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Full text of "Sämtliche Werke;"

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http://www.archive.org/details/smtlichewerke05dost 





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Die Damonen 


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Er о. M. Doſtojewski 


DIE Daͤmonen 


Roman 





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У. Piper & Eo Verlag, München, 1921 


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11. bis 20. Tauſend 


Übertragen von @. Я. Rahſin 


Copyright 1921 by К. Piper & Co., G.m.b.H,, 
Verlag in München 





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‚Herr, wir haben in dem Dunkel 
uns verirrt. Was tun wir nun? 
Jede Wegfpur ИЕ verloren! 

Teufel haben ganz gewiß 

uns hier auserforen, — 

jerren jeßt und drehen ums 

mit Dämonenmadt 

wohl zickzack im Kreis herum, 

in dem Schneefturm und der Nacht. 


Wieviel find’5? Wohin die Heke? 

Und was fingen fie im Trab? 

Feiern fie heut Herenhochzeit? 

Dder tanzen fie ums Grab, 

das fie grad’ dein Hausgeift graben?‘ 
dd 


A. Puſchkin. 


Es war aber daſelbſt eine große Herde Saͤue an der 
Weide auf dem Berge. Und ſie baten ihn, daß er ihnen 
erlaubte, in dieſelben zu fahren Und er erlaubte ihnen. 

Da fuhren die Teufel aus von dem Menfchen, und 
fuhren in die Säue; und die Herde flürzte |4 vom Ab» 
hange in den See, und erfoffen. 

Da aber die Hirten ſahen, was da даб, flohen fie, 
und verfündigten’s in der Stadt und in den Dörfern. Da 
gingen fie hinaus, zu fehen, was da gefchehen war, und 
kamen zu ем, und fanden den Menfchen, von welchem 
die Teufel ausgefahren waren, fißend zu den Füßen Jeſu, 
bekleidet und vernünftig, und erfchrafen. 

Und die es gefehen hatten, verkündigten’5 ihnen, wie 
der Befejfene war gefund worden. 

Evangel. Lukaͤ, Kap. VII, 32—37 
(nad) der Überfegung von Зи ег), 


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Doſtojewski, der Nihilismus und die Revolution. 

Don M. v. d. 3. IM 4% 
Vorbemerkung ‚ XXU 
Perfonen-Verzeichnis ‚ ХХШ 

1. Kapitel: Statt einer Einleitung: einiges Aus- 
führliche aus der Biographie des wohlachtbaren 

Stepan Trophimowitſch Werchomwenski . 1 

2. Kapitel: Prinz Heinz. Die Brautmwerbung . 59 
3. Kapitel: Fremde Sünden 110 
4. Kapitel: Die Hinkende . : 175 
5. Kapitel: Die „allwiſſende Schlange” 229 
SE EEE Le оо. 304 
7. Kapitel: Die Nacht (Fortfeßung) . 384 
8. Kapitel: Das Duell. 426 
9. Kapitel: Ale in Erwartung 446 
10. Kapitel: Bor dem Felt . EN ‚ 485 
11. Kapitel: Pjote Stepanowitich in Tätigkeit 44521 
12. Kapitel: Bei den Unfrigen . x 595 
13. Kapitel: Zaréwitſch Swan . 636 
14. Kapitel: Wie Stepan ee er | 

Ichlagnahınt wurde . 654 
15. Kapitel: Die Flibuftiers. Der ——— 

volle Morgen — 


Inhalt 


Seite 
16. Kapitel: Die Matinee . .... . 9 
17. Kapitel: Das Ende des Feftles. . . . . 760 
18. Kapitel: Ein beendeter Roman . . . . 813 
19. Kapitel: Der Iehte Befchluß . .. ват 
20. Kapitel: Die еее ,,;. .. ат 
21. Kapitel: Die mühevolle Naht . .. 940 
22. Kapitel: Stepan Trophimomitjchs legte Reife 995 
23. Kapitel: Das Ende. . сю. в а 652 


Eriter Anhang: Material zum Noman „Die 
Dämonen”, Aus den — F. M. Do: 
ВОВЕ WO 5023 

Zweiter Anhang: Bruchſtuck aus einem bis— 
ber unveröffentlichten Kapitel des Romans 
„Die Dämonen’; 7% сине 


Unmerfung ... ... ПО А ОВО 


VIII 





Doſtojewski, der Nihilismus und die Nevelution. 


Der Keim des Nihilismus lag bereits im ФеНей: 
weſen. Die Raskolniki haben zuerft durch das ruffifche 
Volk eine revolutionäre Stimmung getragen und re: 
(igtöfen Aufruhr verbreitet. Weil der Ruffe rechtgläubig 
hleiben wollte, wurde er altgläubtg, um andersgläubig 
und Schließlich ungläudig zu werden. Der Raskol war 
urfprünglich ein Kampf des Volkes um feine einzige 
Bildung: die geiftliche, E8 war ein Kampf um das 
Menige, das Arme im Geiſte befaßen, die an Vor: 
ftellungen nicht rühren laſſen wollten, in die fie fich 
durch Jahrhunderte eingewöhnt hatten: an Ritual, 
Legende und Зет, Es war ein Kampf, der zu Feiner 
Reformation führte, Sondern zum Schisma, und fchließ- 
(ich zur Härefie. Über in diefem SKampfe ftanden 
Befchränkte wie Befeffene, und ftanden wild bis zum 
Fanatismus. Das Ende der Zeiten, das taufendjährige 
Reich, der Antickrift auf Erden wurde von ihnen er: 
wartet, Schon hier wird die Verbindung von Apoka— 
lypſe und Nihilismus, aber auch Konfervativismug deut: 
lich, die in allen ruffifchen Revolutionen irgendwie 
wiederfehrt. 

Der religtöfe Nihilismus wurde allmählich zum ро: 


IX 


tifchen Nihilismus. Als Peter erfchien und um 
welilicher Reformen willen die Kirche dein Staate 
unterwarf, da {аб man den Antichrift auch in ihm, 
dem Zaren. Зо, {фоп wagten die Raskolniki in ihrem 
Kampfe gegen Ме Kirche auch den Kampf gegen den 
Staat. Sie erfuhren Zuzug aus allen Kreifen, die in 
Reibung mit der Obrigkeit lagen. Im Raskol fammelten 
fich die Unzufriedenen des Landes. Es Fam, wer ein ſchlech⸗ 
tes Gewiſſen hatte, Es Fam der Beamte, der veruntreut, 
und der Bauer, der aufbegehrt hatte, Es Fam der 
Soldat, der feiner Truppe entlaufen war, Es kamen 
ÖSireligen, denen dem Blutgerichte von Moskau zu еп 
rinnen gelang. Es kamen koſakiſche Freibeuter, aber 
auch ukrainifche Patrioten, Leute aus der Anhänger: 
бай fchon des Оки Rahfin und wieder des Ma- 
zeppa. Es Famen die Barfüßler, 68 kamen Ber: 
brecher. Es kamen Mörder, Räuber und Diebe, fie alle, 
denen der Kettenweg nach Sibirien drohte, Sie alle 
famen und wurden hier Brüder vom Gefindel, doch 
Brüder in Freibeit, | 

Die Form diefer Brüderfchaft war noch nicht die der 
Verſchwoͤrung. Aber die Taktik der Nihiliften kündigte 
fih fchon unter den Geltierern ап. Geheime Be: 
ziehungen wurden zwilchen den Gemeinden unterhalten, 
wie hernach zwifchen den „Sruppen”, Verfolgte wurden 
verborgen, faliche Päffe wurden ausgefertigt, und wie 
man fpäter Proflamationen zuftedte, fo wurden da: 
mals Hoftien, Reliquien und verbotene Poftillen ge: 
fhmuggelt. In den geläuterten Brüderfchaften der 
Stundiften, der Molofanen oder der Duchoborzen, 
deren Anhänger fih um ein ausgeflügeltes Sonder: 


X 








ideechen zu fammeln pflegten, wurde dieſer religiöfe 
Nihilismus fehließlich ganz brav, ehrdar und pietiftifch- 
tugendhaft. Aber auch von ihnen, freilich auch von 
den Popenfamilien, in denen auf den orthodoren Vater 
der problematifche Sohn folgte, ging die nihiliftifche 
Unterfchichtung des ruffifchen Volkes weiter aus. Noch 
Raskolnikoff, in deffen Hirn ftatt der harmlofen Зе: 
unruhtgung, wie man den Namen des Heilandes richtig 
zu Schreiben habe, die gefährliche Frage nach Gut und 
Böfe таб, trug von den Raskolniki den Familien: 
namen und gehörte ihnen nicht nur паф der Ab— 
ftammung fondern auch in der Anlage an. 

Der Damon des Nihilismus war in einer noch 
mittelalterlichen Zeit wie ein unheimliches Tier gewefen. 
Зи der Zeit der Defabriften fah man ihn in byroniſcher 
Geftalt unter jungen Enthufiaften umgehen. Die Deka: 
brüten waren entzuͤckte Jünglinge, die von der тай: 
zöfifchen Revolution freifinnige Begriffe gelernt und 
aus den europäifchen Feldzuͤgen fortfchrittliche Vor— 
jtelungen mitgebracht hatten. Bon ein paar idealen 
Forderungen, Aufhebung der Zenfur und Dffentlichkeit 
des Gerichts, erhofften fie eine Befjerung der fchlechten 
ruffifchen Welt. Uber fie hatten Feine beftimmte ро: 
hitifche Idee. Daran fcheiterten fie. Die jungen Poli: 
tifer und radifalen Ideologen der vierziger Sahre 5а: 
gegen kamen in Debattierflubs zuſammen. Alle ernften 
Elemente, die fuchten, die ſich vormwärtstafteten, Кей 
lich auch alle, die in die Irre gingen, fammelten ſich 
in dieſen Debattierflubg, deren einer unter dem Namen 
der Petraſchewzen deshalb berühmt geworden ift, weil 
Doſtojewski in die Geschichte der Verſchwoͤrung verwickelt 


Х1 


in höchft moralifchem Sinne zu verftehen. Es waren 
nur die feinften und zarteften Bande, Ме dieſe beiden 
fo merkwürdigen Menfchen auf ewig miteinander ver⸗ 
fnüpften. 

Die Stellung eines Erziehers wurde auch noch deshalb 
angenommen, weil das Heine Gütchen, das feine erfte 
Frau bier in unferem Gouvernement Binterlaffen Бане, 
unmittelbar an Skworeſchniki, das herrliche, nahe der 
Stadt belegene Gut der Stawrogins grenzte. Und zudem 
war es ja immer möglich, in der Stille des Kabinetts 
und bereits ohne von der Riefenhaftigkeit der Univerfi- 
‘ tätsarbeiten abjorbiert zu werden, fich ganz den Auf: 
gaben der Wiflenfchaft zu widmen und die einheimifche 
Literatur mit den tiefiten Erforfchungen zu bereichern. 
Sole Erforfchungen ergaben fich Рапп zwar nicht, 
doch dafür bot fich die Möglichkeit, das ganze übrige 
Leben, mehr denn zwanzig Jahre lang, fozufagen einen 
„Bormwurf zu verkörpern — buchftäblich nach dem 
Dichterwort: „... Idealiſt und Liberaler, 

Standeft du vorm Vaterlande 
Als verförnerter Vorwurf da!” 


Doch jener Typ*), auf den fich diefe Worte bezogen, 
hätte vielleicht auch das Recht gehabt, zeitlebens in 
dieſem Sinne zu polieren, vorausgefegt, daß er es wollte, 8 
obichon fo etwas doch recht langweilig fein muß. Unfer # 
Stepan Trophimomwitfch aber war, wenn man fchon 
die Wahrheit fagen fol, nur ein Nachahmer im Ber: 
gleich zu jenen Charakteren, ja und das Stehen ermüdete 
ihn auch, weshalb er denn oft genug ein bißchen auf der 


*) Der unter Nikolai I. mundtot gemachten Fortſchrittler. E.K.R. 
12 








Seite lag. Uber. gleichviel, auch in liegender Stellung 
verblieb er eine Verförperung des Vorwurfs — das 
muß man ihm fchon laſſen —, um fo mehr, als für 
die Provinz auch dag vollauf genügte. Oh, man hätte 
ihn fehen follen, wenn er fich bei uns im Klub an den 
Kartentifch, (ее! Seine ganze Miene fprach dann 
förmlich: „Karten! Sch fpiele mit euch Jeraläfch !*) 
Wie ift das vereinbar? Wer Рапп das verantworten? 
Wer hat mein Wirken zertrümmert und es in Seraläfch 
verwandelt?: Ach, geh unter, Rußland !” und würdevoll 
Ipielte er aus, — felbftredend Coeur zuerit. 

Sm Grunde aber Tiebte er fogar fehr, ein Vartiechen 
zu machen, weswegen er nicht felten, und befonders in 
der Тевфеп Zeit, mit Warwara Petrowna unangenehme 
Yuseinanderfegungen hatte, zumal er im. Spiel immer 
verlor. Doch davon fpäter. Ich will nur bemerken, daß 
er. ein fogar gewiffenhafter Menfch war (5. h. manchmal) 
und darum oft trauerte, Im Laufe der ganzen zwanzig: 
jährigen Freundfchaft mit Warwara Petrowna vfleate 
er regelmäßig dreis bis viermal im Sahre feinem 
„Dürgergram”, wie wir das nannten, zu verfallen, 
das heißt einfach einer Hnpochondrie, doch der Aus- 
druck „Bürgergram” gefiel der verehrten Warwara 
Petromna, Späterhin war es auch noch der Champagner, 
dem er ab und zu verfiel oder zu verfallen begann, aber 
auch in der Beziehung fchüßte ihn die feinfühlige War— 
wara Petrowna das ganze Leben lang vor allen trivialen 
Neigungen. Er bedurfte ja auch wirklich einer Art 
Kinderwärterin, denn mitunter konnte er ſehr fonderbar 


*) Eine Art Whiſtſpiel. Wörtlih: Unfinn, Wirrwarr. В. К: В. 
13 


nären der Umarofffchen Formel, doch den Eonferva- 
tiven eines wiſſenden Menfchen, der fchlieklich zum 
Großinquiſitor führte. 

In Sibirien kam Doſtojewski dem ruffifchen Volke 
ganz nahe. In der Katorga lernte er es in einem täg- 
lichen Umgange erft Eennen, Und er erkannte, wie tiefe 
und Нате Menfchen es doch in diefem Зое gab, 
die voll von der eigenen Echtheit und fchweren Urfprüng: 
lichkeit einer befonderen ruffifchen Natur waren, Sie 
hatten Verbrechen begangen: aber Doftojewsfi war 
Pſychologe und Amoralift genug, um ben Verbrecher 
zu verftehen. Wenn er fie prüfte, dann fand er heraus, 
рев fie im Grunde alle aütig waren, Und wenn er 
die Menfchen, mit denen er in der Katorga zufammen: 
traf, mit den Petersburger Defirinären verglich, die 
von europätfchen Konftitutionen und Revolutionen 
redeten, dann fiel der DBergleich fehr zuunguniten der 
Doktrinäre aus. Diefe Verbrecher hatten in ihrem 
analphabetifchen Wefen die Schönheit der autochthonen 
Kraft vor jenen voraus, Für ме autochthone Kraft 
trat Doftojewsti in der Folge ein, wobei er fowohl 
gegen die Umaroffs име gegen die europälfcheradi- 
falen Elemente zu kämpfen hatte, Mit diefem autoch- 


tkonen ruffifchen Volke fühlte er fich verbunden und _ 


in der Gemißheit eins, Daß es auch dann, wenn es 
nicht geneigt fein follte, das Beſtehende zu erhalten, 
in feiner Grundlage fo unverftörbar fein werde, wie 
es feiner noch dunklen Beftimmung ficher fein konnte. 
Er fühlte voraus, was heute in Rußland Ereignis 
geworden ift, fühlte, daß Rußland durch Untergang 
werde hindurch gehen müflen, und fagte: „Noch ift 


XIV 





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die zufünftige, felbftändige ruffifche Idee nicht де 
boren, nur ift die Erde unheimlich ſchwanger von ihr 
und Schon ſchickt fie ПФ an, fie unter furchtbaren 
Qualen zu gebären.’ 

Doſtojewski Tiebte das ruffifche Volk wegen feiner 
angeborenen Empfänglichleit für eine native Sittlich— 
feit. Mber er erfannte auch, wie umberechenbar in 
feinen Trieben, im Widerfpruche feiner Keidenfchaften, 
in ber Heftigfeit von Zuneigung oder Abneigung es 
war, Seine Gier, feine SFleifshlichkeit, feine ver: 
hängnisvolle Selbftverfchwerdung war иле eine zweite 
Natur, die eine ее Natur ftändig verfchlang. Seine 
Maßloſigkeit war die Gegenfeite feiner Anſpruchloſig— 
keit. Nicht anders ſchien jein angeborenes Empoͤrer⸗ 
tum nur der Gegenfaß zu fein, den ein Volk, das fo 
unausgeglichen war, Папа aus fich hervorzubringen 
und von fich abzuftogen ſuchte. Doſtojewski erkannte, 
daß ein folches Volk konſervativ gezügelt werden mußte. 
Und mit einem politifchen Denken, das auf Bindung 
nicht auf Auflöfung gerichtet war, begann Doſtojewski, 
218 er aus Sibirien zurückgekehrt wor, in Rußland 
bewußt zu wirken: mit einem Eonfervativen Denken, 
das auf Menfchenkenntnis beruhte und von Volks— 
fenntnis herfam, mit den Überzeugungen eines pfycho- 
logifchen Konfervativisinug, der einem Volke entjprach, 
deſſen Weſen felbft ein ewig beunruhigter und 500 
wieder Hergefiellter Stonfervativismus ИТ, 

In Rußland fand Doſtojewski eine völlig veränderte 
politifche Lage vor. Die Aufhebung der Leibeigenfchaft 
ое endlich erfolgen. Und manche andere Yiberale 
Reform ftand bevor. Aber gleichzeitig Hatte unter der 


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Oberfläche des öffentlichen und gefellfchaftlichen Lebens, 
in den Winkeln, Manfarden und Schlupfwinfeln der 
Hauptitadt, in den Verfchmwörerfreifen der Londoner 
und Züricher Emigration eine Bewegung eingefeht, 
von. der die liberalen Forderungen der vierziger Jahre 
bereits anarchifch überboten wurden: die nihikiftifche. 
Ihre Erfcheinungen reichten bis in die Zeit der Petra- 
ſchewzen zuruͤck. Doftojewsfi felbft beftätigte den Ni- 
hiliften, daß fie von den Petraſchewzen herftammten, 
obwohl diefe noch Feine Nihiliſten geweſen ſeien. Zwar 
war der Unterfuchungsrichter im Vetrafchewzenprozeffe 
im Unrecht gewefen, wenn er die wachfende Zahl der 
von ihren Bauern erjihlagenen Gutsbelißer, обе die 
der Brandftiftungen auf dem Lande, der Diebftähle 
und Einbrüche, auf die politifche Rechnung der An— 
geklagten fchrieb. Das waren Erfcheinungen, die fich 
chne Zutun der Petersburger Doftrinäre aus dem tu: 
multuarifchen Zuge der Bauernbewegung ergaben, tie 
der Yufhebung der Leibeigenfchaft voranging und die 
nicht mit ihr aufhörte. Nach wie vor traten Sektierer— 
revolten hinzu, und noch immer fam es име zu Nico: 
lais Zeiten vor, daß die Alte und Andersgläubigen 


fich zu Taufenden zufammenrotteten, um ihre Kirchen ' 
vor Niederlegung zu bewahren, und das Militär, das |“ 


mit der Erefutive betraut war, fchimpflich davonjagten. 
Das religiöfe Motiv im ruffifchen Empörertum verband |" 
fih mit dem ſozialen Motive, 

Aber auch manche VBorformen des politifchen Nihilis— 
mus waren Doftoiewsfi aus feiner erften Petersburger 
Zeit befannt. Ein Petraſchewze hatte zuerſt die Idee 
der „Fuͤnf“ ausgeheckt, ме Doſtojewski hernach der 


XVI 





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— 


Kompoſition ſeiner „Daͤmonen“ als Skelett zugrunde 
legte: die Idee eines großen politiſchen Bundes, in dem 
Gruppen der Tat, die einander nicht kannten, von ge— 
heimnisvoller Oberleitung abhingen. Der Bund nannte 
ſich die „Geſellſchaft der Propaganda“ und einer von 
den Mitgliedern Hatte gar eine „Bruͤderſchaft der Leute 
von anarchifcher Gefinnung zu gegenfeitiger Hilfe“ 
vorgeſchlagen. Entwürfe für die Organifation folcher 
Verbände wurden ausgearbeitet. Die Ausſichten eines 
Aufftandes wurden erörtert, Nicht zuletzt gehörten die 
geheimen Drudereien als rätjelgafte Herkunftsorte 
maffenhafter Slugfchriften oder die heimlichen Verſamm— 
lungen der Petersburger Gefinnungsgenoffen in ine 
germanländifchen Städten zu den Erfcheinungen, die 
Doſtojewski als „Damonen“motive herübernehmen und 
auf den terroriftifchen Schauplaß einer ungenannten 
ruffifchen Gouvernementsftadt verlegen konnte. In der 
Zeit feiner Verbannung war die Taktik der Nihiliften 
ausgebildet worden. Man fuchte eine Verbindung mit 
Leuten aus dem Volke, um fo in den Maffen eine Auf: 
klaͤrung über die Fremdform der ruffifchen Zuftände 
zu verbreiten, Die Zeit Eündigte fich an, in der die 
Studenten „ins Зо gingen“. Typ wie Rolle der 
nihiliftifchen Studentin bereitet fich vor. In den Städten 
kam e8 zu erften Arbeiterftreifs. Und fchon ging von 
erften Attentaten der Schreden der nihiliftifchen Be: 
wegung über das Land aus, 

Der Nihilismus hatte noch Feine Idee. Als Turgenjeff 
das Wort und den Begriff fand, die allmählich auf 
Ме ganze Zeitveranlagung und Geiſtesverfaſſung über: 
tragen wurden, da mwollie er mit Nihilismus den ruſſi— 


П Doſtojewski, Die Dämonen. 3b. 1. ХУП 


fchen - Ausdruck des europäifchen Pofitiviemus be: о 
zeichnen. In der Tat war der Nihilismus zunaͤchſt 
durchaus aufflärerifh, Er war zu atheiftifch, um 
religiös zu fein. Er war rein verneinend. Und es 
hat lange gedauert, bis er das praktifche Chriftentum 
Tolſtois aufnahm, das ihn endlich wenigftens mit 
ruffifchen Gehalten erfüllte. Cine Idee aber befanı 
er erft dann, als die Revolution die Klaffentheorie für 
fih in Anfpruh nahm und Marr der Diktator der 
ruſſiſchen Jdeologen wurde, 

Die Nihiliften waren Märtyrer, folange fie um ihrer | 
Ziele willen ihr eigenes Leben zerftörten, Wie aber — 
wenn fie das Leben der anderen zerftörten! Wie aber — 
wenn fie Rußland zerftörten! Auch Doſtojewski hatte, 
genau wie Zolftoi, und wie jeder Nuffe, ſchon aus 
altruiftifchen Gründen in feiner apoftolifchen Lehre foziele 
Elemente, Aber das war das Große an Doſtojewski, 
und das unterfcheidet ihn von der Einftellung der 
Marriften, daß er die oͤkonomiſchen Probleme eine 
Schicht tiefer Га, als der Sozialismus fie {аб und 
noch heute fieht: nicht im Wirtfchaftlichen, fondern im 
Menſchlichen. Man follte dem Зое nicht fein Зо ит 
nehmen, weil man ihm dann fein Menfchentum nahm! 
Man follte nicht Hand an das Volk legen! Und das 
Volk folite nicht Hand an fich felbft legen! Ци des № 
Doikes willen пабт Doftsjewsfi den Kanıpf gegen 
den Radikalismus auf. In feinen politifchen Schriften 
unterfuchte er den Urgrund, auf dem Rußland fteht, P 
und brachte deffen ewige Gegebenheiten in eine бег: № 
einftimmang mit feinen eigenen menfchlichen Erleb— 
niffen, die ihn einmal jagen Tieß, daß „wir Revo: 


XVII 





lutionäre aus Konſervativismus find”, 5,6. Kämpfer 
für das urruffifche Wefen, zu dem die europäifche 
Staatsauffaffung, Liberalismus und Parlamentaris— 
mus, ebenfowenig paßte, wie etwa die europäifche 
Tracht. In den „Dämonen“ aber Tieß er Schatoff, 
den Ruffengläubigen, diefen Einzigen, dem er je die 
‚verhaltene Begeifterung eines volffuchenden Helden 
gab und deffen Geftalt er wie die eines Juͤngers 
‚liebte, das Mort jagen: „Wer fein Volk Hat, der hat 
auch Feinen Gott.” Dojtojewsfi ftand in feinem Kampfe 
mit der Leidenfchaft eines Eiferers, mit den ungeheuren 
Kräften, die der fchwächliche Menfch aus der Sdee holt, 
von der ex beſeſſen ИТ. Als Fanatiker hatte er die Maffivis 
tat nicht, um das Volk durch Reform vor der Revolution 
zu bewahren, Und als Erfcheinung blieb Doſtojewski 
in der Reihe der großen Problematiker, die von Rouſſeau 
‚bie Niegfche geht, wenn er auch als Dichter die epifche 
‚Form und als Denker das apoftolifche Wort vor ihnen 
‚voraus hat, Uber als Moftifer wußte er, daß der 
‚Mensch feiner Unvolllommenheit überantwortet Ч, Als 
Politiker ging er davon aus, daß jede Oppofition, die 
der Menfch aus Фот an den Unterbau und das 
‚Gefüge des Seienden feßt, nur die geringe Wichtigkeit 
‚eines Endlichen haben Eann, die von einem Unendlichen 
eingefchloffen wird, Und als Ruffe verkündete er dem 
ruſſiſchen Зое, in deffen Glauben allein fich das 
Chriſtentum unverfehrt erhalten habe, daß es das 
Östtesträgervolf der Erde fei, das dereinft diefes 
CHriftentum verwirklichen und die Eigenliebe durch die 
Menfchenliebe überwinden werde, Es Ш wahr, Doftys 
jewski ging in feinem Kampfe, den er mit Hohn und jeder 


п XIX 





geiftigen Überlegenheit führte, mit einfachen Menschen 
zufammen, mit echtruffifchen Leuten, mit allzu ruffifchen 
Leuten. Er ging mit dem Inquiſitor Pobjedonosſzeff 
zufammen. Auch dieſes Wiffen war in feiner Menfchen: 
fenntnis, in feiner Ruſſenkenntnis, daß der ruffifche 
Menfch jogar für die Liebe zu ſchwach Ш, die бт 
gebracht wird, und daß fich mit ihr, wenn man fie nicht 
an den Menschen verschwenden, fondern ihn durch Liebe 
behaupten will, Macht über den Menfchen verbinden muß. 

Doſtojewski erkannte früh, daß Radikalismus nicht 
Wurzelung fondern Entwurzelung bedeutet. Mas war 
e8 denn Schließlich, das der Radikalismus in Rußland ent— 
wurzeln wollte? War e8 nicht: die europäifche Form? 
Um fo zorniger war daher fein Kampf gegen die 
halbgebildeten Radikalen und europaverehrenden Welt: 
ler, weil fie diefe europäifche Form auch noch in ihren 
legten und fchalften Außerungen — als Republik, als 
Konftitutionalismus und Kapitalismus — auf atheifti- 
ſcher Grundlage in Rußland einführen wollten. Er 
fühlte, daß die ruffifche Revolution fommen werde. 
Doſtojewski war Fein Pazifift und fürchtete niemals den 
Krieg. Erfagte: „Nicht immer muß man den Frieden 
predigen, und nicht im Frieden allein liegt die Erlöfung 
— die {апп zumeilen auch der Krieg bringen.” Aber er 
fühlte, daß diefe Revulution die Erlöfung noch nicht 
bringen werde, Cr fürchtete Ме Revolution um Ruf: 
lands willen. Er fürchtete fie, weil er ihre Träger kannte, 
die er dann in den „‚ Dämonen” in einer Reihe von Kari: 
faturen vorführte, von abfonderlichen und Lächerlichen, 
aber gefährlichen Geſtalten. Er реф in den „Dämonen“ 
die Zufammenhangslofigfeit des gottlofen und volklofen 


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Nur⸗Ich-Menſchen auf, die ihn aus feiner Natur reißt 
und in Tendenzen abfondert, Er dedte die Wurzel: 
lofigfeit auf. 

Die ruſſiſche Revolution hat Doftojeweft 613 jet recht 
"gegeben. Hinter ihrem erſten Abfchnitte Пап Tolſtoi. Sie 
kam aus der Aufklärung. Und fie bedeutete die Auflöfung. 

Aber in dem Augenblicke, in dem fich entfcheidet, daß auch 
fie nicht nur Zerfall bringt, fondern daß nach graufamer 
Umfchichtung ein Aufbau aus ihr herunrgeht, wird hinter 
Ihrem zweiten Abfchnitte wieder Doftojewsfi ftehen. Er 
bedeutet Wiederantnüpfung, 3. ®, в. 3. 


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Vorbemerfung 


Don Doftojewsfis fünf großen Romanen ift der dritte, 
„Die Dämonen“, in den Fahren 1870 und 71 in Dres: 
den gejchrieben, in Petersburg beendet und 1871/72 in 
der Fonjervativen Zeitfchrift „Der ruffische Bote’ ver: 
öffentlicht worden. 

Die beiden Strophen des erften Mottos hat Dofto- 
jewski der Ballade „Bjéſſy“ von U. Puſchkin entnom⸗ 
men und deren Titel auch zum Titel des Romans ge 
wählt: mit „Bjeſſy“ bezeichnet der Ruſſe gemwiffe böfe 
Geifter, Dämonen oder Teufel von der Urt, die im zwei— 
ten, dem Evangelium Lucaͤ entnommenen Motto, in die 
Säue fährt; in der fchönen Ballade Puſchkins (geſchr. 
1829), die eine Schneefturmnacht in der Steppe fchil- 
dert, find es unzählige tolle Gefpenfter, von denen fich 
der Kutſcher eines reifenden Herrn wie von Troßbuben 
068 Teufels genarrt und vom Wege mweggezerrt glaubt. 
Die Strophen des Mottos find ein Teil der hilflofen 
Antwori des Kutfchers auf den Befehl des Heren (des 
Dichters), doch meiterzufahren. 

Sm „Erften Anhang” find aus Doſtojewskis Notiz: 
buchaufzeichnungen Entwürfe und Gedanken mitgeteilt 
die Doſtojewski urfprünglich in den „Dämonen“ zu еды 
wickeln gedachte, fowie einige Skizzen zu den Hauptper- 
топе», die von ihm fpäter teils in ftarfer Veränderung, 
teils überhaupt nicht versandt worden find, 


XXIII 


sm ‚Zweiten Anhang‘ Eonnte nur der Anfang eines 
von Doſtojewski nicht veröffentlichten Kapitels mitgeteilt 
werden: der Beſuch Stamwrogins bei dem Bischof Tichon. 
Das Manufkript des größeren Teiles dieſes wichtigften 
Kapitels wird im Moskauer Doftojewski-Mufeum auf: 
bewahrt: fein Inhalt Ц bisher nur der Familie und 
einigen alten Freunden Doftojewskis befannt. Wie Фо: 
ſtojewskis Tochter in ihrem (deutfch bei E. Reinhardt, 
München erfchienenen) Bud) „Doſtojewski“ Seite 180 be: 
richtet, Hat ihre Mutter diefes ganze Manuffript zu An- 
fang diefes Jahrhunderts veröffentlichen wollen, doch die 
alten Freunde ihres Diannes hätten fich der Veröffent- 
lihung mwiderfeßt. Das hat übrigens bald nach Doſto— 
jewskis Tode 1881 auch fein Eonfervativer Freund N. N, 
Strachoff getan. 

Nach Doſtojewskis eigenen Angaben handelt es ſich 
hier um eine Brofchüre Stawrogins von etwa 60 deut- 
chen Druckſeiten, aljo dem Umfange nach um ein aͤhn— 
liches Buch im Buche wie Iwan Karamaſoffs „Legende 
vom Großinquiſitor“. Bekannt geworden iſt ſonſt nur, 
daß in dieſer Schrift von Stawrogin die Vergewaltigung 
eines Mädchens mit unertraͤglichem Realismus geſchil— 
dert ſei. Nun iſt es aber Doſtojewskis Art, beſtimmte 
Ideen — ſeine ſtaͤrkſten und revolutionaͤrſten — immer 
in einer aͤhnlichen, ſo auffallend vorſichtigen Form zu 
bringen, ſei es als Traum oder Halluzination, oder als 
Jugendwerk eines ſeiner Helden, mit der Entſchuldigung, 
der Betreffende ſei damals noch ſehr jung geweſen, wie 
z. B. Iwan Karamaſoff, oder krank, wie Hippolyt oder 
Stawrogin, er aber, Doſtojewski, teile nur als Chroniſt 
dieſe ſonderbaren Gedanken einzelner Menſchen unſerer 


XXIV 


Zeit mit. Man darf demnach wohl annehmen, daß es 
fich auch in diefer noch geheimgehaltenen Brofchüre Stam- 
rogins, die Doftojewsfi еше Herausforderung der Ge: 
ſellſchaft“ nennt, nicht nur um die realiftifche Schilde: 
rung einer Epiſode handelt, jondern daß diefe Epiſode nur 
der Ausgangspunkt für ihn iſt, um der Gefellfchaft, den 
von ibm fo gehaßten europätfchen Geſellſchafts— 
geſetzen, den „Fehdehandſchuh hinzuwerfen“ (wie in der 
„Legende vom Großinquiſitor“ die Legende nur die Ko— 
ſtuͤmierung ſeines Kampfes gegen den Katholizismus 
oder vielmehr gegen den altteſtamentlichen Staats- oder 
Geſellſchaftsbau iſt). Nach einem uͤberblick uͤber das Ge— 
ſamtwerk Doſtojewskis iſt es nicht ſchwer zu erraten, 
worauf Stawrogin⸗Doſtojewski in dieſer unveröffentlich- 
ten Schrift hinauswill, binauswollen muß. Und es ift 
nur zu verftändlich, daß feine Freunde, wie Strachoff, 
dem er troß aller Freundfchaft „doch viel zu unverftänd: 
lich war”, und der Machthaber Pobjedonögzeff ſich 
gegen die Veröffentlichung diefer ‚Herausforderung‘ 
ausiprachen. Was aber troßdem von diefem, allen ehr: 
lich Eonfervativen Menschen „‚viel zu unverftändlichen” 
Geift Stawrogin-Doſtojewskis in dem Roman „Die Dä- 
monen“ verblieben ift, das find — nach dem Fortfall 
der erwähnten Kampffchrift Stawrogins — faft nur ein 
paar Worte von Schatoff und Drosdoff, die jet wie zwei 
Нете Ушел daliegen, zwiſchen denen der Kontinent vor: 
läufig noch verfunfen bleibt. 

„Die Dämonen” find auch ſprachlich Doſtojewskis ge: 
heimnisvoliftes Werk. Nicht nur, daß er fich nachläffig 
ausdrückt (Seite 1 fagt er $. B.: „ое Gejchichte be=- 
ſchreiben“, ftatt „ſchreiben“), daß er wichtige Sab- 


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glieder ausläßt, die unklarſten Säße baut, — er hat 
fich außerdem noch vielfach der früheren Umfchreibun- 
gen bedient, zu der die Schriftfteller von der ftrengen 
Zenfur unter Nikolai I. gezwungen worden waren. Er 
treibt die Nocjicht fo weit, daß er 3. 3. in den erften 
Kapiteln, wo fich faft alles um die innerpolitifchen Ver: 
hältnifje dreht, Eein einziges Mal das Wort Politik oder 
politifch braucht. Damit nun die unzähligen verfchleierten 
Anfptelungen dem uncrientierten Leſer nicht völlig unklar 
bleiben, find dem Text Eleine erläuternde Fußnoten bei- 
gefügt worden, eingehendere Erläuterungen dagegen in 
den „Erften Anhang” vermwiefen. 

Einen Kommentar für fich würden dann noch die Aus— 
fälle Schatoff-Doftojemskis gegen Belinski und die fo: 
genannten „Weſtler“ erfordern, d. В. gegen die Verehrer 
europätfcher Kultur, die, im @едетав zu den Slawo— 
philen, zwiſchen Rußland und Europa Eeinen Unterfchied 
ſahen und europäische Staatsformen auch für Rußland 
erftrebten, während von den Slamophilen befonders Do: 
ſtojewski hinter allen parlamentarifchen, liberalen For: 
men der Europäer fein Schredgefpenft, die Plutofratie, 
den deshalb fo verfpotteten „buͤrgerlichen“ Geſellſchafts— 
bau, nahen fah. Hierzu fei bemerkt, daß e8 vor der Auf- 
hebung der Leibeigenfchaft in Rußland nur zwei Par: 
teien gab, eine Eleine, aber allmächtige, und eine große, 
aber ohnmächtige, wie её etwa in einer Korreftionsanftalt 
(mit der man den Staat Nikolais I. verglichen hat) vom 
Standpunkt liberaler Sndividualiften nur wenige Unter: 
druͤcker und viele Unterdruͤckte gibt. Mögen die letzteren 
unter fich auch noch fo verschieden fein, in ihrem Gegen 
faß zu den Machthabern der Anftalt find fie doch alle 


XXVI 








einig. Diefer einmütige Wille wurde damals „die Nich: 
tung“ genannt, von der Liputin Seite 44 |рифь Es 
gab nur eine „Richtung“, d.h. nur einen Willen: aus 
diefer Enge hinauszufommen. Kaum aber hatte 10 unter 
Alexander II. das Tor der ‚„‚Korrektionsanftalt”” geöffnet, 
da zeigten fich fofort die großen Unterfchtede innerhalb der 
Schar der Herausdrängenden, und „die Richtung” bes 
gann ИФ zu verzmweigen, zunächft in Slawophile und 
Meftler, dann aber in die verschiedenen Arten der Slawo— 
philen und Weftler (Monarchiften, Republifaner, Radi— 
Ре, Kommuwniften gab und aibt e8 bei diefen und bei 
jenen, und hinzu kommen dann noch die Unterſchiede 
in der Einftellung zur Orthodorie). Die frühere ge— 
ſchloſſene Front der einen „Richtung“ gegen Nikolai 1, 
unter dem die Werke der orthodoren Slawophilen genau 
jo verboten waren wie die der franzoͤſiſchen Revolutionäre 
und Atheiften, zerbröcelte zu einem Kampf untereinander, 
in dem jeder nach mindefteng zwei Seiten Кипре, wenn 
nicht nach drei oder vier Seiten. 

„Die Dämonen” find das Buch der erften Jahre dier 
jer Kämpfe, in denen die einzelnen Menfchen fich wahr⸗ 
lich nicht nach Parteiſchlagworten unterfcheiden laſſen, 
jondern nur nad) einem inneren anftändigen Kern oder 
dem Fehlen eines folchen. 

Man hat diefes Werk Doſtojewskis als ein „Pam-— 
phlet gegen alles Revolutionäre” aufgefaßt, weil einzelne 
Vertreter einer der revolutionären Gruppen, die an euro⸗ 
päifche Schlagwörter glauben, verhöhnt undentlarst mer: 
den. Doch nichts ЧЕ falfcher, als den Verfaffer deshalb 
gieich Für Eonfervativ zu halten. Die Konfervativen 
find bier ja noch viel fchlimmer karikiert. Richtig wäre 


ХХУП 


es, über alles, was Doſtojewski voll Zorn und Spott 
über diefe Art unmwifjender Revolutionäre gefchrieben 
bat, die Worte zu jeßen, mit denen er fich einmal un 
bewußt verrät: „... ich aͤrgerte mich und ich fchämte 
mich faſt für ihre Ungefchiektheit ...” (Bd. XI der 
Ausgabe, Autobiographifche Schriften, Seite 170). 

Es таг der Zoın darüber, daß diefe „dummen Sun: 
gen” die Revolution oder dag ‚Neue ruffifche Wort“ 
durch ihre törichten Nedereien und Заки nur lächerlich 
machten, ibm feine große Revolution verpfufchten. 

Pur aus diefer Kampfftellung паф links und nach 
vechts, nach rückwärts und vorwärts find die vielfachen 
jogenannten ‚„‚Widerfprüche” Doſtojewskis in den „Daͤ— 
monen’ зи verftchen oder das parteipolitiiche Chaos in 
jeinen Werfen. Er fchildert 3.58. den Revolutionär Pjotr 
Werchowenski als ungebildeten Flegel, als gewiſſenloſen 
Intriganten, Schurken und ſchließlich Mörder, doch vor 
dem Eonfervativen Vertreter der alten Ehrbegriffe, Kar- 
mafinoff, der „auswandernden Ratte‘, wird felbft die— 
fer ‚Betrüger‘ plößlich zu einer nationalen Größe — 
ganz zu fchmeigen von den Konflikten, in die Doſto— 
jewski fich in den Entwürfen zu diefen Geftalten (im 
Erften Anhang) unverhofft, doch unvermeidlich hinein- 
redet. Es ift, als ob die Kleinen törichten Geifterchen, 
die Troßbuͤbchen des Teufels in der tollen Sturmnad)t 
der Revolution, in der Beine Spur des alten Weges mehr 
zu fehen И, ihm unter der Hand und vor den Augen 
zeraingen und er hinter ihrem Eleinen daͤmoniſchen Eigen- 
ſinn plößlich die Umriffe eines riefigen Daͤmons zu ſpuͤ⸗ 
ren, zu begreifen beginne, wenn er den alten Idealiſten 
und Dichter ihnen ihre Torheiten verzeihen läßt, 


XXVIII 


Inwieweit aber Doſtojewski auch hier fehon, nicht erft 
im letzten Bande der Karamafoff, jelber zu jenem rie- 
Идей Dämon wird, entzieht fich vorläufig noch der Bes 
urteilung. Man fafje es nicht ala Zufall auf, daß Staw— 
rogins ‚Herausforderung‘ ein halbes Kahrhundert lang 
vergraben geblieben Ш. Vielleicht ЦЕ es felbft heute noch 
zu früh, die Menfchen aus dem fo vielfach verhüllten, ge= 
heimnisvollen Becher Doftojervsfis ſchon ſehend trin- 
ken zu lajjen. 

Über die Abjicht der Witwe Doftojervsfis, diefes Ma— 
nuffript nunmehr zu veröffentlichen, und über dag vor: 
läufige Scheitern diefes Planes an den gegenwärtigen 
ruſſiſchen Zuftänden gibt das S.XXIV erwähnte Buch) 
von Aimée Doſtojewskaja gleichfalls einigen Auffchluß.' 

Eng verbunden mit Stamwrogin ift Дет Schüler” Kir 
rilloff. Doſtojewski hat wohl felbft nicht genau ge 
wußt, warum er diefen То eigentümlich „falſch“ ſprechen 
läßt; ее hat wohl nur mit der Sicherheit des Künftlers 
empfunden, daß diefe Nuance zu diefer Geftalt gehört 
oder mindeſtens paßt. 

Kiriloff ſpricht nicht in der Weife falfch, wie ein Aus⸗ 
länder oder wie ein Kind. Seine Sprechart, die deutich 
in unftilifierter Form wohl kaum fo wiederzugeben wäre, 
daß Ме überhaupt glaubhaft bliebe, läßt fich Eurz nur 
durch eine Übertreibung charakterifieren: er fpricht ци 
gefähr wie ein Mensch, der die Namen der Dinge nur 
im Nominativ Eennt. Nur fpricht er fo nicht mit Fleiß, 
nicht „ſtiliſiert“, nicht bewußt, ja vieles jagt er auch 
ganz richtig wie jeder andere Menſch in der Bindung der 
Syntar, mit der richtigen Endung, die die Beziehung 
der Dinge angibt; aber zwifchendurch iſt e8 immer wieder, 


XXIX 


als würden aus ihm ganz unmittelbar nur Tatfachen 
laut, die das Gefühl hervorftößt, ohne daß das Gehirn 
fie einkleidet. Vielleicht laͤßt ИФ der Gegenfaß veran- 
Ichaulichen mit dem Gegenfat ую фей der „beugenden“, 
die Beziehung angebenden Buchftabenfchrift der Ge- 
genwart und der ftarren Bilderfchrift der alten Ägypter 
oder der Chineſen. Wer Raſſegeſetzen nachforfcht, mag 
die Angaben über fein dunkles Äußere in Beziehung 
bringen zu dem Geift, der diefe alten Sprachen ſchuf; 
wer fich mit Kirtloffs Philofophie als heutigem Ausdruck 
ruffifchen Geiftes befaßt, wird in ihr und diefer Sprech- 
art vielleicht eine Übereinftimmung finden: nur dag We: 
fentliche des Wortes zu geben, wie nur dag Wefentliche 
der Welt zu juchen, im Weſen Goites ald Menſch zu 
vergehn, um Gott auf die Erde zu bringen. 
E.K.R. 


XXX 


Perfonenverzeichnis 
(unter Angabe der Ausfprache der Namen) 


Warwära Petrswna S'tawrögina — Witwe eines 
Generals, 

NicolaiWſſewolodowitſchſS'tawrögin —ihröohn. 

S’tepäan Trofimowitfch Werchowensfi — Dichter 
und Hauslehrer, 

Piotr S’tepanomwitfch Werchowenski — fein Sohn. 

Prasköwia Jvänowna Drösdowa — Witwe eines 
Benerals, 

Lifaweta Nicoläjewna Фи та — ihre Зоб 
aus erfter Che. 

Mawrifij Nicoläjewitfch Drosdoff — Dffizier, 
Neffe des verftorbenen Generals Drosdoff. 

Урай Offipvwitfch + * ж — der frühere Gouverneur. 


Andrei Antönowitfch von Lembke — der neue 
Gouverneur, 


Jülija Michailowna von Lembke — feine Frau. 
Karmafinoff — ein berühmter Schriftftelfer, 
Artemij Pawlowitfch Gagänoff — Rittmeiſter а, >, 
Lebaͤd'kin — ein angeblicher „Hauptmann а, D.“ 
Maria Timofejewna. . . — feine Schwefter. 


Swan Schätoff Kinder eines 
Darja Pawlomna Schätowa jverftorbenen Dieners der 
(genannt Dasjcha) Stawrsgind. 


Эа Ignätjewna Schätowa — Schätoffs Frau. 


XXXI 


Arina Prochoromna Wirginskaja — eine Hebamme. 

Alexei Nilytfch Kirilloff — ein Ingenieur. 

Schtgäleff — Verfaffer einer Schrift über revolutionäre 
Theorien. 


Tolkatſchenko, Erfel und andere Anhänger revolutio— 
närer Ideen, 


Kiputin | 
Wirginsfi | Beamte. 
Laͤm'ſchin | 
Aljöſcha Telät’nifoff — ein ehemaliger Beamter, 
Fedjka — ein entfprungener Verbrecher. 
Slibustjeroff — ein Polizeioffizier. 
Sfemjön Jäkowlewitſch — ein „Prophet“. 
Tichon — ein im Klofter zurücgezogen lebender Biſchof. 
Ulerei Jegörytſch 
Nas-täß-ja Dieuſtboten. 
Agäfja 

Ortsnamen: 
Skworeſchniki, Düchowo, Brikowoz die Fabrik 
der Brüder Schpigülin, Matmwejewo, 


Näheres über die Hiftoriichen Vorbilder einzelner Geftalten fiche 
Seite 1118—1120. 


Namen einzelner Nebenperfonen hat Doftojemsfi im Laufe der 
Erzählung manchmal unbewußt geändert. So nennt er 3. З. den 
alten Gaganoff anfangs Pjotr Pawlowitſch, Später dagegen Pawel 
Pawlowitſch und folglid feinen Sohn Artemij Pawlowitſch. 
Ferner heißt ein Kauzleibeamter des Gouverneurs zuerft Blümer, 
ipäter Blüm. Der Name Kirilloff ift bald mit zwei, bald mit 
einem I gefchrieben. Um Mißverſtändniſſe infolge folcher Flüchrig: 
feiten zu vermeiden, НЕ in der Überfegung immer die erfle Form 
beibehalten worden. Е. К. К. 


— — — — 


XXXII 


Erftes Kapitel. 


Statt einer Einleitung: 
einiges Ausführliche aus der Biographie des 
wohlachtbaren Stepan Trophimpmitfch 
Werchowenski. 


I 


Indem ich пиф anfchiee, die fo ſeltſamen Creig: 
ие wiederzugeben, die fich unlängft in unferer bisher 
noch durch nichts hervorgetretenen Stadt zugetragen 
haben, fehe ich mich gezwungen, da ich mir nicht anders 
zu helfen weiß, zunächft etwas weiter auszuholen und 
mit einigen biographifchen Einzelheiten uͤber den talent: 
vollen und wohlachtbaren Stepan Trophimowitſch 
Werchowenski zu beginnen. Mögen мае Einzelheiten 
nur als Einleitung zu der geplanten Chronik dienen, 
doch die Gefchichte felbft, Ме ich zu befchreiben beab— 
jichtige, beginnt erſt fpäter. 

39 will es jogleich ganz offen jagen: Stepan Trophi: 
mowitfch fpielte unter ung immer eine gewiffe befondere 
und fozufagen bürgerliche*) Rolle und Tiebte diefe 





*) Das Wort „bürgerlich“ НЕ hier und im folgenden nur als 
parteipolitifche Bezeichnung zu verftehen, wie e3 nach der franz 
söfifhen Revolution und befonders im erſten Drittel deg 
19. Jahrhunderts von Liberalen, für eucopäifhe Kultur und 
Bürgerfreiheit fhwärmenden, republifanifh oder mindeſtens 
fonftitutionell gefinnten Rufen mit Stolz gebraucht wurde. 


1 Doitojewstt, зе Dämonen. 35. Г. 1 


Rolle bis zur Leidenschaft, — liebte fie fogar fo, daß er 
ohne fie wohl überhaupt nicht hätte leben Fönnen. 
Nicht, daß ich Би damit einem Schaufpieler auf der 
Bühne vergleichen wollte: Gott behüte, das will ich 
um fo weniger, als ich felber ihn ja doch achte. Hier 
fonnte vielmehr alles Sache der Gewohnheit fein 
oder, befjer gelagt, die Folge einer immerwährenden, 
im Grunde edlen Neigung, einer Neigung ſchon von 
Kindheit an, zu der angenehmen Sllufion von feiner 
jchönen bürgerlichen Stellungnahme. So Tiebte er 
$. 3, ungeheuer Гете Lage als „Verfolgter“ und ſozu— 
fangen „Verbannter”, Um diefe beiden Mörtchen ſpielt 
num einmal ein klaſſiſcher Glanz eigener Art*), und 
eben Diefer fcheint ihn dann, nachdem er ihn einmal Ве: 
zaubert hatte, im Laufe fo vieler Sabre in feiner Selbft: 
einfchaßung immer mehr erhöht zu haben, bis er ſchließ— 
(ich auf einem gewilfen überaus hohen und für die 
Eigenliebe fo angenehmen Piedeſtal zu ftehen glaubte. 
In einem fatirifchen englifchen Roman des vorigen 
Jahrhunderts Hat fich ein gewiffer Gulliver im Lande 
der Liliputaner, wo Ме Menfchen nur einige Zoll 
groß waren, fo daran gewöhnt, fich als Riefe zu fühlen, 
daß er auch in den Straßen Londons unwillfürlich 
den Paſſanten und Equipagen zurief, fie jollten vor 
Es bezeichnete unter den ruffifhen Schillerianern den „fich feiner 
Würde bewußten Kulturmenfchen”, im Gegenfaß zum — 
der herrſchenden Autokratie. Е. К. В. 
*) Die Klaffifer der ruffifhen Literatur find faft alle jeitteife 
verbannt gemefen oder haben unter geheimer poligeiliher Auf- 
fiht geftanden. 3961. ©. 1119. Die nad Sibirien verbannten 
Defabriften wurden geradezu als heilige Opfer verehrt. Dal. 
Anm. ©, 1093, 1094. Е. К. В. 


2 








ihn ausweichen und fich vorfehen, damit er fie nicht 
irgendwie zertrete, denn er hielt fich immer noch für 
einen Rieſen und die anderen für jene Kleinen. Da 
lachte man ihn aus und Schalt ihn und die rohen Kutfcher 
jchlugen fogar mit der Зее nach ihm: aber war 
das auch gerecht? Was kann die Gewohnheit nicht alles 
bewirken? Die Gewohnheit hatte auch unferen Stepan 
Trophimowitfch faft zu demfelben Wahn gebracht, wie 
den Gulliver, nur daß diefer Wahn fich bei ihm in einer, 
wenn man fich jo ausdrüden darf, unfchuldigeren und 
unverleßenderen Weife äußerte, denn fehließlich war er 
doch ein praächtiger Menſch. 

Ich denke es mir fogar fo: dag man ihn in der Kite: 
ratur mit der Zeit allenthalben ganz vergeffen hatte; 
nur darf man deshalb gewiß noch nicht Jagen, daß er 
auch früher nie befannt gewefen fet. Unftreitig hat auch 
er einmal zu der berühmten WMejade*) gewilfer ge: 
feterter Dichter der leiten Generation gehört, und 
eine Zeitlang — übrigens doch nur einen allerfleinften 
Augenbli lang — war fein Name von manchen $612 
eifigen Leuten beinahe fchon in einer Reihe mit Tſchaada— 
jeff, Belinski, Granowsft und dem damals im Aus: 
lande gerade erft beginnenden Herzen**) genannt wor: 





*) Ein Kreis junger Dichter in den dreißiger umd viergiger 
Jahren. Lyriker, ſchwächere Romantifer, die fich faft alle den 
ſozialen und politifhen Fragen fernhielten. Ihre zum Teil 
melancholifchzpeffimiftifchen Dichtungen wurden von dem be; 
rühmten Kritifer und „Realiften“ Belingki alsbald (90111982 
[08 НИНЕ und damit war ihre Ruhm untergraben. E.K.R. 
**) Die vier bedeutendften literarifchzpolitifchen Perfönlichkeiten 
berfelben Zeit. DBgl. die Anmerkungen: ©, 1099, 1113, 1118 
und 1081. WE KR. 


1* 3 


den. Aber dag Wirken Stepan Trophimowitſchs endete 
faſt fchon im felben Augenblid, in dem es begonnen 
hatte, — e8 ward, wie er ИФ ausdruͤckte, von einem 
„Wirbelſturm“  zufammentreffender  „Umitände”*) 
zerftört. Und was ftellt fich пип heraus? Daß es nicht 
nur keinen „Wirbelfturm“, fondern nicht einmal 
„Mmftände” damals gegeben hat, wenigftens nicht in 
jeinem Fall, Ich habe erft jeßt, erft vor ein paar Tagen, 
zu meinem größten Erftaunen erfahren, dafür aber mit 
vollfommener Glaubwürdigkeit, daß Stepan Trophimo: 
witfch Мег bei ung, in unferem Gouvernement, nicht 
nur nicht in der Verbannung gelebt hat, wie man hier 
allgemein annahm, fondern daß er nicht einmal, 
gleichviel wann, unter Aufficht geftanden hat. Wie groß 
muß demnach feine Einbildungskraft geweſen fein! 
Er glaubte doch vor fich felber aufrichtig und fein 
Leben Тапа, daß man in gewiffen Sphären beftändig 
vor ihm auf der Hut wäre, daß jeder feiner Schritte 
unabläffig beobachtet und vermerkt werde, und daß 
jedem der drei Gouverneure, die wir im Laufe ber legten 
zwanzig Jahre hier gehabt haben, fehon bei der Über: 
gabe des Gouvernements als erftes von Stepan Trophi⸗ 
mowitfch Werchomwensfi gefprochen worden fei, fo 
daß jeder neue Gouverneur bereits von dort aus eine 
gewiffe eigene, mit Sorgen verbundene Borftellung 
von ihm mitgebracht бабе, Hätte aber jemand mit 
unmiderlegbaren Beweiſen diefen bei alledem ehr: 
lichften Menfchen beruhigen und überzeugen wollen, 





*) Der unter Nikolai Г. gebräudliche vorfichtige Ausdrud für 
das Eingreifen der politifhen Geheimpolizei — der fogenannten 
„Dritten Abtellung” —, vor der niemand Пфег war. Е.К. В. 


4 


daß ihm nicht dag Geringite drohe, fo würde ihn das 
unbedingt beleidigt haben. Und dabei war er doch der 
Elügfte, der begabtefte Menfch, war gewiflermaßen 
fogar ein Mann der Wiffenfchaft, obgleich er übrigens 
in der Wiffenfchaft . .. nun, fagen wir, nicht gerade 
viel geleiftet hat, vder gar, wie es ſcheint, überhaupt 
nichts. Uber das pflegt ja bei ung in Rußland mit den 
Männern der Wiffenfchaft durchgehends fo zu fein. 

Nach feiner Nückehr aus dem Auslande hatte er 
als Lektor auf dem Lehrſtuhl einer Univerfität gez 
glänzt, bereits ganz am Ende der vierziger Jahre, Es 
gelang ihm aber nur, ein paar Vorlefungen zu halten, 
ich glaube, über die Araber; es gelang ihm auch nach, 
eine glänzende Differtation zu verteidigen: über die in 
der Epoche zwifchen 1413 und 1428 auffeimende Zul: 
turelle und hanfeatifche Bedeutung des deutfchen 
Städtchens Hanau und zugleich über jene befonderen 
und etwas unklaren Öründe, weshalb es zu Diefer 
Bedeutung dann doch überhaupt nicht gefommen ift. 
Diefe Differtation traf mit einem feinen Stich geſchickt 
und ſchmerzhaft die damaligen Slawophilen und ſchuf 
ihm mit einem Schlage unzählige und grimmige Feinde 
unter ihnen. Dann — Übrigens fchon nach dem Verluſt 
des Lehrſtuhls — fchrieb und veröffentlichte er noch 
(wahrfcheinlich aus Rache und um zu zeigen, wen fie 
verloren hatten) in einer fortfchrittlichen Monatsfchrift, 
die aus Dickens überfeßte und George Sand verkündete, 
den Anfang einer tieffinnigften Unterfuchung — 1% 
glaube, über die Gründe der außergewöhnlich edlen 
fittlichen Anfchauungen irgendwelcher Ritter in irgend: 
einer Epoche, oder etwas Ähnliches. Sedenfalls war 


5 


с8 ein hoher, ungemein edler Gedanke, den er darin 
durchführte. Nur wurde, wie man fpäter erzählte, Ме 
Sortfeßung dieſer Unterfuchung fchleunigft verboten 
und fogar die fortfchrittliche Zeitjchrift Toll wegen der 
gedruckten erſten Hälfte zu leiden gehabt haben. Das 
ИР auch Тебе gut möglich, denn was geſchah damals 
nicht? In меет Falle aber ift es doch wahrfcheinlicher, 
daß nichts Derartiges gefchah und nur der Autor felber 
ме Mühe fcheute, den Auffaß zu beenden. Seine Vor: 
lefungen über die Araber jedoch ftellte er deshalb ein, 
weil ein von ihm an irgend jemanden gefchriebener 
Brief mit der Darlegung irgend welcher „Umftände” 
irgendwie von irgend jemandem (offenbar von einem 
feiner reaftionären Feinde) aufgefangen worden war, 
woraufhin irgendjemand irgendwelche Erklärungen 
von ihm verlangte*). Ich weiß zwar nicht, ob es wahr 
ЦЕ, aber man behauptete außerdem, daß gerade damals 
in Petersburg eine riefige, widernatürliche und antiftant- 
liche Gefellichaft, beitehbend aus nahezu dreizehn Mann, 
aufgefpürt worden fei, eine Gefellfchaft, die das Gebäude 
faft erfchüttert Бане. Man fagte, Пе hätten nichts Ge— 
ringeres vorgehabt, als Fourier felber zu tberfeßen**). 


*) >. Б., er ift um Mitteilung feines politifchen Bekenntniſſes er- 
fucht worden wegen einiger Äußerungen in einem Privatbrief über 
innerpolitifhe Maßnahmen („Umftände”). Die Dritte Abteilung 
der Geheimpolizei fontrollierte auch die Privatkorrefponden;, 
und ein jeder, der zu einer Univerſität in Beziehung ftand, galt 
unter Nikolai I. bereits für „verdächtig”. E.K.R. 
**) Humoriftifche Anfpielung auf die am 23. April 1849 in 
Petersburg verhafteten зо „Petrafhemwzen”, von denen 20 — 
unter diefen auch Doſtojewski — zum Tode verurteilt, doch zu 
Zuchthaus und Verbannung begnadigt wurden, Über die von 


6 








Und ausgerechnet zur felben Zeit mußte dann noch in 
Moskau eine Dichtung Stepan Trophimowitſchs be: 
ſchlagnahmt werden, ein Poem, das er Schon fechs Jahre 
zuvor in Berlin gefchrieben hatte, in feiner erften Зи: 
gend, und deffen Abfchriften, unter der Hand weiter: 
gegeben, bei zwei Liebhabern der Dichtkunft und einem 
Studenten gefunden wurden. Ein Eremplar davon liegt 
jet auch in meinem Schreibtifch: erft im vorigen Jahre 
erhielt ich es von Stepan Trophimowitfch perfünlich, 
in eigenhandiger neuefter Abfchrift, mit autographticher 
Widmung und in prachtvollem roten Saffianeinbande. 
Das Poem ИЕ übrigens nicht ohne Poefie, ja es ЧЕ nicht 
einmal ohne ein gewiffes Talent verfaßt, ЦЕ allerdings 
etwas fonderbar, aber damals (5, Б, richtiger in den 
dreißiger Jahren) wurde oft in diefer Art gefchrieben. 
Das Thema des Poems wiederzugeben, macht mir 
freilich Schwierigkeiten, denn, wenn ich die Wahrheit 
jagen foll: ich Бабе es überhaupt nicht verftanden. Es 
ift irgend fo eine Allegorie in lyriſch-dramatiſcher Form, 
die an den zweiten Teil des баий erinnert. Die Dichtung 
beginnt mit einem Chor der Frauen, dann folgt ein 
Chor der Männer, darauf ein Chor irgendwelcher 
Kräfte, und zum Schluß der Chöre tritt ein Chor von 
Seelen auf, die noch nicht gelebt haben, aber doch gar 
zu gern auch mal leben möchten. Alle dieſe Chöre fingen 
von etwas jehr Unbeftimmten, größtenteils von irgend= 
einem Fluch, aber fie fingen es wie mit einem Schimmer 
höheren Humors. Doch plöglich verwandelt fich die 
Szene und е8 beginnt ein „Felt des Lebens”, auf dem 
einzelnen Petraſchewzen geplante Fourier-Ülberfeßung vgl. Bd.XI 
der Ausgabe, „Autobiographiſche Schriften”, ©, 87. E.K.R. 


7 


jogar die Inſekten fingen; dann tritt eine Schildkroͤte 
auf mit allerhand Yateinifchen faframentalen Worten 
und e8 fingt irgend etwag, wenn ich mich recht erinnere, 
fogar ein Mineral, alfo ein fonft doch ſchon ganz unbe: 
lebter Gegenftand. Überhaupt fingen alle ununter: 
brochen, reden fie aber einmal miteinander, fo ift es 
mehr ein unbeftimmtes Schimpfen, aber wiederum tie 
mit einem Schimmer höherer Bedeutung. Schließlich, 
nach einem abermaligen Szenenwechfel, ſieht man eine 
wildromantifche Gegend, in der zwifchen Felſen ein 
zioilifierter junger Mann umherirrt und irgendwelche 
Gräfer abreißt, an denen er dann faugt, Auf die Frage 
einer Fee, warum er das tue, antwortet er, er fuche Ver: 
geffenheit, weil er ein Übermaß von Leben in fich fühle, 


und diefe Vergeffenheit im Safte diejer Gräfer finde, — 


fein Hauptwunfch aber fei — möglichft bald den Ber- 
ftand zu verlieren (ein Wunfch, der vielleicht ſchon über: 
На ift). Darauf erfcheint plöglich auf einem Schwarzen 
Pferde ein Süngling von unbefchreiblicher Schönheit 
und ihm folgen in fürchterlicher Menge alle Völker. 
Der Süngling ftellt den Tod dar und die Völker lechzen 
alle nach ihm. Und fchließlich, in der allerlegten Szene, 
erfcheint plöglich der babylonifche Turm und irgend: 
welche Athleten bauen ihn nun ſchon zu Ende und fingen 
dazu einen Sang der neuen Hoffnung, und wie fie die 
hoͤchſte Spike vollenden, da läuft der Beherrfcher, 
fagen wir des Olymps, in Eomifcher Form davon, und 
die Menfchheit, die jeßt endlich begreift, beginnt fofort, 
indem fie fich feines Platzes bemächtigt, ein neues Leben 
mit volllommenem Durchfchauen der Dinge. Diefes 
Poem alfo wurde damals für gefährlich befunden. Im 


8 





vorigen Sahre fehlug ich Stepan Trophimowitſch vor, 
e8 nunmehr drucden zu laffen, da es in unferer Zeit 
doch eine ganz unfchuldige Dichtung fei, aber er Lehnte 
den Vorfihlag mit fichtbarem Mißbehagen ab. Die Auf: 
faffung,daß es eine vollkommen unfchuldige Dichtung ſei, 
gefiel ihm offenbar gar nicht, und dieſem Umftande 
Schreibe ich auch die gewiſſe Kühle zu, die feinerfeits mir 
gegenüber volle zwei Monate andauerte, Doch fiehe da! 
Pöplich, und faft zur felben Zeit, als ich ihm vorfchlug, 
das Poem Мег drucken zu laffen, wurde unfer Poem 
Dort дети Е, 5. 5. im Auslande, und erfchten in einem 
der revolutionären Sammelbände, ohne daß Stepan 
Trophimowitſch überhaupt etwas davon wußte, Gr 
erjchraf zunächit nicht wenig, Низ zum Gouverneur, 
entwarf einen Hochedlen Rechtfertigungsbrief für Peterss 
burg, las ihn mir zweimal vor, ſchickte ihn aber dann 
doch nicht ab, da er, wie fich herausſtellte, gar nicht 
wußte, an wen er ihn fenden follte, Kurz, er regte fich 
einen ganzen Monat lang auf, doch ich bin überzeugt, 
daß er dabei in den geheimen Buchten feines Herzens 
ungemein gefchmeichelt war, Bon dem ihm zugeftellten 
Exemplar des Sammelbandes trennte er fich überhaupt 
nicht mehr, ja er fchlief faft mit ihm, am Tage aber 
verfteckte er еб unter die Matraße, weshalb er das Maͤd⸗ 
chen kaum noch das Bett aufbetten ließ, und obſchon 
er Tag für Tag ein gewifjes Telegramm erwartete, 
_ Schaute er doch fehr von oben herab. Das Telegramm 
kam aber nicht. Da Гоби er ИФ auch mit mir wieder 
aus, was wiederum von der großen Güte feines fanften, 
nicht nachtragenden Herzens zeugt, 


И 

Sch behaupte ja nicht, Daß er wirklich niemals zu 
Yeiden gehabt hat*), ich Habe mich jeßt nur endgültig 
überzeugt, daß er die Vorlefungen über feine Araber 
ſo lange hätte fortfeßen koͤnnen wie er wollte, wenn er 
nur die nötigen Erklärungen abgegeben hätte, Er aber 
warf ИФ damals gleich in die Bruft und ſchickte fich 
mit befonderer Eilfertigfeit an, fich felber ein für allemal 
einzureden, daß feine Laufbahn vom „Wirbelfturm der 
Umftände“ für immer zerftört fei. Doch wenn man ſchon 
die ganze Wahrheit fagen foll, fo war der eigentliche 
Grund diefer Anderung feiner Laufbahn die gerade fett 
in zartfühlenöfter Weife wiederholte Anfrage der Ge: 
mahlin des Generalleutnants Stamwrogin, einer fehr 
reichen Dame, ob er die Erziehung und ganze geiffige 
Ausbildung ihres einzigen Sohnes, gewiffermaßen als 
höherer Pädagoge und Freund, übernehmen wolle — 
von dem glänzenden Gehaltsangebot ganz zu fehweigen. 
Diefes Angebot war ihm fchon früher einmal gemacht 
worden, in feiner Berliner Zeit, gleich nach dem Tode 
feiner erften Frau, Diefe war ein etwas leichtfinniges jun: 
ges Mädchen aus unferem Gouvernement gewefen, uͤbri— 
gens nicht unſympathiſch, die er in feiner erften Jugend, 
ohne fich befondere Gedanfen zu machen, geheiratet und 
mit der er dann viel Leid zu ertragen gehabt hatte, erftens 
weil feine Mittel zu ihrem beiderfeitigen Unterhalt nicht 
ausreichten, und dann noch aus anderen, bereits {ебу 
zarten Gründen. Sie ftarb fchließlich in Paris, nachdem 


*) Die üblihe Umfchreibung für „von der Dritten Abteilung 
verfolgt, bezw. beftraft worden fein”, E.K.R. 


10 





fie die leßten drei Jahre getrennt von ihm gelebt hatte, 
und Binterließ ihm einen fünftährigen Sohn — „die 
Frucht der erften freudevollen und noch ungetrübten 
Liebe”, име fich der trauernde Stepan Trophimowitſch 
einmal in meiner Gegenwart unverfehens aͤußerte. Das 
Kind war uͤbrigens fehon bald nach der Geburt nach Ruß: 
(and gefchieft worden — zu ein paar Tanten irgendwo In 
der Provinz, die es erziehen Sollten. Damals alfo, nach 
dem Tode feiner erften Frau, hatte er dag Angebot der 
Warwara Petrowna Stawrogina nicht angenommen, 
Sondern noch vor Ablauf des Trauerjahres feine zweite 
Frau, eine ſchweigſame Heine Berlinerin, geheiratet, und 
zwar, was das Yuffallende war, eigentlich ohne jede be: 
fondere Notwendigkeit. Doch außerdem hatte er noch 
andere Gründe gehabt, das Angebot abzulehnen: ihn 
(офе der gerade damals lauttönende Ruhm eines un: 
vergeßlichen Profeffors und fo wollte auch er feine Adler— 
fchwingen erproben. Jetzt aber, nachdem er fich ме 
Schwingen verfengt hatte, war es nur natürlich, daß er, 
befonders nachdem auch feine zweite Frau, Faum ein 
Jahr nach der Trauung, geftorben war, dem wieder: 
holten verlockenden Angebot nicht widerftand, Das Ent: 
fcheidende war alfo Ме glühende Anteilnahme, ſowie 
ме unfchäßbare und, wenn man fo fagen darf, На Ис 
Freundschaft, die Warwara Petrowna Stawrogina ihm 
entgegenbrachte, Sp warf er fich denn in die Arme diefer 
Sreundfchaft und die währte gute zwanzig Jahre. Ich 
habe ſoeben den Ausdruck gebraucht „er warf fich in Die 
Arme diefer Freundfchaft“, doch Gott behüte und bewahre 
einen jeden davor, deshalb an etivag Überfläffiges und 
Müßiges zu denken, Nein, diefe Umarmung И einzig 


11 


in höchft moralifchem Sinne zu verftehen. Es waren 
nur die feinften und zarteften Bande, die diefe beiden | 


fo merkwürdigen Menfchen auf ewig miteinander ver: 
fnüpften. 

Die Stellung eines Erziehers wurde auch noch deshalb 
angenommen, weil das Feine Gütchen, das feine ее 
Frau bier in unferem Gouvernement Binterlaffen Бане, 


unmittelbar an Skworeſchniki, das Herrliche, пабе der 


Stadt belegene Gut der Stawrogins дтепие. Und zudem 
war e8 ja immer möglich, in der Stille des Kabinetts 
und bereits ohne von der Riefenhaftigkeit der Univerfi- 
‘ tätsarbeiten abforbiert zu werden, fich ganz den Auf: 
gaben der Miflenfchaft zu widmen und die einheimifche 
Literatur mit den tiefiten Erforfchungen zu bereichern. 
Solche Erforfhungen ergaben ИФ dann zwar nicht, 
doch dafür bot fich die Möglichkeit, das ganze übrige 
Leben, mehr denn zwanzig Jahre lang, fozufagen einen 
„Borwurf zu verkörpern” — buchftäblich nach dem 
Dühterwort: „... Idealiſt und Liberaler, 

Standeft du vorm Baterlande 

Als verförperter Vorwurf da!” 


Doch jener Typ*), auf den ПФ diefe Worte bezogen, 
бане vielleicht auch das Recht gehabt, zeitlebens in 


diefem Sinne zu pofieren, vorausgefeßt, daß er es wollte, 


obichon fo etwas doch recht langweilig fein muß. Unfer 
Stepan Xrophimomitfch aber war, wenn man fchon 
die Wahrheit fagen fol, nur ein Nachahmer im Ver: 
gleich zu jenen Charakteren, ja und das Stehen ermüdete 
ihn auch, weshalb er dern oft genug ein bißchen auf der 


— — — 


*) Der unter Nitolai I. mundtot gemachten Fortſchrittler. E.K.B. 


12 





| 


Seite lag Uber. gleichviel, auch in liegender Stellung 
verblieb er eine Verförperung des Vorwurfs — das 
тив man ihm Schon laſſen —, um fo mehr, als für 
die Provinz auch das vollauf genügte. Oh, man hätte 
ihn Sehen follen, wenn er fich bei uns im Klub an den 
Kartentiſch fegte! Seine ganze Miene Sprach dann 
förmlich? „Karten! Sch [рее mit euch Jeraläfch !*) 
Wie ift das vereinbar? Mer kann das verantworten? 
Wer hat mein Wirken zertrümmert und es in Seraläfch 
verwandelt? Ach, geh unter, Rußland !” und würdevoll 
ее er aus, — felbftredend Coeur zuerit. 

Sm Grunde aber liebte er fogar fehr, ein Vartiechen 
zu machen, weswegen er nicht felten, und befonders in 
der leßten Zeit, mit Warwara Petrowna unangenehme 
Auseinanderfegungen hatte, zumal er im. Spiel immer 
verlor. Doch davon fpäter. Ich will nur bemerken, da 
er ein fogar gewiflenhafter Menfch war (d. Б. manchmal) 
und darum oft trauerte, Im Laufe der ganzen zwanzig: 
jährigen Freundfchaft mit Warwara Petrowna vfleate 
er regelmäßig dreis bis viermal im Jahre feinem 
„Bürgergram”, wie wir das nannten, zu verfallen, 
das heißt: einfach einer Hupochondrte, doch der YAus- 
druck „Bürgergram” gefiel der verehrten Warwara 
Petromna. Späterhin war es auch noch der Champagner, 
dem er ab und зи verfiel oder zu verfallen begann, aber 
auch in der Beziehung fchüßte ihn die feinfühlige War 
wara Petromna das ganze Leben lang vor allen trivialen 
Neigungen. Er bedurfte ja auch wirklich einer Art 
Kinderwärterin, denn mitunter Eonnte er fehr fonderbar 


*) Eine Art Whiſtſpiel. Wörtlih: Unfinn, Wirrwarr. Е. К: В. 
13 


fein: Eonnte mitten in der erhabenften Trauer plöglich 
auf die volkstuͤmlichſte Weile zu fpotten anfangen. 
За, e8 gab Augenblicke, wo er fich fogar Uber fich felbit 
in bumoriftifchem Sinne zu äußern begann. Nichts 
aber fürchtete Warwara Petromna fo, wie humoriftifchen 
Sinn, Sie war eben eine Elaffifch empfindende Frau, 
war als Frau eine Mäzenatin, die nur nach Höheren 
Gefichtspunften handelte. Unfchäßbar war denn auch 
der zwanzigjaͤhrige Einfluß diefer Höheren Dame auf 
ihren armen Freund. Фоф von ihr müßte man ein: 
gehender fprechen, was ich denn auch tun will, 


Ш 


Es gibt fonderbare Freundfchaften; es gibt Freunde, 
die nur miteinander ftreiten, das ganzen Leben in 
Streit verbringen, und doch nicht voneinander laſſen 
koͤnnen. Das Auseinandergehen ift ihnen fogar ganz 
unmöglich: der Freund, der aus Eigenfinn als erfter die 
Verbindung zerriffe, würde auch als eriter frank werden 
und womöglich fterben, wenn es darauf ankommt, Sch 
weiß genau, daß Stepan Trophimowitſch mehrere Male, 
und zwar manchmal nach den intimften Herzensergüffen 
unter vier Augen mit Warwara Vetromwna, plößlich, 
nachdem Пе ihn verlaffen hatte, vom Diwan auffprang 
und mit den Fäuften an die Wand zu haͤmmern begann. 
Nicht finnbildlich, fondern ganz einfach und fogar 
jo, daß er einmal den Фив von der Wand Tosfchlug. 
Vielleicht wird man nun fragen: wie ich denn eine fo — 
sarte Einzgelheit Бабе erfahren Eönnen? Wie nun, 
wenn ich felbft Augenzeuge war? Wie, wenn er wieder: 
holt an meiner Schulter gefchluchzt und mir dabei in 


14 





grellen Farben feine letzten Geheimmiffe erzählt hat? 
(Und was, ja was т dann nicht alles über feine 
Lippen!) Doch nach folchem Befchluchze geſchah faft 
Immer Folgendes: am nächtten Tage war er dann bereit, 
fich wegen feiner Undankbarkeit felber zu Ereugigen; 
dann rief er mich eilig zu ſich oder Кип Schnell ſelbſt zu 
mir, nur um mir mitzuteilen, daß Warwara Зенона, 
„was Ehre und Zartgefühl betrifft”, ein Engel let, er 
aber ſei „das abjolute Gegenteil”, Und nicht nur zu 
mir Fam er dann, nein, er fehrieb das alles in wort: 
reichen Briefen auch Warwara Petrowna, geftand ihr, 
ohne fich zu ſcheuen, den Brief mit feinem vollen Namen 
zu unterzeichnen, daß er $. 3, erſt geftern einen: belie- 
bigen Menfchen erzählt Бабе, fie halte ihn nur aus Ruhm: 
jucht in ihrem Haufe, doch im Grunde benetde fie ihn 
nur um feines Miffens und feiner Talente willen; ja, 
Ме haffe ihn fogar und wage nur nicht, ihren Haß offen 
zu zeigen, aus Furcht, er Eönnte dann weggehen und 
ihrem Ruf in der Literaturgefchichte Schaden; infolge: 
deffen verachte er fich num ſelbſt und Бабе er befchloffen, 
eines gewaltiamen Todes zu fterben ; von ihr aber erwarte 
er nur noch ein letztes Wort, das alles entfcheiden werde 
ufw., uſw. in diefer Art, Nach diefen Beifpiel kann 
man fich ungefähr vorftellen, zu welch einer Hyſterie die 
neroöfen Ausbrüche dieſes unfchuldigften von allen 
sojährigen Säuglingen manchmal ausarteten! Einen 
diefer Briefe nach irgendeinem Streit zwifchen ihnen 
aus einem geringfügigen Anlaß, aber mit erbitterndem 
Ausgang, Бабе ich felbft gelefen. Ich war entfeßt und 
befchwor ihn, den Brief doch nicht abzufenden, 

„Sch kann nicht ..es ИЕ ehrlicher +. es Ш meine 


15 


Pflicht ... ich fterbe, wenn ich ihr nicht alles geftehe, 
alles!” antwortete er nahezu fiebernd und fandte den 
Brief tatfächlich ab, 

Gerade darin aber lag der Unterjchied zwiſchen ihnen, 
daß Warwara Petrowna einen folchen Brief niemals 
abgeſandt Hätte. Freilich, er liebte über alle Maßen zu 
Ichreiben, fchrieb ihr felbft Damals, als fie noch in dem⸗ 
jelben Haufe wohnten, fchrieb in hyſteriſchen Fällen fogar 
zweimal am Tage, Sch weiß genau, daß Warwara 
Petromna immer mit der größten Aufmerkſamkeit diefe 
Briefe durchlas, auch wenn fie ihrer zwei am Tage erhielt, 
um Пе dann, nummeriert und fortiert, in einer beſonde⸗ 
ren Schatulle aufzubewahren ; außerdem aber hob fie fie 
noch in ihrem Herzen auf. Und nachdem fie dann ihren 
Freund den ganzen Tag vergeblich auf eine Antwort 
hatte warten Yafjen, benahm fie fich ihm gegenüber am 
nächften Tage, als wäre fo gut wie nichts Befonderes 
gefchehen, als läge gar nichts vor, Auf die Weife Hatte 
fie ihn allınahlich fo zugeftußt, daß er ſchon von felbit 
nicht mehr an das Vorgefallene zu erinnern wagte und 
ihr nur eine Weile in die Augen fah. Doch vergeffen 
tat fie nichts, er aber vergaß manchmal fchon gar zu — 
Schnell, und ermutigt durch ihre Ruhe, konnte er oft 
Ichon am felben Tage wieder lachen und beim Cham: | 
pagner allen möglichen Unfinn treiben, wenn ihn feine 
Sreunde gerade an dem Tage befuchten. Mit welchen 
verbitternden Gefühlen muß fie in folchen Augenblicken 
auf ihn gefehen haben, er aber bemerkte überhaupt 
nichts! Es fei denn, daß ihm nach einer Woche, einem 
Monat oder erft nach einem halben Jahr in einem be: 
fonderen Augenblick zufällig irgendein von ihm де: 


16 








brauchter Ausdruck in fo einem Brief einfiel und nach 
und nach der ganze Brief mit allen Einzelheiten und 
Umftänden, und dann verging er plößlich vor Scham 
und qualte fich mitunter dermaßen, daß er wieder an 
feinen Anfällen von Cholerine erfranfte. Diefe ihn 
heimfuchenden eigentümlichen Anfälle, die an Cholerine 
erinnerten, waren in gewiffen Fällen der gewöhnliche 
Ausgang feiner nervöfen Erfehütterungen und ftellten 
ein in ihrer Art intereffantes Kuriofum feiner Ph: 
ſis dar. 

За, Warwara Petrowna hat ihn gewiß und fogar 
Тебе oft gehaßt; er aber Kat bis zum Schluß nur 
eines nicht an ihr erfannt: daß er nämlich zu guter 
Legt für fiezu einem Sohn geworden war, zu ihrem 
Gefchöpf, ja man Fann fagen, zu einer Erfindung von 
ihr, daß er fchon Fleifch von ihrem Fleifch war und Daß 
fie ihn Feineswegs „aus Neid“, „um feiner Talente 
willen” bei fich hielt und unterhielt, Und wie müffen 
jolche Verdächtigungen fie verlegt haben! In ihr 
verbarg fich eine gewiſſe unerträgliche, unduldfame 
Liebe zu ihm, mitten unter ununterbrochenem Haß, 
unter Eiferfucht und Verachtung. Sie befchügte ihn 
vor jedem Stäubehen, gab fich unermüdlich zweiund— 
zwanzig Sahre lang mit ihm ab, und Ме Sorge hätte 
ihr den Schlaf geraubt, wenn man feinen Ruf als 
Dichter, als Gelehrter, fein Wirken im Eulturbürger: 
lichen Sinne angetaftet hätte, Sie hatte ihn fich aus: 
gedacht und war felber die erfte, die an die Wirklichkeit 
ihrer eigenen Dichtung glaubte, Er war fo etwas wie 
ihr Traumbild. Aber fie verlangte von ihm tatfächlich 
viel dafür, manchmal geradezu ſklaviſchen Gehorſam. 


2 Dofivojewsti, Die Dämonen. 35. Г. 17 


Und nachtragend war fie bis zur Unglaublichkeit. 
Übrigens werde ich doch lieber gleich zwei Fälle erzählen. 


IV 

Einmal, gerade in der Zeit, als fich die erften Gerüchte 
von der Aufhebung der Leibeigenfchaft im Lande zu ver: 
breiten begannen, beehrte ein Petersburger Baron, ein 
Mann mit den allerhöchtten Verbindungen, der noch dazu 
von Amts wegen der mit Jubel erwarteten Neuerung 
{ебу пабе ftand, auf der Durchfahrt Warmwara Petrowna 
mit feinem Зи. Sieliebte und pflegte folche Bekannt 
fchaften außerordentlich, zumal ihre Verbindungen mit 
der hoben Gefellichaft nach tem Tode ihres Mannes 
beträchtlich abgenommen hatten und fchließlich ganz 
aufzuhören drohten, Der Baron verweilte etwa eine 
Stunde bei ihr und trank Tee. Von ihren Bekannten 
war fonft niemand zugegen, nur Ötepan Trophimowitſch 
ward von ihr eingeladen und fozufagen zur Schau ge: 
ſtellt. Der Baron hatte denn auch richtig ſchon früher 
von ihm gehört, oder tat wenigftens, а[8 Бабе er von 
ihm gehört, doch wandte er fich beim Tee felten an ihn. 
Natürlich Hätte fih Stepan Trophimowitſch gefell- 
Ichaftlich nie irgendwie blamieren Eönnen, er hatte 
überhaupt die feinften Manieren; obfchon er, glaube ich, 
nicht von hoher Herkunft war. Aber er war von der 
früheften Kindheit an in einem vornehmen Moskauer 
Haufe aufgewadhfen, alfo fehr диф erzogen; Franzöfifch 
Iprach er wie ein Pariſer. Der Baron mußte mithin 
auf den erften ЗИ erfennen, mit welchen Menfchen 
Warwara Petromna ИФ umgab, wenn fie auch in der 
Provinz lebte. Allein, es follte anders kommen. Als 


18 





naͤmlich der Baron Die neuen Gerüchte von der bevor: 
ftehenden großen Reform ausdrüclich beitätigte, da 
konnte Stepan Zrophimowitfch plößlich nicht an fich 
halten und rief ein „Hurra !”, wobei er mit der Hand 
noch eine Gefte machte, die Begeifterung ausdrüden 
ſollte. Er rief es übrigens nicht laut und geradezu elegant; 
ja, vielleicht war die Begeifterung fogar wohlüberlegt 
und die Geſte abfichtlich vor dem Spiegel einftudiert, 
eine halbe Stunde vor dem Tee; doch offenbar miß— 
glückte ihm hierbei irgend etwas, fo daß der Baron fich 
ein Faum merfliches Lächeln erlaubte, wenn er auch 
jofort überaus höflich eine Phrafe fiber die allgemeine 
und erklärliche Ergriffenheit aller ruffifchen Herzen 
angefichts der großen Begebenheit einflocht. Darauf 
empfahl er fich bald und vergaß Dabei nicht, Stepan 
Trophimowitſch зип: Abfchtede zwei Finger zu reichen. 
Us Warwara Petromna in den Salon zuricdkehrte, 
ſchwieg fie zunächft etwa drei Minuten lang und tat, 
als juchte fie etwas auf dem Tifch ; doch plöglich wandte 
fie fich zu Stepan Trophimowitſch und ftieß, bleich, 
nit bligenden Augen, halblaut zifchelnd hervor: 
„Das werde ich Ihnen nie vergeffen № 

Am anderen Tage verhielt fie ИФ zu ihrem Freunde 
als wäre nichts gefchehen, über das Vorgefallene verlor 
fie weiter Fein Wort. Erſt nach dreizehn Sahren, in einem 
tragischen Augenblick, erinnerte fie ihn plöglich an diefen 
Vorfall und wieder erbleichte fie dabei genau fo mie 
damals. Nur zweimal in ihrem Leben hat fie zu ihm 
gejagt: „Das werde ich Ihnen nie vergeffen!” Der 
бай mit dem Baron war fehon der zweite Fall; aber 
auch der erfte war an und für fich fo charakteriftifch und 


2* 19 


hat, wie mir fcheint, im Schieffal Stepan Trophimo— 
witſchs jo viel bedeutet, daß ich mich entichließe, auch 
ihn zu erwähnen. 

Das war im Jahre 1855, im Mai, Виз nachdem 
man in Sfworefchnifi die Nachricht vom Tode des 
Generalleutnants Stawrogin, des leichtfinnigen alten 
Herrn, erhalten hatte, der auf der Reife nach der Krim 
zur Übernahme eines Kommandos in der aftiven Armee 
unterwegs an einer Magenerfranfung geftorben war. 
Warwara Petrowna war alfo nım Witwe und ging 
in tiefftem Schwarz. Freilich, innerlich Eonnte ihre 
Trauer nicht fehr aroß fein, denn fchon die leßten vier 
Jahre hatten die beiden Gatten wegen der Charakter: 
gegenfäße vollflommen getrennt gelebt und fie hatte 
ihm nur eine Art Penfion ausgefeßt. (Der General: 
leutnant befaß felber nur 150 Seelen und fein Gehalt, 
außerdem feinen alten Adel und Beziehungen; Der 
ganze Reichtum dagegen und Skworeſchniki gehörten 
Warwara Petromwna, als der einzigen Tochter eines | 
fehr reichen Branntweinpächters.) Nichtsdeftomweniger 
hatte ме Möglichkeit der Nachricht fie erfchüttert und 
15 309 fie fich denn in die Einſamkeit zuruͤck. Selbſt— 
redend befand fich Stepan Trophimomitfch ununter- 
brochen bei ihr. 

Der Mat ftand in voller Blüte; Die Abende waren 
wundervoll, Maulbeerbäume dufteten. Die beiden 
Freunde kamen allabendlich im Garten zufammen, 
faßen bis in Ме Nacht hinein in einer Laube und 
breiteten ihre Gefühle und Gedanfen voreinander 
aus. Es gab manchen poetifchen Augenblick. Unter 
dem Eindruck ihrer Schieffalsänderung fprah War: 


20 





wara Petrowna mehr als gewöhnlich, Sie ſchmiegte 
fich gleichfam an das Herz ihres Freundes, und das 
jeßte fich fo mehrere Abende fort, Plöglich Fam Stepan 
Trophimowitſch ein eigentuͤmlicher Gedanke: Wie? rech— 
nete die erfchütterte Witwe jetzt vielleicht auf ihn? Erz 
wartete Ме etwa nach Ablauf des Trauerjahres einen 
Heiratsantrag von ibm? — Ein zyniſcher Gedanke; 
aber gerade ме Höhe der Organiſation begünftigt 
doch mitunter noch die Neigung zu zyniſchen Gedanken, 
ſchon allein durch ме Vielfeitigkeit der Entwicklung. 
Er begann zu überlegen und fand, daß es wirklich diefen 
Anschein gewann, Er wurde nachdenklich: „Ein riefiges 
Vermögen, das tft allerdings wahr, aber . . .“ Зи der 
Zat, Warwara Petrowna war nicht gerade dag, was man 
unter einer Schönheit verfteht: fie war eine große, gelbe, 
magere Frau, mit einem übermäßig langen Geficht, т 
dem irgend etwas entfernt an einen Pferdekopf erinnerte, 
Stepan Trophimowitſch ſchwaͤnkte immer mehr unter 
jolchen Betrachtungen, quälte fich mit Zweifeln und 
weinte ſogar zweimal wegen feiner eigenen Unentfchlof: 
jenheit (er weinte ziemlich oft). An den Abenden, alſo 
in der Laube, nahm fein Geficht einen Fapriziöfen Aus— 
druck an, und zuweilen war ſogar etwas Srontiches, 
etwas Kofettes, und zugleich Hochmütiges darin. Das 
geichieht ganz unwillkuͤrlich, und fogar je edler 
der Menfch И, um fo bemerfbarer wird es, Ob nun 
Stepan Trophimowitſchs Befürchtungen grundlos 
waren oder nicht, das tft Schwer zu jagen: am пабе бете 
lichſten ift, daß Warwara Petrowna an eine Heirat über: 
haupt nicht dachte — jedenfalls hätte fie fich wohl nie= 
mals entjchließen Eönnen, ihren alten Namen, den der 


21 


Stamwrogins, mit dem feinen zu vertaufchen, felbft wenn 
fein Name in der Literatur noch fo berühmt geweſen 
wäre. Vielleicht war es von ihr aus nur ein weibliches 
Spiel, der Ausdrud eines unbewußten weiblichen Зе: 


dürfniffes, das ja in manchen weiblichen Fällen doch fo 


natürlich И. Übrigens Fann ich mich für nichts ver: 
bürgen, die Tiefe des Frauenherzeng ЦЕ fogar bis heute 
noch unerforfchlih! Doch ich fahre fort. 

Es ift anzunehmen, daß Warmwara Petromna aus dem 
eigentümlichen Geſichtsausdruck ihres Freundes bald су: 
riet, was in ihm vorging; fie war feinfühlig und verftand 
zu beobachten, er aber war mandjmal ſchon gar zu naiv. 
Trotzdem vergingen die Abende nach wie vor poetifch 
und bei anregender Unterhaltung. Einmal jedoch, 
bei Anbruch der Nacht, trennten fie fich nach einem Ве: 
fonders lebhaften, intereffanten und poetifchen Ge: 
fpräch mit einem heißen Händedrud an der Treppe 
des Gartenhaufes, in das Stepan Trophimowitſch 
in jedem Sommer aus dem riefigen Herrenhaufe von 
Sfworefchniki überzufiedeln pflegte. Als er eingetreten 
war, nahm er zunächft, gleichfam zerftreut und doch wie 
in Gedanken verfunfen, eine Zigarre, zuͤndete fie aber 
noch nicht an, fondern trat ermüdet ans offene Fenfter 
und fchaute regungslos den wie Flaum leichten, hellen 
Woͤlkchen zu, die an dem klaren Monde vorüberglitten, 


als plöglich ein leifes Geräufch ihn auffchredite und er 
fich umfah. Bor ihm ftand wieder Warwara Petrowna, 


von der er fich vor faum vier Minuten im Garten ge: 
trennt hatte, Ihr gelbes Geficht war faft bläulich, ihre 
Lippen fchienen fich Frampfhaft zufammenzupreffen und 
die Mundwinfel zucten. So fah fie ihm wohl volle 


22 





zehn Sekunden Yang fehweigend in die Augen, mit 
feftem, unerbittlihem Blick, und plößlich ftieß fie in 
ſchnellem Geflüfter hervor: 

„Das werde ich Ihnen nie vergefjen |” 

Als Stepan Trophimowitſch mir zehn Sahre fpäter 
diefe traurige Gefchichte erzählte, flüfternd, nachdem er 
zuvor die Tür verfchloffen hatte, verficherte er mir, er fei 
damals auf der Stelle fo erftarrt, daß er weder gehört 
noch gefehen Бабе, wie Warwara Petromwna wieder 
verfchwand, Und da fie {раки Fein einziges Mal den 
Vorfall auch nur erwähnt hatte und alles feinen Lauf 
ing, als wäre nichts gefchehen, fo war er fein lebelang 
geneigt, anzunehmen, daß das Ganze nur eine Hallu: 
zination vor der Erkrankung gewefen fei, zumal er tat: 
fächlich noch in derfelben Nacht erkrankte und ganze 
zwei Wochen lang das Bett hüten mußte, was denn 
auch, übrigens fehr zur rechten Zeit, den Gefprächen in 
der Laube ein Ende machte, 

Doch ungeachtet feiner Idee von der Halluzination 
war es dennoch, als erwartete er jeden Tag, während 
ber ganzen Jahre, fo etwas wie eine Fortfeßung und 
fogufagen Erklaͤrung diefes Gefchehniffes, Er glaubte 
nicht, daß es damit auch beendet fei! Und wenn er das 
nicht glaubte, wie fonderbar muß er dann doch manchmal 
auf feinen „Freund“ gefchaut haben! 


У 
Sie hatte fogar das Koftüm Ни ihn erdacht, das er 
feitdem beftändig trug. Es war geſchmackvoll und 
charakteriftifch zugleich: ein langer ſchwarzer Rod, faft 
bis oben zugeknoͤpft, der aber prachtvoll faß; ein weicher 


23 


Hut (im Sommer aus Stroh) mit breiter Krempe; eine 
Halsbinde aus weißem Batift, mit großem Knoten und 
hängenden Enden; ein Stock mit filbernem Knauf, 
dazu das Haar faft bis auf die Schultern. Er war dunkel: 
blond und erft in der letzten Zeit begann er ein wenig zu 
ergrauen, Den Öchnurrbart und Bart rafierte er. 
Man fagt, in feiner Jugend ſei er ein überaus fchöner 
Menich geweien. Doch meiner Meinung nach war er 
auch im Alter eine ungemein eindrucksvolle Erfchei- 
nung. Aber kann man denn bei dreiundfünfzig Jahren 
überhaupt von Ulter reden? Doch aus einer gewiſſen 
„Bürger/=Eitelfeit machte er fich nicht nur nicht 
jünger, fondern war ſogar gleichlam ſtolz auf die Soli: 
dität feiner Jahre, und in diefem Koftüm, hoch von 
Wuchs, hager, mit dem langen Haar erinnerte er gleich- 
jam an einen Patriarchen, oder noch beifer: an das 
Porträt des Dichters Külkonik*), das in den dreißiger 
Jahren als Lithographie in irgendeiner Ausgabe 
erjchten, befonders wenn er im Sommer im Garten faß, 
auf einer Bank unter blühenden Flieder, die Hände auf 
den Stock geftüßt, ein aufgefchlagenes Buch neben 
jich und in poetifches Sinnen verſunken beim Anblick 
des Sonnenuntergangs. Übrigens in betreff der Bücher 
muß ich bemerken, daß er in der letzten Zeit das Leſen 
gewiffermaßen aufzugeben begann. Aber das geichah 
doch erft in der allerlegten Zeit. Die Zeitungen und 
Zeitfchriften dagegen, die Warwara Petrowna in 
Menge fich zuſchicken ließ, die las er beftändig. Für die 
Fortſchritte der ruſſiſchen Literatur intereffierte er fich 





*) Bol, ©. 1118, Anm, Е. К.В. 
24 





gleichfalls unausgefeßt, freilich ohne dabei feiner eigenen 
Würde auch nur das geringfte zu vergeben, Eine 
Zeitlang befaßte er fich auch eifrig mit dem Studium 
unferer inneren und außeren Tagespolitik, Doch als— 
bald gab er das refigniert wieder auf. Es Fam aber 
auch anderes vor: daß er z B. einen Band Tocqueville 
in den Garten mitnahn, in feiner Roctafche aber einen 
Paul de Kock зе ее hatte. Doch das find uͤbrigens 
Belanglofigkeiten. 

Zu dem Porträt von Kükolnik möchte ich hier mur 
in Klammern bemerken: daß diefes Bild Warmwara 
Petrowna zum erftenmal in die Hände geraten war, 
als fie noch in Moskau in einem adeligen Mädchen: 
penfionat erzogen wurde. Site verliebte fich fofort in 
diefes Bild, nach der Gewohnheit fämtlicher Jungen 
Mädchen in Penfionaten, die fich nun einmal in alles 
zu verlieben pflegen, was ihnen nur zu Gefichte kommt, 
aber zugleich auch in ihre Lehrer, und zwar vornehmlich 
in Die der Schönfchreibes und Zeichenkunft, Im vor: 
liegenden Fall jedoch war das Bemerkenswerte nicht 
diefe Eigenfchaft junger Mädchen, fondern lediglich der 
Umftand, daß Warwara Petrowna die erwähnte Litho— 
graphie noch im fünfzigften Lebensjahr unter ihren 
teuerften Koftbarkeiten aufbewahrte, alſo vielleicht 
nur Deshalb auch für Stepan Trophimowitſch jenes 
befondere Koftüm erdacht hatte, das dem auf diefen 
Bilde dargeftellten zum Zeil fo ähnlich war. Aber auch 
газ ИЕ natürlich nur eine Nebenfache. 

In den erften Jahren oder, genauer gejagt, in der 
eriten Hälfte feines Aufenthalts bei Warwara Petrowna 
hatte Stepan Trophimowitſch immer noch an ſchrift— 


25 


ftellerifche Tätigkeit gedacht und fich eigentlich jeden 
Tag ernftlich vorgenommen, mit dem Werk, das ihm 
vorfchwebte, зи beginnen. In der zweiten Hälfte aber 
begann er offenbar, die früheren Vorftudien fehon zu 
vergeſſen. Immer häufiger fagte er zu ung: „Man follte 
meinen, jeßt Eönnte ich mit der Arbeit beginnen, das 
Material ift zufammengetragen, und doch entfteht nichts ! 
Es will einfach nicht in mir arbeiten М und wehmütig 
Пей er den Kopf hängen. Zweifellos follte gerade das 
ihn in unferen Augen noch mehr erhöhen, ihn als einen 
Märtyrer der Wiffenfchaft Hinftellen; aber im Grunde 
und für fich felbft verlangte ihn doch nach etwas anderem. 
„Man hat mich vergeffen, niemand braucht mid 
entrang es fich ihm mehr als einmal. Diefe gefteigerte 
Schwermut bemächtigte fich feiner befonders ganz am 
Ende der fünfziger Jahre. Warwara Petrowna begriff 
Schließlich, Daß die Sache ernft war. Zudem konnte auch 
fie den Gedanken nicht ertragen, daß ihr Freund ver: 
geffen fei und niemand ihn brauche, Um ihn zu zer: 
ftreuen, aber zugleich auch um feinen Ruhm zu erneuen, 
reifte fie damals mit ihm nach Moskau, wo fie mit eini: 
gen tadellofen Vertretern der Literatene und Gelehrten: 
welt befannt war; doch es erwies fich, Daß auch Moskau 
nicht zufriedenftellen konnte. 

6$ war damals eine befondere Zeit*); etwas Neues 
brach an, etwas, das der vorhergegangenen Stille 
fhon gar zu ипаби war, etwas ſchon gar zu Selt— 
fames, das jedoch überall geſpuͤrt wurde, feibft in 


*) Die erften Jahre nach ber drüd:nden Regierungszeit Niko: 
lais I. (1825— 55), als unter dem jungen „ZarsBefreier” die 
großen Reformen vorbereitet wurden, №8 1861, 62. E.K.R. 


26 





Sfworefehnifi. Verſchiedene Gerüchte drangen auch 
dorthin. Die Tatfachen waren ja im allgemeinen mehr 
oder weniger befannt, aber es war Far, daß außer den 
Tatfachen noch eigentümliche fie begleitende Ideen auf: 
utauchen begannen, und zwar, was das Michtigfte 
war, Sdeen in außergewöhnlicher Menge, Gerade das 
aber wirkte verwirrend: e8 war ganz und gar unmöglich, 
fich ein Urteil zu bilden und genau zu erfahren, was diefe 
Ideen eigentlich Белое еп. Warwara Petrowna wollte, 
infolge der weiblichen Konftruftion ihrer Natur, unbe— 
dingt ein Geheimnis in ihnen verborgen wiffen, Sie 
begann nun zunächft felber die Zeitungen und Zeit: 
Schriften zu leſen, dazu ausländische verbotene Nusgaben 
und fogar Ме damals auffommenden Proflamationen 
(alles das wurde ihr zugeftelt); doch ihr wurde davon 
nur fchwindfig. Sie begann dann Briefe zu fehreiben; 
man antwortete ihr wenig und je weiter man ging, um 
fo unverftändlicher wurde es, Stepan Trophimomitfch 
ward darauf feierlichft von ihr gebeten, ihr „alle Diefe 
Ideen“ ein für allemal zu erflären ; doch feine Erflärun: 
gen befriedigten fie entfchieden nicht, Der Standpunft, 
von dem aus Stepan Zrophimowitfch die allgemeine 
Bewegung beurteilte, war ein im höchften Grade Боб: 
mütiger; bei ihm Tief alles darauf hinaus, daß man ihn 
vergeffen Бабе und niemand ihn brauche, Da aber ae: 
ſchah eg, daß man fich fehließlich auch feiner erinnerte; 
zuerft in ausländifchen Zeitfchriften*) als eines ver: 
bannten Märtyrers, und danach fofort auch in Peters: 


*) Die regierungsfeindlichen ruffifchen Zeitſchriften erfchtenen In 
ber Schweiz und in London und waren In Rußland nur ale 
Konterbande erhältlich. E.K.R. 


27 


burg, als eines ehemaligen Sternes in einen bekannten 
Sternbilde; man verglich ihn aus irgendeinem Grunde 
ſogar mit Radiſchtſcheff). Darauf fehrieb jemand in 
einer Zeitung, er ſei bereits geftorben, und ftellte einen 
Nekrolog über ihn in Ausficht. Stepan Trophimowitſch 
belebte jich nach diefen Erwähnungen feines Namens 
im и wie ein YAuferftandener, und nahm eine Бой 
wirdevolle Haltung an. Der ganze Hochmut in feinen 
bisherigen Verhalten gegenüber den Zeitgenoffen fiel 
im Handumdrehen von ihm ab und Пай deſſen erglühte 
in ihm der Wunsch: fich der Bewegung anzufchließen 
und feine Kraft zu zeigen, Warwara Petrowna begann 
fofort von neuem und an alles zu glauben und war ganz 
Eifer für ме Sache, Es wurde befchloffen, ohne den 
geringiten Auffchub nach Petersburg zu reifen, alles an 
Ort und Stelle in Erfahrung zu bringen, perfönlich zu 
ergründen, und fich hinfort, falls angängig, ganz und 
ungeteilt der neuen Aufgabe zu widmen, Unter anderem 
erklärte ſie fich bereit, eine eigene Zeitfchrift zu gründen 
und diefer von nun an ihr ganzes Leben zu weihen. Als 
Stepan Trophimowitſch fah, wieweit es gefommen war, 
wurde er noch jelbftbewußter, und begann bereits unter: 
wegs, fih zu Warwara Petrowna Тай gönnerhaft zu 
verhalten, — was fie fich Sofort merfte und in ihrem 
Herzen aufhob. Übrigens hatte fie noch einen anderen 





+) Verfaffer eines empfindfamen Buches über die Schreden der 
Leibeigenfhaft „Eine Neife von Petersburg nah Moskau”; 
wurde dafür fofort (1790) zum Tode verurteilt, doch ſchließlich 
nur in Ketten nach Dftfibirien verfchidt, fpäter von Paul J. be: 
gnadigt. Beging Selbfimord, als man ihm wieder mit Sibirien 
drohte, Е. К. В. 


28 


u 


fehr wichtigen Grund zu Diefer Neife, nämlich die Er: 
neuerung ihrer Beziehungen zu den höheren Streifen, 
Man mußte fich, ſoweit das möglich war, in der Gefell: 
ichaft wieder in Erinnerung bringen, mußte wenigftens 
den Verfuch machen. Doch offiziell war der Anlaß zu 
diefer Reife ein Miederfehen mit ihrem einzigen Sohn, 
der Damals feine Studien пи Wetersburger Adels: 
Inzeum beendete, 


УТ 

Ste trafen in Petersburg ein und verlebten dort faft 
ме ganze Winterfaifon. Allein zu den großen Faften 
plaßte alles wie eine regenbogenfarbene Seifenblafe, 
Die Illuſionen verflogen, der geichwaßte Unfinn aber 
flärte fich nicht nur nicht auf, fondern wurde noch wider: 
licher. Doch zunächft: die Wiederanfnüpfung der höheren 
Beziehungen gelang faft gar nicht, oder nur in пиве 
mikroffopifchem Maße, und felbft das nur mittels 
erniedrigender Bemühungen. Die gefränkte Warwara 
Petrowna ftürzte fich Darauf ganz in die „neuen Jdeen“ 
und eröffnete Abende in ihrem Salon. Sie lud Lite: 
raten ein und man führte ihr die fogleich in Menge zu. 
Alsbald Famen fie Schon von ſelbſt auch uneingeladen; 
einer brachte den anderen mit, Sie hatte noch nie folche 
Literaten gefehen. Eitel waren fie bis zur Unglaub— 
(бе, aber fie waren es ganz offen und ungentert, 
wie wenn fie damit eine Pflicht erfüllten. Manche (wenn 
auch laͤngſt nicht alle) erichtenen fogar in betrunfenen 
Zuftande, aber auch das gefchah in einer Weife, als 
wären fie fich Dabei einer befonderen, е МЕ geftern darin 
entdeckten Schönheit bewußt. Alle waren fie auf irgend: 


29 


etwas big zur Seltfamfeit ſtolz. Auf allen Gefichtern 
ſtand gefchrieben, daß fie überzeugt waren, Гоебеп erſt 
ein ungeheuer wichtiges Geheimnis спе zu haben. 
Den Gebrauch von Schimpfworten rechneten fie fich 
offenbar zur Ehre ап. Was fie alle eigentlich gefchrieben 
hatten, war ziemlich fchwer zu erfahren; aber es gab 
da Kritiker, Romanjchriftfteller, Dramatiker, бани: 
fer, Polemiker. Stepan Trophimowitſch drang ſogar 
in ihren höchften Kreis ein, von mo aus Ме ganze 
Bewegung geleitet wurde, Bis zu Dielen Regierenden 
war es unglaublich hoch, doch ihm Famen fie bereit: 
willig entgegen, obfchon natürlich Fein einziger von 
ihnen etwas Näheres über ihn wußte oder gehört 
hatte, außer daß er eine „Idee vertrete”, Er manövrierte 
dann fo um fie herum, daß er auch fie bewog, etwa 
zwei⸗ oder dreimal in Warwara Petrownas Salon zu 
erfcheinen, troß all ihrer olympifchen Erhabenheit. Diefe 
Herren waren fehr ernft und ſehr höflich; benahmen fich 
aut; die übrigen Hatten fichtlich Furcht vor ihnen; 
aber man fah ihnen an, daß fie Feine Zeit hatten, Es 
erfchienen auch zwei oder drei ehemalige literarifche 
Berühmtheiten, die fich Damals zufällig in Petersburg 
aufhielten, und mit denen Warwara Petrowna {оп 
fange die feinften Beziehungen unterhielt. Doch zu 
Warwara Petromnas Verwunderung waren diefe wirk— 
(ichen und bereits zweifellofen Berühmtheiten. unter 
ihren Gaͤſten ftiller als Waffer, niedriger als Gras, 
manche aber von ihnen ſchmiegten fich an Diefes neue 
Gefindel geradezu an und fuchten fich fchmählicherweife 
bei ihm einzufchmeicheln. Anfangs hatte Stepan 
Trophimowitſch О; man griff fofort nach ihm und 


30 


begann ihn in öffentlichen Titerarifchen Veranftaltungen 
zur Schau zu ftellen, Als er an einem öffentlichen Ик: 
rarifchen Abende zum erftenmal als einer der Vortragen: 
den die Nednerbühne betrat, begrüßte ihn rafendes 
Händeklatfchen, dag gute fünf Minuten lang andauerte, 
Neun Jahre fpäter gedachte er diefes Abends mit Tränen 
in den Augen, — übrigens mehr infolge feiner Künftler: 
natur als aus Dankbarkeit. „Sch fchwöre Ihnen und 
wette darauf,” fagte er zu mir (aber nur zu mir und als 
tiefftes Geheimnis), „Daß unter diefem ganzen Publikum 
niemand auch nur das geringfte von mir wußte!” 
Ein beachtenswertes Geftändnis: alfo war in ihm doch 
ein fcharfer Verftand, wenn er fihon damals auf der 
Rednerbühne, Нов feines Raufches, feine wirkliche 
Stellung fo Elar zu erkennen vermochte; und anderer: 
feits war doch wiederum Fein fcharfer Verftand in 
ihm, wenn er fogar nach neun Jahren nicht ohne die 
Empfindung einer Kränkung daran zuruͤckdenken Eonnte, 
Unter anderem veranlaßte man ihn, zwei oder drei 
Kollektivprotefte (wogegen — das wußte er felbft nicht) 
gleichfalls zu unterfchreiben; jedenfalls tat er’s. Auch 
Warwara Petromna wurde zur Hergabe ihres Namens 
veranlaßt, und auch fie unterfihrieb einen Proteft 
gegen irgendein „Ichändliches Verhalten”. Übrigens 
hielt fich die Mehrzahl diefer neuen Leute aus irgend- 
einem Grunde für verpflichtet, auf Warwara Petrormna, 
wenn fie auch ihre Abende befuchten, doch mit Ver: 
achtung und unverhohlenem Spott herabzufehen. 
Stepan Zrophimomitfch deutete mir gegenüber fpäter 
in bitteren Augenblicken an, daß fie in eben jener Zeit 
begonnen habe, ihn zu beneiden, Sie begriff natürlich, 


31 


daß Мее Leute kein Umgang für fie waren, aber #106: 
dem empfing fie fie bei fich mit eigenfinnigem Eifer, 
mit aller weiblich-hyſteriſchen Ungeduld, und hörte _ 
vor allem nicht auf, etwas zu erwarten. An den Abenden 
in ihrem Salon fprach fie wenig, obſchon fie zu fprechen 
verftanden hätte; aber fie hörte um fo aufmerffamer zu. 
Man Sprach über alles Mögliche: von der Abfchaffung 
der Zenfur und des Buchitabens Serr als harten End: 
zeicheng, von der Erfekung der ruffifchen Schrift: 
zeichen durch Yateinifche, fprach über die Tags zuvor 
erfolgte Verſchickung irgend jemandes nach Sibirien, 
über einen Skandal, der fich in der Paſſage zugetragen, 
über Ме Vorteile einer Aufteilung Rußlands nad 
feinen Bolkerfchaften, unter freiem föderativem Zu: 
fammenfchluß, über ме Abfchaffung des Heeres und 
der Flotte, über die Wiederherftellung Polens bis zum 
Dnjepr, über die Bauernbefreiung und die Prokla— 
mationen, über die Abfchaffung des Erbrechts, der 
Familie, der Kinder und der Geiftlichen, über die Frauen— 
rechte, über das Haus des Verlegers Krajewsfi, das 
niemand Herrn Krajewsfi verzeihen Eonnte, ий, цю, 
Es war Нат, daß fich in diefer Kohorte der neuen Men: 
fchen viele Spigbuben befanden, aber zweifellos gab | 
es auch viele ehrliche, fogar ſehr anziehende Menfchen 
unter ihnen, Нов gewiffer wunderlicher Nuancen. 
Die ehrlichen waren viel unverftändlicher als die unehr— 
lichen und frechen; aber es Пей fich nicht feſtſtellen, 
welche Art die andere in der Hand hatte. Als Warwara 
Petrowna ihre Abficht, eine Zeitfchrift herauszugeben, 
ausgeiprochen hatte, ftrömten noch viel mehr Leute 
herbei. Doch fofort hagelten ihr auch ſchon Beichul: 


32 





digungen ing Beficht, fie fei eine Kapitaliftin und beute 
die Arbeitenden aus, Der Unverfrorenheit der Anklagen 
Fam nur ihre Unverhofftheit gleich, Da gefchah es aber, 
daß der hHochbetagte General Iwan Iwanowitſch 
Drosdoff, der ehemalige Freund und Regimentsfamerad 
des verftorbenen Generals Stawrogin, ein überaus 
ehrenwerter Mann (in feiner Art) und den wir hier 
alle gekannt haben, ein bis zum Außerſten ftarrföpfiger 
und reizbarer Menfch, der entfeßlich viel zu effen pflegte 
und den Atheismus über alles fürchtete, — daß diefer 
General an einem der Abende bei Warwara Petromna 
mit einem berühmten Süngling in Streit geriet. Und 
Ihon nach den erften Worten warf ihm diefer ins 
Geficht: „Wenn das wirklich Ihre Anficht ift, dann find 
Sie ja ein General,” in dem Sinne, als Fönne er ein 
noch ftärferes Schimpfwort als die Bezeichnung „Gene— 
ral“ nicht finden. Swan Iwanowitſch braufte maßlos 
auf: „Samwohl, mein Herr,.ich bin ein General und 
Generalleutnant und Бабе meinem Kaifer gedient, 
du aber, mein Befter, БИ nur ein Bengel und ein 
Öpttesleugner М Es Fam zu einem höchft unftatthaften 
Skandal, Am anderen Tage wurde der Fall in der Preffe 
entjprechend behandelt, und man begann Unterfchriften 
zu einem Kollektioproteft gegen Warwara Petrownas 
„ſchaͤndliches Verhalten” zu fammeln, da fie dem General 
nicht Hatte die Tür weifen wollen, was fie fofort hätte 
tun müffen. Und in einem uftrierten Blatt erfchten 
eine Karikatur, die Warwara Petromna, den General 
und Stepan Trophimowitſch boshaft als drei reaf- 
tionaͤre Freunde Безе; dem Bilde waren auch 
Verſe beigefügt, Ме der „Dichter aus dem Volk“ eigens 


3 Dojtojewsfi, Die Damonen. 35. J. 33 


zu diefem Ereignis verfaßt hatte, Ich bemerke hierzu 
von mir aus, daß allerdings viele Perfonen im Generals 
rang die Gewohnheit haben, Eomifcherweife zu fagen: 
„3 habe meinem Kaifer gedient” ... alfo ganz als 
hätten fie nicht denfelben Kaifer wie wir einfachen Unter: 
tanen des Zaren, fondern einen eigenen, befonderen 
für fich. 

Natürlich war es danach nicht möglich, noch Länger 
in Petersburg zu bleiben, zumal auch Stepan Trophi— 
mowitſch endgültig Fiasko machte, Er hatte es fchließ- 
ich Doch nicht ausgehalten und von den Rechten der 
Kunft zu reden begonnen, da aber war das Lachen über 
ihn noch lauter geworden. Bei feinem legten Vortrag 
gedachte er durch Eulturfordernde Redekunſt zu wirken, 
da er fich einbildete, damit die Herzen rühren zu Eönnen, 
Doch rechnete er gleichzeitig auf den Reſpekt vor feinem 
Märtyrertum als „Verbannter”. Sp gab er denn die 
Wertloſigkeit und Lächerlichkeit des Wortes „Vaterland“ 
ohne weiteres zu, erklärte fich auch mit dem Gedanken, 
daß die Religion fchädlich fei, einverftanden, doch 
Dafür verkündete er laut und mit Entfchloffenheit, 
рав Stiefel etwas ©eringeres feien als Pufchkin, und 
zwar etmasbedeutend Öeringeres. Er wurdeerbarmungs= 
108 auggepfiffen, fo daß er auf der Stelle, vor dem gan: 
zen Publifum, ohne von der NRednerbühne hinabzu— 
fteigen, in Traͤnen ausbrach. Warwara Vetrowna 
brachte ihn Halbtot nach Haufe, „On m’a trait&e comme _ 
un vieux bonnet de coton !“ ſoll er nur noch wie Бе: 
nommen geftammelt haben. Sie pflegte ihn die ganze 
Nacht, gab ihm SKirfchlorbeertropfen und tröftete ihn 
unentwegt bis zum Morgen mit den Verficherungen: 


34 





„Sie find noch wertvoll, Ihre Stunde wird noch kom— 
men, man wird Ste anerfennen , ‚ ‚ an einen anderen 
Ort.” 

Um folgenden Tage aber erfchienen bei Warwara 
Petrowna bereits früh morgens fünf Literaten, von 
denen ihr drei ganz unbekannt waren, ja Ме fie noch 
nie auch nur gefehen hatte, Mit ftrenger Miene teilten 
fie ihr mit, fie Hätten die Angelegenheit der von ihr 
geplanten Zeitfchrift geprüft und in der Sache einen 
Beſchluß gefaßt. Warwara Petrowna hatte entfchieden 
niemanden beauftragt, diefe Angelegenheit zu prüfen 
und über ihre Zeitfchrift etwas zu befchließen, Der Be: 
Ichluß beftand darin, daß Warwara Petrowna, nach: 
dem fie die Zeitfchrift gegründet, diefe unverzüglich 
mitfamt dem Kapital ihnen zu übergeben Бабе, mit 
den Nechten einer freien Handelsgefellfchaftz fie ſelbſt 
aber folle nach Skworefchnifi zurückkehren und nicht 
vergeffen, Stepan Trophimowitſch mitzunehmen, der 
mit feinen Anſchauungen „veraltet“ fei. Aus Zartgefühl 
erklärten fie fich bereit, ihr das Cigentumsrecht zu: 
zuerfennen und ihr alljährlich ein Sechſtel des Ge— 
winnes zuzufenden. Das Rührenöfte war Dabei, daß 
von diefen fünf Menfchen vier ganz gewiß nicht 
die geringfte eigennüßige Abficht Hatten und nur 
um der „allgemeinenÖache” willen diefe Mühe auf fich 
nahmen, 

„Dir waren wie betäubt, als wir abfuhren,” erzählte 
Stepan Trophimomitfch, „ich Fonnte noch überhaupt 
nichts faffen, und ich erinnere mich, zum Nattern der 
Räder murmelte ich immer nur vor mich hin: ‚Miek, 
Mick, Wiek... де М Kambeck-beck-beck ... Wiek, Wjek 


2 35 


Miek .. . und der Teufel weiß was noch alles, bis 
wir in Moskau eintrafen, Erſt in Moskau Fam ich 
wieder zu mir — als hätte ich dort tatfächlich etwas 
anderes gefunden? Oh, meine Freunde!” rief er vor 
uns manchmal ergriffen aus, „Sie koͤnnen fich ja gar 
nicht vorfiellen, welch eine Trauer und welch eine 
Mut einen die ganze Seele erfüllen, wenn die große 
Idee, die Sie fehon lange heilig halten, von Unmiffenden 
aufgegriffen und zu ebenfolchen Dummföpfen, wie 
jene felbft find, auf die Straße hinausgefchleppt wird, 
und plöglich begegnet man ihr ſchon auf dem Trödel: 
marft, wo fie kaum mwiederzuerfennen Ш, im Schmuß, 
unfinnig aufgeftellt, chief, ohne jede Proportion, ohne 
Harmonie, als Spielzeug dummer Kinder! Nein! 
Зи unferer Zeit war es nicht fo, unfer Streben ging 
nicht nach der Richtung. Nein, nein, gang und gar 
nicht nach der Richtung. Ich erkenne nichts wieder ... 
Aber unfere Zeit wird von neuem anbrechen und wird 
alles MWackelnde, Gegenwärtige wieder auf den feiten 
Meg lenken. Denn was follte fonft wohl werden? ...“ 


УП 


Gleich nach ihrer Rückkehr aus Petersburg ſchickte 
Marmwara Petromna ihren Freund ins Ausland: „zur 
Erholung”; aber е8 tat auch not, daß fie fich für einige 
Zeit voneinander trennten, das fühlte fi. Stepan 
Trophimowitſch fuhr mit Entzüden ab, „Dort werde 
ich auferftehen !” rief er aus, „dort werde ich mich nun 


Ъ—— ss — — — — — — — — — — — — — — —“ 


*) Wiek, „Das Jahrhundert”, hier als Titel einer Zeitſchrift ge; 
dacht. L. Kambek ein Kritiker, Е. К. В. 


6 


9 





endlich der MWiffenfchaft zuwenden!” Doch fchon in den 
erften Briefen aus Berlin begann wieder das alte Lied: 
„MeinHerziftzerriffen”, fchrieb er an WarwaraPetromna, 
„ich Kann nichts vergeffen! Hier in Berlin hat mich 
alles an das Alte erinnert, an Die Vergangenheit, an die 
erften Begeifterungen und die erften Qualen. Wo ЦЕ fie? 
Mo feid ihr jet beide? Wo feid ihr, meine beiden Engel, 
deren ich niemals wert war? Und wo Ш mein Sohn, 
mein geliebter Sohn? Und fehließlich, wo bin ich, 
ich ſelbſt, wo Ш mein früheres Sch, das ftählern an 
Kraft und wie ein Fels unerfchütterlich war, wahrend 
jeßt irgendein Andrejeff, un rechtgläubiger Narr mit 
einem Bart, peut briser mon existence en deux“ ufw, 
uſw. Was diefen Sohn betrifft, fo ЧЕ hierzu zu Бег 
merken, daß er ihn in feinem ganzen Leben nur zweimal 
gefehen hatte: das erftemal, als der Sohn geboren wurde, 
und dag zweitemal gerade jeßt in Petersburg, wo der 
junge Mann fich zum Eintritt in die Univerfität vor- 
bereitete, Erzogen worden war der Sinabe, wie bereits 
erwähnt, von Xanten im Gouvernement Э.,., 700 
Werft von Skworeſchniki (auf Warwara Vetromnas 
Koften), Und was den erwähnten Andrejeff betrifft, 
jo war das ganz einfach unfer hiefiger Kaufmann, ein 
Zadenbefißer, ein großer Sonderling, archänlogifcher 
Autodidaft und Yeidenfchaftlicher Sammler ruffischer 
Aftertümer, der manchmal Stepan Trophimowitſch 
in SKenntniffen zu überbieten fuchte, doch vor allem 
über Gefinnungsfragen mit ihm debattierte. Diefer 
achtbare Kaufmann mit grauem Bart und in Silber 
gefaßter großer Brilfe fchuldete Stepan Trophimowitſch 
noch. 400 Rubel für einige Deffjätinen Wald, die er 


37 


auf deffen Fleinem (an Skworeſchniki grenzenden) Gute 
zum Abholzen gekauft Hatte, Obſchon nun Stepan 
Trophimomwitfch von Warwara Petromwna Тай ver: 
fchwenderifch mit Mitteln zu diefer Reife ausgeftattet 
worden war, hatte er auf diefe 400 Rubel doch noch 
befonders gerechnet, wahrfcheinlich für feine geheimen 
Ausgaben, und er war faft in Tränen ausgebrochen, ald 
Andrejeff ihn bat, fich noch einen Monat zu gedulden. 
Übrigens Бане Andrejeff durchaus ein Anrecht auf 
einen folchen Auffchub, da er die erften Raten alle fait 
ein halbes Sahr vor dem Termin bezahlt hatte, weil das 
Geld damals von Stepan XTrophimowitfch gerade 
dringend benötigt worden war. Jenen erften Brief 
Stepan Trophimowitſchs aus Berlin las Warwara 
Petromna mit Spannung, unterftrich mit dem DBleiftift | 
den Ausruf „Wo feid ihr jest beide?” verfah den Brief 
mit dem Datum und verfchloß ihn in die Schatulle, Er 
hatte natürlich an feine beiden verftorbenen Frauen 
gedacht. In dem zweiten Brief aus Berlin gab es eine 
Variation des Liedes: „Sch arbeite täglich zwölf Stun: 
den”, („wenn er doch wenigftens elf gefchrieben hätte”, 
murmelte Warwara Petromwna), „Ttöbere in den Biblio: 
thefen umher, vergleiche, mache Auszüge, fcheue feinen 
Meg; war bei den Profefforen. Habe die Befanntichaft 
mit der reizenden Familie Dundaffoff erneuert. Wie ent- 
zückend Nadjéſhda Nikolajewna ſelbſt tet noch ift! Sie 
laßt Sie grüßen. Ihr junger Gatte und alle drei Neffen | 
find gleichfalls in Berlin. Abends Unterhaltung mit der 
Sugend, meift bis zum Morgengrauen; unfere Nächte 
find nahezu attifch, jedoch natürlich nur was Feinheit 
und Geſchmack anlangt; alles Höhere; viel Mufik, {ра 


38 





nifche Motive, Pläne einer Erneuerung der Menfchheit, 
die Idee der ewigen Schönheit, firtinifche Madonna, 
Licht mit Durchbrüchen der Finfternis, aber auch die 
Sonne hat Flecken! Oh, mein Freund, Sie mein edler, 
treuer Freund! Mit meinem Herzen bin ich bei Ihnen 
und der Ihrige; mit Ihnen allein ginge ich überall hin, 
en tout pays, und wäre es felbft dans le pays de Ma- 
kar et de ses veaux, von welchem Lande wir in Peters 
burg vor unferer Abreife, Ste erinnern fich wohl noch, fo 
zitternd gefprochen haben. Denke jeßt Tüchelnd daran 
zurüch, Als ich die Grenze überfchritten hatte, fühlte ich 
mich in Sicherheit, ein fektfames, neues Empfinden, 
zum erftenmal nach fo langen Jahren ...“ uſw. uſw. 

„Alles Unfinn !” urteilte Warwara Petromna, indem 
fie auch diefen Brief zu den anderen legte, „Wenn fie 
bis zum Morgenrot attifche Nächte verleben, dann 
wird er doch nicht zwölf Stunden Uber den Büchern 
ſitzen. War er etiva betrunfen, als er das fchrieb? Was 
fallt diefer Dundaffowa ein, mich grüßen zu Yaffen? 
Übrigens, mag er fich amüfieren ...“ 

Der Фав „dans le pays de Makar et de ses veaux“ 
jollte bedeuten: „wohin Mafar die Kälber nicht де: 
trieben hat” *). Stepan Trophimowitſch überfeßte тат: 
mal auf die verdrehtefte Weife ruffifche Sprichwörter 
und Redensarten ins Franzöfifche, obfchon er fie zweifel: 
los beffer zu deuten und zu überfeßen verftanden hätte; 
aber er tat das aus Vorliebe zu einer gewiffen None 
chalance und fand es ив. 


*) Eine Redensart wie „am Ende der Welt,” wo Mafar noch 
nie geweſen ift, unter jenen Umftänden in Petersburg das Vers 
bannungeland Sibirien, E.K.R. 


39 


Doch von dem „Amüfieren” hatte er bald genug, 
nicht einmal vier Monate hielt er es aus und Fam nad) 
Skworeſchniki zurüdgeflogen., Seine lebten Briefe 
beftanden faft ausschließlich aus Ergüffen der gefühl: 
vollften Liebe zu feinem „abwefenden Freunde”, und 
waren buchftäblich von Traͤnen der Sehnfucht verwifcht. 
Es gibt Naturen, die außerordentlich am Hauſe 
hängen, ganz wie die Stubenhündchen. Das Wiederfehen 
der Freunde war eine freudige Hochipannung. Nach 
zwei Tagen aber verlief alles wieder nach alter Art, 
und fogar noch langweiliger als früher, „Mein Freund“, 
fagte Stevan Trophimowitſch nach vierzehn Tagen zu 
mir, aber als größtes Geheimnis, „mein Freund, ich 
habe etwas für mich furchtbar ,.. Neues entdedt: 
Je suis un einfacher Schmaroger et rien de plus! 
Mais r—r—rien de plus!“ 


УП 


Darauf trat eine ИЩе Zeit ein und dauerte faft diefe 
ganzen neun Jahre, Die Hufterifchen Ausbrüche mit 
dem ©efchluchze an meiner Schulter wiederholten fich 
zwifchendurch zwar regelmäßig, ftörten aber fonft keines⸗ 
wegs unfer Wohlbehagen. Ich wundere inich eigentlich 
nur, daß Stepan Trophimowitfch in diefer Zeit nicht 
die wurde, Nur feine Nafe rötete fich ein wenig und 
feine Großmut nahm noch зи. Allmählich bildete fich 
um ihn ein Kreis von Freunden, der übrigens immer 
Нет blieb, Warwara Petrowna kuͤmmerte fich wohl 
nur wenig um diefen Kreis, aber wir erkannten fie doch 
alle als unfere Patroneſſe an. Nach der Petersburger 
Enttäufchung hatte fie fich endgültig in unferem Gouver— 


40 





nement niedergelaffen: im Winter lebte fie in ihrem 
großen Haufe in der Stadt, im Sommer draußen auf 
ihrem Gute, Nie vorber hatte fie eine folche gefellfchaft: 
Yiche Bedeutung und ſoviel Einfluß gehabt, wie in diefen 
Jahren, das heißt, bis zur Ernennung des neuen, unferes 
jeßigen Gouverneurs. Deſſen Vorgänger dagegen, der 
unvergefiliche, weiche Iwan Offipowitfch, war mit ihr 
nah verwandt, und nicht umfonft hatte fie ihm manche 
Wohltat erwielen, Seine Frau zitterte geradezu bei dem 
Gedanken, fie Eönne Warwara Petrowna irgendwie 
mißfallen, und fo grenzte denn, nach ihrem Beifpiel, 
ме Ehrerbietung der ftädtifchen Kreife vor Warwara 
Petrowna fat ſchon an fündhaften Goͤtzendienſt. 
Bei folchen Zuftänden hatte es natürlich auch Stepan 
Trophimowitſch gut. Er war Mitglied des Klubs, 
verlor wuͤrdevoll im SKartenfpiel und erwarb fich die 
allgemeine Achtung, wenn auch viele in ihm nur einen 
„Gelehrten“ fahen, Späterhin, als Warwara Petromna 
ihm eine eigene Wohnung zu beziehen geftattete, war 
unfer Verkehr noch zwanglofer, Wir verfammelten uns 
etwa zweimal wöchentlich bei ihm, und dann gab es 
luftige Abende, befonders wenn er mit dem Champagner 
nicht Fargte, Er bezog ihn von dem bereits erwähnten 
Undrejeff und die Rechnungen wurden halbjahrlich von 
Warwara Petrowna bezahlt. Der Zahlungstag war 
dann allerdings faft immer auch ein Tag der Cholerine, 

Das ältefte Mitglied des Freundegkreifes war Liputin, 
ein Gouvernementsbeamter in nicht mehr jungen Jah⸗ 
ren, ſehr liberal; in der Stadt galt er für einen 
Atheiften. Verheiratet war er zum zweiten Male, mit 
einer jungen und fehr netten Frau, die fogar eine Mitgift 


41 


in die Ehe gebracht hatte. Außerdem hatte er drei halb: 
erwachfene Töchter. Diefe ganze Familie hielt er in 
Gottesfurcht und hinter Schloß und Riegel, war {ебу 
geizig und hatte fich von feinem Gehalt ein Eleines Haus 
gefauft und fogar ein Kapital erfpart. Er war ein 
unruhiger Menfch, dazu als Beamter nur von niedriger 
Rangklaffe; in der Stadt wurde er nicht fonderlich ge: 
achtet und die beſſere Gefellichaft verkehrte nicht mit 
ihm. Überdies war er ein berüchtigtes Klatfchmaul 
und ſchon mehr als einmal dafür beftraft worden, 
fogar fchmerzhaft, das erftemal von einem Offizier, ein 
anderes Mal von einem achtbaren Familienvater und 
Gutsbefiger. Mir dagegen liebten feinen fcharfen Ver: 
ftand, feine Wifbegier, feine eigentümliche boshafte 
Luſtigkeit. Warwara Petrowna mochte ihn nicht, aber 
er verftand es immer irgendwie, fich ihr anzupaffen. 

Auch Schatoff, ein anderer aus diefem Kreife, der 
jedoch erft im legten Jahre in ihn eintrat, erfreute fich 
nicht der befonderen Zuneigung Warwara Petrownas. 
Schatoff war früher Student gewefen, war aber nad) 
einem Ötudentenfrawall relegiert worden. Auf die 
Melt war er noch als Warwara Petromnas Leibeigener 
gefommen, als Sohn ihres verftorbenen Kammerdieners 
PawelFiodoroff, weshalb fie fich feiner befonders ange 
nommen und ihn alsKnaben von StepanTrophimowitſch 
hatte unterrichten Yaffen. Ste mochte ihn nicht wegen 
feines Stolzes und feiner Undankbarkeit und Eonnte es 
ihm nicht verzeihen, daß er nach feiner Relegation nicht 
fofort nach Skworeſchniki zurücaefehrt war. За, auf 
ihren eigens deshalb gefchriebenen Brief an ihn hatte 


42 





er feinerzeit uͤberhaupt nicht geantwortet, fondern e8 vor: 
gezogen, in der Familie eines gebildeteren Kaufmanns 
Kinder zu unterrich.en und mit ihr ins Ausland zu 
fahren, mehr als Kinderwaͤrter, denn alg Erzieher. Zu: 
gleich jedoch fuhr eine Gouvernante mit, ein junges, 
Тебба 8 ruffifches Fräulein, und als der Kauf: 
mann diefe nach zwei Monaten, wegen „freie: Un: 
ſchauungen“ wegjagte, 309 e8 auch Schatoff vor, fich 
langfam davon zu machen, ihr nach Genf nachzureifen 
und fich dort mit ihr trauen zu laſſen. Sn Genf verlebten 
fie ungefähr drei Wochen zufammen, dann aber trennten 
fie fich, als freie Menfchen, die durch nichts aneinander 
gebunden waren — nicht zuleßt auch deshalb, weil fie 
fein Geld hatten. Schatoff trieb fich darauf noch eine 
Weile in Europa umher, lebte Gott weiß wovon: man 
fagt, er Бабе auf der Straße Stiefel gepußt und fei in 
einer Hafenftadt Laftträger gewefen. Schließlich aber 
kehrte er doch in feine Heimatftadt zurüc, vor Enapp 
einem Sahre, und $08 zu feiner alten Tante, die aber 
bereits nach einem Monat ftarb, Зи feiner Schwelter 
Dafıha, Warwara Petromnas Zögling und befonderem 
Liebling, die bei ihr wie eine gefellfchaftlich Gleich: 
Пебепое lebte, hatte er nur feltene und entfernte Зе: 
ziehungen, Unter uns war er immer finfter und ſchweig⸗ 
тат, und nur zuweilen, wenn man an feine Überzeugun: 
gen rührte, war er von einer Erankhaften Reizbarkeit 
und dann fehr unvorfichtig in feinen Außerungen. 
„Schatoff muß man зие anbinden, wenn man mit ihm 
disputieren will,” pflegte Stepan Trophimomitfch zu 
ſcherzen; aber er Yiebte ihn. Sm Auslande hatte Schatoff 
einige feiner fozialiftifchen Überzeugungen vollftändig 


43 


geändert und wer zum entgegengefeßten Ertrem über: 
gegangen. Er war eines jener idealen ruffifchen Фе 
fchöpfe, ме plößlich von irgendeiner ftarfen Idee ge— 
troffen und auf der Stelle gleichfam zu Boden gedrüct 
werden von ihrer Schwere, manchmal fogar für immer. 
Sie find niemals imftande, mit ihr fertig zu werden, 
fondern beginnen ſogleich Yeidenfchaftlih an fie zu 
alauben, und fo vergeht dann ihr ganzes Leben wie in den 
legten Kraͤmpfen unter einem auf ihnen laftenden 
Steine, der fie halbwegs ſchon erdrüct hat. Schatoffs 
Außeres entiprach vollfommen feinen Überzeugungen: 
er war plump, blond, ftarf behaart, von niedrigem 
Wuchs, mit breiten Schultern, hatte dicke Lippen, fehr 
dichte, überhängende, weißblonde Augenbrauen, eine 
finftere Stirn, unfreundlichen, hartnädig geſenkten, 
und fich gleichfam wegen irgendetwas fchämenden ЗИФ, 
Sein Haupthaar bildete an einer Stelle einen Büfchel, 
der fich um feinen Preis ankaͤmmen ließ und daher immer 
in die Höhe ftand. Er war ungefähr fieben= oder achtund- 
zwanzig Jahre alt. „Ich wundere mich nicht mehr 
darüber, daß feine Frau von ihm meggelaufen ift,” 
meinte Warwara Petrowna einmal, nachdem fie ihn 
aufmerffam gemuftert hatte, Dabei bemühte fich 
Schatoff, Нов feiner großen Armut, wenigftens immer 
fauber gefleidet zu fein. Nach feiner Rückkehr Hatte er 
Warwara Petromna wieder nicht um Unterftüßung ges 
beten, fondern fich durchgefchlagen, fo gut es eben gehen 
wollte; er arbeitete bei Kaufleuten oder fonftwie, Ein: 
mal faß er in einem Laden; darauf follte er als Gehilfe 
des Transportführers mit einem Frachtfchiff weafahren, 
aber da erkrankte er kurz vor der Abfahrt. Man kann fich 


#4 





faum eine Vorftellung davon machen, welch einen Grad 
von Armut Schatoff zu ertragen fähig war, und fogar 
ohne e8 zu merfen, Nach der Яап бей dberfandte 
ihm Warwara Petromna heimlich und ungenannt hundert 
Rubel. Er erfuhr aber fchließlich, von wen die Summe 
ftammte, fann lange nach, nahm fie dann doch an und 
ging geraden Weges zu Warwara Petrowna, um fich 
bei ihr zu bedanken. Sie empfing ihn herzlich, aber auch 
diesmal enttäufchte er fehmählich ihre Erwartungen: 
er faß ihr nur fünf Minuten gegenüber, fehwieg faft die 
ganze Zeit, fah zu Boden, lächelte blöde, und plößlich, 
gerade an der intereffanteften Stelle des Gefprächs, ftand 
er auf, machte eine fchiefe und ungefchickte Verbeugung, 
Ichämte fich dabei zu Tode und — krach! hinter ihm lag 
Warwara Petromnas Eoftbares und kunſtvolles Е: 
tifchehen zerfchlagen am Boden, und Schatoff verlieh 
das Zimmer mehr tot als lebendig. Ярини tadelte ihn 
wegen der ganzen Gefchichte heftig: einmal, weil er die 
hundert Rubel von feiner früheren Herrin und Defpotin 
nicht mit Verachtung zurückgewiefen hatte und dann, 
weil er auch noch zur Dankfagung hingegangen war. 
Schatoff wohnte am äußerften Ende der Stadt und er 
fah es nicht gern, wenn ihn jemand, felbft von ung, bes 
fuchte. Zu den Abenden bei Stepan Trophimomitfch 
erfchten er regelmäßig und lieh dann —— und Zei⸗ 
tungen von ihm. 

Ein anderer aus unferem Kreiſe, ein gewiſſer Wir: 
ginski, erinnerte, obgleich er fcheinbar in allem Schatoff3 
vollftändiges Gegenteil war, innerlich doch fehr an ihn. 
Es war das ein hiefiger Beamter, gleichfalls ein „Che: 
mann”, ein bedauernswerter junger Menfch von fehon 


45 


dreißig Sahren, mit bedeutenden Kenntniffen, Ме er 
größtenteils auf autodidaktifchem Wege erworben hatte. 
Auch Wirginsfi war arm, dabei verheiratet, und oben 
drein noch gezwungen, Tante und Schwefter feiner 
Frau zu ernähren. Diefe drei Damen teilten die aller- 
neueften Anfchauungen, nur daß fie bei ihnen etwas 
vulgar herauskamen, gleich „auf die Straße gefchleppten 
Ideen“, wie fich Stepan Trophimowitſch einmal bei 
einem anderen Anlaß ausdruͤckte. Sie fchöpften alles 
aus Büchern und waren jederzeit bereit, alles, was 
noch irgendwie unmodern war, zum Fenfter hinaus zu 
werfen — wenn nur aus den fortfchrittlichen Winkeln 
der Hauptftädte dag zu tun angeraten wurde, Madame 
Wirginskaja hatte als Mädchen lange in Petersburg 
gelebt; jeßt war fie Hebamme in unferer Stadt, Wir: 
ginski felbft war ein Menfch von feltener Herzensrein- 
heit, und nie in meinem Leben habe ich eine ehrlichere 
Begeifterung gefehen. „Niemals, niemals werde ich 
von diefen Fichten Hoffnungen laſſen,“ fagte er zu mir 
mit leuchtenden Augen. Bon diefen „lichten Hoff: 
nungen” fprach er ftets nur leiſe mit Wonnegefühl und 
flüfternd, wie von einem Geheimnis, Er war ziemlich 
hoch von Wuchs, aber fehr duͤnn und ſchmal in den 
Schultern, Бай, mit fehr fpärlichem, leicht rötlichem 
Haar. Den oft recht Hochmütigen Spott Stepan 
Zrophimomitfchs über die eine oder andere feiner Mei: 
nungen ertrug er fanftmütig, doch zuweilen widerfprach 
er ihm fehr ernft und feßte ihn durch feine Einwände 
in Verlegenheit. Im übrigen ging Stepan Trophimo: 
witfch freundlich mit ihm um, ja und überhaupt verhielt 
er fich zu uns allen väterlich, 


46 





„Alle ſeid ihr von den ‚unausgebrüteten‘,“ bemerkte 
er einmal feherzhaft zu Wirginski, „wenn ich auch ge= 
rade an Ihnen, Wirginsfi, nicht diefe Besfchränktsheit 
bemerkt Бабе, wie ich fie in Petersburg chez ces s6mi- 
naristes angetroffen; aber troßdem find Ste unaus— 
gebrütet. Schatoff möchte furchtbar gern ausgebrütet 
fein, aber auch er ift unausgebrütet.” 

„And ich?” fragte Kiputin. 

„Sie, — Sie find einfach die goldene Mitte, die fich 
überall einlebt... auf ihre Art.” Liputin fchwieg 
gekraͤnkt. 

Man erzaͤhlte ſich von Wirginski, und leider war 
es nur zu glaubwuͤrdig, was man ſich erzaͤhlte, ſeine 
Frau habe ihm bereits nach dem erſten Jahr ihrer Ehe 
eines ſchoͤnen Tages mitgeteilt, daß er von nun an аб: 
gefeßt fei, und daß ein gewiſſer Herr Lebadfin feine 
Stelle einnehmen werde. Diefer Herr Lebadkin, ein 
Zugereifter, ftellte fich fpäter als eine fehr fragmürdige 
Erfcheinung heraus, die vor allem nicht das geringfte 
Recht auf den fich felber beigelegten Titel eines Haupt: 
manns a. D, hatte, Was er verftand, das war lediglich 
den Schnurrbart zu drehen, zu trinken und den größten 
Unftnn zu fchwaßen. Er war dabei taftlos genug, fo: 
fort zu Wirginskis überzufiedeln, freute fich hier vor aller 
Melt des freien Tifches und begann zu guter Lebt noch, 
den Hausherren von oben herab zu behandeln. Man 
behauptete übrigens, daß Wirginsfi feiner Frau, паб: 
dem Ste Ihm jene Mitteilung gemacht, geantwortet habe: 
„Mein Freund, big jeßt Бабе ich dich nur geliebt, aber 
von nun ab achte ich dich.” In Wirklichkeit wird wohl 
kaum ein fo altrömifcher Ausspruch gefallen fein, und 


47 


manche behaupten denn auch, Daß er im Gegenteil 
jchrelich geweint habe. Eines Tages, etwa zwei 
Wochen nach feiner Abfehung, begaben fie fich alle, 
Ме ganze „Familie“, in das Wäldchen vor der Stadt, 
um dort mit Bekannten Zee zu trinken. Wirginski 
war geradezu fieberhaft luſtig geftimmt und beteiligte 
fih am Tanz; doch plößlich, und zwar ohne jeden vor: 
hergegangenen Streit, padte er den Hünen Lebaͤdkin, 
der folo einen Gancan tanzte, mit beiden Händen an 
den Haaren, riß ihn nieder und begann ihn Freifchend, 
fchreiend und mweinend zu zerren und zu hauen. Der 
Hüne erfchraf dermaßen, daß er fich nicht einmal wehrte, 
und folange der andere ihn prügelte, faft nicht muckſte; 
nachher freilich fpielte er dann mit dem ganzen Feuer 
eines edlen Menfchen den Beleidigten. Wirginsfi bat 
feine Frau die ganze Nacht auf den Knien um Ver: 
zeihung, doch die ward ihm nicht gewährt, da er fich 
immerhin nicht bereit erklärte, auch Lebaͤdkin um Ent: 
Ihuldigung zu Bitten; außerdem murde ihm Mangel 
an Überzeugungstreue und Dummheit vorgeworfen; 
leßteres deshalb, weil er „während einer YAusein: 
anderfeßung mit einer Frau” vor diefer auf den Knien 
gelegen. Der „Hauptmann“ verfchwand bald darauf 
und erfchien erft in allerleßter Zeit wieder in unferer 
Stadt, mit feiner Schwefter und mit neuen Xbfichten; 
Doch davon fpäter. Es war alfo fein Wunder, daß der 
arme „Familienmenfch” bei uns Ablenkung fuchte und 
ein Bedhrfnis nach unferer Gefellfchaft Бане. Von 
feinen häuslichen Angelegenheiten fprach er bei ung 
übrigens ше. Nur einmal, als er mit mir von Ötepan 
Trophimowitſch heimging, war es, als wollte er etwas 


48 





über feine Lage verlauten laffen, doch ſchon im nächften 
Augenblic rief er, indem er meine Hand ergriff, Нат? 
mend aus; „Aber dag tut ja nichts, das ift ja nur eine 
Privatangelegenheit; das ftört Doch Die ‚allgemeine 
Sache‘ nicht im geringften, nicht im geringften !” 

Es kamen auch noch andere, mehr zufällige Файе 
zu unferen Abenden: beifpielsweife der Fleine Sude 
Laͤmſchin, ferner ein Hauptmann Kartufoff. Voruͤber— 
gehend Fam manchmal auch noch ein wißbegieriger 
alter Eleiner Herr, aber der ftarb. Einmal führte Liputin 
einen verbannten polnifchen @eiftlichen, Slonzewski, 
bet ung ein, und anfangs ließen wir ihn aus Grund: 
ſatz an unferen Abenden teilnehmen, dann aber lehnten 
wir ihn doch ab. 


IX 


Cine Zeitlang hieß es von ung in der Stadt, unfer 
Kreis fei eine Pflanzftätte der Freigeifterei, der Sitten: 
verderbnis und der Gottlofigkeit; ja eigentlich behaup— 
tete fich diefer Ruf fogar die ganze Zeit. Und dabei gab 
es bei uns doch nur das allerunfchuldigfte, Tiebe, echt 
rufftfche, Бейеге, liberale Gefchwäß. Der „höhere Libe: 
ralismus” und der „höhere Kiberale”, 5, В. ein Libe— 
raler ohne jedes Ziel, find ja nur in Rußland möglich. 
Stepan Trophimowitfch brauchte, wie jeder wortwißige 
Menfch, ganz einfach einen Zuhörer, und außerdem war 
ihm das Bewußtfein unentbehrlich, daß er die hoͤchſte 
Pflicht, Ideen zu verbreiten, erfülle, Und fchließlich 
mußte man doch jemanden haben, mit dem man Cham: 
pagner trinken und fo beim Glafe eine деле Art 
heiterer Gedanken ber Rußland und den „ruffifchen 


4 Doftoje wski, Die Dämonen. 35. 1. 49 


Geift”, über Gott im allgemeinen und den ruffifchen 
Gott im befonderen austauschen Fonnte. Aber auch dem 
Stadtklatſch waren wir ganz und gar nicht abgeneigt 
und gelangten manchmal zu ftrengen, hochmoralifchen 
Verurteilungen. Wir gerieten auch auf das Thema 
der Meltgefchichte, erörterten ernſt das zukünftige 
Schiefal Europas und der Menfchheitz; prophegeiten 
doftrinär, daß Franfreich nach dem Cäfarismus mit 
einem Schlage auf die Stufe eines Staates zweiten 
Nanges herabiinfen werde, und waren vollkommen 
überzeugt, Daß das ungeheuer fchnell und leicht ge: 
Ichehen Fönne, Dem Фарй hatten wir fchon Yängft die 
Rolle eines gewöhnlichen Metropoliten in dem geeinigten 
Stalten vorausgefagt, und waren vollfommen über: 
zeugt, daß diefe ganze taufendjährige Frage in unferen 
Sahrhundert der Humanität, der Induſtrie und der 
Eiſenbahnen nur eine Lappalie fei. Aber der „höhere 
ruffifche Liberalismus” verhält fich Ja nun einmal nicht 
anders zu der Sache. Manchmal fprach Stepan Trophi— 
mowitſch auch über Ме Kunft, und zwar Тебе диф, bloß 
leider ein wenig zu abſtrakt. Hin und wieder Fam er 
auch auf feine Jugendfreunde zu Sprechen — lauter 
Perfönfichkeiten, die in der Gefchichte unferer Entwick— 
lung ihren Platz haben — er gedachte ihrer mit Ruͤh— 
rung und Verehrung, aber ein wenig auch wie mit Neid. 
Murde es einmal gar zu langweilig, dann Тебе fich 
das Juͤdchen Lämfchin (ein Bleiner Poftbeamter), der 
meifterhaft Klavier fpielte, an das Inftrument, und 
zwifchen den Stücken, die er vortrug, ahmte er in Tönen 
das Grungen eines Schweines nach, oder ein Gewitter, 
oder eine Entbindung mit dem erften Schrei des Kindes 


50 





ufw,, uſwe; nur Deswegen wurde er auch eingeladen. 
Hatten wir ftarf getrunken — und das Fam vor, wenn 
auch nicht oft — fo gerieten wir тей in Begeifterung, 
und einmal fangen wir fogar im Chor, zu Laͤmſchins 
Begleitung, die Marfeillatfe, nur weiß ich nicht, ob das, 
was Dabei herausfam, auch wirklich die Marfeillatfe 
war. Den großen Tag des 19. Februar*) feierten wir 
natürlich mit Enthuſiasmus, und gewöhnten ung diefe 
Feier mit Wein und Toaften auch in den folgenden 
Jahren noch lange nicht ab. Übrigens: einige Zeit vor 
dem großen Tage hatte Stepan Trophimowitſch fich an— 
gewöhnt, ein paar gefchraubte Strophen vor fich Hin: 
sumurmeln, die damals allen befannt waren: 
„Es nahen die Männer, die Arte gefchärft, 
Bereiten Schredliches vor !” 

Als Warwara Petrowna das einmal vernahm, rief fie: 
„Was für ein Unfinn !” und verlieh erzürnt das Zimmer. 
\Мрини aber, der gerade zugegen war, bemerkte bos— 
бай zu Stepan Trophimomitfcht „Uber es wäre doch 
jchade, wenn die früheren Leibeigenen den Herren Guts— 
befißern etwas Unangenehmes bereiteten, — und er 
fuhr fich mit dem Zeigefinger um den Hals herum. 

„Cher ami“, erwiderte ihm hierauf Stepan Tropht: 
mowitſch gutmütig, „glauben Sie mir, daß diefes” 
(er wiederholte die Gefte um den Hals herum) „nicht den 
geringiten Nußen brachte, weder unferen Gutsbefißern, 
noch ung anderen insgefamt. Auch ohne Köpfe würden 
wir nichts herzuftellen verftehen, obfchon gerade unfere 
Köpfe ung am meiften hindern, etwas zu verftehen”. 


*) Der Tag der Aufhebung der Leibeigenfhaft im Jahre 1861. 
О 


{$ 51 


Sch muß bemerken, daß viele bei uns annahmen, 
am Tage des Manifeftes werde etwas Ungewöhnliches 
gefchehen ; etwas von der Art, wie es Liputin andeutete. 
Es fcheint, daß аиф Stepan Trophimowitſch diefe Bes 
fürchtungen teilte, und fogar in folchem Maße, daß er 
Ригу vor dem großen Tage Warwara Petromwna plöglich 
zu bitten begann, ins Ausland reifen zu dürfen. Aber 
der große Зав verging, е8 vergingen noch mehr Tage, 
und das hochmütige Lächeln erfchien wieder auf Stepan 
Zrophimowitfchs Lippen. Übrigens äußerte er damals 
einige bemerfenswerte Gedanken über den Charakter 
des Ruffen im allgemeinen und des ruffifchen Bauern 
im befonderen. Er meinte fchließlich: 

„Als hitzige Leute find wir etwas voreilig gewefen 
mit unferen Bäuerlein. Wir haben fie in Mode ge: 
bracht, und ein ganzer Zweig unferer Literatur hat 
fich mehrere Jahre lang nur mit ihnen abgegeben, wie 
mit einer neuentdedten Koftbarfeit. Wir haben 012 
beerfränze auf verlaufte Köpfe gefeßt. Das ruffische 
Dorf hat uns im Laufe der ganzen taufend Jahre 
nichts weiter gegeben als den Nationaltanz, den Kama: 
rinsfi. Hat doch ein hervorragender ruffifcher Dichter, 
dem eg überdies nicht an Scharffinn fehlte, ausgerufen, 
als er zum erftenmal die große Rachel auf der Bühne 
fah: ‚Die Rachel taufche ich nicht gegen einen ruffiichen 
Bauern ein!‘ ch bin bereit, noch viel weiter zu gehen: 
ih würde fogar alle ruffifchen Bauern für die eine 
Nachel hingeben. Es ift Zeit, nüchterner zu urteilen und 
nicht unferen einheimifchen unfeinen Xeergeruch mit 
bouq ret de limperatrice zu verwechjeln.” 

Liputin ſtimmte ihm fofort bei, meinte aber, daß fich 


52 





zu verftellen und die VBäuerlein zu verherrlichen da= 
mals immerhin um der NRichtung*) willen notwendig 
gemwefen fei; daß fogar die Damen der höchften Gefell- 
fchaftskreife bei der Lektüre des „Anton Pechvogel”**) 
Tränen vergoffen hätten, und manche hätten fogar aus 
Paris an ihre Gutsvermalter gefchrieben, fie follten von 
nun an mit den Bauern möglichjt Human umgehen. 

Da geſchah es eines Tages, und zum Unglüc gerade 
nach den erften Gerüchten von Anton Petrowitſch***), 
daß es auch in unferem ©ouvernement, und nur 
15 Werft von Skiworefchnifi, zu einem gewiffen Miß— 
verftändnis Fam, fo daß man in der erften Hiße ein 
Militärfommando hinſchickte. Über diefen Vorfall 
regte fich Stepan Trophimomwitfch ungeheuer auf. Im 
Klub ſchrie er, wir brauchten mehr Militär; er eilte zum 
Gouverneur, um zu verfichern, daß er mit diefen Um— 
trieben nichts zu fchaffen habe, und er bat, ihn nicht in 
diefe Sache Hineinzuziehen, auf Grund der Erinnerung 
an Gewefenes. Zum Gluͤck ging das alles bald vor: 
über und loͤſte fich in nichts auf; nur mußte ich mich 
Damals doch über Stepan Trophimowitfch wundern, 

Drei Jahre fpäter}) begann man, wie erinnerlich, 
vom Nationalismus zu fprechen und es bildete fich 
eine „öffentliche Meinung”. Darüber fpottete er fehr. 
*) 331. Vorbemerkung. Е. К. В. 
**) Eine Dorfgefhichte von Grigorowitſch, die 1847 eine neue 
Anfhauungsweife einleitete (daß der Bauer auch ein Menfch fei) 
und der Literafur ein neues Stoffgebiet erfchloß. E.K.R. 
***) Der Führer einer größeren Schar auffäffiger Bauern nad) 
der Bauernbefteiung. Vgl. ©. 1115, 2. Anmerkung. E.K.R. 
р Der Aufftand der Polen im Jahre 1863 hatte zur Folae, 
dag der ruffiiche Nationalftolg mächtig hervorbrach. E.K.R. 


53 


„Meine Freunde”, belehrte er uns, „Sollte unfere 
Nationalität neuerdings wirklich geboren oder ‚im Ent: 
jtehen begriffen‘ fein, wie fie jeßt in den Zeitungen 
behaupten, dann, fißt fie doch vorläufig gewiß noch in 
irgend 10 einer VPetrifchule*), über dem deutfchen Buch 
und lernt ihre ewige deutjche Lektion. Daß der Lehrer 
ein Deutfcher ift, das [obe ich. Doch am wahrfcheinlichiten 
dürfte fein, daß nichts gefchehen wird und nichts ‚im 
Entitehen begriffen‘ ift, fondern alles fo weitergeht wie 
ehedem, nämlich einfach unter Gottes Schuß! Meinem 
Dafürhalten nach genügt das auch für Rußland, pour 
notre sainte Russie. Zudem find doch alle diefe Nationa- 
lismen und das Allffawentum viel zu alt, um neu zu 
fein. Die Nationalität ift doch bei uns, wenn Sie 
wollen, noch nie anders in Erfcheinung getreten, als 
in Geftalt eines Einfalls müßiger Klubherren, und 
sum Überfluß noch eines Moskauer Klubs. 3% rede 
natürlich nicht von den Zeiten Sgors**). Und Schließlich 
fommt doch alles nur vom Müßigfein. Jedenfalls bei 
uns alles vom Müßigfein, auch das Gute, auch das 
Schöne. Alles von unferem hberrfchaftlichen, Tieben, 
gebildeten, Taunenzüchtenden Müßigfein!  Dreißig: 
taufend Sahre lang wiederhole ich das fchon! Wir 
verftehen nicht, von eigener Arbeit zu leben. Und was 
reden fie nur fo viel von diefer öffentlichen Meinung, 
die eg bei ung jeßt auf einmal geben foll, — fo plößlich, 
wie ohne weiteres fertig vom Himmel gefallen ? Be: 
+) Die befte deutfche Schule in Petersburg. E.K.R. 
**) Fürft von Nomwgorod, 1151—1202, fiel auf einem Eroberungs; 
zuge gegen die Polowzer. Anfpielunganfden forglofen Willen dieſes 
Fürften zu nationaler (nor manniſcher ) Ausbreitung, Е.К. В. 


54 


greifen die Leute denn wirklich nicht, daß zur Erlangung 
eier eigenen Meinung vor allen Dingen Arbeit gehört, 
eigene Mühe, eigener Verſuch in der Sache, eigene 
Erfahrung! Ohne eigene Mühe wird nie etwas er: 
worben. Wenn wir arbeiten werden, werden wir auch 
eine eigene Meinung haben, Da wir aber niemals arbei: 
ten werden, jo wird auch immer die Meinung derjenigen 
maßgebend fein, die an unferer Statt bisher gearbeitet 
haben, alfo ме Meinung immer desfelben Europa, 
immer derfelben Deutfchen, die ja ſchon feit zwei Jahr: 
hunderten unfere Lehrer find. Überdies ift Rußland ein 
viel zu großes Mißverftändnis, als daß wir allein es 
erklären Fönnten, ohne die Deutfchen und ohne Arbeit. 
Schon feit zwanzig Jahren laͤute ich die Alarmglocke 
und rufe zur Arbeit! Sch habe mein Leben dafür hin— 
gegeben, um aufzumweden und zu rufen, und habe де: 
glaubt, ich Tor, daß es nicht vergeblich fer! Sekt 
glaube ich das nicht mehr, aber ich werde troßdem bis 
zum Schluß läuten, bis man mir den Strang aus der 
Hand nimmt, um zu meiner Seelenmeffe zu Täuten !“ 

Leider ſtimmten wir ihm damals bei. Aber hört man 
denn nicht auch jebt noch oft genug genau folchen 
„ieben“, „klugen“, „Liberalen“, alten, ruſſiſchen Unfinn? 

An Gott glaubte unfer Lehrer. „Ich begreife nicht, 
warum mich hier alle als einen Gottleugner hinftellen?”, 
jagte er manchmal. „Ich glaube an Gott, mais distin- 
guons: ich glaube an ihn wie an ein Weſen, das fich 
Seiner in mir nur bewußt wird. . Sch kann doch micht 
wie Naſtaſſja glauben” (fein Dienitmädchen), „oder 
wie irgend fo ein begüterter Herr, der nur ‚für alle 
Fälle‘ glaubt, oder wie unfer lieber Schatoff, — übrigens 


55 


oder indifferentes, verderbtes Pad find und nichts 
weiter! Sie gleichfalls, Stepan Trophimowitſch, ich 
Schließe Sie keineswegs aus, hab's fogar vor allem in 
bezug auf Sie gejagt, damit Sie's wiſſen!“ 

Nach einem ſolchen Monolog (und derartige Aus 
brüche kamen bei ihm oft vor) gefchah es gewöhnlich, 
рав Schatoff nach feiner Muͤtze griff und fofort zur Tür 
hinaus wollte, in der feften Überzeugung, daß nun alles 
zu Ende fei und er feine freundfchaftlichen Beziehungen 
zu Stepan Trophimowitſch für immer zerftört habe. 
Doch der verftand es ftets, ihn rechtzeitig zuruͤckzuhalten. 

„Ei, follten wir nicht Frieden fchließen, Schatoff, 
nach all diefen netten Wörtchen?” pflegte er dann zu ihm 
zu fagen, indem er ihm von feinem Lehnſtuhl aus gut⸗ 
muͤtig die Hand hinſtreckte. 

Der plumpe, doch leicht verlegen werdende und ſich 
ſchaͤmende Schatoff war kein Freund von Zaͤrtlichkeiten. 
Außerlich war er ein rauher Menſch, doch innerlich war 
er, glaube ich, unendlich zartfuͤhlend. Wohl uͤberſchritt 
er oft das Maß, aber er war ſelbſt der erſte, der darunter 
litt. Auf Stepan Trophimowitſchs verſoͤhnliche Worte 
brummte er etwas vor ſich hin, trat wie ein Baͤr auf 
demſelben Fleck von einem Bein auf das andere, ſchmun⸗ 
zelte plößlich ganz unvermittelt, legte die Müße wieder — 
aus der Hand und feßte fich ſchließlich auf feinen alten 
Pa, den Blick die ganze Zeit hartnädig зи Boden geſenkt. 
Natürlich gab es dann fofort Wein und Stepan Trophi: 
mowitſch brachte einen paffenden Toaſt aus, $. B. auf 
das Andenken eines jener früheren bedeutenden Männer. 


58 





Zweites Kapitel, 


Prinz Dein. Die DBrautwerbung. 


I 


Yußer Stepan Trophimowitfch gab es auf der Welt 
noch ein Weſen, an dem Warwara Petrowna nicht 
weniger hing als an ihm: das war ihr einziger Sohn 
Nicolai Wſzewolodowitſch Stawrogin. Für ihn war 
feinerzeit Stepan Trophimomitfch als Erzieher ange: 
nommen worden. Der Knabe war damals acht Jahre alt 
und feine Eltern lebten bereits getrennt, fo daß das 
Kind nur unter der Obhut der Mutter heranwuchs. 
Man muß es Siepan Trophimowitſch Laffen: er verftand 
e8, feinen Zögling an fich zu feffeln. Sein ganzes Ge— 
heimnis beftand darin, daß er felbft noch ein Kind war. 
Sch war damals noch nicht Hier, er aber bedurfte ja 
beftändig eines Freundes, und er trug Fein Bedenken, 
ein fo junges Wefen zu feinem Vertrauten zu machen. 
За, e8 machte fich ganz von felbft, daß zwifchen ihnen nicht 
der geringfte Abftand fühlbar ward. Oft weckte er feinen 
zehn- oder elfjährigen Freund in der Nacht auf, ur 
um ihm unter Traͤnen fein gekraͤnktes Herz auszu: 
jchütten oder ihm ein Familiengeheimnis zu enthüllen, 
ohne gewahr zu werden, Вай fo etwas denn doch ипзиг 
läffig war. Sie fielen einander um den Hals und 


59 


meinten. Don feiner Mutter wußte der ЯпаВе, daß 
fie ihn fehr Tiebte; Doch er felbft liebte fie wohl kaum. 
Sie fprach wenig mit ihm, tat ihm felten einen Zwang 
an, aber ihr aufmerffam ihm folgender ЗИ wurde 
von ihm immer Нап бай intenfiv gefpürt. Den Unter: 
richt und die moralifche Erziehung überließ fie übrigens 
ganz Stepan Trophimowitfch. Damals glaubte fie 
an ihn noch ohne Einfchränkung. Es Ш anzunehmen, 
daß der Lehrer die Nerven feines Zöglings ein wenig 
angegriffen hat: als Diefer mit fechzehn Jahren auf 
das Lyzeum gebracht wurde, war er fehmwächlich und 
blaß, feltfam ftill und nachdenklich. (Später zeichnete 
er fih durch außergewöhnliche Körperfraft aus.) 
Anzunehmen ift ferner, daß die Freunde nachts nicht 
immer nur über irgendwelche Familiengefchichten 
meinten. Stepan Trophimomitfch hatte es verftanden, 
im Herzen feines Freundes die tiefiten Saiten zu be: 
rühren, und in ihm das erfte, noch unbeftimmte Emp- 
finden jener ewigen, heiligen Sehnfucht hervorzurufen, 
die manche auserwählte Seele, die fie einmal gekoftet 
und erkannt hat, nachher fehon nie mehr gegen eine 
billige Zufriedenheit eintaufchen mag, (Es gibt auch 
folche Liebhaber diefer Sehnfucht, denen fie teurer 
ift als die vollfommenfte Zufriedenheit, felbft wenn eine 
folhe für fie wirklich erreichbar wäre.) Sedenfalls 
aber war es gut, daß der Zögling und der Erzieher, 
wenn auch fpät, voneinander getrennt wurden. 
Mährend der erften zwei Jahre im Lyzeum Fam der 
Süngling in den Ferien nach Haus. Alsdann Warmara 
Petromna und Stepan Trophimomwitfch fich in Peters: 
burg aufhielten, fand auch er fih manchmal zu den 


60 


Yiterarifchen Abenden im Salon feiner Mutter ein, 
hörte zu und beobachtete, Er fprach wenig und war wie 
immer ftill und fchüchtern. Zu Stepan Trophimowitfch 
verhielt er fich mit der früheren zarten Aufmerffamteit, 
war aber doch etwas zurüickhaltender: von hohen Dingen 
und Erinnerungen an Vergangenes zu fprechen vermied 
er ſichtlich. Als er das Lyzeum abfolviert hatte, trat er 
auf den Wunfch der Mutter beim Militär ein und wurde 
bald in eines der angefehenften Garde-Kavallerie— 
regimenter aufgenommen. бт Fam aber nicht zur 
Mutter, um fich ihr in der Uniform zu zeigen, und fehrieb 
aus, Petersburg immer feltener. Geld ſchickte ihm 
Warwara Petrowna ohne zu fparen, obfchon die Eine 
nahmen von ihren Gütern nach der Aufhebung der 
feibeigenfchaft fo zurücdgegangen waren, daß fie in 
der eriten Zeit nicht einmal die Hälfte der früheren 
Summen erhielt. Für die Erfolge ihres Sohnes in der 
höchften Petersburger Gefellichaft intereffierte fie fich ſehr. 
Mas ihr nicht gelungen war, gelang dem jungen, reichen 
und hoffnungsvollen Offizier ohne weiteres. Er erneuerte 
Bekanntſchaften, an die fie nicht mehr hatte denfen 
Fönnen, und überall wurde er mit dem größten Зет: 
gnügen aufgenommen. Doc fchon fehr bald begannen 
{Нате Gerüchte ihr zu Ohren zu fommen: е8 hieß, 
der junge Mann habe ganz plöglich und geradezu finnlog 
tol zu leben begonnen. Nicht, daß er fpiele oder 
trinke; aber man fprach von einer wilden Zügellofigfeit, 
von Menfchen, die er mit feinen Trabern überfahren 
hatte, von einer graufamen NRücdfichtslofigkeit gegen 
eine Danıe der guten Gefellfchaft, mit der er in Зе: 
ziehungen geftanden und die er dann Öffentlich be: 


61 


letdigt Бабе. За, in diefer Sache fei fogar etwas fchon 
gar зи unverhüllt Schmußiges hervorgetreten. Und 
überhaupt {ет er, wie man hinzufügte, ein herausfor: 
dernder ÖStreitfucher, bändele an und beleidige dann 
einfach aus Luft am Beleidigen., Warwara Petrowna 
regte fich auf und war befümmert. Stepan Trophimo: 
witfch verficherte ihr, das feien nur die erften ſtuͤrmi— 
chen Ausbrüche eines allzu reich Veranlagten, das 
Meer werde fich fchon wieder beruhigen, und alles das 
erinnere nur an Ме Jugend des Prinzen Heinz, der mit 
бай, Yoins und Mrs. Quickly feine Streiche voll: 
führte, Diesmal rief Warwara Petrowna nicht 
„Anfinn, alles Unfinn !” wie fie es fich in der letzten 
Zeit Stepan Trophimowitſchs Auseinanderſetzungen 
gegenüber angewöhnt Бане; im Gegenteil, fie hörte 
jehr aufmerkſam zu, ließ fich alles ausführlich erklären, 
nahm dann felbft den Shakeſpeare zur Hand und Tas 
uͤberaus achtfam das umfterbliche Werk, Doch die 
Lektüre beruhigte fie nicht, auch fand fie die Ahnlichkeit 
nicht fo groß. Fieberhaft erwartete fie die Antworten 
auf mehrere Briefe. Die bfieben auch nicht aus; bald 
traf die unheilvolle Nachricht ein, Prinz Heinz habe fait 
zu gleicher Zeit zwei Duelle gehabt, fei bei beiden der 
einzig Schuldige gewefen, Бабе den einen Gegner auf 
der Stelle niedergeftret und den anderen zum Kruͤppel 
geichoffen und infolgedeffen fei er vor Gericht geftellt. 
Es endete damit, daß er zum Gemeinen degradiert, 
feiner Rechte beraubt und ftrafweife in eines der Linien= 
Infanterteregimenter verfeßt murde, und das mar 
noch als ein befonders gnädiges Urteil zu betrachten. 

Im Jahre 1863 gelang es ihm, fich auszuzeichnen; 


62 





er erhielt das Ehrenkreuz und wurde zum Unteroffizier 
befördert, dann aber merkwürdig fchnell auch zum 
Offizier, Inzwiſchen Hatte feine Mutter wohl an 
hundert Briefe mit Bitten und Befchwörungen nach 
Petersburg gefchrieben und fich um feinetwillen fogar 
manches Demütigende erlaubt. Nach feiner Befoͤr— 
derung nahm der junge Menfch plößlich feinen Abſchied, 
Fam aber wieder nicht nach Skworeſchniki und hörte 
jogar ganz auf, an die Mutter zu ſchreiben. Man erfuhr 
Schließlich auf Uinwegen, daß er fich wieder in Petersburg 
aufhalte, doch in der früheren Gefellfchaft Бабе man 
би gar nicht mehr gefehen; er Бабе fich irgendwo gleich: 
ſam verfteckt, Nachforfchungen ergaben, daß er in einer 
fonderbaren Gefellfchaft Тебе, fich dem Abſchaum der 
Petersburger Bevölkerung angefchloffen hatte, irgend: 
welchen ftiefellofen Beamten, verabfchiedeten Militärs, 
ме in angemefjener Form um Almofen baten, Trunken⸗ 
bolden, deren fchmußige Familien er befuchte, Tage 
und Nächte in dunklen Spelunfen und in Gott weiß 
was fir Winfelgaffen zubrachte, heruntergefomnten, 
verlunpt war, und daß ihn das offenbar gefalle, Um 
Geld bat er feine Mutter nicht; er befaß ja auch felbft 
ein kleines Gut (den früheren Dorfbefiß des Generals 
Stawrogin), dasimmerhin etwas einbrachte und das er, 
wie verlautete, an einen Deutfchen aus Sachfen ver: 
pachtet Hatte, Schließlich bat ihn ме Mutter doch Tehr, 
su ihr zu kommen, und Prinz Heinz erfchten in unferer 
Stadt, Damals fah ich ihn zum erftenmal, 

Er war ein fehr fehöner junger Mann von etwa fünf: 
undzwanzig Jahren, und ich muß geftehen, feine Er: 
Icheinung überrafchte mich. Ich hatte erwartet, einen. 


68 


fchmußigen, verfommenen, von Ausfchweifungen aus: 
gemergelten, nach Branntwein riechenden Menfchen zu 
erblicken. Statt deſſen erblickte ich den eleganteften 
Gentleman, der mirje zu Geficht gefommen ift. Tadellos 
gefieidet und von einer Haltung, wie fie nur ein Herr, 
der an den feinften Anftand gewöhnt ift, haben kann. 
Sch war nicht der einzige, der ftaunte: е8 ftaunte die 
ganze Stadt, der Übrigens Herrn Stawroging Lebens: 
gefchichte fogar mit folchen Einzelheiten befannt war, 
daß man fich ит zu erklären vermochte, wie diefe 
hier in die Öffentlichkeit hatten gelangen koͤnnen. 
Alle unfere Damen verloren den Verftand vor Auf— 
regung ber den neuen Gaft. Sie teilten fich in zwei 
той entgegengefeßte Varteien: von der einen wurde 
er vergöttert, von der anderen gehaßt bis zum Blut: 
rachedurft; den Verftand freilich Hatten beide Parteien 
verloren. Für die einen hatte es einen befonderen 
Heiz, daß fich in feiner Seele vielleicht ein ſchreckliches 
Geheimnig barg; anderen gefiel es entichieden, daß er 
ein Mörder war. Es ftellte fich auch heraus, daß er eine 
überaus annehmbare Bildung und fogar einige wiffen: 
fchaftliche Kenntniffe befaß. Von letzteren war aller: 
dings nicht viel nötig, um ung in Erftaunen zu feßen; 
aber er konnte auch über aftuelle und fehr intereffante 
Fragen fprechen und fogar mit auffallender Befonnen: 
heit, Erwähnt fei noch als Seltfamfeit: alle fanden 
hier, daß er ein überaus vernünftiger Menfch fei. Er 
war nicht fehr gefprächig, formvollendet ohne Gefucht: 
heit, erftaunlich befcheiden und dabei Fühn und felbit- 
bewußt, wie bei uns fonft niemand. Unfere Stuger 
ſahen auf ihn mit Neid und kamen neben ihm überhaupt 


64 





richt in Betracht. Auch fein Geficht überrafchte mich: 
das Haar war ГАЙ ſchon gar zu ſchwarz, die hellen 
Augen faft fchon zu ruhig und Far, die Gefichtsfarbe 
faft fchon zu zart und weiß, die Wangenröte ebenfalls 
wie ein wenig zu grell und rein, die Zähne wie Perlen, 
die Lippen wie Korallen, — man follte meinen, ein 
bildfchöner Mann, und doch war diefe Schönheit gleich- 
{ат auch abitoßend, Manche fagten, fein Geficht 
erinnere an eine Maske; doch übrigens, was wurde nicht 
alles gefagt. Unter anderem fprach man auch viel von 
feiner außergewöhnlichen Körperfraft. Dabei war er 
von Öeftalt beinahe hoch gewachfen. Warwara Petrowna 
blickte mit Stolz auf ihren Sohn, aber immer auch mit 
Unruhe, Er lebte bei uns etwa ein halbes Jahr — 
träge, ПИТ, ziemlich verdroffen ; er verfehrte in der Gefell: 
Schaft, und erfüllte mit ſtandhafter Aufmerkſam— 
keit alle Borfchriften unferer Gouvernementsftadt: 
Etikette, Mit dem Gouverneur war er vÄäterlicherfeits 
verwandt und verkehrte in feinem Haufe wie ein naher 
Verwandter, So vergingen ein paar Monate, und 
plößlich zeigte das Tier feine Krallen. 

Nebenbei: unfer Tieber Swan Offipomitfch Hätte in 
der guten alten Zeit bei feiner Gaftfreiheit einen 5013192 
lichen Adelsmarfchall abgegeben, aber zum Gouverneur 
in einer fo mühevollen Zeit wie die unfrige paßte er mit 
jeiner Arbeitsfcheu entfchieden nicht. In der Stadt 
hieß e8 denn auch immer, nicht er, fondern Warwara 
Petromna verwalte das Gouvernement. Das war frei: 
(ich eine уве Bemerkung, aber troßdem eine Unwahr: 
heit. Warwara Petromna hatte in den Ießten Jahren 
fonfequent und bewußt jeden höheren Ehrgeiz aufge: 


5 Doftojemwsti, Die Dämonen. Bb. I. 65 


Bin Ale nee 


geben und ihre Tätigkeit freiwillig auf ein von ihr felbit 
jtreng umgrenztes Gebiet befchränft. Sie begann fich 
plöglich mit der Bewirtfchaftung ihres Gutes zu be: 
faffen, und in zwei, drei Jahren hatte fie den Ertrag 
desfelben nahezu wieder auf die frühere Höhe gebracht. 
Statt fich Yiterarifchem Ehrgeiz hinzugeben, begann fie 
zu Sparen, Фе Stepan Trophimomitfch wurde von 
ihr etwas meiter entfernt, indem fie ihm jeßt endlich 
eine eigene Wohnung zu mieten erlaubte. Allmählich 
begann er fie eine profatfche Frau zu nennen, oder 


ſcherzhaft feinen „profeifchen Freund”. Selbftredend er- 


laubte er fich folche Scherzge nur in der refpeftvollften 
Form und nachdem er lange einen paffenden Augenblick 
abgemwartet hatte, 

Mir alle, Ме mir Щи naheftanden, begriffen 
natürlich, daß der Sohn für fie gleichlam zu einer 
neuen Hoffnung, einem neuen Traum geworden war. 
Ihre Leidenfchaftliche Liebe zu ihm hatte ſchon in der 
Zeit feiner erften Erfolge in der Petersburger Gejell- 


Ichaft begonnen, und war dann befonders feit dem идей: | 


blick gewachien, als fie die Nachricht von feiner Degra= 
Sation erhalten hatte. Und dabei fürchtete fie ihn Doch 
offenfichtlich und ſchien vor ihm förmlich feine Sklavin 
zu fein. Dan merkte ihr an, daß fie etwas Unbeſtimm⸗ 
tes, Geheimnisvolles fürchtete, etwas, das auch fie felbit 
nicht zu nennen vermocht hätte, und oft betrachtete fie 
heimlich und unverwandt ihren Nicolas, als überlege 
fie und als fuche fie etwas zu erraten ... und fiehe da: 
plößlich — ftredite das Tier feine Krallen aus. 








II 


Unvermutet erlaubte fich unfer Prinz zwi, drei uns 
mögliche Srechheiten gegen verfchiedene Perjonen. Das 
Empörendfte an ihnen war gerade ihre unerhörte Neu— 
heit, ihre Unglaublichkeit; daß fie tatfächlich allen fonft 
üblichen Dreiftigkeiten fo unähnlich waren in ihrer 
törichten Bengelhaftigkeit, uͤberdies weiß der Teufel 
wozu eigentlich begangen, fo vollftändig ohne jeden 
Anlaß. Eines- der ehrenwerteften Häupter unferes 
- Klubs, Piotr Pawlowitſch Gaganoff, ein bejahrter 
und fogar verdienftvoller Mann, hatte die unfchuldige 
Angewohnheit, zur Befräftigung jeder Behauptung 
heftig hinzuzufügen: „Nein, mich wird man nicht an 
der Nafe führen!” Nun, das hatte ja weiter nichts auf 
пФ. Uber als er eines Tages im Klub in der Hiße 
des MWortgefechts, inmitten einer Schar ihn umftehender 
Klubherren (lauter angefehner Perfönlichkeiten) wieder 
einmal diefen Nachſatz anhing, trat Nicolai Wfzewolo: 
dowitſch, der am Gefpräch ganz unbeteiligt und allein 
abſeits geitanden hatte, plöglich auf Piotr Pawlowitſch 
zu, faßte ihn unerwartet aber feft mit zwei Fingern an 
der Nafe und 309 ihn ein paar Schritte weit im Saal 
hinter fich her. Einen Groll Eonnte er gegen Herrn 
Gaganoff nicht Haben. Man hätte das für einen echten 
Schuljungenftreich Halten Fönnen, natürlich für einen 
ganz unverzeihlichen; indes war Nicolat Wſzewolodo⸗ 
witfch, wie man fpäter erzählte, im Augenblick der Tat 
geradezu nachdenklich, „ganz als wäre er nicht völlig bei 
Sinnengemwefen” ‚aber dasvergegenwärtigtemanfich und 
erwog man erſt fpäter. Im der erften Empörung dachten 


5* 67 


аЦе nur an den zweiten Augenblick, als er alles bereits | 
zweifellos richtig begriff, jedoch ftatt verlegen zu werden, 
ploͤtzlich boshaft und beluftigt lächelte, „ohne die gez _ 
ringfte Reue”, wie es hieß. Es erhob fich ein fchredlicher 
Lärm; er wurde umringt. Nicolai Wſzewolodowitſch 
wandte fich um, {аб ringsum alle an, ohne jemandem zu | 
antworten, und betrachtete intereffiert die Gefichter Der 
erregt Durcheinanderfchreienden. Schließlich war es, 
als werde er plößlich wieder nachdenklich -— wenigftens 
wurde fpäter [с erzählt —, er rungelte die Stirn, trat 
dann feſten Schrittes auf den beleidigten Pjotr Paw— 
lowitſch zu und fagte fchnell, dabei fichtlich geärgert: 

„Sie entfchuldigen natürlich... Sch weiß wirklich 
nicht, weshalb mich plößlich die Luft anwandelte ... 
Es war eine Dummheit ...“ 

Die Nachläffigkeit dieſer Entfchuldigung Fam einer о 
neuen Beleidigung gleich. Es erhob fich ein noch größer | 
res Gefchrei. Nicolai Wſzewolodowitſch zuckte mit den | 
Achleln und ging hinaus. Nun Fannte die Empörung | 
feine Grenzen, und Herr Stawrogin wurde fofort ein= 
ſtimmig aus der Zahl der Mitglieder des Klubs aus: 
gefchloffen. Darauf wurde im Namen des ganzen Klubs 
an den Gouverneur die Bitte gerichtet, mittels der ihm 
anvertrauten Xöminiftrativgewalt den „schädlichen 
Unruhftifter zu zügeln und damit die Ruhe der 
gefamten anftändigen Geſellſchaft unferer Stadt gegen 
Ichädliche Anfchläge zu fichern”. Mit boshafter Unfchuld 
wurde hinzugefügt, „vielleicht [аЙе fich auch gegen Herrn 
Stawrogin ein Gefeß finden”, um dem Gouverneur 
wegen Warwara Petrowna einen Stich zu verfeßen. 
Der Gouverneur mar gerade verreift, wurde aber bald 


68 





zurücerwartet. Inzwiſchen bereitete man Dem. be: 
feidigten Pjotr Pawlowitſch richtige Ovationen: man 
_ umarmte und Вю ihn, die ganze Stadt machte bei 
ihm Vifite, Man plante fogar ihm zu Ehren ein Diner 
im Klub, auf Subfkription, und gab es nur auf feine 
dringende Bitte hin auf, — vielleicht aber auch, weil 
man fich ſchließlich darauf befann, daß der Mann ja 
immerhin an der Nafe geführt worden war und mithin 
eigentlich Fein Grund zu Feitlichfeiten vorlag. 

Indes, wie hatte das alles mur gefchehen Fünnen? 
Bemerkenswert war befonders der Umftand, daß Fein 
Menſch diefen Streich auf zeitweiliges Irreſein zuruͤck— 
führte. Alfo traute man offenbar auch einem gefunden und 
geiftesklaren Nicolai Wſzewolodowitſch Derartiges zu. 

Bemerkenswert erfchten mir auch jener Ausbruch 
eines allgemeinen Haffes, mit dem bei ung damals alle 
über den „Ruheftürer und großftädtifchen bretteur“ 
herfielen. Man wollte in jener Tat unbedingt die „Freche, 
wohlüberlegte Abficht” fehen, mit einem Schlage „die 
ganze Geſellſchaft zu beleidigen”, Sedenfalls hatte er 
niemanden für fich gewonnen, fondern alle gegen fich 
in Harnifch gebracht, und wodurch nur? Bis dahin 
hatte er noch niemanden gefränft, höflich aber war er 
Ichon 16 gemwelen, wie ein Herr aus einem Modeblatt, 
wenn der nur fprechen Eönnte. Sch nehme an, daß 
man ihn wegen feines Stolges Бабе. Selbft unfere 
Damen, die mit feiner Vergötterung begonnen hatten, 
entrüfteten fich jeßt über ihn noch ärger als die Männer. 

Marmwara VPetrorwna war furchtbar betroffen. Später 
geftand fie einmal Stepan Trophimowitſch, fie Бабе das 
ſchon lange, fchon das ganze halbe Jahr kommen fühlen, 


69 


und fogar „gerade etwas in diefer Art”, ein bedeutfames 
Bekenntnis von feiten einer leiblichen Mutter. „Es hat 


alfo angefangen !” dachte fie erfchauernd. Nach einer _ 


fchlaflofen Nacht und nachdem fie am Morgen Stepan 
Zrophimowitfch um Rat gefragt und bei ihm fogar 
geweint Hatte, was ihr noch nie in Gegenwart 
anderer gefchehen war, wollte fie vorfichtig, aber еп 
fchloffen eine Ausfprache mit ihrem Sohn herbeiführen. 
Und doch zitterte fie davor. Nicolas, der ftets fo höflich 
und ehrerbietig gegen die Mutter war, hörte fie eine 
Meile, die Augenbrauen zufammengezogen, fehr ernft 
ап; plößlich Папь er auf, ohne ein Wort zu antworten, 
Вибе ihr die Hand und ging hinaus. Am Abend desfelben 
Tages aber Fam e8 dann gleich zu einem zweiten Skandal, 
der, wenn er auch längft nicht fo ſchlimm war wie der 
erfte, die Entrüftung in der Stadt doch noch [ehr verftärfte. 

Diesmal traf es unferen Freund Liputin. Der erfchien 
bei Nticolat Wſzewolodowitſch gerade als diefer feine 
Mutter verlaflen Katte, und bat ihn inftandig, ihm die 
Ehre feines Befuchs zu ermweifen: der Geburtstag feiner 
Frau follte durch eine Eleine Abendgefellfchaft gefeiert 
werden. Warmara Petromna hatte fchon lange mit Sorge 
diefe Neigung ihres Sohnes wahrgenommen, Befannt- 
fchaften felbft mit Leuten der dritten Gefellfchaftsfchicht 
anzufnüpfen. Bet Liputin hatte er bishee noch nicht 
im Haufe verkehrt. Er erriet, daß diefer ihn jeßt wegen 
des Sandals im Klub einlud, als Liberaler über diefen 
Skandal entzuͤckt war und aufrichtig meinte, gerade fo 
muͤſſe man mit allen Häuptern des Klubs. verfahren. 
Nicolas begann zu lachen und verfprach zu fommen: 

Die Säfte, von denen ſich eine Menge eingefunden 


70 








hatte, waren nicht Honoratioren, aber gewißte Leute, 
Der geizige Kiputin pflegte nur zweimal im Jahr Säfte 
einzuladen, dann aber einmal nicht zu knauſern. Der 
Ehrengaft Stepan Trophimowitſch war diesmal frank: 
heitshalber nicht erfchienen, Es wurde Tee gereicht, 
und e8 gab reichlich Falten Imbiß und Schnäpfe; 
gefpielt wurde an drei Tifchen, die Jugend aber begann, 
in Erwartung des Abendefjens, nach Klaviermufik zu 
tanzen, Nicolai Wfzewolsdowitfch forderte Frau 
Liputin auf — eine überaus nette Fleine Frau, der vor 
ihm fchreclich bange war —, tanzte mit ihr zwei Touren, 
feste fich dann neben fie, unterhielt fich mit ihr, brechte 
fie zum Lachen, Als er da bemerkte, wie hübfch fie war, 
wenn fie lachte, faßte er fie plößlich vor den Augen aller 
Säfte um die Taille und Füßte fie mitten auf den Mund, 
wohl dreimal Hintereinander, mit ganzer Herzensluft. 
Die arme Frau fiel vor Schred in Ohnmacht. Nicolai 
Wſzewolodowitſch trat zu dem Chemann, der in der 
allgemeinen Verwirrung wie betäubt daftand, wurde bei 
deffen Anblick felbft verlegen, und nachdem er ihm haftig 
zugemurmelt: „Seien Sie nicht böfe”, ging er hinaus. 
Liputin aber lief ihm ing Vorzimmer nach, reichte ihm 
eigenhändig den Pelz und geleitete ihn unter Verbeugun— 
gen die Treppe hinunter. Doch ſchon am nächften Tage 
gab es zu diefer verhältnismäßig harmlofen Gefchichte 
ein ganz ulfigesNachfpiel, das Liputin fogar ein gemwiffes 
Anfehen verfchaffte und das er fogleich zu feinem größten 
Vorteil auszunußen verftand. 

Gegen zehn Uhr morgens erfchten im Haufe der Mas 
dame Stawrogina Liputins Magd Agafia, ein munteres, 
gewandtes, rotbadiges Meiblein von etwa dreißig 


71 


Jahren; fie war von Liputin mit einem Auftrage zu 
Nicolai Wſzewolodowitſch geſchickt und wollte unbe: 
dingt „den Herrn felber fehen“. Der hatte ftarfe Kopf: 
fchmerzen, Fam aber doch heraus. Warmwara Petrowna 
glückte es, die Ausrichtung des Auftrags mit anzuhören. 

„Sergei Waſſiljitſch“ (5. h. Liputin), begann Agafja 
wortgewandt zu plappern, „hat mir anbefohlen, vorerit 
feine befte Empfehlung auszurichten; und dann läßt er 
fih nach Ihrer Gefundheit erkundigen, wie Sie nun 
eigentlich geruht haben, nach dem Geftrigen fozufagen, 
und wie Sie fich nun eigentlich fühlen, eben nach dem 
Geftrigen, meint er?” 

Nicolai Wſzewolodowitſch laͤchelte. 

„Beſtelle meine Empfehlung, und ich ließe beſtens dan— 
ken. Und ſage von mir deinem Herrn, Agafja, er waͤre 
der kluͤgſte Menſch in der ganzen Stadt.“ 

„Ja und auf dieſe Antwort ſollte ich Ihnen dann 
antworten,“ verſetzte Agafja noch wortgewandter, „daß 
er das auch ohne Sie ſchon ſelber weiß und Ihnen ganz 
dasſelbe wuͤnſcht, ſozuſagen.“ 

„Was! .... aber wie konnte er denn wiſſen, was ich 
dir antworten würde?“ 

„за, das weiß ich fehonnicht, aber als ich fchon hinaus: 
gegangen und ſchon die ganze ФаЙе hinuntergegangen 
war, höre ich plößlich, er (би mir nach, ohne Müße, 
und: ‚Du, fagte er, ‚Agafjufchka‘, Гаде er, ‚wenn er dir 
nun fagt, beftelle deinem Herrn, daß er der Klügfte in 
der ganzen Stadt Ш, dann fag’ du ihm fogleich und 
vergiß das nicht, Рав wir das auch ohne ihn fchon wiffen 
und ihm bloß auch dasselbe wünfchen‘, fozufagen ...“ 


72 





Ill 

Schließlich fand auch die Yuseinanderfegung mit 
dem Gouverneur ftatt, Nach der fo heftigen Befchwerde 
des Klubs war e8 diefem ja fofort Нах, daß etwas де: 
ichehen mußte, aber was? Unferem gaftfreundlichen 
alten Herrn fchten fein junger Verwandter ebenfalls 
nicht ganz geheuer zu fein. Gleichwohl entfchloß er 
И endlich, ihm gütlich zuzureden, den Klub und den 
Beletdigten um Entfchuldigung zu bitten, falls nötig 
ſogar fehriftlich; dann aber wollte er ihm wohlmwollend 
nahelegen, $. B. zu Bildungszwecken nach Italien zu 
reifen oder überhaupt ins Yusland, etwas weiter weg 
von uns. In dem Raum, по er diesmal Nicolas empfing, 
war wie zufällig noch fein Günftling und Sekretär 
Aljoſcha Zelätnikoff anmwefend und damit befchäftigt, 
an einem Tiſch in der Ede Poftfachen zu öffnen. Sm 
Nebenzimmer aber faß in der Nähe der Tür ein dicker 
und Eräftiger Oberft, ein Freund und früherer Kamerad 
des Hausherren, und las die Zeitung „Die Stimme“, 
anfcheinend ohne die Vorgänge im anderen Raum zu 
beachten. Iwan Offipomwitfch begann vorfishtig, holte 
weit aus, ſprach faft flüfternd, verlor aber immer wieder 
den Faden. Nicolas fchaute fehr unfreundlich drein, gar 
nicht wie ein Verwandter, war bleich, ſaß mit gefenftem 
ЗИ Ра und hörte mit zufammengezogenen Brauen 
zu, wie wenn er einen heftigen Schmerz unterdrüdte, 

„Sie haben ein gutes Herz, Nicolas, ein edles Herz,” 
fagte unter anderem der alte Herr, „Ste find überaus 
gebildet, haben fich in den höchiten Kreifen bemwegt, 
haben fich auch bei uns bisher mufterhaft aufgeführt 
und Dadurch Das Herz Ihrer von uns allen verehrten 


13 


Mutter beruhigt ... Und nun beginnt das alles von 
neuem, und wieder in einem fo rätfelhaften und für alle 
gefährlichen Kolorit! 3% rede zu Ihnen als Freund 
Ihres Haufes, als ein Sie liebender, bejahrter Ver: 
wandter ... So fagen Sie doch, was in aller Welt 
treibt Sie zu folchen Ausschreitungen, die mit allen 
hergebrachten Formen und Sitten fo unvereinbar find ?” 
Nicolas hatte geärgert und ungeduldig zugehört. 
Pröglich Бе in feinem Blick gleichfam ein verfchla= 
gener und fpöttifcher Ausörud auf: „Ich Рапп es Ihnen 
ja meinethalben fagen, was mich dazu treibt,” fagte er 
unmwirfch, fah fih um und beugte fich zum Ohr Swan 
Oſſipowitſchs. — Der wohlerzogene Aljoſcha Telätnikoff 
trat noch drei Schritte weiter zum Fenfter, der Oberft 
räufperte fich hinter feiner Zeitung. Der arme Iwan 
Dffipomitfch Hielt eilig und vertrauensvoll fein Ohr 
hin; er war außerft neugierig. Und da gefchah denn aber: 
mals etwas ganz Unmögliches und doch andererfeits 
in einer Hinficht nur zu Deutliche. Der alte Herr fühlte 
auf einmal, daß Nicolas, ftatt ihm ein intereffantes 
Geheimnis zuzuflüftern, plößlich den oberen Zeil feines 
Ohres mit den Zähnen faßte und ziemlich feft zubiß. 
„Nicolas, was ... foll das!” ftöhnte er mechantfch 
mit einer ganz fremdflingenden Stimme. — Aljoſcha 
und der Oberft begriffen nicht recht, was da vorging; 
e8 fchien ihnen bis zum Schluß, daß dem Alten etwas 
zugeflüftert wurde, aber deſſen verzweifeltes Geficht 
beunruhigte fie doch. Sie gloßten fich mit aufgeriffenen 
Augen an und mußten nicht, ob fie noch warten oder ſchon 
zu Hilfe eilen follten, wie verabredet war. Nicolas 
erriet das wohl und biß noch ein wenig fehmerzhafter zu. 


74 





„Nicolas, Nicolas!” ftöhnte das Opfer wieder, 
„nun ... genug +... mit dem Scherz ...“ — Noch ein 
Augenblid, und der Arme wäre geftorben; doch der 
Unmenfch hatte Erbarmen und ließ das Ohr los. Diefe 
ganze Todesangft hatte eine volle Minute gedauert und 
der Ulte befam eine Urt Ohnmachtsanfall. Eine halbe 
Stunde fpäter aber wurde Nico!as verhaftet und ein 
gefperrt. Das war freilich eine fchroffe Maßnahme, doch 
unfer weichherziger Regent war dermaßen erzürnt, 
daß er die Verantwortung felbft Warwara Petromwna 
gegenüber zu übernehmen wagte. Und tatfächlich,e 
als diefe fofort eilig und erregt zum Gouverneur ge: 
fahren Кит, wurde ihr erflärt, daß fie nicht empfangen 
werden fünne, und ohne auszufteigen fuhr fie heim. 
Sie konnte diefe Abſage zunächft überhaupt nicht faffen. 

Endlich aber fand alles feine Erklärung! Gegen zwei 
Uhr nachts begann der Xrreftant, der bis dahin erftauns 
ich ruhig geweſen war und fogar gefchlafen .hatte, 
plöglich zu toben, fehlug mit den Fäuften gegen die Tür, 
ИВ mit übermenfchlicher Kraft das eiferne Gitter von 
dem Fenſter ab, zerfchlug die Scheibe und zerfchnitt fich 
dabei die Hände. Als der wachhabende Offizier mit der 
Mannschaft herbeigeeilt kam und die Zelle auffchließen 
ließ, ftellte es fich deraus, daß der Gefangene fich im 
ftärfften Fieberdelirium befand; er wurde nach Haufe zur 
Mutter gefchafft. Nun war ja alles Мат. Unfere drei 
Ürzte aͤußerten fich dahin, daß der Kranke Тебе wohl 
Schon vor drei Tagen in diefem Fieberzuftande wie Бег 
nommen geweſen fein Fünne. Somit hatte Liputin als 
eriter dag Richtige erraten. Der zartfühlende Iwan 
Oſſipowitſch war nun Sehr betreten, auch im lub fchämte 


75 


man fich und begriff nicht, wie man auf dieſe einzig 
mögliche Erflärung nicht verfallen war. Natürlich gab 
es auch Skeptiker, aber die Eonnten fich nicht behaupten. 
Nicolas lag gute zwei Monate, Die ganze Stadt 
befuchte Warwara Petrowna. Ind fie verziehb. Als 
Nicolas ſich zum Frühling hin wieder erholte und mit 
dem Vorfchlag der Mutter, nach Italien zu reifen, ета 
verftanden war, da bat fie ihn, vorher doch überall 
feine Abfchtedsvifite zu machen und fich bei der Gelegen= 
heit zu entfchuldigen, wo das nötig und ſoweit es möglich 
var. Nicolas verfprach ihr auch das, und fogar mit 
großer Bereitwilligkeit. Und alsbald erfuhr man im 
Klub, er Habe mit Piotr Pawlowitſch eine überaus zart: 
fühlende Aussprache gehabt, Durch die diefer vollkommen 
zufriedengeftellt worden fei. Während diefer Vifiten 
ſoll Nicolas fehr ernft und fogar ein wenig düfter ge: 
wefen fein. Alle empfingen ihn anfcheinend mit auf: 
richtiger Teilnahme, doch im Grunde waren alle ver: 
legen und nur froh, daß er nach Italien reifte. Iwan 
Offipomitfch weinte fogar, Eonnte fich aber aus einem 
unbeftimmten Grunde doch nicht entfchließen, ihn zum 
Abſchied zu umarmen. Allerdings blieben bei uns manche 
doch überzeugt, der TZaugenichts Бабе allenur zum Beten 
gehabt, die Krankheit aber fei eine Sache für fich ge: 
wesen. Auch zu Liputin fuhr er zur Abſchiedsviſite. 
„Sagen Ste mal,” fragte er ihn, „wie Eonnten Sie 
damals im voraus mwiffen, was ich über Ihren Verftand 
fagen würde, und die Antwort darauf fchon mitgeben?“ 
„Ganz einfach,” fagte Liputin lachend, „weil auch 
ich Ste für Нид halte, alfo war’s nicht ſchwer!“ 
„Immerhin ein feltfames Zufammentreffen. ber 


76 





erlauben Ste: dann hielten Ste mich damals für ges 
ſcheit und nicht für wahnfinnig?” 

„Sur den gefcheiteften und Flügften, und ich ftellte 
mich nur fo, als glaubte ich, Ste wären nicht bei voller 
Vernunft. Und Ste haben mir ja auch fofort den Beweis 
für die Ungetrübtheit Ihres Geiftes zurüchgefandt.” 

„Übrigens irren Eie fich da doch ein wenig: ich war 
tatfächlich «+. Eranf,” fagte Nicolas verftimmt. „Wie! 
glauben Sie denn wirklich, ich wäre faͤhig, bei vollem 
Verftande Menfchen zu überfallen? Wozu denn das?“ 

Liputin wand fich betreten und wußte nicht recht, was 
er antworten follte, Nicolas erblaßte ein wenig, oder 
vielleicht ſchien es Liputin nur fo, 

„Jedenfalls Haben Sie eine fehr amuͤſante Denkweiſe,“ 
fuhr Nicolas fort, „und ich begreife natürlich, daß 
Ste Ihre Agafja zu mir fehiekten, um mich zu verhöhnen.” 

„sh Eonnte Sie doch nicht zum Duell fordern?” 

„Ach, ja, richtig! Sch Бабе ja auch fo etwas gehört, 
daß Ste Duelle nicht Tieben ...“ 

„Wozu denn Franzöfifches ins Ruffische überfeßen !” 

„Ste halten es mit dem Nationalismus?” 

Kiputin wand fich noch mehr, antwortete aber nichts. 

„Was, was! Sehe ich recht!” rief Nicolas plößlich, 
als er mitten auf dem Tiſch, wie ein Prunfftücd an der 
jichtbarften Stelle, einen Band von Consideranterblicte. 
„Sind Sie etwa gar Fourierift? Das fehlte noch! Aber 
ИЕ denn das Feine Überfeßung aus dem Franzoͤſiſchen?“ 
und er Flopfte lachend auf das Buch. 

„ein, nicht aus dem Frangöfifchen!” Liputin 
Iprang faft mit einem gemwiffen Grimm vom Stuhl auf. 
„Das iſt eine Überfeßung aus der Sprache der ganzen 


77 


Menfchheit, und nicht bloß aus dem Franzöfifchen! Aus 
der Sprache der univerfalen ſozialen Republik und Har: 
поте, jawohl! Und nicht aus dem Franzöfifchen allein !” 

„Sapperment! Uber fo eine Sprache gibt es ja 
überhaupt nicht !” verfeßte Nico'as immer noch lachend. 

Don Herrn Stawrogin foll zwar erft fpäter die 
Rede fein, doch möchte ich eines fchon hier bemerken: 
daß von allen Eindrüden, die er damals bei ung empfing, 
am grellften fich feinem Gedächtnis die unfcheinbare und 
faft gemeine Geftalt Liputins eingeprägt hatte, Diefes 
Fleinen Provinzbeamten, eiferfüchtigen Chemannes, 
rohen Familiendefpoten, Wucherers und Geizhalſes, 
der felbft die Überbleibfel der Mahlzeiten und Lichte 
ftümpfchen verfchlof, und doch gleichzeitig ein glühender 
Anhänger Gott weiß was für einer zufünftigen „fozialen 
Harmonie” war, fich nachts an den phantaftifchen Bil: 
dern der zufünftigen Phalanſtere beraufchte, an deren 
baldige Verwirklichung in Rußland er fo glaubte 
wie an fein eigenes Vorhandenfein. Und alles das Бот: 
jelbft, wo er fich ein „Häuschen“ erfpart, wo er zum 
zweitenmal geheiratet hatte, und wo e8 vielleicht im 
Umkreife von hundert Werft feinen Menfchen gab, der 
auch nur annähernd ein Mitglied diefer „univerfalen 
fozialen Republif und Harmonie” hätten fein Eönnen. 

„Sott mag wilfen, wie es in folchen Menfchen aus: 
ſieht!“ dachte Nicolas oft verwundert, wenn er fich 
dDiefes unvermuteten Fourteriften erinnerte, 


IV. 
Unfer Prinz reifte drei Jahre lang und noch länger, 
fo daß er bei uns falt ganz In Vergeffenheit geriet. 


78 





Unfer Kreig freilich wußte durch Stepan Trophimowitſch, 
daß er ganz Europa bereift Hatte, fogar in Agypten und 
in Serufalem gemwefen war; dann hatte er fich mit einer 
wiffenfchaftlichen Expedition auch nach Island begeben. 
Ferner hieß eg, er habe einen Winter an einer deutfchen 
Univerfität Kolleg gehört. An feine Mutter fchrieb er 
nur felten, aber die fühlte fich dadurch nicht mehr 
gekränkt. Die Beziehungen zwifchen ihr und ihrem Sohn 
hatten nun einmal Ме Form angenommen, Ме fie 
wortlos hinnahm; im übrigen dachte fie beftändig an 
ihren Nicolas und fehnte fich nach ihm. Doch davon 
erfuhr Fein Menfch etwas. Selbſt von Stepan Trophi⸗ 
mowitfch 309 fie fich anfcheinend ein wenig zurücd, 
Sie fchmiedete heimlich Pläne, wurde noch fparfamer 
und ärgerte fih immer mehr über Stepan Trophi—⸗ 
mowitſchs Verlufte im SKartenfpiel. 

Da erhielt fie im April diejes Jahres ganz unverhofft 
einen Brief aus Paris, und zwar von ihrer Jugend: 
freundin, der Generalin Praskowija Iwanowna Dros: 
фота. Diefe fchrieb ihr plöglich nach acht Jahren, 
Nicolai Wſzewolodowitſch verkehre viel in ihrem Haufe, 
бабе mit Ца (ihrer einzigen Zochter) Freundfchaft 
gefchloffen und beabfichtige, ИФ ihnen anzufchließen, 
wenn fie im Sommer nach der Schweiz reiften, obwohl 
er in der Familie des Grafen Я... (einer in Peters⸗ 
burg böchft einflußreichen Verfönlichkeit), die jet 
gleichfalls in Paris weile, wie ein leiblicher Sohn 
aufgenommen werde, fo daß er, man fönne fagen, 
faft ganz im Haufe des Grafen lebe, Der Brief war 
kurz, Doch fein Zwed deutlich. Warwara Petromwna 
dachte denn auch nicht lange nach, entfchloß fich fchnell 


19 


und fuhr mit ihrer Pflegetochter Dafcha Mitte April 
nach Paris und dann nach der Schweiz. Im Suli 
Fehrte fie allein zurücd; fie hatte Dafcha bei Drosdoffs 
gelaffen, die mit ihr Ende Auguſt heimkehren follten. 

Drosdoffs waren gleichfalls eine Gutsbefißerfamilie 
unferes Gouvernements, aber der Dienft des Generals 
hatte fie in letzter Zeit verhindert, fich hier auf 
ihrem herrlichen Gut aufzuhalten. Nach dem Tode 
des Generals im vorigen Jahre war dann die untröft- 
liche Prasfomja Iwanowna mit ihrer Tochter ins 
Ausland gereift, unter anderem auch in der Abficht, 
es im Spätfommer in der Schweiz, in Verner-Montreur, 
mit einer Traubenkur zu verfuchen. Nach ihrer Rück 
fehr aus dem Auslande wollte fie fich dann endgültig 
in unferem Gouvernement niederlaffen. Зи der Stadt 
befaß fie ein großes Haus, das fchon viele Jahre Leer 
ftand, mit gefchloffenen Fenfterläden. Drosdoffs 
waren fehr reich. Praskowja Swanomwna, in erfter 
Che Frau Tuſchina, war gleichfalls die Tochter eines 
Branntweinpächters der alten Zeit und hatte gleichfalls 
eine große Mitgift erhalten. Der NRittmeifter а, D. 
Tuſchin war aber auch felbft ein vermögender Mann 
gewefen und fein unbegabter Menſch. Er hinterließ 
feiner fiebenjährigen Tochter ХЧа ein bedeutendes Ver— 
mögen, zu dem fpäter noch das ganze Erbe ihrer 
Mutter Hinzu Eommen mußte, da diefe aus ihrer zweiten 
Che Feine Kinder hatte, Warwara Petrowna war mit 
dem Ergebnis ihrer Reife fehr zufrieden, Sie glaubte, 
mit Praskowja Iwanowna Üübereingefommen zu fein, und 
teilte nach ihrer Ankunft alles, weit offener als font, 
Stepan Trophimowitſch ши, Der rief „Hurra! und 


80 











fchnippte mit den Fingern, Geine Freude war um fo 
aufrichtiger, als er die Zeit ihrer Abwesenheit in größter 
Mutlofigkeit verbracht hatte, Bor ihrer Abreiſe hatte 
fie ihm, „dieſem Weibe“, nichts von ihren Plänen mit: 
geteilt, vielleicht weil fie fürchtete, er Fönne ausplaudern, 
Doch fehon in der Schweiz hatte fie fich gefagt, daß fie 
den verlaffenen Freund nach ihrer Nückkehr beffer be: 
handeln muͤſſe. Zatfächlich war ihre plößliche Abreiſe 
mit dem wortkargen Abſchied für fein fehlichternes 
Herz der Anlaß zu qualvollen Zweifeln geweſen. 
Außerdem quälte ihn noch eine bedeutende Geldver— 
pflichtung, die er ohne ihre Hilfe unmöglich decken 
fonnte, Und dann war noch allerhand gerade während 
ihrer Abwefenheit hinzugefommen: fo hatte im Mai 
die Herrfchaft unferes guten Iwan Offipomwitfch ihr 
Ende” gefunden und war der Einzug unferes neuen 
Gouverneurs, Andrei Antonowitfch von Lembfe, er: 
folgt. Danach Hatte ПФ das Verhalten unferer Gefell: 
Schaft zu Warwara Petromna und damit natürlich auch 
zu Stepan Zrophimomitfch merklich zu ändern be 
gonnen, Das beeindrudte ihn um fo mehr, als er 
natürlich fehon wieder erregt befürchtete, man habe 
den neuen Gouverneur bereits auf ihn als einen gefähr: 
lichen Menfchen aufmerkfam gemacht. Er erfuhr auch, 
daß man fich in der Stadt erzählte, ме Gemahlin des 
neuen Öguverneurs und Warwara Petrorona feten früher 
befannt geweſen, doch hätten fie fich fchließlich ver: 
feindet und den Verkehr abgebrochen. Als aber nım 
Warwara Petrowna nach ihrer Nückehr fo munter und 
fiegesgewiß feinen Bericht anhörte, и, а, auch das 
Gericht, demzufolge manche Damen е8 Побег mit der 


В Doſtojewski, Die Dämonen. Bd. Г, 81 


neuen Gouverneurin halten wollten, Die eine echte 
Ariftofratin ſei, und folglich den Verkehr mit Warwara 
Petrowna aufzugeben beabfichtigten, da richtete fich 
jofort auch Stepan Trophimowitſchs gefunfener Mut 
wieder auf. Er wurde im Nu wieder heiter und 
begann mit befonderem, freudig dienftbefliffenem Humor 
die Ankunft des neuen Gouverneurs zu fehildern. 

„Es wird Ihnen, excellente amie, zweifellos Бе: 
kannt fein,” begann er Fofett, ме Worte geckenhaft in 
die Länge ziehend, „was ein ruflifcher Regierungs— 
beamter im allgemeinen, und was im befonderen ein 
neuangeftellter, ein neugebadener ruffiicher Beamter ift. 
Dagegen dürften Ste Faum Gelegenheit gehabt haben, 
praftiich zu erfahren, was der Machtraufch eines 
ruſſiſchen Beamten bedeutet .. .” 

„Machtraufch eines Beamten? Wie meinen Sie das?“ 

„Das heißt... . Vous savez, cheznous...Enunmot, 
stellen Sie den erbärmlichiten Nichtsnuß als Verkäufer 
von, fagen wir, irgendwelchen elenden Eifenbahnfahr: 
Farten an, und dieſer erbärmlichite Wicht wird fich 
fofort für berechtigt halten, wie ein Jupiter auf Sie 
herabzufehen, wenn Sie eine Fahrkarte löfen wollen, 
pour vous montrer son pouvoir. ‚Warte‘, denft er 
dann bei fich, ‚ich will- dir meine Macht zeigen!‘ Und 
das geht bei ihnen bis zur Selbftberaufchung an dieſer 
ihrer Macht. En un mot .. .” 

„За, faffen Sie fich Fürzer, wenn Sie Eönnen.“ 

„En un mot, dieſer Herr von Xembfe hat ао зи: 
nächit das Gouvernement bereift. Er И zwar ein 
Deutfchruffe griechiſch-katholiſcher Konfeſſion und fogar 
ein überaus fchöner Mann in den vierziger Jahren ...“ 


82 





„Schöner Mann? Er bat Augen wie ein Schaf.” 

„Allerdings. Doch aus Höflichkeit will ich dem 
Urteil unferer Damen nicht widerfprechen « . .” 

„Sch bitte Sie, reden wir von etwas anderem! 
Übrigens, Sie tragen eine rote Halsbinde; ſchon lange?” 

„За... 16... tch habe das nur heute...“ 

„And find Sie auch täglich {68 Werft Tpazieren 
gegangen, wie es Ihnen der Arzt verordnet hat?“ 

УЕ... nicht immer.“ 

„Wußte ich’s Doch! fchon in der Schweiz ahnte ich 
das!” rief fie gereizt. „Jetzt werden Sie mir aber zehn 
Merft täglich gehen! Sie find ja geradezu herunter: 
gekommen! Site find ja nicht nur alt, Sie find ein 
Greis geworden ... ich erſchrak geradezu, als ich Sie 
wiederfah, troß Ihrer roten Halsbinde ... quelle 
idee rouge! Erzählen Ste weiter von diefem Lembfe, 
wenn es wirklich etwas von ihm zu erzählen gibt, 
nur kommen Site bald zu einem Ende; ich bin müde.” 

„En un mot, ich wollte ja auch nur fagen, Daß er 
einer von denen ift, die erft mit vierzig Jahren anfangen 
Karriere zu machen, ſei es Dank einer plößlich erworbenen 
Gattin oder einem nicht minder verzweifelten Mittel. 
Über mich hat man ihm natürlich fofort alles zuge: 
tragen: Daß ich Die Jugend verdürbe und den Atheis— 
mus verbreite. Er hat auch ſofort Erkundigungen ein— 
gezogen. Und als man ihm von Ihnen berichtete, 
bisher hätten eigentlih Sie das Gouvernement 
verwaltet, da hat er fich zu außern erlaubt, ‚fo etwas 
werde hinfort nicht mehr vorfommen‘.” 

„nat er das wirklich geſagt?“ 

„Mortwörtlich, Seine Gemahlin werden wir bier 


* 83 


erft Ende Auguſt erblicken; fie kommt direft aus 
Petersburg.” 

„Nein, aus dem Auslande. Sch bin mit ihr Dort zu— 
fammengetroffen. In Paris und in der Schweiz 
Sie Ш mit Drosdoffs verwandt.” 

„Verwandt? Was für ein merfwürdiges Zufammen- 
treffen! Man fagt, Пе ſei ehrgeizig und ... habe durch 
Beziehungen gute Protektion ?” 

„Unfinn, die paar Verwandten! Bis zum fünfund: 
vierzigfien Jahr faß fie als alte Jungfer da, ohne eine 
Kopeke, dann hat fie endlich dieſen von Lembfe erwifcht 
und nun ЧЁ ihr ganzer Ehrgeiz feine Karriere.” 

„68 heißt, fie fei zwei Sahre älter als er” 

„Fuͤraf Jahre. Ihre Mutter hat mich in Moskau 
umfchmeichelt, damit ich fie zu den Bällen einlud, damals 
zu Wſzewolod Nicolajewitfchg Lebzeiten. Die Tochter 
aber faß dann ohne Tänzer da, bis ich ihr aus Mitleid 
nach Mitternacht den erften Kavalier zuſchickte. Nie: 
mand wollte fie mehr einladen ... Sch fage Ihnen, 
wie ich jeßt nach Paris Fam, ftieß ich fofort auf eine 
Intrige, Sie haben doch foeben jenen Brief der 108: 
рота gelefen; was Eonnte noch Нате jein? Aber was 
fand ich? Diefe dumme Drosdowa — fie ift immer 
dumm geweſen — fieht mich fragend an: warum ich 
denn gekommen fei? Sie Fönnen fich meine Ber: 
wunderung vorftellen! Aber natürlich: da intrigiert 
diefe Lembfe und dann Ш da diefer Vetter, ein Neffe 
des feligen Drosdoff, — da war mir alles Far! 39 
бабе dann alles wieder zurechtgerücdt; und Prasfomja 
ift num wieder auf meiner Seite; aber es war eine rich: 
tige Intrige im Gange!” 


84 





„Die Ste indes befiegt Haben, Ste find ein Bismard 

„Auch ohne ein Bismard! zu fein, kann ich ба: 
heit und Dummheit erfennen, wo ich ihnen begegne, 
Die Lembke ИЕ falfch und Praskowja ИЕ dumm. Gelten 
бабе ich eine fo veröroffene Frau gefehen mie die, 
dazu hat fie noch geſchwollene Füße und zum Über: 
Fluß ift fie noch gutmütig. Es gibt wohl nichts duͤmme— 
res als einen gutmütigen Dummkopf!“ 

„Doch, einen böfen Dummfopf, ma bonne amıe, 
ein böfer Dummkopf Ш noch viel Dimmer.” 

„Dielleicht haben Sie recht. Erinnern Sie fich noch 
an Lila?” 

„Charmante enfant !“ 

„Uber jetzt nicht mehr enfant, fondern Weib, und 
ein Weib mit Charakter. Ein edler und feuriger Menfch, 
und ich Tiebe es an ihr, Daß fie der Mutter nicht де: 
horcht, dieſer Teichtgläubigen Närrin. Wegen dieſes 
DVetters Fam es da faft zu einem ganzen Drama“ 

„Ach richtig, ex ift ja mit Liſa perfönlich gar nicht 
verwandt?) ... Hat er denn Abfichten?” 

„Sehen Sie, er ift ein junger Offizier, fehr fchweigfam, 
ſogar befcheiden. Ich will immer gerecht fein. Ich 
glaube, er iſt felbft gegen Ме Intrige und Hat Feine 
Wünfche, nur die Lembke fcheint da intrigiert zu haben. 
Er achtete Nicolas ſehr. Sie verftehen, die ganze Sache 
hängt von Life ab. Als ich fie in der Schweiz verlieh, 
ftand fie fich mit Nicolas ausgezeichnet, und er hat mir 
verfprochen, im November herzufommen Folglich 
war Das nur eine Intrige der Lembke, und Praskowja 





*) Better und Confine dürfen fih nah ben Sasungen der 
ruſſiſchen Kirche nicht heiraten. Е. К.В. 


85 


war einfach blind. Plöglich fagt fie mir, meine Ver: 
mutungen feien einfach Einbildung. Da habe ich ihr 
aber ins Geficht gefagt, daß fie eine Närrin Ч, Wenn 
mich nicht Nicolas gebeten hätte, es vorläufig aufzu— 
Ichteben, wäre ich nicht heimgereift, ohne diefes falfche 
Frauenzimmer entlarvt zu haben. Sie hat fich durch 
Nicolas beim Grafen Я. einzufchmeicheln, hat Mutter 
und Sohn zu entzweien verfucht. Aber Liſa ift auf unferer 
Seite und mit Prasfomja Бабе ich mich verftändigt. 
Miffen Sie, daß Karmafinoff mit ihr verwandt ft?” 

„Was? Verwandt mit Frau von Lembfe?” 

„un ja. Aber nur entfernt verwandt.“ 

„Karmafinoff, der Novelliſt?“ 

„Nun ja doch, der Schriftiteller, worüber wundern 
Sie fih? Natürlich Halt er fich ſelbſt für eine Größe. 
Ein aufgeblafener Richt! Sie wird mit ihm zufammen 
herkommen, jeßt macht fie fich dort mit ihm wichtig. 
Her will Пе literarifche Abende veranftalten. Er fommt 
auf einen Monat, um hier fein leßtes Gut zu ver: 
kaufen. бай wäre ich mit ihm in der Schweiz zuſammen⸗ 
getroffen, was ich durchaus nicht wollte. Übrigens 
hoffe ich doch, daß er geruhen wird, mich wiederzuer— 
fennen. Früher hat er in meinem Haufe verfehrt, hat 
Briefe ап mich gefchrieben. Es wäre mir lieb, wenn Sie 
fich forgfältiger Eleideten, Stepan Trophimowitſch; 
Ste werden mit jedem Tage пабе... Wiffen Sie 
denn nicht, wie mich das qualt! Was leſen Sie jetzt?“ 

Ich 

„Verſtehe ſchon. Wie gewöhnlich die Freunde, Ме 
Gelage, der Klub, die Karten und der Ruf eines Ather: 
iten. Dieſer Ruf gefällt mir nicht, befonders jeßt möchte 


86 





ich ihn nicht hören. Das ИЕ Doch alles nur leeres Ge— 
fchwäß. Das muß doch einmal gejagt werden.“ 

Be ma chere .. ." 

„Hören Ste mich ап: in allen gelehrten Fragen bin 
ich natürlich unwiſſend, ein Late, пи Vergleich zu 
Ihnen, aber auf der Heimreife Бабе ich viel über Sie 
nachgedacht. Und ich bin zu einer Einficht gelangt.“ 

„And zu welcher ?” 

„au der, daß nicht wir beide die Klügften auf der 
Melt find, fondern daß es auch noch kluͤgere gibt als wir.” 
„das Ш fowohl fcharffinnig wie treffend gejagt. 

Mais, ma bonne amie, wenn ich auch das Nechte, 
nehmen wir an, nicht am beften weiß und mich обе 
Но vielleicht irre, fo Бабе ich doch mein allgemein menfch- 
liches, ewiges, höheres Necht auf mein freies Фет еп? 
Sch Бабе doch das Recht, Fein Heuchler und Fanatifer 
zu fein, wenn ich das nicht fein will, und dafür werde 
ich naturgemäß, folange ме Melt fteht, von зе Ме: 
denen Leuten gehaßt werden. Et puis, comme on 
trouve toujours plus de moines que de raison, und 
da dag ganz meine Meinung ЧЕ...” 

„ie, wie war das, was fagten Sie da? Das ſtammt 
gewiß nicht von Ihnen, das haben Ste beftimmt irgendwo 
gelefen ?” 

„Das hat Pascal gejagt.“ 

„Das hab’ ich mir Doch gleich gedacht... daß es Fein 
Ausspruch von Ihnen tft! Warum fagen Ste niemals 
etwas fo Виз und treffend, fondern ziehen alles immer 
jo in die Länge? ...“ 

„Ma foi, chere ,.. warum? Erſtens wahrscheinlich 
deshalb, weil ich immerhin nicht Pascal bin, et puis ... 


87 


zweitens, weil wir Ruffen in unferer Sprache nichts aus— 


zudrücen verfiehen ... Wenigftens haben wir bisher _ 


noch nichts in ihr ausgedrüdt ...“ 

„Hm! Darin haben Sie vielleicht Doch nicht recht. 
Aber Fönnten Sie fich denn nicht wenigftens folche Aus: 
Sprüche auffchreiben oder merfen, für den Fall, wiffen 
Sie, wenn das Geiprädh ... Ach, Stepan Trophimo⸗ 
wtifch, ich Бабе mir unterwegs vorgenommen, einmal 
ernft mit Ihnen zu fprechen, ſehr ernft.” 

„Chere, chere amie!“ 

„Jetzt, wo alle dieſe Lembkes und Karmafinoffe * 
Oh Gott, wie ſind Sie heruntergekommen! Oh, wie 
Sie mich damit quaͤlen! ... Ich möchte, daß dieſe 
Menfchen Hochachtung vor Ihnen empfänden, denn 
fie find ja alle nicht einmal ſoviel wert wie ein Finger 
von Ihnen, Ihr Eleiner Finger, aber Sie, wie halten 
Sie ПФ! Mas werden diefe Leute in Ihnen fehen? 
Men kann ich ihnen präfentieren? Statt vornehm als 
Zeuge dazuftehn, ein Beifpiel zu fein, umgeben Sie fich 
mit folch einem Pad, Sie haben unmögliche Gewohn: 
heiten angenommen, find alt geworden, Fönnen ohne 
Mein und Karten nicht mehr leben, Sie lefen nur noch 
Paul de Kock und fchreiben felbft überhaupt nichts mehr, 
während die dort alle fchreiben. Ihre ganze Zeit ver: 
geuden Sie im Geſchwaͤtz. Iſt es denn möglich, darf 
man fich denn das erlauben, ſich mit ſolchem Gefindel 
anzufreunden, wie es Ihr ewiger Liputin iſt?“ 

„Warum denn ‚mein ewiger Liputin‘?” proteftierte 
Stepan Zrophimomitfch fchüchtern. 

„Und Schatoff? Iſt er immer noch derſelbe?“ 

„Lrascible, mais bon.“ 


88 





| 


„Sch kann Ihren Schatoff nicht ausſtehen; er Ш 
böfe und eingebildet !” 

„Wie geht e8 Darja Pawlowna?“ 

„Sie fragen nach Daſcha? Wie fommen Site plöglich 
darauf?” Warwara Vetromwna fah ihn forfchend an. 
„Sie ИЕ gefund, Sch habe fie bei Drosdoffs gelaffen . . 
Зи der Schweiz habe ich etwas über Ihren Sohn gehört; 
Schlechtes, nicht Gutes.” 

„Oh, c’est une histoire bien böte! Je vous atten- 
dais, ma bonne amie, pour vous raconter ...“ 

„Genug, Stepan Trophimomitfch, gönnen Sie mir 
Ruhe, ich bin ohnehin erfchöpft. Wir werden noch Zeit 
haben, ung auszufprechen, befonders über das Schlechte. 
Wenn Sie lachen, ſpritzt jeßt von Ihren Lippen ſchon 
Speichel, das ift ja bereits greifenhaft! Und wie fonder- 
bar Sie jet immer lachen ... Gott, wie viele fchlechte 
Gewohnheiten Sie angenommen haben! Karmafinoff 
wird Ihnen beftimmt Feinen Befuch machen! Hier 
aber find alle fchon ohnehin froh über ... Erſt jetzt 
zeigen Sie fich in Ihrer wahren Geftalt. Aber genug, 
genug, ich bin müde! Ste könnten doch wehrlich endlich 
einmal auf einen Menfchen Rücficht nehmen !” 

Stepan Trophimowitſch nahm alfo „Rüdficht auf 
einen Menfchen”, aber er entfernte fich verwirrt. 


у 

Unfer Freund hatte in der За nicht wenige Schlechte 
Gewohnheiten angenommen, befonders in der legten 
Zeit. Er war fichtlich und fchnell Heruntergefommen, 
und es war richtig, er vernachläffigte auch fehon fein 
Außeres. Er trank? auch mehr, wurde weinerlicher und 


89 


nervdfer; feine Liebe zum Schönen aber war ſchon zu 
einer Überfenfibilität geworden. Sein Geficht Бане 
ме feltfame Fähigkeit erlangt, erftaunlich fehnell den 
Ausdruck zu wechfeln, $. 3. die feierlichite Miene im 
Nu in einen Eomifchen oder jogar dummen Yusdrud 
zu verwandeln. Einſamkeit ertrug er überhaupt- nicht 
mehr und wollte beſtaͤndig unterhalten fein, fei es mit 
Stadtflatich oder Anekdoten, wenn es nur etwas Neues 
war. Kam längere Zeit niemand zu ihm, fo wanderte 
er trübfelig Durch ме Zimmer, trat ans Fenfter, fah 
gedanfenverloren hinaus, fchob dabei ме Lippen hin und 
ber, feufzte tief und Schließlich begann er faft zu flennen. 
Er glaubte immer, Vorahnungen zu haben, fürchtete 
etwas Unermwartetes, Unabmwendbares, wurde ſchreckhaft 
und achtete fehr auf feine Träume. 

Diefen Tag und den Abend verbrachte er ſehr traurig. 
Er Пей mich zu еб bitten, war fehr aufgeregt, erzählte 
viel, aber recht zufammenhanglos. Es ſchien mir fchließ- 
lich, daß ihn etwas Befonderes bedrückte, etwas, das er 
fich vielleicht Selber nicht erklaͤren konnte. Sonft hatte 
er bei folchen Gelegenheiten, wenn er mir vorzuflagen 
begann, nach einer Weile immer ein Flaͤſchchen bringen 
Тай еп, und alles war dann bald in weit tröfflicherem 
Lichte erfchtenen. Diesmal aber unterdrüdte er fichtlich 
mehrmals den erwachenden Wunfch, eine Flafche bringen 
zu laſſen. — „Und worüber ärgert fie fich denn eigent= 
(ich 2” Раде er wie ein Kind. „Tous les hommes de | 
genie et de progres en Russie &taient, sont et seront | 
toujours des Kartenfpieler et des Zrinfer qui boivent | 
anfallweife . . ich aber bin noch lange Eein fo großer 
Spieler und Trinker ... Sie macht mir Vorwürfe, 


90 





warum ich nichts Schreibe! Sonderbarer Einfall! ,,. 
Warum ich nichts tue! Ste fagt, ich muͤſſe als Beispiel 
und Vorwurf daftehen! Mais entre nous soit dit, was 
fann denn ein Mensch, deſſen Beftimmung es tft, als 
verförperter DBorwurf Dazuftehen, anderes tun als 
Nichtstun, — weiß fie das denn nicht?” 

Und ſchließlich erriet ich auch jenen wichtigften und 
befonderen Kummer, der ihn Diesmal fo unabläffig 
quaͤlte. Er war fehon mehrere Male vor dem Spiegel 
jtehen geblieben. Schließlich wandte er fich von ihm ab 
und fagte in einer feltfamen Verzweiflung: 

„Mon cher, je suis un heruntergefommener Menſch!“ 

За, in der Tat, bis dahin, bis zu мест Tage war 
er wenigſtens von einen beftandig überzeugt geblieben, 
troß aller „neuen Anſchauungen“ und „Ideenände- 
rungen” Warwara Petrownas, nämlich Davon, daß er 
für ihr weibliches Herz immer noch bezaubernd 1, 
о. Б. nicht nur als Verbannter oder als berühmter Ge: 
(ehrter, fondern auch als fchöner Mann. Zwanzig Jahre 
fang hatte diefe fchmeichelhafte und beruhigende Über: 
zeugung tief verwurzelt in ihm gelebt, und vielleicht 
fiel ihm nichts fo fehwer, wie daß er von allen feinen 
Überzeugungen ausgerechnet diefe aufgeben mußte, 
Ahnte er vielleicht an Diefem Abend, welch eine ungeheure 
Prüfung ihm Schon in jo naher Zufunft bevorftand? 


VI 
Sch komme jetzt zu der Wiedergabe jenes zum Teil 
vergeffenen Gefchehnifles, mit dem meine Chronik eigent= 
lich erft beginnt. 
Ende Эмаий Eehrten Drosdoffs zurück, Sie trafen 


91 


kurz vor ihrer Verwandten ein, Der lange von der ganzen 
Stadt erwarteten Gattin unferes neuen Gouverneurs, 
und überhaupt machte ihr Erfcheinen bei uns einen auf: 
fallenden Eindrud in der Gefellichaft. Doch davon 
Ipäter; bier fei nur bemerkt, daß Prasfomja Iwanowna 
der fie ungeduldig erwartenden Warwara Petrowna 
ein БОЕ beunruhigendes Rätfel mitbrachte: Nicolas 
hatte fich bereits im Juli von ihnen getrennt und war 
mit der Familie des Grafen Я. nach Petersburg zuruͤck⸗ 
gekehrt. (NB. Der Graf hatte drei heiratsfähtge Töchter.) 
„Bon Liſaweta Бабе ich nichts erfahren Fönnen, aus 
diefem ftolgen Troßkopf ift ja nichts herauszubringen,” 
Schloß Praskowja Iwanowna, „aber ich Бабе ja felbft 
gefehen, daß zwifchen ihr und Nicolas etwas vorge: 
fallen ift. Die Urfache ift mir unbekannt, aber ich glaube, 
- Ste werden fich, meine Liebe, nach diefen Urfachen am 
beiten bei Ihrer Darja Pawlowna erkundigen. Meiner 
Meinung nach И Ча gekraͤnkt worden. Ich bin nur 
froh, daß ich Ihren Liebling Dafcha endlich wieder Ihnen 
abliefern Fann. Gott fei Dank, nun bin ich fie los!“ 
Doch mit diefen giftigen, offenbar abficgtlich fo viel: 
fagenden Worten geriet fie an die ба фе: Warwara | 
Petrowna verlangte fofort ftreng eine nähere Erflärung. 
Prasfomja Iwanowna wurde hierauf Тебе viel Нет: 
lauter, ja Schließlich begann fie zu weinen und ihr Herz 
auszufchütten. Es fer alfo zwiſchen Ча und Nicolas tat: 
fächlich zu einem Zerwuͤrfnis gefommen, doch Gott 
weiß aus welchem Grunde. Ihre Anfpielung auf Darja 
Pawlowna nahm fie wieder zurüd und bat fogar aus— 
drücklich, ihre „in der Gereiztheit” gefprochenen Worte 
ganz zu vergeflen. Зи jenem Zerwürfnis hätte wohl 


92 





der „troßige und fpöttifche” Charakter Liſas den Anſtoß 
gegeben, und der „ftolze” Nicolas fei zwar fehr verliebt 
gewefen, habe aber die Spötteleien doch nicht ertragen 
und felbft zu fpotten begonnen. Kurz, alle diefe Er: 
klaͤrungen kamen fehr unflar heraus. Und dann hätten 
fie noch Stepan Trophimowitfchs Sohn Fennen ge: 
lernt, — „Das war ein ganz gewöhnlicher junger 
Mann, fehr Тебба und frei, aber ſonſt nichts Зе: 
fonderes”. Diefen jungen Mann Бабе nun Lifa unrech- 
terweife fehr bevorzugt, wohl um Nicolas eiferfüchtig 
zu machen, nur ſei ihr das nicht gelungen: ftatt eifer- 
füchtig zu werden, habe Nicolas fich felbft mit dem 
jungen Manne befreundet, ganz als bemerfe er nichts 
oder als wäre ihm das ganz gleichgültig. „Nun und 
das empörte Liſa. Der junge Mann зе! übrigens 
bald weiter, Lifa aber begann num bei jeder Gelegen— 
heit Streit mit Nicolas, Sie bemerkte, daß diefer manch 
mal mit Dafcha fprach, und das ärgerte fie furchtbar. 
Da gab’8 denn ewig Streit und für mich YAufregungen; 
die aber hatten die Ärzte mir doch fo verboten! Und 
plößlich erhielt Nicolas von der Gräfin einen Brief und 
veifte fofort ab. Ihr Abfchted war wieder freundfchaft: 
ih. Auf dem Wege zur Bahnftation, wohin wir ihn 
begleiteten, war Liſa ſehr Yuftig und lachte viel, Alles 
Deritellung natürlich! Kaum aber war er weg, da 
wurde fie fehr nachdenklich, erwähnte ihn überhaupt 
nicht mehr und Tieß auch mich nicht einmal von ihm 
Iprechen. Meine Bemerkung über Däfchachen aber war 
falfch, nehmen Sie es mir nicht übel, Mütterchen, ver: 
zeihen Sie mir ſchon die Sünde! Es waren ja nur ganz 
gewöhnliche Gefpräche, die laut geführt wurden, Mich 


93 


bat das alles nur fo nervös gemacht. Aber auch Lila 


verhält fich zu Dafcha jeßt wieder fo freundlich, wie fie 


ud 


vorher verkehrten. Und mit Nicolas wird fie fich gewiß — 


ebenſo ausfühnen, wenn er nur bald herfäme . . .“ 
Warwara Petrowna fagte nur, fie fenne Darja und 

das ſei alles Unfinn. An Nicolas aber fchrieb fie noch 

am felben Tage und bat ihn Sehr, doch wenigftens einen 


Monat früher zu kommen als er verfprochen hatte. — | 


Und doch blieb für fie etwas Unflares in der ganzen 
Sache: „Nicolas tft nicht der Mann, der vor dem Spott 
eines Mädchens davonläuft ... Jenen Offizier haben 
jie richtig mitgebracht und als Verwandten im Haufe 
einquartiert, Wie Fam мае Praskowja darauf, Зака 


jo zu verdächtigen? Und dann diefe Schnelle бийфи 
digung ... Sicher Пе etwas Dahinter, was fie nicht | 
jagen wollte, aber zu plump angedeutet hatte! ... 


Warwara Petrowna dachte Ме ganze Nacht darüber 
nach. Zum Morgen bin aber war ihr Wan fertig, wie 
пе wenigſtens ein Hindernis befeitigen koͤnnte. Das 


war nun freilich ein ſehr merfwürdiger Plan, und was 


in ihrem Herzen vorging, als fie diefen Entfchluß faßte, 


weiß ich nicht, noch werde ich verfuchen, alle Wider: | 
Iprüche, ме er enthielt, zu erflären. Bemerfen muß 
ich nur, daß bis zum Morgen nicht. der geringite Verdacht 


gegen Daſcha in ihr zurücgeblieben war. Aber fie hätte 
es ja auch nie Ни möglich gehalten, daß ihr Nicolas 
fich für мае ihre ... „Darja” lebhafter intereffieren 


fönnte. Am Morgen, als Dafcha am Teetifch hantierte, 
ſah Warwara Petrowna fie lange und prüfend an und. 


fagte fich Ichließlich wohl zum zwanzigften Male über: 
zeugt: „Alles Unſinn!“ Es fiel ihr nur auf, daß Daſcha 


94 





jeltfam müde ausfah und noch ftiller war als gewoͤhn— 
lich, Nach dem Tee ſetzten fie fich beide wie immer an 
eine Handarbeit und Warwara Petrowna ließ ſich nun 
einen ausführlichen Bericht über ме Eindrücke erftatten, 
ме Dafcha im Auslande empfangen hatte, über ме 
Natur, die Menfchen, Sitten, Kunftwerfe, Gewerbe ufw. 
Nur über Drosdoffs und das Leben bet diefen ftellte 
пе nicht eine Frage. Als Dafcha eine halbe Stunde mit 
ihrer gleichmäßigen, eintönigen, aber etwas fchwachen 
Stimme erzählt hatte, unterbrach fie fie plößlich: 

„Рама, haft du mir denn nichts Eigenes zu ſagen?“ 

„Nein, ich babe nichts,” antwortete Dafcha nach einem 
ganz kurzen Nachdenken und {аб Warwara Petrowne 
mit ihren hellen Augen an. 

„uf der Seele, auf dem Herzen, auf dem Gewiffen ?” 

„Nichts,“ wiederholte Dafcha leise, doch wie mit einer 
finfteren Feftigkeit. 

„Wußte ich’s doch! Damit du’s weißt, Dafcha, ich 
werde nie an dir zweifeln. Uber феве dich hierher, auf 
diefen Stuhl, damit ich dich beſſer fehen kann, und höre 
mich an. So. Alfo höre jeßt: willft du nicht heiraten“ 

Dafcha antwortete nur mit einem fragenden, langen, 
übrigens nicht einmal allzu verwunderten Blick. 

„Bart; fer Ш! Erſtens iſt da ein Unterfchted in den 
Jahren, ein fehr großer fogar, aber das ИЕ doch nur 
dummes Gerede. Du БИ vernünftig, in deinem Leben 
ſoll es Feine Fehler geben. Übrigens ift er noch ein 
jchöner мии... Kurz, ich meine Stepan Trophimo- 
witfch, den du immer jo geachtet haft. Nun?“ 

Daſcha ſah ſie noch fragender an, jeßt aber nicht nur 
eritaunt, fondern auch fichtbar errötend, 


95 


„art, fer ftill, überlege es! Meinem Teftament 
zufolge haft du zwar Geld. Aber wenn ich fterbe, was 
wird dann aus Dir, felbft mit diefem Gelde? Man wird 
dich Doch betrügen, dich ums Geld bringen und dann 
bift du verloren. Heirateft du aberihn, fo bift du die Frau 
eines angefehenen Mannes. Und andererfeits: fterbe 
ich, was wird dann aus ihm, wenn ich auch feine Eriftenz 
fichergeftelft Habe? Auf Dich aber kann ich mich ver: 
laffen. Wart, ich Бабе noch nicht zu Ende gefprochen: 
er ift leichtſinnig, träge, charakterlos, graufam, egoiftifch, 
hat Бавифе Schwächen, aber du fehäße ihn troßdem, 
erftens fchon deshalb, weil es noch viel fchlechtere gibt. 
Warum ſchweigſt du und fiehft nicht auf? — Warte, 
fei noch ſtill! Er ift ein altes Weib, aber um fo beffer 
für dich. Ein bemitleidenswertes Weib. Er verdiente es 
gar nicht, von einer Frau geliebt zu werden, Aber wegen 
feiner Schutzloſigkeit verdient er es fehließlich Doch; alfo 
liebe Du ihn auch desivegen, Du verftehft mich doch?” 
(Dafcha nidte.) „Das wußte ich, Habe auch nichts anderes 
von dir erwartet, Er wird dich Tieben, denn er muß es, 
er muß! Muß dich vergöttern!! (Ihre Stimme Fang 
feltfan gereizt und hart.) „Übrigens wird er fich auch 
jo ſchon in dich verlieben, ich Fenne ihn doch. Zudem 
werde ich ja felbft Hier fein. Фа unbeforgt, ich werde 
Schon nach dem Rechten fehen. Er wird fich über dich 
beflagen, wird dich verleumden, mit dem erften beiten | 
über dich fprechen, wird Dir Briefe fehreiben aus dem 
Nebenzimmer, fogar zwei am Tage, aber ohne Dich wird 
er doch nicht leben koͤnnen, und das Ш fehliehfich Die 
Hauptfache. Zwinge ihn, dir zu gehorchen; verftehft 
du das nicht, iſt's dein eigener Schade, Er wird fich 


96 





erhängen wollen, wird dir Damit drohen — glaube ihm 
nichts; das tft alles Unfinn; aber ſei troßdem vorfichtig, 
denn vielleicht ift die Stunde verhaͤngnisvoll und er tut 
es wirklich. Das kommt vor bei folchen Menfchen; nicht 
aus Stärke, fondern aus Schwäche hängen fie fich auf; 
und darum bringe ihn nie zum Außerſten, — das ift 
der erfte Grundfaß in der Ehe. Und vergiß auch nicht, 
daß er ein Dichter ift. Höre, Darja: es gibt Fein größeres 
Stück als fich zu opfern, Und außerdem tuft du mir 
damit einen großen Gefallen, und das tft ме Hauptfache. 
Denke nicht, daß ich mich aus Dummheit foeben vers 
ſprochen Бабе; кб weiß, was ich Гаде, Sch bin egoiftifch ; 
jet du es auch. Sch will dich ja nicht zwingen; alles hängt 
son dir аб; wie du enticheideft, fo wird es fein, Nun, 
warum fißt du fo da, fag’ jeht etwas!” 

„Mir ЧЕ alles gleich, Warwara Petrowna, wenn ich 
Schon unbedingt heiraten Soll,’ fagte Dafcha mit fefter 
Stimme. 

„Unbedingt? Mas ИШЕ du Damit andeuten ” 
Warwara Petrowna ſah Пе ftreng und unverwandt an. 
Dafcha ſchwieg und kraͤtzte mit der Nadel am Stick— 
rahmen. — „Du bift fonft zwar gefcheit, jeßt aber irrft 
du dich Doch. Es iſt mir jet Doch nur feinetwegen in 
den Sinn gekommen, dich zu verheiraten, Gäbe es keinen 
Stepan Trophimowitfch, fo dächte ich.gar nicht daran, 
obwohl du bereits zwanzig Jahre alt БАР... Nun?” 

„Sch werde tun, was Sie wuͤnſchen.“ 

„Alſo du bift einverftanden! Wart, fer ſtill, wohin 
wilft du? Sch bin noch nicht fertig. Im meinem 
Teftament Бабе ich dir fünfzehntaufend Rubel vermacht. 
Die gebe ich dir aber ſchon jeßt fofsrt nach der Trauung. 


7 Doftojewsti, Vie Dämonen. Bo. Г. 97 


Davon wirft du ihm achttaufend geben, d. Б. nicht ihm, 
fondern mir. Denn er bat eine Schuld von achttaufend, 
die ich bezahlen werde, nur foll er willen, daß es mit 
deinem Gelde gefchieht. Siebentaufend behaltft du dem⸗ 
nach, davon gib ihm nichts, nicht einen Rubel. Bezahle 
nie feine Schulden. Tuſt du es einmal, nimmt das 
Ausbeuten Fein Ende, Ihr werdet von mir fünfzehn: 
hundert Rubel jährlich befommen, außer der Wohnung 
und Beföftigung, die ihr auch weiterhin von mir erhalten 
werdet. Diefes Jahrgeld werde ich Dir als ganze Summe 
auszahlen, in jedem Jahr, unmittelbar in deine Hände, 
Aber fei auch gut zu ihm und gib ihm zumeilen etwas, 
und auch feinen Freunden mußt du fchon erlauben, ihn 
zu befuchen, einmal wöchentlich. Kommen fie öfter, 
fo. wirf fie hinaus. Aber ich werde ja immer hier fein. 
Sterbe ich, fo befommt ihr die Venfion bis zu feinem 
Tode, hörft du, bis zu feinem Tode, dennesiftfeine 
und nicht deine Penſion. Dir aber werde ich außer den 
fiebentaufend, die du dir, wenn du nicht dumm В, 
unangebrochen aufheben Fannft, noch weitere achttaufend 
teftamıentarifch vermachen. Aber mehr befommft du nicht 
von mir. Damit du’s weißt. Nun, bift du einverftanden? 
Aber nun antworte doch endlich !“ 
„Ich habe fchon geantwortet, Warwara Petrowna.“ 
„Vergiß nicht, daß es dein freier Mille ift.“ 
„Srlauben Sie nur, Warwara Petrowna, het Stepan 
Trophimowitſch fchon mit Ihnen davon geiprochen?” 
„rein, er hat nichts geiprochen und weiß überhaupt 
nichts davon, aber ... er wird fofort fprechen !! — Sie 
ftand Ба auf und nahm ihren fchwarzen Schal. 
Daſcha errötete wieder ein wenig und fah ihr mit 


98 





fragendem Blick nach. Plöglich wandte fich Warwara 
Petrowna mit zornflammendem Geficht zu ihr um und 
fuhr fie wie ein Habicht an: „Du Toͤrin! Du undankbare 
Törin! Glaubſt du wirkiich, daß ich dich auch nur im 
geringften bioßftellen werde? Auf den Knien wird er 
dich anflehen, er wird vergehen muͤſſen vor Glück, Го 
wird das gefchehen! Oder glaubft du, daß er dich um 
dtefer Achttaufend willen nehmen wird und ich jeßt hin— 
laufe, um dich zu verfaufen? Toͤrin, Zörin, alle ſeid 
ihr undankbare Törinnen! Gib mir meinen Schtem !” 

Und fie begab fich zu Fuß zu Stepan Trophimowitſch. 


VII 

Зи der Tat: fie glaubte aufrichtig, mit diefer Ver: 
heiratung Darja nichts Böfes anzutun; im Gegenteil, 
fie hielt fich деве erft recht für deren Wohltäterin. Um 
jo größer war Daher ihr Unmille, als fie den unficheren 
und mißtrauischen Blick ihrer Pflegetochter bemerkte. 
Sie liebte fie aufrichtig; ja, Prosfomja Iwanowna hatte 
recht, wenn fie Dafcha ihren „Liebling“ nannte, Warwara 
Petrowna hatte fich ſchon früh gefagt, als Dafıha noch 
ein Kind war, der Charakter diefes Mädchens gleiche 
entfchteden nicht dem ihres Bruders Iwan Schatoff, 
Пе ſei И, fanft, fehr aufopferungsfähig, treu, überaus 
befcheiden, verftändig und, was Ме Hauptfache war, 
dankbar. „Зи diefem Leben werden Feine Fehler vor- 
kommen,” fagte fie, als Dafcha zwölf Jahre alt war, 
und da es ihre Art war, fich für jeden Einfall, der ihr 
gefiel, eigenfinnig und leidenschaftlich einzufeßen, hatte 
jie dann fofort befchloffen, Daſcha wie eine leibliche 
Tochter zu erziehen. Site legte für fie ein Kapital bei: 


7 99 


fette und nahm eine Gouvernante ins Haus, Miß 
611948, Ме bis zu Dafchas ſechzehntem Jahre bei ihnen 
blieb. Dann feßten Lehrer vom Gymnaſium, ein Fran: 
zofe und eine arme adelige Dame, die Klavierftunden 
gab, den Unterricht fort. Uber der Hauptpädagoge war 
doch Stepan Trophimowitſch, der eigentlich Daſcha 
„entdeckt“ und das ftille Kind fchon unterrichtet hatte, 
als e8 von Warwara Petromna noch gar nicht beachtet 
wurde. Sch weile nochmals darauf hin: es war erftaun: 
(ich, wie Kinder an ihm hingen. Auch Lifa Hatte er von 
ihrem achten bis elften Sahre unterrichtet (felbftredend 
unentgeltlich). Er hatte fich in das reigende Kind ganz 
verliebt und erzählte ihr wie fehöne Dichtungen die Ein— 
richtung der Welt, die Gefchichte der Menfchheit und der 
eriten Völker. Das war fejfelnder als arabische Märchen. 
Liſa verging vor Begeifterung für diefe Gefchichten, zu 
Haufe aber Eopierte fie ihren Lehrer in einer hoͤchſt drolli— 
gen Weiſe. Als diefer fie einmal dabei überrafchte, 
flog fie ihm in ihrer Verlegenheit einfach an den Hals 
und begann zu weinen. Er aber weinte gleich mit: vor 
lauter Entzücden. Bald aber reifte Liſa weg und die 
kleine Dafcha blieb allein. Später überließ er den Unter: 
richt den Lehrern, die ins Haus Famen, und Fümmerte 
fich lange Zeit gar nicht mehr um fie. Einmal aber, als 
Dafcha bereits ftebzehn war, fiel ihm bei ЗИФ plößlich 
ihre Lieblichkeit auf. Er begann mit ihr zu fprechen, 
war erfichtlich fehr zufrieden mit ihren Antworten und 
fragte fie zum Schluß, ob fie nicht mit ihm die Gefchichte — 
der ruffifchen Literatur durchnehmen wolle. Warwara 
Petrowna lobte ihn für den guten Gedanken und danfte 
ihm. Dafcha aber war felig. Doch als er nach den erften 


100 








paar Stunden ankuͤndigte, das пафЙе Mal würden 
Пе das Igorlied durchnehmen, erklärte ploͤtzlich Warwara 
Petrowna, die име immer zugegen war, Daß eg weitere 
Stunden nicht mehr geben werde. Stepan Trophimo— 
witſch ftraffte fich, fchwieg aber; Dafcha wurde feuerrot, 
— Das hatte fich genau drei Sahre vor Warwara 
Petrownas jetzigem unverhofften Einfall zugetragen, 

Der arme Stepan Trophimowitſch ſaß ahnungslos 
allein zu Haufe und hielt trübfelig fchon lange Ausschau, 
vb denn nicht ein Bekannter zu ıbm komme. Aber es 
wollte Feiner kommen. Ein feiner Sprühregen fiel; 
es wurde Falt. Er feufzte. Plößlich fahen feine Augen 
eine erfchrecdende Viſion: Warwara Petrowna, bei 
diefem Wetter, auf dem Wege zu ihm! Und zu Fuß! 
Er war fo verblüfft, daß er alles vergaß und fie empfing 
wie er wars in feiner fratfefarbenen wattierten Hausjade, 

„Ma bonne amie !““ rief er ihr mit Schwacher Stimme 
entgegen. 

„Sie find allein, das freut mich. Ich Fann Ihre 
Freunde nicht ausftehen, Wie das hier wieder vollges 
raucht ift! Und das Frühftück noch nicht beendet, dabei 
ЦЕ es Schon zwölf! WMWahrhaftig: Ungrönung ЧЕ doch 
Ihre Seligfeit. Und Ihr einziges Behagen, Was find 
das für Papierfeßchen auf dem Fußboden? Naftaffja, 
Naſtaſſja! Mach’ mir mal hier alle Fenfter auf, Mütter: 
chen! Wir gehen in den Salon. Sch habe mit Ihnen 
zu reden. Du aber fege Мег doch wenigitens einmal im 
Leben aus! ... Schließen Sie gut die Tür, Лайа а 
wird natürlich horchen. Setzen Sie fich und hören 
Sie зи. Wohin, wohin? Wohin wollen Sie?“ 

„Sch ... ſofort ... ich bin fofort wieder da...” 


101 


„Ah, Ste haben den Rod gewechſelt.“ Ste mufterte 
ihn fpöttifch. „Der paßt allerdings beffer zu . ‚ ‚ unferem 
Gefpräch. Aber fo feßen Sie fich doch endlich, ich bitte Sie № | 

Sie erflärte ihm alles mit einem Schlage, feharf und 
einleuchtend, Sie ftreifte auch die Achttauſend, ме er fo 
nötig hatte, Sie fprach ausführlich von der Mitgift. 
Er ив die Augen auf und begann zu zittern. Er hörte 
alles, aber er Fonnte nichts На erwägen. Er wollte 
etwas entgegnen, aber die Stimme verfagte, 

„Mais, ma bonne amie, zum dritten Mal und 
in meinen Sahren, und mit einem folchen SKinde!” 
brachte er fchließlich hervor. ‚Mais c’est une enfant!“ 

„Das fchon zwanzig Jahre alt ift, gottlob! Sie find 
ein fehr Fluger und gelehrter Mann, aber vom Leben 
verftehen Sie nichts. Sie werden ewig eine Kinderfrau 
nötig Haben, Sterbe ich, was wird dann aus Ihnen? 
Sie aber ift ein befcheidenes, verftändiges, charakterfeftes 
Mädchen; zudem werde ich ja felbft immer hier fein, 
ich fterbe ja nicht gleich. Ste ЧЕ haͤuslich, ift ein Engel an 
Sanftmut. Diefer glückliche Gedanke Кит mir fchon 
in der Schweiz. Begreifen Sie auch: ich felbft fage es 
Ihnen, daß fie ein Engel ИЕ rief fie plößlich jaͤhzornig. 
„Sie bilden fich wohl ein, daß ich Sie noch bitten, alle 
Vorzüge aufzählen muß! Nein, Sie müßten auf den 
Knien ... Dh, Sie leerer, leerer, engherziger Menſch!“ 

„Uber 146... ich bin doch fchon ein Greis М 

„Fuͤnfzig Sahre find nicht das Ende, fondern nur die 
Hälfte des Lebens. Sie find ein fehöner Mann und 
wiffen das felbft. Ste wiffen auch, wie fehr Daſcha Sie 
verehrt. Und wenn ich fterbe, was wird dann aus ihr? 
Sie haben einen angefehenen Namen, ein Tiebevolles 


102 





Herz. Sie werden fie bilden, werden fie retten, ja retten ! 
Inzwiſchen wird auch Ihr Werk fertig werden und das 
wird Ihren Ruhm erneuern ...“ 

„Allerdings . . . bin ich gerade im Begriff, meine 
‚Sfiszen aus der fpanifchen Geſchichte vorzunehmen ...“ 

„Run fehen Sie, das trifft ſich ja ausgezeichnet,” 

Stepan Trophimowitſch fehwindelte der Kopf; Ме 
Mände drehten fich un ihn herum, „Excellente amie!“ 
‚., feine Stimme zitterte plöhlich, „ich ... Ich hätte 
nie gedacht, daß Sie mich je mit... einer anderen ... 
verheiraten könnten !” 

„Sie find doch Fein junges Mädchen, das man ver: 
heiratet, Sie heiraten Doch felbft,” ftieß fie giftig hervor. 

„Ош, j’ai pris un mot pour un autre ... Mais... 
c’est egal...“ Er fah fie wie verloren an. 

„Das fehe ich, Daß Ihnen das Egal iſt,“ fagte fie mit 
biffiger Verachtung. „Herrgott, er wird ja ohnmächtig ! 
Хай а, Naftaffja! Waſſer!“ — Uber er Fam ſchon 
wieder zu ИФ. Warwara Petrowna nahm ihren Schirm. 
„Sch ſehe, daß man mit Innen jetzt nicht reden kann ...“ 

„Ош, ош, je suis incapable ...“ 

„ber bismorgenmüffen Siefich erholt und entfchloffen 
haben. Bleiben Sie zu Haufe. Uber fchreiben Sie mir feine 
Briefe; werde fienicht еп. Morgen werde ich um diefelbe 
Zeit wiederfommen, allein,und ich hoffe, daß Ihre Antwort 
eine befriedigende fein wird, Sorgen Ste dafür, daß dann 
niemand hier ift unddaßin den Zimmern Ordnung herrfcht, 
denn wie fieht das hier aus! Naſtaſſja, Naftaflja! ...“ 

Natürlich war er am nächtten Tage einverftanden. 
Es blieb ihm ja auch nichts anderes uͤbrig, — aus einem 
befonderen Grunde ... 


103 


УШ 

Das Gut, das feine erfte Frau binterlaffen Ване, 
gehörte nicht ibm, fondern feinem Sohn. Stepan 
Trophimowitſch hatte es ſozuſagen nur verwaltet und 
auf Grund einer Abmachung dem Sohn taufend Rubel 
jährlich als Einnahme des Gutes zugefandt. Das heißt: 
diefe Summe war regelmäßig von Warwara Petrowna 
entrichtet worden, Stepan Trophimowitich aber hatte 
auch nicht einen Rubel Dazu beigefteuert. Die ganze Ein— 
nahme vom Gut, ме übrigens nur fünfhundert Rubel 
im Jahre betrug, hatte er immer jelbit verbraucht, 
dazu das Gut Schließlich noch ruiniert, da er es ohne 
Warwara Petrownas Wiffen an einen Händler verpach: 
tet und den Wald, der das Wertvollfte war, nach und 
nach parzellenweife zum Abholzen verfauft hatte, wenn 
er größere Spielverlufte im Klub Warwara Petrowna 
Doch nicht zu geitehben wagte. биг diefen Wald, der 
etwa achttaufend Rubel wert war, hatte er im ganzen 
nur fünftaufend erhalten. Sie Enirfchte natürlich, als 
Пе das fchließlich erfuhr. Aber nun бане der Sohn 
plößlich gejchrieben, er werde kommen, um das Gut 
zu verkaufen, und den Vater beauftragt, fich inzwifchen 
nach Käufern umzuſehen. Selbitredend ſchaͤmte fich 
nun Stepan Trophimowitſch bei feiner großzügigen 
und nicht materialiftifchen Einftellung zu folchen Dingen 
vor ce cher fils, den er übrigens zuleßt vor neun Jahren 
in Vetersburg als Studenten gefehen hatte. Der Wert 
des Gutes war von etwa vierzehn: auf kaum fünf: 
taufend Nubel gefunfen. Wie follte er das diefem 
Sohne nun Sagen? Freilich Бане er als offiziell Bevoll— 
mächtigter den Wald verkaufen dürfen, und da dem 


104 





Sohn jahrelang taufend Rubel ftatt etwa fünfbundert 
gefchieft worden waren, konnte er auch einer Abrech- 
nung ruhig entgegenfehen. Doch Stepan Trophimo— 
witfch war num einmal ein nobler Menfch, der Höheres 
im Sinne hatte, In feiner Phantafie ftellte er fich ein 


ganz anderes Bild vor: wie er dieſem cher fils, wenn 





er endlich Fam, Ме ganze Summe auf den ЗИФ” 
legte, ohne die doppelt gezahlten Jahresraten überhaupt 
zu erwähnen, wie er ihn unter Tränen feft an feine 
Bruft drückte und damit alle Abrechnungen für immer 


aus Der Welt fchaffte, Vorfichtig hatte er auch Warwara 
Petrowna fuͤr diefes fchöne Bild zu gewinnen gefucht. 


