wovon die Spur noch in dem grie— 
chiſchen Mythos liegt, daß ihn Zeus, alſo der Gott der idealen Götter 
vom Himmel, d. h. vom Sitz des Allwaltenden und Einen, auf die 
Erde geſchleudert und er davon hinkend geworden ſey. Alle Andeutungen 
der Mythologie ſind von unendlicher Naivetät, welche daher unſere in 
allen Stücken überkünſtliche Zeit kaum mehr richtig aufzufaſſen im 
Stande iſt. 

Sollte alſo das Bewußtſeyn von dem Seyn laſſen, in das ihm der 
Gott verſunken iſt, ſo könnte dieß ohne eine blutige Zerreißung nicht 
geſchehen; will es aber an dem Seyn feſthalten, ſo empfindet es die 
ſchmerzlichen Wehen, die der vergeiſtigte Gott über es verhängt, ſo daß 
es weder von dem Seyn laſſen noch in dem Seyn bleiben kann. Hier 
finden ſich daher zuerſt alle Zeichen und Erſcheinungen jenes Zuſtandes, 
den die Griechen mit dem Wort Deiſidämonia bezeichnen, für das wir 
bis jetzt im Deutſchen kein völlig entſprechendes Wort haben. Denn 
Aberglaube, wie es gewöhnlich überſetzt wird, iſt zu allgemein. Gottes⸗ 
furcht aber, wie man es wohl auch überſetzt — außerdem, daß es 
das Wahre und Rechte, die dem Menſchen zuſtehende und geziemende 


300 
Gefinnung anzeigt, von der die Deifivämonia nur eine falſche und. ver- 
fehrte Erſcheinung ift — Gottesfurcht zeigt außerdem nur die Furcht 
vor dem Gott an, aber Deiſidämonia ift etwas ganz anderes, fie tft 
nämlich Furcht oder Angft für den Gott, Angft, den Gott zu ver- 
lieren; denn offenbar liegt in dem Begriff der Deiſidämonia ein Gefühl 
von Zweifelhaftigkeit, wie auch das Etymologicum magnum und Sui— 
das das Wort dersıdaduwv ganz richtig erklären duch Zugp/po- 
og neoi tyv nlotıv nal oiovei dbEdo0ıxWg: einer, der 
wegen feines Glaubens zweifelhaft und wie in Furcht ift, der gleichſam 
aus Angft nicht genug zu thun weiß, der alles thut, um die Nealität 
des Gottes feftzuhalten und ſich derfelben zu verfichern, fie zu bethäti- 
gen, der daher, wie Clemens von Alerandrien das Wort erklärt, alles 
vergöttert, Holz und Stein, und in dem der Geift und der nad) ‚ver 
Bernunft lebende Menfch völlig gefnechtet (unterjocht) ift!. Deiſidämo— 
nia ift daher Burht in Anfehung des Gottes. Wir müfjen dem- 
nad) jagen: Gottesangft. Dieß allein drüdt den Zuftand des zwei— 
relhaft, an dem realen Gott irre gewordenen und ihn doch immer feit 
zu halten ftrebenden Bewußtjeyns aus. Denn angftvoll, eiferfüchtig, ja 
nit tödtlihen Waffen bütet das Bewußtſeyn den in das Seyn verfun- 
fenen Schatz, und erfüllt auch das dem befreienden Gott ſich üffnende 
Gemüth mit feinen Schreden, vergeftalt, daß es die erfte Ahndung dev 
Freiheit von dem es erdrückenden realen Gotte, daß es, fage id), dieſe 
erste Anwandlung als Blut heifhende Schuld empfindet. Darımı 
fallen bier die erften blutigen Sühnopfer; ja zuerft diefem alles, was 
feine Einzigfeit bedroht (Uranos hatte feine andere Potenz außer ſich), 
wie Feuer verzehrenden Gott fällt der freie Menſch ſelbſt als Opfer, 
gleichſam jenem milderen Gott zum Troß, der ein Freund des Menjchen 
ift, und zur blutigen Verſöhnung ver Schuld, die er ſich dadurch zuge 
zogen, daß er dem andern Gott Raum gegeben. Genug, früher als 


EM. ’ c - ı 3 \ A F \ — v ’ 
o aavra beiasov, zal Suhov zal Aiıbov' zal avevna avdo@aov Te Ao- 


yıroz Ptodvra zaradsdovAwWuevor. Of. Suicer. Th. E. p. 828 (man denkt ſich 
bei der Ueberſetzung dieſer Stelle das zara in zaradedovAwuevoz vor avevuu 
umd avo@zon). 


301 





dem Kronos biutete Fein Menfchenopfer. Doch find es feinesmegs bloß 
Menjhenopfer überhaupt, die dem Gott fallen, es find beftimmte 
Opfer, die ihm vorzüglich gebracht werden, und dieſer fehr fpecielle 
Zug ift nicht zu vernachläßigen, denn er dient vielleicht, ung eine Seite 
der Kronoslehre aufzuichliegen, die ung jonft verborgen geblieben märe, 
und jo, erſt vollftändig, was bis jegt nicht der Fall war, fie zur be- 
greifen. Was ich bis jett über den Zuftand des Bewußtſeyns gejagt, ift 
mehr philoſophiſch und allgemein, aber die Unterfuhung, zu der mir 
jest fortgehen, wird ung erft in die fpecielle und die hiftorifche Beichaf- 
fenheit der Kronoslehre vollends einführen. 

Es iſt nämlich unlengbar und beruht auf den unwiderfpredhlichiten 
Zeugniffen, daß unter den ſchon genannten Völkern, die diefem Mo— 
ment des Bewußtſeyns angehören, dem Gott deſſelben, alſo dem Kro— 
nos, Kinder, unter diefen vorzugsweife Knaben, und unter diefen 
wieder vorzugsweile die erften, ja vie eingebornen Söhne geopfert wur— 
den. Beſonders in Zeiten öffentlicher Unglüdsfälle und dringender all- 
gemeiner Noth wurde der theuerfte, der erfte Sohn, felbft der Kö— 
nige, zum Opfer gebracht. Dieß erzahlt 3.3. das 2. Bud) der Könige! 
von einem König der Moabiter, alfo eines zu dem allgemeinen Stamm 
der Kananäer gehörigen Volks, den die vereinigten drei Könige won 
Israel, Juda und Edom im feine legte Stadt zurüdgedrängt haben ; 
Diefer nimmt, wie es heißt, jeinen erften Sohn, der an feiner Statt 
jollte König ſeyn, und fchlachtet ihn auf ver Mauer zum Brandopfer. 
Entjegt ob dem Greuel ziehen die drei Könige ab, die übrigens zu an- 
dern Zeiten felbft nicht frei waren von diefem Greuel. Die Griechen 
erzählen eben vafjelbe vielfältig von den Karthagern, und fie nennen den 
Gott, welchem diefe das tieffte Gefühl empörenden Opfer gebracht wur— 
den, ausdrücklich Kronos. So ſchon Sophofles in einem Fragment, 
das Heſychius aufbewahrt hat, ferner der Verfaſſer des für platonijch 
ausgegebenen Geſprächs Minos?. Mean follte diefe Aeußerungen nicht 
unter dem Borwande überfehen, daß der Grieche nur den Namen feines 


' Kap. 3. | 
2 p. 315, ©. Bgl. Grotius zu Deuteron. 18, 10. 


302 


Kronos auf den durch Knabenopfer verfühnten Gott der Karthager über- 
tragen habe, glei als wäre der Begriff des Kronos ein zufälliger, 
und nicht vielmehr in der mythologiſchen Entwidlung nothwendiger, 
wodurch fi) auch allein die gleiche Erſcheinung veffelben unter ganz 
verfchiedenen gleichzeitigen Völkern erklärt. Jene Aeugerungen des Griechen 
find auch darum bemerfenswerth, weil fie die Vorftellungen zeigen, 
welche fie felbft von dem Kronos ihrer Theogonie ſich gemacht haben, 
der für fie, wie gefagt, eine bloße Vergangenheit ift, wie ihn ein altes 
großgedachtes Bildwerf nur durch den leeren Thron und durch von 
Genien getragene Bruchftüce des zerbrocdhenen Rads, der immer in fic) 
felbft zurücklaufenden (nicht fortichreitenden) Bewegung! darftellt, und 
von deffen Unthaten, wie eine Stelle des Plutarch beweist, nur in. den 
Myſterien etwas mehr vwerlautete? (aus der öffentlichen Mythologie war 
er verſchwunden). Auf jeven Fall zeigt fi) in dieſer Benennung des 
farthagifchen Gottes das richtige Gefühl, nad) welchen die Griechen 
empfanden, daß die älteften Götter ihrer Theogonie keine anderen jeyen, 
als die von den. Barbaren vorzugsweife oder ausſchließlich verehrten. 

Divdor von Sieilien, deffen Erzählung dur den von Lactantius 
angeführten Pescennius Niger beftätigt wird, erzählt von den Kartha- 
gern insbefondere, daß fie nad) einer von dem König Azathokles_ erlit- 
tenen Niederlage zweihundert Kinder der Vornehmſten dem Kronos 
opferten?. Juſtinus erzählt Aehnliches bei Gelegenheit einer Pet, und 
fügt die bedeutungsvollen Worte bei: Quippe homines ut vietimas 
immolabant et impuberes (quae aetas etiam hostium misericor- 
diam provocat) aris admovebant, pacem Deorum sanguine eorum 
exposcentes, pro quorum vita Dii rogari maxime solent*. Bekannt 
ift der Vers des Ennius: | 


i wenn das, was man als das zerbrochene Rad deuten kann, nicht etwa bie 
große Sichel ift, won der die Theogonie ausdrücklich redet, v. 179.180. (Sp in 
einem älteren Mic. D. 9.) 

° de Isid. et Osir. c. 25: Kpovov rıvig ddesuoı noaseıg (— oVdiv amo- 
ieinovsı rov Odıpıarav zal Tv Tvpwvınov). 

’ Diod. Sie. L. XX, c. 14. Lactantius, Institut. Lib. I, ec. 21. 

‘ Justinus e Trogo Pomp. Lib. XVII, ce. 6. 


303 
Et Poeni soliti sos (jtatt suos) saerificare puellos. 

Nach einer Stelle in der Lobrede des Eufebius auf Conftantin d. ©. 
pflegten die Karthager jogar jährlich die geliebteften und eingebornen 
Kinder dem Kronos zu opfern‘. Hier wird noch ein bejonderer Nad)- 
druck darauf gelegt, daß es vie geliebteften und eingebornen Kinder 
waren, die zum Opfer erwählt wurden. Betreffend die Art dieſes 
Opfers, jo läßt fi) zwar nicht beweifen, daß allgemein und jeverzeit, 
aber es ift doc), befonders nad) den ausdrüdlichen Zeugniffen des A. T., 
nicht zu zweifeln, daß die dem Moläch, d. h. dem Kronos der Kana— 
näer, insbefondere geopferten Knaben lebendig verbrannt wurden ?, 

Wie fol man ſich nun diefen fehauderhaften Gebraudy und zwar 
in allen Umftänden erklären? Denn es ift hier nicht bloß von Men— 
ichenopfern, Anthropothyſie überhaupt, es ift von Hyothyſie und davon 
die Rede, daß Söhne geopfert wurden, und auch nicht bloß davon, 
Sondern daß vorzugsweiſe die geliebteften und daher zumal die erftge- 
bornen oder gar eingebornen Söhne als Opfer dargebracht wurden, 
Diefer legte Zug darf um fo weniger als zufällig betrachtet werben, je 
mehr vdiefer der männlichen Erfigeburt in -Bezug auf Opfer ertheilte 
Borzug der ganzen Zeit gemein tft, in welche Kronos gehört. Nach 
dem mofaifchen Gejeg, deſſen Urjprung eben in dieſe Zeit fällt, war 
jede männliche Erfigeburt der Thiere dem Herrn Heilig und mußte ge- 
opfert werden; die menſchliche allein ausgenommen, doc) mußte diefe 
gelöst werben ?, 

Es ift höchſt auffallend, daß jener grauſame Gebraud fo ganz 

' Koovo Doivıreg na® Enasrov Erog &ivov ra ayannra nal uovoyevn 
töv renvav. Euseb. orat. de laudat. Const. M. p. 756. 

? Diejes ift auch aus einer Erzählung zu nehmen, die fich in den Fragmenten des 
Sanduniathon (Sanch. Fragm. ed. Orelli, p. 41.) findet, wo befchrieben wird, 
wie ein König feinen eingebornen Sohn bei großer über das Land gefommener 
Kriegsgefahr feierlich verbrannte. Die Erzählung lautet: 28 Emızwoiag Nöupng 
Avoßosr Asyoutvng, vıov Eymv uovoyevn, 0v dıd rouro Ieovd Eudlovv, rov 
uovoyevovg our@g Erı nal vüv nalovudvov raoa «roig. Doivikı, zıvöivov du 
nol&uov ueyiörov nareılmporov ınv yaoav, Pasılına zodundag — 


rov vıov, Bouov db naradısvaddlıevog narsdvder. 


3 2. Mof. 13, 2. vgl. mit v. 29. 


304 
vorzüglich auch das Volk Iſrael ergriffen hat, noch auffallender, 
wie es durch einen der Propheten nicht weniger al® am drei ver- 
ichtedenen Stellen‘ Jehovah den Kindern Juda vorwirft: Sie haben im 
Thal Hinon dem Baal Höhen gebaut, ihre Kinder ihm zu verbrennen, 
„welches, fagt Jehovah, ich ihnen weder geboten nod) davon geredet noch 
in Sinn genommen habe“, oder wie es an der andern Stelle heißt: „Es 
ift mir nie in den Sinn gefommen, daß fte ſolche Gräuel thun follten“, 
— Reden, in denen offenbar anerkannt ift, daß die Israeliten Durch 
dieſes Opfer ihrer Kinder ein göttliches Gebot, fogar ein Gebot des 
Sehovah zu erfüllen glaubten, wodurd wir erft hineinfehen in Die Tiefe 
des Irrthums, dem das menſchliche Bewußtſeyn in jener Zeit unter- 
worfen war. | | 

Am fernften Anfang diefer Zeit wird Abraham, wie die Genefis 
fagt, — nicht von Jehovah, der hier nicht genannt: wird, ſondern von 
Elohim, dem Gott, der ihnen mit den Heiden gemein, verfucht?, ber 
ihm fagt: „Nimm deinen einzigen Sohn, den dur lieb haft, und gehe. hin 
in das Land Morijah und opfere ihn daſelbſt zum Brandopfer auf einem 
Berg, den ich dir fagen werde”, — und Abraham hebt Schon das Mefjer 
auf, ven Sohn zum Brandopfer zu ſchlachten, als ihm der erjcheinende 
Jehovah, Engel des Jehovah (alfo nicht Elohim) vom Himmel zuruft, 
die Hand nicht an den Sohn zu legen; denn fagt er: „nun weiß ich, 
daß du Gott fürcchteft und haft des einzigen Sohnes nicht verjchonet 
um meinetwillen“ ?. 

Dieß alles, mie wir e8 nun auch übrigens erflären mögen, deutet we— 
nigftens darauf hin, daß jener Gebraud), die Söhne, und zwar vorzüglid) 
die einzigen und erftgebornen als Opfer darzubringen, daß diefer Gebraud), 
zu dem alle Völker jener Zeit, zu dem ſelbſt Israel und Juda, troß der 
ausprüdlichften Verbote, fi) hinreißen ließen, einen tiefern und allgemei- 
neren Grund hatte, als man ſich insgemein zu denken gewohnt ift. 

In der griehifchen Theogonie wird Kronos vorgeftellt als jeine 

' Seremias 7, 31. 19, 5. 32, 35. 


? Bol. Einf. in die Phil. der Myth., ©. 164. 
° 1 Mof. 22, 12. 


305 





eignen Kinder, die Götter einer fpätern, ihn zu verdrängen beftimmten 
Zeit verfhlingend. Es war daher natürli, auf den Gedanken zu 
fommen, die Söhne feyen ihm als dem Gott geopfert worden, der 
feiner eignen Söhne nicht verfchont habe. So ſchon Diodor von Si— 
cilien“. Einige Neuere dagegen, z.B. auch Buttmann, defjen Abhand- 
lung über Kronos in den Denkſchriften der Berliner Afademie fteht, 
glaubten wielmehr umgekehrt jene Borftellung der griechiſchen Theogonie 
aus dem Gebrauch erklären zu fünnen: — weil man tem Kronos Kin— 
der geopfert, habe man ihn als den Knaben freſſenden, verzehrenden 
Gott gedacht. Hiebei wird alſo gerade das Unbegreiflichere, nämlid) 
jener Gebrauch jelbjt unerflärt gelaffen, das weit Begreiflichere dagegen 
und mehr als Eine Erflärung Zulaffende — nämlidy jene Vorftellung 
der griehiichen Theogonte — glaubt man erflären zu müfjen, zum Be- 
weis, daß es meift den Philologen mehr darum zu thun ift die jchrift 
lichen Denfmale des Alterthums als das Alterthum jelbft zu erflären. Was 
jenes dem Kronos zugefchriebene Verſchlingen der eignen Söhne in der Theo- 
gonie betrifft, jo muß die Erflärung der fünftigen Erörterung der griechiſchen 
Göttergefchichte vorbehalten bleiben. Aber um auf Diodor zurüdzufom- 
men, jo fann der unter fo vielen vorgriechiſchen Völkern herrfchende 
Gebraud der Kinder-Dpfer daraus nicht erklärt werden, daß nad) der 
griechiſchen Theogonie Kronos die eignen Kinder verfchlungen hat. Denn 
1) von einem ſolchen Berjchlingen der eignen Söhne wiſſen die Götter: 
lehren diefer (vorgriechiſchen) Völker nichts, und fünnen nichts davon 
wiſſen. Denn jene Söhne, welche die griechische Theogonte von Kronos 
verſchlingen laßt, find wirkliche, fpätere Götter, Zeus, Pofeiton, Ha- 
des; von nach-kroniſchen Göttern wiſſen aber jene Völker nichts, Die bei 
Kronos ftchen blieben. 2) Wäre damit noch immer nicht jener befon- 
dere Zug erklärt, daß die erftgebornen und einzigen Söhne geopfert 
wurden. Denn der Kronos der Theogonie verſchlingt alle feine Kinder 
ohne Unterſchied, alfo nicht feinen einzigen Sohn, und aud) feine 
weiblichen Kinder. Im A. T. kommt freilid) vor, daß aud Töchter 
dem Baal geopfert wurden — von Ysraeliten — aber die ſchon 


'‘ Lib. XX, 14. 
Schelling, fämmtl. Werfe. 2. Abth. 11 20 


306 
angeführten Zeugniffe von Profanferibenten laffen nicht zweifeln, daß bei 
ben feierlichften Opfern, der Karthager z. B., vorzugsweife die einzigen 
oder die erftgebornen Söhne dargebradht wurden. Angenommen alfo, 
daß wir auf diefen befondern Zug mit Recht die Wichtigkeit legen, die 
wir ihm zugeftehen, wie joll er erflärt werben ? 

Ich geftehe gern, daß diefe Erklärung nicht leicht ift, daß fie ge- 
wagter erjfcheinen kann, als alles Bisherige. Indeß es kommt auf 
den Berfuh an, und nachdem wenigſtens jene Thatfache des Opfers 
jelbft außer allen Zweifel geftellt ift, da, wie Eufebius in der ſchon 
angeführten Lobrede werfichert, dieſe Opfer bei den Phönifiern fogar 
jährlich ftattfanden, alfo eine bejtändig wiederfehrende Feierlichfeit waren, 
da ferner feierlihe Handlungen, durch die irgend ein Gott verehrt wird, 
wie wir num fehon in mehreren Beifpielen gefehen haben, Nachahmungen 
von Thaten, Handlungen oder Berhältniffen des Gottes felbft find, fo 
icheint es, fünnen jene jährlichen Opfer nur einem Gott gegolten haben, 
der den eignen, eingebornen Sohn zum Beften der Menfchheit hinge— 
geben hatte. Wir werden alfo hier zuerft auf die Idee von einem 
Sohne, und zwar von einem eingebornen Sohne des Kronos ge 
führt. Läßt ſich nun dieſer nachweifen? In welcher Gottheit oder mel» 
hem gottähnlihen Weſen werben wir ihn erkennen? Wohin fünnen 
wir ihn fegen, welche Stelle ift für ihn gleichfam frei und offen? Als 
der eingeborne Sohn fann er nicht einer von den Kronosſöhnen feyn, 
deren mehrere find — nicht einer jener fubftantiellen Götter, welche 
die griechiſche Theogonie als Söhne des Kronos nennt. 

Aber der gegenwärtige Moment des Bewußtfeyns gehört auch in 
der That Schon nicht mehr dem Kronos allein an. Auch der andere, 
der befreiende Gott, den wir nun fehon mit dem allgemeinen Namen 
Dionyſos bezeichnet haben, hat ſchon Theil an dem gegenwärtigen Zu— 
ftand. Noch immer, feit jenem Moment der Katabole haben wir ihn 
in allen Mythologien nachgewiefen. Sollte er in der Kronoslehre gar 
nicht vorfommen? Und wenn er in ihr vorkommt, kann fie ihm zu 
Kronos ein anderes Verhältniß geben, als das des Sohnes, und zwar 
des eingebornen? War doch gleich in feiner erften Erjcheinung ber 


307 





befreiende Gott das Find der Urania, d. h. des num relativ, poteitiell 
oder meiblich gemordenen Gottes. Wir haben fein Dafeyn nachgewiefen 
bei den Babyloniern — wenigitens indireft —, ausdrüdlic anerkannt 
bet den Arabiern. Sollte Feine Spur vefjelber unter den Phöniftern 
jeyn, die doch ein ſpäteres und zugleich das den eben genannten Bölfern 
zunachit in der Gefchichte herwortretende Volk find? 

In der That, wenn e8 noch zweifelhaft jcheinen kann, ob ver be— 
freiende Gott als Sohn des Kronos in dieſer Mythologie. erfcheine, 
wentgftens, daß er überhaupt in ihr vorfommt, ift außer Zmeifel. 
Er kann ihr nicht fehlen, und er fehlt ihr auch nicht, wenn er gleich 
nicht jo leicht uns auf den erften Bli erkennbar ift, wie andermwärts, 
Denn natürlich verändert fid feine Stellung mit jedem Moment, da 
fein Berhältniß gegen den realen Gott nicht daſſelbe bleibt. Alfo muß 
er freilich in diefem Moment, wo er dem wieder männlid) gewordenen 
realen Gott — dem Kronos — entgegenfteht, anders erfcheinen als in 
jenem früheren,: wo er mit der weiblichen Urania für das Bewußtſeyn 
zu Einer Gottheit verſchmolz. Die weibliche und. die ihr entiprechenve 
männliche Gottheit verhielten ſich dort als bloße Correlate, wo eines 
das andere einſchloß und forderte, nicht als Gegenſätze; — nod) war 
der Kampf nicht entzündet, den wir im dem gegenwärtigen Moment 
erkennen. An die Stelle der Urania ift Kronos getreten. Diefer kann 
ven befreienden Gott, den ein früheres Moment geboren hatte, zwar 
nicht mehr vom Seyn, wohl aber von der Gottheit ausſchließen, die 
ihm zufteht und die Kronos ihm vwerfagt, worenthält, fo daß er ge- 
zwungen ift, der Gottheit ſich zu entaußern, Knechtsgeftalt anzunehmen 
und im diefer Entaußerung zu verharren. In dieſer Geftalt alſo — 
der einzigen, die, wie id) gezeigt habe, der befreiende Gott in dieſem 
Moment annehmen oder zeigen kann, — in diefer Geftalt, nicht in 
der Geftalt eines Gottes, fondern einer zwifchen dem Gott und den 
Menfchen ftehenden, beiden gleihfam dienenden Perfünlichkeit, in 
der Geftalt eines ſolchen Mittelmejens, das die Gottheit ſich zu erwerben, 
zu erfämpfen hat, finden wir ihn wirklich in der phönifiichen My— 
thologie. Er erjcheint als Melfarth mit feinem phönififchen Namen, 


308 
— ven Griechen als Meirxuodog: von ihnen verglichen und aud) 
in der That vergleichbar den griedhifchen Herakles. Doc) bitte ich, dieſe 
Berwandtichaft oder Aehnlichfeit, über die ic mic, in der Folge befon- 
ders erflären werde, einftweilen ganz bei Seite zu jegen. 

Die Beveutung des Namens Melfarth ift ficher und beruht nicht 
auf Conjeftur. Wir fennen die phönikiſche Sprache theild aus einhei- 
mifchen Denkfmälern, Münzen, Grabinfchriften u. ſ. w. (ſämmtliche bis 
dahin befannte Monumente der phönikiſchen Sprache und Literatur find 
in dem gelehrten Werke von Gefenius zufammengeftelt). Die Sprache 
Phönifiens ift die Sprache Kanaans, und, geringe Verſchiedenheiten ab- 
gerechnet, identiſch mit der hebräifchen. Es ſtimmen daher aud) die Er— 
klärungen des Namens Melkarth großentheils überein. Er iſt zuſam— 
mengezogen aus 74 = König und nyp (oder DIR) Stadt. 
Alſo Melfartd = Stadtfönig. Zum Neberfluf eriftirt wenigftens eine 
phönikiſche Münze, auf welcher ver Name Melaeh Korth zu lejen ift. 
Aber was heift num diefer Name? Was foll damit ausgedrückt jeyn, 
wenn er der Stabtfönig genannt wird? Erinnern Sie fid aljo, daß 
die Menfchheit erft, indem fie aus der aftralen Neligion heraustritt, 
fich zu feften Wohnfigen fowie zum Aderbau entjchließt. Dieſer Ueber- 
gang vom frei herumfchweifenden und dadurch thierähnlichen Xeben der 
früheren Zeit (id) erinnere Ste wieder an das Inoımdwg Inv, das die 
Griechen fo oft nennen, als fie von den Wohlthaten des Dionyſos und 
der mit ihm zugleich fommenden weiblichen Gottheit, der Demeter, reden). 
Dieje Hinüberführung alfo vom herumfchweifenden, thierähnlichen Leben 
der früheften Zeit zum feften Befig, und dann weiter zum bürgerlichen 
Leben durch Zufammenmwohnen in wohl ummanerten Städten (td) erin- 
nere Sie an das oft wieberfehrende &uxtuuevn &v aAom bei Homer, 
der ed auch nie unterläßt, die feften Mauern einer dadurch ausgezeich— 
neten Stadt zu erwähnen — man fühlt gleichjam, wie wohl ſich feine 
Zeit im Bewußtſeyn geficherter und befeftigter Städte fühlt — nie 
verfäumt er, die Städte mit den ſchönſten Beimörtern zu. begrüßen, 
an denen er auf den Wogen feines Geſangs vorbei fährt), dieſer 
Uebergang alfo vom herumfchweifenden, unfteten Leben der Urzeit zum 


309 

ruhigen bürgerlichen Leben-wird überall den dem Dionyjos verwandten 
Gottheiten zugefchrieben, und jo heißt denn aud die dem Dionyfos 
entjprechende, ihn in der phönififchen Mythologie gleihjam furrogirende 
Perſönlichkeit als Stäptegründer, als erjter Gründer des ftädtifchen 
Vereins — Melfarth. Sein Haupttempel war eben darum in der 
Hauptſtadt Karthago ſelbſt (die Sylbe farth in Melfarth und in Kar— 
thago ift das nämliche Wort), Wenn Babylonien und Perfien dem 
patriarchaliſchen Zuftand ſich nähernde Monardien, fo war Karthago 
der erfte Staat im heutigen Sinn mit ganz beftimmter (oligardhifcher) 
Derfafjung. As Mittelpunkt des Staats aber hat die Stadt nod) 
größere Bedeutung. Dorthin (nad) Karthago) kommen jährlich foge- 
nannte Theorieen, Geſandtſchaften aller farthagiichen Kolonien, um dem 
Gott, der eigentlich der Borfteher des puniichen Staaten und Bundes» 
ſyſtems war, ihre Huldigung und Opfer darzubringen. Gejett, man 
wollte ven Namen aud bloß jo erklären, daß er eben nur den König der 
Stadt zur E£oy7jv, der Hauptftadt bedeutet — alfo der Stadt Kar- 
thago —, jo würde dieß in der Hauptfache nichts ändern. Immer wäre 
er dadurch als der Schußgott der Hauptitadt, des den Staat zuſam— 
menhaltenden Mittelpunfts, bezeichnet. In dieſem Namen nun ift ſchon 
jein Verhältniß zu Kronos angedeutet. Kronos ift auch jett noch der 
allgemeine — alſo der im Weiten und Allgemeinen wohnende Gott 
— der Gott des Feldes — der weiten Natur, El Sadai, wie ich oft 
verfucht ward und auch jett noch verfucht bin, den etwas ſchwer zu er- 
flärenden Namen El Schaddai zu lefen, mit dem die Vorväter der Is— 
raeliten ihren Gott bezeichneten, ehe er den Namen Yehovah annahm‘. 
Kronos alfo war der Gott der weiten Natur; aber der Gott der Stadt, 
des engern und bleibenden menſchlichen Vereins ift Melfarth. Dieß be- 
ftimmt alfo fein Verhältniß zu Kronos, und da Dionyfos der Gott des 
wahrhaft menſchlichen Lebens tft, jo reicht ſchon dieß allein bin, zu 
zeigen, daß Melfarth die dem Dionyjos entſprechende Perſönlichkeit ift. 

Aber nun die Hauptfrage. Iſt Melkarth nach der phönififchen 
Mythologie auch Sohn des Kronos? Krlauben Sie, daß idy dagegen 

: Bol. S. 168 der Einl. in die Phil. dev Myth. 


310 





frage: weſſen Sohn er denn ſeyn ſoll, wenn nicht des Kronos? — 
Wenn in der phönikiſchen Mythologie dieſe Perſon nicht fehlen kann, 
— wirklich nicht fehlt —, wenn eben dieſe zweite Perſon früher jchon 
als Kind des weiblich, aber doch nur relativ weiblich gewordenen, bloß 
als weiblich erſcheinenden Gottes vorgeftellt war, welches andern 
Gottes Sohn konnte Melfarth feyn, als eben des höchften Gottes, 
des Kronos, mit dem er aud völlig gleiche Verehrung genoß, oder 
beftimmter gefagt, neben dem er in der öffentlichen Verehrung gerade 
fo geftellt war, wie nur der Sohn gegen den Vater geftellt jeyn konnte. 
Ueberall, wo Kronos Verehrung hindurchgedrungen, findet ſich ftets 
auch ein Tempel des Melkarth, oder, wie ihn die Griechen nennen, des 
phönikiſchen Herakles, und umgekehrt. Im ägäiſchen Meer, auf der 
Inſel Thaſos, hatte er einen herrlichen Tempel, erbaut, wie Herodotos ! 
jagt, von jenen Phönikiern, die auf ihrer Fahrt zur Aufjuchung der 
Europa 16 Sahrhunderte vor der hriftlichen Zeitrechnung die Stadt 
gründeten, wo Herodotos nod die von den Phönikiern entdeckten und 
bearbeiteten Golodminen jah. In Gades (Kadirx), ſchon in den Urzeiten 
berühmt durch Die. dahin erſtreckte Schifffahrt der Phönikier, erwähnt 
Strabo? neben einem Tempel des Kronos ausdrücklich auch den berühm— 
ten Tempel des Herakles, d. h. des Melkarth. Nichts alſo iſt entgegen 
und alles dafür, den Melkarth in einem ſolchen Verhältniß zu Kronos 
zu denken. Mit der Urania war er ſchon da, aber mit ihr gleichſam 
verſchmolzen; der nach ihr ſich erhebende männliche Gott ſchließt ihn 
wieder aus, aber ſetzt ihn eben darum. Verlangt man nun aber eine 
Stelle, in welcher mit ſo viel Worten Melkarth der Sohn des Kronos 
genannt wäre, ſo geſtehe ich, daß ich eine ſolche nicht kenne. Theils 
aber erklärt ſich dieß aus den wenigen und mangelhaften Monumenten, 
die uns zu Gebot ſtehen, theils hat unſtreitig eben darauf ein gewiſſes 
Geheimniß geruht; denn, wie ſchon bemerkt, erſcheint dieſe zweite Perſon 
nicht als Gott, ſondern als ein zwiſchen dem Gott und dem Menſchen 
ſtehendes, beiden dienendes Weſen, ſie erſcheint zunächſt außer ihrer 


Inn. — 
2 Lib. il. c 5 (p. 169). 


311 


Gottheit in Knechtsgeftalt, gerade wie der Meflias im A. T. auch nicht 
der eingeborne Sohn, fondern der Knecht Gottes genannt wird, und 
nur als folher ausgeſprochen ift. Es ift überhaupt weniger die Frage: 
als was Melfarth ausgeſprochen wurde, als wie deſſen Borftellung ur- 
Iprünglid entftand. Da haben wir aber gejehen, daß Kronos (der 
wieder männlich gewordene) veale Gott ihn ausſchließen, d. h. ihn ſetzen 
mußte. Aber ob er darum der Sohn des Kronos aud) genannt 
wurde, ift um fo zweifelhafter, als er eben nicht in göttlicher Geftalt 
erſchien. Er war überhaupt, wie ich ſchon früher mic, ausgedrüdt, in 
feiner erſten Erjcheinung ein dem Bewußtſeyn ſelbſt unbegreiflihes Mit- 
telwefen, die Perfönlichkeit, die fih erjt offenbaren, fich als das, was 
fie ift, als Kronos Sohn, als Gott erſt verwirklichen ſollte. So, als 
ein räthſelhaftes Wejen finden wir dieſelbe Perſönlichkeit auch bei andern 
Bölfern. Strabo! hat folgende merfwürdige Stelle über die Wethiopter: 
Gzov Ö8 voullovoı Tov ulv Edvarov, TOVToOV Ö Elvaı TOV 
aitıov Tov aavrov: für Gott halten ſie einen, der unfterblich und 
Urheber von allem ift (diefer war alfo der höchfte Gott), Tor de Yvn- 
Tov, Evovvuov Tıva: einen andern, der (alfo aud) Gott, und doch) 
ſterblich iſt — in feiner gegenwärtigen Geſtalt — den fie darum ‚nicht 
zu nennen wifjen, einen gewifjen Unbenannten oder Namenlojfen, zei 
0% 0%Y7: nee cognitu facilem, der nicht leicht zu erkennen ift. Wo 
Strabo nachher fpeciell von Merve ſpricht, nennt er doc den Namen: 
Oi ö Zv Meoön zui Howzıta, zul Ivo, za Ioıv 08ßovrae: 
Die in Meroe verehren ſowohl den Herafles als den Pan und die Iſis. 
is ift allgemeiner Name für die weibliche Gottheit; Pan tritt wohl 
bier an die Stelle des alten Gottes Uranos; Herakles aber tft der 
Name oder die Perfönlichfeit ihrer Mythologie, welche die Griechen überall 
an die Stelle des Melfarth jegen. Dann feßt Strabo hinzu: fie ver: 
ehren dieſe noog dhko ruri PBaoßaoına (scil. FE@). Das ift der, 
den er im der erft angeführten Stelle wirtiov ou Advrav ge 
nannt hat, in dem er aber nicht ven Kronos erkennt, weil dieſer im 
der griehiichen Mythologie nicht ver höchſte, nicht wirıog Twv navrww 
‘ Lib. XVII, c. 2, p. 822, 


312 


ift, daher er ihn im Allgemeinen Saoßaoınov tıva nennt. — — Daf 
man eine Scheu hatte, oder zweifelhaft war, den Melfarth als Sohn 
des Kronos auszujprehen, fünnte man auch aus einer Angabe in 
den Fragmenten des Sanchoniathon fchließen, der auf den erften Blick 
gegen uns jcheinen könnte, näher betrachtet aber wirklich fir ung iſt. — 
Doch muß ich erft erflären, was es mit den Fragmenten des Sancho— 
niathon für eine Bewandtniß hat. Sanchoniathon ift der Name eines 
phönikiſchen Schriftſtellers, der befonders die mythiſche Gefchichte feines 
Daterlandes in phönififcher Sprache gejchrieben haben fol. Dieſes Werk 
ſoll Philo von Byblos ins Griechiſche überfest haben, und Fragmente 
dieſer Ueberjegung finden fi) bei Eufebius in feiner Praeparatio evan- 
geliea. Um ein Wort über den Werth und Charakter diefer Frag— 
mente im Allgemeinen zu fagen, fo fieht man deutlich, daß entweder 
Sandoniathon felbft oder fein Dollmetfcher, der wohl nicht gerade wört— 
licher Ueberjeger gewefen feyn wird, ſich bemüht, allen mythologifchen 
Vorſtellungen der Phönikier eine euemeriftiihe Wendung zu geben, die 
Götter als Landeskönige, die Begebniffe und Schickſale der Götter als 
gemein = hiftorifche, menfchlihe Begebenheiten vorzuftellen. Natürlid) 
mußten unter diefer Behandlung die mythologiſchen Yacta jelbft leiden, 
und müfjen zu dem urjprünglichen Sinn erft wieder hergeftellt werben, 
eh’ man fie benugen kann. Wie verfchieden indeß (wie natürlich) dieſe 
Fragmente von jeher angefehen worden, find fie großentheild doc zu- 
glei von einer Beichaffenheit, welche nicht erlaubt, fie als rein und 
bloß erbichtet anzunehmen. — In diefen Fragmenten alfo kommt eine 
Stelle vor', nad) welder Melfarth nicht ein Sohn des Kronos, fon- 
dern des Demaroun, eines Halbbruders von Kronos ift. Der gemein: 
ſchaftliche Vater Uranos foll ihn, wie diefelben Fragmente angeben, mit 
einer Beifchläferin erzeugt haben. Ich bemerfe zunächſt, daß doch aud) 
nad) diefer Angabe die Blutsverwandtfchaft zwiſchen Kronos und Mel- 
farth anerfannt ift; fie läßt den Melfarth wenigftens von feinem gerin: 
gern, als von einem Halbbruder des Kronos abftammen; von der an— 
dern Seite ift fichtbar, daß eine fpätere Neflerion felbft Schwierigfeit 
' Euseb. Praep, ev. I, 17. (Fragm. $. ed. Orelli p. 28.) 


313 


darin fand, den Melfarth als unmittelbaren Abfümmling des Kronos 
zu denfen. Aber es fragt ſich nicht, wozu ihn eine fpätere Reflexion 
gemacht, fondern wie er fi urſprünglich verhalten; urfprünglich aber 
konnte Melfarth nur Sohn des Kronos feyn. Dieß war die noth— 
wendige Folge der früheren Erjcheinung verfelben Potenz, wo fie 
als Kind des weiblich gewordenen realen Gottes hervortritt. Und wenn 
denn Melkarth Sohn des Kronos war, fo war er aud (ich bitte dieß 
wohl zu bemerken), er war nothwendig fein einziger und eingeborner 
Sohn; denn er ift nicht eier der materiellen oder fubftantiellen Götter, 
deren mehrere jeyn können, jondern er tft die dem Kronos entgegen 
ftehende rein geiftige, rein verurfachende Potenz, die ihrer Natur nad) 
nur eine ſeyn kann. Zum Ueberfluß will ich nun ganz zulett noch an— 
führen, daß ich mid) wegen der Eriftenz eines eingebornen Sohnes des 
Kronos einfach auf eine Stelle in ven ſchon erwähnten Fragmenten des 
Sanchoniathon hätte berufen fünnen, wo gejagt tft: „ALS aber Peſt 
entitand und ein großes Berderben, bringt Kronos feinen eingebornen 
Sohn dem Bater Uranos zum Brandopfer '”. Aber man fieht in dieſer 
Stelle deutlich Die euemeriftiiche Färbung. Kronos tft ein König, - wie 
andere fpätere Könige der phönikiſchen Völker, der bei einem großen 
Landesunglüd feinen eingebornen Sohn zum Dpfer bringt, und e8 joll 
‚der fpätere Gebrauch, bei öffentlichen Unglüdsfällen die eingebornen 
Söhne zum Opfer zu bringen, hiſtoriſch von dem Urfönig Kronos ab- 
geleitet werden, der hierin mit feinem Beifpiel vorausgegangen. 
Wenn Diodor von Sicilien jagt, man habe die Söhne dem Kro— 
08 als dem Gott geopfert, der die eignen Söhne verfchlungen habe, 
jo fünnen wir alfo jest, nachdem wir einen eingebornen Sohn des Kro— 
nos nachgewieſen haben, vielmehr vorläufig jagen: Die Opfer find ihm 
ald dem Gott gebracht worden, der des eignen eingebornen 
Sohns nit verfhont, und zwar zum Beften der Menfchheit nicht 
verfchont; denn nur dieß (des einzigen Sohnes. nicht geſchont zu haben) 
ift das völlig Entjpredhende, und Kronos hat wirklich des eignen, und 
‘ Euseb. Praepar. evang. L. I, p. 38, ed. Colon.: Aouuov de yevousvov 


* — x N . . t ’ ’ — J t — 
zal plooas rov &avrod uovoyevn vıov Koovog Ovoavo zaroi oAorasmoi- 


314 
zwar des eingebornen Sohnes nicht verſchont, inmiefern er ihm Die Gott— 
heit verfagte, ihn von der Gottheit ausſchloß, dadurch ihn nöthigte, 
Knechtsgeftalt anzunehmen, und in biefer Geftalt der Menichheit zu 
dienen, ja ein Wohlthäter und Heiland der Menfchheit zu werben; denn 
alle die Wohlthaten, welche die Menjchheit dent bürgerlichen Berein 
dankt, die Ausrottung dem Menſchen gefährlicher Ungeheuer, Umihegung 
der Felder, Sicherheit der Wohnſitze, Gewerb und über entlegene Län— 
der nicht nur, fondern über das wüſte Meer ſich verbreitenden Handel, 
fogar die herzerfreuenden Mufenkünfte jelbft (erinnern Sie ſich, daß bie 
griechiiche Mythologie auch von einem Herakles Mufagetes weiß), alle 
diefe Wohlthaten, welche fie dem ftreng verſchloſſenen Kronos nicht ver- 
danfen Fonnten, der noch immer der allgemeine, wir fünnen fagen, ber 
wilde, durd nichts gefänftigte Gott war, dev Gott, in dem noch immer 
das Geftien lebt, alle diefe Wohlthaten wurden der Menjchheit durch 
den von Kronos ausgefchloffenen, gleichſam aus der Gottheit verftoßenen 
Sohn zu Theil, der in Knechtsgeftalt ihr diente und wirklich ihr Wohl- 
thäter und Heiland wurde. Denn fo (als Heiland) wurde er überall 
erfannt, dahin fein Name geventet; auf den Münzen von Thaſos, jener 
Inſelſtadt, die ich fchon erwähnt habe, wohin in Uxzeiten Phönikier die 
Berehrung ihres Herafles, des Melkarth, gebracht haben, auf ven Münzen 
diefer Stadt hat er das beftändige Beiwort 00770, DBefreier, Heiland, 
Ehen diefen phünififchen Herakles fchilvert Philoſtratus als rorg av- 
Fooroıg eVvovg', gegen die Menſchen wohlgefinnt, den Menjchen 
hold. — Hier erhalten Ste alfo nun Beiträge zu dem oben vorläufig nur 
aus-dem Namen geführten Beweis, daß Melfarth die dem Dionyfos 
entfprechende oder ihn furrogivende Perfönlichfeit der phönikifchen My— 
thologie ift. Divdor v. ©. jagt von ihm; Er that wohl dem menſch— 
lichen Gejchleht ohne einen Lohn feiner Arbeit zu nehmen? Deßhalb 
heißt er auch wohl ſchlechtweg der Wohlthäter Herafles, und der allge- 
meine Begriff eines Heilandes wurde in Anfehung feiner jo weit aus— 


'‘ Philostr. v. Apoll. VIII, 9. 
* gbeoynrnde ro ytvog rov avdbpoaov, ovötva Jaßav worov. Lib. IV, 


315 





gedehnt, daß er auch gegen Krankheiten Hülfe gewährte und mit Askle— 
pios (Aeskulap) in Verbindung geſetzt wurde. Natürlic warme Duellen, 
deren Heilfräfte man früh. fennen lernte, biegen Geſchenke des Herafles. 
Das beveutungsvollfte und bezeichnendfte Wort aber findet fich bei He- 
jiodos, in dem Gedicht Schild des Herafles, mo Hefiodos fagt, Daß 
er den erfindfamen Menfchen zum Abwender des Fluchs gegeben ſey!. Be— 
deutſam ift hier einmal das den Menfchen gegebene Epitheton erfindfame. 
Erfindfam werden die Menjchen erft bei dem Austritt aus dem goldenen 
Zeitalter, wo ihnen arbeits- und mühelos alles zu Theil wurde; aber 
an eben diefen Austritt haftet ſich auch ver Fluch. Herakles aber ift 
dem Menjchen gegeben, dieſen Fluch abzuwenden, ihnen das arbeits- 
und mühevolle Leben zu erleichtern und zu erheitern. "AAsSizanxog; 
Abwender des Böfen, ift das allgemeinfte und beftändigjte Beiwort des 
Herakles. 

Es iſt unvermeidlich, durch dieſe Idee des Gottes, der zum Beſten 
der Menſchen des eignen eingebornen Sohnes nicht verſchont, an an— 
dere, einem höheren und uns heiligen Kreis angehörige Ideen erinnert 
zu werden, und es wäre verkehrt, den Zuſammenhang, der hier wirk— 
lich ſtattfindet, zu verleugnen, aber es iſt wichtig, daß dieſer Zuſam— 
menhang in ſeiner Wahrheit aufgefaßt werde. Ich erinnere zunächſt 
wieder an die nothwendige durchgängige Einheit aller wirklichen Religion. 
Da wirkliche von wirklicher nicht verſchieden ſeyn kann, die mytholo— 
giſche aber wirkliche Religion iſt, ſo können in ihr keine andern Mächte 
oder Potenzen ſeyn, als die auch in der geoffenbarten ſind; nur ſind 
ſie auf eine andere Weiſe in jener, auf eine andere in dieſer. Wenn 
man fagt: das Heidenthum iſt falſche Religion, fo liegt eben darin, daß 
es nicht ohne alle Wahrheit, ſondern nur die verkehrte wahre Religion 
iſt. Die mythologiſchen Vorſtellungen enthalten Begriffe, deren Wahr— 
heit, deren wahre Geſtalt und Weſen erſt im N. T. gegeben iſt. Denn 
wie das Heidenthum — aber in ſeinem ganzen Verlauf und Zuſam— 
menhang betrachtet — nur ein natürlich ſich erzeugendes Chriſtenthum 
iſt (wie hätte ſonſt der Uebergang aus jenem in dieſes zum Theil ſo 

Schild des Herakles v. 29. 


316 
leicht und unter fo großen Mafjen erfolgen Fönnen), fo tft das Juden— 
thum nur das unentwidelte Chriftenthum. Diefelbe Perfönlichkeit, die 
ven Bölfern, d. h. den Heiden, als Netter und Heiland erfchten, iſt 
im A. T. als Meffias. Die Weſen in der Mythologie find nicht 
bloß vorgeftellte, fie find zugleich wirkliche Wefen. Dionyſos in allen 
feinen Geftalten (als Dionyſos ift dieſelbe Geftalt Gott, welche als 
Melkarth Knecht ift), Dionyſos ift eine wirkliche göttliche Potenz, zu 
der das Bewußtſeyn ein wirkliches Verhältniß hat. Die Wahrheit 
der Mythologie in diefem Sinn ift durd das Chriftenthum völlig offen- 
bar geworden. Der Meſſias des A. T. konnte zunächft aud) eine bloß 
vorgeftellte Perſönlichkeit ſcheinen“, aber der Erfolg hat gezeigt, daß er 
ein wirkliches Wefen war, das am Ende des ganzen Procefjes wirklich) 
erſchienen ift, erfchienen als der Eingeborene vom Vater. „Wir 
jehen feine — die ganze vorhergegangene Zeit ungefehene — Herr— 
lichkeit“. Diefe Perſönlichkeit erſchien nicht bloß mANENg xaoırog, 
fondern auch rAjong ahmdeias (ſchwer zu erklären, nad unſrer An- 
ficht leicht). | 
Mefiins heißt ver Gefalbte; als foldyer ift er der von Anfang zum 
König und Herrn alles Seyns Beftimmte, aber wie David von. Sa— 
muel gefalbt, zum König beftimmt, aber noch nicht wirklich König ift, 
fo erfcheint auc der Meſſias des A. T. noch nicht als wirklicher Herr— 
ſcher, und wird mit Verhüllung feiner Gottheit auch nur als Knecht 
Gottes dargeftellt, wie in jenem berühmten, dem Jeſaias zugefchriebenen 
Drafel, deffen meſſianiſche Bedeutung nur die leidige Bornirtheit un- 
ferer Zeit, eine beffagenswerthe, nicht felten mit großer Wort- und 
Sprachgelehrfamkeit verbundene Unfenntnig der Tiefen und des großar- 
tigen Zufammenhangs des ganzen Altertyums leugnen, und zu dem 
Ende ihre Zuflucht zu der gezwungenften aller Erflärungen nehmen 
founte, nad) welcher jener leidende Knecht Gottes die Gefammtheit der 
Propheten oder auch etwa das Volk Israel felbft ſeyn follte. Nein, 
jene Perſönlichkeit ift eine wirffiche, obgleich allerdings feine gemein- 
' Das Berhältnig Melkarths zu Kronos als Vater war 3. B. unter den Phö— 
nikiern nur typisch, duch Handlungen, nicht durch Worte ausgeſprochen. 


317 
geſchichtliche Perſönlichkeit. Wer jenes Monument im Zufammenhang 
mit den das ganze Alterthum beftimmenvden Ideen, die jo wenig als 
die des A. T. bloß zufällige feyn können, zu lefen im Stande ift, wird 
feinen Augenblid an feiner mefjianifchen Bedeutuug zweifeln. Freilich 
ſpricht das Orakel nicht ausſchließlich von den Iegten Leiden des Mef- 
ſias, wie e8 gewöhnlich ausgelegt wird. Denn der Meſſias leidet oder 
ift in leivenden Zuftand gefeßt ven da an, daß der Menſch das in ver 
Natur Schon überwundene und zur Potenz zurüdgebracdhte Princip in 
fi) wieder aufgerichtet, zur Wirfung erhöht hat. In einem hebrätfchen 
Traktat (dem Midraſch Koheleth) jagt der Schöpfer zu dem rein ge— 
ſchaffenen Menjchen: „Hüte did, daß. du meine Welt bewegeft, fie er- 
jchütterft; denn jo du fie verderben wirft, wird fie fein Menſch wieder 
berjtellen können, jondern den Heiligen jelbft (den Meſſias) wirft du in 
den Tod ziehen”. — Das Leiden des Mefjias fängt nicht, wie man nad) 
beſchränkten chriftlichen BVBorftellungen annimmt, mit feiner Menjchwer- 
dung au. Der Mefjias leidet von Anfang an, ift in negirten, leiden- 
den Zuftand gefegt, feitvem er im menſchlichen Bewußtſeyn — denn 
nur in biefem hatte er ſich verwirklicht — wieder als bloße Potenz, alfo 
aus der Wirklichkeit gefetst ift. Die zweite Potenz war nur verwirklicht 
und verherrlicht in der Ueberwindung des B; indem alfo B, und ſo— 
‚weit e8 wieder erweckt ift, ift die zweite Potenz entherrliht, d. h. in 
leivenden Zuftand geſetzt — denn leiden und verherrlichtieyn find Ge— 
genfäe in der befannten Stelle: Wenn Ein Glied leidet, leiden alle 
Glieder mit; fo aber Ein Glied verherrlicht wird, werden alle mit ver- 
herrlicht. — Nad) der Geheimlehre der Juden wird der Siündenfall er- 
klärt als eine Auflehnung des Menfchen gegen die Herrichaft des Meſ— 
fias. Der Fall erfolgt, wenn das im Menfchen überwundene B fid) 
der Unterwerfung unter die zweite Potenz wieder entzieht. Iſt dieß ge— 
ſchehen, jo ift der Menſch in die Gewalt des nicht jeyn Sollenden ge= 
fallen, zugleich aber iſt auch die höhere Potenz von dem menjchlichen 
Bewußtſeyn ausgejchloffen, und hat fich in dieſem erjt wieder zu ver— 
wirklichen. Das Leiden des Meſſias ift alfo aud) vom Standpunft des 
U. T. fein erſt zufünftiges, fondern ein gegenwärtige, wie e8 in dem 


318 





ichon erwähnten Jeſaianiſchen Drafel durchaus als ein ſolches, nicht ale 
ein erſt bevorftehendes, gefchildert wird; als zufünftig wird vielmehr 
die Verherrlihung dargeftellt. Gefenius will dadurch, daß das Leiden 
als ein gegenwärtiges dargeftellt, die Beziehung auf den Meſſias wider: 
legen. Aber, wie gejagt, nicht erft der menfchgewordene Meſſias leidet, 
er leidet won Anfang, und das erwähnte Orakel ift befonders darum ein 
für. diefe ganze Periode der Menfchheit und ver religiöfen Entwidlung 
unſchätzbares Monument, weil bier, übereinftimmend mit der parallelen 
Entwicklung des Heidenthbums, der Meſſias noch nicht als König und 
als der Herr felbft dargeftellt wird, fondern als der bloße Knecht 
Gottes, als der leidende, als der große Mühe und Arbeit erduldende. 
„Er ſchießt auf, wie ein Reiß“ (fo ſchwach nämlich gegenüber won ber 
ſtolzen Macht der Finfternif, die die ganze Welt ergriffen hat), „wie 
eine Wurzel aus dürrem Erdreich, er hatte feine Geftalt noch Schöne, 
wir fahen ihn, aber da mar feine Geftalt, die uns gefallen hätte“. 
Man Sieht, feine Entftellung (fein in ganz anderer Geftalt Seyn) und 
feine Erniedrigung wird nicht worgeftellt als etwas Künftiges, fondern 
als etwas jetst Seyendes, ja fchon lang Geweſenes. Aber wie die Folge 
zeigt, durch Schuld des Menfchen ift er in feiner Gottheit negirt, aus 
feiner Stelle gefeßt, darum heißt er — befonders in dieſer werachteten 
und niedrigen Geftalt, mit-ganz befonvderer Emphafe des Menſchen 
Sohn. Als diefe außer der Gottheit gefetste Potenz ift er des Menſchen 
Sohn. „Er trug, wie e8 weiter heißt, alfo er trug diefe ganze Zeit 
hindurch — unfere Krankheit und lud auf ſich unfere Schmerzen“, 
Der Zuftand des menschlichen. Bewußtſeyns im der Zeit, beſonders des 
werdenden Heidenthums, der Proceß, in dem fi die mythologiſchen 
Borftellungen erzeugen, ift eine in fuccefjiven Kriſen gefegmäßig ver- 
laufende Krankheit, durch die das Bewußtſeyn fid zur urfprünglichen 
Geſundheit herftellt. Ebenſo die Schmerzen, die der Meſſias auf ſich 
(ud, find die Schmerzen des verwundeten und in fich felbft zerriffenen 
Bewußtſeyns. „Er trug unfere Krankheit — unfere Krankheit lud er 
auf ſich — wir aber hielten ihn für den, der von Gott geftraft, von 
Gott geichlagen und geplagt wäre”. Diefe Worte drücken ganz das 


319 


irrende Bewußtſeyn des gegenwärtigen Moments aus, wo das Bewußt— 
jeyn in der That diefe Perfönlichkeit ich denft als von dem zürnenden 
Gott ausgeftogen, von ihm mit Müh” und Arbeit gefchlagen, während 
das, was ihn mit diefer Arbeit belaftet, das durd Schuld des Men- 
Shen zur Wirfung gefommene, faljhe Princip des Bewußtſeyns iſt. 
„Er ift um unferer Miffethat willen verwundet und um unferer 
Sünde willen geſchlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir 
Frieden haben und durch feine Wunden find wir geheilt“. Das Wort, 
welches im Hebräifchen Sünde oder fündigen bedeutet, heißt eigentlich 
a scopo- deflectere, wie denn auch das griechiſche aZumordvew 
ebenjo vom DBerfehlen des Ziel noch bei Herodotos in der befannten 
Erzählung von dem auf der Jagd getödteten Sohne des Kröſus ge- 
braudt wird!, Das Ziel, der Zielpunkt ift aber auch der Mittelpunft. 
Der urfprüngliche Abfall des Menſchen war aber ein Abirren vom 
Ziel; denn wenn man fid) denft, wie umftreitig zu denfen ift, daß es 
in jenem Moment einer eben außer Gott (praeter Deum) geſetzten 
Freiheit e8 darauf anfam, daß der folder Freiheit gewürdigte Menſch 
jelbft frei den Ort ergreife, für den er erichaffen war, fo war die erfte 
Sünde recht eigentlich) ein Verirren defjelben vom Ziel — ein a scopo 
deflectere. Darum heißt im A. T. das Heidenthum und die den 
falſchen Göttern erzeigte Verehrung vorzugsweiſe die Sünde, und nad) 
jüdiſchem Sprachgebrauch heißen die Heiden als folde zur 2Foymv 
die Sünder, zueorwkol: wie, wenn Chrifto vorgeworfen wird, daß 
er mit Zöllnern und Sündern verfehre, damit eben Heiden gemeint 
find. Wenn alfo gejagt ift: „er trug unfere Sünde”, fo heißt die: er 
ftatt unferer trug die Kolge jener Abweichung von Gott, deren Folge 
durch Das ganze Heidenthum ſich fortfegt. Dieß wird vollends deutlich 
durch Das unmittelbar Folgende: „wir“gingen alle in der Irre” (bier 
ift alfo die Sünde dem Irrthum gleichgefet), ein jeglicher fah nur auf 
feinen Weg (Weg wird im A. T. ganz befonders auch von Religion 
gebraudht; den Weg Baals gehen, heißt der Keligion des Baal folgen), 
jeder jah nur auf feinen Weg (ver Polytheismus bringt von felbit 
1,48. 


320 
vielerlei Wege mit fi), aber der Herr warf unfere Sünde auf ihn 
(auf ihm fiel die Mühe und Arbeit)". Nach diefer Erklärung nehme 
ich alfo feinen Anftand auszuſprechen, daß id) Diefes Kapitel des alt- 
teftamentlichen Propheten für eine Haupturfunde zum Verſtändniß des 
Heivdenthums anfehe. Merkwürdig, daß in der Apoftelgefhichte (Kap. 8) 
jener Kämmerer der äthiopifhen Königin Kandafe, deren Namen die 
nenefte ägyptiſche Expedition no auf Monumenten gefunden hat, ge- 
vade diefes Kapitel des Jeſajas liest. Warum dieß? Cr fam aus 
Aethiopien, wo, wie oben! erwähnt, obwohl undeutlih, eben aud) 
jener Knecht Gottes verehrt wurde, mit dem der des Propheten Die 
meifte Aehnlichfeit hat, und mit großer Preudigfeit fängt der Apoftel 
gleich davon feinen Unterricht an, indem er wußte, daß hier die Pforte 
des Berftändnifjes auch für den Heiden geöffnet jey. In Folge des 
Unterrichts wird der Aethiopier getauft, fein Bekenntniß ift, daß Jeſus 
Chriftus der Sohn Gottes ift. Den Begriff eines Sohnes. Gottes hatte 
ihm der Apoftel nicht zu erklären, e8 handelte fid) nur darum, daß 
Jeſus Chriſtus jener Namenlofe (Evovvuog), oder daß nicht Mel- 
farth, fondern Jeſus Chriftus der Sohn Gottes ſey. Denn allerdings, 
verfelbe, welcher in der Fülle der Zeiten als göttliche Perfünlichkeit 
erfchien, wirfte im Heidenthum als natürliche Potenz, Es ift feine 
Entweihung, wenn man die Wahrheiten, welche aud) das U. T. nod) 
zum Theil verhüllt darftellt, die erft mit dem Chriftenthum in ihr volles 
Licht treten, auch in jenem geftörten Nefler des Heidenthums erfennt 
und nachweist. Don jeher ift dieß gefchehen, und gleich zuerft von den 
Kirchenvätern, wenn e8 ihnen gleich an den eigentlichen legten Begriffen 
fehfte, diefen Zufammenhang zu erklären. Nach unfrer Anficht beweist 
gerade diefer, wenn aud) geftörte, erft der Zurechtſtellung bedürfende 
Wiederfchein hriftlicher Ideen im Heidenthum, gerade diefer beweist bie 
Nothwendigfeit und Ewigkeit der Ideen des Chriſtenthums. Wollte 
man diefen Zufammenhang, wie e8 fonft gewöhnlid) war, bloß hiftorifch, 
aus Entftellung einer in Urzeiten auch an die Heiden gefommenen Kunde, 
3. B. von dem Zuftand der Exniedrigung des Meſſias erklären, jo 
' ©. 311. 


321 
würden gerade alsdann dieſe Wahrheiten, die von der Welt her find, 
deren Grund ſchon mit dem Weltgrund gelegt werden, e8 würden dann 
gerade diefe als bloß zufällige, und zufällig in der Menfchheit feyende 
ericheinen. Etwas anderes find fie freilich auch nicht dem größten Theil 
bloß formell orthodorer Theologen, und das wird von denen utiliter 
acceptirt, deren Begriffe und Kenntniffe von geftern find, die auch nicht 
die geringfte Luft zeigen etwas zu lernen, die heute das große Wort 
führen und morgen nichts mehr find. 

Ich kehre jett in den Zufammenhang der vorliegenden Unterfuhung 
zurüd. Bei diefer ganzen Entwidlung find wir ausgegangen von jenem, 
durch die übereinftimmendften und unverwerflichiten Zeugniſſe beftätigten 
Gebrauch, theils bet auferordentlihen Umſtänden großer allgemeiner 
Noth, theils aber auch an einem jührlidy wiederkehrenden Tag, dem 
Kronos Knaben, und zwar erjtgeborne oder eingeborne Söhne zu opfern. 
Zufolge ver frühern Erfahrung, daß ſolche Handlungen nichts anderes 
als Nahahmungen von Handlungen oder Begebniffen des Gottes jelbft 
jenen, mußten wir zum voraus behaupten, daß diefe Opfer dem Gott 
gebracht worden, der zum Beſten der Menfchheit des eignen und zwar 
des eingebornen Sohnes nicht verfchont habe. (Hiedurdy war alſo die 
Nothwendigfeit entftanden, dem Kronos einen Sohn und zwar einen ein— 
gebornen nachzuweiſen. Diefen fanden wir in Melfarth.) Um fich aber 
nun den Sinn jener Opfer beſtimmter vorzuftellen, denfen Sie das 
Berhältnig jo: Kronos ift feiner Natur nad) der graufame, dem Men— 
ſchengeſchlecht unholde Gott, aber deſſen Weſen für das Bewußtſeyn 
dadurch gemildert wird, daß er die zweite Potenz von ihrer Gottheit 
ausſchließt, ſie in Knechtsgeſtalt ſetzt; denn dadurch iſt eben dieſe dem 
Menſchen gegeben, und durch ſie ſind dem menſchlichen Geſchlecht alle 
die Wohlthaten geſichert, die ihm Kronos ſelbſt nicht gewähren konnte. 
Denn Kronos ſelbſt iſt nicht ſchlechthin Kronos, ſondern ihm liegt, 
auch für das Bewußtſeyn, noch immer der abſolut ausſchließliche Gott 
zu Grunde, und das Bewußtſeyn ſieht es daher nicht als eine in der 
Natur des Gottes ſchlechthin, ſondern nur in der Natur des Kronos 


als ſolchen liegende Nothwendigkeit an, daß er den Melkarth ſetzt 
Schelling, ſämmtl. Werke. 2. Abth. II. 21 


322 
oder gibt. Das Wilde, den gebildeten, menſchlichen Leben. Abholve in 
Kronos kommt nicht von feinem gegenwärtigen Seyn, e8 fchreibt fi) von 
früher, von feiner alten Natur her. Als der wilde, graufame, ift er nicht 
Kronos insbejondere, ſondern eben der allgemeine, alle8 verzehrenve 
Gott. Kronos insbefondere ift er gerade nur dadurch, daß er den Mel: 
farth gibt. Aber das Bewußtſeyn, welches in dem Kronos noch immer 
den allgemeinen Gott empfindet, fürchtet eben, daß er aufhören Fünnte 
Kronos zu ſeyn, und feine alte abjolut verzehrende Natur wieder an: 
nehme. Diefe Furcht entjteht befonders bei großen, allgemeinen Un- 
glüdsfällen, welche die Griftenz des ganzen Staats, d. h. der von Mel: 
farth verliehenen Ordnung und Berfaffung, beprohen; wenn in Folge 
einer großen Niederlage oder einer alles verheerenden Peſt ein paniſcher 
Schrecken ſich verbreitet, fürchtet das karthagiſche Volk, es möchte die 
alte Zeit zurückkehren. Dieſe Opfer werden daher auch nicht dem Kro— 
nos als ſolchem, ſondern dem in ihm noch immer, wenn gleich als 
Vergangenheit, gegenwärtigen Urgott, dem Uranos, gebracht, wie es 
auch in der aus Sanchoniathon angeführten Stelle der Kronos ſelbſt 
iſt, der dem Uranos feinen eingebornen Sohn zum Brandopfer bringt 
(dem Uranos, um ſeine Differenz von ihm zu verſöhnen, bringt 
Kronos das Opfer, ſeinen Sohn in Knechtsgeſtalt zu ſetzen; es iſt 
eine Conceſſion, die er dem Uranos macht). — Kronos kann gegen— 
über von Uranos ſelbſt nur ſeyn, indem er den Sohn ausſchließt. 
— Alſo jener dem Menſchengeſchlecht, wie es jetzt iſt, und ſeiner 
ganzen gegenwärtigen Verfaſſung und Geſittung drohende Gott ſoll durch 
dieſe Opfer verſöhnt werden, die, weil der zu Verſöhnende ein alles 
verzehrender, feuriger Gott iſt, mit Feuer verbrannt werden (auch dieß 
nämlich iſt ein beſonderer Zug, der eine beſondere Erklärung verlangt). 
Durch dieſe Opfer ſoll Uranos vermocht werden, daß er ver Menſch— 
heit ven Kronos, und mitt diefem den Heil- und Friedengeber Melfarth 
laffe, daß nicht wieder an die Stelle der Zweiheit die urerfte, - alles 
verjchlingende und verzehrende Einheit trete, welche freilich ven dem 
Bewußtſeyn, folang es noch ganz und ungetheilt in ihm war, nicht 
als fchredlich empfunden wurde; aber nachdem einmal der Gegenjag 


323 


und bie mit ihm gefeßte Befreiung gegeben ift, kann es der Menfchheit 
vor der Rückkehr in die abjolute. Einheit nur grauen. Man fieht im 
den älteften Gebräuchen, in den älteften Aeuferungen auch der Dicht- 
funft jelbft, wie fet die Menjchheit, aus dem vorgeſchichtlichen Zuftand 
herausgetreten, an dem einmal eroberten oder gewonnenen bürgerlich 
geichichtlichen Peben hing, wie nah’ dem Menfchengefchleht noch die Er- 
innerung des früheren Zuſtandes liegt und die Furcht, das gegenwärtige 
Seyn wieder zu verlieren und aufs Neue jener Vergangenheit anheim- 
zufallen. Eben diefe Furcht gebot das Opfer gegen den Gott. Der 
Gott follte dadurch bewogen werben, Kronos zu bleiben, nicht wieder 
in die Vergangenheit zurüdzugehen. 

Diefe Opfer find alfo mehr Verföhnopfer, als Dankopfer. Es 
fcheint zwar natürlich, daß fte dem Kronos für den von ihm Gegebenen 
Danf mußten. Ueber das Natürliche diefer Dankbarkeit an fi kann 
fein Zweifel ftattfinden. Aber eben wenn dieß vorausgeſetzt wird, ift 
man fchlechterdings genöthigt, auc Folgendes zu erfennen. Danf wird 
nur gefühlt und erftattet für ein freiwillig erzeigtes Gutes, für eine 
Wohlthat, die ebenjowohl auch verfagt werben fonnte. Um alfo das 
Gefühl jener Zeit vollfommen zu begreifen, jcheint e8 unvermeidlich, in 
dem Bewußtſeyn verfelben zugleidy die VBorftellung vorauszufegen, daß 
der Gottgegebene Wohlthäter auch hätte verjagt werben fünnen. Kro— 
108 mußte nicht bloß in der bis jeßt — allein angenommenen 
Möglichkeit ſeyn, die zweite Berfon von ver Gottheit auszufchliegen, 
er mußte fie ebenfomohl vom Seyn ausſchließen, alfo völlig verzehren 
fönnen (dann wäre er freilich felbft nicht Kronos: er bliebe in der In— 
differenz, Unerkennbarkeit). Wir zwar haben angenommen, daß Krongs 
diefe zweite Perfon bloß von der Gottheit und nicht auch vom Seyn 
ausichliege, und als Factum ift dieß ganz richtig, aber wir haben es 
bloß factiich angenomnten und feineswegs begriffen, Wir haben e8 an— 
genommen, weil diefer zweiten Potenz durd) einem frühern Moment, tie 
wir fagten, jhen Kaum oder Statt gegeben worden; alfo wir haben 
es im Grunde nur angenommen, weil wir vorausfetten, im dieſem Pro- 
ceffe fünne, was einmal gefchehen ſey, nicht wieder zurückgenommen, 


324 





die Bewegung fünne nicht rückgängig, das einmal Gefegte nicht wieder 
aufgehoben werden. Wenn num aber die Frage entfteht — nicht darüber, 
daß dent fo ift, fondern warum dem fo ift, fo können wir, dieje 
Frage zu beantworten, nur auf jene höhere Macht, jenes numen ung 
berufen, von den wir gleich anfanglid) fagten, daß es diefen ganzen 
Proceß leite — an jene Macht des göttlichen Lebens und Seyns, melde 
das menfchlihe Bewußtſeyn nicht ausläßt, und das ihm entfrembete 
und entzogene gleichwohl durch einen nothwendigen Proceß wieder in 
jenes urfprüngliche Verhältniß zurüdführt. Unftreitig ſtand es bei ver 
Gottheit, das Verlorene verloren feyn zu laſſen, das einmal Zerrüttete 
und in feiner innern Ordnung Geftörte vollends jeiner nothwendigen, 
unvermeidlichen Selbftzerftörung zu überlaffen, durd welche der Menjch, 
wenn er nicht, wie ſehr wahrfcheinlih, auch phyſiſch aus der Reihe der 
lebenden Wefen verſchwunden wäre, wenigftens als Menſch, als Gott 
bewußtes Wefen verfchwunden, nur noch die oberfte Klaſſe der Thiere 
bezeichnet haben würde. Ohne dieſe höhere Macht wäre es ſchlechter— 
dings unbegreiflih, warum, da jene zweite Perfönlichfeit, der relativ 
geiftige Gott doch nur in das Seyn kam, inwiefern der zuvor aus— 
ichließliche abfolut centrale Gott fid) peripherifch gemacht hatte, warum 
diefe zweite Perſönlichkeit nicht unmittelbar wieder ausgejchlofjen wird 
vom Seyn, indem fich der relativ potentiell gewordene wieder zur Männ- 
(ichfeit und zur Aktualität erhebt, wie dieß im Kronos der Fall ift. 
Es läßt fich alfo nur vermöge einer, außer dem Bewußtſeyn felbft Lie- 
genden, aber eben darum diefem nicht begreiflihen Macht erklären, daß 
die zweite Berfönlichkeit im gegenwärtigen Bewußtſeyn dennoch zugleich 
mit der wieder ausfchließlicd) gewordenen erften — befteht, und zwar 
von der Gottheit, aber nicht zugleich) vom Seyn ausgeſchloſſen wird. 
Wenn wir nun das, was innerhalb des Bewußtſeyns felbft liegt, das 
Natürliche nennen, fo werden wir jagen: natürlicher. Weife, aljo für 
das Bewußtſeyn felbft, war e8 aud) möglich, daß jene andere 
Perfönlichkeit völlig, nämlich audy vom Seyn ausgeftoßen wurde, und 
da dem Bewußtſeyn Kronos als der auf feine Einzigfeit eiferfüchtige 
Gott, ven e8 als ein verzehrend Feuer worftellt, da Kronos für das 


325 


Bewußtſeyn nothwendig in der natürlichen. Neigung ift, jene andere, 
die Gottheit oder die Theilnahme an der Gottheit anſprechende Per— 
fönlichkeit (e8 ift der erfte Moment, wo A? als Gegenjat da ift) völlig 
zu verzehren, jo erſcheint hiedurch die Eriftenz diefer helfenden und die— 
nenden PBerfünlichfeit als eine von Kronos zugegebene, und zwar als 
eine auf die Bedingung zugegebene, daß dieſe Perfünlichfeit auf das 
wirfliche Gottſeyn Verzicht thue, aller Majeſtät fich entäußere und Knechts— 
geftalt annehme. Da aber in dem mythologiſchen Bewußtſeyn nichts 
abjolut Stabiles, Stillftehendes, fondern alles in einem ewigen Auf: 
ichliegen und Gefchehen begriffen ift, jo ift auch Melfarth der immer 
nur von Kronos gegebene, oder Kronos ift immer noch in der natür- 
lichen Neigung, ihn völlig zu vernichten, und nicht bloß als der aus- 
ihlieglihe Gott, fondern al8 der jchlehthin ausichlieglihe, alles ver- 
zehrende (als Uranos) hervorzutreten. Die Angft, daß dieß gefchehe, 
äußert ſich vorzüglich bet großen, üffentlihen Galamitäten. Da tft e8 
alfo Zeit, den Kronos in feinem Zorn zu verfühnen, daß er den Frie- 
den- und Heilgeber Melfarth nicht verfchlinge — nicht in feinem eige- 
nen Seyn ganz aufhebe —, und was fonnten fie dem Gott Wirkſame— 
res darbieten als die eignen einzigen Kinder, die fie ihm gaben, damit 
er ihnen den Sohn lafje, die fie eben darum mit euer verbrannten, 
- damit nicht das Feuer des Kronos (eigentlich des Uranos) ausbredend 
ihnen den eignen Sohn verzehre, ſondern Kronos ihn fortwährend der 
Welt und der Menfchheit gebe und überlaffe. Diefe Opfer waren alfo 
wirklich nicht fowehl Danfopfer für den Gott, der des eignen Sohns 
nicht verschont hatte, jo anlodend diefe Anficht ſcheint und jo natür- 
(ih man dur die ähnliche Aeußerung des Divdor v. ©. darauf ges 
führt wird, fonvdern fie waren vielmehr Verfühnopfer für den zorni— 
gen Gott, der auf eine dem Bewußtſeyn jelbft unbegreiflihe Weiſe der 
Menſchheit jene andere Perſönlichkeit — zwar nicht in göttlicher Geftalt, 
aber eben darum als ein unter dem Menfchengefchlecht jelbft wohnenves, 
ihm unmittelbar dienendes und hülfreiches Weſen gegeben und gelafjen 
hatte, Opfer, die den Gott bewegen follten, diefen Helfer der Menſch— 
heit nicht zu entziehen. Kronos wurde alfo mit jenen jhredlichen Sühn— 


326 





opfern geehrt, nicht weil er dieſes Sohnes nicht verfchont hatte, ſon— 
dern, damit er feiner jchone — ihn als der Gottheit entäußertes Wefen 
gewähren und fortbeftehen laſſe. 

Auf diefe Art nun alfo glaube ich jene Opfer, die auch zu ben 
ichauderhaften, nad) den gewöhnlichen Anfichten ganz ee Er» 
ſcheinungen gehören, begreiflich gemacht zu haben. 

Sehen wir nun aber auf ven allgemeinen Gewinn, den wir 
diefer legten Unterfuhung verbanfen, fo befteht er hauptſächlich darin, 
daß jene zweite, dem Dionyſos verwandte, oder eigentlich ihn vorbildende 
Berfönlichfeit au) in der Kronoslehre nachgewieſen iſt; zwar, wie ges 
fagt, nur als Vorbild oder als Typus defjelben, noch nicht als Diony- 
ſos in voller Göttlichfeit, aber doch in Feiner andern Geftalt, als der 
wir und zum voraus jchon verfehen Fonnten, nachdem gezeigt war, daß 
dem Bewußtſeyn diefe Perfönlichkeit nicht gleich ald Gott, ſondern nur 
als unbegreifliches Mittelwefen erfcheinen fann. 


Fünfzehnte Vorlefung. 


Ein befonderer Gewinn der legten Entwidlung ift, daß wir durch 
diefelbe der räthlelhaften Geftalt des Herafles, welde den gewöhn- 
lihen Erflärern fo viele und zwar vergebliche Mühe macht, ihre Stelle 
in der Entwidlung der Mythologie und dadurch zugleich ihre wahre 
Beveutung und Herkunft verjchafft haben. Denn daß Melfarth und 
Herafles eine und diefelbe Perſon, ift allgemein anerfannt. 

Eigentlich gehört Herafles nur dem gegenwärtigen, eben jett be— 
bandelten Momente an; — feine erſte Erjcheinung tft bei den Phöni— 
fiern (auffallend Fönnte e8 fcheinen, daß der Name Melkartd im A. T. 
nicht vorfommt, fondern nur Baal, wie der höchſte Gott (Kronos) in 
Karthago und in allen phönikiſchen Pflanzftäpten hieß); in einem 
jpäteren Moment, 3. B. in der ägyptiſchen, in der griechiſchen Mytho— 
logie, ift Herafles Stelle bereit durch eine andere und höhere Perſön— 
lichkeit eingenommen. Aber eben dieß, daß er als diefer, al$ der in 
Knechtsgeftalt erfcheinende, in den fpäteren Mythologien eigentlidy ſchon 
eine fremde Geftalt ift, dieß macht einerjeitS die Schwierigfeit feiner 
Erflärung in diefen Mythologien, wo er mit nichts zujammenhängt, 
andererjeitS aber, indem er in diefen fpäteren Götterlehren als eine gleich- 
fan von der übrigen Mythologie abgeſchloſſene Geftalt ftehen bleibt, 
entiteht für uns der Bortheil, daß mande Züge, die fi) von feinem 
erften Dafeyn herfchreiben, in diefen fpätern Darftellungen gleihmohl 
nod aufbewahrt find und fich nicht verkennen lafjen, jo daß vielleicht 
namentlich die griechiiche Heraflesfabel, gehörig benugt, noch Mittel 


dDarbietet, einige Züge in dem urſprünglichen Bild des Herakles wie- 
der herzuftellen, welche wir wegen der großen Entfernung der Zeiten 
durch unmittelbarere Zeugniffe oder Thatſachen nicht mehr belegen kön— 
nen. Aus diefem Grunde halte ih) aud) für angemefjen, mich über den 
griechiſchen Herafles hier zu erklären. | 

| Ch ich jedoch von dem griechifchen Herafles rede, will ich noch 
ein Wort von dem ägyptiſchen fagen. Denn aud) nad) Aegypten hat 
fich die Verehrung des Herakles verbreitet, und zwar wurde er nach Hero⸗ 
dotos Erzählung zu den zwölf alten Göttern gerechnet, während nach 
eben demſelben Dionyſos (d. h. die dem Dionyſos in Aegypten entſpre— 
chende Perſönlichkeit) erſt zu der dritten Göttergeneration zählte‘. Darin 
war anerkannt, daß Herakles, obwohl im freundlichſten Verhältniß mit dem 
ägyptiſchen Dionyſos, dennoch Alter ſey und einer früheren Zeit ange: 
höre, ja nad) einer Stelle des Macrobius, die übrigens freilich nicht 
eben ſoviel als Herodotos beweifen kann, follen ihn die Negyptier ſogar 
als einen Gott, dem man feinen Anfang wife, verehrt haben: Secre- 
tissima et augustissima religione Aegyptii eum venerantur, ultra- 
que memoriam, quae apud eos longissima est, ut carentem 
initio colunt, d. h. fie hatten das Bewußtſeyn, er fey noch älter als 
Oſiris, der ihre longissima memoria war. Bon dem menfchlichen, 
bloß als Heros verehrten Herafles der Griechen, die indeß zugleid, 
wie Herodotos fagt, einen olympifchen erkannten, den fie wie einen ber 
Unfterblichen ehrten, konnte Herodotos in Aegypten feine Spur- finden, 
dort gab es überhaupt Feine Heroen? Ob man nun ſich zu denken 
hat, daß das / ägyptiſche Bewußtjeyn früher jelbft auch auf dem Punkte 
geftanden, wo wir das phönikiſche fanden, oder ob der Begriff ves 
Herakles ein won den Phönifiern dahin verpflanzter ift, will ich 
nicht abjolut entfcheiden. Doch ift es befannt, daß die Phönikier ihre 
Öottheiten und Heiligthümer überall hin, 3. B. felbft auf die Infeln des 
agaiichen Meeres, ja. an vie Küfte von Spanien verpflanzten, und 


' Lib. II, 145, vgl. mit c. 43. 


* Dan vergl. über den ägyptifchen Herkules und deffen Verhältniß zu Oſiris 
Guignaut T. I, p. 420. 


329 
beftätigend ift, daß der einzige Tempel des Herafles, deſſen Herodotos 
in Aegypten Erwähnung thut, an der fanopifhen Mündung des Nils, 
oberhalb Tarichia, alfo am Ufer, gleihfam als Heiligthum über bie 
See gefommener Fremdlinge, errichtet war; im Innern des Landes, 
iheint e8, fand fich fein folcher. Von jenem an der Küfte liegenden 
Tempel erzählt Herodotos ' das Befondere, daß Sklaven, die dahin 
flüchteten, wenn fie ein gemwifjes Zeichen, durch das fie wahrſcheinlich 
dem Gott geweiht wurden, ſich aufprüden ließen, eben dadurch ihre 
Freiheit erhielten; audy darin erfennt man den befreienden Gott. Zu 
bedauern ift, daß wir fonft nichts über dieſen Tempel und die Art 
jeiner Verehrung in demſelben wiljen. Zu Haufe und gleichjam unter 
den Augen des eiferfüchtigen Kronos wurde Herafles wahrſcheinlich auf 
andere Weiſe als im Ausland verehrt, und nit Kronos, jondern 
Herafles war den Phöniftern, die zuerft von allen Sterblichen über 
das Meer fich wagten, Führer der Keife und Retter aus der Gefahr, 
gerade jo wie andere Völker den Landhandelsweg zwifchen Indien, 
dem glüdlihen Arabien, Aethiopien und Aegypten mit Heiligthümern 
des Dionyſos bezeichneten. Herakles war der eigentliche Gott der jee- 
fahrenden Phönifier, wie man unter anderm aud) aus den Attributen 
des berühmten Herafles zu Erythrae abnehmen kann, den Paufantas 
befchreibt. Der große Tempel des Herafles zu Gades enthielt aber Feine 
Bildſäule deffelben, wie Silvius Italicus fagt ?: 
Nulla effigies simulacrave nota Deorum 
Majestate locum et sacro implevere timore. 

Man fünnte dieß daraus erflären, daß er als der Gott, der ſich als 
ſolcher noch nicht verwirklicht hatte, auch in feinem Bild dargeftellt 
wurde, oder, daß überhaupt das Bewußtſeyn in Anfehung feiner zmei- 
felhaft war, ob e8 den Gott oder den Menfchen in ihm varftellen jollte. 
In Tyrus jedoch muß ein Bild des Herafles gewejen jeyn, denn, wie 
Paufanias verfichert, hielten die Tyrier ihren Melfarth, nicht bloß zu 
Zeiten der Noth, fondern faft beftandig gefejjelt. Man kann diefe 


‘I, 113. 
2 JII, 30. 


330 
Seffelung auf verſchiedene Weiſe erklären. Herakles ift der. ver Be— 
wegung, der Fortfchreitung günftige Gott, dadurch eben Gegenſatz bes 
Kronos, der ſich der Zeit verfagt. Infofern hatten die Orphifer wenig- 
ftens nicht ganz Unrecht, wenn fie den Herafles als die nie alternde 
Zeit erklärten: er war die in Kronos ſich regende, endlich fiegende Zeit. 
Man könnte als damit parallel anführen, daß die italifchen Völker ven 
Saturnus fefjelten und nur an gewiffen Tagen (gratis diebus, mie 
eine Quelle fi ausprüdt) feiner Bande entledigten. Hier wäre näm— 
lid) Kronos als ſchon übermältigt umd felbft der Bewegung hingegeben 
zu denfen — der Bewegung, welche das an der Vergangenheit feft- 
haltende Bewußtſeyn noch aufzuhalten fucht. Allein wenn man genauer 
unterfucht, fo war Saturn von Jupiter gefeffelt worden, wenigftens 
fagt der Stoifer bei Cicero ': Vinetus autem a Jove Saturnus, ne 
immoderatos eursus haberet, atque ut eum siderum vinculis alliga- 
ret. Letzteres iſt Erklärung des Stoifers, die und nichts angeht. Wir 
nehmen nur das Erſte heraus. Die Feſſeln des Kronos zeigen alfo 
vielmehr an, ‚daß er durd einen höhern Gott ſchon gebunden und die— 
fen unterworfen ift. Auch die Titanen, zu denen Kronos gehört, wer— 
den ja von Zeus gebunden. Und fo ift der in Tyrus gefejjelte Mel- 
karth der von Kronos gebundene, und in diefem Bilde des Gefefjelten 
wird eben das Bild des Melkarth in Sklaven- oder im Knechtsgeſtalt 
zu erfennen ſeyn. Wenn nun aber in dem Tempel zu Gades Fein Bild 
des Herafles mar, und wenn er in Aegypten rein als Gott verehrt wurde, 
fo wiverfpricht dieß aus dem ſchon angeführten Grunde nidyt der Möglich- 
feit, daß dieſer Tempel in Aegypten von den Phönikiern ſich herſchrieb; 
auf jeden Fall aber hatte Herafles in Aegypten, obwohl unter die ältejten 
Götter aufgenommen, doch ebendarum in dem Bewußtſeyn und im der 
Religion der Gegenwart feine Stelle. Doch dieß alles find unter- 
georonete Fragen, die ihrer Natur nad) nit mit völliger Gemwißheit 
entichieven werden Fünnen, in Anſehung welcher ich aljo aud feinen 
Anfpruh mache etwas Unzweifelhaftes aufzuftellen. Das Wichtigite 
für uns ift die Stellung des ägyptiſchen Herafles vor dem Dionyſos, 
' De Nat. Deorum II. 25. l 


aber nicht als Gegner oder Widerfacher, fondern vielmehr als ver- 
wandte Geftalt, als Vorläufer deffelben. 

Was nun aber den hellenifchen Herafles betrifft, fo kann ich 
nicht umhin bei diefem länger zu verweilen. 

Innerhalb der allgemeinen griechiſchen Mythologie bildet ver Hera= 
klesmythos einen abgejchloffenen Kreis für fi, gleihfam eine eigne 
Mythologie. Er kann daher, wenn wir bis zur Entwidlung der griechi— 
ſchen Götterlehre kommen werden, in dieſer Entwicklung feinen Platz 
mehr finden. Es kommt hiebei auf zweierlei an: 1) ob Herakles wirklich 
eine dem phönikiſchen Melkarth entſprechende Perſönlichkeit iſt; 2) wie 
er in die griechiſche Mythologie gekommen, und wie man ſich die Ver— 
änderung erklären ſoll, die er in dieſer erhalten. Was alſo das Erſte 
betrifft, ſo finde ich, wie geſagt, keinen Anſtand, den helleniſchen Hera— 
kles für ein wirkliches Nachbild des Melkarth zu erklären, deſſen weſent— 
lichſte Eigenſchaft auch in der griechiſchen Heraklesfabel wenigſtens deut— 
lich genug noch durchſchimmert; ſey es nun, daß in einer freilich ſehr 
entfernten, vergangenen Zeit die Geſchlechter, welche nachher die griechi— 
ſchen Stämme bildeten, ſelbſt auf dieſem Standpunkt ſich befanden, 
welchem die Idee des Herakles entſpricht, und daß ſie die in eigner 
Erinnerung behaltene Herakles-Idee in der Zeit der ihnen eigenthümlichen 
Myuthologie dann fo umbildeten, wie wir fie bei ihnen — in ihrer 
Heraflesfabel — umgebilvet finden, oder, daß fie diefe Vorftellung von 
den Phönikiern erhalten haben. Denn jo abgeneigt ich fonft bin, griechiiche 
Kunft und Mythologie vom Ausland herzuleiten, fo hat e8 doch mit 
der Herakflesfabel eine befondere Bewandtnif. Das Ganze, was wir eigents 
lich griehtiche Mythologie nennen fünnen, tft ein durchaus organiſch aus 
felbftjtandigem Keim, ohne wejentlihen äußeren Einfluß Erwachſenes. 
Aber die Heraklesfabel bildet einen mit der ſpätern griechischen Götter: 
(ehre zwar in Zufammenhang gefesten, aber ihr ganz zufälligen Kreis; 
fie könnte völlig fehlen, ohne daß darum der griehiichen Mythologie 
etwas abginge oder dieſe weniger vollendet wäre, indeß man nicht nur 
den Kronos und den Zeus, fondern ebenfo auch den Dionyfos, bie 
Demeter und andere Gottheiten nicht aus ihr hinwegnehmen könnte, 


332 





ohne fie felbft zu zerftören. Dieſer bloß äußere Zufammenhang ver 
Heraflesfabel mit der griehifhen Mythologie könnte daher als Beweis 
angefehen werden, daR fie aud) von außen her hinzugefommen, daß fie 
etwa als eine ergötliche phönifiihe Erzählung aufgenommen und nad) 
griehifcher Art verwandelt wurde. Die Anwejenheit der Phönikier an 
allen Küften des ägäiſchen Meeres ift eine hiftorifche, nicht zu beſtrei⸗ 
tende Thatſache, während z. B. die Liebhaber der Indiſchen Ableitungen 
auch nicht von ferne anzugeben wiſſen, wie und bei welcher Gelegenheit 
indiſche Vorſtellungen nach Griechenland gekommen ſeyen. Von dem 
Volk, dem es die Schrift und die Namen der Buchſtaben verdankte, 
konnte Griechenland auch wohl anderes annehmen: nicht daß es dadurch 
in ſeiner eignen Entwicklung geſtört wurde, ſondern daß es das Em— 
pfangene, wie es offenbar mit dem Herakles geſchah, frei und der eig— 
nen Art gemäß umbildete und mit ſeinen eigenthümlichen Vorſtellungen 
in Verbindung ſetzte. Denn der phönikiſche Melkarth z. B. iſt der Sohn 
des Kronos und ſteht mit dieſem in Verbindung. In dieſer Verbindung 
konnte ihn die griechiſche Fabel nicht brauchen, weil in ihr, wie geſagt, 
Kronos verſchollen, eine völlige Vergangenheit war, über die es mehr 
ziemte zu ſchweigen, als zu reden. Deßhalb macht ihn die griechiſche 
Fabel zum Sohne des Zeus und läßt ſeine ganze Geſchichte auch in 
dem Reich und unter der Herrſchaft des Zeus ſich ereignen. Auf jeden 
Fall iſt nicht zu zweifeln, daß die Herakles-Idee den Griechen noch vor 
der Entwicklung der Dionyſoslehre bekannt war; denn, wie geſagt, 
Dionyſos wurde erſt ſpät oder eigentlich zuletzt zum Gott, nicht lange 
vor Homer, oder eigentlich erſt mit Homer, d. h. mit jener Kriſis, 
welche durch den Namen Homer bezeichnet iſt, und die ich in der Folge 
ausführlich darſtellen werde. Epiſche Gedichte unter dem Namen Hera— 
kleen exiſtirten unzweifelhaft vor Ilias und Odyſſee. In ihnen befreite 
ſich das griechiſche Bewußtſeyn von der Idee des Herakles, an deſſen 
Stelle nun ganz Dionyſos trat. Denn wenn in dem helleniſchen Be— 
wußtſeyn irgend eine Anwandlung war von einer dem phönikiſchen Hera— 
kles ähnlichen Vorſtellung, ſo mußte die aus einem ſolchen früheren 
Moment ſich herſchreibende Vorſtellung eines den Menſchen hülfreichen, 


333 
aber in völliger Entäußerung feiner Gottheit gehaltenen Gottes — diefe 
mußte aus dem Bewußtſeyn entfernt und in etwas anderes umgewendet 
jeyn, ehe die tiefere Idee des Dionyfos gleihjam zum Vorſchein kom— 
men, ſich frei offenbaren und hervortreten konnte. Auf diefe Art, könnte 
man dann jagen, hätte ſich das griechiſche Bewußtſeyn durch die Hera- 
fleen jener altern Borftellung entledigt, den Herafles in die ſpätere Zeit, 
die des Zeus verjeßt. Die Herafleen wären dann für eine frühere Zeit 
eben das, was Ilias und Odyſſee für eine jpätere wurden. Und wenn 
im Gegenſatz mit der öffentlichen Götterlehre gewifjermaßen die Myſte— 
vien noch die Erinnerung der Bergangenheit waren, jo würde ſich daraus 
erflären, daß Herakles in diefen anders erfchien. Nah Plutarch war, 
wie ſchon bemerft worden, in Myſterien von Unthaten des Kronos bie 
Rede; follten dieſe fich nicht auf Herafles bezogen haben? In einigen 
Myſterien wird Herafles den idäiſchen Daftylen und den Kabiren zuge- 
zählt, d. h. er wird noch unter die rein geiftigen- Potenzen gerechnet, 
denn die Kabiren waren die formellen Götter — Deorum Dii, wie fie 
aud) genannt wurden, die Götter, durch welche die ander, die fubftan- 
tiellen oder materiellen, ſelbſt erſt gefetst werden, die verurfachenden Po— 
tenzen der Mythologie. In diefen [ehr alten Myſterien war alſo Herafles 
nicht ein Heros, wie in der |päteren Umbildung, ſondern eine göttliche Po- 
tenz, und daraus jollte man fchliegen, daß der Herafles doch der 
Griehen eigne Erinnerung war. Paufanias! erzählt ausprüdlid von 
einem Tempel des Herafles in Thespia, von dem er fagt, diefer Tem— 
pel fcheine ihm älter als der des Amphithryoniden Herafles (d. h. älter 
ald der des griechiſch umgewandelten Herafles) und vielmehr dem 
Herafles gewidmet zu feyn, den man unter die iväifchen Daftylen zähle 
(wo göttliche Potenz) und deſſen Verehrung er auch bei den Tyriern 
gefunden habe. Zu Erpthrae und zu Myfaleffus in Böotien war eben- 
falls nach Pauſanias? derjelbe Herafles zu der Demeter in ein gemiljes 
Berhältnig gefegt — Küfter der Demeter; das Volk erzählte von ihm, 
daß er die Thüre ihres Tempels am Morgen öffne, am Abend jchließe. 
rag at 
? Eben daſelbſt; vgl. VIIL, 31. 


334 


So unklar dieß ift, enthält es doch eine Spur der Bermandtichaft, die 
zwifchen Herafles und Dionyſos empfunden wurde. 

Dod wenn nun alle dieſe Thatfahen Spuren enthalten, daß ur— 
fprünglich unter Herafles nod) etwas mehr gedacht wurde, als die ſpä— 
ter epiſch umgebildete Fabel deſſelben ausfpricht: fo darf man übrigens 
nur diefe jelbft mit Aufmerkſamkeit betrachten, um in ihr bie verwan— 
delten Züge jener älteften, aus der Zeit des Kronos fi) herichreibenden 
Borftellung no zu erkennen, und wenn Buttmann in feiner Abhand- 
fung über den Mythos des Herafles ver Meinung ift, diefer Mythos 
ſey als ein reines Dichterproduft anzufehen, das ein Ideal menfchlicher VBol- 
kommenheit, gleichſam einen fittlichen Helden in der Berfon des Herafles 
darzuftellen beabfichtige, jo ift es ihm doc, feineswegs gelungen, aus 
diefer allgemeinen Abficht jene befondern Züge des Mythos zu erflä- 
ven, bie im Gegentheil leicht begreiflich werden, ſobald man annimmt, 
daß in diefem Mythos die urfprüngliche — orientalifche — Borftellung 
des Herafles in etwas anderes umgewendet, nur ins Menfchliche gezogen 
und umgebildet ſey. — Ic bemerfe vorläufig, daß mir, wie vielen 
anderen ſchon, die gewöhnliche griehifche Etymologie des Namens fehr 
zweifelhaft erfcheint, ob id) gleicdy der meift. angenommenen Ableitung 
von dem hebräiſchen over phönififchen 59% (alſo mit Artikel: sn) 
— viator, mercator, nicht beiftimmen kann. Münter bezieht dieß auf 
das Herumziehen des Herafleg (62 heißt herumziehen wie ein Hau— 
delsjude) oder auf feine Obhut des phoͤnikiſchen Handels, Creuzer, der 
auch hier ſeine Sonnenhypotheſe nicht los werden kann, auf den Wan— 
del des Herakles in der Sonnenbahn; denn auch Herakles iſt ihm, wie 
Mithras, die Sonne. Wenn ich aber eine orientaliſche Etymologie für 
den Namen anerkennen ſollte, ſo würde ſich als die entſprechendſte an— 
bieten, ihn für by 729! zu erflären, similitudo Dei, alſo wörtlich 
noopn Fs0oV, der Ausdruck, deſſen ſich der Apoftel in der befannten 
Stelle von Chriftus bedient; und da dieſe Etymologie fo. ganz dem 


Von JM/ das auch gleichftellen bedeutet, z. B. TOR 7» 8 
nichts ift Dir gleichzuftellen, Hiob 28, 17. 


335 
urfprünglidhen Begriff und Verhältnifje des Herafles entſpräche, jo 
würde ich aud) dieſer Etymologie wegen behanpten, daß bie griechtiche 
Heraflesfabel nicht poetifh erfunden, fondern nur die Umbildung einer 
auch im Drient ſchon vorhanden geweſenen Vorftellung jey. 

Un dieß an den einzelnen Zügen der griechiſchen Heraklesfabel 
nachzuweiſen, fo tft. der griechiſche Herakles, wie ſchon bemerft, und 
aus dem bereits angezeigten Grunde in das Neid des Zeus werjeßt. 
Er ift alfo Sohn des Zeus, aber von einer fterblihen Mutter, gerade 
wie Dionyſos aud) Sohn der Semele ift. Zeus nimmt die Geftalt 
eines Sterblihen, des Amphitryon, Königs von Theben, an (au 
Dionyſos, der Semele Sohn, ift der thebanifche), und erzeugt in dieſer 
Geftalt mit deſſen Gemahlin Alkmene den Herafles. Ihm fanıı nicht 
Zeus, der herrſchende Gott der freiern, beſſern Zeit, entgegen feyn. 
Kronos, der ſchon verjchollene, ebenfowenig. Dagegen tft e8 der Zorn 
und die Eiferfucht der Hera, in melde nun gleihjam das Princip der 
Bergangenheit gelegt ift. Zeus Gemahlin ift e8, die ihn ſchon in der 
Geburt verfolgt, indem fie durch Zaubermittel feine Geburt (fein ans 
Liht Kommen) aufhält, und die ihm von Zeus beſtimmte Herrſchaft 
einem andern, dem Euryſtheus zumendet. So wenigſtens nad) der 
Erzählung ver Ilias‘. Der allgemeine Begriff, der in dieſem Berhält- 
niß zu Euryſtheus ausgerrüdt ift, ift der Begriff eines zur Herrichaft 
Beftimmten, dem aber diefe Herrfchaft oder fein Reich von einem ans 
dern vorenthalten wird. Wie käme gerade diefer Zug in die Herafles- 
fabel der Griechen, die in der That nur gefabelt, d. h. nur bloß zu— 
fällige Gedanken verfnüpft haben, wenn fie nicht die bloße umgewandelte 
ältefte Anficht enthielte ? 

Dem phönikiſchen Herafles wird die Gottheit, d. h. die Herrichaft, 
bie Herrlichkeit, das Neich (denn dadurch wird die wirfiiche Gottheit 
ausgedrüct) vorenthalten von Kronos: — an die Stelle des Kronos 
mußte in der helleniſch umgewandelten Fabel ein menjchlicher König 
Euryſtheus treten. Allein mas den Herafles um die ihm vom Vater 
beftimmte- Herrlichkeit bringt, ift nebft den Ränken der Hera ber 

‘11. XIX, 91 9. 


336 
unbedachte Schwur, ven Zeus geſchworen, daß der, welchen beftimmt jet 
an diefem Tage das Licht zu erbliden, die Herrſchaft über die Argeter 
erlangen fol; diefen Schwur benugend, befchleunigt Hera widernatür- 
li) die Geburt des Euryſtheus, und hält die des Herakles zurück. 
Wegen diefes Betrugs nun zürnt Zeus nicht ſowohl der Hera, als ver 
Ate, d. h. der perfonificirten Unbefonnenheit, Unbevachtheit, die auch 
ihn bethört habe. Tiefer Gram dringt ihm ins Herz. - Eilend faßt er 
die Ate am jchöngelodten Haupt und ſchwört zornvoll den mächtigen 
Eidſchwur. Nie fol fie hinfort zum fternbevedten Olymp  wiederfeh- 
ren, die Ate, die alle bethört und zur Schuld verleitet. Die Beraubung 
aljo und die folgenden Leiden des Herafles find die Folgen der bethö- 
renden Schuld, aber er trägt die Folgen nicht feiner eignen, ſondern 
fremder Unbedachtheit. Dieß ift der allgemeine Gedanke, der in dieſer 
Erzählung liegt. Wäre Herafles nicht urfprünglid) ein Wefen von all- 
gemeiner Bedeutung, fo würde an fein Schiejal nicht etwas jo Allge- 
meines gefnüpft, wie die Berftoßung der Ate aus dem Olymp, bie 
immer den Menjchen nahe ift und alles bethört; ihre Füße find weich, 
nie berührt fie ven Boden, ſondern jchreitet über die Häupter der Men- 
ſchen und fieht, wo fie einen zu Schaden bringe, den einen oder den 
andern beftride. Sie heißt auch in demſelben Zufammenhang modoPfe 
As Ivydrno!, die ältefte, die unvorbenkliche Tochter des Zeus. (Ich 
brauche Sie wohl nicht zu erinnern, wie der Umſturz des menjchlichen 
Bewußtſeyns, den wir in diefer ganzen Entwidlung verfolgen, die un- 
bedachte, unvorgefehene Folge einer unvordenflichen Bethörung, Täuſchung 
ift.) Derjenige num aber, der dem Herafles das Reich vorenthält, ift 
ein durch böfen Zauber ihm im Seyn Zuvorgefommener (B dem A). 
Auf den legten Grund verfolgt, führt dieſes Geſchick zurüd auf das 
Urverhältniß der zwei Principien, deren eines (das unrechte Seyn) dem 
rechten im Seyn zuvorkam. Sie werden ſelbſt überlegen, ob es wohl 
für die Dichtung von der durch Hera beſchleunigten Geburt des Euryſt— 
heus und der verzögerten des Herakles ein anderes Motiv geben könnte, 
als das in unfrer Idee liegende. Das Nächte in dem’ Verhältniß des 
u — 


337 

Herafles ift nun, daß er eben demjenigen zu dienen und als Knecht zu 
frohnen gezwungen ift, der das Neid), das ihm gebührte, für fich ge- 
nommen hat, dem Eurhftheus. Schwer wird ihm dieß, denn einem 
Niedrigern zu dienen, wie e8 bei Diodor heißt, hielt er keineswegs ſei— 
ner eignen Tugend gemäß ', aber dem Bater Zeus nicht zu gehorchen, 
ſchien ihm unfelig und zugleich unmöglich; er dient alfo dem Euryſtheus 
als Knecht. Diefer aber, der mit aller Macht oder Herrlichkeit, und 
von zahlreihen Trabanten feiner Gewalt umgeben ift, fürchtet ſich 
gleihwohl vor dem Starken, der jett jo ſchwach und unvermögend ift. 
Auch diefe Züge von der lächerlichen Furcht des Euryſtheus finden fich 
ausdrücklich in der griehiichen Erzählung, — wer die tronijchen Züge 
fennt, mit denen ein jpäter befreites Bewußtſeyn ſich für den Drud der 
früheren dunfeln Gewalt ſchadlos hält, der wird feinen Augenblic zwei— 
feln, woher diefer Zug in die Erzählung gefommen, nämlich aus dem 
Borbild der Fabel, dem argwöhniſchen Gott, der den Herafles zugleich 
unterdrüdt und fürchtet. Hier folgen nun in der Erzählung alle die 
Arbeiten, die Herafles im Dienfte des Euryſtheus erduldet. Weder in 
der beftimmten Zahl, noch in der Art diefer Arbeit ftimmen alle Be- 
richte überein; indeß ift feine diefer Arbeiten, durch welche nicht ein dem 
menjchlichen Leben gefährliches Ungeheuer befiegt, oder irgend etwas 
anderes, den Menfchen Nachtheiliges vernichtet wurde. In den ver- 
ſchiedenen Ungeheuern, die Herakles befampft, iſt es nicht jchwer, alle 
Symbole zu erfennen, durch welche die Mächte der Finſterniß, Erſchei— 
nungen der dunfeln, die menjchliche Freiheit bevrohenden Gewalt darge- 
ftellt wurden. Dieß erkennt zum Theil felbft Buttmann, ob er gleid) 
in dem Ganzen, alfo auch in diefen Mächten der Finfternig eine bloß 
moralifche Bedeutung erkennen will. Die größte That des Herafles ift 
indeß, daß er in die Unterwelt hinabfteigt, das dreiföpfige Ungeheuer, 
den Gerberos heraufjchleppt, ja den Hades felbjt verwundet. Diefe - 
That geht nad allen Begriffen des griechiſchen Alterthums über vie 
Grenzen eines bloß menſchlichen Herven hinaus. Obgleich nämlich eben 

' TO re ydo ro razsıvortom dovislew oldauds afıov Erowve rg idiag 
äperig. Diod. Lib. IV, e. 11. 

Schelling, ſämmtl, Werfe. 2. Abth. I. 22 


338 
dieß Hinabfteigen in die Unterwelt fpäterhin auch von andern Heroen 
vorfommt, fo ift Doch diefer Zug offenbar ein nur von Herafles auf 
fie übertragener. Herafles zeigt fi) eben darin ald der auch Macht 
hat über die Unterwelt, oder, wie e8 im N. T. ausgebrüdt wird, Der 
die Schlüffel hat ver Hölle und die Schreden der Unterwelt befiegt, 
wie bet Euripides, wo er die Alkeftis befreit, Herafles in der That als 
mit dem Odvarog ringend eingeführt iſt. Hades felbſt iſt der ur— 
ſprünglich unholde Gott; denn der wilde, der grauſame Gott, endlich 
überwältigt, verwandelt ſich in den Gott der Unterwelt, d. h. der Ver— 
gangenheit; inſofern alſo iſt der Gott, der dieſen beſiegt, allerdings auch 
der über den Gott der Unterwelt Gewalt hat. Ohne eine Ueberlieferung 
von höherer Bedeutung vor ſich zu haben, hätte der Grieche eine ſolche, 
außer der Gewalt der Menſchen liegende That dem Herakles nie zuzu— 
ſchreiben gewagt. — Während dieſer ganzen Zeit feiner Arbeit ſeufzt Zeus 
felbft, fo oft er den Sohn erblidt mühjelig ringend im Frohndienſt 
des Euryſtheus. Himmliſche, — Hermes insbefondere und Zeus ges 
liebtefte Tochter Pallas, die am fpäteften geborne Göttin richfet ihn 
auf unter feiner Arbeit und rettet ihn wohl auch, wie fie ſelbſt in der 
Ilias fagt: z 
Nicht ja gedenkt Zeus deſſen, wie oft vordem ich den Sohn ihm 
Rettete, wenn er gequält von Euryſtheus Kämpfen fi) harmte, 


Auf zum Himmel meinte, der Duldende. Aber e8 fandt’ ihm 
Mich zur Helferin jchnell von des Himmels Höhe Kronion. 


Wenn foweit die Ausdauer des Herakles, fein Aushalten in ver 
schweren Arbeit hauptfächlich hervorgehoben wird, fo müßten wir jet 
aud) die Schwachheiten in Betracht ziehen, denen er während der Dauer 
feiner Exrniedrigung unterworfen war. Buttmann hat von feinem Stand» 
punft ganz Recht, wenn er fagt, daß dieſe Schwachheiten des. Herafles 
jelbjt zur poetifchen Wirkung des angeblich moralifchen Mythos erforder- 
(ih waren. Allerdings würde der Held, der menſchlichen Schwachheiten 
nie unterläge, zum Vorbild nicht taugen, und dev Dichter muß feinen 
Helven fallen laſſen, damit der gewöhnliche Menſch ihn, wenn auch 
meit über fi, doch als feinesgleichen over al8 einen ſolchen betrachte 


339 
dem er nacheifern Fünne. Aber e8 würde Buttmann ſehr ſchwer fallen 
zu bemweifen, daß zu dieſer moralifch = poetifchen Abficht gerade dieſe und 
feine andern Züge gewählt werden fonnten, und wenn alle übrigen Ber- 
hältniſſe auf einen höheren Urſprung des Heraflesmythos deuten, fo ift 
dieß mit den Zügen feiner Schwachheiten nicht minder, ja vielleicht noch 
entichiedener der Fall. Zu den Schwachheiten, denen Herafles unter: 
worfen ift, gehört erftens Krankheit. Dieß erinnert unmittelbar an jenen, 
ebenfalls mit Krankheit gefchlagenen Knecht Gottes, von dem das 
altteftamentliche Drafel jagt: Er trug unfere Krankheit. Aber feine be 
jtimmte Krankheit ift, wie aus einer Stelle in den Problemen des Ari— 
ftoteles ' erhellt, die, welche von Hippofrates und den andern griechiichen 
Aerzten ieo& v6cog genannt wird, morbus sacer, die heilige Kranf- 
heit: vornämlich die Fallſucht, wiewohl es fcheint, daß diefer Ausorud 
auf alle mit Katalepfis, mit efjtatifchen Zuftanden, mit einem von -ſich— 
Seyn verbundenen Uebel ausgedehnt wurde. Die Krankheit, mit welcher 
jener der Menjchheit urfprünglidy zum Heiland Gegebene fid) belaftet 
fühlte, war allerdings eine /eox v6cog, eine religiöfe Krankheit, ein 
morbus sacer, weil fie von einem efjtatichen Zuftand des Bewußtſeyns 
herrührte. — Nicht anders verhält es fi) mit dem Wahnfinn oder der 
Kaferei, die zur Iy7kov "Hoas ihn ergriff (denn die urjprüng- 
fiche Eiferfucht des Kronos ift in der vermenfchlichten Heraklesfabel in 
die Hera gelegt, in welcher allein nod ein Reſt jener Eiferfuccht ſich 
findet, won welcher Zeus, der ſich darin gefällt Vater der Götter und 
Menſchen zu jeyn, nichts mehr weiß). Es ift früher ſchon erwähnt 
worden, wie auch Dionyſos als der rajfende und darum Wahnfinn 
verhängende Gott erjcheint. Iſt er doch feiner ganzen Stellung nad) 
der außer fich (feiner Gottheit) gejette. Aber wodurch äußert fi) nad) 
ver Erzählung diefer Wahnfinn? Antwort: Indem er feine und feines 
Bruders Iphikles Kinder ins Feuer wirft. Hier fehen Sie es alſo 
ganz deutlich, wie auch der griechiiche Herafles mit dem Melkarth zu- 
jammenfällt, für welchen dem Kronos die Kinder verbrannt wurden. 
Denn auch der Einwohner Kanaans, der feine Kinder über die geneigten 
' p. 212, 9 (Sylburg). 


340 
Arme des Molochbildes in die Feuergluth Hinabrollen Tief, glaubte 
diefe Kinder zwar dem Moloch, aber für den Melfarth, zu opfern. 
Infofern war Melkarth Urſache diefer Opfer, darum wird auch dieſes 
Berbrennen der Kinder dem Herafles zugefehrieben, doch nur dem außer 
ſich gefetten, oder dem in Anfehung feiner in Irrthum und Wahn ver- 
jegten Bewußtfeyn. Denn der wahre, ver fi) jelbit gleiche Herafles 
würde im Gegentheil diefe Opfer gewehrt und verhindert haben, wie er in 
andern griedhifchen Sagen vielmehr als der vorfommt, der die Men- 
ſchenopfer von den blutigen Altären verbannt und unblutige Opfer an 
deren Stelle jest. Aber gleichſam die tieffte Berfinfterung jeiner- Herr: 
fichfeit erleidet Herafles, indem er in den Dienft einer Königin der 
Lydier, Omphale, tritt, weibifch wird, mweibifches Wefen und fogar wei- 
bifche Tracht annimmt. In einigen Erzählungen wird ihm diefe Dienft- 
barkeit als Buße für ein vergangenes Verbrechen auferlegt. Aber das 
ift wohl nur eine gejuchte und Fünftliche Verknüpfung, ſowie die Arbei- 
ten, die ihm in diefer zweiten Dienftbarfeit auferlegt werden, nur eine 
zwedlofe und erfindungsarme Wiederholung der ſchon früher da geweſe— 
nen find. Das Wefentliche bleibt — fein weibifc Werden. Dieß 
hat num in der griechiſchen Fabel gar feinen Sinn und befonders möchte 
man fagen: für ein Ideal menschlicher Vollfommmenheit oder eines fitt- 
lichen Heros finft Herafles bier zu tief. Wenn man aber die ganze 
griechiſche Heraflesfabel nur für die ins Menjchliche ungebildete Er- 
zählung anfieht, der eine Meberlieferung von höherer Bedeutung zu 
Grunde liegt, jo erklärt fi) auch diefer Zug auf eine einleuchtende Art. 
Herafles ift nämlid im Bewußtſeyn Vorläufer des Dionyfos, eine 
frühere Erſcheinung deſſelben, und zwar die frühefte, die unmittelbar 
auf jenen Moment folgt, wo er mit der Urania nody zu Einer Gott- 
heit verſchmolzen ift. Diefer legte Zug fehreibt fid) alfo aus dem Mo- 
ment her, wo das Bewußtſeyn des Gottes, alfo der Gott ſelbſt nod) 
ſchwach, in der weiblichen Gottheit noch gleichfam verloren und verbor- 
gen war, aus jener Zeit, wo nod Männer in weiblicher, Weiber in 
männlicher Kleidung der Urania Opfer verrichten; womit dann ganz 
übereinftimmt, was Johann der Lydier, jedoch aus einem etwas Altern 


341 

Schriftiteller, Nikomachos, anführt, daß nämlich auch bei Myſterien 
des Herakles die Männer Frauenkleider angelegt haben. Das Factum, 
das wir daraus entnehmen, iſt erſtens, daß es Myſterien des Herakles 
gab. Dieſe Myſterien konnten nur aus der entfernteſten Zeit ſich her— 
ſchreiben. Denn ſolang ein Gott ſchwach war, nicht mit Macht im 
Bewußtſeyn hervortrat, ſo lang wurde er nur insgeheim gefeiert, ſo 
lange wagte man bloß in Myſterien ihn anzuerkennen. Daß es ein ſo 
fpäter Schriftfteller ift, der von diefen Miyfterien Erwähnung thut, bes 
meist nicht gegen unfern Gebrauch diefer Stelle. Wer die Tenacität, 
mit der religiöfe Gebräuche aus dem dunfelften Altertfum bis in die 
hellſte, lichteſte Zeit der ſpäten Geſchichte ſich fortgepflanzt haben, aus 
andern Beiſpielen fennt (man denfe nur an die ſabaziſchen Myſterien, 
bie aus ebenfo alter Zeit, ja vielleicht noch älterer, ſich herjchreiben, 
und die noh im 560. Jahr nad Erbauung der Stadt ſich in Rom 
eingefchlihen hatten), wer alfo diefer Beiſpiele fid) erinnert, wird es 
wohl für möglich halten, daß aus ebeufo dunkler Zeit fi) noch in 
einzelnen Gegenden Miyfterien des Herafles erhalten. In diefen Myſte— 
vien, welche den noch nicht aus der weiblichen Gottheit entſchieden her- 
vorgetretenen Herafles galten, legten die Männer Frauenkleider an, 
und dieſe Bewandtniß hat es aljo mit der Dienftbarfeit des Herafles 
bei jener Königin der Lydier, eines Volkes, deren entſchieden wollüftiger 
Charakter. offenbar ven einer prava religio, von juperftitiöfen Vor: 
ftellungen zuerjt herfanı. 

Es gehört mit zu der Erniedrigung des Herafles, daß er an allen, 
was durch Gegenwirfung des feindlichen Principe — des Princips, 
das er eigentlich zu überwinden arbeitet — Ausichweifendes, Anſtößi— 
ge8 oder der Menſchheit Widerſtrebendes entſteht, mit Theil zu 
haben ſcheint, die Schuld davon mit auf ſich ladet. Denn um es 
zu überwinden, muß er in daſſelbe ſelbſt eingehen. So, wenn er un— 
willkürlich Urſache iſt der durch Feuer verbrannten (dem feindlichen Gott 
geopferten) Kinder; ſo, wenn er nicht wollend Urſache wird jenes 
blinden Wahnſinns, den das in ſeinem Seyn bedrohte und dadurch ge— 
reizte, erzürnte Princip im Bewußtſeyn erregt. Durch feine Stellung 


342 


jelbft nimmt er Theil an allen Schwächen, an allen franfhaften Er⸗ 
ſcheinungen der Menſchheit, und obgleich ſelbſt ohne Sünde, muß er ihre 
Schuld auf ſich nehmen. | 

Auf folgende Art wird nun das letzte Leiden des Herakles erzählt. Ei— 
ferſucht ift auch davon die Veranlaſſung: nicht Die göttliche der Here, fon- 
dern menſchliche Eiferfucht, aber die hier nur an die Stelle jener gött⸗ 
lichen tritt, oder fie vepräfentirt. Immer ift Eiferfucht alfo das Wefent- 
liche. Sie wird Urfache der legten Leiden des Herafles, wie der Arbei- 
ten und Mühen feines ganzen Lebens. in Centaur, Neſſos (id) 
brauche nicht zu jagen, daß die centauriiche Natur nichts anders als 
die wilde, ungezahmte, ungebändigte, übrigens doch der Bändigung 
fähige menschliche Natur felbft ift; aus dieſem Grunde wird nicht ein 
unzähmbares Thier, ſondern das Pferd dazu gewählt, fie abzubilven ; 
der Centaur ift halb Pferd, halb Menfch, oder wie die Römer, bie 
fic) unter einem Menfchen nur einen Chriften denken fünnen, ihn be 
fchreiben, mezzo Christiano mezzo cavallo, halb ein Chrift, halb ein 
Pferd — ob es noch von der Dorftellung der Gentauren oder moher 
fonft kommt, daß die mittelalterliche Imagination dem Teufel zwar nicht 
einen Pferdeleib, aber wenigſtens Pferdefuß zufchreibt, will ich nicht 
unterfuchen —) alfo, einer der Centauren, Nefjos, von Herafles aus 
der Ferne mit dem Pfeil erlegt, gibt, eh’ er ftirbt, der bei ihm ftehen- 
ven Gattin des Herafles Dejanira — der Centaur hatte ihr am an- 
dern Ufer des Fluſſes, über den er fie geſetzt hatte, Gewalt anthun 
wollen — fein bintbeflectes Gewand zum Geſchenk mit der Verficherung, 
wenn Herafles dieſes Kleid anlege, werde fie ihn im Fall einer Untreue 
ſtets wieder an fich ziehen. Ueber dieſe hier fupponirte Untreue Yolgen- 
des. Im einer fortfchreitenden Bewegung ift alles relativ. Jeder Punkt 
oder Moment verfelben ift an ſich oder abfolut, alfo noch nicht im 
Verhältniß zu einem folgenden, betrachtet, der Fortjchreitung zugethan, 
angehörig, infofern. pofitiw; aber gegen ven folgenden Punft der 
Fortſchreitung nimmt er eine andere Natur an und wird negativ, fid) 
ihm entgegenfegend und das vetarbirende Princip; Die der Bewegung 
und Fortichreitung feindliche Gewalt hat nun an ihm ſelbſt ein Werk 


343 


zeug der Hemmung und wirft ſich nun gleichfam mit ihrer ganzen 
Macht in diefen Punkt. Dieß ift der befannte Gang alles menfchlichen 
Fortſchreitens, und jeder fortichreitend Wirfende hat diefe Erfahrung zu 
machen, daß, was er jelbjt hervorgerufen, und was ohne ihn gar nicht 
jeyn würde, gegen ihn ſelbſt fich erhebt, jowie er fortichreitet. Die Bes 
wegung, die Herafles bewirkt, iſt eine fortichreitende Umwandlung. 
Das Bewußtſeyn, das in Einem Moment ihm zugethan war, fühlt 
fih im folgenden von ihm verlaffen, und eifernd gegen ihn wird es 
jelbft zum Werkzeug der feindlichen Macht. Dejanira, indem fie das 
Geſchenk des Nefjos annimmt, zeigt dadurch ſchon das des Herafles 
nicht mehr vollfommen fichere Bemußtjeyn. Der Centaur fagt ihr voraus, 
daß er fie verlaffen, nicht bei ihr weilen werde; indem fie feiner Rede 
horcht, zeigt fie, daß fie dem Herafles nur für einen gemifjen Moment 
verbunden (ihm vermählt), aber nicht unbedingt ihm ergeben if. So 
tritt hier das dem Herafles Verwandte und Angehörige. jelbjt an die 
Stelle der ihm urfprünglich feindfeligen, entgegenftehenden Macht, und 
nicht bloß in poetischer Hinficht, indem dadurd die werdriegliche Wieder— 
holung vermieden wird, nicht bloß als dichteriſche Variation, aud in 
Hinficht der Sache jelbft ift daher diefe Vermittlung tief empfunden und 
ver Sache gemäß. Dejanira jendet dem abwejenden, von ihr nun wirk- 
lich ſchon entfernten Gemahl das mit dem Blut des Gentauren befledte 
Gewand; faum hat der nichts Ahndende es angelegt, fo durchdringt fei- 
nen ganzen Leib ein vwerzehrender Schmerz. Der getödtete, mit dem 
Tode ringende Centaur hat gleichſam das ganze Gift feiner Natur in 
jein herworquellendes Blut gedrängt. Der Böfe ftirbt, aber das Böſe 
ftirbt nicht, ‚bis e8 das letzte ihm mögliche Unheil wirklich hervorgebracht 
hat. Es ift, wie Buttmann ſehr richtig jagt, nicht ein natürliches; e8 
iſt ein übernatürliches Gift, das den Leib des Herafles ergreift; es ift 
das Gift des böfen Princips als ſolchen; es iſt nicht mehr bloß einfach 
das entgegenftehenve, feindliche Princip, es iſt das durch unmenſchlich— 
menſchliche Natur zum eigentlich Böſen geſteigerte, vergeiſtigte Gift, das 
ihn mit Feuerpein durchdringt und endlich ihn in das höchſte Leiden ver— 
ſetzt. Denn Herakles ſelbſt hat ſich inzwiſchen ſchon mehr frei gemacht 


344 





von dem realen Gott; in einem frühern Moment wäre ihm das Gift 
weniger peinvoll gewejen. Aber. es tft nur der legte Schmerz der Tren- 
nung von den realen Gott, und eben diefer Moment des höchften Leidens 
wird der Uebergang zu feiner legten Berflärung, wo, um Schillers 
Worte zu brauchen: 


Der Gott des Irdiſchen entkleidet 

Flammend fih vom Menſchen ſcheidet. 
Das Uebermaß des Schmerzes bringt ihn zu ſeinem letzten Entſchluß. 
Ueberzeugt, daß nur in ſeinem Tod, d. h. indem er dem Materiellen, 
Irdiſchen, das ihn noch in der Abhängigkeit von Kronos erhält, ganz 
ſtirbt, die Heilung der entſetzlichen Krankheit zu finden ſey, baut der 
Erhabene ſich ſelbſt den Scheiterhaufen, um ſein natürliches Leben im 
Feuertod zu verzehren, aber nur was er von der ſterblichen Mutter 
hatte, das Natürliche an ihm, wurde von den Flammen verzehrt, und 
während der Scheiterhaufen noch brannte, ſenkte ſich, wie Apollodor 
aus ältern Hiſtorikern berichtet, eine Wolke mit Donner herab und 
nahm den‘ von allem ſterblichen Stoff nun befreiten Herakles in den 
Himmel auf, wo er, verfohnt mit der Hera, fi) mit der Tochter, der 
Göttin der Jugend, der Hebe, vermählt, und Er felbft nun als Gott, 
als einer der Unfterblichen lebt, indeß fein bloßes, von ihm felbft unter- 
ſchiedenes Gebild (dmAov) in der Unterwelt unter den übrigen ent- 
jeelten, bloß ſchattenähnlichen Weſen lebt. 

Diejer legte Ausgang der Heraflesfabel jest ihre urſprünglich 
höhere Bedeutung vollends außer Zweifel. Etwas dem vergätternden Tode 
des Herafles Gleiches findet ſich bei feinem andern der zahlreichen Söhne, 
die Zeus mit fterblihen Müttern erzeugt. Etwas Analoges (obgleich 
durchaus nicht daſſelbe) ift nur bei Dionyſos. Der Unterſchied, welder 
hier ftattfindet, wird ſich ung zeigen, fobald wir den urjprünglichen 
Sinn jenes Ausgangs der Heraflesfabel noch näher ins Auge gefaßt 
haben. Hiezu werden folgende ſchon in unfern früheren Entwidlungen 
enthaltene Beftimmungen dienen. Herakles ift ver Gott der zweiten 
Potenz — der befreiende, velativ geiftige —, aber- er ift diefer nicht 
abjolut, nicht unbedingt, jondern für einen beftimmten Moment des 


345 





Bewußtſeyns. Er ift der Gott der zweiten Potenz, aber der nad) der 
urjprünglichen Vorftellung (won welcher der griehiihe Mythos nur eine 
Umwandlung ift, die aus fich ſelbſt und für fich ſelbſt nicht verſtändlich 
jeyn würde), er ift nad) diefer urfprünglichen Borftellung der Gott (A), 
aber der ſich noch im der gänzlichen Abhängigfeit von Kronos befindet. 
Diefe Abhängigkeit — hat er in dem felbit noch zum Theil un- 
freien, noch dem realen Gott anhanglichen Bewußtſeyn, welches eben 
— jeine fterblihe Seite ift. Dieſes Unlautere, mas er noch von 
der Mutter bat, muß in ihm fterben, oder vielmehr: der Gott in 
ihm, das, was in ihm Gott ift, To &v air Heiov, muß dieſes 
Materielle verzehren, damit er rein al8 Gott hervortrete und fi) auf 
diefe Weiſe der harten Dienftbarfeit gegen den Kronos entledige, dem 
er jelbft nur durd das Unlautere, vom unfreten Bewußtſeyn Herkom— 
mende in ſich, pflichtig und unterworfen war. Das Uebermaß der Lei— 
den bringt ihn zu dieſem Entſchluſſe, durch welchen er ſich zugleich aus 
allem Verhältniß zu jenem unholden Gott und in eine Welt verſetzt, 
gegen welche Kronos zur ohnmächtigen Vergangenheit wird, in die Welt 
des Zeus, den Olympos. Nur die im Bewußtſeyn noch immer fort— 
dauernde, noch immer nicht überwundene Anhänglichkeit an das reale 
Princip iſt die Urſache der Leiden des Herakles, ſeiner Knechtsgeſtalt 
und ſeiner Erniedrigung. Dieſes von dem realen Gott Abhängige in 
ihm muß untergehen, damit er zum Gott ſich verkläre. Wenn Dionyſos, ſo— 
wie er nur überhaupt genannt wird, gleich als Gott genannt wird, wenn 
er keine Urſache hat, durch Feuertod, wie Herakles, zu ſterben, um zum 
Gott zu werden, ſo kommt dieß nur davon, daß gleich bei ſeiner Em— 
pfängniß die ſterbliche Mutter Semele in der Umarmung des Zeus 
verzehrt wird, Wer ſieht hier nicht die Verwandtſchaft des Herakles— 
mit Dionyſos, oder vielmehr das Vorbildliche der Heraklesfabel? Aber 
der Unterſchied iſt ebenſo klar. Dionyſos, weil ſchon zuvor der Sterb— 
lichkeit enthoben, wird, ſowie er ans Licht tritt, auch als Gott ge— 
nannt. Herakles dagegen, einem frühern Moment des Bewußtſeyns 
angehörig, und dadurch noch an den realen Gott gebunden, muß durch 
freiwilligen Tod dieſes Band erſt löſen, um derſelben göttlichen Ehre 


346 

theilhaftig zu werden, deren Dionyfos gleich bei feiner Geburt ges 
würdiget ift. J 

Ob num diefer letzte Ausgang der Heraflesfabel auch noch von der 
urſprünglichen orientaliſchen Idee ſich herſchreibt, oder ob dieſelbe erſt 
im ſpätern griechiſchen Bewußtſeyn dieſe Ausführung erhalten hat, iſt 
nicht ſo leicht zu entſcheiden; denn freilich im Bewußtſeyn der Kanani— 
ter, der Phönikier war jene Verklärung und Befreiung des Herakles 
noch nicht geſchehen. Sie konnte daher nicht als etwas Geſchehenes er— 
zählt werden. Dieß würde indeß nicht verhindern anzunehmen, daß 
auch in der Zeit jener höchſte Spannung des Bewußtſeyns jene 
Verherrlichung ſchon als zukünftig vorgeſtellt werde, daß ſie als eine 
zukünftige, als eine geweiſſagte, auch in dem früheſten Bewußtſeyn vor— 
kommen konnte. Denn obgleich in jedem Moment das Bewußtſeyn dem 
herrſchenden Gotte zu dienen gezwungen und ihm gleichſam verhaftet iſt, 
ſo macht dieß keineswegs unmöglich, daß das Bewußtſeyn die Eitelkeit 
oder Vergänglichkeit dieſes Dienſtes, d. h. dieſes Verhältniſſes, empfinde. 
Das eben iſt das Tragiſche, der Zug tiefer Schwermuth, der durch 
das ganze Heidenthum geht, daß mitten in der völligen Abhängigkeit von 
den Göttern, denen ein unüberwindlicher Wahn die Menſchen zu dienen 
zwingt, das Gefühl der Endlichkeit dieſer Götter ihnen beiwohnt. Ich 
will mich nicht auf den allgemeinen Göttertod berufen, den die ſkandi— 
naviſche Edda, auf die ich mich überhaupt nicht gerne berufe, voraus— 
jagt; aber felbft in der griechiſchen Fabel ift die Augft des Uranos und 
die Angft des Kronos vor den eignen Kindern nicht® anderes als das 
Vorgefühl eines künftigen unvermeidlichen Untergangs; felbft dem Zeus 
weiffagt der gefefjelte Prometheus des Aeſchylos feinen Untergang mit 
flaren Worten, wenn er zu dem Chor fagt: 


Fleh, ruf und ſchmeichle dem, der ewig herrjcht dieß iſt ironiſch!). 
Ich frage weniger als nichts — nach Zeus. 

Er handl', er herrſche dieſe Heine Zeit, 

Wie's ihm gelüftet. Lang beberricht er nicht 

Die Götter; 


und früher: 


So jehr er troßet, wird Kronion doch 

Sich ſchmiegen; die Vermählung, die er wünscht, 

Stürzt ihn, daß er vom Throne nichtig fällt. 

Erfüllt wird dann in vollem Maß der Fluch, 

Den Kronos ibn, fein Vater, einft geflucht, 

Als er geftürzt vom alten Throne janf. 
— Nur Prometheus weiß Das Geheimnig, wie Zeus diefen Umfturz 
feiner Macht abwehren fünnte, doch nicht eher, als er felbft frei von 
feinen Banden ift, will. er das Geheimniß mittheilen. 

Auf einen von Gejchlecht zu Geſchlecht fich Forterbenden J iſt 
das Reich der Götter gegründet. 

Aber auch allgemein und rei wiſſenſchaftlich angeſehen, iſt das 
Prophetiſche, die Zukunft Vorausſehende ein nothwendiges Moment in 
der mythologiſchen Bewegung. Das Mythologie erzeugende Bewußtfeyn 
ſchreitet zwar durch beſtimmte Momente fort, aber von Anbeginn, vom 
erſten ſich Verfangen des Bewußtſeyns an iſt eine Spannung geſetzt, 
die nur ſucceſſiv ſich löſen kann, und mit der erſten Spannung iſt 
gleich alles (die ganze Folge) geſetzt. Die verſchiedenen Momente des 
Bewußtſeyns unterſcheiden ſich nicht durch ihren abſoluten Inhalt, 
ſondern wie der Inhalt jeder Zeit eigentlich immer derſelbe iſt, wie 
eine Zeit oder ein Moment der Zeit von dem andern ſich nur dadurch 
unterſcheidet, daß, was in dieſem noch zukünftig, in jenem gegenwärtig 
oder bereits vergangen iſt, oder umgekehrt, was in dieſem Gegenwart 
oder Vergangenheit, in jenem noch als Zukunft geſetzt, ſo iſt auch der 
Inhalt des mythologiſchen Bewußtſeyns immer derſelbe, und was erſt 
in dem ſpätern Moment zur Gegenwart wird, iſt darum in dem 
frühern Moment nicht nicht, ſondern es iſt allerdings auch, nur als 
Zukunft geſetzt. So konnte alſo auch in einem frühern, dem Kronos 
übrigens noch ſklaviſch ergebenen Bewußtſeyn gleichwohl ſchon die künf— 
tige Verklärung und Vergöttlichung des Herakles erſcheinen, wie in jenem 
altteſtamentlichen Orakel, worin übrigens der Meſſias nicht als König 
und Herr, ſondern als Knecht ganz dem Moment des Kronos parallel 
vorgeſtellt iſt, nichtsdeſtoweniger jener noch entferntere, verklärende 
Tod des Meſſias vorausgeſehen iſt. Denn auch die Gabe der Weiſſagung 


348 

ift mit jener Spannung gegeben, die im mythologiſchen Bewußtſeyn 
gefegt ift. Die Offenbarung ſelbſt ift durch fie vermittelt. Chriftus 
ift das Ende des Heidenthums, wie der Offenbarung. Nur deßwegen 
verftummen nad) dem erjten Sahrhundert der chriftlichen Zeitrechnung 
die heidnifchen Drafel, eine Erſcheinung, über die befanntlic Plutard) 
eine eigne Abhandlung gefchrieben hat; und jelbft in der Kirche hört 
die Gabe der Weiffagung nebft andern Wundergaben und efftatifchen 
Erſcheinungen in dem Verhältniß auf, als mehr und mehr jene Span- 
nung des Bewußtſeyns fid löst. Unmöglich alfo menigftens iſt es 
nicht, daß auch diefer letzte Ausgang der Heraflesfabel in der urfprüng- 
lichen orientalifchen Vorſtellung ſchon als zufünftig enthalten war, mög- 
lich aber auch, daß tiefe legte Ausführung ganz allein dem griechiichen 
Bewußtſeyn angehört, dieſes allein bis zum Verklärungstod des Hera- 
kles fortfchritt. | 

Ich kann die Zeit, welche diefe Entwicklung erforderte, mic nicht 
reuen laffen. Denn die Heraklesfabel bilvet in der griechiſchen Mytho— 
logie einen fo bedeutenden Kreis, daß e8 unfrer Entwidlung zum Vorwurf 
gereicht und Verdacht gegen ihre Mittel erregt haben würde, wenn wir Die 
Geftalt des Herafles umgangen hätten. Eine Gefhichte, in dem Sinn 
wie Buttmann dieß leugnet — wobei nämlich Herafles ein wirklicher 
Held, Königsfohn oder vergleichen gewejen wäre — ift fie freilich nicht, 
aber daß fie auch fein veines Dichterproduft ift, wie er, geftügt vor- 
züglid) auf die Sophiftenfabel vom Herafles am Scheideweg, behauptet, 
glaube ich ewident gemacht zu haben. Die Heraklesfabel ift in der That 
eine Geſchichte, aber höherer als bloß menſchlicher Art; fie ift der Theil 
einer wirklichen göttlichen Geſchichte. Herafles, alſo aud) jein früheres 
Borbild, der phönikiſche Melkarth, ift die der zweiten Perfönlichkeit, die 
der relativ geiftigen, fpäter als Dionyſos hervortretenden Gottheit ent- 
ſprechende Geftalt eines frühern Moments, dieß ift unfer Reſultat. In 
eine Peidens- und Thatengefchichte dieſes zweiten Gottes wird fi und 
ohnehin die Mythologie immer mehr zufammenziehen. 

Daß übrigens dieſe zweite Perfönlichfeit aud) in dem frühern Mo— 
ment des mythologiſchen Bewußtſeyns — ich will es ein für allemal 


349 
das fronifche nennen — ſchon da ift, ändert nichts an der allgemeinen 
Anficht dieſes Moments. Die zweite Perfünlichfeit erjcheint hier noch 
in völliger Abhängigkeit von Kronos, ihm ſelbſt fröhnend und dienend. 
Wenn wir alfo auch ſchon einen Blid in eine fretere, befjere Zeit ge- 
worfen haben, jo müſſen wir nun wieder zurüdfehren auf jenen Zu- 
ftand des Bewußtſeyns, in der Zeit des, wenigftens als Gott, nod) 
immer ausſchließlich herrichenden Kronos. In diefer Zeit alfo erjchten 
das menfchliche Bewußtſeyn recht fo, wie e8 Lucretius bejchreibt in einer 
Stelle, wo jedes Wort bedeutend ift — die Menjchheit war in dieſer 
Zeit wirflid) 
oppressa gravi sub religione, 
Quae caput e coeli regionibus ostendebat 
Horribili super adspeetu mortalibus instans '. 

Die Menfchheit lag unter dem Drud der laftenden, fehweren Religion, 
gravi sub religione, denn e8 war noch immer die aftrale Macht, die 
in ihr wirkte, in Kronos herrſcht noch immer das Geftirn — fie drohte 
alfo no immer vom Himmel her den Sterblihen. Dahin (in dieſe 
Zeit) müſſen wir uns jet wieder zurücverfegen. Denn der Tod des 
Herafles ift ein Vorgriff in die folgende Zeit. 

Doch aud Kronos blutige Herrfchaft muß fich zulegt zum Ende 
neigen, und zunächſt find es num wieder die Erſcheinungen dieſes Ueber- 
gangs, die wir zu betrachten haben. 


t Unter vie Religion gemaltfam niedergetreten, 
Die vorftrecte das Haupt aus ven himmlifchen Regionen 
Mit entjeglichem Blick herab auf die Sterblichen prohenr. . 
(Nach v. Knebels Ueberfegung). 


Sechzehnte Vorlefung. 


Um mic) zu vergewiffern, daß Ihnen die Aufeinanderfolge der Mo- 
mente völlig Klar geworden (denn eben in dieſer tft das eigentlich Wifjen- 
ichaftliche der Entwicklung), jo will ich fie nochmals kurz wiederholen: 


A. Urmoment oder erfter Moment — die noch unüberwundene 
und unüberwindliche Ausichließlichkeit (Gentralität) des erften Principe — 
Zabismus. 


B. Zweiter Moment — peripheriſch Werden des erſten Princips, 
wo es zugleich Gegenſtand einer möglichen Ueberwindung wird — Urania. 

C. Dritter Moment — wirklicher Proceß, wirklicher Kampf zwi— 
ſchen dem widerftehenden Prineip und dem befreienden Gott. Hier wieder 

a) erfter Moment, wo die wirkliche Meberwindung zwar tentirt, 
aber durd) den realen Gott immer wieder vernichtet wird — Moment 
des Kronos (wobei A? nur in dienender Stellung zu Kronos), Negation 
der wirklichen Ueberwindung; 

b) zweiter Moment — Uebergang zur wirklichen Weberwindung, 
wo fich der reale Gott nicht mehr bloß zur möglichen, fondern zur wirk— 
lichen Ueberwindung hergibt. 

Dieß iſt der Moment, bei dem wir jetzt ſtehen, der jetzt eben dar— 
geſtellt werden fol. Ihm wird der dritte Moment folgen, 

ec) in welden 

aa) die ägyptiſche, 
bb) die inbifche, 
ee) die griechiſche Mythologie fällt. 


351 


Wir gehen alfo nun zum Moment b) fort. Endlich nämlid wird das 
an dem realen Gott haftende Bewußtſeyn doc überwältigt; der Wider: 
ftand gegen den befreienden Gott wird immer ſchwächer, bis es feine 
Starrheit ganz aufgibt und nun — nicht mehr bloß zur möglichen, 
fondern — zur wirklichen Ueberwindung ſich hingibt. 

Der Eintritt dieſes Moments tft bezeichnet durch das abermalige 
Erſcheinen einer weiblichen Gottheit, und fündigt ſich im Gefühl ver 
Bölfer an dur die Erſcheinungen wilder, fich ſelbſt nicht faffender 
Begeifterung, des Drgiasmus Da hier das Wort Drgiasmus zum 
erstenmal gebraucht wird, fo halte ich es nicht für überflüffig, etwas 
über die Bedeutung defjelben zu bemerfen. Es ift nicht ausgemacht, 
woher eigentlich die Wörter Hoyırz, ooyıddaıv, ooyYırouog fommen., 
Orgia find die feierlich begangenen Handlungen jelbft, durch die jene 
wilde Begeifterung fich anfündigt. Im weitern Sinn wird das Wort 
von allen myſteriöſen Geremonien, ja von den Myſterien ſelbſt gebraucht. 
OoyıcServ heißt die Drgien begehen, ooyızawög heißt die Feier der 
Drgien, bedeutet aber insbefondere die Neuerungen der Wuth oder des 
heiligen Wahnfinns, mit dem fie begangen werden. Die erregenve Ur- 
jache des Orgiasmus ift allerdings. der befreiende Gott, aber der Grund, 
das Subjeft des Orgiasmus, iſt das gleichjam wanfend, taumelnd ge- 
wordene fich ſelbſt nicht mehr. faſſen fünnende, feiner ſelbſt ohnmächtig 
gewordene, reale Prineip. Inwiefern es nun in diefem Zuftande theils 
überhaupt aufgereizt erjcheint, theils ſelbſt durch Handlungen einer 
wahren Wuth fi) außert, infofern ift der Zufammenhang des Worts 
mit 6077 (Zorn) wohl begreiflich, und namentlich der parallele Aus- 
druck des alten Teftaments, wo das „andern und neuen Göttern Die- 
nen“ ſtets als ein Neizen, ein Erzürnen des erjten und einzigen Gottes 
vorgeftellt wird, könnte zur Beftätigung angeführt werden. Offenbar 
erdichtet ift die Ableitung von ezoyeıw, arcere, abhalten, weil die Un- 
geweihten von den Myſterien abgehalten werden, und völlig nüchtern 
{ft die Ableitung von Loy, DVerrichtungen, Handlungen; denn Ber- 
richtungen und Handlungen find freilich aud) die Bewegungen des Dr- 
giasmus und die Vorgänge bei myſteriöſen Gebräuchen, aber nicht 


392 

r er 

umgefehrt find &oya gerade religtöfe, myſteriöſe, begeifterte Handlungen. 
Das Wort Hoyıdlev, doyız gehört alfo gewiß zu der Familie ver 
Wörter: 0077, daher HoyiLo: irrito, iram accendo, ſowie des 
Worts 00yC@, das jelbjt mit 00&y@w, appetere, begehren, zuſam⸗ 
menhängt, wovon Orgasmus, deſſen vorzüglich die Aerzte ſich bedienen, 
um jede Spannung, jeden turgor, beſonders der Säfte, zu bezeichnen. 
Soviel über das Wort. Jetzt zur Sache und zur Bedeutung des Mo— 
ments. 

Zum zweitenmale alſo und nur in anderem Sinne wird das Be— 
wußtſeyn und der Gott, der ſich in ihm wieder zur Männlichkeit auf— 
gerichtet hatte, weich oder weiblich gegen den höheren Gott. Die in 
jenem (dem dominirenden Gott) erſterbende männliche Kraft geht 
ganz in dem zweiten Gott über. Diefer Uebergang wird in grober, 
ſchlichter Bildlichfeit durch das Zeichen der Männlichkeit, ven Phallos, 
angedeutet, der nun gleichjam als Siegeszeichen dieſes Moments und 
der über den unterliegenden, der Männlichkeit beraubten Gott ſich er- 
hebenvden höhern Potenz feierlich wie im Triumph umher getragen 
wird. Der zuvor männliche Gott ift dem höheren nun jchon nicht 
mehr bloß im Allgemeinen zugänglich, fondern im Begriff wirflid) 
von ihm überwunden zu werben. Das bisher ftarre, widerſtrebende 
Prineip jelbft wird dem befreienden Gott gegenüber zum weiblichen, 
fo daß diefer num in der That allein der wirfende Gott ift, und damit 
es aud) hier dem Uebergang nicht an der weiblichen Geftalt fehle, die 
ihn bezeichnet, erſcheint die phrygiſche Göttermutter, bie zu Kro— 
nos ebenſo fich verhält, wie fi) Urania zu Uranos verhielt. Denn 
wenn es in der neueften Behandlungsweife der Mythologie gewöhnlich) 
ift alles zu iventificiren, was übrigens fehr leicht gefchehen kann, weil 
freilich — aber wohl zu merken, in verjchievenen Potenzen, auf ganz 
verjchiedenen Stufen, daher auch mit veränderter Bedeutung — immer 
daſſelbe fich wiederholt, jo müffen wir uns im Gegentheil zum Ge— 
jeg machen, die verwandten Geftalten zu unterfcheiven, jede im ihre 
beftimmte Zeit zu fegen, und auf ſolche Art fie auseinander zu halten, 
damit nicht durch das entgegengejegte Berfahren alles wie in das 


353 
urſprüngliche Chaos zurüdfehre, aus dem nad der Theogonie alles her- 
vorgegangen ift. Die phrygiſche Göttermutter (diefer Name bezeichnet 
zugleich die Stelle des großen phrygiſchen oder phrygothrakiſchen Volks 
in der theogoniſchen Bewegung), dieſe weibliche Gottheit it in ihrer 
Zeit dafjelbe, was die Urania in der ihrigen. Der Unterjchied zwijchen 
beiden, den eben nur die Zeit macht, ift diefer. In Urania macht fich 
das Bewußtſeyn dem noch nicht wirflihen (noch nicht in das Seyn 
hereingetretenen) höheren Gott zum Grund, fie gebiert oder empfängt 
den Gott erſt, und ihre Erſcheinung bezeichnet nur den Moment der 
Geburt oder Empfängniß des Gottes. In der phrygiſchen Göttermut- 
tev oder, wie fie von den Griechen genannt wird, im der Kybele macht 
ſich das Bewußtſeyn dem ſchon wirkenden Gott zum Grund Was 
alfo in Urania noch bloße Möglichkeit war (bloße Möglichkeit der Ueber- 
windung), das wird. in Kybele zur Wirklichkeit (hier ift der Anfang und 
der Hebergang zu der wirklichen Ueberwindung), und dieſes erſt ift 
die legte, ift die für die Entitehung des Bolytheismus entjcheidende 
Katabole. 

Denn eben darum heißt Kybele Göttermutter, weil mit ihr erſt die 
unmittelbare Möglichkeit der eigentlichen Göttervielheit gegeben iſt. 
Kybele iſt das völlig umgewandte, nun wirklich ins Leidende herabge— 
ſetzte Bewußtſeyn des realen Gottes, dem idealen Gott nicht bloß über— 
windlich, ſondern zur wirklichen Ueberwindung hingegeben. 

Ih habe eben erwähnt, daß Siybele der griechiſche Name der 
magna Deüm mater. Die Etymologien der Götternamen find darum 
ein wichtiger Gegenftand,. weil fie, ihre Nichtigkeit vorausgeſetzt, am 
Beftimmteften die urfprüngliche Bedeutung einer Gottheit anzeigen. Bei 
der etymologifchen Erklärung des Namens Kybele, auch wohl Kybele, 
neben dem zugleich der Name Kybebe erfcheint, — dabei möchte man 
alfo wohl am beften von zvPA7, der Kopf, ausgehen, wovon UAde, 
fopfunter, zvPıorev, überftürzen, ſich überichlagen, verwandt mit 
xURTO, den Kopf jenfen, mit vorwärts gemeigtem Kopfe gehen, 
verwandt auch mit unferm deutjhen Kippen. Schon im Namen 


alfo Liegt der Ausorud der Umkehrung, wo das, was vorher Das 
Schelling, fimmtl. Werfe. 2. Abth. II. 23 


354 


Oberſte war, ſich neigt oder jenft. In dem Namen Siybele ift außer 
Un das Verbum PcAAo nicht zu verkennen. In Kybebe läßt die 
legte Sylbe das alte Pa erfennen, wovon das oft bei Homer vor- 
kommende Onas Ö 8x innow. Kvpnßn ift alfo quae caput 
descendere facit. KvßnPoe heißen befanntlich die Diener der Kybebe, 
die durch Kopfneigen, Kopfſchütteln im Zuftand der Begeifterung nur 
eben diefe Bewegungen der Gottheit felbft mimiſch ausdrüdten (frühere 
Beijpiele diefer Mimik, z. B. das Hinken ter Baalspriefter). Alfo 
etwas anderes als unfer deutſches Kopfhängen. Ein anderes Wort 
dafür ift zaoaxevor, von #0, das Haupt, und xıveo, bewegen. 
Lucretius nennt diefe Bewegung bei den die Kybebe umjchwärmenden 
Kureten capitum numen, wo numen ſoviel als nutus ift.. Von eben 
diefer Gebärde heißen fie Korybanten, von 200UTT@, eaput jactare, 
nad) einer Erklärung bei Strabo!. Alle diefe Namen bezeichnen aljo 
nichts anderes als das gegen den höheren Gott wanfend gewordene 
Bewußtſeyn, das eben im Begriff ift fich diefem ganz zu unterwerfen. — 
Ste jehen an einem neuen Beijpiel, wie wenig uneigentlid) im Grunde 
die Ausdrücke der Mythologie find, wenn man fie vecht verfteht, wenig- 
ſtens nicht uneigentlicher als fo viele, bei denen man an bildfichen oder 
poetijchen Ausdrud gar nichtmehr denkt. Denn wer 3. B. von einem 
wanfend gewordenen Entſchluß oder einer wankend gewordenen Weber- 
zeugung jpricht, denft damit nod nicht ſonderlich poetifch ſich ausge- 
drüdt zu haben. 

Alles an der Kybele deutet auf- ein Herabkommen, auf ein de- 
seendere. Sie fommt von den Bergen herab (daher auch die idäiſche 
Mutter), wie die fchaffende Natur felbft vom Urgebivg durch Vorge— 
birge allmählich ins flache Land herabfteigt. Der urſprüngliche Zuftand 
auch der Natur ift ein Zuftand allgemeiner Aufrichtung (erectio). Das 
ſenkrecht Auffteigende ift überall das Aeltere, das Wagerechte das Jün— 
gere. Wenn die Natur nad) dem Thiere im Menjchen ſich wieder auf- 
richtet, fo ift Diek eben ein wirkliches Wiederaufrichten, aber in 
einem höhern, in einem geiftigen Sinn. Die Schichten der Ur- und 


' ano 70» nopiarovrag Baive ooynorirög. Lib. X, c. 3 (p. 473). 


der Uebergangsgebirge ftehen, zwar mit einigen Anomalien, aber doch 
im Ganzen genommen nad Verhältniß ihres Alters, aufrecht, doch 
zugleidy in einem fleinern ‚oder -größern. Winkel gegen den Horizont ge- 
neigt, gleichjam wanfend, oder wie im Begriff überzuftürzen. Der Zu- 
jtand der Aufrichtung geht dann allmählich in den liegenden, wagerechten 
über, der den jüngften Bildungen im Ganzen vorzugsweife eigen ift. Jenes 
Geneigtjein der ſenkrechten Schichten heißt in der bergmänniſchen, meift 
von einem richtigen Inſtinkt geleiteten Sprache das Fallen der Schidy- 
ten. Wenn man die aufeinander folgenden Sormationen der Erde durch 
bloße ſucceſſive Niederſchläge aus einer Urflüffigkeit erklärt, welche alle 
die verſchiedenartigen Stoffe chemiſch aufgelöst enthalten, jo iſt man 
alsdann genöthigt, Die wagerechte Lage als die urfprüngliche anzujehen. 
Dann lafjen fid) die aufrechtftehenden, doch gegen den Horizont geneigten 
Schichten freilich nicht als ein Fallen erklären. Man muß alsdann 
vielmehr annehmen, daß diefe Schichten aus dem urſprünglich wagered)- 
ten Stand durch irgend eine unbegreifliche Kraft emporgehoben worden 
jeyen, was jett, fowiel mir befannt, jo ziemlich die allgemein angenom- 
mene Erklärung ift. Aber die ftille Gefesmäßigfeit der Natur ftößt 
gewaltjame Erklärungen der Art zurück, und der offenbare Zufammten- 
hang, in welchem dieſes Fallen mit der Beichaffenheit der Yormationen 
fteht, läßt au feine bloß mechaniſchen und dieſen Bildungen jelbft 
fremden Urfachen denken; ihre Stellung ift durch immanente Geſetze 
beftimmt, und alles überzeugt uns, daß der Winkel, den fie mit dem 
Horizont bilden, jo alt als fie felbft und ein nothwendiges Moment 
ihrer Bildung Mt. Die horizontale Entftehung ift freilih, wie ge- 
jagt, ein nothiwendiges Postulat der Anficht, welche alles aus dem Flüſſi— 
gen erklärt und dieß für die einzige Bildungsweife hält, Da man aber 
in Anfehung der Urgebirge ſchon fo ziemlich und faft allgemein eine 
andere Entjtehungsweife zugegeben, jo wird man in Folge einer noth— 
wendigen und nicht abzuhaltenden Confequenz wohl auch noch in. An— 
jehung des Flötzgebirges nachgeben müfjen, da der unmerkliche Ueber- 
gang des einen in das andere und eine Menge anderer Thatſachen ung 
von der Identität der Bildungsweife beiver überzeugen. Außerdem ift 


356 

jene ganze Vorſtellung von einer Urflüfjigkeit, die alles aufgelöst ent- 
halten, die Wahrheit zu jagen, nur eine kindiſche, nur der Kindheit 
der Wiffenjchaft angemefjene. Man ftellt fi) vor, etwas gewonnen zu 
haben, wenn man alle die verfchtevenartigen Stoffe, aus denen die For— 
mationen der Erde beftehen, in Emem Fluidum beifammen hat, ohne 
zu überlegen, daß damit nicht3 erklärt ift, indem num diefe Urflüfjig- 
feit jelbjt wieder erklärt werden müßte, wozu ſich aber jchwerlich die 
Mittel finden möchten. 

Do fehren wir von diefer Abſchweifung zurüd, die indeß bier 
am ehejten zu entichuldigen ift. Wenn die zwiſchen den Epochen der 
Natur und den aufeinander folgenden Zeiten oder Momenten der My— 
thologie vorhandene Analogie in Allgemeinen fid) nicht verfennen laßt, 
jo fpringt dieſe hier vielleicht am veutlichiten in die Augen. Wenn 
wir übrigens früher jchon ausgefprodhen: Kronos ift die unorganijche 
Zeit der Mythologie, jo darf hier unter dem Unorganijchen nicht 
das relativ-Unorganifche verftanden werden, mie es jest ift und 
dem Organiſchen ſchon zur Unterlage dient. Das Unorganifche, wel— 
ches allem Drganifchen vorausgeht, iſt ein ganz anderes, als das, 
welches das Organische ſchon als Gegenfag außer und als Höheres 
über fid hat. Ein relativ-Unsrganifches gibt e8 erſt mit dem Orga— 
niichen zugleih. Das abſolut Unorganifche ift die dem Organijchen 
ſchlechterdings worausgehende Zeit, wo es noch gar nicht im Kampf 
mit dem Drganijchen tft, wie die wahren Urgebirge nody Feine Spur 
organischer Wefen zeigen, indeß die jpäteren jchon die Spuren eines 
Kampfes zwifchen dem Unorganifchen und Organiſchen in ſich be- 
wahren. Die Urgebirge ragen noch hinaus über die Zeit des relativ 
Unorganifhen, wie die ſchon der Charakter von Individuen, den fie 
an ſich tragen, ihr in fich abgefchloffenes, gediegenes, jchroffes, ausge- 
ſprochenes Wefen anzeigt. Es ift unmöglich, daß das relativ - Unorga- 
nifhe vor dem Organiſchen zu Beftand fomme. Das relativ- Unorga- 
nijche entfteht auch dur) eine Katabole, per descensum; aber nichts kann 
zum Grund, zum relativ nicht Seyenden, zum Bergangenen werden, es 
werde denn zugleich das gefeßt, wovon e8 der Grund und das relativ- 


397 

Vergangene ift. In der griechiſchen Göttergefchichte wird Kronos vorgeftellt 
als der feine eignen Kinder immer in der Geburt wieder verfchlingt. 
Dieß erreicht damit fein Ende, dar ihm ftatt des Kindes, des Zeus, 
das relativ-Unorganifche, der in Windeln eingewidelte Stein unter- 
gejhoben wird. Denn nun er das relativ-Organijche zugelafien hat, 
muß er zugleich diefes und das Organiſche als ſolches von fid) geben, 
und leßterem verftatten, ftich ın feiner eignen, von dem Unorganijchen 
unabhängigen Zeit frei zu entfalten. 

Alles in Kybele, fagten wir, deutet auf ein von oben Herabkom— 
men. Dazu gehört nun auch, daß ihr erftes Bild ein vom Himmel 
gefallenes (ein duomereg) war. Denn fie felbft ift die vom Himmel 
gefallene. In Kyhele ift erſt das Aftrale völlig überwunden. Bis zu | 
ihr ftand das Mythologie erzeugende Bewußtſeyn noch ganz unter dem 
Einfluß des Geftirns. Ein vom Himmel gefallener Stein war alfo ihr 
natürliches Bild — das natürliche Bild der jelbft vom Himmel, d. h. 
aus der Region des Allgemeinen, Unendlihen, Unfaßlichen, herabgejtürz- 
ten, zur bejtimmten Geftalt gewordenen. Den ausprüdlichen Berficherun- 
gen der Alten zufolge bejtand ihr Bild zur Peſſinus in einem bloßen 
Stein. AS ein ſolcher wurde es, wie Livius fagt, den römischen Bot- 
ſchaftern übergeben, als ſie diefes Bild der großen Göttermutter Für 
Kom forderten '. Wenn daher Metegrmafjen, Aerolithen verehrt wur- 
den, fo lag der Grumd davon in der urfprünglichen Idee der Kyhele, 
nicht ummgefehrt gaben aus der Luft gefallene Steine ae vom 
Himmel gefallene Götterbilder zu verehren. 

Es iſt befanntlich noch nicht lange her, daß von Meteorfteinen 
wieder die Rede ift; die zahlreichen Erzählungen der alten Schriftiteller 
wie neuerer Chroniken, jelbft die an manchen Drten, namentlich in 
Böhmen, am Rhein und in verjhiedenen Gegenden Deutjchlands auf- 
bewahrten Maffen der Art jchüsten diefes Phänomen nicht gegen vie 
Meinung einer fid) Hug dünkenden Zeit, die alle ſolche Erzählungen in 
das große Negifter der Fabeln verwies. In einem namhaften Dorf 


‘ Is legatos — Pessinuntem deduxit, sacrumque iis Japidem, quam 
matrem Deüm esse incolae dicebant, tradidit. L. XXIX, ce. 11. 


398 
im Elfaß, in welchem ein folder Stein in der Kirche aufgehoben wor- 
den war, hatte mehr als ein ſich für aufgeklärt haltender Reiſender 
die guten Leute verfpottet und ermahnt, den Stein wegzufchaffen. Wie 
aber nachher Das Factum anerfaunt werden mußte, und man einjah, 
daß weder die Griechen gefabelt haben, wenn fie von dem bei Aegos Po— 
tamos gefallenen Stein erzählen, noch Livius, da war man froh. Ein 
Deutfcher, Chladni, hat das Verdienſt, den Fall von Meteorfteinen zuerft 
wieder als phyſikaliſche Thatſache geltend gemacht zu haben, Die dann 
bald aud) durch von Zeit zu Zeit in allen Theilen der Welt erneuerte 
Falle von Meteormaſſen vielfach beftätigt wurde. Wenn der eben ge- 
nannte Phyſiker die Meteorfteine für Ueberbleibjel eines bei der erſten 
Planetenbildung nicht verwendeten und noch immer im leeren Raum 
überflüffigen, beſtimmungslos herumfchweifenden Weltkörperftoffs ange- 
jehen wiffen wollte, fo bedarf diefe Erklärung wohl fo wenig als andere 
ähnliche Erklärungen wiederfehrender großer Phänomene aus rein zu: 
fälligen Umftänden und Urſachen nod der Wiverlegung . Man ift 
im Allgemeinen von dem tellurifchen Urfprung diefer Maſſen über- 
zeugt; nur muß dieß Wort nicht in dem engen Stun wie gewöhnlich 
genommen werben. Es gehört zu dieſem tellurifchen Urfprung nicht 
gerade, daß die Materien, aus welchen dieſe Maffen beſtehen, nament⸗ 
lich das Eiſen und die ihm verwandten Metalle, welche den Hauptbe— 
ſtandtheil der bei weitem größten Zahl ausmachen, daß dieſe Materien 
von der Oberfläche der Erde durch Verflüchtigung aufſteigen und in 
der Atmoſphäre dann durch unbekannte Urſachen aus dem dunſtförmigen 
Zuſtand wieder verdichtet, ſich zu jenen Maſſen zuſammenſetzen. Einer 
ſolchen Erklärung widerſpricht ſchon die große Gleichförmigkeit ſowohl der 
Beſtandtheile als der Configuration, welche an den entgegengeſetzteſten 


Zu den trüglichen Beweiſen, welche für das fortdauernde Vorhandenſeyn ſolcher 
überflüſſiger Maſſen im Weltraum geführt werden, gehören auch die von den 
freiwilligen Verfinſterungen der Sonne, wie ich ſie nenne. Letztere 
werden überall von Zeit zu Zeit erwähnt; die auffallendſte von Abulfaradſch. 
Gleich als ob in einer Welt, wo alles nur in einer beſtändigen Oſeillation beſteht, 
die Sonne felbft feiner Veränderung fähig, und nicht einem wirklichen deliguium 
unterworfen jeyn könnte. (Aus einem älteren Mie.) 


359 


Drten der Erde, 5.2. in Mähren und Nordamerika, gefallene Maffen 
dieſer Art zeigen. Dem telluriſchen Urſprung kann man alfo nur 
infomweit beiftimmen, als eben damit zugleicy ein kosmiſcher gemeint 
it. Eigentlich alfo ift der kosmiſche Urfprung diefer Maffen außer 
Zweifel geſetzt. Wie wir genöthigt find, in der Gefchichte ver Menfd)- 
heit Erfeheinungen anzuerkennen, die aus Erflärungsgründen, wie fie 
in dem gegenwärtigen menjchlichen Bewußtſeyn fich finden, nicht. mehr 
begreiflich find, jo gibt es auch Vorgänge in der Natur, welde, obgleic) 
in der gegenwärtigen Zeit ſich zutragende, doch in Anfehung der Ur- 
ſachen mehr einer vergangenen Zeit als der gegenwärtigen angehören. 
(Das Bergangene wird in der Negel zum mern, wie das Herz erft 
bloß Liegt.) Dahin find vor allen die vulfanifchen Eruptionen zu rech— 
nen, die man fich vergebens bemüht aus allen Sträften oder materiellen 
Bedingungen der jetsigen Zeit zu erflären. Eben dahin gehören die 
aus der Erde heiß aufjprudelnden Quellen, deren zum Theil jeit Jahr— 
taufenden unveränderte Temperatur und bei einem großen Reichthum 
von Bejtandtheilen ſich immer gleich bleibende Mifchung keinen andern 
Gedanken verftattet, als daß dieſe Wafjer aus einer Vergangenheit 
herfommen, die feine Beränderung mehr zuläßt und den Zufälligfeiten 
der Gegenwart entzogen tft. - Vielleicht jelbft, daß jene völlig neu- 
ſchaffende, neubildende Wirfung, die jie auf den kranken Organismus 
ausüben und die aus ihren hemijchen Beſtandtheilen ſich nicht ableiten 
läßt, mit Beweis ift, daß ihre Wärme nicht eine äußere (zufällige), 
jondern eine einwohnende ift, die noch von jener erjten Lebensgluth 
zeugt, in der alle in organiſches und befonders animalifches Leben zuerft ent- 
ftehen fonnte, Doch zurüd zu den Meteormafjen. Es ijt ein allgemei- 
ner, fosmifcher Proceß, der fid) in ihnen zeigt, wenn diejer hier gleid) 
nur im Kleinen ſich fund geben fann, und nur als eine Ausnahme in 
die jett beftehende Ordnung hereintritt, gleichjam als die Zudung eines 
frühern Zuftandes, der, im Allgemeinen längft zur Vergangenheit ge- 
worden, nur partiell und mit vorübergehenden Erfcheinungen ſich noch 
äußern fann. Daß die Meteorteine nur in einem gewaltigen, heißen 
Kampf entjtehen, zeigt jenes eigenthümliche Erzittern, gleichfam Schaudern 


360 


der Natur, das fie begleitet, die fpecififche Wärmeempfindung im Ge— 
ficht, welche die in der Nähe ſich Befinplichen fühlen, und die mehr 
erregt als mitgetheilt zu werden jcheint. Daß fie recht eigentlich kopf— 
unter geſtürzt werben, fieht man an jenem ihnen ebenfall8 eigenthüm- 
lichen beftändigen Auf und Wiederzurücipringen während des Nieder- 
fallen. Daß aber diefer Kampf ein nicht weniger blutiger ift, ala 
jener, in dem zuerft Organiſches und Unorganifches ſich ſchied, beweist 
die unwiderſprechliche Thatſache, daß außer eigentlichen Steinen nicht 
nur pflanzenhafte, ſondern gallertähnliche, ja blutartige Maffen, wahre 
Produkte einer organischen Zerreifung oder Zerfleifchung niedergefallen 
ſind“. — Wie groß erfeheint Homer ?, wenn er von Zeus in dem Au— 
genblid, wo Zeus den thenern Sohn Sarpedon, dem vor Troja zu 
fallen beftimmt tft, zu vetten aufgeben muß, won ihm fagt: 
Siehe mit blutigen Tropfen beträufelt ev jeßo die Erde 
Ehrend den Iheuren Sohn. 

Schon die griechiichen Ausleger machen die Anmerkung dazu, daß in 
jolhen Erſcheinungen ſich ein Mitleiven der Natur anfündige, gleichwie 
e3 auch zu dem älteften Glauben und gleichjam zu dem Uranfichten der 
Menfchheit gehört, anzunehmen, daß in außerordentlichen Erſcheinungen 
ſich ein Mitgefühl der Natur an menſchlichen Leiden offenbare. 

Die Verehrung, die vom Himmel gefallenen Maſſen als natür— 
lichen Bildern der Kybele erzeigt wird, iſt ein Beweis ihrer eignen 
Stellung, daß nämlich in ihr die aſtrale Religion aufhört, gleichſam zur 
Erde herabſteigt, daher ſie denn auch vielfach und oft als Erde ſelbſt — 
als Erdgöttin erklärt worden, welches aber nur in dem Sinn wahr iſt, 
daß ſie nicht mehr Himmelsgöttin, Urania, iſt. In ihr nimmt das zuvor 
noch immer geiſtige Geſtirn irdiſche Geſtalt und irdiſches Weſen an. 

Durch das Bisherige haben wir mehr indirekt gezeigt, was Kyhbele 
bedeutet; jetzt wollen wir fehen, wie fie fich ſelbſt varftellt, wie fie 


Manche Meteorfteine, z. B. der von Stannern, haben große Aehnlichfeit. mit 
förnigten Bafalten. Auch Olivinförner find in ihnen gefunden worden. , Hagel 
mit mineralogiſchem Kern nach Berzefius. 

2 Il. XVI, 459, 


361 





erſcheint in jenen feterlichen Umzügen, in welchen ihre Prieſter ihr Bild 
durch die großgriechiſchen Städte führten '. 

Sie ſelbſt alſo, Kybele, wird vorgeſtellt auf dem Wagen mit 
ehernen Rädern, welche die furchtbaren Kräfte des Umtriebs jener immer 
in ſich ſelbſt laufenden Bewegung bezeichnen; fie erſcheint ſitzen d, als 
die nicht mehr ſteht, ſondern ſich niedergelaſſen hat, denn kein Zug iſt 
hier unbedeutend, mit leeren (noch nicht eingenommenen) Sitzen um ſie 
her, welche die kommenden Götter andeuten, denen ſie bereitet ſind, 
denn ſchon fühlt fie ſich als Mutter derſelben (als magna Deüm 
mater), weil das dem befreienden Gott nun ganz hingegebene Bewußt- 
jeyn allerdings die Materie ift, aus welcher, nämlich aus der in Gei— 
jtigfeit überwundenen, Die geiftigen Götter hervorgehen. 

In dem Gepräng voll Heiligen Schauers, wie es Lucretius? 
jchreibt, mit dem fie die Städte der Menjchen durchzieht, wird Silber 
und Erz reichlich auf ihren Weg geftreut: 

Aere et argento sternunt iter omne viarum. 
Erz und Silber find die beſtimmteſten Zeichen der bürgerlichen Gefell- 
ihaft. — Wie in den Prophetien parallele Momente ſich deden (mie 
die Werffagung des Endes der heiligen Stadt, Yerufalems, mit dem 
Weltende zufanmenfält), jo deden ſich die entſprechenden Momente der 
- Deythologie. Drei weibliche Gottheiten folgen fi bier, Urania — 
Kybele — Demeter (diefe in ver Folge). Eigentlich ift ſchon Urania 


! Der Dienft der Kybele war nie im eigentlichen, jondern nur in Groß-©riechen- 
land einheimifch (dort aber hatte er als höheren Eultus den der Demeter neben 
fih, der in Sicilien, dem Schauplatz des Raubs der Perfephone, vorzüglich ges 
feiert wurde), Nah Rom kam er, wie jchon bemerkt, von Pefjinus in Galatien, 
nur jedoch als peregrina religio. Dagegen war fie die Hauptgottheit der Phrygier, 
unftreitig des älteften Volks im Innern Kleinafiens, das in einer gewiffen Zeit 
wohl den größten Theil diefer Halbinfel inne hatte. Daß indeß die Vorftellung 
der Kybele eine allgemeine — ein nothiwendiger Uebergang — war, erhellt daraus, 
daß fie nicht weniger auch z. B. im A. T. (1. Kön. 15, 13) vorfommt. Da 
findet fie fih unter dem Namen Miplezeth, der etymologiſch ganz mit der Be- 
deutung übereinftimmt, welche wir dem Namen der Kybele gegeben haben, bis 
jetst aber faljchlich von den Auslegern für einen Priapus gehalten wurde, 

2 Lib. II, v. 526. 


362 


der Uebergang aus dem nomadifchen Leben zu feften Wohnfigen und 
Aderbau; aber wie im jpäteren Bewußtſeyn ftatt Uranos Kronos der 
Gott der goldnen Zeit wird, fo iſt in fpäterer Religion Kybele, in 
noch fpäterer Demeter Einfegerin des Aderbaus und der bürgerlichen 
Geſellſchaft. Diefe Bedeutung hat alfo das auf ihren Weg geftreute 
Erz und Silber, Zeichen einer bereit höheren, bürgerlichen Entwicklung 
(Städtebau — Mauerfrone). Ein Roſenſchauer (ebenfalls Zeichen ver 
menſchlichen Cultur) bededt fie und den fie umgebenden Zug: 

Cinguntque rosarum 

Floribus, umbrantes matrem comitumque  catervas. 
Spisige Waffen trägt man voran als Zeichen des mit dem Entftehen 
der bürgerlichen Gejellihaft unvermeidlid) verbundenen Kriegs und der 
nun gewonnenen Mittel ihn zu führen. Sie felbft fährt ftillfegnend 
durch die Reihen dev Menjchen, 

Munificat tacita mortaleis muta salute 
wie Lucretius jagt. Alfo fie jelbit ift ftumm, als die dem Gott ftille, 
ganz hingegeben ift, indeß, den heiligen Wahnfinn zu erhöhen, oder 
die legte Angft vor dem Polytheismus in diefer Agonie des Bewußt— 
jeyns zu übertäuben, das Getöfe einer wilden, zerreißenden Mufif fie - 
umftirmt, erregt durd) donnernde Pauken, gellende Beden, rauh Elin- 
. gende Hörner und die ftachelnden Töne der phrygifchen Pfeife, dieſelben 
Mittel, deren man auch jetzt fic) bedient, den Strieger, der in den grau— 
jamen Todesfampf geht, in einen befinnungslojfen Zuftand zu verjegen. 

Wie hier das an der Einheit noch immer fefthaltende Bewußtjeyn 

übertäubt werden joll, jo erzählt der fpecielle griechiſche Mythos, daß 
bei der Geburt des Zeus — des Gottes, mit dem Das Reich freier, 
geiftiger Götter entfteht — daß. die diktäiſchen Kureten — aud) fie befin- 
ven fid) Übrigens im Zuge der Kybele — daß alſo diefe bei der Geburt 
des Zeus die ihre Geburtsfchmerzen verheimlichende Rhea umgeben, 
und durch Cymbeln, durch das Getöſe in wildem Waffentanz anein- 
ander gefchlagener eherner Spieße und Schilder einen Lärmen erregen, 
ber feinen anderen Zwed hat, als daß der argwöhniſche und argliftige, auf 
jeine Einigkeit und Alleingewalt eiferfüchtige Gott Kronos in Betäubung 


363 

verjegt, die Geburt und das ihm durch Lift ver Rhea entzogene Kind nicht 
merfe'. Kronos ift eben nur das argwöhniſche, den einzigen, das Gott— 
jeyn für fich allein nehmenden Gott angftvoll bewahrende Bewußtſeyn 
jelbft. Auch die Kybele endlich begleiten entmannte Priefter, Galli genannt, 
oder die im Taumel fanatiſcher Wuth fich felbjt verftümmeln, nur die 
Entmannung des Gottes an ſich jelbit zu wiederholen. Denn in der 
phrygiſchen Vorftellung wird der Uebergang durch eine meibliche (Die 
Urania in einem fpäteren Moment wiederholende) Gottheit, in ver 
griechifchen wird er als Entmannung des zuvor herrfchenden Gottes 
dargeftellt. Doc findet fi auch in der phrygiichen Vorſtellung ein Der 
Mannskraft beraubter Dämon (Attis — er ift Dämon, als der aufge- 
hört hat berrfchender Gott zu ſeyn; Dämon ift nur, mas entweder 
die Gottheit noch nicht erlangt hat, bloß zufünftiger, oder ein vergan- 
gener Gott: im erften Moment des Befiegtjeyns finft der Gott zu 
einem bloßen Dämon herab), ein der Mannsfraft beraubter Dämon 
jteht in unmittelbarem Bezug mit ihr, und wie ſie jelbft (Khybele) nur der 
weiblich gewordene Kronos ift, fo war nad) ver gewiß alteften griechi- 
ichen Sage Kronos von Zeus wie einft Uranos von Kronos entmannt wor- 
den ?. — Sp viel nun won dem Uebergangsmoment, in welchen, wie id) 
hinlänglich gezeigt habe, nad) allen ihren Attributen Kybele nicht nur ge- 
hört, jondern den fie bezeichnet. Wir gehen nun zur Entwidlung der 
eigentlich erſt polytheiftiichen Keligionen fort. Denn bis hieher war 
noch ‚immer ein relativer Monotheismus, aud Kronos noch war ber 
ausjchliegliche Gott. Aber mit Kybele verhindert nichts zum legten 
Moment überzugehen, wo num der ganz entjchievdene Polytheismus her- 
vorbricht. Hier werden wir aljo zuerft diejenigen Mythologien antreffen, 
die, indem fie alle früheren Momente aufnehmen, zugleidy den legten, 
nämlich den der völligen Ueberwältigung des widerjtrebenden Princips, 
hinzufügen. Diefe Mythologien find, wie ſchon bemerkt, die ägypti- 
Ihe, die indiſche und die griechiſche. 

'’Eraingev EueAlov T0v Koovov, nal Andeıv vrodrdoavreg alrod Tov 


zatda. Strabo. L. X, c. 3 (p. 468). 
2 Lycophr. v. 761. Bergl. Schol. ad Apollon. Argon. IV. 


Siebenzehnte Porlefung. 


In der frühern Entwicklung bezeichnete Urania den Moment des 
Bewußtſeyns, wo der reale Gott dem relativ geiftigen' überhaupt erft 
jtattgibt, ihn zulaßt im Seyn. Kronos bezeichnet den nächſten Mo— 
ment der Ausſchließung, da nämlich der reale Gott den idealen zwar 
nicht vom Seyn, aber von der Gottheit, auf Die er Anfpruch hat, aus- 
ſchließt. Kybele bezeichnet den Uebergang zu dem Moment, wo ber 
blinde Gott dem idealen auch Antheil an der Gottheit gibt, fo daß 
num beide nicht mehr, wie zuvor, im einem getrennten Bewußtſeyn, ſon— 
dern in einem und demſelben Bewußtſeyn coöriftiren und in der That 
nur Ein Gott find. Es ift aber dieſe Identification bei ven. Potenzen 
uicht jo gemeint, als ob damit jofort auch der Gegenfag, die Spannung 
beider aufgehoben fey, fondern es ift zwar in der That nur Ein Gott 
geſetzt, aber der in ſich jelbft doppelt und widerfprechend zugleich. 
Beide fchließen ſich nicht mehr aus, aber die Folge ift nicht Auf- 
hebung des Gegenfates, fondern Steigerung zum Widerfprud). 
Nach unfrer ganzen bisherigen Entwidlung muß ein folder Moment 
vorfommen, wo die beiden Potenzen (Kronos und Dionyjos) für das 
Bewußtſeyn fich dergeftalt iventificiren, daß ihm derſelbe Gott von der 
einen Seite betrachtet al8 realer — als Kronos —, von der andern 
als idealer — als Dionyfos — erfcheint. Iſt die Eriftenz eines ſolchen 
Moments dargethan, und fuchen wir num in ber Diythologie eine ſolche 
Seftalt auf, die im vollfommenen Widerfprud) zugleich Kronos und 


Ich nenne ihm den relativ geiftigen, weil er den ungeiſtigen bekämpft. 


369 

Dionyſos iſt, ſo werden wir eine ſolche nirgends beſtimmter als in der 
Hauptgottheit der ägyptiſchen Mythologie finden, die wir als Oſiris— 
Typhon beſtimmen. Dieſer iſt der Gott, den wir ſuchen und der 
jenen ganz eignen Zuſtand des Bewußtſeyns repräſentirt, wo es die 
höhere Potenz in ſich aufgenommen hat, indeß es der erſtern nicht 
weniger noch immer verhaftet bleibt. Hieraus erhellt, daß wir uns 
jetzt im Allgemeinen auf dem Boden der ägyptiſchen Mythologie be— 
finden. 

Indem ich nun nicht von einem Oſiris, nicht von einem Typhon, 
ſondern einem Oſiris-Typhon rede, könnte man mir einwenden, daß 
doch Oſiris und Typhon in der ägyptiſchen Mythologie als zwei geſon— 
derte Perſönlichkeiten vorgeſtellt und genannt werden. Ich leugne nicht, 
daß dieß von allen neueren Schriftſtellern, daß es ſelbſt von den alten 
auf eine gewiſſe Weiſe geſchieht; allein wir müſſen uns in dieſer ganzen 
Unterſuchung nicht an die Darſtellung halten, welche Schriftſteller, be— 
ſonders neuere, in ihrem eignen Namen von den Sachen geben, wir 
müſſen die Originalzüge, in denen ſich das Bewußtſeyn und die Vor— 
ſtellung eines jeden Volks unmittelbar ausſpricht, aufſuchen und nach 
dieſen den wahren Zuſtand des Bewußtſeyns in jedem Moment beur— 
theilen, und da werde ich denn in der Folge ſolche Züge anführen 
können, aus welchen ſich erkennen läßt, daß ſich Oſiris und Typhon 
in den Vorſtellungen der Aegypter ſo verwirrten, wie es nur möglich 
iſt, wenn man vorausſetzt, daß dieſe beiden Potenzen im urſprünglichen 
ägyptiſchen Bewußtſeyn gleichſam uno eodemque loco, an derſelben 
Stelle, in der That nur wie ein und derſelbe Gott waren. Um jedoch 
dieß gehörig nachweiſen zu können, müſſen wir allerdings jede dieſer 
Potenzen erſt für ſich betrachten, alſo 1) den Oſiris, 2) den Typhon 
als ſolchen, und da iſt denn kein Zweifel, daß Oſiris als ſolcher 
der wohlwollende, der gute, der. freundliche Gott iſt, dem namentlich 
alle diejenigen Wohlthaten zugejchrieben werden, welche z. B. die Helle- 
nen dem Dionyfos zufchreiben (in&befondere den Uebergang zum menſch— 
lichen Leben im Gegenjag mit dem thierähnlichen der früheren Zeit), 
daher ihn auch Herodotos geradezu den Dionyjos der Aegypter nennt, 


366 
Was den Typhon betrifft, jo kann es ebenjomwenig zweifelhaft ſeyn, 
was diefe der ägyptiſchen Mythologie eigne Geftalt ihrem legten Grund 
nad), was demnach Typhon als folder ſey. Er wird durchaus be- 
ichrieben als das alles austrodnende, verzehrende, fenerähnliche Princip. 
Sp von Plutarch '. Unter feiner Herrjchaft fteht die Wüfte mit dem 
aus ihr hervordringenden, alles verfengenden Gluthwind; feine andere 
Behaufung ift das ebenfo wüſte als öde Meer; das bepflanzte, Durd) 
Ackerbau verſchönerte Aegypten zwifchen der Sandwüſte und dem Meer 
ift ein dem Typhon abgewonnenes Land. Das ihm geweihte Thier ift 
der wilde Ejel, onager, der aud im A. T. vorzugsweife das Thier 
der Wüfte ift, jo daß fein Name zum Namen des Wilds überhaupt 
geworden. Plutarch fagt zwar, der zahme Ejel fen das Thier Des 
Typhon wegen feiner Ungelehrigfeit, feiner bifarren, ſtöckiſchen Natur; 
am Ende fommt e8 auf vafjelbe hinaus: immer ift e8 Die widerftrebende, 
ftörrifche Natur des Typhon, die damit angedeutet wird. Typhon in 
feiner Abftraftion, d. h. ganz ohne Oſiris gedacht, wäre alſo die alles 
verwüftende, d. h. die alles im Wüſten und Leeren erhaltende Macht, 
die dem freien, gefonderten Leben abholde Gewalt. ’ 

Doch ift Typhon nicht diefes Prineip im Allgemeinen, fondern er ift 
es als Perſönlichkeit eines beftimmten Moments: nach dem allgemeinen 
Begriff wäre der Kronos der Phönikier daſſelbe, aber Typhon ijt der 
ägyptifche Kronos, d. h. der ſchon von dem höhern Strahl (Des geiftigen 
Gottes) getroffene, darum ſchon gleichſam in Todeszuckungen liegende, ob— 
wohl noch immer ſich behauptende. Daß er ſich unmittelbar an den Kro⸗ 
nos des vorhergehenden Moments anſchließe, iſt zwar eine natürliche Folge 
unſrer Entwicklung, und ſchon dieſe Identität des allgemeinen Charakters 
dieſer Gottheiten völlig getrennter Völker legt für unſere ganze Theorie, 
nach welcher die Gottheiten nicht zufällige, ſondern allgemeine Begriffe ſind, 
das beſtimmteſte Zeugniß ab. Dennoch iſt dieſer Vergleich mit Kronos 
nicht etwa meine Erfindung. Plutarch ſchon hat eben dieß wahrgenom— 
men, wie aus jener bedeutenden Stelle erhellt, wo er gewiſſe Unthaten 


Plutarch nennt ihn mäv 76 auyumoov nal mupödsg nal Snpavrınov 0Awg 
ai molıuov r7 vypornrı. De Isid. et Osir. c. 33. 


367 


des Kronos erwähnt, als in nichts nachjtehend ven, was von Dfiris 
und Typhen erzählt werde!. 

Halten wir uns alſo vorerft an diefen Begriff (Typhon — ägypti— 
ſcher Kronos) und denken wir uns den Gott von dem frühern Moment her 
noch immer als Kronos, weil wir einmal diefem Namen eine allgemeinere 
Bedeutung gegeben haben, fo tft dieſer — welcher nicht der urfprünglid 
jenende, fondern der nur aus der Potenz hervorgetretene, nicht ſeyn ſol— 
(ende ift —, nachdem er der nothmwendigen Fortſchreitung zufolge den geifti- 
gen Gott in fid) aufgenommen, ſchon in der Nothwendigkeit, vollends in 
ſich jelbit, in die Potenz zurücdzutreten, und jo ſich jelbit aufgebend den 
Gott zu jegen, der urſprünglich Geiſt (AP) ift. Aber diefem bejjern Wil- 
(en entgegen erhebt ſich nun auch der andere, auf dem blinden Seyn beſte⸗ 
hende Wille, und ſo iſt nun der Gott, der bisher Eins, und weder Oſiris 
uch. Typhon, ſondern Kronos war, zum Oſiris-Typhon geworben, 

Oſiris in dieſer Verbindung drückt die Forderung an das Bewußt— 
jeyn aus, den gegen. die urjprüngliche Beftimmung reell gewordenen 
Gott aufzugeben — nicht überhaupt aufzugeben, fondern als den reel- 
fen —, ihn als reine Potenz, reines Subjekt zu jegen. So, als der 
ing Unfichtbare, Berborgene zurücgetreten ift, wäre er jelbjt der gute 
Gott, der in dieſem ſich-ſelbſt-Aufgeben, in feiner Erjpivation an jeiner 
Statt den dritten fette, der eigentlid) jeyn joll. Damit wäre dann 
das Urbewuftjeyn wieverhergeftellt. Aber nod) vermag das Bewußt— 
ſeyn Diefe Forderimg nicht zu erfüllen, noch ift das veale Princip zu 
mächtig, und indem das Bewußtſeyn im Begriff ift den wahren, gei- 
jtigen Gott zu fegen, tritt der ungeiftige dazwiſchen und verhüllt den 
Gott aufs Neue in materielle Geftalten, durch melde die Einheit, die 
in der Intention des befjeren Bewußtſeyns lag, in der That aufs Neue 
zerriffen wird. Inwiefern nun der befjere, die geiftige Einheit wollende 
Theil des Bewußtſeyns Dfiris heißt, infofern wird durch Gegenwirkung 
des Typhon (des realen Princips) allerdings, wie die Aegypter jagen, 
Dfiris zerftüdelt, dem Bewußtſeyn die Einheit in eine Bielheit von 
Geftalten zerriffen, die, weil hier nicht mehr wie im Zabismus bloß 

S. die Stelle oben ©. 302, Anm. 2. 


368 


die Eine Potenz und auch nicht mehr bloß zwei Potenzen, jondern zu- 
gleich die dritte — beide in Eins ſchließende — Potenz, alſo alle 
Potenzen im Spiel find, nur thieriſche, oder wenigftens bloß hal b— 
menschliche Geftalten jeyn Fünnen; aus demfelben Grunde, aus welchem 
auch in der Natur felbft, ſowie die dritte Potenz mit hinzufommt, das 
thieriiche Leben anfängt. Jedes Thier, als felbftändiges, in fich ge- 
ſchloſſenes und geordnetes Ganzes, als vollendete Individualität, ift nur 
ein verichobenes Abbild, ein simulacrum jener. höchiten Einheit, welche 
zulegt im Menſchen ericheint. Die ganz thierifche oder doch bloß halb- 
menſchliche Geftalt der Agyptifchen Götter fee ich als befannt voraus, 
und die auf einmal hier erſcheinenden thierifchen Geftalten der Götter 
wären wohl allein jchon ein hinlänglicher Beweis, daß wir für die 
ägyptiiche Götterlehre die rechte Stelle gefunden. Was die in unfrer 
Entwidlung liegende Erflärung diefer halb oder ganz thieriichen Götter- 
geftalten betrifft, über welche ich mich fpäter nod) in weiterem Umfang 
erklären werde, jo ergibt fie fi zwar aus der ganzen Folge unfrer 
durchaus der Natur parallelen Entwicklung gewiſſermaßen won felbft, 
aber es ift und darum nicht weniger wichtig, eben diefe Erklärung aud) 
durch wörtlich übereinftimmende Ausfagen des Alterthums ſelbſt beftä- 
tigen zu können. 

Der Bolytheismus der ägyptiſchen Mythologie alfo wird’ in ihr 
ſelbſt ausdrücklich einerſeits vorgeftellt als eine Zerreifung, Zerftüd- 
(ung, Öımuekıouög, Öıwonacuög des Dfiris, des guten Gottes. 
Aus Angft vor dem Typhon, wie es bei Plutarch! ausdrücklich heit: 
rov Tupwva Ösloavres, und gleihjam um fi) zu werbergen 
(ofov zo6ntovreg Euvrovg), ſich entfegend wor dem wieder drohen- 
den Anblick jenes alles verzehrenden Princips, vor dem (prae quo) 
nichts Individuelles feyn und beftehen könnte: alfo aus Angft vor dieſem 
haben die Götter — wir fünnen fagen, hat ſich der in der Natur jchon 
hervortreten wollende Geift — in die Leiber der Ibiſſe, der Hunde, 
der Habichte u. f. mw. verwandelt. Bon ver andern Seite fonnte aber 
diefe Zerftüdelung ebenfowohl dargeftellt werden als Zerreifung und 

‘ de Isid. et Osir. c. 72. 


369 

als der Todesfampf des Typhon felbft, wie Plutardy unmittelbar nad) 
ver eben angeführten Stelle feines Tractats de Iside et Osiride (auf 
den ich nad) neuen Unterfuchungen, von denen ich freilich hier nur die 
KRefultate vortragen kann, großen Werth zu legen Urfache habe) — 
unmittelbar alfo nad) der angeführten Stelle, in welcher die Entftehung 
der ägyptiſchen Götter als eine Zerftüdelung des Oſiris vorgeftellt wird, 
erzählt Plutarch: „viele fagen auch, in demfelben Thiere ſey die Seele 
des Typhon zerrifjen worden”. — Sie fehen wohl, welcher Widerſpruch 
hier nad) jeder andern Anfiht ſeyn würde, der jedoch nad) der unfrigen 
ſich erflärt; denn allerdings wird auch das reale, dem geiftigen Leben 
feindliche Princip in dieſem Kampfe ebenfowohl zerriffen, und es 
ftellt diefer Moment‘ wirklich die legten Zudungen jenes Deiſidämon, 
jenes Angftprincips, den eigentlichen Todesfampf des realen Princips 
dar. Diefer Tod des realen Princips ſollte ein gewaltjamer, mit 
Kampf verfnüpfter, nicht ein fanfter, ftiller, fondern ein, daß ich fo 
jage, ausprüdlicher, cum ietu et actu verbundener ſeyn, damit Das 
Bewußtſeyn auch den geiftigen Gott ausprüdlid und als folchen fee, 
was nicht möglich war ohne Todesfampf des realen Gottes. 

Diejelben unvermittelten Widerfprüche aber, die wir in dem Ob- 
jeft, in dem Gott diefes Moments, nachgewieſen haben, find nun 
ach im Bewußtſeyn. Das Bewußtſeyn, in diefem Kampf jelbft mit- 
begriffen, einerſeits ſchon dem geijtigen Gott, dem Dfiris, zugemwendet, 
von der andern Seite nody ebenjo anhänglich, jelbit- abhängig von 
diefem — diejes beiden Göttern, von dem jeder der Tod des andern 
ift, zugewandte und gleichſam vwermählte Bewußtſeyn ift durch Iſis 
dargeftellt. Iſis, nad) der einen Erzählung Gemahlin des Dfiris, be- 
weint den von Typhon zerriffenen Gemahl, und fucht feine Glieder 
wieder zuſammen. Nach einer andern Erzählung, die ſich zwar nur 
bei einem chriftlihen Schriftfteller (Julius Firmicus) findet, der” fie 
aber doc nicht erfunden haben kann, und der aud) fonft zeigt, daß er 
Duellen und Hülfsmittel vor ſich hatte, die ung jeßt abgehen, nad) 
diefev Erzählung ift Iſis vielmehr Schweiter des Oſiris, aber Gattin 
des Typhon, Dfiris ift nur ihr Buhle und aus diefer Buhlfcyaft 


Schelling, ſämmtl. Werke. 2. Abth. 11. 24 


370 


(aus diefer Untrene gegen den erften Gemahl — Sie erfennen hier 
wieder einen ſchon früher worgefommenen. Zug), aus diefer Buhljchaft, 
weldhe die Eiferfucht und den Zorn des Typhon erregt (aud) dieß, 
vie Eiferfucht des erften Gottes, ift ein nun ſchon befanntes Bild), 
aus diefer alfo entfteht erft die Zerreißung des DOfiris!. Wenn wir 
uns das mythologiſche Bewußtſeyn nicht als ſtillſtehend, ſondern als 
immterfort beweglidy worftellen müſſen, wenn wir annehmen müfjen, 
daß das mythologiſche Bewußtſeyn zu derjenigen Vorftellung, bei wel- 
cher es zulegt ftehen bleibt, nur ſucceſſiv ſich beftimmt, fo ſcheint es 
der Natur der Sache gemäß, wenn ich behaupte, daß jene Vorftellung, 
nad) welcher Dfiris blog Buhle der Iſis (des Bewußtfeyns), Typhon 
ihr Gemahl ift, das ältere, ja das frühefte Verhältniß ausprüdt. Dieje 
verſchiedenen Ausjagen des mythologiſchen Bewußtſeyns, welche jede 
andere Anſicht oder Entwidlungsart in Zweifel und Berlegenheit jegen 
würden, find für die unfrige vielmehr nur beftätigend. Wären dieſe 
Mythen Erfindung, Erzeugniffe eines, wenn aud) unffaren, aber doch 
feinem Princip nad freien Denfens, fo hätten fie, die erſten Erfin- 
der, unftreitig nicht auf zweierlei, ſondern auf einerlei Art erzählt, und 
der Nachkommende hätte nicht gewagt fie zu verändern, weil er fürd)- 
ten mußte, damit den gamen Sinn aufzuheben. Wenn man aber 
ein nothwendiges (ein nicht von der Willfür eigner BVorftellungen ab- 
hängiges) Verhältniß im Bewußtſeyn jelbft vorausſetzt, dann erklären 
fic) diefe verfchiedenen Ausfagen, die im Ganzen doch immer das Haupt- 
verhältnig bewahren und nicht aufheben, von ſelbſt. An der bloßen 
Ausfage nämlich hat allerdings die freie Borftellung ſchon einen gewiffen 
Theil. Denn e8 ift eine für diefe ganze Unterfuchung wichtige Unter- 
ſcheidung, die wir hiemit feftfegen zwifchen der innern Erzeugung 
der mythologifchen Borftellung, welche eine nothwendige war, und 

' Die Stelle Tautet (de Err. prof. rell. p. 406): Isis soror est, Osiris 
frater, Typhon maritus; is cum comperisset, Isidem uxorem incestis 
fratris cupiditatibus esse corruptam, oceidit Osirim, anteatimque laceravit. 
— Isis, repudiato Typhone, ut et fratrem sepeliret et conjugem, ad- 


hibuit sibi Nephthem sororem socium (jonft Name der Gattin des Typhon) 
et Annubin. 


371 


zwifchen dem Ausſprechen diefer Vorftellung, welches ein freies, wenn 
auch von jener innern Eingebung geleitetes war. Das Ausſprechen 
war jederzeit gleichſam ein Ueberfegen aus dem inneren Sehen in die 
äußerliche Darftellung, dieſes Ueberfegen war aber nicht ohne Antheil 
der Freiheit, und jo ift e8 fein Wunder, wenn verfchtedene Verfionen 
entjtanden, jelbit abgejehen davon, daß, wo immer im Bewußtſeyn ein 
Kampf gefest ift, auch eine nothwendige Succefjion ift, und daß daſ— 
ſelbe Bewußtſeyn, welches in einem frühern Moment nod dem einen 
Prineip ansjhlieglid verbunden tft, in einem fpäteren als ſchon zu 
dem andern neigend (mit ihm buhlend), in einem noch fpäteren als nun 
vielmehr von Anfang an ausjchlieglic (d. h. durch Ehe) dieſem ver- 
bunden erfcheinen muß. Wer bei foldhen Erzählungen den innern Vor— 
gang und das innere Verhältniß vor Augen hat, weiß ſich jene Wider- 
ſprüche wohl zurecht zu legen und zu erflären; er fieht 3.8. wohl ein, 
wie jenes Verhältniß zwiſchen Iſis, Oſiris und Typhon allerdings auf 
die zweierlei Weifen im Grunde glei) wahr ausgefprocdhen werben 
fonnte. Unter anderm zeigt dieſes Beifpiel auch, wie das unglücliche, 
in der Entwidlung der Mythologie begriffene Bewußtſeyn unmillfürlich, 
und infofern unfchuldig, zu der Menge von Buhlichaften, Ehebrüchen 
und Blutſchanden zwijchen ihren übrigens heiligſten Gottheiten fam, 
welche ihnen won den Kirchenvätern, wie ſchon von früheren Philofophen, 
3. B. Platon, um neuere Moraliften nicht zu erwähnen, jo vielfach 
vorgeworfen werden. Es läßt ſich nicht annehmen, daß bloße Erfin- 
der über ſolche Dinge ein anderes moraliſches Urtheil oder Gefühl als 
die fpätern Beurtheiler gehabt haben follten; fie würden alſo derglei— 
hen nicht erfunden haben, und nie läßt fi) annehmen, daß ein ganzes 
Volk oder ein großer Theil dev Menjchheit frei erfundenen Borftellungen 
joldher Art freiwilligen Beifall gezollt hätte. 

Diejelben Widerfprüche des Bewußtſeyns zeigen ſich auch in andern 
Zügen der weiter ausgefponnenen Fabel. Nad) einer andern Erzählung 
heit die Gattin des Typhon Nephtys, aber nun ift es Dfiris, Ty— 
phons Bruder (im gejchwifterlichen Verhältniß werden immer die fich 
gleich, parallel ftehenden Gottheiten gedacht), der mit ihr eine andere 


ägbptifche Gottheit, den Anubis, deſſen Bedeutung ic) ſpäter angeben 
werde, wie e8 heißt, aus Irrthum erzeugt. Diejer Irrthum iſt 
ganz natürlich, denn Iſis verhält ſich zu Nephtys gerade ſo, wie ſich 
Ofiris zu Typhon verhält. Iſis iſt eigentlich Iſis-Nephtys (denn fie 
iſt das dem Oſiris und dem Typhon gleich angehörige Bewußtſeyn), 
wie Oſiris Oſiris-Typhon iſt. Das Bewußtſeyn kann die beiden 
Potenzen noch nicht aus einanderbringen. Wie alſo nach der früher 
angeführten Erzählung Iſis als Gemahlin des Typhon vorgeſtellt ‚ein 
heimliches Berftändnig mit Ofiris hat, jo hat nad) einer andern Dfiris 
ein heimliches Verſtändniß mit der Nephtys als Gemahlin des Typhon. 
Eben dieſe Widerfprüche zeigen, in welchem Grade fi) das Bewußtſeyn 
noch abhängig fühlt won dem realen Gott, der fid) ihm jest mit dem 
guten, geiftigen ganz verwechjelt und an deſſen Stelle tritt. 

Die Zweifelhaftigfeit des Bewußtſeyns, die Schwäche der Iſis für 
Typhon zeigt fi aucd am Ende der Fabel. Denn in dem Augenblid, 
wo endlich Typhon durch den achten Sohn des Dfiris und der Iſis 
ganz befiegt und lebendig in deſſen Hände gefallen ift, ift es Iſis, die ihn 
wieder befreit und feiner Feſſeln entledigt, jo daß man aud) in früheren 
Momenten nicht genau unterfcheiden kann, wem eigentlich), ob dem zer- 
riffenen Dfiris oder dem untergegangenen Typhon, die Theorien der 
Iſis gelten. 

Die wichtigfte Thatſache indeß bleibt, daß der Hauptvorgang, der 
das ägyptiſche Bewußtſeyn bezeichnet, jener Öumuelowög, ebenjo- 
wohl vorgeftellt wird als Zerreifung des Dfiris, wie als Zerreißung 
des Typhon. Um hierüber feine Dunkelheit zu laffen, denken Sie ſich 
die Sache ſo. 

Unſtreitig wäre nach allen ſchon angeführten Attributen Oſiris als 
ſolcher die relativ geiftige Potenz, unſer A? Aber abgeſondert als 
diefe kommt er im ägyptifchen Bewußtſeyn nicht mehr vor. Denn er 
fteht dem B nicht mehr, wie früher, ausgefchloffen entgegen, B hat den 
höhern Gott in ſich ſelbſt aufgenommen. Im Bewußtſeyn iſt alſo 
zwar auf gewiſſe Weiſe nur B, aber dieſes B ift nicht mehr reines B, 
jondern ſchon in der wirklichen Ueberwindung durch A? begriffenes B, 


373 





— B das fi mit A identificirt hat. Inwiefern aber und foweit 
B dem Gott nachgibt, infofern ift es ſelbſt = A (e8 ift ein ande— 
res von dem Gott, ver A? ift, nur fofan es = B ift, aber in- 
wiefern e8 aus B in A, d. h. in die ursprüngliche Verborgenheit oder 
Potenttalität zurückgewendet ift, infofern ift es felbft = A, d. h. foweit 
ift e8 nicht mehr ein anderes oder entgegengefegtes von 42): infofern 
ift e8 alfo in fich ſelbſt Dfiris oder — dem Oſiris. Und nur diefer 
jest nicht außer, fondern in dem B felbft gejegte Dfiris ift e8, von 
dem in jenem Borgang, alfo in dem Grundmythos der ägyptiſchen 
Götterlehre die Rede ift. B wird zerriffen, nur ſofern 8 — A, d. h. 
Dfiris iſt, alfo Oſiris wird zerriffen. Diefer Zerreifungsmythos ift 
aber nur der Anfang, er ift nur die Grundlage der ägyptiſchen My— 
thologie, er ift Ausgangspunkt vderfelben — alſo derjenige Bunft, 
bei dem auch wir fie zuerft auffaffen mußten. Wenn inzwilchen dieſer 
Moment der Moment eines Kampfs und Widerfpruds ift, fo fann 
das Bewußtſeyn nicht bei demfelben ftehen bleiben, alfo auch das ägyp— 
tiſche Bewußtſeyn wird bei diefem Anfang nicht ftehen bleiben, Nur 
wird natürlich dieſes ſpäter Entwidelte und Hinzugefommene mehr den 
Charakter einer freien Einficht, einer höheren Erkenntniß an fid) tragen, 
und da diefe höhere Erkenntniß, wenn nicht ausſchließlich, Doc vor— 
züglich das Eigenthum einer mehr vom Volk ausgeſchiedenen Klaſſe 
ſeyn wird, ſo wird dieſes Hinzugekommene, je weiter es ſich vom An— 
fang entfernt, deſto mehr als Prieſterweisheit erſcheinen. Dieß iſt 
nun vorzüglich in Aegypten zu erwarten. — Zum erſtenmal im Zuſam— 
menhang diefer Entwidlung wird des priefterlichen Wiffens als eines 
bejonderen erwähnt. Die reinmythologiſchen Vorftellungen find nicht, 
wie jo viele, bejonders franzöfiihe Schriftiteller glauben machen woll- 
ten, Erfindungen der Priefter; fie entjtehen durch einen nothwendigen 
Proceß, der durch die ganze Menjchheit hindurchgeht, und in dem jedes 
Volk feine beftimmte Stelle und feine Rolle hat. Was unmittelbares 
Erzeugniß dieſes Procefjes ift, Lebt in dem ganzen Volk und ift das 
gemeinjchaftliche Befisthum aller. Aber wir haben den mythologiſchen 
Proceß zugleich beftimmt als theogonifchen, d. h. als Proceß, durd) 


374 


den das Urbewußtjeyn wieder hergeftellt, reconftruirt werden foll. Der 
Procek, die Spannung der Potenzen, ift nur das Mittel oder ber 
Weg, das Ziel ift die Wiederherftellung der urſprünglichen Einheit, 
des Monotheismus, der mit dem Weſen des Menjhen gejegt war, und 
der fich eben aufheben mußte, um aus einem potentiellen oder materiel- 
[en ein actueller, erfannter zu werben. In dem Augenblid, wo der 
mythologiſche Proceß zuerft dieſes Ziel erreicht, tritt natürlid) ein freieres 
Bewußtſeyn ein, und es werden einzelne dieſes Ziels befonders 
Kundige fich erheben. In den frühern Keligionen jehen wir die Priefter 
noch wenig über das Volk erhoben. Die Baalöpriefter ſcheinen nad) 
allen, was. wir bemerfen können, nicht viel höher über dem Volk ge- 
ftanden zu haben, als in einem Theil der griechifchen Kirche heutzutag 
die Priefter iiber das Bolf fi) erheben. In feinem Lande der Vorzeit 
findet fich eine jo ausgebildete und zugleich) mächtige Priefterichaft als 
in Aegypten. Kein Land ift zumal wegen einer geheimen, d. h. nicht 
jedem im Volk zugänglichen Weisheit fo berühmt, als Aegypten. Sein 
Land, felbft Indien nicht, das ſchon weiter entwidelte, war einer jo 
entſchiedenen Priefterherrichaft als Aegypten, und Feines jo lange Zeit 
unterworfen. Denn obgleich der König feit fehr alter Zeit ſchon aus 
der Kriegerfafte gewählt wurde, fonnte er doch das Königsdiadem nicht 
anders al8 aus den Händen der Priefter empfangen, und nachdem er 
erft in die priefterlihen Myfterien eingeweiht war. Mehrere biloliche 
Darftellungen zeigen einen Pharaonen, der eben auf dieſe Weiſe bie 
sriefterliche Weihe empfängt. Es kam nod etwas hinzu, wodurch Die 
Macht und Beveutung der Priefterfchaft in Aegypten fid) erhöhte, Cs 
ift das, mas Herodotos fagt: von allen Sterblichen haben zuerſt die 
Aegypter gelehrt, daß die Seele des Menfchen unfterblic ſey. Diefe 
Lehre — fo abfolut ausgevrüdt — geht auch ſchon über den Kreis 
des bloß mythologifhen, nod) in der Mythologie begriffenen Bewußt— 
jeyns hinaus. Dennoch war e8 die mythologiſche Bewegung, melde 
das ägyptiiche Bewußtſeyn zu diefer Lehre führte. 

Die ägyptiſche Götterlehre erfcheint nur darum fo verworren, weil 
man die verſchiedenen Formationen des ägyptiſchen Bewußtſeyns, bie 


375 
verjchtedenen Generationen von Göttern, Die übrigens Herodotos ſchon 
jehr beſtimmt unterſcheidet, nicht auseinander zu halten und ihre Aus- 
und Aufeinanderfolge nicht zu zeigen vermochte. Wir hoffen, daß die 
mit unfern Vorausſetzungen befjer gelingen fol. 

Der Grumdton der ägyptiſchen Mythologie ift Kampf; aber das 
Bewußtſeyn kann bei dem mit Ofivis-Typhon gefegten Widerſpruch nicht 
ftehen bleiben; e8 muß zur Entſcheidung, es muß ein Punkt fommen, 
wo der Typhon oder das Typhoniſche ganz überwunden, B in A ganz 
umgewandelt tjt; aber der jo Umgemwandelte, nun ganz vom Typhonifchen 
Befreite ift ſelbſt dem reinen Oſiris glei. Er ift vem Ofiris gleich) 
eben dadurch, daß er in fein urjprüngliches Nichtfeyn, im die Potenz 
zurüdgetreten ift. Aber der jelbjt zum Dfiris gewordene Typhon ift 
nur in Yolge des Kampfes geſetzt; er ift nicht der urfprünglid 
verborgene, jondern der erft ins DVerborgene und Unfichtbare zurückge— 
brachte, der vom Sichtbaren, und zwar nicht ohne Kampf abgeſchie— 
dene, der ſelbſt gleihjam geftorbene. Er kann deßhalb nicht als ein 
urſprünglich nicht Seyender, ſondern nur als ein niht mehr Seyender, 
zwar nicht mehr al8 Gott der noch jeyenden gegenwärtigen Welt, und 
doch auch nicht als nichts, er kann daher nur als Herr des nicht mehr 
Seyenden — des Abgeſchiedenen — als Herr der Todten erjcheinen ‘, 

Sp entfteht alfo und ergibt fi) aus der Idee des Oſiris-Typhon 
ganz natürlich und durd einen natürlichen Fortgang die Idee von Oſiris 
als Herrſcher der Unterwelt, der als foldyer nun ſchon einem höheren, 
mehr eſoteriſchen Bewußtfeyn angehört, nur daß man mit dieſem Eſo— 
terischen hier nicht den Begriff des Verheimlichten, des dem Volk Ver— 
ichtwiegenen, verbinden muß. Denn diefer Oſiris, welcher Herricher der 
Todten ift, erfcheint in einer Unzahl bildlicher Darftellungen, auf den 
Sarfophagen der Todten oder auf den Rändern der den Mumien mit- 
gegebenen Papyrusrollen, felbjt auf Tempelwänden, und Herodotos ift 
offenbar verwundert dieß jo zu finden, da er eimerjeitS nicht umhin 
kann, die Identität des Ofiris und des Dionyfos zu erfennen, anderer- 
jeit8 aber weiß, daß im Griechenland, wo aus jest nicht anzurgebenden 

Plutarch a, a. O. ce. 61. 


376 

Gründen Eroterifches und Eſoteriſches gefchteden waren, die Xehre von 
Dionyſos als Herrfcher der Unterwelt Geheimniß war, und nur ent 
weder in den Möüfterien oder von Philofophen gelehrt wurde. So He: 
vaflit: "Aöng zul Alovvoogs 6 avrös!. Denn aud) in der griedhi- 
ſchen Mythologie ift ein Punft, wo der eiuft nur als eine Potenz ge- 
dachte Dionyfos in allen Potenzen ift. Ihn, dem nun ſich felbft wieder 
gleichgewordenen, aber eben damit zugleich in die Verborgenheit, in das 
Unfihtbare (dieß ift eben die Unterwelt) zurücgetretenen realen Gott, 
der nun felbft Oſiris ift, folgt als Mitherrfcherin Iſis in das Neid) 
des Nichtſeyns, Iſis, in der nun auch die typhoniſche Anhänglichkeit 
beſiegt — beſiegt, aber keineswegs vernichtet iſt. Zum wirklichen Tod, 
zum Uebergang ins Nichtſeyn gehörte ſchlechterdings jener Widerſtand, 
den das Bewußtſeyn dieſer Anmuthung entgegenſetzte, das Feſthalten 
an dem realen Gott als ſolchem. Denn der jetzt der unſichtbare und 
verborgene iſt, iſt nicht dieſer einfach oder ſchlechthin, ſondern er iſt der 
aus der Sichtbarkeit in die Unſichtbarkeit zurückgebrachte, und darum ein 
anderer und beſtimmterer als der urſprünglich unſichtbare. So theilen 
nun alſo Iſis und Oſiris den Thron der Unterwelt. Aber der reale 
Gott konnte das Sichtbare nicht verlaſſen, nicht untergehen, ohne an 
ſeiner Statt einen andern zurückzulaſſen, nicht den zweiten, der nur 
Vermittler, vermittelnde Potenz, nur der war, dem der erſte Gott ge— 
ſtorben iſt, und der jetzt in ihm lebt: nicht dieſen zweiten kann der 
erſte an ſeiner Stelle ſetzen, ſondern nur den dritten, dem von Anfang 
an gebührt zu ſeyn, und der nun als Sohn der Iſis und der Oſiris 
fortan unter dem Namen Horos Herrſcher der Oberwelt, König der 
gegenwärtigen Zeit iſt. Sie ſehen, wie aus dem urſprünglich wider— 
ſpruchsvollen und verworrenen ägyptiſchen Bewußtſeyn nun auch dieſe 
Gottheit als eine nothwendige hervortritt. 

Von dieſem Horos ſage nicht bloß ich, etwa weil dieß zu den vor— 
ausgehenden Begriffen paßt, ſondern die Alten ſelbſt ſagen es, daß er 
an Oſiris Statt herrſcht, ja er wird als der nur in anderer und neuer 
Seftalt wieder erftandene Oſiris felbft gefeiert, fo daß nun alles 

' Plutarh a. a. Di c. 38. 


377 





Dfiris, nur in verfchiedenen Geſtalten. Plutarch‘ jagt vom Horos: 
0 Ö2° Roos obrog wurög &otıv woLou£vog #aı tEheıög: dieſer Ho— 
108 aber ift jelbft norouevog, ein Wort, das auf zweierlei Art erklärt 
werden kann: 1) als der vorherbeftinmte, als der feyn follte; 2) als der 
von fich felbft und darum jchlehthin begrenzte. Denn der dritte in der 
Drdnung der Begriffe iſt derſelbe Begriff mit dem erften, aber das 
Erfte, als Inuteres Seynkönnen, ift das feiner Natur nad) Unbegrenzte, 
zo drreıoov, quod definiri nequit, weil es das, was es ift, ift 
und aud) nicht ift, das Dritte aber ift auch lauteres Seynfönnen, Geift, 
aber als folcher gefetter. Hier ift das „als“ die Grenze, welche e8 ver- 
hindert, über fich felbft hinauszufchreiten, ſich felbft ungleich zu werben. 
Die Natur des Erften, des unbeftimmt Seynfönnenden, ift, vom Zwei: 
ten, aber die Natur des Dritten ift, won ſich ſelbſt enthalten zu feyn. Das 
Erſte ift das Unbeftimmte, das Zweite das Beftinmende, das Dritte 
erft das fich ſelbſt Beſtimmende. Eben darum liegt in dem Wort 
worou&vog aud) der Begriff des DBleibenden, des Stabilen, des nicht 
weiter ſich Verändernden, d. h. eben des Endes, over deſſen, mas dag 
wahre, das wirkliche Ende ift. Das wahre Ende ift aber immer nur 
das, was von Anfang an jeyn fol. Derfelbe Begriff ift nun auch 
ausgedrüdt in dem andern Prädikat des VBollendeten — T&Azıog —, das 
Plutarch in verjelben Stelle dem Horos ertheilt. Wer billig ift, wird 
geftehen, daß dieſe Geftalten ſich von felbft unter jene evften Begriffe 
jtellen, von denen wir ausgegangen find, und die eine von diefen Ge— 
ftalten. ſelbſt, ſowie won jeder hiſtoriſchen Unterfuhung, unabhängige 
Wahrheit in fi) haben. Diejes Zufammentreffen kann daher nicht ein 
zufälliges feyn, vielmehr dient e8 zum Beweis, daß in jenen anfäng- 
lichen Begriffen, die freilich nody den Schlüffel von mehrerem enthalten, 
wirflid) der Schlüffel zur Mythologie gegeben war. Plutarch kennt die 
Folge und das Verhältniß der philofophifchen Begriffe gar nicht, und 
dennoch gibt er dem Horos jene Prädicate. Ich will nur noch gelegent- 
li) anführen, was zwar auch zur Charakteriftif des Horos dient, doch 
nod) dienlicher ift, um bie Bereutung der ägyptiſchen Obelisken daraus 


’ 4.9. D e 3 


378 


abzunehmen, daß dieſe vorzüglich, ja jo jeher dem Horos geweiht waren, 
daß felbft in der Reihe der Hieroglyphen zuweilen, wie Chanpollion 
nachgewiejen, ftatt eines andern Symbols oder ftatt des mit Buchftaben 
geihriebenen Namens des Horos der bloße Obelisk vorkommt. Uebrigens 
habe ich ſchon bemerkt, daß dieſe letzte Vollendung oder Hnausführung 
der anfänglichen Borftellung bis auf Horos ſchon mehr einem befondern, 
als dem allgemeinen Bewußtjeyn angehörte. Ja, als etwas Entftandenes, 
Hinzugefommenes, als etwas anfänglich fogar im Geheimniß Erhal- 
tenes, oder doch nur heimlich Ausgeſprochenes, laßt ſich Die Horos— 
Idee fogar faktiſch nachweifen, oder wenigftens läßt ſich ein ftufenweifes 
Hervortreten aufzeigen. 

Ich Habe bereit8 des Anubis erwähnt, den Oſiris im Irr— 
thum mit der Nephtys (Gattin des Typhon) erzeugt. Anubis ift alfe 
der umeigentliche (dev uneheliche, durch Irrthum erzeugte) Sohn des 
Dfiris, Horos der wahre, der ächte Sohn, wie auch PBlutard) ' beive 
einander entgegenftellt. Anubis ift demnach eine vorläufige, noch gleich— 
jam nicht anerkannte, legitime Erſcheinung des Horos. Solche ned) 
verdunkelte Erſcheinungen fpäter erft in völliger Klarheit hervorgehender 
Götter werden wir aud in der griehifchen Mythologie erkennen. Wenn 
ich al8 die erfte Erſcheinung des Horos nad) der typhonifchen Zeit (denn 
immer erjcheint im Borhergehenden ſchon das Klünftige), den Anubis 
bezeichne, fo ift dieß nicht fo zu verftehen: Anubis ſey identiſch mit 
Horos; identisch ift er nicht, denn er ift nur eine Vorahndung des künf— 
tigen, geiftigen Horos, er ift im Materiellen (daher mit Nephtys er- 
zeugt) das, was Horos im rein Geiftigen feyn wird. 

Der fterbende, vom Seyn abſcheidende Dfiris läßt den Horos, den 
Gott, der die Einheit, welche er nicht im realen Sinn behaupten 
fonnte, im höhern geiftigen Sinn wieberherftellen follte, dieſen läßt er 
als Säugling an der Bruft der Iſis zurüd. Horos als Kind an der 
Bruft der Iſis ift eine der häufigften bildlichen Darftellungen. Durch 
Horos als Kind ift mittelft der einfachften Symbolik der nur noch Finf- 
tige Herrfcher ausgedrückt, der erft heranwachſen muß. Plutarch fagt, 


6: 7, De 


379 

0 nvsoP%reoog "Roos, der ältere, d. h. aljo wohl ein erwachfener 
Horos, heiße in der Agyptifchen Sprache Aooünoıs‘. Diefer ägyptifche 
Laut des Namens Horos ift jest durch Champolltion beftätigt. Horos 
ift aljo der Name des herangewachſenen Gottes. Dagegen der noch 
nicht erftarfte, noch nicht zu feiner vollen Macht gefommene Horos 
wurde durch eine befondere Geftalt, den von den Griechen fo genannten 
Harpofrates, dargeftelt. Nach einer Agyptifchen oder Foptifchen 
Etymologie wird Harpofrates erklärt als der in den Füßen nod) Schwache, 
noch nicht gehen Fünnende Horos, pedibus aeger sive impeditus?. 
Das nicht- gehen Können ift eine ſymboliſche Bezeichnung, Die wir 
aud Später noch finden werden; ich erinnere nur an den Apollo von 
Amyklä, deſſen Beine ebenfalls auf eine ſolche Weiſe eingewidelt find, 
daf er ſich nicht bewegen, nicht fehreiten kaun. Uebereinftimmend mit diefer 
Etymologie ift eine Vorftellung des Harpofrates auf der norböftlichen Seite 
des Tempeld von Medinat- Abu mit aneinander jchließenden Beinen 
und engem, fnappanliegendem Gewand. Denn mit fo einfachen, nat- 
ven Mitteln, von denen freilic) unfere heutige Kunft weit entfernt ift, 
die mit unbeftimmten Begriffen urtheilt, pflegte die alte, auch Die 
ägyptische Kunft ihre Begriffe auszudrüden. Abgeſehen aber von dieſer 
Etymologie ift Horos als Harpofrates durch den befannten Geftus des 
auf ven Mund gelegten Fingers bezeichnet als der Gott, der ſich nod) 
nicht äußert (denn dieß bedeutet die Sprache), deſſen Name noch nicht 
ausgeſprochen werben darf, der nur ftillfchweigend und im Geheimniß 
verehrt wird. Wir fehen alfo veutlih, wie Horos heranwächst, d. h. 
wie er durd) eine Fortbewegung des ägyptiſchen Bewußtſeyns von jenem 
Anfang aus entfteht. 


1 gr, 1, 
2 Bol. Plutard a. a. OD. c. 19. 


Achtzehnte Vorlefung. 


Typhon, der in der ägyptiſchen Mythologie die alles im Wüften 
und Leeren erhaltende Macht ift, wenn er den Oſiris, den dem blinden 
Seyn entgegenftehenden Gott, nicht mehr von fi ausfchließen Fann, 
wird zerriffen: an die Stelle des ausjchlieglichen Seyns tritt alſo bie 
Bielheit und Mannichfaltigfeit. Ofiris ift die wird ndong yeveoeog, 
alles Werdens Herr. Er Ichafft die PVielheit und Mannichfaltigkeit. 
Aber die Einheit darf darum nicht verloren gehen. Die reale Ein- 
heit, Typhon, ſoll untergehen, dagegen erhebt fich die höhere, die geiftige 
Einheit — Einheit, die mit freier Manuichfaltigfeit zugleich befteht. Diefe 
höhere Einheit, das, worin Typhon wie Oſiris im höheren Sinn aus- 
geglichen find, ift Horos, der als demiurgifche Potenz die zerriffene 
Natur gleichjam heilende, wieder zur Einheit werbindende Gott. Ihn 
(den Horos) fette der nur noch im untergegangenen Gott lebende und 
jofern felbft untergegegangene Dfiris zunächſt als den zufünftigen, ſeyn 
jollenden, der darum aud nur ftufenmeife in die Wirklichkeit eintritt. 
Denn nur wenn der Geift geboren (und Horos ift eben der Geift oder 
das A®), ift das Blinde völlig befiegt. Da aud wird erft Iſis mit 
dem Schickſal des Dfiris-Typhon verfühnt. Im Anfang erfcheint fie 
trauernd über deffen Zerreißung, und wie fie die zerftüdelten Glieder des 
Gemahls wieder zufammenfucht. Die Geburt des Horos beruhigt fie 
erft. Die Mythologie enthält Bergangenheiten, welche außer ihr dem 
menſchlichen Bewußtjeyn entſchwunden find. Die Natur ift auch eine 
Geſchichte, aber eine verflungene. Diefe Scenen des Schmerzes, des 


381 





Unmuths, und wieder die Verſöhnung und Beruhigung, von denen wir 
auf andere Weiſe nichts wiſſen, haben fid) in ver Mythologie reprodu— 
eirt. — Die Kindheit des Horos ift ein wefentliher Zug. Nur langſam 
wächst er heran. Unter den Sculpturen von Philae, der berühmten 
Nilinſel bei der legten Katarrhafte, wo das Grab des Dfiris ſeyn follte 
(das Grab war eigentlich auf einer Nebeninfel, wohin nur den Prie- 
jtern zu gehen vwerftattet war, — bei dem in Philae, d. h. bei dem 
dort beftatteten Oſiris, war der heiligjte Schwur der Aegypter —), dort, 
unter den Sculpturen von Philae ift die Kindheit des Horos nicht we— 
niger als viermal vorgeftellt. Dreimal erſcheint Horos noch als Feines, 
ſehr ſchmächtiges Kind im Schooße der Mutter, ein viertesmal ſchon 
als Knabe, ver ftehend an der Mutter trinkt. Es finden fid) hier 
noch Abjtufungen und die Idee eines allmählichen Erftarfens. Plutarch, 
der offenbar bet manchem, was er berichtet, ägyptiſche Driginalftellen 
oder Aeuferungen vor ſich hatte, die man gleich an dem tiefjinnigen, 
ihm meift ſelbſt nicht verftändlichen Inhalt erkennt, jagt: 6 dE "Noog 
x96v0 tov Tupwvog &x06T70€: mit der Zeit wird Horos des 
Typhons Meifter', was an das Fragment von Pindar erinnert: 
x00v@0 £y&ver Anöklov, womit id übrigens nichts über das Ver— 
hältniß des Horos zu Apollon ausgefprochen haben will. Völlig heran- 
gewachſen, ift e8 Horos, der Iſis noch Beiftand gegen Typhon leiftet. 
Bis dahin war er immer noch der Werdende, Zufünftige. Jetzt erſt tritt 
er jelbft als Herrfcher auf, und Iſis folgt nun ruhig dem Gott, dem 
fie angehört, in die Unterwelt. Auch an ihrer Stelle bleibt eine andere 
Gottheit in der Gegenwart ftehen, das dem Horos entjprecdhende Be- 
wußtſeyn, ihre Tochter Bubaftis, Schweiter des Horos, die fid) zu 
diefem ebenfo verhält, wie Iſis ſich zu Oſiris verhält. Ste tritt ebenfo 
an die Stelle der Iſis, wie Horos an die Stelle von Ofiris und Ty- 
phen. Iſis ift das zwiſchen beiden zweifelhafte Bewußtſeyn, Bubaftıs 
das iiber beiden fchwebende, und darum nicht mehr zweifelhafte. 
Fügen Ste daher zu den Namen ber bis jetzt entwickelten ägypti— 
ſchen Gottheiten nun auch den Namen der Bubaſtis. Daß hiemit ihre 
— 


382 
wahre Stellung, alfo aud ihre Bedeutung vichtig angegeben ſey, kann 
fich jeder überzeugen, der die Angabe des Herodotos vergleichen will. 
Wie, entweder die Aegypter jelbft, nachdem fie mit den Hellenen und 
deren Borftellungen näher befannt geworden, oder die Griechen ven 
Horos der Aegypter mit ihrem Apollon für eins halten, fo vergleichen 
fie die Bubaftis mit der griechifchen Artemis. Inwiefern ſich dieß übri- 
gens fo verhält, kann ich hier nicht beurtheilen. Dieß wird da beffer 
geſchehen, wo auf Apollon und Artemis in der griechiichen Mythologie 
die Rede kommt. Borläufig dient diefe VBergleihung nur, das gefchwi- 
fterlihe Verhältniß zwijchen Horos und Bubaftis zu zeigen. 

Es ift num aber zu bemerfen: Jener ganze Vorgang, ich meine 
Typhons Ueberwintung, des Ofiris und der Ifis Dergeiftigung, bie 
Macht des Horos — dieß alles muß nicht als ein todtes Berhältniß, 
jondern als Ein zufammenhängendes Gefhehen vorgeftellt 
werben. Oſiris ift nicht eher Herrfcher der Unterwelt, Iſis nicht eher 
beruhigt (und nur die beruhigte Iſis ift Mitherrfcherin über die Todten), 
als bis das Typhoniſche völlig befiegt und Horos zugleich wirklicher, 
vollendeter Herrſcher ift. 

Suchen wir uns demgemäß deutlich zu machen, mas als Reſultat 
diefes ganzen Vorgangs im Bewußtſeyn ftehen bleibt, jo ift alfo nur 
im Bewußtſeyn gejett 1) als Tiefftes und eben darum DVerborgenftes, 
als eigentliches Myſterium und Geheimniß des Ganzen, der reine, 
d. h. der völlig vergeiftigte, zum Dfiris gewordene Typhon, der aus 
dem Realen ins Ideale, in die urfprüngliche Potentialität zurücgebrachte, 
Dfirisgleihe Typhon, wo er ſich wirklich als reines A! verhält. 
Während des Procefjes verhält er fich nicht fo; denn folang er die 
andern Potenzen ausjchließt, ift er felbft nicht erſte Potenz. ALS dieſer, 
als erfte Potenz, ift ee Grund (im oft erklärten Sinn), Grund des 
ganzen beftehenden Seyns, im Heraustreten aus der Potentialität Grund 
der Bewegung des Procefjes. Aber 2) ift nun eben darum in dem 
zum Oſiris gewordenen Typhon nicht minder aud) der Gott verwirklicht 
und ala Urſache erfannt, welcher ihn aus dem Typhoniſchen über- 
wunden und ihn ins Geiftige umgemenbet hat. 


383 
Hätte das Typhoniſche nicht widerſtrebt, d. h. hätte das erfte 
Princip unmittelbar, ohne Widerſtand, ſich vergeiftigt, fo wäre feine Zer- 
reigung erfolgt. Aber ein Widerftreben mußte feyn, damit alles aus- 
drücklich geſetzt, jenes legte Berhäituig in der That als Erzeugtes, als 
Reſultat im Bewußtſeyn vorhanden jey. Indem nun aber in dem über- 
wundenen Erften die zweite Potenz ſich vollfommen verwirklicht hat, das 
Typhoniſche in dem erſten Princip zur wirklichen Eripiration gebracht, 
und diejes als reiner Djivis, als reines A! gefegt ift, fo muß nun 
gleichzeitig mit der aufgehobenen Spannung auch die dritte Potenz als 
Horos gefegt werben, Horos ift aber felbft nur der in höherer Potenz 
wieder entjtandene Dfiris. Der erſte Dfiris, imwiefern er = Typhon 
Oſiris-Typhon) war, mußte zerrifjen werden und in die Vergangenheit 
zurüdtreten, damit der wahre Dfiris, der Dfiris, der es tft, der Oſi— 
vis als folder, d.h. ver Gott als Geift, gefegt werde. Horos iſt alfo 
nur der Name für den als folhen, und demnach in der dritten Potenz 
gefegten Dfiris. Auf diefe Art ift nun alles Oſiris, und nad) völlig 
gelöster Spannung der Potenzen ift im Bewußtſeyn gefetst 1) der Gott, 
der jeiner Natur nad) bloß das Seynkönnende ift; Diefer aber, nachdem 
er aus dem Seyn in das lautere Seynfönnen zurüdgeführt ift, erjcheint 
als der Gott, der war —; alfo es ift nun im Bewußtſeyn gejegt: 
1) der Gott, der war, 2) der Gott, der ift, 3) der Gott, der jeyn 
wird, d. h. ver nicht Einmal nur feyn wird, fondern der ewig ſeyn 
wird, d. h. der ewig ſeyn follende, dem ewig gebührt zu jeyn. 
Diefe drei alfo, der Gott, der war, der it, und der ſeyn wird, 
find jeßt in ihrer urfprünglichen Ginheit, jo nämlid, daß erkannt 
wird, derjelbe fey der erfte, der zweite, der dritte, im Bewußt— 
jeyn gefegt, aber dieſe urfprüngliche Einheit ift im Bewußtjeyn nicht 
ſchlechthin, ſondern als eine gewordene, und eben darum aud) er- 
fannte gejegt. | 
Auf ſolche Art alfo fam das ägyptiſche Bewußtſeyn durch eine 
ganz natürliche Fortſchreitung bis zu dem Punkt, wo die Spannung 
der theogoniſchen PBotenzen fi) löste, und fo fand es den Weg vom 
Bolytheismus zu einem Monotheismus, der dann wieder, wie wir bald 


jehen werden, die Grundlage einer noch höhern, vein geiftigen Religion 
war, die im Aegypten neben der mythologiſchen beftand, die fie eben 
darum nicht aufheben Fonnte, weil fie ihre VBorausjegung war, das, 
aus dem fie nicht einmal, fondern immer wieder entitand. 

Was insbefondere Die von und angewendete Formel, „ver Gott, 
der war, der ift und ſeyn wird,“ betrifft, jo kann ich dieſe nad) 
der Injchrift auf dem Bilde der Neith zu Sais nicht für eine dem 
ägyptiſchen Gedanfenfreis fremde Formel anfehen, wenn wir bie wahre 
Idee der ägyptiſchen Neith auffaffen, worüber ich in der Folge mid) 
noch zu erklären Gelegenheit finden werde. Hier nur jo viel: die Grie- 
hen und wahrfcheinlich die Aegypter ſelbſt — ob copmrso0ı Twv 
ieo&wv nad) Plutarchs Ausdruck — verglichen fie mit der hellenijchen 
Athene, der höchſten Intelligenz, dem höchften Bewußtjeyn, und da ift 
wohl ſchon zu vermuthen, daß im jener Inſchrift etwas mehr gemeint 
war, als die bloße materielle. Subftanz der Natur, von der man 
freilich jagen kann, daß fie bei allem Wechfel der Erjcheinung beharrt ; 
aber dieſe dürftige Wahrheit, auf die abftract betrachtete Subftanz der 
bloßen Sinnenwelt ſich beziehend, ift nicht im Geift der ägyptiſchen 
Weisheit; daher jene Infchrift, wenn man fie anerfennt, den Inhalt 
des höchſten ägyptiſchen Bewußtſeyns ausprüdt. Doc) e8 braucht Diefer 
Inschrift nicht. Entſchieden war der erfte Dfiris der Gott der Ber- 
gangenheit, der zweite der Gott der Gegenwart, der dritte der Gott 
der Zufunft im Agyptifchen Bewußtſeyn, und der erfte, zweite und 
dritte waren nur derjelbe Gott. Aber dieſer Monotheismus war fein 
abftracter, rationeller oder philofophijcher,. e8 war ein überhaupt auf 
gefhihtlihem Weg entftandener und beftimmt mythologiſcher Mo— 
notheismus, der eben darum aud) Feine Urfache hatte won feiner Vor— 
ausjegung ſich loszureißen. Nur auf dem von ung eingefchlagenen Wege 
läßt ſich begreifen, wie die höhere, nicht zu leugnende Theologie der 
Aegypter ihre Mythologie nicht aufhob, wie beide zufammen beftanden. 
Ja auf ſolche Weife angefehen, ift nun diefer Ausgang des ägyptiſchen 
Bewußtſeyns ein thatfächlicher Beweis von der Nichtigkeit unferer ganzen 
Entwidlung. 


385 





Der Polytheismus it oft als zerriffener Monotheismus erflärt 
worden. In dem Ödıazuskıouög, ÖLuonaouög des Dfiris haben wir 
in der Mythologie ſelbſt diefen Begriff einer Zerreißung der Einheit. 
Aber eben dieſe zeigt ung auch, daß nur eine untergeordnete Einheit 
zerrifjen wird, daß dieſe Zerreißung nur der Uebergang ift zu jener 
höheren geiftigen Einheit, die wir im Ende der ägyptiichen Mythologie 
wirklich erkannt und ausgejprodhen antreffen. Der Bolytheismus ift 
infofern mehr Uebergang zum actuellen, zum wirklichen, zum erfann- 
ten Monotheismus, Es iſt ein großer Irrtum der gewöhnlichen An- 
ficht, in der Bielheit des Polytheismus das dem befjern Princip Wider- 
ftrebende zu fehen; im Gegentheil iſt es vielmehr gerade das bejjere, die 
falfche Einheit verneinende Princip, das mit der Vielheit einverjtanden 
ift. Die Einheit, die ſich in dieſer zerjtört, ift nicht die eigentlich jeyn 
jolfende, deren Untergang wir wie Iſis zu beflagen und zur beweinen hätten. 
Der abjolute, ver nichts ausjchliegende, wahrhaft all=einige Gott fann 
dem Bewußtſeyn nur entjtehen, indem der ausſchließliche als [older 
überwunden, in die bloße Potenz zurüdgebradht wird; aber allerdings 
muß eben darum aud das Bewußtſeyn an den ausjchlieglichen feſt— 
halten; denn hielte es nicht feit an ihm, fo könnte ihm der abjolute, 
der nichts ausfchliegende nicht dafür, d. h. nicht gleichſam als Erjak 
des faljh- Einen, nicht an deſſen Statt, und demnach nicht als der nun 
wahrhaft jeyende werden. 

Alfo jener Monotheismus, auf welchen das ägyptiſche Bewußtſeyn 
hinausgeht, ift ein gefchichtlich entftandener. Aber aud) diefe Geſchichte 
jelbft wieder — die ganze Gejchichte des dem guten Gott widerftrebenden 
Typhon (er wird vielfach mit dem Ahriman ver Perjer verglichen), die 
Gejchichte der Unthaten des Typhon, des zerriffenen, des vom Seyn 
abgejchtedenen, aber in Horos wiedergejtellten Oſiris — aud) dieſe ganze 
Geſchichte ift im ägyptiſchen Bewußtſeyn nicht als eine einfürallemal 
geſchehene enthalten, jondern als eine immer wieder gejchehende und 
fich beftändig, jelbjt in jedem Jahreslauf wiederholende. Die hödjite 
Idee alſo ift eine immer wieder lebendig fich erzeugende. Wenn auf 
folhe Art jene Gejchichte ſich für das ägyptiſche Bewußtſeyn zu eimer 

Schelling, fämmtl. Werke. 2. Abth. 11. 25 


386 
wahrhaft ewigen, d. h. zu einer immerwährenden, immerwährend fich 
ereignenden erhob, jo verband fte fi) von der andern Seite eben da— 
durch mit dem ganzen Leben des Aegypters, ſowie mit allen Befonder- 
heiten feines an Wundern veichen Landes, fie begleitete ihn durch den 
ganzen Sahreslauf, und verwebte ſich ihm mit dem jährlichen Wechjel 
der Erſcheinungen ebenfowohl, als feine Gefchäfte und Arbeiten; fie 
wurde immer aufs Neue gleihjam erlebt, und dadurch aufs Neue be- 
glaubigt. Hierin alfo liegt der Grund der ſcheinbar kalendariſchen und 
aftronomifhen Bedeutung der äghptifchen ‚Götter, wodurch ſich nur 
derjenige täuſchen lafjen fan, der nicht in Diefes ganze Syitem von 
vorn herein gefommen ift. Nicht Sterne, nicht Sternperioden, nicht 
die Punfte des Jahreslaufs bedeuten die Götter, fondern umgekehrt das 
ganze Jahr ift dem Negypter nur Wiederholung der ewigen, d. h. im- 
merwährenden Gejchichte feiner Götter. Nicht ihre Religion iſt kalenda— 
riſch, ſondern umgekehrt, ihre Falendarifches Syſtem ift religiös, und 
durch Religion geheiligt. Wenn Sie alfo z. B. bei Ereuzer oder bei andern 
lefen, Horos jey die Sonne in der Sonnenwende, die Sonne in ihrer 
höchften Kraft, der fchwächliche Harpofrates die Sonne zur Zeit ihrer 
geringften Kraft im Winterſolſtitium, jo wiffen Ste, was Davon zu 
halten if. Nach Plutarch war vom 17ten des Monats Athyr (= 13. 
November) an Klage und Weinen in Aegypten, die Trauerzeit um den 
verſchwundenen Ofiris, e8 war die Zeit, wo der aupevıouög, das 
Unfichtbarwerden des Dfiris (das aljo ein immer wieder gejchehendes 
war), gefeiert wurde, Dagegen mit dem 11ten des Monats Tybi (dem 
6ten Januar), wo die Sonne wieder mächtig wird, fängt die Jubelzeit 
Aegyptens an, d. h. fie knüpfen an eine analoge Periode ihres aud) 
durch den regelmäßigen und gleichfürmigen Wechfel der Erjcheinungen 
ausgezeichneten, ja einzigen Yandes den Moment des wiedergefundenen 
Dfiris ihrer Göttergefchichte. Auf diefe Art aljo, durch dieſe liebevolle 
Verfhmelzung ihrer Göttergeichichte mit der ganzen Natur war bieje 
Geſchichte eine fortvauernd lebendige, immer wieder begangene, in einem 
beſtändigen Feſteyelus wiederkehrende, im Bewußtfeyn erneute. Was 
ander? als vie ıft auch die Beveutung jedes Feftcyelus? In Feiner 


387 


andern Ablicht wird aud in der chriftlihen Kirche das Felt des Erlö— 
jers in jedem Yahr und zur beftimmten Zeit wieder begangen, ohne 
daß ed darum jemand anders als einem verbrehten Kopf wie Dupuis 
einfallen wird, den Erlöfer für eine bloß kalendariſche Potenz zu erflären. 

Eben darum nun auch, weil die Gejchichte des Oſiris als eine 
ihrer Natur nach ewig geſchehende betrachtet wird, hat auch Typhon 
noch immer einen gewiſſen Theil won religiöfer Verehrung. Denn er 
ift zwar innerhalb dieſer Geſchichte befiegt, d. b. zur Vergangenheit ge- 
worden, da aber diefe Gefchichte ſelbſt eine ewige, d. h. immerwährende 
ift, jo tft aud, die Befiegung des Typhon nicht eine immer gefcheheng, 
Jondern eine immerwährende Beftegung. Die Nothiwendigfeit, beides 
auszudrüden, ſowohl die immer noch fortdauernde, alſo noch immer 
der Beſiegung bedürftige Macht des Typhon, als jeine wirkliche Befie- 
gung, diefe Nothwendigfeit brachte von ſelbſt mit fi, daß die auf den 
Typhon fid) beziehenden Gebräuche in verfchtedenen Theilen des Jahre 
verſchiedene waren. Plutarch jagt: die ſchon gebrochene, aber noch 
mit dem Tode ringende und in den legten Zudungen liegende Kraft 
des Typhon (ic habe den Kampf des Typhon von Anfang gleichſam 
als Todeskampf vorgeftellt; wie ich dieſen Ausdruck zum erſten Mal 
brauchte, bei meinen erjten Arbeiten über diefen Gegenftand, Fannte 
ich diefe Stelle und alſo auch dieſe Ausdrücke des Plutarch nicht; dieſes 
Zufammentreffen meiner ganz unabhängig von feinen Ausprüden ent- 
jtandenen Begriffe mit dieſen Ausprüden, vdergleihen mir in manchen 
andern Fällen noch begegnet ift, darf ic, daher wohl als ein Zeugniß fo- 
wohl für mid; felbft als auch für Plutarch anführen) — diefer aljo jagt: 
die Schon gebrochene, noch mit dem Tode ringende Kraft des Typhon werde 
das einemal mit Dpfern verjühnt und befchwichtigt, dann aber, und 
in andern ägyptiſchen Feſten auch wieder verhöhnt und übermüthig ver- 
fpottet'. Das Letzte, dieſer Hohn felbit, ift ein Beweis, dal das 


' Die Stelle a. a. D. c. 30 lautet: Trv rod Tvpovog nuavomuernv zat 
[2 14 v f J * > Pr 
Svvreromusvnv Sivauıv, Erı dE zal bvyopoayoudar zai Gpada,ovsar, Eörıv 
» * * — w 
. N J * v al ’ . “ J 
als raonyooovoı Yvdiars zal zoavvovdın. EOTI dore malır errateıvondı zai 


* * 4 * 
nadtvßoilovdıw Ev rıdın Eopraiz. 


388 

Bewußtſeyn jene typhonifche Gewalt als eine reale empfunden hatte. Die- 
jer Hohn und Spott ift nur der natürliche Ausbruch des won einer dro— 
henden Gewalt, die plöglic in nichts ſich verwandelt, befreit ſich füh— 
(enden Bewußtſeyns. Diefes Gefühl der unmittelbaren Yreiheit des 
Menschen, die fi) vor feiner Gewalt mehr entjett, äußert ſich auf die— 
jelbe Weiſe mehr oder weniger in allen Keligionen. Wie der Aegypter 
des Typhon fpottet, jo jpottet der Helene des Kronos, wie aud man- 
hen Redensarten erhellt, 3. B. wenn der Grieche fagt: D du Kronos! 
anftatt: vu Einfältiger, oder im ähnlichen Sinn bei Ariftophanes „nad) 
fronifchen“ fo wiel ift als nach uralten, altwäterifchen Dingen riechen ; 
oder auch, wenn Durch verfchtedene Zufammenfegungen mit dem Wort 
Kronos alte, ſchwachſinnige Männer bezeichnet werden. Aber denfelben 
Typhon, der bei. diefen Bolfsfeften verhöhnt wurde, fuchte man in an- 
dern wieder durch Opfer zu beſchwichtigen und gleichjam zu bereden, be- 
ſprechen, mererteıv, ein Wort, das wirflid gebraucht wird. Der Wi- 
derſpruch dieſes Benehmens war dadurd) ausgeglichen, daß es ein an- 
derer Tag war, an welchem diefer Gott oder Dämon verjpottet, ein 
anderer, an dem er mit Opfern geehrt und befänftigt wurde. Auf dieſe 
Art wurde alfo, wie diefe ganze Gefchichte, jo auch Typhon im DBe- 
wußtſeyn des ägyptiſchen Volks noch immer gegenwärtig und lebendig 
erhalten. Selbft feenifch, wie wir durch Herodotos wiſſen, wurden an 
dem zirfelrunden See zu Sais in alljährlid) wiederkehrenden Feierlich— 
feiten die Leiden des Dfiris vargeftellt. Die ganze ägyptiſche Religion 
blieb gleihjam ein beftändiger Kampf gegen das Typhoniſche, fie war 
die immer wiederfehrende Geſchichte einer wahrhaften und wirklichen 
Erlöfung. 

Ein anderer merfwirbiger Zug von der Art des zulett angeführten 
— ein Beweis, daf das ägyptiſche Bewußtſeyn, indem e8 bis zur höd)- 
jten Einheit fortging, nicht aufhörte feiner erften Vorausſetzung ſich 
bewußt zu ſeyn, daß es aljo auch 3. B. den Typhon nod betrachtete, 
nicht als Gegenftand einer einmal gejchehenen, jondern einer fortwäh- 
rend gejchehenden Ueberwindung, ift die merfwürdige Beobachtung, welche 
ſchon Strabo zu feiner Zeit, neuerdings die Franzofen wieder gemacht 


389 
haben, nämlich dar durch ganz Aegypten neben den Tempeln der großen 
Gottheiten, namentlich des Horos, Heiligthümer des Typhon, Typhonien 
genannt, errichtet find. Strabo ſah zu Zentyra außer dent Tempel, 
wie er jagt, der Aphrodite und der Iſis mehrere Typhonien!. Erſteres 
ift auch won den Franzofen wieder gefunden worden. Auf der Inſel 
Phil& neben den Tempeln ver His und Dfiris, ebenfo zu Hermonthis, 
finden ſich Typhonien, und zwar tft e8 damit faft wie das deutjche 
Sprüchwort jagt, dag wo unſer Herrgott eine Kirche hat, dem Teufel 
eine Kapelle daneben erbaut wird. Diefe Typhonien find nämlich im 
Bergleih mit den Tempeln, bei denen fie jich finden, Flein und von 
geringerem Umfang. Dadurd) foll eben die zwar verminderte und ein- 
geichränfte, aber doch auch zugleich noch fortbeftehende Kraft des Ty— 
phon angedeutet werden. Ein befonders merfwürdiges Typhonium findet 
fi) bei dem nody wohl erhaltenen Tempel des Horos in Edfu, der 
Apollinopolis Magna der Alten. Diefes. herrliche, den Tempeln von 
Theben und Memphis in Größe und Pracht nichts nachgebende Ge— 
bäude war von folofjalem Umfang; e8 hatte im Ganzen eine Yänge 
von 424°, feine Façade eine Breite won 212°; in gleich koloſſalen Ver— 
hältnifjen find die pyramidalifchen Maflen, welche den erften Eingang 
zieren, waren die Flügelthüren deſſelben, von denen nur nod die An- 
geln vorhanden find (diefe gigantische Pforte hatte 150° Höhe); in glei- 
chem Verhältniß koloſſal find die Sculpturen, welche die vier Seiten 
des Gebäudes bedecken. Diefer große Tempel alfo hatte vor fidh einen 
zweiten, der bloß aus einem Porticus und dem eigentlichen Heiligtum 
beftand, und mit einer Gallerie umgeben war, und diefer Fleinere Tempel 
war ein typhoniicher. Hier fehen wir alſo ein Typhonium wicht bloß 
im der Nähe des Tempels, fondern wor demfelben, ihm vorausgehend 
(Vorhof); dieß ift nicht etwas Zufälliges, ſondern Abfichtliches und Be— 
deutendes; denn Typhon ift in der That das Vorausgehende, das Prius, 
die Borausfegung der höhern Gottheiten, desjenigen Princips, an deſſen 
Ueberwindung fie fih als die höheren erweifen; eben darum, weil ihre 
Borausjegung, verhält fi) das typhoniſche Princip auch als das auf 
' Lib. XVII. c. 1 (p. 815). 


390 


die höhern Götter hinleitende. Sm der That, die Description de 
’Egypte fagt ausprüdlich: Les Typhoniens prec&dent presque 
toujours les grands monuments. Da bier gejagt, daß fie faft immer 
den großen Tempeln worausgehen, jo wäre interefjant zu wiſſen, wo 
fie ihmen nicht vorausgehen!. In dem großen Tempel zu Ombos be- 
fanden ſich zwei auf gleicher Linie liegende Abtheilungen, wovon bie 
eine, wie man meint, dem als Krofodil vorgeftellten Typhon, Die ans 
dere dem guten Geift, dem Horos, gewidmet war. Hier waren alfo 
beide nody mehr parallel gedacht. Die Typhonien vor den Tempeln 
der großen Gottheiten erinnern an die Alleen von folofjalen Sphinzen, 
die zu den großen Tempeln in Karnaf und Luxor führten. Auch hier 
lag der Begriff einer Hinleitung zu jener höchften Idee zu Grunde, die 
in den Tempeln ſelbſt vargeftellt werben follte. 

Die fortdauernde Berehrung, die aud dem typhonifchen Princip 
im Aegypten erzeigt wide, war ganz in der Ordnung. Denn eben 
diejes in einem beftimmten Moment des Bewußtſeyns als typhoniſch 
angejehene Princip iſt doch im Grunde nichts anderes als das tieffte 
Princip der natürlichen Religion. Die natürliche Religion entfteht eben 
durch die Ueberwindung dieſes Principe. Denn diefelbe Potenz, welche 
in das Seyn hervortretend den Gott negirt, diefelbe Potenz zurüd 
überwunden ins nicht Seyn, verwandelt ſich in das Setende des Gottes, 
an ihr haftet eigentlicd dem Bewußtfegn der Gott. Der wahre Aus- 


' Wenn es jo wäre, wie Champollion (Lettres &crites d’Egypte et de Nubie 
p- 193, douxieme lettre) in Bezug auf das zweite „Typhonium genannte“ 
Gebäude in Edfu angibt, daß folhes nämlich einer der kleinen, Mammisi (Ort 
der Niederfunft) genannten Tempel wäre, die, wie er jagt, immer neben dem 
großen, der Verehrung einer Trias geweihten Tempel- erbaut werben, und bie 
ls Bild der himmlischen Wohnung gemeint waren, wo die Göttin die dritte 
Perjon der Trias, die immer unter der Form eines Heinen Kindes abgebildet 
it, geboren: jo würde die Kleinheit der Typhonien, anftatt die ſchwindende Kraft 
eines Gottes, der nicht mehr ift, die Kleinheit des Gottes, der noch nicht ift, an— 
deuten. Das Mammiſi von Edfu ftellt wirklich die Kindheit und Erziehung des 
jungen Sar-Sant-Tho, Sohn von Har-hat und Hathör dar, dem die Schmeichelei 
den ebenfalls noch als Kind worgeftellten Evergetes II. beigefellte. Auf das Spe— 
cielle Diefer Deutung können wir uns nicht einlaffen. 


391 

gangspunft der ägyptiſchen Mythologie und Theologie ift nicht, wie z. B. 
Creuzer annimmt, der Monotheismus felbft: dieſer ift vielmehr das 
Ende, wohn beide gelangen. Der lette oder tieffte Punkt aber, an 
dem die ganze Kette der immer höher auffteigenven mythologifchen uud 
religiöſen Ideen Aegyptens gleichjam befeftigt ift, ift Typhon. Diefer 
ift die erjte Potenz, die zmeite hat nichts anderes zu thun, als daß fie 
dieje erfte niederhält und enplid gar überwindet. Durch dieſes Nie- 
verhalten der erften wird fie eben (wird die zweite Potenz) Urheberin 
aller ver Wohlthaten, durch welche menfchliches Leber und durch melche 
insbejondere ägyptiſches Leben bejteht. Dadurch, daR fie jenes verzeh- 
rende, dem materiellen Leben feindliche Princip nieverhält, wird fie Ur: 
jache ver allgemeinen, die Früchte anfchwellenden Feuchtigkeit‘, Urſache 
des regelmäßig übertretenden, den Boden Aegyptens mit neuem frucht- 
barem Schlamm bededenden und die Sandmwüfte mohlthätig einſchrän— 
fenden Nilſtroms, Urjache der jchwellenden Saaten, von denen das 
Yand Aegypten bevedt ift. Aber eben weil diefe zweite Potenz in dem 
Kiederhalten und Bewältigen der erften fich gleichſam erichöpft, eben 
darum verlangt das Bewußtſeyn eine dritte Potenz, die, daß ich jo 
jage, nichts zu thun hat, einen gleichlam unbeſchäftigten, d. h. freien 
Gott, einen Gott, der nur da ift, um anf jenes Verhältniß der Unter: 
werfung das Sigel zu drüden, eben dieſes Verhältniß in ein bejtän- 
diges, bleibendes zu verwandeln (anders iſt nach meiner Meinung der 
Beiſtand nicht zu denken, den Horos der Iſis zur völligen Beſiegung 
des Typhon leiſtet). Das Bewußtſeyn, ſage ich, verlangt eine dritte 
Potenz, die nichts mehr zu thun hat, die nicht, wie die zweite, noth— 
wendig wirkt, wirken muß, die alſo frei iſt zu wirken, die ihres 
Seyns ſicher, mit ihm anfangen und thun kann, was ſie will. Dieſe 
Potenz alſo iſt Horos, und auf dieſe einfache Weiſe baut ſich im ägyp— 
tifchen Bewußtſeyn die in den frühern Mythologien zertrennte Alleinheit 

wieder auf. 
Gleichwie unter jenen drei Potenzen die erfte, nachdem fie fich jelbft 
Plutarch jagt von jenen Unterrichtetern unter den Prieftern: fie nennen den 


I. ” t J — ’ 
Oſiris aradav rnv vyooroov Öbvanın zal apynv. 


392 
— eben dadurd) den andern ungleich geworben ift, diefe ausſchließt, fo 
wird, wenn jene in die ſich jelbft gleiche — wenn die außer fich ſeyende 
in ſich jelbft, in ihre veine Geiftigfeit zurücgebracht ift —, nun umgefehrt 
aud jene Ausſchließung aufgehoben, und es wird nad) Wiederherftel- 
lung der materiellen Einheit die über-materielle, die aus dem Bewußt— 
jeyn ganz verbrängte und in die Tiefe zurücgetretene, — e8 wird auch 
der in den Potenzen Eine Gott in das wirkliche Bewußtſeyn eintreten. 
Aber auch dieſer nicht weiter zertrennliche, fondern unüberwindlic Eine 
Gott tritt doch nicht unmittelbar ins Bewußtfeyn ein, fondern nur in 
Folge der gejegten und der wieder aufgehobenen Spannung, alfo aud) 
nicht, ohne vom Bewußtſeyn auf Diefe bezogen zu werden; er kann 
daher nicht ins Bewußtſeyn eintreten, ohne fofort demfelben fich wieder 
in drei Geſtalten darzuftellen, — in drei Geftalten, weil in jeder 
der ganze und unzertrennlich Eine ift. Diejer Eine und felbe Gott 
kaun nämlich dennoch wieder dreifach betrachtet werben: 1) im Zuftand 
feiner urſprünglichen, noch unoffenbaren Einheit, vor der Zertrennung 
der Potenzen, vor der Weltſchöpfung; hier iſt er alſo der verbor— 
gene Gott im höchſten Sinne des Wortes; 2) im Moment der Zer— 
trennung, des Auseinandergehens, der Spannung und Entgegenſetzung 
der Potenzen, — im Moment der Weltſchöpfung, in ſeiner demiurgi— 
ſchen Eigenſchaft, als Demiurg; 3) im Moment der wiederhergeſtellten 
Einheit, im Moment der zu ihrer urſprünglichen Einheit wieder ge— 
brachten Potenzen; hier iſt er alſo zugleich der zu ſich ſelbſt oder in 
ſich ſelbſt zurückgekehrte Gott, der Gott, der im höchſten Sinne ſich 
ſelbſt beſitzender und begreifender Geiſt iſt. — Dieſe ſind drei Geſtalten 
des Einen Gottes, die über den drei Potenzen, ſie eben dadurch über— 
treffen, daß jede derſelben der ganze Gott iſt, nur von einer Seite oder 
in einem Moment betrachtet, — dieſe drei Geſtalten des Einen Gottes 
bilden den Inhalt des höchſten Syſtems der ägyptiſchen Theologie, 
jie find diejenigen Götter, von welchen die Kenner unter den Alten 
jagen, daß fie die «9802 vonrtol, die intelligibeln, d. h. die nur durd) 
reines Denfen zu erfennenden Götter ſeyen. Darf ich hoffen, daß die 
Folge, in der wir die ägyptiſche Götterlehre von der tiefften Stufe bis 


zu ven höchſten, immateriellen Göttern aufgebaut haben, Ahnen ein- 
leuchtend geworden, fo begreifen Sie wohl, welche Verwirrung in bie 
ägyptiihe Mythologie fommen muß, wenn man diefe legten, nur nod) 
intelligibein Götter für die erften und die anfänglichen nimmt, und von 
ihnen die relativ materielleren, untergeorpneten, ableiten will, wie dieß 
in den gewöhnlichen Darftellungen gejchieht. Doch über dieſen Miß— 
verftand werde ich mid) am Ende noch genauer erklären fünnen. Statt 
deſſen möchte eine andere vorläufige Bemerkung hier an ihrer Stelle 
jeyn. Nach dem tieffinnigen Geift des ägyptifchen Volks, wie er fi) 
in jo vielen jener Schöpfungen ausprägt, ift es eben nicht zu verwun— 
dern, daß es zu dieſen reinintelligibeln Göttern fortgefchritten iſt, zu 
diefen Göttern, die zwar noch immer aus der Mythologie, in Yolge 
der Mythologie entftehen (welche hier den Charafter einer Offenbarung 
annimmt), aber doch ihrer Natur nad) ganz unmythologiſche, über die 
Mythologie hinausgehende, man fünnte beinahe jagen, metaphyſiſche 
Götter find. Dieſes alſo ift nicht zu verwundern, aber das ift zu 
bewundern, daß es ven Werfen des Volks gelungen, die jo hoch ge 
jtellten Götter zu Volks- ja zu Yandes- oder doch Reichsgöttern zu 
erheben; denn dieſe Götter find es, denen die größten und herrlichiten 
aller ägyptiſchen Tempel geweiht waren, jene über alle Bejchreibung 
großen, jelbft in ihrer theilweiſen Zerftörung noch jedem für das Ernſte 
und Erhabene empfänglicheren Gemüth ehrfurchtsvolles Staunen gebieten- 
den Tempel und Monumente zu Theben, zu Memphis und einft unftreitig 
auch zu Sais. Nichts jpricht jo jehr für die Stufe von religiöjfer Bil- 
dung, die das ägyptiſche Volk erreicht hatte, als dieſe Monumente, 
wenn man zugleid) die Bedeutung der Götter fennt, denen jie geweiht 
find. Daß es möglich war, das Volk zu ſolchen ungeheuren Bauwerken 
für dieſe rein geiftigen Götter zu beftimmen, gibt über den Gehorjam 
des Volks gegen feine Prieſter und die Art von unumfchränfter Yertung, 
welcher es ſich gegen diefe unterwarf, den beſtimmteſten Aufſchluß. 

Bor allem jedoch liegt mir nun ob, diefe höchſten ägyptifchen Götter 
nambaft zu machen, den Beweis zu führen, daß ihnen diefe won ums 
beigelegte Bedeutung zufam. 


394 





Der erfte alfo ift, wie gejagt, der Gott in der urfprünglichen Ber- 
borgenheit, Hineinwendung aller Potenzen, der Gott vor der Welt: 
ihöpfung. Diefer ift der ägyptiſche Ammon, wie die Griechen ihn 
ausſprachen; ägyptiſch, wie Plutarch anführt, Iautete der Name Am un. 
Nach Manetho, ven Plutarch hiebet anführt, bedeutet Amun das Ver— 
borgene (TO zexovuuegvor). Hekatäos dagegen fagt: Amun ſey eigent- 
lic) eine Aufrufungsformel der Aegypter, und darum haben fie den 
erften, d. h. den höchſten Gott, welchen fie mit dem ALL für eins 
(d. h. eben für die höchſte Einheit des Al, die höchſte Al -einigkeit 
halten), darum haben fie diefen Gott, als der unfichtbar und verborgen 
jey, indem fie ihn gleihjam aufrufen und ermahnen fichtbar zu wer- 
den, fich ihnen zu offenbaren, "Auodv genannt. Wie es ſich mit diefen 
voneinander abweichenden Erklärungen übrigens verhält, darin ftimmen 
beide überein, dag Amun der noch verborgene, unoffenbare, übrigens 
doc fich offenbaren, aus fich jelbft herausgeben könnende Gott jey. 
Eben diefer mit dem Begriff des Amun mejentlich verbundene Begriff 
der Unfichtbarfeit erhellt aus jener Erzählung von Herakles, dev den 
Zeus-Amun (denn nad ihrer Gewohnheit nennen die Griechen den 
höchften ägyptifchen Gott mit dem Namen ihres hödyften Gottes), dieſen 
alfo bittet Herafles, fi) ihm zu offenbaren, was alfo ein nicht = offen- 
bar-Seyn vorausjegt. Belanntlic jest die Fabel hinzu, daß er ſich ihm 
verhüllt unter der Form der abgeftreiften Haut eines Widderkopfs ge- 
zeigt habe. Auch fieht man Ammon in diefer Form in Bildwerken und 
andern Darftellungen. Alſo auch die in fich gefrümmten Hörner des 
Widderkopfes möchten nad ägyptiſcher Symbolif nur die Zurücdwendung 
in ſich ausdrücken, im welcher der. verborgene Gott gedacht wird. Die 
Stadt dieſes Gottes (won den Griechen eben darum Diospolis genannt) 
war num die berühmte Thebe, die Homer aus ferner Kunde als ein 
Weltwunder befchrieben, er nennt fie &xeröumviog möhıg, die hun- 
dertthorige Stadt, und einen Begriff von ihrer Bevölferung gibt, daß, 
wie Homer fagt', täglid aus jedem diefer hundert Thore 200 Manı mit 
Roß und Wagen ziehen, Die religiöfen Erzählungen der Aegypter jelbit 

—— IX, 383. 


395 
ichreiben die Gründung der Stadt dem Dfirts zu. Im Anfang hatte 
fie fich bloß auf dem öftlichen Ufer des Nils ausgebreitet, der ältefte 
Theil der Stadt lag zwifchen dem Fluß und der arabifchen Bergfette; 
bier finden fich noch die Auinen des größten und älteften Tempels von 
Theben, der der Tempel von Karnaf genannt wird. Später wurde aud) 
das meftliche Ufer des Fluffes von Häufern, Palläften und religiöfen 
Gebäuden bedeckt. Theben in feiner Herrlichkeit erftredte fi) von einem 
Berg zum andern, und füllte die ganze Breite des Nilthals aus. Des 
non feßt nach feinen Unterfuchungen den Umfang der alten Stadt auf 12 
franzöfifche Pieues, ihren Durchmeſſer auf wenigſtens 2 — 3 Yieues, 
und es iſt wohl, nad allem zu jchliegen, fein übertriebener Ausdruck, 
wenn Divdor von ©. fagt: Eine herrlichere Stadt hat die Sonne nie 
mals gejehen. Den weiten Raum diefer Stadt füllte die Frömmigkeit 
des durch ein hohes geiftiges Bewußtſeyn glüdlichen ägyptiſchen Volks 
mit den größten Wundern feiner religiöfen und ſymboliſchen Architektur, 
Wenn man die Abbildungen — vorzüglich in der Description de l’Egypte, 
wohl dem unvergänglichften aller Monumente Napoleons und der großen 
Eonceptionen feiner orientalifchen Einbildungsfraft — wenn man diefe Ab— 
bildungen betrachtet, die ungeheuren Pylonen des Tempels von Karnaf, 
die großen Kolofje von Granit vor den verfchiedenen Eingängen des 
Heiligthums, unter dem Hauptporticns von 142 Säulen, von denen 
die mittelfte Reiihe 11 Fuß Durdmeffer, 31 Fuß Umfang und 180 
Fuß Höhe hatte, oder jene Dbelisfen, von denen zwei noch ftehen, von 
100 Fur Höhe, aus einem einzigen Bloc rofenrothen Granits beftehend 
(welche Idee felbft von der mechanischen Weisheit der Aegypter erregen 
diefe MWerfe! Denon hat berechnet, daß es nah unfern Berfahrungs- 
weiſen Millionen foften würde, ihnen, bloß eine andere Stellung zu 
geben) — wenn man die dreifache Allee von koloſſalen Sphinren betrachtet, 
die eine aus Sphinren mit Thierföpfen, die auf eine zweite von Sphins 
ren mit menfchlihen Köpfen ſtößt, und die dritte mit Widderföpfen 
durchfchneidet, die won der fidlichen Pforte des Tempels von Karnaf 
bis nach Luxor eine Meile weit führt: Jo mag man von der ungehenern, 
alle Einbildung unfrer leeren und eiteln Zeit niederichlagenden Größe 


396 

diefer Monumente ergriffen ſeyn. Aber nicht diefe Außerliche, ſondern 
die innere Größe diefer Monumente ift e8, welche den tiefften Eindrud 
macht. Wenn man. dem Eimdrud der Proportion und dem geiftigen 
Ausdruck des Ganzen ſich hingibt, fo fühlt man, daß im dieſem bis 
zum Scauerlichen gehenden Ernſt, dieſer unfern Geift gleichjam über 
jeine Schranfen ausdehnenden Majeftät der Derhältniffe die wahre 
Größe der Gottheit, die hier verehrt wurde, fi) fund gibt, daß nicht 
eine gemeine mythologiſche Gottheit, daß hier wirklich Das höchfte Weſen 
verehrt und angebetet wurde. So viel alfo von Amun. 