Er deutete an, daß eine folche Einftellung zu einer 
pefuniären Frage auch ihrer Freundfchaft, der „Idee“ 
diefer Freundfchaft noch eine befondere, edle Nuance 
verleihen wiirde, fie, d. h. die Väter oder die frühere 
Generation überhaupt, als fo viel felbfilofer und groß: 
mütiger ип Vergleich zu der neuen leichtfinnigen und 
ſozialiſtiſchen Jugend hinftellen müßte, Er fprach noch 
allerhand, aber fie ſchwieg. Schließlich teilte fie ihm nur 
trocken mit, daß fie das Gut für fiebentaufend Faufen 
wolle, Doch von den fehlenden Achttaufend — dem 
Wert des Waldes — fprach fie Fein Wort. Das war 
etwa einen Monat vor dem Heiratsantrag gefchehen. 

Was wir hier über diefen feinen Sohn mußten, waren 
eigentlich nur etwas feltfame Gerüchte. Vor fechs Jahren 
hatte er das Studium an der Untverfität beendet und 
fich dann ohne Befchäftigung in Vetersburg herumge— 
trieben. Plöglich hieß es, er Бабе fich an der Abfaffung 
einer geheimen Proffamation beteiligt; und bald darauf 
verlautete, er fei bereits in der Schweiz. Alſo geflüchtet. 


105 


„Das wundert mich,” fagte damals Stepan Trophi— 
momitfch, fichtlich beftürgt. .„‚Petrüscha — c’est une si 
pauvre tete! ... Aber wiffen Sie, das kommt alles 
von eben diefem Unausgebrütetfein, und von der 
Empfindfamkeit! Mas fie feffelt, ift nicht der Realis— 
mus, fondern die empfindfame, ideale Seite des Sozialis⸗ 
mus, fozufagen feine religiöfe Sarbung, feine Poeſie ... 
ins Blaue hinein, natürlich. Und gerade mir, mir muf, 
das widerfahren! Sch бабе bier fehon fo viele Feinde, 
dort noch mehr, man wird es alfo dem Einfluffe des 
Daters zufchreiben.... Gott! Petrüfcha ein Aufwiegler! 
In was für Zeiten leben wir!“ 

Übrigens ſchickte „Petrüſcha“ aus der Schweiz fehr 
bald feine genaue Adreſſe, damit ihm das Geld wie де: 
wöhnlich zugefandt werde: alfo war er doch Fein Eis 
grant von jener Art. Und jeßt, паф etwa vierjährigem 
Aufenthalt im Yuslande, war er fchon wieder im Vater: 
lande und kuͤndete fogar feinen Befuch an; fomit Eonnte 
doch überhaupt Feine Anklage gegen ihn vorliegen. За, 
nicht nur 508: es ſchien ihn jemand fogar zu этою: 
gieren, Er fchrieb jeßt aus Suͤdrußland, wo er fich in 
jemandes privatem Auftrage befand und etwas Wich-⸗ 
#468 auszuführen hatte, Das war ja alles fehr fchön, 
aber woher nun die fehlenden Uchttaufend nehmen, um 
den vollen Wert des Gutes auszahlen zu Eönnen? Wie 
nun, wenn es ftatt zu jenem fehönen Charakterbilde 
plößlich zu einem Prozeß Fam? Eine unbeftimmte 
Empfindung fagte Stepan Trophimowitſch, daß ce 
cher fils auf Feines feiner Unrechte verzichten werde, 
„Woher kommt das,” fragte er mich damals einmal 
halblaut, „Daß alle diefe fanatifchen Sozialiften und 


106 





Kommuniften gleichzeitig fo geizig, erwerbsbefliffen und 
befißftolz find, ja je mehr einer Sozialiſt ЧТ, je weiter er 
dabei geht, um fo mehr ИЕ er felber gerade ‚Befiker. 
Sollte das wirffich auch von der Empfindfamfeit her: 
rühren” Ich weiß nicht, ob an diefer Beobachtung 
Stepan Trophimowitfchs etwas Wahres И Damals 
wußte ich nur, daß Petrüſcha von dem Verfauf des 
Waldes bereits einiges erfahren hatte, und auch Stepan 
ZTrophimowitfch wußte das. Und da Famen nun diefe 
Achttaufend mit dem Vorfchlage Warwara Petrownas 
plößlich herbeigeflogen! Uber fie gab auch deutlich zu 
verftehen, daß fie auf feinem anderen Wege herbeifliegen 
wirrden. Gelbftredend erklärte er fich einverftanden. 

Damals, nach ihrem erften Morgenbefuch, ließ er mich 
fofort dringend zu fich bitten. Er war fehr erregt, redete 
viel und gut, шение zwifchendurch, dann gab es eine 
leichte Cholerine, Виз, alles verlief wie gewöhnlich. 
Darauf holte er das Bild feiner zweiten Frau hervor, 
der Deutfchen, rief? „Яапий Du mir verzeihen ?”, weinte 
wieder und war uͤberhaupt име aus dent Konzept ge= 
bracht. Vor Kummer tranfen wir ein bißchen. Übrigens 
Бег er bald und füß ein. Am folgenden Morgen 
band er meifterhaft feine weiße Halsbinde, kleidete fich 
mit Sorgfalt an und befah fich oft im Spiegel. Sein 
Taſchentuch befprikte er mit Parfüm, übrigens nur 
ein wenig, Doch als er Warwara Petrowna kommen fah, 
nahm er ſchnell ein anderes und ſteckte das parfümierte 
unter ein Kiffen. 

„Bortrefflich № Tobte ihn Warwara Petromna, als 
fie die Erflärung feines Einverftändniffes vernommen 
бане. „Endlich einmal find Sie der Stimme der Ver: 


107 


nunft gefolgt. Es eilt übrigens nicht,” fügte fie hinzu, 
während fie den Knoten feiner Halsbinde betrachtete. 
„Borläufig fchweigen Sie, auch ich werde darüber 
Ichweigen. Bald Ш Ihr Geburtstag, ich werde dann 
mit ihr zu Ihnen kommen. Geben Sie eine Feine Abend— 
gefellfchaft, nur Tee, Feine Spirituofen, bitte; übrigens, 
ich werde das felbft arrangieren. Dann Eönnen wir — 
nicht eine Verlobung feiern, fondern es nur zu verftehen 
geben, ohne alle Feierlichkeiten. Und zwei Wochen 
Ipäter kann dann die Hochzeit ftattfinden, gleichfalls ohne 
Laͤrm. Nach der Trauung koͤnnten Sie beide ein wenig 
verreifen, nach Moskau, zum Beifpiel. Vielleicht fahre 
ich mit. Doch die Hauptfache: bis dahin ſchweigen Sie.” 

Stepan Trophimowitſch war erſtaunt. Stotterte 
etwas von vorher mit der Braut doch ſprechen muͤſſen 
uſw. Doch zu ſeiner Verbluͤffung fiel ſie ihm gereizt ins 
Wort: „Wozu denn das? Vielleicht wird uͤberhaupt 
nichts daraus . . .“ Und auf ſeinen verſtaͤndnisloſen 
Blick aus aufgeriſſenen Augen: „Nun ja. So. Ich 
werde noch fehen ... Übrigens wird alles fo geſchehen, 
wie ich gefagt habe, аси Ste unbeforgt, ich werde Darja 
jelbft vorbereiten. Alles Nötige wird ohne Sie gejagt 
und getan werden, Sie haben da überhaupt Feine Rolle 
zu Spielen, Und Feine Briefe zu fchreiben! Und daß Sie 
nichts verlauten laffen. Sch werde gleichfalls ſchweigen.“ 

Ste wollte ihm offenbar nichts erklären und verließ 
ihn fichtlich verftimmt. Eine folche Bereitwilligkeit 
jeinerfeits hatte fie doch wohl überrafcht. Er aber — 
ach! — er überfchaute feine Handlungsmweife ganz und 
gar nicht, fah fie überhaupt nur von feinem Gefichtspunft 
aus. За, es ftellte fich bei ihm fogar ein gemwiffer neuer 


108. 





Ton ein, etwas Siegesgewiſſes und KLeichtfinniges, 
Gr fühlte fi! 

„Das gefällt mir!” rief er aus und blieb aufgebracht 
und wichtig vor mir ftehen. „Haben Sie es gehört? Sie 
will e8 fo weit treiben, daß ich fehließlich nicht mehr 
will, Denn ich Fönnte doch auch einmal meine Geduld 
verlieren und . . . nicht mehr wollen. ‚Wozu denn das?‘ 
fragt fie mich. Uber warum muß ich denn unbedingt 
heiraten? Nur weil fie plößlich den Lächerlichen Einfall 
bat? Uber ich bin doch ein ernfter Menſch und Бабе 
vielleicht gar Feine Luft, mich den Launen einer unver: 
nünftigen Frau zu fügen! Ich habe Pflichten meinem - 
Sohne gegenüber und ... und gegen mich felbft! Ich 
bringe ein Opfer — begreift fie das auch? Vielleicht 
бабе ich nur deshalb eingewilligt, weil das Leben mir 
langweilig geworden und alles mir fehließlich gleich ift. 
Aber wenn fie mich reist, Выпив es gefchehen, daß mir 
plößlich nicht mehr alles gleich ift! Ich kann mich be: 
fetdigt fühlen und mich weigern ! Et enfin leridicule ... 
Was werden die Menfchen jagen! ‚Vielleicht wird uͤber— 
haupt nichts daraus‘ —! Das tft denn doch! ... Das 
iſt der Gipfel! Das ИЕ... ja was foll denn das heißen? 
Je suis un forcat, un Badinguet, un an die Wand де? 
drückter Menfch! ...“ 

Und dabei blickte doch etwas launiſch Selbitgefälliges, 
etwas leichtfertig Spielerifches Durch alle diefe anlagen: 
den Yusrufe hervor. Am Abend tranken wir wieder 
ein wenig. 


Drittes Kapitel. 


Fremde Sünden. 


I 


Es verging ungefähr eine Woche und die Sache begann 
fich Hinzuzichen. Nebenbei bemerkt: ich hatte in diefer 
Zeit als fein einziger, ihm ewig unentbehrlicher Ver: 
trauter viel augzuftehen. Er fchämte fich, und das war 
die Haupturfache feiner Qual. Er fchämte fich vor allen 
Menfchen, glaubte, ме ganze Stadt wiſſe es bereits, und 
jo faß er denn nur zu Haufe und empfing feinen außer 
mir! Sa, er fchämte fich fogar vor mir, und je mehr er 
fich mir gegenüber ausfprach, um fo mehr ärgerte er fich 
gleichzeitig über mich. Eine Woche war fo vergangen, 
er aber wußte noch immer nicht, ob er nun Bräutigam 
war oder noch unverlobt. Auch ме Braut hatte er noch 
nicht gefprochen, ja, war fie denn überhaupt feine 
Braut? ja, war das Ganze überhaupt ernft gemeint? 
Aus einem ihm unbekannten Grunde lehnte Warwara 
Petrowna es ab, ihn zu empfangen, und auf einen feiner 
erften Briefe (er fchrieb natürlich wieder unzählige) 
hatte fie ihm kurzweg geantwortet, fie müffe ihn bitten, 
fie für einige Zeit mit Briefen, Fragen und Befuchen zu 
verfchonen, da fie fehr befchäftigt ſei; fie Habe ihm felbit 
viel Wichtiges mitzuteilen, warte Dazu aber den erſten 


110 





freieren Augenbli ab und werde ihn dann {оп wiſſen 
laffen, wann er wieder zu ihr kommen könne, Weitere 
Briefe werde fie ihm uneröffnet zuruͤckſchicken, denn das 
ſei doch nur „Spielerei, 

Doch felbft ме Kraͤnkungen und die Ungemwißheit 
waren noch nichts im Vergleiche zu der Qual eines 
einzigen und ganz beftimmten Gedankens, der ihn 
unausgefeßt verfolgte und der die Haupturfache feiner 
Scheu vor den Menfchen war. Natürlich Hatte ich die 
Richtung diefes Gedankens fchon längft erraten, und das 
merkte er, wie e8 ihm auch nicht entging, daß mich die 
Haͤßlichkeit dieſes Ver dacht s, der inihm beim Suchen 
nach einer Erklaͤrung fuͤr Warwara Petrownas ſelt— 
ſamen Heiratsplan erwacht war, aufrichtig empoͤrte. 
Er wagte nicht, dieſen Verdacht offen auszuſprechen, 
und doch ſchien er an ihm faft zu erſticken. Er konnte 
feine zwei Stunden ohne mich ausfommen, Tieß mid) 
immer wieder zu fich bitten, doch wenn ich Dann Fam, 
Iprach er wieder bloß von allem Möglichen, nur nicht 
von dem, was ihn fo qualvoll befchäftigte. Das ärgerte 
mich doppelt und mein Ürger ärgerte wiederum ihn. 
Manches andere freilich erkannte er ſehr richtig und 
definierte es fogar fehr treffend. 

„Oh, wie hat fie fich verändert!” Elagte er unter an- 
derem uͤher Warwara Petrowna. „War fie denn damals 
fo, als wir noch über hohe Dinge diskutierten! Werden 
Sie es mir glauben, damals hatte fie Gedanken, eigene 
Gedanken! Зе ВЕ ift alles anders. Ste fagt, das fei alles 
nur altmodifches Geſchwaͤtz! Sie verachtet Das Frühere 
. . . Seht ift fie fo ein Kommis, fo ein Sfonom, ein 
erbitterter Menſch, und immer ärgert fie ſich ...“ 


111 


„Worüber kann fie fich denn jekt noch argern, Sie 
haben doch ihren Munfch erfüllt und eingemilfigt,“ 
warf ich ein. — Er fah mich mit einem feinen Laͤcheln an. 

„Cher ami, hätte ich nicht eingewilligt, jo hätte fie 
fich allerdings furchtbar geärgert, furcht—bar! Aber 
immerhin weniger als jeßt, wo ich eingewilligt habe.” 

Mit diefer Bemerkung fchten er {ебу zufrieden zu 
jein. Aber die Zufriedenheit hielt nicht lange vor; bald 
war er wieder finfterer und erregter als je Mas nun 
mich betrifft, fo ärgerte ich mich vor allem darüber, daß 
er noch immer nicht Drosdoffs feinen Befuch machte, 
obſchon мае ihn längft erwarteten. Dabei бане er 
jelbjt eine Art Sehnfucht nach Liſaweta Nikolajewna 
und ſchien zu hoffen, in ihrer Gegenwart gewiffermaßen | 
eine Erleichterung feiner jekigen Qualen und Klarheit 
über feine Zweifel zu finden. Nach dem Entzücen zu 
urteilen, mit dem er von ihr Sprach, mußte er fie für 
ein aufergewöhnliches Wefen halten. Und doch ging 
er nicht Бит, fondern fchob den Befuch von Tag zu Tag 
auf. Ich ärgerte mich darüber maßlos, denn: ich brannte 
darauf, ihr vorgeftellt zu werden, und diefen Dienft 
fonnte nur er mir erweifen. Geſehen hatte ich fie ſchon 
oft, aber natürlich nur auf der Straße, wenn fie in 
Begleitung eines hübfchen Offiziers, ihres fogenannten 
Verwandten, ſpazieren ritt. Meine Berblendung dauerte 
zwar nur Визе Zeit und ich {аб ja ме Ausfichtslofig- 
Feit meiner Schwärmerei fehr bald ein, aber damals 
war ich doch empört über meinen Freund wegen feiner _ 
Scheu, Drosdoffs feinen Befuch zu machen oder auch 
nur das Haus zu verlaffen. Und das alles wegen jenes 
haͤßlichen Verdachts! Unfer Freundeskreis war von ihm 


112 





ſchon am erften Tage brieflich benachrichtigt worden, 
daß die Ubende bei ihm zeitweilig ausfallen müßten, 
und fpäter hatte ich noch auf feine inftändige Bitte hin, 
(damit nur ja niemand fich darlber wundere und eine 
andere Urfache vermute) jeden einzeln auffuchen und 
ihm erklären müffen, daß Warwara Petrowna „unferem 
Alten’, wie wir ihn unter uns nannten, eine große 
eilige Arbeit aufgetragen habe: einen mehrjährigen 
Briefwechfel in Ordnung zu bringen und Ähnliches. 
Nur zu Liputin war ich noch nicht gegangen und ich wollte 
es auch nicht recht; ich wußte im voraus, daß er mir doch 
Fein Wort glauben, vielmehr fofort argmöhnen werde, 
daß man gerade vor ihm etwas geheimhalten wolle. 
Und dann würde er natürlich in der Stadt überall 
herumlaufen, um fich zu erkundigen, und dabei nur 
Klatſch verbreiten. Da traf ich ihn plößlich ganz zufällig 
auf der Straße. Ich begann mich zu entichuldigen, ich 
ſei noch nicht dazu gekommen, ihn gleichfalls aufzu: 
fuchen uſw., doch er unterbrach mich fogar und zeigte 
jeltfamermweife gar Feine Neugier, ja, er ging felbit 
fofort auf ein anderes Thema über und begann feiner: 
jeits die Neuigkeiten zu erzählen, die fich bei ihm ins 
zwifchen angefammelt hatten. Zunächft ‚berichtete er 
von der Ankunft der Gemahlin unferes neuen Gouver— 
neurs, die „neue Gefprächsthemata” mitgebracht habe, 
und von der Oppofition gegen diefe Themata, die fich 
im Klub fchon gebildet бабе; alle Welt rede jekt von 
neuen Ideen, alle feien Hinter ihnen her uſw. ибо. 
Kurz, er erzählte eine gute Viertelftunde, und zwar fo 
amüfant, daß ich mich nicht loszureißen vermochte, 
obichon ich ihn perfünlich nicht ausftehen Fonnte, Cr 


8 Doftojewsti, Die Dämonen. 3. I. 113 


war in meinen Augen der geborene Spion, der alle 
Stadtgeheimniffe wußte, befonders alle fEandalöfen, 
und fein vorherrfchender Charafterzug war, wie mir 
ебет, der Neid. Als ich Stepan Trophimowitfch von 
dieſer Begegnung erzählte, regte er fich, zu meiner Ver: 
wunderung, unglaublich auf und ftellte die feltfame 
Frage: „Weiß Liputin {оп etwas davon oder weiß er 
noch nichts?” Ich fuchte ihn zu beruhigen und zu über: 
zeugen, daß Liputin doch unmöglich von Warwara 
Petromnas Plan etwas gehört haben Fönne; durch wen 
denn? Uber fein Urgwohn blieb und plöglich fagte er: 
„Slauben Sie es mir oder glauben Sie es nicht, aber 
ich bin überzeugt, daß ihm nicht nur unfere Lage 
bereits befannt ift, fondern daß er außerdem noch etwas 
weiß, was weder ich noch Sie wiffen, und was wir viel- 
leicht auch nie erfahren werden, oder erft dann, wenn es 
ſchon zu fpät Ц, wenn es fein Zurüc mehr gibt!” 
Ich ſchwieg, aber diefe Morte deuteten doch vieles an. 
Er aber bereute fichtlich fchon im nächiten Augenblid, 
fie ausgefprochen und feinen Verdacht verraten zu haben. 


II 


Eines Morgens — es war am fiebenten oder achten 
Tage nach Stepan Trophimowitſchs Einwilligung zu 
heiraten — hatte ich, als ich wie gewöhnlich gegen elf 
Uhr zu meinem befümmerten $reunde eilte, unterwegs = 
ein Нете$ Erlebnis: ich begegnete Karmafinoff*), dem 
„großen Schriftfteller”, wie Liputin ihn zu nennen pflegte. 

Karmafinoffs Schriften hatten mich in meinen Juͤng— 


*, In Karmafinof hat Doftojewsti 9. Turgenjeff karikiert. 
E. K. R. 


114 








lingsjahren entzückt, begeiftert. Seine fpäteren tenden— 
zibſen Novellen gefielen mir viel weniger als feine erften 
Merfe, die noch viel Poefie enthielten; manche aber 
fagten mir gar nicht mehr zu. Und zuleßt hatte ich 
eine Skizze von ihm gelefen, die ungeheure Aus: 
fprüche darauf erhob, naive Poefie und zugleich höchfte 
Piychologie zu bringen. Diefe Skizze follte den Unter: 
gang eines Schiffes irgendwo an der englifchen Küfte 
ſchildern, den er als Augenzeuge miterlebt hatte, doch 
in Wirklichkeit fchilderte fie nur ihn, den Verfaffer. 
Man las es förmlich zwischen den Zeilen: „So feht doch 
auf mich, feht, wie ich in dieſen Augenblicken war! 
Was geht euch diefes Meer an, der Sturm ufw., ich 
bin es doch, der euch das mit genialer Feder fchildert !” 
As ich damals Stepan Trophimowitfch meine Mei: 
nung über diefe Skizze fagte, ftimmte er mir bei. Troß- 
dem hätte ich Karınafinoff jet, während feines Befuches 
in unferer Stadt, gern gefehen oder gar feine Bekannt: 
Schaft gemacht, was durch Stepan Trophimowitſchs 
Vermittlung möglich war ; fie waren ja früher befreundet 
gewefen. Und da begegnete ich ihm nun plößlich an einer 
Straßenede. Ich erkannte ihn fofort; man hatte ihn 
‚mir ſchon vor drei Tagen gezeigt, als er mit der Gouver⸗ 
neurin in einer Equipage vorüberfuhr. 

Er war ein fehr Eleiner, gezierter alter Herr, uͤbrigens 
wohl nicht über fünfundfünzig Jahre alt, mit ziemlich 
frifhem Gefichtchen, dichten grauen Löckchen, die unter 
feinem runden Zylinderhut hervorquollen und fih um 
feine Eleinen, netten, rofafarbenen Ohren ringelten. 
Sein fauberes Gefichtchen war nicht gerade Kübfch, mit 
den dünnen, langen, verfihlagen gefchloffenen Lippen, 


8* 115 


der etwas fleifchigen Nafe und den ftechenden, Fugen 
feinen Auglein. Er war eigentlich etwas altmodifch 
geEleidet, wenigftens erinnerte der Mantel, den er trug, 
an die Umhänge, die bei Regenwetter etwa in der 
Schweiz oder in Oberitalien getragen werden. Dafür 
aber waren alle die Нетеп Sachen, wie Hemdfnöpfchen, 
das Krägelchen, die Schilöpattlorgnette am fehmalen 
Schwarzen Bändchen, der Ring am Finger unbedingt 
genau von der Art, wie fie von Leuten des untadelig 
guten Tones getragen werden. 

Cr blieb an der Straßenede ftehen und fah fich auf: 
merffam um. Als er bemerkte, daß ich ihn neugierig 
anfah, wandte er fich an mich und fragte mit honig- 
fügem, wenn auch Ereifchendem Stimmchen: 

„Seftatten Sie die Frage, wie komme ich auf dem 
nächften Wege zur Bykoffſtraße?“ 

„zur Bykoffſtraße? Hier ... hier geradeaus,” rief 
ich erregt, „und dann die zweite Querftraße Tinte.” 

„54 danke Ihnen fehr.“ 

Verwuͤnſcht fei diefer Augenblick! Er hatte aus meiner 
Derlegenheit und Erregung natürlich fofort alles er: 
raten, d. 5. daß ich wußte, wer er war, daß ich feine 
Werke verfchlungen hatte und darum fo befangen und 
{$ dienftbefliffen war. Er lächelte, nickte und ging 
weiter. Sch weiß nicht, warum ich ihm nachging. Da 
blieb er wieder ftehen. 

„And Fönnten Sie mir auch angeben, wo hier in der 
Nähe Drofchken ftehen?” Freifchte wieder feine Stimme. 

„Droſchken? Hier... bei der Kirche ftehen immer 
welche!“ und faft wäre ich felbft nach einer Drefchfe 
gelaufen. Sch vermute, daß er gerade das von mir 


116 


auch erwartete. Natürlich Fam ich fofort zur Befinnung 
und blieb ftehen, aber meine erfte Bewegung hat er be: 
ſtimmt bemerkt, da er mich die ganze Zeit mit diefem 
fchändlichen Lächeln fcharf beobachtete. Da aber gez 
ſchah etwas für mich Unvergeßliches: er ließ plöglich 
ein Saͤckchen oder eine Art Täfchchen fallen, das er ın 
der linken Hand trug. Und ich machte unwillkuͤrlich 
eine Bewegung, um es aufzuheben. Natürlich befann 
ich mich fofort und hob es nicht auf, nur wurde ich тс 
wie ein Dummkopf. Er aber nußte die Situation raf: 
fintert zu feinen Gunften aus. 

„Bemühen Sie fich nicht, ich kann ja felbft . . .“ 
fagte er in bezaubernd Tiebenswürdigem Tone, aber 
exit, als kein Zweifel mehr darob beftand, daß ich es nicht 
aufheben würde, Er hob es ſelbſt auf, шее mir zu und 
ging weiter, indem er mich wie einen dummen Jungen 
ftehen ließ. Das war ebenfogut, als hätte ich eg aufge— 
hoben. In den erften fünf Minuten hielt ich mich für 
lebenslänglich blamiert; doch als ich mich dem Haufe 
Stepan Trophimomwitfchs näherte, lachte ich plöglich laut 
auf: dieBegegnung Fam mir fo Eomifch vor, daß ich fofort 
befchloß, fie meinem Freunde zur Erheiterung зи erzählen. 


Ill 


Uber diesmal fand ich ihn zu meiner Verwunderung 
ganz verändert vor. Er ftürzte mir freilich mit einer ges 
wiffen Spannung entgegen und begann mir zuzuhören, 
aber er war doch fichtlich fo zerftreut, daß er meinen 
Bericht anfangs gar nicht verftand. Kaum aber hatte 
ich den Namen Karmafinoff ausgefprochen, als er ploͤtz⸗ 
lich geradezu außer fich geriet. 


117 


„Reden Ste nicht von ihm, nennen Site ihn nicht!” 
rief er faft wie rafend. „Hier, hier, fehen Sie, еп 
Sie!" Er ив ein Schubfach auf und warf mir drei 
еше Zettel zu. Es waren drei Zufchriften Warwara 
Petrownas an ihn, die fich alle auf Karmafinoff bes 
zogen und deutlich ihre Beforgnig verrieten, der „große 
Schriftfteller” Fönnte vergeffen, ihr feine Bifite zu 
machen. Das erfte Briefchen, das fte vor drei oder vier 
Tagen gefchrieben Hatte, Tautete: 

„Sollte er Sie heute endlich beehren, fo bitte von 
mir fein Wort. Erwähnen Sie mich überhaupt nicht 
und erinnern Sie ihn nicht daran. W. S.“ 

Der zweite Zettel vom vergangenen Tage lautete: 

„Sollte er fich heute endlich entfchließen, Ihnen feine 
Difite zu machen, fo dürfte es das befte fein, ihn über: 
haupt nicht zu empfangen. Das wäre meine Meinung. 
Wie die Ihre ift, weiß ich nicht. W. ©.“ 

Und den dritten hatte er vor einer Stunde erhalten: 

„sh bin überzeugt, daß in Ihren Zimmern eine 
Fuhre Papierfchnippel und allerhand umbherliegt und 
der Zigarrenrauch undurchdringlich ift. Ich ſchicke Ihnen 
Marja und Fömufchka, die werden in einer halben Stunde 
alles aufräumen. Stören Sie fie nicht, fegen Sie fich 
fo lange in die Küche, Ich fende Ihnen einen buchas 
rifchen Teppich und zwei chinefifche Vaſen, die ich 
Ihnen ſchon Lange Schenken wollte, und außerdem meinen 
Teniers (diefen aber nur für einige Zeit). Die Vafen 
Fönnte man aufs Fenfterbrett ftellen und den Teniers 
hängen Sie rechts unter Goethes Porträt, dort ift er 
fihtbarer. Wenn er endlich erfcheint, fo empfangen Sie 
ihn mit vollendeter Höflichkeit, aber reden Sie nur von 


118 











Belanglofem, $, 3. von irgendetwas Gelehrtem, und 
mit einem Gleichmut, als hätten Sie fich erſt geftern 
getrennt. Über mich Fein Wort. Vielleicht. komme ich am 
Abend zu Ihnen, um zu fehen, wie es ausfieht. MW. ©, 

Р. $. Зепп er heute nicht kommt, fo wird er über: 


haupt nicht kommen.“ 


Ich las und wunderte mich im ſtillen, daß ſolche 
Kleinigkeiten ihn fo erregen konnten. Als ich auffah 
bemerkte ich, daß er inzwifchen feine weiße Halsbinde 
mit einer roten vertaufcht hatte. Эш und Stod lagen 
auf dem Tiſch. Er war blaß und feine Hände zitterten. 

„Sch will von ihren Beforgniffen nichts wiffen М 
fchrie er empört als Antwort auf meinen fragenden 
Blick. „Je m’en fiche! Ihr fällt e8 ein, ſich wegen 
Karmafinoff aufzuregen, aber auf meine Briefe ап 
wortet fie mir nicht! Dort, fehen Ste, dort auf dem 
Schreibtifch liegt mein Brief, den fie mir geftern uner= 
öffnet zurücgefchicett Hat! Was geht е8 mich an, daß 
fie fih um Ni-kö-lenka Sorgen macht! Je m’en fiche 
et je proclame ma libert&! Au diable le Karmazinoff! 
Au diable la Lembke! Die chinefitchen Vaſen habe ich 
im Vorzimmer verfteckt und den Teniers in der Kommode 
untergebracht, von ihr aber habe ich verlangt, mich fofort 
zu empfangen. SJawohl: verlangt, mich fofort 
zu empfangen, fofort! Sch Habe ihr genau folch einen 
mit Bleiftift gefchriebenen Zettel unverfiegelt durch 
Naſtaſſja geſchickt und warte jeßt. Ich will, daß Darja 
Pawlowna nur perfönlich fagt, was gefagt werden 
muß, mit eigenem Munde und vor dem AUngeficht des 
Himmels oder wenigfteng vor Ihnen. Vous me secon- 
derez, n’est-ce pas, comme ami et temoin. Sch will 


119 


nicht erröten müffen, ich will nicht lügen müffen, ich 
will eine Geheimniffe, in diefer Sache werde ich Geheim: 
niffe nicht dulden! Site follen mir alles geftehen, ehrlich, 
offen und anftändig, und Рапп... dann werde ich 
vielleicht die ganze heutige Generation durch meine 
Großmut in Erftaunen feßen! ... Bin ich denn ein 
Schuft, mein Herr” fchloß er plößlich und fah mic 
fo drohend an, als hätte gerade ich ihn für einen 
Schuft gehalten. 

Sch bat ihn, zur Beruhigung ein wenig Waffer zu 
trinken. So erregt hatte ich ihn noch nie gefehen. Er lief 
die ganze Zeit hin und her. Plößfich bfieb er in einer 
ganze ungewöhnlichen Pofe vor mir ftehen. 

„Slauben Sie wirklich,” begann er mit Нап байт 
Hochmute, mich vom Kopfe bis zu den Füßen meffend, 
„Daß ich, Stepan Werchowensti, nicht fo. viel fittliche 
Kraft in mir fände, um meine Habe — mein armfeliges 
Bündel! — auf meine fehwachen Schultern zu laden, 
zum Tore hinauszugehen und für immer von hier zu 
verfchwinden, wenn das die Ehre und das hohe Prinzip 
der Unabhängigkeit fordern? Es wäre nicht das erſte 
Mal, daß Stepan Werchowenski Defpotismus durch 
Großmut zurücweift, felbft wenn es fich um den Despo: 
tismus eines wahnfinnigen Weibes handelt, alfo um 
den Eränfenöften und graufamften Despotismus, den 
е8 auf der Welt überhaupt geben kann, wiewohl Sie 
foeben beliebten, über meine Worte zu lächeln, mein 
Herr! Oh, Sie glauben natürlich nicht, daß ich ſoviel 
Großmut aufzubringen vermöchte, um mein Leben lieber 
bei einem Kaufmann als Hauslehrer zu befchließen 
oder hinter einem Zaune Hungers zu fterben! Antworten 


120 





Ste mir, antworten Sie fofort: trauen Sie mir dag zu 
oder trauen Sie's mir nicht zu?” 

Sch ſchwieg aber abfichtlich. Ich tat fogar, als brächte 
ich es nicht über mich, ihn durch eine verneinende Зи 
wort zu Franken, und Fönnte doch auch nicht bejahend 
antworten. In diefem ganzen Benehmen lag etwas, was 
mich entſchieden verleßte, nicht mich perfünlich, о nein! 
... Ich werde das fpäter erflären, Er wurde blaß. 

„Bielleicht Tangweilt Sie überhaupt der Umgang 
mit mir, G—ff“ (dies ift mein Familienname), „und 
Ste würden lieber ... den Verkehr mit mir ganz auf: 
geben?” fragte er in jenem Zone bleicher Ruhe, die 
gewöhnlich einem außergewöhnlichen Ausbruch vorher: 
geht. Ich fprang erfchroden auf; in dem Augenblck 
kam Naftaffja herein und übergab ihm ſchweigend einen 
Zettel, Er warf einen Bli darauf und reichte ihn 
ши, Auf dem Papier ftanden nur vier Morte von 
Warwara Petrowna: „Bleiben Sie zu Haufe”, 

Stepan Trophimowitſch nahm ſchweigend Hut und 
Stock und ging zur Защ; ich wollte ihm unwillkuͤrlich 
folgen. Da hörten wir plöglich Stimmen und Schritte 
im Korridor, Er blieb wie vom Donner gerührt Пебеп, 

„Liputin! Sch bin verloren fluͤſterte er und packte 
mich am Arm. — Da trat Liputin fchon ins Zimmer. 


IV 
Marum er durch Liputins Befuch verloren fei, wußte 
ich mir zwar nicht zu erflären, aber fein Schreck war 
doch fo auffallend, daß ich befchloß, hier acht zu geben, 
Schon die Art, wie Liputin auftrat, Гаде einem fofort, 
daß er heute troß aller Verbote ein befonderes Recht zum 


121 


Eintritt zu haben glaubte. Er brachte einen ung unbes 
kannten Herrn mit, offenbar einen Zugereiften. Als 
Antwort auf den leeren Blick des ftarr daftehenden Ste: 
pan Trophimowitſch rief er fogleich Yaut: 

„Sch bringe einen Фа mit, einen befonderen! Sch 
wage eg, Ihre Einfamkeit zu ftören. Herr Kirilloff, ein 
hervorragender Ingenieur der Wegebaukunſt. Doc 
das Michtigfte ЦЕ: er Fennt Ihren Sohn, fogar fehr gut, 
und hat einen Auftrag von ihm“. 

„zen Auftrag haben Ste Hinzugefügt,” fagte der 
ай Schroff, „Davon habe ich nichts. Aber Werchowenski 
fenne ich. Das Ш fo. Sch habe ihn im Gouvernement 
Ch. verlaffen. Zehn Tage zuruͤck.“*) 

Stepan Zrophimomitfch reichte ihm mechanifch die 
Hand und forderte ihn auf, [ав zu nehmen. Dann {аб 
er mich an, dann Liputin und plößlich, wie fich be: 
finnend, feßte er ſich felbft fchnell Hin, behielt aber Hut 
und Stock, offendar unbewußt, in der Hand. 

„Uber was fehe ich, Sie wollen felbjt ausgehen!“ 
rief Liputin. „Und mir hat man doch gefagt, Sie feien 
vor lauter Arbeit ganz Frank!” 

„Sa, ich fühle mich nicht wohl und wollte deshalb 
fpazieren gehen. 3%... Stepan Trophimowitſch 
ſtockte plöglich, warf fchnell Hut und Stod auf den 
Diwan und — errötete, 

Sch {аб mir inzwifchen fchnell den Gaft Wr an. 
Er war ein junger Mann von ungefähr fiebenundgwanzig 
Jahren, anftändig gekleidet, gutgewachfen und mager, 
brünett, mit blaßem Geficht von gleichfam ein wenig 
*) Zu Kirilloffs eigenartig falfher Ausdrucksweiſe Näheres in 
der „Vorbemerkung“, E.K.R. 





122 


— ad 





erdigebrauner Hautfarbe und mit fehwarzen glanzlofen 
Augen. Er fehien nachdenklich und zerftreut zu fein, 
Iprach feltfam abgebrochen und grammatifch geradezu 
falfch, wenigftens ftellte er die Worte {ебу fonderbar zus 
fammen und bei jedem laͤngeren Saß gerieten fie ihm 
anfcheinend durcheinander, Liputin, dem Gtepan 
Trophimowitſchs Schred® natürlich nicht entgangen war, 
hatte für fich einen Rohrſtuhl faft bis in die Mitte des 
Zimmers gezogen, um in gleicher Entfernung vom ®aft 
und vom Hausherren fien zu Fönnen, die einander 
gegenüber jeder auf einem Diwan Platz genommen hat: 
ten. Seine fcharfen Augen fuhren neugierig im Zimmer 
umber. 

„Уф... ich Бабе Petrüfcha fo lange nicht mehr ge= 
ебет... Haben Sie ihn im Yuslande getroffen?” 
brachte Stepan Trophimowitfch, zum Фо gewandt, 
unficher hervor. 

„Auch Hier und auch im Auslande.“ 

„Herr Kirilloff ift foeben nach vierjähriger Abweſen— 
heit zurückgekehrt,” bemerkte Liputin, „aus dem Yus- 
lande, wo er fich in feinem Fach vervollfommnet hat, 
und jeßt ЦЕ er zu ung gekommen, da er Yusficht Hat, 
eine Anftellung beim Bau unferer Eifenbahnbrüde 
zu erhalten. Ihr Sohn hat ihn in der Schweiz auch 
mit Drosdoffs befannt gemacht, und er kennt auch 
Nicolai Stamwrogin !” 

„Ja?! ... Ich ... ich Habe Petrüſcha fo lange nicht 
mehr gejehen ... und habe eigentlich fo wenig das 
Recht, mich Vater zu nennen ... oui, c’est le mot. 
94... wie haben Ste ihn denn dort verlaffen?“ 

„Sa, ©... Er wird felbft Eommen.” Herr Kirilfoff 


123 


beeiltefich fichtlich, die Antwort [08 zu werden. Er war ent⸗ 
ſchieden geärgert, faß finfter da und hörte ungeduldig zu. 

„Sr wird herkommen! Endlich werde ich ... За, 
fehen Sie, ich habe Petrüfcha fo lange nicht mehr ge: 
ſehen!“ Stepan Trophimowitſch Fam von diefem Sat 
nicht 108. „Sch erwarte jegt meinen armen Jungen, 
vor dem ... ob, vor dem ich fo fehuldig daftehe! Das 
heißt, ich wollte fagen, daß ich ihn in Petersburg da= 
mals für nichts Befonderes hielt „.. ou quelque 
chose dans ce genre, Der Junge war, wiffen Sie, 
nervös, fehr empfindfam, und... aͤngſtlich. Bevor 
er zu Bett ging, verneigte er ſich vor dem Heiligen- 
bilde und befreuzte fein Kopfkiffen, um in der Nacht 
nicht zu fterben, je m’en souviens, Enfin, fein bißchen 
Gefühl für das Schöne, das heißt für etwas Höheres, 
oder Xieferes, Fein einziger Keim einer zukünftigen 
dee ... Сай comme un petit idiot, Übrigens, ich 
... entfchuldigen Ste, ich .., bin momentan ...“ 

„Das Kiffen befreuzte, fagten Sie das im Ernft?” 
erfundigte fich Herr Kirilloff plöglich mit befonderem 
Intereſſe. 

„за, er bekreuzte es ...“ 

„Nein, ich fragte nur ſo; fahren Sie fort.“ 

Stepan Trophimowitſch ſah Liputin fragend аи. 

„Ich bin Ihnen ſehr dankbar fuͤr Ihren Beſuch, aber 
ich muß geſtehen, ich bin jest nicht imſtande .. Хоф 
geftatten Sie die Frage, wo wohnen Sie?“ 

„Sn der Bogojawlenskſtraße, im Silippofffehen Haufe,“ 

„ch, das ift ja Dasjelbe Haus, in dem auch Schatoff 
wohnt,” bemerfte ich umwillfürlich, 

„За, eben, genau in demjelben Haufe,” rief Liputin 


124 


Schnell, „nur wohnt Schatoff oben und er unten bei 
Lebädkin. Und er ift auch mit Schatoff und Schatoffs 
Frau bekannt, mit diefer fogar befonders nah und gut.“ 

„Comment! ©o wiffen Sie etwas von Diefer unglück- 
Yichen Ehe de notre pauvre ami mit diefer Frau?” 
fragte Stepan Trophimowitſch plößlich Tebhaft, mit 
aufrichtigem Mitgefühl. „Ste find der erfte, der dieſe 
Frau perfönlich kennt; und wenn nur ...“ 

„Welch ein Blödfinn!” Kirilloff {аб Dabei, ganz rot 
vor Zorn, Liputin ungehalten an. „Was Ste immer zu 
allen Hinzufügen, Liputin! 3% kenne Schatoffs Frau 
gar nicht « . . habe fie nur einmal gefehen, von weitem ... 
Mas fügen Sie immer hinzu!” Und er machte eine 
fchroffe Wendung auf dem Diwan, griff ſchon nach feiner 
Muͤtze, Yegte fie aber wieder hin, und als er wieder 
wie früher daſaß, richtete er plößlich feine fchwarzen auf: 
flammenden Augen mit einer gewiffen Herausforderung 
auf Stepan Trophimowitſch. Sch vermochte mir diefe 
fonderbare Reizbarkeit überhaupt nicht zu erklären. 

„Verzeihen Sie,” verfeßte Stepan Trophimowitſch fein, 
„ich verftehe, daß das eine fehr zarte Angelegenheit... .” 

„Bar Feine zarte Angelegenheit, und das ИЕ einfach) 
fihamlos; ich Бабе aber nicht zu Ihnen ‚Blödfinn‘ 
gefagt, fondern zu Liputin, weil er immer hinzufügt. 
Entfchuldigen Sie, wenn Sie es auf fich dachten. Sch 
fenne Schatoff, aber feine Frau, nein, die gar nicht!” 

„Sch verftehe, oh, ich verſtehe. Sch Habe ja nur gefragt, 
weil ich unferen armen Freund fehr liebe und mich immer 
für ihn intereffiert бабе... Der junge Mann hat, 
meiner Meinung nach, etwas zu plößlich, zu fchroff feine 
früheren, vielleicht noch unreifen, aber immerhin rich: 


125 


tigen Anfichten geändert. Er fagt jeßt dermaßen ſonder— 
bare Dinge über notre sainte Russie, daß ich diefen 
Umſchwung in feinem Inneren — anders möchte 
ich’8 nicht nennen — einer ftarfen Erfchütterung feines 
Privatlebeng zufchreibe, in erfter Linie feiner unglüd: 
fichen Che. Sch, der ich mein armes Rußland ftudiert 
habe und wie meine fünf Fingerfenne, und meinem Зое 
mein ganzes Leben geweiht habe, ich verfichere Ihnen, daß 
er das ruffifche Зо nicht Fennt, und zudem ...“ 

„Sch Eenne das ruffifche Volk auch gar nicht und ... 
um e8 zu ftudieren Ш auch gar feine Zeit da!” fiel ihm 
der Ingenieur wieder 118 Wort und wieder machte er 
eine fchroffe Wendung auf feinem Platz. 

„Aber er ftudiert es, ftudiert eg,” hakte Liputin flink 
ein, „er hat {оп damit begonnen und jeßt arbeitet er 
an einer ungemein intereffanten Abhandlung über die 
Urfachen der Zunahme der Selbftmorde in Rußland 
und überhaupt über die Urfachen, die Ме Verbreitung 
des Gelbitmordes in der menschlichen Gefellichaft 
fördern oder hemmen. Er ift auch fchon zu ganz erftaune 
lichen Folgerungen gelangt!” 

Der Ingenieur geriet in fchredliche Erregung. 

„Dazu haben Sie gar Fein Recht!” fagte er zornig. 
„Sch fchreibe gar Feine Abhandlung. Sch will Feine 
folche Dummbheiten, Sch habe Sie unter ung gefragt, 
nur verfehentlich. Und nichts von einer Abhandlung; 
ich veröffentliche nicht, Sie aber haben Fein Recht ...“ 

Liputin ergößte fich augenfcheinlich an diefem Zorn. 

„за dann verzeihen Sie fehon, vielleicht habe ich 
mic) falfch ausgedrüdt, wenn ich Shre Titerarifche 
Arbeit eine Abhandlung nannte, Er fammelt nämlich 


126 





nur Beobachtungen, aber an den Kern der Trage oder 
fozufagen an ihre fittliche Seite rührt er überhaupt 
nicht, ja er lehnt fogar die Sittlichfeit jelbft ganz ab 
und hält fich dafür an den neueften Grundfaß der all: 
gemeinen Zerftörung zum Зее der Erreichung guter 
Endziele. Er verlangt über hundert Millionen Köpfe, 
um die gefunde Vernunft in Europa zur Herrfchaft zu 
bringen, alfo noch viel mehr, als auf dem legten Welt: 
fongreß verlangt wurden. In der Beziehung geht er 
viel weiter als alle anderen № 
Der Ingenieur Hörte mit einem geringfchäßigen und 
blaffen Lächeln zu. Eine halbe Minute fchwiegen wir alle, 
„Das ift fo dumm, Liputin,“ fagte Kirilloff Schließlich, 
nicht ohne eine gewiffe Würde, „Sch habe Ihnen nur 
einige Punkte gefagt, und Sie haben fie fo aufgefaßt, 
das ift Ihre Sache. Aber Sie haben gar fein Recht dazu, 
und ich fpreche davon zu niemandem. Sch verachte das 
Sprechen. Wenn ich Überzeugungen habe, fo find fie 
für mich Har. Ich philofophiere nicht mehr über das, 
was fchon ganz ат ift. Ich kann es nicht ausftehen, 
zu philofophierem. Sch will niemals philofophieren.” 
„Und vielleicht tun Sie ganz recht daran,” konnte 
Stepan Zrophimomitfch fish nicht enthalten, zu bemerken. 
„Ich habe mich bei Ihnen entjchuldigt, aber ich ärgere 
mich bier über niemanden,” fuhr der fremde Gaft fehnell 
und erregt fort. „Sch habe vier Jahre lang wenig Mens 
chen gejehen. Bier Jahre habe ich wenig gefprochen 
und mich bemüht, mit feinem Menſchen zufammenzus 
kommen, wegen meiner Ziele, die weiter niemanden ап: 
gehen. Liputin fand das zum Lachen. Sch fehe dag, 
aber ich beachte eg nicht. Man lann mich nicht be: 


127 


leidigen, aberich ärgere mich nur über feine Ungentertheit. 
Doch wenn ich Ihnen nicht meine Gedanken erfläre,” 
fchloß er unerwartet und {аб uns alle der Reihe nach 
mit feftem Blick an, „fo unterlafle ich das nicht deshalb, 
weil ich eine Anzeige bei der Regierung fürchte, nein, 
bitte, denfen Sie nicht Dummheiten von der Art...” 

Dazu fagte fchon niemand mehr etwas. Wir fahen 
uns nur an. Sogar Liputin vergaß zu fpottlächeln. 

„Meine Herren, ich bedaure unendlich,” fagte Stepan 
Zrophimowitfch plöglich entfchloffen und erhobfich, „aber 
ich fühle mich nicht wohl. Entfchuldigen Sie mich.” 

„ch, das ift, Damit wir fortgehen № rief Herr Kirilloff 
und fprang fofort auf. „Out, daß Sie es fagten, ich 
bin fonft vergeßlich.” 

Er trat mit gutmütigem Ausdrud und ausgeftrecter 
Hand auf Stepan Trophimomitfch zu. „Schade, daß 
Sie frank find und ich gefommen bin.” 

„Ich wünfche Ihnen allen Erfolg bei ung,” fagte Ste: 
pan Zrophimowitfch wohlmwollend und gab ihm langfam 
die Hand. „Sch verftehe fchon, daß Sie, der Sie fo lange 
im Yuslande ohne Verkehr gelebt haben, auf uns Ц: 
ruffen mit Erftaunen blicken müffen — und wir natürlich 
desgleichen auf Sie. Mais cea passera, Nur eines 
macht mir Sorge: Sie wollen hier unfere Brücke bauen, 
und erklären fich zu gleicher Zeit für das Prinzip der 
allgemeinen Zerjtörung? Dann wird man Sie unfere 
Brüde nicht bauen laffen !“ 

„Bas?! Wie, was haben Sie gefagt?” rief Kirilloff 
bejtürzt; bis er plößlich begriff: „Ach fo!” und er brach 
in das heiterfte und harmlofefte Lachen aus; dabei 
nahm fein Gefisht auf einen Augenblick einen ganz 


128 





findlichen Ausdrud an, der ihm, wie mir ſchien, ungemein 
gut Stand. 

Liputin rieb fich die Hände vor Vergnügen Über Ste: 
pan Trophimowitſchs gelungene Bemerkung. 

Sch aber fragte mich noch immer, warum Ötepan 
Trophimomitich ausgerufen hatte, „ich bin verloren”, 
als er Liputin kommen hörte. 


У 


Wir waren alle aufgeftanden. Es war jener Augen— 
БИ, in dem die Gäfte und der Hausherr noch die leßten 
liebenswürdigen Worte zu wechſeln pflegen, um dann zus 
frieden auseinander zu gehen. 

Da bemerkte plößlich Liputin, der bereits an der Tuͤre 
ftand, wie beiläufig: „Er ift ja nur deshalb fo mürrifch, 
weil er mit dem Hauptmann Lebädlin den Ötreit де 
habt hat. Der fchlägt feine ſchoͤne Schweſter, die Irr— 
finnige, jeden Morgen und jeden Abend mit der Nagaila, 
mit einer echten Kofalenpeitiche, ſage ich Ihnen! Herr 
Kirilloff aber ift deswegen |фоп auf Ме andere Seite, 
in den Flügel des Haufes gezogen, um das nicht 109: 
ih anhören zu müffen. Na ja, — aljo auf Wieder: 
ſehen!“ 

„Die kranke Schweſter? Die Irrſinnige? Mit der 
Nagaika?“ rief Stepan Trophimowitſch, als ſei er ſelbſt 
von einem Peitſchenſchlage getroffen worden. „Welch 
eine Schweſter? Was fuͤr ein Lebaͤdkin?“ 

„Lebaͤdkin — na, dieſer verabſchiedete Hauptmann 
doch! Früher nannte er fi ‚Stabsfapitän‘ !" antwortete 
Kiputin, indem er поф einmal ind Zimmer zurüd- 
trat, 


9 Doftofewsti, Die Dämonen. 35. Т. | 129 


„ch, was geht mich {ет Rang an! Welche Schmwefter? 
Mein Gott... Sie fagen Lebädfin, aber — bei ung war 
doch аиф ein Lebaͤdkin!“ 

„Eben, eben, derjelbe Lebaͤdkin iſt's ja auch! Erinnern 
Sie ſich noch, der damals bei Wirginski ...“ 

„Aber der fiel doch mit feinen falihen Papieren 
herein?!" 

„tun ja, damals, jebt aber ift er zurüdgefehrt, fchon 
vor drei Wochen, und zwar unter den allerjonderbarften 
Umftänden.” 

„Aber das ift Doch ein ganz nichtswürdiger Menſch!“ 

„Mein Gott, ald ob es ſolche bei uns nicht geben 
könnte!” gab Liputin plößlich fpoitlächelnd zur Ant: 
wort und dabei fahen feine Yiftigen Auglein Stepan 
Trophimowitſch an, ihn gleichfam betaftend, Бе 
fuͤhlend. 

„Ach Gott, darum handelt es ſich doch nicht ... 
Übrigens, Nichtswürdige — darin ftimme ich mit Shnen 
vollkommen überein, bejonders mit Ihnen! Uber was 
weiter? Was wollten Sie damit fagen? @е mollten 
doch unbedingt etwas damit ſagen!!“ Stepan Trophi— 
mowitſch beftand auf einer Antwort. 

„ch, das find ja lauter Dummheiten und fonft nichts! 
... Diejer ‚Hauptmann‘ hat ung damals allem Anjcheine 
nach nicht wegen falicher Papiere verlajjen, jondern 
einzig und allein, um fein verrüdtes Schwefterlein аи 
zujuchen, das 14 an einem unbelannten Orte verftedt 
hielt. Na, und jetzt hat er fie eben hergebracht. Und 
das ıft alles. Was ЦЕ denn dabei? Warum regen Öie ſich 
denn jo Darüber auf, Ötepan Trophimowitſch? 34 er- 
zähle Doch nur, was ich von ihm jelber in feiner Betrunfen= 


130 





heit erfahren Бабе. Wenn er nüchtern ift, ſchweigt er 
darüber. Ein reizbarer Menfch übrigens, na, und fo... 
na, fo ein dichtender Mars mitunter, wenn der Фей 
über ihn Fommt, doch тей von üblem Gefchmad. Und 
das verrüdte Schwefterlein, dag dabei noch hinkt, ſcheint 
mir von irgend jemand entehrt worden zu fein. Der 
Herr Bruder aber bezieht einen jährlichen Zribut, als 
Belohnung für die Ehrenbeleidigung, wie er jagt. Meiner 
Meinung nach Ш das freilich nur Geſchwaͤtz. Er prahlt 
einfach. Uber das ließe fich Doch mit weniger Geld aud) 
machen! Doch ЗаНафе Ш, daß er Geld hat, und zwar 
in großen Summen! Bor anderthalb Wochen ging er 
faft barfuß, und jeßt hat er — ich habe es felbft де: 
ſehen! — Hunderte in den Händen. Die Schmeiter hat 
täglich irgendwelche Anfälle, und [тей dann, morauf 
er fie mit der Peitjche ‚in Ordnung bringt‘, wie er zu 
jagen pflegt, — denn man те in das Meib ‚Uchtung 
pflanzen‘. Sch begreife nicyt, wie Schatoff es aushält, 
über ihnen zu wohnen. Herr Kirilloff hat es nur drei 
Lage aushalten Fürmen. Nun Ш er umgezogen, mie 
geſagt. Er fannte fie noch von Petersburg her!” 

„Iſt das wirklich alles wahr?” wandte 14 Stepan 
Trophimowitſch an den Ingenieur. 

„Sie ſchwatzen furchtbar viel, Liputin,“ brummte 
diejer wütend. 

„Geheimniſſe und wieder Geheimnifje! Woher fommt 
das doch, daß es bei uns plößlich jo viele Geheimnifje 
gibt?" Stepan Trophimowitſch Fonnte nicht mehr an 
fich halten. Der Ingenieur ärgerte jich, errötete, zudte 
ungeduldig mit den Schultern und ging ſchon aus dem 
Zimmer, 


5 131 


„Herr Kirilloff hat ihm foger die Peitiche aus der 
Hand gerijjen, fie zerbrochen und dann aus dem Fenfter 
geworfen”, fügte da Liputin ſchnell mit ſchlauem Lächeln 
hinzu. 

Kirilloff kehrte fofort um: „Was foll das alles, Liputin? 
Das Ш doch dumm. Und weshalb?" 

„Aber wozu denn aus Bejcheidenheit gerade die edel- 
ften Regungen der Seele verheimlichen?! — das heißt, 
Ihrer Seele, jelbftredend Ihrer Seele, ich ſpreche nicht 
von der meinen!” antwortete Liputin. 

„ie das dumm Ш ... und gar nicht nötig. Lebaͤdkin 
ift ein ganz leerer Menſch und kommt für die Sache gar 
nicht in Betracht und fchadef ihr nur. Warum ſchwatzen 
Sie fo viel Überflüffiges? Sch gehe!” 

„ch, wie fchade! rief da Liputin mit hellem Lächeln 
aus. „Sie gehen ſchon — fonft hätte ich Stepan хоры: 
mowitſch noch mit einer kleinen Anekdote erfreut!” Und 
zu diefem gewandt: „Bin jogar mit der Abſicht Бег: 
gefommen, fie Shnen unbedingt zu erzählen. Doc, Sie 
werden fie ja beftimmt ſchon gehört haben. Na, dann 
eben ein anderes Mal! Herr Kirilloff hat es ja fo eilig... 
Auf Wiederfehen aljo! Nein, hataber Warwara Petromna 
mich vorgeftern beluftigt! Sie {фе ertra паф mir. 
Einfach zum Kranklahen war’s. Na, auf Wiederjehen, 
Wiederſehen!“ 

Aber ſchon hatte Stepan Trophimowitſch ihn ploͤtzlich 
an den Schultern gepackt, zu ſich herumgedreht und feſt 
auf einen Stuhl geſetzt. 

Liputin erſchrak ordentlich. 

„за, wie denn?“ fragte er und ſah von feinem Stuhl 
aus аи und verwundert zu Stepan Trophimowitſch 


132 


empor. Doch faßte er fich jchnell. „Sa, denken Sie fich, 
plöglich ruft man mich und fragt mich im geheimen — 
mag ich eigentlich von Nicolai Stawrogin denke: ob ich 
ihn für wahnfinnig halte oder nicht? Wie foll man da 
nicht ſtaunen?“ 

„Sie find verrüdt geworden, Liputin!“ fagte Stepan 
Trophimomwitih. „Sie willen nur zu gut, daß @е 
gefommen find, um mir irgendeine Gemeinheit zu 
деп." 

Mir fiel fofort Ме Bemerkung Stepan Trophimo— 
witjchs ein, Liputin miffe nicht nur von unferer Sache, 
fondern wiſſe noch viel mehr, ald mir je erfahren 
würden. 

„Erlauben Sie, Stepan Trophimowitſch!“ ftotterte 
Liputin, als ob jener ihn furchtbar erfchrect Hätte 
„Erlauben Sie...” 

„Schweigen Sie jeht! 54 bitte Sie, Herr Kirilloff, 
fommen Sie zurüd und feßen fie ſich. Bitte, hier! Und 
Sie, Liputin, Sie werden jeßt erzählen, aber einfach und 
ohne Ausreden!“ 

„Hätte ich gemußt, daß es Sie fo aufregt, fo würde 
ich gar nicht Davon angefangen haben... und ich dachte 
doch, Sie müßten das alles ſelbſt ... ſchon längft ... 
von Warwara Petrowna!“ 

„Das haben Sie durchaus nicht gedacht! Aber fangen 
Sie endlich an, ſage ich Ihnen!“ 

„Na, dann haben Sie doch wenigſtens die Guͤte, ſich 
auch zu ſetzen! Denn wenn Sie ſo vor mir herumlaufen, 
da wuͤrde ja alles ganz kunterbunt herauskommen!“ 

Stepan Trophimowitſch uͤberwand ſich und ließ ſich 
ſehr formell auf einen Seſſel nieder. Der Ingenieur 


133 


blidte finfter zu Boden. Liputin aber fah mit unglaub- 
lihem Эофдепив von einem zum andern. 

„за, womit nun anfangen ... Sie haben mich ganz 
tonfus gemadt .. 


„Bor drei Tagen айо, da fchidt fie plößlich ihren Diener 
zu mie: Не ließe bitten, fozufagen, morgen um zwoͤlf zu 
ihr zu fommen. Können Sie fich das denken? Nun, ich 
ließ natürlich meine Arbeit Arbeit fein und um Punft 
zwölf fingelte ich an ihrer Zür. Man führte mich gleic) 
in das Empfangszimmer. Ich wartete faum eine Wi: 
nute, als Warwara Petrowna аиф |фоп eintrat. Sie 
bot mir einen Stuhl сп und fette fich felbft mir gegen: 
über. Sch ſaß nun alſo, bradyte eg aber зипа ФИ nicht 
über mich, meinen Ohren wie fonft zu trauen. Öle 
wiſſen doch, wie Пе mich immer behandelt hat. Sie be: 
Hann allo, wie es jo ihre Art Ц, gerade heraus und обие 
alie Umjchweife: ‚Sie erinnern ſich wohl noch‘, {ад 
Пе, ‚der drei jonderbaren Handlungen meines Sohnes 
vor vier Jahren. Die ganze Stadt konnte fie nicht be: 
greifen, bis jich dann alles durch feine Erfranfung auf: 
Härte. Eine diefer Handlungen ging Sie ſogar perjön: 
lih an. Auf meine Bitte hin machte mein Sohn Jhnen 
ipäter, als er wieder hergeftellt war, feinen Beſuch. Ich 
weiß, daß er Ihnen |фоп früher mehrfach begegnet war 
und jich mit Ihnen unterhalten hatte. 34 möchte Sie 
nun bitten, mir doch mit voller Offenheit zu fagen, wie 
Sie‘ — Мег ftodte jie ein wenig — ‚wie @е damals 
meinen Sohn fanden „. . mie Öie ihn beurteilten. . 
welcher Meinung Sie über ihn waren .., иио ... аб 
Sie jet von ihm denen.‘ 


134 





„Hier ftodte fie aber ſchon wirklich, wartete ſogar ein 
Weilchen, und plößlich wurde fie rot. 54 war nicht 
wenig erjchroden. Aber ſchon gleich darauf fuhr fie mies 
der fort, nicht gerade mit rührender Stimme, nein, das 
gerade nicht, denn das würde auch nıcht zu ihr paflen, 
aber fo fonderbar eindringlich: ‚Sch will‘, fagte fie, ‚vaf 
Sie mich gut und ohne ein Mifverftändnig verftchen,‘ 
jagte fie. ‚Sch habe Sie zu mir gebeten, шей ich Sie für 
einen Menſchen halte, der fähig Ш, richtig zu beobachten.‘ 
(Wie finden Sie das Kompliment?) ‚Sie verftehen де: 
wiß auch, daß es eine Mutter ift, die mit Ihnen Ipricht,‘ 
fagte Пе... ‚Mein Sohn hat in feinem Leben manches 
Unglüd gehabt und manche Widermärtigfeit über fich 
ergehen lajjen müflen. Alles dag,‘ fagte jie, ‚hätte nun 
auf feinen Verftand, ich meine, auf jeine Gemütsftim: 
mung einwirken fünnen. Gelbftverftändlich |ртефе ich 
nicht etwa von Wahnſinn ... das Ш ganz und gar aus: 
geichloffen!‘ Das fagte fie jo, wiſſen Sie, in einem feften 
und ftolzen Ton! ‚Aber es koͤnnte da etwas Bejonderes 
jein, etwas MWunderliches, eine gewiſſe Gedankenrich— 
tung, die Neigung zu gewiſſen eigentümlichen Anichaus 
ungen‘... Das find alles ihre eigenen Worte, und glau— 
ben Ste mir, Stepan Trophimowitſch, ich ftaunte nur 
fo, mit welcher Genauigfeit Warwara Petromna eine 
Sache zu erflären verfteht. Wirklich, eine Ниде Dame! 
‚Sedenfalls‘, jagte fie, iſt mir jelbft an ıhm eine fort: 
währende Unruhe aufgefallen. Aber ich bin ja feine 
Mutter und Sie find ein fremder Menſch, folglich müjlen 
‚ @е, bei Ihrem Verſtande, weit fähiger ſein, 14 ein un— 
befangenes Urteil über ihn zu bilden. ch beſchwoͤre 
Sie‘ — jawohl, jo jagte fie mwortwörtlich — ‚ich beſchwoͤre 


135 


Sie, mir die ganze Wahrheit zu jagen, ohne jegliche Be: 
Ihönigung. Und wenn @е mir verjprechen mollen, 
nie zu vergelien, daß ich im Vertrauen zu Ihnen ge: 
ſprochen habe, fo feien Sie verjichert, daß ich ftets bereit 
fein werde, Ihnen künftig und bei jeder Gelegenheit 
meine Dankbarkeit zu БешеЦеп. Nun, иле finden 
Sie das?" 

„Sie... Sie haben mich fo überrafcht ...“ fotterte 
Stepan Trophimomitich, „Daß ich Ihnen ... einfach 
nicht glaube .. 

„Kein, bedenken Sie doch nur,” fiel ihm Kiputin leb- 
haft ins Wort und tat, als hätte er Stepan Trophimo— 
witſchs ее Bemerkung überhaupt nicht gehört, „mie 
groß muß ihre Unruhe und Aufregung um ihn fein, wenn 
пе #4 mit folch einer Frage, von ihrer Höhe herab, an 
einen Menjchen wendet, wie 14 es bin, und fich gar jo 
weit erniedrigt, auch noch um Verfchwiegenheit zu bitten! 
Wie Ш das nur möglih? ФоШе fie da nicht ganz ип: 
erwartete Nachrichten über ihren Sohn erhalten haben?” 

„Sch weiß von nichts... . Sch glaube, fie hat feine Лад: 
richten erhalten ... ich habe fie allerdings ... ein paar 
Tage lang nicht gejehen ... aber ich möchte Sie nur 
daran erinnern,” ftotterte Stepan Trophimowitſch wies 
der, da er ИИ feine Gedanken nicht mehr fammeln 
fonnte — „ich möchte Sie nur daran erinnern, Liputin, 
daß Sie im Vertrauen gefragt worden find, und daß 
Sie jeßt in Gegenwart ...“ 

„Ganz und gar im Vertrauen! Gott foll mich ftrafen, 
wenn 14... Über Мег... nun... find wir denn hier 
nicht unter Freunden? Фей Herr Kirilloff ...“ 

„sch bin nicht Ihrer Meinung. Zweifellog werden 


136 





wir drei das Geheimnis bewahren. Aber Sie felbft, 
den vierten, fürchte ich, und Ihnen traue ich in Feiner 
einzigen Beziehung.” 

„За, wie denn das? Sch bin doch Мег der eigentlich 
Intereflierte! Mir ift doch ewige Dankbarkeit verfprochen 
worden!" Und Ба ging Liputin darüber hinweg: 
„Übrigens, gerade bei der Gelegenheit, möchte ich noch 
auf einen fonderbaren, fozufagen piychologifchen Fall 
hinweiſen. Geftern abend, noc) unter dem Eindrud des 
Geſpraͤches mit Warwara Petromna — Sie fönnen ſich 
doch denen, welch einen Eindrud das auf mich gemacht 
hatte! — wandte ich mich an Herrn Kirilloff mit der 
barmlofen Frage: Sie haben, ſagte ich, Nicolai Stawro— 
gin Doch im Auslande und аиф früher fchon in Peters: 
burg gefannt, was halten Sie, frage ich, von feinem 
Verftande und überhaupt von feinen geiftigen Fähig- 
feiten? Und darauf antwortet er mir lafonijch, иле das 
jo feine Art ЦЕ ‚Sa,‘ jagt er, ‚das Ш ein Menfch mit 
feinem Berftande und gefundem Urteil.‘ Uber haben 
Sie nicht vielleicht, fragte ich weiter, im Laufe der Jahre 
gewiffe Sdeenveränderungen an ihm bemerkt oder 
eine befondere Geiftesmandlung oder einen gewiſſen, 
иле foll ich fagen, nun — fozufagen doch einen gemiljen 
Зийии? Kurz, ich wiederholte Warwara Petromnas 
Frage. Nun, und was denken Sie: Herr Kirilloff wird 
plößlich nachdenklich und runzelt die Stirn ... Sehen 
Öie, genau jo wie jeßt. „За, fagte er dann, ‚ich bemerfte 
allerdings zumeilen etwas Sonderbares an ihm.‘ Denken 
Sie fich, wenn ſchon Herr Kirilloff etwas Sonderbares 
bemerkt hat — mas kann dann nicht alles in Wirklichkeit 
ſein?!“ 


137 


„ft das wahr?” wandte fich Stepan Trophimomitich 
ап Kirilloff. 

„Sch möchte nicht davon ſprechen ...“ fagte Kirilloff, 
bob aber plößlich den Kopf und feine Augen МИ ем. 
„Sch möchte Ihr Recht beitreiten, Liputin. Sie haben 
für den Fall gar fein Recht auf mich. Sch бабе gar _ 
nicht meine ganze Meinung gelagt.- Ich Fannte Stawro— 
gin in Petersburg. Uber das war lange her. Und jebt, 
wenn ich ihn auch mwiedergejehen habe, jo kenne ich ihn 
doch nur eben fo. Ich bitte Sie, mich hier ganz beifeite 
zu lajfen, und... alles das fieht aus wie Klatſch.“ 

Liputin jpielte die beleidigte Unſchuld und führte die 
Hände auseinander. 

„Wie Klatih! Bin ich nicht gar noch ein Spion? Sie 
haben gut fritifieren, Herr Kirilloff, wenn Sie fich dabei — 
jelber beijeite lajjen. Sogar diejer Hauptmann, Ötepan 
Trophimowitſch, jogar diefer Lebädfin, der doch jo dumm 
if, wie — man fchämt ſich ja förmlich zu jagen, wie 
dumm er ИЕ; es gibt aber jo einen ти|Ифеп Vergleih — 
ſogar der denkt offenbar ganz fonderbar von Nicolai 
Stamrogin, obwohl er feinen Scharflinn bewundert. 
‚Bin ganz erftaunt über diefen Menjchen: eine alle 
wiffende Schlange!“ — waren feine eigenen Worte. Sch 
fragte alſo auch ihn, immer noch unter dem geftrigen 
Eindrud und fchon nach dem Gefpräc mit Herrn Kirilloff. 
Nun, fragte ich, ‚Hauptmann, mas glauben Sie eigent- 
ich, ift Ihre allwiffende Schlange, Nicolai Stamwrogin 
nicht einfach wahnjinnig?‘ Na, und nun glauben Sie 
mir oder glauben Sie mir auch nicht: е8 war für ihn, ale 
hätte ich ihm hinterrüds einen Peitſchenſchlag verjeßt — 
ohne feine Erlaubnis natürlih. Er ſprang geradezu 


138 





auf: ‚За, fagte er, ‚ja, aber das kann doch feinen Ein- 
Fluß haben auf ...“ Uber auf was das feinen Einfluß 
haben fünnte, das jagte er nicht, ſondern verſank nur in 
traurige Gedanken, und zwar in jo traurige Gedanken, 
lage ich Shnen, daß er davon ganz nüchtern wurde. Wir 
ſaßen gerade in der Filippoffichen Trinkſtube. Erft nach 
einer halben Stunde ungefähr fchlug er plößlich mit der 
Fauſt auf den Tiſch: ‚За, fchreit er, ‚meinetwegen auch 
wahnlinnig, nur kann dag feinen Einfluß haben...“ und 
wieder brach er ab. ch gebe Ihnen natürlich das Ge: 
Ipräch nur im Auszug wieder, aber der Sinn ЦЕ doch wohl 
Mar? Na, und jo, wen man auch fragt in der Stadt, 
allen fommt der Gedanke in den Kopf: ‚Sa,‘ jagt ein 
jeder, ‚er iſt wahnſinnig; gewiß, er ЦЕ fehr Нид; aber 
vielleicht auch wahnſinnig.“ 

Stepan Trophimowitſch ſaß ganz in Gedanken ver: 
junfen da und jchien angeltrengt zu überlegen. „Wie 
kann Lebädfin das willen?" fragte er. 

„Eh, wollen Sie fich nicht lieber bei Herrn Kirilloff, 
der mich ſoeben einen Spion nannte, danach erlundigen? 
Sch weiß nichts und rede nur jo zum Zeitvertreib, das 
nennt man dann Spion, er aber weiß die legten Geheim— 
nilfe und ſchweigt!“ 

„sch weiß gar nichts. Oder wenig," verjeßte der Зиг 
genieur mit derjelben Gereiztheit. „Sie machen Lebädlin 
betrunfen, um aus ihm was zu erfahren. Sie haben 
auch mich hierher gebracht, um aus mir zu erfahren, 
damit ih ... Ме fage. Folglich find Sie ein 
Spion !” 

„Sch habe ihn noch nie betrunfen gemacht, dag würde 
mir zu viel Geld Eoften, und das ift er auch gar nicht wert 


139 


mitfamt feinen Geheimmijjen. Sehen Sie, das ift fein 
Wert für mich. Wieviel er für Sie bedeutet, weiß ich 
freilich nicht. Sonft ift er eg, im Gegenteil, der jekt 
mit dem Gelde nur jo um fich wirft, während er vor 
vierzehn Tagen mich поф um fünfzehn Kopefen ап: 
pumpte. Er ift eg, der mir Champagner vorfeßt, nicht 
ich ihm. Uber Sie haben mir einen guten Gedanken 


gegeben, und wenn es nötig fein wird, werde ich ihn |фоп | 


betrunfen maden, um von ihm etwas zu erfahren ... 
und dann vielleicht alle eure Geheimniſſe auf einmal... 
jo viel ihrer da find!" feßte er böfe hinzu. 

Stepan Trophimowitſch {аб die beiden verftändnislos 
an. @е hatten fich beide Blößen gegeben, und zwar 
ohne Scheu vor uns anderen Anweſenden. Mir fchien 
es, als habe Liputin diefen Kirilloff einzig deshalb zu uns 
gebracht, um ihn durch eine dritte Perſon ins Gefpräch 
zu ziehen — fein übliche Manöver. 

„Kerr Kirilloff kennt den Nicolai Stamrogin fogar 
Тебе gut,” fuhr Liputin in gereiztem Zone fort, „bloß 
will er dag nicht eingeftehen. Und was den Hauptmann 
Lebaͤdkin betrifft, jo hat der ihn поф viel früher ge: 
fannt, als er ung Мег mit feinem Beſuch beglüdte. Sogar 
{фоп vor fünf, jechs Jahren in Petersburg, zur Zeit der 
jogenannten ‚unbelannten‘ Lebensepoche Nicolai Stam: 
rogins. Man könnte daraus jchließen, daß unfer Prinz 
damals ſehr fonderbare Befanntichaften gehabt haben 
muß. Auch mit ** Kirilloff iſt er in eben dieſer Zeit 
bekannt geworden.“ 

„Huͤten Sie ſich, Liputin, ich warne Sie. Nicolai 
Stawrogin wird bald herkommen, und das iſt einer, 
der ſeinen Mann zu ſtehen weiß!“ 


140 





„sa, aber was hat denn das mit mir zu tun? Sch bin 
der erite, der behauntet, daß er den feinften, den er: 
lefenften Verſtand hat, und in diefem Sinne habe ich 
auch Warwara Petrowna geftern volllommen beruhigt. 
Nur für feinen Charakter,‘ fagte ich, ‚Tann ich nicht ета 
ſtehen. Auch Lebaͤdkin fagt ganz dasfelbe, ‚Unter feinem 
Charakter,‘ fagt er, ‚habe auch ich gelitten.‘ Ach, Stepan 
Trophimowitſch, Sie haben gut jagen: ‚Klatich‘ und 
‚Spionage‘, aber bitte nicht zu vergefjen: ей, nachdem 
Sie jehr ſchoͤn alles aus mir herausgezogen haben, und 
mit was für einer Neugier noch dazu! Gehen Sie 
Warwara Petromna, die traf geftern gleich den Nagel 
auf den Kopf. ‚Sie haben,‘ fagte fie, ‚perfönlich durch 
ihn zu leiden gehabt, darum wende 14 mich аиф an 
Sie!’ За, und war е8 denn nicht jo? Mußte ich denn 
nicht vor der ganzen Geſellſchaft eine perjönliche Зе: 
leidigung von Seiner Hochmohlgeboren hinunterfchluden? 
Sch glaube, ich Бабе Grund genug, mich für dieſe Klatjch- 
geichichten zu interejlieren! Heute drüdt er einem die 
Hand, morgen aber fchlägt er fie einem, dir nichts, mir 
nichts, ins Geſicht, und das noch in ehrenmwerter Gejell: 
Ichaft, grad fo, wie’s ihm gefällt. Rein aus Übermut, 
wie's ſcheint. Und mas die Hauptjache И! Dieje Herren 
haben Ме Frauen natürlich immer auf ihrer Фейе! 
Schmetterlinge find fie und mutige Hähnchen! Gute: 
beſitzersſoͤhne mit Flügelchen hinten dran, mie ет 
mals Amor ... diefe Herzfreſſer a la Petſchorin!“) Sie, 
Stepan Trophimowitſch, als fanatifcher Sunggefelle, 


*) Der Held in Lermontoffs Roman „Der Held unferer Zeit”: 
Eroberer von Frauenherzen. FIIR. 


141 


haben gut reden und mich wegen Seiner Hochmohl- 
geboren einen Gejchichtenmacher zu nennen. Aber Бе 
raten Sie mal erft — @е find ja Doch noch ein ganzer 
Mann! — fo eine nette Heine junge Frau, und Sie mer: 
den felber vor unjerem Prinzen alie Türen verrammeln 
und gar Barrifaden im eigenen Haufe bauen! Hier lohnt 
е8 fich ja gar nicht mehr, zu reden! Selbſt von folch einer 
Mademoifelle Lebaͤdkin, ме gepeitjcht wird, würde ich 
glauben — bei Gott! —, wenn fie nicht verrüdt und lahm 
wäre, daß fie ein Opfer unjeres Prinzen Ш, und daß 
Lebaͤdkin fich deshalb in feiner ‚Familienehre‘ gefränft 
fühlt, wie er fih immer ausdrüdt. Sie glauben, die 
märe mit feinem feinen Gejchmad nicht in Einklang zu 
bringen? Mein Gett, auch der ftört diefe Herren nicht 
immer. Jede Feine Beere wird gegejjen, fie muß nur 
die richtige Stimmung treffen. Sie [ртефеп von Klatſch? 
Aber — fage ich e8 denn allein, wenn ſchon die ganze 
Stadt es аи тей? 34 nide nur und höre zu. „За“ 
fagen ift befanntlich nicht verboten!" 

„Die ganze Stadt fchreit ... Das heißt, was jchreit 
dein die ganze Stadt?” | 

„Na, ich meine, Hauptmann Lebädfin fchreit’s in Бег 
trunfenem Zuftande, jo daß die ganze Stadt es hören 
fann. Iſt das nicht dasfelbe, wie wenn die ganze Stadt 
es fıhreit? Bin ich etwa fchuld daran? 54 rede nur mit 
Freunden darüber. Sch hoffe doch, hier unter Freunden 
zu fein?” und mit unjchuldigem Lächeln ſah er ung alle 
сп. „Und dabei ift noch etwas geichehen! Denken 
Sie mal: es ftellt fich heraus, daß unfer Prinz ihm, dem 
Lebaͤdkin, aus der Schweiz dur, ein junges Mädchen 
dreihundert Rubel gefchidt hat. Sch habe die Ehre, ме 


142 





junge Dame perjönlich zu kennen, fie Ш ohne Tadel 
und fozujagen eine fittfame Waiſe. Nach einiger Zeit 
aber erfährt Lebaͤdkin aus der ficherften Quelle von 
einem edlen Menſchen, daß ihm nicht bdreihundert 
Rubel, fondern taufend zur Übergabe gefandt тот: 
den find! ‚Folglich,‘ jchreit er, ‚hat das Mädchen mich 
um fiebenhundert Rubeln beftohlen!‘ Und er will das 
Geld durch die Polizei herausfordern, wenigftens droht 
er jo und fchreit dabei, daß die ganze Stadt es hören 
— 

„Das Ш gemein, gemein von Ihnen! rief ploͤtzlich 
der Ingenieur und |prang vom Stuhl auf. 

„за aber — Sie jelbft find doch dicjer edle Menſch, 
der Lebaͤdkin verfichert hat, daß nicht dreihundert, fon: 
dern taujend geichidt worden find! Der Hauptmann hat 
es mir in der Filippoffichen Kneipe, betrunfen wie immer, 
ſelbſt mitgeteilt.” 

„За... das Ш ein unglüdliches Mifverftändnis. Se: 
mand hat fich geirrt und es Ш... ein Blödfinn — und 
Sie find gemein!" 

„За, ich will gewiß gerne glauben, daß es reiner Blöd- 
finn ift. Sch bin fogar tief betrübt, daß man das ehren: 
werte Mädchen in die Gefchichte hineingezogen hat. Er: 
ftens mit den fiebenhundert Nubeln, und zweitens weiß 
jeßt alle Welt, daß fie mit Nicolai Stamrogin intim bes 
freundet geweſen Ц. Was koſtet e8 denn Seine Hoch: 
wohlgeboren, den jungen Stawrogin, ein ehrenwertes 
Mädchen zu ſchaͤnden, oder auch eine fremde Frau zu 
beihimpfen, wie её mein ‚Fall! war? Kommt ihnen 
dann noch ein großmütiger Menſch unter die Finger, jo 
zwingen fie ihn, mit feinem ehrlichen Namen fremde 


143 


Sünden zu deden. Genau jo hab 14’$ doch erleben 
müfjen! Sch rede ja nur von mir ...“ 

„Hüten Sie fich, Liputin!“ Stepan Trophimowitſch er= 
bob 14 drohend. Er war totenblaß. 

„Slauben Sie ihm nicht, glauben Sie nicht! Jemand 
bat fich geirrt und Lebädlin Ш immer betrunken!“ rief 
der Ingenieur in unbejchreiblicher Aufregung aus. „Alles 
wird fich aufllären, aber ich [апп nicht тебе... ich halte 
es für eine Gemeinheit ... und genug . .. genug!” 

Er ftürzte aus dem Zimmer. 

„Aber wohin denn, was haben Sie? $4 gehe 50% 
mit Ihnen!” rief Liputin erfchroden, ſprang auf und 
lief ihm nad. 

УП 

Stepan Trophimowitſch ftand einen Augenblid mie 
in Gedanken verjunfen da, er ſah auch mich ап, doch ohne 
mich zu fehen, und fchließlich ergriff er Hut und Stod 
und verließ langjam das Zimmer. 3% ging ihm nad). 
Erft als er aus der Zür trat, bemerkte er mich. 

„ch ja, Sie koͤnnen mein Zeuge fein ... de l'acci- 
dent. Vous m’accompagnerez, n’est-ce раз?“ 

„Stepan Trophimowitſch, gehen Sie trot dem zu ihr? — 
Bedenken Sie doch, mas daraus entftehen kann!“ 

Er blieb ftehen und flüfterte mit einem armjeligen und 
geiftesabmejenden Lächeln, in dem Scham und voll: 
fommene Verzweiflung, Doch zugleich eine feltiame 
Ekſtaſe lag: 

„sch kann 504 nicht ‚Fremde Sünden‘ heiraten .. ." 

Endlich mar das verhängnisvolle Wort ausgefprochen, 
das er eine ganze Woche mit Kniffen und Winkelzuͤgen 
vor mir zu verſtecken geſucht hatte! 


144 


54 war einfach empört. 

„Und ein jo jchmußiger, ein {© ,., niedriger, gemeiner 
Gedanke konnte in Ihrem Kopf entitehen, in Ihnen, in 
Stepan Werchowenski! Sie mit Ihrem guten, reinen 
Herzen, und das noch — vor Liputin und feinem Klatjch !" 

Er ſah mich an, antwortete nichts und ging weiter. 
Ich wollte ihn nicht verlafjen, fondern bei Warwara 
Petromwna fein Zeuge fein. Ich hätte ihm verziehen, 
wenn er, mit feinem weibijchen Kleinmut, auf Liputins 
Derleumdung hin alles geglaubt hätte: nun aber war 
e8 doch Har, daß er jchon früher von felbft auf dieſen Ver: 
dacht gelommen, daß er ihn die ganze Zeit mit ſich herum— 
getragen und daß Liputin Ши jeßt nur beftätigt hatte. 
Er hatte fich nicht gejcheut, gleich vom erften Tage ап 
das junge Mädchen zu verdächtigen, ohne den geringften 
Grund dazu zu haben. Die herriihe Handlungsmweije 
Warwara Petromwnas hatte er fich eben nur mit dent 
verzweifelten Wunſch erklären koͤnnen, die galanten 
Sünden ihres teuren Nicolas fo ſchnell wie möglich 
mit einer Hochzeit zu Deden. 

Und dafür follte er beftraft werden, das wünjchte ich 
ihm von ganzem Herzen. 

„О, Dieu qui est si grand et si bon! Ob, wer wird 
mich jeßt tröften!" rief er aus, als er ungefähr hundert 
Schritte gegangen war und plößlich ftehen blieb. 

„Gehen wir nach Haufe, und ich werde Ihnen ſofort 
alles erklären!” rief ich und wollte ihn mit Gewalt 
zurüdbringen. 

„Da ЦЕ er ja! Stepan Trophimowitſch, das find doch 
Sie? Sie?" ertönte plößlich eine frifche und mutmillige 
junge Stimme, die mir wie Mufif Hang. 


10 Dostoiewsti, Die Dämonen. 35. Г. 145 


Noch fahen wir niemanden, als plößlich eine Hei: 
terin neben uns hielt. Es таг Liſaweta Nicolajerona, 
gefolgt von ihrem tagtäglichen Begleiter. Sie zügelte 
аз Pferd. 

„Kommen Sie, fommen Sie doch fchneller!" rief fie 
laut und ша. „Sch habe ihn zmölf Jahre lang nicht 
gefehen und gleich erfannt. Er aber ... Erkennen Sie 
mich wirklich nicht?" | 

Stepan Trophimowitſch ergriff ihre Hand. Er ſah 
Пе an, als hätte er ein Gebet zu ihr auf den Lippen, und 
konnte doch fein Wort hervorbringen. 

„Er hat mich erkannt und freut fih! Mawrikij Nicolaje- 
mitjch, er jcheint entzüdt zu fein, daß er mich wiederjieht! 
Barum Jind Sie denn in dieſen ganzen zwei Wochen 
nicht zu uns gefommen? Xante beteuerte, Sie jeien 
Нап und man dürfe Sie nicht aufregen, aber ich weiß 
doch, das hat fie nur gelogen. Sch habe mit den Füßen 
geftampft und auf Sie gejiholten, aber ich wollte un- 
bedingt, unbedingt, daß Sie, von felbft, als Erfter zu 
uns kaͤmen, und darum habe ich nicht nach Ihnen ge: 
ſchickt. Gott, er hat fich ja nicht ein bifchen verändert!” | 
und fie beugte jich im Sattel nach vorn, um ihn genauer 
betrachten zu fünnen. — „Es ift ja ganz lächerlich, mie 
wenig er ИФ verändert hat! Ach, 504, es find doch 
Heine Fältchen an den Augen, viele Fältchen, und auf | 
- den Wangen ... und graue Haare — aber die Augen find 
noch ganz diefelben! Ganz! Undich? Habe ich mich ver: 
ändert? Ga? Aber warum jchmeigen Sie noch immer?” 

Ich erinnerte mich in dem Augenblid, daß man mir 
erzählt hatte, fie jei faft erkrankt, ald man fie, eifjährig, 
nach Petersburg brachte, und daß fie während der ЯтапЁ | 


146 





heit geweint und immer паф Stepan Trophimowitſch 
verlangt habe. 

„Sie... ich ...“ ПоНе er mit vor Freude unficherer 
Stimme. „Soeben rief ich поф ous: wer wird пиф 
tröften? und da erklang Ihre Stimme ... Ich halte das 
für ein Zeichen et je commence & croire.“ 

„En Dieu? En Dieu, qui est la haut et qui est si 
grand et si bon? Gehen Sie mal, ich fenne Shre Lek— 
tionen noch auswendig. Mawrikij Nicolajemwitich, welch 
einen Glauben er mir damals beibrachte en Dieu, qui 
est sigrand et si bon! Und erinnern Ste fich noch Shrer 
Erzählungen von Kolumbus, und wie er Amerika ent: 
dedte, und wie fie da alle ‚Land, Land!‘ gefchrieen 
haben!? Meine Kinderfrau ЭШопа Frolowna jagte mır, 
daß ich noch nachher im Зхаите ‚Land! Land!‘ gerufen 
habe, Und wiſſen Sie noch, wie Sie mir die Gejchichte 
des Prinzen Hamlet erzählt haben? Und wie Sie mir 
den Transport der armen Auswanderer von Europa 
nach Amerika beichrieben haben? Das war ja alles gar 
nicht wahr, jpäter habe ich erfahren, wie man fie hinüber: 
transportiert hat. Uber wie er mir damals alles jo viel 
ichöner vorgelogen hat! Mamritij Nıicolajewitjch, viel 
ichöner und bejjer, als es in Wirklicgkeit ift! Warum 
jehen Sie Mawritij Nicolajewitich jo an? Das Ш der 
allerbefte und der allertreuefte Menſch auf dem Erdball, 
und Sie mülfen ihn unbedingt ebenjo heben иле ich! 
П fait tout ce que je veux. ber, Liebling, Stepan 
Trophimowitſch, Sie müfjen wohl wieder unglüdlich 
jein, wenn Site mitten auf der Straße ausrufen: тег 
wird mich tröften? Alſo wieder einmal ungluͤcklich, ja?” 

„ев bin ich glüdlich — —“ 


147 


10* 


„Tante kraͤnkt Sie?" fuhr fie fort, ohne feine Worte 
zu beachten. „Immer dieje böfe, ungerechte, ищете ип: 
ichäßbare, teure, Ве Tante! Ach, willen Sie noch, wie 
Sie im Öarten in meine Arme flogen und ich Sie tröftete 
und dann jelber mit Ihnen meinte? Uber jo fürchten Sie 
fich doch nicht vor Эда Nicolajewitich, er weiß alles, 
alles von Ihnen. Sie fönnen ап jeiner Schulter weinen, 
jo lange Sie wollen, und er wird ftehen jo lange wie 
Sie wollen. Schieben Sie Ihren Hut zurüd, nein, neh: 
men Sie ihn ganz ab, auf einen Augenblid nur, heben 
Sie ſich auf die Fußſpitzen, ich werde Sie gleich auf die 
Stirn füfjen, jo wie ich Sie das letzte Mal zum Abſchied 
geküßt habe. Sehen Sie, diefe Dame dort am Fenfter 
freut jich iiber ung... Näher, näher! Gott, wie er grau 
geworden ЦЕ 

Und fie beugte ſich im бане und kuͤßte ihn auf ме 
Stirn. 7 

„Kun, und jeßt zu Ihnen паф Haus! Sch weiß, wo 
Sie wohnen. Sch werde gleich, in einer Minute, bei 
Ihnen fein. Sie Eigenfinn, aljo werde ich Sie doc; zu: 


ей bejuchen. Dann aber jchleppe ich Sie auf den ganzen | 


Tag zu mir. Gehen Sie jeßt und bereiten Sie fich vor, 
mich zu empfangen!" 

Und Не ritt mit ihrem Kavalier davon. Wir aber Fehr: 
ten nach Haufe zurüd. Stepan Trophimomitich jeßte fich 
auf den Diman und weinte. 

„Dieu, Dieu!‘“ rief er. „Enfin une minute de bon- 
heur!“ | 

Nach zehn Minuten ефеп fie in Begleitung des 
jungen Mannes. Stepan Trophimowitſch ging ihr ent- 
gegen. 


148 


„Vous et le bonheur, vous arrivez en m&me temps!“ 

„Hier haben Sie Blumen. Sch war bei der Blumen: 
frau. Wie Sie willen, hat fie den ganzen Winter Bus 
fette fir Geburtstagsfinder zum Verkauf. Hier ftelle ich 
Ihnen alfo nochmals Mawrikij Nicolajewitich vor, bitte 
ſich mit ihm zu befreunden. Eigentlich wollte ich Ihnen 
eine Paftete jtatt der Blumen bringen, aber Mawrikij 
Nicolajewitſch behauptete, das fer nicht imruffischen Stil,” 

Diefer Mawrikij Nicolajewitich war Hauptmann der 
Artillerie, etwa dreiunddreißig Jahre alt, hoch und 
ichlant, von tadellojem Außeren, mit Achtung ge: 
bietenden, auf den erſten Blick ftreng erjcheinenden 
Zügen — troß einer erftaunlichen und überaus taft- 
vollen Güte, Ме man ihm jofort anmerfte, auch wenn 
man ihn gar nicht oder faum kannte. Sm übrigen 
war er ſchweigſam, jchien Faltblütig zu jein und ſehr 
zurückhaltend. Später ſagten einige bei ung, er fei im 
Grunde bejchränkt geweſen, aber das war entjchieden ein 
faliches Urteil. 

Die Schönheit Lifaweta Nicolajewnas зи bejchreiben, 
will ich lieber nicht verjuchen. Die ganze Stadt jprach 
ja ſchon von ihr, obwohl einige Damen {а vom Gegen: 
teil überzeugt waren und fie beinahe häßlich fanden. 
68 gab aber auch jolche, ме Lifaweta Nicolajemna nicht 
nur um ihrer Schönheit willen haften, jondern, und vor 
allen Dingen, wegen ihres Stolzes. Drosdoffs hatten 
es noch unterlajjen, die üblichen Vifiten zu machen — und 
das beleidigte natürlich jeden und alle, obgleich man in 
der Stadt jehr wohl wußte, daß der Grund dazu in Pras—⸗ 
fowja Swanomwnas Unmwohljein lag. Sodann haßte man 
Liſa auch noch wegen ihrer Verwandtichaft mit der 


149 


„Bouverneurin”, und drittens, weil fie täglich fpazieren 
ritt, denn bis jeßt hatte es bei uns noch feine Amazonen 
gegeben. Zwar mußten alle fehr gut, daß die Ärzte ihr 
das Reiten verordnet hatten, aber das änderte nicht im 
geringften dag Urteil der Damen, fondern gab nur noch 
einen Anlaß, auch über ihre Kränflichkeit zu wißeln und 
zu ſpoͤtteln. Liſa war in der Tat krank: ſchon auf den erften 
Blid fiel einem ihre nervöfe Иптибе auf. Wie {ебу fie 
damals litt, das follte fich freilich ей ſpaͤter aufklären. 
Mern ich heute an ſie zurüddenfe und fie mir dabei vor: 
ftelle, апп ich Sie übrigens nicht mehr fo mwunderichön 
finden, wie ich fie damals fand. Vielleicht war fie 
jogar ausgejprochen häflich. Cie war hoch von Wuchs, 
Ichlanf, biegfam und fräftig. Doch frappierte dag Фе: 
licht beinahe durch Ме Unregelmäßigfeit ver Züge. Es 
war dabei bleich, mit ziemlich ftarfen Badenfnochen, 
бадет, und die Augen waren ein wenig fchräg geitellt, 
waren gejchlißt wie bei den Kalmüden. Uber es lag 
etwas in diefem Gelicht, das einen unmiderftehlich anzog. 
Irgendeine Macht ruhte in dem brennenden ЗИФ ihrer 
dunflen Augen. Stolz und zuweilen fogar vermejlen: 
jo wirkte fie und erjchien wie eine Siegerin, die nicht 
anders fonnte, als bejiegen. Ihr war e8 nicht gegeben, 
gut zu jein, aber йе fämpfte darum, e$ dennoch zu jein. 
Es waren viele edle Triebe in diefer Natur und eine 
Menge großer Anjäte, aber alles das fuchte in ihr nach 
einem Ausgleich und fonnte ihn nicht finden: alles 
in ihr war Chaos, Unruhe und Aufregung. Vielleicht 
ftellte fie auch gar zu große Anforderungen an Sich ſelbſt 
und fand dabei niemals die Kraft im fich, Diele Anforde: 
rungen zu befriedigen. 


150 


Sie ſetzte 14 auf den Diwan und betrachtete das 
Zimmer. 

„Warum werde ich in folchen Minuten immer traurig? 
Können Sie mir das nicht erklären, Sie gelehrter Menſch? 
Sch habe immer gedacht, daß ich weiß ©ott wie froh 
fein wuͤrde, wenn ich Sie wiederiähe und mit Ihnen 
über all das Gewefene fprechen könnte „.. ınd nun bin 
ich faft — gar nicht froh, obgleich ich Sie doch lieb habe... 
Ach Gott, mein Bild hängt hier bei Ihnen! Geben Eie 
её ber, jihnell, ich weiß, ich erinnere mich ...“ 

Dor neun Jahren hatten Drosdoffs Stepan Trophi— 
11009 aus Petersburg ein Aquarellbildchen der Heinen 
zwölfiährigen Liſa zugeſchickt und feit der Zeit hing ев 
bei ihm an der Wand. 

„Bar ich wirklich ein jo nettes Kind? Iſt das wirk— 
lich mein Geſicht?“ 

Sie ftand auf und trat mit dem Bildchen ит der Hand 
vor den Spiegel. 

„Nehmen Sie es jchnell, ſchnell!“ rief fie aus und gab 
das Bildchen zurüd. „Hängen Sie es jeßt nicht auf, 
jpäter, jpäter, ich will es nicht jehen.‘ Sie ließ 14 wieder 
auf den Diwan nieder. „Das eine Leben verging un? 
ed begann ein anderes, und das andere verging und es 
begann ein drittes, und jo geht es fort. Die Enden aber 
find immer wie mit der Schere abgejchnitten. Sehen 
Eie mal, von was für alten Sachen ich rede, und Doch 
ift fo viel Wahrheit darin!" 

Sie jah mich lahend ап. Schon einigemal hatte fie 
mich betrachtet, aber Stepan Tropgimomitfch kam in 
jeiner Aufregung gar nicht darauf, mich ihr vorzuftelien. 

„Aber warum hängt mein Bild unter Säbeln? Uns 


151 


warum haben Sie hier überhaupt jo viele Säbel und 
Dolche?“ 

Ich weiß nicht, warum bei Stepan Trophimowitſch 
an der Wand zwei Yatagane hingen und über ihnen ein 
echter Tſcherkeſſendolch. 

Als fie die Frage ftellte, {аБ fie mich wieder an, jo daß 
ich fehon antworten wollte, Da kam Stepan Trophiz 
mowitſch endlich darauf, mich vorzuftellen. 

„Sch weiß, ich weiß,“ fagte fie — „es freut mich fehr. 
Mama hat auch fchon von Ihnen gehört. Und bitte, 
Мег fteile ich Ihnen Mawrikij Nicolajemitich vor, ein 
prachtooller Menſch. Sch hatte mir von Ihnen eigent- 
lich einen fomifchen Begriff gemacht. — Sie find Doch 
Stepan Trophimowitſchs ‚Bertrauter‘?” 

Sch errötete. 

„ch, bitte verzeihen Sie, ich wollte durchaus nicht 
dieſes Wort jagen, es Ш nichts Komifches Dabei, ſondern 
nur ©...’ Und аиф fie errötete verwirrt. „Übrigens, 
ich jehe nicht ein, warum fich da jemand deſſen jchämen 
fol, daß er ein wertvoller Mensch ift, nicht wahr? — 
Aber jekt müfjen wir gehen, Mawrikij Nicolajewitich. 
Stepan Trophimowitſch, daß Sie in einer halben 
Stunde bei uns find! O Gott, wie viel wir ung zu er: 
zählen haben! Sekt bin ich Ihre DVertraute, in allen 
Dingen, hören Sie, in allen Dingen!" 

Stepan Trophimowitſch erſchrak fofort. 

„D, Mawrikij Nicolajemwitich weiß alles, vor ihm braus 
chen Sie fich nicht zu genieren.“ 

„Mais, was weiß er denn?" 

„ber warum tun Sie denn fo?" rief fie erftaunt. „Ab, 
jo ift es aljo wahr, daß man es uns verheimlichen will? 


152 





Sch wollte es nicht glauben! Dafıha wird gleichfalls 
verftedt. Tante ließ mich vorhin auch nicht zu Dafcha 
gehen, fie fagte, fie habe Kopfſchmerzen.“ 

„бег... aber wie haben Sie es denn erfahren 
können?” 

„Mein Gott, fo wie alle! Als ob dazu viel gehört!” 

„Sa, wilfen es denn wirklich fchon alle? ...“ 

„Nie denn nicht? Mama, das Ш wahr, die hat es 
zuerft durch Aljona Frolowna, meine Kinderfrau, er: 
fahren, und der hat es Ihre ааа jchleunigft erzählt. 
Sie haben es doch Naftaflja gefagt? Sie jagt wenigftens, 
Sie hätten es ihr felbft mitgeteilt. 

„Sch +. ich habe einmal davon geſprochen ...“ Ков 
terte Stepan Trophimowitſch, über und über rot, „aber 
ich бабе bloß angedeutet... j’Etais si nerveux et malade 
etiptisr. kr: 

Sie lachte. 

„Und da fein anderer Freund zur Hand war und 
Naftaflia Ihnen gerade in den Weg lief — nun, ich weiß 
fchon! Die aber hat ja überall Freundinnen. Doc 
laffen wir das, Das Ш ja alles ganz gleichgültig. Mögen 
es die Leute Doch wiſſen, um fo beſſer! Und fommen 
Sie bald, wir fpeifen früh. Ach, da habe ich etiwas ver: 
geilen!" fie jeßte fich wieder. „Hören Sie mal, wer Ш 
Schatoff?“ 

„Schatoff? Das iſt Darja Pawlownas Bruder ...“ 

„Ach, das weiß ich doch, daß er ihr Bruder iſt, — wie 
Sie wirklich ſind!“ unterbrach ſie ihn ungeduldig. „Ich 
will wiſſen, was er eigentlich iſt, was fuͤr ein Menſch?“ 

„C’est un pense-creux d’ici. C’est le meilleur et le 
plus irascible homme du monde.“ 


153 


„Das habe ich auch ſchon gehört, daß er ein ©onder- 
ling Ц. Uber das gehört nicht zur Sache. Man jagte 
mir, daß er drei Sprachen fpricht, auch englifch, und jich 
mit literarifchen Arbeiten bejchäftigt. Зи мет Fall 
könnte ich ihm viel Arbeit verfchaffen. Sch habe jemianden 
nötig, der mir helfen kann, und je jchneller ich einen 
finde, Рейс bejjer. Aber wird er die Arbeit annehmen, 
was meinen Sie? Man hat ihn mir dazu empfohlen.” 

„> natürlich, et vous ferez un bienfait.“ 

„Ich tue е8 gar nicht wegen des bienfait, fondern weil 
ich einen Gehilſen brauche.” 

„sch bin mit Schatoff befreundet,” fagte ich, „und 
wenn Sie mich beauftragen wollten, jo würde ich fofort 
zu ihm gehen.“ 

„Das И ga herrlich! Sagen Sie ihm, bitte, daß er 
morgen um zwölf Uhr zu mir fommen ſoll. Sch danke 
Ihnen! Mawrikij Nicolajewitich, find Sie bereit?” 

Sie ritten davon. ch begab mich natürlich gleich zu 
Schatoff. 

„Mon ami!“ rief mir Stepan Trophimowitſch nad), 
„tommen ©ie unbedingt ит zehn oder elf Uhr zu mir, 
wenn ich zurüfgefommen bin. Ob, ich bin jchuldig, ver: 
zeihen Sie mit, 14 bin vor allen, vor allen jchuldig !" 


УШ 


Schatoff war ausgegangen. Nach zwei Stunden ging 
ich wieder zu ihm — und wieder war er nicht zu Заще, 
Цит acht Uhr abends ging ich zum dritten Male hin, um 
ihm, wenn ich ihn wieder nicht antreffen follte, einen 
Zettel zu Binterlajjen. Und richtig, er war wieder nicht 
zu Haus, jein Zimmer war verjchlojjen: er lebte ganz 


154 








allein und ohne einen Dienftboten. Einen Augenblid 
fragte ich mich, ob ich nicht zu Lebaͤdklins gehen und dort 
nach ihm fragen follte: aber аи) dort war die Tür ver: 
fchloffen, e8 war weder ein Licht zu fehen, noch ein Laut 
zu hören — die Wohnung fehien vollftändig Leer zu fein. 
Sch entichloß mich alfo, morgen früh wiederzufommen, 
denn auf das Zettelchen fonnte ich mich nicht veraſſen. 
Schatoff war mitunter jo eigenfinnig und dazu fchüch- 
tern, da war e8 leicht möglich, daß er einfach nicht hin: 
ging. Gerade als ich aus der Tür trat, ftieß ich auf Herrn 
Kirilloff. Er erlannte mich fofort, und da er mich ап: 
Iprach und fragte, wen ich fuchte, erzählte ich ihm die 
ganze Geſchichte und erwähnte auch meinen Zettel. 
„Kommen Ste,” jagte er, „ich merde её machen.“ 
Kirilloff wohnte {ей diefem Morgen, wie ung jchon 
Liputin erzählt hatte, im Flügel auf dem Hof. In die: 
fer Hälfte des Hauſes, die für ihn allein zu groß geweſen 
wäre, wohnte außer ihm noch ein altes, taubes Weib, 
Das ihn auch; bediente. Der Hausbefiger ſelbſt, Herr 
Silippoff, war nebenan in fein neues Heim gezogen, wo 
er eine Zrinkftube Ме, und die Alte, die mit ihm ver: 
wandt war, beauflichtigte nun das alte Haus. Die Zim: 
mer in моет Flügel waren fauber, aber die Tapeten 
ſchmutzig. Im erften- Zimmer, in das mir eintraten, 
ftanden die verfchiedenften alten Möbel: zwei l'Hombre— 
tifche, eine Kommode aus Ellernholz, ein großer Tiſch 
aus rohen Brettern, wohl aus einer Banernftube oder 
Küche; ferner ein paar Stühle und ein Diwan mit ge: 
flochtenen Lehnen und harten Lederkiſſen. In einer Ede 
hing ein altes Heiligenbild, vor dem die Alte Das Затр: 
chen fchon angezündet hatte, und an den Wänden 


155 


hingen zwei alte Olörudbilder, von denen das eine den 
Kaiſer Nicolai I. und das andere irgendeinen Bilchof 
darftellte. 

Kirilloff zündete ein Licht an und holte aus feinem 
Koffer, der in einer Ede noch unausgepadt ſtand, ein 
Kuvert, Siegellad und ein Kriftallpetichaft. 

„DBerliegeln Sie Ihren Brief und fchreiben Sie die 
Adreſſe darauf.“ 

Sch jagte, daß das unnötig fei, aber er bejtand auf 
feinem Wunſch. Nachdem ich die Adreſſe geichrieben 
hatte, nahm ich meinen Hut und wollte gehen. 

„Ich dachte, Sie würden Tee trinken," fagte er. „Sch 
бабе Зее gekauft. Wolien Sie nicht?" 

Sch lehnte nicht ab. Die Alte brachte bald darauf eine 
riejige Teekanne mit heißem Waſſer und eine Kleinere 
mit gezogenem Зее, zwei große einfache Taſſen, Зе: 
brot und einen ganzen Zeller mit Stüdzuder. 

„Sch liebe Tee,” jagte Kirilloff, „bejonders in der 
Nacht. Sch gehe auf und ab und trinke, bis zum Morgen. 
Sm Auslande Ш Teetrinken nachts unbequem.” 

„Sie legen fich erft gegen Morgen ſchlafen?“ 

„Ssmmer, |фоп lange. Sch ejje wenig. Trinke immer 
Зее...’ Und ganz unvermittelt ſagte er plößlich: 
„Liputin Ш fchlau, aber ungeduldig.” 

Es wunderte mich, daß er heute offenbar zu fprechen 
wünjchte, und ich entichloß mich, die Gelegenheit zu Бе 
nußen. 

„Das war ein unangenehmes Mißverjtändnis, heute 
pormittag, bei Stepan Zrophimomitich, bemerkte ich. 

Er machte ein geärgertes Gelicht. 

„Das war Dummheit; das find Пиф ате Nichtig- 


156 


keiten; alles, was da war, denn Lebaͤdkin jpricht be— 
trunfen. Sch Бабе Liputin nichts gejagt, nur die Nichtig- 
feit erklaͤrt; denn jener hatte gefafelt. Liputin hat viel 
Phantafie; ftatt die Nichtigkeit einzufehen, hat er gleich 
Berge daraus gebaut. Geftern vertraute ich ihm.“ 

„Und heute mir?” fragte ich lachend, 

„ber Sie wußten Doch vorher jchon von allen. Liputin 
ift Schwach, oderungeduldig, oder ſchaͤdlich, oder. . neidiſch.“ 

Das legte Wort überrajchte mich. 

„Hm. Übrigens haben Sie jo viele Kategorien auf: 
geftellt, daß es jchließlich Fein Wunder ИТ, wenn er in 
eine von ihnen hineinpaßt.“ 

„Dder in alle zuſammen.“ 

„Sa, аиф das ЦЕ richtig. Liputin ЦЕ ein Chaos! Er 
log zwar vorhin, aber jagen Sie, ift es nicht troßdem wahr, 
daß Sie ein Buch fchreiben wollen?” 

„Barum foll das gelogen fein?” entgegnete er finfter 
und {аб zu Boden. 

Sch entjchuldigte mich und verlicherte, daß ich ihn 
nicht ausfragen wolle. Er errötete. 

„Liputin hat da die Wahrheit gejagt. Sch fchreibe. 
Nur ift das ganz gleich.” 

Mir fchwiegen wohl eine Minute lang; plößlich 
lächelte er wieder fein Kinderlächeln. 

„Das von den Köpfen hat er ſich jelbft ausgedacht, nach 
einem Buch, und er jelbft erzählte eg mir zuerft, nur 
verfteht er es fchlechtz ich aber fuche nur den Grund, 
warum die Menjchen fich nicht jelbft zu töten wagen; 
das ift alles. Uber auch das ift ganz gleich.” 

„Wieſo, nicht wagen? Als ob е8 wenig Selbjtmorde 
gäbe?” 


157 


„Sehr menig.” 

„Binden Sie wirklich?" 

Er antwortete nicht, ftand auf und ging, in Gedanken 
verfunfen, auf und ab. 

„Bas hält denn, Ihrer Meinung nach, die Leute davon 
ab, ſich jelbft zu töten?” fragte ich. 

Er jah mich zerftreut an, als müßte er jich erft erinnern, 
wovon wir jprachen. 

„54... ich weiß noch wenig ... Zwei Vorurteile 
halten davon ab, zwei Gründe. Nur zwei: der eine Ш 
jehr Нет und der andere ift jehr groß. Uber auch der 
Feine ift ſehr groß. 

„Welches ift denn der Heine?” 

„Der Schmerz.” 

„Der Schmerz? За, glauben Sie denn, daß das fo 
wichtig Ш... in jolhem Fall?” 

„Das Ullererite. Es gibt zwei Arten: Die, welche lich 
aus großem Leid umbringen, oder aus Haß, oder aus 
Wahnſinn, oder jonjt da irgendwie ... die tun es plöß- 
lich. Die denfen wenig an den Schmerz, und tun’s 
ploͤtzlich .. . Uber ме, die йф aus Überlegung töten — 
ме denien viel.” 

„За, gibt es denn überhaupt folche, die ИФ aus Über: 
legung töten?” 

„Sehr viele. Wenn es fein Vorurteil gäbe, würden 
es noch mehr {ету jekr viele; alle!" 

„Bag, jogar ſchon alle?” 

Er ſchwieg. 

„Aber gibt es denn feine Möglichkeit, fchmerzlos zu 
ſterben?“ 

Er blieb vor mir ſtehen: Denken Sie ſich einen Stein 


158 





von der Größe eines großen Hauſes; er hängt über 
Ihnen und Sie find unter ihm; wenn er auf ©ie fällt, 
auf den Kopf — wird es ſchmerzen?“ 

„Ein Stein von der Größe eines Haufes? Natürlich, 
furchtbar № 

„Sch ſpreche nicht von der Angſt; wird es jchmerzen?” 

„Ach fo! Ein Stein, jo groß име ein Berg, eine Million 
Pud Schwer? — Selbftverftändlich nicht ein bißchen !" 

„Aber wenn Sie jo liegen, während er hängt, werden 
Sie furchtbare Angſt davor haben, daß es fchmerzen 
wird. Jeder große Gelehrte, jeder Arzt, alle, alle werden 
Angft haben. Jeder wird willen, daß es nicht jchmerzt, 
doch jeder wird fehr fürchten, daß es ſchmerzen wird.” 

„Run, und der große, der zweite Grund?" 

„Das Jenſeits.“ 

„Sie meinen die Strafe?” 

„Sinerlei. Das Senjeits, nichts als das Jenſeits.“ 

„Gibt е8 denn nicht auch folche Atheiften, die an ein 
Senfeits gar nicht glauben und es vollftändig leugnen?” 

Er ſchwieg wieder. 

„Sie urteilen vielleicht nur nach fich ſelbſt?“ 

„Niemand fann anders urteilen, als nach fich ſelbſt,“ 
jagte er und errötete wieder. „Die vollftändige Freiheit 
wird erft dann jein, wenn е8 ganz einerlei {ет wird, ob 
man lebt oder nicht. Das И das ganze Ziel.” 

„Das Ziel? Sa, aber dann шир vielleicht niemand 
mehr leben wollen?” 

„Niemand, fagte er beftimmt. 

„Der Menſch fürchtet den Tod, weil er das Leben lied 
hat, jo verftehe ich es wenigſtens,“ bemerfte ich, „und jo 
will es die Natur.” 


159 


„Das Ш die Gemeinheit und hier ftedt der ganze Ber | 
trug!” Seine Augen blißten auf. „Das Leben ift Schmerz, 
das Leben ИЕ Angft, und der Menich ift unglüdlich. Jetzt 
liebt der Menfch das Leben, weil er Schmerz und Angit 
liebt. Und in hat man's gemacht. Das Leben wird einen 
jeßt für Элай und Schmerz gegeben. Hierin liegt der 
aanze Betrug. Seht Ш der Menſch noch nicht jener 
Menich. Uber es wird einen neuen Menjchen geben, 
einen glüdlichen und ftolzen. Wem es ganz einerlei jein 
wird, ob leben oder nicht leben, der wird der neue Menſch 
fein. Wer Schmerz und Angſt bejiegen wird, der wird 
Те Gott Чет, Aber Den Gott wird es dann nicht 
mehr geben.” 

„Alſo gibt es Ihrer Meinung nach doch noch den | 
Gott?“ 

„6$ gibt Ihn nicht, aber Er ift da. Im Stein ift 
fein Schmerz, aber in der Angft durch den Stein Ш 
Schmerz. Gott ift der Schmerz der Ungft vor dem Tode. 
Mer Schmerz und Angft befiegt, der wird ſelbſt Gott 
werden, Dann wird ein neues Leben fein, ein neuer 
Mensch, allesneu... Dann wird man die Weltgefchichte | 
in zwei Zeile teilen: vom Gorilla bis zur Vernichtung 
Gottes, und von der Vernichtung Gottes bis ...“ 

„Bis zum Gorilla —?” 

zu + + bis zur phyſiſchen Veränderung der Erde und _ 
des Menfchen. Der Menfch wird Gott fein und wird | 
fich phyſiſch verändern. Und das ganze Weltall wirdfich 
verändern, und alle Dinge werden fich verändern, und 
alle Gedanken und alle Gefühle. Was glauben Sie, 
wird fıch dann nicht auch der Menſch phyſiſch veraͤn— 
dern ?” 


160 








„Wenn es uns ganz gleich jein wird, ob wir leben oder 
nicht leben, jo werden fich alle ſelbſt totichlagen, und 
darin wird dann vielleicht eine Veränderung beftehen.‘ 

„Das Ш einerlei. Den Betrug wird man totichlagen. 
Ein jeder, der die große Freiheit will, muß fich felbft 
zu töten wagen. Wer ſich ſelbſt zu töten wagt, der hat 
dag Geheimnis des Betruges ertannt. Weiter gibt es 
feine, Freiheit. Hier ift alles und meiter ift nichts. Wer 
jich felbft zu töten wagt, der Ш Gott. Seht kann eg jeder 
machen, daß Gott aufhört, zu fein, und daß nichts mehr 
it. Uber noch hat es niemand einmal getan!" 

„Selbftmörder hat es zu Millionen gegeben.‘ 

„ber alle nicht deswegen. Alle haben jie jich mit 
Angſt und nicht deswegen getötet. Nur wer ПФ tötet, 
um die Angft totzufchlagen, der wird fofort Gott fein.‘ 

„Dazu wird er vielleicht Тете Zeit mehr haben,” be: 
merkte ich. 

„Das ift einerlei,” fagte er leife, mit ruhigem Stolz 
und faſt ein wenig mit Verachtung. „68 tut mir leid, 
daß Sie fich darüber wohl luſtig machen,” fügte er nad) 
einer halben Minute hinzu. 

„And mich wundert, wie Sie vorhin fo gereizt jein 
fonnten und jeßt jo ruhig find, obgleich Sie doch — 
glühend ſprechen.“ 

„Vorhin? VBorhin war es komiſch,“ antwortete er mit 
einem Lächeln. „Sch liebe nicht, zu ſchimpfen, und lache 
nie," fügte er traurig hinzu. 

„sa, Shre Nächte beim Зее verbringen Sie nicht 
gerade luſtig.“ 

Sch ftand auf und nahm meine Mütße. 

„Binden Sie?“ Er lächelte mit einem gewiſſen Er— 


11 Doftojemwasti, Die Dämonen. 35. Г. 161 


ftaunen. „Warum? Nein, 16... ich weiß nicht,” ver—⸗ 
wirrte er jich plößlich — „ich weiß nicht, wie её bei den 
andern Ш. Sch fühle, daß ich nicht jo wie jedermann апп. 
Seder denkt, und dann denkt er gleich an mas anderes. 
Sch апп nicht an anderes, ich denfe mein ganzes Leben 
lang nur an Eines. Mich hat Gott mein Leben lang ge= 
quält, jchloß er plößlich mit eritaunlicher Mitteilfamleit. 

„Aber jagen Sie doch, warum jprechen Sie manchmal 
jo jonderbar.... jo jonderbar falſch? Sollten Sie wirt 
lich in den fünf Fahren im Auslande das Sprechen ver: 
lernt haben?” 

„Spreche ich denn falſch? Sch weiß nicht. Nein, nicht 
weil ich im Auslande war. 34 habe immer fo gejpro: 
chen... mir ift es einerlei.” 

„Und eine noch indisfretere Frage: ich glaube Shnen 
volltommen, daß Sie nicht gern mit Menichen zufammen 
find und wenig mıt ihnen ſprechen — warum haben ©ie 
aber jeßt mit mir jo aufrichtig geſprochen?“ 

„Mit Ihnen? Sie faßen vorhin jo gut da... und 
Sie... aber, einerlei... Sie haben viel Ähnlichkeit mit 
meinem Bruder, viel, außerordentlich,” fagte er er: 
roͤtend. „Er ſtarb, vor ſieben Jahren; Der ältere; fehr 
тебе viel Ahnlichkeit ...“ 

„Er Batte wohl einen großen Einfluß auf Shre An 
Ichauungen?” 

„N—ein, er ſprach wenig. Er jprach gar nicht. — Sch 
werde Ihren Zettel abgeben.” 

Er begleitete mich mit der Laterne bis zur Pforte, um 
йе Hinter mir zuzufchließen. 

„Selbitverftändlich verruͤckt,“ entſchied ich bei mir. 

Doch da {ат es zu einer neuen Begegnung. 


162 





IX 

Kaum hatte ich den Fuß auf die hohe Schmelle des 
Pfoͤrtchens gefett, ald mich plößlich eine ftarfe Hand an 
der Bruft padte. 

„Ber da?” brüllte eine Stimme. „Freund oder 
Feind? Bekenne!“ 

„Das И einer von den Unſrigen, den Unfrigen!” 
freijchte neben ihm Liputin aus der Fiſtel. „Das Ш Herr 
G—ff, ein junger Mann von НаЙИфег Bildung, und 
mit Beziehungen zur ellerhöchiten Gejellichaft !" 

„Gefällt mir, falls zur Geſellſchaft ... Ha—a—fi: 
Icher ... das bedeutet aljo ge—bild—det—Iter... Sch 
bin der Hauptmann а. >. Ignatius Lebädkin, zu Dienften 
der Welt und der Freunde... wenn fie treu find, wenn 
йе nur treu find, die Schufte!” 

Hauptmann Lebädfin, groß, did, fleijchig, Frausföpfig, 
rot und wie gewöhnlich betrunfen, hielt fich vor mir faum 
auf den Füßen und fonnte nur mit großer Mühe die 
Worte hervorbringen. 3% hatte ihn |фоп früher von 
weiten gejehen. 

„A—ah, der ift auch da!” fchrie er von neuem auf, als 
er Kirilloff bemerkte, der noch immer mit feiner Laterne 
an der Pforte ftand. Er erhob fchon feine Fauft zum 
Schlage, ließ fie aber wieder jinfen. 

„Verzeihe dir, wegen der Öelehrtheit! Ignatius Le: 
Барни — der gebil—det—Ite... 

Die Granate der flammenden Liebe 
Platzte in Ignats Bruft. 
Da jekte ſich der Invalide 
weil er — тей er. 
Um GSebaftopol weinen mußt’. 


— 163 


Menn ich аиф nie in Sebaftopol gemejen bin und... 
mich noch des Gebrauches aller meiner lieder erfreue 
— aber... wie finden Sie den Reim?" Er {ат wieder 
mit feinem betiunfenen Geſicht auf mich zu. 

„Er bat Feine Zeit, er muß паф Haufe gehen," Ве: 
redete ihn Liputin. „Morgen wird er Liſaweta Nicola: 
zewna erzählen — —“ 

„Liſaweta?“ bruͤllte Lebaͤdkin wieder. „Steh! bleib! 
Noch eine Variante: | 


Don Amazonen begleitet, 
Sprengt fie Байт wie der Wind. 
>, welch eine Freud mir bereitet 
Das а—|—+ю—На—Н фе Kind! 
Der Amazonenklönigin gewidmet. 


Begreifft du auch? Das ИЕ ein Hymnus! Das Ш ein 
Hymnus, wenn du fein Ejel bift! Dieſe Troͤdler, die 
können es nicht verftehen! Steh!" er padte mich am 
Mantel und hielt mich feft, wie ich mich auch losreißen 
wollte. „Sage ihr, daß ich ein Ritter der Ehre bin, und 
Daſchka ... Daſchka werde ich mit zwei Fingern . 
Leibeigene Skla —avin! — und darf fich nicht urter- 
ftehn AN 

Mit dieſen Worten fiel er hin: ich hatte mich ihm 
mit Öewalt entwunden und ihm dabei einen ftarfen Stoß 
verjeßt. Dann lief ich auf die andere Seite der Straße. 
Liputin Тат mir nach. 

„Alexei Nilytſch wird ihn jchon aufheben. Willen Sie, 
mas ich eben von ihm erfahren habe? — das Verschen 
haben Sie doch gehört? Nun, er hat dieſelben Зее an die 
‚Umazonenkönigin‘ aufgeichrieben und wird fie morgen 


164 





Liſaweta Nicolajewna mit feiner vollen Unterjchrift zu: 
jenden. Was jagen Sie dazu?” 

„sch Fönnte weiten, daß Sie ihn dazu beredet haben.” 

„Dann würden Öie verlieren!" Kiputin lachte. „Ver: 
liebt, verliebt, wie ein Kuter. Uber willen Cie auch, daß 
die Liebe mit Haß begonnen hat? Er haßte Liſaweta 
Nicolajewna, пей fie reitet, und zwar dermaßen, daß er 
jie laut auf der Straße zu bejchimpfen anfıng. Das bat 
er wahrhaftig getan! Noch vorgeftern hat er auf fie ge: 
schimpft, als fie vorüberritt. Zum Glüd hat fie nichts де: 
hört. Und jeßt plößlich Gedichte! Wiſſen Sie auch, daß 
er einen Antrag riskieren will? Im Ernft, im Ernft!" 

„Wie fommt es, Liputin, daß überall, wo 146 Schmuß 
anlammelt, Sie dabei find und womöglich noch eine 
führende Rolle ſpielen?“ fragte ich ruhig, aber innerlich 
raſend vor Wut. 

un, Herr G—ff, Sie gehen etwas weit. Das Herz 
chen hat wohl gefchlagen, als es vom Nebenbuhler hörte, 
wie?" 

„Wa—as?“ |фие ich und blieb ftehen. 

„за, aber jeßt werde ich Ihnen zur Strafe nichts mehr 
jagen! Und wie gern würden Sie doch noch mehr wiſſen! 
Schon allein, daß dieſer Narr jeßt nicht mehr ein де: 
wöhnlicher Hauptmann ЦЕ, jondern Gutsbeſitzer unferes 
Gouvernements und noch dazu ein Großgrundbeſitzer, 
da ihm Nicolai Stamwrogin fein ganzes ut, früher zwei— 
hundert Seelen ftark, vor ein paar Tagen verlauft hat. 
Bei Gott, ich де nicht! Eben hab irh’s erfahren, aber 
daflır aus der jicherften Quelle. So, und nun krabbeln 
Sie mal mit Ihrem Verftande allein weiter, mehr fage 
ich nicht. Auf Wiederjehen !" 


165 


X 

Stepan Trophimomwitich erwartete mich mit hyſte— 
rilcher Ungeduld. Er war vor einer Stunde зитиа: 
gekehrt und noch wie betrunfen, als ich eintrat. Wenig: 
Йеп8 die erſten fünf Minuten hielt ich ihn nicht für ganz 
nüchtern, jo jehr hatte ihn der Beluch bei Drosdoffs aus | 
dem ©leichgewicht gebracht. | 

„Mon ami, ich habe meinen Faden nun vollſtaͤndig | 
verloren. Lise ... ich liebe und verehrte Мен Engel 
wie früher, namentlich wie früher; aber mir jcheint, пе 
haben mich nur erwartet, um etwas von mir zu erfahren, 
um etwas aus mir herauszuquetichen und dann — geh 
mit Gott! ... Das ift jo!" | 

„Schämen Sie ſich!“ rief ich empört, ich hielt es wirk— 
lich nicht mehr aus. | 

„Mein Freund, ich bin jeßt ganz allein. Enfin c’est 
ridicule. Denken Sie nur, auch dort И alles mit Geheim: 
niſſen vollgepfropft. Sie warfen fich geradezu auf mich 
mit dieſen Дает’ und ‚Ohren‘ — und wer шеф mas 
noch für welchen Petersburger Geſchichten. Sie haben 
ja erſt jeßt erfahren, was vor vier Fahren mit Nicola 
Wſzewolodowitſch hier pafliert ПЕ: ‚Sie waren hier, ©ie 
haben es gejehen, ИЕ es wahr, daß er wahnjinmg ift?‘ 
Und woher dieje Idee aufgetaucht ЦЕ — ich weiß es nicht! 
_ Barum will dieje Prasfomja unbedingt, daß Nicolas 
verrudt jei? Ste mill eg, Пе will es! Ce Maurice, oder 
wie er da heißt, меет Mamritij Nikolajemitich, brave 
homme tout de meme,.. Öolite fie wirklich in jeinem 
Intereſſe, und nachdem, иле fie jelbft uus Paris ge: 
ichrieben hat, & cette pauvre amie ... Enfin, ‚dieje 
Prasfowja‘, wie ma chere amie fie immer nennt, Die 


156 








ИЕ ja eine Type! — Ш des uniterblichen Gogols Leib: 
baftige ‚Frau Käftchen‘*), nur eine böje Madame Kaäft: 
chen‘, ein eingebildetes Käjtchen, und in endlos vers 
größertem Maßſtabe!“ 

„Запи wird ja ein Kaften draus und по Dazu einer 
in endlos vergrößertem Maßſtabe!“ 

„ch, nun dann in verkleinertem, wie Sie wollen, das 
bleibt fich gleich, — nur unterbrechen Ste mich nicht, — 
mir dreht ſich ſchon ſowieſo alles im Kopf. Dort fuhren 
fie auch fchon aus der Haut; außer Lise natürlich, die 
Iprach noch immer von ‚Tante, Tante!“ Uber Lise Ш 
ſchlau und eg ftedte noch etwas dahinter! Geheimniſſe 
natürlich. Und mit der Mutter hat fie fich gezantt. Cette 
pauvre tante! Es ift ja wahr, deſpotiſch ift fie. Uber da 
ift jeßt eine ‚Souverneurin‘, ме Nichtachtung der Geſell— 
Ichaft, die Nichtachtung Karmafinoffs, plößlich der Ge: 
danke vom Wahnjinn — ce Lipoutine, ce que je ne 
comprends pas... u—und... Sie jagten dori, fie lege 
jich Eſſigkompreſſen um den Kopf, und da fommen wir ihr 
noch mit unferen Klagen und Briefen... O, wie ich Jie 
in diefer Zeit gequält habe! Je suis un ingrat! Зепп 
Sie fich, wie ich zurüdfomme, finde ich von ihr einen 
Brief vor; lefen Sie! {еп Sie! ©, wie unedel das alles 
von mir war!" 

Er reichte mir den foeben erhaltenen Brief Warwara 
Petromnas. Sch glaube, ihr hatte der letzte Brief mit 
dem „bleiben Sie zu Haus“ leid getan, denn dieſes Brief: 
chen war höflich, wenn auch kurz und beſtimmt. Sie bat 


*) Die Gutöbefigerin Frau Korobotfchfa in Gogols Roman „Die 
toten Seelen”; der Typ einer bejchräniten, engherzigen, geizigen 
alten Frau. EIK:R. 


167 


ihn, übermorgen, айо Sonntag, um zwölf Uhr zu ihr 
zu fommen, und riet ihm, einen feiner Freunde mit: 
zubringen — in Klammern ftand mein Name —, und 
ihrerjeits verpflichtete пе 19, Schatoff, ald Darja Pam: 
lownas Bruder, einzuladen: „Dann fönnen @е von 
ihr die endgültige Antwort erhalten. Genügt das jetzt? 
Iſt es diefe Tormalität, nach der Sie jo trachteten?” 

„Beachten Sie doch diefe gereizte Frage zum Schluß 
über Ме Formalität. DO, die Arme, der Freund meines 
Lebens! Aber ich muß geftehen, Ме plößliche би фе: 
dung des Schickſals Hat mich faft erbrüdt. Sch fage ganz 
aufrichtig, ich Бабе immer noch gehofft, aber jeßt — tout 
est dit, ich weiß |фоп, daß alles aus Ш. C’est terrible! 
O, wenn’s doch feinen Sonntag gäbe! Alles würde beim 
Alten bleiben. Sie würden mich hier wie immer be: 
juchen, und ich würde hier ...“ 

„xiputins Gemeinheiten und Kletichgeichichten haben 
Ste ja ganz aus der Fafjung gebracht, wie es jcheint.“ 

„Mein Freund, da haben Sie wieder eine andere 
Ichmerzhafte Stelle ‚freundfchaftlich‘ mit Ihrem Finger 
berührt. Aber dieje ‚freundfchaftlichen‘ Finger pflegen 
im allgemeinen unbarmherzig und zumeilen einfältig zu 
тет. Pardon, aber glauben Sie oder glauben Sie mir 
nicht: ich hatte Ме Gemeinheiten ſchon beinahe хех: 
geſſen, das heißt, ich hatte Пе keineswegs vergeſſen, aber 
Die ganze Zeit, die ich bei Lise war, habe ich mich bemüht, 
glüdlich zu fein, meinetwegen aus Dummheit bemüht. 
Aber jeßt, jeßt muß ich an dieje großmütige, humane 
Frau denken, die jo duldfam mit meinen niedrigen 
Sehlern... dag heißt, wenn auch nicht gerade duldſam 
... aber wie bin ich denn jelbft, ich mit meinem leeren, 


168 





Icheußlichen Charakter! Bin ich nicht ein törichtes Kind, 
mit dem ganzen Egoismus eines folchen, aber nur ohne 
{те Unſchuld? Zwanzig Jahre hat fie mich gehütet, 
wie eine Kinderfrau, cette pauvre tante, wie Lise fie 
jo graziös nennt... Und plößlich, nach zwanzig Jahren, 
will dag Kindchen heiraten, verheirate es und verheirate 
e8! ... ет Brief auf den anderen ... fie aber macht 
jtch Efliglomprefjen ... u—und . . . nun hat das Kind 
auch ФИФ erreicht, was es wollte... Sonntag 
ein verheirateter Menſch. . Spaß!... Warum habe 
ich denn felbft darauf beflanden, warum Бабе ich denn 
die Briefe gejchrieben? Übrigens, hab's vergeffen, zu 
jagen: Lise vergöttert Daria... wenigftens jagt lie: 
‚C'est un ange, nur ein verjchlojjener.‘ Beide rieten fie 
mir зи — ſogar Ума опа ... nein, übrigens die 
Praskowja riet mir nicht zu. DO, wieviel Gift in dieſem 
‚Käftchen‘ Пей! За, und auch Lise hat mir eigentlich, 
nicht dazu geraten: ‚Wozu brauchen Sie zu heiraten, 
Sie haben Doch genug an gelehrten Genuͤſſen!‘' und 
dabei lachte fie. Sch verzieh ihr das Lachen, denn ihr 
blutet ja auch das Herz. Uber fie fagten mir Doch, ich 
könne ohne Frau nicht mehr ausfommen. Es fommen 
Ihre ſchwachen Jahre und fie wird Sie dann pflegen, 
zudeden, oder wie fie es da fagten... Ma foi, ich habe 
ja auch ſchon die ganze Zeit fo bei mir gedacht, daß die 
Vorſehung felbft fie mir am Abend meiner wilden Tage 
ichieft, und daß fie mich zudeden ... enfin, im Haushalt 
wüßlich fein wird. Sehen Sie, wieviel Staub hier ift, 
ſehen Sie, all das liegt Мет jo herum. 34 fagte noch vor 
furzem, man ſolle aufräumen und da... ein Buch auf 
der Diele... La pauvre amie ärgert jich immer, daß es 


169 


ъ 


bei mir jo verkramt ausjieht... Seht werde ich nicht 
mehr ihre Stimme vernehmen! Vingt ans! U—und 
da gibt es nun noch anonyme Briefe, und denken Site 
nur, e8 heißt, Nicolas hätte ап Lebaͤdkin ein But verkauft! 
C’est un monstre. Enfin, mas ift Lebädfin? Lise hört 
und hört, Фон, wie fie zuhört! Ich vergab ihr das 
Lachen, als ich fah, mit welchem Geficht fie zuhörte, und 
ce Maurice... ich würde jeßt nicht gern in feiner Haut 
fteden, brave bomme tout de m&me, aber ein wenig 
ſchuͤchtern ... Übrigens, Gott hab’ ihn ſelig! ...“ 

Er verftummte: er jchien erjchöpft zu fein und faß wie 
gebrochen da, mit müdem Blid auf den Boden ftarrend. 
Ich benugte die Pauje und erzählte von meinem Bejuch 
im Silippoffichen Haufe; аиф unterließ ich es nicht, über 
dieſe Gefchichten meine Meinung zu jagen, und erklärte 
ihm kurz und troden, daß es meiner Meinung nach durch: 
aus möglich wäre, daß Lebaͤdkins Schweſter — die ich 
nie gejehen — in der Tat einmal Nicolai Stamrogins 
Opfer gemejen, vielleicht in feiner ‚rätjelhaften Peters: 
burger Zeit‘, wie Liputin ſich ausdrüdte.... und daß es 
wahrjcheinlich ift, daß Kebädfin, aus irgendeinem Grunde, 
von Stawrogin Geld erhält. Was aber die Klatich: 
де фу тет über Darja Pawlowna anbeträfe, fo ſeien die 
einzig Liputins Erfindung. Das meine аиф Kitilloff. 

Stepan Trophimowitſch hörte zerftreut meinen Ver: 
ficherungen zu, ganz als gingen fie ihn nichts ап. Sch 
erwähnte auch mein Gefpräch mit Kirilloff und fügte 
hinzu, daß ich ihn im übrigen für wahnſinnig hielte, 

„бт Ш nicht wahnfinmg, aber er gehört zu den Men: 
{феп mit furzen Gedanken,“ murmelte Stepan Trophi— 
mowitjch ſeltſam gelangweilt. „Ces gens-la supposent 


170 





la nature et la société humaine autres que Dieu ne les 
a faites et qu’elles ne sont r&ellement. Man läßt jich 
mit ihnen ein, aber Stepan Werchowenski wenigftens bat 
das nicht getan. Sch habe ſie damals in Petersburg ge: 
leben, avec cette chöre amie (oh, wie ich cette chere 
amie damals beleidigt habe!), doch weder ihr Geſchimpfe 
noch ihre Lobſpruͤche haben mir Furcht einflößen koͤnnen. 
Fürchte dieje Leute auch jeßt nicht, mais parlons d’autre 
chose ... ch glaube, ich habe Ochredliches angerichtet; 
ftellen Sie jich vor, ich habe Darja Pawlowna geftern 
einen Brief geichrieben und „.. wie verwünjche ich ihn 
nun ... und mich dazu!” 

„Bas haben Sie ihr denn geſchrieben?“ 

„Oh, mein Freund, glauben Sie mir, das war alles jo 
edel yedacht! ch teilte ihr mit, daß ich vor etwa fünf 
Tagen an Nicolas gejchrieben habe, und gleichfalls groß: 
muͤtig.“ 

„Jetzt begreife ich! rief ich aufgebracht. „Und welch 
ein Recht hatten ©ie, ме beiden jo einander gegenüber: 
zuſtellen?“ 

„Aber, mon cher, erdruͤcken Sie mich doch nicht ganz, 
ſchreien Sie nicht jo, ich bin ja ſchon ſowieſo zerknirſcht ... 
und zerdruͤckt wie eine Schabe, ... und ſchließlich, ich 
glaube Doch, es war alles edel, Nehmen Sie an, daß 
da wirklich etwas pajliert ИЕ... en Suisse „.. oder 
angefangen hat. 34 muß Doch ihre Herzen vorher 
fragen, ит... enfin — им nicht die Herzen zu ſtoͤren 
und wie ein Pfoten auf ihrem Weg ... Ich... i—ich 
habe её einzig und allein aus Edelmut getan.” 

„> Фон, wie dumm Sie das gemacht haben!” jagte 
ich unwillkuͤrlich. 


171 


„Dumm, dumm," griff er das Зое jogleich und faſt 
gierig auf. „Noch nie haben Sie etwas Klügeres gejagt, 
c’etait Бе mais que faire? Tout est dit. Werde ja 
ſowieſo Beiraten, auch wenn’s ‚fremde Sünden‘ find, 
або wozu brauchte ich da поф zu fchreiben! Nıcht wahr?" 

„Ach, jo meine ich es ja nicht!" 

„Oh, jeßt erichreden Sie mich aber nicht mehr mit 
Ihrem Geſchrei; jeßt fteht vor Ihnen nicht mehr jener 
Stepan Werchowensfi, der ift begraben, enfin — tout 
est dit. За und warum fchreien Sie eigentlich? Einfach, 
weil nicht Sie heiraten und nicht Sie einen gewiſſen 
Kopfihmud zu tragen brauchen! Wieder fchneiden Sie 
ein Gelicht! Uber, mein armer Freund, Sie fennen die 
Frau nicht, ich aber Бабе in meinem ganzen Leben nichts 
anderes getan, als jie ftudiert. ‚Willft du die Welt Бег 
liegen, bejiege dich jelbft‘, das einzige, was einem ап: 
deren ſolchen Nomantifer, wie Sie einer find, Schatoff, 
dem Bruder meiner zufünftigen Gattin, ald Ausſpruch 
gelungen Ш. 3% eigne mir gern feinen Ausſpruch ап. 
Nun, auch ich bin bereit, mich felbft зи befiegen, und 
heirate, aber was erobere ich апйаН der ganzen Welt? 
Uch, mein Freund, die Ehe! Die Ш der moraliihe Tod 
jeder ftolzen Seele, jeder Unabhängigkeit. Das Ehe: 
leben verdirbt mich, nimmt mir die Energie, nimmt mir 
den Mut, der nun einmal zum Dienit an einer Sache nötig 
Ч. Dann fommen noch die Kinder, die am Ende gar 
nicht meine find — das heißt, jelbjtverftändlich nicht 
meine! —, der Weife fürchtet fich nicht, der Wahrheit 
ins Geficht zu bliden ... Liputin ſchlug mir heute vor, 
mich mit Barrifaden vor Nicolas zu jhüßen. Er Ш 
dumm, diejer Liputin. Das Weib betrügt felbft das all: 


172 





wiffende Auge Gottes. Le bon Dieu mußte natürlich, 
als er das Weib fchuf, was er unternahm. Uber ich bin 
überzeugt, daß fie Ihn felbft —- dabei geftört und Ihn 
verleitet hat, fie gerade fo und... mit jolchen Attributen 
zu ſchaffen; denn wer würde fich umfonft ſolche Ochere: 
reien auf ven Hals laden? Ich weiß, Naſtaſſja würde 
fich über diefe Freidenkerei ärgern, aber ... enfin tout 
est dit.” | 

Er wäre nicht ег gewejen, wenn er ohne ein billiges 
Wortſpielchen ausgefommen mwäre, menigftens tröftete 
er fich jeßt damit, — aber leider nicht auf lange. 

„Dh, wenn её doch fein Übermorgen gäbe, wenn doch 
diefer Sonntag nicht wäre!” rief er plößlich in heller 
Verzweiflung aus. „Barum kann diefe Woche nicht 
ohne Sonntag fein — si le miracle existe? Was wiirde 
es denn die Vorſehung often, einen einzigen Sonntag 
aus dem Kalender zu ftreichen, meinetwegen, um den 
Atheiften ihre Macht zu zeigen et que tout soit dit! 
Dh, wie ich ſie geliebt habe! Vingt ans... und all die 
zwanzig Sahre hat fie mich nicht verftanden !" 

„Bon wem ſprechen Sie denn jeßt? Sch kann Sie 
wirklich nicht verftehen, fragte ich verwundert. 

„Vingt ans! und nicht ein einziges Mal hat Пе mich 
verftanden, ob, das И graufam! Und ſollte пе wirklich 
glauben, Daß ich aus Angſt heirate? Oh, welche Schmadh ! 
Tante, tante, ich bin dein! Mag fie es erfahren, dieje 
tante, daß ſie das einzige Weib ift, das ich zwanzig Jahre 
lang vergöttert habe! Sie muß es erfahren, anders geht 
das nicht, fonft muß man mich mit Gemalt fchleppen zu 
dem da ... се qu’on appelie 1е Altar!“ 

Ich hörte zum erſten Mal diejes Bekenntnis und ich 


173 


will nicht verheimlichen, daß mich eine wahnfinnige Luft 
zu lachen anmwandelte. Oder tat ich ihm Unrecht? 

„Er allein Ш mir jet geblieben, meine einzige Hoff: 
nung!” rief er plößlich, wie von einer neuen Idee er: 
leuchtet. „Seßt И nur er es allein, mein armer Junge, 
der mich retten апп und — warum fommt er denn 
noch nicht? Mein Sohn, mein Petrufcha ... und wenn 
ich’8 auch nicht verdient habe — Vater zu heißen, eher 
ein Tiger bin ... jo ... laissez-moi mon ami ... 1% 
werde ein wenig fchlafen, зип meine Gedanken zu ſam—⸗ 
meln. Sch bin fo müde, jo müde, ja, und auch Sie mülffen, 
glaube ich, zu Bett, voyez-vous ... е8 ift fchon zwoͤlf.“ 


174 





Niertes Kapitel 
Die Hinkende 
Е. 


vesmal таг Schatoff nicht ſtarrkoͤpfig, ſondern er— 
ſchien, auf meinen Brief hin, richtig ит zmölf Uhr. 
Wir trafen Гай zu gleicher Zeit ein, denn auch ich war 
gefommen, um meine erfte Vilite zu machen. ®Ца, die 
„Мата“ und Mawrikij Nikolajemwitich ſaßen alle drei 
im großen Salon und ftritten fich gerade. Die Мата 
wuͤnſchte, daß Liſa ihr einen beftimmten Walzer vor: 
ipiele, und als Liſa das tat, behauptete fie, das fei ein 
anderer Walzer. Mawrikij Nifolajewitich trat in feiner 
бита für Lisa ein und beteuerte, daß es wirklich der 
gewuͤnſchte Walzer gemejen ſei, doch da begann Ме 
alte Dame vor Ärger zu weinen. Sie war franf und 
konnte faum gehen. Ihre Füße waren gejchmollen, und 
nun tat jie jchon jeit ein paar Tagen nichts anderes, ale 
daß fie launifch war und mit allen und jedem Ötreit 
anfing, obgleich fie Lila immer ein menig fürchtete. 
Über unferen Befuch war man jehr erfreut. Liſa errötete 
vor Freude, und nachdem Пе mir merci gejagt hatte 
(natürlich wegen Schatoff), ging fie auf ihn zu. In ihren 
Augen lag Neugier. 
Schatoff war linkiſch an der Tür ftehen geblieben. ©ie 


175 


dankte ihm dafür, daß er gefommen war, und führte ihn 
dann zur Mutter. 

„Das ift Herr Schatoff, Mama, von dem ich Ihnen 
ſchon erzählt habe, und Мег ift Herr G—ff, ein Freund 
von mir und Stepan Trophimowitſch.“ 

„Wer von Ihnen Ш nun der Profeſſor?“ 

„Keiner von ihnen tft Profefjor, Mama.” 

„Wiefo, einer ift doch Profeffor. Du Бай mir ſelbſt 
gejagt, daß ein Profefjor fommen wird — wahrſcheinlich 
ift es der?" und fie wies Dabei auf Schatoff. 

„sch habe Ihnen nichts von einem Profeflor gejagt. 
Herr G—ff Ш Beamter und Herr Schatoff Ш Student.“ 

„Student, Profeſſor — die find doch beide von der 
Univerlität. Du milift immer nur ftreiten. Der Schweizer 
ſah anders aus.” 

„Mama nennt Piotr Stepanowitſch immer ‚Pro: 
feſſor““, fagte Liſa und führte Schetoff in die andere 
Salonede zu einem Sofa, auf dem fie dann Plaß nahm. 
„Wenn ihre Füße fchmerzen, ift fie immer Io, fie ift naͤm— 
lich frank”, jagte fie dabei leije zu ihm, während fie ihn 
wieder meugierig betrachtete und befonders auf feinen 
abftehenden Haarſchopf ſah. | 

„Sind fie Militär?” fragte mich Madame Drosdoff, | 
der mich Lifa unbarmherzig überlafjen hatte, 

„Nein, ich diene...“ 

„Her G—f Ш Stepan Trophimowitſchs befter 
Freund,” rief Lifa ihr aus der anderen Ede zu. 

„Sie dienen bei Stepan Zrophimowitich? Uber Der 
НЕ Doch auch Profeſſor!“ 

„Ich, Mama, Sie machen ja jchon alle Menfchen zu 
Profeſſoren!“ rief Liſa unmillig. 


176 





„Es gibt ihrer auch fo fehon zu viele! Du aber willſt 
nur wieder deiner Mutter widerſprechen. — Waren 
Sie hier, als Nicolai Mfzewolodowitich das erfte Mal, 
vor vier Jahren, bei Warwara Petrowna war?” 

Sch antwortete bejahend. 

„Bar irgendein Engländer mit ihm hier?” 

„Nein, nicht, daß ich wüßte. 

Liſa fing an zu lachen. 

„Sehen Sie nun, Mama, daß überhaupt fein Eng— 
fänder hier gemwejen Ш — aljo, wieder Luͤgen! War: 
wara Petromna und Stepan Trophimowitſch lügen 
alle beide. За, und überhaupt — alle lügen! Geſtern,“ 
erflärte fie darauf, zu ung gewandt, „fanden naͤm— 
lich tante und Stepan Trophimomitich eine Ähnlichkeit 
zwißchen Nicolai Mizewolodomwitfch und dem Prinzen 
Heinz aus Shafefpeares ‚Heinrich IV.‘, und daher 
glaubt Mama nur, daß ein Engländer mit ihm Мег дег 
weſen ſei.“ 

„Wenn kein Englaͤnder da war, ſo war auch kein Heinz 
da, und euer Nicolai Wſzewolodowitſch machte nur ſeine 
eigenen Streiche.“ 

„Mama tut nur mit Abſicht ſo,“ fand Liſa fuͤr noͤtig, 
Schatoff auseinander zu ſetzen. „Sie kennt Shakeſpeare 
тебе gut; ich habe ihr ſelbſt den erſten Akt von ‚Othello‘ 
vorgelefen. Sie ift jeßt immer fo gereizt, wifjen Ste. — 
Mama, hören Sie, её jchlägt zwölf, Sie muͤſſen Ihre 
Medizin einnehmen.“ 

„Der Doktor iſt gekommen“, meldete das Dienſt— 
maͤdchen. 

Die Alte erhob ſich und rief ihr Huͤndchen: „Semirka, 
Semirka, komm du doch wenigſtens mit mir.“ Aber das 


12 Doſtojewski, Die Dämonen. Bd. J. 177 


mwiderliche alte Tierchen Semirka gehorchte ihr nicht, ſon— 
dern kroch zu ®Ца unter das Sofa. 

„Du willft alfo nicht? Nun, dann will ich dich au 
nicht mehr. Leben Sie mohl, mein Lieber, Ihren Namen 
habe ich leider vergeſſen“, wandte fie fich an mich. 

„Anton Lawrentjewitſch ...“ 

„Schon gut, laſſen Sie nur, bei mir geht's doch bloß 
zum einen Ohr hinein, zum andern hinaus. Begleiten 
Sie mich nicht, Mawrikij Nikolajewitſch, ich Бабе nur 
Semirka gerufen. Noch kann ich, Gott ſei Dank, allein 
gehen, und morgen werde ich ſpazieren fahren!“ 

Und ſichtlich geaͤrgert verließ ſie langſam den Salon. 

„Anton Lawrentjewitſch, Sie unterhalten ſich ие 
zwiſchen mit Mawrikij Nikolajewitſch, — nicht wahr? 
Ich kann Sie verſichern, daß Sie beide nur gewinnen 
werden, wenn Sie naͤhere Bekanntſchaft machen“, ſagte 
Liſa und laͤchelte Mawrikij Nikolajewitſch freundſchaftlich 
zu. Er aber erſtraͤhlte förmlich unter ihrem Blick. 

So тиб ich mich denn, wohl oder übel, mit Mawrikij 
Nikolajewitſch unterhalten. 


II 


Die Angelegenheit, die Liſaweta Nifolajeruna mit 
Schatoff beiprechen wollte, erwies fich zu meinem Er- 
ſtaunen als tatjächlich rein literarifch. 34 weiß nicht, 
warum ich überzeugt gemwejen war, daß fie ihn aus 
einem anderen Grunde zu fich gerufen hätte, Als wir 
nun fahen, daß fie aus ihrem Anliegen fein Geheimnis 
vor ung machte und auch nicht leife |prach, hörten wir 
unmillfürlich zu; und bald zog fie ung fogar mit ins Ge— 
Ipräch und bat auch ung um Nat. Sie hatte, wie fie ung 


178 











auseinanderjeßte, fchon lange Ме Herausgabe eines ihrer 
Meinung nach fehr nüslichen Buches geplant. Da fie 
aber in jolchen literarischen Sachen feine Erfahrung be: 
jaß, jo brauchte fie einen Mitarbeiter. Der Ernft, mit 
dem ſie Schatoff ihren Plan zu erklären verfuchte, [ее 
mich wirklich in Erftaunen. 

„Alſo auch eine von den Modernen,” dachte ich. „Sie 
фен nicht umſonſt in der Schweiz gemwejen zu fein.” 

Schatoff hörte ihre aufmerkſam zu, den Blick eigens 
ſinnig an den Boden geheftet, und ohne jegliche Ver: 
wunderung darüber, daß ein junges Mädchen der Gefells 
фай fich mit folhen Sachen abgab. 

68 handelte fih um Folgendes. Sn einem Lande 
wie Rußland erfcheint jährlich eine große Anzahl von 
Zeitungen und Zeitjchriften aller Art, und in ihnen wird 
tagaus tagein von allen möglıchen Ereigniffen berichtet. 
Uber wenn dann das Jahr vergangen Ш, werden die 
alten Zeitungen überall weggeräumt, in Schränke ge: 
jtedt, oder fie liegen herum, werden zerriſſen, werden 
zum Einjchlagen verwandt uſw. Manch eines von den 
mitgeteilten Ereignifien bleibt wohl im Gedächtnis des 
Leſers haften, wenn es auf ihn einen Eindrud gemacht 
bat, und gerät ей nach Fahren in Vergeffenheit. Nun 
würden aber viele {рег gern nachfchlagen und das ein 
mal Gelefene wieder lefen wollen, aber was gäbe газ 
für eine Arbeit, in diefem Meer von Blättern die Stelle 
zu finden, zumal man fich oft nicht einmal erinnert, in 
welchem Jahre oder Monat und in welcher Zeitung man 
die betreffende Sache gelefen hat. Indeſſen Fönnte, 
wenn man alle derartigen Geſchehniſſe eines ganzen 
Sahres fammelte und in einem einzigen Bande heraus: 


19° 179 


- 


gäbe — jelbfiverftändlich nach einem beftimmten Plan 
und nach einem bejtimmten leitenden Gedanken geordnet, 
mit einteilenden Überfchriften, mit einem Index und mit 
überjichtlicher Angabe der Zeit (Monate und Tage) — 
jo fünnte eine folche Zufammenfafjung des Stoffes in 
einem überjichtlihen Werke die ganze Charafteriftif des 
ruſſiſchen Lebens im Laufe dieſes Jahres veranfchaulichen, 
obwohl von den Ereignifjen jelbft, im Vergleich zu all den 
unzähligen Öeichehnifjen, von denen Ме Zeitungen Ве: 
richten, natürlich nur ein Нетег Bruchteil aebracht тет: 
den ſoll. 

„Bir würden aljo ftatt einer Menge Blätter mehrere 
dide Bücher haben, und das wäre alles”, bemerfte 
Schatoff. 

Doch Liſaweta Nifolajemna verteidigte ihren Фе: 
danken mit großem Eifer, obgleich es ſchwer war, ihn ein: 
leuchtend zu erklären, ganz abgejehen davon, daß fie 
fih auch nicht recht auszudrüden verftand. Es muͤſſe 
nur ein einziger Band werden, und nicht einmal ein ſehr 
dider, beteuerte fie. Dder wenn es auch ein Dides Buch 
werden follte, fo muͤſſe es doch überfichtlich fein, und 
deshalb ſei ме Hauptjache der Plan und die Urt der Ein 
teilung des Stoffes. Selbftredend dürfe nicht alles ge= 
nommen und abgedrudt werden. Erlaſſe, Negierungss 
maßnahmen, örtliche Verordnungen, Gejeße — jo wich: 
tig das alles auch ſei — in das Buch brauchte man davon 
doch nichts aufzunehmen. Überhaupt fönnte man vieles 
meglaflen und fich auf eine Auswahl von Geſchehniſſen 
bejchränfen, die mehr oder weniger das ethifche und per: 
fönliche Zeben des Volkes, jozujagen die Perfönlichfeit 
des ruflischen Volfes im gegebenen Augenblide aus— 


180 





drücdten. Freilich Fame alles in Betracht: Kuriofitäten, 
Brände, Spenden, Stiftungen, Ме verfchiedenften 
quten oder fchlechten Handlungen, verfchiedene Aus— 
Iprüche und Neden, ja, fchließlich auch Nachrichten von 
Überfchwemmungen, ja meinethalben auch einzelne Re— 
gierungserlaffe, aber aus allem muͤſſe nur das heraus: 
gefucht werden, was die Epoche Tennzeichnet. Ulles 
ие eben unter einem beftimmten Gefichtswinfel er: 
faßt und hingeftellt werden, und hinter allem muͤſſe ein 
Gedanke ftegen, der den Zufammenhang des Ganzen 
fichtbar werden laſſe. Und fchließlich пиШе das Buch fo: 
gar als Lektüre intereilant und feſſelnd fein, garız zu 
Schweigen von feinem Wert als notwendiges Nachfchlage- 
buch! Es wäre aljo gemwiffermaßen ein Bild des geiftigen, 
littlichen, inneren ruſſiſchen Lebens im Laufe eines 
Sahres. „Es muß fo fein, daß alle es вип, eg muß zu 
einem richtigen Handbuch werden,” behauptete Ца. 
„sch weiß wohl, daß hierbei der Plan die ЗаирНафе ift, 
und deshalb wende ich mich an Sie”, ſchloß Liſa. Ste 
war recht in Eifer geraten, und obgleich пе fich unklar und 
unvollftändig ausgedrüdt hatte, begann Schatoff zu be: 
greifen. 

„Es würde aljo doch fo etwas mit einer Tendenz wer: 
den, eine Zufammenftellung von Fakten unter einem Без 
ftimmten Geſichtswinkel“, brummte er, immer noch ohne 
den Kopf zu erheben. 

„Keineswegs mit einer Tendenz, das ift gar nicht nötig! 
Nichts ald Objektivität — das ſoll die ganze Nichtichnur 
fein.” 

„ber die Richtung wäre ja an fich nichts Schlimmes,“ 
ſagte Schatoff und bewegte fich endlich, „auch Неве ſich 


181 


das wohl nicht vermeiden, ſobald man überhaupt eine 
Auswahl trifft. In der Art der Auswahl und Zufammen: 
ftellung wird eben fchon der Hinweis enthalten jein, wie 
man das Ganze verftehen joll. Ihre Idee iſt nicht 
ſchlecht.“ 

„So glauben Sie, daß man ein ſolches Buch zuſtande 
bringen kann?“ fragte Liſa erfreut. 

„Man muß ſich das noch uͤberlegen. Es wuͤrde ein 
großes Unternehmen werden. So ploͤtzlich laͤßt ſich nichts 
ausdenken. Da muß man Erfahrungen ſammeln. Selbſt 
während der Arbeit dürften wir noch nicht recht wiſſen, 
wie e8 am beften zu machen wäre. Vielleicht finden wir 
das erſt nach vielen Verfuchen. Uber der Gedanke fängt 
ап, einem Нах zu werden. 68 Ш ein nüglicher Gedanke.“ 

Endlich ſah er auf und feine Augen leuchteten jogar 
vor Vergnügen, [о ſehr war er jeßt interejjiert. 

„Haben Sie fich das ſelbſt ausgedacht?" fragte er Liſa 
freundlich und, wie das fo feine Art war, faft verjchämt. 

„Ach, das Ausdenken war fein Kunftitüd, dafür aber 
ift das der Plan um fo mehr," erwiderte Liſa lächelnd. 
„sch verftehe wenig davon und bin nicht ſehr Flug, ich 
verfolge nur das, was mir felbft На ИЕ...” 

„Sie verfolgen?“ 

„Das ЦЕ wohl nicht das richtige Wort?” forſchte Life 
Schnell und mifbegierig. 

„ет, doch ... man kann es jagen. 94 fragte nicht 
deswegen.” 

„5% Бабе mir |фоп im Yuslande gejagt, daß auch ich 
der allgemeinen Sache irgendwie nüßlich fein fönnte. Sch 
bejiße mein eigenes Geld, und es liegt tot da. Marum 
ſoll ih nicht gleichfalls arbeiten? Und zudem Тат mir 


182 








jene Idee ganz von jelbft, ich Бабе mich gar nicht ап 
geftrengt oder fie mir ausgedacht —, der Gedanke war 
auf einmal da, und da freute ich mich ſehr. Sch ſah nur 
gleich ein, daß es ohne einen Mitarbeiter nicht geben 
würde, da ich allein doch nichts verftehe. Der Mitarbeiter 
joll natürlich auch gleich der Mitherausgeber fein. Wir 
machen es dann zur Hälfte: von Ihnen fommt der Plan 
und die Arbeit, von mir die Idee und die Mittel zur 
Herausgabe. Das Buch wird fid) doch bezahlt machen!" 

„Denn wir den richtigen Plan finden, wird das Buch 
ſchon gehen. 

„Sch muß nur vorausfchiden, daß ich es nicht wegen 
des möglichen Überfchuffes tue, aber ich möchte doch ſehr, 
daß es viel gefauft wird, und auf einen Überjchuß wäre 
ich natürlich furchtbar ſtolz.“ 

„ber was foll ich denn dabei?" 

„ber ich bitte Doch gerade Sie, diefer Mitarbeiter zu 
ет... Wir teilen dann. Sie werden doch den Plan 
ausdenken.“ 

„Woher wiſſen Sie, ob ich das kann?“ 

„Man bat mir ſchon von Ihnen erzählt ... ich weiß, 
daß Sie fehr Нид find und ... zu arbeiten verfichen 
und ... viel denken. Mir bat Pjotr Stepanomitich 
Werchowenski in der Schmeiz von Ihnen erzählt,” fügte 
Пе eilig hinzu. „Er Ш ein jehr Huger Menſch, nicht wahr?" 

Schatoff jah fie im Nu mit einem gleichfam hufchenden 
Blick an, der faum über fie hinglitt, ſenkte aber fofort 
wieder die Augen. 

„Auch Nikolai Stawrogin hat mir viel von Ihnen er: 
zahlt.” 

Schatoff wurde plößlich rot. 


183 


„Übrigens, Ме find fchon Zeitungen.” Sie nahm 
haftig ein zujammengebundenes Palet, das auf einem 
Stuhl bereit lag. „Sch babe ſchon verfucht, eine Aus: 
wahl zu treffen und ein bißchen zufammenzuftellen — ich 
babe ме Stellen angeftrihen und nummeriert ... Sie 
werden ſchon felbit jehen .. 

Schatoff nahm das Palet. 

„Nehmen Sie es mit nach Haus, fehen Sie es dort 
durch — Sie wohnen doc, irgendwo?" 

„sn der Bogojavlenskichen Straße, im Filippoffichen 
Haufe.” 

„sch weiß, wo das Ш. Dort foll, wie ich gehört habe, 
neben Ihnen auch irgendein Hauptmann wohnen, ein 
Herr Lebaͤdkin?“ fuhr Liſa mit derjelben haftenden Eile 
fort. 

Schatoff ſaß, das Paket, wie er es genommen hatte, 
frei in der Hand haltend, wohl eine ganze Minute ohne 
zu antworten da und blidte zu Boden. 

„Зи diefen Sachen werden Sie fich Doch wohl einen 
anderen ausjuchen müfjen, denn ich — tauge nicht dazu‘, 
ſagte er ſchließlich mit ganz eigentümlich дееп ег Stimme, 
ja, faft flüfternd. 

Liſa flammte auf. 

„Bon was für Sachen reden Sie? Mamrikij Nikolajes 
witſch!“ rief Пе diefen, „bitte geben Sie mir jenen Brief.” 

Auch ich trat паф Mamrifij Nikolajewitſch an den Tiſch. 

„Sehen Sie dies hier, wandte fie fich plößlich an mich, 
während fie in fichtlich großer Erregung den Brief ent: 
faltete. „Haben Sie ſchon je etwas Ähnliches geſehen? 
Bitte, leſen Sie es laut vor. Ich will, und es ift nötig, 
daß auch Herr Schatoff es hört,” wandte fie ſich darauf 


184 





ап mich, „haben Sie |фоп je in Ihrem Leben fo was дс: 
lejen? Bitte, «сп Sie laut vor. Auch Herr Schatoff 
ſoll's hören.” 

Sc las nicht wenig erjtaunt das Folgende: 


„An die vollendete Schönheit, die Jungfrau Liſa— 
weta Nicolajewna Zufchina, 


Gnädiges Fräulein! 
>, wie ift fie wunderbar, 
Liſaweta Zufchina! 
Wenn Пе morgens ausreitet 
Und durch ihre Locken der Wind gleitet! 
Dann wuͤnſch' ich mir von ihr alle Wonne 
Und denk', fie |1 meine Frau und meine Sonne. 


(Gedichtet von einem Ungelehrten nach einem 
©treite.) 
Gnädiges Fräulein! 

Um meiften bedauere ich, daß ich vor Sebaſtopol 
nicht einen Arm zum Ruhme der Tapferkeit verloren 
habe, fintemal ich Dort überhaupt nicht geweſen bin, 
londern man mich während des ganzen Feldzuges mit 
der Lieferung von ganz gemeinem Proviant Бе: 
Ichäftigt hat. Sie aber find eine Göttin im Altertum 
und ich bin vor Ihnen nichts, Doch jeßt ahne ich, mas 
Unermeßlichkeit ift. Betrachten Sie alles, was ich 
Ihnen fage, als Зее, denn Зее find Poeſie, und 
Poeſie ift Unfinn, aber fie entjchuldigt das, was man 
in der Profa Unverfchämtheit nennt. Wie aber follte 
ſich eine Sonne über eine Infuſorie ärgern, wenn es 
doch, mit dem Mifroffop betrachtet, unendlich viele 


185 


Infuforien fchon in einem Wajfertropfen gibt! Sogar 
der große Klub der Nächitenliebe zu großem Viehzeug 
in Petersburg, der mitleidig für die Rechte von Hun— 
den und Pferden Fämpft, nimmt ſich der Fleinen Sn: 
fujorie nicht an, шей fie nicht ausgewachſen ift. Auch 
ich bin noch nicht ausgewachlen. Der Gedanke an eine 
Heirat würde komiſch fein. Uber durch einen Menjchen- 
haſſer, ven Sie verachten, werde ich bald zweihundert 
ehemalige Seelen bejißen. Kann vieles mitteilen, und 
babe Dokumente in der Hand, wofür es fogar nach 
Sibirien gehen апп. Verachten Sie aljo nicht meinen 
Antrag. Diefer Brief ift rein poetifch zu verftehen. 
Hauptmann Lebadlin, 
Ihr ergebenfter Freund, der immer Zeit hat.” 


„Das hat ein Betrunkener gefchrieben,” rief ich aus, 


„ein erbärmlicher Menſch! — Sch kenne ihn!" 


„Sch erhielt ihn geftern,” begann ®Ца, hochrot im Ge— 
ficht, uns haftig zu erflären. „Sch begriff fofort, daß 


irgend ein Narr ihn gefchrieben hat. Deshalb Бабе ihn 


Mama auch gar nicht gezeigt, um fie nicht aufzuregen. 
Doch was follich tun, wenn er mir noch mehr folche Briefe 
Ichreibt? Mawrikij Nicolajemwitich wollte zu ihm gehen, 
um es ihm zu verbieten. Sie aber, Herr Schatoff, da 
Sie doch im jelben Haufe wohnen, Sie fünnen mit viel- 
leicht etwas Näheres über ihn mitteilen?” 

„Ein verfommener Menſch“, murmelte Schatoff zur 
Antwort. 

„sit er immer fo dumm?" 

„> nein, wenn er nicht betrunfen И, ift er durchaus 
nicht dumm.” 


186 


| 


„sch habe einen General gefannt, der in feinen Muße— 
ftunden genau ſolche Gedichte fchrieb”, bemerkte ich 
amüfiert. 

„Sogar aus diefem Brief ИЕ zu erfehen, daß er nicht 
dumm fein kann“, ſagte der ſonſt fo fchweigfame Maw— 
rikij Nicolajewitſch überrafchendermeife. 

„Man ſagt, er habe hier eine Schweſter bei ſich?“ fragte 
Liſa. 

„Ja, eine Schweſter.“ 

„Und er ſoll ſie tyranniſieren, iſt das wahr?“ 

Schatoff ſah Liſa wieder kurz an, runzelte die Stirn, 
brummte nur: „Was geht das mich an!“ und wandte ſich 
zur Tuͤr. 

„Ach, aber jo warten Sie doch,“ rief Liſa erregt, „wo— 
hin wollen Sie denn ſchon? Wir muͤſſen doch noch fo 
vieles beiprechen! .. 

„Bas denn beiprechen? Sch werde Ihnen morgen Bes 
kcheid jagen ...“ 

„ber die Hauptjache ift doch, wie wir её druden! 
Glauben Sie mir doch endlich, daß es mir mit dem Buch 
wirklich ernft ЦЕ! beteuerte Liſa in wachjender Unruhe. 
„Wenn wir es nun herauszugeben befchließen, mo joll 
das Buch dann gedrudt werden? Wir werden 50% des: 
halb nicht nach Moskau reifen, und die hiefige Druderei 
fommt für eine folche Ausgabe Doch nicht in Frage. So 
habe ich denn beichlofien, eine eigene Druderei zu grün: 
den, jagen mir, auf Ihren Namen, und Mama würde 
beftimmt nichts dagegen haben, wenn es auf Ihren Na— 
men geſchieht .. | 

„Woher willen Sie, daß ich zu druden verfiehe?” fragte 
Schatoff finfter. 


187 


„за, das hat mir Piotr Stepanowitſch Werchomensti 
Ichon in der Schweiz gejagt, daß Sie das alles verliehen, 
und er wollte mir fogar einen Brief an Sie mitgeben, 
aber dann habe ich’s vergeflen ...“ 

Wie ich mich jet erinnere, ging hierauf eine Verände: 
rung in Schatoffs Фей vor fich. Er ftand noch ein paar 
Sekunden da und plößlich verließ er das Zimmer, 

Liſa ärgerte ſich. 

„Geht er immer ſo weg?“ fragte ſie mich. 

Ich zuckte nur mit der Schulter — doch in dieſem 
Augenblick kam Schatoff ſchon zuruͤck und legte das Paket 
auf den Tiſch. 

„Ich kann nicht Ihr Mitarbeiter ſein, habe keine 
Zeit 

„Aber warum, warum denn nicht? Sie haben ſich 
wohl uͤber irgend etwas geaͤrgert?“ fragte Liſa ganz 
traurig und ihre Stimme klang bittend. 

Und dieſer Ton in ihrer Stimme ſchien ihn ſtutzig zu 
machen: ein paar Augenblicke lang ſah er ſie unverwandt 
an, als wolle er bis in ihre Seele hineinſchauen. 

„Einerlei,“ murmelte er dann dumpf, „ich will nicht...“ 

Und er ging wirklich weg. 

Liſa blieb ganz niedergeſchlagen zuruͤck — ſogar weit 
niedergeſchlagener, als man es nach den: Vorgefallenen 
hätte verftehen koͤnnen; wenigfteng jchien es mir damals fo. 

„Ein Außerft fonderbarer Menfch”, bemerkte Mawrikij 
Nicolajewitſch. 

III 

Allerdings wirkte Schatoff „ſonderbar“, aber ſchließ— 
fich war ап dieſem ganzen Vorfall doch gar zu vieles ип: 
Нот. Es mußte da hinter manchem noch ein anderer Sinn 


188 





ſtecken. Diefe Buchgefchichte 3. B. ат mir durchaus uns 
glaubhaft vor und ich dachte bei mir, daß fie wohl nur 
ein Vorwand zu irgendwelchen anderen Zweden jein 
fönne. Und dann diefer verrüdte Brief mit dem Ver: 
Iprechen von Mitteilungen und „Dofumenten‘, und war: 
um hatten fie es vermieden, davon zu |ртефеп, warum 
Iprachen fie fogleich von ganz etwas anderem? Warum 
war Schatoff jo plößlich fortgegangen, und fo auffallender= 
weile gerade dann, als man von der Drudereifrage zu 
iprechen begann? Alles das gab mir zu denken und ich 
fam zu der Überzeugung, daß Мег etwas Geheimnis— 
volles vorliegen ше. — — Doch е8 war Zeit, daß auch 
ich mich verabfchiedete. 

Liſa fchien meine Anmefenheit im Zimmer ganz ver: 
gefien zu haben. Sie ftand immer noch tief nachdent: 
lich auf demſelben Platz am Tiſch und ftarrte vor fich hin. 

„ch, auch Sie wollen gehen? Nun, auf Wieder: 
ſehen,“ fagte fie freundlich. „Gruͤßen Sie Stepan Зло 
phimowitſch von mir und reden Sie ihm doch zu, daß er 
{0 buld wie möglich zu mir fomme. Mama {апт fich Те 
der nicht von Ihnen verabjchieden ... Sie entjchuldigen 
gewiß!“ 

Ich verabſchiedete mich noch von Mawrikij Nicolaie— 
witſch und ging hinaus. Als ich ſchon die Treppe hinab— 
gegangen war, kam mir der Diener nachgelaufen. 

„Das gnaͤdige Fräulein laſſen Sie ſehr bitten, zuruͤck— 
zukommen.“ 

Als ich daraufhin wieder zuruͤckging und eintrat, war 
Mawrikij Nicolajewitſch ganz allein im großen Salon. 
Liſa dagegen erwartete mich im anſtoßenden kleineren 
Empfangszimmer, dejjen Tür nur angelehnt war. 


189 


Bleich und augenscheinlich noch unentichloffen ftand fie 
mitten im Zimmer und lächelte mir zu, als ich eintrat. 
Möglich ergriff fie meine Hand und zog mich fchnell zum 
Fenſter. 

„Ich will ſie ſehen,“ fluͤſterte ſie und ſah mich mit hei— 
ßem, ſtarkem, ungeduldigem Blick an, der jeden Wider— 
ſpruch unmoͤglich machte. „Ich muß ſie mit meinen 
eigenen Augen ſehen, und dazu brauche ich Ihre Hilfe.“ 

Sie ſchien wirklich außer ſich und ganz verzweifelt zu 
ſein. 

„Wen wollen Sie ſehen, Liſaweta Nicolajewna?“ 
fragte ich erſchrocken. 

„Dieſe Lebaͤdkina, dieſe Lahme ... 68 Ш doch wahr, 
daß ſie lahm iſt?“ 

„Ich habe ſie nie geſehen, aber ich hoͤrte noch geſtern, 
daß ſie allerdings lahm ſein ſoll“, antwortete ich raſch und 
ſprach gleichfalls ſo leiſe wie moͤglich. 

„Ich ... muß ſie unbedingt ſehen! Können Sie das 
nicht heute noch einrichten?“ 

Liſa tat mir furchtbar leid. 

„Эа... das jcheint mir ganz unmöglih. Wie... 


jollte man —?“ $4 wollte ihr den Gedanken ausreden. 


Doch als ich ſah, daß fie ganz verzweifelt war, jagte id): 
„Sch Fönnte ja zu Schatoff дебет...“ 


„Вени Sie mir nicht helfen, dann werde ich morgen | 


felbjt zu ihr gehen. Allein. Denn Mawrilij Nicolaje- 
witjch weigert ſich, mich dorthin zu begleiten. Sch hoffe 


jet nur noch auf Sie, denn jonft Бабе ich ja niemanden. _ 


Mit Schatoff Бабе ich töricht geiprochen. Aber ich weiß, 
Sie find ein Ehrenmann, und vielleicht mir ein wenig 
zugetan. Zun Sie es! Bitte, bitte!“ 


180 





Da ера Ме mich der leidenfchaftlihe Wunfch, ihr in 
allem behilflich zu fein. 

„Gut“, fagte ich entichloffen, nachdem ich eine Weile 
überlegt hatte. „Sch werde noch heute ſelbſt hingehen und 
den Verſuch machen, fie zu ſehen und zu fprechen. Unter 
allen Umftänden. Sch werde Ihren Wunsch erfüllen. Ich 
gebe Ihnen mein Wort. Nur müfjen Sie mir geftatten, 
vorher mit Schatoff darüber zu ſprechen.“ 

„за, jagen Sie ihm, daß ich fie fehen muß! Daß ich 
nicht länger warten kann! Und fagen Sie ihm, daß ich 
ihn vorhin wirklich nicht zum beften gehabt Бабе. So et= 
was hat er wohl geglaubt. Deshalb fcheint er ja fort: 
gegangen zu fein. Seine Ehrlichkeit, fein Ehrgefühl war 
gekraͤnkt. Sch Бабе ihm aber ganz gewiß nichts vor: 
geipiegelt. Sch will wirklich das Buch herausgeben und 
eine Druderei gründen .. .” 

„за, Schatoff ИЕ der ehrlichite Menſch“, beteuerte ich 
eifrig. 

„Und wenn es Ihnen nicht gelingt, dann — dann gehe 
ich morgen jelbft zu ihr. Einerlei, was daraus entlieht. 
Und wenn auch alle e8 erfahren!" 

„Aber vor drei Uhr kann ich unmöglich bei Ihnen fein!" 

„ut, alfo dann morgen um drei. Und nicht wahr, ich 
бабе mich nicht in Ihnen getäufcht,. bei ©tepan Зло: 
phimowitſch, als ich Sie für ein wenig — mir zugetan 
hielt?” lächelte fie mir zu, drüdte mir zum Abſchied die 
Hand und ging fchnell in den großen Salon, in dem 
Mawrikij Nicolajemitich offenbar auf пе wartete. 

Sch verließ das Haus, bedrüdt von meinem Зе ртефеп 
und unfähig, fallen zu koͤnnen, was gejchehen war. Ich 
hatte einen Menjchen in wirklicher Verzweiflung gejehen, 


191 


* 


ein junges Mädchen, das 14 nicht ſcheute, fich bloßzu— 
ftellen und einem ihr fremden Menschen ihr ganzes Ver: 
trauen zu ſchenken. Ihr Lächeln, das Lächeln einer Frau, 
die Anfpielung, daß ſie wiſſe, wie ich ihr zugetan fei, das 
alles regte mich nicht wenig auf. Doch fie tat mir leid, 
fo, jo leid! Ihre Geheimnifje wurden für mich plößlich 
zu etwas Heiligem. Wenn man mir diefe Geheimniſſe 
hätte mitteilen wollen, — ich würde nicht zugehört haben. 
Sch ahnte ja mancherlei ... Aber иле follte ich nun dieſes 
jeltjame, diejes unheimliche Zufammentreffen zuftande= 
bringen? Meine ganze Hoffnung fette ich auf Schatoff. 
Ich fagte mir zwar gleich, daß er dabei wenig werde 
helfen fönnen. Uber immerhin, ich ging fofort zu ihm. 


IV 

Erſt am Abend, um acht Uhr, traf ich ihm zu Haus. 
Зи meiner Verwunderung hatte er Зе]иф: ЗПехе Nis 
lytſch Kirilloff und ein Herr Schigaleff — der Bruder der 
Frau Wirginsfi — waren bei ihm. 

Diefer Schigaleff war erft feit ungefähr zwei Mo: 
паки in unjerer Stadt; ich weiß nicht, woher er ат. 
Wirginsfi hatte ihn mir gelegentlich auf der Straße vor: 
geftellt und ich wußte von ihm wenig mehr, als daß in 
einem fortjchrittlihen Petersburger Blatt einmal ein 
Artikel von ihm erfchienen war. Wir hatten ung damals 
nur flüchtig begrüßt und faum ein Wort miteinander 
gemwechlelt. Das einzige, was ich von ihm behalten hatte, 
war der Eindrud, in meinem ganzen Leben noch ше ein 
fo finftereg, griesgrämiges, muͤrriſches Geficht gejehen zu 
haben. Er jchaute drein, als erwarte er den Untergang 
der ganzen Welt, und zwar nicht паф irgendwelchen 


195 





Borausfagungen, die fchließlich auch nicht in Erfüllung 
zu gehen brauchten, fondern genau fo, als wiſſe er ſogar 
Ichon die Stunde des Untergangs mit töblicher. Sicher: 
heit: etwa Übermorgen früh, рип fünf Minuten vor 
halb elf. Und dann waren mir noch ganz bejonders feine 
Dhren aufgefallen, Ohren von einer geradezu über: 
natürlichen Größe, lang, breit und did, die noch obendrein 
faſt im rechten Winkel nach links und rechts vom Kopf 
wegftrebten. Seine Bewegungen waren plump und 
Yanglam. Wenn Liputin vielleicht hin und wieder davon 
geträumt hatte, daß die Phalanfterien fich auch in un: 
jerem Gouvernement verwirklichen fünnten, jo mußte 
diefer Schigaleff ficher Tag und Stunde voraus, warn 
das gejchehen werde. Sedenfalls hatte er geradezu den 
Eindrud eines Unheilverfünders auf mich gemacht; und 
daß ich gerade ihn jetzt bei Schatoff antraf, wunderte 
mich ſehr, — um fo mehr, als Schatoff Beſuch fchon an 
und für fich nicht ausftehen konnte. 

Bereits auf der Treppe hörte ich, daß fie alle drei 
ungewöhnlich laut miteinander ſprachen und, wie mir 
ſchien, fich heftig ftritten. In dem Augenblid aber, als 
ich eintrat, verftummten fie fofort. Und plößlich feßten 
lie ſich, während fie bis dahin aeltanden hatten. So 
mußte auch ich mich ſetzen. Wir fchwiegen alle. Schi⸗ 
galeff tat jo, als Теппе er mich überhaupt nicht. Mit 
Kirilloff taufchte ich einen Gruß, und ich weiß nicht, 
weshalb mir uns nicht die Hand reichten. Schigaleff ſah 
mich fireng und finfter an, mit einem Yusdrud, der völlig 
naiv die fefte Überzeugung zeigte, daß ich fofort auf: 
Пебеп und wieder weggehen würde. Da erhob ich end» 
fich Schatoff und die anderen folgten feinem Зе ме. 


13 Doftoiemwzstti, Die Dämonen. 35. Т. 193 


Eie gingen fort, ohne ein Wort zu jagen, noch fich zu 
verabichieden. Erſt an der Tür wandte ſich Schigaleff 
noch einmal zu Schatoff und fagte in drohenden Tone: 

„Vergeſſen Sie aber nicht, daß Sie Nechenfchaft {фи 
dig find!" 

„zum Zeufel mit eurer Nechenichaft, ich bin feinem 
von euch etwas ſchuldig!“ rief Schatoff ihnen wütend 
nach, ſchlug die Tür zu und drehte den Schluͤſſel um. 

„Karren! ſagte er, nachdem fein Bli mich geftreift 
hatte, mit Eurzem, eigentümlich gehäffigen Auflachen. 

Sein Gelicht {аб böje aus, und ich wunderte mich, daß 
er diesmal als erfter zu |prechen begann. Früher war es 
gewöhnlich jo geweſen, wenn ich ihn bejuchte, was frei— 
lich ſehr ſelten geſchah, daß er fich mißmutig in einen 
Winkel {ее und auf meine Fragen mürrifch antwortete, 
Erſt nach längerer Zeit begann er aufzutauen und dann 
erft jprach er mit Vergnügen. Beim Abſchied aber wurde 
er jedesmal wieder unwirfch, und wenn er einen zur Tür 
geleitete, tat er es mit einer Miene, als dränge er feinen 
perjönlichen Feind aus dem Haufe. 

„Sch habe geftern bei diefem Herrn Kirilloff Tee ge: 
trunfen,” {ав ich, um ein Gefpräch anzufnüpfen. „Bei 
ihm Scheint der Atheismus ein bifchen zur firen Sdee де: 
worden zu fein.“ 

„Der ruſſiſche Atheismus ИЕ noch nie über ein jchlechtes 
Wortſpiel Hinausgefommen”, brummte Schatoff, während 
er den alten Lichtſtumpf aus dem Leuchter nahm und ein 
neues Kicht einjekte. 

„Sch glaube nicht, daß es diefem Kirilloff um Wortfpiele 
zu tun iſt. Er verftehtja, wie’s Scheint, überhaupt Ваши zu 
iprechen — wie follte er da noch an Wortſpiele denken !" 
194 





„Papierene Menfchen; aus Lakaientum fommen ihnen 
alle diefe Gedanken“, bemerkte Schatoff ruhig, nachdem 
er ſich in der Zimmerede auf einen Stuhl gefekt und die 
Handflächen auf die Kniee geftüßt hatte. 

„Haß И auch dabei,” fagte er nach einer Weile des 
Schweigens. „Diefe Leute würden felbft als erfte 
fterbensunglüdlich fein, wenn Nußland fich auf irgend» 
eine Weife veränderte, und wäre её auch genau nad) 
ihrem Wunſch, und plößlich unermeßlich reich und glüd: 
ih werden würde. Dann hätten fie ja niemanden 
mehr, den fie haſſen, auf den fie fpuden, über den fie 
jpotten könnten! Hier ift’s nichts als ein einziger Ней: 
Icher, grenzenlojer Haß auf Rußland, der fich in ihren 
Organismus hineingefrejlen hat ... Und von irgend: 
welchen heimlichen Tränen, die {14 angeblich hinter 
dem fichtbaren Lachen verbergen follen*), ift hier über: 
haupt Feine Spur vorhanden! Noch nie ift in Rußland 
etwas Dümmeres gejagt worden, als dieſes faliche Wort 
von den ‚heimlichen Tränen‘! fagte er faft jähzornig. 

„Weiß Gott, Sie find aber wütend!” fagte ich lachent. 

„And Sie find ‚gemäßigt liberal‘. Schatoff lächelte 
flüchtig. „Wiſſen Sie," fagte er nach einer Weile ganz 
plöglich, „ich habe das vorhin vielleicht faljch gejagt, das 
vom ‚Lalaientum der Gedanken‘. Sie werden gemiß 
bei 14 gedacht haben: ‚Das fagt er nur, weil er von 


*) Antwort Gogols auf den Vorwurf, feine Menfchen feien nur 
mit Spott und Verachtung geſchaut, weshalb er auch nicht einen 
guten Zug an ihnen wahrgenommen habe. Doſtojewski hat daz 
gegen in feinem erften Werk denfelben unfcheinbaren ruffifchen 
Menſchen als einen Träger größter Menfchenliebe und feelifcher Zart⸗ 
heit gefhildert — als Proteft gegen Gogols Darftellung, E.K.R. 
195 


13» 


einem Заки geboren Ц, ich aber bin’s nicht.“ 

„Aber das habe ich durchaus nicht gedacht ... wie 
kommen Sie darauf! ...“ 

„Die brauchen fich nicht zu entfchuldigen, ich fürchte 
Sie nicht. Früher ſtammte ich nur von einem Lakaien ab, 
jest bin ich felver zu einem geworden, zu genau jo einem, 
wie auch Sie einer find. Unjer ruſſiſcher Liberaler ИЕ vor 
allen Dingen Зак! und wartet nur darauf, wie und то 
er jemandem die Stiefel pußen kann.” 

„Bas Ни Stiefel? Was meinen Sie mit diejer 
Allegorie ' 

„Bas Allegorie! Sie lachen, wie ich jehe ... Stepan 
Trophimowitſch hat ganz recht, wenn er jagt, daß ich 
unter einem Ötein liege, jchon halb erdrüdt, aber noch 
nicht zerdrüdt bin und mich nur noch ш den lekten 
Krämpfen winde. Das hat er gut gejagt.” 

„Stepan Trophimowitſch behauptet, daß die Deut: 
Ichen Ihnen zur firen Idee geworden find," entgegnete 
ich leichthin. „Und es ift ja auch etwas Wahres dabei: 
wir haben ung doch vieles Deutſche eingefact.” 

„Sa, zwanzig Kopelen haben wir von ihnen депот: 
men und dafür hundert Rubel von eigenen Kapital де: 
geben.” — Wir fchwiegen . , . „Dieje Ideen hat er ſich 
in Amerika an den Hals gelegen.” 

„Ber das? Was an den Hals gelegen?“ 

„Sch meine Kirilloff. Wir haben dort beide vier Mo: 
nate lang in einer Hütte auf dem Fußboden gelegen.“ 

„За, find Sie denn je in Amerika geweſen?“ fragte ich 
verwundert. „Sie haben nie davon gejprochen.“ 

„Wozu davon |ртефеп. Vor drei Jahren zogen mir 
mit einem Emigrantentransport für unjer letztes Geld 


196 





nach den Vereinigten Staaten von Amerifa, um das 
Leben eines amerifanijchen Arbeiters, oder vielmehr: 
‚um den Zuftand eines Menjchen in der allerfchwerften 
jozialen Lage praftifch, d. h. durch perfönliche Er: 
fahrung kennen zu lernen.‘ Das war ищет Ziel, war der 
Grund, warum wir auswanderten.” 

„Herrgott!“ мег ich aus. „Das hätten Sie doch 
ebenjogut zur Erntezeit in unferem Gouvernement durch 
‚perjönliche Erfahrung fennen lernen können, ohne des— 
halb nach Amerika dampfen zu muͤſſen!“ 

Doch Schatoff fuhr fort: „Wir verdingten ung als Ur: 
beiter bei einem Erploiteur. Sm ganzen waren wir fechs 
Nuffen: Studenten, fogar Gutsbeſitzer und Dffiziere 
waren unter uns, und alle hatten dasjelbe großartige 
Ziel. Und fo arbeiteten wir denn, quälten uns und rader= 
ten uns ab — bis Kirilloff und ich fortgingen: wir wurden 
franf, hielten её nicht aus. Bei der Abrechnung zog uns 
dann der Erploiteur noch das Fell gehörig über die Ohren, 
zahlte anftatt der dreißig Dollar, die er ung laut der Ab— 
machung jchuldig war, mir nur acht und Kirilloff fünf: 
zehn aus. Übrigens hat man uns obendrein noch ge: 
prügelt, und nicht nur einmal ... За, und dantals war 
е8 denn, daß mir beide in einem elenden Städtchen vier 
Monate lang zufammen in einer Hütte auf dem Fuß— 
boden lagen. Kirilloff dachte feine Gedanken und ich 
dachte meine Gedanken.“ 

„And der Erploiteur hat Sie wirklich geprügelt? Da 
werden Sie ihm mohl auch nicht Schlecht mitgefpielt 
haben?" 

„Keineswegs. Im Gegenteil, wir ſahen beide jofort 
ein, daß ‚wir Ruffen im Vergleich zu den Amerikanern 


197 


kleine Kinder jind und daß man entweder in Amerifa 
geboren oder lange Jahre mit ihnen zufammen gearbeitet 
haben muß, um die Höhe ihrer Leiftung zu erreichen‘. 
Mir waren natürlich entzüdt von Amerifa und lobten 
dort alles: den Spiritismus, das Lynchgeſetz, ме Re: 
volver und die Vagabunden. Und wenn man für eine 
Dreilopefenfache von ung einen Dollar verlangte, fo 
zahlten wir ihn nicht nur mit Vergnügen, jondern mit 
Begeifterung. Einmal, in der Eifenbahn, 309 mein Nach: 
bar aus meiner Rodtafche meine Haarbürfte heraus und 
begann #4 damit fein Haar zu ftriegeln. Kirilloff und 
ich taufchten nur einen ЗИФ aus und ftimmten fofort 
darin überein, рав mein Nachbar volllommen im Recht 
war und jeine Handlungsweife ung jehr gefiel..." 

„Sonderbar, daß folche Ideen uns Ruſſen nicht nur 
in den Kopf fommen, jondern von uns auch vollführt 
werden”, bemerfte ich. 

„Papierene Menſchen“, wiederholte Schatoff. 

„Uber immerhin, über einen ganzen Ozean ſchwimmen, 
in ein unbefanntes Land, und wenn auch ‚um durch 
perjönliche Erfahrung‘ ufw. etwas fennen zu lernen — 
darin liegt, weiß Gott, doch eine gewiſſe Großzügigfeit .., 
Mie find Sie denn wieder zurüdgefommen?” 

„Sch jchrieb an einen Menfchen nach Europa und der 
ſchickte mir hundert Rubel.“ 

Die ganze Zeit, während der Schatoff ſprach, hatte 
et, wie immer, zu Boden gejehen, ſelbſt dann, wenn er 
erregt |ртаф. Seht aber hob er plößlich den Kopf. 

„Wollen Sie wiljen, wer diefer Menjch war?” 

„tun, wer war e8 denn?" 

„Nicolai Stawrogin.“ 


198 





Er ftand plößlich auf, trat ап feinen Schreibtifch — сз 
mar ein einfacher Tiſch aus Lindenholz — und tat, als 
[ме er etwas auf ihm. 

Es ging bei ung damals das dunkle, aber glaubwürdige 
Gerücht, Schatoffs Frau hätte mit Nicolai Stawrogin 
in Paris eine Zeitlang gelebt, und zwar gerade vor etwa 
zwei Jahren, ао in eben der Zeit, als Schatoffin Amerika 
war — freilich ſchon lange nachdem fie ihn in Genf 
verlajlen hatte. „Wenn es fich fo verhält, was plagte ihn 
dann, mir jeßt diefen Namen zu nennen und das... 
noch breitzutreten?” fragte ich mich. 

„Sch habe fie ihm bis heute noch nicht zurüdigegeben, 
jagte er, fich wieder zu mir wendend, und nachdem er 
mich Furz, aber prüfend angejehen hatte. Dann feßte er 
jich wieder. Und plößlich fragte er mich fchroff und fchon 
in ganz anderem Tone: 

„Sie find natürlich mit einer beftimmten Abficht zu 
mir gefommen; was wünfchen Sie?" 

Sch erzählte ihm fofort alles und betonte bejonders, 
daß ich Liſa unter allen Umftänden helfen und das ihr 
gegebene Wort halten möchte, Auch beteuerte ich ihm, 
daß fie ihn mit der Buchangelegenheit keineswegs habe 
beleidigen wollen, daß er fie völlig mißverftanden haben 
шие. Sein plößlicher Aufbruch habe fie denn auch auf: 
richtig betrübt. 

Er hörte mich jehr aufmerkſam ап. 

„Dtelleicht Бабе ich in der Tat wieder einmal eine 
Dummheit gemacht ... Aber wenn Пе nicht verftanden 
bat, warum ich fortging — um fo befjer für fie!” 

Er ftand auf, ging zur Tür, öffnete fie und horchte hinaus, 

„Ste wollen fie jelbft ſehen?“ 


199 


„За, das ift es ja eben! Wie ließe fich das machen?“ 
Sch erhob mich fchon erfreut. 

„Geben wir ganz einfach Bin, folange fie noch allein 
Ц. Lebädfin darf natürlich nicyt erfahren, daß mir bei 
ihr gemwejen find, fonft peiticht er fie wieder, Heimlich 
gehe ich oft zu ihr. Geſtern Бабе ich ihn gründlich де: 
prügelt, als er fie wieder zu fchlagen anfing.“ 

„Iſt das wirklich wahr, daß er fie ſchlaͤgt?“ 

„Gewiß; ап den Haaren hab ich ihn von ihr fort: 
gerifjen. Er wollte fich ſchon mit den Fäuften auf mich 
ftürzen, aber ich Топию ihm doch noch einen Schreden 
einjagen. Dabei blieb es. Nun fürchte ich, ihm Fönnte 
das wieder einfallen, wenn er heute betrunfen zurüd: 
fehrt, und dann wird er Пе erft recht hauen.“ 

Зиг gingen fogleich nach unten, 


У 

Die Tür zu Lebädfins шаг nicht verfchloffen und fo 
traten wir ungehindert ein. Ihre ganze Wohnung Бе: 
ftand aus nur zwei erbärmlichen Heinen Zimmern mit 
verräucherten Wänden, an denen die fchmußigen За: 
peten buchftäblih in Fetzen herabhingen. 

Srüher hatte fich in diefen Räumen Filippoffs Schente 
befunden, die jeßt in das neue Haus Üübergeführt worden 
war. Die übrigen Zimmer, die früher auch roch zur 
Schenke gehört hatten, waren jeßt verfchloffen, nur diefe 
beiden hatte man ап Lebädfin vermietet. An Möbel 
ftanden in der Wohnung ein paar einfache Holzbänte, 
Tiſche aus rohen Brettern und nur ein einziger alter 
Sefjel mit einer abgebrochenen Armlehne. Sm Hinter: 
zimmer ftand in einer Ede ein Bett mit einer ЯаНип: 


200 





dede. Das war das Bett von Lebaͤdkins Schwefter. Der 
Hauptmann aber fchlief einfach auf Dem Fußboden, und 
da er faft immer betrunfen nach Haufe Fam, nicht felten 
jo, wie er war, in den Kleidern. Überall war Schmuß, 
lagen Krümchen und Fehchen auf dem Fußboden; in 
der Mitte des erften Zimmers lag ein großer, dider, ganz 
naſſer Lappen, um den fich eine richtige Pfüße gebildet 
hatte, und in diefer ftand ein alter fchiefgetretener Schuh. 
Man ſah an allem, daß hier niemand etwas tat; fein 
Dfen wurde geheizt, fein Eifen gekocht; ja, fie befaßen 
nicht einmal einen Sſamowar, wie Schatoff mir aus: 
führlicher berichtete. Der Hauptmann war mit feiner 
Schwefter ohne eine Kopele hier eingetroffen und hatte 
in der erften Zeit tatfächlich, wie Liputin erzählte, feine 
Defannten um ein paar Kopelen angebettelt. Dann 
aber, als er plößlich in den Зе von großen Summen 
geriet, hatte er fofort zu trinten angefangen und fich ſeit— 
dem natürlich noch weniger um den Haushalt gekuͤmmert. 

Maria Zimofejermna Lebädfina, die ich fo fehr zu fehen 
wünfchte, [ав ruhig und lautlos im zweiten Zimmer, in 
einer Ede, hinter einem einfachen Küchentifch auf einer 
Bank. Auch als wir eingetreten waren, hatte fie uns 
nicht angerufen, noch fich überhaupt gerührt. Schatoff 
jagte, daß ihre Flurtür nie verfchloffen werde, und ein: 
mal jei fie fogar die ganze Nacht [perrangelmeit offen ge: 
blieben. Beim fchwachen Schein eines dünnen Lichtchens 
in einem eifernen Leuchter erfannte ich ein Кап Бон 
mageres weibliches Weſen von vielleicht dreißig Jahren, 
in einem dunklen alten Kattunfleide, mit langem, 60: 
Sem Halfe und Dünnem, dunklem Haar, das im Naden 
zu einem Kleinen Knoten, von der Größe des Fäuftchens 


201 


eines zweijährigen Kindes, zufammengedreht war. Sie 
jah ung ziemlich heiter entgegen. Außer dem Licht ftand 
vor ihr auf dem Tiſch ein Heiner billiger Spiegel, wie man 
ıhn bei Bauern ſieht, lag ein altes Spiel Karten, ein zer: 
blättertes Liederbuch und ein Fleines Weißbrot, von dem 
lie bereits ein oder zweimal abgebiſſen hatte. Man 
merkte, daß fie ſich gepudert und geſchminkt und die 
Lippen mit irgend etwas rot gefärbt hatte; ja, felbft die 
Brauen, die ohnehin |фоп lang, fein gezeichnet und 
dunkel zu fein fchienen, hatte Пе noch geftrichen, — aber 
auf ihrer ſchmalen und hohen Stirn {еб man troß des 
Puders drei lange, tiefe Falten. Ich mußte fchon, daß 
Пе hinkte, doch diesmal ftand fie während unferer An 
wejenheit nicht auf, jo fah ich fie auch nicht gehen. St: 
gend einmal, vielleicht in der erften Jugend, Eonnte 
diefes abgezehrte Geficht vielleicht nicht unfchön ge= 
wefen fein; aber ihre ftillen, freundlichen grauen Augen 
fielen auch jeßt noch auf. Etwas Traumerifches und 
Inniges lag in ihrem ftillen, faft frohen ЗИ, Diefe 
ftilfe, ruhige Freude, die fich auch in ihrem Lächeln aus: 
drüdte, wunderte mich nach allem, was ich von der Ko— 
jafenpeitjche und allen Niederträchtigkeiten ihres Bruders 
gehört hatte. Sonderbar, daß ich dieſes Mal ftatt des 
drüdenden und bangen Widermillens, den man ſonſt 
ftets in der Gegenwart folcher von Gott gezeichneten 
Gejchöpfe empfindet, — daß es mir diesmal, und Гай 
vom erften Yugenblid an, geradezu angenehm mar, fie 
zu betrachten und zu beobachten, und höchftens Mitleid, 
doch Feine Spur von Abſcheu, bemächtigte fich meiner 
ſpaͤter. 

„Sehen Sie, ſo ſitzt ſie hier ganze Tage mutterſeelen— 


202 





allein und rührt fich nicht, legt Karten oder betrachtet 
lich im Spiegelchen,” ſagte Schatoff noch an der Tür zu 
mir, „Er gibt ihr ja auch nichts zu eſſen. Die Alte aus 
dem Nebenhaufe, die Kirilloff bedient, bringt ihr zus 
weilen etwas aus bloßem Erbarmen. Wie man fie nur 
fo mit dem Licht allein laſſen kann!“ 

Schatoff fagte das zu meiner Verwunderung ganz 
Yaut, als ob wir allein im Zimmer wären. 

„Guten Tag, Schatuſchka!“ begrüßte ihn plößlich 
Maria Timofejerna. 

„sch Бабе dir, Maria Timofejewna, einen Gaſt ges 
bracht,” erwiderte Schatoff. 

„Gut, der Gaft foll mir willfommen fein. Sch weiß 
nicht, wen du da mitgebracht haft, ich glaube aber, folch 
einen habe ich noch nie gejehen. Dabei ſah fie mich, 
über das Licht hinweg, aufmerffam an. Gleich darauf 
wandte fie fich jedoch wieder zu Schatoff, und zu dieſem 
ollein jprach fie dann auch die ganze Zeit (mich aber Бег 
achtete fie weiter überhaupt nicht mehr, ganz ald wäre 
ich gar nicht anweſend). 

„68 wurde dir wohl langweilig, da oben im Dach: 
kaͤmmerlein einfam umherzugehen?” fragte jie lachend. 
Da {аб ich, daß fie jehr fchöne Zähne hatte. 

„Auch das, aber vor allem wollte ich Dich wieder ein: 
mal beſuchen.“ 

Schatoff z0g eine Bank an den Tiſch, ſetzte fich, und 
wies auch mir einen Plaß neben fich an. 

‚„Anterhaltung Бабе ich immer gern, nur bift du fo 
drollig, Schatufchla, БШ ganz wie ein Mönch! Wann 
haft du Dich zum lettenmal gefämmt? Komm ber, ich 
werde es wohl wieder tun muͤſſen“ — und fie 304 aus 


203 


ihrer Kleidertafche einen Kamm. „Du Бай wohl feit dem 
legten Mal, als ich dich Fammte, dein Haar überhaupt 
nicht mehr angerührt. 

„за, wie foll ich denn? 3% habe doch feinen Kamm’, 
jagte auch Schatoff heiter. 

„Wirklich nicht? Warte mal, dann werde ich dir meinen 
ichenten, nicht diefen, einen andern... nur mußt du mich 
daran erinnern.” 

Und mit dem ernfthafteften Geficht machte fie fich 
daran, ihn zu kaͤmmen, 309 ihm fogar auf der Seite 
einen Scheitel. bog ſich dann zurüd, um zu fehen, ob er 
gut geraten war — und jtedte jchließlih den Kamm 
wieder in die Taſche. 

„Weißt du mas, Schaͤtuſchka?“ fagte fie und fchüttelte 
dabei den Kopf, „du bift doch ein vernünftiger Menſch 
und troßdem graͤmſt du dich. Es wird mir ganz fonder: 
bar, wenn ich euch alle fo jehe: ich verftehe nicht, wie 
fönnen Menfchen fich grämen und immer traurig fein? 
Sehnfucht ift Doch nicht Traurigkeit. Mir ift immer froh 
zu Mut.” 

„uch mit dem Bruder?” 

„Du meinft Lebädfin? Ach, der ift mein Knecht. Mir 
ift es ganz gleich, ob er Мег ift oder nicht. Sch befehle 
nur: ‚Lebädfin, bring mir Waſſer, Lebädfin, gib mir die 
Stiefel‘, und er läuft Schon. Zumeilen fündige ich wohl 
auch und lache über ihn. 

„Und genau fo ift eg,” fagte Schatoff zu mir gewandt, 
und zwar wieder mit lauter Stimme, ohne ſich zu де: 
nieren. „Site behandelt ihn tatjächlich wie ihren Diener, 
ich Бабе es ſelbſt gehört, wie fie ihm zuruft: ‚Lebädfin, 
bring mir Waffer‘, und dabei lacht fie. Der Unter: 


204 





Ichied befteht nur darin, daß er nicht nach dem Waffer 
läuft, fondern fie dafür prügelt, — und troßdem fürchtet 
fie ihm tatjächlich nicht im geringften. Sie hat immer ihre 
nervoͤſen Anfälle, faft täglich, ме wirken natürlich auf 
ihr Gedächtnis, fo daß fie alles vergißt und verwechlelt. 
Glauben Sie, daß ſie noch weiß, warn und wie пи 
bereingefommen find? Übrigens, vielleicht weiß fie’s 
doch noch, jedenfalls aber hat fie es fich auf ihre Urt um: 
gedichtet und halt uns wohl jeßt für Gott weiß was, 
nur nicht für dag, was wir find — obichon fie Dabei ganz 
genau weiß, daß ich ‚Schatufchka‘ bin. Das macht auch 
nichts, Daß ich jeßt laut fpreche, ja jelbft wenn ich zu ihr 
Ipreche, ftört das fie nicht mehr, jobald fie einmal mit 
ihren eigenen Gedanken befchäftigt ift. Sie ift eine große 
Traͤumerin, acht Stunden, zuweilen den ganzen Tag ſitzt 
пе auf demfelben Fleck, ohne fich zu rühren. Sehen Sie 
das Meißbrot da: angebiſſen hat fie es vielleicht heute 
früh, aufeſſen wird fie es vielleicht erft morgen. Da legt 
fie auch fchon wieder Karten aus ...“ 

„Kate ich doch aus den Karten und rate, Schatufchka, 
aber immer kommt es jo wie nicht richtig heraus‘, fagte 
plögßlich Maria Timofejewna, die das letzte Wort Schas 
toffs wohl gehört hatte, und ohne aufzufehen ftredte fie 
die linfe Hand mechanisch nach dem Weißbrot aus (auch 
das vom Brot mochte fie gehört haben). 

Die Hand fand auch fchließlich das Brötchen, Doch fie 
jelbft ließ fich von neuen Gedanken wieder gefangen 
nehmen, und nachdem ſie das Brötchen eine Weile in der 
linken Hand gehalten hatte, legte fie eg mechanifch wieder 
zurüd, ohne её zum Munde geführt zu haben. 

„Es Ш immer dasfelbe: ein Weg, ет Бег Mann, 


205 


ein Öterbebett, ein Brief irgendmwoher, eine unvorher— 
gejehene Nachricht, Trug und Hinterlift. Ach — alles 
Lügen, denfe ich! — Was meinft du dazu, Schatufchka? 
Wenn Menfchen lügen, warum follen dann nicht auch 
Karten lügen?” und fie mijchte plößlih die Karten 
durcheinander. „Dasjelbe habe ich auch einmal der Mut: 
ter Praskowja gejagt ... Das war eine ehrmiürdige alte 
Frau. Immer ат jie zu mir in die Zelle, um jich von 
mir die Karten legen zu laſſen, aber heimlich, daß vie 
Mutter-Abtiffin es nicht jah. Und nicht fie allein fam zu 
mir. Sie jeufzen und ftöhnen dann immer, fchütteln alle 
die Köpfe, raten hin und Бег und denfen und bereiten 
lich auf etwas Großes vor — ich aber lache. ‚Woher 
wollen Sie denn plößlich einen Brief befommen, Mutter 
Praskowja,“ jage ich, ‚wenn zwölf Sahre Feiner gefom: 
men ЦЕ?’ Ihre Tochter aber hat der Mann irgendmwohin 
nach der Türkei gebracht und zwölf Jahre hat fie von ihr 
fein Lebenszeichen erhalten. Und wie ich gerade jo am 
nächiten Abend beim Зее fiße, bei der Abtiſſin — aus 
fürftlichem Haufe war fie bei uns — fißt da bei ihr noch 
eine angereifte Dame und аиф noch ein Mönchlein aus 
dem Klofter vom Berge Athos, [© ein drolliger, Kleiner 
Menich. Was glaubt du wohl, Schatufchka, dieſer felbe 
Mönch hat am jelben Morgen der Mutter Prasfomja von 
der Tochter aus der Türkei einen Brief дебтафЕ — da 
Бай du den Karo-Buben, die unvorhergefehene Nachricht! 
Wir trinken aljo Tee und der Mönch vom Berge Athos 
jagt zu der Mutter Äbtiffin: ‚Und vor allem‘, jagt er, 
‚ehrwürdige Mutter Abtiffin, hat der Herr Euer Klofter 
gejegnet, ſeitdem es einen jo foftbaren Schaf in feinem 
Schoße birgt‘, jagt er. ‚Was für einen Schaf?‘ fragt die 


206 





Mutter ОН т. ‚Nun, die heilige Lifaweta doch! fagt 
er. Dieſe Liſaweta war nämlich bei uns in einer Zelle 
in der Kloftermauer eingemauert, wie in einem Käfig, 
und der war nur einen Faden lang und anderthalb Faden 
boch, und da fißt fie fchon fiebzehn Sabre lang hinter 
einem eifernen Gitter, Winter und Sommer mur in 
einem banfleinenen Hemde, und fticht immer mit einem 
Strohhälmchen oder einem Reifigftüdchen in die Lein— 
wand und jpricht Fein Wort und kaͤmmt fich nicht und 
wälcht ſich nicht all diefe fiebzehn Sahre. Im Winter, 
wenn es falt wird, ftedt man ihr ein Pelzchen zu und täg: 
lich ein Käftchen mit Brot und einen Krug mit Waſſer. 
‚MWahrlich, ein fehöner Schab,‘ fagt ме Mutter-Abtiſſin 
(bat ſich geärgert — Пе fonnte die Lifaweta nicht leiden). 
‚Нате, jagt Пе, ‚jißt nur aus Bosheit und Eigenfinn, 
und alles das ИЕ Verftellung.‘ Mir gefiel das nicht, was 
Пе fagte, denn ich wollte mich auch fo einschließen laflen. 
‚sch glaube,‘ fage ich, ‚Gott und die Natur ift alles eins.‘ 
Alle rufen fie da, wie aus einem Munde: ‚Hört Doch, 
hört!“ Die Abtiſſin lachte und fing mit der Dame zu tu= 
Iheln an, ich weiß nicht worüber, und rief mich nachher 
zu Sich, ftreichelte mich, und die Dame |фепНе mir ein 
roſa Bändchen — willft du, ich zeige es dir? Und das 
Mönchlein fing gleich an, mich zu belehren und ſprach 
freundlich und demütig zu mir und wohl auch mit viel 
Derftand. Sch fite und höre zu. ‚Haft du verftanden?‘ 
fragte er mich dann. ‚Nein, jage ich, ‚ich Habe gar nichts 
verftanden und lafjen Sie mich lieber in meiner Ruh‘, 
fage ich — und feit der Zeit haben fie mich auch ganz in 
meiner Ruh gelaffen, Schatufchla. Aber wenn ich dann 
aus der Kirche мт, flüfterte mir unfere Greiſin, eine 


207 


alte, alte Nonne zu — die büßte bei uns für ihre Weis— 
fagungen —: ‚Was ift dag, die Mutter Öcttes, wie duͤnkt 
e8 dich?‘ — ‚Die große Mutter,‘ antwortete ich, ‚das ift 
die große Hoffnung, ме ewige Zuverlicht des Menfchen: 
geichlechts." — ‚Sanz recht,‘ fagt fie, ‚die Mutter Gottes 
— Das Ш die große Mutter, unfere fruchtbare Erde, und 
wahrlich ich fage Dir, eine große Freude liegt in ihr für 
den Menfchen. Und jedes Erdenleid und jede Erden: 
träne ift ung eine Freude. Und wenn du mit deinen 
Tränen die dunkle Erde unter dir tränfft, einen halben 
Meter tief, jo wird Dir wahrlich zur felbigen Stunde noch 
alles zur Freude gereichen. Und gar feinen, gar feinen 
Kummer wirft du mehr haben,‘ jagt Пе, ‚denn Sieh,‘ jagt 
fie, ‚eine jolche Weisfagung gibt es.“ Das fonnte ich nie 
mehr vergefjen. Seit der Zeit begann ich zu beten, ich 
beugte mich zur Erde und kuͤßte die Erde und meinte. 
Und fieh, ich fage dir, Schatufchla, es ift nichts Schlechtes 
in diefen Tränen, und wenn du auch gar fein Leid haft, 
du wirft die Tränen vor lauter Freude weinen. Die 
Tränen weinen ſich felöft. Zumeilen ging ich zum See, 
an das Ufer: auf der einen Seite vom See ftand unjer 
Klofter und auf der anderen unfer jpißer Berg, wir 
nannten ihn denn auch einfach den Spißberg. Und jo fteige 
ich denn auf diefen Berg und wende mich mit dem Ge: 
ficht nach Often und falle auf die Erde nieder und weine 
und weine, und weiß nicht, wie lange ich weine, und 
бабе dann alles vergefjen und ich weiß gar nichts mehr. 
Dann ftehe ich auf und wende mich zurüd, und die Sonne 
geht unter jo groß, und es Ш eine Pracht und Herr: 
lichkeit — liebft du's auch, fo die Sonne zu fehen, Scha: 
tuſchka? Schön ift es, aber traurig ... Und ich wende 


208 


— —— 











mic) wieder zurid nach Oſten, und der Schatten, der 
Schatten von unferem Berge läuft ſchmal und lang wie 
ein Zeiger über den See, eine Werft weit oder noch weis 
ter — bis zur Inſel im See, und teilt мае fteinige Snfel, 
wie fie da ift, gerade in zwei Hälften. Und wie er fie fo 
teilt, da geht auch die Sonne ganz unter und alles ers 
liſcht plößlich, Und dann kommt wieder die Schnfucht 
jo über mich, und plößlich fommt auch die Erinne- 
rung wieder, und ich fürchte die Dunkelheit, Schatufchka, 
Und immer mehr meine ich dann um mein Feines 
Kind..." 

„рай du denn eines gehabt?” fragte Schatoff, der ihr 
die ganze Zeit aufmerkfjam zugehört hatte, und ftieß mich 
leicht mit dem Ellenbogen an. 

„Wie denn richt! Ein kleines, roſiges, mit fo winzigen 
Fingerchen, und all mein Leid ift nur, daß ich nicht mehr 
weiß, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war. Zuweilen 
erinnere ich mich dejjen, daß es ein Япабе war, und zu: 
meilen fcheint es mir wieder, daß es ein Mädchen 
war, Als ich es damals gebar, da widelte ich eg gleich 
in Batift und Spißen und band es mit rofa Bandchen 
zu und bettete е8 auf Blumen und ſprach ein Gebet über 
ihm und trug das Ungetaufte und trage её durch den 
Wald und fürchte mich im Walde, denn ich habe Angſt 
und weine, und am meiften weine ich darüber, Daß id 
geboren Бабе und Doch den Mann nicht kenne.” 

„DBielleicht fannteft du ihn Doch?" fragte Schatoff vor: 
fichtig. 

„Drollig bift du doch, Schatufchka, mit deiner Ver: 
nunft. Vielleicht, vielleicht hatte ich ihn auch ... aber 
was liegt daran, wenn es doch ebenſo Ш, als wenn ich 


14 Doitoiemwsti, Die Dämonen. 35. 1. 209 


- 


ihn nicht gehabt hätte? Da haft du nun ein unjchweres 
Raͤtſel, nun rat einmal!” fagte пе lächelnd. 

„Wohin Бай du denn das Kind getragen?” 

„Уп den Teich hab ich's getragen”, jeufzte fie. 

Schatoff berührte mich wieder mit dem Ellenbogen. 

„aber was dann, wenn du das Kind überhaupt nicht 
gchabt haft und alles bei dir nur Phantaſie iſt?“ 

„Eine ſchwere Frage gibft du mir auf, Schatufchka,” 
jagte fie grübelnd und ohne jegliche Verwunderung über 
die Frage. „Sch kann Dir aber hierauf gar nichts jagen, 
vielleicht Бабе ich auch feines gehabt. Mir fcheint, daß 
du nur aus Neugier jo fragit; aber ich werde deshalb 
nicht aufhören, um mein Kind zu weinen, ich Бабе es 
doch nicht im Traum geſehen?“ Große Tränen erglaͤnzten 
in ihren Augen. „Офанйе а, Schatufchka, ift es wahr, 
рав deine Frau von dir fortgelaufen Ш?" fragte fie plöß: 
fich, legte ihm beide Hände auf die Schultern und blidte 
ihm mitleidig an. „Aber du ärgere dich nicht, mir ift ja 
dabei auch weh. Weißt du, Schatufchla, was für einen 
Zraum ich gehabt habe — er fommt wieder zu mir und 
lockt mich: Kaͤtzchen, fagte er, ‚mein Käßchen, fomm her | 
zu mir!“ Sieh, über das ‚Käßchen‘ freute ich mich am | 
meiften: er liebt mich, dachte ich.” 

Vielleicht kommt er auch bald in Wirklichkeit", murmelte 
Schatoff halblaut. | 

„Nein, Schatufchla, das Ш jhon ein Traum ...er 

kann nicht in Wirklichkeit fommen. Kennft du das Lied: | 
$4 brauche nicht Dein neues, hohes Schloß! 
Hier in diefer Zelle mill ich bleiben, 
Leben und beten, 
Beten zu Gott — für Did) ... 


210 





Ach, Schatuſchka, mein Liebling, warum fragft du 
mich denn nie etwas?“ 

„Du wirft ja doch nichts jagen, darum frage ich auch 
lieber gar nicht.” 

„Rein, nein, ich jage nichts und wenn du mich auc) 
totſchluͤgeſt!“ beteuerte fie ſchnell. „Verbrenne mich leben: 
dig, ich ſage nichts! Und wie es auch fehmerzte, nichts 
werde ich jagen, nichts werden ме Menfchen erfahren!" 

„Jun, ſiehſt du, jeder hat das Seine”, jagte Schatoff 
noch leijer, und ſenkte noch tiefer den Kopf. 

„Aber wenn du mich bäteft, vielleicht würde ich eg dir 
dann Doch jagen ... vielleicht würde ich es dir dann Doch 
jagen!” flüfterte fie wie verzüdt. „Warum bitteft du 
mich nicht? Bitt' mich, БИР mich ordentlich, Schatufchka, 
vielleicht werde ich’8 Dir dann Tagen. Flehe mich an, 
Schatufchla, bitte und bejchwöre mich, damit ich dann 
ſelbſt einwillige ... Schatufchla, Schatufchka !" 

Aber Schatufchla ſchwieg. Eine Dinute lang ſchwiegen 
wir alle. Langſam floflen vie Zränen über ihre ges 
puderten Wangen. Die Hände hielt fie immer nod) auf 
ſeinen Schultern, fie hatte Не vergeſſen aber fie jah ihn 
nicht mehr an. 

„Eh, was geht das mich an, wäre auch Sünde,” ſagte 
Schatoff plößlich und erhob fich von der Bank. „Stehen 
Sie auf!” Er 309 ärgerlich die Bank fort und jchob jie 
auf ihren Platz zurüd: 

„Damit er nichts merkt, wenn er fommt. Wir müffen 
ießt gehen.” 

„Ich, du Iprichft wieder von meinem Diener!" lachte 
Marja Timofejewna auf. „Haft Angſt! Nun, dann lebt 
wohl, meine lieben Gäfte, aber hör, nur noch einen 


14° 211 


Augenblid, was ich dir fagen will! Neulich fam dieſer | 
Nilytſch Бег, -mit Filippoff, dem Hausmwirt, dem Rot: 
fopf, weißt du, gerade als meiner auf mich losfchlug. 
Nie ihn der Hauswirt da padt und durchs Zimmer 
ichleift, jchreit er: ‚Bin nicht fchuld, bin nicht {Фи о, muß 
für fremde Schulden dulden! Glaubft du mohl, wir о 
haben alle jo darüber gelacht .. ." | 

„Aber das таг doc) ich," fagte Schatoff, „ich 309 ihn 
doch geftern an den Haaren von dir fort. Der Hauswirt 
Dagegen war vor drei Tagen nur hergefommen, um 1% 
mit euch zu fchimpfen, ... Бай wohl wieder alles ver: 
wechſelt?“ 

„Bart einmal, ja, ich Бабе es wirklich verwechſelt, viel- 
leicht warft du eg. Aber wozu über ſolche Nebenjachen 
ftreiten, ift es nicht einerlei, wer ihn fortriß?” lachte fie. | 

„Geben wir, jchnell!" Schatoff 308 mich am Armel, 
„die Pforte Inarrt: trifft er uns bei ihr, fo wird er fie 
wieder ſchlagen.“ ; 

Kaum waren wir die Treppe hinaufgelaufen, als wir 
auch ſchon betrunfenes Geſchimpfe hörten. Schatoff 308 
mich in fein Zimmer und verſchloß Ме Tür. | 

„Sie werden einen Yugenblid hier ſitzen müffen, wenn | 
Sie feine Geschichten mit ihm haben wollen. Hören Sie? 
Er quieft wie ein Ferkel, ift wohl wieder über die Schwelle 
geftolpert — Гай jedesmal fällt er lang hin.” | 

Aber ohne „Geſchichten“ ging es einftweilen doch 
nicht ab. | 





VI 
Schatoff ftand an der Tür und Боге hinaus. 9168: 
lich ſprang er zurüd. 
„Er fommt herauf, das wußte ich ja! rief er wütend 


212 





mir leife zu. „Seßt haben wir ihn bis Mitternacht auf 
dem Halſe!“ 

Ein paar ſtarke Fauſtſchlaͤge an die Tür kuͤndeten 
Lebaͤdkin an, 

„Schatoff! ... Schaa—toff, шаф auf!” brüllte der 
Betrunfene, „Schatoff, Freund...” Und plößlich fang 
er 108 — die befannte Romanze —: 

„Kam zu dir mit einem Gruß, 

Um zu künden, daß der Mo—o—orgenftrahl 

Glühend ... be—ebend ... jeinen erſten Kuß 

Bon den Wipfeln diefer Waͤ—e—elder ftahl! 

Laß dir fünden vom Erwachen .. .‘ 

Яфа — бт! zum Teufel!” räufperte er ſich — 

„Vom Erwachen unter Zmei—e—eigen ... 
Haha! Klingt ja faft wie unter Nuten! Nein, lieber von 
was anderem! ... 

Jeder Vogel — hat mal Durft! 

Weißt du auch, was ich trinke? 

Trinte, ja, trinfe? 

Meiß ich Doch ... jelber es ша... 

Was ich ... was ich ... 
Hm! ... Hol' fie der Teufel, dieſe dumme Neugier! 
Schatoff, begreifſt du auch, wie ſchoͤn es auf Erden zu 
leben iſt!“ 

„Antworten Sie nicht!“ fluͤſterte mir Schatoff zu. 

„Hoͤr', mach doch auf! ... Begreifſt du auch, daß es 
etwas Höheres gibt, als Raufereien unter... . der Menſch⸗ 
heit? ... Es gibt, weißt du, es gibt Augenblide im Leben 
eines edlen Menfchen ... Schatoff, ich bin gut, ich ое: 
zeihe dir alles ... Nur, weißt du, mad) doch auf! ... 


213 


Schatoff, höre — zum Teufel mit den Proflamationen! 
— Wie?" 

Schmeigen. | 

„Begreifſt du auch, Ejel, Daß ich verliebt bin! Ich 
habe mir einen Frad gekauft, fieh, einen Frack der Liebe 
für die Liebe, — fünfzehn Silberrubel! Eines Haupt: 
mannes Liebe verlangt eben gejellichaftlichen Anftand ... 
Mach auf!" brüllte er plöglich wie ein wildes Tier und 
begann von neuem, in toller Mut mit den Fäuften an 
die Tür zu Domnern. 

„Scher' dich zum Teufel!” fchrie nun auch Schatoff. 

„© —|—|/—На—а—5е! Leibeigener Sfla—ve, und 
deine Schweſter ИЕ auch eine Sfla—a—vin ... eine 
Die—bin !” | 

„Und du Бай deine Schwefter verkauft!” 

„Du lügft! Ich dulde aus Edelmut, während id... 
Mit einer einzigen Erklärung koͤnnte 1%... Begreifft du 
auch, wer fie eigentlich iſt?“ 

„Run, wer denn?" Schatoff trat neugierig an die 
Tür. 

„Wirſt du e8 aber auch begreifen?” 

„Werd |фоп begreifen, wenn du es nur fagft — nun, 
wer ИЕ Пе denn?“ 

„sch habe den Mut, es zu jagen! Ich Бабе immer den 
Mut, dem Publikum alles zu jagen!" 

„Scheint doch nicht”, nedte ihn Schatoff gefliffent | 
lich und nidte mir zu, jeßt nur gut aufzumerfen, 

„Bas, du meinft, ich ma—age es nicht?" 

„Natürlich wagſt du es nicht." 

„Wie, ich wma—a—ge es nicht?" 

„So jag’s 004, wenn du die herrichaftiihen Ruten 


214 


nicht fürchteft ... ЗИ doch ein Feigling — und willſt 
ein Hauptmann ſein!“ 

„54...15... е... Ш...” ftotterte Lebadkin. 

„Run?“ Schatoff legte das Ohr ans Schlüffelloch. 

Ein Schweigen entitend und dauerte mindeftens eine 
бабе Minute an. 

„Du Sh—ih—u—uft!" ertönte es endlich hinter der 
Tuͤr, und der Hauptmann ftolperte fo fchnell wie er 
nur fonnte und Feuchend wie ein Samowar die Treppe 
hinunter, wobei jede Stufe unter feinem Gewicht 
knarrte. 

„Kein, er Ш ſchlau, ſelbſt in der Betrunkenheit wird er 
ſich nicht verraten.“ Schatoff kam langſam von der Tuͤr 
zuruͤck. 

„Aber was ſoll denn das alles bedeuten?” fragte 
ic). 

Schatoff winkte nur mit der Hand, ging wieder zur Tür, 
öffnete fie und begann nach unten zu laufchen. Zange 
horchte er, ging jogar ein paar Stufen hinab ... endlich 
kam er wieder zurüd. 

„Es Ш nichts zu hören, hat fie aljo nicht geprügelt, 
wird wohl gleich eingefchlafen jein. Es Ш Zeit, Sie 
müffen паф Haufe gehen.” 

„Hören Ste, Schatoff, was foll ich aus all dem fchlie- 
Ben?" 

„Eb, Ichließen Sie daraus, was @е wollen!” ап 
wortete er mit müder und fchlecht gelaunter Stimme 
und feßte ſich an feinen Schreibtiſch. 

Sch ging. Ein unerhörter Gedanke bemächtigte fich 
meiner mehr und mehr. Mit Sorge dachte ich an den 
nächiten Tag. 


215 


УП 

Dieſer паб Tag — der Sonntag, an dem @ерап 
Trophimowitſchs Об ат fich unmiderruflich entjcheiden 
ſollte — war einer der merfwürtigften Tage meiner Ges 
Ichichte, war ein Tag der Überrafchungen, ап dem Altes 
feine Loͤſung fand und Neues fich Inüpfte, ein Зав greller 
Erklärungen und — noch |chlimmerer Verwirrung. 

Wie ich fchon erzählt Бабе, mußte ich meinen Freund 
am Morgen zu Warwara Petromwna begleiten, und um 
drei Uhr follte ich dann bei Liſaweta Nikolajewna fein, 
um ihr zu erzählen ... ja, ich wußte felöft nicht, was! 
und ihr zu verhelfen — wozu? das wußte ich ebenjomwenig. 
Und nun fand plößlich alles eine Löfung, die weder ich 
noch ſonſt jemand erwartet hatte ... Kurz, e8 war ein 
Zag ſeltſam zufammentreffender Zufälle. 

Er begann damit, daß wir, Stepan Trophimowitſch 
und ich, als wir um elf bei Warwara Petromwna erjchienen, 
fie nicht zu Haufe antrafen: fie war noch nicht aus der 
Kirche zurüdgelehrt. Mein armer Freund war aber 
dermaßen nervös oder innerlich erregt, daß ſchon dieſer 
eine Umftand ihn jofort gleichſam vernichtete, und völlig 
erichöpft fank er im Empfangsielon auf einen Sejlel. 
Sch bot ihm ein Glas Waffer an, doch troß feines bleichen 
Geſichts und feiner zitternden Hände lehnte er е8 mit 
Miürde ab. Übrigens möchte ich hier bemerken, daß er 
diesmal mit geradezu erlefener Eleganz gekleidet war: er 
trug die feinfte Batiſtwaͤſche, ме weiße Halsbinde war 
meifterhaft gefchlungen, hielt in der einen Hand einen 
neuen Hut und ftrohfarbene Handichuhe, und zu all dem 
kam noch ein leijer, ganz leifer Parfuͤmduft. 

Kaum БаНеп wir ung gejeßt, als Schatoff, vom Diener 


216 





geführt, eintrat. Warwara Petrowna hatte offenbar 
auch ihn um diefe Zeit zu fich gebeten, Stepan Trophi— 
mowitſch erhob fich |фоп, um ihm die Hand zu reichen, 
doch Schatoff, der зипа ФИ aufmerkſam zu ung herüber: 
ſah, wandte fich plöglich zur Seite und feßte fich auf einen 
Stuhl an der Wand, ohne ung auch nur mit dem Kopf 
zuzuniden. Mein armer Freund jah mich wieder ganz 
erjchroden un. 

So ſaßen wir noch eine ganze Weile in tiefftem Schwei— 
деп. Ötepan Zrophimowitich begann zwar einmal mir 
irgend etwas zuzuflüftern, Doch da er wahrjcheinlich felbft 
nicht recht wußte, was er fagen wollte, jo verftummte er 
bald wieder. Nach einiger Zeit Ким der Diener noch ein: 
mal herein, um irgend etwas auf dem Tiſch zu ordnen; 
oder richtiger — um nach ung zu jehen. Da wandte fich 
plößlich Schatoff an ihn und fragte laut: 

„Alexei Segorytich, ift Заща Pawlowna gleichfalls zur 
Kirche gefahren?” 

„Kein, Warwara Detromwna geruhten allein zum 
Sottesdienft zu fahren, Зама Pawlowna aber find zu 
Haufe geblieben, йе fühlten fich nicht ganz wohl”, mel: 
dete Alexei Jegorytſch mit Anftand. 

Mein armer Freund warf mir hierauf wieder einen 
erregten Blick zu, jo daß ich mich ſchon geärgert von ihm 
abwenden wollte. Da ertönte draußen das Rollen einer 
Equipage, ме vorfuhr, und ein gewifles fernes Hinundher 
im Haufe fündete uns an, daß die Herrin zurüdgelehrt 
war. Wir ftanden auf. Schritte näherten ſich. Aber 
was war das? Wir hörten Schritte von mehreren Pers 
fjonen. War denn Warwara Petromwna nicht allein зи: 
rüdgelehrt? Das war doc) etwas fonderbar, da fie felbft 


217 


uns zu diefer Stunde und zu dieſem bejonderen Zweck zu 
lich gebeten hatte. Schließlich vernahmen wir ſeltſam 
ſchnelle Schritte, faft ein Eilen, fo aber pflegte Warwara 
Petrowna fonft doch nicht zu gehen. Und plößlich flog 
die Türe auf und tatfählih — Warwara Petromna er: 
Ichien, atemlog und in ungewöhnlicher Erregung. Hinter 
ihr aber Тат, langfamer, leifer, Liſaweta Nifolajewna, 
und die führte an der Hand — Marja Timofejewna Le— 
baͤdkina! Hätte ich das im Traum gejehen, fo hätte ich 
jelbft dann meinen Augen nicht getraut. 

Mas war gefchehen? 

Хип muß ich um etwa eine Stunde zurüdgreifen und 
erzählen, was fich inzmifchen in der Kirche zugetragen 
hatte. 

An eben diefem Sonntage war der Adel und die ganze 
Geſellſchaft der Stadt faft vollzählig zum Morgengottes: 
dienst erfchienen. Man mußte, daß die neue Gouver: 
neurin zum erftenmal nach ihrer Ankunft bei ung in Die 
Kirche gehen werde. Es hatte fich ſchon herumgefprochen, 
daß fie eine Freidenkferin fei und Ме „neueften An: 
Ichauungen” teile. Und überdies mußten fchon alle 
Damen, daß fie in einer prächtigen, fehr eleganten 
Toilette erfcheinen werde, weshalb fih denn alle 
gleichfalls auf das forgfältigfte gepußt hatten. Nur 
Warwara Petromna таг wieder fchliht und ganz in 
Schwarz erjchienen, genau fo, wie fie ſich in den leßten 
vier Jahren immer Fleidete. Während des Gottesdienſtes 
ftand fie auf ihrem alten Platz, links, in der erften Reihe, 
und vor ihr hatte ihr Diener in Livree ein Samtkiſſen 
hingelegt, Виз, alles war jo, wie е8 immer geweſen mar. 
Manche Leute wollten zwar bemerkt haben, daß War: 


218 





wara Petrowra an diefem Morgen ganz befonders lange 
und inbrünftig gebetet habe; ja, ſpaͤter, als man fich alles 
wieder vergegenwärtigte, verlicherte man fonar, fie 
babe Tränen in den Augen gehabt. Die Meſſe war 
Ichließlich zu Ende und unſer Oberpriefler, der Vater 
Pawel, trat aus der Sakriſtei, um eine feierliche Predigt 
zu halten. Феше Predigten wurden bei uns ſehr ge: 
Ichäßt und man hatte ihm ſchon oft zugeredet, fie Doch 
druden zu laffen, wozu er fich aber nie entſchließen konnte. 
An diefem Sonntage nun fiel die Predigt jedoch be: 
jonders lang aus 

Da kam, nachdem die Predigt fchon begonnen hatte, 
noch eine Dame in einer leichten Mietdrofchle angefahren, 
in einem von jenen altmodifchen DVehifeln, auf denen 
Herren rittlings, Damen nur ſeitlich fißen konnten, wes— 
halb fie ſich an dem Gürtel des Kutjchers fefthalten muß— 
ten, da fie bei jedem Stoß des Wagens wie ein Wiefen: 
gräschen im Winde fchaufelten. Dieſe Droſchken gibt es 
auch heute noch in unjerer Stadt. Der Kutfcher Мей 
an der Kirchenede, Da er wegen der vielen Equipagen und 
jogar Gendarmen vor dem Portal nicht mweiterzufahren 
wagte. Die Dame jprang ab und gab dem Kutfcher vier 
Kopeien. 

„Bas, ift es zu wenig, Wanjaͤ?“*) fragte fie erfchroden, 
als fie fah, daß der Kutjcher ein Geſicht ſchnitt. „Das ift 
aber alles, was ich Бабе“, fügte fie traurig hinzu. 

„un, fchon gut... . hab nicht an Verdienft gedacht ...“ 
Der Wanjla winkte mit der Hand und fah fie an, als 
dachte er: „Wäre ja auch Sünde, dich zu kraͤnken ...“ 

Er Нее feinen Lederbeutel unter ме Bluſe und fuhr, 
*) Volkstuͤmliche Anrede der Drofchkenkutfcher. BE; KR. 


219 


begleitet vom Spott der anderen wartenden Kutjcher, 
wieder davon. Spötteleien und Verwunderung beglei- 
teten auch die Dame, fo lange fie ſich durch die Зов: 
menge und die wartenden Diener bis zur Kirchentür 
drängte. Aber её war auch) wirklich etwas Ungemöhn 
liches und Überrafchendes in dem Erfcheinen einer fol 
chen Perſon jo plöglich irgendwoher und am Sonntag: 
morgen mitten unter dem Boll. 

Sie war Напа mager und уе; ihr Фей war 
ftarf gepudert und geſchminkt und der lange Hals war 
unbededt. Sie hatte weder ein Tuch noch einen Ume 
wurf, war nur in einem alten dunklen Kattunkleide, troß 
des fühlen, windigen, wenn аиф jonnigen September- 
tages. Ihr Kopf war gleichfalls unbededt und in den 
fleinen Haarknoten im Naden hatte fie an der rechten 
Seite eine Roje aus Seidenpapier geftedt, eine von 
jolchen, mit denen die Oftercherubim geichmüdt werden. 
Фо einen Oftercherub in einem Kranz aus Papierrojen 
hatte ich gerade am Abend vorher unter den Heiligen: 
bildern bemerkt, als 1% bei Marja Timofejewna faß. 
Hinzu fam, daß die Dame, wenn auch mit niedergejchla= 
genen Augen, doch mit einem beinahe mehr als heiteren, 
faft verfchmigten Lächeln durch das Volk ging. Viel⸗ 
leicht hätte man fie, wenn fie noch einen Augenblid länger 
in der Menge geblieben wäre, überhaupt nicht in die 
Kirche eintreten lajfen. Фо aber gelang es ihr noch, 
durch das Portal zu fchlüpfen, und unauffällig ſchob fie 
lich dann weiter nach vorn, 

Obgleich die Predigt noch nicht zu Ende war und die 
ganze Kirche andächtig zuhörte, wandten ſich manche 
Augen doch interefjiert und verwundert heimlich der 


DD 


20 











Neueingetretenen zu. Dieſe kniete zunächft nieder, 
beugte ihr gepudertes Geficht auf den Fußboden, und 
berührte ihn mit der Stirn; fo fniete fie lange, und wie 
es jchien, weinte fie; nachdem fie fich aber wieder auf: 
gerichtet und von den Knien erhoben hatte, begann fie 
alsbald foft heiter und mit fichtlihem Vergnügen die 
Menichen und Ме Kirchenwände zu betrachten, Ein: 
zelne Damen jchienen fie bejonders zu intereffieren, und 
йе ftellte fich fogar auf die Fußſpitzen, um beſſer fehen zu 
fönnen, und zweimal ficherte fie dabei ganz eigen: 
tümlich. Doch ſchließlich erreichte auch die Predigt ihr 
Ende und man trug das Kreuz vor den Altar. Die 
Gouverneurin trat jofort vor, Doch fchon mach ein paar 
Schritten blieb fie ftehen, um Warwara Petrowna den 
Vortritt zu geben, die gleichfalls gerade auf das Kreuz 
zufchritt und Dabei tat, als fei ihr niemand im Wege. 
Die ungewöhnliche Belcheidenheit ver Gouverneurin 
jollte natürlich ein feiner Stich für Warwara Petromna 
fein — fo faßten eg wenigftens die Damen der Geſell— 
ihaft auf. Auch Warmara Petromna hatte den Stich 
mwohl verftanden, überfah ihn jedoch und kuͤßte mit ип: 
erjchütterlicher Vornehmheit das Kreuz, worauf Пе dann 
jofort dem Ausgange der Kirche zufchritt. Ihr Diener 
in Livree bemühte fich ganz unnüßerweile, einen Weg 
durch die Anweſenden zu bahnen, da alle fchon von felbft 
höflich vor ihr zur Seite traten. Da geſchah es aber, Daß 
in der Vorhalle, mo das Volk dicht gedrängt ftand, War: 
тата Petromna dennoch einen Augenblid ftehen bleiben 
und warten mußte. Und hier nun drängte fich plößlich 
das fonderbare Gejchöpf, mit der Papierroje im Haar, 
durch Das Volk zu ihr Hin — und fiel vor ihr auf die Kniee. 


221 


Warwara Petrowna, die man nicht leicht erfchreden 
fonnte, befonders nicht in der Öffentlichkeit, {аб ruhig, 
fireng und erhaben auf die Kniende herab. 

Sch muß bier bemerken, daß Warwara Petromma, 
wenn Пе auch ſparſamer, ja, wie manche behaupteten, 
jogar ein bißchen geizig geworden mar, zu mwohltätigen 
Zweden doch immer noch viel Geld ausgab. Noch vor 
einem Jahr, а18 in einzelnen Gegenden unferes Gou: 
vernements Hungersnot herrjchte, hatte fie an das Hilfs: 
fomitee fünfhundert Rubel gejandt. Und jchließlich hatte 
lie noch in der leßten Zeit, kurz vor der Ernennung des 
neuen Gouverneurs, bereits ein Damenfomitee zu: 
ftandegebracht, das den aͤrmſten Möchnerinnen in der 
Stadt und im Gouvernement Unterftüßungen zu: 
fommen laſſen ſollte. Man warf Це bei ung Ehrgeiz 
vor, doch ihr fefter, durchſetziger Wille hatte ме Hinder— 
пе Гай jchon bejeitigt, das Komitee war bereits fo gut 
wie gegründet, und Warwara Petromna dachte ſchon 
mit Begeifterung daran, ein ähnliches Komitee auch in 
Moskau zu gründen, und wie diejer Gedanke fchließlich 
in jeden Gouvernement fruchtbar gemacht merden 
fünnte. Da ют aber der Wechjel des Gouverneurs, und 
alles geriet ins Stoden; die neue Gouverneurin aber 
hatte, wie es hieß, ſchon Zeit gehabt, in der Gejellichaft 
einige ſpitze und fchließlich nicht ganz unſachliche Зе: 
merfungen über die Unzmwedmöäßigfeit des Grund: 
gedantens folcher Komitees zu Außern. Dieſe Bemer— 
fungen aber waren — jelbftredend mit Ausjchmüdungen — 
Warwara Petromna jofort hinterbracht worden. Zwar 
kann nur Öott allein wifjen, was in der Tiefe eines Men— 
Ichenherzens vorgeht, aber in diefem Fall glaube ich Doch, 


222 





annehmen zu dürfen, daß Warwara Petrowna in diefem 
Augenblid nicht ungern vor der Kinienden ftehen blieb, 
zumal пе ja wußte, daß fogleich ме Gouverneurin und 
dann die ganze höhere Goſellſchaft ап ihr vorüber: 
gehen mußte — „Фо mag Jie jeßt Doch jehen, mie 
gleichgültig mir das Ш, was fie da über meinen Ehr: 
geiz in meinen Wohltätigfeitsplänen jpöttelt. Was geht 
fie mich an!" 

„Bas haben Sie, meine Liebe, um was bitten Sie?” 
fragte Warwara Petrowna und mufterte aufmerfjam 
ме vor ihr kniende Bittitellerin. 

Diele {аб mit entjeglich задбаНсит, verfchämtem und 
faſt andächtigem Blick zu ihr auf, und plößlich lachte ſie 
wieder mit jenem abfonderlichen Kichern. 

„Was hat jie? Wer Ш fie?" Warwara Petromna ſah 
mit befehlendem und fragendem ЗФ die Umftehen: 
ben ап. 

Alles ſchwieg. 

„Sie ſind wohl unglüdlih? Sie brauchen eine Unter: 
Rüßung ?” 

„sch Гат... ich wollte ...“ ftammelte ме Kniende 
mit einer Stimme, die vor Aufregung verjagte. „Sch 
bin nur gefommen, um Ihnen die Hand zu еп“... 
und wieder Ficherte fie. Und mit einem fchmeichelnden 
Ausdruck im Gejicht, wie Kleine Kinder ihn haben, wenn 
йе etwas erbitten möchten, wollte fie jchon Warmara 
Petrownas Hand ergreifen, doch plößlich, als hätte 
irgend etwas fie erfchredt, 309 fie ihre Hände bang 
zurüd. 

„Nur deshalb find Sie gekommen?“ Warwara Per 
trowna lächelte mitleidig, $09 fchnell ihr Perlmutter⸗ 


223 


portemonnaie hervor, entnahm ihm einen Zehnrubel- 
Ichein und gab ihn der Unbelannten. 

Diefe nahm ihn an. Warwara Petrowna war fichtlich 
тебе interefjiert und hielt die Unbekannte offenbar nicht 
für eine gewöhnliche Bittftellerin. 

„Sieb, volle zehn Rubel hat fie gegeben !” fluͤſterte 
jemand in der Зо 8тепде. 

„Ihre Hand, bitte”, ftammelte wieder die Kniende, 
die mit den Fingern der linlen Hand den Schein nur ап 
einem Edchen frampfhaft fefthielt, während der Windzug 
ibn bewegte. 

Warwara Petrowna runzelte aus einem unbelannten 
Grunde ein wenig die Stirn, reichte jedoch mit ernfter, 
ftrenger Miene ihre Hand hin: die Unglüdliche kuͤßte fie 
andächtin. Ihr dankbarer Blid leuchtete jeßt geradezu 
wie in Seligfeit auf. | 

Und gerade in мест Augenblid ат die Gouver— 
neurin, ftrömte die ganze Schar unjerer Damen und 
höheren MWürdenträger dem Ausgang zu. Die Gou— 
verneurin mußte vor dem Gedränge am Portal ftehen 
bleiben und ein wenig warten, und die anderen folgten 
ihrem Beifpiel. 

„Sie zittern ja, Ste haben wohl Та?“ fragte $108: 
fich Warwara Petrowna, warf fofort ihren Mantel ab, 
den der Diener auffing, und 309 von ihren Schultern 
einen jchwarzen (feineswegs billigen) Schal, den fie 
eigenhändig um den entblößten Hals der immer пой 
vor ihr Knienden ſchlang. 

„Aber fo ftehen Sie doch auf, ftehen Sie auf, ich bitte 
Sie!" | 

Dieſe erhob ſich. 


224 





„Зо wohnen Sie? Weiß denn hier wirklich niemand, 
wo fie wohnt?" wandte ſich Warwara Petromwna wieder 
ungeduldig an die Umftehenden. 

„Sch glaube, das ift die Lebaͤdkin,“ meinte fchließlich 
jemand — e8 таг dag unfer ehrenwerter Kaufmann 
AUndrejeff: ein Dann mit langem Bart, einer in Silber 
gefaßten Brille und in ruffifcher Tracht. Seinen 
runden Silzbut hielt er jeßt in der Hand. „Die wohnen 
bei Silippoff in der Bogojawlenskſtraße“, fügte er hinzu. 

„Lebadfin? За Filippoff? Sch habe den Namen 
gehört „.. Sch Danke Ihnen, Nikon By RD aber 
wer ИЕ diefer Lebaͤdkin?“ 

„Kennt fih ‚Hauptmann‘ ... ein Menfch, der fo: 
zufagen ... feinen Halt hat. Die hier ift wohl feine 
Schwefter. Sie muß aber, denke ich, feiner Auflicht ent= 
laufen Sein”, bemerfte er leifer und blidte dabei Wars 
wara Petrowna bedeutjam ап. 

„Sch verftehe fchon, danke, Nikon Sfemjonytich. Meine 
pin Sie find Fräulein Lebaͤdkin?“ 

„Nein, ich heiße nicht Lebaͤdkin.“ 

„ber vielleicht heißt Ihr Bruder Lebaͤdkin?“ 

„Mein Bruder heißt Lebädkin.‘ 

„Alſo, hören Sie, meine Liebe, ich werde Sie jeft 
zu mir bringen und von mir aus wird man Öle dann zu 
Shnen nach Haufe fahren. Wollen Sie mit mir kommen?“ 

„Ach ja, ach ja, ich will, ich will!“ und Fräulein Lebaͤdkin 
Flatfchte in die Hände vor Vergnügen. 

„Zante, Tante! Nehmen Sie auch mich mit!" er⸗ 
tönte plößlich Lifameta Nicolajermnas Stimme. 

Liſa war an diefem Sonntage mit der Gouverneutin, 
ihrer Verwandten, zum Öottesdienft erjchienen, während 


Bd. Т. 225 


15 Doitviensfi, Die Däntonen. 


Praskowja Iwanowna auf den Rat des Arztes hin eine 
Spazierfahrt unternommen und Mamrifij Nikolaje: 
witjch gebeten hatte, ſie zu begleiten. Liſa, die mit der 
Gouverneurin die Kirche verlafjen wollte, ließ nun $168: 
lich ihre Verwandte einfach ftehen und drängte fich un: 
geftum zu Warwara Petromwna. 

„xtebling, du weißt doch, daß ich Dich immer gern bei 
mir jehe, aber was wird deine Mutter dazu jagen?“ Бе: 
дапп Warmara Petromna würdevoll, doch plößlich ge= 
wahrte jie Lifas ungewöhnliche Aufregung und wurde 
unjicher. 

„zante, Tante, ich muß jeft unbedingt mit Ihnen 
fahren!” flehte Liſa und füßte Warwara Petromwna un: 
geftüm. 

„Mais qu’avez-vous donc, Lise?“ fragte die Gous 
verneurin mit ausdrudsvoller Verwunderung. 

„Ach, verzeihen Sie, ее, chere cousine! 54 
fahre zu Tante!” Lifa hatte fich |фоп im Fluge zu ihrer 
unangenehm berührten chere cousine herumgemandt 
und kuͤßte fie fchnell zweimal. „Bitte, jagen Sie maman, 
daß fie gleich zu Tante fommen foll, um mich abzuholen. 
Maman wollte heute unbedingt zu Tante fahren, fie hat 
es geftern jelbft gefagt, ich vergaß nur, Ihnen das 
vorhin fchon zu jagen!” beteuerte Lıfa, zitternd vor Auf—⸗ 
regung. „Verzeihen Sie mir, Julie, feien Sie mir nicht 
Ме... chöre cousine! ... Tante, ich bin bereit!" 

„Tante,“ flüfterte fie diefer zu, „wenn Sie mich jeht 
nicht mitnehmen, laufe ih zu Fuß Ihrer Equipage 
nach №" 

Зит Glüd hörte das niemand. Warwara Petromna 
trat vor Schred ſogar einen Schritt zurüd und jah ent: 


226 


fett das anfcheinend wahnfinnige Mädchen ап. Diefer 
ЗИФ entichied: fie beichloß, Liſa auf jeden Fall mit: 
junehmen. 

„Dem muß ein Ende gemacht werden!" entfuhr е8 
ihr unwillkuͤrlich. „Sch nehme dich mit Vergnügen mit, 
Liſa,“ fügte fie laut hinzu, „aber natürlich nur, wenn 
Julija Michailowna damit einverftanden iſt“, wandte fich 
Warwara Petromna mit offenem Blid und freundlicher 
Mürde unmittelbar an die Gouverneurin. 

„Oh, gewiß! Sch werde fie doch nicht um dieſes Зет» 
gnügen bringen wollen,” zwitjcherte mit erftaunlicher 
Kiebensmwürdigfeit die Gouverneurin Zulija Michailorvna, 
„zumal ich ja |фоп weiß, was für ein phantaftijcheg, 
eigenwilliges Köpfchen auf diefem Hälschen ſitzt!“ — und 
де lächelte geradezu bezaubernd. 

„sch dankte Ihnen aufrichtig”, dankte Warwara Pe: 
trowna mit jehr höflichem Gruß, aber wie immer noch 
voll Würde, 

„Und es Ш mir um jo angenehmer, diefen Wunfch 
Lifas zu erfüllen,” fuhr Julija Michailowna in ihrer 
plappernden Nedeweife fort und errötete jogar vor ап: 
genehmer Erregung, „als Lifa jeßt nicht nur das Ver: 
gnügen haben wird, zu Ihnen zu fahren, fondern mit 
diefem Vergnügen noch einer fo jchönen Negung паб: 
geben fann, wie её das Mitgefühl mit diefer ...“ (jie 
blikte bezeichnend auf die „Unglüdliche”) „... wie es 
die Barmherzigkeit ift ... ить... und das noch ger 
wiffermaßen an der Schwelle der Kirche ...“ 

„Eine folche Auffaffung macht Ihnen unbedingt 
Ehre”, äußerte Warwara Petrowna in bewundern— 
der Weiſe ıhren Beifall, 


227 


17° 


Und Julija Michailomna ftredte fofort mit liebens— 
mwürdigem Eifer die Hand aus und Warwara Petrowna 
drüdte fie mit aufrichtiger Bereitwilligfeit. Der allge: 
meine Eindrud war vorzüglich. Die Gefichter der Anz 
wejenden erftrahlten vor Vergnügen und viele lächelten 
füß und mohlgefällig. 

Kurz, die ganze Stadt fah plöglich ein, daß nicht die 


Gouverneurin aus angebliher Mifachtung Warwara 


Petromna bisher noch nicht ihren Bejuch gemacht hatte, 
jondern daß, im Gegenteil, Warmara Petromna е8 war, 
die zu Zulija Michailowna „Diftance wahrte”, während 
dieſe, wie man jet meinte, wohl {фоп zu Fuß zu War: 
wara Petrowna geeilt wäre, wenn fie nur gewußt hätte, 
ob fie überhaupt empfangen werden würde. Und jo 
ftieg denn Warwara Petromwnas Anjehen plößlich wieder 
aufs höchite. | 

„Steigen Sie ein, meine Liebe”, ſagte Warwara Pe: 
trowna zu der Lebaͤdkin und wies auf die vorgefahrene 
Equipage. 

Und die Unglüdliche ее fröhlich zum Wagenfchlag, 
wo der Diener ſchon bereititand und fie hineinhob. 

„Die! Sie hinken!“ rief ploͤtzlich Warwara Petromna 
entjcht und erbleichte. (Alle haben es damals bemerkt, 
jedoch) nicht verftanden, warum.) ... 

Die Сашраде rollte davon. Warwara Petrownas 
Stadthaus lag ganz in der Nähe der Kirche. Liſa erzählte 
mir fpäter, die Lebaͤdkin habe während der ganzen drei 


Minuten der Fahrt hyfterifch gelacht, Warwara Petromna — 


aber Бабе dageſeſſen „wie in einem hypnotifchen Schlaf” 
— das waren Kijas Worte. 


228 





| 








Sinftes Kapitel 
Die „allwiffende Schlange” 


I 


буфета Petromna Flingelte fofort nach einem Diener 
und warf lich dann in der Nähe des Senfters erjchöpft 
in einen Seſſel. 

„Setzen Sie 14 во ит, meine Liebe,“ wies fie Marja 
Zimofejewna an dem großen runden Tiſch, der in der 
Mitte des Salons ftand, einen Plak an. Darauf wandte 
lie fih zu ung: „Stepan Trophimowitſch, wer И das? 
Sehen Sie йе an, пет... mas ift fie?" 

„sh... ich...“ ftammelte Stepan Trophimowitſch. 

In diefem Augenblid trat der Diener ein. 

„So jchnell wie möglich ein Taſſe Kaffee! Und die 
Equipage joll warten!" 

„Mais chere et excellente amie ... dans quelle 
inquietude! “ rief Stepan Trophimowitſch un: 
licher aus. 

„ch, Franzöfifch, franzoͤſiſch!“ Marja Timofejewna 
Matfchte in die Hände vor Vergnügen. „Gleich merkt 
man, daß man in vornehmer Gefellfchaft iſt!“ Und fie 
Ichidte fich mit Entzüden an, dem franzöfifchen бе: 
Ipräche zuzuhören. = 

Warwara Petromwnas Augen ruhten auf ihr mit Зе: 
fremden, ja, mit Entjeßen. 


229 


Mir fchwiegen alle und warteten ungemwiß auf irgend» 
eine Löfung oder Erflärung. Schatoff erhob fein ein: 
ziges Mal feinen gefenkten Kopf und Stepan Trophimo— 
witjch fchaute fo erfchroden drein, als trüge er die Schuld 
an allem. Sch felbft blidte auf Kifa, die faft neben Scha: — 
toff faß. Liſa wiederum [аб gefpannt bald auf Warwara — 
Petromna, bald auf die Lahme: um ihre Lippen zudte 
ein Kächeln, fein gutes Lächeln, — und Warmwara Pe: 
trowna bemerfte es wohl. Währenddejjen ließ Marja 
Timofejewna es fich gut gefallen: fie betrachtete entzüdt 
und ohne jede Befangenheit die Möbel, die Teppiche, die 
Bilder an den Wänden, die alte gemalte Dede, die große 

vonzeftatue in der Ede, die Porzellanlampe, die ЭП: 
bums und die Nippfachen auf dem Tiſch. 

„ch, auch du biſt Мег, Schatuſchka!“ rief fie plöklich, 
luftig lachend, aus. „Denk nur, ich feh’ dich |фоп lange 
und fag’ mir: das kann er doch nicht fein! Wie foll der 
wohl hierher kommen?“ 

„Sie kennen dieje Dame?” fragte Warwara Petromna 
fofort, fich zu Schatoff wendend. 

„За“, fagte Schatoff leife und brummig иле immer — 
rüdte dabei auf feinem Stuhle einmal hin und her, blieb 
aber Jißen. 

„Bas willen Sie denn von ihr? Etwas jchneller, wenn 
ich bitten darf!” 

„sa, wag denn ...“ er ftodte und lächelte unnötiger: = 
weife. „Sie jenen doch felbft ...“ | 

„Bas ſehe ich? Aber jo reden Sie doch!" 

„Sie wohnt in demjelben Haufe, in dem ich wohne... 
mit ihrem Bruder ... einem Offizier. 

„Kun, und?” 


230 





Schatoff ftodte wieder. „Wozu davon fprechen“, 
fnurrte er fchließlich und verjtummte endgültig — und 
wurde fogar rot. 

„Ratürlich, von Ihnen апп man ja auch nicht mehr 
erwarten!” Warwara Petromna wandte 14 unwillig 
von ihm eb. Sie begriff, daß hier alle etwas Beflimmtes 
wußten und nur deshalb nicht auf ihre Fragen antwor: 
teten, weil fie eg ihr verheimlichen wollten. 

Der Diener trat wieder ein, mit der beftellten Taſſe 
Kaffee auf filbernem Teedrett, und präjentierte fie auf 
Warwara Petromnas Winf ата Timofejewna. 

„Meine Liebe, Sie werden Falt gehabt Haben! 
Trinfen Sie etwas Heißes, das wird Sie erwärmen.” 

„Merci.“ Marja Zimofejewna nahm die Tale — 
plaßte aber РОБ laut darüber aus, Daß fie dem 
Diener „merci“ gefaat hatte. Da fie jedoch gleichzeitig 
einen wütenden Blick Warwara Petromnas auffing, 
erfchraf fie und ftellte jchnell die Taſſe auf den 89. 

„Tante,“ fragte fie darauf mit einem leichtjinnigen 
Ausdrud von Kofetterie, „Zante, find Sie mir vielleicht 
boͤſe?“ 

„Wa—as?“ Warwara Petromwna richtete ſich kerzen— 
grade in ihrem Seſſel auf. „Was für eine Tante —? 
Mie meinten Sie dag?" 

Marja Timofejewna hatte offenbar einen folchen Zorn 
nicht erwartet: ein Zittern erjchütterte fie förmlich und 
fie drüdte fih angjtvoll an Ме Stuhllehne. „Sch... . ich 
dachte ..., daß man jo — muß,” flüfterte fie, den Blick 
ſtarr auf Warwara Petrowna gerichtet, „Lija hat Sie 
auch jo genannt.” 

„Bas für eine Ца?" 


231 


„За, dort, diefes Fräulein!” ſagte Marja Zimofejemna 
und wies mit dem Zeigefinger auf Liſaweta Niicolajemwna. 

„бо ift die für Sie jchon zur Liſa geworden?“ 

„Sie haben fie doch vorhin jelbjt jo genannt.” Marja 
Zimofejewna Ме Mut. „Und im Traume habe ich 
genau |014 eine Schönheit geſehen“, und fie lachte 
gleichfam unmillfürlich. 

Warwara Petromna dachte einen Augenblid nach und 
wurde erfichtlich ruhiger: ja, fie lächelte fogar über аа 
Timofejewnas leßte Bemerkung. Als diefe aber das 
Lächeln bemerfte, ftand fie auf und trat mit ſchuͤchternem 
Ausdrud hinkend auf fie zu. 

„Bitte, nehmen Sie, ich vergaß ganz, das Зиф Ihnen 
zurüdzugeben, ſeien Sie mir nicht böje —" und fie nahm 
den Schal, den ihr Warwara Petromna in der Kirche um— 
gelegt hatte, von den Schultern. 

„Nehmen Sie ihn fofort wieder um und behalten Sie 
ihn ganz. Setzen Sie fih! Trinken Sie Ihren Kaffee, 
und fürchten Sie fich bitte nicht vor mir, meine Liebe! 
Sch fange |фоп an, Sie zu verfichen. 

„Chere amie . ..“ erlaubte 14 Stepan Trophimowitſch 
wieder anzufangen ... 

„Ach, Stepan Trophimomitich, hier verliert man auch 
ohne Sie |фоп den Verftant! Verjchonen Sie пиф 
wenigftens ... Ziehen Sie bitte an der Klingel fürs 
Mädchenzimmer, dort!" 

Neues Schweigen entitand. Warwara Petromnas 
Blid glitt mißtrauiſch über die Öefichter der Anweſenden. 
Da erjchien Agafcha, ihre bevorzugte Kammerzofe. 

„Mein fariertes Tuch. Das ausländiiche. Was macht 
Darja Pawlowna?“ 


232 





„Sie fühlen fich nicht ganz wohl.“ 

„Geh', und fag’ ihr, ich laſſe fie herbitten. Sage ihr, 
ich ließe fie fehr darum bitten. Auch wenn fie frank iſt.“ 

In diefem Augenblid ertönte aus dem Vorzimmer 
ети! von Schritten und Stimmen und plößlidy er: 
Ichien in der Tür rot und atemlog Уха юпа Iwanowna, 
von Mawrikij Nicolajewitich fürforglich деи. 

„Ach Gott, endlich da! Kia, du Wahnfinnige! Was 
tuft du deiner Mutter an!” rief fie mit ihrer freifchenden 
Stimme, in die fie nach Art aller reizbaren Menjchen 
ihren ganzen Ürger legte, {фоп von der Tür aus ins 
Zimmer. 

„Warwara Petrowna, meine Xiebe, ich bin nur des: 
halb zu Ihnen gefommen, um meine Tochter abzuholen !" 

Warwara Petrowna fah fie unmutig an, erhob fich 
aber, um fie zu begrüßen, und fagte mit faum verhehlten 
Derdruß: „Guten Зав, Praslomja Iwanowna. Gebe 
dich, bitte. Ich wußte ja, daß du fommen wuͤrdeſt.“ 


II 


биг та опа Iwanowna konnte in einem folchen 
Empfang nichts Unermartetes liegen. Warwara Зе: 
tromwna hatte fie von Kindheit an unter dem Anfchein 
der Freundichaft von oben herab, ja, in der Penſions— 
zeit jogar mit Verachtung behandelt. Зи den letzten 
Zagen hatte fich ihr Verhältnis jedoch noch in einer ganz 
neuen und bedenklichen Weiſe zugeipißt. Die Gründe 
des drohenden DBruches waren Warwara Petromna 
noch völlig unklar und daher um fo beleidigender für fie. 
Dor allem mußte es fie Мапи, daß Эта опа Iwa— 
nowna ihr gegenüber mit einem Male einen jo unglaub— 


233 


lich hochmuͤtigen Зоп anfchlug. Hinzu famen die fonder: 
baren Gerüchte, die ihr zu Ohren gedrungen waren, und 
die Пе nun, eben infolge ihrer Unklarheit und Unbeftimmt: 
heit, jo aufregten. Warmwara Petromnas ganzes Weſen 
war gerade, offen und ftolz, nichts haßte fie daher mehr, 
als verftedte Anfchuldigungen. Seglihem Raͤnkeſpiel 
hätte fie ftets einen ehrlichen Krieg vorgezogen. Doch 
wie dem auch mar, jedenfalls hatten fich die beiden 
Damen jet ſchon Seit fünf Tagen nicht mehr gejehen. 
Warwara Petromna war die [ее дете[ еп, die der ап: 
deren einen Bejuh gemacht hatte — einen Beſuch, von 
dem fie gefränft und geärgert zurüdgefehrt war. 54 
glaube mich nicht zu täufchen, wenn ich jage, daß Prag: 
опа Iwanowna mit der naiven Überzeugung eintrat, 
Warwara Petromna пие und werde aus irgendeinem 
Grunde vor ihr Angft befommen. Andererfeits richtete 
fich in Warwara Petromna fofort ihr ganzer Stolz auf, 
als fie an dem Gefichte Prasfomja Iwanownas mahr: 
nahm, daß diefe fie als irgendwie unterlegen behandeln 
wollte. Prasfomja Iwanowna wiederum mar, wie {с 
viele unbedeutende Menjchen, die ſich [оп im allgemeinen 
ruhig tyrannifieren lafjen, eines jähen und frechen An: 
griffes fähig, mit dem fie dann plump bei irgendeiner 
Gelegenheit Бетаи8 рае. Zudem war fie noch Наш 
und daher doppelt reizbar. 