Die zweite Geftalt, in der fi) der eine Gott darftellt, ift ver 
Gott im Momente der Erpanfion, des Auseinanderhaltens, der Span- 
nung der Potenzen, der Gott in feiner demiurgiſchen Ausbreitung, wo 
er doch zugleich die gejpannten Potenzen zufammen und in Einheit er- 
halt. Diefer zweite der intelligibeln Götter ift in dem ägyptiſchen Sy— 
ftem dev Phtha (bei den Griechen Phthas, dieß ift aber bloß griechifche 
Endigung, wie aus der Schreibung des Namens in der griecdhiichen 
Ueberfegung der Inſchrift von Roſette erhellt). Der Name, den ihm 
die Griechen durchgängig geben und den ihm bereits Herodotos gibt, 
it Hephäftos; denn als Hephältos erſchien er ihnen eben wegen feiner 
demiurgifchen Eigenfchaft. Hephäftos gilt auch in griechiichen Vorftel- 
lungen als demiurgiſche Potenz. Er ift e8, der in firengem Zwange 
(indem er die ftreitenden Potenzen nicht auseinander läßt) das A zu— 
jammenhält. Den Herodotos aber jcheint vorzüglic) das Bild des 
Phtha jelbft beftimmt zu haben, ihn mit dem griechifchen Hephäftos zu 
vergleichen. Er jah dieſes Bild in vem Tempel des Gottes zu Mem- 
phis, und erwähnt es da, wo er das Wüthen des Perferfönigs Kam— 
byſes gegen die Heiligthümer Aegyptens erzählt (wie Eroberung des 
Kambyfes ftörte zuerft das Glück des bis dahin fo viele Jahrhunderte 
in fi) abgejchloffenen Agyptiichen Volks; Kambyfes, als Anhänger des 
perfiichen Zabismus und bildlos verehrter Gottheiten, war von fana= 
tiſcher Wuth gegen die bilvlichen ägyptifchen Götter entbrannt), da alfo 
berichtet Herodotos'!, daß Kambyſes in den Tempel des Phtha gegangen 

" Lib: BL ’e»37. 


397 

und über die Bildſäule defjelben in ein großes Gelächter ausgebrochen 
jey. Diefe nämlich jey ähnlich den phönikiſchen Patäfen, Bildern von 
Schutzgöttern, welche die Phönikier an den Vorvertheilen ihrer Schiffe 
zu führen pflegen, und wenn man etwa diefe nicht gefehen hätte, fo 
wolle er hinzufügen, daß fie auyualov aröoog ulunoız, die Nach— 
ahmung eines zwergartigen Mannes geweſen. Num- findet fich unter 
anderm auf einem Fries des Tempels zu Edfu, der in der Description 
de l’Egypte und auch von Creuzer unter den feinem Werf beigegebenen 
Abbildungen mitgetheilt ift, auf diefer findet ſich ein folches Bild des 
Phtha, das Creuzer offenbar unrichtig für einen Typhon, Hirt aber rid)- 
tiger fir ein Bild des ägyptiſchen Demiurgen erklärt, das durch die 
Aufgedunfenheit, das Aufgefhwollenfeyn des Gefichts ſowie des Unter- 
leibs bet verhältnißmäßig geringer Höhe mohl einem Kambyſes ven 
Eindrud eines zwergartigen Mannes machen und Lachen erregen konnte. 
Was num aber ven Grund -diefer ſeltſamen Bildung des ägyptijchen 
Demiurg betrifft, ſo möchte fie fich ganz einfady daraus erflären, daß 
der die Weltfräfte, die bereits auseinandergehenden Potenzen, ent hal- 
tende, aljo doch noch immer zufammenhaltende, fie nicht völlig ausein- 
ander lafjende Gott nicht wohl anders abgebildet werden fonnte. Es 
ift der erfte turgor vitalis, daß ich diefen phyfifalifchen Ausdruck brauche, 
der Turgor, die Spannung der Weltkräfte jelbft, die der Demiurg nod) 
immer in ſich enthält, der durch dieſe Turgejcenz des Gottes felbft- aus- 
gedrückt wird. Und fo dient num hinwiederum diefe durch Herodotos 
bezeugte, an noch vorhandenen Sculpturen fichtbare Bildung des ägyp— 
tiichen Phtha als Beweis für die Nichtigkeit der Erflärung, dar Phtha 
der Gott in der Ausbreitung, in der Spannung der deminrgifchen Po- 
tenzen, mit Einem Worte der Gott im Momente der Schöpfung jey. 
So viel alfo von der zweiten Geftalt. 

Die dritte Geftalt ıft num der aus der Spannung und Entgegen» 
jegung der Potenzen in die urjprüngliche Einheit zurückgekommene Gott, 
der Gott der — num nicht mehr bloß wejentlichen (wie fie im Amun 
gefeßt war) fondern verwirklichten Einheit. Nun fehlt e8 zwar nicht 
an einem dritten Namen. Der dritte, der unter dieſen intelligibeln 


398 
Göttern genannt wird, it Krrjp (die die Form, die er bei Plutardı 
und Eufebius hat), aber auch Chnubis, Chumis, bei Einem Schrift- 
jteller Enef fommt vor. Daß dieß nur verjchiedene Formen defjelben 
Namens find, darüber ift fein Zweifel. In manchen Stellen aber, jo 
wie auch in Inſchriften, jcheint Kneph nur ein anderer Name des Amun 
zu jeyn. So 3. DB. jagt Plutard von den Einwohnern der Thebais: 
„Ste fennen feinen fterblichen Gott, jondern den fie Kneph nennen, der 
unerzeugt (Zy&vvtog) und unfterblic jey“'. Ich führe die Worte 
an, weil jie nebenbei zum Beweis dienen, daß wir ganz richtig und 
der wahren Idee gemäß diefe Götter, zu welchen Amun oder Kueph 
gehört, für eine andere Art oder Ordnung von Göttern erklärt haben, 
als zu welchen Dfiris, Typhon und felbft Horos noch gehören. Alle 
mythologiſchen Götter find wirflih gewordene Götter, HeoLd yervıytol, 
jene höheren, intelligibeln find ewige,. ungewordene und ungezeugte, 
jo wie umgefehrt der unerzeugte Gott, wie Kneph genannt wird, aud) 
nur der mit dem reinen Verſtande zu faffende feyn kann; ev kann dem 
Bewußtſeyn nicht, wie die andern mythologifchen Götter, durch einen 
Proceß fi) erzeugen. Der unerzeugte Gott ift alſo an fich jelbit 
aud der intelligible. — In hieroglyphiſchen Schriften wird Chnubis, an- 
ftatt mit phonetifhen, wie fie Champollion nennt, oder Lautzeichen, 
ebenjowohl auch durch den Widder dargeftellt, der font als Zeichen des 
Amun befannt ift. Ein anderes befanntes Symbol des Kneph iſt eine 
dem Menjchen unſchädliche Schlangenart; nad) Herodotos? ift eben dieſe 
auch dem Zeus Thebaius, d. h. dem Anm heilig, ja fie wird im 
Tempel vefjelben beftattet. Wenn nun auf diefe Art allerdings gewifjer- 
maßen die Fdentität des Amun und des Kneph außer Zweifel jcheint, 
jo fragt e8 fi doch, in welchem Sinn diefe Identität zu nehmen ift. 
Denn übrigens ift ja der dritte Gott, als der zur urſprünglichen Ein- 
heit wiedergefommene, wie der erſte, derjelbe mit dem erften, ohne daß 
er darum aufhört der dritte, und alfo vom erjten gleihwohl auch 
unterfchtevene zu ſeyn. In beiden ift die Einheit, im erften nur die 


"E.E.UVE 
2 Lib. II. e. 74. 


noch unaufgeſchloſſene, verborgene, im dritten Die aus der Aufjchliekung 
wieder zurücgebrachte, aus der Zertrennung hergeftellte. Und jo möchte 
denn dieß nicht verhindern, den Namen des Kneph zugleich als Namen 
des dritten unter den intelligibeln Göttern anzuſehen, womit auch die 
Bedeutung des Namens übereinſtimmt; nach dem Koptiſchen nub, chnub 
— Geiſt. Die Griechen nennen den Kneph vorzugsweiſe oder aus— 
ihliegih Syadodaduwv, den guten Geiſt. Die Schlange (Uraios 
genannt) fonnte beiden gemein jeyn; denn die Schlange kann eben- 
jowohl die noch unaufgefchlofjene, als die wiedergefchlojjene Einheit be- 
deuten. Jamblichus erklärt den Kneph als den fich ſelbſt begreifenden 
und die Begriffe in fich felbft zurücwendenden, zurüdnehmenden Ber: 
ftand: was aljo ganz mit unfrer Erklärung übereinftimmt. Auf einer 
der von Letronne erflärten ägyptiſch-griechiſchen Inſchrift jteht wörtlich: 
Auuovı 6 za XvovPpı, dem Ammon, der aud) Chnubis ift, was 
mit unfrer Erklärung ebenfalls wohl übereinftimmt. 

Wenn nun hiemit der natürliche Urfprung jener höhern Theologie 
ver Aegypter gezeigt ift, jo Fehlt zu unfrer vollen Befriedigung nod) 
die Äußere Angabe oder Beſtimmung der Zeit ihrer hiſtoriſchen Entfte- 
hung. Hierüber fünnen aber nur die großen Bauwerke und architefto- 
nifchen Monumente Zeugniß ablegen. Dieß veranlagt mid), einiges 
über die Chronologie diefer Monumente zu jagen, NB. nad) dem Stand- 
punkt der Kenntnijfe, in deren Befig wir vor der jüngſten Expedition 
geweſen find, deren Reſultate noch nicht vorliegen, oder höchſtens bruch— 
ſtücklich uns befannt geworden. 

Früher war man allgemein der Deeinung, daß alle großen Monu- 
mente im eigentlichen ägyptiſchen Styl und mit Hieroglyphen bededt in 
einer Epoche vernichtet ſeyn müfjen, die der Eroberung Aegyptens durch 
Kambyfes vorausging, wornad denn auch der jüngjte ägtptifche Tem- 
pel über das Jahr 522 v. Chr. hinaufgerüdt würde. Späterhin, näm— 
(ih in den legten Jahrzehnten, gelegenheitlic der Umterfuhungen, zu 
welchen die Thierfreife ver Tempel zu Denderah und zu Esne Veran— 
lafjung gaben, und nachdem man ji genöthigt gejehen zu erfennen, 
daß dieſe nicht über das Zeitalter des Kaiſers Tiberius hinausgehen, 


400 





erlaubte man fi) das, was von einem. Theil wohlgegründet war, auf 
alles auszudehnen, und jo meinten einige num auch, die großen Tem- 
pel Oberägyptens könnten einer von dem Anfang der chriftlichen Zeit 
nicht jehr entfernten Epoche angehören. Nun follten jene großen Tempel 
jelbft exft in der Zeit der Ptolemäer erbaut und alle Epochen der ägyp— 
tiſchen Architektur im wenige Yahrhunderte eingejchränft ſeyn. Zufolge 
der neueften Unterfuchungen, die man bejonders Yetronne und Cham— 
pollion (Entdeder der phonetifchen, d. h. der Yautzeichen- Bedeutung des 
größern Theils der ägyptiſchen Hieroglyphen) verdankt, muß nun aller- 
dings die erfte Meinung, welche alle Tempel von ägyptiſchem Styl für 
älter als Kambyjes erklärt, ſehr eingejchranft werden. In der That 
fonnte man nicht glauben, daß ein Bolf, das jo vielen Eifer zeigte 
durch Ehrfurcht gebietende Denkmäler feine tiefe Neligiofität an den 
Tag zu legen, und das übrigens felbft unter der perfifchen, wie jpäter 
unter der griechifchen und römiſchen Herrichaft feine Keligion, feine 
Sitten, zum Theil auch noch feine Freiheit beibehielt, daß dieſes jeit 
Alerander dem Großen bis auf die Zeit feiner gänzlichen Befehrung 
zum Chriftenthum während 7 Yahrhunderten fein öffentliches, religiöſes 
Gebäude mehr aufgeführt habe. Bon der andern Seite war es ebenjo 
unmöglic zu denken, daß unter den großen, Folofjalen Monumenten, 
deren Trümmer noch) jeßt vorhanden find, Feines der großen Zeit Aegyp- 
tens vor Kambyſes angehören follte Es fam alfo nur darauf an 
Mittel zu finden, diejenigen Gebäude zu unterſcheiden, die dem alten 
(dem rein pharaonifchen Aegypten) und die dem ſpätern Zeitalter nad) 
Kambyfes angehören. Wenn e8 num mit der Entdeckung von Cham— 
pollion 1) im Allgemeinen feine Richtigkeit hat (woran ich nicht zweifle), 
vorausgefeßt 2) daß die Anwendung feiner Grundfäge, wenn nicht ge- 
rade überall, doh im Ganzen ebenfalls Zutrauen verdient, jo iſt es 
wegen der großen, dem Amun gemweihten Tempel zu Thebä außer 
Zweifel, daß fie der Heldenzeit der ägyptiſchen Geſchichte angehören, 
und dar die Tempel von Karnak, Luror, Gurnah, Medinat Abu, das 
Memnonium, das ſogenannte Grabmal des Oſymandyas, der dem Am— 
mon = Chnubis geweihte Tempel zu lephantine und ein Theil der 


401 
Gebäude zu Philae, zwar zum Theil ſogar erſt unter ven Ptolemäern 
nod) verziert und vielleicht erweitert worden, aber der urjprünglichen An— 
lage und Hauptmafje der Gebäude nach der Zeit des großen Sefoftris 
und der Sefoftriven, ja zum Theil noch den vorhergehenden Dynaftien 
angehören, won welchen übrigens Sefoftris in gerader Linie abftamnıte. 
Der Gründer des Tempels von Ammon in Elephantine ift ein Vor— 
ganger des Sejoftris, Amenoph, ein Name, ver fo viel als den von 
Amun Gebilligten bedeutet. Mit diefem fängt die heroifche Zeit Aegyp— 
tens an; auch er war Eroberer nur nad) einer andern Seite als Sefo- 
jtris; gegen Mittag, 100 Stunden jenjeits Philae, dem Grenzort des 
jpätern Aegyptens, zeigen ihn die Ruinen von Saleb in Abbildung, 
wo ihm Gefangene übermundener Völker vorgeführt werden. Ramſes, 
der Großvater des Sefoftris (ver felbft ebenfalls, wie aus Tacitus er- 
heilt, diefen Namen führte) heißt zuerft Mein Amun — der Geliebte 
des Amun, was nachher ftehen bleibende Bezeichnung der Sejoftriven 
iſt. Man hat vollfommen Recht zu vermuthen, daß Die großen Züge 
und Eroberungen des GSejoftris, die fi) auf Aethiopien, Syrien und 
einen großen Theil des weftlichen Aſiens erftredten, mit einer großen 
religiöfen Bewegung zufammen gehangen haben. In der That, wie 
alle auf ven Ammon ſich beziehenden Monumente den Charakter des 
Gigantifhen an fi tragen, jo jeheint es, jene geiftige Neligion, die 
mit Amun gegeben war, und den Frei der mythologiſchen ebenfo 
durchbrochen hatte, als fie über die vormythologiſche Religion (den 
Zabismus) ſich erhoben hatte, habe das ägyptiſche Volk gleichſam aud) 
über feine natürlichen Grenzen hinaustreiben müffen, nachdem es erft 
fi) in ſich ſelbſt abgeſchloſſen und alle fremdartigen Elemente ausge- 
ftoßen hatte, was nod in der Epoche vor Sefoftris gejchehen war. 
Denn nad dem höchſt merkwürdigen Bericht, den uns Joſephus in 
feinen Büchern gegen Apion aufbewahrt hat, waren etwa 1800 Jahre 
v. Chr. über ven Iſthmus von Suez arabifhe Horden, Nomaden, unter 
dem Namen Hyffos in das untere Aegypten eingebrochen und bis 
Memphis vorgedrungen, und hatten fid) nad) den früheren Berechnungen 
über 200 Jahre, nad) fpäteren, angeblich chronologiſchen Daten gar 
Schelling, fämmtl. Werke, 2. Abth. II. 96 


402 
900 Iahre dort behauptet, und eine eigne, von ber in Theben fort« 
dauernden ägyptiſchen unabhängige Dynaftie gegründet. Wie man nım 
auch iiber die ftreng hiſtoriſche Wahrheit diefer Ueberlieferungen venfen 
möge, auf jeden Tall waren dieſe Hykſos Nomaden, Verehrer materiel- 
(ev Götter, Sternanbeter, wie fie e8 denn auch waren, welche in Un- 
terägypten die Sonnenftadt, Heliopolis, gegründet hatten. Die Ver- 
treibung der Hykſos and Aegypten — die gänzliche Ausftogung jedes 
der ägyptiſchen Entwicklung entgegenftehenden Elements — durch bie 
thebaniſche Dynaſtie, war, jo feheint eg, jener höchſten religiöfen Ent» 
wicklung des ägyptiſchen Bewußtſeyns entweder gleichzeitig oder ihr Doch 
unmittelbar gefolgt. Mit diefer Austreibung erft war Aegypten völlig 
in fich ſelbſt Gefeftigt und gleichfam conftititirt. Viele frühere Erklärer 
haben unter diefen arabifhen Hirten, die ſich Unterägyptens bemächtigt, 
geradezu die Söhne Jakobs verftanden, die zur Zeit Joſephs mit ihren 
Heerden nach Aegypten gefommen. Es ift aber bei weitem wahrjchein- 
licher, daß eben die Herrfchaft der Hykſos in Unterägypten den Iſraeli— 
ten den Eingang in Aegypten verfchafft habe, wo fie ebenfalls! als No- 
maden Iebten. Denn bei dem Abjchen gegen das Nomadenleben und 
alle nicht aderbauenden Völker, welcher ein Hauptzug im ägyptifchen 
Sharafter ift, ift es nicht leicht zu denken, daß ein ägyptifcher Pharao 
ihnen den Eingang verftattet hätte. (Es ift die Tochter eines ‘Prie- 
fters zu On, d. h. zu Heliopolis, welche. der ägyptiſche König dem 
Joſeph zum Weib gibt‘). Dagegen mußten fie num eben darım von 
den thebanifchen Königen, Ueberwindern der Hykſos, verfolgt und ge- 
drückt werden. Eine folche Veränderung der Verhältniffe ift im zweiten 
Buch) Mofis angedeutet, denn es heißt: „Da ftand ein neuer König 
auf in Aegypten, welcher nichts wußte von Joſeph“. Die erften Ver— 
fuche, die, wie es feheint, gegen fie gemacht wurden, waren, fie zur 
Erbauung von Städten zu zwingen, um fie auf diefe Art vom noma— 
difchen Leben abzubringen. Ausdrücklich heißt e8: Sie hielten die Kin- 
der Iſraels wie einen Greuel (ganz vefjelben Ausdrucks bedient ſich 
Herodotos, wo er von dem Abfchen der Aegypter gegen alle Biehhirten 
1. Mof. 41, 45. 


403 





ſpricht), und fie zwangen die Kinder Iſrael mit Unbarmberzigfeit zum 
Dienft mit ſchwerer Arbeit, mit Thon und Ziegeln. Im Vorbeigehen 
bemerfe ich bier, daß im. Roſſelinis Monumenti eivili auf ver 
45. Tafel ein Monument aus ver Zeit des Königs Thutwofis I. ſich 
findet, wo man die Juden wirklich Ziegel ftreichen fieht. Denn die 
Juden find auch im höchſten Alterthun erfennbar; auf dem Antiguitäten- 
Kabinet in Münden ift eine Mumie befindlich, die unftreitig der Leich— 
nam eines Pharaonen ift; auf deſſen Fußſohlen find Juden gemalt mit 
ſolcher phyſiognomiſcher Wahrheit und ſprechender Aehnlichfeit, daß man 
fie auf der Stelle für Juden erkennt. — Endlich, da gar nichts helfen 
wollte, wurden die Juden förmlich aus dem Land geftoßen. Diefe 
Ausſtoßung oder diefer Auszug der Sfraeliten aus Aegypten wird fehr 
verjchieden von ihnen ſelbſt und von ihren Feinden erzählt (wovon man 
fi) duch Manetho und Tacitus überzeugen kann), aber der Grund 
und die Hauptſache der Umftände bleiben immer diefelben. Bon der Zeit, 
wo endlich auch Nieverägypten von allen Reſten nomadiſcher Stämme 
völlig befreit war, fangen nun die Jahrhunderte der eigentlichen Größe 
Aegyptens an, und unftreitig gehören eben biefer Zeit einer völlig be- 
fiegten veligiöfen Vergangenheit audy jene gigantiichen Werfe an, die 
der geiftigeren Religion gewidmet find. Ihren Hauptſitz hatte dieſe in 
der Thebais. Sehr zweifelhaft, indeß merfwürdig ift die Unterſcheidung 
Dber-, Mittel- und Unterägyptens hinſichtlich der architektoniſchen Mo— 
numente. So ift e8 denn merfwürdig, daß Der legte Ammontempel noch 
an der Grenze Aegyptens in Elephantine angetroffen wird. Gleichwie 
aber Ammon der große Gott der‘ Thebais in Theben, jo hat Phtha 
feinen Haupttempel zu Memphis, denn es ift mir wenigftens fein Tem— 
pel des Phtha bekannt, der weiter hinauf in Aegypten läge. Indeß da 
die großen Tempel bei Thebae nicht aus einem einzigen Gebäude, fon- 
dern aus mehreren miteinander zufammenhangenden, durch ungeheure 
Höfe und Galerien verbundenen Gebäuden bejtehen, jo Fonnten dieſe 
Monumente wohl der Religion des Ammon überhaupt und damit der 
ganzen Trias gewidmet geweſen feyn. Einige Stunden unterhalb Men- 
phis, welches die Reſidenz der ägyptiſchen Könige in der jpätern, jchon 


404 

mehr hiſtoriſchen Zeit iſt, wie es Thebae in der heroiſchen Zeit war, 
theilte ſich der Nil in zwei Arme und bildete das Delta, deſſen glän— 
zende Hauptſtadt Sais zur Zeit des Pſammetichus die Reſidenz der 
ägyptiſchen Könige wurde. Dort war beſonders der berühmte Tempel 
der Neith, welche ebenfalls in den Kreis der bloß intelligibeln Götter 
gehört, wie ich demnächſt zeigen werde. Eben daſelbſt, wie ſchon er— 
wähnt, an dem cirkelrunden See wurden, wie Herodotos erzählt, die 
Leiden und der Tod des Oſiris nächtlicher Weile in myſteriöſen Schau— 
ſpielen vorgeſtellt. In der Nähe von Memphis zeigt ſich auf einmal 
eine dem obern Aegypten unbekannte Form von koloſſaler Architektur. 
Ic meine die Pyramiden. Zwar wurde durch die Reiſen von Gau 
und Gailliaud befannt, daß in Nubien in der Nähe von Affouan, wo 
die Ruinen von Merve find, der uralten Hauptftadt des civilifirten 
Aethiopiens, und bei Barkal in Hochnubien ebenfalls Pyramiden ſich 
finden, aber von weit geringerer Höhe und von geringerer Dide als 
die in der Nähe von Memphis, und von denen man allen Grund hat 
zu vermuthen, daß fie nicht eher als zur Zeit der Ptolemäer errichtet 
worden, indem eben daſelbſt auch andere von den Ptolemäern her— 
rührende Gebäude fi finden‘, Die Pyramiden bei Dſchizeh und Sak— 
farah find alfo wohl Uxbilder, und jene Heine Pyramiden oberhalb ver 
Ratarrhaften und in Nubien nur Nachahmungen einer Iururirenden Kunſt?. 
So viele8 auch durch neuere Forſchungen in Aegypten klar geworben, 
die Pyramiden haben bis jegt ihre Käthjelhaftigkeit behauptet. Es ift 
nicht8 Damit gewonnen, wenn man aud) jegt wirklichen Grund hätte 
fie für große Grabmäler zu erflären. Denn die gewiß nicht bedeutungs— 
lofe und wohl offenbar irgend ein Moment des religiöfen Bewußtſeyns 
bezeichnende Form wäre damit nicht erklärt (die ungeheure Größe 
könnte etwa jemand erflären aus einer Nachahmung der Berge in Ober- 

' Selbft in der Wüfte ſüdlich von Meroe finden fih Säulen, in denen eine 
Miihung des griechiichen und ägyptiſchen Styls nicht zu verfennen ift. Die mit 
einigen biefer Byramiden in Verbindung geſetzten Pylonen deuten auf Synfretis- 
mus und Nahahmung. 


* Diefe Bermuthung ift durch die neueften Reiſenden, ſoviel ich weiß, völlig 
beftätigt. 


405 


ägypten, die Niederägypten fehlen). Auf.eine ſolche befondere Beziehung 
beutet jelbft die Erzählung des Herodotos. Denn die -erfte und größte 
diefer Pyramiden ift nach Herodotos Erzählung von einem König Cheops 
erbaut, der erſt alle Tempel gefchloffen und das Volk zu opfern verhindert 
habe; daſſelbe jey von deſſen Nachfolger Chephren geſchehen. Beide aber 
haben dadurch den Haß des Volks dergeftalt auf fi) gezogen, daß ihre 
Namen bei diefen Werfen gar nicht genannt werben '. Diefeg Ver— 
ichliegen der Tempel und Berhindern der Dpfer fieht aus wie eine 
Keaftion gegen den Polytheismus und feine Gebräuche. Diefe Reaktion 
könnte man fi) wieder auf zweierlei Art denken. Erftens als Verſuch, jenen 
böhern Monotheismug, der in den obern Theilen Aegyptens fich über 
die Bolfsreligion erhoben hatte, audy in Unterägypten geltend zu ma- 
hen, wobei ein Widerftand von Seiten des Bolfs- ftattgefunden hätte. 
In diefem Fall wäre die Pyramide eben das Symbol jenes höheren 
Monotheismus jelbit, wofür man die ihrer Conſtruktion zu Grunde 
liegende Vierzahl anführen könnte, die aus den Potenzen Typhon, 
Oſiris, Horos und dem über ihnen gedachten all-einigen Gott entſteht 
(jene drei Potenzen die Baſis, der Eine Gott über ihnen die Spitze). 
Denn die Bierzahl ift auch die in jenem intelligibeln Götterfyften (wenn 
wir es gleich bis jegt nur zur Dreizahl entmidelt haben) herrichende, 
wie jchon aus Herodotos acht oberften Göttern erhellt, die, wenn man 
die Hälfte davon als weiblid) annimmt, die Bierzahl als Grundzahl 
zeigen. Die Pyramide ift der erfte Körper, das erfte Solidum, und 
wenn in den alten Zahlenphilofophien der Punkt der Einheit verglichen, 
die Linie als aus dem Binarius, die Flache als aus dem Ternarius 
erzeugt angejehen wurde, fo ergab fid) die große Bedeutung des Qua— 
ternarius eben. daraus, daß er gleichjam als die erſte körperliche Zahl 
angejehen wurde, indem mit gegebenen vier Punkten ſich der erfte der 
fünf regulären Körper, die Pyramide, erzeugt. Man könnte alfo mohl 
jagen, daß gleichwie nach. einer früheren Angabe die Obelisfen, die in 
einer kleinen Pyramide beftanden, vorzüglich dem Horos zugeeignet 
worden, jo die Pyramide jener höchiten Einheit der intilligibeln Götter 
t Lib. II,'e. 124.127. 128. 


406 
entjpreche. - Allein fo erwünſcht in manchem Betracht ein folder Zuſam— 
menhang ſeyn wide, fo viel fpricht doch auch wieder dagegen. Was 
nämlich bejonders auffallend ift, iſt a) die, wie es ſcheint, abjolute 
Gleichgültigkeit der Aegypter gegen dieſe ungeheuren Maffen, die fie 
jelbjt als etwas fi) und ihrem Land Fremdes betrachteten, als etwas, 
wovon fie nicht gern vedeten und worüber fie nicht gerne Aufſchluß 
gaben; dieß ſchimmert durch die ganze Erzählung des Herodotos deut: 
lich durch, und vielleicht Tiegt eben darin auch die Erklärung des Dun- 
kels und der Näthjelhaftigleit, in welcher die Pyramiden geblieben find; 
b) führt Herodotos noch an, daß der Erbauer der erften und größten 
diefer Pyramiden zur Förderung diefes Baus — feine Tochter um Geld 
jich habe preisgeben lafjen ' — in diefem Zug ſehen wir uns auf ein 
mal nad Babylon verfegt — ; ce) daß die Leute, welche um die Pyra⸗ 
miden wohnen, die Könige, die ſie erbaut haben, (und ſelbſt dieſe Exfe- 
kration deutet auf etwas Fremdes) nicht bei Namen nennen wollen, 
ſondern ſtatt deſſen nennen ſie dieſelben nach dem Hirten Philition, der 
in dieſer Gegend ſein Vieh geweidet habe?. Nimmt man alles dieß 
zuſammen, ſo iſt es vielleicht weniger auffallend, die Behauptung zu 
hören, daß die Pyramiden gar nicht ägyptiſchen Urſprungs ſeyen, ſon— 
dern die Werke irgend eines orientaliſchen Volks, das in ſehr frühen 
Zeiten ſich für längere oder kürzere Zeit des unteren Aegyptens bemäch— 
tigt habe, ſowie ohnedieß die Pyramide im Orient ſelbſt ihr Vorbild 
hat. Der fogenannte Tempel des Belos in Babylon war Pyramide. So 
wären es am Ende die fogenannten Hykſoskönige, von Denen diefe Denk— 
maͤler herrühren.. Dieſe Bermuthung von den Hykſoskönigen hat wirklid) 
Heeren gewagt; fein Hauptgrund iſt indeß die Rohheit dieſer Werke, 
wie wenn fie bloß durch ihre Waffe und nicht. jelbft durch ihre Form 
bedeutend wären, und als ob e8 nicht heutzutag ein Problem wäre, durch 
welches architektoniſche Berfahren fie eigentlich zu Stande gebracht wor- 
den. Aber nad) den neuern chronologiſchen Forfchungen kann diefe Ver- 
' Lib. IL, -e. 126. | | 


® a. 0. DO. — Der Name BPhifition fünnte leicht an Peliſchtim — Philifter —, 
ein kananitiſches Volf, erinnern. 


407 

muthung freilich nicht mehr beftehen. Die Erbauung der Pyramiden 
iſt in Folge von diefen in die Periode des Reichs vor der Hykſoszeit 
zu jeßen. Hier find alſo noch Räthſel, deren Auflöſung wir von den 
Reſultaten der jüngſten eben beſchloſſenen ägyptiſchen Expedition und 
beſonders zunächſt von dem dritten Theil des neuen Bunſenſchen Werks 
„Aegyptens Stellung in der Weltgeſchichte“ nicht ohne Ungeduld erwarten. 

Wenn auch die Betrachtung der ägyptiſchen Monumente uns bis 
jetzt den vollkommenen Aufſchluß über das Geſchichtliche der Entſtehung 
jener höhern geiſtigen Religion nicht gewährt hat, ſo iſt darum nicht 
weniger einleuchtend, daß dieſe Götter, die wir die intelligibeln genannt 
haben, auf dieſelbe Linie mit den andern mythologiſchen Gottheiten ni ht 
gebracht werden können. Außer jenen Monumenten gibt e8 aber auch 
eigentlich hiſtoriſche Zeugniffe, unter denen die des treuen Herodotos 
auch hier obenan ftehen. Es ijt alfo eine fernere Aufgabe, dieſe Ent: 
wicklung des ägyptiſchen Götterfyftems in Einklang mit‘ demjenigen zu 
ſetzen, was uns insbefondere Herodotos von den verjchiedenen ägyptiſchen 
Götterfyftemen berichtet, und damit werden wir uns jett befchäftigen. 


Neunzehnte Vorlefung. 


Herodotos fpricht mehrmals von verfhiedenen Drdnungen 
oder Generationen ägyptiiher Götter, indem er von dem einen ober 
anderen Gott jagt, er gehöre zu der erften oder zu der Testen 
Ordnung. An einer Stelle aber unterfcheidet ev bejtimmt drei Gat— 
tungen von Göttern, denn er jagt: Pan, der bei den Hellenen zu den 
jüngften Göttern gehöre, ſey bei den Aegyptern der ältefte, nämlich 
unter den dreien, die er Dort zugleid) und in demſelben Zufammenhang 
genannt hat, Pan nämlich, Herafles und Dionyfos. Zunächſt aljo jagt 
der Gefchichtjchreiber nur: er fer älter als Herafles und Dionyſos; ſo— 
dann aber fagt er: Pan ſey einer von den acht erften Göttern, Hera— 
fle8 gehöre zu den zwölfen, die ſpäter entftanden, Dionyſos aber (alſo 
Oſiris) werde zu der dritten Gattung derjenigen gezählt, die von 
den zwölfen abſtammten“. Wer alſo die geſammte ägyptiſche Götter— 
lehre begriffen haben will, muß Rechenſchaft geben können 1) über die— 
ſen Unterſchied von Götterordnungen, der, wie wir geſehen, von Herodo— 
tos als ein Unterſchied des Alters beſtimmt wird, 2) muß er die Art 
der Götter beſtimmen können, welche jeder dieſer drei Ordnungen entſpra— 
hen, und er muß von den einzelnen und namentlich bekannten Gott- 
heiten anzugeben wiffen, in welde ver drei Ordnungen jeder gehöre. 
Wir wollen num fehen, ob unfere Entwicklung diefe Probe befteht. 

Alſo: unter den acht älteften, und demnach unter den ältejten 
Göttern überhaupt, können wohl feine andern verftanden feyn, als bie 

' Lib. II, e. 145; vgl. mit c. 43. 46. (c. 42). 


409 


intelligibeln, die ewigen, die unerzeugten Götter, die Fol d&yevunror. 
Denn nichts kann ja älter ſeyn, als das Ewige oder das Unerzeugte, 
was eigentlich gar nicht in die Zeit fällt, alfo außer der Zeit ift. 
Herodotos Worte von den acht älteften Göttern haben nun aber bie 
jest wohl alle fo verftanden, daß nad) Herodotos dieſe älteften Götter 
aud die zuerjt und vor allen andern in Aegypten herrfchenden gemefen 
jeyen. Dieß jagt indeß Herodotos nit. Es ift Feine Anzeige bei ihm, 
daß er diefe Götter die älteften nennt hinfichtlich ihrer Entftehung im 
Bewußtſeyn, denn davon ift bei. ihm überhaupt nicht die Rebe. 
Meine abweichenden Anfichten haben befonders auf den Widerſpruch 
derjenigen gefaßt zu feyn, die alle Mythologie aus Zerfplitterung eines 
erſt hiſtoriſch dageweſenen Monotheismus erklären wollen. Da hätte 
man denn in der Ammonslehre einen jolhen Monotheismus, aus weldyem 
erft die übrige Götterlehre der Aegypter entftanden wäre, Wer aber dieß 
jo verftünde, mer annähme, die Götter, welche ihrer Natur nad) die allen 
vorangehenden find, jenen auch ihrer ſubjektiven Entftehung nad) die äl- 
teſten, der hätte auch wohl zu überlegen, wie er alsdann von der Höhe 
diefer unerzeugten und alfo rein intelligibeln Götter wieder zu jenen im Be- 
wußtjeyn offenbar durch einen Proceß erzeugten und in diefem Sinn natür- 
lichen Göttern herabfteigen wollte. Er wäre alsdann in der Nothwendig— 
feit, mit Creuzer, der fich durch diefen Anfchein in dem Begriff der älte- 
ften Götter täufchen läßt, zugleich auch feine Emanations- oder Incarna- 
tionstheorie anzunehmen, nad) weldyer das Bewußtſeyn nicht etwa won 
dem Niederen zu dem Höheren auffteigt, fondern umgefehrt das ſchon er— 
fannte Höhere und Göttliche ſucceſſiv ins Materielle herabfinkt. Allein 
jeder fühlt das Unnatürliche eines ſolchen Gangs der Entwidlung, eines 
jolhen fortgejetten Falls und immerwährenden Herabjinfens von dem 
Höheren zu dem Niederen. Die älteften Götter des ägyptifchen Syſtems 
find alfo, weil fie die ihrer Natur nad) erften, nämlich die höchften, weil 
fie die ewigen, nicht entjtandenen find, darum nicht auch die früheften der 
hiftorifchen Entwidlung nad), fondern hier gilt, was in manchen andern 
Fällen, daß was das Höchſte, infofern feiner Natur nad) das Erfte ift, 
ver Erfenntnig nad das Jüngſte, Spätefte ift. Die Täuſchung in’ der 


410 
Annahme, daß jene intelligibein Götter, alſo z. B. Amun, der Gott 
der urfprünglichen Berborgenheit, daß diefe auch gefchichtlich Die älteften 
Götter des ägyptiſchen Bewußtſeyns gewefen feyen, wäre Feine gerin- 
gere, al8 die Behauptung, das Chaos (ein offenbar philofophifcher Ge— 
danfe und ebenfalls nur intelligibler Gegenftand), das Chaos ſey aud) 
der .erfte Gedanfe des griechiſchen Bewußtſeyns, weil e8 jeßt an den 
Anfang der griehiichen Theogonie geſetzt ift. Wie vielmehr hier. Das, 
was jegt als das Aelteſte erjcheint, der Entjtehung nach gerade Das 
Jüngſte ift, ebenfo verhält es fid) mit den ägyptiſchen Göttern ber 
altejten Art, unter welche ich denn allerdings vor allen jene drei Ge— 
ſtalten zähle, deren Begriff bereits entwicelt worden. Denn obgleid) 
3. B. Herodotos nirgends mit ausdrüdlichen Worten jagt, daß vornäm- 
lic) der ägyptiſche Amun zu den acht erften Göttern gezählt werde, jo 
zeigt doc der Name des thebäifchen Zeus, den er ihm gibt, daß er in 
ihm den höchften Gott des ägyptiſchen Syftems überhaupt erkannt habe, 
was er nur ſeyn konnte als Haupt der intelligibeln Götter, und außer: 
dem läßt ums die Beichaffenheit der Götter, welche, Herodotos in die 
zweite und in Die dritte Ordnung fett, feinen Zweifel über die Eigen- 
ſchaft derjenigen Gottheiten, welche er zu den älteften vechnete. Nament- 
lic) jedoch jagt Herodotos vom Ban, er ey nicht nur der ältefte unter 
den dreien, die er mit ihm zugleich nennt, älter demnach als der ägyp— 
tiiche Herafles und der ägyptiſche Dionyſos, jondern er gehöre auch zu 
den acht erſten überhaupt. Wenn nun aber Herodotos in der Stelle, 
die wir bisher vor Augen hatten, allerdings ganz allgemein vom Pan 
als einem der erſten ägyptiſchen Götter redet, ſo ſagt er doch an einer 
andern Stelle, daß er vorzugsweiſe, und demnach unſtreitig auch als 
einer der erſten, nur in dem mendeſiſchen Gebiete oder von den Men— 
defiern verehrt werde. Hier muß ich nun bemerken, daß überhaupt 
die Eintheilung des ägyptiſchen Landes in einzelne Gebiete, vowol ge 
nannt, nicht weniger, ja fogar vielleicht mehr noch eine veligiöfe als 
eine politifche war. Jeder folder Nomos z. B. verehrte vorzugsweiſe 
Ein Thier, oder eigentlich die in ver beftimmten Geftalt Eines Thiers 

' Lib. U, e. 46. 


411 
erjchtenene und fortwährend erjcheinende Gottheit; ja es konnte ſogar 
geſchehen, daß ein Thier, das in allen andern Nomen ein Gegenftand 
des religiöſen Abſcheus war, wie das Krofodil, in einem andern religiös 
verehrt wurde. Wenn wir uns den chaotiſchen Zuftand Tebhaft vor- 
jtellen, in den das Bewußtſeyn verfetst werden mußte, als auf einmal 
jene Schranke vuchbrochen war, die bi8 dahin die Entjtehung einer Göt- 
tervielheit verhindert hatte, wenn wir bedenken, daß, wenn auch, wie wir 
allerdings annehmen, das Bewußtſein jedes Bolfs im Ganzen daſſelbe 
war, nämlich im Ganzen, nemfelben Moment des theogonifchen Procefjes 
entſprach, daß deſſenungeachtet doch nicht in jedem Theil des Volks 
das Bewußtjey genau Dajjelbe Berhältniß zu derſelben Potenz haben 
fonnte, daß z. DB. der eine Theil ſchon freier von der Anhänglichkeit 
an Typhon ſich fühlte, während ein anderer eben diejelbe nod) tiefer 
empfand, — wer alſo dieß fich gehörig vorftellt, wird begreifen, daß 
die Religion Aegyptens feineswegs den Grad einer durchgängigen 
Uniformität zeigen fonnte, der mit dem frühern noch einfachern Princip 
ficy) eher vertrug. Vielmehr, wenn man diefen Ausdrud nur nicht 
übertrieben verſtehen will, tit es hiſtoriſch ſogar offenbar, daß jeber 
Yandestheil, jeder Nomos, wieder feine befondere Keligion, feine eignen 
religiöfen Gebräuche, feine Gegenftände befonderer Verehrung hatte, 
ohne daß dadurch die Einheit der Religion in Ganzen aufgehoben 
wurde, Inſofern ift Fein Widerſpruch zwifchen ven beiden Stellen des 
Herodotos. Pan fonnte nur eine bejondere, gleichſam provincielle Form 
jeyn, unter welcher einer der großen Götter vorgeftellt wurde. Damit 
ftimmen nun die auf ganz anderm Wege erlangten‘ Kejultate Cham— 
polliong überein, der Beweiſe beibringt, aus weldyen- erhellt, daR Ban 
nicht abfolut für Amun gehalten, ſondern nur der in einer beftimmten 
Form, Geftalt oder Aeuferung gedachte Anrın war, der Amun näm— 
lich) im Zuftande der Zeugung, des Procreivens, des Erſchaffens. Aber 
Amum jo gedacht, ift Phtha, won dem wir ſchon früher gejehen, daß 
in ihm die demiurgiſche, ſchöpferiſche Eigenſchaft als Turgeſcenz vorge- 
ſtellt worden. Die Provinz Mendes liegt an der ſogenannten mendeſi— 
ſchen Mündung des Nils in Unterägypten. Dorthin hatte ſich nun, 


412 


wie ſchon bemerkt, vorzüglid) der Cultus des Phtha, des deminrgifchen 
Gottes, verbreitet, während in Thebae, der eigentlichen Wiege dieſes 
höchften Götterſyſtems, vorzugsweife das Haupt Amun verehrt wurde !. 
In Thebae erkennt man auch an den Trümmern noch die Macht, die 
Gewalt der erften Idee. Hier trägt alles das Gepräge des Unbeweg- 
lichen. Diefe Maffen und Proportionen find berechnet, den Eindrud 
des Emigen, von jeher Gewefenen und immer Dauernden zu erregen, 
und für die Einbildungsfraft felbft gleichſam die Schranfen des Rau— 
mes und der Zeit aufzuheben. Nichts dem Aehnliches findet ſich mehr in 
Unterägypten, man müßte denn die Pyramiden dafür rechnen, von 
denen ich mich aber auf jeden Fall überzeugt halte, daß fie einer nod) 
bedeutend älteren Zeit als die Werfe von Thebae angehören, daß fie 
vielleicht die älteften Monumente der Erde überhaupt find. Zwar von 
den Tempeln und Gebäuden von Memphis finden fid) nur noch Rui— 
nen, die über ihren architeftonifchen Charakter nichts Beſtimmtes aus— 
jagen laffen. Aber follte nicht jelbft dieſe fast gänzliche Zerftörung von 
Memphis ein Zeugniß dafür ablegen, daß die dortigen Monumente 
keineswegs jenen Charakter von Größe und einer der Ewigkeit gleichen 
Dauerhaftigfeit an fi) trugen, wie die Gebäude von Theben, Die den 
Wirkungen der Zeit ebenfowohl als denen der Barbarei widerjtanden 
haben? Wenn alles in dieſem irdiſchen Leben mit der Zeit erjchlafit, 
wenn der hohe Ernſt eine Stimmung des Gemüths und des Geiſtes 
ift, welche der größere Theil der Menfchen immer nur kurze Zeit aus— 
hält und verträgt, fo fann es uns nicht wundern, wenn aud) jener 
Ernft, der aus den Denfmälern von Theben fpricht, nicht Die fort- 
dauernde Stimmung des ägyptiſchen Volks geblieben iſt. Schon die 
Berlaffenheit, in welche Theben frühzeitig verfanf, indem der Hauptfik 
des Neihs nad) Memphis verlegt wurde, zeigt eine foldhe veränderte 
religiöfe Stimmung an, und e8 tft nicht zu gewagt, wenn man ans 
nimmt, daß der Cultus des Phtha, der feiner Natur nad) mehr zum 
Sinnlichen ſich neigte, und mit der finnlihen Beichaffenheit der übrigen 


' Banopolis (Chemmis) auch in Obergägypten. Vgl. die Stelle bei Stephanus 
v. Byzanz v. zavds (Champoll., l’Egypte s. 1. Ph. I, p. 258). 


413 


veligiöfen Vorſtellungen des ägyptifchen Volks ſich leichter verband, in 
einer gemiffen Zeit der ägyptiſchen Gefchichte ein Uebergewicht über den 
des Amun erhalten habe. 

Höchft merfwürdig war mir nad) diefer VBermuthung die Mitthei- 
lung einer Thatſache, die ich dem Verfaſſer des großen und reichen. 
jhon erwähnten Werks „Aegyptens Stellung in der Weltgeſchichte“, 
Herrn Bunfen, verdanfe, die Mittheilung nämlich, daß auf mehreren 
Denfmälern wahrſcheinlich an die Stelle des‘ vorher dageweſenen 
Khem (des Gottes von Chemmis oder Panopolis, alſo des von Hex 
rodotos Pan genannten Gottes) der Name Arun (fo wird Ammon 
hieroglyphiſch gefchrieben) gejett worden. Die deutet offenbar auf 
eine im Berlauf der Zeit eingetretene Reaktion gegen den Cultus des 
Ban, und beftätigt die Vermuthung, daß der Culius des Pan nur 
eine Ausartung des Cultus von Phtha gemefen, der ja felbft nur 
Ammon wer, nämlid Ammon im Zuftand. der Procreation, der 
Schöpfung. Erft mit der Zeit der ptolemäifchen und der römifchen 
Raifer, d. h. um jene Zeit, wo das menfhlihe Bewußtſeyn überhaupt 
wieder mehr nad) den alterthümlichen Keligionen zurüdjtrebte, wurden 
die Tempel des Amun neu gefhmüdt und durd neue Werfe verherrlicht. 

Ich Halte mic) aljo berechtigt anzunehmen, daß der Cultus des 
Pan in Aegypten nur als ein befonderer Zweig von dem Cultus des 
Phtha zu betrachten jey, und daß daher Pan keineswegs der Name einer 
befonderen, von den drei großen Hauptgöttern verfchiedenen Gottheit war. 

Aber Herodotos jett doch die Zahl ver äAlteften ägyptiſchen Götter 
ausdrücklich auf acht. Hieraus erhellt alfo, daß wir auf jeden Fall zu 
jenen drei großen Göttern noch andere hinzufügen müfjen. Es fragt 
fich, welche? Zunächſt unftreitig eine vierte Gottheit. Hier müſſen wir 
num Folgendes überlegen. Zwijchen jenen drei Geftalten — dem Gott 
der Hineinwendung, der Berborgenheit, dem Gott in der Expanſion, 
und dem aus der Erpanfion in feine Einheit- zurüdfehrenden — ift 


Wilkinſon hatte bei den älteften Monumenten bemerkt, daß der hieroglyphiſche 
und phonetiſche Name von Amun beſtändig an die Stelle von andern geſetzt wurde, 
die er nicht mehr entziffern fonnte (Materia hierogl. p. 4). 


414 

feine ſubſtantielle Verfchiedenheit; es ift immer nur derſelbe Gott, der 
fich dem Gedanken unter drei Anbliden, Anfichten darſtellt. Der Sub- 
ftanz nad) ift in allen dreien derfelbe Gott, die ſer fonnte alſo nicht etwa 
als ein Viertes außer ihnen beftimmt werden, denn er tft die Subftanz 
eines jeden von ihnen. Dagegen aber, weil ihre Differenz Feine fub- 
ftantielle, alfo eine bloß im Begriff oder im Bewußtſeyn mögliche Un- 
terfcheidung war, jo war diefes im der fubitantiellen Einheit fie den— 
noch unterjcheidende und auseinanderhaltende Bewußtſeyn — dieſes mar 
ein fowohl von der Subftanz als von jedem ber Unterjchiedenen insbe— 
fondere Berfchiedenes, ein wirklich Viertes, das zugleich nothwen— 
dig in den Gott ſelbſt als ihm immanenter, einwohnender Geiſt geſetzt, als 
über ven drei Formen, wie über der Subſtanz ſchwebend — als das 
Geiftigfte der Gottheit beftimmt werden mußte. Und diefes Geiftigfte 
findet fid) denn auch wirklich in einer Geftalt, von der nicht zu zwei- 
fein ift, daß fie mit zu ven acht Höchften Göttern gerechnet wurde, 
im ägyptiſchen Hermes, oder, wie er von den Negyptern felbft genannt 
wirrde, in Thot, Thoyt, oder Thauth, dem Gott des Discurfiven, d. h. 
des auseinanderfegenden und unterjcheivenden Denfens, dem Gott der 
mehr als bloß jubftantiellen, der bewußten, alfo die Mehrheit ver 
Geftalten zugleich begreifenden Einheit des Gottes, 

Hermes war das einzige Band der drei Göttergeftalten, das 
anfßer ver jubjtantiellen Einheit des Gottes, Die ja aber nicht als 
ein von ihnen Verſchiedenes gedacht werden konnte, als ein Vierte ſich 
vorftellen ließ. Hermes war, wie Jamblichos fagt, der allen Prieftern 
gemeinjchaftliche Gott: Fe06 amaoı Toig ieoeVoı xoıwvög, d. h. 
das allen gemeinfchaftliche Bewußtfeyn; er war das jenen drei Göttern 
gleichftehende Bewußtſeyn verfelben, als Bewußtſeyn — der Sub- 
ftanz, die ihre Einheit if. Aus dem Munde des Hermes hatten Die 
Priefter ihre Weisheit und zugleich die heiligen Bücher empfangen. Er 
war der Hiftoriograph der Götter, der Einfeger und Erfinder der arti- 
eulirten Sprache, der Grammatif, dadurch Lehrer des discurfiven, aus- 
einanderſetzenden Denkens jelbft, Erfinder der Schrift, der Arithmetif, 
der Altronomie, der religiöfen Baukunſt und der mit ihr aufs Engſte 


415 

zuſammenhangenden Muſik, ſelbſt der Arzneikunſt, die ebenfalls ein 
Eigenthum der Prieſter in Aegypten war. Dieſer zu den intelligibeln 
Göttern zu zählende Hermes hieß der höchſte Hermes, der dreimal 
größte (Eoung rorzulyıcrog), wie er von dem ſpäteren Urheber der 
befannten hermetiſchen Bücher, aber offenbar aus dem Mund ägyptifcher 
Priefter felbft, genannt wird. Diefe Bezeichnung des dreimal Größten 
ift ein neuer Beweis der Nichtigkeit unferer Anficht. Der dreimal Höchſte 
heißt, daß er dreimal den höchſten Gott ſetzt und begreift, weil er das 
einzige, auch jene höchſte, intelligible Dreiheit noch verknüpfende Band, 
das in allen einheimiiche höchſte Bewußtſeyn ift, das auch im den 
unterſchiedenen als ſolchen die abfolute, d. h. die ſubſtantielle Einheit 
des Gottes fefthält, und umgekehrt, das, indem es die Einheit denkt, 
dennod) -die drei Geſtalten unterſcheidet. 

Ueber die fogenannten hermetiichen Bücher wäre wohl der Mühe 
werth etwas zır bemerken. Daß die ägyptifhen Priefter im Beſitz hei- 
(iger Bücher, fowie überhaupt die Inhaber aller Wiſſenſchaft waren, 
fann man ſchon aus Herodotos beweifen, dem fie aus diefen Büchern 
wenigſtens geſchichtliche Erzählungen worgelefen haben‘. Die unter 
jenem Namen jetst eriftivenden Bücher find freilich unbeſtreitbar erſt 
chriſtlichen Urſprungs und mit. manchen jelbft offenbar gnoſtiſchen und 
andern Ideen jener Philofophte angefüllt, die fich in Alerandrien aus 
dem Zufammenfluß der alten. zorvaftrifchen, ägyptiſchen und morgen- 
ländiſchen Weisheit überhaupt mit griechifcher Wilfenfchaft erzeugte. 
Die verhindert nicht, fie, ebenjo wie die Schriften eines der ſpäte— 
teften Neuplatonifer, des Jamblichos, mit Vorſicht fir Thatjachen zu 
gebrauchen, aber man muß fi wohl hüten, wie es in Deutjdy- 
(and gejchehen ift, und jest auch von franzöfiichen Schriftitellern ge- 
ichieht, auch ihre Philofophie, die fie in die ägyptifchen Ideen hinein- 
tragen, als die wahre Erklärung derfelben anzufehen. Denn ihre Phi- 
(ofophie erhebt fih durchaus nicht höher als bis zum Begriff der ſpä— 
teren Emanationsſyſteme. In Folge diefer Emanationslehren müſſen 

Auch Plutarch ſpricht, wie wir ſchon geſehen, von rois Hopwripoıs rov 


(E0EOV. 


416 


fich ihmen num nothwendig jene intelligibeln Götter als diejenigen dar- 
ftellen, von welchen die andern emanixt feyen; fie verwandeln auf 
diefe Art den natürlichen und reellen. Zufammenhang des ägyptiſchen 
Götterſyſtems in einen bloß idealen und metaphyſiſchen. 

Wir haben alfo nun zu jener Dreiheit der intelligibeln Götter 
auch noch Die vierte Potenz gefunden, die einzige, die fi) außer ihnen 
noch denfen ließ. Denn außer ihnen als ein wahrhaft Viertes ift nichts 
zu denfen, als das im ihnen einheimische, durch fie alle hindurchgehende 
und dadurch zugleich fie, und zwar nicht bloß fubftantiell, vereinigende 
Bewußtſeyn. 

Nachdem nun aber die Vierzahl gefunden, ſo iſt nicht ſchwer, von 
dieſer zu der Achtzahl fortzuſchreiten. Denn es iſt allgemeine mytho— 
logiſche Form, jeder männlichen Gottheit eine weibliche beizugeſellen. 
Wenn wir uns alſo denken, daß den vier intelligibeln Göttern ebenſo 
viele weibliche Weſen zugeſellt waren, ſo iſt die Achtzahl erreicht. Daß 
aber unter den intelligibeln Göttern auch weibliche Weſen ſich befunden, 
darüber laſſen wenigſtens zwei Geſtalten keinen Zweifel. Erſtens die ägyp— 
tiſche Athor, welche die Griechen die ägyptiſche Aphrodite nennen. Es 
iſt bekannt, wie hoch oder wie weit in das Götter-Alterthum zurück 
auch die Griechen ihre Aphrodite ſtellten, wie hoch ſie z. B. in Samo— 
thrake angeſehen war. Alle Attribute der Athor, ſoweit ſie uns be— 
kannt ſind, ſtellen ſie über die Iſis, mit der ſie ſonſt am eheſten zu 
vergleichen ſeyn würde, und mit der fie auch Creuzer! nad) ſeiner Art 
iventificirt, weil ihm der Begriff einer wahren Abftufung und Suc— 
cefiton der Potenzen fehlt. Athor bezeichnet in der ägyptiſchen Theolo- 
gie das Dunfel, die Berborgenheit oder Unmacht des noch nicht aus 
fi) jelbft herausgetretenen Gotted, TO dyvmorov oxörog, das fie 
an den Anfang aller Dinge jegen. Inſofern wäre fie wohl als Die 
dem nod) verborgenen Gott, dem Amun, parallele weibliche Gottheit zu 
denfen; nad) einigen Monumenten als die zwijchen dem Gott in ber 
Verborgenheit und dem offenbaren ftehende Möglichkeit, die ihn zur 
Dffenbarung bewegt. Mit Tamburinen in der Hand, tanzend, erinnert 

A. 0.0. 1,519. 


fie an jene altteftamentlihe IITT, von der es heißt: Sie fpielte vor 
Gott, als er die Grundveften der Erde legte‘. Eine zweite weibliche 
Geftalt, die man unter die intelligibeln Götter fegen muß, ift die 
Neith zu Sais, melde die Griechen mit ihrer Athene vergleichen. 
Welchem Gott nun aber die Neith als die entfprechende weibliche Gott- 
heit beigeorbnet war, darüber kann ich nicht entjcheiven; genug, daß 
auch fie im die Zahl der intelligibein Götter gehört. Wenn wir alfo 
auch jene acht älteften Götter Aegyptens nit alle namhaft machen 
fönnen, jo ift doch bewiejen, welche von ven uns befannten zu ihnen 
gehören, und da hat fid) denn gezeigt, daß feine andern zu ihnen ge- 
hören, als die wir in anderer Beziehung zu den Feoig yevvnrois 
zählen Urjache haben. 

Die zweite ältefte Götterordnung nad) Herodotos befteht nun aus 
zwölf Göttern, von welchen wir weiter nichts wiſſen, als daß Herafles 
unter fie gezahlt wird, Oſiris aber, alfo Dionyſos, nicht, und darum 
auch nicht die mit Dfiris entjchieden gleichzeitigen Götter. Wofür ſollen 
wir aljo dieſe zwölf Götter erklären? Sie find bereit8 unter den intelli- 
gibeln (infra eos positi), und doch find fie auch nicht jene, zu denen 
Dfiris gehört. Was ift alſo natürlicher als zu denken, daß fie Göt- 
ter der unmittelbaren Bergangenheit, der unmittelbar vor Dfiris, Iſis 
und Horos hergegangenen Zeit des ägyptiſchen Bewußtſeyns ſeyen? 
Wenn Typhon, DOfiris und Horos denjenigen Moment des ägyptiſchen 
Bewußtſeyns bezeichnen, bei welchem es ſich entſchied, wo es im ber 
allgemeinen theogoniſchen Bewegung ſeine Stelle nehme, wenn der Aegyp— 
ter erſt eigentlich Aegypter iſt mit und durch die Oſiris- und Horos— 
lehre, ſo folgt daraus nicht, daß er an der allgemeinen mythologi— 
ſchen Vergangenheit keinen Antheil gehabt, daß das ägyptiſche Bewußt— 
ſeyn, indem es ſich auf dieſe Weiſe und bei dieſem Moment des mytho— 
logiſchen Proceſſes fixirte, die Erinnerung der frühern Momente ver— 
lor. Die zwölf Götter ſind alſo diejenigen, deren weitere Entwicklung 
und Beſtimmung eben Typhon, Horos und Oſiris find, Wie der 
Hellene, der in dem mythologiſchen Proceß fih zulegt ausſprach, wie 

' Sprüde 8, 30. 
Skhelling, fämmtl. Werke. 2. Abth. I. 97 


418 


diefer, indem er jein Götterſyſtem abſchloß, nun diejenigen Götter, die 
in feinem frühern Bewußtſeyn gelegen hatten, ohne daß er fich entſchloß, 
bei ihnen ftehen zu bleiben — wie er diefe nun als Momente ver Ver— 
gangenheit, als Götter einer frühen, für ihn vergangenen Seit gleich— 
wohl in feine Theogonie aufnahm, ebenfo verfuhr der Aegypter. Die 
ägyptiſche Mythologie als ſolche fing alfo erft an in dem Moment, welcher 
durch Typhon, Dfiris, Horos bezeichnet iſt; in diefem Sinn, in diefem g e- 
ihihtlihen Sinn find diefe drei die älteften Götter des eigentlichen 
Aegyptens, in diefem Sinn haben wir auch unfere Entwidlung von 
ihnen angefangen, aber diefe ſelbſt gaben fich im ägyptifchen Bewußtſeyn 
eine Vergangenheit in demjenigen Göttern, welche ihnen auch im 
ägyptiſchen Bewußtſeyn vorausgegangen waren, obwohl diejes ſich 
nicht für fie entſchieden hatte, nicht bei ihnen ftehen geblieben war. 
Hier find wir wenigftens nicht in DVerlegenheit einige Namen aus 
diefer älteren Götterwelt zu nennen, die in der ägyptiſchen Mythologie 
als eine bloße Bergangenheit vorfommt. Dfiris und Iſis find beide 
Kinder zweier Gottheiten, folder ägyptiſcher Gottheiten, welche von 
den Griechen, 3. B. Plutard), Kronos und Rhea genannt werden. (Rhea 
war Kronos Gattin in der griehifchen Mythologie.) Nun war aber 
der Kroniſche Moment nad unfrer früheren Entwicdlung unmittelbare 
Bergangenheit des ägyptiſchen, und wir haben früher ſchon gezeigt, daß 
der ägyptiſche Typhon wirklich nichts anderes ald nur der ſchon beftimm- 
tere, näher eingejchränfte Kronos, nur der vom Strahl des höheren 
Gottes ſchon getroffene Kronos ift, und wenn das ägyptiſche Bewußt— 
feyn in feine Vergangenheit, vor Typhon, einen Kronos jegt, fehlt 
es auch nicht an einem Herafles, und wir dürften, vielleicht jetzt aud) 
weniger zweifelud als früher annehmen, daß dem phönikiſchen und griedht- 
ihen Herafles im ägyptiſchen Bewußtſeyn jelbft eine analoge Potenz 
entſprochen habe; jowie der Umftand, dag Herodotos den Herakles unter 
die zwölf Götter (die mittleren) ſetzt, hinmwieverum als Beweis dient, 
daß wir ung nicht irren, wenn wir unter den. zwölf Göttern’ diejenigen 
verftehen, die im ägyptifchen Bewußtſeyn der Zeit des Kronos entjpra- 
hen. Die Zahl wäre leicht zu vermehren aus Champollions Entdedung, 


419 


der nicht nur den ägyptiſchen Kronos ſammt Rhea, jondern auch noch 
andere, unſtreitig in dieſe Kategorie gehörigen Götter durch ſeine hiero— 
glyphiſchen Forſchungen an den Tag gebracht zu haben ſcheint, und 
wenn der Sonnengott eine große Rolle ſpielt, ſo iſt auch dieſer zu den 
Reminiscenzen einer frühern Zeit zu rechnen. Merkwürdig ſagt auch 
Herodotos von den zwölfen nur, ſie ſeyen ſpäter entſtanden als die 
acht, nicht, fie ftammen von ihnen ab, von den letztern aber (Oſiris u. ſ. w.), 
jie ftammen von jenen, den zwölfen, ab‘. 

Was nun die jüngfte Götterordnung betrifft, jo läßt uns Herodo- 
to8, indem er den ägyptifchen Dionyſos zu dem jüngften, dem dritten 
Geſchlecht, zählt, Keinen Zweifel über die zu denfelben gehörenden Gott 
heiten. Nur muß ich bemerfen, daß dieſe zur dritten Ordnung ge- 
hörigen Götter, wenn fie- in der legten Zufammenfafjung der ägypti— 
ihen Mythologie als die jüngsten erfcheinen, nichtsdeftoweniger als die 
erſten eigentlich ägyptiſchen anzufehen find, indem die ihnen unmittelbar 
vorausgegangenen (die der zweiten Ordnung) in der eigentlichen ägyptiſchen 
Theogonie gleichwohl nur als Vergangenheit aufgenommen find, daß aber 
die der erften Ordnung, die von allen zulegt erkannten, und in diefem 
Sinn jüngften, nur auf die Weiſe an den Anfang geitellt find, wie 
auch in der griechiſchen Theogonie das Chaos an den Anfang gejtellt 
ft, ohne daß darum fich jemand vorjtellt, die Griechen jeyen von die— 
jem Begriff wirklich ausgegangen (wie dieß jchon oben gezeigt worden ift). 

Namentlih bekannt von dieſen Göttern dritter Ordnung find 
und Typhon, ihm entjprechend Nephtys —, Dfiris, ihm entſprechend 
His —, Horos, dem Bubaſtis entſpricht (Die ſich ebenfo zu Horos, 
wie Iſis zu Dfiris verhält und an deren Stelle tritt). Anubis, eine 
fiebente Geftalt, der unftreitig eine weibliche entſpricht, die ſich zu Bu— 
baftis ebenjo wie Anubis zu Horos verhält. 

Auf diefe Art glaube ic) aljo nun das ganze ägyptiſche Götterſyſtem 
entwidelt und der Aufgabe genügt zu haben. Wollen Sie nad) den 
jegt angegebenen Ideen die gewöhnlichen und ausführlicheren Darftel- 
lungen durchgehen, jo werden Sie, ic; zweifle nicht Daran, mit Hülfe 

‘ Lib. II, ce. 43 extr. vgl. mit ce. 145 init. 


jener Ideen da Klarheit und — entdecken, wo pic nur Der- 
wirrung herrſchte. 

Es ift befonders wichtig, daß nad) dieſer Anficht eine Vergangen- 
heit in die ägyptiſche Mythologie kommt, durch welche einige in ver 
neneften Zeit befannt gewordene Wahrnehmungen ſich erklären. Wir 
haben vie ägyptiſche Mythologie von dem Moment ausgehen lafjen, wo 
Typhon und DOfirid ein und verfelbe Gott, nicht als ſolche unterſchieden 
find, und es muß daher gefchichtlich ein fpäterer Moment angenommen 
werden, wo beide als Gegenfat unterjchieden, aufßereinander gedacht 
worden. Wenn e8 wahr tft, daß in dem Beinamen des Vaters von 
Sefoftris das Zeichen des. Typhon mit dem des Oſiris abmwechfelt, d. h. 
beide als gleich behandelt find, wenn in dem Beinamen des Menophtes 
(jüngern Bruders und unmittelbaren Nachfolgers von Sefoftris) Typhon 
und Dfiris zufammen vorfommen, nicht Typhon und nicht Dfiris, jon- 
dern Typhon-Oſiris oder Seth-Oſiris fteht (denn Seth ift der ägyp— 
tiihe Name des Typhon — Typhon ift wahrfcheinlich orientalifcher 
Name = TDX [das hebräiſche Z wird in andern jemitifchen Dialeften 
zum einfachen 'T] Zaphon oder Zaphun fann erflärt werben als der ver- 
borgene, oder aud) der unheimliche Gott, Deus sinister; im Namen Ty— 
phon liegt alfo ſchon der Gegenfat gegen Ofiris, er ift ver fpätere, indeß 
fennt Plutarch ſchon feinen wahrſcheinlich urſprünglichen Namen Seth 
und wird auch hier durch die neueren Forſchungen beftätigt) — wenn 
alfo ein Seſoſtride etwa der Geliebte von Seth-Oſiris geriannt wird, 
wenn in einem Tempelpalafte von Ramſes Typhon (hier heißt er Nubi) 
e8 it, welcher Leben und Macht über ven König ausgießt, wenn ebenfo in 
frühern Monumenten Nephtys noch ganz an der Stelle ver Yfis fcheint, 
wenn in Denfmälern der heroifchen Zeit der Name des Seth, ja feine Hie- 
roglyphe (die Giraffe) von einer ſpäteren Zeit ausgemeißelt erſcheint, ſo 
liegt hierin nichts, das unſrer Entwicklung widerſpräche, die vielmehr 
in dieſen Thatſachen zum Theil eine neue Beſtätigung erhält. 

Wenn aber daraus geſchloſſen werden wollte, daß es einer großen re— 
ligiöſen Revolution bedurft habe, Seth und ſeine Diener zu ſtürzen (er war 
aber ſelbſt zu Plutarchs Zeiten nicht geſtürzt in dem Sinn, daß er nicht 





nod) immer durch Opfer und Tempel verehrt worden wäre), den Typhon 
zu Oſiris und aller ägyptifchen Götter Feind zu ftenipeln, wenn etwa im 
Hintergrunde die Idee läge, daß die Keligion Aegyptens in dunfelfter Ur- 
zeit ein reiner Monotheismus gewejen, jo fönnte ich darin freilich nicht bei- 
ftimmen. Im Gegentheil halte ich feft, und fehe als das Gewiffefte an, 
daß Oſiris-Typhon der Ausgangspunkt, die Bafis, die Grundlage der 
ganzen ägyptiſchen Mythologie und Theologie geweſen, wie ja auch ſchon 
daraus erhellen wird, daß, wie Herodotos bemerkt, ver Dienft des 
Dfiris und der Iſis der einzige war, der allen Aegyptern gemein war. 
Denn das, was die Grundlage einer religiöfen Entwidlung bildet, ift 
immer das Allgemeine, die höhere Entwidlung gehört immer nur den 
Wenigeren an, wie denn die Religion des Ammon offenbar nicht die 
allgemeine Religion Aegyptens war. Dem Zeitalter der materiellen 
Entdefungen und Ausbentungen folgt das der Kritik, welche überall 
die Möglichkeit zu unterfuchen hat, 3. B. die Möglichkeit, daß in einem 
Berlauf von drei Jahrtaufenden eine fünftlihe Schrift wie die Hiero— 
glyphen jo unbedeutende Veränderungen erlitten haben ſollte. Ihren 
vollen Werth werden bie. chronologiſchen und geſchichtlichen Ausmitte- 
lungen der neuern Zeit erft erhalten durch das Urtheil ver Kritik, na— 
mentlich des größten Kritifers unferer Tage, des berühmten Letronne. 

Wir kommen nun zu dem letzten Punkt, zur Erklärung des ägyp— 
tiſchen Thierdienftes. 

Unſtreitig iſt das unſern Begriffen und Gefühlen am meiſten 
Widerſtrebende in der ägyptiſchen Religion die religiöſe Pflege, die ſie 
manchen Thieren zu Theil werden ließen, und die ganz oder doch zum 
Theil thieriſche Geſtalt mancher Götter. Ich ſage zum Theil; denn 
es ift größtentheils nur der Kopf (ver intelligible Theil), der in bie 
thierifche Form 3. B. eines Schafal- over Bogelfopfes verhüllt ift. Eine 
unbegreiflidhe Erſcheinung allerdings, wenn man nicht den ganzen Weg 
des Bewußtſeyns von Anfang bis zu dieſem Punkt zurüdgelegt hat. 
Dem Aegypter waren die Thiere nicht, was fie ung find, er ging 
nicht etwa von einer Beobachtung der Thiere aus, und hat dieſe dann 
entweder ihrer Nützlichkeit und Wohlthätigkeit oder ihrer Schädlichkeit 


und Gefährlichkeit wegen, wie man fagt, vergättert; wiewohl freilic) 
diefer Bezug der Nüslichfeit oder Schädlichkeit nicht auszufchließen war, 
3. B. der Ibis erfcheint im Aegypten mit dein wachjenden, fteigenden 
Nil zugleich und verzehrt dann fpäter die Schlangen und die den Saa— 
ten verderblichen Infeften, die die Ueberſchwemmungen des NS zurüd- 
lafien. Dieſes Verhältniß alſo des Ibis z. B. zu den periodiſchen 
Ueberſchwemmungen des Nils, ſeine regelmäßige Erſcheinung war aller— 
dings ein Moment in der religiöſen Verehrung, die der Aegypter für 
dieſen Vogel hegte, aber dieſe Umſtände hätten keine Verehrung dieſes 
Vogels erzeugt, wenn nicht der Moment, durch den der theogoniſche 
Proceß im ägyptiſchen Bewußtſeyn hindurchging, wenn dieſer es nicht 
mit ſich gebracht hätte, das Göttliche, das früher z. B. in den Ge— 
ſtirnen geſehen wurde, jetzt in den Thieren zu ſehen. Das reale (un— 
geiſtige) Princip mußte negirt — alſo gedemüthiget, materialiſirt — 
werden, um zum Geiſtigen zu gelangen. Jene naturhiſtoriſchen Um- 
ftände wirkten alfo nur im Zufammenhang mit der religiöfen Stimmung 
des Aegypters überhaupt, mit feiner ganzen Anficht der natürlichen und 
göttlichen Dinge, einer Anficht, die ihnen durd innere Nothwendig- 
feit, und aljo dem Princip nad, unabhängig von jenen äußern natur: 
geichichtlichen Thatſachen, entftauden war. Da er im dem periodischen 
Steigen und Fallen des Nils jelbft nur eine Scene der ſich ihm jährlich 
wiederholenden Gefchichte feiner Götter, des Typhon und des Dfiris, er- 
fanute, jo wußte denn alles, was mit dieſer Scene in Verbindung 
ftand, fi) auch mit feiner Göttergefchichte ihın werweben. Jene bejon- 
deren Eigenfchaften des Ibis waren wohl etwa der Grund, und können 
zur Grflärung dienen, warum der Aegypter unter den verſchiedenen 
Vögeln feines Landes gerade den Kopf dieſes Vogels auswählte, um 
den Gott der Wifjenfchaft, ver Intelligenz und alſo aud) der Voraus— 
fiht damit zu bezeichnen. Daß aber die Thiere felbft heilig gehalten 
und verehrt wurden, davon lag der Grund in einem -viel tieferen Ver— 
hältniß des Bewußtſeyns felbft. 

Eine andere gewöhnliche Erklärung ift, daß manche Thiere ur- 
ſprünglich nur an gewiffe Prädicate, Attribute oder Eigenfchaften der 


423 





Öottheit erinnern jollten, ohugefähr fo wie griechiſchen Göttern Thiere 
als Attribute beigegeben worden feyen; jpäterhin als die Keligion in 
Verfall gerathen, ſeyen fie jelbft zum Gegenftand der Verehrung ge- 
worden. Daß man die Thiere frühzeitig zu einer Art von Symbolik 
moraliiher Eigenjchaften gebraucht hat, ift fehr natürlich; denn während 
im Menjchengefchleht die große Mannichfaltigfeit möglicher Charaktere 
an die Individuen wertheilt ift, jo ift im Thierreich jeder beſtimmte 
Charakter Charakter der Gattung, die Thiere ſind auch in dieſer Be— 
ziehung die disjecta membra poetae, nämlich des Menfchen. Alle 
Eigenjchaften im Menſchen jollen eigentlich zum harmoniſchen Gleichge- 
wicht gebracht feyn. Jeder befonders hervortretende Zug, 3. B. die 
Schlauheit, ift etwas Thierifches. Wie num jene Bezeichnung moralifcher 
Eigenfchaften durch beigegebene Thiere in die griechischen Borftellungen 
gefommen, ob man den Adler des Zeus, die Taube der Aphrodite, 
die Nachteule der Athene u. j. w., ob man dieſe als Spuren eines 
frühern, dem ägyptifchen analogen Moments im griechiſchen Bewußt— 
jeyn betrachten dürfe, eined® Moments, der im helleniſchen Bewußtſeyn 
jelbft nicht, wie im ägyptifchen, zum Hervortreten fam, und von dem 
daher nur dieje Spur aufbewahrt worden, dieß ift Gegenftand einer 
bejondern Unterfuhung, und darüber fünnen wir natürlich) hier nicht 
entſcheiden. Aber jedenfalls ift die den wirklichen Thieren in Aegypten 
erzeigte Verehrung zu ernft, als daß man fie aus einer bloßen in Folge 
eines durchaus nicht ermweislihen Verfall der Religion entjtandenen 
Verwechslung des Zeichens mit dem Bezeichneten erklären könnte. Daß 
Thiere heilig gehalten werben, ift- im ägyptiſchen Bewußtſeyn nichts 
Willfürliches oder Zufälliges. Die Thiere find dem Aegypter nicht 
Götter, jonvdern Momente, und darım zugleid Monumente aus dem 
Leben ihrer Götter. Wie die Erjcheinung der Thiere in der Natur 
ſelbſt nichts Zufälliges, wie fie ein nothwendiges Moment des allge- 
meinen, ſtufenweiſe fortfchreitenden Naturprocefjes find, jo traten auch 
in der ägyptiſchen Mythologie die Thiere nicht zufällig, ſondern noth- 
wendig hervor, und bezeichneten einen wirklichen Moment des theogoni— 
ſchen Proceſſes. 


124 


Eine andere Borftellung, durd die man ſich die Erflärung des 
TIhierdienftes zu erleichtern juchte, ift die Annahme, daß Thierbilvder 
zuerft au den Himmel geſetzt, dadurch gleichſam geheiligt, und nun 
auch erſt irdiſche Thiere, gleichſam als Stellvertreter jener himmlischen, 
verehrt worden feyen. Aber doch nicht die Thiere, welche Aegypten 
heilig hielt, waren gerade an den Himmel verſetzt. Wohl möglich, daß 
die älteſten Sternverehrer, die al8 Hirten die Wüfte durchzogen, in 
jenen aufgelösten Schaaren des Himmels auch Heerven jahen, die der 
himmliſche Hirte in der Wüſte des Aethers weidete; aber Thiere an 
den Himmel zur verfegen, und mit jenen nod) für rein geiftig gehalte- 
nen Weſen zu vermiichen, Fonnte ihnen nicht einfallen. So alt daher 
auch die Entftehung des Thierfreifes jeyn mag, fo ift fie doch ſchwerlich 
älter als der gegenwärtige Moment des Bewußtſeyns. Um die Punkte 
der jährlichen ſcheinbaren Sonnenbahn mit Thierbildern zu bezeichnen, 
mußte ſchon eine ganz andere Anſicht des Himmels, als jene frühere, 
Raum gewonnen haben. Aus dieſem Grund wird immer wahrſcheinlich 
bleiben, was durch die allgemeine Tradition des Alterthums ohnedieß 
beglaubigt iſt, daß der Thierkreis eine ägyptiſche Erfindung iſt. Thiere 
konnten nicht eher an den Himmel geſetzt werden, als nachdem ſie auf 
der Erde eine göttliche Bedeutung gewonnen hatten. 

Alle dieſe Erklärungen zeigen, daß die Verehrung der Thiere in 
Aegypten ein ſchweres Problem. Das Begreifen wird erleichtert durch 
den allgemeinen Gedanken, daß die Mythologie überhaupt auf einer 
Selbſtentfremdung des Menſchen beruht. Nicht ihrer ſelbſt wegen, daß 
ich ſo ſage, wurden die Thiere verehrt, ſondern als die letzte Erſchei— 
nung des Typhon, an dem das ägyptiſche Bewußtſeyn noch lange feſt— 
hielt, und der noch immer die Erſcheinung rein geiſtiger Götter ver— 
hinderte. In Aegypten war das ganze Thierreich gewiſſermaßen ge— 
heiligt als urſprünglich verflochten in die Geſchichte der Götter. Wer 
einen Ibis, einen Sperber oder den heiligen Falken (Bild der höchſten 
Geiftigfeit wegen feiner hohen Flugkraft) tödtete, wurde felbft getödtet. 
Gewiſſe Thiere wurden in Tempeln gepflegt, aber nicht bloß dieß, 
ſondern jedes Haus, jede Familie hatte einen ihr heiligen Vogel, der 


425 
aufs Sorgfältigfte gepflegt und unter den Mitgliedern der Familie be- 
jtattet wurde, Dieß alles läßt ſich durdaus nicht anders begreifen, 
als indem man annimmt, daß der Moment des Bewußtſeyns, welcher 
dem, ägyptiſchen Volk zum Loos gefallen, daß viefer eben felbft dem 
Moment der TIhierbildung in der Natur parallel ftand. Das ägyptiſche 
Bewußtſeyn war noh im Kampf, alfo nur erft auf dem Weg zu 
menjchlihen Göttern. Diefen Weg bezeichneten ihm die Thiere. — Dieß 
ift im Grunde ſchon nachgewiejen worden. Kybele = Uebergang von 
der unorganifhen zur organiſchen Zeit, welche damit eintrat, daß vie 
dritte, die geiftige Potenz, zu den andern hinzutrat, worauf das Eigen- 
thümlihe des. ägyptiſchen Bewußtſeyns beruht. Dennoch fonnte das 
rein Geiftige nicht jogleich entitehen, weil dazu die völlige Erfpiration 
des realen Princips vorausgefett werden muß, die nicht unmittelbar 
ftattfindet, wie eben der Kampf des Dfiris mit dem Typhon bezeugt. 
— In der Mythologie ift nichts aus der Natur genommen, jondern 
der Naturprocek jelbft wiederholte fid) als theogonifher Proceß im Be— 
wußtſeyn. Es gibt Borausfegungen, unter denen man von jedem 
Naturding fagen kann, es fey ein modiftcirter Gott. Dieß muß alfo 
insbefondere von den TIhieren erlaubt feyn, in denen die Allheit der 
Potenzen wirklich ſchon dargeftellt ift, wenn auch gleich nicht in jener 
legten, alles werfchmelzenden Einheit, zu der fie nur im Menſchen ge 
langt. Das blinde Princip ver Natur, das in feinem außer ⸗ſich— 
Seyn als finnlofes und ungeiftiges erfcheint, nimmt in dem Verhält— 
niß, als es in fein An-ſich, in das reine Können wieder umgewendet 
wird, geiftige Eigenfchaften an, es erjcheint als ein in gewiffem Maße 
feiner jelbft Mächtiges in den freien, willfürlihen Bewegungen der 
Thiere, als ein mit Unterfcheivungsfraft und unterfcheidenden Erkennen 
Begabtes in dem finnlihen Borftellungsvermögen der Thiere. Die 
TIhierreihe ftellt ven Uebergang des realen Gottes als foldyen dar. Als 
Gott geftorben, lebt er in den Thieren. Die Thiere find dem Aegypter 
die zudenden Glieder des Typhon. Der Menſch ift der als Geift, 
als feiner felbft vollfommen mächtige, wieder auferftandene Gott. 
Man wird nicht einwenden, daß auf diefe Art die Ddololatrie gewiſſer— 


426 





maßen gerechtfertigt erfcheine; denn jenes hohe Gebot: du ſollſt dir Fein 
Bildnif, noch Gleichniß machen, weder defen, das am Himmel, mod) 
deß, das auf der Erde, noch im Waffer ift, wiberfpricht nicht dem 
theoretifchen und wifjenfchaftlihen Sag, daß Naturdinge Scheinbilver 
des Göttlihen feyen, es verbietet nur, daß man dieſe ftatt Gottes ver- 
ehre, nicht, weil fie nicht in der. That simulaera divinitatis find, 
fondern weil e8 eine Herabwürbigung des Menfchen ift, wenn er ein 
Simulacrum der Gottheit anbetet, er, der felbft pas Bild der Gottheit 
und der befähiget und berufen war mit ihr unmittelbar zu verkehren 
und in Gemeinfchaft zu treteı. 

Im Uebrigen müffen wir doch aud) von der den Thieren in Aegyp- 
ten erwiefenen Verehrung nody mit einer gewiſſen Unterfcheidung ſpre— 
hen. Wenn ein heiliges Thier im Tempel oder aud) in einem Haufe 
gepflegt wurde, jo galt diefe Verehrung nicht dem Individuum, fondern 
der in der Gattung lebenden und ausgeſprochenen Idee, d. h. dem 
Moment des mythologifchen Procefjes. Dieß erhellt aus einem Umftande, 
der bei einer jpäteren wiſſenſchaftlichen Expedition von einigen Franzoſen 
bemerft worden, daß 3. B. in den Begräbnißftätten von Thieren, wo 
ganze Thiere oder bei größeren wenigftens Theile verfelben völlig ebenfo 
wie menjchliche Leichname als Mumten behandelt, aufbewahrt worden — 
wodurd eben ausgedrüdt ift, daß fie jedes Thier für einen ewigen 
Begriff anfahen; denn welche andere Urſache könnte fte fonft veranlaffen, 
thierifche Leichname ebenso wie menfchliche zu behandeln? — im folchen 
Begräbnißftätten hat man alfo bemerft, daß ſich überall die analogen 
und zu derſelben Species gehörigen Thiere wie nad) einem doveriſchen 
Syſtem beifammen finden. 3. B. Bubaftis hatte ſich nad) der ägyp— 
tiſchen Mythologie aus Furcht vor Typhon in eine Kate verwandelt, 
die Kate war eine Erfcheinung der Bubaftis, nun find es aber nicht 
bloß Katzenmumien, fondern Leichname oder Theile reißender Thiere 
überhaupt, Löwen, Tiger, die aud wir zum Katzengeſchlecht rechnen, 
die fi) in der Nähe des Bubaftistempeld finden. 

Wenn die Bubaftis vor dem Typhon ſich in ein Thier flüchtet, 
jo muß man natürlich hiebei an die erfte Erfcheinung der Bubaftis tm 


427 

Bewußtſeyn denfen. Die erjte Erſcheinung aller diefer Götter im Be- 
wußtſeyn ift eine beſtrittene. Bubaftis, obgleich das Bewußtſeyn des 
bereits übermwundenen Typhon, tritt doch ſchon während des Kampfes 
hervor, und hier ift e8 bezeichnend und bedeutend, daR gerade dem Be 
wußtſeyn, melches die Potenz des Geiftes gleichſam zuerft anfichtig wird, 
daß dieſem eben die reißenden Thiere zugeeignet werden, daß es in Diefe 
verhüllt gedacht wird. Denn auch in der Natur gehen die reißenden 
Thiere, welche wir vorzugsmweife die Willensthiere nennen fünnten, uns 
mittelbar vor. dem Menſchen her. Es war mir nidyt möglich, einer 
Meinung beizuftimmen, welche wor einigen 20 Jahren geltend gemacht 
wurde, nad) welcher in dem Thierreiche eine doppelte, nämlich eine auf 
jteigende und eine zurücjchreitende Neihe feyn follte, woher dann die 
Raubthiere der Richtung des Zurüdfinfens angehören jollten. Dieſe 
zahme, etwas fentimentale Meinung wollte das Wilde in der Natur 
einem Fall zufchreiben: Aber es liegt der ganzen Natur von Anfang 
ein eigentlid nicht jeyn Sollendes zu Grunde, und es ift noth> 
wendig, daß dieſes Princip am heftigften ſich entzünte, wo es jeiner 
Ueberwindung am nächſten ift. Wenn im Allgemeinen alle Dinge in 
der Natur in einem befinnungslofen Zuſtand fid) befinden, jo jehen 
wir jene höchſte Klaffe ver Thiere wie im Zuftand eines beftändigen 
Wahnſinus dahinwandeln, in weldyen die ungeiftige Natur beim erften 
Anbli der geiftigen geräth. Der Unwille, der Zorn, mit dem das 
veißende Thier auch das ſchwache, ganz indffenfive Geſchöpf zerreißt, ift 
der Zorn des feinen eignen Tod, feinen Untergang fühlenden Principg, 
das legte Aufflanımen feines Grimme. 

Diefe Berfammlung zu demfelben Geſchlecht gehöriger Thiere in 
ägyptiichen Begräbnißftätten zeigt, daß nicht das Individuum, daß der 
in ihm lebende ewige Begriff, ver Moment des Procefjes jelbit ge- 
meint war. Als Beweis endlich, wie Tas ägyptiſche Bewußtſeyn gleichſam 
den ganzen. tiefen organifchen Proceß wiederholt, will id noch anführen, 
daß angeblid an Einem Orte Aegyptens, in Anama oder Anapa, aud) 
ein Mensch verehrt wurde. Das Nähere, was man wohl wiljen 
möchte, läßt fich aus der Erzählung der beiden Schriftjteller, die allein 


428 

davon fprechen, des Porphyrios und Eufebius nicht abnehmen; doch 
das ift Har, daß biefe Verehrung auf feiner bloßen Apotheofe oder 
Vergötterung einer hiſtoriſchen Perfon beruhen konnte, die ohnedieß den 
Aegyptern ganz fremd war, denen felbft diejenige Klaffe höherer Wefen, 
welche Griechenland unter dem Namen der Heroen verehrt, ganz fremd 
war. Auch war e8 nad) dem ganzen Charakter der ägyptiſchen Mytho— 
logie unftreitig nicht die moralifche oder geiftige, ſondern die bloße 
Naturbeveutung des Menfchen, die zu diefer Verehrung Anlaß gab, 
und nur an Einem Orte Aegyptens wurde der Menfch verehrt. Denn 
der Menſch jelbft ift einzig in der Natur — wie der Mittelpunft 
einzig ift. 

Eine andere Anficht num aber ſcheint ein anderer Thiercultus 
zu fordern, der offenbar einen für ſich abgefchloffenen Kreis bildet und 
daher auch eine eigne Betrachtung, fowie auch unftreitig eine eigne 
Erklärung, fordert. Ich meine die Verehrung des heiligen Stiers oder, 
wenn bie Zeugniſſe einiger andern alten Schriftfteller Glauben verbie- 
nen, der drei heiligen Stiere. Herodotos weiß nur von dem einen hei- 
ligen Stier in Memphis, dem Apis!, und e8 lafjen ſich wohl vie drei, 
von denen andere wifjen, auf Einen reduciven. Der Apis mußte ein 
befonderes, befondere Kennzeichen an ſich tragendes Individuum ſeyn, 
ein weißgezeichnete8 Dreied auf der Stirn, einen -ebenfo gezeichneten 
Halbmond auf der einen Seite und eine dem heiligen Käfer ähnliche 
Erhöhung unter der Zunge haben. Wenn nad dem Ableben eines 
früheren ein neuer Apis in einem Individuum gefunden war, ſo 
wurde dieſes erſt in Heliopolis in einer gegen Morgen offenen Halle 
vier Monate lang (als Mnevis) gepflegt, und dann erſt wurde er feierlich 
in den Tempel des Phtha nach Memphis gebracht. Von einem dritten 
heiligen Stier, Pacis genannt, der in Hermonthis verehrt worden ſeyn 
ſoll, weiß nur Macrobius. Was nun dieſen Stierdienſt betrifft, der 
uns beſonders wegen der Anhänglichkeit merkwürdig iſt, die das iſrae— 
litiſche Volk und zum Theil ſelbſt feine Führer noch nach dem Auszug 
aus Aegypten an denſelben zeigten (man muß fi nicht irren laſſen, 

' Lib. III, c. 8, 


429 





daß bei ven Siraeliten von den Kalb die Rede ift, auch Herode- 
t08 nennt den Apis uöozoc) — was alſo diefen Stierdienft betrifft, 
jo hat es mit dieſem offenbar eine eigne Bewandtniß, denn 1) wurde 
hier das Individuum als ſolches verehrt, 2) war damit die befondere 
Idee von einer reinen Empfängniß verbunden (die Kuh, die den Apis 
warf, wurde von einem Sonnenftrahl befruchtet). Ferner verband fich 
damit die Vorftellung von einer Transmigration der Seele diefes Apis; 
jo oft nämlich ein Apis ftarb, wanderte die Seele des verftorbenen in 
einen neuen Apis. Dick fheint nun gar nicht ägyptiſch, auch mit der 
jonft angenommenen Seelenwanderungslehre der Aegypter hängt es nicht 
zufammen (nad) viefer geht die Seele nicht in den Leib eines andern 
Individuums derjelben Art, jondern ftet8 in ein Thier won anderer 
Art über). Diefe letzte Idee hat etwas Fremdes an ſich; fie erinnert 
an die Lamaiſchen Religionen; denn aud in dieſen, wenn ein verkör— 
perter Budda ftirbt, wandert feine Seele in feinen Nachfolger. Wenn 
alſo ver Apis, wie Plutarch jagt, als ein lebendiges Bild des Dfiris 
betrachtet wurde‘, oder wenn er ein verförperter Dfiris war, jo jcheint 
e8 mir, daß bier ein Cultus anderer Art nur mit dem ägyptiſchen in 
Berbindung geſetzt ift, daß alſo jener Eultus urſprünglich einer der 
ägyptiſchen Keligion eigentlich Fremden Richtung angehörte, die jedoch 
nicht völlig befiegt oder befeitigt werden fonnte und daher mit ägyptiichen 
Ideen in Verbindung gejett wurde. Beſonders merkwürdig ift in dieſer 
Hinfiht die unüberwindlihe Anhänglichkeit des ifraelitiichen Volks an 
die Verehrung des Stiers, obwohl es diefen Stier bloß im Bild ver- 
ehrte, während in Aegypten ein lebendiger verehrt wurde, Aber der 
im Bild verehrte jollte wahrjcheinlich nur Bild des ächten und lebenden 
jeyn. Diefer Stiercultus in Aegypten möchte alfo noch einen Lichtſtrahl 
zurüdwerfen auf die Hykſos-Periode Aegyptens. Aber wie joll man 
fi) diefe Verehrung des Stiers jelbft erklären? Merkwürdig ift jeden- 
falls, daß der erfte Stier, Mnevis, in der von den Hykſos, den joge- 
nannten Hirtenftämmen, gegründeten Sonnenftabt verehrt und erjt von 
dort aus nad) Memphis gebracht wurde. Hieraus, ſowie ſchon aus der 
'‘ de Isid. et Osir. c. 43. 


430 


Gründung einer eignen Stadt, ſcheint zu folgen, daß auch die Hyk— 
ſos nicht mehr reine Nomaden, daß ſie alſo überhaupt nur Stämme 
eines andern Urſprungs waren und die einer andern, von den Aegyp⸗ 
tern verſchiedenen religiöſen Richtung folgten. Auch die Iſraeliten, ſcheint 
es, waren wenigſtens in der letzten Zeit ihres Aufenthalts in Aegypten 
nicht mehr reine Nomaden, ſondern, wenn auch Hirten geblieben, doch 
ſchon nahe daran, ſich den ackerbauenden Stämmen und dem bürger— 
lichen Weſen Aegyptens anzuſchließen; denn dieß zu verhindern, war 
wohl eine Hauptabſicht ihrer Ausführung aus Aegypten, wie ſie denn 
auch nach dem Auszug noch 40 Jahre in der Wüſte, d. h. im Zuſtand 
des Nomadenlebens, erhalten wurden, offenbar um vor INololatrie be— 
wahrt zu werden und ven reinen Glauben, ſowie die Sitten der Nomaden, 
die fie in Aegypten verlernt hatten, wieder fid) anzugemwöhnen. 

Wenn man fein Liebhaber von den beliebten aſtronomiſchen Deu— 
tungen ift, nach welchen z. B. der Stier die Sonne im Frühlingszeichen 
beveutet, fo fann man den Stier überhaupt nur anfehen ald Symbol 
der wilden, aber durch eine höhere Macht dennoch zähmbaren und ge- 
zähmten Natur, als Symbol: des Uebergangs von dem wilden, ſchwei— 
fenden Leben der älteften Zeit zu dem gebundenen und gejetlichen, wel— 
ches mit dem Aderbau anfängt — ale Symbol alfo aud) des Uebergangs 
vom Nomavenleben zum ackerbauenden Zuftande. Denn ich brauche 
nicht zu fagen, daß es nicht der wilde Stier, fondern der gezähmte, 
bereit in den Dienft des Menjchen getretene und ihm unterworfene 
Stier ift, der im Apis gemeint war. Und jo glaube ich denn ven 
Apisdienſt einer befondern teligiöfen Richtung in einem Theil Aegyptens 
zufchreiben zu müffen, deren Spur nicht zu verwifchen war, und bie 
daher auf die oben erwähnte Fünftliche Weife mit der Dfirislehre in 
Berbindung gefegt wurde, indem der heilige Stier von Heliopolis nad) 
Mempbis gebracht, und fpäter als befeeltes Bild (eiewv Euwyvyog) 
bes Dfiris erflärt wurde, umſomehr, als Dfiris Stifter des Aderbaues 

war“. E8 mar der zum Dienft des Menſchen, zum Aderbau verwendete 
Stier, in dem man das Bild des Dfiris jah und verehrte. 
' Bergl. Plutarch, Fragen über griechifche Gebräuche 36. 


Bwanzigſte vorleſung. 


Mit der ägyptiſchen Mythologie haben wir, wie ſchon früher be— 
merkt, zuerſt das Gebiet der vollſtändigen Mythologien betreten, d. h. 
derjenigen, in welchen die Allheit der Potenzen erreicht iſt. Dieſe voll— 
ſtändigen Mythologien, inwiefern ſie eben dieß gemein haben vollſtän— 
dig zu ſeyn, ſind inſoweit auch einander parallel, und es wird unſere 
nächſte Frage ſeyn müſſen, wie dennoch zwiſchen denſelben noch eine 
Aufeinanderfolge gedacht werden könne. Inwiefern nun aber unter die— 
ſen vollſtändigen Götterlehren vorläufig bereits der erſte Platz der ägyp— 
tiſchen angewieſen worden, iſt dadurch ſchon gegen ein mächtiges Vor— 
urtheil angeſtoßen, das ſich in den letzten 40 Jahren ausgebildet hat 
und endlich faſt zu allgemeiner Geltung gelangt iſt, gegen die Meinung 
nämlich, nach welcher vielmehr die indiſche Götterlehre das Urſyſtem 
aller Mythologien enthielte, das Urſyſtem, das ſich in den andern zer— 
ſplittert hätte. In Folge dieſer Vorausſetzung, welche ſelbſt in Lehr— 
büchern Eingang gefunden, müßte das indiſche Volk als eine Art von 
Urvolk betrachtet werden, das man keinen Anſtand nimmt, nicht nur 
den Aegyptern und Phönikiern, ſondern felbſt den Aſſyriern, Perſern, 
Medern, ja den Hebräern vorausgehen zu laſſen. Denn ſelbſt die an— 
gebliche Mythologie der Geneſis von der Weltſchöpfung, vom Para— 
dies und der Ausſtoßung aus demſelben, ſogar dieſe angeblichen Mythen 
ſollten aus indiſchen Traditionen gefloſſen ſeyn, — wie Bohlen in ſei— 
nem Commentar über die Geneſis behauptet hat. Insbeſondere nun 
wurden die heiligen Bücher der Indier, die Vedas, als eine Urquelle 


432 
aller päteren Weisheit, Religion und Wiſſenſchaft betrachtet. Die Vedas 
find, wie wir in der Folge jehen werden, eine wifjenfchaftliche und auf 
gewiffe Weife gelehrte Sammlung von Aufſätzen und Compofitionen, 
unter denen einzelne fich finden, die ein jehr hohes Alterthum anzeigen, 
aber eben dieſe find unftreitig worindifchen Urſprungs. Als Theile der 
Menfchheit haben freilich alle Völker eine gleich Große Bergangenheit. 
Auch der Theil des Menjchengefchlechtes, der ſich fpäter als indiſches 
Volk entſchied oder erklärte, war urfprünglich in der allgemeinen Menſch— 
beit mit begriffen, und als folder, als Theil der allgemeinen Menfchheit, 
geht er freilich in die höchſte Vorzeit zurüd, Aber die Geſchichte des 
Indiers als ſolchen fängt doch erjt bei dem Punkt an, wo er fid) zum 
Indier beftimmt. Diefer Punft aber ift unzweifelhaft und. unwider— 
ſprechlich bezeichnet theil® Durd feine Sprache, theils durch feine My— 
thologie. Nun ftimmen alle Kenner des Sanskrit darin überein, daß 
diefe Sprade dur ihre grammatifaliiche Entwicklung fih unmittelbar 
der griechischen anfchliege, und als unmittelbare Vorgänger der Griechen 
ftellen fi die Indier auch durch ihre Mythologie dar. Welchen Sin 
fann es alſo haben, Indien als das Urland der Cultur, der. religiöfen 
Ideen und namentlich auch aller Mythologie zu denfen? Es Konnte 
freilich nicht fehlen, daß die erſte Befanntfchaft mit den Formen und 
Ideen der indischen Mythologie, wozu die Herrjchaft der Engländer 
über die Halbinfel und die Stiftung einer aſiatiſchen Akademie in Cal 
futta die DVeranlafjung gab, ein gewifjes Erſtaunen erregte, welches 
alsbald die übertriebenften Hoffnungen zur Folge hatte Man ftellte 
fi) nicht weniger vor, als in Indien die wahre Duelle, den erften 
Urſprung der älteften Syfteme finden zu können, gleichfam den erften 
King einer ganzen Kette von religiöfen und philoſophiſchen Meinungen, 
die ſich über die Erde verbreitet haben, und deren urſprünglichen Sinn 
man um ſo zuverläſſiger dort entdecken zu können ſich— verſprach, als 
man hier in der That nicht mit bloßen Fragmenten einer längſt unter— 
gegangenen Literatur oder Kunſt eines ebenfalls untergegangenen Volks, 
wie bei den Aegyptern, Phönikiern, den Perſern, zu thun hatte, ſondern 
mit einem Volk, das noch als Nation bis auf unſere Tage gekommen 


A33 

ift, deſſen Bücher, jelbft die älteften, noch unverſehrt vorhanden find, 
während man zugleidy den Vortheil genießt, in der noch exiftirenden 
Nation Tebendige Lehrmeifter zu finden, von denen man annahm, daß 
fie nicht bloß die Sprache, ſondern ebenfowohl den wifjenihaftlichen 
Inhalt diefer Bücher zu erklären im Stande feyen. Gegen diefen erſten 
Enthuſiasmus vermochte nichts Die kühlere Weberlegung, daß ein jo 
vielfach; zufammengefettes Syſtem, wie das der indiſchen Mythologie, 
Religion und Philofophie, unmöglich das Urfprüngliche, Einfache, An- 
fängliche ſeyn könne. Indien follte einmal die Wiege aller Religion 
und Eultur, ja die Wiege des Menſchengeſchlechts felbft jeyn '. 

Eine bejondere Fügung nun wollte, daß faft zu derfelben Zeit, in 
welcher die durch Bemühung der Engländer über Indien erhaltenen 
Aufſchlüſſe die allgemeine Aufmerffamfeit zu erregen anfingen, zu— 
gleich Aegypten durch die franzöfiihe Expedition mehr aus dem Dun- 
fel hervortrat, in welchen es jeither geblieben war. Es konnte nicht 
fehlen, dag die Wahrnehmung einer gewifjfen Verwandtſchaft zwiſchen 
agyptifcher und indiſcher Bildung zu der Annahme eines hiſtoriſchen 
Zujammenhangs, einer materiellen Ideenmittheilung zwijchen beiden 
Bölfern führte; nur aber fand man einen Uebergang der ägyptiſchen 
Bildung nad) Indien weniger glaublih. In der That, jovtel wir von 
den indijchen Priejtern wifjen, haben fie ihre veligiöfen und myſtiſchen 
Ideen mit dem Eifer riftlicher Mifjionare zu verbreiten gefucht. Inſo— 
fern fand man es pafjender, das abgejchlofjenere Aegypten für eine gei- 
ftige Colonie Indiens anzufehen, als umgefehrt ägyptifche Ideen nad) 
dem Drient fommen zu lafjen; alſo follten entweder ägyptiſche Prie- 
fter nach Indien. gefommen, dort das Syſtem der Vedas (von dem 
man bis vor Kurzem höchſt confufe Vorftellungen hatte) erlernt haben, 
oder noch befjer jollte eine indische Priejtercolonie über den arabijchen 
Meerbufen und Merve nad) Aegypten gewandert feyn, und fogar meinte 
man den Weg nachweifen zu fünnen, der durd Denkmäler einer veligid- 
jen, zugleich nad) Aegypten und Indien hindeutenden Architeftur be 
zeichnet ſeyn follte. Dieß vorzüglid) durch Heeren. Es ift ein Verdienſt 

t Man vergl. die Einleitung in die Phil. dev Myth., ©. 21 fi. 
Schelling, ſämmtl. Werke. 2. Abtb. 1. 28 


434 

der neueſten Erpedition, daß dieſe Meinung einer von Aethiopien her 
nach Aegypten verbreiteten Cultur nun für jedermann widerlegt iſt. Eine 
Anmaßung aber könnte es nach allem dem doch ſcheinen, über das relative 
Alter der verſchiedenen Mythologien und das weſentlich höhere Alter 
der ägyptiſchen ſo beſtimmt, als dieß von uns geſchieht, zu urtheilen. 
Wenn man aber dem Naturforſcher verſtattet, und keineswegs es als An— 
maßung auslegt, wenn er das relative Alter verſchiedenartiger, oft ſogar 
gleichartiger Bildungen beſtimmt, ſo muß dieß wohl auch dem Alter- 
thumsforfcher zugeftanden werden. Ueber die Zeit der erften Entftehung 
der mythologiſchen Syſteme gibt es fo wenig etwas fchriftlich Aufgezeich- 
netes als über die erſten Bildungsepochen der Erde. Aber diefe felbft ift 
ihr eignes Denfmal und die unverwerflichite Urkunde ihrer eignen Ge— 
Ihichte, und wie hier die fchaffende Thätigfeit feinen Punkt ihres langen 
Wegs verlaffen, ohne ihn durch unverfennbare Spuren und unvermüft- 
liche Denfmäler bezeichnet zu haben, ebenfo ift bie Mythologie vecht 
verftanden der ficherfte Leitfaden ihrer eignen Geſchichte, und hat man 
diefen Faden in ihr einmal entdeckt, fo läßt ſich allerdings mit Sicher- 
heit und ohne Anmaßung beftimmen, welde Mythologie einer früheren, 
welche einer fpäteren Bildung angehört. Man hat dabei vielleicht nicht 
einmal einen Unterfchied in großen Zahlen, vielleicht überhaupt nicht ein- 
mal einen Unterſchied in Zahlen ſich auszubedingen. Die dem innern 
Moment, dem Moment der Entwidlung nad ſpätere Mythologie könnte 
deßhalb doch mit der früheren äußerlich gleichzeitig, oder doch nahezu 
gleichzeitig jeyn. 

Hätte fih uns an irgend einem Punkt in durchaus geſetzmäßi— 
gem Fortgang unfrer Entwidlung eine Mythologie als nothwendig 
ergeben, deren Hauptzüge wir in der indiſchen erfannt hätten, jo 
hätten wir der indiſchen Mythologie dieſe Stelle angewiefen. Es 
fand fich aber fein folder Zug. Daß fie indeß der ägyptiſchen ver— 
wandt ift, zeigt ſchon der erfte Blid. Dieſe Berwandtichaft liegt jedoch 
zu tief und ift mit zu auffallenden Unterſchieden werfnüpft, als daß fie 
durch einen bloß äußeren Zufammenhang fi) erflären ließe; auch be— 
darf es feiner folchen äußeren Verbindung, um diefe Verwandtſchaft zu 


435 
begreifen. Der Stoff, der ſich in jeder dieſer Götterlehren eigenthüm— 
lich gebildet, war beiden durch eine gemeinfchaftliche Vergangenheit ge 
geben; beiden liegen dieſelben Elemente zu Grunde; in einen analogen 
Moment gejtellt, müſſen beide, auch wenn fie äußerlich voneinander 
unabhängig, Uebereinftimmendes und Berwandtes erzeugen. 

Indeß handelt es ſich zunächjt num bloß darum, den wifjenfchaft- 
lichen Uebergang von der ägyptiſchen Mythologie zu der folgenden zu 
finden, welche dieje num jeyn möge. Zu diefem Ende aber wird nöthig 
jeyn, einen legten Blid auf das eigentlich Charakfteriftiihe und Unter- 
ſcheidende der ägyptiſchen Mythologie zu werfen. 

In dem ganzen mythologiſchen Proceß ift es darum zu thun, daß 
das wejentlich Gottjegende des Bewußtſeyns zum actu und mit Bewußt— 
jeyn Oottjegenden werde. Zu dieſem Ende muß eben dieſes Princip, 
welches nur als Potenz das Gottjegende ift, e statu potentiae her— 
vortreten, jich zum Actus erheben, wobei e8 aus fid) jelbit geſetzt zu— 
nächſt als das Gott aufhebende ericheint. Zum actu, zum bewußten 
Öottjegenden aber wird es, wenn ein zweiter Proceß es wieder in Das 
Weſen, in die Potenz zurückbringt. Wohl zu merken, in die Potenz: 
alfo nicht um eine- Vernichtung dieſes Princips ift es zu thun; zwar 
aufs Höchfte entzünden fol fid der Kampf, aber der Sinn diejes Kam— 
pfes kann nicht die Vernichtung des Princips ſeyn. Wenn wir aljo 
aud von einem Tod oder einem Sterben deſſelben ſprechen, jo iſt da— 
mit nicht gemeint, daß es überall aufhöre zu ſeyn, ſondern nur, daß 
es aufhöre zu ſeyn, was es jetzt iſt, das außer ſich ſeyende, ſich ſelbſt 
entfremdete. Aber damit es nicht — überhaupt aufhöre zu ſeyn, 
damit es zurücktretend aus dieſer Aeußerlichkeit in die Innerlichkeit ſich 
rette, um, ſein äußeres Seyn überlebend, fortan als Weſen oder weſent— 
lich zu beſtehen, dazu gehört, daß das Bewußtſeyn es feſthalte mit 
aller Macht, ſich ſeiner als des widerſtrebenden bewußt bleibe, nicht 
etwa es ganz aufgebe und verliere. Erſteres iſt nun der Fall im ägyp— 
tiſchen Bewußtſeyn, deſſen tiefe Anhänglichkeit an das reale Princip 
wir in ſo vielen Zügen bemerkt haben. Eben darin liegt der Grund 
der hohen Geiſtigkeit des ägyptiſchen Bewußtſeyns. Denn jenes wider— 


A36 

ftrebende, reale Princip ift e8, defjen Widerſtand doch am Ende allein 
die Geburt eines wahrhaft geiftigen Bewußtſeyns vermittelt. Je größer 
der Kampf des Bewußtſeyns um diefen realen Gott ift, an dent e8 in 
der That den wahren Grund (Sie wilfen was id Grund nenne) der 
ganzen Gottheit, ſowie feiner eignen eiftigfeit hat, deſto feſter muß 
das Bewußtſeyn, indem es nun dennoch won der höheren Potenz über- 
wältigt und genöthigt ift den realen Gott als folchen- aufzugeben, an 
ihm als geiftigen halten. 

Es ift ein Hauptſatz der ägyptiſchen Theologie, der allein ſchon zeigt, 
in welche Tiefe des Bewußtſeyns diefe hinabfteigt, es ift eine Hauptlehre 
der ägyptiſchen Mythologie, die Plutarch ausprüdlic als eine ſolche an- 
führt: daß das Typhoniſche nicht völlig aufgehoben, daß e8 zwar überwun— 
den, aber nicht vernichtet werden dürfe. „Der vollfommene und vollendete 
Gott — Sie willen, daß mit diefem Prädicat Horos, der als Geift ge- 
ſetzte Gott, bezeichnet wird — dieſer Gott, jagt Plutardh, hob den 
Typhon nicht völlig auf und verminderte nur das Gewaltige und Ueber- 
jchreitenve feiner Natur“ '. Bemerken Sie den Tettern Ausdrud: das 
Ueberfehreitende feiner Natur, Als ein ſolches aus feiner Schranfe 
(feiner Potenz) Gefegtes haben-wir ja von Anfang jenes Princip be- 
zeichnet. „Weßhalb denn auch, fährt Plutarch fort, ein Bild bes 
Horos in Koptos gezeigt wird, welcher in der linken Hand die Zeugungs— 
theile des Typhon hält“. Sie wiſſen aus frühern Erklärungen ſchon, 
was dieſe Entmannung eines frühern Gottes in der Sprache der Mytho— 
logie bedeutet, nämlich nur, daß er der ausſchließlichen Herrſchaft ent- 
ſetzt, nicht aber, daß er vernichtet worden. Ferner wird, wie ebenfalls 
Plutarch berichtet, in der aus der Mythologie hervorgegangenen ägyp— 
tiſchen Theologie und Philofophie erzählt: Hermes — er ift das höchſte, 
alles vereinigende Bewußtſeyn im ägyptiſchen Götterfüften, zugleich der 
Erfinder der Tonkunft — Hermes habe dem Typhon die Sehnen durch— 


' Die Stelle lautet (a. a. D. c. 55): 'O Sa 200g ovrog, avrog dörıv wpLd- 
u1Evog nal ——— , oun dvnpmnus rov Tupova navranadıy, alla ro Spadih- 
pıov al iöyvoov abrov (Bgl. die Ausdrüde c. 49) — ni&vog. Bol. hiezu 
c. 40 init. und c. 43 extr. 


437 





jhnitten (ihn feiner Macht und Stärke beraubt), aber er habe eben 
diefer dem Typhon ausgefchnittenen Sehnen fi) als Saiten bebient; 
dadurch, fügt Plutarch Hinzu, follte angezeigt werden, daß der alles in 
Eins fügende Geift aus Widerſtrebendem Einffang hervorgerufen habe; 
beftimmter, meint er, wäre, zu jagen: jene BVorftellung zeige an, daß 
der alles in Eins fügende Geift die verberbliche Macht nicht zerftört, 
jondern ihre Stärke, ıhre Energie jelbft zu höherem Einklang, zur Her- 
ftellung einer alles in Harmonte auflöfenden Einheit benutt habe. Im 
einer andern Stelle jagt Plutarch mit fo viel Worten: „Ueberwältigt 
wurde, aber nicht hinweggeräumt Typhon“!“. „Denn, ſetzt er hinzu, es 
erlaubt nicht die über die Erde waltende Gottheit, daß die der Feuch— 
tigkeit (der Auflöſung) widerſtrebende Natur ganz hinweggeräumt werde, 
wohl aber abgeſpannt hat ſie dieſe der Feuchtigkeit, alſo auch zu— 
gleid) der YEreoıs, dem Werden, feindliche Natur, und fie zum Nach— 
laſſen gebracht; indem fie wollte, dag eine gegenfeitige Temperatur 
bliebe. Denn unmöglich Fonnte die Welt beftehen, wenn gänzlich fehlte 
und völlig verſchwand das Feuerähnliche”. Plutarch drückt die philofo- 
phiihe Wahrheit jener Agyptichen Lehre feinem Standpunkt gemäß 
aus, nad) welchem er vorzüglih nur den phhfifalifchen Sinn an dev 
Mythologie hervorhebt; allein e8 wird Ihnen nad) dem bisher ertheilten 
Unterricht nicht ſchwer fallen, die Anwendung von dieſer Erflärung des 
Plutarch auch auf die höheren, mehr als bloß phyſikaliſchen Verhältniſſe 
zu maden, die wir in der Mythologie fehen, wie ja ohnehin alle 
phyſikaliſchen Berhältniffe nur der Wiederfchein und entfernte Abglanz 
ver höheren, ja der höchſten, der göttlichen Berhältniffe ‚find. Auch 
aus diefem Grunde alſo ftehen — um an ein früheres Yactum wieder 
zu erinnern — neben oder vor den großen Tempeln des Horos umd 
anderer Götter noch jest Fleinere Heiligthümer des Typhon, um Die 
zufammengezogene aber doch nicht aufgehobene, aljo um die zu dem letzten 
Erfolg — der Wiedergeburt eines geiſtigen Bewußtſeyns — noch 
immer nöthige und auch in der That mitwirkende Kraft des Typhon 
anzudeuten. Darum nur, weil dieſes Princip im ägyptiſchen Bewußtſeyn 


Enparion ev, oun avro&dn de 0 Tepov. a. a. O. e. 40. 


438 

ſeinen Widerſtand nicht aufgibt, wegen dieſes Ausharrens im Kampf 
wird das ägyptiſche Bewußtſeyn auch am Ende dadurch belohnt, daß 
ihm der reale Gott als geiftiger übrig bleibt, wo er als Dfiris ver 
Unterwelt — als sui ipsius superstes — fortan als tieffter Grund 
der wiedergewonnenen geiftigen und göttlichen Welt befteht. Diefes 
Ende des Proceffes wurde im ägyptiſchen Bewußtſeyn nicht ohne ſchmerz— 
(ihen Kampf erreicht. Der Aegypter beweint den fterbenden Gott fort: 
während, wie überhaupt ein alter Ahetor won den Aegyptern jagt, daß 
fie ihren Göttern einen ganz gleichen Tribut der Ehren und der Thrä- 
nen zollen. Er klagt um den geftorbenen Gott, allein das reale Prin- 
cip ift ihm wirklich geftorben, d.h. es ift ihm nicht vernichtet, nicht 
aufgehoben, fondern in ein geiſtiges Weſen, in das reine A! verwan— 
delt, aus Seyn in Weſen überwunden. 

Auf dem Punft, wo wir jet ftehen, handelt es fid) nur noch um den 
Ausgang des Procefjes. Wenn einmal die vollftändigen Mythologten 
gejett find, fo gibt e8 feinen Fortſchritt mehr in eine neue und andere My— 
thologte; wen es außer der, welche fi) ung darftellte — und dieſe eben 
war die ägyptiſche — wenn es außer Diefer noch andere gibt, fo Fünnen ſich 
diefe von jener und fie können fic) untereinander nur durd) die Berjchte- 
denheit des Ausgangs unterfcheiden, dem der Proceß in jeder gefunden. 
Zum wahren Ausgang aber gelangt nur das wahrhaft fterbende, 
d. h. im Sterben fi) erhaltende, Das nicht hinmweggeräumte, fondern 
überbleibende, durd fein Abfcheiden nur in fein wahres Wefen, in fein 
An-fich wieder eingejetste reale Princip. Dem realen Princip bleibt 
nur zu fterben, d. h. fein außer-ſich-Seyn aufzugeben, in fi, in 
jeine Potentialität zurüdzutreten, es bleibt ihm nur zu fterben, wenn 
die Einheit der Potenzen erhalten und hergeftellt wer: 
den foll. In der legten Einheit der Potenzen fann das erfte Prin- 
cip nur nod) reine, obwohl zu fich jelbft zurücgefommtene, aljo ſich 
jelbjt befigende, ſich jelbft bewußte, in diefem Sinn geiftige Potenz jeyn, 
die ſich von der Potenz, welche ſchlechthin der Geift (AP, in der ägyptiſchen 
Mythologie Horos) ift, dadurch unterjcheivet, daß fie eben die nur zu fich ſelbſt 
zurüdgefommene, Geift gewordene, A? aber urfprünglich Geift ift. 


439 

Den wahren Tod ftirbt das reale Prineip nur, wenn es ins Unfichtbare, 
Berborgene zurüdtretend, fi zum bleibenden und ewigen Grund ber 
ganzen Einheit macht. Dieſen wahren Tod kann es nicht fterben, wenn 
das Bewußtſeyn einen andern Ausweg ſucht. Diefen andern Ausweg 
nimmt e8, wenn e8 die Einheit ver Potenzen aufgibt, we- 
bei diefe freilich, weil fie einmal von den frühern Momenten her im 
Bewußtſeyn find, im Bewußtſeyn bleiben werden, aber ohne Einheit, 
jo daß fie ihre Einheit außer fih, nicht in fich haben. Hier alfo 
werden auf der einen Seite die Potenzen der bloßen Materie, dem 
bloßen Stoff nad, im Bewußtſeyn geſetzt, von der andern Seite wird 
fi) auch die Einheit im Bewußtſeyn finden, diefe aber für ſich, als 
außer den Botenzen geſetzte. Die Einheit außer den Potenzen geſetzt 
wird als immateriale, ſtoffloſe erſcheinen. Sie ſollte als in den Po— 
tenzen verwirklicht erſcheinen, wie ſie im ägyptiſchen Bewußtſeyn in 
ihnen verwirklicht war, aber ſie wird dem Bewußtſeyn außer den 
Potenzen, eine bloße ideale ſeyn, die ihm nicht ſchon verwirklicht iſt, 
die es erſt zu verwirklichen hat. Erinnern Sie ſich, daß ſchon früher 
die Potenzen beſtimmt worden find als die bloße Materie der Erxi— 
ftenz Gottes. In der Einheit der Votenzen ift dem Bewußtſeyn (mie 
wir dieß beim ägyptiſchen gefehen haben) der Gott verwirklicht und 
gleichjam verförpert; wo die Einheit der Potenzen aufgegeben ift, Da 
tritt Das Göttliche nicht in fie als durch ihre Einheit verwirklicht ein, 
jondern bleibt außer ihnen, gleihjam als Forderung, als körperloſe 
Idee, die dem Bewuftfeyn nicht durch einen natürlichen Proceß er— 
zeugt ift, die e8 nur durch ein übernatürliches Streben fid) reell zu 
machen vermag. 

Diefer Ausgang num des Procefjes ift vorerft als ein bloß mög- 
licher gezeigt. Die nächſte Aufgabe ver Philoſophie ift immer die Möglich 
feit zu erforfchen. Ob ver gefundenen Möglichkeit irgend eine Wirklichkeit 
entſpreche, dieß ift dann erft durch eine weitere Forſchung zu ermitteln, 
So aud) hier. Es genügt für den Anfang jene Art des Ausgangs, 
die wir infofern eine falſche Kriſis nennen Fönnten, als die wahre 
Krifis ift, daß das venle Princip nicht hinweggefchafft, aus dem gegen- 


A440 

wärtigen Bewußtſeyn hinausgeſetzt und verdrängt werde, jondern daß 
es innerlich überwunden werde und als joldhes gegenwärtig bleibe, 
zu ewigen Beftand fomme —, e8 genügt für den Anfang, jene Art 
des Ausgangs als eine mögliche erfannt zu haben. Ob fie aber in 
irgend einer nachägyptiſchen Mythologie ſich wirklich finde, dieß kann 
jich erſt durch weitere Unterfuchung zeigen. Dabei wollen wir nun fo 
verfahren. Als das erjte Anzeichen diefes Ausgangs haben wir be- 
ftimmt, daß die Potenzen der bloßen Materie nad) im Bewußtſeyn 
allerdings vorkommen, aber gleihjam zerfprengt, die eine aufer ver - 
andern, ohne daß fie fic) zu jener Einheit (welche nur durch ein wahr- 
haftes Sterben des realen Princips möglich ift) verbunden hätten. 

Eme ſolche Zerjprengung der Einheit, ein folches Aufer- und 
bloßes Nebeneinanderjeyn der Botenzen ohne Die Einheit, welche fie im 
ägyptiihen Bewußtſeyn zufammenbindet, ein jolches einheitslofes, blos 
der Materie oder dem Stoff nach Vorhandenſeyn der Potenzen ſcheint 
ſich num allerdings (ich drücke mich abfichtlih fo aus, denn man kann 
nicht, ſo zu fagen, auf den erften Bli der Sache gewiß feyn), aber es 
ſcheint ſich ein ſolches Außereinanderſeyn der Potenzen, die injofern 
bloß noch dem Stoff nach vorhanden ſind, in der inbi] hen Mythologie 
wirklich zu finden. 

Das andere Anzeichen des als möglich angenommenen Ausgangs, 
daß nämlich die Einheit außer den Potenzen, als bloß ideale, erft zu 
verwirflichende, dennoch vorhanden ift, laſſen wir einftweilen bei Seite, 
un vorläufig bloß dem erften nachzugehen, dem Aufßereinanderjeyn der 
Potenzen ohne innere Beziehung, ohne Verſchmelzung derjelben zu einer 
concreten geiſtigen Einheit. 

Ein ſolches nun, ſage ich, ſcheint im indiſchen Bewußtſeyn nach— 
weislich, für welches jener heftige Kampf, den wir im ägyptiſchen fan— 
den, eine bloße Vergangenheit geworden, in welchem wir den Kampf 
ſelbſt nicht mehr finden, ſondern nur deſſen aufgelöste Elemente, die 
Elemente des Kampfs als bloße Reſultate. Allerdings nämlich find 
auch in der indischen Mythologie noch zu erkennen jene großen Potenzen, 
die wir im ägyptiſchen Bewußtſeyn als Typhon, Oſiris und Horos 


441 
erfannten, jene drei Perfönlichfeiten, um vie ſich alles bewegt, won denen 
die andern Göttern gleichfam nur das Accidentelle find, das Mitent- 
ftehende. — Brama ift in der indifchen Mythologie der reale Gott, er 
ift zugeftandener Maßen der Gott des Anfangs. Aber diefer ift aus 
dem indiihen Bewußtſeyn wie ganz zurüdgetreten, fo daß er in ihm 
nur noch als Vergangenheit vorfommt, während z. B. in der äghpti- 
ihen Mythologie aud der abgejchiedene und nun vergeiftigte, zum Dfiris 
gewordene Typhon zwar als Typhon eine Bergangenheit, als Dfiris 
aber eine Gegenwart, der bleibende Gott des höchften, geiftigen Be 
wußtjeyns iſt. Bon dem indiſchen Brama müßte man das Gegentheil 
dejjen jagen, was bei Plutard) von dem ägyptiſchen Typhon gejagt ift. 
Man mühte von ihm fagen: avno&dn, 004 &xoarjön, er ift hin- 
weggeräumt aus dem Bewußtſeyn, als gegenwärtig verdrängt und hinaus: 
gejeßt. Typhon tft nody immer gegenwärtig, Brama aber ift ganz auf- 
gegeben im indiſchen Bewußtſeyn, ein gleichſam verjchollener und ver- 
geffener Gott, wie daraus erhellt, daß nicht, wie dem Typhon in Aegyp- 
ten, auch dem Brama nod) Heiligthümer in Indien errichtet find, daß 
er bild» und tempellos verehrt wird. Er ift der Gott, der alle Be- 
deutung für die Gegenwart verloren hat. Aber eben an diefem Princip 
haftet das religiöfe Bewußtſeyn. Es ift daher eine, zwar der allge 
mein geltenden Meinung grell entgegenftehende, ‚aber darım nicht min— 
der ftrenge Wahrheit, daß in der indischen Mythologie, ich jage der 
Mythologie, das eigentlich religiöfe Prineip am meiften aufgegeben ift. 
Jener gänzlihe Mangel an Heiligthümern des Brama deutet nicht etwa, 
wie man ihn zu erflären verfucht hat, auf einen früheren reineren Cul— 
tus, in welchem Brama als ver an ſich bildloſe, abjolute Gott ver- 
ehrt worden wäre, er deutet auf die Schwäche des religiöſen Bewußt— 
jeyns in Indien, die überall fich zeigt, wo jenes aller Religion 
zu Grunde liegende, in ihr eben überwundene und verföhnte (alfo der 
Ueberwindung und Berfühnung bedürftige) Princip völlig ignorivt wird, 
Auch unter uns gibt e8 eine ſolche Art religiöfer oder chriſtlicher Hin- 
dus, die von dem Entgegenftehenden, dem nicht ſeyn Sollenden und 
doch Seyenden, nur die Augen abzuwenden wiſſen, nicht aber jeine 


442 
Sehnen zu Saiten verwenden, aus denen der Wohlflang vollendeter, 
durchgeführter Wiſſenſchaft ertönt; in’ denen eben darum das religiöfe 
Bewußtſeyn nur noch als Ahndung, Sehnſucht, unbeftunmt und in 
unſicheren Tönen irrt. 

In dem ägyptiſchen Bewußtſeyn verwandelt ſich der von der Welt, 
dem äußeren Seyn, nun wirklich abgeſchiedene, der in ſich ſelbſt über- 
wundene, aber noch immer feftgehaltene Gott, wie wir gejehen haben, 
in den Gott der Unterwelt, des unfichtbaren Reichs, und ift als dieſer 
eben der Grund des ganzen höheren Bewußtfeyns, zu welchem die ägyp— 
tifche und fpäter auch die griechiſche Mythologie gelangt iſt. Es hängt 
ganz mit der Aufgegebenheit des indiſchen Bewußtſeyns zufammen, daß 
Brama niemals als Gott der Geifterwelt, als Herrfcher über die 
Abgefchievenen erwähnt wird, wie der zum milden, mohlwollenden 
Dfiris überwundene Typhon, in Bezug auf welchen noch in. der Ptole- 
mäerzeit auf ägyptiſchen Sarfophagen Freunde Berftorbener ihnen nach— 
rufen: Höwoyeı uera ro® Oolordog: Lebe felig mit dem Oſiris! 
In den zahlreichen wenigſtens durch Ueberfegungen und Auszügen be 
fannten indiſchen Schriften müßte fich doch irgend eine Spur einer 
ſolchen Borftellung des Brama finden; nur eine einzige diefer Art habe 
ich bei Creuzer bemerkt, der verfichert, die Miſſionarien wollen davon, 
daß Drama in der Berehrung der jeßigen Hindus fo ganz in den Hin- 
tergrumd geftellt ift, die Urfache in der herrfchenden Meinung finden, 
als habe Brama nur über die Glückſeligkeiten des andern Lebens zu 
verfügen. Diejes ſoll aljo nad) ber Angabe der Miffionarien herrjchende 
Meinung in Indien ſeyn. Nun ift es aber 1) ſchon jehr auffallend, 
daß man einem Gott darum feine Verehrung erzeige, weil er über bie 
Seligfeiten des fünftigen Lebens zu verfügen hat. "Man follte meinen, 
ein das gegenwärtige Leben als fo unfelig empfindendes Volk müßte 
gerade einem folchen Gott eine worzügliche Verehrung erweifen, oder es 
müßte einem ſolchen Gott doch wenigftens einen Theil oder eine Art 
von Berehrung zumenden. 2) Diefer ganze Ausprud Glückſeligkeiten des 
andern Lebens ift nicht vecht indiſch. Denn der große Theil der Indier, 
das eigentliche Volk, glaubt allgemein an die Seelenwanderung als ein 


unvermeidliches Schickſal, und diefe, die ihn im „des Seyns ſchreckliche 
Welt”, in den Kreis diefes nach jeiner Meinung unfeligen Seyns im- 
mer wieder zurückführt, fieht e8 nicht als GSeligfeit an. Man hört 
ſchon an dem Ausorud „anderes Leben” den chriftlichen Mifjionar. 
3) Zufolge einer Angabe in Niebuhrs Keife nad) Arabien ift es nad) 
dem. Glauben der Indier vielmehr Mahadewa, d. h. Schiwa, den wir 
bald näher werden Fennen lernen, und der unter vielen andern Namen 
auch diefen führt, der für die menfchliche Seele nady dem Tod zu ſor— 
gen hat. Indem ich nachforfchte, woher Creuzer jene Notiz genommen 
habe, fand ich, daß er fie bloß aus dem Bericht Eines Miſſionars, 
nämlich des Engländer Ward, genommen habe, deſſen Werf über den 
gegenwärtigen Zuftand der Keligion in Indoſtan auch in Deutjchland 
befannt geworden ift. Nachdem nun, was Creuzer von Mifjionarien 
in der Mehrzahl jagt, auf die Auftorität eines einzigen zurüdgeführt 
ift, glaube ich wohl die Meinung äußern zu dürfen, daß erſt die Frage 
des Miſſionars einen Braminen oder Bandit (— indifcher Gelehrter), 
der den wahren Grund diefer Ausjchliegung des Brama von jedem 
öffentlichen Cultus entweder nicht angeben wollte oder, was wahrſchein— 
licher ift, nicht Fonnte, veranlaßte eine Antwort zu geben, wie er jie 
einem chriftlihen Miſſionar angemefjen glauben fonnte. Wie täuſchend 
und nad) den Menſchen, vie fie vor fich haben, berechnet oft Die 
Antworten diefer Braminen oder Pandits find, ift hinlänglich befannt, 
und hat unter andern Kapitän Wilford zu feinem größten Nachtheil er— 
fahren, dem fie auf feine wißbegierigen Fragen, nachdem fie ihm erft 
abgelaufcht hatten, wo er hinauswollte, ganz nad) Wunſch antworteten, 
fo wie er e8 gern hörte, und fogar in Schriften, die fie ihm vor 
legten, Stellen in feinem Sinn verfälfchten. 

Eine andere Erflärung des Umftands, daß dem Brama in Indien 
feine Art von öffentlicher Verehrung gewidmet ift, wird darin geſucht: 
Brama fey der Gott einer anderen, reineren und urjprünglichen, in 
Indien aber verſchwundenen Religion, die nur noch im Gedächtniß des 
Volks ohne alle wirkliche Anhänglichfeit lebe. Man belegt diefe Reli— 
gion mit dem Namen des reinen Bramaismus, den man mit dem reiten 


444 





Cultus der Erzväter, mit der ſogenannten Abrahamiſchen Religion ver— 
gleichen wollte (einige mit zufälligen Gleichlauten ſpielende Gelehrte 
wollten ſogar zwiſchen den Namen Brama und Abraham ſelbſt einen 
Bezug ſehen und den Abraham als einen Braminen jener reinen Ur— 
religion betrachtet wiſſen). Dieſer Meinung, welche in dem Brama den 
verdrängten Gott einer urſprünglich reineren, aber durch den ſpäteren 
ausſchweifenden Polytheismus in Vergeſſenheit gebrachten Religion ſucht, 
widerſprechen 1) die Vedas, in denen ſich doch Spuren dieſer reinen 
bramaniſchen Keligion finden müßten. Ob dieß der Fall wird fi) ung 
in der Folge zeigen. Es widerfpricht dieſer Meinung 2) auch Folgen- 
des. Der Gott, durch den eigentlich in dem größten Theil Indiens 
Drama verdrängt ift, ift Schiwa. Nun wird aber Schiwa nicht ge- 
dacht oder vworgejtellt als der Gott einer anderen, mit Brama nichts 
gemein habenden Keligion; überall fest vielmehr Schiwa den. Brama 
voraus, beide werben doch nur als relativ verſchiedene Potenzen einer 
und derjelben Religion betrachtet, wie ſchon die indischen Trimurtibilver 
zeigen, die beide nicht auf ſolche Weife vereinigen fünnten, wenn fie 
zwei abſolut entgegengejegte Götter wären, der eine der Gott einer 
reinen Urreligion, der andere der Gott der ausfchweifenden polytheifti- 
jhen, von der Indien jetzt erfüllt ift. 

Ich jehe mich hiedurch von felbft auf die zweite Potenz der indi- 
ihen Mythologie geführt, welche eben Schiwa ift.. Schiwa ift der 
Gott des allgemeinen Orgiasmus. Wenn im ägyptiſchen Bewußtſeyn 
nod immer der reale Gott vorherrjcht, diefer aber im indifchen Be- 
wußtfeyn ein werfchollener ift, fo folgt daraus von felbft, daß das 
indische ganz dem Schiwa hingegeben ift. Die eigentliche indiſche Reli— 
gton ift im Grunde nur Schiwaismus. Indeß herrſcht auch über 
Schiwa großes Mißverſtändniß. Gemeinhin wirt er unbeftimmter und 
allgemeiner Weife als das zerftörende Princip erklärt. Dabei wird 
aber nicht beftimmt, worauf ſich die zerftörende Wirkung. beziehe. Man 
fönnte nad) diefem Begriff auch wohl Erdbeben, vulfanifche Ausbrüche, 
die Yander und Städte verwüften, oder Meeresfluthen, vie feftes Yand 
verſchlingen, als Wirkungen des Schiwa anfehen. Aber davon ift Die 


445 

indiſche Vorſtellung weit entfernt, Wirkungen, welche das ägyptiſche 
Bewußtſeyn dem Typhon zuſchreiben würde, dem Schiwa beizulegen. 
Gewöhnlich ſucht man nun den Schiwa als göttliche Potenz dadurch zu 
erklären, daß man ſagt: in der Natur ſey ein ſteter Wechſel von Ent— 
ſtehen und Vergehen, die Schöpfung werde beſtändig erneuert; indem 
die eine untergeht, entſteht eine andere; Schiwa ſey alſo der zerſtörende 
und dadurch immer Neues ſchaffende Gott. Dieſe Vorſtellung liegt frei— 
lich noch der Wahrheit am nächſten, aber die rechte iſt fie doch nicht. 
Ein gänzliher Mißverftand liegt aber in dem Urtheil Fr. Schlegel, 
der in feiner Philofophie der Geſchichte nicht genug feinen Abſcheu 
darüber ausdrüden kann, daß das indische Bewußtjeyn eine zerftörende 
Urkraft, das Princip des Böfen, den Gott des Todes in die Gottheit 
jelbft aufgenommen habe, Nicht alles Zerftörende ift darum aud) gleich) 
böjes Princip. Es rühmt fid) wohl mander ein Confervativer zu jeyn, 
als wäre dieß für ſich Schon etwas Bortreffliches. Es fragt fich aber, 
was conjervirt werden fol. Denn wer das Schlechte oder Verderbliche 
conferviren wollte, hätte fich defjen nicht zu rühmen. So hier; wenn 
ein Princip, wo nicht das Böſe jelbit, doch das der menjchlichen Freiheit 
Widerſtrebende verzehrt, jo ift es ja ſelbſt eine wohlthätige Kraft, eine 
Art von gutem Princip. Das nun aber, worauf Schiwa fi unmittel- 
bar bezieht, ift nur Brama. Wir werden alſo mit Recht jagen: er 
jey eben der Zerjtörer des Brama felbjt, wie durch die Form die reine 
Materie zerftört wird '. Diefe Annahme, daß ſich die zerftörende, d. h. 
eben negirende Eigenjchaft des Schiwa auf den Brama bezieht, ift eine 
natürliche Folge der urjprünglichen Stellung der Potenzen, nach welcher 
die zweite immer die negirende der erſten, die dritte bie BER dieſe 
Negation der erſten vermittelte iſt. 

Eine dritte Potenz (= der als ſolche ſeyende Geiſt) findet ſich nun 


! Berftörer — nicht des Brama, wie er jegt ift, und der allen Widerftand 
aufgegeben bat, der gleichſam nur noch als widerftandloje Materie des Schima 
eriftirt, fondern des Brama, wie er im nichtindijchen Bewußtjeyn war. Die 
Schädel, die in den Abbildungen des Schiwa in Form einer Schnur feinen 
Hals umgeben, eben dieje find nur die aneinander gereibten Schädel zerftörter 
Bramas, d. h. zerftörter früherer Formen des Brama. 


446 
allerdings auch im indischen Bewußtſeyn. Diefe dritte Perſon der indi- 
ihen Trias ift Wiſchnu. Aber dieſe dritte Potenz ift im indischen 
Bewußtſeyn nur als eime beftrittene Erſcheinung. Die Anhänger 
des Wiſchnu bilden nur. eine Sefte in Indien, die mit den Anhängern 
des Schiwa in beftändigem Streit lebt, und felbft blutige Kämpfe be- 
ftanden Hat. Nur infofern, nämlich) in diefem Gegenſatz, wird dann 
auch der Schiwaismus zur Sekte; denn eigentlich ift er die allgemein 
herrſchende Religion, der das gemeine Volk insbefondere gänzlich er- 
geben ift. Aber aud von den Anhängern des Wiſchnu ift Schiwa nicht 
etwa als ein, wenn auch untergeovoneter, Gegenftand der Verehrung 
zugelaffen, jondern fie jchliegen ihn aus, ebenfo wie ihrerfeits die Schi⸗ 
waiten von dem Wiſchnu nichts wiffen wollen. Jeder diefer Sekten ift 
ihr Gott der höchſte, aber eben darum auch nur ein einfeitiger Gott. 
Zur wahren All-einheit (obgleich alle . Elemente derfelben vorhanden 
find) fommt es alfo nicht, fondern Brama wird eigentlich gar nicht 
verehrt, dieſer allein jcheint Feine Anhänger zu haben (obgleich fich vie 
Braminen oder Brahmanen von ihm nennen; warum und inwiefern dieß, 
werde ic) in der Yolge beantworten), Brama alfo wird eigentlich gar 
nicht, und von den beiden andern Dejotad (jo werden dieſe drei Ber: 
fünlichfeiten genannt — deitates — Gottheiten) wird Schiwa und 
Wiſchnu jeder befonders, ja der eine im Gegenfag mit dem andern 
verehrt, jo daß, wie gejagt, die Anhänger des einen die des andern 
ausichliegen und verfolgen. Hieraus erhellt alfo, daß die indiſche My— 
thologie in ſich wirklich den Moment einer völligen Auflöfung und Zer- 
jprengung der Einheit und alfo aud des geiftigen Bewußtſeyns dar- 
ftellt. Diejes geiftige Bewußtſeyn tft in Indien nicht in, ſondern außer 
der Mythologie. Es ift der Polytheismus in der extremften Geftalt. 
Denn was einige Freunde Indiens und indifcher Weisheit gewöhnlich 
vorgeben von. einem über die drei Dejotas erhabenen Gott, Bara- 
brahma genannt, weldyer nun der ſchlechthin Eine und abfolute feyn 
joll, beruht lediglich auf der Auftorität des befannten Karmeliter Fra 
Paulino di St. Bartolomäo, defjen Unzuverläßigfeit hinlänglich befannt 
ift. Vielleicht ift fogar das Wort Paralrahma die augenblicliche 


447 

Erfindung eines Braminen oder Pandits, dem der Mifjionar feine drei 
Götter vorwarf, und der ihn mit diefem leicht zufammengefegten Wort 
nur ſchnell abfertigte. Es ift vorerſt überhaupt nicht die Frage, wie 
etwa indiſche Philofophie und Theologie jene Zerriffenheit des Bewußt— 
ſeyns wieder aufzuheben oder zu heilen gefucht habe. Großentheils ift 
dieß dadurch gefchehen, daß fie eben Eine der Dejotas, z. B. den Wifchnu 
mit allen Attributen des höchſten, des all-einigen Gottes auszuftatten 
oder dieſen einzelnen zum abfoluten zu fteigern, zu erweitern geſucht 
haben. 

Ein anderes, was man gewöhnlich anführt, ift, daß im inbifchen 
Schriften ftatt des Masculinums Brahıma (wie e8 eigentlich ausge- 
ſprochen werden muß) das Neutrum Bram, welhes zo Heron, die 
reine Gottheit jelbft, von der die drei Dejotas nur die einzelnen Er- 
ſcheinungen oder Repräſentanten jeyn follen, gebraudt werde. Bon 
Brahma ift freilich nicht zu leugnen, daß er nur eine der drei Perfön- 
lichkeiten ſey, im Bram glaubt man dagegen die abfolute Gottheit nadj- 
werfen zu fünnen, ja U. W. Schlegel behauptet, 1) das Neutrum jey 
älter, was wahrfcheinlich heigen ſoll, es komme in fehr alten Schrif— 
ten vor (aber das beweist nichts; die indische Neligion ſelbſt ift älter 
als alle. indiſchen Schriften), 2) aus dem Gebraud jenes Neutrums 
ſey der Schluß zu ziehen, daß nicht bloß die Vielgötteret und Mytho— 
logie, fondern aud der Anthropomorphismus der indischen Borftellun- 
gen (worunter Schlegel, wie man aus dem Zujammenhang fieht, vor- 
züglich die Vorftellung Gottes als eines perjönlichen verfteht) jpätere 
Zuthaten feyen, und der uralte Bramanismus vielmehr die veine Ver— 
ehrung des göttlichen Wefens gelehrt habe. Das göttliche Weſen ift 
hier der Gegenfag von dem perfünlichen Gott, wie ja au. bei ung 
Deiften Anftand nehmen von Gott zu ſprechen und ftatt deſſen das 
Göttliche oder die Gottheit jagen, was ihnen ein ganz abitrafter Be- 
griff if. Nach meinen Ihnen bekannten Grundjägen kann ich hierin 
nicht einftimmen. Ich fehe jenes Neutrum als das Nacerfundene einer 
Philofophie an, von der Art, wie fie ſich zum Beifpiel in der Bhag— 
wadgita findet, wo diefes Neutrum fehr häufig gebraucht wird, als 


448 





eine Auskunft, das Neutrum an die Stelle des verlorenen Gottes zu 
ſetzen, der als perfünlicher dem Indier allerdings nur ein befchranfter, 
nur entweder Brama oder Schiwa oder Wiſchnu iſt. 

Noch habe ich mid) über die Ordnung zu erflären, in welcher ich 
die drei Dejotas geftellt habe. In den meiften, vielleicht in allen Büchern 
werden Sie eine andere finden, Wiſchnu nämlich vor Schiwa, ſo daß 
dieſer die dritte oder letzte, Wiſchnu die zweite Perſon der indiſchen 
Trias iſt. Allein dieſe Verſchiedenheit der Stellung und der Aufeinan— 
verfolge beruht in der That nur auf einem Mißverſtand. Nämlich in 
Indien felbft ftehen fi die Anhänger des Schiwa und Wiſchnu ent- 
gegen; natürlich, daß jene fich weigern, die Supertiorität von dieſem 
anzuerkennen, und daß umgefehrt die Anhänger des Wifchnu behaupten, 
dieſer ſey höher als Schiwa. An einem Ort Indiens ſelbſt, in Per— 
wuttum, findet ſich ein Bild, in welchem Brama die Wage hält und 
Schiwa und Wiſchnu gegen einander wiegt. Wiſchnus Schale aber 
ſinkt tief, die des Schiwa ſteigt hoch in die Luft. So können denn 
manche wohl den Wiſchnu auch vor dem Schiwa aufzählen. Wird doch 
neuerdings von einigen franzöſiſchen Schriftſtellern Brama, weil er 
allerdings dem Schiwa und Wiſchnu untergeordnet iſt, Brama ſelbſt 
als eine Emanation des Wiſchnu, und dieſer nicht bloß als der höchſte, 
ſondern auch als der erſte von den dreien vorgeſtellt. Allein dieß iſt 
eine völlige Entſtellung. Brama bleibt immer der Erſte, der Anfang 
und der Quell, der von dem alles ausgeht, Wiſchnu iſt allerdings der, 
in den ſich alles endet, und der inſofern der höchſte iſt, aber daraus 
folgt nicht, daß er auch der alles anfangende, und ebenſowenig, daß er 
auch vor Schiwa zu ſetzen ſey. de 

Zur vollen Nechtfertigung der von uns gewählten Stellung ver 
drei Dejotas, zum Beweis, daß fie von den Denfenden unter den In— 
diern jelbft in diefer Ordnung und Aufeinanderfolge gedacht worden, 
ſoll mir aber ein indiſches Philofophem dienen, nämlich die Lehre indischer 
Philofophen von den drei Eigenfchaften und Dunlitäten, bie fie als 
untrennbar anjehen, veren Zufammenfaffung darum Trigunaya ge 
nannt wird. Nun wird aber ferner jede "der drei Berfünlichfeiten 


419 

(Brama, Schiwa, Wiſchnu) einer jener Grundgualitäten parallel ge— 
ſetzt. Dieſe drei Qualitäten oder dieſe drei Regionen, in welche nach 
jener indiſchen Lehre alles Daſeyn ſich ſcheidet, ſind folgende: 1) die 
Welt der reinen Wahrheit oder des reinen Lichts, 2) die mittlere Region 
des Scheins und der Täuſchung, 3) die Region der Finſterniß; (in 
dieſer Ordnung werden ſie gewöhnlich vorgetragen). Unter dieſen wird 
nun die letzte, die Region der Finſterniß, dem Schiwa zugeeignet. 
Hierauf beruft ſich nun unter anderm auch Fr. Schlegel, um nebſt der 
indiſchen Mythologie auch die indiſche Philoſophie zu ſchelten, daß ſie 
das grauſe Princip der Zerſtörung und des Verderbens, welches zu— 
gleich Princip der Finſterniß ſey, ſeltſamer Weiſe in das Bild, die 
Conſtruktion der geſammten Gottheit mit aufgenommen habe. Allein 
die Sache verhält ſich ganz anders. Ein Anhänger der Emanations— 
vorſtellung könnte in jenem Theorem den Sinn finden wollen, aus 
der Region der reinen Wahrheit ſinke die Welt ſtufenweiſe durch die 
Region des Scheins in die der Finſterniß. Der indiſche Gedanke liegt 
um vieles tiefer, und es möchte dieſer Gelehrte eine Stelle, die auch 
mir wohl bekannt iſt, zwar nicht unrichtig überſetzt, doch unſtreitig ſehr 
unrichtig verſtanden haben. Es dürfte nicht überflüſſig ſeyn, den wah— 
ren Sinn zu erklären. 

Allerdings alſo unterſcheidet die Lehre der Vedas, die aber ſo— 
weit eben ſchon eine philoſophiſche oder ſpeculative iſt, dieſe ſchon 
ſpeculative Lehre alſo unterſcheidet drei Eigenſchaften oder Gunas, die 
ſie den drei Dejotas aneignet, Raja, Tama, Satwa. 

Die Eigenſchaft des Brama ift Ra ja. Nah W. v. Humboldt find 
es Thatkraft, Feuer der Leidenſchaft, Raſchheit des Entſchluſſes, Die 
der Raja angehören. Könige und Helden ſind mit ihr ausgeſtattet: 
aber immer iſt ihr etwas in die Tiefe und zur Erde Herabziehendes 
beigemiſcht, das ſie von der ſtillen Größe der reinen Weſenheit 
unterſcheidet. Die von der Raja Hingeriſſenen lieben alles Große, Ge— 
waltige, Glänzende, aber ſie verfolgen auch den Schein, und ſind von 
der Mannichfaltigkeit der Welt, der Wirkung der Maja (Arern), be— 
fangen. Aus diefer Erklärung erhellt alfo, daß im Begriff der Naja 

Schelling, fämmtl,. Werke. 2. Abtb. 11 29 


auch ein Seyn gedacht wird, aber nicht der Begriff des. ruhigen, über 
fich ſelbſt beruhigten, ſondern gleichfam des leidenſchaftlichen, in einem 
gewaltfamen ‚Wollen beftehenden Seyns. Nun aber eben diefes ift 
das erfte Seyn, und das erfte Seyn Fann, wie ich ausführlich gezeigt 
babe, fein anderes ſeyn, als das eines blinden, unmittelbaren und eben 
darum zugleid) „heftigen und befinnungslofen Wollens. Inwiefern nun 
Brama die erfte göttliche Geftalt, d. h. diejenige Geftalt der Gottheit 
it, durch die fie des unmittelbaren Seyns fähig ift, fo begreift e8 fich, 
wenn Die indifche Philofophie jagt: die Eigenschaft des Brama fey Naja. 
Und wenn diefes. erfte, diefes unmittelbare Seyn zugleich der. Anfang 
und der Grund alles Schaffens ift, jo kann man fagen: Naja ſey 
gleichlam die erſte Begier, die Leivenfchaft des Schaffens in Brama. 
Weil nun aber feine Leidenschaft ohne Alteration gedacht werden kann, 
und-das auf ſolche Art Wollende und demnach Seyende nothwendig 
zugleich fich felbft ungleid) wird, jo können wir dieſes Seyn auch das bloß 
jheinbare nennen. So viel von der Eigenfhaft der Naja. Brama 
ift ‚ver das bloß feheinbare Seyn wirkende und hervorbringende, Das 
nicht das wahre ift, jondern das feinem Weſen entfrembete, - 

Die Eigenfchaft des Schiwa ift Tama. Dieß bedeutet nun aller 
dings Dunfel und Finfterniß. Aber jollte dieß nicht, vielleicht felbft 
im indifchen Original ſchon, nur ein bildlicher Ausorud ſeyn, um bie 
negative, die negirende Eigenjchaft des Schiwa zu bezeichnen, und ſollte 
daher die wahre Aufeinanderfolge nicht dieſe ſeyn? Brama iſt der den 
Schein, das bloße ſcheinbare Seyn ſetzende Gott, Schiwa der Zerſtörer 
des Scheins, die Negation des Falſchen, des nicht eigentlich ſeyn ſol— 
lenden Seyns. Nimmt man dieſe Erklärung an, daß nämlich die Ei— 
genſchaft der Dunkelheit in Schiwa nur ſeine negirende Eigenſchaft be— 
deute, ſo hängt nach dieſer Anſicht alles wirklich philoſophiſch zuſam— 
men, während man nach der andern Erklärung gar keinen Zuſammenhang 
und Sinn ſieht, und doch iſt hier von indiſchen Philoſophen die Rede, die 
an feinem Scharfſinn mit den Philoſophen aller Zeiten und Völker 
wetteifern fönnen. Soll man unter dem Dunkel und der Finſterniß 
dasjenige vwerftehen, mas felbft noch unter dem Schein. ift, jo märe 


451 





dieß gar nichts, und fünnte, weil e8 nichts ift, auch nicht producirt 
und gewirkt werden. Auch wäre, wenn man die Stufenfolge jo an- 
nähme, a) als unterfte Region das was völlig nichts ift, reine Fin— 
fterniß, b) als zweite der Schein, e) als dritte (wie wir gleich hören 
werden) die Wahrheit, ein unmittelbarer Uebergang von Schein zur 
Wahrheit; — aber ein folder ift unmöglich; es gibt feinen Uebergang 
von dem Neid, des Scheins in das der Wahrheit als durch Ber- 
nichtung des Scheins; Durch die dritte oder höchſte Eigenſchaft, 
welche vem Wifchnu zugefchrieben wird, ift alfo eine wermittelnde ge— 
fordert, Diefe mittlere, vermittelnde fann aber nur infofern Dun— 
felheit oder Finfternig ſeyn, inwiefern allerdings, wenn der Schein, das 
iheinbare Seyn zernichtet wird, zuerft Dumfelheit entfteht, fo lange 
nämlich, bis das höhere, das wahre Seyn aufgegangen ift, oder eine 
Art von Dimmerung, da das Licht, was den Schein von fid) wirft, 
vergangen und das höhere noch nicht aufgegangen ift. In der 
That iſt Tama = Dämmerung. Alſo Schiwa Gott der Dämmerung, 
weil, was nur bis zu ihm, noch nicht bis zur vollen Wahrheit ge— 
langt iſt. 

Die dritte Guna oder Eigenſchaft iſt nämlich nach der Vedalehre 
Satwa, ein Wort, das nach einer Erklärung W. v. Humboldts das 
Seyn bedeutet, aber, wohl zu merken, das Seyn in dem Sinn, in 
welchem es frei von allem Mangel, oder, wie er bezeichnender jagt, 
von allem Nichtfeyn, durchaus real ift, und daher in der Erkenntniß 
zur Wahrheit wird. Inwiefern nun dieſe dritte Eigenſchaft die der 
dritten Perſönlichkeit, des Wiſchnu, iſt, ſo iſt die Aufeinanderfolge ganz 
die unſern erſten Begriffen gemäße. Nämlich das zuerſt Geſetzte iſt das 
nicht als ſolches (ſondern als ein anderes) ſeyende Weſen. Das Nächſt— 
folgende ift das Wefen im Gegenfag gegen das nicht-als-ſolches— 
Seyende. Inſofern e8 Gegenfaß des nicht-als-ſolches, nicht wahr- 
haft jeyenden Weſens iſt, ſoweit ift es zwar an ſich das wahrhaft feyende, 
aber weil es im Gegenfag umd in der Wirfung gegen das falſche Seyn 
aud) außer ſich ſelbſt gefetst ift, infofern kann es doch, nit Anſpruch 
machen, das als ſolches, d. h. das wahrhaft ſeyende Weſen zu ſeyn. 


452 





Wohl aber wird durch Negation des Scheins, durch Negation des nicht- 
als ſolchen gefetten Weſens das als folches ſeyende erjt möglich und 
wirklich geſetzt. Dieſes Dritte wäre dann das aus der Zerftörung des 
erften Erhaltene, injofern käme denn hier der Begriff des Erhaltene 
herein. Wifchnu ift der das wahre Seyn aus dem Schein und aus 
der Negation dejjelben Rettende, d. h. Erhaltende. Die Wahrheit fann 
nicht das Unmittelbare jeyn. Denn alles unmittelbare Seyn ift nicht 
denkbar als in Folge eines Herausgehens des Weſens aus fi} felbit, 
d. h. vermöge eines anderd- umd fich-ungleich- Werdens, und dennoch 
muß und joll e8 zum Seyn kommen. E83 bleibt aljo nichts übrig, als 
daß das unwahr- Seyende (das im Seyn fich jelbft ungleich Seyende) 
fey. Dieß ift conditio sine qua non des wahren Seyns. Es ift nicht 
das, was wir wollen, aber es ift der nothwendige, unvermeidliche, un— 
umgängliche Anfang. Das erfte Seyn fann nur das täufchende jeyn. 
Aber diefem folgt unmittelbar, jedoch als eine andere, von ihm noth- 
wendig gejchiedene Potenz, die das unwahre Seyn wieder aufhebende, - 
es ing Weſen zurückführende, wo es dann erſt als das nicht Seyende 
Iſt (geſetzt, befeſtigt ift), das niht Seyn — das Weſen * iſt ihm 
zum Seyn geworden. Die Sinnenwelt iſt nach der indiſchen Lehre in 
der Maja empfangen, d. h. fie iſt ihrem letzten Grund nad) bloß Il— 
luſion, Täuſchung, und hat ein bloß chimärifches, worübergehendes 
Seyn (Erjheinung). In dem Verhältnig nun, als das unrechte Seyn 
in ihr überwunden wird, im Verhältniß der Reduktion auf das Wefen, 
nimmt die Welt Wahrheit wieder an — aber. das Seyn aller ſinnlichen 
Dinge bleibt immer ein aus Schein und Weſen, aus Täuſchung und 
Wahrheit Gemiſchtes und zugleich Gewobenes (Dämmerndes). Al— 
lein nicht bloß in dieſem Sinn geht Wahrheit aus der Täuſchung her— 
vor, ſondern, indem das nicht eigentlich Seyende in ſein nicht Seyn 
zurücktritt, wird an ſeiner Statt das gewiſſe Weſen als nun erſt ob— 
jektiv, wirklich ſeyend geſetzt, und auf andere Art als durch dieſe 
Vermittlung kann es gar nicht geſetzt werden. Nur aus der zerſtörten 
Täuſchung geht die Wahrheit hervor, nämlich die ſcheinfreie, als ſolche 
erkannte, befeſtigte und nun auch unwiderruflich geſetzte Wahrheit. 


453 

Auf dieſe Art hängt nun alfo die indische Trias auch philoſophiſch 
oder logiſch aufs genauefte zufammen, und indem hier dem Wifchnu 
Satwa, das wahre Seyn, in dem nichts mehr von Täuſchung ift, zu⸗ 
geeignet iſt, ſo kann ich nicht umhin zu bemerken, daß der Name 
Wiſchnu ſelbſt unſtreitig mit jener Wurzel zuſammenhängt, die in meh— 
reren Sprachen Seyn bedeutet, von der ſich ſelbſt das lateiniſche Est, 
wie das deutſche Iſt herſchreibt, im Hebräiſchen ) (Stammwort AX), 
wovon MIWIM, welches ebenfalls zugleich Weſentlichkeit und Wahr- 
heit beveutet. Es könnte nicht meine Abficht ſeyn, die indifchen Göt- 
ternamen aus dem Hebräiſchen herzuleiten. Soldye Ableitungen find 
in der That zu eng für den gegenwärtigen Standpunft der Sprachver— 
gleihung und Sprachforſchung. Inzwiſchen habe ich öfter bei Sanskrit: 
Gelehrten, die ich alle Urfache hatte für jehr gut unterrichtet zu hal- 
ten, mid) erkundigt, ob die Namen Brama, Schiwa, Wiſchnu in der 
indiſchen Sprade eine Etymologie darbieten, und darauf immer eine 
verneinende Antwort erhalten. Wenn nun dieß der Fall, jo würden 
die drei Namen einer Altern Yormation angehören, als dem. Sanskrit, 
das nad) der wahren Chronologie der Sprahbildung im Grunde nicht 
älter als das Griechiſche iſt — etwa (da hebräifche Worte aud im 
Sanskrit enthalten find) der hebräifchen. Es wäre nicht jchwer, in 
diefer die jenen drei Namen entjprechenden Grundwörter und Grund» 
begriffe zu erbliden. Dover wäre es nicht wirklich jehr wahrſcheinlich, 
den Namen Brama als Hervorbringers des bloßen Stoff mit dem 
hebräiſchen 8R)2 in Verbindung zu bringen, was ohneradhtet des auch 
im Hebräifchen ſpäterhin ſchwankenden Sprachgebrauchs doch urjprünglid) 
und in der älteſten Sprache offenbar die Hervorbringung des bloßen 
Stoffs bedeutet hat? Denn deutlich wird es ja ſo im Anfang der Ge— 
neſis gebraucht, we auf das: Im Anfang ſchuf, NY2, Gott Himmel 
und Erde, unmittelbar folgt: die Erde war tohu vabohu d. h. formlofe 
Maſſe. Der Name Schiwa erinnert aber ebenjo bejtimmt an jene 
hebräiiche Wortfamilie, zu welcher aud) YX) gehört, und Schiwa märe 
demnad) der die Schöpfung aus der Enge ins Weite, in die Mannich— 
faltigkeit des Seyns führt. — Man hat neben der Menge von Grund: 


454 





wörtern, die das Sanskrit mit dem Griechiſchen fowie mit den ger- 
maniſchen Sprachen gemein hat, längft auch folche gefunden, vie es 
noch mit dem Hebräifchen gemein hat. Der Name der Vedas ſelbſt, 
der heilige Wiffenfhaft enthaltenden, von. Brama jelbft geoffenbarten 
Bücher, ift ein Beweis davon. Der Name hängt im Indiſchen mit 
einem Wort zufammen, das. wifjen bedeutet, alſo mit dem hebräiſchen 
y7 (movon veda eine bloße Dialekt-Verſchiedenheit ift), jowte dem 
(ateinifchen videre, &udsıv, eins ift. Demmad) gehört aud) das deut- 
iche Wiſſen einer Familie an, die fid) aus der Urzeit erhalten. Dief 
wollte ich nicht fowohl der gegenwärtigen Unterfuchung, als Fünftiger 
Erörterung. halber anführen. Hier kam es nur darauf an zu zeigen, 
wie Schiwa, obgleid die Zerftörung, ja felbft die Tod verhängende 
Potenz, oder als der das Dunkel in der Erkenntniß durch Vernichtung 
des Scheins Bewirkende, gleichwohl feinen Pla in der indiſchen Gott- 
heit haben fonnte, ohne daß man deßwegen in jenes Urteil einzuftim- 
men brauchte, das hierin etwas beſonders Dämoniſches * indiſchen 
Mythologie erkennen wollte. 

Es fam darauf an, und der Stellung ‚und damit der Bedeutung 
der drei großen Potenzen zu verſichern, die ſich im indischen Bewußtfeyn 
nur noch als Refultate finden. In Bezug auf diefe, aud) von Seiten 
der indiſchen Philofophie betätigte Stellung will ih nur noch erwähnen, 
daß in bilolichen Darftellungen Wiſchnu im Verhältniß zu Schiwa ſtets 
als der jüngere von Geftalt und Antlig dargeſtellt ift, Hinfichtlich der 
Bedeutung will id anführen, daß in dem koloſſalen, 13 Fuß hohen 
Bruftbild in den unterirdiſchen Feljentempeln auf Elephante, welches 
ſchon Niebuhr für eine Darftellung dev indischen Trias erklärt, Wiſchnu 
mit reichem Haarſchmuck (Zeichen der Jugendlichkeit), in der einen Hand 
eine Blume, in der andern eine dem Granatapfel ähnliche Frucht, an 
einem Knöchel einen Ring trägt, — die Blume in ver einen, die Frucht 
in der andern Hand bezeichnet ihn als den Gott der — wohin 
auch der Ring gedeutet werden könnte. 

Nachdem wir uns der indiſchen Trias verſichert haben, inüffen wir 
bemerken, daß in diefer allein die indiſche Mythologie nicht befteht. 


Bemerfen Ste überhaupt, daß es vorerft nur um das Material zu 
thun iſt. Es fommt alfo jest darauf an, auch die übrigen Beſtand— 
theile zu zeigen. 

Eine Darftellung der indiſchen Mythologie ift zum Theil aud) 
darımı jehwierig, weil man diefe dabei als eine wirkliche Einheit vor- 
ausjegt. Allein Diefelben Momente des mythologiſchen Procefjes, Die 
wir zuvor an einzelne Völker vertheilt fanden, fcheinen ſich unter dem 
Einen Volk der Indier nur an verfchtevene Organe vertheilt zu haben, 
jo dag man jagen kann: e3 eriftire in Indien nicht Eine Religion oder 
Eine Mythologie, jondern wirklich verjchtedene Religionen und verjchtedene 
Mythologien, hierin eben liege der tieffte Grund des indischen Kaften- 
unterfchtedg. Etwas Aehnliches freilich in Griechenland auch. Gewiſſe 
verichollene Religionen einer älteren Zeit find noch in einzelnen Gegenden 
oder Bolfskreifen übrig. Doc fannte Griechenland Feine Kaften. In 
Indien dagegen find eben durch diefen Unterfchted jene Momente gleic)- 
fam verewigt. So fcheint fi) der frühere Moment, den wir in dem 
allgemeinen Fortjchritt durch Urania bezeichneten — jener Moment, 
wo der zuvor männliche Gott weiblich wird —, diefer Moment jcheint 
fi) ganz in der — übrigens in Indien jelbft veracdhteten — Sekte ber 
Saktas nievergelegt zu haben, won der Colebroofe * behauptet, daß fie 
ausſchließliche Verehrer der weiblichen Gottheit, nämlich der dem Schiwa 
entjprechenden weiblichen Gottheit, der Bhavani, feyen. Yon diefer Sefte 
fcheinen die Saivas unterſchieden zu feyn, von denen gefagt wird, daß 
ſie den Schiwa ımd die Bhavani zugleich verehren. Die Anhänger 
jener die weibliche Gottheit ausſchließlich werehrenden Sekte find in In— 
dien jelbft in feiner minderen Geringſchätzung, als in Griechenland die 
fogenannten Metragyrten, die Bettelpriefter der Kybele, oder die Priefter 
des Zeus Sabazios. Das Auszeihnende der legten Sekte — ber 
Saivas — ift die ausjchweifende Verehrung des Lingam, d. h. des 
Symbols der vereinigten Zengungsglieder beider Geſchlechter. Insbe— 
fondere aber läßt fi) aus ver alle Vorftellung überfteigenden Scham- 
(ofigfeit und Unzüchtigfeit der die Tempelmände in Elephante bededenden 


' Asiat. Res. VII, 281. 


456 

Bilder ſchließen, daß hier der erſte Schiwa dargeſtellt ift, der Schi- 
wa in feiner erften Erſcheinung (mo er dem Dionyjos, der der 
Urania parallel ift, oder dem Zeus Sabazios der Griechen ent- 
ipricht). Alle” früheren Yormationen erſcheinen daher in der inbi- 
ihen Mythologie „noch zugleidy mit den jpätern, doch dieſen unterge- 
oronet. Denn 3. B. die Anhänger diefer, vorzüglid) der Berehrung 
des Lingam ergebenen Sekte finden ſich ausſchließlich nur noch .in der 
unterften Klafje des Volks, den fogenannten Tſchandalas. Uebrigens un— 
tericheiden dieſe fich jelbjt wieder, wie Colebrooke anführt, nach einem 
decenten und einem indecenten Cultus, oder, tie fie aud) fagen, nad) 
einem Weg rechts und einem Weg links. Der Weg rechts ift ver Weg 
vorwärts, der im einen höhern Moment des mythologiſchen Procefjes 
fortfchreitende. Die Anhänger des indecenten Cultus verbergen fich ſelbſt 
und machen nicht öffentlid Profeſſion von ihrer Lehre (Winfel-Eeremo- 
nien), d. h. fie betrachten dieſe ſelbſt nur als einen Moment der Ver— 
gangenheit, den ſie feitgehalten. Auch dieſe Sekte, die der Saktas, 
hat ihre beſonderen Bücher; ihre Lehren gründen ſich auf die Tantras, 
die eben darum bei den Anhängern der andern Sekten, beſonders bei 
den Anhängern der Vedas, in großer Verachtung ſtehen. 

Außer dieſen Elementen der Vergangenheit, die noch in der indi— 
ſchen Mythologie liegen, muß noch eine andere Formation von Göttern 
unterſchieden werben, Auch hier, bei den indiſchen, wie wir es früher 
bei den ägyptiſchen Göttern gefehen haben, auch hier läuft in ben ge- 
wöhnlichen Darftellungen alles durcheinander, als ob alles won gleicher 
Bedeutung und gleicher Behandlung fähig wäre, Allein es ift in dem, 
was man indifche Götterlehre nennt, außer den drei großen Potenzen, 
die einer höheren Region angehören, nod eine zweite, jehr verjchiedene 
Formation mythologifher Götter zu erkennen. Dieſe findet ſich in den 
materiellen Göttern, welde .nod als wirkliches Erzeugniß Des 
mythologiſchen Procefjes betrachtet werden müſſen. Dieje materiellen 
Götter find überall nur gleichjam Weberbleibjel oder Erzengniffe des 
zerftörten, zergehenden, venlen Gottes. Brama, der erjt ausſchließliche 
"Gott, ift als der in die vielen Götter zergehende zertheilte Gott zu 


457 





benfen, dev an feiner Stelle jene materielle Göttervielheit zurück— 
läßt, welche der Gegenftand oder Inhalt des gemeinen Götterglaubens 
des indischen Volkes ift. Das ausichliegliche Prineip Tann nicht ver 
gehen, ohne an jeiner Statt das mannichfaltige, geſchiedene Leben in 
der Gegenwart zurüdzulaffen. Die Göttervielheit (unterfchieden von 
Bielgötterei ') tritt an die Stelle des ausſchließlichen Gottes, und ift 
gleichſam das Signal, das Zeichen feines Verdrängtwerdens. Diefe 
vielen Götter, welche an die Stelle des Brama treten, aber eben darum 
gleihjam aus dem Stoff defjelben gebildet find, zeigen ſich auch in 
dem Sinn als materielle, daß fie insgefammt als gewifjen Theilen 
der Natur vorftehend oder entfprechend gedacht werben. - Wie das Eine 
und einförmige Seyn in der Natur jelbit ſich in Regionen theilt und 
abftuft, fo zertheilt fi dem Bewußtſeyn in Folge des mythologiſchen 
Procefjes der Eine Gott in eine Schaar von Naturgöttern, Als das 
Haupt diefer bloß materiellen Götter wird Indra betrachtet, der Gott 
der oberen Luftregion, des Aethers, der infofern gewöhnlich mit dem 
griehifchen Zeus verglichen wird. Was die übrigen betrifft, jo muß 
ich bemerfen, daß zwak allerdings auch im dieſen, gleichjam an der 
Stelle des Brama zurüdgebliebenen Göttern ein Syftem, ein Zufam- 
menhang nachzuweifen jeyn follte, wie e8 ſich 3. B. in den materiellen 
Göttern der griechiſchen Mythologie nachweiſen läßt. Allein gerade dieſe 
Seite der indischen Mythologie ift jehr vernachläſſigt. Unfere Kenntniß 
der indiſchen Götterlehre ift hauptfählih aus Schriften und Werfen 
der höheren, gebildeten Kaſten Indiens geſchöpft, die ſich weniger mit 
biefen materiellen, als vielmehr mit den höheren, formellen Göttern 
beſchäftigen. In Griechenland, wo Fein Kaftenunterfchied ift, find jene 
materiellen Götter allgemeine Götter des griehifchen Volks. Noch 
immer find uns die epifchen Gedichte Indiens weniger als manche dok— 
trinelle Werfe befannt. Wenn wir den Homer nicht hätten, würde 
es uns aud) ſchwer fallen, den materiellen Polytheismus der Hellenen, 
ſyſtematiſch darzuftellen. Indien hatte feinen Hefiodos. Bet der idea— 
liſtiſchen und ſpiritualiſtiſchen Nichtung, welche das indische Bewußtſeyn 
' Bol. die Einleitung in die Philof. der Mythologie, S. 121 ff. 


458 
gleich im Entftehen der Mythologie genommen, blieb der materielle Po— 
lytheismus vernachläſſigt. Die eigentliche Kraft der Mythologie, das 
Innere derfelben, die wahren Triebfedern des Procefjes Tiegen außer 
den materiellen Göttern. Diefe find nur das begleitende Phänomen des 
untergehenden realen Gottes, de8 Brama. Schiwa iſt der ihn als 
vergangen ſetzende, alſo iſt er zugleich der den materiellen Polytheismus 
bewirkende, der Urſache iſt, daß Brama in jene getheilte, unterge— 
ordnete Götter auseinander geht, oder den vielen und voneinander ver— 
ſchiedenen Göttern Platz macht. Wiſchnu iſt der, der an die Stelle 
der untergegangenen realen Einheit die Einheit, aber die höhere, gei— 
ſtige wieder ſetzt. Es iſt ein und derſelbe Gott, der als untergehende 
Einheit Brama iſt, als Zerſtörer der Einheit Schiwa, als der, welcher 
die nun geſetzte Mannichfaltigkeit wieder zur Einheit zuſammenfaßt, 
Wiſchnu. So ſtellen ſich die höheren, verurſachenden Götter dar in 
Bezug auf die materielle Göttervielheit. Der große Haufe, die Maſſe 
des indiſchen Volkes, ſoweit es nicht den verworfenen Klaſſen angehört, 
beſteht aus rein materiellen Polytheiſten, jenen, welche die Bhagmad- 
gita jo oft bezeichnet al8 den einzelnen Göttern ergeben und ihnen 
nachlaufend. Diefe rein-polytheiftiihen (nämlich) im bloß materiellen 
Sinn polytheiftiichen) Indier find nichts als Schiwiten, die unter dem 
bloßen Einfluß des Schiwa ftehen. Für diefe ift Brama ein vein ver: 
ihollener. Der Name, den die erfte Kafte Indiens ſich ſelbſt gibt, 
kann zweierlei bedeuten. Entweder find die Braminen die an dem Brama 
Feſthaltenden, und ihn eben darum in Wiſchnu wieder Erfennenden, 
wieder Findenden, dadurch unterfchieden von dem übrigen Volk, das dem 
materiellen Bolytheismus und dem Schiwa allein ergeben iſt. Wenn 
man indeß das eigentliche Verhältniß zu dem Volk in Ueberlegung 
nimmt, wenn man bevenft, daß ihr worzüglichftes Beſtreben noch heut- 
zutag darauf gerichtet ift, wie es in früheren Zeiten, namentlich in 
ihren blutigen Kämpfen gegen den Buddismus darauf gerichtet war, 
das Bolf bei dem Cultus, den Geremonien und der abergläubiichen 
Verehrung der bloß materiellen Götter zu erhalten, die alle von Brama 
herftammen, gleichſam aus, der Subftanz des Brama gebilvet find, wenn 


459 


—_— _—— 





man bemerkt, daß fie jelbft den Cultus des Schiwa, der doch. immer 
ein geiftiger Gott ift, nicht vorzüglich begünftigen, vielmehr dahin zu 
jtreben jcheinen, das Volk auf der Stufe des Drama und der Brama- 
götter zu erhalten, jo Fünnte man wohl geneigt jeyn, den Namen, den 
fie fidy felbft geben, auch daher zu leiten, | 

Doch, um auf die materiellen Götter Indiens zurüdzufommen, fe 
läßt ſich wohl überhaupt in diefen Fein folches deutliches und beftimmtes 
Syſtem nachweifen, wie in den Göttern derſelben Art der griechiſchen 
Mythologie, weil das indische Bewußtſeyn bald dieſe untergeoroneten 
Götter verlieh, und andere höhere Richtungen nahm, namentlich der durch 
Wiſchnu bezeichneten folgte. Für den gegenwärtigen Zwed indeß genügt, 
die drei ganz verjchiedenen Formationen in dem, was man gemeiniglich 
die indifhe Mythologie nennt, zu unterfcheiden, nämlich a) jene Efe- 
mente, die fich nod) aus der mhthologiſchen Vorzeit Indiens herjchreiben, 
b) jene formellen Götter, Brama, Schiwa, Wiſchnu, die in Bezug 
auf die materiellen bloß verurfachende Potenzen find, 0) die eigentlich) 
materiellen Götter. Außer diefen drei Seiten der indiſchen Mythologie 
ift num noch eine vierte zır bemerken, durch die fidy die indiſche von 
allen andern bisherigen Mythologien gänzlich unterſcheidet. 


Einundzwanzigfte Vorlefung. 


Die drei Potenzen kommen im indischen Bewußtſeyn nur getrennt 
vor, ohne fid) zur wahren All-einheit aufzuheben, die ſchwächeren Or— 
gane fallen ganz tem Schiwa anheim. Der höhere Begriff des. befon- 
nenen Gottes kann fi) nur im Gegenfag und Kampf mit diefem (dem 
Schiwa) behaupten — aber weil der Wifchnu dem Bewußtfeyn ein ifolicter, 
von feinen Borausjegungen im Bewußtſeyn Losgerifjener, gleichſam in 
der Luft jchwebender ift, kann ſich das Bewußtſeyn in Diefer Höhe nicht 
behaupten, jondern lenft wieder ins Materielle um, dod) jo, daß dieſes 
Materielle, in welches ihm der Gott herabfteigt, nicht als ein urfprüng- 
liches und natürliches, fondern nur als ein angenommenes und zwar 
freiwillig angenommenes erjcheint.. Mit Wifchnu fängt daher eine ganz 
neue Formation der indiſchen Mythologie an, nämlich die Keihe ver 
Incarnationen dieſes Wilchnu, die der Stoff der jogenannten Puranas, 
der heiligen Bücher des zweiten Gottes find, welche Bücher auch eine 
Art von kanoniſcher Auftorität haben, aber doch nicht won gleicher Hei- 
ligfeit find wie die Vedas. Ferner find dieſe Incarnationen aud) die 
hauptſächliche Grundlage der enplofen epifchen Gedichte Indiens, Die 
aber auf Wiſchnu beſchränkt find. Zwar hat fid) in Die neuere und 
neueſte Behandlung der indischen Mythologie der Mißverftand einge- 
ſchlichen, nach welchem Brama, Schiwa und Wiſchnu ſelbſt ſchon als 
Incarnationen der indiſchen Gottheit betrachtet werden. Dieß iſt ganz 
falſch. Die Incarnationen ſind bloße Untergötter. Creuzer, der überall 
nur einen formellen oder abſtrakten, oder wenigſtens einen ſehr unbe— 


461 

ftimmten Begriff des Monotheismus vworausjegt, kann ſich Diefe indiſche 
Dreiheit jelbft Schon nur als Folge einer gejchehenen Incarnation dar- 
ftellen. Allen dieg iſt eine ganz willfürliche Interpolation, die der 
indiſchen Mythologie jelbft fremd ift. Die indiſche Mythologie Fennt 
zwar 3. B. zahlreiche Incarnationen des Wiſchnu (id) kann nicht fagen 
Menſchwerdungen, denn er incarnirt fich ebenſowohl in Thiere), fie 
nimmt diefer Incarnationen neun, oder, wenn man die nod) bevorſte— 
hende dazu rechnet, zehn an, aber der ſchon Incarmnirte könnte ſich doch 
nicht noch einmal incarniven. Wiſchnu iſt alfo eine vein geiftige Potenz. 

Mit diefem Theil der indischen Göttergefchichte wendet fich der bis— 
herige nothmwendige und geſetzmäßige Gang der Mythologie ins Willfür- 
liche und Yabelhafte um, was ganz außerhalb einer wifjenjchaftlichen 
Betradtung liegt. Mir menigftend war e8 unmöglich, in den aufein- 
ander folgenden Incarnationen des Wiſchnu irgend eine Notwendigkeit 
zu erfennen. Man fühlt das Gemachte, ja fie erinnern durd) ihre Bi- 
farrheit, durch etwas Neckiſches, das fie an fid) haben, und eine gewiſſe 
Fatuität an manche Fabeln der nordiihen Mythologie. In den. erften 
Incarnationen kann man etwa die Abficht erkennen, dem Wiſchnuismus 
das höchſt mögliche Alter bis vor die Sündfluth zu verfchaffen. Co 
groß war und iſt zum Theil nody die abergläubiſche Verehrung für dieſe 
Legenden, daß mandye 3. B. in der erften ein von dem U. T. unab- 
hängiges Zeugniß für die moſaiſche Erzählung von der Sündfluth jehen 
wollen. Indeß die bewährteften und zur Kritik berufenjten Kenner des 
Sanskrit, wie Wilfon, Colebroofe und neuerdings E. Burnouf, haben 
feinen Anftand gefunden, ihre Meinung zu erklären, daß der Bhaga— 
watpurana wohl erft im zwölften Jahrhundert der hriftlichen Zeitrechnung 
geichrieben ſey. Da hatte aljo die chriſtliche Tradition von der Sünd— 
fluth wohl Zeit gehabt nady Indien zu fommen, was ja übrigens aud) 
ſchon vor Chrifti Geburt lange genug hätte gefchehen können. Man kann 
daher in diefer Erzählung nichts weiter jehen, als den Verſuch, den 
Anfang des Wiſchnuismus bis in die Zeiten der allgemeinen Fluth zus 
rückzuſetzen. 

Die folgenden Incarnationen haben einen Bezug auf die Geſchichte, 


462 
die Kämpfe und den endlichen Sieg des Wiſchnuismus in Indien. In 
der fechsten Incarnation tritt Wifchnu in der Geftalt eines beſcheidenen 
Braminen auf, um den Uebermuth der Kſchetryas, der Sriegerfafte, 
zu demüthigen; ev erſcheint mit einer Art bewaffnet, „die ihm Schiwa 
gegeben hat. Schiwa jelbft hilft dadurd mit zu dem Sieg des Wijchnu. 
In diefer Incarnation heißt ev Parafu- Rama, zum Unterfchied von 
der weit glänzenderen Erſcheinung, die num folgt. Denn in der fiebenten 
Incarnation ift er auch Nama, aber der Kama zur E8oyyv, oder 
Sti-Rama. Die Abentener und Thaten des. Sri- Rama find nun der 
Hauptgegenftand der großen epiſchen Compoſitionen Indiens, vorzüglich 
der Ramayana. 

Als Sri-Rama iſt Wiſchnu ein jugendlicher Held, geſchmückt mit 
Schönheit und Kraft, Freund der Genüſſe, wie der Gefechte, voraus— 
beſtimmt zur Herrſchaft der Welt, kurz er hat alles, was zu dem Hel— 
den einer Epopee im höchſten Sinn gehören mag. Wir ſehen alſo, wie 
die indifche Mythologie durch das von ihr angenommene Mittel der In- 
carnation zugleich die Möglichkeit des Uebergangs in epische Poeſie fand, 
die ihr fonft gänzlich gefehlt hätte. Denn von ven Menſchen ſelbſt, 
ihrem Stand und ihrer Gebredhlichkeit hat das indische Bewußtjeyn eine 
zu geringe und niedergebrüdte Meinung, um aus bloßen Menfchen 
Helden epiſcher Gedichte zu nindhen. Der Hauptgegenftand des die 
Thaten des Rama feiernden Helvengevichts ift fein Krieg gegen ben 
König von Lanka oder Ceylon, gegen den er fi) mit dem Könige ber 
das Gebirg bewohnenden Affen verbindet, defjen Diener und Feldherr 
der große Hanumar iſt. Die berühmteſte, ſelbſt in Sculpturen darge— 
ſtellte That dieſes ſeltſamen Heeres iſt die Brücke, die es über den 
Meeresarm ſchlägt, der Ceylon vom feſten Land trennt. Nachdem die 
Brücke aus Felſen erbaut, das Heer darüber gegangen iſt, werden 
zwanzig Schlachten geliefert, bis endlich Rama in der einundzwanzigſten, 
die eine Hauptſchlacht iſt, ſeinen Feind beſiegt, ihn umbringt und in 
den Abgrund ſtürzt. Auf dem Rückweg bricht das Heer die Brücke 
wieder ab, von der indeß noch einzelne über dem Waſſer hervorragende 
Felſen ſichtbar ſind, die noch heutzutag die Brücke des Rama heißen 


463 
(die Muhammedaner nennen fie die Adamsbrüde). Auf dem feften 
Land, an der Ceylon gegenüberliegenden Küfte errichtet er einen Tempel 
dem Schima, deſſen großer Verehrer der befiegte König von Ceylon 
gewejen war. Nach feiner Rückkehr nimmt er Beſitz von dent früher 
ihn vorenthaltenen Königreich Ajodja, das ev als weiſer Geſetzgeber 
und Bolf- und Welt-beglüdender König beherrjcht, bis er in feinen 
Himmel’ (ven PViconta) zurüdgeht, von wo er noch immer fortfährt 
über das Glück der Welt zu wachen. Alle Tempel und Monumente 
Indiens find von Sculpturen und Gemälden bededt, welche diefe Thaten 
des Kama und jeiner abenteuerlichen Armee darftellen. Selbſt ber öf- 
fentlichen Feten, unter Reigen und Chortanz, beim Geräufc) Friegerifcher 
Muſik ſieht man ſceniſche Darftellungen diefer Thaten, wobei die Affen 
feine geringe Rolle fpielen, und zumal der in den Abgrund geftürzte 
König von Ceylon ſich - gut ausnehmen ſoll. 

Wenn nun aber Sri-Rama hauptfächlic der Helv der. epifchen 
Poefie Indiens ift, jo iſt Kriſchna, die folgende achte Verförperung des 
Wiſchnu, eine weit mehr der religiöſen Entwidlung Indiens angehö- 
rige Erſcheinung, Kriſchna ift die höchſte gejchichtliche Verklärung des 
Wiſchnuismus. Man kann behaupten, daß die Wifchnulehre in Indien 
hauptſächlich nur als Kriſchnalehre exiftirt- Die Anhänger des Kriſchna 
bilden gleichjam in der allgemeinen Kirche Indiens eine bejondere herr— 
chende Kirche. Zu der Zeit, als Kriſchna geberen werben ſollte, herrſchte 
über Mathuna der Tyrann Kamfa, deſſen Schwefter Mutter des Krifchna 
werben follte. Lange Zeit ſchon vor feiner Geburt wurde feine Ankunft dem 
graufamen Tyrannen von Mathuna verfündet, der, um den Erfolg dieſer 
Weiffagung zu verhindern, alle Kinder feiner Schweiter tödtete. Schen 
waren fieben getödtet, aber die achte Geburt, Kriſchna, ſollte den 
Nachftellungen des Tyrannen entzogen werden. Die Art wird auf ver- 
ſchiedene Weife erzählt. Genug, er fam um Mitternacht zur Welt, 
göttlihen Glanz ſelbſt ausftrahlend, und damit auch feine Eltern erfül— 
(end, denen er jelbft den Kath gibt, ihn über das. Waſſer Yamuna 
nad) dem indiſchen Schäferlande Gofula zu bringen, um als Sohn eines 
der Schäfer erzogen zu werden. Hier unter den jungen Schäfer umd 


A6A 
Schäferinnen theilte er ihre Spiele und Beichäftigungen, und während 
er Berge mit einem Finger aufhob, Ungeheuer und Kiefen befampfte, 
entzückte er durch die melodiſchen Töne feiner Leier die ganze Wildniß; 
wilde Thiere famen gezähmt herbei, fie zu hören; nicht minder entzückte 
er die jungen Schäferinnen durch feine Schalfheiten, bis er endlich den 
Spielen entwachſen, junge Krieger um fid) verfammelt, mit dieſen gegen 
den tyranniſchen Schweſterbruder Kamſa zieht, ihn überwältigt, tödtet 
und ſeine Eltern der harten Gefangenſchaft entreißt, in der ſie von 
dieſem gehalten waren. Seine Hauptrolle als Held ſpielte er jedoch in 
dem Kriege zwiſchen den Kurus und Pandus, welcher der Gegenſtand 
des zweiten großen epiſchen Gedichts der Indier, des Mahabharata iſt. 
Verſchieden ſind die Erzählungen von ſeinem Tode. Die gewöhnlichſte 
jedoch iſt, daß dr durch einen Pfeil an einen Baum geſpießt, auf dieſe 
Art am Holze geftorben, von welchem herab er noch alle Uebel vwor- 
ausfagt, die ſich im zufünftigen Weltalter im Kali-Yuga über vie Erde 
verbreiten würden. Die außerordentlichen Umftände feiner Geburt, auch 
ver legte Umftand, fein Tod am Holze, haben beinahe unvermeidlich 
an analoge Umftande in den evangelifchen Erzählungen erinnern müſſen. 
Andere Umftände erinnern faft ebenſo beftimmt an Züge der. griedhi- 
ihen Mythologie. Was num die erften mit Erzählungen der chriftlichen 
Evangelien übereinftimmenden Züge betrifft, jo wäre e8 abjurd, hier an 
irgend einen tieferen oder myftiichen Zufammenhang zu denfen. Denn wie 
man aud) die firchliche Tradition von der Reiſe des Apoftels Thomas nad) 
Indien“ beurtheilen möge, ſo iſt dod) unbeftreitbar, daß die chriftliche 
Keligion ſchon in ven erften Jahrhunderten ihres Dafeyns in Indien 
befannt geworden, und daß namentlich apokryphiſche Evangelien nad) 
Indien gekommen find. Warum follten die Indier aber nicht für dieſe 
ihre Fabeln Züge aus der hriftlichen Erzählung entlehnt haben, da fie 
eben dieß mit Zügen der griechiſchen Mythologie gethan haben? Je 
zweifelhafter das Alter der ſogenannten Puranas, der Schriften, durch 
welche wir dieſe Fabeln kennen, in neuerer Zeit geworden iſt, ſo daß 
wohl niemand wagen würde ſie ihrer gegenwärtigen Abfaſſung nach 
auch nur bis in die Zeit Alexanders d. Gr. und ſeines Feldzugs nach 


Indien hinaufzurüden, deſto weniger läßt fich auf folche Uebereinftim- 
mungen etwas bauen. Willem Jones hat den Kriſchna mit dem grie- 
chiſchen Apollo (dem Apollo Nomios) verglichen, ver ebenfalls in der 
Zeit feiner Erniedrigung unter Hirten lebte; in den neun Schäferinnen, 
die Kriſchna vorzüglich Tiebt, wollte er die neun Mufen fehen. Der 
befannte Pater Paulinus vergleicht den Nama und feine Züge mit den 
Siegeszügen des Bakchos. Creuzer will in ihm vielmehr ein Vorbild 
des Herkules finden‘. Aber je größer und zahlreicher die Uebereinftim- 
mungen wären, deſto mehr würden fie nırr beweifen, daß dieſe indifchen 
Fabeln in ihrer jegigen Form unter dem Einfluß theils chriftlicher, 
theils griechiſcher Borftellungen fid) gebildet haben. Hat man doch in 
neuerer Zeit jogar die Fabel des Dedipus ihrem ganzen Inhalt nad 
in Indien gefunden. Vielleicht gibt e8 noch ftarfgläubige Seelen, vie 
geneigt find, auch dieſe Erzählung, wie die griechiſche Götterlehre, aus 
Indien herzuleiten. Einen ſolchen Glauben kann man denn freilich nicht 
widerlegen. Ich habe diefe Folge von Incarnationen des Wiſchnu ing- 
befondere aufgezählt, um Ihnen zu zeigen, daß dieſer Theil der indi- 
hen Fabel für das Innere der indischen Götterlehre ohne Bedeu— 
tung iſt. i 

Es gilt vorerft nur ein Bild der indifhen Mythologie in ihrer 
ganzen Verbreitung zu gewinnen. Ich ſchließe daher an die Incarna- 
tionen des Wiſchnu unmittelbar eine andere Bemerkung an. Die In- 
carnationen des Wiſchnu erfcheinen gewiffermaßen als ein Auswuchs 
der eigentlichen indijchen Mythologie, als etwas, worauf fie durch den 
natürlichen Proceß nicht geführt worden. Daher fann der Gebanfe 
entftehen, in ihnen die Einwirfung einer dem urjprünglichen Indiſchen 
fremden Denfart zu fehen. Dem Buddismus ift die Idee der Incarnation 
weſentlich, der indiſchen Mythologie zufällig. Nun aber ift es hiſto— 
riſch unzweifelhaft, daß der Buddismus geraume Zeit in Indien exiftirt 
hat, ehe er in einem blutigen Kampf, deffen eigentliche, jo fpät erft 
zur Wirfung gefommene Urſache verborgen ift, aus der ganzen indiſchen 
Halbinfel verdrängt worden. Nichts natürlicher alfo als anzunehmen, 


'%: a. O. J, 628. 
Schelling, ſämmtl. Werke, 2. Abth. II. 30 


466 

es jey der Buddismus jene fremde Eimwirkung, welche die indiſche 
Mythologie von dem Ziel ihrer natürlichen Entwidlung abgelenkt, ihr 
das Fremdartige mitgetheilt habe, das wir ſchon in den Legenden von 
Wiſchnu bemerken fonnten, beſonders jene Lehre von guten und böfen 
Geiftern und einem Kampf des guten und böfen Principe. Aber indem 
wir den Buddismus nennen, haben. wir in der That das größte Räthſel 
in der Geſchichte der indifchen Bildung berührt, und an dem bis jegt 
faft alle Erflärungsverfuche gefcheitert find. Was ift der Buddismus? 
Dieß kann heißen: 1) Was iſt er ſeinem In halt nach? Die Antwort 
ſcheint nicht ſchwer. Eine pantheiſtiſche Lehre. Aber bei der Unbe— 
ſtimmtheit des Begriffs von Pantheismus, unter dem höchſt Verſchiedenes 
begriffen zu werden pflegt, iſt damit nichts geſagt. Die Frage kann 
2) hiſtoriſch gemeint ſeyn. Iſt a) der Buddismus etwa dem Brama— 
nismus vorausgegangen, und hat ſich dieſer vielleicht erſt durch eine 
Zerſplitterung einer urſprünglichen, in Indien einheimiſchen Buddalehre 
gebildet? Bekanntlich iſt auch dieß behauptet worden. Oder b) ift ber 
Buddismus nad dem Bramanismus entſtanden, entweder aa) aus den 
myſtiſchen, einer pantheiftifchen Lehre ſich nähernden Theilen der Vedas 
ſelbſt? oder bb) aus jenem bis zum höchſten Spiritualismus geſteigerten 
Wiſchnuismus, wie er namentlich in der berührten Bhagwadgita, oder 
ee) aus einem der philoſophiſchen Syſteme Indiens, und war er viel— 
leicht urſprünglich überhaupt nur eine philofophifche Lehre, die fid in 
Indien an die Stelle der öffentlid) geltenden Neligion zu fegen gejucht 
hat? Keiner diefer Meinungen hat e8 an Anhängern und Bertheidigern 
gefehlt. Möglih, daß Feine von ihnen die wahre ift. ‚Aber um über 
fie zu entjcheiven, werden wir Kenntniß zu nehmen haben von den my— 
ftiichen Theilen der Vedas, von den verjchiedenen philoſophiſchen Schulen 
Indiens, ſowie von der ſpeculativen Lehre, zu der ſich der ausgebil— 
dete Wiſchnuismus erhoben hat. : 

Alfo zuerst von dem myſtiſchen oder theofophifhen Syſtem ber 
Vedas. Wie follten wir aber von diefem reden fünnen, ohne zuvor bie 
Vedas im Allgemeinen kennen gelernt zu haben? Zuerft alfo von den 
Vedas. 


467 

Man verfteht unter den Vedas überhaupt die vorzugsweife heiligen 
Bücher Indiens, welche felbft zu Iefen nur ven Braminen verftattet 
ift. Die nächſtfolgenden Klaſſen dürfen fie nur Iefen hören, den unter: 
jten Klafjen ift auch diefes verfagt. Dadurch maren die Vedas in 
Indien jelbft neuerer Zeit fo unblfannt geworden, daß man noch zu 
Sonnerats Zeiten zweifelhaft von ihrer Eriftenz ſprach und der mehr- 
mals erwähnte Paulino di St. Bartolomeo fid) fogar über Diejenigen 
luftig machte, welche ſich jchmeicheln die Vedas wirklich zu finden. 
Dbgleich fie nun aber feit längerer Zeit gefunden find, und vollftändige 
Eremplare derjelben in Europa eriftiren, find fie darum doch noch 
immer ein von vielen Seiten verfchloffenes Bud. Auch Die übrigens 
höchſt verdienſtvolle Arbeit des größten Stenners der indifchen Literatur, 
des berühmten Colebrooke, deſſen Abhandlung in den Asiatik Re- 
searches den erften deutlichen Begriff wenigftens von der Zufammenfegung 
dieſer Bücher und ihrem Inhalt im Allgemeinen gegeben hat, läßt für 
den deutſchen Forſcher noch vieles zu wünſchen übrig. Was durch die 
ſpäteren Bemühungen des zu früh verftorbenen Roſen und mehrerer 
anderer jüngerer Männer, die fich jet der Herausgabe und Erklärung 
der Vedas zugewendet, gewonnen worden, laßt fi noch nicht mit 
Klarheit überfehen. Noch Colebronfe jchien eine vollfommene Ueber- 
tragung nicht für möglich zu halten. Die Sprade, in welcher ein 
großer Theil der Vedas verfaßt ift, bietet eigenthümliche Schwierigkeiten 
dar, die von der Art find, daß, wie man verfichert, unter den heutigen 
Braminen felbft nicht wiele find, die ſich rühmen können dieſe Bücher 
auch nur von Seiten der Sprache vollftändig zu verftehen. Noch größer 
find die Schwierigfeiten des Inhalts, die man ohne bejondere philofo- 
phifche Weihe felbft mit Hülfe der indischen Commentare, die felbit 
wieder Commentare beburften und zum Theil auch erhalten haben, 
nicht zu überwinden hoffen dürfte, Der ältefte diefer Commentare ift 
ein Theil der Vedas felbft und daher gleich unverftändlich mit dieſen. 
Der berühintefte ift der von Sankara. Diefer jcheint ſich vorzüglich 
nur auf die philofophifhen oder theofophijchen Theile der Vedas zu be- 
ziehen. Wenn wir indeß vorerft darauf Verzicht leiſten müfjen, über 


A468 

alle Theile der Bedas, ihren Zufammenhang, ihr velatives Alter u. |. m. 
ein vollfommenes Urtheil zu fällen, fo find doch ſchon die von Eolebroofe 
und einigen andern an die Hand gegebenen Kenntniffe, wenn fie mit 
unbefangenem Sinn und gehöriger Kritik angewendet werben, hinrei- 
hend, ein Urtheil über fie im Ganzen zu fällen und im Allgemeinen 
wenigftens außer Zweifel zu jegen: 1) daß die Vedas eine Compofition 
oder Sammlung find, die Theile aus fehr verfchievenen Zeitaltern in 
fid) vereinigen. Nach der Erzählung der Indier felbft find zwar bie 
Driginal-Vedas von Brama geoffenbart, aber zuerft von Mund zu 
Mund fortgepflanzt worden, bi8 zu _der Zeit, wo Vyaſa (der felbft als 
eine der Incarnationen des Brama vorgeftellt wird) fie fammelte und 
in Bücher theilte, auffchrieb und daher auch Veda-Vyhaſa genannt 
wird. W. Jones rückt die Vedas bis nahe an die Zeiten der Sünd— 
fluth zurüd; er denft fie ſich gefchrieben noch geraume Zeit vorher, ehe 
Moſes die Kinder Israel aus Aegypten führte. Es mögen einzelne 
Bruchſtücke in den Vedas ſeyn, die in ein fehr hohes Alter zurücgehen; 
was aber die Sammlung felbft betrifft, jo glaube ich Beweife anführen 
zu können, aus welchen erhellt, daß fie nur eben vor den Yabeln von 
Kama und Krifchna und ihrer Verbreitung abgejchloffen worden. 

Nicht weniger als man über das Alter übertriebene Mei- 
nungen gehegt hat, würde man ſich 2) tauchen, wenn man glaubte, 
aus den Vedas als einer lautern Duelle eine richtige Kenntniß des 
eigentlichen Shyftems der Braminen ſchöpfen zu fünnen. Denn theils 
irrt man ſchon, wenn man überhaupt vorausfegt, daß es ein allgemei- 
nes Syſtem der bramaniſchen Religion gebe. Wäre dieß, jo müßten 
alle Braminen übereinftimmen, während fie in ihren philofophifchen 
und ſyſtematiſchen Aeußerungen viefelbe Berfchiedenheit zeigen, wie 
die Philofophen anderer Nationen. Die Vedas find aber gerade in 
diefer Hinficht fo wenig entjcheidend, daß Fein Bramine in Berlegenheit 
ift, für feine von andern abweichende Meinung oder Lehre beftätigende 
Zeugniffe in den Vedas zu finden. Es geht überhaupt fein Gefammt- 
finn durch die Bücher hindurch, und auch jenes myſtiſche oder theofophifche 
Syſtem, von dem vorläufig die Rede war, ift nur das Syſtem eines 


469 

Theils der Vedas, nicht etwa ein Syſtem, nach dem fie in allen ihren 
Theilen conftruirt oder gebildet wären. Noch weniger darf man fid 
vorftellen, in ihnen etwa eine Duelle der indifhen Mythologie zu 
befigen, oder ein Monument, aus dem man irgend etwas über den 
Urjprung der indischen Keligion lernen fünnte. Die Vedas fegen in 
einem großen Theil ihres Inhalt die mythologiſche Religion Indiens 
ſchon voraus; über den müythologiihen Proceß, durch den dieſe entftan- 
den, können fie alfo nichts lehren. 

Nach diefen allgemeinen Benterfungen wollen wir zur Betrachtung 
der einzelnen Theile fortgehen, aus denen die Vedas zufammengefeßt 
find. — Die gegenwärtige Eintheilung fol fih von Veda-Vyaſa her- 
ſchreiben. Er joll die indifche heilige Schrift in die vier Theile getheilt 
haben, die fie noch jegt hat und die auch die vier Vedas genannt wer- 
den, nämlich 1) in den Rich-Veda, 2) in den Yajour-Veda, 3) ven 
Saman-Deda. Der vierte wird Atharvan genannt. Menus Geſetzbuch, 
angenommener Maßen das nacht ältefte nach den Vedas, kennt indeß 
bloß drei Vedas. Menu fpielt auf den vierten, den Atharvan, nur an, 
ohne ihn Veda zu nennen. Erft die Puranas, weldye die eigentlichen 
Legenden der indiſchen Mythologie enthalten, citiren immer vier Vedas, 
aber das Alter einiger verfelben, wie Ereuzer fagt, id) glaube wir 
dürfen wohl fagen, aller Puranas, ift mehr als zweifelhaft, obgleid) 
fie fich felbft als Theile eines fünften Vedas geben. 

Was die innere Eintheilung der Vedas betrifft, jo befteht jeder 
einzelne Veda 1) aus einer Sammlung von Gebeten oder Anrufungen, 
Mantras genannt; man könnte fie auch als Hymnen an verichiedene 
Gottheiten bezeichnen. Diefer Theil jedes Vedas, der die Mantras 
enthält, heißt Sanhita. Der zweite Theil jedes Vedas heift Bral)- 
mana. Diejer enthalt hauptſächlich Vorſchriften, welche gewifje veligiöfe 
Pflichten einfchärfen. Der dritte Theil jedes Vedas ift die jogenannte 
Vedanta, d. h. der milfenfchaftliche Theil; er befteht in Abhandlungen, 
bie Upaniſchads genannt werden, ein Wort, das Sanfara und bie 
vorzüglichiten Commentatoren durch göttliche Wiſſenſchaft, Wiſſenſchaft 
von Gott — Theofophie — erklären. Doch ift das mit den drei 


470 


Theilen nicht fo genau zu nehmen. Denn einige Upanifchads finden ſich aud) 
bei den Brahmanas, d. h. in dem zweiten Theil; ein Upanifchad ift fo- 
gar Theil einer Sanhitä, nur die meiften eriftiven als abgefonverte Theile. 

In Bezug auf den erften Theil, die fogenannten Mantras, habe 
ich nur Eine Bemerkung zu machen, zu welcher eine Angabe Colebroo- 
kes Beranlaffung gibt. Er jagt, der erfte der Vedas (alſo der Rich— 
Veda) fange an mit zahlreichen Hymnen oder mit enfomtaftifchen, zus 
gleich in Verſen abgefagten Anrufungen, die unter manderlei Na- 
men und Beinamen dod) vorzüglich an’ Gegenftände der Natur, an 
das Firmament, an das Teuer, die Sonne, die Luft, an den Luftfreis, 
die Erde, ſelbſt an einzelne Conftellationen gerichtet feyen. Da hie- 
bei doch übrigens von Namen und Beinamen die Aede ift, ſo ſcheint 
e8, diefe Anrufungen jeyen nicht an jene Naturgegenftände unmittelbar, 
fondern gleihwehl an Götter gerichtet, in denen nur Colebroofe Natur- 
gegenftände erfennt. Wären fie aber unmittelbare Anrufungen der Sonne 
und Elemente, jo würde aud) dann nur in gewiffen Sinne daraus folgen, 
was Colebroofe daraus folgern will, namlich daß urſprünglich zwiſchen 
dem Indus und Ganges eine der altperfiichen, ebenfalls auf den Him— 
mel und die Elemente ſich beziehende, analoge Religion geherricht habe, 
womit Colebroofe eigentlich) fagen will, daß das Volk der Hindu ur— 
ſprünglich einer ſolchen, der perfiichen ähnlichen Neligion zugethan ges 
wejen ſey. Allein nad unferm oft wiederholten Grundfag ift der 
Indier doch erft Indier mit feiner Mythologie. Der Indier und feine 
bejondere Mythologie, die ihn erft zu dieſem beſtimmten Volke macht, 
treten zugleidy miteinander aus der allgemeinen Vergangenheit hervor. 
Unftreitig hat aud) der Indier jenen Moment des reinen Zabismus 
mit erlebt, aber als Theil der allgemeinen Menjchheit, nicht als Indier. 
Wären alfo jene Anrufungen unmittelbar an den Himmel, die Sonne 
u. f. w. gerichtet, jo würde daraus nur folgen, daß dieſe Theile der 
Vedas nicht indischen Urfprungs find. Nichts verhindert uns, ‚bei der 
offenbaren Zufanımengefeßtheit der Vedas und bei den offenbaren Wider- 
ſprüchen, die fid) zwifchen den verſchiedenen Theilen derſelben finden, 
anzunehinen, daß fie ein zwar in Indien gefammeltes, aber darum 


471 


feineswegs ein ſpeciell indiſches, fondern ein allgemeines Religionsbuch 
find, in das die Sammler alles, was ihnen aus der Vorzeit in reli- 
giöfer Hinfiht der Erhaltung würdig fchien, aufnahmen. Der Werth 
der Vedas würde dadurch nicht. verringert, fondern im Gegentheil nur 
erhöht. Golebroofe geht noch weiter, und nachdem er aus jenen An- 
rufungen von Geftirnen u. ſ. w. auf die Eriftenz einer aftralen Ur- 
religion in Indien geſchloſſen, benugt er drei Berzeichniffe won Götter: 
namen, die ſich in den den Vedas beigegebenen Gloſſarium finden, das 
von gleichem Alter wenigftens mit der Sammlung feyn fol. Hier, fagt 
er, jeyen die Namen io abgetheilt, daß das erſte Verzeichniß lauter 
Namen von Göttern enthalten, welche als ſynonym erklärt werben 
mit dem Feuer, das zweite folche mit der Luft, das dritte ſolche, bie 
mit der Sonne gleich bedeutend jeyen. Hier fieht man ja aber deutlich, 
daß nur von einer Erklärung jener Götternamen die Rede iſt. 
Ferner beruft fi) Eolebroofe auf einen andern Theil des Gloſſariums 
(den Inder), wo ausdrücklich gefagt werde, daß nur drei Götter feyen, 
und auf eine andere Stelle, welche ebenfalls bejage, daß der Götter 
nur drei jeyen, die nur nad) ihren verſchiedenen Wirkungen verfchieden 
benannt werden, und daß auch dieſe drei zurüdzuführen feyen auf 
Einen, genannt Mahanatma, die große Seele. Auf diefe drei Punkte 
‚ beruft fih alſo Colebroofe, um das Nefultat zu begründen, daß Die 
alte Hindureligion nur Einen Gott anerkannt babe, und nur etwa 
darin unlauter gewefen jey, daß fie das Geſchöpf nicht hinlänglich von 
dem Schöpfer unterfchieden habe. 

Was nun aber jene Angabe des Gloſſariums der Vedas betrifft, 
fo kann man aud) in Griechenland frühzeitig ſolche Erklärungen antref- 
fen, wo ächt mythologifche Gottheiten als bloße Elemente erklärt wer- 
den, und man kann in denſelben, weit entfernt ein hiftoriiches Zeugniß, 
vielmehr nur ein Beftreben erkennen, jene Menge von Göttern, die 
in den überlieferten Mantras angerufen werden, und deren der Berftand 
ihon fi) zu ſchämen anfängt, auf wenige Hauptpotenzen zurüdzuführen, 
um fie den: Berftand annehmlicher zu machen. Was insbefondere den 
Inder betrifft, der verfichert, daß dieſe drei Götter wieder in Eine 


472 

Gottheit fi) auflöfen, Mahanatına genannt, jo könnte man zwar allens 
falls zugeben, daß diefer Inder zugleich mit den Vedas, d. h. mit der 
Sammlung diefer Schriften, niedergefchrieben worden. Aber daraus 
würde nicht folgen, daß er den einzelnen Theilen dieſer Samm— 
fung jelbft gleichzeitig erachtet werden könne, gleichwie die jüdiſche 
Mafora wohl etwa dem gefammelten Kanon der altteftamentlichen Bücher 
gleichzeitig feyn Könnte, darum aber nicht jedem einzelnen Bud), z. B. 
dem Pentateuch oder den einzelnen Pſalmen. Im Gegentheil, bie 
Aengftlichkeit felbft, mit der man für die Authentieität des Textes be- 
forgt war, ebenſowohl als die Befchaffenheit des zur Sicherung deſſelben 
angewendeten Mittels, diefe Art jüdiſcher Sylben- und Buchſtabenzählerei 
zeigt, wie verhältnigmäßig jpäten Urfprungs diefer Inder und alfo auch 
die mit ihm gejchehene Sammlung der Vedas fey, und wie wenig bie- 
jer Inder angeführt. werden könne, um über die Bejchaffenheit ver 
älteften Religion Indiens ein gültiges Zeugniß abzulegen. Wenn Eole- 
broofe auf jene Reduction von zuerft angenommmen drei Gottheiten 
auf die Eine, Mahanatma genannte, einen Beweis gründen will, daß 
die altefte Neligion Indiens Einen Schöpfer geglaubt habe, jo müßte 
Colebrooke aud den dem Schöpfer angeblich beigelegten Namen für eben 
fo alt annehmen. Nun ift dieß aber erftens nicht einmal ein Name: das 
Wort bedeutet die große Seele, zufammengefegt aus maha, groß (wie 
in Mahabharata, was der große Bharata heißt), und aus Atma, das 
dem Iateinifchen anima, dem deutſchen Athem entjpricht, alſo die Seele 
bedeutet. Dieß wird ungefähr ebenfo viel feyn, als was griechiſche Phi— 
lofophen die Weltfeele genannt haben. Dieß ift alſo ein philofophifcher 
Begriff. Man fieht daher, daß auch jene Bemerkung des Inder bereits 
eine gelehrte und philofophifche ift und nicht als ein hiftorifches Zeugniß 
fich betrachten laßt. Wie fünnte man einen ſolchen Begriff, den Be— 
griff Weltfeele, für älter halten als die Namen Brama, Scima, 
Wiſchnu, für die e8 in der indiſchen Sprache feine Etymologie gibt? 
Es ift ein vergeblicher Verſuch, irgend etwas vor biefen drei Dejotas 
in Indien nachzuweiſen. Mit diefen fing das indiſche Bewußtſeyn 
ale ſolches an. 


473 





Ich muß noch erwähnen, was Colebroofe felbft bemerft, daß dieſe 
Gebete und die mit ihnen verbundenen Vorſchriften heutzutag in In- 
dien außer allem Gebrauch und völlig obfolet find. Allein Colebroofe 
hätte meines Erachtens zuerft beweiſen müfjen, daß fie jemals wirklich 
im Gebrauch gewefen find. Da dieß fi) nicht erweifen läßt, fo ift 
ebenſowohl verftattet anzunehmen, daß jene Anrufungen, ebenfo wie 
die Geremonien, auf weldhe fie ſich zu beziehen fjcheinen, niemals 
einen wejentlihen Theil des Cultus in Indien ausgemacht haben, daß 
diefe Sanhitäas, diefe Sammlungen von Gebeten, bloß als eine Samm— 
lung anzujehen find, welche die Braminen zum Theil in anderer als 
veligiöfer Abficht veranftalteten, wie denn überhaupt die Vedas urfprüng- 
lich mehr einer Sammlung von wifjenfchaftlich gelehrter als von reli— 
giöfer Bedeutung ähnlich jehen, wohin ja aud der Name deutet. Die 
Tundamente der indifhen Keligion find in den indischen Volks bewußt— 
jeyn felbft zu fuchen. Man hat Unreht, die Vedas Fundamentalbücher 
der indifhen Keligion zu nennen, da fie für die verfchiedenften Syſteme 
der Braminen Belege enthalten. Aus dem Umftand, daß man früher 
fogar an der Eriftenz der Vedas zweifeln konnte, erhellt wohl auch, 
wie wenig Deffentlichfeit und Einfluß auf die wirklichen religiöſen Ge- 
bräuche des heutigen Indiens fie ausüben, und es ift fein Grund zu 
denken, daß es tm älteren Indien in diefer Hinficht anders ausgejehen 
habe. Daf Rama und Kriſchna fo wenig ald Budda in den Vedas 
erwähnt werden ', fann man fich, was die erften betrifft, daraus erklären, 
daß, wenn nicht die Sammlung, dod) wenigftens die einzelnen Theile 
der Vedas älter find als jene Ausartungen des Wiſchnuismus. Weber das 
verhältnigmäßige Alter der Vedas läßt fi aus dem Stillſchweigen über 
Budda um fo weniger etwas fchließen, als alle unter dem mittelbaren 
oder. unmittelbaren Einfluß der Braminenfafte entftandenen Bücher ein 
höchft befremdliches Stilfhweigen über Budda beobachten. Am wenig. 
ften aber ließe fi) aus diefem Umftand auf eine frühere veinere Religion 
Indiens ſchließen, wenn auch etwa auf eine frühere reinere Religion 


Anſpielungen auf die Legenden von Rama und Kriſchna gibt Colebroote 
ſelbſt zu. 


ATA 

überhaupt. Ich Habe ſchon als wahrfcheinlic erklärt, daß die Vedas 
auch erotifche, außerindiſche Beftandtheile enthalten. Diefe Bermuthung 
wird beinahe außer Zweifel gefett durdy den Hymnus auf das Wort, 
der das Wort in dem hohen Sinn verherrlicht, den es nur in dem 
Zendavefta hat. In dem von Colebroofe überfetten und mitgetheilten 
Hymnus ſagt es won fid) ſelbſt: „Ich trage beides, die Sonne und den 
Ocean, das Firmament und das euer, ich bin die Königin, die Wohl 
ertheilt, die Befigerin der Kenntniß, die erfte won denen, die Verehrung 
verdienen, allgemein, überall gegenwärtig, alle Dinge durchwandelnd. 
Wer Nahrung genießt durch mic), wer fieht, wer athmet, oder mer 
hört durch mich, aber mid nicht erfennt, ift verloren. Ich mache 
ftark, wen ich erwähle, ih mache ihn Brama, heilig und meife, 
Urheberin aller Dinge gehe ich vorüber wie die fühle Seeluft; ich bin 
aber über dieſem Himmel, über diefer Erde und was das große Eine 
ift, bin ih“. Wer von Ihnen je einen Blid in den Zendaveſta ge- 
worfen hat, wird fi, den Namen Brama abgerechnet, vorftellen fünnen, 
hier eine Stelle aus den Zendbüchern gehört zu haben. In ven Zend» 
büchern fpielt das Wort (Honover) eine ganz den eben gehörten Prä- 
Dicaten angemeffene und fo bedeutende Rolle, daß e8 Theologen gegeben, 
bie von diefem Wort das Zendavefta den Logos des Iohannes- ableiten 
wollten, das fie nur aufgegeben zu haben feinen, weil ihnen der Phi— 
lonijche näher Ing. | 

Sonft weiß Colebrooke von feiner Stelle der Vedas oder einer 
andern indiſchen Schrift, worin das Wort in diefer fublimen Be- 
deutung vorkäme. Es ift ein den indiſchen Urkunden und der ganzen 
indiſchen Philofophie fonft völlig fremder Begriff. Ich glaube alfo 
biefe Stelle allein ſchon als Beweis anführen zu dürfen, daß in die 
Vedas aus verfchievenen Quellen her ganz Verſchiedenes zufanmenge- 
leitet worden if. Damit ftimmt eine Aeußerung ber Bhagwadgita, 
die ſich überhaupt ſehr frei über die Vedas äußert, wörtlich überein. 
„Zu wie vielerlei Gebrauch ein Brunnen dient mit ſeinen überall her 
zuſammenfließenden Waſſern, zu ebenſo vielerlei können einem verſtän— 
digen Theologen die heiligen Bücher dienen“. Es wird alſo damit 


475 


ausgedrüdt, daß nicht alles in den Vedas von gleichem Werth, gleicher 
Bedeutung fey. Ich jehe mich daher auf die Behauptung zurüdge- 
führt, daß die Vedas mehr ein allgemeines als ein fpecielles indiſches 
Religionsbuch find, und in das die erften Sammler alles zufammen- 
trugen, was ihnen von religiöfen Gebräuchen oder Ceremonien. (aud) 
außer- d. h. vorindifchen) bekannt wurde und der Erhaltung werth 
Ihien, jo daß wir alſo auch aus feiner der aufgenommenen Mantras 
ohne anderweitige Beweife auf die entjprechende Idee berjelben, als 
eine indifche oder zum indifchen Neligionsfuften gehörige, mit Sicherheit 
Ichliegen dürfen. Wenn man fidy einen beftimmten Zweck oder eine 
bejtimmte Dorftelung denken will, mit welcher die Braminen dieſe 
Schriften gefammelt haben (denn den Braminen müfjen wir doch wohl 
die Sammlung zufchreiben), fo kann man, da fie die Sammlung nicht 
dem Volk beftimnten, faft nur einen gelehrten Zwed vorausfegen. Es 
fonnte ihnen alfo audy dabei nicht bloß um eine ausjchliegliche indiſche 
Sammlung zu thun feyn. 

Sp viel über die fogenannten Mantras, den erjten Theil jeder 
Beda. Der zweite Theil, die fogenannten Brahmanas, enthalten An- 
leitungen zu religiöfen Gebräuchen, über die nichts zu erwähnen ift, als 
daß auch diefe Gebräuche großentheils objolet — veraltet — feyn jollen. 
Allein ich muß hier die obige Bemerfung wiederholen; faktiſch ift nur, 
daß Diefe Ritus in Indien heutzutage nicht ‚bemerkt werben; allein aus 
den Stellen ver Vedas folgt nicht nothwendig, daß fie zu irgend einer 
Zeit im eigentlichen Indien einheimtjch waren. 

Der Haupttheil der Vedas aber, um den e8 und bier behufs un- 
ferer Unterfuhung befonders zu thun ift, find nun die theologiſchen 
und philofophifchen Lehrftücde, die fogenannten Upaniſchads, ein Wort, 
pas näher erklärt, bedeutet: was darüber (wahrjcheinlid über pas bloß 
Kituelle) hinaus ift. Transcendente Wiſſenſchaft ift der Inhalt dieſes 
Theils der Vedas. Gott, Welt, Seele find die eigentlichen Gegenftände 
derjelben. Lange Zeit war nur ein einziger Upanifchad (dev zum erften Theil 
des Yajour-Vedas gehörige) durch eine Ueberjegung befannt, die ſich in 
DW. Jones Werfen findet. Der befannte Branine Ram-Mohan- Roy, 





der vor noch nicht langer Zeit in England geftorben ift, hat zwar die vier 
Upaniſchads ins Englifche überfett. In dem Journal Asiatique habe 
ih) die gelegentliche Bemerkung gefunden, daß die Ueberfegung des 
Braminen verglichen mit der Meberfegung, die Jones von Einen Upani- 
had gegeben hat, große Abfürzungen zeige. Ich fürchte faft, daß dieſe 
Abkürzungen im. Syftem dieſes Braminen geweſen feyen, der nämlich 
zwar den idololatriſchen Cultus Indiens verwarf, aber ftatt deffen einen 
veinen Theismus geltend machen wollte, von dem er zugleich behauptete, 
er ſey das urjprüngliche indische Syften, -das nur in der Folge ver- 
fäljcht und verdorben worden ſey, fowie er auch nur für einen Theil 
des Chriftenthums ſich erklärte, nämlich für die bloße Moral, mit Bei- 
feitfegung alles Hiftorifchen. Es ift gleichwohl Schade, daß biefer 
Bramme nicht nad) Deutjchland gefommen ift, wo er bei manchen 
unſerer rationaliſtiſchen Generalfuperintendenten und Paftoren eine wahr» 
haft brüverliche Aufnahme infofern gefunden hätte, als er — wie biefe 
ji Mühe gaben, zu bemweifen, daß das Chriftentyum und das Neue 
Zeftament bloße Bernunftreligion enthalte, fo ſich bemühte, in den 
Vedas und andern Duellen indifcher Religion einen veinen Theismus 
nachzumeifen. Unter viefen Umftänden mußte man freilich die von 
Anquetil du Perron herausgegebene Upnechat als einen großen- Fund 
betrachten. Anguetil du Perron ift derfelbe, weldhem Europa auch die 
Entdefung und die erſte Kenntniß der Zendbücher verdankt. Mit der 
Upnechat hat es aber Fürzlic folgende Bewandtnif. Im Jahre der 
Hedſchra 1050, alfo im J. Ch. 1640, reiste ein perfifcher Prinz, Bru— 
der des befannten Großmoguls oder Kaifers Aurengzeb in das ſchöne 
Land Kafchemir, um myſtiſche Bücher zu fammeln und fich über bie 
Lehre von der Vereinigung mit Gott näher zu unterrichten, die im 
Koran nur dunfel enthalten und unter den Anhängern des Islam faft 
unbefannt ſey. Er verfchaffte ſich alfo die göttlichen Bücher, namentlich 
das Gefeg Mofis, die Palmen Davids und die vier Evangelien. Allein 
er fand darin nichts, was ihm flar genug ſchien; er wandte ſich alfo 
zu den Indiern, unter denen, wie er gehört hatte, eine alte Kafte in 
dem Beſitz gewifjer heiliger Bücher ſey, die die wahre Lehre von dieſem 


477 
Geheimnig enthalten, mit Gott Eins zu werden. Nachdem er biefe 
Bücher, die Vedas, fih verſchafft, faßte er den Entſchluß, die myſti— 
hen Theile derfelben ins Perfifche überfegen zu laffen, damit auch die 
Anhänger des Islam einen Zugang zu diefem großen Schag erhalten, 
und er ließ zu diefem Ende von Benares nad) Delhi Pandits und 
Sanyafis kommen (ein Sanyafi heißt in Indien ein folcher, der fich 
von allem, nämlich von allem Gefchöpflicen losgemacht hat; die San— 
yaſis werden betrachtet als die im höchſten Grad jener Vereinigung 
mit Gott Stehenden): durch diefe alfo ließ er Wort für Wort vie 
Upnedyat, d. h. denjenigen Theil der Vedas überfegen der die Upani- 
ſchads enthält. In diefem Sinn ift alfo die Upnechat ein Auszug aus 
den Vedas. ine Abjhrift diefer perfifchen Ueberjegung brachte Anque— 
til du Perron nad) Europa, und nad) verfchiedenen DVerfuchen, eine 
treue Ueberjegung ins Franzöſiſche zu verfertigen, entſchloß er fich zu 
einer wörtlichen lateinifchen, die man etwa mit den Interlinearverfionen 
hebräifcher Texte vergleichen könnte. Ste begreifen leicht, daß bei 
jolcher Wörtlichfeit das Lateinifche der Meberjegung nur ein jehr unver: 
ſtändliches ſeyn kann. Hätte indeß Anguetil du Perron eine Ueber- 
jegung in gutem Latein zu geben gefucht, jo hätte er diefe nur jeiner 
Einfiht gemäß geben können. Indem er Wort für Wort überfegt, 
überläßt er uns ſelbſt, den tiefen und dialeftiihen Sinn mancher 
Stellen und Ausprüde zu finden. ine Hauptfrage ift freilich, wie 
weit man fi) auf die Treue der perfiichen Uebertragung verlaffen könne, 
die Anguetil wor Augen hatte. Nach Berfiherung eines Franzoſen, 
der die oben erwähnten Ueberfegungen von Kam-Mohan-Noy vor Augen 
hatte, und fie mit Anguetil® Text verglih, hat ſich zum Nachtheil der 
perfiihen Bearbeitung weiter nichts gezeigt, als daß fie ungebührlic 
paraphrafire und Ausdrücke und Dogmen mufelmännifcher Theofophen 
mit aufgenommen habe, die man jedod) leicht unterſcheide. Am frübe- 
ften und am meiften ift wohl Anquetils Arbeit von deutſchen Gelehrten 
benutt worden. Doc weniger in hiftorifcher als philoſophiſcher Hin- 
fiht. Denn nad) der neueren Wendung der Philofophie wurden aud) 
orientalifche Schriften von manden ebenfo etwa wie bie Schriften 


478 





3. Böhmes umd anderer occidentalifcher Myſtiker gebraucht, nämlich 
als Quellen benugt, aus denen man die höhere Wiſſenſchaft ſelbſt zu 
ſchöpfen können meinte. 

Sie haben aus den bisherigen hiſtoriſchen Angaben abnehmen 
fönnen, wohin eigentlich die myſtiſchen Theile der Vedas zielen. Ihre 
höchſte Abficht ift, Unification des menfchlichen Wefens mit Gott. Für 
eine oberflächliche Betrachtung mag e8 auf den. erften Bli auffallend 
jeyn, unter einem im Ganzen jo finnlichen Volk. eine ſolche ſublime 
Myſtik, einen fo hoch gefteigerten Idealismus hervortreten zu fehen. 
Allein gerade hier ift num der Ort, wo jene andere Seite des mytho- 
logiihen Bewußtſeyns Indiens, die wir früher bezeichnet, inzwiſchen 
aber außer Betracht gelafien haben, hervortritt. Die erfte Seite, oder, 
wie wir ung früher ausprüdten, das erfte Anzeichen des eigenthün- 
hen Ausgangs, den das indiſche Bewußtſeyn im mythologifchen Pro- 
ceß nimmt, war — im Gegenfag mit dem von Anfang bi8 zu Ende 
zufammengehaltenen ägyptiſchen Bewußtſeyn — das Auseinandergehen 
der Potenzen, deren eine nur noch als Vergangenheit im Bewußtſeyn 
ift, die beiden andern, Schiwa und Wifchnu, fich gegenfeitig ausſchließen. 
Diefes Auseinandergehen aber, das wir in der indiſchen Mythologie 
nachgewieſen, mußte mit einer Ausfcheidung der geiftigen Einheit ver- 
fnüpft jeyn, die fi) dem ägyptiſchen Bewußtfeyn in der materiellen 
Einheit der Potenzen verkörpert hatte, die aber dem indifchen außer 
den Potenzen ift, und je tiefer dieſes das Zergehen jener materiellen 
Einheit empfindet, defto intenfiver, gefteigerter wird fein Beftreben ſeyn, 
die außer diefer, außer den Potenzen, geſetzte Einheit- zu erreichen, 
fi) mit derſelben zu iventificiren. Zu näherer Erläuterung will ich 
folgendes Allgemeine Ihnen zurüdrufen. Außer (im Sinne von prae- 
ter) und über den drei Potenzen, welche die unmittelbare Urfache wie 
des Natur- fo aud des mythologifchen Proceſſes find, ift die fie zuſam— 
menhaltende Einheit, die dem Bewußtfeyn fern fteht, folang in ihm 
nur noch eine der Potenzen herrfchend, folange nicht die Allheit der 
Potenzen in ihm gefegt ift. Aber fobalo diefe Allheit in’ dem Bewußt⸗ 
jeyn eingetreten, aljo mit dem Eintritt der vollſtändigen Mythologien 


479 
tritt au jene Einheit in das Bewußtſeyn ein, und zwar zuerft eben 
als zufammenhaltende, und darum als in ihnen werförperte. So war 
es im ägyptiſchen Bewußtſeyn. Aber eben damit diefe Einheit für ſich 
zum Bewußtſeyn fomme, ift ein Moment nothwendig, wo die mate- 
rielle Einheit zergeht: mit der Aufhebung der materiellen Einheit ift 
die Ausſcheidung der Einheit — als einer zur aufßermateriellen und rein 
geiftigen — verfnüpft, und die weitere nothwendige Folge ift jenes, bes 
jonders dem indischen Bewußtſeyn eigenthümliche Streben zur Wieder- 
vereinigung mit dem verlorenen Göttlihen. Das indische Bewußtfeyn 
empfindet jenes Auseinandergehen der Potenzen, welches wir nachgewie— 
jen, als DBerftoßung aus dem göttlichen Seyn. Das Gefühl dieſer 
Ausftogung, der drohenden Auflöfung alles religiöſen Bewußtſeyns 
muß gerade fein Gegentheil hervorbringen, ein lebhaftes Streben zur 
Wiebervereinigung mit dem Göttlichen, einer Wiedervereinigung, die 
nicht auf dem Weg der Vernunft oder rationaler Wifjenichaft, ſondern 
nur auf praftiichenm Wege, auf dem Weg des eraltirten Gefühls oder des 
Myſticismus gejucht werden kann. Diefer Myſticismus, der ung in der 
ganzen Entwidlung hier zuerjt begegnet, ift alfo an eben diefem Puntt, 
der durch das indische Bewußtfeyn bezeichnet ift, nur eine natürliche 
Erjcheinung. (In ägyptiſcher Mythologie ift won folder Unität noch 
nicht die Rede. Daß bier in Indien gleihjam auf Einmal vdiefe Er- 
ſcheinung fich zeigt, deutet eben auf Auseinandergehen der Potenzen.) 
Alles geht nur auf diefe Wiedervereinigung; das höchſte Ziel aller 
Einfiht, Erfenntniß und Wiffenfchaft ift nach der myſtiſchen Lehre der 
Vedas nicht wieder Erfenntniß und Wiſſenſchaft, jondern eben die Wie- 
berbereinigung mit Gott, in der alles Streben, infofern aud) alle 
Wiſſenſchaft erlifcht. Jeder zur VBollfommenheit gelangte Menſch — jo 
lautet die Hauptlehre diefer myſtiſchen Wiſſenſchaft — muß ſich jagen 
fönnen: Ih war der Schöpfer, fünnte ich Er wieder werden! — Die 
Seele des Menfchen war eimft die allgemeine Seele, Alle äußeren 
und inneren Sinne — alfo auch das ganze Bewußtſeyn in Die allge» 
meine Seele wieder . fjammeln und zurüdziehen, iſt für den Menſchen 
der Weg zur Seligfeit. — Wiffen, daß man der Schöpfer ift, und 


A480 

daß alles der Schöpfer ift, dieß ift die Subftanz der Vedas. Wer auf 
diefer Stufe ift, bedarf nicht mehr des Leſens (nämlich der heiligen 
Bücher), feiner Werke, dieſe find nur die Schale, das Stroh, die 
Hülfe; derjenige denkt nicht mehr an fie, der den Kern und die Sub» 
ftanz hat, den Schöpfer. Wer mit Gott fich vereinigt, vernichtet in 
diefem Akt ebenfowohl die guten Werke, als die Sünden, die er be- 
gangen hat. Denn Er felbit ift ja nichts mehr, gute wie böfe Werke 
verbrennen in dem Feuer diefer Bereinigung und werden zugleich mit 
der Selbftheit verzehrt. 

Bei diefer durchaus praftiichen Tendenz der Vedas läßt fih zum 
voraus erwarten, daß wenig theoretiſche Auffchlüffe in ihnen über 
das eigentlich letste Syftem zu finden find. Es läuft meift bloß auf die Ver— 
fiherung hinaus, daß alles Eins, und zwar im Brama Eins ſey, der hier 
wirklich nur noch die Bedeutung der Gottheit hat, nicht des beftimmten per- 
jönlichen Gottes, und da noch überdieß jener Sat fehr weitläufig ſpe— 
cificirt wird, indem e8 3. B. heißt: Gott ift das Feuer im Feuer, in 
der Luft das eigentlich Kefpirable, im Waffer das Waffer u. f. w., fo 
geftehe ich, daß im Ganzen die Upanifchads eine fehr unerfreuliche Lectüre 
find. Eine pofitive Erklärung der höchften Einheit findet fi) nirgends, 
wohl aber jene negative, die fi unter der Form einer gleihen Nega- 
tion oder einer gleichen Poſition entgegengefegte Beftimmungen aus 
ſpricht, 3. B. heißt es: Gott ift außer allem Ort und Gott ift nicht 
außer allem Ort; Gott ift groß und er ift nicht groß; er umgibt und 
er umgibt nicht; er iſt Licht und er ift nicht Licht; er ift und ift auch 
nicht der Löwe, der alles verzehrt (wahrſcheinlich bezieht fich dieß auf 
die allgemeine Keforption oder Zurüdnahme der Dinge in Gott). An 
Einer Stelle heißt e8 jogar: Gott ift die Wahrheit und Gott ift die 
Lüge — denn alles ift nur durch ihır, alfo auch die Lüge, beſonders die 
große Lüge, die Sinnenmwelt, ift von ihm getragen und gehalten. Ueber 
die Art aber, wie in Gott alles Eins oder alles aus ihm als der ur- 
ſprünglichen Einheit hervorgegangen ift, findet ſich nirgends eine deut— 
lihe Stelle. Das wahre Mittel, das eine und das andere zu erflären, 
böte die Dreiheit dar. Allein über diefe Concurrenz der Dreiheit zu 


der Schöpfung tft mir nur eime einzige Stelle befannt, wo es heißt: 
„Alles hat feine Bewegung erhalten durch die angemefjene Miſchung ver 
drei Eigenfchaften, der ſchaffenden, der erhaltenden und der zerftörenden “. 
In einer andern Stelle wird die. göttliche Wirkfamfeit mit der ver 
Spinne verglichen, die die Fäden ihres Gewebes aus fi) hervor und 
wieder in fich zurüd ziehe. Man kann daher am allerwenigften behaup- 
ten, daß diefe myſtiſchen Theile der Vedas die Erklärung oder das 
eigentliche Geheimnig der Mythologie jelbft enthielten, wie dieß von 
der griechiſchen Myſterienlehre fi) behaupten läßt. In Bergleichung 
mit der griechiſchen Miythologie fann man jagen, daß die indiſche My— 
thologie ihr Ende nicht gefunden hat. Die contemplative und praftifche - 
Richtung der Upanifchads iſt eher ein Streben nad Befreiung vom 
mythologiſchen Proceß als nah dem Durdführen vefjelben. Gerade 
demgemäß Fünnte man alfo jagen, das Antimythologifche, das im Bud— 
dismus als befondere Religion, gleichſam als eine Härefis, als eine 
Ketzerei hervortrat, dieſes Syſtem hat ſchon in den myſtiſchen Theilen 
der Vedas ſelbſt gelegen. Der Buddismus iſt nur die exoteriſch und 
öffentlich gemachte Geheimlehre der Vedas ſelbſt, die im Grunde die 
Mythologie für nichtig erklärt, und die nur eben darum verfolgt wurde, 
weil ſie aus dem Geheimniß hervortreten, im Gegenſatz der mytholo— 
giſchen Religion — mit unvermeidlicher, zugleich politiſcher Folge — 
ſich ſelbſt zur öffentlichen conftituiren wollte, anſtatt eine bloß eſoteriſche 
zu bleiben. Man kann dieſer Meinung einen gewiſſen Schein geben, 
wenn man zufolge der unbeſtimmten Begriffe, die mit dem Wort Pan— 
theismus verbunden zu werben pflegen, ſowohl die Veda- als auch vie 
Buddalehre für ein Syſtem des Pantheismus erklärt. Aber wie man 
neuere Syfteme von jehr verfchiedenen fpeculativen Gehalt mit dem 
gemeinfhaftlihen Namen Pantheismus belegt hat, jo möchte vafjelbe 
geichehen, wenn man die in den myſtiſchen Theilen der Vedas enthaltene 
Lehre mit der Buddalehre iventifictren wollte. Beide find in der That 
nicht bloß verſchiedene, jondern ſich ſogar auf gewifje Weiſe entgegengefegte, 
wie aus Folgendem erhellen wird. 


Die aus den myſtiſchen Theilen der Vedas gezogene Lehre heift 
Schelling, fämmtl. Werke. 2. Abth. I. 31 


482 

Bedanta, fo viel ald Ende, Ziel, eigentliche Abſicht, alſo Sinn, Bes 
deutung, Syftem der Vedas. Die Vevanta aber ift in der That nichts als 
der gefteigertfte Idealismus oder Spiritualismus, der in feinem legten 
Reſultat auf nichts anderes hinausläuft, als der materiellen Welt ges 
genüber von dem Schöpfer eine blofe Scheineriftenz zuzugeftehen, 
gleichwiel, ob diefe Scheineriftenz gerade ſchon in den älteften Schriften 
der Bedanta mit dem Wort Maja ausgevrüdt ſey oder nicht. Denn 
dem freien Schöpfer, der der Vedanta weſentlich ſeyn fol, mußte ſich 
doch das Hervorzubringende erft als Möglichkeit darftellen. Diefe Mög- 
fichfeit ift eben die Maja. Das, mas nur auf einer Möglichfeit beruht, 
was durch einen freien Willen ins Dafeyn gerufen wird, kann mit dem, 
mas von ſich (a se) ift, nie verglichen werden. In diefem Sinn it 
auch für die Vedanta die Welt eine Illuſion. Diefe Möglichkeit eben 
ft Maja = Magie — Möglichkeit. Es ift diefe Urmöglichfeit, ohne 
welche fein freier Schöpfer, die in jpäteren Werfen, auch der Kunft, 
mit den Farben einer gleichfam bezaubernden und verführeriichen Schön- 
heit, die den Schöpfer verleitet, dargeftellt wird. Die Welt entjteht 
durch eine augenblidliche Selbftvergefjenheit, durch eine Art von bloßer 
Diftraftion des Schöpfers, — unftreitig der höchſte Punkt, bis zu wel- 
chem der Idealismus oder die Ueberzeugung von der bloß vorübergehen- 
den und fheinbaren Realität diefer Welt fi) ohne eigentliche Dffenba- 
rung erheben fonnte; eine bei weitem geiftigere und den Menſchen 
befreiendere Vorftellung als die, welche die Gottheit mit den endlichen 
Dingen ewiger Weile behaftet feyn läßt, oder die Dinge als eine ewige, 
willenlofe — ſey es nun phyſiſche oder gar logiſche — manation 
ſeines Weſens betrachtet. 

Mit allem dem iſt nun aber zugleich auch der Unterſchied der Ve— 
danta von dem Buddismus gezeigt. Denn Budda iſt nach allem, was 
wir von ihm wiſſen, zwar nicht der urſprünglich materielle, aber ber 
freiwillig ſich felbft materialificende Gott, der aus reiner Liebe zur 
Kreatur felbft fih zur Materie herabjegt, und alle Formen der Natur 
durchwandelt, nicht außer der Natur bleibt, wie ber Schöpfer ber 
Bedanta. | 


483 

Die Vedanta felbft ift Schon ein philoſophiſches Syſtem. Als 
ſolches heißt ſie Mimanſa. Man unterfcheivet aber die erſte: purva, 
jo viel als prior, Mimansa; aud; Karma-Mimanfa; denn fie be 
Ihäftigt fi) befonders mit den durch die Vedas vorgefchriebenen, reli- 
giöſen Pflichten, fowie überhaupt mehr mit der Auslegung der Vedas. 
Der zweite Theil ift die uttara Mimansa, was man überfegen könnte: 
ulterior oder aud) superior Mimansa; auch Brama-Mimanfa. Diefe 
enthält den eigentlich fpeculativen Theil. Das Hauptbemühen der Ve— 
dantafchriften geht überhaupt dahin, die jcheinbaren oder wirklichen Wi- 
derſprüche der Vedas unter fi) auszugleichen, woraus allein ſchon 
erhellt, daß die Vedas felbft Fein entſchiedenes Syitem enthalten. Die 
Lehre der Vedanta gilt für Die vorzugsweiſe rechtgläubige. Außer ihr 
werden vorzüglich) noch zwei Syſteme genannt. Im Ganzen alfo 
fennt die indiſche Philofophie drei Syiteme. Da aber jedes Syſtem 
wieder zwei Unterfcheidungen in ſich hat, entjtehen auf diefe Art jechg, 
in den ſechs Darſanas vorgetragene Syſteme. Die drei Hauptſyſteme 
find die Mimanja, die Nyaja und die Sanfhya. Die Nyaja fcheint 
ein. bloßes Syſtem der Logif und Dialektik zu jeyn; fie hat auf unfere 
gegenwärtige Unterſuchung feinen Bezug; auch wird fie, wie Colebroofe 
bemerkt, in den Schriften der Vedanta niemals erwähnt. Eine Unter- 
abtheilung bildet ein corpusculum philosophieum, oder eine atomi— 
ftifche Phyfif, Die als beſonderes Syſtem unterjchieven wird. Deſto 
mehr wird die Sanfhya in DVedantafchriften erwähnt, ja diefe haben 
vorzüglich im Gegenfag gegen jene fi) entwidelt. Sankhya heißt jo 
viel als rationelle Lehre, das Wort rationell im allgemeinften Stan 
genommen für Logic dargeftellte und entwidelte, auf Vernunftſchlüſſen 
beruhende, oder überhaupt wifjenfchaftlihe Lehre. Es wird aber eine 
doppelte unterjchieden, eine atheiftiiche, nir-Isvara-Sankhya genannt — 
Isvara ift der indiſche Name des perfönlichen, freiwollenden Gottes. — 
und eine theiftiihe, Isvara-Sankhya. Die atheiftiiche, als deren Ur- 
heber Kapila angefehen wird (ein übrigens ftets in Menus Geſetzbuch 
mit Verehrung genannter Name), diefe jegt allem voraus eine bloße 
Natur, eine bloß mit Nothwendigkeit wirkende, willenlofe Subftanz, 


484 


die der bloß plaftifche, blind produeirende Anfang von allem ift. Dieje 
Natur, Prakriti, heißt als das erfte Eine: Pradhana (-Prafriti), fie ift 
nicht erzeugt, aber erzeugend. Das Erzeugte (nicht Erſchaffene) des 
erften Einen heißt das große Eine, Mahabhuti. Diejes große Eine 
wird mit Unterfcheidvung (distinete) erfannt, als drei Götter erkannt, 
als Brama, Wiſchnu und Mahadewa = Schiwa. „Im Aggregat” (id) 
behalte den englifchen Ausdruck bei), d. h. wohl, die drei Götter zu- 
fammengenommen, ift der große Eine die Gottheit, aber Distributiv 
genommen, find es drei individuelle Wefen. Dieſe Stelle zeigt eine 
große Uebereinftimmung mit unferer Erklärung der Al-Einheit: Gott 
ift Mehrere, oder beftimmt drei, A, B, C, aber er ift nicht Gott als A, 
nicht als B, nicht ale C insbefondere, fondern nur a8 A+B+ C, 
und er ift daher, obgleich Mehrere, doc nicht mehrere Götter, fondern 
nur Ein Gott. Was der Engländer dem mechanifchen Begriff feiner 
Philofophie gemäß durch Aggregat überfett, ift im Indiſchen gemiß 
durch ein geiftigeres und philoſophiſches Wort ausgedrüdt, Der wahre 
Sinn der indiſchen Gloſſe ift: Brama,. Schiwa, Wiſchnu in ihrer Ein- 
heit betrachtet find die Gottheit felbft, in ihrer Trennung (Spannung) 
find fie drei individuelle Weſen, die, weil in ihnen doc nur die Eine 
Gottheit exiftirt, als drei Götter betrachtet werden Fünnen. Atheiſtiſch 
heißt dieſe Lehre, weil fie vor allen eine bloße Natur jest, und 
das Eine, das fie Gott nennt, nur erft aus diefer erjten Natur 
hervorgehen läßt. Nun habe ich jchon erwähnt, daß außer der atheifti- 
ſchen Sanfhya aud eine theiftiiche, rechtgläubige genannt wird und 
ald deren Urheber Patandjali. Es wäre vom höchften Intereſſe 
zu wiffen, an welchem Punkt fid) diefe orthodoxe von der hetero- 
doren Sanfhya getrennt habe. Denn als Sanfhya war fie doch aud) 
ein vationelles, wiſſenſchaftliches Syſtem. Die bloße Kenntniß, daß 
fie einen Isvara, d. h. einen perjünlichen und freiwollenden Schöpfer 
gelehrt habe, befriedigt nicht. Es iſt wirklich ſehr zu bedauern, 
daß uns keine Kenntniß darüber gegeben iſt, wie Padantjali dieſen 
freien Welturheber erreicht hat. Betrachten wir ſie aber als Ge— 
genſatz der atheiſtiſchen Sankhya, mit der ſie als Gegenſatz übrigens 


485 


doch auf gleicher fpeculativer Höhe ftehen mußte, fo wird fie ſich 
von diefer eben dadurch unterfchieven haben, daß fie den Isvara an 
die erfte Stelle feste, und die Dreiheit aus dieſem nicht durch eine 
bloße blinde und nothwendige Erzeugung, fondern durch eine freie That 
hervorgehen ließ. Diefe orthodore Sankhya war dann aber von der 
Vedanta nicht der Sahe nah, fondern nur dur die wifjenfchaftliche, 
rationelle Methode verjhieden. So weit reihen etwa mögliche Schlüffe. 
Die Unvollftändigfett unferer Kenntniffe hat nur nicht verhindert, aud) 
die Hypotheſe aufzuftellen, es ſey die Buddalehre als ein bloßer Zweig 
ver atheiftiihen Sankhya-Lehre entftanden, namentlich ift dieß von Fran- 
zojen aufgeftellt worden. Diefe Hhypotheje denkt ſich den Budda nicht 
als Gott, fondern als bloß menfchlichen Keligionsftifter. Hätte aber | 
der Stifter des Buddismus feine Lehre auch nur zum Theil aus ven 
Duellen der Sankhya-Philoſophie gefhöpft, wäre alfo der Buddismus 
überhaupt philofophifchen Urfprungs, jo hätte er nie dieſe ungeheure 
Ausbreitung gewinnen können. Die buddiſtiſche Kirche ift die größte 
im ganzen Orient, Budda zählt noch jett mehr Anhänger, als das 
Ehriftenthum und der Islam zuſammen. Noc weniger hätte eine fpe- 
eulative Lehre jene ungeheuren Yeljentempel in Kennery oder jene ftau- 
nenswerthen Monumente bet Bamian im jetigen Königreich Kabul auf 
dem Uebergang von Perjien nad) Indien, die alle budoiftifch find, be— 
werfitelligt oder zu Stande gebracht. So etwas entfteht nicht mehr in 
Zeitaltern der Philofophie. Ic glaube alſo, auch diefen Verſuch, das 
Räthſel des Buddismus zu löfen, als ungenügend erwiefen zu haben. 

Die Buddalehre ift nicht die Geheimlehre der Vedas, — dem 
wenigſtens die Vedanta läßt nicht den Gott ſich ſelbſt materialiſiren; 
fie ift nicht ein philofophifches Syftem, — denn diefes Fünnte nur 
die atheiſtiſche Sanfhya jeyn: aber auch diefe ıft im Princip vom Bud— 
dismus unterjchteden, der überhaupt einen anderen als philoſophiſchen 
Urſprung vorausfeßt. 


Bweiundzwanzigfie Vorlefung. 


Wir haben jet alfo nur noch eine dritte Hypotheſe zu unterfuchen, 
nad) welcher Budda = Wiſchnu, der Buddismus nur eine befondere 
Form jenes gefteigerten Wiſchnuismus wäre, wie ſich diefer ganz be- 
fonders in der Bhagwadgita darftellt. Hauptargument ift, daß die 
Incarnationsidee beiden gemein. Zur Prüfung diefer dritten Hhpothefe 
wird e8 daher nöthig jeyn, etwas über den Sinn und das fpeculative 
Syſtem namentlich) der Bhagwadgita zu fagen, einer Compofition, die 
gleich bei ihrer erften Erjcheinung eine ungemeine Aufmerkfamfeit er: 
regte, neuerdings aber, nachdem der Driginaltert in einer genauen la— 
teinifchen Ueberfegung von A. W. Schlegel heransgegeben worden, Ge- 
genftand mehrerer jcharffinniger Unterfuchungen geworden ift, unter 
denen fi) die Abhandlung W. v. Humboldts auszeichnet. 

Unter der Bhagwadgita alfo verfteht man eine philofophifche Epi- 
jode, die fi in dem zweiten, dem großen und berühmteften epifchen 
Gedicht Indiens, in dem Mahabharatha findet. Diefe Epifode beruht 
darauf, daß der Helv der einen Partei Ardſchunas im Beginn der 
Schlacht, die er gegen die ihm nah verwandten Söhne des Königs Di- 
ritaraſchtra zu Schlagen im Begriff fteht, in völlige Muthlofigfeit ver- 
finft, umd indem er fid) gegenüber feine Verwandte, Freunde, zum 
Theil feine Lehrer jelbft erblickt, zweifelhaft wird, ob es beffer jey, Die, 
ohne welche das Leben felbft für ihn feinen Werth haben würde, zu 
befiegen, oder von ihnen ſich befiegen zu laffen. In diefem Anfall von 
Kleinmuth wendet er fih an ven ihm begleitenden Krifchna, um 


487 
Aufſchluß und Belehrung; es entjpinnt fi ein philoſophiſches Gefprädh, 
deſſen erftes Argument diefes ift: Ardſchunas habe Unrecht feine Ver— 
wandte zu beflagen, aud) wenn fie umfommen, Geftorbene und Nicht— 
geftorbene betrauern ſey gleich unwürdig; denn — dieß ift der Haupt- 
punft des Arguments — „denn ich ſelbſt, fagt Krifchna, ich felbft war 
niemals nicht, noch warft auch du Ardſchunas jemals nicht, und ebenfo 
aud) jene Könige, deine Verwandten, waren zu feiner Zeit nicht, und fo 
wird aud für uns alle insgefammt nie eine Zeit ſeyn, wo wir nicht 
jeyn werden“. Kurz, Krijchna behauptet hier die abjolute Ewigfeit aller 
Eriftenzen, er leugnet, daß irgend je etwas wahrhaft entftehen oder 
vergehen könne, da vielmehr alles ewig ſey, weil ein Uebergang vom 
Nichtfeyn zum Seyn unmöglich ſey. Denn „dem Nichtfeyenden kann 
nie Seyn, alſo auch nie dem Seyenden nicht Seyn werden“, oder wie 
DW. v. Humboldt den Vers überfegt: 
Des nicht Seyenden ift nicht Seyn, Nichtjeyn ift nicht des Seyenden; 

ein Vers, der ganz an den beinah gleichlautenden Sag des Parmenives 
erinnert, wo ebenfalls gejagt ift, daß das nicht Seyende nie ſeyn 
fünne. Nachdem nun Kriſchna diefe ganz abjtrafte Lehre auseinander: 
gejegt, mit diefem an fich troftlofen Begriff den Ardſchunas zu tröften 
gejucht, jagt er zu diefem: „Die nun habe ic} dir nad) der Sankhya-Lehre 
augeinandergefegt; nun vernimm aber dafjelbe (nämlich daß du Feine 
Urfache haft, über den bevorftehenden Kampf dic zu betrüben) nad) 
der alten Yogalehre“. Hier werden aljo Sankhya- und Yogalehre unter 
ſchieden, ja faft einander entgegengejegt. Ausdrücklich nennt Kriſchna 
die Yoga antiquam doctrinam, die er jelbjt zuerft dem Vivaswan, 
diefer dem Menu u. j. w. mitgetheilt habe. Er jegt alſo — könnte 
man jagen — die alte Yoga als die im indiſchen Syſtem von jeher 
einheimifhe Geheimlehre der neueren, nämlid der erſt auf dem Wege 
der Speculation erzeugten, der Gnana= oder Saukhya-Yoga entgegen. 
Das Wort Gnana hat Bezug auf das griehiihe yrovaı, yumwoıg: 
es ift alfo die doctrinelle, die theoretifche Yoga. . Eben dieſe heißt auch 
Sankhya-Yoga, und fo, nämlich Sankhya-Yoga, ift jene erſte Abtheilung 
überfchrieben, die das von ung fo genannte abjtracte Argument enthält. 


488 


Es fragt fid) vor allem, was das Wort Yoga an ſich bedeutet. Es 
ift auf verſchiedene Weife überfett worden. Der allgemeine Begriff er- 
gibt fi) Dadurch, daß es mit einem Wort zufammenhängt, das dem 
lateinifchen jungere entjpriht. Einheit ift auf jeden Fall das Vor— 
herrſchende im Begriff. Schlegel überſetzt es durch devotio. Allein 
dieß würde faft nur der einen Seite der Yoga entfprechen, ver prafti- 
ihen oder Karma-Yoga. Aber e8 gibt auch eine Buddi-Yoga, d.h. 
Yoga im Denken. Ein befannter Philofoph, der fid) aud) mit der 
Bhagwadgita abgegeben, hat e8 Andacht überfegen wollen. Aber ein 
Denf- Andächtiger käme mir faft vor, wie ein fogenannter Denk-Gläu— 
biger. Humboldt überfegt das Wort durch Vertiefung. Mid) wundert, 
daß niemand auf das deutſche Innigkeit gefallen ift, das zugleich ven 
Begriff ver Innheit, des in-ſich, in feiner Tiefe — nicht in der Pe— 
ripherie, in der Welt der getrennten Eigenfchaften Seyn, und zugleich den 
Begriff der Einheit und der- Einigfeit in fich fchließt. Werner läßt fich 
aud das Wort Innigkeit mit allen jenen Beſtimmungen verbinden, Die 
es im Indiſchen erhält: e8 gibt eine That-Innigkeit, Innigkeit, Die 
auch im Handeln befteht, durch die allein der Widerſpruch aufzulöſen 
ift, in den der Menſch durch die Nothwendigfeit überhaupt zu handeln 
verfett ift. Denn wer handelt, tritt damit aus fich jelbft heraus. und 
verläßt die Ruhe, in der allein die Gottgleichheit befteht. Wer handelt, 
verfängt fich mit der wirklichen Welt und ihren Bedingungen; frei iſt 
eigentlich nur dev Nichthandelnde; der einmal gehandelt hat, ift durd) 
jeine That gebunden. Inſofern ift Erfenntniß beſſer als Handeln. Und 
doch kann das Handeln auch nicht unterlaffen. werden: der Menfh muß 
wohl handeln und wird auch gegen fein Wollen zum Handeln getrieben. 
Hier zeigt nun die praftiiche Mogalehre den Ausgang. Der Menſch be- 
freit fi won diefem Widerfpruch, wenn er zwar handelt, aber als ob 
er nicht handelte, nämlich ohne feiner Handlungen ſich anzunehmen, und 
mit der vollfommenen Ruhe über ven Erfolg: Dann vereinigt er. beide 
Syſteme, das, was dem thätigen und handelnden Leben: allein Werth 
zugefteht, und das andere, welches den wahren Werth des Lebens in 
die reine Erkenntniß feßt und das befchauliche Leben über das thätige 


489 

erhebt. Nicht die Früchte der Thaten begehren, fondern alle Thaten 
und Handlungen in den Schoß der Gottheit niederlegen, als von ihr 
und durch fie geſchehene, — wer fo handelt, ift mitten im thätigften 
und bemweglichften Leben als ein nicht Handelnder; er bleibt im Han- 
deln vom Handeln unbefleft, wie das auf dem Waffer ſchwimmende 
Lotosblatt mitten im Wafjer vom Waffer unbenegt bleibt. Derjenige, 
der nicht ſolches Sinnes fähig, nicht im Handeln ruhig, unbewegt zu 
bleiben _verfteht, ein joldher mag zwifchen Erkennen und Handeln unter- 
Icheiden; der wahre Yogi, d. h. der Eingemweihte viefer höheren Lehre, 
hat diefen Gegenſatz überwunden, wie Krifchna jagt: 

Erkennen trennen und Handeln thörichte Knaben nur; 

Wer an dem Einen fefthält, 
(die Yoga ift alfo Fethalten an dem Einen, nicht ſich heranswerfen 
Laſſen in die getrennte Welt) 

Wer an dem Einen feſthält, findet der Beiden Frucht — 
Oder, wie es in einer anderen Stelle heißt: 
Hier ſchon gewinnen den Himmel, deren Geiſt in der Gleichheit ſteht 


(die durch keinen Gegenſatz von Freud und Leid, Furcht und Hoffnung 
ſich bewegen laſſen, denn Leid und Freud, beides iſt nur in der ge— 
trennten Welt möglich, wer von dem einen oder andern bewegt iſt, will 
nicht die Handlung ſelbſt, ſondern die Folge, die Frucht der Handlung) 


Hier ſchon gewinnen den Himmel, deren Geiſt in der Gleichheit ſteht, 

Ganz vollkommen und gleich iſt Gott, darum ruhen in Gott ſie ſtets. 

Nicht erfreue ſich je des Glücks und nicht klage im Unglück auch 

Wer feſtgeſinnt, von Thorheit frei, Gott erkennend, in Gott beharrt. 

Mit Gott die Einung vollendend, hat er ein unzerſtörbar Gut, 

Der wahrhaft Fromme (unftreitig ſteht hier Yogi, alſo —) 

Der wahrhaft Innige fteht ewig einfam in fich mit feinem Geift, 
(einfam, wie Gott auch einfam: ift) 

Einheit - bejeelt, des Sinns- Sieger, ſonder Begier, von nichts bewegt. 

Wer vereinigt (ich würde fagen: verinnigt, alſo —) 

Mer verinnigt fein Inn'res stets beherricht, 

Die höchſte geiftige Ruhe erreicht der, die da wohnt in mir. 

Wie am windlofen Ort ein Licht, nicht fich bewegend: dieß Gleichniß gilt 


490 


Von dem Inn’gen, der ſich befiegt, nach Vollendung des Innern ftrebt. 
Bon allen ifts der Weife nur, der ſtets — verinnigt — dem Einen dient. 
Wohl ein Freund des Weifen bin ich ſehr, ſowie er der meine ift. 

Auch andre verdienen hohes Lob bei mir; der. Weife gilt wie ich bei mir, . 

Zu mir richtet den letten Weg hin fein wieder vereinter Geift 

(aud dieß zu bemerfen), 

Am Ende vieler Geburten fehreitet der Weife hin zu mir. 

Ich habe durch diefe Anführungen nebft der praftifchen Yoga zu- 
gleich die theoretijche hinlänglich erflart. Auch die theoretifche Yoga 
bejteht in der Erhebung über die Welt der getrennten Eigenfchaften zur 
Einheit. Inſofern ift auch die bloße Sankhya eine Yoga — auch dieſe 
jeßt vor den getrennten Potenzen eine Einheit; aber Die eigentliche 
Moga, von welcher in der angeführten Stelle die Rede ift, ift Die zur 
geiftigen Einheit, zum freien Schöpfer fortgefchrittene Erfenntniß- und 
das durch die geiftige Einheit beherrfchte Innere. Aus Diefem Grunde 
heißt auch die theiſtiſche Sankhya des Patanpjali, die ausdrücklich 
als Sankhya und Vedantalehre vermittelnd befchrieben wird, ſpeciell Yoga: 
Sastra-Mogalehre. Ich glaube übrigens nod) bemerken zu müffen, daß bie 
Kraft, womit der Menjc jene Innigfeit behauptet, die ihn zu Gott erhebt, 
die Gott gleich macht, daß dieſe Kraft feinesmegs als eine bloß fubjektive be- 
trachtet wird, Colebroofe bemerft ausdrücklich, Die "Yoga jey eine Kraft 
in ber Gottheit jelbft. Der Innige behauptet unter den Wechfelfällen 
und mandelbaren Erjcheinungen diefer verfatilen Welt die Einheit mit 
feiner andern Kraft, als mit welcher auch die Gottheit mitten in ber 
Zertrennung der Eigenfchaften und Potenzen, durch welche allein dieſe 
finnenfällige Welt möglich ift, ihre ewige Einheit. behauptet. 

Was in den theojophifchen Theilen der Vedas ſchon als das höchſte 
Ziel vorgeftellt wurde, Unification des menſchlichen Weſens mit Gott, 
ift alfo auch, nur mannichfaltiger ausgebildet und dargeftellt, der Ietzte 
Inhalt der Mogalehre, wie fie in der Bhagwadgita vorgetragen: ift. 
Für unfern Zwed kann es als gleichgültig erfcheinen, ob man anneh- 
men foll, daß dieſe Epifode mit dem Heldengedicht, in dem fie ſich be- 
findet, gleichzeitig jey, oder daß fie fpäter in bafjelbe aufgenommen 
worden. Auf jeden Fall nöthigt uns eine gefunde Fritif won dem 


491 

viertaufendjährigen Alter, das einige dieſem Gedicht zufchtieben, einen be- 
deutenden Abzug zu machen, jelbft taufend Jahre vor umnferer Zeit- 
rehnung möchte nody um einige Jahrhunderte zu viel feyn, fir welchen 
Abzug die Anführung der Sanfhya, d. h. des erften rationellen over 
wiſſenſchaftlichen Syſtems, ſowie die Freiheit ſprechen möchte, mit der 
ſich dieſes Gedicht Über die Vedas erflärt, und von der bis zur völligen 
Verwerfung allerdings nur ein Schritt jcheint. So viel beweist indeß 
die Aufnahme in das eine der großen Nationalgedichte, daf es in In— 
dien eines hohen, ja canonifhen Anfehens genoß, wie e8 auch heut zu 
Tage noch unter die Upanifhads gerechnet wird; denn Upanifchad ift 
ein allgemeiner Name und bezeichnet die canonifchen Bücher theofopht- 
Ihen Inhalts in den Vedas und andermärts. Die Vedas werden in 
der Bhagwadgita durchaus dargeftellt als nicht den legten Grund 
erforfchend, als nicht zur höchſten Keinheit des Geiftes und Sinnes 
erhebend, als noch zum Theil in die Welt des Scheins herabziehend. 
Natürlich find damit vorzüglich die ceremoniellen und rituellen Bor- 
jchriften der Vedas gemeint. Kriſchna empfiehlt dem Ardſchunas alle 
andern Sentenzen zu verlaſſen, ihn als einzige Zuflucht allein zu ehren. 
Er erflärt daher jeine Religion ausdrücklich als die allein wahre und 
zur Bollendung führende, ſich ſelbſt als allein wahren Gott, alle an- 
dern als bloße Stufen zu diefem. Aber eben darum verwirft er Die 
den anderen und niederen Göttern dargebrachten Berehrungen nicht 
völlig. Denn Er ifts doch eigentlich, der den Glauben an diefe Götter 
wirft, und Er wird in ihnen verehrt, Er ift e8 aud), der je nad) der 
Aufrichtigfeit und Keinheit der Gefinnung den Willen der Opferbrin- 
genden erhört. „Von diefem und jenem Gelüfte bethört (jagt ev im 
fiebenten Gefang), folgen Die meiften andern Göttern nad). Errichten 
die und die Sigung, durd) die eigene Natur beftimmt. Was num aud) 
jeder für ein Bild dienend im Glauben zu verehren wählt, den fejten 
Glauben, den er hat, entflamme nur ich allein, und er erreicht auch 
die Wünfche von mir beftimmt, wie's mir gefällt”. 

Die materiellen Götter (Deva) find nad der Kriſchnalehre, wie 
nach den philofophiichen Syſtemen Indiens, nur Weſen der erjien und 


492 


höchſten Art, aber doch ſelbſt mit zu der entftandenen Welt gehörige, in- 
nerweltlihe Götter, nicht vergleichbar mit dem unerſchaffenen, außer⸗ 
weltlichen Weſen. Wer dieſe Götter, die, wie die Sterblichen, noch 
an den getrennten Eigenſchaften Theil haben, verehrt, kommt nach dem 
Tode zu dieſen Göttern und genießt in deren Wohnſitzen die dieſen 
Orten angemeſſene Seligkeit. Ihn erwarten himmliſche Freuden, aber 
nur in Indras Welt (Indra iſt unter jenen weltlichen Göttern der 
höchſte). Allein dieſe dauern nicht ewig, ſondern, wenn das durch ihre 
Werke erworbene Verdienſt gleichſam aufgezehrt iſt, kehren ſie durch 
eine neue Geburt in dieſe Welt zurück. Dieß iſt das Schickſal aller 
derer, die ſich auf beſchränkte Weiſe an die heiligen Bücher und die in 
ihnen vorgeſchriebenen Ceremonien gehalten haben. Aber die, welche 
nicht durch Werke ihre Seligkeit ſuchen, ſondern durch die Vereinigung 
des Gemüths und Geiſtes mit dem höchſten Weſen, gelangen zu dieſem, 
und ſind frei von jeder ferneren Geburt. Insbeſondere ſind Opfer, 
und hauptſächlich Thieropfer, nur auf gewiſſe Weiſe, nämlich nur durch 
die Reinheit der Intention, verdienſtlich. Denn ein particulares Gebot 
ſagt zwar: du ſollſt Thiere opfern, aber ein allgemeines Gebot ſagt: 
du ſollſt kein Lebendiges tödten, ja kein empfindendes Weſen nur irgend 
verletzen. Hierin iſt die Yogalehre allerdings ganz buddiſtiſch. Der 
Yogi ift ein Freund aller lebendigen Weſen. Es iſt bekannt, daß ein 
ächter indiſcher Yogi ſelbſt von Inſekten ſich eher verzehren läßt, als 
fie tödtet. Man kann, wenn man will, über joldhe Gewiffenhaftigkeit 
lachen, zu wünjchen aber wäre, daß manche wiſſenſchaftliche und un— 
wiſſenſchaftliche Ihierquäler etwas von diefer Gewifjenhaftigfeit der Bud— 
diften und der Yogis an fid) hätten. Die Opfer find auch darum nur 
zum Theil zuläffig, weil es nicht vecht ift, daß die Glückſeligkeit eines 
Weſens auf Koften eines andern erlangt werde. MUeberhaupt wird die 
Unvollfommenheit aller Werke behauptet und ihre Unfähigkeit ar 
wahren Seligfeit zu führen. Darauf bezieht ſich das Wort: 
Alles Thun ift wie Feuers Lodern, umhüllt von Rauch. 