Daß noch andere zugegen waren, konnte in dieſem 
Salle den Ausbruch, eines Streites zwiſchen den beiden 
Sugendfreundinnen nicht verhindern: denn Stepan 
Trophimowitſch, Schatoff und ich galten einfach als 
Hausfreunde, auf deren Gegenwart man weiter nicht 
Nüdjicht zu nehmen brauchte, Stepan Зторбипою 


234 


ee N a UA - 


hatte übrigens feit dem Eintritt feiner chere amie noch 
immer geftanden: jeßt, а18 auch noch Prasfomja Iwa— 
помпа auf der Zürfchmelle kreiſchend erjchien, fanf er 
ganz erfchöpft in einen Seſſel und warf mir nur noch 
einen verzweifelten Blid zu. Schatoff dagegen drehte 
fich brüsf und brummend auf feinem Stuhle um: und es 
fchien beinahe, als wolle er aufitehen und fortgehen. 
Lila hatte fich zuerft halb erhoben, aber ſich gleich wieder 
gefeßt; fie fchenkte der Gegenwart ihrer Mutter über: 
haupt feine Beachtung, doch tat fie das nicht aus „Wider: 
ſpenſtigkeit“ oder „Trotz“, fondern weil fie augenfchein: 
lich ganz unter der Macht ihrer eigenen Gedanken 
ftand — fie ftarrte zerftreut in die Luft und hatte fogar 
für Marja Timofejewna nicht mehr die frühere Aufmerk— 
famfeit übrig. 


III 


„Ach, hierher!" Praskowja Smwanomna zeigte auf den 
Lehnſtuhl am Tiſch, und ließ ſich mit Mawrikij Nicolaje: 
witjchs Hilfe Schwer auf ihn nieder. „Wuͤrde mich fonft 
nicht bei Ihnen hinjeßen, meine Liebe, wenn es nicht die 
Süße wären —“ 

Warwara Petromna erhob ein wenig den Kopf, und 
legte die Hand an die rechte Schläfe, in der fie augen: 
Icheinlich einen ftechenden Schmerz empfand — „le 
tic douloureux“, wie ihn Ötepan Trophimowitſch nannte. 

„Barum denn nicht, Praskowija Iwanowna? Warum 
follteft du dich bei mir nicht jeßen? Dein Mann war 
mir fein Lebelang freundfchaftlich zugetan. Und mit 
dir Бабе ich noch als Kind in der Penfion Puppen 
geſpielt.“ 


235 


Praskowja Iwanowna winkte nur mit der Hand ab: 
„sch Eonnte es mir ja fchon denken, daß Sie wieder von 
der Penfion anfangen würden! Das tun @е ja ftets, 
wenn Sie Vorwürfe machen wollen. 

„Es fcheint, daß du ſchon in fchlechter Laune her: 
gelommen БИ. Wie geht es mit deinen Füßen? Da 
wird dir Kaffee gebracht! Nimm bitte ein Täßchen, 
trink und ärgere Dich nicht." 

„Meine Xiebe, Sie gehen ja mit mir um, als ob ich 
ein Heines Moaͤdchen wäre! Sch will feinen Kaffee, 
danke!” und fie winkte eigenfinnig dem Diener ab, der 
mit dem Tablett zu ihr getreten war. Für Kaffee dank— 
ten übrigens auch die anderen, außer Mawrikij Nicolaje: 
witjch und ши, Ötepan Zrophimomitich nahm zwar ein 
Taͤßchen, ftellte её aber gleich wieder auf den Tiſch. 
Maria Zımofejermna hätte erjichtlich allzu gern аиф 
eines, ihr zweites, genommen. ©ie ftredte |фоп die 
Hand aus, bedachte ſich aber noch im letzten Yugenblid 
und dankte — worauf fie fich, offenbar ſehr zufrieden 
mit ſich felbft, wieder zurüdlehnte. 

Warwara Petromna lächelte verzogen. 

„Weißt ри, meine Liebe, du haft dir wohl wieder ein 
mal etwas eingebildet. Wäre nichts Neues! Du haft ja 
von jeher nur von Einbildungen gelebt. Wenn ich von 
der Penfion anfange, jo ärgerft du dich. Aber weißt du 
noch, wie du anfamft? Wie du der ganzen Klaſſe er: 
забей, der Hufarenleutnant Schablykin hätte um dic) 
angehalten, und wie Madame Lefebure dich jofort der 
Lüge zieh? Dabei hatteft du ja gar nicht gelogen. Du 
hatteft dir die ganze Gefchichte eben einfach eingebildet. 
Und jo war’s immer und jo wird’s wohl auch jeßt wieder 


236 





| 


fein. Alfo erzähle nur, womit du diesmal hergefonmen 
bift, was du dir jeßt wieder einbildeſt?“ 

„Dabei hat fie fich in der Penfion in den Popen 
verliebt — Бараба! rief та опа Iwanowna mit 
gehäjligem Lachen, das bald in Yuften überging. 

„ah! das haft du alfo nicht vergeſſen?“ Warwara 
Petromna ſah fie durchöringerd an und ihr Geficht wurde 
farblos vor Ärger. 

Praskowia Iwanowna wurde plößlich ernfl. Dann 
aber fuhr es aus ihr heraus: „Вагит... warum haben 
Sie meine Tochter in Gegenwart der ganzen Stadt in 
Ihren Skandal verwidelt?" 

„In meinen Skandal?" Warwara Petromwna richtete 
ſich drohend auf. 

„Mama, ich möchte Ste doch fehr bitten, fich etwas 
zu mäßigen‘, jagte Liſaweta Nicolajewona plößlich zu ihr. 

„Biel Was... mas fagteft du da?" Aber gleich dar: 
auf fchwieg fie vor dem aufblißenden Blick ihrer Tochter. 

„Bas reden Sie von einem Skandal, Mama? 34 bin 
freimillig bierhbergefommen, mit ЗиШа Michailownas 
Erlaubnis, weil ich die Gefchichte dieſer Unglüdlichen da 
erfahren wollte, um ihr helfen zu koͤnnen.“ 

„Geſchichte dieſer Unglüdlichen?” wiederholte Pras- 
fowja Iwanowna langjam, mit böfem Lachen. „Was 
miſchſt du dich in folche Gefchichten? Ach, meine Liebe, 
wir haben jeßt genug von Ihrer Herrſchſucht!“ fuhr fie 
darauf wieder Warmwara Petromna ап. „Bisher haben 
Sie die ganze Stadt Fritifiert, jeßt aber fommt die Reihe 
auch einmal an uns!“ 

Warwara Petrowna faß in einer Haltung da, als 
wolle пе 1% jofort auf Prasfomja Swanowna ftürzen; 


237 


dabei war aber ihr Blick kalt und unbemweglich auf die 
Gegnerin geheftet. 

„Sei froh, meine Liebe,” fagte fie mit eifiger Ruhe, 
„daß wir hier unter ung find. Du haft viel Überflüfjiges 
gejagt.” 

„sch, meine Liebe, ich fürchte die öffentliche Meinung 
nicht jo fehr, wie вере andere Leute. Die Furcht haben 
Sie vielmehr! Und daß wir hier ‚unter ung‘ find — nun, 
um fo bejjer für Sie, wenn wir hier nicht unter Fremden 
ind " 

„Du БИ wohl etwas Hüger geworden? п der Те еп 
Woche?" 

„O nein, ich bin nicht Füger geworden in der Те еп 
Moche, aber die Wahrheit ift ang Licht gefommen in der 
legten Woche.” 

„За8 für eine Wahrheit ift ans Licht gelommen? Sn 
der legten Woche? Was foll das heißen? Was Ш du 
damit jagen?” 

„Da, da... da fißt fie ja, Ме ganze Wahrheit!" Und 
Praslomja Iwanowna mies plöglih auf Marja Timo: 
fejewna mit jener verzweifelten би «спрей, die nicht 
mehr an die Folgen denkt, fondern nur im Augenblid 
treffen will. 

Marja Timofejewna, Ме inzmifchen mit einer froͤh— 
lihen Neugierde die alte Dame betrachtet hatte, lachte 
luftig auf, als fie jet deren Finger auf ſich gerichtet ſah, 
und bewegte fich vergnügt auf ihrem Seſſel. 

„Herr Sejus Chriftus, find denn heute alle von Sinnen !” 
murmelte Warwara Petromwna und (ебите fich zurüd. 

Und plößlich wurde fie jo Маф, daß wir alle erfchroden 
auf fie zutraten. Stepan Trophimowitſch war als erfter 


238 


bei ihr. Sch folgte ihm. Auch Lifa ftand auf. Am er: 
Ichrodenften war aber Prasfomja Swanomna felbft: fie 
fticß einen furzen Schrei aus, erhob fich, fo weit fie es 
fonnte, und rief bittend mit weinerlicher Stimme: 

„Meine Liebe, verzeihen Sie, das war ja nur fo де: 
fagt ! — Uber fo geben Sie ihr doch wenigfteng Waſſer!“ 

„Bitte, rege dich nicht auf. Und Sie, meine Herren, 
bitte, ſetzen Sie fich wieder.” Warwara Petromna fuchte 
ſich zu faſſen. 

„Meine Liebe,” begann Prasfomja Iwanowna von 
neuem, nachdem fie fich ein bißchen beruhigt hatte, „es 
war ja töricht, es war ja häßlich von пе... Uber man 
hat mich mit all diefen anonymen Briefen, die mir weiß 
der Himmel was für Leute zufchiden, dermaßen ge— 
себе... wenn fie fie doch wenigftens Ihnen zufchiden 
würden, da fie doch von Ihnen handeln ... aber ich, 
meine Kiebe, ich habe eine Tochter!“ 

Warwara Petromna, die inzwilchen wieder vollftändig 
Herrin ihrer felbft geworden war, hatte ihr erftaunt зи: 
gehört und fah ſie noch ftumm mit großen Augen ап, als 
fich eine ©eitentür öffnete und Заца Pawlowna ein: 
trat. Sie blieb ftehen und [аб fih um — mahrfcheinlich 
ohne zunaͤchſt Marja Zimofejerona zu erbliden, von teren 
Anweſenheit man ihr nichts gefagt hatte. Unfere Auf: 
regung ſchien fie zu erjchreden. Stepan Trophimowitſch 
hatte fie zuerft bemerkt, er machte eine fchnelle Зе: 
wegung, errötete und аа plöglich laut: „Darja Paw— 
lowna!“ — jo daß aller Augen 14 der Eintretenden 
zuwandten. 

„Das alfo Ш eure Darja Pawlowna!“ rief Marja 
Zimofejewna. „Ah, Schatuſchka, бете Schweiter 


239 


gleicht dir aber gar nicht! Wie kann nur meiner 1919 
ein fchönes Wefen die Leibeigene Daſchka nennen!” 

Darja Pawlowna mar fchon ап Marja Timofejemna 
vorübergegangen und auf Warwara Petromwna zuge: 
Ichritten, als der Ausruf fie traf. Sie kehrte fich jäh um 
und blieb wie verfteinert ftehen, mit langem, entjeßtem 
Blick auf die Lahme ftarrend. 

„Sehe dich, Daſcha,“ ſagte Warwara Petromna mit 
unheimlicher Ruhe. „Auch еп wirft du fie fehen 
fönnen. Kennſt vu fie?" 

„sch habe fie nie geſehen,“ antwortete Dajcha Тейе, 
паф furzem Schweigen. Und dann fügte fie fchneller 
hinzu: „Ich glaube, es it die Нап Schweiter eines 
Herrn Lebaͤdkin.“ 

„Und auch ich [ehe Sie zum erften Male, aber ich wollte 
Ste ſchon lange Fennen lernen, denn in jeder Shrer 
Bewegungen fehe ich die qute Erziehung!” rief Marja 
Zimofejewna entzüdt. „Und was da mein Diener 
Ichimpft, — oh, иле wäre е8 wohl möglich, daß Sie 
Geld entwendet hätten!? Sie, ме Sie jo wohlerzogen 
und lieb find? Denn Sie find lieb und lieb und lieb! 
Das fage ich Ihnen von mir aus!" fchloß fie ganz be= 
geiftert und mit einer heftigen Handbewegung. 

„Зетйер du etwas davon?” fragte Warwara Pe: 
trowna Darja Pamwlomna mit Поет Würde, 

„sch verftehe .. ." 

„Das von dem Gelde Бай du auch gehört?” 

„Damit meint fie gewiß jenes Geld, das ich, auf Ni: 
colat Wſzewolodowitſchs Bitte in der Schmeiz einem 
gewiljen Herrn Lebaͤdkin, ihrem Bruder jedenfalls, zu 
übergeben übernahm.” 


240 








Ein Schweigen entitand. 

„Hat Nicolai Wizemwolodomitich dich felbft darum де: 
beten?“ 

„sa, ihm lag fehr viel daran, diefes Geld zu Über: 
fenden — es waren dreihundert Nubel. Da er aber 
Herrn Lebaͤdkins Adreſſe nicht fannte und nur wußte, 
daß er hierher ziehen werde, jo bat er mich, ich möge ihm 
das Geld bei feiner Ankunft zuftellen.‘ 

„Und was für ein Geld ift da . . abhanden gefommen ? 
Sie fagte ſoeben —“ 

„Das weiß ich nicht. Sch habe auch fchon gehört, daß 
Herr Lebaͤdkin von mir gejagt haben foll, ich hätte ihm 
nicht das ganze бе uͤberſandt, aber das verftehe ich 
nicht. Es waren genau dreihundert Rubel und genau 
dreihundert Rubel habe ich eingezahlt.“ 

За Pamlomna hatte fich wieder beruhigt. 68 war 
überhaupt ſchwer, diefes Mädchen irgendwie aus der 
Faſſung zu bringen — mochte fie innerlich noch fo ftarf 
bewegt fein. Jetzt antwortete fie auf jede Frage leife, 
aber ruhig und bejtimmt und ohne die geringfte Ver: 
wirrung, die Doch das Bewußtſein von einer, wenn auch 


noch fo Eleiren Schuld immer hervorruft. 
Warwara Petromna ließ mährend der ganzen Zeit, 


in der Darja Pamwlomna |ртаф, auch nicht ein einziges 
Mal den Blick von ihr. 

„Wenn Nicolai Wſzewolodowitſch fich in diefer An: 
gelegenheit nicht einmal an mich, feine Mutter, gewandt 
bat,” jagte Пе ernft und offenbar fich an alle Anweſenden 
wendend, obwohl fie dabei Darja Pawlowna allein an: 
ſah — „wenn er vielmehr dich um diefe ©efälliafeit де: 
beten Бар jo wird er auch beftimmt feine Gründe dazu 


16 Doftofjemwsti, Die Dämonen. 35.1. 241 


gehabt haben. Sch halte mich aljo gar nicht für berech- 
tigt, weiter nach ihnen zu forfchen. Und |фоп, daß du 
Dabei beteiligt bift, das beruhigt mich vollflommen. Das 
jollft du vor allem einmal mwifjen, Dafcha. Uber fieh, 
meine Liebe, du haft vielleicht Doch eine Unvorjichtig- 
feit begangen. Mit reinem Gemiffen. Einfach aus 
Lebensunfenntnis. Sch meine: allein fchon, daß du mit 
diefem Menschen in Berührung gelommen bift. Und 
mas er jeßt über Dich herumerzählt, beftätigt es ja. Doch 
ich bin nicht umfonft deine Befchüßerin. 34 werde dich, 
Ichon zu verteidigen wiſſen. — Aber jeßt muß man alle: 
dem ein Ende machen ...“ 

„Am beiten ЦЕ," fiel Marja Timofejewna ihr ins Wort, 
„Sie {еп ihn, wenn er felbft zu Ihnen fommt, ет 
fach in die Dienerftube, dort kann er dann Karten |pielen 
und wir fönnen Мег fißen und Kaffee trinfen. Ein Зав: 
chen kann man ja auch ihm fchiden, aber jonft verachte 
ich ihn tief!" und fie nidte ausdrudsvoll mit dem 
Kopf. 

„Dem muß man ein Ende machen,” wiederholte War: 
тата Petrowna, nachdem fie ihr aufmerkfam zugehört 
hatte. „Stepan Zrophimowitich, bitte Hingeln Sie.“ 

Stepan Trophimowitſch Elingelte, trat aber plößlich 
erregt vor. 

„Зепп... wenn ich... wenn ich auch die widerlichite 
Novelle, oder beſſer — jchändlichfte Verleumdung де: 
hört Бабе... mit dem allergrößten Unmillen ... enfin, 
c’est ип homme perdu et quelque chose comme un 
forgat &vade.“ 

. Er Маф ab. Warwara Petromna maß ihn mit zu: 
gefniffenen Augen vom Kopf bis zu den Füßen. Doch 


242 





Ichon gleich darauf trat ihr würdevoller Diener, Ulerei 
Segoromitich, ein. 

„Die Equipage!” befahl Warwara Petromna. „Du 
wirjt Fräulein Lebädkina nach Haufe begleiten.‘ 

„Herr Lebaͤdkin wartet unten bereits feit einiger Zeit 
auf fie und hat ſehr gebeten, ihn anzumelden.” 

„Das ift unmöglich, Warwara Petrowna,“ fagte, plöß- 
lich vortretend, Mawrikij Nicolajewitich, der bis dahin 
umerjchütterlich geichwiegen hatte. „Sie erlauben, aber 
das ift Fein Menfch, den man in der Gejfellichaft emp— 
fangen fann. Das... das Ш... mit einem Wort, das 
ИЕ unmöglich, Warwara Petrowna.“ 

„arten, er ſoll warten!‘ wandte fich Diele an den 
Diener, der ſofort verſchwand. 

„C’est un homme malhonnete et je crois m&me que 
c’est un forgat evad& ou quelque chose dans ce genre“, 
jagte wieder Stepan Trophimowitſch erregt. 

„Lila, e8 ift Zeit, daß wir fahren!” rief jeßt auch Pras— 
юпа Iwanowna und erhob fich von ihrem Lehnſtuhl. 
Sie fchien bereits zu bereuen, daß ſie vorhin im erften 
Schred alles zurüdgenommen hatte. Schon als Darja 
Pamlomna fprach, hatte fie wieder mit hochmütiger 
Miene zugehört. Doch am meiften wunderte ich mich 
über Lijaweta Nicolajewna, die, als Darja Pawlowna 
eintrat, das junge Mädchen |фоп mit gar zu offenem 
Haß und unverhohlener Verachtung angejehen hatte. 

„Bitte, gedulde dich noch einen Augenblick!“ Мей 
Warwara Petrowna пе auf. „Sei jo gut und feße dich 
wieder. Sch habe ме Abficht, alles zu fagen, und du haft 
Наше Füße. So, dankte. Sch Бабе dir vorhin, als mir 
die Geduld riß, ein paar unangenehme Worte gejagt. 


16* 243 


Sei {с freundlich und verzeih fie mir. Es war überflüfiig 
und töricht von mir. 54 fehe das jelbft ein. Und da ich 
immer Gerechtigkeit liebe, jo ſage ich’s. Natürlich haft 
auch du allerlei Überflüffiges gejagt, wie zum Beifpiel 
Das von den anonymen Briefen. Anonyme Briefe find 
ſchon deshalb verächtlich, weil der Schreiber ein Feigling 
Ц. Faßt du es anders auf, jo beneide ich dich nicht. Jeden— 
fallg würde ich mit jo etwas in der Tafche nicht zu meiner 
Freundin gehen und mich damit breit machen. Übrigens, 
ра du nun einmal davon angefangen haft, jo laß Dir Jagen, 
daß auch ich einen Brief befommen habe. Vor jechs 
Tagen. Gleichfalls ohne Unterjchrift. Darin teilt mir 
der Ubjender mit, daß mein Sohn den PVerftand ver: 
loren habe. Ferner, daß ich mich vor einem hinfenden 
Frauenzimmer hüten Soll, ‚das in Shrem Leben eine 
große Rolle jpielen wird‘, hieß es woͤrtlich. Ich Dachte 
nach, und da ich mußte, daß Nicolai Wizemolodomitich 
unzählige Feinde hat, fchidte ich jofort nach einem Men: 
chen, dem rachſuͤchtigſten und verächtlichften von allen 
jeinen Feinden. Im Geſpraͤch mit ihm erriet ich denn 
auch jofort, woher der Brief ftammte. Wenn man aud, 
dich, Praskowija Iwanowna, mit folchen Briefen be: 
helligt hat, meinetwegen behelligt hat, jo bin ich die 
erfte, der es leid tut. Verzeih, daß 14 ме unjchuldige 
Urjache geweſen bin. — Übrigens habe ich mich ent: 
ſchloſſen, dieſen verdächtigen Menjchen da unten ſofort 
bereinzulafjen. Mawrikij Nicolajewitih Hat mohl 
fein ganz richtiges Wort gebraucht, als er fagte, daß 
man ihn nicht empfangen koͤnne. Beſonders Lifa wird 
Мег nichts zu tun haben. Komm her, Liſa, mein Lieb: 
ling. Зав mich dich noch einmal kuͤſſen.“ 


214 





| 


Liſa Капо auf und ging ftumm zu Warwara Petrowna. 
Dieſe kuͤßte jie, faßte ihre Hände, beugte fich etwas zurüd, 
um fie bejjer jehen zu können, und blidte fie liebevoll an. 
Darauf befreuzte jie jie und füßte fie nochmals. „Nun, 
leb wohl, Liſa,“ (in ihrer Stimme zitterten faſt Tränen). 
„Slaub mir, daß ich nie aufhören werde, dich zu lieben. 
Was dir das Schickſal auch bringen mag! Gott fei mit 
dir, mein Kind, ich habe immer Seinen Willen gejeg: 
net..." Wie es fchien, wollte Пе noch etwas hinzufügen, 
aber jie nahm 14 zufammen und jchwieg. 

Liſa ging wie in tiefen Gedanken zu ihrem Platz zu: 
ruͤck, Doch plößlich blieb fie vor ihrer Mutter ftehen. 

„Mama, ich werde jeßt noch nicht nach Haufe fahren, 
ich möchte noch bei Tante bleiben“, jagte fie mit leifer 
Stimme, doch in dieſen leifen Worten lag troßdem eine 
unerjchütterliche Entſchloſſenheit. 

„Großer Gott, was haft du nur wieder?" Und ganz 
erichöpft ließ ihre Mutter die jchon erhobenen Hände 
jinfen. 

Doch Liſa antwortete ihr nicht fie ſetzte fich ftill wieder 
auf ihren Plaß ın der Ede, um von neuem ins Leere zu 
ftarren. 

In Warwara Petromnas Augen leuchtete etmas 
Gieghaftes und Stolzes auf. 

„Mawrikij Nicolajewitjch, ich habe eine große Bitte 
an Sie, Würden Sie fo gütig fein und nach unten gehn, 
um dort nach jenem Menichen zu jehen, und, wenn es 
irgend geht, ihn hereinzulaffen ?“ 

Mawrikij Nicolajewitich verbeugte fich und verließ das 
Zimmer. Eine Minute [раст trat er mit Lebaͤdkin wie: 
der ein, 


IV 

Sch habe fchon einmal von der äußeren Erjcheinung 
diefes Herrin geiprochen: ein großer, Frausföpfiger, 
ftämmiger Mann von ungefähr vierzig Jahren, mit 
einem roten, ein wenig gedunjenen Geſicht, fleifchigen 
Wangen, die bei jeder Kopfbewegung erzitterten, Heinen, 
vom Blutandrang geröteten Augen, die zumeilen einen 
recht fchlauen Ansdruck annehmen fonnten, mit einem 
Schnurrbart und Badenbart und der Anlage zu einem 
fleifchigen Doppelfinn, das fchon ziemlich unangenehm 
ausjah. Doch am meiften überrafchte an ihm, daß er jet 
in einem Frad und in fauberer Wälche erjchien. „Es gibt 
Menıchen, zu denen faubere Wälche nicht paßt, ja, für 
die fie fich einfach nicht jchidt”, hatte Liputin einmal 
auf Stepan Trophimowitſchs jcherzhaft gemachten Bor: 
wurf, daß er, Liputin, in feiner Kleidung nachläflig ſei, 
nicht unrichtig ermwidert. Der „Hauptmann” aber hatte 
plößlich auch neue fchwarze Handichuhe, von denen er 
den rechten ın der Hand hielt, während der linfe — den 
er wohl nur mit großer Mühe jo weit befommen hatte — 
feine fleifchige linfe Tatze nur М8 zur Hälfte bededte, ge: 
ſchweige denn fich zufnöpfen lief. Und in diefer linken 
Hand hielt er einen nagelneuen, offenbar gleichfalls zum 
erftenmal benußten runden Hut. Фо hatte es denn doch 
feine Richtigkeit mit dem „rad der Liebe”, von dem er 
geſtern Abend Schatoff berichtet hatte. Alle мае Klei— 
dungsftüde waren |фоп früher auf Liputins Rat gefauft 
worden (иле ich fpäter erfuhr), und jedenfalls zu einem 
beftimmten geheimnisvollen Zweck. Zweifellos war er 
auch jeßt nicht aus eigenem Antriebe hierhergefommen: 
ſelbſt wenn er die Szene an der Kirchentür jofort erfahren 


246 








hätte, würde er doch niemals in einer dreiviertel Stunde 
allein einen ſolchen Entjchluß haben faſſen und gar aus: 
führen fünnen. Betrunfen war er dabei nicht, befant 
jich aber in jenem ftumpfen, nebligen Zuftande eines Men: 
Ichen, der plößlich nach langer Betrunfenheit wieder zu 
fih gefommen Ш. Doch ich glaube, man hätte ihn nur 
zu fehütteln brauchen und er wäre fofort wieder betrunfen 
geweſen. 

Allem Anſcheine nach wollte er mit Temperament ins 
Zimmer treten, doch ſtolperte er zum Ungluͤck ſofort uͤber 
eine Teppichecke an der Tuͤr, woruͤber dann Marja Timo— 
fejewna vor Lachen faſt verging. Er warf der Schweſter 
einen wuͤtenden Blick zu und naͤherte ſich mit ein paar 
Schritten Warwara Petrowna. | 

„Snädige Frau, ich bin gelommen ...’ begann er 
dröhnend laut, wie durch eine Trompete. 

„Seien Sie jo freundlich, mein Herr, ji dort — 
auf jenen Stuhl dort zu jeßen,” fagte Warwara Pe: 
trowna, die fteif aufgerichtet dajaß. „Sch werde @е 
auch von dort aus hören und Jo kann ich Sie beſſer ſehen.“ 

Der „Hauptmann“ blieb ftehen, jah blöde vor fich Ein, 
fehrte dann aber Doch zurüd und ſetzte fich auf den Бе: 
zeichneten Stuhl an der Tür. Der gänzliche Mangel an 
Zutrauen zu ſich ſelbſt und zu gleicher Zeit unendliche 
Gereiztheit drüdten fich auf feinem Geſicht aus. Er 
бане furchtbare Angft, das ſah man, aber auch feine 
Eigenliebe jchien ftark zu leiden, und jo konnte man nicht 
Jicher jein, ob er 1% nicht im gegebenen Moment plöß: 
lich, troß der Feigheit, zu irgend etwas, zur größten Ge— 
meinheit vielleicht, aufraffen würde, Augenfcheinlich 
fcheute er jede Bewegung feines vierfchrötigen Koͤr— 


247 


pers. Bekanntlich ift der größte Schmerz folcher Wefen, 
wenn jie irgend einmal in Gefelljchaft erfcheinen, der 
Gedanke an ihre Hände: das ununterbrochen wache Зе: 
wußtjein, fie nirgendwohin auf anftändige Weife ver: 
ſchwinden laſſen zu fönnen. Der „Hauptmann” nun faß 
wie betäubt da, hielt frampfhaft Hut und Зап фи Гей 
und fonnte feinen zunächit völlig blöden Blick nicht von 
Warwara Petromnas ftrengem Geficht losreißen. Er 
hätte fich gewiß gern umgejehen, aber er wagte e8 ет: 
fach nicht. Marja Timofejewna, ме wohl wieder etwas 
an ihm Außerft fomifch fand, lachte laut auf, aber aud) 
jeßt rührte er fich noch nicht. So hielt ihn Warwara 
Petrowna unbarmherzig in diefem Schweigen und Бе: 
trachtete ihn mohl eine gejchlagene Minute lang 140: 
nungslos vom Scheitel bis zur Sohle. 

„zuerit geftatten Sie, von Ihnen jelbft Ihren Namen 
zu erfahren‘, ſagte fie endlich gemefjen und volllommen 
ruhig. | 

„Hauptmann Lebaͤdkin,“ dröhnte fofort die Antwort. 
„Sch bin gekommen, gnädige Frau...’ Und fchon war 
er wieder im Begriff, ich zu erheben. 

„Srlauben Sie!" hielt ihn Warwara Petromna auf. 
„Dieſes bemitleidvensmwerte Gefchöpf, das ich in der Kirche 
angetroffen habe und tag mein Intereſſe erregt, Ш Ihre 
Schweſter?“ | 

„Jawohl, gnädige Frau, meine Schweſter, die meiner 
Auflicht entihlüpft Ц, denn da fie fich in folchen Um: 
itänden befindet .. . er verftummte plößlich und wurde 
feuerrot. | 

„Das heißt, mißverftehen Sie das nicht, gnädige Frau,” 
verwidelte er fich noch mehr, „der leibliche Bruder würde 


248 








jo was nicht Jagen ... In jolchen Umjtänden, das heißt 
nicht etwa in ſolchen Umjtänden, im Фище von — in 
einem Öinne, der die Ehre befledt ... ich meine, den 
a LEN 

Er brach ab. 

„Mein Herr!’ Warwara Petromna hob den Kopf. 

„Das heißt in ſolchem Zuſtande!“ fchloß er plößlich 
und unvermutet, mit dem fteifen Finger jich vor die 
Stirn tippend. 

Alle jchwiegen eine Zeitlang. 

„Leidet fie Schon lange daran?” fragte Warwara Pe: 
trowna endlich. 

„Snädige Frau, ich bin gefommen, um für die an der 
Kirchentür erwiejene Großmut zu danken, fo recht auf 
ruſſiſche, auf brüderliche Art ...“ 

„Auf bruͤderliche —?“ 

„Das heißt, gnaͤdige Frau, nicht auf bruͤderliche ... 
oder nur in dem Sinne auf brüderliche Art, daß ich der 
Bruder meiner Schweſter bin, gnädige Frau, und, glaus 
ben Sie mir, gnädige Frau,” begann er wieder ſchneller 
zu jprechen, mit hochrotem Kopf, „Daß ich gar nicht jo 
ungebildet Мп, wie ich auf den erften Blid in Ihren 
Salon erfcheinen mag. Wir, meine Schwefter und ich, 
jind überhaupt nichts, im Vergleich mit der Pracht, die 
wir Мег jehen. Dazu haben wir noch Verleumder. Xber 
auf jeinen Ruf hält Lebaͤdkin viel und ift ftolz darauf, 
gnadige Frau, und ... und 14... ich bin gefommen, 
um nich zu bedanken ... gnädige Frau, Мег Ш das 
Geld! 

Und er riß fein Portefeuille aus der Brufttafche und 
begann, zitternd vor Ungeduld, mit bebenvden Fingern 


249 


die Papierfcheine hervorzuzerren. Man fühlte, daß er 
fo fchnell mie möglich irgend etwas aufklären wollte. 
Andererfeits fühlte er wieder, daß dieſe Фефиме mit 
dem Gelde ihn noch duͤmmer erfcheinen ließ, und {о ver: 
(ог er denn die leßte Kaltblütigfeit. Die Finger zitterten, 
die Scheine wollten fich nicht zählen laffen, und zur бт: 
höhung der peinlichen Situation fiel noch ein grüner 
Papierjchein, im Zidzadniedertaumelnd, aufden Teppich. 

„Zwanzig Rubel, gnädige Frau.” Mit den Scheinen 
in der Hand wollte er auf Warwara Petromna zutreten. 
Als er den gefallenen Schein bemerkte, büdte er ſich ſchon, 
um ihn aufzuheben, bedachte fich aber, ſchaͤmte fich ent: 
feßlich und winkte fchließlich mit der Hand ab. 

„Fuͤr Ihre Leute, gnädige Frau, Ни den Diener, wenn 
er hier aufräumt — mag er an Lebädfin denken!" 

„бет das Тапп ich unmöglich zulaſſen!“ jagte Mar: 
wara Petrowna jchnell. 

„Sn dem Falle ...” er büdte fich, Боб den Schein 
auf, wurde Dabei purpurrot im Geſicht und trat jchnell 
ein paar Schritte vor — ме zwanzig Rubel in der Hand 
MWarwara Petromna hinhaltend. 

„Was wollen Sie?!" Warmara Petromna ето 
nun doch fo, daß fie im Schred jogar den Seſſel zurüd: 
jchob. 

Mamrilij Nicolajewitich, Stepan Zrophimewit und 
ich traten unwillkuͤrlich vor. 

„Beruhigen Sie ſich, ie Sie 14, meine Herr: 
Ichaften, ich bin nicht verrüdt, bei Gott, ich bin nicht ver: 
ruͤckt!“ beteuerte der Hauptmann nach allen Seiten hin. 

„ein, mein Herr, Sie jcheinen doch nicht bei vollem 
Derftande zu fein!“ 


250 











„Snädige Frau, das Ш ja alles nicht das, was Sie - 
denken! Sch bin felbftverftändlich nur ein Nichtswür: 
Diger „.. Oh, gnädige Frau, reich find Ihre Prunf: 
gemächer, aber arm find fie bei Maria der Unbelannten, 
meiner Schweſter, der geborenen Lebaͤdkin, die wir vor: 
läufig ‚Maria die Unbekannte‘ nennen wollen. Uber nur 
vorläufig, gnädige Frau, nur zeitweilig, fintemal Gott 
jelber es nicht zulaffen wird, daß wir es ewig tun müffen ! 
Gnädige Frau, Sie haben ihr zehn Nubel gegeben, und 
fie hat das Geld angenommen, aber nur, weil Sie es 
waren, gnädige Frau! Hören Sie es wohl, von ше: 
mandem in der ganzen Welt würde fie etwas annehmen, 
dieje ‚unbefannte Maria‘, denn ſonſt müßte fich der Stabes: 
offizier, ihr Großvater, der im Kaufafus unter den Augen 
Ermoloffs fiel, noch im Grabe umdrehen! Uber von 
Ihnen wird fie alles annehmen, gnädige Frau, aber 
wenn fie mit der einen Hand zehn Rubel nimmt, fo wird 
fie mit der anderen zwanzig zurüdgeben, ale Gabe an 
einen der Wohltätigfeitsvereine, deren Mitglied Sie find, 
gnädige Frau. Sie haben doch in den ‚Moskauer Nach: 
richten‘ angezeigt, daß fich jeder hier in dem Buche Ihres 
Mohltätigkeitsvereins einſchreiben kann ...“ 

Der „Hauptmann“ ſtockte wieder und atmete ſchwer, 
wie nach einer übergroßen Kraftanftrengung; auf feiner 
Stirn perlten buchftäblich Dide Schweißtropfen. Die 
Rede über den Wohltätigkeitsverein ſchien er jchon vor— 
bereitet zu haben und mwahrjcheinlich gleichfalls unter 
Liputins Leitung. Warwara Petrowna ſah ihn durchs 
dringend an. 

„Dieſes Buch,” fagte fie ftreng, „liegt unten bei mei: 
nem Portier. Dort fönnen Sie fich zu jeder Zeit ein: 


251 


Ichreiben, wenn Sie mollen. ЗевЕ aber bitte ich Sie, 
Ihr Geld wieder einzufteden und nicht jo in der Luft 
damit herumzufuchteln ... бо! Auch bitte 14 Sie, fich 
wieder auf Ihren alten Platz zu jeßen ... So! Es tut 
mir leid, mein Herr, daß ich mich im Falle Shrer 
Schmweiter fo verjehen und ihr ein Almoſen gegeben habe, 
während fie reich ift. Nur eines verftehe ich nicht — warum 
йе nur von mir allein und fonft von niemandem etwas 
annehmen würde. Sie haben das jo betont, daß ich dar— 
über gern eine nähere Erklärung hören würde.“ 

„Gnädige Frau, das Ш ein Geheimnis, das ей im 
Grabe begraben fein wird!" antwortete der „Haupt: 
mann”. | 

„За... wollen Sie damit jagen?” fragte Warwara 
Petromna mit nicht mehr ganz jo feiter Stimme wie 
bisher. 

„Snädige Frau... gnädige Frau... .!" er verftummte, 
blickte finjter zu Boden und drüdte die rechte Hand aufs 
Herz. Warwara Petromma wartete, doch ohne ihn aus 
den Augen zu lajjen. 

‚Snädige Frau!” rief er plößlich aus, „geitatten Sie 
mir, eine Trage an Sie zu ftellen, nur eine einzige, ganz 
offen, gerade heraus, auf ти|Ифе Art, alſo unmittelbar 
aus der Seele?” 

„Bitte, 

„Haben Sie je gelitten im Leben, gnädige Frau?” 

„Sie wollen damit wohl fagen, daß Sie durd) irgend 
jemanden gelitten haben oder поф leiden?“ 

„Snädige Frau, ach, gnädige Frau!” rief er erregt, 
ſprang wieder auf und ſchlug ſich an die Bruft. „Hier 
in diefem Herzen hat fich jo viel aufgehäuft, jo viel, jage 


252 


ich Ihnen, daß Gott {е16 ich wundern wird, wenn er 
е8 beim jüngften Gericht erfährt!" 

„am, ftark gejagt!" 

„Gnaͤdige Frau, 15... vielleicht [ртефе ich — mit 
zu großer Dreiftigfeit ...“ 

„Beunruhigen Sie fich nicht, ich werde fchon wiſſen, 
wann es nötig fein wird, Sie zu unterbrechen.“ 

„Kann ich noch eine Frage an @е ftellen, gnädige 
Frau?” 

„Fragen Sie.” 

„Kann man vor lauter Seelengröße ſterben?“ 

„Das weiß ich nicht. Ich Бабе mir nie dieje Trage 
geſtellt.“ 

„Sie wiſſen es nicht! Sie haben ſich nie dieſe Frage 
geſtellt!“ rief er mit pathetiſcher Ironie. „Wenn's fo iſt, 
wenn's ſo iſt, dann freilich — 


‚Schweig ſtille, mein Herze!“ 


und er ſchlug ſich von neuem verzweifelt an die Bruſt. 

Schon ging er wieder im Zimmer umher. Die erſte 
Eigenschaft von Menfchen jeiner Art pflegt die voll: 
ſtaͤndige Unfähigkeit zu fein, jich irgendwie ſelbſt im 
Zaume zu halten: jte folgen im Gegenteil machtlos. dem 
ununterdrüdbaren Bedürfnis, alles, was ihnen gerade 
einfällt, fofort auch zu äußern. Gerät dann einmal ein 
derartiger Menſch in eine Gefellichaft, in Die er nicht 
bineingehört, fo wird er ſich zumächft vielleicht ganz ſchuͤch— 
tern geben, dann aber, in demfelben Grade, in dem man 
ihn gewähren läßt, aus fich herausgehen und am Ende 
zu Unverjchämtheiten, wenn nicht gar Tätlichfeiten über: 
gehen. 


253 


Der „Hauptmann” war jchon in eine bedrohliche Er: 
regung geraten: fuchtelnd ging er auf und ab, überhörte 
die Fragen, die man ап ihn jtellte, und jprach fo fchnell, 
daß die Zunge bei den Zifchlauten fich gleichfam über: 
Ihlug und er häufig von einem Sat zufammenhanglos 
auf den andern überiprang. Ganz nüchtern war er wohl 
wirklich nicht. Lifa jchien er gar nicht zu beachten. Und 
Doch war es andererjeits Нах, Daß gerade ihre Anweſen— 
heit ihn maßlos aufregte. 

So mußte es denn Doch wohl, bedachte man die ganze 
unglaubliche Situation, einen tieferen Grund haben, 
warum Warwara Petromna ihren Widermillen unter: 
drückte und diefen Menjchen immer noch anhörte. Pras— 


fomja Iwanowna zitterte einfach vor Этой, Doch beariff — 


пе wohl kaum, um mas es 14 eigentlich handelte. Stepan 
Trophimowitſch zitterte gleichfalls, er jedoch, шей er 


wie gewöhnlich viel mehr zu „begreifen glaubte, als — 


| 
i 


da überhaupt zu begreifen war. Mawrikij Nicolaje: 
witjch hielt ſich fo, als fühle er fich für unfere all- 
gemeine Sicherheit verantwortlich, während Liſa blaf 
und mit großen Augen unabläfjig den wilden Haupt: 
mann anftarrte. Schatoff {аб wie immer mit gejenftem 
Kopf. 

Aber am befremdlichiten war, daß Marja Zimofejewna 
nicht nur zu lachen aufgehört hatte, jondern ganz traurig 
geworden war: den rechten Arm auf den Tiſch geftüßt, 
jo folgte fie mit traurigem ЗИ den Фейеп und Dekla— 
mationen ihres Bruders. Nur Darja Pawlowna ſchien 
mir ruhig zu fein. 

„Das find ja lauter unfinnige Allegorien,” fagte plöß- 
lich Warmara Petromna geärgert. „Sie haben mir noch 


254 





immer nicht auf meine Frage geantwortet: warum? Sch 
will es wiſſen!“ 

„sch Бабе nicht gejagt, ‚warum‘? Sie wollen eine 
Antwort auf dieſes ‚Marum‘?'' wiederholte Lebädfın 
und zwinferte. „Sa, gnädige Frau, diejes Heine Woͤrt— 
chen ‚warum‘ ИЕ über das ganze Weltall ergofjen, ſchon 
{с dem erften Tage der Schöpfung, und Ме ganze 
Schöpfung jelber jchreit täglich ihrem Schöpfer zu: 
‚warum‘? Und nun find es jchon fiebentaufend ЗаБте, 
daß fie feine Antwort darauf erhält! Muß nun wirk— 
lich einzig und allein der Hauptmann ЗебаоНи eine Ant— 
‚wort darauf geben? ЗЙ diefe Forderung auch gerecht, 
gnadige Frau?” 

„ber das ift ja Unfinn, nichts als Цит!” War: 
wara Petromna ärgerte ſich und verlor endlich die 
Geduld. „Sie fommen wieder mit Allegorien, und 
reden in einem Zone, mein Herr, den ich mir vers 
bitten möchte.” 

„Snädige Stau!” — der „Hauptmann” hörte fie wie: 
der gar nicht an — „vielleicht würde ich gerne Erneft 
heißen wollen, und während dejjen bin ich gezwungen, 
den einfachen Namen Ignatius zu tragen — warum 
das? Ба?! Sch möchte vielleicht gerne Prince de Montbar 
heißen und doch muß ich mich nur Lebaͤdkin nennen — Ба! 
Warum das? Ich bin ein Poet, gnädige Frau, in meiner 
Seele ein Poet, und ich fünnte von einem Verleger mit 
Kußhand taufend Rubel befommen, und doch bin ich 
gezwungen, in einem elenden Loche zu wohnen — warum 
das? Ба! Warum das? Gnädige Frau, und meiner 
Meinung паф ИЕ Rußland überhaupt nur eine Farce 
der Natur und nichts weiter !” 





255 


„Etwas Beitimmteres fünnen Sie — auf meine 
Frage nicht ſagen?“ | 
„sch kann Shnen ein Gedicht von einer Schabe vor: 

tragen, gnädige Frau! 

„Ba—a—as?" 

„Лет, übergefchnappt bin ich noch nicht, gnädige Frau! 
Uber das werde ich ſpaͤter einmal fein, bloß vorläufig bin 
ich’8 noch nicht! Gnädige Frau, einer meiner Freunde 
bat eine Kryloffiche Fabel gedichtet. Das Ш die Fabel 
von der Schabe, und wenn ich fie herſagen ſoll —?“ 

„Sie wollen eine Kryloffiche Fabel deklamieren?“ 

„Kein, Feine Яи ео фе Fabel, gnädige Frau, fon: 
dern eine von mir verfaßte Lebädfiniche Fabel! Glau— 
ben Sie mir doch, gnädige Frau, daß ich gebildet genug 
bin, um den großen Fabeldichter Kryloff zu fennen, für 
den der Kultusminifter in Petersburg im Sommer: 
garten ein Denkmal errichtet hat, um das jekt die Kin— 
der herumlaufen. Sie fragen ‚marum‘?, gnädige Frau, 
‚warum‘? — Die Antwort darauf ift auf dem Hinter: 
grunde diejer Fabel mit goldenen Lettern gejchrieben !" 

„un fchön, fo tragen Sie Ihre Fabel vor. 

Und Lebaͤdkin begann fofort: | 


‚Es war einmal eine Schabe, 
Fine Schabe von Kindheit ап, 
Die Hetterte und fiel 
Gerade in ein Fliegenglas, 
Das Fliegengift enthielt...” 


„Mein Gott, was Ш denn das wieder!" Marwora 
Petromna ſah fih um. 
„Bas das Ц, gnädige Frau? Das Ш, wenn ип Som: 


IND 
ST 





mer,” — der „Hauptmann” geitifulierte wieder wie mild 
und hatte ganz die gereizte Ungeduld eines Redners, den 
man in feinem Vortrag unterbrochen hat — „wenn im 
Sommer viele Fliegen ing Glas Friechen, jo daß Fliegen: 
[дите entiteht, was doch jeder Ejel weiß... Unterbrechen 
Sie mich nicht, um Gottes willen, unterbrechen Sie 
mich nicht „.. Sie werden jchon fehen, fie werden 
ſchon ſehen! — 


‚Die Fliegen riefen: was iR das? 
Das iſt doch wirklich toll! 

Wir haben ſelber wenig Naß, 
Das Glas iſt ſo wie ſo ſchon voll! 
Und ſchrien wie verruͤckt 

Zum Jupiter empor. 

Da kam der Diener Nikiphor ...“ 


— weiter habe ich es eigentlich noch nicht fertig,“ brach 
hier der Hauptmann ab. „Nikiphor nimmt aber das 
Glas und gießt es aus, die ganze Komoͤdie, die Fliegen, 
die große Schabe, ohne aufs Geſchrei zu achten, was 
man ſchon laͤngſt haͤtte tun ſollen! Doch paſſen Sie auf, 
gnaͤdige Frau, paſſen Sie auf, die Schabe klagt nicht! 
Und da haben Sie auch gleich die Antwort auf Ihre 
Frage — auf Ihre Frage ‚warum? rief er trium— 

phierend aus. „Die Schabe Hagt nicht! ... Der Niki: 
phor ИЕ natürlich ganz einfach die Natur би, fügte er 
Ichnell Hinzu und ging zufrieden auf und ab. 

Warwara Petromna war außer fih. „Erlauben Se 
daß nun auch ich Sie etwas frage! Was Ш das für ein 
Geld, das Ihnen Nicolai Wſzewolodowitſch überjandt 
haben joll? Ein Geld, das Sie nicht vollzählig erhalten 


17 Doftoiemwsti, Die Dämonen. 85.1. 257 


haben wollen? Weshalb @е fich erdreiften, eine zu 
meinem Haufe gehörige Perjon zu verdächtigen, den 
ей unterfchlagen zu haben?” 

„DBerleumdung !” brüllte Lebaͤdkin mit tragifch erhobe- 
ner rechter Hand. 

Nein, das Ш feine Verleumdung.“ 

„Snädige Frau, es gibt Umftände, die einen zwingen, 
eher eine Familienfchande zu tragen, als laut die Wahr: 
beit zu verfünden! — Lebaͤdkin wird nichts en 
gnädige Frau! 

Er таг wie geblendet: er fchien entzüdt zu fein und 
fühlte feine Bedeutung. Sekt mollte er bereits belei- 
digen, Nätjel aufgeben, feine Macht zeigen ... 

„Klingeln Sie bitte, Stepan Trophimowitſch“, bat 
Warwara Petromna. 

„Dh, Lebaͤdkin ift Hug, gnädige Frau!" fuhr er fort und 
zroinferte ihr mit unangenehmem Lächeln zu. „Lebädfin 
ift Нид, aber auch er hat ein Hindernis, auch er hat eine 
Borftufe der Leidenfchaften! Und diefe Vorftufe — das 
Ш die alte Friegerifche Hufarenflafhe! Wenn Lebäpdfin 
in diefem Borraum Ш, gnädige Frau, jo gefchieht es 
mohl auch, daß er einen Brief in Verſen abſchickt, in 
pr—r—rachtvollen Verfen, aber den er dann mit allen 
Tränen feines Lebens zuruͤckkaufen möchte, fintemal 
durch ihn das Maß des Schönen geftört ward. Doch der 
Vogel ift ausgeflogen — kannſt ihn nicht mehr am 
Schwänzchen einfangen! Gehen Sie, gnädige Frau, 
das Ш der Vorraum. Lebaͤdkin konnte wohl ein Wort 
fallen laffen, als er über das edle Mädchen ſprach — 
der Form eines edlen Unmilleng, einer Фигф Beleidi— 
gungen aufgebrachten edlen Seele, weſſen fich jedoch, 


258 











unedel genug, feine Verleumder fofort bedient haben. 
Aber Kebädkin Ш Hug, gnädige Frau, und umfonft [161 
über ihm der unheilbringende Wolf, ewig ihn reizend 
und auf den Augenblid wartend: Lebaͤdkin wird fich nicht 
vergeffen und ausplaudern! Und auf dem Boden der 
Slafche ermeift fich jedesmal anftatt des Ermarteten 
— die Schlauheit Lebaͤdkins! Doch genug, oh, genug, 
anädige Frau! Ihre Prunfgemächer fönnten dem edel: 
ften aller menjchlichen Lebeweſen gehören, doch die 
Schabe Над nicht! Begreifen Sie, oh, begreifen Sie 
doch endlich, daß die Schabe nicht klagt, und ehren Sie 
ihren großen Geiſt!“ 

In diefem Augenblid ertönte unten am Portal die 
Klingel und bald darauf erjchien der alte würdige Alexei 
Segoromitich, etwas außer Atem, da er auf das Klingel: 
zeichen nicht fofort erfchienen war. 
icolai Wizewolodomitich haben geruht einzutreffen 
und fommen ſchon hierher”, jagte er auf Warwara Фе: 
trownas fragenden Blid. 

Sch erinnere mich noch heute deutlich diefes Augen: 
_ 6148. Warwara Petromna erblafte zuerft, dann aber 
richtete fie 14 mit einem Ausdrud ftarrer Entjchloffen: 
heit in ihrem Seſſel auf. Wir waren alle erftaunt, ja 
beinahe erjchredt, — nicht nur durch dieſe plößliche An: 
kunft Nicolai Wſzewolodowitſchs, der erft einen Monat 
jpäter erwartet wurde, fondern mehr noch durch das 
geradezu unheimliche Zufammentreffen diefer Zufälte. 
Selbft der „Hauptmann“ blieb wie ein Pfoiten mitten 
im Zimmer ftehen und ftarrte mit offenem Munde und 
dummem Geficht auf die Zür. _ 

Doch da hörten wir auch [фоп von Nebenzimnter her, 


17* 259 


einem langen großen Saal, fchnelle, Heine Schritte ſich 
nähern, Schritte, die auffallend rafch und kurz Напдеи. 
Und auf der Schwelle erfchien — nicht Nicolai Wſzewolo— 
domitjch, ſondern ein volltommen unbefannter junger 
Mann. 
У 

Es war ein Menfch von etwa ſiebenundzwanzig Забтеп, 
ein wenig über mittelgroß, mit dünnem, blondem, ziem⸗ 
lich langem Haar und einem faum fich abhebenden un: 
fcheinbaren Schnurrbart und Bärtchen. Er war fauber 
und fogar modern gekleidet, aber nicht elegant. Auf den 
erften Blick fchien er ungelenk und griesgrämig zu fein, 
obgleich er in Wirklichkeit weder das eine по das ап: 
dere, fondern im Gegenteil, Außerft gewandt und unter: 
haltend war. Einem furzen, oberflächlichen Eindrud 
nach hätte man ihn für einen Sonderling halten können, 
und doch follte fich hernach fein Benehmen als gut und 
fein Gejpräch als vollkommen fachlich herausftellen. 

Niemand hätte im Grunde jagen können, daß er häß- 
lich fei — und doch gefällt jein Geficht niemandem. Фет 
Schädel Ш von beiden Seiten gleichlam zufammen: 
gedrüdt und der Hinterkopf auffallend groß, jo daß denn 
das Gelicht dadurch etwas Spikes befommt. Seine 
Stirne ИЕ hoch und ſchmal, aber die eigentlichen Geſichts— 
züge find Hein: ein Feines Näschen, fcharfe Augen, 
dünne und lange Lippen. Dabei ſieht er fränklich aus, 
aber das jcheint nur jo. In feinen Wangen И, unter den 
Backenknochen, eine gewiſſe trodene Falte, die ihm das 
Ausjehen eines Neionvalejzenten nach einer ſchweren 
Яап ей verleiht. Und doch ift er vollkommen gejund, 
ſtark, und ИЕ fogar nie in feinem Leben Trank geweſen. 


260 








Er geht und bewegt fich immer fehr fchnell, doch ohne 
lich dabei eigentlich zu beeilen. Ich glaube nicht, daß 
irgend etwas ihn verwirren fünnte. In allen Lebens: 
lagen und in jeder Geſellſchaft bleibt er immer der gleiche, 
Es ift eine große Selbitzufriedenheit in ihm, doch er jelbit 
weiß nichts davon. Er ſpricht jchneli und haftend, aber 
‚ voll Selbftvertrauen, und nie braucht er nach Worten 
zu fuchen. Die Gedanken, die er vorbringt, find bereits 
völlig zu Ende gedacht. Seine Ausſprache И ungemein 
deutlich: jedes Wort fällt wie ein glattes, rundes Koͤrn— 
chen aus einer großen Vorratstammer. Anfänglich ge: 
fallt das wohl, aber ſchon bald werden alle diefe gleich: 
ат ſchon fertigen Worte unangeneym und jchließlich 
geradezu mwiderlich, und zwar gerade wegen Мет fchon 
allzu deutlichen Ausfprache, wegen dieſes Perlen: 
gefiders ewig bereiter Worte, Und man ftellt fich ип: 
willfürlich vor, feine Zunge тие ganz befonders де: 
formt, ungewöhnlich lang, dünn und rot fein, mit einer 
dünnen, fich ununterbrochen drehenden Spiße. 

Diefer junge Mann aljo fam in den Salon gleichlam 
hereingeflogen. 34 glaube mirklich, er begann fchon 
im Vorſaal zu fprechen. Sprechend mwenigftens trat er 
ein, und in einem Augenblick ftand er fchon vor War: 
wara Petrowna. 

„.. Denken Sie doch nur, Warwara Petromna, ich 
fomme und glaube, daß er jchon vor einer Viertelftunde 
hier angelangt fei. Wir trafen uns bei Kirilloff, er ging 
vor einer halben Stunde fort und fagte mir, ich folle in 
einer Viertelftunde herfommen —" 

ner das? Mer hat Sie beauftragt, herzulommen?” 
fragte Warwara Petromna, 


261 


„Aber Nicolai Wſzewolodowitſch doch! So erfahren 
Sie es roirklich erft jet? Sein Gepäd muß 504 ſchon 
längft hier eingetroffen fein! Hat man Ihnen denn das 
nicht gefagt? Übrigens fönnte man ihm einen Wagen 
entgegenſchicken, aber ich denke, er wird jeden Yugenblid 
fommen, und zwar, wie’s fcheint, gerade in einem Augen: 
blid, der feinen Erwartungen und, fomweit ich wenig— 
Пеп$ beurteilen апп, auch einigen feiner Berechnungen 
durchaus entſpricht.“ Bei dieſen Worten {аб er fich die An— 
weſenden an und ganz bejonders jcharf den „Haupt— 
mann”, „Ah, Liſaweta Nicolajermna, wie e8 mich freut, 
Ihnen gleich auf meinem erften Wege zu begegnen ... 
Geftatten Sie —“ und er flog fchnell zu ihr, um das ihm 
lächelnd entgegengeftredte Händchen Liſas zu drüden. 
„Und auch unfere hochverehrte Эта опа Iwanowna 
bat ihren ‚Profefjor‘ nicht vergefjen, und fcheint fich noch 
nicht einmal über ihn und fein Erſcheinen zu ärgern, иле 
e8 in der Schweiz immer gejchah. Aber иле fteht es denn 
jeßt mit Shren Füßen? Hatte man recht, ald man Ihnen 
Ihließlich als beftes Mittel Heimatluft verjchrieb? ... 
Wie? Kompreffen? За, das mag ganz gut fein! Wie 
habe ich es nur bedauert, Warwara енота," — er 
drehte fich fchnell fchon wieder herum — „daß ich Sie 
Ichließlih in der Schmeiz nicht mehr antraf, zumal ich 
Ihnen fo vieles mitzuteilen hatte! ch habe allerdings 
an meinen Alten geichrieben, aber der wird nach feiner 
Gewohnheit wohl wieder —“ 

„Petrujcha ! rief da Stepan Trophimowitſch aus, erft 
jetzt plößlich aus der Erftarrung erwachend: er warf die 
Arme in die Luft und ftürgte zu feinem Sohn. „Pierre, 
mon enfant, ich Бабе dich nicht einmal erfannt!” und er 


252 














umarmte ihn frampfhaft, während Traͤnen ihm über die 
Wangen liefen. 

„Schon gut, fchon gut, feine Albernheiten und feine 
Geften, wenn ich bitten darf, aber fo laß doch!" wehrte 
Petruſcha fchnell ab und gab fich alle Mühe, fich aus den 
Urmen des Vaters zu befreien. 

„Sch habe dir immer, immer Unrecht getan!" 

„Schon gut. Davon jpäter. Konnte mir |фоп denken, 
daß du wieder Albernheiten machen mwürdeft! Фо fei 
Doch ein wenig nüchterner, ich bitte dich.” 

„Aber ich Бабе dich Doch zehn Jahre lang nicht ge: 
ſehen!“ 

„Um fo weniger Grund zu ſolchem Überſchwang ...“ 

„Mais, mon enfant!“ 

„Slaub’s fchon, glaub’s fchon, daß du mich Tiebft, 
nimm nut, bitte, die Hände weg ... Du ftörft doch auch 
die anderen... Ah, da ift ja auch ſchon Nicolai Wizemolo: 
domitjch . . . aber jo höre doch endlich auf mit den Albern: 
heiten, ich bitte dich!“ 

Nicolai Wſzewolodowitſch war in der Tat |фоп im 
Salon: er war jehr geraͤuſchlos eingetreten und einen 
Augenblid in der Tuͤr ftehen geblieben, während fein 
ruhiger Blid die Verſammlung überflog. 

Genau fo wie vor vier Jahren, als ich ihn zum erſten 
Male jah, war ich auch jet wieder erjtaunt über jeine 
Erſcheinung. Sch hatte ihn durchaus nicht vergeſſen; aber 
ich glaube, es gibt Gefichter, die jedesmal, wenn fie auf: 
tauchen, wieder etwas Neues mit fich bringen, etwas, 
das man bis dahin noch nicht ап ihnen bemerft hat. 
Außerlich war er anfcheinend ganz derjelbe wie vor vier 
Jahren: genau j0 elegant, genau fo unnahbar, beim 


263 


Eintreten genau fo gemeſſen wie damals, ja, faft war er 
logar ebenfo jung. Sein leichtes Lächeln war wieder jo 
offiziell freundlich und felbftbemuft, und fein ЗИФ ип: 
verändert ftreng, in fich hineindenkend und doch gleich: 
ſam zerftreut. Kurz, е8 war mir, als hätte ich ihn geftern 
zuleht gejehen. Nur eines machte mich ftußig: man hatte 
ihn zwar immer fchön gefunden, aber fein Geficht glich 
tatjächlich manchmal einer Maste, wie einzelne gehäflige 
Damen unferer Фе! фай behaupteten. Jetzt aber — ich 
weiß nicht, weshalb — jet erfchten er mir fchon auf den 
eriten ЗИ von vollendeter, unbeftreitbarer Schönheit, 
jo daß man unter feinen Umftänden noch hätte fagen 
fönnen, fein Geficht erinnere an eine а е. Kam das 
vielleicht daher, daß er ein wenig bleicher war als früher 
und, иле mir fchien, ein wenig abgenommen hatte? 
Dder leuchtete jet vielleicht ein neuer Gedanke in feinem 
Blick? 

„Nicolai Wſzewolodowitſch!“ rief Warwara Petrowna, 
ſich ſteif aufrichtend, doch ohne ſich von ihrem Lehn— 
ſtuhl zu erheben, und indem ſie den Eingetretenen mit 
einer befehlenden Handbewegung zum Stehenbleiben 
zwang — „bleibe dort noch einen Augenblick! ...“ 

Um die nun folgende furchtbare Frage Warwara Pe— 
trownas verſtehen zu koͤnnen (um derentwillen ſie ihn 
mit dieſer Bewegung und dieſem Befehl nicht näher: 
treten ließ), diefe Frage, die ich Warmwara Petromna nie 
und nimmer zugetraut hätte, ja, felbft deren Möglich: 
feit mir undenkbar erfchienen wäre, — um dieje Frage 
wirklich zu verftehen, muß man fich zunächft den Charak— 
ter Warwara Petromnas vergegenmwärtigen, wie er feit 
jeher war und von welcher ungeftümen Gemalttätigfeit 


264 





er in manchen außergewöhnlichen Augenbliden fein 
konnte. 34 bitte auch in Erwägung zu ziehen, daß ип: 
geachtet ihrer großen feelifchen Seftigfeit, des nicht ge— 
vingen Verſtandes und des guten Teiles von Takt: und 
Zartgefühl, den fie befaß, in ihrem Leben dennoch ftän: 
dig Augenblide wiederfehrten, wo fie ſich völlig und, 
wenn man fo fagen darf, ohne fich im Zaum zu halten, 
für etwas einfeßte oder fich für etwas hingab. Ferner 
bitte ich, nicht zu vergeffen, daß der gegenwärtige Augen: 
blid für fie tatfächlich einer von jenen fein fonnte, in 
denen fich plößlich alles Wefentliche eines Menfchen: 
lebens wie in einem Fokus vereinigt — alles Durchlebte, 
alles Gegenmwärtige und ... warum nicht auch alles 
Zukünftige? Und fchließlich fei noch an den anonymen 
Brief erinnert, den fie erhalten hatte und von dem fie 
furz vorher in der Gereiztheit zu Lifas Mutter einiges 
hatte verlauten lafjen, — freilich: ohne den weiteren Sn: 
halt des Briefes zu verraten! Gerade in diefem aber lag 
vielleicht die ganze Erklärung der Möglichkeit diefer furcht: 
baren Frage, mit der fie jich jeßt plößlich ап den Sohn 
wandte. 

„Nicolai Wſzewolodowitſch,“ wiederholte fie mit feiter 
Stimme, jede Silbe deutlich ausiprechend, „ich bitte 
Sie, Мег fofort zu jagen, ohne fich von der Stelle zu 
rühren, ob es wahr Ш, daß dieſe unglüdliche, lahme 
Perſon — diefe da, {ебеп Sie fie an!... Ob es wahr 
Ц, daß das... Ihre rechtmäßige Frau iſt?“*) 

Sch erinnere mich diefes Augenblides noch heute mit 
voller Deutlichkeit. Nicolai Wſzewolodowitſch zuckte mit 


*) Die orthodoxe Kirche ließ damals eine Eheſcheidung * 
nicht zu. в. К. 


265 


feiner Wimper, fah nur unverwandt feine Mutter an. 
Auch nicht die geringfte Veränderung ging auf feinem 
Gefichte vor. Endlich lächelte er langfam ein gleichlam 
nachfichtiges Lächeln und trat, ohne ein Wort zu jagen, 
ftill auf feine Mutter zu, erfaßte ihre Hand und führte 
Пе ehrerbietig an die Lippen. Und fo ſtark war fein ип: 
widerftehlicher Einfluß auf feine Mutter, daß fie ihre 
Hand ihm auch jeßt nicht zu entziehen vermochte. Sie 
blidte ihn nur an und ihre ganze Öeele lag in dieſem 
fragenden Blid. Noch ein YAugenblid und fie würde, 
fo ſchien es, die Ungemwißheit nicht länger ertragen haben. 

Nicolai Wſzewolodowitſch aber ſchwieg auch jeßt noch. 
Nachdem er ihre Hand gefüßt hatte, überflog fein Blid 
noch einmal die Anweſenden, und mit demjelben lang: 
jamen Schritt trat er zu Marja Timofejewna. Es Ш 
ſchwer, die Фей ег der Menfchen in gemwiljen Augen: 
bliden zu bejchreiben. Зи meiner Erinnerung babe ich 
$. B., daß Marja Timofejewna damals, faft vergehend 
vor Schred, fich erhob und die Hände wie ihn anflehend 
faltete. Uber ich entſinne mich auch, daß zu gleicher Zeit 
in ihren Augen ein Entzüden aufleuchtete, ein jo finn: 
lojes, fo maßlojes Entzuͤcken, wie Menjchen es faum oder 
nur fchwer zu ertragen vermögen. Bielleicht mar beides 
richtig: der Schred, wie das Entzüden? Sch шей es 
nicht: ic) weiß nur, Daß ich damals fchnell einen Schritt 
vortrat, weil ich das Gefühl hatte, fie werde jogleich in 
Ohnmacht fallen. 

„Sie koͤnnen nicht hier bleiben‘, fagte Nicolai Staw— 
rogin mit freundlicher, Hangvoller Stimme zu ihr und 
in feinen Augen, die fie anfahen, lag plößlich eine große 
Zärtlichkeit. 


266 





. 
Е En. ЧР ОНИ 


Er ftand in der ehrerbietigften Haltung vor ihr und jede 
Bewegung verriet ungeheuchelte Hochachtung. 

Und ungeftüm, atemlos, halb flüfternd ftammelte die 
Arme zu ihm empor: 

„Aber fann ich... . darf ich . . . jet gleich. . . vor Ihnen 
nicderfnien ?" 

„Nein, das dürfen Sie auf feinen Fall”, [сое er mit 
einem entzüdenden Zulächeln, jo daß jie plößlich gluͤck— 
jelig auflachte. 

Und mit derjelben melodifchen Stimme, gut und lieb, 
als ob er einem Heinen Kinde zuredete, fügte er erniter 
hinzu: 

„Vergeſſen Sie nicht, daß Sie ein Mädchen find und 
ich Ihr ergebenfter Freund zwar, doch immerhin ein 
Ihnen fremder Menſch bin, weder Ihr Gatte, noch За: 
ter, noch Bräutigam. Geftatten Sie mir, daß ich Ihnen 
den Arm reiche, und lajjen Sie ung gehen. 34 werde 
Sie zum Wagen führen und, wenn Sıe eg erlauben, auch 
nach Haufe begleiten.‘ 

Sie hörte ihn an und ſenkte wie finnend den Kopf. 

„Beben wir”, fagte fie dann, jeufzte und nahm feinen 
Arm. 

Hierbei geſchah ihr aber ein Kleines Unglüd: пе mußte 
wohl zu База, wahrfcheinlich mit ihrem kranken, dem zu 
kurzen Fuß aufgetreten fein, — jedenfalls fnidte fie und 
fiel feitmärts gegen den Sefjel und wäre wohl zu Boden 
gefallen, wenn Nicolai Wſzewolodowitſch ſie nicht fofort 
aufgefangen und gehalten hätte. Er legte ihre Hand auf 
leinen тит, ftüßte fie ftarf und führte fie, teilnehmend 
und belfend, behutjam zur Zür. Sie mar jichtlich ſehr 
betruͤbt über ihren Fall, war verlegen und fchämte fich 


267 


Ichredlih. Stumm, mit niedergejchlagenen Augen, tief 
hinfend wadelte fie neben ihm ber, faft hängend an 
feinem Arm. So gingen fie hinaus. Sch fah, wie Kifa, 
die aus irgendeinem Grunde plößlich auffprang, ihnen 
mit ftarrem ЗИФ die ganze Zeit nachjah bis zur Tür. 
Dann jeßte fie fich wortlos wieder hin, doch in ihrem Фе: 
ficht war ein frampfartiges Zuden, als hätte fie etwas 
Efelhaftes berührt. 

Mährend der ganzen Szene zmwilchen Nicolai ег 
wolodowitſch und Marja Zimofejemna hatte die größte 
Stille geherricht. 

Als fich jekt ме Türe hinter ihnen ſchloß, fingen ploͤtz⸗ 
lich alle auf einmal zu fprechen an, 


VI 

Das heißt, nein, e8 wurde nicht gejprochen: ed waren 
wohl nur Ausrufe, die man hörte. Die Reihenfolge der: 
felben babe ich in der allgemeinen Verwirrung, die - 
berrfchte, vergeflen. Sogar Mawrikij Nicolajemitich 
fagte ein paar Worte. Stepan Trophimowitſch rief wie: 
der etwas auf Franzoͤſiſch aus und fchlug die Hände zu: 
jammen. Doc, am meiften ereiferte fich fein Sohn Pjotr 
Stepanowitſch: er bemühte fich verzmeifelt und mit 
großen Geften, Warwara Petromna von etwas zu über: 
zeugen, er wandte fich an Praskowija Swanomwna, er 
wandte 14 an Liſaweta Nicolajervna, ja, er rief im Eifer 
jogar feinem Vater etwas zu — kurz, er drehte fich mit 
größter Lebendigkeit im Zimmer umher. Warmara Pe: 
tromna hatte jich, Бофто im Geficht, im erften Augen: 
БИ von ihrem Plaß erhoben und erregt Praskowja 
Iwanowna zugerufen: „Haft du gehört, haft du gehört, 


268 








was er ihr Мег joeben gejagt hat?“ Doch diefe konnte 
nicht mehr antworten; fie winkte nur abwehrend mit der 
Hand und murmelte etwas Unverftändliches: fie hatte 
eine neue Sorge, und immer wieder wandte Пе den Kopf 
zu Lifa Hin — 504 aufltehen und davonfahren, das wagte 
Пе nicht mehr, bevor fich die Tochter nicht ſelbſt dazu ent- 
ſchloß. Inzwiſchen ſuchte fich der „Hauptmann“ fort: 
zuſchleichen, aber der Schreck, der ihm bei dem Erſcheinen 
Nicolai Wſzewolodowitſchs in die Glieder gefahren war, 
laͤhmte ihn noch ſo ſehr, daß er es ungeſchickt genug an— 
fing und Pjotr Stepanowitſch ihn, gerade als er aus der 
Tür fchlüpfen wollte, noch am Armel erwifchte und zuruͤck— 
309. 

„Das Ш unbedingt nötig, unbedingt“, ſagte er, feine 
Silben wieder wie Perien ftreuend, zu Warwara Фе: 
trowna, die er noch immer von irgend etwas zu über: 
zeugen fuchte. | 

Er ftand vor ihr, fie aber hatte fich ſchon wieder ge: 
jest und hörte ihn mit Spannung an, woraus hervor: 
ging, daß er fich endlich ihre volle Aufmerkſamkeit er: 
rungen hatte. „Das Ш unbedingt nötig, unbedingt! Sie 
leben doch felöft, daß Мег ein Mißverftändnis vorliegt. 
Es Ш aber alles viel einfacher, als es jcheint. Sch weiß 
тебе wohl, daß mich niemand bevollmächtigt hat, Ihnen 
das alles zu erzählen, und es fcheint vielleicht geradezu, 
daß ich mich Ihnen aufdränge. Uber ganz abgejehen 
davon, daß Nicolai Wſzewolodowitſch ſelbſt diefer ganzen 
Sache weiter gar feine Bedeutung zufchreibt, gibt es doch 
auch Fälle, in denen es einem jchmwer fällt, perjönlich die 
nötigen Erklärungen zu geben — und da ift es denn ип: 
bedingt geboten, daß ein anderer 14 dazu entichließt, 


269 


dem её шей leichter fällt, von деюЩеп zarten Dingen zu 
Iprechen. Glauben Sie mir, Nicolai Wſzewolodowitſch 
war durchaus nicht im Unrecht, als er Ihnen keine radikale 
Antwort auf Ihre Frage vorhin gab, — ganz abgefehen 
davon, daß die Gejchichte überhaupt nicht fo wichtig ift. 
sch kenne Nicolai Wſzewolodowitſch ſchon von Peters: 
burg Бег und ich [апп Sie verjichern, daß alles, mas da 
vorliegt, ihm nur Ehre macht — wenn man diefes ип: 
beftimmte Wort ‚Ehre‘ nun |фоп einmal gebrauchen 
DE 

„Sie wollen damit jagen, daß Sie Augenzeuge eines 
Geſchehniſſes waren, aus dem dann dieſe ganze ... die: 
{е8 Mifverftändnis eniftanden iſt?“ 

„Samohl, Augenzeuge, und fogar Teilnehmer, wenn 
Eie wollen”, betätigte Piotr Stepanowitſch fchnell. 

„Wenn Sie mir Ihr Wort darauf geben Fönnen, daß 
es die Gefühle meines Sohnes zu mir nicht fränfen wird, 
zu mir, der er nicht das Ge—ring—fte verheimlicht ... 
und wenn Sie dabei jo überzeugt find, daß Sie ihm da- 
mit einen Öefallen erweiſen —“ 

„Unbedingt einen Gefallen, und mir jelbft wird es ein 
Vergnügen fein. Sch bin überzeugt, er würde mich felbft 
darum bitten.” 

Es war gewiß fonderbar, daß dieſer plößlich vom Him— 
mel gefallene Menſch jo aufdringlich fremde Erlebniſſe 
aufdeden wollte. Er hatte aber an Warwara Petromnas 
Ichmerzhaftefte Stelle gerihrt und fie dahin gebracht, mo 
er fie zu haben mwünjchte. Sch felbft mußte damals von 
diefem Menſchen noch jo gut wie nichts, um fo weniger 
fonnte ich feine Abfichten durchfchauen. | 

Sie meinen?” fagte Warmara Petromna, zunaͤchſt 


270 








noch vorfichtig und zurüdhaltend, denn fie ИН offenbar 
darunter, daß Пе fich jo weit herabließ. 

Und wieder fielen, eine nach der anderen, die Haren 
Silben feiner Nede, wie Fleine Glasperlen von einer 
Schnur. 

„Die Sache Ш ganz einfach, Зи Grunde Ш es faum 
mehr, als eine Anekdote. Ein Romanſchriftſteller würde 
vielleicht einen Noman daraus machen. Und uninter: 
eflant ИЕ der Stoff auch wirklich nicht. Prasfomja Iwa— 
nowna und auch Liſaweta Nicolajemna werden gewiß 
gern zuhören, denn er enthält, wenn auch nicht wunder: 
bare, jo doch viele wunderliche Dinge. Als vor fünf 
Sahren in Petersburg Nicolai Wſzewolodowitſch diefen 
Herrn Lebaͤdkin, der fich da foeben drüden wollte — ©ie 
fehen, mein abgejeßter Herr Beamter des Proviant- 
weſens, ich kenne Sie noch fehr gut, und nicht minder 
find mir, wie Nicolai Wizemolodomwitich, Shre Sauner: 
ftreiche befannt, über die Sie noch Rechenschaft zu geben 
haben werden ... Sch bitte jehr um Entfchuldigung, 
Warwara Petromna, — vor fünf Jahren alfo, in Peters- 
burg, da nannte Nicolai Wſzewolodowitſch еп Herrn 
jeinen FSalftaff: das muß offenbar irgendein ehemaliger 
‚caractere bourlesque‘ geweſen fein,” fügte er plößlich 
erflärend hinzu, „—ein Mann, der allen erlaubte, über 
ihn zu lachen, wenn man ihm dafür nur zahlte. Nicolai 
MWizemolodomitich führte damals in Petersburg ein 
Leben, ich kann mich nicht anders ausdrüden, aber es 
war ein fpottfüchtiges Leben: denn blafiert pflegt diejer 
Menfch nie zu fein, fich aber mit irgendeiner Arbeit zu 
beichäftigen, das verfchmähte er damals. 34 rede, wie 
gejagt, nur von der damaligen Zeit, Warwara Petromna. 


271 


Diejer Lebädfin alfo hatte eine Schweſter bei fich, Die: 
felbe, die joeben hier faß. Bruder und Schweſter hatten 
feinen eigenen Herd. Er trieb fich vor den großen Waren: 
haͤuſern herum, felbitverftändlich ftets in feiner alten 
Uniform, redete von den Vorübergehenden an, wer ihm 
von ihnen günftig erjchien, und vertranf dann das auf 
dieſe Weije erbettelte Geld. Das Schwefterlein aber 
nährte jich иле ein Vogel Gottes, half in den Winkeln 
und Eden, wo fie lebte, bald dem einen, bald dem ап 
deren, und verdiente jich {о das Notwendigfte. Es war 
das ſchrecklichſte Sodom: ich übergehe die Schilderung 
diejes Lebens, an dem damals auc) Nicolai Wſzewolodo— 
witſch aus ‚Verichrobenheit‘ Anteil nahm. Das Ш 
fein eigener Ausdrud, Er pflegt mir vieles nicht 
zu verheimlichen. Mit Fräulein Lebaͤdkin nun traf 
er eine Zeitlang öfter zufammen; fie begeilterte ſich 
für ihn und er war — nun, er war jo etwas wie der 
Brillant auf dem ſchmutzigen Fond ihres Lebens. Doch 
ich merte, daß ich ein fchlechter Schilderer menfchlicher 
Gefühle bin und fahre darum mit den Tatſachen fort. 
ZTörichte Яеше begannen fie damals gleich zu neden und 
zu verjpotten, und da wurde fie traurig. Überhaupt 
lachte man dort immer über fie, aber früher hatte jie 
das nicht bemerkt. Schon damals war ihr Verftand nicht 
ganz Наг, wenn auch lange nicht jo ſchwach und пит 
wie jeßt. Es Ш anzunehmen, daß fie als Kind — viel- 
leicht dank irgendeiner Wohltäterin — eine etwas beſſere 
Erziehung erhalten hat. Nicolai Wizewolodomitich 
ichenkte ihr zunächft nicht ме geringfte Aufmerfjamfeit, 
wenn er dort mit ihrem Bruder und den Heinen Зе: 
amten zufammenjaß und Karten fpielte. Uber einmal, 


272 


als man fie wieder beleidigte, padte er den betreffenden 
Beamten einfach am Kragen und warf ihn — e8 war im 
zweiten Stod — zum Fenfter hinaus. Einen befonderen 
Unwillen, gekraͤnkte Nitterlichkeit oder dergleichen fonnte 
man an ihin Dabei nicht wahrnehmen. Die ganze Szene 
ging vielmehr unter allgemeinem Gelächter vor fich und 
am meiften amüfierte Пе Nicolai Wizewolodomitich felbft. 
Als alles glüdlich ohne gebrochene Glieder abgelaufen 
war, verjöhnte man fich wieder und begann Punſch zu 
trinken. Nur die Lebädkin fonnte den Vorfall und ihren 
Beichüßer nicht vergejjen — und das endete dann ſchließ— 
lich mit der vollfändigen Zerrüttung ihres DVerftandes. 
Sch wiederhole nochmals, daß ich ein fchlechter Schilderer 
von Öefühlen bin. Das Wichtigfte war hierbei eben ihr 
Dahn. Und Nicolai Wſzewolodowitſch tat dann noch 
alles, um ihn zu verftärfen. Statt gleichfalls zu lachen, 
begann er fie plößlich mit überrafchender Hochachtung zu 
behandeln. Kirilloff, der auch Dabei war, — das ИЕ ein 
fonderbarer und origineller ет, Warwara Petromna, 
Sie werden ihn vielleicht noch einmal fehen, denn er ift 
jeßt Мег — dieſer Kirilloff alfo, der [сп nur zu Schweigen 
pflegt, fagte plößlich: er behandelt fie wie eine Mar: 
quiſe und macht fie damit noch ganz verrüdt. Und was 
glauben Sie, was er diefem Kirilloff, den er übrigens 
achtet, darauf geantwortet hat? ‚Sie fcheinen anzu— 
nehmen, Herr Kirilloff, daß ich mich über fie luftig mache. 
Seien Sie verjichert, daß ich fie in der Tat denkbar hoch 
achte, denn fie ИЕ befjer, als mir alle.“ Und das fagte er 
noch, willen Sie, in vollfommen ernftem Ton. Dabei 
hatte er ihr aber in all den Monaten faum mehr als 
‚guten Tag‘ und ‚Adieu‘ gejagt. Seht freilich brachte er 


18 Doſtojewski, Die Dämonen. Bd. J. 273 


Яе bald fo weit, daß fie ihn für ihren Bräutigam hielt, 
der fie nur infolge von allen möglichen romantifchen 
FSamilienhinderniffen vorläufig nicht ‚entführen‘ koͤnnte 
— mir aber hatten unjer mweidliches Vergnügen daran. 
Die Gefchichte endete damit, daß Nicolai Wſzewolodo— 
witſch, а18 er endlich abreijen mußte, das war alje vor 
jett etwa vier Fahren — er fam damals hierher zu 
Ihnen — ihr eine jährliche Penfion, ich glaube ungefähr 
dreihundert Rubel, wenn nicht mehr, ausjette. Mit 
einem Wort, es war höchftens der phantaftifche Streich 
eines Beichäftigungslofen oder, wie Kirilloff jagte, es 
war eine neue Etude eines überjättigien Menjchen, um 
zu erfahren, wie weit man eine arme Naͤrrin bringen 
fann. ‚Sie haben,‘ jagte Kirilloff, Мф abfichtlich das 
legte бе] фор unter den Menſchen ausgejucht, ein früppe: 
liges Wejen, das ſowieſo ſchon mit Schlägen und Schande 
bededt ift, und von dem Sie von vornherein ganz genau 
willen, daß es an feiner tragifomifchen Liebe zu Ihnen 
zugrunde gehen muß — und plößlich beginnen Öie, йе 
abjichtlich zu betrügen, nur um zu jeher, mas dabei wohl 
herauskommen wird.‘ Nun, ich meinerjeits fehe nicht 
ein, wie ет Menſch daran {фи fein foll, wenn ein ver: 
rüdtes Weib ſeinetwegen fich tolle Gedanken macht. 
Ein Weib, mwohlverftanden, mit dem der betreffende 
Menſch kaum ein paar oberflächliche Worte gemechjelt 
hat! Es gibt Dinge, Warwara Petrowna, über die man 
nicht nur nicht Нид |ртефеп ип, fondern über die 
überhaupt zu |ртефеп |фоп nicht Flug И. Doch mag 
es nun Laune oder Sonderbarfeit gewejen fein, aber 
mehr {апп man ſchon auf feinen Fall jagen; während: 
dejfen aber macht man Мег eine ganze Hiftorie dar— 


274 


aus... Ich bin zum Teil darüber unterrichtet, was hier 
vorgeht.” 

Piotr Stepanowitſch brach plößlich ab und wandte 
ſich wieder Lebädfin zu. Doch Warwara Petrowna hielt 
ihn, beinah zitternd vor Aufregung, zurüd. 

„Sind Sie fertig?” пала fie. 

„Rein, noch nicht. Zur Vervollftändigung möchte ich 
noch diefen Herrn Lebaͤdkin, wenn Sie geftatten .. , Cie 
werden gleich ſehen, um was её fich handelt —“ 

„Genug, фаст, warten Sie einen Augenblid, ich 
bitte Sie! Oh, wie gut war es doch, Daß ich Sie [prechen 
lieg!" 

„Und vergeffen Sie nicht, Warwara Petromna,” Piotr 
Stepanowitſch fuhr gleichlam auf, „daß Nicolai Wſze— 
wolodowitjch perjönlich Ihnen überhaupt Feine Antwort 
auf Ihre Frage geben konnte — die vielleicht wirklich 
etwas zu kategoriſch war. 

„Oh ja, das war fie nur zu ſehr!“ 

„Und hatte ich nicht Recht, als ich fagte, einem Frem— 
den ift es leichter, gewilje Dinge zu erklären, als einem 
Beteiligten?” 

„за, а... aber in einer Beziehung haben Sie Sich 
Doch geirrt, und wie ich mit Bedauern fehe, irren Sie 
ſich auch jekt noch.” 

„Birklich? Und worin wäre das?" 

„За, ſehen Sie... Uber wie wäre es, wenn Sie ſich 
jeßten, Piotr Stepanowitſch?“ 

„Dh, wie Sie wünjchen, ich bin auch müde, beiten 
Dank.“ 

Er zog gewandt einen Seſſel heran und drehte ihn ſo, 
daß er zwiſchen Warwara Petrowna und Praskowja 


18* 215 


Iwanowna, die 14 am Tiſch niedergelaffen hatte, fißen 
fonnte, während Lebädfin, den er nicht aus dem Auge 
ließ, ihm nun gerade gegenüber fand. 

„sch meine, Sie irren fich, wenn Sie diejes eine 
‚Zaune‘, eine ‚Sonderbarleit‘ nennen ...“ 

„Dh, wenn es nur das ИЕ —“ 

„Nein, nein, nein, warten Sie”, unterbrach Ши War: 
пота Petrowna, die fich offenbar zu einem langen und 
eingehenden Geſpraͤch vorbereitete. 

Kaum gemwahrte das Pjotr Stepanowitjch, da war er 
ſchon die Aufmerkſamkeit ſelbſt. 

„Nein, das iſt etwas Hoͤheres als eine Laune. Das iſt, 
ich verſichere Sie, beinahe etwas Heiliges. Das iſt Prinz 
Heinz, wie ihn Stepan Trophimowitſch fruͤher ſo treffend 
nannte, und was vollkommen richtig waͤre, wenn er nicht 
noch mehr an Hamlet erinnern wuͤrde.“ 

„Et vous avez raison“, beſtaͤtigte Stepan Trophimo⸗ 
witſch mit Empfindung und Nachdruck. 

„Ich danke Ihnen, Stepan Trophimowitſch. Ich 
danke Ihnen ganz beſonders für Ihren unerjchütter- 
lichen Glauben an Nicolas, an den Adel feiner Seele. 
Diefen Glauben haben Sie auch in mir befeftigt, als 
ich den Mut fchon verlieren wollte.” 

„Ch£re, chere .. .“ 

Stepan Trophimowitſch wollte fchon vortreten, uͤber⸗ 
legte aber dann doch, daß es immerhin gewagt wäre, fie 
zu unterbrechen. 

„Und wenn Nicolas ftets einen ftillen, treuen und 
ftarfen Horatio neben fich gehabt Бане — auch einer 
Ihrer jchönen Vergleiche, Stepan Trophimowitſch —, fo 
wäre er vielleicht Längft erloͤſt“ (Warwara Petromna ges 


276 





riet fchon in einen fingenden Ton) „von diefem ‚Dämon 
der Ironie‘ — auch dieſen Ausdrud hat Stepan Trophi— 
mowitſch geprägt, — der ihn fein Lebelang martert. 
Doch Nicolas hat nie weder einen Horatio noch eine 
Dphelia gehabt. Er hat nur eine Mutter gehabt. Aber 
was апп eine Mutter in folchen Dingen tun? Wiffen 
Sie, Piotr Stepanowitjch, es Ш mir jeßt vollkommen 
Нах, daß ein Menfch wie Nicolas fogar in diefe ſchmutzigen 
Winkel hinabfteigen konnte. Sch begreife jet alles. 5% 
begreife dieſe Luft zum Spott über das Leben, auf die 
auch Sie vorhin fo vorzüglich hinwieſen. Sch begreife 
diefen unerfättlichen Durft nach Gegenfäßen, dieſen trüben 
und unheimlichen Hintergrund feines damaligen Lebens, 
von dem er fich dann wie eine leuchtende Erjcheinung 
abhob. Und in diefer fchredlichen Welt trifft er dann ein 
Mejen, das alle beleidigen und verjpotten, eine Krüppes 
де, eine Irrſinnige, und zugleich doch einen Menfchen, 
der die edelften Gefühle hat! ...“ 

„om... ja, nehmen wir an —“ 

„And Sie fagen, Sie fünnen nicht begreifen, wes— 
halb er zunächft nicht wie alle die anderen über fie lacht! 
DH, ihr Menfchen! Und Sie fünnen nicht verftehen, daß 
er fie dann vor den Beleidigern bejchüßt und fie wie eine 
Marquife‘ behandelt! Diefer Kirilloff muß ein tiefer 
Menſchenkenner fein, wenn er auch Nicolas nicht ver: 
ftanden hat! За, vielleicht ift es gerade dieſer Kontraft, 
aus dem diefe ganzesunfelige Geſchichte entftanden ift. 
Märe ме ЗеНадеп тете in anderen Verhaͤltniſſen, in 
einer anderen Umgebung gemwejen, dann hätte пе wohl 
überhaupt nicht diejen törichten Gedanken gefaßt. Das 
allerdings, Piotr Stepanomitich, Tann nur eine Frau 


277 


verftehen, und wie fchade Ш es doch, daß Sie... das 
beißt... ich will natürlich nicht jagen, wie jchade, daß 
Sie feine Frau find, aber daß Sie das ganze Verftänd- 
118 einer Frau nun einmal nicht haben koͤnnen.“ 

„Das heißt aljo: je fchlimmer, deſto bejjer — ich ver: 
ftehe, ich verftehe jchon, Warwara Petrowna. Das ift _ 
jo, wie in der Religion und im Staat: je jchlechter e8 ein 
Menſch im Leben hat, oder je unterdrüdter ein Volk ift, 
deito eigenfinniger wird an die Belohnung, die einen im 
Senjeits erwartet, gedacht. Und wenn dabei noch hundert: 
tauſend Geiftliche mitwirken und den Gedanken anfachen, 
auf den fie felbit jpefulieren, jo ... ob, ich verftehe Sie, 
Warwara Petromna, feien Sie unbeforgt.” 

„Sch glaube — 504 wohl nicht jo ganz. Aber fagen 
Sie, hätte denn Nicolas, um jenen unfeligen Gedanfen 
in diefem unglüdlichen Organismus zu ertoͤten,“ (mes- 
halb Пе Мег diejes Wort gebrauchte, verftand ich nicht) 
„бане er wirklich ebenſo über fie lachen und höhnen 
müjfen, wie die anderen rohen Kumpane? Begreifen 
Sie denn wirklich nicht dieſes große Mitleiden, diejen 
edlen Schauer einer edlen Seele, mit dem Nicolas plößs 
lich ernft diefem Kirilloff antwortet: ‚Sch lache durchaus 
nicht über fie.‘ Ob, ме vornehme, dieſe heilige Antwort. 

„Sublime!“, murmelte Stepan Trophimowitſch. 

„Und vergeſſen Sie nicht, er ift durchaus nicht reich, 
иле Sie vielleicht denken: ich bin reich, aber nicht er, und 
damals hat er meine Hilfe niemalg in Anjpruch genom: 
men.” 

„sch verftehe das, ich veritehe das alles, Warmara 
Petrowna,“ heteuerte Pjotr @ерапою 9 und bemegte 
lich bereits etwas ungeduldig auf feinem Stuhl 


273 


„ОБ, das ЦЕ mein Charalter! In Nicolas erfenne ich 
mich jelbft wieder. 39 fenne diefe Jugend, diefe Mögliche 
feiten ftürmifch drängender Ausbruͤche . . Und wenn wir 
uns jemals nähertreten jollten, Piotr Stepanowitſch, mas 
ich meinerfeits aufrichtig wünfche, um jo mehr, als ich 
Ihnen ſchon jo verpflichtet bin, fo werden Sie dann viel: 
leicht verftehen —“ 

„Dh, auch ich wünfche, glauben Sie mir —“ 

„— Dieſen Drang, in dem man in blindem Edelmute 
РИБИ einen Menjchen nimmt, womöglich einen, der 
unjer gar nicht wert И, einen Menjchen, der Sie nicht 
im geringften verfteht und bereit И Sie bei jeder бе: 
legenheit zu quälen: und diefen Menfchen macht man 
plößlich wider alle Vernunft zu feinem Idealbild, zu 
jeinem Wahnbild, legt in ihn alle Hoffnungen, beugt fich 
vor ihm, liebt ihn fein Lebelang, ohne auch nur zu wiljen 
weshalb, — vielleicht gerade deshalb, weil er das gar 
nicht verdient hat ... Ob, wie ich mein ganzes Leben 
lang gelitten habe, Piotr Stepanowitjch !" 

Stepan Trophimowitſch fuchte erregt meinen DBlid, 
doch ich fonnte mich noch rechtzeitig abwenden. 

„Und noch vor kurzem, noch vor kurzem — oh, wie viel 
mir Nicolas verzeihen muß! ... Sie werden её mir nicht 
glauben, wie alle mich gequält haben! Gequält von allen 
Seiten, alle, alle, Feinde und Freunde, und die Freunde 
vielleicht noch mehr als die Feinde. Und als ich den 
eriten anonymen Brief erhielt, Piotr Stepanomitjch, Sie 
werden es mir nicht glauben, aber meine Verachtung 
reichte einfach nicht aus für ме ganze Gemeinheit ... 
Nie, nie werde ich mir diefen Kleinmut vergeben!” 

„Don diejen anonymen Briefen babe ich ſchon ge: 


279 


hört,” fagte Piotr Stepanowitſch, plößlich wieder Бе: 
lebt, „feien Sie unbeforgt, den Verfaffer werde ich ſchon 
herausbekommen.“ 

„Aber Sie koͤnnen ſich ja gar nicht vorſtellen, was fuͤr 
Intriguen hier geſponnen worden ſind! Sogar unſere 
arme Praskowja Iwanowna hat man beunruhigt — und 
dazu war doch wirklich kein Grund vorhanden! Liebe 
Praskowja Iwanowna, heute mußt du mir ſchon ver— 
zeihen,“ fuͤgte ſie ploͤtzlich in einer großmuͤtigen Regung 
hinzu, aber doch nicht ohne einen leiſen triumphierenden 
Klang in der Stimme. 

„Schon gut, meine Liebe,“ murmelte dieſe widerwillig. 
„Ich aber meine, man koͤnnte jetzt endlich aufhören, es iſt 
ſchon viel zu viel geſprochen worden.“ Und wieder ſah ſie 
ſcheu ihre Liſa an, die aber blickte auf Pjotr Stepano— 
witſch. 

„Und dieſes arme, ungluͤckliche Geſchoͤpf, dieſe Irr— 
ſinnige, die alles verloren, nur das Herz behalten hat, 
die — werde ich in mein Haus aufnehmen!“ rief Warwara 
Petrowna ploͤtzlich entſchloſſen aus. „Das iſt eine heilige 
Pflicht und ich will ſie erfuͤllen! Vom heutigen Tage an 
ſtelle ich ſie unter meinen Schutz!“ 

„Und das wird ſogar ſehr gut ſein, in einem gewiſſen 
Sinne wenigſtens!“ Pjotr Stepanowitſch war wieder 
ganz Leben. „Entſchuldigen Sie, aber vorhin bin ich 
nicht ganz zu Ende gekommen. Gerade was den Schutz 
betrifft. Stellen Sie ſich vor, Warwara Petrowna, — ich 
fange dort an, wo ich ſtehen blieb, — ſtellen Sie ſich alſo 
vor, daß damals, als Nicolai Wſzewolodowitſch fort: 
gefahren war, diefer Herr da drüben, diefer Herr Lebädfin, 
nichts Befjeres zu tun mußte, als das feiner Schweſter 


280 








ausgefeßte Geld eilends und reftlos zu vertrinfen. Sch 
weiß nicht genau, in welcher Weife Nicolai Wſzewolodo— 
witjch die Zahlungsart in der erften Zeit angeordnet hatte. 
Sch weiß nur, daß er fich fchließlich genötigt fah, wenn er 
Lebädlins Schweſter einigermaßen Jicherftellen wollte, 
jie in einem fernen Klofter unterzubringen — was denn 
auch geſchah, jelbftredend unter aller nur denkbaren Ruͤck— 
jicht auf ihre Perfon, aber unter freundfchaftlicher Auf— 
jicht, Sie verftehen [hon! Doch was glauben Sie wohl, 
wozu Herr Lebädkin fich entſchloß? Erft fuchte er mit 
aller Gewalt zu erfahren, wo man fein Zinspapier, das 
heißt aljo feine Schmwefter, untergebracht hatte, und dann, 
als ihm dies gelungen war, erwirkte er, indem er irgend: 
welche Rechte vorichüßte, daß man fie ihm herauggab, 
und Darauf fchleppte er fie hierher. Hier nun gab er ihr 
nichts zu effen, fondern ſchlug fie, und als er auf irgend= 
eine Weife von Nicolai Wizemolodomitich eine größere 
Geldfumme herausbefommen hatte, ging das alte, шие 
Trinkleben fofort von neuem an. Bon Dankbarkeit Nie 
colat Wſzewolodowitſch gegenüber natürlich feine Spur; 
im Gegenteil, nur ſinnloſe neue Forderungen ftellte er 
an ihn und drohte gar mit dem Gericht, wenn er nicht 
Zahlungen erhalten würde — nahm aljo frech als pflicht- 
mäßig an, mas freiwillig war. — Herr Lebädfin, Ш 
alles wahr, was ich hier foeben gejagt habe?" 

Der „Hauptmann”, der bis dahin ftumm und mit 
gejenkten Augen dageftanden hatte, trat fchnell zwei 
Schritte vor, — das Blut ſchoß ihm ins Фе, 

„Piotr Stepanowitich ... Sie haben mich ... graus 
ſam behandelt", brachte er ftodend hervor. 

„Wieſo graufam? Doc, über Grauſamkeit oder Zart— 


281 


heit koͤnnen wir fpäter jprechen, jeßt aber wollen Sie 
mir gefälligft auf meine Frage antworten: ift alles 
wahr, was ich Мег gejagt habe, oder nicht?" 

„Ich . . . Sie willen ja jelbft, Piotr Stepanomwitich .. ." 
der „Hauptmann ftodte und [chwieg. 

Piotr Stepanomwitich ſaß im Lehnftußl mit über: 
gelihlagenen Beinen und Lebaͤdkin ftand in der ehr: 
erbietigften Haltung vor ihm. Lebädfins Unentjchlojjen: 
heit jchien Piotr Stepanowitſch jehr wenig zu gefallen: 
in feinem Geſicht zudte es und fein YAusdrud wurde 
böje. 

„Sa, wollen Sie nicht vielleicht etwas jagen?” fragte 
Piotr Stepanomwitich fcharf, wobei er mit zujammen- 
gefniffenen Augen durchödringend den „Hauptmann“ 
anblidte. „Im dem Falle — bitte. Haben Sie die Güte, 
wir hören.“ 

„Sie willen doch jelbft, Piotr Stepanowitſch, daß ich 
nichts ſagen kann.“ 

„Nein, das weiß ich durchaus nicht, hoͤre es ſogar zum 
erſtenmal; warum koͤnnen Sie denn nicht?“ 

Lebaͤdkin ſchwieg und blickte zu Boden. 

„Erlauben Sie mir, Pjotr Stepanowitſch, fortzugehen“, 
ſagte er endlich entſchloſſen. 

„Nicht, bevor Sie mir eine Antwort auf meine Frage 
gegeben haben. Noch einmal: iſt alles wahr, was ich 
geſagt habe?“ 

„за, es ИЕ wahr“, * Lebaͤdkin dumpf und blickte 
kurz zu ſeinem Peiniger auf. 

An ſeinen Schlaͤfen trat ſogar Schweiß hervor. 

„Sit alles wahr?“ 

„Alles ift wahr.” 


282 


— 


„Haben Sie nicht noch etwas hinzuzufügen, oder зи Бе: 
merken? Wenn Sie fühlen, daß wir Ihnen irgendwie 
Unrecht getan haben, jo jagen Sie es. Proteftieren Sie, 
geben Sie laut Ihre Unzufriedenheit fund!“ 

„ein, ich habe nichts .. 

„Haben Sie vor kurzem Nicolai Wizewolodomwitich ges 
droht?" 

„За... das... war mehr Alkohol, Piotr Stepano: 
witſch.“ (Er Боб plößlich den Kopf.) „Piotr Stepano— 
и! Wenn die beleidigte Tamilienehre und die uns 
verdiente Schande im Menfchenherzen aufheulen, Ш 
dann — ift dann wirklich der Menfch noch verantwort: 
lich?" brüllte er plößlich wieder los, wie vorher ſich nicht 
mehr im Zaum haltend. 

„Sınd Sie nüchtern, Herr Lebaͤdkin?“ Piotr Stepano: 
witjch jah ihn durchdringend ап. 

„sh ... bin nüchtern. 

„Bas foll das bedeuten: ‚beleidigte Familienehre‘ und 
‚unverdiente Schande‘ 2" 

„Das habe ich nur jo ... ich wollte niemanden ...“ 
Der Hauptmann fank wieder zufammen. 

„Meine Bemerkungen über Sie und Ihr Benehmen 
Icheinen Sie gefränft zu haben. Sie find ja jehr empfind= 
lih, Herr Lebädfin. Aber erlauben Sie mal, ich habe 
Doch noch gar nichts über Ihr Benehmen im eigent: 
lihen Sinne gejagt. Sch werde erſt anfangen, über 
365: Benehmen im eigentlihen Sinne zu jprechen. 
Sa, e8 ift ſogar jehr leicht möglich, daß ich davon anfangen 
werde ...“ 

Lebädfin erzitterte plößlich und ſtarrte wahrhaft еп 
jeßt Piotr Stepanowitich аи. 


283 


„Piotr Stepanomitich, ich fange jekt ей an, auf 
zuwachen !" 

Hm! Und ich bin es wohl, der Sie jetzt aufgemedt hat?" 

„За, Sie haben mich aufgewedt, Piotr Stepanowitich, 
ich aber habe vier Jahre unter der ſchwebenden Wolfe 
geichlafen ... kann ich jeßt fortgehen, Piotr Stepano- 
witſch?“ 

Jetzt koͤnnen Sie es ... wenigſtens, wenn nicht War: 
тата Petrowna —?“ 

Die aber winkte nur mit beiden Haͤnden ab. 

Der „Hauptmann“ verbeugte ſich und ging, doch nach 
drei Schritten blieb er plößlich wieder ftehen, preßte die 
Hand aufs Herz, wollte etwas jagen, tat es aber doch 
nicht — und ging dann endlich fchnell zur Здие. Doc 
gerade wie er hinaus wollte, wurde fie von außen ge: 
öffnet und er ftieß mit Nicolai Wſzewolodowitſch beinahe 
zufammen. Der „Hauptmann” dudte ſich gleihjam vor 
ihm und erftarb auf der Stelle, ohne jeine Augen von 
ihm abwenden zu fönnen, wie ein Kaninchen vor einer 
Rieſenſchlange. 

Einen Augenblick wartete Stawrogin, dann ſchob er 
ihn mit der Hand leicht zur Seite und trat ein. 


VII 

Stawrogin war heiter und ruhig. Moͤglich, daß er 
etwas ſehr Angenehmes erfahren hatte, was wir noch 
nicht mußten ... jedenfalls war er, wie её jchien, mit 
irgend etwas ganz ausnehmend zufrieden. 

„Kannft du mir verzeihen, Nicolas?“ Warwara ег 
tromna fonnte fich nicht bezwingen und erhob fich ſogar 
eilig ihm entgegen. 


284 


Da aber lachte Stamwrogin auf: 

„Das fehlte noch!" rief er gutmütig und fcherzhaft. 
Ich fehe fchon, es ИЕ euch alles bekannt. Und ich machte 
mir bereits Vorwürfe während der Fahrt in der Equipage: 
‚Menigftens hätte ich doch den Scherz erzählen muͤſſen, 
denn jonft, wer geht denn fo fort.‘ Als mir aber einfiel, 
daß Piotr Stepanomwitich hier geblieben war, ſprang die 
Sorge von mir ab.” 

Während er ſprach, blidte er fich flüchtig im Zimmer um. 

„Piotr Stepanowitich hat uns eine alte Petersburger 
Geſchichte aus dem Leben eines eigentümlichen Menſchen 
erzählt, ſagte Warwara Petromna, noch ganz entzüdt, 
„eines launijchen, eines halb wahnjinnigen Menfchen, der 
aber in feinen Gefühlen immer edel bleibt, immer adlig, 
immer ritterlih —“ 

„Alſo jo Боф habt ihr mich Schon erhoben,” fcherzte 
Stamrogin. „Übrigens bin ich Piotr Stepanowitſch dies- 
mal ſehr dankbar für feine Eilfertigkeit" (bier taufchte er 
mit ihm einen blißartig kurzen Blid). „Sie muͤſſen nam: 
14 wiſſen, maman, daß Pjotr Stepanowitich ftets der 
allgemeine Friedensftifter Ц: das ift nun einmal feine 
Rolle, feine Krankheit, fein Stedenpferd, und in der Зе: 
ziehung kann ich ihn bejonders empfehlen. Übrigens 
kann ich mir |фоп denken, worüber ег Мег Bericht er= 


ftattet hat. Er erftattet ja immer Bericht, wenn er etwas. 


erzählt. In feinem Kopf hat er eine Kanzlei. Man merke 
fich nur, daß er in feiner Eigenschaft als Realift nicht lügen 
fann und daß die Wahrheit ihm teurer ift als der Er— 
folg ... felbftverftändlih außer in jenen bejonderen 
Fällen, wenn ihm der Erfolg teurer ift als die Wahr: 
heit.” Gtawrogin [аб fich, während er ſprach, immer 


285 


# 


noch um.) „Sie fehen alfo, maman, daß nicht Sie mich 
um Berzeihung zu bitten haben, und daß, wenn hier 
irgendwo eine Schuld ift, fie natürlıch nur mich treffen 
fann ... oder fagen wir, wenn bier eine Verrüdtheit 
vorliegt, ich folglich Der Verrüdte bin — man muß 
doch feinen Ruf aufrechterhalten!” und er umarmte 
feine Mutter und Füfte fie zärtlich. „Sedenfalls aber 
ift die Sache jet erzaͤhlt, und ich Dächte, nun könnte man 
aufhören, von ihr zu fprechen. Seine letzten Worte 
hatten plößlich einen trodenen, harten Unterton. 

Marmara Petromna fannte diefen Ton, doch ihre Er: 
regung verging deshalb noch nicht, jogar im Gegenteil. 

„ber wie fommt es nur, daß du heute fchon hier bift, 
Nicolas, du mwollteft doch erft in einem Monat —“ 

„sch werde Shnen natürlich alles erzählen, maman, 
doch augenblicklich —" Und er trat zu Praskowja Iwa— 
попа. 

Doch diefe ſchien ihn diesmal überhaupt nicht Бе 
merfen zu wollen: während noch vor einer halben 
Stunde, als er zum erften Male erfchienen war, ihre , 
ganze Aufmerkſamkeit von ihm in Anſpruch genommen 
mwurde, war dieſe jekt auf etwas ganz anderes gelentt. 
In dem Yugenblid, als der „Hauptmann“ mit Stawrogin 
beinahe zufammengeftoßen war, БаНе ®Ца plößlich zu 
lachen angefangen — zuerft nur leife und verhalten, dann 
aber immer lauter und bemerkbarer. Sie wurde rot. 
Diefer Gegenfaß zu ihrem kurz vorher noch jo düfteren 
Ausjehen war doch zu auffallend. Als Nicolai Wſzewolo⸗ 
dowitſch noch mit Warwara Petromna jprach, winkte fie 
Mawrikij Nicolajemwitich zu fich heran, als wolle fie ihm 
etwas jagen: doch faum beugte er fich zu ihr nieder, da 


286 





lachte fie |фоп von neuem. За, es fchien, als lache fie 
geradezu über den armen Mawrikij Nicolajewitfch. Dabei 
ftrengte fie fich furchtbar an, ernft zu bleiben, und prefte 
immer wieder ihr Taſchentuch an die Lippen, Doch e8 ge: 
lang ihr nicht, 19 zu bezwingen. 

Nicolai Wſzewolodowitſch trat mit der unfchuldigften, 
aufrichtigften Miene an fie heran, um fie zu begrüßen. 

„Verzeihen ©ie, bitte," fagte fie jchnell, „Sie... Sie 
haben gewiß auch Mawrikij Nicolajewitich gejehen ... 
Gott, wie verboten lang Sie find, Mawrikij Nicolaje: 
witſch!“ Und wieder lachte fie. 

Mawrikij Nicolajewitich war allerdings hoch von Wuchs, 
aber durchaus nicht jo auffallend, wie fie es plößlich zu 
finden ſchien. 

„@е ... find vor nicht langer Zeit angefommen?” 
fragte fie, fich gewaltfam zufammennehmend, * ver⸗ 
legen, doch mit blitzenden Augen. 

„Vor ungefaͤhr zwei Stunden“, antwortete Stawrogin 
und ſah ſie aufmerkſam an. Ich int Мег bemerfen, daß 
er ungewöhnlich zurüdhaltend war in feiner Höflichkeit, 
doch ohne diefe würde er vollftändig gleichgültig, faft 
gelangweilt ausgefehen haben. 

„Und wo werden Sie wohnen?" 

„Hier.“ 

Warwara Petrowna beobachtete ſie gleichfalls, 
ploͤtzlich fiel ihr etwas ein. 

„Aber Nicolas, wo warſt du denn bis jetzt, dieſe zwei 
Stunden?“ fragte ſie erſtaunt, „der Zug kommt doch 
um zehn Uhr an.“ 

„Ich brachte zuerft Pjotr Stepanowitſch zu Kirilloff. 
Ich hatte ihn in Matwejewo (drei Stationen vor un— 


287 


ferer Stadt) ‚ getroffen. ©o fuhren wir die letzte Strede 
zufammen.” gi 

„Sch aber wartete {фоп feit Mitternacht in Mat: 
wejewo,“ griff Piotr Stepanomitich fchnell in das Фе: 
{ртаф ет. „Unjere lebten Wagen waren in der Nacht 
aus den Schienen gejprungen, wir hätten uns beinahe 
noch die Beine gebrochen!" 

„Rein Gott," rief Lija, „Mama, und wir wollten in 
der vorigen Woche auch nach Matwejewo fahren!" 

„Gott erbarme dich!“ Praslomja Iwanowna Бег 
freuzte Sich. 


„Ach, Mama, Mama, liebe Mama, erfchreden Sie nicht, ( 


wenn ich mir bei einer folchen Gelegenheit auch einmal 
ein Bein breche, mir fönnte das ja nur zu leicht gejchehen! 
Sie jagen doch jelbit, daß ich jeden Tag nur ausreite, um 


mir das Genid zu Бхефеп. Mawrikij Nicolajemwitich, — 


würden Sie mich führen, wenn ich hinke?“ fragte йе 
wieder lachend. „Sch würde dann nur Ihnen erlauben, 
mich zu führen, verlafjen Sie #4 darauf! Фадей wir, 
ich breche mir ein Bein? — Xber fo ſeien Sie doch {о 
liebenswürdig, Mawrikij Nicolajemwitjch, und jagen Sie 
fofort, daß Sie fich glücklich ſchaͤtzen würden!" 

„Bas kann das für ein Glüd fein, wenn man ein 
Krüppel ЦЕ?" ſagte Mawrikij Nicolajewitjch ernftlih ип: 
gehalten. 


— — 


„Dafuͤr wuͤrden Sie allein mich fuͤhren duͤrfen, nur 


Sie, ſonſt niemand!“ 
„Auch dann würden Sie mich führen, Liſaweta Ni—⸗ 
colajemna”, fagte der Offizier leife und noch ernfter. 
„Gott, er wollte einen Wiß machen,” rief Lifa faft 
entjeßt aus. „Mawrikij Nicolajewitich, unterftehen Sie 


288 


fich niemals, einen Wit zu machen! Aber Sie find wirt: 
fich bis zu einem unglaublichen Grade Egoift! Doch ich 
bin überzeugt, zu Ihrer Ehre fei es gejagt, daß Sie fich 
jelbft verleumden. Im Gegenteil, Sie würden mir von 
früh bis fpät verlichern, daß ich ohne Fuß тей inter: 
elfanter fei! Eines ift aber unvereinbar: Sie find über: 
mäßig lang, ich aber würde, wenn ich hinten müßte, ganz 
Hein fein — wir würden alſo ein jchlechtes Paar abgeben !" 

Und пе lachte frampfhaft. 

Die Anfpielungen waren Наф und herbeigezogen, 
doch ihr war es Diesmal offenbar nicht um den Nuhm 
zu tun, geiftreich zu fein. 

„Hyſterie,“ flüfterte mir Piotr Stepanowitich zu, „ein 
Glas Waſſer, ſchnell!“ 

Er hatte es erraten: eine Minute ſpaͤter liefen wir hin 
und her und endlich brachte man denn auch Waſſer. Liſa 
umarmte ihre Mutter, kuͤßte ſie leidenſchaftlich, weinte 
verzweifelt — bis ſie dann ploͤtzlich wieder auflachte. 
Darauf fing auch die Alte zu weinen an. Da fuͤhrte denn 
Warwara Petrowna ſie beide durch dieſelbe Tuͤr, durch 
die Darja Pawlowna eingetreten war, hinaus. Doch 
ſie blieben nicht lange im Nebenzimmer, ſondern er— 
ſchienen ſchon nach wenigen Minuten wieder im Salon. 

Kaum waren ſie draußen, da trat Stawrogin an uns 
heran und begruͤßte uns — außer Schatoff, der noch 
immer in ſeiner Ecke ſaß und den Kopf womoͤglich noch 
tiefer geſenkt hielt. Stepan Trophimowitſch verſuchte 
ſogleich, irgendein geiſtreiches Geſpraͤch anzuknuͤpfen, 
doch Stawrogin wandte ſich ab und wollte zu Darja 
Pawlowna gehen. Unterwegs jedoch hielt ihn Pjotr 
Stepanowitſch auf, der ihn faſt mit Gewalt zum Fenſter 


19 Doftojemwsti, Die Dämonen. Bd. J. 289 


zog und ihm dort etwas anfcheinend fehr Michtiges zus 
zuflüftern begann. Nicolai Wſzewolodowitſch freilich 
hörte, während der andere lebhaft geftifulierte, nur zer— 
ftreut, Гай gelangweilt zu, mit feinem offiziellen, leicht 
fpöttifchen Lächeln auf den Lippen — und fchließlich 
wurde er ungeduldig und machte ſich los. 

In diefem YAugenblid traten die Damen wieder ein. 

Warwara Petrowna führte Liſa zu ihrem alten Platz 
und verjicherte lebhaft, daß es den gereisten Nerven uns 
möglich gut tun könne, wenn fie gleich an die фе 
Luft ginge: fie folle fich doch erft mwenigftens zehn 
TDinuten erholen! Und fie feste fich neben Liſa und 
bemühte fich in einer |фоп recht auffallenden Weije um 
dieſe. 

Pjotr Stepanowitſch lief auch gleich hinzu und begann 
ein lebhaftes und luſtiges Geſpraͤch. 

Waͤhrenddeſſen trat nun Stawrogin endlich mit ſeinen 
langſamen Schritten zu Darja Pawlowna. Daſcha 
ſchrak förmlich zuruͤck, als fie би auf ſich zukommen ſah, 
und feuerrot, verwirrt, faſt taumelnd erhob ſie ſich 
ſchnell. 

„Sch glaube, man kann Ihnen gratulieren ... oder 
noch nicht?" Er fragte eg mit einem fonderbaren Zug 
um den Mund, den ich noch nie an ihm bemerft hatte, 

Daſcha antwortete ihm irgend etwas, aber die Worte 
fonnte ich nicht verftehen. 

„Derzeihen Sie, bitte, ме Yufdringlichkeit,” fagte er 
und fprach lauter „aber Sie wiſſen doch, daß man mich 
abjichtlich davon benachrichtigt hat? Wiſſen Sie das?" 

„Sa, ich weiß, daß Sie abjichtlich Davon benachrichtigt 
worden ſind.“ 


299 





„Run, ich hoffe, mein Glüdwunfch hat nicht geftört,” 
meinte er lachend, —- „und wenn Etepan Trophimo— 
witſch ...“ 

„Wozu, wozu gratulieren?“ Pjotr Stepanowitſch lief 
ſchnell herbei, „wozu, wozu gratulieren, Darja Paw— 
lowna? Bah! doch nicht etwa dazu? Wirklich! Ihre 
Farbe beweiſt, daß ich recht geraten habe! In der Tat 
gibt es doch nur eine einzige Art Gluͤckwunſch, bei 
dem unſere ſchoͤnen, ſittſamen jungen Damen zu er— 
roͤten pflegen. Nun, ſo empfangen Sie ihn denn auch 
von mir, wenn ich's richtig erraten habe! Bezahlen Sie 
aber auch bitte die Wette! Sie werden ſich doch noch 
erinnern, daß wir in der Schweiz gewettet haben? Sie 
ſagten, daß Sie niemals heiraten wuͤrden und ich ſagte 
das Gegenteil. Nun, und eigentlich bin ich ja halbwegs 
deshalb aus der Schweiz hierher gereiſt . . Apropos — 
Schweiz! Aber {ад mir doch,” er drehte fich jchnell zu 
Stepan Trophimowitſch herum, „wann fährft du denn 
jet in die Schweiz?" 

„sh? ... м die Schweiz?" fragte Stepan Trophimo— 
witſch überrafcht und verwirrt. 

„За, wie denn? Fährft du denn nicht? Aber du 
heirateft 504... du ſchriebſt eg doch!" 

„Pierre!“ rief Stepan Trophimowitſch ftreng. 

„Bas denn, Pierre! Sieh mal, wenn eg dir angenehm 
zu hören iſt, jo bin ich hierher geflogen, um dir mitzuteilen, 
daß ich durchaus nichts dagegen einzuwenden habe! Du 
wollteft doch meine Meinung möglich bald willen! 
Зепп man dich aber ‚retten‘ muß, wie du in demielben 
Brief jchreibft, fo ftehe 14 dir dito zu Dienften. Sit es 
wahr, daß er heiratet, Warwara Petromna?” und wies 


19° 291 


der drehte er ſich fchnell zu Diejer. „Sch nehme an, daß 
ich hier nicht von Geheimnifjen rede. Er jchreibt ja jelbit, 
daß die ganze Stadt es bereits weiß, daß ihm alle bereits 
ihre Gluͤckwuͤnſche darbringen wollen, und daß er, um 
dem zu entgehen, nur noch in der Nacht das Haus ver: 
lafien kann. Den Brief habe ich in der Tafche. Ganz flug 
bin ich freilich nicht aus ihm geworden. бад felbit, Stepan 
Trophimowitſch, was foll man nun eigentlih: — ſoll 
man dir ‚gratulieren‘? — oder ſoll man dich ‚retten‘? 
Sie glauben nicht, Warwara Petromna, unmittelbar 
neben den glüdlichften Zeilen ftehen jolche der größten 
Verzweiflung. Zunaͤchſt bittet er mich um Verzeibung: 
nun, fchön, das find fo feine Sentimentalitäten ... Aber 
übrigens — nein, es ift unmöglich, nicht Davon zu fpre- 
chen: ftellen Sie fich vor, er hat mich im ganzen Leben 
nur zweimal gejehen, und auch dann nur zufällig; jetzt 
plößlich aber, wie er ИФ zum dritte Male verheiraten 
will, bildet er fich ein, damit mir gegenüber irgendwelche 
väterlichen Pflichten zu verlegen. Und jo fleht er mich 
tatjachlich über taufend Werft hinweg an, ihm nicht böje 
zu fein und meine Erlaubnis zu feiner Vermählung zu 
geben! Du, ärgere dich bitte nicht, Stepan Trophimo— 
witjch, es Ш ein Zug unferer Zeit, alles zu verftehen, 
und ich verurteile dich ja auch nicht, ja, ſchließlich macht 
dir das alles jogar, wie man das zu nennen pflegt, nur 
Ehre, ujm., uſw. Doc davon wollte ich ja gar nicht 
Iprechen. Die Hauptjache ift vielmehr, daß mir — nun, 
eben Ме Hauptiache nicht Far И. Schreibt da irgend 
etwas von Schweizer Sünden ... Heirate jozujagen 
fremde Sünden‘, oder wie du dich da ausdrüdft, — mit 
einem Wort: ‚Sünden‘ find dabei. ‚Das Mädchen‘, 


292 





Ichreibft du, ‚ift ein Juwel‘, und du, nun natürlich, du 
bift ihrer ‚nicht wert‘. Das ift nun einmal fein Stil,” fagte 
er wieder zu Warwara Petrowna gewandt. „Wegen 
irgendwelcher ‚fremden Sünden‘ ift er ‚gezwungen, zum 
Altar zu gehen und in die Schweiz zu reifen‘, und darum: 
‚fliege ber, um mich zu retten!“ Begreifen Sie etwas? 
Uber ich ſehe ... mir ſcheint ... ich bemerfe am Ausdruck 
der Öelichter, daß — er drehte fich nach allen Seiten 
um und аб die Anweſenden mit dem unfchuldigften 
Lächeln an, — „Daß ich nach meiner Gewohnheit wieder 
einmal eine Dummheit gemacht Бабе... mit meiner 
Aufrichtigkeit, oder, wie Nicolai Wſzewolodowitſch jagt — 
Eilfertigleit ... Sch glaubte Doch, daß wir hier unter 
Freunden find? Das heißt jelbfiverftändlich unter deinen 
Freunden, Stepan Trophimowitſch, nur unter deinen, 
denn ich bin hier ja fremd... und nun fehe ich... . ſehe 
ich, daß alle irgend etwas willen, und nur ich dieſes 
‚Etwas‘ nicht weiß .. 

Er [аб ich noch immer im Kreife um. 

„So bat Ihnen Stepan Tropbimomitich gejchrieben, 
daß er ‚fremde Sünden‘ heiraten пише?” Warwara 
Petrowna trat mit entitelltem, fait gelbem Geſicht und 
zudenden Mundwinkeln auf Piotr Stepanomitich zu. 

„5a, jehen Sie, das heißt, wenn ich hier etwas nicht 
verſtanden haben follte, fo ift das natürlich meine Schuld. 
Uber ich denke doch... feldftverfiändlich: er fehreibt fo! 
Hier Бабе ich ja den Brief — den mwichtigften. Wifjen 
Sie, Warmara Petromna, endlofe Briefe und Schließlich 
einfach ein Brief nach dem anderen, jo daß ich fie fpäter 
gar nicht mehr zu Ende 108... Verzeih mir das Ge— 
ftändnis, Stepan Trophimomitfch, aber, nicht wahr, im 


293 


Grunde haft du fie, wenn du fie auch an mich adreffiert 
рай, doch mehr für die Nachgeborenen gejchrieben. Reg’ 
dich nicht auf, е8 macht ja weiter nichts. Uber diejen 
Brief hier, Warwara Petromna, den habe ich ganz ae: 
lejen. Denn diefe ‚Sünten‘, dieſe ffremden Sünden‘: 
das Jind doch beitimmt irgendwelche von jeinen eigenen 
Sünden und ich koͤnnte wetten, die allerunfchultigften — 
er aber macht daraus jelbitredend eine furchtbare Ge: 
Ihichte, fo eine mit einem edlen Zuge, und viclleicht Ш 
die ganze Gejchichte nur um diejes Zuges willen herbei: 
gezogen. Es gibt da паша) noch gewiſſe Abrechnungen, 
die nicht ganz flimmen mögen, wozu das verheimlichen! 
Denn, wiſſen Sie, man тиф es doch endlich geftehen, 
wir pflegen dem Kartenfpiel nun einmal etwas zugetan 
zu fein... Uber nein, VBerzeihung, das ift ſchon überflüffig, 
das ift Schon wirklich ganz überflüflig, Berzeihung! Doch 
was ich jagen wollte, Warwara Petrowna, erjchredt hat 
er mich tatjächlich, und ich fchidte mich ſchon allen Erafteg 
an, ihn zu ‚retten‘. Bin ich denn ein Halsabichneider? 
Er Ichreibt da etwas von einer Mitgift. . . Aber übrigens, 
heirateft du nun wirklich, Stepan Trophimowitſch? Doc, 
wir reden hier und reden und ich langmweiie Sie beſtimmt 
nur ... und Gie, Warwara Petromwna, verurteilen mich 
gewiß ...“ 

„sm Gegenteil, im Gegenteil, ich fehe nur, daß Eie 
die Geduld verloren haben und dazu hatten Sie ja auch 
Grund genug“, ſagte Warwara Petrowna mit einem 
böien Lächeln. 

@ле hatte die ganze Zeit mit boshafter Genugtuung 
Piotr Stenanomitich zugehört, der augenfcheinlich eine 
beftimmte Rolle jpielte, (Was für eare, und wozu? — das 


294 


mußte ich damals nicht! Uber er fpielte eine Rolle, und 
fpielte пе ungejchidt.) 

„Ganz im Gegenteil,” fuhr Warwara Petromna fort, 
„ich bin Ihnen nur zu dankbar dafür. Ohne Sie hätte 
ich nichts erfahren. So öffne ich jeßt zum erſtenmal feit 
zwanzig Jahren die идей und jehe. Nicolai Wſzewolo— 
dowitjch, Sie erwähnten vorhin, daß Sie adfichtlich be— 
nachrichtigt worden feien. Hat Stepan Trophimowitſch 
auch Shren in diefer Art und Weije gefchrieben ?" 

„Sch erhielt von ihm allerdings einen ganz unfchuldigen 
und... und ſehr ... edelmütigen Brief..." 

„Sie ftoden, Sie juhen nach Worten — fchon gut! 
Stepan Trophimowitſch, Sie haben mir einen großen 
Gefallen zu erweiſen,“ wandte fie fich plößlich mit blitzen— 
den Augen an diejen. „Haben Sie die Güte, uns fofort 
zu verlafjen und die Schwelle meines Haufes nie mehr zu 
überschreiten. 

Was mich an der ganzen Szene am meiften wunderte, 
das war die erftaunliche Würde, mit der Stepan Trophis 
mowitſch fich hielt. Während der ganzen „Überführung” 
durch feinen Sohn und felbft unter dem „Fluch Warwara 
Petrownas machte er nicht ein einziges Mal Miene, fich 
auch nur zu verteidigen. Woher nahm er fo viel Charafter: 
feftigfeit? Ich habe jpäter erfahren, dag ihn feines Фор: 
ned DBetragen gleich beim erften Wiederſehen tief und 
fchmerzlich gefränft hatte. Das aber war fchon ein ehr: 
liches, ein echtes Leid. Und hinzu kam dann noch der 
andere Schmerz: die quälende Selbfterfenntnis, daß er 
fich niedrig benommen hatte. Das alles geftand er mir 
Ipäter jelbft mit jeiner ganzen Offenherzigfeit. Nun, und 
ein wirkliches Leid und ein echter Schmerz fünnen doch 


295 


joger einen außergewöhnlich leichtfinnigen. und oberfläch- 
lichen Menfchen ernft und ftandhaft machen, wenn auch 
nur auf Бизе Zeit. За, wirkliches Leid hat felbit aus 
Dummkoͤpfen Kluge gemacht, wenn auch freilich gleiche 
falls nur auf Визе Zeitz das ift Schon fo eine Eigenjchaft 
des Leides. Wenn dem aber fo ИЕ, was konnte dann nicht 
alles mit einem Menfchen wie Stepan Trophimowitſch 
geichehen? Da konnte ja echter Schmerz eine vollkom— 
mene Ummwandlung bewirken! — Freilich auch hier nur 
auf einige Zeit... 

Er verbeugte fich würdevoll vor Warwara Petromna, 
und ohne ein Wort zu jagen (allerdings blieb ihm ja aud) 
nichts anderes übrig), wollte er fchon hinausgehen, als 
er es doch nicht über fich gewann und zu Darja Pam: 
lowna trat. Dieje mochte das ſchon vorausgefühlt haben, 
denn fie ging ihm fofort entgegen und begann, in ihrem 
Schred, fchnell jelbft zu fprechen, als hätte fie ihm nur 
ja zuvorkommen wollen. 

„Sagen Sie nichts, Stepan Trophimomitfch, fagen 
Sie nichts, um Gottes willen,” fie ftredte ihm erregt die 
Hand entgegen, in ihrem Geficht zudte es fchmerzlich. 
„Seien Sie verfichert, daß ich Sie immer hochachten 
werde, Stepan Trophimowitſch, und denken Sie auch 
von mir nicht ſchlecht, Stepan Trophimowitſch, ich ... 
ich werde das immer ſehr, ſehr Ichäßen ... 

Stepan Trophimowitſch verbeugte fich tief vor ihr. 

„Es ИЕ dein freier Wille, Darja Pamwlomna, du weißt, 
daß du in dieſer ganzen Angelegenheit volllommen frei 
handeln kannſt“, fagte plögßlih Warmara Petrowna Бе 
deutfam. 

„Ach! Nun — nun begreife ich alles!" rief da Piotr 


296 











Stepanowitſch aus und ſchlug fich vor die Stirn. „Aber... 
aber in mas für eine Lage hat man mich denn nun дс: 
bracht? Oh, verzeihen Sie mir, Darja Pawlowna, ver: 
zeihen Ste, wenn Sie Fönnen!... Du aber,” wandte er 
fich an feinen Vater, „du haft mich ja in eine fchöne Lage 
gebracht !" 

„Pierre, du fönnteft dich auch anders ausdrüden, wenn 
du mit mir ſprichſt“, fagte Stepan Trophimowitſch halb: 
laut. 

„Schrei nur nicht fo! Fang nur nicht an zu fchreien, 
ich bitte Dich,“ fiel ihm Pierre, mit den Armen fuchtelnd, 
118 Wort. „Glaub mir, das find alles nur alte Наше 
Nerven und Schreien nußt da gar nichts. Sag mir lieber, 
warum Du mich dann nicht gleich Darauf vorbereitet halt? 
Konnteft dir doch denken, daß ich hier nach meiner An— 
funft fogleich auch darauf zu fprechen fommen würde!” 

Stepan Trophimowitſch blidte ihm offen in die Yugen. 

„Pierre, du, der du fo viel von dem weißt, was hier 
vorgeht, jollteft du wirklich von diefer Sache nichts, nicht 
das Geringfte gewußt, gehört haben?” 

„W—a—as? Na, hör mal... aber das ИЕ doch! Wir 
find alfo nicht nur ein altes Kind, fondern auch noch ein 
böfes dezu?. .. Haben Sie gehört, Warmara Petrowna?“ 

Es entitand eine Unruhe im Zimmer. Da follte aber 
plöglich etwas gefchehen, was niemand auch nur hätte 
für möglich halten oder gar vorausjehen fünnen. 


VIII 
Zunaͤchſt muß ich noch erwaͤhnen, daß in den letzten 
zwei bis drei Minuten Liſaweta Nicolajewna von einer 
neuen Unruhe ergriffen worden war. Sie hatte ſchnell 


297 


ihrer Mutter etwas zugeflüftert, und dann Mamrifij 
Nicolajewitſch, der fich zu ihr niederbeugte. Ihr Geficht 
war erregt, doch zugleich drüdte es Entſchloſſenheit aus. 
Dffenbar hatte fie es jeßt ſehr eilig, fortzulommen, denn 
als ати] Nicolajewitich die Mama vorfichtig aus dem 
Lehnftuhle zu heben begann, wollte fie jchon helfen 
— aber fie bezwang fich noch. 

Doh das Schidfal fchien es nicht zu wollen, daß fie 
oder fonft jemand das Zimmer verließ, ohne das Ende 
des Ganzen mit angejehen zu haben. 

Schatoff, den alle in feiner Ede völlig vergeſſen hatten, 
und der, иле её fchien, felbjt nicht recht wußte, warum 
er da ſaß und noch nicht fortgegangen war — erhob ſich 
plößlic von feinem Stuhl und ging mit nicht jchnellen, 
doch feiten Schritten Durch das ganze Zimmer auf Nicolai 
Stamrogin zu, ihm gerade ins Geſicht ſehend. 

Stamrogin war der erfte, der fofort bemerfte, daß 
Schatoff ſich erhob, und er lächelte faum — вит шегЁ 
lich; doch als Schatoff unmittelbar vor ihm ftand, hörte 
er auf, zu lächeln. 

Sekt erft, als Schatoff ſchweigend vor ihm ftehen blieb 
und feinen Blid von ihm abwandte, bemerften auch die 
anderen die beiden. 

Alle verftummten — Piotr Stepanowitſch ganz zulekt. 
На und die Mama blieben mitten im Zimmer fteden. 

So vergingen ungefähr fünf Sefunden. 

Der Ausdrud dreifter Befremdung in Nicolai Stawro- 
gins Gejicht verwandelte fich in Zorn, er runzelte die 
Brauen und — plößlih ... 

Und plöglich holte Schatoff mit feinem langen, ſchweren 
Yrm weit aus und ſchlug ihn ins Geſicht. 


298 





Stamrogin wanfte, 

Schatoff hatte ganz eigentuͤmlich gefchlagen, nicht fo, 
wie man Jonft Obrfeigen zu geben pflegt, nicht mit der 
flachen Hand, jondern mit der feiten, geballten Заий — 
die aber war bei ihm groß, ſchwer, knochig, mit rötlichem 
Flaum und Sommerjprojjen bededt. Wenn der Schlag 
das Najenbein getroffen hätte, jo würde er es unfehlbar 
zerichlagen haben, doch er traf mehr die Wange, den 
linfen Mundwinfel und den Oberliefer, aus dem denn 
auch fofort Blut zu tropfen begann. 

Sch glaube, wir fchrien alle auf. Oder vielleicht war 
es auch nur Warwara Petromna, die aufjchrie. Sch weiß 
es nicht mehr, jedenfalls war es gleich darauf totenſtill. 
Übrigens dauerte der ganze Zwifchenfall nicht länger als 
zehn Sekunden. 4 

Trotzdem geſchah in diejen zehn Sekunden unendlich 
viel. 

Nicolai Stamwrogin gehörte zu den Naturen, die Этой 
überhaupt nicht fennen. Im Duell ftand er, während fein 
Gegner auf ihn zielte, mit der größten Kaltblütigfeit da. 
Kam er zum Schuß, Jo zieite und tötete er mit einer Ruhe, 
die fat tieriſch war. Wenn ihn jemandins Öefichtgefchlagen 
Бане, jo würde er ihn gar nicht erft lange gefordert, ſon— 
dern ihn einfach auf der Stelle totgefchlagen haben: ge: 
trade zu diefen Menſchen gehörte er, die mit vollem Be: 
wußtjein töten, und nicht etwa in einem Zuftande, in 
dem der Menjch außer 14 und unzurechnungsfähig iſt. 
За, ich glaube fogar, folhe Wutausbrüche, die einen 
blenden und benommen machen, fannte er überhaupt 
nicht. Selbft bei dem unermeßlichen Zorn, der ſich feiner 
bisweilen bemächtigte, behielt er 14 immer noch volle 


299 


fommen in der Gewalt, und war fich deſſen bemufßt, 
daß ein Totſchlag, den er nicht im Duell beging, ihn zum 
fibirifchen Sträfling machen würde; und dennoch würde 
er den DBeleidiger auf der Stelle erjchlagen haben, und 
zwar ohne auch nur einen Augenblick davor zurüd- 
zuichreden. 

Ich Бабе mich immer bemüht, Nicolai Stamwrogin 
richtig zu verftehen. Dank mander glüdlichen Umftände 
weiß ich vieles über ihn. Nahe liegt mir vor allem, ihn 
mit gemwiflen großen ruffifhen Männern zu vergleichen, 
von denen fich bei uns noch einige legendäre Erinne- 
rungen erhalten haben. 

So erzählt man zum Beifpiel von dem Defabriften *) 
L—n, er habe immer mit Abficht die Gefahr gejucht, 
babe ИФ ап ihr beraufcht und fie zu feinem Lebens— 
bedürfnis gemacht: als junger Menfch habe er fich fait 
grundlos herumduelliert, in Sibirien fei er, nur mit 
einem Mefjer bewaffnet, auf die Bärenjagd gegangen 
und habe in den Wäldern mit entiprungenen Verbre— 
chern, die, nebenbei bemerkt, noch gefährlicher ald Bären 
find, zufammenzutreffen gejucht. Zweifellos kannte ein 
Mann wie diefer ®—п ganz genau das Gefühl der Angſt: 
aber gerade diefes Gefühl in fich zu überwinden — das 
war es, was Ши reizte. Übrigens hatte diefer felbe L—n о 
in der letzten Zeit vor feiner Verſchickung nach Sibirien 
eine furchtbare Hungerzeit durchgemacht und fich dur 
die ſchwerſte Arbeit fein Brot verdient, nur тей er fich 


*) Teilnehmer an der Verſchwörung und dem Aafftande gegen 
die Yutokratie im Dezember 1825 — meift Gardeoffiziere und die 
geiftige Elite Rußlands. Die Führer wurden gehenkt, die übrigen 
auf Lebenszeit пой Sibirienverbannt. (Siehe Anhang). E.K.R. 


300 





den Wünfchen feines reichen Vaters nicht fügen mollte. 
Alſo Hatte er nicht nur im Kampf mit Bären und im 
Duell feine Standhaftigfeit und Willensftärle zu er: 
proben und zu beweiſen gejucht. 

Doch feitdem find viele Jahre vergangen, und die 
nervöfe, zerquälte und gejpaltene Natur der Menfchen 
unjerer Zeit läßt das Bedürfnis nach folchen unmittel- 
baren und ungeteilten Empfindungen, wie fie damals 


von manchen in ihrem Lebensdrang unruhigen Männern 
der guten alten Zeit fo ſehr gejucht wurden, überhaupt 


nicht mehr auflommen. Stamwrogin hätte auf dieſen 
®—и vielleicht Hochmütig herabgeſehen, hätte ihn einen 
Feigling genannt, der fich immer felbft ermutigen пище, 
ein Hähnchen, oder fo абийф — nur würde er fich nie 
laut darüber geäußert haben. Auch er hätte im Duell 
den Gegner erſchoſſen wie er es ja tatjächlich getan, 
auch er hätte mit Bären gefämpft, und auch dem Räuber 
im Walde wäre er ebenjo ficher und furchtlos entgegen: 
getreten: nur hätte er alles das ohne das geringfte 
Empfinden eines Genufjes, jondern einfach aus uns 
angenehmer Notmwendigfeit getan — jchlaff, faul, че 
leicht jogar gelangweilt. Das Böfe in ihm war felbft: 
redend gewachſen, im Vergleich zu En, ja ſelbſt zu 
Lermontoff. In ihm war es vielleicht noch größer als in 
diefen beiden zufammen, aber diejes Böje war, wie 
gejagt, Falt und ruhig, war, wenn ich mich jo aus— 
drüden darf, vernünftig — und fomit das Widerlichite, 
das Furchtbarfte, Das es überhaupt geben Tann. 

Alſo noch einmal: ich Мей ihn damals und Halte ihn 
auch heute noch, nachdem alles ſchon vorüber ift, für 
gerade jo einen Menfchen, der, wenn er einen Schlag _ 


301 


ins Gelicht erhält, ven Beleidiger jofort und ohne Zögern 
totjchlägt. 

Und doch gefchah in мест Falle etwas ganz anderes — 
etwas Raͤtſelhaftes. 

Kaum ftand Nicolai Stamrogin wieder ЕЙ und 
aufrecht, nachdem er unter der Wucht des Schlages 
Ichmählich gewanft hatte, kaum war der gemeine, gleich: 
{ат nafje Schall des Schlages verhallt — da padte er 
auch ſchon Schatoff mit beiden Händen feſt an den Schul- 
tern. Über fofort, ja |фоп im felben Augenblid, riß er 
die Hände wieder zurüd und Нение fie auf dem Rüden. 
Er jchwieg. Er ſah nur Schatoff an. Und fein Geficht 
wurde fahl. Doch jonderber: fein Blid erlofch gleichjam. 
Uber ſchon nach zehn Gefunden blidten feine Augen 
wieder falt und — ich bin überzeugt, daß ich mich nicht 
getäufcht habe — vollfommen ruhig: nur Ме war er 
noch wie ein Hemd. Freilich weiß ich nicht, was in feinem 
Innern vorging, ich ſah nur das Äußere. 

Sch glaube, ein Menſch, der $. 3. ein rotglühendes 
Eifenftüd ergreift und es in der Hand preßt, um jeine 
Standhaftigfeit zu erproben, und der dann zehn Фе: 
funden lang einen unerträglichen Schmerz aushält und 
damit endet, daß er ihn bezwingt — ich glaube, ein jolcher 
Menfch würde ähnliches empfinden wie Nicolai Stamrogin 
in diefen zehn Sefunden. 

Der erfte von beiden, der die Augen niederfchlug, war 
Schatoff, und wie man fah, weil er dazu gezwungen 
war. Darauf wandte er fich langſam um und эетНев 
das Zimmer, doch nicht mehr mit demjelben feiten 
Schritt, mit dem er vorhin auf Stamrogin zugejchritten 
war. Er ging leife und ganz bejonders ungelenf hinaus, 


302 


mit gehobenen Schultern, gleichſam budlig und mit ges 
jenftem Kopf, als dächte er fchweren Gedanken nach. 
Ich glaube, er murmelte irgend etiwas. Bis zur Tür ging 
er vorlichtig, ohne irgendwo anzuftoßen oder etwas um: 
zumwerfen, die Tür felbjt aber öffnete er nur ein wenig, 
lo daß er fich dann beinahe feitwärts wie durch einen 
Spalt durchſchob. Gerade dort an der Tuͤr war fein 
Haarjchopf, der fteif auf dem Kopfmwirbel abftand, ganz 
bejonders bemerkbar. 

Saum war die Türe hinter ihm gefchloffen, als noch 
vor allen Ausrufen ein furchtbarer Schrei durch das 
Zimmer gellte. Sch jah, wie Liſaweta Nicolajewna ihre 
Mutter an der Schulter und Mamrifij Nicolajewitich am 
Arm рае, fie zwei- oder dreimal mitriß, als wolle fie 
fo Schnell wie nur möglich weg von Мег, doch plößlich 
ftieß fie den Schrei aus und ftürzte ohnmächtig längelang 
hin. Noch jett glaube ich zu hören, wie ihr Kopf auf den 
Teppich fchlug. 


303 


Sechſtes Kapitel 
Die Nacht 

E vergingen acht Tage. Jetzt, wo alles voruͤber iſt 
und ich die Chronik ſchreibe, wiſſen wir, was hinter 
dem Ganzen ſich verbarg; doch damals wußten wir noch 
nichts, und nur natuͤrlich iſt es, daß uns vieles ſeltſam 
erſchien. Wir, d. h. Stepan Trophimowitſch und ich, 
zogen uns zunaͤchſt vollſtaͤndig zuruͤck und beobachteten 
aus der Ferne, — nicht ohne Schrecken. Nur ich begab 
mich hin und wieder unter Menſchen und brachte meinem 
Freunde verſchiedene Nachrichten, ohne die er es nicht 

aushielt. | 
In der Stadt ſprach man felbftverftändlich über nichts 
anderes als die Ohrfeigengeichichte, Lifas Ohnmachts— 
anfall und all das andere, was an jenem Sonntag Vor: 
mittag gejchehen war. Nur eines war dabei befremdlich: 
durch wen waren diefe Begebniffe {о fchnell und jo genau 
befannt geworden? Eigentlich hatte Doch Feiner von den 
Anweſenden irgendeinen Vorteil davon, wenn er das 
Geſchehene ausplauderte. Dienftboten waren nicht зи: 
gegen gemwejen. ©o blieb Lebädfin: er allein hätte das 
eine oder andere erzählen fönnen, weniger aus Bosheit, 
als einfach deshalb, weil er Geheimniffe nun einmal nicht 


304 





für fich behalten fonnte. Lebaͤdlin aber mar am anderen 
Tage mitfamt feiner Schmwefter fpurlos verschwunden und 
im Silippofffchen Haufe fonnte mir niemand über feinen 
Verbleib Auskunft geben. Schatoff jedoch, bei dem ich 
mich nach Marja Timofejewna erkundigen wollte, hatte 
feine Tür zugefchloffen und verließ in diefer ganzen erften 
Moche Fein einziges Mal fein Zimmer. 34 ging ат 
Dienstag wieder zu ihm und Fopfte an die Tür, und da 
ich, obgleich alles ftill blieb, feft überzeugt war, daß er 
in feinem Zimmer fei, Elopfte ich wieder und wieder. 
Möglich hörte ich, wie er aufiprang, wahrjcheinlich 
von feinem Bett, mit fchnellen Schritten zur Tür kam 
und mit lauter Stimme „Schatoff Ш nicht zu Haufe!" 
rief. Da blieb mir nichts anderes übrig, als fortzus 
gehen. 

Schließlich Tamen Stepan Trophimomitfch und ich auf 
einen Gedanken, der ung zunächft gewagt erjchien, doch 
zu dem wir ung gegenfeitig immer wieder ermutigten, 
nämlich, daß es nur fein Sohn Piotr Stepanomitjch ges 
wejen fein Eonnte, der die ganze Geſchichte in der Stadt 
verbreitet hatte, obwohl er in einem Gefpräch mit feinem 
Dater verfichert hatte, er habe ſchon am Montag früh 
ап allen Eden und Enden von den Vorfällen erzählen 
gehört, aber namentlich Abends im Klub, und fogar dem 
Gouverneur und feiner Frau feien felbft die Нешйеп 
Kleinigkeiten bereits befannt gewejen. DBemerfensmwert 
ift auch noch, daß Liputin, den ich an eben diefem Mon: 
tag abends auf der Straße traf, mir auch Schon alles Vor: 
gefallene faft Wort für Wort und Zug für Zug zu er: 
zählen mußte. | 

Diele Damen, bejonders die der beiten ftädtifchen Фе 


20 Doſtojewski, Die Dimmer. BIT. 305 


jellfchaft, erfundigten fich auch angelegentlich nach der 
rätfelhaften Lahrıen”, wie man Marja Zimofejewna 
allgemein nannte. Und nicht minder intereffierten fie 
fih für den Ohnmachtsanfall Liſaweta Nicolajemnas, 
zumal diefer ja auch ЗиЩа Michailomwna, als Liſas Ver: 
wandte und bejondere Belchüßerin, anging. Und mas 
erzählte man fich nicht alles in den verfchiedenen Kreifen 
der Stadt! Hinzu Fam, daß beide Häufer für alle und 
jeden verfchloffen blieben. Liſaweta Nicolajemwna, hieß 
es alsbald, läge im ſtaͤrkſten Nervenfieber, und dasſelbe 
erzählte man auch von Nicolai Stamrogin, wobei man 
fih dann in den miderlichften ausführlichen Beſchrei— 
bungen feines Zuftandes, über einen angeblich ausge— 
Ichlagenen Zahn und eine gejchwollene Bade, nicht genug 
tun konnte. In verfchwiegenen Winkeln aber glaubte man 
Ichon ganz genau zu mwifjen, daß in der nächften Zeit ein 
Mord ftattfinden werde, ein heimlicher, иле in einer 
korſiſchen Vendetta, denn Stamrogin fei nicht der Mann, 
der eine folche Beleidigung vergäße. Im allgemeinen 
ſah man deutlich, wie der alte Haß gegen Nicolai Staw— 
rogin wieder auflebte, denn felbit ehrwürdige, fonft ganz 
gutmütige Зее wußten nichts Beſſeres zu tun, als ihn 
zu bejchuldigen, allerdings ohne felber recht zu willen, 
was er verbrochen haben follte. 

Dor allem aber erzählte man fich flüfternd, natürlich 
unter dem Siegel der tiefiten Verſchwiegenheit, daß es 
zwifchen Nicolai Stamrogin und Liſa Zufchina in der 
Schmeiz zu einer böjen Gefchichte gelommen fei, und er _ 
ihre Ehre auf dem Gewiſſen habe, und daß fie fpäter 
durch eine Intrigue entzweit worden ſeien. Freilich bes 
obachteten vorfichtigere Leute eine gewiſſe Zurüdhaltung 


306 





folhen Gefchichten gegenüber, aber zuhören taten doch 
alle mit Begierde. 

Uber е8 gab auch noch andere Gerüchte, nur wurden 
йе nicht fo allgemein, fondern nur dann bejprochen, wenn 
man unter jich war. За, eigentlich war es kaum mehr ala 
ein Gemunfel, das ich nur ermwähne, um den Leſer im 
Hinblid auf die fpäteren Ereigniffe zum Yufmerfen zu 
veranlajjen. Es handelte fich dabei um folgendes: manche 
Leute jprachen nämlich, indem fie unmutig die Stirn 
runzelten, von dem Gott ше moher aufgetauchten 
Gerücht, Nicolai Stawrogin fei zu einem ganz beftimme 
ten Zweck in unfer Gouvernement де] worden; 
durch den Grafen Я. Бабе er in Petersburg zu irgend— 
welchen höchiten Spitzen Beziehungen angefnüpft, ja, 
vielleicht fei er fogar in den Staatsdienft getreten und 
jeßt womöglich mit irgendwelchen hochwichtigen Auf: 
trägen hergefandt. Als nun gemwichtige und ernfthafte 
Leute über diejes Gerücht lächelten und vernünftig be: 
merkten, daß ein Menſch, der von Sfandalen lebte und 
bei ung damit begann, daß er fich ungeftraft ohrfeigen 
ließ, einem Staatsdiener nicht gerade ähnlich fähe, da 
wurde ihnen leiſe zugetufchelt, daß er ja gar nicht Sffiziell, 
jondern nur fozufagen Eonfidentiell dieſen Auftrag er: 
halten habe, und in folchem Falle [ет es im Interefje der 
Sache fogar wünfchensmwert, daß der betreffende Ver: 
trauensmann möglichft wenig an einen ©taatsdiener er= 
innere. Diefe Vorhaltungen verfehlten ihre Wirkung 
nicht, denn es war bei ung befannt, daß man die Landes— 
vertretung in unferem Gouvernement dort In der Заир 
ftadt mit einer gewifjen befonderen YAufmerffamfeit im 
Yuge behielt. Doch wie gefagt, diefes Gemunkel dauerte 


20* 307 


nur eine Zeitlang an und verftummte ſogleich, als 
Nicolai Stamrogin wieder perjönlich erſchien. Sm: üb: 
rigen aber muß ich noch erwähnen, daß der Urfprung 
vieler diefer Gerüchte zum Zeil ein paar furze, Doch де: 
hällige Bemerkungen gemwejen waren, Ме der Garde: 
offizier а. D., Rittmeifter Artemij Pawlowitſch Gaganoff, 
ein fehr reicher ©utsbefiger ипете8 Gouvernements 
und Kreiles, Dabei Petersburger Weltmann, im Klub 
hatte fallen laljen, wenn aud in etwas unklaren und 
Ihroffen Worten. Diejer NRittmeifter а. D. war der 
Sohn des verftorbenen Piotr Pawlowitſch Gaganoff, 
jenes felben alten Würdenträgers, den Nicolai Staw— 
rogin vor vier Jahren im Klub auf fo unverzeihliche Weife 
beleidigt hatte. 

Bekannt war auch |фоп geworden, daß Julija Mi— 
chailowna Warwara Petrowna einen Beſuch hatte ma= 
chen wollen, man ihr aber an der Vorfahrt mitgeteilt 
habe, Warwara Petromna Fünne „wegen Krankheit“ 
leider nicht empfangen; ferner, daß ЗиЩа Michailomna 
zwei Tage darauf ihren Diener zu Warmara Petrowna 
geſchickt Бане, um fich nach deren Befinden zu erfundigen; 
und ſchließlich hatte fie fogar angefangen, Warwara 
Petromna perjönlich zu „verteidigen”, wenn auch nur 
in höherem Sinne, 5. Б. in einer ganz allgemeinen Weife. 
Alle anfänglichen Bemerfungen über den Vorfall an 
jenem Sonntag hörte fie falt und ftreng an, fo daß man 
Ichon ſehr bald in ihrer Gegenwart nicht mehr davon zu 
Iprechen wagte. Zugleich verbreitete fich dadurch die 
Überzeugung, Julija Michailowna habe nicht nur mie 
die anderen einzelne ©erüchte gehört, fondern wiſſe 
fogar alle leiten Einzelheiten, und zwar wie eine „Mits 


308 


beteiligte”. Sch bemerfe bei diefer Gelegenheit, daß es 
Julija Michailowna zum Teil fchon gelungen war, jenen 
höheren Einfluß zu erringen, nach dem fie jo augen: 
Iheinlich ftrebte. Ein Zeil der Gefellfchaft Sprach ihr 
bereits praftifchen Verftand zu und viel Takt — aber 
davon Später! Sedenfalld war es nicht zum mwenigften 
ihre Proteftion, die den fchnellen Aufftieg Pjotr Ste— 
panowitſchs in unferer Gefellichaft erklärte — [сте ges 
jellfehaftlichen Erfolge, die damals am meiften feinen 
Dater Stepan Trophimowitſch in Erftaunen jeßten. 
Piotr Stepanomwitich wurde faft im Nu mit der ganzen 
Stadt bekannt. Um Sonntag war er angefommen, und 
ſchon am Dienstag fah ich ihn mit dem ftolgen, hoch- 
mütigen, jonft geradezu unnahbaren Artemij Pawlowitſch 
Gaganoff, in freundfchaftlihem Gefpräch begriffen, in 
einer Equipage vorüberfahren. Sm Haufe des Gou— 
verneurs wurde Piotr Stepanomitjch gleichfalls vorzuͤg— 
lih aufgenommen, fo daß er dort jchon nach wenigen 
Tagen die Nolle des gehätichelten jungen Mannes fpielte 
und faft täglich bei ihnen ſpeiſte. Die Bekannt: 
ichaft Julija Michailownas hatte er allerdings fchon in 
der Schweiz gemacht, aber nichtsdeftomeniger war fein 
jchneller Erfolg im Haufe Seiner Erzellenz zum питье: 
jten etwas fonderbar. Hatte es denn nicht von ihm ge: 
heißen, er fei ein Revolutionär? Hatte er ИФ nicht an 
allen möglichen ausländifchen DVeröffentlihungen und 
Kongrejjen beteiligt? „Aus alten Zeitungen kann ich 
Ihnen das fogar ſchwarz auf weiß nachweifen!" ſagte 
einmal Aljofcha Telaͤtnikoff wütend zu mir, er, der Arme, 
der im Haufe des alten Gouverneurs auch einmal der 
gehätichelte Junge geweſen war und nun als abgejekter 


309 


Deamter fein Leben friftete. ЗаНафе mar eines: der 


ehemalige Nevolutionär trat in Rußland ohne die де 


tingfte Behelligung auf — alſo waren alle Gerüchte viel- 
leicht völlig unbegründet geweſen? Liputin flüfterte mir 
einmal zu, Piotr Stepanomwitjch habe 14$ die Begnadi- 
gung durch die Angabe anderer Namen erfauft und ftehe 
jeitvem in Beziehung zu hoben Stellen. Sch teilte мае 
gehäflige Außerung Liputins Stepan Zrophimomitich 
mit, der darob fehr nachdenklich wurde. Später ftellte 
её fich heraus, daß Piotr Stepanomitich mit jehr guten 
Empfehlungen zu ung gelommen mar: jo 3. B. hatte er 
Julija Michailowna von der Фант einer der erften 
Perfönlichkeiten Petersburgs einen langen Brief über: 
bracht, in dem unter anderem erwähnt mar, daß auch 
Graf K. Piotr Stepanomitjch durch Nicolai Stamrogin 
fennen gelernt und ihn einen „interefjanten jungen 
Mann, troß der früheren Verirrungen“, genannt habe. 
Julija Michailowna ſchaͤtzte ihre fpärlichen, jo mühevoll 
aufrecht erhaltenen Beziehungen zur „hohen Geſell— 
ſchaft“ bis zur Unglaublichkeit, und fo hatte пе ſich denn 
über den Brief jener hohen, alten Dame ungemein ge= 


Sogar ihren Mann ftellte fie zu Pjotr Stepanowitſch in 
faft familiäre Beziehung, jo daß Herr von Lembke fich 


ſchon beflagte — doch davon gleichfalls fpäter! Be— 


merfen möchte ich nur noch, daß felbft Karmafinoff, der 


„große Schriftſteller“, ſich Außerft wohlwollend zu 
Piotr Stepanowitſch verhielt und ihn ſofort zu ſich ein⸗ 


lud — eine Eilfertigfeit dieſes eingebildeten Menjchen, 
die Stepan Trophimowitſch noch fchmerzhafter als alles 
andere verlegte. Sch erklärte fie mir allerdings anders, 


310 


| 


freut. Зловоет gab es Мег noch etwas Unerklaͤrliches. 





nämlich: daß Karmafinoff durch diefen „Nihiliſten“, für 
den er Piotr Stepanowitich zweifellos hielt, mit der 
fortfchrittlihen Jugend in Fühlung treten wollte. Der 
„große Schriftfteller" zitterte geradezu vor der Revo— 
lutionsbewegung der Studentenfreife, und da er fich 
in feiner Unkenntnis der Sache einbildete, in ihren Hänz 
den liege der Schlüffel zur Zufunft Nußlands, fo wollte 
er, nachdem er es erft mit den Alten gehalten hatte, e8 
auch mit den Jungen nicht verderben, und [ие ihnen, 
hauptfächlich deshalb, weil fie ihrerfeits für ihn nur Miß— 
achtung hatten, in jeder nur möglichen, und wenn auch 
für Ши erniedrigenden Зее zu fchmeicheln. 


II 

Piotr Stepanowitſch war übrigens nur zweimal zu 
feinem Vater gefommen, doch zu meinem Bedauern ſtets 
in meiner Abweſenheit. Das erfte Mal hatte er ihn am 
Mittwoch bejucht, а{о ganze vier Tage nach feinem Ein 
treffen, und auch dann nur in Gefchäften. 

Die Abrechnung wegen des Gutes war fozufagen im 
еп abgetan worden. Warwara Petromna hatte ет: 
fach alles auf fich genommen und die ganze Summe für 
das Guͤtchen, fünfzehntaufend Rubel, Piotr Stepano— 
witſch ausgezahlt. Stepan Trophimowitſch wurde ей 
benachrichtigt, nachdem alles fchon abgefchloffen mar. 
Ihr Kammerdiener Alexei Jegorowitſch überbrachte ihm 
irgendein Schriftftüd, dag er dann ftumm und würde: 
voll unterzeichnete. За, eines möchte ich bei der Gelegen— 
Бей noch ausdrüdlich bemerken: unfer „Alter“ bemwahrte 
in diefen Tagen eine Haltung, wie nie zuvor, war 
würdevoll ſchweigſam, ſchrieb aber tatfächlich nicht einen 


311 


einzigen Brief an Warwara Petrowna, was ich früher 
einfach nicht für möalich gehalten hätte, fo daß ich 
unferen früheren Stepan Trophimowitſch kaum wieder: 
erfannte, und vor allem war er ganz ruhig. Diefe Rube 
hatte er offenbar plößlich in einer beftimmten großen 
Зоее gefunden, und nun |аВ er da und wartete auf 
irgend etwas. Ganz zuerft freilich, gleih am Montag 
früh, da war er НапЁ — wenn 14 auch bloß feine üb: 
liche Cholerine einfteilte, Erzählte ich ihm von dem, was 
man in der Stadt |ртаф, fo hörte er aufmerkſam zu. 
Wollte ich dann aber auf den Kern der Sache übergehen, 
jo winkte er mir ſofort ab. Die beiden Зеифе feines 
Sohnes hatten ihn felbftverftändlich jehr erregt, aber 
nicht erjchüttert oder wanfend gemacht. Wohl legte er 
jich nachher jedesmal, mit einer Eſſigkompreſſe um den 
Kopf, auf den Diwan: aber im „höheren Sinne‘ blieb 
er, wie gejagt, Doch ruhig. 

Übrigens fam es zuweilen doch vor, daß er mir auch 
nicht abwinfte, wenn ich mit meinen Erzählungen allzu 
тебе 118 einzelne gehen wollte. Und zumeilen jchien es 
mir, als ob ihn feine geheimnisvolle Entſchloſſenheit im 
Stiche Tiefe und er gegen neue ftürmifch andrängende 
Ideen innerlich zu kaͤmpfen hätte, 

Das дефаб zwar nur in Yugenbliden, aber ich er: 
wähne fie. 34 ahnte wohl, daß ihn dann der Wunſch 
anmwandelte, aus jeiner Einjamfeit hervorzutreten, jich 
wieder zu zeigen und einen leften Kampf zu wagen, 

„Ob, cher, wie ich fie aufs Haupt jchlagen würde!” 
rang. е8 14$ am Donnerstag abend aus ihm hervor, nach 
Petruſchas zweiten Bejuch, als Stepan Trophimowitſch 
wieder mit einer Ejjiglomprejje auf dem Diwan lag. 


312 


Dis zu diefem Augenblid hatte er mit mir noch nicht ein 
einziges Wort gejprochen. 

ner» „Fils‘, ‚$ cheri“ und fo weiter ... ich gebe ja 
zu, рав diefe Yusdrüde Unfinn find, aus dem Wortſchatz 
der Köchinnen ftammen, meinetwegen, ich gebe es felbft 
zu. Sch habe ihn nicht genährt noch gelleidet, ich habe 
ihn gleich als Säugling aus Berlin per Poft паф ив: 
land gejchidt. Sch gebe das, wie gejagt, ja volllommen 
зи... Du haft mich nicht genährt, nicht gefleidet, ſon— 
dern per Poft fortgeſchickt, jagt er, ‚und hier haft du mich 
obendrein noch beftohlen.‘ Uber, Unjeliger, rufe ich ihm 
zu, für wen hat denn mein Herz mein ganzes Leben lang 
geblutet, wenn ich dich auch damals per Poft fortgefchidt 
habe!? П rit. Uber ich gebe ja zu, ich gebe ja zu... wenn 
auch per Poſt —“ ſchloß er, wie im Fieber phantajierend. 

„Passons,“ begann er dann nach fünf Minuten wies 
der. „sch kann Zurgenjeff nicht verftehen. Sein Bafaroff *) 
iſt eine fiktive Perjönlichleit, die überhaupt nicht eriftiert. 
Ich war ja ſelbſt mit unter den erften, die jie als unmög: 
lich zurüdwiefen. Dieſer Bafaroff ift gemiffermaßen ein 
verjchmommenes Gemifch von Nosdreff **) und Byron, 


*) Im Noman „Väter und Söhne” — der erfie Verfuch einer 
Charakterifierung des „Nihiliſten“: von der Zenfur fehr entflellt, da 
fie alle gefohilderten guten Eigenfhaften Baſaroffs ſtrich. E.K.R. 
**) Der Typ eines Gutsbefißers in Gogols Roman „Die toten 
Seelen”: „Ein durchtriebener leichtfinniger Kerl, Schwäsßer, Lügner, 
unehrlicher Spieler . . . der fehnell mit jedem befannt wird und, 
bevor man ſich's verfieht, einen Вий... Er erzählte lügenhafte 
Anekdötchen, brachte Zwietracht zwifchen Verlobte. Er war 
überhaupt fehr vielfeitig und ftets zu allem bereit. Was er tat, 
gefchah aber nicht aus Gewinnfucht, fondern infolge einer eigentüm: 
lichen Sprungbaftigfeit und Unruhe des Charakter.“ Е. К. К. 

313 


Ош, c’est le mot, — Nosöreff und Byron. Betrachten 
Sie fie einmal aufmerkſam: fie ſchlagen Purzelbäume 
und quiefen vor Freude wie die jungen Hunde im 
Sonnenſchein ... fie find glüdlich, fie find Sieger! Doch 
was Byron! Laflen wir den Мег aus dem Spiel... 
Und zudem — иле viel Alltag! Welch eine föchinnenhafte 
Reizbarkeit der Eigenliebe! Welch ein erbärmliches Dür: 
ften nach faire du bruit autour de son nom, ohne zu 
bemerken, daß son nom... Oh, Karikaturen! — Xber 
erlaube, rufe ich ihm zu, willſt du denn wirklich dich jelbft, 
jo wie du bift, als Erſatz für Ehriftus vorſchlagen? П rit. 
Il rit beaucoup. П rit trop. Er bat jo ein fonderbares 
Lächeln. Seine Mutter Hatte nicht folh ein Lächeln. 
Il rit toujours.“ 

Mieder trat Schweigen ein. 

„Ste find jchlau! Am Sonntag hatten fie fich ver: 
abredet ...“ plaßte er plößlich heraus. 

„Zweifellos,“ jagte ich fchnell und ſpitzte die Ohren, 
„und dazu таг die ganze Komödie noch mit weißem 
Faden zularımengenäht und jo ungejchidt vorgefpielt !" 

„Davon rede ich nicht. Aber willen Sie auch, daß das 
Ganze fogar abfichtlih mit weißem Faden zufammen: 
genäht war? Damit es die merften, die es merken follten? 
Derftehen Sie?" 

„Kein, ich verftehe nicht —“ 

‚„Гапё mieux. Passons. Ich bin heute etwas ии: 
tiert." 

„sa, aber woruͤber haben Sie Йф denn mit ihm ges 
Пичет, Stepan Trophimowitſch?“ 

„Je voulais convertir. @е lachen панийф. Cette 
pauvre Zantchen, elle entendra de belles choses! Oh, 


314 





mein Freund, werden Sie es mir glauben, daß ich mich 
vorhin ganz als Patriot fühlte! Übrigens habe ich mich 
immer als Ruſſe empfunden ... Und ein echter Ruſſe 
fann auch gar nicht anders fein, als wir beide find. Пуа 
la dedans quelque chose d’aveugle et de louche.“ 

„Unbedingt“, verſetzte ich. 

„Mein Freund, die wirkliche Wahrheit iſt immer ип: 
mwahrfcheinlich, wiljen Sie das auh? Um die Wahrheit 
wahrjcheinlich zu machen, muß man unbedingt etwas 
Lüge hinzumiſchen. Und fo haben e8 ме Menjchen denn 
auch ftets gehalten. Vielleicht ЦЕ hierbei etwas, was wir 
nicht verftehen koͤnnen. Was meinen Sie, Ш hier nicht 
etwas, was wir nicht verftehen, in dieſem fiegesgemillen 
Gekreiſch? Sch würde wünfchen, daß es jo wäre. Sch 
würde es wünfchen ...“ 

Sch Ichwieg. Und auch er |Филед recht lange. 

„Man fagt: ‚franzöfiicher Verſtand!“ ...“ begann er 
plößlih von neuem und faft wie im Fieber. „Aber das 
И eine Lüge. So ift es bei ung fchon immer gewelen. 
Wozu den franzöfiichen Verftand verleumden? Hier ift 
es einfach ruſſiſche Faulheit, unſere Kraftlofigfeit, ищете 
erniedrigende Unfähigfeit, eine Зее hervorzubringen, 
unjere mwiderliche Parajitenrolle unter den Völkern. Is 
sont tout simplement des paresseux, — aber nicht 
‚Franzöfifcher Verftand‘! Die Rufen müßten zum Wohle 
der übrigen Menſchheit ganz einfach vertilgt werden ... 
wie {фарйфе Parafiten! Wir, in unjerer Jugend, wir 
haben nach etwas ganz, ganz anderem geftrebt. Seht 
verftehe ich nichts mehr, ich Бабе ganz einfach aufgehört, 
zu verftehen! За, jiehlt du denn nicht ein, rief ich ihm zu, 
jiehft du denn nicht ein, daß bei euch die Guillotine nur 


315 


deshalb auf dem erften Plan fteht, weil Kopfabſchneiden 
viel, viel leichter И, alg eine Зее haben? Vous &tes 
des paresseux! Votre drapeau est une guenille, une 
impuissance! Dieje Wagen, oder mie fie da ... ‚das 
Rollen der Wagen, die Brot der Menfjchheit bringen‘ ... 
nüßlicher als die Sirtinifsche Madonna, oder wie fieda... 
une betise dans ce genre. Xber ſiehſt du denn nicht ein, 
rief ich ihm zu, fiehft du denn nicht ein, daß ein Menſch 
außer dem Glüd genau ebenfofehr und genau in dem: 
jelben Maße das Unglüd nötig hat? П п! — ‚Du reift 
Мег Wiße‘, fagte er mir, ‚und ... ſchonſt Dabei deine 
Knochen (er drüdte fich gemeiner aus) auf einem Diwan, 
der mit Samt bezogen Ц"... Und vergeflen Sie nicht, 
daß er mich dabei duzt, den Vater, als Sohn.*) Nun, 
ich wollte ja nicht fagen, wenn mwir beide einerlei Meinung 
wären ... aber jo, wenn wir uns nun zanken?“ 

Mir ſchwiegen wieder. 

„Cher,“ fagte er plößlich, fich fchnell erhebend, „willen 
Sie auch, daß das unbedingt mit irgend etwas enden 
muß?“ 

„Run, freilich", fagte ich. 

„Vous ne comprenez pas. Раззопз. Aber ... ge: 
mwöhnlich endet es im Leben mit nichts, hier jedoch wird 
es ein Ende geben, unbedingt, unbedingt!" 

Er ftand auf und ging in größter Aufregung Бит und 
her — bis er fich dann fchließlich wieder Fraftlos J den 
Diwan niederſinken ließ. 


*) Die altruſſiſche Sitte, nach der Kinder ihre Eltern nicht duzen 
durften, beſteht auch heute noch in allen guten ruſſiſchen Familien, 
waͤhrend das „Du“ nur in herzlicher, unformeller Unterhaltung 
uͤblich iſt. E. WR, 


316 





Am Freitag morgen fuhr Piotr Stepanowitſch irgend: 
wohin fort in die Umgegend, und erjchien erft am Mon: 
tag wieder bei uns. 

Bon diefer Fahrt erfuhr ich durch Liputin: und eben 
falls war es Liputin, der mir erzählte, daß die beiden 
Lebaͤdkins auf der anderen Flußſeite in der Sabrifvorftadt 
wohnten. „Sch jelbft habe пе hinuͤbergeſchafft“, fügte er 
hinzu, brach aber jofort ab und teilte mir nur noch mit, 
daß Liſaweta Nicolajewna fich mit Mawrikij Nicolaje: 
witſch verlobt Бабе — offiziell Бабе man es zwar noch 
nicht befanntgegeben, aber nichtsdeftomweniger fei е8 
Tatſache. 

Liſaweta Nicolajewna ſah ich uͤbrigens am naͤchſten 
Morgen, als ſie, zum erſtenmal nach ihrer Krankheit, mit 
Mawrikij Nicolajewitſch ausritt. Sie erblickte mich, ihre 
Augen blitzten auf und ſie nickte mir lachend und ſehr 
freundſchaftlich zu. 

Ich erzaͤhlte natuͤrlich alles Stepan Trophimowitſch, 
doch nur der Nachricht uͤber die Lebaͤdkins ſchenkte er 
einige Aufmerkſamkeit. — — — — — — — — — 


Jetzt aber, nachdem ich das Wichtigſte aus dieſen acht 
Tagen unſerer raͤtſelvollen Ungewißheit erzaͤhlt habe, 
will ich die weiteren Geſchehniſſe anders wiedergeben: 
mit Kenntnis des ganzen Sachverhalts, d. h. ſo, wie 
ſich ſchließlich alles, als es an den Tag kam, in ſeinen 
Zuſammenhaͤngen erklaͤrte. Ich beginne mit dem achten 
Tage nach jenem Sonntag, alſo mit dem Montagabend — 
denn im Grunde war es dieſer Abend, an dem die „neue 
Geſchichte“ begann. 


317 


III 

68 таг fieben Uhr abends. Nicolai Stamrogin faß 
allein in feinem Arbeitszimmer, das er fchon früher von 
allen anderen Räumen des Haufes zu feinem Kabinett 
erwählt Hatte. Es mar ein hoher Raum mit fchönen 
Teppichen und etwas fchweren, altertümlichen Möbeln. 

Er faß in der Ede des Diwans, wie zum Ausgehen ans 
gefleidet, doch anfcheinend hatte er nicht die Abficht, auf: 
zubrechen und irgendwohin zu gehen. Auf dem Tiſch vor 
ihm ftand eine Lampe mit einem Lampenſchirm. Die 
Seiten und Eden des großen Raumes blieben dunfel. Sein 
DE war nachdenklich und zufammengefaßt, doch nicht 
ganz ruhig; fein Geſicht ſah müde und ein wenig abge: 
magert aus. Er war tatfächlich Frank, wenn auch nur an 
einer Erfältung, verbunden mit einem gemiljen Ohren: 
reißen; aber das Gerücht von einem ausgefchlagenen 
Zahn war doch übertrieben: der Zahn hatte anfänglich 
nur gewadelt, war jedoch inzmwijchen wieder feſt geworden. 
Auch die von innen verlekte Oberlippe war bereits zu= 
geheilt. Das Zahngefchwür aber, das mit der Erfältung 
zufammenbing, hatte er nur deshalb nicht aufſchneiden 
laffen, um nicht den Arzt empfangen zu шайеп. Doch 
übrigens hatte er nicht nur nicht den Arzt, jondern jelbft 
feine Mutter faum auf ein paar Minuten eintreten laffen 
und auch das höchftens einmal am Tage und nur um die 
Daͤmmerſtunde, wenn es fchon dunfelte und das Licht 
noch nicht brannte. 

Auch Piotr Stepanomitich, der злое bis dreimal +9: 
lich bei Warwara Petromna vorgefprochen hatte, war 
nicht von ihm empfangen worden. Erft jeßt, eben an 
jenem Montag, nachdem Pjotr Stepanomitich am Morgen 


318 





von feiner dreitägigen Neife zurüdgefehrt, ſchon uͤberall 
in der Stadt herumgelaufen war, dann bei Julija Mi: 
chailowna zu Mittag gefpeift hatte und erft gegen Abend 
bei Warwara Petromna erjchien, verfündete fie ihm, die 
ihn bereits ungeduldig erwartete, daß das Verbot auf: 
gehoben ſei und Nicolas wieder empfange. Darauf Бег 
gleitete fie den Saft felbft bis zur Tür des Arbeitszim— 
mers ihres Sohnes, denn fie hatte ſchon längft ein Wieder: 
leben der beiden gewünfcht. Piotr Stepanomitich hatte 
ihr verjprochen, nachher noch zu ihr zu fommen und zu 
berichten, wie er Nicolas fand. Sie НорНе vorfichtig an 
die Tür und wagte fogar, als fie Feine Antwort erhielt, 
den Türflügel drei Finger breit zu öffnen. 

„Nicolas, darf ich Pjotr Stepanowitſch eintreten 
laſſen?“ fragte fie leife und gehalten, während fie fich 
zugleich bemühte, fein Geficht hinter der Lampe zu er: 
fennen. 

„Gemwiß, gewiß darf man, das verfteht fich Doch von 
ſelbſt!“ rief laut und aufgeräumt Piotr Stepanowitich, 
öffnete die Tür mit eigener Hand und trat ein. 

Stamwrogin hatte das Klopfen feiner Mutter überhört 
und nur Die fcheue Frage vernommen, aber noch nicht 
antworten Fünnen, Bor ibm lag in мет Augenblid 
ein Brief, den er gerade erft durchgelefen hatte und über 
den er dann in tiefes Nachdenken verfunfen war. Als 
er nun plößlich den Anruf Piotr Stepanomitichs hörte, 
fuhr er zufammen und fuchte fchnell mit einem Brief— 
beichwerer den Brief zu bededen, was ihm aber nur halb 
gelang, denn eine Ede des DBriefes und [ай Das ganze 
Kuvert waren noch zu ſehen. 

„34 habe abjichtlich [о laut gerufen, um Ihnen Zeit 


319 


zu geben, fich vorzubereiten,” flüfterte Piotr Stepano— 
witjch, der im Nu am Tiſch war und fofort mit aufmerf- 
famem Blid das Kuvert mufterte, mit mwunderlich naiver 
Aufrichtigfeit. 

„— Und haben gewiß noch glüdiich bemerken fönnen, 
име ich vor Ihnen dieſen Brief zu verbergen ſuchte“, fagte 
Stamrogin ruhig, ohne fich von feinem Plaß zu rühren. 

„Einen Brief? Na, Sie mit Ihren Briefen .,. was 
gehn mich Ihre Briefe an, verfeßte der andere. „Aber... 
die Hauptfache, — fuhr er wieder leife fort, indem er fich 
zur Tür wandte, die Warwara Petromna fchon geſchloſſen 
hatte, und wies mit dein Kopf nach diefer Richtung. 

„Sie horcht ше“, bemerkte Stamrogin Falt. 

„ta, ich meinte bloß — und wenn fie auch horchen 
follte! Piotr Stepanomitjch erhob fofort wieder Ме 
Stimme und jeßte fich in einen Seſſel. „Sch habe ja 
Топ nichts dagegen, nur bin ich diesmal gefommen, um 
mit Shnen unter vier Augen zu |ртефеп. Alſo endlich, 
vor allen Dingen, wie fteht es mit der Gefundheit? Sehe 
ſchon, daß es gut fteht, und morgen werden Sie vielleicht 
erjcheinen, wie?” 

„Vielleicht.“ 

„Sie muͤſſen die Leute doch endlich beruhigen und 
ebenſo auch mich!“ begann er ploͤtzlich heftig geſtikulie— 
rend, ſah aber dabei ganz heiter und zufrieden aus. 
„Wenn Sie wuͤßten, mas ich ihnen alles habe vorſchwatzen 
müfjen! Aber übrigens, Sie wiſſen es да." Er lachte auf. 

„les weiß ich nicht. Sch habe nur von meiner Mut: 
ter gehört, daß Sie fich jehr ... gerührt haben.” 

„Das heißt, ich habe ja nichts Beftimmtes —,” wehrte 
Piotr Stepanomitjch fchnell ab, als verteidige er fich gegen 


320 








einen furchtbaren Angriff. „Ich habe nur Schatoffs Frau 
fo ein bifichen unter die Leute gebracht, das heißt, ich 
meine die Gerüchte über Ihre Beziehungen zu ihr т 
Paris, was jenen Vorfall vom Sonntag dann durchaus 
erfiären fünnte ... Sie ärgern ſich doch nicht?" 

„Bin überzeugt, daß Sie fich jehr bemüht haben.” 

„Nun, das allein war es, was ich fürchtete! Aber 
übrigens, was heißt denn das: ‚jehr bemüht‘? — das 
flingt ja ganz wie ein Vorwurf. Doch ich fehe, daß Sie 
die Sache mwenigftens nicht ſchief auffallen: das war 
meine größte Sorge, als ich herkam — Sie würden ſie 
nicht gerade nehmen ...“ 

„Sch will überhaupt nichts gerade nehmen”, fagte 
Stamwrogin mit einer gewiſſen Gereiztheit, doch gleich 
darauf lächelte er ſpoͤttiſch. 

„Ach, ich rede Doch nicht davon, nicht davon, Sie irren 
fich, nicht davon!" rief Piotr Stepanomitich und Риф: 
telte wieder abwehrend und ftreute die Worte wie Erbjen 
hin, jchien aber zugleich jehr erfreut über die Neizbarfeit 
Stamrogins zu fein. „Sch werde Sie doch jekt nicht mit 
ип] етег Фафе ärgern, in der Lage, in der Sie jekt find! 
Sch Юм nur Бег wegen der Affäre am Sonntag, und 
auch das nur zum allerfleinften Zeil, denn, nicht wahr, 
es geht doch nicht jo! Sch bin mit den aufrichtigften бт: 
klaͤrungen gefommen, die für mich notwendig find, nicht 
für Sie — dies mag für Ihre Eigenliebe gefagt fein, aber 
zu gleicher Zeit ift es auch wahr. Ich bin gefommen, um 
von nun an immer aufrichtig zu fein.“ 

„Das heißt jo viel, daß Sie früher unaufrichtig waren?" 

„Das willen Sie doch jelbft ganz genau. Sch habe oft 
Kniffe angewandt ... Sie lächeln; freut mich fehr, denn 


231 Doitoiewsfi, Die Dämonen. 35. Т. 521 


das Lächeln ift für mich ein Vorwand zur Auseinander: 
ſetzung. Ich habe ja abfichtlich das Laͤcheln mit der Heinen 
Prahlerei hervorgelodt, damit Sie fich ſofort wieder 
ärgern: wie wagte ich zu denken, daß ich mit Kniffen Sie 
zu betrügen vermöchte, und zweitens, damit ich Grund 
habe, mich fofort zu erfiären. Sehen Sie, wie aufrichtig 
ich bin. Na, 1461, wäre es Ihnen jetzt recht, mich ап: 
zuhören?” | 

Stawrogins Geſicht, das bis dahin verachtend ruhig und 
beinahe jpöttifch ausgefehen hatte, troß der augenjchein: 
lichen Abſicht feines Gaftes, ihn mit diefen zudringlichen, 
vorbereiteten und bewußt plumpen Naivitäten zu Argern, 
verriet jeßt Doch eine gewiſſe unruhige Neugier. 

„Alſo hören Sie," begann Pjotr Stepanomitich, noch 
lebhafter als vorhin. „Als ich hierher fam, das heißt, 
überhaupt hierher in diefe Stadt, vor zehn Tagen, ba 
entſchloß ich mich natürlich, hier eine Rolle zu fpielen. 
Beſſer freilich, follte man meinen, waͤr's ganz ohne 
Rolle, wie... wie... nun, als intividuelle Perjönlich: 
feit — nicht wahr? Allerdings [апп nichts fchlauer fein, 


ale die Rolle einer individuellen Perfönlichkeit, denn 


die würde mir doch niemand zutrauen. Aber wiſſen 
Sie, zuerft wollte ich ſchon den Rüpel fpielen, weil das 
viel leichter ift. Aber der Rüpel ЦЕ zugleich auch ſchon 
das Äußerfte, und da das Außerfte immer Aufjehen und 
Neugier erregt, fo entfchied ich mich denn endgültig für 
die individuelle Perjönlichkeit. Nun ja, aber wie ift denn 
nun meine individuelle Perfönlichleit? — Doch einfach 
die go/dene Mitte: weder flug поф dumm, mößig be: 
gabt und ein bißchen vom Mond herabgefallen, wie Мет 
die vernünftigen Leute fagen. Nicht wahr = 


322 





„Möglich, daß es auch wahr iſt“, fagte Stawrogin mit 
einem faum merflihen Lächeln. 

„Ah, Sie geben’s zu — freut mich jehr. Sch wußte ja 
im voraug, daß ich Ihre Gedanken treffen würde... Зе: 
unruhigen Sie fich nicht, nicht nötig, gar nicht nötig, ich 
nehme es durchaus nicht übel. Sch Бабе mich auch durch: 
aus nicht in dieſer Weife dargeftellt, um mir von Ihnen 
indirefte Lobſpruͤche herauszuholen, à la ‚Nein, Sie 
jind nicht unbegabt, nein, Sie find Flug‘, oder jo аи: 
ih ... Ab, Sie lächeln wieder! Bin ich von neuem 
hereingefallen? ‚Sie jind Нид’ würden Sie ja gar nicht 
jagen. Nun gut, meinetwegen; ich gebe alles zu. Passons, 
wie Papachen jagt, und in Klammern: ärgern Sie ſich 
bitte nicht über meinen Wortfchwall. Übrigens, da haben 
wir ja gleich ein Beifpiel: ich rede immer viel zu viel, 
о. Б., ich mache immer viel zu viel Worte, und rede viel 
zu eilig — und doch fommt nichts dabei heraus. Warum? 
weil ich nicht zu reden verftehe. Die gut reden, Ме reden 
furz. Und damit, nicht wahr, damit haben wir gleich 
einen Beweis für meine Unbegabtheit! Doch da мее 
Gabe der Unbegabtheit bei mir nun einmal eine natür: 
liche Gabe ift — warum Sollte ich fie da nicht поф Вице 
lich gebrauchen? Nun — und fo gebrauche ich fie denn fo 
und jo. Zuerft, als ich hier anfam, gedachte ich zu ſchwei⸗ 
gen: aber zum Schweigen, dazu gehört ein großes Talent, 
und jomit wäre её nichts für mich. Und da Schweigen 
außerdem auch noch gefährlich ift, jo Бабе ich denn end⸗ 
gültig eingejehen, daß es am beften Ш, wenn ich rede, 
und zwar gerade jo auf unbegabte Art und Weije rede, 
das heißt, viel, viel, unendlich viel rede, mic) immer 
beeile, etwas zu bemeijen und zum Schluß mich in meinen 


2° 323 


Beweiſen immer fo vermwidele, daß der Zuhörer womoͤg— 
lich davonläuft und dabei womöglich noch ausjpudt. Das 
hat dann drei Vorteile: erfteng, daß man fich von meiner 
Dffenherzigfeit überzeugt, zweitens, daß man meiner 
aͤußerſt überdrüflig wird, und drittens, daß man mich 
dabei noch nicht einmal verfteht — alfo alle drei Vor: 
teile auf einen Hieb! Wer wird dann noch vermuten, daß 
ich geheimnisvolle Abfichten Бабе? Ein jeder würde fich 
ja perjönlich beleidigt fühlen, wenn ihm dann поф je: 
mand fagte, ich hätte geheimnisvolle Xbfichten! Die 
Leute verzeihen mir ja jeßt fchon alles, weil fih nun - 
herausgeftellt hat, daß ich, die revolutionäre Intelligenz, 
die einft Proflamationen verfaßt hat, duͤmmer bin, als 
fie. Iſt's nicht fo? An Ihrem Lächeln erkenne ich 
Schon, daß Sie zuftimmen.” 

Stamrogin dachte nicht daran, zu lächeln oder zus 
zuftimmen, im Gegenteil, er hörte finfter und ein wenig 
ungeduldig zu. 

„Wie? Was? Sie fagten: ‚gleichgültig‘ !" 

Stamrogin hatte Fein Wort gejagt. 

„Natürlich, felbftverftändlich, ich verfichere Sie, daß 
ich das durchaus nicht darum ... nun, um @е mit 
meiner Freundſchaft zu fompromittieren ... Aber willen 
Sie, Sie find heute furchtbar übelnehmend! Sch fomme 
zu Shnen mit offenem, frohem Herzen, und Sie — Sie 
legen jedes meiner Worte auf die Wagfchale! ch werde 
heute über nichts Kitliches mit Ihnen {ртефеп, ich gebe 
Ihnen mein Wort darauf. Und mit allen Ihren Be: 
dingungen bin ich von vornherein einverftanden !" 

Stawrogin fchwieg immer поф. 

„Die? Was? Sagten Sie nicht etwas? Sehe fchon, 


324 





} 


hab’ wieder nicht das Nechte getroffen. Sie haben feine 
Bedingungen geftellt und werden auch Feine ftellen. 
Glaub's fchon, glaub’s fchon, beruhigen Sie fich nur: 
ich weiß ja ſelbſt, daß es ſich gar nicht lohnt, fie zu ftellen — 
nicht wahr? Sch übernehme fchon im voraus die Ver: 
antwortung für Sie, wenn Sie wollen — und tue das 
lelbftredend aus Unbegabtheit — aljo nichts als Ци: 
begabtheit und Unbegabtheit ... Sie lachen? Wie? 
Mas? 

„Nichts ...“ Stamrogin lächelte endlich, „mir fiel nur 
foeben ein, daß ich Sie in der Tat einmal gewiljermaßen 
unbegabt genannt habe, aber da Sie damals nicht zu: 
gegen waren, wird man es Ihnen hinterbracht haben... 
Im übrigen bitte ich, etwas fchneller zur Sache fommen 
zu wollen.” 

„ber ich bin ja gerade dabei! Sch rede Doch nur 

wegen Sonntag!" rief Piotr Stepanowitſch aus und tat 
fehr erftaunt. „Nun, was war ich am Sonntag, was 
meinen Sie? Genau und nichts anderes als die eilfertige, 
mittelmäßige Unbegabtheit in Perfon. Und genau in 
meiner allerunbegabteften Art und Weife bemächtigte 
ich mich des Geſpraͤches! Doch man hat mir fchon alles 
verziehen. Erftens, wie gejagt, weil ich vom Monde ge: 
fallen bin, denn davon ift man tatfächlich allgemein über: 
zeugt, und zweitens, шей ich ein fo nettes Gefchichtchen 
zum beften даб... und euch allen heraushalf, nicht 
wahr? So ift eg doch?" 
- „Sie haben abjichtlich fo erzählt, daß der Zweifel bleibt 
und man die Mache merkt, während eine Abmachung 
überhaupt nicht vorlag und ich Sie um nichts gebeten 
бане." 


325 


„Das ift’s ja! Das iſt's ja!" beftätigte wie in hellem 
Entzüden Piotr Stepanomitich. „Sch habe es ja abficht: 
lich fo gemacht, daß Sie die ganze Mechanik merfen muß: 
ten. Ihretwegen habe ich ja gerade die ganze Komödie 
gefpielt, nur um Sie zu fangen und zu fompromittieren. 
Sch wollte ja nur willen, bis zu welchem Grade Sie ſich 
fürchten.” 

„Es wäre interefjant zu wifjen, warum Sie jet fo auf: 
richtig find!" 

„ЭВ, ärgern Sie ſich nicht, Argern Sie fich nicht, und 
funfeln Sie bitte nicht fo mit den Augen ... Übrigens 
tun Sie das ja gar nicht. Alſo interefjant wäre е8, zu 
mwiffen, warum ich jet jo aufrichtig bin? Ganz einfach, 
пей fich jeßt alles verändert hat! Ich habe eben meine 
Anfichten über Sie geändert, das Ш eg. Den früheren 
Meg habe ich für immer verlaſſen. 34 werde Sie von 
nun ab nicht mehr auf die alte Art und Weife zu kom— 
promittieren verfuchen. Sch habe nun einen neuen Weg.” 

„Alſo die Taktik geändert?" 

„Von Zaftif [апп hier gar feine Rede fein. Von jetzt 
ab foll in allem nur Ihr freier Wille den Ausſchlag geben. 
Sagen Sie ‚ja‘, — Jo iſt's gut. Wollen Sie ‚nein‘ jagen — 
bitte! Da haben Ste meine ganze neue Taktik. Doch an 


unfere Sache werde ich auch nicht mit dem FHeinften 


Finger rühren, und zwar genau fo lange nicht, big Sie 
e8 felbft befehlen. Sie lahen? Wohl befomm’s! Auch 
ich lache ja. Uber foeben meine ich's ernit, vollfommen 


ernft, wenn auch ein Menfch, der fich ſo beeilt, natürlich 


unbegabt Ц, nicht wahr? Einerlei, meinetwegen bin 14 
auch unbegabt, nur rede ich jegt im Стий, das heißt wirk⸗ 
#4 volllommen ernſt!“ 


326 


— — — 
u m oa лек VENEN EEE ic > u mm > wem — 








Er ſprach in der Tat diesmal ernft, in einem ganz 
anderen Tone und mit einer feltfamen Erregung, fo daß 
Stamrogin ihn aufmerffam anblidte, 

„Sie jagen, Sie hätten Ihre Anficht über mich ge: 
ändert?" 

„sa; in dem Augenblid, als Sie damals von Schatoff 
Убе Hände zurüdzogen. Über genug, genug davon, 
und bitte feine Fragen meiter! Mehr jage ich jeßt nicht !" 

Er war fchon aufgejprungen und fuchtelte wieder mit 
den Händen, als wollte er ſich an ihn geftellter Fragen 
erwehren: da aber überhaupt feine geftellt wurden und 
er noch nicht die Abſicht hatte, wegzugehen, jo jeßte er 
fich wieder hin und beruhigte ſich allmählich 

„Nebenbei bemerkt, in Klammern, plapperte er {5 
fort wieder los, „man fchmwaßt Мег und wettet jchon Бат: 
auf, daß Sie ihn unbedingt totjchlagen würden. Lembke 
beabfichtigte fogar, die Polizei in Bewegung zu |сВеп, 
doch Zulija Michailowna hat es ihm verboten ... Uber 
genug davon, genug, ich fagte es Ihnen nur, um Sie zu 
benachrichtigen. Doch halt, noch eins: ich habe, wie Sie 
wiſſen, die Lebädfins noch am felben Tage auf die andere 
Flußfeite gefchafft — meinen Brief mit der neuen 
Adreſſe Haben Sie doch erhalten?” 

„за, gleich damals.“ 

„Dies aber habe ich nicht aus ‚Unbegabtheit‘ getan, 
fondern einfach aus Bereitwilligfeit. Wenn es ‚uns 
begabt‘ herausgefommen fein follte, jo war's dafür doch 
aufrichtig gemeint.” 

„Schon gut, vielleicht war её gerade fo На...” 
murmelte Stamwrogin nachdenklih. „Nur ſchicken Sie 
mir feine Briefe mehr.” 


327 


„Diesmal ging’s nicht anders, und её war ja nur ein 
einziger.” 

„Sp weiß Liputin davon?” 

„Es war nicht anders möglich. Aber Sie wiſſen ja felbit, 
daß Liputin nichts darf... Übrigens müßte man einmal 
wieder zu den unjrigen gehen, — das heißt zu jenen da, 
nicht zu den Unjrigen, freiden Sie eg mir nur nicht 
gleich wieder an. Beunruhigen Sie fich nicht: es braucht 
ja nicht gleich zu {ет — irgend wann einmal. Augen: 
blidlich regnet es. Sch werde es denen dann jagen und 
fie Eönnen fi verfammeln — wir gehen dann am 
Abend hin. Da ſitzen fie nun mit offenen Mäulern, wie 
die jungen Waldraben im Neft, und warten gejpannt 
darauf, was für einen Biljen wir ihnen gebracht haben — 
fragen Bücher hervor und fangen gar an zu ftreiten. 
Wirginsfi ift Allmenjch, Liputin Fourierift mit ftarfer 
Neigung zu Polizeimethoden. Ein Menſch, {ад ich Ihnen, 
der in einer Beziehung foftbar Ш, aber in den meiften 
anderen Beziehungen ftreng angefaßt werden muß. Und 
der dritte, der mit den trauernden Ohren, trägt gar ein 
eigenes Syſtem vor. Beleidigt find fie übrigens alle: 
weil ich mich fo wenig um fie fümmere und fie ein biß— 
chen Ealtgeftellt Бабе, haha! Aber hingehen muß man zu 
ihnen.“ 

„Sie haben mich jenen wohl als jo eine Art Führer 
sorgeftellt ?" fragte Stamrogin jo nachläfjig wie möglich. 

Piotr Stepanowitich jah ihn bligjchnell ап. Dann 
ging er jchnell auf ein anderes Thema über und tat jo, 
als Бане er die Frage ganz überhört: „Übrigens bin 
ich täglich zmeis bis dreimal zu Warwara Petromna ge: 
fommen und war gezwungen, viel zu jprechen ...“ 


328 





„Kann mir denken.’ 

„Nein, denken Sie nicht das! Sch Бабе einfach nur 
verjichert, daß Sie Schatoff nicht totichlagen würden — 
und fo ähnliche füße Sachen. Uber ftellen Sie fich vor: 
gleich am anderen Tage hatte fie jchon erfahren, daß 
Maria Timofejewna von mir über den Fluß geichafft 
worden war — haben Sie ihr das gejagt?" 

„Nicht daran gedacht.“ 

„Wußt ich’8 doch, daß nicht Sie... Uber wer außer 
Ihnen hätte е8 ihr dann erzählen koͤnnen?“ 

„Liputin, felbftredend.” 

„N—nein, nicht Liputin,“ murmelte Piotr Stepanos 
witſch geärgert. „Uber ich werde es |фоп erfahren, wer 
es war. Sch denke da eher an Schatoff. Aber nein, Un: 
ſinn, laſſen wir das! Aber fchließlich ИР8 doch verdammt 
wichtig ... Übrigens Бабе ich immer erwartet, daß Ihre 
Mutter plößlich mit der Hauptfrage herausplaßte. . . 
За! Nur alle die letzten Tage war fie furchtbar nieder: 
geichlagen, Го finfter, heute aber, wie ich ankomme: 
пебе da — Sie ftrahlt förmlich. Woher fommt denn das?" 

„Das fommt daher, daß ich ihr heute mein Wort ges 
geben habe, nach fünf Tagen um Liſaweta Nicolajewnas 
Hand anzuhalten”, jagte Stawrogin plößlich mit une 
vermuteter Offenheit. 

„Ah, о... nun ja... ja gewiß ...“ flotterte Piotr 
Stepanowitſch und blieb fteden. „Man fpricht zwar 
Ichon von ihrer Verlobung mit Mawrikij Nicolajewitich. 
Sie willen doch? Es wird auch fchon ftimmen. Aber 
Sie haben recht: fie läuft auch vom Altare fort, wenn 
Sie fie nur rufen. Sie ärgern fich 504) nicht darüber, daß 


ich jo... 
329 


„Жет.” | 

„sch fehe, daß es heute furchtbar ſchwer Ш, Sie zu 
ärgern, und fange an, Sie zu fürchten ... Bin jehr де: 
ipannt darauf, wie Sie morgen erjcheinen werden. 
Sicher haben Sie {фоп vieles in petto. Ürgern Sie fich 
wirklich nicht. über mich, daß ich ſo ...?“ 

Stamrogin antwortete wieder nicht, was Piotr 
Stepanomitich vollends reiste. 

„Übrigens: haben Sie das in betreff Liſaweta Nico: 
lajeronag Ihrer Mutter im Ernft gejagt?" fragte er. 

Stamrogin fah ihn falt und prüfend an. 

„Ah, fo, ich verftehe fchon: um fie zu beruhigen, nun ja.” 

„Und wenn ich es im Ernft gejagt habe?" fragte 
Stawrogin hart. 

„sa... nun...na, dann mit Gott, wie man in fol- 
chen Fällen zu fagen pflegt. Würde ja der Sache nichts 
Ichaden. (Sehen Sie, ich habe nicht gefaat, ‚unferer‘ 
Sache, da Sie das Wort ‚unfer‘ nun einmal nicht lieben.) 
Sch aber... ih — nun ja, ich ftehe zu Ihren Dienften, 
wie Sie willen.” 

„Sie meinen?” 

„Gar nichts, gar nichts meine 14!" wehrte Piotr Ste- 
panowitſch lachend ab, „denn ich weiß, daß Sie ſich Ihre 
Angelegenheiten im voraus genug überlegen, und daß 
Sie alles ſchon bis zu Ende durchgedacht haben, Im 
übrigen aber wollte ich nur fagen, daß ich im Ernſt jeder: 
zeit zu ihren Dieniten ftehe, jederzeit und unter allen 
Umftänden und in jedem Fall, — das heißt wortwört: 
lich in je-dem! @е verjtehen doch?“ 

Stomrogin gähnte. 

„sch langmweile Sie [фоп, wie ich fehe,” fagte Piotr 


330 





Stepanomitfch, plößlich auffpringend, ergriff feinen runs 
den, ganz neuen Hut und tat, ale fei er im Begriff, auf: 
zubrechen, indeljen blieb er immer noch und |prach un: 
unterbrochen weiter, jeßt allerdings ftehend. Zumeilen 
ſchritt er Hin und her, und wenn er ſehr lebhaft ſprach, 
ſchlug er fih mit dem Hut ans Knie. „Sa, eigentlic) 
wollte ich Ihnen noch etwas Ergögliches von den Lembkes 
erzählen und Sie damit erheitern!“ fchwaßte er weiter, 
anfcheinend gut gelaunt. 

„Nein, das doch lieber ein nächites Mal. Wie geht es 
übrigens mit Julija Michailownas Geſundheit?“ 

„Bas das bei Ihnen allen für gefellfchaftliche Gewohn— 
heiten find! Julija Michatlownas Gefundheit Ш Ihnen 
ja fo gleichgültig, wie die Gejundheit irgendeiner Kaße, 
und doch erfundigen Sie Jich! Uber das lobe ich mir. 
Alſo: Julija Michailowna fühlt fich wohl und hat eine 
Hochachtung vor Ihnen, na, bis zum Aberglauben. Und 
was Sie von Ihnen alles erwartet, grenzt auch fchon an 
Aberglauben. Über den Sonntag fchweigt fie, und ift 
überzeugt, daß Sie alles ſofort niederfchlagen werden, 
Тоба Sie nur wieder auf der Bildfläche erfcheinen. 
Bei Gott, fie glaubt ohne weiteres, daß Sie weiß der 
Teufel mas alles vermögen! Wir fcheint, fie bildet fich 
ein, Sie könnten einfach Wunder zuftande bringen. Über: 
haupt find Sie jeßt ein noch viel rätjelhafteres Weſen 
als je, dazu diefer Nimbus von Romantif, der fih um 
Sie gebildet Hat — wahrhaftig, eine Außerft vorteilhafte 
Stellung. Und wie gejpannt, wie neugierig man auf 
Sie Ш! Bevor ich verreifte, war es {фоп heiß, doch ale 
ich zurüdfehrte, war die Hitze noch gefliegen. Dante 
übrigens nochmals befiens für die Beſchaffung des 


331 


Briefes. Graf Я... mird Мег allgemein mit Andacht 
gefürchtet. Und Sie hält man für jo eine Art höheren 
Spion. Sch nide dazu. Sie ärgern ſich doch nicht?" 

„Nein.“ 

„Das ift nämlich für alles Weitere fogar unbedingt 
nötig. Die Leute Faben ja Мег ihre beſonderen Bräuche. 
Sch ſporne felbftveiftändlich noch an. Julija Michailowna 
ift die Anführerin, Gaganoff der zweite... Sie lachen? 
Aber ich lebe doch jeßt nach meiner neuen За Е: ich 
Lüge und lüge, und dann jage ich plößlich ein Fluges Wort, 
und zwar gerade in dem Yugenblid, wenn alle ein jolches 
juchen. Darauf umringt man mich jofort, fragt und 
horcht, — ich aber bin jchon wieder mitten im Lügen. 
Jetzt haben mich fchon alle aufgegeben. ‚Ach, der!‘ 
fagen fie und winken ab. ‚Nicht dumm, aber ein bißchen 
doch vom Monde herabgefallen.‘ Lembke redet mir zu, 
in den Staatsdienft zu treten, damit ich mich bejjere. 
Ach, wenn Sie wüßten, wie ich ihn trätiere, dag heißt, 
eigentlich fompromittiere. Er gloßt mich nur jo an mit 
feinen Kalbsaugen. Julija Michailowna hilft mir dabei 
womöglich noch. Doch was ich fagen wollte: Gaganoff 
ift grenzenlos wütend auf Sie. Geftern hat er in Dus 
фото ganz gemein über Sie gejprochen. Sch Бабе ihm 
natürlich gleich die ganze Wahrheit gejagt, oder vielmehr, 
verjteht fich, nicht die ganze Wahrheit. 34 war geftern 
vom morgen bis zum Abend draußen bei ihm. Präch- 
tiges Gut Übrigens, auch das Herrenhaus ИЕ ſchoͤn.“ 

„So ЦЕ er jeßt in Duchowo?“ rief Stawrogin plößlich 
lebhaft, ja, faſt ſprang er auf, — wenigſtens beugte er 1% 
haſtig nach vorn. 

„Nein, jet nicht mehr, er bat mich ſelbſt hierher де: 


332 





bracht, wir famen zufammen zurüd," fagte Piotr Ste: 
panomwitjch ruhig, anfcheinend ohne Stawroging Er: 
regung zu bemerken. „Was Ш das? — Da habe ich ein 
Buch heruntergeworfen,” und er büdte fich, um den 
Band aufzuheben. „Die Frauen von Balzac‘? Illu— 
ftriert. Habe nicht gelefen. Lembke fchreibt auch Ro: 
mane.“ 

„Bas Sie ſagen?“ Stawrogin tat, als interefliere es 
ihn Sehr. 

„Jawohl, in ruffiicher Sprache; felbftredend heimlich. 
Nur Julija Michailowna weiß es und erlaubt eg ihm. Er 
ЦЕ fo eine richtige Schlafmüße, aber mit Manieren. Wie 
das alles ausgearbeitet Ш! Welch eine Strenge der 
Formen, 10614 eine Folgerichtiafett und Difziplin! Üb— 
rigeng, е8 wäre gut, wenn auch wir etwas davon hätten!" 

„Sie loben die Verwaltung" 

„Wie follte ich nicht! Sie ИЕ doch das einzige, was bei 
uns in Rußland natürlich und in einem gewiſſen Grade 
fertig Ш... nein, nein, ich werde nicht, ich werde nicht, 
feien Sie unbeforgt, ich werde nicht!" brach er plößlich 
ab. „Über das Delifate Fein Wort, feien Ste unbeforgt, 
fein Wort! Und jeßt leben Sie wohl. — Sie find ja fait 
grün. 

„sch bin erfältet.” 

„Das Ш glaubwürdig. Legen Sie ſich hin! Doch ja, 
was ich noch jagen wollte: hier im Bezirk gibt es auch 
einige von der Sfopzenfefte, interejjante Leute ... Doch 
davon ſpaͤter. Halt ja, eine Heine Anekdote muß ich doch 
noch erzählen! Hier in der Nähe fteht befanntlich ein 
Infanterieregiment. Freitag abend habe ich in B... mit 
den Offizieren zufammen gefneipt. Wir haben doc) dort 


333 


drei Genoffen — vous comprenez? Nun, её wurde über 
den Atheismus дертофей, und felbftredend ward Gott 
zum [о und fo vielten Male fafliert. Man gröhlte und 
quiefte vor Freude. Übrigens: Schatoff meint, daß man 
unbedingt mit dem Atheismus beginnen müjje, wenn 
man es in Rußland zu einem Umfturz bringen wolle — 
vielleicht hat er recht. За, wie gejagt, eg wurde über 
Gott дертофеп — aber da jaß auch ein Ichon ergrauter 
Ichnauzbärtiger Hauptmann, ſaß und faß, ſchwieg die 
ganze Zeit. Plöglich ftand er auf, blieb mitten ım Zim⸗ 
mer ftehen, breitete die Arme aus, und fagte laut, aber 
doch wie zu fich felbit: ‚Wenn es feinen Gott gıbt, was 
bin ih dann noch für ein Hauptmann?‘ Und damit 
nahm er feine шве und ging.” 

„Hat einen ganz Нидеп Gedanken ausgedruͤckt“, fagte 
Stawrogin und gähnte — jet [фоп zum dritten Male. 

„за? Sch hab’s nicht verftanden — wollte Sie fragen. 
Und was war da doch noch —? За, jo: ganz interejjant 
ift ме Spigulinſche Fabrik. Fünfhundert Arbeiter, ein 
vorzüglicher Choleraherd, ift fchon feit fünfzehn Fahren 
nicht mehr gereinigt, und vom Arbeitslohn wird immer 
ein Zeil abgezogen, die Beliger aber find Millionäre. 
Seien Sie überzeugt, von den Arbeitern haben jchon 
eine ganze Reihe durchaus richtige Borftellungen von der 
internationale und Revolution. Wie, Sie lächeln? Sie 
werden jchon jehen, geben Sie mir nur cine ganz, ganz 
Feine Weile Zeit! Sch habe Sie {фоп einmal um Zeit 
gebeten. Sekt tue ich’8 zum zweiten Male. Doch Ver: 
zeihung, ich höre ja {фоп auf! Runzeln Sie nicht die 
Stirn, ich höre ja {фоп auf! Leben Sie шо. — Ach fo!" 
er fehrte nochmals um und fam zurüd, — „Die Haupt: 


334 





ſache vergejle 14 ganz! Man hat mir vorhin gefagt, daß 
unfere Koffer aus Petersburg angefommen find.” 

„Sa, und? ...“ Stamwrogin fah ihn an, ohne zu ver: 
ſtehen. 

„Das heißt, Ihre Koffer, Ihre Sachen, mit den 
Fracks, Beinkleidern, der Waͤſche — ſind die ſchon hier?“ 

„за, man ſagte mir vorhin jo etwas. 

„ch, Eönnte man da nicht gleich . 

„Hagen Sie den Alexei.“ 

„Schön! Aber morgen, morgen пи ich fie 50$ 
befommen? Es find nämlich mein Frad, ein Unzug und 
drei Paar Beinkleider darin... Die von Charnteur, die 
er mir noch auf Ihre Empfehlung hin gemacht hat, er: 
innern Sie ſich?“ 

„Sch habe gehört, Sie follen hier den Dandy ſpielen,“ 
lächelte Stamwrogin. „Sft es wahr, daß Sie ſogar Reit: 
ftunden nehmen wollen?“ 

Piotr Stepanomwitjch verzog den Mund zu einem ge: 
zwungenen Lächeln. 

„Wiſſen Sie,” fagte er dann ploͤtzlich ungeheuer fchnell, 
mit einer eigentümlich abbrechenden Stimme, in der 
etwas zu zuden ſchien. „Wiſſen Sie, Nicolai Wizemolodo: 
witſch, wir wollen das Perjönliche lieber aus dem Spiel 
laſſen, nicht wahr, ein für allemal? Sie fünnen mic) 
dabei natürlich verachten, fo viel Sie wollen, wenn 
Ihnen etwas lächerlid) erfcheint. Uber, wie gejagt, unter 
ung wollen wir das Perfönliche eine Zeitlang fortlafjen, 
nicht wahr?" 

„Gut, ich werde es nicht тебе...” fagte Stamwrogin 
vor fich hin. 

Piotr Stepanowitſch Lächelte, ſchlug ſich mit dem Hut 


335 


ang Knie, trat von einem Fuß auf den andern und fein 
Gejicht nahm wieder den alten Ausdrud ап. 

„Hier halten mich einige fogar für Ihren Neben: 
buhler bei Liſaweta Nicolajewna, иле foll ich mich da 
nicht um mein Außeres kümmern?” fagte er lachend. 
„Übrigens, wer hinterbringt Shnen denn das alles? 
Hm! Es ift ſchon Punkt acht; ich muß gehen. Habe 
zwar Warwara Petromna verjprochen, jeßt bei ihr vor= 
zujprechen, werde das aber bleiben lafjen. Sie aber — 
legen Sie fich mal hin, dann find Sie morgen munterer. 
Draußen iſt eg ftoddunfel und eg regnet — Übrigens, ich 
babe ja meine Droſchke, denn in der Nacht ift es hier nicht 
‚ganz geheuer in den Straßen ... Doch ja, was ich noch 
jagen wollte: Мег in der Umgegend treibt fich jeßt ein 
gewilfer берИа herum, ет entjprungener Zuchthäusler 
aus Sibirien, und ftellen Sie fich vor, er iſt mein ges 
wefener Leibeigener, den Papachen vor fünfzehn Jahren 
unter die Soldaten geitedt hat, um Geld zu befommen. 
Cine бибай bemerkenswerte Perfönlichkeit, dieſer 
Fedjka.“ 

„Sie ... haben mit ihm geſprochen?“ fragte Staw— 
rogin, indem er einmal furz aufblidte. 

„За. Vor mir verftedt er ſich nicht. Er ift zu allem 
bereit, zu allem; für Geld, felbjtredend, aber er hat auch 
Überzeugungen, fo in feiner Art, verfteht ИФ... За, 
und noch etwas: wenn Sie vorhin wirklich im Ernſt von 
diefer Abſicht — Ste wiſſen |фоп, mit Liſaweta Nico: 
lajewna, — fo mwiederhole ich nochmals, daß ich gleich- 
falls eine zu allem bereite Perfönlichkeit bin, in jeder 
Beziehung, in welcher Sie nur wollen, und vollfommen 
zu Ihren Dienften Пере... Was, @е wollen —? 


336 


Ach fo, nein, nicht den Stod, Denken Sie ſich, mir fchien, 
daß Sie einen Stod juchten !" 

Stamwrogin fuchte nichts und ſagte auch nichts, aber er 
hatte fich allerdings ſeltſam plößlich erhoben, mit einer 
eigentümlichen Bewegung im Geficht. 

„Und wenn Ste etwas in betreff diefes Herrn Gaga— 
noff brauchen follten,” fügte Piotr Stepanomitjch mit 
einemmal hinzu und wies dabei mit dem Kopf fchon ganz 
ungeniert auf den Brief und den Umjchlag unter dem 
Briefbejchwerer, „Jo fann ich natürlich auch da alles 
ordnen, und ich bin überzeugt, daß Sie mich nicht um: 
gehen werden.‘ 

Und ohne eine Antwort abzumarten, drehte er fich um 
und verließ das Zimmer — doch bevor er die Tür hinter 
ſich fchloß, ftedte er noch einmal den Kopf herein: 

„Ich bin nur deshalb ©...’ rief er fchnell, „... weil 
doch beifpielsmweife auch Schatoff nicht das Necht hatte, 
damels am Sonntag fein Leben zu riskieren, als er zu 
Shnen trat — nicht wahr? Sch möchte wünfchen, Рай 
Ste diefes nicht vergäßen.“ 

Und ohne eine Antwort abzuwarten, verfchwand er. 


IV. 


Vielleicht dachte Piotr Stepanowitich, daß Nicolai 
Wſzewolodowitſch, ſobald er allein wäre, mit den Fäuften 
an die Wand fchlagen würde, welchem Mutausbruch 
Piotr Stepanowitſch natürlich für jein Leben gerne 
heimlich zugefehen hätte, wenn das nur irgendwie moͤg— 
lich geweſen waͤre. Doch er täufchte ich jehr. Stawrogin 
blieb vollfommen ruhig. Wohl ganze zwei Minuten 


337 


22 Doſtojewski, Die Dämonen. 35. Г. 


fand er поф in derjelben Stellung am Tiſch, anfjcheis 
nend in tiefe Gedanken verjunfen; doch bald legte fich 
ein müdes, faltes Lächeln um feinen Mund. Er ſetzte fich 
langſam wieder auf den großen Diwan, auf denfelben 
Platz in der Ede, und fchloß ме Augen, wie vor Muͤdig—⸗ 
feit. Die eine Ede des Briefes шо noch immer unter 
dem Briefbeichwerer hervor, doch er тибе ſich nicht 
einmal, um fie zu bededen. 

Bald vergaß er ſich ganz. 

Warwara Petrowna hatte fich ſchon alle die Tage mit 
Sorgen gequält. Als jetzt auch noch Pjotr Stepanowitſch 
fortgegangen war, ohne jein Зертефеп zu halten und 
zu ihr zu fommen, hielt fie es nicht länger aus und wagte 
es, jelbjt zu ihrem Sohne zu gehen. Die ganze Zeit 
hatte fie gedacht, vielleicht werde er doch endlich etwas 
Beftimmtes, Entjcheidendes jagen. Leiſe, wie vorhin, 
НорНе fie an feine Tür, und da fie feine Antwort erhielt, 
wagte fie wieder, ſelbſt zu öffnen. Als fie jah, wie er jo 
unbemeglich und fonderbar ftill daſaß, trat пе, mit klopfen— 
dem Herzen, vorlichtig näher. 68 machte fie ftußig, daß 
er fo ſchnell und jo aufrecht figend eingejchlafen war; 
jogar das Atmen merkte man faum. Sein Geficht war 
blaß und ftreng, doch dabei wie völlig erfaltet, regungs: 
los. Die Brauen waren ein wenig zufammengezogen 
und wirkten finjter: [© glich er entjchieden einer leblojen 
Wachsfigur. Warwara Petromna ftand wohl ganze drei 
Minuten vor ihm, mit verhaltenem Atem, und plöglich 
murde fie von einer Эмай erfaßt. Auf den Зи реп 
ging fie hinaus, doch an der Tür blieb fie einen Augen: 
blid ftehen, wandte fih um, machte das Zeichen des 
Kreuzes über ihren Sohn und verließ dann unbemerlt 


338 





den Raum — mit einer neuen |chweren Empfindung und 
neuen Sorgen im Herzen. 

Er fchlief lange, über eine Stunde, und die ganze Zeit 
in derjelben Erftarrung: Fein Muskel feines Gejichtes 
bewegte fich, nicht das leifefte Zuden ging durch feinen 
Körper; die Brauen blieben unverändert ſtreng zuſam— 
mengezogen. Wäre Warwara Petrowna noch weitere 
drei Minuten vor ihm ftehen aeblieben, fo würde fie das 
erdrüdende Empfinden ег lethargilchen Regungs— 
lofigfeit ganz gewiß nicht ertragen und ihn aufgemwedt 
haben. Doch plößlich ſchlug er von felbft die Augen auf, 
blieb aber, ohne 14 zu rühren, wohl noch zehn Minuten 
unverändert fißen, nur daß feine offenen Yugen jett bes 
barrlich und wißbegierig in die eine dunfle Ede des Zim: 
mers fahen, wie fich hineinjehend in irgendeinen ihn dort 
felfelnden Gegenftand, obgleich fich dort weder etwas 
Neues, noch etwas DBejonderes befand. 

Da begann die große, alte Wanduhr zu fchnurren und 
ſchlug einen einzigen, fchmweren Schlag. Stamrogin 
wandte mit einer gewillen Unruhe den Kopf, um auf 
das Zifferblatt zu fehen. Doch in demjelben Augenblid 
öffnete 14 die Tapetentür, die zum Korridor führte, und 
der Kammerdiener Alexei Jegorowitſch trat ем. Er 
brachte einen diden Mantel, ет Halstuch und einen Hut, 
und in der rechten Hand hielt er einen —— Teller, 
auf dem ein Zettel lag. 

„Halb zehn“, meldete er mit leiſer Stimme und trat, 
nachdem er den Mantel an der Tuͤr auf einen Stuhl gelegt 
hatte, zu Nicolai Wſzewolodowitſch, dem er das Zettel— 
chen präfentierte, ein Eleines, ungeſchloſſenes Papier, 
auf dem nur zwei Zeilen mit Bleiftift gefchrieben ftanden. 


Nachdem Stawrogin fie überflogen hatte, nahm er 
einen Bleiftift vom Tiſch und Erißelte ein paar Worte 
auf dasfelbe Papier, das er dann wieder offen auf den 
Teller zuruͤcklegte. 

„Sofort zu uͤbergeben, ſobald ich ausgegangen bin“, 
jagte er und erhob fich vom Diwan. 

68 fiel ihm noch zur rechten Zeit ein, daß er einen 
leichten Samtrod an hatte, jo überlegte er einen Yugen= 
БИ und befahl dann, ihm einen Tuchrock zu bringen, 
der zu zeremoniellen Ubendbejuchen bejjer paßte. Nach: 
dem er fich ganz angefleidet und den Hut jchon aufgeſetzt 
hatte, verjchloß er die Tür, durch die vorhin Warwara 
Petrowna eingetreten war, 309 dann den Brief unter 
dem Briefbeichwerer hervor, ftedte ihn zu fich und ging 
ſchweigend aus dem Zimmer. Alexei Segoromitich folgte 
ihm. Aus dem Korridor gingen fie über eine ſchmale 
fteinerne Hintertreppe in den Hausflur hinab, aus dem 
man unmittelbar in den Park treten konnte. Зи einer 
Ede des Flurs hatte Alerei Jegorowitſch eine Laterne 
und einen Regenjchirm verftedt. 

„Snfolge des ftarfen Negens И der Schmuß in den 
Straßen ganz unerträglich”, meldete Alexei Jegorowitſch 
wie mit einem entfernten letzten Verſuch, feinen Herrn 
von dent Ausgehen abzubringen. 

Doch Stamrogin machte den Schirm auf und trat ſchwei— 
gend hinaus in den alten Park, der wie ein Keller dunkel, 
feucht und пав war. Der Wind braufte und raufchte und 
Ihaufelte die Wipfel der großen, halb jchon Fahlen 
Bäume, die ſchmalen Sandwege waren weich und glatt. 
Alerei Jegorowitſch ging fo, wie er war, im braunen 


Frack und ohne Müße, mit der Fleinen Laterne in der. 


340 





Hand, drei Schritte vor feinem Herrn, und beleuchtete 
den Weg. 

„Wird man es nicht bemerken?” fragte plößlich Nicolai 
Wſzewolodowitſch. 

„Aus den Fenſtern wird man es nicht bemerken und 
außerdem iſt alles vorgeſehen“, antwortete der Diener 
leiſe und maßvoll. 

„Meine Mutter ſchlaͤft?“ 

„Haben ſich nach der Gewohnheit der letzten Tage 
gleich nach neun Uhr zuruͤckgezogen, und daß die gnaͤdige 
Frau es erfaͤhrt, iſt ganz ausgeſchloſſen. Wann befehlen 
der Herr, daß ich Ihn zuruͤckerwarte?“ 

„Um eins, halb zwei, nicht ſpaͤter als zwei.“ 

„Zu Befehl.“ 

Sie umgingen auf den ſich ſchlaͤngelnden Wegen faſt 
den ganzen Park, bis ſie an der Ecke der großen Stein— 
mauer ſtehenblieben, wo ein kleines Pfoͤrtchen auf eine 
ſchmale entlegene Nebengaſſe fuͤhrte. 

„Wird die Tuͤr nicht kreiſchen?“ fragte Nicolai Wſze— 
wolodowitſch. Doch Alexei Jegorowitſch ſagte, daß er 
zweimal, „ſowohl geſtern wie auch heute“, die Angeln 
geſchmiert habe. Er war bereits ganz durchnaͤßt vom 
Regen. Als er das Pfoͤrtchen geoͤffnet hatte, reichte er 
Nicolai Wſzewolodowitſch den Schluͤſſel. 

„Wenn der Herr geruhen, einen weiten Weg zu unter— 
nehmen, ſo moͤchte ich vorher darauf aufmerkſam machen, 
daß den Leuten hier herum nicht zu trauen iſt, beſonders 
nicht in entlegenen Gaſſen und ... am allerwenigſten 
jienjeits des Fluſſes,“ wagte er nochmals zu warnen. 

Er war ein alter Diener, der етй Уйсоки Wſzewolodo— 
witjch auf den Armen gemwiegt und wie eine Kinderfrau 


341 


mit ihm gefpielt Hatte, ein ernfter, ftrenger Mann, der das 
Gottesmwort fannte und gern in der Bibel las. 

„Beunruhige dich nicht, Alerei Jegorowitſch.“ 

„Bott ſegne Euch, Herr, aber nur beim Anfang guter 
Taten.‘ 

„Wie?“ Nicolai Wſzewolodowitſch, der ſchon über die 
Schwelle getreten war, blieb ftehen. 

Der alte Diener wiederholte mit feiter Stimme feinen 
Segenswunſch. Nie hätte er fich früher unterftanden, 
ſolche Worte zu feinem Herrn zu fagen. 

Stawrogin fagte nichts, fchloß die Tür, ftedie den 
Schlüffel in die Taſche und ging die Gaſſe entlang, wo- 
bei feine Füße bei jedem Schritt an die drei Zoll tief 
im Schlamm verſanken. Endlich erreichte er eine lange, 
einjame Etraße, die wenigſtens gepflaftert war. Die 
Stadt fannte er genau: immerhin hatte er noch einen 
weiten Weg bis zur Bogojawlenskſtraße. 

Es war ſchon паб zehn Uhr, ale er endlich vor der 
verichloffenen Pforte des Filippoffichen Hauſes flehen 
blieb, 

Die untere Etage war unbemwohnt, feittem man ®е: 
baͤdkins fortgefchafft hatte. Die Fenfterläden waren ge: 
Ihlofjen. Nur oben in Schatoffs Dachzimmer {аб man 
noch Licht. Da es an der Pforte feine Klingel gab, {о 
НорНе Stamrogin. Nichts rührte ſich zunaͤchſt. Aber 
ichließlich, nach abermalıgem Klopfen, öffnete ſich oben 
ein Klappfenfter und Schatoff ftedte ven Kopf heraus. 
68 таг ftoddunfel und daher jchwer, jemanden zu er: 
fennen. 

Schatoff {аб lange hinunter. 

„Sind Sie es?" fragte er plößlich. 


342 














„За.“ 

Schatoff ſchlug das бепйег zu, fam nach unten und 
öffnete die Pforte. 

Stawrogin trat über die hohe Schwelle und ging ſtumm 
an ihm vorüber in den Flügel zu Kirilloff. 


у 

Hier war alles unverichloflen. Der Flur und die бе 
den eriten Zimmer waren dunfel, doch im dritten, in dem 
Kirilloff wohnte, war es hell, und dort hörte man Lachen 
und dazwiſchen ein jeltfames frohes Gequief. 

Starorogin ging auf das Licht zu, blieb aber vor der 
offenen Zür ftehen, ohne zunächft einzutreten. 

Der Teetiſch war gededt. Mitten im Zimmer ftand 
die Alte, die das Haus beauflichtigte, in einen Unterrod, 
in Schuhen, doch ohne Strümpfe, und in einer aͤrmel— 
lofen Pelzjade aus Hafenfell. Sie trug ein anderthalb: 
jähriges Kindchen mit faft weißen Loden, nur mit einem 
furzen Hemdchen bekleidet, mit bloßen, dien Beinchen 
und erhitztem, pausbadigen Öelichtchen, auf dem Arm. 
Dffenbar hatte fie её foeben aus der Wiege genommen. 
Das Kindchen mochte noch vor kurzem geweint haben, 
denn noch ftanden dide Tränen unter feinen Augen, 
doch war es in diefem Yugenblide froh und Yuftig, тебе 
feine Armchen und lachte, wie fo Heine Kinder zu lachen 
pfleaen: mit juchzenden, fchluchzenden Nebentönen. 

Dor dem Kindchen ſpielte Kirilloff mit einem großen 
roten Gummiball: er warf ihn kraͤftig auf die Diele, fo 
daß er bis an die Dede |prang, wieder fiel und wieder 
ſprang, während das Kindchen dazu uͤberſelig ſein ‚ Ba! ... 
Ba! ...“ rief. Kirilloff fing darauf den „За“ auf und 


343 


gab ihn dem Kindchen, das dann natürlich den „За“ 
wieder gleich mit feinen eigenen, ungejchidten Händchen 
fortwarf, während Kirilloff ihm nachlief, um ihn auf: 
zuheben. Zum Schluß rollte der „За“ unter den Schrant. 
Kirilloff aber ftredte fich ſofort längelang auf dem Fuß— 
boden aus, um ihn mit der Hand wieder hervorzubolen. 

In diefem Yugenblid trat Stamrogin ins Zimmer. 

Das Kind, das ihn zuerft erblidte, warf ſich erfchredt 
an den Hals der Alten und begann laut ein langgezogenes, 
eintöniges Kinderweinen, fo daß die Alte es jofort hinaus: 
brachte. 

„Stawrogin?“ fragte Kirilloff, ohne die geringjte Ver: 
wunderung über den unerwarteten DBejuch, z0g ſeine 
Hand mit dem Ball unter dem Schrank hervor und ет: 
bob fich. „Wollen Sie Tee?” 

„Mit dem größten Vergnügen, wenn er warm ift, ich 
bin ganz durchnaͤßt.“ 

„Warm, fogar heiß,” jagte Kirilloff mit Vergnügen, 
nachdem er lich davon überzeugt hatte. „Setzen Sie ſich. 
Sie find ſchmutzig, tut nichts. Ich kann's {рег mit 
einem naljen Tuch ...“ 

Stamrogin feßte fich und trank faft auf einen Zug die 
eingegofjene Taſſe Tee aus. 

„Noch 

„Kein, danke.“ 

Kirilloff, der bis dahin gejtanden hatte, feßte fich jo: 
gleich und fragte: „Wozu find Sie gekommen?“ 

„Bitte, leſen Sie diefen Brief. Er И von Gaganoff. 
Sie werden Sich entjinnen, ich habe Ihnen von ihm ſchon 
ит Petersburg erzählt.‘ 

Kirilloff nahm den Brief, las ihn durch, legte ihn dar— 


244 


auf wieder auf den Tiſch und {аб Stawrogin erwartunges 
voll an. 

„Mit dieſem Gaganoff,” erflärte Nicolai Wſzewolodo— 
witjch, „bin ich, wie Sie willen, zum erften Male in 
Petersburg vor faum einem Monat zufammengetroffen, 
und dann find wir uns noch ungefähr dreimal in der 
GSejellichaft begegnet. Wir wurden einander nicht vor: 
geftellt, jprachen auch nicht miteinander und doch fand 
er Öelegenheit, 14 ungezogen mir gegenüber zu be: 
nehmen. Sch habe Ihnen das ja damals alles erzählt. 
Doch was Sie nicht willen, ift folgendes. Als er darauf 
Petersburg, noch vor mir, verließ, fchrieb er mir einen 
Brief, der zwar noch nicht jo beleidigend war, wie diejer 
bier, aber doch jchon einen durchaus unzuläffigen Ton 
hatte. Dabei ftand mit feinem einzigen Worte darin, 
warum der Brief eigentlich gejchrieben worden war. 
Sch antwortete ihm fofort und erklärte ihm ganz offen 
herzig, daß ich „da её fich wohl um den Vorfall mit 
einem Vater vor vier Jahren hier im Klub handeln 
werde‘, — рав ich meinerjeits durchaus bereit fei, ihm 
noch nachträglich meine Entjchuldigung zu machen, ein= 
fach aus dem Grunde, шей meine Handlung damals 
im Kranfheitszuftande gejchehen ет. Er antwortete 
mir nichts darauf und reifte irgendwohin fort. Nun 
fomme ich hierher und finde ihn hier in einer wahren 
Tollwut auf mich. Man hat mir öffentliche Nußerungen 
von ihm mitgeteilt, die regelrechte Bejchimpfungen find, 
dazu die unglaublichiten Anjchuldigungen. Und heute 
erhalte ich dieſen Brief, — einen ähnlichen hat wohl 
noch nie jemand gejchrieben! Mit Ausdrüden wie zum 
Beiſpiel ‚Ihre geichlagene Frage‘, — Sch bin nun zu 


345 


Ihnen gekommen, da ich hoffe, daß Sie mir nicht ab: 
Ichlagen werden, mein Sefundant зи ſein?“ 

„зп der Wut Тапп man jchon ... Pufchkin hat auch 
io gefchrieben. Gut, ich fomme. Sagen Sie, mie?" 

Stamrogin erflärte, daß er ihn bäte, gleich morgen zu 
Gaganoff zu gehen. Er jolle ме Entfchuldigung wieder: 
holen und ſogar noch einen zweiten Entjchuldigungsbrief 
anfündigen — diejen letteren aber nur unter der Зе: 
dingung, daß Gaganoff {ет Wort gibt, feinen weiteren 
Brief irgendwie beleidigenden Inhalts zu fihreiben, 
während jein letter Brief als nicht erhalten betrachtet 
werden jolle. 

„zu viel Konzeffionen, er wird nicht darauf eingehen...” 

„Sch bin vor allem hierhergefommen, um zu erfahren, 
ob Sie überhaupt bereit find, ihm ſolche Bedingungen 
zu überbringen?” 

„Ich werdefchon. Aber er wirdntchtdaraufeingehen ...“ 

„Das weiß 1$." 

„Er will jich ıchlagen. Sagen Sie, wie?" 

„Daß Ш es eben: ich möchte morgen Ме ganze Ge: 
Ichichte beendet haben. Sagen wir, um neun find Sie 
bei ihm. Er wird Gie anhören und Ihr Erfuchen ab: 
ſchlagen. Dann wird er feinen Sefundanten zu Ihnen 
ichiden, fagen wir — gegen elf. Mit dem bejprechen Sie 
lich aljo, und um eins oder zwei fünnten wir an Ort und 

telle fein. 34 möchte Sie ſehr bitten, alles zu tun, | 
mas an Ihnen liegt, damit die Angelegenheit diefen Ber: | 
lauf nimmt. Waffen natürlich Piftolen. Das Weitere | 
— darum bitte ich Sie ganz bejonders — richten Sie fo 
ein: Vereinbaren Sie einen Abſtand von zehn Schritten 
zwiſchen den Barrieren. Stellen Sie einen jeden von 


346 





uns weitere zehn Schritt von feiner Barriere auf. Nach 
dem gegebenen Zeichen gehen wir aufeinander zu. Jeder 
muß unbedingt bis zu feiner Barriere gehen. Doc 
ſchießen kann er auch ſchon früher, im Оебеп. ©o, das 
wäre alles, denfe ich.“ 

„zehn Schritt zwifchen den Barrieren ift jehr nah”, 
bemerfte Kirilloff. 

„Nun, dann meinetwegen zwölf, aber nicht mehr. 
Sie begreifen doch, daß er ſich nicht zum Vergnügen 
duellieren will. Verſtehen Sie eine Piltole zu laden?” 

„sa. Sch Бабе felbft Piftolen. Ich werde mein Wort 
geben, daß Sie mit meinen noch nicht gejchofjen haben. 
Sein Sefundant gibt auch fein Wort für feine Piftolen. 
Dann werfen wir das Los, ob feine oder unfere.“ 

„Vorzuͤglich.“ 

„Wollen Sie die Piſtolen ſehen?“ 

„Meinetwegen.“ 

Kirilloff hockte vor ſeinem Koffer nieder, der noch immer 
unausgepackt in der Ecke ſtand, zog einen Kaſten aus 
Palmenholz hervor, der innen mit rotem Samt aus— 
geſchlagen war, und entnahm ihm zwei prachtvolle, 
aͤußerſt koſtbare Piſtolen. 

„Habe alles. Pulver, Kugeln, Patronen. Auch einen 
Revolver, warten Sie.“ 

Er kramte wieder in feinem Koffer und zog einen zwei⸗ 
ten Kaften mit einem fechsläufigen Revolver hervor. 

„Sie haben ja Waffen mehr als nötig! Und ſehr 
teuere.“ 

„Sehr.“ 

Der gaͤnzlich mittelloſe Kirilloff, der uͤbrigens ſeine 
Armut ſelbſt nie bemerkte, zeigte ſichtlich nicht ohne Stolz 


347 


тете Koftbarkeiten, die er zweifellos mit unglaublichen 
Opfern erftanden hatte. 

„Sie haben immer noch diefelbe Abjicht?" fragte Stam- 
rogin mit einer gewiſſen Vorficht, nach minutenlangem 
Schmeigen. 

„Dieſelbe“, antwortete Kirilloff furz: am Ton der 
Stimme hatte er fofort erfannt, wovon fein Gaft fprach. 

„And — wann?” fragte Stamwrogin noch vorjichtiger, 
und wieder nach längerem Schweigen. 

Kirilloff Hatte inzwilchen beide Kaften in den Koffer 
zurüdgelegt und feßte fich nun auf feinen alten Platz. 

„Das hängt nicht von mir ab. Sie willen 504. Wann 
man mir jagen wird”, murmelte er mehr vor fich hin, 
als wäre die Frage ihm ein wenig läjtig, doch gleich: 
zeitig war er, das fühlte man, durchaus bereit, auf ап: 
dere Fragen zu antworten. 

Er jah dabei mit feinen fchwarzen glanzlojen Augen 
Stamrogin unverwandt ап, mit einem ſeltſam gelafjenen, 
doch guten und freundlichen Gefühl. 

„Sch verftehe das gewiß — fich zu erſchießen ...“ be: 
garın Stamrogin von neuem, nachdem er lange, wohl 
drei Minuten lang grübelnd gejchwiegen hatte, während 
fein Geficht fich verdüfterte. „Sch habe mir das jelbft 
zuweilen vorgeftellt. Aber es findet jich dann immer ein 
дет ег neuer Gedanke ein: wie, wenn man, zum Bei: 
ſpiel, ein Verbrechen beginge, oder etwas vor allem 
Schimpfliches, das heißt Schmachvolles, eine Schande, 
nur muß fie unendlich gemein fein und zugleih ... 
lächerlich — eine Schandtat, die von der Menfchheit in 
taufend Sahren nicht vergeflen wird, über die fie taufend 
Jahre lang flucht, und nun plößlich der Gedanfe: ‚ein 


348 








Schuß in die Schläfe und es ift nichts mehr da‘. Was 
gehen einen dann noch die Menfchen an, und daß fie 
einem taufend Jahre lang fluchen werden! Sit es nicht 
ſo?“ 

„Sie meinen, das iſt ein neuer Gedanke?“ ſagte Ki— 
rilloff, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. 

„Nein... das nicht ... aber als ich ihn zum erſten Male 
dachte, da empfand ich ihn alg ganz neu.“ 

„Sie empfanden einen Gedanken —“ ſprach ihm 
Kirilloff nach. „Das ЦЕ gut. Es gibt viele Gedanken, die 
waren immer da, und plößlich werden fie neu. Das ift 
richtig. Seht ſehe ich vieles wie zum erſtenmal.“ 

„Nehmen wir an, Sie waren auf dem Monde,” unter: 
brach ihn Stamrogin, ohne Kirilloffs Worte zu beachten, 
und fpann feinen eigenen Gedanfen weiter. „Nehmen 
wir an, Sie haben dort oben alle dieje Tächerlichen 
Schmußereien begangen. Ste willen ganz genau, daß 
man Ihnen dort oben fluchen wird, taufend Fahre lang, 
ewig, auf dem ganzen Monde ... Aber Sie find jekt hier 
auf der Erde und ſehen auf den Mond von Мег aus: 
was geht es Sie dann hier auf der Erde an, was @е 
dort oben alles getan haben — und daß die dort taufend 
Sabre lang bei Ihrem Namen ausjpeien werden, — ift 
es nicht fo?" 

„Weiß nicht," antwortete Kirilloff. „Sch bin nicht auf 
dem Monde geweſen“, fügte er hinzu, aber ohne jede 
Spur von Зтоше, einfach als Ausdrud der ЗаНафе. 

„Weſſen Kind war das vorhin?“ 

„Die Schwiegermutter der Alten ift angefommen. 
Nein, Schwiegertochter ... einerlei. Vor drei Tagen. 
Liegt jeßt Frank mit dem Kind. In der Nacht fchreit es 


349 


viel. Der Magen. Die Mutter fchläft, und die Alte 


bringt es dann Бег. Ich ſpiele Ball mit ihm. Ein Ham: 
burger Ball, hab’ ihn in Hamburg gekauft. Das ftärkt 
den Rüden. Ein Heines Mädchen.” 

„Sie lieben Kinder?” 

„за“, antwortete Kirilloff, übrigens ziemlich gleiche 
muͤtig. 

„Dann lieben Sie wohl auch das Leben?“ 

„За, auch dag Leben. Wieſo?“ 

„Benn Sie doch beichloffen haben, jich zu erfchießen.” 

„Wieſo denn? Warum zufammen? Das Leben für ſich 
und jenes für fich. Leben ЦЕ, aber Tod ift überhaupt nicht." 

„So glauben Sie сп ein zufünftiges ewiges Leben?“ 

„Nein, nicht an ст zufünftiges ewiges, jondern an ein 
diesfeitiges ewiges. Es gibt Minuten, fie fommen zu 
den Minuten, und die Zeit bleibt plöglich ftehen und 
wird ewig fein.” 

„Sie hoffen, zu fo einer Minute zu kommen?” 

Ja.“ 

Ш 

„Das ИЕ in unjerer Zeit wohl faum möglich, meinte 


Stamwrogin, gleichfalls ohne jede Spur von Sronie, lang⸗ 


(ат und wie in Gedanken verloren. „Sn der Apofalypfe 
jchwört der Engel, daß es feine Zeit mehr geben werde. 

„sch weiß. Das ИЕ dort jehr richtig. Sit deutlich und 
genau. Wenn der ganze Menjch das Glüd erreicht, dann 
wird e8 feine Zeit mehr geben, тей fie nicht nötig ift. 
Ein ſehr richtiger Gedanke.“ 

„Wo wird man fie denn hinfteden?” 

„Nirgendwo wird man fie hinfteden. Zeit Ш fein 
Gegenftand, fondern eine Зее. Sie wird auslöjchen im 
Verſtande.“ | 


350 


„Alte philoſophiſche Gemeinpläße, immer ein und 
diejelben von allem Anfange ап“, murmelte Stawrogin 
wie mit einem gewiſſen angeefelten Bedauern. 

„Ein und diefelben! За, immer ein und diefelben 
vom Anfang aller Jahrhunderte an und gar feine anderen 
niemals!" griff Kirilloff mit bligenden Augen Staw— 
roging Wort auf, ganz als läge in diefem Gedanken faft 
ein Triumph! 

„sch glaube, Sie find {себе glüdlich, Kirilloff?“ 

„за, jehr glüdlich”, antwortete diefer, als gäbe er Ме 
allergewöhnlichfte Antwort. 

„Aber noch vor furzem waren Sie doch fo betruͤbt und 
ärgerten fich über Liputin.” 

„gm! ... Aber jegt nicht. Damals wußte ich noch 
nicht, daß ich glüdlich war. Haben Sie ein Blatt gejehn? 
Ein Blatt vom Baum?” 

„Freilich.“ 

„Ich ſah vor kurzem ein gelbes, etwas gruͤn noch, an 
den Raͤndern angefault. Es kam mit dem Wind. Als 
ich zehn Jahre war, ſchloß ich im Winter die Augen und 
ſtellte mir ein Blatt vor, ein gruͤnes, glaͤnzendes, mit Ader— 
chen, und die Sonne leuchtet. Ich ſchlug die Augen auf und 
glaubte nicht, denn es war ſo ſchoͤn, und ſchloß ſie wieder.“ 

„Was ſoll das? Eine Allegorie?“ 

„N—nein ... warum? Keine Allegorie. Einfach ein 
Blatt, Nur ein Blatt. Ein Blatt iſt gut. Alles iſt gut 

„Alles?“ 

„Alles. Der Menſch iſt ungluͤcklich, weil er nicht weiß, 
daß er gluͤcklich iſt. Nur deshalb. Das iſt alles, alles! 
Wer es erfaͤhrt, der wird ſofort gleich gluͤcklich ſein, im 
ſelben Augenblick. Dieſe Schwiegertochter wird ſterben, 


351 


und das Kind bleibt — alles ИЕ gut. Ich бабе es ploͤtz⸗ 
lich entdeckt.” 

„And wenn jemand vor Hunger ftirbt, oder wenn 
jemand ein Eleines Mädchen entehrt und fchändet — Ш 
das auch gut?” 

„uch gut. Und wenn man ihm für das Mädchen den 
Kopf zerfpaltet, auch das ЦЕ gut. Und wenn man ihm 
den Kopf nicht zerfpaltet, auch das ИЕ gut. Alles Ш 
gut, alles. Für alle die ift es gut, die da willen, daß — 
alles gut И. Wenn fie müßten, daß fie es gut haben, dann 
würden fie с8 auch gut haben. Uber jo lange fie nicht 
willen, daß fie es gut haben, fo lange werden Йе es auch 
wicht-gut haben. Das Ш der ganze Gedanke, der ganze, 
und außer ihm gibt es überhaupt gar feinen.“ 

„Bann haben Sie es denn erfahren, daß Sie jo д: 
lich find?" 

„Уп der vorigen Woche am Dienstag, nein, am Mitt: 
woch, denn es war |фоп Mittwoch. In der Nacht.” 

„Und bei welcher Gelegenheit denn?“ 

„sch weiß nicht mehr. So. Jch ging im Zimmer ... 
Einerlei. Sch brachte die Uhr zum Stehen, Es war 
jiebenunddreißig Minuten nach zwei.‘ 

„Wohl zum Symbol dejien, daß ме Zeit ftehen Ме 
ben muß?” 

Kirilloff ſchwieg. 

„Die Menſchen ſind nicht gut,“ un er plößlich иле: 
der, „weil пе nicht wifjen, daß fie gut find. Wenn fie. 
es willen werden, jo werden fie auch nicht mehr ein 
Feines Mädchen” vergewaltigen. Sie muͤſſen nur. alle 
erfahren, daß fie gut jind, und alle werden no gut 
jein. Alle ohne Ausnahme.” ‚bildnyonl® nadis 


352 





„Run, Sie felbft, zum Зейме!, Sie haben es nun er: 
fahren, айо find Sie jeßt gut?“ 

„Sch bin gut.” 

„Damit bin ich übrigens einverftanden”, fagte Staw— 
rogin, mit gerungelter Stirn, vor ſich hin. 

„Ber da lehren wird, daß alle gut find, wird die Welt 
beenden.” 

„Der das lehrte, den haben ſie gekreuzigt“, fagte 
Stawrogin. 

„Er wird kommen und ſein Name wird ſein Menſch— 
gott.“ 

„Gottmenſch?“ 

„Nein, Menſchgott. Das iſt der Unterſchied.“ 

„Sind nicht vielleicht Sie es, der hier das Laͤmpchen 
vor dem Heiligenbilde angezuͤndet hat?“ 

„за, ich habe es angezuͤndet.“ 

„Wieder gläubig geworden?” 

„Die Alte liebt, daß das Lämpchen ... Heute hatte 
йе feine Zeit‘, fagte Kirilloff undeutlich. 

„Aber jelbit beten Sie noch nicht?” 

„sch bete zu allem. Sehen Sie, eine Spinne friecht 
dort an der Wand und ich bin ihr dankbar dafür, daß fie 
kriecht.“ 

Seine Augen brannten wieder. Er ſah immer noch 
unverwandt Stawrogin an, mit feſtem, ſtandhaftem 
Blick. Stawrogin beobachtete ihn finſter und wider— 
willig, doch in ſeinem Blick lag kein Spott. 

Ich wette, daß Sie, wenn ich naͤchſtens wiederkomme, 
bereits an Gott glauben werden.“ 

Er ftand auf und nahm feinen Hut. 

„Wieſo?“ Kirilloff erhob fich gleichfalls. 


23 Doftojemwsti, Die Dämonen. 80.1 353 


„Wenn Sie wühten, daß Sie an Gott glauben, dann 
würden Sie an ihn glauben. Da Sie aber noch nicht 
wiſſen, daß Sie an ihn glauben, fo glauben Sie auch noch 
nicht an ihn“, fagte Stawrogin mit einem flüchtigen 
Lächeln. 

„Das Ш es nicht." Kirilloff dachte паф. „Sie haben 
den Gedanken umgekehrt. Ein Kavaliericherz. Denken 
Sie daran, was Sie in meinem Leben bedeutet haben, 
Stawrogin.“ | 

„Leben Sie wohl, Kirilioff.” 

„Kommen Sie wieder nachts; wann?“ 

„sa, haben Sie denn fchon vergeljen, was morgen 
bevorfteht ?" 

„Ach, richtig, ich vergaß. Aber jeien Sie unbejorgt, 
ich werde nicht verjchlafen. Sch verftehe aufzumachen, 
wann ich will. Ich lege mich hin und fage: um fieben 
Uhr — und mache auf um jieben Uhr; um zehn Uhr — und 
wache auf un zehn Uhr.‘ 

„Sie haben ja merkwürdige Eigenfchaften.” Staw⸗ 
rogin {аб in fein bleiches Фей, | 

„Sch werde die Hofpforte aufmachen.” 

„Bemühen Sie fich nicht, Schatoff wird mich hinaus: 
laſſen.“ 


„Ach ſo, Schatoff. Gut. Leben Sie wohl.“ 


VI 
Die Flurtuͤr des leeren Hauſes, in dem Schatoff 
wohnte, war nicht verſchloſſen. Sm Flur war es ftod- 
dunfel, fo daß Stamwrogin mit der Hand taftend nad) der 
Treppe zu fuchen begann. Da wurde plößlich im oberen 
Stod eine Tür aufgemacht und ein Lichtſchimmer ließ 


353 





ihn die Treppe ſehen. Schatoff trat felbft nicht heraus, 
er ließ nur die Tür offen ftehen. Als Stawrogin oben 
anlangte und an der Türjchwelle ftehen blieb, ſah er ihn 
in der anderen Ede des Zimmers an feinem Tiſch ftehen 
und warten ... 

„Würden Sie mich in einer Angelegenheit empfangen?“ 
fragte Stamrogin, ohne einzutreten. 

„zreten Sie ein. Sehen Sie ſich,“ antwortete Scha= 
toff. „Schließen Sie die Tür. Warten Sie, ich werde 
feltft .. .” 

Er ſchloß die Tür, drehte den Schlüffel um und fette 
fih dann Stamwroain gegenüber. Er war in diejer Woche 
merklich abgemagert und fchien jeht zu fiebern. 

„Sie haben mid, müde gequält, fagte er halblaut 
murmelnd, den Blid zu Boden geſenkt. „Warum find 
Sie nicht früher gelommen ?” 

„Sie waren jo überzeugt, daß ich fommen merde?" 

„За... Warten Sie, ich habe im Fieber phanta- 
пе... vielleicht phantafiere ich auch jetzt noch ... 
Marten Sie. 

Er ftand auf, ging zu feinem Bücherbrett und nahm 
von dem oberften der drei Bretter einen Gegenftand: es 
war ein Revolver. 

„зп einer Nacht träumte mir im Fieber, daß Sie 
fommen würden, um mich zu töten. Da habe ich mir 
am anderen Morgen von dem Taugenichts Lämfchin für 
mein legtes Geld diefen Revolver gekauft. Ich wollte 
mich Ihnen nicht ergeben. Später kam ich wieder 
zu mir... Sch habe weder Kugeln, noch) Pulver... 
feitdem liegt er hier auf dem Bücherbrett. Warten Sie“ 

Er ging ſchon zum Feniter und wollte es öffnen. 


es · 355 


„Nicht doch, warum hinausmwerfen!” rief ihn Staw— 
rogin zurüd, „Er foftet Geld ... und morgen würden 
die Leute davon Sprechen, daß unter Schatoffs FTenfter 
Mordwerkzeuge Педеп. Legen Sie ihn wieder hin. — 
Sp. Und jeßt jeßen Sie fih. Sagen Sie, warum beich- 
ten Sie mir förmlich Ihren Gedanken, daß ich zu Ihnen 
fommen würde, um Sie zu töten? 34 bin auch jekt 
nicht gefommen, um mich mit Ihnen zu verfühnen, fon: 
dern um über etwas jehr Notwendiges mit Ihnen zu 
iprechen. Erklären Sie mir зипафЁ eines: Sie haben 
mich doch nicht wegen meiner Verbindung mit Shrer 
Frau geſchlagen?“ 

„Sie willen doch felbft, daß ich nicht deswegen ...“ 

Schatoff jah wieder zu Boden. 

„Und auch nicht wegen des dummen Klatiches über 
Darja Pawlowna?“ 

„Kein, nein, natürlich nicht! Blödfinn! Meine 
Schweſter hat mir gleich zu Anfang gefagt . . .” ermiderte 
Schatoff mit Ungeduld, fchroff, und Гай ftampfte er mit 
dem Fuß auf. | 

„Alſo habe ich es richtig erraten ... und auch Sie 
haben dag andere erraten,” fuhr Stamwrogin ruhig fort. 
„Sie irren fich nicht, es ıft jo: Marja Zimofejemna Les 
Барни ИЕ meine rechtmäßige, mir vor viereinhalb Jahren 
in Petersburg angetraute Frau. — Sie haben mich doch 
ihretwegen geichlagen ?" 

Ganz beftürzt [аб Schatoff da, hörte und ſchwieg. 

„sch ahnte es und fonnte es doch nicht glauben”, 
murmelte er endlich und jah dabei Stawrogin jonder: 
bar an. 

„Und fo fchlugen Sie?" 


396 





Schatoff wurde feuerrot und ftammelte Га zufammen: 
hangslos: 

„sch habe es ... wegen Ihrer Erniedrigung ... für 
Ihren Tall ... Ihre “иде... 54 trat nicht an Sie 
heran, um Sie zu beftrafen ... Als ich auf Sie zuging, 
wußte ich felbft noch nicht, daß ich fchlagen würde, Sch 
‚.. Бабе es deswegen ... weil Sie fo viel in meinem 
Leben bedeutet haben . . . Ich —“ 

Verſtehe, verſtehe ſchon, ſparen Sie die Worte. 68 
tut mir leid, daß Sie heute fiebern, denn ich muß uͤber 
eine wichtige Sache mit Ihnen ſprechen.“ 

„sch habe ſchon zu lange auf Sie gewartet.“ Schatoff 
zitterte geradezu und erhob fich vom Stuhl. „Sprechen 
Sie von Shrer Angelegenheit, ich werde dann ſprechen ... 
nachher ...“ 

Er jeßte fich wieder. 

„Diefe Sache hat mit alledem nichts gemein,” begann 
Stawrogin, der ihn mit Neugier beobachtete. „Gewiſſe 
Umftände haben mich gezwungen, heute noch dieſe рае 
Stunde zu wählen, um Sie zu benachrichtigen, daß man 
Sie vielleicht bald ermorden wird. 

Schatoff blidte ihn wild an. 

„Sch weiß, daß mir Gefahr drohen Fönnte,” fagte er 
zurüdhaltend, „aber — wie fönnen Sie denn das willen?" 

„Weil ich ebenfalls zu jenen gehöre und eben ſolch ein 
Mitglied des Bundes bin, wie Ste.” 

„Sie .... Sie ... ein Ölied 568... Bundes?” 

„sch ſehe an Ihren Augen, daß Sie alles von mir er= 
wartet hätten, nur das nicht," fagte Stamwrogin, mit faum 
merflihem Lächeln. „Uber, erlauben Sie, dann mußten 
Sie aljo fchon, daß man Sie ermorden will?” 


. 357 


„Nicht einmal gedacht habe ich daran! Und auch jeßt 
glaube ich es nicht, objchon Sie е8 fagen! Aber wer fann 
denn vor dieſen Ejeln ficher fein!“ rief er plößlich wütend 
und fchlug mit der Fauft auf den Tiſch. „Ich fürchte fie 
aber nicht! Ich Бабе mit ihnen gebrochen. Der eine ift 
viermal zu mir gelommen und hat mir gefagt, daß man 
austreten kann ... aber —“ er {аб auf Stawrogin — 
„was willen Sie denn eigentlich davon?" 

„о, fürchten Sie nichte, ich betrüge Sie nicht,” fuhr 
Stamrogin fühl fort, mit dem Ausdrud eines Menfchen, 
der nur eine Pflicht erfüllt. „Sie wollen mic) erami- 
nieren: was ich davon weiß? Ich weiß, daß Sie in diefen 
Verband eingetreten find, ald Sie noch im Auslande 
weren, furz vor Ihrer Reife nad) Amerika und, ich glaube, 
gleich nach unferem letzten Geſpraͤch, über dag Sie mir 
dann ja in Shrem Brief aus Amerika fo viel gefchrieben 
haben. Verzeihen Sie, bitte, daß ich nicht gleichfalls mit 
einem Brief darauf geantwortet habe, und nur... 

„Das Geld fchidten! Warten Sie einen Augenblick,“ 
unterbrach ihn Schatoff, 309 eilig das Schubfach des 
Tiſches auf und fuchte unter einem Stoß von Papieren 
einen Hundertrubelichein hervor. „Hier, bitte, nehmen 
Sie die hundert Rubel wieder, die Sie mir fchidten, ohne 
Sie wäre 14 dort umgefommen. Sch würde Ihnen die 
Summe noch lange nicht zurüdgeben fönnen, ... wenn 
nicht Ihre Mutter diefe Hundert Rubel vor neun Mona: 
ten ... nach meiner Ятап ей... mir meiner Armut 
wegen geſchenkt hätte. Doch fahren Sie fort, Мне...” 

Schatoff war vor Aufregung ganz atemlos. 

„sn Amerika önderten Sie dann Ihre Anfchauungen, 
und als Sie nad) der Schweiz zurüdgefehrt waren, пой: 


358 





ten Sie fich vom Bunde losfagen. Man antwortete Ihnen 
nicht, fondern beauftragte Sie, Мег in Nußland von 
irgend jemandem eine Seßmajchine in Empfang zu neh: 
men und fie fo lange aufzubewahren, М8 eine von jenen 
beauftragte Perfon jie Ihnen wieder abnehmen würde. 
$4 bin nicht über alle Einzelheiten unterrichtet, doch 
in der Hauptjache verhält es fich fo, nicht mahr? Sie 
aber nahmen den Auftrag unter der Bedingung oder 
vielleicht auch nur in der Hoffnung an, daß e8 — deren 
legte Forderung fei, und Sie dann endgültig frei wären. 
Alles das habe ich nicht von jenen, fondern ganz zufällig er: 
fahren. Sch möchte Sie nun auf eines aufmerfjam machen, 
was Sie поф nicht zu wiſſen fcheinen: daß nämlich jene 
Leute durchaus nicht die Abſicht haben, Sie freizugeben.” 

„Das Ш unmöglich !" brüflte Schatoff auf. „Sch habe 
ihnen ehrlich erklärt, daß ich geiftig nichts mehr mit ihnen 
gemein habe! Das ЦЕ mein Recht, das Recht meines Ge: 
wifjens und meiner Überzeugung ... Sch werde das 
nicht dulden! Es gibt feine Macht, ме...” 

„Wiſſen Sie, fchreien Sie lieber nicht fo," fiel ihm 
Stamrogin fehr ernft ins Wort. „Diefer Werchowengfi 
ИЕ ein Menſch, der vielleicht in diefem Augenblid hier 
auf Ihrem Treppenflur zuhört, wenn nicht mit eigenen, 
ſo doch mit fremden Ohren, — mas 14 ja ſchließlich gleich 
bleibt. Sogar der ewig betrunfene Lebädfin war ver: 
pflichtet, Sie zu beobachten, und Sie mußten vielleicht 
wiederum auf ihn aufpaſſen, — war's nicht jo? Übrigens, 
jagen Sie mir lieber, hat 14 Werchowenski jet mit Ihren 
Argumenten einverftanden erflärt, oder nicht?" 

„бт war ee: ет jagte, > fünne — und 1$ 
hätte das Ned . 


359 


„un, dann betrügt er Sie. 34 weiß genau, daß jo: 
gar Kirilloff, der beinahe überhaupt nicht zu ihnen дег 
hört, beauftragt war, Nachrichten über Sie zu jchiden. 
Agenten haben fie in Mengen, und viele wiſſen es nicht 
einmal, daß fie dem Verbande dienen. Auf Sie hat man 
beftändig aufgepaft. Piotr Stepanomitjch ИЕ unter an: 
derem auch deshalb hergefommen, um Ihre Ungelegen: 
heit endgültig zu erledigen: da Sie zu viel юЩеп und 
vielleicht fie alle verraten Eönnten, hat er die Bollmacht, 
Sie in einem pafjenden Augenblid zu bejeitigen. Er- 
lauben Sie mit, zu bemerken, daß jene die Гейе Über- 
zeugung haben, daß Sie ein Spion find, der, wenn er 
auch bis jeßt noch nichts verraten hat, es doch bejtimmt 
tun wird. Iſt das wahr?” fragte Stamwrogin in einem 
ruhigen, ganz gewöhnlichen Tone. 

Schatoff verzog den Mund, als er eine ſolche Frage 
in einem jolchen Tone hörte. 

„Und wenn ich ein Spion wäre — wen ſollte ich denn 
etwas verraten?” fragte er haͤmiſch zurüd, „Nein, 
laffen Sie das! Zum Teufel mit ши! Uber Sie!" 
vief er aus, fich plößlich von neuem auf die Nachricht 
jtürzend, die Stamrogin betraf, und die ihm fichtlich weit 
mehr erjchüttert hatte, als die von feiner eigenen Ge: 
fahr. „Aber Sie, Sie, Stamwrogin, wie fonnten Sie 
ſich in eine fo ſchamloſe, geiftloje Knechtsgefellichaft ver: 
lieren! ... Sie, ein Mitglied diefer Bande! Sit denn 
das die Heldentat Nicolai Stawrogins!?“ rief er ganz 
verzweifelt aus und erhob wie fafjungslos die Hände, als 
fönnte es nichts Bittereres und Troſtloſeres für ihn geben, 
als ее udecuga 

„Erlauben Sie —“ wunderte Stawrogin * tatſaͤch⸗ 


360 





lich, „Sie jcheinen ja förmlich eine Sonne in mir zu jehen 
und fich felbft, im Vergleich zu mir, für jo etwas wie ein 
Ущен zu halten? Auch aus Ihrem Brief aus Amerika 
habe ich das ...“ 

„Sie... Sie willen ... 65, laſſen wir mich aus dem 
Spiel!” brach Schatoff plößlich das ab. „Aber wenn 
Sie über fich felbft etwas jagen, erklären koͤnnten? ... 
Auf meine Frage? — So tun Sie es!" bat er erregt. 

„Mit Vergnügen. Sie fragen, wie ich mich in diejen 
Kreis verlieren könnte, in dieje geiftige Spelunfe? Sch 
bin jeßt jogar verpflichtet, Ihnen einige Mitteilungen 
darüber zu machen. Genau genommen, gehöre ich durch: 
aus nicht zu diefem Bunde, habe auch früher nicht zu ihm 
gehört und habe weit mehr das Necht, als Sie, ihn zu 
verlaſſen, da ich ausdrüdlich niemals in ihn eingetreten 
bin. Im Gegenteil, ich habe den Leuten gleich zu Un: 
fang erklärt, daß ich ihnen durchaus nicht fonderlich ges 
wogen bin, — und wenn ich ihnen zufällig einmal ge= 
holfen Бабе, fo habe ich das nur wie ein müßiger Menſch 
getan. ch habe teilweije an der Neorganijation des Зет 
bandes nach einem neuen Plane mitgearbeitet, doch das 
ift auch alles. Jene aber find jetzt bedenklich geworden 
und mit 14 übereingefommen, daß auch ich ihnen де: 
fährlich werden könnte, und deshalb bin auch ich, wenn 
ich mich nicht irre, zum Tode verurteilt.” 

„Oh, mit Todesurteilen- find fie gleich bei der Hand, 
das geht bei ihnen ſchnell — und alles vorjchriftsmäßig 
auf bejtempeltem Papier, das dann von dreieinhalb 
Meı jchen unterjchrieben wird! Und Sie glauben, daß 
die dazu fähig wären! .. 

„Hierin haben Sie teilmeife recht, teilweiſe auch nicht,“ 


361 


fuhr Stamrogin mit der früheren Gleichmütigfeit, faft 
Zaulheit, fort. „Zweifellos Ш auch viel Phantafie dabei, 
иле ja gewöhnlich in folhen Fällen, und in der Phantafie 
vergrößert das Häufchen {ет Wachstum und feine Зе: 
deutung. За, meiner Meinung nad) bejteht ме ganze 
Geieliichaft, wenn Sie wollen, einzig und allein aus 
Piotr Werchowenski, und er ift ſchon etwas zu bejcheiden, 
wenn er 14 nur für einen Agenten des Verbandes hält. 
Der Hauptgedanfe, der der ganzen Sache zugrunde liegt, 
ИЕ nicht gerade duͤmmer, als bei anderen Verbänden die: 
jer Art. Sie haben Beziehungen zur Snternationale. 
Es ift ihnen gelungen, fich in Rußland Agenten anzulegen, 
und Sie haben fogar ein ziemlich originelles Verfahren er: 
funden ... doch jelbftverftändlich nur theoretiſch. Was 
nun Cie und mich betrifft, ich meine, ihre Abjichten mit 
ung, jo ift ihre ти фе Organifation eine jo dunkle Sache, 
daß man in der Tat auf alles mögliche gefaßt fein kann. 
Und vergejjen Sie nicht, Werchowenski ift ein Menfch, 
der das, was er will, auch durchſetzt.“ 

„Зе Wanze, diefer ungebildete Flegel, diefer За: 
fopf, der von Rußland überhaupt nichts verfteht!" rief 
Schatoff wütend aus. 

„Sie kennen ihn nur flüchtig. $8 Ш wahr, daß fie alle 
nur wenig von Rußland verftehen, aber ſchließlich doch 
mwohl nur wenig weniger ald Sie und ich. Außerdem Ш 
Werchowenski би ий." 

„Werchowenski Enthuſiaſt?“ 

„о ja. Es gibt einen Punkt, wo er aufhört, bloß 
Narr zu fein, und fich in einen ... Halbverrücten ver: 
wandelt. Erinnern @е fich bitte eines Shrer eigenen 
Ausſpruͤche: ‚wiffen Sie auch, mie flarf ein einzelner 


362 


Menich fein kann‘? Bitte, lachen Sie nicht, er ift fogar 
ſehr fähig, den Hahn eines Gewehres abzudrüden. Die 
Leute find Überzeugt, daß auch ich ein Spion bir. Und 
da fie ме Sache nicht anzufaljen verftehen, fo befchuldigen 
йе mit Vorliebe andere der Spionage.” 

„Aber Sie fürchten fie doch nicht.” 

„Rein ... Ich fürchte fie nicht ее... Doch mit 
Ihnen ift es etwas ganz anderes. 54 habe Sie wenig: 
ftens gewarnt, damit Sie fich einzurichten willen. 68 
braucht einen nicht zu beleidigen, daß einem von Dumm: 
föpfen Gefahr droht. Uber wie ich fehe, ift es ſchon viertel 
nach elf.” Stawrogin blidte auf feine Uhr und erhob fich. 
„sch möchte nur noch eine ganz nebenjächliche Frage 
an Sie ftellen.” 

„um Gottes willen!" rief Schetoff und ſprang 126 auf. 

„Sie meinen?” Stawrogin jah ihn fragend ап. 

„Sagen Sie, ftelien Sie die Trage ... um Gottes 
willen!’ wiederholte Schatoff in unbeichreiblicher Auf: 
regung. „Uber mit der Bedingung, daß auch ich dann 
eine Frage ftellen kann! ch flehe Sie ап... daß aud) 
14...34 kann nicht mehr! — Stellen Sie Shre Frage. 

Stawrogin wartete ein wenig, dann begann er: 

„sch hörte, Sie hätten hier einigen Einfluß auf Marja 
Timofejewna gehabt, und diefe foll Sie gern gefehen und 
Ihnen zugehört haben. Sit das wahr?” 

„за... йе ſah ... Sa — fie fah пи...’ ſtammelte 
Schatoff ein wenig wirr. 

„sch habe ме Abjicht, in diefen Tagen meine Heirat 
mit ihr hier in der Stadt öffentlich befanntzumachen.” 

„ЭЙ das möglich?" flüfterte Schatoff faft entjekt. 

„Sie meinen das — in welchem Sinne?... Es liegen 


363 


durchaus feine Schwierigkeiten vor. Die Злаизеидеп 
jind hier. Es geſchah, wie gejagt, damals in Peters: 
burg vollfommen ruhig und rechtmäßig in Gegen: 
wart der beiden Zrauzeugen, Kirilloff und Piotr Wer: 
chowensfi, und von Lebaͤdkin, den ich jeßt das Vergnügen 
habe, meinen Verwandten zu nennen. Es blieb bisher 
allen unbefannt, weil dieje drei ihr Wort gaben, darüber 
zu ſchweigen.“ 

„sch meinte nicht das... Sie jagen es fo ruhig... 
aber fahren Sie fort! Hören Sie, man hat Cie doch nicht 
mit Gewalt zu diefer Ehe gezwungen, doch nicht mit Ge: 
walt?“ 

„Nein, mich hat niemand mit Gewalt dazu gezwungen.“ 
Stawrogin laͤchelte uͤber Schatoffs einfaͤltigen Eifer. 

„Und was ſie da von ihrem Kinde redet? ...“ beeilte 
lich Schatoff, wirr, wie im Fieber. 

„Bon ihrem Kinde redet? Bah! Das wußte ich nicht; 
höre es zum erſtenmal. Sie hat nie ein Kind gehabt und 
hätte es auch gar nicht haben koͤnnen: Marja Timofejewna 
Ш Mädchen.“ 

„Ah! Das dachte ich mir auch! Hören Sie!’ 

„Bas fehlt Ihnen, Schatoff?" 

Schatoff bededte fein Geficht mit den Händen, wandte 
jich ab, Fehrte fich dann wieder um und padte plößlich 
Stamrogin feit an den Schultern. 

„Wiſſen Ste denn auch, wiljen Sie denn wenigſtens,“ 
rief er wieder laut, „warum Sie das alles getan haben 
und warum @1е jich jeßt zu меег Buße entichließen?” 

„Ihre Frage ift Нид und boshaft, aber ich habe ме 
Abſicht, auch Sie in Erſtaunen zu ſetzen. За, fait weiß 
ich es, warum ich Damals geheiratet und warum ich mich 


364 








jetzt entichloffen habe, diefe ‚Buße‘, wie Sie fagen, auf 
mich zu nehmen.“ 

„Laſſen wir das... davon раст... warten Öle... 
Iprechen Sie von der Hauptfache, von der Hauptjache ... 
Sch habe zivei Jahre auf Sie gewartet!" 

„За?“ 

„sch Бабе ſchon zu lange auf Site gewartet, ich habe 
ununterbrochen an Sie gedacht! @е find der einzige 
Menfch, der’s könnte ... Sch habe Ihnen fchon aus 
Amerika davon gefchrieben ...“ 

„sch erinnere mich nur zu gut Ihres langen Briefes.“ 

„Der zu lang war, um durchgelejen zu werden? Ein: 
verftanden. Sechs Bogen ... Schweigen Öie, jchweigen 
Sie! Sagen Sie: fünnen Sie mir noch zehn Minuten 
Ichenfen, aber gleich, jeßt gleich . . . Sch habe zu lange auf 
Sie gewartet!" 

„Bitte, auch eine halbe Stunde, aber nicht mehr, wenn’s 
Ihnen möglich ift, fich damit zu begnügen.” 

„Aber ... nur mit der Bedingung,” unterbrach ihn 
Schatoff jähzornig, „daß Sie Ihren Ton ändern. Hören 
Sie, ich verlange es, ich fordere es, während ich Sie 
doch darum anflehen müßte... Verftehen Sie, was das 
heißt, zu fordern, wenn man weiß, daß man flehen 
müßte?” 

„Ich verftehe, daß Sie fich fo über alles Gemöhnliche 
erheben wollen, um eines höheren Zweckes willen.” 
Stamrogin lächelte faum merklich. „Und mit Bedauern 
jehe ich, daß Sie im Fieber find.” 

„Sch bitte, mich zu achten, ich verlange es!” rief 
Schatoff. „Nicht meine Perſon felbft, zum — Teufel 
mit ihr, — aber das andere .. . nur Мееп einen Augen: 


77 


365 


blick, für diefe paar Worte... Wir find zwei Weſen und 
treffen ung Мег außerhalb von Naum und Zeit... zum 
leßtenmal in der Welt. Lafjen Sie diejen Ihren Ton, 
und nehmen @е einen menfchlihen an! Sprechen Sie 
doch ein einziges Mal im Leben mit einer menfchlichen 
Stimme! Nicht um meinetwillen, fondern um Shret- 
willen! Berftehen Sie denn nicht, daß Sie mir dieſen 
Schlag in Ihr Geficht ſchon deshalb verzeihen müjjen, 
weil ich Ihnen damit Gelegenheit gegeben habe, Збте 
grenzenloje Macht zu fühlen. Schon wieder lächeln Sie 
Ihr verächtliches, angeefeltes Gefellichaftsläheln! OB, 
warn werden Sie mich endlich verftehen! Zum Teufel 
mit dem verfluchten Herrenjehn in Ihnen! ©o be: 
greifen Sie doch, Рай ich das verlange, fonft will ich 
nicht mit Ihnen fprechen, werde es nicht tun, um feinen 
Preis, für nichts in der Welt!“ 

Seine fanatijche Wut grenzte ſchon an Fiebermahn: 
finn. Stawrogins Gelicht verfinfterte ИФ und er wurde 
vorlichtiger. 

„Da ich nun fchon eingemilligt habe, noch eine halbe 
Stunde Мег zu bleiben,” ſagte er eindringlid und ernt, 
„obgleich meine Zeit fehr foftbar ift, jo Fünnten Cie 
mir doch glauben, daß ich die Abſicht habe, Sie wenig: 
ftens mit Intereſſe anzuhören.” 

Er {ее fich wieder auf feinen Platz. 

„Seen Sie ſich!“ rief Schatoff plöglich und feßte fich 
dann gleichfalls. 

„Sinftweilen erlauben Ste mir aber noch, Sie daran 
zu erinnern, daß ich meine Bitte an Sie, wegen Marja 
Timofejewna, eine Bitte, die wenigſtens für Marje 
Timofejewna von großer Wichtigkeit .. .“ 


366 





„Nun?“ Schatoff Argerte fi, wie ein Menſch, den 
man plößlich an der wichtigiten Stelle feiner Rede unter: 
bricht, und der dann, wenn er feinen Miderpart auch 
anjieht, doch noch nicht den Sinn der Worte verfteht. 

„es Und Sie unterbrachen mich, noch bevor ich meine 
Bitezu Ende fprechen konnte“, ſchloß Stawrogin lächelnd. 

„Eh, was, Unjinn, nachher!” мег Schatoff und winfte, 
da er endlich diefe Anmafung begriff, nur angemwidert 
ab und ging jofort gerade auf fein Ziel los, 


УП 

„Wiſſen Sie auch,” begann er faft drohend, mit vor: 
gebeugtem Körper und glänzenden Augen, wobei er den 
Zeigefinger feiner Rechten vor fich erhoben hielt, mas 
er jelbft gar nicht zu bemerken fchien, „willen Sie auch, 
welches jest Das einzi.e Gotträgervolf Ш, das da 
fommen wird, die Welt zu erlöfen und zu erneuen mit 
dem Namen des neuen Gottes — das einzige За, dem 
die Quellen des Lebens und des neuen Wortes gegeben 
по... Willen Sie auch, weiches Volf das ift und wie 
jein Name lautet?" 

„Nach Ihrem Gebaren zu urteilen, muß ich unbedingt 
und wohl jo fchnell wie möglich jagen, daß dieſes Voll 
das rufjifche ſei.“ 

„und fchon lachen Sie! Oh, Ruſſen!“ 

Schatoff krallte vor Wut die Hand ins Haar. 

„Beruhigen Sie fich, ich bitte Sie darum. Im Gegen: 
teil: ich hatte jogar gerade etwas von dieſer Art er: 
wartet.“ 

„Don diefer Art erwartet? Uber Ihnen felbit find 
dieje Worte nicht bekannt?“ 


367 


„ЭБ, йе find mir durchaus befannt. Ich fehe nur zu 
gut, wohin Sie damit wollen. Alles, mas Sie fagten, 
und fogar der Ausdrud ‚Gotträgervolf ift nichts 
anderes, als die Schlußfolgerung aus unjerem Geſpraͤch, 
dag mir vor zwei Jahren im Auslande hatten, kurz vor 
Ihrer Reife nach Amerika ... Wenigftens jo шей ich 
mich dejjen entjinnen kann.“ 

„Aber das ЦЕ ja doch Ihr Ausſpruch, vom Anfang 
bis zum Ende Ihr Зи ртиф — und nicht der meinige! 
Ihre eigenen Worte, und nicht nur die Folgerung aus 
unferem Gefpräh! Und wie fünnen Sie überhaupt 
jagen ‚unferem‘ Geſpraͤch! Es war da ein Lehrer, der 
große, mächtige Worte predigte, und е8 war da ein 
Schüler, der von den Toten auferftand und zuhörte. Ich 
war der Schüler und der Lehrer waren Sie,“ 

„Doch erlauben Sie, wenn ich mich recht entlinne, jo 
тат её gerade nach meinen Worten, daß ©ie in jenen 
Bund eintraten und dann nach Amerika reiften?“ 

„за — doch ich fchrieb Ihnen darüber aus Amerika. 
Ich konnte mich damals noch nicht losreißen von all dem, 
woran ich mich von Kindheit auf feitgejfogen hatte, das 
das Entzüden all meiner Hoffnungen gemejen war und 
die Tränen meines ganzen Hafjes und meiner ganzen 
Verzweiflung ... Ob, es Ш ſchwer, die Götter zu wech: 
jeln! Sch glaubte Ihnen damals nicht, denn ich wollte 
nicht glauben und warf mich noch zum leßtenmal in 
dieje ... in diefe Kloafe ... Doch die Saat blieb und 
ſchoß auf und wuchs. Uber jagen Sie im Ernft: haben 
Sie meinen Brief aus Amerifa überhaupt nicht ge= 
leſen?“ 

„Ich habe drei Seiten geleſen, die beiden erſten und 


368 





die leßte, und das andere überflogen. Übrigens habe 
ich mir [chon immer vorgenommen ...“ 

„65, einerlei, laſſen Sie es, zum Teufel damit,“ 
winkte Schatoff ab. „Wenn Sie aber Ihren früheren 
Morten untreu geworden find, wie fonnten Sie jie 
denn damals ausjprechen? Das ИЕ es, was mich ев 
wuͤrgt!“ 

„Ich habe auch damals nicht mit Ihnen geſcherzt. 
Als ich Sie uͤberzeugen wollte, bemuͤhte ich mich viel— 
leicht weit mehr um mich ſelbſt, als um Sie“, antwortete 
Stawrogin raͤtſelhaft. 

„Nicht geſcherzt! In Amerika habe ich drei Monate 
auf Stroh gelegen neben einem ... Ungluͤcklichen, von 
dem ich erfuhr, daß Sie in derjelben Zeit, alg Sie in 
meine Seele Gott und die Heimat pflanzten, das Herz 
diejes jelben, diejes Maniaken Kirilloff, vergifteten ... 
Sie haben Lüge und Verleumdung in ihm beftätigt und 
feine Bernunft jchließlih zum Wahnfinn gebracht. 
Gehen Sie, jehen Sie ihn 14 ап... Das ИЕ jetzt Ihr 
Gejchöpf! Aber Sie haben ihn ja gefehen ...“ 

„Erſtens möchte ich Ihnen jagen, daß mir Kitilloff ſo— 
eben ſelbſt gejagt hat, daß er glüdlich ИЕ und volllommien. 
Mas Sie da von ‚derjelben Zeit‘ jagen, das ift allerdings 
Юй richtig — aber was liegt daran? Sch wiederhole 
nochmals, daß ich weder Sie noch ihn betrogen habe.“ 

„Sie jind Atheift? Sind Sie jeht Atheiſt?“ 

„а.“ 

„Und damals?" 

„Ebenfo wie heute.” 

„Sch habe nicht für mich um Achtung gebeten, als ich 
das Gefpräc begann. Das hätten Sie, bei Ihrem Vers 


24 Doftoiemwati, Die Dämonen. Bd. J. 369 


ftande, wirklich verftehen koͤnnen“, murmelte Schatoff 
unmillig. 

„sch bin nicht bei Ihrem степ Worte aufgeftanden, 
Бабе nicht diefes Geipräch abgebrochen, bin nicht fort: 
gegangen, fiße noch jeßt Мег und antworte gehorfam auf 
Ihre Fragen und ... Schreie — aljo habe ich doch die 
Achtung vor Ihnen nicht vergefjen.“ 

Schatoff unterbrad, ihn mit einer Handbemegung: 

„Erinnern Sie Sich noch Ihres Ausſpruchs: ‚ein 
Atheift kann nicht Ruſſe fein‘ — ‚ein Atheiſt hört fofort 
auf, Жийе zu fein‘ — erinnern Sie ſich?“ 

„sa? fragte Stamwrogin gleichſam. 

„Sie fragen noch? Sie haben es veraeffen? Und 
doch Ш es einer der richtiaften Hinweiſe auf eine Der 
wichtigften Bejonderheiten des ruffiihen Geiftes, Ме 
@е erraten haben. Nein, das haben Sie nicht vergeſſen 
fönnen! Und ich werde Sie ап noch etwas erinnern. Da: 
mals fagten Sie fogar: „За, wer nicht rechtgläubig ift, 
ver апп nicht Ruſſe fein‘... .“ 

„Mir fcheint, dag ift ein Gedanke ver Slamophilen.” 

„Nein. Die jehigen Slawophilen würden ſich von 
ihm losfagen. Heute ift ja alle Welt Нидег geworden! 
Sie aber gingen damals noch weiter: Sie faaten, daß 
der Katholizismus uͤberhaupt nicht mehr Ehriftentum fei. 
Sie behsupteten, daß der Ehriftug, Den Rom verfündet, 
der dritten Verſuchung des Satans nicht widerftanden 
hat, und daß Rom, wenn es alle Welt lehrt, Chriftus 
fönne ohne Erdenreich auf der Erde nicht beitehen, da— 
mit den Antichrift verfündet und den ganzen Welten 
zugrunde gerichtet hat. Und Sie wielen noch darauf hin, 
daß, wenn Frankreich fich auält, daran einzig Der Katholi⸗ 


370 





zismus die Schuldträgt, denn Frankreich habedenſtinken— 
den römischen Gott zwar verworfen, einen neuen Gott 
aber nicht zu finden vermocht. Ja, das olles haben Sie ва: 
mals jagen können! Sch Habe unfere Geſpraͤche behalten.” 

„Wenn ich gläubig wäre, jo würde ich zweifellos auch 
jeßt noch dasselbe wiederholen: ich log nicht, als ich wie 
ein Gläubiger |prach,” fagte Stawrogin jehr ernft, „aber 
ich verjichere Ihnen, daß diefe Wiederholungen meiner 
früheren Gedanken einen unangenehmen Eindruck auf 
mic, machen. Können Sie nicht abbrechen?" 

„Wenn Sie gläubia wären?!" rief Schatoff, ohne der 
Bitte die geringfte Beachtung zu ſchenken. „Aber wer 
war её denn, der mir einft jagte: ‚Wenn man mir mathe: 
matijch bemwiefe, daß die Wahrheit nicht in Ehriftus ift, 
jo würde ich ed dennoch vorziehen, mit Chriftug zu bleiben, 
als mit der Wahrheit‘ —? Sollten Sie das wirklich 
nicht gewejen jein? Oder haben Sie das gejagt? Haben 
Sie's?“ | 

„Aber erlauben Sie auch mir, endlich zu fragen,“ 
— Stawrogin erhob nun auch feine Stimme — „mas 
Sie mit diefem ungeduldigen und .. . boshaften Examen 
eigentlich von mir wollen?” 

„Dieſes Eramen vergeht und Sie werden nie wieder 
daran erinnert werden.” 

„Sie beftehen immer поф darauf, daß wir außerhalb 
von Raum und Zeit find?” 

„Schweigen Sie!" fuhr ihn Schatoff plößlich ап. „Ich 
bin dumm und ungeſchickt, Doch mag mein Namein Lächer: 
lichfeit untergehen — darauf fommt’s nicht ап. Aber 
... werden Sie mir geftatten, hier vor Ihnen wenig: 
fteng noch Ihren größten Gedanken von damals zu wieder: 


24 371 


holen ... nur zehn Zeilen, nur die ее Zuſammen— 
fafiung 

„Wiederholen Sie... wenn es wirflih nur die Зи: 
fammenfafjung И...” | 

Stamwrogin wollte jchon nach der Uhr jehen, bezwang 
lich aber und tat es nicht. 

Schatoff beugte wieder den Oberkörper vor und auf 
einen Augenblid erhob er ſogar abermals den Zeige- 
finger. 

„Noch Fein einziges Volk," begann er, als leje er Zeile 
für Zeile aus einem Buche ab, während er dabei Stamw- 
togin unverändert fireng anjah, „noch fein einziges Volk 
hat fich auf den Grundlagen der Vernunft und Wifjen: 
Ichaft aufgebaut und eingerichtet. Diejes Beilpiel hat 
noch fein Зо gegeben, außer vielleicht für die Dauer 
von höchftens einem Augenblid, und dann geſchah es 
aus Dummheit. Der Sozialismus muß jchon feinem 
Weſen nach Atheismus fein, denn er verfündet gleich aus— 
drüdlich und mit feinem erften Sat, daß er jeine Welt 
ausjchließlich auf Vernunft und Wiſſenſchaft aufzubauen 
beablichtigt. Doch Vernunft und Wifjenfchaft Haben im 
Leben der Völker ftets, ſowohl jet wie von jeher, nur 
eine zweitrangige und dienende Aufgabe erfüllt; und das 
werden fie bis zum Ende der Welt tun. Geftaltet und be= 
wegt aber werden die Völker von einer ganz anderen 
Kraft, von einer befehlenden und zwingenden, deren 
Urjprung jedoch unbekannt und unerflärlich bleibt. Es 
ЦЕ die Kraft des unftillbaren Wunfches, zum Ende zu ge: 
langen, und die fich zu gleicher Zeit ftändig des Endes 
erwehrt. Es ift die Kraft der fortwährenden und un 
ermüdlichen Beftätigung des Seins und VBerneinung des 


372 





Todes. Es Ш der бе der ewig fließenden Waſſer des 
Lebens, wie die Heilige Schrift fagt, und mit deren Зет: 
liegen die Apofalypfe fo furchtbar droht. Es Ш der 
ajthetifche Trieb, wie die Künftler, es ift der moralifche 
Trieb, wie die Philofophen ihn nennen. 94 fage ein: 
fach: ‚Es Ш das Suchen nach Gott‘. Das ewige Ziel der 
ganzen Bewegung eines Volfes, jedes Volkes, und 
jedes bejondere Ziel in jedem Abſchnitt feiner Gefchichte 
ЦЕ immer und einzig fein Suchen nach Gott, nach jeinem 
Gott, unbedingt nach feinem eigenen, feinem beſon— 
deren Gott, und dann der Glaube an diefen Gott als ап 
den einzig wahren. Gott ЦЕ die fonthetifche Perfönlichkeit 
eines ganzen Volkes von feinem Anfang bis zu feinem 
Ende. Noch ше ift es vorgefommen, daß злое! oder meh: 
rere Völker ein und denjelben Gott gehabt hätten, ſon— 
dern jedes Volk hat ftets feinen eigenen Gott gehabt. 
Ein Anzeichen des Niedergangs der Völker ИЕ eg, wenn 
ihre Götter allgemein werden. Und wenn die Götter 
allgemein werden, dann fterben die Götter und ftirbt 
der Glaube an fie zufammen mit den Зет. Зе 
ftärfer aber ein Volk Ш, deſto ausfchließlicher ift auch 
jein Gott. Noch hat es nie ein Volk ohne Religion ge: 
geben, das heißt, ohne Vorftellung von Gut und ЗЫ. 
Jedes Volk Hat feinen eigenen Begriff von Gut und Boͤſe, 
und fein eigenes Gut und Böfe. Wenn bei vielen Völ- 
fern die Begriffe von Gut und ЗЫе gemeingültig zu 
werden beginnen, dann verwiſcht ſich und verjchmwindet 
der Unterjchied zwiſchen Gut und Böfe und die Völker 
gehen zugrunde. Noch nie Ш die Vernunft fähig ge= 
wejen, Gut und Зе zu erklären, oder auch nur Boͤſe 
und But auseinanderzuhalten, wenn auch nur annaͤhernd. 


373 


Зит Gegenteil, jtets hat jie Gut und Böfe nur jchmählich 
und Häglich miteinander verwechjelt. Die Wiſſenſchaft 
aber hat immer nur rohe, plumpe Antworten gegeben. 
Und bejonders hat 1$ darin die Halbwiljenichaft aus- 
gezeichnet, dieſe jchredlichite aller Фефеш der Menſch— 
heit, furchtbarer als Фей, Hunger und Krieg, die bis zum 
jetzigen Jahrhundert unbefennt war. Die Halbwifien- 
{фай — die ift ein Deſpot, wie es bisher noch feinen ge- 
geben hat. Ein Dejpot, der jeine Фиейег und Sklaven 
hat, ein Dejpot, vor dem alles in Liebe und mit einem 
Aberglauben jich beugt, der bisher undenkbar gewejen 
праге, vor dem jogar die Wiſſenſchaft jelbft zittert und dem 
fie ſchmachvoll genug beipflichtet. — Das ſind alles Ihre 
eigenen Worte, Stawrogin, nur die über die Halbwiſſen— 
Ichaft, die find von mir, der ich jelbft {014 ein Halbwiſſen— 
ihaftier bin und fie darum Ба\е, wie ich nur etwas 
haſſen апп. An Ihren Gedanken aber und ſogar an 
Ihren Worten Бабе 14$ nichts geändert, nicht eine einzige 
Silbe.“ 

„sch glaube nicht, daß Sie nichts verändert haben,” 
bemerkte Stamrogin vorſichtig, „Sie haben alles 
leidenjchaftlih erfaßt und es auch leidenjchaftlich ver- 
ändert — vielleicht ohne e8 zu bemerken. Schon allein, 
daß Sie Gott zu einem einfadyen Attribut des Volles 
erniedrigen —“ 

Er begann 515814, Schatoff mit einer ganz bejon= 
deren Yufmerfjamfeit zu betrachten, nicht einmal jo jehr 
auf feine Worte zu hören, als ihn jelbft zu beobachten. 

„sc, erniedrige Gott zu einem Attribut des Volkes! 
Im Gegenteil, ich erhebe das Volk bis zu Gott! Das 
Boll, — das ift der Körper Gottes. Jedes Voll ИЕ nur 


374 





fo lange Зо, wie es noch feinen bejonderen, {степ 
eigenen Gott hat, und all die anderen Götter auf der 
Melt ftarf und graufam von jıch ftößt; jo lange es noch 
glaubt, daß es nur mit feinem Gott jiegen und alle 
anderen Götter und Völker fich unterwerfen kann. Das 
haben alle großen Völker der Erde von ſich und ihrem 
Gotte geglaubt, wenigftens alle einigermaßen hervor: 
ragenden, alle, die einmal an der Spike der Menſch— 
heit geftanden. Die Juden haben nur zu dem Zwed 
gelebt, um den wahren Gott zu erwarten, und jo haben 
fie denn jeßt der Melt den wahren Gott hinterlafjen. 
Die Griechen haben die Natur vergöttert und der Welt 
ihre griechiiche Religion, раз heißt, Philofophie und Kunft, 
binterlafjen. Nom hat das Voll im Staate vergöttert 
und den Völkern den Staat vermacht. Frankreich war 
in feiner ganzen langen Gejchichte nur die Verförperung 
und Entwidlung des Gottes ‚Katholizismus‘; und wenn 
es dieſen jeinen römischen Gott fchließlich in den Orkus 
warf und ИФ dem Atheismus hingab, der bei den Trans 
zojen vorläufig noch Sozialismus heißt — fo geichah das 
nur deshalb, тей der Atheismus Ichließlich Doch де 
ſuͤnder ift als der römische Katholzismus. Wenn ein 
großes Volk nicht glaubt, daß in ihm aliein die Wahr: 
heit Ш (gerade in ihm allein und unbedingt aus: 
ſchließlich in ihm), went её nicht glaubt, daß es ganz 
allein fähig und berufen 11, alle anderen Völker zu er— 
weden und fie mit jeiner Wahrheit zu еттеНеп, jo wird 
её jofort zu ethnographiſchem Material, doch nicht zu 
einem großen Volk! Ein wahrhaft großes Voll kann fich 
auch nie mit einer zweitrangigen Rolle in der Menjch- 
heit zufrieden geben, ia, noch nicht einmal mit einer erſt— 


375 


rangigen, fondern es muß unbedingt und ausichließlich 
das Erſte unter den Völkern fein wollen. Ein Volk, das 
diefen Glauben verliert, И fein ЗЕ mehr. Doch da 
es nur eine Wahrheit gibt, jo kann auch nur ein einziges 
Dolf den einzigen wahren Gott haben, mögen andere 
Voͤlker auch ihre eigenen und поф jo großen Götter Бег 
ſitzen. Das einzige Gotträgervolf aber — das find 
wir, das ЦЕ das ruſſiſche Volk, und... und... und foll- 
ten Sie mich wirflich für jo dumm halten, Stamrogin,” 
brüllte er plöglich voll Ingrimm, „Daß ich nicht mehr zu 
unterjcheiden vermag, ob ме meine Worte altes, 
mürbes Gewaͤſch find, das von allen möglichen Mos— 
fauer Slamwophilenmühlen ſchon durch und Durch де: 
mahlen ift, oder ob eg neue Worte find, vollftändig reine 
und neue Worte, die legten Worte, die einzigen Worte 
der Erlöjung und Auferftehung und ... Eh, was geht 
mich jeßt in diefem Augenblid Ihr Lachen an! Mas geht 
es mich an, daß Sie пиф überhaupt nicht, überhaupt 
nicht verftehen, Fein Wort, feinen Ton ... Oh, wie un 
fagbar ich es verachte, Ihr ftolzes Lachen und Ihren 
ſtolzen ЗИФ gerade jetzt!“ 

Er jprang auf, fogar Schaum war auf feinen Lippen. 

„sm Gegenteil, Schatoff, ganz im Gegenteil," jagte 
Stamrogin ungewöhnlich ernft, ohne 14 von feinem 
Platz zu erheben, „im Gegenteil, Sie haben mit Ihren 
glühenden Worten ungemein ftarfe Erinnerungen in mir 
wachgerufen. ch finde meine eigene Stimmung von 
damals, vor zwei Jahren, wieder, und jeßt werde ich 
Ihnen jchon nicht mehr jagen, daß Sie meine Ферат ип 
vergrößert haben. Es jcheint mir jogar, daß ich jie noch 
Ichärfer, noch autofratijcher damals prägte, und ich ver— 


376 





fihere Ihnen auf jeden Fall, daß ich fogar ehr gerne 
alles beitätigen würde, was Sie da jagten, aber...“ 

„Aber Sie brauchen den Hafen ?" 

„Ba—as?" 

„Das ift ja Shr eigener, gemeiner Ausdruck!“ Табе 
Schatoff hoͤhniſch auf und {све fich wieder. „Um eine 
Hafenfauce zu machen, braucht man einen Hafen, und 
um an Gott zu glauben, muß erft Gott da jein.‘ Das 
jollen Sie in Petersburg gelagt haben, а la Nosdreff,*) 
der den Haſen an den Hinterbeinen fangen wollte,” 

„Nein, Nosdreff praßlte, er hätte ihn bereits ges 
fangen. Übrigens, erlauben Sie eine Frage, zumal ich 
jegt wohl das volle Recht dazu haben dürfte: Sit Ihr 
Hafe eigentlich fchon gefangen oder läuft er noch?" 

„Unterftehen Sie fich nicht, mich mit folchen Worten 
zu fragen! Fragen Sie mit anderen, mit anderen!" 
Schatoff zitterte plößlich. 

„Wie Sie wünfchen. Alſo mit anderen.” Stamrogin 
ſah ihn mit hartem Blick an.. „Sch wollte nur wiſſen: 
glauben Sie ſelbſt an Gott, oder nicht?“ 

„sch glaube an Rußland, ich glaube an feine Recht: 
gläubigkeit ... Sch glaube an den Leib Chrifti ... Ich 
glaube, daß die neue Wiederkunft in Rußland gejchehen 
wird ... Sch glaube ...“ ftammelte Schatoff wie in 
Berzüdung. 

„Aber an Gott? An Gott?" 

„Ich ... ich werde glauben — an Gott.” 

Kein einziger Musfel bemegte ſich im Gejicht Staw— 
vogins. Schatoff jah ihn glühend, mit Herausforderung 
*) Siehe Anmerkung ©. 313. E.K.R. 

377 


an, ganz als hätte er ihn verbrennen wollen mit feinem 
Blick. 

„Sch habe Ihnen doch nicht geſagt, daß ich uͤberhaupt 
nicht glaube, rief er jchließlih. „Sch gebe doch nur zu 
verftehen, daß ich ein unglüdliches, langmweiliges Buch 
bin und vorläufig nichts weiter, vorläufig ... Aber was 
liegt an mir! Es liegt ja alles bei Ihnen! 34 bin nur 
ein unbegabter Menſch und kann nur mein Blut hin: 
geben und weiter nichte, wie jeder unbegabte Menich. 
Sp mag denn mein Blut auch fließen! 34 ſpreche jekt 
von Ihnen. $4 habe zwei Jahre Мег auf Sie gewartet... 
Nur um Shretwillen tanze ich jeßt hier nadt vor Ihnen. 
Nur Sie... Sie allein fönnten die Fahne erheben! ...“ 
_ Er fprach nicht zu Ende und wie in Verzweiflung ftüßte 
er die Arme auf den Tiſch und vergrub den Kopf in den 
Händen. 

„sch möchte, da Sie darauf zu [prechen gefommen jind, 
nur eines bemerfen, als Kuriofität,” unterbrach Staw— 
rogin plößlic; die Stilie. „Warum wollen mir alle immer 
eine Sahne aufdrängen? Auch Piotr Stepanomitich ift 
überzeugt, ich alleın Fönnte ihre ‚Tahne erheben‘, — 
wenigjtens bat man mir diefen Ausjprud von ihm 
wiedergegeben. Er hat её 14 in den Kopf geſetzt, ich 
wäre fähig, für fie. ме Rolle eines Stenka Rafın*) zu 
jpielen, dank meiner ‚ungewöhnlichen Fähigkeit zum 
Verbrechen‘ — gleichfalls feine Worte. 

„Wie? Danf Ihrer ‚ungewöhnlichen Fähigkeit zum 
Verbrechen?“ fragte Schatoff. 


*) Anführer des Kofafenaufftandes von 1667—71. Freiheitäheld. 
1671 hingerichtet. Е.К: В: 


378 





„Genau jo.” 

„nm! ... Aber Ш es wahr,” fragte Schatoff mit 
einem В еп Lächeln, „daß Sie in Petersburg zu einer 
viehifchen, wollüfligen Gefellfchaft gehört haben? Daß 
Sie fich felbit gerühmt haben, der Marquis de Sade hätte 
von Ihnen noch lernen koͤnnen? Daß Sie Kinder zu fich 
gelodt und verdorben haben? Antworten Sie! Und 
wagen Sie nicht, zu lügen! Otamrogin kann nicht 
lügen — vor Schatoff, der ihn ins Geſicht gefchlagen hat! 
Sagen Sie, jagen Sie alles, und wenn es wahr Ш, fo 
werde ich Sie auf der Stelle totichlagen !" ſchrie Schatoff 
wie wahnfinnig. 

„Dieſe Worte habe ich gejagt, aber Kindern habe ich 
nichts angetan”, Гаде Stamrogin fchlieklich, aber erſt 
nach einem gar zu langen Schweigen. 

Er war erbiaßt und feine Augen glühten, 

„Aber Sie haben es gejagt!" fuhr Schatoff herriſch 
fort, ohne feinen jprühenden Blid von ihm abzumenden. 
„Und ift es wahr, daß Sie verlichert haben, Sie müßten 
feinen Schönbetisunterjchted zmwifchen irgendeinem woll- 
süftigen, tierifchen Streiche und gleichwiel weicher 
Heldentat, und wäre eg ſelbſt das Dpfer des Lebens für 
die Menfchheit? ЗИ es wahr, daß Sie in beiden Polen 
die aleiche Schönheit fanden, den gleichen Genuß?” 

„So zu antworten ИЕ unmöglich ... ich will nicht ant- 
worten“, murmelte Stamrogin, der jeßt fehr gut hätte 
aufitehen und fortgehen fünnen und doch nicht aufftand 
und nicht fortging. 

„sch weiß es auch nicht, warum das ЗЫе haͤßlich und 
das Gute ſchoͤn Ш, aber ich weiß, warum die Empfin- 
dung dieſes Unterſchieds erlifcht und verloren geht bei 


379 


ſolchen Herrichaften, wie Stamwrogin und jeinesgleichen,” 
ließ Schatoff, am ganzen Körper bebend, nicht davon ab. 
„Wiſſen Sie auch, warum Sie damals geheiratet haben, 
fo ſchmachvoll, fchändlich und gemein? Gerade deshalb, 
тей hier die @фтаф und Gemeinheit ſchon an Genialität 
arenzte! Oh, Sie fchlendern nicht bloß jo am Rande, 
Sie ftürzen jich dreift mit dem Kopf voran in den Ab— 
grund hinab. Aus Leidenſchaft zur Qual haben Sie 
geheiratet, aus Leidenjchaft zu Neue und Gemifjens- 
biffen, aus geiftiger, fittliher Wolluft. Hier waren Shre 
Nerven пише... Die Herausforderung an die gefunde 
Vernunft, die Мет lag, war ſchon gar zu verführe: 
riſch! Stamwrogin! und eine Häfliche, ſchwachſinnige 
Bettlerin, die dazu noch Früppelig ift! — Als Sie den 
Gouverneur ins Ohr biffen, empfanden Sie da nicht 
Wolluſt? Empfanden Sie fie? Muͤßiger, ИФ Бегите 
treibender Herrenfohn, empfanden Sie fie?“ 

„Sie jind Piychologe,” ſagte Stamwrogin, der bleicher 
und bleicher wurde, „obichon Sie fich in den Gründen 
meiner Heirat teilweiſe irren ... Wer hat Ihnen übri- 
gens all diejes mitteilen koͤnnen? ...“ Er zmang fich zu 
einem Spottlächeln. „Doch nicht Kirilloff? Aber der 
war ja gar nicht zugegen ...“ 

„Barum find Sie bleich geworden?” 

„Was wollen Sie nur von mir?” Stawrogin er— 
hob ichlieklich die Stimme: „Ich habe hier eine Halbe 
Stunde unter Ihrer Knute gejejlen, nun fünnten Sie 
mich doch wenigitens höflich fortgehen laſſen ... wenn 
Sie in der Tat Feinen vernünftigen Grund Бабеп, mit 
mir in diejer Art umzugehen.“ 

„DBernünftigen Grund?” 


380 





„zweifellos. Es wäre zum mindeften Ihre Pflicht, 
mir zu jagen, was Sie eigentlich bezweden. ch habe 
die ganze Zeit Darauf gewartet, daß Sie es tun würden, 
Sch habe aber nur eine einzige таепое Bosheit in Ihnen 
gefunden. Sch bitte Sie, mir die Hofpforte zu öffnen.” 

Er erhob fih. Schatoff ſtuͤrzte ihm nach, wild vor 
Grimm. 

„Kuͤſſen Sie die Erde, tränfen Sie fie ши Tränen, 
bitten Sie um Vergebung!” rief er, ihn an der Schulter 
padend. | 

„sch Бабе Sie nicht erjchlagen . . ап jenem Sonntags 
morgen ... Ich nahm beide Hände zurüd ...“ fagte 
Stumwrogin wie im Schmerz und jah zu Boden. 

„So Iprechen Sie doch, jo jagen Ste doch alles! Sie 
famen her, um mich vor der Gefahr zu warnen, Sie 
ließen es zu, daß ich |ртаф, und morgen wollen Ste Ihre 
Heirat öffentlich befanntmachen! ... Sehe ich es denn 
nicht Ihrem Geficht ап, раб Ste mit irgendeinem neuen 
furchtbaren Gedanken ringen ... Stawrogin, warum 
bin ich Dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit an Sie zu 
glauben? Hätte ich denn mit einem anderen jo Iprechen 
fünnen? 34 habe Keufchheit, aber ich Бабе mich meiner 
Nadtheit nicht gejchämt, — denn es war Stamwrogin, 
vor dem ich jprach! Sch habe mich nicht gefürchtet, den 
großen Gedanken durch meine Berührung zu karikieren, 
denn Stamrogin hörte mir zul... Und werde ich denn 
nicht die Spuren Ihrer Tritte kuͤſſen, wenn Sie fort: 
gegangen find? Sch kann nicht, ich kann Sie nicht aus 
meinem Herzen reißen, Nicolai Stamrogin № 

„68 tut mir leid, daß ich Sie nicht lieben kann, Scha= 
toff!“ jagte Stamrogin Falt, 


381 


„Ich weiß, daß Sie е8 nicht fönnen, und ich weiß auch, 
daß Sie nicht lügen. Uber hören Sie, ich werde alles gut 
machen: ich werde Ihnen den Hafen verfchaffen !” 

Stamrogin fchreieg. 

„Sie find Atheift, weil Sie ein Herrenſohn find, der legte 
Herrenfohn. Sie haben den Unterfchied zwiſchen Gut und 
Boͤſe verloren, denn Sie Haben aufgehört, Ihr Volk zu ver: 
ſtehen ... Es fteigt eine neue Generation herauf, un: 
mittelbar aus dem Herzen diefes Volkes, Боф Sie wer: 
den jie ше erfennen, weder Sie поф die Werchowenski, 
Vater und Sohn, noch ich, denn auch ich bin ein Herren⸗ 
ſohn, ja, ich, der Sohn Ihres leibeigenen Dieners 
Зара... Hören Sie, verſchaffen Ste ſich Gott durch 
Arbeit — hierin liegt der ganze Kern ... Oder ver- 
ſchwinden Sie als gemeine, faulende Schimmelfchicht .. 
Erwerben Sie ſich Gott durch Arbeit!“ 

„Gott durch Arbeit? Mit welcher Arbeit?“ 

„Mit gemeiner Bauernarbeit! Gehen Sie, werfen 
Sie Ihren ganzen Reichtum hin ... Ah! Sie lachen, 
Sie fürchten wohl, daß eine Pelle dabei herauskommen 
wird" 

Doch Stamrogin Табе nicht. 

„So glauben Sie, daß man Gott durch Arbeit erringen 
kann, und zwar gerade Bauernarbeit?”” wiederholte er 
nachdenklich, als hätte man ihm in der Tat etwas Neues 
und Ernftes gejagt, worüber nachzudenken fich Tohnte, 
„Uber wiſſen Sie auch,” fagte er plöglich, auf etwas 
anderes übergehend, „Daß ich durchaus nicht reich bin und 
faſt nichts mehr hinwerfen fönnte? Sch bin ſogar faum 
imjtande, die Zufunft Marja Timofejewnas ficherzuftel= 
(еп... За, und damit ich es nicht vergejfe: ich wollte 





Sie bitten, Marja Timofejewna auch fernerhin, wenn 
es Ihnen möglich ift, beizuftehen, da doch nur Sie allein 
einen gewillen Einfluß auf ihren armen Berftand haben 
fönnten. Sch ſage dag nur auf alle Fälle.” 

„Schon gut, ſchon gut!” Schatoff winfte mit der einen 
Hand ab, während er mit der anderen das Licht hielt, 
„Sie reden von Marja Zimofejewna, gut, ich merde 
Ichon, das ИЕ ja felbftverftändlich ... Aber hören Sie, 
gehen Sie zu Tichon.” 

„Зи тем?“ 

„Зв Tichon. Er Ш ein früherer Biſchof, der jetzt 
— franfheitshalber zurüdgezogen — Мег in der Stadt 
wohnt, bier in unferem Sefimieff:Klofter.? 

„Und —?“ 

„Nichts weiter. Man pilgert und fährt jest zu ihm. 
Gehen Sie аиф zu ihm, was macht es Ihnen denn aus? 
Gehen Sie аиф!" 

‚Höre es zum erftenntal und ... Dieje Sorte Men: 
Ichen habe ich noch nie gejehn. ch danke Ihnen, 14 
werde hingehen.” 

„Hierher!“ Schatoff Teuchtete und geleitete ihn die 
Treppe hinunter. 

„So“, fagte er und ftieß die Hofpforte iperrangelweit 
zur Straße auf. 

„Sch werde nicht mehr zu Ihnen kommen, Schatoff”, 
fagte Stamrogin leife, indem er ига die Pforte trat, 

Die Nacht war nach wie vor finfter und ver Negen 
бане noch immer nicht aufgehört ... 


— — — — — 


383 


Siebentes Kapitel 
Die Nacht (Fortiesung) 


I 


г ging die ganze Bogojawlenskſtraße hinunter; 

Ichließlich führte der Weg leicht abwärts, [сте Füße 
alitichten im Schlamm, und plößlich öffnete fich vor ihm 
im Dunfeln ein breiter, nebliger, gleichlam leerer Raum 
— der Fluß. Die Häufer waren Мег nicht mehr Häufer 
zu nennen, fondern Hütten, und die Straße hatte jich 
in vielen Sadgafjen und Gäfichen verloren. Nicolai 
Wſzewolodowitſch ging eine ganze Weile an den Zäunen 
entlang, ohne 14 vom Flußufer zu entfernen, verfolgte 
aber ftandhaft feinen Weg, doch eigentlich ohne viel an 
ihn zu denken. Er war mit ganz anderen Dingen Ве: 
ſchaͤftigt und {аб fich erftaunt um, als er fich plößlich, aus 
tiefem Зепп erwachend, Гай in der Mitte unferer 
langen, naſſen Floßbrüde fand. Keine Seele ringsum. 
Nichts rührte ИФ. Um fo fonderbarer erichien es ihm da, 
als plößlich faft unmittelbar neben feinem Ellenbogen 
eine höflich familiäre, doch übrigens ganz angenehme 
Stimme ertönte, aber in jenem füßlich abgerundeten 
Redefluß, mit dem bei uns gar zu zivililierte Klein= 
bürger oder lodenhäuptige junge Kommis in den Kauf: 
läden zu paradieren pflegen. 


384 


„Würde mir der gnädige Herr nicht erlauben, das 
Regenſchirmchen mit eins zu benuͤtzen?“ 

Und tatjächlich, eine Geſtalt drüdte fich unter feinen 
Schirm, oder tat wenigftens jo, als wage fie es. Der 
Strolch ging neben ihm, ihn faft „mit dem Ellenbogen 
fühlend”, wie unfere Soldaten jagen. Nicolai Wize: 
wolodowitſch verlangjamte den Schritt und beugte fich 
ein wenig, um dem Unbefannten ins Geficht fehen zu 
fönnen, foweit das in der Finfternis möglich war: ein 
Menfch, nicht groß von Wuchs und in etwa wie ein Бет 
untergefommener, verbummelter Kleinbürger, jchlecht und 
nicht warm gekleidet; auf dem fraufen, zottigen Haar ſaß 
ſchief eine nafje Zuchmüße mit halbabgerifjenem Schirm. 
Es fchien ein fchwarzhaariger Menſch zu fein, mager und 
braun; die Augen waren groß, unbedingt fchwarz, mit 
jenem ftarlen Glanz und gelben Schimmer, wie ihn Zi: 
geuner haben, — das erriet man in der Dunkelheit. Alt 
mochte er fein — gegen vierzig, und er war nicht betrunfen. 

„Du kennſt mich?” fragte Stamrogin. 

„Herr Stawrogin, Nicolai Wſzewolodowitſch. Man hat 
Sie mir auf der Bahnftation gezeigt, вит daß die Ma: 
ſchine hielt, affurat am vorvergangenen Sonntag. Außer 
daß man |фоп früher von Ihnen gehört hat.“ 

„Bon Piotr Stepanomwitih? Зи... du bift ver 
Zuchthäusler Fedjka?“ 

„Феи hat man mich Fjodor Fjodoromitfch. Hab 
bis auf den heutigen Tag noch eine leibliche Mutter in 
biejiger Gegend, eine alte Gottesdienerin, die zur Erde 
waͤchſt, für uns felber Zag und Nacht alleweil zu Gott 
betet, damit daß fie nicht ganz umfonft ihre Altweiberzeit 
auf dem Dfen verliert.” 


35 Doftoiemwsti, Die Dämonen. 35. 1. 385 


„Du bift aus dem Zuchthaufe entjprungen?“ 

„Ich hab’ halt jelber mein Los verändert und ihnen 
da den ganzen Krempel hingeworfen. Denn ich war halt 
beinah auf Lebenszeit zur Zwangsarbeit verurteilt, und 
da war's denn ſchon папу abfonderlich lang auf das Ende 
zu warten...“ 

„Bag treibft du hier?“ 

„за, jo, ein Tag und eine Nacht und immer ift noch 
nichts gemacht. Die Zeit vergeht halt von jelber. Was 
unſer Onkel ift, der Ш hier in der vorigen Woche im Ge: 
fängnis geftorben, wo er von wegen faljcher Gelder ſaß, 
und da hab ich denn ein Gedächtrisfeierchen für ihn ge: 
macht und dabei jo jelbentlich zweimal zehn Rubel an die 
Hunde gebracht — das iſt auch alles von unjeren Taten 
bis eben jet. Und dabei haben Piotr Stepanomwitf die 

löglichkeit, uns einen Pajchport auf ganz Rußlond zu 
verichaffen, als was das Herz nur will, ſogar als Kauf: 
mann. Und da wart ich denn, bis er mir feinen Segen 
ichenkt. Darum fagen fie, — ich meine: er, Pjotr Stepano⸗ 
witfch —, darum fagt er, daß Papa dich im englifchen Klub 
beim SKartenjpiel verjpielt hat, und fo finde ich, fagt er, 
ich meine Pjotr Stepanowitſch, jo finde ich мае Un— 
menjchlichfeit ungerecht. — Sie fünnten mir doch, дпд: 
diger Herr, mit drei Rubelchen jo zum Erwärmen, für 
ein Zeechen, wohlwollen?“ 

„Du haft mir hier alfo aufgelauert. Das liebe ich nicht. 
Auf weſſen Befehl haft du es getan?“ 

„Bas von Befehl, jo Ш davon gar nichts geweſen: 
ich fenn’ nur bloß auch Ihre Menfchenliebe, wie alle 
Melt es eben tut. Denn ищеге Einfünftelens, Sie wiljen 
ja felbit, Herr, daß die Бай ’ne Maus aufm Schwanz 


386 








fortfchleppen Tann. Das war vor’gen Freitag, da Бабе 
ich mich mal vollgefchlagen mit Fleifch, wie Martyn mit 
©eife, wie man zu jagen pflegt, aber {ей damals hab ich 
den степ Tag nichts gegeljen, den zweiten gefaftet und 
den dritten wieder nichts. Waſſer ift ja im Fluß, bei Gott, 
jo viel du willft, aber davon allein апп man im Magen 
doch nur Karaufchen züchten ... Na, und fo überhaupt, 
der gnädige Herr werden Doch wohl von den Mildtätigen 
fein? Und ich hab hier gerade ’ne Gevatterin nich weit, 
die mich erwartet: nur fomm du nic) ohne Rubelchen 
zu ihr!" 

„Bas hat bir denn Piotr Stepanomwitich von mir ver: 
ſprochen?“ 

„Nicht, daß er mir was vorverſprochen hat, er hat nur 
ſo mit Worten geſagt, daß ich, nu ja, dem gnaͤdigen Herrn 
mal noͤtig ſein koͤnnte, wenn ſolch ein Streifen mal vor— 
kommt; aber zu was, das hat er eigentlich nich jo gerade: 
heraus gejagt, jo mit Genauigfeit, denn Pjotr Ötepano: 
witjch will nur jo zum Beifpiel ſehen, ob ich nich Kofafen: 
geduld habe, und Vertrauen hat er nich für ’ne Kopefe 
zu mir.” 

„Darum denn nicht?“ 

„За, Piotr Stepanomitfch mag wohl ein Aftrolom 
fein und hat jeßt vielleicht auch alle Sottesplaneten er: 
fannt, aber der Allerklügfte ift er Doch noch nich. Sch 
bin vor Ihnen, gnädiger Herr, wie vor Gottes Antlitz jel- 
ber, denn ich hab vieles gehört, was man 19 fpricht von 
Shnen. Piotr Steparomitich — das ift eins, aber Sie, 
gnädiger Herr, das Ш es eben, find das andere, Wenn 
der von einem Menſchen jagt: 'n Gauner, jo ahnt ihm 
ſchon außer diefem von dieſem Menichen gar nichts mehr, 


25* 387 


Sagt er: ’n Kamel, fo kann der Menſch bei ihm fchon nie 
und nimmer einen anderen Namen friegen. 34 aber, 
ich bin vielleicht, Fann fein, nur am Dienstag und Mitt: 
woch 'n Kamel, aber Donnerstag vielleicht auch Flüger 
als er jelber. Seht weiß er bloß eben von mir, daß ich 
gerade große Sehnfucht nach einem Paſchport habe, denn 
wiſſen Sie, in Rußland geht’s ohne Dofumentchen auf 
feinerlei Urt — und fchon glaubt er, er hat meine Seele 
in der Hand! Hehe, gepfiffen! Sch ſag Ihnen, Herr, 
Piotr Stepanomitich hat’s furchtbar leicht zu leben auf 
der Welt, denn, fehen Sie, er ftellt fi einen Menjchen 
jo vor, wie er ihn haben will, und fo lebt er denn auch 
mit ihm. Dazu ИЕ er noch geizig, daß es fchon gar feine 
Art mehr mit ihm hat. Er glaubt, daß ich außer als durch 
ihn fchon nie nich wagen werde, Sie zu beläftigen, aber 
ich bin vor Ihnen, gnädiger Herr, wie vorm Angeficht 
des leibhaftigen Gottes felber, — |фоп die vierte Nacht 
erwarte ich den gnädigen Herrn hier auf dieſer Brüde, 
in der Sache, daß ich auch ohne ihn mit leifen Schritten, 
wie man fagt, meinen eigenen Weg finden апп. Beſſer, 
denfe ich, du verneigft dich vor ’nem Stiefel als vor пет 
Baſtſchuh.“ 

„Ber hat es dir denn gejagt, daß ich nachts über dieſe 
Brüde gehen werde?” 

„за, das Ш jchon, muß ich jagen, von anderweitig 
herausgelommen, mehr aus der Dummheit des Haupt: 
mann Zebädfin, denn der апп ſchon gar nichts für ſich 
behalten ... Шо dann drei Rubelhen vom gnädigen 
Herrn für die drei Nächte, als für die Langeweile, zum 
Beilpiel? Und daß die Kleider quatichnaß find, davon 
ſchweigen wir ſchon allein von wegen der Beleidigung.” 


388 





„Ich gehe jet nach links und du nach rechts; die Brücke 
ift zu Ende, Höre, Fedika, ich Tiebe e8, daß man meine 
Worte ein für allemal behält: ich gebe dir Feine Kopeke 
und werde dich niemals — hörft du? — niemals brauchen; 
ferner werde ich dich weder hier auf der Brüde noch ſonſt 
wo treffen, verftanden? Und wenn du dir das nicht merfit 
— {© binde ich dich und übergebe dich der Polizei. Seht — 
marſch!“ 

„O je! Aber fuͤr die Unterhaltung ſchmeißen Sie mir 
doch wenigſtens was — es war doch luſtiger, ſo zu 
gehen.“ 

„Pack dich!“ 

„Ja, aber wiſſen Sie denn hier auch den Weg? Hier 
gehen ja doch fo verdrehte Wege ... ich koͤnnte zeigen, 
denn die hiefige Stadt auf diefem Ufer — das ift Doch 
ganz, ale ob der Teufel Пе im Korb getragen hätte: alles 
bat er dDurcheinandergefchüttelt.” 

„zum ... Sch binde dich!" wandte 14 Stamrogin 
drohend nach ihm um. 

„Denken Sie nach, vielleicht doch, gnädiger Herr? Kann 
man denn eine Waije lange beleidigen?“ 

„Du {фешй ja wirklich auf Dich zu bauen!" 

„ch, gnädiger Herr, ich baue auf Sie, aber nicht, daß 
ich jonderlich auf mich baute!" 

„Ich brauche dich nicht, hab ich Dir ſchon gejagt!" 

„Uber ich brauche doch Sie, gnädiger Herr! Das Ш 
ed ja eben. Nu, werde aljo warten, М8 Sie zurüd: 
kommen.“ 

„Mein Wort: wenn ich dich antreffe, binde ich dich!“ 

„So werd' ich denn ſchon einen Gurt bereit halten. 
Gluͤckliche Reiſe, gnaͤdiger Herr; haben doch alleweil mit 


389 


dem @фитфеп 'ne Waiſe beſchuͤtzt; ſchon dafür allein 
werden wir bis zum Grabe dankbar fein, gnädiger Herr.“ 

Er blieb zurüd. Stamrogin ging bejorgt weiter. Die— 
fer plöglich aus der Nacht aufgetauchte Menſch war von 
feiner Notwendigkeit für ihn doch ſchon gar zu überzeugt 
und beeilte fich doch fchon zu ſchamlos, ihm das zu zeigen. 
Überhaupt machte man mit ihm jeßt feine Umjtände 
mehr. Uber es fonnte doch auch fein, daß der Strolch 
nicht alies gelogen und feine Dienfte wirklich nur von ſich 
aus angeboten hatte, und zwar gerade heimlich, hinter 
Piotr Stepanowitſchs Nüden. Das aber gab dann doc) am 
meiften zu denfen. 

II 

Das Haus, zu dem Stamrogin ging, lag an einer 
öden, entlegenen Gafje buchftäblich am Außerften Rande 
der DVorftadt, zwiſchen niedrigen Заипеп, hinter denen 
fih Gemüfegärten hinzogen. Es war ein alleinftehendes 
Fleines hölzernes Haus, das man gerade erft erbaut hatte 
und das von außen noch nicht einmal mit Brettern Бе: 
Iihlagen war. Die Läden des einen Fenfters hatte man 
wohl abjichtlich nicht geſchloſſen, denn auf dem Fenfter- 
brett ftand ein brennendes Licht, augenfcheinlich ala Weg: 
weijer und Zeichen für den fpät erwarteten Gaft. Schon 
von weiter, über dreißig Schritte von der Tür, erfannte 
Stamrogin auf der Нешеп Haustreppe die Geftalt eines 
Menichen von hohem Wuchs, der offenbar über dem War: 
ten die Geduld verloren hatte und herausgetreten mar. 
Da hörte er auch |фоп feine Stimme, voll Ungeduld und 
doch gleichſam zaghaft. 

„Sind Sie es? Sie?" 

„Ich bin’s”, antwortete Stamwrogin, doch nicht eher, 


390 





als bis er ganz herangetreten war und den Schirm 
ſchloß. 

„Endlich!“ Hauptmann Lebaͤdlin trat hin und her 
und bewegte ſich mit geſchaͤftigem Dienſteifer. „Das 
Schirmchen, wenn ich bitten darf; ſehr naß heute; ich 
werde es aufſchlagen und hier in der Ecke auf den Fuß— 
boden ſtellen. Bitte — bitte einzutreten, hier geht's 
hinein; bitte ſchoͤn.“ 

Die Tuͤr aus dem Flur ins Wohnzimmer, in dem zwei 
Kerzen brannten, ſtand weit offen. 

„Wenn Sie nicht ſelbſt Ihr unbedingtes Kommen an— 
geſagt haͤtten, ſo haͤtte ich es ſchon aufgegeben, Sie zu er— 
warten.“ 

„Viertel vor eins“, ſagte Stawrogin, der ins Zimmer 
trat, nach einem Blick auf ſeine Uhr. 

„Und dabei noch Regen — und eine ſo intereſſante 
Entfernung ... Eine Uhr habe ich nicht, und vor dem 
Senfter nur Gemüfegärten, da — da bleibt man hinter 
den Ereigniſſen zurüd. — Uber das foll fein Vorwurf fein, 
das wage ich ja gar nıcht, bewahre, ſondern einzig nur jo 
... aus Ungeduld, wenn man fich die ganze Woche ver: 
зе... um endlich erlöft zu werden ...“ 

„Wie?“ 

„Um ſeinen Schickſalsſpruch zu hoͤren, Nicolai Wſze— 
wolodowitſch.“ Und mit einer Verbeugung auf das Sofa 
weiſend, vor dem ein Tiſch ftand: „Bitte, nehmen Sie 
Platz.“ 

Stawrogin ſah ſich im Zimmer um: es war klein und 
niedrig. Die ganze Einrichtung beſtand nur aus dem 
Notwendigſten: aus zwei einfachen neuen Holzſtuͤhlen, 
einem gleichfalls neuen, noch unuͤberzogenen Sofa mit 


391 


hölzerner Lehne und ohne Geitenpoliter, und zmei 
Tiſchen. Auf dem Нететеп, in der Ede, ftanden irgend— 
welche Dinge, über die man eine jaubere Serviette ge: 
breitet hatte. Überhaupt fchien man das ganze Zimmer 
Außerft fauber gehalten zu haben. Der Hauptmann war 
nun ſchon an die acht Tage nüchtern. Sein Geſicht {ав 
gelb und abgefallen aus, der ЗИ war unruhig, neu= 
gierig und eigentlich verjtändnislos: man {аб ihm ап, 
daß er noch nicht wußte, in welch einem Ton er |prechen 
durfte und welcher jchlieflich der rafamite mar. 

„Wie Sie ſehen,“ wies er mit pathetijcher ФеЙе herum, 
„lebe ich wie ein Heiliger: Nüchternheit, Einfamleit und 
Armut — das Gelübde der alten Ritter!” 

„Sie glauben, die alten Nitter hätten folche Gelübde 
getan?” 

„ja, vielleicht Бабе ich mich auch verbauen? O meh, 
für mich gibt eg feine Entwidiung mehr! Alles ver: 
dorben! Glauben Sie mir, Nicolai Wſzewolodowitſch, 
bier bin ich zum erftenmal aufgewacht aus diefem Schand⸗ 
leben, — fein Gläschen mehr, fein Tröpfchen! Habe jett 
einen Winfel — und jech$ Tage lang genieße ich nun 
{фоп die Wohltat der Gemifjensbifje. Sogar die Wände 
riechen noch nach Harz, erinnern jomit an die Natur. 
Aber was war ich, was ftellte ich vor? 


‚Ohne Obdach in der Nacht, 
Tagsüber eine Hebe‘ ... 


wie fich ein genialer Dichter ausgedrüdt hat! Uber... 
Sie find ja jo durchnaͤßt ... Wollen Sie nicht ein Gläg- 
chen Tee?" 

„Bemühen Sie fich nicht.” 


392 








„Der Samowar focht jeit acht Uhr abends, aber — da 
ift er num ausgelöfcht! — wie alles in der Welt! Und 
auch die Sonne, fagt man, wird einmal auslöfchen, wenn 
Пе an die Reihe fommt ... Uber wenn Sie mollen, 


_ bringe ich ihn wieder zum Kochen ... вара ЧАН 


noch nicht.” 

„Sagen Sie: Marja Timofejewna ...“ 

„ger, hier,” fiel ihm Lebaͤdkin fofort flüfternd ins 
Wort, „wenn Sie fie jehen wollen... .?“ und er wies auf 
die geſchloſſene Tür zum Nebenzimmer. 

„Sie {Ман nicht?" 

„> nein, nein, wie follte fie denn? Зи Gegenteil, 
erwartet Sie |фоп vom Abend ап!... wie fie eg vorhin 
erfuhr, pußte fie fich gleich auf,” — er wollte |фоп 
jarfaftifch den Mund verziehen, unterließ es aber im Nu. 

„Wie Ш fie jeßt im allgemeinen?” fragte Nicolai 
Wſzewolodowitſch mit zulammengezogenen Brauen. 

„sm allgemeinen? За, das geruhen Sie ja felbft zu 
willen, und er zudte mitleidig mit den Schultern. 
„seht ... jeßt jißt fie da und legt Karten art 

„Gut, nachher. Zuerft muß ich mit Shnen zu einem 
Ende fommen.” 

Stamrogin jeßte jih auf einen Stuhl. Der „Haupt: 
mann” wagte её nicht, 14 auf das Sofa zu feßen, und 
jo 309 er denn fchnell den anderen Stuhl herbei, ſetzte 


ſich, und war, leicht vorgebeugt, in zitternder Erwartung 
bereit, alles zu vernehmen. 


„Was haben Sie denn dort auf dem Tiſch unter der 
Serviette?" fragte Stamrogin, der plößlich feine Auf: 
merfjamfeit jenem Tiſch zuwandte. 

„Da—a?“ Lebädfin drehte fich fofort gleichfalls um. 


393 


„sa, das ift fo von Ihren eigenen Gaben, in Geftalt, 
wie man zu jagen pflegt, in Geftalt von Salz und Brot... 
in der neuen Wohnung ... und 14 dachte auch an 
Ihren meiten Weg und die natürliche Müdigkeit”, er 
ſah ihn faft bittend an und verfuchte unfchuldig zu lächeln. 
Darauf erhob er fich, ging auf den Fußipißen zum 
Tiſch und entfernte ehrerbietig und vorſichtig ме Ser: 
viette. 

бт hatte einen ganzen Imbiß vorbereitet: geräucherten 
Schinken, Kalbfleifch, Sardinen, Käfe, eine Heine grüne 
Karaffe und eine lange Flaſche Bordeaur — alles war 
ungemein jauber, mit Sachfenntnis und faft elegant де: 
ordnet. 

„Das haben Sie bejorgt?” 

„Jawohl ... Schon geftern ... Marja Timofejemna | 
ift ja in der Beziehung, wie Sie miljen, gleichgültig. 
Uber die ЗаирНафе: Рав es von Ihren Gaben Ш, aljo 
Ihr eigenes ... da Sie ja doch hier der Hausherr find, 
und nicht 1$ — ich bin ja doch nur fo Ihr Angeftellter, 
wenn auch, wenn auch, Nicolai Wizemolodomitid), wenn | 
auch mein Geift noch unabhängig И! Diefen meinen 
legten Beliß werden Sie mir doch nicht nehmen wollen !" 
ſchloß er geradezu gerührt. 

„Hm! ... mie wär's, wenn Sie fich feßen würden?” 

„sch bin da—anfbar, dankbar und unabhängig!" (Er 
legte fih.) „Ach, Nicolai Wizemolovomitich, in diefem 
Herzen hat ſich jo viel angefammelt, fo viel, daß ich [chen 
gar nicht mehr wußte, wie ich noch länger auf Sie warten 
ое! Sehen Sie, Sie werden jeßt mein Schidjal еп 
jcheiden und аиф das... jener Unglüdlichen, und dann 
... dann wieder jo, wie её früher war? ch werde dann 


394 





wieder meine ganze Seele vor Ihnen ausſchuͤtten, mie 
damals vor vier Jahren. Würdigten Sie mich doch da= 
mals deifen, mir zuzuhören, lajen Зее... Mag man 
mich auch dort Ihren Falftaff genannt haben, nach 
Shafejpeare, aber Sie haben doch fo viel in meinem Le— 
ben bedeutet!.. . Seht Бабе ich wieder meine große Angft 
und erwarte nur von Ihnen Nat und Heil. Piotr Ste: 
panowitſch behandelt mich ganz furchtbar № 

Stamrogin hörte ihm neugierig zu und beobachtete ihn 
aufmerffjam. Augenfcheinlich befand fıch Lebaͤdkin, wenn 
er nun auch |фоп eine Woche nicht mehr getrunfen hatte, 
doch noch Tängft nicht in einem harmoniſchen Gemüts- 
zuftande. In folchen langjährigen Trinkern feßt fich 
Ichließlich für immer etwas Ungereimtes, Dunftiges, Irr⸗ 
finniges Ге, das Пе gleichfum benommen erfchei. en 
laßt — was ſie übrigens nicht hindert, wenn es nötig 
Ч, nicht ungefchiefter als nüchterne Leute zu betrügen, 
zu intrigieren und auch зи berechnen. 

„Уф jehe, daß Sie Sich in diejen viereinhalb Jahren 
nicht int geringften verändert haben, Hauptmann,” fagte 
Stamrogin wie ein wenig freundlicher. „Man fieht 
wieder einmal, daß die ganze zweite Hälfte des menſch— 
lihen Lebens meift nur aus den in der erften Hälfte an: 
genommenen Gewohnheiten befteht.” 

„Srhabene Worte! Sie löfen das Nätfel ver Melt!" 
tief der „Hauptmann” entzüdt, halb mit verftellter, halb 
mit wirklich echter Begeifterung, denn er war ein großer 
Liebhaber guter Ausſpruͤche. „Von allem, was @е 
gejagt haben, Nicolai Wſzewolodowitſch, habe ich eines 
ganz bejonders behalten ... noch in Petersburg haben 
Sie’s gejagt: ‚Man muß in der Tat ein großer Menſch 


395 


jein, um fogar gegen die gejunde Vernunft ftand 
halten zu fönnen‘. Sehen Sie!" 

„Oder ebenjogut аиф ein Dummkopf.“ 

„So? Na, dann mein’twegen auch ein Dummkopf, 
nur haben Sie Ihr Lebelang mit dem Scharflinn nur 


fo um fich geworfen, die anderen aber? Mögen doch 


Liputin und Piotr Stepanomwitih аиф einmal etwas 
Ähnliches fagen! Oh, wie graufam Piotr Stepanomitich 
mit mir umgegangen iſt! ...“ 

„ber Sie, Hauptmann, wie haben Sie fıch denn jelbit 
benommen?” 

„ch, das betrunfene Ausſehen und dazu noch die Un: 
menge meiner Feinde! Xber jekt ИЕ alles, alles vorüber 
und ich erneuere mich, fahre aus der alten Haut wie eine 


Schlange. Willen Sie auch, Nicolai Wſzewolodowitſch, 


daß ich mein Teſtament fchreibe, daß ich’8 ſchon де: 
Ichrieben Бабе?“ 

„Das ИЕ allerdings interejjant. Was vermachen Sie 
denn und wem das?" 

„Зет Baterlande, der Menjchheit und den Studenten. 


Nicola Wizemolodomitich, ich Бабе einmal in einer Zei: | | 


tung die Biographie eines Amerifaners gelejen, Er ver: 
machte {ет ganzes, riefiges Vermögen den Fabrifen und 
den poſitiven Wifjenjchaften, fein Skelett den Studenten 


der Univerfität feiner Stadt und feine Haut beftimmte er 
für eine Trommel, auf der man Tag und Nacht die ameriz 


fanijche Nationalhymne trommeln ое! Ach, wir find 


ja Pygmaͤen im Vergleich mit dem Gedankenflug der 


nordamerifanifhen Staaten! Rußland iſt ja nur ein 
Spiel der Natur, aber nicht des Verftandes. Wenn ich’s 
verfuchen wollte, meine Haut, jagen wir, dem Akmolinsk⸗ 


396 





chen Infanterieregiment, in dem 14 die Ehre hatte, 
meinen Dienft zu beginnen, mit der Bedingung zu ver: 
machen, daß man aus ihr ein Trommelfell verfertigt, auf 
dem man 11914 vor dem ganzen Regiment die ruffische 
Nationalhymne trommeln foll — man hielte es fofort für 
Liberalismus und Eonfigzierte meine Haut! ... Darum 
habe ich mich denn mit den Studenten begnügt. Mein 
Sfelett hab’ ich der Akademie vermacht, aber mit der Зе: 
dingung, einftweilen nur unter der Bedingung, daß fie auf 
die Stirn für alle ewigen Ewigfeiten ein Zettelchen Heben 
mit den Worten: ‚Ein reuiger Freidenker‘, Jawohl!“ 

Der Hauptmann fprach mit Begeifterung und glaubte 
jeßt natürlich jchon felbft an die Schönheit des ameri= 
fanifchen Bermächtnijjes, wenn er auch als jchlauer 
Menfch zu gleicher Zeit Stamwrogin, deſſen „Narr“ er 
früher gewejen war, aus Berechnung beluftigen wollte. 
Uber der hatte diesmal feine Luft zu lachen, jondern 
fragte im Gegenteil nur eigentümlich mißtrauifch: 

„Sie beabjichtigen wohl, Ihr Teſtament noch bei Leb— 
zeiten zu veröffentlihen und dafür eine Belohnung zu 
erhalten?” 

„Und wenn dem fo wäre, Nicolai Wſzewolodowitſch, 
und wenn dem jo wäre?" Lebaͤdkin fah fich vorfichtig 
in ihn hinein. „Denn — was И denn mein Los jetzt 
eigentlich! Sogar Verſe fchreibe ich nicht mehr und einft 
haben doch ſogar Sie fich an meinen Heinen Gedichten 
ergößt, Nicolai Wſzewolodowitſch, wiſſen Sie noch, bei 
der Flafche? Aber aus ИР8 nun mit der Feder! Hab nur 
noch ein einziges Lied gejchrieben, wie Gogol feine ‚Lekte 
Gefchichte‘. Sie willen doch, Gogol verkündete ganz 
Rußland, daß fie 1% aus feiner Seele ‚herausgefungen‘ 


397 


Бабе. So аиф ich: hab's herausgejungen und damit — 
baſta!“ 

„Was iſt denn das fuͤr ein Gedicht?“ 

„Зла, es heißt: ‚Im Fall fie ſich den Fuß зетбкафе" !" 

„Wi—ie?“ 

Darauf hatte der Hauptmann nur gewartet. Seine 
Gedichte achtete und |фаве er zwar grenzenlos, doch 
zugleich gefiel es ihm — wohl aus einer gewiljen durch: 
triebenen Zmwieheit der Seele — daß Пе Stawrogin, der 
früher zuweilen jo über fie gelacht hatte, daß er fich die 
Seiten hielt, immer beluftigten. Auf diefe Weife er: 
reichte er gewöhnlich zwei Ziele mit einem Mittel: ein 
poetijches und ein gejchäftliches Ziel. Diesmal aber gab 
es noch ein drittes, ein ganz bejonderes und Außerft 
figliches: der Hauptmann hoffte nämlich, als er das Фе | 
dicht heranzog, jich auf diefe Manier am leichtejten in 
einem gewiljen Punkte rechtfertigen zu fünnen, hoffte 
dies um fo mehr, ald er aus einem beftimmten Grunde 
gerade in diefem Punkt feine Schuld für größer als in 
allen anderen Punkten hielt. 

„Im Fall fie fich den Fuß mal bräche‘, das Heißt, beim 
Reiten. Eine bloße Phantafie, Nicolar Wſzewolodowitſch, 
ein Zraumbild, aber das Zraumbild eines Dichters! 
Einmal, beim Spazierengehen, {аб diejer Dichter eine 
Reiterin, und da ftellte er ſich dann die materialiftifhe 
Stage: ‚mag würde dann fein?‘ — das heißt, in dem 
Falle, wenn! Die Scche ift doch Far: alle Kurmacher | 
gehen fogleich wie die Krebje rüdwärts, fort jind all die 
Heiratsfandidaten, aljo — ‚milch den Mund ab morgen 
früh“, fügte er plößlich auf Deutſch hinzu, „nur der 
Dichter bleibt treu, nur er mit dem gebrochenen Herzen 


398 











in der Bruft! Nicolai Wſzewolodowitſch, jogar eine win— 
zige Laus darf verliebt fein, denn fein Gejeß verbietet’s 
ihr. Und doch fühlte fich ме Dame gefränkt durch meinen 
Brief, wie durch das Gedicht. Sogar Sie follen fich ge: 
ärgert haben, fagt man — iſt's wahr? Das wäre jammer: 
Ihade, wollt’s gar nicht glauben! Nun, jagen Sie doch 
jelbft, wen fonnte 14 denn mit bloßer Einbildung Бег 
leidigen? Zudem Ш hier noch, mein Ehrenwort, Liputin 
dabei: ‚Schreiben Sie, jchreiben Cie unbedingt, jeder 
Menſch hat das Recht, Briefe zu jchreiben‘, jagte er — 
und fo fchidte ich’8 denn ab. 
„Sie haben |, gleube ich, als Bräutigam vor: 
geſchlagen?“ 
„Feinde, Feinde, nichts als Feinde! ...“ 
„Sagen Sie das Gedicht!“ fiel ihm Stawrogin ſtreng 
ins Wort. 
„Ein Traum, bloß ein Traum, ſag ich Ihnen!“ 
Aber er ſetzte ſich doch in Poſitur, ſtreckte die Hand aus 
und begann: 
„Das ſchoͤnſte Weib brach mal ein Glied, 
Doch ward её dadurch nur aparter! 
Und doppelt liebte fie fortan 
Der ohnehin in fie verliebte Dichtersmann ...“ 


„Genug!“ Stawrogin winfte ab. 

„Oh, ich jehne mich nach Pietjer*) № rief Lebädfin, 
fchnell auf ein anderes Gebiet überjpringend, а18 wäre 
von Gedichten nie die Rede geweſen. „Sch denke an eine 
Auferftehung, ich träume von einer Wiedergeburt ... 
Mein Wohltäter! Darf ich darauf rechnen, daß Sie mir 


*) Burſchikoſe Abkürzung für Petersburg. — — 
309 


nicht die Mittel zur Reife verweigern werden? Sch hab 
Sie die ganze Woche wie die liebe Sonne erwartet.” 

„Kein, darauf dürfen Sie nicht rechnen. Außerdem 
ift mir von meinem Kapital faft nichts mehr verblieben. 
Und überhaupt, warum follte ich Ihnen Geld geben? ...“ 

Stamrogin jchien fich plößlich geärgert zu haben. 
Kurz und troden zählte er alle Vergehen des Haupt: 
manns auf: das unmäßige Trinken, die Lügengefchichten, 
Verſchwendung des Geldes, das Maria Timofejewna 
gehörte, dann, daß er fie aus dem Klofter genommen 
hatte, die frechen Briefe mit den Drohungen, das Ge— 
heimnis befanntzumachen, die Geſchichte mit Darja 
Pamlomna ujw., имо. Der Hauptmann mwogte geradezu 
bin und her, geftifulierte, wollte mwiderjprechen, doc 
Stamrogin wies ihn jedesmal Бет ИФ zur Ruh. 

„Und erlauben Sie," bemerkte er zum Schluß, „Sie 
Ichreiben immer von einer ‚Familienjchande‘. Sch fehe 
darin feine Schande für Sie, daß Ihre Schweſter Staw⸗ 
109118 rechtmäßig getraute Frau iſt.“ 

„ber die Ehe ИЕ ein Geheimnis, Nicolai Wſzewolodo— 
witfch, niemand шей davon, ein verhängnisvolles Ge: 
heimnis! ch befomme Geld von Ihnen und plößlich 
ftellt man mir die Frage: wofür bekommſt du diefes Geld? 
Sch aber bin gebunden und fann nicht antworten, zum 
Schaden meiner Schwefter — und zum Schaden meiner 
Samilienehre !" 

Der Hauptmann erhob bereits die Stimme: diejes 
Thema liebte er ganz befonders und er hatte fich in dieſem 
Sinne jchon vorbereitet, denn Darauf beruhte feine 
ganze Hoffnung. Wie hätte er auch ahnen follen, welch 
eine niederjchmetternde Überrafchung ihn gerade auf 


400 














diefer feiner Bafis erwartete! Ruhig und beftimmt, als 
ob её fih um die alltäglichfte Häusliche Angelegenheit 
handelte, teilte ihm Stawrogin mit, daß er die Abficht 
habe, in diefen Tagen, vielleicht morgen oder übermorgen, 
feine Heirat allgemein befanntzumachen, fie ‚jomohl der 
Polizei wie der Gefellfchaft‘ anzuzeigen — fo daß denn 
die Frage der „Familienehre“ damit endgültig erledigt 
fein werde, und die der Subfidien gleichfalls, 

Der Hauptmann riß die Augen auf: er begriff nicht 
einmal, was er da hörte; jo mußte denn alles noch durchs 
gefprochen werden. 

„ber fie Ш 504... halbverruͤckt?“ 

„Das Ш meine Sache.” 

„Aber ... mas wird denn Ihre Mutter — 9" 

„Das geht Sie wenig an, Lebädfin.” 

„Uber Sie werden doch Ihre Frau in Ihr Haus 
führen?" 

„Seht leicht möglich. Übrigens ift das fchon ganz und 
gar nicht Ihre Sache, das geht Sie nicht dag geringfte an.“ 

„Wie, nicht angehen?” fchrie der Hauptmann auf. 
„Und ich ?“ 

„Nun, Sie kommen doch felbftverfiändlich nicht in 
mein Haus.” 

„ber ich bin doch Ihr Verwandter № 

„Fuͤr folhe Verwandte dankt man. Und warum foll 
ich Ihnen nun noch Geid geben, fagen Sie doch ſelbſt?“ 

„Nicolai Wizewolodomitfch, Nicolai Wſzewolodowitſch, 
das [апи ja nicht fein, Sie werden fich das doch noch übers 
legen, Sie werden doch nicht Hand an fich legen wollen... . 
was wird man denken, was wird man in der Geſellſchaft 
fagen ?" 


26: Dofiofewsrti, Die Dämonen. Bb.L 401 


„Fuͤrchte wahrlich fehr dieſe Gefellichaft! Habe ich 


doch Ihre Schweſter geheiratet, als ich es wollte, damals, 
nach dem Gelage, auf die trunkene Wette hin, und jetzt 
zeige ich es Öffentlich ап... wenn mir das jetzt Ver: 
gnügen macht.” 

Er fagte das ganz eigentümlich gereizt, fo daß Lebaͤdkin 
ſchon mit Entjeßen zu glauben begann. 

„Uber ich, was wird denn mit mir, die Hauptfache 
dabei bin 204 ich! ... Sie fcherzen vielleicht nur, Nicolai 
Wizemolodomitich?" 

„Nein, ich fcherze nicht.“ 

„Wie Sie wollen, Nicolai Wſzewolodowitſch, aber ich 
glaube Ihnen nicht ... dann werde ich eine Bittjchrift 
einreichen.” 

„Sie find furchtbar dumm, Hauptmann.” 

„Meinetwegen, aber das ИЕ Doch alles, was mir übrig: 
bleibt!" fagte der Hauptmann ganz шит in feiner Be: 
nommenheit. „Früher gab man mir dort in den Winfeln 
für ihre Arbeit mwenigftens ein Obdach, aber was joll denn 
jeßt aus mir werden, wenn Sie mich ganz fallen laſſen?“ 

„Бег Sie wollen doch nach Petersburg, um Shre 
Karriere zu verändern. Übrigens, ift es wahr, рав Sie, 
wie ich hörte, beabjichtigten, zu denunzieren — in der 
Hoffnung, begnadigt zu werden, wenn Sie die anderen 
anzeigen?” 


Der Hauptmann öffnete den Mund und riß die Augen 


auf, 204 eine Antwort gab er nicht. 


„Hören Sie, Hauptmann‘, begann plößlih Stawe | 


rogin ungewöhnlich ernft und 5J ſich ein wenig vor 
zum Tiſch. 
Bis jeht hatte er-noch gewiſſermaßen zmweideutig де 


402 





iprochen, fo daß Lebädfin, der fi) nun einmal an die 
Rolle des Narren gewöhnt hatte, noch immer ein wenig 
im Zweifel war: ob fich fein Prinz Heinz in der Tat 
ärgerte oder ob er, als er von der Veröffentlichung feiner 
Heirat ſprach, nur zu fcherzen beliebte. Seht aber mar 
der ungewöhnliche Ernft Stamrogins dermaßen über: 
zeugend, daß dem Hauptmann plößlich geradezu ein 
Fröfteln über den Rüden lief. 

„Hören Sie, und jagen Sie die ganze Wahrheit, Же 
baͤdkin: Haben Sie fchon denunziert, oder noch nicht? Sit 
е8 Ihnen nicht ſchon gelungen, irgend etwas in der Hinz 
licht zu tun? Haben Sie nicht aus Dummheit ſchon 
irgendeinen Brief abgejchidt?" 

„Nein, noch nicht, ито... ich hab’ nicht einmal daran 
gedacht!" und der Hauptmann ſah ihn an, ohne fich zu 
rühren. 

„un, das lügen Sie, рав Sie daran noch nicht gedacht 
haben. Deswegen wollen Sie ja auch nach Peters: 
burg. Uber wenn Sie noch nichts gefchrieben haben, foll: 
ten Sie dann nicht hier irgend etwas mit irgend jemanz 
dem gefchwäßt haben? Sagen Sie die Wahrheit. Ich 
habe jo etwas gehört.“ 

„sn der Betrunfenheit mit Liputin. Liputin ЦЕ ein 
Berräter. Ich habe ihm nur mein Herz ausgefchüttet‘‘, 
flüfterte der arme Hauptmann. 

„Jun ja, das eine Herz dem anderen Herzen, ich weiß 
ſchon, aber man braucht doch nicht gleich blödfinnig zu 
jein. Wenn Sie den Gedanken hatten, jo hätten Sie ihn 
für fich behalten follen. Heutzutage jchweigen Eluge Leute 
und reden nicht.“ 

„Nicolai Wſzewolodowitſch,“ — der Hauptmann er= 


is 403 


zitterte. „Sie ſelbſt haben fich doch an nichts beteiligt, 
ich hab doch nicht Sie..." 

„Wie follten Sie denn, bewahre, Ihre eigene Milch- 
kuh 1 

„Nicolai Wizemolodowitich, jo urteilen Sie doch felbft! 
So ſagen Sie doch! ...“ 

Und in der Verzweiflung begann er, mit Traͤnen in 
den Augen, ſein Leben in dieſen letzten vier Jahren zu 
erzaͤhlen. Es war die toͤrichte Geſchichte eines herein— 
gefallenen Dummkopfs, der feine Naſe in Sachen ge: 
ftedi, die nicht für ihn gejchaffen waren, und deren 
Wichtigkeit er uͤber Trinken und Schlemmen [ай bis zum 
legten Augenblid noch nicht begriffen hatte. Er erzäflte, 
er habe 14) ſchon in Petersburg „einfach verleiten laſſen, 
aus reiner Freundichaft, wie ein treuer Student, das 
heißt, ohne eigentlich Student zu fein”, verfchiedene 

tätter durch die Türen, in die Schirme zu fteden, oder 
wie Zeitungen in die ЗиеНайеп, und wo ſich nur eine 
Gelegenheit bot, im Theater wie auf der Straße, in die 
Hüte oder Zafchen zu befördern. Späterhin habe er 
auch Geld von ihnen genommen, denn „was find denn 
meine Einnahmen, Sie willen doch ſelbſt!“ Kurz, in 
zwei ganzen Gouvernements hatte er „allerlei Schund“ 
verftreut, 

„Dh, Nicolai Wſzewolodowitſch,“ rief er aus, „am 
meiften hat mich. empört, daß dieje Papierlappen jo ganz 
gegen alle bürgerlichen und befonders vaterländifchen 
Geſetze waren! Da ift denn plößlich gedrudt, fie follen 
mit den Heugabeln fommen und nicht vergeffen, daß, 
wer morgens arm ausgeht, abends reich zurüdfommen 
kann — ftellen Sie fich doch nur [о was vor! Ein Schauer 


404 





faßt mich felber und doch ftopfe ich ме Schandblätter 
überall Би... oder plößlich fünf, jech8 Zeilen an ganz 
Rußland, fo, mir nichts, dir nichts, ganz einfach: ‚Schließt 
Ichnell die Kirchen, vernichtet Gott, löft die Ehe, hebt das 
Recht der Erbfolge auf, nehmt die Meſſer! — und das 
ift alles, und der Teufel weiß, mas weiter. Und gerade 
mit diefem Papierchen, dem fünfzeiligen, bin 14 dann 
beinahe bereingefallen, im Regiment haben mich die 
Dffiziere verprügelt, aber dann — Gott gebe ihnen Ges: 
jundheit! — haben fie mich wieder laufen laſſen. Doch 
im vorigen Sahre haben fie mich beinahe wirklich gepadt, 
wie ich Fünfzigrubelicheine, franzöfilche Kopien, Korowa— 
ieff übergab. Uber, Gott {е Dank, Koromwajeff ertranf 
bald darauf in betrunfenem Zuftande im Зе — und 
man fonnte nichts gegen mich unternehmen. Hier bei 
Wirginski hatte er noch die Freiheit der fozialen Frau 
verfündet. Im Juni Hab ich wieder ии... jchen Kreije 
alles mögliche herumgeftreut. Die fagen, ich müfje bald 
wieder ... Piotr Stepanomitfch gibt plößlich zu ver: 
ftehen, daß ich gehorchen muß und droht mir einfach. 
Uber wie hat er mich damals am Sonntag behandelt! 
Nicolai Wſzewolodowitſch, ich bin ein Sklave, ein Wurm, 
aber fein Gott — nur dadurch unterfcheide ich mich von 
Derſhawin. Doch mas find denn meine Einnahmen? 
Sie miljen ja jelbft!" 

Stamrogin hatte ihm aufmerkſam zugehört. 

„Vieles war mir davon ganz unbekannt,“ fagte er; 
„mit Shnen konnte jelbftverftändlich alles gejchehen ... 
Hören Sie," er dachte ein wenig nach, „wenn Sie wollen, 
jo fagen Sie ihnen — Sie wiſſen jchon, wem —, daß 
Liputin gelogen hat und daß Sie nur mich mit einer Des 


405 


nunziation hätten fchreden wollen, in ver Annahme, aud) 
ich fei fompromittiert . ... um auf diefe Weife mehr Geld 
aus mir herauszubefommen ... Verſtanden?“ 

„Nicolai Wſzewolodowitſch, Liebling, Täubchen, droht 
mir denn wirklich {014 eine Gefahr? Sch Бабе ja nur 
auf Sie gewartet, um Sie das fragen zu können!" 

Stamrogin lachte Титу auf. 

„Nach Petersburg wird man Sie natürlich nicht laſſen, 
jelbft wenn ich Shnen das Geld zur Reife geben wollte... 
Übrigens, es ift Zeit, зи Marja Timofejewna zu gehen.“ 
Er erhob fich. 

„Nicolai Wizemwolodomitich, aber wie wird das nun 
mit ihr, mit Marja Timofejewna?“ 

„за, fo, wie ich ſagte.“ 

„ЭЙ das denn wirklich wahr?" 

„Sie glauben noch immer nicht?" 

„Wollen Sie mich denn wirklich {о Педеп laſſen, wie 
einen alten, vertragenen Stiefel?" 

„sch werde ſehen,“ meinte Stamwrogin halb lachend. 
„Хип, laffen Sie mich.“ 

„Wuͤnſchen Sie nicht, daß ich fo lange auf der Treppe 
Пере... Damit ich nicht irgendwie verfehentlich zuhoͤre ... 
die Zimmerchen find Нет.” 

„Das ift recht. Warten Sie ein wenig auf der Treppe. 
Nehmen Sie meinen Regenfchirm.“ 

„Ihren Regenichirm, Убей... bin ich denn das wert?“ 
fragte der Hauptmann untermürfig. 

„Einen Schirm ift jeder wert. 

„Mit einem Schlage treffen Sie wieder das Minimum 
der menfchlihen Rechte ...“ fagte Lebädfın, doch ſchon 
mehr mechanifch: er тат doch gar зи bedrüdt und eigent- — 


406 








lich ganz wie vor den Kopf gejchlagen. Einftweilen aber, 
faft gleich darauf, als er den Schirm über fich aufgefchla- 
gen hatte, begann fich in feinem leichtfinnigen Gehirn 
ſchon ein Außerft beruhigender Gedanke mehr und mehr 
auszubreiten: wie, wenn man ihn bloß betrügen wollte 
und ihn belog? War dem aber fo, dann fürchtete man fich 
alfo vor ihm und — mozu follte er fich dann поф 
fürchten? 

„Wenn man lügt und betrügt, fo tut man das doch 
jtets aus irgend einem Grunde — was für einer mag das 
nun hier fein?” Erabbelte es in feinem Kopf herum. Die 
Veröffentlichung der Heirat fchien ihm Bloͤdſinn zu fein: 
„ber weiß Gott: bei diefem Wundertäter ЦЕ nichts ип 
möglich, — lebt ja überhaupt nur zu dem Зтеф, um die 
Menſchen zu ärgern! Wie aber, wenn er Angft vor mir 
befommen hat nach dem Sonntag? Ум... und noch 
fo, wie nie zuvor? Da ift er nun hergeeilt, um zu ver: 
jihern, daß er felbft alles befanntmachen werde, aus 
Angft, ich könnte es fonft tun. Lebaͤdkin, fieh dich vor, 
{ев feinen Bod! Hm! ... Und warum fommt er 
denn heimlich in der Nacht, wenn er’s ſelbſt ausblajen 
will? Uber wenn er fich fürchtet, jo fürchtet er fich дев, 
fürchtet gerade für diefe paar Tage. Hm! ... рав auf, 
Lebaͤdkin! .. 

„Schredt mich mit Pjotr Stepanomwitih! Da kann 
einem ganz angjt und bange werden — gerade, was 
das betrifft! Hm... weiß Gott! wahrhaftig angft und 
бапде. Was раде mich nur, diefem Liputin, folch 
einem ... Der Teufel mag wiſſen, was dieſe DBeelze: 
buben da im Spiele haben — bin nie draus flug geworden! 
Haben fich jeßt wieder eingefunden, genau wie vor fünf 


407 


Sahren ... За, wen Ба idy’s denn fagen follen? 
‚Haben Sie nicht aus Dummheit irgend jemandem ge— 
ſchrieben? Hm! Alſo апп man auch unter dem Эт: 
{Фет großer Dummheit fchreiben? War das vielleicht 
gar ein Rat? ‚Deswegen wollen Sie ja паф Peters: 
burg.‘ Der Schuft! 34 hab's bloß mal geträumt, er 
aber hat jogar den Traum fchon erraten! Ganz als ob 
er jelber zur Reife nach Petersburg raten möchte. Hm! 
Hier werden wohl zwei Sachen im Spiele fein: entweder 
er fürchtet fich felber, weil er wieder was Schönes ап: 
gerichtet hat, oder ... oder er fürchtet ſelbſt überhaupt 
nichts und fchubft nur mich, damit ich fie alle da anzeige! 
Ach, Lebaͤdkin, da kann einem wahrgaftig angft und bange 
werden! Wenn man dabei nur feinen Bod ſchießt! ...“ 

Und er kam derniaßen ins Nachdenken, daß er jelbft 
das Laufchen vergaß. Übrigens wäre es ihm auch ſchwer 
gefallen, etwas zu verjtehen; die Tür war nicht dünn und 
das Gejpräd wurde nur leiſe geführt — nur hin und 
wieder drang ein unklarer Laut bis zu ihm. Endlich 
ijpudte er aus und trat wieder aus dem Flur auf die 
Treppe hinaus, wo er in Gedanken leiſe vor ſich hin 
pfiff. 

III 

Das Zimmer, in dem Marja Timofejewna ſaß, war 
faſt zweimal ſo groß wie das erſte, das der Hauptmann 
bewohnte. Alle Gegenſtaͤnde der Einrichtung waren 
von derſelben einfachſten Art, doch der Tiſch vor dem 
Sofa war mit einem gebluͤmten Paradetiſchtuch bedeckt, 
und auf ihm ftand eine brennende Lampe. Über den 
ganzen ungeftrichenen Fußboden hatte man einen jchönen 
Teppich gebreitet und Lie Bettſtelle mit einem grünen 


408 





Vorhang völlig abgeteilt. Außerdem befand fich in dem 
Zimmer noch ein großer weicher Lehnſtuhl, in den fich 
aber Marja Timofejewna niemals ſetzte. In der einen 
Ede hing ganz wie in der alten Wohnung ein Heiligen: 
bild, vor dem das Laͤmpchen brannte, und ganz wie Фа: 
mals lagen auch jeßt wieder die unvermetdlichen Sachen 
auf dem Tifch vor Marja Timofejewna: ein Spiel Kar: 
ten, ein Heiner Spiegel, das Kiederbuch und аиф wieder 
eine Semmel. Hinzugelonmen waren nur zwei Heine 
Bücher mit bunten Bildern, von denen das eine für die 
Tugend bearbeitete Neifebefchreibungen enthielt, das 
_ апоете Heine moralifche Erzählungen, vornehmlich Ritter: 
geſchichten — fo ein Buch für den Weihnachtstifch oder 
junge Mädchen im Inſtitut. Marja Timofejewna hatte 
natürlich den Gaft erwartet, Doch als Stawrogin eintrat, 
ichlief fie Halb Tiegend auf dem Sofa, auf ein hartes 
Kiffen gebeugt. Der Saft ſchloß unhörbar die Tür hin— 
ter 14 und begann, ohne 14 von der Stelle zu rühren, 
ме Schlafende zu betrachten. 
_ Фе Hauptmann hatte übertrieben, als er faate, fie 
бабе fich befonders gepußt. Sie war in demjelben dunk— 
len Kleide, in dem fie am Sonntag bei Warwara Petromna 
gewefen war. Das Haar hatte fie im Naden ebenfo zu 
einem winzigen Knoten zufammengeftedt, und der lange 
magere Hals war genau fo wie damals entblößt. Der 
ſchwarze Shanl, den Warwara Petromna ihr gefchenkt 
hatte, lag forgfältig zufammengefaltet neben ihr auf dem 
Sofa. Sie war wie gewöhnlich ungejchidt gepudert und 
geſchminkt. Stamwrogin fand noch nicht eine Minute, 
als fie plößlich, als hätte fie feinen Blid gefühlt, erwachte, 
ме Augen auffchlug und fich fehnell aus der halb liegenden 


409 


Stellung aufrichtete. Doch offenbar ging auch in dem 
бай etwas Sonderbares vor: er blieb auf demjelben 
Fleck an der Zür ftehen und rührte fich nicht; regungslos 
und mit durchdringendem Blid fuhr er fort, ihr wortlos 
und beharrlich ins Geficht zu fehen. Vielleicht war diefer 
Bli übermäßig hart, vielleicht drüdte fich in ihm Efel 
aus, oder jogar fchadenfroher Genuß ап ihrem Schred — 
wenn das nicht Marja Zimofejewna паф dem Er: 
wachen nur fo fchien. Doch wie dem auch war, jedenfalls 
drüdte fich im Geſicht der Armen plößlich, nach fait 
minutenlangem Warten, vollftändiges Entjeßen aus: ein 
frampfartiges Zuden lief durch ihre Züge, fie erhob ihre 
bebenden Hände, wie zur Abwehr, und plößlich begann 
fie zu weinen, genau jo, wie ein erjchredtes Kind; noch 
ein Augenblid — und fie hätte де]фиеп. Doch der Saft 
fam zur Befinnung: in einer Sekunde veränderte ſich 
fein ganzes Geficht, und mit dem freundlichften, liebens- 
würdigften Lächeln trat er an den Tiſch. 

„DBerzeihen Sie mir, ich habe Sie erichredt, Marja 
Timofejewna, Sie jchliefen und ich bin fo unbemerft ein= 
getreten”, fagte er und ftredte ihr die Hand entgegen. 

Der Ton der freundlihen Worte tat feine Wirkung: 
der Schred verſchwand aus ihrem Geſicht, wenn fie ihn 
auch immer поф angjtvoll anblidte, augenjcheinlich Бег 


müht, 14 irgend etwas zu erklären. Üngftlih ftredte 
fie ihm die Hand entgegen und jchließlich zudte denn auh 


ein jchüchternes Lächeln um ihre Lippen. 


„Guten Tag, Зак", flüfterte fie und fah ihn dabei 


ganz fonderbar und aufmerfjam an. 
„Sie haben wohl einen böfen Traum gehabt?" fragte 
er und lächelte noch liebenswuͤrdiger, noch freundlicher. 


410 





„Wie können Sie п еп, daß mir davon geträumt 
bat?“ 

Und plößlich erbebte fie wieder, taumelte erjchroden 
zurüd, erhob wie zur Abwehr die Hand und wieder ver: 
309 ſich ihre Geficht, wie das eines Heinen Kindes, das 
meinen will. 

„Aber {5 beruhigen Sie ſich 504! Warum fürchten 
Sie ſich? Haben Sie mich denn wirklich nicht erkannt?" 
redete ihr Nicolai Wſzewolodowitſch zu, Doch diesmal 
fonnte er fie lange nicht beruhigen. 

Schweigend ſah fie ihn an und noch immer lag in 
ihrem fragenden Blid ein quälender Zweifel, irgend ein 
fchwerer Gedanke, den ihr armer Kopf nicht zu fallen 
vermochte. Dabei war es, als ftrenge fie fich krampf— 
бай an, irgend etwas zu Ende zu denken. Bald ſenkte fie 
die Augen, bald ſchlug fie fie plößlich wieder auf und über: 
flog ihn mit einem fchnellen, umfafjenden Blick. Endlich 
fchien fie fih — zwar nicht beruhigt, aber doch wie zu 
etwas entjchlojjen zu haben. 

„Seßen Sie fich, bitte, neben mich, damit ich Sie nach: 
her gut jehen апп,” fagte fie ziemlich feſt, augenjcheinlich 
mit einer ganz beftimmten und neuen Abficht. „Uber 
jeßt feien Sie ganz ruhig, denn ich werde Sie nicht ап: 
jehen, und auch Sie follen mich nicht anfehen, jo lange 
nicht, bis ich Sie felbft darum bitte. Seßen Sie ſich nun !" 
fügte fie plößlich fogar mit Ungebuld Hinzu. 

Die neue Empfindung bemächtigte fich ihrer fichtlich 
immer mehr. 

Stamrogin fette ИФ und wartete; ein Schweigen Бе: 
gann und daı ste ziemlich lange. 

„Эт! Sonderbar erjcheint mir das alles,” murmelte 


411 


fie plößlich und faft wie апде ен. „Mich haben пани: 
ih ſchlechte Злаите beftridt; nur — warum mußten 
gerade Sie mir in eben diejer Geftalt im Traume er: 
ſcheinen?“ 

„Lallen wir jetzt die Träume”, unterbrach er fie ип: 
geduldig und wandte jich zu ihr, troß des Verbotes, fie 
anzufehen, und vielleicht blißte flüchtig wieder jener Aus» 
drud von vorhin in feinen Augen auf. Er fah, daß fie 
mehrmals und fogar jehr gern zu ihm aufbliden wollte, 
fich jedoch jedesmal bezwang und hartnädig den Blid 
zu Boden gefenft hielt. 

„Hören Sie, Fürft,” fagte fie plößlich lauter: „Hören 
Sie, Fürft ...“ 

„Warum wenden Sie fich von mir ab, warum fehen 
Sie mich nicht ап, was foll dieſe ganze Komödie?” rief 
er geärgert, da ihm die Geduld мВ. 

Sie aber jchien ihn überhaupt nicht zu hören. 

„Hören Sie, УШИ,” wiederholte fie zum drittenmal 
mit feiter Stimme und mit einem unangenehmen, ge: 
ichäftigen Ausorud im Geſicht. „Als Sie nıir damals in 
der Equipage fagten, die Heirat werde jeht öffentlich, 
befanntgemacht werden, da erjchraf ich ſchon Damals, пей 
dann das Geheimnis Doch aufhören würde, Jetzt aber 
weiß ich gar nicht тебе... Sch habe die ganze Zeit ge: 
dacht, und fehe nun deutlich, daß ich nicht Dazu tauge. 
Зи pußen würde ich mich fehon verfiehen, zu empfangen 
Ichließlich auch: ale ob е8 wunder wie fchwer wäre, zu 
einer Taſſe Зее einzuladen, bejonders wenn man noch 
Diener in Livree hat! Aber immerhin, wenn man jo 
von der Seite fehen wird ... Sch habe damals, ат 
Sonntag vormittag, vieles in jenem Haufegefehen. Die: 


412 








jes huͤbſche Fräulein hat mich die ganze Zeit angejehen, 
bejonders als Sie eintraten. Das waren doch Sie, der 
eintrat, nicht? Ihre Mutter war nur eine drollige alte 
Dame. Mein Lebädfin hat jich auch ausgezeichnet. Um 
nicht über ihn lachen zu müfjen, hab ich immer zur 
Zimmerdede hinaufgefchaut, jchön war fie da bemalt! 
Seine Mutter aber müßte nur Abtiſſin fein. Sch fürchte 
mich vor ihr, wenn fie mir auch den ſchwarzen Schal ge: 
{фей hat. Die haben mich damals wohl alle nur als 
Überrafchung empfunden; das fränft mich ja nicht, nur 
ſaß ich dort fo und dachte bei mir: was bin ich denn für 
die hier für eine Verwandte? Sch weiß wohl, von einer 
Gräfin verlangt man nur feelifche Eigenfchaften — denn 
für die wirticnaftlichen hat fie doch viele Diener — und 
dann noch Jo ein bißchen gefellichaftliche Kofetterie, da= 
mit jie ausländische Neifende zu empfangen verfteht. 
Aber troßdem, damals am Sonntag fahen jie mich doch 
aanz ohne Vertrauen ап. Nur Dafcha Ш ein Engel. 
Sch fürchte jehr, daß fie ihn irgendwie mit einer un= 
vorfichtinen Bemerkung über mich fränfen koͤnnten.“ 

Stamrogin verzog den Mund. 

„Fuͤrchten Sie fich nicht und machen Sie ſich Feine 
Sorgen“, ſagte er. 

„ber das machte mir ja auch nichts aus, ſelbſt wenn 
er 14 meineiwegen ein wenig jchämen jollte, denn es 
wäre doch immer mehr Mitleid ald Schande dabei, 
denke ich — freilich, je nach dem, wie der Menfch ſelbſt 
ift. Denn er weiß doch, daß eher ich fie bemitleiden kann, 
nicht aber jie mich.“ 

„Sie haben ſich wohl ſehr gekraͤnkt gefuͤhlt, Marja 
Timofejewna?“ 


413 


„Ber, ich? Nein” Sie lachte gutmütig. „Nicht ein 
bißchen. Ich jah mir damals nur alle jo an und dachte 
fo bei mir: alle ärgert ihr euch, alle feid ihr entzweit; 
nicht einmal zufammenzufommen und von Herzen zu 
lachen verftehen fie. So viel Reichtum, und dabei fo 


wenig Fröhlichkeit — traurig war mir das alles. 
Übrigens, jeßt tut mir niemand leid, außer mir 
ſelbſt.“ 


„sch hörte, Sie hätten mit Ihrem Bruder ein ſchlechtes 
Leben gehabt, ohne mi?" 

„Wer hat Ihnen das gejagt? Unfinn! Jetzt ift es viel 
iülechter: jeßt find die Träume fchlecht, und jchlecht find 
die Träume deshalb gemorden, weil Sie angefommen 
find. Sie aber, fragt es fich, warum find Sie denn Бек 
gekommen, fagen Sie das doch gefälligft !" 

„Wollen Sie nicht wieder ins Klofter gehen?" 

„So, das ahnte ich ja, daß man mir wieder das Klofter 
vorjchlagen wird! Als ob "euer Klofter da Gott weiß 
was für ein Wunderding wäre! Und warum foll ich denn 
wieder ins Klofter gehen, und womit joll ich denn jekt 
noch dorthin? Seht bin ich Doch fchon ganz und gar _ 
allein! Es Ш zu fpät für mich, ein drittes Leben ап: 
zufangen.“ 

„Sie ſcheinen ſich uͤber irgend etwas ſehr zu aͤrgern, 
— fuͤrchten Sie nicht ſchon, daß ich aufgehört haben 
fönnte, Sie zu lieben?” | 

„Ach, um Sie mache ich mir ja gar feinen Kummer. 
Ich fürchte nur für mich, daß ich felbft aufhören könnte, | 
jemanden fehr zu lieben.‘ 

Sie lächelte verächtlich, 

„Sch werde wohl vor ihm in etwas ſehr Großem 


414 








fchuldig fein,” fagte fie plößlich wie zu fich felbft. „Nur 
weiß ich nicht, worin ich fchuldig fein könnte, und das 
Ш nun mein ewiges Leid. Immer und immer, diefe 
ganzen fünf Jahre, Бабе ich Tag und Nacht gebangt, 
daß ich vor ihm fchuldig fein Fünnte. Und da bete ich denn 
lange und bete und denfe immer an meine große Schuld 
vor ihm. Und nun hat es jich auch richtig herausgeftellt, 
daß ich wahr gefühlt habe.“ 

„Bas hat jich herausgeſtellt?“ 

„Kur fürchte ich, ob da nicht etwas von ihm aus ge: 
ſchieht,“ fuhr fie fort, ohne auf die Frage zu antworten, 
die ſie vielleicht überhaupt nicht gehört бане. „Und doch, 
mie koͤnnte er fich denn mit folchen Leutchen zufammen: 
tun! Die Gräfin würde mich wohl gern verjchlingen, 
obſchon fie mich in ihre Karoſſe gefeßt hat. Alle find fie 
an der Verjchwörung beteiligt — follte auch er eg jein!? 
Sollte auch er ein Verräter fein?” (Shr Kinn und ihre 
Lippen begannen zu zittern.) „Hören Sie, haben Sie 
von Griſchka Dtrepjeff gelefen, dem falfchen Demetrius, 
der in fieben Kathedralen verflucht ward?" 

Stawrogin ſchwieg. 

„Aber ja, jetzt werde ich mich zu Ihnen wenden und 
werde Sie anſehen,“ entſchloß fie ſich ploͤtzlich. „Wen— 
den Sie ſich auch zu mir und ſehen Sie mich an, aber 
recht aufmerkſam: ich will mich zum letztenmal übers 
zeugen.“ 

„sch ſehe Sie {фот lange an.” 

„om! fagte Marja Timofejewna und betrachtete ihn 
angeftrengt. 

„Biel dider find Sie geworden ...“ 

Sie mollte noch etwas jagen, doch plößlich ergriff 


415 


der frügere Schred fie wieder und zum drittenmal fuhr 
йе mit gerabezu entjeßtem Geſicht zurüd und erhob Фа: 
bei wieder wie zur Abwehr die Hand. 

„Was haben Sie nur, mas fehlt Ihnen?” rief Siaw⸗ 
rogin wuͤtend. 

Doch der Schreck dauerte nur einen рн ihr 
Geſicht verzog fich zu einem fonderbaren, mißtrauifchen, 
unangenehmen Lächeln. 

„sch bitte Sie, Fürft, ftehen Sie auf und —* Sie 
ein,“ ſagte ſie ploͤtzlich ſehr beſtimmt und mit feſter 
Stimme. 

„Wie, eintreten? Wohin eintreten?“ 

„Dieſe ganzen fuͤnf Jahre habe ich mir immer nur 
vorgeſtellt, wie das ſein wird, wenn Er eintritt. Stehen 
Sie auf und gehen Sie ins andere Zimmer, hinter die 
Tuͤr. Ich werde dann hier ſitzen, als erwartete ich nichts, 
und werde ein Buch in die Hand nehmen. Und. plöß: 
lich treten Sie dann ein, nach fünf Jahren, und find von 
der Reife zurüdgefehrt. Sch möchte jehen, wie das [ет 
wird.” 

Stamwrogin fnirfnte mit den Zähnen und murmelte 
etwas Unverftändliches. 

„Genug,” fagte er und ſchlug mit der flachen Hand 
auf den Tiſch. „Sch bitte Sie, Marja Timofejewna, mich 
jeßt anzuhören. Haben Sie die Güte, Ihre ganze Auf: 
merkſamkeit zufammen zu nehmen, wenn Sie е8 fünnen. 
Sie find doch nicht total verrüdt!” entfuhr es ihm in 
der Gereiztheit. „Morgen werde ich unſere Ehe befannt- 
machen. Sie werden nie in Schlöffern wohnen — fallen 
Sie fich, bitte! Wollen Sie nun mit mir zufammen= 
wohnen, das ganze ЗеБеп, aber nur jehr weit von hier? 


416 


Das wäre in der Schweiz, in den Bergen, dort gibt es 
einen Drt ... Beunruhigen Sie fich nicht, ich werde ©ie 
niemals verlafien, oder in eine Srrenanftalt ſtecken. Geld 
werde ich noch genug haben, um nicht für ung betteln 
zu müffen. Sie werden ein Dienftmädchen haben; Sie 
werden feine einzige Arbeit zu verrichten brauchen. 
Alles, was Sie innerhalb der Grenzen des Möglichen 
wünfchen, wird Ihnen verjchafft werden. Sie werden 
beten und tun fünnen, was Sie wollen, und gehen 
fünnen wohin Sie wollen. ch werde Sie nicht ап: 
rühren. Und auch ich werde diefen Ort nie mehr ver: 
laſſen. Wenn Sie wollen, werde ich das ganze Leben— 
lang fein Wort mit Ihnen |prechen, oder, wenn Sie 
wollen, jo erzählen Sie mir abends, wie damals in Pe— 
tersburg in den Winkeln, Ihre Heinen Gefchichten. Oder 
ich kann Ihnen auch vorlejen, wenn Sie zum Zuhören 
Luft haben. Aber dafür das ganze ®еБеп jo an einem 
einzigen Ort — und es ift ein düfterer Ort. Wollen Sie? 
Können Sie ſich entichließen? Und werden Sie es аи 
nie bereuen, werden Sie mich nie peinigen mit Tränen 
und Verwuͤnſchungen?“ 

Sie hatte ihm mit ungewöhnlicher Aufmerkſamkeit 
zugehört, darauf ſchwieg jie lange und dachte nach. 

„Anmahrjcheinlich fommt mir das alles vor,” ſagte fie 
endlich fpöttifch und launiſch. „So Риме ich ja шо: 
möglich noch vierzig Jahre in jenen Bergen leben.‘ 

Sie begann zu lachen, | 

„Run, dann leben wir eben noch vierzig Jahre," jagte 
er mit ſtark gerunzelter Stirn. 

„эт! ... Um feinen Preis fahre ich dorthin.‘ 

„Sogar mit mir nicht?" 


27 Doitojewsti, Die Dämonen. 80.1. 41% 


„Ber find Sie denn, daß ich mit Shnen fahren follte? 
Vierzig Jahre nacheinander mit ihm auf einem Berge 
ſitzen — hört doch, womit er mir fommt! Was doch die 
Menſchen heutzutage geduldig geworden find! Aber 
nein, es kann Doch nicht fein, daß ein Falfe zum Uhu 
ward. Nicht fo Ш mein Fuͤrſt!“ und fie bob Йо und 
triumphierend den Kopf. 

Da war е8 ihm, als ginge ihm plößlich etmas auf. 

„Barum nennen Sie mich Fürft und ... für wen 
halten Sie mich überhaupt?” fragte er fchnell. 

„Wie? Sind Sie denn fein Fuͤrſt?“ 

„sch bin тета Fürft geweſen.“ 

„Und das geftehen Sie mir noch, fo einfach, fo ganz 
offen, mir ins Geficht, daß Sie fein Fürft find!" 

„sch Tann Ihnen nur fagen, daß ich nie einer ge 
weſen bin.” 

„Mein Gott!" Sie fchlug die Hände zufammen. „Alles 
Бабе 1% von feinen Feinden ermwartet, aber folche 
Dreiftigfeit Doch mirklih nicht! Lebt er überhaupt 
noch?” rief fie außer 14 und rüdte auf ihn zu. „Haft 
du ihn getötet oder nicht, geſtehe!“ 

„Sur wen БОН du mich?" rief er auffpringend und 
fah fie an mit verzerrtem Фей. 

Aber es war ſchwer, fie jeßt noch zu erjchreden. Sie 
triumpbhierte bereits. 

„Ber kann es denn miljen, was du bift und moher 
du fommft! Nur mein Herz, mein Herz hat in all dieſen 
fünf Fahren die ganze Intrige geahnt! Lind da fiße ich 
nun und mwundere mich: was Ш das Doch für eine blinde 
Eule, die heute zu mir gefommen ift? Nein, mein Lieber, 
du bift ein fchlechter Schaufpieler, fogar fchlechter als 


418 





mein Lebäbdlin. Grüße die Gräfin von mir recht höflich 
und richte ihr aus, Пе folle doch einen fchiden, der etwas 
gemwandter ЦЕ als du. Hat fie Dich gemietet, ſag? Sonſt 
dienſt du wohl in ihrer Küche, mo fie dich vielleicht aus 
Gnade und Barmherzigkeit hält! 94 durchichaue ja 
euren ganzen Betrug, euch alle, bis auf den letzten 
durchfchaue ich!“ 

Er faßte fie mit fefter Kraft am Arm, über dem Ellen: 
bogen; Пе aber lachte ihm ins Geſicht. 

„Ahnlich bift du ihm, ja, fehr ähnlich, vielleicht bift 
du auch verwandt mit ihm, — ſchlaues Volk! Nur ift 
meiner ein lichter Falke und ет Fürft, du aber bift eine 
Eule und ein Krämer! Wenn meiner will, jo beugt 
er 14 vor Gott, will er aber nicht, jo beugt er fich auch 
vor Gott nicht! Dich aber hat Schatufchla (der Gute, 
der Liebe, mein Taͤubchen Schatufchka!) ins Geficht де: 
Ichlagen, wie Xebädfin erzählte. Und warum murdeft 
du damals fo feig, als du hereinfamfi? Was fchredte 
dich denn? Wie ich es fah, dein gemeines Geficht, als 
ich fiel und du mich auffingft — da froch es mir wie ein 
Wurm 118 Herz: das ИЕ nicht er, denke ich, nicht er! 
Würde ſich Doch mein Falfe meiner nie vor einem ©5012 
nehmen Fräulein gejchämt haben! D Gott! Machte 
mich doch fchon der Gedanke glüdlich, in diefen ganzen 
fünf Fahren, daß mein Falfe dort irgendwo hinter den 
Bergen lebt und fliegt und die Sonne ſchaut ... ©ag, 
Ufurpator, haft du viel genommen? Haft wohl für 
großes Geld eingemilligt? 94 hätte dir feinen Groſchen 
gegeben! Ha—ha—ha! Ha—ha—hal ...“ 

„Idiotin!“ knirſchte Stamrogin, der fie immer noch 
am кит gepadt hielt. 


27° 419 


„Sort, Uſurpator!“ rief fie plößlich befehlend. „Sch 
bin meines Fürften Frau und fürchte mich nicht vor 
deinem Mejjer!” 

„Meſſer!“ 

„Ja, Meſſer! Du haſt ein Meſſer in der Taſche. Du 
glaubteſt wohl, ich ſchlief, aber ich habe alles geſehen: 
als du vorhin eintrateſt, zogſt du ein Meſſer hervor!“ 

„Was haſt du geſagt, Ungluͤckliche, was traͤumſt du 


für Traͤume!“ ſchrie er fie an und ſtieß fie aus aller Kraft | 


von fich fort, jo daß fie jogar fchmerzhaft mit dem Kopf 
und den Schultern an die Sofalehne jchlug. 

Er ftürzte hinaus; fie aber jprang fofort auf und lief 
ihm hinfend und humpelnd nach, Doch erft auf der Heinen 
Treppe, wo fie von dem erfjchredten Lebaͤdkin mit aller 
Фета zurüdgehalten wurde, gelang es ihr noch, ihm 
freifchend und mit Gelächter durch die Finfternis паф: 
zurufen: 

„Der falihe Demet—rius ward ver—flucht!" 


IV 


„Ein Mefler, ein Meſſer!“ wiederholte Stawrogin 
immer wieder in unftillbarem Haß, während er mit 
großen Schritten in den Straßenfchlamm und die Regen: 
pfüßen trat, ohne auf den Weg zu achten. Und plößlih, | 
auf Augenblide, erfaßte ihn eine unbändige Luft zu | 
lachen, laut und toll; .aber aus irgendeinem Grunde 
bezwang er fich und unterdrüdte das Lachen. Er fam erit 
wieder зи fich, als er |фоп auf der Brüde war, gerade 
an der Stelle, то ihn vorhin Fedjka angeredet hatte. 
Und diejer ſelbe Fedjfa wartete hier auch jeßt, $09, ale 
er Stamwrogin erblidte, Ме Müße, grinſte heiter, und 


420 





jchloß ſich ihm, Fed und Ша losplaudernd, wieder ohne 
Bedenken an. Stamrogin ging zunächft unverändert 
weiter, ja, er achtete gar nicht darauf, vernahm nicht ет: 
mal, was der Strolch, der fich ihm wieder zugejellt hatte, 
da fchwaßte. Auf einmal fiel ihm aber ein — und er 
wunderte fich darüber — daß ihm diefer Zuchthäusler 
gerade in der Zeit gar nicht in den Sinn gefommen war, 


als er felbft innerlich in einemfort „Ein Meier, ein 


Meſſer!“ gemurmelt hatte. 
Und plößlich padte er ihn blißfchnell am Kragen und 


| riß ihn aus aller Kraft mit der ganzen in ihm angeſam— 





melten Wut zu Boden, daß er nur fo auf die Brüde 


krachte. Einen Augenblid gedachte dieſer wohl fich zu 


wehren, ſagte fich aber jofort, daß er gegen einen folchen 
Gegner, der ihm zudem noch jo überrafchend zuvor: 
gekommen war, ungefähr wie ein Strohhaͤlmchen un: 
möglich auflommen fonnte. Und jo verharrte er denn, 
halb kniend zu Boden gedrüdt, ме Ellenbogen auf den 
Rüden gerijfen, wie ihn Stamrogin hielt, lautlos und 
reglos, fogar ohne den geringften Widerftand auch nur 
zu verjuchen, und wartete ruhig in fchlauer Klugheit ab, 
was nun fommen werde. За, wie e8 fchien, glaubte er 
überhaupt nicht an eine ernfte ®efahr für fich. 

Und er täujchte jich nicht. Stamrogin hatte fich zwar 
{фоп mit der linfen Hand das Halstuch abgerifjfen, um 
feinen Gefangenen zu binden, doch plößlich, Gott weiß 
weshalb, gab er es auf und ftieß ihn nur von fih. Sm 
Yugenblid ftand Fedjka auf den Füßen, wandte ſich um, 
und ein furzeg, breites Meſſer blikte in feiner Hand. 

„Fort das Meſſer! Sted es ſofort ein! Sofort!" 
befahl Stawrogin mit ungeduldiger Фейе — und das 


421 


Meſſer verſchwand ebenjo jchnell, име es aufgetaucht 
тат. 

Nicolai Wſzewolodowitſch ging darauf wieder ftumm 
und ohne fich umzufehen weiter: aber der hartnädige 
Verbrecher folgte ihm doch — diesmal freilich ohne zu 
ſchwatzen, vielmehr in rejpeftooller Entfernung, einen 
ganzen Schritt hinter ihm. So gingen fie über die ganze 
Brüde und famen ans Ufer, mo Stamrogin diesmal 
nach links bog, in eine lange, öde Gafje, denn das war 
ein näherer Meg zur inneren Stadt, als der über die 
Bogojawlenskſtraße. 

„Iſt es wahr, man ſagt, du haͤtteſt hier in der Um— 
gegend in dieſen Tagen eine Kirche gepluͤndert?“ fragte 
Stawrogin ploͤtzlich. | 

„Snädiger Herr, eigentlich ging ich zuerft nur hin, um — 
zu beten,” antwortete Fedjka gejeßt und höflich, und 
als ob nicht das Geringſte vorgefallen wäre. За, nicht 
nur gejeßt, fondern geradezu wuͤrdevoll ſagte er es, und 
von der früheren „freundfchaftlichen” Familiarität тат 
auch nicht eine Spur mehr zu bemerfen. Er war in die: 
{ет Augenblid ganz wie ein ernfter, fachlicher Menſch, 
den man grundlos gefränft hat, der aber аиф Kränkungen | 
zu vergeſſen veriteht. 

„Do wie mich da unſer Herrgott hingefuͤhrt hatte,” 
fuhr er fort, „ach, du himmliſches Gnadenfraut, denke 
ih! Nur von wegen meiner Bermaiftheit Ш ja das alles 
gejchehen, denn in unferem Leben geht's nu mal gar 
nich ohne Unterftüßung. Und ſehen Sie, glauben Sie 
mir, gnädiger Herr, zu feinem eigenen Nachteil hat der 
Herr mich hingeführt: hab’ für die Sachen im ganzen 
nur zwölf Rubelchen befommen. Des heiligen Nicolai 


422 





filbernes Kinnband aber ИЕ faft auf den Kauf gegangen: 
femiliert, fagte man.” 

„Du Бай vorher den Wächter erftochen ?“ 

„Nee, das heißt, wir haben’s ja beide gemacht, der 
Mächter und ich, und dann erft, am Morgen, am ЭВ: 
chen, fam’s zum Streit, wer den Sad tragen follte. 
Da fündigte ich, erleichterte ihn ein Hein wenig.” 

„бт noch, ftiehl noch!" 

„Ganz dasfelbe rät mir auch Pjote Stepanomitjch, mit 
genau benfelben Worten, da er mir felber nie nich was 
geben mill, denn er Ш halt geizig und hartherzig in 
Fragen wie Unterftüßung. Außerdem, daß er an den 
kimmlijchen Schöpfer, der uns doch allefamt aus cinem 
Erdfloß gemacht hat, nich für eine Kopefe glaubt. Er 
jagt, alles hat die Natur gemacht, ſogar jedes lekte Tier, 
und überdies begreift er |Фоп ganz und gar nich, daß 
uns in unferem Leben ohne milde Unterftüßung über: 
haupt nichts möglich Ц. Fängft du ihm mas zu er: 
Натеп an, gloßt er wie ein Schaf ins Wafjer: nur fo 
wundern fannft du Dich über ihn. Aber werden Sie e8 
mwohl glauben, gnädiger Herr, beim Hauptmann Lebaͤdkin 
beijpielsweije, wo ©ie foeben bejuchten, da fam’s vor, 
als er noch vor Ihnen bei Filippoff wohnte, daß die Tür 
die ganze Nacht unverfchlofjen fteht, fchläft felbft vell- 
деоНеп wie ет Fiſch, und das Geld, das Fullert nur 
man fo aus allen Zafıhen auf die Diele. 's kam vor, daß 
man’s mit eigenen leibhaftigen Augen ſah, denn nad) 
unferer Meinung, daß man ohne milde Unterftüßung 
mas fönnte, daran ift ſchon gar nich zu denken ...“ 

„Wie das, mit eigenen Augen? ЗИ du etwa in der 
Nacht hingegangen?“ 


423 


„Bielleicht bin ich auch Hingegangen, nur шей Das 
niemand nich.” 

„Darum Бай du ihn denn nicht erftochen?" 

„Hab ей nachgezählt und mich dann bedacht. So 
mußte ich denn, daß ich immer hundertfünfzig Rubel 
rausnehmen апп, aber warum joll ich denn dag, wenn 
ich ganze taufendfünfhundert friegen kann, wenn ich nur 
eben jeßt ein wenig warte? Denn Hauptmann Lebädfin 
bat immer jehr auf Sie gebaut, hab's mit meinen eigenen 
Ohren gehört, wenn er voll war, und es gibt Мег über: 
haupt feine Schenfe mehr, wo er nich dasjelbe genau jo 
wiederholt hat. Das hab ich auch noch von anderen де: 
hört, und fo begann ich nun gleichfalls, meine ganze Hoff: 
nung auf den gnädigen Herrn zu jeßen. Sch bin wirklich 
zu Ihnen, gnädiger Herr, wie zu meinem Pater oder 
leiblichen Bruder, denn Piotr Stepanowitſch wird dar— 
über niemals was von mir zu hören befommen und auch 
jonft feine einzige Seele. Aljo deshalb meine ich, der 
gnädige Herr fönnte mir doch wirklich jet mit drei Rubel: 
chen wohlwsllen? Wenn der gnädige Herr mir nur 
jomit Нат zu verftehen geben wollte, damit ich dann die 
Mahrheit weiß, denn für unfereins ift’s nun einmal ohne 
milde Unterftüßung ganz und gar unmöglich.” 

Da lachte Stawrogin laut auf, zog aus der Taſche fein 
Portemonnaie, in dem an fünfzig Rubel in Eleineren 
Scheinen waren, und warf einen Schein aus dem Paket 
ihm zu, dann noch einen, dann einen dritten, vierten, 
fünften. Fedjka fing fie in der Luft auf, jprang hin und 
ber, die Banknoten flatterten, fielen in ven Schmuß, 
immer gieriger griff er паф ihnen, und immer erregter 
ftieß er dabei ein Furzes „ch, Ach“ hervor. Schließlich 


424 


Билль, лав ново 


ichleuderte ihm Stawrogin aus voller Fauft das ganze 
Geldpafet zu und bog, immer noch lachend, in eine Quer: 
gaffe ein — diesmal allein. Der Strolch blieb zurüd, 
rutichte faft auf den Sinien im Schmuß herum und fuchte 
nach den vom Wind verftreuten Geldfcheinen, die in den 
Pfüßen verjanfen, und noch eine ganze Stunde lang 
fonnte man hören, wie er in der Dunkelheit fuchend fein 


kurzes „Ach, Ach!“ hervorſtieß. 


Achtes Kapitel 
Das Duell 


I 


m anderen Tage um zmei Uhr nachmittags fand das 

Duell ftatt. Daß dasjelbe wirklich fo ſchnell zuftande 
ют, dazu Hatte vor allem der leidenſchaftliche Wunſch 
Artemij Pawlowitſch Gaganoffs beigetragen, fih um 
jeden Preis und fo fchnell wie nur möglich zu fchlagen. 
Er begriff die Haltung feines Gegners nicht und таг 
außer fich vor Empörung. Schon einen ganzen Monat 
beleidigte er Stamrogin, und noch immer war es ihm 
nicht gelungen, Мееп zu einer Forderung zu bemegen. 
Dabei fchämte er fich im Grunde der eigenen innerjten 
Gründe des frankfhaften Hafjes, mit dem er Stamwrogin 
feit der „Nasführung” feines Vaters verfolgte. Auch 
fonnte er Stawrogin nicht gut zuerft fordern, da dieſer 
nicht den geringften Anlaß dazu bot — ganz abgefehen 


davon, daß er ihm megen jenes Vorfallg mit dem Vater | 


ja bereits die allerhöftichjten Entjchuldigungen ange: 
boten hatte. Unbegreiflich war es ihm auch, wie Staw— 
rogin die Ohrfeige Schatoffs jo ohne weiteres hatte hin- 
nehmen fönnen. Und da er ihn denn alles in allem 
Ichließlich für einen ausgemachten Seigling halten mußte, 
jo hatte er fich endlich entſchloſſen, den leften, in feiner 


425 





Frechheit fo unerhörten Brief zu fchreiben, der denn auch 
richtig den Verhaßten zu einer Forderung bewog. In 
fieberhafter Ungeduld hatte Gaganoff die Antwort auf 
diefen Brief erwartet, hatte die Chancen berechnet, die 
diesmal für eine Forderung beftanden, und war am Ende 
geradezu verzweifelt bei dem Gedanken, daß auch jet 
vielleicht aus irgendeinem Grunde nichts Daraus werden 
koͤnnte. Für alle Fälle aber hatte er bereits Mawrikij 
Nicolajewitich Drosdoff, feinen alten Jugendfreund, zu 
jich gebeten: der follte fein Sekundant fein. So hatte 
denn Kirilloff, ald er am Morgen um neun Uhr erfchien, 
die beiden zufammen angetroffen. Seine Erklärungen 
und alle Ме unerhörten Zugeftändniffe Stamrogins 
waren von Gaganoff mit einer unglaublichen Heftigkeit 
zurüdgemwiejen worden. Mawrikij Nicolajewitfch hatte, 
nicht wenig erftaunt, zuerft darauf eingehen wollen und 
Ichon geglaubt, её ließe fid) eine Verſoͤhnung zuftande 
bringen. Doc, ald er bemerkte, daß Artemij Pawlowitſch 
vor Zorn geradezu erzitterte, da hatte er fihnell wieder 
geichwiegen. Er wäre wohl überhaupt aufgeftanden und 
fortgegangen, wenn er dem Freunde nicht bereits fein 
Wort gegeben hätte; jo aber blieb er denn, in der Hoff: 
nung, |раег vielleicht noch irgendwie vermitteln zu 
fönnen. Im übrigen wurden alle Bedingungen Staw— 
rogins von Gaganoff fofort angenommen und fogar auf 
einen dreimaligen Kugelwechſel erweitert — ganz gegen 
Kirilloffs Wunfch und Abficht, der fich durchaus dagegen 
wehrte, aber nichts erreichte. Фо blieb её denn bei diejen 
Iharfen Abmadhungen. 

Das Duell felbft fand um zwei Uhr in Brykowo ftatt, 
in einem Heinen Walde zwiſchen Sfworefchnifi und der 


427 


Sabrif der Gebrüder Spigulin. Der geftrige едет 
hatte völlig aufgehört, aber es war feucht und windig. 
Niedrige, trübe, zerrifjene Wollen zogen jchnell am Falten 
Himmel vorüber; die Bäume raujchten volltönend und 
mit den Wipfeln wogend und knarrten in den Staͤmmen; 
es war ein ſehr trauriger Tag. 

Gaganoff und Mawrikij Nicolajewitſch kamen in einem 
eleganten char a bancs mit zwei prachtvollen Pferden, 
die Artemij Pawlowitſch felbft lenkte, auf dem Kampf: 
plake ап; auch hatten fie einen Diener mitgenommen. 
Faft in demjelben Augenblid trafen auch Stawrogin und 
Kirilloff ein, jedoch nicht im Wagen, fondern reitend, und 
gleichfalls in Begleitung eines Dieners. Kirilloff, der 
in feinem Leben noch nie auf einem Pferde gefellen 
hatte, hielt fich fteif, doch mutig im Sattel, unter dem 
vechten Arm den fchmeren Piftolenfaften, den er für 
feinen Preis dem Diener hatte anvertrauen wollen, wäh: 
vend er mit der linfen Hand aus Unmifjenheit beftändig 
die Zügel anzog, weswegen denn das gereizte Pferd 
immer heftiger mit dem Kopf fehüttelte und bereits deut: 
- lich die Abſicht befundete, fich auf die Hinterbeine zu 
jtellen — was übrigens den Reiter nicht im geringften 
zu fchreden fchien. Der mißtrauifche Gaganoff, der fich 
ichon beim geringften Anlaß leicht tief gefränft fühlte, 
faßte diefe Ankunft hoch zu Roß als neue Beleidigung 
auf: rvaren Doch die Gegner offenbar von vornherein von 
einem für fie günftigen Ausgang des Duells überzeugt, 
jo daß fie es gar nicht erft für nötig gehalten hatten, auf 
alle Fälle einen Wagen zum Transport eines Verwun⸗ 
deten zur Stelle zu haben. Ganz gelb vor Ärger flieg 
Gaganoff aus feinem char & bancs, wobei er bemerfte, 


428 





daß feine Hände zitterten. Auf Stawrogins Gruß dankte 
ег nicht, fondern wandte fich einfach ab. 

Die Selundanten warfen das Los: е8 traf Kirilloffs 
Piftolen. Der Wagen und die Pferde wurden mit den 
Dienern an den Waldrand zurüdgefchidt. Dann maßen 
die Selundanten die Barriere ab, wiejen den Gegnern 
ihren Plab an und händigten ihnen die geladenen Pi: 
ftolen ein. 

Mawrikij Nicolajewitich war beforgt und traurig, Kirils 
loff dagegen volllommen ruhig und unbefümmert, fehr 
genau in der Ausübung feines Amtes, doch ohne allzu 
gejchäftig zu fein, kurz, er machte den Eindrud, als inter: 
ejlierte ihn die unheimliche Entjcheidung eigentlich nicht 
im geringften. Stawrogin war etwas bleicher als ges 
wöhnlich, ziemlich leicht gefleidet, in einem Mantel, und 
trug einen weißen Kaftorhut. Er ſchien fehr müde zu fein, 
dann und wann flog ein düfterer Schatten über fein Фе 
licht, und offenbar war es ihm nicht der Mühe wert, feine 
ichlechte Laune zu verbergen. Am eigentümlichiten ver- 
hielt fich jedoch Artemij Pawlowitſch Gaganoff, und ic) 
тебе mich |фоп aus diefem Grunde gezwungen, über ihn 
ein paar Morte hinzuzufügen. 


II 


Artemij Pawlowitſch Gaganoff war ein großer Menſch, 
weiß und wohlgenährt, wie der Volksmund jagt, ja, bei: 
пабе feift, etwa dreiunddreißig Jahre alt, mit blondem, 
anliegendem Haar und, wenn man will, fogar hübfchen 
Gefichtszügen. Er war mit dem Oberjtenrang aus dem 
Dienft gefchieden, doch wenn er es big zum General ges 


429 


bracht hätte, fo wäre er als jolcher in voller Uniform eine 
noch imponierendere Erjcheinung gemefen, und её wäre 
fehr leicht möglich, daß er im Felde einen guten Heer: 
führer abgegeben hätte. 

Zur Kennzeichnung jeines Charalters darf nicht ver- 
Ichwiegen werden, daß der Grund, weshalb er feinen 
Abjchied nahm, der ihn fo lange und qualvoll verfolgende 
Gedanke am jeine „Familienfchande” war: die Beleidigung 
feines Vaters — vor mehr als vier Jahren in unferem 
Klub — durch Nicolai Stamrogin. Er hielt eg auf Ehre 
und Gemiffen für unehrenhaft, nach wie vor im Heer zu 
bleiben, und таг innerlich überzeugt, daß er das Хед: 
ment und die Kameraden fchände, objchon Feiner von 
ihnen etwas von jenem Vorfall wußte. Allerdings hatte 
er |фоп früher einmal die Abſicht gehabt, den Abfchied 
zu nehmen, fchon lange vor jener Beleidigung, aus einem 
ganz anderen Grunde, aber er hatte doch noch gefchwanft 
und fich nicht entjchließen Fönnen. Den Anftoß zu diefer 
erſten Abficht, den aktiven Dienft aufzugeben, oder rich: 
tiger den Anlaß zu diefem Gedanken hatte feinerzeit*) 
— wie jenderbar das auch Flingen mag — das Mani: 
feft vom 19. Februar gegeben, das die Leibeigenſchaft der 
Bauern aufhob. Dabei verlor er, Gaganoff, als einer der 
reichiten Gutsbejißer unjeres Gouvernements, durch dieſes 
Manifeft noch nicht einmal fo viel, und außerdem fah er 
die Berechtigung der humanitaͤren Geſichtspunkte felbft 
ein, ja er begriff faft auch die öfonomifchen Vorteile der 
Reform, — 204 ungeachtet deſſen fühlte er 14 паф Ст: 
{фетеп des Manifeſtes gleichſam perfönlich beleidigt. 


*) 1861. Siehe Anm. ©. 451. Е К.В. 
430 


68 war das zwar nur ein Gefühl bei ihm, beinahe ип: 
bewußt, doch vielleicht empfand er es gerade deshalb 
um jo flärfer. Bis zum Tode feines Vaters hatte er fich 
nicht entichließen fünnen, etwas Entfcheidendes zu tun; 
doch durch feinen „ariftofratijchen” Standpunkt wurde 
er in Petersburg felbft mit vielen hervorragenden Per: 
jönlichfeiten befannt, worauf er den Verkehr mit ihnen 
eifrig zu pflegen begann. Sm übrigen war er ein zurüd: 
haltender, verjchloffener Menfch, der zu jenen fonder: 
baren, doch in Rußland noch nicht ausgeftorbenen Edel: 
leuten gehörte, die auf das Alter und die Reinheit ihres 
Adelsgejchlehts ungeheuer viel geben und fich Damit 
ſchon gar zu ernfthaft befchäftigen. Dabei war ihm aber 
die Geſchichte Rußlands geradezu ein Greuel, wie er denn 
die ganze ruſſiſche Art teilmeife für eine Schmeinerei 
hielt. Schon in feiner Kindheit, als er noch in einer be: 
jonderen militärischen Schule für ausschließlich vornehme 
und reiche Zöglinge war, hatten fich in ihm gemilje 
poetilche Auffaffungen entmwidelt: ihm gefielen Schlöfler 
und Burgen, das mittelalterliche Leben von feiner opern= 
haften Seite, das Nittertum. Schon damals meinte er 
faft vor Scham, теги er daran dachte, daß der Zar des 
alten moskowitiſchen Reiches die ruſſiſchen Bojaren 
förperlich hatte ftrafen Dürfen, und er errötete, wenn er 
diefe Bräuche mit denen des ausländifchen ritterlichen 
Mittelalters veralich. Diefer fteife, äußerft firenge Menich, 
der feinen Dienft fo ausgezeichnet апте und jede Pflicht 
gewiſſenhaft erfüllte, war im Grunde feiner Фее ver: 
träumt. Man behauptete von ihm, er fünne Reden, jo: 
gar gute Reden halten — einftweilen jedoch hatte er 
feine gungen dreiunddreißig Sahre lang fait nur ge: 


431 


Ichwiegen, und fogar in jenem vornehmen und viel- 
bedeutenden Petersburger Kreije, in dem er {ей einiger 
Zeit verkehrte, hatte er 14 ungewöhnlich hochmütig ver: 
halten. Da traf ihn die Begegnung mit Stamrogin, 
der aus dem Auslande паф Petersburg zurüdgefehrt 
war, und brachte ihn faft um den Verftand. So war er 
denn von einer geradezu Нап аНеп Unruhe, als er jekt 
vor der Barriere ftand: noch immer fürchtete er, daß das 
Duell auf irgendeine Weife nicht zuftandefommen Fönnte, 
und felbft die Heinfte Verzögerung machte ihn erzittern. 
Ein geradezu ſchmerzhafter Ausdrud trat in fein Geficht, 
als Kirilloff, anftatt das Zeichen zum erften Schuß zu 
geben, plößlich zu jprechen begann, allerdings nur pflicht- 
ichuldig, was er auch jofort vorausichidte. 

„ur pro forma поф ein paar Worte: jeßt, da |фоп 
die Piftolen in den Händen der Duellanten find, frage 
ich zum leßtenmal, ob Sie nicht wünfchen, ſich zu ver: 
jöhnen? — Die Pflicht des Sekundanten“, fügte er fait 
gleichgültig hinzu. 

Und wie um feinen Freund zu ärgern — {© jchien es 
wenigftens Gaganoff —, begann nun аиф ати] 
Nicolajewitſch Drosdoff zu fprechen, der bisher noch 
fein Wort gejagt, jich aber jchon {ей dem vorigen Abend 
über {еше Zuſage quälende Vorwürfe gemacht hatte. 
So griff er denn Kirilloffs Vorfchlag fchnell auf. 

„sch ſchließe mich vollfommen Herren Kirilloffs Wor: 
ten an... Daß man ſich an der Barriere nicht mehr ver: 
jühnen fönne — Ш ein Vorurteil, das zu den Franzofen 
pajlen mag... Und eigentlich liegt doch überhaupt Feine 
richtige Beleidigung vor, wenigſtens vermag ich fie nicht 
zu entdeden — Verzeihung, das wollte ich ſchon geftern 


432 


fagen ... es werden doch alle erdenklichen Entjchuldis 
gungen angeboten, nicht wahr?" 

Er war dabei ganz rot geworden. Selten hatte er 
fo viel und in folder Aufregung gejprochen. 

„sc wiederhole meine Bereitwilligfeit, alle mir mög: 
lihen Entjchuldigungen zu machen”, fagte Stawrogin 
ungewöhnlich entgegenfommend. 

„Wie ift das nur möglich?!” {фие Gaganoff, zu Dros— 
boff gewandt, außer 14, und ftampfte mit dem Fuf. 
„Erklaͤren Sie doch diefem Menſchen,“ — er ftieß dabei 
mit der Piftole in die Richtung, in der Stawrogin ſtand — 
„wenn Sie mein Selundant und nicht mein Feind find, 
Mawrikij Nicolajemwitich, daß ſolche Zugeftändnijje ме 
Beleidigung nur verſtaͤrken! Er hält es nicht für mög: 
lich, von mir beleidigt zu werden! ... Er hält es für feine 
Schande, vor mir son der Barriere zurüdzutreten! Für 
wen hält её mich denn nach alledem! Was glauben 
Sie... und Sie ſind noch mein Sekundant! Sie regen 
mich nur auf, damit ich nicht treffe !" 

Wieder ftampfte er mit dem Fuß und Speichel ſpritzte 
von jeinen Kippen. 

„Die Unterhandlung ИЕ beendet. Bitte, auf das Kom— 
mando zu hören!” мер Kirilloff laut. „Eins, zwei, 
drei!” 

Dei „Drei“ gingen Ме Gegner aufeinander zu. Gaga 
noff erhob jofort die Piftole und beim fünften oder jech- 
ſten Schritt — |458 er. Eine Sekunde lang blieb er 
ftehen und, nachdem er fich überzeugt, daß er nicht ge= 
troffen hatte, ging er jchnell zur Barriere. Yuch Staw— 
rogin trat an die Barriere, erhob die Piftole, aber лет: 
lich body und [408 ЮЁ ohne zu zielen. Darauf zog er 


98 Doftojemsti, Die Dämonen. 35. 1. 433 


fein Zajchentuch hervor und ummidelte den Kleinen 
Finger feiner rechten Hand. Da hemerften erft die ап: 
deren, daß Artemij Pawlowitſch doch nicht ganz gefehlt 
hatte: freilich hatte die Kugel den Finger nur geftreift, 
ohne den Knochen zu berühren. Kirilloff erflärte fofort, 
daß das Duell, wenn Ме Gegner fich jeßt nicht ver: 
ſoͤhnen wollten, feinen Fortgang nehmen koͤnne. 

„sch behaupte, daß diefer Menſch,“ fchrie Gaganoff 
heifer (feine Kehle war troden geworden), №4 wieder 
nur an Drosdoff wendend, und er wies von neuem mit 
der Piftole auf Stamrogin, „daß diefer Menfch abficht: 
lich in die Luft geſchoſſen Баё... abfichtlih! ... Das ift 
eine neue Beleidigung! Er шШ das Duell unmöglich 
machen!” 

„sch habe das Recht, fo zu jchießen, wie ich will, wenn 
es nur nach den Regeln gefchieht", bemerkte Staw- 
rogin Гей. 

„Nein, das hat er nicht! Erfiären Sie ihm das, er: 
Нагеп Sie es ihm doch!" fchrie Gaganoff. 

„sch bin ganz der Meinung Nicolai Wſzewolodo— 
witſchs“, fagte Kirilloff. 

„Barum fchont er mich!?“ rafte Gaganoff, ohne auf 
die anderen zu hören. „Ich verachte ſeine Кобрин 
Sch ſpucke ... Ich. 

„Ich gebe mein Wort, daß ich Sie durchaus nicht be— 
leidigen wollte,“ ſagte Stawrogin ungeduldig. „Ich 
habe in die Luft geſchoſſen, weil ich niemanden mehr 
töten will, ob Sie oder einen anderen, geht Sie perſoͤn— 
lich nichts an. 68 Ш wahr, ich halte mich nicht für Бег 
leidigt, und es tut mir leid, daß Sie das aufbringt. 59 
erlaube ober feinem, fich in mein Recht einzumijchen.“ 


434 





„Wenn er fich jo vor Blut fürchtet, fo fragen Sie ihn 
doch, warum er mich überhaupt gefordert hat?” brüllte 
Saganoff, immer noch ausschließlich zu Mawrikij Nicolaje— 
witſch Drosdoff gewandt. 

„Wie follte man Sie denn nicht fordern? mifchte fich 
Kirtlloff ein. „Sie wollten doch nichts hören, wie follte 
man Sie denn los werden?” 

„sch möchte nur bemerken,” ſagte Mawrifij Nicolaje= 
witjch, der angefirengt und qualvoll über die Sache 
nachdachte, „wenn der Gegner im voraus erklärt, er 
werde in die Luft fchießen, jo fann dag Duell, meiner 
Meinung nach, nicht mehr fortgefeßt werden ... aus 
delifaten und, ich glaube ... auch Haren Gründen.” 

„Sch habe durchaus nicht erklärt, daß ich jedesmal in 
die Luft ſchießen werde!” rief Stamrogin, der nun wirk— 
lich die Geduld verlor. „Wie fönnen Sie willen, mas 
ich im Sinne habe und име ich zum zmweitenmal ſchießen 
werde ... Ich mache das Duell feineswegs unmöglich.” 

„Wenn dem fo Ш, kann das Duell feinen Fortgang 
nehmen,” wandte fih Mawrikij Nicolajewitich ап Gas 
ganoff. 

„Meine Herren, nehmen Sie Ihre Plaͤtze ein!“ kom— 
mandierte Kirilloff. 

Sie ſtellten ſich auf, gingen wieder aufeinander zu, 
wieder fehlte Gaganoff und wieder ſchoß Stawrogin in 
die Luft. Übrigens waren dieſe Schuͤſſe in die Luft doch 
zweifelhaft — es ließ ſich uͤber ſie ſtreiten: Stawrogin 
haͤtte ſehr wohl behaupten koͤnnen, daß er, ganz wie es 
ſich gehoͤrt, auf den Gegner gezielt habe, wenn er nicht 
vorher ſelbſt das Gegenteil angekuͤndigt haͤtte, denn er 
richtete die Piſtole nicht etwa gerade auf den Himmel 


28* 435 


oder auf einen Baummipfel, fondern immerhin fo, als 
ziele er auf den Gegner, — wenn er auch tatjächlich einen 
halben Dieter über deſſen Hut zielte. Diejes zweite Mal 
Ване er jogar ein noch niedrigeres, noch täufchenderes 
Ziel genommen; 50% Gaganoff wäre jeßt wohl übers 
haupt nicht тебе zu überzeugen gemejen. 

„Wieder !" knirſchte er ingrimmig. „Einerleil 94 bin 
gefordert und werde von meinem Recht Gebrauch та: 
chen! Sch will zum drittenmal fchießen ... unbedingt! ..“ 

„Dazu haben Sie das volle Recht”, fehnitt ihm Kirils 
loff das Wort ab. 

Mawrikij Nicolajewitich fagte nichts. Zum drittenmal 
wurden пе aufgeitellt, zum drittenmal wurde fommans 
diert. Diesmal jchritt Gaganoff bis zur Barriere, und 
von dort, auf zwölf Schritt Diftanz, begann er zu zielen. 
Doc feine Hände zitterten zu jehr, um richtig zielen zu 
fönnen. Stawrogin ftand mit geſenkter Piftole und er= 
wartete regungslos den Schuß des Gegners. 

„Зи lange, zu lange gezielt!" rief Kirilloff ſchließlich 
ungeftüm. „Schießen Sie! Schießen Sie! 

Der Schuß ertönte, und diesmal riß die Kugel Staw— 
rogins weißen Hut vom Kopfe. Gaganoff hatte gut ge: 
zielt, der Hutboden war ganz unten durchichojlen; nur 
zwei Zentimeter niedriger und alles wäre zu Ende ge: 
weſen. Kirilloff Боб den Hut auf und reichte ihn Staw⸗ 
rogin. 

„Schießen Sie, halten Sie den Gegner nicht auf!“ 
rief Mawrikij Nicolajewitſch in ungewoͤhnlicher бт: 
regung, als er ſah, daß Stawrogin, der mit Kirilloff den 
Hut betrachtete, ſeinen dritten Schuß gleichſam ver— 
geſſen Бане. 


436 





Stamrogin zudte zujammen, blidte auf Gaganoff, 
wandte fich dann zur Seite und fchoß diesmal fchon ohne 
jedes Zartgefühl einfach in den Wald hinein. Das Duell 
mar beendet. Gaganoff ftand da wie erftarrt. Mawrikij 
Nicolajewitich trat zu ihm und fprach etwas, Doch er 
Ihien ihn gar nicht zu verftehen. Kirilfoff $09 den Hut, 
als er fortging, und nidte Mawrikij Nicolajewitſch zu; 
doch Stamrogin vergaß jekt ме Höflichkeit, Ме er vor: 
bin bezeugt hatte; nach feinem legten Schuß in den Wald, 
drüdte er Kirilloff die Piftole in die Hand und ging, ohne 
fi auch nur einmal zur Barriere zu wenden, |фпей 
zu den Pferden. Sein Geficht drüdte Wut aus; er 
ſchwieg. Auch Kirilloff ſchwieg. Sie beftiegen die 
Pferde und ritten im Galopp davon. 


III 


„Barum fchmweigen Ste?” rief Stawrogin ungeduldig 
Kirilloff zu, kurz bevor fie das Haus erreichten. 

„Was wollen Sie?" fragte Мес, fallt vom Pferde 
rutjchend, da es 1$ bäumte. 

Stamrogin bezwang fich. 

„sch wollte ihn nicht beleidigen, diefen ... Dumme 
kopf, und Doch habe 14 es mieder getan”, fagte er 
langfam. 

„sa, Ste haben ihn wieder beleidigt," fagte Kirilfoff 
troden, — „und dabei ift er gar fein Dummkopf.“ 

„smmerhin habe ich alles getan, mas ich konnte.“ 

Nein.“ 

„Was haͤtte ich denn tun ſollen?“ 

„Nicht fordern.” 

„Хоф einen Schlag ins Geficht ertragen?" 


437 


„за, noch einen Schlag ertragen.” 

„sch fange an nichts mehr zu begreifen!” fagte Stam- 
rogin geärgert. „Warum erwartet man von mir, was 
man fonft von niemandem erwartet? Warum foll ich 
ertragen, was fonft niemand erträgt, und mir Bürden 
aufladen, die Feiner tragen kann?“ 

„Уф glaube, Sie {ифеп eine Buͤrde.“ 

„sch fuche eine Bürde?” 

ug 

„Sie ... haben das bemerft?“ 

7 

„Sit das jo bemerkbar?“ 

HR}, 

Sie |филедеп. Stawrogin {аб bejorgt aus, fait ет: 
Ichredt. | 

„sch Бабе nur deshalb nicht auf ihn gejchoflen, weil 
ich nicht töten wollte, und das таг alles, ich verlichere 
Sie," fagte er jchnell und erregt, als wollte er jich recht: 
fertigen. 

„68 war nicht nötig, zu beleidigen.” 

„Bas hätte man denn tun follen?“ 

„Man Бане töten ſollen.“ 

„Es tut Ihnen leıd, daß ich ihn nicht erſchoſſen habe?“ 

„Mir tut gar nichts leid. Ich glaubte, Sie wollten ihn 
wirklich erjchießen. Sie wiſſen jelbjt nicht, was Sie 
ſuchen.“ 

„sch ſuche eine Buͤrde“, lachte Stawrogin auf. 

„Wenn Sie nicht Blut vergießen mollten, warum 
gaben Sie fich denn felbit dazu her?” 

„Wenn 14 ihn nicht gefordert hätte, jo wäre ich von 
ihm jo erſchlagen worden, ohne Duell. 


1 
+ 


438 


„Das ift nicht Ihre Sache. Vielleicht hätte er auch 
nicht erfchlagen.” 

„Sondern nur geichlagen ?“ 

„Nicht Ihre Sache. Tragen Sie die Bürde, Sonſt 
gibt es Fein Verdienft.” 

„Aus dem mache ich mir gerade was! Habe es noch 
bei riemandem gefucht !4 

„sch glaubte, Sie ſuchten“, ſchloß Kirilloff unglaublich 
faltblütig. 

Sie ritten auf den Hof. 

„Kommen Sie zu mir?" шо ihn Stawrogin ет. 

„Rein, ich gehe nach Haus. Leben Sie wohl.” 

Er flieg aus dem Sattel und парит jeinen Kaften 
unter den Эйми. 

„ber wenigftens Sie ärgern fich doch nicht über mich?“ 
fragte Stawrogin und hielt ihm die Hand hin. 

„Richt im geringſten!“ Kirilloff kehrte fofort zurüd, 
um ihm die Hand zu drüden. „Wenn meine Bürde mir 
leicht ift, fo ift es, weil das von Natur fo ift, und wenn 
Ihre Bürde Ihnen vielleicht ſchwerer Ш, jo fommt das 
auch, weil die Natur fo ift. Sehr zu ſchaͤmen braucht man 
jich deshalb nicht, nur ein wenig.” 

„sch weiß, daß ich ein nichtiger Charakter bin, aber 
ich Dränge mich ja auch nicht unter die Starken.“ 

„Tun Sie’s auch nicht. Sie find fein ftarfer Menich. 
Kommen Sie wieder Tee trinken.” 

Stawrogin trat verwirrt und erregt bei fich ein. 


IV 


Alerei Jegorowitſch meldete ihm jofort, daß Ват: 
wara Petrowna, die fich über den Spazierritt Nicolai 


439 


Wſzewolodowitſchs — den erften nach acht Tagen 
Krankheit — Sehr gefreut Hatte, nun gleichfalls aus» 
gefahren fei, „Jo име früher alle Zage, um wieder ет 
mal friſche Luft zu atmen, diemeil fie es {с acht Tagen 
nicht mehr getan haben.” 

„Sit fie allein gefahren oder mit Darja Pawlowna?“ 
unterbrach Stamrogin den аНеп Diener Бад und fein 
Geficht verdüfterte fich fehr, als er hörte, daß Darja 
Pawlowna „Erankheitshalber vorgezogen haben, nicht 
mitzufaßren und fih augenblidlich in ihren Zimmern 
befinden”. 

„Höre, Alter,” fagte er, wie паф einem plößlichen 
Entichluß, „paß auf fie heute den ganzen Tag auf, und 
wenn du bemerfit, daß fie zu mir fommen will, fo halte 
fie zurüd und {ад ihr, daß ich fie nicht empfangen пп, 
wenigſtens in diefen Tagen nicht ... daß ich fie felbft 
darum bitten laſſe . . und wenn es Zeit fein wird, werde 
ich fie felbit rufen — Бой du?” 

„Зи Befehl”, fagte Alerei Jegoromitich mit Kummer 
in der Stimme und jenkte die Augen. 

„Aber nicht früher, als bis du Ифег ВИ und genau 
fiehft, daß fie zu mir fommen will.“ 

„Der gnädige Herr koͤnnen unbeforgt fein, es wird 
alles jo gemacht werden. Durch mich find bis jeßt auch 
alle Beſuche ermöglicht worden, fie haben fich immer an 
mich gewandt.” 

„sch weiß. ЭШо nicht früher, als bis fie felbft fommt. 
Und jeßt bring mir Zee, wenn es geht, möglichft 
ſchnell.“ 

Kaum hatte der Alte das Zimmer verlaſſen, als Ме: 
ſelbe Зиг fich wieder öffnete und Darja Pawlowna auf 


440 





der Schwelle erfchien. Ihr Blick war ruhig, doc, das 
Geficht bleich. 

„Woher fommen Sie?” rief Stamrogin. 

„sch ftand hier an der Tür und wartete, М8 er hinaus 
ging, um dann bei Ihnen einzutreten. Sch habe ges 
hört, was Sie ihm angaben. Als er fortging, verftedte 
ich mich hinter den Mauervorfprung rechts, und fo hat 
er mich nicht bemerft.“ 

„Sch wollte fchon lange mit Ihnen brechen, Dafcha ... 
jo lange... es noch Zeit Ц. Sch Fonnte Sie heute Nacht 
nicht empfangen, troß Shrer brieflichen Bitte. Sch wollte 
Ihnen gleichfalls fchreiben, aber ich verftehe nicht zu 
Ichreiben”, fügte er mit Ärger und fogar иле angeekelt 
hinzu. 

„uch ich habe bereits daran gedacht, daß wir brechen 
müffen. Warwara Petromna argmöhnt fihon zu fehr 
unſere Beziehungen.” 

„Nun, mag fie doch.” 

„Sie foll fich nicht beunruhigen. Und fo bleibt её denn 
jeßt bis zum Ende?” 

„Sie erwarten immer noch unbedingt ein Ende?” 

„sa, ich bin überzeugt, daß es fommen wird.” 

„Auf der Welt hat nichts ein Ende.” 

„Hier aber wird eg ein Ende geben. Rufen Sie mich 
dann, ich werde fommen. Und jeßt leben Sie wohl.” 

„Und mas für ein Ende wird denn das fein?” fragte 
Stamrogin halb lachend. 

„Sie find nicht verwundet und ... heben auch Fein 
Blut vergofjen?” fragte fie, ohne auf die Frage паф 
dem Ende zu antworten. 

„6$ war dumm; ich habe niemanden getötet, be— 


441 


unruhigen Sie fich nicht. Übrigens werden Sie heute noch 
alles von allen hören. Ich fühle mich nicht ganz wohl.“ 

„sch gehe ſchon. Die Anzeige der Heirat wird heute 
nicht erfolgen?” fragte fie noch wie unſchluͤſſig. 

„реше nicht; morgen и... übermorgen — find 
wir vielleicht alle tot, ... um fo beſſer. Laſſen Sie mich, 
laſſen Sie mich doch endlich !" 

„Sie werden die andere nicht zugrunde richten ... 
die Wahnfinnige?” 

„sch werde Feine Wahnfinnige zugrunde richten, meder 
ме eine noch Ме andere, aber ich glaube, die Vernünftige 
richte ich zugrunde: ich bin ſo gemein, jo niedrig, Dafcha, 
daß ich Ste vielleicht wirklich rufen werde — ‚ganz zum | 
Schluß‘, wie Siefagen, und Sie werden dann, troß Ihrer — 
Vernunft, zu mir kommen. Warum richten Sie fich jelbit 
zugrunde?” 

„sch weiß, daß zum Schluß nur ich bei Ihnen bleiben 
werde und ... ich warte darauf.” 

„Denn ich Sie aber zum Schluß nicht rufe und von 
Ihnen fortlaufe?“ 

„Das ift unmöglich, Sie werden mich rufen.” 

„Darin liegt viel Verachtung für mich.” 

„Sie willen, daß nicht nur Verachtung . . 

„lo ift Verachtung immerhin dabei?” 

„sch wollte es nicht fo jagen. Gott И mein Zeuge, 
daß ich von Herzen wuͤnſchte, Sie hätten mich niemals 
nötig.“ 

„Die eine Phrafe ift die andere wert. Auch ich wuͤnſchte, 
Sie nicht zugrunde zu richten.” 

„Niemals und durch nichts werden Sie mich zugrunde 
richten fönnen — und das wiſſen Sie ja jelbft am beiten,” 


442 


jagte Daria Pawlowna jchnell und überzeugt. „Wenn 
ich nicht zu Ihnen fomme, jo werde ich barmherzige 
Schwefter, Krankenwaͤrterin. Oder werde als Bücher: 
trödlerin Bibeln verkaufen. Das habe ich beichloffen. 
Sch kann nicht in ſolchen Käufern leben, wie dieſes hier. 
Nicht Das Ш es, was ich will... . Sie willen alles . . —“ 

„Nein, ich babe es nie erfahren fönnen, was Sie wol: 
len; ich glaube, Sie interejlieren 14 für mich, wie zu— 
weilen alte Kranfenwärterinnen aus irgendeinem Grunde 
einen Pflegling den anderen vorziehen, oder, noch bejler, 
wie auf unferen Kirchhöfen die betenden Sreifinnen von 
den vielen Leichen fich eine etwas anjehnlichere aus— 
ſuchen, die fie dann bejonders in ihr Herz jchließen.*) 
Warum fehen Sie mich jo fonderbar an?“ 

„Sind Sie fehr Frank?” fragte fie teilnehmend und 
ſah ihn Dabei ganz eigentümlich nachdenflih und for— 
ihend ап. „Gott! Und diefer Menſch will ohne mic) 
auskommen!“ 

„Hoͤren Sie, Daſcha, ich ſehe jetzt immer Geſpenſter. 
Heute nacht bot ſich mir ein kleiner Teufel auf der Bruͤcke 
an, — erbot ſich, Lebaͤdkin und Marja Timofejewna zu 
ermorden, um meiner geſetzlichen Ehe ein Ende zu ma— 
chen, und jo, daß nichts ruchbar wird. Als Handgeld ver: 
langte er nur drei Rubel, doch gab er deutlich zu ver: 
jtehen, daß die ganze Operation nicht weniger als 
taufendfünfhundert Foften werde. Das war mir mal ein 
gut berechnender Teufel! Ein Buchhalter! Ha—ha!“ 


*) Nach alteuffifchem Brauch werden Leichen in offenem Sarge 
auf den Kirchhof getragen, wo der Sarg е Е vor der Verfenfung 
in die Gruft gefchloffen wird. 


443 


„Und Sie find feft überzeugt, daß es ein Geſpenſt 
war?” 

„D nein, durchaus fein Geſpenſt! Das mar ganz ет: 
fach der entiprungene Zuchthäusler бе Па, ein fibirifcher 
Sträfling und Raubmörder. Doc das И Nebenjache. 
Aber was glauben Sie, daß ich getan habe? 34 Бабе 
ihm das ganze Geld aus meinem Portemonnaie hin- 
geworfen, und er Ш jeßt volllommen überzeugt, daß 
ich ihm damit das Handgeld gezahlt Бабе!" 

„Sie haben ihn in der Nacht getroffen und er hat 
Ihnen diefen Vorſchlag gemacht? За, ſehen Sie denn 
wirklich nicht, daß Sie von dem Neß jener Leute ſchon 
vollftändig umftridt find?” 

„Kun, mögen fie. Uber foll 14 Ihnen jagen, mas für 
eine Frage fich ]её in Ihnen dreht und mindet? — 
ich fehe fie in Ihren Augen“, fügte er gereizt mit Бет 
Lächeln hinzu. 

Daſcha erjchraf: 

„Gar Feine Frage und es gibt da überhaupt Feinen 
Zweifel, ſchweigen Ste!” rief fie in Unruhe, die Trage 
gleichjam von ſich fortfcheuchenv. 

„Sie find alfo überzeugt, daß ich nicht zu Fedjka in die 
Kneipe gehen werde?” 

„O Gott!" Sie erhob die Hände. „Warum quälen 
Sie mich fo?“ 

„Nun, verzeihen Sie mir meinen dummen Scerz, | 
offenbar habe ich mir von jenen deren fchlechte Manieren 
angeeignet. Wiſſen Sie, {ей diefer Nacht habe ich fo 
wahnfinnige Luft zu lachen, immerzu, ununterbrochen, 
lange, aus vollem Halje zu lagen. 54 Мп mie geladen 
mit Öelächter... Hu! Mama ift angefommen; ich kenne 


444 





den Ruck, mit dem ihre Equipage vor dem Portal ans 
hält.‘ 

Dafcha ergriff feine Hand. 

„Bird doch Gott Sie vor Ihrem Dämon bewahren 
und „.. rufen Sie mich, rufen Sie mid) dann ſchnell!“ 

„Db, mein Dämon! Der ЦЕ ja nur ein fleines, widers 
liches, ſtrofuloͤſes Teufelchen, das fich erlältet und den 
Schnupfen hat, eines von den mißlungeren. Über Sie, 
Dafcha, Sie wagen ja wieder nicht, etwas auszuſprechen?“ 

Cie {аб ihn mit Schmerz und Vorwurf an und wandte 
ſich zur Tür, 

„Hören Sie," rief er ihr mit boshaftem, verzerrtem 
Kächeln nah. „Wenn ... nun, da, mit einem Wort, 
wenn... Sie verfiehen |фоп, wenn ich ſelbſt zu Fedjka 
in die Kneipe ginge ... und Sie nachher riefe, — wuͤr⸗ 
den Gie dann auch noch fommen, jelbjt nach meinem 
Gang in die Kneipe?” 

Sie ging hinaus, ohne zurüdzufehen, ohne zu ants 
worten, das Geſicht mit den Händen bededt. 

„Sie wird fommen, auch nad) meinem Gang in die 
Kneipe!" murmelte er nach kurzem Nachdenken vor fich 
bin, und in jeinem Geficht drüdte |194 angewiderte Vers 
achtung aus: — „Kranfenwärterin! Ут... оф 
übrigens, vielleicht brauche ich gerade das.” 


445 





Neuntes Kapitel 


Alle in Erwartung 


I 


< ie Geſchichte dieſes Duells wurde in unferer Gefell- 

Ichaft ungemein ſchnell befannt. An demEindrud,den 
ме machte, war das Bemerfenswertefte die Einftimmig- 
feit, mit der alle ſich ſchon am naͤchſten Tage rüdhaltlos 
für Nicolai Stamrogin erklärten. Selbſt viele von feinen 
ehemaligen Feinden zählten 14$ plößlich entichieden zu 
jeinen Freunden. 

Den Anftoß zu diefem überrafhenden Umfchwung der 
öffentlihen Meinung hatte zunaͤchſt nur eine einzige 
treffende Bemerkung gegeben; dieſe aber mar von einer 
Verfönlichfeit gemacht worden, die ſich bis dahin noch 
nie öffentlich geäußert oder gar ihre Stellungnahme 
verraten hatte. So ward denn jene Bemerkung jogleich 
von ungeheurer Bedeutung für den größten Zeil unjerer 
ееШфаН. Zuaetragen aber hatte fich das alles folgen: 
dermaßen: | 

Gerade an dem Tage nach dem Duell feierte die Ge: 1 
mahlin des Adelsmarſchalls unferes Gouvernements FF: 
ihren Geburtstag. Die ganze höhere Gejellihaft war 
bei ihr verfammelt. Unter den Gäften befand fich auch, 
oder richtiger, präjidierte, ald Gattin unſeres neuen 


446 





Gouverneurs, Julija Michailorona, die in Begleitung 
von Liſaweta Nicolajewna erjchienen war. Liſa mar 
von geradezu ftrahlender Schönheit und jah ganz beion: 
ders froh und glüdlich aus — was freilich viele Damen 
jogleich Außerft verdächtig fanden. Hier muß 14 er: 
wähnen, daß an ihrer tatjächlihen Verlobung mit 
Mawrikij Nicolajewitich eigentlich nicht mehr zu zweifeln 
war: auf die feherzhafte Frage eines alten Generals, von 
dem gleich noch die Nede fein wird, antwortete Liſa 
jelbft, daß fie Braut fei. Und 504 — иле fonderbar das 
auch erjcheinen mag —: Feine einzige von unferen Damen 
wollte daran glauben und alle fuhren fie eigenfinnig fort, 
von einem verhängnisvollen Familiengeheimnis, von 
einem Noman zu munieln, der 14 in der Schweiz ab: 
деле! haben follte, und zwar — ich weiß nicht, mes: 
halb — unbedingt unter Mitwirkung von Zulija Wi: 
chailowna. 68 ift wirklich ſchwer zu fagen, wie alle ме 
Gerüchte fich jo lange und hartnädig behaupten Fonnten, 
und warum immer wieder und unbedingt gerade Зи а 
Michailowna in мае Geſchichten hineingeflochten wurde 
und warum man glaubte, daß fie auch in die Geheim: 
niffe der Ohrfeigengejchichte eingeweiht fei. 

So kam es denn, daß man ihr auch auf der Abend- 
gejellichaft heim Adelsmarjchall, als fie mit Liſa eintrat, 
jogleih und ganz allgemein mit Spannung entgegen: 
ſah, mit Bliden, die ме Erwartung deutlich verrieter. 
Bon dem Duell wagte man noch nicht faut zu [ртефеп, 
nur unter Belannten tufchelte man ſich dies und jenes 
zu. Es дефаБ das wohl vor allem deshalb, weil man 
noch nicht wußte, wie fich ме Behörden zu dem Vor: 
fall ftellen würden. Soweit bekannt war, hatte man 


447 


die beiden Duellanten bis jeßt noch völlig unbehelligt 
gelaljen, und Gaganoff war, wie man wußte, {фоп am 
Morgen dieſes Tages auf fein Gut Duchowo zurüd- 
gekehrt, ohne vorher irgendwelchen Beläftigungen aus: 
gejeßt gewejen zu fein. Selbſtredend warteten nun alle 
darauf, daß endlich jemand laut davon zu |ртефеп ans 
fange und damit der allgemeinen Ungeduld und Neus 
gier, die fich jo nicht Außern fonnten, gewiffermaßen die 
Zür öffne. Dabei rechnete man ganz bejonders auf den 
bereit3 erwähnten alten General, und richtig: man vers 
rechnete fich Dabei nicht. 

Diejer General war eines der angejehenften Mit: 
glieder unjeres Adelsklubs: Gutsbefißer, doch nicht 
londerlih reich, mit Anfchauungen, die in ihrer Art 
geradezu einzig waren, und in Damengefellichaft ein 
unverbejjerliher Kurmacher. Unter anderem liebte er 
es bejonders, auf großen Verfammlungen, ſei es nun im 
Klub oder in der Geſellſchaft, mit der ganzen Würde 
jeines Nanges und Alters РОВНО laut gerade davon zu 
iprechen, wovon alle nur ängftlih und heimlich zu 
flüftern wagten. Es таг das gewiſſermaßen eine Spes 
маш von ihm. Und fo tat er es denn auch diesmal 


wieder nach feiner alten Gewohnheit. — Mit Gaganoff | 


war er irgendwie entfernt verwandt, jeßt aber entzweit; 
ich glaube, er prozellierte jogar mit ihm. Außerdem 


hatte er in feiner Jugend felbjt zwei Duelle gehabt und 
war wegen des legten zeitweilig ald Gemeiner nad) dem 


Kaufajus verbannt gemejen. 

Nun ließ jemand ein paar Worte über Warwara Pe: 
tromna fallen, die „mach der Krankheit” jeßt wieder aus: 
gefahren ſei — oder eigentlich nicht gerade über fie, jon= 


448 





| 


dern mehr über den herrlichen grauen Viererzug eigener, 
Stamroginfcher, Zucht, mit dem fich died Ereignis be: 
geben hatte. Da bemerfte plößlich der alte General, daß 
er heute den „jungen Stamrogin” zu Pferde angetroffen 
бабе... Alles verfiummte fofort. Der General aber 
ihob eine Weile lang die Lippen hin und her, fpielte 
mit feiner goldenen, ihm hohen Orts gefchenften Tabaks— 
Hofe und fagte fchlieflih, Ме Morte wie ein Fein: 
Ichmeder auseinanderziehend: 

„ut mir НО un—gemein leid, daß ich vor einigen 
Jahren nicht Мег тот... Hielt mich gerade in Karls- 
bad auf. Эт... Diefer junge Menſch in—te—reffiert 
mich, in ber Tat, je—ehr. Es furfi—ierten ja feinerzeit 
die tollften Gerüchte über ihn. Эт... Über mie, — 
iollte es fat—tifch wahr fein, daß er nicht ganz, hm, 
wu—rehnungs—fähig Ш? Hab [6 etwas gehört . 
Jetzt aber hörte ich, ein Student Habe ihn in Gegenwart 
feiner Kufinen beleidigt, und er foll vor ihm unter den 
Tiſch gefrochen fein. Und nun fagt mir plößlicy Stepan 
Wyſſotzki, daß diefer Stawro—gin fich mit имеет... 
Gaga—noff gefchlagen hat. Und das ein—zig in der 
hevaleref—ten Ab—ficht, fei—ne Stirn der Kugel 
eines . .. Toll—gemwordenen зи bieten, bloß um ihn ... 
86... loszuwerden. Эт... Das ift fo ungefähr im 
Stil der Garde der zwanziger Jahre. Verkehrt er 
übrigens hier mit jemandem?” 

Der General verftummte, alg erwarte er eine Ant: 
wort, und alle Blicke wandten fich, faft wie auf ein Koms 
mando, Julija Michailowna zu. | 

„Das Ш doch ganz erflärlich!"" fagte dieſe gereizt, ba 
alle gleichfam uͤberzeugt fchienen, gerade fie тие jekt 


29 Doftofemzati, Die Dämonen. 35.1. 449° 


etwas jagen. „Wie апп man fich darüber wundern, 
daß Stamrogin jich mit Gaganoff fchlägt und mit dem 
Studenten nicht? Er fonnte 504 nicht feinen früheren 
Leibeigenen fordern!" 

Bemerkenswerte Worte! Eine einfahe und auf der 
Hand liegende Erklärung, auf die aber noch niemand 
verfallen war. Фо war Пе denn auch von entjcheidender 
Wirkung. Alles Skandalöje, Unefootenhafte und Klein- 
liche war mit einem Schlage zurüdgedrängt und etwas 
anderes tauchte vor einem auf. Man fah plößlich einen 
neuen Menjchen vor Jich, in dem Jich big jeßt alle getäujcht 
hatten, einen Menſchen mit Ehrbegriffen von faft idealer 
Strenge. Don einem Studenten, aljo einem gebildeten 
und nicht mehr leibeigenen Menfchen, tödlich beleidigt, 
überjieht er die Beleidigung, weil der Student — ет 
ehemaliger Leibeigener Ц. Die ФееШфайЙ zerreißt ſich 
den Mund darüber und blidt mit Verachtung auf den 
Menichen, der einen Schlag ins Geſicht hingenommen 
bat: diefer aber mißachtet, überjieht einfach auch die 
Meinung der Geſellſchaft, die ja Doch zur richtigen Ber 
urteilung der Dinge viel zu unreif И, objchon йе fich 
jelber jtets dazu berufen fühlt 

„Und waͤhrenddeſſen ПВеп wir hier, Swan Wlerandro: 
witſch, und philofophieren darüber, welches die richtigen 
Ehrbegriffe find!" bemerkt in einem edlen Anfall von 
Selbfterfenntnig ein alter Klubherr zum anderen. 

„sa, ja, Sie haben recht, Piotr Michailowitſch,“ pflichtet 
ihm diefer reuig bei. „Und da fchilt man noch auf die 
Sugend von heute!” 

„Ach was, hier fann Doch von der Jugend im allge: 
meinen überhaupt nicht die Rede fein,” jagt ein Dritter. 


450 





„Die Sugend von heute hat damit nichts gemein. Hier 
handelt es 14) einfach um einen Ötern, eine einzigartige 
Ausnahme, um einen neuen Menfchen, nicht aber um 
irgendeine durchichnittliche Jugend von heute! Sehen 
©ie, fo ЦЕ das aufzufafjen.” 

„за, а... und gerade das Ш es ja, mas wir brauchen; 
wir find arm geworden an Perfönlichkeiten.” 

Doch das Wichtigfte war hierbei, daß dieſe „Perfönlich: 
keit“ oder diefer „neue Menſch“ fich nicht nur ale „un 
zweifelhafter Edelmann“ erwiefen hatte, fondern außer: 
dem noch der allerreichfte Grundbefißer unferes Gou— 
vernements тат, und folglich fogleich als Beiſtand und 
Faktor zu betrachten war. Sch habe übrigens fchon früher 
andeutungsweije die Stimmung unjerer Grundbejiger 
erwähnt.*) 

За, man geriet fogar ordentlich in Фе: 

„Und nicht nur, daß er den Studenten nicht gefordert 
hat,” hob ein anderer hervor, „er hat fogar die Hände 
oftentativ zurüdgezogen! — Bitte Das wohl zu bemerken, 
Erzellenz !" 

„Und hat ihn nicht einmal vor unfer neues Zivilgericht 
geſchleppt ...“ meinte wieder ein anderer. 


*) Siehe ©. 307, 430, 431. Nach der Aufhebung der Leibeigenfchaft 
durch Ulerander II. (1861) тафе ſich alebald unter dem zum 
Zeil ſchwer gefhädigten Landadel eine reaktionäre Gegenbemwegung 
bemerkbar, die die Regierung zeitweilig nicht wenig beunruhigte. 
Zwanzig Jahre fpäter konnte man ihr öffentlich die Schuld an dem 
Attentat auf den Zaren (13. III. 1881, einen Monat nah dem 
Tode Doftojewetis) zufchreiben, während eg im Grunde eine Tat 
des „Terrorismus“ war: gleich den vielen anderen Attentaten 
(feit 1866) eine Antwort der revolutionären Jugend auf die ſchar⸗ 
fen Maßnahmen gegen ihre Führer und Kameraden. E.K.R. 


451 


„Ungeachtet deſſen, daß dieſes unfer hochloͤbliches neues 
Gericht ihn dafür, daß er beleidigt worden ift, zu einer 
Strafe von fünfzehn Silberrubeln verurteilt Bätte, 
ба—ба— ба! 

„Nein, hören Sie, ich werde Ihnen gleich das ganze 
Geheimnis unferer neuen Gerichte jagen!" regte fich 
ein Dritter auf. „Hat jemand einen anderen beftohlen 
oder begaunert, und bat man ihn womöglih auf 
feifcher Tat ertappt und überführt — fo laufe er nur 
ſchnell nad Haufe, fo lange er поф Beine Bat, und 
ichlage feine Mutter tot! Dann ſpricht man ihn im Nu 
von allem frei, und Ме Damen werden ihm noch mit 
ihren Batifttüchlein von der Eftrade zursinfen und Ova- 
tionen bereiten! Ehrenmwort, fo ift es!” 

„Ein wahres Wort, bei Gott, fo Ш es!" 

Natürlich begnügte ſich ме Gejellihaft auch Diesmal 
wicht mit den befannten ЗаНафеп. Dan ſprach wieder 
über die Freundfchaft Stawrogins mit dem berühmten 
Grafen K., deſſen ftrenger, ifolierter Standpunft den 
neueflen Reformen gegenüber allgemein befannt mar, 
ebenjo wie feine aufjehenerregende Taͤtigkeit noch bie in 
die jüngfte Zeit. Und plöglich ftand für alle vollftändie 
feft, рав Nicolai Wſzewolodowitſch jich mit einer vor den 
Töchtern bes Grafen Я. verloben werde, obgleich zu einer 
folder Annahme in Wirklichkeit auch nicht der geringfte 
Grund vorhanden mar. Was aber da irgendwelche 
romantifche fchmweizer Abenteuer mit Liſawets Nico: 
lajewna anbetraf, ob, jo erwähnten unfere Damen ее 
„Märchen? überhaupt nicht mehr. Ich muß Hier be: 
merfen, daß Drosdoffs inzmifchen ſchon überall ihre 
Viſite gemacht hatten, und nun fand man, daß Lila 


452 





ein ganz gewöhnliches junges Mädchen fei, das mit 
jeinen „Franken Nerven” nur „ое Нее“. Ihren Ohn— 
nachtsanfall am Tage der Ankunft Nicolai Wizewolodos 
vitſchs erklärte man einfach mit dem Schred über die 
\händlihe Tat des Studenten. Ча, man bemühte fid) 
\ogar, das, was man noch vor kurzem fo phantaſtiſch auf: 
gefaßt hatte, jeßt fo profaifch wie möglich zu erflären; 
— und die Hinkende vergaß man völlig, ſchaͤmte ſich falt, 
lie überhaupt erwähnt zu baben. Die Männer aber 
pflegten zu fagen: „Und wenn auch bundert lahme 
Frauenzimmer — wer Ш denn nicht jung geweſen!“ 
Jetzt Боб man auch allgemein die Ehrerbietung Nicolai 
Wſzewolodowitſchs zu feiner Mutter hervor, ſprach wohl: 
wollend von feinem großen Wiffen, das er fich in dieſen 
vier Jahren an deutichen Univerfitäten erworben hatte, 
Die Handlungsweile Gaganoffs aber erflärte man end⸗ 
gültig für taltlog — „die Eigenen erfennen Ме Eigenen 
nicht!" — und Julija Michailomna ſprach man gar 
„böhere Einſicht“ zu. 

Sp murde denn Stamrogin, alg er endlich felbft in 
der Geſellſchaft erfchien, mit dem naivſten Ernft und der 
ungeduldigften Erwartung angefehen. Er aber ſchwieg. 
Natürlich befriedigte das wieder weit mehr, als es end» 
lofe Erklärungen getan hätten. Kurz, er machte einen 
großen Eindrud auf alle, er wurde Mode, In der @е: 
jellichaft kam er mit feinftem Takt allen feinen Pflichten 
nach. Ein Zurüdziehen, ſich Abſondern war freilich ип 
möglich, nachdem er einmal in der Gefellihaft erſchienen 
war, Das И fchon jo in der Provinz Man fand ihn 
zwar nicht „gemütlich” oder „unterhaltfam”, aber „der 
Menſch Hat gelitten, ift nicht [о wie andere; hat auch was, 


453 


mworüber er nachdenken kann,“ hieß es zu feiner Ent— 
Ichuldigung. Sogar fein Stolz und die Unnahbarfeit, 
die ihm vor vier Jahren fo viel Haß eingetragen hatten, 
gefielen jeßt und wurden fehr geachtet. 

Am meiften triumphierte Warwara Petromna. Sch 
weiß nicht, ob fie fich über ihre verunglüdten Pläne mit 
Lifa ſehr grämte: darüber half ihr vielleicht der Fami— 
lienftolz hinweg. Sonderbar таг nur eines: Warwara 
Petromna glaubte plößlich gleichfalls, daß ihr Nicolas 
eine Tochter des Grafen У. ermählt Бабе, und zwar 
— mas das Sonderbarfte dabei war — fie glaubte es 
gleichfalls nur auf die Gerüchte hin, die auch zu ihr bloß 
der „Zufall verfchlagen hatte; felbjt aber ihren Sohn 
zu fragen, fürdhtete fie fih. Zwei- oder dreimal fonnte 
йе jich freilich nicht bezwingen, und machte ihm vor= 
fichtig, wenn auch heiter, den Vorwurf, nicht ganz auf: 
richtig zu ihr zu fein: Nicolai Wſzewolodowitſch lächelte 
aber nur und fuhr fort, zu ſchweigen. So hielt jie fein 
Schweigen für eine Beftätigung. Und doch konnte fie 
bei all dem die Hinfende nicht vergejjen. Der Gedanfe 
an diefe lag ihr wie ein Stein auf dem Herzen, raubte 
ihr den Schlaf oder jchredte fie mit unheimlichen Traͤu— 
men — und das zu derjelben Zeit, als jie an die Töchter 
des Grafen Я. dachte. Uber davon jpäter. @8 verjteht 
йф im übrigen von jelbft, daß die Gejellfchaft fich wieder 
ganz wie früher mit außerordentlicher Ehrfurcht zu War- 
тата Petromna verhielt, wenn auch dieje ſich jeßt nur 
noch felten ſehen ließ. 

Indeſſen machte fie doch der Gouverneurin einen feier- 
lichen Beſuch. Natürlih war niemand über die ſchon 
erwähnte Bemerkung Julija Michailownas jo entzüdt, 


454 


a u m 000.0, — и * — — — — — — ———— 


wie Warwara Petromna: diefe Worte hatten viel Leid 
von ihrem Herzen genommen. „Sch habe diefe Frau miß- 
verftanden!" fagte fie fich, und mit der ihr eigenen Auf: 
richtigfeit erflärte fie Julija Michailowna fofort, daß fie 
gefommen fei, um fich bei ihr zu bedanken. ЗиШа Mi: 
chailowna war natürlich ſehr gefchmeichelt, verlor jedoch 
nicht ihre Würde. Зи gleicher Zeit ftieg Ме in ihren 
eigenen Augen ganz beträchtlich, und vielleicht ſogar 
etwas zu hoch. So beging fie beifpielsweife im Laufe 
des Gefprächs die Unhöflichfeit, Warwara Petrowna zu 
fagen, daß fie noch nie etwas von einer literarifchen Tätig: 
feit Stepan Trophimowitſchs gehört habe. 

„sch empfange und verwöhne natürlich den jungen 


Werchowenski, er Ш zumeilen etwas unbejonnen, aber 


er ift ja noch jung. Sedenfalls hat er folide Kenntnifje, 
und ift doch immeryin fchon etwas mehr, als irgend ein 
verabjchiedeter ehemaliger Kritiker.” 

Warwara Petromna beeilte fich fofort, zu bemerken, 
daß Stepan Trophimowitſch niemals Kritifer gemwejen 
ет, fondern fein ganzes Leben in ihrem Haufe verbracht 
бабе. Berühmt aber fei er durch gewiſſe Umftände zu 
Anfang feiner Karriere, die „aller Welt nur zu gut be: 
fannt find”, und in der leften Zeit durch feine Studien 
über die fpanifche Gefchichte; augenblidlich beabjichtige 
er, über die deutſchen Univerfitäten zu fchreiben und, 
wenn fie recht unterrichtet fei, auch etwas über die Dres: 
dener Madonna ... Warwara Petromna mollte ihren 
Stepan Trophimowitſch um feinen Preis von ЗиШа 
Michailowna herabjegen laſſen. 

„Über die Dresdener Madonna? Die Sirtinifche? 
Chere Warwara Petromna, ich habe zwei Stunden vor 


455 


мест Bilde geſeſſen und bin ſchließlich vollfommen 
enttäufcht fortgegangen. 34 habe nichts verftanden und 
mich nur über die Menſchen gewundert. Auch Kar: 
mafinoff jagt, daß es ſchwer jei, diejes Bild zu verftehen. 
Чей finden alle nichts Bejonderes an dieſem Bilde, 
ſowohl Ruffen wie Engländer. Den ganzen Ruhm haben 
ihm nur die alten Profefloren verichafft.” 

„Alſo eine neue Mode?“ 

„Ach, ich aber glaube, daß man unjere Jugend nicht 
fo geringjchägen darf. Überall Hagt man jeßt, unjere 
jungen Leute feien Kommuniften, und verachtet fie 100: 
moͤglich, Doch meiner Meinung nad) follte man fie lieber 
\фопеп und hochſchaͤtzen. Sch leſe jetzt alles: alle Zei: 
tungen, Revuen, treibe Naturwiſſenſchaft — ich befomme 
alles, denn man muß 504, nicht wahr, endlich willen, 
wo man lebt und mit wem man её zu tun hat?! Man 
fann doch nicht das ganze Leben lang auf den Wolfen 
jeiner Phantafie leben! Sch habe mir zum Grundſatz 
gemacht, Die Jugend zu protegieren, und hoffe, fie auf 
dieje Weife ап dem Rande 558 Abgrundes zurüdzubalten, 
in. den fie, das gebe ich zu, fonft Hinabgleiten könnte. 
Glauben Sie mir, Warwara Petromwna, nur mit guten: 
Einfluß und vor allem mit Liebe fünnen wir fie von 
vem Übgrund zurüdhalten, in den fie die Unduldſamkeit 
aller diejer zurüdgebliebenen alten Leute treibt. Aber 
wirklich: es freut mich, was ich von Shnen Über Stepan 
Trophimowitſch gehört Бабе. Sie haben mich auf einen 
guten Gedanken gebradt: er koͤnnte auf unferer lite- 
rariſchen Matinee gleichfalle etwas vortragen. Willen 
Sie es ſchon? Ich arrangiere einen ganzen Feittag, mit 
Hilfe einer Kollefte — für die armen Gouvernanten un: 


456 





ſeres Gouvernements. Sie find in ganz Rußland ver: 
freut; aus unſerem Kreife find allein ſchon ſechs; außer: 
dem noch zwei Telegraphiftinnen und zmei, die die Aka— 
demie befuchen; viele würden dag gleichfalls gern, haben 
aber nicht die Mittel dazu. Ach, das Los der ruſſiſchen 
Frau Ш entjeglih, MWarwara Petromna! Fest wird 
daraus eine Univerfitätsfrage gemacht, und der Reichs: 
tat hat fich jogar fchon deswegen einmal verjammelt. In 
unferem fonderbaren Rußland апп man wirklich alles 
machen, was einem einfällt. Und darum, noch einmal 
ſei es gejagt, koͤnnten wir nur mit Liebe und unmittel: 
barer warmer Teilnahme der ganzen Gefellichaft diefe 
große, allgemeine Фафе auf den richtigen Weg führen. 
> Gott, als ob wir viele große Menſchen hätten! Es 
gibt ja natürlich welche, aber die find fo verftreut! Tun 
wir ung doch zufammen, um ftärker zu werden! Wie 
gejagt, ich werde е Е eine literarische Dlatinee arrangieren, 
darauf ein leichtes Frühftüd, und dann, am Abend, 
einen Ball. Zuerft wollten wir den Abend mit lebenden 
Bildern eröffnen, aber das kaͤme wohl etwas zu teuer, 
und deshalb jollen zur Unterhaltung des Publikums nur 
zwei Quadrillen von Masken getanzt werden — in 
harakteriftiihen Koftümen, Ме beftimmte literarifche 
Richtungen darftellen. Diejen ſpaßigen Vorſchlag hat 
Karmafinoff gemacht — er Ш mir überhaupt fehr Бе: 
ВИЙ. Und willen Sie, er wird zur Matinee fein legtes 
Merl, das noch niemand kennt, vorlefen. Er will feine 
Teder jeßt niederlegen und nie mehr fchreiben. Diefes 
legte Werk ift fein Abſchied vom Publikum. Ein herr: 
liches Ding, unter dem Zitel: ‚Merci‘. Allerdings ein 
franzöfiihes Wort, aber er findet es fcherzhafter und 


457 


fogar feiner. Sch аиф — ja eigentlich habe ich es ihm 
vorgefchlagen. Nun denke ich, vielleicht Fönnte auch 
Stepan Trophimowitſch etwas vorlejen, etwas Kür- 
zeres und, wenn möglich ... nicht gar zu Gelehrtes. 
Sch glaube, аиф Piotr Stepanomitich und noch jemand 
werden irgend etwas vortragen. Sch werde Piotr 
Stepanomitich zu Ihnen fchiden, mit dem Programm, 
oder beſſer, erlauben Sie mir, es Ihnen felbft zu über: 
geben, wenn ich einmal vorüberfahre.” 

„Gern! — Und Sie erlauben mir gewiß, meinen 
Namen gleichfalls auf die Kifte zu feßen ... Sch werde 
es Stepan Trophimowitſch mitteilen und ihn felbft 
darum bitten.” 

Ganz bezaubert Тебе Warmara Petromna heim; jet 
ftand fie wie ein Fels für Julija Michailowna! Über 
Stepan Trophimowitſch aber ärgerte fie fich plößlich 
grenzenlos. Er aber, der Arme, ahnte natürlich von alle= 
dem nichts. 

„sch habe mich geradezu in fie verliebt. Sch begreife 
nicht, wie ich mich in diefer Frau fo habe täufchen Fön- 
nen”, fagte fie zu Nicolai Wſzewolodowitſch und zu Pjotr 
Stepanomitich, der am Abend dieſes Tages wieder auf 
einen Yugenblid bei ihr vorſprach. 

„Aber Sie muͤſſen 14 mit dem Alten wieder aus: 
föhnen,” meinte Pjotr Stepanomitjch, „er ift ganz ver: 
zweifelt. Sie haben ihn ja jchon geradezu in die Küche 
geichidt. Geftern hat er Sie in der Equipage gejehen und 
gegrüßt, Sie aber follen fich abgemendet haben. Willen 
Sie, wir wollen ihn ein wenig herausheben, 14 habe 
jogar gewiſſe Abfichten mit Цит und er kann ung поф 
nuͤtzlich ſein.“ 


458 





„Dh, er wird ja jeßt auf der Matinee vortragen.‘ 

„Sch fpreche nicht davon allein. Übrigens, ich wollte 
felbft noch heute zu ihm gehen. Soll ich es ihm 
jagen?" 

„Wenn Sie wollen. Oder nein, ich weiß nicht, wie Sie 
das anfangen werden,” fagte fie ein wenig unentichlofjen. 
„sh hatte |фоп felbft die Abficht, mich mit ihm aus— 
зиртефеп und wollte ihm Ort und Stunde angeben.” 
Ihr Geſicht verfinfterte ſich. 

„Na, das lohnt ſich gerade! Ich werde es ihm ein— 
fach ſagen.“ 

„Nun, meinetwegen. Sagen Sie es ihm. Aber fuͤgen 
Sie hinzu, daß ich ihm unbedingt einen Tag angeben 
werde. Fuͤgen Sie das unbedingt hinzu.“ 

Pjotr Stepanowitſch eilte ſogleich ſchmunzelnd zu 
ſeinem Vater. Im allgemeinen war er in dieſer Zeit, 
ſo weit ich mich deſſen noch erinnern kann, ganz beſonders 
ſchlechter Laune und erlaubte ſich unglaubliche Sachen 
faſt allen gegenuͤber, was man ihm aber ſonderbarer⸗ 
weiſe ſtets verzieh. Überhaupt hatte ſich die Meinung 
verbreitet, daß man auf ihn irgendwie beſonders ſehen 
muͤſſe. Hier muß ich aber erwaͤhnen, daß ihn Staw— 
rogins Duell in eine ſchon beinahe unnatuͤrliche Wut ver— 
ſetzt hatte; die Nachricht traf ihn unvorbereitet. Er 
wurde geradezu gruͤn im Geſicht, als man ihm das er— 
zaͤhlte. Vielleicht litt hierbei ſeine Eigenliebe: er erfuhr 
es erſt am anderen Tage, als ſchon alle davon wußten. 

„Aber Sie hatten ja gar nicht das Recht, ſich zu ſchla— 
gen!" flüfterte er Stamrogin zu, als er ihn erft am fünften 
Tag darauf zufällig im Klub traf. 

6$ Ш bemerkenswert, daß fie fich in diefen fünf Tagen 


459 


nirgends benegnet waren, obgleich Piotr Stepanowitſch 
Юй täglich bei Warwara Petromna vorſprach 

Stawrogin blidte ihn ftumm und wie zerftreut an, 
als verftünde er nicht, wovon jener ртаф, und ging weis — 
ter, ohne ftehen zu bleiben. Er ging durch den großen 
Saal zum Büfettraum. 

„Sie find auch zu Schatoff gegangen ... Sie wollen 
Ihre Heirat mit Marja Timofejerwna befannt machen“, 
flüfterte Piotr Stepanowitſch, der ihm nachlief, und 
faßte ihn an der Schulter. 

Da ſchuͤttelte Stawrogin plöglich feine Hand ab und | 
drehte fich ſchnell mit drohend finfterem Geficht zu ihm 
um. Piotr @ерапою {66 ihn an und lächelte ein 
fonderbares langes Lächeln. Das Ganze dauerte nur 
einen Augenblid. Stamrogin ging allein weiter. 


II 

Von Warıvara Petromna begab fih Piotr Stepano- 
witfch an jenem Abend fchleunigft zu feinem Vater, Зав 
er ſich Го beeilte, gefchah vur allenı aus Bosheit: um fich ' 
für eine Beleidigung, von der ich noch Feine Ahnung hatte, 
jobald wie möglich zu rächen. Окрап Trophimowitſch 
баНе ihn nämlich bei feinem legten Befuch nach einem 
Streit,der uͤbrigens von ihm felbit begonnen worden war, 
mit dem Stock hinausgejagt. Damals war ich, wie де: 
ſagt, nicht zugegen gewefen, diesmal aber, als Piotr Ste: 
panowitfch mit feinem gewoͤhnlichen fpöttifchen Lächeln 
eintrat, während fein unangenehm neugieriger ЗИФ Das 
Zimmer gleichſam abfuchte, gab mir Stepan Zrophimo: 
witſch fogleich durch einen Wink gu verftehen, ich folle 
den Raum nicht verlaffen. So erfuhr ich denn, 


460 





wie fie zu einander ſtanden. 

Stepan Zrophimowitich jaß halb liegend auf dem 
Diman. Фей jenem letzten Befuch feines Sohnes, am 
Donnerstag, war er magerer und bleicher geworden. 
Piotr Stepanomwitich {ее fich in der ungenierteften 
Meife neben ihn, und nahm weit mehr Platz auf den 
Diman ein, als es die Achtung vor dem Vater erlaubt 
hätte. Stepan Trophimowitſch rüdte mwortlos, feine 
Wuͤrde wahrend, zur Seite, 

Auf den Tifch lag ein aufgefchlagenes Buch: der Жо: 
man „Was tun?”*) Leider muß ich hier eine gewiſſe 
Schwäche meines Freundes eingeftefen: der Gedanke, daß 
er noch einmal aus feiner Einſamkeit hervortreten muͤſſe, 
um „dieleßte Schlacht zu ſchlagen“, Hatte fich mehr und 
mehr in feiner verblendeten Einbildung feſtgeſetzt. Ich er: 
riet, daß er ИФ dDiefen Roman nur vorgenommen hatte und 
nunftudierte,um fuͤr еп Fall eines Z3ufammenftoßes ши 
den Feinden ihren ganzen „Katechismus“ zu Fennen, Фо 
vorbereitet, wollte er fie dann alle widerlegen und feierlich 
vor „ihr” über jene Jungen triumphieren ! Oh, mie quälte 
ihn diefes Buch! Ganz verzweifelt warf er es oft fort, 
Iprang auf und ging erregt, ja faft außer fich hin und her. 

„sch gebe zu, daß der Grundgedanke des Autors richtig 
ft," fagte er wie im Fieber zu mir, — „aber №03 М doch 
noch fchredliher! Es ift ja derjelbe Gedanke, den wir 
gehegt haben, gerade unfer eigener! Wir haben ihn 
jeibft gepflanzt, erzogen, alles vorbereitet, — Ja und was 
+) Berühniter Roman deg „Realiſten“ und radikalen Publiziſten 
Tſchernyſchewski (1828 - 1889, feit 1865 politiſcher Sträfling): 
geſchrieben waͤhrend der Unterſuchungshaft 1863, als Kunftwert 
belanglos, doch als anſchauliche Vorführung der erſtrebten Res 


formen — u.a. die Möglichkeit der Eheſcheidung — von uns 
geheuerem Einfluß auf die Jugend, E.K.R. 


461 


fonnten die denn überhaupt поф Neues jagen, nach 
ung! Uber, Gott, wie Ш das alles mißverftanden, wie 
entftellt, wie verdorben!" rief er, nervös mit den Fingern 
auf das Buch Flopfend. „Haben wir je jolhe Folgerungen 
gezogen, das etwa eritrebt? Wer fann Мег überhaupt 
den Grundgedanken herauslefen?!" 

„Bildeft 514?” fragte Piotr Stepanowitſch fpöttifch, 
nachdem er das Buch vom Tiſch genommen und den 
Titel gelefen hatte. „War |фоп längft an der Zeit. Kann 
dir noch befjere Bücher bringen, wenn du willſt.“ 

Stepan Trophimowitſch ſchwieg wieder. Sch ſaß auf 
dem anderen Diwan in der Ede. 

Piotr Stepanowitſch erflärte fchnell, warum er де 
fommen ſei. Stepan Trophimowitſch war ganz unver: 
hältnismäßig betroffen und hörte mit einem Schreden 
zu, der 14 mit Außerftem Unmillen mifchte. 

„Und dieje Julija Michailowna ift ohne weiteres über: 
zeugt, daß ich bei ihr vorlefen werde !" 

„Das heißt, fieh mal, fie brauchen dich ja eigentlich 
überhaupt nicht. Sm Gegenteil, es gefchieht nur, um 
dir eine Ehre zu erweiſen und jomit Заттата Petromna | 
zu [hmeicheln. Na, verfteht fich doch von felbit, daß du 
nicht wagen darfit, etwa abzufagen. Und felber millft 
du doch аиф rieſig gern vorleſen,“ ſchmunzelte er. „Ihr 
Alten habt ja alle ’ne Бе Ambition. Aber, hör mal, |: 
damit е8 nicht zu langmeilig ift — du haft da etwas aus der | 
ſpaniſchen Gefchichte, niht? Du, alfo gib mir das Ding | 
drei, zwei Tage vorher, damit ich её mal durchjehe, fonft 
Ihläferft du ung am Ende поф alle ein.“ 

Die Grobheit feiner Bemerkungen war augenfcheins 
lich beabfichtigt. Er tat, als fünne man mit Stepan 


462 





Trophimowitſch eben unmöglich feiner fprehen. Mein 
Freund fuhr unerfchütterlich fort, die Beleidigungen nicht 
zu bemerfen. Indeſſen regte ihn der Inhalt des Ge: 
hörten Doch immer mehr auf. 

„Und fie felbft, fie jelbft hat... dir gejagt, daß du 
es mir mitteilen follft?” fragte er. 

„Das heißt, fieh mal, пе wollte dir Ort und Zeit ап: 
geben, um fich mit dir auszufprechen — die lehten Über: 
refte eurer Oentimentalitäten. Du haft zwanzig Sahre 
mit ihr Fofettiert und ihr die lächerlihften Albernheiten 
angewöhnt. Na, beruhige dich, jet hat das aufgehört; 
jeßt wiederholt fie ja ſelbſt ftündlich, daß fie dich nun erft 
durchſchaut'‘. 34 Бабе ihr 10914 auseinandergejekt, 
daß eure ganze Freundfchaft weiter nichts als ein gegens 
feitiger Erguß von Spülicht gewefen ЧЕ. Sie hat mir 
viel erzählt, weißt du. Pfui, was für ein Lafaienamt du 
bei ihr bekleidet haft. Sogar ich habe für Dich erröten 
muͤſſen.“ 

„sch — ein Lakaienamt bekleidet?“ rief Stepan Tro⸗ 
phimowitſch, der nun doch nicht mehr an ſich halten 
konnte. 

„Sogar noch ſchlimmer als das, denn du warſt ja ein 
Schmarotzer, alſo ein freiwilliger Lakai. Zur Arbeit zu 
faul — aber auf Geld haben wir Appetit. Kennt man! 
Auch ſie begreift das jetzt. Haarſtraͤubend, was ſie von 
dir alles erzaͤhlt hat! Ach, Freund, hab ich aber uͤber 
deine Briefe an ſie gelacht! Wie gewiſſenlos und wie 
ekelhaft! Aber ihr [ето ja jo verderbt, jo unglaublich ет: 
derbt! Im Ulmofenempfangen liegt doch etwas, dag den 
Menſchen für immer verdirbt — du biſt ein glänzendes 
Beilpiel dafür!“ | > 0209 


463 


„Sie hat dir meine Briefe gezeigt!" 

„Alle. Das heißt, wo denfit du hin, wer foll —* die 
alle durchleſen! Pfui, 14 glaube, es find über zwei- 
taufend Briefe. Verboten viel Papier verfchmiert . 
Aber weißt du auch, Alter, ich vermute, eg muf da ет: 
mal einen Augenblid gegeben haben, wo fie vielleicht 
\ogar bereit gemefen wäre, dich zu heiraten? Dümmfter- 
weife haft du's verpaßt! Уф meine natuͤrlich — von 
deinem Stanbpunft aus. Immerhin beſſer als jet, de 
man dich beinah mit ‚fremden Sünden‘ verfuppelt Hätte, 
wie einen Narren zum Scherz, — und das für Geld.” 

„паг Geld! Sie, fie jagt — ich hätte für Geld! .. .“ 
rief Stepan Trophimowitſch in Franihafter Erregung. 

„sa, wie denn fonft? Was fällt dir denn ein? Unter 
diefem Geſichtswinkel бабе ich dich noch verteidigt! Das 
ift doch deine einzige Entſchuldigung. Sie hat jeßt ſelbſt 
eingejehen, daß du Geld brauchteft, wie nun einmal alle 
Menſchen — und von dem Standpunfte aus fogar ganz 
recht hatteft. Ich habe ihr denn auch Far wie zmeimal- 
mei bewiejen, daß ihr zu Eurem gegenfeitigen Bor: 
teil gelebt habt: fie als Kapitaliftin, und du bei ihr als 
ihr fentimentaler Narr, Übrigens: uͤber das viele ver: 
ſchwendete Geld ärgert fie fich nicht, obgleich du fie doch 
voirflich wie eine Ziege gemolfen haft. Was fie jet Бой, 
Ц nur, daß fie dir zmanzig Забте lang geglaubt hat, 
daß fie fih von deinem Anftand hat betölpeln laſſen 
und Рай du fie gezwungen haft, fo lange zu lügen. Зав _ 
Пе ſelbſt auch gelogen hat, wird fie fich nie eingeftehen, 
aber du wirſt dafür doppelt büßen müffen. $4 verſtehe 
nur nicht, mie du nicht haft begreifen fönnen, daß es 
irgend einmal doch zu einer Abrechnung fommen mußte. 


464 | 





Denn immerhin hatteft du doch jo etwas wie einen Зет: 
fand. Sch habe ihr geftern geraten, dich in ein Armen: 
baus zu fteden. Beruhige dich, in ein anftändiges: es 
wird ſchon nicht erniedrigend fein. Sch glaube, пе wird 
es auch fo machen. Erinnerſt du dich noch deines letzten 
Briefes ап mich, ins H—ſche Gouvernement, vor drei 
Wochen?” 

„Den haft du ihr gezeigt?" Stepan Trophimowitſch 
ſprang vor Ertjeßen auf. 

„Na, felbftredend! Als erften! Denfelben, in dem 
du fchreibft, daß jie dich ausnußt, dic) um deines Talentes 
willen beneidet, na, und noch allerlei über die ‚fremden 
Sünden‘ ... — Ach, Freund, haft du aber eine Eigen 
liebe! Sch Бабе mir vor Зафеп die Seiten gehalten. 
Sonft find deine Briefe mordslangmweilig — haft einen 
entjeglichen Stil. Habe fie überhaupt nur felten gelejen 
und ein Brief liegt da bei mir noch jeßt uneröffnet 
herum; werde ihn Dir morgen fcehiden. Aber Мест, 
diefer legte Brief — der Ш ja einfach Die Krone von 
allen! Wie ich gelacht habe, nein, wie ich gelacht 
habe!" 

„Du Unmenfch, du Ungeheuer! brüllte plößlich Ste: 
pan Trophimowitich außer fich vor Empörung. 

„Pfui Zeufel, mit dir fann man ja überhaupt nicht 
reden. Hör mal, du fühlft dich wohl wieder gefränft, 
wie vorigen Donnerstag?” 

Stepan Trophimowitſch richtete fich drohend auf. 

„Wie wagft du eg, jo mit mir zu reden" 

„Ja, wie denn? Ich rede doch einfach und Нат." 

„ber fo [ад mir doch, dift du mein Sohn oder bift du’s 
nicht 


30 Doftoiewsli, Die Dämonen. 35. J. 465 


„Das müßteft du beffer wiſſen als ich. Natürlich, jeder 
Dater ift ja in folchen Sellen zu Zweifeln geneigt..." 

„Schweig, ſchweig!“ Stepan Trophimowitſch er: 
zitterte am ganzen Koͤrper. 

„Sieh mal, nun ſchreiſt und ſchimpfſt du ſchon wieder, 
ganz wie vorigen Donnerstag; wollteſt ja damals ſchon 
deinen Stock erheben, inzwiſchen aber habe ich das Doku— 
ment gefunden. Hab den ganzen Abend in meinem 
Reiſekoffer aus Neugier geſucht. Kannſt dich beruhigen, 
es iſt kein Beweis vorhanden. Nur ein kurzer Brief 
meiner Mutter an jenen Polen. Uber паф ihrem Cha: 
таНег zu urteilen ...“ 

„Хоф ein Wort und ich ſchlage dich —!“ 

„Ла, das [ind mir mal Menſchen!“ wandte fi Piotr 
Stepanowitſch plöslih an mich. „Sehen Sie, dag geht 
nun. ſchon jo feit dem vorigen Donnerstag. Es freut 
mich, daß diesmal mwenigftens Sie dabei ſind und ит: 
teilen fünnen. Zuerft eine Tatſache: er macht mir Vor: 
wuͤrfe, weil ich fo von meiner Mutter rede, aber war em 
es nicht felbft, der mich darauf gebracht hat? In Peters: 
burg, als ih noch Gymnafiaft war, weckte er пиф wo— 
möglich zweimal in der Nacht, umarmte mich und weinte 
wie ein altes Weib. Und was glauben Sie wohl, was er 
mir dann erzählte, fo in der Nacht? Na, eben dieſe jelben 
feufchen Anekdoten über meine Mutter! Er war ja der 
erfte, von dem 14 es hörte.” | 

„Ob, ich tat с8 damals im höheren Sinne! Oh, du haft 
mich nicht verftanden. Nichts, nichts Бай du verftanden !" 

„ber immerhin тат es von dir Doch gemeiner, als 
von mir, viel gemeiner, geftehe es nur! Sieh, wenn du 
willſt: mir ift es а einerlei. Von deinem Standpunft 


466 





betrachtet. Von meinem — na, beruhige dich: ich mache 
meiner Mutter durchaus feinen Vorwurf. Biſt du’s, 
na, dann bift du es, — ift’s der Pole, — na, meinetwegen, 
mir iſt's egal. Ich bin doch nicht daran fchuld, daß es 
bei euch in Berlin fo dumm herausgefommen И. За 
und hätte denn überhaupt jemals etwas Geſcheites bei 
euch herausfommen fönnen? Und ſeid ihr nun nach alle: 
dem nicht Тот (фе Leute? Kann es dir denn nicht ganz 
egal jein, ob ich dein Sohn bin, oder nicht? Hören Sie 
mal,” wandte er fich wieder zu mir, „er hat fir mich in 
feinem ganzen Leben nicht einen einzigen Nubel aus: 
gegeben; bis zum ſechzehnten Sahre hat er mich über: 
haupt nicht gefannt, darauf hat er mich hier beftohlen, 
und jeßt fchreit er, daß ihn fein Herz fein Lebelang um 
mich geſchmerzt habe, und geberdet fich vor mir wie ein 
Schaufpieler. Aber ich bin doch nicht Warwara Petrowna, 
ich bitte dich!“ | 

Er Йапь auf und nahm ſeinen Hut. 

„sch — verfluche dich!" rief Stepan Trophimomitfch, 
bleich wie der Tod, und ftredte jeine Hand aus. 

„Seht doch, was ein Menſch alles fertig bringt!” 
Pjotr Stepanowitjch wunderte fich wirklich. „Na, leb 
wohl, Alter, werde nie mehr zu dir fommen. Den Auf: 
ſatz jchid etwas früher, vergiß с8 nicht, und bemühe dich, 
wenn du kannſt, ohne Albernheiten zu fchreiben. Nur Tat: 
{афеп, Zatjachen und nochmals ZTatjachen, und die 
Hauptjache: jo kurz wie möglich, Adieu!“ 


III 
Piotr Stepanowitfch hatte übrigens noch andere 
Gründe dafür, mit feinem Vater in diefer Weiſe ит: 


8» * 467 


zugehen. Meiner Meinung паф beebfichtigte er ganz 
einfach, ihn zur Verzweiflung zu bringen, um ihn auf 
diefe Weife zu einem Sfandal zu treiben, der die Öffent- 
lichfeit in einer ganz beftimmten Richtung in Anſpruch 
nehmen mußte. Etwas Derartiges hatte er für feine fer: 
neren Зе, von denen jedoch erft jpäter die Rede fein 
foll, unbedingt nötig. оф eine ganze Reihe ähnlicher 
und miteinander in Zujammenhang ftehender Pläne 
— freilih alle von einer gewiljen Phantaftif — gingen 
damals durch feinen Kopf. Außer Stepan Zrophimo: 
witjch hatte er ncch einen anderen Märtyrer im иде. 
Überhaupt hatte er deren nicht menige, wie ſich Ipäter 
beraugitellte; doch auf dieſen anderen Märtyrer rechncte 
er ganz bejonderg, und der war — Herr von Lembke in 
eigener Perſon. | 

Andrei Antonowitſch von Lembke gehörte zu jenem 
bevorzugten (von der Natur bevorzugten) Bolfe, von 
dem in Rußland mehrere Hunderttauiend Vertreter leben, 
die vielleicht felbft nicht wiſſen, daß fie in ihrer ganzen 
Maſſe und Sefamtheit einen ſtreng organijierten Bund 
bei ung bilden. Selbfiredend Ш diejer Bund nicht etwa 
ausgedacht, fondern befteht wortlos, ohne Berein- 
barungen, einfach wie eine тотаШфе Selbftverftänd- 
lichfeit — eben durch das unbedingte Zulammenpalten 
und die Unterſtuͤtzung, die Пе fich überall und unter allen 
Umftänden mechfeljeitig zuieil werden laſſen. | 

Andrei Antonowitich hatte die Ehre gehabt, in einer 
jener höheren rufliigen Schulen erzogen zu werden, in 
die in der Regel nur die Söhne jolcher Familien ет: 
treten fönnen, die mit Reichtum oder Verbindungen be: 
glüdt find. Die Zöglinge diefer Schule wurden fall jo: 


468 





fort nach dem Xbiturienteneramen fo untergebracht, daß 
Пе felbft bei geringer Begabung поф eine gute Karriere 
machen Fonnten. Andrei Antonowitſchs Großväter was 
ven: ein Oberftleutnant und ein Bäder. Trotzdem hatte 
man ihn in jener hohen Schule aufgenommen, und fiehe 
da — er fand noch andere junge Keute ähnlicher Her: 
kunft vor. Er war ein luftiger Kamerad; mit dem Lernen 
ging е8 zwar ziemlich ſchwer, aber das ftörte meiter 
nicht — man hatte ihn troßdem gern. Als fpäter, in den 
höheren Klafjen, die Juͤnglinge, die meiſtens Ruſſen 
waren, fchon über alle möglichen Zagesfregen zu Die: 
putieren begannen, und zwar in einem Zone, ber feinen 
Zweifel darüber beftehen ließ, daß fie, fobald fie nur erft 
die Schule hinter fich gebracht hätten, fofort ſaͤmtliche 
Probleme mit einem Schlage löfen würden — da fuhr 
Andrei Antonowitjch immer noch fort, fich mit den aller: 
unfchuldigfien Jungenftreichen zu befchäftigen. Es ſchien 
in feinen Augen geradezu fein Lebenszweck zu fein, feine 
Mitſchuͤler auch jegt noch durch alte mögliden Einfälle 
zu unterhalten — Einfälle, die fich zwar nicht durch allzu 
großen Geiftesreichtum auszeichneten, dafür aber Ме 
junge ФееШфа_ zu erheitern vermochten. Entweder 
ichneuzte er fich, wenn der Lehrer ihn etwas fragte, auf 
irgendeine ganz beſonders laute und mißtönende Weiſe 
die Nafe, wodurch er dann ſowohl die Kameraden wie den 
Lehrer jelber beluftigte; oder er machte im gemeinjamenı 
Schlafjaal irgendwelche eautlibriftiichen Kunftftüde, die 
ibm einen allgemeinen und begeifterten Beifall ein: 
zutragen pflegten; oder er |pielte gar einzig auf feiner 
Naſe (und wirklich Funftooli) die Ouvertüre zu „Fra 
Diavolo”. Im letzten Schuljahr zeichnete er fich wohl 


469 


auch durch eine abfichtliche Unordentlichfeit in der Klei: 
dung сиё, was er für genial hielt, dieweil er nämlich zu 
dichten begonnen hatte: und zwar in ruſſiſcher Sprache, 
denn feine Mutterfprache deherrichte er nur Aufßerft ип: 
grammatifch, wie fo viele feiner in Зи ато lebenden 
Volksgenoſſen. 

Dieſe Neigung zur Pocſie hatte ihn dann mit einem 
Kameraden, dem Sohn eines armen Offiziers, den die 
ganze Schule fuͤr einen zukuͤnftigen großen Poeten, ſo 
eine Art zweiten Puſchkin hielt, zuſammengefuͤhrt. Wie 
erſtaunt aber war dieſer Kamerad, der ſich Lembkes auf 
der Schule nur von oben herab, gnaͤdig, beinahe goͤnner— 
haft angenommen hatte, als er drei Jahre ſpaͤter feinen 
Protege, den „Lembka“, wie man ihn allgemein genannt 
hatte, an einem falten Tage an der Xnitjchkoffbrüde traf! 
Der „zufünftige große Poet“ hatte fich inzreifchen ganz 
der ruflilihen Literatur gewidmet und её bereits glüdlich 
bis zu zerrifjenen Stiefeln und einem dünnen Sommer: 
paletot im Spätherbit gebracht. Um fo eigentümlicher 
mußten feine Empfindungen fein, als er jeßt feinen 
„Lembka“ wiederjah: zuerft traute er feinen Augen nicht 
— vor ihm ftand ein tadellos gefleideter junger Mann 
mit beiwunderungsmwürdig bearbeitetem rötlicheblondem 
Badenbart, mit einem Klemmer auf der Naſe, elegant 
behandſchuht, dazu in Zadftiefeln und foftbarem Pelz mit 
einer Ledermappe unter dem Arm, Lenibfe begrüßte ihn 
fehr freundlich, gab ihm feine ЭГотеЙе, und forderte ihn 
fogar auf, ihn einmal abends zu befuchen. Es ftellte fich 
bei der Gelegenheit heraus, daß er jeßt nicht mehr cin= 
fach der „Lembka“, fondern Herr von Lembke mar. 
Doc, ald nun der Schulfreund Der Aufforderung nachfam 


4709 


und ihn tatjächlich einmal befuchte, da fand er keineswegs 
die Neichtümer vor, die er erwartet hatte, fand feinen: 
„Lembka“ vielmehr in einem ſchmalen Zimnierchen, das 
ziemlich alt ausfah, mit einem dunfelgrünen Vorhang in 
zwei ungleiche Hälften geteilt und mit ebenfalls dunkel— 
grünen, zwar gepolfterten, aber bereits ziemlich vers 
Ichojjenen Möbeln eingerichtet war. Bon Зет с wohnte 
bei einem General, mit dem er in fehr mweitläufiger Ver: 
wandtjchaft ftand und der den jungen Mann nach Mög: 
lichkeit in feiner Laufbahn förderte. Von Lembke стр: 
fing den Schulfreund freundlich, war aber font ernft und 
von gefellfchaftliher Höflichkeit. Über Literatur [prachen 
fie nur beiläufig. Ein Diener in weißer Weſte brachte 
einen etwas blüßlichen Tee und hartes Fleines, rundes 
Gebaͤck. Mls der Freund aus Bosheit um eine Flaſche 
Selterwaſſer bat, wurde fie ihm zwar gebracht, doch erft 
nach auffallend langer Zeit, während der Lembke etwas 
betreten zu fein ſchien. Übrigens muß ich hinzufügen, daß 
er dem Schulfreunde auch einen Imbiß anbot, doch offen= 
bar nicht unzufrieden war, als der Gaft dankte und [19 
bald darauf verabfchiedete. Mit einem Wort: Lembke 
begann damals, troß ärmlicher Verhältnijje, feine „Kar: 
tiere” und lebte bei einem Stammgenojjen, der ein ап: 
gejehener General mar. 

In diefer Zeit hatte er fich in die fünfte Tochter des 
Generals verliebt, und fein Antrag war, wenn ich nicht 
irre, auch fo gut wie angenommen worden. Nur vers 
heiratete man Amalie, als fih die Gelegenheit bot, 
nichtsdeftomeniger mit einem deutjchen Fabrikbeliker, 
einem alten Freunde des alten Generals. Andrei 
Antonowitjch trauerte feiner Liebe nicht ſehr lange nach, 


471 


ſondern — НеМе aus Pappe ein Theater. Das ward 
ein richtiges Kunftwerf: der Vorhang Боб ſich, ме Schau: 
fpieler traten auf und geftifulierten mit den Händen, in 
den Logen {абеп Damen, im Orchefter fuhren die Mufiker 
mit den Bögen über die Inftrumente, der Kapellmeifter 
fuchtelte mit einem Stödchen und das Publikum klatſchte 
in die Hände. Alles das war aus Pappe hergeftellt, und 
ausgedacht und ausgeführt von Andrei Antonowitjch von 
Зет. Ein halbes Jahr lang hatte er über diefem Thea: 
ter geſeſſen. Als er fertig war, gab der General eine in: 
timere Abendgejellichaft; viele deutſche Damen und junge 
Mädchen, fowie die fünf Töchter des Öenerals, darunter 
die neuvermählte Amalie und deren Gatte, waren jehr 
entzüdt, als das Theater vorgeführt wurde, und ет: 
gingen fich ш hohen Lobſpruͤchen über den Verfertiger — 
worauf dann getanzt wurde, Kembfe war ſehr zufrieden 
und vergaß jeinen Liebesgram alsbald. 

Gin paar Jahre vergingen und feine „Karriere“ 
machte fih mehr und mehr. Er befleidete ftets Ver: 
trauenspoften unter Vorgeſetzten, die gleicher Abftamz 
mung waren, und erreichte in verhältnismäßig jungen 
Sahren einen recht anfjehnlichen Rang. Schon lange 
hatte er, jeßt aber ernitlich, den Wunſch gehabt, zu hei: 
vaten, und fchon lange hatte er fich verftohlen паф einer 
paffenden Partie umgeſehen. Übrigens dichtete er auch 
jett noch hin und wieder, doch ohne jemandem etwas 
davon zu verraten, und einmal jandte er jogar eine No: 
velle an die Redaktion eines Blattes: fie wurde jedoch 
zu jeinem Kummer nicht abgedrudt, fondern ihm 66]: 
lich wieder zur Verfügung geftellt, Da begann er denn 
wieder zu Небеп: diesmal einen ganzen Eiſenbahnzug. 


472 


— — 


Auch der gelang ihm vorzüglich: die Leute kamen aus dem 
Bahnhof und drängten fich, mit Koffern und Zafchen in 
der Hand, mit Kindern und Hunden, zu den Waggons, 
die Schaffner und die Bahnbeamten gingen Ми und 
ber, ет Ölödchen Elingelte und der Zug [ее fich in Be: 
wegung. Über diefem Kunftftüd hatte er ein ganzes 
Jahr gejeifen, feine Heiratspläne aber diesmal nicht dar- 
über vergefjen. Sein Belanntenfreis war ziemlich groß, 
meiftens ФеиНфе Gefellichaft, doch verkehrte er auch in 
einigen ruſſiſchen Familien — felbftverftändlich nur in 
denen feiner Vorgefekten. Da fiel ihm endlich, ale er 
ſchon achtunddreißig Sahre zählte, eine Heine Erbſchaft 
zu: {ет Großvater, der Bäder, ftarb und hinterließ ihm 
tejtamentarifch dreizehntaufend Rubel. Nun mar Herr 
von Lembke im Grunde troß der ſchon recht anfehnlichen 
Stellung, die er in jungen Sahren erflommen hatte, 
durchaus Fein Streber, vielmehr ein Menſch, der auch 
ganz gewiß mit einem Eleineren, wenn nur recht be: 
quemen und unabhängigen Poſten volllommen zufrieden 
gewejen wäre. Doch eben jest Неийе, anftatt einer 
janften Minna oder Erneftine, ploͤtzlich Julija Michai: 
[стопа feinen Weg, und feine Stellung ftieg fofort um ein 
paar Stufen höher. Der bejcheidene und gewiſſenhafte 
von Lembke fühlte, daß auch er ehrgeizig zu fein vermochte. 

Julija Michailomna befaß, nach der alten Einfchäßung, 
zweihundert Leibeigene und erfreute fich außerdem guter 
Proteftionen. Andererfeits war von Зет Ве ein hüb- 
ſcher Mann und fie fchon über 40 Jahre alt. Obendrein 
verliebte er fich nach und nach wirklich in fie, und zwar 
genau proportional der Verftärfung des Gefuͤhls, daß 
er nun Brautigam war. Am Hochzeitstage fchidte er ihr 


473 


fogar ein Gedicht, das ihr ſehr gefiel — vierzig Jahre 
find nun einmal fein Spaß. Bald darauf befam er auch 
einen gutflingenden Titel und dazu einen beftimmten 
Drden, und fchließlich wurde er zum Gouverneur unferes 
Gouvernements ernannt. Фей diefer Auszeichnung be: 
gann Julija Michailowna fich um ihren Gatten doppelt 
zu bemühen. Shrer Meinung nach war er nicht gerade 
unbegabt: er verftand, in einen Salon einzutreten, es 
war ihm gegeben, еше elegante Berbeugung zu machen, 
er verniochte jogar ernft und tiefjinnig zuzuhören, wenn 
andere fprachen, Мей jich dabei immer gut und fonnte 
fogar eine Rede halten; ja, er hatte hin und wieder jogar 
eigene Gedanfen, wenn Пе auch etwas furz waren und 
unvermittelt wirkten, und hinzukam, daß er ſich ſchon 
die Politur des neueften, jo notwendigen Kiberalismus 
angeeignet hatte. Doch Нов alledem beunruhigte fich 
Julija Michailowna nicht wenig: vor allen Dingen miß— 
fiel es ihr entichieden, daß ihr Lembke, nachdem er fo 
lange hinter feiner Karriere hergelaufen war, jet 90% 
wieder ein immer ausgeiprocheneres NRuhebedürfnis zu 
empfinden fchien. Sie hätte zu gern ihren ganzen Ehr: 
geiz zu dem feinen gemacht, er aber begann wieder — zu 
Eleben. Diesmal war eseine Kirche: der Paftor trat auf 
die Kanzel, die Gemeinde hörte mit andächtig gefalteten 
Händen zu, ein alter Mann fchneuzte ſich, eine Dame 
wifchte fich mit einem Zafchentuch die Tränen ab und 
zum Schluß begann noch eine Orgel zu fpielen, die er 
um teures Geld eigens dazu aus der Schweiz verfihrieben 
hatte. Als Zulija Michailomna von dieſer neuen Arbeit 
erfuhr, erjchraf fie geradezu, nahm ihm das Spiel- 
zeug furzerhand fort und verftedte es in einen Koffer, 


474 





zur Entfchädigung aber erlaubte fie ihm, einen Roman 
zu fchreiben, freilich nur unter der Bedingung, daß ше 
mand etwas davon erführe, Seit der Zeit verließ fie ſich 
nur noch auf fich felbft. Eine Зее nach der anderen ent= 
ftand in ihrem ehrgeizigen und ein wenig überfpannten 
Geifte. Sie hatte in der Tat die Abricht, газ Gouvernes 
ment zu regieren, und tr&umte bereits von den beftimmt 
nicht mehr fernen Tagen, wo fie der Mittelpunkt der 
Gefellfchaft, aller Meinungen und Veranftaltungen un: 
feres Gouvernements fein würde. Bon Lembke ſelbſt ſoll 
übrigens zuerft nicht wenig erfchrocen gewejenfein, als 
er den hohen Poften erhielt, doch hatte er mit ſeinem 
Beamteninftinkt fehr bald herausgefunden, daß er eigent- 
lich gar feinen Grund hatte, fich zu fürchten. Die erften 
zwei, drei Monate feiner Tätigkeit verliefen denn аиф 
Außerft zufriedenftellend. Da aber erjchien plößlich Piotr 
Stepanomwitjch — und alsbald nahm alles eine unheit 
volle Wendung. 

Die Sache fing damit an, daß der junge Wercho— 
wenski gleich bei der erften Begegnung Andrei Antono— 
witich von Lembke eine entjchiedene Nichtachtung еп 
gegenbrachte und fich ganz jonderbare Rechte ihm gegen: 
über herausnahm, Julija Midyailowna aber, die ſonſt 
immer fo eiferfüchtig die Bedeutung ihres Mannes ges 
achtet wiljen wollte, tat plößlich, а18 merkte fie davon 
nichts. Der junge Werchomensfi wurde fozufagen ihr 
Schüßling, aß, trank und fchlief faft bei ihnen. Von 
Lembfe juchte fich zwar des Anfümmlings zu erwehren, 
nannte ihn in der Gejellichaft „junger Mann’, НорНе 
ihm mwohlwollend auf die Schulter, doc) fonnte er mit 
all dem nicht das gewuͤnſchte Nefultat erzielen. Piotr 


475 


Stepanowitſch tat immer, felbft während jcheinbar ern⸗ 
Йег Geſpraͤche, ald nehme er ihn überhaupt nicht ernft, 
und im übrigen nahm er fich fogar in Gegenwart fremder 
Menſchen heraus, ihm die unerwartetften, unglaub: 
ichften Dinge ins Geſicht zu jagen. Einmal, als son 
Lembke nach Haufe ат und in {ет Yrbeitszimmer trat, 
fand er den „jungen Mann” auf feinem Leberdiman vor. 
Er gab zur Erflärung, und zwar nicht etwa, um fich zu 
entjchuldigen, fondern nur fo oben hin, daß er, ba er 
niemanden angetroffen, 14 „bei der Gelegenheit aus: 
gefchlafen” habe. Bon Lembke war natürlich tief ges 
kraͤnkt und beflaate fich bei feiner Frau; diefe aber er: 
Härte, nachdem jie zuerft über „feine Empfindlichkeit 
gelacht hatte, daß er wohl jelbft die Schuld daran trüge, 
wenn der junge Mann fich nicht „comme il faut‘“ zu ihm 
verhalte, Wenigftens erlaubte jich „ме ег Junge“ ihr 
gegenüber nie irgend welche Familiaritäten, und im 
übrigen {ет er „naiv und unverdorben, wenn auch gewiß 
nicht gefellichaftlih erzogen”. Bon Lembke ſchmollte 
zwar, doch diesmal gelang es Зи а Michailorune noch, 
die beiden zu verjöhnen: nicht gerade, daß Piotr Stepano- 
witſch jeßt eine Entjchuldigung gemacht hätte, aber er riß 
irgend einen Wiß, den man zwar in einem anderen бай 
für eine neue Beleidigung hätte halten fönnen, ver man 
aber diesmal gnädig als Beilerungsverfprechen auf: 
Горе. Am meiften ärgerte es Herrn von Lembke, daß 
er dem jungen Mann geradezu machtlos gegenüberftand, 
denn .„.. er hatte ihm gleich zu Anfang ihrer Belannt- 
ſchaft — feinen Roman anvertraut. Im Ölauben, einen 
jungen Menſchen mit literariichen Intereſſen getroffen 
zu haben, hatte er ihm, da er fih ſchon lange einen 


476 





Zuhörer wünfchte, eines Abends die beiden erften Kapitel 
vorgelefen. Piotr Stepanowitſch hatte zunächft zus 
gehört, ohne zu verbergen, daß er fich langweilte, dann 
unhöflich gegähnt, nicht ein einziges Mal etwas gelobt, doc) 
beim Fortgehen fich das Manuffript ausgebeten, un es 
zu Haufe aufmerkfjam durchleſen und fein Urteil darüber 
fällen zu fönnen, — und der arme Herr von Lembke 
hatte ed ihm auch gegeben ... Seit der Zeit fonnte er 
es nun nicht mehr zurüdbefomrien: auf feine täglichen 
ragen gab фт Piotr Stepanowitjch тей nur eine aus— 
weichende und nicht felten geradezu höhnische Antwort, 
bis er zum Schluß einfach erflärte, Tas Manuffript auf 
der Straße verloren zu haben. Als Julija Michailowna 
von dieſer Unvorfühtigfeit ihres Gatten Kenntnis er: 
hielt, ärgerte fie ſich entjchlich. 

„рай du ihm vielleicht auch etwas von der Kirche ge: 
fagt?" fragte fie faſt mit Schreden. 

Don Lembke begann ernftlich nachzudenken; паб: 
denfen aber war für ihn [фас und ihm von den Arz— 
ten ftrengftens verboten worden. Und abgejchen davon, 
daß eg plößlich viele Scherereien im Öouvernement für 
ihn gab, wovon рег die Rede fein wird, даб es Мег 
auch noch einen bejonderen Umftand — demzufolge diese 
mal fogar das Herz des Gatten litt, nicht nur die Eigen 
liebe eines Machthabers allein. Als von Lembke in die 
Ehe trat, hätte er fich niemals träumen lafien, daß fie 
ihm auch irgend. welche Unannchmlichkeiten bereiten 
koͤnnte. Er hatte fih die Ehe in feinen Gedanken an 
Minna oder Erneftine ftets durchaus friedlich vorgeftellt. 
Und jetzt fühlte er, daß häusliche Gewitter über jeine 
Kräfte gingen. 


477 


Endlich ſprach fih Julija Michailowna offen mit ihm 
aus. 

„Deleidigen kann dich das überhaupt nicht,“ fagte fie, 
„Ihon deswegen nicht, weil du doch immerhir, dreimal 
vernünftiger bift, als er, und geſellſchaftlich turmhoch 
über ihm ſtehſt. In мест Jungen ftedt noch viel von 
dem früheren freigeiftigen Unfinn; ich aber finde ihn nur 
einfach unartig. Nur апп man nicht verlangen, daß diefe 
jungen Leute {146 fo jchnell verändern follen: man muß 
fie langjam erziehen. Wir müffen die Jugend fchoren; 
ich mwenigftens halte fie mit Liebe und Freundſchaft am 
Nande des Abgrundes zurüd.” 

„ber, zum Zeufel, ich fann mich doch nicht tolerant 
zu ibm verkalten, wenn er — rief von Lembfe erregt, 
„wenn er in Gegenwart fremder Menfchen behauptet, 
die Negierung vergifte das Volk abfichtlid, mit Brannt- 
mein, um es zu verdbummen und auf diefe Weije von 
etwaigen Aufitandegedanfen abzubringen. Denf 904 
nur, bitte, an meine Rolle, wenn ich in Gegenwart der 
ganzen Sefellichaft jo etwas mit anhören muß!" 

Als Lembke das fagte, mußte er wieder ап ein Ge— 
Ipräch denken, dag er vor nicht langer Zeit mit Pistr 
Stepanowitſch gehabt hatte... In der unfjchuldigen 916: 
ficht, den jungen Mann durch Kiberalismus zu entwaff: 
псп, zeigte er ihm eines Tages feine Sammlung von 
allen möglichen revolutionären Proflamationen und 
Slugblättern, ſowohl rufjiihen mie ausländifchen, die 
er ſeit 1859 forgfältig aufbewahrte, doch nicht etwa wie 
ein Liebhaber folcher Dinge, fondern einfach aus Neu— 
gier und weil fie ihm einmal vielleicht zuftatten fommen 
fonnten. Pjotr Stepanowitſch, der fofort feine Abficht- 


478 





durchfchaute, fagte ganz ungeniert, daß in einer einzigen 
Zeile {014 einer Brandjchrift mehr Sinn firde, als in 
irgend einer Kanzlei, „die Yhrige übrigens nicht aus— 
genommen.” 

Don Lembke {аб ihn groß an. 

„ber es Ш doch noch zu fruͤh, viel zu früh”, fagte er 
faft bittend, indem er auf die Blätter wies. 

„Лет, keineswegs zu früh: Sie fürchten fich Doch, 
alfo ift es durchaus nicht zu früh.” 

„Uber ich bitte Sie, hier ift zum Beifpiel eine Auf: 
forderung, die Kirchen zu zerftörem!” 

„a, warum foli mın das denn nicht? @е find 504 
ein fluger Menſch, glauben ja ſelbſt an nichts und wiljen 
doch nur zu gut, daß die Negierung die Religion bloß 
braucht, ит das Bolf dumm zu erhalten ... Wahrheit 
aber ift ehrlicher als Lüge.” 

„Einverftanden, einverjtanden, ich bin mit Ihnen volls 
kommen einverftanden, aber hier bei ung in Rußland И 
её doch noch zu früh!" Von Lembke runzelte unwillig 
die Stirn. 

„Was find Sie denn eigentlich für ein Negierungss 
beamter, wenn Sie felbft damit einverftanden find, daß 
man die Kirchen zerftören und mit Keulen bewaffnet auf 
Petersburg losmarjchieren joll, und nur an der ing Auge 
gefaßten Zeit etwas auszuſetzen haben?” 

So unhöflich feftgelegt, fühlte von Lembke ſich Außerft 
pifiert 

„sc meinte das nicht fo, durchaus nicht ſo!“ Er Пей fich 
von feiner gereizten Eigenlicbe immer weiter fortreißen. 
„Sie, als junger Menfch, der Cie mit unferen Zielen gar 
nicht befannt fein koͤnnen, Sie täufıhen [14 vollfonimen ! 


479 


Sehen Sie, mein lieber Pjotr Stepanowitich, Sie nennen 
uns Beamte der Regierung? Schön. Selbſtaͤndige Be: 
amte? Schön. ber, erlauben Sie mal, wie handeln 
mir denn? Auf uns ruht die Berantwortung, und Summa 
Summarum dienen wir genau jo der allgemeinen Sache, 
wie auch Sie. Nur halten wir das zulammen, mas Sie 
auseinanderjchütteln mwollen und was ohne uns паф 
verfchiedenen Seiten auseinandergleiten würde, Wir 
ind dabei nicht etwa eure Feinde; durchaus nicht, wir 
lagen euch fogar: gebt voran, bereitet vor, ja fchüttelt 
meinet;vegen ... — das heißt, ich meine jeßt nur jenes 
Alte, das ſowieſo umgeändert werden muß. Wir aber 
werden euch dann, wenn’s nötig wird, |фоп in den 
nötigen Grenzen zurüdzuhalten verfiehen und euch jo: 
mit vor euch jelber behüten, denn ohne uns würdet ihr 
оф nur ganz Rußland ins Wanfen und Schwanfen 
bringen und ihm das anftändige Ausjchen nehmen, das 
e8 fo doch wenigftens hat. Denn das ift ja gerade unjere 
Aufgabe, diejes anftändige Außere, wie gejagt, zu er: 
halten. Begreifen Sie doch, daß mir ung gegenfeitig 
unentbehrlich jind, ganz mie in England die Tory und 
Whig. Nun, fehen Eie, wir find die Zory und Sie die 
Whig — fo verftehe ich es wenigſtens.“ 

Don Зет Бе verfiel jogar in Pathos. Er liebte es, 
Нид und liberal zu reden, поф von Petersburg her, und 
hier hörte zudem fein Vorgejekter zu. Piotr Stepano— 
witjch ſchwieg und wer. plößlich von einem jeltjamen, 
ganz ungewohnten бтий. Das reizte den Redner noch 
mehr 

„Wiſſen Sie auch, daß ich der ‚Herr des Gouverne- 
mente‘ bin?" fuhr er daher fort, während er im Kabinett 


480 








auf: und abging. „Willen Sie auch, daß 14) vor lauter 
Pflichten Feine einzige zu erfüllen vermag, und anderer= 
feits апп ich jagen, und es Ш ebenfo wahr, daß ich hier 
überhaupt nichts zu tun Бабе. Das ganze Geheimnis 
befteht darin, рай Мег alles von der Auffaſſung der Же» 
gierung abhängt. Mag die Regierung doch, wenn fie 
will, die Republik verkünden, nun da... ich meine nur 
jo, meinetwegen aus Politik oder zur Beruhigung der 
Leidenſchaften — ... aber dann foll fie andererfeits, 
parallel dem, die Macht der Gouverneure verftärten: 
und Sie werden jehen, wir Gouverneure verichlingen 
die Republif! Was fage ich, Nepublif! — Ulles, was 
Sie wollen, werden wir verichlingen! Sch wenigftens 
fühle, daß ich imftande бт... Mit einem Wort: mag 
die Regierung mir telegraphijch activite devorante Бег 
fehlen, und 14 werde fofort mit der activit& devorante 
beginnen. Sch babe es ihnen hier gleich ins Geſicht де 
jagt: ‚Meine Herren, zum Gedeihen aller Snftitutionen 
jowie des ganzen Gouvernements Ш vor allem eines 
nötig: die Verftärfung der Gouverneursmadht.‘ Sehen 
Sie, es Ш unbedingt nötig, daß alle diefe Inſtitutionen 
— mögen её nun die der Landichaft oder der Juſtiz 
fein — gemwiffermaßen ein Doppelleben leben, das heißt, 
es iſt nötig, daß fie da find (ich gebe zu, daß fie unent— 
behrlich find), aber andererfeits ИЕ es nötig, daß fie auch 
nicht da find. Immer nach der Auffaſſung der ег 
gierung geurteilt! So ftellt es fich denn heraus, daß die 
Snftitutionen, wenn fie fich plößlich als notwendig ет 
weiſen, dann da fein muͤſſen. Vergeht aber мае Not: 
wendigfeit, dann muͤſſen fie wie überhaupt nicht vor= 
banden fein. Sehen Sie, jo verjtehe ich die activite 


81 Doftoiemweti, Die Dämonen. 38. 1. 481 


devorante. Über die wird es nicht ohne Verftärkung der 
Gouverneursmacht geben. Wir fprechen ja bier unter 
vier Augen. Willen Sie auch, daf ich fchon nach Peters: 
burg gefchrieben habe, daß es unbedingt nötig ift, eine 
Schildwache vor das Gouvernementsgebäude zu ftellen? 
Seßt warte ich auf die Antwort.* 

„Ste. brauchen zwei Schildwachen“, fagte Piotr 
Stepanowitſch. 

„Barum zwei?" von Lembke blieb vor ihm ſtehen. 

„Na jo, damit man Sie reipeftiere, ift eine zu wenig. 
Sie brauchen unbedingt zwei.” 

Andrei Antonowitſch verzog das Gelicht. 

„Sie... Sie erlauben 14, weiß Gott, ſchon etwas 
zu viel, Piotr Stepanowitſch. Sie mißbrauchen meine 
Güte, um mir Anzüglichkeiten zu jagen, und jpielen Бабе! 
immer noch fo irgend einen bourzu bienfaisant ...“ 

„Ra, das jchon, wie Sie wollen,” meinte Pjotr Stepa= 
nowitſch, „aber Sie bahnen uns troßdem den Weg und 
bereiten unferen Erfolg vor.” 

„Wen meinen Sie mit diefen ‚ung‘ und was ift das 
für ein ‚Erfolg‘? von Lembfe blieb erftaunt wieder 
vor ihm ftehen, Doch eine Antwort erhielt er diesmal 
nicht. 

_ Als Julija Michailomna den Bericht Üider dieſes Ge: 
ipräch vernommen hatte, war fie abermals Außerft uns 
aehalten. 

„ber ich fann doch nicht deinen Favorit wie einen 
Untergebenen traitieren!” verteidigte fih von Lembfe. 
„Und noch dazu, wenn wir unter vier Augen find ... 
$$ fonnte mich verjprechen ... aus gutem Herzen ...“ 

„Aus leider etwas fchon zu gutem! — Sch mußte 





außerdem nicht, Daß du eine Sammlung von Flugichriften 
бай. Habe doc) die Güte, fie mir zu zeigen.” 

„Aber ... er... er hat Пе mitgenommen, auf einen 
Tag ... er bat mich.” 

„Und wieder haft du ihm fo etwas ausgeliefert 
ärgerte jich Julija Michailowna. „Welch eine neue Uns 
vorſichtigkeit!“ 

Ich werde ſofort zu ihm ſchicken, ſie zuruͤckerbitten —“ 

„Du glaubſt wohl, daß er fie dir geben wird?" 

Ich verlange e8!" rief von Lembke empört und [prang 
ſogar auf. „Wer ift er, daß man ihn fo fuͤrchten muß, und 
roer bin ich, daß ich nichts mehr tun darf?“ 

„беве dich bitte, und rege dich lieber nicht jo auf,” 
hielt ihn Julia Michailowna zurüd. „Зипафй will ich 
auf den eriten Zeil deiner Frage antworten: wer diefer 
Piotr Stepanowitich Ш? Nun, er Ш mir vorzüglich 
empfohlen, ift ſehr begabt und fagt zumeilen Außerft 
fluge Sachen. Karmalinoff verlicherte mir, daß er Гай 
überall Verbindungen hat und die archftädtiiche Jugend 
vollftändig unter feinem Einfluß fteht. Wenn es mir 
nun gelingt, dieſe Jugend durch ihn heranzuziehen und 
um mic) zu gruppieren, jo bemahre ich fie vor dem 
Untergang, indem ich ihrem Ehrgeiz einen neuen Weg 
weife. Zudem Ш Piotr Stepanowitſch mir von ganzem 
Herzen ergeben und gehordt mir in allen Dinaen.” 

„Aber, hör mal, während man fie da noch Heranlodt, 
fünnen fie а... der Teufel weiß mas machen! Ich ver: 
jtehe ja, das Ш eine Sdee ...“ verteidigte 14 von Lembke 
etwas unficher. „Übrigens, um von etwas anderem zu 
iprehen: im H—ſchen Kreife jind wieder neue 59: 
ichriften verbreitet worden.” 


a1° 483 


„Das wird wohl wieder nur jo ein Gerücht fein — wie 
im vorigen Sommer: Proflamationen, falſche Aflignaten, 
und was noch alles, dabei ЦЕ bis jeßt поф nicht ein ein- 
ziges Eremplar gejehen worden. Wer hat dir denn das 
gejagt?” 

„Dlümer teilte mir mit ...“ 

„ch, um’s Himmels willen, verjchone mich doch bitte 
endlich mit deinem ewigen Blümer! Daß du auch wirk— 
lich nie aufhören kannſt, mich an den zu erinnern! ...“ 

Julija Michailowna war jo aufgebracht, daß jie fait 
keine Worte fand. Blümer war ein Beamter der 
Souvernementsfanzlei, den fie ganz bejonders haßte. 
Aber auch davon jpäter. 

„Beunruhige Dich, wie gejagt, bitte weiter nicht über 
Werchowenski,“ ſchloß fie endlich das Geſpraͤch. „Wenn 
er an irgend welchen Dummheiten teilnähme, jo — deſſen 
fannjt du ет jein! — würde er mit dir und mir und 
uns allen ganz anders {ртефеп. Nein, ein Phrajeur И 
nie gefährlich, und im übrigen ſage ich Dir, wenn irgend 
etwas pajlieren jollte, jo werde ich womöglich noch die 
erite jein, die её durch ihn erfährt. Er ИЕ mir fanatijch, 
geradezu fanatijch ergeben.” 

Sch möchte Мег den Ereigniſſen vorgreifen und Бе: 
merfen, daß, wenn Зиа Michailomna nicht Dielen Ehr- 
geiz und Eigendünfel gehabt hätte, vielleicht all das nicht 
geichehen wäre, паз dieſe üblen Leutchen bei uns ап: 
zuftiften vermochten. Tür vieles ift jie verantwortlid,! 


484 





Zehntes Kapitel 
Vor dem Felt 
I . 

er Зав des Feltes, das Julija Michailowna zum 

Beten der armen Lehrerinnen ип{ете8 Gouverne— 
ments veranftalten wollte, wurde mehrmals angejagt und 
dann doch immer wieder hinausgefchoben. Piotr Stepano= 
witſch und jener Fleine jüdifche Beamte Lämjchin, der 
eine Zeitlang auch Stepan Trophimomitichs Abende Бе: 
jucht hatte, nun aber beim Gouverneur wegen feines 
Klavierjpiels in Gnaden zugelaffen wurde, jaßen Гай 
täglich Stunden lang bei Julija Michailowna; desgleichen 
Liputin, den fie zum Redakteur der zufünftigen un: 
abhängigen Gouvernementszeitung erwählt hatte. Außer: 
dem waren поф ein paar ältere und jüngere Damen, die 
jich lebhaft für das бей interejlierten, und nicht felten 
jogar Karmalinoff anweſend. Freilich tat der leßtere in 
diefen Sitzungen wenig mehr, als mit zufriedenem La: 
cheln im voraus verjichern, daß er das Фи ии mit 
jeiner Quadrille de la litterature geradezu in Entzuͤcken 
verjeßen werde. Die ganze „Geſellſchaft“ unjerer Stadt 
hatte beträchtliche Summen geopfert, Doch war es nicht 
йе allein, die an dem Felt teilnehmen jollte: das fonnte 
vielmehr ein jeder, wenn er nur zahlte. Julija Michais 
lomna meinte, daß man in gemijjen Fällen die Зет 


485 


mengung der Klaſſen jehr wohl zulajjen dürfe, Denn das 
trüge „zur Aufklärung‘ bei. Und fo beichloß man denn, 
daß das Зет ein demokratiſches werden follte. Die чет: 
hältnismäßig große Einnahme aus der Subffription ver: 
lodte natürlic; fofort zu größeren Ausgaben: man wollte 
ießt etwas geradezu Wunderbareg bieten, und das war 
denn auch der Grund, warum das Felt immer wieder 
hinausgefchoben werden mußte. Vor allem fonnte man 
lich nicht” enticheiten, wo der Ball ftattfinden ое: in 
dem großen Haufe des Adelsmarjchalls, dag die Adels- 
marjchallin für diejen Зав zur Verfügung geitellt БаНе, 
oder bei Заттата Vetromna in Skworeſchniki. Bis 
nach Skworeſchniki wäre es für Fußgänger vielleicht 
etwas weit gemwejen, aber viele Mitglieder des Komitees 
meinten, daß es dort jedenfalls weit „freier” jein würde. 
Warwara Petromna jelhit hätte viel darum gegeben, wenn 
man jich für ihren Saal entichieden hätte, Doch iſt es gewiß 
ſchwer zu jagen, warum eigentlih? Warum dieje ftolze 
Frau jich bei Zulija Michailowna geradezu einſchmeicheln 
wollte? Vielleicht gefiel es ihr, daß umgekehrt dieſe 
ihren Sohn fo unendlich hochſchaͤtzte und von einer 
Liebenswürdigfeit zu ihm war, wie jonft zu feinem? 
Уф will Мег nochmals erwähnen, daß Piotr Stepano- 
mitich in Diejer ganzen Zeit unentwegt fortfuhr, das Ge- 
rücht, das er ſchon früher in der Stadt verbreitet hatte, 
ießt auch im Haufe des Gouverneurs von Ohr zu ОБЕ zu 
tragen: daß nämlich Stamrogin in geheimnisvollften Зе: 
ziehungen zu den geheimnisvoilften Mächten ftehe, und 
daß er, wie man auf das beitimmtefte wiſſe, mit einem 
geoßen und jchwermwiegenden Auftrage hergelommen jei. 

Es Hatte damals eine merkwuͤrdige Stimmung die 


485 





Geiſter ergriffen. Und bejonders unter unferen Damen 
machte fich ein gewiſſer Leichtfinn bemerkbar, von dem 
man dabei nicht einmal behaupten fonnte, daß er ich 
nur allmählich entwickelt hätte, Wie von Winde hers 
geweht Hatten fich plötzlich freie Auffaffungen verbreitet. 
$8 begann ganz allgemein ein leichteres Leben, voll von 
Erzentrizitäten und Freiheiten. Später, als alles wieder 
vorüber war, beſchuldigte man ganz öffentlich nur Julija 
Michailowna und den Einfluß, den Не auf die Jugend 
der Stadt ausgeübt hatte. Doch Ш es nicht richtig, daß 
lie allein an allem die Schuld trug. Im Gegenteil, Ме: 
jenigen БаНеп auch nicht fo ganz unrecht, welche an— 
fänglic) die neue Gouverneurin geradezu lobten, und 
zwar vor allem deshalb, weil fie es verjtünde, die Gefell- 
{фай zulammenzuhbalten und das Leben in ihr im guten 
Sinne angenehmer zu machen. Mit den paar Heinen 
Standalen, die inzwifchen paflierten, hatte Julija Mi: 
chailowna auch nicht das geringfte zu tun. Im übrigen 
aber nahm man auch diefe Skandale nicht allzu ernit, 
fondern lachte über fie, fand Пе ſehr amüfant, und 
leider war niemand da, der ſich in den Weg geltellt und 
gelagt hätte, daß man den Dingen nicht immer fo meiter 
ihren Lauf laſſen durfte. Nur eine Heine, oder vielleicht 
auch nicht einmal fo Eleine Gruppe, die die Verhältnijie 
denn doch etwas anders anfeh, hielt ПФ abjeits, aber 
felbH in ihr war mar: im ftillen mehr geneigt, zu lächeln 
als zu murren. 

Es bildete fich, wie ich mid) erinnere, ganz von felbit 
ein ziemlich großer Kreis, deſſen Mittelpunkt tatſaͤchlich 
in Julija Michailomnas Salon lag. Diefe jugendliche Ges 
jellichaft hatte es ſich befonders zur. Aufgabe geftellt, 


481 


Streiche zu machen. Außer den jungen Leuten gehörten 
auch mehrere junge Mädchen und jelbit junge Frauen zu 
ihr. Man veranftaltete Picknicks, Tanzgejellichaften, 309 
in ganzen Kavalfaden, zu Wagen und zu Pferde, durch 
die Stadt, wobei Piotr Stepanomwitich und Liputin auf 
gemieteten Kofafenpferden immer luſtig mittrabten. 
Man juchte Abenteuer oder führte jie womöglich abficht- 
lich herbei, einzig um der Lachluſt und Vergnügungsfucht 
zu genügen. Die übrigen Einwohner der Stadt Бе: 
kandelte man als ausgemachte Dummlöpfe. Die Streiche 
waren тей ziemlich unfchuldiger Natur. Doch einmal, 
ale man durch Laͤmſchin frühmorgens darüber unter: 
richtet worden тат, daß ein junger ФаНе jeine junge 
Frau in der Hochzeitsnacht irgendwie rüdfichtslos Бе: 
handelt hatte, jeßten fich ihrer zehn Mann fofort in den 
Sattel, um das junge Paar bei den am пафйеп Tage 
üblichen Viſiten abzufangen. Kaum hatten fie die Neu— 
vermählten erblidt, als denn auch ſchon die ganze Kaval- 
fade den Wagen mit Hallo umringte und dann das arme 
Paar den ganzen Vormittag von Haus zu Haus Ведет 
tete. Sie beleidigten zwar weiter niemanden, jondern 
gaben nur lachend ein „Ehrengeleit”, doch war её immer= 
bin fchon ein richtiger Skandal, den fie dadurch in der 
Stadt erregten. Diesmal ärgerte Jich von Lembfe denn 
auch ernitlich und hatte mit Zulija Michailomna wieder 
einmal eine lebhafte Auseinanderjegung. Auch Julija 
Michailowna mar fehr ungehalten über Ме „Sungen“ 
und gedachte jchon, fie irgendwie зи beftrafen, und 50% 
verzieh fie ihnen am anderen Tage wieder einmal, da 
ihr Piotr Stepanomitich dazu riet und Karmajinoff den 
Scherz jogar geiftreich fand. 


488 





„Das ift Doch weiter nicht ſchlimm,“ fagte er. „Wenig: 
ſtens Ш es ein ritterlicher und ... mutiger Streich, Sie 
ſehen doch, daß im Grunde alle darüber lachen, nur Sie 
find ungehalten.“ 

Зоф alsbald jollten auch wirklich unverzeihliche 
Streiche folgen, die einen fchon ganz anderen Ton hatten. 

Sn unferer Stadt erjchien eine Buchtrödlerin, die 
billige Bibeln verkaufte. Es war eine achtbare und nicht 
einmal ungebildete Frau, wenn auch nur eine einfache 
Kleinbürgerin. Wieder war es derſelbe Kämichin, der 
ihr, unter dem Vorwande, eines ihrer Bücher faufen zu 
wollen, ein Paket unanjtändiger ausländischer Photo: 
graphien in den Sad ftedte. Als nun die arme Frau auf 
dem Markt ihre Bücher aus dem Sad hervorholte, fielen 
plößlich die Photographien heraus. Es erhob fich zu: 
erft ein Gelächter, die Gruppe vor ihrem Stand ver- 
größerte fich, man wurde unmillig und fchließlich begann 
man zu jchimpfen. Unfehlbar wäre es zu einer Фа: 
gerei gefommen, wenn nicht die Polizei ме bedrohliche 
Verſammlung auseinander gebracht und die arme Frau 
auf der Wache eingefperrt hätte. Mittlerweile aber hatte 
Mawrikij Nicolajewitfch Drosdoff De näheren Einzel: 
heiten diefer haͤßlichen Gejchichte erfahren und in feiner 
Empörung fofort die nötigen Schritte getan, um die Uns 
ichuldige zu befreien, was ihm endlich gegen Abend auch 
gelang. Da wollte denn Julija Michailowna den Heinen 
За фт entichieden nicht mehr empfangen, doch ſchon 
am felben Abend geſchah es, daß ме ganze Schar im 
Triumph mit Lämjchin in der Mitte bei ihr erfchien und 
berichtete, daß er ein ganz entzüdendes Stüdchen kom⸗ 
poniert habe, das fie mwenigftens noch anhören muͤſſe. 


489 


Die Kompofition erwies jich in der Zat als ungewöhns 
ih. Sie Мей: „Der deutſch-franzoͤſiſche Krieg“, und 
begann mit den ftolzen Tönen der Marfeillaife: 


Оп’ап sang impur abreuve nos sillons! 


Man hörte ordentlich die ganze Aufgeblajenheit des 
Nufes, hörte Schon den Raufch der zukünftigen Siege! 
Doch plöglicy, gleichzeitig mit der meifterhaft variierten 
Hymne, begann irgendwo unten, feitlich, gleichjam in 
einer Ede, aber eigentlich doch recht nah, ein dünnes, 
ſchwaches, hohes Stimmchen „Mein lieber Yuguftin” zu 
lingen. Die Marfeiliaije bemerkt e8 zunächft gar nicht, 
ме ИЕ beraufcht von ihrer Größe, aber der Auguſtin wird 
ftärfer, der Auguftin wird immer frecher und |фоп fingt 
der Auguſtin ganz unverhofft zufammen mit der Mar- 
eillaife. Seht bemerkt die Marfeillaife endlich den Heinen 
Auguftin, ärgert jich aber zunaͤchſt nur über ihn, will ihn 
abfehütteln, verjagen — aber mein lieber Yuguftin hält 
ей. Mein lieber Auguftin ift Heiter und ſelbſtbewußt, 
ИЕ frok und wird iätlich, ме Marjeillaile dagegen wird 
allmählich immer Dümmer: jeßt verbirgt fie es nicht mehr, 
daß lie fich ärgert, daß fie fich beleidigt fühlt. Das Ш 
ſchon das Geſchrei des heftigften Unmillens, das find 
Tränen und Schwüre mit zur Vorſehung erhobenen 
Händen: 


Pas un pouce de notre terrain, pas une pierre 


de nos forteresses! 