Das Wichtigſte für ung aber ift die Lehre von den drei Eigen- 

haften und deren Berhältnig zur Maja. Sie beweist, daß bie erften 


493 


Prineipien, welde uns vie Mythologie aufgefchloffen haben, aud von 
der indiichen Philoſophie als ſolche erkannt worden; denn die Lehre der 
Bhagwadgita ift nicht nur eine allgemein geltende, fie ift auch eine 
philofophifche. Die veutlichite Stelle über die drei Eigenfchaften und ihr 
Berhältnig zur Maja ift die im achten Gefang, wo Krifchna nad) der 
lateiniſchen Ueberfegung von W. Schlegel jagt: Trinis qualitatibus 
totus mundus delusus non agnoseit me his superiorem, incorrup- 
tibilem. Divina quidem illa Magia ' mea difficilis transgressu est; 
attamen qui mei compotes fiunt, ii hane Magiam transjiciunt; 
oder nad) der deutjchen Ueberfegung feines Bruders: 

Durch die Täuſchung der drei Eigenfchaften ift ganz bethört 

Ale Welt und verfennt mich, der über jenen, unwandelbar. 

Göttlich ift fie, Die Welterjchaffende, meine Täuſchung; wird ſchwer beſiegt, 

Aber die, welche mir folgen, fchreiten über die Taufchung hin; 

d. h. überwinden fie; woraus aljo zugleid Far, daß die Unification 
eigentlidy eine Ueberfchreitung, Ueberwindung der Maja ift. 

Die Maja. befteht aljo nad) der Bhagwadgita in der Trennung 
der drei Onalitäten, der Potenzen, die ſchon erkannt worden, die drei 
jcheinen, während fie eigentlid (dem wahren Wejen nad) nur Eins 
find. Der Kampf der getrennten Potenzen wird als ein drehendes Rad 
vorgeftellt. Der Herr aller Lebendigen, heigt es an einer Stelle, ver 
feinen Sig in der Region des Herzens (der Mitte aller Bewegung) hat, 
täuſcht alle Durch dieſes drehende Rad getriebene Lebendige mittelft feiner 
Magie. Wiſchnu, wenn er nicht Die einzelne Potenz, fondern den 
durch Wiſchnu vollendeten Gott jelbjt bedeutet, erſcheint m Abbildungen 
ftet3 mit dieſem drehenden, flammenden Rad, meldes man das Rad 
der drei Eigenfchaften nennen kann, worin bald die eine, bald die andere 
fiegt, jo daß die ganze Mannichfaltigkeit der Dinge nur durch dieſes 
drehende Rad hervorgebracht wird, das er durch feinen Willen dreht 
und in unabläfjige Bewegung fett, ohne felbjt mit in diefem Rad be- 
griffen zu feyn. Denn aufs Beſtimmteſte wird der Schöpfer jelbjt von 
diefer Maja unterjchieden, in der die ganze Welt befteht. „Nicht fieht 


So überjett Schlegel das Indiſche Maja. 


494 





mich die Welt, mic) eingehüllten in meine geheimnißwolle Magie; vie 
thörichte Fennt mich nicht, den (im Gegenſatz jener Magia, die etwas 
bloß Gewordenes und Borübergehendes ift) Ungewordnen und Unverberb- 
lichen“. Wenn es nur der fich felbit völlig Klar gewordenen Speculation 
möglich ift zu erflären, wie alle Dinge in Gott find und auch nicht 
find, fo hat diefes Gedicht, unftreitig eines der tiefften und zarteften 
Erzeugniffe des indiſchen Geiftes, fi) ſchon bemüht, die Auflöfung 
diefes Widerſpruchs dadurch zu geben, daß e8 zwar das Seyn der Dinge 
in’ Gott behauptet, aber nicht hinwiederum das Seyn Gottes in den 
Dingen (fo etwa, wie der Gott der Buddalehre, wenn auch übrigens 
unterfhieden von der Materie, doch in der Materie ift). „Non equi- 
dem illis insum, insunt illae mihi“, d. h. fie find durch mich gebunden, 
aber nicht ich durch fie; ich binde fie, indem ich felbft von ihnen frei 
bleibe. Daher an einer andern Stelle die beiden einander aufhe- 
benden Säte zugleicy behauptet find: mihi insunt omnia animantia, 
nee tamen mihi insunt animantia. Schlegel fett zu dem legten Sat 
ein quodammodo; allein wie die Dinge allerdings nur auf gemifje 
Weiſe nicht in Gott find, fo gilt auch umgekehrt, daß fie nur auf ge= 
wiſſe Weife in ihm jind. Kriſchna fett hinzu: Ecce mysterium meum 
augustum: Siehe da mein erhabenes, ehrfurchtgebietendes Geheimnig — 
das Geheimniß meiner Majeftät, meiner Herrlichfeit (im eigentlichen 
Sinn), meiner Schöpferherrlichfeit, die eben nur in der Freiheit befteht, 
die Potenzen, deren unzerreißbare Einheit Gott felbft ift, auch außer— 
einander und in Spannung zu erhalten. Der Schöpfer tritt nie jelbft 
in den Proceß und damit in die Welt der Dinge herein, obgleich fie 
nur in ihm beftehen und find. Noch weniger wird irgendwo eine noth- 
wendige Verbindung der Dinge mit dem Schöpfer im Sinn eines ges 
meinen Bantheismus gelehrt. Im dritten Gefang fagt Kriſchna: „Ich 
wirfe für und für; wenn einmal id) nicht raſtlos in That wirkete, ſänke 
alle dieſe Welt in Nichts“. Hier. aljo befteht die ganze Welt nur durch 
ein ftetes und unabläffiges Wirfen des Gottes, das er Übrigens aud) 
unterlaffen fönnte und das. ein freies Wirken ift. Die Welt verſchwände 
Ipurlos, wenn er in diefem Wirken nachließe. Die Welt ift ein Schein, 


495 





aber ein frei hervorgebrachter Schein. In einer andern Stelle wird 
der Stoff und der Stoffbändiger, der aljo Herr des Stoffe ift, auf 
eine Weife unterſchieden, daß der legte nicht in den erften felbft über: 
geht, jondern außer ihm bleibt, was im Begriff des Bubdismus nicht 
jo der Fall ift. Ein ebenfalls den freien Schöpfer bezeichnender Begriff 
ift Punuſcha, wie Krifchna aud) genannt wird. Schlegel durch „Genius“. 
Nach VBergleihung mehrerer Stellen ift e8 jo viel als Geift, d. h. das 
dem Meateriellen (das find beziehungsweife zu dem fie als Eins Seßen- 
den die Potenzen) Entgegengejeste überhaupt. Diefer Geift wird das 
summum scibile, und an einer Stelle des Gedicht der uralte Dichter 
und Schöpfer des Univerfums genannt. Dichter heißt er als freier 
Hervorbringer. Die einzige Einwendung gegen den Begriff eines per— 
jönlichen Gottes in der Bhagwadgita könnte davon hergenommen wer— 
den, daß an mehreren Stellen der höchſte Gott oder Wiſchnu mit dem 
Neutrum Bram bezeichnet wird. Allein damit ſoll nur ausgebrüdt 
werden, daß Wiſchnu das als folches gejegte Weſen deſſen ift, was in 
Brama nicht als ſolches gejegt ift. Brama ift das bloße, d. h. 
das nicht ſeyende Weſen Gottes, Schiwa ift der Gott im bloßen 
Seyn, aljo außer dem Weſen, Wiſchnu ift das als jeyend geſetzte 
Weſen Gottes, d. h. das als ſolches geſetzte Bram, dafjelbe, was in Brama 
ift, nur als ſolches auch geſetzt. Der zu feiner vollfommenen Verwirk— 
lihung gelangte Wiſchnu jest eben darum die andern Potenzen voraus 
und begreift fie. In einer- Stelle heißt Kriſchna potior Brachmane 
ipso. Alſo Wijchnu höhere Potenz des Brama Wenn Schiwa oder 
Mahadewa, foviel mir ſchien, in feiner Stelle befonders genannt ift, jo 
läßt ſich dieß aus einer Abneigung der Wifchnuiten gegen den Schi— 
waismus erklären, indeß ift mehrmals gejagt: Tu conditor universi, 
ta idem et destructor — ver Urheber und Zerftörer des Weltalls find 
nur Ein Gott. MUebrigens find mit den drei Eigenſchaften von felbit 
auch ſchon die drei Dejotas gedadıt. | 

Hieraus erhellt demnach, daß der Wiſchnuismus aud in feiner 
höchſten Steigerung doch nie eigentlich die Dreiheit ganz aufgegeben, 
die bloße Einheit gefegt hat. Dieß ſcheint num aber nad ben 


496 

gewöhnlichen Borftellungen der Buddismus gethan zu haben, und man 
fönnte infofern ſich verleiten laffen, mit einigen Franzoſen zu be— 
haupten, der Buddismus ſey nur nod um einen Schritt weiter ge- 
gangen als der Wilhnuismus. Wenn nämlich diefer das höchfte 
Weſen noch immer in Wifchnu, d. h. in einer zuletst mythologifchen 
Perfon fest, infofern alfo die mythologifchen Begriffe zu feiner. Vor— 
ausfegung behält und eben darum aud) Die Vedas zwar nur in einem 
untergeordneten Sinn, aber doch noch auf. gewiffe Weife als. heilige 
Bücher gelten ließ, jo habe der Buddismus zuerft dei — aaa 
diefe Schranken wegzumerfen. 

In der Bhagwadgita wird jene höhere Lehre, welche ven Vorſchriften 
der Vedas ebenfo-den Opfern und andern Gebräuchen der Volfsreligion 
nur einen untergeordneten und bedingten Werth zugefteht, durchaus als 
Geheimlehre behandelt und erklärt. . Noch in. dem legten Gefang, wo 
Kriſchna dem Ardjunas jagt: Cunctis religionibus dimissis me tan- 
quam unicum perfugium sectare, fett er hinzu: Hoc praestantissimum 
arcanum neque irreverenti unguam neque contumaci est- evul- 
gandum. Der Buddismus wäre demnach nichts anderes als das 
öffentlic) gemachte und gleichjam verrathene Geheimniß der indifchen 
Keligion. Daher der blutige Haß der orthodoren indischen Kirche gegen 
den Buddismus. Kein geringerer Volkshaß verfolgte in Griechen- 
(and jeden, der an den Myſterien zum Verräther ‚geworden. Was in 
Griechenland die Myfterienlehre, das wäre in Indien der Buddismus. 
Aber die Geheimlehre der Griechen ift innerhalb ver Nation geblie- 
en; hätte fie als öffentliche Religion auftreten wollen, fo wäre fie 
ohne allen Zweifel ebenfall® ausgeftoßen worden, jo hätte ſich Griechen— 
(and aud) in zwei Völker oder doch Sekten zertrennen müffen, wie In- 
dien in Anhänger des Brama und Anhänger des Budda. 

Der Buddismus begnügte ſich nicht, den Monotheismus oder Ban- 
theismus, den er mit der indischen Geheimlehre gemein hatte, nur als die 
höchſte Religion zu erklären; er fuchte fie als die ſchlechthin allgemeine gel- 
tend zu machen. Dadurch war er nun genöthigt, nicht bloß die Vedas und 
die blutigen Opfer zu verwerfen (auch darin war ihm. der Wiſchnuismus 


vorausgegangen, nur mit Maß), jondern aud allen Unterſchied ver 
Kaften aufzuheben (weil er nämlich nur eine univerfelle Religion fta- 
tuirte), jomit zugleid die politiihe und die priefterliche Drganifation 
Indiens anzugreifen, mit Einem Wort als eine wahre Revolution auf- 
zutreten. Der ſchneidendſte Gegenfag lag urfprünglich nicht ſowohl im 
Dogma jelbft, als in dieſer allgemeinen Geltendmachung des Dogma, 
welche. zugleich ein Angriff auf die politiiche Eriftenz der Braminen 
war. Die Braminen bildeten eine zahlreiche, durch ganz Indien ver- 
breitete und große Borrechte genießende Körperſchaft, aber fie hatten, 
genau zu reden, Feine hierarchiſche Verfaſſung. Sie hatten feinen ge 
meinjhaftlihen Mittelpunkt, fein gemeinfchaftlices Oberhaupt. Sie 
bildeten eine priefterlihe Artftofratie, gerade jo wie die Kſchatryas 
eine militäriſche bildeten; fie waren nicht ein Staat im Staat. Wenn 
aber einmal die unbedingte Einheitslehre hervortrat und als all 
gemeines Syſtem für alle Klaſſen proclamirt wurde, jo mußte eine 
geiftlihe Monarchie entjtehen, die bald ſogar über die weltliche ſich zu 
erheben trachtete. Sett man daher voraus, daß die Buddiſten in In— 
dien verfuchten, was ihnen außer Indien gelang (die Errichtung einer 
geiftlihen Monarchie), jo begreift man, wie aud) die weltlichen Herricher 
Indiens (das nie zu einer großen Monarchie ſich hatte vereinigen kön— 
nen), wie die indifchen Radſchas, die Fürſten, den entrüfteten Braminen 
ihren Arm und ihre Macht zur Verfolgung und Austreibung des Bud— 
dismus mit einer Leidenſchaft Liehen, von der eine indiſche Sloka in 
graufenvoller aber erhabener Kürze ein Bild gewährt: 

Bon der Brüd’ an (die ift die berühmte Brüde des Rama, worun- 
ter, wie Sie wiſſen, die Meerenge zwijchen der Spige der Halbinfel 
und Ceylon gemeint ift, alfo: von der Spige der Inſel) 

Bon der Brüd’ an das Schneegebirg (das Himelayagebirg, das Indien 
im Norden abjchneidet) 

Bon der Brück’ an die Schneeberg hin wer die Buddas, jo Greis wie Kind, 
Nicht erwürgt, foll erwürgt werden, rief der Fürft feinen Dienern zu. 

Durch ſolche Umftände fucht man alfo begreiflich zu machen, wie 
ver Buddismus, obwohl aus der indischen Geheimlehre ſelbſt hervor- 

Schelling, fämmtl. Werke. 2. Abtb. 11 22 


498 
gegangen, mit folder Grauſamkeit und Wuth aus Indien vertrieben 
werben Fonnte, daß er dort faft ganz verſchwunden ift. 

Man führt wohl aud) an, daR e8 eine bei den Braminen ange 
nommtene Sache fey, Budda als die neunte Incarnation oder als die 
neunte Avantara (denn fo heißen die Incarnationen) Wiſchnus anzu- 
jehen. Daraus erhelle, daß die Braminen jelbft den Buddismus nur 
als eine neue Offenbarung des Wiſchnu anfehen. Wenigftens lafje ſich 
dieß als hiftorifcher Beweis geltend machen, daß der losgeriſſene oder 
als Gegenſatz hervorgetretene Buddismus auf die Krifchnalehre ebenfo 
gefolgt ſey, wie diefe früher auf die Borftellung des Wiſchnu ald Rama 
gefolgt ſey. Dagegen ift nun aber zu bemerfen, daß zufolge einer 
Stelle in ven Transactions of Bombay ' e8 zwar mit der Incarnation 
des Wiſchnu in Budda feine Nichtigkeit hat, aber auf die Art, daß 
Wiſchnu in Budda erfcheint, um die Unterthanen des Königs von Tri- 
pura (Tipperah) noch tiefer in den Irrthum zu flürzen, zur Strafe 
für die häretiſchen Meinungen, durch die fie ſich ſchon früher den Zorn 
der Gottheiten zugezogen hatten. 

Ich habe num aber ferner ſchon friiher den jehr beftimmten Unter- 
ſchied auseinandergeſetzt zwijchen der myſtiſchen Doctrin, dem Idealis— 
mus und Spiritualismus der Upaniſchads und Der weit materielleren 
Lehre des Budda. Preilih, wenn man fi für letztere mit dem allge- 
meinen und daher für ſich nichtsfagenden Namen Pantheismus begnügt, 
fo möchte es ſchwer feyn den Unterſchied zwijchen beiden Lehren anzu— 
geben. A. W. Schlegel, indem er ablehnt ſich über den Buddismus 
auszufprechen, macht ſchon die jehr wahre und aufrichtige Bemerkung: 
wenn er auch wie gewöhnlich fagen wollte, der Buddismus ſey ein pan- 
theiftiiches Syſtem, fo wife er nicht, wie darin ein Unterjchied von ben 
andern Syftemen Indiens liegen folle; denn, wo er in Indien binfehe, 
glaube er Pantheismus zu finden. %. Schlegel aber, der ven Bud— 
dismus ebenfo tief herabjett, als er die Vedantalehre erhebt, weiß 
doc) va, wo er von der Vendantalehre einen Begriff geben foll, von 
diefer jelbft wieder nichts anderes zu jagen, als fie ſey ein Pantheismus. 

VBgl. Journ. Asiatique VII; 198. 


499 


Freilich ſetzt er Hinzu: ein poetifcher; aber was heit die, und mas 
ändert das Poetifhe an dem Gehalt eines Syſtems? It der Bud— 
dismus etwa nur darum verwerflich, weil er ein weniger poetiſches oder 
ein ganz unpoetifhes Syſtem ift? Mit foldhen unbeftimmten Begriffen 
läßt fih hier alfo gar nichts ausrichten. Wenn der Buddismus aus 
der indiſchen Mythologie abgeleitet wird, fo läßt ſich darin freilich nichts 
weiter erfennen, als eine Einheitslehre, die fid) von ihrer mythologiſchen 
Borausjegung gänzlich losgeriffen hat. Aber dieß gewährt einen bloß 
negativen Begriff, während der Buddismus etwas ſehr Beftimmtes und 
Pofitives ift. 

Der Buddismus iſt durchaus feine bloße Einheitslehre. Zwar un- 
ftreitig bedeutet Budda den tin höchften Grade Einzigen, der nicht, wie 
jede der drei indiſchen Perfönlichfeiten, feines gleichen hat, der ſchlechthin 
einfam und allein daſteht, weßhalb ich, da man nicht wohl einfehen kann, 
wie der Name des Budda mit dem indiichen Wort Bubdi, das Denfen 
und Intelligenz bedeutet, zufammenhange, denn im. Begriff Buddas iſt 
doc unftreitig mehr als bloß der allgemeine Begriff des Geiftes ent- 
halten: aus diefem Grund alfo, weil namlich im Indiſchen jelbit eine 
befriedigende Etymologie des Namens für Budda jo wenig als für 
Brama und die Namen der beiden andern indiſchen Dejotas ſich 
findet, glaube ich daran erinnern zu dürfen, daß Budda der Gott ift, 
der nicht nur feinen feinesgleihen, ſondern ver Nichts aufer 
fi) hat. Dieß der Grumdbegriff. Nun ift in den ſämmtlichen femiti- 
fhen Sprachen mit dem Grundlaut bad durchaus der Begriff: solus 
fuit, oder aud): ante omnia fuit, auch: primus, sine exemplo aliquid 
feeit verbunden, eine Bedeutung, die noch in dem arabiſchen Verbum 
bada’a (mit Ain) fid) vefleftivrt, denn dieß heißt: Novum s. noviter 
produxit, auch: sine subjeeto aut fundamento, d. h. sine praeexistente 
materia produxit. Das Wort drüdt aljo das reine Hervorbringen 
ohne alle Vorausjegung außer dem Hervorbringenden jelbft aus. In 
diefem Sinn heißt Gott im Koran fo oft Badiu-l-samaväti va-l-ardi, 
Schöpfer (Anfänger) Himmels und der Erde. Dieß ift num aber ganz und 
gar die Bedeutung der Budda-Idee. Budda iſt der ſchlechthin nichts außer 


900 


ſich felbft Vorausſetzende, Feiner Materie, Feines Stoffs außer ſich zu 
feinen Hervorbringungen Bedürftige, denn er ift jich felbft Materie, in- 
dem er der fich jelbft matertalifirende Gott ift. 

Ich habe ſchon bei Gelegenheit der Mithraslehre' erklärt, daß ic ben 
Budda für die ſpäter erfchienene Mithrasivee halte, die fi in Indien nur 
den indifchen Borftellungen accommodirt, zum Theil fogar in diefe geffei- 
det habe. Es ift von einem Deutfchen, Iſaak Schmidt, Akademiker zu 
Petersburg, die auffallende Uebereinftimmung bemerkt worden, die fic) 
in Sitten und Gebräuchen zwiſchen den noch in Indien vorhandenen 
Nachkommen der alten Parfis, den fogenannten ©hebern, und den 
mongolifhen Buddiſten findet. Dahn gehört 3. B. ihre Behand» 
lung menſchlicher Leichname, welche beide fo viel wie möglich von 
Thieren zerreigen zu lafjen juchen? Wer weiß, wie tief die Behand- 
lung der Todten, der Unterſchied zwiſchen Begraben, Verbrennen oder 
durch Thiere DBerzehrenlaffen der Leichname in das Syſtem ver reli- 
giöfen Ideen eingreift, wird eine ſolche Uebereinftimmung nicht bloß für 
rein zufällig anjehen können. Dazu fommt, daß Budda von den mon— 
goliichen Buddiſten Chormusda genannt wird, ein Name, in dem man 
gewiſſermaßen genöthigt ift den Namen des perfiichen Ormusd wieder 


'©. oben ©. 235. 

2 Herodotos (I, 140) ſchon erzählt won den Perfern feiner Zeit, daß fie die 
Leichname ihrer Berftorbenen nicht eher beftatten, als bis ein Vogel oder ein 
Hund an ihnen gezogen hätte. SHerodotos jelbft gefteht dabei unvollftandig un— 
terrichtet zu ſeyn, und auf einer ſolchen unvollftändigen Nachricht fcheint feine 
Ausfage zu beruhen. (Vgl. Etrabo XVI, p. 746). Die heutigen Parfis ſetzen 
ihre Todten auf eine Art bei, daß fie fleifchfreffenden Thieren bloßgeftellt find, 
und fie halten diefe Art won lebendigem Begrabniß für ein großes Glüd. Denn 
fie ſcheuen fie) ebenfowohl die Erde, als das heilige Feuer, wie andere ihre 
Leichname verbrennende Völker, mit Todten zu verunreinigen. Die mongolischen 
Buddiſten festen ihre Todten in freier Luft auf Matten, Filzen und Gerüften 
oder auf Feljen und Bäume aus, um von wilden Thieren oder Bögeln verzehrt 
zu werben. Ein brennendes Licht Dürfen die Gheber nicht ausblafen, ein um 
fih greifenbes Feuer wird nie mit Waffer geldicht, jondern durch Aufwerfen von 
Erbe, Steinen u. |. w. Jeder buddiſtiſche Mongole hält es für eine große Sünde, 
Feuer mit Waffer zu löſchen, hineinzufpeien oder auf irgend eine Weiſe es zu 
perunreinigen (Plinius XXX, 2). 


01 





zu erkennen. Ormusd aber ift das gute Princip, der gute Gott des 
perfiihen jogenannten Dualismus, auf den ich früher vwerfprochen noch 
einmal zurüdzufommen. Der Schlüffel des perfifchen Dualismus Liegt 
in dem Mithras, den ſchon die Zendbücher fennen, den bereits Plu- 
tarch, wie wir früher gefehen, als ueorrys, Mittler, erklärt ', als ver: 
mittelnd Materie und Geift, der nichts anderes ift als der ſich ſelbſt 
materialifirende Gott. Mithras ift bloß dadurd Schöpfer, daß er feine 
urſprünglich immaterielle, aber eben darum aud allem Materiellen und 
dadurch der Schöpfung widerſtehende Urkraft (die nachher in der Inter: 
ordnung als Ahriman erfcheint), daß er diefe ſich — ſich als Ormusd — 
unterwirft, fi zur Materie, zum Gegenftand der Ueberwindung 
macht. Diejes in der Schöpfung unterworfene Princip ift nicht das an 
fich böfe, es ift nur das Princip des urſprünglich reinen in-ſich-Seyns, 
der Nicht-Erpanfion, wo es noch feinen Gegenfag zur Erpanfion bilvet. 
Erft indem es dem Princip der Erpanfion, wir fünnen jagen, dem 
Princip der Liebe, der Mittheilfamfeit untergeordnet wird, muß es 
gegen dieſes die Natur eines widerftrebenden annehmen (denn feine 
fortwährende Wirfung, daß es fi der Meatertalifirung widerjegt, tft 
eine zur Schöpfung felbft nothwendige). Solang es felbft feinen Ge- 
genjag hatte, fonnte es ſich nicht als contrarium, als der Erpanfion 
widerftrebenden Egoismus äußern. Der Schöpfer will nur das Gute, 
aber indem er das Gute will, muß er — zufällig gleihjam — aud) 
das dem Guten Widerftrebende, das contrarium, wollen. Auf dieje, 
freilich bis jegt nicht gewöhnliche Weife ift erklärt worden, wie die per- 
fifche Lehre als Dualismus, d. h. als eine Lehre erſcheinen Fünne, welche 
die Schöpfung aus dem Kampf und der Zufammenwirfung eines guten 
und eines böfen Princips erflärt. Daß nun aber auch der Buddismus 
nicht eine ſolche abftrafte Einheitslehre ſey, wie er gewöhnlich gedacht 
wird, fondern eine Einheitslehre, die zugleich einen Dualismus in ſich 
ſchließt, dieß könnte man fchon aus dem ſchwermüthigen Charakter feiner 
ganzen Weltanficht ſchließen. Der fogenannte Dualismus hut bis in 
jehr fpäte Zeiten ſehr verfchiedene Phafen durchlaufen. Der Buddismus 

ı ©. oben ©. 216. 


502 
ift allerdings nicht mehr die reine Zendlehre; dieſelbe Idee fällt hier in 
eine Zeit viel jpäterer Entwidlung, wo das Verderben bereits tiefer, 
allgemeiner ift, die Welt weit mehr als in jener frühern Zeit zum 
Argen ſich hinneigt. Hier entteht alfo ein viel größeres Bedürfniß der 
Abfonderung von einer der Entzweiung und Zerſtreuung hingegebenen 
Welt. Der Buddismus lehrt und begünftigt im Gegenfag der reinen 
Zendlehre das, einfame Leben. Die älteren Buddiſten lebten außer den 
volfreihen Städten, in Wäldern, wie man aus Megafthenes bei Strabo 
ſchließen kann; zahlreiche Bupdpiftenflöfter zeigen eine Flucht vor der 
Welt, die dem reinen Parfismus fremd ift, der jeinen Anhängern eben- 
ſowenig Entbehrungen und Kafteiungen auferlegt. Der eheloje Stand 
gilt als Verdienſt oder wenigftens als nothwendig zum höchften Grad 
der" Neinheit. (Der mongolifhe Budda heißt Schakia-Mouni; es ift 
unmöglich, in dem legten Wort das indische Mouni zu verfennen, was 
ein Einfiedler bedeutet und ganz das griechiſche wovog ift). Alle dieſe 
Anftalten des Buddismus zeigen eine ſehr tiefe Empfindung von dem 
Kampf des Keinen und Unreinen, des Böſen und Guten, jowie, daß das 
widerftrebende Princip immer mehr in die Materie gejegt worden. Ein 
eigenthümlicher Schauer von Einſamkeit erfüllt und umgibt die Tempel 
des Budda; alles ift berechnet, die Idee des Gottes einzuflößen, der 
jeines gleichen nicht hat, obwohl er übrigens alles iſt!. 

' Wenn wir den Buddismus für eine zweite Erjcheinung der perfifchen Mi- 
thrasidee erklären, jo Eünnten dagegen eben die Kafteiungen angeführt werden, 
welche der Buddismus feinen Anhängern auferlegt, und von denen die alte per- 
jiiche Keligion nichts gewußt habe. Darauf ift zu antworten 1) daß die Budda— 
idee jedenfalls Die in einer viel ſpäteren Zeit wiedergefommene Mithrasidee ift, 
2) daß wir zwar über die Wirkung der Mithrasreligion um alten Perfien wenig 
unterrichtet find, daß aber mit den Mithrasmpfterien, wie fie zur Zeit des. römi- 
ihen Reichs in mehreren Yandern Kleinafiens, ja in Nom felbft gefeiert, und 
von dort jelbft in die Berge Tyrols und Salzburgs fich fortgepflanzt haben, 
allerdings auch Kafterungen und Entbehrungen verbunden waren, während doch 
nicht zu zweifeln ift, daß dieſe Mithrasmpfterien wirklich aus Berfien abftammten, 
wenn fie auch die Formen und Ceremonien einer fpäteren Zeit annehmen. Die 
Hauptfrage bleibt immer, ob der Buddismus, wie man gewöhnlich” annimmt, 


eine reine, abjolute Einheitslehre, oder ob ihm, wie ber Mithraidee, zugleich 
ein Dualismus zu Grunde liegt. 


303 





Einen noch entſcheidenderen Beweis indeß für das Borhandenjeyn 
eines dualiſtiſchen Syftems im Buddismus - bietet eine oft wiederholte 
Aeußerung hriftliher Mifjionarien, die dem Buddismus insbefondere 
das vorwerfen, daß er Böſes und Gutes für einerlei, fowie, daß er 
es für gleichgültig halte. Wer ähnliche Vorwürfe kennt, die in Altern 
und neuern Zeiten Lehren «anderer Art gemacht worden find, der weiß 
ſchon, was das beveutet, wenn man fagt, daß ein Syſtem Gutes und 
Böſes für einerlei halte. So abfınd war nie ein menſchlicher Geift, 
das Gute als das Gute dem Böſen als dem Böfen gleichzuhalten, eine 
formelle Einerleiheit zu ftatuiren. Der Vorwurf beruht auf einem bloß 
oberflächlichen Anfehen und äußerlichen Auffafjen; die wahre Meinung 
ift nur, daß der letten Subftanz nach eben das, was das Böſe, auch 
das Gute jey, und in der befondtrn Anwendung auf eine dualiſtiſche 
Schöpfungslchre befagt fie nur: das Gute und das Böfe ſey in ber 
Schöpfung gleich wejentlid), womit das Böfe feineswegs aufhört Das 
Böſe, das Gute das Gute zu ſeyn. Es gibt feine Entwidlung ohne 
eine die Entwicklung anhaltende, fie hemmende, ihr alfo zugleich wider: 
ftrebende Kraft; und diefes aller Entwidlung Entgegengejegte kann in 
letter Suftanz nur in demjelben Princip liegen, in welchem auch die 
Entwidlung liegt. 

Was den andern Vorwurf betrifft, den der Gleichgültigfeit gegen 
das Böſe, welche man den Buddiſten zujchreibt und als eine Folge 
ihrer Lehre betrachtet, jo kann ſich der Auſchein einer ſolchen Gleich— 
gültigfeit ſchon von dem müßigen, beſchaulichen Leben überhaupt her- 
ichreiben, zu dem ſich der Buddismus hinneigt. Aber eine gemifje Be- 
vuhigung über das Dafeyn des Böſen, weldes andere Doftrinen als 
eine jo große, ſchwer zu Löfende Diffonanz empfinden, gewährt aller- 
dings die Vorftellung theils von der Unvermeidlichkeit des Böſen, theils 
von feiner nothiwendigen, endlichen Auflöſung. Das Böfe ift feinem 
(etsten Grund nad) jelbft nichts anderes als die der Schöpfung wiber- 
ftehende Kraft des Budda, die er eben im der wirklichen Schöpfung 
untergeordnet hat; aber gerade dadurd hat er ſelbſt den Gegenſatz in 
die wirfliche Schöpfung gebracht; allein das legte Ziel der Schöpfung 


504 





ift die gänzliche Erſchöpfung diefer widerſtehenden und widerftrebenden 
Macht; die ganze Schöpfung ift nur eine Erlöfungsanftalt aus ven 
Banden dieſes Princips; die letzte Abficht des Budda ift, alle Wefen zu 
der gleichen Seligfeitsftufe mit fich felbft zu erheben. Nur infofern geht 
er jelbft in die Materie ein oder läßt ſich zu ihr herab. Da aber dieſes 
Ziel, wo alle Wefen, auch die vermorfenften, zulett felbjt zur Budda— 
ftufe erhoben werben, nur durch die Arbeit unbeftimmbar langer Zeit 
räume oder Neonen erreichbar ift, jo begreift ſich, daß der Anhänger 
diefev Lehre gegen die einzelnen und vorübergehenden Erjcheinungen dev 
Böen gleihgültiger fid) zeigt, als der, welcher das Böſe überhaupt für 
etwas bloß Zufälliges halt und weder ein Ende nod) einen eigent- 
lichen Zweck deſſelben einfieht. 

Einen weiteren, nicht minder wichtigen Beweis für einen in ber 
Buddalehre eingejchloffenen Dualismus gewährt die von allen Seiten 
bezeugte TIhatfache, daß auf Ceylon (Ceylon ift der Urfis der aus In— 
dien vertriebenen Buddiften, von dem als einem zweiten Mittelpunkt 
aus er fich erft nad) den andern Theilen Afiens verbreitet hat) — auf 
Geylon alfo errichten die Anhänger defjelben neben den großen, dem 
Budda geweihten Tempeln regelmäßig Fleinere, eine Art von Kapellen, 
die fie Demwalas nennen und welche die Mifjionarien doch wohl nicht 
ohne allen Grund Teufelsfapellen heißen. Dieß erinnert an die Ty— 
phonten in Aegypten. Es ift alfo auch in der buddiſtiſchen Keligion 
ein dem typhonifchen ähnliches Princip angenommen; nur möchte fic) 
hier jener mythologiſche Dualismus nicht nachweiſen lafjen, ver in 
Aegypten zwifchen Ofiris und Typhon ftatuirt ift. Der Unterſchied des 
Buddismus von der mythologiſchen Keligion ift eben der, daß er die 
zwei Principien, die in der größten Allgemeinheit als reales und 
ideales bezeichnet werden Fünnen, zur Einheit — in Einem und demfel- 
ben Gott — verbindet. Dennoch drüdt fich in der Errichtung diefer Des 
walas der Gedanke aus, daß das der Güte und Liebe widerftrebende 
Princip zur Schöpfung nothwendig, nicht ein im Lauf derfelben zufällig 
exit entjtandenes, fondern ebenfall8 urfprüngliches jey, daher gleichſam 
eine immerwährende Verfühnung, und foweit wenigftens eine Art von 


905 





Eultus fordert. Das der Mittheilung, der Herablaffung widerftrebende 
Princip ift fogar das ältere; denn die Herablaffung des Schöpfers hat 
angefangen ; zuerft war er bloß in fi. 

ALS eine andere Thatfache, die beweist, daß der Buddismus in einem 
Zufammenhang mit dem perfiichen jogenannten Dualismus und infofern 
jelbft als Dualismus betrachtet wurde, will ich noch Folgendes anführen, 
dag Mani oder Manes, der gewöhnlich als Perſer angegeben wird — 
dieß war aber zu der Zeit, in welcher Mani erfchien, ein ſehr unbeftimmter 
Begriff, und wenn er, wie angegeben wird, feine Schriften in fyrifcher 
Sprache jehrieb, fo kann dieß nur fo viel heißen, daß er in einer Provinz des 
perfiichen Keich8 geboren worden, wo das Syriſche Yandesfprache war; 
infofern bedeutet fein Name Mani aus dem Syrifchen erflärt der Zer- 
theiler, vollſtändig Mani-Choi (woher Manichäos), der Zertheiler des 
Lebens, qui vitam in duo principia distraxit: — als Manis Bor- 
ganger aljo wird ein gewiſſer Schthianus genannt, als deſſen Erbe und 
Schüler ein gewiffer Therebinthos genannt wird, der ſich nachher jelbit 
den Namen Buddas beilegte (Budda ift allerdings nicht bloß Name des 
Gottes, jondern aud der von ihm Erfüllten); merfwürdiger in diejer 
Beziehung ift aber no, daß die ſpätern Abkömmlinge der Manichäer 
bei ihrem MUebertritt zur Fatholifchen Kirche unter andern Irrthümern 
ihrer Sekte auch diefe Lehre abſchwören mußten: Tov Zuouöav xt 
Bovödav xul tov Xootov xaul Tov Mavıyaiov nal Tov Ykıov 
Eva xci Tov avrov eva. Hier finden ſich alfo Zoroaſter, Budda 
und Manes ausdrücklich zufammengeftellt. 

Eine legte Webereinftimmung zwifchen dem Buddismus und der 
perfifchen Lehre ift noch die fehr ausgedehnte Geifterlehre, die ev mit 
diefer ebenfall8 gemein hat, und die ſchon allein jeden überzeugen müßte, 
daß er aus einer ganz andern Duelle als der indischen Mythologie feinen 
Urjprung hat. 

Dürfen wir num den Buddismus als eine der Zendlehre wenigjteng 
analoge, ihr in einem fpäteren Moment entſprechende, oder fie auf einer 
ipätern Stufe wieverholende Formation anfehen, jo müfjen wir zugleich 

Bgl. Neanders Kirengeihichte, 2. Aufl. 1. Abth., 2. Baud, ©. 828. 


geftehen, daß er feinem legten Grund nad) älter ift, als die indiſche 
Mythologie. Denn der erfte Grund der Lehre von dem ſich ſelbſt ma- 
terialifirenden Gott konnte natürlicherweife nur entftehen in jenem erften 
Uebergang von der unmpthologifchen zu der mythologifchen Zeit. Dort 
mußte jene Zweiheit, die aller Mythologie zu Grunde liegt, zur Einheit 
aufgehoben werden, um dem mythologiſchen Proceß zuvorzufommen, ver 
mit diefer Zweiheit nothwendig gegeben ift. Dorthin in diefen Moment 
wurde aud früher die Mithrasivee gefegt. Die Wiedererfcheinung in 
einem jpäteren analogen Moment, und zwar gerade-im invifchen Be- 
wußtſeyn, läßt fi) übrigens einfach durch wirflihe Sorterbung er: 
klären. Es hat durchaus nichts Unmögliches anzınehmen, daß die 
Idee des fich ſelbſt materialifivenden — diefes All- — Gottes im in- 
diſchen Bewußtſeyn von jener Zeit an geblieben fey, wo von dem offenbar 
gemeinjchaftlichen indo-perfiihen Volksſtamm das indische Volk als folches 
ausging, eben indem es dem mythologiſchen Proceß folgte: durch feine 
Mythologie ſchied es fi von dem gemeinjchaftlichen Stamm aus, 
Mußten wir doch ſchon in den Vedas religiöfe Urkunden anerfennen, 
pie ſich nicht als ſpeciell indifche betrachten ließen, die nad) Perfien als 
ihrem Geburtsland zurückwieſen. Man fünnte alfo annehmen, daß der 
Buddismus als etwas Unvordenfliches immer im indischen Bewußtſeyn 
geblieben, aus ihm nie völlig verdrängt, und im Anfang wie im Ber- 
lauf des mythologiſchen Procefjes ihm immer wieder dazwiſchen ge— 
treten ſey. | 
Man kann auf diejes Dagewefenjeyn des Bubdismus in Indien 
jelbft aus den wenigen Denfmälern vefjelben ſchließen, wie der Verfol— 
gungs= und Zerftörungswuth der Braminen in Indien entgangen find. 
Unter jenen uralten Monumenten Indiens, welche die Küfte von Coro- 
mandel beveden, bereits zu Salfette finden ſich im Vorhof der dortigen 
Selfentempel zwei Eolofjale Bilder des Budda. Zu Peresnath (einem zu 
den Monumenten von Ellora gehörigen Drt) ift von ſchwarzem Baſalt 
eine folofjale Figur des Budda zu fehen, ganz nadt, auf einem Thron, 
getragen von Elephanten- und Tigerköpfen; Budda fit mit unterjchla- 
genen Beinen, Buddas gewöhnliche Stellung, welche die Ruhe des in 


907 

ſich ſelbſt, in tiefer Selbſtbeſchaulichkeit verfunfenen Gottes ausdrückt; 
um ihn her ſechs Figuren betend, fünf figend, eine ftehend. In den 
Monumenten von Kennery, welche übrigens von den gegenwärtigen Ein- 
wohnern Indiens als unheimliche Derter, als Site böfer Dämonen ge- 
flohen werden, iſt Wiſchnu durchgängig vorgeftellt als Diener des Budda. 
So finden fih in den Wandfenlpturen von Saljette die Zeichen des 
Buddismus mit den Zeichen des Schimaismus zufammen, Budda auf 
der einen, Brama, Schiwa und Wilchnu auf der andern Seite, feheint 
es, finden hier gleiche Verehrung. Eine alte im erſten Band ver Asia- 
tic Researches bekannt gemachte Sufchrift zu Buddalgaja (im heu— 
tigen Bohar) feierte Budda als einen wohlthätigen Gott, als den won 
Sünde reinigenden, als Freund der Gerechtigkeit. Indeß werden in 
eben dieſer Inſchrift Brama, Schiwa und Wiſchnu mit ganz gleicher 
Verehrung erwähnt. 

Wenn ich bisher mit gutem Grunde die eine der beiden Meinungen 
zurücgewiefen, nad) welcher der Buddismus ein bloß aus der indifchen 
Mythologie ſelbſt Entwideltes, Hervorgegangenes wäre, und ſich demnach 
als ein Späteres gegen diejelbe verhielte, jo bin ich darum keineswegs 
geneigt, die entgegengejegte Meinung anzunehmen, nad) welcher nämlich 
der Buddismus das Prius, das VBorausgegangene der eigentlich indischen 
Mythologie wäre, jo dar nun diefe vielmehr ſich nur als ein zerftörter 
Buddismus betrachten liege. Buddismus und indiihe Mythologie ftehen 
materiell betrachtet durchaus in feinem ſolchen Berhältnig zueinander, 
daß die legte aus dem erjten durch was immer für eine Veränderung 
hätte hervorgehen fünnen. Der Bubdismus in jeiner Neinheit wenig 
jtens ift fein Syſtem, das den Stoff der indiſchen Mythologie hätte 
enthalten fünnen. Es ift ein völliger Antagonismus zwiſchen beiden. 
Der Buddismus iſt den Bramanismus vorzüglid dadurd entgegen, 
daß er den Unterfchiev der Kaften gänzlich verwirft. Diejer aber wird 
in Indien als etwas jo Unantaftbares betrachtet, daß z. B. jedes Mit- 
glied einer untergeordneten Kaſte, der Paria z. B., ſchon den bloßen 
Gedanken, durch was immer für ein Mittel in die höhere Kafte ſich zu 
ſchwingen, als ein Verbrechen betrachten würde. Solche Scheu aber 


908 


entjteht nie vor Einrichtungen, die erft im Lauf der Zeit entſtanden. 
Nur unvordenflihes Alter bringt fie hervor. Nur vor dem wird fie 
empfunden, deſſen Ursprung fi in eine völlige Vergeſſenheit verliert. 
Alfo keine der beiden Meinungen, zwifchen welchen bis jegt bie 
Anfihten getheilt find, ift die wahre. Der richtige Gedanfe, welcher 
allein das Käthielhafte der indiſchen Mythologie und beſonders jenes 
dunkle Verhältniß zwifchen Bramanismus und Buddismus erflärt, das 
zulegt in einen blutigen Kampf ausſchlug und mit der gänzlidyen Ver— 
drangung des Buddismus endigte, ift der Gedanke zweier im indiſchen 
Bewußtſeyn fich Durchfreuzender, aber übrigens voneinander völlig unab- 
hängiger und von ganz verſchiedenen Seiten fommender Richtungen. 
Man kann ſich nun aber, wie gefagt, dieſes Dazwifchentreten des 
Buddismus, dieſes Durchfreuzen der mythologiſchen Entwicklung Indiens 
durch die Budda-Idee ganz wohl durch die Annahme erklären, daß ſie in 
dem indiſchen Volk von ſeinem Urſprung her gelegen; denn ſo entſchie— 
den und beſtimmt perſiſches und indiſches Weſen in der Folge ſich ent— 
gegengeſetzt erſcheinen, ſo iſt nicht zu leugnen, daß beide Nationen zu 
einem und demſelben Hauptaſt der Menſchheit gehören. Dieß zeigt 
ſchon der Zuſammenhang der Idiome. Nach W. Jones finden ſich 
unter 10 Wörtern der Zendſprache 6 bis 7, die reines Sanskrit ſind. 
Dieſe Wahrnehmung des verdienten W. Jones hat aber durch die gründ— 
lichen Arbeiten von Eugène Burnouf noch eine ganz andere Bedeutung 
erhalten. Burnouf, nach dem Tode des unvergeßlichen Sylveſtre de 
Sach unſtreitig der erſte Orientaliſt Frankreichs, unterwarf die alten, 
lang vernachläſſigten Texte feiner ſicheren kritiſchen und linguiſtiſchen 
Behandlung, und hatte das Glück, uns die alte Sprache Perſiens un— 
verhüllt, in ihrer urſprünglichen Fülle und Reinheit vorzuführen. 
Das Reſultat war die innigſte Verwandtſchaft des Zend mit dem 
Sanskrit; und zwar nicht mit dem Sanskrit ver Epopoeen, ſondern 
mit dem der Vedas, wodurch ſich won jelbjt die Folgerung herausftellt, 
daß Einheit des Altperfifhen und Altindifchen beftanden hatte, die aber 
in dem Verhältniß aufhörte, als die indiſche Mythologie ſich zu ber 
Mannichfaltigfeit entwidelte, die fie fheon in dem Namajana und 


09 


Mahabharata zeigt. Burnouf hat für die Permutation der Laute zwifchen 
dem Sansfrit und Zend folche ftringente Gejege aufgefunden, daß man 
fie bloß anzuwenden hat, um ein beliebiges Sanskritwort im ein Zend 
wort und ein Zendiwort in ein janskritifches zu verwandeln, fo daß auf 
gewiſſe Weile das Sanskritwörterbuch zugleich als ein Zendlerifon die- 
nen kann!. 

Diejenigen unter Ihnen, melde fid) aus der Einleitung den da— 
mals dargelegten Zufammenhang zwiſchen religiöfer und Sprachenent» 
widlung zurüdrufen wollen?, werden (nad) den angeführten Thatſachen) 
von felbft urtheilen, daß man Grund hätte viel mehr ſich zu verwun— 
dern, wenn im indifchen Bewußtſeyn von urſprünglichem Parfismus 
nichts zurücgeblieben wäre, als man Urſache hat fid) darüber zu wun— 
dern, daß derſelbe, obwohl zurüdgedrängt durch die mythologiſche Ent- 
wicklung, doch im indischen Bewußtſeyn ſich fortwährend erhalten hat 
und zur beftimmten Zeit als Buddismus aufs neue mächtig hervor- 
getreten ift. 

Das indiſche Volk war eben derjenige Zweig des Urftammes, ver 
ſich losgeriſſen, indem er der mythologiſchen Entwidlung folgte, der 
perfiiche der, welcher fi) rein won diefer bemahrte. (Differenz zwiſchen 
Perſiſchem und Indiſchem — unmythologifdh : mythologiih). Aber die 
Indier konnten in diefer Losreißung doch die urjprüngliche Bermandt- 
ichaft nicht verwinden. So fam es, daß während fie der mythologiſchen 
Richtung ſich nicht verfagen Fonnten, das Unmythologiſche, das von 
ihrem Urfprung her in ihnen war, nun erft im Gegenfaß mit ber 
mythologiſchen Entwidlung wirffam wurde. Seine Mythologie hat 
das indifche Volf ganz unabhängig von dem Buddismus durd den all- 
gemeinen mythologiſchen Proceß erhalten; das Princip des Buddismus 
aber lag von feinem Urfprung her in ihm, und es erhob fid aus ber 
Tiefe des Bewußtſeyns felbft eben an diefem Punft des jchneidenden 
Sontraftes, den das religiöfe Bewußtſeyn Indiens darbietet, — auf 
der einen Seite die völlig aufgegebene Einheit, das Uebergewicht 


S. 3. Müller in den Münchener Gel. Anzeigen von 1838, p. 784, 185. 
Bgl. die fünfte Vorlefung der Einleitung in bie Philoſophie Der Mythologie, 


10 

des Schiwaismus, das Ertrem der Vielgötterei, imdem Brama, Schiwa 
und Wiſchnu fih ausſchließen, anftatt ſich zur All- Einheit aufzu— 
heben, und von der andern Seite jener Allgott, jener nichts außer 
fich Kennende Gott, Budda, der offenbar urfprünglich im indifchen Be- 
wußtſeyn wie tm indifchen Lande einheimifch, erſt durch eine fpätere 
Krifis, und aud) da nicht völlig, wenigſtens nur von der Halbinfel, aus- 
geftoßen worden ift. 

Was die Beweije für den den Buddismus zu Grunde liegenden 
Dualismus betrifft, jo will ich bemerfen, daß in den weiteren Ber- 
breitungen der buddiſtiſchen Religion dieſer Dualismus ganz an ven 
Tag tritt. Hier zeigt er ſich als Gegenfaß von Materie und Geift, 
der übrigens ja ſchon von der Incarnationsidee unzertrennli ift. In 
den mongoliſch-buddiſtiſchen Syftemen find e8 auf der einen Seite der 
mit dem Weltenftoff erfüllte Raum, auf der andern der in einem rei- 
nen Lichtreich wohnende, von der Materie angezogene und mit ihm 
zu partiellen Erjcheinungen fid) verbindende Geift, welche das Welt: 
phänomen hervorbringen. Ueberhaupt ift der Bubdismus- felbft nicht 
als ein abgefchloffenes und ftillftehendes Syftem zur betrachten. Ueberall 
hat aud er fi) nad dem Charakter der Länder und Verfaffungen 
bequemt, mit welchen er in Verbindung kam. Er war ein anderer in 
Indien, und ift unbejchadet jeines Hauptcharafters ein anderer in Tibet, 
ein anderer unter den mongoliichen Stämmen und in China, wo er in 
einen ganz abitraften Bantheismus gewifjermaßen ausarten mußte, um 
Eingang zu finden. | 

Man kann von der einen Seite nicht umhin, Indien als das 
Baterland des Buddismus zu erfennen, von der andern Seite ift befannt, 
daß die Buddalehre durch eine blutige Verfolgung aus dem eigentlichen 
Indien, der diefjeitigen Halbinfel, verdrängt worden, daß fie daſelbſt 
verhaßt, ja ein Oegenftand des Abſcheus und der Verwünſchung ge- 
worden ift. Zwiſchen der Epoche, in welche das einftimmige Zeugnif 
der Nationen Aſiens, von denen er angenommen ift, feinen Urjprung 
jeßt, und zwiſchen jener Epoche einer gewaltjamen Ausftoßung, die ihn 
aus Indien vertrieb, Liegt ein beträchtlicher Zeitraum, aber die fahrift- 


lichen. Denfmäler der Braminen beobachten über diefen Zeitraum ein 
tiefes Stillfchweigen. Ohne die ſchon erwähnten bildlichen Denkmäler, 
welche von dem alten Glanz der Buddaverehrung in Indien Zeugniß 
ablegen, und einigen Angaben außerindifcher Schriftfteller, würde man 
faft zweifeln können, ob er wohl je in Indien eriftirt habe, Vielleicht 
bietet die ganze Geſchichte des Menfchengefchlehts fein zweites Beifpiel 
einer Sefte dar, die fo vollfommen, und zwar in einem Lande ver- 
nichtet worden ift, dem fie durch die Natur ihrer Dogmen ebenfo jehr 
als durch ihren Urfprung angehört. Cine unbeftimmbare Zeit lang — 
jo lafjen die erwähnten Monumente vermuthen — lebten die Anhänger 
des Budda friedlid und jelbjt verehrt unter den andern zahlreichen 
Sekten Indiens; gleichwohl genießt, wie es jcheint, feit dem erften 
und zweiten Jahrhundert der hriftlichen Zeitrechnung Budda feine Ver— 
ehrung mehr in Indien; feine Idole find umgeftoßen, feine Tempel 
verlafjen, ja, wie der in Stali, als Site böfer Dämonen geflohen. Ein 
dunkler Schreden, eine wirfliche oder verſtellte Unwiſſenheit, ein heftiger 
und blinder Haß bezeichnet die Aeußerungen der Braminen über alles, 
was Budda umd feine Lehre betrifft, und während dieſe fih im die 
Ferne, gegen Mittag, gegen Morgen und gegen Mitternacht verbreitet, 
Hinduftan von drei Seiten umgibt, ſtößt dieſes allein fie zurüd. In 
der früheften und in der mittleren Zeit Indiens, jo wie noch wenige 
Jahrhunderte vor Chriftus, ift der Buddismus in Indien nachweislich. 
Als Alerander d. Gr. nad Indien fam, fanden die Griechen neben 
ven Brachmanen eine von diefen unterjchievene religiöfe Sekte, die jie 
bald mit den Namen Gumnofophiften, bald Samander bezeichneten. 
Der Name Samander ift ächt indiſch. Saman bedeutet den Abgezogenen 
von der Welt, ver fi) dem contemplativen Yeben gewtomet und befon- 
ders von allen Leivenfchaften befreit hat. Beide beftehen nad) den Er- 
zählungen nebeneinander, und wenn die Brachmanen als die herrſchende 
Priefterfchaft des Landes erjcheinen, jo ftellen bie andern nur eine be- 
ſondere, durch ftrenge Uebungen ſich auszeichnende Sekte innerhalb der 
allgemeinen Kirche Indiens vor. Es fragt fih: Waren dieſe ©a- 
mander oder Gymnoſophiſten zu Alexanders Zeit nur indische Yogis, 


512 
d. h. Anhänger der myſtiſchen Vedalehre, die völlige Abtödtung ver 
Sinne als den Weg angibt zur höchften Anjchaulichfeit und Vereinigung 
mit Gott, oder find fie Buddiſten? Daß fie Buddiſten waren, Fünnte 
man daraus jchliefen, daß der Budda der Siameſen Samanacodonı 
heißt. Sind die Samanäer Buddiſten, fo beweist eben dieß, daß zur 
Zeit Aleranders die Buddiſten noch vermijcht mit den andern, zwar als 
eine von den Brachmanen unterjchiedene, aber nicht ausgejchloffene over 
als ſchismatiſch ausgeftogene Sekte in Indien wohnten. Bei Arrian in 
jeinen Expeditiones Alexandri M. findet fi) jogar der Name Budda. 
Er lautet bei ihm Buddyas. Arrian vergleicht ihn mit dem griechijchen 
Dionyfos, dem Hauptgegenftand griechiſcher Myſterien. Ueber die da- 
malige Exiſtenz der Buddiſten in Indien kann alfo Fein Zweifel ſeyn. 
Strabo unterſcheidet nad) Megafthenes Bramanen und Garmanen. Don 
ven letsteren fagt er, daß fie bloß von Kräutern leben, nichts Leben- 
diges tödten (Yebendiges nicht zu tödten, ift eine dev Hauptregeln 
der ftrengern Buddiſten), in Wäldern leben und Kleider von Baumrinde 
tragen '. Es ift faum zu zweifeln, daß diefe Garmanen des Strabo 
die Samanäer der anderen Schriftfteller find. Klemens von Aleran- 
drien nennt fie Sarmanäer, von denen er fagt: „Site bewohnen feine 
Städte, feine Häufer, leben von Baumfrüchten und Wafjer, im ehe- 
(ofen Stand“. Nach diefer Beichreibung des Klemens v, A. die wahr: 
ſcheinlich aus älteren Quellen geſchöpft ift, kann man faft nicht zwei— 
feln, daß Buddiſten gemeint find. ine deutliche Kunde von dieſen 
möchte, wenn nicht in den Budiern des Herodotos, doch in jenen In— 
diern zur finden jeyn, von denen derjelbe jagt?: „Sie tödten nichts 
Lebendiges, faen nicht und bauen feine Häufer, fie leben von Kräutern 
und einer Art Korn von der Größe wie Hirſe; wird einer von ihnen 
von einer Krankheit befallen, ſo begibt er ſich in eine wüſte Gegend 
und liegt dort, ohne daß ſich jemand um den Kranken oder Sterben- 
ven befümmert“. Man muß dieß dahin deuten, daß die Anhänger die- 
jer Sefte, wenn fie alle Lebenshoffnung aufgegeben haben, wüſte Dexter 


' Lib. XV, c. 1 (p. 712). 
2 JII, e. 100, 


913 
juchen, mo fie jicher find die Beute wilder Thiere zu werden. In 
einer andern Stelle fpricht Clemens von den veuvorg der Indier mit 
Atributen oder Prädicaten, welche zeigen, daß er ebenfalls die. Buddi— 
ften meint und daß Diefe aeuvo? nur der griechiſch gemachte oder grie- 
chiſch gedeutete Name der Samanäer if. Am merkwürdigſten fchien 
mir immer eine Stelle des Plinius, die ich zu meiner Verwunderung 
nirgends benutzt fand (ob e8 von den neueften Schriftftellern über In— 
dien gejchehen ift, kann ich nicht fagen): in diefer Stelle find die Kaften 
Indiens, unter diefen die Brahmanen deutlich unterfchieven. Vita, 
jagt Plinius‘, mitioribus populis Indorum multipartita degitur (darin 
die Trennung in Kaften). Alii tellurem exercent (die find die Su- 
dras), militiam alii capessunt (dieß find die Kichatryas), merces alii 
suas evehunt {die fogenannten Banians), res publicas optimi ditis- 
simique temperant, judicia reddunt, regibus assident: dieß find 
nun offenbar die Braminen, und es iſt höchſt merkwürdig, wie fie hier 
durchaus nicht als Priefterfafte, fondern als das, was fie waren, als 
optimates, als die höchfte Ariftofratie des Pandes, bezeichnet werben. 
Auch jest noch ift nicht jeder Bramine Priefter, obwohl feiner Priefter 
jeyn kann, als der zur Kafte der Braminen gehört. Von dieſen unter- 
ſcheidet nun Plinius ſehr beftimmt ein quintum genus hominum mit 
folgenden Worten: Quintum genus celebratae illie et prope in re- 
ligionem versae sapientiae deditum, voluntaria semper morte vitam 
accenso prius rogo finit. Befannt ift, daß in Gegenwart Aleran- 
ders und feines Heeres der Gymnoſophiſt Kalanus freiwillig, und um 
einen Beweis feiner‘ Ueberzeugung zu geben, den Scheiterhaufen beftieg. 
Ebenſo war es den fpäteren bubbiftifchen Patriarchen gewöhnlich, ihr 
Teben freiwillig auf den Holzftoß zu enden. 

In allen diefen Stellen erfcheinen demnach die Buddiften als zwar 
von den Braminen unterfchtevden, aber als neben ihnen beftehend und 
nicht bloß geduldet, fondern fogar vom Volk mit einer befondern Ber- 
ehrung als eine Art von Heiligen. betrachtet, die darıım geduldet wer- 
den, weil fie feine Anſpruch auf Deffentlichfeit und Allgemeinheit 

"Hist. "N, L. VI. & 22 (19). 


Schelling, ſämmtl. Werke. 2. Abtb. IM, 33 


914 


machende Sefte find. Auch Porphyrios bejchreibt umter dem Namen 
Samander ganz deutlich die buddiſtiſchen Priefter mit ihren Flöfterlichen 
und mönchiſchen Einrichtungen. Und zwar fehreibt ſich diefe Nachricht 
des Porphyrios aus einer Duelle her, die bis in die Mitte des zwei— 
ten Jahrhunderts zurüdgeht, denn fie ift aus dem Bericht eines. an 
den Kaiſer Antoninus geſchickten indischen Gefandten geſchöpft. Durd) 
diefe. Zeitbeftimmung wird beftätigt, was Wilfon durch mehrere. Com— 
binationen herausgebracht hat, daß die Verfolgung des Bubdismus in 
Indien um die Zeit der erften Ausbreitung des Chriftenthums anfing. 
Diefes wäre ein neues Beifpiel jener chronologiſchen Coincidenzen oder 
jenes Geſetzes gleichzeitiger und in gewiſſem Sinn überemmftimmender, 
und doch voneinander unabhängiger Bewegungen in übrigens ganz 
verfehiedenen Regionen. Es ift, als ob der Buddismus, der, früher 
geduldet, um jene Zeit Gegenftand einer fo granfamen Berfolgung 
wurde, gegen das religiöfe Syſtem Indiens in dem Augenblid ſich er- 
hoben, wo von einem andern Theil Aliens aus der geiftigfte Mono- 
theismus ſiegreich über die Welt fi) verbreiten follte, Um dieſe Zeit 
mögen die Buddiſten, die fid) bisher fill verhalten, im Schooße der 
indiſchen Religion felbft geduldet und verehrt gelebt hatten, zuerjt mit 
offener Verwerfung der Vedas eigne Religionsbücher ſich zu geben 
angefangen, als ftrenge Unitarier dem mythologiſchen Polytheismus offe— 
nen Krieg angefündigt, ſich als die wahren Gläubigen ausgerufen haben. 
Zugleich — indem fie den Unterfchted der Kaften und damit ben erb- 
fihen Prieſterſtand aufhoben — mußten fie zur Verkündigung des 
Worts jeden zulafen, der inneren Beruf dazu fühlte. Dieſes Syſtem, 
einmal auf einer ſo weiten Grundlage errichtet und in ſolchem völligen 
Gegenſatz gegen die unbewegliche Conſtitution der Braminen, drohte 
reißende Fortſchritte zu machen, und rief eben darum die ganze Macht 
der Braminen gegen ſich auf. Bis zum 7. Jahrhundert ſcheinen 
dieſe blutigen Kriege gedauert zu haben. Inzwiſchen verbreitete ſich die 
Buddareligion über die Grenzen der Halbinſel; in Indien beſiegt, wurde 
ſie in Ceylon herrſchendes Syſtem, wo ſie den alten Bramanismus 
verdrängte, von da aus verbreitete ſie ſich wie von einem zweiten 


15 


Mittelpunft aus in das ganze Indien jenfeits des Ganges zu den Birma- 
nen nad) Pegu und Siam; China endlich nahm fie auf, und fie drang 
in alle Gegenden nördlid von Indien über Tibet hinaus bis in die 
Steppen von Centralaſien, wohin indeß ein Samen alter Barfilehre Shen 
früher gekommen und Empfänglichkeit für fie bereitet zu haben jcheint. 

Berpflanzt in auswärtige Gegenden, fir die man ihn nicht hätte 
gemacht halten jollen, jchließt fich der Buddismus doch von allen Sei- 
ten an jein urjprüngliches Vaterland an, und die verſchiedenen Schid- 
jale, die er erfahren, haben das urjprüngliche Gepräge des Landes umd 
des Klimas nicht auslöfchen können, in dem er zuerft entftanden war. 
Wie tief er mit dem indiſchen Weſen verflochten, fich in die mythole- 
giihe Keligion Indiens eingelebt, mit ihr gleichfam verwachſen war, 
erhellt daraus, daß jelbit in ven buddiſtiſchen Tempeln außerhalb Indiens 
dennoch das ganze indiſche Pantheon verfammelt ift. Mooreroft unter 
anderm fagt von einem Tempel in Tibet, nirgends hätte er eine größere 
Berfammlung indiſcher Götterbilder gejehen. Der Buddismus fonnte 
nicht mit der mythologiſchen Entwicklung, die in das indische Bewußt— 
ſeyn fiel, zufammentreffen, ohne auch jelbft indische Formen, die Farbe 
indifcher Borftellungen anzunehmen, ſich ‚mit Begriffen der indiſchen 
Mothologie zu verfchmelzen. Außerordentlich ſchwer ift es aber, bei 
diefem nothwendigen gegenjeitigen Einfluß, den indische Mythologie und 
Buddalehre aufeinander ausgeübt haben, das rejpeftive Eigenthum 
einer jeden zu erfennen. So ift e8 eine fchwierige Frage, ob die Idee 
der Maja eine urfprünglich indifche, oder eine urſprünglich buddiſtiſche 
ſey. Die Maja ift, wie früher gezeigt, in dem indiſchen orthodoren 
Syſtem nothwendig, weil dieſes eine Freiheit in der Weltſchöpfung be- 
hauptet, welche unmöglich ift, ohne einen veranlaffenden Grund, ohne 
gleichſam einen Reiz zur Weltihöpfung zwifchen dem Schöpfer und der 
Welt zu fegen. Dagegen ift die Maja aud) in den Bubdismus aufge 
nommen und gewifjermaßen aud) da nothwendig. Die Materie, in 
welche ſich der Schöpfer verſenkt, mußte ſich ihm zuerſt als Möglichkeit, 
und demnach als Princip in ihm ſelbſt, darſtellen. In bildlichen Dar— 
ſtellungen erſcheint Budda als Kind an der Bruſt der jugendlichen, mit 


916 

allen Reizen der Schönheit geſchmückten Maja. Zugleich werden ihm 
Blumen und Früchte dargebradht. Gruppen von Thieren nähern ſich 
ihm als dem Gott, der dem Lebenden hold ift und das Blutvergießen 
der Thiere verwehrt hat, ein Verklärungs- oder Heiligenfchein umgibt 
das Haupt fomohl des Kindes als der Mutter, Kurz, es ift das in— 
nigfte Verhältniß zwifchen Budda und Maja. Die hinefiichen Buddiſten 
(ehren beftimmt einen Zufammenhang zwifchen der Maja und den ge- 
trennten drei Eigenfchaften. Sie verfihern, daf die Illuſion der Maja 
bloß auf der illuſoriſchen Trennung der drei Eigenjhaften beruhe. Auch 
fie fordern den, der fi) zum wahren Wefen erheben will, auf, fid über 
die Maja und die drei Eigenfchaften zu erheben. Hier ſtimmt aljo der 
Buddismus ganz mit philofophifchen Ideen überein, die, wie die Lehre 
von den drei Eigenfchaften, Indien eigenthüntlic find. Man muß fi) 
daher durchaus geneigt fühlen, die Maja als urſprünglich indiſch anzu- 
jehen. Von der andern Seite aber ift zu bemerfen, daß mit dem per- 
ſiſchen Syſtem, eben weil aud) diejes eine freie Schöpfung annimmt, 
die Idee der Maja gar wohl vereinbar ift. Wäre e8 nicht möglich, 
daf in einer. weiteren Entwidlung der Mithrasichre, durch die ſie erſt 
zum eigentlichen Magismus erhoben wurde, daß in einer foldhen wei— 
teren Entwicklung das perfifche weibliche Weſen, die Mitra, welche 
Herodotos mit Urania vergleicht, al8 Maja = Magia dargeſtellt wor- 
den wäre? | 

Unter ven Nachrichten, die uns über die Dogmen des alten Ma- 
gismus geblieben find, ift auch der Begriff einer triformis Mitra er- 
halten: Zul. Firmicus fagt‘: Persae et Magi omnes Jovem dividunt 
in duas potestates, nämlid), wie er hinzufegt, in eine männliche und 
weibliche, et mulierem quidem triformi vultu constituunt. Sollte 
man nun nicht Urfache haben, die mulierem triformi vultu jo zu er: 
klären. Mitra ift in der fpäteren Doktrin oder wiſſenſchaftlichen Aus- 
führung der altperfiichen Lehre das Urweſen Gottes = Nichterpanfion, 
das ſich ihm darftellt als expanfibel, wo es ſich 4 verhält. Aber in 
jeiner unbebingten Expanſion ift e8 außer Gott. , Es muß ihm alfo 


' De Errore profan. relig. 1, 5. 


917 

Ormusd, das begrenzende (Licht, Erkenntniß wermittelnde) Princip ent- 
gegengejegt werden. So wird Mitra unbegrenzt und begrenzt, + und 
— und die Einheit beider, alſo wirklich triformis, erſt zur wirklichen 
Materie. Sollte nun diefe Triformität nicht mit der Trigunaya der 
indiſchen Philofophte zufammenhangen? Dieß läßt ſich wohl hören, 
allein der Zufammenhang könnte auh der umgefehrte jeyn. In 
jpäteren Erplicationen (und jene aus einem fpäten, ſchon hriftlichen 
Schriftiteller genommene Notiz gehört einer Zeit an, in der fehon die 
orientalifchen Religionsideen, von allen Seiten her. zufammenfliegend, 
jonfretiftiich vereinigt wurden), e8 wäre alfo wohl möglich, daß in jpä- 
teren Erplicationen des Magismus die perfiiche Mitra erſt dieſe der 
indiihen Maja analoge Deutung erhalten hätte, Kurz, es wird ſchwer | 
und nad dem gegenwärtigen Stand der Kenntniffe (ſoweit er menig- 
ſtens mir befannt ift) unmöglich ſeyn, darüber zu entſcheiden, ob die 
Maja aus dem Buddismus in das indiſche Syitem oder umgekehrt aus 
der indiichen Philofophie in den Buddismus aufgenonmen worden, 

- Wenn es fich vollends beweiſen liege, daß die jammtlichen Trimurti- 
bilder buddiſtiſch, ſo wären dieſe die deutlichſten Zeichen des Verwach— 
ſens zwiſchen indiſcher Mythologie und Buddismus. 

Was nun aber aufs Beſtimmteſte ſich behaupten und nachweiſen 
(äßt, iſt der umgekehrte Einfluß, den der mit der rein mythologiſchen, 
entgegengeſetzten Richtung im indiſchen Bewußtfeyn zufammentreffende 
Buddismus auf die indiſche Mythologie ausgeübt hat. Daß die ma- 
teriellen Götter frühzeitig aus dem indifchen Bewußtſeyn verdrängt 
worden, habe ich früher ſchon bemerft. Der Buddismus hat entjchteden 
bedeutend mitgewirkt zu jener Steigerung des Wiſchnuismus, Die wir 
vorzüglich in der Bhagwadgita erfannten. Die Wiichnulehre mußte 
fich zur höchſten Einheit fteigern, jo dar Wiſchnu als totum numen, 
als der ganze unzertrennte Gott, Ddargeftellt wurde, Der unverfenn- 
barfte Einfluß auf die Ausbildung der Wifchnulehre zeigt ſich aber in 
der Incarnationgidee, welche diefe in jo großer Ausdehnung, nicht bloß 
auf Wiſchnu, jondern zulegt jelbjt auf Brama amwendet. Die Incar— 
nation iſt urſprünglich nur in einem Syſtem denkbar, das ſchon die 


918 

materielle Schöpfung felbft aus dem Begriff eines ſich felbft materiali- 
firenden, alfo eines ich. felbft erniedrigenden Gottes herleitet. Einen 
gleichen, oder vielmehr noch verwirrenderen Einfluß hatte der Buddis— 
mus möglicherweife auf die theofophijchen Theile der. Vedas, auf jene 
zum Theil bis zur Verrüdtheit gehende Unificationstheorie der Upani- 
ichads. Denn wenn die Bhagwadgita z. B. noch immer an der Per- 
jönlichfeit des Wiſchnu fefthält, jo ift Dagegen das höchfte Ziel des in 
jenen Theilen der Vedas gelehrten Beftrebens der Abgrund einer abſo— 
lut unperfünlichen, infofern inhaltsleeren Einheit. Es ift nicht etwa 
nur Drama und Schiwa, es ift ebenjowohl Wiſchnu, ver hier. ver- 
ſchwindet. Diefe Theile der Vedas find das Werf eines gegen bie 
Mythologie erregten, ihr entgegengefetten, aber feinesmegs fie pofitiv 
zu. überwinden vwermögenden Geiftes, der, um ſich aus den Banden 
derfelben zu erretten, ſich in das Leere und das Nichts ftürzt. Gegen 
diefe Berfunfenheit der: Vedas ift Das Syſtem der Bhagwadgita als 
ein geiftiger Aufſchwung zum perjünlichen Gott zu betrachten, wie ſich 
denn eben diefe Lehre zugleich aufs Beſtimmteſte gegen jenen trägen, 
ftumpfen Quietismus erflärt, den dieſelben Theile ver Vedas athmen, 
während die Bhagwangita, weit entfernt das Nichthandeln als ven 
einzigen Weg zur Seligfeit zu erklären, vielmehr das Handeln empfiehlt, 
jedod) Das Handeln, wie e8 dem geziemt, der an einen über Die Welt 
erhabenen, gegen fie freien Schöpfer glaubt. 

Doch das lette Wort über dieſes Berhältnig muß ich) mir + für den 
Schluß der ganzen Unterfuhung vorbehalten. Borläufig habe ich noch 
einige8 über die weitere Verbreitung des Buddismus * den Gren— 
zen Indiens zu erinnern. 

Wenn eine entſchieden polytheiſtiſche Religion kein Bedürfniß und 
keinen Antrieb empfindet ſich fortzupflanzen und Proſelyten zu machen, 
wie denn der Indier bis auf den heutigen Tag keinen Verſuch macht 
Andersdenkende für ſeine Religion zu gewinnen, was noch außerdem 
durch ſeine geſellſchaftliche und politiſche Organiſation, insbeſondere die 
Kaſteneinrichtung, ihm verwehrt iſt: ſo liegt es dagegen in der Natur 
jeder pantheiſtiſchen oder abſolut monotheiſtiſchen Religion ſich als 


519 


univerjell zu betrachten, und darum auch zu unbedingter Verbreitung fid) 
aufgefordert zu finden. Ich fage: es liegt dieß in der Natur jeder 
pantheiftiihen oder abjolut monotheiftiichen Religion. Als eine foldhe 
fann die mofaifche Religion infofern nicht betrachtet werden, weil fie, 
obgleich auf die Idee des wahren Gottes gegründet, dennod) in dieſem 
nur einen Nationalgott erkannte, der das Volk Iſrael ſich zu feinem 
Bolf erwählt, die andern Völker anderen Göttern überlaffen habe. In 
der mofaifhen Religion widerſprach ſchon die Abfonderung von allen 
andern Bölfern, in der das auserwählte Volk des Jehovah erhalten 
werden jollte, lange Zeit geradezu jeder weitern Verbreitung. Dagegen 
ift e8 von dem Buddismus hiftorifch gewiß, daß er ſich durch Miffionen 
fortgepflanzt hat. Unter ven nomadifchen Mongolen, wo der Buddis— 
mus als Lamaiſche Religion erjcheint, traf der von Indien her ſich 
verbreitende Buddismus auf die frühere patriarchaliſche Verfaſſung, mit 
welcher eine ebenſo einfache, vom eigentlichen Polytheismus noch freie 
Religion in Verbindung ſtand. Doch muß noch vor dem Buddismus 
ein Zweig der perſiſchen Ormusdlehre unter dieſe Stämme ſich ver— 
breitet haben, wie aus dem ſchon angeführten Umſtand, dem Namen 
Chormusda, erhellt, den ſie dem höchſten Gott beilegen. Bis jetzt wa— 
ren die Schriften des indiſchen Buddismus in Europa ſo gut wie unbe— 
kannt; nur erſt in neuerer Zeit fand Hodgſon in den buddiſtiſchen 
Klöſtern von Nepal (dem einzigen indiſchen Landſtrich, wo ſich der Bud— 
dismus erhalten hat) eine große Sammlung in etwas verftümmeltem 
Sanskrit gefchriebener Werfe, in denen man bald Abjchriften von Dri- 
ginalen der nördlihen und öſtlichen Buddiſten erfannte; auf dieſe ift 
das neuefte Werk von E. Burnouf: Introduction & l’'histoire du Bud- 
dhisme gegründet; bis dahin aber verdankften wir unfere vorzüglichiten 
Kenntniffe von dem Innern der Buddiſtenlehre chineſiſchen und in tar- 
tariſcher Sprache abgefaßten mongolifhen Schriften, aus denen bejon- 
vers Abel Remuſat, Klaproth und der ſchon erwähnte Iſaak Schmidt 
in Petersburg ſehr belehrende Auszüge gegeben haben, Nad) der dem 
mongoliſchen Buddismus eigenthimlichen Darftellungsweife ift der Grund 
der Welterfcheinung eine urfprünglic geftörte Einheit. Die Einheit in 


920 





ihrer Unbefchränftheit oder Freiheit von dem Gegenſatz wird im den 
mongoliihen Schriften. leerer Raum genannt. Damit ift aber nicht 
etwa der finnlihe Raum gemeint, es joll damit nur das noch Wider- 
jtand- und Spannungslofe der erften Einheit ausgedrüdt werden. Der 
Begriff iſt an ſich ebenfo philoſophiſch und metaphyſiſch als der des 
Heſiodos vom Chaos, das man ja auch als leeren Raum erklärt hat. 
An der Stelle dieſer ſtillen ruhigen Leere iſt nun das wilde Meer des 
Werdens und Entſtehens getreten, was die mongoliſchen Buddiſten Ort— 
ſchilang nennen. Dem Ortſchilang entſpricht in den mongoliſchen Leeren 
die indiſche Maja. Dieſes Meer des Werdens iſt nur die äußere 
Erſcheinung des in getrennten Eigenſchaften hervortretenden Gottes. Er 
iſt es, der jede dieſer Formen des Daſeyns annimmt, aber indem er 
ſich auf dieſe Art mit der Natur zu identificiren ſcheint, bleibt er, 
unter allen Wandelbarkeiten feiner äußern Exiſtenz, innerlich ſich ſelbſt 
gleich in tiefer Ruhe, ein Herz voll Liebe und Zuneigung gegen alle 
Geſchöpfe, die er insgeſammt, nachdem ſie die Prüfung der zertrennten 
Erſcheinung beſtanden, mit ſich zu vereinigen, in ſein urſprüngliches 
Nirwara, das man gewöhnlich durch Nichts überſetzt, das aber eigent— 
lich die Freiheit von aller äußeren Exiſtenz ausdrückt, worin er ſelbſt 
iſt, aufnehmen will. 


Dreiundzwanzigfte Vorlefung. 


Zum erjtenmal wurde bei Gelegenheit der Ausbreitung des Bud» 
dismus der Name Chinas erwähnt. Die Buddalehre hat indeß in 
China erſt jehr jpät Eingang gefunden. Mit dem bloßen Buddismus 
ift alfo das chineſiſche Weſen nicht erklärt. In feiner Urfprünglichkeit 
nun aber jcheint diefes der entjchiedenfte Widerfpruch gegen die von ung 
bis jest behauptete Allgemeinheit des mythologifchen Procefjes. Keinem 
der verfchiedenen mythologiſchen Völker hinfichtlich des Alters nachzu— 
jegen, zeigt das chineſiſche Volk in feinen Borftellungen nichts, was an 
die Mythologie der andern Bölfer erinnerte. Wir fünnen jagen: es 
ıjt ein abjolut unmythologiſches Volk mitten unter den mythologiſchen, 
von gleichem Alter mit dieſen, gleichwohl ganz außer jener mythologi- 
ihen Bewegung geftellt und nad) einer ganz andern Seite des menſch— 
lichen Dajeyns hingewendet und entwidelt. Berührt von Ländern und 
Bölfern, unter welchen der mythologiſche Proceß feine ganze Gewalt aus- 
übt, bildet China allein eine große und in ihrer Art einzige Ausnahme 
von demfelben, und fordert gerade darum unfere ernftlichjte Aufmerkſam— 
feit. Ein einziger faftiicher Widerſpruch ift hinreichend, eine ganze, 
wenn auch durch eine ununterbrochene Reihe anderweitiger Thatjachen 
befeftigte Theorie über den Haufen zu werfen. 

Es ift mit dem chineſiſchen Wejen nicht etwa .wie mit der Zend— 
(ehre, nicht wie mit dem Buddismus, welche man betradhten kann als 
Hemmungen, Antithefen des extremen Polytheismus, die aber durch 
ihren Gegenſatz gegen den mythologiſchen Proceß ſelbſt die Macht und 


322 


Gewalt defjelben bezeugen. In der Zenblehre, im Buddismus ſtellt 
fi dem Polytheismus eine Einheitslehre gegenüber, die man in diefem 
Berhältnig als Monotheismus ausfprehen kann. In China aber fcheint 
an die Stelle des Monotheismus mie des Polytheismus ein entfchie- 
dener Atheismus zu treten, eine völlige Abwefenheit des religiöfen 
Princips. | 

Es find alfo hier eigentlich zwei Erſcheinungen zu erflären, 1) das 
abſolut Unmythologiſche, 2) das fcheinbar fogar Br Unreligiöje des 
chineſiſchen Bewußtſeyns. 

Das Erſte betreffend, wollen wir uns an — Sätze unſerer 
früheren Entwicklung erinnern: a) Der Polytheismus ift gleichzeitig, ja 
gewiffermaßen identiſch mit dem Proceß der Völferentftehung; alfo Fein 
Bolf ohne Mythologie. b) Die abjolut vorgefchichtliche Zeit, Die Zeit 
vor der Bölferentftehung war auch die felativ unmythologiſche Zeit, 
denn Mythologie überhaupt entjtand erft mit den Völkern. Diefen 
Sägen entſprechend wollen wir num vor allem aufftellen, erftens: daß es 
unrichtig ift, von einem chineſiſchen Volk zu ſprechen. Die Chinefen 
find gar fein Bolf, fie find eine bloße Menjchheit, wie fte fich ſelbſt 
nicht etwa für eines der Völker, ſondern gegenüber von allen Völkern 
als die eigentliche Menſchheit anfehen (worin fie auf gewiſſe Weife 
Recht haben, inwiefern fie eben fein Volk find wie die andern). Weber 
von innen nody von außen waren fie gevrängt, fidy als Volk zu con— 
ftituiren, Nicht von innen, weil fie, wie wir fehen werden, fich dem 
mythologiſchen Proceß entzogen; nicht von außen, da fie ein volles 
Drittheil der ganzen lebenden Menfchheit ausmachen; über 300 Mil- 
lionen ſetzen die neueſten Angaben der Engländer die Bevölkerung des 
chineſiſchen Reichs. Alfo: die Chinefen verhalten fid) in diefem Betracht 
(inwiefern fie fein Bolf in dem Sinne wie die andern find) als ein 
noch erhaltener Theil der abjelut vorgeſchichtlichen Menjchheit. 
Demnach muß ſich in ihnen, es muß fi im chineſiſchen Bewußtſeyn 
auch noch das Princip finden, von dem die abſolut vorgeſchichtliche 
Menſchheit beherrſcht war. Aber weil dieſes Princip im chineſiſchen 
Bewußtſeyn ſich dem religiöſen — theogoniſchen — Proceß verſagt hat 


523 


(nicht zum Anfang umd erften Princip des mythologifchen Broceffes 
wurde), jo kann es im dhinefiichen Bewußtſeyn feine religiöfe Be 
deutung nicht behalten. Das chineſiſche Bewußtfeyn hätte ſich alfo (denn 
ich ſpreche noch immer bloß hypothetiſch), wenn unfere Erklärung richtig 
wäre, jo hätte fi das chineſiſche Bewußtſeyn allerdings dem Geſetz 
des mythologiſchen Procefjes entzogen, d. h. das Urprincip in feiner 
Ausichließlichkeit behauptet, aber nur um den Preis, daß zugleich die 
religtöje Bedeutung des Urprincips ganz aufgegeben wäre. Ich bemerke, 
daß das Geſetz des mythologiſchen Proceſſes doch eigentlich) nur hypo— 
thetifche Bedeutung hat. Es fagt nur fo viel: wenn ein theogonijcher 
Proceß oder überhaupt wirklihe Religion entftehen foll, jo muß jenes 
ausichliegliche Princip, von dem das erfte Bewußtſeyn beherrſcht ift, 
eingefhränft, einem höheren untergeordnet, ihm überwindlid und von 
ihm wirflih überwunden werden. Wie nun aber, wenn unter den ver- 
ſchiedenen Ausmegen, die das menjchliche Bewußtſeyn im Drang dieſes 
Proceſſes ſucht, einmal auch diefer vorkäme, den Proceß als theogoni- 
ſchen oder jenes ausfchliegliche Princip als Gott ſetzendes aufzugeben, 
um es als ausjchliegliches zu behaupten, fo daß von diefer Seite ber 
Proceß glei anfangs im eine bloße Negation, nicht etwa des Poly 
theismus, fondern in eine Negation der religiöfen Bedeutung des 
Princips ausfchlüge? Alfo — wenn daher diefe von und angenommene 
Möglichkeit im chineſiſchen Bewußtſeyn zur Wirklichfeit geworben, ſo 
müßte fi) in diefem, es müßte fid) im chinefiichen Bewußtſeyn 1) das 
Urprineip der Religion in feiner ganzen Macht und Ausſchließlichkeit, 
wie e8 in der noch ungetheilten Menjchheit war; es müßte aber 2) mit 
veränderter Bedeutung fich finden, jedody in der Art, daß ſtets nod) 
jeine urfprüngliche veligiöfe Bedeutung hindurch ſchimmerte; denn jonft 
wäre die Spentität des Princips nicht zu erweifen, es wäre nicht eins 
leuchtend zu machen, daß eben dafjelbe Princip, welches in den 
anderen Bölfern die theogonifche und religiöfe Richtung nahm, hier die 
andere von Religion abgewendete Richtung genommen habe, 

Um mich hierüber deutlich zu machen, will ich bemerken, daß das 
Wort religio felbft eine allgemeinere und jpeciellere Bedeutung hat. 


924 

Urſprünglich bedeutet. das Wort religio jede Verpflichtung, mit der ein 
gewiffer Begriff von Heiligkeit oder ein gleiches Gefühl won Unver- 
brüchlichfeit verbunden ift. Dieß erhellt ſchon aus dem lateinifchen 
Sprachgebrauch: hoc mihi religio est, hoc mihi religioni duco. Dieß 
Allgemeine kann man aud das Formelle des Begriffs nennen. In 
diefem Sinn gibt e8 Religion in allem, aud) in. Dingen oder Ange: 
legenheiten, die fih gar nicht, wentgftens nicht unmittelbar und für 
das nächſte Gefühl, auf das Göttliche beziehen. Man kann aber 
Keligion aud im engeren oder materiellen Sinn nehmen, wo dann 
eine wirkliche und unmittelbare Beziehung auf das Göttliche als ſolches 
in ihrem Begriff liegt. Nun haben wir angenommen, e8 ſey möglich, 
daß jenes urjprüngliche religiöſe Princip, welches eigentlich) die Bor: 
ausjegung alles theogoniſchen Procefjes ift, einmal auch eine andere, 
von der veligiöfen abgewendete Richtung nehme oder feine religiöfe Be— 
deutung verliere. - Öenauer werden wir ung nun ausdrücken, indem wir 
jagen, es ſey möglich oder denkbar, daß jenes Princip ſeine materiell— 
religiöſe Bedeutung verliere, während es die formell-religiöſe behalte. 

Urſprünglich iſt alle Verpflichtung nur Verpflichtung gegen Gott, 
und alle formelle Verpflichtung ſchreibt ſich, und wär' es durch noch ſo 
viele Mittelglieder, von jener materiellen, allein urſprünglichen 
Verpflichtung her. Jenes reale, erſt ausſchließlich hervortretende Princip 
des Bewußtſeyns haben wir früher das materiell Gott ſetzende genannt. 
An diefem Princip haftet, wie gezeigt wurde, dem Bewußtfeyn der Gott. 
Umgefehrt durch dieſes Princip ift allein ver Menſch eigentlid), ur— 
Iprünglid und zwar dem Gott verpflichtet. Diefe Urverpflichtung kann 
nun nicht und nie aufgehoben werden, es fey denn, daß Das menfch- 
liche Bewußtſeyn überhaupt aufgehoben werde, wie dieß denn wirklich 
geſchehen ift in jenen völlig aufgelösten und nur noch Außerlich menſch— 
lichen Kacen, von denen wir früher gefagt haben, daß fie Feine Auf- 
torität, fo wenig eine unſichtbare, als eine fichtbare über ſich erfennen, 
und daher auch ohne alle gejellige Verbindung leben '. Alſo jene Urver— 
pflichtung kann nie aufgehoben werden, folang menfchliches Bewußtſeyn 

' ©. Einleitung in die Philoſophie der Mythologie, S. 63 und 72, 


befteht, wie auch übrigens das Princip felbft feine Bedeutung verändere. 
Wohl möglidh aber ift, daß das Princip, gegen welches dieſe Ver— 
pflihtung befteht, oder dem das menfchliche Bewußtſeyn auf foldhe 
Weife, nämlih urfprünglich, verhaftet ift, daß diefes Princip, in 
welchem ihm (dem Bewußtſeyn) urſprünglich der Gott ift, fi ihm 
in ein anderes verfehre, daß es alfo dem, welchem es urſprünglich 
als Gott (in der engeren und materiellen Bedeutung dieſes Worts) 
verpflichtet war, daß es dieſem ſelben als einem andern, doch 
ebenfo wie vorher, d. h. auf dieſelbe binvdende, religiöſe Weife, ver- 
pflichtet bleibe. 

Wir müßten alſo — um. jegt zu unferem Gegenftande zurüd- 
zufehren. — im chinefifchen Bewußtſeyn ein gleichſam an "die Gtelle | 
von Gott, und zwar an- die Stelle jenes Urgottes, aber mit derfel- 
ben Ausjchließlichfeit und mit derjelben Urverpflichtung Getretenes an— 
treffen, das zwar, inwiefern es nicht mehr unmittelbar Gott, ſon— 
dern ein anderes ift, auch nicht mehr als eigentlich religiöles Princip 
erfchiene, das aber dadurch, daß in ihm jene Verpflichtung fortvauert, 
doch feine Abftammung und Herkunft von dem urſprünglichen, aud) 
materiell-religiöfen Princip nicht verleugnen fann dieß ift es, was 
wir meinten, wenn wir jagten: die urjprünglic religiöfe Bedeutung 
müſſe au in dem nun nicht mehr eigentlich religiöfen noch durch- 
ſchimmern). 

Ferner, da nach der Vorausſetzung jenes Princip ſeine materiell— 
religiöſe Bedeutung nur verlieren konnte, oder nur ſie aufgab, um ſich als 
ausſchließliches zu behaupten, ſo muß dieſes Princip im chineſiſchen 
Bewußtſeyn, obwohl mit materiell veränderter Bedeutung, doch mit 
derſelben ausſchließlichen Gewalt ſich wieder finden, die es urſprünglich 
in ſeiner religiöſen Bedeutung gehabt hatte. 

Auf dieſe Weiſe hätten wir alſo eine Möglichkeit gezeigt, das 
chineſiſche Weſen, das ſo ganz, nicht bloß, wie wir uns bisher aus— 
gedrückt haben, unmythologiſch, ſondern geradezu antimythologiſch uns 
anſpricht, gleichwohl mit dem allgemeinen mythologiſchen Proceß zu 
vermitteln oder in Verbindung zu bringen. 


926 


Diefer Vermittlung zufolge wäre denn das chineſiſche Weſen nicht 
im Widerfprucd gegen die Annahme eines allgemeinen theogoniſchen 
Procefies, dem das Bewußtſeyn der Menjchheit unterworfen worden, 
fondern nur einer der Auswege, eine der Ausweichungen vor ben 
Folgen diefes Procefjes, dergleichen wir, wenn aud) in anderer Art, 
auch anderweitig ſchon erfannt haben; denn China bleibt immer das 
Einzige in feiner Art. Aber wenn aud) die einzige Ausnahme ihrer 
Art, fo iſt es genug, die Möglichkeit einer foldhen Ausnahme erkannt 
zu haben, um vorauszufehen, daß ‚fie auch in der Wirflichfeit an- 
zutreffen jey. Denn es ift der Charakter des Weltgeiftes überhaupt, 
daß er alle wahrhaften. Möglichkeiten erfüllt, die größtmögliche To— 
talität der Erfcheinungen überall will over zuläßt, ja es ift im Gang 
der Welt, deſſen Langjamfeit ung ſchon allein davon überzeugen müßte, 
recht eigentlich darauf angelegt, daß jede wahrhafte Möglichkeit erfüllt 
werde. Denn diejenigen, welche gegen den großen Grundſatz, daß alles 
wahrhaft Mögliche auch wirklich jey, die flache Einwendung worbringen, 
daß dann auch jeder Roman einmal - eine. wirkliche Gefchichte gemwefen 
jey oder werden müßte, haben freilich nur die alltägliche Vorftellung 
des bloß abftraft und ſubjektiv Möglichen; fie wifjen wenig oder gar 
nicht, was die Philofophie Möglichkeit nennt. 

Uber dieſe Möglichkeit, audy das der Mythologie jo ul 
chineſiſche Weſen mit vem allgemeinen mythologifchen Proceß in Verbin- 
dung zu bringen, ift an gewiſſe, jehr beftimmte Borausjegungen gebun- 
den. Die Nachmeifung, daß diefe Borausfegungen in dem chineſiſchen 
Bewußtſeyn ſich wirklich finden, iſt allerdings eine mehr hiſtoriſche als 
philoſophiſche Aufgabe. 

Wir gehen aljo davon aus: die Chinejen find fein Bol, d. h. die 
Einheit, welche diefe unermeßliche Verbindung von Menfchen und Völ— 
ferichaften zufammenhält, wird von ihnen felbft nicht al8 eine par— 
ticulare oder gar individuelle, fondern als eine univerjelle empfunden. 
Sie find das Menſchengeſchlecht, fie fühlen fi außer und über den 
Bölfern, diefe find ihnen, wenn aud) nicht wirklich (mas die Chinefen 
gar nicht für nöthig halten), fie find ihnen ver Idee nad unterworfen. 


927 

Wenn die Chinefen nicht ein Volk find, jo fann das Princip ihres 
Seyns und Lebens nur jenes ausjchliegliche jeyn, das im Bewußtſeyn 
der vorgeſchichtlichen, noch ungetheilten Menfchheit herrichte. Aber viefes 
Princip hat fih im chineſiſchen Bewußtſeyn dem religiös-theogonifchen 
Proceß verfagt, wie wir daraus fehen, daß China ganz außerhalb ver 
mythologiſchen Bewegung geblieben ift, an ihr feinen Theil hat. In 
feiner religiöſen Bedeutung aber Fonnte fich jenes Princip nicht be- 
haupten, wenn es dem theogoniſchen Proceß fi) verfagte, oder umge— 
fehrt, es konnte fi in feiner abjoluten Ausjchlieglichfeit nur be- 
baupten, wenn es auf die veligiöje Bedeutung verzichtete, wenn diefes 
Princip im Bewußtſeyn eine andere Bedeutung annahm. Nur um diefen 
Preis, fagten wir, konnte fid) das ausſchließliche Princip dem höheren 
verfagen und jo zugleich fih außer dem mythologifchen Proceß ſetzen. 

Sehen wir num, ob das Geforberte im chineſiſchen Bewußtſeyn 
wirklich nachweislich, d. h. juchen wir deſſen eigentlichen Inhalt zu erfor- 
ſchen. Die reine Anführung der Thatfachen wird zeigen, ob unfere Vor— 
ftellung etwas bloß Geſuchtes und Gemachtes ift, oder ob fie auch in 
dem Gegenftand ſelbſt fich erfennen läßt. f 

Das dyinefifche Reich nennt ſich das himmlische Keih, auch das 
Keich der himmlischen Mitte, des himmlischen Centrums. (Hier er- 
fennen Sie ſchon die Gentralitit des urjprünglichen Princips.) Der 
Begriff des Himmels ift der höchſte in aller chineſiſchen Weisheit, der 
höchſte Begriff ihrer Moral. Ein zu feiner Zeit berühmter Philofoph, 
Bilfinger, der ein noch jegt empfehlenswerthes Werf de Sinarum 
doctrina morali et politiea gejchrieben, fagt in demfelben: Non est 
multa mentio Dei in libris sinieis (noch richtiger hätte er gejagt, daR 
die. hinefiiche Sprache eigentlich gar fein Wort für Gott hat), ejus- 
demque, fährt er fort, interpretatio inter Europaeos quosdam con- 
troversa — alfo: wie das in chmefifhen Schriften etwa als Gott zu 
Erflärende zu verftehen, fey unter den Europäern ein Gegenftand ber 
Sontroverfe; auf jeden Fall gefteht er damit, daß der Begriff Gott 
in den chineſiſchen Schriften nur durch eine Auslegung, die jehr oft 
vielmehr eine Hineinlegung ift, gefunden werde, Die Bemerkung 


928 





bezieht fih darauf: die Jeſuiten, welche China als eine ihnen beſonders 
anheimgefallene Provinz betrachteten, hatten ein gewifjes Intereſſe da— 
bei, die Ehre der chineſiſchen Weisheit aufrecht zu erhalten; ſie konnten 
ihrem Syftem nad überhaupt nicht zugeben, daß es ein ganzes großes 
Keich ohne Religion gebe, fie wollten nicht auf die Chinefen kommen 
lafjen, daß ihre Religion eigentlid) auf Atheismus hinauslaufe, was 
man in Europa früher glaubte und auch fpäterhin zu behaupten fort- 
fuhr. Darauf bezieht es fi alfo, wenn Bilfinger fagt: man ſey in 
Europa über die Auslegung der hinefiihen Schriften in Bezug auf 
den Begriff Gott nicht einig. Doch fährt er fort: einige Erwähnung 
Gottes finde fi) in den hinefifchen Schriften, und als Beleg dafür 
führt er die Grundlehren ihrer Moral an, melde er jo ausbrüdt: es 
werde gelehrt, daß wir die urfprüngliche vom Himmel eingepflanzte 
Unſchuld wieder herzuftellen fuchen, daß wir den Himmel verehren 
follen; daß wir nicht einmal einen Gedanfen zulafjen follen, deſſen 
bewußt oder mitwiffend wir den Himmel nicht wollen fünnen, daß mir 
ung allein bei den Fügungen des Himmels beruhigen follen u. f. w. 
Ueberall ift alfo hier der Himmel (und nur 'diefer) der alles, auch das 
Leben, beherrichende Begriff, und e8 wird nad) diefen Anführungen, zu 
welchen im weiteren Verlauf noch andere hinzufommen werben, weiter 
feiner bejonderen Begründung mehr bebürfen, wenn wir. behaupten, 
daß die urfprüngliche Neligion Chinas eine reine Himmels-Religion 
war, daß jene allgemeine Vorausjfegung des mythologifchen Proceſſes, 
die allen Bölfern gemeinfhaftlidh war, ver chineſiſchen Menſchheit 
ebenſo wenig fehlte, die urſprüngliche aſtrale Religion (das erſte Band 
der noch ungetrennten Menſchheit) auch der Ausgangspunkt für das 
chineſiſche Bewußtſeyn war. Aber eben hier trat die Kataſtrophe ein. 
An die Stelle der bisherigen Einheit ſollte eine Zweiheit treten. Dieſer 
Zweiheit widerſetzte ſich das chineſiſche Bewußtſeyn, es beſtand auch 
jetzt noch auf der Ausſchließlichkeit des erften Prineips '; aber im eignen 

' China blieb ganz außerhalb ber mythologifchen Bewegung (e8 widerſetzte fich 


aller Zweiheit), Perfien ging in dieſelbe ein und widerſetzte fich derjelben erft, 
als e8 zur entichiedenen Vielgötterei fommen ſollte. Vgl. oben ©. 228 ff. 


229 

Himmel, d. h. was bisher der Himmel geweſen war; in der Re— 
gion des Göttlichen fonnte e8 ſich ihm nicht mehr behaupten, das läßt 
die Erſcheinung der höhern Potenz nicht zu, durch diefe war e8 jeden- 
falls aus dem Himmel verftoßen: es mußte dem Bewußtſeyn aus dem 
Göttlichen heraustreten, ſich veräußerlihen und verweltlichen, und fo 
— in dieſer verweltlichten und veräußerlichten Geftalt — finden wir 
das Himmeleprincip aud) als das allwaltende, herrſchende Princip des 
ganzen hinefifhen Lebens und Staats ', wie fi) aus folgenden An- 
gaben herausitellen wird. 

Das hinefiihe Reich ift aud als Staat, oder rein hiſtoriſch be- 
trachtet, gleichlam ein Wunder der Geſchichte. China ift von allen 
Keichen der Welt das ältefte, das fortwährend fich felbftändig erhal- 
ten und ein jo unüberwindliches ‚Lebensprineip in fich gezeigt hat, daß 
eine zweimalige Eroberung des Reichs, einmal im 13. Jahrhundert 
durch die weftlihen Zartaren oder die Mongolen, das zweitemal durd) 
die öftlihen oder die Mandſchu-Tartaren an dem Wefentlichen feiner 
Berfafjung, feiner Sitten, Gebrauhe und Einrichtungen nicht das Ge- 
ringfte geändert hat, und der Staat feinem Innern nad heutzutag 
völlig dafjelbe Anjehen hat, wie vor vier Yahrtaufenden, und auf den- 
jelben Principien fortwährend beruht, die er in feinem Urſprung ſchon 
zur Grundlage hatte. Denn obgleid man neuerdings angeführt bat, 
daß das eigentliche Kaiſerthum von China, d. h. die völlig unumjchränfte 
Monarchie, in dem jegigen Umfang nicht Alter jey, als etwa 200 Jahre 
v..Chr., fo zeigt doch die weitere Forfhung, daß diefer fogenannte erfte 
Kaiſer Chi-hang-thi nur der Wiederherfteller eines früheren, ja des 
älteften Zuftandes war. Einzelne untergeoronete Fürften, Glieder eines 
Fendalfyftems, in welchem fie ſich als reine Unterthanen verbhielten, 
hatten Mittel gefunden fi auf eine gewiſſe Weiſe unabhängig zu 
machen, aber die Macht felbft, mit der diefer Verſuch gegen die Ein- 
heit unterbrücdt werben Fonnte, zeigt die Gewalt. der urjprünglichen 
Idee, und obgleich nicht ohne Gegenftrebungen oder ohne Abwechslung 

' ]| y a une communication intime entre ie ciel et le peuple king, 


jagt Gentil. 
Schelling, fämmtl. Werke. 2. Abtb. II 34 


530 
in der Ausführung, iſt eben dieſe Idee des unumſchränkten, abſolu— 
ten Kaiſerthums ſo alt als die chineſiſche Nation ſelbſt, und nicht eine 
im Lauf der Zeit entſtandene, ſondern eine vom erſten Urſprung des 
Volks ſich herſchreibende Idee. Der Widerſpruch gegen ſie war nur 
zufällig, durch zufällige Schlaffheit veranlaßt, aber die Wiederherſtellung 
eben beweist ihre Weſentlichkeit, ihre Immanenz in der Nation, und 
daß fie mit dieſer zugleich geboren iſt und nur mit ihr fterben kann. 
Diefe Unerjchütterlichkeit des chinefifchen Reichs und die Unveränder- 
fichfeit feines mwejentlichen Charakters ſeit Jahrtauſenden hat aud) einen 
neueren philoſophiſchen Schriftfteller ‘, der ſich über China erklärte, zu 
dem Schluß veranlaft: es müfje demnach ein mächtiges Princip feyn, 
welches dieſes Reich von Anfang an beherrfcht und durchdrungen, zu- 
gleich auch ſich felbft wor jeder fubjeftiven Verwirrung, die fi) immer 
mit der Zeit einfinde, und von allen fremdartigen Einflüffen zu be 
wahren gewußt habe?, — ein Princip, das zugleich ftarf genug gemwe- 
fen, mittelft einer ihm inwohnenden afjimilirenden Kraft alles Aus- 
wärtige, das nur eine Zeit lang in feinem Bildungsfreife beharrte, fich 
zu verähnlichen und zu unterwerfen, wie denn zweimal befiegt und 
unterworfen die Chinefen durch ihre Gefege und ihre Lebenseinrich— 
tungen die Sieger felbft wieder befiegt haben. Die Ausdrücke des Verf. 
zeigen die Einfiht, daß hier etwas anderes als ein aus bloßer ſubjek— 
tiver Meinung oder Uebereinfunft Entftandenes, etwas Mächtigeres, 
als ein menſchlicherweiſe Erfundenes herrſche. Soweit nun bin ich mit 
ihm derfelben Meinung. Wenn er aber nachher die Frage aufwirft: 
welches ift nun wohl jenes mächtige Princip, deſſen Größe felbft 
1Windiſchmann, die Philofophie im Fortgang der Weltgefchichte, 

2 Die Chineſen haben die größte Apprehenfion davor, fi” mit anderen Racen 
zu vermifchen. Die brafiliiche Regierung hatte im Jahr 1812 eine Colonie von 
Chinefen in ter Nähe von Rio angelegt, um Thee zu bauen; fie waren ſehr 
gut bezahlt umd blieben daher im Lande; feiner aber wollte heirathen, weil fie feine 
hinefiiche Frauen finden fonnten, und fo ftarb die Eolonie aus. Man fucht 
chineſiſche Arbeiter (als die beften) in Indien (Calcutta, Madras, Pondichery); 
auf St. Mauritius find fie jeßt; aber fobald fie eine gewiffe Summe gewonnen, 


tehren fie zurück, weil fie feine Weiber ihrer Race finden. Denn die chinefifche 
Regierung läßt zwar Männer, aber nicht Weiber auswandern. 


931 

durch Das jegt berabgefunfene, kleinliche, pedantifche und zum geiftlofen 
Formalismus gewordene Leben der Nation nod) hindurchſchimmert, es 
auch jetzt noch fortdauernd erhält; und wenn er hierauf die Antwort 
ertheilt: dieſes Princip ift Fein anderes als das ältefte patriarchaliſche 
Princip, nämlich das Princip der väterlichen Macht und Auftorität 
in ihrer ganzen Größe und Stärke, fo gebe ich zwar die Stärfe jenes 
Princips der väterlichen Gewalt an ſich zu, id) anerfenne auch, daß 
dieſes Princip in China von großer Bedeutung und Wirkung ift, fo- 
wie daß daſſelbe fi als Princip des Anfangs, als erfte Grundlage 
überall zu erkennen gibt, und die patriarchalifche Verfaſſung überall den 
Ausgangspunkt bildet: aber, geſetzt es gäbe für die Verfaſſung Chinas 
feine höhere Kategorie als die einer patriarchaliſchen Berfafjung, fo 
wäre die Frage gerade diefe, warum fi) das dhinefische Leben von 
diefem Ausgangspunft nicht entfernt, warum alle Verhältniffe einer 
fpäteren, mannichfaltigeren oder ausgebreiteteren Entwicklung ihm fremd 
geblieben. Die Frage ift eben, warum das patriarchalifche Prin— 
cip hier jeinen Einfluß und feine Macht Yahrtaufende hindurch behaup- 
tet, und dieß kann man nicht, ohne einen Cirkel im Erflären zu be- 
gehen, wieder durch die Macht des patriarchaliichen Princips erflären. 

Wir haben übrigens bereit von einer Kataftrophe des Khinefischen 
Bewußtſeyns geſprochen. Auch hier hat eine Umwendung, eine universio 
ftatt gefunden, ein äußerlich-Werden des erſt innerlichen, das Bewußt— 
jeyn ausjchlieglid einnehmenden Principe, aber nicht ein bloß relativ- 
äußerlich-Werden, wie in dem Bewußtjeyn jener Völfer, die dem mytho— 
logischen Proceß anheimfielen, fondern ein abjolutes äußerlich Werden. 
Mit Einem Wort, die wahre Erklärung des chineſiſchen Wefens, Lebens 
und Seyns liegt darin, wenn wir fagen, es fey: religio astralis in 
rempublicam versa, das Princip jener aftralen Religion habe fid in 
einem übrigens nod) näher zu erflärenden Vorgang zum Princip des 
Staates umgewendet. Diefelbe erprüdende Gewalt, welche e8 als veli- 
giöſes Princip auf das Bewußtfeyn ausübte, diefelbe übt es jegt ala 
Princip des Staats aus, und aus derfelben Ausichlieglichkeit, mit der 
e8 fich im jener aftralen Religion als noch innerliches Princip behauptete, 


932 


behauptet e8 ſich jeßt in diefem, im Staat, als äußerlich gewor— 
denes Princip. 

Das ganze hinefifhe Staatsweſen beruht auf einer ebenfo blinden 
und dem chinefifhen Bewußtſeyn unüberwindlihen Superftition, als 
das Keligionswefen Indiens, oder irgend eines der andern unter der 
Laft religiöfer Ceremonien erprüdten Völker. Der einft ausschließliche 
Herrſcher des Himmels hat ſich für das chineſiſche Bewußtſeyn nur in 
den ebenfo ausfchlieglichen Herrfcher des irdiſchen Reichs verwandelt, 
welches irdiſche Reich nur das heraus- oder umgewendete himmlifche 
ift. In ihm ift jenes abjolute Centrum, das in dem Urmoment der 
Ummendung oder universio überwunden werden mußte, wenn ein theo- 
goniſcher Proceß entftehen follte, veräußerlicht und verweltlicht, außer 
Widerſpruch gefegt, darum abfolutes und nun fortan unüberwind- 
liches Centrum. Aus diefem Grunde heißt China das Neid) der himm— 
liſchen Mitte. Die Mitte, das Centrum, die ganze Macht des Him- 
mels ift in ihm. | 

Ein ausfchliegliches Princip kann es auf zweierlei Art feyn, 1) nad) . 
innen, indem es alles im Oeden des allgemeinen Seyns erhält, Feine 
freie Mannichfaltigfeit zuläßt. AS ein ſolches zeigt e8 ſich in dem 
gänzlihen Mangel jedes Unterfchiedes und jeder Abftufung der Stände 
und vorzüglid) aller Kafteneintheilung. Es gibt in China weder erb- 
lichen Adel noch andere durd die Geburt abgefonderte Stände. Aller 
Unterfchied wird bloß hervorgebraht durch das Amt und durch die 
Funftion im Staat, zu der jeder ohne Unterjchied berufen werben Tann. 
Auch die eignen Verwandten des Kaiſers nehmen nur für ihre Perjon 
an feiner Herrlichkeit Theil, aber nad feinem Tode treten fie in den 
Privatftand zurüd. Ale Macht, alle Auftorität ift ausjchließlic bei 
dem Kaiſer; jeder ift in China nur infofern etwas, als dieſer etwas 
aus ihm macht. Nach der königlichen Familie machen zwar die Zu's, 
dv. h. die Gelehrten, ven zweiten Stand oder vielmehr Rang im Reiche 
aus, aber an Erblichkeit ift hiebei nicht zu denken. Es gibt überall 
nur Unterfchiede des Nangs, aber nie des Standes. Die Gelehrten 
ſelbſt theilen fich wieder in fo viel Kangorbnungen oder Grade, als 


933 


Wiljende unter ihnen find, und diejenigen unter ihnen, deren Gedächt— 
niß ihre Fächer und die zu diefen Fächern gehörigen Zeichen am beften 
inne haben, bilden Das oberfte, den Kaifer unmittelbar umgebende 
Reichscollegium. Wiffenfchaft und Gelehrfamfeit gelten nur fo viel, als 
der Staat Nutzen davon hat. Seit der Erfindung der Buchdruderfunft 
oder einer Art derfelben, melde die Chinefen im 10. Jahrhundert ge- 
macht haben, hat jenes oberfte Reichscollegium, Han-ti genannt, über 
das ganze Bücherweſen die Auffiht, und läßt diejenigen Bücher machen, 
die man für nöthig hält. Was das für Bücher find, läßt fi) aus 
dem abnehmen, mas darüber von Chinefen erzählt wird, die nad) 
Frankreich geſchickt wurden, um dort den Unterricht der Jeſuiten zu 
erhalten, und deren Angaben ich bier, wenn aud) etwas verfürzt, aus 
einem beutfchen Buche vorleſen will: „Es gilt nur, fagen fie, die Er- 
haltung der alten Gedächtnißſache, nur die Sittenlehre, und die Ent- 
defungen in den Künften, die fi) aber nur auf den unmittelbaren 
Nugen beziehen dürfen, Die Jugend ſoll nur zur Gefchäftsführung 
der Bäter tüchtig gemacht, und denen, die ſich darin vor dem Haufen 
auszeichnen, Gelegenheit gegeben werden, dieß in Schriften fund zu 
thun; denen aber, die nicht fürs Leben find, fondern nur Geiſt ha— 
ben, ſollen allerlei Spisfindigfeiten hingeworfen, allerlei Grübeleien 
freigelaffen werden, damit ihr unfeliger Hang zum Denfen über menſch— 
liche Verhältniſſe unfchädlich werde. Jede Wiljenfchaft, jedes Geſchäft 
des Stantes ift in Regeln gebracht, die man auswendig lernt. Poeſie, 
freie Erfindung, jede eigentlih fchöne Kunft geben fein Anfehen, wenn 


fie nicht höheren Orts approbirt find. — — Die Gelehrten haben fid) 
ganz in den Ton der Negierung gefügt. — Wetteifer findet nicht ftatt, 
man arbeitet einerlei auf einerlei Weile. — Ein Kaufmann, ein Künft- 


ler darf e8 ſich noch viel weniger als ein Gelehrter herausnehmen, 
etwas für fich behaupten over bedeuten, oder einen Willen und einen 
Stolz auf unabhängige Eriftenz, furz Selbftändigfeit haben zu wollen. 
— Die Religion des. Kaiſers muß jeder geradezu als Yormalität 


ı Aus Schloffers Univerſalhiſtoriſcher Ueberficht der Gejdichte der alten Welt 
und ihrer Cultur I, 1, ©. 9% ff. 


934 
annehmen, wie er in England die Teftacte befhwören muß, ob er daran 
glaubt, ift gleichgültig. Alles, jelbft die Kultur des Bodens und die 
Induſtrie ift von Büchern, Tradition und Polizei abhängig“. 

Sie fehen aus diefen Erzählungen, daß wenn zu verjchiedenen 
Zeiten auch europäifche Länder den Verſuch gemacht haben, die Wiffen- 
ichaft und jede Geiftesfultur auf diefen Fuß zu jegen, doch feines der— 
jelben das Urbild China je ganz erreichen konnte. Doc es ift nicht 
diefer Bemerkung wegen, daß ich die Stelle vorgelefen habe, fondern 
um Ihnen ein anfchauliches Bild zu geben von jener ausfchließlichen 
Gewalt des Staats in China und von der erbrüdenden Gewalt, mit 
der er alle freie Entwidlung hemmt und fett Jahrtaufenden nieverhält. 
— Wie das dem höheren Princip (A?) unterworfene B Grund eines 
Procefjes, der PVeränderlichfeit, jo das abfolut gefegte (außer allem 
Gegenſatz) Grund abfoluter Stabilität und Unveränderlichfeit. 

China ift wirflih aud darum der fichtbar gewordene Himmel, 
weil e8 fo unveränderlich ift und ftill fteht wie der. Himmel. Alle ein- 
heimifchen Kriege, Unordnungen, ſelbſt auswärtige Eroberungen haben 
es immer nur auf furze Zeit. erfchüttert, ſtets ftellt es ſich im feinem 
alten Zuftand wieder her. Die älteften Reiche find verſchwunden; 
längft find die Reiche ver Aſſyrier, der Meder, der PVerfer, der Griechen 
und Römer untergegangen, indeß China, jenen Strömen gleich), die 
aus unerforfchlihen Quellen entjpringend immer gleich majeſtätiſch da— 
hinfließen, in einer fo langen Folge von Yahrhunderten nichts von 
feinem Glanz und feiner Macht verloren hat. 

Das Ausichlieglihe des Princips zeigt fi) alſo 1) ie, innen; 
allein nicht bloß nad innen zeigt fid) dieſes Princip des chinefifchen 
Staats als ein ausſchließliches, RR nicht weniger 2) nad) außen 
völlig abſolut. 

Derjenige würde ſich eine viel zu vage und den chineſiſchen Be— 
griffen ganz unangemeſſene Vorſtellung des chineſiſchen Kaiſers machen, 
der ihn bloß als Kaiſer von China dächte, — er iſt Weltherrſcher, 
nicht in dem Sinn, wie wohl auch der Padiſchah der Osmanen oder 
der perſiſche Schah oder der lächerliche Hochmuth ſelbſt kleinerer morgen— 


939 
ländiſcher Herrſcher, z. B. in Indien, ſich fo betitelt, ſondern im eigent- 
lichen und mörtlihen Verſtande. Er ift der Weltherricher, weil bie 
Mitte, das Centrum, die Macht des Himmels in ihm ift, und weil, 
gegen das Reich der himmlischen Mitte fi) alles nur als pafjive Peri- 
pherie verhält. Bei den Chinefen find dieß nicht bloß orientalische 
Uebertreibungen oder bloße Formeln eines niorgenländifchen Ceremoniels. 
Es ift nicht zufällig, es ift der ihm inwohnenden Natur nach unmöglich, 
daß es zwei ſolche Kaifer gebe. Der dinefifche Kaifer ift der ſchlechthin 
einzige, weil in ihm wirflid die Macht des Himmels ruht, von welcher 
alle himmliſchen Bewegungen abhängen, gleihwie durdy diefe alle ixvi- 
jhen Bewegungen beftimmt find. Daß fie mit diefer Einheit des oberften 
Herrſchers wirflic einen ſolchen phyſiſchen Begriff verbinden, erhellt 
daraus, daß nad) ihrer Ueberzeugung in feinen Gedanfen, feinem 
Wollen, feinem Thun die ganze Natur fi) mitbewegt. Wenn eine 
große Kalamität über das Volk hereinbriht, wenn drohende Himmels- 
zeihen, ungewohnte Stürme oder Regen ſich einftellen, jo bezteht dieß 
der Kaiſer auf ſich, er fucht die Urfache diefer unordentlichen Bewe— 
gungen der Natur in irgend einem feiner Gedanfen, feiner Wünfche oder 
in einer feiner Gewohnheiten: denn wenn Er in der Ordnung ift und 
fih in der rechten Mitte erhält, fo kann auch nichts in der Natur aus 
feinem Gleis und aus der gewohnten Bahn weichen. Aus jehr alter 
Zeit ift das Gebet eines der berühmteften Kaifer erhalten, das er bei 
fiebenjähriger Dürre nad) vielen zur Verſöhnung des Himmels vergeblich 
dargebrachten Opfern gefprechen, und wo er fagt: Herr, alle Dpfer, 
die ich bisher dargebracht, find unnüg gewefen; ich bin es ohne Zweifel 
jelbft, der dem Volk jo viel Unglüd zugezogen. Dürfte id Did) um 
das befragen, was Dir an meiner Perfon mißfallen hat? Iſt es bie 
Pracht meines Palaftes, ift es meine veichliche Tafel, ift es die Zahl 
der Frauen, die mir die Gefege gleihwohl erlauben? Ich will alle 
diefe Fehler durch Eingezogenheit, durch Sparfamkeit, durch Enthaltjam- 
feit wieder gut machen. Und wenn dieß nicht genügt, fo übergebe ich 
mic) felbft Deiner Gerechtigkeit u. |. w. Dieſes Gebet, jagt bie Se: 
schichte, ſey ſogleich erhört worden, ein reicher Regen ſey gefallen und 


936 


die darauf folgende Erndte eine der gefegnetften gewefen. Vor noch 
nicht allzu langer Zeit, ald am 14. Mai des Yahres 1818 ein furdt- 
barer Sturm aus Süpdoften in Peking wüthete, der Regen in Strömen 
floß, eine unheimliche Finfternig die ganze Stadt umhüllte, erließ der 
Raifer eine Bekanntmachung, worin er erklärte, wie er die ganze vorige 
Nacht nicht gefchlafen, und ſich nicht erholen fünne von dem Schreden, 
den diefes furchtbare Ereigniß ihm verurſacht. Er habe nachgeforſcht, 
ob er nicht durch irgend eine Vernachläſſigung in der Kegierung die 
Schuld davon trage, oder ob er Vergehungen feiner Mandarinen über- 
jehen und nicht inne geworden ſey. Er befehle daher feinen ergebenften 
Unterthanen, ihm aufrichtig und ohne Leidenſchaft feine oder feiner 
Mandarinen Bergehen zu eröffnen u. f. w. Ic führe diefe Thatfachen 
an zum Beweis der Meinung, daß auf dem Kaifer, feinem Thun und 
Wollen nad) chinefifchen Begriffen. die Ruhe und Ordnung der ganzen 
Natur beruht, daß er nicht bloß Herr des von ihm beherrjchten Landes, 
fondern Weltherr ift. In dem Schreiben, das wegen des in ber lebten 
Zeit befonders ftarf nad China getriebenen Opiumſchmuggels ein faifer- 
licher Commiſſär und Bicepräfident von Hu-Kwang, Namens Lin, 
in Gemeinfhaft mit einigen anderen höheren Beamten aus Kanton 
unter dem 13. Juli 1839 erließ, auf daß die Königin Victoria ihn 
fenne und darnad handle, fagt der Chinefe: „Wir vom himmlischen 
Reich haben, die 10,000 Königreiche der Erde uns unterwerfend, einen 
Grad göttliher Majeftät, ven ihr nicht ergründen könnt“. Bon 
dem Kaiſer heißt es in eben demſelben Schreiben: „Unfer großer Kaifer 
mit einer Güte, grenzenlos wie die des Himmels felbft, überfchattet 
alle Dinge, jo daß ſelbſt die entlegenften und entfernteften Dinge 
(vorher war gejagt, England fey vom Reich der Mitte mehr als 
20 Millionen chineſiſche Meilen entfernt) in den Bereich feiner leben- 
Ipendenden und nährenden Einflüffe fallen“. 

Dunfel bleibt dabei allerdings, wie die. chinefifche Lehre ſich vorftellt, 
daß die ganze Macht des Himmels in diefen irdiſchen Herrfcher gefom- 
men fey, der nicht nur fterblid, fondern Fehlern, Irrthümern und 
Unvollfommenheiten unterworfen ift. Diefe Frage aber kommt auf die 


937 


zurüd, wie man fi) den Umfturz, dieſe Heraus- oder Ummendung 
einer erſt geiftig himmlischen Welt in viefes irdifche Reich zu denken 
habe. Hier iſt denn allerdings ein dunkler Punkt, welchen felbft die 
Spürkraft der Yefuiten nicht aufzuflären vermodht hat. Wir werden 
aljo kaum erwarten dürfen, hierüber einen Hiftorifchen Auffhluß zu 
finden. Eine Erinnerung indeß jener Kataftrophe könnte fi) noch in 
dem allgemeinen Symbol des chineſiſchen Keichs finden, Diefes ift 
nämlich der ftarfe und kluge Yung, der eine geflügelte Schlange oder 
ein Drake ift, unter dem man ſich die ganze Kraft der materiellen 
Welt, den ftarken Geift aller Elemente — den Geift diefer Welt ſelbſt 
— vorjtellt, und der als das geheiligte Sinnbild des chineſiſchen Staats 
jelbft, feiner Macht und Herrlichkeit betrachtet wurde. Bon diefem wird 
in einem der ‚heiligen Bücher, dem I-King, gejagt: „Ex feufzet über 
jeinen Stolz, denn der Stolz hat ihn blind gemacht; er wollte hinauf- 
fahren in den Himmel und ftürzte in den Schooß der Erde herab“. Der 
ftarfe und kluge Drache ift das bereits velativ gewordene Princip, das 
fi) aber noch als abfolutes behaupten will; darin liegt der Stolz, die 
Erhebung, das Hinauffahren in den Himmel. Wenn das im religiöfen 
Proceß (alfo in religiöfer Hinficht) bereits relativ Gewordene ſich den- 
noch als abjolutes noch behaupten will, erhebt es ſich an den ihm nicht 
mehr zuftehenden Ort, den Himmel: e8 wird alſo herabgeftürzt; um 
fi als abfolut zu behaupten, mußte e8 den Himmel verlaffen, zur 
Erde herabfommen, wo es indeß nun aber das irdifchgewordene, herab- 
gejegte Himmliſche ift. Es ift dafjelbe Bild, defjen ſich auch ein chriſt— 
liches Buch bedient, wenn es jagt: „Es erhub fid) ein Streit im Himmel 
— und der alte Drache ward herabgeworfen und feine Stätte nicht 
mehr funden im Himmel”, und Ehriftus fagt: „Ich ſahe den Satan (den- 
jelben, der ſonſt auch Fürft der Welt heißt) vom Himmel fallen, wie 
einen Bli“; um jo eher zu vergleichen, als daſſelbe bedeutend, denn eben 
mit dem Chriftenthum war jenes Princip, das bisher ein religiöjes war, 
genöthigt ſich als weltliches zu erklären Man ficht alſo: es ift 
in dem chinefifchen Bewußtſeyn doch felbft das Gefühl eines Um— 
fturzes, eines Herabgefommenfeyns, eines Procefjes, durd den das 


838 
ven Himmliſche zum irdiſch Himmlifchen geworden. Das ift gleich- 
ſam die dunkle und düftere Seite der chineſiſchen Weltanfiht. Der ur- 
Iprüngliche himmlische Herrfcher ift nur nod in der Perſon des Kaifers 
des fihtbaren Herrfchers, fo daß diefer allein ein unmittelbares Berhält- 
niß zu jenem hat, die ‚ganze übrige Welt aber nur ein durd) ihn ver- 
mitteltes, wie Er es ift, der dem Herrn des Himmels das einzige 
feierliche Opfer darbringt. Diefer Herr des Himmels bat alfo feinen 
Priefter zu feinem Kepräfentanten, fondern einen Monarchen. Die 
Jeſuiten haben ſich aus begreiflichen Urſachen alle Mühe gegeben, das 
Hinefiihe Syſtem als eine urſprüngliche Theofratie vorzuftellen. Aber 
gerade das Gegentheil liegt am Tage; man kann nur fagen, die Macht 
des chineſiſchen Kaifers fey eine in Kosmokratie, in völlig weltliche 
Herrſchaft verwandelte Theokratie. Un univers sans Dieu ift das 
einzig Richtige von China. Den Geift des Himmels beten nad) den Chi- 
nefen die anderen occiventalifchen Sekten an; fie felbft alfo nur ven Him— 
mel, defjen Perfönlichfeit nur. im Kaifer ift; über ihm nur das unperfün- 
liche Princip der Weltordnung, des Himmels. (Wird das Prineip abfolut 
aus relativ nad der Katabole, fo kann es nur aus perfünlid) unper- 
fönlih werden). Der chineſiſche Kaifer ift nicht wie der Dalailama 
Tibets, der zugleich mit der weltlichen Macht befleidete Oberpriefter, ex 
ift bloß und vein meltlicher Herrfcher. In Eusebii praeparatio evan- 
gelica findet fi) eine ſehr merfwürbige Stelle, wo gefagt ift, daß cs 
ein Volk gebe, die Serer genannt (daß dieß der Name der Chinefen 
bei den Griechen und Römern fey, ift zwar von einigen gewichtigen 
Auftoritäten bezweifelt worden, allein nach den neueren Unterfuchungen 
von Klaproth, Abel Nemufat u. U. ift es außer allen Zweifel gefett), 
unter dieſem Volk der Serer alfo feyen Feine Diebe, feine Mörder, 
feine Ehebrecher u. |. w., aber aud) weder Tempel, noch Priefter. In 
der That gab e8 bis zu der Zeit der Einwanderung des Buddismus 
feine Priefter in China; wie auch unter den älteften Charakteren und 
Schriftzeichen feines fid) findet, das einen Priefter bedeutet. Das ur- 
ſprüngliche China war ein völlig priefterlofes, abjolut unpriefterliches 
S. A. Remusat, Recherches sur les Tartares. T. XVI, p. 379. 


939 





Land, und man muß dieß wohl im Auge behalten, um feine Eigen: 
thümlichkeit richtig und genau zu faſſen. Dadurch eben unterfcheidet fid) 
China, daß e8 fo frühe zu einer vollfommen und bloß weltlichen Ber: 
faffung gelangt, ohne alle priefterliche Einrichtung geblieben ift. Wenn 
man inder das Wort Thian over Himmel, welches in der hinefifchen 
Sprache allein ftatt Gott genannt wird, vor dem materiellen Himmel 
verftehen wollte, fo war dieß nur möglich in Folge der falfchen Begriffe, 
die man ſich von der Himmelsverehrung überhaupt machte. Gegenftand 
der urfprünglichen Himmelsverehrung ift der alles durchdringende und 
bewegende Geift des Himmels, der freilich noch himmelweit verfchteden 
ift von einem freien, mit Willen und Vorſehung handelnden, nicht bloß 
immateriellen, fondern übermateriellen Schöpfer. Was ein anderes 
Wort, Schang-tht, betrifft, fo ift feine Erklärung jehr zweifelhaft; es 
bedeutet wohl höchſter Kaifer (supreme seigneur); Thian-tſoi aber, 
was Meifter, Herr des Himmels bedeutet, ift ein von den Jeſuiten 
gemachtes und beim chriftlichen Unterricht erft eingeführtes Wort, das 
die chineſiſchen Schriften nicht fennen. In diefem Sinn alfo wird 
Gottes in den hinefishen Religionsbüchern, in der ganzen chineſiſchen 
Lehre und Weisheit nicht gedacht. Die Keligion hat, wie der ſchon 
erwähnte Hiftorifer jagt, nad den Chinefen und ihrem Drafel und 
Geſetzgeber Cong-fu-tſee (Confucius) mit der Phantafie durchaus nichts 
zu jchaffen, d. h. aber eben: fie ift ganz unmythologiſch (den Dionyſos 
ausſchließend)“. Das dinefishe Bewußtſeyn Hat fi) durch jene abjolute 
Ummendung und Berweltlihung des religiöfen Princips den religiöfen 
Proceß ganz erfpart, es ift gleich urfprünglid auf jenen Standpunkt 
reiner Bernünftigfeit gelangt, zu dem andere Völfer erft durch den mytho— 
logifhen Proceß hindurch gelangten, ja eigentlich find die Chinefen das 
wahre Urbilo jenes geiftigen Zuſtandes, auf den gewiſſe neuere Beſtre— 
bungen, wahrfcheinlich ohne zu wiſſen, wie chineſiſch dadurch die ganze 
Melt werden würde, mit großem Fleiß hinarbeiteten, daß nämlich alle 

Die chineſiſche Religion iſt jo ganz ohne Enthufiasmus, daß in ber That 


nur politiich. Diefen Mangel aus dem hoben Alter abzuleiten, wäre doch zu 
jeltjam. 


940 


Keligion nur noch in der Ausübung gewiſſer moralifcher Pflichten be- 
ftehe, vorzugsweile aber zur Beförderung der Zwede des Staats wirken 
ſollte. In diefem Sinn kann man die hinefiiche Nation allerdings 
eine irreligtöfe nennen, man kann ſogar jagen: fie habe Die Freiheit 
vom mythologiſchen oder theogonischen Proceß um den Preis eines völligen 
Atheismus erfauft, wo ich jedoch unter Atheismus nicht das pofitive 
Leugnen oder Verneinen Gottes verftehe, fondern daß Gott überhaupt 
fein Gegenftand der Erörterung oder aud) eines unmittelbaren Be- 
wußtſeyns für die Chinefen ift. Der Gott ift ihnen in etwas ganz 
anderes, nämlich eben in das Princip des Staats und des bloß aufßeren 
Lebens verwandelt. Aber diefe Umwandlung felbft fonnte nur die Folge 
eines Umfturzes ſeyn, der zeigt, daß das chineſiſche Bewußtſeyn auch 
nicht ohne Anwandlung zum mythologiſchen Proceß geblieben war, eines 
Umfturzes, deſſen Folgen ſich das chineſiſche Bewußtſeyn mit ruhiger 
Ergebung unterworfen hat. Denn daß ſie übrigens das irdiſche Reich 
doch nur als ein herabgekommenes oder ſich entfremdetes himmliſches 
anſehen, zeigt außer dem Reichsſymbol auch die Verehrung, ja der 
Cultus, den ſie den Geiſtern der Voreltern erzeigen, und der ein ſehr 
weſentlicher Theil der chineſiſchen Sitten, ja ihres ganzen Lebens iſt, 
und ſich nicht wohl denken läßt, wenn man nicht vorausſetzt, daß 
ſie die Geiſter der Verſtorbenen in ein himmliſches Reich zurückgehen 
laſſen, mit welchem nach ihrer Vorſtellung der lebende Menſch nur noch 
durch den ſichtbaren Herrſcher zuſammenhängt. 


Vierumdzwanzigfte Vorlefung. 


Wir haben bis jegt das Unmythologiſche der Religion und der 
ganzen Denkweiſe des chinefifchen Volks auf der einen und die Beftän- | 
digfeit und Unerfchütterlichkeit der Verfafjung des chineſiſchen Reichs — 
troß innerer Empörung und zweimaliger vollftändiger Eroberung — auf 
der andern Seite betrachtet. Beide bieten ein Problem dar, das nur 
durd einen Vorgang fic erklären läßt, in welchem das vormythologiiche 
Princip des Bewußtſeyns in feiner ganzen Starrheit, Unbeweglichkeit 
und alles Mannichfaltige- ausichliegenden Einheit durch Veränderung 
jeiner Bedeutung oder, was dafjelbe ift, durch eine abfolute Ummendung 
ing Aeußerliche, ebenfowohl erhalten, nämlich in feiner Abjolutheit er- 
halten, als zum bloßen Brincip des äußern Gefammtjeyns der Nation, 
d. h. zum Prineip des Staats geworben ift. Aber die chinefiiche Bil— 
dung bietet noch von einer andern Seite ein Näthjel dar, welches bis 
jetst nicht im feiner ganzen Tiefe erfaßt feyn möchte, und das gehörig 
betrachtet wohl aud) feine andere Auflöfung als in eben dem von ung 
angenommenen Vorgang finden möchte. 

Auch in der chineſiſchen Sprade nämlich fcheint noch die ganze 
Kraft des Himmels, der urfprünglid; alles durchwaltenden und jede 
Ginzelheit abſolut beherrjchenden und ſich unterwerfenden Macht zu 
wohnen. Denfen Ste fi) eine Sprache, die 1) aus lauter Monofyllabis, 
einfylbigen Elementen, befteht, deren jedes ohne Ausnahme außerdem 
die Eigenthümlichkeit hat, daß es mit einem einfachen oder doppelten 
Confonanten anfängt und mit einem einfachen oder doppelten Vokal 


942 


oder auch einem Nafalen aufhört. Denken Sie fid) 2) daß der ganze 
Reichthum diefer Sprache zulegt auf nicht viel mehr als 300 und bei 
weitem nicht 400, nad) dem neueſten Fritiichen Forſcher fogar auf nicht 
mehr als 272 einfylbige Grundwörter fid) rebucirt, mit denen der 
Chineſe ven ungeheuren Bedarf aller Bezeichnungen, deren er für Ge- 
genftände der Natur, des fittlichen oder gefelligen Lebens in ihren un- 
zähligen Abftufungen und Niüancen benöthigt tft, wirflich beftreitet, na- 
türlich nicht ohne daß er deſſelben Lautes für ganz verſchiedene Gegen- 
ftände fich bedienen muß, nicht ohne daß Ein Grundwort, 3. B. La, 
Ki oder Pe over Tſché, Tſcheu, Tſchi u. ſ. w. zehnerlei verſchiedene 
und ſchlechterdings nichts miteinander gemein habende Bedeutungen hat, 
welche in der mündlichen Sprache nur durch die Verſchiedenheit der 
Intonation, der Modulation, der muſikaliſchen Erhebung oder Senkung, 
oder durch den Zuſammenhang, in der Schrift aber allerdings durch 
verſchiedene Charaktere unterſchieden werden, deren Zahl eigentlich un— 
beſtimmt iſt, wenigſtens aber 80,000. Der ausgeſprochenen Worte find 
alſo nad) Abel Remuſat nur 272, vie durd die vier verſchiedenen Ton— 
arten (weil nicht alle derjelben jufceptibel find) nicht einmal auf 1600 
erhöht werden. Welch ein ungeheurer Unterfchied alſo zwifchen der 
Armuth der gefprochenen und dem Reichthum der gefchriebenen Sprache! 

Mas num freilich die monofyllabifche Natur der chineſiſchen Spradye 
betrifft, jo will U. Remuſat diefe nicht unbevingt zugeben. Er jagt 
nämlich, e8 werden freilich niemals mehrere aufeinander folgende Sylben 
gehört, wenn man Einen Charakter (ein MWortzeichen) ausſpreche, da 
aber gar viele Charaktere einzeln genommen alles Sinns entbehren und 
erſt in der Berdopplung mit fid) felbft oder mit andern verbunden einen 
Sinn annehmen, jo müfjen dieſe für zweilylbig gehalten werben, und 
eben dahin gehören auch diejenigen Charaftere, die zwar einzeln ober 
jeder für fi) einen Sinn haben, aber den fie in der Zufammenfegung 
verlieren. Allein die Beifpiele, die Abel Remuſat anführt, beweifen 
zwar, daß es in der chineſiſchen Sprache zufammengehörige Wörter gibt, 
nicht aber daß die eigentlichen radices, die Wurzelwörter, mehrfylbig 
jeyen. Er meint ferner, daß die chinefiiche Sprache, wenn fie, wie 


543 





andere Sprachen, die befondern Wörter, durch welche bei ven Declina- 
tionen oder bei den Conjugationen die Perfonen und tempora bezeichnet 
werden, mit dem Hauptwort verfhmolzen hätte, alsdann zum Theil 
ebenfo polyipllabiich wie andere Idiome erfcheinen würde. Allein, wenn 
es freilich Leicht ift, im Hebräifhen z. B. in der zweiten Perfon des 
Präſens Katalta das Grundwort, die radix, und die Bezeichnung 
ber zweiten Perſon atta (dur) als verfchmolzen zu erfennen, fo ift eben 
hier das Grundwort nad) Abzug aller Affiren und Suffiren oder aller 
Zuſätze, die e8 zur Bezeichnung einer Modification erhalten hat, an fich 
jelbft polyſyllabiſch. Denn was die Berjuche betrifft, aud) in anderen 
Spraden, 3. DB. eben der hebräifchen, die gegenwärtigen radices auf 
monofyllabiihe Anfänge zurüdzuführen, jo 3. B. daß die zwei erften 
Conſonanten einer hebräifchen Wurzel die Grundbedeutung allein ent— 
halten, der dritte Confonant nur einen Modus der allgemeinen oder 
Grundbedeutung ausprüdte: diefe Art, die mehrfylbigen radices z. B. 
der hebräiſchen Sprade auf einſylbige zurüdzuleiten, laßt ſich bei feiner 
einzigen der jo entjtehenden einjylbigen radieum durch alle Berba durch— 
führen, und aud) da, wo fie anwendbar ſcheint, ift der Zufammenhang 
ein viel tieferer, als diefe Erklärung vorausjeßt, die offenbar einem 
Syſtem angehört, das alles bloß mechanisch, eintönig fortichreiten läßt 
und für alles nur Eine Erklärung hat, während erft diejenigen Theorien 
aus der wahren. Quelle geſchöpft find, deren Erklärungen jo reich und 
mannichfaltig als die Gegenſtände ſelbſt find. 

Gefegt e8 wäre möglich, irgend eine mehrjyibige Sprade, wie 
3. B. die hebräifche, auf einfylbige Wurzeln zurüdzuführen, jo wäre bie 
dorthin zurüdgeführte Sprache eben nicht mehr die hebräiſche. Denn 
das Charakteriftiiche der hebräifchen Sprache ift eben dieß, daß das 
ganze Syſtem derſelben auf zweifylbige Wurzeln gebaut ift. Diefer 
Diſſyllabismus ift das Fundament ihrer ganzen Grammatik und aller 
ihrer Eigenthümlichkeiten, fo daß man ihn nicht hinwegnehmen fann, 
ohne fie ſelbſt aufzuheben. Nimmt man in der Entjtehung der Sprade 
überhaupt einen Fortgang von Monofyllaben zu Polyſyllaben an, jo ift 
in den mehrſylbigen Sprachen gerade dieſes Mehriylbige das Moment 


544 


ihrer Differenz, das Moment ihres Ausgangs von der Urſprache. 
Nimmt man dieſes Mehrſylbige einer Sprache hinweg, ſo iſt fie über— 
haupt. nicht mehr dieſe Sprache; indem man ſie erklären will, verliert 
man das Objekt der Erklärung, gerade ſo wie der Indier, deſſen My— 
thologie man auf einen reinen Urmonotheismus zurückführt, nicht mehr 
Indier iſt, denn Indier iſt er gerade nur durch ſeinen Polytheismus. 
Dieſe Mode (denn mehr iſt es nicht), alle polyſyllabiſchen Sprachen auf 
monoſyllabiſche Anfänge zurückzuführen, ſchreibt ſich hauptſächlich von 
Bewunderern des Chineſiſchen her. Allein der Grund der ſogenannten 
Einſylbigkeit liegt in der chineſiſchen Sprache ſelbſt nur darin, daß hier 
das einzelne Wort gleichſam nichts iſt, und keine Freiheit hat ſich aus— 
zubreiten. Jene Wortatome der chineſiſchen Sprache find erſt durch Ab— 
ſtraktion entſtanden; ſie ſind urſprünglich und in der Entſtehung gar 
nicht als abſtrakte Theile gemeint — gerade ſo, wie wir zwar einen 
gegebenen Körper in Theile mechaniſch zerlegen können, aber dieſe Theile 
waren von der Natur nicht als Theile gemeint, die Intention der 
Natur ging nur auf das Ganze als ſolches — das einzelne Wort der 
chineſiſchen Sprache hat eigentlich feine Bedeutung ſowie feine Exiſtenz 
für ſich, ſeine Bedeutung erhält jedes erſt im Sprechen ſelbſt (durch 
Intonation u. ſ. w.), abſtrakt genommen hat es zehnerlei, ja vierzigerlei 
Bedeutung, d. h. es hat gar feine Bedeutung; nehmen wir es aus dem 
Ganzen heraus, fo verliert e8 ſich in eine leere Unendlichkeit. Denn 
bieher gehört eigentlich, was man insgemein von einem gänzlichen 
Mangel der Grammatif oder granmatifaliicher Formen in der chinefi- 
ihen Sprache fagt. Dieſer beruht bloß darauf, daß man dem einzelnen 
Wort außer dem Zufammenhang und [osgetrennt vom Ganzen nicht jo 
wie in andern Sprachen anfehen kann, zu welcher grammatifchen Kate— 
gorie es gehört, es kann ebenfomohl Subftantivum als Verbum, Ad— 
jectivum oder Aoverbium jeyn, d. h. eben weil es alles ſeyn fann, ift 
es eigentlich nichts, nämlich für ſich, einzeln genommen oder in ber 
Abftraftion. Es ift nur etwas im Zufammenhang und in der Berbin- 
dung mit dem Ganzen. Wir find fo fehr gewöhnt an die felbftändige 
Ausbildimg der Wörter in andern Sprachen, daß wir gleichfam vor 


or 
— 
or 


lauter Wörtern die Sprache felbft nicht ſehen, oder diefe nur als eine 
Verbindung zum voraus gleichfam vorhandener Wörter anfehen, da doch 
umgefehrt die Sprache, nicht der Zeit nach, aber doch naturä, vor den 
einzelnen Wörtern ſeyn muß. Um jo mehr muß uns die chinefifche 
Sprade erwünſcht jeyn, welche uns die Worte noch in ihrer ganzen 
Abhängigkeit von der Sprache, gleihfam im ihrer abjoluten Innerlichfeit 
und Involution zeigt. Die Sprache erfcheint bier in ihrer Priorität 
vor den Worten, die Worte find in ihr eigentlich Feine Wörter. Denn 
unter Wörtern verfteht man felbftändig gebildete und für fich beftehenve 
Kedetheile. Inſofern ift e8 allerdings auch nicht ganz richtig zu fagen, 
daß die chineſiſche Sprache aus einfylbigen Wörtern beftehe, man feßt . 
dabei etwas voraus, was im Grunde nicht ftattfindet; denn, wie gefagt, 
die Worte find eigentlid) feine Wörter, fie ſind nur Spuren oder 
Momente ver Rede, und ebendarum bloße Laute oder Töne, denen gegen 
die Sprache Feine Selbjtändigfeit zufommt, als wären fie etwas für 
fih; fie find nur Clemente, die ihre Beveutung bloß vom Ganzen er- 
halten. Willtam ones, der unftreitig bei weitem weniger chinefiiche 
Gelehrſamkeit beſaß als Abel Remuſat, aber gewiß durch feinen längeren 
Aufenthalt und feine Stellung in Indien mehr Gelegenheit gehabt hatte 
Chinefen fprechen zu hören, fagt, die Sprache der Chinefen fey fo mu- 
ſikaliſch accentuirt, daß fie einem mufifalifchen Recitativ gleiche, dagegen 
fehle 68 ihr ganz an dem grammatifalifhen Accent. Der grammatifa- 
liſche Accent aber ift eben der, durch welchen ein Wort als Ganzes fin 
ſich beſteht, dieſer gibt dem Wort ſeine Selbſtändigkeit. Ohne gram— 
matikaliſchen Accent muß jede Sprache einſylbig erſcheinen, daher ſich 
dem Chineſen auch fremde Wörter in einſylbige auflöſen, wie z. B. in 
der chineſiſchen Ueberſetzung des Neuen Teſtaments der Name Jeſus 
Chriſtus durch Ye-sou-ki-li-sse-tou wiedergegeben iſt. Denn die Chi— 
neſen kennen in ihrer Sprache das R nicht, und Kliſtus ſtatt Chriſtus 
können ſie auch nicht ſagen, ſie müſſen aus jedem der Anfangsbuchſtaben 
zwei Sylben Ki-li machen, und ebenſo aus dem ſtus zwei Sylben sse 
und tou. Man ſieht, es iſt in der chineſiſchen Sprache eine Gewalt, 
welche dem Wort ſchlechthin keine ſelbſtändige Bildung erlaubt, die 
Schelling, fämmtl. Werke, 2. Abth. I 35 


946 


felbft fremde Wörter ihrer Selbſtändigkeit als Wörter beraubt und 
jener mufifalifchen Einheit unterwirft, welche wie ein magnetiiher Strom 
alle Elemente der chineſiſchen Sprade ordnet und gleihfam gefangen 
hält, aber zugleich in ein foldyes Verhältniß fegt, daß eines dem anderen 
zur nothwendigen Ergänzung wird, eines das andere trägt. und hält, 
wie jedes Stäubchen der magnetifd) geordneten Eifenfeile nur in diefem 
Ganzen ift und für den Augenblid fein Seyn außer demfelben hat. 
Das Ganze behauptet feine abfolute Priorität vor den ZTheilen. In 
der chineſiſchen Sprade ift das Wort noch nicht zur Selbftändigfeit 
entfeffelt, und darum ift in ihr Fein Heberfluß möglich, wie in den ſpä— 
teren entfefjelten Sprachen, in denen er nur durch Kunft und Aufmerf- 
famfeit vermieden wird, weil bier die Wörter ſich fo breit machen und 
eine Gewalt für fi) ausüben. Die Anordnung der Elemente ift in der 
chineſiſchen Sprache eine durchaus nothwendige, daher ift fie die ge- 
prungenfte Spradye der Welt, wenigftens in ihrem veinften und älteften 
Styl. Nichts gleicht der nerwöfen Kürze der älteften chinefiihen Bücher. 
Die Gedanken erjcheinen nad) der Ausfage der Jeſuiten wie ineinander 
gefeilt. Mean fann auf die hinefiihe Sprache, da fie weſentlich mehr 
eine mufifalifche als eine articulirte ift, mit der nöthigen Unterfcheidung 
anwenden, was ein chineſiſches Buch von der Mufif fagt: die Muſik 
bringt die Stimmen der Völker zur Eintracht (in der Muſik verftehen 
fi) alle Völker), die Mufif hebt die Discordanz und ven Gegenfag ber 
Worte auf. | 

Bon diefer Stelle unferer Unterſuchung fällt daher zugleich ein Licht 
zurüd auf die unvermeiblihe Annahme einer dem Menjchengejchlecht 
gemeinfchaftlichen Urfprache, ferner auf die Sprachenverwirrung, die fich 
in dem Uebergang von der worgefchichtlichen Zeit der nod) einigen zu ver 
gefchichtlichen Zeit der in Völker zertrennten Menſchheit ereignete. Die 
durchgängige Einheit der Sprache konnte nur erhalten werben, inwiefern 
die freie Entwidlung zu einzelnen Wörtern gehemmt war, Die alles 
durchwaltende Kraft, von mweldyer das Bewußtſeyn beherricht war, hielt 
auch die Elemente der Sprache unterworfen. Wie die himmlischen 
Sphären in dem Wirbel, von dem fie fortgeriffen werden, nur 


547 


Elemente ſind, nicht ſelbſtändige, für ſich oder frei bewegliche Körper, 
ſo mußte auch die Urſprache des Menſchengeſchlechtes eine gleichſam 
aſtraliſch bewegte ſeyn; noch war ſie nicht zu der Einzelheit des Worts 
fortgezogen, das Einzelne trat in ihr nicht aus dem Ganzen heraus, 
noch entwickelte es ſich nach einem eignen, ihm beſonders inwohnenden 
Geſetz. Die Sprachverwirrung entſtand, ſowie die einzelnen Ele— 
mente ſich gegen die Macht empörten, der ſie bisher ganz unterworfen 
waren, die ihnen keine Entwicklung verſtattete. Verwirrung mußte ent— 
ſtehen in dem Verhältniß, als jedes Element ſich zu einem ſelbſtändigen 
Körper, zum für ſich beſtehenden und organiſcher Veränderungen in ſich 
fähigen Worte ausbildete, und fo parador dieſer Satz außer feinem Zu— 
ſammenhang erjcheinen würde, jo einleuchtend ift in dem Ganzen umferer | 
Unterfuhung, daß der Polyiyllabismus der Sprache und der Polytheis- 
mus gleichzeitige, miteinander gefette, parallele Ericheinungen find ‘. 

Sie jehen nun alfo, daß der Uebergang von Sprachen, deren 
Elemente als einfylbige Wörter erfcheinen, zu Sprachen, in denen die 
Wörter jelbftändige, gleichſam nad allen Dimenfionen ausgebilvete 
Körper, und darum polyiyllabifch find, ein ganz anderer ift, als jener 
mechanijche, wo die Bielfylbigfeit ver Sprachen durd einen bloßen Zu- 
wachs zu urfprünglich einfylbigen Wortftämmen entjtünde. Die ent- 
widelten Sprachen find von den urfprünglic gebundenen nicht durd) ein 
bloßes Hinzufügen, fondern durch ihren innern Charakter. verjchieden. 
Die Bewegung der Urfprache verhält fid) zur Bewegung der frei ent- 
widelten Spracdyen, wie fich die Bewegung des Himmels zu den frei 
willigen, willkürlichen und mannichfaltigen Bewegungen ver Thiere ver- 
hält. - Diejenige Sprache aber ift die am meiften menjchliche, welde am 
meiften dem menſchlichen Gang ähnlich ift, mit der Majeftät Die Sanit- 
heit, mit der Beftimmtheit die vollfommene Freiheit der Bewegung ver- 
einig. Darum haben and nur dieſe Sprachen erjt eigentlich eine 
Grammatik oder ein grammatiiches Syftem. Die Urſprache bedarf der 
grammatifchen Formen nicht, jo wenig ald der Weltförper der Füße 
bedarf um zu gehen. Züge der Urſprache, auch was die materielle 

"Man vgl. hiezu &. 100 ff. der Einfeitung in die Phil. der Mvtb. 


548 





Beichaffenheit betrifft, mögen nod in der hinefifchen enthalten ſeyn. 
Dahin möchte gehören, daß in dieſer jeder Laut mit einem Conſonanten 
anfängt und in einem Vocal endet. Die Freiheit, auch mit dem Vocal 
anzufangen (welche erſt der befreiten, aus der Einheit entkommenen 
Sprache eigen iſt), ſetzt den Widerſtand, welchen das chineſiſche Wort 
noch zu überwinden hat, als ſchon überwunden voraus. Aber nicht das 
Materiale, nur das Geſetz der Urfprache ift in der chineſiſchen Sprache 
erhalten, und ſchon über diefe Erhaltung dürfen wir als über ein Wunder 
erjtaunen, das zur Beftätigung jenes Glaubens gereicht, von dem jeder 
wahre Forſcher erfüllt und begeiftert jeyn muß, des Glaubens, daß 
nichts abjolut unerforſchlich iſt — mil mortalibus arduum — und daß 
von allem, was auf dem großen und langen Weg, ven die Natur und 
Geſchichte bis zur Gegenwart zurückgelegt hat, als ein mefentliches 
Moment, und daher als ein wahrhaft wiffenswürdiges erachtet werben 
fann, ſtets fo viel erhalten worden, daf der wahre Forſcher es noch zu 
erkennen hoffen darf. | 

Auch die hinefifche Sprache alfo legt Zeugniß ab für den Fort 
gang, durd) den wir uns das chinefische Wefen iiberhaupt erklärt haben. 
Das rein Materielle der Urſprache ift im Chinefifchen nicht. erhalten, 
wohl aber die fiverifhe Kraft verfelben. Das Chinefifche ift für uns 
wie eine Sprache aus einer andern Welt, und wenn man eine Defi- 
nition der Sprache nad) dem Sinn geben wollte, in weldhem die andern 
Idiome Sprache heißen, fo würde man in die Nothwendigfeit kommen 
zu geftehen, daß die hinefifche Sprache gar feine Sprache ift, wie die 
chineſiſche Menfchheit Fein Volk ift. Inder kann ich am Schluffe viefer 
Erörterung nicht unterlaffen, wenigftens meine VBerwunderung darüber 
auszudrüden, daß Herr Abel Remuſat am Ende der Abhandlung, worin 
er den monoſhllabiſchen Charakter der chineſiſchen Sprache zu leugnen 
verfucht, im Grunde aber nur einfchränft und mit Einfchränfung zuge- 
fteht, daß er dieſes Zugeftändnig mit folgenden Worten macht: Reetius 
sentiunt, qui, sermonem veterum Sinarum e verbis non omnibus 
quidem monosyllabis, sed plerisque, et,‘ ut gentium barbararum 
mos est, brevissimis constitisse, pronunciant. Wie fann er nämlich 


549 


1) unbeftimmter und unbedingter Weile fagen, monofyllabifche Laute 
jegen den Sprachen barbarifcher Völker gemein, da jeder 5. B. vie 
unmäßig langen Wörter der amerifanifchen Ureinwohner fennt, die doch 
gewiß einen gegründeten Anfpruch haben auf den Namen Barbaren- 
völker. Dieſe Sprachen ſcheinen das Gegenftüd, die andern Extreme 
zu dem Monojyllabismus der Chinefen. In dieſen hat fi) die Macht 
des Urprincips erhalten, tm jenen iſt fie ganz zerftört und die Sprachen 
find einem finnlofen Polyiyllabismus hingegeben. 2) Liegt hiebei vie 
Borausjegung zu Grunde, als wäre das hinefiihe Volk ebenfalls aus 
einem Zuftand von DBarbarei hervorgegangen und allmählich erſt zu 
feiner gegenwärtigen Verfaſſung gelangt, während alles uns überzeugt, 
daß China, wie. es ift, durch ein unvordenfliches Ereigniß ift, und feit 
jeinem Urfprung weſentlich unverändert, immer dafjelbe gewefen ift. 
Ein Syitem wie das, welches bis auf den heutigen Tag im Ganzen 
China beherricht, entiteht nicht im Yauf der Zeit; es kann einem Volke 
nur durch eine plößliche Kataſtrophe auferlegt werden. Dieje Erklärung 
Abel Kemufats, nad) welcher nämlich die Einfylbigfeit aus einem bar» 
bariſchen Zuftand ſich herfchreiben joll, erinnert an die Annahme einer 
früheren Spraditheorie, nach weldyer die erften oder die Grundwörter 
aller Sprachen in bloßen Interjeftionen, Ausrufungen des Erſtaunens, 
des Schredens u. ſ. w beftanden haben follten. Damit wäre dann die 
monofylabiihe Natur (deun fo muß man fid) ausprüden; es iſt nicht 
die Frage, ob im Chinefiihen Wörter vorkommen, weldye jo wie fie 
jest find als zufammengefegt und inſofern polyſyllabiſch erſcheinen, es 
ift nicht die Frage, ob fich zufällig vielfylbige Wörter in der chineſiſchen 
Sprache finden, fondern ob fie ihrer Natur nad) monoſyllabiſch ſey), 
nach jener Erklärung wäre alſo freilich die monoſyllabiſche Natur der 
chineſiſchen Sprache gleich und leicht begriffen, Barbarei = Kindheit: 
man könnte daher ſich noch etwa eher darauf berufen, daß es auch 
Kinder, die zuerſt ſprechen lernen, in der Art haben, vielſylbige Wörter 
ſich auf einſylbige zu reduciren, ſowie fie ſich auch die ganze Grammatik, 
beſonders die Conjugation erſparen, und ſich ſtatt aller Temporum des 
Infinitivs bedienen, womit man denn die grammatikaliſche Unbeſtinmtheit 


990 
der chinefiihen Verben vergleichen Fünnte. Ic will aber dabei nur 
bemerfen, daß man auf diefe Art die älteften Völker in die Lage von 
Kindern ſetzt, welche das Sprechen und die Sprade erft Ternen. 
Kinder werden völlig jprachlos geboren. Kann man fid) aber in irgend 
einem Augenblid ein Volk ohne alle Sprache denken? Kinder verfürzen 
die gegebenen vieljylbigen Wörter, die fie hören, zu einfylbigen, weil 
jie des grammatikaliſchen Accents nicht mächtig find, durch weldye eine 
Mehrheit von Sylben zum Ganzen eines Wort wird, Aber die Chi— 
nejen haben ja Feine vieljylbigen Wörter erſt abgekürzt, und die Einfylbig- 
feit ihrer Sprache aus der Unfähigkeit zum grammatifalifchen Accent zu 
erfläven, hiege eine Wirkung zur Urjache machen. Wenn ter Mono- 
ſyllabismus der chineſiſchen Sprade aus ver bloßen Schwäche der 
Kindheit oder der anfänglichen Barbarei zu-erflären ift, die man zugleich 
als den erften Zuftaud aller Völker vorausfegt, warum haben bie 
andern Völker, aber nicht das chineſiſche, aus diefem Zuftand fid) losge— 
riffen? Herr Abel Remuſat jucht diefen Grund feltfam genug in ver 
Schrift ver Chineſen. Denn jo einzig ihre Sprache, fo einzig ift aud) 
Ihre Schrift. Zwar hatte man in früherer Zeit die chineſiſchen Cha— 
vaftere mit den ägyptiſchen Hierogiyphen verglichen und darauf felbft 
ziemlich ungereimte VBermuthungen über einen Zufammenhang zwifchen 
Aegypten und China gebaut. Allein ſchon die bei weitem geringere 
Zahl der Hieroglyphen — man hat deren höchftens 800 gezählt, wäh 
rend die hinefiihen Charaktere fic) auf 80,000 belaufen — hätte vie 
Vermuthung erwecken können, daß die ägyptiſchen Hieroglyphen wielmehr 
auf die Seite der Buchftabenfchrift fi) neigen, als auf vie Seite ver 
chineſiſchen Gedankenſchrift. Heutzutage, da diefe Vermuthung in An- 
jehung der Hteroglyph.n zur Gewißheit erhoben: ift, kann man, ohne 
Widerſpruch zu befürchten, behaupten, daß die chineſiſche Schrift in 
ihrer Art ſo einzig ſey als die chineſiſche Sprache und von dieſer nicht 
zu trennen. Denn ſie iſt nicht eine bloß zufällige, ſondern die noth— 
wendige Folge derſelben. Die chineſiſche Schrift beſteht nämlich nicht, 
wie die Buchſtabenſchrift, aus Bildern, welche die Ausſprache einzelner 
Töne oder Laute bezeichnen, ſondern aus Bildern, welche die durch die 


551 





Worte bezeichneten Gegenſtände ſelbſt darſtellen. Wir haben hier alſo 
wieder zwei einander entgegenſtehende Schriftarten, und es iſt natürlich 
zu erwarten, daß dieſe Schriftarten ſich ebenſo zueinander verhalten 
werden, wie ſich die Sprachen verhalten, denen jede derſelben eigen iſt. 
Ich will dabei nur zum voraus geſtehen, daß ich an den neueren Un— 
terſuchungen über den Urſprung und das Alter der Buchſtabenſchrift, 
zu denen beſonders Wolf durch ſeine Kritik des Homer Veranlaſſung 
gegeben hat, kein großes Gefallen finden kann. Mir ſcheint, daß 
gleich, ſowie die Unveränderlichkeit der Urſprache zu verſchwinden anfing, 
ſobald die bisher gebundenen Elemente lebendig wurden, und, um alle 
Beitimmungen des Gedanfens auszubrüden, ſich in ſich ſelbſt organiſch 
veränderten, ja bis zur Unfenntlichfeit verwandelten, Buchſtabenſchrift 
nothwendig war, jo daß aljo die erjte Erfindung der Buchſtabenſchrift 
fo alt ift als jene Krifis, durch welche die polyſyllabiſchen, organifcher 
Veränderungen in ſich felbft fähigen Sprachen entftanden. 

Es iſt dabei als etwas Verkehrtes anzufehen, wenn man die Bud) 
ftabenjchrift felbft wieder von der hieroglyphiſchen ableiten will, inwiefern 
man nämlich unter Hieroglyphen nicht überhaupt nur Bilder ſich vor— 
jtellt. Im dieſem Fall iſt es wohl nicht zu bezweifeln, daß neben der 
einfachiten Art einzelne Yaute zu bezeichnen, wie fie in der Seiljchrift 
wahrzunehmen ift, ſobald nur das Talent fichtbare Gegeuftände nachzu— 
ahmen ſich außerte, die Laut» Zeichen bildliche, und in diefem Sinn 
bieroglyphifche wurden, wobei es natürlid) war, daß man einen Yaut 
durch Abbildung desjenigen Gegenftandes zu bezeichnen juchte, in deſſen 
Benennung diefer Laut der hervorftechendfte war, und da der hervor 
ftechendfte Laut immer der erfte oder Anfangslaut ift, jo war es natür- 
ih, daß man die bildlidye Bezeichnung eines Lauts von einem Gegen- 
ftand hernahm, deſſen gewöhnlicde Benennung mit eben diefem Yaut 
anfing. Im diefem Sinn kann man die hebräifchen Schriftzeichen gar 
wohl abgefürzte Hieroglyphen nennen. Der Laut B heißt hebräiſch 
beth, das Haus, und die rohe abgefürzte Abbildung eines orientaliichen, 
auf der linfen, d. h. auf der Norbfeite offenen Hauſes iſt aud das 
Zeichen, womit der Laut I angezeigt wird. Schen heißt im Hebräiſchen 


392 
Zahn, und mit dem Bild eines Badzahnes wird aud) der Laut Sch in der 
hebräiſchen Schrift ausgedrüdt. Um fo leichter war von hier der Uebergang 
zur Erklärung der ägyptiſchen Hieroglyphen nad) einem analogen Syſtem, 
worauf nämlic die Entdeckung von Champollion hauptjächlich beruht. 

In diefem Sinn alfo könnte man etwa und zum Theil wenigſtens 
die Pautzeichen der Alteften Schriftarten von Hieroglyphen ableiten. 

Verſteht man aber unter den Hieroglyphen eine Gedankenſchrift, oder 
vielmehr eine die Gegenſtände ſelbſt bezeichnende Schrift, ſo ſind beide 
ſo entgegengeſetzter Natur, daß man unmöglich die eine von der andern 
ableiten kann. In einer Sprache, wo das einzelne Wort nichts gilt, 
konnte eigentlich das Wort auch nicht geſchrieben werden. Dagegen 
mußte die Tendenz einer Sprache, alle Gedankenbeſtimmungen an dem 
Wort ſelbſt auszuprägen, ungemein erleichtert und befördert werden 
durch die Möglichkeit, den flüchtigſten Hauch, jede feinſte Nüance des 
flexibel gewordenen Organs durch ein eignes Zeichen feſtzuhalten, beſon— 
ders nachdem erſt auch die Vocale durch eigne Zeichen ausgedrückt 
wurden, die in den ſemitiſchen (ihrem ſubſtantiellen Charakter nad) diſ— 
iyllabifchen *), und, wie es fcheint, aud in der ägyptiſchen Sprache, noch 
fehlten, dagegen aber in ven Sprachen, die zu dem perſiſch-indiſch-griechi— 
hen Stamme gehören, wie es jheint, von jeher gebräuchlich waren. 
Durch die Buchſtabenſchrift wurde die Sprache gleichfam beflügelt, zur 
höchſten Bolubilität, Flüchtigkeit und Beränderlichfeit befähigt. < Die 
einzige Sprache, im weldyer ſich Das Geſetz der Urzeit und der Urſprache 
erhalten, mußte alfo, um ſich in ihrer. veinen Wefentlichfeit, Subftan- 
tialität und Innerlichkeit zu bewahren, dieſes Mittel zurückweiſen. Ihr 
ziemte nur Charakter-, nit Buchſtabenſchrift zu jeyn. 

Uebrigens hat man, wie früher in den ägyptiſchen Hieroglyphen, 
ebenſo in den chineſiſchen Schriftzeichen lange Zeit eine gewiſſe Heilig— 
keit und eine tiefmyſtiſche Grundlage geſucht. Es gehört mit zu dem 
Glück unſerer Zeit, daß ſo manche Phantome verſchwunden ſind. Man 

©. Einl. in die Phil, die Diyth., S. 133 ff. Zugleich wird bemerkt, daß dort - 


©. 133 ff. ftatt dyſyllab. das Nichtige: diſſyllab. ftehen ſollte (ebenfjo ©. 133 
Ditheismus), wie es auch die Originalhandjchrift hat. D. 9. 


|. 


333 


kann den neueren Entdeckungen und Anfichten nicht genug danfen, welche 
uns gelehrt haben, die ägyptiſchen Hieroglyphen, an welchen der falfche 
Tiefſinn erfindungsarmer Köpfe vergebens ſich abmühte, ebenfo wie Die 
chineſiſche Schrift, einfacher und gelaffener anzufehen, Man hat nämlich 
in dem Syſtem der dinefiihen Schrift die größten wiſſenſchaftlichen 
Geheimniſſe geſucht; nicht bloß der befannte Athanafius Kircher, dem 
man mit dem Prüpdicat eines Phantaften gewiß nicht zu nahe tritt, 
jondern jelbft Fourmont war auf ſolche Weife von der hinefiichen Schrift 
bezaubert, daß legterer in den 214 fogenannten Schlüffeln der hinefi- 
jhen Schriftzeichen, die aber von den Lerifographen im Grunde ganz 
willfürlih angenommen find, die hieroglyphiichen oder vepräfentativen 
Zeichen aller menschlichen Sundamentaliveen zu jehen glaubte, wobei e& vor 
allem nicht leicht jeyn möchte zu jagen, warum es gerade 214 Fundamen— 
talideen, nicht mehr und befonders nicht weniger, gebe. Es gibt der wahren 
Geheimniſſe genug, man braucht fid) feine willfürlichen zu erfchaffen und 
jpeculative Ideen da zu ſuchen, wo die gewöhnlichen Mittel ausreichen. 
Allerdings hat die hinefiihe Schrift einen eignen Reiz, und es tft unmög— 
lich in irgend einer Sprache zugleich die Wirkung diefer maleriſchen Charak— 
tere wiederzugeben, welche, ftatt der an ſich unfruchtbaren und bloß willkürli— 
hen Zeichen der Pronunciation, die Gegenftände felbft vargeftellt vor Augen 
bringen. Uebrigens deutet vie Wahl ver Charaltere jehr oft auf nichts 
weniger als ſehr tiefe Ideen; z. B. wenn der Begriff Glüdjeligfeit durch 
einen Zug ausgedrüdt wird, in weldem ein offener Mund und eine 
mit Reis gefüllte Hand vereinigt find, jo fieht man wohl, worein hier 
die Glückſeligkeit gefegt wird. Andere Verbindungen gehen ganz ing 
Triviale, wie denn der Charakter, welcher eine Perſon weiblichen Ge— 
ichledyt3 bedeutet, zweimal nebeneinander geftellt Zanf und Streit, drei— 
mal wiederholt völlige Unoronung bedeutet. In der Wahl foldyer bild» 
lichen Darftellungen verſchwindet doch alle Spur von Nothwendigkeit. 

Die hinefiihe Schrift an ſich ift eine nothwendige Folge der Be— 
ihaffenheit ihrer Sprache, und niemals könnte ich umgekehrt mit Abel 
Remuſat annehmen, die Chinefen feyen darum, weil. fie fi) außer 
Stand gefehen, die verjchievenen Kombinationen von Lauten, die ſich 


554 


ihnen darbieten konnten, durch Buchſtaben zu malen oder auszudrücken, 
alſo eigentlich der engen Schranken ihrer Schrift wegen ſeyen ſie bei den 
wenigen zahlreichen Lauten, die ſie in der erſten Zeit gehabt haben, 
bei jenen, wie er ſagt, ſehr kurzen oder gar monoſyllabiſchen Wörtern 
ſtehen geblieben. | 

Wenn diefe Erklärung etwas erklären jollte, jo müßte man zugleich 
vorausfegen, daß die Schrift noch wor dem Anfang der Cultur, d. h. 
noh während der Fortvauer jenes barbarifchen Zuftandes, erfunden 
worden, aus dem man die Befchaffenheit der Sprade ableitet. Wer 
aber möchte wohl vorausfegen, daß ein in dem Grad, als hier ange 
nommen wird, beichränftes Volk ſchon eine Schrift und zwar. eine fo 
fünftliche gehabt habe? Es liegt in der Natur der Sache, daß die 
Schrift überall nur als Mittel und in der Abhängigkeit von der Sprache 
erfcheint, und es ift gegen die Natur, dem bloßen Mittel, der Schrift, 
eine ſolche Rüdwirfung auf die Sprache zuzufchreiben. Weit einleuch— 
tender ift offenbar das umgekehrte Verhältniß anzunehmen, daß nämlich 
dur die Beichaffenheit der Sprache die Art der Schrift beſtimmt tft. 
In der hinefiihen Sprade ift das Wort felbft nicht zu jener Selb 
ftändigfeit gelangt, welche allein auffordern fann, das Wort als Wort 
darzuftellen, was eben in der Buchftabenfchrift gefchieht. An dem chine— 
ſiſchen Wort hat man nichts Aceivdentelles auszudrüden. Das Wort ift 
noch zu innerlich), um Gegenftand der Keflerion und der Darftellung 
zu ſeyn. Hier bleibt alſo Feine andere fichtbare Darftellung, als die der 
Sache, des Gegenftandes, des Gedankens felbft übrig. Ferner. erklärt 
die Beichaffenheit der chineſiſchen Sprache aud die Beibehaltung ver 
chineſiſchen Schrift. Bei der großen Einförmigfeit des materiellen Theils 
der chinefiichen Sprache, die auf eine verhältnigmäßig Kleine Anzahl ſehr 
furzer und darum felbft untereinander nicht auffallend unterſchiedener 
Grundlaute beſchränkt ift, bei diefer Einförmigfeit ift es unvermeidlich, 
daß mande Sylben, die gebräuchlicher al8 andere find, bis an dreißig 
oder vierzig verſchiedene Ideen oder Gegenftände ausprüden. Wird nun 
der Gegeuftand jelbft vargeftellt, jo ift fein Zmeifel, welche von den 
dreißig» ober vwierzigerlei Bedeutungen z. B. der Sylbe Li ober. Ya 


999 
gemeint jey, während dem mit Buchftaben gefchriebenen Wort nicht an 
zufehen ſeyn würde, welche diefer Bedeutungen beabfichtigt worden, es 
wäre denn, daß man zu den Lautzeichen noch figurative, d. h. den 
Gegenftand ſelbſt abbildende, hinzufügte. Wenn man aber einmal diefe 
zuläßt, jo kann man fid) die Buchftaben oder Lautzeichen ganz erfparen. 

Ich kehre alfo auf meine Behauptung zurüd: die hinefische Schrift 
ift an ſich eine nothwendige Folge der Beichaffenheit ver Sprache. Aber 
die Erfindung diefer Schrift braucht darum in feine höhere Vergangen- 
heit gejegt zu werden, als im welche auch ſchon die Entftehung der 
Buchſtabenſchrift ſich jegen laßt, und in fein höheres Alterthum, als 
die großentheils willfürlihe und conventionelle Beichaffenheit dieſer 
Schriftzeihen ihnen zuzufchreiben erlaubt. | 

Inden ich von dem Alterthum der chineſiſchen Schrift geſprochen, 
iſt es wohl ein natürlicher Uebergang, wenn ich noch einige allgemeine 
hiſtoriſche Bemerkungen beifüge über die Stellung der chineſiſchen Nation 
im Ganzen der Menſchheit und der Völker. 

China iſt im Grunde ſelbſt jetzt noch, wo es gegen Norden und 
Weſten von der engliſchen Herrſchaft und der Rußlands berührt wird, 
ein von der übrigen Welt faſt vollkommen abgeſonderter Theil der Erde. 
Im fernen abgelegenen Oſten Aſiens hat ſich ſeit undenklicher Zeit 
dieſer Theil der Menſchheit erhalten, der im Vergleich mit den andern, 
näheren und ferneren Völkern wirklich eine andere und zweite Menſchheit 
bildet. Von den 1000 Millionen, welche die ganze Erde bevölkern 
ſollen, fallen 300 auf China. Während das übrige Menſchengeſchlecht, 
wie es gegen Welten und Norden fortjchreitet, auf dem ganzen Weg, 
den die Cultur genommen, ſich mehr und mehr im Voölker zerjplittert, 
ftellt im Außerften Oſten Ajiens China eine compakte Maffe vor, deren 
Größe und Gediegenheit, wie ihre innere Abgefchievenheit und Unähnlich— 
feit, erlaubt, fie im Gegenfaß der ganzen übrigen zerjtreuten Menſchheit 
als eine zweite Menfchheit anzujehen. 

Man hat über den Urfprung oder die Herfunft der Chinefen ver- 
ſchiedene Hypotheſen aufgeftellt. Nach dem Gefihtspunft früherer Zeiten 
fan man den Miffionarien zu gut halten, wenn fie die Chinefen von 


556 
Einem Stamm mit Hebräern und Arabern hielten, oder zu halten we— 
nigſtens vorgaben. In der That, von allem, was die Literatur der 
älteſten Völker aufzuweiſen hat, ſteht die Denkweiſe und ſelbſt der Styl 
der altteſtamentlichen Schriften den chineſiſchen älteſten Monumenten am 
nächſten. Nach unſerer Erklärung der Entſtehung des chineſiſchen Volks 
und ſeiner Eigenthümlichkeit kann uns dieß nicht befremden. Dieſe 
Uebereinſtimmung, ſoweit ſie ſtattfindet, iſt ganz natürlich. Eine 
ſpätere Hypotheſe war die, welche ſie für Tartaren erklärt, die von den 
Anhöhen des Imaus herabgekommen. Die neueſte iſt die, welche fie 
aus Indien herleitet. W. Jones erklärt ſie für Indier von der Krieger— 
klaſſe, die, die Privilegien ihres Stammes aufgebend, in verſchiedenen 
Haufen nach dem Nordoſten von Bengalen zogen, und ſtufenweis die 
Gebräuche und die Religion ihrer Vorväter vergeſſend, beſondere Herr— 
ſchaften errichteten, die ſich endlich zu dem Geſammtreich China verei— 
nigten. Dieſe Meinung ſcheint die Meinung der Indier ſelbſt zu 
ſeyn; wenigſtens behauptet man, daß in dem Geſetzbuch Menus eine 
Stelle vorkomme des Inhalts: Eine Anzahl Familien von der Klaſſe 
der Krieger, nachdem fie ſtufenweis die Vorſchriften der Vedas verlaſſen, 
leben in einem Zuſtand von Herabwürdigung wie das Bolt — — — 
hier werden dann nacheinander mehrere Völkernamen genannt und unter 
andern auch der Chinas. Hoffentlich hat W. Jones, der dieſe Stelle 
anführt, den Namen Chinas (als Bölfername) nicht ftatt Dſchainas 
gelejen, Uebrigens haben von jeher alle Völker die Herkunft der anderen 
Völker von ihrem Standpunkt aus zu erklären fid) bemüht, und felbft 
die dur Sitten und der Denfweife nad) fremdeften Völker mit fich in 
Verbindung zu bringen geſucht. Eigentlich aber Fann für jeden, welcher 
nur ſein Auge nicht für das hinefiihe Weſen verjchließt, nichts unzwei- 
felhafter ſeyn, als daß das. ſogenannte hinefifche, Volk ein’ von Anfang, 
vom Anbeginn dev Geſchichte ſchou abgeſonderter Theil der Menſchheit 
iſt, der eben auch darum von jeher ſeinen gegenwärtigen Wohnplatz 
inne hatte, und faſt aller Theilnahme an dem Proceß, der die übrige 
Menſchheit erſchütterte und bewegte, ſich entzog. Wenn chineſiſche Tra— 
dition den Urmenſchen ſelbſt für den Stifter ihres Reichs angeben, von 


907 


welchen fie fagen, fie wiſſen gar nicht, wann feine Eriftenz begonnen 
habe, wenn fie auf diefe Art den Anfang des Menfchengefchlechts und 
ihres Reichs gleichjam ver Zeitlichfeit entrüden, und beite als von Ewig— 
feit ſeyend vorftellen, fo drückt fid; darin, ſowie in den Millionen von 
Jahrhunderten ihrer fabelhaften Zeitrehnung, nichts anderes als die 
bewußte Ueberzeugung aus, daß die Gefchichte für fie mit dem An- 
fang ihres Reichs begonnen, daß ihr Reich nicht ein Erzeugnif der 
Geſchichte, fondern ein im Anfang der Geſchichte dageweſenes fey, und 
darin müſſen wir ihnen nad dem Sinn unferer ganzen Erklärung völlig 
beiftimmen. Man könnte aber die Frage aufmerfen, warum, wenn wir 
das Alter des chineſiſchen Reichs jelbit in den Anfang der Gefchichte 
fegen, warum wir denn nicht unfere Entwidlung mit China angefangen 
haben; denn faft allem, mas ſich Philofophie der Geſchichte betitelt, ift 
jest nad) dem Vorgang einer Philofophie, die in ihren Formen jelbft 
etwas chineſiſch iſt, China der Anfang. Allein wenn das, womit ſich 
wirklich anfangen läßt, nur etwas ſeyn fann, von dem fi fortfchrei- 
ten läßt, das den Grund einer nothwendigen und natürlichen Fort— 
ſchreitung enthält, jo fieht man leicht, daß mit China, das vielmehr 
eine Negation der Bewegung ift, nicht fid) anfangen laßt, daß man von 
einem folhen Anfang nicht weiter zur fommen, alfo eigentlich auch nicht 
anzufangen vermag. China Liegt nur infofern im Anfang aller Ge- 
schichte, -al8 es fich aller Bewegung verfagt hat. Zwar der Zuftand 
der Menfchheit, wie wir ihn vor aller Geſchichte gedacht, ift in dem 
Zuftand der chineſiſchen Menfchheit feftgehalten, aber er ift in ihm mur 
als ein erftarrter, und eben auch darum nicht mehr in feinem urfprüng- 
lihen Sinn feftgehalten. Das chinefifche Bewußtſeyn ift nicht mehr der 
vorgeſchichtliche Zuftand felbft, fondern ein todter Aborud, gleichſam 
eine Mumie defielben. Aus temfelben Grunde, meil es nicht der vor- 
geſchichtliche Zuftand felbft, fondern der firtrte, dadurd aber zugleidy in 
feiner Bedeutung veränderte ift, eben deßwegen kann man auch nicht 
jagen, China fey das Aeltefte. Das Aeltefte iſt wohl in ihm, aber 
eritarrt, und dag erftarrte Aeltefte ift nicht mehr das wirfliche. Aeltefte ; 
infofern ift, wenn man von Volk fprechen will, das dhinefifche Volk 


998 


nicht älter als derjenige Theil der Menfchheit, in welchem ſich biefer 
ursprüngliche Zuftand fortjchreitend verwandelt hat. Zu derſelben Zeit 
und nicht eher, als die anderen afiatifchen Völker den Weg des mytho— 
logiſchen Procefjes zu betreten anfingen, verfagte fih ihm der Theil 
der Menfchheit, welcher jest als chinefisches Volk erfcheint; aber eben 
darum ift das chinefifche Volk als ſolches, als das, in welchem ber ur: 
ſprüngliche Zuſtand fich firirt hat, nicht alter als z. B. die Babylonier, 
wenn ‚gleich das, was in ihm ſich firirt hat, allerdings das Aeltefte ift. 
Aber das, was in dem Bewußtſeyn der Babylonier und der andern 
Bölker ald verwandelt erjcheint, ift auch das Aelteſte: auf der einen 
Seite ift nur das fixirte, auf der andern das lebendig verwandelte 
Aelteſte. Es ift leicht von einer foldhen Negation wie China anzufangen, 
aber nur auf höchſt queren und Frummen Wegen lat fi von ihm aus 
ein weiterer Zufammenhang finden. Es muß nun vielmehr im Gegen- 
theil einleuchten, daß die richtige und einzig angemefjene Stellung für 
China diejenige ift, welche ihm in-diefer Entwidlung angewiefen worden. 

In manden auch allgemeinen Darftellungen der Mythologie wird 
China ganz übergangen; z. DB. in Creuzers übrigens jo umfafjendem 
Werk wird Chinas mit feinem Wort gedacht; infofern ganz richtig, als 
China feine Mythologie hat. Aber es hat nicht nur feine, jondern e8 
ftellt auf gewifje Weife die der Mythologie entgegengejete Seite dar. 
Da nun die Mythologie auf jeden Fall eine excentrifhe, nach Einer 
Seite gehende Bewegung tft, die infofern nothwendig einen Gegenſatz 
fordert, fo verlangt es die Zotalität oder. Allfeitigfeit der Weltentwid- 
lung, daß diefer Gegenſatz wirklich da ſey (exiftire), die Zotalität der 
Darftellung, daß man diefen Gegenfag nicht ausjchließe, fonvern ihm 
allerdings auch eine Stelle in der. Betrachtung gönne, gleihjam um ber 
pofitiven Geite ein Gegengewicht zu geben. Wenn aber einmal von 
einer wiſſenſchaftlichen Entwidlung der Mythologie China nicht auszu- 
ſchließen ift, jo fann ihm feine andere als die von ung angewiefene 
Stelle gegeben werden. Denn das chinefiihe Weſen verhält ſich, wie 
geſagt, negativ gegen den mythologiſchen Proceß, und zwar noch in 
einem ganz andern Sinne, ald dieß auch etwa won der perfifchen Yehre 


999 


und von dem Buddismus gefagt werben kann. Denn jene hält den 
mythologiſchen Proceß in feiner Bewegung an, das chineſiſche Bewußt— 
jeyn aber kommt diefer Bewegung zuvor. Das hinefifche Bewußtſeyn 
kennt nur den abſolut-Einen, nicht wie die perſiſche Lehre das Zwei— 
Eine. Von dem Buddismus iſt es ohnedieß klar, daß er im Schooße 
der Mythologie ſelbſt ſich erzeugt hat, daß er eine Formation iſt, die 
ohne den mythologiſchen Proceß gar nicht gedacht werden könnte. Wenn 
nun aber das chineſiſche Weſen nicht in die Mythologie ſelbſt hereinfällt, 
ſondern völlig außer der Mythologie als ihr reiner Gegenſatz ſteht 
und zur Mythologie ſich als ihre abſolute Negation verhält, fo iſt klar, 
daß, weil jede Negation nur Sinn hat als Negation des ihm entgegen— 
ſtehenden Poſitiven und durch dieſes ſelbſt erſt einen Inhalt erhält, daß 
auch von jener Negation, die im chineſiſchen Bewußtſeyn geſetzt iſt, nicht 
eher die Rede ſeyn kann, als nachdem das Poſitive vorhanden und ent— 
wickelt iſt. Daraus alſo erhellt, daß die rechte Stelle für das Verſtänd— 
niß des chineſiſchen Weſens erſt da iſt, wo der ganze Inhalt der Mytho— 
logie ſchon vorliegt, alſo etwa am Ende der aſiatiſchen Entwicklung und 
da, wo die Mythologie nun ſchon im Begriff ſteht den Orient zu ver— 
laſſen und in die Abendlande überzugehen. Das chineſiſche Weſen 
ſteht nicht Einem Moment des mythologiſchen Proceſſes, ſondern dem 
Ganzen entgegen. Aber eben darum kann da, wo eine Darſtellung 
des ganzen Proceſſes beabſichtigt iſt, die Darſtellung des Gegenſatzes 
nicht fehlen. Inzwiſchen werden am Schluſſe dieſer Unterſuchung über 
China, und nachdem wir insbeſondere erklärt haben, daß das religiöſe 
Princip hier nur als ein ganz veräußerlichtes und verweltlichtes exiſtire, 
werden nun übrigens diejenigen, welche gleichwohl von der Exiſtenz 
mehrerer Religionsſyſteme in China gehört haben, zu wiſſen verlangen, 
wie ſich dieſe zu dem von uns angenommenen Grund des chineſiſchen 
Weſens, und wie ſie ſich zueinander verhalten. 

Gewöhnlich ſpricht man von drei gegenwärtig in China herrſchenden 
Religionsſyſtemen: 1) der Religion des Cong-fu-tſee oder, wie er gewöhn— 
lic) heißt, des Confucius; 2) der Lehre oder Religion des Lao-tſee oder, wie 
er gemwöhnlicdy genannt wird, Tao-ſſe; und endlid 3) dem Buddismus. 


960 


Es wäre eine irrige Vorftellung, wenn man fi) den Cong-fu-tfee 
als Stifter, ſey es einer Philofophie oder einer Religion, denken wollte. 
Die Schriften des Confucius enthalten in der That nichts anderes 
als die urfprünglichen Grundlagen des chineſiſchen Reichs, und weit 
entfernt ihn als einen Neuerer betrachten zu können, iſt er vielmehr 
derjenige, der in einem, wie es ſcheint, ſehr bewegten Moment, in einer 
Zeit, wo die alten Grundſätze ſchwankend geworden zu ſeyn ſcheinen, 
ſie wieder aufrichtete und auf ihrem alten Fundament befeſtigte. Es 
iſt daher eine ſehr unhiſtoriſche Vergleichung, wenn ein neuerer Schrift— 
ſteller vermeintlich geiſtreich von ihm ſagt: er ſey ein Sokrates, der 
keinen Platon gefunden habe. Der Sokrates der Athener wurde bekannt— 
lich als ein Neuerer hingerichtet, und gewiß, er war der Verkünder einer 
neuen Zeit, gleichſam eines Evangeliums des Wiſſens und der Erfennt- 
niß, das auch Platon, mwenigftens in - feinen befannten Werfen, nicht 
Sowohl darftellte und ausſprach, als einleitete und vorbereitete, Das 
einzige tertium comparationis, das ſich bei dieſer Vergleihung etwa 
denfen ließe, wäre, was man gewöhnlich zu fagen pflegt, Sofrates habe 
fih) von fpeculativen Unterfucdjungen ganz abgewenvet, feine Geiſtes— 
thätigfeit und Wirkung ausſchließlich auf das jittliche Leben und auf 
praftiiche Weisheit gerichtet. Daſſelbe ſey bei Confucius der Fall. Der 
Inhalt feiner Schriften ſey weder eine buddiſtiſche Kosmogonie, mod 
eine Metaphyfif im Sinn des Lao-tfee, fondern bloß praftifche Lebens— 
und Staatsweisheit. Was aber den Sofrates betrifft, fo wäre dieſe 
Abwendung von der Speculation und diefe praftifche Richtung, voraus: 
gefetst, daß es fid) wirklich ganz fo verhielte wie man gewöhnlich annimmt, 
etwas ihm Eigenthümliches. Dagegen ift Confucius nur der geiftige 
Kepräfentant, gleichjam der Ausorud feines Volks; daß er-alle Weis- 
heit bloß auf das öffentliche Leben und den Staat bezog, dieß war 
eben darum nichts Eigenthümliches oder ihn individuell Charakteriſirendes; 
er ſprach dadurch nur die Natur feines Volks aus, welchem der Stunt 
alles ift, jo daR es weder eine Wiffenfchaft, noch eine Religion, nod) 
eine Sittenlehre außer dem Staat kennt. Eben durch dieſe ausſchließ— 
liche Beziehung aller moraliſchen und geiſtigen Intereſſen auf den Staat 


961 


ift aber Confucius vielmehr ein Gegenfag von Sokrates; denn wenn er 
(Confucius) den ganzen Menfchen für den Staat in Anfprud nimmt, 
wenn er Theilnahme und Thätigfeit für denfelben befonders fordert und 
empfiehlt, entfernt von einer quietiftiichen Moral, die ſich fpäter mit 
dem Buddismus auch in China eingefunden, fo fand Sofrates in der 
Beichaffenheit der Stantsverfafjung und Verwaltung feiner Zeit viel- 
mehr Urſache, den Philofophen von der Theilnahme an öffentlichen An- 
gelegenheiten abzumahnen. Freilich) find die Lehren des Confucius frei 
von aller mythologiſchen Farbe und von kosmogoniſchen Beftandtheilen, 
aber auch dieß ift nichts, das ihn insbefondere bezeichnete; er ift auch 
darin nur der freie Abdruck des nüchternen, alles, mas über den einmal 
vorhandenen Zuftand der Dinge hinausftrebt, gleichſam fliehenden und 
abweichenden Charakters feiner Nation. Ein neuerer Schriftiteller bedient 
fi) des Auspruds: die chineſiſche Philofophie von Confucius ſey Die 
Mythologie der Griechen, Inder, Aegypter ohne ihre allegorifche 
Sprade. Diefer Ausdruck fcheint aus der herfümmlichen Meinung 
entiprungen, als gehöre die Spradye in der Mythologie nicht mit zu der 
Sade, als würde, wenn man den bilvlichen allegoriſchen Ausdruck 
binwegnähme, an der Stelle ver Mythologie eine reine bloße Philofophte, 
und zwar in dem abftraften Sinn der neuern Zeit, erſcheinen. Dieſe 
Meinung ift in der Einleitung zur Philofophie der Mythologie hinläng- 
(ich widerlegt worden. Die Wahrheit ift, daß die chineſiſche Lehre auch 
vor Gonfucius feine Spur weder von indifcher, noch ägyptiſcher, noch 
griehifher Mythologie an ſich hat. Daher Confucius hierin nichts 
gemein hat mit den griechiſchen Philofophen. Die eben genannten Miytho- 
(ogien find entftanden durch eine fortfchreitende Bewegung, welde für 
das chineſiſche Bewußtſeyn abſolut unterbrochen worden. In diefem hat 
das Princip, welches in allen andern Mythologien zu einem bloß rela- 
tiven wurde, ſich als abjolutes behauptet, aber dadurch und durch die 
hiemit geſetzte Ausfchliegung der höhern Potenz — derjenigen, weldje 
allein die Wiederherftelung des den wahren Gott erkennenden Bewußt- 
ſeyns vermittelt —, dadurch hat auch das worausgegangene, allein feit- 
gehaltene Princip feine theogonifche Bedeutung verloren. Das nothwendige 
Skhelling, fämmtl. Werke. 2. Abth. I. 36 


62 


Reſultat diefer abjoluten Beräußerlihung oder Berweltlichung war 
nicht nur ein überhaupt in der Welt exriftirender, fondern zugleich unbe- 
weglicher Gott, der wirklich nur ned) die Funktion eines Geſetzes, einer 
Weltorbnung, einer alles regelnden und zufammenhaltenden Vernunft 
bat, deſſen Perfönlichkeit ganz gleichgültig ift, weil ſie ohne Einfluß ift; 
furz das Refultat ift ein Kationalismus, deſſen fi) die modernften 
Philofophen und Aufklärer nicht zu ſchämen hätten, und in den Schranfen 
dieſes Nationalismus hält fid) dann nun aud) ganz und gar die Lehre 
des Confucius. 

Der höchſte religiöfe Ausdruck des volfbeherrfchenden Princips ift 
auch bei Gonfucius Himmel. Unftreitig ift der Geift des Himmels 
gemeint, aber dieß ift im Wefentlichen ohne Folge, denn auch diejer 
Geift des Himmels wirft nur als ein Fatum, als ein immer ſich 
gleichbleibendes, unbewegliches und unveränderliches Geſetz. Alle Be- 
weglichfeit ift in den Menfchen gelegt, der Himmel ift das- immer 
Gleiche, Unbemegliche. 

Aus einem andern Gefichtöpunft ift allerdings die Lehre des 
Lao-tſee (Lao-Kium) zu betrachten; diefe ift wirklich fpeculativ in einem 
ganz andern Sinn als die politiiche Moral des Confucius. Beide 
(Confucius und Lao-tfee) waren Zeitgenofjen, beide lebten im jechöten 
Sahrhundert v. Chr. Wenn. Confucius beſtrebt ift alle Lehre und 
Weisheit auf die alten Grundlagen des chineſiſchen Staats. zurückzu— 
führen, fo dringt Lao-tfee ganz unbedingt und allgemein in den tiefften 
Grund des Seyns. Um jedoch erft das Literarhiftorifhe über feine 
Lehre beizubringen, fo ift der gelehrten Welt in langer Zeit feine ſolche 
Moftification wivderfahren, als ihr durd die vor ungefähr 20 Jahren 
erfchienene Abhandlung des Hrn. A. Remufat sur la vie et la doc- 
trine de Lao-tse bereitet wurde. Der Berfafjer vwerfichert 1) die bei- 
nahe unüberwinvliche Unverftänplichfeit der chinefischen Texte des Lao-tjec, 
des Tao-te-fing (dieß ift der Titel eines Hauptwerfs); 2) will Hr. U. 
Remufat glauben machen, es fe zwifchen den Ideen des Yao-tjee und 
der mehrsweitlichen Völker Afiens eine Uebereinftimmung, durch melde 
beglaubigt werde, was die Sage von einer Reife deſſelben nach Weiten 


963 
erzähle. Die Legende erzählt zwar nur (und auch dieß müſſen wir auf 
Treu und Glauben von Abel Remufat annehmen), daß Lao-tfee nad) 
Herausgabe des Tao-te-Fing in die Länder gegen Weften und zwar in 
eine große Entfernung von China gezogen ſey, ohne zurüdzufehren. 
Hr. U. Remuſat benust die Sage, um den Lao-tfee vor der Heraus- 
gabe feines Hauptwerfs die Reife nad Welten unternehmen zu laſſen, 
die fih nad) feinen VBermuthungen nicht nur nad) Balf oder Baftrien, 
fondern bis nad) Syrien und Paläſtina erftredt hätte, ja Hr. U. Ne- 
mufat ift nicht abgeneigt, ihn bis nad) Griechenland kommen zu laffen. 
Zu meiterer Beglaubigung wird dann eine Stelle aus dem Taoste-Sing 
angeführt, in welcher Hr. U. Nemufat die deutliche und unwiderſprech— 
liche Spur des geheiligten Namens Jehovah erkennen will, von dem 
Lao-tfee in Paläftina Kunde erhalten habe. Wenn nad Erſcheinung 
diefer Abhandlung es Philofophen oder andere Schriftfteller gab, die ohne 
eigentlich gelehrte und kritiſche Durchbildung eine ſolche Berfiherung 
gläubig aufnahmen, fo kann man ſich darüber nicht wundern. Hr. X. 
Kemufat hatte aber durch feine anderen verdienftwollen Unterfuhungen 
fritifche Uebung und Erfahrung genug erworben, daß man ſich in der 
peinlichften Verlegenheit fieht, an der Aufrichtigfeit feiner Berficherung 
zweifeln und wenigftens annehmen zu müſſen, daß mehr oder weniger 
bewußte Rückſicht auf die Damals in Franfreid mächtigen Yejuiten den 
fonft hellen Geift des Mannes verblendet habe. Von dem Allem näm- 
ih, was Hr. A. Remuſat über Lao-tfee und feine Yehre behauptet, hat 
fi) nichts als wahr erwiefen, feit da8 Buch, von welchem eigne Ein- 
ficht zu erhalten ich z. B. nie eigentlich Verzicht geleiftet hatte, durch 
die Bemühungen des Hrn. Stanislaus Julien in einer franzöſiſchen 
Ueberfegung mit Anmerkungen und Commentaren, welche zugleid die 
volle Ueberzeugung von der Gewiſſenhaftigkeit des Ueberjegers gewähren, 
ung zugänglich geworden ift — verftändlic freilich nicht jedem, fondern 
nur dem, der felbft in den tiefften Grund der Philofophie eingedrungen. 
Da zeigt ſich nun aber, daß die Tao-Lehre jo ganz tm Geift des ent- 
fernteften Oftens gedacht und erfunden ift, daß von weitlicher Weisheit — 
ich will nicht fagen, von griechiſch-pythagoriſcher — aber auch von ſyriſch⸗ 


964 





paläftinenfifcher oder auch nur indiſcher Denkart und Weisheit nicht 
eine Spur ift. Tao heißt nicht Vernunft, wie man e8 bisher überſetzt 
bat, Tao-⸗Lehre nicht Vernunftlehre. Tao heißt Pforte, Tao-Lehre die 
Lehre von der großen Pforte in das Seyn, von dem Nichtfeyenden, dem 
bloß jeyn Könnenden, durd das alles endliche Seyn in das wirkliche 
Seyn eingeht. (Sie erinnern ſich ganz ähnlicher Ausdrücke, der wir 
ung für die erfte Potenz bevient haben.) Die große Kunft oder Weis- 
heit des Lebens ift eben, dieſes lautere Können, das ein Nichts und 
doc) zugleid; Alles ift, fich zu bewahren. Der ganze Tao-te-King bewegt 
fih nur darum, durch eine große Abwechslung der finnreichften Wen- 
dungen diefe große und unüberwindlihe Macht des nicht Seyenden zu 
zeigen. Ich bebaure fehr, tiefer und umftändlicher nicht eingehen zu 
fönnen, theil® nad) Maßgabe ver mir noch gegönnten Zeit, theils weil 
die Darftellung einer ſolchen rein philoſophiſchen Erjcheinung wie bie 
Tao-Lehre, wäre fie aud übrigens vom höchſten Interefje, nicht in den 
Kreis unferer gegenwärtigen Unterfuhung gehört. Ich bemerfe nur 
noch: die Tao-Lehre ift nicht ein ausgeführtes Syftem, das z. B. aus- 
führlichen Aufſchluß über die Entftehung der Dinge zu geben jucht; fie 
ift mehr Auseinanderfegung eines Principe, aber in den mannichfaltig— 
ften Formen, und der auf diefes Princip gebauten praftifchen Lehre, 
Die Anhänger des Tao heißen Tao-fje, aber es ift aus der Natur der 
Lehre ſchon zu ſchließen, daß fie weder zahlreid) nody mächtig find und 
von den nüchternen Anhängern des Confuctus als Efftatifer, Myſtiker 
u. f. w. angejehen werben. | 
Größer ift in China die Macht des Buddismus, zu dem idy nun 
fortgehe. Wie ſchon bemerkt, Hat er fi) um die Zeit des anfangenden 
Chriſtenthums im erften Jahrhundert n. Chr. erft nad) China verbreitet. 
Es ift, als ob das Princip der Mythologie durch das Chriftenthum im 
Innerften angegriffen und erjchüttert die Nothwendigfeit gefühlt hätte, 
diefem fich in einer neuen und mächtigen Geftalt entgegenzufegen. Wenn 
man die plößliche Erhebung und Ausbreitung der Buddalehre in Indien 
um eben dieſe Zeit fieht, kann man fid) eines ſolchen Gedankens nicht 
erwehren. So viel ift gewiß, daß den Lehr- und Bekehrungsverſuchen 


865 


der chriſtlichen Miffionarien der Buddismus im Orient das unüberwind— 
lichfte Hinderniß entgegenfegt. Weit eher wäre zu erwarten, daß das 
ganze Volk der Bramanenaubeter ſich änderte, als daß die Anhänger 
des Budda ihre Religion ablegten und die riftliche annähmen. Der 
Name, unter welhem Budda in China verehrt wird, iſt Fo. Fo ift 
der nur auf chineſiſche Art verftimmelte Name Burda, den ihre Or- 
gane nicht auszufpredhen erlauben. Wenn auch diefe Lehre in China 
das Thor oder die Pforte des Nichts oder der Leere genannt wird, fo 
ftimmt hier Budda mit Lao-tfee nur joweit überein, als allerdings 
dag, was vor dem Seyn, und dag, was über dem Seyn, beides frei 
vom Seyn als lautere Macht oder Potenz erfcheint. Die Lehre des 
Lao⸗-tſee bezieht ſich indeß mehr auf den Anfang, und ift infofern vor- 
zugsweiſe jpeculativ, die Lehre des Budda auf das Ende, alfo auf das 
Ueberjeyende, auf die lettte Ueberwindung alles Seyns. Manche chine— 
ſiſche Schriftfteller Legen inde auf den Unterfchied der drei Lehren jelbft 
nur wenig Gewicht, fie halten die Weltordnung des Confucius, das 
Tao des Lao-tſee und das Nichts des Buddismus nur für verſchiedene 
Ausdrüdfe einer und derfelben Idee. Es gibt fogar ein befanntes chine— 
ſiſches Sprüchwort, daß die drei Lehren nur Eine ſeyen. Die Kaifer 
der gegenwärtigen, der Mandſchu-Dynaſtie, werden felbft gewiſſermaßen 
zu dieſen Efleftifern gezählt, die nämlich die drei Yehren verbinden. Im 
Uebrigen ift e8 nicht zu leugnen, daß der Buddismus gerade in China 
bis auf jene Spitze fich treiben mußte, wo er zum völligen Atheismus 
wird. Die Fo=lehre in ihrer höchften Steigerung Spricht ausdrücklich 
ven Sat aus, daß weil Religion ihren Sig im menjhlihen Herzen 
habe, das menjchliche Herz aber eigentlicd) auch nichts jey, wie alles, 
auch die Religion felbft nichts fey. (Gipfel aller Myſtik — Verſenkung — 
Annihilation des Subjeft8 — Annihilation des Objekts). 

Der Buddismus, der erft mit der jetzt herrfchenden Dynaftie feit 
dem 17. Jahrhundert als eine mit den andern vollkommen gleichbered)- 
tigte Religion in China erfcheint, hat fid) übrigens ftetd dem Staats— 
zwecke unterordnen müffen, wie dieß insbeſondere auch aus-dem Ver— 
hältniß der lamaiſchen Hierarchie in Tibet erhellt, über welche ich, da 


866 
fo viele falſche Vorftellungen darüber verbreitet worden, nod) einiges 
bemerken will. — Die erften Miffionarien, die dorthin drangen, mußten 
nicht wenig verwundert ſeyn, im Centrum Aſiens wieder zu finden, 
was fie nur in Europa und dem chriftlichen Orient gefannt hatten, 
zahlveiche Klöfter, feierliche Proceſſionen, Wallfahrten, religiöſe Feſte, 
ein Collegium von Oberlamas, die ihr Oberhaupt ſelbſt erwählen, einen 
firchlicyen Souverain und geiftlihen Vater der Zibetaner und der tar- 
tariihen Bölferfchaften. Dieſe ſeltſame Uebereinftimmung zu erklären, 
betrachteten fie den Lamaismus als em entartefes Chriftenthum. Die 
Einzelheiten, über die fie ftaunten, waren für fie ebenfo viele Spuren 
eines ehemaligen Aufenthalts ſyriſcher Gemeinden in dieſen Gegenden. 
Diefer Meinung war befonders Georgit, deſſen Alphabetum Tibetanum 
als ein Hauptwerk über tibetanifhe Sprache und Literatur gilt. Celbft 
Desguignes, Lacroze — die jogenannten Philofophen des achtzehnten 
Sahrhunderts bevienten ſich diefer Uebereinftimmungen im umgefehrten 
Sinn, nämlidy die lamaifche Hierarchie ald das urſprüngliche Mufter 
darzuftellen, nach welchen ähnliche und jelbft die hriftlihen Inſtitutionen 
gebildet worden. Dieß bedarf num zwar feiner Widerlegung; allein e8 
ift doch wichtig, fi) einen genauen geſchichtlichen Begriff von dent Ur- 
jprung der lamaifchen Theofratie zu machen, wie er fi) aus den neueren 
Unterfuchungen, befonders A. Nemufats, ergibt. Die erften Borfteher 
der buddiſtiſchen Kirche waren eine Art Patriarchen, im welchen bie 
Seele des Budda fortlebte und die man als feine wirklichen Nachfolger 
anſah. Als jpäterhin der Buddismus genöthigt wurde Indien zu ver- 
laffen, und mit reißender Schnelligfeit- nad) China, Siam, Targum, 
Japan und in die Zartarei fid) verbreitete, fanden die Fürften, welche 
diefe Religion angenonmen hatten, glorreid, Oberhäupter des buddiſti— 
Ihen Glaubens an ihren Höfen zu befigen, und bie Titel „Lehrer des 
Reichs, Fürft der Yehre oder des Glaubens“ wurden an einheimifche und 
ausländifche Geiftliche verliehen, je nachdem einer geeiguet dazu ſchien. 
Auf dieſe Art bildete ſich die Hierarchie unter dem Einfluß der Politik, 
und jederzeit nur das politifche Uebergewicht eines Fürften ertheilte einem 
der lebenden Buddas die geiftlihe Oberherrlichkeit. Aber der eigentliche 


067 
Urfprung der tibetaniſchen Theokratie jchreibt fich erft aus dem drei— 
zehnten Jahrhundert, und zwar von dem Eroberungen Didingisfhang 
und jeiner erſten Nachfolger her. Nie hatte ein Fürft des Orients über 
jo weite Yänder geherrfcht als Dſchingis, deſſen Feldherrn zugleich 
Japan und Aegypten, Java und Schleſien bedrohten. Natürlich alſo 
erhielten auch die Fürſten des Glaubens nun höhere Titel. Der erſte 
Budda wurde zum Königsrang erhoben, und weil der erſte zufällig ein 
Tibetaner war, ſo wurden ihm ſeine Domänen in Tibet angewieſen. 
Der erſte jedoch, der den Rang und Titel eines Großlama trug, erhielt 
ihn von einem Enkel des großen Eroberers; der Titel Dalailama iſt 
ſogar noch um einige Jahrhundert ſpäter als Dſchingiskhan und erſt 
um die Zeit Franz J. von Frankreich aufgekommen. Es bedeutet der 
Lama, der wie das Weltall iſt, der univerſelle Lama, womit nicht ſeine 
wirkliche Macht, die nie weder ſehr ausgedehnt noch eine vollfommen unab- 
hängige war, ſondern die Größe feiner geiftigen, übernatürlichen Boll 
fommenheit angedeutet wird, melde begreiflicherweife die Eiferfucht der 
tartarifchen und chineſiſchen Fürften nicht erregen Fonnte, Um die Zeit, 
als die buddiſtiſchen Patriarchen ihren Sig in Tibet nahmen, waren die 
benachbarten Gegenden der Tartarei voll von Chriften. Neftorianer 
hatten dort Metropolen gegründet und ganze Völkerſchaften befehrt. Die 
Eroberungen des Didingis riefen Fremde aus allen Ländern dorthin. 
Der heilige Pubwig und ver Papft fendeten um diefelbe Zeit katholiſche 
Priefter in jene Gegenden, welche kirchliche Ornamente, Altäre, Reli— 
quien u. f. w. mit fi führten und die Geremonien ihres Cultus in 
Gegenwart der tartarifchen Prinzen celebrirten. Syriſche, römische, 
ſchismatiſche Chriſten, Muſelmänner und Götzendiener lebten damals 
untereinander am Hofe der mongoliſchen Kaiſer, die ſich im höchſten 
Grade tolerant erwieſen. Unter dieſen Umſtänden wurde der neue Sitz 
der buddiſtiſchen Patriarchen in Tibet gegründet. Es iſt nicht zu ver— 
wundern, wenn ſie — bemüht die Pracht ihres Cultus zu erhöhen — 
einige liturgiſche Gebräuche, vielleicht ſelbſt einige von den Einrichtungen 
des Occidents einführten, die ihnen die Abgeſandten der Päpſte ange- 
rühmt hatten. Seitdem die chineſiſchen Kaifer von der Mandſchu— 


68 





Dynaftie mit ihren Armeen in Tibet einprangen, bie fefteften Poſitionen 
militäriſch befegten, und Militärcommandos beauftragt waren, den oft ge: 
ftörten Frieden in der tibetanifchen Hierarchie zu erhalten, ift das Haupt der- 
felben völlig in dem Verhältniß eines Bafallen, obgleich das Collegium bes 
Ritus ihm erlaubte, ſich „den durch ſich jelbft lebenden Budda“ zu nennen 
und die prachtvollſten Titel zu führen. Bei dem vor einigen Jahren erfolg- 
ten Tode des legten Großlama behaupteten die Tibetaner, diefer habe feine 
Seele einem in Tibet geborenen Kind hinterlaffen. Die kaiſerlichen Minifter 
in Peking dagegen erklärten, verfichert zu ſeyn, Daß ber Berftorbene bereits 
in der Perſon eines jungen Prinzen der faiferlichen Familie wievergeboren ſey. 
Unftreitig haben fie dieß durchgeſetzt, und man fieht alfo dadurch das Großprie— 
ſterthum von Tibet gänzlich der weltlichen Macht von China untergeorbnet. 

Wenn man übrigens den Zuftand jener Gegenden betrachtet, jo 
kann- man nicht umhin zu erfennen, daß die buddiſtiſche Keligion ber 
Menfchheit einen wefentlichen Dienft geleiftet hat. Sie eigentlich ift es, 
weldje die Sitten der tartarifchen Nomaden friedlich gemacht hat; ihre 
Apoftel wagten e8 zuerft, dem wilden Eroberer von Moral zu jpreden; 
ihr ift zu danfen, daß fie Aſien und Europa nicht mehr bebrohen, Zur 
Zeit des Dichingis waren die Völfer von türkiſcher und mongolifcher 
Abkunft, welche feine Gewalt eine Zeit lang vereinigt hatte, gleich wild. 
Die erften hat der Islam, dem fie anhängig blieben, nicht verändert, 
im Gegentheil hat ver Fanatismus einer intoleranten Neligion ihre na- 
türliche Neigung zu Naub und Mord nur erhöht. Die mongoliſchen 
Nationen, die nacheinander den lamaifchen Cultus annahmen, haben 
ihre Sitten völlig verändert. Ebenſo friedlich, als zuvor kriegeriſch, 
fieht man bei ihnen außer ihren Heerden, die ihre Hauptbejhäftigung 
find, Klöfter, Bücher, ja Bücherfammlungen; felbft Drudereien fanden 
ſich umter ihnen. Freilich muß man die Haupturfadhe der Bezähmung 
der mongolifchen Nace in der entnerwenden Wirkung juchen, welche biefe 
von Indien aus verbreitete, contemplative, unfpeculative, das unthätige 
Leben begünftigende Religion überall hin mit fi) bringt. 

Der Buddismus führt uns alfo jet nady Indien und damit in 
ven Zufammenhang unferer Entwidlung zurüd. 


Fünfundzwanzigſte Vorlefung. 


IH habe mir ein lettes Wort über die indiſche Mythologie vorbe— 
halten, Wenn bei jeder der früher behandelten Mythologien das, mas 
ihre Stelle im Fortgange der allgemeinen Entwicklung beftimmt, Leicht 
zu erkennen war, fo ift dieß bei der indiſchen nicht in gleichem Maße 
der Fall. Sie fcheint aus fo difparaten Elementen zufammengefegt, fie 
bietet, je nachdem man fie betrachtet, jo ganz verfchievene Seiten dar, 
Zufälliges und Wefentliches ift in ihr dergeſtalt vermifcht, daß eine 
Unterfchetvung und gegenfeitige Ausſcheidung der verfchiedenen Elemente 
— Kritik im höchſten Sinne — vor allem erforderlich ift, um das Ur- 
iprünglihe, Fundamentale in ihr zu erkennen und e8 aus dem Zufäl 
ligen und bloß Secundären herauszuheben. Aus diefem Grunde mußte 
ic) hier auf kritiſche Erörterungen eingehen, deren ich bei den andern 
mythologiſchen Syſtemen leichter entbehren Fonnte, Jetzt aber, nachdem 
wir in vollftändige materielle Kenntniß der verjchiedenen Geftaltungen 
indifcher Neligionen gefegt find, fonımt es darauf an, ben alle jene 
auseinander gehenden Nichtungen vermittelnden und vereinigenden Mittel- 
punkt auszufprechen. Wenn Sie nun die Art und Weife unjeres bis- 
herigen Fortſchreitens fi) zurüdufen, fo werden Ste bemerken, daß 
unfer Berfahren eine fucceffive Zufammenfegung, eigentlid) ein ſucceſſives 
Aufbauen der Mythologie war. Erft war e8 nur Ein Princip, von 
dem das Bewußtſeyn ausſchließlich beherrſcht wurde. Diefes erfte Princip 
gab in der Folge einem zweiten Statt, das ſich ſofort gleichſam zum 
Herrn jenes erften machte, es verwandelte und durch fuccefjive Ueber- 


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windung zur Erfpiration brachte, wo es jelbft zum Setzenden eines 
dritten wurde, das zum voraus beftimmt war als dag eigentlich jeyn 
Sollende, als dem gebührt zu ſeyn. Die ausſchließliche Herrfchaft des 
Einen Princips war in der Ürreligion, dem Zabismus, dargeftellt. Bon 
da an bis zu dem Moment der zweiten Katabole, wo jenes erfte Princip 
Gegenftand einer wirklichen Ueberwindung wurde, alfo bis zu dem 
Moment, der im Allgemeinen durch Kybele bezeichnet tft, Hatten mir 
bloß mit zwei Principien oder Potenzen zu thun. Die erfte vollftändige 
Mythologie, d. h. in der alle Elemente, alle drei Potenzen zufanmen- 
fommen, war die ägyptiſche. Bon hier beginnt alfo eine neue Folge. 
Die jest nod) id) folgenden Mythologien fönnen nicht mehr wie die früheren 
durch die Elemente fid) unterfcheiden. Hier fteht nicht mehr die vollftän- 
digere der unvollftändigen, fondern der vollftändigen fteht die vollftändige 
gegenüber. Die eine fann der anderen nicht mehr zur Ergänzung ges 
reihen, und dennoch muß auch zwifchen dieſen Mythologien, e8 muß 
alſo 3. B. zwifchen den ung num ſchon befannten — ter ägyptiſchen und 
der indifhen — ein Verhältniß der Succeſſion ftattfinden. Worauf 
wird nun hier das Succefjive beruhen, oder welches Princip der Suc- 
cefjion ift hier anzunehmen? Es bleibt nur die Möglichkeit übrig, 
daß, obgleich in jeder diefer vollftändigen Mythologien die Allyeit der 
Potenzen erreicht ift, dennoch diefe Allheit felbft wieder als eine verfchie- 
dene erjcheine, je nachdem fie unter dem Exponenten des erften Princips 
oder der Obermacht des zweiten, oder unter der Vorherrfchaft des dritten 
gefett ift. Dief gäbe denn drei verfchiedene Geftalten oder Erfcheinungen 
der vollftändigen Mythologie, und gerade drei bieten fi) auch allein 
noch dar, die ägyptiſche, die indiſche, die hellenifche, inwiefern wir Die 
etrusfifche, altitalifche und römische Mythologie doch nur als parallele 
Formationen der hellenifchen anfehen dürfen. Nun haben wir die ägyp— 
tiiche bereit8 erfannt al den Todesfampf des realen Principe. Aber 
eben dieſer fett voraus, daß das reale Princip noch immer mächtig ift, 
noch immer eine gewiſſe Spannung gegen die höhere Potenz behauptet. 
Dieß ift alfo ver Örundbegriff. Das fortvauernde Widerftreben des — 
obwohl allmählich erliegenden — Typhon ift der Grundton der agyptifchen 


971 


Mythologie; denn daß fie in fich jelbft alsdann fortichreitet bi8 zum wirk— 
lihen Erliegen defjelben, ift natürlich: aber ihr Anfang, alfo das Be- 
fimmende der ägyptiichen Mythologie ift die noch immer fortdauernde, 
wenn auc gleich Schon mit dem Tod ringende Macht des realen Priu- 
cips. Hier muß ih nun eine für die Klarheit der legten Entwidlung 
nothwendige Demerfung einfchalten, Erinnern Sie fid), daß jenes erfte 
oder reale Princip das Prius der ganzen Natur, alſo der eigentlichen 
materiellen Welt ift. Solange num der Widerftand veffelben und damit 
die Spannung fortvauert — in diefer Spannung fann fid) auch die über 
den drei Potenzen ftehende Einheit derfelben nicht als eine von ihm freie, 
immaterielle, jondern auch nur als eine mit ihnen verwachſene darftellen, 
welche nur die Erſcheinung des Conereten, des Körperlichen hervorbringen 
fann. In der Agpptifchen Mythologie ift daher noch alles förperlich; 
jelbft die Götter, die dem Bewußtſeyn in jenem Kampf entftehen, fie 
erfcheinen in Thiergeftalten verhüllt. Defmegen hat auch in anderer 
Beziehung das Körperliche der Aegypter fo ſehr Bedeutung und Wichtig: 
fett. Nicht bloß menfchlichen, ſelbſt thierifchen Leichnamen ſucht ver 
Aegypter eine ewige Dauer zu fihern, wie die zahlreichen, bi8 auf den 
heutigen Tag erhaltenen Mumien heiliger Thiere beweifen. 

Was kann nun aber auf diefes YFefthalten an dem realen Gott 
folgen — als deſſen gänzliches Aufgeben? An ihm, dem nod) wirer- 
jtrebenden realen Princip, hatten die Potenzen ihren gemeinfchaftlichen 
Beziehungspunft, der fie fefthielt. Iſt diefer aufgegeben, verſchwindet 
er, wie in Brama, der- zur völligen Vergangenheit geworden ift, jo 
bleibt die zweite Potenz, Schiwa, allein zurüd als Zerftörer der Einheit, 
und- diefem ift aud) das gemeine Bewußtſeyn ganz hingegeben. Das 
höhere Bewußtſeyn aber kaun das zerjtörende Princip nicht fortdauernd 
lieben, an dem es nicht haften kann; es fehreitet aljo unmuthig fort zu 
der dritten, fo daß es feine Ruhe findet als in der für ſich geſetzten 
dritten, der an ſich geiftigen, in Wiſchnu. Weil-aber diefer jene Vor— 
ausfegungen im Bewußtſeyn verloren hat, kann er fid) aud) in dieſer reinen 
Geiftigfeit nicht behaupten uud lenft won dieſer Höhe unwillkürlich ins 
Materielle wieder um, doch jo, daß diefes Materielle glei nur als ein 


972 
angenommenes und zwar als ein freiwillig angenommtenes erjcheint: daher 
die Incarnationen des Wiſchnu, die Krifchnalehre, die als etwas völlig 
von feinem Fundament, von dem einft zu Grund Liegenden Losgeriſſe— 
nes, als eine völlig neue Neligion erfcheint, die mit den erften mytho— 
logiſchen Grundlagen eigentlich nichts mehr zu thun hat. Wir fünnen 
den Zuftand des Bewußtſeyns in diefem Moment füglid) mit dem Zu- 
ftand einer menſchlichen Seele vergleichen, die, nachdem das Traumbilo 
dieſes materiellen Dafeyns ihm zerfloffen ift, vie höhere immaterielle 
Einheit nicht erreichen Fann, und daher nad) der materiellen oder phy- 
ſiſchen ſich zurückſehnt. Es ift ein uralter Glaube, daß in ber vom 
Leib abgefchievenen Seele nody ein Moment, ein Streben der Materia- 
liſirung zurücbleibe, wie in dem unvollfommen vergeiftigten Wein, der 
befanntlic), wenn die Nebe wieder blüht, unruhig wird und fidy ſchwer 
macht, was eben das wieder in ihm heroortretende Moment der Mate- 
rialifirung andeutet. Etwas Unheimliches, Geifterhaftes der Art ift im 
ganzen indischen Weſen und aud in den indischen Göttern. Das 
Materielle der Mythologie verſchwindet dem indischen Bewußtſeyn, 
wie der Indier felbft mehr Seele als Leib if. Denn Seele nennen 
wir das, was die. materielle Einheit allein überdauert. Der Indier iſt 
vorzugsweiſe Seele, der Leib verſchwindet nicht nur in ſeiner moraliſchen 
Schätzung, ſondern ſogar ſeine natürliche Anhänglichkeit an denſelben 
iſt eine weit geringere. Niemand nimmt oder empfängt mit ſolcher Leich— 
tigkeit den Tod als der Indier. Unzählige ſuchen und finden jährlich 
in den Fluthen des heiligen Ganges ein freiwilliges Grab. Wie ihrer 
Mythologie der eigentliche Todeskampf fremd iſt, ſo iſt beſonders auch 
die phyſiſche Leichtigkeit des Todes bei den Indiern bemerkenswerth. Der 
Indier, wie von vielen beobachtet iſt, ſtirbt ohne jene Verzuckungen oder 
andere heftige Bewegungen, die bei anderen Völkern den Tod ſchrecklich 
machen; ſein Sterben iſt wirklich ein bloßes Ausgehen oder Erlöſchen. 
Schon in dem körperlichen Ausſehen des Indiers zeigt ſich die leichte 
Trennbarkeit — die Flucht der Potenzen, deren Zuſammenwirken das 
materielle Leben erhält; ſie ſind im beſtändigen Begriff ſich zu trennen. 
Wenn der Mongole ſchon durch die Conformation ſeines Schädels und 


973 


feines ganzen Körpers ein tief ins Körperliche verfunfenes, mit allen 
Wurzeln ins Materielle eingewachſenes Bewußtſeyn anzeigt, fo deutet das 
Phyſiognomiſche des Indiers auf das Uebergewicht der Seele. Die Seele, 
d. h. das, mas nad) der Aufhebung der materiellen Einheit allein übrig bleibt 
— das nad) dem Tode Dleibende, Fortdauernde wird in allen Sprachen 
Seele genannt —, diefe tritt hier gleichjam ſchon an die Oberfläche; der 
Körper iſt wirklich nur noch eine Erſcheinung und ſchwebt nur wie ein 
Traum im Bewußtfeyn des Indiers. 

Was der Indier in feiner Philofophie annimmt, daß die Sinnenwelt 
eine Illuſion, ein worübergehendes Phänomen fey, das drückt fih an 
ihm ſelbſt, in feiner äußeren, phyſiſchen Erſcheinung aus. Der Körper 
ift ihm wie nichts, nur ein völlig gefchmeidiges Werkzeug, mit dem er 
macht, was er will. Ins Unglaubliche gehen die Künfte der indischen 
Saufler. Wo immer in einem indiichen Bildwerk oder in einem Werf 
inbifcher Poefie für uns etwas Bezauberndes und Rührendes liegt, ſtets 
wird man finden, daß e8 der Ausdruck der Seele, das Seelenvolle ift, 
was ung ergreift. - Immer freilich ift mit diefem Ausdruck etwas Un- 
heimliches verfnüpft, jenes Gefühl, das eine Schönheit einflöht, vie, 
gleichfam bis zur bloßen Erjcheinung geläutert, nur eine Flamme zu 
jeyn jcheint, die von jedem Hauche bemeglid nur zu erlöfchen braucht. 
Mit welchem Entzüden, mit welcher allgemeinen Anerfennung ihrer be- 
zaubernden Lieblichfeit ift die Dichtung des Kalivas, die berühmte Sa- 
fontala, in ganz Europa aufgenommen worden! Erforſcht man, mas 
dieſem Eindruck zu Grunde liegt, fo ift e8 eben dieſes Uebergewicht der 
Seele, dieſe außerordentliche Senfibilität einer ihre Hülle gleichſam 
durdhbrechenden, ja fie gleihfam unfichtbar machenden Seele, die fid) 
in der franfhaften Schwärmerei diefes Gedichts offenbart. Auch Goethe 
bat Safontala verherrlicht durch das befannte Epigramm: 

Willt du die Blüthe des frühern, die Früchte des fpäteren Jahres, 

Willt du, was reizt-und erquidt, willt du was fättigt und nährt, 


Willt du die Erde, den Himmel mit Einem Namen begreifen, 
Nenn’ ich Safontala dir, und fo ift alles gejagt. 


So ſchön diefe Zeilen find, erlaube ich mir zu geftehen, daß ich das 


574 





eigentlich Bezeichnende darin vermiſſe. Ich möchte ſagen: Sakontala 
ſey eines jener wenigen Werke, von denen man ſagen könne, die Seele 
habe ſie allein und ohne alles Zuthun des Menſchen vollendet. 

Von jenem Schmerz über das Zergehen und den Verluſt der ma— 
teriellen Einheit wendet ſich das indiſche Bewußtſeyn in ſeinen edleren 
Organen unmittelbar jenem Beſtreben zu, durch abſolute Beſchaulichkeit 
und Verinnigung, die fie Yoga nennen, zur völligen Befreiung (mokschah 
genannt) zu gelangen, zum Erlöfchen in Gott, mas darum keineswegs 
als eine fubftantielle Abjorbtion und Vernichtung des menfhlichen We— 
jens auch der Potenz nad) zu denfen ift (der Menfch gibt nur dieſe 
Potenz, diefes Können, das er als ſolches bewahrt und nicht, wie der 
welcher alles was er kann aud für erlaubt hält, fündlid) verſchwendet 
und vergeudet hat, Gott zurüd): alfo nicht als Vernichtung ift diefer 
Zuftand der gänzlichen Bereinigung zu betrachten, wenn er aud) etwa 
mit dem Schlaf verglichen wird. Denn der Schlaf ift ja auch feine 
Bernihtung, und wer fann doc) eigentlich wiſſen, welcher Genüfje die 
Seele im Schlaf fahig ift, aus welcher Duelle jener Balfam. ftrömt, 
mit dem ein gefunder. Schlaf auc den Geift erquicdt. Denn daß wir 
ung jener Genüffe nicht erinnern, kann nicht die Abwefenheit derfelben 
erweifen, fondern nur, daß fie feiner Uebertragung in den wachenden 
Zuftand durd Erinnerung fähig find, wie die Vorgänge des magneti— 
ſchen Schlafs. 

Die Erfahrung, die das indiſche Bewußtſeyn von der Vergänglichkeit 
des Materiellen macht, wendet es nothwendiger Weiſe von dieſem ab. 
Das Materielle verſchwindet, ſo zu ſagen, in der Aeſtimation des In— 
diers. Dem Aegypter iſt auch der entſeelte menſchliche Leichnam noch 
heilig, der Indier ſucht denſelben ſo ſchnell als möglich, durch das ver— 
zehrendſte Element, zu zerſtören und in die Elemente wieder aufzulöſen. 
Von allen Sterblichen zuerſt, ſagt Herodotos, haben die Aegyptier ge— 
lehrt, daß der im Tode übrig bleibende Theil des Menſchen durch neue 
Geburt in die materielle Welt zurückkehre. Dieß iſt angemeſſen dem 
Standpunkt des ägyptiſchen Bewußtſeyns. Der Aegypter, ſcheint es, 
nimmt die unerläßliche Nothwendigkeit jenes Kreislaufs, vermöge deſſen 


die Seele nad) dem Tode des Körpers die ganze Natur durchwandern 
muß, mit vollfeommener Kefignation auf. Es iſt die einzige Art, wie 
der Bolfsglaube ſich denken kann, daß die Seele fortvaure. Denn 
die Lehre, daß die Abgefchiedenen felig bei dem Dfiris leben, war erft 
die Lehre eines weiter entwidelten Bewußtſeyns, nicht mythologiſche, 
jondern priefterlihe Doftrin. Der Indier dagegen betrachtet die Seelen- 
wanderung — die Rückkehr in die materielle Welt — als ein Unglüd, 
doch als ein überwindliches, allerdings nicht durch fogenannte verdienſt— 
liche Werke oder bloß äußerliche religiöſe Handlungen überwindliches, 
wohl aber glaubt er es abwendbar dadurch, daß das menſchliche Weſen 
hier ſchon die Einheit in Gott ſucht und erworben hat, und der äußeren 
Welt der zertrennten und durch ihre Spannung die materielle Erſchei— 
nung hervorbringenden Potenzen zuvor geſtorben iſt. Ein wahrhaft 
ewiges Heil, ein Ort des dauernden Bleibens, kann nach indiſcher Lehre 
nur durch völlige Sinnen- und Weltbeſiegung, durch Verzichtleiſtung 
auf jede andere Belohnung, als die, der Gottheit zu gefallen, ſich ihr 
zu nähern und ſich endlich mit ihr zu vereinigen, erworben werden. 
Wer mit Gott wahrhaft vereint iſt, lehren die Vedas, kommt nicht 
wieder. Es kehrt nicht zur Sterblichkeit, ſagt Kriſchna in einer von 
F. Schlegel überſetzten Stelle der Bhagwadgita, 
Es kehrt nicht zur Sterblichkeit, die vergänglich, der Leiden Haus, 


Wer mich erreichte noch zurück, hoch am Ziele der Vollkommenheit. 
Wiederfehrender Art find aus Brama die Welten all 


(Der bloße Brama ift nur der Urheber der Welt ver Erjcheinungen, 
das Princip der materiellen Welt, in der Seelenwanderung ftattfindet) 
Wer mich erreicht, ift der fernern Geburt befreit. 


Der intiihe Moment ift der Moment de8 Zergeheng des Ma- 
teriellen der Mythologie, die in dem griehifchen Bewußtſeyn gleichſam 
ihre Wievererftehung, ihre Palingenefie feiert. Aegyptiſche, indische, 
griechiſche Mythologie verhalten ſich zueinander, wie Yeib, Seele, Geift. 
Die ägyptifchen Götter find leibliche, körperliche, die indiſchen find gei— 
fterhafte, gefpenftige Weſen (Uebergang in eine höhere Welt), die griechi— 
ichen als dritter Moment find geiftig=leiblihe Weſen; fie find Leiblid, 


76 
aber zugleich) geiftig verklärt: wie nad) der riftlichen Borftellung bie 
Leiber der Auferftehung omuare nVevuarınd. 

Hat der Naturproceß (und im mythologiſchen Proceß wiederholt ſich 
nur der allgemeine Naturproceß), hat diefer einmal den Menfchen er- 
reicht, fo find nur noch die drei Momente möglich: 1) ver Menſch in 
feiner leiblihen Erſcheinung — dieſer (der leiblichen Erſcheinung) ift 
das Bewußtfeyn in der ägyptiſchen Mythologie noch ganz hingegeben, 
daher jenes religiöfe Streben nad) Erhaltung, jelbft des entjeelten Leibs —; 
2) der Menſch im Zuftand der Seele — der immateriellen Einheit, 
wenn die materielle zergangen ift —. Hier tritt. der Gegenfag von 
Seligfeit und Unfeligfeit ein, je nachdem der Menſch im Zuftand der 
Seele Ruhe zu finden vermag, oder in die materielle Welt zurüdverlangt. 
Der dritte mögliche Moment ift, wo die immaterielle Einheit verklärend 
in bie materielle wieder eintritt, und auf diefe Art ein erft ewig bleiben- 
der und wollendeter Zuftand erreicht wird. Unter den drei Mythologien 
ift die indiſche Mythologie infofern Die vorzugsweiſe unfelige, als fie in 
einem mittleren und infofern unentſchiedenen Zuftand ift. Nehmen wir 
dazu den im indischen Weſen feit alter Zeit Liegenden Samen einer 
andern, der Mythologie ebenfalls auf gewiſſe Weife entgegengejegten, aber 
zugleich relativ nıaterielleren Keligion, der buddiſtiſchen, fo begreifen 
wir, mie biefe in der Stille lange Zeit in Indien gehegt, dennoch von 
der zarten, vom Materiellen abgewendeten Sinnesart Indiens mit Er- 
ſchrecken, ja mit einer Art von Wuth zurüd und ausgeftoßen werben 
mußte, fobald fie ſich zum felbftändigen Gewächs zu entfalten anfing 
und das jeelenvolle indische Wejen zu verdrängen drohte. Indeß wie 
tief der Buddismus im indischen Wefen gelegen, möchte daraus abzu= 
nehmen ſeyn, daß jelbft nad) deſſen gewaltſamer Vertreibung aus feinem 
Heimathland noch immer zahlreiche Indier zu der vertriebenen Lehre ſich 
hingezogen fühlen. Ein eigner Anblid muß es ſeyn, an ven fteilen, 
faft unerflimmbaren Anhöhen Tibets Pilgrime aus Benares, der Bra- 
minenftadt, vermifcht mit Pilgrimen aus Ceylon (dem Buddiſtenland) 
zu ſehen, wie ſie die Berge Tibets erſteigen, um in der ſichtbaren Ge— 
genwart deſſelben Gottes, den ihre Voreltern aus ihrem Vaterlande 


vertrieben haben, Vergebung der Sünden, das Heil ihrer Seelen und 
einigen Troft ihres mühfeligen und zerftörten Lebens zır finden. 

Was den Indier in Religion und Philofophie wie in bildender 
Kunſt und Poefie auszeichnet, ift die Seele. Was ihm fehlt, und was 
einen großen Theil der Mängel feines Weſens — möge e8 nun von 
der theoretiichen oder von der praftifchen Seite betrachtet werden — er- 
flärt: mas ihm fehlt, ift der Geift ver Griechen. — Die griechtihe My- 
thologie erweist ſich ſchon Dadurch unter ven legten und. vollftändigen 
Mythologien als dem dritten Moment entiprechend, daß fie das erfte 
Moment, das Agyptiiche, wieder aufnimmt, d. h. daR fie ven realen 
Gott nicht wie das indiſche Bewußtſeyn aufgibt, jondern im Ausein— 
andergehen fejthält. 

Ehe ich darauf weiter eingehe, will ich nur zur Befeitigung mög— 
lichen Mißverſtandes bemerken, daß die Folge, in welche wir ägyptiſche, 
indische und helleniihe Mythologie jegen, nicht etwa jo zu verftehen tft, 
als wäre die erfte in die zweite, die zweite in die dritte übergegan- 
gen. Die hellenifche mußte gleich als helleniſche anfangen; fie ift in 
ihrer Art jo urfprünglic als die ägyptiſche und die indiſche, obgleich 
fie durch Feithalten amı realen Princip, das der indifchen ganz verloren 
geht, wieder zur Agyptifchen zurückbiegt. Aber eben dadurch bewährt fie 
ſich als dritte in der Folge; denn der dritte Begriff ift immer Rückkehr 
zum erſten oder nimmt dieſen wieder auf. Dieß läßt fich felbft an ven 
gemeinen Kategorien nachweifen, z. B. Einheit, Vielheit, Allheit. In 
der Allheit macht fid) die Vielheit wieder zur Einheit — oder, um auf 
unfere früheren Begriffe zurüdzufehen, jo war die Folge diefe: a) das 
Unbegrenzte, der Beftimmung Berürftige, b) Das Begrenzende oder Be— 
ſtimmende, in dem nichts Unbeftinmtes, d. h. feine Potenz ift, das eben, 
um das Beftimmende zu ſeyn, veiner Actus feyn muß. Aber das Dritte 
ift das fich jelbft Beftimmende, das alſo zugleih das der Beftimmung 
ne in fi) fchließt. Oder in einem anderen Ausdruck ift die 
Folge diefe: a) reines Seynkönnen, b) reines Seyn, e) als Seyn 
geſetztes ee Das Dritte ift nicht das Trfte, aber es iſt 
wieder was das Erfte. So ift die ägyptiſche Mythologie in Bezug auf die 

Schelling, fämmtl Werke. 2. Abtb 1 37 


378 

inbifche noch Einheit, Die indifhe in Bezug auf die ägyptiſche völliges 
Auseinandergehen, die griechifche ift Die im Auseinandergehen ſich wie- 
derherftellende, eben darum num als ſolche gejegte, befonnene, getftige 
Einheit. In der griechiſchen Mythologie iſt ein Rückgang zum Mate— 
riellen, aber ſo, wie das chriſtliche Dogma von dem ſeligen oder unſeligen 
Zuſtand der immateriellen Exiſtenz nach dem Tode ins Materielle zu— 
rückgeht, indem ſie eine geiſtige Palingeneſie oder Wiederauferſtehung des 
Materiellen behauptet. Die griechiſche Mythologie ſetzt aber die Momente, 
deren Einheit ſie iſt, in ſich ſelbſt, nicht außer ſich, hiſtoriſch, voraus. 
Hieraus folgt, daß wir auch mit der griechiſchen Mythologie wieder von 
vorn anfangen, d. h. auf jene allgemeine Bergangenheit zurüdgehen 
müffen, die ihr mit der ägyptiſchen und inbifchen gemein iſt. Diejer 
Moment ift der, den wir in der allgemeinen Entwidlung ſchon durch 
den Begriff des Kronos bezeichnet haben, we indeß bemerft wurde, daß 
Kronos bier noch nicht den fpeciell griechiſchen Gott bedeute, fondern 
nur der von uns gewählte allgemeine Name für den nod immer 
unüberwundenen, aufrechttehenden vealen Gott ſey. 

Auf Kronos müffen wir in der griechiſchen Mythologie zurüd- 
gehen; denn Kybele, die wir als Urania in der höheren Potenz, als 
Uebergang von Kronos zur legten Entfaltung in unſerer allgemeinen 
Entwicklung dazwischen geſtellt, Kybele als dieſe befondere Geſtalt ift 
nicht urſprünglich helleniſch, ſondern ſpäter, erſt nach Heſiodos, in die 
griechiſche Mythologie eingeſchaltet oder aufgenommen worden. Indem 
wir nun mit der griechiſchen Mythologie wieder bis auf den Kronos 
zurückgehen, ſo iſt auch hier das erſtemal von dem helleniſchen Kronos 
als ſolchen die Rede; hier kommen zuerſt die beſonderen Beſtimmungen 
in Betracht, unter denen dieſer übrigens agmune au in ber grie- 
chiſchen Göttergefchichte vorkommt. 

In diefer alfo erzeugt Kronos mit Rheia (Rhea) — am ei 
icheinlichften abzuleiten von Ödeev, Helv, fluere, movere — hen ift 
das in Kronos ſchon beweglich zu werden anfangende Bewußtſeyn — 
mit dieſer alſo etzeugt er die drei Söhne, Aides, Poſeidaon, Zeus. 
Allein er vergönnt dieſen Söhnen nicht fogleid ans Licht zu treten, und 


379 


verſchlingt ſie immer wieder, oder hält ſie in ſich verſchlungen. Doch 
davon nachher. Denn vor allem kommt es darauf an, die Natur oder 
den Begriff jeder dieſer drei Perſönlichkeiten zu beſtimmen. Wegen Aides 
nun haben wir wohl keinen Widerſpruch zu beſorgen, wenn wir ſagen, 
er ſey der Kronos im Kronos, die rein negative Seite des Kronos, das 
ſchlechterdings ſich Verſagende, jeder Ueberwindung, alſo auch jeder Be— 
wegung, jedem Fortgang ſich Widerſetzende im Kronos. 

Agamemnon im neunten Buch der Ilias! ſagt in Bezug auf den 
zürnenden Achilles: _ 

| Zähm' er fih! Aides ift unbeugjam und unverjöhnlic), 

Aber den Sterblihen auch der Verhaßteſte unter den Göttern: 
auelkıyos nd aödueroros. Das erſte Wort: beim Scholiaften — 
&yonrevrog , nicht zu beſchwören, nicht mit Worten zu begütigen — ſo— 
wie nicht mit Gewalt (edazueorog). Dieß geht auf das Unerbittliche des 
Hades im Hinwegraffen der Sterblichen. Aber Diefer Begriff der Strenge 
haftet an ihm von feinem Urfprung her, wie er daher auch ſchon in 
der Theogonie des Heſiodos gleich das Prädicat des Unbarmberzigen 
(vmAsts Aoo &yov) erhält. Zum Gott der Unterwelt wird er aber 
erſt; denn man könnte den Namen Aides, welcher wörtlich den Unſicht— 
baren bedeutet, zwar auch davon erklären, daß er den Aufſchluß ver— 
weigert, central, unſichtbar bleiben, nicht peripheriſch, nicht gegen den 
höheren Gott äußerlich werden will; allein alle Götter der Theogonie 
werden ſchon gleich bei der erſten Erſcheinung nach dem benannt, wozu 
ſie ſich in der Folge oder am Ende beſtimmen. Nun iſt es aber eben 
dem Krouos beſtimmt, aus dem Realen wieder in das Innere, ind Ver— 
borgene zurüczutreten. So heißt denn alfo eben das Negative im Kronos, 
d. h. das, dem beftimmt ift, im der Folge überwunden, in die Berbor- 
genheit und ins Unfichtbare (TO deudeg) zurüdgefett zu werden, dieſes 
beißt ſchon jetzt Aides; es wird ja auch ſogleich beigefügt, daß er zur 
wirklichen Geburt nicht fomme, d. h. daß diefe Perfünlichkeit in der 
That noch nicht als Aides gefett werde. Er heißt Aides als der un— 
ſichtbar ſeyn wird, nicht als der es ſchon ift, und eben weil er ed noch 

ı y. 158. 159. | . 


980 

nicht ift, beißt er auch der Unbarmberzige; denn als der wirklich 
Aides gewordene, der alſo dem Höheren Raum gegeben, ift er viel- 
mehr, wie wir in der Folge jehen werden, ver gute, der freundliche, 
weitherzige Gott. Bis jest alfo ift der, welcher in der Folge der Un- 
fichtbare, der Verborgene ſeyn wird,. noch gegenwärtig, er’ befteht und 
behauptet ſich noch als realer Gott. Er ift, was in der ägyptiſchen 
Mythologie Typhon ift, den die riechen -ja oft genug auch Hades 
nennen, | RE 

Solang diefer Gott noch wirfend, gegenwärtig, nicht als Aides 
(oder zufammengezogen Hades) gejett ift, fo lange verfagt er ſich der 
Umwendung ins Geiftige, und demnach zunächſt der Meaterialifirung; 
denn um ins Geiftige umgewendet zu werden, muß er borerft dem hö— 
heren Gott zur Materie werden. Noch alſo en jolange er nicht als 
Aides geſetzt iſt — läßt er ſich nicht als Materie des höheren Gottes 
behandeln. Dagegen ift num Pofeidaon, oder zufammengezogen Pofeidon, 
ebenfalls Kronos, aber inwiefern er. der höheren Potenz jhon zur Ma— 
terie geworden, fi) ihr materialifirt hat. Sie jehen, wie allmählich 
an dem realen Gott felbft die Wirkungen der drei formellen Potenzen 
bervorireten, wodurch eben die materielle Göttervielheit entſteht. An 
dem realen Gott, d. h. an Kronos, iſt Aides eben der Kronos als ſol⸗ 
cher, Poſeidon iſt die an ihm durch die zweite Potenz geſetzte Beſtim⸗ 
mung oder Geneigtheit ſich zu materialiſiren. Es wäre unnöthig, wenn 
man ſich wegen dieſer Erklärung des Poſeidon auf eine von manchen 
verſuchte Etymologie des Namens aus dem Shriſchen berufen wollte, 
wornach Poſeidon der Weite oder ſoviel wie expansus beveuten würde. 
Eine hellenifhe Etymologie ift im der That bis jet nicht ausgemittelt. 
Sicherer indeß könnte man ſich auf jenes Attribut des Poſeidon berufen, 
das ſchon Homer ihm beilegt, EVEVEYEv/G, der weit, mit großer Macht 
fih Ausbreitende. Bon der bildenden Kunſt wird er ſtets mit weiter, 
breiter Bruft vorgeftellt. Das gleiche Prädicat werben wir auch in der 
Folge finden als andeutend den Moment der Erpanfion, der Materia- 
lifirung. Allein das ganze Wefen, die ganze Natur des Gottes 
Ipricht Für unſere Anſicht. Poſeidons Wefen ift das blinde, feiner 


581 


jelbft niht mächtige Wollen und Auseinanderfahren. Denn er ift 
Ihon won dem höheren Gott getrieben, ohne doch in fidy felbft gekehrt 
zu ſeyn. Daß er als Gott des feuchten Elements vorgeftellt wird, 
beruht darauf, daß das Wafjer überhaupt der erfte materielle Ausdruck 
jener Wolluft der Natur ift, die fie empfindet, indem fie Natur wird, 
indem fie aus der urfprünglichen Spannung beraustritt, vie Strenge 
in ihr nachläßt, die Starrheit fid) erweiht. Schon jene erfte Katabole, 
die durch Urania bezeichnet ift, war von der Erſcheinung des Waſſers 
begleitet; in den ſyriſchen Religionen wurde jene erſte Natur, dieſe älteſte 
Naturgottheit ausdrücklich als Waſſer-, als Fiſchgöttin verehrt; in Ba— 
bylon taucht jeden Morgen der Fiſchgott Oaunes aus dem Meere auf, 
um bürgerlihe Sitte, Geſetz und Wiſſenſchaft (nad) dem erften, noch 
wilden nomadifhen Zuftand) zu lehren. Pofeivon ift im Materiellen, 
was Dionyjos im Yormellen oder als Urſache ift. Dionyfos heißt aber 
Herr der feuchten Natur (xvorog ns dyoas pLboewg)‘. Ebenſo ift 
der ägyptiſche Oſiris die das Feuchte verurfachende Potenz (7 %y00ror0c 
20x97 zul Öbvauıs)? und eben dadurch Urſache aller Erzeugung, und 
darum muß Die dem. Dionyjos im Meateriellen entjprechende Gottheit 
Bofeidon ſeyn. Doch iſt damit nur Eine Seite des Pofeidon erklärt, 
denn Poſeidon ift nicht der Gott des feuchten Elements überhaupt, ſon— 
dern des wilden Meers. Das Feuchte, Flüflige m ihm kommt won 
ver höheren Potenz, von Dionyjos; aber das Wilde, Bittre, Salzige 
ist das Kronifche in ihm, denn er ift nur der erweichte, gleichſam flüſſig 
gewordene Kronos, defjen Unmuth und bittre Empfindung beim Gefühl 
der Ueberwindung ſich dem Meere mittheilt, weßhalb denn, unftreitig in 
gewiſſen Myſterienlehren, wie Plutardy anführt, das Meer die Thräne 
des Kronos (Koövov Ödxovov) genannt wurde, unendlich tieffinni- 
ger, als eine flache Phyſik, die alles in ver Natur als em bloß 


' Plut. de Isid. et Osir. e. 34 und 35. 

2 ibid. c. 33. 

3 jbid. c. 32, wo es Plutarch als Spruch der Pythagoreer anfübrt. Eben 
dajelbft jagt er von den ägyptiſchen Prieftern, daß fie das Meer verabicheuen 
und das Salz, welches fie Schaum des Typhon nennen, 


582 

Aeußerliches anficht, oder eine geiftesarme Philoſophie ſich vorftellt, welche 
in der Natur Feine innern Vorgänge, fondern nur die leere Aufeinander- 
folge von Begriffen zu vernehmen vermag. Alle Qualität in ver Natur 
bat nur. Bedeutung, inwiefern fie ſelbſt urſprünglich Empfindung iſt. 
Die Qualitäten der Dinge laſſen ſich nicht mechaniſch, äußerlich, ſie 
laſſen ſich nur aus urſprünglichen Eindrücken erklären, die das Weſen 
der Natur ſelbſt in der Schöpfung erhielt. Wer kann ſich denken, daß 
der Schwefel, der ſtinkende Dunſt der Schwaden und der flüchtigen 
Metalle, oder die unerklärbare Bitterkeit des Meeres nur Folge einer 
bloß zufälligen, chemiſchen Miſchung ſey? Sind jene Subſtanzen nicht 
offenbar Kinder des Schreckens, der Angſt, des Unmuths, der Verzweif— 
lung? Doch ich kehre-zu Poſeidon zurück. Das Unluſtige, Unmuthige 
ſeines Weſens, das ſich bei Poſeidon ſelbſt noch in der Ilias durchgängig 
zeigt, iſt nur gleichſam der Nachgeſchmack von jenem urſprünglichen Un— 
muth, den der ſich überwunden fühlende Kronos empfindet. Aber weder 
dem Aides noch dem Poiſeidon wird verſtattet, für ſich zu exiſtiren, 
ſondern erſt zugleich mit dem Dritten und als untergeordnete Momente 
deſſelben. Dieſes Dritte iſt auch Kronos, aber der von ſeinem eignen 
Negativen, wie von der Wirkung der entgegengeſetzten Potenz jetzt gleicher— 
weiſe befreite Gott, der völlig ſeiner ſelbſt mächtiger, ruhiger, über 
alles herrſchender Verſtand iſt. Denn dieſer wird vorzugsweiſe in 
Zeus gedacht, wie daraus erhellt, daß in ter Ilias das beſtändige Bei— 
wort des Zeus unyriere ift, und wenn ein Mann aufs Höchfte gelobt 
werden foll, von ihm gefagt wird, er jey hir wjrtıw drdkavrog, ven 
Zeus an Berftand gleich; ich erinnere noch außerdem an den Füniglichen 
Verftand (vovg Aarorkırög), den Platon dem Zeus ganz befonders beilegt. 

Alfo die unmittelbare Vergangenheit der griechifchen Mythologie 
it Kronos; aber an diefem felbft treten als Momente hervor a) das 
eigentlich Kroniſche, das Negative, vem Geiftigen Widerſtrebende feines 
Wefens, b) das dem höheren Gott Zugänglice, ſich ihm als Materie 
Hingebende feines Wejens, ec) das durch den höheren Gott nun fhon 
in ſich gefehrte, aljo feiner jelbft volllommen mächtige Weſen des realen 
Gottes. Indem das griechiſche Bewußtſeyn ſich nicht eher ent-fchlicht 


983 
oder aufjchließt, al8 in der Totalität diefer Momente, treten an die 
Stelle des Kronos die Götter 1) Aides, der ſchon feinem Begriff nad) 
Vergangenheit ift, 2) Pofeidon, der aber infofern, als er erft mit 
Zeus, d. h. dem völlig überwundenen Kronos, hervortritt, nicht mehr 
der abjolute,. fondern ſchon der dem befonnenen Gott untergeordnete 
Pofeidon iſt, und nicht mehr als ver erſcheint, ver er gemefen ſeyn 
würde, wenn ihm für fich herworzutreten verftattet werden wäre, Er 
erjheint im mythologiſchen Bewußtſeyn nur als Sohn des ſchon über- 
wundenen, zum Aides gewordenen Kronos, d. h. immwiefern aud das 
Höhere (Zeus) ſchon geſetzt ift, alfo er erſcheint nur als Uebergangs- 
moment, was er jeiner Natur nad) ift. Es läßt ſich nachweifen, daß 
auch das hellenifche Bewußtſeyn pofeidonifchen Anwandlungen ausgefegt 
war, ud die myſteriöſe Mythologie bewahrt jelbft Erinnerungen daran; 
fie ſpricht von gewiſſen Zumuthungen, die Poſeidon der Demeter, d. h., 
wie wir in der Yolge hören werden, dem mythologiſchen Bewußtſeyn 
gemacht, die aber diefe zürnend zurüdgewiefen — fo find unftreitig 
jene wunderbaren Sagen zu erflären, die uns Pauſanias im Bud) über 
Arkadien berichtet und auf die wir uns hier nicht. weiter einlafjen können. 
In jener Zeit der kroniſchen Unentjchievenheit, da noch Feiner dieſer 
Götter das Licht erblidt, ift Demeter als Gattin des Poſeidon darge- 
ftellt, aber fie weigert fi ihm ſich hinzugeben, und erſcheint ſpäter, 
wie wir in der Folge fehen werden, in ganz andern Verhältniſſen. Auch 
dadurch erſcheint Poſeidon unter Zeus Herrichaft als ein bloßer Moment 
der Vergangenheit, daß er im die Göttergefchichte nicht weiter eingreift. 
Heficdos gibt ihm nur einen einzigen Sohn, ven Triton, von welchem 
man faft zweifelhaft ſeyn könnte, ob er für einen Gott zu halten jey, 
wenn ihn nicht Hefiodos ausdrücklich einen gewaltigen. Gott (dewog 
Feög) nennte; denn in Poſeidon felbft, wie in dieſem und feinen an 
vern mit fterblihen Müttern erzeugten, alfo halbgöttlihen Söhnen tft 
noch das Wilde der Kronosnatur zu erkennen, Aber auch diefer Gott 
Triton ift nur ein Gott der vergangenen Zeit, der unter den eigentli- 
hen Zeusgöttern niemals erſcheint — ausprüdlic jagt Heſiodos, daß 
er ftets bei der Mutter Amphitrite und dem königlichen Vater in den 


981 
goldnen Gemäcdhern im Grunde des Meered wohne. Unter ven drei 
Göttern ift alfo Zeus der einzige gegenwärtige, d. h. der einzige ftehen- 
bleibende, während Aides und Pofeidon bloße Momente der Vergangen- 
heit find. Aber das griechische Bewußtſeyn hat alle Momente treu be- 
wahrt, ohne ſich einem derſelben ausſchließlich hinzugeben. Die drei 
Götter find nur der auseinander gegangene Kronos, ſowie Kronos nur 
der Gott, der ftatt ihrer war. Nur die drei find dem ‚ganzen Kronos 
gleich: nicht Aides, denn er kann nur Aides werben, inwiefern er ſich 
als Zeus fett; nit Zeus allein, denn nur durch das Aides-Werden, 
d. h. nur indem er das Negative von ſich als Vergangenheit fest und 
bewahrt, und ebenfo das blinde Hingeben an den höheren Gott, das 
Poſeidoniſche in fi) zur Vergangenheit macht, fett fi) Kronos felbft 
als Zeus. Zeus ift nicht der Sohn des abfoluten, fondern nur des zu— 
gleich Aides gewordenen Kronos. Eigentlich ift e8 nur Ein Gott, der 
nad) unten Aides, in der Mitte. Pofeivon, nad) oben Zeus ift. Zeus 
ift num die Der Gegenwart zugefehrte Seite des Aides, Aides nur bie 
der Bergangenheit zugefehrte Seite des Zeus, daher er auch felbft Zeus, 
nur der unterirdiſche Zeus — Jupiter Stygius — heißt. Obgleid) 
alfo Zeus der höchſte, Fann er fi) doch von den andern nicht trennen, 
Er ift nur, inwiefern auch Aides ift, d. h. inwiefern das Negative des 
Kronos überwunden. Zeus ift nicht etwa der Ueberwinder des Kronos 
in dem Sinne, wie Dionyfos der Ueberwinder des materialen Gottes 
ift, er ift nicht der, durch weldyen, ſondern in welchem Kronos über— 
wunden, d. h. zugleich zu Aides geworben ift. Aus dieſem Grunde 
entftehen fie doch eigentlich nur zugleich. Zwar. wird ein Unterſchied des 
Alters gemacht, und Zeus heißt in Bezug auf Poſeidon und Aides der 
ältere, aber nur infofern, als er doc beiden erft zum Licht, zum ges 
ichtevenen, befonderen Dafeyn verholfen hat; obgleich in der Theogonie 
das jüngfte der Kronosfinver, ift er doch bei Homer darum ber ältefte, 
weil ex der erfte aus der Berfchlungenheit entfommt, in welcher Kronos 
die andern erhält, d. h. weil erſt mit ihm Kronos in diefer Dreiheit 
auseinander tritt; darum heißt er „eher gezeugt und höherer Weisheit“ '. 
' Theog. v. 478, vgl. Iliad. 13, 355. 


985 

Weil die drei Kronosfühne ſich alle gegenfeitig vorausfegen, denn 
Kronos ift nur Aides, inwiefern zugleich Zeus, und er ift nur Zeus, 
inwiefern zugleich Aides — meil alle drei Momente im griedhifchen 
Bewußtſeyn gleiches Gewicht haben: fo konnte zwiſchen den drei 
Göttern feine zeitliche, fondern nur eine räumliche Unterſcheidung 
eintreten. Jeder der Götter erhält eine eigne Region, die er beherrſcht. 
Aides erhält zur Behaufung das leere Dunfel (Löpov neodevre), 
die Unterwelt, die Tiefe, wor der felbft graut den Göttern; denn könnte 
ſich diefe wieder erheben, jo würden fie alle wieder vernichtet und ver- 
zehrt, ihr Daſeyn beruht nur auf dem Unfichtbargeworven- oder Unter- 
gegangenfeyn deſſen, was jet nur noch in der Tiefe ift. Ihr Graun 
vor dieſem Verborgenen ift gleid) dem Erſchrecken der ägyptiſchen Götter 
beim Wiederanblid des Typhon. Poſeidon aber erhält zum Antheil das 
graue Meer, das Tiefite von allen Oberirdifchen, und fein wildes Herz 
jträubt fih, Zeus Willen. ebenfo unbedingt zu gehordyen wie die von 
Zeus erft erzeugten Söhne und Töchter, da Er vielmehr auf gleicher 
Linie mit ihm fteht, gleicher Herkunft mit ihm ſich rühmt; dennoch 
gibt er mwohlgemeintem Zureden nad), und fügt ſich in die Unterordnung, 
welche übrigens die leichzeitigfeit nicht aufhebt. Ganz deutlich ift dieſes 
Verhältniß in dem fünfzehnten Bud) der Ilias, in der Stelle, wo Yrig, 
Zeus Botin, ihm folgende Botichaft bringt: 


Ausruhn beißt er dich jeßo von Kampf und Waffenentſcheidung, 

Und bingehn in die Schaar der Unfterblichen, oder zur Meerflut. 

Wenn du nicht das Gebot ihm bejchleunigeft, ſondern verachteft, 

Selber droht er ſodann, zu ſchrecklichem Kampfe gerüftet, 

Wider dich herzufommen; doch warnet er dich, zu vermeiden 

Seinen Arm; denn er dünke fich weit erhabner an Stärke, 

Aelter auch an Geburt; und nichts doch achtet dein Herz es, 

Gleich Dich ihm zu wähnen, wor dem auch anderen grauet. 
Darauf antwortet Poſeidon unmutbhig: 

Traun das heißt, wie mächtig er jey, hochmüthig gerebet: 

Mir, der an Würd’ ihm gleicht, mit Gewalt den Willen zu hemmen. 

Denn wir find drei Brüder, die Kronos zeugte mit Rheia: 

Zeus, ich jelbft und Ais, der unterirdiiche König. 

Dreifach theilte fih alles, und jeglihem ward von ber Herrichaft: 


586 





Aber die Erd’ ift allen gemein und der hohe Olympos. 

Nimmer folg’ ih demnach Zeus Fügungen; fondern geruhig 

Bleib’ er, wie ftarf er auch ift, in feinem beſchiedenen Drittheil. 

1 (Nach Voß.) 
Aus eben diefer Stelle erhellt alfo zugleih, daß die Erde als allen 
Göttern gemein betrachtet wird, denn fie ift das, was fie zugleich ſcheidet 
und verbindet. Ebenſo der hohe Olymp als Verfammlungsplag ift allen 
gemein. Aber Zeus ift der im Aether Wohnende (Zevs alı$Eoı veiov), 
weil der ganz Geiftige, dem der meite Himmel (0Vo«vVög EVoVs), das 
ganz Ueberirdiſche, ausschließlich angehört. | | 

Indem ich nun aber. die griechische Mythologie mit Zeus anfangen 
lafje, werden Ste natürlich fragen: war denn zuvor nichts im griechi- 
chen Bewußtfeyn, feine andern mythologifchen Vorſtellungen? Auf viefe 
Frage: ja und nein, je nachdem man es verftcht. Das. griechifche 
Bewußtſeyn war bei dem ganzen mythologifchen Proceß hergefommen, 
mitihm, daß ich jo fage, groß gewachſen. Alle früheren Momente, durd) 
die wir das mythologiſche Bewußtſeyn hindurch verfolgt haben, find in dem 
Bewußtſeyn des Griechen niedergelegt, um erſt in dieſem zu ihrer voll- 
fommenen Entfaltung und Auseinanderfegung zu gelangen. Diefer Stoff 
ift dem griechiſchen Bewußtſeyn gleichfam überliefert, und dieſer ſchreibt 
fih no von dem Proceß her. Wir fahen dieſen Proceß -in- feiner 
ganzen Gewalt nody im ägyptiichen Bewußtſeyn, aber das indifche ſchon 
ſucht Befreiung von ihm; in das indische Bewußtſeyn fällt das Zergehen 
der materiellen Einheit, das Auseinandergehen der Potenzen, auf deren 
Einheit und Zufammenhaltung bis dahin der Proceß beruhte; aber dieſes 
Auseinandergehen felbft ift nur Uebergang. Durch das Zergehen der 
materiellen Einheit war das freie Zurüdgehen auf diefelbe wermittelt, 
und dieſes freie Zurüdgehen fallt in das griechiſche Bewußtjeyn, dem 
zwar ver Stoff, aber durd ven vorhergehenden Moment als ein nun 
ihon das Bewußtſeyn freilaffender, überliefert ift, den es num eben 
darum als Gegenftand völlig freier und befonnener Auseinanderjegung 
hat. Der Stoff der griechiſchen Mythologie gehört nody dem Proceß 


V. 174 fi. 


987 





und infofern der Nothmwendigfeit an, die Entfaltung veffelben ift das 
völlig freie Erzeugniß des befonnenen, des Stoffes mächtig gewordenen 
Bewußtſeyns. Darin liegt der Grund des Poetiſchen, das die griechiiche 
Göttergefchichte von allen früheren Götterlehren unterfcheidet. Wir wür⸗ 
den dieſen Ausgang des Proceſſes ſchon als nothwendig folgend aus 
den früheren Momenten behaupten müſſen. Auf die zwangvolle Einheit, 
in welcher die Potenzen im ägyptiſchen Bewußtſeyn gehalten waren, folgte 
das Zergehen der Einheit im indiſchen. Beiden kann nur wieder die 
Einheit, aber die freie, mit Bewußtſeyn wiedergeſtellte Einheit folgen. 
Sie könnten mich hier fragen, wie es kommt, daß in dieſer 
Aufeinanderfolge je dem folgenden Volk gleichſam zu gut kommt, 
was in dem vorhergehenden geſetzt war. Woher dieſe Verkettung, 
dieſe ſolidariſche Verknüpfung der Völker, nach der jedes folgende den 
Proceß da aufnimmt, wo er im vorhergehenden ſtehen geblieben, jedes 
folgende nur die Rolle übernimmt, die ihm durch das vorhergehende 
entweder überhaupt oder zunächſt übrig gelaſſen iſt. Hierauf gibt es 
keine Antwort als: dieß eben iſt die Ordnung, das Geſetz, die Vor— 
ſehung des Proceſſes, für welche die getrennten Völker doch nur die 
Eine Menſchheit ſind, in der ſich ein großes Schickſal vollziehen ſoll. 
Dem Streben nach Befreiung Tann nur das Freifeyn, dem Streben 
nach Erlöſung nur das Erlöstſeyn folgen. Wir könnten ſagen, das in— 
diſche Volk iſt zum Opfer für das griechiſche geworden, dem es am 
nächſten ſteht. Das griechiſche Volk fängt mit dem Freiſeyn gegen die 
Potenzen erſt an, zu welchem das indiſche nicht ohne Kampf gelangt. 
Darum kann es mit Freiheit auf das Materielle zurückgehen, dem ſich 
das indiſche erſt entwindet. Uebrigens iſt damit nicht die Möglichkeit 
ausgeſchloſſen, daß im griechiſchen Bewußtſeyn ſelbſt vorausgehend dem 
Moment der völlig freien Auseinanderſetzung ein dem indiſchen ähnlicher, 
paralleler Moment ſich nachweiſen laſſe, von welchem jedoch das grie⸗ 
chiſche Bewußtſeyn aufs Materielle zurückging, während des indiſche in jener 
Abwendung vom Materiellen verblieb. Ueberhaupt, wenn die griechiſche 
Mythologie nicht erft ägyptiſch-indiſche war, noch aus einer von dieſen ent- 
ſtanden, ſo iſt nichtsdeſtoweniger vorauszuſetzen, daß jenen Mythologien 


888 
entjprehende Momente auch ım griechifchen Bewußtfeyn waren. (Die 
Velasger Nomaden. Moment des Zabismus'). 

Wir Fönnten ung, was die Freiheit des ——— Bewußtſeyns 
betrifft, auch vorläufig ſchon auf das ganz andere, nämlich nicht mehr 
blinde, ſondern freie Verhältniß berufen, das der Hellene zu den Göt— 
tern hat, ein Verhältniß, wie es ſich beſonders in Homeros erkennen 
läßt, und das ein ganz anderes iſt, als in welchem wir den Aegypter und 
ſelbſt den Indier und jedes der vorgriechiſchen Völker zu ſeinen Göttern 
ſehen. Aber es ſtimmt mit dieſer Behauptung eines freien, inſofern, 
wenn man will, im weiteſten Sinn poetiſchen Entſtehens der griechiſchen 
Göttergeſchichte — eines poetiſchen Entſtehens nicht dem Stoff, ſondern 
der Form nach — es ſtimmt damit auch alles überein, was ſich über 
den Urſprung der helleniſchen Göttergeſchichte noch allerdings hiſtoriſch 
ausmitteln läßt. Ich erinnere hier wieder an das, was Herodotos in 
einer freilich bis jetzt wenig begriffenen Stelle von dem Gemüthszuſtand 
der Pelasger, d. h. der Urhellenen, ſagt, daß fie zwar nämlich Götter 
gekannt, aber nicht die Namen unterſchieden haben? Hier haben 
wir ja alſo jenen Zuftand, in dem die Götter der fpäteren Theogonie 
noch chaotiſch, bloß materiell, dem Stoff nach, vorhanden waren, den 
Zuftand, der im pelasgiſchen, vorhelleniichen Bewußtfeyn der Zeit der 
Auseinanderfegung, Scheidung und Sonderung diefer Götter vorausge- 
gangen war. Durch diefe oder mit diefer Scheidung traten die Hellenen 
erſt als Hellenen hervor ins gefchichtliche Leben; als Pelasger waren fie 
noch ein Theil der vorgefhichtlihen Menfchheit, der bewahrt wurde, 
bis fein Moment gefommen war, und, folang unentfchieven, zwar bie 
Götter dem Stoff nach, aber nicht ausgeſprochen, in feinem Bewußtſeyn trug. 
Wir fehen aus jener Schilderung des Herodotos, wie gleichſam die ganze 
mythologiſche Bergangenheit auf das Bewußtſeyn der Pelasger drückt und 
ſie ſtumm macht, bis der Augenblid fommt, wo fie diefe Vergangenheit, 
zu welcher fie materiell nichts mehr hinzuzufügen haben, als Gegenftand 
freier Auseinanderfegung begreifen und zu dieſer fi) entfchließen. 