Doc ſchon ift fie gezwungen, im gleichen За mit 
Auguſtin zu идей... Ihre Melodie geht irgendwie auf 
die duͤmmſte und lächerlichfte Weile in die des lieben 


490 





Auguſtin über, Не beugt fich, fie zergeht „.. Nur zus 
weilen noch tönt es wieder: qu’un sang impur .. 
doch fofort wird es von Auguftin verſchlungen und geht 
über in einen banelen Walzer: das Ш Jules Favre, der 
an Bismards Bruft ſchluchzt und alles, alles hingibt ... 
Aber fchon wird Auguftin wild: man hört heifere Schreie, 
fühlt maßlos getrunfenes Bier, Tollwut der Selbſt— 
überhebung, Forderung von Milliarden, feinen Zigarren, 
Champagner und Garantien ... Auguſtin wird zum 
rajenden Gebruͤll . . So endet der deutſch-franzoͤſiſche 
Krieg. Alles applaudiert, ЗиШа Michailowna aber jagt 
laͤchelnd: „Wie foll mar ibm denn nicht verzeihen?” — 
und der Friede ift geichloffen. Laͤmſchin hatte entjchieden 
ein gewiljes muſikaliſches Talent. Stepan Trophimo— 
witſch verficherte mir einmal, daß die größten Genies 
ſehr wohl die größten Schurken тет fönnten, und daß 
das eine Das andere durchaus nicht aufhebe. Später 
Мей es allerdings, daß Laͤmſchin diejes Stüd von einen 
beicheidenen jungen Menjchen, der ihn auf der Durch— 
fahrt befucht Ване, gewiflermaßen geftohlen Бабе. Übri: 
gens karikierte Laͤmſchin, derjelbe Laͤmſchin, der ſich 
mehrere Jahre lang bei Stepan Trophimowitſch ein— 
zuſchmeicheln verſucht hatte, jetzt zuweilen bei Julija 
Michailowna auch Stepan Trophimowitſch — und zwar 
als „Freidenker der vierziger Jahre“. Alle kruͤmmten 
ſich vor Lachen. So wurde Laͤmſchin immer unentbehr— 
licher. Zudem hing er ſich jHaviid an Pjotr Stepano— 
пи, der feinerjeits um diefe Zeit fchon einen bis zur 
Unglaublichkeit großen Einfluß auf Julija Michailowna 
ausübte, 

Die Erwähnung Laͤmſchins bringt mich auf eine andere 


491 


und ſchon wahrhaft empörende Фе] фе, ап der er, wie 
man verficherte, wieder feinen Anteil hatte. 

Eines Morgens verbreitete 14 in der Stadt die Nach: 
richt von einer ganz gemeinen, abjcheulichen Tat. Neben 
dem Portal der alten Muttergottesfirche, der älteften in 
unferer alten Stadt, hing in einer Nifche, hinter Glas 
und einem Schußgitter, |фоп jeit undenklicher Zeit ein 
großes Heiligenbild der Maria. Nun hatte man, wie es 
hieß, das Glas zerichlagen und ein paar Edelſteine aus 
der Krone der Gottesmutter geftohlen. Die Hauptjache 
aber war, daß man hinter das oben zertrümmerte Glas 
eine lebendige Maus geftedt hatte. Die Empörung über 
diefe ſkandaloͤſe Religionsverjpottung war groß: das 
fromme Volk drängte fi den ganzen Tag jeit dem 
frühen Morgen zum Heiligenbilde und betete davor. 
Heute nun, паф vier Monaten, weiß man, daß Fedjfa 
diefen Diebftahl begangen hat, dody jchon damals Мей 
es, рав Laͤmſchin dabei geweſen jei. Und heute jagt man, 
daß nur er die Maus hineingejeßt haben koͤnne. 

Auf Herrn von Lembfe machte diefer unjelige Vor: 
fall einen furchtbaren Eindrud. Julija Michailowna ſoll 
geäußert haben, wie man mir erzählte, daß jchon nach 
diejer Aufregung jene jonderbare Schwermut ihres 
Mannes begonnen habe, die dann durch fpätere Ereig- 
niſſe verhängnisvoll wurde, und die ihn auch jeßt поф 
in der Schweiz, wohin man ihn vor zwei Monaten 
brachte, nicht verlafjen hat. 

An jenem Tage nun ging ich ungefähr um ein Uhr 
an jener Kirche vorüber. Das Volk ftand ftumm vor 
dem Portal und betete. Da Кит gerade ein reicher Kauf- 
mann in einer Equipage angefahren, um das Bild zu 


492 





füffen und feine Spende auf den Zeller zu legen, dei ein 
Mönch, der bei dem Heiligenbilde Wache hielt, für die 
Spenden neben {14 auf einen Stuhl geftellt hatte. Gleich 
darauf fuhr ein leichter Wagen mit zwei jungen Damen 
in Begleitung zweier Herren vor. Die beiden jungen 
Herren fliegen aus und drängten fich durch das Зо bis 
vor das Heiligenbild. Beide nahmen die Hüte nicht ab 
und der eine drüdte fich jogar noch einen Klemmer auf 
ме Naſe. Das Volk begann |фоп zu murren. Der Held 
mit dem Klemmer 304 jein elegantes faffianledernes Por: 
temonnaie hervor, Das mit Scheinen geradezu voll: 
gepfropft war, und entnahm ihm nad) langem Suchen 
eine einzige Kopele, die er dann nachläflig auf den Zeller 
warf. Darauf wandten |4 beide lachend und laut 
Iprechend wieder zum Wagen zurüd. Wenige Augen 
blide vorher waren aber gerade Liſaweta Nicolajemna 
und Mawrikij Nicolajewitſch berangeritten. Liſa fprang 
gewandt vom Pferde, warf die Zügel ihrem Vetter zu 
und trat gerade in dem Augenblid zum Heiligenbild, als 
der eine Ме Kopefe auf den Teller warf. Sie errötete 
vor Unwillen, nahm jofort ihren runden Hut ab, ftreifte 
die Handſchuhe von den Händen, fniete vor dem Bilde 
auf dem ſchmutzigen Trottoir nieder, und verneigte fich 
dreimal bis zur Erde. Darauf neftelte jie ihr Geldbeutel- 
chen hervor, doch als fie in ihm nur Silbergeld fand, 
nahm fie jofort ihre Brillantohrringe ab und legte мае 
auf den Fupfernen Zeller. 

„Das ift Doch erlaubt? Eodelfteine? Zum Schmud 
für das Bild?" fragte fie erregt den Mönch. 

„Jede Spende Ш eine gute Tat“, antwortete 
diefer. 


493 


Das Boll jchwieg, ohne Mißfallen oder Beifall zu 
äußern. Liſaweta Nicolojerona beitieg in ihrem vom 
Knien Бефти еп Kleide wieder ihr Pferd und ии 
Davon. 


п 


Zwei Tage nach diejem aufregenden Ereignis begegnete 
ich Liſa wieder auf der Straße. Eine ganze Gejellichaft 
hatte fich zu Wagen und zu Pferde aufgemacht, um 
irgend wohin zu fahren. Liſa, die darunter war, gab 
jofort den Befehl, zu halten, und verlangte eigenfinnig, 
ров 14 пиНате. Зп ihrem Wagen fand ſich denn auch 
noch ein Plaß, auf den ich faft mit Gewalt gefeßt wurde. 
Sie ftelite mich lachend den jungen, meift fehr eleganten 
Damen vor und erklärte mir jofort, daß es ein ganz Ве: 
jonverer Ausflug werden follte. Lifa war ausgelaffen 
luftig, und überhaupt fchien fie, wenn man nach dem 
Außeren fchloß, in dieſer Zeit geradezu übermäßig glüd: 
lich zu fein. Das Ziel ded Ausflugs war in der Tat ст 
„beſonderes“: man wollte nämlich über den Fluß zum 
Kaufmann Semoftjenoff fahren, der in einem Flügel 
jeines Haufes jchon feit zehn Jahren unferen gejegneten, 
allgemein, ſogar in Petersburg, belannten Propheten 
Semjon Jakowlewitſch beherbergte. Diefen Semjon 
Jakowlewitſch befuchte alle Welt: man riß ſich fait um 
ein gnädiges Wort von ihm, verneigte | und legte 
reiche Geldjpenden nieder, die er dann, wenn er fie nicht 
gleich unter die armen Befucher verteilte, gottesfürdhtig 
an Klöfter und Kirchen gab. Go ftand denn аиф ftets 
ein Mönch bei ihm, der die Gaben entgegennahm. Von 
der junger Gejellihaft Hatte noch niemand Semjon 


494 





Jakowlewitſch gejehen und man verſprach fich ungemein 
viel von diefem Beſuch. Nur Яатат war früher ein: 
mal bei ihm gemwejen und verficherte, daß der Prophet 
ihn mit einem Beſen hinausgejagt und ihm noch ge: 
kochte Kartoffeln nachgeworfen habe. Unter den Reitern 
befenden ſich aud) Piotr Stepanowitſch, der fich wie де: 
wöhnlich jehr ſchlecht auf feinem gemieteten Kofalen: 
pferde hielt, und — Nicolai Stawrogin. Der leßtere 
nahm nur ganz ausnahmsweife einmal an einer dieler 
allgemeinen Bergnägungen teil: an dem Tage ſah er 
ziemlich heiter aus, Doch ſprach er, wie immer, nur wenig. 
Alswir kurz vor der Bruͤcke an einem Heinen Gafthaufe vor: 
überfuhren, machte plößlich jemand die Bemerkung, daf 
ein Фай ſich dafelöft erfchoffen habe und die Polizei er: 
wartet werde, Sofort wurde bejchloffen, auszufteigen und 
lich den Zoten anzulehen. Vor allem waren unfere Damen 
gleich dabei, denn einen Selbjtmörder — den ſah man doch 
nicht alie Tage. 54 erinnere mich noch, daß eine von 
ihnen bemerfie: „Ach, e8 ift einem ja alles ſchon lang: 
weilig geworden! Warum 14 da поф weiter zieren! 
Das wäre doch einmal etwas anderes.” Nur wenige 
blieden im Wagen und warteten: die anderen Dagegen 
drängten fich in einem dichten Haufen durch den Ein: 
gang in den fchmalen, unſauberen Korridor — und unter 
diefen bemerkte ich zu meinem Erftaunen auch Liſaweta 
Nicolajewna. Das Zimmer, in dem die Leiche lag, war 
nicht verſchloſſen. Natürlich wagte man es nicht, uns 
etwa nicht hineinzulaffen. Der Selbfimörder war Гай 
noch ein Sinabe, jedenfalls beftimmt nicht Alter als neun: 
zehn Sahre: ein huͤbſcher Menfch, mit dichten, welligem, 
blondem Haar und einem ſchmalen, feinen Фей. Er 


496 


war fchon eritarrt und jeine weiße Haut jah wie Marmor 
aus. Auf dem Tiſch lag ein Blatt Papier, auf das er 
geichrieben hatte, daß niemand an jeinem Tode ſchuld 
jei und er fich erjchofjen habe, weil er vierhundert Rubel 
„durchgebracht“ (dieſes Wort ſtand buchitäblich auf dem 
Blatt). In den vier Zeilen waren drei orthographijche 
Fehler. An feiner Leiche jaß ein alter, dicker Gutsbelißer, 
der den Toten zu fennen jchien und wahrjcheinlich gleich- 
falls in diefem Gaſthauſe abgeftiegen war. Aus feinen 
wortreichen Klagen ging hervor, daß der Juͤngling von 
jeiner verwitweten Mutter, von Tanten und Schweſtern 
in die Stadt zu einer Verwandten geſchickt worden war, 
um verfchiedene Einkäufe für die Ausfteuer jeiner aͤlteſten 
Schwefter, die bald heiraten follte, zu machen. Man | 
hatte ihm dazu vierhundert Rubel, die jahrzehntelang зи: 
jammengefpart worden waren, eingehändigt, und ihn 
dann mit Gebeten und Segensiprüchen und unter end- 
lojen Predigten abgejchidt. Der Junge war bis dahin 
тебе beicheiden und ein guter, hoffnungsvoller Sohn де: 
wejen. In der Stadt aber hatte er ſich nicht zu der Ver: 
wandten, jondern in das Gafthaus begeben und von hier 
direft in eine Kneipe, wo er jpielen wollte. Als er kurz 
vor Mitternacht ins Gaſthaus zurüdgefehrt war, hatte er 
Champagner, Havannazigarren und ein Abendejjen von 
jechs oder jieben Gängen verlangt. Uber der Cham: 
pagner war ihm gar bald zu Kopf geitiegen und von den 
Zigarren war ihm übel geworden, jo daß er das Ejjen 
nicht einmal angerührt, jondern ſich faft frank und dabei 
halb betrunfen ins Bett gelegt hatte. Am anderen Tage, 
nachdem er ſich ausgejchlafen, war er jofort in das ЗЕ 
geunerlager hinter der Vorſtadt gegangen und ganze 


496 





zwei Tage dort geblieben. Am dritien Tage war er um 
fünf Uhr betrunfen zurüdgefehrt, hatte fich fofort hin: 
gelegt und bis zehn Uhr abends gefchlafen. Dann hatte 
er ein Beeffteaf, eine Slafche Champagner, Weintrauben, 
Papier, Tinte und die Nechnung verlangt. Niemand 
hatte etwas Beſonderes an ihm bemerkt: er war ruhig, 
МП und freundlich gewejen. MWahrjcheinlich hatte er fich 
um Mitternacht erjchoffen, doch niemand hatte den Schuß 
gehört. Erft heute um eins, als es in feinem Zimmer 
jelbft nach langem Klopfen totenſtill geblieben war, hatte 
man die Tür aufgebrochen. Die Flaſche war nur halb 
leer und von den Weintrauben hatte er nicht viel gegellen. 
Mit einem Heinen Revolver, der ihm {рат aus der Hand 
gefallen war, hatte er fich ins Herz gejchoffen: der Tod 
mußte fofort eingetreten fein — es war nur fehr wenig 
Blut aus der Wunde gefloffen. Er faß halb liegend auf 
dem Sofa, als ob er nur eingefchlafen wäre, und der 
Ausdrud feines Gefichts war ruhig, ja faft glüdlich. Alle 
ſahen ihn mit gieriger Neugier an. Wohl in jedem Uns 
ЧИ eines Menfchen liegt etwas, das die anderen auf: 
muntert. Die Damen betrachteten den Zoten ſchweigend. 
Die Herren dagegen zeichneten 14 durch ©eiftesgegen: 
wart und Scharflinn in ihren Bemerfungen aus. Laͤm— 
jchin aber, der es wohl für feine Ehrenpflicht hielt, auch 
jet den Narren zu ſpielen, zupfte plößlich von der Wein: 
traube eine Beere ab, dann noch eine und noch eine, und 
ftredte fchon die Hand nach der Flaſche aus, um mit 
ihr irgendeinen „ЖИВ“ zu machen, als der Polizeimeifter 
eintrat und uns bat, das Zimmer zu verlallen. Da 
jich alle fchon fattgejehen hatten, gingen wir denn auch 
fofort wieder hinaus. Den Лей des Weges legten wir 


: 
ge Doitoiewäti, Die Dämonen. 35.1. 497 


unter womöglich noch ausgelafjenerer Heiterkeit und noch 
Yuftigeren Scherzen zurüd. 

Um ein Uhr langten wir bei Semjon Jakowlewitſch an. 
Das Hoftor des großen Kaufmannshaufes war weit 
offen, desgleichen die Zür des Flügels, in dem Semjon 
Safomwlewitjch wohnte. Man fagte ung, daß er gerade 
zu Mittag jpeifte, doch trogdem empfinge. Unfere ganze 
Schar trat ins Haus. Das Zimmer, in dem er 4 Ве: 
fand, war groß, mit drei mächtigen Fenftern, und durch 
ein etwa meterhohes Holzgitter in zwei Zeile geteilt. 
Gewöhnlich blieben die Leute, die ihn bejuchten, in der 
eriten Hälfte, und nur einzelne Glüdsfinder, die er jelbft 
bezeichnete, wurden durch die Неше Tür des Holzgitters 
zu ihm geführt, wo er ihnen dann, wenn’s ihm gefiel, 
{сте alten Lederftühle oder das Sofa zuwies; er jelbit 
blieb ftets unverändert in feinem alten Großvaterftuhl 
jigen. Semjon Jakowlewitſch war ein ziemlich großer, 
etwas aufgedunfener Mann von ungefähr fünfund:- 
fünfzig Sahren, blond und fahlföpfig, mit einem gelben, 
glattrajierten Geſicht, dünnem, weichem Naar und ge: 
Ichwollener rechter Bade, die feinen Mund ein wenig 
ichief 309; neben dem linken Najenflügel war eine große 
Warze; die Augen lagen wie in jchmalen Spalten und 
der Gefichtsausdrud war ruhig, folide, faft verjchlafen. 
Er trug einen ſchwarzen Gehrod, wie ein deutſcher Schul: 
fehrer, doch weder Kragen noch Halstuch, fondern nur 
ein dies, doch fauberes ruffiiches Hemd unter dem Rod. 
Seine offenbar franfen Füße ftafen in mächtigen Haus: 
ſchuhen. Es hieß, er fei früher Beamter geweſen und 
бабе fogar einen anfehnlichen Titel gehabt. Als wir 
eintraten, hatte er gerade eine Fiſchſuppe gegeljen und 


498 








machte fich nun an fein zweites Gericht: Kartoffeln in 
der Schale mit Salz. Anderes pflegte er ſchon ſeit langer 
Zeit nicht mehr zu eſſen; er tranf nur viel Tee, den er 
jehr liebte. Зри bedienten drei Dienftboten, die der 
Kaufmann für ihn hielt: der eine von ihnen ſah wie ein 
Kontordiener aus, der andere wie ein Kirchendiener 
und der dritte war im Frad. Außer diefen Dienftboten 
war noch ein munterer Knabe zugegen, jowie ein alter, 
grauer, dider Mönch, mit einer Sammelbüchle in der 
Hand. Auf einem der Зе Fochte ein riefengroßer 
Samowar, neben dem auf einem Teebrett ungefähr 
zwei Dußend Glaͤſer ſtanden. Auf dem anderen Tiſche 
lagen die Gaben: mehrere Zuderhüte und auch Fleinere 
Zuderpafete, zwei Pfund Tee, ein Paar Hausichube, ein 
ſeidenes Halstuch, ein Stud Zuch und mehrere Lein— 
wandrollen. Die Geldſpenden famen Та alle in Die 
Sammelbüchfe des Mönches. Ungefähr zehn fremde 
Menjchen ftanden in der vorderen Hälfte des Zimmers 
und zwei, ein frommer reis und ein Heiner, furchtbar 
magerer Mönch, der mwürdevoll und mit niedergejchla: 
genen Augen vor fich hinfah, faßen hinter dem Holzgitter: 
е8 waren lauter einfache Leute, außer einem diden Kauf: 
mann in ruſſiſcher Tracht, der aus der Kreisftadt her: 
gefommen war, und den alle als Millionär fannten, — 
jowie einer alten Dame und einem Gutsbefißer. Alle 
erwarteten fie ihr Heil und wagten nicht ein Wort zu 
jprechen, vier lagen auf den Knien und von ihnen 309 
wieder ganz bejonders der dide Gutsbelißer die Auf: 
merkſamkeit auf fich, der an der fichtbarften Stelle, ganz 
паб am Holzgitter Iniete und ehrfürchtig |фоп eine 
Stunde lang auf einen Blid oder ein gütiges Wort 


32* 499 


Semjon Jakowlewitſchs wartete, — diefer jedoch fchenfte 
ihm auch nicht die geringfte Beachtung. 

Unfere Damen drängten fich faft bis zum Gitter vor 
und tufchelten vergnügt untereinander. Die Knienden 
und die anderen Wartenden wurden von ihnen zurüd- 
gedrängt, nur der dide Gutsbefiger blieb ſtandhaft auf 
feinem Platz. Neugierige, heitere Blide richteten ſich 
auf Semjon Jakowlewitſch, gleichwie Lorgnons, Klem: 
mer, Eingläfer — und Laͤmſchin $04 fogar ein Fernrohr 
aus der Taſche. Semjon Jakowlewitſch überblidte ruhig 
und träge die ganze luftige Schar. 

„Ach, ihr Liebäugelnden, ihr Liebäugelnden!" geruhte 
er mit etwas heiferem Baß leicht auszurufen. 

Die ganze Schar lachte auf. „Was heißt das: ‚Ach, 
ihr Liebäugelnden‘?" 

Doh Semjon Jakowlewitſch ſchwieg und aß feine 
Kartoffeln. Endlich wifchte er fic; mit der Serviette den 
Mund und ließ fich Tee reichen. 

Den Tee pflegte er gewöhnlich nicht allein zu trinken, 
vielmehr befahl er, auch feinen Beſuchern und Gäften 
Зее zu reichen, doch nicht etwa jedem, fondern nur 
denen, die er dann felbft dem Diener zeigte — als die: 
jenigen, welche er beſonders beglüden wollte. Феше 
Mahl erftaunte meiftens alle Anwefenden, denn er über: 
ging gewöhnlich die Neichen und Würdevollen und Бе: 
fahl irgend einem armen und unfcheinbaren Greife den 
Tee zu bringen; ein anderes Mal aber überging er wie: 
der die Armen und beglüdte irgendeinen diden, ſchwer 
reichen Kaufmann. Auch eingießen ließ er den Tee ganz 
verfchieden, einige befamen ihn mit, einige ohne Zuder. 
Diesmal befahl er, dem mageren Mönch eine Taſſe mit 


500 





Zuder zu reichen und den Greife eine ohne Zuder, der 
dide Mönch aber mit der Sammelbüchje erhielt diesmal 
feinen Zee, wie fonft faft täglich. 

„Semjon Jakowlewitſch, jagen Sie mir doch bitte auch 
etwas. Sch habe |фоп fo lange Ihre Belanntfchaft zu 
machen gewuͤnſcht“, ſagte kokett lächelnd jene jelbe junge 
Dame aus ип|етет Wagen, die vorher geäußert hatte, 
daß einem jchon alles langweilig geworden jei. 

Semjon Jakowlewitſch ſah fie nicht einmal an, Der 
fniende Gutsbeſitzer jeufzte tief auf. 

„Mit Zucker!“ wies plößlih Semjon Jakowlewitſch 
auf den Millionär. 

Der trat vor und ftellte fich neben den Inienden Gute: 
beſitzer. 

„Gib ihm noch mehr Zucker!“ befahl Semjon Jakowle— 
witſch, als der Tee eingegoſſen war. Der Diener tat 
noch eine Portion Zucker in das Glas. „Mehr, gib ihm 
mehr!“ — eine dritte und ſchließlich eine vierte Portion 
wurden dazu getan. 

Widerſpruchslos begann der Kaufmann ſeinen Syrup 
zu trinken. 

„Allmaͤchtiger Gott!“ fluͤſterte das Volk und be— 
kreuzte ſich. 

Der Gutsbeſitzer ſeufzte wieder laut und tief. 

„Vaͤterchen! Semjon Jakowlewitſch!“ ertoͤnte ploͤtz— 
lich die Stimme der alten Dame, die unſere Schar an 
die Wand zuruͤckgedraͤngt hatte, doch die Stimme klang 
ſo laut und ſcharf, wie man es gar nicht erwartet haͤtte. 
„Eine ganze Stunde, Vaͤterchen, warte ich ſchon auf 
deinen Segen. Sprich doch dein Urteil, erloͤſe mich 
Waiſe, Vaͤterchen!“ 


501 


„Frage!“ {ад Semjon Jakowlewitſch zu dem Kirchen: 
Diener. 

Der trat an das Gitter: 

„Haben Sie das erfüllt, mas Semjon Jakowlewitſch 
Ihnen das vorige Mal anbefohlen hat?" fragte er die 
Witwe mıt leijer, gemefjener Stimme. 

„Bas, Väterchen, was erfüllt! Was fann man denn 
da erfüllen!” rief ме Witwe. „Diefe Menfchenfrejjer! 
Haben mich verklagt, drohen mit dem Senat ... und 
das der leiblihen Mutter! ...“ 

„Gib ihr! ...“ befahl Semjon Jakowlewitſch und 
wies auf einen Zuderhut. Der Knabe lief jchnell zum 
Tiſch, nahm den Zuderhut und brachte ihn der Witwe. 

„Ach, VBäterchen, groß И deine Gnade! Aber wohin 
joll ich damit?“ Flagte die Witwe wieder. 

„och, noch!" Бе]фепНе Semjon Jakowlewitſch fie 
weiter. 

Ein zweiter Zuderhut wurde zu ihr gejchleppt und 
auf feinen Befehl noch ein dritter und vierter. Die 
Witwe war fchon ganz mit Zuderhüten umftellt. Der 
уфе Mönch {еше niedergeichlagen; das alles hätte in 
das Klofter fommen fönnen, wie e8 früher ſchon oft ges 
ſchehen war. 

„ber wohin foll ich mit jo viel?” jammerte jeßt ſchon 
die Witwe. „All das für mich allein — mir wird ja von 
то viel Zuder übel werden! ... Oder joll dag irgend mas 
bedeuten, Väterchen ?" 

„Sichft du denn das nicht?” jagte jemand von den 
Bauern. 

„Noch, gib ihre noch ein Pfund!" Semjon Jakowle⸗ 
witjch hörte nicht auf, fie zu bejchenfen. 


502 





Auf dem Tifch ftand noch ein ganzer Zuderhutz da 
er aber befohlen hatte, ihr nur noch ein Pfund zu geben, 
jo brachte man ihr auch nur noch ein Pfund Зифет. 

„Herrgott, Allmaͤchtiger!“ сибе das Зо und be: 
freuzte ſich. „Sichtbares Zeichen! Ersfer Gott!" 

„DBerfüßen Sie zuerft Убе Herz mit Güte und Barm— 
herzigfeit und dann fommen Sie wieder, um über Ihre 
eigenen Kinder zu Hagen, über Ihr eigenes Fleifch und 
Bein — das foll, glaube ich, wohl all diefer Zuder Бе: 
deuten”, jagte leije, doch felbitzufrieden der dide Mönch, 
der diesmal feinen Tee befemmen hatte, und der es nun 
aus gereizter Eigenliebe auf |1 nahm, die Handlungs: 
weije zu deuten. 

„Bas fällt dir ein?” ärgerte fich die Witwe. „Haben 
fie mich doch mit Gewalt ins Feuer ziehen wollen, als 
es bei Worchifchins brannte? Sie haben mir auch eine 
tote Яаве in meinen Kaften gelegt, jind überhaupt zu 
jeder Gcmeinheit bereit...” 

„sage пе hinaus, hinaus!” rief plößlich Semjon За: 
kowlewitſch, mit den Armen fuchtelnd. 

Der Kirchendiener und der Knabe famen fofort in 
den vorderen Teil des Zimmers, der erjtere nahm die 
Frau bei der Hand und führte fie hinaus, während jie 
jich in einem fort nach ihren Zuderhüten, die der Sinabe 
nachichleppte, umſah. 

„Nimm einen wieder zurüd!” befahl Semjon Sa: 
kowlewitſch dem bei ihm gebliebenen Kontordiener, der 
ihnen denn auch jofort nacheilte. Nach Furzer Zeit kamen 
alle drei mit dem einen Zuderhut wieder zurüd; jo hatte 
die Witwe fchließlich nur drei bekommen. 

„Semjon Jakowlewitſch,“ ertönte plöglich eine Stimme 


503 


an der Tür, „ich habe im Traum einen Vogel gejehen, 
einen Häher, er ftieg aus dent Wajjer auf und flog ins 
Teuer. Was bedeutet das, Vaͤterchen?“ 

„Этой!“ jagte Semjon Jakowlewitſch. 

„Semjon Safowlewitich, warum antworten Sie mit 
denn gar nicht? Sch intereſſiere mich doch jchon fo lange 
für Sie!" begann wieder unjere junge Dame, 

„Frage!“ Semjon Jakowlewitſch wies auf den fnien- 
den Gutsbeſitzer, ohne fie zu beachten. 

Der dide Mönch, dem der Befehl gegeben wurde, trat 
würdevoll zum Knienden und fragte: 

„Worin haben Sie gejündigt? War Ihnen nicht be- 
fohlen worden, etwas zu erfüllen?” 

„Nicht zu Schlagen, den Händen feine Freiheit zugeben !" 
jagte der Gutsbejiger mit heijerer Stimme, 

„Haben Sie das erfüllt?” 

„Kann nicht! Die eigene Kraft überwältigt mich!’ 

„Jag' ihn! Mit dem Beſen, mit dem Beſen!“ ме 
Senjon Jakowlewitſch und fuchtelte wieder mit den 
Armen. | 

Der Gutsbejißer ſprang auf und Tief, ohne auf den 
Dejen zu warten, aus dem Zimmer. 

„Hat ein Goldftüd Hier gelajjen”, meldete der Mönd). 

„Sib’s dem!" Semjon Jakowlewitſch wies auf den 
Millionär. 

Der reiche Kaufmann wagte nicht zu widerjprechen 
und nahm das Geld. 

„Das Gold zum Golde“, konnte der Moͤnch nicht 
unterlajjen, zu bemerfen. 

„Und dieſem mit Zucker!“ Semjon Jakowlewitſch wies 
plößlich auf Mawrikij Nicolajewitſch. 


204 





Der Diener goß den Tee ein und trat mit dem Glafe 
aus Verjehen zu dem Sant mit dem Klemmer. 

„Dem Langen, dem Langen!” rief Semjon Jakowle— 
witich. 

Mawrikij Nicolajewitich nahm das Glas und mazhte 
eine Визе militärische Verbeugung, Ich weiß nicht 
warum — aber die ganze Schar wieherte plößlich vor 
Rachen über diefe Verbeugung. 

„Mawrifij Nicolajewitſch!“ wandte jich Liſa haftig an 
ihn, „knien Sie bitte auf demjelben Plaß nieder, auf dem 
diejer Herr ftand! — der da fortlief!" 

Mawrikij Nicolajewitich {аб fie verftändnislos an. 

„sch bitte Sie, Sie werden mir ein großes Ver: 
gnügen bereiten! Hören Sie, Mawrikij Nicolajewitſch,“ 
jagte ſie eigenfinnig und erregt, „Enien Sie unbedingt 
nieder, 14) will unbedingt jehen, wie Sie fnien! Wenn 
Sie das nicht tun — fommen Sie nie mehr unter meine 
Augen! Sch will das, ich will das, — unbedingt! ...“ 

Darum fie das wollte? 34 weiß es nicht. Jeden: 
falls verlangte fie es in unerbittlichem Zone, in einem 
Anfall von Laune und Eigenfinn. Mawrikij Nicolaje: 
witjch ſelber erklärte ме Fapriziöfen Yusbrüche, die fie 
in der leßten Zeit ganz bejonders oft hatte, wie wir 
jpäter jehen werden, mit dem Auflodern eines blinden, 
untergründigen Haſſes auf Ши... dabei nicht etwa aus 
Bosheit, — im Gegenteil, Ме achtete, jchäßte und liebte 
ihn, und das wuhte er, — jondern aus irgendeinem Ве: 
jonderen, unbewußten Haß, den fie manchmal einfach 
nicht in ſich niederzuzwingen vermochte. 

Mawrikij Nicolajewitich gab jchweigend fein Teeglas 
einem alten, hinter ihm ftehenden Bauern, ging dann 


505 


auf das Türchen des meterhohen Holzgitters zu, öffnete 
es, trat ohne Semjon Jakowlewitſchs Erlaubnis in deffen 
Zimmerhälfte und fniete, allen fichtbar, mitten im freien 
Хаит nieder. ch glaube, er war von dem Spott Liſas, 
noch dazu in Gegenwart fo vieler Menſchen, im Sinner: 
ften jeiner einfachen ehrlichen „Seele verleßt. Wielleicht 
glaubte er auch, daß fie fich fchämen werde, wenn fie 
feine Erniedrigung fah, die fie jelbft fo gemünfcht hatte. 
Außer ihm hätte ſich wohl fonft Feiner entichloffen, ein 
Weib auf jo naive und gewagte Weife zu trafen. Mit 
unerjchütterlich стийст Geſicht fniete er aljo, groß und 
fteif und — lächerlich. Doch niemand lachte; die Über: 
rafchung machte einen fchredlichen Eindrud. Alle ſahen 
Ца an. 

„Beihe, Weihe ... murmelte Semion Safomle- 
witſch. 

Liſa erbleichte ploͤtzlich, ſchrie auf und ſtuͤrzte zu ihm. 
Es war eine kurze leidenſchaftliche Szene: mit aller 
Kraft wollte fie Mawrikij Nicolajewitſch wieder empor: 
reißen, und 309 ihn mit beiden Händen wie wahnfinnig 
am Arm. 

„Stehen Sie auf, ftehen Sie auf!” rief fie, wie völlig 
von Sinnen. „Stehen Sie fofort auf, fofort! Wie 
падет Sie es, niederzufnien!!" 

Mawrikij Nicolajemwitich erhob ſich. Sie umklammerte 
jeine Arme über den Ellenbogen und {аб ihm mit brennen= 
dem ЭН ins Geficht. Этой lag in ihren Augen. 

„Liebäugelnde, Liebaͤugelnde!“ jagte Semjon as 
fomlemwitich wieder. 

Endlich hatte Lıla Mawrikij Nicolajewitich in die vor= 
dere Zinimerhälfte herübergezogen. Unjere ganze Schar 


506 





war unruhig geworden. Da wandte fich die junge 
Dame aus unferem Wagen zum drittenmal, wahrfchein: 
lich um von dem Vorfall abzulenfen, mit gezwungenem 
Lächeln an Semjon Safowlewitich: 

„Aber, Semjon Jakowlewitſch, werden Sie mir denn 
heute gar nichts fagen? Und ich habe doch fo auf Sie ge: 
rechnet !" 

URBAN, BR au СИЛЕ: dir!” fuhr er fie plöß- 
(ih wild an, mit einem ganz unmöglichen Wort, das er 
noch dazu erjchredend deutlich ausjpradh. Die Damen 
Ichrien vor Schred alle auf und liefen entjeßt aus dem 
Zimmer. Die Herren aber brachen in ein homerijches 
Gelächter aus. Damit war denn unſer Befuch bei Semjon 
Jakowlewitſch beendet. 

Nur etwas Rätjelhaftes gejchah noch — etwas, mes: 
halb ich dieſe ganze Fahrt überhaupt jo ausführlich er= 
zählt habe. 

Es war in dem Yugenblid, als alle in hellem Haufen 
zur Tür drängten. Da traf Ца, die von Mawrifij Ni: 
colajewitjch geftüßt wurde, in dem Gedränge an der Zür 
plößlich mit Nicolai Wſzewolodowitſch zufammen. Ich 
muß hinzufügen, daß die beiden, wenn fie fich auch feit 
jenem Sonntag mehr als einmal in der Geſellſchaft Бе: 
gegnet waren, doch noch fein Wort miteinander geſpro— 
chen hatten. 3% fah nun, wie beide, als fie an der Tür 
zufammentrafen, einen Augenblid ftehen blieben und 
fich fonderbar anfahen — doch fonnte ich in dem Ge: 
dränge nichts weiter wahrnehmen. Undere dagegen ver: 
jiherten mir, daß Liſa plößlich die Hand gegen ihn er: 
hoben und Stamrcgin unfehlbar gefchlagen haben würde, 
wenn es ihm nicht gelungen wäre, noch rechtzeitig aus= 


507 


zuweichen. Vielleicht hatte ihr der Ausdrud feines Ge: 
jichts nicht gefallen? oder ein Lächeln nad) diefer Szene 
mit Mawrifij Nicolajewitfch? Sch muß geitehen, daß 
ich davon nichts weiß, Doch alle verjicherten, eg ſei in der 
Lat etwas derartiges Der Tall geweſen ... wenn aud) 
„alle e8 unmöglich hatten fehen fünnen — hoͤchſtens 
einige. Sedenfalld weiß ich nichts Näheres noch Be: 
flimmtes. ch erinnere mich nur, daß Stawrogin auf 
dem Heimmege auffallend bleich ausjah, was er vorher 
nicht in dem Maße geweſen war. 


III 

бай zu derfelben Zeit, als wir bei Semjon Jakowle— 
witſch waren, fand endlich auch das Wiederjehen War: 
мата Petrownas mit Ötepan Trophimowitich in Stwo: 
reſchniki ſtatt. 

Warwara Petrowna war in großer Aufregung auf 
ihrem Gute eingetroffen: am Abend vorher hatte man 
endgültig bejchlojjen, Daß das бей im Haufe des Adels— 
marjchalls ftattfinden follte. Da entfchloß fie fich fofort, 
nach diejem бей ein zweites bei fich in Skworeſchniki zu 
arrangieren und gleichfalld die ganze Stadt zu ver: 
ſammeln — was ihr doch fchließlich niemand verwehren 
fonnte. Dann follten alle felbft urteilen, welches Haus 
Schöner wäre und ıvo man mis beſſerem Gefchmad einen 
Ball zu geben verftünde, Warwara Petrowna war in 
diefer Zeit nicht wiederzuerfennen. Sie jchien ſich voll- 
fommen verändert zu haben: aus der früheren иппаб2 | 
baren „höheren Dame” (ein Ausdrud Stepan Trophi— 
mowitſchs) war eine weltliche, leichtfinnige Frau ge⸗ 
worden. Oder wenigſtens Ichien eg ſo. 


08 


С 





Kaum war fie an diefem Tage in Sfworefchnifi eine 
getroffen, als fie alle Räume prüfend zu durchfchreiten 
begann, und zwar in Begleitung des treuen alten Alexei 
Jegorowitſch und des gewandten Fomuſchka, der in De— 
forationsfragen geradezu eine Yutorität war, Und nun 
begannen die Beratungen: welche Möbel man aus dem 
Stadthaufe herüberholen follte; welche Bilder, Kunft: 
werfe; то fie aufhängen, wie fie ftellen; wie man am 
beften die Orangerie und die Blumen benußen, wo man | 
das Büffet herrichten follte, und ob nicht vielleicht zwei 
befjer wären? Und mitten in diefen fchweren Beratungen 
fiel es ikr dann plößlich ein, die Equipage nach Ötepan 
Trophimowitſch zu fchiden. 

Diefer war fchon laͤngſt auf das Wiederſehen vor: 
bereitet und hatte täglich gerade fo eine plößliche Auf: 
forderung erwartet. Als er fich in ме Equipage fekte, 
befreuzte er ficht jet mußte fein Schickſal ſich ent: 
fcheiden! Er fand feinen „Freund“ im großen Saal, 
in der Nifche, auf einem Heinen Sofa, mit Bleiftift und 
Papier in der Hand, während Fémuſchka damit be: 
Ichäftigt war, mit dem Zentimetermaß die Höhe und 
Breite der Fenfter auszumeſſen, worauf fie die Zahlen 
notierte. Ohne fich in diefer Arbeit ftören zu laſſen, 
nidte fie Stepan Trophimowitſch zu, und ale der ihr 
einen Gruß fagte, reichte fie ihm nur flüchtig die Hand 
und wies fchweigend auf den Platz neben dem Sofa, 

„sch faß und wartete ungefähr fünf Minuten und — 
druͤckte mein Herze nieder‘, erzählte er mir ſpaͤter. „Das 
war nicht mehr die Frau, die ich zwanzig Jahre lang де: 
fannt hatte. Doch die Überzeugung, daß jegt alles zu 
Ende fei, gab mir eine Kraft, die felbft fie in Erftaunen 


509 


ſetzte. Ich ſchwoͤre Ihnen, fie wunderte fich im: ftillen 
über meine Haltung in diejer letzten Stunde.“ 

Заттата Petromna legte plöglich den Bleiftift auf 
das Marmortifchchen, das neben ihrem Sofa ftand, und 
wandte ſich ihm zu. 

„Stepan Trophimowitſch, wir muͤſſen jeßt fachlich 
Iprechen. 34 bin überzeugt, daß Sie wieder Ihre üb: 
lichen hochtrabenden Worte und Wörtchen vorbereitet 
haben, aber es ift wohl Бест, wenn wir gleich zur Sache 
fommen. Nicht wahr?” 

In ihm frampfte fich etwas zufammen. Sie beeilte 
lih jchon zu fehr, den neuen Ton anzugeben. Was 
mochte noch weiter fommen? 

„arten Sie, fchweigen Sie,” fuhr fie fchnell fort. 
„Laſſen Sie mich zuerft |ртефеп. Nachher fünnen Sie 
reden. Obgleich ich eigentlich nicht weiß, was Sie mir 
noch zu fagen hätten. Ihnen Ihre Penfion auszuzahlen, 
halte ich für meine heilige Pflicht. ZTaujendzweihundert 
Nubel jährlich bis zu Shrem Lebensende. Uber wozu 
nenne ich das ‚heilige Pflicht‘! Sagen wir einfach: 
unfere Abmachung, das ift viel realer, nicht wahr? Wenn 
Sie wollen, fünnen wir е8 auch jchriftlich auflegen. Falls 
ich fterben follte, — für den Fall ift ſchon alles vor: 
gejehen. Außerdem haben Sie von mir noch die Woh: 
nung, Bedienung und alles übrige. Überjegen wir dag — 
in Geld — {о macht das etwa taufendfünfhundert Rubel 
aus, nicht wahr? Sch füge jeßt noch dreihundert Rubel - 
für Nebenausgaben hinzu — fo find das volle dreitaufend 
Rubel. Werden Sie damit ausfommen? Sch denke, 
wenig Ш es nicht? Зи Ausnahmefällen werde ich übri- 
gens — nun, Sie willen ja. Nehmen Sie das Gelb, 


510 





ſchicken Sie mir meine Dienftboten zurüd, und leben Sie, 
wo Sie wollen, in Petersburg, in Moskau, im Yuslande, 
oder meinetwegen auch hier — aber nur nicht mehr bei 
mir, Hören Sie?" 

„Bor nicht langer Zeit wurde ebenfo fategorifch und 
ebenfo eilig von denjelben Lippen eine andere Forde: 
rung an mich geſtellt,“ jagte Stepan Trophimowitſch 
langjam, deutlich, in traurigem Ton. „Sch fügte mich... 
ich tanzte fo, wie Sie wollten. Ош, la comparaison peut 
etre permise. C’etait comme un petit cozak du Don, 
qui sautait sur sa propre tombe. ев...” 

„Einen Augenblick, Stepan Trophimowitſch. Sie find 
furchtbar wortreich. Sie haben nicht getanzt. Aber 
Sie erjchienen mit einer neuen Halsbinde, in hellen Hand: 
ſchuhen, pomadiliert und parfümiert. Sch kann Sie ver: 
lihern, Sie wollten felbft jchredlich gern heiraten. Das 
Капо auf Ihrem Geſicht gejchrieben. Glauben Sie mir, 
diefer Ausdrud war recht gejchmadios. Wenn ich es 
Ihnen damals nicht gleich gejagt Бабе, fo geichah es, 
um Sie nicht zu verlegen. Doc, Sie wollten, Sie wollten 
heiraten. Trotz der Gemeinheiten, die Sie über mich 
und Ihre Braut gejchrieben hatten. Sekt aber ift es 
etwas ganz anderes, Und wozu diejer Cozak du Don 
über Ihrem Grabe? DVerftehe nicht, was das für ein 
Dergleich fein foll. Sm Gegenteil: fterben Sie nicht, 
fondern leben Sie! Leben Sie, foviel wie möglich; ich 
werde mich jehr freuen, wenn Sie gut leben. 

„Sm Armenhaus?“ 

„Im Armenhaus? Mit dreitaufend jährlich geht man 
nicht ing Urmenhaus. Ach fo ... ich erinnere mich!" 
— jie lachte kurz auf — „Piotr Stepanowitich ſagte ет: 


511 


mal im Scherz irgend etwas von einem ‚Armenhaue‘. 
Nun ja, jenes Armenhaus, von dem da die Rede war, 
das Ш wirklich ein bejonderes ‚Armenhaus‘, über das 
nachzudenken fich wirklich lohnte. Wie Sie jelbft wiljen, 
leben dort die ehrenwerteften alten Herren. Meiſtens 
Dffiziere а. D., jekt will fogar ein alter General fein 
Leben dort beichließen. Wenn Sie mit Ihrem Gelde 
dort eintreten wollen, fo fönnen Sie Ruhe, Zufrieden: 
Бей und Zuhörer finden. Sie werden ſich mit der Wiſſen— 
{фай bejchäftigen, und jederzeit eine Partie Preference 
Ipielen fünnen ...“ 

„Passons.‘“ 

„Passons?“ Warwara Petromwna richtete fich fteifer 
auf. „Sn dem Falle ift alles gefagt. Sie find benach— 
richtigt. Von nun ab leben wir jeder für fich und ſehen 
ung nicht mehr.” 

„Und das И alles?. Alles, was von den zwanzig 
Sahren geblieben Ш? Ihr letzter Abſchied?“ 

„Sie lieben wirklich die Phrafen in einem Maße, daß 
es ſchon nicht mehr fchön И, Stepan Trophimomitich. 
Heutzutage И derlei nicht mehr modern. Man [риф 
jebt derb, aber verftändlich. Und ewig kommen Gie 
mir mit diefen zwanzig Jahren! Zwanzig Sahre beider: 
feitiger Eigenliebe und weiter nichts. Зерег Ihrer Briefe 
ift nicht an mich gefchrieben, fondern für die Nachwelt 
berechnet. За, Sie find Stilift, aber fein Freund. Freund: 
{фай ift doch nur ein berühmtes Wort, in Wirklichkeit 
aber iſt Пе bloß ein — gegenfeitiger Erguß von Spülicht,“ 

„Фен, wie viel fremde Worte! Lauter gut behaltene 
Lektionen! Auch Ihnen haben fie {фоп ihre Uniform 
übergemworfen! Auch Sie find jetzt fröhlich, auch Sie an 


512 





der Sonne! Chöre, chere, für welch ein Linſengericht 
haben Sie ihnen Ihre Selbjtändigfeit verfauft !" 

„sch bin fein Papagei, der fremde Worte wiederholt, 
verjeßte Marwara Petrowna Бе. „Seien Sie ver: 
fihert, daß in mir jich eigene Worte zur Genüge ап 
gefammelt haben, Was aber haben @е für mich in 
diefen zwanzig Jahren getan? Nicht einmal die Bücher 
haben Sie mir gegeben, die ich für Sie beftellte, und die 
heute noch unaufgefchnitten wären, wenn Ihre Freunde 
fie nicht gelefen hätten. Was gaben Sie mir zu leſen, als 
ich Sie in den erften Jahren immer wieder bat, mich 
doch zu belehren, zu leiten? Nur Romane und immer 
wieder Nomane. Sie waren fogar auf meine Entwid: 
fung eiferjüchtig. Und waͤhrenddeſſen lachte doch [фоп 
alle Welt über Sie. Sch geftehe, ich Habe Sie immer nur 
für einen Kritifer gehalten und für mweiter nichts. Als 
ich Ihnen während der Fahrt nach Petersburg meine 
Abficht mitteilte, eine Zeitfchrift zu gründen und ihr 
mein ganzes Leben zu widmen, da ſahen Sie plößlich 
ironifh auf mich herab und wurden furchtbar Боф: 
muͤtig.“ 

„Das war 506) nicht ſo ... nicht das ... wir fuͤrchteten 
damals, verfolgt зи...” 

„Doch, das war genau das. Und Verfolgung fonnten 
Sie in Petersburg überhaupt nicht fürchten. Sie er: 
innern fi wohl noch, wie Sie damals im Februar er- 
Ihroden zu mir gelaufen famen? Wie Sie verlangten, 
ich ſolle es Ihnen fofort fchriftlich geben, in Geftalt eines 
Briefes, aus dem hervorginge, daß Sie mit dem Бе 
abjichtigten Blatte nichts zu tun hätten? Daß Sie 
lediglich der Hauslehrer feien, der bloß in meinem Haufe 


83 Dofotemsti, Die Dämonen. Bb.I. 513 


mohnt, weil ihm jein Gehalt noch nicht ausgezahlt more 
den ift? War es nicht jo? Sollten Sie es wirklich чет: 
geffen haben? 3% jehe, Sie haben es nicht vergefjen. 
За, Sie haben 14 Ihr Lebelang tatjächlich ungewoͤhn⸗ 
lich ausgezeichnet!” 

„Das war nur ein Augenblid des Kleinmuts damals, 
unter vier Augen ...“ rief er jchmerzlich aus. „Aber 
foll denn wirklich, wirklich, wegen diejer Heinlichen Ein: 
drüde, nun alles zerrijjen fein? Sit es möglich, daß von 
dieſen langen Забтеп nichts mehr zwijchen uns Фет: 
blieben iſt?“ 

„Sie verftehen jich aufs Rechnen, das weiß ich. Sie 
wollen immer alles jo drehen, daß ſchließlich ich Ihnen 
noch jchulde. Als Sie aus dem Auslande zurüdfehrten, 
ſahen Sie auf mich von oben herab und ließen mich nicht 
einmal zu Wort fommen. Und als ich Ihnen nach meiner 
Reife von dem Eindrud, den die Sirtinishe Madonna 
auf mich gemacht hatte, erzählen wollte, da hörten Sie 
nicht einmal jo lange zu, big ich geendet hatte, und lächel- 
ten nur hochmütig, ganz als Fönnte ich nicht ebenſolche 
Gefühle haben wie Sie.” 

„Das wird ficher anders gemejen fein ... ich еп 
finne mich nicht тебе... Га! oublie.“ 

„Nein, dag war ganz genau jo, und dabei war da gar 
fein Grund, vor mir jo wichtig zu tun, denn das war 
ja alles Unfinn und nur Ihre Phantajie. Heutzutage Бе: 
geiftert fich niemand mehr für die Sixtiniſche Madonna. 
Höchftens ein paar alte Profefjoren. Das ift bewieſen.“ 

„uch ſchon bewieſen?“ 

„Dieſe Madonna dient uͤberhaupt zu nichts. Dieſe 
Schale hier iſt nuͤtzlicher, denn man kann in ſie Waſſer 


514 





gießen. Diejer Bleiftift Ш nüßlich, denn mit ihm fann 
man fchreiben. Hier aber ift es bloß ein gemaltes Frauen 
gejicht, das jchlechter ift als alle lebenden Gefichter. Ver: 
juchen Sie einen Apfel zu malen und legen Sie dann 
neben dag Bild einen wirklichen. Welchen werden Sie 
dann nehmen? Bin ficher, daß Sie nicht ſchwanken 
werden. Sehen Sie, darauf laufen jetzt alle unfere 
Theorien hinaus, nachdem Пе erft einmal von der mo: 
dernen freien Forſchung nachgeprüft find.” 

—  fimme!” 

„Ah, Sie lächeln ironisch! Uber was haben Sie mir, 
zum Beilpiel, über das Almojengeben gejagt? Und 
Dabei ift das Gefühl, das man hat, wenn man Gutes 
tut, ein hochmütiges und unjittliches, genau wie die Ge: 
nugtuung des Reichen, wie jein Genuß, wenn er {еше 
Macht und Bedeutung mit der des Bettler vergleicht. 
Almofjengeben verdirbt ſowohl den Gebenden иле den 
Nehmenden und erfüllt außerdem noch nicht einmal 
jeinen Zwed, denn e8 vermehrt nur die Bettler. Jeder 
Faulpelz, der nicht arbeiten will, drängt fich zum Reichen, 
wie der Spieler an den Kartentifch, um etwas zu де: 
winnen. Die Grojchen aber, die man ihnen zumirft, reis 
chen ja nicht einmal für den hundertiten Zeil, Haben Sie 
viele Almojen in Ihrem Leben gegeben? Wielleicht 
achtzig Kopelen, aber beftimmt nicht mehr. Denken Sie 
nur nach. Ötrengen Sie ich ein bißchen an und ver— 
ſuchen Sie, ſich zu erinnern, wann Sie zum leßtenmal 
ein Almojen gegeben haben. Das wird wohl fchon zwei, 
wenn nicht vier Sahre her fein. Sie reden bloß große 
Worte, die Tat aber behindern Sie nur. За, Almoſen— 
geden müßte auch jchon im jeßigen Staate ganz einfach) 


*— 515 


gefeßlich verboten werden. Sm Zufunftsftaat wird es 
überhaupt feine Armen mehr geben.” 

„5, welch eine Sammlung fremder Schlagworte! 
Alfo ift ‹8 |фоп bis zum Zufunftsftaat mit Ihnen дег 
fommen? @е Unglüdliche, möge Gott Shnen helfen!“ 

„за, e8 Ш bis zum Zufunftsftaat gefommen, Stepan 
Trophimowitſch. Sie haben fo forgfältig die neuen 
Ideen vor mir verborgen, aber es hat nichts genüßt. Sie 
haben das einzig und allein aus Eiferfucht getan, um 
Macht über mich zu befigen. Sekt И mir ſogar diefe 
Sulija Michailowna {фоп an hundert Werft voraus. 
Doh ich erkenne jeßt wenigftens. Troßdem habe ih | 
Sie verteidigt, Stepan Trophimowitſch, fo viel ich 
nur fonnte, Sie werden buchftäblih von allen ап: 
geklagt.“ 

Assez!“ er erhob ſich von ſeinem Platz. „Und mas 
ſollte ich Ihnen nun wuͤnſchen? Doch nicht Reue?“ 

„Setzen Sie ſich noch auf einen Augenblick, Stepan 
Trophimowitſch. Sie wiſſen doch ſchon, daß man Sie 
auffordert, auf der literarifchen Matinee irgend etwas 
vorzutragen? Sagen Sie, woruͤber werden Sie leſen?“ 

„Gerade über diefes Ideal, die Sirtinifhe Madonna, 
die Ihrer Meinung паф weder einen Bleiflift noch ein 
Glas Waffer wert Ш." | 

„And nicht aus der Gefhichte?" fragte Warwara 
Petrowna enttäufcht. „Uber dann wirt man Sie ja gar 
nicht hören wollen. Und ewig diefe Madonna! Mas 
haben Sie denn davon, wenn Sie alle damit einfchläfern? 
Ich verlichere Sie, Stepan Tropbimowitſch, ich fage das 
nur in Ihrem Intereſſe. Es wäre 504 eine ganz andere 
Sache, wenn Sie eine furze, aber unterhaltende Ge- 


516 





Ichichte aus Фет mittelalterlihen Hofleben nehnien wuͤr— 
den; jagen wir, aus der ſpaniſchen Gefchichte. Oder eine 
Anekdote, die Sie dann поф mit eigenen Zutaten 
ausichmüden Ffünnten. Im Mittelalter gab es doch fo 
prunfoolle Höfe, mit Damen, wiffen Sie, und Mord: 
gefchichten. Karmaſinoff fagt, daß es fonderbar zugehen 
müßte, wenn man in der ſpaniſchen Geſchichte nicht etwas 
Intereſſantes finden fünnte.” 

„Karmafinoff! Diefer ausgefchriebene Dummkopf 
ſucht für mich ein Thema!!!" 

„Karmafinoff, diefer erhabene Verſtand! Eie огафеп 
ji) heute ſchon wirklich etwas zu unvorfichtig aus, Stepan 
Trophimowitſch.“ 

„Ihr Karmaſinoff iſt ein altes, ausgeſchriebenes, де: 
reiztes Weib! Chère, chère, haben Sie ſich ſchon lange 
ſo von ihnen unterjochen laſſen? O Gott!“ 

„Ich kann ihn auch jetzt nicht leiden. Wegen ſeiner 
Wichtigtuerei. Doch feinem Verſtande muß ich Ges 
rechtigfeit zollen. Ich wiederhole nochmals, daß ich Sie, 
fo viel ich nur konnte, verteidigt Бабе. Uber warum 
wollen Sie fich denn unbedingt als lächerlich und lang— 
meilig binftellen? Im Gegenteil, treten Sie mit einem 
würdigen Lächeln auf das Podium, als der Repräjentant 
des vergangenen Jahrhunderts, und erzählen Sie mit 
Shrem ganzen Wit drei Пете Gefchichten, jo wie nur 
Sie zumeilen zu erzählen verftehen. Mögen Sie meinet: 
wegen ein alter Mann fein, meinetwegen ein Menid) 
aus dem vorigen Sahrhundert, mögen Sie fogar zurüd: 
geblieben fein: vielleicht ſprechen Sie lächelnd jelbit da: 
von — fagen mir in einer Vorbemerkung. Doc, alle 

werden dann fehen, daß Sie ein lieber, guter, geift: 


517 


reicher Зет find. Kurz, ein Menſch vom alten Schrot 
und Korn. Und doch jo weit vorgefchritten, daß er jelber 
über den ganzen Цийии gewiſſer Begriffe, die er big da— 
bin gehabt hat, objektiv und richtig zu urteilen ver- 
fteht. Nun, machen Sie es doch fo, ich bitte Sie!" 

„СЬёге, assez! Bitten Sie mich nicht, ich kann nicht. 
Sch werde über die Madonna reden, und ich will einen 
Sturm erheben, der entweder fie alle vernichten oder 
mich allein zu Boden fchlagen fol!" 

„Beſtimmt nur Sie allein, Stepan Trophimowitſch.“ 

„Gut! Das ift dann mein Xos! 34 werde von jenem 
gemeinen Sklaven reden, von jenem ftinfenden, ver: 
derbten Sklaven, der als erfter mit dem Meſſer auf die 
Reiter fteigt und das göttliche Antlitz des großen Ideals 
zerichneiden will — im Namen der Gleichheit, des ее 
des und ... der Verdauung. Mag mein Fluh ао 
durch die Welt donnern und dann, dann ...“ 

„sn die Srrenanjtalt?” 

„Bielleicht. Aber in jedem Fall, ob ich nun fiege oder 
bejiegt werde: am felben Abend поф werde ich meinen 
Koffer nehmen, meinen armfeligen Koffer, und werde | 
all mein Hab und Gut verlafjen, alle Shre Geſchenke, 
alle Benfionen und Verfprechungen für die Zukunft, und 
werde zu Fuß aus der Stadt gehen, um bei irgend einem 
Kaufmann als Hauslehrer mein Leben zu beenden oder 
hinter einem Zaun Hungers zu fterben. Alea jacta est!“ 

Er ftand auf. 

„sch habe es ja gewußt!" Mit bligenden Augen er= 
bob fih nun аиф Warwara Petromna. „Sch habe es 
ja gewußt, daß Sie doch nur dazu leben, um zum Schluß | 
noch mich und mein Haus zu beichimpfen. Was molien 


518 





Sie mit der Stelle beim Kaufmann oder dem Tod hin: 
term Zaun fagen? Bosheit und Verleumdung, weiter 
iſt's nichts!" 

„Sie haben mich immer verachtet, aber ich werde wie 
ein Nitter, der feiner Dame bis ins Grab treu bleibt, 
mein Leben beenden — denn Ihre Meinung von mir 
war mir immer teurer, als alies andere auf der Welt. 
Ich nehme von Ihnen nichts mehr an, und die Rede 
halte ich ohne Entjchädigung.“ 

„te dumm das ift!” 

„Sie haben mich niemals geachtet. Sch weiß, ich habe 
unendlich viele Schwächen. За, es ift wahr: ich habe 
018 Ihr Schmaroger gelebt; — in der Sprache des Nihi— 
lismus ausgedrüdt. Doch das war niemals das höhere 
Prinzip meiner Handlungen. Das gefchah alles — jo — 
©... ganz von felbft ... ich weiß nicht, wie ... 34 
бабе nur immer geglaubt, daß zmifchen ung etwas 
Höheres als Koft und Geld befteht, und nie, hören Sie, 
nie bin ich ein — Schurke gemejen! So — und nun 
gehe ich, um её wieder gut zu machen! Sch gehe meinen 
ſpaͤten Weg, es Ш ſchon Herbft, der Nebel liegt auf den 
Seldern, Falter, grauer Reif bededt meine Straße und 
der Wind fingt das Lied vom nahen Grabe ... Uber ich 
gehe, ich gehe {фоп meinen neuen Weg! Und ich gehe — 

‚Ganz erfüllt von reiner Liebe, 
Treu dem füßen Traum .. 


Dh, lebt mohl, meine Träume! Zwanzig Sahre! Alea 
-jacta est.“ 

Tränen rollten plößlich aus jeinen Augen. Er nahm 
ſchnell feinen Hut. 


519 


„$4 verftehe kein Latein”, fagte Warmara Petromna, 
die fich Frampfhaft zufammennahm. | 
er weiß, vielleicht wollte fie gleichfalls weinen, Doc) 
Unwille und Eigenfinn fiegten wiederum. 
„Sch weiß nur eines," fagte ſie, „daß das nur Phrafen 
find. Niemals werden Sie imftande ſein, Ihre Worte 
wahr zu machen. Nirgendwohin werden Sie gehen, ſon⸗ 
dern ſeelenruhig bei uns weiterleben und jeden Dienstag 
wieder Ihre unmoͤglichen Freunde verſammeln. Leben 
Sie wohl, Stepan Trophimowitſch.“ 
„Alea jacta est!“ Er verneigte ſich tief vor ihr und 
fuhr паф Haufe — halbtot vor Aufregung. 


Ende des erften Teils 


520 





Elftes Kapitel 
Pjotr Stepanowitſch in Tätigkeit 
I 


Se Tag, an dem die ШетатИфе Matinee und der 
Ball ftattfinden follten, war endgültig feſtgeſetzt, 
doch von Lembkes Stimmung wurde immer trüber und 
nachdenklicher. Er hatte jo jonderbare, unheilvolle Bor: 
gefühle, und das beunruhigte Julija Michailowna fehr. 
Es war doch richt fo angenehm, Gouverneur zu jein, 
zumal unfer gufmütiger Swan Oſſipowitſch feinem 
Nachfolger nicht alles im Gouvernement in befter Ord— 
nung übergeben hatte. Dazu drohte jeßt noch die Cholera, 
und in einzelnen Kreilen waren Ninderfeuchen aus: 
gebrochen; ferner hatten den ganzen Sommer über in 
Dörfern und Städten Feuersbrünfte gemütet, im Зое 
aber begann Sich ſchon der Glaube feitzufegen, daß man 
abfichtlih Brandfifter umberfchide; und die Diebe 
hatten fich im Verhältnis zu früheren Fahren um das 
Doppelte vermehrt. Das alles wäre aber, wenn auch 
außergewöhnlich, jo doch Папой nicht in dem Maße be: 
unruhigend gewefen, wenn Andrei Antonowitjch von 
Lembke nicht noch ſchwerwiegendere Sorgen gehabt 
hätte, die ihm nun die Ruhe feiner Dis dahin jo glüdlichen 
und zufriedenen Seele raubten, 


84 Doitojewsfi,-DierDämonen. Bo. Ц. 521 


+ 

Am meiften erfchredte Зи а Michailowna der Um: 
ftand, daß ihr Lembke mit jedem Tage ſchweigſamer 
wurde und manchmal beinahe verſchloſſen war. Doc 
wenn man darüber nachdachte — mas fonnte er denn 
überhaupt zu verbergen haben? Dabei widerſprach er 
ihr jelten, vielmehr fügte er fich ihr faft in allen Dingen. 
So wurden 3. B. auf ihr hartnädiges Verlangen hin ein 
paar recht gemagte Maßnahmen getroffen, die Гай gegen 
das Gejeß verftichen, doch dafür die Macht des Gouver: 
neurs vergrößern follten. Aus demfelben Grunde wurde 
$. 3. ein paarmal unheilvolle Nachlicht geübt: Leute, 
die eigentlich den Prozeß und Sibirien verdient hatten, 
wurden einzig auf ЗиШа Michailomnas unbedingtes 
Verlangen hin zur Yuszeichnung vorgefchlagen. Wie 
fich ſpaͤter herausſtellte, wurde auf eine gewiſſe Art von 
Klagen ganz ſyſtematiſch überhaupt nicht mehr reagiert. 
Außerdem unterschrieb von Lembke faft alles, was Zulija 
Michailowna von ihm verlangte, und gewöhnlich wider: 
ſpruchslos. Nur zumeilen feste er feine Gattin durch eine 
plößliche und hartnädige Widerfpenftigfeit in nicht де: 
ringes Erftaunen, und zwar immer durch eine Wider: 
ipenftigfeit in den EHleinften Nebenjachen. Der Wunſch, 
nachdem er ihr tagelang ftumm und mwortlos gehorcht 
hatte, wieder eine eigene Rolle zu fpielen, war am Ende 
begreiflih. ЗиШа Michailowna jedoch wußte in joldyen 
Fällen Нов ihres ganzen Verftandes Ме edle Negung 
eines edlen Charakters durchaus nicht zu würdigen: von - 
Lembke perjönlich war ihr gerade in «ег Zeit volle - 
fommen gleichgültig — und leider follte eben hieraus 
viel Unheil entftehen. 

Die gute Dame (fie tut mir aufrichtig leid) hätte das, 


522 





was fie fo fehr lockte — Ruhm, Bedeutung ufw. — viel 
einfacher erreichen fönnen, ja, ай noch fchneller, wenn 
lie ihren Wuͤnſchen mit etwas weniger Erzentrizität 
nachgegangen wäre. Uber wie das gewöhnlich zu ges 
ſchehen pflegt: denen, die ihr abrieten, hörte fie weiter 
nicht zu; den anderen aber, die fie in ihren eigenen Ideen 
beftärkten, denen folgte fie blindlinge. So war denn 
die Arme bald nur noch ein Spielzeug der verjchiedenften 
Einflüffe, während fie fich jelbft für durchaus individuell 
hielt. Ihre Outmütigfeit wurde in der furzen Zeit ihrer 
Herrichaft als Gattin des Gouverneurs von vielen aus— 
genußt, und gar manche fchnitten dabei nicht übel ab, 
Aber was war das im Grunde für ein Mifchmafch unter 
dem Anjchein von Selbftändigfeit! Ihr gefielen die 
Sroßgrundbefißer und das ariftofratifche Element, die 
Erweiterung der Gouvernementsmacht wie dag demo: 
kratiſche Prinzip mit den neuen Anschauungen, der Frei— 
denferei und den fozialen Lehren; und ihr gefiel der 
fitenge Ton eines vornehmen Salons, wie die Aus— 
gelaljenheit, die oft fchon an einen Gafthauston ges 
mahnte, der fie umgebenden goldenen Jugend. Sie 
träumte davon, „glüdlich zu machen” und Unvereinbares 
zu vereinen, oder richtiger: alle und alles in ſchwaͤrme⸗— 
rifcher Verehrung um ihre Perfon zu verfammeln. Aber 
пе hatte auch einige ganz befondere und bevorzugte Lieb: 
linge. Zu diejen gehörte vor allen Pjotr Stepanomitich, 
der fie mit den platteften Schmeicheleien beherrichte. 
Sreilich gab es da noch einen befonderen Grund, weshalb 
er zu ihrem Liebling ward, und diejer Grund dürfte fie 
vielleicht am beiten charafterifieren: fie hoffte namlich, 
daß er ihr — eine ganze Verſchwoͤrung aufdeden werde. 


34° 523 


Sch übertreibe feinesmegs. Allerdings ift es fchmwer zu ': 
jagen, warum fich in ihr, faft von Unfang an, der Glaube 
feftgefeßt hatte, gerade in unjerem Gouvernement werde 
eine Verſchwoͤrung gegen die Regierung vorbereitet. 
Nun, und Piotr Stepanomitjch verftand es vorzüglich, 
mit feinem zmeideutigen und geheimnisvollen Schweigen 
in gemwilfen, und feinen furzen Bemerkungen in anderen 
Fällen, diefen Glauben noch zu verftärfer. Sie glaubte 
Ichon nach ihrem erften Gefpräch mit ihm, daß er un: 
bedingt über das ganze revolutionäre Rußland unter: 
richtet fei, und außerdem und gleichzeitig Мей fie ihn 
für ihr perfönlich bis zur Vergötterung ergeben. In 
ihrer Phantafie malte fie fich ſchon mit allen Einzel: 
heiten aus, wie von Lembke die Verfchwörung melden | 
würde, dann der Dank aus Petersburg und die große 
Karriere; und fchließlich, wie fie felber mit „Liebe und 
Nachficht” die Jugend „am Rande des Abgrunds“ zurüd: 
hielt! War fie doch feft überzeugt, daß fie Piotr Stepa— 
nomitjch bereits befehrt hatte! Warum follte eg ihr dann 
nicht auch bei den anderen gelingen? Kein einziger von | 
den Verfchwörern follte umfommen: fie wollte fie alle, 
alle retten, und in eben diefem Sinne, nur mit dem Ziel 
der höheren Gerechtigkeit vor Augen, wollte fie handeln. 
Vielleicht — was @пп man wiſſen — würde noch einft 
der ganze rufliiche Liberalismus — und warum nicht | 
auch die Gefchichte? — ihren Namen fegnen. Die Ver: 
Ihmörung aber würde doch aufgededt werden ... Що 
alle Vorteile zugleich. 

Zunächft aber тат es nötig, daß Andrei Antonowitſch 
zum бейе etwas heiterer wurde, und jo galt её denn 
jeßt, ihn zu zerfireuen und zu beruhigen. Зи dieſem 


524 





Zweck fommandierte fie Piotr Stepanomitich zu ihrem 
Mann, in der Hoffnung, daß der auf irgendeine Weife 
ме gewünfchte Wirkung erzielte. Vielleicht fonnte er ihm 
etwas Beruhigendeg mitteilen, fozufagen aus erfter Hand. 
Jedenfalls verließ jie fich volllommmen auf feine Geſchick— 
lichkeit. 

Piotr Stepanowitich war fchon feit Laͤngerem nicht 
mehr in Herrn von Lembkes Arbeitszimmer gemefen. 
Er fchwirrte jeßt gerade in einem Augenblid zu ihm 
hinein, als der Patient fich in einer ganz beſonders ge— 
ſpannten und reizbaren Verfaſſung befand. 


II 


Es gab da eine Kombination, die Herr von Lembfe 
nun fchon gar nicht mehr fallen fonnte. 

In einer Heinen Kreisftadt (in derfelben, in der Pjotr 
Stepanowitſch vor nicht langer Zeit mit den Offizieren 
ein paar Übende luſtig zufammengemwejen war) hatte 
der Kommandeur einem Leutnant einen Verweis erteilt. 
68 gefchah vor der ganzen Front. Der Leutnant war ein 
noch ganz junger Menjch, erft vor kurzem aus Petersburg 
eingetroffen, immer jchweigfam und finfter und ап: 
Icheinend Sich fehr erhaben duͤnkend, dabei aber Нет von 
Wuchs, МФ und rotwangig. Er ertrug den Vermeis 
nicht, und plößlich warf er fich mit einem eigentümlichen 
Geſchrei oder Gekreiſch, über das fich die ganze Front 
mwunderte, und mit abfonderlich gejenkttem Kopf auf 
feinen Kommandeur und МВ diefen mit jolcher Gewalt 
in die Schulter, daß man ihn nur mit Mühe loszureißen 
vermochte. Zmeifellog war der Menich verrüdt ge— 
worden, Wenigſtens ftellte fih nun heraus, daß er in 


525 


der leßten Zeit [chen mehrfach die unglaublichften Sachen 
gemacht hatte. So hieß es u. a., er habe in feiner Woh— 
nung zwei Heiligenbilder der Wirtin zum Fenfter hinaus— 
geworfen und ein drittes mit dem Beil zerhadt; an ihre 
Stelle aber habe er in feinem Zimmer auf Poftamenten 
drei Bücher, die Зее von Vogt, Moleſchot und Büchner, 
aufgeftellt und vor jedem ein Kirchenwachglicht ange: 
zündet. Aus der Menge von Büchern, die man bei ihm 
fand, fonnte man fchließen, daß er ziemlich belefen war. 
Bei der Durchfuchung fand man in feinen Zafchen und 
Koffern einen ganzen Stoß der wildeften Proflamationen. 

Nun, ап 14 waren dieje Blätter ja nichts Neues; 
‚ man hatte ihrer im Laufe der Jahre jo viele gejehen! 
Wozu da noch weiter nachdenken? Zudem maren е8 
nicht einmal neue Proflamationen, ſondern genau die: 
felden, die man аиф im H—ſchen Gouvernement gefun— 
den hatte und von denen Kiputin behauptete, daß er йе 
vor anderthalb Monaten auf feiner Reife in einer andern 
Kreisftadt gleichfalls gefehen habe. Aber Andrei Anto- 
nowitſch erfchraf doch: vor allem über den einen Umftand, | 
daß der Direktor der Spigulinfchen Fabrik zur jelben Zeit 
der Polizei drei große Pafete Proflamationen überjandt 
hatte, die in der Nacht auf den Fabrifhof geworfen wor: 
den waren, und diefe Proflamationen fiimmten Wort 
für Wort mit jenen überein, die man bei dem Leutnant | 
gefunden hatte. Die drei Pafete waren noch nicht eine 
mal aufgebunden, aljo hatte von den Arbeitern поф | 
feiner etwas leſen fönnen. Eigentlich war ja die ganze 
Sache barmlos genug; doch Herr von Lembke begann 
zu grübeln, denn ihm erjchien fie unendlich bedeutjam 
und verwidelt, 


526 





In der erwähnten Spigulinfchen баб hatte gerade 
die jogenannte „Spiguliniche Gejchichte” begonnen, von 
der Ipäter fo viel geredet worden Ц, und über die fogaı 
die Petersburger und Moskauer Zeitungen fo lange und 
in fo verfihiedenen Lesarten berichtet haben. Vor ип: 
gefaͤhr drei Wochen war dort ein Arbeiter an fibirifcher 
Cholera erkrankt, und паф ihm noch ein paar andere. 
In der Stadt verbreitete fich nicht geringe Этой, об: 
gleich alle möglichen ärztlichen Vorkehrungen getroffen 
wurden. Doch die Spigulinfche Fabrik — die Beſitzer 
hatten Geld und Verbindungen — wurde aus irgend: 
einem guten Grunde nicht gefchloffen. Da aber hieß es 
plößlich, gerade in ihr fiede der Herd der Krankheit. 
Andrei Antonowitſch beftand fofort energifch darauf, da} 
йе einmal gründlich gereinigt werde, was man denn аи 
tat. Kurz darauf aber ſchloſſen die Spiguling die Fabrik — 
warum, wußte eigentlich niemand. Der eine Bruder 
lebte beftändig in Petersburg, und der andere war nach 
der ihm befohlenen Fabrifreinigung паф Moskau gereift. 
Der Direktor, der den Xrbeitern den Kohn auszahlen 
ſollte, betrog dabei, wie её ich |päter herausftellte, die 
Leute geradezu unerhört. Die Arbeiter begannen zu 
murren und verlangten eine gerechtere Ubrechnung und 
gingen aus Dummheit fchließlich fogar auf die Polizei. 
Doc führten fie fich dert lange nicht fo erregt auf, wie 
ed die Zeitungen nachträglich fchilderten. Und gerade 
in Ме ег Zeit gejchah es denn, daß der Direktor dem 
Gouverneur die gefundenen Proflamationen зиЙеШе. 

Piotr Stepanomwiifch trat fchnell und ohne anzu— 
НорГеп, wie ein alter Befannter oder guter Freund, in 
von Lembkes Arbeitszinnmer, Als Andrei Antonowitſch 


527 


ihn erblidte, blieb er unfreundlich und augenfcheinlich 
geärgert am Schreibtijch jtehen, während er bis dahın 
auf und ab gegangen war, was er gewöhnlich tat, wenn 
er fich mit feinem Kanzleibeamten Blümer unter vier 
Augen beriet. Dieſen Blümer, der übrigens ein mürri: 
Icher, ungelenfer Deuticher war, hatte er Нов Julija 
Michailownas heftigſter Oppoſition aus Petersburg mit— 
gebracht. Der Kanzleibeamte trat паф Pjotr @ера: 
nowitſchs Erſcheinen zur Tuͤr, ging jedoch noch nicht 
hinaus. Es ſchien Pjotr Stepanowitſch ſogar, daß er 
mit von Lembke einen vielſagenden Blick austauſchte. 

„Oho, da habe ich Sie ertappt, Sie geheimer 
Stadtdeſpot!“ rief Pjotr Stepanowitſch lachend aus und 
legte ſchnell ſeine Hand auf eine Proklamation, die auf 
dem Tiſch lag. „Die ſoll wohl wieder Ihre Sammlung 
vergroͤßern, wie?“ 

Don Lembke wurde rot, und fein ganzes Geſicht ver: 
zerrte fich plößlich. 

„Laſſen Sie, lafjen Sie das ſofort!“ fihrie er zitternd 
vor Wut. „Und wagen Sie es nicht, mein Фет..." 

„Bas haben Sie nur? Sie fcheinen 14 ja zu ärgern?" 

„Beitatten Sie, mein Herr, Sie darauf aufmerkſam 
zu machen, daß ich Ihr sans fagon hinfort nicht mehr 
dulden werde und @е erjuche, nicht zu vergejlen ...“ 

„Pfui Teufel, er ärgert ſich ja in der Tat!“ 

„Schweigen Sie!" von Lembke ftampfte mit dem Fuß. 
„Und wagen Sie ed nicht ...“ 

Gott mag willen, wozu es noch gekommen wäre, denn 
zu feinem Zorn gab es Мег noch einen gewiljen anderen 
Grund, den fich weder Piotr Stepanowitich noch Zulija 
Michailowna auch nur hätten träumen laſſen fönnen. 


525 





Mit dem unglüdlichen Andrei Antonowitſch war es name 
lich fchon fo weit gefommen, daß er wegen jeiner rau 
auf Piotr Stepanowitich eiferfüchtig war und deshalb 
in einfamen Stunden, bejonders nachts, hoͤchſt unanges 
nehme Minuten auszuftehen hatte. 

„Und ich dachte, daß ein Menjch, der einem zweimal 
bis nach Mitternacht feinen Roman vorlieft und einen 
um ein offenes Urteil bittet, daß diefer Menſch dann 
ichon felber das Formelle abgetan hat... Und Julia 
Michailowna empfängt mich wie einen guten Befannten 
— nun foll einer aus Ihnen Hug werden!" jagte Piotr 
Stepanowitich, und ſagte es ſogar nicht ohne eine gewilje 
Wuͤrde. „Hier haben Sie übrigens Ihren Roman‘, und 
damit legte er ein großes, ſchweres, [ей zuſammen— 
gerolltes Heft, das in blaues Papier eingewidelt war, 
auf den Tiſch. 

Don Lembfe errötete und wußte nichts zu fagen. 

„Wo haben Sie es denn gefunden?” fragte er un: 
licher, mit einem Zuftrom von Freude, den er doch nicht 
abhalten fonnte, obichon er ihn mit Gewalt zurüdzus 
drängen ſuchte. 

„За, denfen Sie fich, jo zum Nohr zufammengerollt, 
wie её da И, war es hinter meine Kommode gefallen. 
Sch werde es wohl damals, als ich nach Haufe fam, 
irgendwie nachläjlig auf die Kommode geworfen haben. 
Vorgeſtern fand man es beim Dielenfcheuern. War dag 
aber eine Arbeit, die Sie mir da bejchert hatten!" 

Lembke {епНе fireng die Augen. 

„Zwei Nächte wegen Euer Gnaden nicht geichlafen. 
Vorgeftern fand man es, jo behielt ich eg denn noch und 
las die ganze Gejchichte Durch. Habe am Tage feine Zeit, 


529 


mußte es alſo in der Nacht tun. Na, und — апп nichts 
dafür: bin unzufrieden. Nicht mein Geſchmack. Doch 
übrigens zum Teufel damit, Kritifer bin ich nie gemejen. 
Uber losreißen konnte ich mich doch nicht, wenn ich auch 
unzufrieden war. Das vierte und fünfte Kapitel, die 
... bie find... weiß der Teufel, mas die eigentlich find! 
Und mit wieviel Komik das vollgeftopft ift! Hab’ ich 
gelacht! Nein, wirflih, Sie verftehen es, etwas lächer: 
lich zu machen, sans que cela paraisse! Na, das da im 
neunten Kapitel, то nur von Liebe die Rede Ш, na, 
nicht meine Sache; aber immerhin ſehr effeftvoll. Nach 
dem Brief von Igrenjeff wollte ich beinab zu heulen 
anfangen, obgleich Sie ihn ja jo fein farifiert haben ... 
Wiſſen Sie, der Brief ift gewiß gefühlvoll, aber zu gleicher 
Zeit wollten Sie den Mann doch irgendwie karikieren, 
wenn ich Sie richtig verftanden habe? nicht? Hab’s mir 
gleich fo gedacht. Na, aber für den Schluß Fönnte ich 
Sie einfach verprügeln. Was ЦЕ denn das für eine Idee, 
die Sie da durchführen? Das Ш ja doch dieſelbe alte 
Dergötterung des Familienglüds nebft Vermehrung der 
Kinder wie des Kapitals, und ‚wenn пе nicht geftorben 
find, fo leben fie noch heut‘! — ich bitte Sie! Zuerfi 
bezaubern Sie den Lejer geradezu, jo daß ſelbſt ich mich 
nicht losreißen fonnte, — aber deſto gemeiner ift doch 
dann [014% ein Schluß! Der Leſer bleibt genau jo dumm, 
wie er war; man hätte doch Fuge Menfchen reden laſſen 
jollen, Sie aber ... Na, genug davon, und jeßt adieu! 
Argern Sie fich nächftens nicht wieder. $4 т eigent- 
lich, um Ihnen ein paar Worte zu jagen, aber Sie find 
ja heute jo eigentümlih ...“ 

Bon Lembke Hatte inzwilchen jeinen Roman in einen 


530 





eichenen Buͤcherſchrank verfchloffen und Bluͤmer zuge: 
winkt, das Zimmer zu verlafjen, was der denn auch mit 
langem Gefichte tat. 

„sch bin heute keineswegs eigentümlich, eg jind da 
nur ... fo viele Unannehmlichkeiten”, murmelte Herr 
von Lembke und runzelte die Stirn, doch fchon ohne 
Zorn, und er fette fich an den Schreibtijch. „Sch habe 
Sie lange nicht mehr gejehen,” fagte er freundlicher, 
„nur fliegen Sie nächftens nicht jo haftig ins Zimmer, 
mit Shren Manieren, ме... zuweilen, bei der XUrbeit, 
ift man .. 

„Bas meine Manieren betrifft...” 

„sch weiß, ich weiß, Sie haben es ja nicht mit Abficht 
getan, aber gerade bei jo unangenehmer Xrbeit, Sie ver: 
ftehen fchon ... Seßen Sie fich, bitte.“ 

Piotr Stepanowitich warf fich fogleich ungeniert auf 
den Diwan und 309 die Beine unter den Stuhl. 


III 


„Bas Ш denn bas für eine unangenehme Arbeit? 
Doch nicht etwa dieſe Dummheiten?“ Dabei wies er mit 
dem Kopf auf die Proflamation. „Solche Blätter fann 
ich Shnen fo viele verjchaffen, wie Sie nur wollen. Habe 
deren DBelanntichaft ſchon im H—ichen Gouvernement 
gemacht.” 

„Das heißt, damals, ald Sie dort waren?” 

„Berfteht fich, nicht in meiner Abwejenheit. Und dann 
war da noch eine mit einer ЗюпеНе: ein Beil oben. 
Erlauben Sie” — er nahm das Blatt vom Tiſch — „na 
ia, hier ift ja auch ein Beil; natürlich, das ift ja diefelbe !" 

„за, ein Beil. Sehen Sie — ein Beil.” 


531 


„Bas, haben Sie etwa Angſt befommen vor dem 
Beil?" 

„ОБ, nidyt vor dem Beil... Und ich habe durchaus 
feine Этой. Uber dieje Sahe... Es gibt Мег пой... 
gewiſſe Umſtaͤnde.“ 

„Was fuͤr welche? Daß man ſie aus der Fabrik ge— 
bracht hat? Ha—ha! Aber wiſſen Sie auch, daß die 
Arbeiter dieſer Fabrik bald jelbft Proflamationen ſchrei— 
ben werden?” 

„Wie das?" Bon Lembke jah auf — ftreng, ver: 
wundert. 

„Ganz einfah. Sie find ein zu weicher Menich, 
Andrei Antonowitſch. Schreiben Romane. Hier aber 
müßte man поф auf die alte Weiſe verfahren.” 

„Die dad — alte Weife? Sollen das Ratichläge fein? 
Die Fabrik ift doch gereinigt worden. ch befahles, und 
пе wurde gereinigt!" 

„Und unter den Arbeitern ift derweil eine Empörung 
ausgebrochen. Übers Knie legen müßte man die Же, 
und die Sache wäre erledigt.” | 

„Eine Empörung? Das Ш unmöglih! 54 Бабе doch 
den Befehl gegeben, und man hat bie Fabrik gereinigt!" 

„Ach, Andrei Antonowitſch, Sie find wirklich ein weicher 
Menſch!“ 

„sh? Nun — erſtens bin ich durchaus nicht fo furcht— 
bar weich und zweitens ... —“ von Lembke ärgerte ſich. 
Eigentlich |ртаф er mit dem jungen Mann gegen jeinen 
Willen, doch die Neugier, ob diejer nicht etwas Be: 
jonderes jagen würde, тат zu groß, um ber Unter: 
redung einen Schluß zu machen. 

„A—ah! wieder eine alte Bekannte!“ unterbrach ihn 


582 








Piotr Stepanomwitich und zog unter einem Bud ein 
anderes Blatt hervor, eine augenfcheinlich im Auslande 
gedrudte Proflamation, die aber in Verſen abgefaft 
war. „Na, die Геппе ich ja auswendig: natürlich, das И 
fie ja — die ‚helle Perfönlichfeit‘! Habe diefe Perfönlich: 
feit fchon im Auslande fennen gelernt. Wo haben Sie 
denn diefe hervorgekratzt?“ 

„Sie jagen, Sie haben йе ſchon im Auslande geſehen?“ 
horchte Herr von Lembke auf. 

„Na, das fehlte noch, daß ich fie nicht gefehen hätte! — 
vor vier oder fünf Monaten !" 

„Bas Sie im Auslande nicht alles gejehen haben!" 
von Lembke befah ihn fich miftrauifch. 

Doch Piotr Stepanowitfch beachtete die Bemerkung 
nicht, парт das Blatt und las laut das folgende Gedicht: 


„Die belle Perjönlichkeit. 


Bon Geburt fein Edelmann, 
Unterm Volk wuchs er heran. 

Bald verfolgt von Zorn des Zaren 
Und dem Halle der Bojaren, 
Predigte er allerorten 

Stets mit fiegbewuften Worten 
Unerfchroden, wie man ſah: 
„Breiheit, Gleichheit, fie find nah!" 
Häfcher fingen ihn alsbald. 

Doc er floh in fremdes Land 

— aus des Zaren Kajematte, 

Mo man Peitichen, Zangen hatte —, 
Zuhr von dort fort, Мег zu fchüren, 
Und ме Wirkung war zu jpüren, 


Denn das Зо begann zu warten 
Und zu murren ob des harten 
Schidjals, doch fieh da: 

„Freiheit, Gleichheit, fie find nah!" 
Alſo ſagt's Euch der Student, 
Hört es jekt М8 nach Taſchkent! 
Komme jchleunigft jeder Mann, 
Um den Adel und alsdann 

Selbft das Zartum zu vernichten! 
Hört und fommt und laßt ung richten! 
Hört auf des Studenten Wort: 
Aller alte Kram muß fort — 
Kirchen, Ehen und Familien 

Nebft den Kindern, den Reptilien! 
Doch das Hab und Gut der Welt, 
Land, Beliß und alles Geld — 
Das foll Allgemeingut werden 

In dem neuen Reich auf Erden!” 


„Das haben Sie wohl bei jenem Leutnant gefunden, 
nicht?” fragte Piotr Stepanomitich. 

„Wie, Sie fennen auch diefen Leutnant?” 

„Wie denn nicht! Habe zwei Tage’ lang mit ihm ge— 
fneipt. Der mußte unbedingt mal überjchnappen.” 

„Er... Vielleicht ift er überhaupt nicht irrjinnig ges 
worden.” 

„Etwa darum nicht, weil er zu beißen anfing?” 

„Aber, erlauben Sie: wenn Sie diejes Gedicht im 
Yuslande gefehen haben — und {рафег findet es fich hier 
bei diefem Dffizier .. 

„Hm! Ganz fcharfjinnig! Sie, Andrei Antonowitich, 


534 





Eie ſcheinen mich ja, wie ich ſehe, eraminieren zu wollen ? 
Sehen Sie," begann er plößlich mit ungewöhnlicher 
Michtigfeit, „darüber, was ich im Auslande gejehen, 
habe ich fofort nach meiner Rüdfehr einer beftimmten 
Stelle Mitteilung gemacht, und meine Erflärungen 
wurden als befriedigend befunden. Andernfalls hätte 
ich ja auch dieje liebe Etadt Мег gar nicht mit meinem 
Beſuch beglüden fönnen. ch glaube alfo, daß meine 
Pflichten auf diefem Gebiet erledigt find und ich weiter 
niemandem Rechenfchaft fchuldig bin. Und nicht etwa 
deswegen erledigt, weil ich vielleicht ein Denunziant bin, 
fondern weil ich einfach gar nicht anders handeln fonnte, 
Diejenigen, die an Зи а Michailomna über mich ges 
fchrieben haben, fannten die ganze Sachlage ... und 
haben mich als ehrlichen Menjchen empfohlen. Na, aber 
zum Teufel damit! Eigentlich bin ich zu Ihnen gekommen, 
um über etwas ſehr Ernites mit Ihnen zu fprechen. Es 
1 aut, daß Sie diefen Ihren Schornfteinfeger Гот 
geichilt haben. Es Ш eine michtige Sache, Andrei 
Antonowitſch. Ich habe namlich eine fehr große Bitte 
an Sie.” 

„Eine Bitte? Эш... baben Sie die Оше, 1$... 
bin geipannt ... hm! ... wird mich fehr interejjieren. 
Überbaupt muß ich jagen, Sie feßen mich heute ein wenig 
in Erftaunen.” 

Don Lembfe war merklich erregt. Piotr Stepanomitich 
Ichlug ein Bein übers andere. 

„sn Petersburg”, begann er, „war ich in vieler Hin 
ſicht aufrichtig, Doch über gemilje Einzelheiten ... zum 
Beilpiel diefe da’ — er wies mit dem Finger auf die 
„belle Perfönlichkeit" — „Бабе ich gefchwiegen, erſtens 


535. 


weil es fich nicht lohnte, darüber zu fprechen, und zmei: 
tens, weil ich nur das fagte, wonach man mid) fragte. 
Ich liebe es nicht, in diefem Sinne vorzugreifen; darin 
fehe ich auch den Unterjchied zwifchen einem Schurken 
und einen ehrlichen Menjchen, den ganz einfach nur die 
Umftände überrumpelt haben und zwingen ... Na, das 
mag nebenbei gefagt fein. Nun und jeßt ... jetzt, nach: 
dem diefe Dummföpfe ... na, ich meine, du es jetzt 
berausgefommen Ш, fich bereits in Shren Händen be: 
findet und fich vor Ihnen |фоп nicht mehr wird verfteden 
fünnen — denn Sie find doch ein Menfch mit Yugen, 
es Ш gar nicht fo leicht, hinter Sie zu fommen — diefe 
Dummföpfe aber in ihrem Vorhaben fortfahren ... па, 
nun а... ао: ich bin ... ganz einfad) ... zu Ihnen ges 
fommen, um Sie zu bitten, einen Menſchen zu retten, 
einen ebenjolchen Dummfopf oder meinetwegen Ver: 
rüdten ... in Anbetracht feiner Jugend, feines Unglüds, 
und ... und Shrer Humanität ... zum Kudud, Sie 
wollen doch nicht nur in Romanen human und gut und 
edel ſein!“ unterbrach er plößlich, ап] фетепо aus lauter 
DVerlegenheit grob, feine ungejchidte Rede. 

Kurz: man {аб einen ehrlichen, offenherzigen Menfchen 
vor fich, der bloß ungejchidt und unpolitifch war, und das 
wohl aus Gutmütigfeit oder übergroßer Gewiſſenhaftig— 
feit. Und jedenfall mußte er „nicht von weiten her“ 
fein, urteilte von Lembke jofort mit außerordentlichem 
Feingefühl: genau fo, wie er ihn eigentlich |фоп immer 
eingejchäßt hatte — bejonders wenn er ihn in den fchlaf: 
loſen Nächten der letzten Woche weger jeines Erfolges 
bei Zulija Michailowna in jeiner Seele bejchimpft und 
beruntergerijjen hatte, 


536 





„Fuͤr wen bitten Sie denn und mas foll das alles Без 
deuten?” erfundigte er fich würdevoll, bemüht, feine 
Neugier zu verbergen. 

„Эш... ja das... zum Teufel, ich bin doch nicht 
{Фи daran, daß ich an Sie glaube! Mas апп ich denn 
dafür, daß ich Sie für den edelmütigften Menfchen halte 
und, vor allem, für einen verftändigen ... der fähig ift, zu 
begreifen, das heißt, zu verftehen.. . . nun, zum Henker ..“ 

Der Arme! Augenfcheinlich verjtand er fich nicht recht 
auszudrüden und verwidelte fich nur! 

„Sie verftehen doch, fuhr er fort, „begreifen doch, 
daß ich, wenn ich Ihnen feinen Namen nenne, ihn damit 
ſozuſagen ir Ihre Hände liefere, nicht wahr, ich Пете 
ihn dann Shnen doch aus? Nicht wahr?” 

„ber wie foll ich её denn erraten, für wen Sie bitten, 
wenn @е fich nicht entjchließen Fünnen, mir feinen 
Namen zu nennen?“ 

„ch, ja, in der Tat, das ift es ja gerade! Sie ftellen 
einem, weiß der Teufel, mit Ihrer Logik immer ein 
Зет... Na, zum Henker ... Що ме ‚helle Perfön: 
lichkeit‘, diefer ‚Student‘ Ш — Schatoff ... So, da 
haben Sie's jetzt!“ 

„Schatoff? Das heißt, wie denn Schatoff?“ 

„Schatoff — das Ш der ‚Student‘, von dem da im 
Gedicht die Rede Ш! Er lebt Мег! Früherer Leib: 
eigener! Derfelbe, der neulich die Ohrfeige gegeben 
bat! Sie юЩеп ſchon!“ 

„Sch weiß, ich weiß!” von Lembke ШИ die Augen 
zufammen. „Aber erlauben Sie, worin befteht denn 
eigentlich feine Schuld und, die Hauptſache, — um was 
bitten Sie denn eigentlich 2" 


35 Dojitojewsfi, Die Dümonen. Bd. II, 537 


„aber ibn zu retten, veritehen Sie doch endlih! $4 
fenne ihn ja Ichon feit acht Jahren! Ich — ich war ja 
{ет Freund!" Piotr @ерапоюи regte 14 anſchei— 
nend furchtbar auf. „Nun ja, ich bin doch nicht ver: 
pflichtet, Ihnen NRechenfchaft über FTrüheres zu geben,“ 
meinte er und winfte mit der Hand ab, „das ЦЕ alles {о 
belanglos. Sind ja nur dreieinhalb Menfchen, und mit 
denen im Auslande noch nicht mal zehn ... Xber, die 
Hauptfache, — ich hoffte auf Ihre Humanitär und зи: 
gleich auf Ihren Verſtand. Sie verftehen mich doch, 
Sie werden die Sache dann |фоп felber fo darftellen, 
wie fie wirklich ift, und nicht als weiß der Teufel was! — 
vielmehr als den dummen Gedanken eines verdrehten 
Menſchen ... infolge feines Unglüds, vergeſſen Sie das 
nicht, infolge feines Unglüds, und nicht ale weiß der 
Teufel was da — für eine Verjchwörung gegen den 
АЕ... 

Piotr Stepanowitich geriet vor Eifer faft außer 
Atem. 

»„Hm ... Ich ſehe Schon, daß er der Schuldige Ш — 
an den Proflamationen mit dem Beil!" fchloß von Lembke 
mit nahezu erhabener Miene. „Aber, erlauben Sie, 
wenn er allein es И, wie fonnte er fie dann Мег und 
zugleich in der Provinz veritreuen und jogar im H—Ichen 
Gouvernement und ,.. fchließlich, die erſte Trage: mo 
hat er fie überhaupt herbefommen?” 

„ber ich fage Ihnen doch, daß es im ganzen vielleicht 
fünf Menfchen find, na, fagen wir, zehn — mie ſoll ich 
es wiſſen!“ 

„Sie willen eg nicht?” 

„за, zum Henker, warum joll ich е8 denn wiſſen 


27 


538 





„ber Sie wußten doch, daß Schatoff einer von 
ihnen Ш?” 

„Ach!“ Piotr Stepanowitfch winfte wieder mit der 
Hand ab, als wolle er ven erdrüdenden Scharflinn des 
anderen zurüdicheuchen. „Na, hören Sie, ich werde 
Ihnen die ganze Wahrheit fagen: von den Proflamas 
tionen weiß ich nichts, dag heißt, fo gut wie nichts, — 
zum Teufel, Sie verftehen doch, was ‚nichts‘ bedeutet? 
... Хип, verfteht fich, bier ift es der eine Keutnant, nun, 
und Schatoff, nun, und vielleicht noch irgend jemand, 
па — aber das (Е auch alles! Nicht der Rede wert! ... 
Einfach Häglih! ... Sch aber bin nur zu Ihnen ge: 
fommen, um Sie für Schatoff zu bitten: man muß ihn 
retten, denn dieſes Gedicht da — ift von ihm, fein eigenes 
Merk und im Auslande durch ihn gedrudt. So, das Ш 
alles, was ich genau weiß, aber von den Proflamationen 
weiß ich jo gut wie gar nichts !" 

„Wenn dag Gedicht von ihm verfaßt ift, fo werden 
wohl auch die Proflamationen von ihm verfaft fein. 
Uber welche Beweije haben Sie denn, um Herrn Schatoff 
zu verdächtigen?” 

Piotr Stepanowitich riß feine Brieftafche hervor, mie 
ein Menſch, der fchon nahe daran ift, aus der Haut zu 
fahren, und warf einen Zettel auf den Tiſch. 

„Da haben Sie die Beweife!” rief er. 

Don Lembke faltete den Zettel auseinander: er war 
vor einem halben Jahr aus unferer Stadt geiihrieben 
worden und enthielt nur die Визе Mitteilung: 

„Die heile Perfönlichkeit" kann ich hier nicht 
druden, und überhaupt апп ich nichte machen. 
Druden Sie im Auslande. Swan Schatoff. 


35* 539 


Don Зет Ме blidte Piotr Stepanowitſch unverwandt 
ап... Warwara Petromna hatte recht, wenn fie 
behauptete, daß Herr von ет Ме einen manchmal 
etwa wie ein Schaf anbliden fonnte. 

„Sehen Sie," begann Pjotr Stepanomwitich unges 
duldig, „das bedeutet, daß er dieſes Gedicht vor einem 
halben Fahr hier gejchrieben hat. Er fonnte es aber nicht 
Мег druden lafjen, na, in irgendeiner, jagen wir, ge: 
heimen Druderei, — und darum bittet er, eg im Aus— 
lande zu druden ... Das ИЕ doch Нат, follte ich meinen?” 

„за, das Ш natürlich Нат, aber wen bittet er denn 
darum? Das Ш, wie Sie jehen, durchaus noch nicht 
Нах”, bemerkte von Lembke mit fchlauefter Sronie. 

„Aber Kirilloff doch! Der Brief Ш doch an Kirilloff 
ins Ausland gefchrieben ... Wußten Sie das etwa 
nicht? Ürgerlich an der ganzen Sache ift ja nur, daf 
Sie fich vor mir vielleicht nur verftellen und jelbft ſchon 
lange von diefem Gedicht юШеп, na, und аиф alles 
andere! Wie Ш eg denn auf Shren ЗИФ gefommen? 
Wenn Sie es überhaupt zu erwiſchen verftanden haben! 
— mozu foltern Sie пиф dann поф mit Ihren Tragen, 
mwenn’s jo iſt?“ 

Er wiſchte Jich Юй bebend den Schweiß von der Stirn. 

„Bielleicht ИЕ auch mir einiges befannt .. .” bemerfte 
Herr von Зет Ме, geſchickt ausmeichend, „aber wer ift 
denn dieſer Kirilloff?“ 

„Nun, ein Ingenieur, vor kurzem hier angekommen. 
War Stawrogins Sekundant. Einfach ein Maniak, total 
verruͤckt. Ihr Leutnant hatte vielleicht wirklich nur 
Schnupfen’ieber als er biß, na, aber dieſer, ich ſage Ihnen, 
der ift jchon längft fürs Zollhaus reif — dafür garantiere 


540 








ich. Ach, Andrei Antonowitfch, wenn die Regierung nur 
wüßte, was das da für Leutchen jind, fie würde ja feinen 
Finger rühren. Hab пиф in der Schweiz und auf den 
Kongrefien an ihnen {а gefehen, überjatt !" 

„Dort, von wo aus man die Bewegungen bei ung 
leitet?" 

„Sa, wer leitet denn? Dreieinhalb Menfchen! Wenn 
man fie anjieht, fage ich Ihnen, апп man bloß Luft zum 
Gähnen befommen. Und was find denn das Ни „Зе: 
mwegungen bei uns‘? Etwa die Verbreitung von Pro: 
Hamationen? Aber mer verbreitet fie denn? Ber: 
Ichnupfte Leutnants und zwei bis drei Ötudenten! 
Sie find doch ein Нидег Menfch, da ftelle ich Ihnen nun 
eine Frage: warum Schließen ſich nicht etwas bedeutendere 
Menſchen der Sache an, warum immer nur Studenten 
und Sünglinge von zweiundzwanzig Sahren? Und wie 
viele find ihrer denn felbft von ſolchen? Man läßt fie 
wohl von einer Million денег Hunde fuchen, doch wie 
viele hat man bisher gefunden? Sieben Mann! 54 
fage Ihnen ja, nur Luft zum Gähnen befommt man.” 

Don Зет ве hörte ihm aufmerffam zu, aber mit 
einem Ausdrud, der gleichlam fagte: „Eine Nachtigall 
machft du mit Fabeln nicht ſatt.“ 

„Srlauben Sie, einftweilen, — Sie behaupten, daß 
der Brief ins Ausland gefchrieben И; hier ift aber feine 
Adreffe; woher wijjen Sie es denn, daß der Brief ап 
Kirilloff gerichtet Ш? und fchließlich überhaupt ins Aus— 
land und... und... daß er wirklich von Herrn Schatoff 
gejchrieben iſt?“ 

„So verichaffen Sie fich doch fofort Schatoffs Hands 
Schrift und vergleichen Sie! In Ihrer Kanzlei wird fich 


541 


beftimmt irgendeine Unterfchrift von ihm finden. Und 
was Kirilloff betrifft, fo hat er mir doch ſelbſt ven Brief 
gezeigt. Gleich damals, als er ihn bekam.“ 

„Mo haben Sie wohl jelbft ...“ 

„ta ja, verfteht Sich doch, daß ich ſelbſt! ... Als ob 
man mir dort wenig gezeigt hätte! Nun, und dieſes 
Gedicht, heißt es, ſoll der verftorbene Herzen perfönlich 
für Schatoff geichrieben haben, als der fich noch im Aus: 
lande herumtiieb, angeblich zum Andenken an ihre Bes 
gegnung, als Lob, ald Empfehlung gewifjermaßen, па, 
Бор der Teufel... und Echatoff verbreitet е8 nun unter 
der Jugend: ‚Seht, das ift Herzens eigene Meinung über 
mich‘ !" | 

„ie — tie — tie," fchnalzte von Lembke, endlich Ве: 
greifend, „dag meine ich ja auch: Proflamationen — das 
verfteht man noch, aber Gedichte!?“ 

„За, wie follten Sie es denn nicht verftehen! Und 
weiß der Zeufel, wozu ich Ihnen eigentlich das alles 
noch überflüffigermweife ausgeplaudert Бабе! Hören Sie, 
geben Sie mir Schatoff, und dann meinetwegen zum 
Henfer mit den anderen allen, felbft mit Kirilloff, der 
ſich лев gleichfalls im Filippoffihen Haufe, in dem auch 
Schatoff wohnt, verftedt hat. Die lieben mich nicht, 
weil ich zurüdgefommen bin ... Бег verjprechen Sie 
mir Schatoff, und ich präfentiere Ihnen alle die anderen 
auf einem Ха Мен. Kann Ihnen nüßlich fein, Andrei 
Antonowitſch. Sch ſchaͤtze dieſe ganze traurige Bande 
auf neun Mann, na, jagen wir — zehn. ch beobachte 
fie von mir aus. Drei fennen wir ſchon: Schatoff, Я 
rilloff und diefer Leutnant. Die anderen prüfe ich ей 
noch ... übrigens: bin nicht gerade kurzſichtig. Das Ш 


542 





ganz wie im H—ſchen Gouvernement: zwei Studenten 
wurden dort mit Proflamationen ergriffen, ein Gymna— 
Пай, zwei zwanzigjährige Edelleute, ein Lehrer und ein 
lechzigjähriger Major, der vom Trunk |фоп unzurechnungs: 
fähig geworden таг... und das war alles, glauben Sie 
mir, dag war alles! Man wunderte fich nicht wenig, 
daß das alles war. Uber ich brauche |648 Tage. 54 
vieche jchon den Braten und habe meine Berechnung 
gemacht: ſechs Tage und nicht früher! Wenn Öie irgend: 
ein Ergebnis haben wollen — lafjen Sie fie in diefen 
fechs Tagen ganz und gar ungefchoren, und ich binde fie 
Ihnen in ein Bündel zufammen! Nühren Sie fich jedoch 
früher, fo fliegt das ganze Neft auseinander! Uber ver: 
ſprechen Sie mir dafür Schatoff, ich bitte ja nur für 
Schatoff ... Willen Sie, am бейеп wäre es, wenn Öie 
ihn freundicheftlih zu ſich fommen ließen, jagen wir 
meinetwegen, hierher in Ihr Urbeitszimmer, und danın, 
wilfen Sie: vor ihm den Vorhang aufgezogen und ein 
wenig gefragt! Ach, er wird fich fofort Ihnen zu Füßen 
werfen und losweinen! Er ЦЕ ein nervöfer, unglüdlicher 
Menfch. Seine Frau amüfiert ſich mit Stawrogin. 
Seien Sie gut zu ihm, und er wird Ihnen alles felbit 
erzählen. Doch ich brauche noch ſechs Tage, wie дез 
fagt ... Die Hauptfache aber, die Hauptjache: jagen 
Sie Julija Michailomwna feinen Zon, fein halbes Wort 
davon! Geheimnis! Können Sie?” 

„Wie? von Lembfe riß die Augen auf. „Haben Öie 
{Бе denn nicht fchon felbft alles... enthüllt?” 

„Ihr? Behüte und bewahre! Ach, Andrei Antono— 
witſch! Sehen Sie mal, ich ſchaͤtze ja ihre Freundſchaft 
unendlich und fie überhaupt ... na, aber 598 da ... 


543 


ich werde mich doch nicht fo verhauen. Sch widerfpreche 
ihr nie, denn ihr widerfprechen — Sie wiffen ja felbit 
— ift gefährlich. Vielleicht habe ich ihr auch mal dieſes 
oder jenes Wörtchen gejagt, aber daß ich ihr, wie jeßt 
Ihnen, Namen genannt hätte, oder jo etwas — wo 
denken Sie bin! ... Warum wende ich mich denn an 
Sie? Weil Sie immerhin ein Mann find, ein ernfter 
Menfch, mit alten, feften Erfahrungen im Staatsdienft. 
Sie haben doch manches im Leben geſehen! Sie шЩеп 
außerdem, glaub ich, jeden Schritt in folchen Dingen 
auswendig wie dag Einmaleind — fihon von Petersburg 
ber. Sollte ich aber ihr zum Beifpiel auch nur zwei 
Namen nennen, wie würde Пе da gleich lostronmeln .., 
Sie will doch von hier aus ganz Petersburg in Er— 
ftaunen feßen! Ein wenig zu bißig ift fie, das iſt der 
бе ег!" 

„Sa, fie hat etwas von diefen Temperament ...“ 
murmelte von Lembfe nicht ganz ohne Genugtuung, 
während es ihn zu gleicher Zeit doch Argerte, daß dieſer 
Slegel es augenfcheinlich wagte, fich fo frei über Julija 
Michailowna zu äußern. 

Piotr Stepanowitich dagegen fchien das noch zu 
wenig zu fein, um andererjeits feinen „Lembka“ mit 
genügenden Schmeicheleien überichütten, ihn ganz бег 
Педеп und endgültig einfangen zu koͤnnen. 

„Daß iſt es: zuviel Temperament”, griff er das Wort 
auf. „Mag fie da meineiwegen, jagen wir, eine geniale 
Frau fein, eine literarifche Frau, aber — die Фравеп 
jagt fie uns auseinander! Sechs Stunden Бай fie es 
nicht aus, von fechs Tagen fchon ganz zu ſchweigen. Ach, 
Andrei Untonowitjch, laden Sie nicht eine Friſt von 


544 





ſechs Tagen auf ein Weib! Ste müffen mir doch einige 
Erfahrung zugeftehen, ich meine — in diefen Dingen. 94 
weiß da manches, und Sie willen ja felbft, daß ich man— 
ches willen апп. Nicht aus Dummheit bitte ich Sie um 
fechs Tage, fondern einzig um der Sache willen.“ 

„Sch habe gehört ...” von Lembke fonnte fich nicht 
recht entjchließen, feinen Gedanken auszufprechen, „ich 
habe gehört, daß Sie nach Ihrer Ruͤckkehr zuftändigen 
Orts gewiffe ... Erflärungen abgegeben hätten ... in 
etwa als... . Reuebekenntnis?“ 

„Na ja, was hat man nicht alles!" 

„Gewiß, gewiß, und ich will auch weiter Jar nichts 
Näheres ... Эт... Uber es hat mir bloß immer ge: 
Ichienen, daß ©ie Мег gewöhnlich in einem ganz anderen 
Stile gejprochen haben, zum Beifpiel über das Chriſten— 
tum, über die öffentlichen Einrichtungen und jchließlich 
auch über die Negierung ...” 

„Ra, ale ob ich wenig gelprochen habe. Auch jeßt 
fpreche ich noch fo, nur muß man diefe Gedanken nicht 
fo durchführen, wie jene Dummkoͤpfe es wollen. Das Ш 
ed. Aber jonft — mas Ш denn dabei, daß er in die 
Schulter gebilien hat? Sie maren ja felbit in dieſen 
Dingen mit mir einverflanden, nur fagten Sie, es fei 
noch zu früh.‘ 

„sch war eigentlich nicht in dem Sinne mit Shnen 
einverftanden, und auch mit dem ‚zu früh‘ meinte ich 
etwas anderes..." 

„Dann ift alfo jedes Ihrer Зое mit einem Hafen 
verjehen, he—he! Sind wirklich ein vorfichtiger Menſch!“ 
bemerkte Piotr Stepanomitfch plößlich jehr heiter. „Hören 
Sie, mein Teuerſter, ih mußte Sie doch erft ein wenig 


545 


fennen lernen, na, und da hebe ich denn zu «ет Zweck 
eben in meinem Stile geiprochen. Das habe ich nicht 
nur mit Shnen allein jo gemacht, fondern mit vielen. 
Vielleicht wollte ich erjt nur Ihren Charakter kennen 
lernen. 

„Wozu denn meinen Charakter?” 

„ta, wie foll 14 es denn willen, wozu!" (er lachte 
wieder). „Sehen Sie mal, mein lieber und hochver: 
ehrter Andrei Untonowitich, Sie find fchlau, aber dazu 
ift es noch nicht gefommen, wird es auch beftimmt nicht 
fommen, Sie verftehen 504? Vielleicht verftehen Sie 
mich wirflih? Wenn ich auch dort zuftändigen Orts 
Erflärungen gegeben habe, als ich aus dem Auslande zu: 
rüdfehrte, und ich weiß wirklich nicht, warum ein Menſch 
mit gemwiffen Überzeugungen nicht zum Vorteil diejer 
feiner aufrichtigen Überzeugungen handeln follte ... fo 
hat mir dort doch niemand etwas über Ihren Charafter 
gejagt, und ich habe mir noch gar feine Pflichten von 
dort aufladen laſſen. Sie begreifen doch: ich hätte 
ebenfogut nicht Ihnen als erftem zwei Namen zu nennen 
gebraucht, fondern einfach dahin, na, Sie verftehen 
ſchon, — einen Winf geben fönnen, ich meine, dahin, 
wo ich die erften Erklärungen abgab. Na, und wenn ich 
mich etwa für Geld bemühte, oder für fonft irgendeinen 
Vorteil, jo wäre das meinerjeits feine Berechnung ge: 
wejen, denn dankbar wird man jeßt bloß Ihnen fein, 
nicht mir. Uber ich tue eg, wie gejagt, nur wegen Scha= 
toff,“ jagte Piotr Stepanowitſch mit viel Edelmut, „— 
nur für Schatoff, aus alter Freundfchaft ... Na, aber 
dann, meinetwegen, wenn @е dorthin jchreiben, na, 
dann Fönnten Sie mich vielleicht auch ein bifchen loben, 


546 





wenn @е mollen ... werde nicht widerfprechen. 
He—he ... Über jetzt adieu, hab |фоп verboten lange 
bier gefeflen, und eigentlich ſollte man überhaupt nicht 
fo viel ſprechen!“ fügte er nicht unzufrieden hinzu und 
erhob fih vom Diwan. 

„Sm Gegenteil, с8 freut mich fehr, daß diefe An: 
gelegenheit jozufagen bejtimmtere Formen annımmt.” 


Don Lembfe erhob fich gleichfalls und fehr liebens— 
wuͤrdig, — augenfcheinlich noch unter dem Eindrud 


der leiten Worte. „Mit Dank nehme ich Ihre Hilfe an, 
und feien Sie überzeugt, daß ich die Bemerkung über 
Ihren Eifer .„. 

„Sechs Tage, nur ſechs Tage Frift, das Ш die Haupt: 
fache und alles, was ich brauche ... aber daß Sie jich in 
diefen ſechs Tagen nicht rühren!” 

„Gut!“ 

„Verſteht fich, ich binde Ihnen ja nicht die Hände, 
wie jollte ich das auch! Sie fünnen doch gar nicht etwa 
nicht beobachten lafien. Nur — fchreden Sie das ей 
nicht vor der Zeit auf, — das iſt eg, worin ich mich jeßt 
auf Ihre Klugheit und Ihre Erfahrung verlafje! Na, 
Sie haben wohl fchon unzählige Sagdhunde bereit? 
He—he!" plate luſtig und leichtfinnig (eben wie ein 
junger Menſch) Piotr Stepanomitjch heraus. 

„So ſchlimm ift eg gerade nicht”, fagte von Зет 
ausmweichend, doch angenehm berührt. „Das ЦЕ ein Vor: 
urteil der Jugend, die immer alles vorbereitet glaubt... 
Uber erlauben Sie, noch ein Wort: wenn «ег Kirilloff 
Stawrogins Sefundant тат, fo muß doch auch Herr 
Stamrogin in diefem Falle ...“ 

„Wieſo Stawrogin?“ 


547 


„Уф meine, wenn fie ſolche Freunde find?“ 

„ЭВ, nein, nein, nein! Diesmal haben @е fehl: 
gefcholjen, wenn Sie auch ſonſt ſchlau find! Aber Sie 
fegen mich geradezu in Erjtaunen! Denn ich glaubte 
doch, daß Sie in betreff diejer Dinge unterrichtet ind... 
Эт... Stamrogin — das ift das vollfommenjte Gegen: 
teil, das heißt, das vollkommenſte! .. . Avis au lecteur.“ 

„sn der Tat? 318 möglich?” fragte von Lembke 
ungläubig. „Mir hat Julija Michailowna gejagt, daß 
Stamrogin, nach ihren Erfundigungen in Petersburg, 
ein Menſch mit einigen, ſozuſagen, Snftruftionen .. .“ 

„sch weiß nichts, nichts, nichts, Feine Ahnung. Xdieu. 
Avis au lecteur № wich Pjotr Stepanowitſch plöglich und 
nur zu offenfichtlich allen weiteren Tragen aus und 
Ichwirrte |фоп zur Tür. 

„Srlauben Sie, Piotr Stepanomitjch, erlauben Sie, 
noch einen Augenblid!" rief ihn von Lembke zurüd. 
„Хоф ein Wort, und dann halte ich Sie nicht mehr auf.” 
Er nahm aus einem Schubfach einen Brief heraus. 

„Sehen Sie, — gleichfalls ein Eremplar, das in diefe 
Kategorie gehört. Und hiermit beweiſe 14 Ihnen, daß 
ich das größte Vertrauen zu Ihnen habe. Was fagen 
Sie zu diefem Brief?" 

Es тат ein jonderbarer Brief: ohne Unterfchrift, an 
Herrn von Lembfe adrefjiert, und дейети erft hatte er 
ihn erhalten. Pjotr Stepanowitich las zu feinem größten 
Ürger folgendes: 


„Eure Erzellenz! 


Sintemal Sie das nach Ihrem Range find. Hier: 
mit melde ich Mordanichläge auf alle Hohen Würden: 


548 





träger und das Vaterland; fintemal е8 gerade dazu 
führt. Habe felbit vieles ununterbrochen jahrelang 
verftreut. Auch Gottlofigfeit ift dabei. Ein Aufftand 
bereitet ich vor und Proflamationen gibt es Taufende, 
und nach jeder laufen dann hundert Nenn mit 
hberausgeftredter Zunge, wenn fie die Negierung nicht 
vorzeitig fortnimmt, ſintemal man viel verjpricht 
und das einfache Volf dumm Ш, und hinzu fommt 
dann noch der Schnaps. Das Volk jucht den Schul: 
digen und wird dieje wie jene verderben. Sch fürchte 
aber diefe wie jene, und bereue, woran ich gar nicht 
teilgenommen, denn meine Verhältni je jind einmal 
fo. Wenn Sie wollen, daß ich Anzeige erftatte zur 
Rettung des DBaterlandes und ebenjo der Kirchen 
und Heiligenbilder, jo Тапп dag nur ich allein. Aber 
mit der Bedingung, daß man mir Begnadigung aus 
der dritten Abteilung telegraphijch zujagt, jofort und 
mir allein von allen; Ме anderen fünnen es dann 
ausbaden. Auf dag Fenſter beim Portier ftellen 
Sie zum Zeichen jeden Tag abends um Sieben Uhr 
ein Licht. Sehe ich diejes, jo werde ich glauben und 
fomme dann, um die barmherzige Hand aus Peters: 
burg zu füfjen, aber mit der Bedingung, daß ich eine 
Penfion erhalte, ſintemal wovon foll ich denn fonft 
leben? Sie werden es nicht zu bereuen brauchen, 
denn für Sie fommt dabei ein Orden heraus. Aber 
vorfichtig muß man jein, fonft drehen ſie einem den 
Hals um! | 
Euer Erzellenz verzweifelter Menſch 
fällt vor Euer Erzellenz auf die Knie 
als reuiger Freidenker Inkognito.“ 


549 


Don Lembke erflärte, daß man den Brief geftern 
beim Portier gefunden hatte. 

„Bas halten Se davon?” fragte Piotr Stepanomitich 
beinahe grob. 

„sch würde annehmen, daß das ein Schmähbrief 11 
... ein anonymer, zum Spott . 

„nöchftwahrfcheinlich wird es auch fo fein. Sie kann 
man wirklich nicht fo leicht Hintere Licht führen.“ 

„Und vor allen Dingen deshalb, weil e8 fo dumm iſt.“ 

„Haben Sie hier пой irgendwelche Schmähbriefe Бег 
formen?” 

„Sa, zweimal, und beide anonym.” 

„Ха, verfteht fich doch von felbft, daß die fich nicht 
unterzeichnen werden! — Зещебе Stil? Diejelbe 
Handſchrift?“ 

„Nein, verſchiedener Stil und verſchiedene Handſchrift.“ 

„Und ebenſo naͤrriſch wie dieſer?“ 

„Ja, auch naͤrriſch, und wiſſen Sie ... ſehr gemeine 
Briefe.“ | 

„Na, wenn Sie {фоп welche befommen haben, io wird 
её jetzt wohl derjelbe Abſender fein.” 

„And vor allen Dingen, weil ме Briefe jo dumm find. 
Dieſe Leute find doch gebildet und würden |фоп jo dumm 
nicht ſchreiben.“ 

„Natürlich, verſteht fich.” 

„ber wie, wenn nun wirklich techn etwas an: 
zeigen will?" 

„Das ift fehr unwahrscheinlich”, ſchnitt Piotr Stepa= 
nowitich troden ab. „Was foll denn das Telegramm aus 
der dritten Abteilung bedeuten? und die Penfion? Es 
ift ja jonnenklar, daß её eine Anulfung ИЕ!“ 


550 





„За... Natürlich”, von Lembke war ein wenig be: 
ſchaͤmt. 

„Wiſſen Ste was! Überlaffen Ste mir den Brief. 
Sc werde Ihnen fofort den Verfaſſer herausfinden. 
Früher noch als Ме anderen,” 

„Nehmen Sie ihn“, fagte von Lembke, doch erſt nach 
einigem Zögern. 

„gaben Sie ihn fchon jemandem gezeigt?” 

„ein, bewahre! Niemandem !" 

„Auch nicht Julija Michailowna?“ 

„Da {её Gott vor! und ums Himmels willen, zeigen 
Sie ihn ihr auch nicht!" rief von Lembke erfchroden. 
„Er würde fie [о aufregen ... und fie würde Sich furcht= 
bar über mich ärgern.” 

„Natuͤrlich, verftehe Schon! Sie würde fagen, daß Sie 
felbft daran {фи find, wenn man Ihnen fo was zu 
Ihreiben wagt! Man fennt doch Weiberlogif. Na, aber 
jeßt leben Sie wohl. Vielleicht kann ich Ihnen fchon in 
drei Tagen den Verfaſſer nennen. Uber vergeflen Sie 
nur unjere Abmachung nicht!" 


IV 


Piotr Stepanomwitich war gewiß fein dummer Жен, 
doch Fedjka, der Zuchthäusier, hatte ihn richtig фатаЁ 
terijiert mit dem Ausſpruch: „Der ftellt fich einen Men: 
ichen jo vor, wie er ihn haben will, und fo lebt er 
dann mit ihm.” | 

Pjotr Stepanowitich verlieh Herrn von Lembfe in der 
feften Überzeugung, daß er ihn auf wenigfteng fechs Tage 
beruhigt habe, diefe Frift aber brauchte er unbedingt. 
Doch jeine Berechnung war faljch, und zwar weil er fich 


551 


Herrn von Lembke von allem Anfange an und gleich für 
immer als vollflommen beſchraͤnkten Menſchen vorgeftellt 
batte. 

Herr von Lembfe war, wie jeder qualvoll mißtrauifche 
Menſch, im erften Augenblid des Aus—-ſich ſelbſt-hinaus⸗ 
gehens ftet8 von größter und freudiger Vertrauensfelig- 
feit. Die neue Wendung der Dinge erichien ihm nun 
зипафЙ in recht angenehmer Form, troß der etlichen 
neueingetretenen Verwicklungen, die Achtſamkeit er: 
beifchten. Doch wenigſtens zerfielen feine alten Zweifel 
iegt in Staub und che. ber die legten Tage hatten 
ihn fo müde gemacht, und er fühlte fich fo gequält und fo 
hilflos, daß feine Seele ſich unmillfürlid nach Ruhe 
lehnte. Leider ат gerade jett diefe Unruhe wieder 
über ihn. Das lange Leben in Petersburg Hatte in feiner 
Seele unvermilchbare Spuren hinterlajjen. Die offizielle 
und fogar die geheime Gejchichte der „neuen Genera— 
tion” war ihm ziemlich befannt — таг er dod) ein wiß— 
begieriger Menfch, der ſelbſt Proflamationen jammelte 
—, nur hatte er noch nie auch nur ein Wort von diejer 
ganzen Geſchichte begriffen. Jetzt aber ftand er da mie 
in einem Walde: mit allen Snftinkten ahnte er, daß in 
Pjotr Stepanomitihs Worten etwas fchier Unmögs 
liches enthalten war, irgend etwas außerhalb aller For: 
men und Vereinbarungen — „wenn auch übrigens der 
Teufel wiſſen mag, was da in Diejer ‚neuen Generation‘ 
alles möglich ift und überhaupt ... wie jie das da alles 
machen! dachte er bei ſich und verlor fich in Erwägungen. 

Da ftekte zum Unglüd wieder Bluͤmer feinen Kopf 
durch die Tür. Die ganze Zeit während der Anweſen— 
heit Piotr Stepanowitjchs hatte er in der Nähe gewartet. 


592 








Diefer Blümer war пиЁ Herrn von ет Бе fogar ver: 
wandt, wenn auch allerdings nur weitläufig, doc) diefe 
Derwandtichaft wurde fjorgfältig und Angftlich geheim: 
gehalten. Ich bitte den Leſer um Entjchuldigung, daß 
ich Мег über diefen unbedeutenden Menfchen ein paar 
Bemerkungen einfüge. Bluͤmer gehörte als Menfch zu 
der fonderbaren Abart der „unglüdlichen‘ ЗеиНфеп — 
jedoch nicht infolge feiner tatjächlich großen Zalentlofig: 
feit, jondern einfach Gott weiß weshalb. Dieje „uns 
glüdlichen” Deutichen find feine Mythe, fondern find 
wirklich vorhanden, jogar in Nußland, und haben ihren 
beionderen Typ. Herr von Lembke hatte für diefen 
Bluͤmer von jeher ein geradezu rührendes Mitgefühl 
und verjchaffte ihm, wo er nur konnte, und natürlich im 
Verhältnis zu ſeinen eigenen Fortichritten, immer 
beilere Stellen in feinem Nefjort; doch Blümer hatte 
nirgends Оше. Bald wurde der Poften aufgehoben, 
bald befam er einen neuen Vorgefeßten, und einmal 
hätte man ihn beinahe mit anderen zufammen vors 
Bericht gebradht. Er war gewiljenhaft, doch leider 
irgendwie fo, daß es ſchon zuviel war — zwedlog ge: 
wiljenbaft, und außerdem ewig mürrifch, was ihm uͤberall 
Ichadete, — dabei rothaarig, groß, ein wenig krumm, 
wehmütig, ſogar gefühlvoll, und bei all feiner Unter: 
würfigfeit doch eigenfinnig und halsftarrig wie ein Stier, 
freilich immer am unrechten Ort und zur unrechten Zeit. 
An Lembke hing er nebft feiner Frau und feinen zahllofen 
Kindern mit einer langjährigen und ehrfürchtigen, treuen 
und ergebenen Anhänglichkeit. Außer Lembke gab es 
feinen Menfchen, der ihn je auch nur gemocht Hatte. 
Julija Michailowna hatte ihn jofort und mit aller Ent— 


_ 


36 Doſtojewski, Die Dimonen. BD И. 553 


Ichiedenheit abgelehnt, doch verabichteden konnte fie ihn 
nicht, weil der Widerftand ihres Mannes in мет 
Punkte nicht zu brechen war. За, diefer Blümer war bie 
Urfache ihres erften ehelichen Streites geweſen, und 
zwar gleich in den erften füßen Tagen nach der Hochzeit, 
als fie plößlich das fränfende Geheimnis diefer neuen 
Derwandtichaft erfahren hatte. Es half auch nichts, daß 
ihr Gatte flehend, mit gefalteten Händen, auf fie ein— 
redete und ihr gefühlvoll Blümers ganze Lebensgefchichte 
erzählte, jowie die Geſchichte ihrer Freundſchaft von 
Kindheit an: Julija Michailowna Мей fich für unwider— 
ruflich blamiert und verfuchte fogar mit бита: 
anfällen ihren Willen durchzufeßen. Doch von Lembke 
wich troßdem nicht einen Schritt von feinem Stand: 
punft und erflärte nur, daß er feinen Blümer шт feinen 
Preis von fich entfernen werde, fo daß fie fich ſchließlich 
ehrlich über ihn wunderte und gezwungen war, ihm 
diefen Blümer zu „geftatten”. Es wurde nur befchloffen, 
die Verwandtfchaft mit ihm noch forgfältiger als bisher 
geheimzuhalten, wenn das überhaupt möglich war, und 
logar feinen Ruf: und Vaterenamen durch andere zu 
erfegen, denn auch Blümer hieß jonderbarerweife genau 
wie von Lembfe Andrei Antonowitſch. Hier bei ung 
verfehrte Blümer mit feinem Menfchen, außer mit 
einem deutfchen Apotheker, hatte auch bei niemandem 
Зеиф gemacht und, feiner Gewohnheit getreu, zurüd: 
gezogen und fparfam gelebt. Ihm waren auch die lite: 
varifchen Sünden von Lembkes befannt, denn er war es, 
der den Zuhörer abgeben mußte, wenn von Lembke 
feinen Roman vorlejen wollte, was er natürlich nur mit 
aller Vorficht und bei verschloffenen Türen tat: dann ſaß 


554 





Bluͤmer an die ſechs Stunden wie ein Pfoften da, ſchwitzte 
und firengte ſich krampfhaft an, nicht einzufchlafen, ſon— 
dern wach zu bleiben und zu lächeln. Kam er dann nach 
Haufe, jo jeufzte er zufammıen mit feiner hageren, groß: 
füßigen Frau über die unfelige Vorliebe ihres Wohl— 
täters für die ruſſiſche Riteratur. 

Andrei Antonowitich litt geradezu, als er den eine 
tretenden Blümer erblidte. 

„sch bitte dich, Blümer, mich jetzt in Ruh zu laſſen“, 
begann er erregt und ſchnell, fichtlich bemüht, eine Fort: 
\eßung des Geipräches, das Pjotr Stepanowitfch unter: 
brochen hatte, zu vermeiden. 

„Хай kann das ja auf die ſchonendſte Weife machen. 
Sie haben doch die Vollmacht”, beitand Blümer еб: 
erbietig aber hartnädig auf dem Seinen, und näherte 
jich mit Heinen Schritten und krummem фей immer 
mehr dem Schreibtiſch. 

„Bluͤmer, du bift mir wirklich in einem Grade zu: 
getan und im deinem Ant dienfteifrig, daß mir fchon 
angft und bange vor dir wird, wenn ich dich nur eı= 
blide № 

„Ste machen immer fcharflinnige Bemerkungen, aber 
dann lafjen Sie fich von dem Vergnügen an dem Ges 
jagten ruhig einfchläfern. Damit Schaden Sie fich ſelbſt.“ 

„Bluͤmer, ich Бабе mich foeben überzeugt, Daß etwas 
ganz anderes dahinterſteckt, etwas ganz anderes!” 

„Doc nicht aus den Worten diejes faljchen, laſter— 
haften Menfchen, den Sie jelbft verdächtigen? Hat er 
Sie glüdlich mit falfhem Lob Ihres literarifchen Tas 
lentes jo тей geblendet?“ 

„Dlümer, du ahnft ja nichts! Dein Projelt И eine 


— 555 


Abjurdität, jage ich dir. Wir werden nichts finden, es 
wird 14 nur unnüßes Gejchrei erheben und dann Ges 
lächter und dann ЗиШа Michailowna ...“ 

„Bir werden bejtimmt alles finden, was wir ſuchen“, 
Blümer ſchritt Гей auf ihn zu, die rechte Hand ans Herz 
gepreßt. „Wir fönnen die Durchfuchung feiner Wohnung 
ganz früh am Morgen vornehmen, und ganz plößlich, 
ohne alle Vorbereitungen, mit aller Schonung feiner 
Perſon, und dabei ftreng nach der Vorjchrift des Geſetzes. 
Die jungen Leute, Laͤmſchin und ZTelätnikoff, verfichern 
feljenfeit, daß wir bei ihm alles Gewünjchte finden 
werden. Sie haben ihn früher oft befugt. Für Herrn 
Werchowenski ИЕ Мег niemand jehr zu haben, und die 
Generalin Stawrogin hat ihm formell ihre Wohltaten 
für weiterhin gekündigt, und jeder ehrliche Menjch, wenn 
es ſolch einen in viejer rohen Stadt überhaupt gibt, ift 
überzeugt, daß dort immer die Quelle des Unglaubens 
und der jozialen Kehren geweſen И. Er bejist alle ver: 
botenen a jämtlihe Werke Herzens, Nylejeffs 
„Зипи)*)... Ich habe F ſchon auf alle Fälle ein Ver: 
zeichnis feinen Зифег .. 

„Gott, ме Bücher bat heute doch |фоп ein — 
Wie naiv ги bift, mein armer Blümer !“ 

„Und eine Menge Proflamationen“, fuhr Blümer fort 
*) Kondratij $. Rylejeff, geb. 1795, Dichter, von Puſchkin 
und Byron beeinflußt, fuchte durch Berherrlihung bijtorifcher 
Geſtalten Bürgerfinn und Unabhängigfeitögefühl zu weden, wurde 
als einer der 121 „Delabrijten” (fiehe Anm. Bd. J, ©. 300) ab: 
geurteilt und am 14. Juli 1826 als einer der fünf zum Tode 
durh den Strang Verurteilten gehängt. Seine „Dumy“ (hifto: 
{фе Lieder der Ukraine) waren lange Zeir nur handſchriftlich 
verbreitet. Е. к. В. 


556 


- eo — — 


und tat, als habe er Ме Bemerkung nicht gehört. „Wir 
werden auf dieje Зее beftimmt auf die Spur der neuen 
Proflamationen fommen. Diefer junge Werchomenstfi 
fommt mir ungemein, ungemein verdächtig vor.” 

„бег du verwechlelft ja den Vater mit dem Sohn! 
Sie vertragen fich durchaus nicht. Der Sohn verjpottet 
ihn ja ganz ungeniert.” 

„Das Ш Doch nur Verftellung, Maske !" 

„Bluͤmer, du Бай mohl gefchworen, mich zu Tode zu 
quälen! Denk doch ein bißchen nach! Er ЦЕ doch Бег in 
der Stadt immerhin eine geachtete Perjönlichkeit. Er 
war Profeflor, er ИЕ überall befannt, und wenn er zu 
Ichreien anfängt, wird es gleich alle Welt willen, und 
dann beginnt das Witzeln über ung, und dann gelingt 
ung nichts mehr ... und bedenfe doch nur, was wird 
Julija Michailomna адепт...” 

Blümer т immer näher und hörte auf feinen Ein: 
wand. 

„Er war nur Dozent und meiter nichts, nur Dozent, 
und Ш dem Titel nach nur Kollegienafjejlor außer 
Dienſt.“ Blümer preßte heftig feine rechte Hand auf 
die Bruft. „Keinen einzigen Orden hat er und zum 
Staatsdienft ift er überhaupt nicht herangelommen, weil 
man feine Abfichten gegen die Regierung Tannte. Er 
ftand im geheimen unter polizeilicher Auflicht und fteht 
wohl zweifellos auch jeßt noch darunter. In Anbetracht 
der beginnenden Unorönungen то Sie geradezu ver: 
pflichtet, zu tun, was ich Ihnen riet. Sie aber laſſen 
eine jolhe Möglichkeit, fich auszuzeichnen, wieder Фот: 
übergehen! Sehen dem Hauptichuldigen einfach durch 
die Finger! .. 


557 


„Julija Michailomna! Sch—Icher dich zum ...” rief 
plöglich von Lembke, der die Stimme feiner Frau im 
Nebenzimmer gehört hatte. 

Blümer zudte zufammen, 504 ergab er ſich noch 
nicht. 

„So erlauben Sie doch, erlauben Sie doch“, er trat 
immer naͤher und preßte jetzt ſchon beide Haͤnde an die 
Bruſt. 

„Sch—ſcher dich, pack dich!“ knirſchte Andrei An— 
tonowitſch. „Mach, was du willſt „.. jpäter .„.. O 
Gott!" 

Die Portiere wurde zur Seite gejchlagen, und Sulija 
Michailowna erjchien. Als fie Blümer erblidte, blieb 
fie jtehen und mufterte ihn hochmütig und beleidigend 
vom Kopf bis zu den Füßen, als wäre |фоп feine bloße 
Anweſenheit Fränfend für fie. Blümer machte ftumm 
eine tiefe, ehrerbietige Verbeugung vor ihr und ging 
dann, поф krumm vor Ehrerbietung, auf den Fuß— 
Ipißen zur Zür. 

War es nun, daß er die leften Worte von Lembkes 
für die Erlaubnis nahm, jo zu handeln, wie er wollte, 
oder ob er её von fich aus unrechtermweije, jedoch in der 
feften Überzeugung tat, jeinem Wohltäter zu einem 
Drden zu verhelfen, — das mag dahingeftellt bleiben. 
Jedenfalls ermwuchs, wie wir weiterhin jehen werden, 
aus dieſem Geſpraͤch des Vorgefeßten mit feinem Unter: 
gebenen etwas ganz Unvorhergejehenes, das viele zum 
Lachen reizte, als es befannt ward, aber Julija Michai: 
lomnas hellen Zorn erregte. Don Lembfe dagegen 
wurde dadurch in der enticheidendften Zeit in die Бе: 
dauernsmwertefte Unentjchlojjenheit verjeßt. 


598 





у 

Für Piotr Stepanowitich war es ein gefchäftiger Tag. 
Nachdem er von Lembke verlaſſen hatte, begab er fich 
Ichnell zur Bogojamlenskftraße, doch als er unterwegs 
in der Bpfoffitraße an dem Haufe vorüberfam, in dem 
Karmafinoff wohnte, blieb er plößlich ftehen, lächelte und 
trat ins Haus. Man öffnete ihm mit einem: „Der Herr 
erwarten bereits —“, was Piotr Stepanowitſch fehr be: 
merfenswert eriwien, denn er hatte durchaus nicht 
gejagt, daß er fommen werde. 

Der „große Schriftiteller erwartete ihn in der Tat, 
und zwar jchon jeit drei Tagen, denn vor vier Tagen 
hatte er das Manuffript feines „Merci” (feinen Abſchieds— 
gruß ans Publikum, den er auf der literarifchen Matinee 
zum Beſten armer Gouvernanten vorzulejen gedachte) 
Werchowenski eingehändigt. Er hatte es aus Liebens— 
würdigfeit getan, in der Überzeugung, dem jungen 
Manne außerordentlich zu fchmeicheln, wenn er ihm das 
große Werk fchon vorher zeigte, Piotr Stepanomitjch 
раме jchon Тапа begriffen, daß dieſer ruhmfüchtige, 
eitle und für Nichterwählte jo beleidigend unnahbare 
Herr, Diefer „erhabene Verſtand“, fich einfach an ihn 
herandrängen wollte. Er erriet, daß Karmafinoff ihn, 
wenn auch vielleicht nicht für den erklärten Führer alles 
deſſen Мей, was in ganz Rußland heimlich revolutionär 
war, jo doch wenigftens für einen, der in alle Geheim— 
niffe der ruſſiſchen Revolution eingeweiht war und 
zweifellos großen Einfluß auf die Jugend hatte, Die 
Gedanken dieſes „Hügften Menſchen in ganz Rußland“ 
intereflierten Piotr Stepanowitſch, doch bisher hatte er 
aus gewillen Gründen eine Ausiprache vermieden. 


559 


Der „große Schriftiteller” wohnte im Hauje feiner 
Schweſter, der Frau eines Kammerherrn und Gutsbes 
lißers- die nebft ihrem Mann den „berühmten Ber: 
wandten” geradezu vergötterte. Nugenblidlich mußten 
пе leider beide, zu ihrem größten Schmerz, in Moskau 
leben, jo daß denn eine alte Dame, eine arme Ber: 
wandte des Kammerherrn, die fchon lange im Haufe 
die Wirtichaft führte, die Ehre hatte, Karmafinoff 
zu empfangen und aufzunehmen. Seit feiner Ankunft 
ging das ganze Haus auf den Fußſpitzen, und nie 
mand magte mehr, laut zu fprechen. Die alte Dame 
berichtete faft täglich nach Moskau, wie Karmafinoff ge: 
Ichlafen und was er gegellen hatte, und einmal, als er 
nach einem Diner beim Stadthaupt einen Loͤffel voll 
einer gewillen Medizin hatte einnehmen müfjen, ſchickte 
Пе jogar ein Telegramm ab, in ihrer Furcht, er Fünne 
vielleicht Franf werden. Karmaſinoff 16161 jprach, wenn 
auch höflich, {6 doch nur ganz troden mit ihr, und nur 
wenn es unbedingt nötig war. Als Piotr Stepanomitich 
bei ihm eintrat, aß er gerade ein Kotelett. Vor ihm ftand 
ein Glas Portwein. Piotr Stepanomitich war auch 
früher fchon bei ihm geweſen, und jedesmal hatte er ihn 
bei diefem Morgenfrühftüd angetroffen, das er dann 
ruhig weiter zu efjen pflegte, ohne feinem Gaſt auch nur 
einmal etwas anzubieten. Nach dem Kotelett trank er 
dann ет Täfchen Kaffee. Der Diener war in blauem 
Straf, weichen, unhörbaren Stiefeln und weißen Hand: 
ſchuhen. 

„A—ah!“ rief Karmaſinoff aus und erhob ſich vom 
Sofa, waͤhrend er ſich den Mund mit der Serviette ab— 
wiſchte; darauf trat er auf Piotr Stepanowitſch zu, um 


560 





ihn auf die Wange zu füllen — die charakteriftiiche Эт: 
gewohrheit aller Nufjen, wenn fie jchon gar zu berühmt 
ſind. 

Piotr Stepanowitſch wußte aber ſchon von fruͤher, 
daß Karmaſinoff bei dieſem bei ihm uͤblichen Kuß nur 
die Wange hinzuhalten pflegte — da machte er es dies— 
mal ebenſo: und ſo legten ſich denn beide Wangen flach 
aneinander. Karmaſinoff tat, als haͤtte er nichts bemerkt, 
ſetzte ſich wieder auf ſein Sofa und lud ſeinen Gaſt ein, 
ihm gegenuͤber auf einem Lehnſtuhl Platz zu nehmen, 
was dieſer auch ſofort mit ſeiner ganzen Nonchalance tat. 

„Sie wollen doch nicht ... Wollen Ste nicht fruͤh— 
ftüden?” fragte Karmafinoff ganz gegen jeine Gewohn— 
heit, doch felbftverftändlich in der Annahme, eine höflich 
ablehnende Antwort zu erhalten. 

Aber ungeachtet deſſen oder vielleicht gerade deshalb 
wünfchte Piotr Stepanomitjch ſofort zu frühftüden. Ein 
Schatten beleidigten Erftaunens glitt über das Geſicht 
des Hausherren, doch nur auf einen Yugenblid: nervös 
Elingelte er darauf nach dem Diener und erhob, troß 
jeiner guten Erziehung, launifch die Stimme, als er ein 
zweites Fruͤhſtuͤck beftellte. 

„Wollen Sie denn ein Kotelett oder Kaffee?” er: 
fundigte er fich bei feinem Gaft. 

„Beides, und beftellen Sie noch Portwein dazu, ich 
bin hungrig”, fagte Piotr Stepanomitich jeelenruhig und 
betrachtete Karmafinoffs Koftüm. Es beftand aus einer 
Art von Hausjadett, oder Зайфеп, jedenfalls war es 
wattiert, mit Perlmutterfnöpfen verjehen und ſehr Низ, 
mas jich zu jeinem runden Bäuchlein und dem runden, 
feften Körperteil der Nüdjeite wenig gut ausnahm. 


561. 


Über feine Knie hatte er ein fariertes wollenes Plaid 
gebreitet, obgleich её im Zimmer warm mar. 

„Krank etwa?” fragte Piotr Stepanomitich. 

„Kein, nicht Frank, aber ich fürchte, Frank zu werden 
— in dieſem fchredlichen Klima,” antwortete Karma: 
finoff mit feinem freifchenden Stimmchen, wenn аиф 
freundlich. „Sch erwartete Sie ſchon geftern.“ 

„Warum das? Ich hatte Ihnen Doch nicht veriprochen, 
zu Ihnen zu fommen.” 

„За, aber Sie haben doch mein Manuffript! Sie... 
haben Sie e8 gelejen?” 

„Manuffript? Was für eines?” 

Karmafinoff wunderte fich maßlos. 

„Aber Sie haben es doch wenigftens mitgebracht” rief 
er plößlich fo aufgeregt, daß er fogar im Eſſen innehielt _ 
und mit aufgeriffenen Augen fein Gegenüber anftarrte. 

„Ach fo, Sie jprechen von Ihrem „Bonjour‘, oder wie 
es da Мей...” 

„,Мегсг.” | 

„Na, bleibt fich gleich. Habe es ganz vergellen und | 
noch Fein Wort gelejen. Keine Zeit. Wirklich, ich weiß о 
nicht, in den Taſchen ift das Ding nicht mehr. Na, wird 
lich fchon finden ...“ | 

„Жем, verzeihen Sie, ich ſende lieber ſofort zu Shnen! 
Es fönnte verloren gehen, man fünnte es ftehlen !" 

„Эф wo! wer braucht denn [0 was! Warum regen | 
Sie fich denn überhaupt jo auf? Sie haben doch, wie 
mir Julija Michailowna fagte, immer mehrere ЭП: 
ichriften, eine im Auslande beim Notar, eine in Peters: 
burg, eine in Mosfau ... und eine ſchicken Sie dann 
womöglich noch in die Зап —?“ 


562 





„Aber Moskau апп doch abbrennen, mitfamt meinem 
Manuffript! Nein, ich [ende doch lieber fofort zu Ihnen ..” 

„Warten Sie, Мег Ш es ja!" Piotr Stepanowitſch 
zog aus der hinteren Nodtafche dag Manuſkript hervor. 
„Ein wenig verfnittert. Denken Sie fich nur, fo wie ich 
е8 damals nahm, jo hat es ruhig mit meinem Schnupf— 
tuch in der Taſche gelegen. Hatte es völlig vergefjen.“ 

Karmafinoff warf fich gierig auf fein Manuffript, 
bejah es von allen Seiten, zählte die Blätter nach und 
legte es dann faſt andächtig neben fich auf ein Feines 
Tiſchchen, doch fo, daß er eg jeden Yugenblid wieder er: 
greifen Fonnte. 

„Ste leſen wohl nicht viel?” Fonnte er fich fchließlich 
nicht enthalten zu fragen. 

„Kein, nicht jehr viel.” 

„Und von ruflischer Belletriſtik — wohl überhaupt 
nichts?" 

„Bon ruffiicher Belletriſtik? Warten Sie mal, ich 
glaube, ich Habe einmal fo etwas gelejen ... ‚Unterwegs‘ 
... oder ‚Auf dem Weg‘... oder ‚Am Kreuzweg‘, oder 
wie её da hieß, hab's vergeſſen. Es Ш lange Бег. Las 
es vor etwa fünf Jahren. Hab еше Zeit.” 

Ein furzes Schweigen trat ein. 

„Als ich herkam, verficherte ich allen, daß ©ie ein un: 
gewöhnlich Huger Menfch find — und jeßt fcheinen ja 
auch alle von Ihnen entzüdt zu fein.” 

„Danke“, fagte Piotr Stepanowitich ruhig. 

Der Diener brachte das Frühftüd, und Pjotr Stepa— 
nowitjch machte fich mit gutem Appetit an das Kotelett, 
aß es im Nu auf, flürzte ven Wein hinunter und tranf 
den Kaffee. 


563 


„Diejer Grobian,“ dachte Karmafinoff, indem er поф | 
das letzte Heine Stüdchen von feinem eigenen Zeller aß 
und das [ее Schlüdchen trank, „dieſer Grobian hat 
gewiß jofort die Stichelei in rneinen Morten begriffen... 
und das Manuffript wird er bejtimmt mit Spannung 
gelejen haben, alſo luͤgt er jeßt, um fich den Anjchein zu 
geben, als о6.... Oder jollte er doch nicht lügen, ſondern 
einfach aufrichtig dumm fein? Einen genialen Menfchen 
liebe ich eigentlich fo, wenn er ein wenig dumm ift. Sit 
er nicht gar für die da wirklich fo was wie ein Genie? 
Doch übrigens hol’ ihn der Teufel.” 

Er erhob ſich vom Sofa und begann, aus einer Ede 
des Zimmers in die andere zu gehen, um fich Bewegung 
zu machen, was er nach dem Frühftüd Пе zu tun 
pflegte. 

„Reifen Ste bald zurüd?” fragte Piotr Stepanowitich 
aus dem Lehnſtuhl und rauchte eine Zigarette an. 

„sch bin eigentlich hergelommen, um mein Gut zu 
verfaufen, und hänge nun von meinem Vermalter ab.“ 

„Na, aber eigentlich find Sie doch hierher gefommen, | 
weil Sie dort Epidemien nach dem Kriege erwarteten?“ 

„nein, nicht eigentlich deshalb," ſagte Karmafinoff, 
großmütig die Worte ffandierend, und fuhr fort, durch 
das Zimmer zu fpazieren, wobei er bei jedem Kehrt in 
der Ede munter mit dem rechten Beinchen ausſchritt. 
„sch beabjichtige in der Tat, jo lange wie nur möglich 
zu leben,” lächelte er nicht ganz ohne Зтоше. „Sm 
ruſſiſchen Herrenitand ift etwas, das den Menichen | 
ichnell verbraucht, in jeder Beziehung. Sch aber möchte | 
mich jo |раё wie möglich verbrauchen und werde deshalb 
auch in Bälde endgültig ins Ausland überfiedeln. Dort 


56+ 





ift auch das Klima befjer, und das ganze Gebäude ift aus 
Stein, und alles fteht feiter. Für meine Lebenszeit wird 
Europa noch vorhalten, denke ich. Was meinen Ste?” 

„Wie foll ich’s wiſſen!“ 

„Эт... Wenn dort wirklich einmal Babylon Fracht, 
und fein Fall wird groß fein — darin ftimme ich voll- 
fommen mit Shnen überein, obgleich ich denke, daß es 
für meine Lebenszeit noch vorhalten wird — fo Ш doch 
bei uns in Nußland überhaupt, nichts vorhanden, das da 
zufammenftürzen fünnte ... im Verhältnis betrachtet. 
Dei ung werden feine Steine fallen, fondern alles wird 
lich in Schmuß auflöfen. Das heilige Rußland kann am 
wenigften von allem in der Welt irgendeinen Wider: 
ftand leiften. Das einfache Volk hält fich noch irgendwie 
mit dem ruſſiſchen Gott; aber jelbft der ruſſiſche Gott 
bat ſich ja nach ven letzten Erfahrungen als пиВе ип: 
zuverläjlig erwiefen. Sogar gegen die Bauernreform 
bat er faum ftandzuhalten vermocht — jedenfalls hat er 
arg gewanft. Und dazu fommen jeßt noch die Eifen: 
bahnen, und dann ... Nein, an den ruſſiſchen Gott 
giaube ich |Фоп gar nicht.“ 

„Aber ап den europaͤiſchen?“ 

„sch glaube an feinen einzigen. Man hat mich bei 
der ruſſiſchen Jugend verleumdet. Sch habe fteis jede 
ihrer Handlungen nachfühlen fünnen. Man hat mir hier 
auch мае Proflamationen gezeigt. Man fteht dieſen Flug: 
blättern allgemein verftändnislos gegenüber, denn die 
Form fchredt ab; doch von ihrer Macht find alle über: 
zeugt, wenn fie ſich auch jelbft noch nicht defjen bewußt 
find. Alles fällt Hier fchon längft, und alle willen auch 
ſchon längft, daß nichts da Ш, wonach man greifen oder 


565 


woran man Sich fefthalten koͤnnte. Sch bin ſchon des— 
wegen von dem Erfolg diejer geheimnisvollen Propa= 
ganda überzeugt, weil Rußland jet auf der ganzen Welt 
im wahrſten Sinne des Wortes derjenige Ort Ш, wo 
alles gejchehen kann, ohne den geringften Widerftand 
zu finden. ch verftehe nur zu gut, warum alle wohl: 
habenden Ruſſen jeßt ins Ausland ftrömen und von Sahr 
zu Jahr immer mehr Leute auswandern. Hier ift es 
einfach ein Inftinkt. Wenn das Schiff untergeht, пап: 
dern die Ratten aus. Das heilige Rußland ift ein Hölzer: 
nes Land, ein bettelarmes und ... gefährliches Land, 
ein Land eitler Bettler in feinen höheren Schichten, 
während die riefige Mehrzahl in Hütten auf Hühner: 
beinen hodt. Es wird über jeden Ausweg froh fein, 
wenn man ihm einen jolchen zeigt und erklärt. Nur ме 
Regierung will fich noch wehren, doch fuchtelt fie mit 
ihrem Knüttel im Dunfeln umher und trifft womöglich) 
die eigenen Leute. Hier ift |фоп alles vorausbeftimmt 
und verurteilt. Rußland bat, jo, wie е8 jeßt ift, feine 
Zufunft. Sch bin Deuticher geworden und rechne mir 
das als Ehre an. 

„Sie begannen: da, fich über die Proflamationen zu 
дибеги: fagen Sie, was halten Sie von denen?“ 

„le fürchten die Proklamationen, folglich find fie 
mächtig. Sie deden öffentlich den Betrug auf und Ве: 
weifen, daß Мег nichts mehr ift, an dem man ſich Рей: 
halten, auf das man 14 ftüßen koͤnnte. Sie ſprechen 
laut, während alle fchweigen. Und womit fie am meiften 
befiegen, das ЦЕ — abgejehen von der Form — diefer bie 
jeßt unerhörte Mut, der Wahrheit offen ins Angejicht 
zu jchauen. Dieje Fähigkeit, рег Wahrheit gerade ins 


566 


Angelicht fchauen zu fönnen, hat einzig und allein die 
ruſſiſche Generation. Nein, in Europa ift man noch nicht 
jo mutig: dort iſt's eine fteinerne Herrjchaft, — dort gibt 
es noch etwas, auf das man fich tatjächlich ftüßen fann. 
So viel ich ſehe und fo viel ich zu beurteilen vermag, ift 
der Kern der rulliichen revolutionären Idee die Ver: 
neinung der Ehre. Es gefällt mir, daß das jo mutig und 
furchtlos ausgedrüdt wird. Nein, in Europa begreift 
man das noch nicht, bei ung aber wird man ſich gerade 
darauf ftürzen. Dem ruſſiſchen Menſchen ИЕ die Ehre 
nur eine überflüflige Laft. За, und fie ИЕ ihm immer 
eine Зай gewejen, in feiner ganzen Geſchichte. Mit 
dem öffentlichen ‚Recht auf Unehre‘ апп man ihn ат 
eheſten verloden. Sch gehöre ja noch zur alten Gene: 
ration und, ich muß geftehen, bin noch für die Ehre, aber 
doch nur aus Gewohnheit. Mir gefallen bloß die alten 
Formen, wenn auch vielleicht aus Kleinmut — aber 
man muß 504 irgendwie fein Jahrhundert zu Ende 
leben.“ 

Er brach plößlich ab. 

„Da rede ich und rede,” dachte er bei ſich, „er aber 
ſchweigt und beobachtet mich. Er ift ja nur gefommen, 
Damit ich ganz offen die Frage an ihn ftelle. Gut, kann 
er haben.“ 

„Julija Michailoruna bat mich gebeten, einmal irgend: 
wie auf jchlaue Weife von Ihnen hberauszubefommen, 
was dag für eine Überrafchung Ш, die Sie zu über: 
morgen, zum Ball, vorbereiten?” fragte plößlich Piotr 
Stepanowitſch. 

„Sa, das wird wirklich eine Überraſchung ſein; ich 
werde in der Zat in Erftaunen ſetzen,“ jagte Karma— 


567 


finoff wichtig, „aber ich verrate Ihnen das Geheimnis 
nicht.” | 

Piotr Stepanomitjch beftand weiter nicht darauf. 

„Hier joll ein gewiſſer Schatoff leben,‘ erfundigte fich 
plößlich der „große Schriftiteller”, „und denken Sie пит, 

ich habe ihn noch ше geſehen.“ 
„Ein fehr guter Menſch. Warum fragen Sie?" 

„Nur fo, er joll über gewiſſe Dinge befonderer Anficht 
fein. Das Ш doch derjelbe, der Stamwrogin ins Geficht 
geichlagen hat?“ 

„ga.“ 

„Und Stawrogin — mie denken Sie über den?” 

Ich weiß nicht; irgendein Wuͤſtling.“ 

Karmafinoff Бабе Stawrogin, weil diejer die Ge 
wohnheit hatte, ihn überhaupt nicht zu beachten. 

„еп Wüftling wird man wohl — wenn fich jemals 
das verwirklicht, was die Proflamationen da verkünden, 
— mwahrjcheinlich als erften an einen Alt knuͤpfen“, meinte 
Karmalinoff fichernd. | 

„Vielleicht auch ſchon früher“, bemerkte plößlich Piotr 
Stepanowitſch. | 

„Sp waͤr's auch recht“, ſtimmte Karmalinoff bei. 

„Das haben Sie jchon einmal gejagt, und wiſſen Sie, 
ich Бабе её ihm wiedererzaͤhlt.“ | 

„Wie, haben Sie das wirklich?” lachte Karmafinoff | 
wieder auf. | 

„За. Er fagte darauf, daß, wenn man ihn en einen 
Aft inüpfen jolle, es für Sie genügen würde, wenn man 
Ihnen einmal ordentlich Ruten gäbe, aber nicht etwa 
um der Ehre willen, {опеки jchmerzhaft, wie man jo 
einem Burjchen Ruten zu geben pflegt.“ 


568 





Piotr Stepanomwitich nahm feinen Hut und erhob fich. 
Karmafinoff ftredte ihm zum Abſchied beide Hände ent: 
gegen. 

„ber wie,” fragte er plößlich mit kreiſchendem, doch 
honigſuͤßem Stimmchen in einem ganz bejonderen Зои: 
fall, während er ihn immer noch an beiden Händen 
hielt, „— mie, wenn es nun einmal alledem beftinmt 
ist, Jich zu verwirklichen ... alledem, was man da Бег 
abjichtigt, jo... mann fünnte denn das wohl ges 
Ichehen 

„Wie foll ich denn das wiſſen?“ fragte Piotr Ste: 
panowitjch grob. 

Sie jahen ich beide aufmerkſam in die Augen. 

„un, zum Beiſpiel? Ungefähr?” flötete Karmafinoff 
noch füßer. 

„Ihr Gut zu verlaufen werden Sie noch Zeit haben, 
und fich felbft zu retten werden Ste auch noch Zeit 
haben‘, murmelte Piotr Stepanowitſch mit noch größerer 
Grobheit. 

Sie ſahen ſich unverwandt, ſahen ſich noch aufmerk— 
ſamer an. 

Eine Minute lang herrſchte Schweigen. 

Ploͤtzlich ſagte Piotr Stepanowitſch: 

„Im naͤchſten Mai wird es beginnen, und zum Oktober 
wird es beendet ſein.“ 

„Ich danke Ihnen aufrichtig!“ ſagte mit von Dank 
durchdrungener Stimme Karmaſinoff und druͤckte ihm 
beide Haͤnde. 

„Wirſt noch Zeit haben, Ratte, vom Schiff auszu— 
wandern!" dachte Piotr Stepanowitſch, als er auf die 
Straße trat. „Aber wenn jogar diejer ‚geradezu ftaats- 


37 Doitojewdti, Die Dämonen. Bd. II. "569 


männifche Kopf‘ fich fe überzeugt |фоп nach Tag und 
Stunde erfundigt und fo ehrerbietig für die erhaltene 
Mitteilung dankt, dann dürfen wir doch mahrlich nicht 
mehr an ung zweifeln.” (Er lächelte feltfam). „Hm... 
Ader er НЕ doch unter ihnen wirklich nicht dumm und... 
aber alles in allem doch nur eine auswandernde Natte; 
eine folche zeigt nicht an.” 

Er eilte in die Bogojawlensfftraße zum Filippofffchen 
Haufe. 

УТ 

Piotr Stepanomitich ging змей zu Kirilloff. Der war 
wie gewöhnlich allein zu Haufe und turnte gerade, 5. 6. 
er drehte, breitbeinig mitten im Zimmer ftehend, die 
Arme nach einer befonderen Methode durch die Luft. 
Auf dem Fußboden lag ein großer Ball; vom Tiſch war 
der Morgentee noch nicht weggeräumt. Pjotr Stepa= 
nowitjch blieb eine ganze Weile auf der Zürfchwelle 
ſtehen. 

„Sie ſorgen aber einſtweilen nicht wenig fuͤr Ihre 
Geſundheit,“ ſagte er dann laut und trat luſtig ins 
Zimmer. „Was fuͤr ein famoſer Ball! Ei der Teufel, 
wie der ſpringt! Auch zur Gymnaſtik?“ 

Kirilloff, der in Hemdsaͤrmeln war, zog ſich den 
Rock an. 

„Ja, auch zur Geſundheit,“ ſagte er trocken. „Setzen 
Sie ſich.“ 

„Ich bin nur auf einen Augenblick gekommen. Aber, 
na, ſetzen kann ich mich ſchon. Doch Geſundheit hin, Ge— 
ſundheit her, — ich wollte nur an die Abmachung er: 
innern. Unfere Friſt nähert fich ‚in gewiſſem Sinne‘ 
ihrem Ende“, jchloß er mit einer ungejchidten Ausrede. 


570 





„Bas für eine Abmachung?” 

„Wieſo, was für eine Abmachung?” rief Pjotr Ste: 
panomitjch aufhorchend, faft erjchroden. 

„Das ift feine Abmachung und feine Pflicht, ich habe 
mich mit nichts gebunden, ©ie irren Sich.” 

„Hoͤren Sie, aber dag geht doc) nicht fo!" Pjotr Ste: 
panomitjch fprang fogar vom Stuhl auf. 

„Mein eigener Mille, 

„Die, was?" 

„Derjeibe Wille.‘ 

„Das heißt, wie Ш denn das zu verfichen?! Bedeutet 
dag, daß Sie noch denjelben Willen haben?“ 

„sa, das bedeutet das. Nur eine Abmachung war 
nicht dabei und ift nie geweſen, und ich habe mich mit 
nichts gebunden. Es war nur mein Wille und Ш auch 
jetzt nur mein Wille.“ 

Kirilloff ſprach ſchroff und widerwillig. 

„Na, ſchoͤn, dann meinetwegen bloß Ihr Wille, wenn 
dieſer Wille ſich nur nicht verändert!" Pjotr Stepano— 
witſch ſetzte ſich wieder, augenſcheinlich befriedigt. „Sie 
aͤrgern ſich uͤber Worte. In der letzten Zeit ſind Sie 
ganz beſonders reizbar geworden. Darum habe ich es 
auch vermieden, Sie zu Беифеп. War übrigens immer 
überzeugt, daß Sie nicht treulog fein würden. 

„Ich mag Sie gar nicht, aber Sie fünnen ganz über: 
zeugt fein! Wenn ich auch Treue oder Untreue nicht 
anerienne.” 

„Uber, willen Sie, einftmweilen ...”“ Piotr Stepano— 
witſch regte fich doch wieder auf, „man muß doch ver- 
nünftig darüber reden, damit feine Mißverftändniffe 
entitehen. Die ganze Sache verlangt eben Beſtimmtheit. 


37% 5741 


Sie aber haben mich wirklich ftußig gemacht. Darf ich 
ſprechen?“ 

„Sprechen Sie“, ſagte Kirilloff, blickte ihn aber nicht 
an, ſondern ſah in die Ecke. 

„Sie hatten ſchon laͤngſt beſchloſſen, ſich das Leben zu 
nehmen ... das heißt, Sie hatten ſolch eine Idee. Habe 
ich mich ſo richtig ausgedruͤckt? Habe ich keinen Fehler 
gemacht?“ | 

„sch habe auch jet diejelbe Idee.“ 

„Vorzüglich. Vergeſſen Sie aber nicht, daß niemand 
Sie dazu gezwungen hat.” 

„Das fehlte noch! Wie dumm Sie ſprechen!“ 

„Gut, gut. Sch gebe zu, daß ich mich vielleicht ſehr 
töricht ausgedrüdt Бабе. Es märe ja auch zweifellos 
ſehr dumm gemejen, einen Menichen dazu zwingen zu 
wollen. Sch fahre alſo fort: Sie waren ein Glied des 
Verbandes — noch zur Zeit der alten Organifation — 
und vertrauten fich Damals einem anderen Gliede Kieler 
Geſellſchaft an. | 

„sch habe mich gar nicht anvertraut, ich habe einfach | 
geſagt.“ | 

„But. Schön. Wäre ja auch lächerlich, fich ‚anzu: 
vertrauen‘, als ob es eine Beichte wäre! Sie haben 
alfo einfach gefagt .. . na, wunderſchoͤn.“ 

„Kein, gar nicht wunderjchön, Sie verftehen nicht zu 
iprechen. Ich bin Ihnen gar Feine Rechenschaft ſchuldig, 
ja, und meine Gedanken fünnen Sie gar nicht verfiehen. | 
Sch will mir das Leben nehmen, darum, тей ich ſolch 
einen Gedanken habe, weil ich nicht haben will, daß 
e8 Angſt vor dem Tode gibt, шей... тей Sie davon 
gar nichts zu wiſſen brauchen ... . Was wollen Sie? Tee 


572 








trinfen? Er И falt. Warten Sie, ich werde Ihnen ein 
anderes Glas geben.“ 

Piotr Stepanowitich hatte nach der Teefanne ge: 
griffen und fuchte ein leeres Gefäß. Kirilloff ftand auf, 
ging zum Schranf und brachte ihm ein reines Glas. 

„Sch habe fveben bei Karmaſinoff gefruͤhſtuͤckt,“ Бег 
merkte der Saft, „Darauf hörte ich zu, wie er redete und 
da wurde mir heiß ... lief hierher — habe дев ſchreck— 
lichen Durſt.“ 

„Zrinfen Sie. Kalter Tee ift gut.” 

Kirilloff ſetzte ИФ wieder auf jeinen Stuhl und blidte 
von neuem ш die Ede. 

„In der Geſellſchaft entitand der Gedanke,” fuhr er 
mit derjelben Stimme fort, „daß ich damit nüßlich fein 
fann, wenn ich mich töte und daß, wenn Sie hier vieles 
gemacht haben und man die Schuldigen fucht, fo er: 
ſchieße ich mich plößlich und БичейаЙе einen Brief, 
daß ich alles getan habe, jo daß man Sie ein Jahr lang 
nicht verdächtigen wird.“ 

„Denn auch nur ein paar Zage lang nicht. Auch ein 
Tag ift ſchon koſtbar!“ 

„Gut. So jagte man mir, daß ich, wenn ich mill, 
warten joll. Sch fagte, ich werde warten, bis man mir 
die Frift von der Gejellichaft aus fagt, weil mir doch 
alles einerlei iſt.“ 

„sa, aber vergejjen Sie nicht, Sie verpflichteten fich 
noch, diejen leßten Brief vor dem Tode nicht anders als 
mit mir zufammen zu jchreiben — und, daß Sie, wenn 
Sie in Rußland angefommen fein würden, in meiner, 
... na, mit einem Worte, zu meiner Verfügung ftehen, 
das heißt, verfteht jich, nur in diejer einen Beziehung ... 


573 


In allen anderen find Sie natürlich volllommen frei, 
fügte Piotr Stepanewitfch faft liebenswürdig hinzu. 

„sch Бабе mich nicht verpflichtet, war nur einver- 
ftanden, weil eg mir етейе iſt.“ 

„Vorzüglich, vorzüglich, ich habe nicht Die geringfte 
Abficht, Ihre Eigenliebe zu verlegen aber ...” 

„Hier Ш gar Feine Eigenliebe. 

„Aber vergejien Sie nicht, daß man Ihnen — 
undzwanzig Taler zur Reiſe gegeben hat, alſo haben Sie 
Geld genommen.“ 

„Gar nicht,“ fuhr Kirilloff auf, „das Geld war gar 
nicht dafuͤr! Das tut man nicht fuͤr Geld.“ 

„Zuweilen tut man es doch.“ 

„Sie luͤgen! Ich habe brieflich aus Petersburg alles 
erklaͤrt, und in Petersburg habe ich Ihnen hundertund— 
zwanzig Taler zuruͤckgezahlt, Ihnen in die Hand ... und 
die find dorthin zurüdgefchidt, wenn Sie fie nicht bei 
ſich behalten haben.” 

„Gut, gut, ich will nicht widerjprechen, fie find zurüd- 
geichiät. Die Hauptjache Ш ja nur, daß Sie noch die: 
felben Gedanken haben, иле früher.” 

„Зет. Wenn Sie kommen und fagen: ‚jeßt‘, dann 
werde ich alles erfüllen. Wie — wird es ſehr bald fein?“ 

„Nicht mehr viele Заде... Aber vergeflen Sie nicht: 
den Brief jchreiben wir zufammen, in derjelben Nacht.” 

„Meinetwegen auch am Zage. Sie fagten, ih muß 
die Proflamationen auf mich nehmen?” 

„Und noch einiges.” 

„Sch nehme nicht alles auf mich. 

„Bas werden Gie denn nicht = ſich nehmen?“ 
Pjotr Stepanowitſch erſchrak wieder. 


574 





| 
| 


„Das, was ich nicht will. Genug jeßt. Ich mag nirht 
mehr davon ſprechen.“ 

Piotr Stepanomitjch bezwang fich und änderte das 
Geſpraͤch. 

Ich rede jetzt von etwas anderem,“ ſchickte er voraus, 
„werden Sie heute Abend zu den Unſrigen kommen? 
Mirginsfi feiert feinen Namenstag, und unter dieſem 
Vorwande verfammelt man ich.“ 

„Nein, ich will nicht.“ 

„tun, feien Sie jchon fo hiebensmürdig und fommen 
Sie. Es Ш unbedingt nötig. Man muß Eindrud machen 
mit der Zahl wie mit dem Geficht ... Sie aber haben 
jo ein Geſicht ... nun, mit einem Wort, Sie haben ein 
fatales Geſicht.“ 

„Sie finden?” Kirilloff lachte. „Gut, ich komme; aber 
nicht wegen des Gefichtes. Wann?“ 

„о, vielleicht |фоп etwas früher, um halb fieben. 
Und willen Sie, Ste fünnen hereinfomnen, fich jeßen 
und mit feinem einzigen ein Wort jprechen, wie viele da 
auch fein mögen. Doch noch eines! Hören Sie: ver: 
geilen Sie nicht, ein Blatt Papier und einen DBleiftift 
mitzunehmen.“ 

„Wozu das?“ 

„Aber Ihnen iſt doch alles einerlei, und das iſt nun ein— 
mal meine beſondere Bitte. Sie werden alſo nur ſitzen, 
mit niemandem ſprechen, zuhoͤren und hin und wieder 
ſo was wie Notizen machen, na — zeichnen Sie meinet— 
wegen.“ 

„Welch ein Unſinn. Wozu?“ 

„Aber wenn Ihnen doch alles ganz egal iſt? Sie 
ſagen doch ſelbſt immer, daß Ihnen alles egal iſt.“ 


575 


„ein, wozu?" 

„Na, weil ein bejtimmtes Mitglied des Bundes, der 
Reviſor, fih in Moskau niedergelafien hat, und ich habe 
da einigen gejagt, daß er vielleicht erfcheinen wird. Sie 
werden dann denken, daß Sie diejer Reviſor find. Und 
da Sie ſchon drei Wochen bier find, fo wird man #9 noch 
mehr wundern.” 

„Albernheiten. Sie haben ja überhaupt feinen Зе: 
viſor in Moskau .. 

„Na, meinetwegen nicht, hol ihn der Teufel, aber 
was macht denn Ihnen das aus? Sie find doch immerhin 
auch ein Glied des Bundes.” 

„Sagen Sie ihnen meinetmwegen, daß ich der Revilor 
bin, ich werde fißen und fchmeigen, aber Papier und 
Bleiſtift will ich nicht. 

„Sa, warum denn nicht?“ 

„sch will nicht.” 

Piotr Stepanomitich ärgerte fich dermaßen, daß er 
ganz fahl im Geficht wurde, bezwang ИФ aber wieder; 
er ftand auf und nahm feinen Hut. 

„Und jener — Ш bei Ihnen?” fragte er plößlich 
halblaut. 

„За, bei mir.‘ 

„Das ИЕ gut. Sch werde ihn bald wieder fortichaffen, 
beunruhigen Sie fich nicht.” 

„Уф beunruhige mich gar nicht. Er jchläft nur hier. 
Die Alte Ш im Krankenhaus. Die Schmiegertochter Ш 
geftorben; ich bin zwei Tage allein. ch habe ihm eine 
Stelle im Zaun gezeigt, wo er ein Brett herausnehmen 
kann; er friecht durch, niemand fieht ihn.“ 

„Уф werde ihn Schon bald nehmen.” 


576 





„Er jagte, daß er viele Stellen hat, wo er übernachten 
kann.“ 

„Das luͤgt er, man ſucht ihn, hier aber iſt es noch un— 
verdaͤchtig. Laſſen Sie ſich denn mit ihm in Geſpraͤche 
ein?“ 

„Ja, die ganze Nacht. Er ſchimpft ſehr auf Sie. Ich 
leſe ihm in der Nacht die Apokalypſe vor. Und Tee. 
Er hoͤrt aufmerkſam zu, ſogar ſehr, die ganze Nacht.“ 

„zum Teufel, Ste bekehren ihn mir noch zum Chriſten— 
tum!” 

„Er ИЕ auch fo |фоп Chriſt. Seien Sie unbeforgt, er 
wird Schon erfiehen. Wen wollen @е ermorden 
laſſen?“ 

„ein, ich habe ihn nicht zu dem Zweck ... ich brauche 
ihn zu etwas anderem... Aber Schatoff, weiß der etwas 
von Fedjka?“ 

„Sch Ipreche nicht mit Schatoff, ja, und fehe ihn auch 
gar nicht.“ 8 

„Argert fich wohl über Sie, was?" 

„Nein, wir ärgern ung nicht, wir wenden uns nur ab. 
Haben zu lange in Amerika zufammen auf dem Stroh 
gelegen.“ 

„Уф werde jeft gleich zu ihm gehen.“ 

„Die Sie wollen.” 

„DBielleicht fomme ich mit Stamwrogin auf einen Augen: 
blid auch zu Ihnen, auf dem Nüdwege von dort, fo 
um zehn Uhr.“ 

„Kommen Sie. 

„Sch muß über Wichtiges mit ihm ſprechen. Wiffen 
Sie was, fchenfen Sie mir Ihren Ball — wozu braus 
chen Sie ihn с noch? Sch will ihn gleichfalls zur 


577 


Gymnaſtik. Übrigens kann ich Ihnen ja auch Geld für 
ihn zahlen, wenn Sie wollen.” 

„Nehmen Sie ihn jo.” 

Piotr Stepanowitſch ftedte den Ball in die hintere 
Rocktaſche. | 

„ber ich gebe Ihnen nichts gegen Stawrogin“, fagte — 
Kirilloff plöglich leiſe, während er den Gaft hinaus: | 
ließ. 

Der fah ihn erſtaunt an, doch jagte er nichts. 

Die lekten Worte Kirilloffs verwirrten Pjotr Stepa— 
nowitſch nicht wenig, aber er begriff fie noch nicht ganz. 
Doch jedenfalls ftrengte er fih an, auf dem Wege zu 
Schatoff fein unzufriedenes Geficht in ein freundliches | 
zu verwandeln. Schatoff war zu Haufe und lag, da er _ 
ſich nicht wohlfühlte, auf dem Bett, war aber voll: 
fommen angefleidet. 

„Das ИЕ aber ein Pech!” rief Piotr Stepanowitich 
von der Tür aus. „Sind Sie ernftlich Frank?” 

Der liebenswürdige Ausdrud feines: Geſichts ver: 
ſchwand plößlich: etwas Boͤſes blikte in feinen Augen. 

„Durchaus nicht,” rief Ochatoff, neroög aufſpringend. 
„Уф bin feineswegs Franf, habe nur ein wenig Kopf: | 
ſchmerzen.“ | 

Er таг fogar fichtlich befangen, denn das plößliche 
Ericheinen gerade dieſes Menſchen erjchredte ihn. 

„Sch bin in einer Angelegenheit zu Ihnen gefommen, 
zu der Kranfjein nicht paßt,” begann Piotr Stepano- 
witſch jchnell und gewiſſermaßen gebieterifch. „Erlauben 
Gie, daß ich mich ſetze,“ — er ſetzte 14 auf einen Stuhl 
— „und Sie, legen Sie fich mal wieder auf Ihre ие. 
Heute werden ſich die Unſrigen bei Wirginski verfammeln, 


578 





er feiert feinen Namenstag, und das dient ald Vorwand, 
Uber es ift ſchon alles vorgejehen, damit eg feine andere 
Nuance annimmt. Ich werde mit Nicolai Stawrogin 
hinkommen. Selbftverjtändlich würde ich Sie jeßt nicht 
dorthin ziehen, da ich ja Ihre jeßigen Anfchauungen 
fenne . . das heißt, ich meine — um Sie nicht zu reizen, 
und nicht etwa, weil wir von Ihnen angezeigt zu werden 
fürchten. Uber leider hat es fich fo gemacht, daß Sie 
binfommen müffen. Sie werden dort diejenigen treffen, 
mit denen wir dann endgültig beraten fünnen, wie es 
für Sie möglich if, aus dem Verbande auszufcheiden, 
und wem Gie das abgeben follen, was Gie von uns 
befißen. Wir machen es ganz unauffällig: ich werde 
Sie in eine Ede führen, denn es find Dort viele Mens 
ſchen, die nichts davon zu willen brauchen. Sch muß 
geftehen, ich Бабе Shretwegen meine Zunge gehörig 
anftrengen müflen, glaube aber, daß fie jeßt volllommen 
einverftanden find, Sie frei zu geben, verfteht fich, unter 
der Bedingung, daß @е die Druckmaſchine und alle 
Papiere abliefern. Dann find @е frei und Юппеп 
gehen, wohin Sie wollen, nach allen vier Himmels: 
richtungen.” 

Schatoff hörte ihm finfter und Бе zu. Seine erfte 
nervoͤſe Aufregung war vollftändig vergangen. 

„sch erfenne dieſe Pflicht, weiß der Teufel wen da 
Nechenfchaft geben зи muͤſſen, nicht an,” fagte er fchroff. 
„Niemand kann mich ‚frei geben‘. 

„Das Ш Doch wohl nicht ganz fo, Man hat Ihnen 
vieles anvertraut. Sie hatten nicht das Necht, jo ab: 
zubrechen. Und fchließlich haben Sie fich niemals Klar 
darüber ausgedruͤckt.“ 


„Als ich hierher fam, habe ich es Ihnen Нат und феи 
lich geſchrieben.“ 

„Nein, nicht Нат und deutlich,” beftritt Piotr Stepa- 
nowitſch ruhig. „Sch Ichidte Ihnen zum Beifpiel ‚Die 
helle Verfönlichkeit‘, damit Sie das Gedicht druden und 
die Eremplare Мег irgendwo bei 14 aufbewahren, bis 
пе абъе а: 6$ werden würden. Dazu noch zwei то 
klamationen. Sie jchidten alles mit einem zweideutigen 
Brief zurüd, der eigentlich nichts ſagte.“ 

„sch babe mich offen und ehrlich geweigert, её zu 
drucken.“ 

„Nein, nicht offen. Sie ſchrieben: ‚ih kann nicht‘, 
aber Sie fagten nicht, warum Sie nicht Рбипеп. ‚Sch 
fann nicht‘ heißt nicht ‚ich will nicht‘. Man konnte alſo 
denken, daß Sie einfach aus materiellen Gründen nicht 
fünnen. So hat man es denn auch aufgefaßt, — daß 
Sie immerhin einverstanden find, in dem Verbande zu 
bleiben und man Ihnen wieder etwas anvertrauen, 
alſo fich gegebenenfalls bloßftellen Fann. Einige fagen, 
рав Sie ung offenbar haben betrügen wollen, um zu 
denunzieren, fobald Sie irgendeine wichtigere Mit- 
teilung erhielten. Ich Бабе Sie natürlich verteidigt, 
wie ich nur fonnte, und zeigte Ihre briefliche Antwort 
vor, jene zwei Zeilen, als ein Dofument zu Ihrer Necht- 
fertigung. Aber ih тибе felbft zugeben, als ich den 
Brief dann nochmals lag, daß er wirklich nicht eindeutig 
Ш und leicht irreführen апп." 

„Sie haben diejen Brief jo jorgfältig verwahrt?” 

„Das hat weiter nichts zu jagen, daß er jich поф er= 
halten hat. Sch habe ihn auch jeßt bei mir.” 

„Eh, mahen @е doch damit, was Sie wollen, 


580 





zum Teufel! ...“ fchrie Schatoff zornig auf. „Mögen 
doch Ihre Dummkoͤpfe meinetwegen glauben, daß ich 
denunziert habe, was geht das mich an! Ich möchte 
bloß ſehen, was Sie mir anhaben fünnen !" 

„Man würde Sie fich notieren und beim erſten Erfolg 
der Revolution auffnüpfen.” 

„Das heißt, dann, wenn Ihr die Macht ergriffen und 
Rußland befiegt habt?" | 

„Lachen Sie nicht. Ich mwiederhole, daß ich Sie ver: 
teidigt habe. Uber wie dem auch fei, ich würde Ihnen 
doch raten, heute hinzukommen. Wozu fo viele unnüße 
Morte aus irgendeinem faljchen Stolz? Iſt es nicht 
beſſer, friedlich auseinander zu gehen? Jedenfalls wer: 
den ©ie doch das Geftell, ме alten Buchftaben und das 
Papier abgeben müjjen, und gerade darüber wollen wir 
ja ſprechen.“ 

„sch werde kommen“, brummte Schatoff endlich, паф: 
denflich den Kopf geſenkt. 

Piotr Stepanowitjch beobachtete ihn heimlich von 


feinem Plate aus. 


„Bird Stamwrogin dort ſein?“ fragte Schatoff plößlich 
und erheb den Kopf. 

„Unbedingt.“ 

„ра— ба! 

Wieder ſchwiegen fie. Schatoff lächelte verächtlich und 
gereizt. 

„Und diefe Ihre erbärmliche ‚helle Perfönlichkeit‘, die 
ich Мег nicht druden wollte — Ш die jeßt gebrudt?” 

„sa, пе ift gedrudt.” 

„Gymnaſiſtoff verjichert, daß Herzen fie Ihnen per: 
fönlich ins Album gejchrieben haben ſoll?“ 


-581 


„за, Herzen perjönlich.” 

Mieder jchwiegen fie eine lange Zeit. Endlich ftand 
Schatoff von feinem Bette auf. 

„Geben Sie fort von mir, ich will nicht mit Ihnen 
zuſammenſitzen.“ 

„sch gebe ſchon,“ ſagte Pjotr Stepanowitſch gleichſam 
luſtig und erhob ſich ſchnell. „Nur noch ein Wort: Kirilloff 
Icheint jeßt ganz allein im Flügel zu wohnen, ohne Auf: 
wartefrau?” 

„за, ganz allein. Gehen Sie, ich fann nicht mit Ihnen 
in einem Zimmer ет.” р 

„Ха, du bift ja jetzt vorzüglich!" dachte Piotr Stepa⸗ 
nowitjch heiter, als er auf der Straße war. „Wirſt ja 
heute abend gut jein, und fo brauch ich Dich gerade, beſſer 
fönnte ich’ gar nicht wünjchen, gar nicht wünjchen! 
Der ruffifche Gott ſcheint ja felber noch zu helfen!“ 


УП 

Es Ш anzunehmen, daß ihm an diefem vielgejchäftigen 
Tage alles gut gelang, denn als er am Abend um jechs 
Uhr bei Nicolai Stamrogin erjchien, тие fich auf 
feinem Geficht volle Selbftzufriedenheit aus. Man ließ 
ihn jedoch nicht fofort vor: Stamrogin hatte gerade 
Зеиф: Mawrikij Nicolajemwitich war bei ihm, in feinem 
Arbeitszimmer. Das gefiel nun Piotr Stepanomitich 
außerjt wenig und bereitete ihm ſogleich Sorge. Er 
fette fich dicht neben die Tür hin, um den Saft, wenn 
diejer das Zimmer verließ, jehen zu fünnen. Die Фиш: 
men der beiden fonnte er hören, doch die Worte ließen 
fich nicht unterfcheiden. Der Beſuch Drosdoffs dauerte 
nicht lange: alsbald vernahm er das Geräujch von fort- 





geichobenen Stühlen, eine laute, erregte Stimme, und 
dann öffnete fich auch |фоп die Türe. Mawrifij Nico: 
(пет trat mit bleichem Geficht heraus und ging 
ſchnell an Piotr Stepanowitjch vorüber, ohne ihn zu 
bemerfen. Diefer lief fofort ing Arbeitszimmer. 

Doch зипафИ muß ich jeßt berichten, was während 
dieſes Außerft Furzen Zuſammenſeins der beiden „Neben: 
buhler“ vorging — während dieſes Befuches, den man 
aus дет еп Gründen, im Hinblid auf die befonderen 
Verhältniffe, für unmöglüh halten mußte, und der doc) 
ſtattfand. 

Nicolai Wſzewolodowitſch hatte ſich nach dem Eſſen in 
ſeinem Arbeitszimmer auf dem Diwan ausgeſtreckt und 
war halb eingeſchlummert, als ploͤtzlich der alte Diener 
Alexei Jegorowitſch eintrat und den unerwarteten 
Beſuch Mawrikij Nicolajewitſch Drosdoffs meldete. Als 
Stawrogin dieſen Namen hörte, ſprang er ſogar auf und 
wollte её zuerfi gar nicht glauben. Doch alsbald legte 
jich ein Lächeln um feine Lippen — ein Lächeln hoch: 
mütigen Triumphes und zu gleicher Zeit wie einer ges 
willen ftumpfen, mißtrauischen Verwunderung. Den 
eintretenden Mawrikij Nicolajewitich machte dieſes 
Lächeln, wie es fchien, ftußig, mwenigftens blieb er 
plößlich mitten im Zimmer ftehen, als fei er uns 
entichloffen — jollte er weitergehen, oder umfehren? 
Doch Stawroging Miene hatte fich bereit wieder ver: 
ändert und er trat dem Gaft fogar entgegen. Mawrifij 
Nicolajewitſch überfah freilich die entgegengeftredte Зато, 
zog einen Stuhl heran und fette fich, ohne ein Wort zu 
jagen, noch bevor ihn Stawrogin dazu aufgefordert hatte. 
Diefer fette jich Darauf ihm gegenüber auf den Diwan, 


583 


und während er feinen Gaft aufmerkſam betrachtete, 
ſchwieg er und wartete, 

„Benn es Ihnen möglich ift, fo heiraten Sie Liſaweta 
Nicolajewna“, ſagte ploͤtzlich Mawrikij Nicolajewitſch, 
und zwar ſo, daß man, was das Merkwuͤrdigſte war, 
aus der Stimme, der Intonation überhaupt nicht heraus⸗ 
hören fonnte, was das nun war: eine Bitte, eine Emp⸗ 
fehlung, eine Abtretung, oder ein Befehl. 

Stawrogin fuhr fort zu fchweigen. Doch Drosdoff 
Ichien bereits alles gefagt zu haben, was er jagen wollte, 
und fah jest, in Erwartung einer Antwort, ftarr vor 
jih hin. 

„Wenn ich mich nicht irre, was mir jeßt ausgeſchloſſen 
erjcheint, fo Ш Lifaweta Nicolajewna ſchon mit Fhnen | 
verlobt”, fagte Stawrogin endlich. | 

„sa, fie hat fich mit mir verlobt”, beftätigte Гей und. 
deutlich Mawrifij Nicolajewitſch. 

„@е ... haben fich entzweit „.. Verzeihen Sie, 
Mawrikij Nicolajewitfch —“ 

„Nein, fie ‚liebt und achtet‘ mich, nach ihren eigenen | 
Morten. Und ihre Worte gehen mir über alles.” 

„Daran ift felbftredend nicht zu zweifeln.‘ 

„Aber wenn fie mit mir fchon in der Kirche vor dem 
Altar finde und Sie fie riefen, fo würde fie doch mich. 
und alle verlaffen und zu Ihnen gehen.“ 

„Bom Altar?” 

„за, vom Altar.” 

„Taͤuſchen Sie fich nicht?" | 

„Nein. Alnter ihrem Haß, dem aufrichtigften und 
ſtaͤrkſten Haß, den fie für Sie empfindet, lodert doch 
jeden Augenblid ihre Liebe hervor, ито... ihr Зари: 








584 


finn ... die größte, die grenzenlofefte Liebe und — mie 
gefagt: ihr Wahnfinn! Andererfeits aber, aus der Liebe, 
die fie Ни mich empfindet, gleichfalls aufrichtig emp: 
findet, bricht immer und immer wieder der Haß — ber 
allergrößte Haß hervor. Ich hätte früher alle ме... 
Metamorphofen nie für möglich gehalten.” 

„Mich wundert nur, wie Sie fo einfach über Lifas 
weta Nicolajewnas Hand verfügen Юппеп? Haben Sie 
ein Recht dazu? Oder find Ste von ihr bevollmächtigt ?” 

Mawrikij Nicolajewitſchs Geficht verfinfterte fih und 
er ſenkte auf einen Augenblid den Kopf. 

„Wozu diefe Phrafen?” fragte er plößlich. „Das find 
doch nur rachfüchtige Зое von Shnen. ch bin über: 
zeugt, daß Sie dag Nichtausgefprochene fehr wohl ver: 
ftehen. Und ift denn hier Plaß für Heinliche Eitelfeit? 
Iſt das noch zu wenig Genugtuung für Sie? Soll man 
denn noch den Punkt aufs 1 feRen? Nun gut, dann 
werde ich auch noch den Punkt aufs i feßen, wenn Sie 
meine Erniedrigung |0 wuͤnſchen. Alſo: Ein Recht 
dazu Бабе ich nicht; eine Bevollmächtigung Ш Doch aus— 
gefchloffen. Liſaweta Nicolajewna weiß nichts davon, 
ihr Verlobter aber hat den lekten Verſtand verloren und 
ift fürs Irrenhaus reif und obendrein — obendrein 
fommt er noch felbft und teilt Ihnen das mit. In der 
ganzen Welt find es nur Sie allein, der Lifa wirklich 
gladlih machen апп! Und nur ich allein, der fie ип: 
glüdlih machen fann! Sie wollen fie niemandem ab: 
treten, Sie verfolgen fie, aber Sie heiraten fie nicht. 
Sch weiß nicht, warum Sie das nicht tun. Liegt hier 
ein Mißverſtaͤndnis vor, das vielleicht {фоп im Auslande 
entitanden Ш, oder ein Xiebesftreit, und muß man, um 


38 Doitojemwäfi, Die Dämonen. 35. II, 985 


ihn beilegen zu fönnen, etwa — пиф ausftreichen ... 
jo tun Sie es. Sie ift zu unglüdlich, und das fann ich nicht 
mehr ertragen. Was ich ſage, ſoll Ihnen nichts vor— 
ſchreiben, und darum kann auch Ihre Eigenliebe gar 
nicht verletzt ſein. Wenn Sie meinen Platz am Altar 
einnehmen wollten, jo fünnten Sie das ohne jegliche 
‚Erlaubnis‘ meinerjeits tun, und ich hätte её mir |paren 
fönnen, jo zu Ihnen zu fommen. Um fo mehr, als ищете 
Hochzeit nach meiner ]еВщеп Handlungsmweile ſowieſo 
unmöglich geworden Ш. Sch kann fie doch nicht mehr 
zum Altar führen, nachdem ich Мег fo gehandelt, fo 
gemein gehandelt habe. Denn dag, mas ich Мег tue, 
daß ich fie Ihnen, vielleicht ihrem jchlimmften Feinde, 
einfach übergebe, Ш meiner Meinung паф eine ſolche 
Gemeinheit, daß ich fie jelbftverftändlih nicht werde 
überleben fünnen.” 

„Sie werden 14 erichießen, wenn man ung traut?” 

„Kein, erft viel fpäter. Warum foll ich mit meinem 
Blut ihr Hochzeitsfleid befleden? Vielleicht werde ich 
mich auch nicht erjchießen, weder jeßt, noch ſpaͤter.“ 

„Mit меет Nachjag wollen Sie mich wohl beruhigen ?" 

„Sie beruhigen? Was macht Ihnen denn ein Tropfen 
mehr verfprißten Blutes aus?” 

Er erbleichte und feine Augen begannen zu brennen. 
Sie ſchwiegen beide eine Zeitlang. 

„DVerzeihen Sie mir, bitte, die an Sie geftellten 
Fragen,” begann Stamwrogin von neuem. „Зи einigen 
hatte ich durchaus fein Recht, doch um fo mehr habe ich. 
das, glaube ich, zu einer anderen Frage: jagen Sie mir, 
mas Sie eigentlich veranlaßt hat, in mir ſolche Gefühle 
zu Liſaweta Nicolajewna vorauszufegen? 34 meine, 


586 





daß Sie fo überzeugt waren, um zu mir fommen zu 
fönnen ... und folch einen Antrag zu wagen?" 

„Wie?“ Mawrikij Nicolajewitich zudte zufammen. 
„— Haben Sie denn nicht bei ihr angehalten? Werben 
Sie denn jeßt nicht um fie und wollen Sie eg auch fpäter 
richt tun?” 

„Uber meine Gefühle zu diefer oder jener Frau ver: 
mag ich nicht laut zu einem Dritten zu |prechen, zu wen 
e8 auch fei, außer zu diefer Frau jelbit. Verzeihen Sie, 
aber das ift nun einmal meine Eigenart. Doc) dafür 
werde ich Ihnen die ganze übrige Wahrheit jagen: id) 

bin bereits verheiratet, und fo Ш mir ein Heiraten oder 

Merben‘ fchon nicht mehr möglich.”*) 

Mawrikij Nicolajewitich fuhr förmlich zurüd vor Be: 
ſtuͤrzung, und flarıte Stawrogin eine Weile unbeweglich 
ins Geſicht. 

„Denken Sie 14... das habe ich wirklich nicht де: 
dacht," mürmelte er endlih. „Sie fagten an jenem 
Morgen, daß Sie nicht verheiratet jeien ... und fo 

glaubte ich, Sie wären wirklich unverheiratet.“ 

Er erblaßte unheimlich. Plöslich fchlug er aus aller 
Kraft mit der Fauft auf den Tiſch. 

„Wenn Sie nach fol einem Bekenntnis Lifameta 
Nicolajerona nicht in Ruhe lafjen und fie ing Unglüd 
bringen, fo fchlage ich Sie tot, wie einen Hund hinterm 
Zaun! 

Damit |prang er auf und verließ das Zimmer. Piotr 
*) Die orthodore Kirche fchied damals noch feine Ehe, die in ihr 
gefchloffen worden war, und grundiäglich fteht fie auch heute поф 
auf dem Standpunft, dag eine Ehe „nur der Tod löjen darf”, 

Ir ОЗ м 


ger . 587 


Stepanomwitich Tief fehnell Hinein — fand aber den 
Hausherren in einer von ihm völlig unerwarteten Ges 
mütsverfaflung. 

„Ah, das find Ste!" rief Stamrogin und lachte laut auf 
—, lachte, wie её ſchien, nur über die Erfcheinung Pjotr 
Stepanowitjchs, der mit [0 maßlos neugierigem Geficht 
hereingeeilt fam. 

„Haben Sie an der Зах gehorcht? Warten Sie, 
warum find Sie doch jeßt gefommen? Habe ich Ihnen 
nicht irgend etwas verfprochen ... Ach, richtig! ich weiß 
ſchon: zu den ‚Unfrigen‘! — Gehen wir! Freut mich 
fehr, Sie hätten ſich wirklich nichts Beſſeres für diejen 
Yugenblid ausdenfen können.” 

Er nahm feinen Hut und fie verliefen fogleich das 
Haus. 

„Sie lachen {|фоп im voraus über die ‚Unfrigen‘?" 
fragte Piotr Stepanomitjch luſtig fcharwenzelnd, indem 
er bald verjuchte, neben feinem Begleiter auf Фет 
ſchmalen Fußfteig zu gehen, bald wiederum uf ber 
Ihmusigen Fahrſtraße lief, denn Stamrogin bemerfte 
ed nicht, daß er in der Witte des Fußfteiges ging und — 
folglich den ganzen Plaß mit feiner Perfon einnahm. 

„Sch lache durchaus nicht," antwortete Nicolai Wſze⸗ 
wolodowitſch laut und heiter. „Sch bin im Gegenteil 
überzeugt, daß Sie dort die ernfteften Leute haben.” 

„Die ernften Dummföpfe‘, wie Sie fich einmal auss | 
zudrüden beliebten.“ | 

„Es gibt nichts LZuftigeres, ald manch einen ernften | 
Dummkopf.“ 

„Ah, Sie denken an Mawrikij Nicolajewitſch! Bin 
uͤberzeugt, daß er zu Ihnen gekommen war, um ſeine 


588 








Braut abzutreten — wie? Das habe ich) ihm indireft 
eingeblafen, wenn ©ie eg wiljen wollen! Und wenn er jie 
nicht abtreten will, fo nehmen wir fie eigenmächtig — 
wie?” 

Piotr Stepanomitfch wußte natürlich, was er wagte, 
wenn er jich ſolche Neden erlaubte; doch lieber magte er 
ſchon alles, als daß er Ме Ungewißheit noch länger er: 
trug. Nicolai Wizemolodomitfch aber lachte nur. 

„Und Sie beabfichtigen immer noch, mir zu Belfen?” 
fragte er. 

„Sobald Sie rufen. Uber wiſſen Sie auch, daß es 
einen anderen, noch viel befjeren Weg gibt?" 

„sch Теппе Ihren Weg.” 

„Хип, nein, der Ш vorläufig noch ein Geheimnis. 
Nur vergeflen Sie nicht, daß dag Beheimnis Geld koſtet.“ 

„sch weiß auch, wieviel es koſtet“, brummte Staw— 
rogin vor fich hin, bezwang fich aber fofort und ver: 
ftummte. 

„Die viel? Wie? Was fagten Sie?” fuhr Piotr Ste: 
panowitſch auf. 

„Sch Tagte: zum Zeufel mit Ihnen famt dem Ge— 
beimnis. Sagen Sie mir lieber, wer dort fein wird. 
Sch weiß, daß ши zum Namengfeft gehen, aber wen 
wird man dort eigentlich antreffen?” 

„ЭВ, alle möglichen Leute! Sogar Kirilloff wird dort 
fein.” 

„Alles Mitglieder von Gruppen?" 

„zeufel noch eins, Sie beeilen fich aber! Hier hat ſich 
noch nicht einmal eine einzige Gruppe gebildet.” 

„Wie haben Sie denn fo viele Proflamationen ver: 
breiten koͤnnen?“ 


589 


„Dort werden im ganzen nur vier Mitglieder der 
Gruppe fein. Die übrigen befpionieren fich mittlerweile 
um die Wette, und teilen mir alles mit. Wirklich viel- 
verijprechendes Volk! Alles Material, dag man отдаг 
nilieren muß und dann kann man fich aus dem Staube 
machen. Aber Sie haben ja ſelbſt unſer Gejeßbuch ge— 
Ihrieben. Da braucht man Ihnen doch nichts mehr zu 
erklären.” 

„Nun wie, es geht wohl fchwer? Iſt es mißglüdt?" 

„Wie e8 geht? Wie man es fich leichter gar nicht 
wünjchen fann. Warten Sie, 14 werde Sie zum Lachen 
bringen! Alfo, das ее, das ungeheuer wirft — dag 
Ш die Montur. Es gibt nichts, das eine größere Zug- 
fraft hätte, als мае. Sch denfe mir abfichtlich Titel 
und Poften aus: Бабе da Sefretäre, Geheime Kund⸗ 
Ichafter, Vorſitzende, Regiftratoren, deren Gehilfen — 
das gefällt ungemein und wirft vorzüglich. Darauf, die 
zweite Kraft, das ift die Sentimentalität, verfteht fi. 
Wiſſen Sie, der Sozialismus verbreitet fich ja bei ung 
hauptjächlich infolge der Sentimentalität der Leute, 
Nur eines ift Мег ein wahrer Sammer — das find diefe 
beißenden Leutnants. Da ift man nie Ифег. Dann 
fommen die echten Spißbuben. Nun, das ИЕ ein guter 
Schlag, zumeilen ungemein vorteilhaft, Doch muß man 
viel Zeit auf fie vergeuden: verlangen ununterbrochene 
Aufſicht. Na, und dann natürlich die Hauptfraft — der 
Zement, der alles zufammenhält — das Ш die Schande, 
eine eigene Meinung zu haben. Ich fag’ Ihnen, dag 
Ш mir mal eine Kraft! Wer das nur fo eingerichtet 
haben mag? und welcher ‚liebe Kerl‘ ung da wohl fo 
nett vorgearbeitet hat, daß auch wirklich feine einzige 


590 





eigene Idee in irgendeinem Kopf geblieben ift! Halten 
{© mas geradezu für eine Schande.” 

„Aber wenn es fo Ш, wozu mühen Sie [14 dann 
noch?” ar 

„За aber, wenn es Doch fo einfach И, öffnet fich ja 
der Mund von felber — wie foll man fie da nicht ſchlucken! 
Als od Sie im Ernft nicht glaubten, daß ein Erfolg 
möglich ift? He, der Giaude ıjt ja da, aber das Wollen 
fehlt. Uber gerade mit jolchen ИЕ der Erfolg nur möge 
lich. Ich fage Ihnen, fie gehen mir durchs Feuer — man 
braucht ihnen nur zu fagen, daß fie nicht genügend 
liberal find. Die Efel werfen mir übrigens vor, daß ich 
fie alle mit einem ‚Zentralfomitee‘ und ‚zahllofen Ver: 
zweiqungen‘ befchwindelt Haben foll. Sie felbft haben 
es mir ja auch einmal vorgeworfen — aber wie апп 
denn hier von Beichwindeln die Nede fein? Das Zentral- 
fomitee find doch — ich und ©ie, und an Verzweigungen 
werden alsbald fo viele vorhanden fein, wie man fich nur 
wuͤnſcht.“ 

„Und durchweg ſolches Pack?“ 

„Nur Material. Auch dies wird zuftatten kommen.“ 

„Sie rechnen noch immer auf mich?” 

„Sie find der Führer, Sie find die Kraft; ich werde 
nur feitlich neben Ihnen ftehen als Sekretaͤr. Und dann, 
wiffen Sie, jeßen wir ung ‚in eine Зае und die Ruder 
find aus Eichenholz und die Segel find aus Seidenzeug, 
und außerdem fißt da die fchöne Braut, die lichte Liſa— 
weta Nicolajewna‘ ... oder weiß der Teufel wie eg 
da im alten Volfslied heißt ...“ 

„And ftoden ſchon,“ lachte Stamwrogin. „Nein, ich 
werde Ihnen einen befjeren Zufaß fagen. Sie zählen 


591 


da. an den Fingern Бег, aus welchen Kräften fich die 
Öruppen zufammenfeßen? Das Ш doch alles Beamten: 
geift und Sentimentalität — meinetwegen auch ein guter 
Kleifter, aber е8 gibt doch einen noch тей befjeren: be: 
reden Sie mal vier Mitglieder, dem fünften den Garaus 
zu machen, unter dem Vorwand, daß er denunzieren 
wird, und Sie binden fie alle mit dem vergoffenen Blut 
wie mit einem Strid zufammen. Dann werden fie zu 
Ihren Sflaven und werden nie mehr wagen, wider: 
ipenftig zu fein oder Abrechnungen zu verlangen. Ha— 
баба!" 

„Шо fo bift du... па маме... diele Worte wirft du 
mir bezahlen müfjen,” dachte Piotr Stepanomitich bei 
ih — „und zwar noch heute abend.” 

So, oder faft fo mußte Piotr Stepanomitfch bei fich 
denfen. 

Inzwiſchen hatten fie den Weg zum Wirginskiſchen 
Haufe |фоп zurüdgelegt — das Haus war ſchon zu ſehen. 

„Sie haben mich natürlich als irgendein großes Tier 
hingeftellt — mit Beziehungen zur Internationale, 
oder als Reviſor?“ fragte ploͤtzlich Stawrogin. 

„Rein, nicht ale Revifor; der Revifor wird ein anderer 
fein. Aber Sie find der Gründer, der Anordner aus 
dem Auslande, der die wichtigften Geheimnifje kennt — 
das ift Ihre Rolle. Sie werden natürlich reden?” 

„Die fommen Sie darauf?” 

„Sie find jest verpflichtet zu reden.” 

Stamrogin blieb vor Verwunderung fogar mitten auf 
der Straße ftehen, nicht weit von einer Laterne. Урон 
Stepanomwitich hielt frech und ruhig feinen Blick aus. 
Stawrogin jpie aus und ging weiter, 


592 





„Werden Sie denn reden?” fragte er plößlich Pjotr 
Stepanowitſch. 

„Nein, ich werde lieber zuhören, wenn Sie reden.“ 

„Der Teufel hole Sie!... Aber Sie geben mir wirt: 
lich eine Idee!“ 

„Bas für eine?" Piotr Stepanowitſch horchte fo: 
fort auf. 

„Sch werde dort meinetwegen reden, aber dafür 
werde ich Sie dann nachher durchprügeln, aber gründs 
lich.” 

„Зе der Gelegenheit: ich habe vorhin Karmafinoff 
gefagt, Sie hätten einmal über ihn geäußert, daß man 
ihm kraͤftig Nuten geben müßte, und zwar nicht um der 
Ehre willen, fondern einfach, wie man einen Burfchen 
drifcht, ſchmerzhaft.“ 

„Aber das Habe ich doch nie gejagt, ha —ha!“ 

„Macht nichte. Se поп & vero.“ 

„Jun, danke, beiten Dank.” 

„ber willen Sie, was diefer Karmafinoff noch fagte: 
daß unjere Lehre im Grunde genommen die VBerneinung 
der Ehre Ш, und daß man mit dem öffentlichen Necht 
auf Ehrlofigfeit einen Nuffen am leichteften Födern 
kann.“ 

„Aber das iſt ja eine ausgezeichnete Bemerkung! 
Ganz wunderbar!” rief Stawrogin. „Da hat er wirk—⸗ 
lich den Nagel gerade auf den Kopf getroffen! Das 
Recht auf Ehrloſigkeit — aber dann laufen ja alle zu 
ung über, fein einziger bleibt dort! Übrigens hören Sie, 
Werchowenski, find Sie nicht von der höheren Polizei?" 

„Ber folhe Fragen im Sinne hat, der [риф fie 
nicht aus.” с 


593 


„Verſtehe, aber wir find ja jeßt unter ung.” 

„Nein, vorläufig noch nicht von der höheren Polizei. 
Genug davon, ши find {фоп angelommen. Kompo: 
nieren Sie mal Ihre Phyfiognomie, Stamrogin. Ich 
tue dag jedesmal, wenn ich bei diefen erfcheine, Nur 
etwas mehr Finfterheit, und das ift alles, weiter braucht 
man nichts; fehr einfache Sache.“ 


594 


Zwölftes Kapitel. 
Bei den Unfrigen 


I 


DT wohnte in feinem eigenen Haufe, oder 
richtiger, in dem feiner Frau. Es таг ein ет 
ftödiges Holzgebäude, das Feine anderen Mieter hatte. 
Unter dem Vorwande, daß der Hausherr feinen Namens— 
tag feiern wolle, verfammelten fich an diefem Abend bei 
ihm ungefähr fünfzehn Säfte, doch glich die Heine Abend: 
gejellichaft jehr wenig den bei uns in der Provinz üb 
lichen „Geburtstagsgefellichaften”. Das Ehepaar Wir: 
ginsfi war fchon gleich zu Anfang feiner Ehe darin 
übereingefommen, daß „Geburtstage feiern” furchtbar 
dumm fei: её fei doch durchaus fein Grund vorhanden, 
fih an folchen Zagen befonders zu freuen! Und da fie 
diefen Grundſatz fchließlich auch auf alle anderen Feft: 
tage übertrugen, jo war es ihnen jchon in ein paar 
Sahren gelungen, ohne jeden Verkehr zu leben. Wirginski 
kam zudem den Leuten wirklich nur wie ein Sonderling 
vor, der bloß die Einfamleit ПеМе und zum Überfluß 
noch „anmaßend” erjchien — warum „anmaßend”, das 
weiß ich allerdings nicht. Frau Wirgingfi aber ftand, 
da Пе Hebamme mar, gefellichaftlih ſowieſo fehr 
niedrig — und hinzu fam dann noch ihr dummes und 
unverzeihlich offenes Verhältnis zu dem „Hauptmann” 


595 


Lebädfin, dag fie eigentlich nur „aus Prinzip” begonnen 
hatte. Nachdem diejes Verhältnis befannt geworden war, 
wandten fich felbft unfere nachfichtigften Damen mit 
deutlicher Verachtung von ihr ab. Frau Wirginskaja 
aber tat noch, als hätte fie gerade das nötig und wünfche 
es felber jo. Bemerkenswert И jedoch, daß diefelben 
ſtrengdenkenden Damen fich in gewiſſen Fällen nur und 
ausschlieglih an fie wandten, obgleich wir noch drei 
andere Hebammen in der Stadt hatten. Man fchidte 
fogar aus den Kreisftädten nach Arina Prochorowna: fe 
anerkannt und allgemein befannt waren ihre Kenntniffe, 
war ihr Glüd und ihre Gefchidtheit in ihrem Beruf. 
Daher ат e8 denn ganz von felbft, daß fie ihre Praris 
nur in den reichften Häufern hatte: denn Geld liebte fie 
bis zur Habgier. Nachdem fie erft einmal ihre Macht 
erkannt hatte, tat fie auch ihrem Charakter feinen Zwang 
mehr ап. Unfer Stabsarzt Nofanoff beteuerte, daß 
Arina Prochorowna gerade in den Augenbliden, wenn 
ihre fchwachnervigen Patientinnen alles Heilige anzu: 
rufen pflegen, plößlich „wie ein Slintenfchuß” mit einer 
unerhörten Blasphemie herausfahre, die dann gewoͤhn— 
lich entfcheidend auf die armen Frauen wirfe, Übrigens 
vergaß Arina Prochoromwna, wenn fie fonft auch Nihi: 
liſtin war, doch nie де е alte Bräuche, die ihr etiwas 
einbrachten. So hätte fie zum Beifpiel für feinen Preis 
Ме Taufe des von ihr empfangenen Erdenbürgers ver: 
fäumt: dann erjchien fie fiets in einem grünen Seiden— 
Нее, das fogar eine Schleppe hatte, und mit ein: 
gelegten Locken, während fie fich fonft unglaublich nach: 
laͤſſig Fleidete. Und wenn fie auch fonft unentwegt, 
ja fogar während der Erfüllung des Wunders der Ge— 


596 





burt, ihre Frechheit zum Entjegen aller Anverwandten 
bewahrte, jo trug fie doch nach der Taufe jehr |ИНат 
und eigenhändig den Champagner herein (nur zu dem 
Zweck erfchien fie und pußte fie fich heraus) und dann 
hätte её einer nur verfuchen follen, ihr, nachdem er einen 
Pokal genommen, nicht das übliche Tauffchmausgeld auf 
den Teller zu legen! 

Die Geſellſchaft — faft nur Herren —, die fich diegmai 
bei Wirginski verfamntelt Hatte, nahm fich eigentlich rech: 
fonderbar aus. 68 gab weder Imbiß noch Karten. 
Sm großen Baftzimmer, das |фоп feit undenflich langer 
Zeit immer ein und dieſelben alten blauen Zapeten hatte, 
waren zwei Tiſche zufammengerüdt und mit einen: 
großen, nicht einmal ganz fauberen Zifchtuch bededt. 
Auf ihnen Fochten zwei Samoware und ftand ein riefigee 
Teebrett mit fünfundzwanzig Öläfern, fowie ein flacher 
Korb mit gewöhnlichem Weißbrot, das wie in Pen: 
fionen für junge Mädchen oder Knaben in viele, viele 
gleiche Stüde gefchnitten war. Den Зее goß ме Schwe: 
Пек der Hausfrau ein — ein dreißigjähriges, hoc): 
blondes Fräulein, ohne Augenbrauen, fonft fchweigfam, 
aber tödlich boshaft —, eine Dame, die gleichfalls die 
„neueften Anschauungen“ teilte und vor der Wirginsk 
in feinem eigenen Haufe zitterte. Außer der Hausfrau 
und ihrer augenbrauenlojen Schmwefter war noch ihre 
Schwägerin anweſend: Fräulein Зидш а, die gerade 
aus Petersburg eingetroffen war. Эта Prochorowna 
(Wirginskis Frau), ап fich eine nicht häßliche Frau von 
jiebenundzwanzig Sahren, faß, in einem mwollenen All— 
tagsfleide von grünlicher Farbe, am oberen Tiſchende 
und betrachtete die Gäfte mit einem Blick, als wollte fie 


597 


fagen: „Seht, wie ich mich vor nichts fürchte!” Зи» 
ginskis Schweſter, die gleichfalld nicht Häßlich ausfah, 
dabei Studentin und Nihiliftin, war rotwangig und 
rundlich wie ein Feiner Ball: fie jaß halbwegs поф in 
ihren Reifefleivern neben Xrina Prochorowna, mit 
irgendeiner Papierrolle in der Hand, und [аб fich mit 
ungeduldigen, |pringenden Bliden die Säfte ап. Wir: 
ginski fühlte fich an diefem Abend nicht ganz wohl, doch 
hatte er fich troßdem in einem Lehnftuhl an den Tee: 
tisch geleßt. Die Säfte ſaßen auf Stühlen um den 
ganzen Zifch herum, und in diefer fteifen Gruppierung 
lag etwas, was nicht an ein Felt, jondern an eine Sißung 
erinnerte. Ganz erlichtlich erwarteten alle irgend etwas, 
und wenn fie auch über alles mögliche laut miteinander 
iprachen, jo merfte man doch fofort, daß es Nebenfachen 
waren, die eigentlich niemanden intereflierten: е8 war 
ein fünftliches, gezwungenes Geſpraͤch. 

Als Stamwrogin und Werchowenski eintraten, ver: 
ſtummten plößlich alle. 

Зиг bejjeren Überficht werde ich mohl einige те! 
läufigere Erklärungen geben müljen. 

Sch glaube, wie gejagt, daß fich damals alle in der 
angenehmen Hoffnung, etwas ganz befonders Inter— 
ellantes zu erfahren, eingefunden hatten. Sie gehörten 
fämtlich zu den knallroteſten Liberalen unferer Stadt 
und waren von Wirginsfi zu dieſer „Situng” ſorg— 
fältigft ausgefucht worden. Einige von ihnen waren 
noch nie bei Wirgingfi geweſen und hätten ihn auch 
fonft bejtimmt nicht mit ihrem Зеифе beehrt. Natuͤr— 
lich hatte die Mehrzahl der ФаЙе feine rechte Vor: 
ftellung davon, was eigentlich geſchehen follte: fie alle 


598 


hielten damals Pjotr Stepanowitſch für einen von 
ausländifchen Verbande geſchickten Ausfundfchafter, dem 
beftimmte Vollmachten gegeben worden waren — eine 
Anficht, die fich fofort und ganz plößlich feftgefent hatte 
und ihnen ungeheuer jchmeichelte. Waͤhrenddeſſen aber 
gab e8 auch unter den verjammelten Bälten einige, 
denen bereits ganz beſtimmte Vorfchläge gemacht worden 
waren. Piotr Werchowenski war e8 inzwifchen fchon 
gelungen, bei ung eine ähnliche „Fünf“ zu gründen, wie 
er es in Moskau getan hatte — und außerdem noch eine, 
wie es fich jet erwieſen hat, in der Kreisftadt, unter den 
Dffizieren. Es heißt fogar, daß er noch eine dritte im 
H—ſchen Souvernement zuftande gebracht habe. Die 
fünf Yuserwählten faßen jett am großen Tiſch und ver: 
fanden es vorzüglich, fich den Unfchein der karmlofeften 
Leute zu geben. Es waren das — da e8 heute fein Ges 
heimnis mehr Ш — erftens: Liputin und Wirginsfi, 
dann deffen Schwager mit den trauernden Ohren, Schi— 
galeff, ferner Laͤmſchin und ein gemiffer Tolkatſchenko, 
ein jonderbarer Menfch, etwa vierzig Jahre alt, und Бег 
fannt wegen feiner Studien, die er am Voll, hauptfäch: 
lich an Epikbuben und Banditen machte, und der ab— 
ſichtlich zu dieſem Zweck (das heißt, nicht gerade aus: 
Ichließlich zu меет Zweck) in den fchmugigften Schenken 
verfehrte und auch unter ung fich in fchlechten Kleidern, 
Schmierftiefeln und Kernausdrüden am beften gefiel. 
Ein oder zweimal hatte ihn Laͤmſchin auch zu Stepan 
Trophimowitſch mitgebracht, wo er jedoch nicht bejonders 
gut abjchnitt. In der Stadt erfchien er gewöhnlich nur 
zeitweilig, meifteng dann, wenn er wieder einmal ohne 
Stellung war, Dieſe fünf nun befanden fich in dem 


59% 


feiten Glauben, еше „Fuͤnf“ zu bilden — eine unter 
hunderten, taufenden gleicher „Fuͤnfer-Gruppen“, die 
angeblich über ganz Rußland verftreut und alle von 
irgendeiner mächtigen „Zentrale“ abhängig waren, welche 
wiederum ihrerfeits mit der europäijchen Revolutions— 
bewegung verbunden fein follte. Nur muß ich zu meinem 
Bedauern hinzufügen, daß fogar ſchon damals Uneinig- 
feit zwifchen ihnen Беле. Die Sache war nämlich 
die, daß fie, die fchon feit dem Frühling Pjotr Wercho— 
wensfi erwarteten, der ihnen zuerjt von Zolfatichenfo 
und dann von Schigaleff angekündigt worden war, nun, 
als er endlich erfchien, fofort auf feinen erften Winf hin 
den von ihm geplanten Kreis oder Ме „Öruppe” ge: 
bildet hatten: faum aber hatten fie fich zu ihrer „Fünf 
zufammengejchloffen, als fie fich auch alle ohne Aus— 
nahme irgendwie dadurch gefränft fühlten, daß fie es 
getan hatten — fo fchnell und ohne weitere Erwägung, 
im Grunde wohl nur deshalb, damit man von ihnen 
nicht fagen fünne, fie hätten eg nicht gewagt! Vor allem, — 
fo empfanden fie, hätte Piotr Werchomensfi ihre edle 
Heldentat doch auch wirklich |фавеп und ihnen nun _ 
zur Belohnung menigftens irgendein Hauptgeheimnis 
mitteilen müjjen. Werchowenski aber dachte nicht. ein⸗ 
mal daran, ihre gerechte Neugier zu befriedigen, und er: 
zählte jo gut wie gar nichts, behandelte fie im Gegenteil | 
mit Strenge und andererjeits wiederum faft mit Nach: 
täfjigfeit. Das aber reizte natürlich die „Fuͤnf“, und einer | 
von ihnen, Scigaleff, ftachelte denn auch fchon die 
anderen auf, von ihm einen „Rechenjchaftsbericht" zu 
fordern, allerdings nicht gleich heute bei Wirginsfi, denn 
dort gab её zu viele Fremde ... 


600 











Mas aber diefe Fremden betrifft, fo glaube ich, daß 
die vorhin genannten Blieder der erften „Fuͤnf“ ges 
neigt waren, an jenem Abend bei Wirginsli unter den 
Gäften noch andere Mitglieder anderer „Gruppen“, von 
denen fie nichts wußten und die derjelbe Werchowenski 
vielleicht geheimnisvoll organifiert hatte, zu vermuten. 
So ют e8 denn, daß zu guter Зе ВЕ fich alle Säfte gegen: 
Тана verdächtigten und ein jeder eine ganz bejondere 
Haltung annahm, was denn der ganzen Verſammlung 
etwas Srreführendes, ja zum Zeil fogar Romantiſches 
verlieh. Außerdem gab её da einen Major, einen voll: 
fommen unfchuldigen Menjchen und nahen Verwandten 
Wirginskis, der uneingeladen zum Namenstage er: 
Ichienen war. Der Hausherr beunruhigte ſich nun frei— 
lich weiter nicht, denn der Major hätte „auf feine Weiſe 
denunzieren koͤnnen“: troß jeiner Dummheit liebte ee 
diejer Verwandte Wirginsfis, dorthin zu gehen, mo es 
Liberale gab, doch nicht etwa, weil er deren Anſchau— 
ungen teilte, fondern einfach, weil er ihnen gerne zu: 
hörte. Und dazu war er felbft, von früher her, noch ein 
wenig fompromittiert: in feiner Jugend waren einmal 
ganze Lager revolutionärer Schriften durch feine Hände 
gegangen, und wenn er für feine Perſon fich auch де 
fürchtet hatte, Пе auch nur aufzubinden, jo würde er 
doch die Weigerung, die Gefaͤlligkeit zu erweilen und fie 
zu verbreiten, für eine grenzenloje Gemeinheit gehalten 
haben — folche Rufen gibt е8 nun einmal und jogar 
heute noch. Die übrigen Gäfte gehörten entweder zu dem 
Typ der „zu Galle gewordenen gefränften Eigenliebe, 
oder zu dem des „eriten edlen Ausbruchs feuriger Зи: 
gend". Da waren auch zwei oder drei Lehrer, von denen 


39 Doktojewsti, Die Dämonen, 3. I. 601 


der eine — ein Lehrer am Gymnafium — lahm und 
ſchon fünfundvierzig Jahre alt тат, ein ungewöhnlich 
boshafter und eitler Menſch, und zwei oder drei Offiziere. 
Зи den leßteren gehörte ein ganz junger Xrtillerift, ein 
Faͤhnrich, der erft vor ein paar Tagen aus einer Kriegs: 
ichule gefommen war, ein netter, fchweigfamer Juͤng⸗ 
ling. Noch hatte er in der Stadt feine einzige Bekannt: 
ichaft gemacht, und fchon faß er bei Wirginsfi im Kreife 
der Eingeladenen mit einem Bleiftift in der Hand und 
machte fich von Zeit zu Zeit in fein Tafchenbuch irgend» 
welche Notizen. Alle fahen das, doch alle taten aus 
irgendeinem runde, als bemerften fie eg nicht. Außer: 
dem тат ein herumbummelnder Seminarift anmefend, 
der Laͤmſchin geholfen Hatte, jene ſchaͤndlichen Photo: 
graphien in den Sad der Bibelverfäuferin zu fteden, ein 
großer Burfche mit ungezwungenem Berehmen, jedoch 
immer etwas argmwöhnifch, und mit einem ewig alles 
beſſer wiſſenden Lächeln, dabei aber von dem ruhigen 
Gehaben der fiegenden Vollkommenheit, die für ihn in 
feiner Perſon verlörpert war. Ferner mar, ich weiß 
nicht, weshalb, noch der Sohn unferes Stadthauptes 
zugegen, ein fchändlicher, früh verlebter junger Mann. 
Der jchwieg aber faft nur. Und fchließlich war da noch 
ein achtzehnjähriger Gymnaſiaſt, der mit der finfteren 
Miene eines in feiner Würde gefränkten jungen Mannes 
da ſaß und augenscheinlich unter feiner achtzehn Fahren 
fitt. Diefer Bengel war ſchon der „Chef" einer Ver: 
ichwörung der Oberprimaner, Ме fich, wie fich [рат 
zum allgemeinen Erftaunen herausftellte, im Gymna: 
fium gebildet hatte, und zwar vollfommen felbftändig. 
Beinahe hätte ich Schatoff vergefjer, der am unteren 


602 





Tiſchende faß, feinen Stuhl ein wenig aus der Reihe 
zurüdgefchoben hatte, die ganze Zeit ſchwieg, auch für 
den Tee dankte, beftändig zu Boden {аб und feine Müße 
nicht aus der Hand legte, als hätte er damit zu ver— 
Пебеп geben wollen, daß er nicht als бай, jondern 
nur aus irgendwelchen fachlihen Gruͤnden gefommen 
war, und, wenn es Ши einfiel, einfach aufftehen und 
fortgehen koͤnne. Nicht weit von ihm hatte | dann 
noch Kirilloff hingeſetzt: dieſer ſchwieg gleichfalls, Doch 
ſah er nicht zu Boden, fondern blidte im Gegenteil jedem, 
der da ſprach, gerade ing Geficht, mit feinem unbeweg: 
lichen, glanzloſen Blid, und hörte allen ohne die geringfte 
Verwunderung vollfommen ruhig zu. Einige von den 
Gäften, die ihn noch nicht gejehen hatten, beobachteten ihn 
verftohlen. Es ift big Heute ungemwiß, ob eigentlich Frau 
Wirginskaja etwas von der beftehenden „Fünf“ wußte. 
Sch nehme an, daß fie durch ihren Mann über alles unter: 
richtet war. Die Studentin hatte natürlich von nichts eine 
Ahnung, doch dafür war fie mit ihrer eigenen Sorge Бе: 
Ichäftigt: fie beabjichtigte, nur einen oder zwei Tage. bei 
Wirginskis zu bleiben und dann meiter und weiter zu 
teilen, Durch alle Univerjitätsftädte, um „Zeilnahme an 
den Leiden der armen Studierenden zu erweden und fie 
zum Proteft aufzurufen”. Sie führte einige hundert 
Exemplare eines lithographierten, wenn ich mich nicht 
taͤuſche, von ihr ſelbſt verfaßten Aufrufs mit ſich. Merk: 
würdigerweije begann der Gymnaſiaſt die Studentin 
ſchon vom erften Blick an zu haſſen, und zwar gleich big 
aufs Blut, ungeachtet deſſen, daß er fie zum erftenmal im 
Leben ſah, und fie erwiderte diefen Haß in genau Фета 
felben Maße, Der Major war ihr leiblicher Onfel, der fie 


39* 603 


vor gut zehn Jahren zum leßtenmal gejehen hatte, Als 
Stawrogin und Werchowenski eintraten, waren ihre 
Wangen rot wie Preißelbeeren: jie hatte mit dem Onfel 
gerade über die Frauenfrage aufs heftigfte geftritten. 


II 

Werchowenski warf 14 auffallend nachläfjig auf einen 
Stuhlam oberen Tijchende, Га ohne jemanden zu grüßen. 
Er ſah mißgeftimmt und jogar hochmuͤtig aus. Stamrogin 
dagegen grüßte höflich die AUnmwejenten. Obgleich man 
nur auf diefe beiden gewartet hatte, taten doch alle wie | 
auf ein Kommando, als ob fie пе überhaupt nicht Ве: 
merften. Kaum hatte Stawrogin ſich gejeßt, als Frau 
Wirginskaja fih in firengem Ton an ihn wandte: 

„Starvrogin, wollen Sie Tee?" 

„Sehr gern“, antwortete vieler. 

„Reiche Herrn Stawrogin ein Glas Tee," befahl fie 
der Schwefter, „— und Sie?" fragte fie Werchowenski. 

„Selbftverftändlich, nur her damıt, wer fragt denn Ме 
Gäfte noch danach? Und geben Sie аиф Sahne diesmal, — 
ſonſt wird ja hier immer folch eine Abfcheulichkeit anftatt — 
Tee gereicht — und dabei gibt’s heute noch ein ‚Geburts: 
tagsfind‘ im аще! 

„Wie, auch Sie erkennen das ‚Geburtstagefeiern‘ an?" 
fragte die Studentin auflachend. „Wir haben foeben Фат: 
über geſprochen.“ 

„Abgedroſchen!“ bemerkte ſogleich am anderen Tiſch— 
ende der Gymnafiaft mit überlegener Miene. 

„Bas ИЕ abgedrojchen? Vorurteile vergeſſen ift durch— 
aus nicht abgedrofchen, und wenn её auch die unjchul- 
digften von der Welt find, fondern Ш, im Gegenteil, zur 


604 





allgemeinen Schande noch heute neu,” gab die Studentin 
jofort empfindlich zurüd, „Und zudem gibt e8 überhaupt 
feine unjchuldigen Vorurteile‘, fügte fie geradezu erbittert 
hinzu. 

„Sch wollte nur bemerken,” regte jich der Gymnaſiaſt 
furchtbar auf, „daß Vorurteile, wenn fie aud) eine alte 
Sache find, und man fie ausrotten muß ... was aber 
Namenstag: und Geburtstagfeiern anbetriffi . . . fo willen 
Ichon alle längft, daß das Dummheiten jind und das Ge: 
vede darüber viel zu alt und abgedroichen ift, um darauf 
noch die foftbare Zeit zu vergeuden, die ohnehin fchon von 
aller Welt vergeudet worden ift, jo daß man jeine Worte 
lieber einem bedürftigeren ...“ 

„Bas ИЕ das für ein Sag! 34 kann nichts verſtehen!“ 
unterbrach ihn die Studentin, 

„Sch glaube, daß ein jeder gleich anderen das Recht des 
Wortes hat, und wenn ich meine Meinung jagen will, 
wie jeder andere, jo..." 

„Ihnen nimmt niemand das Necht des Wortes,’ unter: 
brach ihn die Hausfrau, „Sie find nur gebeten worden, 
nicht jo undeutlich zu ſprechen, denn jo kann Sie ja fein 
Menich verftehen.“ 

„ber, erlauben Sie mir, zu bemerken, daß Sie mich 
gar nicht achten: wenn ich vorhin meinen Gedanken nicht 
zu Ende jprechen fonnte, jo kam das nicht daher, Рав 
ich feinen Gedanfen hatte, jondern eher vom Überfiuß 
von Gedanken...” ftotterte der Gymnaſiaſt Тай ver— 
zweifelt und verwidelte ſich endgültig. 

„Wenn Sie nicht zu Sprechen verftehen, [о ſchweigen 
Sie lieber”, рае ме Studentin heraus. 

Der Gymnaſiaſt fprang jekt jogar vom Stuhl auf. 


605 


„Sch wollte nur fagen,“ rief er laut und brennend rot 
vor Schande, doch fürchtete er fich, jemanden anzufehen, 
„daß Sie ſich nur deswegen mit Ihrem Verſtande breit: 
machen wollen, weil Herr Stawrogin gefommen ЙЕ — 
da haben Sie's!“ 

„Ihr Gedanke ift ſchmutzig und unfittli und bemeift 
nur die ganze Nichtigkeit Ihrer geiftigen Entwidelung. 
Уф bitte Sie, fich weiter nicht an mich zu wenden!“ 
fnatterte фото ме Antwort der Studentin. 

„Stawrogin,” begann die Hausfrau, „bevor Sie famen, 
vegten fie fich hier über Familienrechte auf — befonders 
der Herr Major,” fie wies auf ihren Verwandten, „Aber 
ich werde Sie mit dieſen alten Ötreitfragen, die doch 
Ichon längft erledigt find, nicht weiter beläftigen. Sch 
frage mich nur, woher jind nun dieje Rechte und Pflichten 
der Familie gefommen, ich meine, im Sinne diefes Vor: 
urteils, wie es jetzt beſteht? Das И die Frage. Was 
meinen Sie?" 

„Wieſo — woher gekommen?“ fragte Stawrogin zuruͤck. 

„Das heißt, wir wiſſen zum Beiſpiel, daß das Vor— 
urteil, daß es einen Gott geben muͤſſe, durch den Donner 
und Blitz hervorgerufen worden iſt“, ereiferte ſich ſofort 
wieder die Studentin, die mit den Augen foͤrmlich auf 
Stawrogin losſprang. „Man weiß jetzt ganz genau, daß 
die Urmenſchen, die ſich vor Donner und Blitz fuͤrchteten, 
den unſichtbaren Feind zum Gott erhoben, da ſie ihre 
eigene Machtloſigkeit vor ihm fuͤhlten. Aber wie iſt nun 
das Vorurteil der Familie entſtanden? Und wie iſt uͤber— 
haupt die Familie entſtanden?“ 

„Das ИЕ Doch wohl nicht Dasjelbe ...“ ** die 
Hausfrau einzuwenden. 


606 


у 
| 








„sch denfe, die Antwort auf dieje Frage dürfte nicht 
ganz — jagen mir, jittfam fein”, antwortete Stawrogin. 

„Wie das?" тие die Studentin wieder vor. 
Aber {фоп hörte man aus der Kehrergruppe leifes 
Lachen, das fofort am anderen Ende des Tiſches, bei 
Laͤmſchin und dem Gymnaſiaſten, ein Echo fand, worauf 
der Major plößlich Бей und laut loslachte. 

„Sie follten Vaudevilles ſchreiben“, fagte die Haus: 
frau zu Stamrogin. 

„Das macht Ihnen wirklich feine Ehre, — ich weiß 
nicht, wie Sie heißen”, ſagte die Studentin mit ent: 
Ichiedenem Unmillen zu Stawrogin. 

„Du aber follteft nicht jo vorwißig fein! tadelte der 
Major. „ЗИ ein Fräulein, mußt dich fittfam halten, 
du aber bift ja ganz, als БаНей du dich auf eine Nadel 
geſetzt.“ 

„Könnten Sie nicht lieber ſchweigen? Zum minbeften 
möchte ich Sie bitten, fich im Gefpräch mit mir nicht fo 
familiär auszudrüden. Und dieje widerlichen Vergleiche 
verbitte ich mir einfach. Sch ſehe Sie heute zum erften: 
mal und will nichts von Ihrer Verwandtſchaft wiſſen.“ 

„Uber ich bin doch dein Onkel! Sch habe dich Doch als 
Säugling auf meinen Armen gefchleppt!" 

„Was geht das mich an, was Sie da alles geichleppt 
haben! Sch habe Sie damals nicht darum gebeten, mein 
unböfliher Herr Major, айо muß e8 Ihnen wohl jelbft 
Spaß gemacht haben, mich zu tragen. Und geftatten Sie 
mir noch zu bemerken, daß Sie fich nicht unterftehen 
dürfen, mich zu duzen, её ſei denn als Bürgerin, fonft 
aber unterjage ich es Ihnen ein für allemal.” 

„So jind jie nun alle!" Der Major ſchlug mit der Saufi 


607 


auf den Tiſch und wandte fih an Stawrogin, der ihm 
gegenüber ſaß. „Nein, erlauben Sie, ich liebe Liberalis— 
mus und alles Zeitgemäße. Ich liebe auch Kugen Ger 
Iprächen zuzubören, aber — wohlgemerft: von Männern! 
Doch von Frauen, von diefen da, von diejen Flatter: 
vögeln — nein, Berzeibung, aber das Ш fchon mein 
wunder Punkt! Du, dreh dich nicht fo viel!“ fuhr er die 
Studentin an, die vor Ungeduld fchon wieder fait vom 
Stuhl ſprang. „Sch will auch einmal zu Wort fommen! 
Jetzt bin ich der Gekraͤnkte!“ 

„Sie ftören nur die anderen und jelbft verftehen Sie 
doch nichts zu ſagen“, bemerkte die Hausfrau unwirfch. 

„Rein, ich werde fchon zu jagen verftehen, was ich 
jagen will," ereiferte fich der Major, und wandte fich an 
Stawrogin. „Ich rechne auf Sie, Herr Stawrogin, da 
Sie ein Neueingetretener find, obgleich ich nicht die Ehre 
habe, Sie zu kennen. Sch hoffe, daß Sie mir beipflichten 
werden, Ohne Männer wären die Frauen einfach ver: 
(степ, wie die Fliegen, — das Ш meine Meinung. Die 
ganze Frauenfrage Ш nichts weiter als Mangel an Origi— 
nalität. Sch fage Ihnen; diefe Frauenfrage haben ihnen 
nur die Männer ausgedacht, einfach aus purer Dummheit 
jich jelbft auf den Hals geladen, — ich danfe bloß Gott, 
daß ich nicht verheiratet bin! Nicht die geringfte Ver: 
ichiedenheit ift in den Frauen, nicht einmal ein einfaches 
Stidmufter fönnen fie fich ausdenfen, аиф das muͤſſen 
die Männer für Пе tun! Sehen Sie, da habe ich йе als 
Kind auf den Händen getragen, Бабе mit ihr, als fie zehn 
Jahre alt war, Mazurfa getanzt, — heute fommt fie an 
und име ich ihr entgegenfliege, um fie abzufüffen, da ет: 
Нат jie mir {фой nach dem zweiten Wort, daß es einen 


508 





(он überhaupt nicht gibt. Wenn fie es doch wenigitens 
nach dem dritten getan hätte, aber nein, fie muß es ſchon 
nach dem zweiten tun — jo eilig bat fie's! Nun fchön, 
angenommen, Fuge Leute glauben nicht an Gott, dag foll 
ja bloß vom Berftande abhängen, aber du, ſage ich ihr, 
was verftehft du denn unter Gott? Dich hat das doch 
wieder nur der Student gelehrt, hätte er dic aber die 
Laͤmpchen vor den NHeiligenbildern anzuͤnden gelehrt, fo 
würbeft bu eben Lampchen anzuͤnden!“ 

„Das Ш alles nicht wahr, was Sie da jagen. Sie find 
ein jehr boshafter Menſch. Ich aber habe Ihnen vorhin 
bloß Ihre Dummheit beweifen wollen,” ſagte die Stu: 
dentin nachlaͤſſig, als verachtete fie eg im Grunde, fich mit 
1014 einem Menſchen noch weiter zu ftreiten, „Sch habe 
Ihnen vorhin gefagt, Daß man ung nach dem Katechismus 
fehrt: ‚Ehre Закт und Mutter, damit eg dir wohl ergebe 
und du lange lebeft auf Erden‘. Das fteht in den zehn 
Geboten. Wenn nun Gott es für nötig Мей, für Liebe 
eine Belohnung zu verjprechen, fo ift meines Erachtens 
diefer euer Gott einfach иптота 4. Das war eg, mas 
ich Ihnen vorhin auseinanderfeßte, und durchaus nicht 
nach dem zweiten Wort, fondern einfach, weil Sie auf 
Ihre Vermandtenrechte pochten. Was пп ich dafür, 
daß Sie ftumpffinnig find und mich bis jegt noch nicht 
begriffen haben? Das kraͤnkt Sie und Sie ärgern fich: das 
ift die ganze Löfung des Naätfels von Ihnen und Ihres— 
gleichen.‘ 

„Naͤrrin!“ nannte fie der Major, 

„Ste find felbft ein Narr.“ 

„Schimpf nur!” 

„ber erlauben @е, Kapiton Maximowitſch, Sie 


509 


haben mir doch felbit aefagt, daß Sie an Gott nicht 
glauben”, rief Liputin mit feiner unangenehmen Stimme 
vom anderen Zifchende. 

„Das hat das damit zu tun, was ich gefagt habe, ich — 
ich bin eine ganz andere Sache! Ich — nun, vielleicht 
glaube ich Doch, nur glaube ich nicht fo ganz. Wenn ich 
aber auch nicht ganz glaube, fo jage ich Doch noch nicht, 
daß man Gott gleich totichießen foll. Sch habe fchon, als 
ich noch Hufar war, über Gott nachgedacht. Es heißt jonft 
wohl in allen Gedichten, daß ein Hufar bloß trinkt und 
durchgeht, ſchoͤn, ich habe vielleicht auch getrunfen, aber, 
glauben Sie mir, wenn es manchmal in der Nacht jo 
dunkel ЦЕ, da ſpringt man wohl plößlich auf und fniet vor 
dem SHeiligenbild nieder und fchlägt ein Kreuz über das 
andere, damit Gott einem Olauben jchide, denn felbft da: 
mals fonnte ich mich über diefe Frage м beruhigen: 
gibt es einen Gott, oder gibt eg feinen? Dermaßen bitter 
ИЕ mir das geworden! Morgens, natürlich, da zerftreut 
man fich und wieder geht der Glaube gleichlam flöten, ja 
und überhaupt ift mir eigentlich aufgefallen, daß man am 
Zage den Glauben viel weniger nötig hat.“ 

„Haben Sie vielleicht Karten?” fragte Werchowenski, 
jih zur Hausfrau wendend, und gähnte ungeniert. 

„sch апп Shnen dieſe Frage nur zu jehr, nur zu fehr 
nachfuͤhlen!“ beteuerte die Studentin eifrig. 

„Man verliert bloß die goldene Zeit, wenn man fe 
leerem Geſchwaͤtz zuhoͤrt“, jagte die Hausfrau und blidte 
ihren Mann bedeutjam an. 

Die Studentin raffte fich auf. 

„sch wollte der Verfammlung von den Leiden und 
dem Proteft der Studenten Mitteilung machen, und da 


610 





die Zeit über unmoralifchen Geſpraͤchen vergeudet 
wird..." 

„68 gibt überhaupt weder Moraliiches noch Unmo: 
raliſches!“ fiel ihr der Gymnaſiaſt fogleich ins Wort, 
faum daß er fah, daß die Studentin mit einer Rede Бе: 
ginnen wollte. 

„Das habe ich, mein Herr Gymnaſiaſt, ſchon viel früher 
gewußt, als Sie das aufgefchnappt haben!" 

„Und ich behaupte,” rafte der Gymnaſiaſt geradezu, 
„Ste find — ein aus Petersburg angelommenes Kind, 
das ung bilden will! Daß das vierte Gebot, das Sie nicht 
einmal richtig aufzufagen verjtanden, unmoraliich Ш, das 
weiß fchon feit Belinsfi ganz Rußland !" 

„Bird das jemals ein Ende nehmen?” fragte Frau 
Wirginskaja gereizt ihren Mann. 

Als Hausfrau errötete fie wegen der nichtigen Gefpräche, 
befonders nachdem fie einige fragende Blicke der Gäfte 
untereinander bemerkt hatte, 

„Meine Herren!" Wirginski erhob plößlich die Stimme, 
„falle jemand von Ihnen etwas, was mehr zur Sache 
paßt, zu jagen hat, fo bitte ich, ohne Zeitverluft damit Бе: 
ginnen zu wollen.” 

„Seftatten Sie mir eine Frage,” fagte plößlich der 
lahme Lehrer, der bis dahin nur gefchwiegen und ſehr 
zurückhaltend dagefeflen hatte, „ich würde 560 gern 
wiffen, ob wir hier eine Sikung halten follen, oder ob 
wir ung wie gewöhnliche Sterbliche zu einer Geburts: 
tagsfeier verfammelt haben? 34 frage es mehr der 
Ordnung wegen.” 

Die Frage machte nicht geringen Eindrud: man fah 
fich an, als ob ein jeder vom anderen die Antwort er— 


611 


wortete, und plößlich wandten fich aller Augen, wie auf 
ein Kommando, auf Stamwrogin und Werchomensfi. 

„sch fchlage vor, über die Antwort einfach abzuftimmen. 
Die Frage Ш: ‚Halten wir eine Sikung oder nicht?“ 
jagte Frau Wirginsfaja. 

„sch fimme ganz Ihrem Vorſchlage bei,” rief Kiputin, 
„wenn er аиф ein wenig unbeftimmt ift.‘ 

„sch gleichfalls!" „Sch auch!" riefen noch andere 
Stimmen. 

„Sch denfe gleichfalls, daß das mehr Ordnung jchaffen 
wird”, meinte Wirginsfi. 

„Alſo bitte ме Stimmen abzugeben !" rief die Hausfrau. 
„Laͤmſchin, feien Sie fo freundlich und feßen Sie fich fo 
lange ans Klavier. Sie werden auch von dort aus Ihre 
Stimme abgeben fünnen, wenn mir fo weit ſind.“ 

„Schon wieder! rief Laͤmſchin. „Sch Dachte, ich hätte 
Ihnen nachgerade genug vorgetrommelt!” 

„sch bitte Sie ausdrüdlich darum: Wollen Sie denn 
der Sache nicht müßlich fein?“ 

„ber ich verfichere Sie, Arina Prochoromna, daß 
draußen niemand horcht. Das Ш nur Ihre Phantafıie. 
Die Fenfter find außerdem viel zu hoch; und wer würde 
denn hier überhaupt etwas verftehen, ſelbſt wenn er alles 
hörte ?" | 

„Bir verftehen uns ja jelbit nicht“, murmelte eine 
Stimme. 

„And ich behaupte, daß Vorſicht immer angebracht ift. 
Für den Fall, daß es Spione gibt," wandte fie fich darauf 
zu Werchowensfi, „— mögen fie dann auf der Straße 
hören, daß es bei uns Mufif und luftige Gäfte gibt. 

„zum Teufel!” jhimpfte Lämfchin, ſetzte fich aber doch 


512 





ans Klavier und begann irgendwie, faft mit den Fäuften, 
einen Walzer zu fpielen. 

„sch fchlage vor, daß alle, die eine Sitzung wünfchen, 
die rechte Hand erheben”, beantragte Frau Wirginskaja. 

Einige erhoben die rechte Hand, einige wiederum nicht; 
andere erhoben fie und ſenkten fie wieder oder ſenkten fie 
und erhoben fie von neuem. 

„Pfui, Teufel! Hab nichts Fapiert!” rief ein Offizier 
geärgert. 

„Und ich verftehe aud) nichts!" rief ein anderer. 

„Nein, ich verftehe wohl!" rief ein dritter. „Wenn ‚ja‘, 
fo hebt man die Hand auf.” 

„ber was bedeutet denn das ‚ja'?” 

„Ja' bedeutet: Sitzung!“ 

„Nein, umgekehrt!“ 

„Ich habe fuͤr die Sitzung geſtimmt!“ rief der Gym— 
naſiaſt Frau Wirginskaja zu. 

„Warum haben Sie dann die Hand nicht er— 
hoben?“ | 

„sch habe die ganze Zeit auf Sie gejehen: Sie hoben 
. fie nicht, und fo Боб ich fie auch nicht.” 

„Wie dumm das ift! ch habe fie Doch nur deswegen 
nicht erhoben, weilich das Abftimmen vorgefchlagen hatte. 
Meine Herren, ich ſchlage nochmals vor: wer eine Sitzung 
will, der joll ruhig fißen bleiben und feine Hand erheben, 
wer aber feine Sigung will, der foll die rechte Hand 
aufheben.” 

„Ver nicht will?” fragte der Gymnaſiaſt. 

„Ach, Sie ftellen ſich wohl mit Abficht fo Пир?” rief 
Frau Wirginskaja zornig. 

„Kein, erlauben Sie mal, wer nicht will, oder wer da 


615 


will, das muß fchon genauer feitgeftellt werden‘, ertönten 
zwei, drei Stimmen. 

„Ber nicht will, nicht will!” 

„un fchön, aber was foll man denn jest tun, auf 
heben oder nicht aufheben, wenn man nicht will?” rief 
ein Offizier. 

„ch ja, an eine Konftitution ИЕ bei ung noch nicht zu 
denfen! bemerkte der Major. 

„ре Laͤmſchin, haben Sie ме Güte, Sie haͤmmern 
ja dermaßen, daß niemand etwas verftehen kann“, Бе: 
merfte der lahme Lehrer. 

„За, bei Gott, Arina Prochoromna, её horcht doch 
wirklich fein Spion an den Türen!” rief Laͤmſchin auf: 
Ipringend. „Und ich will auch nicht mehr fpielen! $$ 
bin zu Ihnen zu Bejuch gefommen, aber nicht, um hier 
das Klavier zu bearbeiten!" 

„Meine Herren,” begann Wirgingfi, „antworten Sie 
alle laut: halten wir Sigung oder nicht?" 

„Sikung, Sitzung!“ ertönte es von allen Seiten. 

„Gut, dann brauchen wir nicht mehr abzuftimmen. 
Sind Sie einverftanden, meine Herren, oder jollen wir 
doch noch abftimmen?” 

„Nicht nötig, genug, haben fchon verftanden!” 

„Vielleicht will aber irgend jemand doch nicht?" 

„Kein, nein, alle wollen!" 

„Sa, aber maß ИЕ denn das für eine Sikung?” erhob 
fich eine Stimme, die jedoch feine Antwort erhielt. 

„Man muß einen Präfidenten wählen! riefen mehrere 
zugleich. 

„Den Hausherren, felbftverftändlich, ven Hausherrn № 

„Meine Herren, wenn e8 jo iſt,“ begann der erwänlte 


614 





Wirginsfi, „— dann mache ich nochmals meinen Vor: 
ſchlag: falls jemand von Ihnen etwas, mas mehr zur Sache 
paßt, zu jagen hat, fo bitte ich, Damit zu beginnen.‘ 

Allgemeines Schweigen. Wieder wandten fich alle 
Blide Stawrogin und Werchowensfi zu. 

„Werchowenski, hätten Sie nichts zu jagen?” fragte 
ihn die Hausfrau. 

„Nicht, daß ich wüßte”, fagte der gähnend und lehnte 
ſich nachläffig auf feinem Stuhl zurüd, „Übrigens, ic) 
würde gern einen Kognaf trinken.” 

„Stawrogin, wollen Sie nicht?” 

„Жем, danke, ich trinke nicht.‘ 

„sch meinte, ob Sie nicht reden wollen, und nicht, ob 
Sie einen Kognak wünfchen !" 

„Reden, worüber? Nein, ich will nicht.” 

„Sie werden jofort Ihren Kognaf befommen”, ſagte 
fie zu Merchomensti. 

Die Studentin erhob fich wieder, was fie mittlerweile 
|фоп mehrmals halbwegs getan hatte, 

„Sch bin gefommen, um von den Leiden der unglüd- 
lihen Studenten zu berichten und fie allerorien zum 
Proteft aufzufordern ...“ 

Sie ют nicht weiter: am anderen Zifchende erhob fich 
ein neuer Konkurrent und alle Blide flogen ihm fofort zu. 
Schigaleff, der Mann mit den langen Ohren, erhob fich 
mit finfterem, geärgertem Geſicht bedächtig vom Stuhl 
und legte mit melancholifcher Miene ein dides, unendlich 
Пет und eng bejchriebenes Heft vor fich auf den Tiſch. 
Die meiften fahen beftürzt auf das dicke Heft, doch Liputin, 
Wirginski und der lahme Lehrer waren augenjcheinlich 
mit irgend etwas ſehr zufrieden, | 


5. 
— 


„sch bitte ums Wort”, ſagte Schigaleff endlich finfter, 
doch beſtimmt. 

„Herr Schigaleff hat das Wort‘, verfündete Wirginsti. 

Der Redner jeßte fich, |фимез wieder und begann 
darauf feierlichit: 

„Meine Herrichaften!.. .“ 

„Stier haben Sie den Kognak!“ jagte die Verwandte, 
die den Tee eingegojien hatte und die inzwilchen nad) 
dem Kognaf gegangen war, mit fichtlicher Verachtung. 
Sie ftellte die Flafche und das Glas, die fie in der Hand 
ohne Unterfeßer brachte, ärgerlich auf den Tifch vor Wer: 
chowensfi hin. 

Der unterbrochene Redner verftummte wiürdevoll. 

„Fahren Sie nur fort, ich höre nicht зи!" rief Wer: 
chowensfi, der ИФ den Kognaf eingoß. 

„Meine Herren, indem ich Ihre Aufmerkjamfeit in 
Anſpruch nehme,” begann Schigaleff von neuem, „und 
wie Sie jpäter jehen werden, Shre Hilfe in einem Punkte 
von erjtflaffiger Wichtigkeit erbitte, muß ich vorher einige 
Worte zur Einleitung jagen.“ 

„Arina Prochorowna, haben Sie vielleicht eine 
Schere?” fragte plöglih Piotr Stepanomitich. 

„Wozu brauchen Sie eine Schere?” Sie {аб ihn ver: 
wundert mit großen Augen an. 

„Hab mir die Nägel zu fchneiden vergejlen, obgleich 
ich's mir fchon drei Tage immer wieder vorgenommen 
babe”, jagte er, gelafien jeine langen und ungepußten 
Nägel betradhtend. 

Arina Prochorowna mwurde rot vor Ärger, doch die 
Studentin ſchien daran Gefallen zu finden. 

„sch alaube, ich Babe vorhin hier auf einem Fenfter eine 


516 


Schere gefehen“, fagte Не, erhob fich, ſuchte die Schere 
und Гат fofort wieder zurüd. 

Piotr Stepanowitich ſah fie nicht einmal an, als er die 
Schere nahm. Эта Prochoromwna fagte fich, daß dus 
wohl unter freien Menfchen fo fein пе, und fchämte 
jih ihrer Empfindlichkeit. Die Säfte fahen fich ſtumm 
untereinander an. Der lahme Lehrer lächelte boshaft 
und beobachtete Werchowenski mit gehäfligem Ausdruck. 

Scyigaleff fuhr fort: 

„Nachdem ich meine Energie dem Studium des 
Problems der fozialen Verfaſſung der zufünftigen Ges: 
jellfchaft, mit dem 4 alle Gegenmwartsmenfchen beichäf: 
tigen, gewidmet, bin ich zu der Überzeugung gefoms 
men, daß alle Gründer fozialer Syſteme, feit den älteften 
Zeiten М8 zu unferem 187... ‚ten Sahre, bloß Grübler, 
Märchenerzähler, Dummföpfe geweſen find, die fich ſelbſt 
widerjprochen und fo gut wie nichts von der Naturmifjen: 
Ichaft und diefem fonderbaren Tiere, das wir Menich 
nennen, gewußt haben. Plato, Bouffeau, Fourier 
find Säulen aus Aluminium, alles das taugt vielleicht 
für Spaßen, aber nicht für die menſchliche ©efellichaft. 
Da aber die zufünftige Gefellfchaftsform gerade jeßt feft: 
zufeßen unumgänglich nötig ift, gerade in diefem Augen: 
БИ, da wir ung endlich zu handeln anjchiden, um dann 
nicht mehr nachdenken zu müffen, fo [lage ich denn mein 
eigenes Syſtem der Welteinrichtung vor. Hier Ш eg!" 
und er jchlug mit der Hand auf fein dides Heft. „Zuerit 
wollte ich der DVerfammlung mein Buch in gefürzter 
Form vorlegen, aber ich fah ein, daß ein derartiges Ver: 
fahren noch viele mündliche Erflärungen nötig machen 
würde, Daher habe ich mich denn entichloffen, es Ihnen 


40 Doſtojewsti, Die Dämonen. 35. Ц. 617 


an mindeftens zehn Abenden — da es in zehn Kapitel 

eingeteilt iſt — vorzutragen. (Leiſes Gelächter.) 5% 
muß Sie jedoch im voraus Darauf aufmerffam machen, 
daß mein Syſtem noch nicht beendet, das heißt, noch nicht 
ganz ausgearbeitet ift. (Lauteres Gelächter.) Sch Бабе 
mich nämlich in meinen eigenen Argumenten vermwidelt: 
meine jchließliche Folgerung fteht in geradem Widerfpruch 
zu der anfänglichen З5ее. Nachdem ich von unbefchränf: 
ter Freiheit ausgegangen bin, fomme ich zum Schluß zu 
unbeſchraͤnktem Despotismus. Jedenfalls aber füge ich 
hinzu, daß её außer meiner Loͤſung der Gefellichafts- 
formel eine andere Loͤſung überhaupt nicht geben kann.“ 

Das Gelächter war lauter und immer lauter geworden, 
doch waren e8 eigentlich nur die jüngeren, die gemiffer- 
maßen nicht ganz eingeweihten Gäfte, die da lachten. 
Auf dem Gelicht der Hausfrau, Liputins und des lahmen 
Lehrers drüdte fich einiger Unmille aus. 

„Wenn Sie felbit es nicht einmal verftanden Haben, 
Ihr eigenes Syſtem zu vollenden, und darüber in Ver: 
zweiflung geraten find, fo fagen Sie doch bitte, was wir 
noch machen ſollen?“ bemerfte vorfichtig einer der Offi— 
ziere. 

„Sie haben recht, mein Herr aktiver Offizier,“ wandte 
ſich Schigaleff ſchroff an ihn, „und vor allen Dingen darin, 
daß Sie das Wort ‚Verzweiflung‘ gebrauchten. Ja, ich 
geriet in Verzweiflung; doch nichtsdeftomweniger Ш alles, 
was in meinem Buche fteht, unerjeklich, und einen ап: 
deren Ausweg gibt es nicht; einen folchen wird Feiner 
finden. Und darum beeile ich mich, ohne Zeit zu verlieren, 
die ganze Gefellfchaft aufzufordern, fpäter, alfo nachdem 
ich mein Spftem an zehn Abenden vorgetragen habe, 


618 





ihre Meinung über dasjelbe zu Außern. Wollen aber die 
Mitglieder mir nicht zuhören, fo ift es beffer, wir gehen 
jofort alle auseinander, — die Männer, um fich mit Ver: 
waltungsarbeiten abzugeben, und die Frauen — in ihre 
Küchen, aus dem Grunde, weil Пе, wenn fie mein Syſtem 
ablehnen, einen anderen Ausweg doch nicht mehr finden 
fünnen. Kei—nen einzigen! Laſſen fie aber die Zeit fich 
entgehen, fo fchaden fie 14 Damit nur, da fie dann Doch 
unfehlbar zum ewig Ulten zurüdfehren werden.” 

Man wurde ein wenig unruhig: „Was foll das...? 
MWie...? Etwa übergefchnappt .. .?" hörte man flüftern. 

„Das heißt alfo, daß die Hauptiache jetzt bloß in Schi: 
galeffs Verzweiflung beſteht,“ folgerte Laͤmſchin, „und 
die Tagesfrage nur lauten апп: hat er nun das Necht, 
verzweifelt zu fein, oder hat er es nicht?” 

„Schigaleffs Berzmeiflung ift eine vollfommen perſoͤn— 
liche Frage”, verfündete der Gymnaſiaſt. 

„sch Ichlage vor, abzuftimmen, inwieweit die Зет: 
zweiflung Schigaleffs die allgemeine Sache angeht, und 
ferner, ob eg fich überhaupt lohnt, fein Syftem anzuhören 
oder nicht?” fchlug heiter einer von den Offizieren vor. 

„Hier handelt es 14 nicht darum”, mijchte ſich endlich 
der lahme Lehrer ing Geſpraͤch. Er |ртаф gewöhnlich mit 
einem gemwiljen gleichfam fpöttifchen Lächeln, fo daß es 
eigentlich fchwer mar, feftzuftellen, ob er im Ernft ſprach 
oder nur jcherzte. „Hier, meine Herrichaften, handelt es 
ſich um etwas ganz anderes. Herr Schigaleff hat ſich 
feiner Aufgabe gar zu gewifjenhaft gewidmet und ИЕ dabei 
allzu befcheiden. Sch Fenne fein Buch. Er jchlägt darin 
vor, und zwar als endgültige Loͤſung des Problems, die 
Teilung der Menfıhheit in zwei ungleiche Teile. Der 


40* 619 


Нешете Zeil, ungefähr nur ein Zehntel der Menjchheit, 
erhält allein perfönlihe Freiheit und das unbejchränfte 
Recht über die übrigen neun Zehntel. Dieje neun Zehntel 
der Menjchheit aber follen ihre Perjönlichkeit volllommen 
einbüßen und zu einer Art Herde werden, um bei grenzen 
loſem Gehorſam mittels einer Reihe von Wiedergeburten 
ме uranfängliche Unſchuld mwiederzugeminnen, etwa in 
der Form des alten Paradiejes, wenn fie auch, nebenbei 
bemerkt, arbeiten müjjen. Die Mafregeln, die der Autor 
vorjchlägt, um den neun Zehnteln der Menjchheit den 
perfönlichen Wilten zu nehmen, jowie um fie mittels einer 
neuen Erziehung ganzer Generationen ın eine Herde um: 
zubilden, — dieje Mafregeln jind ungemein bemerfens- 
wert, ftüßen fich zudem auf naturwiſſenſchaftliche Хан 
fachen und find fehr 10914. Man kann ſich vielleicht mit 
einigen feiner Folgerungen nicht einverjtanden erflären 
und ihm mwiderfprechen, doch deshalb kann man noch nicht 
den Verſtand und das Wiſſen des Autors anzmeifeln. 
Das wäre auch unfinnig. Schade, daß feine Abficht, den 
Inhalt feines Buches an zehn Abenden vorzutragen mit 
den Umftänden fo unvereinbar ift, {опй befämen mir viel 
Intereſſantes zu hören.” 

„Meinen Sie das ши im Стий?” fragte Frau 
Wirginskaja faft beunruhigt den lahmen Lehrer. „Weil 
diefer Menſch nicht weiß, wohin er mit den Menjchen foil, 
verlangt er, daß man neun Zehntel zu Sklaven macht? 
Sch Бабе ihn ſchon längft im Verdacht gehebt... —“ 

„Sprechen Sie von Ihrem Bruder?” fragte der Забте. 

„Wie, Sie erkennen VBerwandtihaft an? Oder wollen 
Sie fich über mich luſtig machen?” 

„And dazu noch für die Ariftofraten arbeiten und ihnen 


620 





wie Göttern gehorchen — das Ш eine Gemeinheit!“ rief 
die Studentin empört. 

„sch ſchlage Feine Gemeinheit vor, fondern ein Pa: 
radieg, das irdifche Paradies, und ein anderes fann es 
Мег auf Erden überhaupt nicht geben”, fchloß Schigaleff 
mit Nachdrud, 

„sch aber würde anftatt des Paradieſes“, fchrie Laͤm— 
ichin, „Diefe ganzen neun Zehntel der Menfchheit пебтеп 
und fie, da man mit ihnen doch nichts anzufangen weiß, 
einfach in die Luft fprengen, und würde nur ein Häufchen 
gebildeter Leute Ubriglafjen, die danrı nach der Wiffen: 
Ichaft herrlich und in Freuden leben fönnten.” 

„So etwas пп nur ein Narr jagen!" fuhr die Stu: 
dentin auf. 

„Er ИЕ ein Narr, aber er Ш nüßlich”, flüfterte ihr Frau 
Wirginskaja zu. | 

„And vielleicht wäre das die beſte Löfung der Aufgabe !" 
wandte 14 Schigaleff lebhaft zu Lamfchin. „Sie wiſſen 
natürlich nicht mal, welch einen tiefen Gedanfen Sie da 
ausgefprochen haben, mein luftiger Herr. Da aber Ihr 
Vorſchlag kaum erfüllbar ift, jo muß man fich eben mit 
dem jogenannten Erdenparadies begnügen.” 

„Sinftweilen Ш das fchon genügender Unſinn!“ Бе: 
merkte plößlich Werchomensfi, anfcheinend ganz unmili- 
fürlich als Betrachtung, ме einem mal fo entichlüpft. 
Übrigens fuhr er dabei gelalfen und ohne aufzubliden 
fort, feine Nägel zu befchneiden. 

„Wieſo, warum foll denn das ein Unſinn fein?” griff 
lofort der lahme Lehrer die Bemerkung auf, als hätte er 
nur auf das erfte Wort von Werchowenski gemartet, um 
ihn angreifen zu koͤnnen. „Warum denn gerade ein Un: 


621 


finn? Herr Schigaleff Ш zum Teil ein Fanatifer der 
Menfchenliebe; und erimmern Sie fih nur, daß felbit 
Tourier, Cabet ganz bejonders, und fogar Proudhon eine 
Menge der allerdefpotifchiten und allerfanatifchften theo= | 
retiichen Loͤſungen der Frage gegeben haben. Herr 
Schigaleff hat vielleicht noch am nüchternften von ihnen 
allen die Sache angefaßi. 54 verfichere Sie, daß es nad) | 
der Lektüre feines Buches faft unmöglich ift, mit einigen 
feiner Behauptungen nid;t übereinzuftimmen. Er hat jich 
vielleicht am allerwenigften von der Realität entfernt, 
und fein Erdenparadies ift beinahe das wirkliche Paradieg, 
dasjelbe, über deffen Verluſt die ganze Menfchheit feufzt 
— vorausgefeht natürlich, daß es wirklich einmal eriftiert 
hat.‘ 

„Sch Fonnte mir ja denken, daß ich mir da was auf den 
Hals lade”, murmelte Werchowenski wieder nachlällig. 

„Srlauben Sie," regte fich der Lahme mehr und mehr 
auf, „Geipräche und Betrachtungen über die zufünftige 
joziale Einrichtung find faft die dringendfte Pflicht aller 
denfenden Menfchen der Gegenwart. Ulerander Herzen 
kat jich fein Leben lang einzig und allein darum geſorgt, 
und Belinsfi hat, wie 14 aus der ſicherſten Quelle weiß, 
ganze Abende mit feinen Freunden verbracht, indem er 
mit ihnen im voraus über die Heinften Einzelheiten der 
zufünftigen jozialen Welteinrichtung bdebattierte, ja, jo: | 
zufagen über deren Küchenfragen ſtritt.“) | 

„Und einige werden darüber gar vollends verrüdt”, | 
bemerfte der Major. 
*) In den lebten Lebensjahren Belinstis Ш Doſtojewski (von 
1845—1848) an diefen Abenden perjönlich zugegen gemejen. 

E.K.R. 


622 





„Immerhin kann man fich jo Doch zu irgendeinem Er: 
gebnis durchfprechen, und das Ш, denke ich, jedenfalls 
beifer, ala wie die Diktatoren dazufißen und zu ſchweigen“, 
rief Liputin gehäflig, der es jet endlich zu wagen ſchien, 
Werchowenski anzugreifen. 

„Sch Бабе nicht zu Schigaleffs Jdeen ‚Unfinn‘ gefagt“, 
murmelte Werchowenski nachläflig, faſt faum verftändlich 
feine Worte. „Sehen Sie, meine Herrichaften, er blidte 
Виз auf — „meiner Meinung nach find alle dieſe 
Bücher Fouriers, Cabets, alle dieſe ‚Arbeitsrechte‘, der 
Schigalewismus — alles dag erinnert an Romane, die 
man ja zu Hunderttaufenden fchreiben kann. Üfthetifcher 
Zeitvertreib. Sch begreife ja, daß Sie es hier im Städt: 
chen langweilig haben und fich eben darum aufs Schreib 
papier ftürzen.” 

„Srlauben Sie," der Lahme rüdte ungeduldig auf dem 
Stuhl, „wenn wir auch Provinzler find und natürlich 
ſchon deswegen allein Mitleid verdienen, fo wiſſen mir 
doch, daß inzmifchen in der Welt nichts jo Bejonderes oder 
Neues gejchehen ift, als daß wir Grund hätten, darüber 
zu Hagen, daß wir es nicht mit ипетеп Augen gejehen 
haben. Da fordert man uns nun auf, durch verſchiedene 
Schandolätter ausländijchen Fabrifats, die Мег verbreitet 
werden, und zujammenzutun und Geheimbünde zu 
gründen, einzig zu dem Zwed der allgemeinen Zerftörung 
— unter dem Vorwande: wie man an der Welt аи) 
berumdoftern wollte, ganz gefund fönne man jie doch 
nicht machen; fchneidet man aber radikal hundert Millionen 
Köpfe ab, jo könne man nad) diefer Erleichterung bejjer 
über den Graben fpringen. Ein herrlicher Gedanke, 
zweifellos, aber — mit der Wirflichleit mindeftens eben: 


623 


{2 unvereinbar wie der Schigalemismus, über den Sie 
jich noch im Augenblid fo verächtlich äußerten.” 

„Na, ja, ich bin aber nicht zu dem Zweck hergefommen, 
um Мег Betrachtungen anzuftellen”, verjprach fich Wer: 
chowenski gleichfam mit einem bedeutfamen Wort, tat 
aber dabei, als hätte er das felbft gar nicht bemerft, und 
$09 ruhig ein Kicht zu fich heran, damit er es heller habe. 

„Schade, wirklich fehr fchade, daß Sie nicht zu dem 
Zweck hergekommen find, und desgleichen, daß Sie jetzt 
mit Shrer Zoilette beichäftigt find!" 

„Bas hat dag mit meiner Toilette zu tun?" 

„Die Idee, die Menfchheit um hundert Millionen Köpfe 
зи verringern, ift ebenfo ſchwer zu verwirklichen, wie die 
Welt mitteld Propaganda umzuändern. Vielleicht jogar 
noch fehmerer, bejonders in Rußland“, wagte fich Liputin 
wieder vor. 

„Man fcheint jebt allgemein auf Rußland zu Я = 
bemerfte einer von den Offizieren. 

„за, auch wir haben davon gehört, daß man auf Ruß⸗ 
land hofft“, griff der lahme Lehrer die Bemerkung auf. 
„Bir wiſſen, daß auf unſer herrliches Vaterland ein ges 
heimnisvoller Inder пей, wie auf ein Land, dag am 
meiften zur Ausführung der großen Aufgabe befähigt ift. 
Nur eines muß man dabei nicht außer acht laffen: im Falle 
einer allmählichen Loͤſung der Aufgabe durch тора: 
ganda {апп ich perjönlich doch immerhin etwas dabei де: 
minnen, nun, wenn auch meinetmegen nur dies, daß ich 
angenehm habe plaudern fünnen, oder ich erhalte von den 
Dorgefekten gar einen Orden für meine Dienfte für die 
ſoziale Sache. Aber im zweiten Falle, bei der fchnellen 
Enticheidung durch das Abhauen von hundert Millionen 


624 





Köpfen — mas hätte ich da für eine Belohnung zu er: 
warten? ange ich an daflır Propaganda zu machen, |» 
fchneidet man mir womöglich noch die Zunge ab.” 

„Ihnen wird fie beſtimmt abgefchnitten”, fagte Wer: 
chowenski. 

„Sehen Sie wohl. Da man aber ſelbſt unter den 
günftigften Umſtaͤnden eine ſolche Metzelei vor fünfzig 
Jahren, oder meinetwegen auch nur dreißig, nicht Бег 
enden апп, — denn das find doch Feine Laͤmmer, die ſich 
protejtlos den Hals abjchneiden laffen —, ſo meine ich: 
follte eg da nicht таНатег fein, Hab und But aufzupaden 
und irgend wohin auf eine ПИ Inſel im Stillen Ozean 
zu gehen und dort in Frieden feine Augen zu fchließen? 
Glauben Sie mir,” rief er lauter und Flopfte dabei mit 
dem Finger an den Tiſchrand, „mit 014 einer Propa— 
ganda rufen Sie nur allgemeine Auswanderung hervor 
und fonft nichts weiter!” 

Er fchloß fichtlich triumphierend. Er war bei ung Бег 
fannt als Fluger Kopf. Liputin lächelte Ichadenfroh, Wir: 
ginski hörte ein wenig wehmütig zu, die anderen aber . 
folgten ungewöhnlich aufmerffam dem ganzen Ötreit, 
befonders die Offiziere und die Damen. Зе begriffen, 
daß der Agent der hundert Millionen abgefchnittener 
Köpfe an die Wand gedrüdt war und warteten nun, was 
aus all dem werden würde, 

„Das haben Sie übrigens ganz gut geſagt“, bemerfte 
womöglich noch gleichgültiger als vorher, ja, beinahe fchon 
gelangweilt, Werchowenski. „Auswandern ЦЕ ein guter 
Gedanke. Uber da 14 troß all der augenfcheinlichen 
Nachteile, ме Ste ja vorausfühlen, dod) von Tag zu Tag 
immer mehr Anhänger oder Soldaten für die neue Sache 


625 


melden, jo wird man auch ohne Sie ausfommen. Hier 
ift, mein Befter, eben die neue Neligion dabei, die die 
alte erjeßt, darum finden fich auch fo viele Juͤnger ein. 
Alfo Sie wandern aus! Hm, еп Sie, da würde ich 
Ihnen aber raten, doc, lieber nach Dresden zu gehen, 
und nicht auf eine ftille Infel. Erſtens ift das eine Stadt, 
die noch nie eine Epidemie gejehen hat, und da Sie ja 
ein vernünftiger Menſch find, jo fürchten Sie doch Бе: 
jfimmt den Tod. Zweitens ИЕ Dresden nicht fehr weit 
von der ruflischen Grenze, jo daß man denn ſehr ſchnell 
die Nenten aus dem liebenswürdigen Vaterlande erhalten 
fann. Dritten bat es in feinen Mauern jogenennte 
Kunftfchäße, Sie aber find ein äfthetiicher Menſch, ge: 
wejener Lehrer der Literatur, wenn ich mich nicht täufche. 
Na, und endlich hat es noch feine eigene Heine Schweiz, 
eine in der Zafchenausgabe — fo etwas aber ift doch für 
die poetijche Inſpiration unumgänglich nötig, zumal Sie 
doch gewiß Gedichte fchreiben. Mit einem Wort, ein 
Schaf in einer Tabaksdoſe!“ 

Die Säfte wurden unruhig; bejonders die Dffiziere. 
Noch ein Augenblid, fo fchien es, und alle hätten plößlich 
geiprochen. Der lahme Lehrer jedoch М8 fofort nach dem 
Köder: 

„Srlauben Sie, ich habe durchaus noch nicht gejagt, daß 
ich die allgemeine Sache im Stich lafjen will! Das follte 
man auseinanderhalten .. .“ 

„Wieſo, würden Sie denn in eine ‚Fünf‘ eintreten, 
wenn ich Ihnen das vorjchlüge?” warf plößlih Wercho: 
wenski die Frage hin und legte die Schere auf den Tiſch. 

Die ganze Verfammlung zudte gleichjam zujammen. 
Der rätjelhafte Menſch Hatte 1% etwas zu plößlich aufs 


526 





gededt. Sogar das Wort „ме Fünf‘ hatte er ausge: 
Iprochen. 

„seber, der 14 für einen ehrlichen Menfchen hält, 
zieht fich nicht von der allgemeinen Sache zuruͤck,“ ег: 
ſuchte der Lehrer die offene Antwort zu umgehen, 
— 

„Жем, bitte, Мех kann топ mir nicht mit einem ‚aber‘ 
fommen”, unterbrach ihn Werchowenski fchroff und де: 
bieterifch. „Seh erfläre hiermit, тете Herrfchaften, daß 
ich eine offene, gerade Antwort verlange. Sch weiß nur 
zu gut, daß ich, der ich nicht grundlos hierher geflommen 
din und Sie alle felbft verfammelt habe, Ihnen Erklaͤ— 
rungen ſchuldig bin. (Mieder ein unermwarteter Auf— 
ſchluß.) „Wie aber foll 1% Erflärungen geben, wenn ich 
nicht weiß, welcher Art Ihre Gedanken Find? Gefpräche 
vermeide ich, — denn wozu joll man wieder dreißig Sahre 
lang ſchwatzen, wie man bisher fchon dreißig Jahre де: 
ſchwatzt hat — und frage Sie deshalb einfach, was Sie 
lteber wollen: den Iongfemen Weg, der im Schreiben 
jozialer Romane befteht und der fanzleimäßigen Vorauss 
beftimmung der menſchlichen Schickſale auf taufend Jahre, 
jedoch nur auf вет Schreibpapier, während der Del: 
potismus in dieſer Zeit Ме gebratenen Stüde ſchluckt, die 
eigentlih Ihnen in ben Mund fliegen follten und das 
bloß nicht koͤnnen, weil Sie den Mund gejchloffen halten? 
Oder find Sie für die ſchnelle Entſcheidung, worin dieſe 
auch beftehen follte, ме aber euf jeden Fall endlich Die 
Hände befreit und der Menſchheit erlaubt, fich frei ihr 
eigenes Schickſal zu fchaffen, und zwar in der Wirklichkeit 
und nicht nur auf dem Papier? Da fchreit man nun: 
‚Aber hundert Millionen Köpfe!“ Das Ш vielleicht nur 


627 


eine Metapher, aber wozu denn davor zurüdichreden, 
wenn der Defpotismus bei der ianafamen Papierlöfung 
{Фоп in irgend welchen hundert Jahren nicht nur hundert 
Millionen, fondern fünfhundert Millionen Köpfe ver: 
Ichlingen wird? Und vergeffen Sie nicht, daß ет unheil- 
barer Ktanfer jo иле jo nicht gejund werden апп, was 
für Rezepte Sie ihm auch verjchreiben mögen, — daß 
feine Krankheit fich, im Gegenteil, nur verjchlimmert, je 
länger man jie hinzieht, bis er fchließlich bei lebendigem 
Leibe verfault, derart, daß er auch ung anſteckt und alle 
friſchen Kräfte, auf Die mir jeßt rechnen, verdirbt — fo 
daß wir Dann womöglich überhaupt nichts mehr zuftande 
bringen koͤnnen. Sch gebe ja gern zu, daß ‚liberal‘ und 
Ichön zu reden, ſehr angenehm ift, handeln aber — etwas 
‚angreift‘... Nun ja, übrigens verftehe ich nicht zu reden. 
Ich bin mit Nachrichten hierher gefommen, und darum 
bitte ich jeßt die ganze verehrte Gefellichaft, nicht etwa 
abzujtimmen, nein, jondern einfady und ohne Umſchweife 
zu jagen, was Sie luftiger fanden: einen Schildkröten 
gang im Sumpf, oder mit Volldampf durch den Sumpf 
hindurch 2" 

„Sch erfläre mich pofitio für den Volldampf!" rief der 
Фотпайай begeiftert. 

„sh auch!“ rief Laͤmſchin. 

„За ſolcher Wahl bleibt natürlich fein Zweifel..." 
meinte einer der Offiziere. Nach ihm ftimmte поф je= 
mand bei und dann noch jemand. — 

Am meiften frappierte es alle, daß Werchowenski mit 
„Nachrichten“ hergefommen war und offenbar fofort 
reden würde. 

„Meine Herrichaften, ich jehe, daß faft alle im Sinne 


628 





der Proflamationen entſcheiden“, fagte er, während fein 
Dlid alle Anweſenden überflog. 

„Alle, alle!” riefen die meiften. 

„Sch muß geftehen, daß ich eigentlich mehr für eine 
humane Löjung bin,” fagte der Major, „da aber [фоп 
alle dafür ftimmen, fo halte auch ich mit.” 

„Es ſcheint ас, daß auch Sie nicht widerſprechen?“ 
wandte jich Werchowensfi an den lahmen Lehrer. 

„sch kann nicht jagen, daß ich gerade...” ermwiderte 
dieſer zögernd und wurde ein wenig rot, „aber wenn ich 
mich jeßt den anderen anjc)ließe, jo tue ich eg nur, um 
nicht zu ftören.. 

„Na ja, fo ſeid ihr ja alle! Фе bereit, ein halbes Jahr 
lang um der liberalen Redefunft willen zu ftreiten, und 
endet dann damit, daß ihr euch bloß ‚den anderen ans 
Ichließt‘! Meine Herren, denken Sie erſt einmal nach, ob 
Sie wirklich bereit find?“ 

(Wozu bereit? — eine unbeftimmte, doch furchtbar ver: 
lodende Trage.) 

„Gewiß doch! natürlich, alle...” ertönten Stimmen. 

Übrigens ſahen 4 dabei alle etwas fcheu gegen: 
feitig an. | 

„ber vielleicht werdet ihr euch dann dadurch gefränft 
fühlen, daß ihr jo jchnell einverftanden wart? Das ift doch 
gewöhnlich mit euch fo.“ | 

Man geriet in Erregung; aus verjchiedenen Gründen; 
man geriet |фоп in Aufregung. Der Lahme {Ней von 
neuem auf Werchomensfi vor. 

„Srlauben Sie einftweilen zu bemerfen, daß die Эт 
worten auf folche Fragen gemiffermaßen bedingt find. 
Зепп wir аиф den Entichluß gefaßt haben, jo bitte ich, 


629 


doch nicht vergeſſen zu wollen, daß eine Frage, die in fo 
ſonderbarer Weiſe geftellt.... 

„Inwiefern in ſonderbarer Weiſe?“ 

„Solche Fragen werden nicht ſo geſtellt.“ 

„Dann ſagen Ste mir gefälligft, wie. Im übrigen war 
ich von vornherein überzeugt, daß gerade Sie fich als 
erſter gefränft fühlen würden.” 

„Sie haben unjer Einverftändnis zu fofortigem Handeln 
ung gewiffermaßen entrifjen. Aber mas für ein Recht 
hatten Sie dazu? Was für Bevollmaͤchtigungen beſitzen 
Sie, um folhe Fragen ftellen zu koͤnnen?“ 

„Das zu fragen, hätte Ihnen früher einfallen follen! 
Warum haben Sie denn geantwortet? Sie haben ſich 
einverftanden erklärt, und damit baſta! Nun ift es zu 
fpät, auf fo etwas zurüdzufommen.” 

„Mir Scheint, daß die leichtjinnige Aufrichtigfeit Ihrer 
Hauptfrage einen auf die Idee bringen fann, daß Sie 
weder Vollmacht, пов) ſonſt ein Recht Haben, diefe 
Frage zu Stellen, fondern einfach nur von fich aus — пси? 
gierig waren.” 

„Wovon reden Sie? Was wollen Sie damit fagen?” 
rief da ploͤtzlich Werchowenski gleichlam erfchroden und 
tat, als werde er plöglich unmutig. 

„sch meine, daß eine Aufnahme, was für eine ed auch 
lei, wenigftens unter vier Augen gemacht wird, und nicht 
in unbefannter Gejellichaft von zwanzig Menichen !" 
platte der Lahme mit dem verhängnisvollen Wort heraus. 

Werchowenski wandte fi jofort mit vorzüglich ges 
ipielter Aufregung an die Anweſenden. 

„Meine Herren, ich halte eg für meine Pflicht, allen mit- 
zuteilen, daß das nur Dummpeiten waren und unjer бег 


630 








ſpraͤch etwas zu тей gegangen ift. Ich Бабе noch fo gut 
wie feinen aufgenommen, und niemand bat das Recht, 
von mir zu fagen, Daß ich es hier getan hätte: wir haben 
einfach über verfchiedene Meinungen gefprochen. Nicht 
wahr? Aber wie dem auch fei, jedenfalls regen Sie mich 
nicht wenig auf,” wandte er fich wieder zu dem Kahmen, 
„ich бане nie gedacht, daß man Мег über folche fat ип: 
Ichuldigen Dinge nur unter vier Augen ſprechen darf. 
Dver fürchten Sie, Рай jemand uns anzeigen Fünnte? 
Kann denn wirklich jeßt ein Verräter unter ung fein?” 

Die allgemeine Aufregung war ungeheuer. Alle bes 
gannen zu |prechen. 

„Meine Herren, wenn das der Fall wäre,” fuhr Wer: 
chowenski fort, „Jo bin 14 es Doch, den ich am meiften 
kompromittiert habe, und darum fchlage ich vor, noch auf 
eine Frage zu antworten, verfteht 1%, nur wenn Sie 
wollen. Sie haben den freien Willen... ." 

„Was für eine Trage? Welch eine Frage?” riefen alle 
dur&heinander. 

„Eine Frage, nach deren Beantwortung wir entjcheiden 
fönnen, ob wir alle zufammen bleiben follen, oder ob wir 
befier tun, wenn mir ſchweigend unfere Hüte nehmen 
und jeder feinen eigenen Weg geht." 

„Stellen Sie die Trage, ftellen Sie die Trage!" 

„Denn einer von Ihnen von einem beabjichtigten 
politifchen Morde erführe — würde er dann, wenn er alle 
Folgen vorausfieht, hingehen und Anzeige erftatten, oder 
würde er zu Haufe bleiben und den Dingen ruhig ihren 
Lauf laffen. Darüber kann man verfchiedener Meinung 
fein. Die Antwort auf meine Frage wird ung jagen, ob 
wir auseinandergehen oder zufammenbleiben follen, und 


631 


wenn das letztere, dann nicht nur für heute abend. Ges 
ftatten Sie, daß ich mich mit diejer Frage an Sie als 
eriten wende‘, wandte er 14 an den Lahmen. 

„Barum denn gerade an mich als erjten 

„Beil doch nur von Ihnen dieje ganze Yuseinander- 
feßung beraufbejchworen worden И. Haben @е die 
Güte, ме Antwort nicht umgehen zu wollen. Ausflüchte 
find Мег nicht am Plaß. Doch übrigens, wie Sie wollen. 
Ihr freier Wille, wie gejagt.“ | 

„Srlauben Sie, eine ſolche Frage ift einfach belei: 
digend.“ 

„Ich muß ſchon bitten, etwas deutlicher zu ſein.“ 

„Ich bin noch nie Agent der Geheimpolizei geweſen.“ 

„Haben Sie die Güte, mich nicht aufzuhalten. Etwas | 
beftimmter, wenn ich bitten darf. | 

Der Lahme ärgerte 14 dermaßen, daß er überhaupt 
aufhörte, zu antworten. Schweigend, mit böjem Bid, 
fah er, ohne feine Augen abzumenden, hinter der Brille 
hervor auf jeinen Peiniger. 

„sa oder nein? Würden Sie anzeigen, oder mwürben 
Sie nicht anzeigen?” |фие plößlich Werchowenski. 

„Selbftverftändlich zeige ih nicht an!“ ſchrie noch. 
zweimal lauter der Zahme. | 

„Und feiner wird anzeigen, fein einziger!... Sit 509 
wirklich laͤcherlich!. . jo etwas!..“ ertönten mehrere 
Stimnien. | 

„Seftatten Sie, daß ich mich jeßt an Sie wende, Herr 
Major: würden Sie anzeigen, ja oder nein?“ fuhr Wer: 
homwensfi fort. „Bitte zu beachten, daß ich mich abjicht- 
lich an Sie wende.” 

„Sch zeige nicht an.“ 


632 





„Nun, aber wenn Sie wühten, daß irgend jemand 
einen anderen erichlagen und berauben will, einen це 
wöhnlichen Sterblichen, jo würden Sie es doch melden, 
nicht wahr?” 

„Natürlich, aber das wäre doch ein ziviler Fall, hier 
aber handelt es 14 um eine рой фе Anzeige. Bin fein 
Agent der Geheimpolizei.‘ 

„За aber, das ift hier doch Feiner!” hörte man wieder 
ein paar Stimmen. „Unnüße Frage. Alle haben diejelbe 
Antwort. Hier gibt es doch feine Verräter! 

„Barum fteht diefer Herr dort auf?” rief plößlich die 
Studentin. 

„Das Ш Schatoff! Warum find Sie aufgeftanden, 
Schatoff?" rief die Hausfrau erregt. 

Schatoff hatte fich tatfächlich erhoben, ftand, ме Mühe 
in der Hand, und {аб auf Werchowenski. Es war, als 
wolle er ihm etwas jagen, doch fchien er noch unent= 
Ichloffen zu fein. Sein Geficht war blaß und zornig, 
aber er bezwang jich, fagte fein Wort und verließ ftumm 
Das Zimmer. 

„Schatoff, das ЦЕ doch für Sie felbft unvorteilhaft!" 
rief ihm Werchowenski rätjelhaft nach. 

„Dafür ift es aber für dich vorteilhaft, für dich 
Spion und Schurken!" rief Schatoff von der Tür 
zurüd und trat hinaus. 

Wieder Ausrufe, Lärm. 

„Da haben wir ja jet die Probe! rief eine Stimme. 

„Hat genügt!" rief eine andere. 

„Hat fie nicht vielleicht zu jpät genügt?” fragte eine 
dritte. 

„Ber hat ihn eingeladen? — Ber hat ihn empfan— 


41 Doſtojewski, Die Dämonen. 35 MI. 633 


gen? — Ber ift es? — Was ift diefer Schatoff? — Wird 
er denunzieren?... wird er nicht? ...“ fehwirrten Die 
ragen Durcheinander. 

„Зепп er denunzieren wollte, fo würde er fich verftellt 
haben, jo aber hat er gleichjam auf die ganze Sache ein 
fach geipudt und И fortgegangen“, bemerfte jemand. 

„Da fteht auch fchon Stawrogin auf! Stawrogin hat 
auch nicht auf die Frage geantwortet! rief wieder die 
Studentin. 

Stamrogin war tatlächlich aufgeftanden und ſogleich 
hatte fich auch Kirilloff am anderen Tiſchende von feinem 
laß erhoben. 

„Berzeihen Sie, Herr Stawrogin,“ wandte fich die 
Hausfrau nervös an ihn, „wir haben hier alle auf die 
Stage geantwortet, während Sie nun allein ſchweigend 
fortgehen wollen?” 

„Ich fühle mich nicht verpflichtet, auf eine Frage zu 
antworten, die Sie intereſſiert“, fagte Stawrogin. 

„Aber wir haben uns fompromittiert und Sie nicht!” 
riefen Ме Stimmen wieder. 

„Bas geht dag mich an, daß Sie fich fompromittiert 
haben”, lachte Stawrogin auf, doch feine Augen funfelten. 

„Wieſo — geht das Sie nichts an? Wiefo — geht das 
Sie nichts an?” fragte man jofort. 

Einige ſprangen von ihren Pläßen auf. 

„Srlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie!" rief der 
Lahme. „Herr Werchowensfi hat ja auch noch nicht auf 
die Frage geantwortet, ſondern fie bloß geſtellt!“ 

Diefe Bemerfung machte einen geradezu lähmenden 
Eindrud. Ale fahen fich erftaunt an. Stamrogin lachte 
laut dem Lahmen 118 Geſicht und ging aus dem Zimmer. 


634 





Kirilloff folgte ihm. Werchomensfi lief beiden fofort ins 
Vorzimmer nach. 

„Bas machen Sie aus mir! flüfterte er erregt, Stan: 
rogins Hand fafjend, die er mit aller Kraft in der feinigen 
preßte. 

Der entriß fie ihm ſchweigend. 

„Seien Sie fofort dei Kırillaff, ich werde fommen... 
Sch mug, ich muß Ste unbedingt fprechen !” 

„Sur mich gibt es fein Muß!“ fchnitt ihm Stawrogin 
das Wort ab. | 

„Stewrogin wird bei mir fein,“ beendete Kirilloff 
das Geſpraͤch. „Stawrogin, es gibt für Ste doch ein 
Muß. Sch werde es Ihnen dort zeigen.“ 

Ste gingen hinaus. 


ee — 


Dreizehntes Kapitel. 
Zaremitfch Сай 


©; traten hinaus. Pjotr Stepanowitſch kehrte zuerit 
in das Gaſtzimmer zurüd, um das Chaos zu be: 
fänftigen, doch er jah bald ein, daß Мег jede Mühe ver: 
geblich war, und fo lief er denn ſchon nach zwei Minuten 
den Fortgegangenen nach. Unterwegs fielihm eine Quer: 
jtraße ein, durch die er ein gutes Ош Weges abſchneiden 
fonnte. Er bog in fie ein — es war eine Winfelgaffe, in 
der er im Schlamm faft bis über die Knoͤchel verſank — 
und erreichte auf diefe Weife das Filippoffiche Haus рай 
in demjelben Augenblid, als Stawrogin und Kirilloff 
durch die Hofpforte traten. 

„Schon hier? — Das ift gut.” fagte Kirilloff. „Kom— 
men Sie.” | 

„Die, Sie jagten doch, daß Sie ganz allein leben?” 
fragte Stamwrogin, ale er im Flur den fchon aufgejeßten 
Samomar bemerkte, der ſchon zu ſummen begann. 

„Werden gleich jehen, mit тет ich lebe”, murmelte | 
Kirilloff. „Zreten Sie ein.” 

Kaum hatten fie fich geſetzt, ald Werchowenski den 
anonymen Brief, den er fich von Herrn von Lembke aus: | 
gebeten hatte, aus der За|фе zog und ihn vor Stamrogin 
auf den ЗФ legte. Stamwrogin las ihn ſchweigend 
durch. | 


636 





„Nun?“ fragte er. 

„Зе Schuft wird beflimmt das tun, wozu er ich 
erboten hat“, erflärte Werchowenski. „Da er in Shrer 
Hand Ш, fo fagen Sie bitte, wie man mit ihm umgehen 
joll. Sch verfichere Ihnen, daß er vielleicht jchon morgen 
zu Zembfe geht.“ 

„un, mag er 504 gehen.“ 

„Wieſo, mag er Doch? Wenn man dag verhindern 
kann!“ 

„Sie irren ſich, er haͤngt durchaus nicht von mir ab. 
Und uͤbrigens iſt es mir wirklich gleichguͤltig. Mir droht 
er doch mit nichts, bloß Ihnen.“ 

„Auch Ihnen.“ 

„sch glaube nicht.“ 

„Aber andere könnten Sie vielleicht nicht fehonen. 
Sollten Sie das тиф nicht begreifen? Hören Sie, 
Stamrogin, das ift doch nur ein Spiel mit Worten. Zut 
Ihnen wirklich das Geld leid?” 

„Iſt dazu überhaupt Geld nötig?” 

„Unbedingt. Zmeitaufend oder minimum taufend 
fünfhundert Rubel. Geben Sie mir die Summe morgen 
oder meinetwegen heute noch, und morgen abend fchaffe 
ich ihn nach Petersburg. Das will er ja jelbfi! Wenn 
Sie wollen, mitfamt Marja Timofejewna — beachten Sie 
das!“ 

Es war etwas vollkommen Irres in Werchowenski, er 
ſprach unvorſichtig, haſtig, die Worte entfuhren ihm un— 
bedacht. 

Stawrogin betrachtete ihn mit Verwunderung. 

„Ich habe gar keinen Grund, Marja Timofejewna 
fortzuſchicken“, ſagte er. 


637 


„Vielleicht wollen Sie es nicht einmal?” fragte Piotr 
Stepanowitſch mit ironiſchem Laͤcheln. | 

„DBielleicht will ich es nicht einmal.” 

„Kurzum: wird dag Geld zur Stelle jein, oder wird es 
nicht zur Stelle ſein?“ fuhr er plößlich, in geärgerter Un— 
geduld und faſt herrijch, Stamrogin an. 

Dieſer bejah ihn jich mit ernſtem Gelicht. 

„Es wird nicht zur Stelle fein.“ 

„Ei, Stamwrogin! Sie wiſſen offenbar irgend etwas, 
oder haben jchon irgend etwas getan! Sie führen ein 
wildes Leben!" 

Sein ФейфЕ verzog ИФ dabei. Seine Mundwinfel 
zudten, und plößlich lachte er ein ganz grundlofes, unver: 
mitteltes Zachen, das gar nicht hierher paßte. | 

„Sie haben erjt fürzlich von Ihrem Vater Geld für das 
But erhalten”, bemerkte Stamwrogin ruhig. „Meine 
Mutter hat Ihnen die ſechs oder achttaufend Rubel, Ме 
Sie von Stepan Trophimowitich verlangten, für das 
Gut ausgezahlt. Davon fünnen Sie doch, wenn das für 
Sie fo nötig ift, fehr wohl taufendfünfhundert aus Zhrer | 
Taſche bezahlen. 34 habe es fatt, immer für andere zu 
zahlen, und Бабе fchon fo viel ausgegeben, раВ es für mih 
beinahe fränfend Ш...” Er mußte jelbft über feine leßten 
Worte lächeln. | 

„Ah, Sie beginnen zu jcherzen.. | 

Stawrogin erhob jich, fofort [prang — Werhowensn 
auf und ſtellte ſich mechaniſch vor die Tuͤr, wie um den 
Ausgang zu verſperren. Stawrogin machte ſchon eine 
Bewegung, um ihn fortzuſtoßen und hinauszugehen — 
doch ploͤtzlich blieb er ſtehen. 

„sch trete Ihnen Schatoff nicht ab“, ſagte er. 


638 





Piotr Stepanowitfch zudte zufammen; fie fahen fich ап. 

„Sch Бабе Ihnen heute unterwegs gejagt, wozu Sie 
Schatoffs Blut brauchen‘, fagte Stawrogin mit Тип: 
felnden Augen. „Mit diefem Blut wollen Sie Ihre 
Fuͤnfer-Gruppen zufammenleimen. Borhin haben Sie 
ja Schatoff auf eine ganz vorzügliche Weife hinausgejagt: 
Sie wußten nur zu gut, daß er niemals jagen würde, ‚ich 
denunziere nicht‘ — vor Shnen aber zu lügen für unter 
feiner Würde hält. Doch wozu brauchen Sie mich, mich 
jeßt eigentlich? Was joll ich bei all dem? Nachdem ich 
aus dem Auslande zurüdgefehrt bin, drängen Sie fich 
mir immer wieder auf. "Das, womit Sie mir Ihr Зе: 
nehmen bis jeßt erflärt haben, ИЕ nur Fieberphantajie. 
Dabei wollen Sie, daß ich, indem ich Lebaͤdkin защепо: 
fünfhundert Rubel einhändige, damit Ihrem Fedjka das 
Zeichen gebe, ihn zu erftechen. ch weiß, Sie denfen, 
daß ich zu gleicher Zeit auch meine Frau ermorden lafjen 
will. Und wenn Sie mich dann mit einem Verbrechen an 
jich gebunden haben, jo hoffen Sie, Macht über mich zu 
befommen — ЦЕ es nicht jo? Wozu aber wollen Sie мае 
Macht? Für шеф eine Зешее in aller Welt brauchen 
Sie mich? Ich fage Ihnen ein für allemal: machen Sie 
doch endlich einmal Ihre Augen auf und fehen Sie räher 
zu, ob ich überhaupt ein Menſch für Sie bin, und laſſen 
Sie mich dann endlich in Ruh!" 

„Fedjka ift felbft zu Ihnen gekommen?“ fragte Wer: 
chowenski beflommen. 

„sa, er it felbft zu mir gekommen. Sein Preis ift 
gleichfalls genau taufend fünfhundert... Da — er 
fann es ja jelbft beftätigen, da ift er ja... . rief Stawrogin 
und firedte jeine Hand gegen die Tür hin aus, 


639 


Piotr Stepanomitich drehte fich fchnell um. Yuf der 
Schwelle ftand, aus der Dunkelheit hervortretend, eine 
Menichengeftalt — Fedjka, im kurzen Pelz, doch ohne 
ве, ganz wie einer, der im Haufe wohnt. Er ftand da 
und lächelte, daß man feine gleichmäßigen weißen Zähne 
fchimmern ſah. Die fchmarzen Augen mit dem gelben 
Zigeunerglang hufchten vorjichtig durch das Zimmer und 
gingen von einem zum anderen der Herren. Er ſchien 
irgend etwas nicht zu verftehen: wahrjcheinlich hatte ihn 
Kirilloff herangeminfkt, denn zu dem wandte fich immer 
wieder fein fragender Blid. Er blieb auf der Schwelle 
ftehen und fchien nicht eintreten zu wollen. 

„Er ИЕ Мег wohl in Bereitichaft gehalten worden, um 
unferen ganzen Schacher mit anzuhören, vielleicht gar um 
das Geld gleich in Empfang zu nehmen — ift’s nicht jo?" 
fragte Stawrogin, und ohne ме Antwort abzumarten, 
verließ er das Haus. 

Werchowenski lief ihm fofort nach, und holte ihn noch 
bei der Hofpforte ein. 

„Bleib! Keinen Schritt!” rief er und padte ihn am 
Ellenbogen. 

Stamrogin riß feinen Arm zurüd, fonnte ihn jedoch 
nicht befreien. Da padte ihn die Wut und mit der linken 
Hand ergriff er Werchowenski bei den Haaren, fchleuderte 
ihn mit aller Kraft zu Boden und trat dann hinaus auf die 
Straße. Uber noch war er nicht dreißig Schritt gegangen, 
918 der andere ihn fchon wieder einholte, 

„Verſoͤhnen wir ung, verſoͤhnen wir ung‘, fam es in 
bebendem Flüfterton, faſt bettelnd, von feinen Lippen. 

Stamrogin zudte mit der Schulter und ging weiter. 

„Hoͤren Sie, ich bringe morgen Liſaweta Nicolajewna 


640 








zu Ihnen, wollen Ste? Nicht? Warum antworten Sie 
denn nicht? Sagen Öie nur, was Sie wollen, und ich tue 
es. Hören Sie: ich laſſe Ihnen auch Schatoff, wollen 
Sie?" 

Dann ift es aljo wahr, daß Sie ihn wirklich ermorden 
wollten?“ 

„Kun, wozu brauchen Ste Schatoff? Was haben Sie 
von ihm?“ fuhr atemlos fchnell Werchowenski fort, indem 
er ihm bald in den Weg lief, bald wieder ihn am Ellen: 
bogen ergriff, augenfcheinlich, ohne fich deſſen überhaupt 
bewußt zu werden. „Hören Sie: ich gebe Ihnen Schatoff, 
verfühnen wir ung nur, verjühnen wir ung! Ihre Зе: 
nung Ш groß, aber ... verfühnen wir ung!” 

Stawrogin fah ihn fchließlih an und war betroffen. 
Das war nicht mehr еее Blid, nicht mehr diefelbe 
Stimme, wie fonft und wie поф dort im Zimmer. Das 
war faſt ein ganz anderes Gelicht, das er da vor fich ſah. 
Und auch die Stimme war eine ganz andere: Wercho: 
wenski flehte, winfelte geradezu. Das war ja ein Menich, 
dem man das Teuerfte auf Erden nimmt, oder fchon fort: 
genommen hat, und der noch nicht zur Belinnung ger 
fommen ift. 

„Was ИЕ mit Ihnen geſchehen?“ rief Stamrogin uns 
willkürlich. 

Werchowenski antwortete nicht und Tief immer поф 
neben ihm her und {аБ mit demſelben flehenden und doch 
gleichzeitig unnachgiebigen ЗИ zu ihm auf. 

„Verſoͤhnen wir uns!” flüfterte er noch einmal. „Hören 
Sie, ich halte wie Fedjka ein Meffer im Stiefel bereit, 
aber — ich will mich mit Ihnen verföhnen ! 

„zum Teufel, wozu brauchen Sie mich denn! Was 


641 


wollen Sie von mir?" rief Stawrogin in hellem Zorn, 
troß feiner ganzen Verwunderung. „Soll das etwa ewig | 
ein Geheimnis bleiben? Bin ich denn ein Zalisman für | 
Sie?" 

„Hören Sie, wir machen einen Aufruhr“, redete der 
andere jchnell und wirr, faft wie im Fieber. „Sie glauben | 
nicht, daß wir einen Aufruhr machen? Wir werden einen 
folchen Aufruhr machen, daß alles in den Grundfeſten 
erbebt. Karmafinoff hat recht: es gibt nichts, woran man 
fih noch halten fönnte. Karmafinoff ИЕ jehr Низ. Nur 
noch zehn jolcher Gruppen in ganz Rußland, und ich bin 
nicht zu fangen.” 

„And überall diejelben Dummkoͤpfe!“ entfuhr es 
Stamrogin wider Willen. 

„Oh, ſeien Sie jelbft etwas duͤmmer, Stawrogin, jeien о 
Sie felbft etwas duͤmmer! Wiſſen Sie, Sie find ja auch 
gar nicht fo Нид, daß Sie dies noch wünjchen follten. Sie 
fürchten fich, Sie glauben nicht daran, der Umfang jchredt 
Sie. Und warum jollen fie Dummkoͤpfe fein? Dabei ſind 
fie gar nicht mal folche Dummkoͤpfel Heutzutage hat пе: 
mand jeinen eigenen Verſtand. Heutzutage gibt es übers 
haupt furchtbar wenig eigenen Verftand. Wirginsfi ift 
der reinite Menjch, viel reiner als jolche wie wir, zehnmal 
reiner. Doch lajjen wir ihn beijeite, was geht er uns an. 
Liputin ift ein Spißbube, aber ich kenne feine Achilles: 
ferſe. Es gibt feinen Spitzbuben, der nicht eine Achilles: 
ferfe ране. Nur Laͤmſchin allein hat feine, dafür ift er ganz 
in meiner Hand. Und noch ein paar folcher Gruppen, und | 
ich habe überall Päjje und Geld — beachten wir {фоп das 
allein! Wenn auch nur das allein! — was? Dazu fichere 
Verſtecke. Mögen fie dann ſuchen! Eine Gruppe reift 


642 





man heraus, und auf die andere jeßt man Jich ahnungslos. 
Wir wiegeln auf... Hören Sie, wir machen einen Auf: 
тибе... . Glauben Sie denn wirklich nicht, daß wir zwei 
vollfommen genügen?” 

„Kehmen Sie Schigaleff, mich aber lafien Sie in 
Ruh...” 

„Schigaleff Ш ein genialer Menjch! Willen Sie, das 
ift ein Genie à la Fourier, nur mutiger als Fourier, nur 
ftärfer als Fourier. Sch werde mich mit ihm befchäftigen. 
Er hat ме ‚Sleichheit‘ erdacht!“ 

— „Er hat offenbar Fieber und phantafiert. Es muß 
etwas ganz Bejonderes mit ihm gejchehen fein”, dachte 
Stawrogin und jah ihn noch einmal von der Seite en. 
Sie gingen beide, ohne ftehen zu bleiben. 

„In feiner Schrift ИЕ das eine gut," fuhr Werchowenski 
fort, „er hat die Зее der Spionage. Bei ihm beobachtet 
innerhalb des Verbandes ein jeder den anderen, und ift 
verpflichtet, ihn nötigenfalls anzuzeigen. Jeder einzelne 
gehört allen und alle jedem einzelnen. Alle find Sklaven 
und in der Sklaverei einander gleich. In äußerften Fällen 
Derleumdung und Mord, — aber die Hauptfache: Gleich: 
heit! Als erftes fenkt jich dann das Niveau der Bildung, 
der Wifjenfchaft und der natürlichen, angeborenen Be— 
gabung. Ein hohes geiftiges Niveau ift nur höheren Зе: 
gabungen zugänglich — wir aber brauchen feine höheren 
Degabungen! Höhere Begabungen haben ftets die Macht 
ап {14 gerifjen und waren Despoten. Höheren Bega- 
bungen ift е8 unmöglich, nicht Despoten zu fein, und ftets 
baben fie mehr demoralifiert als Nuten gebracht; man 
verjagt Пе deshalb oder man richtet fie hin. Cicero wird 
ме Zunge abgejchnitten, Kopernikus werden die Augen 


643 


ausgeftochen und Shakeſpeare wird gefteinigt — das Ш 
der Schigalewismus! Sflaven ши{еп gleich fein: ohne 
Despotismus hat es noch nie weder Freiheit noch Gleich: 
heit gegeben, in der Herde aber muß &leichheit fein, und 
da haben Sie den Schigalemismus! Ha—ha—ha, Ihnen 
fommt das fonderbar vor? 34 bin für den Schigales 
wismus!” 

Stamrogin fchritt fchneller aus, um endlich nad) Haufe 
zu fommen. — „Wenn diefer Menſch betrunfen {ет 
jollte, wo bat er denn inzmwilchen trinken können?“ 
fuhr e8 ihm durch den Kopf. „Sollte wirklich der eine 
Kognak — 2" 

„Hören Sie, Stamwrogin: Berge zur Ebene machen — 
ift ein guter Gedanke, nicht ein lächerlicher. Sch bin für 
Schigaleff! Bildung ift nicht nötig, von Wifjenjchaft 
haben wir genug! Auch ohne Wiſſenſchaft reicht das 
Material für taufend Jahre, aber zuerft muß fich der Ge: 
horſam durchjeßen. Nur eines ift noch nicht genug 5012 
handen in der Welt — und das Ш Gehorfam. Jeder 
Bildungsdurft ift ſchon ein ariftofratifcher Trieb. Familie, 
Liebe — das ift gleich |фоп Wunſch nach Eigentum. Wir 
bringen ihn um, den Wunfch: wir verbreiten Trunkſucht, 
Klatich, Angeberei; wir verbreiten unerhörte Demora= 
Nation; wir ermorden jedes Genie fchon als Kind. Alles 
wird auf einen Nenner gebracht, vollftändige Gleichheit 
durchgefeßt. ‚Wir haben ein Handwerk erlernt und wir 
find ehrliche Zeute, weiter brauchen wir nichts‘ — ме 
Antwort haben kürzlich englijche Arbeiter gegebeit. Uns 
entbehrlich ift nur das Unentbehrliche, — Das jei die 
Devife des Erdballs von nun ап. Aber auch Krämpfe find 
nötig; dafür werden wir forgen, die Regenten. Sklaven 


644 





müffen Regenten haben. Bollfommener Gehorfam, voll: 
fommene Unperjönlichfeit, aber einmal in jeden dreißig 
Fahren gönnt Schigaleff Doch einen Krampf, und dann 
frißt fich alles plößlich gegenfeitig auf, big zu einer дем еп 
Grenze natürlich nur, einzig damit dag Leben nicht zu 
langweilig wird. Langeweile ift eine ariftofratifche Emp— 
findung ; im Schigalewismus wird es feine Wünfche geben. 
Münfche und Leiden für ung, für die Sklaven aber Schiga= 
lewismus.“ 

„Sich ſelbſt ſchließen Sie aus?“ 

„Und Sie. Wiſſen Sie, zuerſt wollte ich die Welt dem 
Papſt geben. Mag er ſich barfuß dem Poͤbel zeigen: 
‚Seht, wozu man mich gebracht hat!‘ und alles wird ihm 
nachlaufen, fogar das Heer. Der Фарй oben, wir um ihn 
herum und unter uns Schigalemismus. Nur müßte fich 
die Internationale mit dem Papft einverftanden erklären; 
was fie auch tun wird. Der Alte felbft wird natürlich ſo— 
fort einverftanden jein. Es wird ihm ja auch gar fein 
anderer Ausweg übrigbleiben, behalten Sie mein Wort, 
ba—ha—ha, dumm? Sagen Sie, iſt's dumm oder nicht?” 

„Genug“, murmelte Stawrogin geärgert. 

„Genug! Hören Sie, ich Бабе den Papft Papft fein 
lajien! Zum Teufel mit dem Papft! Zum Teufel mit 
dem Schigalewismus! Wir brauchen die brennende 
Zagesfrage, aber nicht den Schigalemismus, denn der ift 
eine Jumelierarbeit. Schigalemismus ЦЕ ein Ideal, 
fommt erft für ме Zukunft in Trage. Schigaleff ift ein 
Sumelier und dumm mie jeder Philantrop. Doch zus 
nächft tut grobe Arbeit not, Schigaleff aber verachtet ме 
grobe Arbeit. Hören Sie, рег Papft wird im Welten fein, 
bei ung aber, bei ung — find Sie!" 


„Laſſen Sie mich in Ruh, Sie Betrunkener!" murmelte 
Stawrogin und ging поф fchneller weiter. 

„Stawrogin, Sie find ſchoͤn!“ rief Pjotr Stepanomitich 
faft wie in einem Rauſch. „Willen Sie es auch felbft, daß 
Sie fchön find? Das Teuerfte an Ihnen Ш, daß Sie es 
zuweilen felbft gar nicht zu wiſſen fcheinen, wie jchön Sie 
find. Ob, ich fenne Sie jeßt auswendig! Sch {ебе Sie 
mir oft heimlich, von der Seite an, aus einem Winfel! 
In Shnen ift fogar Treuherzigfeit und echte Einfalt — 
willen Site das auch? За, noch, noch find die in Shnen! 
Sie leiden offenbar, und leiden aufrichtig, dank diefer 
Treuherzigfeit. 34 liebe die Schönheit! Sch bin ein 
Nihiliſt, aber ich liebe Schönheit! Lieben denn Nihiliften 
ме Schönheit nicht? Die liebendoch bloß Goͤtzen nicht, 
nun, ich aber liebe einen Gößen ! Und Ste, Sie find mein 
Göße! Sie kranken niemanden,unddoch werden Sievon — 
allen gehaft. Sie jehen auf alle gleich und doch werden | 
Sie von allen gefürchtet, und das ift gut. An Sie wird | 
niemand herantreten, um Sie auf die Schulter zu Hopfen. | 
Sie find ein furchtbarer, ein geborener Xriftofrat. Wenn ' 
ein Xriftofrat unter die Demofraten geht, ift er bezau— 
bernd! Ihnen macht es nichts aus, das Leben zu opfern, | 
hr eigenes ebenfo wenig, wie das anderer Menjchen. 
Sie find genau fo, wie er fein muß. Und ich, ich brauche ° 
gerade jolch einen, wie Sie. Außer Ihnen müßte ich 
feinen. Sie find ver Anführer, Ste jind Sonne, ich aber 
bin бе Wurm...“ 

Und plöglich füßte er ihm die Yand. Kalt lief es Staw⸗ 
rogin über den Rüden und епНеВЕ riß er feine Hand zurüd. 

Sie blieben ftehen. 

„Bahnfinniger !’ murmelte Stawrogin. 


646 





„Vielleicht bin ich wahnfinnig, vielleicht phantafiere ich 
im Sieber!” Haftete Werchowenski weiter in feiner Rede, 
„aber ich habe den erften Schritt ausgedacht. Niemals 
kann Schigaleff den erften Schritt ausdenfen. Es gibt 
viele Schigaleffs! Aber nur ein einziger, ein einziger in 
ganz Rußland hat den erften Schritt ausgedacht und weiß, 
wie man ihn machen muß. Diefer Menfch bin ih. За: 
rum fehen Sie mich jo an? 34 brauche aber Sie, Sie, 
ohne Sie bin ich eine Null. Ohne Sie bin ich eine Fliege, 
eine Idee im Fläfchehen, ein Kolumbus ohne Amerika!" 

Stamrogin ftand und fah aufmerkſam in Werchomensfig 
Iinnlofe Augen. 

„Hören Sie, wir machen zuerft einen Aufruhr”, ее 
jener wie geheßt weiter in feiner Rede, während er immer 
wieder Stawrogins linfen Urmel anfaßte. „Sch habe 
Ihnen fchon gejagt: wir dringen unmittelbar ins Volk. 
Wiffen Sie auch, daß wir auch jeßt ſchon furchtbar ftarf 
find? Unſee find nicht nur die, die da brennen und morden, 
oder На | фе Schüffe abfeuern oder in Schultern beißen. 
Solche ftören nur. Ich verftehe nichts ohne Difziplin. 
Sch bin Doch ein Betrüger, aber fein Soztalift, Ба— ба! 
Hören Sie, ich habe fie bereits alle zufammengezäblt: der 
Lehrer, der mit den Kindern über ihren Gott und über 
ihre Wiege lacht, ЦЕ fchon unfer. Der Advokat, der den ge: 
bildeten Mörder damit verteidigt, daß der Mörder ent: 
widelter geweſen ift, als feine Opfer und fomit, um Geld 
zu befommen, unmöglich nicht töten konnte, Ш ſchon 
unfer. Die Schuljungen, die einen Bauern töten, um 
zu fehen, was man dabei empfindet, find unfer. Die Ge: 
ſchworenen, die Verbrecher ohne Ausnahme freifprechen, 
ſind unfer. Unfer jind Adminiftratoren, Literaten, ob, 


647 





unfer find viele, ihrer find Legion, und fie wiſſen eg felbft 
nicht einmal, daß пе unser find! Andererfeitskat der Ge⸗ 
horſam der Schultungen und Dummkoͤpfe den höchiten 
Grad erreicht. Bei denen aber, die fie leiten und lehren 
follten, ift nichts als Galle. Überall grenzenlofe Ruhm: 
jucht, unerhörte, tierifche Genußluht... Wiſſen Sie 
überhaupt, wie viele wir allein |фоп mit fertigen Ideechen 
einfangen? Als ich Rußland verließ, mütete die Thefe 
Kittres, nach der Verbrehen Wahnſinn Ч. Sch komme 
wieder — und |фоп ЦЕ das Verbrechen nicht mehr Wahn: 
finn, fondern gerade der wahre, der einzige Sinn, ИЕ Бе! 
nahe Pflicht oder zum mindeften ein edler Proteft. — 
‚Wie foll denn ein geiftig entwidelter Menſch nicht morden, 
wenn er Geld braucht?‘ — Doch das find erft Heine Proͤb⸗ 
chen. Der ruſſiſche Gott hat vor dem Schnaps ſchon die 
Flucht ergriffen. Das Volk ift betrunfen, die Mütter find 
betrunfen, die Kinder ſind betrunfen, die Kirchen find leer 
und an den Öerichtshöfen heißt es: zweihundert Ruten 
ftreiche oder fchlepp den Eimer‘, Ob, gebt nur dieſer 
Generation Zeit, aufzuwachſen! Der Sammer ift ja nur, | 
daß wir feine Zeit zum Warten haben, jonft fönnten wir 
fie noch betrunfener werden laſſen! Ein Sammer, daß wir 
feine Proletarier haben! Aber wir werden fie ſchon Бе: 
fommen, wir werden |фоп, denn dazu führt es...” 

„Ein Sammer gleichfalls, daß wir dümmer geworden о 
find“, brummte Stawrogin und feßte feinen früheren 
Meg fort. 

„Hören Sie, ich habe ein jechsjähriges Kind gejehen, 
das jeine betrunfene Mutter nach Haufe führte, und die 
Ihimpfte es noch mit gemeinen Worten. Sie glauben, 
daß ich mich darüber freue? Bekommen wir её in die 


648 





Hände, fo werden wir е8 vielleicht auch gefund machen... 
wenn её nötig ift, treiben wir es auf vierzig Jahre in vie 
MWüfte hinaus... Aber eine oder zwei Generationen mit 
unerhörter ©ittenverderbnig find jeßt unbedingt nötig: 
vertierte Sitten, gemeine, jchändliche Sitten, jo daß der 
Menſch ſich in einen einzigen widrigen, feigen, graufamen, 
jelbftfüchtigen Efel verwandelt — das Ш es, was nötig Ш! 
Und dann ein bißchen ‚frifches Blut‘, damit er fich daran 
gewöhnt. Warum lachen Sie? Ich widerfpreche mir nicht. 
Sch widerfpreche nur den Philantropen und dem Schiga— 
lewismus, aber nicht mir! Sch bin ein Betrüger, aber 
fein Sozialiſt. Ha—ha—ha! Schade nur, daß wir fo 
wenig Zeit haben. Sch Бабе Karmafinoff verjprochen, im 
Mai zu beginnen und zum Oktober zu beenden. Schnell 
— wie? Ha—ha! Wiffen Sie, mas ich Shnen fagen werde, 
Stamwrogin: im ruſſiſchen Зо hat es big jeßt noch feinen 
Zynismus gegeben, wenn es fich auch mit gemeinen 
Morten zu jchimpfen pflegte. Willen Sie auch, daß diefer 
leibeigene Sklave fich mehr achtete, als Karmafinoff ſich 
achtet? Er wurde gedrofchen, aber er ftand für feinen 
Gott ein, Karmaſinoff aber fteht nicht für feinen Gott ein.” 

„Nun, Werchowenski, ich höre Sie zum erſten Male, 
und höre Sie mit Verwunderung,“ ſagte Stamwrogin, 
„Sie find alfo wirklich fein Sozialift, fondern ein рой: 
tiicher ... Streber?“ 

„Ein Betruͤger, ein Betruͤger. Macht Ihnen das Sorge, 
was ich eigentlich bin? Ich werde Ihnen ſogleich ſagen, 
wer ich bin, darauf komme ich jetzt. Habe Ihnen doch nicht 
umſonſt die Hand gekuͤßt. Aber es iſt noͤtig, daß auch das 
Volk es glaubt, daß wir wiſſen, was wir wollen, und daß 
jene nur mit der ‚Keule fuchteln und die Eigenen ſchlagen', 


42 Doftojewsti, Die Dämonen. BP. II. 649 


Ach,nur Zeit! Der einzige Sammer ИЕ bloß der, daß wir 
feine Zeit haben! Wir verfünden die Зе типа... 
warum nur, warum ift diefe Idee fo bezaubernd? Aber 
man muß, man muß die Knochen gelenkig machen. Wir 
legen Feuer an... Wir verbreiten Xegenden... Hier: 
bei wird ung jede Heine räudige ‚Gruppe‘, jedes Häufchen 
zu ftatten fommen. Sch kann Shnen aus diefen Gruppen 
folche Jäger Бегаи ифеп, die zu jedem Schuß bereit find 
und für die Ehre noch ewig danfbar bleiben. Und dann 
beginnt der Aufruhr! Ein Schaufeln hebt an und gerät 
in Schwung, wie’s die Welt bisher noch nie gefehen bat!... 
Berfinftern wird fich Rußland und weinen wird die Erde 
паф den alten Göttern... Und dann, dann bringen 
wir... Wen?” 

„Wen?“ 

„Den Zarewitſch Swan!” 

„We—en?“ 

Den Zarewitſch Smwän; ег. Sie!" 

Stamwrogin dachte einen идет ИЯ nach. 

„Einen Ujurpator?” fragte er plößlich und fah mit tiefer 
Vermwunderung den Derzüdten ап. „Ah, айо das ИЕ Ihr 
Plan!" 

„Bir fagen zuerft, daß er fich ‚verbirgt‘, flüfterte leiſe 
wie ein Liebesgeftändnis Werchomwensfi, der in der Tat 
wie betrunfen war. „Willen Sie auch, was dieſes Wört- 
chen bedeutet: ‚er verbirgt fich‘? ‚Aber er wird fommen, 
er wird fommen! fagen wir. Die Legende, die wir ver: 
breiten, wird beſſer fein, als die der Skopzen.*) Er ift da 
— aber поф hat ihn niemand gefehen. Oh, was für eine 
*) Sekte der Schneidlinge, die ein legendäres Buch für die ein: 
zige götrlihe Offenbarung hält. E.K.R. 


650 





Legende wir zuraunen fünnen! Doch die Hauptſache — 
eine neue Kraft fommt! Gerade die aber tut ja not, 
gerade nach einer folchen jehnt man jich ja weinend! Mas 
ift denn der Sozialismus: er hat ja nur alte Kräfte zer: 
ftört, neue aber nicht gebracht. Hier dagegen ИР$ eine 
Kraft, und noch was für eine! Eine noch nie dagewefene! 
Wir brauchen ja nur für einmal den Hebel, um die Erde 
aufzuheben. Alles wird fich erheben! 

„So haben Ste im Ernft auf mich gerechnet?” fragte 
Stamwrogin ironisch. 

„Barum lachen Sie und warum lachen Sie fo boshaft? 
Erſchrecken Sie mich nicht. Sch bin jeßt wie ein Kind, man 
kann mich zu Tode erjchreden, jchon allein mit ſolch einem 
Kächeln. Hören Sie, ich werde Sie niemanden zeigen, 
niemandem: jo muß es fein. Er И da, aber feiner hat ihn 
gejehen. Er verbirgt fich. Oder willen Sie, einem kann 
man Sie auch zeigen, von je Yunderitaufend nur einem. 
Und über die ganze Erde hin wird es heißen: ‚Wir haben 
ihn gejehen, gejehen!‘ Haben doch die Хеше den Iwän 
Filippowitſch,*) ihren Zebaoth, den Herrn der Heerjcharen, 
‚gejehen‘, wie er im Wagen gen Himmel fuhr vor allen 
Menſchen, haben es ‚mit eigenen Augen gejehen‘. Sie 
aber jind nicht nur ein Swan Filippowitſch: Sie find jchön, 
find Мо wie ein Gott, mit der Aureole des Opfers, 
wollen nichts für fich felbit, und ‚verbergen‘ ſich. Die 
Hauptlache ift die Legende! Sie werden alle bejiegen, 
Sie jehen fie nur einmalan und fiegen. Er bringt die neue 
Wahrheit und — ‚verbirgt‘ ſich. Und mittlerweile ver: 
breiten wir ein paar Salomonifche Ausſpruͤche. Haben 


*) Anjpielung auf den Heiland der Geislerſekte. E. KR. 


42° 65] 


ja Die Gruppen, die, Fuͤnfer — brauchen feine Zeitungen! 
Wenn von zehntaujend Bitten nur eine einzige erfüllt 
wird, [о fommen alle mit Bitten. Уп jedem Kreife wird 
teder Bauer wiſſen, daß da in einem gewiſſen Baumftamm 
eine Höhlung Ш, in die man ЗиНфийеп hineinlegen 
fann. Und die ganze Erde jauchzt auf: ‚Das neue gerechte 
Gefeß kommt zu uns!‘ und das Meer gerät ins Wogen 
und die Schaubude Пи, — dann aber werden mir 
daran denken, wie wir ein fteinernes Gebäude errichten! 
Zum erjtenmal! Denn bauen werden wir, nur wir, 
wir allein!“ 

„Raſerei!“ murmelte Stamrogin. 

„Barum, warum wollen Sie nicht? Fürchten Sie fich 
etwa? ch habe doch gerade deshalb Sie erwählt, weil 
Sie nichts fürchten. Unvernünftig, wie? Aber ich bin 
doch vorläufig noch Kolumbus ohne Amerifa — ift denn 
Kolumbus ohne Amerika vernünftig?” 

Stamwrogin ſchwieg. Sie waren bei dem Haufe ange— 
langt und blieben an der Vorfahrt ftehen. 

„Hören Sie," Werchowenski beugte fich zu feinem Ohr, 
„ich mache es Ihnen ohne Geld, morgen beende 14 es 
mit Marja Timofejewna ... ohne Geld, und morgen 
noch bringe ich Ihnen Liſa. Wollen Sie Lifa, morgen 
noch?" 

„Sollte er wirklich verrüdt geworden fein?" fragte 
jih Stamwrogin und lächelte. Die Tür öffnete fich. 

„Stamwrogin, ИЕ Amerika unſer?“ Werchomensfi ergriff 
zum leßtenmal feine Hand. 

„Wozu?“ fragte Stawrogin ernft und fireng. 

„Keine Luft alfo! — das fonnte ich mir ja denken!" 
ftieß Piotr Stepanomwitich in einem wahren Wutanfall 


652 





hervor. „Uber das lügen Sie ja, Sie erbärmlicher, aus: 
Ichweifender, brüchiger Herrenjohn, ich weiß es bejler: 
Sie haben fogar einen Wolfshunger-danach!... Зе: 
greifen Sie doch, daß Ihre Nechnung jeßt ſchon viel zu 
groß ift! Und ich kann doch nicht auf Sie verzichten! Es 
gibt feinen anderen auf der Welt als nur Sie! Ich habe 
Sie mir fchon im Yuslande ausgedacht; hab's getan, in: 
dem ich Sie jah. Hätte ich Sie nicht mit Augen geſehn, 
aus meiner Ede, mir wäre auch nichts in den Sinn ge= 
ютщеп!...” 

Stamrogin Мед, ohne zu antworten, die Stufen hinan. 

„Stawrogin!” rief ihm Werchowenski nach, „— ich 
gebe Ihnen noch einen Tag Bedenkzeit... nun, zwei... 
nun, meinethalben drei! ... Mehr als drei Fann ich nicht, 
dann aber — Ihre Antwort!" 


653 


Dierzehntes Kapitel 
Wie Stepan Trophimowitſch beſchlagnahmt wurde 


n zwiſchen geſchah bei uns etwas, das mich zunaͤchſt 
„) nur in Eritaunen verjeßte, Stepan Trophimowitſch 
aber erjchütterte. | 

Eines Morgens, noch vor acht Uhr, Юм Naftaßja, 
Stepan Trophimowitſchs Mädchen, atemlos zu mir ge: 
laufen, mit der Nachricht, ihr Herr ſei „beichlagnahmt” 
worden. Anfangs konnte ich aus ihren Reden überhaupt 
nicht Flug werden, оф jchließlich erfuhr ich immerhin, 
daß Beamte in der Frühe zu ihm gefommen waren und 
Papiere beichlagnahmt hatten; dieſe hatte dann ein 
Soldat „zu einem Bündel zufammengebunden und auf 
einer Schiebfarre weggeichleppt.“ 

Sch eilte jogleich zu meinem Freunde. 

Der befand ſich in einer jonderbaren Verfaſſung: er 
war erichroden und erregt, und jchien doch zu gleicher Zeit 
zu triumphieren. Auf dem Tiſch Eochte der Samomar und 
daneben ftand ein Glas Зее, das jchon des längeren einge: 
goſſen, doch noch nicht angerührt war. Stepan Trophimo: 
witjch ging bin und her, ging rund um den 3414 herum, 
ging in alle Winkel des Zimmers, doch augenjcheinlich 
ohne fich ber jeine Bewegungen NRechenjchaft zu geben. 
Als ich Гат, war er, wie vormittags gewöhnlich, in feinem 
roten Morgenrod, doch diesmal ging er, faum daß ег mich 


654 





erblictt hatte, jchnell ins andere Zimmer und $04 fich Wefte 
und Rod an — was er ſonſt nie getan hatte, wenn ihn 
einer jeiner nahen Freunde in dieſem Morgenrod antraf. 
Er ergriff jofort erregt meine Hand. 

„Enfin un ami!“ (Er atmete tief auf.) „‚Cher, ich habe 
nur zu Shnen allein gejchidt und fonft weiß noch niemand 
etwas davon. Man muß Naftafja jagen, daß fie die 
Türen fjchließt und feinen Menfchen bereinläßt, außer 
natürlich jene, falls fie... Vous comprenez?“ 

Er ſah mich dabei unruhig an, al ob er eine Antwort 
erwartete. Selbitverftändlich begann ich ihn ſofort nach 
dem Vorgefallenen auszufragen, und fo erfuhr ich denn 
Ichließlich, nach zahllofen Unterbrechungen und иппивеп 
Zwilchenjäßen, daß um ſieben Uhr morgens „plößlich” 
ein Gouvernementsbeamter zu ihm gefommen war... 

„Pardon, j’ai oublie son nom. Il n’est pas du pays, 
aber ich glaube, Lembke hat ihn mitgebracht, quelque 
chose de Бе et d’allemand dans la physionomie. Il 
s’appelle Roſenthal.“ 

„Roſenthal? Hieß er nicht Bluͤmer?“ 

„Blümer? За, richtig, Blümer hieß er. Vous le con- 
naissez? Ouelque chose d’hebete et de tr&s content 
dans la figure, pourtant très severe, roide et serieux. 
Ein Polizeimenich, aber einer von den Ergebenen, je m’y 
connais. Sch jchlief noch, und denken Sie jich, er bat mich, 
auf meine ‚Bücher und Manuffripte‘ einen Bli werfen 
zu dürfen, oui, je m’en souviens, il a employ& ce mot. 
Er hat mich nicht arretiert, jondern nur die Bücher... 
Il se tenait A distance, und ale er jeinen Beſuch zu er: 
Натеп begann, da jah er aus, als ob ich... . enfin il avait 
Раш de croire que je tomberai sur lui immediatement 


655 


et que je commencerai a le battre comme plätre. Tous 
ces gens du bas Etage sont comme ga, wenn fie eg mit 
einem anftändigen Menjchen zu tun haben. Natürlich 
begriff ich jofort alles. Voila vingt ans que je m’y ргё- 
pare! 34 öffnete vor ihm alle Schubfächer und übergab 
ihm alle Schlüffel. 34 übergab fie felbft, ich Бабе ihm 
alles felbft übergeben. J’etais digne et calme. Bon den 
Büchern nahm er die ausländifche Ausgabe Herzens, ein 
gebundenes Eremplar der ‚Glocke', vier Abfchriften 
meiner Dichtung et enfin tout ga. Dann noch Papiere 
und Briefe et quelques unes de mes &baucheshistoriques, 
critiques et politiques. Das alles haben fie dann име: 
nommen. Naftaßja jagt, der Soldat habe e8 auf einer 
Schiebfarre fortgefchleppt und mit einer Schürze bedeckt. 
Ош, c’est cela, mit einer Schürze.“ 

Das war ja Wahnfinn. Wer hätte hier etwas begreifen 
fönnen? Sch ſuchte Wejentlicheres aus ihm herauszu: 
befommen. War Blümer ganz allein erjchienen, oder 
waren, außer dem Soldaten, noch andere mit ihm ge: 
fommen? In weſſen Namen? Mit welchem Recht? Wie 
hatte man fo etwas wagen fünnen? Womit hatte er е8 
erklärt? 

„Il etait seul, bien seul, übrigens war noch jemand 
dans l’antichambre, oui, je m’en souviens, et puis... 
Übrigens, ich glaube, e8 war außerdem noch jemand Фа, 
und im Vorzimmer ftand eine Wache. Man muß Naftapja 
fragen. Die hat das alles beijer gejehen. J’etais surex- 
cite, voyez-vous. Il parlait, il parlait... un tas de 
choses... ., übrigens, nein, er |ртаф jehr wenig, ich war 
e8 eigentlich, der immer {ртаф... Sch habe ihm mein 
ganzes Leben erzählt, natürlich nur unter dieſem Ge⸗ 


656 





fichtswinfel... J’etais surexcite, mais digne, je vous 
Раззиге. Ich fürchte übrigens, daß ich, ich glaube тег 
nigfteng, geweint habe. Die Schiebfarre haben fie vom 
Krämer nebenan genommen ...“ 

„Uber wie hat fich das alles nur zutragen Fünnen! So 
Iprehen Sie doch um Gottes willen etwas genauer, 
Stepan Trophimomitich. Das ift doch ein Traum, den 
Cie da erzählen!” 

„Cher, ich bin auch felbft noch wie im Traum... 
Savez-vous! I] a ргопопсё le nom de Teliatnikoff, 
und ich glaube, gerade diefer war es, der ſich im Vor: 
zimmer veritedte. За, da fällt mir ein, er jchlug einen 
Zeugen vor, und ich glaube, eben diefen Dmitri Mitritich.. 
qui me doit encore quinze roubles de Whist, soit dit en 
passant. Enfin, je n’ai pas trop compris. Uber ich war 
noch fchlauer als Пе, und was geht mich Dmitri Mitritjch 
an! Sch Бабе, alaube ich, jehr gebeten, daß niemand 
etwas davon erfahre, jehr gebeten, jehr, fürchte fogar, 
daß ich mich erniedrigt Бабе, comment croyez-vous? 
Enfin ila consenti.... Nein, warten Sie, da fällt mir ein, 
das war er jelbit, der darum bat, denn er ſei nur ges 
fommen, um zu ‚bejehen‘, jagte er, et rien de plus, und 
weiter nichts... und daß, falle man nichts findet, auch 
nicht8 weiter gejchehen wird. Фо haben wir denn auch 
alles beendet en amis, et je suis tout-A-fait content.“ 

„Uber ich bitte Sie, er hat Ihnen doch einfach die in 
ſolchen Fällen üblichen Garantien angeboten, und Sie — 
Sie haben ihn noch jelbft davon abgebracht!“ rief ich in 
freundichaftlihem Unmillen. 

„Nein, e8 ift fchon beſſer fo, ohne Garantien. Und 
wozu ein Skandal? Kieber jo lange es noch geht en 


657 


amis... Sie willen doch, wenn man in der Stadt ег 
fährt... mes ennemis ... et puis & quoi bon ce procu- 
reur, ce cochon de notre procureur, qui deux fois m’a 
manqu& de politesse et qu’on a гоззё & plaisir l’autre 
аппёе chez cette charmante et belle Natalia Pawlowna, 
quand il se cacha dans son boudoir. Et puis, mon ami, 
widerfprechen Sie mir nicht und entmutigen Sie mic 
nicht, ich bitte Sie, denn es gibt nichts Unerträglicheres, 
als wenn ein Menſch ſchon unglüdlich ift und ihm dann 
hundert Freunde jofort noch erklären, wie dumm er ge: 
handelt hat. Seen Sie [14 und trinfen Sie Tee. Ich 
muß geftehen, ich bin fehr müde geworden... follte ich 
mich nicht hinlegen und eine Eſſigkompreſſe machen? 
Was meinen Sie?" 

„ber felbitverftändlich,” ſagte ich, „und beijer noch 
eine mit Eis. Sie find jehr aufgeregt. Sie find ja genz 
bleich und Ihre Hände zittern. Legen Sie ſich hin, erholen 
Sie fich und |prechen Cie vorläufig nicht. Sch werde mich 
zu Ihnen {евеп und warten. Und nachher koͤnnen Sie mir 
dann alles erzählen.“ 

Doch er Fonnte 14 noch nicht entichließen, ſich Binzus 
legen, ich aber beftand darauf. Naſtaßja brachte Eſſig in 
einer Zafje, ich feuchtete ein Handtuch damit an, das ich 
ihm dann auf den Kopf legte. Darauf fletterte Naftaßja 
auf einen Stuhl und fchidte fich zu meiner nicht geringen 
Verwunderung an, in der Ede vor dem Heiligenbilde das | 
Laͤmpchen anzuzünden. Noch nie hatte ich früher ein 
Lämpchen bei ihm gejehen und nun war es plößlich da 
und mwurde jogar angezündet. 

„Das habe ich vorhin angeordnet, gleich nachdem йе 
fortgegangen waren,” jagte Stepan Trophimowitſch 


058 





leife zu mir und [аб mich dabei fchlau an, „quand on a 
de ces choses-la dans sa chambre et qu’on vient vous 
arıeter, jo macht das unbedingt einen guten Eindrud 
und die шей dann 504 ausfagen, daß fie gefehen 
haben..." 

Als Naftaßja mit dem Lämpchen fertig war, ging 
fie zur Tür, blieb aber dort ftehen, legte mitleidig die rechte 
Hand an die Wange und begann, ihn mit belümmertem 
Blick anzufehen. 

„Eloignez-la unter irgendeinem Vorwand“, winkte 
er mir vom Diwan zu. „Kann dieſes ruſſiſche Mitleid 
nicht ausftehen, её puis ga m'embéête.“ 

Doc) пе ging ſchon von felbit hinaus. Es fiel mir auf, 
daß er immer wieder zur Zür blidte und zum Vorzimmer 
hinhorchte. 

„Il faut être prêt, voyez-vous,‘ (er ſah mich dabei Бе: 
deutungsvoll an) „chaque moment fünnen fie fommen, 
einen feftnehmen und huitt — weg Ш ein Menſch!“ 

„nerrgott! Wer kann fommen? Wer kann Sie ре 
nehmen?” 

„Voyez-vous, mon cher, ich habe ihn ganz einfach ge: 
fragt, ale er jchon fortgehen wollte: was wird man jeßt 
mit mir machen?” 

„Hätten Sie doch lieber gleich gefragt, wohin man Sie 
verichiden will!” rief ich unmillig. 

„Das meinte ich ja auch damit, aber er ging fort und 
jagte nichts. Voyez-vous: was die Wälche anbetrifft, 
die Kleider, Ме warmen Kleider befonderg, ich glaube, 
das kann man jchon mitnehmen, denke ich, doch vielleicht 
Ichieden fie einen auch im Soldatenmantel fort. Uber ich 
бабе fuͤnfunddreißig Rubel” (er ſenkte plöglich die Stimme 


953 


und blidte ängftlich nach der Tür, durch die Naftaßja 
hinausgegangen war) „heimlich durch die MWeftentafche, 
die ich ein bißchen aufgejchnitten habe, in die Wefte Билет: 
geftedt, jehen Sie hier, fühlen Sie... Sch glaube, die 
Meite werden Пе mir doch nicht ausziehen, u—und zum 
Schein Habe ich ш mein Portemonnaie fieben Nubel 
gelegt ‚alles, fozufagen, was ich habe‘. Und hier im Tiſch 
Ш noch Kleingeld und Kupfergeld, jo daß fie gar nicht auf 
den Gedanken fommen werden, daß ich noch Geld ver: 
tet habe. Sie werden glauben, das fei wirklich alles. 
Denn Bott mag willen, wo ich heute noch nächtigen 
werde.” 

Mir fanf der Kopf auf die Bruft ob folhem Wahnfinn. 
So, wie er ed mwiedergab, fonnte man doch weder einen 
Menichen verhaften, noch Hausjuchungen vornehmen. 
Daß er ich irgendwie täufchte, auch über das, mas ge: 
\chehen war, daran zweifelte ich jeßt nicht mehr. Aller: 
dings hatte man ihm (nach feinen eigenen Worten) ein 
gejeßmäßigeres Vorgehen zugedacht, er aber war „noch 
ſchlauer“ gemwejen und hatte das felbft verhindert... 
Freilich gejchah das damals noch vor den neuen diesbe— 
züglihen Geſetzen . .. und freilich durfte damals, alſo 
noch vor furzem, der Gouverneur in Außerften Fällen... 
Uber was fonnte denn Мег für ein Außerfter Fall vor- 
liegen? 

„68 ИЕ beftimmt ein Telegramm aus Petersburg ge: 
fommen”, jagte plößlich Stepan Trophimowitſch. 

„Ein Telegramm! Zhretwegen? Weil Sie Herzens | 
Bücher befißen? Oder gar wegen Ihres Poems? Sie 
ſcheinen ja wirklich frank zu fein — was für einen Grund 
fann man denn deshalb haben, Sie zu arretieren?“ 


660 





„Wer апп dag willen, in unferer Zeit, warum man 
arretiert wird?” flüfterte er rätjelhaft. 

Ein unglaublicher, unmöglicher Gedanke fuhr mir 
durch den Kopf. 

„Stepan Zrophimowitich, jagen Sie mir jeßt einmal 
wie einem Freunde,” rief ich, „wie einem aufrichtigen, 
treuen Freunde, ich werde Sie nicht verraten: gehören 
Sie nicht irgendeinem geheimen Verbande an?" 

Und da antwortete er mir zu meiner Verwunderung 
feineswegs ficher und beftimmt, ob er zu folch einem ge: 
heimen Verbande gehörte oder nicht gehörte. Sch wurde 
nicht Flug daraus. 

„За, voyez-vous, es fommt darauf an, wie man’s 
nimmt. Voyez-vous...“ 

„Wie man was ‚nimmt‘?“ 

„Wenn man immer mit dem ganzen Herzen für den 
Fortichritt gewejen Ш, und... wer kann denn ficher 
jein? Du glaubft, daß du nicht gehörft, und fiehe da, du 
gehörft jchließlich Doch zu irgend etwas.“ 

„Wie ift das möglich, hier handelt es fıch Doch nur um 
ja oder nein?” 

„Cela date de Petersbourg, als wir beide dort das Blatt 
gründen wollten. Da ftedt die Wurzel. Wir drüdten ung 
damals und man vergaß uns: jetzt aber haben fie ſich 
wieder unjerer erinnert. Cher, cher, fennen Sie mich 
denn nicht!” rief er plößlich Franfhaft erregt. „Man wird 
ung feftnehmen, in einen Bauernichlitten jeßen und dann: 
marſch nach Sibirien fürs ganze Leben! Dder man ver: 
gißt ung in einer Kaſematte!“ 

Und plößlich begann er heiße, heiße Tränen zu weinen. 
Er bededte die Augen mit feinem ſeidenen Taſchentuch 


661 


und meinte und fchluchzte ungefähr fünf Minuten lang. 
Ich konnte её nicht mit anjehen. Diejer alternde Mann, 
der jeht zwanzig Jahre lang unſer Freund und Lehrer, 
unjer Patriarch geweſen war, der fich fo hoch über uns 
allen zu halten verftanden hatte: der weinte plößlich wie 
ein Нетег, ungezogener Sunge, der den Stod, паф dem 
der Lehrer gegangen ift, fürchtet. Grenzenlos tat er mir 
leid. An den „Bauernichlitten” glaubte er Sicherlich 
eben fo feft, wie daran, daß ich neben ihm {ав — und er: 
wartete ihn womöglich fofort, in der пафЙеп Minute 
ſchon. Und alles das für den Beliß der Werke Herzens | 
oder irgendein eigenes Prem! Solch eine volllommene 
Unfenntnis der alltäglichen Wirflichfeit war rübrend und 
gleichzeitig doch auch miderlich. | 

Endlich hörte er auf zu weinen, erhob fi vom Diman 
und ging wieder im Zimmer auf und ab. Sein Geſpraͤch 
feßte er ebenfo unzujammenhängend fort, wie zuvor; 
dabei blidte er jeden Augenblid zum Fenfter hinaus oder | 
horchte, ob nicht jemand ins Vorzimmer trat. Alle meine | 
Beteuerungen und Beruhigungen fprangen von ihm ab 
wie Erbjen von der Wand. Er hörte mir faum zu, und 
hatte es dabei Doch erjichtlich furchtbar nötig, daß ich ihn 
beruhigte. Er fprach denn auch beinahe nur in diefer о 
Abſicht. Sch {аб bald ein, daß er jekt ohne mich nicht 
ausfommen konnte, mich jedenfalls um feinen Preis | 
jeßt von jich gelajfen hätte. Фо blieb 1% denn bei 
ihm und wir verbrachten ungefähr zwei Stunden mit: 
einander. 

Sm Laufe des Geiprächs bemerkte er, daß Blümer 
unter anderem auch zwei Proflamationen, die er bei ihm 
irgendwo gefunden hatte, mitgenommen Бабе, 


662 





„Proflamationen!?" Sch erfchraf dummerweiſe. 
„Sind Sie denn...” 

„Ach, man hat mir einmal zehn Stüd ins Haus ges 
worfen“, antwortete er geärgert. (Er ſprach bald unges 
halten und hochmütig mit mir, bald klagend und er: 
niedrigt.) „Uber acht hatte ich ſchon befeitigt und Blümer 
hat nur noch zwei gefunden.” 

Und plößlicy errötete er vor Unmillen. 

„Vous me mettez avec ces gens-lä! Sie halten es alfo 
für möglich, daß ich zu dieſen Schuften, diefen heimlichen 
Zuftedern gehören fönnte, zu jolcyen, wie mein Söhnchen 
Piotr Stepanomitlih einer Ш, avec ces esprits-forts de 
la lächete! O Gott!“ 

„За, aber follte man Sie nicht vielleicht irgendwie 
verwechfelt haben... Übrigens, Unfinn, nein, das fann 
nicht fein!" 

„Savez-vous,“ entriß es jich ihm plößlich, „ich fühle 
zuweilen, que je ferai la-bas quelque esclandre. Oh, 
gehen Sie nicht fort, lafjen Sie mich um Gottes willen 
nicht allein! Ma carri£re est finie aujourd’hui, je le sens. 
54... millen Sie, ich werde mich vielleicht auch auf 
jemanden ftürzen und beißen, wie jener Leutnant... 

Er ſah mich ganz fonderbar an, mit einem erfchrodenen 
Blick, der aber zu gleicher Zeit auch jelbft erjchreden zu 


‚ wollen fchien. Zatjächlich ärgerte er ИФ über irgend 


wen oder irgendetwas immer mehr, und zwar um 
jo mehr, je länger der „Bauernfchlitten”’ auf ich warten 
ließ. 

Plöklich warf Naftafja, die aus der Küche ins Vor: 
zimmer gegangen war, dort einen Kletderhalter um. 
Stepan Trophimomitich fuhr erfchroden auf und zitterte: 


663 


als jich dann aber die Sache aufflärte, da fchrie er fie an 
vor Wut, und jagte fie, mit den Füßen trampelnd, wieder 
zurüd in die Küche. 

Nach einiger Zeit jagte er, indem er mich verzweifelt 
anblidte: 

„Sch bin verloren! Cher“ — er fette fich plößlich 
neben mich und jah mir traurig, unjäglich traurig, doch 
mit unverwandtem Blid, in die Augen. „Cher, ich fürchte 
ja nicht Sibirien, ich ſchwoͤre es Ihnen, oh, je vous jure, 
ich fürchte etwas anderes..." und jogar Tränen traten 
ihm in die Augen. 

Sch erriet jofort, fchon an feinem Mienenipiel, daß er 
mir endlich etwas Bejonderes mitteilen wollte, 14 aber 
bis jeßt noch bezwungen hatte. 

„Уф fürchte die Schande”, flüfterte er jchließlich ge— 
heimnisvoll. 

„Welche Schande?... Sm Gegenteil! Glauben Sie 
mir doch, Stepan Злоррипом $, alles wird jich noch 
heute aufflären, und zwar zu Ihrem Vorteil..." 


„Sind Sie fo überzeugt, daß man mir verzeihen wird?" 


„Bas reden Sie von verzeihen! Was für Worte Sie 
da wieder gebrauchen! Was haben Sie denn begangen? 
$4 verlichere Ihnen doch, Sie haben nichts getan!" 

„Qu’en savez-vous... mein ganzes Leben war... 
Cher... Es wird ihnen alles von mir einfallen... Und 
wenn jie nichts finden, um fo ſchlimmer!“ fügte er 
plöglich überrafchend hinzu. 

„Am fo ſchlimmer?“ 

„Um fo fchlimmer.” 

„Das verftehe-ich nicht.” 

„Mein Freund, mein Freund, nun, meinetwegen Ei: 


664 


— — 


birien, паф Urchangelst, Verluft aller Rechte, — fommt 
man um, dann fommt man um! ber... ich fürchte 
das andere...“ (wieder eflüfter, angjtvolle Augen und 
Geheimtuerei). 

„Uber was denn, was?" 

„Ste werden mich durchprügeln !” flüfterte er und ſah 
mich wie verloren ап. 

„Wer wird Sie durchprügeln? Wo? Warum?“ rief 
ich erfchroden, denn ich glaubte fchon, er Бабе den Ver: 
ftand verloren. 

„Bo? Nun da... mo das gemacht wird.” 

„За, wo wird denn dag gemacht?“ 

„Ach, cher,‘ flüjterte er mir beinahe fchon ins Ohr, 
„plößlich verfchwindet unter einem ein Stüd Diele und 
man fällt bis zur Hüfte in eine Öffnung... Das weiß 
doch ein jeder...“ 

„бабет!“ rief ich erratend, „das find doch alte Fabeln. 
За, aber haben Sie denn wirklich bis jeßt ап fo etwas ge: 
glaubt?” 34 begann zu lachen. 

„бабет? So ganz grundlos entftehen folche Fabeln 
doch nicht. Ich hab es mir fchon zehntaufendmal in der 
Phantaſie vorgeftellt !" 

„Aber warum denn Sie, gerade Sie? Sie haben doch 
nichts getan?” 

„Цит jo jchlimmer, fie werden einfehen, daß ich nichts 
getan habe, und prügeln dann erft recht!" 

„Und Sie find überzeugt, daß man Sie zu dem Zweck 
nach Petersburg bringen wird?” 

„Mein Freund, ich habe fchon gejagt, mir tut nichts 
mehr leid, ma carriere est finie. Seit jener Stunde in 
Skworeſchniki, als fie fih von mir verabichiedete, tut 


43 Doitojewsti, Die Dämonen. 35. И, 665 


е8 mir um mein Leben nicht mehr leid... aber die 
Schande, die Schande, que dira-t-elle, wenn fie es er- 
fahrt?" 

Derzmeifelt {аб er mich an und — der Arme! — er: 
rötete über und über. Sch {епНе gleichfalls ме Augen. 

„Ste wird nichts erfahren, denn man wird Shnen 
nichts tun. 68 ift mir, als ob ich zum erftenmal mit Ihnen 
Ipräche, Stepan Trophimowitſch, dermaßen haben Sie 
mich heute in Erftaunen geſetzt.“ 

„Mein Freund, das ift doch feine Furcht. Nun, mögen 
fie mir da meinetmwegen auch verzeihen, mich fogar wieder 
herbringen und mir aud) ſonſt nichts antun — aber gerade 
Мег bin ich ja dann verloren! Elle me soupgonnera 
toute sa vie... mich, mich, den Dichter, den Denker, 
den Menichen, den fie zweiundzwanzig Sabre lang ап: 
gebetet hat!“ 

„Bird ihr gar nicht einfallen.” 

„Es wird, wird!” flüfterte er in tiefer Überzeugung. 
„Wir haben beide mehreremal darüber gejprochen, in 
Petersburg, bevor wir fortfuhren, als wir beide fürchteten. 
Elle me soupgonnera toute sa vie... und wie fie über: 
zeugen? Es шир alles jo unmwahrfcheinlich klingen. За, 
und wer wird mir denn hier in der Stadt glauben? C’est 
invraisemblable... Et puis les femmes... @е wird 
fih freuen. Sie wird fehr betrübt fein, ſogar aufrichtig 
betrübt, wie ein treuer Freund, aber, im geheimen — 
wird fie fich freuen... Sch gebe ihr eine Waffe gegen 
mich fürs ganze Leben. Ob, vernichtet Ш es jeßt, mein 
ganzes Leben! Zwanzig Jahre ein jo großes Glüd mit 
Ще... und nun dies!“ 

Er bededte fein Geſicht mit den Händen, 


666 





„Stepan Trophimowitſch, follten Sie nicht Warmara 
Petromwna fofort von dem Vorgefallenen benachrichtigen $" 
Ichlug ich vor. 

„Gott foll mich davor bewahren!" — er fuhr zufammen 
und fprang fogar auf. „Auf feinen Fall, niemals, nach 
dem, was in Skworeſchniki gefagt worden ift, nie— mals!" 

Seine Augen bligten plößlich. 

Mir faßen, glaubeich, noch eine gute Stunde und war: 
teten immer noch auf irgendetwas — es war das ſchon 
zu einer Пхеп Jdee geworden. Er legte fich wieder hin, 
Ichloß fogar die Augen und lag ungefähr zwanzig Minuten 
ganz МИ, ohne ein Wort zu jprechen, fo daß ich bereits 
glaubte, er ſei eingejchlafen. Plößlich aber erhob er fich 
iah, riß das Handtuch vom Kopf, {ртапв vom Diwan auf 
und ftürzte zum Spiegel, um fich fofort eine neue weiße 
Krawatte umzubinden, rief mit Donnerftimme Naftaßja 
und befahl, ihm feinen Mantel, Hut und Stod zu 
geben. 

„Sch kann's nicht mehr aushalten,” fagte er, „ich kann 
nicht, ich kann nicht! ... Sch gehe felbft.‘ 

„Wohin?“ Auch ich fprang auf. 

„zu Zembfe. Cher, ich muß, es Ш meine Pflicht. Sa, 
meine Pflicht. Ich bin ein Bürger und ein Menjch, aber 
fein Strohhalm, ich habe Rechte, ich will mein Recht ... 
Sch Бабе zwanzig Jahre lang meine Rechte nicht mehr 
gefordert, ich habe fie mein ganzes Leben lang unver: 
zeihlich vergeſſen ... aber jeßt werde ich fie verlangen. 
Er muß mir alles jagen, alles. Er hat gewiß ein Tele— 
gramm erhalten. Er darf mich nicht quälen. Wenn fchon, 
denn ſchon — dann foll er mich lieber fofort verhaften, 
verhaften, verhaften !" 


43* 667 


Er ſchrie die lekten Worte mit einer Stimme, bie ſich 
überjchlug, und ſtampfte mit den Füßen. 

„Ich gebe Ihnen vollfommen recht“, jagte ich abfichtlich 
jo ruhig wie nur möglich, obgleich ich nicht wenig für ihn 
fuͤrchtete. „Das Ш wirklich befjer, als mit einer ſolchen 
Sorge ftillzufigen. Nur Ihre ganze Stimmung пп ich 
nicht loben. Sehen Sie doch im Spiegel, wie Sie aus: 
jehen. Wie fönnen Sie denn jo zu Lembfe gehen? Il faut 
etre digne et calme avec Lembke. Man име Ihnen 
ев wirklich zutrauen, daß Sie fich auf jemanden werfen 
und ihn beißen!" 

„Sch liefere mich felbft aus! Sch gehe freiwillig in den 
Rachen des Löwen. 

„УФ gehe natürlich mit Ihnen.“ 

„Anderes habe ich von Ihnen auch nicht erwartet, ich 
nehme Ihr Opfer an, als Opfer eines treuen Freundes, 
aber nur bis zum Hauſe, nur bis zum Hauſe: denn Sie 
duͤrfen nicht, Sie haben nicht das Recht, ſich noch weiter 
mit mir zu kompromittieren. O, croyez-moi, je serai 
calme! In diefem YAugenblid fühle ich mich а la hauteur 
de tout ce qu’il y a de plus sacr@.. .““ 

„Sch werde mit Ihnen vielleicht auch ins Haus gehen”, 
unterbrach ich ihn. „Geſtern hat mich nämlich dieſes 
dumme Komitee durch Wyſſotzki benachrichtigt, daß man 
morgen zum Felt auf mich rechnet: ale Anordner, oder 
wie fie da... ich joll einer von den jechs jungen Herren 
тет, die nach den Teebrettern jehen, den Damen den Hof 
machen, den Gaͤſten die Pläße аиНифеп und dabei eine 
weißrote Schleife an der linken Schulter tragen muͤſſen. 
Уф wollte zuerft abſchlagen — aber warum foll ich jeßt 
nicht zum Gouverneur gehen, unter dem VBorwande, die 


668 





Angelegenheit mit Julija Michailomna felbft bejprechen 
zu wollen? So gehen wir denn beide zujammen.” 

Er hörte zu und nidte nur mit dem Kopf, doch wahr: 
Icheinlich hatte er nichts verftanden, 

Wir ftanden fchon an der Tür. 

„Cher,‘ rief er plößlich und ftredte die Hand zu der 
Ede aus, in der das Laͤmpchen brannte, „cher, ich habe 
nie an das da geglaubt, aber... laffen Sie mich, laſſen 
Sie!” und er befreuzigte ſich. „Allons!“ 

„— Sit recht fo," dachte ich bei mir, als ich nach ihm 
aus dem Haufe trat, „unterwegs wird noch Die frifche 
Luft gut tun, wir werden uns beruhigen, wieder nach 
Haufe kommen und uns jchlafen legen...” 

Sch hatte aber die Rechnung ohne Stepan Trophimo— 
witſch gemacht. Gerade unterwegs gejchah etwas, das 
ihn noch mehr erjchüttern follte und ihn endgültig vor— 
wärts trieb... jo daß ich, ich muß geftehen, eine foldye 
Kühnbeit, wie er fie an dieſem Morgen zeigte, von unſerm 
Freunde gar nicht erwartet hätte. Mein armer Freund! 
Mein guter, lieber Freund! 


Sünfzehntes Kapitel 
Die Flibuftier. Der verhängnisvolle Morgen 


I 


as Erlebnis, das wir unterwegs hatten, war gleich: 

falls eines von den fonderbaren. Doch ich muß wohl 
alles in derjelben Reihenfolge erzählen, in der es fich зи: 
getragen hat. Ungefähr eine Stunde bevor wir, Stepan 
Trophimowitſch und ich, aus dem Haufe traten, jchob fich 
durch die Stadt, von vielen neugierig betrachtet, ein 
Menjchenhaufe von etwa fiebzig oder mehr Mann: es 
waren Arbeiter der Spigulinihen Fabrif. Sie zogen 
ruhig, würdevoll, faft ſtumm und abjichtlich in der ſtreng⸗ 
ften Ordnung durch die Straßen. Später wurde Ве: 
hauptet, daß diefe Leute als Abgeſandte der etwa neun: 
hundert Arbeiter, die eg im ganzen in der Fabrif gab, ſich 
tatjächlich nur aufgemacht hätten, um beim Gouverneur ihr 
Recht zu fuchen, da der Fabrifdireftor in Abweſenheit der 
Beſitzer fie bei der Entlafjung und Abrechnung ſchmaͤh— 
lichft betrogen hatte — eine ЗаНафе, die heute feinem 
Zweifel mehr unterliegt. Andere behaupten freilich, daß 
liebzig Mann viel zu viel für eine Schar Abgeſandte ge= 
weſen feien, und daß der Haufe aus den am meiften Ge: 
Ihädigten beftanden habe, die auf dieſe Weiſe einfach, 
für ſich felbft Hätten bitten wollen; — jedenfalls aber will 


670 





niemand von den fiebzig einen „allgemeinen Arbeiter— 
Aufftand” zugeben, von dem die Zeitungen hernach fo 
fettgedrudt zu erzählen wußten. Wieder andere be: 
haupten, dieje fiebzig Mann jeien allerdings feine „ge: 
wöhnlichen”, dafür aber „politifche” Aufftändifche ge: 
wejen — und natürlich ſchieben dann diejenigen, welche 
die Sache fo anjehen, mit Vorliebe die Schuld auf die in 
den vorhergegangenen Tagen heimlich zugeftedten 
Proflamationen. Uber уме dem auch fein mag (denn 
Нах ift man fich bis heute noch nicht Darüber), meiner 
eigenen Meinung nach hatten die Arbeiter dieſe zuge— 
ſteckten Blätter überhaupt nicht gelejen, oder wenn doch, 
йе dann gar nicht verftanden, aug dem einfachen Grunde, 
weil die Verfafler derjelben, troß der Aufdringlichkeit ihres 
Stils, fich Außerft unklar ausdrüden. Da aber die Arbeiter 
bei der Abrechnung wirklich jchändlich betrogen worden 
waren, und die Polizei, an die fie fich zuerft wandten, 
fich weiter nicht mit ihnen einlaffen wollte, — was war da 
nabeliegender, als felbft in hellem Haufen zum Gou— 
verneur zu ziehen, wenn möglich gar mit einer Auf: 
ichrift, die ihre Wünfche in Devifenform аи ртаф und 
an der Эрве vorangetragen wurde, jich vor dem Gou— 
verneursgebäude aufzuftellen, um dann, wenn der Ge— 
fürchtete erjchien, fogleich auf die Knie zu fallen und ein 
Gejammer wie zur heiligen VBorfehung felber zu erheben? 
Es Ш meine fefte Überzeugung, daß es jich nur darum 
und um nichts anderes handelte, zumal das ein uraltes 
und lang überliefertes Mittel ЦЕ: das ruffische Vol Hat 
von jeher ein Geipräch mit dem „General felber” allen 
anderen Verhandlungen vorgezogen — und zwar eigent- 
lich allein jchon um der Ehre willen, ganz gleichgültig, 


671 


womit das Gefpräch endete. So ЕЙ bin ich davon über: 
zeugt, daß ich glaube, daß jeldft Piotr Stepanowitich, 
Liputin und vielleicht noch jemand, jagen wir Fedjka, 
die heimlich mit den Fabrifarbeitern gejprochen hatten 
(wie fich dies jeßt mit ziemlicher Sicherheit herausgeftellt 
bat), doch weiter feinen Einfluß auf diefen „Gang zum 
Gouverneur” ausgeübt haben fünnen, — abgejehen da— 
von, daß её überhaupt nur zmei, drei, höchftens fünf 
Arbeiter geweſen find, mit denen fie nachweisbar де: 
ſprochen haben. Was aber den „Aufftand‘ betrifft, fo 
werden wohl die Arbeiter, ſelbſt wenn fie etwas von 
politifcher Propaganda verftanden hätten, ſolchen ge: 
heimen Ngitatoren doch fein Gehör gefchenft und ihr 
Gerede überhaupt nicht ernft genommen haben. Eine 
einzige Ausnahme machte höchitens Fedjka: мет 
Icheint es allerdings geglüdt zu fein, und Бе{ег als Pjotr 
Stepanowitſch, mit den Arbeitern in vertrauliche Зе: 
ziehung zu treten, denn an dem Brand in der Stadt, der 
in der Üübernächften Nacht ausbrach, jind, wie man jekt 
bejtimmt weiß, im Bunde mit Fedjfa noch zwei Fabrik: 
arbeiter beteiligt gewejen. Und rechnet man dazu поф 
drei andere Arbeiter, die ein paar Wochen jpäter in der 
nahen Kreisftadt verhaftet wurden, пей Ме ebenfalls 
Feuer angelegt und geraubt hatten, jo waren е8 im 
ganzen doch erſt nur fünf von der Spigulinjchen Fabrik, 
die man von anderer Seite verführt und aufgeftacyelt 
hatte, 

Aber wie es fich damit nun auch verhalten mag, jeden: 
ralls durchzogen die fiebzig oder mehr Arbeiter die Stadt, 
jtellten ſich fjchließlich in aller Ordnung auf dem Plaz 
vor dem Фаще des Gouverneurs auf und jahen dann 


672 





mit offenen Mäulern wartend auf die Vorfahrt. Der 
Gouverneur war aber gerade nicht anmwejend. Wie 19 
ſpaͤter gehört habe, hätten fie jchon gleich, nachdem fie fich 
geordnet, ме Müben abgezogen — etwa eine halbe 
Stunde bevor Herr von Lembke dann auf dem Schau: 
plaß erichien. Die Polizei zeigte fich natürlich jofort: 
zuerft nur in einzelnen Vertretern, dann aber bald in 
möglichft geichlojlenen Trupps. Man ging fireng und 
drohend vor und befehl auseinander zu gehen. Die 
Arbeiter ftanden aber wie eine Herde Schafe, die am 
Zaun angelangt ift, und antworteten nur lafonijch, пе feien 
„zum General jelber" gefommen — Виз, man begegnete 
fefter Entichlojfenheit. Da hörte denn das Anfchreien auf, 
Nachdenklichkeit trat an feine Stelle, geheimnisvoll де: 
flüfterte Anordnungen und ftrenge, geichäftige Sorge, 
die die höheren Polizeibeamten die Augenbrauen zus 
ſammenziehen ließ. Der Polizeimeifter zog es vor, Нан 
irgendwelche Maßregeln zu ergreifen, Doch lieber die An 
funft von Lembkes abzumarten. Sonft pflegte der 
Polizeimeifter bei folchen Gelegenheiten mit feiner Troika 
zum Entzüden aller Kaufleute ftets in vollem Galopp 
anzufahren, und womöglich in die Anjammler mitten 
hinein: diesmal aber tat er es nicht, wenn er auch beim 
Abjpringen nicht ohne ein Fräftiges Wort, das geeignet 
war, feine Popularität zu erhalten, ausfommen konnte. 
Doch es Ш entichieden nicht wahr, daß man Soldaten 
berbeigerufen und von irgendwoher telegraphiich Artil- 
lerie und Koſaken erbeten hätte: das find Märchen, an 
die jeßt niemand mehr glaubt. Unjinn ift gleichfalls, daß 
man die Feuerwehr gerufen habe und mit der Spriße 
gegen das angejammelte Volk vorgegangen jei. Ilja 


675 


Iljitſch fchrie einfach im Eifer, daß ihm Fein einziger 
„troden aus dem Wajjer kommen“ folle — und daraus 
bat man dann wahrjcheinlich die Feuerwehrſpritze дег 
macht, die auch in den Nachrichtenteil der Petersburger 
Zeitungen Überging. Das einzig Richtige Ш, daß man 
die Arbeiter jofort mit allen nur verfügbaren Poliziften 
umitellte, während nach von Xembfe, der vor einer halben 
Stunde паф Sfworejchnifi gefahren war, fofort der 
zweite Polizeioffizier mit der Troifa des Polizeimeifters 
де] фи wurde. 

Immerhin muß ich geftehen, daß mir поф eines ип: 
erflärlich jcheint: wie fam es, wie war es möglich, daß 
man eine ruhige Verfammlung gewöhnlicher Bittiteller 
jo ohne meiteres und vom erſten Augenblid an gleich 
für einen politiichen Aufftand halten fonnte, der alles 
umzumwerfen deohte? Warum glaubte von Lembke felber 
nichts anderes, als er dreißig Minuten ſpaͤter mit dem 
Polizeioffizier eintraf? Am mahrjcheinlichiten Ш noch 
(doch das ift wieder nur meine eigene Meinung), daf 
Ilja Iljitſch, unſer Polizeimeifter, es einfach am aller: 
vorteilhafteften und zmedmäßigiten fand, die Sache fo 
und nicht anders aufzufafjen, zumal er fich vor zwei 
Tagen während eines Gejprächs mit von Lembke über: 
zeugt hatte, wie {ей {ет Vorgejekter an eine baldige 
Wirkung der Proflamationen und an die Spigulinfche 
joziale Gefahr glaubte, jo daß denn unfer fjchlauer 
Sta Iljitſch beim Fortgehen händereibend bei ſich 
dachte: „Will fih in Petersburg auszeichnen, würde 
ihm leid tun, wenn 14 alle Gefahr als Unfinn ermeifen 
ſollte — nun, mir foll’s recht fein... werde danach vor: 
fommendenfalls zu handeln wiſſen.“ 


674 


Der arme Andrei Antonowitich hätte freilich in Wirk— 
lichkeit um alles in der Welt feinen Aufftand gewuͤnſcht, 
nicht einmal um der perjönlichen Auszeichnung willen. 
Er war ein ungewöhnlich pflichttreuer Beamter, der fich 
bis zu feiner Verheiratung feine Unfchuld bewahrt hatte. 
Und war er denn daran fchuld, daß ftatt des ftillen, ge: 
ruhigen Poftens und des unfchuldigen Mienchens, die 
er fich erträumt, die vierzigjährige Fürftentochter ihn zu 
fich erhoben hatte? ch weiß mit aller Sicherheit, daß 
gerade an diefem verhängnisvollen Morgen die erften 
deutlichen Anzeichen eben jenes Zuftandes bei ihm zutage 
traten, der ihn dann in das befannte Schweizer Sana: 
torium gebracht hat, wo er jeßt, wie verlautet, wieder zu 
Kräften fommt. Gibt man aber zu, daß Sich fchon an 
diefem Morgen gewilfe Anzeichen bemerfbar machten, 
— nun, fo fann man, meiner Meinung nach, nur an: 
nehmen, daß bei ihm auch fchon am Tage vorher nicht 
alles ganz in Ordnung gemejen И. Sch weiß е8 zudem 
dank den intimften Mitteilungen... (nun, nehmen Sie 
meinetwegen an, Julija Michailorona hätte mir fpäter 
felbft, doch nicht mehr triumphierend, fondern faft ſchon 
bereuend — eine Frau bereut nie ganz — einen Teil 
diefer Gefchichte erzählt) — ich weiß alfo, daß in der Nacht 
vorher, um etwa drei Uhr morgens, Andrei Untonomitich 
тете Gemahlin plößlich aufgemwedt und von ihr verlangt 
hat, daß fie fein „Ultimatum‘ anhöre. Die Forderung 
war dermaßen beftimmt geftellt worden, daß Ушба 
Michailowna 1% gezwungen jah, fich tatjächlich zu ет 
heben, troß ihres Unmillens und der Papilloten im Haar, 
um auf dem Diwan Plaß zu nehmen und ihren Herrn 
Gemahl anzuhören, wenn auch mit einem farkaftiichen 


675 


Kächeln, aber immerhin anzuhören. Уп diefer Nacht be: 
griff fie zum erftenmal, wie weit es mit ihrem Mann fchon 
gefommen war — und fie erfchraf, Nun hätte fie fich 
eigentlich auch befinnen und erweichen lafjen müffen — 
fie aber verbarg fozufagen ihren Schred vor fich jelber 
und wurde noch eigenfinniger. Sie hatte (wie offenbar 
jede Frau) einen befonderen Trid, ihren Mann zu ärgern: 
Julija Michailowna pflegte nämlich in folhen Fällen 
verächtlich zu jchweigen, und zwar nicht nur zwei oder 
drei Stunden lang, jondern mitunter ganze vierund— 
zwanzig oder gar dreimal vierundzmwanzig Stunden 
hintereinander, wenn’s ihr einmal darauf anfam. Sie 
ſchwieg dann, als ob Gott fie von Kindesbeinen an mit 
Stummheit und Taubheit gefchlagen hätte, fie ſchwieg 
zu allem, was er auch |ртефеп mochte, Пе hätte auch ge= 
Ichwiegen, jelbft wenn Andrei Antonowitich durch das 
Quftfenfter gefrochen märe, um 14 vom dritten Stod- 
werf auf das Pflafter Hinabzuftürzen — fie fchwieg ein 
Schweigen, das für einen gefühloollen Menſchen wirklich 
unerträglich war. Wollte fie ihn nun für feine in den 
legten Tagen begangenen Fehler und jeinen eiferfüchtigen 
Neid als Gouvernementsherricher auf ihre adminiftre- 
tiven Fähigkeiten ftrafen?-war Пе nun unmillig über feine 
Kritik ihres Verhältnifjeg zu unferer ее фай und Бе: 
fonders zu der Jugend, ohne ihre feinen und weitfichtigen 
politischen Ziele zu verftehen? oder war eg feine fränfende 
unfinnige Eiferfucht auf Piotr Stepanowitih? — Kurz, 
wie dem auch war, jedenfalls entjchloß fie fich auch jetzt 
nicht, nachzugeben, ungeachtet deſſen, daß es jchon drei 
Uhr morgens war und Andrei Antonowitfch fich tat"ächlich 
in ungewöhnlicher Erregung befand. Er ging in ihrem 


676 





teppichbelegten Boudoir hin und her und rund herum, 
und ſchuͤttete alles, alles aus, was jich in feinem Herzen 
angejammelt hatte, denn es war, wie er fagte, ſchon „über 
die Grenzen gegangen”, Er begann damit, daß alle 
„uber ihn lachten“ und ihn „an der Nafe führten”, 
„Bas fcheren mich die Ausdrüde,” fchrie er, als er ihr 
Lächeln bemerkte, „meinetwegen mag das nicht ganz 
wörtlich fein, diefes ‚ап der Nafe‘, aber wahr ift es poch!... 
Nein, meine Gnädige, jeßt ift der Augenblid gefommen. 
Jetzt handelt es jich nicht mehr um jpöttifches Lächeln 
und MWeiberfofetterie. Wir find jet nicht im Boudoir 
einer Zierdame, jondern wir find иле zwei abftrafte 
Weſen im... jagen wir in einem Luftballon, um ung die 
Wahrheit zu jagen.” (Er verhajpelte jich natürlich ein 
wenig, 204 das machte weiter nichts, daß er nicht immer 
den richtigen Ausdrud für jeine an fich ganz richtigen Ge: 
danken fand.) „Sie, meine Gnädige, Sie find eg, die mich 
aus meinem früheren Stande herausgeriffen hat. Diejen 
Poften habe ich nur Shretwegen angenommen, um Ihren 
Ehrgeiz zu befriedigen ... Sie lächeln ſpoͤttiſch? Trium— 
phieren Sie nicht, noch ift es dazu zu früh! Wiſſen Sie, 
meine Gnädige, ich fönnte mit diefem Poften vorzüglich, 
fertig werden, und nicht nur mit diefem allein, fondern 
noch mit weiteren zehn, denn ich bejiße Fähigkeiten... 
aber mit Shnen, meine Gnädige, in Ihrer Gegenwart — 
kann man mit nichts fertig werden, mit Ihnen zufammen, 
meine Gnädige, habe ich feine Fähigkeiten mehr! Zwei 
Mittelpunfte fönnen nicht nebeneinander fein. Sie aber 
haben zwei zuftande gebracht — einen bei mir und den 
anderen bei fich im Boudoir — zwei Zentren der Macht, 
meine Gnädige: aber ich werde das nicht mehr erlauben, 


677 


hören Sie, ich werde das nicht länger dulden!! Sm Dienft 
wie in der Ehe ЧЁ nur ein Zentrum möglich, zwei aber 
find ein Ding der Unmöglichkeit... Womit lohnen Sie 
es mir?” rief er plößlich gereizt. „Unfere Ehe beftand bis 
jest nur darin, daß Ste mir täglich, ftündlich bemwiefen, 
daß ich nichtig, dumm und fogar gemein fei, und daß ich 
die ganze Zeit gezwungen war, Ihnen erniedrigender- 
weile zu beweifen, daß ich nicht nichtig und gar nicht 
dumm bin und, was die Gemeinheit angeht, jogar alle 
durch meinen Edelmut in Erftaunen jeße. Sagen Sie mir 
doch bitte: ift das denn nicht erniedrigend? und zwar für 
beide Teile?" Hier begann er mit beiden Füßen auf dem 
Teppich zu trampeln, jo daß Julija Michailowna ges 
zwungen war, 14 in ftrenger Würde aufzurichten. Da 
wurde er fofort ganz ftill, verfiel aber nun ing Gefühloolle 
und begann zu fchluchzen (jamohl, zu fchluchzen) und 
ſchlug fich vor die Bruft, und das dauerte wohl ganze fünf 
Minuten, während welcher Zeit das unerjchütterliche 
Schweigen feiner Gattin ihn vollends um feine Faſſung 
brachte, — bis er ſchließlich das Falſcheſte tat, was er tun 
fonnte: er geftand ihr, daß er auf Piotr Stepanowitſch 
eiferfüchtig war. Doch рай im ſelben Augenblid erriet er 
ichon, daß er damit eine grenzenlofe Dummheit begangen 
hatte, und wurde geradezu НегИф wild. Im Jaͤhzorn 
ichrie er alles Mögliche, ſchrie „Ich erlaube nicht, Gott zu 
verftoßen !" „werde Ihren unverzeihlichen gottlofen Salon 
in alle Winde auseinanderjagen !" „ein Gouverneur muß 
an Gott glauben und folglich auch feine Frau’ „Sie, 
Sie, meine Önädige, gerade Sie müßten ſchon um der 
eigenen Würde willen für Ihren Dann ftehen, felbft wenn 
er gar feine Fähigkeiten hätte (dabei Бабе ich aber Fähig- 


678 





feiten!) und waͤhrenddeſſen find gerade Sie der Grund, 
daß man mich hier verachtet, gerade Sie haben dieje Auf: 
faſſung von mir allen beigebracht!..." Er ſchrie, er 
werde die ganze Trauenfrage vernichten, er werde diejes 
blödjinnige бей für die Gouvernanten — die der Teufel 
holen jolle! — morgen noch unterfagen, und die erfte 
Gouvernante, die ihm in den Weg fomme, „von Koſaken“ 
aus dem Gouvernement jagen laſſen. „Abjichtlich, ab» 
ſichtlich!“ ſchrie er. „Wiſſen Sie auch, daß Ihre Nichts: 
пиве die Fabrifarbeiter aufheken und daß ich dag weiß? 
Wiſſen Sie auch, daß diefe jelben jungen Leute abjicht: 
lich Proflamationen verbreiten, ab—ſicht -lich!? Wiſſen 
Sie auch, daß ich die Namen von vier folchen Banditen 
fenne und daß ich den Verſtand verliere, endgültig, end: 
gültig den Berftand!!!.. " Nun aber brach Julia 
Michailomna plößlich ihr Schweigen und erflärte ftreng, 
йе wüßte jelbft ſchon längft, was für verbrecherijche ЭГ: 
Jichten gehegt würden, daß aber dies alles nur Dumm: 
heiten jeien, die er viel zu ernft nähme, und was die ип: 
artigen Jungen beträfe, jo fenne fie nicht nur vier Namen, 
fondern alle. (Das log fie.) Sm übrigen aber habe jie des— 
wegen noch lange nicht die Xbficht, ihren Verſtand zu 
verlieren, an den fie jeßt mehr denn je glaube, und ihr 
großes Ziel jei, alles in Harmonie aufzulöfen: die Jugend 
zu ermutigen, fie zur Einjicht zu bringen, plößlich und 
unerwartet diefen Sünglingen zu eröffnen, daß alle ihre 
Ablichten bereits befannt feien, und fie dann auf neue 
Ziele und eine vernünftige, fegensreiche Taͤtigkeit hinzus 
weilen. 

Doch was geſchah nun mit Andrei Antonomwitfch! Als 
er erfuhr, daß Piotr Stepanomwitich ihn wieder über: 


679 


tölpelt und fich offen über ihn lujtig gemacht, daß er ihr 
weit mehr und viel früher als ihm alles mitgeteilt hatte, 
und fchließlich, daß vielleicht gerade Piotr Stepanomitich 
der Urheber aller verbrecheriichen Abfichten war — da 
geriet er einfach außer fih. „So wiſſe denn, du ein: 
fältiges, haͤmiſches Frauenzimmer,” fchrie er, gleichjam 
alle Ketten fprengend, „mwille denn, daß ich deinen ver: 
aͤchtlichen Liebhaber im Augenblid noch verhaften laſſe, 
ihn in Ketten lege und in eine Kajematte werfe, oder — 
fofort unter deinen Augen aus dem Feniter auf die Straße 
ſpringe!“ Auf diefe Zirade aber antwortete Julija Michai- 
lowna, fahl vor Ärger, mit einem langen, hellen Gelächter, 
einem Gelächter mit Xbftufungen und Anjchwellungen, 
genau, aber genau fo wie im franzöfiichen Theater bie 
für hunderttaufend France engagierte Parifer Schau: 
ipielerin zu lachen pflegt, wenn ihr Mann es wagt, jie der 
Untreue zu verdächtigen. Bon Lembke ftürzte zum 
Senfter, plößlich aber blieb er wie angewachſen ftehen, 
faltete die Härde auf der Bruft und blidte ſich totenbleich 
mit Unheil verfündendem Blid nach der Lachenden um: 
„Weißt du, weißt du, Zula...” murmelte er atemlosg, 
mit befchwörender Stimme, „weißt du, ich пп mir 
wirflich etwas antun!" Aber dem neuen, noch ftärferen 
Gelächter, das dieſen Worten folgte, hielt er nicht mehr 
ftand: её МВ die Zähne zuſammen, ftöhnte und plößlich 
ftürzte er ſich — nicht aus dem Fenfter, jondern — auf | 
feine Frau, über der er Ме Fauft erhob! Doch erließ fie 
nicht finfen, nein, dreimal nein; aber er verging auf der 
Stelle. Ohne die Füße unter fich zu fpüren, flürzte er in 
fein Zimmer, wo er jich, jo wie er war, in den Kleidern 
auf das Bett warf und den Kopf in die Dede widelte. So 


680 





lag er zwei Stunden lang — ohne Schlaf, ohne Ger 
danfen, mit einem Stein auf dem Herzen und mit 
ftumpfer, unbemweglicher Verzweiflung in der Seele. 
Hin und wieder erjchauerte er am ganzen Körper unter 
einem quälenden Schüttelfroft. Gedanfen hatte er nicht, 
doch fielen ihm allerhand unzufammenhängende Sachen 
ein, die mit jeinem jeßigen Zuftande nichts zu tun hatten: 
jo dachte er zum Beifpiel an eine alte Wanduhr, die er 
vor fünfzehn Jahren in Petersburg beſeſſen hatte und 
von der der große Zeiger abgefallen war... oder an 
feinen luftigen Freund Milbois — иле diefer einmal mit 
ibm im Uleranderparf einen Sperling gefangen und 
darauf furchtbar über diefen Jungenftreich gelacht hatte, 
als es ihnen plößlich einfiel, daß der eine von ihnen ſchon 
Kollegien-Aſſeſſor“ war. Erft gegen fieben Uhr morgens 
Ichlief er langjam ein, ohne es felbjt zu merfen, und 
Ichlief ruhig und mit wundervollen Träumen. Erft gegen 
zehn Uhr erwachte er, bejann ſich, fprang plößlich wild 
auf und jchlug fich mit der Hand vor die Stirn: jäh war 
ihm alles wieder eingefallen. Weder das Frühftüd, noch 
DBlümer, noch der Polizeimeifter, noch Beamte mit 
Meldungen wurden vorgelafjen, von all dem wollte er 
nichts mehr willen — lief vielmehr wie von Sinnen in 
die Gemächer feiner Frau. Dort aber fagte ihm Sophia 
Antropowna, eine adlige alte Frau, die |фоп lange bei 
Julija Michailowna lebte, daß diefe bereits vor einer 
Stunde mit einer ganzen Gefellichaft, in nicht weniger 
als drei Equipagen, nach Sfworefchnifi zu Warwara 
Petrowna Stawrogina gefahren fei, um dort die Säle 
zu befichtigen, da man das zweite бей, das in zwei Wochen 
ftattfinden follte, dort zu arrangieren beabjichtigte, und 


44 Dojtojew3ti, Die Dämonen. Bd. II, 681 


der heutige Beſuch {фоп vor drei Tagen mit Warmara 
Petrowna verabredet worden war. Beftürzt Fehrte 
Andrei Antonowitſch in fein Arbeitszimmer zurüd und 
befahl fofort, die Pferde anzufchirren. Kaum hielt er es 
aus, fo lange zu warten, bis der Wagen vorfuhr. Seine 
Seele jehnte № nad Julija Michailowna — nur jehen 
wollte er fie, nur ein paar Minuten lang bei ihr fein! 
Vielleicht wird fie ihm einen Blid Schenken? ihm zulächeln 
wie früher? und ihm verzeihen? Oh — oh! „Wo bleiben 
denn die Pferde!" Mechanifch fchlug er ein dides Buch 
auf, dag auf dem Tiſch lag (es Fam vor, daß er zumeilen 
jo ein Buch befragte, indem er es aufs Geratemwohl auf: 
Ihlug und dann auf der rechten Seite die erften drei 
Zeilen las). Sein Blid fiel auf dein ©aß: „Tout est pour 
le mieux dans le meilleur des mondes possibles.‘“ Vol- 
taire, „Candide“. Er fpudte wütend aus und eilte die 
Treppe hinab zum vorgefahrenen Wagen. „Nach Skwo—⸗ 
reſchniki!“ befahl er. Der Kutfcher erzählte fpäter, der 
Herr habe ihn die ganze Zeit zu fchnellerem Fahren ап: 
getrieben, bis er plößlich, ale fie fich dem Herrenhaufe 
näherten, befahl, umzufehren und in die Stadt zurüd zu 
fahren. „Schneller, ſchneller!“ Habe er auch dann noch 
ununterbrochen gerufen. „Doch als wir uns dem Ötadt= 
wall näherten," erzählte der Kutfcher, „da befahl der Herr, 
wieder anzuhalten, {Нед dann aus und ging aufs Feld, 
ich dachte... . aus irgendeinem Grunde... — aber nein, 
er blieb mitten im Feld ftehen und begann die Blümchen 
zu БееБеп ... fo ftand er dann lange Zeit, fo daß ich gar 
nicht mehr wußte, was ich denken follte. 34 erinnere 
mich noch des Wetters an jenem Morgen: е8 war ein 
kalter und Elarer, doch windiger Septembertag. Vor 


682 





Andrei Antonomitfch, der vom Wege aufs Feld getreten 
war, lag die herbe Landſchaft der kahlen Felder, von 
denen das Getreide |фоп längft fortgefchafft war; der 
raufchende Wind jchaufelte noch Мег und da armjelige 
Stiele vergilbter Felöblumen... Wollte er vielleicht 
lich und fein Schickſal mit den |pärlichen, von Wind und 
Froſt ſchon ſiechen und zerzauften Feldblumen vergleichen? 
Das glaube ich nicht. Ja, ich bin ſogar uͤberzeugt, daß 
Lembke die Blumen kaum bemerkt hat, daß er vielmehr 
alles, was er tat, ganz gedankenlos dat. Doch was man 
jedenfalls mit Sicherheit weiß, ИЕ nur, daß jener Polizei: 
offizier des erften Stadtreviers, der ihm mit dem Wagen 
des Polizeimeiftere nachgejchidt ward, den Gouverneur 
unterwegs tatjächlich mit einem Strauß gelber Blümchen 
in der Hand antraf. Diejer Polizeioffizier, — Waſſilij 
Iwanowitſch Flibuftjereff mit Namen, ein Beamter mit 
Begeifterung für feinen Beruf — mar auch erft feit kurzer 
Zeit in unjerer Stadt, doch hatte er ich nichtsdeftomeniger 
durch feinen unmäßigen Dienfteifer und jeinen engeboren 
unnüchternen Zuftand fchon allgemein befannt gemacht. 
Kaum hatte er den Gouverneur erblidt, als er fofort aus 
dem Wagen jprang, um, ohne Хи: auf das Blumen: 
bufett, jofort zu melden: 

„Exzellenz, in der Stadt ift Aufruhr.” 

„Ве?“ fragte Andrei Antonowitſch, mit firenygem 
Geſicht fich ummendend, doch ohne jede Erftaunen, ganz 
wie er gewöhnlich in feinem Kabinett zu fragen pflegte. 

„Priftaff des erften Reviers, Flibuftjeroff, Erzellenz. 
In der Stadt Ш Aufruhr!“ 

„Flibuſtier?“ wiederholte Andrei Antonowitſch nach: 
denklich. 


44* 683 


„Зи Befehl, Erzellenz. Die Spigulinfchen find auf: 
ſtaͤndiſch.“ 

„Die Spigulinſchen! ...“ 

Irgendetwas ſchien ihm beim Namen Spigulin ein— 
zufallen. Er zuckte ſogar zuſammen und legte den Zeige— 
finger an die Stirn: „Die Spigulinſchen!“ Schweigend 
und immer noch nachdenklich ging er, ohne ſich zu beeilen, 
zum Wagen zuruͤck, ſetzte ſich und befahl, nach der Stadt zu 
fahren. Flibuſtjeroff fuhr im Wagen des Polizeimeiſters 
hinter ihm her. 

Ich glaube, Lembke wird unterwegs unklar an ſehr 
verſchiedene Sachen gedacht haben: doch es iſt kaum 
anzunehmen, daß er, als er in die Stadt einfuhr, irgend 
eine beſtimmte Abſicht gehabt, noch ſich eine Vorſtellung 
von dem gemacht habe, was geſchehen war. Als er aber 
ploͤtzlich auf dem Platz vor dem Gouvernementsgebaͤude 
die feſt und ruhig wartenden, Aufſtaͤndiſchen“, die Reihe der 
Poliziſten und den machtloſen — vielleicht auch abſichtlich 
machtloſen — Polizeimeiſter erblickte, da ſtroͤmte ihm alles 
Blut zum Herzen. Totenbleich ſtieg er aus dem Wagen. 

„Die Muͤtzen ab!“ ſagte er kaum hoͤrbar und atemlos. 
„Auf die Kniee!“ rief er dann ploͤtzlich laut — am uner— 
wartetſten wohl fuͤr ihn ſelbſt. Und vielleicht war es gerade 
dieſe erſchreckende Überrafchung, die alles Weitere von 
jelbft nach fich 309, wie auf den Rutichbergen in der бай: 
nachtswoche ein Schlitten, der ſchon hinabjauft, niht 
mehr mitten auf der Strede ftehenbleiben fann. Andrei 
Antonowitſch hatte fich ftets durch Geiftesgegenwart aus: 
gezeichnet; für folhe Menſchen aber ЦЕ es am gefähr: 
lichften, wenn es einmal gefchieht, daß ihr „Schlitten“ fih 
auf irgendeine Weije logreißt und den Berg hinabjauft. 


684 





Als Lembfe aus dem Wagen ftieg, drehte fich alles vor 
feinen Augen. 

„Flibuſtier!“ rief er noch fchneidender, faft Freifchend 
und ganz finnlos, und feine Stimme brach plößlich ab. 
Er ftand und wußte noch nicht, was er tun würde, doc) 
fühlte er mit jeder Fiber, daß er ſofort irgend etwas tun 
werde. 

„Herrgott!“ hörte man das Volk murmeln. Ein Ar: 
beiter befreuzte fich, drei, vier wollten tatfächlich nieder: 
fnieen, doch da ſchoben fich die anderen als ganze Schar 
um einige Schritte vor, und plößlich fingen fie alle auf 
einmal zu fprechen an: „Erzellenz... ©eneral.. 
tiefen jie durcheinander, „wir haben ung verdingt zu vier: 
ид... der Direltor... kannſt du nicht ein Wort ein: 
legen..." uſw., шо. Man fonnte nichts verftehen. 

Der arme Andrei Antonomitich von Lembke ftand wie 
betäubt da, begriff nichts und hielt immer noch die Bluͤm— 
chen in der Hand. Den „Aufruhr“ glaubte er jeßt ebenjo 
deutlich vor Augen zu |еБеп, wie Stepan Trophimomitjch 
ſchon den Bauernichlitten ſah, der ihn nach Sibirien 
bringen follte. Und zu alledem ат für ihn jetzt noch, 
daß er zmwifchen der Menge der „Aufftändigen”, ме ihn 
alle mit Glotzaugen anftarıten, plößlich Piotr Stepano: 
witſch nur fo hin und herſpringen und die Leute „auf: 
wiegeln” jah, diefen unfeligen Pjotr Stepanomitich, den 
Lembfe jeit dem vergangenen Tage nicht einmal auf eine 
Minute vergeſſen konnte, den er ftändig vor Augen hatte, 
diefen von ihm fo gehaften Piotr Stepanowitſch. 

„Ruten! fchrie von Lembke plößlid noch über: 
rajchender. 

Totenftille trat ет. 


Das mar der Anfang — wenigitens joweit mir alles 
Nähere befannt geworden ИЕ und ſoweit ich jelbjt manches 
mir zu erklären vermag. Doch die weiteren Begeben: 
heiten jind |фоп viel weniger verbürgt, und auch ich ост: 
mag mir manches nicht recht zu deuten. Übrigens gibt es 
noch einige Zatjachen. 

Doc vor allen Dingen famen die Ruten gar zu fchnell: 
пе waren augenjcheinlich vom ahnungsvollen Polizei: 
meifter jchon während der Wartezeit vorbereitet worden. 
Dann aber wurden nur zmei, höchiteng drei, doch beftimmt 
nicht mehr, mit Ruten beftraft. Rein erfunden ift ee, daß 
alle oder die Hälfte der Arbeiter durchgeprügelt worden 
jeien. Nicht wahr ИЕ gleichfalls, daß man eine anftändige 
vorübergehende Dame ergriffen und gleichfalls durch: 
geprügelt habe, wie jpäter eine Petereburger Zeitung 
zu berichten wußte. Viel wurde ferner von einer Amdotja 
Petromna Tarapygina gejprochen, einer alten Frau aus 
dem Armenhauje, von der es hieß, fie habe, als fie auf 
dem Heimmege von einem Beſuch in der Stadt auf dem 
Platz ме Menjchenmenge erblidte, ИФ in verftändlicher | 
Neugier vorgedrängt, und als Пе jah, mas da geſchah, 
„Solch eine Schmach!“ ausgerufen und dazu ausgefpieen. 
Und dafür, fo hieß es, hatte man fie jofort gleichfalls 
„beſchlagnahmt“. Diejer Fall wurde nicht nur in den 
Zeitungen erwähnt, fondern man begann im Eifer ſogar 
Ichon für fie zu fjammeln. Auch ich Бабе zmanzig Kopefen 
geftiftet. Doch nun hat es fich herausgeftellt, daß es eine 
ſolche Tarapygina hier Überhaupt nicht gibt! Ich habe 
mich noch perjönlicy im Armenhaufe am Kirchhof паб ihr 
erfundigt: dort hat man von einer Tarapygina nie auch 
nur etwas aehört, ja, man war fogar richtig beleidigt, als 


686 





ich zur Aufklärung der Sache das erwähnte Gerücht mit: 
teilte. Wenn ich nun diefes leere Gerede Мег überhaupt 
wiebergebe, jo tue ich es nur deshalb, weil mit Stepan 
Trophimowitſch beinahe dasfelbe geſchah (5. Б. falig jene 
Gefchichte nicht frei erfunden geweſen wäre). Bielleicht 
aber ИЕ diefe ganze Belchichte von der Tarapygina nur 
durch Stepan Trophimowitſch entitanden, oder genauer 
ausgedrüdt, durch einen Heinen Vorfall, den er herauf: 
bejchwor. Es Ш mir auch heute noch nicht Нат, wie es 
geſchah, daß Stepan Trophimowitſch mir plößlich аб: 
handen Гат, faum daß wir auf dem Plaß vor dem Gou— 
vernementsgebäude anlangten. Mir ahnte fogleich nichts 
Gutes und ich wollte ihn auf einem anderen Wege, nicht 
über den Plaß, hinführen, doch aus Neugier blieb id) einen 
Augenblid ftehen, um mich bei einem Belannten zu er: 
fundigen, mas hier vorging, — und da war Ötepan 
Trophimowitſch plößlich verfhmwunden. Mein Inftinkt 
fagte mir fofort, daß er beftimmt an der gefährlichiten 
Stelle am eheiten zu finden fein werde, denn аи8 einem 
ungewiſſen Grunde fühlte ich, daß auch bei ihm „der 
Schlitten” fich losgerifjen hatte und nun den Rutjchberg 
binabflog. Und richtig ser war fchon mitten in der Menge. 
Sch weiß noch, ich erfaßte fchnell feine Hand, doch er {аб 
mich (ВИ und ftolz, mit unermeßlicher Überlegenheit an. 

„Cher,“ ſagte er mit einer Stimme, in der etwas wie 
eine gejprungene Saite Hang, „wenn man fchon öffentlich 
Мег auf dem Plaß fo zeremonielos verfährt, mas foll man 
dann noch von dDiejem erwarten... wenn er jelbftändig 
handeln dürfte?” 

Und er wies zitternd vor Unwillen, mit dem heißen 
Verlangen, jemanden herauszufordern, auf den zwei 


687 


Schritt vor uns ftehenden und uns anftarrenden Fli— 
buftjeroff. 

„Dieſem?“ rief Flibuftjeroff fofort zornbebend und 
es wurde ihm offenbar dunfel vor den Augen. „Was für 
einen ‚diefen‘? Wen тей du damit hier? wer bift du 
überhaupt? "fchrie er uns an, mit geballter Fauft auf 
uns zutretend. „Wer bift du?" brüllte er wild, bis zur 
Tollheit erregt vor Dienfteifer und Dünfel (dabei kannte 
er Stepan Trophimomitich von Anſehen fehr gut). 

Noch einen Augenblid und der raſende Flibuftjeroff 
hätte ihn |Ффоп am Kragen gepadt; doch zum Glüd 
wandte auf dag Gebrüll Ми von Lembke den Kopf und 
jah verwundert doch aufmerkſam auf Stepan Trophimo— 
witjch: е8 war, als ob er nachdachte — plößlich aber winfte 
er ungeduldig mit der Hand ab und Flibuftjeroff ftand 
fofort катит. ch 309 meinen Freund fchnell aus der 
Menge. Vielleicht hatte auch er |фоп genug davon. 

„Sehen wir nach Haufe, ſofort“, fagte ich in fehr be— 
ftimmtem Zone. „Wenn man Sie jeht nicht gefchlagen 
hat, jo verdanken Sie das nur Herrn von Lembke.“ 

„Sehen Sie, mein Freund. Es war unrecht von mir, 
Sie mit hineinzuziehen. Sie haben noch eine Zufunft 
und eine Karriere vor fich, 14 aber — mon heure а 
sonne.“ 

Und er betrat feften Schrittes die Злерре des Gouverne— 
mentsgebäudes. Der Portier kannte mich: ich fagte ihm, 
daß ши beide zu УшЦа Micheilomna wollten. Man 
führte ung in den Empfangsjalon, wir feßten ung und 
warteten. Sch Гоппе meinen Freund nicht verlaffen, zu 
iprechen aber, oder ihn zu bereden, hielt ich jeßt für über: 
flüflig. Er ſah aus, wie ein Menſch, der ſich tem Tode 


688 





fürs Vaterland geweiht hat. Wir ſetzten uns nicht neben: 
einander, fondern er nahm in der einen Ede Platz und 
ich in der gegenüberliegenden, die näher zur Eingangstür 
lag. Sein Bli war nachdenklich gefenft, die Hände ftüßte 
er leicht auf den Silberfnopf feines Stodes und den breit: 
främpigen Hut hielt er müde in der linfen Hand, So 
ſaßen wir an die zehn Minuten, 


II 

Plörlich trat von Lembke, in Begleitung des Polizei: 
meifters, mit fchnellen Schritten ing Zimmer. Er blidte 
uns nur zerftreut an und wollte rechts in fein Arbeits: 
zimmer gehen, doch ſchon ftand Stepan Trophimomitich 
vor ihm und verlegte ihm den Weg. Die hohe Geftalt, 
ja, die ganze fo anders als die anderen wirkende Erfchei: 
nung Stepan Trophimowitſchs machte augenfcheinlich 
Eindrud auf von Lembke: er blieb ftehen. ^ 

„Ber ift das?" murmelte er verwundert. Doch wandte 
er den Kopf nicht zum Polizeimeifter, fondern {аб dabei 
ftarr Stepan Zrophimomitich an. 

„Kollegienafjeffor Stepan Trophimowitſch Wercho— 
wenski, Erzellenz”, antwortete Stepan Trophimowitſch 
mit einer würdevoll gemefjenen Neigung des Kopfes. 

Seine Erzellenz fuhr fort, ihn anzufehen, doch übrigens 
mit einem ziemlich ftumpfen Blid. | 

„Sie wuͤnſchen?“ fragte er mit dem befannten Lafo: 
nismus der höheren Vorgeſetzten, launifch, ungeduldig 
fein Ohr zu Stepan Trophimowitſch wendend, den er 
wohl für einen gewöhnlichen Bittfteller nahm. 

„Ein Beamter hat heute im Namen Eurer Erzellenz 
eine Hausfuchung bei mir vorgenommen: ich ти...” 


689 


„Der Name, der Name?” fragte von Lembke unge: 
duldig, als ob ihm ploͤtzlich etwas einfiel. 

Stepan Trophimowitſch nannte zum zmeitenmal und 
noch würdevoller feinen Namen. 

„A—a—ah! Das Ш... das ift dieſes Freidenferneft... 
Mein Herr, Sie haben Sich in einer folchen Weife... Sie 
find Profeſſor? Profeſſor?“ 

„sch hatte früher einmal Ме Ehre, der Jugend einige 
Kollegs zu lefen, ап der ... chen Univerlität.” 

„Der Зи— депо?" von Зет Ее fchraf fichtlich zufammen, 
wenn er auch — darauf koͤnnte ich wetten — faum be: 
griff, worum es fich Мег handelte, noch mit wem er 
eigentlich ſprach. 

„Das, mein Herr, das lafje ich nicht zu!" rief er plößlich 
furchtbar erregt und aufgebracht. „Sch dulde Feine 
Jugend! Das find alles die Proflamationen. Das Ш 
ein Angriff auf die Gejfellfchaft, mein Herr! Ein Angriff 
zur See! Iſt Seeräuberei! Flibuftjeriemus! — Was 
wuͤnſchen Sie?“ 

„sm übrigen kat mich noch Ihre Frau Gemahlin ge: ' 
beten, morgen auf dem бей vorzulefen. Sch habe nicht 
die Abficht, Мег um etwas zu bitten. Sch bin gefommen, 
um mein Recht zu verlangen..." 

„Auf dem Feft? Das бей wird nicht ftattfinden! Ich 
unterfage euer Felt! Kollegs? — rief Lembke 
wie toll. 

„Ich wuͤrde Sie ſehr bitten, ein wenig hoͤflicher mit 
mir zu ſprechen, Exzellenz, und mich nicht anzuſchreien 
wie einen Schuljungen.“ 

„Sie... vielleicht begreifen Sie, mit mem Sie 
fprechen и fragte plößlih von Lembke erroͤtend. 


690 





„Vollkommen, Exzellenz.“ 

„Sch beſchuͤtze mit meiner Perſon die Geſellſchaft, 
Sie aber wollen fie zerftören!... Sie... Übrigens, 
ich erinnere mich jeßt..., waren Ste nicht Hauslehrer 
bei der Generalin Stamrogina ?" 

„За, ich тат... Hauslehrer bei der Generalin Staw— 
rogina.“ 

„Und im Laufe von zwanzig Jahren ſind Sie das 
Treibbeet alles deſſen geweſen, was jetzt ausgebrochen 
Ш... alle Fruͤchte . . Sch glaube, ich habe Sie ſoeben 
auf dem Platz gejehen. Hüten Sie fich, mein Herr, hüten 
Sie fih! Ihre Gedankenrichtung ИЕ befannt! Фаеп 
Sie überzeugt, daß ich das nicht aus dem Auge lafje! Sch 
fann Ihre Kollegs nicht geftatten, mein Herr, ich fann 
nicht! Mit folchen Bitten wenden Sie 14 nicht an mich.” 

Und von Lembke wollte wieder in fein Arbeitszimmer 
treten. 

„sch wieberhnle, daß Sie 14 täufchen, Erzellenz: es ift 
Ihre Frau Gemahlin, die mich gebeten hat — nicht ein 
Kolleg zu lefen, jondern morgen auf dem Felt etwas Lite: 
rarijches vorzutragen. Doc jeßt werde ich mich felbft 
davon zurüdziehen. Meine untertänigfte Bitte ift nur, 
mir, falls möglich, zu erklären: warum man heute bei mir 
eine Hausfuhung vorgenommen hat? Man hat mir 
einige Bücher und Papiere genommen, mir teure Privat: 
briefe, und auf einer Schieblarre durch die Stadt..." 

„Ber hat das getan?” fuhr Lembfe, plößlich ganz zur 
Belinnung fommend, auf und wandte fich haftig zum 
Polizeimeiſter. 

In dieſem Augenblick oͤffnete ſich eine Tuͤr und die 
lange, plumpe Geſtalt Bluͤmers erſchien. „Da! dieſer 


691 


jelbe Beamte war es, Exzellenz“, fagte Stepan Trophi— 
mowitſch fchnell, der den Eintretenden jofort bemerft 
Hatte, 

Blümer trat mit zwar ſchuldbewußtem, doch durchaus 
nicht nachgiebigem Ausdruck näher. 

„Vous пе faites que des be£tises |" warf ihm von Lembfe 
ärgerlich zu, und plößlich verwandelte er fich vollftändig, 
als Fame er erft jeßt völlig zu ſich. 

„DBerzeihen Sie...” fagte er ungewöhnlich verwirrt 
zu Stepan Trophimowitſch und errötete Dabei ftarf, „das 
war alles wahrfcheinlich nur eine Ungemwandtheit, ein 
Mißverſtaͤndnis . . nur ein Mißverſtaͤndnis.“ 

„Exzellenz,“ bemerkte Stepan Trophimowitſch, „in 
meiner Jugend war ich einmal Augenzeuge eines cha— 
rakteriſtiſchen Vorfalls. Im Foyer eines Theaters trat 
irgend jemand auf einen Herrn zu und gab ihm vor dem 
ganzen Publikum eine ſchallende Ohrfeige. Gleich darauf 
bemerkte er, daß der Herr, dem er die Ohrfeige gegeben, 
durchaus nicht derſelbe war, dem er ſie hatte geben wollen, 
ſondern ihm nur aͤhnlich ſah, und geaͤrgert ſagte er — da— 
bei eilig, ganz wie ein Menſch, der keine Zeit zu verlieren 
hat, — genau dieſelben Worte, die Exzellenz ſoeben mir 
zu ſagen beliebten: ‚Verzeihen Sie ... ich habe mich ge: 
ИТ, das war ein Mißverftändnis, nur ein Mißverſtaͤnd— 
nie.“ Und als der Beleidigte darauf immer noch gefränft 
war und feiner Empörung Ausdrud gab, da fagte er 
Ichließlich ärgerlich: ‚Aber ich verfichere Ihnen doch, daß 
das ein Mißverftändnis war, was fchreien Sie hier denn. 
noch‘ №" 

„Das . . „das ift natürlich komiſch . . .“ fagte von Lembke 
und verzog feinen Mund zu einem Я®афет, 


692 





„бег... aber fehen Sie denn nicht, wie ungluͤcklich 
ich felbft bin?“ 

Er ſchrie es beinahe heraus und wollte fchon, glaube ich, 
das Geſicht mit den Händen bebdeden. 

Diefer unerwartete gequälte Ausruf, diefer erfticte 
Schmerz machten einen unerträglichen Eindrud. Es war 
wohl der Augenblick des erften Erwachens, des erften 
Haren Erfennens alles deſſen, was feit dem vergangenen 
Tage gefchehen war — und gleich darauf vollftändige, 
erniedrigende, fich ergebende Verzweiflung; mer weiß, 
vielleicht hätte er fchon im nächften Augenblid laut де: 
Ihluchzt. Stepan Trophimowitſch [аб ihn zuerft er: 
ſchrocken an, dann fenfte er plößlich den Kopf und fagte 
mit einer tief mitfühlenden Stimme: 

„Exrzellenz, beunruhigen Sie fich weiter nicht wegen 
meiner Heinlichen Klage, und befehlen Sie nur, daß man 
mir meine Bücher und Briefe zurüdichidt . . 

Er wurde unterbrochen. Gerade in diefem Augenblid 
kehrte Julija Michatlomna mit der ganzen fie begleitenden 
Schar aus Skworeſchniki zurüd, 


Ш 


Das erfte war, daß fämtliche Snfaffen der drei Equis 
pagen faft alle zugleich in den Salon drängten. Eigentlich 
ging man in Julija Michailownas Gemächer unmittelbar 
vom Veftibül aus nach links; doch diesmal drängten alle 
nach rechts in den großen Empfangsjalon — wohl bloß 
deshalb, weil Stepan Trophimomitich fich in ihm befand. 
Davon und von allem Vorgefallenen wie auch von dem 
„Aufftand” der Spigulinjchen Arbeiter waren fie fchon 
durch Laͤmſchin unterrichtet worden. Diejer war zur 


693 


Strafe für irgendeine neue Unart nicht mitgenommen 
worden — und fo hatte er, der alles fogleich erfahren und 
teilweife felbft mit angefehen, ſchnell in Hämifcher Schaden: 
freude ein altes Kofalenpferd beftiegen und war der heim: 
fehrenden Kavalfade entgegengeritten. 

Julija Michailowna wird, denfe ich mir, denn Doch 
einigermaßen beftürgt gemefen fein, troß ihrer „höheren 
Entichloffenheit”, als fie folche Neuigfeiten vernehmen 
mußte; aber wohl nur auf einen Yugenblid. Die рой: 
tilche Seite der Trage fonnte fie nicht weiter beunruhigen, 
denn Piotr Stepanomwitich hatte ihr jchon viermal gejagt, 
daß man die Spigulinichen Frechlinge einfach alle durch: 
prügeln müffe: Piotr Stepanomitich aber wear {е einiger 
Zeit eine ungeheuere Autorität für fie. „Er wird es mir 
ſchon bezahlen müfjen“, dachte fie bei fich, wobei dag „Er“ 
lich natürlich auf ihren Mann bezog. Sch muß под Ве 
merfen, daß Piotr Stepanomitich gleichfallg an der all: 
gemeinen Ausfahrt nicht teilgenommen hatte und feit 
dem früheften Morgen von niemandem gefehen worden 
war. Ermwähnen muß ich auch noch, daß Warmara 
Petromna, nachdem jie die Gäfte in Skworeſchniki 
empfangen hatte, mit iänen zufammen (in einem Wagen 
mit Julija Michailoivna) in die Stadt zurüdgelehrt 
war, um an der lekten Sitzung des Komitees teil: 
zunehmen. Natürlih mußten die von ат ge: 
brachten Nachrichten, die Stepan Trophimowitſch Ве: 
trafen, fie gleichfalls intereflieren, vielleicht aber regten 
Пе fie jogar auf. 

Die Heimzahlung, die Julija Michailomna fich vorge: 
nommen hatte, ihrem Mann zu teil werden zu lafjen, 
begann fofort, als fie in den Empfangsſalon trat: das 


694 





fühlte Lembke felbft ſchon nach dem erften Blid auf feine 
ſchoͤne Gattin. Mit dem offenften, bezauberndften Lächeln 
ging fie fehnell auf Stepan Trophimowitſch zu, ftredte 
ihm das elegant behandjchuhte Händchen entgegen und 
überjchüttete ihn mit den fchmeichelhafteften Worten — 
ganz als ob an diefem Vormittage all ihr Sinnen und 
Trachten nur darauf gerichtet gewejen wäre, Stepan 
Trophimowitſch ihr Entzüden darüber auszudrüden, 
daß fie ihn endlich bei fich begrüßen durfte. Über die 
Hausſuchung verlor fie fein einziges Wort, nicht eine 


Silbe, als hätte fie uͤberhaupt nichts davon gewußt. Kein 


| 


Wort an ihren Mann, kein ЗИ auf ihn — als wenn er 
gar nicht anwejend gewejen wäre! Dabei jchien ihr das 
noch nicht einmal genug zu fein, fie nahm vielmehr Stepan 
Trophimowitſch einfach für fich in Befchlag und führte ihn 
mit fich in die andere Ede des Salons, was fo viel heißen 
follte wie: daß fie es gar nicht für wert hielt, daß {ет Фе: 
fpräch mit Lembke, in dem er doch offenbar begriffen 
gewejen war, zu Ende geführt wurde. ch glaube, daf 
Julija Michailowna damit troß ihres fo ficheren Auf: 
tretens doch wieder einen Fehler machte. Und hierbei 
half ihr dann noch Karmafinoff (der diesmal auf ihre Бе: 
fondere Bitte an der Fahrt teilgenommen und bei diejer 
Gelegenheit Warwara Petromna gemiljermaßen 504$ 
noch feinen Befuch gemacht hatte, worüber dieje in ihrer 
Heinen Eitelfeit geradezu entzüdt war). Karmaſinoff 
trat als leßter in den Empfangsjalon und rief, faum daß 
er Stepan Trophimomitich erblidte, noch in der Zür 
ftehend, fogleich aufs Lebhaftefte: 

„Bieviel Jahre, wieviel Lenze! Endlich... Excellent 
ami I“ 


695 


Und er trippelte auf Stepan Trophimowitſch zu, ohne 
darauf zu achten, daß er jogar Julija Michailowna unter— 
brach, und hielt ihm feine Wange zum Жив bin. 

„Cher,“ fagte mir Stepan Trophimomitich поф am 
felben Abend, als er über die Erlebniffe diefes Vormittags 
Iprach, „in jenem Augenblid dachte ich: wer И nun von 
uns beiden gemeiner? Er, der mich umarmt, um mic) 
zu erniedrigen, oder ich, der ich ihn {ап feiner Wange 
verachte und doch ЁЩе, obgleich 14 mich einfach ab: 
wenden könnte... DO pfui!“ 

„Nun, erzählen Sie, erzählen Sie doch alles, was Sie 
inzwilchen erlebt haben‘, lifpelte Karmajinoff in feiner 
manierierten Sprechweiſe, — als ob man dag ganze Leben 
von fünfundzwanzig Jahren fo einfach vornehmen und 
erzählen könnte. Uber dieſe törichte Oberflächlichkeit war 
nun einmal „höberer” Zon. 

„Erinnern Sie fich, wir haben ung zuleßt in Moskau 
beim Diner zu Ehren Granowskis gejehen, und ſeitdem 
find vierundzwanzig Jahre vergangen. . ." begann Stepan 
Trophimowitſch ruhig und vernünftig (alfo ſehr wenig 
im „höheren“ Zone). 

„Ce cher homme“, unterbrah ihn SKarmafinoff 
familiär mit feiner freijchenden Stimme und faßte ihn 
mit freundichaftlicher Vertraulichkeit an der Schulter, 
„Aber Julija Michailowna, jo bringen Sie uns doch 
Ichnell zu fich hinüber! Dort wird er ſich dann hinſetzen 
und ung alles erzählen.” 

„Dabei bin ich mit diefem alten, reizbaren Weibe von | 
Mann nie Freund geweſen!“ fuhr am jelben Abend 
Stepan Trophimomitich zitternd vor Wut fort, fich bei 
mir zu beflagen. „Damals waren wir noch Fünglinge 


696 








und ſchon damals begann ich, ihn zu halfen... . ganz wie 
er mich, natürlich... 

Julija Michailownas Salon füllte fich ſchnell. War: 
тата Petromna befand fich in ganz bejonders gejpannter 
Stimmung, wenn fie 14 auch Frampfhaft anftrengte, 
gleichmütig zu erjcheinen. Sch bemerkte ein paarmal 
ihren gehäfligen ЗИ auf Karmafinoff und manchen 
böjen Blid auf Stepan Trophimowitſch — böfe ſchon im 
voraus, Бе aus Eiferfucht, aus Liebe: hätte Stepan 
Trophimowitſch jett in Gegenwart aller fchlecht abge— 
Ichnitten oder hätte er fich von Karmafinoff irgend etwas 
bieten lafjen, — ich glaube, jte wäre aufgeiprungen und 
hätte ihn womöglich gefchlagen. 

Sch vergaß, zu erwähnen, daß auch Liſa anweſend 
war, und noch nie hatte ich fie fröhlicher, forglofer, glüd: 
licher gejehen. Selbftverftäandlih war auch Mamrifij 
Nicolajewitich zugegen. Außerdem bemerkte ich unter 
den jungen Leuten, die Julija Michailownas ftändiges Ge: 
folge waren und von denen Zeremonielofigfeit für Luſtig— 
feit und billiger Zynismus für Intelligenz gehalten wurde, 
zwei oder drei neue Perfönlichkeiten: irgendeinen ange: 
reiften, auffallend ſcharwenzelnden Polen, einen deutſchen 
Doktor — ein ſchon Altlicher Mann, der feinen Augenblid 
Пен fonnte und laut und mit Genuß in jeder Minute 
über jeine eigenen Wiße lachte — und irgendeinen ſehr 
jungen Petersburger Fürften, eine automatische Figur 
mit Diplomatenhaltung und in furchtbar hohem Kragen 
— ein Baft, den Julija Michatlomna augenscheinlich ganz 
bejonders fchäßte und vor deſſen Kritik ihr vielleicht ſogar 
bangte, wenn fie an den Ton in ihrem Salon dachte... . 

„Cher monsieur Karmazinoff,“ begann Stepan 


45 Doſtojewski, Die Dämonen. 35. И. 6927 


Trophimowitſch, der fich malerifch auf einen Diwan feßte 
und plößlich die Worte ganz wie Karmafinoff manieriert 
Папе, „‚cher monsieur Karmazinoff, dag Leben eines 
Menfchen unferer früheren Zeit muß, befonders wenn 
ег gewilje Überzeugungen hat, felbft in einem Zeitraum 
von fünfundzmanzig Jahren eintönig erſcheinen ...“ 

Der Deutiche lachte jchallend, ja geradezu wiehernd 
auf, mwahrfcheinlih in dem Glauben, Stepan Trophi— 
mowitſch Бабе etwas überaus Komifches gejagt. Diefer 
jah ſich mit oftentativer Verwunderung nach ihm um, 
doch auf den Зафег machte er damit gar feinen Eindrud, 
Der junge Fürft ſah ich gleichfalls mitfamt feinem hohen 
Kragen um und ſetzte fogar den Zwider auf, um den 
Deutichen bejjer betrachten zu Fönnen, blidte aber dabei, 
{етет ®elichtsausdrud nach, völlig gleichgültig, ohne 
jede Neugier auf ihn. 

„... eintönig erſcheinen“, wiederholte Stepan Trophi⸗ 
mowitſch abfichtlih. „So ЦЕ es auch mit meinem Leben 
in diefem ganzen Vierteljahrhundert, et comme on trouve 
partout plus de moines que de raison, — und da ich dem 
volllommen zuftimme, fo fcheint es, daß ich in diefen 
fünfundzmwanzig Sahren ...“ 

„C’est charmant, les moines“, flüfterte Julija Michai: 
lowna der neben ihr fißenden Warwara Petromna zu. 

Warwara Petrowna antwortete ihr darauf mit einem 
ſtolzen Blick. 

Karmaſinoff aber ertrug den Erfolg der franzoͤſiſchen 
Phraſe nicht und fiel mit ſeiner kreiſchenden Stimme 
Stepan Trophimowitſch ſchnell ins Wort: 

„Was mich betrifft, fo bin ich in der Beziehung voll: 
fommen beruhigt und fiße jeßt ſchon das fiebente Jahr in 


698 





Karlsruhe. За, als im vorigen Sahr der Stadtrat dort: 
jelbft bejchloß, ein neues Waflerleitungsrohr zu legen, 
da fühlte ich in meinem Herzen, daß diefe Karlsruher 
Mafjerleitungsfrage mir teurer und lieber war, ale Ме 
gejamten Fragen meines lieben Baterlandes... me: 
nigftens für die Zeit der fogenannten ruſſiſchen Reformen‘. 

„Sehe mich gezwungen, zu gefteben, daß ich Ihnen 
das nachfühlen kann, wenn auch gegen mein Herz", ſagte 
Stepan Trophimowitſch halb aufjeufzend und {епНе viel- 
jagend den Kopf. 

Zulja Michailomna triumpbhierte: das Gefpräch wurde 
ſowohl tief wie tendenzioͤs. 

„Eine Röhre für den... Schmuß?” erfundigte fich laut 
der Doftor. 

„Ein Abzugsrohr, Doktor, ein Abzugsrohr, und ich habe 
damals felbjt mitgeholfen, das Projekt auszuarbeiten”. 

Der Doktor lachte wieder fchallend auf. Nun begannen. 
auch die anderen zu lachen, doch achten fie jeßt {фоп dem 
Deutichen offen ins Geficht, was diefer aber gar nicht 
gewahrte — im Gegenteil, er jchien ſogar ſehr vergnügt 
darüber zu fein, daß endlich alle mitlachten. 

„Srlauben Sie, Ihnen einmal nicht beizuftimmen, 
Karmafinoff”, beeilte fih Julija Michailowna zu be: 
merfen. „Sch habe jonft nichts gegen Karlsruhe, aber ©ie 
lieben zu mpftifizieren, und diesmal glauben wir Ihnen 
nicht. Welcher ruſſiſche Schriftfteller hat jo viele zeit: 
genoͤſſiſche und echt ruffiihe Typen geichaffen, ift fo 
vielen zeitgenöfliichen und echt rufjischen Tragen auf den 
Grund gegangen und hat fo richtig jene Hauptmomente 
unferer Zeit erfannt, die den Typ des heute wirkenden 
Menſchen beftimmen, wie gerade Sie, Sie allein von 


45* | 699 


allen? Und nun, bitte, verfuchen Sie ung noch Shre 
Sleichgültigkeit gegen das Vaterland und Ihr uns 
geheueres Intereſſe für die Karlsruher Leitungsrohr: 
angelegenbeit glauben zu machen! Haha!" 

„sch Бабе allerdings”, begann Karmafinoff geziert, 
„im Typ Pogoſheff alle Fehler der Slawophilen gezeigt 
und im Typ Nifodimoff alle Fehler der Weftler. . 

„Als ob er damit wirklich ſchon alle gezeigt hätte 
flüfterte Laͤmſchin ganz leije feinem Nachbar zu. 

„. + » aber das tue ich nur jo nebenbei, nur um die uͤber— 
flüffige Zeit irgendwie totzufchlagen und... um alle 
dieje aufdringlichen Anforderungen und Erwartungen 
meiner Landesgenoſſen zu befriedigen. 

„68 wird Ihnen wohl ſchon befannt fein, Stepan 
Trophimowitſch,“ fuhr Julija Michailomna ganz Бе: 
zaubert fort, „daß wir morgen das Vergnügen haben 
‚werden, etwas Wundervolles zu hören... eine von den 
leßten und jchönften Inſpirationen Semjon Jegoro— 
witichg — fein ‚Merci‘. Er fündet in dieſer Arbeit an, daß 
er fünftig nichts mehr jchreiben werde, unter feiner Be: 
dingung, für feinen Preis, felbft dann nicht, wenn ein 
Engel vom Himmel те und ihn bäte, den unmider: 
ruflihen Entichluß aufzugeben. Mit einem Wort, er 
legt jeßt die Feder für immer aus der Hand. Und dieſes 
graziöfe ‚Merci‘ ıft an das Publikum gerichtet, Ш fein 
Dank für die unermüdliche Begeifterung, mit der e3 fo 
viele Jahre lang feine treue Arbeit für den ruſſiſchen 
Gedanken begleitet hat.” 

Julija Michatlormna war auf der Höhe der Seligfeit. 

„за, ich verabjchiede mich, ich fage mein ‚Merci‘ und 
teile dann weg, und dort... in Karlsruhe... werde ich 


№ 
+ 


700 





meine Augen fchließen”, bemerkte Karmafinoff, den das 
Mitleid mit fich felbft mehr und mehr ergriff. 

Wie jo viele unjerer großen Schriftfteller (und wir 

haben ungeheuer viel große Schriftiteller) konnte er Lob— 
jprüche nicht gleichmütig Hinnehmen, fondern wurde uns 
geachtet feines ganzen Scharflinnes fofort ſchwach und 
weich. Aber ich denke, das Ш am Ende verzeihlich. 
Erzählt man doch, daß einer von unjeren Shafejpeares 
in einem Privatgeipräch ganz offen gefagt habe: „Sa, 
wir großen Männer, wir” ufw., und zwar ohne daß 
es ihm jelbft aufgefallen wäre. 
„a, dort in Karlsruhe fchließe ich dann für immer 
meine Augen. Uns großen Männern bleibt ja nichts 
anderes übrig, als, nachdem wir unfer Werf getan, fchnell 
die Augen zu jchließen, ohne noch lange auf Dank zu 
warten. Фо werde auch ich es denn machen.” 

„Geben Sie mir Ihre Adrefje, damit ich nach Karle- 
тибе zu Ihrem Grabe pilgern kann!“ rief der Deutfche 
und lachte jelbft maßlos laut darüber. 

„Seht kann man Зою auch mit der Eifenbahn ver: 
ſenden“, fagte plößlich einer der unbedeutenderen jungen 
Herren. 

Lämfchin quiefte nur jo vor Vergnuͤgen. Julija 
Michailowna zog, peinlich berüßrt, die Brauen zufammen. 
Sn diefem Augenblid trat Nicolai Stamwrogin ein. 

„Und mir hat man gejagt, Sie wären aufs Polizei: 
bureau gebracht worden?” fagte er, jich gleich an Stepan 
Trophimowitſch wendend. 

„Nein, es war im ganzen nur ein... bureaufra= 
НГ ег Zwifchenfall”, antwortete Stepan Trophimowitſch 
lächelnd. 


701 


„sch kann aber verfichern, daß dieſes Mifverftändnis 
auf meine Veranlafjung hin wieder gutgemacht werden 
wird,” griff Julia Michailowna in das Gejpräd ein. 
„sch Фет, daß Sie diefe Unannehmlichkeit, ме mir 
jeßt noch unerflärlich Ш, nicht weiter beachten und uns 
troßdem das Vergnügen bereiten werden, auf der litera= 
riſchen Matinee etwas vorzutragen ?" 

„sch weiß nicht... jeßt... eigentlich...” 

„Slauben Sie mir, Warwara Petromna, ich bin fo 
unglüdlich . . und denfen Sie nur, gerade jeßt, mo ich 
mich am meiften darauf freute, einen der bemerkens— 
werteften und unabhängigften ruſſiſchen ФеШег endlich 
perjönlich fennen zu lernen, äußert Stepan Trophimo— 
witjch plößlich die Abjicht, fich von ung zurüdzuziehen.” 

„Das Зов ЦЕ ja jo laut, daß ich es wohl nicht hören 
ſoll,“ bemerkte Stepan Zrophimomitich, jedes Wort 
prägend, „aber ich glaube nun einmal nicht, daß meine 
unmichtige Perſon für das Feft [о unbedingt vonnöten 
те. Übrigens, ich..." 

„Uber Sie verwöhnen ihn mir ja viel zu ſehr!“ rief 
plößlih Piotr Stepanomitich, fchnell ins Zimmer 
ſchwirrend, dazwischen. „Kaum babe ich ihn in die Hand 
genommen, da, eines Morgens Hausſuchung, Xrreft, die 
Polizei padt ihn am Kragen, und nun verhäticheln ihn 
die Damen im Salon unſeres Stadtgewaltigen! Na, in 
ihm muß ja jeßt jeder Knochen vor Entzüden einfach 
fingen. Hat fich 1014 ein Benefiz wohl nicht mal träumen 
laflen, — fein Wunder, wenn er da anfängt, die Öozia- 
liften anzuſchwaͤrzen.“ 

„Das kann nicht fein, Piotr Stepanomitich, der Sozia⸗ 
lismus ЦЕ ein zu großer Gedanke, als daß Stepan Trophi⸗ 


702 





mowitſch das nicht auch einfähe”, verteidigte Julija 
Michailowna den lefteren energilch. 

„Der Gedanke Ш zwar groß, doch feine Verfünder 
find das nicht immer, mais brisons la, mon cher”, fagte 
Stepan Trophimowitich, fich mit weltmännifcher Sicher: 
heit vom Plaß erhebend, zu feinem Sohn. 

Da geichah plößlich etwas völlig Unermwartetes. 

Auch Herr von Lembke war den anderen gefolgt und 
befand fich gleichfalls jchon jeit einiger Zeit im Salon 
feiner Frau, doch jonderbarerweife tat man allgemein, 
als bemerfe man ihn nicht, obgleich gewiß alle gejehen 
hatten, wie er eingetreten war. Aber ЗшЦа Michai: 
lowna fuhr nun einmal eigenfinnig fort, ihrem Vorſatz 
getreu, ihn zu ignorieren. Er war nicht weit von der Tür 
ftehen geblieben und hatte bisher finfter, mit ftrengem 
Gelicht, dem Geſpraͤch zugehört. Als jetzt ме Bemerfun: 
gen über die Vorfälle des Morgens fielen, wurde er 
unruhig, {аб plößlich ftarr den jungen Fürften an, defjen 
fteifer Kragen wohl feinen Verdacht erregte. Da jchlug 
die Stimme des hereinjchwirrenden Pjotr Stepanomitjch 
an {ет Ohr: er zudte heftig zufammen, — und faum 
hatte Stepan Trophimowitſch feine Sentenz über die 
Sozialiſten ausgeiprochen, als von Lembke |фоп ſchnur— 
ftrads auf ihn zutrat, ohne e8 zu beachten, daß er dabei 
Laͤmſchin, der im Wege ftand, zur Seite ftieß. Laͤmſchin 
ſprang natürlich fofort mit gemachtem und übertriebenen 
Erſtaunen zur Seite, меб fich mit verwundertem Geficht 
den Arm und tat, als habe von Яет Ме ihn wirklich 
furchtbar verleßt. 

„Genug! rief diejer, indem er energijch die Hand des 
erjchrodenen Stepan Trophimowitſch ergriff und fie mit 


703 


aller Kraft in der feinigen drüdte. „Genug, über die 
Flibuſtiers ift das Urteil fchon gefällt. Kein Wort weiter. 
Ich habe ſchon Vorkehrungen getroffen... .” 

Er jprach es laut und jchloß mit fcharfer Betonung. 
Der Eindrud, den feine Worte machten, war ein Außerft 
unangenehmer. Alle fühlten etwas Unbheilvolles in der 
Зин. Ich fah, wie Зища Michailowna erbleichte. Der 
Eindrud wurde durch einen dummen Zufall abgefchloffen. 
Nachdem Зет Ме das von den Vorkehrungen gejagt 
hatte, wandte er fich ſchroff um und fchritt Schnell zur Tür, 
doch furz bevor er fie erreichte, ftolperte er über einen der 
Teppiche, Happte mit dem Oberförper nach vorn und 
wäre beinahe gefallen. Einen Yugenblid ftand er ftumm 
da, blidte auf die Stelle, we er geftolpert war, fagte 
laut: „Das Ш umzuſtellen“, und verließ das Zimmer. 
Julija Michailowna erhob fich fofort und ging ihm eilig 
nach. Kaum hatte fie das Zimmer verlaffen, da [ртаф 
und tufchelte fchon alles durcheinander, jo daß es ſchwer 
war, aus dem Gewirr Hug zu werden. Die einen ſagten, 
er fei „nervoͤs“ und „überarbeitet”; andere wollten 
gehört haben, daß er gewiſſen Unfällen ausgefeßt ſei; die 
dritten tippten heimlich mit dem Finger an die Stirn, 
und in einer Ede, im Kreiſe der Jugend, hielt Laͤmſchin 
jogar zwei Finger wie Hörnchen an die Stirn. За, man 
machte Andeutungen, типе von Familienfjenen 
— doch Sprach man davon felbftverftändlich nicht laut, 
fondern nur flüfternd. Jedenfalls dachte niemand 
daran, jebt fortzugehen; und vorläufig wartete man. 
Sch weiß nicht, was ЗиЦа Michailowna inzwifchen hatte 
ausrichten können, doch fchon nach einigen fünf Minuten 
fam fie zurüd, und man шее ihr nur an, daß fie fich 


704 





fehr zufammennahm, um ruhig zu erjcheinen. Sie ant: 
wortete ausweichend, fagte, Andrei Antonowitſch fei ein 
wenig erregt, aber das habe nichts auf fich, das wieder: 
hole fich bei ihm ſchon von Kindheit an, fie ме das alles 
„ganz genau‘, und jelbitredend werde das Felt morgen 
ihn wieder erheitern. Darauf richtete fie noch ein paar 
ſchmeichelhafte Worte an Stepan Trophimowitich, jedoch 
nur um der gefellichaftlichen Form willen, und dann 
forderte fie mit erhobener Stimme die Mitglieder des 
Komitees auf, jeßt jofort mit der Sitzung zu beginnen. 
Nun erft begannen die anderen aufzubrechen, doch die 
beflagenswerten Vorfälle diejes verhängnisvollen Tages 
waren noch nicht zu Ende... 

Schon in dem Augenblid, als Nicolai Stawrogin ein: 
trat, hatte ich bemerkt, daß Liſa ihn fchnell und forſchend 
anfah und dann lange den Blick nicht von ihm abwanödte, 
[о lange nicht, doß es bereits auffiel. Sch ſah, wie Mawrikij 
Nicolajewitich, der hinter ihrem Stuhle ftand, fich nieder: 
beugte, wie um ihr etwas zu jagen, doch plößlich feine 
Abſicht wieder aufgab und fich fchnell aufrichtete, worauf 
er mit jchuldbewußten ЗИ die Anweſenden überflog. 
Auch Nicolai Stawrogin erregte einige Neugier: fein 
Geſicht war bleicher als jonft und fein Blid ungewöhnlich 
zerftreut. Nachdem er beim Eintreten feine Frage an 
Stepan Trophimowitſch gerichtet hatte, vergaß er ihn 
gleich wieder — ja, ich glaube, vergaß jogar, zur Haus: 
frau zu treten. Lila jah er fein einziges Mal ап, doch 
nicht etwa, weil er es nicht wollte, fondern weil er, wie 
ich mit Sicherheit behaupten kann, auch fie nicht bemerfte. 
Und nun, in der Stille, die Julija Michailownas Auf: 
forderung an die Mitglieder des Komitees folgte, 


705 


hörten wir ploͤtzlich Liſas klare und abfichtlich laute 
Stimme: 

„Nicolai Wſzewolodowitſch, mir ſchreibt irgendein 
Hauptmann, der ſich fuͤr Ihren Verwandten ausgibt, fuͤr 
den Bruder Ihrer Frau, ein Hauptmann namens Lebaͤd⸗ 
lin, fortwaͤhrend unanſtaͤndige Briefe, in denen er ſich 
uͤber Sie beklagt und ſich bereit erklaͤrt, Geheimniſſe, die 
Sie betreffen, mir mitzuteilen. Wenn Sie tatſaͤchlich ſein 
Verwandter ſind, ſo verbieten Sie ihm doch derlei Be— | 
leidigungen und befreien Sie mich von dieſen Beläfti- 
gungen.“ | 

Eine ungeheuere Herausforderung lag in dieſen 
Morten, und das begriffen alle. Die Bejchuldigung lag 
auf der Hand, wenn Пе auch für fie felbft vielleicht ganz | 
überrafchend fam. Es war, wie wenn ein Menjch die 
Augen jchließt, ме Zähne zufammenbeißt und fich vom 
Dach hinabftürzt. 

Doch die Antwort Nicolai Stawrogins war поф 
fonderbarer. Vor allem war |фоп das jeltfam, daß er 
durchaus nicht erftaunt oder erfchroden zu fein jchien und 
Liſa bis zum Schluß mit der ruhigften Aufmerkſamkeit 
anhörte. Weder Vermirrung noch Zorn drüdte ſich auf 
feinem Geficht aus. Und einfach, feft, jogar mit voller 
Bereitwilligfeit, antwortete er auf die verhängnisvolle 
Frage: | 

„sa, ich habe das Unglüd, mit diefem Menfchen ver: 
mwandt zu fein. Sch bin der Mann feiner Schweſter, 
der geborenen Lebädfina, jeßt [фот feit faſt fün! Jahren. | 
Seien Sie verlichert, daß ich ihm Ihre Forderungen in 
fürzefter Zeit ausrichten werde, und ich verbürge mid) 
dafür, daß er Sie hinfort nicht mehr beläftigen wird.” 


706 








Nie werde ich das Entjeßen vergeflen, das fich in 
Warwara Petromnas Geficht ausdrüdte. Wie von Sinnen 
erhob fie fich von ihrem Stuhl und ftredte langjam wie 
zur Abwehr die rechte Hand vor fich aus. Nicolai Wſzewo— 
lodowitſch ſah jie an, ſah Liſa an, die Zufchauer, und 
plößlich lächelte er mit grenzenlofem Hochmut; und 
wortlos, ohne fich zu beeilen, verließ er den Salon. Alle 
jahen, wie Lifa vom Diwan aufiprang, faum daß Stawro— 
gin fich zur Tür wandte, und bereits eine Bewegung 
machte, um ihm nachzueilen, doch ſchon im nächften Augen: 
biid Fam fie zur Befinnung und lief nicht, jondern ging 
ftill und leife, gleichfalls ohne ein Wort zu jagen und ohne 
jemanden anzujehen, hinaus, natürlich in Begleitung 
Mawrikij Nikolajewitſchs, der fofort an ihrer Seite war... 

Don der Aufregung und dem Gerede an diefem Abend 
in der Stadt ſchweige ich Tieber. Warwara Petromna 
hatte fich in ihrem Stadthaufe eingefhloffen, und Nicolai 
Mizewolodomitich war, wie man zu berichten wußte, 
ohne die Mutter gejehen zu haben, nach Skworeſchniki 
gefahren. Stepan Trophimowitſch bat mich am Abend, 
zu „cette chöre amie‘ zu gehen und anzufragen, ob er 
nicht zu ihr fommen dürfe. Ich wurde aber nicht empfan— 
gen. Er war maflos erfchüttert und meinte fogar. 
„Solch eine Ehe! Solch eine Ehe! Solch ein Schreden 
in der Familie !’ wiederholte er einmal über das andere, 
Aber zwilchendurd gedachte er Doch auch Karmaſinoffs 
und fchimpfte furchtbar über ihn. Зи dem Vortrag, den 
er auf der literarischen Matinee am nächften Tage halten 
wollte, bereitete er fich eifrig vor, und — о fünftlerifche 
Natur! — tat es vor dem Spiegel. Und er fuchte alle 
geiftreichen Bemerkungen und alle Bonmots zujammen, 


707 


die er je im Leben gemacht und die er in einem bejonderen 
Heftchen notiert hatte, um jie nun in feinen Vortrag 
über die Sirtinifche Madonna hineinzuflechten. „Mein 
Freund, ich tue das ja nur für Die große Idee,“ jagte er 
zu mir, offenbar um ſich zu rechtfertigen. „Cher ami, ich 
habe mich nad) fünfundzwanzigjährigem Stillſitzen 
plößlich von meinem Plage gerijjen und bin losgefahren, 
wohin — das weiß ich nicht, aber ich bin losgefahren.. . ." 








708 


Sechzehntes Kapitel 
Die Matince 
I 


$ Зей fand ftatt, ungeachtet der bedenflichen Er: 
eigniffe des vorhergegangenen „Spigulinfchen” 
Tages. За, ich glaube, felbft wenn Lembke in der da= 
zwijchenliegenden Nacht gejtorben wäre, hätte das бей 
an diefem Vormittage doch jeinen Anfang genommen — 
eine jo große und bejondere Bedeutung legte ihm Julija 
Michailorwna bei. Zum Unglüd blieb fie bis zum leften 
Augenblid in ihrer Verblendung und begriff die Stim: 
mung der Geſellſchaft überhaupt nicht. Zu guter Lebt 
glaubte niemand mehr, daß der feierlihe Зав ohne 
irgendein ungeheueres Ereignis vorübergehen werde, 
oder ohne „Entjcheidung”, wie einige, fich im voraus die 
Hande reibend, fagten. Freilich bemühten fich viele, 
eine jehr finftere und politiiche Miene zur Schau zu 
tragen; doch — im allgemeinen gejprochen — den 
ruſſiſchen Menfchen freut nun einmal über alle Maßen 
jeglicher öffentliche ffandalöje Tumult. Allerdings fam 
bei ung noch etwas unvergleichlich Ernfteres hinzu, als 
es bloße Sfandaljucht gewejen wäre: es war da eine 
allgemeine Gereiztheit, etwas unftillbar Böjes; ап: 
Icheinend hatten alle alles bis zum jchredlichften Über: 
druß jatt. Es hatte fich ein gewiſſer irreführender Zynis— 


709 


mus eingeniftet, ein Zynismus, zu dem man ſich ап: 
firengte, der einem über die eigene Kraft ging. Nur 
die Damen waren 4 über ihre Gefühle im Haren, wenn 
auch nur in einem Punkte, und zwar: in ihrem un: 
barmherzigen Haß gegen Julija Michailomna. Sn diefem 
Punkte ftimmten alle verfchiedenen Richtungen unjerer 
Damenmelt überein. Julija Michailowna aber ahnte 
nichts davon und war noch bis zur leßten Stunde 
überzeugt, daß fie „umſchwaͤrmt“ und alle Welt ihr 
„fanatifch ergeben” jei. 

Sch habe ſchon erwähnt, daß in unferer Stadt пи ет: 
weile verjchiedene jonderbare und befremdliche Geftalten 
aufgetaucht waren. In den trüben Zeiten des Schwan: 
fens oder in Zeiten des Übergangs finden Йф immer 
und überall verjchiedene Leutchen ein. Sch rede nicht 
von den fogenannten „Anführern”, die ftets allen voran 
(das ift ihre wichtigfte Sorge, daß es allen voran gejchieht) 
zu einem — wenn auch jehr oft allerdümmiten, jo 504 
immerhin mehr oder weniger beftimmten — Ziele eilen. 
Nein, ich rede nur von dem Gefindel jelbft. In jeder | 
Übergangszeit pflegt мее8 Gefindel, das in jeder Ger — 
jellichaft zu finden ift, fich zu erheben, und zwar nicht 
nur ohne ein Ziel, ſondern fogar ohne auch nur eine Spur 
von einem Gedanken zu haben; ftatt deſſen drüdt es aus 
allen Kräften bloß Unruhe und Ungeduld aus, Indes 
pflegt diejes Gefindel, ohne fich deffen bewußt zu werden, | 
ай immer unter das Kommando jenes Heinen Haͤufchens 
der „Anführer“ zu geraten, die mit einem beftimmten _ 
Ziel handeln, und jenes Häufchen lenkt dann diejen 
ganzen Kehricht wohin es ihm gefällt, wenn es nur 
nicht jelber aus vollfommenen Idioten bejteht, was 


710 





übrigens auch vorzufommen pflegt. Jetzt, wo alles fchon 
der Vergangenheit angehört, jagt man bei ung, die 
Internationale habe Piotr Stepanowitich gelenkt, diefer 
aber wiederum Julija Michailowna, von der dann nach 
feinem Kommando alle möglichen Leute gelenkt worden 
jeien. Und jeßt wundern fich alle unfere foliden, Fugen 
Köpfe über fich ſelbſt: wie hatten fie damals nur fo ver: 
jagen, fo ihre Pflicht verabfäumen Ffönnen? Doch worin 
nun eigentlich die Unruhe unſerer Zeit beftand oder 
wovon und zu was es einen Übergang bei uns gab — 
das weiß ich nicht, und ich denfe, das vermag niemand 
zu jagen, oder höchitens ein paar auswärtige Зе: 
obachter. Indeſſen war es nicht zu leugnen, daß plößlich 
die erbärmlichiten Leutchen ein gewiſſes Übergewicht 
befamen, fich u. а. erlaubten, alles Heilige laut zu kriti— 
jieren, während fie früher nicht einmal gewagt hätten, 
auch nur den Mund aufzutun; und die angejeheniten 
Leute, die bis dahin in jo wohltuender Weife die Ober: 
hand gehabt hatten, begannen plößlich, diefen Leuten 
zuzuhören und jelber zu fchweigen, manche aber fingen 
Ihon an, ihnen fchmählichft und mit fchadenfrohen 
Grinfen zuzuniden. Irgendwelche Laͤmſchins, Zelätni: 
foffs, Heine Gutsbeſitzer Xentetnifoffs, einheimijche 
Schmußnafen, Radifchticheffs, wehleidig und hochmütig 
lächelnde Juͤdchen, Lachbruͤder unter angereiften Reifen 
den, Dichter mit Großftadtrichtung und Dichter, die fich 
ftatt durch Richtung oder Zalent, durch Wamſe und 
Schmierftiefel auszeichneten, Majore und Oberften, die 
jih über die Sinnlofigfeit ihres Berufs luftig machten 
und für einen Rubel mehr jofort bereit waren, ihren 
Degen abzulegen und fich als befjere Schreiber in die 


711 


Eifenbahnvermwaltung zu drüden; Generale, die es vor: 
zogen, Advofaten zu werden, gerijjene Vermittler, viel- 
verjprechende Gejchäftsleute, unzählige Seminariften, 
Frauen, die die Frauenfrage perjonifizierten, — all das 
befam bei ung das Übergewicht. Und über wen? Über 
den Klub, über alte Würdenträger, über Generale mit 
Stelzfüßen, über unfere ftrengiten und unzugänglichften | 
Damen der Gejellichaft. Wenn |фоп eine Warwara 
Petrowna (bis zu der Kataftrophe mit ihrem Sohne) fich 
derartig von diefem ganzen Pad аизпивеп und lenken 
lieg, jo ИЕ den anderen unjerer Minerven ihre damalige 
Dummheit, die ſich jo betölpeln ließ, zum Zeil doch wohl 
verzeihlich. Heute fieht man in alledem, wie ich ſchon 
erwähnte, die Wirfung der Internationale. Dieje 
Anficht hat fich fo feitgejeßt, daß man in diefem Sinne 
jogar angereiften Fremden die Vorgänge erklärt. Und 
noch fürzlich hat der Ratsherr Kubrifoff, ein Mann von 
zweiundfjechzig Sahren, mit dem Ötanislausorden am 
Halje, unaufgefordert in überzeugtem Zone gejagt, daß _ 
er im Laufe von ganzen drei Monaten unzweifelhaft | 
unter dem Einfluß der Internationale geftanden habe. 
Als man ihn jedoch, bei aller Achtung, die man feinem 
Alter und feinen Berdienften jchuldig ift, bat, 4 näher 
zu erflären, da konnte er allerdings feinerlei Belege dafür 
anführen, außer dem einen, daß er es „mit allen Sinnen 
jo empfunden” habe. Und überzeugt blieb er bei jeiner 
Behauptung, jo daß man jchließlich nach Begründungen | 
nicht weiter in ihn drang. 

Doch ich jage nochmals: eine Feine Gruppe Bor: 
fichtiger, die fich |Фоп gleich zu Anfang abgejondert 
бане, hielt fich dennoch abjeits, und zwar womöglich 


712 





hinter verfchloffenen Türen. Doch welches Tuͤrſchloß 
hält dem Naturgejeß ftand? Auch in den vorlichtigften 
Familien wachjen genau fo wie in allen anderen Töchter 
heran, die einmal tanzen wollen. Nun, und fo fam es 
denn, daß auch alle dieſe Abgejonderten fich zu guter 
Lebt gleichfalls in die ЯШе zum Gouvernantenfeft ein: 
trugen. Der Ball follte ja fo glänzend, fo unvergleichlich 
werden; man erzählte ſchon Wunderdinge, ſprach von 
zugereiften Fürften mit Lorgnettes, von den zehn Anz 
orönern, lauter jungen Kavalieren, die eine Bandjchleife 
an der linken Schulter tragen follten. Manche mußten 
zu berichten, daß Karmafinoff zur Erhöhung der Ein: 
nahme eingemilligt habe, fein „Merci“ in dem Koftüm 
einer Gouvernante vorzulefen, und daß die „Quadrille 
der Kiteratur” gleichfalls in Koftümen getanzt werden 
und jedes Koftüm eine beftimmte literarijche Richtung 
daritellen werde; und zu guter Letzt werde in einem Ве: 
jonderen Koftüm der „ehrliche ruflische Gedanke” — ап 
jich ſchon eine vollfommene Neuheit — auftreten und 
tanzen. Wie follte man da feinen Namen nicht auf die 
Liſte jeßen? Und jo zeichneten fich denn alle ein. 


II 

Das бей war nach dem Programm in zmei Teile 
geteilt: zumächft, am Wormittage, von zwoͤlf bis vier, 
jollte die literarifche Matinee ftattfinden, der Ball aber 
follte erft abends um zehn Uhr beginnen und dann die 
ganze Nacht dauern. Doch gerade in dieſer Teilung lagen 
die Keime zur Unzufriedenheit und Unordnung. Vor 
allem konnte #4 auf diefer Grundlage das Gerücht ver— 
breiten, Daß es nach der literariſchen Matinee in der 


46 Doitojew3fti, Die Dämonen. Bd. И. 213 


angeblich nur zu diefem Zweck vorgejehenen Paufe ein 


Srühftüd geben werde, jelbftredend unentgeltlich, und | 


zwar ein Frübftüd mit Champagner. Der hohe Preis 
der Eintrittskarten (die Karte foftete drei Rubel) verlieh 
реет Gerücht etwas durchaus Glaubwürdiges, mas zu 
jeiner Verbreitung nicht wenig beitrug. „Würde ich 
denn jonft für nichts und wieder nichts mich eingejchrieben 
haben? Das Feft währt ja vierundzwanzig Stunden, 
na aljo — ernährt einen dann auch. Sonft würde man 
ja verhungern.” So philojophierte man ganz allgemein — 
bei ung. Sch muß aber geftehen, daß ЗиЩа Michailowna 
jelbft durch ihren Leichtſinn diejem verderblichen Gerücht 
Vorſchub geleiftet hatte. Schon vor einem Monat, in 
der erften Begeifterung für ihren großen Plan, hatte fie 
jedem степ beiten von ihrem Felt erzählt; und daß auf 
diejem Feft Reden und Zoafte gehalten werden würden, 
Бане fie jogar in eine der hauptftädtifchen Zeitungen 
lanciert. Gerade dieje Toafte hatten es ihr Damals ап: 
getan: wollte jie doch jelber eine Rede halten, die jie im 
itillen denn auch ſchon auszuarbeiten begann. Dieje 
Tiſchrede jollte unjer Hauptziel erklären und was Пе auf 
ihre Fahne geichrieben hatte (ich wette, daß die Arme es 
nicht einmal zu einem Entwurf einer ſolchen Tiſchrede 
gebracht hat), ое dann als „Korreſpondenz“ in die 
Zeitungen der Hauptitadt gelangen, die höchiten Vor— 
gejesten zugleich rühren und begeiftern, um dann in alle 
Gouvernements zu flattern und überall Bewunderung 
wie Nachahmung zu finden. Doc, zu Tiſchreden gehört 
nun einmal Champagner, und da man Champagner doch 
nicht gut auf nüchternen Magen trinken fann, jo war 
jelbjtredend eine Tafel und ein Frühftüd Vorausfeßung. 


714 





Später aber, als fich dank ihren Bemühungen jchon ein 
Komitee gebildet hatte und man fich ernftlich an die 
Sache machte, ward ihr fogleich Нах und überzeugend 
bewiejen, daß, wenn man an ein Feſteſſen dachte, für 
die Gouvernanten nur eine jehr geringe Summe ver: 
bliebe, jelbft bei einer noch fo hohen Einnahme. Die 
Frage war fomit: entweder ein Фата im Ötile 
Beljazars, mit Neden und einigen neunzig Rubeln für 
die armen Gouvernanten, oder die Beichaffung einer 
‚ anfehnlichen Summe durch ein Felt, das man fozujagen 
nur um der Form willen veranftaltete. Übrigens wollte 
das Komitee damit allen hochfliegenden Plänen zunächft 
nur einen Dämpfer auffeßen, denn man war ja jelbft 
feineswegs nur für dag eine oder das andere, fondern 
man hatte 14 eine dritte Möglichkeit ausgedacht, die 
jomohl verföhnend wie vernünftig war, nämlich ein in 
jeder Beziehung gutes Feſteſſen, jedoch ohne Champagner, 
und folglich als Ergebnis einen recht annehmbaren 
Betrag für die Gouvernanten. Aber darauf ging Julija 
Michailowna nicht einz ihr Charakter verachtete die Нет 
bürgerliche Mitte. Und jo bejchloß fie jofort, daß, wenn 
das erfte Projekt ſich nicht vermirklichen hieß, man ſich 
für das andere Extrem entjcheiden müfje, aljo für eine 
ungeheuere Einnahme, deren Höhe den Neid aller anderen 
Gouvernements erweden mußte. 

„Das Publikum muß doch endlich einſehen,“ ſchloß 
Julija Michailowna ihre temperamentvolle Erflärung 
auf der Sitzung des Komitees, „daß der humanitäre 
Zweck unvergleichlich erhabener ift, als kurze Förperliche 
Genüffe, daß das бей im Grunde nur die Verkündung 
einer großen Idee Ш, und deshalb muß eg jich mit einem 


46* 13 


jo ökonomisch wie nur möglich veranftalteten Heinen 
deutjchen Ball begnügen, der einzig pro forma gegeben 
wird — wenn man ohne diefen unausitehlichen Ball nun 
einmal nicht ausfommen kann!“ — fo ſehr war er ihr 
plößlich verhaßt. 

Schließlich war es aber dem Komitee doch gelungen; 
fie зи bejänftigen. Фо hatte man denn и. a. Ме „Quads 
rille der Literatur” und ähnliche äfthetifche Scherze als 
Erſatz für Förperlihe Genüfje in Borjchlag gebracht. 
Und auf eben diejer Sikung hatte dann auch Karmalinoff 
endgültig eingemilligt, {ето ‚Merci‘ vorzutragen (bis 
dahin hatte er alle mittels ausmweichender Antworten in 
quälender Ungemwißheit belajien) um fomit in unferem 
unenthaltiamen Publikum ſogar jeden Gedanken an 
Eſſen und Trinken fchon im voraus zu erftiden. Auf 
diefe Weile hatte dann der Ball wiederum eine groß- 
artige Anziehungskraft erhalten, wenn auch eine von 
ganz anderer Urt. Um jedoch nicht völlig dem Irdiſchen 
zu entichweben, bejchloß man, zu Anfang des DBalles 
Зее mit Zitrone und Нетет rundem Gebäd zu reichen, | 
darauf einen Kühltranf und Kimonade, und zum Schluß 
fogar noch Eis — doch das ое denn auch alles fein. 
Für diejenigen aber, die immer und überall Hunger und 
bejonders Durft zu verjpüren pflegen, wollte man dann 
noch am Ende der Zimmerfluht ein Büfett errichten, 
das Prochorytſch (der ее Koch des Klubs) übernehmen 
ſollte. Natürlich mußte für die verabfolgten Фрецеп | 
und Getränfe gezahlt werden, was gleich am Eingang | 
auf einem bejonderen Plafat dem Publifum mitzuteilen | 
war. Doch während der Matinee follte das Büfett uns 
bedingt geichlojien bleiben, damit auch nicht dag geringjte 


716 





Geräufch den Vortrag ftörte, obgleich man für das Büfett 
einen Raum vorjah, der fünf Zimmer von dem weißen 
Saal entfernt war, in dem Sarmafinoff fein „Merci“ 
vorzutragen eingemwilligt hatte. Merkwürdigerweife 
wurde diefem Ereignis, dem Vortrag dieſes „Merci“, 
wie mir fcheint, von dem Komitee eine übertriebene Be: 
deutung beigelegt, und das taten fogar die nüchterniten 
Leute. Von den poetischen Naturen aber hatte z. 3. ме 
Gattin des Adelsmarſchalls Karmajinoff jchon mit: 
geteilt, daß fie jogleich nach dem Vortrag an der Wand 
ihres weißen Saales eine Marmorplatte anbringen lajjen 
werde, auf der mit goldenen Lettern das Ereignis ver: 
ewigt werden jollte, daß in dem und dem Jahre, ап dem 
und dem Tage, Мег in diefem Saal der große ruſſiſche 
und europäijche Schriftfteller, feine Feder niederlegend, 
perfönlich {ет „Merci“ gejprochen und jomit zum erften= 
mal von dem ruſſiſchen Publiftum, in Geftalt der Ver: 
treter unferer Stadt, Abſchied genommen hat, und daß 
ſchon abends auf dem Ball, alfo faum einige fünf Stunden 
nach dem Vortrage, alle diefe Gedächtnistafel würden 
lefen können. Wie ich genau weiß, war es vor allen 
anderen gerade Karmafinoff gewejen, der verlangt hatte, 
рав das Büfett während der Matinee, wenn er las, unter 
feiner Bedingung geöffnet werde, troß der Einwände 
etlicher Komiteemitglieder, daß ein folches Anfinnen fich 
mit unferen Landesbräuchen nicht ganz in Übereinftims 
mung befinde. 

So lagen die Dinge in Wirklichkeit, während man in 
der Stadt immer noch an ein Teftmahl im Stile Belſa— 
zars glaubte, d. Б. ап unentgeltliches Efjen und Trinken 
auf Koften des Komitees. Daran glaubte man bis zur 


717 


legten Stunde. Unfere jungen Damen träumten nur 
noch von Konfekt und 618. Man wußte, daß die Samm- 
lung ungeheuer reicy ausgefallen war, daß Die ganze 
Stadt fich eifrigft zum Felt vorbereitete, daß jogar aus 
der Umgegend viele fommen würden, und daß die Ein 
trittsfarten bei diefem Andrang nicht ausreichten. Зе: 
fannt war gleichfalls, daß außer der Einnahme durch den 
Derfauf der Eintrittskarten noch bedeutende Schenkun— 
gen gemacht worden waren: Warwara Petromna bei: 
ſpielsweiſe hatte für ihre Eintrittskarte dreihundert Rubel 
gezahlt und zur Ausfchmüdung des Saales alle Blumen 
und Blattpflangen ihrer Drangerie hergegeben. Die 
Gattin des Adelsmarjchalls (ein Mitglied des Komitees) 
ftellte das Haus und die Beleuchtung, der Klub die Mujik- 
fapelle, ме Bedienung und den Koch. Hinzu famen noch 
andere Schenkungen, wenn auch nicht jo bedeutende, 
weshalb denn auch das Komitee |фоп den Gedanken 
erwog, den Preis für die Eintrittskarte von drei Rubel 
auf zwei Rubel herabzufeßen. Man hatte nämlich zu 
Anfang tatjächlich befürchtet, ed vermöchten Doch nicht 
alle jungen Damen drei Rubel dafür auszugeben, und in 
Erwägung gezogen, ob man nicht Familienfarten aus- 
geben follte, wobei man bejonders an Die Familien 
dachte, in denen е8 viele Töchter gab. Aber ме Befuͤrch— 
tung erwies fick als überflüfligz ип Gegenteil, gerade 
die Toͤchter erſchienen vollzählig. Selbſt die ärmiten 
Beamten führten ihre fämtlichen Зет heran, und es 
war ja Наг, daß Sic, falls fie feine Töchter gehabt hätten, 
auch im Zraum nicht Daran gedacht haben würden, ihren 
Namen auf die Lifte zu jeßen. За, ein armjeliger Heiner 
Sekretaͤr erichien mit ganzen fieben Toͤchtern, dazu noch 


718 





die Frau und eine Nichte, und jede von ihnen hielt eine 
Eintrittsfarte zu drei Nubel in der Hand. Man kann fich 
aljo vorftellen, was für eine Revolution das in der Stadt 
abgab! Man bedenke bloß das cine, daß die Teilung des 
Feſtes zweierlei verjchiedene Toiletten für jede Dame 
verlangte: ein Kleid für die literarifche Matinee und ein 
Ballkleid für den Abend. Man bedenke, was das für 
manche Verhältniffe bedeutete! Wie fich ſpaͤter heraus: 
ftellte, hatten denn auch viele aus den mittleren Klafjen 
zu diefem Tage jo ziemlich alles verjeßt, was fie befaßen, 
jogar ihre Bettwälche, ja, manche hatten womöglich ihre 
Matragen zu den Juden getragen, von denen ſich feit 
nun jchon zwei Sahren erjchredend viele in unferer 
Stadt feftgefeßt haben und immer mehr fich feftießen. 
бай alle Beamten hatten ihr Monatsgehalt voraus: 
genommen und von den Gutsbelißern hatten manche 
jogar ihr notwendigftes Vieh verkauft, und all das nur, 
um ihre Damen als Marquifen und Komtelfen auf den Ball 
zu führen und damit feine der anderen nachftehe. Die Toi— 
letten waren diesmal von einer bei ung noch nie gejehenen 
Koftbarkeit. Schon zwei Mochen vor dem Felt war Ме 
ganze Stadt geradezu vollgeftopft mit Familienanefooten, 
die von unjeren jungen Spottvögeln mit Vergnügen am 
„Hofe Зи а Michailownas zum beften gegeben wurden. 
Bald folgten ganze Familienfarifaturen. Sch habe felbft 
etliche diejer Spottzeichnungen in Julija Michailownas 
Album gejehen. All das Кит aber jelbftredend auch denen 
zu Ohren, die den Stoff zu diefen Anefooten und Karika— 
turen abgaben, — und das war wohl der Grund, wie mir 
Icheint, weshalb in den Familien gerade in der Feten 
Zeit ein ſolcher бов gegen Julia Michatlomna ſich auf: 


719 


jpeicherte. Sch rede nicht von heute: denn jeßt jchimpfen 
natürlich alle über fie und fnirfchen, wenn jie an dieſe 
Zeit denken. Nein, |фоп damals war es vorauszujehen, 
рав, wenn der Ball nicht geradezu glänzend ausfiel und 
das Komitee auch nur den geringften Anlaß zur Ци: 
zufriedenheit gab, der Ausbruch des allgemeinen Unmil: 
lens ein ungeheuerer werden würde. Und eben deshalb 
erwartete denn im geheimen wohl ein jeder einen 
Sfandal; wenn aber ein Skandal jchon jo erwartet wurde, 
wie hätte er dann noch ausbleiben koͤnnen? 

Um punkt zwölf Uhr begann das Orcheſter mit Elingen: 
dem Spiel. Da ich zu den Feftordnern gehörte, d. Б. 
einer von den zehn „jungen Kavalieren mit der Band: 
ichleife an der Schulter” war, jo blieb ich Augenzeuge 
aller Ereignifje dieſes Мата еп Tages. Das Feft begann 
mit einer furchtbaren Drängerei am Eingange. Wie es 
fam, daß alles |фоп vom erften Schritt an fehlichlug oder 
verjagte, wie 3. 3. die Polizei? Dem Publikum kann ich 
feinen Vorwurf machen: die Familienväter waren es 
nicht, ме die Drängerei hervorriefen, im Gegenteil, man 
jagt jogar, jie jeien jchon auf der Straße ein wenig ſcheu 
geworden, als fie den für unjere Stadt ungewöhnlichen 
Andrang erblidten und dazu dieſe ungeduldige Menge, 
Die das Haus förmlich belagerte und ſich geradezu hinein 
wälzte, jtatt ruhig einzutreten. Dabei fuhren unaus- 
gejekt Equipagen vor, die jchließlich Die ganze Straße 
verjperrten. Im übrigen bin ich heute überzeuat, daß 
manche Leute, die eigentlich zum abjcheulichften Pöbel 
unjerer Stadt gehörten, von Laͤmſchin und Liputin ein= 
fach ohne Eintrittskarten eingeführt wurden, und viel- 
leicht noch von einigen anderen, Die gleichfalls „Un: 


720 





ordner” waren. Menigftens erfchienen auch vollfommen 
unbefannte Perjonen, die aus Kreisftädten oder Gott 
weiß woher angereift waren. Зе Wilden begannen 
nun, faum daß ſie den Saal betreten hatten, ſogleich und 
merkwürdig übereinftimmend (ganz als wären fie in— 
ftruiert worden) nach dem Büfett zu fragen, und als fie 
erfuhren, daß es jeßt noch fein Büfett gab, da fingen йе 
ſofort und ohne jede Зои mit einer bei ung bisher 
unerhörten Frechheit zu jchimpfen ап. Allerdings waren 
einige von ihnen bereits betrunken erjchienen. Diele 
waren zunächft verblüfft durch die nie geſchaute Pracht 
des Saaleg, verftummten im erften Augenblide und 
ſahen jich nur mit offenem Munde die Herrlichkeit an. 
Freilich war diejer große Weiße Saal tatjächlich ſehr 
prunfvoll: zwei Stockwerke hoch, mit alter Dedens 
malerei, die von goldenen Verzierungen umrahmt war, 
mit Chören und Spiegelwänden, mit roten Vorhängen 
zwiſchen weißen Wandflächen, mit Marmorftatuen (gleich: 
viel was für welchen, aber immerhin Statuen), mit alten, 
jchweren Möbeln aus der Napoleonijchen Zeit, weiß 
mit Gold und mit rotem Samt ausgeichlagen. An dem 
einen Ende des Saales erhob 14 eine Tribüne für die 
DVortragenden und der ganze Saal war, wie dag Parkett 
eines Theaters, mit Stühlen in dichten Neihen völlig 
angefüllt, ausgenommen. nur die drei breiten Durch: 
gänge für das Publitum. Doch fchon nach den eriten 
Augenbliden der Bewunderung und des Schweigens 
begannen die finnlojeften Fragen und Bemerkungen. 
„Wir wollen. vielleicht überhaupt Feine Vorträge... 
Wir haben unfer Geld gezahlt... Man bat das Publi: 
kum unverjchämt betrogen... Wir, nicht Lembkes, find 


721 


Мег die Herren!.. .” Kurz, es war, als habe man fie 
nur зи diefem Zweck hereingelajien. Unter anderem 
erinnere ich mich bejonders eines Zwifchenfalles, bei dem 
der junge angereifte Fuͤrſt mit dem hoben fteifen Kragen 
und dem Ausjehen einer Holzpuppe fich auszeichnete. 
Auf Julija Michailownas dringende Bitte hin hatte auch 
er jchließlich eingemilligt, das Feftordnerband an feine 
linfe Schulter зи fteden und ſomit zu unjerem Kollegen 
zu werden. Tags zuvor, an eben jenem denfwürdigen 
Dormittage, hatte ich ihn in Julija Michailownas Salon 
zum erftenmal gejehen. Nun zeigte es fich, daß dieſe 
ftumme Wachsfigur, wenn auch nicht zu {ртефеп, fo doch 
auf ihre Art zu handeln verftand. Als nämlich ein riefiger, 
podennarbiger verabjchiedeter Hauptmann, unterftüßt 
von einem ganzen Haufen ihm nachdrängender frag: 
würdiger Geftalten, dem jungen Fürften auf den Leib 
rüdte und unabläjlig nach dem Büfett fragte, da winfte 
diefer kurz entichloffen einen Poliziften heran, und der 
angetrunfene Rubeftörer wurde ungeachtet feiner Pro: 
tefte und feines Schimpfens einfach aus dem Saal ent: 
fernt. Inzwiſchen begann auch jchon das „eigentliche“ 
Publifum zu ericheinen und $08 fich in drei langen Fäden 
durch die drei Durchgänge zwifchen den Stuhlreihen zu 
den Pläßen hin. Das fchlechtere Element im Hinter: 
grunde wurde Fleinlauter und beruhigte fih nach und 
nad), aber das „ди“ Publikum ſah doch beunruhigt und 
befremdet aus; manche Damen aber jchauten entichieden 
mit Bangen drein. 

Schließlich hatten fich alle gejeßt; nun verftummte auch 
die УШИ. Man fchnaubte fih, man fah fih um... 
Kurz, man wartete mit ſchon gar zu feierliher Miene — 


722 


was bereits an und für fich ет fchlechtes Zeichen ift. 
Doc) „ме Lembkes“ erfchienen noch immer nicht. Seiden, 
Samt und Brillanten glänzten und funfelten von 
allen Seiten; Parfüm verbreitete fich in der Luft. 
Die Herren trugen alle ihre Orden auf der Bruft, ме 
Militärs und die Beamten waren jelbftredend in Gala- 
uniform. Endlich erichten auch die Gattin des Adels— 
marjchalls mit Liſa. Noch nie war Ца jo blendend jchön 
gewejen wie an diefem Vormittage. @е trug ein ent= 
zudendes Kleid. Ihre Haare lagen in Locken, ihre Augen 
glänzten, in ihrem ganzen Geſicht lag ein Lächeln. Wie 
man ſah, machte fie auf alle einen großen Eindrud. Man 
ftedte ме Köpfe zufammen und tufchelte. Jemand 
meinte, ihre Augen hätten, als fie in den Saal trat, 
Stawrogin geſucht. Doch weder Stamwrogin noch feine 
Mutter waren erjchienen, Damals begriff ich den Aus: 
druck ihres Geſichts nicht: warum war fo viel Glüd, 
Freude, Energie und Kraft in diefem Geficht? Уф dachte 
an den Vorfall des vorhergegangenen Tages und ftand 
verjtändnislos vor einem Жане. 

Doch Lembkes erjchienen noch immer nicht. Das war 
_ ber jchwerfte Fehler, der gemacht wurde. Später erfuhr 
ich, daß Julija Michailowna bis zum letzten Augenblid 
auf Piotr Stepanowitich gewartet hatte. Ohne Piotr 
Stepanowitjch fonnte fie nun einmal nichts mehr unter: 
nehmen, wenn fie 14 das auch nie eingeftand. Nebenbei 
bemerkt, hatte Pjotr Stepanowitſch auf der ТеМеп 
Komiteefißung es abgelehnt, ein Feftordnerband zu 
tragen, und damit Julija Michailowna bis zu Zränen 
gefräntt. Nun kam er obendrein nicht. Was mochte Das 
bedeuten? Und tatjächlich blieb Piotr Stepanowitſch 


723 


den ganzen Зав über verjchmunden: zu der literarifchen 
Matinee erſchien er einfach überhaupt nicht. Und zu 
Julija Michailownas Verzweiflung fonnte ihr auch Fein 
Menich jagen, wo er ftedte, und big — Abend hatte 
ihn niemand geſehen. 

Inzwiſchen wurde das Publikum immer ungeduldiger. 
Auch auf der Tribuͤne erſchien noch niemand. In den 
letzten Reihen des Saales applaudierte man grundlos, 
ganz wie im Theater, wenn man zu lange auf die Vor: 
itellung warten muß. Die Väter und Mütter wurden 
unmutig: „Lembfes tun ja wirklich furchtbar wichtig”, 
hieß es. Einige wußten zu erzählen, daß Lembfe frank 
fei. Andere äußerten laut die Vermutung, daß das Felt 
wohl aufgejchoben werden würde. 

Aber endlich erjchienen fie doch. Andrei Antonowitich 
führte Julija Michailomna am Arm. Sofort verjanfen 
alle Märchen und die Wirklichkeit trat in ihr Recht. 
Zudem jchien Lembfe ſelbſt bei voller Gefundheit zu fein. 
Überhaupt waren es in der höheren Gefellichaft nur 
wenige gemwejen, die vermutet hatten, daß es mit Lembke 
irgendwie nicht ganz ftimmte. Seine Amtsführung 
hielten alle für gut. Sogar die Rutengejchichte bezog - 
man in dieſes Urteil ет. „Das wäre von Anfang an das 
Richtige geweſen,“ fagten die Honoratioren, „ſonſt be= 
ginnen fie immer mit der Philantropie, bis fie ſchließ— 
lich doch bei der Strenge enden, ohne zu wiſſen, daß 
gerade мае zur Philantropie als erftes nötig iſt.“ So 
urteilte man im Klub und verurteilte eigentlich nur 
Lembkes Aufregung. „So etwas muß man mit Kalt: 
blütigfeit machen,” hieß es, „aber ег ИЕ eg eben ie nicht 
gewöhnt.” 


724 


Mit bejonderer Neugier richteten fich die Blide auf 
Julija Michailowna. Man wird von mir gewiß nicht ver: 
langen, daß ich bis in alle Einzelheiten weiß, was am 
Tage vorher zwilchen ihr und Lembke noch gejchehen war: 
Das ИЕ und bleibt ein Geheimnis, ein Frauengeheimnis. 
Ich weiß nur eines: daß fie am Abend in das Arbeits: 
zimmer Andrei Antonowitſchs gegangen und big weit 
nach Mitternacht bei ihm geblieben war. ebenfalls 
hatte Andrei Antonowitjch fich beruhigt und е8 war ihm 
ausdrüdlich vergeben worden. Das Ehepaar hatte Jich 
ausgefprochen, alles jollte vergejjen fein... und als am 
Ende feiner weitläufigen Erklärungen von Lembke den: 
noch auf die Knie fiel, gequält von der entſetzlichen бт: 
innerung, daß er zu guter Letzt die Hand gegen Йе er: 
hoben hatte, da hatten die jchönen Händchen und ſchließ— 
ИФ auch die Lippen feiner Gattin die glühenden Er: 
gießungen der Neue diejes ritterlich zartfühlenden, doch 
nun von Rührung übermältigten Mannes wunderbar 
zu beſchwichtigen gewußt. 

Jetzt ſahen alle in ihrem Geſicht eitel Gluͤck. Mit 
offener Miene, in einer prachtvollen Toilette ſchritt ſie 
am Эйми ihres Gemahls durch den mittleren Gang. 
Dffenbar war Пе auf der Höhe ihrer Wuͤnſche: das бей, 
das Ziel und die Krönung ihrer ganzen Politif, war ver- 
wirflicht. Bei ihren Pläßen — in der erften Reihe vor 
der Tribüne — angelangt, blieben beide Lembfes ftehen, 
grüßten und erwiderten die Grüße nach allen Seiten. 
Sie wurden jofort umringt. Die Adelsmarfchallin fehritt 
auf fie zu... Doch da pallierte ein garftiges Mißver- 
ftändnis: das DOrchefter, das bisher gejchwiegen hatte, 
jchmetterte plößlich mir nichts, dir nichts einen Zufch in 


—‘ 


den Saal, — nicht etwa irgendeinen Marjch oder fonft 
ein Stüd, jondern einfach einen Tuſch, wie im Klub, 
wenn dort bei einem offiziellen Diner ein Hoch aus: 
gebracht wurde. Heute weiß ich, daß Laͤmſchin dahinter: 
Пейте, der gleichfalls zu den Feftordnern gehörte und als 
jolcher diefen Tuſch angeblich zu Ehren der erfchienenen 
Lembkes anbefohlen hatte. Natürlich konnte er fich 
immer noch damit entjchuldigen, daß er es aus Dumm: 
heit oder aus Übereifer getan Бабе... Doch ad), damals 
wußte ich noch nicht, daß jene an Entichuldigungen {фоп 
gar nicht mehr dachten und mit diefem Tage alles zu 
beenden glaubten. Zur Erhöhung der Peinlichkeit der 
Situation, die im Publikum teils Befremden, teils ein 
gewiſſes Lächeln Kervorrief, wurde plößlic im Hinter: 
grunde des Saales, oben auf dem Chor, Hurra! geſchrien, 
gleichfalls wie Зет Ёе8 zu Ehren. Der Stimmen waren 
zwar nur wenige, aber ich muß geftehen, fie hörten doch 
nicht fo bald auf. Julija Michatlomna jchoß das Blut 
in die Wangen, ihre Augen flammten. Lembke blieb 
vor Seinem Vlaß Fferzengerade ftehen und uͤberſah, jich 
zu den Nuheftörern ummendend, mit majeftätijchem 
und firengem Blid den Saal... Man redete ihm aber 
ichnell zu, 14 doch nur zu ſetzen. Mit Schreden bemerfte 
ich auf jeinem Geficht dasjelbe gefährliche Lächeln, mit 
dem er tags zuvor im Salon feiner Gemahlin Stepan 
Trophimowitſch angejehen hatte, bevor er auf ihn zutrat. 
Wie mir ſchien, nahm {ем Geficht аиф jetzt einen ge= 
wiljermaßen unbeilvollen YAusdrud an und, mas das 
ihlimmfte dabei mar, einen gleichzeitig lächerlichen: 
den Ausdrud eines Öatten, der fich ſchließlich — alfo ſei 
es denn! — zum Opfer bringt, nur um den höheren 


726 





Zielen und Zwecken jeiner Gattin zu dienen... Julija 
Michailomna winfte mich [chnell zu fich heran und flüfterte 
mir zu, ich folle fofort zu Karmafinoff eilen und ihn Бе: 
ſchwoͤren, unverzüglich zu beginnen, doc, faum hatte ich 
mich umgemwandt, um hinauszueilen, da geſchah ſchon 
eine zweite Schändlichkeit, eine noch viel größere als die 
erfte. Auf der Tribüne, auf der leeren Tribüne, wohin 
alle Blide und alle Erwartungen ſich wandten und auf 
der man zunächft nur einen Stuhl und einen Tiſch und 
auf leßterem ein Glas Waſſer auf filbernem Фа Мен fah 
— auf diefer jelben leeren Tribüne erſchien plößlich die 
folofjale Geftalt des „Hauptmanns‘ Lebädfin in Frad 
und weißer Binde. Sch war jo beftürzt, daß ich meinen 
Augen nicht traute. Augenſcheinlich wurde der Haupt— 
mann jelbft etwas verlegen und blieb hinten auf der 
Tribüne ftehen. Da ertönte plößlich aus dem Publikum 
ein erftaunter Ausruf: „Lebädfin! du?” — und die 
dumme, rote Fraße des Hauptmann (er war voll 
fommen betrunfen) verzog ſich zu einem breiten, ftumpf: 
ſinnigen Grinfen. Er hob die Hand, rieb fich die Stirn, 
ſchuͤttelte plößlich feinen ftruppigen Kopf und trat, wie 
auf einmel zu allem entſchloſſen, zwei Schritte vor und — 
platzte plößlich in Lachen aus, nicht in ein lautes, aber 
gallertiges, langes, glüdliches Lachen, von dem die ganze 
ſchwere Maſſe feines Körpers ins Schaufeln geriet und 
die Тибет im Fett nahezu verfchwanden. Bei diefem 
Anblid begann faft die Hälfte des Publikums zu lachen, 
in den hinteren Reihen Hatfchte man Beifall. In dem 
ernften Publikum dagegen jah man fich befremdet an 
und wechſelte finftere Blide; aber das währte alles faum 
länger als eine halbe Minute. Da eilten ſchon Liputin 


727 


(mit der Feftordnerfchleife) und zwei Diener herbei; jie 
faßten behutfam den Hauptmann unter den Armen und 
Liputin flüfterte ihm etwas зи. Lebaͤdkin [аб ihn unwirſch 
an, brummte aber jchließlih: „Nun denn, wenn’s jo 
beijer ИЕ!" und jchlug einmal mit der Hand durch die 
Luft, worauf er dem Фи ит feine riefige иене 
zumandte und mitjamt feinen Begleitern verjchwand. 
Doch einen Augenblid fpäter erfchien Liputin wieder 
auf der Tribüne. Auf feinen Lippen lag das füßefte 
Lächeln, wenn es auch immer noch, wie ftets bei 
ihm, an eine Mifchung von Eſſig und Zuder gemahnte, 
und in der Hand hielt er ein Blatt Papier. Mit kleinen, | 
Ichnellen Schritten trat er an den vorderen Rand der 
Tribüne. 

„Meine Damen und Herren!” begann er, fich an das 
Publiftum mendend. „Durch Unachtjamfeit И ein 
fomifches Mißverftändnis entftanden, das jetzt aber jchon 
bejeitigt ift. Hoffnungsvoll Бабе nunmehr ich den Auf: 
trag übernommen und zugleich die ehrerbietigfte Bitte 
eines unjerer hieſigen Dichter... Durchdrungen, wie 
er ift, von dem humanen und hohen Ziele... ungeachtet 
feines äußeren Zuftandes... von demjelben Ziele, das 
ung alle Мег vereinigt hat... die Tränen der armen 
gebildeten Mädchen unjeres Gouvernements hinfuͤro 
abzumwilchen, ... will diefer Herr, das heißt, ich meine, | 
diefer unjer einheimijcher Dichter... obzwar er {ето 
Inkognito gewahrt zu jehen wünjcht... würde er, wie 
gejagt, dennoch, ſehr wünjchen, daß feine Dichtung vor 
Beginn des Balles vorgetragen werde... Das heißt, 
ich wollte vielmehr jagen: vor Beginn der literarifchen 
Vorträge. Obzwar nun beiagtes Gedicht im Programm 


728 





nicht vorgejehen Ш... fintemal es uns erft vor einer 
halben Stunde zugeftellt wurde... aber es will ung 
(wen meinte er damit? Sch gebe dieje zerhadte und 
unflare Rede wortwörtlich wieder) dennoch fcheinen, 
daß es, im Hinblid auf die Naivität des Gefühls, die 
mit Humor verbunden ift, daß... wie gejagt, daß das 
Gedicht dennoch vorgetragen zu werden verdiente, Das 
heißt, nicht als etwas Ernftzunehmendes, fondern blof 
als etwas zum Feſte Paflendes... ich meine, zu der 
See... Um fo mehr, als es ja nur ein paar Zeilen 
find... wozu ich nunmehr um die Erlaubnis des hoch: 
verehrten Publikums gebeten haben mollte.” 

„Leſen Sie!" vröhnte eine Stimme aus den lekten 
Reihen. 

„So ſoll ich es vorleſen?“ 

„Jawohl! Leſen! Vorleſen! Leſen!“ riefen jetzt ſchon 
viele Stimmen. 

„Alſo denn — mit Erlaubnis des verehrten Publi— 
kums ...“ Liputin verbeugte ſich und wand ſich mit 
demſelben ſuͤßen Laͤcheln. 

Aber es war doch, als koͤnne er ſich trotzdem nicht ent— 
ſchließen, und wie mir ſchien, war er merklich aufgeregt. 
Bei aller Frechheit, die ſolche Leute wie Liputin beſitzen, 
werden ſie manchmal doch unſicher. Übrigens waͤre ein 
Seminariſt von heute gewiß nicht unſicher geworden, 
aber Liputin gehoͤrte ja ſchließlich doch noch zur alten 
Generation. 

„Ich jchide voraus, oder vielmehr, ich habe die Ehre, 
Sie darauf aufmerkſam zu machen, daß diejes Gedicht 
feine Ode Ш, wie fie früher zu Feſten verfaßt wurden, 
jondern es ift ſozuſagen eher ein Scherz, jedoch unftreitig 


47 Doſtojewski, Die Dämonen. BD. II, 729 


ein gefühlooller, ver Überdies mit fpielerifcher Heiterfeit 
verbunden ift und dabei logujagen die realite a, 
zum Gegenftande hat.. | 

„Lejen! Lies doch! Nur log!" 

Liputin faltete fein Papier auseinander. Natürlich 
fam niemand mehr dazu, den Vortrag zu verhindern. 
Zudem trug auch Liputin das Band eines Feftordners ап 
der Schulter, und fo deflamierte er denn mit heller 
Stimme darauf los. 

„Unferer einheimiſchen Gouvernante zum Gouver: 
nantenfeft von einem Dichter gewidmet: 


Lebe Боф! о Gouvernante! 

Freue dich und jubiliere, 

Denn jeßt bleibft du nicht mehr Tante, 
Dh, ſei ftolz und triumphiere!” 


„Das hat ja Lebaͤdkin gemaht!" „Das ЦЕ ja ein echter 
Lebaͤdkin!“ ertönten aus den hinteren Reihen des Saales 
mehrere Stimmen. Viele lachten, manche Hatjchten 
jogar Beifall. 

„Feminiſtin oder fonft mas! 

— Schrecklich ift’s, wenn man bebenft, 
Wie du früher dich gequält haft, 

Und dick nußlos angeſtrengt!“ 

„Hurra! Hurra!” unterbrad man mieber in den 
legten Reihen, 

„Lehren, hieß es, dumme Göhren 
Manch franzöfiiches Gedicht, 
Doch die wollten dich nie hören, 
Mie das nun mal Kindespflicht. 


730 








За, fo war's, fo ift’s geweſen, 
Doch das laß begraben fein. 

Der Reformen großer Befen 
Führt ne andre Wertung ein...” 


„Bra—avoooo!“ 


„Alſo hoͤr': ſeit dem Betriebe 

Der Reformen — jetzt gib acht! — 

Wird die Freiheit und die Liebe 

Einzig neh vom Geld gemacht ...“ 
„Stimmt! Bravsoo! Hurra!” 

„За, mein Fräulein, fie ift bitter, 

Diefe Wahrheit, — naͤmelich: 

Auch der allergrößte Nitter 

Nimmt nicht ohne Mitgift dich!" 


„Stimmt! ſtimmt! Das Ш der wahre Realismus! 
Ohne Mitgift feinen Schritt!" 
„Drum, — da wir nun tangend fpenden 
Eine Mitgift für das Weib, 
Die wir dir dann überjenden 
Зи пет befiren Zeitvertreib — 
Feminiftin oder ſonſt was: 
(Bleibft doch ftets vom ſelben Holy) 
Mit ner Mitgift bift du etwas, 
Spud auf alles und fei Но!" 


Sch muß geftehen, ich traute meinen Ohren nicht. Das 
mar eine jo erklärte Semeinheit, daß ме Möglichkeit, 
Liputin etwa mit Dummheit zu entfchuldigen, von 
vornherein ganz ausgejchloffen erfchien. Und gerade 
Kiputin war 904 alles andere eher als dumm. Die 


47° 731 


Abficht, Ме dahinter ftedte, war mir denn auch fofort 
Нат: hier follte Unorönung gefchaffen werden, und dazu 
war allerdings feiner geeigneter, als Liputin. 

Übrigens ſchien Liputin felbft zu fühlen, daß er doch 
ein zu ftarfes Stüd auf fich genommen hatte. Er ftand 
noch immer auf der Tribüne und war fich offenbar nicht 
Нат darüber, ob er noch etwas hinzufeßen ſollte oder nicht. 
Ein Teil des Publifums hatte dag Gedicht übrigens ganz 
ernft genommen. Die andere Hälfte war freilich um fo 
gefränkter. Julija Michailomna erzählte fpäter, fie fei 
einer Ohnmacht nahe gewejen. Einer der ehrwürdigften 
alten Herren unjerer Stadt erhob fich ſogar und verlief 
mit jeiner Frau am Arm den Saal. Und wer weiß, viel- 
leicht hätte diejes Beiſpiel аиф noch andere nach fich де: 
zogen, wenn nicht gerade jeßt Karmafinoff auf der Tribüne 
erichienen wäre. Фет kleines Figuͤrchen war tadellos 
gekleidet, felbftredend in Frad und weißer Binde, In 
der Hand hielt er ein Heftchen. ЗиЦа Michailowna {аб 
ihn wie erlöft an, ale wäre er ihr Retter... 

Doch ich war ſchon hinter den Kuliffen: ich mußte 
unter allen Umftänden mit Liputin jprechen. 

„Das haben Sie abfichtlich getan!” rief ich empört 
und padte ihn am Arm. 

„Bei Gott, ich habe gar nicht daran gedacht," log er 
und jpielte den Unglüdlihen. „Die Зее hatte man 
mir joeben erjt gegeben, ich dachte, es wäre ein luftiger 
Scherz..." 

„Das haben Sie durchaus nicht gedacht! Halten Sie 
denn wirklich diefen Blödfinn in Knüttelverjen für einen 
Scherz?!" 

„за, gewiß, jawohl.“ 


732 





„Das lügen Sie einfach! Und man hat Ihnen diefe 
Verſe durchaus nicht erjt vorhin gebracht. Sie, Sie 
felbft Haben diefe Reime zufammen mit Lebädfin ge: 
Ichmiedet, vielleicht noch geftern abend, damit её nur ja 
zum Sfandal fommt! Die ее Strophe war ſchon 
licher von Ihnen. Und warum erjchien denn Lebaͤdkin 
im Srad? Schon daraus geht hervor, daß alles von Ihnen 
vorbereitet war: das Gedicht jollte er wohl felber vor: 
tragen, nach Ihrer Abficht! Wenn er fich nur nicht wieder 
betrunfen hätte!” 

„Was geht das Sie an?” fragte mich da Liputin plöß- 
lich mit fonderbarer Ruhe. 

„Wie ſoll mich das nichts angehen? Sie tragen doch 
gleichfalls das Feftordnerband.... Wo ift Piotr Stepano: 
witſch?“ 

„sch weiß nicht, Мег irgendwo. Was ſoll dag alles?“ 

„Bas das foll? Daß ich Sie jeßt durchichaue! Es ift 
einfach eine Intrige gegen Julija Michailowna — damit 
Sie’s willen!" 

Liputin ſah mich von der Seite ап. 

„sa, und was geht das Sie an?” fragte er nochmals, 
lächelte, zudte mit den Achſeln und ging davon. 

Mich überlief es kalt. So gingen denn alle meine Bor: 
ahnungen fchon in Erfüllung. Und ich hatte immer поф 
gehofft, mich getäufcht zu haben! Was follte ich tun? 
Ich hätte mich gern mit Stepan Trophimowitſch beraten, 
aber der ftand vor dem Spiegel und probierte auf ver— 
Ichiedene Arten zu lächeln; zwischendurch blidte er immer 
wieder auf ein Blatt Papier, auf dem er fich feine 
Notizen gemacht hatte, Er follte gleich nach Karmafinoff 
an die Reihe kommen und war jeßt nicht imftande, mit 


133 


mir auch nur ein Wort zu [ртефеп. Sollte ich zu Zulija 
Michatlorwna eilen? Doch dazu war es noch zu früh: fie 
mußte eine поф viel nachhaltigere Lehre befommen, um 
von der Überzeugung, alle Welt fei ihr „fanatiſch er: 
geben”, geheilt zu werden. Sie hätte mir doch nicht 
geglaubt und mich nur für einen „Geſpenſterſeher“ ge: 
halten. За, und mas fonnte fie jeßt noch tun? „Ach,“ 
dachte ich, „was geht denn das fchließlich пиф an, ich 
nehme meine Schleife von der Schulter und gehe nach 
Haufe, Jobald es anfängt.” (Ich gebrauchte wirklich 
diefen Ausdrud: „|оба es anfängt”, ich erinnere mich 
noch genau.) 

Aber jest mußte ick doch vor allen Dingen Karmafinoff 
hören! Als ich noch ein leßtes Mal hinter die Kuliffen 
jab, bemerfte ich, daß da eine Menge mir ganz unbefann= 
ter Leute fich angefammelt hatte, darunter fogar Frauen. 
Diefes „hinter den Kuliſſen“ war ein recht enger Raum, 
eigentlich ein Korridor, der den Saal mit den anderen 
Räumen verband und zum Publikum hin mit einem 
Vorhang abgeichloffen war. In diefem Korridor warteten 
die Vortragenden, big Пе an die Reihe famen. Bejonders 
jeßte mich einer in Erftaunen: der Nächftfolgende паф 
Stepan Trophimowitſch. Das war auch jo etwas mie 
ein Profeſſor, der fich freiwillig aus irgendeiner Lehr: 
anftalt wegen irgendwelcher Studentengefchichten ent: 
fernt hatte und aus irgendeinem Grunde erft ein paar 
Tage vorher in unferer Stadt aufgetaucht war. Auch 
ihn hatte man Julija Michailomna empfohlen und fie 
hatte ihn Гай mit Ehrfurcht empfangen. Er mar bei ihr 
den Abend vorher eingeladen gemejen, hatte während 
des ganzen Eſſens gejchwiegen und nur hin und wieder 


734 





mofant zum Zone und zu den Öcherzen der anderen 
Säfte, Julija Michailownas Suite, gelächelt, und auf 
alle durch fein beleidigendes и {еБеп und Benehmen 
einen unangenehmen Eindrud gemacht. Julija Michais 
lowna hatte ihn jelbjt darum gebeten, auf dem Feft zum 
Beſten der ouvernanten irgend etwas vorzutragen. 
In dielem Augenblid ging er aus einer Ede in die andere, 
ganz wie Stepan Trophimomitjch, flüfterte auch vor Па) 
hin, {аб aber dabei zu Boden und nicht in den Spiegel. 
Zwar ftudierte und probierte er nicht zu lächeln, aber er 
lachte von Zeit zu Zeit grimmig in fich hinein. 68 war 
Нат, daß man auch mit ihm nicht [ртефеп durfte, Er war 
flein von Wuchs, etwa vierzig Jahre alt, Fahlföpfig, mit 
einem ergrauenden Bärtchen. Gefleidet war er an: 
ftändig. Um merfwürdigften an ihm war, daß er bei 
jeder Wendung, die er machte, feine rechte Fauft erhob, 
fie über feinem Haupte fchüttelte und dann plößlich 
niederfallen ließ, als wollte er einen Gegner Виз und 
Нет fchlagen. Und diefe Bewegung machte er faft jede 
Minute einmal, Mir wurde angft und bange. Sch machte 
mich davon, um, wie gejagt, Karmafinoff zu hören. 


III 


Sm Saale war wieder etwas nicht ganz in Ordnung. 
Jedes Genie in Ehren! Und volles Verftändnis für feine 
Eigentümlichfeiten im voraus! Uber warum mälfen fich 
Genies, wenn fie älter werden, jo oft wie — nun, einfad) 
wie Heine Knaben benehmen? Gelbft wenn man ein 
Karmafinoff war und mit der Würde von fünf Kammer: 
herren auftrat, wie Гоппе er nur ein ſolches Publikum 
eine ganze Stunde mit einem folchen Aufſatz langweilen? 


725 


Nicht mehr als zwanzig Minuten hätte man es mit 
einem leicht verftändlichen Yiterarifchen Vortrag un: 
geftraft unterhalten dürfen. Dabei war man ihm, als 
er zuerſt auftrat, außerft ehrerbietig begegnet: felbft die 
allergefeßteften Herren hatten Wohlgefallen und Neu: 
gier, die Damen fogar Entzuͤcken bekundet. Der Зе: 
grüßungsapplaus war indeffen nur kurz und abgeriffen 
gewefen. Dafür war aber in den letzten Reihen auch 
Fein einziger Ausfall erfolgt. Und auch dann, als 
Karmafinoff zu fprechen angefangen hatte, geichak zu: : 
naͤchſt nichts eigentlich Störendes: Tediglich Зе: 
wunderung griff allmählich um fih. Nur ganz am 
Anfang batte fich ein Eleiner Zwifchenfall zugetragen: 
als Karmafinoffs piepfendes und quaͤkendes Stimm: 
chen ertönte, lachte im Publifum jemand einfach laut 
auf. Sch habe fchon früher erzählt, daß Karmaſinoff 
eine hohe, fchreiende Stimme hatte, die einer Frauen 
ſtimme glich, ein Eindruck, der noch dadurch verjtärkt 
wurde, daß er fein und vornehm liſpelte. Die Um— 
figenden wiefen den Stoͤrer übrigens fofort durch 
Zifchen zur Ruhe, und fo Eonnte denn Karmafinoff un 
geftört feine Rede beginnen. Zunächit erklärte er, daß 
er „urfprünglich überhaupt nicht бабе leſen wollen“ 
(mas zu erklären eigentlich gar nicht nötig war), denn 
es gebe Zeilen, ме „jo unmittelbar aus dem Herzen 
fließen“, daß man fie gar nicht an die Offentlichkeit 
tragen dürfe (ja warum trug er fie denn?). Uber da 
man ihn nun einmal {о gebeten habe, fo tue er es 
doch, und da er jeßt feine Feder für immer hingelegt 
und fich gefehworen бабе, nichts mehr zu fchreiben, 
und weil das nun einmal befchloffene Sache fei, fo 


736 





бабе er diefes Abſchiedsopus Doch noch gefchrieben; 
und da er fich gelobt, nie etwas öffentlich vorzulefen, 
niemals und unter feiner Bedingung, To werde er 
denn jeßt einmal eine Ausnahme machen und, allo 
fei e8, dieſes letzte Opus einem Publikum perſoͤnlich 
vorlefen, uſw. uſw. — noch allerhand in diefem Sinne. 

Doch das wäre alles noch nicht fo ſchlimm gemwefen, 
und wer Fennt denn fchließlich nicht ме Vorreden der 
Autoren? Sch will aber zugeben, daß bei der geringen 
literarifchen Bildung unferes Publikums und der 
Neizbarkeit der hinteren Reihen auch das fchon auf: 
veizend mitwirken Eonnte, Nun wohl: wäre es unter 
diefen Umftänden nicht weit beſſer gemwefen, er hätte 
eine Визе Novelle vorgetragen oder ein kleines Ge: 
ſchichtchen von der Urt, wie er fie früher manchmal 
ſchrieb — zwar gedrechfelt und деле, aber mitunter 
doch ganz wißig? Damit wäre alles gerettet gewefen. 
Uber es follte nun einmal nicht fein. Und fo begann 
denn die Litanei! Oh Bott, was hatte er da alles 
zufammengetragen! Ich bin überzeugt, daß felbft ein 
Grofftadtpublitum fchlieflich einen Starrframpf be: 
kommen hätte, nicht bloß ein Publikum wie unferes. 
Man denke fich das geziertefte und müßigfte Geſchwaͤtz 
in einer Länge von faſt zwei Druckbogen; und das 
trug diefer Herr zum Überfluß mit einer gewiffen weh: 
mütigen Herablaffung vor, als wenn er eine Gnade 
erwiefe, und fchon darin allein lag etwas nahezu Зе: 
letöigendes für unfer Publikum, Das Зета... 
Uber wer konnte denn daraus Нид werden, aus diefem 
Thema! Das war gewiffermaßen ein Bericht tiber 
irgendwelche Eindrüce, untermifcht mit irgendwelchen 


757 


Erinnerungen. Doch Eindrüde wovon? Erinnerungen 
an was? — Wie fehr unfere Gouvernementsköpfe 
während der ganzen erften Hälfte des Vortrags auch 
die Stirn in Falten legten, — fie fonntens doch nicht 
bewältigen, fo daß fie die zweite Hälfte bloß aus 
Höflichkeit anhörten. Nun ja, е8 war da viel von 
Liebe die Rede, von der Liebe des Genies zu einer 
Perſon, aber ich muß geitehen, dag wirkte einiger: 
maßen peinlich. Es paßte irgendwie nicht recht zu 
dem Eleinen, dien Figürchen des genialen Schrift: 
fteilers (wenigitens für mein Empfinden), daß er von 
feinem erſten Kuß ſprach . . Und zudem Sollten dieſe 
Küffe, was wiederum verießend wirkte, durchaus gang 
anders gefüßt worden fein, als von der ganzen übrigen | 
Menfchheit, und dazu noch unter ganz befonderen 
Nebenumftänden. За Karmafinoffs erftem Kuß wuchs 
ringsum Ginſter (unbedingt gerade Ginfter, oder 
wenigftens irgend fo ein Kraut, von dem man fich 
erft nach einen botanischen Handbuch eine Vorftellung 
machen пп). Der Himmel aber hatte derweil uns 
bedingt einen violetten Farbenton, den natürlich noch 
nie zuvor ein Öterblicher бете Hat, obſchon ihn 
ülle zwar gejehen haben, ſogar ſchon mehrfach, 50% 
ihn wahrzunehmen hat eben bisher noch kein einziger 
verftanden. „Nun aber ſeht“, — fo ungefähr wirkte] 
Karmafinoffs Art — „ich allein Бабе diefen Farbentor | 
zum erftenmal wahrgenommen und bejchreibe ihn 
jest euch Zölpeln wie eine ganz bekannte Sache!“ 
Der Baum dagegen, unier dem das intereffante Paar] 
aß genommen, war durchaus orangefarben. Der 
Ort, mo fie faßen, lag irgendwo in Deutichland. 






188 


ВИ fahen fie Pompejus oder Kaffius am Abend 
vor einer Schlacht und die Kälte ber Begeifterung 
durchdrang fie fofort alle beide. Dani begann eine 
Nire im Gebüfch zu zirpen und im Schilf fpielte plöß: 
lich Gluck auf der Geige. Das Stüd, das er vortrug, 
wurde en toutes lettres genannt, doch blieb e8 ов: 
dem uns allen unbekannt, fo daß man in einem 
Mufikleriton nachichlagen müßte, Mährenddeffen 
aber ftieg ein Nebel auf und ballte fick und ballte fich, 
und ballte fich fo, daß er alsbald eher Millionen von 
Kiffen alich, als einem Nebel, Ploͤtzlich aber ver: 
fchwand alles und das große Genie begibt fih an 
einem MWintertage, jedoch bei Zaumetter, ber das 
Eis der Вода. Zweieinhalb Seiten Übergang; und 
dennoch fommt er nicht hinüber, fondern fällt in ein 
Loch im Eiſe. Das Genie Пи, verfinkt, — Sie meinen, 
e8 ertrinkt? Nein, es denkt auch nicht einmal daran: 
e8 fiel überhaupt nur deshalb in das Loch, um in 
dem Augenblick, als es ſchon bis über die Nafe im 
Maffer verfank uud bereits zu ſchlucken begann, plößlich 
ein Eisftückchen zu erbliden, ein winziges Eiskoͤrnchen 
von der Größe einer Kleinen Erbfe, aber fo rein und 
Elar „wie eine gefrorene Traͤne“. In diefem Eis: 
perlchen fpiegelte fich dann Deutfchland oder richtiger 
der Himmel Deutfchlands, und das Spiel der Regen: 
bogenfarben in diefem Eisperichen erinnerte ihn an 
tuft die Träne, die, „weißt du noch, aus deinem Auge 
rann, als wir unter dem fmaragdenen Baume faßen 
und du freudig ausriefit: ‚Es gibt Fein Verbrechen! 
— ‚Sa‘, fagte ich unter Tränen, ‚Doch wenn es fo Ш, 
dann gibt es auch Feine Berechten. Wir fchluchzten 


789 


auf und nahmen Abichted voneinander”, Sie ging 
an einen Meeresftrand und er begab ich in eine Höhle 
tief unter der Erde: er ПиН alfo hinab und hinab, 
drei Jahre lang jinkt er genau unter dem Moskauer 
Sfuchareffturm hinab, bis er plöglich mitten im 
Innern der Erde ein Laͤmpchen findet und vor diefem | 
Хатрфеп einen Aſketen. Der Aſket betet, Das 
Genie drüdt die Stirn an ein kleines vergittertes 
Seniterchen. Und plößlich vernimmt e8 einen Seufzer. | 
Sie glauben, der ЗИЁе Бабе geſeufzt? Weit gefehlt! 
Das Genie wird doch nicht einen Aſketen beachten! Nein, 
das war nur jo ein Seufzer, doch мег Seufzer er: 
innerte ihn an ihren erften Seufzer vor fiebenund: 
dreißig Jahren, „als wir, weißt du noch, in Deutſch— 
land unter dem achatenen Baume faßen und du zu 
mir fprachit: ‚Wozu lieben? Sieh, ringsum blüht es 
ockergelb und ich liebe, doch das Gelb wird aufhören 
zu blühen und ich werde aufhören zu lieben“. — Dann 
ballte fich wieder ein Nebel zufammen, Ernft Amadeus 
Hoffmann erfchien, eine Nire flötete eine Melodie von | 
Chopin und plößlich tauchte aus dem Nebel über den | 
Dächern Roms, einen Lorbeerfrang im Haar, Ancus 
Marcius auf. Ein Schauer der бойне lief uns über 
den Rüden und wir trennten uns auf ewig” uſw. ufw. | 

Mit einem Wort, wenn ich es auch vielleicht nicht 
richtig wiedergebe oder es überhaupt nicht wieder: 
zugeben verftehe, fo war doch der Sinn des Gefchwäßes | 
gerade von diefer Art. Und dann: was ИЕ das doch | 
für eine fchmähliche Sucht in unferen großen Geiſtern, 
Witze und Wortipiele im „höheren“ und „literariſchen“ 
Sinne anzubringen! Der große europäifche Philos | 


740 





foph, der große Gelehrte, Erfinder, der muͤhevoll 
Schaffende und Märtyrer, — alle diefe ſich Mühenden 
und Beladenen find für unfer großes ruffifches Genie 
entschieden nur fo eine Art Köche in feiner Küche, 
Er ift der Herr, fie aber erfcheinen vor ihm mit der 
Zipfelmüße in der Hand und warten auf feine Befehle, 
Allerdings, er fpöttelt hochmütig auch über Rußland, 
und überhaupt ift ihm nichts fo angenehm, wie den 
Bankrott Ruflands in jeder Hinficht vor den großen 
Geiftern Europas wieder einmal feftzuftellen. Doch 
was ihn felbit betrifft, — ob, mit DVerlaub, er felbit 
hat fich über diefe großen Geiſter Europas natürlich 
Schon längft emporgeſchwungen: für ihn find fie bloß 
Material zu feinen Wortfpielen, Er nimmt eine dee, 
Die nicht in feinem Kopfe entitanden ift, verknüpft fie 
mit ihrer Antithefe und das Wortfpiel ЦЕ fertig. Es 
gibt Verbrechen, e8 gibt Fein Berbrechen; es gibt 
feine Wahrheit, alfo gibt es auch Feine Gerechten; 
Atheismus, Darwinismus, Moskauer Софт. . . 
Doch wehe, er glaubt fehon nicht mehr an Moskauer 
Glocken. Rom, Lorbeeren . . . Doch er glaubt nicht 
einmal an £orbeeren . . . Hier ein obligatorifcher Unfall 
von Byronſchem Weltfchmerz, dort eine Heinefche 
Grimaffe, dann wiederum Anklänge an Petfchorin*), 
— und fo ging das fort und fort, wie eine in Schwung 
*) Die Haupfperfon in Lermontoffs Roman „Der Held unerer 
Zeit” (1841), meift für ein Produft des Byronismus in Rußland 
gehalten, im Grunde jedoch etwas typiſch Ruſſiſches: ein ffeptifch- 
blafierter „überflüffiger Menfch”, feelifch Nihilift, doch ohne die 
Kraft und den Enthufiasmugs der fpäferen fogenannten „Nihiz 
liften”, die Tolftoi „die einzigen Gläubigen” genannt hat und 
die. $. auch hier in den „Damonen” gefhildert find, E.K.R. 


741 


geratene Mafchine . . . „Übrigens, fe lobt mich doch, 
lobt mich doch, denn das Tiebe ich über alle Maßen! 
Und ich fage ja nur fo, daß ich die Feder für immer 
aus der Hand lege; nein, wartet nur und ihr werdet 
meiner noch dreihundertmal überdrüffig werden, werdet 
noch müde werden, mich zu leſen ...“ | 

Natürlich konnte das Fein gutes Ende nehmen; das 
Schlimme war aber, daß es damit nun überhaupt 
anfing. Schon lange hatte im Saale ein Räufpern, 
Huͤſteln, Schnauben begonnen, ein Hin- und Herrüden 
auf den Stühlen und Huften, Низ, её gab alle die 
bekannten Lebenszeichen, die ftets einzufeßen pflegen, 
wenn bei einer Fiterarifchen Veranftaltung der Vor: 
tragende, wer er auch ſei — ja felbft wenn er das 
größte Genie ИЕ —, das Publikum langer als zwanzig 
Minuten in Anſpruch nimmt. Doc der geniale 
Schriftiteller merkte nichts davon, Er fuhr fort zu 
liſpeln und zu fchnarren, ohne das Publikum über: 
haupt einer Beachtung zu würdigen, fo daß Schließlich 
eine allgemeine Zerftändnislofigkeit Зав griffe Und 
da nun gefchah eg, daß aus einer der hinteren Reihen 
plöglich eine einfame, doch laute Stimme fich ver: 
nehmen ließ: 

„Bott, was für ein Unfinn № 

Das war irgend jemandem wohl ganz unfreiwillig 
entfoplüpfit und gewiß — davon bin ich überzeugt — — 
ohne jede Abficht einer Demonftration, Ein Menih 
war einfach müde geworden, Doch Herr Karmafinoff | 
brach fofort ab, blickte fpöttifch aufs Publikum, und — 
plöglich fragte er mit derfelben affektierten Ausſprache 
und der Miene eines verlegten Kammerherrn: 


742 





„Mir (фен, meine Herrfchaften, Sie find des Zu: 
hörens bereits gehörig überdrüffig?” 

Gerade hiermit aber beging er einen unverzeihlichen 
Fehler: daß er überhaupt ein Sefpräch anfnüpfte, Denn 
mit diefer Frage forderte er doch eine Antwort heraus, 
gab er jedem beliebigen aus dem Gefindel der hinteren 
Reihen die Möglichkeit, ja dag Recht, nun gleichfalls 
laut im Saale zu reden, während man anderenfalls, 
wenn diefe Frage und Unterbrechung nicht erfolgt wäre, 
fich zwar noch weiter gefchnaubt und gefchnaubt, aber 
Schließlich doch alles bis zum Ende angehört Бане... 
Oder erwartete er vielleicht als Antwort auf feine Frage 
ftürmifchen Beifall? Der blieb jedoch vollftändig aus; 
im Gegenteil: alle waren gleichfam erfchroden, zogen 
fich in fich felbft zurück und verbielten fich ganz ſtill. 

„Sie haben Ancus Marcius überhaupt nie gefehn, 
das find lauter ftilifierte Phraſen!“ ertönte plöglich 
eine gereizte, vor Verbiffenheit fchon uͤberreizte Stinme. 

„Natuͤrlich nicht !” ftimmte Sofort eine andere Stimme 
bei. „Heutzutage gibt's feine Gefpenfter, es gibt nur noch 
Naturwiffenfchaften. Werden @ mit diefen fertig!” 

„Meine Herrfchaften, nichts habe ich weniger ег: 
wartet, als folche Einwendungen,” fagte Karmafınoff, 
in der Tat maßlos verwundert. — Dem großen Genie 
war in Karlsruhe das Vaterland völlig fremd geworden. 

„Sn unferem Sahrhundert И es eine Schande, 
folchen Schwindel vorzutragen !--gleich dem von dendrei 
Walfifchen, auf denen die Welt ruhen ſoll!“*) fchmetterte 


*) Big zur Zeit der Aufklärung in Rußland verbreitete Vor; 
ſtellung vom Weltall, deffen Mafchinerie angeblid von Engeln 
aufgezogen wurde, Ee.KEn. 


743 


plöglich eine Jungfrau in den Saal. „Zudem haben 
Sie, Karmafinoff, überhaupt nicht in das Innere der 
Erde zu einem Aſketen Миа ие Fönnen. Und 
wer redet denn jeßt noch von Aſketen?“ 

„Meine Herrfchaften, ат meiften wundert mich, 
daß das fo ernft genommen wird. Übrigens . . . 
übrigens . . . Sie haben vollfommen recht. Niemand 
achtet die reale Wahrheit mehr als ih. . .” 

Er Tächelte zwar ironifih, war aber merklich doch 
fehr betroffen. Der Ausdruck feines Gefichts fagte 
indeffen geradezu wörtlich: „Sch bin doch nicht fo 
einer, wie ihr glaubt, ich bin doch ganz eurer 
Meinung, nur lobt mich, lobt mich mehr, lobt 
mich foviel wie möglich; denn das Пебе ich über 
ОП м 

„Meine Herrichaften”, rief er Schließlich, aber nun 
Ihon durchaus verlegt, „ich jehe, daß mein arınes 
Poemchen hier deplaziert war. За und auch ich felbit 
bin bier, wie mir fcheint, deplaziert.“ 

„Er zielte auf eine Krähe, traf aber eine Kuh!” 
ſchrie nun bereits mit Tautefter Stimme irgendein 
Eſel in den Saal, wahrfcheinlich ein Angeheiterter, 
doch diefen Ausruf hätte man fchon unter feinen 
Umftänden beachten follen. 

„Ein wahres Wort!! Dazu reſpektloſes Lachen. 

„Eine Kub, fagen Sie?” griff Dagegen Karma— 
finoff das Sprichwort fofort auf. Seine Stimme 


wurde immer Freifchender. „Bezüglich des Ver-⸗ 


gleichs mit Ятабеп und Kühen erlaube ich mir Feine 
Außerung, meine Herrfchaften. Sch achte fogar 
jedes Publikum doch allzufehr, um mir Vergleiche, 


744 


ЧИ 





und feien e8 auch ganz unfchuldige, zu erlauben. 
Aber ich dachte ...“ 

„ch, mein Herr, Sie Sollten doch Lieber nicht gar 
10. ..”, fiel ihmjemand aus den legten Reihen ins Wort. 

и... aber ich Dachte, daß ich, da ich nun meine 
Feder für inımer aus der Hand lege und Abfchied 
nehme von meinem Leſer, wenigftens bis zum Ende 
angehört werden wuͤrde ...“ 

„За, aber ja, wir wollen Sie doch auch anhören, 
wir wollen 50%...” ertönten ein paar endlich mutig 
gewordene Stimmen aus der erften Reihe. 

„Lefen Sie, еп Sie!” fielen mehrere begeifterte 
Damenftisnmen ein und fchließlich ertoͤnte auch ein 
Applaus, freilich nur zin dünner, fpärlicher. 

SKarmafinoff lächelte fchief und erhob fich von feinem 
Гав. 

„Slauben Sie mir, Karmafinoff, wir alle Halten es 
fogar für eine Ehre”, Eonnte fich felbft die Adelsmar: 
fchallin nicht enthalten zu verfichern. 

„Herr Karmafinoff,” erklang plöglich eine junge, 
Уфе Stimme aus der Tiefe des Saale. Es war die 
Stimme eines fehr jungen Lehrers aus der Streisfchule, 
eines ftillen, anftändigen und prächtigen Menfchen, der 
noch nicht lange Zeit bei uns weilte, Er war jeßt 
fogar von feinem Plate aufgeftanden. „Herr Karmaſi— 
noff, wenn ich das Glück gehabt hätte, fo zu lieben, wie 
Sie es uns befchreiben, fo hätte ich wirklich nicht davon 
in einem Aufſatz gefprochen, der zum öffentlichen Vor: 
lefen beftimmt ша...” 

Dabei errötete er über und über. 

„Meine Herren,” rief Karmafinoff, „ich habe nichte 


48 Doſtojewski, Die Dämonen. 35. II. 745 


mehr hinzuzufügen! Sch übergehe den Schluß und еп 
ferne mich. Erlauben Sie mir nur noch, die leßten Zeilen 
zum Abſchied zu leſen!“ 

Und ohne fich binzufeßen, begann er jogleich: „За, 
mein Freund und Zuhörer, lebe wohl! — lebe wohl, 
mein Leſer, ich beftehe nicht einmal darauf, daß wir als 
Freunde jcheiden: In der Tat, mozu dich beunruhigen? 
Schilt, wenn du mwillft, jchilt, wenn es dir Vergnügen 
macht! Uber mich deucht, eg wäre beſſer, wir vergäßen 
uns für immer. Und wenn ihr alle, meine Zuhörer, 
plößlich jo gut wäret, mich auf den Knien und mit Tränen 
in den Augen zu bitten: ‚Schreibe noch, Karmafinoff, — 
für ung, für das Vaterland, für die Nachwelt, für die 
Zorbeerfränge!‘ jo würde ich euch ſogar dann noch ап 
worten, felbftredend mit allem Dank: Nein, wir haben 
uns |фоп genug miteinander abgegeben, liebe Kom: 
patrioten, merci! Es ift Zeit, daß ши uns trennen! 
Merci, merci, merci!” 

Karmafinoff verbeugte fich zeremoniell, — und ganz 
rot im Geſicht, als hätte man ihm gefocht, begab er fich 
hinter die „Kuliſſen“. 

„Niemand wird auf die Knie fallen, eitle Phantafie !” 
rief ihm eine Stimme nad). 

„Bas für eine Eigenliebe !" 

„ber das Ш doch Humor”, glaubte jemand erklären 
zu muͤſſen. 

„Kein, verjchonen Sie uns bitte mit ſolchem Humor.” 

„Das war einfach eine Frechheit, meine Herren!" 

„Ха, wenigftens hat er endlih Schluß gemacht!“ 

„Das war aber eine Langeweile! — daß Gott ет: 
barm’ №" | 


746 


Uber alle dieſe unhöflichen Yusrufe der leßten Reihen 
wurden übertönt von dem Applaus des anderen Publi— 
fums. Man rief Karmafinoff hervor. Einige Damen, 
an der Spiße Zulija Michailowna und die Adelsmarfchal: 
lin, verfammelten fich vor der Tribüne. In den Hans 
den hielt Julija Michailowna ein weißes бат еп, 
auf dem ein Xorbeerfranz in einem zweiten Kranz von 
ofen lag. 

„Lorbeer!“ rief Karmafinoff mit einem feinen und 
etwas boshaften Lächeln. „Sch bin natürlich gerührt 
und ich nehme diefen im voraus geflochtenen Kranz, der 
noch nicht verwelkt Ш, mit aufrichtigem Danfe an: aber 
ich verfichere Sie, Mesdames, ich bin plößlich ſoweit 
Kealift geworden, daß ich Lorbeeren heutzutage in den 
Händen eines Kochs beffer aufgehoben fände, als in den 
meinigen .. 

„sa, ein Koch ift auch nüßlicher!"” rief der Semina— 
rift, der mit auf der „Sitzung“ bei Wirginsfis geweſen 
war. 

Die Drdnung wurde geftört. In vielen Reihen Мед 
man auf die Stühle, um beffer die Zeremonie der Über: 
reichung des Lorbeerkranzes jehen zu koͤnnen. 

„sch würde jeßt für einen Koch noch drei Rubel зи: 
zahlen”, ertönte eine laute Stimme, 

„sch gleichfalls !’ 

„Ich auch!“ 

„Gibt es denn hier wirklich kein Buͤfett?“ 

„Meine Herren, das iſt einfach ein Betrug... 

Immerhin bewahrten die NRuheftörer noch einigen 
Reſpekt vor unjeren Honoratioren und den anweſenden 
Polizeioffizieren. Ungefähr zehn Minuten nachher 


48% 747 


hatten Пе jich denn auch alle wieder gejeßt. Uber die ur: 
Iprünglihe Ordnung war doch nicht mehr vorhanden. 


Und in dieſem Infangsftadium eines drohenden TZumults 


mußte nun der arme Ötepan Trophimowitſch auf: 
treten ... 
IV 

Ich hielt es nicht aus und eilte doch noch zu ihm hinter 
die Kuliſſen, um ihn anzuflehen, jetzt ſeinen ganzen Vor— 
trag aufzugeben, ein Unwohlſein vorzuſchuͤtzen und nach 
Hauſe zu fahren. Es ſei nun alles ſchon verſpielt und ver— 
loren, auch ich wuͤrde mein Feſtordnerband ablegen, 
meinen Ehrenpoſten aufgeben und mit ihm davongehen. 
Er war in dieſem Augenblick gerade im Begriff, die 
Tribuͤne zu betreten: nun blieb er ſtehen, maß mich hoch— 


muͤtig vom Kopf bis zu den Füßen und fragte mit gerade: 


zu feierlichem Ernft: | 

„Wie kommen Sie dazu, mein Herr, von mir eine jolche 
Schändlichfeit zu erwarten?” 

Ich trat zurüd, überzeugt, daß er ohne Kataftrophe 
von dort nicht zurüdfehren werde. In vollitändiger 
Mutlofigfeit ftand ich da, als plößlich wieder die Figur 
des angereiften Profeſſors vor mir auftauchte. Er ging 
immer noch auf und ab, in jich verjunfen und vor ſich 
binmurmelnd, aber ein triumphierendes Lächeln glitt 
hin und wieder über jein Geſicht, und von Zeit zu Zeit 


hob er immer noch die баий, um fie dann wuchtig nieder: | 
ſauſen zu laſſen. Sch trat ganz unabfichtlich auf ihn zu. | 
„Biffen Sie,” fagte ich, „erfahrungsgemäß hört Fein | 


einziges Publifum länger als zwanzig Minuten jeman: 
dem зи. Selbſt die größte Berühmtheit wird es feine 
бабе Stunde..." | 


748 





Er blieb ftehen. Ein ungeheurer Hochmut ад auf 
feinem Фей. 

„Seien Sie unbeforgt”, brummte er verächtlich und 
ging an mir vorüber. 

Sn Diefer Minute ertönte im Saale die Stimme 
Stepan Zrophimomitiche. 

„ich, daß Euch der ...!“ fluchte ich und eilte in den 
Saal. 

Stepan Trophimowitſch Hatte fich in den Stuhl ges 
fett, noch bevor die Drdnung im Saale einigermaßen 
bergeftellt war. Aus den erften Reihen empfingen ihn 
‚nicht gerade wohlmollende Blide, Im Klub hatte man 
in der leßten Zeit aufgehört, ihn beſonders zu ſchaͤtzen 
oder gar zu lieben. Uber immerhin mar es |фоп viel, 
daß man ihn nicht einfach auszifchte. Mich hatte Die ganze 
Zeit die fire Idee verfolgt, daß etwas Derartiges де: 
ſchehen werde. Vermutlich bemerkte man ihn bei der 
allgemeinen Unordnung zunächft gar nicht. Doch mas 
konnte er denm überhaupt erwarten, wenn man jogar 

mit Karmafinoff jo verfahren war? Er mar bleich; aus 
feiner Aufregung erſah ich, der ich ihn Doch fo gut Fannte, 
daß er fein Erfcheinen auf diefer Tribüne felber als eine 
Art Schieffalsfügung empfand. Фо fiand er denn паф 
zehn Jahren wieder vor der Öffentlichkeit! Lieb und 
teuer war mir diefer Menſch. Und was fühlte ich nicht 
alles für ihn, als ich nun feine erjten Worte vernahm! 

„Meine Damen und Herren!” ftieß er hervor, wie zu 
allem entichloffen, und doch mit einer Stimme, die vor 
innerer Erregung gleichfam feinen Atem hatte. „Meine 
Damen und Herren! Noch heute morgen lag einer diejer 
verkotenen und gejeßmwidrigen Aufrufe vor mir, und 






749 


ich ftellte mir wohl zum hundertften Mal die Frage: 
‚Worin befteht das Geheimnis ihrer Macht?‘ 

Der ganze Scal verftummte im Yugenblid; alle Blide 
wandten fich ihm zu. Kein Zweifel: mwenigftens hatte 
er es verftanden, gleich mit den erften Worten zu 
feſſeln. Sogar hinter den Kulifjen ftedte man die Köpfe 
hervor: Liputin und Lämjchin laufchten geradezu gierig. 
Julija Michailowna rief mich wieder mit einem Wink 
zu ſich. 

„Halten Sie ihn auf, mas es auch Eofte, halten Sie ihn 
auf!" flüfterte fie mir erregt zu. 

Ich zudte nur mit der Achſel. Wie fonnte man einen 
Menichen, der jich |фоп zu allem entſchloſſen hatte, noch 
aufhalten? Und ich verftand Stepan Trophimowitſch 
nur zu gut. 

„Aha, von den Proflamationen!” flüfterte man im 
Publikum, 

„Meine Damen und Herren, ich habe dag ganze Ge: 
heimnis erraten. Das Geheimnis ihrer Macht und ihres 
Erfolges Нед in ihrer — Dummheit!" (Seine Augen 
erglänzten.) „Sa, wäre das eine erflügelte Dummheit, 
eine Dummheit aus Berechnung — oh, dann wäre ſie 
genial! Aber man muß den Verfaffern volle Gerechtig- 
feit widerfahren lafjen: fie bringen fie nicht aus Зе: 
rechnung, nein, jondern es Ш einfach die allernaivite, die 
alleroffenherzigite, die allerbilligfte Dummheit — c’est 
la betise dans son essence la plus pure, quelque сБозе 
comme un simple chimique. Wäre das alles ет wenig 
Нидег ausgedrüdt, fo würde ein jeder die ganze Arm= 
feligfeit diefer billigen Dummheit einjehen. So dagegen 
bleiben alle in der Ungemißheit, denn feiner will es doch 


750 








Nauben, daß es wirklich fo erftklaffig dumm ſei. ‚Es fann 
doch nicht fein, daß nichts dahinter ftede‘, jagt ſich ein 
jeder, und man fucht nach dem geheimen Sinn, glaubt 
an ein Geheimnis und will zwifchen den Zeilen leſen. 
Damit aber ift der Erfolg ſchon gefichert! Oh, noch nie 
hat ме Dummheit eine fo feierliche Belohnung erhalten, 
ungeachtet dejjen, daß fie jie jo oft verdient... Denn, 
en paranthöse, die Dummheit, wie das höchfte Genie, 
ind innerhalb des Gefchides der Menichheit beide von 
gleichem Nußen.” 