' Bgl. die Schrift von oe: de primordiis Graeciae, p. 35. 
?” Lib. II, 52. 


989 

Nicht weniger fprechend ift in dieſer Bezeichnung die ſchon in der 
erften allgemeinen Einleitung ! befprochene Stelle des Herodotos, wo. er 
von den beiden Dichtern, dem Hefiodos und Homeros, fagt: Diefe find 
es, die den Hellenen ihre Göttergefchichte gemacht haben. Herodotos 
beruft ſich bei diefem Ausſpruch ausdrücklich auf feine Nachforſchungen; 
ihm war e8 ein großes Anliegen zu wiffen, wann, wie lang vor feiner 
Zeit die hellenifche Göttergefchichte entftanden fey, und es ift die Neu- 
heit ver griechiſchen Göttergeſchichte, und daß fie nicht älter ſey als die 
griechiſche Dichtkunft überhaupt, für ihn ein Nefultat von hödhfter 
Wichtigkeit. Bekanntlich hat dieſe Stelle des Herodotos zu vielen Er- 
örterungen unter Philologen und Alterthumsforfchern Anlaß gegeben. 
Der Materie, dem Stoff nad) geht die Mythologie in. eine zu tiefe | 
Vergangenheit zurüd, als daß Hefiodos und Homeros fie in diefem 
Sinn hätten den Hellenen machen fünnen. Die nächte Aufklärung der 
Stelle ift, daß das -Hauptgewicht auf das Wort Theogonie gelegt wird. 
Nicht die Materie ver Mythologie, wohl aber diefe in allen ihren Mo— 
menten frei und mit Befonmenheit auseinandergefette Göttergefchichte 
verdanfen die Hellenen dem Hefiodes und Homeros. Aber auch dieß 
fann nicht jo buchitablich verftanden werden, namentlic) was Homeros 
betrifft; denn wir ſehen diefen doch nie ausprüdlicd mit Göttergefchichte 
beichäftigt, höchftens gelegenheitlicy werden die geſchichtlichen Verhältniffe 
der Götter erwähnt, und aud da fommen Beifpiele vor, wo dieſe 
Berhältniffe noch anders erjcheinen als bei Hefiodos, und durd die er- 
heilt, daß die Göttergefchichte ſelbſt zu feiner Zeit noch nicht völlig 
firirt, zur vollfommenen Feſtſetzung gelangt war, mas eben aud auf 
Freiheit der Vorſtellung deutet. Eigentlih kann alfo Herodotos nur 
die Zeit bezeichnen, er fann nur fagen wollen: die Zeit, welche den 
Hellenen ven Hefiodos und Homeros gab, diefe gab ihnen auch erft die 
vollendete Göttergefhichte. Erſt als das Bewußtſeyn von dem mytho— 
(ogifchen Proceß fich befreite, war überhaupt Poefie möglid. Darum 
finden wir eigentliche Poefie nicht cher als bei den Indiern und Grie— 
chen. Bei jenen war die Befreiung vom Proceß nur noch eine negative, 

S. 15 ff. des betreffenden Bandes. 


990 





aber weder in ihrer Denfart nody in ihrer Poeſie zeigt ſich ſchon jenes 
pofitivfreie Verhältniß gegen den mythologifchen Proceß, das wir in den 
Griechen antreffen. Erſt indem das Bewußtfeyn von der Nothwendig- 
feit des Procefjes foweit entbunden war, daß es, mit freiem Geift auf 
ihn zurückkehrend, zu den Öeftalten vefjelben in ein völlig freies, d.h. 
poetifches Verhältniß kam, Fonnte die Göttergeſchichte jo entwickelt her- 
vortreten, als wir fie in Griechenland finden. Zum Beweis, daß He 
rodotos worzugsweife die Zeit meint und bezeichnen will, dient die eben- 
falls in ver früheren Erörterung berührte Parallelftelle des Heſiodos, 
der eben vafjelbe, mas Herodotos den beiden Dichtern zufchreibt, daß 
fie nämlich die Ehren und Würden unter den Göttern vertheilt, jeden 
den ihm zufommenden Namen und feine Bebentung zugefchieven haben, 
— den Zeus zufchreibt, den nach der Befiegung jener Mächte der Ver— 
gangenheit, die in den Zitanen- dargeftellt find, die Götter zu ihrem 
Haupt wählen, mit der Berechtigung und Obliegenheit, die Ordnung, 
die Berhältnifje, die Würden unter ihnen auszutheilen, was er auch 
thut — 6 Ö8 roiow &ü dıedaocaro rıuds —, faft mit venfel- 
ben Worten, mit denen Herodoto8 das Gleiche von den beiden Dichtern 
fagt. Zeus iſt ver eigentliche hellenifche Gott, der Gott, in dem alle 
Hellenen Eins find: Zeve naveilrvıog, der Gott der Hellenen im 
Gegenfag von den Pelasgern. Mit ihm fängt erft bellenifches Leben 
und Weſen an. ' 


Sechsundzwanzigſte Vorlefung. 


Nachdem wir zuerft nur überhaupt den Eingang in die griedhi- 
Ihe Göttergefhichte gefucht, dann ihre Stellung zu dem Ganzen des 
mythologiſchen Proceffes beftimmt haben, wie werden wir mit der wei- 
teren Entwicklung, mit der eigentlichen Erflärung der griechischen My— 
thologie woranzugehen haben? Es ift bei der hellenifchen Mythologie zu 
unterjheiden 1) ihre Eigenthümlichfeit als Moment der mythologifchen 
Bewegung betrachtet. Hier haben wir ſchon auseinandergefegt, daß fie 
den Moment darftellt, wo das Bewußtſeyn bereits ein völlig freies 
Verhältniß gegen den in ihm zu Ende gefommenen Proceß erlangt hat, 
und nicht wie das indifche unter fchmerzlichen Wehen und fortvauernden 
Kämpfen ſich von ihm loszureißen fucht, und eben darum, weil e8 fich 
Ihon frei gegen ihn fühlt, frei auf ihn — in die ganze Materie des 
Proceſſes, von dem der Indier fi) loszumachen ringt, zurüdgehen 
und es geftalten fann. Aber eben durch dieſes freie Verhältniß gewinnt 
die griechiſche Mythologie noch eine andere Ceite, daß fie nämlich 2) zu— 
gleich allein auch diejenige Mythologie ift, welche mit einem vollftändi- 
gen, von Anfang bis zu Ende gehenden und zufammenhängenden Göt- 
terſyſtem ſchließt. Hiedurch tritt fie über die Einzelheit ihres Moments 
hinaus, fie wird zur allgemeiner Mythologie, was feine der früheren 
war, fie wird zu derjenigen Mythologie, welche erft eigentlich den voll- 
fommenen Aufſchluß und die Erflärung aller übrigen enthält. 

Verlangt man zu. wiffen, wie die griechiſche Mythologie ſich im 
?eben dargeftellt, jo müfjen wir auf Homeros verweilen, wenn aber 


992 

die Frage ift, wie fie fi) unmittelbar im Bewußtſeyn ver Hellenen 
dargeftellt, jo müffen wir ung an das Gevicht halten, das den Namen 
des Hefiodos führt, und weldes infofern, als und Homeros die 
Mythologie doh nur im Nefler, im Wiederfchein des Lebens zeigt, 
Hefiodos uns aber eben viefelbe vorftellt, wie fie aus dem früheren 
Proceß ſich entfaltend unmittelbar ins Bewußtſeyn felbft eintritt, für 
ung der Föftlichfte Beleg unferer ganzen Theorie der Mythologie ift '. 

Unfere Erklärung der griehifchen Mythologie alſo mird nur dem 
Gedicht des Hefiodos folgen dürfen. Diefes hat gleichfam die Arbeit 
fir ung ſchon gethan. Die Theogonie des Hefiodos ift das Werk ver 
erften aus der Mythologie jelbft hervorgehenden Philofophie. Es kann 
nicht meine Abſicht ſeyn, eine ausführliche und noch weniger eine allen 
Forderungen genügende Erklärung dieſes Gedichts hier zu geben, ein 
Geſchäft, das außer den philoſophiſchen Principien, die zur Erklärung 
der Mythologie überhaupt nöthig ſind, zugleich eine Gelehrſamkeit er— 
fordert, die hier jedenfalls nicht an ihrer Stelle wäre. 

Die Theogonie des Heſiodos iſt zwar dem Stoff nach das Erzeug— 
niß eines wiſſenſchaftlichen Bewußtſeyns, in welches die Mythologie ſich 
unmittelbar und unwillkürlich aufſchloß; das Gedicht aber, in welchem 
dieſes wiſſenſchaftliche Bewußtſeyn ſich ausſprach, oder wenigſtens das 
Gedicht in ſeiner jetzigen Geſtalt könnte darum nichtsdeſtoweniger einer 


Homeros und Heſiodos waren die Organe, durch welche ſich die Götterge— 
ichichte ausiprach und zugleich auch firirte. Denn das Refultat eines jo leben- 
digen Procefjes mußte frühzeitig rein ausgefprochen und feftgeftellt werden, um 
fih nicht neuerdings zu vwerwirren. Dieß konnte auf zweierlei Art gefchehen : 
1) im Leben und im unmittelbaren Bild des neuentftandenen Lebens — der epi- 
ichen Poeſie, wo die Mythologie nur als weiter entwiceltes Element. des ganzen 
hellenifchen Lebens erjcheint: fo in Homeros; 2) daß bie Mythologie jelbft und 
als folche Gegenftand und bereits als Ganzes (al8 Syſtem) beabfichtet murbe. 
Herodotos ftellt, was die Auseinanderfegung der Göttergefchichte betrifft, den 
Hefiodos mit völlig gleicher Würde neben den. Homeros. In beiden vollzog ſich 
nur die letzte Krifis des hellenischen Bewußtſeyns, wiewohl fie ſich in beiden auf 
verſchiedene Weiſe darftellt, in Homeros als Uebergang zum gejchichtlichen Leben, 
in Hefiovos als Uebergang zur Wiffenfchaft. Denn diefe beide waren ausge- 
ſchloſſen, jolange die Menschheit jenem inneren Proceffe unterworfen war. 


93 


von dem Urfprung der Mythologie weiter als Homeros entfernten 
Zeit angehören '. In welche Zeit das jett vorhandene Gedicht gehöre, 
jheinen außer den Spuren des von dem homerifchen in fo vielen 
Redensarten abweichenden Sprachgebrauchs — aufer diefen äußeren Kenn— 
zeichen eines ſpäteren Urfprungs des Gerichts, wenigftens in feiner 
jetzigen Abfaffung, jcheinen noch andere, mehr innere Merkmale und 
befonders im politischen und fittlihen Charafter des Dichters liegende 
Anzeigen auf ein fpäteres Zeitalter zu deuten. Dahin gehört, daß er 
den Königen, welche Homeros nod auf jede Weife verherrlicht, fich 
abgeneigt beweist, und im Gegenfat des heroiſchen und Helvenlebens, 
die Süßigkeiten des bürgerlichen Lebens vorzugsweife preist; daß er die 
verfängliche Frage über den Urfprung der Ungleichheit unter ven Men- 
jhen, der ungleihen DBertheilung der Reichthümer und der Ehren be- 
rührt, was offenbar eine gewilfe Entwicklung des politifchen Nachven- 
fens vorausfegt. Auch die in dem andern Werf des Dichters (in den 


' Den Augenbli der wiffenfchaftlichen Beſinnung (unterfchieden von dem Ge- 
dicht, in welchem fie ihren Ausdrud und ihre Ausführung fand) dem Moment 
der erften Entjtehung der helleniſchen Mythologie jebr ferne zu ſetzen, ift um jo 
weniger Grund vorhanden, als wir die Wirkungen dieſer letzten völligen Befreiung 
in der That nicht zu berechnen vermögen. Dieſer Moment war überhaupt ein wun— 
dervoller, und dem in der ganzen Gejchichte der ferneren Bildungen und Ent- 
wicklungen feiner wieder an die Seite zu ſetzen iſt. Alles überzeugt uns, daß 
nad) einmal durchbrochener Schranfe fogleih und im raſcheſten Fortichritt alle 
Kräfte des hellenischen Geiftes mächtig fich entfalteten, und in jenem erjten Gefühl 
der Freiheit, während zugleich noch die ganze Kraft, der ganze Impuls der my» 
thologifhen Bewegung ihnen zu Statten fam, erreichten, was die ſpäter nach— 
fommende Reflerion nur langjam wieder gewinnen fonnte. Spuren einer jehr 
frühen, mit der letter mythologiſchen Entwidlung gleichzeitigen, und daher offen- 
bar auch unmittelbar aus dieſer herworgegangenen Weisheit finden fich eben 
bei Hefiodos, aber auch in manchen Erwähnungen Platons. Wohin gehören 
3. B. jene von Platon oft genug erwähnten ralaıoi Aoyor, die man doch nicht 
aus den Myſterien ableiten fann? Können dieſe ihrer Tiefe nach etwas anderes 
ſeyn als Ueberlieferungen eines vecht eigentlich, wie ein lateiniſcher Echriftfteller 
fih ausprüdt, von den Göttern her friſchen Geſchlechts? Ich meine 
die Stelle bei Seneca (Epist. XC): Non tamen putaverim, fuisse alti 
spiritus viros et, ut ita dieam, a Diis recentes. ®Bergl. eine ähnliche 
Aeußerung bei Cicero, Tuse. Disp. L. I, e. 12. 

Schelling, fämmtl. Werke. 2. Abtb. II. 38 


994 
&oyoıs) vorkommende Schilderung des goldenen Weltalters allgemeiner 
Gleichheit und der darauf folgenden immer fchlimmeren Zeitalter, die 
ganze Fabel von Prometheus und die düftere Anficht des Lebens, mit 
der diefe ſchließt und die fid) gleichmäßig über alle Werke des Dichters 
verbreitet — „Noch taufend andere Unbheile wandern umher uuter den 
Menſchen, voll ift die Erde von Uebeln, voll aud) das Meer” u. ſ. w. — 
dieß alles gehört zu den Vorzeichen einer Beränderung der Dinge und 
des allgemeinen Zuftandes, die in Griechenland durch den Uebergang 
von der früh entarteten heroiſch-monarchiſchen Verfaſſung in die repu- 
blicanische des fpäteren erfolgte. Mit diefem Verfall des monarchiſchen 
Lebens ging aber auch die eigentliche homeriſche Welt unter, und un- 
ftreitig erhielt mit den andern Gedichten des Hefiodos aud) die Theo— 
gonie erft in diefer Zeit wenigftens ‘ihre letzte Ausbildung und einen 
Borzug vor der homerifchen Poefie, die durch die fpäter hervortretende 
lyriſche Dichtfunft und Gymnaſtik vollends in ſolche Vergeſſenheit fiel, 
daß erft die fpäter fic) erhebenden, mit einer Art von monarchiſcher 
Gewalt wieder befleiveten Volksherrſcher, Solon und die Peififtrativen, 
die homeriſchen Gedichte wieder ans Licht zogen. Inzwiſchen möchte 
wohl manches, was zur Differenz zwifchen Homeros und Heſiodos ge- 
rechnet und aus einer Differenz des Zeitalters erklärt wird, auf Ned)- 
nung eines urfprünglichen und mit der Eriftenz der griechiſchen Nation 
gleichzeitigen Gegenfates zu fegen feyn. Ich meine den Gegenſatz zwi— 
chen dem dorifchen und joniſchen Princip, der durd) die ganze griedhifche 
Bildung hindurchgeht. Es wird jett außer einer eigenthimlichen dori— 
ſchen Mufif und Architektur ebenfowohl aud) doriſche Sceulptur, Poeſie 
und Philofophie unterſchieden. Der Charakter. der heſiodiſchen Poeſie ift 
durchaus doriſch; und follte nicht aud) in der verfchiedenen Weife, wie 
fi) die Mythologie in Homeros und wie fie fid) in Heſiodos darftellte, 
nur die Grundverſchiedenheit der doriſchen und der jonifchen Auffaffung 
überhaupt zu erfennen ſeyn? Wer unmittelbar von Homeros oder den 
vorzüglich) nur der homerifchen Darftellung folgenden Schriftftellern 3. B. 
zu Pindaros fommt, findet fid) nicht wenig überrafcht, hier wiele8 ganz 
anders und manches auch zu finden, wovon bei Homeros Feine Spur 


95 





iſt. Auf jeden Fall halte ih die Behauptung feft, daf die Richtung, 
welche ſich in Heſiodos zeigt, in ihrer Art ebenſo urſprünglich als die 
homeriſche iſt. Inzwiſchen iſt es allerdings nicht möglich vor jetzt 
darüber mich ganz auszuſprechen; denn dazu gehörte, daß ich mich auch 
über den Homeros, d. h. über die größte, wundervollſte und unbegrif- 
fenfte Erſcheinung des Alterthums ausgefprohen hätte, wozu jett noch 
nicht Zeit ift. Ich fuche hier überhaupt vorerft das Einzelne begreiflich 
zu machen, und behalte mir das letzte Wort über griechiſche Mythologie 
und Bildung, welches jene Einzelheiten als evflärte ſchon vorausfegt, 
für eine fpätere Zeit vor. 

Ih habe das Gedicht des Hefiodos erklärt als Erzeugniß eines 
wiſſenſchaftlichen Bewußtſeyns, in welches die mythologiiche Bewegung 
in ihrem letten Moment oder durch ihre lette Kriſis fih von felbt 
und unwillkürlich aufſchloß. Mit dem letten Moment, wo die immer 
noch unterhaltene Spannung auf einmal und völlig nachließ, wurden 
dem Bewußtſeyn alle Momente der früheren Bewegung als geſchicht— 
liche Momente klar, da erhoben ſich ihm die Götter der Vergangenheit 
von ſelbſt zu Perſonen eines theogoniſchen Heldengedichts. Heſiodos 
erfindet dieſe Götter nicht, er ſetzt ſie als bekannt und im Bewußtſeyn 
vorhanden voraus, er bemüht ſich nur, ihre Verhältniſſe zueinander 
und die Abſtammung des einen von dem andern ins Licht zu ſetzen, 
auch dieß auf eine Weiſe, daß man leicht ſieht, er ſelbſt ſteht dabei 
noch immer unter der urſprünglichen Eingebung jener Nothwendigkeit, 
welche die ganze Mythologie erzeugte. Es gibt daher, welche Vorſtellung 
man ſich übrigens von dem Zeitalter und der ſucceſſiven Entſtehung des 
jetzt vor uns liegenden Gedichts machen möge, doch weder eine ältere, 
noch ächtere Quelle, ſobald es darauf ankommt zu zeigen, wie ſich in 
dem helleniſchen Bewußtſeyn die Mythologie zuerſt als Syſtem, als 
Ganzes geſtaltet habe — und auch unſere Erklärung der griechiſchen My— 
thologie folgt alſo nun dem Gedicht des Heſiodos. 

Das zu Ende gefommene mythologiſche Bewußtſeyn mußte, wie 
ich mic früher ſchon einmal ausdrückte, aud über den Anfang 
flar werden. Hier, wo es zuerſt fich befreit fühlte, löste fich ihm 


996 


der Zauber (denn eine Art von Berzauberung war e8 doc), im der fid) 
das Bewußtſeyn während des ganzen Procefjes befand), es löste ſich 
ihm bier zugleich das ganze Gewebe des Schickſals auf, dem es in der 
erften Erzeugung der Mythologie unterworfen war, die ganze Bewegung 
wurde ihm durchſichtig vom Anfang bi8 ind Ende, 

Wenn dem and Ende gefommenen Bewußtfeyn jener Zuftand 
vor allem wirfliden Bewußtjeyn, alfo aud wor aller Bewegung, 
jene im Urbewußtjeyn gefette Einheit der Potenzen ſich darftellt, durch 
deren Trennung oder Spannung erjt-der mythologiſche Proceß bedingt 
ift, jo wird ihm diefe im Verhältniß zu der nachfolgenden empirifchen 
Erfüllung des Bewußtſeyns, welche eben durch Die gegenfeitige Span- 
nung und Trennung der Potenzen entfteht, nur als abſolut durch— 
dringliche, widerftandlofe Einheit und Tiefe, nur gleichſam als Götter- 
abgrund erfcheinen. Die Vorftellung diefer Einheit im Anfang der 
Theogonie ift das Chaos. „Zuerft ward Chaos“. In den Wort, von 
welchen berfommt, zo, zalvo, 2uLo, liegt der Begriff des Zurüd- 
weichens in die Tiefe, des Aufgethanfeyns, des Dffenftehens, der aber 
auf den höheren des Nicht= Widerftand -leiftens (das nur im Concreten 
ftattfindet) zurückkommt. Werner ift diefes Negative des erften Begriffs 
aud darin ausgedrüdt, daß in demſelben Wort zugleich die Borftellung 
der Bebürftigfeit, des Mangels enthalten ift. Wegen dieſes herrfchenden 
Begriffs, Abwefenheit des Concreten, Wiverftandslofigfeit, ift denn frei 
(ic) fpäterhin das Wort X&og auch für den leeren Raum über- 
haupt oder insbefondere den Luftraum gebraudt worden; ferner 
überhaupt für das bloß Potentielle, ſofern e8 dem Actuellen, dem ſchon 
Beftimmten, Charafterifirten entgegenfteht, daher es denn allerdings 
zulegt aud) die aller Form oder Eigenſchaft ermangelnde Materie be 
deuten fonnte, wiewohl ich ein Beifpiel dieſer Bedeutung aus griedhi- 
ſchen Schriftftellern vermiſſe, indem namentlich Platon felbft in Stellen, 
wo e8 ihm fo nahe lag dieſes Ausdruds als des einfachften und kür— 
zeften ſich zu bedienen, diefes Wort nicht gebraucht, 3. B. im Timäos, 
wo er von der Mutter und Unterlage alles Sinnlichen ſpricht, die we— 
der Erde, noch Luft, noch Feuer, noch Waſſer genannt werde, und 


397 
ebenfo wenig von Dem etwas ſey, was aug Diefen hervorgehe, noch 
ſogar etwas von dem, woraus dieſe ſelbſt entſtehen, ſondern etwas 
ganz Unſichtbares und Geſtaltloſes“. Hier wäre alſo ver Begriff des 
Chaos an feiner Stelle gewefen, wenn es dem Griechen wirflic Die 
form= und geftaltlofe Materie bedeutet hätte. Allein es ift offenbar ein 
höherer und mehr. metaphufiicher Begriff. 

Noch weniger aber freilic) iſt der durch DBermittlung des Ovidius ung 
zugefommene Begriff des Chaos richtig, nad) welchem es einen Zuftand 
der materiellen Berwirrung aller Elemente beveutet, wie man fie in 
ben phyfifaliichen Kosmogonien der Anordnung der Welt bald unter 
diefem bald unter jenem Namen worausgehen läßt. Es wird fidh Fein 
Beifpiel finden, daß ein Grieche das Wort für eine ſolche bloß phyſika— 
liſche Fiktion gebraucht habe, Das Chaos ift ein fpeculativer Begriff, 
wie es denn in dem befannten Schwur des Sofrates bei Ariftophanes 
unter den Begriffen einer über die Götter hinausgehenden und bald 
ihnen feindfeligen Philofophie oben anfteht . Das Wort prüdt einen 
rein philoſophiſchen Begriff aus, welchem die Vorftellung von relativer 
Leere (nämlich gegen die nachherige empiriiche Erfüllung) und von Wi: 
ftandslofigfeit zu Grunde liegt ?, 


ı Te. Bil. A. 

2 ©, Einl. in die Philofophie der Mythologie, ©. 45. 

* Dem Paraceljus, den man, ebenjo wie feinen Nachfolger Jakob Böhme 
jelbft als eine gewiffermaßen mythologiihe Natur anfehen kann, und dem cben 
vermöge diejer natürlichen Inſpiration vielleicht manches Wort auf eine befondere 
Weiſe Har wurde — ihm bedeutet Chaos aud das Widerftandslofe und infofern 
Dffenftehende. Wenn er 3. B. von den Bergmännlein, mit denen er überhaupt 
viel zu thun hat, fagt: fie gehen ungehindert durch Felfen, Steine, Mauern, 
denn ihnen find alle diefe Dinge Zaos, d. b. Nichts — nicht ſowohl wie Die Luft 
uns nicht hindert, als in dem Siun, daß das Körperliche für fie eigentlih gar 
nicht eriftirt: fo fieht man wohl, wie weit entfernt er ift, unter Chaos eine ver- 
worrene Maffe, ein Durcheinander aller kosmifchen Stoffe zu denken, etwa wie 
Ovidius das Chaos bejchreibt in Ausdrüden, die auch der ausichweifenditen Cor— 
puscular- oder wie man jet jagt, Molecularphilofophie doch zugleich zu palpabel 
icheinen möchten: 

Lucidus hie aer et quae tertia corpora restant, 
Ignis, aquae, tellus, unus acervus erant. 


998 

Einen ſolchen vein philofophifhen Begriff des Chaos vorauszu- 
ſetzen, beftimmt mid) befonders auch die analoge Perfünlichfeit einer 
der griechiſchen nahverwandten Mythologie — id) bemerfe jedoch: das 
Chaos ſelbſt, das Homeros nicht kennt, ift Feine Verfönlichfeit und war 
auch von Hefiodos nicht fo gemeint — dagegen ift in einer andern 
GSötterlehre an den Anfang aller Entwicklung eine Geftalt gefett, welche 
mir ganz das Chaos zu vertreten fcheint. Ich meine den altitalifchen 
Janus, der, wenn nit dem Namen nad), was freilich nicht jedem 
jofort einleuchtet, ob ich gleich den Beweis davon führen werbe, aber 
doc dem Begriff nad) ganz mit dem Chaos übereinftimmt: eine Er- 
wähnung, die mir zugleidy Gelegenheit verfchafft, mid) darüber zu er- 
flären, daß in dieſer nun zu Ende gehenden Eutwidlung weder ber 
Mythologie der Etrusfer, noch der Lateiner, noch der Römer eine be- 
jondere Stelle angewiefen wird. In dieſer Beziehung will ich nur be- 
merken, daß ich nad) Unterfuchungen, an venen id) e8 nicht habe fehlen 
lafjen, ganz zu der Ueberzeugung anderer Forſcher gelangt bin, nad) 
weldyer die helleniſche Miythologie auf der einen, und die italifchen von 
der andern Seite, obwohl voneinander unabhängig, doch wahre Ieib- 
liche Schweftern find, nicht eigentlich verſchieden dem Ausgang nad) 
— 88 ıft in allen derfelbe Ausgang, vafjelbe Ende der Mythologie 
geſetzt —, jondern nur verfchieden durch Nebenbeftimmungen, und da— 
durch, daß einzelne Momente, die z. B. in der griechiſchen Mythologie 
untergeordnet find, in jenen mehr hervortreten. Dieſe italifchen Mytho— 
logien werben wir alſo bloß ſubſidiariſch brauchen, d. h. wir werden 
fie nur da citiven, wo fid) irgend eine unferer Behauptungen über die— 
jelbe dadurch erläutern oder befjer begründen läßt. Bei diefer Beichaf- 
fenheit der Sache würde eine befondere Entwidlung die ſer mythologi- 
hen Syſteme nur noch ein gelehrtes Interefje varbieten. Außerdem ift 
gerade in dieſen italifchen Neligionen noch fo manches dunfel und ftreitig, 
daß ih, um fie zum Gegenftand einer befonderen Entwicklung zu ma— 
hen, mehr Zeit, als mir zu Gebot fteht, in Anfprudy nehmen würde. 
Ich will bei diefer Gelegenheit erinnern, daß ic) aud) andere Gütter- 
lehren nicht in Betracht gezogen habe, befonders ſolche, die eigentlic) 


99 


nicht original und in der Geftalt wenigftens, in der fie zu uns gelangt 
find, unwiderſprechlich nur das Entftellte irgend eines Ursprünglichen 
find (nur die urfprünglihen Momente der mythologiſchen Bewegung 
gehören in unfere Entwidlung). Ferner auch ſolche konnte ich nicht be- 
achten, deren Entftehung wir außer Stand find gefchichtlich bis auf vie 
erften Anfänge zu verfolgen. Ich habe hiebei beſonders die altgerma- 
niſche ſowie die ffandinavifhe Mythologie im Auge. Die erfte müßten 
wir nicht bloß reftauriren, wie man ein Kunſtwerk reftaurirt, von 
dem einige Theile fehlen, fondern wir müßten fie aus wenigen Spu— 
ven beinahe ganz erichaffen; die ffandinavifche wird won ihren eifrigften 
Anhängern zwar aus Afien abgeleitet, fie geftehen aber dabei, daß 
ihre Borjtellungen fi dem Charakter des Nordens bequemt, d. h. daß 
jie ihre Urfprünglichkeit verloren habe (ſchon umter dem Einfluß des 
Chriftenthums). Auf ſolche bloß zufällig, nämlich durch Alteration irgend 
eines Urfprünglichen, entftandene Bildungen aber fünnen wir uns hier 
nicht einlaffen '. 

Was nun aber den altlateinifchen Janus betrifft, jo ift Diefer allerdings 
eine zu bedeutende Geſtalt und zu erklärend für den Begriff des Chaos jelbft, 
als daß wir ihn nicht bei Gelegenheit des legtern erwähnen und mit in une 
jere Entwidlung aufnehmen jollten. Nur wollen wir zuvor nod) etwas tiefer 
in. den beftimmten Begriff des Chaos eindringen; denn bi8 jett blieben wir 
nur im Allgemeinen; Janus aber ift eine beftimmte Geftaltung des Chaos. 

„Siehe zuerft”, jagt Hefiodos, d. h. vor allem ward „Chaos“. Die 
gemeine Borftellung des Chaos, wie ſchon bemerkt, nimmt es als rudis 
indigestaque moles, als eine Verwirrung materieller Elemente, da 
feine Geftalt möglich. Ich habe gezeigt, daß diefer Begriff wenigftens 
nicht griechiſch ift, nicht von den Griechen mit dem Wort verbunden 
worden. Wenn im Chaos eine Verwirrung gedacht wiirde, jo könnte 
es zunächft wenigftens nur eine Verwirrung immaterieller Potenzen 


' Zu bemerken wäre hier auch dev Gegenjaß des Germaniſchen und Slavi— 
ſchen. Die germaniſche Götterlehre, ſoweit von einer ſolchen im Allgemeinen 
die Rede ſeyn kann, hat ihr Vorbild in einer aſiatiſchen Mythologie, die ſlaviſche 
dagegen ſteht mit dem Buddismus im Zuſammenhang. 


600 

jeyn. Wenn wir num aber an ein früheres Beifpiel wieder erinnern, an 
den in feiner Wefentlichfeit, d. h. als bloßen Punkt, angefehenen Kreis, 
fo ift hier ein und derjelbe Punkt als Peripherie und als Durchmeffer 
und als Mittelpunkt zu erklären, d. h. er tft als nichts Davon insbe- 
fondere auszufprechen, wir wilfen nicht, als was won diefen insbejondere 
wir ihn beftimmen jollen, eigentlich alfo — wenn von Verwirrung bie 
Rede jeyn könnte — find wir verwirrt, indem wir etwas in Gedanfen 
unterfcheiden, was wir im Gegenftand nicht auseinander bringen fünnen, 
aber der Punkt felbft iſt darum nichts Verworrenes, Fein Chaos in 
jenem Sinn, wo man ein verworrened Aggregat darunter verfteht. Ganz 
richtig aber würden wir jagen: der Punft fey der Kreis in feinem 
Chaos, oder er ſey ver chaotisch angefehene Kreis. Auf gleiche Weife ift 
leicht einzufehen: in Gott ift a) das feyn Könnende feines Weſens, 
d. h. das, wodurch er ein anderer won fich jelbft, fich felbft ungleic) 
jeyn kann, b) das nothwendig ſich felbft Gleiche, und eben darum 
rein Seyende feines Weſens. Aber das fi) ungleich bloß ſeyn Kön— 
nende ift von dem nothwendig ſich jelbft Gleichen nicht zu unterfchei- 
den, und. eben darum find beide aud) von dem Dritten, dem imt fid)- 
ungleich-Seyn ſich gleich Bleibenden — dem was als ein anderes (als 
Objekt) Es ſelbſt (Subjekt) bleibt — dem Geift nicht zu unterfcheiden. 
Mithin fegen wir aud hier eine Dreiheit in unfern Gedanken, die im 
Gegenftand felbft nicht auseinander zu bringen ift; in Gott ift aber 
darum Fein Verworrenes; dennoch fönnen wir fagen, die drei Potenzen 
vor ihrem Auseinandertreten feyen für uns Chaos, d. h. fie find für 
ung ineinander und im Gegenftand nicht auseinander zu bringen. Das 
Chaos ift alfo 1) nad) feinem wahren Begriff nicht eine phyſiſche Ein- 
heit bloß materieller, fondern eine metaphyſiſche Einheit geiftiger Poten- 
zen, aber es ift 2) ebenfomwenig eine Einheit unbeftinmt oder unendlid) 
vieler Elemente (wie das materielle Chaos gewöhnlich auc gedacht wird), 
jondern es iſt die beftimmte Einheit einer ebenfalls beftimmten und ab- 
jolut gefchloffenen Zahl von Potenzen. 

Insbeſondere dieſe legte Beſtimmung nun ift die in der Geftalt 
des Janus hevvortretende, und es wäre demnad), wenn dieſer Aufere 


601 

Bezug zugleich als ein innerer, in der Sache gegründeter ſich erwiefe, 
die im Ganzen der griechiſchen parallele römische Mythologie wäre doch 
dadurd) zugleich als ein Fortſchritt bezeichnet, daß fie die Ureinheit nicht 
mehr bloß als Chaos, jondern zwar als Chaos, aber mit Unterfchei> 
dung ihrer Momente hätte. Janus aber wäre demgemäß wirklich der 
nur gleichſam perjonificirte, d. h. der völlig beftimmte Begriff des Chaos. 

Um dieß näher zu zeigen, bemerfe id) vorerft, daß, obgleich eine Statue 
des Janus erwähnt wird, hier nicht von dem Janus in ganzer Figur 
die Rede ift, fondern bloß von dem Januskopf, der ein Doppelgeficht 
ift, oder aus voneinander abgewendeten Gefichtern befteht. Der Janus— 
fopf wäre aljo zwar auch die Einheit, die im Chaos gemeint ift, aber 
die ſchon im Moment des Auseinandergehens, und demnach der Erfenn- 
barfeit, dargeftellte Einheit. Ich ſage alfo nicht: Janus ift das Chaos 
ſchlechthin, ſondern das ſchon erfennbare, im jeinen Begriff auseinander 
gehende, oder, was auf dafjelbe hinausläuft, er ift das im Auseinander- 
gehen begriffene Chaos. Die beiden voneinander abgewendeten Ge- 
jichter wären eben die einander urſprünglich zugewendeten PBotenzen, die 
jich zu einander wie + und — verhalten. Solange das, was Minus 
jeyn ſoll, reines Können ohne Eeyn, jolange dieß in feiner Negati- 
vität befteht, fett e8 das reine Plus, das reine Seyn, in dem ebenfo 
fein Können ift: e8 fett dieſes und zieht e8 an, ſich mit ihm gleichſam 
bevefend und nur Ein Wefen darftellend. Hier find beide Potenzen 
nad) innen gewandt, und daher nad aufen = 0 — Chaos. Hier tft 
die Einheit in fich jelbft vertieft, unerkennbar, gleichſam abgründlid,, 
wie das Chaos gedacht wird. Erhebt fid) aber das, was — ſeyn ſollte, 
zu +, fo zieht e8 das feiner Natur nad Pofitive (denn es ſelbſt iſt 
nicht das feiner Natur nach, fondern nur zufällig Pofitive) nicht mehr 
an, fondern ſtößt es zurüd. Beide wenden ſich voneinander ab und 
ftehen mit abgewendeten Gefichtern aneinander. Dieſes ift dann bie 
nad) außen geöffnete Einheit, wie fie im römiſchen Janus dargeftellt ift. 
Wenn aljo Ovidius in den Faſtis fogar vom Janus jagt: Tibi par 
nullum Graecia numen habet, fo iſt dieß richtig, wenn man unter 
numen ein perfönliches Weſen verfteht. Denn das Chaos ijt ned) 


602 





unperfönlich gedacht. Man führt zwar auch griehifche Münzen, meift von 
Tenedos, jedod), wie man verfichert, auch einige athenifche Münzen an, 
auf denen eine Art von Januskopf vorfommt; allein es ift zweifelhaft, 
ob der Doppelfopf jener Münzen gerade ein Januskopf ſey. Bei letz— 
teren find die beiden Gefichter männlich und bärtig; auf jenen ift das 
eine Geficht ein meibliches. Vielleicht ift alfo damit nichts angedeutet, 
als jene allgemeine, durch die griehifhe Mythologie im Ganzen hin- 
durchgehende Idee von der Verbindung der männlichen und weiblichen 
Urkraft. Zum Ueberfluß finden ſich auf eben dieſen Münzen zugleich 
die Zeichen von Sonne und Mond abgebildet, woraus man freilich 
nicht berechtigt iſt zu ſchließen, daß der Verfertiger dabei Sonne und 
Mond für etwas anderes oder Höheres als bloße Symbole der männ— 
lichen und weiblichen Urkraft gedacht habe. Man iſt alſo auf keinen 
Fall veranlaßt in dieſen Münzen einen Januskopf zu ſehen, ob es 
gleich möglich bleibt, daß man durch dieſe Nebeneinanderſtellung eines 
männlichen und eines weiblichen — voneinander abgewendeten — Ge— 
ſichts ebenfalls eine urſprüngliche Einheit ausdrücken wollte, die, als 
ſelbſt ungeſchlechtlich, ein Neutrum, wie Chaos, ſey, oder beide Ge— 
ſchlechter nur unausgeſprochener Weiſe (nur potentiell) in ſich enthalte, 
die erſt unterſchieden werden, wenn die Einheit auseinander gehe. Die 
mythologiſchen Urpotenzen B und A? erfcheinen ja auch in der Folge 
des Procefjes als männlih und meiblih. Indeß damit wären nur erft 
zwei Potenzen gegeben. Nun aber befindet fi) auf römischen Affen 
zwifchen beiden Köpfen ein Symbol, das offenbar Zeichen der dritten 
Potenz iſt. Diefes Symbol zwifchen den voneinander abgewendeten 
Köpfen ıft der wachfende Mond !, Die älteren Erklärungen dieſes Sym— 


' Diefes Symbol findet fi auf der in Millins Galerie Mytholog. enthal- 
tenen Abbildung. Darüber fagt Herr Prof. Gerhard in einem an mich geric)- 
teten Billet: „In dem Janus lunatus bei Millin (I, 5. 6) wird es ſchwer 
jeyn, Die offenbar ziemlich freie Zeichnung nach dem jet verſchwundenen 
Original de8 Museo Arigoni zu conftativen. Dagegen ſcheint ein anderes Exem— 
plar unzweifelhaft, welches in einem Heft des Tresor de Numismatique, pl.-I, 
Nro. 13, im mechanifch getreuer Zeichnung fich befindet, und im Xerte dieſes 
Werks p. 6, obs. 5 auch als Janus Lunus befprochen ift“. 


603 





bols beziehen e8 Darauf, daß Janus Epo0og ToV nevrög yoovov, 
Auffeher der gefanmten Zeit: Zeitgott fey; allein 1) ift nicht recht Har, 
wie man biefen Begriff eines die Zeit beherrfchenden Gottes durch einen 
zunehmenden Mond deutlich ausgedrüdt glauben Fonnte, 2) würde als— 
dann diefes Zeichen den Janus im Ganzen, oder e8 würde wieder den 
Begriff des ganzen Janus ausdrücken. Aber es ift viel wahrjcheinlicher, 
daß durch jenes Symbol, das auf römischen Affen vorkommt, wirklich 
ein Drittes, aljo ebenfalls nur eine Potenz bezeichnet werden foll; denn 
wo einmal zwei angedeutet find, ift es natürlich, daß ein hinzugefügtes 
Symbol nicht das Ganze, fondern ebenfalls ein Beftimmtes, alfo ein Drittes 
bedeute, Dazu kommt, daß man auf andern Affen ftatt des wachjenden 
Monds ein anderes Symbol findet, das Eckhel! felbft nicht genauer zu 
beftimmen wagt; er jagt nur: Protuberat quid flori, forte Loto si- 
mile; aud) ein in Graevii Thesaurus ? als Gott abgebildeter Janus 
trägt eine dreiblättrige Blume in der Hand; was e8 aber fey, fo ift 
wenigftens nicht zu verfennen, daß es ein in drei Spiten oder Blätter 
auslaufendes Symbol ift, wodurch e8 denn ebenfalls als Drittes, oder 
als höchſte, Die ganze Dreiheit zufammenfafjende Potenz bezeichnet ift. 
Wie fol aber der wachſende Mond die dritte Potenz bezeichnen ? 
Antwort. Der wachſende Mond ift zunächit nichts anderes als Sym- 
bol des Zufünftigen, und zwar des unfehlbar Künftigen, aljo des 
noch nicht Seyenden, aber jeyn Sollenden, die dritte Potenz ift aber 
an fid) die zufünftige und wird aud in den Miyfterienlehren immer 
als noch nicht feyend, fondern nur als fommend vworgeftellt (auf dem 
Haupt des Horos iſt ebenfalls der Halbmond). Eben damit, daß dieſes 
Dritte nody im Kommen gedacht ift, war aud) gegeben, es nicht als 
Perfon (dur ein Geficht) vorzuftellen, fondern bloß durch ein allge- 
meines Symbol anzudeuten, Und fo hätten wir denn in dem Januskopf 
das vollfommenfte Symbol der drei urfprünglichen Potenzen, die ſich 
nad) den früher erflärten Begriffen wie Seynfönnendes, Seynmüſſen 
des und Seynfollendes verhalten, das Symbol diefer Potenzen in ihrem 


‘ Doetr. Num. Vet. I, p. 5 und 215. 
2 Ant. Rom. VII. 


604 





Auseinandergehen, aber wie fie doch zugleich als unzertrennlich erjchei- 
nen. Damit alfo wäre ver höchfte Begriff, von dem wir in der Er- 
klärung der ganzen Mythologie ausgegangen find, in diefer jelbft bilvlic) 
nachgewiejen. Unfer Princip wäre als Ende der Mythologie gefunden. 

Mas ic) indeß bis jett über die Idee des Janus vorgetragen, 
betrachte ich bloß als Beweis, daß in der Geftalt des Janus die Ele: , 
mente einer folden höheren Deutung, als wir ihm geben wollen, vor: 
handen find, d. h. daß dieſe Deutung möglich ift. Aber Folgt nun 
daraus auch, daß fie nöthig ift? Wäre ver Vorzug, den man ihr 
gabe, nicht bloß die Folge einer einfeitigen Vorliebe für fogenannte 
höhere Erklärungen, während einfachere und dem gemeinen Berftand 
einleuchtendere ganz nah bei der Hand find? Wie nahe liegt e8 3. B. 
in dem Doppelgeficht des Janus Vergangenheit und Zufunft überhaupt 
zu jehen, und da die einander ablöfenden Zeiten, oder Zeitpertoden in 
einem jolchen Verhältniß ftehen, daß das Ende der einen der Anfang 
der andern, wie natürlid) wäre e8, den Anfang des Jahrs mit einem 
joldyen Doppeliymbol zu bezeichnen, von dem nachher auch der erfte 
Monat des Jahres feinen Namen erhielt! Wenn man alfo freilid) 
nichts wor ſich hätte als das Symbol jelbft, und fonft etwa höchſtens 
nod wüßte, daß dem Janus alle Thüren und Durchgänge geheiligt 
waren, jo fünnte man ſich begnügen zu fagen, das Bild des Janus 
werde überall da an feiner Stelle jeyn, wo zwei Zuftände fich trennen, 
wo ein Vorwärts und Rückwärts unterfchieden werden, furz, Janus 
jey eben nur Symbol der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zu— 
kunft überhaupt. Aber wen nun z. B. Macrobius bezeugt, daß 
in den älteften Saliarifchen Gedichten Janus als der Gott der Götter 
verherrlidt werde (Saliorum antiquissimis earminibus Deorum 
Deus canitur'), wenn eben derfelbe erwähnt, daß Janus in den Cho- 
viamben des Sulpitius prinecipium Deorum genannt werde, jo beweifen 
diefe Ausdrücke, daß Janus nicht zu den erft in Folge des mythologi- 
hen Proceffes entftandenen Göttern gezählt, ſondern vielmehr ala Duelle 
und als Einheit der ganzen Götterwelt betrachtet wurde. Dieß kann 

' Maer. Sat. Lib. I20,8. 


605 

er aber nur jeyn, wenn er die Einheit ver ven Proceß verurfachenden, 
alfo der formellen Götter ift. Deorum Deus und prineipium Deorum 
kann er nur beißen als Einheit jener Urpotenzen, durch deren Tren- 
nung erjt der theogenijche Proceß, d. h. durd) deren Trennung Götter 
überhaupt gejetgt werden. Eben dafür fpricht, daß auf den Janus dar- 
jtellenden Münzen außer anderen Attributen auch die jogenannten Dios— 
furenhüte angetroffen werben, won denen ich hier weiter nichts jagen 
fann, als daß fie Anzeigen, Symbole eben jener unauflöslich verket— 
teten Potenzen find, die von Griehen und Römern gleicherweife unter 
dem Namen Kabiren gefeiert, von den Etrusfern aber, wie Varro fagt, 
Dii consentes et complices genaunt wurden, weil fie nur zufammen 
entftehen und nur zufammen fterben Fünnen !. Dieje Zeichen deuten 
aljo darauf, daß der Janus eine unmittelbare Beziehung auf dieſe for- 
mellen Götter hat, und zwar fo, daß er der Gott diefer Götter ift, 
wie fie jelbft wieder Deorum Dü, in Bezug nämlich auf die erſt aus 
ihnen hervorgehenden materiellen Götter, genannt werden, woraus fid) 
denn die folgende auffteigende Neihe ergäbe. Zu unterft die bloß ge= 
wordenen und erzeugten Götter (die concreten, entjprecyend den Fürper- 
lichen Dingen der Natur, Erfeheinungen von B). Ueber ihnen die ver- 
urfachenden Götter, melde nicht erzeugt, jondern die erzeugenden, bie 
theogonifchen Mächte jelbft find. Dieſe ftehen joweit über jenen, als 
über den concreten Dingen der Natur jene Trias von Urſachen ſteht, 
durch deren Zuſammenwirkung nad) alter Lehre alles hervorgeht. Dieje 
Götter alfo, die fi) als reine Urfachen verhalten, ftehen nicht nur 
überhaupt über den gewordenen, fondern find als die gemeinfchaftlichen 
Urfachen oder Principien derfelben wieder die Götter diefer Götter. Bon 
biefen aber ift dann nod) ein weiterer Fortſchritt — nicht ein philofo- 
phifcher oder überhaupt wiffenfchaftlicher und fünftlicher, denn wir haben 
hier mit einem notwendigen, nad) inwohnendem Geſetz ſich ſelbſt fort- 
bildenden, bis in fein Ende gehenden Proceß zu thun —; über den 
Deorum Diis fteht nicht zufällig, fondern zufolge nothwendigen Fortgangs 

‘ Quia oriantur et occidant und, Varro (bei Arnob. adv. Gent. Lib, III, 
ce. 40 Or.) Bgl. die Gottheiten von Samothrafe, Anm, 115. 


606 
als Deorum Deus die Einheit, aus ver fie felbft Herworgetreten 
find. Einen anderen Sinn fonnte e8 nicht haben, wenn Janus 
von den älteften Zeiten als der Götter Gott gefeiert, wenn er princi- 
pium Deorum genannt war. ‚Als ſolches, als prineipium Deorum in 
diefem Sinn, ift Janus aud) dadurch anerfannt, daß in allen Opfern 
und Anrufungen, welchem Gott fie übrigens gelten mögen, feiner zu— 
erft gedacht wird. Invocatur primum, cum alicui deo res divina 
celebratur, jagt Maerobius', und Cicero?: Quumque in omnibus 
rebus vim haberent maximam prima et extrema, prineipem in 
sacrifieando Janum esse voluerunt. — Initiator ift ein gewöhnlicher 
Name des Janus. Man hat eine Schwierigkeit darin fuchen wollen, 
daß auf diefe Art im lateinischen und etrusfifchen Götterfyften zwei 
höchſte Götter angenommen werden, nämlid) Janus und Jupiter. Allein 
wenn Janus der Höchfte genannt wird, fo tft dieß in einem ganz andern 
Sinn, als in welchem Jupiter ebenfo genannt wird; denn diefer ift das 
Haupt nur der materiellen Götter. Webrigens wüßte id nicht, daß 
Janus der höchfte gerade genannt würde, wohl aber der erſte. Die 
Schwierigkeit entfteht aus der Verwechslung diefer beiden Begriffe. Ju— 
piter ift der höchfte in Bezug auf die materiellen Götter, nicht auf Ja— 
nus; er tft der höchſte, als der lette, in dem alle endigen. Varro 
jagt: Jovi praeponitur Janus, quia penes Janum sunt prima, pe- 
nes Jovem summa. (— Prima enim vineuntur a summis, quia licet 
prima praecedunt tempore, summa superant dignitate) ?. Hier 
werden alfo prima und summa deutlich unterfchieden. Janus iſt in- 
fofern nicht der höchfte, al8 der Begriff des Höchſten ein relativer 
ift, und der Höchſte andere, geringere außer ſich vorausſetzt. Janus ift 
aber der Gott, außer dem noch feiner gedacht wird, Er ift, wie ge 
jagt, die Ureinheit und Duelle aller Götter. | 

Nach allem viefem haben wir uns ſchwerlich geirrt, wenn wir ben 
Janus nicht unter die andern Götter, nicht auf gleiche Linie mit dieſen, 


‘ Macr. Sat. Lib. I, c. 9. 
* de Nat. Deorum II, 27. 
Vgl. Ueber die Gottheiten von Samothrafe, S. 104. 


607 
jondern an den Anfang des Götterfyftems und infoweit dem Chaos des 
Hefiodos parallel fegen. Dieß vorausgefegt, wird ſich alles Uebrige 
nun von jelbjt erklären. 

Hieher gehört vor allem jene religiöfe Sitte Noms, daß zu Zeiten 
des Kriegs die Pforten des Janus offen ftanden, im Frieden gefchloffen 
wurden. Man hat diefe religiöfe Sitte dadurch zu erflären gefucht, 
daß man annahın, jenes Heiligthum des Janus, das im Frieden ver- 
ſchloſſen wurde, ſey der Ueberreft des älteften, nach dem feindlichen Sa— 
binerland führenden Stadtthors von Nom geweſen, das bei der nach— 
berigen Erweiterung der Stadt bald in die Mitte derſelben zu liegen 
gefommen jey und dort bloß noch als Durdigang gedient habe; jene 
religiöfe Sitte alfo habe fid) von einer bei den älteften Kriegen gegen 
die Sabiner üblich gemwefenen Vorſichtsmaßregel hergefchrieben. Nun 
jind freilich in Kriegszeiten bei der Nähe des Feindes und des feindlichen 
Landes die Thore einer Stadt wichtige Voften; allein jever würde er- 
warten, daß fie bei Friedenszeiten offen, bei Kriegszeiten vielmehr 
gejchlojfen wären. In Nom hätte gerade das Gegentheil ftattgefunden. 
Wie hat man fi nun das zu erklären gefuht? Auch in neuerer Zeit 
nod hat Buttmann, der zulegt mit dem Janus ſich genau beichäftigt 
feine befjere Erklärung zu finden gewußt, als die ſchon Ovidius gege- 
ben: ut populo reditus pateant ad bella profecto; alſo man ließ 
das Thor zu SKriegszeiten offen, damit die gefchlagene Armee jchnell 
genug in die Stadt retiriren fünne. Eine ſolche Borforge für den Nüd- 
zug fieht mir aber jener mascula proles des Nomulus nicht jehr ähn- 
(ich; fie erinnert mid) an die Aeuferung, die idy während der Revo— 
lutionskriege von dem Dfficier einer gefchlagenen Armee hörte, weldyer 
meinte, wenn man gejchlagen fey, wiſſe man dody genau, wohn man 
zu gehen habe, nämlich nad Haufe; im Wall des Siegs aber, oder 
wenn man vorrüde, ſey alles viel unbeftimmter. Diefe Erklärung alfe 
bedarf wohl feiner Wiverlegung, und nachdem wir einmal Grund haben 
anzunehmen, daß Janus die höchſte Idee, nämlid) die der Ureinheit 
felbft ift, jo wird es uns auch nicht Schwer fallen, in jenem religiöfen 
Gebrauch Noms die höhere Beziehung als bloß auf gewöhnlichen Krieg 


608 
zu ſehen. Bedenken wir überdieß, welche tiefe fittliche und religiöfe 
Grundlage den erften politiihen Inftitutionen Noms von Anfang ge- 
geben feyn mußte, um die reißend ſchnell und unwiderſtehlich wachſende 
Größe dieſes Staates in der Folge feiner Gefchichte zu begreifen, fo 
werben wir um jo mehr uns geneigt fühlen, auch in Anfehung jenes 
Gebrauchs eine tiefere und zugleich veligiöfe Bedeutung worauszufegen. 

Solange nämlich jene Urpotenzen einander zu- und alfo überhaupt 
nad) innen gewendet find, jo lange erjcheint die Einheit nad) außen als 
Ruhe, tiefer Friede; ſowie ſich die Einheit öffnet, aufthut, d. h. ſowie 
eben jene Potenzen fid) nad) außen wenden und damit auseinander gehen, 
entjteht der Streit oder der Krieg. Wenn daher in Nom die offenfte- 
henden Pforten des Janus Krieg, die verfchloffenen Frieden bedeuten, 
jo fonnte dieß nur von einer Vorftellung herfommen, die nicht weit von 
dem fpäter Ausgefprochenen entfernt war, Krieg ſey der Vater aller 
Dinge (möhzuog andvrov nero), einer Lehre, die, wie manche 
der älteften fpeculativen Wahrheiten, auch eine vom mythologiſchen Stand— 
punft auf den wiffenfchaftlichen übergetragene Erkenntniß ſeyn mochte. 
Janus als die Einheit, die in fich vertieft nach außen Ruhe und Friebe, 
wenn. fie fi) aufjchließt, ebenfo Urfacdhe des Kriegs und jenes Kampfs 
ift, in welchen eigentlich die Fortdauer der Dinge allein begründet ift 
— Janus ift infofern auch die Einheit des Friedens und des Kriegs, 
Einheit der Einheit und des Gegenfages !, eine Idee, nicht zu hoch für 
jenen von Gejchichtichreibern offenbar, d. h. nad) pythagoreifchen Ideen 
gebildeten Numa Ponpilius, der zuerft den Janus zum Zeichen des 
Friedens geſchloſſen haben fol. 

Der gewöhnliche Ausdruck, mit welchen das Schließen des Janus 
erwahnt wird, ift: Janum Quirinum celusit; ‘aber eine befannte Stelle 
des Horaz heißt: vacuum duellis Janum Quirini clausit, und da hier 
janus als Appellativum gebraucht ift, und Durchgang bedeutet, fo er- 
heilt, daß Quirinus nur ein anderer Name des Gottes Janus war, 
will man nicht etwa aus dem Umſtande, daß Julius Cäſar einft feine 
Krieger im Unwillen und zur Schmad) Quirites anrebete, und aud) 


' Janus Clusivius und Janus Patuleius eing nach Macrob. Sat. I, 9. 


609 

jonft Quirites friedliche Bürger beventet, den Unterfchied herleiten, daß 
Quirinus ausſchließlich den Friedens-Janus, alfo den geſchloſſenen, be- 
deutet habe; jedenfalls begreift ſich Daraus die hohe Bedeutung des Qui— 
rinus im römiſchen Volksbewußtſeyn, in ihm war die höchſte Einheit 
des römiſchen Volks ſelbſt geſetzt, man begreift das Gefühl, mit welchem 
z. B. Horaz den Auguſtus auffordert: Laetus intersis populo Quirini. 

Befanntlic) wird der der Sichtbarkeit entrückte Romulus mit Quirinug 
iventificirt, in den er eigentlich zurückgeht. Anftatt alfo Quirinus, wie 
gewöhnlich, für den Namen des vergötterten Romulus anzufehen, wäre 
es richtiger, zu jagen, jener erſte König Roms ſey vielmehr der ent- 
götterte Quirinus, und es wäre dieß ein Beweis mehr, daß jener 
erjte König Roms ſammt dem Bruder Nemus und feinem Nachfolger 
(Numa), daß diefe jelbft nur mythologifche Potenzen find, die Urge- 
ſchichte Roms, anftatt aus urfprünglichen hiſtoriſch gemeinten Helden— 
liedern, wie ein berühmter und tiefer Forfcher angenommen bat, ge 
floffen zu feyn, vielmehr eine nur auf den hiſtoriſchen Stanppunft 
herabgejette höhere, nämlich göttliche oder mythologiſche Gefchichte ift, 
gleichwie, wenn einmal die höhere Bedeutung des Janus anerkannt ift, 
man fich leicht Kechnung machen kann, daß der Name Quirinus nicht 
bloß von dem jabinifchen curis (Spieß) herkommen wird, eine Etymo— 
logie, die übrigens lediglich auf der Auftorität fpäterer römischer Schrift- 
jteller beruht. Soll ich eine Vermuthung darüber äußern, Die ich hier 
freilich nicht weiter ausführen kann, fo fommt Quirinus von queo, 
quire, fo viel als posse. Die vorhin erwähnten Kabiren heißen bei den 
Römern Dii potes (von pos, potis, woher pos-sum, id) bin mächtig, 
bin im Stande). Sie heißen Dii potes nicht bloß wegen des allge» 
meinen Begriffs ihrer Macht, nicht ale Mächtige überhaupt (denn 
mächtig find am Ende alle Götter), fondern als Gottheiten, die reine 
Potenzen, lautere Urſachen und über die materiellen Götter erhaben 
find. Janus nun al8 die Ureinheit ift gleichfan auch die Potenz diefer 
Potenzen, das Centrum, in welchem fie ſelbſt noch bloß potentiell find 
— potentiell nämlich gegen den wirfenden Zuftand, im dem fie ſich nad 


der Zertrennung oder in der gegenfeitigen Spannung befinden. Quirinus 
Schelling, ſämmtl, Werke. 2. Abtb. I. 39 


610 
alſo wäre, als die Duelle diefer Potenzen, der in den alles Künnen 
ift, der ſelbſt urſprünglich Könnende — der Urvermögende, penes quem 
oder in cujus potestate omnia sunt. 

Ich betrachte es infofern als eine nicht eben lächerliche Bermuthung 
des vorhin erwähnten Forſchers, wenn er als den lateinifchen aber ge— 
heim gehaltenen Namen Roms, von dem Macrobiug ſpricht, den Namen 
Quirium vermuthet, wenn ev dieſen aud) etwa anders erklärt. Dieſe Ver— 
muthung ift mir um jo mwahrfcheinlicher, ald Quirium in der That nur 
gewiffermafßen der lateinische Name wäre für den griedhiichen "Poun, 
das ja auch Stärfe, Kraft, Vermögen, potentia, bedeutet. Sollte man 
diefe Ableitung von quire, jo viel als posse, aus welchen Grunde 
immer widerlegen fönnen, jo würde ich dann feinen Anftand nehmen 
zu erklären, daß Quirinus bloß eine weiche Ausſprache (oder eine eben- 
falls durch Analogien zu unterftügende Zufammenziehung) von Cabirinus 
ift, und fo würde er dod) als Duelle und Mittelpunkt der Kabiven, 
jener Urpotenzen, jener alles verurfachenden, erjcheinen. Im Reſultat 
füme dafjelbe heraus, Die verfchiedene Quantität der erften Sylbe in 
quire und in Quirinus oder der zweiten in Cabirinus würde ich als 
feinen Gegenbeweis anjehen; es gibt Beifpiele genug, und wir werden 
in der Folge felbft einige finden, wo die Quantität der Urfylben in 
nominibus proprüs fid) ändert. Indeß dieß find Nebenfachen. Unfer 
Hauptjaß ift, daß Janus eine dem griechiſchen Chaos parallele Geftalt, 
aljo wirklich) die Urpotenz aller Viythologie ift. Für dieſe Behaup- 
tung führe ich) als ganz entjcheidenden Beweis den Vers des Dvidius 
an, den er dem Janus in den Mund legt, und wo diefer mit Haren 
Worten fagt: 

Me chaos antiqui (nam sum res prisca) vocabant. 
Chaos nannten mich, denn uralt bin ich ſelber, die Alten '. 


Aus dem Kopfe des Doidius ift dieß gewiß nicht gefommen; fein Ges 

jang vom Yanus im Anfang der Faften enthält, wie wir bereis an 

einen Beiſpiele gezeigt, fonft meift nur geringe Anfichten,; e8 war aljo 

wohl eine zu Dvivins Zeit vorhandene und gangbare Ueberlieferung, 
ı Fast. I, 103, 


Janus ſey — was in mod, älterer oder ältefter Zeit, bei den Grie- 
hen nämlich, das Chaos geweſen. Man fann dieß nicht auf die von 
einigen beliebte, aber in der That flache Weife erklären: beide werden 
nur verglichen, weil das Chaos bei den Griechen der Anfang gemefen, 
und in der römischen Mythologie Janus ebenfo der alles Anfangende 
und Eröffnende ſey. Der Vergleichungspunkt lag tiefer, und er lag 
ſogar ſchon im Namen, der nun vollends entſcheidet. Chaos kommt, 
wie gejagt, von dem Grundwort yo, und dieß bedeutet offenſtehen in 
dem Sinn, wie ein Abgrund oder wie eine alles verjchlingende Tiefe 
als offenftehend gedacht wird. Woher fommt nun wohl Janus? Cicero 
will, e8 fomme von eo, Janus ſey ftatt Eanus!. Man geht freilich 
auch durch ein Thor oder einen Durchgang, aber man geht ebenſowohl 
einen Weg, wo fein jelcher ift; warum auch wäre aus Eanus Janus 
geworden? Nun gibt e8 zwar fein Verbum io, wohl aber ein Berbum 
hio, und viefes lateinifche Wort fagt ganz dafjelbe, was das griechifche 
zc0, xalvo, offenftehen, und Janus over Tanus wäre ftatt Hianus. 
Eine jo naheltegende, fcheinbar jo wenig gelehrte Ableitung dürfte ſich 
vielleicht faun hervorwagen, hätte nicht aud) fie an einem Schriftiteller 
des Alterthums ſelbſt einen Rückenhalt. Ich mill meinen Vorgängern 
feinen Vorwurf daraus machen, daß fie diefe Ableitung bei Feftus über- 
jehen zu haben fcheinen; bin ich doc ſelbſt unabhängig von ihm auf 
diefelbe geführt worden durd) die bloße Nothwendigkeit ver Begriffe, und 
entdeckte erft fräter, daß fie bei dem erwähnten Schriftfteller chen zu 
finden ift, nicht unter „Janus“ felbft, fonvern da, wo er das Wort 
Chaos erklärt. Diefe Erflärung lautet bei Feſtus? jo: Chaos appellat 
Hesiodus confusam quandam ab initio unitatem. (Confusa ift frei- 
lich nach früheren Bemerkungen nicht das vechte Wort, aber der Zufak 
ab initio zeigt, daß das Chaos wenigſtens nicht als eine ſecundäre, 
durch Mifchung oder Verwirrung ſchon vorhandener und außereinander 
befindlicher Elemente entftandene, fondern eine urſprüngliche, primitive 
Einheit if. Ich erlaube mir noch auf das Wort unitatem aufmerkſam 


' De Nat. D. II, 77. 
? De significatione verborum, p. 52, ed. C. O. Müller. 


612 


zu machen, welches zeigt, daß nicht etwa eine neuere philoſophiſche Idee 
in das Chaos hineingetragen worden tft, wenn e8 als Ureinheit beftimmt 
worden, da man dem Feſtus gewiß nicht vorwerfen kann, von ber 
neueren Philoſophie gewußt oder gar ihr gehuldigt zu. haben). Die ganze 
Stelle in ununterbrochenem Zufammenhang alfo lautet jo: Chaos ap- 
pellat Hesiodus confusam quandam ab initio unitatem hiantem 
patentemque in profundum, ex eo et yalvsın Graeci, et nos 
hiare dieimus. Unde lanus detracta aspiratione nominatur ideo, 
quod fuerit omnium primus, cui primo supplicabant velut parenti, 
et a quo rerum omnium factum putabant initium. — Wenn nım 
nad) Beibringung diefer Stelle die vorgetragene Erflärung des Namens 
nicht nur, ſondern auch des Janus ſelbſt als dem Chaos paralleler 
Geftalt für bewiefen anzunehmen feyn möchte, jo glaube ich bemerfen 
zu müfjen, daß doch auch Buttmann nad) den Prädicaten, die dieſem 
Gott überall beigelegt werben, nad) der allgemeinen und hohen Stellung, 
die ihm bet allen Anrufungen, Opfern, jelbft bei Unternehmungen ge- 
geben wird, es uuthunlic fand, den Janus für einen bloßen Gott der 
Thüren und Thore zu halten. Er meint daher, Janus je allerdings 
ein uralter Hauptgett der Nation, der eine größere Sphäre von Gött- 
lichkeit gehabt haben müfje, und da gebe ver Name Diana, der, offen— 
bar aus diva oder dia Jana zufammengezogen, eine Jana vorausſetze, 
einen hinlänglicyen Wink, denn Diana ſey ja unftreitig die Luna, was 
fünne aljo Janus anders ſeyn, als Sol, die Sonne? — Was nun 
den Namen Diana betrifft, jo würde id), vorausgefett, daß es mit der 
Herkunft von Janus feine Nichtigfeit hätte, wogegen id) jedoch einigen 
Zweifel hege, in dem Di vielmehr die dirimirende lateinische Partikel 
jehben, und Diana als die Urheberin der Zweiheit, als die den Janus 
zertrennende erflären, denn dem ſchon auseinander gehenden, fichtbaren 
und bildlichen Janus liegt der unſichtbare, noch in ſich verjchlungene zu 
Grunde Nicht unmahrfcheinlich eben wäre viefe Erklärung; denn als 
erjte Urheberin der Zmeiheit oder der Spannung gilt diefe Gottheit 
wohl aud ſonſt; dahin deutet felbft ihr Attribut, denn eines ber 
Bilder, unter welchen die durch abwechfelnde Spannung und Abjpannung 


613 


hervorgerufene Weltharmonie am häufigften vorgeftellt wurde, mar 
das Bild des Bogens, Auög, weldes um fo bereitwilliger dazu diente, 
als es von Pros, Leben, nur durch den Accent verfchteden ift. Diana 
wäre demnach die Bogenfrohe; als das erfte Spannende des Bogens, 
der immer wieder geſpanut werden muß, ſoll das Leben nicht in das Nichts 
zurückkehren. Dagegen iſt ihr Zuſammenhang mit dem Mond jedenfalls 
fein primitiver, ſondern nur ein abgeleiteter, und es ift mohl überhaupt 
unjern Anfichten nicht mehr gegeben, den ganzen Reichthum der Mytho- 
logie einförmig auf Sonne und Mond zurüdzuführen, wie nad) Butt- 
mann aud Jupiter und Juno urfprünglich nichts anderes als Himmel 
und Erde ſeyn jollen: erſt jpäter, als der Begriff der Gottheit fich 
würbiger geftaltet, haben aud) Janus und Jana, Juppiter und Juno 
eine geiftigere Bedeutung angenommen und fid) von jenen zwei großen 
Vetifchen getrennt; denn aud hierin, daß er die Bezeichnung von 
Fetiſchen, welche nur für einen fpäteren beſchränkten und höchft unterge- 
orbneten Moment der Mythologie paffend ift, auf die beiden großen 
Lichter, Die Hauptgegenftände der urjprünglichen Berehrung, überträgt, 
hat fi) Buttmann gegen die wenig begründeten Anfichten feiner Vor- 
gänger allzu nachgiebig erwiefen. Aber woher nun der Name fir den 
auf ſolche Weife allerdings höher geftellten Gott? Nun — fehr einfadh: 
ohngefähr wie das lateinifche jugum auf das griechiſche Suyov, fo weist 
Janus auf das altvorifche Zev, Jana auf Zevo zurid, welches 
angeblid) Hera bedeutet hat. Aber — jo muß nun weiter gefragt wer: 
den — wie ift, dieß worausgefeßt, der hohe Gott des Himmels zu jenem 
faft bloß noch häuslichen Gefchäft eines Aus- und Eingang, Thor und 
Thüre behütenden Gottes herabgefommen? Ganz einfach, meint Butt- 
mann: in Folge einer faljhen Etymologie. Die Römer nämlid haben 
ven Namen mit ven zufällig gleichlautenden lateinischen Wörtern Janus 
(Durchgang) und janua (Thüre) in Verbindung gebracht, und jo if 
Janus ohngefähr ebenfo zum Gott der Thüren geworden, wie, nad) 
einer Bemerfung des Cornelius Agrippa von Nettesheim, der heil. 
Balentin von den Deutfchen gegen die fallende Sudt oder von den 
Franzofen ver heil. Eutropius (St. Eutrope) gegen die Waſſerſucht 


angerufen wirt. Buttmann leitet das Appellativum janus wie janua 
von eo ab, Wäre e8 nicht natürlicher, diefe beiden Wörter ebenfo wie 
den Namen des Gottes von hio, offenftehen, abzuleiten, aber wäre es 
nicht auch ohne tiefe Identität dev Ableitung begreiflih), daß man das 
Bild des Gottes bei Durchgängen, d. h. öffentlichen Pforten, aufftellte, 
denn er ſelbſt ift ja die urfprünglich verfchloffene, tu der Folge aufge- 
hende Pforte zu allem Seyn? Uebrigens ftanden befanntlich die Pforten 
des römischen Janustempels von Numa bis auf das Ende des erften 
punifchen Kriegs und von da bis auf Auguſtus offen, der, wie Creuzer 
fagt, gern einem Theil feiner Regierungszeit diefe Außenfeite der ideali— 
ichen Zeit des Numa geben wollte und feinen Römern nicht weniger als 
preimal während feiner Negierung das Vergnügen jenes uralten, hoch— 
heiligen und faft beijpiello8 geworbenen religiöfen Gebrauchs machen 
fonnte, die Januspforten zu jchließen. 

Ich bemerfe noch Fürzlih), daß das Wort, welches im Deutjchen 
dent Griechiſchen zw und zarvo entſpricht, von Dichtern ja aud) 
gebraucht wird, um von einem gähmenden, nad) anderer Ausſprache 
einem jähnenten Abgrund zu fprechen, oder zu jagen, die Tiefe gähnte 
ung an. Endlich möchte ich noch an die Stelle des ‚Seneca in der 
Tragödie Herfules auf Deta erinnern, wo- dem Chor als orphiſche 
Weisheit die Lehre von dem allgemeinen Untergang, aud) dem ver 
Götter, in den Mund gelegt wird; 

Coeli regia concidens 

Ortus atque obitus trahet, 

Atque omnes pariter Deos 

Perdet mors aliqua et Chaos: 
die himmlische Burg zufammenftürzend wird allem Entftehen und Ver— 
gehen ein Ende machen, und alle Götter wird gleicherweife ein Tod 
verderben und das Chaos. Ein Tod, mors aliqua , jagt der Dichter, dem 
die Götter fterben nicht den allgemeinen Tod, jondern einen befonderen Top. 
Ihr Tod ift der Rüdzug in das Chaos. So demmad) wird das Chaos 
ebenfo das Ende der Götter, wie e8 bei Hefiodos ihr Anfang war. 


Siebenundzwanzigfte Vorlefung. 


Daß der Begriff des Chaos in der griechiſchen Theogonie ſich von 
dem erjten Urfprung der griechiſchen Mythologie herichreibe, dieß habe 
ich früher bereitS bei Gelegenheit der Hermannfchen Theorie als undenf- 
bar nachgewieſen“. Diefer Begriff am Anfang der Theogonie dient zum 
Beweis, daß dieſe felbft Schon das Werf der ſich felbft zu begreifen, zu 
faffen, fi auseinander zu fegen und zur erflären ftrebenvden Mythologie 
iſt. Don dem Chaos, das noch über aller Mythologie Liegt, geht He— 

fiodos nun zu der exften Geftalt mit einem bloßen auvrao EIneıra 
über. Natürlich tritt hier Die ältefte Vergangenheit der Mythologie ein, 
die als Himmelsverehrung nur materieller Zabismus ſeyn kann. Denn 
er kann den Zabismus nur als Vergangenheit aufnehmen. Zuerſt, fagt 
er, ward das Chaos, aber nachher die breit« oder weitbrüftige Erde — 
yala £V0boTEovog, die er den ewig feften, bleibenden Sit aller Un- 
fterblihen, d. h. das erfte das — feiner Natur nad) — Setzende aller 
Götter nennt, und damit als den theogoniſchen Grund bezeichnet. Es 
prängen ſich hier verſchiedene Bemerfungen auf, die ich nacheinander 
vortragen will. | 

Erftens fällt auf, daß das erfte aus dem Chaos, dem Neutralen, 
Ungeſchlechtigen Hervortretende ein weibliches Princip, yare, ift. 
Zur Erflärung davon dient Folgendes. Durch die ganze Theogonie 
verhält ſich das Bewußtſeyn des Gottes zu dem Gott jelbft als Weib- 
liches zu Männlichem. Das Bewußtſeyn, als das Setzende des Gottes, 

S. Einl. in die Philoſophie der Mythologie, S. 45. 


616 


behauptet infofern die Priorität vor diefem; da e8 aber doch nur ift, 
um das Seßende des Gottes zu ſeyn, jo ift Dadurch feine Stellung zu 
dem Gott zugleich eine untergeorpnete. Die Priorität bringt nicht Su: 
periorität mit fih. Beides, die Priorität vor dem Gott und dann doch 
wieder das ihm-⸗untergeordnet-Seyn konnte nicht anders ausgedrückt werden 
als dadurch, daß es als weibliches, den Gott gebärendes Princip gefett 
wurde. Dieß ift nicht ein Fünftlicher, vielmehr nur der natürliche Aus- 
drud des objektiven, des wirklichen Verhältniſſes. So viel über das 
Vorausgehen des weiblichen Princiys, ein Borausgehen, das nur ftatt- 
findet, um den Gott zu fegen. 

Zweitens: Wie die yaia aus dem Chaos hervorfommt, ift 
nicht gejagt; jo viel ift klar, daß tas Chaos fie nicht erzeugt. Doch liegt 
in dem Epitheton EVEVSEEVog eine Andeutung. Das weit-Werven, das 
in diefem Epitheton liegt, deutet auf ein früheres enge, oder in ber 
Enge Geweſenſeyn. Die Gaia ift an fi) das reale Prineip, das 
Gott ſetzende. Solang das Prineip in diefem Verhältniß des feldft nicht 
Seyenden, nur Gott Setenden bleibt, ift nichts al8 Chaos; ſowie es 
fi in das Seyn erhebt — im diefer Erhebuug eben liegt der Anfang 
des ganzen Procefjes, die erfte Spannung — fowie ed fid) in Das 
Seyn erhebt und doch dabei eodem loco feyn will, wo e8 zuvor war, 
im Innern, ift e8 in der Enge und Angft. Um fi) aus der Enge zu 
jegen, muß es heranstreten — fid) materialifiven. Diefes Erfte, zuvor 
Innere, nun euere, ift YEa (y7), yala, vom Verbum yo, 
welches auch durch 20060, Platz, Raum machen, weichen, nachgeben, 
erklärt wird. Das aus dem Centro gewichene und dadurch ſelbſt peri— 
pheriſch, weit gewordene reale Princip iſt die yaz EVoVgeovog, Wie 
im Griechiſchen vom Weitwerden, Raumgeben (locum dare), jo hat in 
andern Sprachen, z. B. in den jemitifchen, die Erde von der Erniebri- 
gung den Namen; fie heißt eigentlicy die erniedrigte. Beides ift Eins. 
Da aber eben dieſes reale, dem Bewußtjeyn zur YEw gewordene Prin- 
cip der Grund alles Gott-Setens ift, jo wird e8 im eben diefem Weit- 
werben zum feften Sit (d. h. zum real Seßenden) aller Götter ', zum 


' aavrov Ebog aopa)is alei ayavaray. Theog. v, 117. 


617 

theogonifchen Grund. Die Gaia oder das materialifirte Urprineip des 
Bewußtſeyns hat auch bei Hefiodos Feine andere Funktion, als zu- 
nächſt den ihr gleichen Gott zu gebären, den Gott, der fie ringsum 
bedecke, den fternetragenden Himmel!. Unftreitig ift hiemit der Zabismug 
der UÜrzeit aufgenommen, und höchſt merfwürbig ift e8 zu fehen, wie 
beftimmt das Unmpthologifche des Zabismus von dem Mythologiſchen 
der folgenden Zeit unterfchieden wird. Die Gaia fett oder gebiert nod) 
für fih — ohne Gemahl — den Uranos, damit er fie, wie e8 heift, 
ringsum bedefe, umfchliege, wodurch fie eben felbft wieder tas Um: 
ſchloſſene, und nun im Aeußern wieder ebenſo das Innere iſt, wie ſie 
es zuvor im Innern war. Wer aber ſieht hier nicht einen Proceß, 
und zwar einen Proceß der universio? 

Ebenſo ohne Gemahl, oder, wie die Theogonie (v. 132) ſelbſt es 
ausdrückt, Ereo Yihörntog Epıudoov, ohne erfreuliche Liebe, erzeugt 
fie dann, oder ſetzt fie die großen Berge (oVosz uwxod), das un- 
fruchtbare Weltmeer und den Pontos, d. h. lauter reale Gegenſtände. 
Eigentlich mythologiſche Götter entjtehen erft durch die Verbindung ver 
Gen mit dem felbjt erzeugten Gemahl (Uranos); denn unter allen 
ihren Erzeugnifjen ift ver fternetragende Himmel allein 2006 &avrn. 
Hier ift alfo fchon der Grund zum Miüythologifchen gelegt. Aber 
— und dieß ift wieder höchft merfwürdig — die Kinder, die fie mit 
dem Uranos erzeugt, und die nun nicht mehr bloße Naturgegen- 
ftände, ſondern bereits mythologiſche, geiftige Götter find, dieſe Kin— 
der werben gleihwohl, wie wir bald näher fehen werben, nur ers 
zeugt, um im Berborgenen zu bleiben, nicht um hevvorzutreten. Die 
erfte Periode der Iheogonie beſchränkt ſich infofern doch eigentlid nur 
auf den materiellen Zabismus. Was darüber hinausgeht, iſt nur als zus 
fünftig geſetzt. Die höheren, geiftigen Götter zeigen ſich nur fo, wie fid) das 
Zufünftige ſtets in der Gegenwart zeigt, fie zeigen ſich aber als ſolche, 
denen erft fünftig beſtimmt ift wirklich zu feyn. Dem Uranos, d.b. 
eben der materielle Zabismus, hält die geiftigen Götter noch verſchloſſen, 

' Tata Ö# roı apWrov uiv Eyeivaro ldov davri) 
Oloavov aorepoev#, iva uv mepi advra nakuney. v. 126. 127. 


618 

Das erſte Geſchlecht diefer Gaia- und Uranosfinder find die Ti- 
tanen. Wenn man zuerft die Namen diefer Titanen einzeln betrachtet, 
jo zeigt ſchon der unter venfelben fich findende Name ’Rxervös im 
Vergleich mit dem vorhergegangenen PleAyog und Ilövrog (melde 
die Gäa für fi) ohne Antheil des Uranos erzeugt hat), ſchon dieß zeigt, 
daß die bloß realen Potenzen der erſten Zeit, Die von Gäa für ſich er- 
zeugt find und dem bloß materiellen Zabismus angehören, in viefer 
zweiten Folge bereits zu mythologiſchen Perſönlichkeiten erhoben find. 
Die Titanen find nicht mehr Sterne, noch Sternbilder, überhaupt nicht 
mehr wirkliche Gegenftände, fondern im Verhältniß zu dieſen bereits 
geiftige Götter. Wenn man befonders Hermanns in grammatifcher 
Hinficht unvermwerflihe Erklärungen annimmt, find die Namen der Ti- 
tanen nicht ſowohl die Sterne jelbft, als die in der Bewegung derfelben 
waltenden und gleichjam miteinander vingenden Kräfte — Hhperion und 
Japetos '—. Inwiefern aber die Titanen erft mit Kronos aus der Verbor- 
genheit hervortreten, inwiefern fie alfo in der erften Zeit eigentlich nicht 
wirklich find, fo gibt e8 in der Theogonie nur die drei Zeiten a) Ura- 
nos Zeit, die Zeit der bloß realen Potenz; b) die Zeit der iveal-realen, 
die mit Krones erft ans Licht kommende Zeit der Titanen, in denen 
das reale, alſo wilde, heftige Prineip, wiewohl ſchon ins Geiftige er- 
hoben, doch nody immer unüberwunden fortdauert; wer weiß, was bie 
Alten unter dem Titanifhen der Seele verftehen, dem Plutarch als 
gleichbedeutend das Leidenſchaftliche — Unvernünftige — das aufer fid) 
Gefegte (TO Euminatov) beifügt, wird für jene Behauptung kei— 
nen weiteren Beweis verlangen; ec) die Zeit der vollfonımenen idealen 
oder der Zeusgötter. Was den Gefammtnamen der Titanen betrifft, 
jo ſcheint mir über deſſen Bedeutung fein Zweifel feyn zu fünnen. Die 
Ableitung von reivo, tıralvo, fpannen, hat die unwiderſprechliche 
Auftorität des Hefiodos felbft für ſich. Zwar bezieht Heſiodos den 
Namen auf das Ausftrefen der Hand zur Entmannung des Uranos 
einer That, der fich jedoch nur einer der Uranosfühne, der jüngfte, 
Kronos, vermeffen hat. Wir nehmen aber won Hefiodos nichts an ale 

Bgl. Einl, in die Philofophie der Mythologie, S. 39. 


die Etymologie jelbft, daß nämlich die Titanen vom Ausftreden, Span: 
en jo genannt find. Die verfchiedene Quantität der erften Sylbe in 
tıraivo, wo fie kurz, und in zırav, wo ſie lang iſt, würde keinen 
Einwurf dagegen bilden. Das Verbum rıraivo wird in allen den— 
jenigen eigentlichen und uneigentlichen Bedeutungen gebraucht, in melden 
auch das Wort Spannung gebraucht wird, und wir hätten bier unfer 
oft gebrauchtes Wort in der Mythologie felbft gefunden. In den Ti- 
tanen herrſcht no die Spannung des realen Princips gegen das ivenle 
vor, die Zurgefcenz des realen Principe. Denn jedes Hervorftreben, 
jedes Hervortreten eines erjt verborgenen (latenten), jedes wirfend-Werden 
eines zuvor Nichtwirfenden erfcheint in der Natur als Turgefcenz. Ganz 
natürlic) alfo war es, aud) die Titanen, in welchen jenes aus der Un 
jichtbarfeit hervorgetretene reale Princip noch immer gefpannt blieb, mit 
tiefem Namen zu bezeichnen. 

Das erſte Gefchleht alfo der Gäa- und Uranosfinder find die 
Titanen. Diefe aber, die ſchon nicht mehr reelle Gegenftände, jondern 
ideale Wejen find, gehören eigentlid) einer fpäteren Zeit au, Sie find 
in der Zeit des materiellen Zabismus nur erft potentiell vorhanden. 
Dieß wird dadurch ausgedrüdt, daß fie Uranos verichloffen halt und 
nicht ans Licht treten läßt. Ein zweites Gefchleht der Gäa- und Ura- 
nosfinder find die Kyflopen, Vorboten einer nod) jpäteren Zeit. Denn 
während die Titanen ſchon in dem nädhftfolgenden Reich des Kronos von 
diefem gelöst, befreit werden, ift es erft Zeus, der die Kyflopen befreit, 
und eben dafjelbe gilt von den hundertarmigen Rieſen!. 

Daß erft Zeus die Kyklopen und die ihnen verwandten Giganten be- 
freit, ift ein Beweis, daß fie in der Uranoszeit Vorboten der Zeusherrſchaft 
find, wie die Titanen Vorboten der Kronosherrichaft. Beide find alſo Prä⸗ 
formationen für eine ſpätere Zeit, aber der Unförmlichkeit jener erſten 
Zeit angemeſſene; daher es auch natürlich iſt, daß ſie in der Zeit, in 
welcher ſie wirklich ans Licht kommen, doch nur untergeordnete Geſchäfte 
ausüben. Die Kyklopen find Mitſtreiter des Zeus gegen die Titanen; 
die hundertarmigen Niefen aber, Briareus, Kottos und Gyges, werben 

' "Theog. 501 ff. 617 fi. 


620 
gebraucht, um die von Zeus in den Tartaros geftürzten Titanen zu 
bewahren, 

Was alfo diefe gemeinfchaftlichen Kinder des Uranos und der Gäu 
betrifft, jo muß man ſich nicht, wie e8 in den gewöhnlichen Erklärungen 
geſchieht (vgl. Kanne) täufchen laſſen, als wären fie ſchon wirklich vor— 
handene. Die Stelle der Theogonie über dieſen Punkt iſt ganz deutlich: 
"0000: yao Tains te xch Ovouvov Eey&vovro (V. 154) — ſo 
viel ihrer von Uranos und Gäa geboren wurden, alfo ohne Ausnahme, 
wird gefagt — ogpersom Ö’nxYovro Toxni, waren ihrem Er— 
zeuger auffägig, und zwar heißt es nicht: fie waren ihm aufjäßig wegen 
deſſen, was er an ihnen verübte, fondern 2& 20x75, von Anfang an, 
alfo ihrer Natur nah, und nicht weil er fie einfchloß haften fie ihn, 
fondern umgekehrt, weil ſie ihm entgegen waren, ſchloß er fie ein. Sie 
waren ihm entgegen, ihm abhold eben als Potenzen einer ſpäteren Zeit, 
weil in ihnen ſchon das Princip Ing, welches einft die Gewalt Des 
Uranos brechen, zerftören follte, 

Nun, nachdem er den Grund angegeben, fährt Heſiodos fort zu 
erzählen: Bon diefen alfo, fowie ein jeder geboren wurde, verbarg fie 
der Vater und ließ fie nicht ans Licht heraus — Tdvraug ENOXOUN- 
TUOHE x 85 PAog 0Ux avleore, ex behielt oder verſchloß fie, 
yalns Ev nevduovı, in der Tiefe der Erde, d. h. alfo noch waren 
fie in der Tiefe des den Uranos unterworfenen Bewußtſeyns verborgen. 
Dbwohl es daher fcheinen kann, als wären in jener erften Zeit aud) 
ſchon geiftige Götter geſetzt, jo find fie Doch bloß potentiell vorhanden. 
Die wirklich eriftirenden Wefen jener erften Zeit find nur der Himmel 
nit den Sternen, die großen Berge, das unfruchtbare Meer, kurz bloße 
Naturgegenftande. Heſiodos hat alfo, ob er gleich die ſpäteren mytho— 
logiſchen Potenzen potentiell oder als zukünftige ſchon jett vorhanden ſeyn 
läßt, dennod die erfte Zeit, als die an ſich noch unmythologiſche, ſehr 
beftimmt charakteriſirt, und ebenfo läßt die Theogonie den Webergang 
von der unmpthologifhen zur mythologiſchen Zeit genau fo gefchehen 
oder erfolgen, wie wir ihn in der allgemeinen mythologiſchen Bewegung 
erfolgen fahen. Che ich jedoch zu dieſem Punkt fortgehe, will ich 


bemerken, daß ich bloß den Hauptfaden der eigentlichen Göttergefchichte 
in ber Theogonie verfolge, die zahlreichen Zwifchenzeugungen aber, als 
zu unjerem Vorſatz (denn nur das Allgemeine in der griechiſchen My— 
thologie iſt unſere Aufgabe) nicht gehörig, übergehe. 

Auf das Chaos zurückgehend, muß ich bemerken, daß Heſiodos auch 
aus dem Chaos eine Anzahl Weſen hervorgehen läßt, indem er ſagt: 
„Aus dem Chaos wurden Erebos und die ſchwarze Nyr Nacht)“. Dieſen 
Zuſammenhang kann man ſich ſo denken. Das Abſolute an ſich, noch 
ohne alle Beziehung auf den in ihm verborgenen, aber noch ganz unauf— 
geſchloſſenen Gegenſatz betrachtet, iſt = Ackoc. Daſſelbe Abſolute kann 
aber auch in Beziehung auf dieſen Gegenſatz, doch kann es alsdann 
nur als Negation, als bloßes nicht Seyn deſſelben gedacht werden. 
Dieſem mehr negativen Begriff entſpricht DosJ06, das man allerdings 
mit Hermann als das Bededende erklären kann. Erebos ift das ven 
Gegenſatz noch bedeckende, verhüllende Abfolute, dent dann im Bemwuft- 
jeyn, alſo als Weibliches, ebenfalls etwas Negatives entiprechen kann, 
was den Gegenſatz nicht verneint, fondern ihn nicht jehen läßt. Dieß 
ift die Vo. 

In diefer erjten Dunkelheit oder Nichtunterfcheivung des Bewußt— 
ſeyns find nun aber ſchon enthalten die Kinder, die in der Folge aus 
ihr hervortreten, Movog, das Geſchick oder der Urzufall, Mowog, das 
Prineip aller Ironie, das Wehe (nicht gemeines Wehe, jondern jenes 
große Wehe, das über die ganze Menſchheit verhängt ift und das fie 
im mythologiſchen Proceß empfindet), die Zwietradht u. j. w. Diefe 
ganze Stelle von der Nyx iſt eine philoſophiſche Epifode, d. h. es finden 
fich hier lauter philofophiiche Begriffe. Ich will aber damit nicht jagen, 
daß diefe Stelle weniger alt als das ganze übrige Gedicht, 3. B. Vers 1, 
fey. Die ganze Theogonie iſt ſchon eine Art von wiſſenſchaftlicher Dar— 
ftellung der Mythologie; fein Wunder alfo, wenn fie Philefopheme ent» 
hält, nicht foldhe, die der Mythologie vorausgegangen, wie fie Heyne 
und Hermann annehmen, aber die ſich unmittelbar aus der Mythologie 
erzeugten. Jene Genealogie der Kinder der Nacht ift aljo vein philofos 
phiſch. Der andere Faden aber, der durch die Theogonie hindurchläuft, 


622 
die andere Genealogie, tft die des objeftiven, wirklichen, mythologiſchen 
Proceffes jelbft. Hier folgt dem Chaos zuerft Gäa. Ich fage: fie 
folgt; denn bei der Nyr und dem Erebos heißt es: Er Xaeoc Ö’" Eoe- 
965 te uehaivd ve NVE &yEvovro, bei der Gäa heißt es aber 
hof: aurao Ereıta: nachher, nach ihm Fam Gäa. Das im mate- 
riellen Zabismus hevansgewendete Bewußtfeyn, welches nun der Grund 
der ganzen folgenden Götterzeugung wird, aber eben darum felbft nicht 
gezeugt wird. In jener ganzen Stelle alfo, die von den Erzeugniffen 
der Nyr mit dem Erebos handelt, find lauter philofophifche Begriffe, ie 
freilich nicht von der erften Entftehung der Mythologie felbft ſich herfchrei- 
ben, aber die doch Schöpfungen eines wiſſenſchaftlichen Bewußtſeyns ſeyn 
fonnen, das ſich unmittelbar aus der Mythologie felbft und im Auf- 
gehen derſelben erzeugt hatte. Daher ich weit entfernt bin, diefe Berfe von 
den Kindern der Nyr mit Hermann als Einfchiebfel zu erklären. Schon 
Creuzer hat auf die Achnlichfeit diefer Borftellungen mit manchen Begrif- 
fen fpäterer philofophifcher Syfteme, 5. B. des Empedofles und des He- 
rakleitos, aufmerkfam gemacht, auch auf die Uebereinftimmung einiger 
derjelben mit manchen Zügen orientalifcher Lehren. Unter diefen Kindern 
(wenn fie mit dem Erebos "Hugoy und AlIo gebiert, fo gehört 
dieß einem andern Zufammenhang an) find zuerft Mooog, das Ge— 
Ihid, genannt. Erinnern Sie fid) dabei an Die Bemerkung, die gleich 
anfänglih bei Erwähnung dev Perfephone gemacht worden '., Der 
Uebergang aus der erften Freiheit des Bewußtſeyns zur mythologifchen 
Defangenheit wird als der Urzufall überhaupt, als Fortuna, als Ver- 
hängniß angefehen, und Perjephone felbft — die eben das dem realen 
Gott verfallene Bewußtſeyn ift — wird in fpäteren mythologifchen Phi- 
loſophemen gerade als Moros, als Geſchick, Verhängniß bezeichnet. In 
dem Schooß der erſten Unentſchiedenheit lagen auch die Todesgeſchicke, 
der Tod ſelbſt und ſein Verwandter, der Schlaf. Nach dieſen folgt 
Mouos als Sohn der Nyx. Wenn man ſich auch bloß an den Be— 
griff des fpöttifchen, ironifchen Tadelns hält, der mit dieſem Wort ge- 
wöhnlich verbunden wird, fo ift ar, daß JIronie wie Tadel nicht 
"©. oben ©. 153. 


623 

gedacht werden fünnen, ohne daß ein Anderes aufer dem Einen da iſt 
— mit dem erſten Hervortreten der Anderheit aus der Einheit iſt der 
Grund aller Ironie und ebenſo alles Tadels gelegt. Denkt man aber 
an die Bedeutung von ud, udourı, woher uouog abzuleiten iſt, 
jo ift Mouog der die Anverheit, das Entgegengeſetzte, den Gegenſatz 
Aufſuchende. Ihm folgt natürlich das Wehe oder der Jammer, der 
freilich erſt mit der wirklichen Anderheit hervortritt, aber die Subſtanz 
alles Wehes iſt doch in der erften Unentſchiedenheit ſchon vorhanden. 
Dann kommen lauter Schickſalsmächte, endlich Nemeſis ſelbſt, deren 
Begriff ſchon erklärt iſt, dann der Betrug (Aadrr), die Urtäuſchung, 
und Die Zwietracht (Eoeac), die dann ein ähnliches Geſchlecht ver— 
hängnißvoller Weſen erzeugt, unter denen fogar die falfchen Reden | 
(Pevdses Aöyoe) und die doppelfinnigen Neden (Augekoyiar) vor 
fommen, bei denen niemand an etwas urſprünglich Mythologiſches 
venfen wird. Allein dieſe find gerade darum unfhätbar, weil fie 
Beweiſe eines unmittelbar aus der Mythologie hervorbrechenden und noch 
von ihr ſelbſt erzeugten philofophiichen Bewußtſeyns enthalten. 

Bis jebt alfo, um nunmehr in den Zufammenhang des fortichreis 
tenden Procefjes zurüdzufehren, ift in der Theogonie noch immer bloß 
die unmythologiſche Zeit dargeftellt. Die Potenzen, welche über dieſe 
hinausgehen und ſchon mythologiſcher Natur find, Titanen, Kyklopen 
u. f. w. werden noch zurüdgehalten und am wirklichen Hervortreten 
verhindert. Gäa aber, d. h. das materielle Bewußtſeyn, das, ohne es zu 
wiſſen, noch unter einem andern und höheren Einfluß fteht und im eine 
entwideltere Zeit fortftrebt, ift unwillig über das Loos ihrer Kinder, 
vie Uranos, fowie fie entftehen, in den Tiefen der Gäa, d. h. des ihm 
noch unterworfenen Bewußtſeyns, zurüdhält. Ste beredet ſich alſo mit 
diefen, um den Vater feiner Macht zu entjegen oder zu berauben. In 
dem allgemeinen mythologifhen Proceß geſchieht der Uebergang aus 
der unmpthologifchen in die mythologiſche Zeit, wie Sie ſich erinnern, 
dadurch, daß der Gott jener Zeit ſelbſt weiblid) wird. An die Stelle des 
Uranos tritt Urania. Der allgemeine Begriff aber dieſes Uebergangs 
ift, daß der bis dahin herrſchende Gott feiner Männlichkeit, feiner 


obherrichenden Gewalt beraubt wird. Die Theogonie läßt dieß dadurch 
geichehen, daß der Jüngſte, alfo zugleidy der relativ Geiftigfte der Ti- 
tanen, d. h. der nächſten, zur Eriftenz beftimmten Uranosfühne, aus 
einen Hinterhalt (£x Aoxeozo), d. h. unverfehens, den nichts Ahndenden 
feiner Mannskraft beraubt und die abgejchnittenen Zeugungstheile rüd- 
wärts, d. h. in die Vergangenheit, zurüd wirft. Aber aus dem Schaum 
der ins Meer gefallenen Theile entfteht im Lauf der Zeit Die holve 
Göttin Aphrodite, welche alfo auch in der griechiſchen Mythologie eine 
alte Gottheit ift und in diefer an die Stelle der afiatifchen Urania 
tritt; nicht daß die Griechen fie aus den afiatifchen Neligionen entlehnt 
haben, jondern diefe weibliche Gottheit lag als ein nothwendiger Mo- 
ment auch in dem helleniſchen Bewußtjeyn, und als dieſes zur vollftän- 
digen Mythologie, d. h. zu derjenigen Mythologie ſich entfaltete, die 
alle Momente des vorhergegangenen Procefjes in ſich begreifen follte, da 
mußte auch fie im griehifchen Bewußtfeyn an der ihr zukommenden 
Stelle hervortreten. Nachdem nun die Macht des Uranos gebrochen 
ift, kommt die Weltherrfhaft an den Yüngften der Titanen, Kronos, 
mit dem zugleich — nicht als ein von ihm erzeugtes, fondern als ein 
ihm ebenbürtiges Gefchleht — die Titanen herrfehen, Götter, in denen, 
wie gejagt, noch immer die Natur des blinden, verftandlofen, in bloßer 
Gewalt und Stärfe beftehenden Seyns, des noch immer unüberwundenen 
realen Princips, vorherrſcht, die aber übrigens ſchon relativ geiftige 
Götter find, wie Kronos, der das reale Princip in feiner erften Aus- 
ſchließlichkeit ſchon überwunden vorausfegt. 

Aber Kronos iſt demfelben Schickſal wie Uranos - unterworfen ; 
auch er ſteht gleichſam unter dem Einfluß eines geheimen Feindes, ven 
die Theogonie nod nicht nennt; denn fie nennt ihn überhaupt erft am 
Ende des Procefjes, wie er denn früher in dev That nur durch feine 
Wirkungen, aber nicht felbft offenbar wird. Auch Kronos ift in der 
Nothwendigkeit Kinder zu erzeugen, die über ihn und feine Zeit hinaus— 
gehen, die aljo feine Herrfchaft bedrohen, und die er wieder ebenfo ein- 
zuſchließen, zu verbergen genöthigt ift, wie der Vater Uranos ihn und 
feine Brüder, die Titanen, verbergen mußte. Denn ihm fagen Gäa 


625 

und Uranos voraus, daß aud ihm beftimmt fey won den eignen 
Söhnen bezwungen zu werben. Hier find wir num in der Theogonie 
auf denjenigen Punkt zurüdgeführt, bei dem wir gleich zuerft die grie- 
chiſche Mythologie aufgenommen, ven wir als ihren eigentlichen Ent- 
jtehungsmoment betrachtet haben, fo daß alle jene früheren Momente fich 
erft dieſem — als Momente feiner Vergangenheit — anſchließen, und 
nicht eher in dem griechifhen Bewußtſeyn wirflih, d. h. auseinander 
gejegt vorhanden find, al8 mit dem Moment ver letten Krifis, deren 
Produkt eben die Götterwelt des Zeus ift. Hier wird es nun darauf 
ankommen zu zeigen, wie biefe lette Krifis in der griechiſchen Theogonie 
jelbft ſich darftellt. Kronos alſo zeugt mit Rhea, die natürlid) ſchon 

unter den Titanen ihren Platz haben mußte und gleich mit diefem Namen | 
aufgeführt ift — wie überhaupt alle Gottheiten gleich nad) ihrem letzten 
Degriff benannt find, oder in den Namen ver Gottheiten zum vor- 
aus Schon ausgedrüdt wird, wozu fie ſich beftimmen — auch dieß dient 
zum Beweis der von ung angenommenen Entftehungsweije ver vollftän- 
digen Mythologie, daß nämlich das Frühere wahrhaft im Bewußtſeyn 
nicht eher da ift ald mit dem Späteren — Rhea ift das in Kronos ſchon 
beweglich zu werden anfangende Bewußtſeyn; als foldyes zeigt fie fi), in- 
dem auch fie, wie früher die Gäa, mit dem Fortſchreiten, und da, wo es 
den Sturz des Kronos gilt, mit dem Yüngften, alſo Geiftigften ihrer 
Kinder, dem die zufünftige Weltherrfchaft beſtimmt tft, einverſtanden 
fid) zeigt — Kronos alfo wird vorgeftellt als mit Rhea ſechs Kinder 
zeugend, drei männliche und drei weibliche. Die drei männlichen, Aides, 
Pofeidon, Zeus, ihre Bedeutung und ihr Verhältniß zueinander haben 
wir bereits erflärt. In Aides iſt vorbedeutet die fünftige wöllige Ueber: 
windung des eben darum jett noch beftehenden Kroniſchen in Kronos. 
In Poſeidon ift jenes Moment des Kronos gefegt, nad weldem er ſich 
als realer Gott dem höheren idealen hinzugeben aufgefordert ıft. Im 
Zeus ift der aus dem blinden Seyn völlig in Verſtand umgewendete 
Kronos vorbedentet. Denn Zeus ift nichts anderes als der mun ganz 
in Berftand umgewendete Kronos. Diefen drei männlichen Gottheiten 
entjprechen drei weibliche. (Dod) ift es merkwürdig, daß auch bier in 

Schelling, fimmtl. Werke. 2%. Abtb. II AO 


626 

der Theogonie die weiblichen den männlichen voraus genannt werden — bie 
weiblichen Gottheiten zeigen dafjelbe im Bewußtjeyn, fie drücken diefelben Mo- 
mente im Bewußtſeyn aus, welche die männlichen im Gott felbft anzeigen). 

Die drei weiblihen Gottheiten find Heftin (die Iateinifche Veſta), 
Demeter und Hera. Sie werden in diefer Ordnung aufgeführt. Schon 
dieß zeigt, welchem Gott jede entjpricht, und da in der Folge Hera als 
Gemahlin des Zeus hervortritt, jo kann fein Zweifel feyn, daß Heftia 
in einem ganz gleichen Verhältniß zu Aides, Demeter zu Poſeidon 
gemeint ſey. Heſtia entfpricht aber auch ganz dem Begriff, den wir 
uns vom Aides gemacht haben. Wir fagten: Aides jey das Kronifche, 
d. h. der Bewegung ſich Widerfegende in Kronos. Gerade darum weil 
es dieß ift, ift es beftimmt, in der Folge überwunden, zum Aides zu 
werden. Denn nod) ift es nicht Aides, obgleich es ſchon vorläufig ſo 
genannt wird. In dieſer Zeit der Fronifchen Unentſchiedenheit heißt alſo 
auch die entiprechende Gottheit des noch nicht als ſolchen geſetzten Aides 
Heftia, d. h. die Feftftellende (von Zorzue), die alles im Stehen Er- 
haltende, dem Flüfjigwerden des Kronos, alfo zunächſt dem Poſeidon, 
und inwiefern dieß nur Uebergang ift, auch dem Höheren überhaupt 
ſich Widerſetzende. Wenn nun aber hier, im Moment des nod) fort- 
dauernden Widerftandes, Heftin als dem Aides beſtimmte Gattin nam— 
haft gemacht wird, jo jcheint die Theogonie im Widerſpruch befangen, 
indem fpäter, d. h. nach der vollfommenen Entwidlung oder Kriſis, 
Heftia nicht als Gattin des Hades genannt wird, fondern dieſer (bis 
dahin ohne Gattin) die Perfephone fih raubt und als Gattin in die 
Unterwelt entführt. Diefe Widerſprüche der Theogonie (denn der eben 
erwähnte ift nicht der einzige) find von dem höchiten Interefje. Eben 
dieſe Widerſprüche müſſen uns überzeugen, daß die Theogonie nicht 
etwas fünftlid Gemachtes ift — denn in allem bloß Fünftlih Zufammen- 
geſetzten weiß der Verſtand das Widerfprechende zu vermeiden — dieſe 
Widerſprüche eben zeigen, daß man etwas Unmwillfürliches, durch einen 
Proceß Entftandenes vor fid) hat, der, weil er etwas Fortjchreitendes 
tft und im folgenden Moment das in dem früheren Gefeßte wieder— 
herftellt, nicht umhin kann ſich felbft zu widerſprechen. 


627 


Die wirkliche Fünftige Gemahlin des Aides iſt alſo Berjephone. 
Da aber Perſephone zugleich als Tochter der Demeter vorgeſtellt wird, 
ſo ſehen wir, daß über dieſen Punkt kein Verſtändniß möglich iſt, eh' 
wir uns auch über Demeter ins Klare geſetzt haben. 

Von der Demeter iſt es ſchon durch ihre Stellung gegen Po— 
ſeidon angedeutet, daß ſie die dem höheren Gott überhaupt zugängliche 
Seite des Bewußtſeyns iſt. Wenn Poſeidon im materiellen Gott die 
dem Dionyſos, dem A?, zugewandte oder entſprechende Potenz ift (diefer 
Zufammenhang mit Dionyfos wurde in Griechenland aud) durch manche 
Gebräuche anerkannt, fo wurde 3. B. das Feft TOOTOVYEILT, weldes 
Heſychios als Eopr7 Arovboov xui Hocsuöwvog erklärt, gemein 
ſchaftlich gefeiert) — wenn alfo Pofeidon die dem Dionyſos entſprechende 
Potenz ift, fo müfjen wir behaupten, auch Demeter fey eben das dem 
höheren, idealen Gott zugewandte Bewußtfeyn, und c8 wäre nad) dieſer 
Bemerkung überflüffig, voreilig ſchon an das innige Verhältniß zu erin- 
nern, in welchem fie mit Dionyſos fteht, und in dem wir fie in der 
Folge finden werden. Wie e8 aber num zugeht, daß hier, in dieſem 
Moment, noch Demeter dem Poſeidon zugefellt ift (fpäter Amphitrite), 
Heftin dem Aides (der fpäter, da er — nad) Befiegung des Kronos — 
aus der Berborgenheit hervorgetreten, die Berfephone vaubt), dieß kann 
ic; nicht erflären, ohne daß wir von dem bis jett allein betrachteten 
änßerlichen oder eroterifchen Vorgang der letsten Krifis auf den inner, 
den eſoteriſchen Hergang verfelben unfere Aufmerffamfeit richten, 

Der aufere Hergang beftand, wie Sie wiſſen, in den Aides-, Pofei- 
don- und Zeus-Werden des blind feyenden Gottes: der Eine reale Gott ver- 
ſchwindet in den dreier, die gemeinfchaftlich an feine Stelle treten. Das 
Gemeinſchaftliche in den drei Göttern ift das verhüllt-, das unfichtbar- 
Gewordenſeyn des Einen, des blind feyenden Gottes, Diefer ift in Zeus 
ebenfowohl überwunden, als in Aides. Er ift in Zeus nur pofitiv über- 
wunden, denn in Zeus wird das dem Blinden Entgegengefegte, der Nus, 
gedacht, während in Aides das Blinde bloß negirt, einfach als VBergangen- 
heit gefeßt ift. Aides ift nur der untere Zeus oder Zeus von unten, von 
der negativen Seite betrachtet. Hier ift das Blinde bloß niedergehalten, 


was in Zeus in Verſtand umgewendet ift. Aber eins ſetzt das andere 
voraus. Der blinde Gott wird als folder Aides, nur inwiefern er 
zugleid) Zeus wird, und er wird Zeus, nur infofern zugleich Aides. 
Die drei Götter find alfo das gemeinschaftlich Verhüllende und Verber- 
gende des realen Gottes. Diefen in den drei Göttern gemeinschaftlich 
verhüllten Gott fünnen wir alfo den abfoluten Hades nennen, zum 
Unterſchied des relativen, der nur die negative Seite diefer Verhüllung 
ausdrüdt. 

Nun war aber das Bewußtſeyn noch in der Zeit des Kronos ganz 
dem blind Einen zugewendet, und in diefem, dem Gott feßenden Be- 
wußtſeyn jelbft muß alfo eigentlich der Proceß diefer legten Krifis vor 
gehen. Die drei Götter find nur das gleichzeitig entftehende Phänomen 
jenes inneren Vorgangs im Bewußtſeyn ſelbſt. Num ift es aber nicht das 
ausschließlich dem realen, ſondern es ift nur das zugleich dem idealen 
Gott zugewendete Bewußtſeyn, welches diefer Verwandlung fähig ift. 
Nur das zwifchen ven beiden Potenzen in der Mitte ftehende Bewußtjeyn, 
das einerjeits zweifelhaft und ängſtlich fürchtet, daß ihın mit dem blinden 
Seyn auch der Gott felbft verloren gehe, und andererjeits dem Andrang der 
höheren, der geiftigen Potenz nicht widerftehen kann — nur diefes ift jener 
Krifis fahig. Nun aber eben diefes in der Mitte ftehende Bewußtſeyn ift 
Demeter, wie die Stellung zeigt, die diefer Gottheit ſchon in der fronifchen 
Zeit angewiejen ift. Wenn alfo die Göttergefchichte die innere Seite 
jene8 Borgangs (von welchem die Entftehung der drei Götter. oder das 
Aides-, Pofeivon- und Zeus-Werden des Kronos die exoterifche, äußere 
Seite iſt), wenn die Göttergeſchichte die innere Seite dieſes Vorgangs 
darſtellt, ſo wird Demeter das eigentliche Subjekt, gleichſam der Mittel— 
punkt, der Angel ſeyn, um den ſich der ganze Vorgang bewegt. In 
der kroniſchen Zeit nun werden die drei Götter und die ihnen ent— 
ſprechenden weiblichen Geſtalten, Heſtia, Demeter, Hera, nur ſo erwähnt, 
wie in der Uranoszeit auch ſchon die Titanen erwähnt werden. Es 
wird ausdrücklich geſagt, daß fie noch nicht wirklich hervortreten. 
Nachdem die ſechs Kronoskinder aufgezählt find, heißt es: xc Tovg uev 
xo.tänwe weyag Koöovog, er verſchlang fie, fowie jedes derſelben 


629 


dem Schooß der Mutter ſich entwand '. In dieſem Zuftand von Ver— 
Ihlungenheit alfo, und folange die Potenzen in einer Art von chaoti⸗ 
ſchem Zuſtand erhalten ſind, ſolang Kronos noch die Scheidung und 
Auseinanderſetzung hemmt, iſt Heſtia noch in Demeter begriffen, und 
wir können ſagen: Heſtia ſey eben der Name der noch nicht von Demeter 
abgeſonderten, getrennten Perſephone, Heſtia ſey hier ſtatt der Perſe— 
phone. Heſtia bedeutet hier dasjenige im Bewußtſeyn, wodurch es mit 
dem realen Gott zuſammenhängt, ihm verhaftet iſt — ſie iſt das Band 
des Bewußtſeyns mit dem realen Gott. Nun aber in dem Verhältniß, 
als Kronos ohnmächtiger, als das Bewußtſeyn ſich ſeines Verhältniſſes 
zu dem höheren, dem geiſtigen Gott bewußter, und alſo gegen den 
realen Gott freier wird, in dem Verhältniß kann es ſich des au 
dem realen Gott Yelthaltenden in ihm (fann es fich deſſen, was 
in ihm, dem realen Gott, verhaftet ift) als eines Beſonderen in fich, 
als eines von ihm jelbjt Unterfcheivbaren, ja als eines ihm Zufäl- 
ligen. und in Bezug auf es ſelbſt Aeuferen bewußt werden. Es 
wird ſich dieſes Bandes mit dem realen Gotte als eines von ihm 
unterfchiedenen bewußt, es wird ſelbſt dieſes Bandes entledigt, ent— 
bunden. Das aber, deſſen e8 entbunden wird, und was zuvor eing 
mit ihm war, erjcheint ihm als fein Kind — jenes Band mit dem 
realen Gott ftellt fih ihm alfo nun in einer befonderen Perſönlich— 
feit dar; dieſe befondere Perjünlichkeit ift nicht mehr Heſtia: Heſtia 
ift fie nur, fofern fie von ihm noch nicht unterjchieden, mit ihm nod) 
eins ift, wie in der kroniſchen Zeit. Als abgefondert von ihm iſt es 
eben Perfephone. 

Dadurch, daß es dieſe Seite feiner felbjt von ſich unterjcheibet, 
hat das Bewußtſeyn auch ſich ſelbſt als befondere Perjünlichfeit bes 
ftimmt. Erſt jett ift e8 wirflih Demeter. Obgleich diefer Name 
hen früher auch in der kroniſchen Zeit gebraucht wird (mie Aides auch 
dort ſchon Aides heißt, obgleid) er noch nicht als Aides erklärt iſt), ſo 
iſt das Bewußtſeyn doch erſt in der Trennung von Perſephone als De— 
meter, als Mutter, und zwar als die göttliche, oder, wenn man die 


I v, 459. 


630 

Sylbe An in Anuntnyo mit dem du (= dan) in Öaluoveg ver: 
gleichen darf, fo tft es erſt jetzt als die wiſſende, als die geiftige, als 
die vom Materiellen befreite Mutter erklärt, In Perfephone befreit 
fi) das Bewußtſeyn erft von feiner dem realen Gott verhafteten Natur; 
es wird aljo erft Demeter, indem e8 die Perfephone gebiert. Als Mutter 
der Perfephene aber kann Demeter nicht mehr Gattin des Pofei- 
don, des noch kroniſchen Gottes, ſeyn; folang fie nur als Gattin 
des Pofeidon erfcheint, ift aud) Heftia noch nicht won ihr getrennt, noch 
nicht als Perjephone gefeßt. Sie erzeugt die Perfephone mit Zeus. 
Dafjelbe, was unter Kronos ned) Heftia war, wird Perſephone unter 
Zeus Herrſchaft, der nun Vater auch desjenigen heißt, was in anderer 
Beziehung eher war al8 er, aber doch erft mit ihm und durd) ihn, 
d. h. durch die mit ihm gefegte Krifis, zur Wirklichkeit gelangt. Auf 
diefe Weiſe heißt Zeus felbft Vater des Dionyfos, ver lange vor ihm, 
aber doch immer nur im Kommen, in der Verwirklichung begriffen war, 
er heißt Vater nur des nun vollfommen verwirklichten Dionyfos. 

Hier alſo tritt Perjephone als befondere Geftalt in die Mythologie 
ein, und Heftia verſchwindet, obgleich die Identität beider Gottheiten ſich 
auch jpäter nod) in vielen Zügen ausfpricht; denn 3. B. ebenfo wie der 
Heſtia wurde auch der Perfephone in manchen Heiligthümern ein emwiges 
Feuer gebrannt. Aber auch nun als abgefonderte Geftalt kann Perfe- 
phone nicht mehr bei der Wiutter — an demfelben Ort (eodem loco) 
mit ihr bleiben. Dieß führt auf die Gefchichte vom Raub der Perſe— 
phone, worüber id) Folgendes bemerke. 

Auch Perfephone muß in Bezug auf die Mutter, welche nun De: 
meter tft und als das gereinigte, vergeiftigte Bewußtſeyn ftehen bleibt, 
in die Berborgenheit zurücktreten. Indeß ift diefe Trennung — dieſes 
Aufgeben der Tochter von Seiten der Demeter — nur Folge des 
Kampf, in dem fi) das Bewußtſeyn befindet. Alfo es ift feine frei- 
willige Trennung; ungern fcheidet fid) das Bewußtſeyn von den Princip, 
durch welches ihm der Gott zwar der blindlings ſeyende, aber zugleich 
der ausſchließlich Eine war, und mit Gewalt wird die Tochter von der 
Mutter, die nicht wollende von der nicht wollenden, geriſſen. Dieß 


631 

eben wird ausgedrüdt durch den Raub ver Tochter, die der ing Un- 
fihtbare zurüdtretende Gott mit ſich in das felbft nicht fichtbare, darum 
nur noch ſchattenähnliche Seyn fortreißt. Defhalb wird gefagt: Hades 
habe die Perjephone geraubt, von der Seite der Demeter geriffen. Wenn 
nun aber Demeter diefe Bermählung der Tochter mit dem Hades aner- _ 
fannte, jo mußte fie eben damit auch die Umwandlung des Einen in 
eine Dielheit von Gejtalten anerkennen, das Bewußtſeyn mußte den 
ausichlieglih Einen als wirklich feyenden aufgeben. Dieß kann es aber 
nicht. Denn die Geftalten, in welche fid) der Eine Gott verwandelt 
und verhüllt hat (durch die Er eben unfihtbar geworben ift), dieſe 
fünnen dem Bewußtſeyn Fein Erſatz ſeyn für den Gott an ſich; nad)- 
dem alſo diefer Gott, der das Bewußtjeyn zuvor erfüllte, verfhwunden 
ift (verfchwunden, wie wir den Gott in der Natur vergeblich juchen, 
und ftatt feiner überall nur die Geftalten der Dinge finden, die er an 
jeiner Statt zurüdgelaffen, und überall nur nod feine Fußſtapfen, aber 
nicht mehr ihn felbft fehen), nachdem alfo dem Bewußtſeyn jener Gott ver- 
ſchwunden, der es zuvor erfüllte, bleibt e8, oder bleibt Demeter zurüd 
als das Ieere, unerfüllt gelaffene Bewußtſeyn, das gleichlam lauter 
Begier, Sucht und Hunger ift. Sie ſucht die verlorne Tochter, denn 
fie fucht den wirklichen Gott, als welchen fie erſt den blind Seyenden 
hatte. Aber diefer ift jet zergangen in jene Göttervielheit, in der fie 
nur die Ueberbleibfel, die exuvias ober die Aedıyave des zertheilten 
Gottes erbliden kann. 

Demeter ift die Geftalt, durch welche die helleniſche Mythologie 
ihre ganze: Eigenthümlichfeit erhält. Ohne Demeter gäbe es Feine grie= 
chiſche Götterwelt. Demeter, urfprünglid) in der Mitte zwijchen dem 
realen und idealen Gott, ift nicht wie die ägyptiſche Iſis genöthigt, 
jener felbft in die Unterwelt zu folgen; Demeter gibt gleihjam nur die 
Eine Seite ihres Weſens — Perſephone — an ihn ab, und die von 
Perſephone befreite Demeter bleibt nun als das rein ideale Bewußtſeyn 
ſtehen, frei gegen den realen Gott und frei gegen die materielle Götter: 
vielheit, in welche diefer verſchwunden iſt. (is bleibt immer befangen 
mit Typhon, und wird nie zum freien Seßenden weder der Vielheit, in 


632 


die er zergangen, noch der Einheit, in der er wieberhergeftellt ift). 
Durch Demeter eigentlicd) kommt die griechiſche Mythologie zwifchen vie 
ägyptiſche und indische zu ftehen, indem fie weder dem Materialismus 
der erſteren, noch dem ausjchweifenden Spiritualismus der andern an- 
heimfällt. Von der ägyptifchen unterfcheidet fie ſich dadurch, daß das 
Bewußtſeyn hier nicht jelbft in den materiellen Göttern untergeht, ſondern 
außer ihnen bleibt, von der indischen dadurch, daß fie nicht alle Be- 
ziehung zu ihm aufgibt, daß in Perfephone noch immer ein Band 
bleibt, durch welches das höhere, geiftige Bewußtfeyn (Demeter) mit den 
materiellen Göttern zufammenhängt. 
Im Anfang zwar, im erften Gefühl der Leere, der Unerfülltheit, 
grollt die zitenende und Über den Raub der Tochter trauernde Demeter 
allen Göttern — die ganze mit Zeus gefeßte Göttervielheit kann ihr Fein 
Erſatz jeyn fir den Gott. Darum ihre Hoffnung auf die Wiederkehr der 
Tochter, darum ihre Sehnfucht nad dem Verlorenen. So weit geht 
noch jelbft die vein exoterifche griechiſche Mythologie. Der Naub ver 
Perjephone wird noch in der Theogonie erwähnt; denn Diefer ift ein 
mit den Zeus-, Pofeidon- und Aides- Werden des Kronos noch gleich— 
zeitiger Borgang. Der Raub der Perfephone, das Suchen ver Mutter 
kommt noch in unzähligen bildlichen Darftellungen, namentlich Gemälden 
vor, ja der Raub und feine unmittelbare Folge ift ein vorzugsweiſe 
beliebter Gegenftand der bildenden Kunſt; aber die mehr inneren, in bie 
Tiefe des Bewußtſeyns jelbft zurückgehenden Ereigniffe, die Verſöhnung 
und endliche Beruhigung der Mutter, dieſe gehören nicht mehr der 
Mythologie an, jonvern bleiben ganz jenem efoterifchen Bewußtſeyn vor- 
behalten, das nur in den Myſterien fid) ausfpricht, auf welche dieſer 
Vortrag jhon der Zeit halber ſich nicht mehr erftreden könnte, wenn 
ich auch nicht gleich im der erften Anlage mir die Abhandlung ver 
Myſterien für einen andern Zufanmenhang vorbehalten hätte. Die 
Hauptſache jedoch, nämlich daß ver eigentliche Inhalt ver Myſterien 
eben die Berfühnung der Demeter war, daß die Myſterien jelbft 
nichts anderes find als die Celebration dieſer — nicht einmal für 
immer gejchehenen, fondern immerwährenden Begütigung der Demeter: 


633 

dieß erhellt jhon aus der berühmten Stelle des homerifchen Hymnus 
auf Demeter, wo ſie ſelbſt von der Einſetzung der Orgien, der Eleu— 
ſiniſchen Geheimniſſe, ſpricht (Orgien bedeutet nichts anderes als eben 
Myſterien, und es ift dabei durchaus nicht an orgiaftiiche Erjcheinungen 
zu denken, Die vielmehr ven Eleufinien ebenfo wie dem in allem Schmerz 
befonnenen, gefaßten Weſen der verfühnten Demeter völlig fremd find) 
— aljo in dem Hymmus fpricht Demeter felbft won der Einſetzung ihrer 
Miofterien, und als Hauptzweck derſelben gibt fie eben den an, daß fie 
fortwährend verföhnt werde: 


Selbſt einfeß? ich die Orgien denn, auf daß ihr in Zufunft 
Sie hochheilig begehend das Herz allftets mir werjühnet '. 


Der Ausdruck „Verſöhnung“ ift alfo nicht unſer Ausdruck, er ift 
der ächte, der urjprüngliche; es ift, wie der homerifche Hymnus felbft 
jagt, Demeter ein der Verſöhnung bedürftiges Weſen. 

Wodurch nun aber kann wohl dieſes Sehnen der Demeter geſtillt, 
die Trauer beſänftigt, der Groll begütigt werden? (So weit können, 
ja müſſen wir ſchon hier in die Unterſuchung eingehen). Nur indem 
ihr an der Stelle des untergegangenen Gottes derjenige wird, der nicht 
mehr untergehen kann, der bleibende, dem gebührt zu ſeyn. 

Die erſte Potenz war nicht die, der beftimmt war zu ſeyn. Darum 
muß der entfpredyende Gott auch wieder aus dem Seyn zurüdtreten. 
Nicht Er felbft bleibt, fondern nur jene Geftalten, denen er durch fein 
Hervortreten in das Seyn zur Materie, zur Unterlage geworben ift, er 
ſelbſt verfchwindet unter diefen Geftalten; ev bleibt, aber nicht in der 
Gegenwart, fondern nur als Deren gemeinfchaftliche Vergangenheit; er 
bleibt, aber unter ihnen verborgen, ein Geheimniß, das nur nod dem 
felbft von der Gegenwart abgewendeten, der Vergangenheit angehörigen 
Bewußtſeyn befannt ift. 

Für den Gott, der nicht ſeyn follte, und daher aus dem Seyn 
wieder ind Nichtfeyn zurüctritt, fann dem Bewußtſeyn nur Erſatz 


1 — — — u av dasıra 
Evayeog Eodovreg &uov voov iLadnadıe. V. 274. 275. 


634 
werden in dem Gott, ver ſeyn foll, dem gebührt zu ſeyn. Diejer 
Sott kann nicht der ſeyn, den wir bisher Dionyfos genannt haben, denn 
diefer ift nur der den feyn jollenden durch Negation des nicht ſeyn 
jollenden Bermittelnde. Er ift nicht Gott an fi, fondern bloß actu, 
ver fich als Gott nur erweist, indem er den nicht feyn follenden negirt. 
Das Bewußtfeyn will aber den Gott au ſich, und es will ihn als 
jeyend. Dieſen verfehlte das Bewußtfeyn, indem e8 den, der bloß 
Gott an fih ift, ins Seyn erhob. Aber diefer felbft kann nicht aus 
dem Seyn zurücktreten, ohne an feiner Statt, d. b. ohne in dem Seyn, 
das er jelbft verläßt, den Gott zurüdzulaffen, der an ſich Gott, lautere 
Potenz und Geift, und als folder feyend if. Nur indem diefer ihm 
wird, kann alfo das Bewußtſeyn beruhigt werden; denn das Bewußt— 
jeyn Hört nicht auf, das Gott ſetzende, des Gottes begehrende, das 
Gotthungrige zu ſeyn, nur das Zufällige, das Zugezogene (durch unvor— 
denkliche That Zugezogene) iſt in Perſephone Hinweggenommen, Nur 
indem der als Geift feyende ihm wird, kann alfo das Bewußtſeyn be— 
ruhigt, nur durch dieſen die in ihm zurücgebliebene Leere erfüllt werben. 
Dazu gehört jedoch zugleich, daß es ſich dieſes Dritten, der an die 
Stelle des erften tritt, bewußt werde als defjelben mit dem erften, 
oder daß es den dritten als den wiederauferftehenden, wiederaufgerichteten 
erjten betrachte, Auf diefem durchaus natürlichen Wege gelangt das 
Bewußtſeyn dazu, in den drei Göttern nur ebenfo viele Potenzen Eines 
Gottes zu fehen. Wenn der erfte aus dem Nichtfeyn hervortritt, fo ift er 
Gegenfat des Dionyſos; indem er in das Nichtfeyn zurückgetreten, hat 
er jelbft dionyfiiche Natur angenommen, und ift dem Dionyfos gleich. Der 
britte aber, der die Natur beider in fid) vereinigt (denn ex. ift reine 
Potenz mie der erfte, und feyend wie der zweite), ift ebenfalls Dionyſos. 
Sp gelangt das Bewußtfeyn auf natürlichem Weg zu der Borftellung 
des dreifachen Dionyſos, in welchem es num die drei reinen Potenzen 
oder Urfachen nicht mehr in ihrer materiellen Complication, fondern als 
reine, zum Begriff erhobene Urſachen, und zugleich als das wahre und 
eigentliche Nefultat des Proceffes hat, fo daß nun die Prineipien, aus 
welchen wir die mythologiſche Bewegung erklärt und abgeleitet haben, als 


635 
Principien derſelben im mythologiſchen Bewußtſeyn ſelbſt erkannt, ihm 
jelbft als Principien gegenftändlich geworben find, 

Wenn alfo diefe Götter der Hauptinhalt der Myſterien waren, 
jo erhellt, daß diefe nicht bloß Myſterien heißen, daß fie in der That 
das wahre Geheimniß nicht bloß der griechiſchen, ſondern aller Mytho- 
logie enthalten, und daß fie die legte und höchſte Beſtätigung unferer 
ganzen Theorie der Mythologie find. Das Wefen, das eigentlid) 
Innere der Mythologie, ift von nun an in den Myſterien, jene äußere 
exoteriſche Götterwelt bleibt bloß ftehen ald Phänomen des immern 
Vorgangs, fie hat nur noch die Realität einer Erſcheinung; denn das 
Reelle, die eigentlich veligiöfe Bedeutung, ift bloß noch in jenen efoteri- 
Ihen Begriffen, welche fi) nicht auf das Erzeugte und Geworbene, 
jondern auf die reinen Urſachen des mythologiſchen Procefjes beziehen, 
in deren Bewußtſeyn das Urbewußtſeyn, durch deſſen Zertrennung 
Mythologie zuerft entjtand, wiederhergeftellt erjcheint. Die Nachwei— 
jung nun aber von allem dem, mas hier zuletst behauptet worden, 
die Nahweifung a) von einem dritten Dionyſos (dev im griechiichen 
Bewußtſeyn daſſelbe ift, was im ägyptiſchen Horos, mit dem Unter- 
ſchied jedoch, daß er in Horos felbft materiell, nicht als reine Urfache, 
in feiner formellen Abgejchtevenheit vom Materiellen geſetzt war) — die 
Nachweiſung aljo a) des dritten Dionyjos, b) daß die von Perjephone 
getrennte Demeter, d. h. das von allem Materiellen gereinigte Bewußt— 
jeyn, das Setende, d. h. mythologiſch ausgedrüdt Das Gebärende, die 
Mutter diefes dritten Dionyſos wird, c) daß die Geburt dieſes dritten 
Dionyſos das einzige die verwundete Demeter Heilende, die zürnende 
Bejänftigende ift, d) daß der Hauptinhalt der Feier in den Myjterien, 
und zwar den heiligften, den in Eleuſis begangenen, eben die Geburt 
und das Kommen, oder, um einen feierlichen Ausorud zu gebrauchen, 
die Zufunft, die Kumft, der Advent dieſes dritten Dionyſos iſt — 
diefe Nachweiſungen können hier freilich nicht mehr gegeben- werden, 
da jene Thatfachen nicht mehr im die eigentliche Mythologie heveinfallen, 
fondern den Myſterien vorbehalten blieben. In die Mythologie fällt, 
wie gejagt, nur das Eroterifche jenes Vorgangs, das Zeus- Poſeidon⸗ 


und Aides-Werden des erften Gottes und das damit zufanmenhängende 
Berfchwinden der Perjephone, der Naub der Kore. Der berühmte 
Hymnus auf Demeter ift eben dadurch fo befonder8 merkwürdig 
und von reizender Eigenthüntlichfeit, weil er fid) auf dieſer Grenze des 
Exoteriſchen und Efoterifchen bewegt. Perſephone indeß, und felbit daß 
fie von Hades geraubt wird, gehört nod) der Mythologie an und wird, 
wie gefagt, auch im der Theogonie des Heſiodos noch erwahnt‘. 

Ueberlege ic) nun, wie meine Entwidlung der Perſephone ſich zu 
den gewöhnlichen Erklärungen verhält, die ich bei meinen Herrn Zus 
hörern als befannt vorausſetzen kann, fo darf ich nicht für überflüſſig 
halten, noch ein Wort über diefe Erflärungen zu fagen, und mit We- 
nigem begreiflic zu machen, wie ganz unhaltbar fie find, und wie in 
der That die Ideen der Demeter wie der Perfephone viel zu tief Liegen 
für die oberflächlichen Anfichten, aus welchen jene Erklärungen hervor- 
gegangen find. 

Die gewöhnliche Vorſtellung von Demeter und Perfephone tft alfo 
dieſe: Demeter (dieſelbe Gottheit mit der römifchen Ceres) ſey im All— 
gemeinen die Göttin des Aderbaus und der Pflanzenwelt überhaupt; 
Perjephone aber das Saatforn, das unter der Erde verborgen werben 
muß, damit e8 feime und Früchte trage. Ich kann wirklich) nicht ohne 
Bermunderung fehen, wie felbft Männer, die übrigens von der gewöhn- 
lichen Flachheit der Anfichten fid) entfernen, doch davon nicht wegfommen 
konnten, unter Perjephone ſey urſprünglich nichts anderes verftanden als 
das Saatforn. Das Einzige, was diefer Erklärung Schein gibt, ift, 
daß Demeter — Einfegerin des Aderbaus. Denn von einer Göttin 
der Pflanzenwelt ift nirgends die Rede; dieß hat Voß felbft erpichtet. 
Was allein wahr, ift, daß Demeter als Stifterin oder Einfegerin des 
Aderbaus gefeiert wird. Diefes gefittete Leben, welches erft eigentlich 
mit Aderbau, getheiltem und durch bürgerliche Gefete beſchütztem Eigen— 
thum und feften Beſitz entfteht, verdankte die hellenifche Menfchheit 
allerdings der Demeter; denn erſt mit Demeter hat fic) das griechifche 


' In den weiblichen Göttern ift mehr der ejoterifche Borgang, in den männ— 
lichen mehr der exoteriſche. (Randbemerkung). 


Bewußtſeyn entſchieden, d. h. Demeter ift für das griechiiche Bewußt— 
jeyn der Uebergang von der vorgefchichtlichen, noch ungefeglichen, zu der 
geſetzlichen, gefhichtlihen Zeit, aus welchem Grunde fie auch die geſetz— 
gebende genannt wird. Ihr, in Gemeinſchaft mit Dionyios, wurte die 
Einjegung des Aderbaus ebenfo zugejchrieben, wie der Iſis und dem 
Dfiris in Aegypten, von dem es bei Tibull heißt: 
Primus aratra manu solerti feeit Osiris, 
Et teneram ferro sollieitavit humum; 
Primus inexpertae commisit semina terrae ı. ſ. w. 
Demeter und Dionyfos, der zweite nämlich (beive werben als mdoedoo, 
miternander thronende, herrſchende Götter vorgeftellt), find im griechi- 
jhen Bewußtſeyn daſſelbe, was Iris und Dfiris in Aegypten. Daß 
für das griechtiiche Bewußtſeyn die befreite Demeter den Uebergang zum 
gefeglichen Yeben und zum Aderbau insbejondere macht, erhellt daraus, 
daß zum Theil nad) der griechischen Anficht noch unter Kronos feine 
Theilung des Eigenthums ftattfand, weßhalb fie das goldene Zeitalter 
unter Kronos fegen, der für. die griechiſche Erinnerung ſich noch mit 
Uranos deckte. Daher jagt Birgil: 
Ante Jovem (vor Zeus, aljo vor der Zeit der Zeusherricaft und 
da diefe mit Demeter gefett ift, alfo audy vor Demeter) 
Ante Jovem nulli subigebant arva coloni, 
Ne signare quidem aut partiri limite campum, 
Fas erat ': 
— vor Zeus gab e8 Feine Feldbauer, noch war es erlaubt, fein Feld 
abzugrenzen, als Eigenthum zu bezeichnen; kurz in dieſem geſchichtli— 
hen Sinn ift Demeter Göttin, nämlid Cinfegerin des Ackerbaus. 
Aber 1) die Ausdehnung diefes Begriffs auf eine Göttin der Pflanzen- 
welt und 2) eine Beziehung auf das Phyſiſche des Aderbaus, alje 
auch auf das Phyfifche des Keimens und Fruchttragens Des in Die 
Erde gefenften Saatkorns, beides ift gleid) unhiſtoriſch und völlig 
grundlos. Alſo hen die erfte Borausfegung diefer Erklärung iſt nichtig. 
Geſetzt nun aber, es ließen ſich aus dieſer Annahme, Perſephone feh 
Georg. I, 125 fi. 


638 


das unter der Erde verborgene Saatkorn, geſetzt, es ließen fi) daraus 
fogar alle Züge der Demeter- und Perfephonefabel erklären, mas bei 
weiten nicht der Fall ift, wie wollte man, wenn der von Hades be— 
gangene Raub der Perfephone nichts weiter anzeigte als das unter Die 
Erde gelegte Saatkorn, eine jo gefuchte, Fünftliche, Foftbare Einfleivung 
jo ganz alltäglicher Borgange und Wahrnehmungen, al8 das Shen und 
das darauf folgende Keimen und Fruchttragen des Saatkorns find, wie 
wollte man eine ſolche Einfleivung mit der ſonſt jo gerühmten helleni- 
ichen Einfalt veimen, von der im Allgemeinen ebenſo gut das nil mo- 
litur inepte gelten muß, was Horaz von Homeros insbefondere jagt? 

Iſt denn nun aber gar nichts daran, an diefer Vergleihung? Wie 
Demeter nicht bloß zur Vorfteherin, fondern zur Stifterin des Ader- 
baus werden mußte, hat fi uns fo eben ganz natürlich, nämlich ges 
ichichtlic) erklärt. Nachdem fie einmal dafür erfannt war, Fonnte es 
wohl geſchehen — nicht daß ihre Zochter Perfephone, wie man ge— 
wöhnlich jagt, zum Symbol des Saatkorns wurde, wohl aber umgefehrt 
konnte gejchehen, daß das Saatlorn und deſſen Verborgenwerben 
in der Erde, daß, wie es aud im N. Teſt. vorgeftellt wird, 
deſſen Sterben und Wiederaufleben in einem neuen, von ihm ganz ver- 
ſchiedenen Gewächs zum Symbol der Perfephone gemacht wurde. Wenn 
der Apoſtel Baulus mit einer ganz Ähnlichen Anfpielung auf das Samen- 
forn fagt: „EI wird geſäet verweslich und wird auferftehen unverweslich“, 
jo war dieß vielleicht ein Gleichniß, das ihm feine Befanntfchaft mit 
helfenifcher Lehre und Bildung (zumal auch mit den Myſterien) zuführte, 
vielleicht eine Anfpielung auf eine Ähnliche Vorjtellung in den Eleufinien. 
Auf jeden Fall liegt e8 nahe zu denfen, daß der aufmerfjame und be- 
ſonders die Natur liebevoll umfaffende Sinn der Griechen auch darauf 
gefallen, jenes Sterben des natürlichen Bewußtſeyns, das in Perfephone 
gedacht, in ven Myſterien befonders dargeftellt wurde, mit dem Sterben 
des Saatforns zu vergleichen. Denn das natürliche, bloß den realen 
Gott fegende Bewußtſeyn muß fterben, damit das freie, geiftige, nun— 
mehr ven freien, ben geiftigen Gott (damit die geiftigen Götter) feßende 
aufgehe. Jenes natürliche Bewußtſeyn, das Perſephone ift, verhält fich 


639 


als der bloße Same oder Keim des wirklichen, des wahrhaften Gott- 
jegens — es tft jeiner Natur nach, wie wir früher erklärt, das bloß po- 
tentiell Gott jetende, Das zum actuell Gott feßenden nur dadurd wird, 
daß es fid) aus feiner Potentialität erhebt, wo e8 denn unmittelbar zwar 
nur den Ungott fest, alfo zum Gott negirenden wird, indem es aber 
in feine Potenttalität zurücgebracht wird, zum Gott nicht mehr poten- 
tiell, jondern actu jegenden. Es hat alſo große Wahrfcheinlichkeit für 
fih, das man das %o08. jenes natürlichen Bewußtſeyns, das fterben 
muß, damit das höhere, geiftige aufgehe, daß man alfo das Loos ver 
- Berfephone mit dem Loos des Samenkorns verglichen, nämlich dieſes 
Öeringere und Nievere zum Symbol jenes Höheren gemadyt habe; aber 
das Umgekehrte zu behaupten, daß die hohe und heilige Idee der Per- 
jephone, in der das eigentliche Myfterium dev Mythologie werehrt wurde 
— ihr gewöhnlichfter Beiname in der Mythologie ift &yv7, vie heilige 
— daß diefe hohe Idee nichts anderes als ein Symbol des Saatkorus 
und der mit demjelben ſich ereignenden Borgänge geweſen ſey, dieß kann 
man nur int einer Zeit behaupten, wo unter denen, die über Mythologie 
reden, der Begriff des Symbols ganz von feiner wahren urjprünglichen 
Beventung abgebradht, ja rein umgekehrt worden ift. Symbol iſt ein 
ſinnliches Zeichen — dieß liegt ſogar in der gewöhnlichen Bedeutung 
des Worts, wo es Das anzeigt, was wir eine Marke, tessera, nennen 
— ein Zeichen z. B. woran der abwefende Freund den abmwejenden er- 
fennt, wenn es ihm gezeigt wird; demnach kann das Sinnliche wohl 
Symbol des Unfinnlihen werden, Sonne und Mond z. B. Symbol 
des Apollon und der. Artemis, oder des zeugenden und des empfangenden 
Princips überhaupt, und in dem gegenwärtigen Fall das Saatforn 
Symbol der Perfephone, aber daß umgekehrt das Hohe und Geiftige 
Symbol des Nieveren, Sinnfichen werden könne, it ganz gegen den ur— 
jprünglichen Begriff, und ift befonders auch ganz gegen helleniſche Natur. 

Wäre Demeter nichts mehr als Göttin des Aderbaus, Perſe— 
phone nichts mehr als. das Saatkorn, was follte denn der Inhalt der 
von Demeter eingefegten und befonders mit auf fie ſich beziehenden Or- 
gien oder Myſterien feyn? Iſt der Ackerbau ein Myſterium? Waren 


640 
die Fefte in Eleufis etwa ein Landwirthſchaftsfeſt, die Myſterienlehre ein 
Cours d’agrieulture, wie ein Franzoſe wor noch nicht langer Zeit wirklich) 
gemeint hat? Was that man denn, was gefchah in Eleufis, wenn alles 
bloß auf den Feldbau fi) bezog? Ein befannter Exeget, dev ſich früher 
auch an dem N. T. verfuht, glaubte in Verbindung mit Voß feine- 
Kunft aud auf die eleuſiniſchen Myfterien anmenden zu müſſen. Worin 
beftanden fie num nad) defjen Meinung? Diefe Feftlichfeiten in Eleuſis, 
von denen ganz Griechenland mit Entzüden ſprach, waren nad) feinem 
Dafürhalten Tempelfeierlichfeiten, welche theils aus nachahmenden, theils 
aus allegoriſch perfonificirenden, das Volk anlodenden Darftellungen be- 
ftanden, aus denen zu erfehen war, wie der Aderbau von Säen an 
bis zur Exntefeier gut von Statten gehe, wenn er gleichförmig (mahr- 
ſcheinlich durch eine gute Polizet oder ein gründlich bearbeitetes Cultur- 
gefe geregelt) eingeführt jey. Was ſoll man fi) unter der nachahmen— 
den Darftellung vom Fortgang des Feldbaus vorftellen? Wurde etwa 
die Bühne, auf weldyer die Handlung vorging, mit Erde beftrent, und 
der Pflug, mit Stieren befpannt, zum Schein darüber gezogen? Hof— 
fentlich hat man bei diefen nachahmenden Darftellungen auch den Dünger 
nicht vergeffen, diefe „Seele“ der Landwirthichaft.. Ließ man dann aud) 
nad) gehörig beftellter Saat das Korn aufgehen, daß es der Zujchauer 
wenn nicht wachjen hören, doch wachſen fehen konnte? Welche Abge— 
ichmactheit! Und dann wozu diefe nachahmenden Darftellungen? Da- 
mit der Landbauer jehe, was er täglic in der Natur weit befjer jah 
und felbft verrichtete, und was ihm in der nachahmenden Darftellung 
nur lächerlich vorkommen mußte? Gutmüthige Tempelbefucher, die fich 
zu einer foldhen Weihe noch fogar durch Faſten und andere Enthaltfam- 
feiten vorbereiteten, um am Ende wie die Theaterbejucher in Schillers 
befanntem Epigramm jagen zu fünnen: | | 
Unferen Sammer und Noth ſuchen und finden wir bier, 
und die doch in fo langer Zeit einmal ſich felbft jagen konnten, was 
Schiller durch Shafefpeares Schatten ven Liebhabern häuslid)- bürger- 
licher Schaufptele jagen läßt: 
Aber das habt ihr ja alles bequemer und beſſer zu Haufe. 


641 


Nein! jo über die Maßen einfältig, fo dumm war das Alterthum doch 
nicht, als es ſolche Erklärer vorſtellen, die für die Unwiſſenden Auf 
klärer, für die beſſer Unterrichteten aber wahre Obſeuranten des Alter— 
thums ſind, indem ſie gleichſam inſtinktmäßig überall alles auszurotten 
und auch dem Alterthum alles zu entziehen ſuchen, was die Imbecillität 
und Armfeligfeit ihrer. eignen Begriffe und befonders ihrer religiöfen 
Anfichten beſchämen Fünnte. 

In den Eleufinifhen Drgien mußte etwas Tieferes dargeftellt ſeyn, 
als die alltäglichen Vorgänge des Landbaus, des Säens und Erndtens. 
Eine Verſöhnung der traurenden Demeter, d. h. eine Verſöhnung des 
verwundeten Bewußtſeyns felbft, war der Sinn und wahre Inhalt 
jener Myſterien, wie ſchon allein die bereits angeführten homerifchen 
Berfe beweifen würden. Indem Demeter die Drgien zu ihrer fortwäh— 
renden Verſöhnung einſetzt, erklärt fie fich ſelbſt als die einer nie 
aufhörenden Verſöhnung bebürftige, und das ift fie ja audh. Denn vor 
der Trennung von Perſephone ift fie das um den realen Gott eifernde 
Princip, das überwunden werden muR, damit an der Stelle, wo zuvor 
nur der ausfchlieglih Eine war, die freie Vielheit aufgehe. Infofern 
ift Demeter die erſte Vorausſetzung aller andern Götterverehrung und 
jelbft der erfte Gegenftand alles Eultus, ein Wort, das in Bezug 
auf Demeter und die ihr verwandten Gottheiten feine eigentlichite Bes 
deutung hat. Wie die Erde in ihrer Starrheit überwunden, weid) ge- 
macht, umgekehrt, mit ‚Einem Wort bebaut werben muß, damit die 
Fülle der Frucht aus ihr hervorgehe, ebenfo muß das Bewußtſeyn um— 
gewendet, in feiner Starrheit überwunden werben, damit eine das Be— 
wußtfeyn frei laſſende Göttervielheit hervorgehe. Werl Demeter bes 
gütigt werden muß, damit jene freie Göttervielheit hervorgehe, jo fordert 
jener eroterifche Polytheismus jelbft den Eultus der Demeter, oder hat 
ihn zu feiner Vorausjegung. Auch überwunden ift jenes Princip, das 
der Berfühnung in ihr bedarf, nicht vernichtet, noch iſt es eben darum 
ein für allemal überwunden, fondern in einem beftändigen Aufſchluß 
begriffen der Gegenftand einer immerwährenden Pflege, Begütigung 


und nie aufhörenden Verſöhnung. 
Schelling, fämmtl. Werfe. 2. Abtb. II Al 


642 

Sp viel zur Erklärung des Naubs der Perfephone, der Trauer der 
Demeter. 

Nun aber dürfen wir, im unferer Darftellung fortichreitend, De- 
meter als wirklich beruhigt anjehen; Perſephone ift jet entjchieden und 
mit Einwilligung der Mutter bleibende Gattin des Hades, Demeter 
mit allen Göttern verföhnt, und nachdem fie innerlich beruhigt ift, 
außerlich nun ganz dem Dionyfos hingegeben. Die Götterwelt des Zeus 
ift eigentlich die von Dionyfos (dem zweiten, A?, fo oft ih von 
Dionyſos abjolut |preche) hervorgebrachte Welt — alle jene Zeusgötter 
find nur die den ausschließlichen, realen Gott verhülfenden, eben darum 
ihn als unfichtbar, als bloßen Grund fegenden Geftalten, und eben 
dahin, dieſen erften Gott zum bloßen Grund, zur Materie und Unter- 
lage des mannichfaltigen, getheilten Seyns zu machen, ging ja die ganze 
MWirfung des Dionyfos; wie in der Natnr das ausfchließliche Princip 
Grundlage des mannichfaltigen und getheilten Seyns wird, fo aud) in 
der Mythologie: alſo die Welt des Zeus, d. h. der mit Zeus gefeßten 
Götter, ift die Welt des Dionyfos, und Dionyfos felbft in Zeus. So 
erichten in einem von Polyfletos werfertigten Standbild, das Pauſanias 
bejchreibt, Zeus felbft ganz Ahnlid dem Dionyſos auf hohem Kothurn, 
mit dem Weinbecher in der einen und dem Thyrſos in der andern 
Hand, auf welchem oben Zeus Adler ruht, eine Kombination, welche 
fi ohne das von ung vorausgeſetzte Verhältniß durchaus nicht erflären 
liege. Nun kann bis in die entferntefte Vergangenheit zurück die Götter- 
vielheit, die bis jegt im helleniſchen Bewußtſeyn nur eingefchloffen und 
unentfaltet vorhanden war, frei und unbeengt durch das miderftrebende 
Princip hervortreten und alle Räume der vergangenen und der gegen- 
wärtigen Zeit lebendig erfüllen. Der vollendete Polytheismus ift gebo- 
ren, der vollkommen exoteriſche, denn exoterifch kann er nur werben, 
indem er von jenem Princip befreit ift, das überwunden zum efoterifchen 
wird. Borher war jener Polytheismus felbft noch eſoteriſch, er Fonnte 
nicht zur vollendeten Geburt fommen. Den Pelasgern (d. h. den Grie— 
hen der vorhellenifchen Zeit — Hellenen wurden die Griechen eben erft 
in jener letzten Krifis —) den Pelasgern und in Dodona war Zeus felbft 


643 

nody Geheimniß. Zu Knoſſos auf Kreta wurden in einer gewiffen Zeit 
Myſterien des Zeus, d. h. Zeus felbft wurde noch nur im Geheimniß 
verehrt. Erſt nach jener innern, im Bewußtſeyn ſelbſt geſchehenen 
Kriſis wurde die — bisher an der freien Scheidung und Auseinander— 
ſetzung gehinderte, verworren im Bewußtſeyn begriffene Göttervielheit 
völlig freigelaſſen. 

Darum konnte von nun an keines das andere aufheben. Denn 
1) das Eſoteriſche erzeugt ſich ſelbſt immer wieder nur durch den my— 
thologiſchen Proceß; es kann ſich nicht von ihm trennen, es entſteht 
nicht als ein Abſtraktes, ſondern ſtets nur als ein von jenem Einge— 
wickeltes; 2) kann das Exoteriſche ebenſo wenig jenes eſoteriſche Bewußt— 
ſeyn aufheben; denn das Exoteriſche ſetzt in feinem Entſtehen ſelbſt immer 
das Eſoteriſche, wie die Schale immer den Kern ſetzt und felbft nur 
Schale ift, inwiefern fie einen Kern einfchlieft; fette e8 das Eſoteriſche 
nicht, jo wäre es felbft hineingezogen in jene innere dunkle Geburtsftätte, 
in der feine Sonverung und Auseinanderjegung iſt; fein (des Exoteri— 
ſchen) Auferes, freies Dafeyn jest das Hemmende als überwunden, d. h. 
als Efoterifches, woraus. Erft indem die alle Vielheit hemmende oder 
abweiſende Einheit ſelbſt ind Berborgene, ins Myſterium zurücktritt, 
bleibt äußerlich die Vielheit ftehen als reines Erzeugniß, das nicht mehr 
im dunfeln Werden begriffen, jondern num ein wirklich Gewordenes 
ift, und eben darum Gegenftand einer vollfommen freien und felbit be- 
fonnenen Entfaltung wird, wie wir fie z. B. in der Theogonte des He— 
fiodos fon finden. Das Bewußtſeyn, beengt und gedrüdt von Diefer 
Vielheit, jolang fie ihm nod) innerlih war, hat fie jest gleichſau von 
ſich weg, und ift in ſein inneres Heiligtum zurüdgetreten, frei gegen 
die ihm völlig objektiv geworbene. Und hier kann ich denn nicht umhin, 
noch die allgemeine Bemerfung zu machen, wie ung freilich nad) dieſer 
ganzen Darftellung ver hellenifche Polytheismus anders erſcheinen muß, 
als z. B. dem übrigens hochverdienten Creuzer ‚und allen denjeni⸗ 
gen, welche in demſelben nur das Verworrene und Zerſplitterte einer 
früher reineren Lehre ſehen. Weit entfernt dieß zu ſeyn, iſt der voll» 
endete Polytheismus felbft eine große Befreiung. Durd das Setzen 


644 


dieſes äußeren, exoteriſchen Polytheismus gelangt oder befreit ſich das 
Bewußtſeyn zu jener inneren, rein geiſtigen Erkenntniß, in der es nur 
noch mit den reinen Urſachen verkehrt, die dann ſelbſt wieder zu einer 
noch höheren hinüberleiten, welche aber ſelbſt in der Myſterienlehre nur 
als zukünftig, als bevorſtehend verkündet, und als das tieffte Geheimniß 
bewahrt wird, auf deſſen BVeröffentlihung Todesftrafe oder ewige Ver— 
bannung gefett ift. 


Achtundzwanzigſte Vorlefung. 


Wenn die helleniſche Mythologie die letzte aller Mythologien und 
das Ende des mythologiſchen Proceffes felbft ift, fo müſſen ſich in ihr 
nicht nur die Principien aller Mythologie finden — denn am Ende zeigt 
fih was im Anfang war — fondern aud) fie felbft, als Erzeugniß der 
legten Krifis, muß von allen früheren Mythologien ſich unterfcheiden, 
der Polytheismus muß in ihr eine andere Bedeutung annehmen, als in 
ben früheren Götterlehren, wo er noch mit feinem Gegenfag zu ringen 
hatte. Es empfindet wohl jeder eine gewifje Verſchiedenheit zwijchen 
dem Eindrud, den er von den Göttern der früheren Zeit und ven er 
von den Göttern der griechiichen Mythologie erhält. Oder wer fühlte 
nit, daß in den älteren Mythologien der Irrthum als größer, ernfter 
fi) darftellt, in der griechiſchen Götterwelt als leichter, ja felbft als 
reizend erjcheint ? 

Auch die griehiihe Mythologie beruht auf einem erften Irrthum, 
ber Erhebung des eigentlicdy nicht feyn follenden Princips: fie wäre 
nicht ohne diefen Irrthum, fie fett diefen voraus; infofern iſt auch fie 
eine falſche, irrthümliche Religion; aber inwiefern fie dieſen Irrthum 
wenigſtens der Wirkung nach beſiegt hat, erhält ſie eben dadurch wieder 
eine Art von relativer Wahrheit, ſie wird zu einer Wahrheit eigner 
Art, wie die Natur auch eine Wahrheit eigner und beſonderer Art iſt. 
Denn die ganze Natur iſt in gewiſſem Sinn ein Irrthum; niemand 
wird geneigt ſeyn, ihr dieſelbe Realität zuzuſchreiben, die er Gott und 


646 


dem eignen Geift zufchreibt; obgleich wir aber diefen eine ganz andere 
Kealität zuerfennen als der Sinnenwelt, können wir diefer doch nicht 
alle Wahrheit abſprechen, ja inwiefern in ihr das nicht ſeyn Sollende, 
alfjo, wenn es it, fälſchlich Seyende, und demnach der Irrthum ſchon 
zum Theil wieder negirt, aufgehoben ift, infofern erlangen diefe, wenn 
auch nur relativen Negationen des nicht ſeyn Sollenden, wofür wir Die 
einzelnen Dinge anjehen können, felbft eine Art von Wahrheit, nänılid) 
relative, wenn auch nicht unbedingte. Wollte man alfo die griechische 
Mythologie, weil fie auf einem erjten Irrthum, auf einer erften Dis- 
Iocation beruht, da ein Princip von feiner Stelle, aus feiner Schranke 
gerüct und objektiv geworden ift, während es bloß Subjekt, - bloße Bo» 
tenz ſeyn follte — wollte man deßhalb die griehifhe Mythologie jelbft 
einen Irrthum nennen, jo müßte man doch jagen, - fie ſey ein jchöner, 
ein veizender Irrthum, wie man von dev Natur auf einer gewiljen hö— 
heren Stufe der Betrachtung jagen kann, fie ſey nur ein ſchöner Irr— 
thum. Site ift ein Irrthum, aber der ſchon befiegt, und zum Theil in 
Wahrheit verflärt, den Uebergang zur Wahrheit bildet. Die Eigen- 
thümlichkeit des griechiſchen Polytheismus beruht aber darauf, daß er 
— zwifchen Dergangenheit und Zufunft in der Mitte — dem Bewußt- 
jeyn ein völlig freies Verhältniß zu ſich geftattet. Denn indem vie 
griechiſche Miythologie das falſch religiöfe, deiſidämoniſche Princip 
der Vorzeit bejhworen und als Bergangenheit fi) unterworfen hat, 
das Princip der vollendeten geijtigen Neligion aber in den Myſterien 
als Zukunft jegt, kommt der Geift zu der in der Mitte zwifchen Ver— 
gangenheit und Zukunft, aljo in der Gegenwart und im allgemeinen 
Bewußtfeyn ftehen bleibenden Göttervielheit in ein völlig freies Verhältniß. 

Der Polytheismus, indem er aufhört Gegenftand eigentlicher 
Superftition wie in den morgenländifchen Syſtemen zu feyn (das Su- 
perftitiöfe in diefen beruht eben auf der nod immer fortdauernden 
Gegenwart des ausſchließlichen Prineips, des falſch-monotheiſtiſchen), 
indem er aufhört ein Gegenftand der eigentlichen Superftition zu feyn, 
wird der Polytheismus vielmehr unmittelbar Gegenftand einer poetiſchen 
und ſelbſt vichterifch-abfichtlichen Auseinanderfegung. Der Exnft und 


647 

die Strenge ber früheren Zeit find aus biefen Bildungen gewichen; nur 
bie gemilderte Größe ift geblieben; dieſe Bildungen machen Keinen An- 
ſpruch mehr auf religiöfe Realität, das eigentlich Reale ift in die Tiefe 
gefunfen. Die griechiſchen Götter find das, was nach der höheren Be- 
trachtungsweiſe eines wiſſenſchaftlich- oder poetiich-werflärten Gemüths 
die Dinge der Sinnenwelt find; fie find wirklich nur noch Erjcheinung, 
nur Weſen einer höheren Imagination, fie machen feinen Anſpruch auf 
höhere Wahrheit, als die wir aud dichterifchen Geftalten zuſprechen. 
Aber darum Fünnen fie nicht als ſelbſt poetiſch erzeugte betrachtet wer— 
den; dieſe nur mod) dichterifche Bedeutung kann wohl das Ende des 
Procefjes ſeyn, aber nicht der Anfang. Diefe Geftalten entftehen nicht 
durch Poefie, fondern fie verflären fi) in Poefie; die Poeſie felbft ent- 
fteht erjt mit ihnen und in ihnen. | 

Was jedod von diefer reinpvetifchen Bedeutung der griechifchen 
Mothologie gejagt wird, ift nur von dem exoterifchen, äußerlichen, für 
ſich ftehen gebliebenen Polythersmus gemeint. Es wäre einfeitig geur- 
theilt, wenn man die hellenifche Religion bloß nad) der Götterlehre be- 
urtheilen wollte, wie fie 3. B. im homerifchen Epos erfcheint. Die 
Myſterien find, wie wir gejehen, die audere, und zwar nicht zufällige, 
fondern nothwendige Seite der hellenifchen Neligion. Unter anderm 
erhellt aus diefem PVerhältnig, wie wenig Grund man- hat, Die, wie 
man fagt, von allem Myſtiſchen freie Götterlehre des Homeros als 
Beweis des nachhomeriſchen Urfprungs der Myſterien geltend zu machen. 
Was erftens den gewöhnlichen, vom Stillfhweigen hergenommenen Beweis 
für den nachhomerifchen Urfprung betrifft — daß nämlich Homer nir— 
gends der Myſterien erwähnt —, fo ift dieß befanntlich überall ein miß— 
licher. Außerdem fünnte e8 wohl Perfonen geben, die fühlen wollten, 
daß Homeros 3. B. jene durch ihre Myſterien berühmten Inſeln Lem— 
nos, Imbros und Samothrafe nie ohne ein gewifjes geheimes Grauen 
erwähnt‘. Doch darauf wollen wir nichts bauen, Wir wollen dagegen 
fragen, was man unter jenem im Homer angeblich fehlenden Myſti— 
ichen verfteht. Verſteht man etwa die Myſterienlehre ſelbſt darunter, 


‘ Bol. Odyss. II, 134. 


fo bemerfe ich, dag von Myſterienlehre bei viefer Erörterung über- 
haupt nicht die Rede ſeyn kann. Denn alles, was Lehre, Doftrin 
ift, bildet fi) im Lauf der Zeit aus, und wir müßten den offenbarften 
Thatſachen widerftreiten, wenn wir nicht felbft behaupteten, daß bie 
Miüfterienlehre ſich jucceffiv ausgebildet und zu einem abgejchloffenen 
Ganzen fogar erft fehr ſpät, vielleicht nicht allzulang wor den perjiichen 
Kriegen ſich geftaltet habe. Davon aljo ift in Diefer ganzen Unterſu— 
Hung nicht Die Rede. Es ift die Nede von der Grundlage, dem Grund- 
jtoff der Myſterien, und die Frage ift, ob Diefer mit der Mythologie 
gegeben, oder erft ſpäter herbeigebradht, und, wie Voß und feine An- 
hänger ſich vorftellen, in Griechenland eingefhwärzt worden. Hat man 
nun die Frage auf diefe Weiſe beftimmt, ift nicht von der Myſte— 
rienlehre, fondern von den müftiichen Clement die Rede, fo Fann 
dieſes nyftiche Element, Das man im Homer vermißt, nichts anderes feyn 
als eben jenes falſch Keligiöfe der früheren morgenländifchen Syſteme. 
Diejes nun kann man freilich nicht im Homer finden — denn dieſes 
falſch Eine ift ja gerade durch den Polytheismus verhült, in dieſem 
gleichſam verborgen, ihm zur Grundlage und demnach zum Innern 
geworden — freilich alfo muß er im Homer unfidhtbar ſeyn. s 
Aber, werden Ste jagen, in Homer ift auch Feine Ahndung 
pefjelben, e8 jollte eben im Homer als ein Berborgenes, als ein 
Myſtiſches angedeutet feyn. Ja dann wäre eben Homer nicht Homer. 
Homeros, d. h. der homeriſche Polytheismus beruht gerade nur auf 
dieſem Vergeſſenſeyn des Miyftifchen. - Homeros ift felbft die Krifis, er 
ift felbft das Ergebniß, das Reſiduum jener großen Kriſis. Er als 
das lette Erzeugniß der großen Bergangenheit gehört nicht dem einzel- 
nen Bolf, jondern der Menjchheit an. Er ift — die ſymboliſche Per: 
fon, in welcher ſich der reine, von feinem Gegenſatz völlig freie Poly- 
theismus ausſprach. Nicht Er hat die Mythologie erzeugt, ſondern 
er jelbit ift das Erzeugniß der Mythologie, und zwar jener legten Kriſis. 
Wenn denn Homeros gerade derjenige ift, in dem jene rein mythologi— 
Ihe Göttergefchichte fich vollendet hat, und ver in dieſem Sinn aller- 
dings, wie der uns nun erft verftändliche Herodotos fagt, den Hellenen 


649 
die Theogonie zuerft gemadt hat: jo muß bie Ausſcheidung des 
Myſtiſchen, d. h. es muß der Urfprung, e8 muß die erfte Grundlage der 
Myſterien gerade mit Homer gleichzeitig gedacht werden. Aber in- 
wiefern jener Scheidungsproceß doch fih in Homeros nun gänzlich 
vollzogen hat und zu Ende gebracht worden ift, infofern muß man be 
haupten, die Myſterien ſeyen ihrem erſten Grunde nach älter als der— 
jenige Homer, von dem hier zunächſt die Rede ift, nämlich älter als 
der fertige, vollendete oder, wie wir etwa auch jagen fünnen, der legte 
Homer. Die homerifche Götterwelt ſchließt ſchweigend ein Myſterium 
in fi, und ift über einem Myſterium, über einem Abgrund gleichjam 
errichtet, den fie wie mit Blumen zudedt. Die homerifche Götterviel- 
heit iſt felbft ein in Vielheit verwandeltes Eines. Gerade darum hat 
Griechenland einen Homer, weil es Myſterien hat, d. h. weil es ihm 
gelungen tft, jenes Princip der Vergangenheit, das in den orientalifchen 
Syſtemen noch herrſchend und äußerlich war, völlig zu befiegen und 
ins Innere, d. h. ins Geheimnig, ind Myſterium (aus dem es ja 
urſprünglich hervorgetreten war) zurückzuſetzen. Der reine Himmel, der 
über den homerifchen Gedichten jchwebt, Fonnte ſich erjt über Griechen- 
land ausjpannen, nachdem die dunkle und verbunfelnde Gewalt jenes 
unheimlicyen Princips (unheimlich nennt man alles, was im Geheimniß, 
im Verborgnen, in der Latenz bleiben jollte und hervorgetreten ift) — 
jener Aether, der über Homeros Welt ſich wölbt, konnte erft ſich aus- 
jpannen, nachdem die Gewalt jenes unheimlichen Princips, das in den 
früheren Religionen herrſchte, in dem Myſterium niedergeſchlagen war; 
das homeriſche Zeitalter konnte erſt alsdann daran denken, jene rein 
poetiſche Göttergeſchichte auszubilden, nachdem das eigentliche religiöſe 
Princip im Innern geborgen war und den Geiſt nach außen völlig 
frei ließ. Doch, wie geſagt, iſt in allen dieſen Behauptungen nur die 
Rede von dem Anfang, dem Grund der Myſterien. Dieſer mußte 
gelegt ſeyn, indem der reine Polytheismus entſtand, und ſogar noch 
ehe dieſer ſeine letzte, homeriſche Ausbildung erhielt. Denn übrigens 
kann niemand, der nicht Thatſachen und ſelbſt ausdrücklichen Zeugniſſen 
widerſprechen will, gemeint ſeyn zu leugnen, daß das, was zuletzt als 


650 


Mofterienlehre in Oriechenland dafteht, nur allmählich entſtand, und 
auch nur ſucceſſiv ganz fich ausgebildet hat. 

Zulegt, und ehe wir dieſe allgemeine Betrachtung verlaffen, ift es 
nöthig auch noch ein Wort über die Bejchaffenheit der homerifchen 
Götter im Allgemeinen zu fagen. Denn ic) glaube nicht, daß jeder 
geradezu im Stande ift, ſich bie eigentliche Natur und Bejchaffenheit 
diefer Weſen vollfommen deutlich worzuftellen. 

Bor allem bemerfe ich alfo: 1) daß die homerifchen Götter wirk— 
lich ernftlih und wahrhaft als Götter gemeint find, nicht als allego- 
riſche Darftellungen oder Perfonificationen von Naturkräften. Sie find 
— wirflide Götter; denn der Same des Gottes, des exft einzigen, 
ausſchließlichen Gottes ift in ihnen: fie find eben dadurch, daß jener 
in ihnen bloß potentiell geworben. Es ift nicht die Natur, fondern es iſt 
der Gott in ihnen, fie find nur der verhällte Gott. 2) find fie wir 
lid) Viele, nicht wie die Götter der erften Zeit, in denen der aus— 
Ihlieglich Eine noch waltet, nur formell Diele. Eine wirkliche, d. h. 
auch vielartige Vielheit — im Gegenſatz der abjtraften — entfteht nur, 
wo der ausſchließlich Eine wirklich "und zugleid) innerlich überwunden 
wird, 3) find fie, eben weil das Reale in ihnen zu fi) jelbft gebracht ift, 
nicht bloß äußerlich, durd eine bloße Fiktion, mit Geiftigfeit angethane 
Öeftalten, fondern fie find an ſich felbft und innerlich geiſtige Wefen, 
wahre Perfünlichfeiten, freie fittliche Naturen, und weil fie, obgleich 
gewordene, dennoch als Kefultat eines nun völlig beendigten und nicht 
wiederfehren könnenden Procefjes ftehen bleiben, find fie auch die feiner 
weiteren Beränderung unterworfenen, die unfterblicyen (ein Hauptprä- 
dicat). Als umfchriebene, begrenzte Begriffe erfcheinen fie 4) aud) durch— 
aus in beftimmten Geftalten, und zwar in menſchenähnlicher Geftalt, 
als welche allein der In-ſich-kehrung, der Wiederaufrichtung ins Geiftige 
angemefjen ift. Doc erftredt ſich dieſe Menfchenähnlichfeit ihrer Ge— 
ftalt nicht zugleidy auf die materiellen Eigenfchaften des menfchlichen 
Körpers, Wir haben zwar Zeus und die zu ihm gehörigen Götter 
materielle Götter genannt, aber nur im Gegenfaß der formellen, jener 
auch jegt noch über ihnen bleibenden Götter, die nicht mehr als 


651 


gewordene, ſondern nur als reine Potenzen, reine Wefenheiten ge- 
dacht werben: fie find materielle Götter, weil der reale Gott zur 
Materie, zur Unterlage ihres Seyns geworden ift; das Wort Ma- 
terie wird da nicht im phyſiſchen, fondern im philofophifchen Sinn genom- 
men, wo es jo viel als ein zur Grunde Liegendes, Vroxeiusvov, bedeutet 
(nicht: zerſtörlich, hinfällig, vergänglid). Hier aber unterfcheide ich die 
menjchliche Geftalt von ven materiellen Eigenfchaften derſelben. In diefem 
Sinn find die Götter nicht materielle Götter, fondern es ift, wie Epifur 
von jeinen Göttern jagt, fie haben nur gleichjam einen Körper, ihr Blut 
ift nicht Blut, jondern nur gleihjam Blut. Homeros jchreibt ihnen ein 
cußoorov eine, ein unfterbliches Blut zu. Sie find vie Yeicht- 
(ebenden, dere Swovreg, fie find nur geiftige Körper, awueare - 
Avsvuearırd, wie fie im N. T. den durch Auferftehung Verklärten 
zugejchrieben werden. Geſtaltlos können fie nicht jeyn, weil in ihnen 
eben das an ſich Ungeftalte, Geftaltlofe, jenes erſt ausſchließliche Un— 
endliche geftaltet ift, und herrlicher als menjchliche Geftalt läßt ſich 
nichts denken. Zeus läßt das Wilde, das Vormenſchliche nicht mehr 
zu; in ihm erfcheint nun der — menjchliche, und alſo Menſch gewor- 
dene Gott felbft, der in der ägyptiſchen Mythologie noch Thier ift. 
Menſchliche Geftalt der Götter ift fo nothwendig Ende des mythologi— 
ihen Proceſſes, wie der Menſch Ende des Naturprocefjes. Die menſch— 
liche Geftalt ift eben das Zeichen des befiegten, feiner Herrſchaft ent- 
jetsten blinden Gottes. Dieſer jelbft, der als der blindfeyende aufer 
feiner Gottheit ift, wird durch diefe Ueberwindung in feine Gottheit 
zurüdgeführt. Die menſchliche Geftalt alfo ift das Zeichen feiner Apo⸗ 
theoſe, und wenn Creuzer und andere ſo viel von dem ſinnlichen An— 
thropomorphismus der Griechen ſprechen, jo waltet hier derſelbe Mißver— 
ſtand, als wenn er ſich den Polytheismus nur als Verderb denken 
kann. Wir wollen uns die naive Anſchauung der griechiſchen Götterwelt 
dadurch ſo wenig als etwa durch die Anſicht derjenigen trüben laſſen, die 
geneigt wären, den Sternen- und Elementendienſt als eine reinere und gei— 
ſtigere Religion über den Bilderdienſt der Griechen zu erheben. Allerdings 
' Cic. de Nat. D. I, 18. 


652 


jener Gott des Himmels, den das ältefte Menfchengefchlecht verehrte, war 
auch nod) ein geiftiger — aber nicht zugleich ein gefchichtliches Wefen ; venn 
er iwiderjegte fi” dem Fortſchreiten, er war infofern noch vor und 
außer der Mythologie — ein ungefchichtlicyes Wefen. Aber er- mußte 
einem höheren Gott Raum geben, ihm zur Materie werden. Hier ſank 
auch der urſprünglich geiftige Zabismus zu einer Verehrung der mate- 
vielen Sterne herab, und es ift diefer materiell gewordene, aber in 
Geiftigfeit wieder umgewendete Gott, durch weldyen die bleibend geifti- 
gen Götter entftehen, die nun nicht bloß fittliche, fondern zugleich ge- 
ſchichtliche Weſen find, und das tft der Standpunkt der hellenifchen 
Mythologie. - 

Was den den Griechen vorgeworfenen Bilderdienſt betrifft, jo be- 
merke ich: gerade durch Götterbilder charafterifirt fi ver geiftige 
Polytheismus. Denn nur von dem Gott, der felbft Fein Naturgegen- 
ftand ift, und nicht mehr mit der Vorſtellung eines folchen zufammen- 
fällt, bevarf-e8 des Bildes, und umgefehrt, wer den Gott als wirk— 
lichen Gegenftand fieht, ſey e8 als Stern, als Sonne z. B. oder als 
Thier, fann des Bildes entbehren, oder wofern er etwa die fern wan— 
deinden, wie die als Sonne und Mond verehrten Götter fich näher 
bringen will, jo wird er fi) mit der roheften und plumpeften Nachah— 
mung begnügen. Nur was als reiner Gedanfe im Geift empfangen ift 
und lebt, kann auch wieder durch eine wahrhaft geiftige Schöpfung dar⸗ 
geſtellt werden. Wir können alſo die Anſicht, welche den griechiſchen 
Polytheismus nur für einen höheren Fetiſchismus ausgeben möchte, 
ſelbſt nur barbariſch, und dagegen das Selbſtgefühl nur gerecht finden, 
mit welchem der geiſtvolle und gebildete Hellene, wie in einer bekaunten 
Stelle des Ariftophanes, von der Höhe feines geiſtigen Polytheismus 
auf Sonne und Mond als Götter der Barbaren herabfieht '. 

ALS freie geiftige Naturen genießen die griechiſchen Götter aud) 
ferner einer unbedingten Freiheit der Bewegung. Nicht mehr wie bie 
Sterngötter der erften Zeit unabläßig ſich bewegende, fondern das 


‘ Pax, 408—411. Hieher gehört auch die Stelle in Platons Kratylos, 
p. 397 D. 


653 





Prineip einer unabläßigen Bewegung in ſich felkft befiegt enthaltend, 
erjheinen fie als das völlig überwundene Geſtirn. Alle willfürfichen 
Bewegungen beruhen auf einem Wechſel von Anziehung und Stredung 
oder umgefehrt. Auf einem gleichen Wechjel beruhen aber auch die fosmi- 
jhen Bewegungen. Nur der Unterfchied ift, daß diefe Mächte der 
Anziehung und Stredung in der organifchen Welt einer höheren Potenz 
untergeordnet erjheinen, die willfürlich über fie verfügt. (Wenn A? 
eingetreten, iſt auch B Geift, Wille geworden, nur dem A ® unterge— 
ordneter). 

Der Schritt zur völlig menſchenähnlichen Geſtalt frei beweglicher 
Götter war indeß unſtreitig der größte, und nur allmählich und ſtufenweiſe 
entſchloß ſich das griechiſche Bewußtſeyn, die menſchenähnliche Geſtalt der 
Götter auch in der bildenden Kunſt, in wirklicher Darſtellung zu zeigen. 

In den älteſten Zeiten des noch völlig ungeſchiedenen, alſo vor— 
helleniſchen Bewußtſeyns wurden von allen Hellenen (roig aacıw "Ei- 
Anoı jagt Pauſanias ausdrücklich) wüſte Steine (Adıor Eoyo/) ftatt 
Götterbilver verehrt . Diefe Verehrung der Götter in Form von 
Steinen u. ſ. w. entjpricht dem dumpfen pelasgijchen Bewußtjeyn noch 
nicht geſchiedener Götter  Demm auch unbearbeitete Hölzer (Klötze) 
werden erwähnt, unter denen ſelbſt Schon beftimmte Gottheiten verehrt 
wurden, die fid) das Bewußtſeyn noch nicht unter einer bejtimmten 
Geftalt zu denken getraute, 3. B. ein SUAov ovx Eioyaouevov als 
ein Bild der Artemis, bei’ den Ikariern °. Der Begriff der Diosfuren 
(der unzertrennlich Vereinigten) war zu Sparta durch zwei mittelft 
eines uerholzes verbundene Balken vorgeftellt *. Später erſcheinen 
Säulen oder kegelförmige Steine, wie jenes von Tacitus ° ‚bejhriebene 
Bild der Aphrodite zu Paphos, aud) ein Zeus als Pyramide zu Sikyon. 
Ein großer Moment war es alſo, da man zuerſt wagte, Götter in 

Pausan. Lib. VII, ce. 22. 

2 &, Dorfmüller a. a. O. p. 64. 

3 Clem. Alex. Protrept. p. 40. Eine eizova Hiiov avipyasron erwäbnt 
Herodianus Lib. V, p. 182. 


* Plut. de font, p. 478. 
5 Histor, II, 3. 


654 

menſchlicher Gejtalt zu bilden. Jene gräßlichen, obwohl im Allgemeinen 
menjhenähnlichen Bilder von Gögen der Phönifier, wovon Ueberbleibiel 
auch noch in Indien zum Theil gefunden werden, wie z. B. der Güte 
von Yaggernaut an die phönikiſchen Bilder des Molod) erinnert, waren 
nicht Folge von der Rohheit der Kunft, jondern der Angft vor dem 
Menſchlichen, mit der jenes unheimliche veligiöfe Princip, noch eh’ es 
beftegt ift, den Menſchen erfüllt. Je weniger menfchlich, deſto güttlicher. 
Die menfchliche Geftalt ift die allerletzte, la plus finie, alſo die am 
meisten endliche, jenem wüſten Unendlichen am meiften entgegengejegt. 
Biel mehr Wüftes, Unenpliches liegt noch im Thier und in der Thier- 
geftalt. Wenn das Menjchenähnliche nicht ganz abzuweifen ift,. wird es 
durch Derdrehung und Entjtellung der Züge wieder aufzuheben gefucht. 
Die ägyptiſchen Götter erfcheinen zum Theil mit menfchlichen Leibern 
aber Thierföpfen. Diefen Gräueln entging der Hellene, einzelne An- 
wandelungen ausgenommen, wohin die ſchon erwähnte Demeter in Phiga- 
lia gehört mit dem Pferdefopf, den zugleich Schlangen umgeben '. Der 
Hellene vermied diefe Gräuel eben dadurch, daß er aud) in der Kunſt 
länger an fich hielt, und lieber mit jenen noch verſchloſſenen, noc nicht 
zur Geftalt entwidelten Symbolen fid) begnügte. Auch als menfchliche 
Züge ſchon angedeutet wurden, wagte man die Bilder nicht völlig frei 
und unabhängig von der leblofen Maffe hinzuftellen. Frei hingeftellte, 
alles offen zeigende Bilder entfprechen dem befreiten, des Gegenftands 
völlig gewiſſen Bewußtſeyn. 

Die Künſtler jener unterirdiſchen Tempel von Elephante und 
Salſette, obwohl ſie ganz hervorſtechende und im höchſten Relief gear— 
beitete Figuren bildeten, wagten doch nicht, dieſe ganz vom Grund ab— 
zulöſen, ſondern ließen ſie im Zuſammenhang mit der Maſſe, gleichſam 
mit der Matrix, in welcher und aus welcher die Götter ſelbſt erſt all— 
mählich ſich losgewickelt hatten. Auch in Griechenland wagte man nicht 
gleich, die Bilder won der Maſſe abgelöst, frei — von allen Seiten zu— 
ganglid und fichtbar — hinzuftellen. Hierin, nicht in der Unvollfom- 
menheit der Kunft als ſolcher, Liegt der Grund von jenen Bildfäulen 

‘ Pausanias VIII, 42. 


655 
mit platt am Körper anliegenden Händen und eng aneinander gefchloffenen 
Beinen. Bekanntlich erzählen verſchiedene griechiſche Schriftfteller, daß 
die älteſten Bildſäulen in Aegypten und Griechenland auf dieſe Weiſe, 
und noch außerdem mit geſchloſſenen Augen, gleichſam als noch ſchla— 
fende, im realen Princip noch eingewickelte, noch nicht erwachte Götter 
abgebildet wurden. Sie waren menſchlich geſtaltet, aber ohne menſch— 
lich freie und willkürliche Bewegungen, Arme und Beine wie bei Tod— 
ten an den Leib und aneinander geflebt, die Augen, als Werkzeuge des- 
jenigen Sinnes, der vorzugsweife und vor allen auf die willfürliche 
Bewegung ſich bezieht, geſchloſſen. Bekanntlich hatte aud der Amy— 
kläiſche Apollon die Beine in eine Mafje eingewidelt, obgleich die Beine 
unten hervorftanden. In der millfürlichen Bewegung zeigt fidy das 
völlig Befreite, Lebendige. Man wagte alfo noch nicht, lebendige Götter 
zu bilden, fie behielten, wenn nicht das Pebloje, doch das Unbewegliche 
der Mafje bei. Bewegliche, wandelnde Götter fchienen dem Bewuft- 
jeyn zu flüchtig, zu wandelbar. 

Den beiten Aufſchluß über die Bedeutung diefer Bildungen, und 
daß fie nicht jowohl ein Moment in der Entwidlung der Kunft, als 
vielmehr der religiöjen Begriffe bezeichnen, den beſten Beweis dafür 
gibt eine Stelle des Plutarch, wo er anführt: Die Aegypter erzählen 
unter anderm aud) von Zeus (d. h. von Amun), daß er zufammenge- 
wachſene Beine (ouunepvzore ta oxehn) gehabt habe, umd weil 
er deßhalb nicht gehen Fünnen, aus Scham in der Einfamfeit (tn ber 
Berborgenheit, in der wovörn7g) geblieben ſey, bis Iſis ihm diefe Theile 
durch einen Schnitt getrennt, und jo möglich gemacht habe frei zu wan— 
deln ‘. Ich kann mir nicht verfagen zu bemerfen, wie diefe Erzählung 
unfere frühere Erklärung des ägyptifchen Amun beftätigt. Wir jagten näm— 
lich, es jey der Gott vor feiner- Offenbarung, vor dem Auseinander- 
gehen der Potenzen, welches als ein ſich Bewegen, als ein Ausſchreiten 
des Gottes gedacht wird, nad) einem uralten Bilde, zufolge deſſen die 
Schöpfung als ein Ausgehen Gottes von fi, als ein Aufbrechen, ſich 
auf ven Weg Machen vorgeftellt wird. Es ift daſſelbe Bild, vermöge 

'‘ de Isid. et Osir. c. 62. 


656 





deffen auch dag WU. T. von den Wegen Gottes fpricht, und die Naar 
fagt: „Jehovah hatte mid) im Anfang feines Weges”, d. h. noch ei er 
fich bewegte. So gejellt die ägyptiſche Vorftellung dem noch werborge- 
nen und noch einſamen (d. h. in feiner Mehrheit von Potenzen erjchei- 
nenden) Ammon die Iſis bei, welche ihm zur Bewegung verhilft, wie 
dem jüdiſchen Weltjchöpfer die II. Den erft .einfamen und ver- 
ichlofjenen ägyptifchen Gott bringt Iſis zum Herausgehen aus ſich ſelbſt, 
d. h. zur Schöpfung. Was alſo die Aegypter in jener Stelle des Plu— 
tarch von der Iſis erzählen, daſſelbe erzählen und zwar mit völlig 
gleichlautenden Worten die Griechen von dem Dädalos, mit dem fie 
ihre Kunftgefchichte anfangen. Sie jagen won ihm, daß er den Bild— 
jäulen zuerft ausjchreitende Beine (dunfepryaöra ra onEln) gegeben, 
die Augen geöffnet habe u. ſ. w. Diefe Parallele mit der ägyptiſchen 
Erzählung ift daher ein augenjcheinlicher Beweis, daß Die Sage des 
Dadalos in eine andere Sphäre als die der Kunftgejchichte gehört. 
Die Alteften Götter, die Sterngötter, waren bewegliche, aber ihre Be- 
wegung war feine fortjchreitende, daher — Unbemweglichkeit. Däpdalos 
gehört Durch feinen Namen ſchon, der ja aud ein Beimort der man- 
nichfaltigen, bunten, vielgeftaltiges Leben herworrufenden Natur ift, ſchon 
durch feinen Namen, dann aber auch als Baumeifter der ihm zuge= 
jchriebenen unterivdifchen Grottenwerfe und Labyrinthe gehört Dädalos 
offenbar der Zeit des Uebergangs an, des Uebergangs nämlich von der 
ftirengen Einheit des Zabismus zu der Bielartigfeit und Mannichfaltig- 
feit des jpäateren Polytheismus. In der Sage von Dädalos liegt alfo 
im Grunde nur die Erinnerung an den erften-lLlebergang von unbe- 
weglichen, nicht fortſchreitenden, zu beweglichen, fortfchreitenden Göttern. 
Dieß war aber nicht unmittelbar ein Uebergang der Kunft, Jondern 
zunächft ein Uebergang des religiöfen, mythologifchen Bewußtſeyns. Die 
Scheu, frei fich bewegende Götter darzuftellen, war nad) der Angabe 
der Griechen erſt mit Dädalos verfhmwunden, der, Aegypten und Gries 
henland gleid) angehörig (denn auch dorthin verſetzt ihn Die Sage, 
welche alfo in diefem Zeitraum die Völker noch nicht als getrennt denkt) 
auf jeden Fall nur einen Uebergang der Denfart bezeichnet. 


657 

Länger noch als vie Scheu, frei ſich bewegende Götter zu bilden, 
dauerte die Scheu, Götterbilder mit rein menſchlichen Gef ichts zügen 
auszuführen, und nachdem der Geiſt längſt an menſchenähnliche Bilder 
ſich gewöhnt hatte, forderte das religiöſe Gefühl noch immer an die 
Vergangenheit und das büftere Graun der Vorzeit erinnernde Gefichts- 
züge. Ja ein eigenthümliches, obwohl mit Ehrfurcht vermifchtes Graun 
müſſen jelbft noch die Bilder erregt haben, die man für Däpdaloswerfe 
anſah, von denen Paufanias jagt: fie haben etwas Ungebilvetes für 
den Anblick, fie feyen Eronareow moög av Öwıw, aber es wohne 
ihnen etwas eigenthümlich Göttliches in !. Auf ähnliche Werke mag fich 
eine Rede des Aefchylos bezogen haben, der von dem Päan eines ihm 
gleichzeitigen Dichters, des Tynichos, fagte: im Vergleich mit dieſem 
werde es dent von ihm (dem Aeſchylos) Gevichteten ergehen, wie den 
alten Götterbildern, die, obwohl einfach gearbeitet, dennoch für göttlich 
gehalten werden, da man im Öegentheil die neuern zwar bewundere, 
aber ihnen wenig Göttlichfeit zutvaue ?. Wegen diefer Anhänglichkeit 
an alte, beglaubigte Bilder mußte, als das uralte Bild der ſchwarzen 
Göttermutter (Demeter) zu Phigalin abhanden gefommen war, der große 
Bildner Onatas das an die Stelle des alten verfertigte Bild nad) Traum 
gefichten verfertigen, worin ihm die Göttin ſelbſt erjchienen war. Es 
war aljo um eine vera Icon zu thun. 

Was hat im Grunde auch van Eyck, diefer Dädalos der neuern 
Malerei, anders gethan, als daß er das Graun alter, kirchlich gehei- 
ligter Bilder durch die Größe feiner Kunft zugleich veredelte und ver— 
ftärfte? Wer empfindet dieſes veredelte Graun nicht bei dem blut— 
betrieften Kopf auf dem Schweißtuch ver heil. Veronica und in jenem 
eruften, ftreng ſymmetriſchen Chriftusfopf feines größten Schülers Hem- 
melinf, welche jest in Münden ſich befinden ? 

Als die ſchon frei gewordene Kunft unaufhaltfam die alten Formen 
ins Menſchliche und Natürliche verwandelte, hielt fie doch die Hand 
von den durch Alter und Herkunft geheiligten Gefichtezligen der Götter 

‘ Lib. I, e. 4. 


2 bei Porphyr. de abstin. II, 18.. 
Schelling, fänmel, Werke, 2. Abtb. 1. 42 


658 
zurück. Die Kunſt behält die althergebradhten Züge noch bei, aber 
ſchon mit einer unwillkürlichen Ironie, die z. B. an den merkwürdigen 
ägimetifchen Bildwerken fi) nicht verkennen läßt. Hier ftehen die Ge 
fichtszüge mit der naturgemäßen Ausführung der übrigen Körperteile 
in einem faft unerflärbaren Widerſpruch. Man fieht offenbar: die 
Künftler, welche alle übrigen Theile mit folder Wahrheit und zum 
Theil mit naiver Treue der Natur nachzubilden vermochten, wären 
wohl aud im Stande geweſen, die Gefichtszüge gleid) naturgemäß zu 
bilden. Was bielt fie davon zurück? Man könnte etwa jagen: bie 
Griechen haben in allem einen gefegmäßigen Gang beobachtet, fie haben 
daher zuerft die untergeorpneten Theile ausgebildet, umgefehrt von der 
modernen Kunſt. Dieß würde ausreichen, wenn die Köpfe und Geſichter 
nur etwa eine geringere Kunft- oder Nahahmungsfertigfeit anzeigten. 
Bielleicht aber erklärt ſich jene eisenthümliche Erſcheinung aus der fela- 
viichen Abhängigkeit, in der man fich die griechiſche Kunft von Der 
ägyptiſchen denken möchte? Allein damit wäre nody immer nicht erklärt, 
warum diefe Künftler, die in Anfehung des übrigen Körpers fid) von 
den angeblichen ägyptifchen Vorbildern bereits gänzlid) unabhängig ge- 
macht hatten — denn einige der Körper unter den äginetifchen Figuren 
grenzen ſchon an die ſchönſten der griechiſchen Kunft — warum dieſel— 
ben Künftler in Anfehung der Gefichter ſich noch einem ägyptiſchen 
Typus unterworfen haben follten. Diefe Scheu, gleichſam dieſe Ver— 
ſchämtheit der Kunft, Göttern oder Götter gleichgeachteten Heroen (aud) 
Herafles befindet fich ja mit unter jenen Bildern) menfchenähnliche Ge- 
fichtszüge zu geben, müßte alſo doch immer noch bejonders erflärt wer- 
den. Allerdings fieht man in den Gefichtszügen der äginetifchen Figu— 
ren ältere Vorbilder, aber nicht gerade der ägyptiſchen, jondern. jener 
älteren Kunſt überhaupt, melde das Göttliche nur durch entftellte und 
verbrehte menjchliche Züge darzuftellen, nicht e8 offen zu zeigen, ſondern 
durch etwas ihnen mitgetheiltes Außermenſchliches oder Nichtmenſch— 
liches — durd) etwas Fremdes — noch zu verhüllen, mit einer gewifjen 
Unheimlichfeit zu umgeben fuchten. Es ift am Ende daffelbe Gefühl, 
welches vielleicht auch jetzt noch den gemeinen Mann das fragenhafte 


659 


und beſonders in den Gejichtszügen verdrehte Bild eines Heiligen dem 
herrlichſten, denſelben Heiligen darftellenden Werk eines Raphael vor: 
ziehen läßt. In der That hat die Kunft niemals die Züge der Götter 
parallel mit den menfchlichen dargeftellt, fondern fie entweder unter 
die menſchlichen hevabgefett oder über die menjchlihen erhöht. Nie 
durfte das Göttliche und in Folge deſſen auch das Heroiſche eine bloße 
Nahahmung menſchlicher Züge ſeyn, wenn es nicht allen Glauben an 
jeine höhere Bedeutung verlieren wollte. Doch, wie gejagt, in den 
äginetifchen Figuren kann man ſolche Vorbilder nur eben noch erfeimen ; 
an ihnen jelbjt bemerkt man leicht, daR diefe verdrehten Formen nicht 
mehr für heilig geachtet werben, fie find offenbar ſchon ironiſch behan- 
delt, dieſe Gefichter find wahre Masken, d. h. der Künftler ift fich bewußt, 
Daß er nicht das Wahre, das Wirkliche darftelle, fondern nur einer 
einft heilig gewejenen Form folge. Wenn man die in die Länge gezoge- 
nen, gleihjam chinefischen Augen diefer Figuren, ihren gegen den Mund— 
winfel in die Höhe gezogenen Mund, der ihnen das Anfehen einer lä- 
helnden oder grinfenden Miene gibt — wenn man dieſe Züge von 
ägyptiſchen Driginalen herleiten will, jo muß man alsdann doch wieder 
erklären, warum ſolche Yormen in der ‚ägyptischen Kunft hergebracht 
waren. Denn anzunehmen, daß fie in Aegypten Nachahmungen der 
wirklichen Natur waren, d. h. daß die Aegypter ſelbſt zu irgend einer 
Zeit jo ausgefehen, befteht fein Grund mehr, feitvem man die Chinejen 
nicht mehr von den Aegyptern herleitet, und jeitvem wohlerhaltene ägyp— 
tifche Mumienköpfe und Schädel uns ganz andere Formen fennen gelehrt 
haben. Wer aber beobachtet hat, wie ein gewiſſes falſch andächtiges 
Gefühl fi) beſonders durch Augen-Berbrehungen oder Berzüdungen, durch 
ein gewifjes fab-fühliches Lächeln des Mundes fund gibt, der wird wohl 
diefe Formen überall, wo fie ihm vorfommen, begreifen, und am we- 
nigften die griechiſche Kunſt in einer jo ſchmählichen Abhängigkeit von 
der ägyptifchen venfen, daß fie aud) die ihrer Natur und Nationalität 
ganz fremden, fragenhaften Züge ägyptiſcher Bilder nachgeahmt hätte. 
Berfolgen wir den Fortgang der Kunft, jo hat fie, wie bemerkt, eigentlich 
niemals das einfach und ſchlicht Menfchliche der Geſichtszüge mit dem 


660 





Göttlichen vereinigt, fondern, fowie fie aufhört unter dem Menſch— 
lichen zu bleiben, erhöht fie alle Züge und Proportionen ins Weber- 
menfchliche, Ich ftelle vaher die Vermuthung auf, daß der Uebergang 
zu den vollendeten Götterbildungen in Aegypten wie in Griechenland 
zuerft im Koloſſalen gewagt wurde. Die Eleineren äghptifchen Idole 
find meiftentheil$ fragenhaft, aber an ven Eolofjalen Sphinzen und an 
andern Werfen von gleic) großen Dimenfionen erfcheint das menjchliche 
Antlig von der regelmäßigften, oft von der wollendetften und zum Theil 
zugleich ausdruckvollſten Schönheit. So ift über den geiftigen Ausdruck, 
die Hoheit und eine gewiffe zur Bewunderung hinreigende ftille Wonne 
in dem Kopf von rofenrothem Granit, der als ein junger Memnon ſich 
im brittifhen Mufeum befindet, unter allen Kennern nur Eine Stimme. 
Daß die eben erwähnten äginetiſchen Figuren dem größten Theile nad 
unter ber natürlicien Größe find, dieß kommt freilich zunächft von 
der Höhe des Gichelfeldes her, in das fie geftellt waren, aber mir 
icheint, es ift etwas in ihnen, das zeigt, daß bie Kunſt zu der Zeit, 
als dieſe Werke entſtanden, ſich noch überhaupt nicht im Koloſſalen 
verſucht hatte. Vielleicht, daß ſich jenes Eigenthümliche, woran man, 
wie es ſcheint, äginetiſche Werke auch von den älteſten attiſchen auf den 
erſten Blick unterſcheiden konnte, auf etwas Aeußerem der Art wie 
Dimenſionen und Proportionen beruhte. Auffallend iſt wenigſtens, wie 
Pauſanias bei Onatas, den er durchaus als denjenigen bezeichnet, durch 
welchen ſich die äginetiſche Kunſt zu gleicher Höhe mit der attiſchen ge— 
ſchwungen, daß Pauſanias hiebei das Hauptgewicht auf die von Onatas ver— 
fertigten Koloſſe legt, die denen des Phidias in nichts nachgeſtanden haben '. 

Wenn die bildende Kunft endlich ohne Schen rein menjchliche 
Formen nur infofern annehmen fonnte, als fie diefe Formen zugleid) 
ins Uebermenfchliche erhöhte, jo wurde nun umgekehrt diefes wunderbar 
erhöhte Menfchliche zur Beglaubigung für die Realität der Götter als 
wirflich höherer und einer höheren Drdnung der Dinge angehöriger 
Wefen, wie Duinctilian vom olympifchen Zeus fagt: cujus pulehritudo 
adjecisse aliquid etiam receptae religioni videtur. 

' Pausanias. VIII, 42. 


Neunundzwanzigfte Vorlefung. 


Wir haben jegt die griechiiche Iheogonie bis zu der mit Zeus 
entjtehenden Göttervielheit oder, wie wir richtiger jagen würden, bis 
zu dem mit Zeus entjtehenvden geiftigen Götterftant verfolgt. Denn 
nicht etwa nur Zeus, fondern Uranos, Kronos und Zeus erjcheinen in 
der letzten Entwicklung als Momente einer geiftigen Göttervielheit. Der 
Uranos und der Kronos, welcher in die helleniſche Göttergeichichte auf— 
genommen tft, ift ebenfalls in eine geiftige Welt verfegt und nicht mehr 
derjelbe, den die Phönikier oder den die älteſten Sternverehrer meinten. 
Es würde aber eine unrichtige und den Aeußerungen der Theogonte 
jelbft widerfprechende Anſicht ſeyn, wenn man die legte Götterentitehung 
jo anjehen wollte, als ob dieſe Götter hier überall erft entftünden. 
Zeus ift vielmehr nur der diefe Götter hervortreten laſſende, fie frei- 
lafjende, wie Dionyfos in feiner höchſten Wirkung nur der fie löſende 
(Adoros, wie er aud genannt wird), fie in Freiheit jeßende Gott, 
aber freilich zugleih der fie zum Rang geſchichtlicher Weſen erhebende 
Gott. Sie find ſchon vorher, nur eingefchloffen in jene dunkle Ge— 
burtsftätte des noch immer auf feiner Einzigfeit und Unanflöslichfeit 
betehenden realen Gottes. Sie find in diefer, nur ohne Sonderung 
und Auseinanderfegung. Dieß ſchimmert felbft in der Ilias zum Theil 
durch, in welcher die Göttergefchichte nun wirklich zur Fabel, zum ſüß— 
vedenden Mährchen wird, das in feiner arglofen Redſeligkeit nicht jelten 
ſich jelbft zu vergeffen ſcheint und in Widerſprüche verfällt, Denn jo 
wird einerfeitS angenommen, daß Zeus erft alle feine Geſchwiſter aus 


662 
dem Gefängniß des jie verſchließenden Gottes erlöst habe. Der Theo— 
genie zufolge wird Zens glei nad) der Geburt dem argwöhnifchen, 
eiferfüchtigen Vater entzogen und werheimlicht; dennoch wird in ver 
Ilias erwähnt, wie Here und Zeus geheim vor den Liebenden Eltern 
fich geliebt * — umd eh’ fie jelbft and Tageslicht traten und während 
Kronos noch herrfchte, Zeus dem bräutlichen Yager der Here ſich ge- 
naht habe. Die letzte Krifis ift daher nichts anderes als was das Wort 
jagt: Auseinanderfegung, Scheidung. Dieß erkennt die Theogonie jelbft 
an; denn nachdem nun die Titanen, die legten Regungen des blinden, 
verftandlofen Seyns, und aud) die letste Ausgeburt defjelben, Typhoeus, 
befiegt ift, bleibt dem Zeus weiter nichts zu thun, als, wie jchon er— 
wähnt, die Würden unter den Göttern gehörig auszutheilen. Die ein- 
zige Wirkung jenes leiten Moments war aljo, daß bie Götter, Die 
zuvor wandelbarer Geftalt und Bedeutung waren, jett jeder feine blei- 
bende Geftalt, jeine beftimmte Berrichtung, fein ihm ausſchließlich an— 
gehörendes Amt, jo wie die damit verbundene Würde erhielt, da früher 
in der Fronifchen Verwirrung des Bewußtſeyns je ein Wefen in das 
andere übergriff, und alle gegenfeitig an der freien Entwicklung ſich hin- 
verten. Wie mit den Geftalten und den Würden, jo war e8 natürlic) 
aud) mit den Namen. Denn wer z. B. fieht, wie Hera in manchen 
aus jener dunkeln Zeit ſich herichreibenden Erinnerungen als eins mit 
Berfephone erſcheint — aud) Polyfletos gab ihr den Granatapfel, das 
Zeichen der Perjephone, in die Hand —, wie felbft die hohe Athene 
nad) Creuzers jorgfältigen Zufammenftellungen mit faft allen früheren 
weiblichen Gottheiten fid) verwandt und verwechſelt zeigt, der fieht wohl, 
daß auch die Namengebung und. Unterfcheidung, welcher zufolge ei 
jeder Name nur Einer beftimmten Gottheit zufam, die Sache diejes 
letsten Moments war. Darum maß man fid) aber durch diefe ſchein— 
bar zwifchen ganz verfchievenen Gottheiten nachzuweiſende Identität ja 
nicht wre machen, oder fid verleiten laſſen, alles in eine ununterjcheid- 
bare Maſſe zu verſchwemmen, alles als eins vorzuftellen, woburd) Die 
mythologiſche Anficht eine unerträglihe Monotonie erhält, Alles, was 
‘11. XIV, 296, | 


663 
aus biefer gegenfeitigen Verwechslung der Attributionen verſchiedener 
Öottheiten folgt, ift die Neuheit diefer beftimmten Unterfcheidung ver 
Perjonen, und in Folge deſſen aud der ausſchließlich beftimmten Gott- 
heiten angeeigneten Namen. 

Die mit Zeus hervortretenden Götter mußten wohl ſchon vor 
Zeus ſeyn, denn Zeus jelbjt war eher als Zeus, d. h. eher al ber 
beftimmte Moment, der durch ihn bezeichnet iſt. Es gehört eben 
dahin, was die Alten von einem erften, zweiten, dritten Zeus, 
ebenfo was fie von einer erften, zweiten, dritten Artemis, und auf 
diefelbe Art von den. verfchiedenen Hermes fagen, deren Cicero allein 
ſechſe aufzählt '. Diefe verfchievenen Apparitionen verfelben Götter in 
verſchiedenen — früheren over fpäteren — Momenten, wo fie ſich 
denn aud) immer verjchteden darftellen, diefe verfchiedenen Erſcheinungen 
durchzugehen und auseinander zu legen, ift pas Geichäft des bloßen My— 
thographen, aber e8 liegt gänzlich außer unferem Beruf. Jeder ein: 
zelne Gott hat unftreitig auch feine fpecielle Gejchichte oder eine Folge 
von Erjcheinungsmweifen in früheren und jpäteren Momenten. Aber 
diefe müfjen wir, wie gejagt, den Mythographen überlaffen. Unjere 
Entwicklung kann fid nicht auf die Zufälligfeiten in der Entwidlung 
der Mythologie erftreden; unfere Abficht geht durchaus bloß auf das 
allgemeine Geſetz. Dennody hat die mythologiſche Bewegung, einmal 
zu Ende gefommen und aljo frei und befonnen, mit einer — nicht 
fünftlihen, fondern nothwendigen Conjequenz ſich in verſchiedene Rich— 
tungen gleichjam freiwillig erweitert, und fo finden ſich denn nod) einige 
in der bisherigen Entwidlung nicht begriffene Geftalten, von welden 
noch zum Schluffe zu veden tft. 

Materielle Götter nennen wir diejenigen, die aus der Zufammen- 
wirfung der drei Potenzen entftehen. Die Potenzen jelbft aber nennen 
wir die formellen Götter, die nicht als materielle oder concrete Weſen, 
ſondern nur als veine Urfache zu denken find. Inwiefern aber an jedent 
der griechifchen Götter alle drei Potenzen Theil haben, alfo an jedem 
die Potenz des Geiftes (A®) verwirklicht ift, inſofern find fie insge— 

' De Nat. Deor. III, 21 sq. 


ſammt mit Geiftigkeit angethane Weſen, und in dieſem Sinn ift der 
Polytheismus der Griechen überhaupt ein geiftiger. Wie aber unter den 
materiellen Göttern Zeus, Pofeivon und Aides untereinander fid) wie 
die drei Votenzen verhalten, jo daß Aides der erften, Poſeidon ber 
zweiten (dem vworzugsmeife fo genannten Dionyſos), Zeus der dritten 
(der an ſich geiftigen) entjpricht, fo werden auch die andern Götter 
verfelben Formation, d. h. die mit Zeus erft entftehenden Götter, nur 
verſchiedene Wiederfcheine jener drei die Mythologie erzeugenden Potenzen 
jeyn. Jeder Gott wird irgend ein Moment des Berhältniffes viefer 
Potenzen darftellen. Aber nicht bloß daß die erzeugenden oder verur- 
jachenden Potenzen der Mythologie ſich in den materiellen Göttern und 
ihren verſchiedenen Eigenfchaften wiedererfennen laffen, es fcheint aud), 
daß Götter, die jegt als zu den materiellen gehörige erfcheinen, in einem 
früheren Moment felbft formelle Bedeutung hatten, oder, deutlicher ge- 
jagt, es ıft wahrſcheinlich, daß unter den materiellen Göttern jeßt aud) 
ſolche fich finden, die früher im Bewußtſeyn als formelle erfchienen, 
aber ſich nicht als foldye behaupteten und fpäter ihren Namen einem unter 
den materiellen Göttern vorfommenden, aber analogen Gott mittheil- 
ten. Sp, wenn man weiß, daß die griedhifche Aphrodite fid) aus jener 
entfernten DBergangenheit, aus jenem Moment des Bewußtſeyns her- 
Ihreibt, der in den aſiatiſchen Mythologien durch die Urania bezeichnet 
ift, und wenn man alsdanır fieht, wie in der Ilias noch Ares als Ge 
mahl der Aphrodite erſcheint, jo fann man ſich unter dieſem zerftörenden 
Gott (Are) kaum etwas anderes als eine dem indiſchen Schiwa 
analoge Potenz vorftellen. In einem fpäteren Moment des Bewußtfeyns, 
wo der mit Urania zugleich gefetste relativ geiftige Gott ſchon als ver 
befreiende und in feiner pofitiven Eigenfchaft als den Geift vermittelnder 
erjhien, mußte ver bloß zerftörende Gott ihm weichen, allein er ging 
deßhalb im Bewußtſeyn nicht verloren, fondern erhielt nun feine Stelle 
unter den materiellen Göttern. Ueber Hephäftos habe ich mich früher 
bereits gelegenheitlic geäußert '. Er ift eine Gottheit, die von uralter 
Zeit her im griechifchen Bewußtſeyn ift, aber erft mit Zeus dieſe 
"©. oben S. 299, 


665 


beftimmte Geftalt geworden ift, als welche ex jetzt in der Reihe ver grie⸗ 
chiſchen Götter allein noch vorkommt. Daher er Sohn des Zeus und 
der Hera iſt. Zeus hat ihn vom Himmel geſtürzt; hierin, ſowie in 
der Eigenſchaft des Hinkens, die ihm von dem Fall auf die Erde ge— 
blieben, liegt die Spur, daß er, der jetzt nur noch Ein Princip (ein— 
jeitig) iſt, einft allfeitig und ausfchliegliches Princip war — das Princip 
des alles verzehrenden Seyns. Aber eben dieſes Seyn, das in feiner 
Ausschlieglichkeit nichts Einzelnes oder Concretes zuläßt, wird, einem 
höheren Princip untergeordnet, jelbjt zum materiell-demiurgiſchen, pla— 
ſtiſchen, künſtleriſch ſchaffenden. Daher ift Hephäftos der göttliche Künft- 
ler, die materiell- oder plaſtiſch-demiurgiſche Macht, der nad) ver Ilias ' 
den andern Göttern, den ſämmtlichen Olympifchen, ihre Site und Häufer - 
bereitende; auch darin erjcheint er als dieſen untergeordnet, als der ihnen 
ihre Stätte bereitende, und demnach feiner. eriten Herkunft nach als ur- 
alte Gottheit. Als dieſe ift er aud) dargeftellt, inwiefern ihm in ber 
Odyſſee Aphrodite beigefellt ift; denn dieſe älteren Götter heißen nur 
darum Söhne und Tüchter des Zeus, weil fie erſt mit Zeus und durd) 
Zeus bleibende Geftalt annehmen. In einem jpectellen Sinn heißen 
Kinder des Zeus die erft nad) Zeus und durch ihn erzeugten Götter, 
3. B. Pallas-Athene, die aus Zeus Haupte, d. h. aus dem höchſten 
mit Zeus erft gejegten Bewußtfeyn, hervorgeht. Wohl möglid), daß in 
der früheren Verwirrung des Bewußtſeyns ſchon eine ältere Gottheit 
auch Athene oder Pallas genannt wurde, aber in der legten Auseinander- 
fegung wurde dieſer Name Zeus geliebtefter Tochter vorbehalten, die ev 
hervorbringt, indem er die Metis in ſich zieht, als inwohnend jegt. 
Metis wird in der Theogonie die von allen Göttern und Sterbliden 
am meiften wifjende genannt. Metis iſt daher offenbar das Bewußt⸗ 
ſeyn in ſeiner Allgemeinheit und nun wieder erlangten Freiheit vom 
mythologiſchen Proceß. Indem aber Zeus es in ſich zieht, erhebt er es 
zum ſich ſelbſt wiſſenden Bewußtſeyn, zur Athene. Inſofern geht 
Athene eigentlich ſchon über die Mythologie hinaus. Metis ift Das 
iiber dem Ganzen, alfo aud über Zeus ſchwebende Bewußtſeyn; 
1, 604 fi. XIV, 166. 167. 


666 


aber der mythologiſche Erzeugungstrieb, der fein Werk befeftigen und 
abfchließen will, laßt auch dieſes gegen die Mythologie freie Bewußt— 
ſeyn, welches die entjtandene mythologiſche Welt wieder aufheben könnte, 
nicht außer ihr beftehen. Ausdrücklich wird in der Theogonie gejagt, 
daß Zeus auf den Nath der Gäa und des Uranos! die Metis, das 
über die Mythologie Hinausgehende, aljo felbft über Zeus Hinaus— 
wifiende (mAsiore Iewv eböviev nennt fie Heſiodos, alfo aud) 
die mehr als Zeus wifjende), Daß er diefe in fich felbft zurückziehe, 
iva un Baoıhmida tuumv Ehkog Eym: damit nicht ein anderer bie 
Fönigliche Ehre gewinne — ein anderer der höchſte Gott werde, 

Der mythologiſche Erzeugungstrieb alſo weiß e8 auf die angegebene 
Weife zu vermitteln, daß auch diefes Bewußtſeyn noch in die Mytho— 
logie jelbft heveingezogen wird. Athene tft Das ganz wiederhergeftellte 
Bewußtſeyn, das Urbewußtſeyn in feiner erften Yauterfeit und Jungfrau: 
lichfeit (Ste erinnern fid), wie diefer Begriff der Jungfräulichkeit gleich 
Anfangs bei Gelegenheit der Berfephone erklärt wurde ?), fie ift infofern 
wieder Perfephone, aber vie nun fich felbft wiſſende, die in ihrer 
Jungfräulichkeit fich ſelbſt wiſſende, oder umgekehrt das im ſich-ſelbſt⸗ 
Wiſſen gleichwohl jungfräuliche Bewußtſeyn, während Perſephone ihr 
ſich-ſelbſt-Wiſſen durch Verluſt ihrer Abgeſchiedenheit, ihrer Jungfräu— 
lichkeit gebüßt hat. Die letzte weibliche Geſtalt der Mythologie iſt in— 
ſofern wieder —= der erſten, oder die wiederhergeſtellte erſte. Darum 
iſt ſie auch das Erſte und Beſte des Zeus ſelbſt, die Liebſte des Vaters. 
„Sie thut was ſie will“, ſagt Here in der Ilias; ſie donnert mit Zeus 
Donner, rüftet ſich mit ſeinen Waffen, weder Ares noch Here finden 
gegen ſie Gehör, und ſelbſt die auf ihre Veranſtaltung verwundete Aphro— 
dite wird lächelnd abgemiefen?, Sie ift wieder jenes erſte unnahbare, 
gegen alles, was die Befonnenheit, d. h. die Einheit des Bewußtjeyns 
aufzuheben droht, gemwaffnete und gerüftete Bewußtſeyn. Doch ift fie 
nicht bloße (paffive) Einheit, die Berfephone in ihrem noch jungfräulichen 

rs 80l 
* ©. oben S. 157. 
=. V, 733 fi. 425 ff. 


667 
Stande war; fie iſt die Einheit, aber die die Zweiheit ſchon beftan- 
den hat; fie tft die Einheit — 1, die aus der Zweiheit = 2 in bie 
Einheit = 3 zurüdgefommen iſt, und darum ift fie die als Drittes 
geborene: roToyE&vez, ſchon bei Heſiodos ımd in den homerifchen 
Hymnen jo genannt — ein Wort, das nad) der Analogie von ro@- 
roy&verz (die erjtgeborne) grammatiſch richtig nur auf die von ung 
angenommene Art erflärt werden kann !, 

Zeus jelbft, der reale Gott in feiner legten Verklärung, könnte 
nicht Zeus feyn, wenn nicht eben derjelbe nad) unten Aides wäre; er 
iſt nur Zeus, inwiefern er auch Aides ift, und er ift fi) als Zeus bes 
wußt nur, inwiefern er fich zugleich als Aides bewußt ift. Alfo das 
Bewußtſeyn in Zeus verbindet Oberes und Unteres, und dieſes zwiſchen 
dem Tiefften uud Höchften hin- und hergehende, bewegliche Bewußtjeyn 
ift Hermes. Hermes ift infofern das die drei Götter verbindende 
und wieder als Einheit ſetzende Bewußtſeyn, das eigentlich in jedem tft, 
aber zugleich als ein Viertes vorgeftellt wird. — Weil der ganz in Ders 
ftand umgewendete Gott von felbft auch den untergegangenen, blinden 
in fich fchlieht, fo ift Hermes das beiden gleich befreundete Weſen, er 
ift ebenfowohl Boung x2Uöviog, der unterirdiſche, als der oberirdiſche 
und himmliſche Hermes. 

Noch find zwei Geftalten übrig, die — gleihjam iſolirt unter den 
andern hellenifchen Göttern — offenbar eine von den übrigen unabhän- 
gige Formation find, und eine zwar der bisher dargeftellten ganz ana- 
(oge, aber doch von diefen unabhängige Entwidlung anzeigen: ich meine 
Apollon und Artemis. Apollon nämlid hat in allen feinen Schick— 
falen fo viel mit Dionyfo8 gemein, er tödtet den Python, ber ſich ganz 
wie ein ägyptiſcher Typhon verhält — nad) einer andern Cage wird er 
selbft von Python getödtet, gerade wie in Aegypten aud) wieder Oſiris 


! Daher ift auch nicht das Dreied überhaupt, wie Das Ercerpt von Damad« 
cius bei Creuzer (Comment. Herod. p. 135) fagt, jondern das gleichfeitige 
Dreieck ihr Symbol. So bei den Pythagoreern nad Plutarch de Is. et Os. 
e. 75: To uöv yap idorkevpov rpiyavov ira)ovv Adnıav vooupayern ral 


roıroyEverav. 


668 
der zerriffene tft. Der von Apollon getödtete Python ift dev unterge- 
gangene veale Gott, über den nach Ariftorenos De re musica Olympos 
das erſte Trauerlied nach lydiſcher Weife gefungen haben fol. An ven 
velphifchen Hetligthümern hat Dionyſos gleichen Theil mit Apollon, der 
Parnaß gehört den zum Dionyfoscultus gehörigen Thyaden uud Mäna- 
den ebenfowohl als den Mufen. Kurz Apollon hängt fo mit Dionyſos 
zufammen, daß er vollftändig nicht zu erklären ift, ohne zugleich in Die 
ganze Dionyfoslehre einzugehen, wie fie nur in der Abhandlung ber 
Myſterien gegeben werden könnte. Hier indeß fo viel: Apollon kann 
nicht unter die materiellen Götter gerechnet oder gebracht werben, fo 
wenig als Janus. Noch viel weniger freilich Fünnen Apollon und Ar- 
temis auf die gewöhnliche Weife bloß für Symbole von Sonne und 
Mond erklärt werben, obwohl allerdings umgekehrt Sonne und Mond 
Symbole von Apollon und Artemis werden fonnten: — aber da er 
einerjeitS zu den materiellen Göttern zwar nicht gehört, won der andern 
Seite aber aus den formellen die Dionyfosivee ihn verdrängt hat, 
jo ift e8 begreiflich, wenn er unter die exoterifchen Götter gerieth. In— 
deß die Geheimniffe in Delphi zeigen hinlänglich, daß das griechiſche 
Bewußtſeyn die urſprüngliche Idee des Apollon zugleich fefthielt, ja 
mehrere Umftinde deuten darauf, daß er felbft wieder über den 
drei Dionyjen gedadht worden. Weil er durch alle Stufen hindurd)- 
gegangen, finden ſich in ihm die zum Theil widerftreitenden Attribute 
‚vereinigt, 3. D. eines zerftörenden, Peſt und Verderben fendenden und 
dann wieder des durch Mufenfünfte befeligenden Gottes. Demnach wäre 
Apollon am Ende der griehifchen Mythologie ihr höchfter Begriff, eben 
das, was am Anfang der altitalifchen und römischen der Janus ift, ex 
wäre alter Janus, womit ganz übereinftimmt, daß er ebenfo wie diefer 
als Gott der Wege gedacht wurde, wobei ic) an das über den Begriff 
des Wegs und der Wege Gottes Bemerfte erinnere: er heißt &yvıdras, 
ayvırds (fein Cultus ayvesrıdes Heoaneicı), von dyvıd, die 
Straße, der Weg; eine ihm im biefer Eigenfchaft vor den Thüren 
wie dem Janus gefette Säule wurde ebenfo genannt, Artemis verhält 
ſich dann ganz fo zu ihm, wie nad) der früheren Erklärung Diana zu 


. 669 
Janus ſich verhalten würde — als das erfte Spannende des Bogens, 
als Die erfte Urfache der Spannung, des Gefpanntjeyns der urjprünglid) 
in Apollon als einig gefetsten Potenzen. Doch, wie gejagt, die genauere 
Auseinanderjegung muß der Abhandlung der Miyfterienlehre vorbehalten 
bleiben, 

Sollen wir nun, nachdem den Hauptgöttern der griechiſchen Theo— 
gonie ihre Stelle und damit ihre Bedeutung beftimmt ift, uns noch auf 
jenes Gewimmel von Göttern einlafjen, das durch von Glied zu Glied 
ſich fortfegende Verzweigungen zuletzt ins Unbegrenzte fich verliert oder 
wenigftens feiner Natur nad) feine Grenze hat? Ic) glaube, die wäre 
überflüffig. Die Grundlage ift begriffen; was ſich nun weiter in allen 
Richtungen aus ihr hervordrängt, fordert um jo weniger wifjenichaftliche 
Entwidlung, als wir hier unftreitig genöthigt find, zugleich einer frei« 
dichteriichen, wenn auch immer folgeredhten Entwidlung, einen gewiſſen 
Einfluß zu geftatten oder zuzugeftehen. So mag denn fogar im diefen 
weiteren Ausführungen manches wirflide Erfindung ſeyn. Nachdem 
einmal die Berechtigung Götter anzunehmen gegeben war, wodurd) 
jollte ver Luſt, dieſe an ſich poetiiche Welt, die als eine zweite Schöpfung 
über der erften, und dieſer analog, fi) erhob, wodurch jollte der Luft, 
diefe ivenle Welt immer mehr auszuvehnen und endlich die ganze Natur 
und felbft alle Gejchäfte des Lebens in fie aufzunehmen, Schranfen ge- 
jegt werden? Ein Stamm von folder Lebenskraft, einmal gepflanzt, 
fonnte ing Unendlihe Schößlinge treiben. Nur der Stamm jelbjt, der 
allen diefen, zum Theil ſchon zufälligen, Bildungen vorauszufegende, 
nur diefer kann nicht Erfindung ſeyn. 

‚Zu foldyen rein dichterishen Erfindungen mögen vorzüglich diejenigen 
untergeorbneten Gottheiten gehören, deren Namen nicht einfache, jondern 
zufammengefegte find und eine unmittelbar ins Gehör fallende Bedeutung 
haben. Zulegt finden fid) ja fogar in der Ylias felbft wahre Perjo- 
nificationen, z. B. die befannte der Gebete (Alrae), die Zeus, tes all- 
mächtigen, Töchter heißen, die langjam hinter der Schuld herwandeln, 
aber wenn der Schulvige fie verfhmäht jelbit ven Zeus anflehen, daß 
feine Strafe ihm folge. Aber diefe Berfonificationen unterſcheiden ſich 


670 - 
jehr leicht won ven wahren Göttern, und feiner der Alten hätte fich wohl 
vorftellen können, daß die Figur der Profopopoiefiß, die in ihrer Rhe— 
torif eine jo untergeordnete Stelle einnahm, einft noch zu der Ehre 
gelangen würde, für die Schöpferin der ganzen mythologiſchen Götter- 
lehre gehalten zu werden. 

Wir hätten alfo jest die theogenifhe Bewegung von dem erften 
Anfang bis zu dent Punkte geführt, wo die am reichten entfaltete und 
in jeder Hinficht vollkommenſte Mythologie, die hellenifche, fich won felbft 
als ihr Ende darftellt. Die ganze mythologiſche Bewegung geht zulett 
anf die Erzeugung jener eroterifhen Götterwelt hinaus. Dieſelbe 
Bewegung, durch welche die Natur in ihrer Mannichfaltigfeit urjprüng- 
ich da ift, erzeugt im Bewußtſeyn durch einen wiederkehrenden Procef 
jene ganze Götterwelt, die fi) gegen die hervorbringenden Potenzen 
gleichjam als ein Biertes verhält, und nur aus der Zufammenwirkung 
diefer Potenzen als bloße Phänomene ihrer Zufammenwirfung ent- 
fteht. Wer dieß wohl gefaßt hat, wird fich nicht mehr durch jene Ana— 
logien irren lafjen, durch welche man allerdings mit einem gewiſſen 
Schein glaublich machen fonnte, daß alle mythologiſchen Götter nur perfo- 
nificirte Natur-Kräfte, -Erſcheinungen oder überhaupt - Gegenftände jeyen. 

In dem großen Gewirre von Borftellungen und Erſcheinungen, 
welches nicht nur die einzelne Mythologie, jondern die verſchiedenen My— 
thologien darbieten, in diefem haben uns die gleich anfangs aufgeftellten 
Prineipien niemals verlaffen. Ich darf wohl hinzufegen, daß bis jett 
feine Theorie der Mythologie exiſtirt, durch welche diefe fo beſtimmt 
nicht blog im Allgemeinen, ſondern bis in alle Zweige und Züge erflärt 
wird. Soll id nun ein Wort darüber jagen, wie dieß möglich gewor- 
den, jo kann ich mich darüber jo ausprüden: das einfache Geheimniß 
unjeres Verfahrens ift die Borausjegung, daß die Mythologie ihre eigne 
Geſchichte enthalte, daß es Feiner außer ihr jelbft liegenden Voraus— 
jegungen (3. B. kosmogoniſche Philofophen u. dgl.) bevürfe, fondern fie 
allein fich ſelbſt vollkommen erkläre, daß aljo diefelben Principien, 
welche materiell genommen ihren Inhalt ausmachen, auch die formellen 
Urſachen ihrer erften Bildung und Entftehung jeyen. 


671 


Es iſt für die Naturforihung endlich allgemein anerkannt, daß jeder 
Gegenftand derſelben aus fich jelbft erklärt werden müſſe, d. h. daß 
alle Entſtehungsgründe feines Werdens und Entfteheng an und in ihm 
jelbft gefunden und entdedt werden können. Daffelbe muß aber auch 
von geiftigen Erzeugnifjen gelten, die durch ihre innere Nothwendigkeit 
und gejegmäßige Entwicklung Naturerzeugniffen gleichzuftelen find, und 
daß dem jo jey, habe id) eben au den Beijpiele der Mythologie darge 
than, indem es jedermann offenbar ift, daß weder ein Princip zur 
Erklärung nod irgend ein Moment ihrer Entftehung angenommen 
worden, der nicht ſofort in ihr felbft nachgewiefen worden wäre. 

Wenn ic nun diefem beifüge, daß die Principien, welche eigentlich 
den Schlüfjel der ganzen Mythologie enthalten, am Beftimmteften und 
Keinften in der griehiihen Mythologie angetroffen werden, fo ift mir 
nicht unbefannt, daß ich damit etwas von den jett geltenden Anfichten 
jehr Abweichendes behaupte, indem man faft durchaus in der hellentichen 
Mythologie nur die verdorbene und verfälichte einer urſprünglich reineren 
Lehre und Erkenntniß fehen will. Aber ich habe gezeigt, daß für eine 
jolhe veinere Lehre in der früheren Zeit Fein Raum tft, und daß gerade 
der reine, von feinem Gegenſatz völlig freie hellenifche Polytheismus 
der nothwendige Uebergang zu der wirflich befjeren, reineren und höheren 
Erfenntnig war. Wenn daher von allen Götterlehren die hellenijche die 
legten Principien aller Mythologie in der größten Reinheit enthält, jo 
ift dieß eben darum, weil fie die jüngfte, demnad) dte am meiften zur 
Befinnung und zum Bewußtſeyn gefommene ift, aljo aud) die in den 
früheren Momenten nod blind durcheinander wirkenden, ſich gegenfeitig 
verbunfelnden und befämpfenden Brincipien in der reinften Geſchiedenheit 
und Auseinanderfegung zeigt. Ich hätte es aljo wohl niemals wagen 
fönnen, über den bloßen Stoff und das Aeußere hinaus auf das Innere, 
die erzeugenben Principien der Mythologie und das Gejeg ihrer Bil, 
dung und Yortichreitung zu gehen, wenn ich dieſe nicht fo rein entfaltet 
und dargeftellt in der griechiſchen Mythologie gewußt hätte, die von 
allen thatfächlichen Beweiſen unferer Theorie die entſcheidendſte Beſtaãti⸗ 
gung derſelben enthält. 


672 

So mandyes materiell Neue Sie indeß vielleicht diefen VBorlefungen 
verbanfen, e8 ift nicht da8 Wefentlihe; pas MWefentliche ift, daß 
Sie Gelegenheit hatten, an einem großen Beiſpiel die Kraft der wiſſen— 
Ihaftlihen Methode kennen zu lernen, und welcher Unterfchied ift zwi— 
jchen einer bloßen Neihe von Einfällen und einer Folge gejegmäßig, 
von einem erften Keim aus organifch ſich entwidelnder Gedanken; das 
Weſentliche ift, daß die Methode, welde Sie hier in einer beſonderen 
Anwendung kennen lernten, allgemeine Bedeutung hat, indem fie zugleid) 
die der Philofophie tft — der Philoſophie, inwiefern fie nicht an bie 
Stelle des reellen Zuſammenhangs die bloße Filtgranarbeit des Begriffs 
ſetzt —, allgemeine Bedeutung aud für andere nicht weniger ver— 
widelte Gegenſtände, deren fie, bei gehöriger Anwendung, ji) ebeufo 
mächtig erweifen wiürbe, wie wir vermittelft derfelben der Mythologie 
mächtig geworben find. 

Mögen daher diefe Vorträge beſonders dazu beitragen, daß das 
Studium der Philofophie wieder unter uns belebt, ernfter und männ— 
licher begriffen werde; mögen fie namentlich auch Die Frucht tragen, 
daß die Philofophie aud für die anderen Studien wieder die Be— 
deutung erhalte, die ihr mit Recht zufommt. Es ift wichtig, daß 
jeder in jedem Fach, dem er fid) widmet, die reichte Kenntniß von 
Einzelheiten ſich zu erwerben ſuche, und wer ohne folde mit bloßer 
Philofophie etwas oder wohl gar Großes ausrichten zu können ſich 
einbildet, befindet fi) in einem nicht weniger kläglichen Wahn, als 
derjenige, welcher ſich dünkte Feloherr feyn zu können ohne ein Heer; 
aber ihren wahren Werth erhalten alle einzelnen Kenntnifje, uud zwar 
je ausgedehuter fie find um fo mehr, erſt von der Kraft eines über- 
legenen Geiftes, der fie zu einem wiljenfchaftlichen Ganzen zu verbin- 
den, zu einem großen Sieg des Geiftes über die Maffe, zur Verwirk— 
hung wahrhaft uniwverfeller, weltumfafjender Gedanken zu verwenden 
weiß, und wahrlih die Probleme, welche gerade der gegenwärtigen 
Zeit vorliegen, fordern aufs Dringendfte und täglid) dringender Geifter, 
Die nicht in Einzelheiten untergehen, die auch Maſſen von ſich wider— 
ſprechenden Erfcheinungen und Thatſachen nicht rathlo8 gegenüberftehen, 


673 

jondern in ſich jelbft die Kraft und die Mittel finden, viefe zu über- 
wältigen, ſich über ihnen, frei von ihnen zu erhalten, um fie zu 
einer wahren Schöpfung zur vereinigen. Denn jolde Momente kommen, 
wo es nicht mehr gilt im alten gewohnten Gleis fortzugehen, wo man 
fi) zu einer neuen Schöpfung entjchliegen muß. Wenn ich für ein 
eifriges, ernſtes und tiefes Studium der Philoſophie ſpreche, jo rede ich 
daber wahrlich nicht für mein Intereffe. In einem Alter wie dag mei- 
nige ' kann man nicht auf eine lang dauernde Wirkung als Lehrer rech— 
nen. Uber lange Erfahrung und meine Weberficht belehrt mid), daß 
das öffentliche Leben überhaupt, daß Staaten insbefondere von denjenigen 
Univerfitäten fi) vorzüglich Heil veriprechen dürfen, wo das Studium 
der Philoſophie nicht bloß als Studium für Anfänger betrachtet wird. 
— nöthig höchſtens zu einer gewifjen formellen Bildung oder gar nur 
für künftige Staatsprüfungen, ſondern wo aud die Neiferen und die 
Ihon an pofitiven Kenntniffen reich Gewordenen immer wieder zur Phi- 
loſophie zurüdfehren, den Geift zu erfrifchen und zu erneuern, und um 
immer im Zuſammenhang mit jenen allgemeinen Principien zu bleiben, 
durch welche die natürlichen und die menfchlihen Dinge wie durch un- 
zerreißbare Bande zufammenhangen, die allein wahrhaft die Welt be- 
herrſchen, im Umgang mit welchen allein Männer fid bilden, Männer 
— fähig, was aud fommen möge, vor den Riß zu ftehen, vor Feiner 
Erſcheinung zu erfchreden, am wenigften aber, wie e8 gejchieht, wenn 
durch lange Verſäumniß endlich die Mittelmäfigfeit die Oberhand ge- 
wonnen und die Unmiljenden das große Wort führen, dann der Un— 

wifjenheit und der Seichtigfeit gegenüber ſelbſt die Waffen zu fireden. 
Sehe ih nochmals zurück auf den jett zu bejchließenden Bortrag, 
jo fann ich mir nicht verbergen, daß nod) einige Erörterungen übrig 
find, durch welche die vorgetragene Theorie erſt nad) allen Seiten abge— 
ichlofjen und gerundet wäre. ine der entjprechendften wäre geweſen 
die Erörterung und Nachweiſung des Zufammenhangs zwijchen den ver- 
ſchiedenen Momenten des mythologiſchen Proceſſes und der phyſiſchen 
Dieſe Schlußvorleſung über Philoſophie der Mythologie wurde am 20. März 


1846 in Berlin gehalten. D. 9. 
Schelling, ſämmtl. Werke, 2. Abth. 11 43 


674 


und gefchichtlihen Grundverfchtedenheit der Völker. Es gehören hieher 
auch einige genauere Erörterungen über die vorgejchichtliche Zeit der 
Griechen, namentlich das Verhältniß zwifchen Pelasgern und Hellenen. 
In letter Hinficht kann ic) jedoch auf eine ſchon erwähnte Schrift ver- 
weifen, die nad) diefer Seite hin meinen Vorgang ergänzt, die Schrift 
des Profefjor Dorfmüller de Graeciae primordüs, die e8 feinen meiner 
Herren Zuhörer veuen wird gelefen zu haben !. Endlich fehlt zum 
Abſchluß Die vollftändige Abhandlung der griechiſchen Myſterien, tiber 
welche ich mich hier nur mit allgemeinen Andeutungen begnügt habe. 

So unvollendet in diefer Hinfiht mein Bortrag erfcheinen mag, 
hoffe ich doch, daß er für Ste nicht ohne Nuten geweſen, und Jo 
bleibt mir nichts übrig, als denen, die auf diefem langen Wege mit 
fteter Aufmerkſamkeit mir gefolgt find, für ihre löbliche Ausdauer zu 
danfen, und mit der Erflärung zu ſchließen, daß ich Feinen angelege- 
neren Wunfc habe, ald Ihnen, und foldhen, die Ihnen an Wiß- 
begierde und Eifer für höhere Erfenntnig gleichen, aud) ferner nutzen 
zu können. 


' Der vollftändige Titel lautet: C. F. Dorfmüller, de Graeciae primordiis 
aetates quatuor. J. G. Cotta. 1844. 


Ueber die Bedentung eines der nen entdeckten Wandgemälde 
von Pompeji!. 


(Mit einem lithographirten Umriß.) 


Ich nehme dießmal die gütige Aufmerkfamfeit ver Klaffe für eines 
der kürzlich — ſoviel mir befannt ift, im Jahr 1825 — neuentdedten 
Gemälde von Pompeji in Anfpruch, über deſſen Sinn oder eigentlichen 
Inhalt gleich bei feiner erften Befanntwerdung die Meinungen der Er- 
flärer nicht jowohl woneinander abweichend, als, wenigftens was einen 
Haupttheil betrifft, vollig ungewiß und umentjchieven blieben. Es war 
ein bloßer glüdlicher Zufall, wenn frühere bei einer allgemeinen Unter- 
ſuchung gewonnene Anſichten mid in den Stand fetten, nad) einer 
bloßen Beichreibung, die ic) in Nr. 8 des Kunftblattes von Jahr 1826 
zufällig las, den Sinn des Bildes nicht bloß im Allgemeinen, jondern 
auch in Anfchung des bis dahin unerflärten Theils, mit Wahrſcheinlich— 
feit angeben zu können. Bei meiner Zurüdfunft nad) München erkun— 
Digte ich mich bet dem eben hier anweſenden gelehrten Alterthumsforicher, 
Hrn. Prof. Gerhard, näher nad) ver Beichaffenheit des Bildes, ohne 
von ihm mehr, als die ſchon erwähnte Beſchreibung bereits enthalten 
hatte, zu erfahren; nur überzeugte id) mich, daß Hr. Prof. Gerhard 
bis dahin feinen näheren Aufjchluß über die Bedeutung, weder einen von 
ihm felbft, nod) einen von andern gefundenen, geben fonnte. Später: 
bin hatte ic) das Vergnügen, durch die Freundſchaft des Hrn. Prof. 

! Borgelefen in einer Situng ber philoſophiſch-philologiſchen Klaſſe der Ala— 
demie der Wiffenfchaften in München. 


676 
Schorn eine Zeihnung des fraglichen Bildes zu erhalten, und eben 
dieſem Gelehrten, den ic) heute mit befonderem Bergnügen in unferer 
Berfammlung jehe, meine Deutung vefjelben, wie e8 mir fehlen, nicht 
ohne Billigung von feiner Seite, mitzutheilen. Diefe Zeichnung, welche 
ich hier worlege, jet mich nun in den Stand, meine Erklärung des 
Bildes anſchaulich vorzutragen. 

Da e8 unmöglich feyn würde, das Bild mit mehr Klarheit zu be= 
jchreiben, als dieß bereits in der allegirten Nummer des Kunftblattes 
geſchehen iſt, ſo begnüge ich mich, Die Dort gegebene Befchreibung zu 
wiederholen, indem ich nur die Bemerkung vorausſchicke, daß das frag- 
liche Bild fid) an der Wand eines der Höfe in demjenigen neuentdeckten 
Gebäude zu Pompeji befindet, das den Namen Haus des Poeten, 
erhalten hat, und von allen der bis jett entdeckten das am reichften ge— 
ſchmückte ift. 

„Huf der Duerwand”, fo heißt es in der angeführten Stelle, „zur 
Kechten vom Eingang befindet ſich das Bild einer mythiichen Vermäh— 
lung. Ein figender bartiger Mann mit Scepter faßt mit feiner Rechten 
den Iinfen Arm einer halbverfchleierten Frau mit reichgefticktem Kleide, 
Stirnfrone und Armſchmuck; beide haben auf dem vierten Finger ihrer 
Iinfen Hand den brautlihen King. Die Bewegung der Frau ift fo 
ſchüchtern, als der Ausdruck ihres wunderfam fchönen Kopfes feurig und 
lebensvoll; dieſes und die geflügelte Frau, vie hinter ihr als Führerin 
erjcheint und die man als Victoria auf die Wiedervermählung nad) dem 
troiſchen Siege beziehen mochte, mag die erfte Benennung diefer Come 
pofittion, Menelaus und Helena, veranlaßt haben, die wenigftens minder 
unglüdlid) tft als eine neuere von Peleus und Thetis. Der Hinter: 
grund einer zwiſchen Bäumen aufgerichteten, oben etwa mit drei Löwen 
verzierten Säule, an der Flöten, Cymbeln und ein Tympanım fichtbar 
find, könnte ein afiatifches Yofal andeuten; doc, ift diefe Deutung für 
Menelaus nicht ungezwungen, aud) das Coſtüm des bärtigen Mannes, 
dem ein rother Mantel das Hinterhaupt verfchleiert, für einen Griechen 
befremdend. Man würde nicht abgeneigt feyn, an die Vermählung des 
Saturnus mit der Rhea zu venfen, wären nicht unter dem Site drei 


677 
in laufendem Geſpräch beieinander figende Jünglinge bei jedem bis— 
herigen Erklärungsverſuch unenträthfelt geblieben. Diejes Bild hat feit 
jeiner neulichen Entdedung ſchon fehr gelitten, doch kann der Glanz feiner 
urjprünglichen Herrlichkeit jobald nicht verwiſcht werden“. 

Die hedzuverehrenden Herren werden aus diefer Bejchreibung, 
welche nad) dent untergefegten Anfangsbuchftaben den vorhin erwähnten 
Hrn. Prof. Gerhard zum Berfaffer hat, von ſelbſt bemerft haben, 
daß die Erflärer ſchon über die Bedeutung der zwei Hauptfiguren theils 
uneins, theils unentſchieden gewejen find, indem einige in ver weiblichen 
Figur die dem Menelaus durd) den Sieg von Troja wieder zugeführte 
Helena, andere in dem Ganzen, noch unwahrfcheinlicher, die Vermäh— 
lung des Peleus und der Thetis fehen wollten. Es ift dagegen gar 
nicht zu zweifeln, daß die Vermuthung des Hrn. Prof. Gerhard, die 
Hauptfiguren ftellen Kronos und Rhea vor, die einzig richtige ift; dafür 
würde ſchon das mit einem vothen Schleier verhüllte Hinterhaupt jpre- 
hen, welches, wie jedermann weiß, ein bejtandiges Attribut und Kenn» 
zeichen der Saturnus-Bildungen ift. Nicht weniger ſprechen dafür die 
wildſchönen Züge des Angefichts der weiblichen Figur und die ftrengen 
Gefichtszüge der männlichen. Die Handlung gehört der Zeit des herr— 
chenden Kronos an. Hr. Prof. Gerhard nimmt nur darum Anftand 
fi) für diefe Bedeutung entſchieden auszufprechen, weil, wie er jagt, 
die drei unter den Site in lauſchendem Gefpräd beieinander figenden 
Sünglinge bei jedem bisherigen, alfo auch bei diefem Erflärungsverjud) 
unenträthfelt geblieben jeyen. Es war num aber gerade umgefehrt, die 
aus der bloßen Beſchreibung errathene Bedeutung diefer drei Yünglinge, 
welche mich von der Deutung der Hauptfiguren auf Kronos und Rhea 
erſt eigentlich überzeugte. Nur war die Angabe über die drei Yünglinge 
felbft zu unbeftinmt: man mußte vorausfegen, daß der Künftler fie 
irgendwie untereinander abgeftuft und unterſchieden habe; aber von dieſem 
Sharakteriftiichen eines jeden fand ſich in der Beſchreibung nichts vor. 
Ich mußte daher um fo begieriger jeyn eine treue Zeichnung des Ge 
mäldes zu fehen, ein Vortheil, der mir, wie gefagt, zuerjt durd) Hra. 
Prof. Schorn zu Theil wurde. Nachdem ich nun aber gefehen hatte, 


678 
daß die charafteriftiiche Stellung und Bezeichnung eines jeden der drei 
Yünglinge mit meinem von ihnen worgefaßten Begriff vollfommen über: 
einftimme, jo fonnte ich nicht wohl mehr an der Nichtigkeit meiner Er— 
Härung zweifeln, und eben diefe Probe, die fie beftand, gibt mir den 
Muth, diefelbe nun auch der verehrten Klaſſe hiemit vorzulegen. 

Nach der griehiichen Theogonie zeugt Kronos mit der Rhea be- 
fanntlic drei Söhne: Aides, Pofeidon und Zeus; aber der große 
Kronos, wie Heſiodos jagt, verichlang jeden der Söhne wieder, fowie 
er aus dem Scooß der heiligen Mutter auf feine Kniee fam, um da— 
durch abzumenden, was Gata und Uranos, die älteren und von ihm 
jelbft verdrängten Gottheiten, vorausgefagt hatten, daß ihm beftimmt 
jey, von feinem eignen Sohne bezwungen und überwunden zu werben. 
Rhea aber empfindet über das Unglüd ihrer Kinder untröftlichen 
Schmerz. Demnach gelingt e8 ihr, den Kronos zu hintergehen, und 
ihm den jüngftgebornen Sohn Zeus zu entziehen, der dann auf die 
befannte Art den Vater wirklich bezwingt und zugleich aud) die won eben 
dieſem verſchlungenen Söhne wieder befreit und ans Licht herporbringt. 
Fortan theilen fi) die drei Söhne in die Weltherrichaft: an der Stelle 
des Einen und ausſchließlich herrichenden Kronos herrſchen die Drei 
Götter, zwar jo, daß Zeus als der Höchfte unter ihnen über alle her— 
vorragt, Daß aber doch jedem fein eignes Reich beſchieden ift. Aides 
erhält den unterften Theil, die Unterwelt, zu feiner Herrihaft, Po— 
ſeidon den mittleren. oder das Tiefſte alles Oberirdiſchen, das Meer, 
Zeus das höchſte Oberirdiſche, den Aether. 

Demgemäß find nun, folang Kronos noch herrſcht, Die Drei Götter 
gegen ihn im Verhältniß zufünftiger Weltherrſcher, aber noch 
find fie als folche verborgen im Hintergrunde der Zufunft. Ich be— 
merfe num zuerft, daß die drei Jünglinge unferes Gemäldes nichts anderes 
als die drei Söhne des Kronos find. Betrachtet man die Zeichnung 
genauer, jo findet man, daß fie unter ſich ſtufenweiſe erhöht figen; 
am tiefjten die ung den Rücken zufehrende Figur, welche ich daher für 
den Fünftigen Aides erkläre; ic) bemerfe dabei, daß die auf den Rücken 
gelegte rechte Hand, melde dem Beſchauer ganz die innere Fläche 


679 

zumendet, in einem griechiſchen Bild, wo alles beveutend ift, ebenfalls 
auf den Aides als den von der Gegenwart abgewendeten Gott der 
Bergangenheit hindeuten mag. Denn gewiß befigen wir in dem Gemälde 
von Pompeji die treue Kopie eines griechiihen Werkes; und das hohe 
Bedeutungsvolle des Ganzen zeigt, dag dieß ein Bild aus der ſchönſten 
griechiichen Zeit gemefen feyn muß. Die zu unterft fitende, dem Be 
Ihauer faft ganz den Rücken und die innere Fläche der rechten Hand 
zufehrende, das Gejicht beinahe völlig abwendende Figur erkläre ich alſo 
fir Aides. Die zweite, ſchon erhöhter figende, fin Poſeidon, deſſen 
bejtändige Charafteriftif, das Breitbruftige, welches ihm in der Poeſie 
wie in der Kunft mie fehlt, auch hier aufs Beftimmtefte ausgedrüdt 
it. Die dritte, am höchſten ſitzende, jugendlichſte, ſchlankſte, aufmerk- 
ſamſte und denkendſte Figur erkläre ich für Zeus, der, unter den 
dreien nad) der Theogonie der jüngite, in der Ilias fi nur 
darum des höhern Alter vor den andern rühmt, weil er zuerjt dem 
finderverfchlingenden Vater entzogen und von ihm befreit worden, bie 
andern alſo nad) ihm erſt ans Tageslicht gekommen. 

Wird nun auf diefe Art durch die charafteriftiiche Stellung und 
das fonft Bezeichnende die Vermuthung, daß die drei Yünglinge die 
prei Kronos-Söhne feyen, nicht widerfprocdhen, vielmehr beitätigt, fo 
entfteht als nächfte Trage: was ihre Stellung unter dem Thron, durd) 
die fie dem Vater und der Mutter felbft verborgen find, bedeute? 
Hierauf kann ich nichts antworten, als daß fie eben durch dieſe Stel» 
fung als die nod im Hintergrund verborgenen, bloß zukünftigen Götter 
angeveutet werden. Ich halte mich dabei überzeugt, daß diefe drei Fi- 
guren in maleriſcher Hinficht aud ganz anders als die beiden Haupt: 
figuren behandelt waren. Ich wünſche das Gemälde möge nod gut 
genug erhalten feyn, um dieß durch Autopfie entfcheiden zu können. Ob 
vielleicht die Angabe des Hrn. Prof. Gerhard, das Bild habe feit 
feiner neuerlichen Entdeckung ſchon ſehr gelitten, ſich bloß auf dieſen 
Theil des Bildes beziehe, ift mir nicht befannt. 

Es wäre zwar, wenn man diefer Stellung nad) eine in anderer 
Hinficht wieder gewagte Deutung geben wollte, nicht das erjtemal, daß 


wir durch antife Bildwerfe eine verſchiedene, nämlich eine von ber 
früher befannten abweichende, übrigens ebenfalls alte Auffafjungsweife 
einer mythologiſchen Erzählung kennen lernten. Bekanntlich ift in ver 
griechiſchen Göttergefchichte dieſelbe SKataftrophe — daß nämlich ein 
herrſchender Gott oder ein herrichendes Göttergefchlecht von einem fol⸗ 
genden verdrängt wird — zweimal wiederholt. Zuerſt herrſcht Gaia und 
Uranos, der ſeine von Anfang ſchon ihm aufſätzigen Söhne, eben 
weil er dieß an ihnen kennt, jeden gleich ſowie er geboren wird, in 
der Tiefe der Erde verbirgt (mdvrag anoxoüntuoxe aui &g pdog 
ovx avisoxe, Tains Ev zevFuov). Der Ausdruck für diefelbe 
That bei Kronos ift Schon ein anderer; e8 heißt: ul Toüg utv xu- 
renıve Koovog usyas. Eine no beftimmtere Variation ift in bie 
Erzählung des darauf folgenden Vorgangs gebracht; auch die unge- 
heure Gaia erfeufzt innerlich tief über das Loos ihrer Kinder und forgt 
für eine große ſcharf ſchneidende gezahnte Sichel, die fie dem in einen 
Hinterhalt geftellten jüngften Sohn in die Hand gibt, um dem Vater 
in dem Augenblid, da er im Begriff ift ſich ihr zu nähern, die Zeu- 
gungetheile abzufchneiden (eive HE ww xoVwaou Aöyw, Eveönne 
dE yeıol donmv xuoxao6dovre, und nachher: 6 ö’ &x Aoyeoio 
ndis wgefaro zeıol). Der Sohn greift alfo aus einem Hinterhalt 
vor. Diefen Hinterhalt kann man fid) wohl nur in demfelben Raum 
denken, in welchem die ſämmtlichen Söhne und mit ihnen auch Kronos 
verborgen waren. Der Sturz des Kronos geht nun aber auf veränderte 
Weiſe vor: Zeus wird dadurd) gerettet, daß dem Vater ein in Windeln 
gewidelter Stein zu verfchlingen gegeben wird; und Zeus kann ruhig 
heranwachſen, bis er ſtark genng ift zur Ueberwältigung des Vaters, 
die dießmal ohne Entmannung abgeht. Schon der poetifche Sinn hätte 
dem DBerfaffer der Theogonie nicht erlaubt, dieſelbe Geſchichte mit un— 
veränderten Umftänden fid) zum zweitenmal wiederholen zu laſſen. In— 
deſſen können wir nicht wiffen, ob nicht in anderweitigen Sagen und 
gerade in der gemeinen Bolfsfage die beiden Vorgänge fid) weit ähn— 
licher erzählt wurden. Wenigftens war nad) einer andern, urfundlid) 
nachzuweiſenden Sage auch Kronos von feinem Sohne Zeus entmannt 


681 

worden. Auf der Inſel Zankle, deren Name jelbft ein krummes Wein- 
mefjer bedeutet, zeigte man noch in ziemlich fpäten Zeiten das Drepanon 
vor, deſſen fid) Zeus bei diefer Handlung bedient hätte. Es wäre alfo 
nicht unmöglich, daß nad) diefer oder irgend einer andern Verfion Zeus- 
den Kronos ebenfo von dem Drt her überfallen hätte, an welchem ex 
mit jeinen Brüdern verborgen war. Wäre dieß nun mehr als eine 
bloße Möglichkeit, jo Fünnte man etwa behaupten, die Stelle unter und 
gemifjermaßen hinter dem Thron in unferem Bilde fe eben der Ort 
der Berborgenheit und Tiefe, in dem Kronos feine Söhne gefangen 
gehalten. Denn ohne die Vorausſetzung einer auf ſolche Weije ab- 
geänderten Sage Fünnten wir uns dieß nicht denfen, weil nad ber 
uns befannten Erzählung Zeus nicht mit feinen andern Brüdern vers 
Ihlungen, d. h. in die Berborgenheit zurüdgefett wird. Bei dieſer 
Bewandtnig der Sache muß ich diefe zweite Erklärung vorerft um fo 
mehr als eine bloße Möglichkeit anführen, als es mir bei dem hod)- 
ſymboliſchen Charakter des ganzen Bildes nicht ſchwer fällt, im diefer 
Stellung der drei Söhne nur die ſymboliſche Darftellung des allge- 
meinen Begriffs nody im Hintergrund der Zufunft verborgener, nod) 
nicht in die Wirklichfeit hervorgetretener Götter zu denken. 

Dieſe ſymboliſche Bezeichnung des bloß Zufünftigen in den drei 
Geftalten ift nämlich auch außerdem wohl zu erfennen: nicht nur find 
fie der Geftalt nad) Fleiner als die Hauptfiguren, ſondern aud) durchaus 
jugendlich, unbärtig, als Jünglinge dargeftellt, d. h. als ſolche, die 
erft im Heranwachjen begriffen find, als nur noch zufünftige Weltherr- 
ſcher. Daß ich in diefem jugendlichen Ausjehen nicht zu viel ſuche, er— 
hellt aus Beifpielen einer ganz ähnlichen Symbol. So lag in den 
Armen der Fortuna primigenia zu Pränefte der fünftige Weltherrſcher 
Zupiter als Kind. In ägyptiſchen Bildwerken erjcheint ebenſo Horos 
am Buſen der Iſis, als künftiger Weltherr bezeichnet durch die Welt— 
kugel auf ſeinem Haupte. Ebenſo wird der letzte, nur noch in My— 
ſterien gezeigte Weltherrſcher Jalchos als Säugling an der Bruſt der 
Demeter gezeigt, derſelbe, der in andern Vorſtellungen ſchon als Kind 
mit den Attributen der künftigen Weltherrſchaft ſpielend vorgeſtellt wird, 


682 





nnd im der feierlichen Jakchos-Proceſſion am jechsten Tage der Eleu- 
jinien bereits als Knabe (Kuros) mit nad) Eleufis zieht. Diefelbe naive 
Symbolif werden wir alſo aud hier in unjerem Bilde anerfennen dürfen. 
Ueber die Myrtenkränze auf den Häuptern der drei Jünglinge werde id) 
mich ſpäter erflären. 

Was den Geſammtausdruck in der Stellung und den Geſichtern 
der drei Jünglinge betrifft, ſo nimmt die vorgeleſene Beſchreibung an, 
daß ſie in lauſchendem Geſpräch begriffen ſeyen; wahrſcheinlich nicht, 
daß ſie einander, ſondern daß ſie das Geſpräch der Aeltern belauſchen 
und ſich darüber gegeneinander äußern. Müßte man den Ausdruck 
des Zuhörens, des Lauſchens durchaus in ihnen erkennen, ſo würde 
dieß für die zweite Anſicht entſcheiden, daß ſie nämlich an dem Ort der 
Verwahrung ſich befinden, in dem ſie der Vater verborgen hält. Ich 
will indeß dahingeſtellt ſeyn laſſen, ob der angebliche Ausdruck des 
Lauſchens nicht ebenſowohl allgemeiner als Ausdruck der Spannung und 
der Erwartung gefaßt werden kann, durch den ſelbſt wieder nur der 
allgemeine Begriff des Zukünftigen angedeutet wäre. Denn das, was 
noch nicht iſt, ſondern erſt ſeyn ſoll, befindet ſich in natürlicher Span— 
nung gegen das, was jetzt iſt. Unzweifelhaft iſt auf jeden Fall, daß 
dieſe Spannung, die man für ein aufmerkſames Zuhören allerdings 
anſehen kann, ſich auf das bezieht, was über ihnen vorgeht. 

Es iſt nun Zeit, unſere Aufmerkſamkeit auf die zwei Hauptfiguren zu 
richten. Die Hauptbewegung ift klar: Kronog ! zieht die, wenn nicht ſich 
fträubende, doch zaudernde und zweifelhafte Rhea an fi), mit feiner 
rechten Hand ihren linken Arm faffend. Der vorhin erwähnte Be— 
Ihreiber findet die Bewegung der meiblichen Figur ſchüchtern; doch ift 
ed offenbar nicht fowohl die Schüchternheit jungfräulicher Verſchämtheit, 
als eine zaghafte Schen, melde das Bewußtſeyn eines unheilvollen 
Erfolges einflößt, die befonders auf dem Angeſicht ver Rhea ſich malt. 
Diejenigen, melde eine dem Menelaus zurüdgebrachte Helena in ber 

Zu dem Geficht des Kronos vergleihe man den Ausdrud, der ſich im 


Fragment des Dichters Antimachos bei Plutarch (Fragen iiber römische Ge- 
bräude 42.) findet: 06 Adoıog Koovog (der bärtige Kronos). 


683 
Figur erkennen wollten, fahen in dem Ausdruck derſelben unftreitig das 
Gefühl des gegen den früheren Gemahl begangenen Unrechts; ein Unrecht 
gegen den Gemahl begeht aber auch Rhea, inwiefern fie weiß, daß die 
Kinder, die aus diefer Verbindung entjpringen werden, einft den Vater 
übermältigen und an feiner Statt herrfchen follen. Hätte man nad) ver 
zweiten Anficht die drei Söhne, Zeus mit inbegriffen, als ſchon ge- 
borene und nur nod) verborgene und vom Licht verbannte ſich zu denken, 
jo müßte man im Gegentheil im Geſicht der Rhea den Ausdruck des 
Unmuths über das Schidjal ihrer Kinder und ihre Weigerung zu fer- 
neren Geburten erfennen. Hätte der Künſtler dieß ausprüden wollen, 
jo hätte er ftatt des großen, urjprünglichen Verhältnifjes ein unterge- 
ordnetes und ſehr gemeines zum Gegenftand feiner Darftellung gewählt. 
Sein Werk ift nicht von der Beichaffenheit, um ihm eine jolde Wahl 
zuzutrauen; das Jungfräuliche neben dem höchſt Ahndungsvollen im 
Geſicht der Rhea läßt nicht zweifeln, daß hier bie erſte Verbindung des 
Kronos mit der Rhea dargeftellt ſey. Man glaubt die Rhea, wie fie 
Heſiodos bejchreibt, zu fehen: 
‘Pein Ö av dundeisa Koovo Tiere paldına rerva, 

Rhea, wie fie Kronos zuerjt bezwingt. Dieſe Gewißheit, die man aud) 
unabhängig von dem bräutlichen Ringen nicht abweijen kann, daß hier die 
erfte Verbindung des Kronos mit der Ahern dargeftellt ift, entjcheidet 
aud über den andern, bis jett noch zweifelhaft gebliebenen Punkt; vie 
drei Söhne find nicht die ſchon geborenen, nur eingefchlojjenen und 
vom Licht abgehaltenen; fie find die ſchlechthin zukünftigen, noch unter 
der Gegenwart verborgenen, denen erſt durch die eben ji, jchließende 
Berbindung geboren zu werden beftimmt ift. Das ganze Gemälde 
nimmt dadurd jenen erhabenen ſymboliſchen Charakter au, den wir 
nur in den großartigften Darftellungen des Alterthums finden, Cs ift 
dadurch erft won gemein hiſtoriſchen Standpunkt völlig hinweggehoben 
und erfcheint als das Werk nicht bloß einer geſchickten Hand, ſondern 
eines kühn denfenden Geiftes, der, indem ev und neben ber in ber 
Gegenwart vorgehenden Verbindung zugleid) die mit diefer geſetzte 
Zufunft zeigt, und von gegenwärtigen Moment befreiend hinweghebt 


684 





und ftatt der einzelnen Handlung die ganze Tiefe des in der Götter- 
gejhichte waltenden Schickſals mit Einemmal fehen läßt. Wenn das 
ſchlechthin Zukünftige dargeftellt werden foll, fo kann e8 nicht anders 
dargeftellt werden, als im Zuftande des Harrens und Wartens auf die 
Entſcheidung, die ihm erlaubt ans Licht zu treten. 

Noch habe ich endlich. die dritte Figur zu erwähnen, das geflügelte 
weibliche Wejen, welches die zögernde, nicht wollende chen mit dem 
offenbar prophetifhen Ausdrud in den Augen fanft vorwärts treibt. 
Niemand würde uns leicht widerfprehen, wenn wir diefe Figur für 
eine Nemefis erklärten, die hier, wo e8 um ein.großes Schiefal ſich 
handelt, ganz an ihrer Stelle ſeyn würde. Denn Nemefis ift ja doc) 
nicht8 anderes als jene unfichtbare Gewalt, die das, was gefchehen 
joll, zum wirklichen Gefchehen bringt, und die dem Beftehenden feind 
ift, inwiefern es verhindert, daß das einmal feyn Sollende ſich vollende. 
Nicht mit Gewalt, fondern mit fanfter Bewegung, wie allein fie überall 
wirft, treibt fie die Zögernde vorwärts zu der verhängnißvollen Ver— 
bindung. Wenn ic) indeß das hoch Symboliſche auf der andern Seite 
des Bildes erwäge, finde id) mid; geneigter, in ver geflügelten Figur 
jelbft zwar auf jeden Fall einen der Nemeſis verwandten, aber doch 
allgemeineren Begriff zu erfennen. Das Geflügelte überhaupt deutet 
die Bewegung an: die geflügelte Figur ift die Macht der vorwärts ſtre— 
benden Zeit felbft, alfo, weil das in ber Gegenwart Strebende und 
Zreibende die in ihr nody verborgene Zufunft ift, eigentlich die Macht 
der Zukunft jelbft, durch welche die zögernde Gegenwart vorwärts, 
d. h. in der Richtung des im Schooße der noch zufünftigen Zeit Ver- 
borgenen (welches hier die drei Jünglinge find) getrieben wird; das in 
der Mitte Liegende repräfentirt die Gegenwart, die — dem Fortſchrei⸗ 
ten in der Rhea — ſanft, mit Vorausſicht der Zukunft (denn das 
vorausſehende Prophetiſche iſt ſtets in die weiblichen Gottheiten gelegt) 
ſich widerſetzt; Kronos, der Gott, der ſich dem Fortſchreiten entgegen⸗ 
ſtemmt, zieht dennoch in der Rhea ſelbſt die Zukunft an ſich, in der 
Meinung, ſie gleichwohl in der Folge feſſeln und durch Gewaltthat auf- 
halten zu können. 


Nod habe ic) vergeffen, jener Bewegung zu erwähnen, welche die 
Rhea mit dem einen Ende ihres über den Iinfen, von Kronos gefaften 
Arm gejchlagenen Peplos vornimmt. Dieſe Bewegung ift deutlich genug 
und bedarf Feiner Erklärung; fie warnt dadurch gleichfam und wehrt 
zum voraus dem Kronos, den verhängnißvollen Schooß ihm felbft Un- 
heil drohender Geburten zu eröffnen, 

Zur vollftändigen Erklärung des Bildes gehört nun noch ein Wort 
über Die genau in der Mitte zwifchen Kronos und Ahern, jedoch nad) 
hinten zu, aljo in der Ferne zwijchen Bäumen fichtbare Säule, welche 
oben mit drei Löwen myſtiſch verziert, an ihrer Vorderſeite zwei Flö— 
ten, zwei Cymbeln und ein Tympanon trägt. Jedem ift befannt, daß 
diefe Werkzeuge Andeutungen des Drgiasmus oder der orgiaftiihen Be— 
geifterung find. Weniger bemerft, aber darum nicht weniger gewiß ift 
e8, dag die Erjcheinungen des Drgiasmus, einer wilden, ihrer felbft 
nicht mächtigen, gleichſam taumelnden Begeifterung regelmäßig an den 
Stellen der mythologiſchen Fortſchreitung hervortreten, wo eine früher 
erdrückende Gewalt ihre Macht über das Bewußtſeyn verliert, und ein 
neues Princip, ihm noch unfaßlich, fich feiner bemächtigt. Auch mit 
Kronos wird, in Folge der eben ſich jchliegenden Verbindung, fünftig 
eine. das Bewußtſeyn erbrüdende Gewalt ihr Ende nehmen. ine 
mildere Zeit wird mit der Herrichaft des Zeus fommen. Auch diejer 
Uebergang wird von Erfcheinungen des Orgiasmus begleitet jeyn. Ich 
erinnere nur an die Erzählung des Strabo von der orgiaftiichen Vereh— 
rung des Zeus auf Kreta, wo befanntlid die Incunabuln des Zeus- 
dienftes, alſo auch der Schauplat des Uebergangs von einer früheren 
wilderen Keligion zu der fanfteren des Zeus zu juchen tft. 

Auch diefe im der Ferne errichtete Säule deutet aljo auf die mit 
der eben vorgehenden Verbindung des Kronos und der Rhea in der Kerne 
bereit geſetzte Zeit eines nothwendigen und unausbleiblicyen Uebergangs. 

Auf jene mildere Zufunft deuten aud die Myrtenkränze auf den 
Häuptern der drei Jünglinge, während Kronos als nod) wilder, unmenſch— 
licher Gott feine Stirne mit dem Cichenlaub gekrönt hat. So war aud) 
in jenem eleufinifchen Feftzug der Knabe Jakchos mit Myrten befränzt. 


Zu verbejfern: 


Seite 144, Zelle 2 v. u. ftatt die zu Tefen: ver. 


“U 0. 3 ftatt Zedg zu Iefen: Zeus. 
— > Yo zu leſen: "eorıegav und Aacıkelarv. 
354 „2%. 0. ftatt Un zu lefen: xußy. 
382 „ 14 „ u. ftatt nur zu lefen: num. 
399 „Tan Statt vernichtet zu leſen: errichtet. 
417 „ 11 „ o. ftatt yervnrors zu leſen: vonroic. 
5320  ,. 3.1. ftatt Nirwara zu lefen: Nirwana. 


Nachtrag zu den Berbefferungen in Abth. 2. Br. I. 


Seite 72, Zeile 5 v. u. ftatt Denkens zu Tefen: Denfers, 


82 „As, TEHIE „Or 098% „oiel-. 
85 „83 u 0. ftatt deſſen Sohn zu lejen: melcher. 
278 „8. 0, ftatt fich felbft zu Iefen: fie felbft. 
304 „3.0. ftatt verfchloffene zu leſen: erfchloßene. 
349 „ 11 „ „ ftatt worden zu leſen: werden. 
„ dr „ 6, ſtatt Beruhigte zu lefen: Beunruhigte. 
552 „5.0. ftatt müfle zu leſen: müßte. 


587 „ 10 „u. ftatt zurücklegt zu Tefen: zurücgelegt. 











— 


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2 
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Library 


REMOVE 


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Acme Library Card Pocket 


00 s0 80 61 vl 6€ 
I WäLl SOd JIHS AVg 39NVH Q 


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III 


M3IASNMOQ Lv 4n