„Sentenzen der vierziger Jahre!” hörte man eine 
übrigens recht bejcheidene Stimme jagen. 

Doch nun war es mit der Ruhe zu Ende: alles fchrie 
und lärmte los. 

„Meine Herren, Hurra! ch fchlage vor, einen Zoaft 
auf die Dummheit auszubringen!” rief Stepan Zrophi: 


mowitſch, den ganzen Saal gleichjam herausfordernd. 


Sch lief zu ihm, unter dem Vorwande, Wafjer 118 Glas 


zu gießen. 


„Stepan Zrophimomitich, laffen Ste davon ab, Zulija 
Michailowna bittet Sie inftändig ...“ flüfterte ich 


ſchnell. 


„Nein, laſſen Sie von mir ab, Sie muͤßiger junger 
Mann!” rief er mir mit lauter Stimme zu. 

Sch $09 mich zurüd. 

„Messieurs!“ fuhr er fort, „wozu die Aufregung, 
warum dieſes Gefchrei des Unmillens, das ich höre? 
Sch bin ja mit dem Dlivenzmweig gefommen. Sch bringe 
das letzte Wort, denn in diefer Sache habe ich das letzte 
Wort — und wir fünnen ung verjföhnen.” 

„Sort mit ihm!” riefen die einen. 


„Ruhig, laßt doch hören, laßt ihn zu Ende fprechen !” 
Ichrien die anderen. 

Befonders regte fich der junge Lehrer auf, der, nachdem 
er einmal zu |ртефеп gewagt hatte, nun ſich nicht mehr 
halten Гоппе. 

„Messieurs, das leßte Wort in diefer бафе ЦЕ — die 
aegenfeitige Vergebung. Ich, ein alter Mann, ich erfläre 
feierlich, daß der Фе! des Lebens noch ebenjo ftürmt 
wie früher und die lebendige Kraft auch in der jungen 
Generation nicht verjiegt ift. Der Enthufiasmus unferer 
jebigen Jugend ift noch ebenfo rein und licht, wie er eg zu 
meiner Zeit war. 68 Ш nur eines gefchehen: man hat 
die Ziele geändert, ме eine Schönheit ward durch die 
andere erjeßt! Das ganze Mifverftärdnis liegt nur 
darin, was ift fchöner: Shakeſpeare oder ein Paar Stiefel, 
Rafael oder ein Petroleur?” 

„Das ift eine Anklage!” brüllte man irgendwoher. 

„Das find fompromittierende Tragen!” 

„Agent-provocateur!“ 

„sch aber erkläre,” rief Stepan Zrophimomitich mie 
rajend, „ich aber erkläre, рав Shafejpeare und Rafael — 
höher als die Aufhebung der LZeibeigenfchaft, höher als 
das Зо, höher als der Sozialismus, höher als die ge: 
jamte junge Generation, höher als die Chemie, höher 
faft als die ganze Menjchheit ftehen, und vielleicht ме 
höchfte Frucht find, Die eg überhaupt geben fann! Die 
Form der Schönheit ift damit ſchon erreicht, Ме Prägung, 
ohne die ich vielleicht gar nicht einmilligen würde, zu 
leben... O Gott!" er erhob die Arme, „vor zehn Fahren 
habe ich das in Petersburg genau fo von einer Tribüne 
den Menjchen zugerufen, mit venfelben Worten, und 


752 





ebenfowenig haben fie mich damals verftanden, haben 
gelacht und gepfiffen wie 68... O ihr Нетеп, 
Heinen Menfchen, mas fehlt euch, daß ihr das nicht 
verftehen fönnt? За, wißt ihr denn nicht, wißt ihr denn 
nicht, daß ohne den Engländer die Menfchheit noch leben 
fann, auch ohne den Deutichen, ohne den ти|Ифеп 
Menſchen |фоп ohne weiteres, auch ohne die Wiffenfchaft, 
auch ohne Brot, nur ohne die Schönheit, nur ohne Schöne 
heit [апп fie nicht leben, denn da gäbe es überhaupt 
nichts mehr zu tun auf der Welt! Hier liegt dag ganze 
Geheimnis, liegt die ganze Weltgefchichte! Selbſt die 
Wiſſenſchaft würde ohne die Schönheit nicht einen 
Augenblid beftehen — mwißt ihr das auch, ihr Lacher —, 


alles würde fih in Hamitentum verwandeln, nichts 


mehr würdet ihr erfinden, nicht einmal einen Nagel!... 
Dabei bleibe ich!" und er fchlug aus aller Kraft mit der 
Fauft auf den Tiſch. 

Diele ſprangen von ihren Pläßen, andere drängten 
jich näher zu der Tribüne. Alles das gefchah fchneller, 
als ſich's beſchreiben läßt, und erft recht fchneller, als Рав 
man DVorlichtsmaßregeln hätte treffen fünnen — wenn 
man überhaupt welche hätte treffen wollen! 

„Ihr Habt es gut, ihr Verwoͤhnten an euren vollen 
Tiſchen!“ brüllte fchon unmittelbar vor der Tribüne der 
Seminarift und fletichte Stepan Trophimowitſch hoͤh— 
niſch ап. 

Der bemerkte es und trat jofort bis an der Außerften 
Hand: | 

„Бабе nicht ich, nicht ich foeben noch gejagt, daß der 
Enthufiasmus unferer jungen Generation ebenfo rein 
und licht ift wie früher, und daß fie nur deshalb ins Ver: 


753 


derben geht, weil fie #4 in den Formen des Schönen 
taͤuſcht? Sit euch das зи wenig? Und wenn ihr bedenft, 
рав ein gebeugter und beleidigter Vater zu euch ſpricht, 
ЦЕ es dann, — o ihr Heinen Menjchen!... Kann man 
denn überhaupt noch leidenjchaftslofer und klarer ſchauend 
über den Anjichten ftehen? Undankbare, ungerechte 
Menſchen ... warum wollt ihr nicht Frieden fchließen.. .” 

Und plößlich brach er in Бойе Фе Schluchzen aus. 
Er mijchte 14 mit den Fingern die Tränen ab. Die 
Bruft und die Schultern zitterten vor Schluchgen — er 
vergaß alles um ſich Бег. 

Eine wirffiche Panik ergriff das Publikum, faft alle 
erhoben jich von ihren Plaͤtzen. Auch ЗиЩа Michailowna 
erhob fich fchnell und 308 ihren Mann von feinem Stuhle 
in die Höhe. 

„Stepan Trophimowitſch!“ brüllte triumphierend der 
Seminarift. „Hier in der Stadt und in der Umgegend 
treibt ſich jeßt ein entiprungener Zuchthäusler herum, 
Fedjka mit Namen. Er ftiehlt überall und vor nicht 
langer Zeit hat er einen neuen Mord verübt. Geftatten 
Sie die Frage: wenn Sie ihn vor fünfzehn Jahren nicht 
zur Begleichung einer SKartenjchuld ale Rekruten 
verfauft hätten, wäre er dann auch nach Sibirien 
gefommen? Hätte er dann auch Menfchen ermordet im 
Kampfe ums Заеш? Was jagen Sie dazu, Herr 
Aſthetiker?“ 

Ich verzichte darauf, die nun folgende Szene zu be— 
ſchreiben. Zunaͤchſt ertoͤnte ein raſender Applaus. Es 
applaudierten natuͤrlich nicht alle, vielleicht nur der 
fuͤnfte Teil des Saales, aber der applaudierte dafuͤr auch 
wie wahnſinnig. Der Reſt des Publikums ſtroͤmte zum 


754 


Yusgang, der applaudierende Teil dagegen zur Tribüne 
Ми, und fo entitand ein allgemeines Gewühl. Damen 
Ichrien auf. Zunge Mädchen weinten und wollten паф 
Haufe. Lembke ftand noch immer an feinem Plaß und 
ſah drohend um fich. Julija Michailowna verlor zum 
eritenmal in ihrem Leben völlig den Kopf. Stepan 
Trophimowitſch fchien von den Worten des Seminariften 
zuerft völlig zerfchmettert zu fein, doch plößlich erhob er 
beide Hände und tief: 

„sch Ichüttle den Staub von meinen Füßen und ver: 
Пифе... Das Ш das Ende... das Ende...” 

Und fich umfehrend lief er, geftifulierend und noch 
mit den Händen drohend, hinter die Kuliffen. 

„Er bat die Geſellſchaft beletdigt!... Er fehmäht 
uns! Werchowenski!“ fchrie man. 

Und fchon wollte man hinter ihm ber ftürzen, was in 
diefem Augenblid ſchwer zu verhindern gemwefen wäre, 
— aber fiehe da! nun follte noch die leßte Kataftrophe 
wie eine Bombe in die Berfammlung einschlagen! Der 
dritte Redner, jener Maniaf, der hinter den Kulifien 
hin und Бег gejchritten war und in einem fort die 
баш Hochgehoben Hatte, erjchien plößlich auf der 
Tribüne. 

Er hatte entjchieden das Ausjehen eines Verrüdten. 
Mit breitem, triumphierendem Lächeln, voll unermeß: 
lichen Selbftvertrauens überjah er die aufgeregte Menge, 
und es ſchien ihn nicht im geringften zu verwirren, daß 
er vor folhem Publifum reden follte, vielmehr fchien er 
an der Unordnung fogar feine Freude zu haben, und 
zwar jo augenjcheinlich, daß gerade das die allgemeine 
Aufmerkſamkeit auf ihn lenkte. 


755 


„Wer ift denn das?” hörte man fragen. „Mas will 
denn der noch? Still! Pit! Mas?” 

„Meine Herren !” begann diefer Menfch, gang am Außer: 
ften Rande der Tribüne ftehend, fchreiend laut und faft 
mit einer ebenfo Freifchend=weibifchen Stimme, mie 
SKarmafinoff fie hatte, nur lauter und ohne das ато: 
kratiſche Liſpeln. 

„Meine Herren! Vor zwanzig Jahren, am Vorabend 
unſeres Krieges mit dem halben Europa, war Rußland 
das Ideal aller Staats- und Geheimraͤte! Die Literatur 
ſtand im Dienſt der Zenſur! An den Univerſitaͤten lehrte 
man exerzieren! Das Heer wurde zum Ballett! Das 
Volk aber bezahlte ſtier und ſtumm Abgaben, ſchwieg und 
ſchmachtete unter der Knute der Leibeigenſchaft! Patrio— 
tismus wurde zum Geſchaͤft: man erpreßte von Leben—⸗ 
den und von Toten! Die nicht Schmiergelder nahmen, 
galten fuͤr revolutionaͤr, denn ſie ſtoͤrten die Harmonie! 
Die Birkenwaͤlder wurden raſiert als Hilfe zur Aufrecht: 
erhaltung Мест Ordnung. Europa ина. Doch in 
Rußland hatte es in dem ganzen finnlofen Jahrtauſend 
feiner Erifteng noch niemals elender ausgefehen! Ruß: 
land war nur noch eine einzige Schmach und weiter 
nichts!” Und mit einer wüften Bewegung erhob er die 
Fauft, fehüttelte fie örohend über feinem Haupte und 
ließ fie dann ingrimmig niederfaufen, als wollte er mit 
einem einzigen Schlage einen unfichtbaren Gegner zer: 
fchmettern. | 

Ein unbändiges Gebrülf erhob fich von allen Seiten. 
Ohrenbetaͤubendes Klatfehen und Trampeln erfchütterte 
den Saal. Es epplaudierte fchon beinahe die Hälfte der 
Anmefenden. Die Harmlofeftien wurden mitgeriffen: 


756 





Rußland wurde öffentlich gefchmäht, entehrt, vor dem 
ganzen Publitum heruntergeriffen — wie [ое man da 
nicht bruͤllen vor Entzücen? 

„Dasifts!... Der шей es!... Der hat recht! 
Hurra! .. Das ift beffer als Aſthetik! ... Hurra М 

Triumphierend fuhr der Maniaf in feiner Nede fort: 
„Seit der Zeit find zwanzig Jahre vergangen! Die 
Univerfitäten haben fich vermehrt! Das Ererzieren in 
den Hörfälen ift zur Legende geworden! An Offizieren 
im Heer fehlt’8 jebt zu Xaufenden! Die Eifenbahnen 
haben alles Kapital verfchlungen und Rußland wie mit 
einem Spinngewebe überzogen, fo daß man in zehn bie 
fünfzehn Sahren vielleicht auch wirklich wird reifen 
fünnen. Die Brüden brennen nur felten, aber die Städte 
dafür um fo häufiger. Auf den Gerichten werden falo: 
monifche Urteile gefällt, 50% die Gefchworenen nehmen 
Schweigegelder an, um nicht Hungers zu fterben! Die 
befreiten Xeibeigenen peitfchen fich jeßt gegenfeitig, an 
Stelle der Gutsbefißer, die es früher taten! Ozeane von 
Schnaps trinkt man aus, damit das Budget zuftande 
fommt! Und in Nowgorod hat man vor der alten und 
unnügen Sophienkirche eine koloſſale Kugel aufgeftellt 
und feierlich enthüllt, als Denkmal der taufendjährigen 
Unordnung und Sinnlofigkeit, die wir jeßt glücklich 
hinter uns haben! Europa aber ärgert fich und fühlt fich 
von neuem beunruhigt... Fünfzehn Jahre der Nefor- 
men! Indeſſen ЧЕ Rußland noch niemals, nicht einmal 
in den grotesfeften Zeiten feines ganzen unfinnigen 
Beſtehens, zu folch einer... .” 

Seine legten Worte wurden ſchon vom ©ebrüll der 
Menge verfihlungen. Man [аб nur noch, wie er wieder. 


757 


die Fauft erhob und fie dann wieder niederfaufen ließ. 
Der Jubel überftieg bereits alle Grenzen. Man fchrie, 
man heulte, man Hatfchte unbändig in die Hände. 
Sogar einzelne Damen riefen: „Senug! Belleres 
koͤnnen Sie nicht mehr fagen!” Man war име Бег 
trunfen. Oben auf der Tribüne aber ftand der Redner, 
überfhaute alle und ſchmolz gleichfam in feinem 
Triumphgefuͤhl. 

Ich ſah nur noch, wie Lembke in unausſprechlicher 
Aufregung irgendjemandem irgendetwas befahl. Neben 
ihm ſtand Julija Michailowna kreideweiß. Der junge 
Fuͤrſt naͤherte ſich ihnen ſchnell. Sie fluͤſterte ihm etwas 
zu. Doch in dieſem Moment ſah ich ſchon mehrere Herren 
auf der Tribüne, meiſt offizielle Perſoͤnlichkeiten, die ſich 
blitzſchnell auf Ben Redner warfen und ihn hinter die 
Kuliſſen ſchleppten. Irgendwie gelang es aber dieſem 
Doch noch, fich loszureißen, und im Augenblick ftand er 
wieder auf der Tribüne, um, mit erhobener Fauft, gerade 
noch ſchreien zu Zönnen: 

„Uber noch nie ift Rußland zu folch einer . . .* 

Dog ſchon Hatte man ihn wieder gepackt, uͤberwaͤltigt 
und ſchleppte ihn weg. Sogleich ſtuͤrmte ein ganzer 
Haufe von etwa fünfzehn Mann hinter Die Auliffen, um 
ihn zu befreien, Rüemte ТЕНИ an der Tribuͤne vorüber, 
riß eine Barriere um... 

Sch ſah nur noch, dag ploͤtzlich — Ich Наше meinen 
Augen nicht — die Studentin (Wirginskis Schweiter) auf 
der Кафе Band. Ste hielt Diefelbe Dapierrofle in der 
Hand, war ebenſo angezogen, ebenfo rundlich, Doch 
hinter ihr Banden поф zwei oder drei Geſinnungs⸗ 
genoffinnen und zwei oder drei Genoffen, unter diefen 


758 





auch ihr Todfeind, der Gymnaſiaſt. Sch vernahm fogar 
noch ihre erften Worte: 

„Sch bin gefommen, um Ihnen von den Leiden der 
unglücklichen Studenten zu erzählen und alle zu einem 
Proteft aufzurufen!” ... 

Doch da Tief ich Schon hinaus. Mein Feftordnerband 
ſteckte ich in Die Taſche, durch eine Hintertür gelangte 
ich auf ме Straße. Mein erfter Weg war natürlich zu 
Stepan Trophimowitſch. 


759 


Siebzehntes Kapitel 
Das Ende des Feſtes 


I 


tepan Trophimowitſch empfing mich nicht. Er 
hatte fich eingeſchloſſen und jchrieb. Auf mein Яр: 


fen und Rufen hin antwortete er mir nur durch die ver: 


ſchloſſene Zür: 

„Lieber Freund, ich habe mit allem abgefchloffen, wer 
fann noch mehr von mir verlangen?” 

„Sie haben gar nicht mit allem abgejchlofjen! Sie 
haben nur das Ihre Dazu beigetragen, daß alles зи: 
jammenbrah! Im Ernſt, Stepan Trophimowitſch, 
machen Sie die Tuͤr auf, man muß Vorkehrungen treffen. 
Die Bande kann ſchließlich noch zu Ihnen kommen, um 
Sie zu bejchimpfen ...“ 


Ich hielt mich fuͤr berechtigt, ſtreng mit ihm zu reden. 


Vor allem fuͤrchtete ich, daß er irgendeine Torheit be— 
gehen koͤnnte. Aber zu meinem Erſtaunen ſtieß ich bei 
ihm auf feſte Entſchloſſenheit. 

„Wenn Sie mich nur nicht als erſter beleidigen wollten. 
Ich danke Ihnen fuͤr alles Geweſene, aber ich muß Ihnen 
wiederholen, daß ich mit allem abgeſchloſſen habe, mit 
dem Guten, wie mit dem Boͤſen. Ich ſchreibe ſoeben 
einen Brief an Darja Pawlowna, die ich unverzeihlicher— 
weiſe bis jetzt ganz vergeſſen hatte. Morgen bringen Sie 


760 


| 





ihr dann den Brief, wenn Sie fo freundlich fein wollen. 
Heute aber — ‚Merci‘, 

„Stepan Zrophimomitjch, ich verlichere Ihnen, daß 
die Sache erniter ift, als Ste glauben. Oder glauben Sie 
vielleicht, daß Sie dort jemanden zerjchmettert haben? 


Ach, doch nur fich felbft, wie ein leeres Glas!” (Oh, ich 


war roh und graufam; heute Ш mir das eine ſchmerz— 


liche Erinnerung!) „An Darja Pawlowna haben Gie 
jetzt entfchieden nichts zu ſchreiben . . und mag wollen 
Sie jetzt ohne mich anfangen? Was wiljen Sie denn 


von der Wirklichkeit? Sicher haben Sie jeßt irgendeine 
bejondere Abſicht! Was haben Sie vor, Stepan Trophi— 
mowitſch? Sicher werden Öie fich noch einmal blamieren, 
wenn Gie wieder etwas unternehmen..." 

Er ftand auf und fam zur Tür. 

„Sie haben noch nicht lange mit dieſen Leuten ver: 
fehrt, und doch haben Sie deren Sprache und Ton |фоп 
angenommen. Dieu vous pardonne, mon ami, et Dieu 
vous garde. Aber 14 habe in Shnen immer einen ge: 
wiffen inneren Anftand wahrgenommen, und jo hoffe 
ich, daß Sie noch zur Befinnung fommen werten — 
аргёз le temps natürlich, wie mir alle, wir ruffiichen 
Menichen. Was Ihre Bemerkung über meine Unfenntnis 
der Wirklichkeit betrifft, jo möchte ich Sie an einen alten 
Gedanken von mir erinnern: daß bei ung in Rußland un: 
zählige Menfchen ſich nur damit befchäftigen, mit größten 
Wuteifer und mit einer Unermündlichkeit, die an Fliegen 
im Sommer gemahnt, über alle anderen herzufallen, 
indem yie ihnen Unfenntnis der Wirklichkeit vorwerfen. 
Jedem Menfchen machen fie den Vorwurf, er jei ‚un- 
praktisch‘, nur Sich felbft machen Jie ibn nie, Cher, bes 


49 Doitojewsti, Die Dämonen. 35. И, 761 


denken Sie, daß ich erregt bin, und quälen Sie mich nicht. 
Noch einmal Danf für alles und jcheiden wir voneinander, 
wie Karmajinoff vom Publifum — das heißt, vergefjen 
wir ung gegenfeitig jo großmütig wie möglich. Das war 
von ihm übrigens nur eine inte, daß er feine alten Leſer 
fo inftändig bat, ihn zu vergefjen. Quant & moi, fo bin 
ich nicht jo jelbftjüchtig und verlafje mich vor allem auf 
die Jugend Ihres unverjuchten Herzens: wozu follten 
Sie fich lange eines nußlojen Greifes erinnern? Darum, 
mein Freund, ‚leben Sie mehr‘, wie mir айа а zu 
meinem le&ten Namenstage wünjchte (ces pauvres gens 
ont quelque fois des mots charmants et pleins de 
philosophie). Nicht zu viel Gluͤck wuͤnſche ich Ihnen, das 
würde langweilig werden. Aber 14 wuͤnſche Ihnen auch 
fein Unglüd, jondern fage nur wie der Volksmund: 
‚Leben Sie mehr‘! Und verfuchen Sie irgendwie, fich 
nicht zu grämen. Diejen überflülligen Wunfch füge ich 
noch von mir aus hinzu. Und nun leben Sie wohl. 
Im Ernft gefagt: leben Sie wohl. — Bleiben Sie nicht 
an meiner Tür, ich werde nicht aufmachen.” 

Er ging auch tatjächlih fort von der Tuͤr und ich 
fonnte nichts weiter von ihm erfahren. Ungeachtet jeines 
Geftändnifjes, daß er „erregt“ jei, hatte er langjam, 
fließend und eindringlich gejprochen. Natürlich war er 
mir aus irgendeinem Grunde gram und rächte fich nun 
auf dieje Weije. Bor allem aber brachten ihn die Tränen, 
die er am Morgen vor dem Publikum gemeint, wenn er 
auch vorher eınen halben Sieg errungen hatte, in eine 
etwas fomijche Lage, und das fühlte er wohl ſelbſt. Nun 
mar aber gewiß fein Menſch gerade um die Schönheit 
und die Ötrenge der äußeren Formen — jelbit im Ber- 


762 


fehr mit feinen Freunden — fo bejorgt wie Stepan 
Trophimowitſch. Ob, ich mache ihm feinen Vorwurf! 
Damals aber war e8 eben diefe Erwägung, daß ein 
Menfch, der fich troß aller Erjchütterung in dieſer дем еп 
Pedanterie und diefem Sarkasmus treu blieb, Doch wohl 
nicht jo erjchüttert fein Ffonnte, um nun geneigt zu fein, 
etwas Tragiſches oder Außergemwöhnliches zu unter: 
nehmen. Фо dachte ich damals bei mir, aber, о Gott, 
wie täufchte ich mich! Ich ließ doch gar zu vieles außer 
acht ... 

Hier moͤchte ich nun, obgleich ich damit den Ereigniſſen 
vorgreife, einige Zeilen aus dem Brief mitteilen, den 
Darja Pawlowna ат anderen Tage tatſaͤchlich erhielt. 

„Mon enfant! Meine Hand zittert, aber ich habe mit 
allem abgeſchloſſen. Sie waren nicht zugegen bei 
meinem leßten Zujammenftoß mit den Menichen, bei 
diefem ‚Vortrag‘, und Sie taten recht. Aber man wird 
Ihnen erzählen, daß in unjerem an Charakteren gänzlich 
verarmten Rußland ein Menſch ſich erhoben und troß 
der Öefahren, die er lief, dieſen Heinen Dummkoͤpfen die 
ganze Wahrheit gejagt hat, dag heißt: daß fie dumme 
Närrchen find. Oh, ce sont des pauvres petits vauriens 
et rien de plus, des petits Närrchen — voila le mot! 
Der Würfel ift gefallen. Sch verlaſſe ме Stadt. Ich 
fehre niemals wieder. Уф weiß noch nicht, wohin ich 
meinen Fuß jeßen werde. Alle, die ich liebte, haben ſich 
von mir abgewandt. Nur Sie, Sie reines und gutes 
Gejchöpf, Sie Sanfte, deren Schickſal 14 beinahe mit 
dem meinen vereinigt hätte, nach dem Willen eines 
fapriziöjen und herrichjüchtigen Frauenherzens, Sie, die 
vielleicht mit Verachtung auf mich herabfehen, feit ich 


49° 763 


am Vorabend unferer nicht zuftande gekommenen Heirat 
meine Fleinmütigen Tränen vergofjen Бабе; Sie, мет 
mir gewiß nichts anderes fehen Fönnen, als einen 
Lächerlichen Menfchen, nur Sie, ob, nur Sie grüße in 
noch! Nur Ihnen noch diefen letzten Schrei meines 
Herzens, Ihnen meine legte Pflicht, Ihnen allein! Kann 
ich Sie doch nicht fo auf ewig verlaſſen! — mit der Vor: 
ftellung von mir als einem undankbaren, unwiffenden, 
jelbftfüchtigen Toren, wie mich Ihnen wohl täglich ein 
undankbares und graufames Herz fehildert, ein Herz, 
das 16 — с Schmerz! — nicht vergeffen пи...“ 

Der Brief war auf einem Bogen großen Formats 
gefchrieben und vier Seiten lang... 

... Ich pochte noch dreimal an die Tür, nachdem er 
mit den Worten, er werde nicht aufmachen, ins Zimmer 
zurüdgegangen war. Dann rief ich ihm zu, daß er heute 
noch dreimal Naftafija zu mir fchiden werde mit der 
Bitte, zu ihm zu kommen, aber dann werde das gleichfalls 
vergeblich fein. Damit ging ich fort und begab mich zu 
Julija Michailomna. 

TI 

Hier follte ich Zeuge einer empörenden Szene werden: 
die arme Frau wurde auf eine geradezu infame Weife 
betrogen. ich ſah es, aber ich war ja machtlos. Was 
Бане ich ihr denn jagen follen? Ich hatte ja felbft nur 
erft unflare Vorgefühle, doch feinen einzigen Beweis 
für meinen Verdacht. 

3:18 ich eintrat, lag Пе weinend unter Eau de Cologne— 
Kompreſſen und Eiswafler auf der Chaijelongue. Vor 
ihr ftanden Piotr Etepanomitich, der ununterbrochen 
redete, und der junge Fürft, der ununterbrochen ſchwieg, 


764 


als hätte man ihm mit einem Schlüffel den Mund ver: 
Ichlofjen. 

Unter Tränen warf fie Piotr Stepanowitſch feine 
„Abtrünnigfeit” vor. Sonderbar war dabei, daß fie nur 
ihm allein und feiner Abmwefenheit das Mißlingen und 
den ganzen Zufammenbruch des Feltes zufchrieb, 

An Piotr Stepanowitich felber fiel mir eine merf: 
würdige Veränderung auf: er war ungewöhnlich ernft 
und offenbar mit irgendwelcher Gedanken beſchaͤftigt. 
Sonft war er ja nie ernft gewejen, fondern hatte immer 
gelacht, felbft dann, wenn er 14 ärgerte — und er 
ärgerte fich oft. Auch jeßt war er fichtlich geärgert, ſprach 
grob, nachläflig und rüdjichtslos, voll Haft und Ungeduld. 
Er verficherte, daß er Ме ganze Zeit mit Kopfichmerzen 
und Übelkeit bei Gaganoff gelegen hätte, zu dem er, wie 
er fagte, Ichon am frühen Morgen gegangen wäre: ап 
ein Erſcheinen auf der Matinee fei auch nicht einmal zu 
denfen gewejen. 

Seßt drehte fich der ganze Streit hauptſaͤchlich darum, 
ob die andere Hälfte des Feftes, der Ball am Abend, 
ftattfinden {ое oder nicht? 

Julija Michailowna wollte unter feiner Bedingung 
auf ihm erfcheinen — oder vielmehr, fie wollte mit aller 
Gewalt darum gebeten werden, und zwar gerade von 
Piotr Stepanomwitich. Sie hörte noch immer aufihn wie 
auf ein Drafel, und da es durchaus in feinen dunflen 
Plänen lag, daß der Ball heute noch ftattfand und Зи а 
Michailowna auf ihm erfchien, fo bat er denn auch. 

„Barum meinen Sie denn? Gie müfjen natürlich 
wieder eine Szene machen! Wir aber muͤſſen jeßt zu 
einem Entjchluß kommen. Was am Morgen verdorben 


а — 
65 


wurde, machen wir am Abend wieder gut! Auch der 
Fürft ift ganz meiner Meinung. Зла, wenn der Fürft 


nicht geweſen wäre, womit würde das wohl geendet 


haben!" 

Daß dies auch die Meinung des Fürften fei, war nun 
freilich nicht ganz richtig. Diefer war nämlich zunächft 
nur dafür, daß der Ball ftattfand, nicht aber dafür, daß 
Julija Michailomna auf ihm erjchien. Schließlich ſchien 
er aber auch Dagegen nichts mehr einzumenden zu haben. 

Mich fekte nun vor allem die unglaubliche Frechheit 
Piotr Stepanowitſchs in Erftaunen. Daß an den ge: 
wöhnlichen Klatichgeichichten, die über die Art feines 
Derhältnifjes zu ЗиШа Michailowna umliefen, fein 
wahres Wort war, wußte ich. Er beherrichte diefe Frau 
einfach dadurch, daß er auf alle ihre gefellichaftlichen 
Träume und ehrgeizigen Pläne, auf ihre Abſicht, im 
Gouvernement eine bejondere Rolle zu fpielen und jelbft 
den Petersburgern zu imponieren, in gelchidter Weije 
einging und ihr mit den gröbften Schmeicheleien um den 


Mund redete. Aber erftaunlich war е8 doch, wie rafch er | 


lich jeßt wieder bei ihr in Gunft zu feßen mußte. 
Als fie mich eintreten ſah, rief Пе mit bligenden Augen: 
„Da! fragen Sie ihn, er Ш die ganze Zeit nicht von 
mir gewichen, ganz wie der Fürft! Und Sie, — erflären 
Sie ihm doch bitte, daß dieſer ganze Skandal nichts 
als eine Verfchwörung gegen mich und Andrei Antono= 
witfch war! Ob, die hatten fich alle verjchworen! Sie 


hatten einen gemeinfamen Plan! Es таг alles im | 


voraus darauf abgejehen!"... 
„Sie irren fich, wie immer! Stets ein Poem im Kopf! 
Sch bin übrigens froh, den Herrn... er tat, als habe er 


66 


—1 


meinen Namen vergeflen . . . „er wird ung feine Meinung 
jagen.” 

„Ich bin ganz der Anficht Julija Michailownas,“ beeilte 
ich mich zu erklären. „Daß eine Verabredung vorlag, 
das ſah man doch nur zu deutlich. Sch bringe Ihnen im 
übrigen Мег meine Bänder, Julija Michailowna. Ob 
der Ball zuftande fommt oder nicht, das ift natürlich 
nicht meine Sache. Doch meine Rolle als Anordner ift 
zu Ende. Entjchuldigen Sie, aber ich kann nicht gegen 
meine Überzeugung handeln und — gegen allen gefunden 
Menſchenverſtand.“ 

„Hoͤren Sie, hoͤren Sie!“ rief ſie und ſchlug die Haͤnde 
zuſammen. 

„sch höre ja ſchon ... Aber was ich noch ſagen wollte,“ 
wandte ſich Piotr Stepanowitſch zu mir, „ich bin ев 
überzeugt, daß alle irgend etwas gegeſſen haben müfjen, 
wovon fie frank geworden find. Meiner Meinung nach 
ift nichts geſchehen, nichts, was nicht auch früher fchon 
bei folchen Feften Гай immer gefchehen ift. Was für eine 
Verabredung follte denn das geweſen fein? Es find da 
ein paar fcheußliche Dummheiten pafliert, aber was hat 
das mit einer Verfchwörung zu tun? Das war nicht 
gegen Julija Michailowna perjönlich, ſondern höchitens 
gegen ihre Günftlinge und Schüßlinge gerichtet! Zulija 
Michailomna! Was habe ich Ihnen den ganzen Monat 
ununterbrochen vorgehalten? Wovor habe ich Sie ge: 
warnt? Nun, jagen Sie mir doch: wozu, wozu brauchten . 
Sie diefes ganze Volk da? — Wozu mit 1014 einem Pad- 
lich abgeben? Warum und wozu war das nötig?” 

„Bann haben Sie mich gewarnt? Sm Gegenteil, 
Sie begünftigten das, Sie verlangten jogar... @е 


767 


jelbft Haben mir allerhand fonderbare Menſchen zus 
geführt!" | 

„sm Öegenteil, ich habe mich mit Ihnen wegen biefer 
Leute herumgeftritten, aber nicht fie begünftigt und ет: 
geführt! Jetzt foll ich es geweſen fein, Der dieſes Pad 
hier eingeführt hat, womöglich noch in letzter Zeit, als 
lie ſchon zu Dußenden herbeiftrömten, um dieſe Ле: 
rariſche Quadrille‘ mitzumachen! Sch fünnte wetten, 
daß es gerade dieſe Mimen gemejen ſind, die alles mög: 
liche Volk ohne Billetts eingeführt haben.“ 

„Das dürfte ftimmen!” bemerkte ich. 

„Sehen Sie, ſchon müfjen Sie mir recht geben. Und 
erinnern Sie fich doch nur, welch ein Ton Бег in der 
letzten Zeit eingeriffen war! Das war ja ſchon die richtige 
Gemeinheit, das war ja ein Sfandal und Laͤrm, ав 
einem die Ohren davon weh taten! Und wer begünftigte 
das? Wer dedte das alles mit feiner Autorität? Mer bat 
hier alle irre gemacht? Wer hat Мег alle Spießer 21 
bittert? Sind doch in Ihrem Album alle hiefigen Fami— 
liengeheimnifje karikiert! Und haben nicht Sie, gerade 
Sie alle unfere Stegreifdichter und Karikaturiften ver: 
wöhnt, haben Sie fich nicht fogar von einem. Lämfchin 
die Hand kuͤſſen laſſen? Und hat nicht in Ihrer Gegen: 
wart der Seminarift einen Staatsrat bejchimpfen dürfen _ 
und der Tochter des Staatsrats mit feinen Schmier— 
tiefeln das Kleid abgetreten? Warum wundern Sie fich 
nun noch, daß das Publikum Ihnen jeßt nicht gerade 
freundlich gejinnt iſt?“ 

„ber das haben doch alles Sie felbft . 2... D Gott!” 

„sch? ich Бабе Sie immer nur gewarnt! Worüber 
hätten wir uns denn ſonſt die ganze Zeit geftritten?“ 


168 





„Uber Sie lügen mir ja ins Geſicht!“ 

„Nun ja, das foftet Ihnen ja weiter nichts, fo was zu 
fagen. Sie haben jeßt ein Opfer nötig, an dem Gie 
Ihren Arger auslaffen Fönnen — da komme ich Ihnen 
gerade recht. 34 werde mich Fieber an Sie wenden, 
Herr..." Er konnte fich offenbar noch immer nicht auf 
meinen Namen befinnen. „Zählen wir’s Doch an ben 
Fingern ab: ich behaupte, daß außer der Liputingefchichte 
feine einzige Verabredung fich nachweijen läßt, fei—ne 
ein—zige! Das werde ich Ihnen fogleich beweifen; aber 
nehmen wir zuerft Liputin. Er trat mit dem Gedicht des 
Dummkopfs Lebaͤdkin auf — |461! oder vielmehr, das 
war nicht ſchoͤn. Aber was foll denn das für eine ‚Ber: 
Ichwörung‘ fein? Er fam fich einfach geiftreich vor! Im 
Ernft: geiftreich! Er wollte einen Wiß machen, ung unter: 
halten, erheitern, — verlaflen Sie fich darauf!... und 
nicht nur ung, fondern vor allen anderen die Proteftrice 
Julija Michailowna erheitern! Und das Ш alles! Sie 
glaubens nicht? Aber war denn das nicht ein Wiß in 
genau demfelben Tone, wie er hier fchon den ganzen 
legten Monat herrfchte? Und wenn Sie wollen, daß ich 
alles fage: bei Gott, unter anderen Uniftänden wäre er 
vielleicht auch glatt durchgegangen! Der Scherz war 
meinethalben roh, na, jagen wir, war vielleicht ein ftarfeg 
Stüd, aber an fich doch ſchließlich witzig.“ 

„Wie! Sie halten diefe elende Handlungsweiſe Lipus 
tins auch noch für geiftreich ?" fragte Julija Michailormna 
empört, „eine folhe Dummheit, eine ſolche Taktloſigkeit, 
eine folche Ntederträchtigfeit und Gemeinheit, dieſer 
Anfchlag! За, dann gibt es feine andere Erklärung: dann 
find Sie felbft mit jenen im Bunde!” 


769 


„ta, natürlich doch! Sch ſaß ja Binter den Kuliffen, 
habe von dort aus die ganze Mafchine dirigiert. — Wenn 
ich Hinter einer Verſchwoͤrung geftedt hätte, dann, 
glauben Sie mir, dann wäre das nicht bei Liputin allein 
geblieben! Folglich ftedte ich wohl auch, Ihrer Meinung 
nach, hinter meinem Papachen? damit er abfichtlich 
einen ſolchen Skandal heraufbeichwört? За, fagen Sie 
Doch: wer И nun daran jchuld, daß man auch Papachen 
zum Lefen aufforderte? Wer hat Ihnen noch geftern 
davon abgeraten, noch geitern, geftern!!” 

„Oh, hier il avait tant d’esprit, und ich rechnete {о 
auf ihn! Und dann, er hat doch Manieren! Sch dachte: 
er und Karmafinoff... und nun ftatt deſſen!“ ... 

„ja, und nun ftatt dejjen! Uber ungeachtet des 
tant d’esprit, hat Papachen alles verpfuſcht. Doch da 
ich dag vorausjah, jo hätte ich, ald Mitglied der über: 


zeugend nachmweisbaren Verſchwoͤrung gegen Ihr Feft, 


Ihnen doch wohl nicht abgeraten, dieſen Ziegenbod zum 
Gärtner zu machen? Iſt's nicht jo? Indeſſen habe ich 


Ihnen tatjächlich abgeraten, habe noch geftern abgeraten, | 


und zwar, weil ich jchon fo ’пе Borahnung hatte, wie das 
enden würde. Natürlich habe ich nicht alle Details vor: 
ausgefehen, das wäre ja auch gar nicht möglich gemejen: 
er hat doch ficher felber nicht gewußt, womit er im 
nächiten Augenblick herausplaßen wird. So ’n nervöfer 
Alter ift doch überhaupt Fein Menfch mehr! Uber man 
апп da noch manches retten: jchiden Sie gleich morgen, 


zur Genugtuung des Publifums, zwei Ärzte zu ihm, die | 


jich nach feinem Gejundheitszuftande erfundigen, oder 


ſchon heute, und dann fo — na, auf abminiftrativem — 


Wege in eine Kaltwafjerheilanftalt mit фм, Wenigitens 


779 





würden dann alle lachen und einjehen, daß man feine 
Urfache hat, fich gekraͤnkt zu fühlen. Sch kann ja noch 
heute auf dem Ball unter der Hand ein paar diesbezuͤg— 
lihe Erflärungen abgeben, da ich ja der Sohn bin. Eine 
andere Sache Ш e8 mit Karmalinoff, der hat fich ſchoͤn 
als grüner Eſel entpuppt und feinen Gallimathias eine 
ganze Stunde Yang geleiert, — na, mit dem ftedte ich 
Ihrer Anſicht nach Doch zweifellos unter einer Dede! 
Den Бабе ich wohl ausdrüdlich gebeten, mitzutun, um 
Julija Michailowna zu ſchaden!“ 

„ОБ, Karmafinoff, quelle honte! Sch verging, 14 
verging vor Schande für unfer Publikum!“ 

„Ха, ich wäre nicht vergangen, fondern hätte lieber 
ihm das Gehen beigebracht. Das Publikum war durch: 
aus im Recht. Aber wer ift nun in diefem Fall wieder 
der Schuldige? Habe etwa ich Ihnen auch diejen auf: 
gebunden? Habe ich bei feiner Vergötterung mitgehol- 
fen? Doc, zum Teufel mit ihm! Aber der dritte, der 
Maniak, der Politifer! Das war |фоп eine andere 
Nummer! An dem haben 14 fchon alle verjehen, aber 
nicht ich allein etwa!” 

„ch, reden Sie nicht davon, das iſt ſchrecklich, ſchreck— 
lich! Daran bin ich, ich allein ſchuld!“ 

„Tja, freilich, aber nun muß ich Sie doch verteidigen. 
So etwas kann niemand vorausſehen, — und wer, zum 
Teufel, kennt ſich denn heute unter dieſen ‚Aufrichtigen‘ 
uͤberhaupt noch aus? Vor ſo einem iſt man ſelbſt in 
Petersburg nicht ſicher. Er war Ihnen doch empfohlen! 
und wie noch! Sehen Sie nun nicht ein, daß Sie ſogar 
verpflichtet ſind, auf dem Ball zu erſcheinen? Man weiß 
doch, daß Sie es waren, die ihn auf die Tribuͤne brachte: 


771 


darum müfjen Sie nun öffentlich zu erfennen geben, 
dag Sie fich mit ihm nicht folidarifch fühlen, daß der 
Kerl Schon in den Händen der Polizei Ш und dafi man 
Sie auf unerklärlihe Weife betrogen hat. Sie müffen 
es mit Unmillen fundgebei, daß Sie das Opfer eines 
Derrüdten gewejen find. Denn daß der Kerl ein Ver: 
ruͤckter ЦЕ, fieht doch ein jeder! Sch kann diefe Beißenden 
nicht ausftehen. Freilich rede ich felber manchmal noch 
ichärfer, aber ich tu’8 doch nicht von der Zribüne aus! 
Und da reden noch die Leute wie abfichtlich gerade jeßt 
von dem Senator! 

„Bon was für einem Senator? Wer тебе..." 

„Зла, was weiß ich! Uber wie, haben Sie denn nichts 
von einem Senator gehört?” 

„Einem Senator? Nein!" 

„sa, {ебеп Sie, man erzählt fich, daß irgendein @епа: 
tor hierher gejchidt werde, und daß man Sie von Peters: 
burg aus abjeßen will. Sch habe es von vielen gehört.“ 

Ich allerdings auch!" beftätigte ich. 

„Wer hat das gejagt?" fuhr Julija Michailowna auf 
und das Blut fchoß.ihr ins Geſicht. 

„Зет das zuerft gefagt hat?.. Wie foll ich das wiffen. 
Die ganze Stadt redet jo. Beſonders geitern ſprach man 
davon. Alle tun fo ernit dabei, obgleich man gar nicht 
vecht Hug daraus werden kann. Natürlich) — die bißchen 
Klügeren und Kompetenteren, die reden ja nicht davon, 
aber auch von diefen hören manche aufmerkſam zu.” 

„Welch eine Niederträchtigfeit! Und... ше eine 
Dummheit!“ 

„Na, wie gefagt, und ſchon deshalb muͤſſen Sie er- 
icheinen, um dieſen Dummkoͤpfen . . 


772 


о о ЕЩЕ ЗЕЕ ОДИНА ОЕЧЕННИ 


„sch fehe ein, ja, ich fühle es jetzt felbft, daß ich 
verpflichtet bin... aber wie, wenn mich eine neue 
Schande erwartet? Und wenn ber Ball am Ende gar 
nicht zuftande fommt? Keiner wird fommen, feiner, 
feiner! Sie werden fehen !" 

„ch, da follte man die Menfchen nicht Fennen! Wo 
blieben denn da die Zoiletien? Sie als Frau foliten 
fich das doch felbft fagen! Sonderbare Menfchenfennt: 
nis!“ 

„Die Adelsmarſchallin wird beſtimmt nicht erſcheinen!“ 

„zum... was iſt da denn nun eigentlich paſſiert! 
Warum foll fie denn nicht erjcheinen?” rief er plößlich 
ganz wütend vor Ungeduld. 

„Die @фтаф, die Blamage! Sch weiß nicht, mas 
pafliert ift, ich weiß nur, daß её mir паф alledem uns 
möglich Ш, hinzugeben!" 

„So! Warum denn nicht? За, woran find Sie denn 
eigentlich ſchuld? Iſt denn nicht das Publikum an allem 
ſchuld? Wo waren denn die Stadtälteften, die Familien: 
väter? — deren Pflicht wäre es doch geweſen, die 
_ Заидей Не zurüdzuhalten. Sn feiner Gefelifchaft und 
überhaupt nirgendwo {апп die Polizei allein für alles 
einftehen. Bei uns verlangt aber jeder, der eintritt, daß 
hinter ihm ein Volizift ftehe und ihn befchüge,. Niemand 
begreift hier, daß jede Gefellichaft fich ſelbſt befchüßen 
muß. Uber was machen bei ung die Herren Honoratio: 
ren ſamt Frauen und Zöchtern in ſolchen Fällen? Sie 
Ichweigen und blähen ſich! jpielen die Gekraͤnkten! Nicht 
einmal diefe Bengel von Störenfrieden im Zaum zu 
halten verftehen fie, ſelbſt dazu reicht ihr geſellſchaft— 
licher Inftinkt nicht aus!“ 


173 


„ch, das ift ja nur zu wahr! Sie fchweigen, blähen 
fih und... ſehen fih um.“ 

„Und wenn das wahr ift, fo muß man das auch fo 
lagen, daß alle es hören, furchtlos und ftreng! Sie 
müjjen auf dem Ball erfcheinen, und in den Zeitungen 
muß e8 ftehen, daß Sie erichienen find! Sch werde die 
Sache jelbft in die Hand nehmen und Ihnen alles 
arrangieren. Wir bringen den Bericht in die Peters: 
burger ‚Stimme‘ und in die ‚Börfennachrichten‘. Vers 
fteht fich: mehr Yufmerfjamleit, das Büfett ftrenger Бе: 
auflichtigen, den Fürften bitten, den Herrn da bitten! 
Und dann müffen Sie erfcheinen, offen vor aller Welt, | 
am Arme Andrei Antonowitiche. Wie geht es ihm 
übrigens?" 

„Oh, wie ungerecht, wie faljch, wie beleidigend haben 
Sie immer über diefen engelsguten Menfchen geurteilt!“ 
vief Zulija Michailowna plößlich, mit ganz überrajchen: 
der Glut, faft unter Tränen aus und drüdte ihr Taſchen— 
tuch an die Augen. 

Diefe Wendung ат für Piotr Stepanomitich fo ип: 
erwartet, daß er im Augenblid nicht wußte, was er 
lagen follte. 

„ber ich bitte Sie, ich .. . ja, was denn!... ich habe 
doch immer...“ 

„Niemals, niemals, niemals haben Sie ihm Gerechtig- 
feit widerfahren laſſen!“ 

„Cine Frau kann man doch nie ausfennen!” brummte 
Piotr Stepanowitſch mit einem eigentümlichen Spott: 
lächeln. | 

„Das ift der gerechtefte, der feinfühlendfte Menſch! 
Der Бейе, der gütigfte von allen!" 


774 


„бер... ich bitte Ste, 16... wiefo, ich Бабе doch 
immer — namentlich in betreff der Güte... Бабе ich 
ihm immer . . .” 

„Nein, niemals! Aber laffen wir das, Ich bin fchlecht 
fir ihn eingetreten. Und vorhin hat diefe Зейини, die 
Adelsmarfchallin, auch einige farkaftifche Bemerkungen 
wegen geftern fallen laſſen.“ 

„Oh, der ift es jeßt nicht mehr ums Geftrige zu tun, 
die hat von heute genug! Aber machte es Ihnen denn 
wirklich etwas aus, wenn fie nicht auf den Ball Fame? 
Denn natürlich wird fie nicht kommen, nachdem fie felbft 
in einen folchen Skandal verwicelt worden iſt! Möglich, 
daß fie nicht ſchuld Ч, aber die Reputation ift doch 
bin: ſchmutzige Hände !” 

„Was heißt das? . . . ich verftehe nicht, — warum 
Ichmußige Hände?” Julija Michailowna {аб ihn ver: 
ftändnislos ап, 

„Das heißt, ich will ja nichts behaupten, aber die 
ganze Stadt laͤutet es ſchon aus, daß fie die Gefchichte 
begünftigt habe,” 

„Was? Aber was denn begünftigt?” 

„За, wiffen Sie es denn noch nicht?” rief er mit vor: 
züglich gefpieltem Erftaunen. „Stawrogin und Lifamweta 
Nikolajewna!“ ... 

„Wie? Was?“ riefen wir alle. 

„Ja, wiſſen Sie denn wirklich noch nichts? Na, 
hoͤren Sie mal! Aber es haben ſich doch ſoeben Tragi— 
romane abgeſpielt! — Es hat Liſaweta Nikolajewna 
gefallen, ſich unmittelbar aus der Equipage der Adels— 
marſchallin in die Equipage Stawrogins hinuͤber— 
zuſetzen und ‚mit мест leßteren‘ nach Skworeſchniki 


775 


zu entfchlüpfen, mitten am hellichten Tage. Erft vor 
einer Stunde, noch nicht einmal einer Stunde,” 
Mir erftarrten. Natürlich ftürzten wir uns dann 
ins Yusfragen, doch wunderlicherweife fonnte ex, ob: 
ichon er ſelbſt „zufällig“ Augenzeuge geweſen fein 
wollte, son den näheren Umftänden nichts Genaues 
erzählen. Gefchehen war es angeblich folgendermaßen: 
Als ме Adeldmarfchallin nach der Matinee Ца und 
Mawrikij Nikolejewitfch in ihrer Equipage heim: 
brachte und der Wagen vor dem Haufe von Liſas 
Mutter (deren Füße immer noch frank waren) hielt, da 
wartete nicht weit, ungefähr fünfundgwanzig Schritt 
von der Vorfahrt, etwas abfeits, eine andere Equipage. 
Und kaum war Liſa vor der Treppe ausgeftiegen, — 
da fei fie fofort zu jener Equipage geeilt; der Schlag 
бабе fich geöffnet, fer zugeklappt; Ча Бабе Mawrikij 
Nikolajewitfch nur noch zugerufen: „Schonen Sie 
mich!” — und die Equipage fei in voller Karriere 
davongefahren nach Skworeſchniki. Auf unfere haſti— 


gen Fragen: War das eine Verabredung? Wer ſaß | 


in jener Equipage? — antwortete Pjotr Stepanowitſch, 





er wiffe nichts; zweifellos fei das abgekartet ges 


wefen, doch Siawrogin habe er in der Equipage nicht 
gefehen; vielleicht faß nur der Kammerdienerim Wagen, 
der alte Alerei Segorgtich. Auf die Frage: „Wie kam 


es denn, daß gerade Sie zugegen waren? Und woher 


willen Sie, daß die Equipage nach Skworeſchniki ges | 


fahren iſt?“ — antwortete er, daß er zugegen geweſen 


те, weil er gerade vorüberging, und als er da Ца. 
erblickte, fei er fogar zu jener Equipage geeilt (und 
dennoch wollte er nicht gefehen Бабеп, wer in der 


— en 
HL 


о 





Equipage ſaß, ein fo neugieriger Menſch wie er), 
Mawrikij Nikolajewitich aber fer ihr nicht nur nicht 
nachgejagt mit dem anderen Gefährt, fondern habe 
nicht einmal verfucht, Liſa zuruͤckzuhalten, ja er babe 
noch mit beiden Händen die Adelsmarfchaflin zuruͤck— 
gehalten, die mit lauter Stimme gefchrien habe: „Sie 
fährt zu Stawrogin! zu Stawrogin!” Da aber rif 
mir die Geduld und ich fchrie, toll vor Wut, Piotr 
Stepanowitfch ins Geficht: 

„Das haft du, Schurke, alles veranftaltet! Nur dazu 
haft du auch den ganzen Vormittag gebraucht! Du 
haft Stawrogin geholfen, du haft die Equipage Бие 
gebracht, du Бай fie aufgenommen, den Schlag ge: 
öffnet und zugeflappt . .. du, du, du! ... Julija 
Michailowna, das ИЕ Ihr Feind, er wird auch Sie ins 
Derderben bringen! Nehmen Sie fich in acht vor 
ihm!“ 

Und ich ſtuͤrzte Hals uͤber Kopf hinaus. 

Noch heute begreife ich nicht und wundere mich, 
wie ich ihm das damals ſo zuſchreien konnte. Aber 
ich hatte den Zuſammenhang erraten: es war fait 
alles tatjächlich fo gefchehen, wie ich es ihm dort ins 
Geficht Ichrie, Doch das jtellte fich erſt ſpaͤter heraus. 
Das Entjcheidende war wohl die gar zu offenkfundige 
Unnatürlichkeit der Art, wie er die Nachricht mit— 
teilte. Er hatte fie nicht Sofort erzählt, als erfte und 
außergewöhnliche Neuigkeit, fondern hatte getan, als 
wüßten wir fie bereits, als hätten wir fie fchon von 
anderen hören koͤnnen, — was doch in мег kurzen 
Zeit ganz unmöglich war. Und ſelbſt wenn uns diefe 
Kunde fchon zu Ohren gefommen wäre, fo hätten 


50 Dojtojew3ti, Die Dämonen. Bd. I. 777 


wir doch nicht fo lange darüber gefchiwiegen, bis er 
davon anfing. Auch Eonnte er, gleichfalls wegen der 
Kürze der Zeit, unmöglich ſchon gehört haben, daß 
„Ме ganze Stadt” der Adelsmarfihallin eine Schuld 
daran zufchrieb oder fonft etwas „ausläutete”. Zudem 
hatte er, als er ung Auskunft gab, etwa zweimal ganz 
eigentümlich, gewiffermaßen gemein und leichtfertig, 
gelächelt, wahrfcheinlich in dem Glauben, daß er uns 
Dummkoͤpfe ſchon vollkommen überzeugt habe. Doch 
jet war eg mir nicht mehr um ihn und feine Ent— 
(arvung zu tun; da ich ihm die wichtigfte ЗаНафе doch 
glaubte, lief ich geradezu außer mir von Julija Michai: 
(owna weg. Diefe Kataftrophe traf mich mitten ins 
Herz. Ich hätte weinen mögen vor Schmerz, ja viel: 
leicht weinte ich auch wirklich. Sch wußte nicht und 
fonnte nicht überlegen, was jeßt zu tun wäre. So 
eilte ich denn zunächit зи Stepan Trophimowitſch, 
aber der ärgerliche Menfch machte wieder nicht auf. 
Naſtaſſja verficherte ehrfurchtsvoll flüfternd, daß er 
fich fchlafen gelegt habe, doch ich glaubte ihr das nicht. 
Sm Haufe Lifas erfuhr ich einiges von den Dienit: 
boten; fie beitätigten die Flucht, wußten aber felbft 
nichts Näheres. Im Haufe herrſchte große Unruhe; 
die Eranfe gnädige Frau hatte einen Ohnmachtsanfall 
nach dem anderen und Mawrikij Nikolajewitich war = 
bei ihr. Es erſchien mir unmöglich, Mawrikij Niko: 

Yajewitfch herausbitten zu laffen. Bezüglich Piotr 

Stepanowitfchs fagte man mir auf meine Frage, daß 

er in den legten Tagen allerdings jehr oft ins Haus, 

gekommen fei, manchmal fogar zweimal am Tage, 

Die Dienftboten waren traurig und fprachen von Lila 





778 


mit einer gewiffen ganz befonderen Ehrerbietung; fie 
wurde von ihnen geliebt. Daß fie verloren, rettungs: 
{08 verloren war, — daran zweifelte ich nicht, aber die 
pinchologifche Seite der Tat Eonnte ich entfchieden 
nicht begreifen, befonders nicht nach der Szene zwifchen 
‘На und Stawrogin am vergangenen Tage bei Sultja 
Michatlowna. Mich in der Stadt bei fchadenfrohben 
Bekannten zu erkundigen, unter denen die Nachricht 
fich jet natürlich fehon verbreitet hatte, erfchien mir 
widerlich, ja und für Lifa auch erniedrigend. Doch 
fonderbar war, daß ich zu Darja Pawlowna ging, wo 
ich übrigens nicht empfangen murde (im Stawrogin— 
fchen Haufe wurde feit dem vergangenen Tage nie: 
mand empfangen); und ich weiß auch nicht, was ich 
ihr hätte fagen mögen und wozu tch dorthin eilte, 
Von dort begab ich mich zu ihrem Bruder. Schatoff 
hörte mich finfter und fchweigend ап. Erwähnen muß 
ich, daß ich ihn in einer fo düfteren Stimmung antraf, 
wie noch nie zuvor; er таг wie ganz in Gedanken ver- 
tieft und hörte mich an, als müßte er fich dazu über: 
winden. Er fagte fo gut wie nichts und begann т 
feiner Dachftube auf und ab zu gehen, aus einer Ede 
in die andere, wobet er lauter als Jonft mit den Stiefeln 
auftrat. Als ich Ме Treppe bereits hinuntergegangen 
war, rief er mir plößlich nach, ich Tolle doch zu Liputin 
gehen: „Dort werden Sie alles erfahren”. Зи £iputin 
ging ich nicht, 564, nachdem ich ſchon weit gegangen 
war, kehrte ich wieder um und ging zu Schatoff zurüd, 
und nachdem ich die Tür halb aufgemacht, fragte ich 
lafonifch und ohne alle Erflärungen: ob er nicht heute 
noch zu Maria Zimofejewna gehen fönnte? Ale 


50* 779 


Antwort darauf fchimpfte Schatoff und ich ging weg. 
Sch füge hier gleich hinzu, um es nicht zu vergeffen, 
daß er noch an demfelben Abend tatlächlich nach jener 
Außerften Vorftadt zu Marja Timofejewna gegangen 
ИТ, die er feit längerer Zeit nicht mehr gefehen hatte. 
Er fand fie bei befter Gefundheit und in heiterer 
Stimmung, Lebädfin dagegen in ſchwerer Betrunfen: 
heit fchlafend auf dem Diwan im erften Zimmer, 
Schatoff war dort um neun Uhr abends. Das fagte 
er mir bereits am folgenden Tage, als wir uns in der 
Eile auf der Straße begegneten. Gegen zehn Uhr 
abends aber entichloß ich mic) Doch noch, auf den Ball 
zu gehen, freilich nicht mehr als „Feſtordner“ (mein 
Band war ja auch bei Sulya Michatlomna geblieben), 
fondern nur aus quälender Neugier: ich wollte hören 
(ohne zu fragen), wie man im allgemeinen über alle 
diefe Vorfälle fprach, Und dann wollte ich auch Julija 
Michatlowna fehen,. wenn auch nur von ferne. Ich 
machte mir Vorwürfe und bereute e8 fehr, daß ich 
vorhin fo von ihr weggelaufen war, 


III. 


Diefe ganze Nacht mit ihren faſt ablurden Ereig- 
niffen und mit ihrem entfeßlichen „Ausgang“ gegen 
Morgen kommt mir noch immer wie ein gräßlicher 
Traum oder Albdrud vor und ИЕ — wenigſtens für 
mich — der fchmwerfte Teil meiner Chronik. Ich kam 
zwar etwas fpät auf den Ball, doch immerhin noch 
rechtzeitig, um fein Ende mitzuerleben, — fo früh war 
es ihm beftimmt, fein Ende zu finden. Die Uhr ging 
ſchon auf elf, als ich an der Vorfahrt des Haufes der 


780 














Adelsmarfchallin anlangte, Derjelbe weiße Saal, т 
dem die literarifchen Vorträge ftattgefunden hatten, 
war bereits, troß der kurzen Zwifchengeit, ausgeräumt 
und in den Haupttanzfaal, wie man annahm, „für 
ме ganze Stadt”, verwandelt worden. ber wie 
ſchlimm meine Befürchtungen, nach diefem Verlauf 
der Matinee, für den Ball auch waren, eine folche 
Wirklichkeit hatte ich Doch nicht vorausgefehen: von 


der höheren Gefellfchaft hatte fich auch nicht eine 


einzige Familie eingefunden; jelbft die Beamten von 


auch nur einiger Bedeutung fehlten alle; das aber 


war Doch ſchon ein пиве flarfes Symptom. Was 


nun die Damen und jungen Mädchen betrifft, То er— 


riefen fich Piotr Stepanowitfchs Berechnungen (Сев 
war feine Hinterlift fchon offenkundig) als im höchften 
Grade falfcht e8 waren nur Außerft wenige erfchtenen; 
auf vier Herren kam vielleicht eine Dame, und was waren 
das Ни Damen! „Srgendwelche” Frauen von Ober: 
offisieren gewöhnlicher Linienregimenter, von oft: 
heamten und anderen beamteten Kleinen Leuten, drei 
Frauen von Ärzten mit ihren Töchtern, zwei big drei 
Gutsbefißerinnen (von den armeren dieſes Standes), 
die fieben Töchter und die eine Nichte jenes Sefretärsg, 
den ich gelegentlich Schon erwähnt habe, Kaufmanns: 
frauen ... War das die Sefellfchaft, die Julija Michai— 
lowna vorzufinden erwartet hatte? Фет von den 
Kaufleuten war faft die Hälfte fern geblieben, Mas 
nun die Männer anbelangt, fo bildeten fie, troß der 
gefchloffenen Abwefenheit unferer ganzen Notabilität, 
dennoch eine dichte Mafle, aber dieſe Maſſe machte 
einen zweidentigen, Mißtrauen erwecenden Eindrud, 


781 


Natürlich gab es da auch ein paar überaus ftille und 
ehrenwerte Offiziere mit ihren Frauen, ein paar ges 
horfamfte Familienväter, wie $. B. jener Тебе Sekretär 
und Vater feiner fieben Töchter. Doch alle мае ftillen 
beicheideneren Leute waren fozufagen nur „in бу 
mangelung eines anderen Auswegs“ gefommen, wie 
fich einer diefer Herren buchitäblich ausdrüdte. Anz 
dererfeits aber hatte 1% die Menge der Feen Per: 
jönlichkeiten, im Зее zum PBormittage, ап: 
Icheinend noch vermehrt und desgleichen die Anzahl 
jolcher, die offenbar ohne Eintrittskarten hereingelaffen 
waren, — diefen Verdacht Банеп ich und Piotr Ste 
panowitich bereits am Nachmittage ausgeiprochen. 
Vorlaͤufig faßen fie alle noch im Bütettraum, und 
zwar begaben fie ПФ, wenn fie erſchienen, fofort 
geradenwegs dorthin, wie зи einem verabredeten 
Sammelplaß. Wenigftens Hatte ich diefen Eindruck. 
Das Büfett befand fich ganz am Ende der Zimmerreihe 
in einem geräumigen Saal, wo Prochorytſch fich mit 
amtlichen Verlockungen der Klubküche etabliert und 
eine verführerifche Ausſtellung aller Imbiſſe, Liköre 
und Getränke aufgebaut hatte, Hier Helen mir Ge— 
ftalten auf, die Ки in zerriffenen Röden, wenigitens 
in höchyt zweifelhaften, gar zu wenig ballmäßigen 
Anzügen erjchienen waren; dazu waren fie augen= 
Icheinlich nur mit größter Mühe und felbftredend nur 
für Визе Zeit ernüchtert, Leute, die man Gott weiß 
wo aufgetrieben hatte, jedenfalls nicht Einheimijche, 
fondern Hergereifte aus anderen Städten. Es war 
mir natürlich befannt, daß vom Komitee nach Julija 
Michatlownas Idee befchloffen worden war, den Ball 


782 





nach durchaus demofratifchen Grundfäßen zu ver: 
anftalten, „ohne felbft Kleinbürgern den Zutritt zu 
verweigern, falls es gefchehen follte, daß jemand diefes 
Standes eine Eintrittskarte erwirbt”, Diefe Worte 
hatte fie in ihrem Komitee dreift aussprechen können, 
denn fie durfte überzeugt fein, daß е8 von den aus: 
nahmslos bettelarmen Kleinbürgern unferer Stadt 
auch nicht einem in den Sinn kommen würde, für 
drei Nubel eine Eintrittskarte zu еп, Nichtsdefto- 
weniger bezweifelte ich, daß man diefe finfteren Leute 
in den faft zerriffenen Röcen hereinlaffen konnte, ſelbſt 
wenn das Komitee noch fo demofratifch gefinnt war. 
Aber wer hatte fie denn jeßt hereingelaffen und zu 
welchem Zweck fehließlich? Liputin und Laͤmſchin waren 
ihres Amtes als Feftordner bereits enthoben (was 
fie jedoch nicht hinderte, auf dem Ball anwefend zu 
fein, zumal fie auch zu den in der „Quadrille der Lite— 
ratur“ Mitwirkenden gehörten); doch an die Stelle 
Liputins war jebt, zu meiner DVerwunderung, jener 
jelbe Seminarift getreten, der durch feinen Zuſammen— 
ftoß mit Stepan Trophimowitſch mehr als alles 
andere den „Skandal der Matinee” heraufbefchworen 
hatte, und Lämfchin wurde gar erfeßt durch — Piotr 
Stepanomitfch in eigener Perfon. Was fonnte man 
in dem Falle noch erwarten? 

Sch verfuchte, von den Geſpraͤchen einiges auf: 
zufangen. Manche Anfichten überrafchten durch Ihre 
Ungereimtheit. So murde 3.2. in einer Gruppe 
behauptet, ме ganze efchichte mit Stawrogin und 
На fer von Julija Michailowna arrangiert worden 
und fie Бабе von Stamwrogin Geld dafür angenommen. 


783 


Man nannte fogar die Summe Man behauptete, 
daß jogar das ganze Felt von ihr zu diefem Зе ver: 
anftaltet worden ſei; eben deshalb fer auch die halbe 
Stadt nicht gefommen, nachdem man erfahren, um 
was es fich handelte; Lembke felbft aber {ет dadurch fo 
erfchüttert worden, daß мее Erfchütterung feinen Ver: 
Пап? „zerrüttet“ habe und nun „Führe“ fie ihn als 
Verrücten umher. — Hierzu gab es viel Gelächter, fo: 
wohl lautes, offenes, wie heiferes, gemeines und laut: 
(08 verichlagenes, hinter dem fich eigene Gedanken 
bargen. Auch der Ball wurde von allen fürchterlich 
fritifiert und auf Julija Michatlowna wurde ſchon 
ohne jede Rücficht geichimpft. Es war das überhaupt 
ein merkwürdig ungeordnetes, bruchitücdhaftes, be: 
trunfenes und ruhelofes Schwaßen, fo daß es fchwer 
hielt, fich daraus einen Vers zu machen oder etwas 
Beltimmtes daraus zu folgern. Doch in demſelben 
Büfettfaal hatten fich auch viele harmlos luſtige Leute 
niedergelaffen, fogar einzelne Damen von der Sorte, 
die man mit nichts in Erftaunen feßen oder einfchüchtern 
Рапп, пиве liebenswürdige und luſtige Gefchöpfe, 
meift jene erwähnten Offisiersfrauen mit ihren Maͤn— 
nern. Sie hatten fich in Gruppen an mehreren Tiſchchen 
niedergelaffen und tranfen fröhlich Зее. Der Büfett: 
ſaal wurde zur warmen Herberge nahezu für die Hälfte 
des erjchtenenen Publikums. Und diefes ganze hier 
verfammelte Publikum mußte doch bald, wenn die 
Quadrille der Literatur begann, voll Neugier auf ein- 
mal in den Zanzfaal fluten. Es war geradezu un 
heimlich, fich das auch nur vorzuftellen. 

Inzwiſchen hatte man im weißen Saale, dank der 


784 


Mitwirkung des jungen Fürften, drei magere Qua— 
"Шей zuftande gebracht. Die jungen Töchter tanzten 
alfo und ме Eltern fahen zu und freuten fich. Doch 
felbft von dieſen ehrenwerten Familienhaͤuptern be= 
gannen ſchon viele heimlich zu überlegen, wie fie fich, 
nachdem die Löchter ihr Vergnügen gehabt, zeitiger 
entfernen konnten, und nicht erft dann, „wenn’s ап 
fängt”, Daß e8 aber unfehlbar wieder „anfangen“ 
werde, Davon waren entſchieden alle überzeugt. 
Julija Michatlownas Gemütszuftand zu fchildern, 
dazu wäre ich wohl kaum imftande. Sch habe dort 
nicht mit ihr geiprochen, obſchon ich ziemlich in ihrer 
Nähe war, Meinen Gruß erwiderte fie nicht, da fie 
ihn nicht bemerkte (fie bemerkte ihn tatfächlich nicht). 
In ihrem Geficht Yag etwas Krankhaftes, ihr Blick 
war hochmütig und voll Verachtung, aber unftät und 
erregt. Sie überwand fich mit fichtlicher Qual, — Doch 
wozu eigentlich und für wen? Sie hätte unbedingt 
den Ball verlaffen und vor allen Dingen ihren Gatten 
heimbringen follen, fie aber blieb! Dabet konnte man 
es Schon ihrem Geficht anfehen, daß die Augen ihr 
nun „endlich aufgegangen” waren und daß fie auf 
nichts mehr hoffte. Sie rief auch nicht ein einziges 
Mal Piotr Stapanowitfch zu fich (der ging ihr auch, 
glaube ich, fehon felbft aus dem Wege; ich {аб ihn ип 
Büfettraum, er war übertrieben luſtig). ber fie 
hlieb Doch auf dem Ball und ließ ihren Mann nicht 
auf einen Augenblick von ihrer Seite, Ob, fie hätte 
noch vorhin am Nachmittage jede Anſpielung auf 
feinen Gefundheitszuftand mit aufrichtiger Empörung 
zuruͤckgewieſen. Seht aber mußten ihr auch in der 


785 


Beziehung die Augen endlich aufgegangen fein. Mir 
wenigftens war es fchon auf den eriten Blick Нат, daß 
fein Zuftand fich im Vergleich zum Vormittage ver- 
fchlimmert hatte, Er machte den Eindrud, als fei er 
fich überhaupt nicht deffen bewußt, wo er fich befand. 
Hin und wieder richtete er feinen ЗИ plößlich mit 
ganz unerwarteter Strenge auf den einen oder ап: 
deren, zweimal z.B. auch auf mich. Einmal begann 
er zu Sprechen, begann laut und wichtig, fprach aber 
den Saß nicht zu Ende, wodurch er einen befcheidenen 
alten Beamten, der zufällig in feiner Nähe ftand, 
geradezu erſchreckte. Doch felbit diefer Teil des Зи: 
blikums, das im weißen Saale anmefend war, felbit 
diefe Befcheidenen und Scheuen gingen finfter uno 
ängftlih Julia Michatlomna aus dem Wege, obfihon 
fie gleichzeitig außerft fonderbare Blicke auf ihren 
Gemahl warfen, Blicke, deren Unverwandtheit und 
Dffenheit mit der fonftigen Schüchternheit diefer Leute 
gar zu wenig harmonierte, 

„Sehen Sie, gerade diefer Zug war e8, Der mich 
plößlich durchbohrte, und ich begann endlich zu erraten, 
wie es um Andrei Antonowitfch ftand,” fagte Julija 
Michailowna fpäter einmal zu mir, 

За, wieder war fie-die Schuldige, Wahrfcheinlich 
hatte fie fih am Nachmittage, als nach meiner Flucht 
aus ihrem Haufe auf Piotr Stepanowitfchs Zureden 
hin bejchloffen worden war, daß der Ball ftattfinden 
und fie auf ihm erfcheinen folle, — wahrfcheinlich 
_ Бане fie fich dann wieder in das Kabinett ihres Gatten 
begeben, zu ihrem Andrei Antonowitſch, den, mie fie 
meinte, nur der Skandal der Matinee „erfchüttert” 


786 





hatte, und dort wird fie wohl wieder alle ihre Ber: 
führungskünfte angewandt haben, um ihn zum Mit: 
gehen zu bewegen. Wie groß mußte Demnach ihre 
Qual jeßt fein! Und dennoch blieb fie auf dem Ball! 
War es nun ihr Stolz, der fie troß aller Pein auf 
ihrem Plaß auszuharren zwang, oder hatte fie bereits 
den Kopf verloren — ich weiß es nicht. Jedenfalls 
verjuchte fie in geradezu erniedrigender Weife und mit 
freundlichem Lächeln (bei ihrem Hochmut!) einzelne 
Damen in ein Öefpräch zu ziehen, doch die wurden 
ſofort unficher, antworteten mißtrauifch und einfilbig 
mit einem „ja“ oder „пей und gingen ihr fichtlich 
aus dem Wege, 

Bon den wirklichen Würdenträgern unferer Stadt 
befand fich auf мет Ball nur ein einziger, — jener 
felbe wichtige General a, D., von dem tch ſchon einmal 
erzählt Бабе: der bei der Adelsmarfchallin nach dem 
Duell zwifchen Stawrogin und Фадапой feiner alten 
Gewohnheit gemäß „gerade davon laut zu fprechen 
anfing, wovon alle nur heimlich zu flüftern wagten“, 
und der ſomit wieder einmal der allgemeinen Span: 
nung die Tür öffnete, Jetzt fpazierte er wuͤrdevoll 
durch alle Säle, beobachtete und hörte zu und Бе: 
mühte fich, durch fein Mienenfpiel recht offenkundig 
zu zeigen, daß er nur fo, um die Sitten zu beobachten, 
mehr Studien halber, als um eines reinen Ber: 
gnügens willen, gefommen fei. Er endete damit, 
daß er fich ganz und gar ЗиЦа Michatlowna zugefelfte 
und nicht einen Schritt von ihr wich, fichtlich beftrebt, fie 
zu ermutigen und zu beruhigen. Gewiß war er ein 
Menich von großer Herzensgüte, fehr vornehm und 


187 


bereits fo alt, daß man von ihm fogar Mitleid hin— 
nehmen konnte; doch fich geitehen zu muͤſſen, daß 
diefer alte Schwäßer fie, Julija Michailomwna, zu be: 
mitleiden und faft zu befchüigen wagte, indem er fehr 
wohl begriff, daß er ihr mit feiner Anweſenheit eine 
Ehre erwies, das war doch mehr als ärgerlich. Der 
General aber hielt unentwegt Stand und fchmwaßte 
ohne aufzubören. 

„om, man fagt, Feine Stadt könne beftehen ohne 
iteben Gerechte . .. fieben, glaub’ ich, müffen es fein, 
entfin—ne mich nicht mehr genau der vor—ſchrifts— 
mäßigen Zahl. Ich weiß nicht, wieviele von diefen 
jieben ... ungwei—felhaft Gerechten unferer Stadt... . 
die Ehre haben auf Ihrem Ball anmwefend zu fein, 
Doch was mich betrifft, fo beginne ich, troß der Эт: 
wefenheit derfelben, mich nicht außer — halb jeder Gefahr 
zu empfinden. Vous me pardonnerez, charmante 
Чате, n’est-ce pas? ch Ipreche natürlich allego- 
riſch. Begab mich vorhin zum Büfett, bin aber fat: 
tifch frob, daß ich heil und ganz wieder herausge: 
kommen бт... Unfer unfcehäß—barer Prochorytſch ift 
dort nicht an feinem Pak, und mich Deucht, zum 
Morgen Ми wird feine ganze Bude vertilgt fein. 
Übrigens, amtıfant. Warte nur noch auf diefe ‚Qua= 
örille der Li —te — ratur‘, dann aber — ins Bett. Ver: 
zeihen Sie das fchon einem alten Podagriften, muß 
mich früh hinlegen. Aber auch Ihnen würde ich raten, 
‚in die Federchen zu gehen‘, wie man aux enfants zu 
lagen pflegt . .. Bin eigentlich wegen der jungen 
Schön— heiten gefommen .. . die ich natürlich nirgend: 
wo in folcher Boll—zähligfeit antreffen Fönnte, wie 


188 


Ме... Alle von jenseits des Fluffes, und dorthin 
pflege ich nicht zu fahren, Die Frau eines Leutnants ,.. 
ich glaube, von den Jägern . +. tft fogar wirklich nicht 
übel ... hm, in der За... und das weiß fie auch 
jelbjt. Hab’ mit ihr gefprochenz fchlagfertig ито... 
fo, nun ja. Nun und die Mädel, gleichfalls friſch ... 
За; aber das ift auch alles. Außer der Frifche fak—tiſch 
nichts. Übrigens, amuͤſant. MWenigftens für mich. 
Es gibt da Knoͤſpchen . . . nur die Lippen ein wenig 
did, Überhaupt ЧЕ in der ruffifchen Schönheit der 
‚ Srauenantlige wenig von jener Negelmäßigfeit vor: 
handen und . . . und ein bißchen Yäuft fie Doch auf 
einen Pfannkuchen hinaus... Vous me pardonnerez, 
n’est-ce раз... übrigens immer bei gleichzeitig fchönen 
Augen... Tachenden Augen, Diefe Knöfpchen find fo in 
den erften zwei Jahren ihrer Jugend be—zau-— bernd, 102 
gar drei Jahre lang... dann aber, nun ja, dann werden 
fie unwiderruflich м... wodurch fie in ihren Maͤn— 
nern jenen traurigen ISn—dif—ferentismus erzeugen, 
der die Entwicklung der Frauenfrage fo überaus be: 
günftigt . .. vorausgefeßt, daß ich dieſe Frauenfrage 
richtig verftehe « . . Hm! Der Saal ЦЕ nicht übel; die 
Räume Schon geſchmuͤckt. Es Hätte Schlechter fein 
können. Die Muſik Eönnte fogar fehr viel fchlechter 
ет... ich fage nicht ‚Sollte, Ein übler Eindrud, 
daß überhaupt wenig Damen vorhanden find. Die 
Toiletten übergehe ich. Boͤſe ift, daß мест dort in 
den grauen Beinkleidern fich fo unverhüllt Cancan zu 
tanzen erlaubt. Sch würde es verzeihen, wenn es 
von ihm aus Freude gefchähe, und zumal er ein hiefiger 
Apotheker Ш... aber um elf ift es immer —hin noch 


789 


zu früh, felbft für einen Vpothefer ... Dort im Buͤfett⸗ 
faal begannen zweit fich zu prügeln und wurden nicht 
hinausbefördert. Um elf aber müffen Raufbolde noch 
hinausbefördert werden, gleichviel welcher Art die 
Sitten des Publikums fonft find . . . ich will nicht 
fagen, um drei Uhr morgens, dann muß man der 
öffentlichen Meinung fchon eine Konzeffion machen, — 
vorausgefegt, daß diefer Ball die dritte Morgenftunde 
überhaupt erlebt . . . Warmwara Petromna aber hat 
doch nicht Mort gehalten, und ihre Blumen find 
nicht eingetroffen. Hm! Die hat jeßt an anderes zu 
denken, als an Blumen. Pauvre mere! Und die arme 
Liſa, — Sie haben doch fchon gehört? Man fagt, eine 
geheimnisvolle Gefchichte und . . . und wieder ift 
diefer Stawrogin in der Arena ... Hm! Sch müßte 
nun doch ins Зен... Meine Nafe nickt fchon von 
felbft. Aber wann wird denn eigentlich ме, Quadrille 
der Li—te—ratur,“ beginnen?” 

Und fchließlich begann denn auch die „Quadrille der _ 
Literatur“. Wenn in der legten Zeit irgendwo in der 
Stadt das Gefpräch auf den bevorjtehenden Ball ge= 
fommen war, dann hatte man bereits nach den erften 
Morten unfehlbar von diefer „Quadrille der Literatur” 
gefprochen, uud da fich niemand eine Vorftellung von _ 
diefer Aufführung machen konnte, fo erregte Пе пани: 
(ich übermäßige Neugier. Das aber war fchon an 
fich die größte Gefahr für einen Erfolg, und — wie 
groß war daher die Enttäufchung! 

Fine Seitentür des weißen Saales, die bis dahin 
gefchloffen war, wurde geöffnet und plößlich erfchienen 
ein paar Masken im Saal, Das Фи ит drängte 


790 





fich fofort gierig um fie herum. Im Augenblick ver: 
breitete fich die Kunde bis zum Büfett und fehon 
ſtuͤrzte, wälzte fich von dort der ganze Menfchenfchwarm 
bis auf den legten zum weißen Saal, in den er wie 
eine Flut hineinbrach, Die Masken begannen fich 
zum Tanze aufzuftellen. Es gelang mir noch, mich 
618 zu den erften Reihen durchzudrängen und ich blieb 
Sicht hinter Lembles und dem alten General ftehen. 
Da tauchte plößlich flink Plotr Stepanowitfch neben 
Julija Michatlomna auf, nachdem er fich ihr bis dahin 
gar nicht gezeigt hatte. 

„Sch fie die ganze Zeit am Büfett und beobachte”, 
flüfterte er ihre mit der Miene eines ſchuldbewußten 
Schulbuben zu, die er übrigens abfichtlich annahm, 
um fie noch mehr aufzubringen. 

Sie wurde feuerrot vor Zorn. 

„Wenn Sie mich doch wenigſtens jetzt nicht mehr 
betrügen wollten, Sie unverfcehämter Menſch!“ ent— 
fuhr es ihr faft mit lauter Stimme, fo daß es ме 
Umftehenden hörten. 

Piotr Stepanowitfch fchlüpfte, äußerft zufrieden mit 
fich felbft, wieder flinf davon. 

68 wäre fchwer, fich eine armfeligere, billigere, noch 
talentlofere und fadere AUllegorie vorzuftellen, als es 
diefe „Quadrille der Kiteratur” war. Und gewiß hätte 
man nichts erfinnen können, dag weniger zu unferem 
Publikum paßte, als diefe Allegorie; dabei hieß es, 
daß Karmafinoff fie erdacht Бабе. Freilich, in Szene 
деев war fie von £iputin, der fich mit dem lahmen 
Lehrer beraten hatte (mit demfelben, der an jenem 
Abend auch bei Wirginsti war), Aber die Idee 


791 


ftammte doch von Karmafinoff und man fagte, er 
habe jogar ſelbſt mitwirken, fich mastfieren und eine 
befondere, felbftändige Rolle übernehmen wollen. Die 
QDuadrille beſtand aus fechs Eläglichen Maskenpaaren, 
ja eigentlich waren es nicht einmal richtige Masken, 
denn die Maskerade beftand nur darin, daß fie fich etwa 
einen Fünftlichen Bart oder fonft einen billigen Bloͤd— 
Пип angeflebt hatten, Da war z.B, ein älterer Herr, 
nicht groß von Wuchs, im Frad — alfo genau fo 
angezogen, wie alle Herren auf einem Ball с: 
fcheinen —, mit einem ehrwürdigen grauen Bart 
(der Bart war allerdings nur angeflebt und das 
war feine ganze Verkleidung). Diefer Herr ftrampelte, 
trippelte und tänzelte mit biederem Geſichtsausdruck 
faft nur auf einer Stelle umher, ohne fich recht vom 
Fleck zu bewegen. Dazu brachte er mit gemäßigten, 
doch fchon heißer gewordenem Baßſtimmchen aller: 
band Laute hervor, Diefe Heiferkeit der Stimme 
aber follte eine unferer befannten Tageszeitungen 
gerade befonders charakterifieren”). Diefer Maske 
vis-A-vis tanzten zwei Rieſen und 3, und zwar о 
waren ihnen diefe Buchftaben am Fra angefteckt, 
doch was diefes X und diefes 3 bedeuten follten, das 
blieb unaufgeflärt. „Der ehrliche ruſſiſche Gedanke” 
wurde dargeftellt von einem Herrn in mittleren Jahren | 
mit einer Brille, im Frad, in Handfchuhen und — in 
Feſſeln (es waren richtige eiferne Felleln, wie fie Ges 





*) Die „gemäßigt” liberale Petersburger Tageszeitung „Die 

Stimme”, deren Bedeutung damals (1871) ſchon zurüdgegangen 
war. Auch die übrigen Masken verfpotten liberale oder nicht 
ausgefprohen nationaliftifhe Zeitfchriften. E.K.R. 


792 











fangenen angelegt werden). Unter dem Arm trug 
diefer „Gedanfe” eine Mappe mit Akten über eine 
zu unternehmende Sache oder eine bevorftehende 
„Tat“. Aus feiner Fracktafche ſchaute ein entfiegelter, 
aus dem Yuslande gefommener Brief hervor, der die 
Ehrlichkeit des „ehrlichen ruffiichen Gedankens“ allen 
denen, die feine Ehrlichkeit bezweifelten, verbürgen 
follte. Dies alles wurde von den Feitordnern bereits 
mündlich erklärt, denn lefen Eonnte man den aus der 
Tafche hervorlugenden Brief natürlich nicht. In der 
erhobenen rechten Hand Ме der „ehrliche ruſſiſche 
Gedanke” einen Pokal, ganz als wollte er einen Toaſt 
ausbringen. Zu beiden Seiten diefes Gedankens und 
in einer Reihe mit ihm tanzten zwei kurzgeſchorene 
Nihiliſtinnen; ihm gegenüber aber tanzte ein gleich: 
falls ſchon älterer Herr, im Frack, Doch mit einem 
fchweren Knuͤppel in der Hand: diefe Geſtalt Sollte 
eine gefürchtete, Doch nicht in Petersburg erfcheinende 
Zeitfehrift darftellen. Der Knuͤppel aber follte wohl 
fagen: „Wenn ich mal zufchlage, bleibt von meinem 
Feinde nur noch ein naffes Fleckchen übrig”. Doc 
ungeachtet feines Knüppels Fonnte er auf Feine Weife 
den durch die Brillengläfer unverwandt auf ihn ge: 
richteten Blick des „ehrlichen ruflifchen Gedankens“ 
ertragen, weshalb er fich alle Mühe gab, nach links 
oder rechts diefem Blick auszumeichen, und jedes Mal, 
wenn es zum pas de deux fam, wand, drehte, Erin: 
gelte er fich förmlich und wußte nicht, wohin er fehen 
ſollte, — {о fehr quälte ihn mwahrfcheinlich das Ge: 
wiſſen ,.. Doch wer kann ſchließlich alle мае ſtumpf— 
finnigen erflügelten Witzchen aufzählen und behalten! 


51 Dojtojewöti, Die Dämonen, Bd. Il, 793 


Alles war von diefer Urt, {6 daß ich mich zu guter Хе 
qualvoll zu fcehämen begann. Und fiehe, genau die: 
ſelbe Empfindung gleichlam eines Schamgefühls 
jpiegelte ПФ auch in allen übrigen Gefichtern des 
Publikums wieder, fogar in den mürrifchiten Phyſio— 
gnomien aus dem Büfettraum. Eine Zeitlang fchwiegen 
alle und jahen mit geärgerter Verſtaͤndnisloſigkeit zu. 
Wenn ein Mensch fich ſchaͤmt, fängt er gewöhnlich 
an fich zu ärgern und ЧЕ dann zum Zynismus geneigt. 
Allmählich aber begann ein Gebrumm: 

„Bas foll das denn eigentlich bedeuten?” brummte 
in einer Gruppe jemand von denen, die das Büfett 
belagert hatten. 

„Irgend ’nen Blödfinn.“ 

„Das foll eine Art Literatur fein. Die ‚Stimme‘ 
wird Eritifiert.” 

„Bas geht das mich an!“ 

In einer anderen Gruppe: 

„зе Efel!” 

„Nein, nicht fie find ме Efel, fondern die Eſel find 
wir.” 

„Barum БИ du denn ein Eſel?“ 

„Nein, in bin kein Efel, aber...” 

„Ла, wenn felbit du Fein Eſel bift, dann bin ich 
ſchon lange Feiner № 

In einer dritten Gruppe: 

„Mit einem ЗН fie alle hHinauswerfen und dann 
hole fie der Teufel!” 

„... Den ganzen Saal ausfegen . . .“ 

In einer vierten: | 

„Daß die Lembkes ſich nicht ſchaͤmen, zuzufehen !” 


794 





„Barum follen fie fich denn fehämen? Du fehämft 
dich Doch nicht ?” 

„rein, ich fchäme mich fchon, er aber ift noch der 
Gouverneur !” 

„За, und du bift nur ein Schwein .. .“ 

„In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen 


fo einfachen Ball erlebt,” fagte eine Dame gehäflig т 


nächfter Nähe von Julija Michailowna, fichtlich mit 
dem Wunſch, gehört zu werden. 

Diefe Dame — eine Eorpulente und gefchminfte 
Frau von etwa vierzig Jahren, in einem grellfarbenen 
Seidenfleide — таг in der Stadt zwar allen Leuten 
befannt, doch wurde fie in feinem Haufe empfangen. 
Sie war die Witwe eines Staatsrates, der ihr ein 
hölgernes Wohnhaus und eine karge Penfion Hinter: 
(affen Hatte, aber fie lebte gut und hielt fich fogar 
eigene Pferde, Bor etwa zwei Monaten hatte fie als 
erfte von allen Damen bei Julija Michailowna ihre 
ЗИ machen wollen, war aber von diefer nicht 
empfangen worden, 

„Und das war ja auch wirklich vorauszufehen,“ 
fügte fie Hinzu, indem fie frech Julija Michatlomna in 
ме Augen ſah. 

„Wenn е8 vorauszufehen war, warum find Sie 
dann noch erfchienen?” fragte plößlich Julija Michai— 
lowna, die fich nicht mehr bezwingen konnte. 

„ch, aber doch wirklich nur aus Gutgläubigkeit |“ 
verfeßte jene Dame fofort fchlagfertig und im Augen: 
blie® ungemein belebt (fie Hätte сах zu gern einen Wort: 
wechjel angelnüpft), Doch der alte General trat zwiſchen 
Пе und Frau ven Lembke. 


„Chere дате,” — er beugte fich zu Julija Зифае 
lowna — „wenn ich einen Rat geben dürfte, fo wäre 
es der, jeßt heimzufahren., Wir behindern die Gefelle 
Ichaft nur, ohne ung wird man fich vortrefflich amt: 
fieren. Ste haben alles getan, was nötig war, haben 
den Ball eröffnet, nun ци... jetzt überlafjen Sie 
die Leute fich ſelbſt . . Zumal auch Andrei Antono: | 
witſch fih an —jchei—nend nicht wohl fühlt... Ich 
meine, damit ihm nicht hier noch ein Unglück zuftößt. . .“ 

Doch es war bereits zu ſpaͤt. 

Herr von Lembfe hatte ſchon die ganze Zeit die 
Tänzer der „Quadrille” mit einer gewiſſen ungehaltenen 
Verftändnislofigkeit betrachtet, als aber die erften 
Eritifchen Bemerkungen im Зи бит laut wurden, 
begann er fich fogleich unruhig umzufchauen. Da 
fielen ihm offenbar zum erftenmal auch einzelne Ges 
Пап aus dem Büfettraum auf; fein Blick drüdte 
das größte Befremden aus. Ploͤtzlich erfcholl lautes 
Gelächter über eines der in der „Quadrille” produ: 
gierten Stuͤckchen: der Herausgeber der „gefürchteten, 
doch nicht in Petersburg erfcheinenden Zeitjchrift“, der 
mit dem Япарре in der Hand tanzte, empfand wohl 
endgültig, daß er die Brillengläfer des „ehrlichen 
ruffifchen Gedankens“ nicht mehr zu ertragen ver: 
mochte, und da er nicht wußte, wie er ihnen ausweichen 
follte, begann er plößlich, in der letzten Tour, den 
Brillengläfern verkehrt, d.h. auf den Händen, mit 
den Beinen in der Luft, entgegen zu gehen, was gleich- 
zeitig die befannte Entitellungsmanier der „gefürch- 
teten, doch nicht in Petersburg erfcheinenden Zeit: 
Schrift“ veranfchaulichen follte, die unter Umftänden 


796 





ſelbſt die gefunde Vernunft auf den Kopf ftellt. Da 
nur Laͤmſchin auf den Händen zu gehen verftand, hatte 
er e8 übernommen, den Herausgeber mit dem Knüppel 
su mimen. Julija Michatlowna hatte nicht das Ge: 
vingfte davon gewußt, daß jemand auf den Händen 
gehen werde. „Das hatte man mir verheimlicht, ab: 
fichtlich verheimlicht !” Табе fie Später immer wieder, 
als fie in ihrer Verzweiflung und Empörung mir 
alles erzählte. Das Gelächter der Menge wurde пани 
(ich nicht von der Allegorie hervorgerufen, an die man 
überhaupt nicht dachte, Sondern galt einfach dem 
Unbli eines auf den Händen gehenden Menfchen 
in einem Frad, deffen Schöße nun felbftredend um: 
geklappt herabhingen. 

Lembke braufte auf und bebte vor Erregung. 

„Der Nichtswürdige!” fchrie er, indem er auf 
Laͤmſchin wies. „Ergreift den Spigbuben! Umkehren! 
Umfehren auf die Зе... der ЯР... Damit der 
Kopf nach oben . . . oben!” 

Lämfchin fprang wieder auf die Füße. Das Ges 
fächter verftärfte fich. 

„Hinausjagen alle Spißbuben, die da Lachen!” Бег 
fahl plößlich Жене. 

Die Menge begann zu murren und zu johlen. 

„So gebt das denn doch nicht, Erzellenz.” 

„Das Publitum darf man nicht beſchimpfen.“ 

„Selber ein Efel!” tönte es irgendwoher aus einer 
ferneren Ede, 

„Die Flibuftiers!” rief jemand vom entgegen: 
gefeßten Ende des Saales. 

Lembke drehte fich bei diefem Ruf haftig nach diefer 


797 


Suchen nach den Pelzen, Tüchern und Umhängen, 
das Gekreiſch erfchrecdter Frauen und das Weinen der 
Töchter werde ich nicht weiter befchreiben. Es Ш 
kaum anzunehmen, daß hierbei direkt geftohlen wurde, 
doch es ИЕ Schließlich Fein Wunder, daß bei einem 
folchen Durcheinander manche ohne ihre Überfleider, 
die nicht zu finden waren, wegfuhren, worüber noch 
lange nachher in der Stadt vieles erzählt wurde, пани: 
(ich mit Erdichtungen und Übertreibungen. Lembke und 
Julia Michatlowna wurden in der Tür von der Menge 
nahezu erdrücdt. 

„le zurücdhalten! Nicht einen hinauslaffen !” 
brüllte plößlich Lembfe, indem er drohend die Hand 
gegen die Andrängenden ausitredte. „Alle einzeln 
jtrengitens unterfuchen, fofort !” 

Die Antwort darauf war aus dem Saal ein Hagel 
von Eräftigen Schimpfwörtern. 

„Andrei Antonowitſch! Andrei —— “rief 
Julija Michailowna in vollſtaͤndiger Verzweiflung. 

„Als erſte verhaften!“ ſchrie dieſer und wies ſtreng 
mit dem Finger auf ſie. „Als erſte unterſuchen! Der 
Ball war inſzeniert zum Zweck der Brandſtiftung. 

Sie ев einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht 
(ob, diefer Ohnmachtsanfall war natürlich ſchon ein 
echter). Sch, der Fürft und der General ftürgten zur 
Hilfe herbei; auch andere halfen uns in diefem ſchweren 
Augenblick, fogar einige von den Damen. Wir trugen 
die Unglüdliche aus diefer Hölle zu ihrer Equipage; 
doch fie fam erit unterwegs, kurz vor ihrem Haufe, 
zu ИФ und ihr erftes war, daß fie wieder nach Andrei 
Antonomitfch rief. Nach dem Zufammenbruch aller 


800 





ihrer Phantaftereien verblieb ihr als einziges nur noch 
ihr Andrei Antonowitſch. Es wurde fofort nach dem 
Doktor geſchickt. Ich wartete eine ganze Stunde bei 
ihr, der Fürft gleichfalls; der General wollte in einer 
Anwandlung von Großmut (obgleich ihm der Schreck 
arg in die Glieder gefahren war) die ganze Nacht „am 
Bette der Unglücklichen” verbringen, fchlief aber ſchon 
nach zehn Minuten, noch bevor der Arzt erfchien, im 
Saal auf einem Lehnſtuhl ein, wo wir ihn dann auch 
ſo Schlafen Tiefen. 

Dem Polizeimeiſter, der vom Ball zur Brandftätte 
eilte, gelang es noch, Andrei Antonowitfch gleich nach 
uns hinauszuführen, und er wollte ihn zu Julija 
Michailowna in den Wagen feßen, indem er aus allen 
Kräften Seiner Erzellenz zuredete, „der Ruhe zu 
pflegen“. Sch verftehe nicht, warum er das nicht durch— 

ſetzte. Selbftredend wollte Andrei Antonomitfch von 
Ruhe nichts wiffen und ftrebte mit Gewalt zur Brand: 
Пане; aber das war doch Fein vernünftiger Grund, 
So endete es denn damit, daß der Polizeimeifter ihn 
noch in feinem eigenen Magen zur Brandftätte brachte. 
Später erzählte er, Lembfe Бабе unterwegs die ganze 
Zeit gejtifuliert und „Solche Ideen als Befehle hervor— 
geftoßen, daß es wegen ihrer Ungewöhnlichkeit uns 
möglich war, fie auszuführen”. Фо Ш denn nachher 
auch rapportiert worden: daß Фе. Erzellenz ſich zu 
der Zeit, infolge der „Plößlichkeit des Schrecks“, Бе: 
reits im Fieberdeltrium befunden Бабе. 

Es erübrigt ИФ wohl, zu erzählen, wie der Ball 
endete. Einige Dußend Taugenichtſe und fogar ет 
paar Damen blieben in den Sälen. Die Polizei war 





801 


nicht mehr Ра. Das Orcheſter mußte fpielen, denn 
die Muſikanten, die weggehen wollten, wurden ver- 
prügelt. Zum Morgen Hin war „Prochorytfchs ganze 
Bude” vertilgt, man foff bis zur Bemwußtlofigkeit, 
tanzte den Kamarinskij ohne Zenfur, befudelte die 
Räume; und е bei Morgengrauen langte ein Teil 
diefer Bande, volllommen betrunken, auf dem er: 
öfchenden Brandplaß an, — zu neuen Unruhen. Die 
andere Hälfte blieb und fchlief gleich dort in den Sälen 
in Лей bejoffenem Zuftande, mit allen Folgen eines 
Iolchen, auf den Pluͤſchdiwans und in den Eden auf 
dem Fußboden. Am пафИеп Morgen wurden Пе 
— das war das erfte, was man tat — an den Beinen 
hervorgezogen und hinausgefchleift auf die Straße. 
Und damit endete das Felt zum Beiten der Gouver: 
nanten unferes Gouvernement®. 


IV. 


Die Feuersbrunft erfchredte unfer Publikum vom 
anderen Flußufer gerade dadurch am meiften, daß es 
jich hierbei um eine fo offenfundige Brandftiftung 
handelte. Beachtenswert'ift, daß fchon nach dem erſten 
Schrei „wir brennen”, fofort auch gefchrien wurde, 
„die Spigulinfchen” {еп die Branöftifter. Gebt hat 
е8 fich bereits mit aller Sicherheit herausgeftellt, dat | 
in der Tat drei „Spigulinfche” an der Brandftiftung 
beteiligt waren, aber nur drei, nicht mehr; alle anderen 
Arbeiter der Fabrik wurden volllommen freigefprochen, 
Inwohl von der öffentlichen Meinung, wie vom Ge: 
richt. Außer diefen drei Zaugenichtfen (von denen 
einer bald gefangen wurde und alles geftand, während | 


302 





man der beiden anderen noch big heute nicht habhaft 
geworden ИР, war zweifellos auch der fogenannte 
„Zuchthaͤusler-Fedjka“ an der Brandftiftung beteiligt. 
Das ift aber auch alles, was man bisher über die 
Entitehung des Brandes ficher weiß; die Vermutungen 
find eine Sache für fih. Was nun diefe drei Tauge: 
nichtfe zu diefer Tat bewogen hat, ob fie von jemandem 
dazu angefsiftet worden find oder nicht — мае Fragen 
find felhft Heute noch fcehwer zu beantworten. 
Das Feuer verbreitete fich infolge des ftarfen Windes 
und da die Vorftadt dort überm Fluß faſt nur aus 
hoͤlzernen Häufern beftand, fowie infolge der Brand— 
ſtiftung an Hrei verfchiedenen Stellen, mit unglaub: 
(icher Schnelligkeit und Gewalt (übrigens ging der 
Brand genau genommen doch nur von zwei Stellen 
aus, denn an der dritten Stelle gelang es, das Feuer 
faft gleich nach feinem Ausbruch zu erſticken, wovon 
Ipäter noch die Rede fein wird). Uber in den Berichten 
der Refidenzblätter wurde unfer Циа doch ftarf 
vergrößert: was niederbrannte, war wicht mehr (ja 
vielleicht fogar noch weniger) als ungefähr der vierte 
Zeil der ganzen Vorſtadt überm Fluß. Unfere Feuer: 
wehr, deren Mannfchaft im DBerhältnis zur Aus— 
dehnung der Stadt und der Einwohnerzahl nur ein 
fchwaches Häuflein Ш, verrichtete ihre Aufgabe doch 
mit großer Hingabe und Sorgfalt. Dennoch hätte 
fie wohl kaum des Brandes Herr werden Fönnen, 
jelbft bei einmütiger Unterftüßung von ſeiten 
der Bevölkerung, wenn der Wind ИФ nicht gedreht 
und kurz vor Morgengrauen plöslih ganz gelegt 
бане. 


805 


Als ich kaum eine Stunde nach der Flucht vom Ball 
am anderen Ufer anlangte, tobte das Feuer bereits 
mit größter Wut. Die ganze Straße, die dem Fluß 
parallel lauft, lobte. Es war taghell. Das Bild, das 
die Brandftätte bot, werde ich nicht weiter befchreiben: 
wer Eennt es in Rußland nicht? In den Quergaffen 
neben der brennenden Hauptitraße war ein maßlofes 
Haften und Gedränge. Hier war das Feuer mit Sicher: 
бей zu erwarten und ме Einwohner Ichleppten ihr 
Hab und Gut hinaus, gingen aber vorläufig Doch 
noch nicht weg von ihren Häufern und faßen wartend 
auf ihren hinausgefchafften Käften und Federbetten, 
ein jeder vor feinen Fenftern. Ein Zeil der männlichen 
Einwohnerfchaft verrichtete fchwere Arbeit: da wurden 
erbarmungslos Zäune gefällt, ja wurden fogar ganze 
Hütten abgetragen, die nahe dem Feuer und unter 
dem Rinde ftanden. Aus dem Schlaf geweckte Kleine 
Kinder weinten, und Weiber, die ihr Gerümpel ſchon 
herausgefchleppt hatten, jammerten und heulten. 
Andere, die mit dem Herausichaffen noch nicht fertig 
waren, fchafften inzwiſchen fchmweigend und energifch 
noch weiter heraus, was fie befaßen. Funfen und 
fliegende Feuerbrände fprühten weit mit dem Winde; 
man löfchte fie nach Möglichkeit. Auf dem Brand— 
plaße felbft drängten fich die Zufchauer, Ме aus allen 
Ecken und Enden der Stadt herbeigelaufen waren. 
Manche halfen löfchen, andere gafften nur fo als 
Liebhaber. Ein großes Feuer in der Nacht macht 
immer einen erregenden und luftigen Eindrud; darauf 
beruhen die Feuerwerke. Doch bei Diefen verläuft das 
Reuerfpiel in fchönen Linien und Formen und erweckt 


804 





Zufcehauer, da er Sich felbft vollkommen außer 
fahr weiß, eine fröhliche und leichte Empfindung, 
wie nach einem Slafe Champagner, Etwas anderes 
ift ein wirklicher Brand: hierbei erzeugen der Schreden 
und dag Doch immer vorhandene Gefühl einer ge: 
wiffen perfünlichen Gefahr im Zufchauer (felbitredend 
nicht im Bewohner des brennenden Haufes), neben 
dem erwähnten Yuftigen Eindrud eines nächtlichen 
Feuers, eine Art Gehirnerfchütterung und wirken wie 
eine Herausforderung feiner eigenen zerftörenden In— 
ſtinkte, die fich, ach! in jeder Seele verbergen, felbit 
in der Seele des fanftmütigften Familienmenfchen 
und Zitularrats ... Diefe Fichtfcheue Empfindung tft 
faft immer beraufchend. „Sch weiß wirklich nicht, ob 
man einem Öchadenfeuer ohne ein gemifles Ver: 
gnügen zufehen kann?” Diefen Sa fprach einmal 
wortwörtlich Stepan Trophimomwitfch zu mir, als 
wir von einem nächtlichen Brande, deffen Zufchauer 
er ganz zufällig geworden war, heimgingen — noch 
unter dem erften Eindruck des Anblicks. Natürlich 
würde fich der nämliche Liebhaber nächtlicher Feuers: 
brünfte auch felbft ing Feuer ftürzen, um aus den 
Flammen ein Kind oder eine Greifin zu retten; aber 
das ИЕ doch Schon ein ganz anderes Kapıtel, 

Sch 1606 mich hinter anderen: Neugierigen durch 
das Gedränge und Fam fo ohne zu fragen zur wich— 
tigften und gefährlichiten Stelle, wo ich endlich Lembke 
erblickte. Sch fuchte ihn im Auftrage von ЗиЦа Michat: 
(owna. Seine Stellung war feltfam und außer: 
gewöhnlich, Er fland auf einem niedergeriffenen 
Bretterzaun; links von ihm, Feine dreißig Schritte 


805 


weit, ragte das ſchwarze Gerüft eines fait ſchon ganz 
ausgebrannten zweiſtoͤckigen hölzernen Haufes empor, 
mit Löchern Пай der Fenfter in beiden Stockwerken, 
mit eingeftürstem Dach und mit immer noch leckenden 
Feuerzungen an den verfohlten Balken. Im Hinter: 
grunde des Hofes, etwa zwanzig Schritt von diefem 
Haufe, Бедапи gerade ein gleichfalls zweiſtoͤckiges 
Nebengebäude zu brennen, und um diefes mühte fich 
aus allen Kräften die Feuerwehr. Rechts von Lembke 
wurde ein ziemlich großes hölzernes Gebäude, Раз 
zwar noch nicht brannte, aber fchon mehrmals Feuer 
gefangen Hatte, von der Feuerwehr und anderen 
Helfern zu retten gefucht, obichon es zweifellos nicht 
zu retten war. Lembke fchrie und geitifulierte — er 
ftand mit dem Geficht zu jenem Nebengebäude auf 
dem Hof — und gab Befehle, ме niemand ausführte. 
Sch dachte Schon, daß man ihn Мег ganz fich felbft 
überlaffen und fich von ihm völlig zurüdgezogen habe. 
Menigitens Пе[ es mir auf, daß die dichte und aus 
Menschen fehr verjchtedenen Standes beitehende Menge | 
— e8 waren da auch Herren und fogar der Oberprieiter 
unferer Kathedralfirche — feinen YAusrufen wohl 
neugierig und verwundert zuhörte, jedoch niemand 
mit ihm fprach oder den Verſuch machte, ihn ед: 
zuführen. Lembke, der bleich, doch mit bligenden 
Augen daſtand, ſtieß allerdings die jonderbarften 
Dinge hervor; zum Überfiuß war er noch ohne Hut, 
den er ſchon Тапа Е verloren hatte. 

„Mes Brandftiftung! Das ift Nihilismus! Wenn 
hier etwas loht, fo ift das der Nihilismus!” vernahm 
ich von ihm faſt mit СиНевеп, und wenn das aud 


806 


{оп vorauszufehen gemwefen war, fo hat doch die 
greifbare Wirklichkeit immer etwas Erfchütterndes in 
ſich. 

„Exzellenz“, — neben ihm ſtand ploͤtzlich ein Revier— 
ſchutzmann — „wenn Euer Exzellenz geruhen wollten, 
es mit der häuslichen Erholung zu verfuchen ... 
Denn Мег Ш doch ſchon das bloße Stehen gefährlich, 
Exzellenz.“ 

Dieſer Polizeimann war, wie ich ſpaͤter erfuhr, vom 
Polizeimeifter abfichtlich zu Andrei Antonomitfch ade 
fommandiert worden, mit dem Auftrage, auf ihn 
acht zu geben und nach Möglichkeit zu verfuchen, ihn 
nach Haufe zu bringen, im Falle einer Gefahr aber, 
wenn nötig, fogar Gewalt anzuwenden — ein Auf— 
trag, der erfichtlich über die Kraft des Beauftragten 
ging. 

„Die Tränen der Ubgebrannten werden weggemwifcht 
werden, aber die Stadt werden fie niederbrennen. 
Das find alles die vier Schurken, vier und ein halber! 
Man verhafte den Schurken! Er fchleicht fich in ме 
Ehre der Familien ein. Zum Anzuͤnden der Käufer 
hat man die Gouvernanten benußt. Das ИЕ gemein, 
gemein! Ach, was tut der dort!” rief er plöglich, als 
er auf dem Dach des nun bereits brennenden Neben: 
gebaudes einen Feuerwehrmann erblickte, unter dem 
das Dach fchon dDurchgebrannt wer und um den 
ringsum Flammen hervorfchlugen. „Holt ihn herunter, 
er wird Durchs Dach fallen, er wird anbrennen, Löfcht 
Би... Was tut er dort?“ 

„Sr löfcht felbft, Exzellenz.“ 

„Das ИЕ unwahrfcheintich. Die Feuersbrunft Ш 


807 


X 


in den Gehirnen der Menſchen, aber nicht auf den Daͤchern 
der Haͤuſer. Man ſoll ihn herunterholen und alles о 
liegen laſſen! Xieber liegen laffen, lieber liegen laffen! | 
Mag es ſelbſt irgendwie! ... Ach, wer weint dort 
noch? Eine Alte! Eine Alte fchreit, warum hat man 
die Alte vergefjen ?” 

Zatlächlich: im unteren Stock diefes bereits —— | 
den Nebenhaufes ſchrie ein altes Weib, eine achtzig- 
jährige Verwandte des Kaufmanns, dem das Haus 
gehörte. Aber man hatte fie nicht dort vergeflen, 
fondern fie war felbjit in das Haus zurüdgefehrt, jo 
lange das noch möglich war, mit der wahnfinnigen 
Abficht, aus ihrem Kämmerlein an der Ede des Hauſes 
ihr Federbett zu retten. бай erſtickend im Rauch 
und fchreiend vor Hiße, denn die Flammen hatten 
das Kämmerlein nun fchon erreicht, mühte fie fich, 
mit ihren altersfchwachen Armen das Pfuͤhl durch den 
Senjterrahmen, deſſen Glasſcheibe berausgefihlagen 
war, bindurchzugwängen. Lembke име zu ihr, um | 
ihr zu helfen. Alle fahen, wie er zum Fenſter lief, einen 
Zipfel des Pfuͤhls ergriff und es mit aller Gewalt 
durch das Feniter zu ziehen begann. Da mollte es 
das Unglüd, рав in eben diefem Augenblick ein heraus: 
gebrochenes Brett vom Dach herabfiel und den Helfer 
traf; es fchlug ihn nicht tot, nur das eine Ende traf 
ihn am Halfe, Doch damit war die Laufbahn Andrei 
Antonowitſchs eigentlich beendet, wenigitens bei ung; 
der Schlag warf ihn um und er blieb bewußtlos 
liegen. 

Endlich brach ein trübes, duͤſteres Morgengrauen 
ап. Der Brand ſank in fich zulammen; nach dem Winde 










































808 





trat plößlich MWindftille ein und dann begann ein lange 
famer, feiner Regen, wie durch ein feines Sieb. Ach 
war fehon in einer anderen Gegend diefer Зы а, 
weit von jener Stelle, wo Lembke hingefallen war, 
und Мег hörte ich unter den Leuten fehr fonderbare 
Geſpraͤche. Eine ſeltſame ЗаНафе ftellte fich heraus: 
ganz am Nande der Vorftadt, hinter Gemüfegarten 


auf freiem Pak, über fünfzig Schritte weit von den 


nächften Gebäuden, ftand ein erft Низ erbauteg, 
nicht großes hoͤlzernes Mohnhaus, und diefes ent- 


‚ Тедепе Haus hatte ganz zu Anfang des Brandes 


aleichfalls, ja womoͤglich noch früher als alle anderen, 
zu brennen begonnen. Selbft wenn es niedergebrannt 


wäre, hätte es bei feiner einfamen Lage feines der 


anderen Häufer diefer Vorftadt anſtecken koͤnnen, und 
umgefehrt: auch wenn der ganze Stadtteil auf dieſer 
Seite des Fluſſes niedergebrannt wäre, jo hätte einzia 
dtefes Haus verfehont bleiben koͤnnen, fogar bei noch 
10 ftarfem Winde. Alſo mußte es felbitändig und für 


ſich allein in Brand geraten fein und folglich nicht 


ohne befondere Urfache. Doch die Hauntfache war, 


daß mar ihm zum Niederbrennen feine Zeit gelaffen 


hatte und daß in feinem Inneren dann fonderbare 


Dinge спе worden waren. Der Befier diefes 
neuerbauten Haufes, ein SKleinbürger, der in der 
naͤchſten Gaffe wohnte, war fogleich bei Ausbruch des 


Feuers herbeigeeilt und hatte noch rechtzeitig den Brand 
erſticken Lönnen, indem er mit Hilfe der Nachbarn 
den in Brand geftedten Holzvorrat für den Winter, 
deffen Stapel an der einen Seitenwand des Haufes 
ftand, auseinanderrig und фк: 


52 Doitojewäti, Die Dämonen. Bd. II. 809 


Doch in dem Haufe hatten Menfchen gewohnt: der 
in der Stadt mwohlbefannte „Hauptmann” Lebaͤdkin 
mit feiner Schwerter und einer fchon älteren Arbeiterin 
als Aufwertefrau. Und diefe drei Einwohner, der 
Heuptmann, feine Schwefter und die Xrbeiterin, 
wurden nun, als man in das Haus eindrang, er: 
mordet und augenscheinlich beraubt vorgefunden. 
(Eben hierher hatte fich dann der Polizeimeiiter vom 
Brandplak begeben, kurz bevor Lembfe das Pfuͤhl 
rettete.) Bei Morgengrauen hatte jich das Gerücht 
ven der Untat fchon verbreitet und eine ungeheure 
Menge der verfchtedenften Menfchen, darunter fogar 
viele der foeben Abgebrannten, ftrömte zu dieſem ab» 
gelegenen neuen Haufe. Es war fchwer, näher zu | 
gelangen, fo groß war dort dag Gedränge. Man er: 
zählte mir fogleich, daß man den Hauptmann mit 
durchgefchnittener Kehle, angekleidet auf der Schlaf: 
bank liegend, gefunden habe. Wahrfcheinlich {ет er 
wieder fteif betrunken gewefen und man habe ihn 
wohl nur fo Hingefchlachtet, ohne daß ihm zu Bewußt— 
fein kam, mas da geſchah. Blut aber fei aus ihm fo 
viel gefloffen „wie aus einem Ochfen”. Seine Schmweiter 
Maria Timofejewna dagegen fei von Mefferitichen 
„ganz zeritochen” und habe an der Tür auf dem Fuß: 
boden gelegen, alfo babe fie mit dem Mörder gewiß 
Ichon im Machen gekämpft und fich wohl wie rafend — 
gewehrt. Der Aufmwartefrau, die anfcheinend gleiche 
falls vorher erwacht war, fei der Schädel eingefchlagen. 

Pie der Befiter des Hauſes erzählte, fei der „Haupt⸗ 
mann” noch am Morgen dieſes Tages betrunken zu 
ihm gekommen, habe geprahlt und viel Geld gezeigt, 


810 








an die zweihundert Rubel. Die alte, abgenußte gruͤne 
Brieftafche des „Hauptmanns” fand man leer auf 
dem Boden liegen; doch Maria Timofejemnas Koffer 
mar unangerührt, ebenfo die filberne Verzierung des 
Heiligenbildes. Desgleichen fand man alles, was der 
„Hauptmann“ an Kleidern beſeſſen, vollzsählig vor. 
Daraus erfah man, daß der Dieb fich beeilt Hatte und 
jedenfalls ein Menfch geweſen fein mußte, der den 
Hauptmann und feine Gewohnheiten gut kannte, 
es nur auf das bare Geld abgefehen hatte und mußte, 
wo dieſes fich befand. Hätte der Beſitzer des Haufes 
den Brand nicht fofort bemerkt, fo Hätte der angezuͤndete 
Holzſtapel ficher das Haus in Brand gefteckt, „vor den 
verfohlten Leichen aber wäre man fehwerlich Hinter 
den wahren Sachverhalt gekommen“. 

Sp wurde der Zatbeftand wiedergegeben. Hinzu 
kam dann noch ein Bericht: daß der eigentliche Mieter 
diefer Mohnung der Herr Stawrogin fei, Nicolai 
Wſzewolodowitſch, der einziae Sohn der ©eneralin 
Stawrogina. Er fei fogar perfönlich gekommen, um 
die Mohnung zu mieten, Бабе noch Тебе zugeredet, 
denn der Beſitzer habe fie gar nicht vermieten, fondern 
Мег eine Kneipe einrichten wollen, aber Nicolai 
Wſzewolodowitſch Бабе auf den Preis.nicht geachtet und 
die Miete gleich für ein halbes Jahr vorausbezahlt. 

„tiefer Brand Ш nicht ohne Grund entftanden”, 
hörte man in der Menge fagen. 

Doch ме Mehrzahl ſchwieg. Die Gefichter waren 
finfter, aber eine große, fichtliche Empörung war eigent— 
lich nicht wahrzunehmen. Nur erzählte man fich rings— 
um noch mehr Gefchichten von dem Herrn Stawrogin. 


52° 811 


So Sprach man u.a. auch Davon, daß die Ermordete 
feine Frau war, geftern aber Бабе er aus einen der 
erſten Häufer Der Stadt, aus dem der ©eneralin 
Drosdowa, ein junges Mädchen, die Tochter Der 
Generalin, zu ſich gelockt, „auf unehrliche Weife”, 
und daß man eine Klage über ihn nach Petersburg 
einreichen werde. Daß aber feine Frau nun ermordet 
worden tft, Das ſei doch, wie man fieht, nur deshalb 
gefchehen, damit er frei werde und 1664 die Drosdomwa 
heiraten Ffönne. 

Skworeſchniki war nicht mehr als nur zwei und 
eine halbe Merft entfernt und ich weiß noch, mir fam 
der Gedanke: follte ich nicht dorthin Nachricht ſchicken? 
Übrigens ift eg mir nicht aufgefallen, daß jemand die 
Menge im befonderen aufgehetzt Бане, das muß ıch 
ſchon der Wahrheit gemäß jagen, wenn mir aud 
flüchtig zwei oder drei Fraßen aus der Schar der 
„Büfettleute” auffielen, die gegen Morgen auf der 
Brandftätte erſchienen und Ме ich fofort wieder: 
erkannte. Doch befonders erinnerlich ИЕ mir ein hagerer, 
aroßer Buriche, ein Kleinbürger, mit ausgemergeltem 
Geficht und krauſem Haar, dazu wie mit Ruß ge 
ſchwaͤrzt, — ein Schmied, wie ich fpäter erfuhr. Er 
war nicht betrunfen, 20%, im Gegenfaß zu der finiter 
daftehenden Menge, wie außer fich. Er wandte fich 
immer wieder an das ringsum ftehende Зо, aber 
ich erinnere mich nicht mehr feiner Worte, Alles, was 
er zufammenbängend hervorbrachte, war nicht länger 
als: „Sa aber wie denn, Brüder, wie ИЕ denn das? 
Bleibt das nun alles jo und wird da nichts gefchehen ?” 
und er geitifulierte mit den Armen. 


812 





Uchtzehntes Kapitel 
Kin beendeter Roman 


I 


I: dem großen Saal des Herrenhaufes von Skwore— 

| Ichnifi (demjelben Saal, wo die ее Zujammen: 
funft von Warwara Petromna und Stepan Trophimo: 
witſch ftattgefunden hatte) fonnte man das Feuer wie 
auf der Handfläche fehen. Bei Tagesgrauen, zmwilchen 
fünf und jechs Uhr morgens, ftand dort, rechts am letzten 
Fenſter des Saale, Lifa und fah ftarr in den verlöfchen 
den Widerjchein des Brandes. Sie war allein, @е 
trug dasjelbe Kleid, in dem fie auf dem бей erichienen 
war, ein dDuftiges, zartgrünes Gewand, von Spißen 

_ überriefelt, doch ſchon zerdrüdt und jet in der Haft un: 
ordentlich angezogen. Als Пе plößlich bemerfte, daß es 
über der Bruft nicht richtig gefchlojfen war, errötete йе 
und БаЁе её fehnell zu, та Че ihr rotes Tuch vom Lehn— 
ſtuhl auf, das fie geftern beim Eintreten dorthin geworfen 
hatte und jchlang e8 fich um den Hals. Ihr prachtvolles 
Haar fiel in gelöften Locken auf ihre rechte Schulter. 
Ihr Gejicht {аб müde aus, beforgt, doch ihre Augen 
brannten unter den zufammengezogenen Brauen. Gie 
trat wieder ans Fenfter und drüdte ihre heiße Stirn ап 
das falte Glas. Die Tür öffnete fich und Nicolai Wſzewo— 
lodowitſch trat ein. 


813 


„Sch habe einen Diener zu Pferde hingeſchickt,“ fagte 
er, „in zehn Minuten werden wir alles wiffen. Die 
Leute fagen, daß der Stadtteil über dem Fluß, rechts 
son der Bruͤcke, niedergebrannt fei. Das Feuer fol 
um Mitternacht ausgebrochen fein; jeßt ИТ es fchon im 
Abflauen.” 

Er ging nicht bis ans Fenfter heran, fondern blieb 
drei Schritte Hinter ihr ſtehen; fie wandte fich nicht 
nach ihm um. 

„Nach dem Kalender hätte es fchon feit einer Stunde 
hell fein müffen, und noch ift es dunkel wie in der Nacht“, 
fagte fie ärgerlich. 

„Die Kalender Lügen alle, bemerfte er ſchon mit 
(iebenswürdigem Spott, fehämte fich aber jofort und 
fügte fchnell Hinzu: „Nach dem Kalender ift es langweilig 
zu leben, Liſa.“ 

Aber er fühlte, daß er dadurch das Gefprochene nur 
noch fchlimmer gemacht hatte. Urgerlich uͤber fich felbft 
ſchwieg er ganz. Lifa lächelte bitter. 

„Sie fcheinen in einer fo niedergefchlagenen Stimmung 
zu fein, рав Ihnen zu einem Gefpräch mit mir fogar Die 
Worte fehlen. Aber beruhigen Sie fich, Sie haben Das 
ſehr zur rechten Zeit gelagt: ich Тебе immer nach dem 
Kalender. Jeder meiner Schritte tft nach dem Kalender 
berechnet. Sie wundern fich?” 

Sie wandte fich fehnell vom Fenfter ab und ſetzte ſich 
in den Seſſel. 

„Bitte, ſetzen Ste ſich gleichfalls. Wir werden nicht 
lange zuſammen ſein und ich moͤchte alles ſagen, was 
ich ſagen mag . . Warum ſollten nicht auch Sie alles 
ſagen, was Sie vielleicht ſagen wollen?” 


814 





| 





Nicolai Wſzewolodowitſch ſetzte ſich neben fie und 
nahm leife, beinahe furchtfam, ihre Hand. 

„Was bedeutet diefe Sprache, Kia? Moher das 
plößlich? Was foll das bedeuten: ‚Wir bleiben nicht lange 
zufammen‘? Das ift ſchon der zweite rätjelhafte Aus: 
Ipruch in diefer halben Stunde nach deinem Erwachen 
aus dem Schlaf.” 

„Sie fangen an, meine rätfelhaften Ausſpruͤche zu 
zählen?” fragte fie lachend. „Aber erinnern Sie fich, daß 
ich geftern, als ich eintrat, mich als eine Tote Ihnen vor: 
ftellte? Sehen Sie, das haben @е für nötig befunden, 
zu vergeffen. Zu vergefjen oder zu überhören.“ 

„sch erinnere mich nicht, Ца. Warum als Tote? Man 
muß leben..." 

„Und Gie verftummen? Ihnen iſt ja die Зее ата 
feit ganz und gar abhanden gefommen. ch habe meine 
Stunde auf der Welt zu Ende gelebt und nun ift es genug. 
Erinnern Sie fich noch Chriftophor Iwanowitſchs?“ 

„Nein, ich erinnere mich nicht”, — fein Geſicht ver: 
finfterte fich. 

„Nicht Chriſtophor Iwanowitſchs? — in Laufanne? 
Er verdroß Sie Doch zu guter Же ВЕ jo entjeßlich. Wenn 
er fam, fagte er immer: ‚Sch fomme nur auf einen Augen: 
blid‘, und dann blieb er den ganzen Tag. Sch möchte es 
nicht wie Chriftophor Iwanowitſch machen und den 
ganzen Zag bleiben. 

Eine ſchmerzhafte Empfindung ſpiegelte fich in feinem 
Geficht wider. 

„Liſa, е8 tut mir weh um diefe verzerrte Sprache. 
Diefe Grimaſſe Eoftet Dich felbft zu viel. Wozu das alles? 
Warum?” 


815 


Seine Augen brannten. 

„Liſa,“ rief er aug, „ich ſchwoͤre es dir, ich liebe did 
jeßt mehr als geftern, als du bei mir eintratejt !" 

„Bas für ein jonderbareg Geftändnis! Was foll das 
jeßt, diejeg Geftern und Heute, und mozu beides mit dem 
Maß meſſen?“ 

„Du verläßt mich nicht," fuhr er faft verzweifelt fort, 
„wir verreifen zujammen, heute noch! Nicht? Nicht?” 

„Ah, preiien Sie meine Hand nicht jo jehmerzhaft! 
Mohin jollen wir denn heute noch reifen? Wieder irgend= 
wohin, um ‚aufzuerftehen‘? Nein, genug der Зещифе 
... und dag geht mir auch zu langjam; ich bin nicht fähig 
dazu. Das iſt zu hoch für mich. Wenn wir teilen follen, 
dann |фоп gleich nach Moskau und dort Viliten machen 
und jelbft empfangen — das Ш mein deal, wie Sie 
willen, ich habe Ihnen jchon in der Schweiz nicht ver: 
heimlicht, wie und wer 14 bin. Da es uns aber unmög: 
lich ift, nach Moskau zu reifen und dort Vifiten zu machen, 
weil Sie verheiratet find, jo reden wir lieber gar nicht 
davon.” + 

„Kia! Was war denn das geſtern?“ 

„Es war dag, was es war.” 

„Das ift unmöglich! Das Ш graufam !" 

„Bas tut’s denn, daß es graufam Ш? Und wenn es 
graufam ift, jo tragen Sie es doch!" 

„Sie rächen fich an mir für die gejtrige Phantaſie ...“ 
jagte er halblaut, mit dem Verſuch, boshaft zu lächeln, 

“Ца flammte auf. 

„Bas für ein niedriger Gedanfe 

„Barum fchenkten Sie mir dann... ‚jo viel @ 
Habe ich ein Recht, das zu erfahren?” 


1a 
* 


816 





„ein, Sie müljen fich fchon irgendwie ohne echte 
behelfen; frönen Sie die Niedrigkeit Ihrer Vermutung 
nicht mit einer Dummbeit. Heute wird es Ihnen nicht 
gelingen. Übrigens, fürchten Ste nicht gar die Meinung 
der Welt, und daß man Sie für dieſes ‚jo viel СШ" ver: 
urteilen wird? Ob, wenn e8 das Ш, fo beunruhigen Sie 
ſich um Gottes willen nicht. Sie haben ja in diefem Fall 
nicht die geringfte Veranlaſſung gegeben und find nie= 
mandem Verantwortung fchuldig. Als ich geftern Shre 
Tuͤr aufmacte, da mußten Sie nicht einmal, wer da 
eintrat. Es war eben nur meine Phantafie, um Shren 
Ausdrud zu gebrauchen, und nichts weiter. Sie fünnen 
allen dreift und fiegesbewußt in die Augen bliden !" 

„Deine Worte, dein Hohn, jeßt jchon eine ganze Stunde, 
bringen die Kälte des Grauens über mich! Diejes 
‚С, von dem du fo gehällig Iprichft, Eoftet mich... 
alles. Kann ich Dich denn jeßt verlieren? Sch ſchwoͤre Dir, 
ich liebte dich geftern weniger. Warum nimmft du mir 
denn heute alles wieder? Weißt du auch, mas fie mid) 
ое, diefe neue Hoffnung? Ich habe fie mit dem 
Reben bezahlt!" 

„Mit dem eigenen oder dem anderer?” 

Stamrogin ftand haftig auf. 

„Was heißt das?” fragte er und fah fie ftarr an. 

„Bezahlen Sie mit Ihrem oder mit meinem Leben? 
Das war eg, was ich Damit fragen wollte. Oder haben 
Sie jet völlig aufgehört, zu verſtehen?“ Das Blut 
Ihoß ihr ins Geficht. „Warum find Sie aufgeiprungen? 
Warum ftarren Sie mich mit [01% einem YAusdrud an?" 
Liſa blidte ihm plößlich angftvoll in die Augen. „Sie 
erſchrecken mich... Was fürchten Ste denn fo? Ich 


817 


habe es fchon die ganze Zeit bemerkt, daß Sie etwas 
fürchten, gerade jet, in diefer Minute... Mein Gott, 
wie blaß Sie werden!" 

„Wenn du irgend etwas weißt, Ца, ich ſchwoͤre dir, 
ich weiß nichts... und Бабе ſoeben überhaupt nicht 
davon geiprochen, als ich jagte, Daß ich е8 mit dem Leben 
bezahlt Бане...” 

„Sch verftehe Ste gar nicht”, fagte fie ängftlich ſtockend. 

Da erſchien fchließlih ein langſames, nachdenfliches 
Lächeln auf feinen Lippen. Er jeßte fich ftill wieder hin, 
fügte die Ellenbogen auf die Knie und bededte das 
Geficht mit den Händen. 

„Ein böfer Traum und Wahn... Wir fprachen von 
zwei ganz verjchiedenen Dingen.” 

„sch weiß nicht, wovon Sie gejprochen haben. Uber 
wußten Sie denn geftern wirklich nicht, daß ich Sie heute 
verlaffen würde? Wußten Sie das wirklich nicht? Lügen 
Sie nicht! Sagen Sie, mußten Sie её oder wußten Sie 
es nicht?" 

„Sch тибе es ...“ fagte er leife. 

„un alfo, was wollen Sie dann noch: Sie mußten 
es und nahmen den ‚Augenblid‘. Wozu nun diefe Ab—⸗ 
rechnungen?“ 

„Sage mir die ganze Wahrheit,“ rief er in tiefem Leid: 
„als du geſtern meine Tür aufmachteſt, wußteſt du es — 
felbft, daß du fie nur auf eine Stunde aufmachteft?" | 

Sie {аб ihn mit Haß an. | 

„Es ift doch wahr, daß jelbft der ernitefte Menfch die 
fonderbarften Fragen ftellen пп. Was beunruhigen 
Sie fich deswegen? Sollte es wirklich aus Eigenliebe 
gefchehen, weil eine Frau Sie zuerſt verläßt, und nicht 


818 








| 


Sie die Frau? Wiffen Sie, Nicolai Wſzewolodowitſch, 


ich merfe unter anderem, feit ich bei Ihnen bin, daß Sie 
furchtbar großmütig zu mir find, und gerade das [апп 
ich von Ihnen nicht ertragen.” 

Er erhob ſich vom Pla und ging ein paar Ochritte 
durch Zimmer. 

„Gut, mag das nun fo enden... Uber wie Fonnte 
das alles geſchehen?“ 

„uch eine Sorge! Und die Hauptjache — Sie wiljen 
das ja felbit, jo gut, als hätten Sie es an den Fingern 
abgezählt, wiſſen es beſſer, als alle auf der Welt, und 
rechneten fogar felbft damit! Ich bin eine höhere Tochter, 
mein Herz ИЕ in der Oper erzogen, fehen Sie, das war 
die Urfache, das ИЕ die ganze Löfung des Rätfels !“ 

„rein.“ | 

„Darin Нед nichts, was Ihre Eigenliebe Fränfen 


koͤnnte. Es ift einfach die Wahrheit. Es begann mit 


einem fchönen YAugenblid, den ich nicht ertrug. Vor drei 
Tagen, als ich Sie vor aller Welt ‚beleidigte‘ und Sie 
mir jo ritterlich antworteten, fuhr ich nach Haufe und 


ſagte mir, daß Sie mich gemieden hatten, weil Sie ver: 


heiratet waren, und nicht aus Verachtung, was ich als 
Dame der Öejellichaft am meiften fürchtete. Sch begriff, 
daß @е mich Unfinnige bejchüßten, indem Sie mich 
mieden. Sehen Sie wohl, wie ich Shre Großmut ſchaͤtze. 
Da ſprang dann Piotr Stepanomwitfch für Sie ein und 
erklärte mir alles. Er offenbarte mir, daß ein großer 
Gedanke Sie beherriche, ein Gedanfe, vor dem er und ich 
nichts jind, aber daß ich Ihnen dennoch ‚im Wege‘ ftehe. 
Und fich zählte er immer mit; er wollte unbedingt, daß 


wir zu dreien feien, und er |prach noch die phantaftischften 


819 


Dinge, ртаф von einer großen Barfe mit Rudern aus 
nordifchem Ahorn, wie е8 in irgendeinem ruſſiſchen Liede 
heißt. Ich lobte ihn, fagte ihm, er fei ein Dichter, und er 
nahm das alles für die barfte Münze. Da ich aber auch 
ohnedem jchon Yängft wußte, daß ich nur für einen 
Augenblid ausreichen würde, jo nahm ich mich und ent= 
ihloß mich. Nun, und das war alles, aber jeßt genug 
davon, und bitte Feine Erflärungen mehr. Sonſt geraten 
wir womöglich noch in Streit. Wie gejagt, fürchten Sie 
niemanden, ich nehme alles auf mich. Ich bim jchlecht, 
fapriziög, ich Бабе mich von der opernhaften Barfe 
blenden laffen, ich bin eine junge Dame der Gefell- 
ſchaft . . Uber wiſſen Sie, ich habe bei alledem doch 
gedacht, daß Sie mich furchtbar lieben. Verachten Sie 
nicht die Törin und lachen Sie nicht über ме Träne, 
die jeßt fiel. Ich liebe es jehr, ‚mich jelbft bemitleidend‘ 
zu weinen. Nun, genug, genug. Sch bin zu allem ип: 
fähig und Sie find zu allem unfähig; zwei Nafenftüber 
beiderfeits, finden mir uns aljo damit ab. Wenigftens 
leidet jo die Eigenliebe nicht.“ 

„Ein Zraum und Wahn!” rief Nicolai Wizemolodo- 
witſch und fchritt, die Hände ringend, im Zimmer auf 
und ab. „Lifa, du Arme, was haft du Dir angetan?” 

„Бабе mich am Licht verbrannt, und dag Ш alles. 
Wie, Sie weinen doch nicht gleichfalls? Seien Sie ап: 
ftendiger, feien Sie gefühllofer ... 

„Barum, warum bift du zu mir gefommen?” 

„ber verftehen Sie denn nicht endlich, in welch eine 
fomifche Lage Sie fich mit folchen Fragen felbft bringen?” 

„Warum Бай du dich felbit zugrunde gerichtet, jo uns 
geheuerlich und töricht! Und mas foll jeßt geſchehen?“ 


820 





„Und das ift Stawrogin, der ‚blutdürftige Stawrogin , 
wie Мег eine Dame, die in Öie verliebt Ш, Sie nennt! 
Hören Sie, ich habe es Ihnen doch ſchon gejagt: ich 
babe mein Leben auf eine Stunde gelegt und bin jetzt 
ruhig. Zun Sie га себе auch mit Ihrem Leben... 
übrigens, wozu follten Sie das, Sie werden по viele 
folher ‚Stunden‘ und ‚Augenblide‘ haben!" 

„Ebenſoviele wie du: ich gebe dir mein heiliges Wort, 
nicht eine Stunde mehr als du! 

Er ging immer noch auf und ab und Jah ihren jchnellen, 
durchbohrenden Blick nicht, in dem plößlich gleichlam 
Hoffnung aufleuchtete. Aber мест Lichtftrahl erloſch 
in derjelben Minute. 

„Wenn du den Preis meiner jegigen unmöglidhen 
Aufrichtigkeit wüßteft, Lifa, wenn ich Dir nur enthüllen 
ие...” 

„Enthuͤllen? Sie wollen mir irgend etwas enthüllen? 
Gott bewahre mich vor Ihren Enthüllungen! unter: 
brach Sie ihn faft mit Schreden. 

Er blieb ftehen und wartete in Unruhe. 

„Sch muß Ihnen geftehen, in mir hat Jich ſchon Damals, 
{фоп in der Schweiz, der Gedanke feftgejeßt, daß Sie 
etwas Entjeßliches auf der Seele haben müljen, etwas 
Schmußiges und DBlutiges, und... gleichzeitig etwas, 
das Sie furchtbar lächerlich macht. Hüten Sie fich, mir 
das zu enthuͤllen, wenn es ſo ift: ich würde Sie verfpstten. 
Sch würde über Sie lachen ſolange Sieleben.... Oh, Sie 
erbleichen wieder? Sch werde ja nicht, ich werde nicht, 
ich gehe gleich fort.” Und fie erhob ſich ſchnell mit einer 
angeefelten und verachtenden Bewegung. 

„Duäle mich, richte mich, fchütte alle Wut über 


821 


mich aus!” rief er in Verzweiflung. „Du haft das volle 
Recht dazu! Ich mußte, daß ich dich nicht Небе, und 
richtete Dich zugrunde. За, ich ‚nahm den Augenblid‘, 
ich nahm ihn an: ich hatte noch eine Hoffnung... jchon 
lange... eine leßte... 34 konnte dem Licht nicht 
widerftehen, dag plößlich mein Herz erhellte, als du bei 
mir eintratft, allein, als erfte. Ich glaubte plößlih... 
Dielleicht glaube ich auch jeßt noch ...“ 

„Eine jo edle Aufrichtigfeit bezahle ich Ihnen mit 
gleichem: ich will nit Ihre barmherzige Schwefter 
fein. Es Ш möglich, daß ich wirklich Kranfenpflegerin 
werde, wenn ich nicht heute noch zur rechten Zeit zu 
fterben verftehe; aber wenn ich das auch würde, fo ginge 
ich doch nicht zu Ihnen, objchon Sie jelbftredend jedem 
Bein: oder Armlojen gleichwertig jind. Es bat mir 
immer gejchienen, daß Ste mich an irgendeinen Ort 
bringen würden, mo eine böje Niejenfpinne von Menſchen— 
größe fißt, und wir würden dort ищет Zebelang auf dieſe 


Spinne jehen und uns vor ihr fürchten. Und darüber _ 


wird dann unjere gegenjeitige Xiebe vergehen. Wenden 
Sie ſich an Daſchenka; ме wird mit Ihnen gehen, wohin 
Sie wollen.” 

„Sie fonnten es auch jeßt nicht unterlafjen, fie zu er: 
waͤhnen?“ 


„Das arme Huͤndchen! Gruͤßen Sie ſie von mir. 


Wußte ſie es, daß Sie ſie ſchon damals in der Schweiz 


für Ihr Alter beſtimmten? Welch eine Fuͤrſorge! Ве 


eine Vorſicht! — Ach! Wer iſt da?“ 

Sn der Tiefe des Saales hatte ſich kaum die Tür ge— 
öffnet: ein Kopf |456 ſich durch und 309 jich jchnell 
wieder zurüd, 


822 


ne 





„Biſt du es, Alexei Jegorytſch?“ fragte Stawrogin. 

„Nein, das bin nur ich,” fagte Piotr Stepanowitich, 
der fich nun von neuem und diesmal gleich bis zur Hälfte 
durch die Tür fchob. „Guten Tag, Liſaweta Nicolajewna; 
auf alle Fälle wünfche ich einen guten Morgen. Wußte 
ich’8 Doch, daß ich Sie beide in diefem Saal antreffen 
würde. — Sch bin wirklich nur auf einen Augenblid 
gefommen, Nicolat Wſzewolodowitſch, — bin um jeden 
Preis hergeeilt, nur auf ein paar Worte... die aller: 
notwendigften.... nur ein paar Wörtchen !'' 

Stawrogin ging, aber паф drei Schritten Fehrte er zu 
Liſa zuruͤck. | 

„Denn du jeßt gleich etwas erfahren wirft, Liſa, fo 
wilje: ich bin ſchuld!“ 

Sie fuhr zuſammen und fah ihn |феи ап; doch er ging 
ſchnell hinaus. 

II 

Das Zimmer, in das 14 Piotr Stepanomitich zurüd: 
$09, war ein großes ovales Vorzimmer. 18 zu feinem 
Erſcheinen hatte der alte Diener Ulerei Jegorytſch hier 
geſeſſen, den hatte er aber jet weggeichidt. 

Nicola Wſzewolodowitſch 14158 ме Saaltür hinter 
fih und blieb in Erwartung ftehen. Piotr Stepano— 
witſch ſah ihn fchnell und prüfend an. 

„Run?“ 

„Das heißt, wenn Sie es ſchon wiſſen follten —“ be— 
gann Piotr Stepansmitih eilig und als wolle er mit 
den Augen Stamrogin in ме Seele fpringen, „jo Ш 
felbftverftändlih niemand von uns ſchuld daran, befon- 
ders nicht Sie, denn es ift nur ein zufälliges Zufammen: 
treffen... eine Reihe von Zufällen... mit einem 


823 


Wort, juridiſch kann man Ihnen nichts anhaben, und ich 
bin nur gefommen, um ©ie zu benachrichtigen.“ 

„Sie find verbrannt? Ermordet?” 

„Srmordet, aber nicht verbrannt, das И eben Das 
Dumme! Doc ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich bin 
nicht jchuld daran! Das heißt, wenn Sie die ganze 
Wahrheit willen wollen: jehen Sie, ich hette wirklich 
einmal den Gedanken — Sie jelbft haben ihn mir ein 
gegeben (nicht im Ernft, natürlich, Sie nedten mich ja 
nur damit, denn Ste werden doch nicht im Стий jo etwas 
jagen!) — doch ich hätte mich niemals zur Ausführung 
entſchloſſen, für nichts in der Welt, nicht für hundert 
Nudel, — denn ich habe ja gar feinen Vorteil davon, gar 
feinen — das heißt, ich, ich perſoͤnlich .. . (Er überhaftete 
jich furchtbar und ſprach wie eine Plappermühle.) „Uber 
nun hören Sie, was für ein Zufammentreffen von Zus 
fällen: ich gab ihm von meinem Gelde, von Ihrem war 
nicht ein Rudel dabei, Sie mwiljen das jelbft, ich gab aljo 
dem betrunfenen Dummkopf Lebaͤdkin zweihundertunds 
dreißig Rubel, vor drei Tagen, noch am Abend, — hören 
Sie: vor drei Tagen, und nicht erft geftern nach der 
Matinee, beachten Sie das: das ИЕ jehr wichtig! Denn 
ich wußte damals noch nicht, ob Liſaweta Nicolajeruna 
zu Shnen fahren würde oder nicht: — gab ihm von 
meinem eigenen Gelde, nur darum, weil Sie nun mal 
die Idee hatten, Ihr Geheimnis allen aufzudeden. Nun, 
Darüber werde ich mich nicht weiter verbreiten, .... das — 
ift Ihre Sache... Ritter, und jo weiter... ch geftehe 
aber, ich wunderte mich doch jehr, als ob ich mit einer _ 
Keule einen Schlag vor den Kopf befommen hätte. Da 
mir aber ме Tragödien fcheußlich langweilig gemorden 


824 





waren — ich |preche jeßt, merken Sie ſich das wohl, im 
Ernſt, wenn ich auch burſchikoſe Ausdrüde gebrauche —, 
da nun alles dag meine Pläne kreuzte, jo ſchwor ich mir, 
Lebädfin, was es auch koſte, und auch ohne Ihr ЖЗ еп, 
nach Petersburg zu ſchicken. Nur einen Fehler habe ich 
da vielleicht beaangen: ich gab ihm dag Geld in Ihrem 
Namen! War das пип ein Fehler oder nicht? Diele 
leicht war es auch Fein Fehler! Aber hören Sie jetzt, 
hören Sie, wohin das alles geführt hat... —“ 

Im Eifer der Rede war er Stamwrogin immer näher 
gerückt und wollte ihn ſchließlich am Nodaufichlag ап: 
faſſen (vielleicht, bei Gott, mit Abſicht). Stawrogin 
\chlug ihm mit einem heftigen Schlag ме Hand herunter. 

„Wie... wasl?... Ха... bloß, fo können Sie 
einem ja die Hand brechen... Die Hauptfache ift nun, 
was daraus alles entitanden Ш...’ jehnatterte er dann 
Ichon weiter, ohne fich über den Schlag viel zu wundern. 
„Am Abend gebe ich ihm das Geld, damit er mut feiner 
Schweiter am naͤchſten Morgen, jowie es hell wird, ſich 


davonmacht: beauftrage mit dieſer Sache den Schuft 


Liputin, der ihn jelbjt einpaden und fortichiden foll. 
Aber der Schuft Liputin mußte mit dem Publikum feinen 
dummen Schulbubenftreich machen, — Sie haben mohl 
Ichon davon gehört? auf der Matinee? Nun hören Sie, 
hören Sie doch: beide betrinfen ſich und Schmieden Verſe. 
Liputin zieht dem anderen einen Frack an und verftedt 
и hinter den Kulifjen (mir verfichert er dabei, er habe 
ihn am Morgen auf die Bahn gebracht), um ihn im де: 
gebenen Moment auf die Tribüne zu fchubfen. Lebädfin 
aber betrinkt jich inzmwijchen wieder vollftändig. Darauf 
folgt der befannte Skandal — Lebädfin wird fteif Бе: 


53 Doftojewsti, Die Dämonen. 3%. II. 825 


trunfen nach Haufe gebracht, fchlafend, Liputin nimmt 
ihm die zmweihundert Rubel aus der Brieftafche und 
laßt ihm nur das Kleingeld. Zum Unglüd aber hatte 
Lebaͤdkin {фоп am Morgen das Geld gezeigt und 
damit herumgeprahlt. Da aber Fedjfa nur ‘darauf 
wartete — er hatte bei Kirilloff etwas davon gehört 
(erinnern Sie fich noch Ihrer Anfpielung?), fo entſchloß 
er jich, die Gelegenheit zu Бепивеп. Sch bin aber doch 
froh, daß Fedjfa wenigstens das Geld nicht vorgefunden 
hat, — dabei hat der Schurfe eigentlich auf Taufende де: 
rechnet! Er beeilte ſich alfo, aber das Feuer fcheint ihn 
dann felbft erfchredt zu haben... Glauben Sie, mir Ш 
diefer Brand wie ein Keulenfchlag vor den Kopf! Das 
ift ja... der Teufel weiß, mas das ЦЕ! Das ift eine folche 
Eigenmächtigfeit... Sehen Sie, ich werde Shnen, da 
ich fo viel von Ihnen erwarte, nichts verheimlichen: ich 
habe jchon lange jelber dieſe Idee, Feuer anzulegen, in 
mir hberumgetragen. Das ift fo populär, fo volklich ... 
aber ich habe fie immer für die kritiſche Zeit aufbewahrt, 
für den großen Augenblid, wenn wir ung alle erheben 
und... Und da haben fie das jeßt plößlich eigenmächtig 
und ohne Befehl getan, und das noch in einem Augen— 
БШ, mo man den Atem anhalten und alles verheimlichen 
müßte! Nein, das ift eine folche Eigenmächtigfeit!... 
Sch weiß ja noch nichts darüber: man fpricht von zweien 
aus der Spigulinichen Fabrif... wenn aber von den 
unferen jemand dabei war, wenn auch nur einer feine | 
Hand dabei im Spiele hat — gnade ihm Gott! Gehen 
Sie, was das heißt, fie ein bißchen vernachläfligen! 
Dh, diefes demokratische Pac mit feinen ‚Fünfern“ ИТ, 
das ſehe ich, eine Schlechte Stüße! Ein einziger groß: 


826 





artiger, gößenhafter, deſpotiſcher Wille tut not, einer, 
der ſich nicht auf etwas Zufälliges und außerhalb Stehen 
des ив... Dann werden auch die ‚Sünfer‘ gehorfam 
und vielleicht noch von Nußen fein. Doch jedenfalls, 
wenn fie jeßt auch alle fchreien und in die Trompete 
blafen, daß Stawrogin fich von feiner Frau befreien 
wollte, und daß darum die Stadt brennen mußte, jo —“ 

„Alſo man fchreit das ſchon?“ 

„Das heißt, nein, noch gar nicht, und ich muß geftehen, 
ich Бабе davon big jeßt noch nichts gehört, aber was Ш 
mit dem Зо denn anzufangen, befonders mit den Ab: 
_ дебтапи и? Vox populi, vox Dei! Braucht es denn 

viel Zeit, um felbft das duͤmmſte Gerücht zu verbreiten ? 

Sie, wie gejagt, haben fich vor nichts zu fürchten. Уши 

difch Ш alles einwandfrei, vor Ihrem Gewiſſen gleich: 

falls, denn Sie wollten das doch nicht? Sie wollten dag 
doch nicht? Beweiſe gibt es feine, alles war nur Zufall... 

Es jei denn, daß Fedjka fich Ihrer damaligen unvorfich: 

tigen Worte bei Kirilloff erinnert (wozu haben Sie fie 
damals auch ausgefprochen ?), aber dag beweift Doch nichte. 

Und Fedjka machen wir fchnell mundtot. Sch werde 

ihm noch heute... 
„Und die Leichen find gar nicht verbrannt?” 
„Nein: diefe Kanaille hat nichts wie es fich gehört zu 
machen verftanden. Aber ich freue mich vor allen Dingen, 
daß Sie fo ruhig find... denn wenn Sie daran auch gar 
feine Schuld tragen, nicht mal in Gedanken, fo ift es doch 

— па, immerhin. Sedenfalld werden Sie mir aber zus 

geben, daß das alles jehr fchön Ihre Ungelegenheiten in 

Drdnung bringt: Sie find plößlich ein freier Witwer 

und fünnen noch in diefer Stunde Das fchönjte Mädchen 








53* 827 





mit einem riefigen Vermögen heiraten, — ein Mädchen, 
das noch dazu Schon in Ihren Händen ЦЕ, Sehen Sie, 
was ein einfacher, grober Zufall alles tun kann, nicht: 
wahr?” 

„Sie wollen mich einihüchtern, Sie Dunmkopf?“ 

„Nun, ſchon gut, ſchon gut, warum gleich Dummkopf, If 
und mas Ш dag für ein Ton? Wer follte fich mehr № 
freuen, als Sie? Ich bin hergelaufen, um Sie zu bez № 
nachrichtigen.... Womit jellte ich Sie denn einjchüchz IF 
tern? Als ob ich Ihnen zu drohen nötig hätte! Уф brauche 
Ihren freien Willen, aber nicht einen erzmungenen! Sie 
find das Licht und die Sonne. Sch fürchte Sie, aber nicht 
Sie mich! Ich bin doc) nicht Mawrikij Nicolaiewitih ... 
Stellen Sie ſich vor, ich ſauſe hierher in einer Droſchke — 
und wen ſehe ich? — Mawrikij Nicolajewitſch! An Ihrem 
Gartenzaun, ganz am Ende des Gartens, — im Mantel, 
söllig durchnaͤßt, er muß wohl die ganze Nacht dort ger 
wartet haben! Wunderbar! Wie weit die Menichen 
doch den Verſtand verlieren Fönnen м 

„Mawrikij Nicolajewitſch! Iſt Das wahr?“ | 

„Es Ш wahr, es ИЕ wahr. Steht am Gartenzaun. 
Bon hier — na, dreihundert Schritte von bier, wenn ich | 
mich nicht irre, Ich beeilte mich, an ihm vorüber zu 
fommen, aber er hat mich doch) geſehen. Sie mußten es 
nicht? In dem Fall bin ich ichr froh, daß ich nicht ver— 
деЙеп habe, es Ihnen mitzuteilen. Sehen Gie, ſolch 
einer iſt am gefaͤhrlichſten! wenn der einen Revolver bei 
ſich hat! und zuletzt, die Nacht, die Naͤſſe, die Erregung, 
und dann — mie И denn feine Lage jetzt, ба, Ба! Was 
meinen Sie, warum fißt er da?” 

„Er wartet natürlic) auf Liſaweta Nicolajemna.” 


828 


„So—o! За warum follte fie Denn zu ihm hinaus: 
gehen? Und... in diefem Regen... ſo ein Eſel!“ ... 

„Sie wird fogleich zu ihm hinausgehen.” 

„Aha! Das Ш mir mal eine Neuigfeit! Alſo. 
Uber hören Sie, jet hat fich doch Ihre Situation völlig 
geändert: wozu braucht fie jeßt den Mawrikij? Cie find 
doch jeßt ein freier Witwer und fünnen fie doch morgen 
heiraten? Weiß fie noch nichts? Dann überlaljen Sie 
её mir, ich werde gleich alles in Ordnung bringen. Wo 
ИЕ Не, man muß ihr Doch auch eine Freude machen!’ 
„Eine Freude?" 

„Sie fragen noch! Gehen wir.” 

„And Sie glauben, daß Пе vor dieſen Leichen nichts 
erraͤt?“ fragte Stamwrogin, indem er ihn mit halb zus 
gefniffenen Augen anſah. 

„Ratürlich nicht," antwortete Piotr Stepanowitfch, 
den Dummen jpielend, „denn juridiich... Ach, Sie! 
Und wenn fie es auch errät! Don den Frauen wird das 
alles jo fchnell abaetan! Sie kennen die Frauen noch) 
wicht! Außerdem muß jie Ste Doch ganz einfach heiraten, 
denn fie hat fich doch nun mal fompromittiert, ganz ab» 
gejehen davon, Daß ich ihr von der ‚Barfe‘ fchon erzählt 
habe: und habe geſehen, daß man gerade damit Ein 
drud auf fie macht — da Sieht man gleich, von welchem 
Kaliber das Mädchen И. Beruhigen Sie fich, Пе wird 
über diefe Leichen fo hinwegtreten, wie nichts! Außer: 
dem find Sie ja doch tatjächlich ganz unjchuldig, voll: 
ftändig unschuldig, nicht wahr? Sie wird die Erinnerung 
an diefe Leichen nur aufbewahren, um Sie vom zweiten 
Sabre Ihrer Ehe сп damit zu pceinigen. Jedes Weib, 
das zum Altar geht, rächt fich fo an ihren Dann, aber 


829 


mas dann fein wird... mas wieder übers Jahr {ет 
wird? Фа, ba, Ва!" 

„Sie find mit einer Drofchfe gefommen? Die Drofchke 
wartet noch? Dann fahren Sie in мег Drofchfe mit 
Lifa зи Mamrifij Nicolajemwitich. Sie hat mir foeben 
gejagt, daß пе mich nicht lieben Рапп, daß fie von mir 
geht, da wird fie jelbfiverftändlich feine Equipage von 
mir annehmen.” 

„Uber was foll denn das bedeuten? ЗЙ das wirklich 
ihr Ernft? Was hat denn das veranlaffen fünnen?” 
Piotr Stepanowitich ſah ihn mit einem recht dummen 
Geſicht an. 

„Sie hat eg irgendwie erraten, in diejer Nacht, daß ich 
fie gar nicht liebe... was jie natürlich |фоп immer де: 
wußt bat.” 

„sa, aber wie — lieben Sie fie denn nicht?" fragte 
Piotr Stepanowitich mit der Miene grenzenlojen бт: 
ftaunens. „Uber wenn das fo Ц, warum haben Sie ihr 
das dann nicht geftern gleich gejagt, daß Sie fie nicht 
lieben? Das ЦЕ doch eine fchredliche Gemeinheit von 
Ihnen, und иле ftehe ich denn jeßt vor ihr da?“ 

Stamrogin begann plöfßlich zu lachen. 

„sch lache über meinen Affen”, erklärte er jofort. 

„Ah! Sie haben’s durchichaut, daß ich den Bajazzo 
ſpiele!“ Piotr Stepanowitſch lachte jogleich furchtbar 
luftig mit. „Ich hab's ja nur getan, um Sie zu amuͤ— 
fieren! Stellen Sie fich vor, ich hab’s Doch im Augen: 
БИ, wie Sie aus der Tür traten, Ihrem Geficht anz 
gefehen, daß es bei Ihnen ‚Unglüc“ gegeben hat. Biel: 
leicht fogar einen vollftändigen Mißerfolg, wie? Nun, 
ich möchte ſchwoͤren,“ rief er, fich vor Entzüden Тай ver- 


830 





Ichludend, „daß Sie die ganze Nacht im Saal neben: 
einander wie Puppen auf den Stühlen geſeſſen, über 
hohe Sachen Sich geftritten und jo die ganze Foftbare Zeit 
verbracht haben... Doch, verzeihen Sie, verzeihen 
Sie, was geht dag mich an! Ich wußte ja fchon geftern, 
раб es bei Ihnen mit einer Dummheit enden werde, 
Sch Бабе jie Ihnen ja auch überhaupt nur gebracht, um 
Ahnen ein Vergnügen zu verichaffen, und um Ihnen 
zu beweifen, daß Sie es mit mir nicht langweilig haben 
werden! Dreihundertmal kann ich Ihnen noch mit fo 
was dienen! Ich liebe es überhaupt, den Menichen ge: 
fällig zu fein. Und wenn Sie fie jeßt alfo nicht mehr 
brauchen, worauf ich ja rechnete, dann — nun ja, dann 
bin ich eben hierhergefahren, ит...” 

„Sp haben Sie fie mir aljo nur zu meinem Ver: 
gnügen gebracht” 

„Wozu denn ſonſt?“ 

„Und nicht deshalb, um mich zu zwingen, meine Frau 
zu ermorden?“ 

„So—o, ja haben Sie fie denn ermordet? Was für 
ein tragifcher Menſch Sie find!" 

„Sleichviel, Sie haben fie ermordet.” 

„Miefo denn ich? Uber ich fage Ihnen doch, ich 
bin da auch nicht mit einem Tropfen beteiligt. Indeſſen, 
Sie fangen an mich zu beunruhigen .. 

„Hahren Sie fort, Sie fagten: ‚Wenn Gie fie ао 
jeßt nicht mehr brauchen, ſo ...“ 

„Sp überlafien Sie fie mir, felbftverftändlich! Ich 
werde fie glänzend mit Mawrikij Nicolajewitich ver: 
heiraten, den nicht ich unten am Gartenzaun aufgeftellt 
babe — ſetzen Sie fich nicht auch das noch in den Kopf! 


831 


Ich fürchte ihn jet fogar. MWahrhaftig, wenn er vorhin 
einen Nevolver gehabt БаНе!... Gut, daß аиф ich 
einen habe! Da tft er — (er zog einen Revolver aus der 
Zafche, zeigte ihn, ftedte ihn aber fchnell wieder ein), 
„ich habe ihn wegen des weiten Weges zu mir geftedt... 
Übrigens, ich werde das alles im Augenblid beilegen: es 
wird ihr gerade jeßt wegen Mamrifij am Herzchen nagen 
... es muß ja Jo fein... und wiſſen Sie, bei Gott, ie 
tut mir fogar ein wenig leid! Bringe ich fie wieder mit 
Mawrikij zufammen, jo wird fie von Stund an nur an 
Sie denken, Sie verhimmeln und ihn fchelten, — ein 
Meiberherz! Nun, Sie lachen jchon wieder? Es freut 
mich riefig, daß Sie fo heiter geworden find. Nun, 
wie — gehen wir? Sch fange fogleich von Mawrikij an, 
von denen aber... ven Зои... willen Sie, follte 
man nicht jeßt lieber darüber jchweigen? Sie wird es 
ja jpäter doch erfahren.” 

Ploͤtzlich ſtand Liſa in der Tür. 

„Das werde ich erfahren? Wer ИЕ tot? Mas fagten 
Sie von Mawrikij Nicolajewitſch?“ 

„Ah! Ste haben uns belauſcht?“ 

„Bas fagten Sie von Mawrikij Nicolajewitich? Sit 
er tot?” 

„25! jo Haben Sie doch nichts gehört! Beruhigen Sie 
ih, Mawrikij Nicolajewitich lebt und Ш gefund, wovon 
Sie fich ſchon im Augenblid werden überzeugen koͤnnen, 
denn er fteht Мег unten, am Wege, am Öartenzaun... 
und fteht Dort, glaube ich, die ganze Nacht, durchnäßt, 
im Mantel... Sch fuhr an ihm vorüber, er hat mich 
geſehn.“ 

„Das ЦЕ nicht wahr. Sie ſagten ... Wer iſt getötet?” 


832 





„Grmordet Ш nur meine Frau, ihr Bruder Xebädfin 
und die Aufwärterin”, ſagte Stawrogin mit fefter 
Stimme. 

Lila zudte zufanımen und erbleichte unheimlich. 

„Sin ganz fonderbarer Zufall, Lifaweta Nicolajewna, 
der dümmfte Fall son einem Raubmord,“ trommelte 
jofort wieder Pjotr Stepanowitſch 168 — „ein Räuber, 
der den Brand benußen wollte: der Dummkopf Lebaͤdkin 
hatte allzu offen {ет Geld gezeigt... Das benußte dann 
Fedjka, ein entjprungener Zuchthäusler — Sie werden 
von ihm gehört haben... ch bin fofort hierher geeilt... 
ich) war wie von einem Ötein getroffen, wie Sie Sich 
denfen fünnen, und Stawrogin war denn auch fo er: 
jchüttert, als ich ihm das Geſchehene mitteilte. Wir be: 
vieten ung gerade: ob тап es Shnen jeßt gleich Jagen 
jollte oder noch nicht? 

„Nicolai Wizewolodomitich, fagt er die Wahrheit” 
en Liſa faum hörbar hervor. 

„Жем, er jagt die Unwahrheit.” 

„Wie, die Unmwahrbheit?” fuhr Piotr Stepanowitich 
erichroden auf. „Was foll denn das wieder heißen?” 

„Mein Gott, ich verliere den Verſtand!“ {фие ®Ца auf. 

„Bedenken Sie doch, daß der Menfch ja wahnfinnig 
iſt!“ fuchte Piotr Stepanowitſch alles zu überfchreien, 
„Denn immerhin, es ИЕ doch nun mal feine Зтаи, die man 
erichlagen hat! Sehen Sie doch, wie bleich er ЧЕ... Er 
war Doch die ganze Nacht mit Ihnen zufammen, hat Sie 
nicht auf eine Minute verlafjen, da fann er eg Doch nicht 
getan haben, wer wird denn ihn verdächtigen? !" 

„Nicolai Wſzewolodowitſch, jagen Sie mir wie vor 
Gott, ob Sie fchuld find oder nicht, und ich ſchwoͤre Ihnen, 


833 


ich werde Ihrem Wort glauben, wie dem Worte Gottes, 
und bis ans Ende der Welt werde ich Ihnen folgen, oh, 
ich folge! Ich folge wie ein Hündchen . . 

„Bas quälen Sie fie, warum, wozu, Sie phantaftifcher 
Kopf!" rief Piotr Stepanomitich wütend. „Liſaweta 
Nicolejewna, hören Sie mich an, Wort für Wort: er ift 
unjchuldig, im Gegenteil, er ift wie vernichtet, er ift franf 
und phantafiert, Sie {еБеп её doch! Sm nichts, in nichts 
ИЕ er fchuldig! Das haben Naubmörder getan, denen 
man vielleicht fchon morgen auf der Spur fein wird! Das 
hat Fedjka, der Zuchthäusler, getan, und noch einige aus 
der Spigulinfchen Fabrik, die ganze Stadt ſpricht ſchon 
davon, deshalb bin ich... 

„Sit es jo? Sit es fo?" Am ganzen Körper zitternd 
erwartete Lija ihren Urteilsipruch. 

„Уф Бабе nicht gemordet und ich war Dagegen, aber 
ich wußte, daß man fie umbringen werde und habe nichts 
getan, un den Mord zu verhindern. Gehen Sie von пит, 
Liſa“, murmelte Stawrogin und ging in den Saal. 

Lila bededte das Gejicht mit den Händen und ging 
hinaus aus dem Haufe. Pjotr Stepanomwitjch wollte ihr 
ſchon nachftürzen, kehrte aber fofort um und ging in den 
Saal zu Stamrogin. 

„fo fo find Sie? So find Sie? Alſo nichts fürchten 
Sie?” ftieß er, wie irrfinnig vor Wut, unzuſammenhaͤn— 
gend, mit Schaum vor dem Munde, hervor. 

Stamwrogin ftand in der Mitte des Saales und ermwiderte 
fein Wort. Er griff mit der linfen Hand in fein Haar und 
lächelte blicklos. Piotr Stepanowitſch riß ihn heftig am 
Ärmel. 

„Sekt find Sie verloren! Was? Alſo darauf Haben Gie 


834 





es angelegt? Alle geben Sie preis! Und ſelbſt gehen 
Sie ins Klofter oder zum Teufel! Uber ich merde Ihnen 
ja doch den Garaus machen, auch wenn Öte mich nicht 
fürchten ſollten!“ 

„ch, Sie find es, der Мег plappert?" Stamrogin 
bemerkte ihn jeßt erſt. Und plößlich, wie erwachend, rief 
er: „Laufen Sie, laufen Sie ihr nach, befehlen Ste einen 
Wagen, verlalien Sie fie nicht... Laufen Öie, laufen 
Sie doch! Bringen Sie fie nach Haus, Damit eg niemand 
weiß, und fie nicht dorthin geht... zu den Leichen ... 
den Leichen... Seßen Sie fie mit Фета in die Equi— 
раде... Alexei Jegorytſch! Alexei Jegorytſch!“ 

„Still, ſchreien Sie nicht! Sie iſt jetzt ſchon in Maw— 
rikijs Armen . . . Mawrikij wird ſich nicht in Ihre Equi— 
page ſetzen. Bleiben Sie! Das hier iſt wichtiger, als die 
Equipage!“ 

Er riß wieder den Revolver hervor. Stawrogin ſah 
ihn ernſt an. 

„Nun was, erſchießen Sie mich“, ſagte er leiſe, beinahe 
verſoͤhnlich. 

„Pfui Teufel, welch eine Luͤge der Menſch auf ſich 
laden kann!“ Pjotr Stepanowitſch erzitterte foͤrmlich. 
„Bei Gott, ja, man ſollte Sie totſchlagen! Wahrlich, ſie 
mußte ja einfach auf Sie jpuden!... Was koͤnnen Sie 
denn noch für eine tragende Barke fein, Site alter, mor= 
ſcher, hölzerner Kahn, der nur noch zum Abbruch taugt !.... 
Nun, wenn Sie fich Doch mwenigftens aus Bosheit, aus 
Bosheit jet aufrafften! Ach! So ift Ihnen wohl fchon 
alles gleich, wenn Sie bereits felber- um eine Kugel in 
Ihre Stirn bitten?” 

Stamrogin lächelte jonderbar. 


„Wenn Sie nicht ſolch ein Starr wären, jo würde ich 
jet vielleicht ‚ja‘ jagen... Wenn Sie nur ein bißchen 
flüger wären..." 

„Gut, mag ich ein Narr fein, aber ich will nicht, daß 
Sie, meine wichtigere Haͤlfte, auch ein Narr find! Ver: 
ftehen Sie mich?“ 

Stamwrogin verftand ihn, vielleicht fonnte nur er 
alfein ihn verftehen. War doch Schatoff erftaunt geweſen, 
als Stawrogin ihm gefagt hatte, daß in Piotr Stepano— 
witich Enthufiasmus fei. 

„Gehen Sie jetzt zum Teufel, morgen werde 14 viel: 
feicht irgend was aus mir herausbringen. Kommen Sie 
morgen wieder.“ | 

„За? За?“ 

„Was kann ich wiffen!... Gehen Sie zum Teufel, zum 
Teufel!" 

Und er verließ den Saal. 

„Wer weiß, vielleicht ЦЕ её auch beifer fo“, murmelte 
Piotr Stepanowitſch und ſteckte den Revolver wieder ein. 


Ill 
Er eilte hinaus, um Liſaweta Nicolajewna einzuholen. 
Sie war noch nicht weit gelommen: — ein paar 


Schritte vom Haufe entfernt, erreichte er fie. Alexei 
Jegorytſch, der ihr im Frack und ohne Hut, in einem 
Abftande von einem Schritt, in ehrerbietiger Haltung 
folgte, ſuchte fie zuruͤckzuhalten: er |prad) auf fie ein und 
fuchte ihr vergeblich Нат zu machen, daß fie doch auf die 
Equipage warten müfje; der Alte mar dabei dem Weinen 
nabe. 

„Mach dich fort, der Herr wuͤnſcht Tee”, damit ſchob 


836 





| 


Piotr Stepanowitich den Alten beifeite und legte Liſa— 
weta Nicolajewnas Hand auf jeinen Arm. 

Sie zug die Hand nicht fort: offenbar war fie noch 
gar nicht bei voller Beſinnung. 

„Erſtens müfjen Ste nicht dahin, nicht am Park vor: 
über, begann Piotr Stepanowitſch, „Jondern hierher. 
Zweitens fönnen Sie unmöglich zu Fuß gehen, denn bie 
zu Shnen find es guie drei Werft, und Sie find nur in 
einem leichten Kleide. Wenn Sie nur ein wenig warten 
wollten. Ich bin in einer Droſchke gelommen und Die 
wartet noch auf mich. 34 werde Sie jofort hineinjeken 
und dann fo zurüdbringen, daß niemand Sie Sieht.” 

„Wie gut Sie find..." jagte Liſa freundlich. 

„ber ich bitte Sie, in einem ſolchen Fall würde doch 
ieder humane Menich an meiner Stelle ebenio... —" 

Liſa {аб ihn an und war verwundert. 

„ch, mein Gott, und кб dechte, daß immer noch Der 
Alte..." 

„Hören Sie mal, es freut mich ſehr, daß Sie es fo 
ruhig auffafjen, denn alles das ift doch ein fürchterliches 
Borurteil. Wäre eg alfo nicht das DVernünftigfte, ich 
befehle dem Alten, jofort die Eauipage anjpannen zu 
laffien? Das dauert höchftens zehn Minuten, und wir 
gehen fo lange auf die Treppe zurüd und warten, wie?" 

„sch möchte zuerst... шо по die Ermordeten?“ 

„Natürlich! Das befürchtete ich ja! Nein, die lafjen 
wir hübich beileite. Und das Ш auch nichts für Sie!" 

„sch weiß, wo fie по, ich fenne das Haus.” 

„Nun, was, was willen Sie? Sch bitte Sie, jeßt im 
Regen, im Nebel (da Бабе ich mir eine jchöne Verpflich: 
tung aufgeladen!) ... Hören Sie, Liſaweta Nicolajewna, 


837 


entweder oder: Sie fünnen mit mir auf die Droſchke 
warten und gehen jeßt feinen Schritt weiter, oder aber, 
wenn Sie noch zwanzig Schritte weiter gehen, jo erblidt 
ung Mamrifij Nicolajewitſch.“ 

„Mawrikij Nicolajemitih! Wo? Wo?“ 

„Уши, wenn Sie zu ihm gehen wollen, jo fann ich Sie 
meinethalben noch ein Stüdchen begleiten und Shnen 
zeigen, wo er fteht. Sch jelbft aber mache dann meinen 
ergebenften Diener: ich möchte jeßt nicht mit ihm fprechen. 

„Er wartet auf mich, mein Gott!" Sie blieb plößlich 
ftehen und wurde über und über rot. — 

„Jun, was joll das! Wenn er ein Menfch ohne Vor: 
urteile ИЕ! Willen Sie, Liſaweta Nicolajewna, das ift - 
ja alles nicht mehr meine Sache, — ich bin ja ganz ип: — 
beteiligt dabei, das willen Sie felbft. Aber ich will doch 
Ihr ЗеЙе8... Wenn es mit unferer ‚Barfe‘ nun ein: 
mal nichts ЦЕ, wenn es fich herausgeftellt hat, daß fie nur 
ein alter, verfaulter Kahn war, der nur noch zum Abbruch 
taugt..." 

„ch, wunderbar!" Kija lachte hyſteriſch auf. 

„Sa, wunderbar, aber dabei fließen Shnen die Tränen 
über die Wangen. Da ИЕ mehr Feftigfeit nötig. Die Frau 
joll den Männern nicht nachftehen. In unjerer Zeit, 
wenn die Frau... pfui, zum Teufel!" (Piotr Stepano— 
witſch hätte beinahe ausgeipudt.) „Und ме Hauptjache, 
nichts bedauern: vielleicht wird fich alles noch zum beiten 
fehren. Mawrikij Nicolajemwitich ift ein Menjch... mit 
einem Wort, ein gefühlvoller Menſch, wenn auch nicht 
gefprächig, mas übrigens nichts auf ИФ hat, voraus— 
gefeßt, daß er nur ein vorurteilsfreier Menſch Ш..." 

„Wunderbar, wunderbar”, lachte Lifa immer поф. 


838 








„ch nun, zum Teufel ... Lifaweta Nicolajewna,” 
fagte Piotr Stepanowitfch plößlich pikiert, „ich rede Doch 
nur in Ihrem Sntereffe .. . denn was geht das ſchließlich 
mich an? Ich war Ihnen geftern zu Dienften, Бабе getan, 
was Sie felbit wollten, und heute . .. Nun fehen Sie, 
von bier fieht man fchon Mawrikij Nicolajewitfch! Dort 
fteht er und fieht uns nicht. Haben Ste, Polinfa Sachs‘ 
gelefen, Kifaweta Nicolajewna?“ — „Was ИЕ das?“ 

„Das Ш eine Erzählung. Ich habe Sie als Student 
mal деп... Da läßt ein I ann feine Frau auf der 
Billa wegen Untreue verhaften ...*) Ah, nun, zum 
Teufel damit! Ste werden fehen, daß Mawrikij Nicolas 
jewitſch Ihnen, noch bevor Ste zu Haufe ankommen, 
einenHeiratsantrag macht. Er fieht uns noch immer nicht.“ 

„ch, möge er uns auch nicht fehen !” rief Lila plöglich 
in großer Angft. — „Gehen wir fort, fort! In den Wald, 
aufs Feld!” Und fie Tief zuruͤck. 

„ber Lifaweta Nticolajewna, das ift doch fo klein— 
muͤtig!“ rief Pjotr Stepanowitſch hinter ihr drein. „Und 
warum wollen Sie denn nicht, daß er Sie ſieht? Im 
Gegenteil, blicken Sie ihm offen und ſtolz in die Augen ... 
Wenn Sie etwa deswegen... Ich meine, wegen der... 
Sungfernfchaft ... fo iſt das doch das größte Vorurteil 
von allen, tft doch eine folche Ruͤckſtaͤndigkeit . . Uber 
wohin gehen Sie denn, wohin? Teufel, da läuft fie 
nun... Kehren wir doch lieber zu Stawrogin zurüd! 
Nehmen wir meine Drofohfe! ... Wohin laufen Sie? 
Dort ift das Feld, und... So! — drift fie nun gefallen !” 





*) Roman von Drufdinin, der 1847 großen Beifall fand: 
der Mann verzeiht jeiner reuig zurücgekehrten Frau und das 
Guck iſt nachher „Liefer. — 


839 


Cr blieb ftehen. Liſa war wie ein Vogel davongeflogen, 
ohne zu wiſſen, wohin. Pjotr Stepanowitfch war fchon 
auf fünfzig Schritt zurücgeblieben. Da ftolperte fie über 
einen Eleinen Erdhügel und fiel. 

Im ſelben Yugenblie hörte man einen Eurzen Schrei: 
das war Mawrikij Nicolajewitfch, der fie jest plöglich 
erblickt und fallen gefehen hatte, und im Augenblick fchon 
quer über das Feld zu ihr Це. 

Piotr Stepanomitfch ftand im Nu Hinter dem Parktor 
und zog ſich dann fchleunigst zurüd, um fich ohne Zeit: 
verluft in feine Drofchke zu feßen. 

Mawrikij Nicolajewitſch aber ftand ſchon, angjtvoll | 
erfchroden, neben Ча, half ihr aufftehen und hielt, über 
fie gebeugt, ihre Hand in feinen Händen. Das Unglaub: 
liche, Uninögliche, das in diefer Begegnung lag, е фин 
terte ihn ſo, daß ihm Traͤnen über das Geficht rannen. 
Er hatte fie erblickt, wie fie, die er [о andachtig verehrte, 
wie wahnfinnig über das Feld lief, und das zu Dieler 
Stunde, bei folhem Wetter, im Kleide, im zarten Kleide 
von gejtern, das jet zerdrüct und vom Fall beſchmutzt 
an ihr herabhing . . . Er fonnte fein Wort hervorbringen, 
nahm haftig feinen Mantel ab und bedeckte mit zitternden 
Händen ihre Schultern. Ploͤtzlich fchrie er auf: er hatte 
gefühlt, wie Не mit ihren Lippen feine Hand berührte. 

„Liſa!“ rief er aus, „ich verftehe nichts, aber ftoßen 
Ste mich nicht von ſich!“ | 

„Ob, ja, gehen wir fchnell von hier weg, verlaffen Sie 
mich nicht!” und fie $09 ihn an der Hand mit fich fort. — 

„MawrikijNicolajewitſch,“ erſchreckt ſenkte ſie die Stimme, 
„dort tat ich die ganze Zeit ſehr tapfer, aber hier fuͤrchte 
ich den Tod. Ich werde ſterben, ich werde bald ſterben, 


840 








aber ich fürchte mich zu ſterben“, flüfterte fie, und preßte 
frampfhaft feine Hand. 

„ов, wenn doch irgend jemand! . /’ er blidte fich in 
Verzweiflung um. „Wenn doch ein Vorüberfahrender! 
Ihre Füße werden пав, Sie... werden den Verftand 
verlieren |" 

„ut nichts, tut nichts,‘ beruhigte fie ihn, „mit Ihnen 
zufammen fürchte ich mich weniger, halten Sie mich an 
der Hand, führen Sie mich... Wohin gehen wir jekt? 
Nach Haufe? Nein, ich will zuerft die Leichen jehn! Die 
Menichen jagen, daß man feine Frau ermordet hat, er 
aber jagt, ег habe fie jelbit ermordet; aber das ift doch 
nicht wahr, das ЦЕ doch nicht wahr? Sch möchte jelbft die 
Srmordeten feben... die für mich... ihretwegen hat 
er diefe Nacht aufgehört, mich zu lieben... Sch werde 
lie ſehen und alles erfahren. Schnell, fchnell, ich fenne 
diefes Haus... es hat dort gebrannt... Mawrikij 
Nicolajewitich, mein Freund, verzeihen Sie mir Ehr: 
lofen nicht! Warum mir verzeihen? — Warum weinen 
Ste? Geben Sie mir eine Ohrfeige und fchlagen Sie 
mich tot bier auf dem Felde, wie einen Hund!" 

„Niemand ift jeßt Ihr Richter, fagte Mawrikij Nicolaje: 
witſch feit, „möge Gott Ihnen verzeihen, am menigiten 
von allen aber bin ich Ihr Richter ! 

Doch jonderbar wäre её, wollte man ihr Geſpraͤch 
wiedergeben. Dabei gingen fie weiter, Hand in Hand, 
Schnell und eilig, wie Halbwahnfinnige — gerade in der 
Richtung zur Brandſtaͤtte. 

Mawrikij Nicolajewitſch Бане noch immer nicht die 
Hoffnung aufgegeben, irgendwo einen Wagen anzu: 
treffen, aber ringsum blieb alles jtill und leer. Ein feiner, 


54 Doſtojewski, Die Dämonen. Bd. Il. 841 


dünner Nebelregen verjchleierte die ganze Яап фан. 
Jedes Licht und jede Farbe [04 er auf und verwandelte 
Nähe und Ferne, Himmel und Erde unterjchiedslos in 
eine einzige rauchige, bleierne Maſſe. Es war ſchon 
längft Tag und doch jchien es noch nicht hell geworden 
zu fein. Und plöglich tauchte aus diefem rauchigen, Falten 
Nebel eine Geftalt auf und fam den beiden entgegen, 
eine eigentümliche, jeltiame Figur. 

Sch glaube, ich Бане meinen Augen nicht getraut, 
wenn ich an Liſaweta Nicolajemnas Stelle geweſen wäre; 
пе aber, im Gegenteil, ſie jchrie freudig auf und erfannte 
den Menichen fofort: Es war Stepan Trophimowitſch. 

Auf welche Weiſe er aus dem Haufe gefommen war, 
wie er den Gedanken der Flucht, diefe erflügelte Idee, 
verwirklicht hatte — davon jpäter. 

Er wird wohl jchon an diefem Morgen Fieber gehabt 
haben, aber felbft die Krankheit, von der er Übrigens 
jelber vielleicht nichts gemerft hat, vermochte ihm nicht 
zurüdzuhalten. Зарег ftapfte er auf dem vom Regen 
aufgeweichten Wege darauf los. Offenbar hatte er bei 
jeinem Unternehmen möglichit allein fein wollen, troß 
jeiner ganzen Lebensunerfahrenheit. 

Angezogen war er reijemäßig, das heißt, er hatte einen 
Mantel an, der von einem breiten ladledernen Gurt zu: 
jammengehalten wurde. Die Beinkleider ftafen in hoben, 
glänzenden Stiefeljchäften, in denen er noch nicht recht 
zu gehen verftand. Augenjcheinlich war alles neu und 
ей in diefen Tagen angefchafft. Ein Hut mit breitem 
Rand, ein mollener, feſt um den Hals gejchlungener 
Schal, ein Stod in der rechten Hand und in der Linken 
ein Heiner, aber jehr ей vollgeftopfter Reiſeſack, voll: 


842 








endeten fein Koftüm. In derjelben rechten Hand hielt 
er dann noch einen aufgejpannten Regenſchirm. Dieje 
drei Gegenftände zu jchleppen, den Regenſchirm, den 
Stod und den Handkoffer, war ihm fchon in der erften . 
Stunde recht unbequem, in der zweiten aber bereits 
furchtbar ſchwer. 
„Sind Sie das wirklich?" rief Lifa, und betrachtete 
ihn mit einem traurigen Erftaunen, nachdem der ее 
Ausbruch ihrer unbewußten Freude vorüber war. 
„Газе!“ fuhr Stepan Trophimowitſch auf. „Chere, 
ch£re, jind Sie её wirklich . . . in diefem Nebel? Sehen 
Sie, das Morgenrot! Vous &tes malheureuse, n’est-ce 
pas? Sch jehe, ich ſehe jchon, erzählen Sie nichts und 
fragen Sie auch mich nicht. Nous sommes tous mal- 
heureux, mais il faut les pardonner tous. Pardonnons, 
Lise, und wir werden frei fein auf ewig. Um fich von der 
Melt zu löfen und vollftändig frei zu werden — il faut 
pardonner, pardonner et pardonner!“ 
„ber warum fnien Sie denn vor mir nieder?” 
„Weil ich, indem ich von der Welt Abjchied nehme, in 
Ihrem Bilde von meinem ganzen vergangenen Leben 
Abſchied nehmen will!" Er weinte und führte ihre beiden 
Hände an feine verweinten Augen. „Sch Ние jeßt vor 
allem, was in meinem Leben jchön war, ich Ве es und 
danke ihm! Sekt habe ich пиф in zwei Hälften geteilt: 
dort der Wahnfinnige, der vom Himmel träumte, vingt- 
deux ans! hier der niedergebeugte und verfrorene alte 
Erzieher... chez ce marchand, s’il existe pourtant се 
marchand... Aber wie Sie durchnäßt find, Газе!" rief 
er plößlich, wieder aufitehend, denn er fühlte, daß аи 
feine Knie auf der feuchten Erde naß geworden waren. 


54* 843 


„Und wie ift das möglich, Sie in diefem Kleide?. ,. und 
zu Fuß, und auf freiem Felde... Sie weinen? Vous 
&ез maiheureuse? За richtig, ich habe doch etwas 
gehört... Aber woher fommen Sie denn?” verdoppelte 
er feine Fragen, mit tiefer Verwunderung Mamrifij 
Nicolajewitſch anſehend, „mais savez-vous l’heure 
qu’il est?“ 

„Stepan Trophimomitich, haben Sie dort etwas von 
Ermordeten gehört... Sit es wahr? Iſt es wahr?“ 

„Diefe Menſchen! Ich ſah den беиефет ihrer Taten 
die ganze Nacht am Himmel. Sie fonnten ja gar nicht 
anders enden!" (Seine Augen flammten wieder auf.) 
„Sch laufe aus dem Dunſt eines Fiebertraumes, laufe und 
мфе Rußland, — existe-t-elle la Russie? Bah, c’est 
vous, cher capitaine! Niemals Бабе ich daran gezwei— 
felt, daß ich Sie bei einem großen Ereignis treffen würde, 
‚.. Nehmen Sie aber menigftens meinen Schirm! Und 


— warum denn gerade zu Fuß? Um Gottes willen, | 
nehmen Sie doch mwenigfteng meinen Schirm, denn ich | 
werde ſowieſo irgendwo ein ЗибиюеЁ mieten. Sehen | 


Sie, ich bin darum zu Fuß, тей Stasie" (das heißt: 


Naſtaſſja) „es fonft durch die ganze Stadt gefchrien hätte, | 


daß ich fortfahre! So bin ich möglichjt infognito ent- 
fchlüpft. Ich weiß nicht, in der Zeitung fchreibt man 
jeßt von Mord und Totſchlag auf den Landftraßen — 
aber e8 [апп doch nicht fein, denke ich, daß mich Räuber | 
überfallen? Chöre Lise, fagten Sie nicht, man hätte 
jemand ermordet? Oh, mon Dieu, wie {ебеп Sie aus?” 

„Geben wir, gehen wir!” rief Liſa wieder hyſteriſch 
weinend, und 304 Mawrikij Nicolajewitſch mit fich fort. 
„Warten Sie, Stepan Trophimowitich,” fie fehrte 168: 


844 





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lich zu ihm zurüd, „warten Sie, lieber Armer, ich werde 

Sie fegnen, Vielleicht wäre es beffer, Sie zu binden, 

aber ich fegne Sie lieber. Beten аиф Sie für die ‚arme‘ 
Liſa — fo, ein wenig, ohne fich zu fehr anzuftrengen, ja? 
Mawrikij Nicolajewitfch, geben Sie diefem Kinde feinen 
Schirm wieder, geben Sie unbedingt, unbedingt! 
©... Gehen wir, gehen wir!” 

Sie langten vor dem verhängnisvollen Haufe gerade 
in dem Yugenblide an, als die Volfsmenge, die ſich Dort 
‚angefammelt hatte, davon fprach, wie vorteilhaft es für 
Stawrogin doch fei, daß man „feine Frau” ermordet 
hatte. Einige waren fehr erregt. Andere hörten ſchwei— 
gend zu. Am lebhafteften ging es wie gewöhnlich unter 
den Angetrunfenen ber: Schreihälfe, Зее aller Art 
ftanden in Gruppen zufammen und erörterten heftig 
geftifulierend das Gefchehene. Beſonders fiel mir wieder 
jener Kleinbürger auf, der Schmied, den man fonft ale 
ftillen Menſchen kannte, der aber, wenn ihn etwas 
ſeeliſch aus dem Gleichgewicht brachte, dann plößlich aus 
Hand und Band geraten konnte. 

Ich habe davon, was jeßt geſchah, nicht alles gefeben: 
zu oft ſchob fich Die Menge vor. 

Zuerft erblidte ich Liſa, plößlich mitten im dichteften 
Haufen, und ich erftarrte vor Schred. Mawrikij Nicolaje: 
witſch [аб ich dagegen nicht, wahrscheinlich war er im 
Gedränge von ihr abgefommen, vielleicht nur auf ein 
paar Echritte. Natürlich mußte Liſa, die fich wie eine 
Irrſinnige durch die Menge drängte, allen auffallen, 
alle erregen. 

„Da Ш die Stawroginſche!“ rief mit einemmal jes 
mand, 





845 


„Sie morden nicht nur, fie wollen fich die Befcherung 
auch noch anſehen!“ rief ein anderer. 

In diefem Augenblid {аб ich, wie über ihrem Haupte 
eine Hand 14 erhob und auf fie niederjchlug. 

Lila ftürzte zu Boden. 

Hinter ihr ertönte ein wilder Schrei und Mawrikij 
Nicolajewitich fuchte fich mit aller Kraft zu ihr Bahn zu 
brechen und riß und ftieß den Menfchen, der ihm im Wege 
ftand. Da wurde auch er |фоп von eben jenem Klein- 
bürger gepadt und zu Boden geworfen. Für einen 
Augenblid verſchwamm alles im Gemwühl. Einmal jah 
ich auch Liſa wieder: fie hatte fich erhoben, aber da traf | 
fie |фоп ein zmweiter, noch furchtbarerer Schlag. Ich 
konnte nichts mehr fehen. Da drängte aber die Menge 
\фоп zurüd, es bildete fich ein leerer Kreis um die име 
tot Daliegende: über Пе gebeugt jah ih Mamrifij Nicola: 
iewitſch, blutüberftrömt, wimmernd vor Schmerz und 
verzmweifelnd die Hände ringend. 34 weiß nicht mehr, 
was meiter gefchah. Aber ich erinnere mich noch, wie ich | 
plößlich jah, daß man Liſa davontrug: man fagte, jie | 
lebte noch. 

Der Schmied und noch drei andere wurden verhaftet. 
Bor Gericht erflärten fie ſpaͤter, daß fie felbjt nicht müßten, 
wie es eigentlich geichehen war. Auch ich war а Zeuge 
geladen und auch ich Fonnte nichts anderes ausjagen, als 
daß es fich meiner Meinung nach um eine jähe, blinde | 
und gleichjam zufällige Tat der Menge gehandelt hatte, 
um eine faft unbeabjichtigte, ja faſt ſogar unbemußte Tat, 
bei der es Schuldige eigentlich nicht gab. Das ift auch 
jeßt noch meine Meinung. 


846 





Neunzehntes Rapitel 
Der letzte Beſchluß 


I 


I: diefem Morgen ift Piotr Stepanowitfch von fehr 
vielen geſehen worden, und fie alle jagen jeßt aus, 
er habe jich in einem ungewöhnlich angeregten Zuftande 
befunden. | 

Um zwei Uhr nachmittags |ртаф er bei Gaganoff vor, 
der erjt vor einem Tage von jeinem Gut in die Stadt 
gekommen war und bei dem Sich nun ein ganzer Schwarm 
von Gaͤſten eingefunden hatte, die alle viel und eifrig 
über die Ereignifje jprachen. Dort hatte Piotr Stepano- 
witjch dann noch weit mehr als die anderen gejprochen 
und jchließlich auch erreicht, was er wollte. Vor allem 
Iprach er über Julija Michailowna, ein Thema, das nach 
dem Vorgefallenen natürlich ungemein intereljierte. Er 
erzählte von ihr, als ihr Vertrauter, der er Низ noch 
gemwefen war, viele unerwartete Einzelheiten, und aus 
Berjehen, jelbftredend nur aus Verfehen, teilte er einige 
ihrer Bemerkungen über einzelne allen befannte Perſoͤn— 
lichkeiten mit, womit er jofort die Eigenliebe mehrerer 
Anmejenden empfindlich traf. Es fam bei ihm heute 
alles jo unklar und шит heraus, ganz jo wie bei einem 
nicht ſehr fchlauen Menſchen, der fich von feinem ehr: 
lihen Gewiſſen gezwungen jieht, jo ſchnell wie möglich 


847 


einen ganzen Berg angejammelter Mißverftändnijje 
abzutragen, und der nun in feiner gradherzigen Unge— 
wandtheit jelbft nicht weiß, wo er anfangen und wo er 
enden foll. Ziemlich unvorjichtig, felbftverftändlich nur 
unvorjichtig wirkte ed auch, als er die Bemerkung fallen 
ließ, daß ЗиШа Michailowna um das Ehegeheimnis 
Stamrogins gewußt und die ganze Intrige geleitet habe. 
In diejer Weije habe fie dann аиф ihn, Pjotr Stepano: 
witjch, „bereingezogen”, weil er doch auch in dieſe arme 
Liſa verliebt war, und dabei habe fie ihn jogar jo „ge: 
handhabt“, daß er Lila beinahe felbft im Wagen zu 
Stawrogin begleitet hätte, 

„За, ja, meine Herren, Sie haben gut lachen, aber 
wenn ich nur gemußt hätte, wenn ich’s nur gewußt hätte, 
womit das alles enden würde!” fchloß er {ет Gerede. 

Auf verjchiedene erregte Tragen паф Stawrogin er: 
Нате er noch, und zwar mit unerjchütterlicher Beſtimmt— 
heit, daß die ganze Kataftrophe mit den Lebaͤdkins bloß 
ein reiner Zufall wäre: jchuld an ihr fei einzig und allein 
Lebaͤdkin felbit, da er das erhaltene Geld offen in den 
Kneipen gezeigt hatte. Das |еВфе er ganz — gut 
auseinander. 

Einer der Zuhörer bemerkte darauf, daß er ſich ver— 
geblich „verftelle”, daß er im Haufe Julija Michailownas 
gegellen, getrunfen und faft ſchon gejchlafen habe, nun 
aber fie als erfter verleumde — mas doch wohl nicht 
gerade fo ſchoͤn fei, wie er zu glauben fcheine, 

Doch Piotr Stepanomitich verteidigte fich ſofort: 

„sch habe nicht deswegen dort gegefjen und getrunfen, 
weil ich Fein Geld für meine Koſt ausgeben wollte, und 
fanın nichts dafür, daß man mich immer eingeladen hat. 


848 





Im übrigen erlauben Sie mir wohl, jelbft zu beurteilen, 
wie viel Dankbarkeit ich dafür jemandem fchuldig bin.“ 

Der Eindrud, den feine langen, fraufen Neden machten, 
war im allgemeinen für ihn durchaus vorteilhaft. „Mag 
er auch nicht von weiten Бек fein,” meinte man im 
allgemeinen, denn einige in dem Kreiſe hielten ihn in 
der Zat nur für einen unbedeutenden Studenten oder 
für nicht jehr viel mehr, „aber was kann er denn für 
Julija Michatlomnas Dummheiten? Эм Gegenteil, 
jetzt ftellt её jich ja heraus, dag er fie noch zurücaehalten 
bat „a. 

Plöglich, поф während er bei Oaganoff war, bald nach 
;wei Uhr, fam die Nachricht, daß Stamwrogin, Über den 
jo viel geredet wurde, mit dem Mittagszuge паф Peters: 
burg abgereift fei. Dieſe Kunde überrajchte alle nicht 
wenig und erregte neue Dispute; viele runzelien die 
Stirn. Piotr Stepanowitſch war fo betroffen, daß, wie 
пап erzählt, jein ganzes Geſicht fich veränderte und er 
londerbar ausrief: „Wer hat ihn denn fortlaſſen koͤnnen?“ 
Und er verließ fogleich die Befellichaft. Aber man hat 
ihn an Ddiefem Lage noch in Drei oder vier anderen 
Häufern geſehen. 

In der Dämmerftunde gelang es ihm endlich, wenn 
auch erſt nach vieler Mühe, zu ЗиЩа Michailowna, die 
nichts mehr von ihm wiſſen wollte, vorzudringen. Von 
diefer ihrer Begegnung erfuhr ich erfi drei Wochen 
jpäter, und zwar von Julija Michailomna felbft, — es 
war furz vor ihrer Abreiſe nach Petersburg: пе teilte 
mir allerdings nichts Näheres mit, fondern bemerkte nur 
zulammenjchaudernd, er hätte fie damals „über alle 
Maßen in Erflaunen verjeßt”, Sch nehme an, daß er 


849 


ihr einfach gedroht hat, fie als Helfershelferin anzuzeigen, 
wenn es ihr einfiele, irgend etwas zu „Tagen. Die Not: 
wendigfeit aber, пе einzujchüchtern, war mit feinen Фа: 
maligen Abjichten, die fie natürlich nicht fannte, eng 
verbunden, und erſt jpäter, nach fünf Tagen, erriet fie, 
warum er ihrem Schweigen noch nicht getraut und fich 
vor neuen Ausbrüchen ihres Unmwillens gefürchtet hatte. 

Es war gegen acht Uhr abends und jchon ganz dunkel, 
ald am Rande der Stadt, in einem Fleinen, fchiefen 
Häuschen, in dem der Fahnrich Erfel wohnte, die 
Unſrigen 14$ verjammelten. Dieje Zufammenfunft 
der „Fuͤnf“ war von Piotr Stepanomitich ſelbſt angefagt 
worden, er aber, der präfidieren jollte, verfpätete fich 
unverzeihlich: ме fünf warteten jchon über eine Stunde 
auf ihn. Der junge Erfel war derjelbe Faͤhnrich, der ап 
jenem Abend bei Wirgingfi die ganze Zeit mit einem 
Bleiftift in der Hand und einem Notizbuch vor jich ftumm 
dagefellen hatte. Er war vor nicht langer Zeit bei uns 
eingetroffen, БаНе jich in einer ftillen Gafje am Rande 
der Stadt bei zwei alten Schmweitern aus dem Bauern: 
jtande eingemietet und follte |фоп bald wieder weg— 
reifen. Bei ihm nun war es wohl am unauffälligiten, 
jich zu verjammeln. Diejer jonderbare Junge zeichnete 
jich durch eine ganz außergewöhnliche Schweigſamkeit 
aus: er fonnte zehn Abende in luftiger Gejellichaft und 
bei den ungemwöhnlichiten Geiprächen zubringen, ohne 
ſelbſt ein Wort zu fprechen, und bloß mit feinen großen 
Kinderaugen aufmerkſam die Sprechenden beobachten 
und ihnen zuhören. Sein Geſicht war reizend und jogar 
durchaus nicht dumm. Zur „Fünf“ gehörte er zwar 
nicht, doch Ме anderen glaubten, er hätte irgendwelche 


850 





befonderen Aufträge. Seht weiß man, daß er Überhaupt 
feine Aufträge gehabt hat und vielleicht ſelbſt nicht ет: 
mal feine Stellung zu den anderen begriff. Er richtete 
jih einfach in allen Dingen паф Piotr Stepanomitich, 
den er erjt vor Низет fennen gelernt hatte. Sch glaube, 
wenn er Statt jeiner irgendein Monftrum fennen gelernt 
hätte und von diefem unter irgendeinem ſozial-roman— 
tiichen Vorwande überredet worden wäre, eine Räuber: 
bande zu gründen und zur Kraftprobe irgendeinen erften 
Beiten zu ermorden und zu beſtehlen — er hätte es getan, 
er wäre hingegangen und hätte den erften Beſten er: 
mordet und beftohlen. Er bejaß noch irgendwo eine kranke 
Mutter, der er die Hälfte jeines armſeligen Gehaltes зи: 
Ichidte, — wie muß die wohl diefes blonde Köpfchen 
ihres Einzigen gefüßt, wie für ihn gezittert, wie für ihn 
gebetet haben! Ich erzähle jo viel von ihm, weil er mir 
jo leid tut. 

Die Verſammelten waren jehr erregt. Die Ereignijje 
der leßten Nacht hatten fie doch betroffen gemacht, und 
ich glaube, ihnen war fogar recht bange geworden. Der 
jimple, wenn auch foftematifch vorbereitete Skandal, ап 
dem fie bis jeßt jo eifrig Anteil genommen, hatte fich 
plößlich auf eine für fie ganz unerwartete Weiſe ent: 
laden. Der Brand, die Ermordung der Lebädfins, die 
Mut des Volkes auf Lifa und deren Tod — das waren 
lauter Überrafchungen, die пе in ihrem Programm nicht 
vorgejehen hatten. Erregt warfen fie der fie lenfenden 
Hand Deipotismus und Unaufrichtigfeit vor, und, 
während fie nun auf Piotr Stepanomitich warteten, 
redeten Пе ſich jo in Hiße, daß fie zum Schluß beſchloſſen, 
endgültig eine kategoriſche Erklärung von ihm zu verlans 


851 


gen; jollte er aber auch diesmal eine Antwort umgehen 
wolien, jo wollte man die „Fünf einfech auflöfen und 
an ihrer Stelle einen neuen geheimen Verband zur 
„Propaganda der Idee“ gründen — jekt aber von jich 
aus und auf wirklich gleichberechtigenden und demo: 
kratiſchen Grundfäßen. Liputin, Ochigaleff und ver 
Volkskenner unterftüßten befonders dieſen Gedanken. 
Laͤmſchin ſchwieg, doch {аб er einverſtanden aus. Wir: 
ginski war noch unentſchloſſen und wollte erſt noch Pjotr 
Stepanowitſch anhoͤren. Und ſo kam denn der Beſchluß 
zuſtande, nach dem man zuerſt Pjotr Stepanowitſch noch 
einmal vernehmen ſollte. Dieſer aber kam noch immer 
nicht; eine ſolche Vernachlaͤſſigung trug entſchieden nicht 
zur Beruhigung der Gemuͤter bei. Erkel ſchwieg natuͤr⸗ 
lich und reichte bloß den Tee herum, den er perſoͤnlich 
vor den beiden Schweſtern in Glaͤſern auf einem Tee— 
brett brachte, da er das Dienftmädchen nicht hereinlafjen 
wollte und auch ven Samowar nicht im Zimmer auf: 
ſtellen ließ. 

Endlich erjchien Piotr Stepanowitſch. Es war ſchon 
neun Uhr. Er trat mit fchnellen Schritten an den runden 
Tiſch vor dem Sofa, an dem die Gefellihaft Plaß ge: 
nommen hatte, behielt die Müße in der Hand und für 
Tee dankte er. Er {аб böfe, ftreng und hochmütig aus. 
Dffenbar hatte er den Gefichtern fofort angemerkt, daß 
man „rebellierte”, 

„Bevor ich meinen Mund aufmache, bringen Sie Ihre 
Sahen vor. Scheinen ja fo was zu beabjichtigen”, 
bemerfte er mit einem böfen Spottlächeln, während 
feine Augen tiber die Phyfiognomien glitten. 

Da begann Liputin „im Namen aller" und erklärte 


352 





mit einer Stimme, der man das Gefränftfein anhörte, 
daß man, wenn man fo fortfahren wollte, um feinen 
eigenen Kopf fpielte, Ob, nicht, daß пе fich fürchteten, 
nein, durchaus nicht, und fie feien fogar zu allem беге, 
jedoch nur für die allgemeine Sache! (Bewegung und 
Zuftimmung der anderen.) Darum foll man aber auf: 
richtig zu ihnen fein, damit fie im voraus Befcheid 
wüßten, denn „wohin foll das font führen?” (mieter 
zuftimmende Bewegung und ein paar dumpfe Kehl: 
laute). So zu handeln fei aber erniedrigend und де: 
föhrlih ... Nicht, daß man fich fürchte, wie gejagt, 
aber wenn nur ein einziger handeln wolle und die anderen 
bloß gehorchen müßten, fo fönne zum Beifpiel diefer 
eine lügen und die anderen fielen dann alle „mie die 
Tölpel herein”, (Ausrufe: ja, jal Ullgemeine Zu: 
ftimmung.) 

„zum Teufel, was wollen Sie denn?” 

„Bas für eine Beziehung haben die Intrigen des Herrn 
Stamwrogin zu der allgemeinen Sache?” braufte Liputin 
auf. „Mag er da meinetwegen auf irgendeine geheimnis— 
volle Weiſe zur Zentrale gehören, — wenn nur diefe 
phantaftijche Zentrale überhaupt eriftiert! — Das ift es, 
was wir mwiffen wollen! Und mährenddeflen wird ein 
Mord begangen, die Polizei aufgewedt — und nach dem 
Faden kann man bis zum Sinäuel gehen.” 

„Sie werden mit diefem Stamrogin fchon herein: 
fallen, und wir gleichfalls”, fügte der Volfsfenner hinzu. 

„And ganz unnüß für die allgemeine Sache”, ſchloß 
Wirginski mehmütig. 

„Welch ein Blödfinn! Diefer Mord Ш ein Zufall, von 
Fedjka begangen, um zu rauben.“ 


853 


„Hm! Ein merfwürdiges Zuſammentreffen“, meinte 
Liputin gemunden. 

„Aber wenn Sie wollen, jo find gerade Sie daran 
ſchuld.“ 

„Wieſo ich?“ 

„Ja, gerade Sie. Erſtens haben Sie ſelbſt an dieſer 
Intrige teilgenommen, und zweitens, die Hauptſache, 
Ihnen war befohlen, Lebaͤdkin fortzuſchicken, das Geld 
hatten Sie ſchon erhalten — was aber taten Sie? Wenn 
Sie ihn fortgeſchickt haͤtten, waͤre nichts paſſiert.“ 

„Was? Aber waren denn Sie es nicht ſelbſt, der die 
Idee gab, daß es nicht uͤbel waͤre, wenn man ihn das 
Gedicht vorleſen ließe?“ 

„Eine Idee iſt kein Befehl. Der Befehl war: ab— 
ſchicken!“ 

„Befehl! Ein etwas ſonderbarer Ausdruck ... Nein, 
im Gegenteil, Sie befahlen ja gerade, das Abſchicken auf: 
zuſchieben.“ 

„Sie haben ſich getaͤuſcht und nichts als Dummheit 
und Eigenmaͤchtigkeit gezeigt. Der Mord aber iſt Fedjkas 
Sache, und der hat ihn aus keinem anderen Grunde be— 
gangen, als dem, zu rauben. Sie hoͤren bloß, daß man 
ſo redet, und ſchon glauben Sie alles aufs Wort! Haben 
ja einfach Angſt bekommen! Stawrogin iſt nicht ſo 
dumm, und der Beweis — er iſt um zwoͤlf Uhr mittags 
nach einer Ausſprache mit dem Vizegouverneur fort— 
gefahren: wenn etwas derartiges geweſen waͤre, fo 
haͤtte man ihn nicht am hellichten Tage nach Petersburg 
reiſen laſſen!“ 

„Aber wir behaupten ja gar nicht, daß Herr Stawro— 
ди ſelber ermordet hat!“ verſetzte Liputin biſſig und 


854 





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{фоп ohne Zurüdhaltung. „Er hat fogar überhaupt 
nichts davon wiſſen fünnen, ganz jo wie ich; @е aber 
wiffen nur zu gut, daß ich von nichts wußte, wenn ich 
auch gleichzeitig jelber wie ein Schaf in den Keſſel kroch!“ 

„Wen befchuldigen Sie denn?” fragte Piotr Stepano— 
witich und {аб ihn finfter an. 

„sa, eben dielelben, die eg nötig haben, Städte in 
Brand zu fteden.” 

„Das Dümmite ift dabei, daß Sie fich herauszureden 


ſuchen. Übrigens, wollen Sie nicht jo freundlich fein, 


das Durchzulefen und dann den anderen zu zeigen. Nur 
zur Kenntnisnahme.” Mit diefen Worten 309 er Lebaͤd— 
fing Brief an Lembfe aus der Taſche und reichte ihn 
giputin. Der las den Brief augenicheinlich erftaunt 
durch und reichte ihn dann nachdenklich dem nächiten. 
Der Brief machte fchnell die Nunde um den ЗФ. 

„sit das aber auch wirklich Lebaͤdkins Handſchrift?“ 
erfundigte fich Schigaleff. 

° „за, es ift feine Handjchrift”, beftätigten Liputin und 
Tolkatſchenko (der Volfsfenner). 

„sch zeigte ihn nur zur Kenntnisnahme, und da ich 
wußte, daß Sie ſich Lebaͤdkins Tod fo zu Herzen nehmen”, 
jagte Piotr Stepanomitich, indem er den Brief wieder 
zu ſich ftedte. „Auf diefe Weile hat ung nun Fedjfa voll: 
fommen zufällig von einem ſehr gefährlichen Menſchen 
befreit. So kann einem manchmal der Zufall zuftatten 
fommen! Lehrreich, nicht wahr?” 

Die fünf taufchten ſchnell vielfagende Blide aus, 

„Jetzt aber, meine Herren, Ш die Reihe an mir, zu 
fragen,” {ад Piotr Stepanomwitfch, und nahm eine 
fteifere Haltung an. „Geſtatten Sie mir, Sie zu fragen, 


855 


aus welchem Grunde Sie ohne Erlaubnis die Stadt in 
Brand geftedt haben?“ 

„Wa—as! Was heißt das? Wir die Stadt in Brand 
geſteckt? Der Kerl ift wohl krank!“ ertönten erregte Aus⸗ 
rufe in der Runde. 


„Ich verftehe ja, Sie waren fchon zu Тебе in Schwung | 


gefommen,“ fuhr Piotr Stepanowitjch unbeirrt fort, I 
„aber fo etwas ift doch nicht mehr ein Skandaͤlchen ши | 
Зина Michailowna. Ich habe Sie, meine Herren, hier⸗ 
hergerufen, um Ihnen Ме Größe der Gefahr zu zeigen, 
einer Gefahr, die Sie ſich jo dumm auf den Hals ge: 
faden haben und die jeßt außer Ihnen noch fo viele andere 
bedroht.” | | 
„Erlauben Sie, wir mollten gerade Sie auf diefen 
Grad von Defpotismus, mit dem man hinter dem 
Rüden der Mitglieder eine fo ernſte und zugleich jo 
fonderbare Maßregel getroffen hat, aufmerkſam machen”, 
fagte faft unwillig der bis dahin ſchweigſame Wirginski. 
„Sie leugnen alſo? Ich aber behaupte, daß Sie die 
Stadt in Brand geſteckt haben, Sie allein, meine Herren, | 
und fonft niemand. Meine Herren, leugnen Sie es nicht, 
ich bin genau unterrichtet. Mit Ihrer eigenmächtigen 
Handlung haben Sie ſogar die allgemeine Sache der 
Gefahr ausgeſetzt. Sie find hier nur ein einziger Heiner | 
Knoten in einem riefigen ев, und find der Zentrale 
blinden Gehorfam fchuldig. Waͤhrenddeſſen haben aber 
drei von Ihnen die Spigulinichen zut Brandftiftung über: 
redet, ohne dazu auch nur Die geringfte Inftruftion zu 
haben.” | 
„Welche drei? Wer das? Welche drei von ung?" 
„Vorgejtern haben Sie, Tolkatſchenko, gegen vier Uhr 








356 





nachts Fomka Samjäloff in der Жпефе ‚Zum Зе: 
meinnicht‘ zur Brandftiftung beredet.“ 

„Aber hören Sie mal!” rief diejer auffpringend. „Ich 
habe ihm faum ein Wort gefagt, ja, und felbft das ganz 
abjichtslos, ganz einfach, nur fo, weil man ihn mit den 
anderen am Morgen geprügelt hatte! Und ich ließ es 
gleich wieder bleiben, da ich ſah, daß er doch zu betrunfen 
war. Hätten Sie mich jekt nicht daran erinnert, jo würde - 
ich es überhaupt ganz vergeffen haben! Don dieſem 
einen Worte fonnte fein Brand entitehen !" 

„Sie find wie der Mann, der fich wundert, daß von 
einem einzigen Heinen Funken eine ganze Pulverfabrif 
in die Luft fliegt.” 

„Sch babe es ihm in der Ede und flüfternd ins Ohr 
gejagt... Wie haben Sie das überhaupt erfahren 
koͤnnen?“ fragte plößlich Tolkatſchenko, felbft ganz Ве: 
troffen. 

„sch ſaß dort unterm Tiſch. Beunruhigen Sie fich 
nicht, meine Herren, ich weiß jeden einzelnen Shrer 
Schritte. Sie belieben Бат zu lächeln, Herr Liputin? 
Sch weiß aber, zum Beiſpiel, daß Sie vorgeftern um 
Mitternacht in Ihrem Schlafzimmer Ihre Frau ge: 
fniffen haben.” 

ринит blieb der Mund offen und er wurde blaf. 

(Später ftellte e8 jich heraus, daß Piotr Stepanomitich 
von dieſer nächtlichen Heldentat Ziputins durch defjen 
Magd Agaphia, der er von Anfang an für Spionage 
Geld gezahlt hatte, unterrichtet worden war.) 

„Dürfte ich eine ЗаНафе Eonftatieren?” fragte plöß- 
lich Schigaleff, jih vom Stuhl erhebend. 

„Konftatieren Sie. 


55 Doſtojewski, Die Dämonen. 35. IT, 857 


Schigaleff fette fich und fammelte feine Gedanken. 

„Soweit ich verftanden Бабе, und man пп ja da 
gar nichts mißverftehen, haben Sie felbft in der erften 
Zeit und jpäter noch einmal Außerft beredt — wenn auch 
gar zu theoretiich — von Rußland ein Bild entworfen, 
nach dem es von einem endlojen Netz von Fünfergruppen 
bededt ift. Jede der tätigen Gruppen hat, indem fie 
Projelyten macht und fich insg Endlofe verzweigt, die 
Aufgabe, mit joftematifch fich ausbreitender Propaganda 
das Anjehen der Negierung und ihrer Vertreter zu unter: 
graben, in den Dörfern Zweifel, Zynismus, Skandale, 
volle Slaubenslofigfeit um jeden Preis zu verbreiten, 
was dann alles die Sehnfucht nach einem befjeren Зи: 
ffande hervorrufen foll, und fchließlih mit Brand: 
ftiftungen, als dem volfstümlichften Mittel, dag Land 
im vorgefchriebenen Moment, wenn's nicht anders geht, 
jelbft ing VBerderben zu ftürzen. — Sind das Ihre Worte, 
die buchitäblich zu behalten ich mich bemüht habe? Sit 
das Ihr Programm, das Sie in der Eigenjchaft eines 
von dem Zentralfomitee Bevollmächtigten ung пи 
geteilt haben? eines zentralen, aber für uns bis jest 
vollfommen unbefannten und nahezu phantaftiichen 
Komitees?" 

„Allerdings, nur könnten Sie fich fürzer faſſen.“ 

„Jeder hat das Recht, jo zu fprechen, wie er fpricht. 
Indem Sie ung zu verftehen geben, daß es folcher einzel: 
nen Anotenpunfte eines großen Nekes, das ganz Ruf: 
land bededt, fchon mehrere hundert gibt, und indem Sie 
die Vorausjeßung entwideln, daß, falls jede Gruppe 
ihre Sache erfolgreich macht, ganz Rußland zum Гей: 
gejeßten Termin, auf das Signal..." 


858 


„Ach, zum Zeufel, auch ohne Sie hat man ſchon genug 
zu tun!” fiel ihm Piotr Stepanowitic ungeduldig ins 
Wort und bewegte ſich auf feinem Seſſel. 

„But, ich werde mich kürzer fallen und nur noch eine 
Frage ftellen: wir haben doch fchon mehrere Skandale 
Мег gehabt, wir haben die Unzufriedenheit der Зе: 
völferung gefehen, wir waren anwefend und beteiligten 
uns bei dem Sturz ver hiefigen Adminiſtration und, 
endlich, fahen wir mit eigenen Augen den Brand. Momit 
по Sie nun unzufrieden? Iſt das nicht Ihr Programm? 
Und weſſen fönnen Ste uns bejchuldigen ?" 

„Der Eigenmächtigfeit!" |фие Piotr Stepanowitſch 
jähzornig auf. „Solange ich Мег bin, haben Sie nicht 
das Recht, ohne meine Erlaubnis zu handeln. Зойа! 
Jetzt ИЕ die Anzeige bereits fertig und vielleicht morgen 
oder heute Nacht Schon wird man Sie alle verhaften. Da 
haben Sie es jetzt! Sch weiß es genau. 

Nun blicben ſchon alle Münder offen. 

„Man wird Ste nicht nur als Brandftifter verhaften, 
fondern ale ‚Fünf! Dem Denunzianten ift das ganze 
Geheimnis des Nekes befannt. Sehen Sie jekt, mas Sie 
da angerichtet haben!" 

„Beſtimmt Stamwrogin!" rief Liputin plößlich. 

„Wie... warum Stawrogin?“ Piotr Stepanowitſch 
fiodte gleichfam. „Nein —“ er Табе fich fofort wieder 
„— е8 it Schatoff! $4 nehme an, Sie wiffen alle, daß 
Schatoff jeinerzeit auch zu ung gehörte. Sch muß geftehen, 
daß ich, der ich ihn von Perſonen, denen er vertraute, 
babe beobachten lajjen, zu meinem Erftaunen erfahren 
mußte, daß ihm fogar die ganze weitere Einrichtung des 
Netzes ет Geheimnis ift, und daß er... mit einem 


гой 859 


Wort — alles weiß. Um fich nun von der Beichuldigung 
der früheren Teilnahme zu befreien, will er jeßt alle 
anzeigen. Bis geftern ſchwankte er vielleicht noch und 
ich |фопе ihn. Jetzt aber haben Sie ihm mit diejer 
Brandftiftung den legten Stoß verjeßt: jeßt ift er er: 
Ichüttert, aufgebracht, entichlojjen. Morgen werden wir 
alle verhaftet... als Brandſtifter und politische Ver: 
brecher.“ 

„ЭЙ das wahr?.. Wie kann Schatoff das wiſſen? ...“ 

Die Aufregung war unbeſchreiblich. 

„Es iſt vollkommen wahr. Ich habe nicht das Recht, 
Ihnen die Wege, auf denen ich alles erfahren habe, mit— 
zuteilen. Nur eines kann ich fuͤr Sie tun: durch einen 
Menſchen kann ich auf Schatoff ſo weit einwirken, daß 
er, ohne Verdacht zu ſchoͤpfen, die Denunziation noch 
aufſchiebt, aber nur auf vierundzwanzig Stunden — 
länger geht es nicht. Mehr tun — kann ich nicht. Und 
fo fünnen Sie ſich поф bis übermorgen früh ficher 
fühlen.‘ 

Alle fchwiegen. 

„За — fann man ihn denn nicht zum Teufel jchiden 
ſchrie da als erfter Tolkatſchenko. 

„Hätte man fchon längft tun ſollen!“ rief Laͤmſchin und 
ſchlug mit der Fauft auf den Tiſch. 

„ber wie?" brummte Kiputin. | 

Piotr Stepanomitich griff jofort diefe Frage auf und | 


12) 


legte feinen Plan auseinander. Der beftand darin, | 


Schatoff zur Abgabe der verjtedten Setzmaſchine an den 
einfamen Ort zu loden, шо fie vergraben war, morgen 
bei Anbruch der Nacht, und dann — „dort |фоп das 
Nötige zu erledigen”, Piotr Stepanomitich erging fich 


860 








in vielen wefentlichen Einzelheiten, die ich jet uͤbergehe, 
und feßte noch einmal umftändlich das ung ſchon befannte 
Verhältnis Schatoffs zur Zentrale auseinander, 

„Das Ш fchon fo,” bemerkte Liputin etwas unficher, 
„aber nun wieder... . ein neuer Fall von derfelben Art ... 
ob das nicht doch zu auffallend fein wird..." 

„Allerdings,“ beftätigte Piotr Stepanowitſch, „aber 
auch das iſt vorgefehen. Wir haben ein Mittel, den Ver- 
dacht vollftändig abzulenken.“ 

Und mit der vorigen Ausführlichfeit erzählte er von 
Kırilloff, von deffen Abficht, fich zu erfchießen, und daß 
er veriprochen habe, mit dem бе итого bis zur beftimm: 
ten Zeit zu warten, und obendrein noch einen Brief, in 
dem er alles auf fich nahm, was man ihm in die Feder 
diftierte, zu hinterlaſſen. 

„Seine {ее Abficht, fich dag Leben zu nehmen — fie 
Ш philofophifceh, Doch meiner Meinung паф einfach 
verrüdt —, wurde dort befannt,” fuhr Piotr Stepano: 
witjch fort zu erflären. „Dort aber verliert man weder 
ein Haar noch ein Stäubchen umfonft, alles wird zum 
Nutzen der allgemeinen Sache verwandt. Da man den 
Уивеп, den er damit bringen konnte, fofort einſah und 
ſich überzeugte, daß fein Зо ав unerfchütterlich war, 
jo gab man ihm das Geld zur Rüdreije nach Rußland 
(aus irgendeinem Grunde wollte er nur in Rußland 
fterben), gab ihm einen Auftrag, den zu erfüllen er auf 
lih nahm (mas er auch getan hat), und außerdem ver: 
pflichtete man ibn zu dem befagten Verfprechen, fich erft 
dann zu erfchießen, wenn man ihm das Gignal geben 
würde. Er verjprach alles. Und nicht zu vergeffen, daß 
er aus ganz bejonderen Gründen der Sache angehört 


861 


und felbft wünfcht, ihr nüßlich zu fein. Mehr darf ich 
Ihnen nicht mitteilen. Morgen, nach Schatoff, werde 
ich ihm den Brief diktieren, daß er Schatoff umgebracht 
hat. Das wird jehr glaublich erjcheinen: fie waren beide 
Freunde, fuhren zufammen nach Amerifa, dort haben fie 
jich entzweit, und das wird alles im Brief erklärt werden 
... und... und ich glaube, je nach den Umftänden, wird 
man ihm vielleicht noch einiges diktieren Fünnen, zum 
Beiſpiel, was die Proflamationen betrifft, und vielleicht 
teilmeije auch den Brand. Übrigens, darüber werde ich 
noch nachdenken. Beruhigen Sie fich, er hat feine Bor: 
urteile: er unterjchreibt alles.” 

Troßdem wurden einige Zweifel laut. Die Gejchichte 
erichien doch zu phantaftifh. Von Kirilloff hatten alle 
ſchon mehr oder weniger gehört. Liputin natürlich am 
meijten. 

„Ploͤtzlich пи er aber nachdenken und nicht mehr 
wollen,” ſagte Schigaleff, „denn jo oder jo, wie man’s 
auch nimmt, er ift doch nun einmal verrüdt, aljo kann 
man da gar nicht Jicher ет." 

„Seien Sie unbejorgt, er wird wollen,” jchnitt Piotr 
Stepanowitſch Furz ab. „Nach jener Abmachung bin ich 
verpflichtet, ihn am Vorabend zu benachrichtigen, aljo 
heute noch. Sch würde vorfchlagen, daß Liputin mit mir 
zu ihm geht und fich felbft überzeugt und Ihnen dann 
mitteilt — er пп ja von dort hierher zurüdfehren —, 
ob ich die Wahrheit gejagt habe, oder nicht. Übrigens,” 
brach er plößlich ab, maßlos gereizt und hochmütig, als 
ob er diejen Leuten fchon zuviel Ehre antat, wenn er 
jich in diefer Weiſe mit ihnen abgab, „übrigens, machen 
Sie, was Sie wollen. Wenn Sie fich nicht entichließen, 


862 


fo ift der Bund zerriffen — und zwar einzig wegen Ihres 
Ungehorfams und Verrats. So find wir denn von diejem 
Augenblid an getrennt — ein jeder für fich. Doch ver: 
geflen Sie nicht, daß Sie fich in diefem Fall, außer der 
Schatoffihen Anzeige und deren Folgen, noch eine 
andere Feine Unannehmlichkeit zuziehen, die Ihnen bei 
der Gründung Ihrer Gruppe bejtimmt und unmiß: 
verjtändlich erflärt wurde, weſſen Sie fich wohl noch 
erinnern werden. Was mich betrifft, meine Herren, fo 
fürchte ich Sie nicht gerade ſonderlich . . Uber denken 
Sie nur nicht, daß ich mich mit Ihnen gar fo eng 
verbunden fühle... Übrigens, das Ш ja gleich: 
gültig.” 

„Rein, wir entichließen ung”, erklärte Laͤmſchin. 

„Einen anderen Ausweg gibt es nicht,” murmelte 
Tolfatichenko, „und wenn Liputin ung das von Kirilloff 
beitätigt, jo..." 

„sch bin dagegen! Sch proteftiere mit allem, was mir 
heilig ift, gegen einen folchen blutigen Entſchluß!“ rief 
Wirginski, plößlich aufftehend. 

„Aber?“ fragte Piotr Stepanomitich. 

„Was ‚aber‘ ?" 

„Sie fagten ‚aber‘... und ich warte.” 

„sch glaube, ich jagte nicht ‚aber‘... Sch wollte nur 
fagen, daß, wenn man jich dazu entichließt, fo..." 

„бо?“ 

Wirginski verftummte. 

„sch denke, man пи fich über die eigene Lebens: 
gefahr hinwegſetzen,“ ſagte plößlich Erfel, der jeßt zum 
erftenmal den Mund auftat, „— wenn das aber der 
allgemeinen Sache jchaden Fan, fo, еще ich, darf man 


863 


es nicht mehr wagen... ſich über die eigene Lebens: 
gefahr hinwegzuſetzen ...“ 

Er verwirrte ſich und wurde rot. Wie beſchaͤftigt auch 
ein jeder mit ſich ſelbſt war, ſie blickten ihn doch alle 
erſtaunt an — dermaßen unerwartet kam es, daß auch er 
einmal ſprach. 

„sch bin für die allgemeine Sache”, ſagte ploͤtzlich 
Wirginski leife. 

Alle erhoben fich von den Plaͤtzen. Es wurde be: 
Ichloffen, einander am nächlten Tage um die Mittagszeit 
поф einmal zu benschrichtigen, ohne daß ich alle zu 
verſammeln brauchten, und dann alles endgültig Гей: 
zufeßen. Die Stelle, wo die Seßmajchine vergraben war, 
wurde mitgeteilt, und jedem feine Rolle und {еше Бе: 
ſondere Aufgabe eingefchärft. Darauf begaben fich Liputin 
und Piotr Stepanowitſch, ohne Zeit zu verlieren, zu 
Kirilloff. 

Il 

An Schatoffs Denunziation zweifelte niemand; aber 
auch daran, daß Piotr Stepanomitfch mit ihnen wie mit 
Hampelmännern fpielte, zweifelte niemand. Zroßdem 
wußten fie alle, daß fie am nächften Tage vollzählig zum 
Stelldichein erjcheinen würden, und fie mußten, daß 
Schatoffs Schidjal entfchieden war. Sie hatten das 
Sefühl, wie Fliegen in das Spinngemwebe einer großen, 
giftigen Spinne gefallen zu ‘ет; jie waren alle erboft, 
aber fie zitterten vor Этой. 

Piotr Stepanomitich hatte zweifellos fträflich unrecht 
an ihnen getan; es wäre alles viel harmonifcher und 
leichter gemwefen, wenn er fich nur ein wenig bemüht 
hätte, ме Wirklichkeit zu verjchönen. Anftatt die Tat 


864 





in einem anftäindigen Licht zu zeigen, jie als eine alt: 
roͤmiſch-ſtaatsbuͤrgerliche Heldentat oder etwas Ähnliches 
auszumalen, hatte er nur die plumpe Angſt vor ſie hin: 
geſtellt und die Gefahr für die eigene Haut, was Doch 
ſchon einfach unböflih war. Natürlich: alles Ш nur 
Kampf ums Dafein, und ein anderes Prinzip gibt es 
überhaupt nicht, das weiß Doch ein jeder, aber ſchließlich 
. . . immerhin ... 

Doch Pjotr Stepanowitſch hatte keine Zeit, die alten 
Roͤmer und ihre Tugenden heraufzubeſchwoͤren. Die 
Flucht Stawrogins hatte ihn für einen Augenblick voll 
ftandig aus der Faſſung gebracht. Daß Stamwrogin vor 
feiner Abfahrt den Bizegouverneur gejprochen habe, 
hatte er ihnen einfach vorgelogen: das war e8 ja gerade, 
рав er fortgefahren war, ohne auch nur einen Menfchen 
zu ſehen, jelbft die eigene Mutter nicht! Und war es 
nicht tatfächlich rätjelbaft, daß man ihn jo ganz unbe: 
helligt gelafjen hatte? (Späterhin mußte die Stadt: 
obrigkeit darüber befondere Nechenjchaft geben.) Piotr 
Stepanowitjch hatte fich den ganzen Tag überall nad) 
Näherem erkundigt, jedoch nichts erfahren. Noch nie 
war er jo beunruhigt, fo erregt gewefen. Uber wie 
ſollte er denn auch fo einfach, jo plößlich auf Stamrogin 
verzichten fönnen! Das war der Grund, warum er mit 
den „Unfrigen” nicht fo rüdjichtsvoll umging. Dazu 
banden ſie ihm noch die Hände: er wollte Stamrogin 
jofort nachfahren, und flatt deſſen mußte er hier bleiben, 
um vorher noch auf alle Fälle die fünf „unlösbar зи: 
ſammenzubinden“. Sein Vorhaben mit Schatoff hielt 
ihn zurüd, „Werde Doch мае fünf nicht umfonft aus der 
Hand laſſen, Fünnen mir noch fehr zuftatten kommen.“ 


865 


So ungefähr wird er wohl bei jich gedacht haben, denfe 
ich mir. 

Piotr Stepanomwitich war wirklich Гей überzeugt, рав 
Schatoff denunzieren werde. Alles, was er den „Unſri—⸗ 
gen” von der Anzeige gejagt hatte, war natürlich gelogen, 
denn nie hatte er eine jolche bei Schatoff gejehen, поф 
ähnliches von feinen Spionen gehört; aber er war nun 
einmal überzeugt davon und Eonnte fich folglich nichts 
anderes denken. Er glaubte, Schatoff werde auf feinen 
бай dag jetzt Gejchehene ruhig hinnehmen — den Tod 
Kifas, Marja Timofejewnas Ermordung — und fich 
gerade jeßt zur Denunziation entjchließen. Wer kann es 
willen, vielleicht hatte er auch einige Gründe, gerade das 
von Schatoff zu erwarten. Bekannt ИЕ jeßt nur, daß er 
Schatoff perjönlich Бабе. Es hatte einmal einen Streit 
zwijchen ihnen gegeben, Pjotr Stepanowitſch aber 
verzieh nie eine Beleidigung. Sch glaube jogar, daß 
diejes Perſoͤnliche der hauptſaͤchlichſte Beweggrund таг. 

Die Bürgerfteige find in unjerer Stadt jehr jchmal, | 
doch Pjotr Stepanowitſch fehritt gerade in der Mitte, 
jomit den ganzen Fußweg mit feiner Perjon einnehmend, 
und ohne Liputin überhaupt zu beachten. Diejer mußte 
nun entweder einen Schritt Hinter ihm herlaufen oder, 
um mit ihm fprechen zu fönnen, auf der ſchmutzigen 
Fahrſtraße neben ihm traben. Plößlich erinnerte fich 
Piotr Stepanomwitich, wie er jelbft vor zwei Tagen jo 
durch den Schmuß gelaufen тат, um mit Stawrogin, 
der ganz fo wie er jeßt mitten auf dem Bürgerfteig ging, 
Schritt halten und jprechen zu fünnen. Ihm fiel der 
ganze Weg zu Wirginski ein und eine grenzenlofe Wut 
ergriff ihn jaͤh. 


866 


Doch auch Liputin verging der Atem vor Wut ob 
diefer beleidigenden Unhöflichkeit. Mochte Piotr Stepa— 
nomitfch mit den „Unſrigen“ umgehen, wie er wollte, 
aber mit ihm? — mit ihm! Er, Liputin, wußte 554 
mehr von der ganzen Gefchichte, als alle die anderen der 
„Fuͤnf“, er ftand der Sache doch am nächlten, war ат 
intimften eingeweiht und hatte doch bisher, wenn аи 
nur mittelbar, aber jedenfalls erfolgreich, bei allen diefen 
AUnzettelungen mitgewirkt! Ob, er mußte, daß Pjotr 
Stepanowitich ihn ſogar ſchon jeßt vernichten Fonnte, 
wenn es ihm darauf ankam, jagen wir, in einem außer: 
ten Fall. Aber er haßte ihm fchon lange; und шей 
mehr noch, als wegen diejer Gefahr, haßte er ihn wegen 
feines anmaßend-hochmuͤtigen Verhaltens. Und jekt, 
wo man fich zu einer jolchen Sache entjchließen mußte, 
erbofte er fich über dieje Umgangsart mehr als alle die 
anderen zulammen. Doch ach, troßdem wußte er, daß 
er morgen bejtimmt als erfter „wie ein Sklave” zur 
Stelle fein und womöglich noch die anderen heran 
ichleppen werde! Aber wenn er jekt, noch vor morgen, 
diefen Pjotr Stepanowitſch auf irgendeine Weije hätte 
totjchlagen fönnen, ohne ſich jelbft in Gefahr zu bringen, 
jo hätte er es unbedingt getan. 

In feine Empfindungen verjunfen, ſchwieg er und 
trottete hinter feinem Quälgeift her, der ihn ganz ver: 
де\еп zu haben jchien. Da blieb Piotr Stepanomitjch 
plößlih auf einer unferer belebtejten Straßen ftehen 
und trat in ein Gaſthaus. 

„Wohin denn?” rief erichroden Liputin. „Das ift 
doch ein Gaſthaus!“ 

„sch will ein Beefſteak ejjen.” 


867 


_ „Уф Bitte Sie! .. aber hier ift es doch allezeit voll- 
gepfropft !” 

„Macht nichts.” 

„Uber... wir veripäten ung! Es ift ſchon gleich zehn.” 

„Зи dem da fann man nie zu ſpaͤt kommen.“ 

„ber ich fomme dann doch zu №! Die warten 
doch dort auf mich!" | 

„a, mögen fie doch. Es wäre nur dumm von Shnen, 
wenn Sie zu jenen noch zurüdfehrten. Danf der Schere: 
rei mit Ihnen Фа habe ich heute noch nicht zu Mittag 
geipeift. Zu Kirilloff aber fommt man je jpäter, deſto 
beſſer.“ 

Piotr Stepanowitſch wuͤnſchte in einem beſonderen 
Zimmer zu ſpeiſen. Liputin ſetzte ſich geaͤrgert und 
gekraͤnkt in einen Seſſel und ſah zu, wie er aß. Es ver: 
ging eine gute halbe Stunde. Pjotr Stepanowitſch 
beeilte ſich nicht, aß mit großem Appetit, klingelte und 
verlangte anderen Senf, darauf Bier und ſprach die 
ganze Zeit uͤber kein Wort. Er war tief nachdenklich — 
er konnte tatſaͤchlich beides zugleich: mit Appetit eſſen 
und tief nachdenklich ſein. Liputins Haß ſteigerte ſich 
ſchließlich ſo weit, daß er nicht mehr faͤhig war, ſeine 
Blicke von ihm loszureißen: das war faſt ſchon eine Art 
Nervenkrampf. Er begleitete jedes Stuͤckchen Fleiſch 
vom Teller bis zum Munde, und er haßte Pjotr Stepa— 
nowitſch ſogar ſchon dafuͤr, wie er den Mund aufmachte, 
wie er kaute, wie er die ſaftigeren Biſſen ſich ſchmecken 
ließ, ja er haßte ſchließlich das Beefſteak ſelbſt. Zum 
Schluß begann alles ſich vor ſeinen Augen zu drehen; 
dazu im Kopf ein leiſes Schwindelgefuͤhl; heiß und kalt 
lief es ihm abwechſelnd uͤber den Ruͤcken. 


868 











„Sie haben nichts zu tun, lejen Sie dies”, fagte plöß: 
lich Piotr Stepanowitih und warf ihm ein Blatt 
Papier zu. 

Liputin nöherte fich dem Licht. Das Papier war mit 
einer Heinen, unleferlihen Handfchrift eng bejchrieben 
und faft auf jeder Zeile forrigiert. Als er es durchgelefen, 
bemerkte er, daß Piotr Stepanowitſch ſchon bezahlt 
hatte und bereite im Begriff war, fortzugehen. Auf der 
Straße reichte ihm Liputin das Papier zurüd, 

„Behalten Sie es,“ ſagte Piotr Stepanomitich, „werde 
Shnen fpäter fagen, wozu. Übrigens: wie finden Sie es?" 

Liputin erbebte förmlich vor Wut. 

„sch finde... eine jolhe Proflamation ... ift nichts 
weiter als eine einzige blödfinnige Lächerlichkeit . . .“ 

Seine Wut brach durch; es war ihm, als werde er 
plößlich hochgehoben und weggetragen. \ 

„Wenn wir ung entichließen," fagte er, am ganzen 
Körper vibrierend, „Jolhe Proflamationen zu verbreiten, 
fo erreichen wir nur, daß man ung ob unferer Dummheit 
und Unfenntnis der wahren Verhältniffe einfach ver: 
achtet !" 

„gm! Sch denke anders", meinte Piotr Stepanowitſch, 
feft weiterfchreitend, 

„Sch aber fo. Sollten Sie das wirklich felbit verfaßt 
haben?“ 

„Das ift nicht Ihre Sache.” 

„Ich glaube auch, daß das jämmerliche Gedicht ‚Die 
helle Perfönlichkeit‘, dieſe erbärmlichfte Reimerei, die es 
_ überhaupt geben fann, nie und nimmer von Herzen 
jelbft verfaßt worden ЦЕ! 

„Das Ш nicht wahr, das Gedicht ИЕ gut.“ 


869 


„sch wundere mich auch darüber,” fuhr Liputin zit: 
ternd und atemlos fort, „wie man ung überhaupt ап: 
empfehlen пп, jo zu handeln, daß alles zuſammen— 
fracht. In Europa mag das zu mwünfchen, und für 
битора mag's auch das einzig Richtige fein, denn dort 
gibt е8 Proletariat, wir aber jind hier, meiner Meinung 
nach, bloß Liebhaber und tun nur groß.” 

„Уф dachte, Sie wären Fourierift.‘ 

„Зе Fourier ИЕ das ganz anders, ЦЕ es gar nicht das.“ 

„Sch weiß, daß es Unfinn iſt.“ 

„Nein, das ift es nicht bei Fourier... Verzeihung, 
aber ich kann unmöglich glauben, daß im Mai der Auf- 
ftand beginnen werde!” 

Liputin knoͤpfte jogar jeinen Mantel auf, dermaßen 
heiß war ihm geworden. 

„a, genug davon. Sekt aber, damit ich es nicht ver: 
geſſe,“ Piotr Stepanomitich ging erftaunlich Faltblütig 
auf ein anderes Thema über, „diejes Blatt werden Sie 
eigenhändig jeßen und druden. Schatoffs Seßmajfchine 
graben wir aus und morgen noch nehmen Sie fie zu 
ſich. In möglichft kurzer Zeit ſetzen Sie und druden Sie 
jo viele Eremplare davon wie nur möglich, und dann 
werden wir fie den ganzen Winter über verbreiten. Die 
Mittel werden Ihnen angemwiejen werden. Eo viele 
Eremplare wie nur möglih! Man wird fich von ver: 
Iihiedenen Stellen an Sie wenden.” 

„Nein, erlauben Sie fchon, ich übernehme nicht eine 
folhe... Sch lehne es ab.” 

„Und werden es doch übernehmen. 34 handle nach 
der Snftruftion der Zentrale und Sie müfjen gehorchen.” 

„34 glaube aber, daß unfere ausländilchen Zentren 


870 








die ruffifhe Wirklichkeit vergeffen und jede Verbindung 
mit ihr eingebüßt haben, und darum einfach phantafie= 
ven... Sch glaube fogar, daß ftatt der vielen Hunderte 
von ‚Fünfer‘-Gruppen in Rußland wir allein die einzige 
find, und ein Net überhaupt nicht exiſtiert!“ Feuchte 
Liputin endlich hervor. 

„Am fo verächtlicher von Ihnen, daß Sie, ohne ап 
die Sache zu glauben, ihr doch nachgelaufen find... 
und jeßt noch mir nachlaufen wie ет Hündchen.” 

„Nein, ich laufe nicht nach. Wir haben das volle Necht, 
zurüdzutreten und eine neue Gejellichaft zu gründen.” 

„R—rerüpel!” donnerte plößlich Pjotr Stepanowitſch 
drohend und mit blißenden Augen. 

Beide ftanden fich eine Zeitlang gegenüber. Dann 
wandte fich Piotr Stepanomitich und jekte ſelbſtbewußt 
feinen Weg fort. 

Wie ein Blitz zudte es durch Liputins Kopf: 

„sch kehre um und gehe zurüd. Wenn ich jeßt nicht 
umkehre, jo werde ich nie mehr umfehren.” 

So dachte er genau zehn Schritte lang, beim elften 
aber flammte in ihm ein neuer und tollfühner Gedanke 
auf: er Тебе nicht um und ging nicht zurüd., 

Sie näherten fich dem Filippoffichen Haufe, doch 
noch bevor fie eg erreichten, bogen fie in eine Quergajie 
ein, oder richtiger, in einen Fußweg auf dem abſchuͤſſi— 
gen Grabenrande am Zaun, ап dem man fich halten 
mußte, um nicht auszugleiten. An der dunkelſten Ede 
diejes alten jchiefen Zaunes nahm Piotr Stepanomitich 
ein Brett heraus und kroch dann ſelbſt jchnell durch die 
Öffnung. Liputin wunderte fich, Eroch aber troßdem 
nach. Darauf lehnten fie das Brett wieder jo an, wie es 


871 


vorher gejtanden hatte, Das war derjelbe geheime Gang, 
dur den Fedjka fich nachts zu Kirilloff ftahl. 

„Schatoff darf es nicht wiſſen, daß wir hier find“, 
flüfterte Piotr Stepanowitjch in firengem Tone Lipu— 
tin zu. 

III 

Kirilloff ſaß wie gemöhnlich um diefe Zeit auf feinem 
harten Sofa beim Tee. Er ftand nicht auf, um den 
Eintretenden entgegenzugehen, warf nur erjchroden 
den Oberförper vor und [аб ihnen erregt entgegen. 

„Sie irren fich nicht,’ fagte Piotr Stepanomitich, 
„ich Fomme deswegen..." 

„Heute?“ 

„Sein, nein, morgen... ungefähr um diejelbe Zeit.” 

Und Pjotr Stepanowitich {ее jich fchnell an den 
Tiſch und betrachtete mit einiger Unruhe Kirilloff. Der 
hatte fich aber fehon wieder beruhigt und jah wie ge= 
wöhnlich aus. 

„Sehen Sie, мае da mollen es nicht glauben”, Wer: 
chowensfi wies mit dem Kopf auf Liputin. „Sie ärgern 
ſich doch nicht darüder, daß ich ihn mitgebracht habe?” 

„Heute nicht. Aber morgen will ich es allein. 

„ber nicht früher, als bis ich gefommen bin, und 
dann in meiner Gegenwart —“ 

„Уф würde lieber nicht in Fhrer Gegenwart —“ 

„Sie erinnern fich 504 noch, daß Sie verjprachen, 
alles zu fchreiben und zu unterzeichnen, was 19 Ihnen 
diftiere ?" 

„Mir Ш alies einerlei. Aber werden Sie jeßt lange 
bleiben ?" 

„Ich muß einen gewillen Menjchen Iprechen und ип: 


872 





gefähr eine halbe Stunde bleiben, dann gehe ich, aber 
dieje halbe Stunde bleibe ich noch.“ 

Kirilloff ſchwieg. Liputin hatte fich inzwiſchen etwas 
abfeits, unter dem Bilde des Bilchofs auf einen Stuhl 
gejeßt. Der vorige tollfühne Gedanke bemächtigte ſich 
feiner mehr und mehr. Kirilloff bemerfte ihn an der 
dunflen Wand faft gar nicht. Liputin fannte die Theorie 
Kirilloffs {фоп von früher und hatte fie immer verlacht, 
jeßt aber ſchwieg er und fah fich finfter im Zimmer um. 

‚Sch möchte ganz gern Tee trinken," jagte Piotr 
Stepanowitich, „babe ſoeben ein Beefſteak gegejien 
und rechnete eigentlich darauf, bei Ihnen den Tee zu 
trinken.“ 

„Trinken Sie, wenn Sie moͤgen.“ 

„Fruͤher boten Sie ihn ſelbſt an“, bemerkte Piotr 
Stepanowitſch ſaͤuerlich. 

„Das iſt einerlei. Auch Liputin mag trinken.“ 

„Nein, danke, ih... kann nicht. 

„Kann nicht oder И nicht" Piotr Stepanowitich 
drehte fich jchnell zu ihm um. 

„sch werde bei ihm nicht noch anfangen Tee zu trinken‘, 
lehnte Liputin ausdrudsvoll ab. 

Piotr Stepanomitich 309 die Brauen zufamnıen. 

„Das riecht nach Myſtizismus. Der Teufel foll aus 
euch allen Низ werden!" 

Niemand antwortete ihm. Sie jchwiegen op eine 
ganze Minute. 

„ber eines weiß ich," fügte er plößlich ſchroff hinzu, 
„fein einziges Vorurteil fann auch nur einen von ung 
abhalten, feine Pflicht zu erfüllen.“ 

„Stawrogin ЦЕ fortgefahren?” fragte Kirilloff. 


56 Dojtojewäki, Die Dämonen. Bd. I. 873 


„За. 

„Das hat er gut gemacht.” 

Piotr Stepanowitſchs Augen blißten jchon auf, Doch 
er bezwang fich. 

„Mir kann's gleich fein, was Sie denken, wenn nur 
ein jeder fein Wort hält.” 

„sch werde mein Wort halten.‘ 

„Übrigens, ich mar immer überzeugt, daß Sie Ihre 
Pflicht erfüllen würden, wie ein unabhängiger und 
fortgejchrittener Menſch.“ 

„Sie aber find lächerlich.” 

„Meinetwegen, e8 freut mich ſehr, daß ich Sie erheitere. 
68 freut mich immer, wenn ich mit irgend etwas де 
fällig fein kann.“ 

„Sie wollen furchtbar gern, daß ich mich erfchieße und 
fürchten doch, daß ich plößlich nicht will.“ 

„Daß heißt, ſehen Sie mal, Sie haben ja jelbit Ihren 
Plan mit unjerer Хана verbunden. Da ши nun 
mit Ihrer Abficht gerechnet haben, jo Ш ſchon Ber: 
ichiedenes unternommen worden, {0 daß Sie jekt auf 
feine Weiſe mehr zurüdtreten koͤnnen.“ 

„Nur nichts von Pflicht.” 

„Verſtehe, verftehe, es Ш Ihr eigener freier Wille, 
Nur, daß fich diefer Ihr freier Wille in Tat umſetzt.“ 

„And ich werde alle Shre Gemeinheiten auf a 
nehmen muͤſſen?“ 

„Hören Sie, Kirilloff, haben Sie vielleicht ofötstich 
пай befommen? Wenn Sie zurüdtreten mollen, fo 
lagen Sie es bitte gleich.” | 

„Sch habe feine Angft befommen.” 

„sch meinte nur, шей Sie etwas viel fragen. 


874 








„Werden Sie bald fortgehen?” 

„Sie fragen fchon wieder?“ 

Kirilloff betrachtete ihn mit Verachtung. 

„Nun, ſehen Sie mal,” fuhr Piotr Stepanomitich, 
der fich immer mehr ärgerte und beunrubigte, fort, doc) 
ohne den richtigen Ton finden zu fönnen, — „Sie wollen 
um der бат И willen, daß ich fortgehe, um fich 
_ fammeln zu koͤnnen, doch all dag find gefährliche Ans 
zeichen, für Sie, für Sie vor allen anderen. Sie wollen 
viel denken. Meiner Meinung nach wäre e8 beffer, nicht 
zu denken, fondern es ohne dem zu tun. Nein, Sie — 
wirklich, Sie beunruhigen mich.“ 

„Mir ift nur das nicht recht, daß in jenem Augenblid 
folh ein Efel bei mir fein wird, wie Sie. 

„Run, das Ш Doch einerlei. Sch kann ja auch hinaus: 
gehen und fo lange draußen auf der Treppe ftehen. 
Wenn Sie aber fterben wollen und dabei fo wenig gleich: 
mütig find, {© — nun, ich meine, das ift alles ſehr де 
faͤhrlich. Sch werde аНо auf die Treppe gehen und Sie 
koͤnnen meinetwegen denken, was Ste wollen: daß id) 
nichts von Ihnen verftehe, daß ich als Menfch unermeß: 
lich tief unter Ihnen Небе...” 

Kein, nicht unermeßlih. Sie haben Begabungen; 
aber Sie verfteher jehr vieles nicht, weil Sie ein niedriger 
Menſch find.” 

„Freut mich, freut mich. Wie gejagt, es freut mich 
ſehr, Zerftreuung zu bieten ... in einer ſolchen Minute.” 

„Sie begreifen nichts.“ 

„Das heißt, ich... jedenfalls höre ich mit Hochs 
achtung —“ 

„Sie können nichte, Sie koͤnnen fogar ДеВ nicht 


56* 875 


Ihre НешИфе Wut verfteden, obgleich es für Sie doch 
unvorteilhaft ЦЕ, fie zu zeigen. Sie werden mich ärgern 
und ich werde vielleicht plößlich noch ein halbes Fahr 
wollen...” 

Piotr Stepanomitich ſah nach der Uhr. 

„sch babe niemals etwas von Shrer Theorie ver: 
ftanden, aber ich weiß, daß Sie fie nicht für uns aus— 
gedacht haben, folglich werden Sie es auch ohne uns tun. 
Auch weiß ich, daß nicht Sie die Idee verjchlungen haben, 
fondern die Idee hat Sie verjchlungen, alſo werden Sie 
es auch nicht aufſchieben.“ 

„Die? Mich hat die Зее verſchlungen?“ 

„за.“ | | 

„Und nichtich die Idee? Das iſt gut gejagt. Sie haben 
einen Heinen Verſtand. Nur neden Sie, ich aber bin 
ftolz darauf.” 

„Borzüglich, fehr jchön jo. Gerade jo muß es ja jein, 
daß Sie ftolz darauf find.“ 

„Genug, Sie haben ausgetrunfen, gehen Sie jeßt.“ 

„zum Zeufel, da wird man шо müfjen”, Piotr 
Stepanomitjch erhob ſich. „Aber immerhin И es поф 
früh. Hören Sie, Kirilloff, bei der Maͤßnitſchicha treffe 
ich diefen Menfchen, Sie willen {фоп? Oder hat auch 
fie gelogen?" 

„erden ihn nicht treffen, denn er ЦЕ Мег und nicht da.” 

„Die, Мег! zum Zeufel, mo?" 

„Spt in der Küche, ВЕ und trinkt.” 

„Wie wagt der Kerl!...” Piotr Stepanowitſch wurde 
rot vor Zorn. „Er mar verpflichtet zu warten... 
Unfinn! Er bat ja weder Geld noch einen Зав! 

„Ich weiß nicht. Er Ш gefommen, um fich zu ver: 


876 


abichieden. Sit angefleivet und bereit, geht fort und 
fommt nicht wieder. Er fagte, daß Sie ein gemeiner 
Menich find und mill nicht auf Ihr Geld warten.” 

„A—ah! Er fürchtet, daß ich... nun ja, ich kann ihn 
auch jeßt, wenn... Wo ЦЕ er, in der Küche?” 

Kirilloff öffnete eine Seitentür zu einem Heinen, 
dunklen Zimmer, aus dem drei Ötufen in die Küche 
hinabführten. Von der Küche war, gleich bei der Tür, 
durch eine Bretierwand eine Kammer abgeteilt, in der 
‚gewöhnlich das Bett des Dienftmädchens ftand. Hier 
ſaß nun in der Ede unter den Heiligenbildern Fedjka 
vor einem unbededten Brettertiich, auf dem ein halbes 
Liter Schnaps, Brot auf einem Teller und in einer 
irdenen Schüffel ein kaltes Stüd Rindfleisch und Kartof- 
feln ftanden. Er aß mit Genuß und jchien fchon halb 
betrunken zu fein, doch war er in kurzem Pelz und augen: 
Icheinlich zum Aufbruch bereit. Hinter der Brettermand 
in der Küche ити jchon der Samowar, doch der war 
nicht für Fedjka aufgeftellt, jondern Fedifa jelbft blies 
ihn jeden Abend mit feiner ganzen Lungenfraft für 
„Alexei Nylitſch“ an, „dieweil Sie daran überaus 
gemöhnt find, nachts immerzu Tee zu trinken!" Sch ver: 
mute ftarf, daß das Rindfleifch und die Kartoffeln, da 
fein Mädchen im Haufe таг, von Kirilloff jelbft |фоп 
am Morgen für Fedjka gebraten worden waren. 

„Bas ift dir eingefallen?” rief Piotr Stepanowitſch 
und ftürzte die Stufen hinunter, „Warum haft du nicht 
dort auf mich gewartet, wo man es dir befohlen hat?“ 

Und zornig ſchlug er mit der Fauft auf den Brettertiſch. 

Fedjka nahm eine würdevollere Haltung ап. 

„Du, wart ein bißchen, Piotr Stepanomitjch, wart 





877 






ein bißchen,” fagte er, faft mit ftußerhafter Deutlichkeit 
die Worte ausiprechend, „du mußt als erfte Pflicht ver—⸗ 
ftehen, рав du Мег auf edlen Зеиф bei Herrn Kirilloff, 
Alexei Nylitich, bift, bei dem du deſſen Stiefel pußen 
fannft, denn er ift vor dir ein gebildeter Verftand, du aber 
bift nur ein — Ури! 

Und er ſpie elegant zur Seite, daß der Speichel trocken 
wie ein Wurf zu Boden flog. Man jah ihm Hochmut, 
Entichloffenheit und ein gemiljes, höchft gefährliches, 
trügerifch ruhiges Klugredenwollen an — bis zum erſten 
Ausbruch. Doch Pjotr Stepanomitich hatte jchon keinen 
Sinn mehr dafür, auf die Gefahr zu achten, und das 
vertrug fich Schließlich auch nicht mit feiner Auffafjung 
der Dinge. Und die Ereigniffe und Mißerfolge dieſes 
Tages hatten ihn zudem ſchon um jede Überlegung 
gebracht... Liputin, der über den drei Stufen in der Tür 
jtehen blieb, fah neugierig aus dem dunflen Zimmer in 
die Kammer hinab. 

„Willſt du, oder willft du nicht einen richtigen Paß 
haben und gutes Geld zur Fahrt, wohin man dir gejagt 
hat? За oder nein?“ 

„Siebft du, Piotr Stepanomitich, du Бай mich von 
Anfang an betrogen, und darum bift du vor mir der 
тете Gauner, bift ganz wie eine verfluchte Hundelaus, 
— fiehft du, dafür Halt ich dich. Du Бай mir für uns | 
fchuldiges Blut großes Geld und das Blaue vom Himmel 
herunter verjprochen, und für Herrn Stawrogin Вай du 
geſchworen, und mas ИЕ dahinter? Es fommt immer пит 
deine Öaunerei heraus! Sch, jo wie ich bin, bin mit 
feinem Tropfen Blut daran ſchuld, nicht, daß da taufend= 
fünfhundert, dir aber hat Herr Stamwrogin neulich jo 


878 


um die Ohren gewicht, daß auch wir das fchon wiffen. 
Seht drohſt du mir von neuem und verjprichft mir Geld, 
aber wofür — darüber fchweigft du. Sch aber denke fo 
bei mir: du fehiefft mich nach Petersburg, um dich an Herrn 
Stawrogin, Nicolai Wizewolodowitich, zu rächen und 
rechneft auf meine Leichtgläubigfeit. Und fomit gebft 
du als der erfte Mörder aus allem hervor, Und weißt 
du auch, was Du mit allein dieſem einen Punkte |фоп 
wert geworden bift, daß du an Gott felbft, den wahr: 
haftigen Schöpfer, wegen deiner VBerderbnis nicht mehr 
glaubt? Das Ш fchon ebenjo wie Heide fein, ftehft 
alſo auf einer Stufe mit Tatar oder Mordwine, Herr 
Kirilloff, Alexei Nylitſch, der ein großer Philoſoph ift, 
hat dir fchon mehrmals den wahren Gott, den heiligen 

Schöpfer aller Dinge, erflärt, und desgleichen die ganze 

Schöpfung der Erde wie alle zufünftigen Schidjale und 

die Verwandlung aller Kreaturen und alles Gewuͤrms 

aus dem Buch der Apokalypſe. Du aber bift wie ein 

unverftändiges Gößenbild und verharrft in Zaubheit 
' und Stummbeit, und haft dazu auch den Offizier Erteleff 
gebracht, ganz wie der leibhaftige Böfewicht und Ver: 
führer, {2 da heißt Atheift. . 

„ch Du, bejoffene Trage! — Beraubt felbft Heiligen- 
bilder und verfündet jeßt noch Gott!" 

„sa, fiehft du, Piotr Stepanowitſch, ich fage dir ganz 
aufrichtig, daß ich fie beraubt habe, aber ich habe blog 
ein einziges Perlchen rausgenommen, und was kannſt 
du willen, vielleicht hat fich meine reuige Träne in dem: 
jelben Augenblid im Schmelzofen des Allerhöchiten 
verwandelt für irgendein Unrecht, das mir gejchehen ift, 
da ich Doch nicht mal mas habe, wo ich mein Haupt hin= 





879 


legen апп. Weißt du auch aus den Büchern, daß einmal 
in alten Zeiten ein Kaufmann mit ganz genau fo einem 
Zränenjeufzer und Gebet mie ich aus dem Heiligen 
ſchein der heiligen Mutter Gottes eine Perle ftibigt 
und dann fpäter Fniefällig vor allem Volk das ganze 
Geld der Gottesmutter zu Füßen gelegt hat, und daß 
ihn da die heilige Fürlprecherin mit dem goldgeſtickten 
Tuch gejegnet hat, dajelbft vor allem Зо, jo daß denn 
ſchon damals ein Wunder daraus geſchah und von der 
Obrigkeit anbefohlen wurde, alles buchftäblih in die 
Keichsbücher einzutragen. Du aber haft eine Maus 
hineingeftedt, alfo haft du Gott felber befhimpft. Und 
wenn bu nicht mein angeborener Herr mwärft, den ich, 
als ich noch ein Junge war, auf meinen Armen gemiegt 
babe, jo würde ich Dich jeßt, jo wie du da bift, mit eins 
totichlagen, ohne hier anders vom Fled zu gehen!" 

Piotr Stepanomitich geriet in та еп Zorn. 

„Sprich, Бай du heute Stamrogin gejehen?” 

„Das darfft du nicht wagen, daß du mich ausfragen 
tuft. Herr Stamrogin fteht in diefer Sache nur in Ver= | 
mwunderung vor dir da und hat fich nicht mal mit пет 
Wunſch dran beteiligt, mas aber von einer Anordnung 
oder Geld, davon fchon ganz zu geſchweigen. Du haft 
mich rundherum betrogen !" 

„Das Geld befommft du, und die zweitaufend befommft 
du auch, in Petersburg, am angegebenen Ort, alle 
auf einmal, und wirft noch mehr bekommen.“ 

„Du, mein Befter, du lügft nur wieder, und es ИЕ mir | 
faft Iuftig zu ſehen, was für ein leichtgläubiger Verftand 
du bift. Herr Stamrogin fteht vor dir mie auf einer 
hohen Treppe und du Häffft nur von unten иле ein dum⸗ 


880 











mes Hündchen, während er von oben auf dich auch nur 
zu рифеп fchon für eine große Ehre für dich halten würde.” 

„Бег weißt du auch,” rief Piotr Stepanomitjch in 
rafender Wut, „daß ich Dich, Schurke, nicht einen Schritt 
von Мег laſſe und dich fofort der Polizei uͤbergebe!“ 

Fedjka ſprang auf und feine Augen blißten vor Jaͤh— 
_ ют. Piotr Stepanowitſch мВ feinen Revolver hervor. 
Und nun ат e8 zu einem mwiderlichen furzen Auftritt: 
noch bevor Piotr Stepanomitich zielen fonnte, hatte 
Fedjka fich fchon im Nu gedudt, gedreht und fchlug ihn 
aus aller Kraft auf die Wange. Und |фоп im felben 
Augenblid Hatfchte der zweite furchtbare Schlag, dann 
der dritte, der vierte, immer auf die Wange. Piotr 
Stepanowitſch ftand wie dufelig, feine Augen ftierten, 
er murmelte etwas, und plößlich ftürzte er jäh zu Boden. 

„Da habt ihr ihn, nehmt ihn jeßt!" rief Fedjka mit 
einer triumphierenden Wendung, ergriff feine Muͤtze, 
zog jchnell unter der Bank ein Bündel hervor und war 
verſchwunden. 

Piotr Stepanowitſch lag roͤchelnd am Boden. Liputin 
dachte |фоп, er werde gleich ſterben. Kirilloff Tief ſchnell 
in die Küche. 

„Mit Waller muß man ihn!” rief er. 

Er |форНе in Haft mit einem Blechgefäß Waffer aus 
dem Eimer, fam ſchnell zurüd und дов es ihm über den 
Kopf. Piote Stepanowitſch bewegte ſich, erhob den 
Kopf, jeßte ſich langſam auf und blidte unverftändig 
vor ſich Hin. 

Run, wie iſt es?“ fragte Kirilloff. 

Piotr Stepanowitſch ſah ihn unbeweglich, doch noch 

ohne ihn zu erkennen, ап. Da bemerfte er aber Liputin, 


881 


der aus der dunflen Zür hervorgetreten. war, und 
lächelte fein altes gemeines Laͤcheln. Ploͤtzlich griff er 
Ichnell nach feinem auf der Diele liegenden Revolver 
und fprang auf. 

„Senn е8 Ihnen morgen einfallen follte, fortzu— 
laufen... иле der Schuft Stawrogin,“ ſchrie er in 
wildem Ausbruch, Неее, Kirilloff an, die Worte 
ftodend und unklar hervorftoßend, „jo hänge ich Sie am 
anderen... Ende der Welt... wie eine Fliege auf... 
zerdrüde Sie... . verſtanden!“ 

Und er zielte mit dem erhobenen Revolver gerade auf 
Kirilloffs Stien, — 504 ſchon in derjelben Sekunde 
bejann er fich, мВ feine Hand zurüd, ftedte den Revolver 
wieder in die Taſche und ftürzte, ohne ein Wort zu jagen, 
aus dem Haufe. Liputin Tief ihm nach. Sie Frochen 
wieder durch den Zaun und gingen, wie fie gefommen 
waren, auf dem fjchrägen Grabenrande, fih an den 
Brettern haltend, bis zur Bogojamlensfftraße. Piotr 
Stepanomwitjch ging jo jchnell, daß Liputin ihm kaum 
nachfommen Гоппе. Am nächlten Kreuzweg blieb er 
plößlich ſtehen. 

„Kun? wandte er jich herausfordernd nach Liputin ит, 

Liputin erinneite fich des Revolvers und zitterte noch 
von dem, was gejchehen war; aber die Antwort fiel ihm 
plößlich mie von felbft von den Lippen: | 

„Уф рее... ich denke, daß man ‚bis nach Taſchkent“ 
feinesmwegs ſo ſehnſuͤchtig darauf martet, was ‚der 
Student‘ da anpreift.“ 

„Haben Sie gejehen, was Fedjfa in der Küche trank?” 

„Bas er НапЁ? Branntwein trank er.‘ 

„Nun, fo willen Sie denn, daß er zum leßten Mal im 


882 





Leben Branntwein getrunfen hat. Sch empfehle, für 
fernere Erwägungen das zu behalten. Jeßt aber jcheren 
Sie fich zum Teufel! Bis morgen find Sie weiter nicht 
nötig... Nur — denfen Sie an mich! feine Dumm: 
beiten machen !" 

Liputin jagte Hals über Kopf nach Haus. 


IV 

Liputin hatte fich Schon vor langer Zeit einen Paß auf 
einen fremden Namen bejorgt. Es Ш eigentlich eine 
fonderbare Vorſtellung, daß dieſer ordentliche Heine 
Menſch, dieſer eigenfinnige Familientyrann und vor 
allem Beamte (wenn er auch Fourierift war), daß dieſer 
Kapitalift und Kuponfchneider fchon vor langer Zeit 
auf den phantaftiichen Gedanken hatte verfallen koͤnnen, 
fich auf alle Fälle jo einen Paß zu verfchaffen, um fich 
mit ihm ins Ausland zu retten, wenn... Er gab aljo 
doch die Möglichkeit diefes „Wenn zu, obſchon er 
gewiß nicht hätte formulieren koͤnnen, was er unter 
diefem „Wenn“ verftand... 

Jetzt aber hatte es fich plößlich felbft formuliert, und 
roch dazu auf die allerunermartetite Weife. Jener toll: 
fühne Gedanke, mit dem er bei Kirilloff eingetreten 
war, nachdem er Piotr Stepanowitfchs „R—rrrüpel” 
eingeftedt hatte, bejtand darin, morgen noch, womöglich 
vor Sonnenaufgang, alles zu verlaffen und fich ing Aus— 
land in Sicherheit zu bringen! Wer nicht glauben will, 
daß fo phantaftifche Dinge in unferer alltäglichen Wirk: 
lichfeit gejchehen, der möge fich die Lebensgeſchichten 
unferer gegenwärtigen Emigranten im Ausland einmal 
näher anjehen. Kein einziger von ihnen hat eine ver: 


883 


nünftigere Flucht inter ſich. Immer mar es die gleiche 
ungebändigte Herrichaft der Hirngelpinfte und nichts 
meiter. 

Als Liputin zu Haufe anlangte, war das erfte, mas er 
tat, daß er feinen Reifefad heroorholte und zu paden 
begann. Seine größte Sorge war das Geld, име viel 
und wie er es retten fonnte. Samohl: „retten”, denn 
jeiner Meinung паф durfte er nicht eine Stunde mehr 
jäumen und mufte womöglich |фоп bei Sonnenaufgang 
unterwegs fein. Auch wußte er noch nicht recht, wo er 
am beiten in den Zug fteigen follte; fchließlich entichloß 
er jich, irgendwo auf der zweiten oder dritten Station 
einzufteigen, bis dorthin aber zu Fuß zu laufen. ©o 
plagte er fich denn mit feinem Reifefad herum, einen 
ganzen Wirbelfturm von Gedanken im Kopf, und — 
plößlich warf er alles hin und ſank mit einem tiefen 
Stöhren auf feinen Diman und ftredte fich auf ihm aus. 

Er fühlte deutlih, und plößlich erfannte er ganz Нат, 
daß er flüchten, nun ja, daß er wirklich flüchten werde, 
daß er aber die Trage, ob er vor oder nah Schatoff 
flüchten follte, jett zu beantworten volllommen außer: 
ftande war. Er empfand fich nur noch als einen willen 
Iofen Körper, eine paſſive Mafje, die |фоп von einer 
fremden unheimlichen Kraft gelenkt wurde, und er fühlte, 
daß er, obſchon er einen Auslandspaß befaß und ohne 
meiteres „vor Schatoff” flüchten fonnte (nur deshalb 
hatte er jich Doch jo beeilt), — daß er troßdem nicht 
„сот Schatoff”, fondern unbedingt erft „nach Schatoff“ 
flüchten werde, und daß es jo ſchon beichloffen, unter- 
Ichrieben und verjiegelt war. In unerträglicher Qual, 
zitternd und Sich über fich felbft wundernd, feufzend und 


884 





— — —— 


< 





vergehend vor Angjt, erlebte er doch noch, ohne jelbit 
recht zu willen wie, auf dem Dimwan liegend, den пафЙеп 
Morgen. Und dann erfi erhielt er den enticheidenden 
Stoß, der jeinem jchwanfenden Entjchluß ме endgültige 
Richtung gab. Es war fchon elf Uhr, als er die Zür 
jeines Zimmers aufſchloß und hinaustrat. Und das ее, 
was er von den Öeinigen erfuhr, war, daß der Räuber, 
Mörder und entiprungene Zuchthäusler Fedjka, der alle 
in Schreden verjeßt, Kirchen beraubt und Häufer in 
Brand geftedt hatte, daß Fedjka, der berüchtigte Fedjka, 
den unjere Polizei jchon lange verfolgte und immer noch 
nicht hatte finden fönnen, früh morgens, fieben Werft 
von der Stadt, erichlagen gefunden worden war. Die 
ganze Stadt mußte es bereits. Liputin flürzte aus dem 
Haufe, um Näheres darüber zu erfahren. Er hörte, daß 
man Fedjka, der allem Anfcheine nach beraubt worden 
war, mit zeripaltenem Kopf gefunden, und daß die 
Polizei auf Grund einiger Anhaltspunfte den @Фрщи: 
linihen Fomka, mit dem Fedjka bei Lebaͤdkins zweifel: 


_ 108 zufammen gemordet und angezündet hatte, für den 


Mörder hielt. Dffenbar waren die beiden unterwegs 
in Streit geraten, wegen der von Fedjka bei Lebaͤdkin 
angeblich geraubten und unterjchlagenen großen Summe 
Geldes, die er mit бои а, wie man annahm, noch nicht 
geteilt hatte... Liputin lief noch zu dem Haufe, in dem 
Piotr Stepanomitich wohnte, und erfuhr dort, daß der 
junge Herr, der zwar erft um ein Uhr nachts nach Haufe 
gefommen jei, doch jeelenruhig bis acht Uhr morgens 
in feinem Bett geichlafen habe. Augenfcheinlih mar 
alio an dem plößlichen Tode Fedjkas nichts Ungemöhn: 


liches, zumal ja Banditen meiftens ein ſolches Ende 


885 


nehmen: aber das verhängnisvolle Übereinftimmen der 
Prophezeiung, daß Fedjka an dieſem Abend „zum 
leßtenmal Branntwein getrunfen‘ habe, mit der nadten 
Tatfache feines gewaltſamen Endes, war doch fo ſelt—⸗ 
ſam und unheimlich, dag Liputin plöglich aufhörte uns 
ichlüffig zu fein. 98 er nad) Haufe zurüdfam, fließ er 
mit einem Fußtritt den Neifejad unter den Diman und 
am Abend mar er der erfte auf dem zum Stelloichein 
mit Schatoff angegebenen Platz, allerdings — mit dem 
зав in der Taſche. 


— 





3mwanzigftes Kapitel 
Die Reiſende 


I 


N: Kataftrophe mit Lifa und der Tod Marja Timofe— 
jerunas hatten’ auf Schatoff einen erjchütternden 
und niederdrüdenden Eindruck gemacht. Als ich am 
Morgen mit ihm zufammentraf, erſchien er mir ganz 
verftört. Später ging er zur Mordftätte, um die Leichen 
zu jehen, doch foviel ich weiß, Ш er an dieſem Tage 
weder vernommen worden, noch hat er unaufgefo:dert 
irgend etwas ausgefagt. Uber je mehr der Tag vorrüdte, 
defto mehr quälte er ſich. Es gab da einen Augenblid, 
‚in dem er jchon aufftehen wollte, hingehen und — alles 
jagen. Was diefes „Alles war, das mußte er freilich 
jelbft nicyt genau. Beweiſe befaß er feine; er hatte nur 
feine dunklen Ahnungen, die lediglich zu feiner eigenen 
Überzeugung genügten. Er Бане fchließlich bloß fich 
jelbft angegeben als ehemaliges Mitglied eines geheimen 
Bundes. Doch auch dazu wäre er bereit gewejen, wenn 
er nur in jeinem Sturz diefe „Schurfen” — ſo lautete 
fein eigener Ausdruck — mitgeriffen hätte! 

Piotr Stepanomitich hatte diefen Ausbruch richtig 
vorausgejehen und genau gewußt, mieviel er magte, 
wenn er fein furchtbares Vorhaben auch nur um einen 

Tag hinausſchob. Aber dann hatte ihn Doch wieder fein 


887 


Selbftvertrauen und jeine hoͤhniſche Verachtung für 
„dieſe Leutchen“ zu dem Aufichub beſtimmt. Er würde 
mit diefem unjchlauen Schatoff {фоп fertig werden, 
jagte er jich: er würde ihn einfach diejen ganzen Tag 
über bewachen lafjen und, wenn es not tat, auch früher 
ſchon entjcheidend eingreifen. 

Einftweilen aber rettete Piotr Stepanowitſch und die 
Seinen etwas volllommen Unermwartetes, das niemand 
von ihnen hätte vorausjehen fönnen. 

Gegen acht Uhr abends — gerade als die Unſrigen 
fih bei Erfel verjammelt hatten, auf Piotr Stepanos 
witſch warteten, ſich ärgerten und aufregten — lag 
Schatoff mit Kopfichmerzen und in leichtem Fieber auf 
feinem Bett, in der Dunkelheit, ohne Licht. Er quälte 
jich, entichloß fich, aber konnte ſich immer wieder nicht 
endgültig entichließen: fühlte vielmehr fluchend, daß das 
doch alles zu nichts führen werde. 

Allmählich fchlief er ein. Ihm träumte, daß er in 
jeinem Bett mit Schnüren gebunden jei und fich nicht 
bewegen fönne, indes durch das ganze Haus furchtbare = 
Schläge hallten, Schläge an den Zaun, an die Hoftür, 
an die Wand des Flügels, in dem Kirilloff wohnte —, 
jo daß das ganze Haus zitterte und in feinen Jugen || 
frachte, während zugleich eine ferne, befannte, aber || 
ihn quälende Stimme Flagend jeinen Namen rief. 


Plöglich machte er auf und erhob 14 im Bett. Zu 1 


jeiner Verwunderung dauerten die Schläge an die 
Hoftür immer noch fort, und wenn jie auch пай nicht 
mehr jo überlaut und hallend waren, wie im Traum, jo 
waren fie doch ſtark und heftig genug, und auch die 
ſonderbare quälende Stimme fuhr fort, von Zeit zu Zeit 


888 








ihn von der Pferte ber zu rufen, nur jeßt nicht mehr 
flagend, jondern, im Gegenteil, ungeduldig und де: 
reizt. 

Dazwiſchen hörte er noch eine andere tiefe, brum— 
mige, aber ruhigere Stimme. 

Er ſprang erichroden fofort auf, öffnete das Klappe 
fenfter und ftedte den Kopf hinaus, 

„Der da?“ rief er hinunter. 

„Wenn Sie Schatoff find,” Hang in einem eigen: 
tümlich ftolzen Ton von unten eine Frauenftimme zurüd, 
` „jo haben Sie die Güte, offen und ehrlich zu jagen, ob 
Sie mich hereinlaffen wollen oder nicht?” 

Er hatte diefe Stimme erkannt. 

„Mariel... Bift du es?“ 

„За, gewiß bin ich es, Marja Schatowa. Aber ich 
bin mit einer Drofchfe hier und kann nicht länger —“ 
„Sofort... ich will nur das Licht..." Schatoff 
ſprang eilig und aufgeregt zurüd, begann mit zitternden 
‚ Händen die Streichhölzer зи fuchen, die fich aber, wie ge: 
wöhnlich in ſolchen Fällen, nicht finden ließen, warf 
dabei noch den Leuchter mit dem Licht um, und da von 
unten wieder die ungebduldige Stimme erflang, ließ er 
schließlich alles liegen und ftürzte Hals über Kopf die 
fteile Treppe hinunter, um die Hofpforte zu öffnen. 

„Haben Sie ме Güte, fo lange dieſe Taſche zu halten, 
bis ich dieſen Mann Мег bezahle”, empfing ihn unten 
Frau Marja Schatowa und reichte ihm eine ziemlich 
leichte Handtafhe aus Segeltuh mit Blechbeichlag. 
Sie felbft aber wandte fich gereizt an den Droſchken— 
kutſcher. 

„Sie verlangen viel zu viel. Wenn Sie mich hier eine 


57 Doſtojewski, Die Dämonen. Bd I. 889 


ganze Stunde lang durch diefe fchmußigen Straßen 
gefahren haben, jo find Sie daran jchuld, denn folglich 
haben Sie nicht einmal gewußt, mo мае verdrehte 
Straße eigentlich Ш. Bitte die dreißig Kopefen zu nehmen 
und mir zu glauben, daß Sie weiter nichts erhalten 
werden.” 

„Ach, Fraͤuleinchen, Sie haben mic, doch felbft zuerſt 
in die Wosneſſenskſche Straße befohlen, und viele hier 
ЦЕ die Bogojawlenskſche. Die Wosnefiensfihe mar 
meilenmeit: haben bloß meinen Wallach unnüß in 
Schweiß gebracht.“ 

„Bosnejlensfiche, Bogojawlenskſche, — das ши\еп 
Sie als Einwohner БеЙет wiljen als ich, und zudem irren 
Sie 14: ich habe Ihnen ganz zuerft nur das Filippoffiche 
Haus genannt, und Gie behaupteten, Sie müßten, wo 
dag ſei.“ 

„Hier, bier find noch fünf Kopeken“, damit 309 Schatoff 
fein leßtee Gelöftüd aus der Weftentajche. 

„Bas foll das? Sie werden hier nichts bezahlen!" 
fuhr Frau Schatowa auf, doch der Autjcher feßte ſchon 
jeinen „Wallach” in Bemegung, und Schatoff 309 fie 
an der Hand durch die Pforte auf den Hof und führte 
lie in den finfteren Slur. 

„Schneller, Marie, fchneller... das find Doch lauter 
Nebenſachen und... Wie du паб geworden БИ! Vor: 
jichtig, Мег geht es hinauf — mie ſchade, daß ich das 
Licht nicht... die Treppe iſt fteil, БР dich am Ger 
länder... Nun, Мег, dag Ш meine Stube. Verzeih, 
daß ich fein Licht... Sch werde fofort ...“ 

Er bob im Dunkeln den Leuchter vom Boden auf, 
doch die Streihholzichachtel fonnte er noch immer nicht 


890 











finden, Marja Schatowa ftand folange mitten im Zim— 
mer, fchweigend und ohne ich zu bewegen. 

„Gott fei Dank, endlich! Hier ift fie!” rief er fchließlich 
freudig und zündete das Licht an. 

Marja Schatowa fah fich flüchtig im Zimmer um. 

„Man hat mir zwar ſchon gejagt, daß Sie in einem 
 entjeglichen Zimmer wohnen, aber ich hätte doch nicht 
/ gedacht, daß es fo wäre,” fagte fie launifch und ging zum 
Bett. „Ach, ich bin müde!” und fie fanf fraftlog auf das 
harte Lager. „Bitte, legen Sie die Reifetafche hin und 
{сВеп Sie fich felbf auf einen Stuhl, Oder wie @е 
wollen, nur zappeln Sie mir nicht fo vor den Augen 
herum... Sch bin nur auf kurze Zeit zu Ihnen gefom: 
men, big ich eine Uibeit gefunden habe, denn ich kenne 
Мег niemanden und mein Geld ift zu Ende... Wenn 
ich Ihnen aber läftig falle, jo haben Sie die Güte und 
jagen Sie's bitte gleich! Ich werde morgen irgend 
etwas von meinen Sachen verkaufen, um mir im Saft: 
haus ein Zimmer nehmen zu fönnen... Ab, nur- 
müde bin ich jetzt!“ 
Schatoff erbebte am ganzen Körper, 
Wozu, Marie, das ift doch nicht nötig, nicht nötig, 
du brauchfi nicht ins Gafthaus zu gehen! Was für ein 
Gaſthaus überhaupt? Warum das, wozu?" und flehend 
faltete er die Hände. 
— „хип, wenn man ohne Gaſthaus ausfommen апп, 
_ meinetwegen — aber man muß troßdem die Sache 
_ Harlegen. Sie erinnern fich wohl noch, Schatoff, daß 
wir in Genf zwei Wochen und einige Tage ald Ehepaar 
gelebt haben, vor — nun jind es ſchon drei Fahre, daß 
wir auseinandergegangen find, übrigens ohne befonde: 


57° 891 


ron Streit. Uber denken Sie nur nicht, daß ich gefommen 
bin, um irgendeine der früheren Dummheiten wieder 
zu beginnen! Ich bin nur zurüdgefehrt, um mir eine 
Arbeit zu juchen, und wenn ich gerade in ме Stadt 
ют, nun, jo gejchah es, weil mir heute alles gleich ift. 
ch bin vor allem nicht gefommen, um irgend etwas zu | 
bereuen. Denfen Sie nur das nicht!" | 

„ОБ, Marie! Das Ш doch alles unnötig, gar nicht 
nötig!” ftammelte Schatoff undeutlich. 

„tun, wenn das fo Ш, wenn Sie fo weit gejcheit find, | 
daß Sie das verftehen fönnen, fo will ich mir erlauben 
hinzuzufügen, daß ich, wenn ich jeßt zu Ihnen gefommen 
bin, е8 zum Zeil auch deswegen getan habe, weil ich Sie 
für feinen — gemeinen Menfchen halte, jondern viel⸗ 
leicht fogar für einen viel bejjeren, als die anderen — 
Schurken alle!" 

Ihre Augen blikten auf. @е mußte то viel von 
irgendwelchen „Schurfen“ erlitten haben! 

„sch meine das ganz im Ernft. 34 will mich durchs 
aus nicht etwa über Sie luftig machen, wenn ich Ihnen | 
fage, daß Sie gut find. Sch Бабе es offen gejagt und | 
Schönrednerei пп ıch nicht leiden, das wiſſen Sie. 
Doch was rede ih? Es Ш ja alles Unfinn. Sch habe | 
immer gehofft, daß Sie vernünftig genug fein würden, 
um nicht läftig zu werden... 39, genug, nur müde || 
bin ich!" 

Und fie {аб ihn mit langem, gequältem, muͤdem Blid 
an. Schatoff ſtand vor ihr, fünf Schritte weit, und hörte 
icheu, aber gleichfam erneut, mit einem eigentümlichen | 
Strahlen im Geſicht, mas fie fagte. Diefer Па und | 
rauhe Menſch, der immer wie mit gefträubten Fell 


892 





wirkte, wie ein Rührsmichenichtsan, diefer Menfch wurde 
plößlich ganz weich und wie von innen erhellt. In 
feiner Seele erzitterte etwas ganz Unermwartetes, ganz 
Ungewöhnliches. Drei Jahre Trennung, drei Jahre 
zerrilene Ehe hatten in feinem Herzen nichts zerftört. 
Vielleicht hatte er an jedem Tage diejer drei Jahre an 
Пе gedacht, an diejes teure Weſen, das einft zu ihm ge: 
jagt, daß es ihn „liebe“. Für Schatoff hatte das eine 
Melt bedeutet: für ihn, der fich nicht einmal zu träumen 


‚erlaubt hatte, daß ihm je irgendein Weib jagen fönnte, 


| 


es „Небе“ ihn. Er war keuſch und ſchamhaft bis zur 
Wildheit, hielt ſich für eine Mißgeburt, haßte fein Geſicht 
und feinen Charakter, und verglich fich mit irgendeinem 
Monftrum, das man eigentlich nur auf Sahrmärften 
herumfchleppen und zeigen konnte. Deshalb gab es für 
ihn nichts Heiligeres, ald Wahrheit und Ehrlichkeit, und 
war er in feiner ganzen finfteren, ftolzen, jähzornigen 
und fchmeigfamen Art feinen Überzeuaungen bis zum 


‚ Sanatismus ergeben! Und nun Капо dieſes einzige 
Weſen, das ihn zwei Wochen lang geliebt hatte — daran 


glaubte er immer, immer, — dieſes Wefen, das er fo 
maßlos hoch über fich ftellte, objchon er alle ihre Ver— 
irrungen fannte und ruhig und nüchtern über Пе urteilte: 
dieſes Weſen, dem er alles, aber auch alles verzieh (das 
Папо für ihn einfach außer Trage, ja eher fam es bei ihm 
noch umgefehrt heraus: daß er vor ihr ganz allein der 
Schuldige war), nun fand diefe Frau, dieſe Marja 
Schatowa plößlich wieder vor ihm, er ſah fie wieder in 
jeiner Wohnung... e8 таг faft unmöglich, das zu 
fafien! So überrafcht war er, und es lag für ihn т 


dieſem Ereignis fo viel von etwas unfagbar Furchtbarem, 


893 


und Doch zu gleicher Zeit fo vie! Gluͤck, daß er gar nicht 
recht zur Befinnung fommen fonnte, vielleicht aber auch 
gar nicht wollte. Er ging und ftand wie im Traum, und 
erft, als fie ihn mit diefem gequälten Blick anſah, da 
begriff er ploͤtzlich, daß dieſes einzige geliebte Gefchöpf 
unfäglich gelitten haben mußte. Bei diefem Gedanken | 
legte jein Herzichlag aus. Boll Schmerz und Mitleid jah 
er fie ап: т diefem müden Frauengeſicht war der Glanz 
der erften Jugend fchon erlojhen. Sie mar gewiß 
immer noch ſchoͤn — in feinen Augen immer noch wie 
früher eine Schönheit. (Sn Wirklichkeit war fie fünfund: 


zwanzig Забте alt, ziemlich ftarf gebaut, über mittelgroß — | 


größer als Schatoff —, mit Вгаипет, prachtvollem Haar, | 
Ichmalem, bleichem Geficht und großen dunflen Augen, in 
denen jeßt ein fiebriger Glanz lag.) Uber ме leicht: | 
jinnige, naive und gutmütige frühere Energie, die iht 
großer Zauber geweſen mar, hatte fich in diejen drei 
Jahren in mürrische Reizbarkeit, Enttäufchung und faft 
in Zynismus verwandelt, in einen Zynismus, an den ſie 
fich freilich noch nicht gewöhnt zu haben fchien und der 
Ме felbft fogar quälen mochte. Doch Schatoff {аб vor 
allem, daß fie frank mar. Und troß all feiner Angft 
vor ihr, trat er plößlich zu ihr und erfaßte ihre beiden | 
Hände: | 

„Marie... weißt du... du bift vielleicht ſehr müde, — 
um Gottes willen, {её nicht Бе... Wenn du eins | 
willigen wollteft, zum Beifpiel, ein wenig Tee zu trinfen, | 
wie? Tee erfriſcht doch fehr, richt? Wenn du nur 
wollteft —?“ 

„Bas ИЕ Hier zu wollen? Natürlich will ich! was Sie 
dsch immer noch für ein Kind find! Wenn @е Tee 


894 





haben, fo geben Sie ihn. Wie eng e8 bei Jhnen Ш! 


Wie kalt es hier Ш! 

„Oh, ich werde Sofort Holz... ja, Holz... Holz habe 
ich!“ Schatoff ging hin und Бег, „— Holz — ja, aber... 
das heißt... übrigens auch Tee, fofort!"" Und plößlich, 
wie nach einem harten Entjchluß, fchlug er mit der Hand 
und ergriff feine Müße, 

„Wohin gehen Sie denn? Alſo haben Sie feinen Tee?” 

„Gleich, fofort, fofort wird alles da fein... ich... 

Er nahm feinen Revolver vom Bücherbrett. 

„Sch werde fchnell diefen Revolver verlaufen... oder 
verfeßen ...“ 

„Das für Dummbeiten, und wie lange das dauern 
wird! Nehmen Sie hier mein Geld, wenn @1е nichts 
haben, hier find achtzig Kopefen, glaub ich, — alles, was 
ich befiße. Bei Ihnen ift es ja wie in einer Srrenanftalt. 

„Nicht nötig, nicht nötig, dein Geld, ich werde fofort, 
im идет... ich werde ohne Revolver... 

Und er lief geraden Wegs zu Kirilloff. Das war etwa 


| zwei Stunden vor Piotr Stepanowitſchs und Liputins 


Befuch bei diefem. Schatoff und Kirilloff fahen fich, 
obwohl fie auf demſelben Hof wohnten, faft nie, und auch 
wenn fie fich zufällig einmal trafen, fo grüßten fie fich 
weder, noch [prachen fie ein Wort miteinander: Пе hatten 
zu lange in Amerika nebeneinander „auf dem Fußboden 
gelegen”. 

„Kirilloff, Sie haben immer Зее: fünnen Sie mir 
Tee und einen Samowar geben?” 

Kirilloff, der in feinem Zimmer mieder auf und ab 
ging (gewöhnlich die ganze Nacht aus einer Ede in die 
andere), blieb plößlich fiehen und ſah aufmerkſam 


895 


Schatoff an, jedoch ohne bejondere Verwunderung, 
obgleich Diefer ganz unerwartet hereingeftürzt war. 

„zee ЦЕ da. Zuder auch. Ein Samowar аиф. Aber 
der Samomar ЦЕ nicht nötig, der Tee ift heiß. Setzen Sie 
lich und trinken Sie einfach.” 

„Kirilloff, wir haben beide in Amerika gelegen... 
Meine Frau ЦЕ zu mir gefommen... 34... Geben 
Sie mir Tee... und ich brauche аиф den Samowar.“ 

„Wenn die Frau, jo brauchen Sie den Samomar. 
Uber den Samomar fpäter. Sch habe zwei. Geht nehmen 
Sie die Teelanne vom $14. Heiß, ganz heiß. Nehmen 
Sie alles, nehmen Sie Zuder, den ganzen. Brot... 
Brot ЦЕ viel da, nehmen Sie alles Brot. Habe auch 
Kalbsbraten. Geld einen Rubel.” 

„Gib mir, Freund, ich gebe es dir morgen wieder! 
Ach, Kirilloff!“ 

„Das iſt die Frau, die von der Schweiz? Das iſt gut. 
Und das, daß Sie zu mir gekommen ſind, iſt auch gut.“ 

„Kirilloff!“ rief Schatoff, der die Teekanne in den Arm 
nahm und in die Hände Zucker und Brot: „Kirilloff! 
Denn Sie... wenn Sie fich doch von Ihren fchredlichen 
Phantafien losjagen und Ihren atheiftiichen Wahnfinn 
laffen fönnten ... mas würden Sie dann für ein Menich 
ſein, Kirilloff !" 

„sch fehe, Sie lieben Ihre Frau nach der Schweiz. 
Das ИЕ gut, falls nach der Schweiz. Wenn Sie поф Tee 
brauchen, fommen Sie wieder. Kommen Sie die ganze | 
Nacht, ich Ichlafe nicht. Der Samomar wird heiß fein. 
Nehmen Sie den Rubel, hier. Gehen Sie zur Frau, ich 
werde bleiben und werde an Sie und Ihre Frau denken.” 

Зака Schatowa ſchien mit der Schnelligkeit, mit der 


896 





Schatoff alles bejorgt hatte, zufrieden зи jein und machte 
jich haftig an den Зее. Doch trank fie nur eine halbe Zaffe, 
und aß nur ein Heines Stüdchen vom Brot. Für den 
von Kirilloff angebotenen Kalbsbraten dankte fie mit 
gereizter Kaunenhaftigfeit. 

„Du bift frank, Marie, das Ш alles fo Кап баН an 
dir...” bemerkte Schatoff ſchuͤchtern; fcheu bemüht, ihr 
zu dienen. 

„Natuͤrlich bin ich krank; bitte, jeßen Sie |9. Wo 
haben Sie den Tee hergenommen, da Sie feinen hatten?” 

Schatoff erzählte kurz von Kirilloff. Sie hatte von 
dieſem ſchon einiges gehört. 

„Sch weiß, daß er verrüdt ИЕ; bitte, von was anderem; 
als ob es nicht genug Toren gäbe! Фо waren @е in 
Umerifa? Sch habe davon gehört, Ste haben von dort 
geſchrieben.“ 

„За, ich .. Бабе nach Paris geſchrieben.“ 

„Genug, und bitte von was anderem. Sie ſind aus 
Überzeugung Slawophile?“ 

„Sch... Das heißt, nicht daß ich gerade... Infolge 
der Unmöglichkeit, Ruffe zu fein, bin ich Slamophile ge: 
worden,” fagte er, gezwungen lächelnd, mit der Schwer— 
fälligfeit eines Menfchen, der zur unrechten Zeit und nur 
mit genauer Not einen Witz zuftande bringt. 

„Ste find nicht Ruſſe?“ 

„Nein, ich bin nicht Ruſſe.“ 

„un, das find alles Dummbeiten. Setzen Sie fich 
doch endlich, ich bitte Sie. Was laufen Sie immer hin 
und her? Sie denken, ich phantafiere? Vielleicht werde 
ich аиф phantafieren. Sie jagen, е8 gibt hier nur Sie 
und ihn im Haufe?” 


897 


„За, nur wir zwei... und unten wohnte...” 

„Und alles jolche Kluge! Wer wohnte unten? Sie 
fagten ‚unten‘ ?" 

„Jetzt nicht mehr... 

„Bas, ‚jeßt nicht mehr‘? Sch will es miffen.” 

„sch wollte nur fagen, daß jeßt nur wir zwei Мег 
wohnen, unten aber wohnten früher Lebaͤdkins ...“ 

„Das find die, die man heute Nacht ermordet hat?” 
fuhr пе plößli auf. „Sch hörte davon. Wie ich ankam, 
hörte ich davon. Und dann hat eg gebrannt?” 

„за, Marie, ja, und vielleicht begehe ich eine furcht— 
bare Erbärmlichfeit in меет Augenblid, wenn ich dieſe 
Schurken ungeftraft laffe.. .” 

Er war aufgeftanden und fchritt wie ein Verzweifeln— 
der mit erhobenen Urmen durch das Zimmer. 

Aber Marie verftand ihm nicht ganz. Sie war zu zer: 
ftreut. Sie fragte mehr, als daß fie zuhörte. 

„за, ſchoͤne Sachen fpielen fich hier bei euch ab. Ach, 
wie Das alles aemein Ш! Was für Schurken fie alle find! 
Uber fo {сВеп Sie fich doch, ich bitte Sie, endlich ein- 
mal! — oh, wie Sie mich reizen!" 

Und erschöpft fenkte fie den Kopf auf das Kiffen. 

„Marie, ich werde ja nicht... Du legft dich vielleicht 
ein wenig hin, Marie?” 

Sie antwortete nicht und fchloß nur übermüdet die 
Augen. @е fchlief Гай fofort ein. Ihr bleiches Geficht 
{ah in diefem Augenblid wie das einer Toten aus. Sche: 
toff ſah fih im Zimmer um, fette das Licht fefter in den 
Leuchter, jah noch einmal unruhig auf ihr Antlitz, preßte 
feft die Hände vor fih zufammen und ging dann leije 
auf den Fußſpitzen aus dem Zimmer in den Zreppenflur. 


4 


898 





Dort ftellie er fich mit dem Geſicht in eine Ede, ftüßte 
die Stirn an die Wand und ftand fo zehn Minuten lang 
reglos. Er hätte wohl noch länger fo geftanden, doch 
plößlich vernahm er unten auf der Зхерре leife, vor: 
fichtige Schritte, 

Semand ат die Treppe herauf. 

Schatoff erinnerte fich, daß er die Hofpforte zu fchließen 
vergeflen hatte. 

„Ber da?" fragte er verhalten. 

Der Unbefannte ftieg langjam höher, ohne zu ап 
worten. Als er oben angelangt war, blieb er ftehen. Ihn 
zu erkennen war in der Dunfelheit unmöglich. Ploͤtzlich 
hörte man die vorJichtige Frage: 

„Swan Schatofj?" 

Schatoff nannte feinen Namen und ftredte ſchnell den 
Arm aus, um dem Fremden den Meg zu veriegen; 
diefer aber griff nach feiner Hand und — ш derjelben 
Sekunde fuhr Schatoff aufammen, als hätte er ein Neptil 
berührt. 

„Barten Sie hier,” flüfterte er fchnell, „Eommen ©ie 
nicht herein, ich kann Sie jeßt nicht empfangen. Meine 
Frau Ш angefommen. Sch bringe das Kicht her. 

318 er mit dem Licht zurüdfehrte, fah er einen jungen 
Faͤhnrich vor fich ftehen, deffen Namen er nicht fannte, 
deſſen Geſicht er aber ſchon einmal irgendwo gejehen 
haben mußte. 

„Erkel,“ ftellte fih der Süngling vor. „Sie haben 
mich bei Wirginsfi gefehen.” 

„sch erinnere mich; Sie faßen und fchrieben. Hören 
Sie," braufte Schatoff plößlich auf, wild und wütend auf 
den Sungen zufchreitend, wenn er auch die Stimme 


899 


immer noch dämpfte. „Sie haben beim Händedrud ein 
Zeichen gemacht. Wiſſen Sie, daß ich auf alle мее 
Zeichen einfach |риёе! 34 erfenne fie nicht an... mill 
пе nicht... Ich Fönnte Sie gleich die Treppe hinunter 
werfen, willen Sie das auch .. .!" 

„Лет, das weiß ich gar nicht, und ich verftehe auch gar 
nicht, warum @е fich fo ärgern,” fagte der Gaft ganz 
ungefränkt und faft gutmütig. „Sch joll Ihnen nur etwas 
mitteilen, und darum bin ich gleich heute gefommen, 
um nicht unnüß Zeit zu verlieren. Sie haben eine Drud- 
mafchine, die nicht Ihnen gehört und über deren Зет: 
bleib Sie Rechenichaft zu geben verpflichtet find, mie 
Sie wohl jelbit willen werden. Man bat mich nun Бе 
auftragt, von Ihnen zu verlangen, diefe Druckmaſchine 
morgen um Punkt fieben Uhr abends Liputin zu über: 
geben. Und außerdem hat man mich beauftragt, Ihnen 
ınitzuteilen, daß man meiter nichts mehr von Ihnen 
verlangen wird.” 

„Nichts mehr? Hat man das ausdrüdlich —?“ 

„Nicht das geringite. Ihre Bitte wird erfüllt und Sie 
iind von jeßt ab für immer ausgefchlofjen. Diejes Ihnen 
mitzuteilen, hat man mich, wie gejagt, beauftragt.” 

„Ber hat Sie beauftragt?” 

„Die, die mir das Zeichen mitteilten.‘ 

„Kommen Sie aus dem Auslande?” 

ei das kann Ihnen, glaube ich, gleichgültig 
fein.” 

„Eh, zum Teufel! Aber warum find Sie nicht fruͤher 
gekommen, wenn Sie beauftragt waren?“ 

„Sch folgte den Inſtruktionen und ich war nicht allein.” 

„Verſtehe, verftehe ſchon, Sie waren nicht allein. 


900 





Eh... Teufel! Aber warum ift denn Liputin nicht felbft 
gekommen?“ 

Der Faͤhnrich uͤberhoͤrte die Frage. 

„So werde ich denn morgen um ſechs zu Ihnen 
kommen und wir gehen dann zu Fuß — dorthin. Außer 
uns dreien wird niemand da ſein.“ 

„Werchowenski auch nicht?“ 

„Nein. Werchowenski faͤhrt morgen vormittag mit 
dem Elfuhrzuge fort.“ 

„Dachte ich es mir doch!“ murmelte Schatoff knirſchend 
und ſchlug ſich mit der Fauſt aufs Bein. „Er zieht los, 
die Kanaille!“ 

Er dachte einen Augenblick erregt nach. Erkel ſah ihn 
aufmerkſam an, ſchwieg und wartete. 

„Wie wollen Sie denn die ganze Druckerpreſſe weg: 
Ihaffen? Фо etwas fann man doch nicht einfach aus— 
graben und in der Hand forttragen.” 

„Das ift auch gar nicht nötig. Sie zeigen ung nur die 
Stelle und wir überzeugen uns, ob fie wirklich dort ver: 
graben Ш. Wir wiſſen doch nur im allgemeinen, wo der 
Drt ИЕ, aber nicht genau, an welcher Stelle, Haben Sie 
jonft jemandem die Stelle gezeigt?" 

Schatoff jah ihn ап. 

„Und Sie, Öie, 16146 ein Knabe, — folch ein dummer 
fleiner Knabe, — auch Sie find mit dem Kopf in dieſe 
Falle gefrochen, wie ein richtiges Schaf? Aber mas! — 
die brauchen ja gerade folchen Saft! Nun, gehen Sie! 
E—eeh! diefer Schuft! diefer! — Er hat euch alle Бе: 
trogen und nun macht er ſich jelbft aus dem Staube!“ 

Erfel {аб ihn Нат und ruhig an, aber als verftehe er 


ihn nicht ganz. 
901 


„Werchowenski geflohen! Alſo richtig geflohen!" 
fnirichte Schatoff voll Ingrimm. 

„Aber er ift ja noch hier, er ift ja noch gar nicht Роге 
gefahren. Er wird ей morgen fortfahren,” bemerfte 
Erfel weich und begütigend. „Sch forderte ihn ausdruͤck— 
lich auf, als Zeuge bei der Übergabe zugegen zu fein; an 
ihn ging auch meine ganze Inſtruktion,“ plauderte er 
alg junger unerfahrener Knabe aus. „Uber er willigie 
leider nicht ein, und dabei jagte er dann, daß er in diejen 
Tagen fortfahren тие.” 

Schatoff blidte noch einmal mitleidig auf den naiven 
armen Jungen und ſchlug dann mit der Hand, als voollte 
er jagen: „Lohnt es jich denn überhaupt, daß man fie 
bedauert?” 

„Gut, ich komme,“ fagte er plößlich Furz, „aber gehen 
Sie jeßt, marſch!“ 

„fo ich werde Sie morgen um Punft ſechs abholen‘, 
fagte Erfel nochmals, grüßte dann höflich und Мед, ohne 
йа) zu beeilen, die Treppe hinunter. 

„Kleiner Dummkopf!“ fonnte 14 Schatoff nicht ent= 
halten, ihm nachzurufen. 

„Wie?“ fragte der andere ſchon von unten zurüd. 

„Nichts, gehen Sie.” 

„sch dachte, Sie ſagten noch etwas.” 


И 
Grfel war nur infofern ein „Dummkopf“, als der 
Hauptverftand in feinem Kopfe fehlte, eben der, auf den 
es anfommt, fozujagen der Kopf im Kopfe; doch von 
dem Fleineren, dem untergeordneten Berftande hatte er 
eine ganze Menge, ſogar fo viel, daß diejer fchon an 


902 


—>  -— > 





. 


er — — >. 


Schlauheit grenzte. Fanatifch, findlich der „allgemeinen 
Sache” ergeben, im Grunde aber nur Pjotr Wercho: 
wengfi, hatte Erfel den Auftrag nach der Snftruftion 
ausgeführt, die ihm bei der Verieilung der Rollen ет: 
teilt worden war. Pjotr Stepanowitſch hatte fich näm: 
lih an jenem Ubend, nachdem er ihm die Rolle des 
Ubgefantten zugemiefen, noch die Zeit genommen, 
ungefähr zehn Minuten mit ihm unbelaufcht zu fprechen. 
Sie waren zu dem Zwed zur Seite getreten. Erfels 
ganzer Ehrgeiz ging dahin, der „allgemeinen Sache” zu 
‚dienen, und um ihretwillen ordnete er fich blind jedem 
fremden Willen unter. Da nun aber folche Sürglinge, 
име er, 11 das Einer-Sachesdienen immer nur in Зет: 
bindung mit einer beftimmten Perfon vorftellen Fönnen, 
die ihrer Meinung nach die Idee dieſer Sache repräfen: 
tiert, fo richtete fich fein Wille fchließlich ganz nach dem 
Piotr Stepanowitſchs. Erfel, der gefühlsclle, freundliche 
und gute Erfel, war vielleicht der Fältefte und gefühl: 
‚Iofefte unter den Mördern, mit denen Werchowenski 
Schatoff umftellt Hatte. Ohne jeglichen perfönlichen 
Haß, aber auch ohne mit der Wimper zu zuden, hätte ex 
an defien Ermordung teilgenommen, 

6$ war ihm unter anderem anbefchlen worden, bei 
der Überbringung feiner Botfchaft an Schatoff die 
Umgebung desjelben gut zu muftern: als ihn nun Schatoff 
auf der Treppe empfing und ihm in der Aufregung пи 
teilte — wahrſcheinlich ganz unwillfürlich —, daß feine 
Frau zurüdgefehrt fei, da war Erfeis inftinftive Schlau: 
heit groß genug, um ihm fofort zu fagen, daß er hier nicht 
die geringfte Neugier meiter zeigen dürfe, während er 
gleichzeitig blisichnell begriff, von welcher ungeheuren 


908 


Bedeutung die Rüdfehr diejer Frau für das Gelingen 
oder Nichtgelingen ihres Vorhabens fein fonnte... 

Mit dem letzteren jollte er nur zu recht haben: Marja 
Ignatjewnas Nüdfehr rettete geradezu die „Schurken“, 
da Пе Schatoff von jenen gefährlihen Gedanken ab: 
lenfte, und half ihnen noch, jich feiner zu „entledigen” ... 
Dieje plögliche Ankunft feiner Frau regte ihn maßlos auf, 
warf jeine Gedanken in ganz neue Gleiſe und ließ ihn 
für fich felbft jede DVorficht vergejfen. Sa, gerade der 
Gedanke an jeine eigene Gefahr ют ihm jeßt, wo er 
mit jo ganz anderem bejchäftigt war, am allerwenigjften 
in den Sinn. Im Gegenteil, die Nachricht, рав Wercho— 
wenski am nächiten Tage fliehen werde, beruhigte ihn 
in der Beziehung vollitändig. Und an der Richtigkeit 
diefer Nachricht zweifelte er um jo meniger, als fie 
andererjeits jeinen Verdacht vollkommen beftätigte. 

Nachdem er in das Zimmer zurüdgefehrt war, ſetzte 
er ſich ftill in eine Ede, ftüßte die Ellenbogen auf die 
Knie und vergrub fein Gejicht in den Händen. Bittere 
Gedanken quälten ihn... 

Und plößlich hob er den Kopf, ftand auf und ging auf 
den Fußſpitzen zum Bett, um fie zu jehen. 

„Herrgott! Sie wird doch morgen beftimmt erkranken, 
es hat ja jeßt jchon angefangen! Sie hat fich natürlich 
auf der Neije erfältet. Wie follte Ме auch nicht! — Ш 
fie doch gar nicht mehr an unfer rauhes Klima gewöhnt! | 
Und dann die Waggons, dazu noch die dritte Klafje, und 
draußen Sturm und Negen. Dabei hat fie nur jo ein 
leichtes Mäntelchen an! Und fie jollte ich nun verlajien, 
jo allein hier laſſen, ohne jede Hilfe? Und ihr Reijes 
täjchchen, wie leicht und klein das ift, wiegt ja feine 


904 








zehn Pfund! Die Arme, wie erjchöpft fie ift, wie viel 
fie ertragen hat! Sie ift ſtolz, darum klagt fie nicht! 
Uber erbittert, erbittert ЦЕ fie! Kommt noch die Kranf- 
heit hinzu — ſelbſt ein Engel ift in der Krankheit gereizt! 
Wie troden und heiß jeßt ihre Stirn fein muß, mas für 
Schatten unter den Augen liegen und... und wie jchön 
diejes ovale Geſicht ift und dieſes herrliche Haar, иле..." 

Uber er wandte fchnell die Augen von ihr, ging eilig 
in feine Ede zurüd, wie erfchroden jchon bei dem bloßen 
Gedanken, in ihr etwas anderes zu ſehen, als ein uns 
glüdliches, gequältes Weſen, dem er helfen mußte. 

„Bas find das Мег für Hoffnungen! Oh, wie 
niedrig, wie gemein der Menfch doch ЦЕ 

Er jeßte fich wieder, vergrub wieder das Geſicht in 
den Händen und begann zu denken, ließ Erinnerungen 
an fich vorüberziehen... und wieder träumte er von 
Hoffnungen. 

„ch, müde bin ich, müde!” fiel ihm ihr Ausruf, ihre 
ſchwache Кате Stimme ein. „Herrgott! име follte ich 
пе denn jeßt verlajjen — achtzig Kopelen ihr ganzes 
Geld! Gleich hielt fie ihr Beutelchen hin, wie Hein, wie 
alt es war!.. ЭЙ hergelommen, um zu arbeiten, zu 
verdienen, eine Stelle zu ифеп — was weiß fie denn 
von Stellen, was weiß fie denn von Rußland! Das Ш 
doch alles wie bei flörrifchen Fleinen Kindchen, alles 
eigene Phantafie, alles frei erdacht; und nun ärgert fie 
fich, ме Arme, warum Rußland nicht ihren ausländifchen 
Illuſionen gleicht! Oh, ihr Unglüdlichen, ob, ihr Uns 
Ichuldigen!.. Aber hier Ш es wirklich Ealt.. 

Und er erinnerte fich plößlich, daß fie über Kälte ge— 
Hagt und er ihr veriprochen hatte, einzuheizen. 


58 Dostojew3ti, Die Dimonen. 35. II. 905 


„Holz ift bier, das fönnte ich hereinholen, aber wenn 
fie dabei aufmacht? Es wird fchon gehen! Aber име 
wird es nun mit dem Kalbsbraten? Sie wird auf 
wachen und dann vielleicht doch eſſen wollen... Nun, 
das раки! Kirilloff jchlaft die ganze Nacht nicht. Aber 
womit fönnte ich fie nur zudeden, fie jchläft {о ей! Und 
fie wird es beftimmt kalt haben, beftimmt kalt!“ 

Er trat noch einmal leije zu ihr: der Kleiderrod hatte 
jich ein wenig verfchoben und ihr Bein таг ай bis zum 
Knie unbededt. Schatoff jah erfchroden weg, zog dann 
ichnell feinen warmen Mantel aus und breitete ihn, 
bemüht, nichts zu ſehen, über die entblößte Stelle. Er 
jelbft blieb in einem dünnen alten оф. 

Das vorfichtige Anheizen des Dfens, das leife Herum: 
gehen auf den би реп, das Betrachten der Schlafen: 
den, das Denken in der Ede — all das nahm viel Zeit 
in Anſpruch. Es vergingen zmei, drei Stunden. Зиг 
zwifchen waren Werchowensfi und Lipufin auf dem 
Schleichwege zu Kirilloff gefommen und hatten ihn auf 
demielben Wege ſchon wieder verlafjen. Endlich fchlum: 
merte auch Schatoff in feiner Ede ет. Da ftöhnte ſie 
ВИ: fie erwachte und rief ihn. Er jprang wie ein 
Verbrecher auf. 

„Marie! Sch war eingeichlafen... fei nicht 658, 
Marie. Ach, wie gemein ich bin, Marie!" | 

Sie hatte fich ein wenig erhoben, {аб fich verjchlafen 
und erftaunt um, als ob fie noch gar nicht recht begriff, 
wo fie ſich befand, doch plößlich fuhr fie unmillig, zornig 
auf. 

„sch habe Ihr Bett eingenommen, ich bin vor Müdig- 
feit einfach jo eingejchlafen.... Warum haben Sie das 


906 











zugelajien? Warum haben Sie mich nicht fofort auf: 
gewedt? Wie haben Sie gewagt zu denken, daß ich 
Ihnen zur Laft fallen will?” 

„Wie hätte ich dich denn aufweden fünnen, Marie?” 

„Es war Jhre Pflicht, mich aufzumeden! Für Sie 
Ш Мег fein zweites Bett und ich habe Ihr Bett ein: 
genommen. ie hätten mich nicht in dieje falſche Situa— 
tion bringen jollen. Oder glauben Sie, daß ich ge: 
fommen bin, um Ihre Wohltaten auszunußen? Gie 
werden ſich fofort auf Ihr Bett legen, — und ich lege 
mich in der Ede auf ein paar Stühle..." 

„Marie, ich habe Мег gar nicht fo viel Stühle und 
es ift auch nichts da, was ich unterbreiten koͤnnte!“ 

„Nun, dann einfach auf die Diele. Sie müßten ja 
ſonſt jelbft auf der Diele jchlafen. Sch will mich auf 
die Diele legen, ſofort, ſofort!“ 

Sie erhob 4 und wollte einen Schritt vorwärts 
treten, Doch plößlich nahm ein unerträglicher frampf: 
artiger Schmerz ihr alle Kraft und alle Entjchloffenheit 
und fie ſank laut aufftöhnend aufs Bett zurüd. Schatoff 
lief erichroden zu ihr, und Marie, ме ihr Geficht im 
Kiffen verbarg, ergriff feine Hand und prefte und bog 
feine Hand wie im Krampf in ihren Händen. 

So verging eine ganze Minute. 

„Marie, Liebling, hier ift ein Doktor Frenzel, ich kenne 
ihn, fogar fehr gut... Sch werde zu ihm laufen, 
wie?” 

„Unſinn!“ 

„Warum Unſinn? Sage, Marie, was tut dir denn 
weh?... Sonſt koͤnnte man auch einen heißen Umſchlag 
machen... vielleicht auf den Magen, zum Beijpiel... 


58* 907 


Das verftehe ich auch ohne Doktor... Oder ein Senf: 
pflaſter ...“ 

„Was?“ fragte ſie verwundert und ſah ihn, den Kopf 
leicht erhebend, erſchrocken an. 

„Das heißt, was denn, Marie?“ fragte Schatoff, der 
fie nicht verſtand. „Was fragſt vu? O Gott, ich rede 
vielleicht wirklich Unſinn! Marie, vergib, aber ich kann 
nichts verſtehen ...“ 

„Ach, laſſen Sie mich, das geht Sie auch gar nichts 
an... das zu verſtehen ... Wäre ja auch nur komiſch!“ 
und fie lachte Bitter auf. „Erzählen Sie mir irgend 
etwas. Gehen Sie im Zimmer herum und fprechen Sie. 
Stehen Sie nicht bei mir und fehen Sie mich nicht an, 
darum bitte ich Sie ganz befonders — fchon zum fünf: 
bundertitenmal!” 

Schatoff begann auf und ab zu gehen, ſah zu Boden 
und ftrengte fich mit aller Фета an, nicht zu ihr hin: 
zufehen. 

„Hier — fei nicht БЫе, Marie, ich Небе dich an —, _ 
bier unten ift Kalbsbraten, nicht weit, und Tee... Du 
haft vorhin fo wenig gegeflen ...“ | 

Sie winkte eigenfinnig und geärgert mit der Hand ab. 

Schatoff МВ ſich in Verzweiflung auf die Lippe. 

„Hören Sie, ich habe die Abficht, Мег in der Stadt 
eine Buchbinderei zu eröffnen. Mit Teilhabern. Da 
Sie hier leben und die Verhältniffe fennen, fo fagen _ 
Sie mir, mas Sie dazu meinen: wird es fich lohnen 
oder nicht" 

„Ach, Marie, bei uns lieft man doch Feine Bücher. 
Und es gibt ja auch gar feine! Wie foll er jich denn da 
Bücher einbinden laſſen?“ 


908 





„Ber ‚Eri" 

„Der hiefige Leſer, der hiejige Einwohner überhaupt, 
Marie,” 

„So Iprechen Sie doch verftändlich! Denn was heißt 
das: ‚er! — wer aber diejer ‚er‘ Ш — Ш mir uns 
befannt. Sie kennen die Grammatik nicht mehr.” 

„Das war doch im Geiſte der Sprache... Marie”, 
murmelte Schatoff. 

„ch, gehen Ste mir mit Ihrem Geift! Habe das 
fatt. Warum würde denn der Мейде Leſer oder Ein: 
wohner nicht einbinden laſſen?“ 

„Weil, ein Buch {еп und ein Buch einbinden laſſen — 
zwei ganz verjchiedene Zeiten der Entwidlung find, und 
zwar zwei riejig große. Zuerft lernt er allmählich dag 
Lefen, in Jahrhunderten natürlich, aber затей und 
vernachläfligt das Buch, da er её noch nicht für eine 
сте Sache hält. Ein Buch aber einbinden laſſen, 
heißt fchon das Buch achten, bedeutet, daß er nicht nur 
das Lejen lieben gelernt hat, jondern auch а eine 
große Sache anerkennt. Bis zu мег Periode ift Ruß: 
land noch nicht gefommen. Europa bindet fchon lange 
ein.” 

„Das Ш, wenn auch pedantifch ausgedrüdt, Doch 
nicht Dumm gedacht und erinnert mich an die Zeit von 
vor drei Jahren. Sie konnten zumeilen ganz geiftreic) 
fein, vor drei Jahren.” 

Sie jagte das ebenſo gereizt, wie alle ihre früheren 
eigenlinnigen Phraſen. 

„Marie, Marie,” wandte ſich Schatoff gerührt zu ihr, 
„oh, Marie! Wenn du mwüßteft, mas alles in diefen drei 
Jahren vergangen und verſchwunden ift! Sch hörte, 


909 


daß du mich fpäter verachtet haben jollft, weil ich meine 
Überzeugungen geändert habe! Aber was habe ich denn 
fortgemworfen? Doch nur die Feinde des lebendigen 
Lebens, veraltete Xiberale, Ме fich vor perfönlicher 
Unabhängigkeit fürchten, die Lakaien der Gedanken, 
Feinde der Perjönlichkeit und Freiheit, Ме altersſchwachen 
Anpreifer des Toten und der ftinfenden Verweſung! 
Was fteht denn hinter ihnen? — doch nur Ötreifenhaftig: 
feit, ме goldene Mittelmäßigfeit, Iipießerhaftefte, er: 
bärmlichfte Unbegabtheit, neidiiche Gleichheit, Gleich: 
heit ohne perjönlihe Würde, eine Gleichheit, wie ein 
Lakai fie begreift, oder höchitens wie ein Franzoſe von 
dreiundneungig fie begriff... Doc die Hauptjache: 
überall find Schurken, Schurken und Schurken !" 

„За, Schurfen gibt eg viele”, fagte fie Furz. 

Sie lag ausgeftredt auf dem Bett, ein wenig auf der 
Seite, reglos, als fürchte fie, fich zu bewegen, den Kopf 
auf dem Kifjen zurüdgebogen, und ſah mit müdem, Doch 
heißem ЗН auf die Zimmerdede. Ihr Geſicht war 
bleich, ihre Lippen troden und heiß. 

„Du ftimmft mir bei, Marie, du flimmft mir bei?” 
rief Schatoff aus. 

Sie wollte den Kopf fchütteln zum Zeichen der Ber: 
neinung, doch plößlich wurde Пе wieder von einem 
Krampf erfaßt. Wieder verbarg Пе das Geficht in dem 
Kiffen und wieder preßte Пе mit aller Kraft die Hand 
Schatoffs, der, außer fick vor Angft, zu ihr дения 
war. 

„Marie, Marie! Aber das ift vielleicht etwas furchtbar 
Ernites, Marie!” 

„Schweigen Sie... Sch mill nicht, ich will nicht, 


910 





ich will nicht!" rief fie faſt jähzornig und drehte den 


Kopf auf dem Kiffen, daß nun wieder ihr Geficht zu 
feben war. „Wagen @е es nicht, mich mit Ihrem 
Mitleid anzufehen! Gehen Sie im Zimmer herum und 
iprechen Sie, Iprechen Sie!" 

Schatoff ging wieder auf und ab und gab fich ver: 
zweifelte Mühe, nur von Gleichgültigem zu Iprechen, 

„Womit bejchäftigen Sie fich hier?” fragte fte, mit 
gereizter Ungeduld ihn unterbrechend. 

„Sch arbeite bei einem Kaufmann im Kontor. Wenn 
ich wollte, Marie, könnte ich hier ganz gutes Geld ver: 
dienen. 

„Defto beſſer für Sie..." 

„Ach, dene nur nicht, Marie, ich... ich babe das 
nur jo geſagt ...“ 

„Und was tun Sie denn fonft noch? Was predigen 
Sie denn jeßt? Sie können doch nicht anders, als pre= 
digen. Das gehört ſchon einmal zu Ihrem Charakter !! 

„Sch predige Gott, Marie,“ 

„An den Sie felbft nicht glauben. Dieje Зее habe 
ich nie begreifen koͤnnen.“ 

„Laſſen wir das, Marie, davon fönnen mir fpäter 
ſprechen.“ 

„Was war dieſe Marja Timofejewna hier?“ 

„Davon wollen wir auch ſpaͤter ſprechen, Marie.“ 

„Wagen Sie es nicht, mir ſolche Bemerkungen zu 
machen! Sit es wahr, daß ihr Tod ein Verbrechen... 
diefer Menſchen ЦЕ?” 

„aweifellos”, preßte Schatoff durch die Zähne hervor. 

Marie erhob plößlich den Kopf und rief Мат бай 
erregt: 


911 


„Задеп Sie es nie mehr, mir davon zu jprechen, nie 
mehr, nie mehr!" 

Und wieder fiel fie zurüd, wieder übermannt von einem 
rampfartigen Schmerz. Das шах jchon der dritte Anfall. 
Ihr Geftöhn wurde lauter — laut bis zum Gefchrei. 

„O @е unerträgliher Menſch! O Sie entfeglicher 
Menſch!“ Sie warf fich hin und her, fie ftieß erbarmungs= 
los Schatoff fort, der am Bett ftand und fich über fie 
beugte. 

„Marie, ich werde alles tun, was du willſt ... ich werde 
gehen... ſprechen ...“ 

„Ja, ſehen Sie denn wirklich nicht, was begonnen hat!“ 

„Was bat begonnen, Marie?“ 

„Ach, wie ſoll ich es wiſſen! Weiß ich denn etwas 
davon?.. Dh, verfl...! Ob... im voraus ſei ſchon 
alles verflucht !“ | 

„Marie, wenn du nur jagen wollteft, mag begonnen 
bat... denn fonit... wie foll ich denn jonft etwas ver: 
ſtehen?“ 

„Sie find ein abſtrakter Schmäßer... Ob... alles 
... alles fei verflucht ! 

„Marie! Marie! 

Er begann fchon ernftlich zu befürchten, daß fie wahn⸗ 
finnig gemorden jei. 

Da richtete fie fich plößlich halb auf und ſah ihn mit 
furchtbarer, krankhafter, ihr Geſicht entitellender Wut ап: 

„За, fehen Sie denn noch immer nicht, daß ich mich 
in Geburtswehen quäle? Mag es im voraus verflucht 
тет, dieſes Kind!" 

„Marie, rief Schatoff, der jet endlich begriff, um mas 
e8 fich handelte. „Marie... Warum haft du das nicht 


912 





gleich geſagt?“ Er befann fich ſofort, und plößlich ergriff 
er in energijcher Entjchlojfenheit feine Muͤtze. 

„Wußte ich es denn, als ich hier eintrat? Wäre ich 
denn fonft zu Ahnen gefommen? Man fagte mir: ей 
nach zehn Tagen! Uber wohin gehen Sie denn, wohin 
wollen Sie, unterftehen Sie fich nicht!“ ... 

„Nach der Hebamme! Ich verfaufe den Revolver: 
ganz zuerft muß jeßt Geld —!“ 

„DBagen Sie es nicht, unterftehen Sie fich nicht, nach 
der Hebamme zu gehen, einfach ein Weib, irgendeine 
Alte, ich habe noch achtzig Kopeken im Geldbeutel... 
Bauernmweiber gebären Doch ohne fremde ЭШе... 
Und frepiere ich, um fo beſſer ...“ 

„Das Weib fchaffe ich zur Stelle, eine Alte gleichfalls. 
Nur wie... wie foll ich, Herrgott, wie foll ich dich fo 
сет laffen, Marie?” 

Doch er ſagte jich, daß е8 immerhin beffer war, fie jeßt 
allein zu laſſen, als fpäter ohne Hilfe zu fein, und er 
eilte wie geheßt die Treppe hinunter. 


III 

Ganz zuerft lief er zu Kirilloff. Es war |фоп gegen 
ein Uhr nachts. Kirilloff ftand mitten im Zimmer. 

„Kirilloff, meine Frau gebiert!"” 

„Das heißt, wie?" 

„Sie gebiert, fie gebiert ein Kind!” 

„Sie... täuschen jich auch nicht" 

„O nein, nein, {е hat ſchon Krämpfe!... Sie braudt 
ein Weib, irgendeine Alte, unbedingt, fofort... Kann 
man jie befommen? Sie hatten hier Doch immer viele 
alte Weiber...” 


913 


„Sehr ſchade, daß ich nicht zu gebären verftehe," fagte 
Kirilloff ernft und nachdenklich, „Das beißt, nicht ich 
gebären, aber jo zu machen, daß ich nicht zu gebären 
verſtehe . . oder... Nein, das verftehe ich jchon nicht 
zu Jagen.“ 

„Sie wollen wohl jagen, daß Sie bei der Geburt 
nicht zu helfen verftehen? Aber davon jpreche ich ja nicht! 
Eine Alte, ein altes Weib, ich bitte Sie um ein altes Weib, 
eine Kranfenwärterin, Pflegerin, Aufmwärterin № 

„Die Alte wird da fein, nur vielleicht nicht gleich. 
Wenn Sie wollen, werde ich anſtatt ...“ 

„Unmöglich! — ich laufe jeßt zur Wirginsfaja, zur 
Hebamme... 

„Gemeines Frauenzimmer.” 

„За, Kirilloff, ja, aber fie Ш die Бейе! O ja, das 
wird alles ohne Ehrfurcht, ohne Freude, mürrifch, mit 
Geſchimpf und Gottesläfterungen gejchehen — bei einem 
jo großen, heiligen Geheimnis, wie её die Geburt eines 
neuen Menichen Ш!... Ob, und Ме — fie verflucht 
das Kind ſchon jetzt! ...“ 

„Wenn Sie wollen, ih..." 

„Nein, nein, aber während ich laufe (ob, ich werde die 
Wirginskaja jchon heranſchleppen!) währenddem fünnten 
Sie von Zeit zu Zeit zu meiner Treppe gehen und vor= 
fichtig hinaufhorchen, doch unterftehen Sie fich nicht, 
hineinzugehen, Sie würden fie erichreden, hören Sie, - 
рав Sie nicht hineingehen, horchen Sie bloß jo — auf alle 
Fälle! Nur wenn etwas Außerftes gejchehen follte — 
gehen Sie hinein!" 

„Derftehe. Geld noch einen Rubel. Hier. Sch wollte 
morgen ein Фиби, jeßt will ich nicht. Laufen Sie jchnell, 


914 








laufen Sie fo fehnell Sie fünnen. Der Samowar ift 
die ganze Nacht.” 

Kirilloff ahnte nichts von den Abfichten gegen Schatoff. 
Auch früher war ihm die Gefahr unbelannt gewejen, die 
Schatoff drohte. Er hatte nur gehört, daß Schatoff 
alte Abrechnungen mit „diefen Leuten” Бабе, Doch 
wußte er nichts Näheres Darüber, objchon er jelbft durch 
gewille Inftruftionen aus dem Auslande (übrigens 
waren es nur ganz unverfängliche) mit dem „Fall 
Schatoff“ gewiſſermaßen verfnüpft war. Doch in der 
legten Zeit hatte er alles abgelehnt, hatte jich von allem 
zurüdgezogen, bejonders was die „allgemeine Sache” 
irgendwie anging, und fich ganz feinem fontemplativen 
Leben hingegeben. Piotr Werchowensfi, der auf der 
Sitzung Doch eigentlich nur deshalb Liputin aufgefordert 
hatte, mitzufommen, um ihn zu überzeugen, daß Kirilloff 
den „бай Schatoff“ tatfächlich auf fich nehmen werde, 
Бане im Gefpräch mit Kirilloff fein Wort über Schatoff 
verloren, ja, ihn nicht einmal erwähnt: offenbar mit 
Abſicht, da er nicht ſicher war, ob Kirilloff nicht alles 
ablehnen würde, wenn er erfuhr, daß Schatoff als Opfer 
mit hineingezogen werden follte. Фо hatte er denn 
diejen Zeil der ganzen Angelegenheit auf den folgenten 
Зав verichoben, wenn die За bereits gejchehen und 
alles ſchon „einerlei” war. Liputin war es allerdings 
aufgefallen, daß Piotr Stepanomitich gerade über Scha— 
toff fein Wort fagte, Doch war er andererjeits jelbft zu 
aufgeregt geweſen, um ihn darauf aufmerkſam zu machen. 

Schatoff Tief fo fehnell er nur konnte zu Wirginsfis, 
fluhend über die Entfernung, die ihm heute endlos 
erſchien. 


915 


An dem Haufe mußte er lange Flopfen: alles jchlief 
natürlich. Doch Schatoff ſchlug rüdjichtslos und mit 
aller Kraft an die Fenfterläden. Der Hofhund jchlug 
an, riß an feiner Kette und heulte und bellte, daß ſaͤmt— 
liche Hunde der Umgegend gleichfalls anfchlugen. 

„Der Нор? Was wünfchen Sie?" ertönte endlich 
an einem Fenfter die weiche Stimme Wirginsfis, deren 
Sanftheit in fo gar feinem Verhältnis zu der ©: 
rung jtand. 

Der Fenfterladen wurde geöffnet und gleich darauf auch 
das Klappfenfter. 

„Ber ift da? Wer ift der Schuft?” freifchte wütend die 
Stimme der alten Sungfer, Wirginskis Ochmägerin, 
deren Ton fchon mehr als im Berhältnis zu der „Be: 
leidigung” Stand. 

„sh bin Schatoff, meine Frau ift zu mir ии: 
gekehrt und wird gleich gebären... .” 

„Sp mag fie doch, {фетеп Sie fich zum Kudud!" 

„sch bin nach Arina Prochorowna gefommen, ohne 
Arina Prochoromna gehe ich nicht fort!" 

„Sie kann doch nicht zu jedem gehen! Зи der 
Nacht Ш eine andere Praris... Scheren Sie jich 
zur Mafichejewa, und daß Sie fich nicht unterftehen, 
noch weiterzulärmen!” rief zornfnatternd Die Weiber: 
ftimme, 

Зоф Schatoff hörte gleichzeitig, wie Wirgingfi jie 
zu beichwichtigen und zu unterbrechen fuchte. Die alte 
Sungfer aber ließ ihn einfach nicht zu Wort fommen 
und verteidigte ihren Plaß am Fenſter. 

„sch gehe nicht fort!” fchrie Schatoff wieder. 

„Warten Sie, warten Sie!" rief Wirginsfi und е8 


916 





gelang ihm endlich, die alte Jungfer zu verdrängen. 
„sch bitte Sie, Schatoff, warten Sie noch fünf Minuten, 
ich werde Arina Prochorowna weden, nur bitte Hopfen 
Sie nicht mehr und fchreien Sie bitte nicht... Ob, wie 
ift das ſchrecklich!“ 

Nach fünf endlojen Minuten erichien dann fchließlich 
Arina Prochorowna. 

„Ihre Frau iſt zu Ihnen gekommen?“ ertoͤnte ihre 
Stimme durch das Klappfenſter, und zwar, zu Schatoffs 
nicht geringer Verwunderung, diesmal durchaus nicht 
geaͤrgert, ſondern hoͤchſtens befehlend wie gewoͤhnlich — 
aber anders verſtand Arina Prochorowna uͤberhaupt 
nicht zu ſprechen. 

„Ja, meine Frau — und ſie bekommt ein Kind.“ 

„Marja Ignatjewna?“ 

„за, Marja Ignatjewna. Natürlich, Marja Ignat— 
jewna!“ 

Ein Schweigen entſtand. Schatoff wartete. Hinter 
dem Fenſter hoͤrte er fluͤſtern. 

„Iſt ſie ſchon vor langer Zeit angekommen?“ fragte 
Frau Wirginskaja wieder. 

„Heute abend, um acht. Bitte ſchnell, wenn Sie 
koͤnnen!“ 

Wieder wurde im Hauſe gefluͤſtert, wieder ſchienen 
ſie ſich zu beraten. 

„Hoͤren Sie, irren Sie ſich nicht? Hat ſie ſelbſt Sie 
zu mir geſchickt?“ 

„Nein, ſie hat mich nicht geſchickt, ſie will nur ein Weib 
haben, ein einfaches Weib, um mich nicht mit Ausgaben 
zu belaſten, aber ſeien Sie unbeſorgt, ich werde alles 
bezahlen.“ | 


917 


„Gut, ich fomme, ob Sie zahlen oder nicht. Sch habe 
ftets die jelbftändigen Anjchauungen Marja Sgnatjemnas 
zu |фавеп gewußt, wenn jie ſich auch meiner vielleicht 
nicht mehr erinnert. Haben Sie die notmwendigiten 
Sachen?” 

„sch habe nichts, aber es wird alles, alles gleich zur 
Stelle fein!... Alſo Sie kommen?” 

Damit Tief Schatoff auch jchon fort: Diesmal zu 
Laͤmſchin. 

„Es gibt doch in dieſen Leuten noch Großmut!“ dachte 
er auf dem Wege. „Die Überzeugungen und der Menſch, 
— das ſind, glaube ich, in vielem zwei ganz verſchiedene 
Dinge. Ich habe ihnen vielleicht in manchem Unrecht 
getan!... Alle Menſchen find ſchuldig, alle find fchuldig | 
und... wenn doch alle das einjehen würden!...” 

Bei Laͤmſchin brauchte er nicht lange zu Нор: es 
wurde überrajchend jchnell geöffnet. Laͤmſchin mar 
aber auch jchon beim erjten Schlag aus dem Bett де: 
ſprungen und ftedte — mit bloßen Füßen, nur im 
Hemd — im Nu den Kopf zum Luftfenfter hinaus, ип: 
geachtet dejien, daß er jich fo einen Schnupfen zu holen 
risfierte; er aber war ſonſt jehr vorlichtig und ftets um 
jeine Gejundheit bejorgt. Doch diefe Scharfhörigfeit 
und Eile hatten einen bejonderen Grund: Laͤmſchin 
hatte nämlich nach der Sitzung bei Erfel überhaupt | 
nicht einfchlafen fünnen und den ganzen Abend und die | 
halbe Nacht nur jo gezittert vor Aufregung. Ihm 
ſchwante die ganze Zeit, daß jogleich gemifje ungebetene 
und unerwünfchte Gäfte bei ihm erjicheinen würden. 
Denn ihn, Laͤmſchin, quälte am meiften die Nachricht 
von Schatoffs Denunziation. Und nun plößlich, wie ab: 


918 





fichtlich, wurde fo furchtbar laut und befehlend an fein 
Fenſter geflopft!... 

Als er Schatoff erblidte, erfchraf er fo, daß er fofort 
das Fenfter zufchlug und ins Bett zurüdlief. Schatoff 
aber begann wütend zu rufen und zu Hopfen. 

„Wie dürfen Sie fo fehreien und Flopfen mitten in 
der Nacht?" rief das Juͤdchen drohend und doch Гай 
vergehend vor Angft, — und auch das erft nach ganzen 
zwei Minuten der Unentichlofjenheit und erft nachdem 
er jich überzeugt hatte, daß Schatoff ganz allein ge— 
fommen war. 

„Hier haben Sie Ihren Nevolver, nehmen Sie ihn 
zurüd und geben Sie mir fünfzehn Rubel.‘ 

„Bas foll das heißen, find Sie befoffen? Das Ш 
Naubmord! Und ich erfälte mich nur. Warten Sie, 
ich nehme ein Plaid um.” 

„Beben Sie fofort fünfzehn Rubel. Wenn nicht, fo 
werde ich bis zum Morgen Elopfen und fchreien. Sch 
Ichlage Ihnen das Fenfter ein!” 

_ „бек ich werde die Polizei rufen und man nimmt 
Sie in Arreſt!“ 

„Ah, und bin ich denn ftumm? Als ob ich nicht auch 
die Polizei rufen fann? Wer hat ме wohl mehr zu 
fürchten, Sie oder ich?" 

„Und Sie können fo häßliche Abfichten haben... Ich 
weiß, worauf Sie anipielen... Warten Sie, warten 
Sie um Gottes willen, Норреп Sie nicht mehr! Er— 
barmen Sie fich, wer bat denn Geld in der Nacht? 
Wozu brauchen Sie überhaupt Geld, wenn Sie nicht 
betrunfen find? 

„Meine Frau ift zu mir gefommen. 34 Бабе Ihnen 


919 


zehn Rubel abgelajien, Бабе fein Mal geſchoſſen, — 
‚ nehmen Sie den Revolver, nehmen Sie ihn ſofort!“ 

Laͤmſchin ftredte тефапИф feine Hand aus dem 
Fenfter und nahm den Revolver entgegen: einen Augen: 
blick wartete er, dann aber ftedte er plößlich den Kopf 
hinaus und ШреНе mit fteifer Zunge, ohne jelbft zu be= 
greifen, mas er tat, und mit einem Schauer im Rüden: 

„Sie lügen, zu Ihnen ИЕ gar feine Frau gefommen ... 
Das... das... @е mollen einfach irgendmwohin 
fliehen !" 

„Sie Kalb, wohin foll ich denn fliehen? Euer Pjotr 
Werchowenski flieht, aber nicht ih. Sch war ſoeben bei 
der Wirginskaja und fie war fofort bereit, zu mir zu 
fommen. Entjchließen Sie fih! Meine Frau quält fich, 
ich brauche Geld, geben Sie das Geb! — 

Ein ganzes Feuerwerk von Gedanken fprühte fogleich 
im findigen Kopfe Lämjchins auf. Alles nahm in feinen 
Augen plößlich eine andere Wendung, aber die Angft 
ließ ihn immer noch nicht Нат überlegen. 

„sa aber, wie ift denn das... Sie leben doch nicht 
mit Ihrer Frau?” | 

„Fuͤr ſolche Fragen jchlage ich Ihnen den Schädel ет!" 

„ch, mein Gott, verzeihen Sie, ich begreife, ich war 
nur jo beftürzt... Aber ich verftehe, verftehe. Aber... 
aber wird denn Arina Prochoromna wirklich fommen? 
Sie fagten, daß fie ſchon gegangen fei? Wiffen Sie, das’ 
ift Doch gar nicht wahr. Sehen Sie, jehen Sie, jehen Sie, 
wie Sie die Unmahrheit jagen, auf jedem Schritt!" 

„Sie ift jeßt beitimmt fchon bei meiner Frau...| 
Halten Sie mich nicht auf, ich bin nicht [фи daran, daß} 
Sie dumm ſind.“ 





920 


„Das ift nicht wahr, ich bin gar nicht dumm. Ver: 
zeihen Sie, aber ich kann auf feine Weiſe ...“ 

Und er wollte |фоп, ganz aus der Faſſung gebracht, 
zum brittenmal das Luftfenfter ſchließen. Doch Schatoff 
brüllte derart auf, daß der Kleine jofort wieder den 
Kopf zum Fenfter hinausftedte. 

„ber das ift doch fchon einfach eine... eine Beſchlag— 
nahme der Perfönlichkeit! Was wollen Sie denn von 
mir, nun, was, was denn, formulieren Sie es doch! Und 


beachten Sie, beachten Sie, mitten in ſolch einer 


Nacht!" 

„Fuͤnfzehn Nubel verlange ich, Schafskopf!“ 

„Aber ich, ich will den Revolver vielleicht gar nicht 
zurüdnehmen! Sie haben gar nicht das Recht, fo was zu 
verlangen. Sie haben das Ding gefauft — damit ift 
alles fertig, und Sie haben nicht dag Necht!... Solch 
eine Summe habe ich überhaupt nicht in der Nacht! 
Mo foll ich folh eine Summe bernehmen in der 


Nacht?" 


„Du Бай immer Geld bei dir; ich habe dir zehn Rubel 
abgelafjen, aber du bift ja ein befannter Judenluͤmmel!“ 

„Kommen @е übermorgen, -— hören Sie, über: 
morgen früh, punft zwölf Uhr, und ich gebe Ihnen alles, 
alles, ift’8 recht? 

Schatoff {49 wieder unbändig an den Fenfter: 
rahmen. 

„zehn Rubel Бег, und morgen früh fünf!" 

„Kein, übermorgen früh fünf, aber morgen fann id) 
bei Gott nicht. Kommen Sie lieber gar nich! Kommen 
Sie lieber gar nich!" 

„zehn Rubel, fag ich; o Schuft!“ 


59 Doſtojewsti, Die Dämonen. Br. И. 921 


„Aber warum ſchimpfen Sie denn jo? Warten Sie, 
ich muß doch erft Licht machen! Sie haben den Я von 
den Scheiben losgejchlagen ... Wer jchimpft denn fo _ 
in der Nacht? Hier!" und er reichte einen Schein aus 
dem Fenfter. | 

Schatoff ergriff ihn, — е8 war ein Zünfrubeljchein. 

„Das find ja nur fünf!“ 

„Bei Gott, ich kann nicht, und wenn Sie mid) er: 
Пефеп, ich fann nich, übermorgen kann ich alles, aber 
jeßt fann ich gar nichts.“ 

„Ich gehe nicht früher fort!" fchrie Schatoff. 

„Nu, nehmen Sie поф das, nu, hier ift noch, fehen ' 
Sie, Мег ift noch, aber mehr gebe ich ni. Schreien ° 
Sie ſich meinetwegen die Kehle Faputt, ich geb nich mehr, | 
was Sie da auch nich machen — geb nich mehr, geb 
nich, geb nich !" 

Er war außer 14, in Verzweiflung, in Schweiß. Die 
beiden Geldfcheine, Ме er noch gab, waren nur Ein- 
rubelfcheine. Im ganzen hatte Schatoff fieben Rubel 
befommen. | 

„Daß dich der Teufel hole, ich fomme morgen. Und 
ich baue dich, Laͤmſchin, wenn du die acht Rubel nicht ° 
bereit haft!" 

„Und morgen bin ich einfach nich zu Haus, Dumm: 
kopf!“ dachte Laͤmſchin blißfchnell. | 

„Зачет Sie, warten Sie, Herr Schatoff!” rief er 
ihm plößlich паф. „Warten Sie, fommen Sie zurüd! — | 
Sagen @е, bitte, ift es wirklich wahr, was Sie gejagt ° 
haben, daß Shre Frau zurüdgefommen iſt?“ 

„Eſel!“ fagte Schatoff ausfpudend und lief fo fchnell 
er fonnte nach Haufe. 


922 








IV 

Эта Prochoromna mußte nichts von dem in der 
Sitzung gefaßten Beſchluß. Wirginski, der ganz ſchwach 
nach Haufe gefommen war, hatte ihr in feiner Aufregung 
zwar einiges mitgeteilt, alles jedoch noch nicht zu fagen 
gewagt. Im Grunde war es nur die Nachricht von 
Schatoffs bevorftehender Denunziation, die fie erfahren 
hatte, Wirginski fügte wohl noch hinzu, daß er an diefe 
Nachricht felber nicht ganz glaube, doch Arina Procho— 
rowna war nichtsdeftoweniger heftig erfchroden. Aus 
diefem Grunde entjchloß fie fich fofort, als Schatoff fie 
zu feiner Frau rief, troß ihrer Müpdigfeit (fie hatte in der 
Nacht vorher auch ſchon entbunden) zu ihm zu gehen. 
Sie hatte |фоп längft, wie fie fagte, dieſen Schatoff für 
fähig gehalten, „eine bürgerliche Gemeinheit zu Бег 
gehen‘, und glaubte darum ап eine Anzeige von feiner 
©eite weit eher als ihr Mann. Als fie aber hörte, daß 
Maria Sgnatjerona zurüdgefehrt war, da fchöpfte fie 
jofort neue Hoffnung: Schatoffs Этой, der verzweifelte 


Ton feiner Bitte ließen fie eine gewifje „Ummandlung 


in den Gefühlen des VBerräters” ahnen. Ein Menfch, 
dachte fie, der fich entfchloffen hat, fich felbft zu ver: 
derben, nur um andere auszuliefern, mürde anders aus: 
ſehen und anders |ртефеп. Jedenfalls entjchloß fich Arina 
Prochoromna fofort, alles mit eigenen Augen zu unter: 
ſuchen. Und auf Wirginsfi wirkte der Entfchluß feiner 
Frau unendlich beruhigend — ale ob man ihm „fünf 
Pud“ von der Seele genommen hätte! Auch in ihm 
flieg eine neue Hoffnung auf: das Ausſehen Schatoffs 
ſchien ihm im höchften Grade Werchowenskis Verdacht 
zunichte zu machen, 


59° 923 


Schatoff Hatte fich nicht getäufcht: als er zurüd- 
ют, fand er Xrina Prochoromna ſchon in feinem 
Zimmer. @е war ей vor ein paar Minuten ein 
getroffen, hatte den unten an der Treppe Wacht 
haltenden Kirilloff mit Verachtung mweggejagt und [ich 
Ichnell und fo gut das möglich war, mit Marie ver: 
ſtaͤndigt. Angetroffen hatte fie ihre Patientin „in der 
gemeinften Verfaſſung“, das heißt, böfe, gereizt und 
„im allerdümmiften Kleinmut“ — aber {фоп nach wenigen 
Morten hatte fie Maries fämtliche Einwendungen bes 
liegt. 

„Bag jammern Gie da, daß Sie feine teure Heb- 
amme haben wollen?“ fagte fie gerade in dem Augen: 
blid, als Schatoff eintrat, „der reinfte Blödfinn, ver: 
drehte Gedanken, die von Ihrem unnormalen Zuftande 
fommen. Mit Hilfe irgendeines «alten Bauernmeibes 
hätten Sie fünfzig Chancen, fchlecht zu enden, jamophl, 
und dann gibt es fchon mehr Scherereien und Aus— 
gaben, ald wenn Sie eine teure nehmen. Und moher 
wiſſen Sie überhaupt, daß ich teuer bin? Sie Fünnen 
Ipäter bezahlen, von Ihnen merde ich nicht mehr ver- 
langen als recht ift, und ich garantiere für eine gute Ent— 
bindung: bei mir werden Sie fchon nicht fterben, das ift 
bei mir noch nie vorgefommen. Und das Kind — das 
fann ich Shnen morgen noch in einer Anftalt unter: 
bringen, und fpäter geben wir e8 ins Dorf zur Er- 
ziehung, womit die Sache dann abgetan Ш. Sie aber 
werden fchnell gefund, machen fich an eine vernünftige 
Arbeit und ‚entfchädigen‘ dann meinetwegen Schatoff 
für das Zimmer und die Ausgaben, die durchaus nicht 
fo groß fein werden...” 


924 





„Ach, nicht das... Sch habe nicht das Recht, ihn zu 
belaͤſtigen ...“ 
„Sehr rationell und buͤrgerlich gedacht, aber, wie 
geſagt, Schatoff wird faſt uͤberhaupt keine Auslagen 
haben, glauben Sie mir, — wenn er ſich nur aus einem 
phantaſtiſchen Herrn in einen Menſchen mit vernuͤnftigen 
Ideen verwandeln wollte! Vor allem ſollte man ihn 
feine Dummheiten machen, nicht gleich lostrommeln und 
mit herausgeftredter Zunge durch die Stadt rennen 
laſſen! Er hat jeßt hier zu bleiben! Wenn man ihn nicht 
mit Gewalt fefthält, fo fchleppt er uns bis zum Morgen 
womöglich noch fämtliche ее zufammen: er hat doch 
bei mir alle Hunde zum Kläffen gebracht! Ürzte brauchen . 
wir nicht, ich habe fchon gejagt, daß ich für alles garan— 
tiere. Ein altes Weib [апп man meinetwegen noch zur 
Bedienung annehmen, das foftet auch meiter nicht viel. 
Übrigens апп er fich auch felbft nüßlich machen, er 
braucht Doch nicht nur zu Dummheiten fähig zu fein. 
Er hat doch Arme und Beine, kann alfo in die Apotheke 
laufen, ohne dabet irgendwie Ihre Gefühle mit ‚Wohl- 
taten“ zu verlegen. Was Teufel Wohltaten‘! Hat er 
Sie denn nicht felbit in dieſe Lage gebracht? Er hat 
Sie doch damals zum Bruch mit diefer Familie getrieben, 
in der Sie Lehrerin waren, mit dem felbftfüchtigen Ziel, 
Sie dann heiraten zu fönnen!? Wir haben doch davon 
gehört... Übrigens Fam er doch felbft angelaufen und 
bat bei uns gejchrien und getobt wie ein Derrüdter. 
Ich binde mich wahrhaftig niemandem auf und bin 
nur um Shretmwillen gefommen, aus Prinzip, weil wir 
unter ung zur Solidarität verpflichtet find. Das habe ich 
ihm übrigens auch gejagt. Wenn ich aber паф Ihrer 


925 


Meinung bier überflüjlig bin, dann fagen Sie es nur und 
— leben Sie wohl! Daß bloß Fein Unglüd gefchieht, 
was fo leicht zu verhüten wäre.” Und fie erhob ſich jogar 
Ihon von ihrem Stuhl. | 

Marie war aber jo hilflog, ПН dermaßen und — um 
die Wahrheit zu jagen — fürchtete fich fo maßlos vor 
dem, mas ihr bevorftand, daß fie es jest felbft nicht 
mehr magte, die Wirginslaja von fich zu laffen. Dafür 
aber war ihr diefe Frau plößlich geradezu verhaßt: die 
|ртаф da von ganz anderem, nur nicht von dem, was in 
Maries Seele vorging! Зоф die Möglichkeit, in den 
Händen einer ungeichidten Hebamme zu fterben, befiegte 
den Widermwillen. Zu Schatoff jedoch wurde fie von nun 
ап noch herrifcher, noch unnacdhlichtiger: fchließlich ver: 
bot fie ihm nicht nur, fie anzufehen, fondern er durfte 
nicht einma] mit dem Geſicht zu ihr gemandt ftehen. 
Dabei wurden ihre Schmerzen immer ftärfer und ihre 
Fluͤche und ſelbſt Schimpfworte immer finnlofer. 

„Ach, was da! wir fchiden ihn einfach hinaus,” {фин 
YArina Prochoromna Виз ab. „Mit feinem Geficht 
erichredt er Sie nur: bleich ift er wie ein Toter! Was 
haben denn Sie zu fürdten, Sie fomifcher Menich? 
Das Ш mir mal eine Komödie!” 

Schatoff antwortete nicht: er hatte fich vorgenommen, 
um nicht unnüß zu reizen, einfach nichts zu erwidern. 

„ch, habe ich dumme Vaͤter in folchen Fällen ge— 
ſehen! Die verlieren nun mal immer den Verftand, 
Uber die haben dann doch menigfteng .. .' 

„Hören Sie auf, oder gehen Sie, damit ich endlich 
fterbe! Kein Wort mehr! Ich will nicht, will nicht!” 
feuchte Marie in Qualen. 


926 





„Da fann man ja überhaupt nichts mehr fprechen! 
Sch ſehe nur, daß Sie die Vernunft verloren haben. 
Doch zur Sache: jagen Sie, haben Sie |фоп etwas vor= 
bereitet? Antworten Sie, Schatoff, denn fie hat jet 
feinen Sinn dafür.” 

„Sagen Sie, bitte, was denn eigentlich nötig Ш." 

„Зо nichts vorbereitet.” 

Sie zählte ihm das unbedingt Nötige auf, wirklich 
nur das Notmwendigfte. 

Einiges fand fich auch bei Schatoff. Marie 309 einen 
‘Heinen Schlüffel hervor und reichte ihn ihm, damit er 
in ihrer Reifetafche fuche. Da aber feine Hände zitter: 
ten, jo dauerte e8 etwas länger, М8 er das ihm uns 
befannte Schloß aufgemacht hatte, worüber Marie 
wieder außer ſich geriet, doch als nun Yrina Prochoromna 
ihm helfen und jchneller öffnen wollte, da erlaubte fie 
wieder unter feiner Bedingung, daß diefe ihre Zafche 
anrühre, und beftand mit Findifchem Geſchrei und 
Meinen darauf, daß nur Schatoff allein fie öffne. 

Nach anderen Sachen mußte er zu Kirilloff gehen. 
Kaum aber war er aus dem Zimmer, da rief ihn Marie 
auch jchon иле rafend wieder zurüd und beruhigte fich 
ей, nachdem Schatoff fofort wieder von der Treppe 
zurüdgelaufen Кип und ihr dann auseinanderfekte, daß 
er nur auf eine Minute und auch nur nach dem Not: 
mwendigften fortgehen und fofort wieder da fein werde. 

„а, Sie zu befriedigen ЦЕ aber ſchwer,“ meinte Arina 
Prochoromna lachend, „bald muß man mit dem Фей 
zur Wand ftehen und darf 14 nicht mal umlehren, 
bald Ш eg wieder fo nicht recht; und wenn man Ihret— 
wegen auf einen Augenblid fortgehen muß, fangen Sie 


927 


zu weinen an. Na, nun regen Sie ſich aber nicht fo auf, 
reiben Sie fich nicht die verweinten Augen, — ich lache 
doch nur.” 

„Er darf fih nicht unterftehen, überhaupt etwas zu 
denken!“ 

„Tatata, wenn er nicht wie ein Bock in Sie verliebt 
waͤre, wuͤrde er doch nicht die Hunde der ganzen Stadt 
zum Heulen bringen und wie verruͤckt durch die Straßen 
rennen! Зе mir hat er faſt den Fenſterrahmen heraus⸗ 
geſchlagen.“ 

V 

Schatoff traf Kirilloff immer noch im Zimmer auf: 
und abgehend an, aber er war fo zerftreut und mit fich 
befchäftigt, daß er die Ankunft von Schatoffs Frau ein- 
fach vergeſſen hatte, Schatoff ſelber jeßt zwar anhörte, 
doch ihn zuerft gar nicht verftand. 

„ch ja," erinnerte er fich dann plößlich, und es war, 
als rifje er 14 nur mit großer Anftrengung und nur auf 
einen идет И von irgendeinem ihn beherrfchenden 
Gedanken log, „ja... die Frau... Frau oder altes 
Weib? Warten Sie: und Frau, und altes Weib? Ich 
weiß fchon. Sch war da. Die Alte wird fonımen, nur 
nicht gleich. Nehmen Sie das Kiffen. Was noch? 
За... Warten Sie, fommt es bei Ihnen аиф vor, 
Schatoff, daß Sie Minuten emwiger Harmonie haben?" 

„Wiſſen Sie, Kirilloff, das geht nicht fo weiter! Sie 
müflen Ni wieder — in der Nacht zu 
ſchlafen.“ 

Jetzt erſt erwachte Kirilloff und — ſonderbar: er 
ſprach mit einemmal viel zuſammenhaͤngender und 
richtiger, als er ſonſt zu tun pflegte; wahrſcheinlich hatte 


928 





er alles das fchon lange in Gedanken formuliert und 
vielleicht fogar aufgefchrieben: 

„Es gibt Sekunden, es find im ganzen nur fünf oder 
fechs auf einmai, und plößlich fühlen Sie die Gegenwart 
der ewigen Harmonie; einer vollfommen erreichten. 
Das ift nichts Irdiſches; ich rede nicht davon, ob es himm— 
liſch ift, fondern daß ет Menſch in irdifcher Geftalt das 
nicht aushalten fann. Man muß fich phyſiſch verändern 
oder fterben. Das Ш ein Fares und unbeftreitbares 
Gefühl. Als ob man plößlich die ganze Natur fühlt und 
plößlich jagt: ja, es ift richtig. Gott hat, als er die Welt 
ſchuf, am Abend jedes Schöpfungstages gejagt: ‚Sa, es 
ИЕ richtig, es ЦЕ gut.“ Das... das ЦЕ nicht ein Ergriffen: 
fein, fondern nur fo, — Freude. Man verzeiht аиф 
nichts, denn es gibt nichts mehr, was zu verzeihen пойте. 
Es Ш nicht, daß man liebt, oh, — das hier ift höher als 
Kiebe! Das Furchtbarfte ift, daß es fo fchredlich Нат Ш 
und eine folhe Freude. Зепп es mehr als fünf Sekun— 
den mwäre, fo würde die Seele es nicht aushalten und 
müßte vergehen. In diefen fünf Sekunden durchlebe 
ich das Leben und würde für fie mein ganzes Leben 
hingeben, denn fie find das wert. Um zehn Sekunden zu 
ertragen, muß man ſich phyſiſch verändern. Sch vente, 
der Menſch muß aufhören, zu gebären. Wozu Kinder, 
wozu Entwidlung, wenn das Ziel erreicht Ш? Im 
Evangelium ЦЕ gejagt, Daß man nach der Auferftehung 
nicht mehr gebären, fondern wie Engel Gottes fein wird. 
Ein Fingerzeig. Ihre Frau gebiert?“ 

„Kirilloff, haben Sie das oft?" 

„Уп drei Tagen einmal, in einer Woche einmal.“ 

„gaben Ste nicht die Fallfucht?" 


929 


„Nein.“ 

„Dann werden Sie ſie bekommen. Nehmen Sie ſich 
in acht, Kirilloff, ich habe gehoͤrt, daß die Fallſucht gerade 
ſo beginnen ſoll. Mir hat ein Epileptiker Wort fuͤr Wort 
ſo wie Sie den Zuſtand vor dem Anfall geſchildert: 
fuͤnf Sekunden gab auch er an, und auch er ſagte, daß 
man mehr nicht ertragen koͤnne. Denken Sie an Moham: 
meds Krug, der nicht Zeit hatte, überzufließen, während 
der Prophet auf jeinem Pferde das Paradies umflog. 
Der Krug — das find diejelben fünf Sekunden; das 
erinnert zu jehr ап Ihre Harmonie, und Mohammed 
war befanntlicy Epileptifer. Nehmen Sie ji) in acht, 
Kirilloff, vor der Fallſucht!“ 

„Die kommt zu ſpaͤt“, ſagte Kirilloff mit ftillem 
Lächeln. 

УТ 

Die Nacht verging. Scatoff wurde fortgefchidt, 
geicholten, zurüdgerufen und wieder gejcholten. Maries 
Angft um ihr Leben erreichte den hoͤchſten Grad: йе 
Ichrie, daß fie leben wolle, „unbedingt, unbedingt!" und 
„nicht fterben ! nicht fterben №" Wäre Arina Prochorowna 
nicht bei ihr geweſen, jo hätte es ſchlimm werden fönnen; 
doch allmählich befam fie die nervoͤſe Patientin voll 
fommen in ihre Hand, bis diefe fchließlich wie ein Kind 
jedem einzelnen ihrer Worte gehorchte. Arina Procho: | 
rowna faßte fie — ihr erprobtes Mittel — mit Strenge | 
an, {рае jich, wie gewöhnlich, jede Freundlichkeit, tat 
aber fonft meifterhaft ihre Pflicht. 

Der Tag Бтаф ап. 

Arina Prochoromna fiel es plößlich ein, zu erzählen, 
daß Schatoff im Augenblid vorher auf den Treppen 


930 





flur Hinausgegangen fei, um zu Gott zu beten, und fie 
lachte darüber. Marie begann gleichfalls zu lachen, hart 
und hoͤhniſch, als ob ihr von diefem Lachen leichter würde. 

Schließlich wurde Schatoff ganz hinausgefchidt. Ein 
Falter, feuchter Morgen brach an. Er ftüßte wieder die 
Stirn an die Tlurwand, und ftand fo, wie er vorhin ge= 
ftanden hatte, als Erfel zu ihm gelommen war. Er 
zitterte am ganzen Körper und fürchtete ſich zu denken, 
aber fein Denken heftete fich an alles vor feinem Geift 
Erfcheinende, wie её im Traum zu gefchehen pflegt. 
Die Gedanken zogen ihn immer wieder mit fich fort, 
riſſen aber dabei jelbft fortwährend ab, wie mürbe Fäden. 

Aus dem Zimmer drang |фоп nicht mehr Geftöhn: 
das waren vielmehr entjeßliche, rein tierijche Schreie, 
unerträgliche, unmögliche. Er wollte fich die Ohren зи: 
halten, doch konnte er es nicht und ſank auf die Knie, 
unbemwußt, immer nur das eine Wort ftammelnd: „Marie, 
Marie, Marie! 

Und dann plößlich hörte er einen neuen Schrei, der 
ihm durch Mark und Bein fuhr und ihn aufipringen 
machte — den ſchwachen, zitternden Schrei eines Kindes. 
... Er befreuzte fich und Не ins Zimmer. In Arina 
Prohoromnas Händen wimmerte und bewegte fich mit 
winzigen Händchen und Fuͤßchen ein rotes, runzligeg, 
Fleines Weſen, das bis zur Kläglichkeit hilflos war, das 
aber fchrie und fich fund tat, ganz als hätte es gleichfalls 
ein großes Necht auf das Leben... 

Marie lag wie обитафНа in den Kiffen: nach einer 
Minute ет fchlug fie die Augen auf und fah fonderbar, 
ganz jonderbar Schatoff an: das war ein ganz neuer 
Blick — was für einer, das fonnte er noch nicht ver— 


931 


ftehen, aber noch nie vorher Бане er einen ähnlichen 
ЗИФ an ihr bemerft. 

„Ein Knabe? ein Knabe?” fragte fie mit keifer, 
ſchwacher Stimme Arina Prochoromne. 

„Ein Bengel!" rief die zurüd, Ме gerade das Kleine 
einmwidelte. 

Als fie das Kindchen eingepadt hatte und fih nun 
anfchidte, e8 zmifchen zwei Kiffen quer aufs Bett zu 
legen, gab fie es auf einen Augenblid Schatoff, damit 
er e8 halte. Marie, die das bemerkt hatte, winfte ihn 
heimlich heran, als ob fie fich vor Зита Prochorowna 
fürchtete. Er verftand fie fofort und trat mit dem Heinen 
Weſen zu ihr, damit fie es ſehen konnte. 

„Wie... nett er if...” flüfterte fie lächelnd, mit 
ſchwacher Stimme. 

Arina Prochorowna bemerkte zufällig Schatoffs Фе: 
lihtsausdrud und brach in heiteres Lachen aus: „Was 
der aber für ein Geficht macht! So etwas habe ich noch 
nie gejehn !" 

„Lachen Sie nur, Зита Prochoromna... Das iſt 
eine große Freude...” fagte Schatoff mit einfältig 
feligem Gefichtsausdrud: паф den paar Worten, die 
Marie über das Kind gejagt hatte, war er geradezu 
erſtrahlt. 

„Ach, was iſt denn das fuͤr eine große Freude!“ lachte 
Arina Prochorowna, die geſchaͤftig im Zimmer hin und 
her ging. 

„Das Geheimnis, daß es ein neues Weſen auf der 
Welt gibt, das große und unerklaͤrliche Geheimnis, 
Arina Prochorowna — иле ſchade, daß Sie das nicht 
verſtehen!“ 


932 





| 
| 


Schatoff |ртаф шит, wie benommen und verzüdt. 
Als ob irgend etwas in feinem Kopfe hin und Бег mogte 
und lich von ſeibſt, ohne feinen Willen, aus feiner Seele 
ergoß. 

„Es waren zwei, und plößlich ift ein dritter Menfch, 
ein neuer Geift, ein ganzer, in fich vollendeter, wie ihn 
Menſchenhand nimmer erichaffen пп; ein neuer 
Gedanke und eine neue Kiebe... jogar unheimlich ... 
Und es gibt nichts Höheres auf der Welt!‘ 

„Der redet was zuſammen! Das ift doch einfach die 
Meiterentwidlung des Organismus und nichts anderes, 
nichts von @ебеиии еп,” fagte Arina Prochoromna 
wieder mit aufrichtig heiterem Lachen, „So мате ja 
jede Fliege ein Geheimnis. Nur fehen Sie: überflüffige 
Menfchen follten lieber nicht geboren werden. Schmiedet 
erft alles fo um, daß fie nicht mehr überflüffig find, dann 
fönnt ihr fie gebären. Denn ſonſt — da muß man ihn 
nun übermorgen in die Findelanftalt ſchleppen ... 
Übrigens, fo muß es auch fein.” 

„Niemals werde ich ihn von mir fort in eine Anftalt 
geben!" ſagte Schatoff, den Blid zu Boden geſenkt, 
mit feſter Stimme. 

„Sie adoptieren ihn?” 

„Sr ЧЕ mein Sohn.” 

„Natürlich, er heißt Schatoff, nach dem Geſetz ift er 
ein Schatoff, und Sie haben feine Urfache, fich als Wohl— 
täter des Menfchengefchlechts aufzufpielen. Ohne Phra- 
[еп geht’ ja nicht. Nun, nun, ſchon gut, nur поф eines, 
meine Herrſchaften,“ fchloß fie endlich, fich bereits ап: 
‚Heidend, „ich muß nämlich jeßt gehen. Sch werde am 
Vormittag wiederlommen und чиф am Abend, falls es 


933 


nötig fein follte; jeßt aber muß ich, da Мег alles jo | 
glüdlich überftanden ift, zu meinen anderen Patien 


tinnen, die warten fchon lange auf mich. Sie haben dort | 


irgendwo eine ЭШе... Aber Alte bin, Alte her, deshalb 
fönnen auch ©ie ſich immer поф nüßlidy machen. Daß 
Sie fie mir nicht allein lafjen! — jeßen Sie fich als liebes — 
Männchen an ihr Bett — Marja Sgnatjemna wird Sie, 
glaub’ ich, jet —* mehr fortjagen ... nun, nun, ich 
ſcherze ja nur. 

Bei der Norte, die Schatoff für fie aufichloß, lagte 
fie поф zu ihm: 

„Sie haben mich für mein ganzes Leben erheitert! | 
Geld nehme ich von Ihnen nicht, werd’ поф im Schlaf 
lachen müffen. Komifcheres als Sie in diefer Nacht, 
Бабе ich in meinem Leben noch nicht gefehn.” 

Sie ging volllommen zufrieden fort. Nah Schatoffs 
Ausfehen und allen feinen Worten war es für fie Нат _ 
wie das Sonnenlicht, daß diefer Menjch „Sich jet in Die 
Rolle des Vaters einfühlen wird und der leßte Жарреп 
ЦЕ", — ans Denunzieren alfo überhaupt nicht denken 
werde. So ее fie denn, obgleich die Wohnung einer _ 
Patientin am Wege lag, zuerft nach Haus, um dieſe 
Beobachtungen ihrem Mann zur Beruhigung mit- 
zuteilen. 

„Marie, Пе hat dir gejagt, daß du nicht gleich ſchlafen 
jollft, wenn das auch, fürchte ich, fehr ſchwer Ш... 
begann Schatoff [hüchtern. „Sch werde пиф hier ans 
Senfter {ебеп und auf dich acht geben, nicht" 

Und er feste fich hinter dem Diman ans Feniter, 
doch fo, daß fie ihn auf Feine Weije fehen fonnte. Uber 
28 verging nicht eine Minute, da rief fie ihn ſchon wieder 


934 








und bat gereizt, ihr das Kiffen zurechtzurüden. Er ver: 
fuchte e8 vorfichtig. Sie {аб böfe zur Wand, 

„Nicht fo, ach, nicht fo... Was für ungefchidte 
Hände!" 

Schatoff bemühte fich, es beffer zu machen. 

„Beugen Sie ſich zu mir”, fagte fie plößlich und gab 
ſich die größte Mühe, ihn nicht anzufehen. 

Er zudte erfchroden zufammen, doch beugte er fich 
gehorfam zu ihr nieder. 

Moch ... nicht fo... näher”, und plößlich umfchlang 
ihr linker Arm ungeftüm feinen Hals und er fühlte ihren 
ftarfen, feuchten Kuß auf feiner Stirn. 

„Marie !" 

Ihre Lippen bebten, fie bezwang fich fichtlich, Doch 
plößlich richtete fie fich halb auf und fagte mit blitzenden 
Augen: 

„Nicolai Stawrogin ЧЕ ein Lump !” 

Und fraftlos, als ob ihr plößlich alle Stüßen entzogen 
worden wären, fiel fie, БуйегИф aufichluchzend, mit 
dem Geficht auf das Kiffen und drüdte feft, feſt Schatoffs 
Hand in ihren glühenden Händen. 

Don diefem Augenblid an ließ fie ihn nicht mehr 
von fich, und wollte „unbedingt, unbedingt”, daß er an 
ihrem Bett еп blieb. Sprechen konnte fie nur wenig, 
aber fie jah ihn an und lächelte ihm zu wie eine Glüd: 
jelige. Sie ſchien plößlich ganz unflug, eine ganze Zörin 
geworden zu fein. Alles war jest gleichlam verwandelt. 
Schatoff weinte bald wie ein Heiner Knabe, bald ſprach 
er Gott weiß wovon, fprach wild, wie benommen, Бег 
geiftert; er Ве ihre Hände, und fie hörte ihm mie 
beraufcht zu, vielleicht ohne zu verftehen, was er ſprach, 


935 


ftreichelte liebfojend mit ihrer geſchwaͤchten Hand fein | 
Haar und jchien 14$ an ihm nicht ſatt jehen zu fünnen. 
Er erzählte ihr von Kirilloff, erzählte davon, Ба fie 
beide jet „von neuem und auf ewig“ zu leben beginnen 
würden, jprach von Gott und davon, daß alle Menſchen 
gut feien... Und in der Begeifterung holten fie dann | 
wieder das Kindchen hervor, um es von neuem зи Бе: 
trachten. | 

„Marie,“ rief er, als er das Kindchen in den Armen 
hielt, „nun hat das ein Ende, das mit den alten Quaͤle— 
reien und der ganzen veralteten @фтаф! Wollen wir 
ung jest auf den neuen Weg Ритфатбейеп, wir drei | 
zufammen, ja, ja!... Ach fo: wie werden wir ihn denn | 
nennen, Marie?“ | 

„Ihn? Wie wir ihn nennen werden?” fragte fie ver- 
wundert, und plößlidy drüdte fich in ihrem Geſicht ein ° 
unfagbarer Schmerz aus. 

Sie erhob die Hände, blidte Schatoff vorwurfsvoll an 
und warf fich dann aufjchluchzend mit dem Gejicht auf 
das Kiffen. 

„Marie, was Бай du?” rief er maßlos erjchroden. 

„Und Sie konnten... Eonnten... Ob, Sie ЦибапЕ | 
barer!“ 

„Marie vergib, Marie... Ich Бабе ja nur gefragt, 
wie wir ihn nennen jollen. Ich weiß nicht ...“ | 

„Swan! Swan!” rief fie, ihr glühendes, tränenüber- | 
ftrömtes Geficht wieder erhebend. „Haben Sie denn ° 
wirflih an irgendeinen anderen furdhtbaren Namen 
denfen fönnen !?“ 

„Marie, um Gottes willen, beruhige dih! Oh, wie 
du nervös biſt!“ 


936 





„Eine neue Kränfung, daß Sie das den Nerven zus 
fchreiben! Ich könnte wetten, wenn ich gejagt hätte, 
ihn... mit jenem anderen fchredlichen Namen zu 
nennen, jo wären Sie jofort einverftanden geweſen, 
hätten es nicht einmal bemerkt! Oh, ihr Undanfbaren, 
ihr Niedrigen, alle, alle!” 

Nach einer Minute verjöhnten fie fich natürlich wieder. _ 
Schatoff beredete fie ſchließlich, einzufchlafen. Sie tat 
е8 denn auch, doch gab fie feine Hand auch jeßt noch nicht 
frei, wachte oft auf und blidte ihn an, ganz als hätte Пе 
gefürchtet, er fönnte fortgegangen fein, bis fie dann von 
neuem einjchlief. 

Kirilloff fchidte die Alte, um zu „gratulieren”, und 
fandte zugleich heißen Zee, heiße, jelbjtgebratene Яо: 
letts und Bouillon mit Weißbrot für „Maria Ignat— 
jewna“. Die Kranke trank gierig die Bouillon aus und 
zwang auch Schatoff, von den Koteletts zu efjen, worauf 
die Alte das Kind von neuem einmwidelte. 

Die Zeit verging. Schatoff fchlief endlich gleichfalls 
ein, mit dem Kopf auf ihr Kijjen gebeugt, todmüde, 
So fand fie Arina Prochoromna, die richtig ihr Wort 
hielt und wiederkam. Lachend mwedte fie die beiden auf, 
ſprach mit Marie über das Nötige, bejah das Kindchen 
und verbot Schatoff wieder ſtrengſtens, die Kranfe zu 
verlaffen: Darauf ging fie, nach einem Wiß über das 

„Ehepaar“, in dem etwas Verachtung und Hochmut 
lag, ebenjo befriedigt fort, wie am Morgen. 

68 шаг |фоп dunfel, als Schatoff erwachte, Er 
zundete jchnell das Licht ап und lief nach der Alten. 
Gerade als er aus dem Zimmer trat, hörte er unten auf 
der Treppe die leijen, vorfichtigen Schritte eines Men: 


60 Dojtojewsti, Die Dämonen. 35.1, 937 


hen, der herauf Мед. Er blieb erfchroden ЙеБеп. Es 
war Erfel. 

„Richt weiter!” flüfterte ihm Schatoff zu, erfafte 
haftig feine Hand und z0g ihn mit fich nach unten zur 
Hofpforte. „Warten Sie hier, ich fomme gleich, ich hatte 
Cie ganz und gar vergeſſen!“ 

Er beeiite jich dermaßen, daß er nicht mal zu Kirilloff 
ging, jondern nur die Alte herausrief. Marie geriet 
in Verzweiflung darüber, daß er „auch nur daran 
denken‘ fonnte, fie allein zu lajjen! 

„Dafür ift es der allerlegte Schritt!" rief er begeiftert. 
„Dann fommt der neue Weg, und niemals, niemals 
mehr werden ши an den alten Schreden zurüd: 
denken !" 

68 gelang ihm fchließlich, fie irgendwie zu beruhigen. 
Er verſprach ausdrüdlih, um neun Uhr wieder zurüd 
zu fein. Darauf füßte er fie feft, ШВ das Kindchen und 
lief dann jchnell nach unten zu Erkel. 

Sie begaben fich гаф Skworeſchniki in den Stawro— 
ginfchen Park, mo Schatoff vor anderthalb Fahren an 
einer einfamen Stelle am Rande des Parkes, Dort, mo 
ſchon der alte Kiefernmald begann, die ihm anvertraute 
Drudmafchine vergraben hatte. Es war ein wilder, ab: 
gelegener Ort, der weit vom Herrenhaufe lag. Von der 
Bogojawlenskſchen Straße war er ungefähr eine Stunde 
entfernt. 

„Sollen wir denn den ganzen Weg zu ЗиВ gehen? 
Sch nehme eine Droſchke.“ 

„Sch möchte Sie jehr bitten, feine Droſchke zu nehmen, 
entgegnete Erfel. „Der Droſchkenkutſcher wäre fonft 
auch ein Zeuge.” 


938 - 





„Zum Henker! ...Nun, einerlei, nur beenden, 
beenden !" 

Sie gingen fehr ſchnell. 

„Erkel, Sie Heiner Knabe!" rief Schatoff plößlich 
und blieb ftehen, „ſind Sie in Ihrem Leben ſchon ein- 
mal glüdlich geweſen?“ 

„Sie find jeßt wohl fehr gluͤcklich?“ fragte Erkel neu— 
gierig. 


Cinundzmwanzigftes Kapitel 
Die mühevolle Nacht 
I 


W beeilte ſich im Laufe des Tages, zu allen 
„Unſrigen“ zu laufen, um ihnen mitzuteilen, daß 


Schatoff „beſtimmt nicht denunzieren werde“, da jetzt 
feine Frau zu ihm zuruͤckgekehrt und er Vater geworden 


ſei, und daß man, „da man doch das Menſchenherz 


kennt“, unmöglich irgendeine Gefahr von feiner Seite 


zu befürchten Бабе. Aber außer бе und Lämjchin 
traf Wirginsfi zu feiner‘ Verwunderung niemand zu 


Haufe. - 


Erkel hörte ihn fchmeigend an und {аб ihm Har in die | 


Augen. Auf die Frage aber: „Werden Sie um ſechs 


Uhr зи ihm gehen?" antwortete er mit dem ungetrübtes 
ſten Lächeln, daß er „ganz jelbfiverftändlich” zu ihm 


gehen werde. 


Laͤmſchin lag, augenfcheinlich wirklich Frank, zu Bett | 
und hatte fogar die Dede um den Kopf gemwidelt. Als 
Wirginski eintrat, erfchraf er entjeßlich, und ale Wir: о 
ginski zu Sprechen begann, fing er zur Antwort plößlich 7 


ап иле verrüdt unter der Dede mit Händen und Füßen 


abzuminfen, was wohl fo viel bedeuten follte, wie: man " 
jolle ihn doch nur ums Himmels willen damit verfchonen! - 


940 





FIR EEE EEE ее, — nn т 


— 








Wirginskis Ausführungen uͤber Schatoff ließen ihn aber 
doch aufhorchen. Die Nachricht, daß Wirginsfi von den 
anderen niemanden angetroffen hatte, regte den Kleinen 
aus irgendeinem runde furchtbar auf, doch beunruhigte 
auch er wiederum Wirgingfi mit der Mitteilung von 
Fedjkas Tod (Liputin hatte ihm diefe Neuigfeit gebracht), 
den er haftig und zufammenhanglos erzählte, Auf die 
Frage aber, die Wirginsfi an ihn ftellte: „Soll man nun 
hingehen oder foll man nicht hingehen?” begann er 
wieder mit Händen und Füßen unter der Dede abzu: 
winfen, wobei er diesmal flehentlich hervorftieß, er fei 
ja doch „bloß eine Nebenperfon! Weiß nichts, gar nichts |" 
Und zum Schluß: „Laffen Sie mich in Ru—u—uh !" 
Bedruͤckt und erregt fehrte Wirginsfi wieder heim. 
Was ihn am meiften bedrüdte, war vielleicht, daß er 
feine Sorgen vor feiner Familie verbergen mußte, Er 
hatte fich jo daran gewöhnt, feiner Frau alles mitzuteilen, 


daß er Geheimniffe faum mehr ertragen fonnte, und 


wenn jeßt nicht plößlich ein neuer Gedanke, ein gewiſſer 


friedenftiftender Plan in ihm aufgetaucht wäre, jo hätte 


er fich wohl auch wie Lämfchin vor Seelenangft zu Bett 
legen müfjen. Uber diefer neue Plan ftärkte ihn all 
mählich und zum Schluß glaubte er fogar fo feſt an die 
Möglichkeit, ihn verwirklichen zu Fönnen, daß er der 
Dämmerung faft mit Ungeduld entgegenfah und fchon 
früher als verabredet zum Treffpunft aufbrach. 

Es war das ein fehr finfterer Ort am Rande des 
Parkes von Skworeſchniki. 34 bin рат Hingegangen, 
um mit die Stelle genau anzufehen: wie muß es ihnen 
dort unheimlich geweſen fein, an jenem rauhen, dunklen 
Herbftabend... 


941 


Es mar fo dunkel unter den Bäumen, Бай man auf 


zwei Schritte den anderen nicht mehr fehen fonnte, | 


04 Piotr Stepanomwitich, Liputin und fpäter auch Erfel 
brachten Laternen mit. Ich weiß nicht, von wem und 
zu welchem Zweck hier irgendeinmal vor langer Zeit | 
aus großen unbehauenen Steinen eine Grotte erbaut | 
worden war. Der Tiſch und die Bänfe waren jeßt fchon 
längft verfault und auseinander gefallen. Ungefähr 
zweihundert Schritte rechts von мест Grotte endete 
der dritte Teich des Parks. Diefe drei Teiche zogen fich, 
vom Herrenhaufe an, über eine Werjt weit einer hinter 
dem anderen durch den ganzen Park. Es war ſchwer 
anzunehmen, daß man irgendein Geräufch, Фе те! 
oder jelbjt einen Schuß im Stawroginfchen Herrenhaufe 
hören würde. Da Nicolai Wſzewolodowitſch am Tage 
vorher fortgefahren und Alexei ZJegoromitjch wieder in ° 
die Stadtwohnung zurüdgefehrt war, fo durften im 
Herrenhaufe nicht mehr als fünf oder ſechs Dienftboten 
verblieben fein, lauter mehr oder weniger fozufagen 
invalide Leute. Jedenfalls fonnte man annehmen, 
wenigftens mit ziemlicher Wahrfcheinlichkeit, daß ſelbſt 
in dem Falle, daß jemand von ihnen Schreie hörte, er 
ih doch micht von der warmen Dfenbank erheben 
würde. | 
Zwanzig Minuten nach jechs hatten fich fchon alle — ° 
außer Erfel, der mit Schatoff fommen folite — an der _ 


bezeichneten Stelle eingefunden. Piotr Stepanomitih = 


ют diesmal nicht zu fpät: er erfchien zufammen mit 
Zolfatichenfo, der finfter und bejorgt ausfah und dejjen ° 
ganze vorgefpiegelte, frechsprahlerifche Entichloffenheit | 
verſchwunden war. Tolkatſchenko verließ Pjotr Stepa: © 


942 





nowitſch heute faft nicht auf einen Schritt, war ihm 
plöglich, wie es fchien, unermeßlich zugetan und flüfterte 
ihm jeden Augenblid gefchäftig irgend etwas zu; diefer 
antwortete ihm тей überhaupt nicht oder brummte де: 
ärgert nur ein paar Worte, um ihn loszuwerden. 

Schigaleff und Wirginsfi waren fogar ein menig 
früher eingetroffen а! Pjotr Stepanomitich. Als er 
erichien, traten fie fofort ein wenig zur Seite, in tiefem 
und offenbar abjihtlihem Schweigen. Piotr Stepano— 
witſch erhob die Laterne und betrachtete fie ungeniert 
mit beleidigender Aufmerkſamkeit. „Die wollen wieder 
reden”, zudte es ihm durch den Kopf. 

„Laͤmſchin ЧЕ nicht gelommen?“ fragte er Wirginsfi. 
„Wer hat es gejagt, daß er Frank iſt?“ 

„sch bin Мег“, meldete fich Lämfchin, plößlich Hinter 
einem Baum hervortretend,. 

Er war in einem warmen Paletot und dazu noch in 
ein großes Plaid feft eingemwidelt, jo daß man ihn fogar 
mit der Laterne nur fchwer in diefer Umhüllung er: 
fennen fonnte. 

„Alfo fehlt nur поф Liputin?” 

Da trat Liputin fchmeigend aus der Grotte. Piotr 
Stepanowitſch erhob wieder Ме Laterne. 

„Warum haben Sie |4 dorthin verfrochen, warum 
famen Sie nicht gleich heraus?” 

„sch nehme an, daß wir alle das Recht der Freiheit 
bewahren ... unjerer Bewegungen ...“ ermwiderte Lipu— 
tin, wahrjcheinlih, ohne felbft recht zu willen, was er 
eigentlich fagen wollte. 

„Meine Herren!" Piotr Stepanowitſch erhob die 
Stimme — gab jomit zum erftenmal den Flüfterton auf, 


943 


was einen gewiſſen Eindrud machte: „Sie verftehen, 
hoffe ich, daß wir hier nichts mehr breitzutreten brauchen. 
Geſtern ift alles gefagt und durchgefaut worden, Нат und 
beftimmt. Xber vielleicht will doch noch jemand, wie ich 
nach dem Ausdrud der Gejichter vermute, irgend etwas 
jagen? In dem Fall bitte ich, fich zu beeilen! Hol’s der 
Teufel, wir haben wenig Zeit und Erfel kann ihn jeden 
Augenblid bringen..." 

„Er wird ihn unbedingt mitbringen”, bemerkte aus 
einem unbefannten Grunde ЗоНаНфеп о. 

„Wenn ich mich nicht irre, jo muß er zuerft die Druck— 
maſchine abliefern?” erfundigte fich Liputin, wiederum 
gleichfam, als ob er felbft nicht wußte, wozu er das eigent: 
lich fragte. 

„Selbftverftändlich, wozu denn Sachen verlieren!” 
Piotr Stepanomitich erhob wieder die Laterne und Бе: 
leuchtete Liputins Geficht. „Uber wir find Doch geftern 
übereingefommen, daß man fie nicht wortwörtlid in 
Empfang zu nehmen braudt. Er foll Ihnen nur die 
Stelle zeigen, wo fie hier vergraben И, jpäter koͤnnen 
wir fie dann felbft herausgraben. Sch weiß, daß fie hier 
irgendwo zehn Schritt von irgendeiner Ede der Grotte 
liegt... Aber zum Teufel, Liputin, wie haben Sie das 
nur vergellen fünnen!? Es war doch abgemacht, daß 
Sie ihn allein treffen und wir ей fpäter hervortreten 
... Sonderbar, daß Sie поф fragen, — oder taten Sie 
es bloß jo?" 

Liputin ſchwieg mit finfterem Geficht. 

Alle ſchwiegen. Der Wind fchaufelte ме Wipfel der 
alten Kiefern. 

„sch hoffe, meine Herren, daß ein jeder feine Pflicht 


944 











tun wird”, fagte Piotr Stepanowitſch, der die Geduld 
verlor, jichtlich gereizt. 

„Sch weiß, daß Schatoffs Frau zu ihm zurüdgefehrt 
ИЕ und heute Nacht ein Kind geboren hat”, begann $168 
lich Wirginsfi aufgeregt, geftifulierend und fich fo über: 
Hürzend, daß er kaum die Worte hervorzubringen ver: 
mochte. „Und da man doc) dag Menfchenherz Fennt... 
koͤnnen wir ficher fein, daß er jeßt nicht denunzieren wird 
... er iſt jeßt gluͤcklich . . Sch war heute fchon bei allen, 
fand aber niemanden zu Haufe... 34 meine, daß jekt 
vielleicht nichts mehr zu befürchten Ш... —" 

Er brach ab vor Utemlofigfeit. 

„Wenn Sie, Herr Wirginsfi, plößlich glüdlich geworden 
wären, — Piotr Stepanowitſch trat auf ihn zu, „würden 
Sie dann etwas aufjchteben, was Sie fich vorgenommen 
haben, nicht eine Anzeige, davon kann Мег natürlich 
nicht die Rede fein, — aber irgendeine gewagte, bürger: 
liche Tat, die Sie ſchon vor Ihrem Gluͤck befchloffen haben 
und die auszuführen Sie für Ihre Pflicht und Schuldig— 
feit halten, troß der Gefahr für Sie und der Möglichkeit, 
Ihr Gluͤck zu verlieren?” 

„Nein, ich würde es nicht aufichieben! Auf feinen 
Hall würde ich es aufſchieben!“ beteuerte Wirginsfi mit 
einem ganz eigentümlich tölpelhaften Übereifer und 
wieder ganz in Bewegung. 

„Ste würden lieber wieder unglüdlich fein mollen, 
als die Tat nicht ausführen — und fich für einen Lump 
halten, nicht wahr?” 

„Sa, ja... Sch würde fogar ganz im Gegenteil... 
würde jogar ein ganzer Zump fein wollen... Das 
heißt, nein... nicht fo... durchaus nicht ein Lump, 


945 


mas einen дею еп Eindrud machte: „Sie verftehen, 
hoffe ich, daß wir hier nichts mehr breitzutreten brauchen. 
Geftern ift alles gejagt und durchgefaut worden, Нат und 
beftimmt. Aber vielleicht will doch noch jemand, wie ich 
nach dem Ausdrud der Gejichter vermute, irgend etwas 
jagen? Уп dem Fall bitte ich, fich zu beeilen! Hol’s der 
Zeufel, wir haben wenig Zeit und Erfel kann ihn jeden 
Augenblid bringen... 

„Er wird ihn unbedingt mitbringen”, bemerkte aus 
einem unbefannten Grunde Tolkatſchenko. 

„Wenn ich mich nicht irre, jo muß er zuerft die Drud- 
majfchine abliefern?" erfundigte ſich Liputin, wiederum 
gleichſam, als ob er felbft nicht wußte, wozu er das eigent= 
lich fragte. 

„Selbftverftändlih, wozu denn Sachen verlieren!” 
Piotr Stepanomitich erhob wieder die Laterne und Бе: 
leuchtete Liputins Geſicht. „Aber wir find Doch geftern 
übereingefommen, daß man fie nicht wortwoͤrtlich in 
Empfang zu nehmen braucht. Er foll Ihnen nur die 
Stelle zeigen, wo fie hier vergraben И, jpäter koͤnnen 
wir fie dann jelbft herausgraben. ch weiß, daß Пе hier 
irgendwo zehn Schritt von irgendeiner Ede der Grotte 
liegt... Aber zum Zeufel, Liputin, wie haben ©ie das 
nur vergeljen fönnen!? Es таг doch abgemacht, daß 
Sie ihn allein treffen und wir ей fpäter hervortreten 
... Sonderbar, daß Sie noch fragen, — oder taten Sie 
es bloß jo?" 

Liputin ſchwieg mit finfterem Geficht. 

Alle ſchwiegen. Der Wind jchaufelte ме Wipfel der 
alten Kiefern. 

„sch hoffe, meine Herren, daß ein jeder jeine Pflicht 


944 











tun wird”, fagte Piotr Stepanowitſch, der die Geduld 
verlor, fichtlich gereizt. 

„sch weiß, daß Schatoffs Frau zu ihm zurüdgefehrt 
ift und heute Nacht ein Kind geboren hat”, begann [В 
lich Wirginsfi aufgeregt, geftifulierend und fich fo über: 
Hürzend, daß er kaum die Worte hervorzubringen ver: 
mochte. „Und da man doch das Menfchenherz пп... 
Tonnen wir ficher fein, daß er jeßt nicht Denunzieren wird 
.. . er iſt jeßt gluͤcklich . . Sch war heute fchon bei allen, 
fand aber niemanden зи Haufe... Sch meine, daß jetzt 
vielleicht nichts mehr zu befürchten Ш... —" 

Er brach ab vor Utemlofigfeit. 

„Wenn Sie, Herr Wirginsfi, plößlich glüdlich geworden 
wären,” — Piotr Stepanowitſch trat auf ihn zu, „würden 
Sie dann etwas aufichieben, mas Sie fich vorgenommen 
` haben, nicht eine Anzeige, davon kann hier natürlich 
nicht die Rede fein, — aber irgendeine gemagte, bürger: 
liche Tat, die Sie ſchon vor Ihrem Gluͤck befchloffen haben 
und die auszuführen Sie für Ihre Pflicht und @фи в: 
keit halten, troß der Gefahr für Sie und der Möglichkeit, 
Ihr Süd zu verlieren?” 

„Kein, ich würde es nicht auffchieben! Auf feinen 
Hall würde ich es aufſchieben!“ beteuerte Wirginsfi mit 
einem ganz eigentümlich tölpelhaften Übereifer und 
wieder ganz in Bewegung. 

„Ste würden lieber wieder unglüdlich fein mollen, 
als die Tat nicht ausführen — und fich für einen Lump 
halten, nicht wahr?” 

„Sa, ja... Sch würde fogar ganz im Gegenteil... 
würde fogar ein ganzer Zump fein wollen... Das 
heißt, nein... nicht jo... durchaus nicht ein Lump, 


945 


ſondern . .. ich wollte fagen: im Gegenteil, lieber voll- 
fommen unglüdlich, als ein Lump...“ 

„Хип, jo merken Sie fich, daß Schatoff dieſe Anzeige 
für feine bürgerliche Heldentat hält, für eine Tat, Ме er 
feiner höchften Überzeugung fchuldig И. Und der Зе: 
weis: daß er doch auch Jich felbft damit in Gefahr begibt 
und der Regierung ausliefert, obſchon man ihm für die 
Anzeige natürlich manches verzeihen wird. Фо einer 
wird fein Vorhaben fchon nie aufgeben. Den kann fein 
Gluͤck befiegen: ſchon am пафЙеп Tage würde er fich 
bejinnen, ſich Vorwürfe machen, hingehen und e8 tun. 
Außerdem пп ich Fein befonderes Gluͤck darin ет: 
bliden, daß die Frau паф drei Fahren zu ihm zurüd: 
gefehrt И, um Stamrogins Kind zu gebären.” | 

„Aber es hat doch noch niemand feine Anzeige geſehen“, 
fagte Schigaleff plößlich und eindringlich. | 

„Die Anzeige habe ich geſehen,“ rief Pjotr Stepano: 
witſch, „пе ИЕ fertig, und dieſes müßige Gerede ift furdht: 
bar Dumm, meine Herren!" 

„sch aber,” fuhr plöglih Wirginsfi auf, „ich prote: 
ftiere... ich proteftiere aus aller Kraft... Ich will... 
Hören Sie, was ich will: ich will, daß wir, wenn er 
fommt, ihm alle entgegengehen und ihn alle fragen: 
wenn e8 wahr Ш, fo foll er bereuen, und wenn er fein 
Chrenmwort gibt, jo foll man ihn wieder freilaffen. Auf 
jeden Fall aber — Berhör, und dag Urteil паф dem ° 
Derhör! Und nicht, daß wir ung alle verfteden und ihn 7 
dann überfallen.” N 

„Auf ein Ehrenwort Ме ganze allgemeine Фафе ° 
ſetzen! — das iſt ſchon die Höhe aller Dummheit! Hol’s 7 
der Zeufel, wie das dumm ift!! Und mas Ш dag 


946 





für eine Rolle, ме Sie im Augenblid der Gefahr 
ipielen 

„Sch proteftiere, ich proteftiere, ich proteftiere”, wieder: 
holte Wirginsfi immer wieder. 

FJedenfalls fchreien Sie nicht jo, wir fünnen fonft 
das Signal nicht hören. Schatoff, meine Herren... 
(Teufel noch eins, wie dag jeßt dumm ift!) Sch habe 
Shnen |фоп gejagt, daß Schatoff Slamophile ift, das 
heißt fo viel, wie einer der vümmften Menfchen . . . Uber 
übrigens, zum Teufel, das ift jchließlich gleichgültig! Sie 
bringen mich nur aus dem Konzept!... Schatoff, meine 
Herren, war ein verbitterter Menfih, und da er immerhin 
noch zum Verband gehörte, ob er es wollte oder nicht, 
jo hoffte ich bis zum letzten Augenblid, daß die а 
gemeine Sache Jich feiner noch einmal werde bedienen 
fönnen — und zwar gerade ale eines verbitterten 
Menſchen. 34 Бабе ihn gehegt und gefchont, troß der 
ausdrüdlichften Snftruftionen... Sch habe ihn noch 
hundertmal mehr gefchont, als er eg wert war! Er aber 
endete damit, daß er feine Anzeige verfaßte, und nun — 
hol's der Teufel, das ift ja zum Anfpuden!... Sm übrigen 
joll e8 jeßt nur jemand von Ihnen zu verfuchen wagen, 
lich noch zurüdzuziehen! Kein einziger von Ihnen hat 
das Recht, die gemeinfame Sache zu verlaffen! Sie 
fönnen ihn meinetwegen noch alle vorher abfüffen, wenn 
Sie durchaus wollen, aber die allgemeine Sache auf 
ein Ehrenwort hin aufs Spiel zu feßen, dazu haben 
Sie nicht das Recht! So fünnen nur Schweine handeln, 
oder folche, die von der Regierung beftochen find!" 

„Ber ift denn Мег von der Regierung beftochen?“ 
warf Liputin dazwiſchen. 


947 


„Sie vielleicht. Es wäre |фоп bejjer, wenn Sie ganz 
den Mund hielten, Liputin. Sie jprechen ja nur fo, nur 
aus Angewohnheit. Beftochen, meine Herren, find alle 
Diejenigen, die im Augenblid der Gefahr feig werden. 
Aus Angft findet jich immer ein Rüpel, der in der lebten 
Minute hinläuft und logjchreit: ‚Ach, verzeihen Sie mit, 
und ich werde alle ausliefern!‘ Aber wiſſen Sie auch, 
meine Herren, daß man Sie jeßt für feine einzige Anzeige 
mehr begnadigen wird? Wenn man vielleicht auch 
Milderungsgründe zulaſſen würde — nah Gibirien 
ginge es doch mit jedem von Ihnen! Abgejehen davon, 
daß Sie аиф einem gewiſſen anderen Richtichwert nicht 
entgehen würden. Diejes andere Schwert aber Ш etwas 
Ihärfer, als das der Regierung.” 

Piotr Stepanomwitich war {0 wütend, daß er viel 
Überflüffiges jagte. Da trat Schigaleff feft drei Schritte 
auf ihn zu. 

„Seit dem geftrigen Abend habe ich die Sache bedacht”, 
begann er überzeugt und methodiſch wie immer. (Sch 
glaube, jelbft wenn ме Erde fich in diefem Augenblid 
unter ihm aufaetan hätte, аиф dann würde er weder 
den Ton, noch einen Ausdrud feiner Auseinanderjegung 
geändert haben.) „Und nachdem ich die Sache bedacht, 
bin ich zu dem Schluß gefommen, daß der beabjichtigte 
Mord nicht nur ein Verluft der Eoftbaren Zeit И, die zu 
etwas шей Wejentlicherem und Näherliegendem ver: 
wandt werden fönnte, fondern außerdem jenes ver: 
hängnisvolle Abweichen von der geraden Straße dar— 
Пей, das der Sache immer am meiften gejchadet und 
ihren Erfolg auf Zahrzehnte hinausgefchoben hat, indem 
е8 die Sache dem Einfluß leichtjinniger und vornehmlich 


948 





politifcher Menfchen, ftatt reinen Sozialiſten unterftellt 
hat. 34 bin einzig zu dem Zwed hergefommen, um 
gegen das beabjichtigte Vorhaben offen zu proteftieren 
und dann — mich von diefem Augenblid an, den Sie, 
ich weiß nicht warum, den Yugenblid der Gefahr nannten, 
zurüdzuziehen. Sch gehe fort — doch nicht aus Furcht 
vor der Öcfahr oder aus befonderen Gefühlen zu Schatoff, 
den ‚abzufüffen‘ ich abfolut feine Luft habe, fondern 
einzig, weil diefe Sache vom Anfang bis zum Ende buch— 
ftäblich meinem Programm miderfpricht. Eine Denun: 
ziation haben Sie von mir nicht zu fürchten. Sie fünnen 
ruhig fein — ich werde Sie nicht anzeigen.” 

Und damit wandte er fich und ging. 

„zeufel, er geht ihnen entgegen und wird Schatoff 
warnen!” rief Piotr Stepanowitich und riß feinen 
Revolver hervor. 

Man hörte das Knaden des Hahnes. 

„Sie fönnen überzeugt fein, wandte fich Schigaleff 
ruhig wieder zurüd, „daß ich, wenn ich Schatoff unter: 
wegs treffen follte, ihn vielleicht noch grüßen werde, ihn 
warnen aber, das ift nicht meine Sache!" 

„Бег willen Sie auch, mein Herr Fourier, daß Ihnen 
das teuer zu ftehen fommen kann?“ 

„sch bitte Sie, zu beachten, daß ich fein Fourier bin. 
Dadurch, daß Sie mich mit diefem füßlichen, apathifchen 
Abftrahiften verwechjeln, beweifen Sie nur, daß Sie 
mein Manufiript, wenn е8 auch in Ihren Händen ge: 
weſen НЕ, überhaupt nicht verftanden haben. Зп betreff 
Ihrer Rache aber |аде ich Ihnen nur, daß Sie ganz 
umfonft den Hahn geipannt haben, in diefem Yugenblid 
ИЕ das für Sie durchaus unvorteilhaft. Wenn Sie mir 


949 


aber für morgen oder übermorgen drohen, jo braͤchte 
Ihnen die Ausführung, außer unnüßer Mühe, doch 
feinen Gewinn: mich würden Sie zwar erfchießen, früher 
oder {рег aber würden Sie doch zu meinem Syſtem 
fommen. Leben Sie wohl.” 

уп diefem Augenblick ertönte ungefähr zweihundert 
Schritte weit aus dem Park, von der Seite des Teiches 
ber, ein heller Pfiff. Liputin antwortete, wie verabredet, 
jofort gleichfalls mit einem Pfiff — er hatte fich zu dieſem 
Зтеф am Morgen eine Kinderpfeife aus gebranntem 
Зоп für eine Kopefe auf dem Markt erftanden, da er 
lich auf feinen ziemlich zahnlofen Mund nicht ganz ver: 
laſſen fonnte. 

Erfel Бане Schatoff jchon vorher mitgeteilt, daß er 
mit Liputin einen Pfiff austauschen werde. 

„Beunruhigen Sie 14$ nicht, ich werde abjeits von 
ihnen vorübergehen und fie werden mid, gar nicht Бе: 
merfen”, ſagte Schigaleff in eindringlihem Flüfterton. 

Und er ging ohne Haft und ohne den Schritt зи Бе: 
Ihleunigen, tatfächlich durch den dunklen Park nach Haus, 

Heute Ш es bis in die Heinften Einzelheiten befannt, 
wie dieje fchredlihe Tat geſchah. Зией trat Liputin 
Erfel und Schatoff ein paar Schritte von der Grotte 
entgegen. Schatoff grüßte ihn nicht und gab ihm auch 
nicht die Hand, fondern fagte fofort eilig und laut: 

„Зо Ш denn hier die Anhöhe? Haben Sie nicht поф 
eine Katerne? Fuͤrchten Sie fich nicht, Мег ift jo gut 


wie fein Menſch in der Nähe, wir fönnten jelbft mit 


Kanonen jchießen, in Sfworefchnifi würde es doch 
niemand hören. Das Ш übrigens Мег, genau hier, 
genau auf diejer Stelle...” 


950 


GT Da “ва at - u Fe u пери и a RAN 





Und er ftieß mit dem Fuß auf die Erde — e8 war 
gerade zehn Schritt von der hinteren Ede der Grotte 
zum Walde hin. In diefem Augenblid ftürzte fich, hinter 
einem Baum hervorlaufend, Tolkatſchenko auf ihn, mäh: 
rend Erfel ihn hinterrüds an den Ellenbogen padte 
und Liputin fich von vorne auf ihn warf. Die drei 
Ihlugen ihn fofort zu Boden und drüdten ihn an die 
Erde. Da erft lief Piotr Stepanomitich mit dem Revolver 
herbei. Man fagt, Schatoff Habe gerade noch Zeit gehabt, 
jeinen Kopf zu ihm zu wenden und ihn zu erfennen. 
Drei Katernen erhellten die Szene. Schatoff ftieß 
plößlich einen furzen und verzweifelten Schrei aus; Doch 
man ließ ihm feine Zeit zum Schreien: Piotr Stepano: 
witſch jeßte ihm genau und ficher den Revolver mitten 
auf die Stirn, ей und fenfrecht, und — drüdte den Hahn 
ab. Der Schuß war, glaube ich, nicht ſehr laut, wenigſtens 
hat ihn in Skworeſchniki niemand gehört. Gehört hat 
ihn natürlich Schigaleff, der erft einige dreißig Schritte 
gegangen war — gehört hatte er auch den Schrei, doch 
hat er jich nach feiner eigenen Nusfage weder umgewandt, 
noch war er fliehen geblieben. Der Tod trat faft augen: 
‚blidlich ein. Die volle Geiftesgegenwart — doch Kalt: 
blütigfeit wohl faum — behielt nur Piotr Stepanowitſch. 
‚Er hodte ſich Hin und durchſuchte eilig, doch mit fefter 
Hand, die Tafchen des Toten. Geld fand fich nicht in 
ihnen (Maria Ignatjewnas Beutelchen war unter ihrem 
Kiljen geblieben); nur ein paar nichtsfagende Zettelchen 
$09 er hervor: einen Kontorzettel, ein Notizblatt mit dem 
Zitel irgendeines Buches und eine alte ausländifche 
Gafthausrechnung, die fich weiß Gott auf welche Weife 
zwei Заме in Schatoffs Taſche erhalten Hatte. Die 


951 


Papiere jtedte Pjotr Stepanomitich zu fich, und als er 
plöglich bemerkte, daß alle die Leiche umftanden, fie ап: 
jahen und nichts taten, begann er wütend und unhöflich 
zu fchimpfen und fie anzutreiben. Tolkatſchenko und 
Erfel liefen jogleich, ji nun wieder bejinnend, in die 
Grotte und brachten zwei Steine, jeder an zwanzig 
Pfund jchwer, die fie ſchon am Morgen vorbereitet, das 
beißt, ей mit Schnüren umbunden hatten. Da man 
verabredet hatte, die Leiche in den naͤchſten, den dritten 
Teich zu verjenfen, jo mußten ihr мае Steine an den 
Hals und die Beine gebunden werden. Piotr Stepano= 
witſch band Не an: Erfel und Tolkatſchenko reichten fie 
ihm nur hin. Erfel gab ihm jeinen Stein zuerft, und 
während Pjotr Stepanomitjch ihn murrend und ſchimp— 
fend an die Füße der Leiche band, hielt Zolkatichenfo 
feinen ſchweren Stein dieſe ganze ziemlich lange Zeit 
über fenfrecht an den Schnüren in der Luft, mobei er 
jich ftarf und faft wie ehrerbietig mit dem ganzen Ober: 
förper nach vorne beugte, um ihn ohne Zeitverluft ſofort 
hinreichen zu Fönnen, und verfiel fein einziges Mal 
darauf, die ſchwere Laſt inzwiſchen auf die Erde zu ftellen. 
Als dann endlich beide Steine angebunden waren und 
Piotr Stepanomwitich ſich erhob, um zunaͤchſt jeinen Blid | 
prüfend über die Gefichter der Anweſenden zu führen — | 
da geſchah plößlich etmas ganz Sonderbares, etwas, das ” 
niemand erwartet hatte und das alle nicht wenig in Er= 7 
ftaunen jeßte. | 

Wie ſchon erwähnt, ftanden гай alle und taten nichts. ° 
Wirginski war, als die anderen ſich auf Schatoff geftürzt ” 
hatten, wohl auch hinzugelaufen, 204 hatte er weder ° 
geholfen, ihn zu halten, noch ihn überhaupt angerührt. = 


952 





Lämfchin aber war erft nach dem Schuß unter den 
anderen aufgetaucht. Während der ganzen, vielleicht 
zehn Minuten mwährenden Unterfuchung der Taſchen 
und Anbindung der Steine hatten fie dann alle gleichfam 
einen Teil ihres Bewußtſeins verloren. Sie ftanden um 
Piotr Stevanowitfch herum und empfanden, ftatt 
Unruhe oder Erregung, zunächft nur fo etwas wie Зет: 
wunderung. Liputin ftand ganz vorn neben der Leiche. 
Wirginski, der fich hinter Ши geftellt Hatte, fah über 
Liputins Schulter mit einer fonderbaren und gewiſſer— 
maßen nebenjächlichen Neugier auf die Leiche; ja er 
bob fich fogar auf die Зи реп, um beſſer fehen zu 
fönnen. Laͤmſchin aber verftedte fich hinter Wirginsfi 
und blidte nur zuweilen furchtfam hinter diefem hervor, 
worauf er fich dann fofort wieder verftedte. Als nun 
die Steine angebunden waren und Piotr Stepanowitſch 
fih erhob, begann Wirginski auf einmal zu zittern, und 
ploͤtzlich — warf er die Arme hoch und rief traurig mit 
lauter Stimme: 

„Das ift Doch nicht das! nicht das! Nein, das Ш doch 
gar nicht dag!" 

Er hätte vielleicht noch etwas hinzugefügt zu feinem 
verjpäteten Ausruf, aber Laͤmſchin Пей ihm feine Zeit 
dazu: plößlich padte er ihn hinterrüde und quetichte ihr 
mit aller Gewalt und fchrie dabei ein ganz unmögliches 
Geſchrei. Es gibt Augenblide eines ftarfen Schredens, 
in denen der Menich plößlich wie nicht mit feiner eigenen 
Stimme auffchreit, jondern mit einer, die man nie an 
ihm gehört hat und deren Vorhandenfein in ihm man 
nie für möglich gehalten hätte, und das апп manchmal 
jogar recht unheimlich fein. Lämfchin fehrie nicht mit 


61 Doftojem3tti, Die Dämonen. 35.1. 953 


einer menjchlichen, fondern mit einer gleichlam tierifchen 
Stimme. Dabei preßte er Wirginski frampfhaft von 
hinten zujammen, jchrie ohne Unterlaß, jchrie ohne Atem 
zu fchöpfen, fchrie immer ein und denjelben Ton, während 
ihm die Yugen ГаЙ hervorquoilen und der Mund uns 
heimlich тей aufgerijjen blieb; mit den Beinen aber 
ftrampelte er fo zitterjchnell, als ob er mit ihnen einen 


Trommelwirbel auf der Erde fchlagen wollte, Wirginsfi 


erjchraf dermaßen, daß er ſelbſt jofort wie ein Wahne 
Jinniger 108|фие und 14 in einer jo grimmigen Wut, 
wie man fie von Wirginsfi nie im Leben ermartet hätte, 
aus Laͤmſchins Krallen zu befreien fuchte, auf ihn, den 
er nur ſchwer falfen fonnte, mit den Fäuften nach hinten 
losjchlug, ihn ВИЙ und fragte. Endlich gelang es Erfel, 
Laͤmſchin von ihm loszureißen., Doch faum war Wir: 
ginski entjeßt gleich auf zehn Schritt von ihm fortgelaufen, 
da ffürzte fich Зато, der nun Pjote @ерапою 
erblidte, plößlich mit neuem Geſchrei auf diefen, ftolperte 
jedoch über die vor feinen Füßen liegende Leiche und riß 
Pjotr Stepanowitih im Fall mit fich zu Boden. Er 
umfrallte ihn aber jo feft und drüdte feinen Kopf jo 
frampfhaft an deſſen Bruft, daß weder Piotr Stepano— 
witſch jelbft, noch Zolfatjchenko, noch Liputin ihn im 
erften Augenblid logreißen fonnten. Pjotr Ötepano- 
witjch fchrie, fehimpfte, jchlug ihn mit den Fäuften auf 
den Kopf, bis es ihm endlich gelang, 4 irgendwie zu 
befreien; im Augenblid riß er feinen Revolver hervor — 
doch Lämfchin, den die anderen an den Armen hielten, 
fuhr fort zu fchreien, Нов des auf ihn zielenden Revol— 
verg, er |фие, |фие wie beſeſſen! Bis jchließlich Erfel, 
der jchnell [ет Zafchentuch zufammengerolit hatte, ihm 


954 


diejes gewandt in den aufgejperrten Mund ftedte, fo 
daß der Schrei dann ganz von felbjt plößlich abbrach. 
Tolkatſchenko band ihm ſofort mit einem Stüd der übrig 
gebliebenen Schnur die Hände auf dem Nüden zu: 
fammen. 

„Das ift jehr fonderbar”, fagte Piotr Stepanomitich 
und betrachtete in beunruhigier Werwunderung den 
Verruͤckten. 

Er war ſichtlich betroffen. 

„Sch hatte ihn ganz anders eingeſchaͤtzt“, fügte er 
nachdenklich hinzu. 

Vorläufig übergab man ihn Erfel, denn man mußte 
fih mit der Fortichaffung der Leiche beeilen: es war fo 
viel gefchrien worden, daß её doch jemand gehört haben 
fonnte. Tolkatſchenko und Piotr Stepanomitich rahmen 
die Katernen und hoben den Kopf des Toten, Kiputin 
und Wirgingfi faßten Ши an den Füßen, und fo wurde 
er dann getragen. Mit den beiden Steinen war die 
Laft jehr jchwer, die Entfernung aber betrug über zwei: 
hundert Schritte. Der Stärfite von ihnen war Tolka— 
tichenfo. Er gab wohl den Nat, gleichmäßig zu gehen, 
doch niemand hörte auf ihn, und jo ging man denn, wie 
e8 gerade мт. Piotr Stepanomitich ging rechts und 
trug, ganz niedergebeugt, auf feiner Schulter den Kopf 
des Toten, wobei er noch mit der linken Hand den Stein 
von unten hielt. Da Tolkatſchenko während der ganzen 
eriten Hälfte des Weges nicht darauf verfiel, den Stein 
gleichfalls zu ftüßen, jo |фие ihn Piotr Stepanowitſch 
Ihließlih fluhend ап. Der Schrei war furz und felt- 
fam in der Stille: fchweigend trugen fie weiter, bis 
plößlich, fehon dicht am Teich, wieder Wirginski, der 


61* 955 


unter der Laft ganz gebeugt ging und иле erjchöpft von 
ihrer Schwere, mit derfelben lauten und mweinenden 
Stimme ausrief: 

„Das Ш nicht das, nein, nein, das ИЕ gar nicht das!" 

Die Stelle, wo diefer dritte, ziemlich große Teich auf: 
hört, zu dem man den Toten trug, war die einfamite 
und abgelegenite des ganzen Parks. Der Teich ift dort 
am Ufer vergraft. Sie ЙеШеп die Laternen nieder, 
ſchwenkten die Leiche hin und Бег und warfen fie ins 
Waſſer. Ein dumpfshohler Laut erfcholl und Hang 
lange nad. Piotr Stepanomitich erhob die Laterne 
und alle redten neugierig die Hälfe, um zu fehen, mie 
der Körper verſank, aber es war |фоп nichts mehr zu 
jehen: die Leiche mit den beiden Steinen mar ſogleich 
verjunfen. Die diden Wellenringe, die ſich über die Fläche 
des Teiches ausbreiteten, vergingen jchnell. Die Tat 
war vollbracht. 

„Meine Herren," wandte 14 Pjotr Stepanomitich ап 
alle, „ießt gehen wir auseinander. Zmeifellos müfjen 
Sie nunmehr jenen Stolz empfinden, der mit der Er: 
füllung einer freien Pflicht verfnüpft ift. Sollten Sie 
vielleicht bedauerlicherweife für ſolche Gefühle zu erregt 
fein, fo merden Sie fie zweifellos morgen empfinden, 
wenn e8 fchon eine Schande wäre, fie nicht zu empfin= 
den. Die unverzeihlihe Erregung Laͤmſchins will ich 
als eine Art Fieberdelirium auffallen, zumal er ja tat- 
ſaͤchlich ſeit dem Morgen Frank fein foll. Ihnen aber, 
Wirginski, wird ſchon der ее Augenblid freien ад: 
denfens beweifen, daß man im Intereſſe der allgemeinen 
Sache unmöglih auf ein Ehrenwort eingehen fonnte, 
ſondern einzig und allein fo handeln mußte, wie wir es 


956 








wenn jene аиф & wird Ihnen zeigen, daß 


immerhin m“ $ ‚ig war. Sch bin bereit, auch 
Wirg⸗ ES м. Eine Gefahr für uns Ш 
tee” 6? $ < © niemandem einfallen, irgend: 
ES yerdächtigen, vorausgefeht natür- 

F venehmen wiſſen. So hängt denn 

‚von Ihnen ab und von Shrer Über: 

{ gehandelt zu haben, — eine Über: 
zeug.. e ich hoffe, fich |фоп morgen in Ihnen 


befeitigen » . Darum haben Sie fich ja auch — unter 
anderem — zu einer gefchloffenen Organifation, zu einer 
freien Gefellichaft Gleichdenfender zufammengetan, um 
für die allgemeine Sache im gegebenen Moment die 
Energie miteinander zu teilen, und, wenn es nötig ift, 
einer den anderen zu beobachten und immer auf dem 
Poften zu fein. Зерек von Ihnen ift zu einer höheren 
Rechenſchaft verpflichtet. Ste find berufen, ein alters: 
ſchwaches und im Stillftand langfam zu ftinfen сп: 
fangendes Reich zu erneuern. Das follen Sie flets zu 
Shrer YAufmunterung vor Augen haben! Зе ganze 
Aufgabe befteht vorläufig nur darin, darauf hinzumirfen, 
daß alles zufammenftürzt: das Neich wie feine Moral. 
Übrigbleiben werden nur wir, die wir ung fchon dazu 
vorausbeftimmt und vorbereitet haben, die Macht in 
unjere Hände zu nehmen. Die Klugen ziehen wir zu 
ung herüber, und auf den Dummen тейеп wir. Эт 
übrigen muß man die Generation neu erziehen, um fie 
der Freiheit würdig zu machen. Noch viele Taufend 
Srhatoffs ftehen ung bevor. Wir organifieren uns, um 
die ganze Richtung in die Hand zu befommen, da wäre 
28 dumm, alles, was müßig daliegt und das Maul auf: 


957 


jperrt, nicht mitzunehmen. 3% begevaie erfchöpft von 
zu Kirilloff und zum Morgen Ми werde. weinenden 
bejagtes Dofument erhalten, in dem er vor den. 

alles auf fih nimmt. Nichts kann mahricheinlicher jew 


als dieſe Kombination. Erftens fand er mit Schatoff ' 


auf feindichaftlihem Fuße: fie haben zufammen in 
Ameiifa gelebt, aljo haben Пе Zeit gehabt, 14 zu über: 
werfen. Man meiß, daß Schatoff feine Überzeugungen 
geändert hat; folglich Ш ihre Feindſchaft wegen dieſer 
Überzeugungen entflanden. Hinzu fäme noch die Furcht 
vor einer Denunziation. Das wird auch alles jo де: 
Ichrieben werden. Zum Schluß wird noch erwähnt, daß 
Fedjka in Kirilloffs Wohnung gefchlafen hat. Das alles 
wird jeden Verdacht von Ihnen entfernen, denn e8 wird 
die Schafsföpfe in eine ganz andere Richtung treiben. 
Morgen, meine Herren, werden mir uns nicht jehen: 
ich muß auf ganz furze Zeit in den nächften Kreis fahren. 
Aber übermorgen werden Sie meine Mitteilungen er: 
halten. 34 würde Ihnen eigentlich raten, morgen zu 
Haufe zu bleiben. Seht aber gehen wir alle je zwei 
zufammen auf verfchiedenen Wegen zurüd. Sie, Tolka— 
tichenfo, bitte ich, Jih Lämjhins anzunehmen und ihn 
nach Haufe zu bringen. Sie fünnen ihm alles auseinander: 
jeßen und vor allen Dingen erklären, daß er mit feinem 
Kleinmut in erfter Linie fich ſelbſt ſchadet. Ihrem 
Schwager, Schigaleff, Herr Wirginski, gung mie auch 
Shnen, will ich nicht mißtrauen. Er wird nicht denun⸗ 
zieren. Es bleibt nur feine Handlung zu bedauern. 
Übrigens hat er ja noch nicht gejagt, daß er aus dem 
Derbande austreten will. Das legte Wort Ш aljo noch 
nicht gejprochen. Doch jetzt jchnell, meine Herren; 


958 






mwenn jene auch Schafsköpfe find, jo kann doch Vorficht 
immerhin nicht ſchaden ...“ 

MWirginsfi ging mit Erfel in die Stadt zurüd. Lehterer 
trat noch, bevor er Laͤmſchin Tolkatſchenko überließ, mit 
diefem zu Piotr Stepanomwitich und fagte, daß Lämjchin 
fih bejonnen habe, bereue, um Verzeihung bitte und 
fogar ſelbſt nicht mehr ое, was eigentlich vorhin mit 
ihm gejchehen war. Pjotr Stepanowitſch aing allein 
fort: er wählte den längjten Weg, an der anderen Seite 
der Teiche, am Rande des Parfes entlang. Зи feiner 
Verwunderung Бойе ihn, als er ſchon die Hälfte des 
Meges zurüdgelegt hatte, plößlich Liputin atemlos ein. 

„Piotr Stepanowitſch, aber Lämfchin wird Doc 
denungzieren !" 

„Nein, er wird zur DBelinnung fommen und fich 
lagen, daß er dann als erfter nach Sibirien ginge. Gebt 
wird niemand mehr denunzieren. Auch Sie nicht.” 

„Uber Sie?" 

„zweifellos werde ich Sie alle verfchwinden laſſen, 
fobald Sie fich nur einfallen ließen, etwas verraten zu 
wollen, und das шеи Sie. Aber Sie werden nicht 
denungieren, Sind Sie mir deshalb zwei Werft nach» 
gelaufen?" 

„Piotr Stepanomitich, Piotr Stepanowitſch, aber mir 
werden ung doch vielleicht nie mehr ſehen!“ 

„Wie formen Sie darauf?” 

„Sagen Sie mir nur eines!" 

„Nun, was denn? Übrigens wünfche ich, daß Sie ſich 
packen.“ 

„Nur eine Antwort, aber daß ſie auch richtig iſt: ſind 
ши die einzige ‚Fünf‘ in der Welt, oder iſt es wahr, 


959 


oder andere — das meiß ich nicht. Diefer Befehl traf 
Мет gerade noch zur richtigen Zeit ein, um den unheime 
lihen Eindruf und die Angſt verftärfen zu helfen, vie 
plöglih итеге immer поф jo leichtfinnige Geſellſchaft 
amt Polizei und Verwaltung ergriffen hatte, als mit 
einem Male die geheimnisvelle und ſchwerwiegende Er: 
mordung des Studenten Schatoff, ſowie die rätfelhaften 
Umftände, von denen fie begleitet war, befannt wurden 


Aber der Befehl ſelbſt Fam zu jpät: Piotr Stepanowitſch 
war fchon unter fremdem Namen in Petersburg, von || 
mo aus er dann fchnell über die Grenze entwifchte. — | 


Doch ich greife vor. 


Als Werchowenski bei Kirilloff eintrat, аб er döfe und 


zanffüchtig aus: es mar, als ob ег Kirilloff außer der 
Hauptfache noch ganz perjönlich etwas antun, jih ап 


ihm für irgend etwas noch ganz bejonders rächen о 


wollte. 


Kirilloff war über fein Erfcheinen gleichfam erfreut; _ 


man fah, daß er {фоп furchtbar lange und in frankhafter 
Ungeduld auf ihn gemartet hatte. Sein Geſicht mar 


bleicher als gemöhnlich, der ЗИ der dunklen Augen ° 


Ihmer und unbeweglich. 
„sch dachte, Sie fommen nicht”, jagte er ſchwer von 


der Sofaede aus, in der er übrigens fißen blieb, ſtatt 


feinem Gaft entgegenzugehen. 


Pjotr Stepanowitſch blieb vor ihm ftehen und mufterte | 
зипаФЯ, bevor er ет Wort ſprach, prüfend Kirilloffs 


Geſicht. 


„Alſo alles in Ordnung und wir treten von unſerem 
Vorhaben nicht zuruͤck, das iſt brav!” ſagte er mit Бе: | 


leidigend gönnerhaftem Lächeln. „Nun, und daß ich 


962 


| 
| 


.. —- — —— 





h 


etwas fpät gelommen bin,” fügte er mit gemeiner Scherze 
haftigkeit hinzu, „darüber hätten Sie ſich doch nicht zu 
beklagen: Бабе Ihnen doch ſomit drei Stunden де: 
ſchenkt.“ 

„Sch will von Ihnen gar keine uͤberfluͤſſigen Stunden 
geichenft haben, und du fannft mir überhaupt nichts 
Ichenfen..., Dumnifopf !” 

„Bas? Piotr Stepanomitfch fuhr fchon auf, Бе: 
herrſchte Jich aber jofort. „Das ift mir mal eine Empfind— 
lichkeit! Ach fo, wir find wohl erzürnt?” fragte er ſcharf, 
mit demjelben beleidigenden Hochmut. „Sn jo einem 
Yugenblid Ш Ruhe mehr am Plab. Am beiten wäre 
e8 aber, 14 für Kolumbus zu halten, und auf mich wie 
auf eine Maus, die einen überhaupt nicht beleidigen fann, 
herabzuſehen. Das habe ich fchon geftern anempfohlen.” 

„Sch mill nicht auf Lich wie auf eine Maus ſehen.“ 

„Bas foll dag, ein Kompliment?... Hm, auch der 
Зее Ш kalt — alfo alles drunter und drüber. Nein, das 
ift mir zu unzuverläflig. Ah! aber mas jehe ich denn dort 
auf dem Fenfterbrett?“ (ег ging hin). ‚„Wahrhaftig — 
ein Huhn mit Reis!... Warum haben Sie mir das bis 
jeßt noch nicht angeboten? Wir defanden uns aljo in 
einer Gemuͤtsverfaſſung, die fogar ein Huhn..." 

„sch Бабе gegeſſen, und das Ш nicht Ihre Sache. 
Schweigen Sie!" 

„Dh, natürlich, und zudem ift das ап 14 ja auch ganz 
gleichgültig. Bloß mir Ш с8 ео nicht gleichgültig: 
denfen Sie fich, ich habe heute jo gut wie gar nicht zu 
Mittag gejpeift und darum, wenn jeßt diejes Huhn, wie 
‚ich annehme, nicht mehr nötig Ш, — wie?” 

„Siien Sie, wenn Sie können.” 


„Ei, danke, und dann nachher noch Tee.” | 

Er jeßte 14 im Nu an den Tiich, am anderen Ende | 
des Sofas, und machte fich mit ungewöhnlicher Gier | 
ans Ejjen; doch gleichzeitig beobachtete er jeden Augen= | 
blid {ет Opfer. Kirilloff jah ihm mit Бет Widermillen 
regungslos zu, wie außeritande, jeinen ЗИ von ihm | 
loszureißen. 

„Einſtweilen,“ — Piotr Stepanomitich {аб plößlich 
auf, fuhr aber fort zu eſſen — „mie wird es denn damit? ' 
Alſo, wir treten nicht zurüd, wie? Und der Zettel?" 

„Ich babe in diejer Nacht fetgeftellt, daß es mir ° 
einerlei Ш. Werde fchreiben. Die Proflamationen?” | 

„За, auch die Proflamationen. Übrigens, ich werde 
Ihnen dikiieren. Ihnen ift es doch ganz gleich. Könnte 
denn der Inhalt Sie in diefen Minuten wirklich noch 
beunruhigen?” | 

„Das geht dich nichts an.“ 

„Natürlich nicht. Übrigens... im ganzen nur ein 
paar Zeilen: daß Sie mit Schatoff die Proflamationen 
verbreitet haben, unter anderem, mit Hilfe Fedjkag, der 
lich hier in Эбтег Wohnung verborgen hat. Dieſer leßte 
Punkt über Fedjka und die Wohnung ift jehr wichtig, 
ſogar der allerwichtigfte. Sehen Sie, 14 bin ganz auf⸗ 
richtig zu Ihnen.“ | 

„Schatoff? Warum mit Schatoff? Auf feinen Fall 
ſchreibe ich von Schatoff.“ Е 

„Das fehlte noch, was macht Ihnen denn das aus? " 
Schaden fönnen Sie ihm ja doch nicht mehr.” 

„Seine Frau ift zu Шт gefommen. Sie wachte auf | 
und ſchickte zu mir fragen, wo er ЦЕ?" 

„Sie hat zu Zhnen geichidt, um zu erfahren, wo er 


964 





ift? Hm... das iſt nicht... Dann fönnte fie ja wieder 
Ihiden... Hören Sie, niemand darf erfahren, daß ich 
Мег bin...‘ 

Piotr Stepanowitſch wurde unruhig. 

„Sie wird nicht erfahren, fchläft wieder. Bei ihr ift 
eine Frau, Зита Wirginskaja.“ 

„Schön, ſchoͤn, und... wird es auch nicht hören, 
denfe ich? Wifjen Sie, wäre es nicht bejjer, die Flurtür 
zu verriegeln?" 

„Bird nichts hören. Und wenn Schatoff fommt, 
verftede ich Sie ins andere Zimmer.” 

„Schatoff wird nicht fommen; und @е werden 
Ichreiben, daß Sie fich mit ihm wegen Verrat und 
Denunziation überworfen haben... heute Abend... 
und die Urfache feines Todes find. 

„Er Ш tot!” ftieß Kirilloff aufjpringend hervor. 

„реше um acht Uhr abends, oder richtiger, geſtern 
um acht Uhr abends, denn jeßt ift es ſchon ein Uhr.” 

„Du haft ihn ermordet!... Und ich habe das geftern 
vorausgewußt!“ 

„Waͤre auch was geweſen, das nicht vorauszuſehen! 
Hier, ſehen Sie, mit dieſem Revolver!“ (Er zog ſeinen 
Revolver aus der Taſche, anſcheinend nur um ihn zu 
zeigen, doch ſteckte er ihn nicht wieder zuruͤck, ſondern 
behielt ihn in der rechten Hand, wie in Bereitſchaft.) 
„Sie ſind doch ein ſonderbarer Menſch, Kirilloff, Sie 
wußten ja ſchon laͤngſt, daß es mit dieſem dummen 
Menſchen gerade ein ſolches Ende nehmen mußte. Was 
iſt denn hier noch vorauszuſehen? Ich habe es Ihnen 
ſchon mehrmals foͤrmlich in den Mund gelegt. Scha— 
toff bereitete eine Anzeige vor: ich beobachtete ihn; 


965 


man fonnte ihn auf feine Weife fo lafjen. За, und аиф 
Sie hatten doch den Auftrag, auf ihn aufzupafjen: Sie 
haben mir doch felbft noch vor drei Wochen .. .“ 

„Schweig! Das haft du ihn dafür, daß er dir in Genf 
ins Geficht geipudt hat!“ 

„uch dafür, und auch noch für anderes. Für vieles 
andere; übrigens ohne jede Bosheit meinerfeits. Warum 
da aufipringen? Wozu Pojen annehmen? Oho! Alſo 
jo find wir! ...“ 

Er jprang auf und erhob feinen Revolver. Kirilloff 
hatte nämlich feinen Revolver, der |фоп jeit Фет Morgen 
geladen тат, vom Feniterbrett genommen. Piotr 
Stepanowitſch ftellte jih in Politur und u. auf 
Kirilloff. Der lachte böje auf. 

„Geſteh nur, Schurke, du haft deinen Revolver bloß 
darum genommen, daß ich dich erſchieße . . . Uber ich 
werde dich nicht erſchießen . .. obgleich... . обе...” 

Und wieder erhob er jeinen Revolver und zielte auf - 
Pjotr Stepanomitich, wie außerjtande, auf das Ver-⸗ 
gnügen zu verzichten: fich vorzuftellen, wie das wäre, — 
wenn er Piotr Stepanowitich jeßt mit einem Schuß 
niederftreden mürde. Piotr Stepanowitſch wartete 


immer поф in Politur, wartete bis zum leßten Augen: it 


blid, wartete mit gejpanntem Hahn, wobei er doch 
risfierte, felbit eine Kugel in die Stirn zu befommen: 
von diefem „Maniak“, wie er Kirilloff kurzweg nannte, | 
war das zu erwarten. Aber ver „Maniak“ ließ jchließlih 
die Hand finfen, atemlos und zitternd und unfähig zu 
Iprechen. 

„Sie haben gefpielt, nun und genug jeßt. Piotr 
Stepanomwitjch ſenkte gleichfalls feinen Revolver. „Ich 


966 








mußte e8 ja, daß Sie fpielten. Nur, wilfen Ste, Sie 
mwagten Doch viel: ich hätte abdrüden fünnen.” 

Und er feßte ſich ziemlich ruhig wieder auf das Sofa 
und goß fich — übrigens 204 mit ein wenig zitternder 
Hand — Tee ет. Kirilloff legte den Revolver auf den 
Tiſch und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. 

— „3 werde nicht fehreiben, daß ich Schatoff getötet 
Бабе, und... ich werde jegt überhaupt nichts ſchreiben. 
68 wird feinen Zettel geben! 

„Nicht?“ 

„Nein. 

„Welch eine Gemeinheit und was für eine Dummheit!“ 
Pjotr Stepanowitjch wurde vor Wut ganz fahl im Ges 
licht. „Uber ich Бабе ja |фоп fo etwas geahnt. Wiffen 
Sie auch, daß ich mich richt überrumpeln laffe! Aber, — 
wie Sie wollen! Wenn ich Sie mit Gewalt zwingen 
fönnte, |6 würde ich es tum. @е find übrigens ein 
Schurke,” er verlor immer mehr feine Selbftbeherrfchung, 
„Sie haben ſich damals von uns Geld geliehen und ung 
dafür Kanges und Breites verfprodhen... Nur werde 
ich Sie 554 nicht ganz ohne Refultat verlaffen, werde 
wenigftens jehen, wie Sie Sich jeßt felbft die Kugel 
durch den Kopf jagen.“ 

„sch will, daß du fofort gleich hinausgehſt.“ Kirilloff 
blieb entichloffen vor ihm ftehen. 

„Nein, das tue ich auf feinen Fall‘, lehnte Piotr 
Stepanowitſch ab und ergriff wieder feinen Revolver, 
„Seht kann Ihnen ja aus Wut und Bosheit einfallen, 
alles aufzufchieben und morgen noch hinzugehen und zu 
denunzieren, um wieder Geld zu erhalten: dafür wird 
doch gut gezahlt. Hol’ Sie der Teufel, ſolche Leutchen 


967 


иле Sie find zu allem fähig! Nur beunruhigen Sie fich 
nicht, ich habe alles vorgejehen: ich werde nicht vorher 
fortgehen, als bis ich Ihnen mit diefem Revolver gleich» 
falle den Schädel geöffnet habe, wie dem Schufte 
Schatoff. Wenn Sie jelbft zu feige werden und es auf: 
ſchieben wollen! Ho Sie der Teufel!" 

„Du willſt wohl unbedingt auch mein Blut ſehen?“ 

„Nicht aus Bosheit will ich eg. DBegreifen Sie doch, 
daß es mir perjönlich ganz gleichgültig ift. Sch will es 
nur, um für unfere Sache ruhig fein zu fünnen. Daß 
man jich auf einen Menichen nicht verlafjen kann, fehen 
Sie doch ſelbſt. Sch verftehe nichts davon, mas Sie da... 
— ich meine, warum Sie fich umbringen wollen. Nicht 
ich Бабе diefe Phantafie für Sie ausgedacht, fondern Sie 
jelöft, und mitgeteilt haben Sie Ihre Ideen zuerft nicht 
mir, fondern den anderen ausländifchen Gliedern. Und 
vergeflen Sie nicht, daß niemand её aus Ihnen heraus: 
gezogen hat, e8 fannte Sie ja auch niemand, ſondern Sie 
jelbft find gefommen und haben Ihre Gedanfen mit: 
geteilt — aus Sentimentalität wahrjcheinlih. Wer ift 
aber jeßt daran fchuld, wenn damals daraufhin ein Plan 
für gewifle Taten hier in der Stadt entworfen wurde, 


und die Hauptjache: mit Ihrer Einwilligung und auf ° 


Ihren Зо ав Бит (vergeffen Sie das nicht: auf Ihren 


Vorſchlag Hin!). Schon deshalb denfe ich, daß Sie die 
Suche jeßt nicht mehr im Stiche laſſen dürfen. Sie _ 


haben fich jo benommen, daß Sie {фоп zu viel wiſſen. 
Denn Sie nun Furcht befommen haben und morgen 
hingehen, um зи denungieren, wird das für ung dann 
vorteilhaft fein, oder nicht, ша8 meinen Sie? Nein, Sie 
haben 14 verpflichtet, Sie haben Ihr Wort gegeben, 


968 


— — 





— — 





haben Geld ен Das koͤnnen Sie alles ип: 
möglich leugnen .. 

Piotr —* ereiferte ſich maͤchtig, über 
Kirilloff hörte ihm ſchon пай nicht mehr zu, jondern 
fchritt wieder in Gedanken verjunfen auf und ab. 

„Schatoff tut mir leid“, fagte er endlich und blieb 
wieder vor Piotr Stepanomwitich ftehen. 

„ber mir tut er ja auch lei... —“ 

„Schweig, Schurke!” bruͤllte Kirilloff wild auf und 
machte eine furchtbare und unzmeideutige Bewegung. 
„Sch fchlage Dich tot!“ 

„Хит, nun, nun, ſchon qut, ich habe gelogen, ich gebe 
felber zu, es tut mir um ihn nicht ein bißchen leid; nun, 
ſchon gut!" Piotr Stepanowitſch mar ängftlich auf: 
gefprungen und hielt den Arm иле zum Schutz er— 
hoben. 

Kirilloff wandte ИФ plößlich ftill von ihm ab und 
begann von neuem durch das Zimmer zu jchreiten. 

„Sch werde es nicht auffchieben, gerade jeßt will ich 
mich umbringen: alle find ſolche Schurken!" 

„Nun, das ift Doch ein Gedanke! Gelbftverftändlich 
find alle Schurken, und da es einen anftändigen ZN 
auf der Welt anefelt, jo..." 

„Dummkopf, ich bin * eben ſo ein Schurke wie 
du, wie alle, aber kein anſtaͤndiger. Ein anſtaͤndiger iſt 
noch niemals nirgends geweſen.“ 

„ta, endlich aljo erraten! Haben Sie denn wirklich 
bis jeßt noch nicht begriffen, Kirilloff, Sie mit Ihrem 
Derftande, daß alle ein und dieſelben find, daß es weder 
bejjere noch jchlechtere Menfchen gibt, jondern nur 
Надете und dDümmere, und daß, wenn alle Schurken find 


62 Dojtojewästi, Die Dämonen. 35. Il. 969 


(mas nebenbei bemerkt Unjinn ift), es folglich einen Nicht: 
ſchurken auch gar nicht geben kann?“ 

„Ah! Und du lacht wirflich nicht?” fragte ihn Kirilloff 
mit einer gewiſſen Vermunderung. „Du fprichft mit 
Eifer und einfach... Haben denn auch ſolche wie du 
Überzeugungen" 

„Kirilloff, ich habe nie verftehen fönnen, warum ©ie 
fich töten wollen. Sch weiß nur, daß Sie es aus Über: 
zeugung ... aus fefter Überzeugung wollen. Uber wenn 
Sie das Bedürfnis fühlen, fich, wie man jagt, пиви: 
teilen, fo Небе ich zu Ihrer Verfügung... Nur muß 
man die Zeit im Yuge behalten... .” 

„Dieviel ЦЕ die Uhr?” 

„Oho, punkt zwei”, fagte Piotr Stepanomitich mit 
einem ЗИ auf feine Uhr, und er zündete ſich eine 
Zigarette an. 

„sch glaube, ich werde doch noch mit ihm fertig”, 
dachte er bei ich. 

„Эф habe dir nichts zu jagen”, brummte Kirilloff. 

„sch erinnere mich noch, daß da irgend etwas von 
Gott dabei war... Sie haben es mir doch einmal er: 
Нат, oder fogar zweimal... Wenn Sie йф erjchießen, 
jo werden Sie Gott, jo war es 504, wenn ich mic). 
nicht ви фе?" 

„За, ich werde Gott.” 

Piotr Stepanomwitich lächelte nicht einmal, er wartete; 
Kirilloff blidte ihn fein an. 

„Sie find ein politifher Betrüger und Intrigant, 
Sie wollen mich auf die Philojophie hinüberleiten und 
in Begeifterung bringen, und eine Verſoͤhnung mit mir 
machen, um den Ärger zu vertreiben, und wenn ich mich 


970 








verjöhne, dann den Brief erbitten, daß ich Schatoff ges 
tötet habe.” 

Piotr Stepanowitſch antwortete fat mit natürlicher 
Dffenherzigfeit. 

„Nun, mag ich das auch gedacht haben. Nur — ift 
Ihnen denn das in dieſen leßten Augenbliden nicht ganz 
gleichgültig, Kirilloff? Worüber zanfen wir uns über: 
haupt, jagen Sie doch bitte felbit: Sie find folch ein 
Menfch, und ich bin wieder [016 ein Menſch, nun, und 
was liegt denn daran? Und beide noch dazu..." 

„Schurken. 

„Gut, meinetwegen auch Schurken. Sie willen Doch, 
daß das nur Worte find.” 

„sch Бабе mein ganzes Leben nicht gewollt, daß es 
nur Worte find. Sch habe auch nur deswegen gelebt, 
weil ich dag immer nicht wollte. Sch will auch jeßt jeden 
Tag, daß es nicht nur Worte find.” 

„Kun ja, ein jeder fucht, wo er e8 beijer hätte. Ein 
Sich... das heißt, jeder fucht feinen Komfort... in 
feiner Art; und das ИЕ alles. Außerordentlich lange ſchon 
befannt.” 

„Komfort, fagft du?” 

„un, lohnt es fich denn, fi um Worte zu ftreiten?” 

„Kein, ги Бай das gut gejagt: meinetwegen — Kom: 
fort. Gott ift unentbehrlich und darum muß er fein.” 

„Kun, und wunderbar.” 

„ber ich weiß, daß es ihn nicht gibt und nicht geben 
kann.“ 

„Das iſt ſchon richtiger.“ 

„Begreifſt du denn wirklich nicht, daß ein Menſch 
mit zwei ſolchen Gedanken nicht leben bleiben darf?“ 


62* 971 


„Sich alfo erſchießen muß?" 

„Begreifſt du denn mirklich nicht, daß man fich nur 
allein deswegen erichießen fann? Du fannft es nicht 
begreifen, daß 1014$ ein Menſch fein fann, ein einziger 
Menih von allen euren taufend Millionen, einer, der 
nicht will und nicht erträgt. 

„Ich verftehe nur, daß Sie, wie's fcheint, ſchwanken. 
... Das aber ИЕ höchft gemein.” 

„Auch Stawrogin И von der Зее verfchlungen”, 
lagte Kirilloff, ме Bemerkung überhörend, und {фин 
finfter durch das Zimmer. 

„Wie?“ Piotr Stepanomitich ſpitzte ме Ohren, „von 
was für einer Idee? Hat er Ihnen jelbit irgend etwas 
gejagt?“ 

„Жем, ich habe felbft erraten: Stamrogin, wenn er 
glaubt, jo glaubt er nicht, daß er glaubt. Wenn er aber 
nicht glaubt, fo alaubt er nicht, daß er nicht glaubt.” 

„Kun, Stawrogin hat noch etwas anderes, etwas 
Gefcheiteres als das...” brummte Piotr Stepanomitjch 
ärgerlich, während er unruhig die neue Wendung des Ge: 
Ipräches verfolgte und den bleichen Kirilloff beobachtete. 

„zum Teufel, er wird fich nicht erjchießen”, dachte 
Piotr Stepanomwitih. „Habe es ja immer voraus: 
gefühlt, das war bei ihm nur eine Gehirnſpirale, die 
ganze dee, und weiter nichts. Solch ein Lumpenpack, 
diefe Kerls, wahrhaftig !" 

„Du bift der leßte, der bei mir ИЕ: ich würde nicht 
böje mit dir auseinandergehen wollen“, ſagte plößlich 
Kirilloff. 

Piotr Stepanowitſch antwortete nicht fofort. „Weiß 
der Teufel, mas das nun wieder bedeutet! dachte er. 


972 








„Slauben Sie mir, Kirilloff, daß ich nie Pr gegen 


Sie perſoͤnlich gehabt habe und immer. 


„Du biſt ein Schurke und biſt ein С Verſtand. 


Aber ich bin ganz dasſelbe wie du und erſchieße mich, 


du aber bleibſt lebendig.“ 


„Sie wollen wohl jagen, daß ich fo niedrig ſei, daß ich 
am Leben bleiben will.“ 

Er war noch nicht ganz ficher, ob es vorteilhaft oder 
unvorteilhaft war, ein folches Geſpraͤch jeßt weiter: 
zuführen, und entjchloß fich daher, fich „den Umftänden 
anzupaſſen“. Doch der Ton der Überlegenheit und die 
unverhohlene Verachtung, die Kirilloff immer für ihn 
hatte, reisten und ärgerten ihn aus irgendeinem Örunde 
diesmal noch viel mehr, als fonft, — vielleicht deshalb, 
weil Kirilioff, der ſchon in ungefähr einer Stunde fterben 
mußte (da3 behielt Piotr Stepanowitſch troß allem [ей 


im Auge) für ihn bereits nur noch ein halber Menſch 


war, alfo jemand, dem man auf feine Weiſe mehr er: 
lauben durfte, auch noch ftolz und Hochmütig zu fein. 

„Sie wollen, wie’s fcheint, damit vor mir großtun, 
daß Sie jich erfchießen werden?” 

„sh habe mich immer gewundert, daß alle leben 
bleiben‘, jagte Kirilloff, der auch dieſe Bemerfung wieder 
überhörte. 

„эт! nehmen wir an, daß das eine Idee Ш, aber..." 

„Du Ще, du ſtimmſt zu, um mich zu befiegen. Schmeig, 
du Fannft nichts verftehen. Wenn es Gott nicht gibt, fo 
bin ich бон." 

„Sehen Sie, diejen Punkt habe ich bei Ihnen nie 


begreifen können: warum find Sie dann Gott?” 


„Wenn es Gott gibt, fo ift aller Wille fein, und aus 


973 


Seinem Willen kann ich nicht. Wenn nicht, fo ift aller 
Mille mein und ich bin verpflichtet, Eigenmillen zu 
bezeugen.‘ 

„Eigenwillen? Und warum verpflichtet?” 

„Darum, weil aller Wille mein geworden ift. Wird 
denn mirflich fein einziger auf dem ganzen Planeten, 
nachdem er mit Gott ein Ende gemacht hat und nur an 
feinen Eigenmwillen glaubt, es wagen, Eigenmillen zu 
beweijen, Eigenwillen gerade im Hauptpunfte? Das Ш 
jo, wie wenn ein Armer eine Erbichaft befommt und 
erjchridt und nicht wagt, zum Geldjad zu gehen, weil er 
ſich für nicht ftarf genug hält, zu beißen. Sch mill 
Eigenwillen bemweifen. Und wenn auch nur 14, ein 
einzelner, aber ich tue eg.“ 

„zun Sie's nur!" 

„Уф bin verpflichtet, mich zu erjchießen, тей der 
vollfte, höchfte Punkt meines Eigenmillens ift — mid) 
ſelbſt zu töten.” 

„ber Sie find doch nicht der einzige, der И felbit 
tötet; es gibt viele Selbitmörder.” 

„Mit einer Urjache — ja. Uber ganz AT alle Urjache 
und nur Пи Eigenmwillen — ich allein.” 

„Bird fich nicht erſchießen“, zudte es wieder durch 
Piotr Stepanomitichs Gedanken. 

„Wiſſen Sie was, bemerkte er geärgert, „ich würde 
an Shrer Stelle, um Eigenwillen zu offenbaren, ей 
irgendeinen anderen, aber nicht mich jelbft, umbringen. 
Könnten fih damit noch nüßlich machen. Sch werde 
Ihnen jagen wen, wenn Sie nicht erjchreden. Dann 
brauchen Sie fich meinetwegen heute auch noch nicht zu 
erichießen. Man fönnte ſich beiprechen.“ 


974 








„Einen anderen töten würde gleich der allerniedrigite 
Punkt meines Eigenmillens fein, und hierin bift du ganz 
enthalten. Ich bin nicht du: ich will den hoͤchſten Puntt 
und töte mich.” 

„Glücklich mit eigenem Verftande darauf verfallen”, 
brummte Piotr Stepanowitſch boshaft. 

„sch bin verpflichtet, den Unglauben zu verkünden”, 
Iprach Kirilloff weiter, durch das Zimmer fchreitend. 
„Fuͤr mich Ш nichts höher, als die Idee — daß es 
Gott nicht gibt. Die ganze Gefchichte ver Menfchheit 
jpricht für mich. Der Menſch hat nichts anderes де: 
tan, als Gott jich ausdenfen, um leben zu fönnen, ohne 
ſich totzufchlagen. Darin befteht die ganze Welt: 
gejchichte bis auf den heutigen Tag. Sch allein in der 
ganzen Weltgefchichte Бабе zum erjtenmal Gott mir 
nicht ausdenfen wollen. Mag man das für immer ег: 
fahren.” 

„Bird fich nicht erjchießen”, dachte Piotr Stepano- 
witſch ‘wieder beunruhigt. 

„Ber ſoll e8 denn erfahren?” verjuchte er ihn zu 
beten. „Hier find nur Sie und ich! Liputin etwa?“ 

„Alle jollen es erfahren; alle werden её erfahren... 
Es gibt nichts in der Welt, was nicht einmal offenbar 
wird. Das hat Er gejagt.” 

Und er wies in fieberhaftem Entzüden auf das Bild 
des Heilandes, vor dem das Lämpchen brannte. Piotr 
Stepanomitich wurde endgültig wütend. 

„An den alfo glauben Sie immer noch? Haben auch 
das Laͤmpchen angezündet! Tun Sie das vielleicht auch 
‚auf alle Fälle" 

Der andere jchmwieg. 


975 


„Willen Sie, meiner Meinung nad) glauben Sie wo⸗ 
möglich noch mehr als ein Pope.“ 

„An wen? An Ihn? Höre”, Kirilloff blieb ftehen und 
ſah mit fiarrem, wie verzuͤcktem Blid vor fich hin. „Höre 
eine große dee: es war auf der Erde ein Зав und in 
der Mitte der Erde ftanden drei Kreuze. Einer am Kreuz 
glaubte jo, daß er dem anderen jagte: ‚Wahrlich, ich fage 
dir, heute noch wirft du mit mir im Paradiefe fein.‘ Der 
Tag verging, beide ftarben, gingen hin und fanden weder 
Paradies noch Auferftehung. Die Worte bewahrheiteten 
ih nicht. Höre: dieſer Menfch war der höchjte auf der 
ganzen Welt, war dag, wozu Не lebt. Der ganze Planet, 
mit allem, was auf ihm Ц, ИЕ ohne diejen Menſchen — 
nur ein Wahnfinn. Es war weder vor Ihm, noch nad) 
Ihm einer jeineggleichen, niemals, jogar bis zum Wunder. 
Das НЕ eben das Wunder, рав feiner vor ihm war noch 
nach ihm fein wird, niemals. Uber wenn dem fo И 
wenn die Geſetze der Natur auch Diejen nicht ое фот 
haben, joger ihr eigenes Wunder nicht verjchont. haben 
und auch Ihn zwangen, mitten in Züge zu leben und 
für Lüge zu fterben, fo ИЕ Folglich der ganze Planet Züge 
und beruht nur auf Züge und dummem Spott. Folglic) 
find die Gejeke felbft des Planeten — Lüge und des 
Teufels Bühnenftnd. Wozu dann leben, antwarte, wenn 
du ein Menſch biſt?“ 

„Das ЦЕ die Kehrjeite. Mir fcheint, Sie haben Мет 
zwei verfchiedene Urſachen vermifcht; das ıft aber jehr 
unzuverläffig. Doc erlauben Sie, wenn Sie nun Фон 
find? Wenn die Lüge zu Ende Ш und Sie erraten haben, 
daß die ganze Lüge nur daher fam, daß её den früheren 
Gott gab?" 


976 























„Endlich haft du es verftanden !" rief Kirilloff begeiftert. 
„Alſo kann man e8 Doch verstehen, wenn fogar fo einer 
_ wie du es verftanden hat! Verftehft du jeßt, daß tie 
ganze Errettung für alle ift — allen diejen Gedanken 
zu beweiſen. Wer aber wird ihn beweifen? Sch! Sch ver: 
ftehe nicht, wie bis jeßt ein Atheiſt wifjen konnte, daß es 
Gott nicht gibt, und fich Doch richt fofort felbft tötete? 
Erkennen, daß es Gott nicht gibt und nicht im felben 
Augenblick mit eins erkennen, daß man dadurch ſelbſt 
Gott geworden ЦЕ — ift eine Ungereimtheit, denn anderen: 
falls würde man fich unbedingt felbft töten. Wenn du 
erkennteſt — fo bift du Zar, und du brauchſt dich nicht 
mehr ſelbſt zu töten, ſondern mirft in der allergrößten 
Herrlichkeit leben. Aber einer, der erfte, der das erkennt, 
der muß jich unbedingt felbft töten, denn wer wird fonft 
beginnen und beweifen? Alſo töte ich mich ſelbſt, unfehl- 
bar, um zu beginnen und zu beweifen. Sch bin erft noch 
gezwungenermaßen Gott und bin unglüdlich, denn ich 
bin verpflichtet, Eigenwillen zu bezeugen. Alle find 
unglüdlich, denn alle fürchten fich, Eigenwillen zu zeigen. 
Eben deshalb ift ver Menſch bis jeßt jo unglüdlich und 
arm geweſen, weil er jich fürchtete, den Hauptpunft, den 
Kern des Eigenmwillens Durchzufeßen, und weil er nur fo 
drumherum, am Rande ein wenig Eigenwillen oder Mut: 
willen trieb wie ein Schuljunge. Sch bin fchredlich ип: 
glüdiich, denn ich Бабе fchredliche Angft. Die Angſt ift 
der Fluch des Menſchen ... Uber ich werde Eigenwillen 
offenbaren, ich bin verpflichtet, feit daran zu glauben, 
daß ich nicht glaube. Sch werde beginnen und werde 
‚ beenden, und werde das Tor öffnen. Und retten. ит 
diejes allein wird alle Menfchen retten und fchon in der 


977 


nächften Generation phyſiſch verändern. Denn in der 


jetzigen förperlihen Form kann, fo viel ich glaube, der | 


Menſch ohne den früheren Gott nicht jein. Sch habe drei 
Jahre das Attribut meiner Gottheit gejucht und habe es 
Ichließlich gefunden: das Attribut meiner Gottheit ift — 
Eigenmille! Das Ш alles, womit ich im Hauptpunft 
meine Nichtunterwürfigfeit beweijen fann und meine 
neue furchtbare Freineit. Denn fie Ш maßlos furchtbar. 


Sch töte mich, um meine Nichtunterwürfigfeit zu Бег 


weijen und meine neue furchtbare Freiheit.” 
Sein Фей war unnatürlich bleich, fein Blid uner: 


träglich fchwer. Er war wie im Fieber. Piotr Stepano: 


witſch fürchtete jchon, er werde fogleich hinfallen. 


„Gib die Feder!” rief Kirilloff plößlich ganz unerwartet 


in entichiedener Verzuͤckung — „diktiere, ich unterjchreibe 
alles. Auch, daß ich Schatoff getötet, unterjchreibe ich. 
Diktiere, folange eg mir lachhaft ИИ Sch fürchte die 
Gedanfen der anmaßenden Sklaven nicht! Du mirft 
jelbft fehen, daß alles Geheimnisvolle offenbar werden 


wird. Du aber wirft zerdrüdt werden... Sch aber 


glaube! Sch glaube!” 
Piotr Stepanomitich fchnellte empor, gab ihm im Nu 
das Tintenfaß und ein Blatt Papier und begann jofort zu 


diftieren, um den günftigen Augenblid nicht zu verpaſſen, 


zitternd für das Gelingen. 

„sch, Alexei Kirilloff, erkläre... 

„Bart! So will 14 nicht! Erfläre wem?” 

Kirilloff bebte wie im Fieber. Dieje Erklärung und 
irgendein bejonderer plößlicher Gedanke in bezug auf 
diefe Erflärung hatten ihn, wie es fchien, ganz und gar 
verichlungen, als ob fie ein Ausweg wäre, auf den fich, 


978 





— 





wenn auch nur auf einen идет ИЯ, fein müdgequälter 
Фей ftürzte. 

„Erklaͤre wem? Will wilfen wen?" 

„ch, niemanden, allen, dem етЙеп, der eslieft! Wozu 
das beftimmen? Der ganzen Welt!" 

„Der ganzen Welt? Bravo! Und daß feine Neue 
nötig Ш! Sch will nicht bereuen. Und ich will auch nicht 
an die Obrigkeit!" 

„Aber nein Doch, das ift ja auch gar nicht nötig, zum 
Teufel mit der Obrigkeit! Aber fo fchreiben Sie doch, 
wenn ©ie ernftlih!.. .” fchrie Piotr Stepanomitich in 


hyſteriſcher Nervofität ihn an. 


„Bart! Sch will erft eine Frage mit herausgeftredter 
Zunge malen.” 

„Ach was, Unfinn! Teufel, das kann man auch ohne 
Malerei ausdrüden, einfach mit dem Ton.” 

„Mit dem Ton? Das Ш gut. За, mit dem Ton, mit 
dem Ton! Diftier mir mit dem Ton!“ 

„Sch, Alexei Kirilloff,“ diktierte feit und befehlend 
Piotr Stepanowitſch, über die Schulter Kirilloffs gebeugt 
und jeden Buchftaben, den dieſer mit feiner zitternden 
Hand fchrieb, mit den Augen verfolgend, „— ich, Kirilloff, 
erkläre, daß ich heute, am .. .ten Dftober, am Ubend 


um acht Uhr, den Studenten Schatoff im Park getötet 





babe und zwar für Verrat und Anzeige der Proflamatio- 


nen, jowie Fedjkas, der bei ung beiden im Filippoffichen 


Hauſe zehn Tage gewohnt und genächtigt hat. Sch ет 


ſchieße mich aber heute mit einem Revolver nicht des— 


wegen, weil ich bereue und euch fürchte, ſondern тей 


ich |фоп im Auslande die Abficht hatte, mir das Leben 


zu nehmen.” 


979 


„Und das ift alles?" fragte erftaunt und unmillig 
Kirilloff. 

„Kein Wort mehr!" fagte Piotr Stepanowitſch, mit 
der Hand abwinfend, und fuchte ihm das Papier zu 
entreißen. 

„Bart! rief Kirilloff und legte Гей feine Hard auf 
das Dlatt. „Wart, Unfinn! Will по jagen, mit wen 
ich erfchlagen habe, Warum Fedjfa? Und die Brand: 
jtiftung? Ich will alles und will fie noch ausfchimpfen 
mit dem Ton, mit dem Ton!“ 

„Genug, Kirilloff, ich verjichere Ihnen, das ift voll: 
fommen genug!” flehte Piotr Stepanowitſch geradezu, 
denn er zitterte vor Этой, daß SKirilloff das Papier 
vielleicht wieder zerreißen werde. „Damit die es glauben, . 
muß es jo dunfel wie möglich fein, nur mit Andeutungen, 
gerade fo! Man muß nur ein Edchen der Wahrheit 
zeigen, nur foviel, um fie irrezuführen. Die werden 
lich |фоп felbft weit mehr vorlügen, а18 wir es fönnten, 
und fich jelbft werden Пе natürlicy mehr glauben als ung 
— und das Ш Doch gerade das Belle, das Allerbefte! 
Geben Sie her, es ЦЕ wundervoll jo. Geben Sie! Geben 
Sie!" 

Und er bemühte fich immer поф, ihm das Papier zu 
entwenden, е8 ihm unter der Hand wegzuziehen. Kirilloff 
hatte ме Augen тей aufgeriffen, hörte wohl auch zu 
und jchien jogar begreifen zu wollen, 504 hatte er wahr⸗ 
ſcheinlich ſchon aufgehört, zu verftehen. 

„кеша! entfuhr es plößlich wütend Piotr Stepano⸗ 
witſch. „Er hat ja поф gar nicht unterschrieben! Was 
ftarren Sie denn fo, -unterjchreiben Sie doch!“ 

„sh will ausjchimpfen ...“ murmelte Kirilloff, nahm 


950 





aber doch gehorfam die Feder und jchrieb feinen Namen. 
„Уф will ausfchimpfen ...“ 

„Schreiben Sie meinetwegen: Vive la röpublique, und 
damit dann genug. I 

„Bravo! fchrie, brüllte faſt Kirilloff vor Entzüden 
auf. „Vive la republique d&mocratique, sociale et uni- 
verselle ou la mort!... Nein, nein, nicht fo. Libert6, 
egalite, fraternit& ou la mort. Das Ш noch beſſer, noch 
beſſer“, und er jchrieb es mit ſichtlichem Hochgenuß unter 


feinen Namenszug. 


„Genug jeßt, wirklich genug!” wiederholte Pjotr 
Stepanowitſch. 

„Wart, noch ein... Sch, weißt du, ich werde noch 
einmal auf franzoͤſiſch unterfchreiben: ‚de КиШой, gentil- 
homme russe et citoyen du monde.‘ Hahahahaha!“ 
lachte er auf. „Nein, nein, nein, wart, habe е8 noch 
bejier gefunden, am allerbeften, Heurefa! — ‚gentil- 
homme-s&minariste russe et citoyen du monde civilise !‘ 
Das ЦЕ am allerbeiten .. ..“ — — — und er ſprang jäh 


auf, ergriff plößlich mit einer fchnellen Bewegung feinen 


Revolver, ftürzte in das andere Zimmer und fchlug Die 
Tuͤr feſt hinter fich zu. 

Pjotr Stepanowitich fand einen Yugenblid nachdenk— 
lich da und ſah gejpannt auf die geſchloſſene Tür. 

„Wenn jofort — dann ift es möglich, daß er abdrüdt, 
fängt er aber an zu denken — darn wird nichts де 
ſchehen.“ | 

Vorläufig nahm er das Blatt in die Hand, ſetzte fich 
wieder und jah das Geſchriebene noch einmal durch. Die 
Abfaſſung gefiel ihm wieder ungemein. 

„Was fehlt ung jeßt! Es ift ja weiter nichts nötig, wie 


981 


йе für eine Zeitlang ganz aus der Faſſung zu bringen 
und abzulenfen. Park? In der Stadt gibt es feinen 
Park. Aber fie werden fchon mit ihrem eigenen Ver: 
ande auf Sfworefchnifi verfallen. Bis fie aber darauf 
verfallen, vergeht Zeit, bis fie ифеп — wieder Zeit, 
und finden fie die Leiche — fo ift Мег nur die Wahrheit 
gejchrieben worden, folglich muß auch alles andere richtig 
jein, auch das von Fedjka. Was aber bedeutet Fedjfa? 


Fedjka — das ift der Brand, Fedjka, das find Lebädfins: | 


folglich ift alles aus dem Filippoffſchen Haufe gefommen, | 
пе aber haben nichts davon gejehen, haben nichts durch: 
ichauen koͤnnen, — und gerade das wird fie ſchon vollends 
verwirren! Auf die Unfrigen aber werden fie überhaupt 
nicht verfallen. Es waren alfo Schatoff und Kirilloff 
und Fedjfa und Lebaͤdkin; warum fie aber einander tot= 
gefchlagen haben — das ift dann für die Leute noch fo 
eine Heine Frage zum Zeitvertreib. Zum Teufel, mo 
bleibt denn der Schuß! . . 

Piotr Stepanowitſch hatte die ganze Zeit, wenn er 
auch las und fich über die Abfaſſung freute, doch gleich: 
zeitig jeden Augenblid mit quälender Unruhe gehorcht 
und — plößli wurde er wütend. Erregt $09 er die 
Uhr bervor: es war fchon jehr ſpaͤt; und Kirilloff mochte 
vor bereits zehn Minuten hinausgegangen fein... Er 
ergriff das Licht und ging zur Tür des Nebenzimmers. 
An der Tür fah er plößlich und Кип es ihm zu Bewußt-⸗ 
тет, daß auch das Licht |фоп heruntergebrannt war und 7 
vielleicht паф zwanzig Minuten auslöfchen werde, Бар | 
ein anderes aber nicht vorhanden war. VBorfichtig um: 7 
faßte er mit der Hand die Klinfe und horchte. Kein 
einziger Laut drang aus dem anderen Zimmer. Plöglich 


982 





öffnete er die Tür und erhob das Licht: da brüllte etwas 
auf und ftürzte auf ihn zu. Haftig fchlug er die Tür zu und 
jtemmte fich mit aller Kraft gegen Ste, aber fchon war 
alles verftummt — und wieder Totenftille. 

Lange Капо er fo in feiner Unentjchloffenheit mit dem 
Licht in der Hand. In dem kurzen Yugenblid, nach dem 
Öffnen der Tür, hatte er nur fehr wenig fehen fünnen, 
aber er erinnerte jich Doch des Gefichts Kirilloffs, der am 
anderen Ende des Zimmers am Fenfter geftanden hatte, 

"und der tierijchen Wut, mit der er zur Tür geftürzt war. 
Plöglich regte ich etwas im Nebenzimmer. 
Piotr Stepanomwitjch ftellte fchnell das Licht auf den 
Tiſch, ergriff feinen Revolver und ſprang auf den Fuß: 
ſvitzen zur Seite in die entgegengefeßte Ede, fo daß er, 
falle Kirilloff die Tür öffnete und auf den Tiſch zufchritt, 
noch vor Kirilloff zielen und abdrüden konnte. 
Über 28 blieb wieder alles ruhig. 
Daß Kirilloff jeßt noch den Selbftmord begehen werde, 
Daran glaubte Piotr Stepanomitjch fchon gar nicht mehr. 
„Er ftand offenbar und dachte,” ging es ihm blikartig 
durch den Kopf. „Dazu noch ein dunkles, unheimliches 
Zimmer... Er brüllte auf und ftürzte zur Tuͤr — bier 
find zwei Möglichkeiten: entweder ftörte ich ihn gerade 
in dem Augenblid, als er den Hahn abdrüden wollte, 
oder... oder er ftand und überlegte, wie er mich töten 
könnte. За, das wird's geweſen fein, er überlegte... 
Er weiß, daß ich nicht vorher fortgehe, als bis er tot Ш, 
daß ich ihn töten werde, wenn er felbft dazu zu feige iſt 
— aljo muß er mich змей töten, damit nicht ich ihn 
| Ме... Und wieder, wieder bleibt Dort alles ftill!... 
Einfach grufelig: plößli madt er die Zür auf... Die 





983 





Schmeinerei ift ja bloß, daß er an Gott noch mehr glaubt 
als ет Pope... Wird fich nicht erjchießen, um feinen 
Preis! Oh... Фыфе, wie er, ме mit ‚eigenem Ver: 
ftande fo weit fommen‘, vermehren fich ja jeßt ungeheuer. 
Zumpenpad! Zeufel, das Licht, das Licht! In einer 
Piertelftunde Ш e8 ausgekrannt, fpäteftens ... Muß 
Schluß machen, muß unbedingt, mas es auch koſte, Schluß 
machen... Was, — totichlagen kann man ihn ja jetzt ... 
Nach diefem Papier Рапп niemand denken, daß ich ihn 
erſchoſſen Habe. Man kann ihn jchon fo auf die Diele ° 
legen und zurechtbiegen, mit abgefchoffenem Revolver in 
der Hand, daß man unbedingt glauben muß, er felbft... 
Teufel, aber wie ihn nur erfchießen? Wenn ich aufmache, 
wird ег fich wieder auf mich ſtuͤrzen und noch vor mir 
abdrüden. Teufel, пет, er wird natürlich nicht treffen... 
Immerhin ...“ 

So quaͤlte er ſich hin und her und ward immer un— 
ruhiger infolge der unumgaͤnglichen Notwendigkeit der 
Tat einerſeits und der eigenen Unentſchloſſenheit anderer: 
feits. Schließlich nahm er wieder den Leuchter und trat 
wieder leife zur Tuͤr, побег er den Revolver hob und 
den Hahn Ipannte, dann mit der linfen Hand, in der er 
das Licht hielt, die Klinke zu öffnen verfuchte — aber 
es gelang nicht: das Schloß Freilchte nur und öffnete 
fih nicht. „Er wird fofort auf mich ſchießen!“ dachte 
Piotr Stepanomitich, ив die Tür auf und erhob Licht ” 
und Revolver... Doch fein Schuß ertönte... Auch 
fein Schrei... Im Zimmer war fein Menſch. ö 

Er fuhr zufammen. Einen anderen Ausgang hatte 
das Zimmer nicht, aus ihm zu entfliehen war unmöglich. _ | 
Er Боб das Licht noch höher und blidte noch aufmerk— 


984 





ſamer hinein: nein, fein Menſch. Halblaut rief er einmal 


Kirilloff und dann zum zweitenmal lauter, aber niemand 
antwortete, 

„Sollte er aus dem Fenfter gefprungen fein?” 

Tatſaͤchlich war das Luftfenfter offen. 

„Unfinn, durchs Luftfenfter [вип er doch nicht durch.” 
Piotr Stepanomitich ging durch das ganze Zimmer zum 
Senfter. „Unmöglich konnte er hier durch!” Ploͤtzlich 
wandte er fich blißfchnell um und etwas Ungemöhnliches 
erjchütterte ihn. 

An der Wand, die dem Fenfter gegenüber lag, ftand 
linfs von der Tür ein Schrank. An der linfen Öeite 
dieſes Schranfes aber, in der Ede zrifchen der anderen 
Wand und dem Schranf, ftand Kirilloff und ſtand furcht: 


bar fonderbar, — unbemweglich, ftramm, die Hände mili: 


аня 





14 an den Nähten, den Kopf erhoben und mit dem 


Rüden feft an die Wand gepreßt... Allem Anjcheine 


nach wollte er fich verfteden, aber das war wiederum 
nicht glaubhaft. Piotr Stepanowitſch ftand ein wenig 
Ichräg zu der Ede und fah nur die hervortretenden Teile 
der Geftalt. Er fonnte fich aber noch nicht entjchließen, 
weiter nach links zu gehen und das Nätjel zu löfen. Фет 
Herz ſchlug laut. Und plößlich erfaßte ihn eine raſende 
Wut: er мВ fich von der Stelle, \фие auf und ſtuͤrzte 
trampelnd zu der furchtbaren Stelle. 

Doch wie er unmittelbar vor ihm ſtand, blieb er wie 
angewurzelt ſtehen, noch mehr von Entſetzen betaͤubt. 
Vor allem frappierte es ihn, daß die Geſtalt ſich trotz 
ſeines Schreies und wuͤtenden Anlaufs nicht einmal be— 
wegte, nicht einmal zuckte, auch nicht mit einem einzigen 
Gliede — ganz, als ob ſie verſteint oder aus Wachs 


63 Doſtojewskti, Die Dämonen. 35.1. 985 


geweſen wäre, Die Blaͤſſe des Gefichts war unnatürlich, 
die fchwarzen Augen waren unbeweglich und fahen auf 
irgendeinen Punkt im leeren Raum. Piotr Stepano: 
witſch führte das Kicht von oben nach unten und wieder 
nach oben und fah aufmerkſam diejes Geficht an. Und о 
plößlich gerahrte er, daß Kirilloff, wenn er auch gerade: 
aus in die Luft blidte, ihn doch jeitlich jah und womöglich 
noch beobachtete. Da ют ihm der Gedanke, das Licht 
„Diefem Schurken” an das Gelicht zu legen, e8 anzu: 
brennen, um zu fehen, was er dann tun werde. Plößlich | 
aber jchien es ihm, daß Kirilloffs Kinn fich bewege und | 
über die Lippen ein Spottlächeln flimmere — ganz als 
ob jener feinen Gedanken erraten hätte. Er erbebte und | 
außer fich vor Wut padte er Kirilloff an der Schulter. 

Da geichah aber etwas dermaßen Unglaubliches, und 
geichah jo fchnell, daß Piotr Stepanowitſch fich ſpaͤter 
in feiner Erinnerung felbft nicht mehr zurechtfand. Kaum 
hatte er Kirilloff berührt, als dieſer plößlich feinen Kopf | 
fallen ließ und ihm mit dem Kopf das Licht aus der 
Hand jchlug. Der Leuchter fiel mit lautem Gepolter zu 
Boden, und das Licht erloſch. Im jelben Augenblid noch 
fühlte er einen furchtbaren Schmerz im Heinen Finger 
jeiner linken Hand. Er fchrie auf, und fpäter wußte er 
nur noch, daß er, außer fich, Kirilloff, der feinen Finger 
nicht aus den Zähnen ließ, dreimal mit dem Revolver 
auf den Kopf geichlagen hatte. Doc es gelang ihm = 
endlich, den Finger herauszureißen. Und er ftürzte fort, 
hinaus, fo ſchnell er in der Dunkelheit nur konnte, aus 
dem Zimmer, aus der Wohnung. Ihm nach aber drangen 
die furchtbaren Schreie: 

„Sofort, fofort, fofort, ſofort!“ 


986 





| Wohl mehr als zehnmal. Uber Werchowenski Tief 
immer noch weiter, weiter, durch die Dunkelheit, fuchte 
Ichon im Flur die Ausgangstür, als plößlich ein lauter 
Schuß erichallte. Da erft blieb er ftehen, im Flur, in 
der Dunfelheit, und überlegte wohl fünf Minuten lang. 
Endlich fehrte er wieder um und ging in die Wohnung 
zurüd. Zuerſt mußte Licht gefchafft werden. Dazu 
brauchte er nur den aus der Hand gefchlagenen Зеи ет 
auf dem Boden aufzufuchen, rechts vom Schrank; aber 
womit dann den Kichtftumpf anzüunden? Er felbft hatte 
nichts bei ſich. Eine dunkle Erinnerung z0g ihm durch 

den Kopf: е8 war ihm, als hätte er am Abend vorher, 
als er in die Küche zu Fedjka деи war, in der Ede 
auf dem Küchenbrett flüchtig eine große rote Streichholz: 
Ichachtel bemerkt. Taſtend ging er alfo zuerft nach links, 
zur Küchentür, fand fie fchließlich und flieg dann die drei 
Stufen hinunter. Richtig: auf dem Brett, gerade an der 
Stelle, an die er fich erinnert hatte, fand er in der Dunfel: 
heit eine große, noch nicht geöffnete Streichholzichachtel. 
Ohne anzuzünden, fehrte er eilig zurüd und erft beim 
Schrank, auf derjelben Stelle, wo er vorhin gejtanden 
hatte, als er den ihn beißenden Kirilloff mit dem Revolver 
auf den Kopf ſchlug, fiel ihm plößlich fein gebiffener 
Singer ein, und in derjelben Sekunde fühlte er auch 
einen faft unerträglichen Schmerz in ihm. Er МВ die 
Zähne zuſammen, zündete mit genauer Not noch den 
Heinen Lichtftumpf an und dann erft {аб er fich um: 
nicht weit von dem Fenfter, deſſen Luftfenfter offen war, 
lag, mit den Füßen zu jener Ede des Zimmers, Ме 
Leiche Kirilloffs. Er hatte fich in die rechte Schläfe де: 
ſchoſſen und oben an der linken Seite des Kopfes hatte 


63° 987 


die Kugel wieder den Schädel durchſchlagen. Blut und 
Hirnjprißer {аб man auf der Diele. Der Revolver war 
in der Hand des Selbſtmoͤrders geblieben. Der Tod | 
mußte jofort eingetreten jein. Nachdem Pjotr Stepano: о 
witjch alles genau betrachtet hatte, erhob er Иф wieder 
und ging auf den Fußipigen aus dem Zimmer, fchloß ' 
hinter 14 die Tür, ftellte das Kicht auf den Tiſch vor 
dem Sofa, dachte ein wenig nach und befchloß dann, es | 
nicht auszulöfchen, da durch diefes Licht im Keuchter doch 
fein Brand entftehen konnte. Er blidte noch einmal auf | 
das Dofument und lächelte mechanifch. Darauf verließ 
er, ich weiß nicht warum, immer пой) leije auf den Fuß⸗ 
Ipißen gehend, endgültig langfam das Haus. Wieder 
frody er durch Fedikas geheimen Gang und 19168 ihn 
hinter fich forgfältig mit dem Brett. 


Ill 

Zehn Minuten vor jechs gingen Pjotr Stepanomitich ° 
und Erfel auf dem Bahnhof längs des diesmal ziemlich 
langen Zuges auf und ab. Piotr Stepanowitſch fuhr fort 
und Erfel begleitete ihn. Das Фераф war |фоп auf: 
gegeben, Бег Reijefad lag auf dem ausgejuchten Plaß in 
einem Weggon der zweiten Klaſſe. Das erfte Gloden: | 
zeichen war fchon ertönt und man wartete auf dag zweite. | 
Piotr Stepanomitjch {аб fich wie gemöhnlich neugierig © 
nach allen Seiten um, und betrachtete die Einfteigenden. | 
Nähere Bekannte aber waren nicht zu jehen. Allem “ 
Anſchein nach wollte Erfel in diefen legten Minuten поф | 
von etwas Wichtigerem ſprechen — wenn er аиф viel: © 
leicht felbit nicht wußte, wovon eigentlich; aber er wagte 
nicht anzufangen. Es ſchien ihm fogar, daß er Piotr ° 


988 





Stepanowitſch а fiel und da diefer mit Ungeduld 
auf dag zweite Glodenzeichen wartete. 

„Sie {еБеп jo offen alle Menjchen an’, bemerkte er 
etivas [chüchtern, als wollte er warnen. 

„Barum foll ich denn nicht? Noch darf ich mich mich: 
verjteden. Iſt noch zu früh. Beunruhigen Site fich nicht. 
Nur eines fürchte ich, daf der Teufel mir den Liputin 
auf den Hals ſchickt, der fönnte es riechen und herlaufen ! 

„Piotr Stepanomitich, die find nicht zuverlaͤſſig“, fagte 
Erkel endlih ſchuͤchtern. 

„Liputin?“ 

„Alle, Piotr Stepanowitſch.“ 

„Unfinn, jeßt find fie durch das Geftrige gebunden. 
Kein einziger wird verraten. Wer wird jich denn felbft 
ins Unglüd ftürzen, wenn er nicht den Berftand verloren 
hat?" 

„ber die haben dcch den DVerftand verloren !" 

Diefer Gedanke war wohl auch Piotr Stepanomitich 
ſchon durch den Kopf gegangen. Darum ärgerte ihn 
diefe Bemerkung Erfels поф mehr. 

„Sind Sie nicht аиф ſchon feige geworden, Eifel? 
Ich verließ mich auf Sie eigentlicy mehr, als auf tie 
anderen zujammen. Geht weiß ich, mas jeder von ihnen 
wert ift. Zeilen Sie ihnen alles heute noch mündlich 
mit. Sch vertraue Пе Ihnen an. Gehen Sie |фоп am 
Morgen zu allen. Meine fchriftlihe Inſtruktion koͤnnen 
Sie ihnen morgen oder Übermorgen vorlefen, wenn fie 
verfammelt по und fähig, fie zu verftehen... Glauben 
Sie mir, die haben furchtbare Angft und werden jekt 
weich wie Wachs jein... Uber die Hauptfache, werden 
Sie nur nicht melancholiſch . .. 





989 


„Ach, Piotr Stepanowitſch, es wäre wirklich befjer, 
wenn ©ie nicht verreiften № 

„Aber ich verreife Doch nur auf ein paar Tage: ich bin 
ja im Augenblid wieder zurüd.” 

„Piotr Stepanowitich,” fagte Erfel fchüchtern, „und 
jelbft wenn Ste аиф nach Petersburg reifen {оШеп... Sch 
veritehe Doch, ich weiß doch, daß Sie nur das Ни Die 
allgemeine Sache Notwendige tun.” 

„Bon Shnen habe ich auch nicht weniger als volles 
Derftändnis erwartet, Erfel. Wenn Sie erraten haben, 
daß ich nach Petersburg fahre, jo werden Sie auch ver: — 
ftehen, daß ich ihnen geftern, in jenem Augenblick, nicht 
gleich jagen Eonnte, daß ich in der Tat jo шей reife. Sch 
hätte fie nur unnüß erfchredt. Sie haben ja jelbft ge— 
jehen, wie fie da alle waren. Uber Sie verftehen doch, 
daß ich es für die große und wichtige Sache tun muß, 
für unfere allgemeine Фафе, und nicht etwa, um mic 
perjönlich in Sicherheit zu bringen, mie vielleicht irgend= 
ein Liputin annimmt.” 

„Sch veritehe es ohne weiteres, Piotr Stepanomitich, 
und felbft wenn Sie ins Ausland fahren jollten, ich ver: 
Пебе es doch, ich weiß, daß Sie Ihre Perjon nicht {о 
aufs Spiel feßen dürfen, denn Sie find alles, wir aber 
find nichts. Dh, ich verftehe jchon, Piotr Stepano- 
witſch.“ 

Die Stimme des armen Knaben bebte ſogar. 

„sch danke Ihnen, Erkel.. . Au, Sie haben meinen 
franfen Finger berührt.” (Erfel hatte ihm recht Гей die 
Hand drüden wollen und dabei nicht an die Verlegung 
gedacht; der Нате Finger war kunſtvoll mit ſchwarzem 
ЗаНен verbunden.) Aber ich kann Ihnen nur wieder: 


990 





holen, daß ich in Petersburg bloß ein wenig [фпирреги 
will, bleibe dort im ganzen vielleicht vierundzmwanzig 
Stunden — und dann fofort wieder hierher. Zuerft 
werde ich mich Мег auf dem Lande bei Gaganoff nieder: 
lafjen, Sie verftehen doch — der Leute wegen. Wenn 
aber die Unfrigen irgendeine Gefahr wittern follten, fo 


‚ werde ich als erfter diefe Gefahr mit ihnen teilen. Sollte 


ich aber etwas länger in Petersburg bleiben müljen, fo 
teile ich es Ihnen ſofort mit... auf dem befannten 
Mege, und Sie fagen es dann den anderen.“ 

Das zweite Glodenzeichen ertönte. 

„Ah, alſo noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Wiffen 


Sie, ich würde es nicht wünfjchen, daß diefe Gruppe hier 


auseinanderfällt. Das heißt nicht, daß mir fo ſehr viel 
daran läge; пет; brauchen ſich um mich weiter feine 
Sorgen zu machen: folcher Knötchen des großen Деве 
habe ich ja genug und brauche nicht um eine einzige fo 
ſehr zu bangen. Aber eine Gruppe mehr Ш immerhin 
eine Gruppe mehr und als jolche nicht zu verachten. 
Übrigens, um Sie mache ich mir feine Sorgen, wenn 
ich Sie auch faft allein mit diefen Mißgeburten Мет 
zurüdlaffe: beunruhigen Sie fich nicht, die werden nicht 
denunzieren, werden её gar nicht wagen... — A—ah, 
und auch Sie heute?” rief er plößlich mit ganz anderer, 
heiterer Stimme einem ſehr jungen Menfchen zu, der 
freundlich auf ihn zutrat, um ihn zu begrüßen. „Sie 
fahren aljo auch mit dem Schnellzug? Wohin denn? 
Zur Mama?“ 

Die Mutter des jungen Menfchen тах eine ſchwer— 
reihe Gutsbefißerin des Nachbargouvernements, und 
der junge Mann, der weitläufig mit Julija Michailomna 


991 


verwandt war, hatte als Saft zwei Wochen in unferer 
Stadt verbracht. 

„ein, ich fahre weiter, nah Я... Acht Stunden 
Cifenbahnfahrt Пебеп mir bevor. Und Sie nach Peters: 
burg?” fragte der junge Mann frohgemut. 

„Warum nehmen Sie jo aufs blaue hin an, daß ich 
nach Petersburg fahre?" fragte Piotr Stepanowitſch noch 
fröhliher und [аб ihm lachend offen ins Gelicht. 

Der junge Menjch drohte ihm mit dem Finger der 
behandſchuhten Rechten. 

„Ха, wenn Sie's erraten haben,” raunte ihm plößlich 
Piotr Stepanomwitjch mit gedämpfter Stimme geheimnise: 
voll zu, „ich reife mit Briefen von Julija Michaiſowna 
und muß dort drei, vier Perjönlichkeiten aufſuchen, und 
was für welche noch dazu! — na, Sie ahnen wohl ſchon. 
Übrigens fönnte fie meinethalben alleſamt der Teufel 
holen, unter ung gejagt. Eine verflirte Aufgabe!" 

„Aber jagen Sie doch bitte, was fürchtet fie denn 
plößlich jo?" flüfterte nun auch der junge Menſch. „Sie 
hat jogar mich geftern nicht empfangen wollen. Meiner 
Meinung паф hat fie doch gar feinen Grund, für ihren 
Mann etwas Unangenehmes zu erwarten. Sm Gegen: 
teil, er Ш doch noch jo anftändig auf dem Brandplaße 
hingefallen, hat ja förmlich, wie man zu fagen pflegt, 
fein Leben aufs Spiel geſetzt.“ 

„Run, natürlich doch”, lachte Piotr Stepanowitſch noch 
luftiger. „За, jehen Sie, fie fürchtet aber, daß man von 
hier aus ſchon gefchrieben haben fünnte... das heißt, 
рав gewiſſe Leute... Mit einem Wort, hier ift vor allem 
Stawrogin, oder richtiger Graf Я... Ad, nun kurz: 
bier Пе noch eine ganze Geſchichte hinter der Geſchichte 


992 











— 14 werde Shnen vielleicht einiges unterwegs er: 
zählen — Томе! mir die Ritterlichkeit zu erzählen er: 
laubt... Mein Verwandter, Fähnrich Erfel, aus der 
Kreisſtadt.“ 

Der junge Menſch blickte fluͤchtig auf Erkel und be— 
ruͤhrte den Hut. Erkel gruͤßte militaͤriſch. 

„Ach, wiſſen Sie, Werchowenski, acht Stunden im 
Eiſenbahnwagen iſt ein furchtbares Los. Mit uns faͤhrt 
noch in der erſten Klaſſe Oberſt Bereſtoff, ein urkomiſcher 
Kauz, mein Gutsnachbar: verheiratet mit einer Garina 
— nee de Garine. ft auch ſonſt in jeder Beziehung 
tadellos. Und wiſſen Sie, dabei hat er ſogar Ideen. 
Hier hat er fich nur zwei Tage aufgehalten. Ein leiden: 
Ichaftlicher Kartenjpieler, nebenbei; ле mit Vorliebe 
Seraläjch*), jollte man da nicht ein Spielchen machen? 
Den vierten habe ich auch ſchon gefunden: Pripuchloff, 
ein Kaufmann aus dem T.ſchen, Millionär, aber, willen 
Sie, ein richtiger Millionär, verlichere Ihnen... Ich 
mache Sie befannt, eine urgemütliche Haut, und lachen 
werden wir! ...“ 

„Dh, Seraläjch ſpiele ich mit dem größten Vergnügen, 
und bejonders noch auf der Reife, aber ich fahre in der 
zweiten Klaſſe.“ 

„uch was, das 11 och... auf feinen Fall, Sie jeßen 
lich einfach zu uns. Sch werde fofort dem Zugführer 
jagen, daß Ihre Sachen in die ее Klaffe zu bringen 
jind. Er gehorcht mir aufs Wort. Was haben Sie, einen 
зас de voyage? ein Plaid?“ 

„Famos, gehen wir!" 

Und Piotr Stepanowitjch пари felbit feinen Reiſeſack, 
*) Eine Art Whiftipiel, EIKER, 


993 


Plaid und Buch und fiedelte jofort mit der größten Bes 
reitwilligfeit in die erfte Klaſſe über. Erfel Half ihm, ме 
Sachen zu tragen. Da ertönte auch ſchon das dritte 
Glodenzeichen. 

„Run, Erkel,“ fagte Piotr Stepanomitich eilig und 
reichte ihm mit fichtlich anderweitig gefefleltem Sntereffe 
zum Abſchied noch die Hand aus dem Fenfter, „ich werde 
alfo mit ihnen Karten ſpielen.“ 

„ber wozu mir das noch erklären, Piotr Stepano- 
witſch, ich verftehe ja |фоп, ich verftehe Doch alles, Piotr 
Stepanomitjch.“ 

„Ха, alfo dann auf glüdliches . . . .“ und auf den Anruf 
des jungen Menfchen, der ihn mit den Partnern befannt 
machen wollte, wandte er jich plößlich vom Fenfter zurüd. 

Erfel {аб feinen Piotr Stepanowitſch nicht wieder. 

Traurig fehrte er nach Haus zurüd. Nicht, daß es ihn 
beängftigt hätte, daß Piotr @ерапою fie jo plößlich 
verließ, aber... aber er hatte fich fo jchnell von ihm 
fortgewandt, als diefer junge Zierbengel ihn rief und... 
er hätte doch etwas anderes jagen fönnen, als dieſe nicht 
zu Ende дертофепе Xbjchiedsredensart: „па, alfo dann 
auf glüdliches”, oder... oder wenn er doch wenigjtens 
die Hand fefter gedrüdt hätte! 

Gerade diejes [ее tat ihm am meiften weh. Und 
Ichon begann noch etwas anderes an feinem armen Herz⸗ 
chen zu nagen, etwas, das er ſelbſt noch gar nicht begriff, 
das aber mit dem vergangenen Xbend in Verbindung 
ftand... 


994 





Zweiundzwanzigſtes Kapitel 
Stepan Trophimomitfchs legte Reiſe 


I 


Sch bin überzeugt, daß Stepan Trophimowitſch furcht: 

bare Angſt hatte, als die für fein wahnfinniges Vor: 
haben beftimmte Zeit näher und näher тие. Sch bin 
überzeugt, daß er unter diefer Этой ſehr gelitten hat, 
bejonders in der Nacht vor feinem Aufbruch, in jener 
furchtbaren Nacht. Naſtaſſja erinnerte fich nachher, daß 
er fich ſpaͤt zu Bett gelegt, dann aber Ге gefchlafen 
hatte. Doch das еее will nicht allzuviel bejagen, 
denn auch zum Tode Verurteilte follen in der leßten 
Nacht ſogar ſehr Гей ſchlafen. 

Wenn Stepan Trophimowitſch auch erſt nach Sonnen— 
aufgang loswanderte, alſo zu einer Zeit, in der ein 
nervoͤſer Menſch ſich immer ermutigt fuͤhlt (der Major, 
der Verwandte Wirginskis, hoͤrte ja ſogar auf, an Gott 
zu glauben, ſobald die Nacht voruͤber war), ſo bin ich 
doch uͤberzeugt, daß er ſich vorher nie ohne Grauen hat 
vorſtellen koͤnnen, wie er ſich allein und in einer ſolchen 
Lage auf der großen Landſtraße befinden werde. Es 
wird aber wahrſcheinlich etwas Tollkuͤhnes in feinen 
Gedanken gemejen fein, das ihm zunächft die ganze Größe 


der jchredlichen Empfindung des plößlichen Alleinſeins 


milderte, nachdem er „Stasie“ und feinen zwanzig: 


995 


jährigen warmen Platz verlaffen hatte. Doch gleichviel: 
auch wenn er alle Schreden, die ihn erwarteten, Нат 
und deutlich vorausgejehen hätte, — er wäre dennod) auf 
die große Landſtraße hinausgegangen und hätte den Wen 
fortgejeßt! Hierin lag etwas Stolzes, etwas, das ihn 
troß allem begeifterte. Dh, er hätte ja auf Warmara 
Petromnas herrlihe Bedingungen eingehen und bei ihr 
bleiben fönnen „comme un gewöhnlicher Schmarotzer!“ 
Er aber nahm die Gnade nicht an und blieb nicht bei ihr. 
Und fiehe, jetzt geht er jelbjt von ihr und verläßt fie und 
erhebt „die Fahne der großen dee”, um für dieſe auf 
der großen Landſtraße zu fterben! Gerade jo und nicht 
anders mußte er das empfinden; gerade jo mußte jeine 
Handiungsweile ihm ſelbſt erjcheinen. 

Mehr als einmal Бабе ich mir die Frage geftellt: 
marum ging er denn gerade zu Fuß fort, buchftäblich zu 
Fuß? Warum mietete er denn nicht wenigſtens einen 
Wagen, wenn er jchon mit der Eifenbahn nicht fahren 
wollte? Zuerft habe 14 fie mir mit jeiner fünfzigjährigen 
Lebensunerfahrenheit beantwortet, fchließlich aber mit 
einer phantaftilchen Sdeenverirrung unter dem Einfluß 
eines ftarfen Gefühle erflärt. Es ſchien mir, daß ihm der 
Gedanfe an Poltkutihe und Pferde (6 wenn fie 
Scellen und Giödchen haben jollten) doch viel zu banal 
und profaijch vorfommen mußte. Dagegen war Pilger: 
Icheft, wenn аиф mit dem Regenjchirm in der Hand, viel 
ſchoͤner, viel liebenderächender. Heute freilich, nachdem 
alies vorüber Ш, nehme ich ап, daß es fich im weſentlichen 
пе! einfacher zugetragen hat. Er fürdhtete ſich wohl 
einfach, Pferde zu mieten, denn erſtens hätte Warwara 
Petromna das erfahren und ihn mit Gewalt zurüd- 


996 





{ 


gehalten, er aber würde |4 felbitverftändlich ergeben 
haben, und dann — fahre wohl auf ewig, große, heilige 
dee! Und zweitens: wenn man jchon Pferde und einen 
Magen nahm, mußte man doch wilfen, wohin die Reife 
eigentlich gehen follte? Das aber war fein größtes Leid 
in diefem Augenblid: einen beftimmten Ort wählen und 
nennen, wäre ihm geradezu unmöglich gemefen. Sobald 
er 14 für irgendeinen befiimmten Ort entichloß, mußte 
Ihm fein ganzes Unternehmen fofort in feinen eigenen 
Augen dumm und unmöglich erfcheinen — das mitterte 
er nur zu gut. Warum jollte e8 denn gerade dieje Stadt 
fein? Warum nicht eine andere? Und was foll er denn 
dort tun? Ce marchand fuchen? Uber welchen mar- 
chand? Das war die allerjchredlichite Frage! Ут Grunde 
gab es für Ба nichts Furchtbareres а{8 се marchand, 
den zu fuchen er fich fo Hals über Kopf vorgenommen 
hatte, und ben zu finden er im Grunde felbftverftändlich 
am allermeiften fürchtete. Nein, da war der weite Weg 
ſchon bejjer. Einfach drauf loswandern, wandern, warn: 
dern und an nichts denken, jo lange wie nur möglich an 
nichts denken! Der weite Weg: das war etwas ®апде8: 
Langes-Weites, dejfen Ende man gar nicht [аб — ganz 
wie ет Menfchenleben, ganz wie ein Menfchentraum ... 
Im reiten Wege lag eine Idee. In der Poſtkutſche aber 
— was war denn da für eine Idee? Da war eg zu Ende 
mit der Зее. Alſo: Vive la grande route — und dann 
wie Gott will! 

Nah dem plößlichen und unerwarteten Zufammen: 
treffen mit Lifa ging er.in tiefem Selbftvergeffen weiter. 

Der große Landweg führte in einer Entfernung von 
einer halben Werft an Skworeſchniki vorüber, und — 


997 


fonderbar — er bemerfte её zuerft gar nicht, daß er ihn 
betreten hatte. Klar zu denken oder auch nur die Dinge 
mit Bemwußtfein zu ſehen, war für ihn in diefem Yugen= 
blick unerträglich. Der feine Regen hörte bald auf, bald 
fing er wieder an; aber er bemerkte auch den Regen nicht. 
Und ebenjomenig bemerfte er, daß er die Reifetafche fich 
über die Schulter geworfen hatte und daß ihm dadurch 
das Gehen bedeutend leichter wurde. Und fchließlich 
hatte er jo ungefähr eine ganze Werft oder anderthalb 
zurüdgelegt, als er plößlich ftehen blieb und fich umſah. 
Der alte, jchmarze, von Wagenfpuren durchfurchte Weg 
mit feinen gepflanzten Weiden zog ſich wie ein endloſes 
Band vor ihm hin; rechts lag die leere Fläche laͤngſt 
abgeernteter Getreidefelder; links Geftrüpp und meiter- 
hin ein Wäldchen. Und in der Ferne, шей, die faum 
wahrnehmbare, jchräg weggleitende Linie des Eifenbahn= 
dammes und auf ihm das Rauchwölfchen irgendeines 
Zuges, von dem aber fein Laut zu hören war. Eine 
gewilje Verzagtheit überfam Stepan Zrophimomitich, 
aber nur auf einen YAugenblid. Er feufzte — grundlosg, 
itellte dann feine Reijetafche neben eine Weide und jeßte 
jih, um fich auszuruhen. Beim Niederjegen fühlte er, 
рав ihn fröftelte, und er mwidelte fich in fein Plaid; bei 
der Gelegenheit bemerkte er auch den Regen, und er 
ſpannte den Schirm über fich auf. Фо jaß er ziemlich 
lange, jchob zuweilen die Lippen hin und Бег und hielt 
frampfhaft den Schirmftiel umflammert. Verſchiedene 
Bilder zogen in fieberhaftem Reigen an ihm vorüber, 
eines immer ſchnell das andere .aus jeinem Bemußtjein 
verdrängend,. „Lise, Lise,‘“ dachte er, „und mit ihr 
ce Maurice... Sonderbare Menichen... Aber was 


998 





war das eigentlicy für ein Brand und worüber fprachen 
fie doch, u—und... und wer Ш denn ermordet wor: 
den? ch glaube, Stasie hat noch nichts gemerft und 
wartet поф mit dem Kaffee auf mih... Ут Karten: 
ipiel? Habe ich denn Menſchen im Kartenjpiel verfpielt? 


- Hm! bei ung in Rußland, zur Zeit der fogenannten Же: 


eigenichaft... Ach, Gott, aber Fedjka?“ 

Er fuhr auf vor Schred und blidte fich angftvoll um. 

„Wenn diejer Fedjka jeßt hier irgendwo hinter einem 
Strauch ВЕ? Man jagt doch, er habe hier eine ganze 
Näuberbande an der großen Landftraße? O Gott, ich 
werde dann... ch werde ihm dann die ganze Wahr: 
heit jagen, daß ich fchuldig bin... und daß ich zehn 
Sahre um ihn gelitten Бабе, — viel mehr, als er dort 
bei den Soldaten, und... . und ich gebe ihm mein Porte— 
monnaie. Эт! а! еп tout quarante roubles, il prendra 


les roubles et il me tuera tout de m&me.“ 





Vor Angft Нарре er, ich weiß nicht warum, den 
Schirm wieder zuſammen und legte ihn neben fich. Weit 
auf der Landftraße, zur Stadt hin, bemerkte er ploͤtzlich 
ein Gefährt: unruhig jah er ihm entgegen und verjuchte 
zu unterjcheiden, was е8 mar. 

„Grace a Dieu, её Ш ein Wagen und — er fährt 
Schritt... das kann nicht gefährlich fein. Dieje Hieligen 
verhungerten Pferöchen... 34 habe fchon immer дег 
jagt, daß die Rafje... Übrigens nein, das war Piotr 
УФ, der im Klub immer von der Rafje geiprochen 
hat. Er bat im Spiel mit mir verloren... oder nein, 
die Partie blieb remis... et puis, — aber mas Ш denn 
da hinten... es ſcheint .. ein Weib ИВ auf dem Wagen. 


Lin Weib und ein Mann — cela commence А ötre 


999 


rassurant. Das Weib jist hinten und der Mann vorn, 
— c’est tres rassurant. Hinten am Wagen ИЕ eine 
Kuh an den Hörnern angebunden, c’est rassurant au 
plus haut degre...“ 

Der Wagen ют immer näher: es war ein feiter, guter 
Bauernmwagen. Das Weib ſaß auf einem vollgeſtopften. 
Sad, der Mann vorn auf dem Wagenrand, jo dab 
feine Beine zu der Wegjeite, auf der Stepan Trophimo— 
witſch jaß, überm Rade herabbaumelten. Hinter dem 
Wagen trottete tatjächlich eine rote Kuh, die mit einen 
Strick um die Hörner an den Wagen gebunden war. Der 
Mann und das Зе ftarrten mit aufgerijjenen Augen 
auf Stepan Trophimowitſch, und diefer genau fo auf jie. 
So zogen jie an ihm vorüber. Doch als er fie ſchon gute 
zwanzig Schritt hatte weiterfahren lafien, erhob er ſich 
plößlic) eilig und lief ihnen nach, um fie einzuholen. In 
der Nachbarjchaft des Wagens jchien es ihm natürlicher: 
weije bedeutend Sicherer zu fein. Doc, faum hatte er fie 
erreicht, da hatte er alles ſchon wieder vergeſſen und 
ИФ bereits von neuen in feine Gedanken und Vor: 
tellungen verſenkt. Er ging einfach nebenher und merfte 
gar nicht, daß er für den Mann und das Weib mittler: 
weile das rätjelhaftefte und interejjantefte Objekt abgab, 
das man je auf der großen Landſtraße antreffen fonnte. | 

„Ste, was jind Sie denn, von welchen Leuten denn | 
eigentlich, wenn es nicht verboten 18 zu fragen?” fragte | 
endlich das Weib, das nicht länger an йф halten fonnte, _ 
als Stepan Trophimowitſch in der Zerjtreutheit ploͤtzlich 
auch ſie anjah. 

Ste war vielleicht Hebenundzwanzig Sahre alt, типо: 
lieh, mit dunflen Augenbrauen, roten Wangen und 


1000 





freundlich lächelnden roten Lippen, zwifchen denen gleiche 
mäßige weiße Zähne glänzten. 

„Sie... Sie wenden fich an mich?” ftotterte Stepan 
Trophimowitſch mit befümmerter Verwunderung. 

„Muß wohl einer von den Kaufmännern fein”, meinte 
der Mann mit Überlegenheit. 

Der war ein ftämmiger Bauer von ungefähr vierzig 
Jahren, mit einem breiten, nicht dummen Öejicht und 
großem blonden Bart. 

„Nein, ich bin nicht gerade von den Kaufleuten, ich 
‚.. ЦБ... moi c’est autre chose‘‘, verteidigte Jich, jo gut 
es ging, Stepan Trophimomitich und blieb auf alle Fälle 
ein wenig zurüd, jo daß er jeßt neben der Kuh ging. 

„Muß wohl einer von den Herrichaften fein‘, jchäßte 
der Mann, als er die nicht ruffiichen Worte vernommen 
hatte, und zug die Leine, um jein Pferd ein wenig auf: 
zumuntern. 

„за, ich mein’ auch, das fieht man doch, denn её Ш 
Doch ganz, als ob der Herr auf 'n Spaziergang gehen! 
meinte wieder das muntere Weib. 

„Das ... das fragten Sie mich?” 

„Die Ausländer, die hier fahren, die gehen meiftens 
da in die Eifenbahn, die dort hinten auf Schienen läuft, 
und Ihre Stiefel jind auch gar nich jo wie Мейае...” 

„Stiefel find militaͤriſch“, bemerite jelbjtzufricden und 
bedeutjam der Mann. 

„Rein, nicht gerade, daß ih Militär... ich... 

„Was das doch für ein neugieriges Weibchen ЦЕ’, 
dachte Stepan Trophimowitſch ärgerlich, „und wie jie 
mich betrachten... mais enfin... Mit einem Wort, es 
it jonderbar, Бар ich mir vor ihnen geradezu irgendwie 


64 Doſtojewsti, Die Dämonen. Bd. И, 1001 


ſchuldig vorkomme, und ih bin 509 durchaus nicht 
ſchuldig vor ihnen!” 

Das Weibchen neigte ſich vor und flüfterte mit dem 
Mann. 

„Wenn der Herr es nich für ungut nehmen will, fo 
fönnen ши Sie ja mitnehmen, wenn es man bloß ап: 
genehm 11." 

Stepan Trophimowitſch machte plößlich gleichſam 
auf. 


„Sa, ja, meine Freunde, ich bin mit dem größten Fi 


Vergnügen dabei, denn ich habe mich |фоп ſehr müde 
gelaufen, nur — wie fomme ich denn dort hinauf?“ 

„Wie fonderbar,” dachte er bei fich, „Daß ich [о lange 
neben diejer Kuh gegengen bin und es mir nicht in den 
Kopf gekommen Ш, fie ſchon früher zu bitten, mich in 
den Wagen aufzunehmen... Diejes ‚reale Leben‘ hat 
doch etwas überaug Charakteriſtiſches!“ 

Der Mann hielt aber das Pferdchen deshalb noch 
nicht an. 

„за, wohin will er denn?" erfundigte er fich mit 
einigem Mißtrauen. 

Stepan Trophimowitſch begriff nicht ſofort. 

„Wohl nach Hatoff, mein’ ich?“ 

„Зи Hatoff? Nein, nicht gerade, раб ich zu Hatoff. .. 
Und ich bin auch nicht ganz befannt mit ihm... aber 
ich habe |фоп von ihm gehört...” 

„Хее, das Dorf Hatomwo, ’n Dorf, neun gute Werft von 
bier.“ 

„Ein Dorf? C’est charmant, ja, ja, ich glaube auch 
ichon davon gehört zu haben..." 

Stepan Trophimomwitich ging immer noch, denn man 


1002 








machte noch nicht Miene, ihn aufzunehmen. Da fam 
ihm plößlich ein genialer Einfall. 

„Sie glauben vielleicht, daß ich... Sch Бабе einen 
Paß, ich bin — Profeſſor, das heißt, wenn Sie mollen, 
Lehrer... aber Oberlehrer. Уф bin Oberlehrer. Ош, 
c’est comme ga qu’on peut le traduire. ch würde mich 
ſehr nern in den Wagen feßen und ich werde... ich 
werde Ihnen dafür einen Liter Branntwein kaufen.“ 
„Ein halber Rubel von Sie, Herr, der Weg Ш 

ſchwer.“ 

„Und ſonſtig wuͤrde es man gar nich fuͤr uns angehen,“ 
meinte auch das Weibchen. 

„Ein halber Rubel? Nun gut, ein halber Rubel. C'est 
encore mieux, j'ai en tout quarante roubles, mais...“ 

Der Mann hielt endlich das Pferdchen an und Ötepan 
Trophimowitfch wurde mit vereinten Siräften in den 
Magen gezogen und neben das Weib auf den Sad ge: 
jeßt. Der Wirbelfturm von Gedanken verließ ihn auch 
jeßt nicht. Zumeilen fühlte er jelbft, def er irgendwie 
ganz bejonders zerftreut war und gar nicht an dag dachte, 
woran er eigentlich denken follte, und mwunderte | 
darüber. Dieje Erkenntnis bedrüdte ihn fchwer in manchen 
Augenbliden und НапНе ihn fogar. 

„Das . . . was ЦЕ denn das da hinten eigentlich — eine 
Kuh?” fragte er plößlich das Weib. 

„ch du mein! hat denn der Herr поф feine Kuh 
geſehn?“ fragte das Weib lachend zurüd. 

„sn der Stadt gekauft”, bemerkte der Mann. „All 
unſer Vieh ift im vergangenen Frühjahr Frepiert. ей. 
In unferer Gegend find rundherum alle um die Ede 
gegangen, faum die Hälfte frißt noch weiter. Nichts zu 


64* 1003 


machen. Schrei, wieviel du millft, es krepiert Dir 
doch." 

„За, das kommt bei uns vor in Rußland... und 
überhaupt wir Rufjen... nun, ja, es fommt vor”, 
meinte Stepan Trophimowitſch. 

„Denn Sie пи Lehrer find, was fuchen Sie dann in 
Hatoff? Oder geht’s noch weiter?” 

„sh... das heißt, nicht gerade, daß ich irgendmwohin 
weiter wollte... C’est & dire, ich will zu einem Kauf: 
mann.” 

„Ab, fo! Dann mwird’s wohl nach Spaſſowo fein?” 

„за, ja, nach Spaſſowo, nach Spaſſowo. Übrigens И 
das einerlei.” 

„Denn Sie nu nach Spaſſowo zu Fuß gehen wollten, 
ach du mein! — in Ihren Stiefelhen brauchten Sie 
dazu eine ganze Зофе! Das Weibchen lachte. 

„Sa, ja, aber das ИЕ ganz gleichgültig, mes amis, ganz 
gleichgültig”, brach Stepan Trophimowitſch ungeduldig ab. 

„Schredlich neugieriges Voll. Das Weib ſpricht 
übrigens beſſer als er, und überhaupt habe ich bemerft, 
daß feit der Aufhebung der Leibeigenschaft der Stil ſich 
ein wenig verändert hat... Was geht es fie übrigens 
ап, ob ich nach Spaſſowo fahre oder nicht nach Spaſſowo? 
Sch bezahle ihnen doch die Reife, mas drängen fie ſich 
da fo auf” | 

„Wenn man nach Spafloff will, fo muß man под) 
ши Dampfichiff fahren”, bemerfte der Mann. 

„sa, dag тиб er,” griff das Weib fofort auf, „denn 
mit Pferden längs dem Ufer hat er dreißig Werft Um— 
weg zu machen.“ 

„Vierzig“, verbejjerte der Mann. 


1004 





„Und morgen grad um zmei Uhr Friegen Sie den 
Dampfer in Uſtjewo Гей!" triumphierte das Weibchen. 

Stepan Trophimomitich fchwieg aber Бата. Da 
verftummten denn allmählich auch der Mann und das 
Meibhen. Der Mann 309 Ми und wieder mit auf: 
munterndem Zuruf die Leine an und das Weibchen 
machte von Zeit zu Zeit Визе Bemerkungen, auf die 
der Mann irgend etwas antwortete. Stepan Trophimo: 
witſch fehlummerte allmählich ein. Er war furchtbar ет? 
ftaunt, als ihn plößlich das Weibchen aufmwedte und 
lachend fagte, daß fie fehon angekommen feien, und er 
ПФ auf einmal in einem Dorf vor der Treppe eines 
dreifenftrigen Bauernhaufes jah. 

„Eingeichlafen, Зет?" 

„Bas ift das? Was?! Wo—o bin ich denn? Ach! 
Jun... Nun, einerlei ...“ Stepan Trophimowitſch 
ſeufzte tief auf und kletterte dann aus dem Wagen. 

Er ſah ſich traurig um; ſonderbar und ganz furchtbar 
fremdartig erſchien ihm plößlich das Ausſehen eines Dorfes. 

„Ach, den halben Rubel, den habe ich ganz vergeſſen!“ 
wandte er ſich mit einer voͤllig unbegruͤndeten Haſt zu 
dem Manne. 

Augenſcheinlich bangte ihm ſchon vor der Trennung 
von den beiden. 

„Kann man in der Stube abmachen, wenn man erſt 
eingetreten iſt“, forderte ihn der Mann auf. 

„Hier iſt es gut!” verfuchte dag Weibchen ihn zu er: 
mutigen. 

Stepan Trophimowitſch trat auf die madelige Holz— 
treppe. 

„За, wie ift denn das nur möglich“, flüfterte er in 


1005 


tiefer und erfchrodener Verftändnislofigfeit vor fich hin 
und trat in das Bauernhaus. „Elle Ра voulu“, Йаф es 
ihm plößlich ing Herz. 

Und wieder vergaß er alles, vergaß felbft dag, daß er 
ins Haus getreten тат. 

Es тат ein helles und ziemlich fauberes Bauernhaus 
mit drei Fenftern und zwei Zimmern, doch nicht eine 
Herberge, jondern nur fo ein Haus, in dem vorüber: 
fahrende Зе пи abftiegen. Stepan Trophimowitſch 
ging ohne die geringfte Verwirrung in die Gaftede des 
eriten Zimmers, vergaß zu grüßen, feste fich und verfiel 
in Gedanfen. Das angenehme Gefühl der Wärme nad) 
dreiftündiger feuchter Kälte ergoß fich ungemein wohlig 
über feinen Körper. Sogar Ме Froftichauer, die ihm 
furz und plößlich über den Rüden liefen, — mie das bei 
allen fehr neroöjen Menfchen vor einer Influenza zu 
fein pflegt, wenn fie plößlich aus der Kälte in die Wärme 
fommen, waren ihm mit einem Male ganz eigentüm: 
(ich angenehm. Er erhob den Kopf, und fiehe da — 
der leckere Duft von heißen Pfannkuchen, die die 
Bäuerin im Ofen briet, reizte feinen Geruchsfinn. Mit 
einem findlichen Lächeln auf den Lippen erhob er ſich 
und trat vorfichtig zum Weibe. 

„Bas ift denn das? Das find doch Pfannkuchen, nicht 
wahr?” fragte er fie. „Ма c’est charmant!“ 

„Wollen der Herr vielleicht welche?“ bot ihm Das 
Weib fogleich höflich an. 

„Natürlich will ich, felbftverftändlih will ih, und... 
ich mürde Sie аиф noch um etwas Tee bitten.“ 

„ch, das Samowarchen aufjegen? Ach, aber gern, 
gnädiger Herr!" 


1006 





Und auf einem großen Zeller mit diem blauen Mufter 
erichienen jogleich ме Pfannkuchen, име nur die Bauern 
allein fie zu bereiten verftehen, halb aus Weizenmehl, 
ganz dünn und mit heißer, frijcher Butter übergojjen — 
die herrlichiten Pfannkuchen der Welt. Stepan Trophi— 
mowitſch foftete mit Hochgenuß. 

„Wie fchön fie find, ме Pfannkuchen, und mieviel 
‚Butter! Und wenn man jeßt поф un doigt d’eau de 
ме...” 

„Will der Herr nicht vielleicht ет Schnäpschen dazu?“ 

„Das ift’s, das iſt's ja gerade, ein wenig nur, un tout 
petit rien...“ 

„Fuͤr fünf Kopeken?“ 

„Fuͤr fuͤnf — fuͤr fuͤnf — fuͤr fuͤnf, un tout petit 
rien“, beſtaͤtigte Stepan Trophimowitſch kopfnickend mit 
ſeligem Lächeln. 

Bittet man einen einfachen Ruſſen, etwas fuͤr einen 
zu tun, ſo wird er gern zu allem bereit ſein, was in 
feinen Kräften ſteht; bittet man ihn aber, ein Schnaͤps— 
chen für einen zu Бе]отдеп, jo verwandelt ſich die freund— 
liche Bezeitwilligfeit fofort in einen gejchäftigen, freudigen 
Dienfteifer, ja faft in verwandtichaftliche Fürjorge. Und 
wenn auch derjenige, der das Schnapschen beforgt, genau 
weiß, daß man den Schnaps ganz allein trinfen wird 
und er nicht einen Tropfen davon erhält, fo fcheint er 
doch gleichjam einen Zeil des Genufjes, den man beim 
Trinken haben wird, im voraus mitzuempfinden ..„. Sn 
faum drei Minuten (die Schenfe war nur ein paar 
Schritte vom Haufe entfernt) ftand vor Stepan Trophi— 
mowitjch eine Flaſche und ein großes grünliches Schnaps: 
glas, 


1007 


„Und das alles Ш für mich?" fragte er höchft ver: 
mundert. „Sch Бабе immer Schnaps in meinem Wein: 
Ichranf gehabt, aber ich habe ше gemußt, daß man foviel 
für nur fünf Kopefen befommt. 

Er goß das Glas bis zum Nande voll, erhob fich und 
Ichritt mit einer gemiljen Feierlichfeit durch die ganze 
Stube zu der anderen Ede, wo feine Reijegefährtin ſaß, 
— das nette Weibchen, das ihm unterwegs mit Den 
vielen Fragen jo läftig geworden war. Das Weibchen 
wurde verlegen und fträubte ſich, zu trinken, doch паф: 
dem fie alles gejagt hatte, mas der Anftand in ſolchen 
Fällen verlangt, erhob fie fich, nahm das Glas und мат 
ehrerbietig in drei Schlüdchen (wie Frauen zu trinken 
pflegen) den Branntwein aus, worauf fie, das Geficht 
zu einem fchredlichen Schmerzensausdrud ob deg fcharfen 
Weines verziehend, das Glas mit einer höflichen Ber: 
beugung Stepan Trophimowitſch zurüdreichte. Er er: 
widerte die Verbeugung mürdevoll und Тебе mit дег 
radezu ftolzer Miene an feinen Tiſch zurüd, 

68 таг das alles von ihm aus auf Grund einer plöß- 
lichen Eingebung geſchehen: noch eine Sekunde vorher 
hatte er nicht gewußt, daß er Bingehen und dem Weib: 
chen das Glas Branntwein anbieten werde. 

„Sch verftehe es tatellos, tadelles, mit dem Volk ums 
zugehen, und das habe ich ihnen immer gejagt”, dachte 
er felbitzufrieden, als er fich den Neft des Branntmweins 
eingoß, der ihn, wenn auch fein volles Glas übrig- 
geblieben тат, doch belebend ermärmte und ihm fogar 
ein wenig зи Kopf Нед. 

„Je suis malade tout & tait, mais ce n’est pas trop 
mauvais d’etre malade,“ 


1008 








„Wuͤnſchen Sie nicht eines davon zu kaufen?“ ertönte 
ploͤtzlich eine leiſe Frauenſtimme neben ihm. 
Erfah auf und erblidte zu feiner Verwunderung eine 

Dame vor fich — une dame et elle en avait Раш — eine 
Dame von mehr als dreißig Jahren, die jehr bejcheiden 
ausſah, ftädtifch gekleidet war und ein großes graues 
Зиф um die Schultern trug. In ihrem Geficht lag 
etwas jehr Angenehmes, das Stepan Trophimomitich 
ſofort ungemein gefiel. Sie war erft vor ein paar 
Minuten ins Haus zurüdgefehrt. Ihre Sachen lagen 
noch auf der Bank neben Stepan Trophimowitſch: unter 
anderem eine Ledertafche, die er — deſſen erinnerte er 
fich plößlic — bei feinem Eintritt neugierig betrachtet 
hatte, und ein nicht fehr großer Sad aus Wachstuch. 
Aus eben diefem Sad hatte fie jet zwei hübfch gebundene 
Eleine Bücher genommen, die fie Stepan Trophimowitjch 
hinhielt. 

„Eh... mais je crois que c’est lEvangile... Aber 
mit dem größten Vergnügen... Ah, ich verſtehe ... 
Vous*&tes ce qu’on appelle une Bibelverfäuferin? Sch 
babe, glaub ich, vor nicht allzu langer Zeit fo etwas де: 
Iefen... Fünfzig Kopeken?“ 

„Bünfunddreißig Kopeken“, antwortete die Bibelfrau. 

„Mit dem größten Vergnügen. Je n’ai rien contre 
PEvangile, et... Sch habe es jchon lange wieder einmal 
lefen wollen .. 

Und im felben Augenblid kam es ihm zu Bewußtſein, 
daß er wohl feit dreißig Jahren Feine Bibel mehr in der 
Hand gehabt hatte und fich überhaupt nur noch einiger 
Stellen erinnerte, die er vor ungefähr ſieben Sahren in 
Nenans „Vie de Jesus“ gelcjen. Da er fein Kleingeld 


1009 


hatte, $09 er feine vier Zehnrubelfcheine hervor — alles, 
mas er bejaß. Die Wirtin erbot fich, ihm einen Schein 
auszumechfeln, und da erft bemerkte er, daß 14 inzwiſchen 
ziemlich viel Зо im Zimmer verfammelt hatte, das ihn 
парт фен fchon lange beobachtete, jedenfalls aber 
über ihn [ртаф. Doch auch über den Brand wurde де: 
Iprochen, von dem der Belißer des Magens und der roten 
Kuh alles mögliche berichtete, da er in der Stadt gemejen 
mar und mehr mußte, als die anderen. Man |ртаф auch 
von den Spigulinjchen und darüber, daß man „ablicht: 
lich angezündet” hätte. 

„Mit mir hat er fein Wort über den Brand geſprochen, 
als er mich herfuhr, fondern пит über anderes”, Dachte 
Stepan Xrophimowitich flüchtig. 

„Bäterchen, Stepan Trophimomitich, gnädiger Herr! 
Sind Sie es denn wirklich, den ich ſehe? Ach Gott, das 
hätte ich aber wirklich оп gar nicht erwartet! ... 
Haben mich wohl nit erkannt?“ rief plößlich ein Alt: 
licher Mann, der mit feinem glattrafierten Geficht mie 
ein alter, altmodischer Hofsfnecht аи {аб und einen fangen 
Mantel mit hochgefchlegenem Kragen trug. Stepan 
Zrophimomitich erſchrak, als er feinen Namen rufen hörte. 

„DBerzeihen Sie," murmelte er, „aber ich fann mich 
Shrer nicht mehr ganz deutlich erinnern..." | 

„Haben mich vergeffen, ach ja! $9) bin doch Aniffim, ° 
Aniffim Iwanow. Ich diente beim feligen Herrn Gaga: — 
noff, und habe Euch, gnädiger Herr, mehr wie hundert: © 
mal mit Warwara Petromna bei der feligen Ampotja 
Sfergejermna geſehn. Amdotja Sſergejewna aber hat 
mich mit Bücherchen паф Skworeſchniki gefchidt, ja, 
und zweimal habe ich Euch, gnädiger Herr, auch von ihr * 


1010 











Petersburger Bonbons, oder wie fie da heißen, die 
Konfeftchen, gebracht...” 

„Ach Doch, ich erinnere mich, Aniffim,” fagte Stepan 
Trophimowitſch lächelnd. „Und du lebſt jeßt hier?" 

„Уф lebe bei Spafloff, im W—ſchen Klofter, in der 
Anliedlung, bei Marfa Sfergejerwna, bei der Schmefter 
von unlerer jeligen Awdotja Sſergejewna, vielleicht er: 
innert fich der gnädige Herr noch, die fich 508 Dein 
brachen, als fie unterwegs aus dem Wagen [prangen — 
fuhren zum Ball. Gebt leben fie allein beim Klofter und 
ich bin dortjelbft bei ihr. Heute aber moilte ich, wie der 
Herr jehen, ing Gouvernement, um die Meinigen mal 
zu bejuchen ...“ 

„Run ja, nun ja.” 

„Ach, hab ich mich was gefreut, als ich den gnädigen 
Herrn ſah, waren immer fo gnädig zu mir”, fagte Aniffim 
mit gerührtem Lächeln. „Uber wohin fährt denn der 


gnaͤdige Herr, und noch jo ganz allein?... Sind Doch, 
ſonſtig, glaub ich, nie fo allein ausgefahren 


Е = Te e— 


Stepan Trophimowitſch [аб ihn erfchroden ап. 

„заре der gnädige Herr nicht vielleicht gerade zu uns, 
nach Spaſſoff?“ 

„За... ja, ich fahre nach Spafjoff. П me semble que 
tout le monde va a Spassoff.. .“ 

„Ach, und vielleicht gar zu Fiodor Matwejewitſch 
jelber? Ach, wird der fich aber freuen! Hat Doch immer 
den gnädigen Herrn |6 geliebt und fpricht auch jetzt oft 
vom gnädigen Herrn..." 

„за, ja, аиф zu Fjodor Matwejewitſch.“ 

„Das muß wohl fein. Das muß mohl fein. Hier die 
Männer, die wundern fich, fagen, daß man den gnädigen 


1011 


Herrn zu Fuß unterwegs ganz allein getroffen hat. Aber 
was! Dummes Volk bleibt doch immer dummes Volk!“ 
„Ich ... Ich ... Weißt du, Aniffim, ich habe gemettet, 
wie die Engländer das zumweilen machen, daß ich zu Fuß 
fo und fo viele Werft gehen fönne, und da bin ich nun ...” 
Schweiß trat ihm an den Schläfen und auf der Stirn 
hervor. 

„Muß wohl fein, muß wohl fein...” meinte ohren 
ſpitzend Aniſſim und hörte mit wahrhaft unbarmherziger 
Neugier zu. Uber Stepan Trophimowitſch hielt den 
nicht ftand. Er verwirrte ſich jo, daß er ſchon aufftehen 
wollte, um aus dem Haufe zu laufen. Da murde aber 
der Samowar gebracht, und im ſelben Augenblick Fehrte 
auch die Bibelfrau zurüd. Wie ein Menfch, der fi an 
feinen Retter wendet, jo bat Stepan Trophimowitſch 
jet fchnell die Bibelfrau, mit ihm Зее zu trinken. Da 
trat Anifjim zurüd und ging bald darauf aus dem 
Zimmer. | 

Unter dem Volk hatte fich tatfächlich fhon die Frage 
erhoben: Was ИЕ das für ein Menſch? War zu Fuß auf 
der Zanditraße, jagt, er jei Lehrer, gekleidet: ЦЕ er wie 
ein Ausländer und jprechen tut er wie ein Heines Kind, 
und mitunter antwortet er ganz jo, als ob er fortgelaufen 
jet, und dabei hat er noch Geld! Kurz, es dauerte nicht 
lange und man begann zu erwägen, ob man nicht die 
Polizei benachrichtigen folle: „da es bei alledem in der 
Stadt auch nicht ganz ruhig iſt.“ Da kam Aniffim gerade 
zur rechten Zeit in den Flur und beruhigte jchnell die 
Gemüter. Er verfündete dem ganzen Фи ит, daß 
Stepan Trophimowitſch nicht jo was, wie ein Lehrer, 
fondern „jelber ein großer Gelehrter” jet, der ſich mit 


1012 





allen Wiſſenſchaften beichäftigt, und früher fei er felber Ме: 
Пдег Gutsbefißer gemejen, lebe nun aber |фоп feit zwei: 
undzwanzig Jahren im Haufe der Generalin Stawrogina 
an Stelle des jeligen Herrn, und in der ganzen Ötadt 
jei er hoch angeſehen und alle Menjchen achteten ihn 
jehr. Im Adelsklub habe er oft an einem einzigen Abend 
an die taufend Rubel verjpielt und dem Zitel паф fei er 
„Rat, was ebenjoviel bejagen wolle wie ein Oberft: 
leutnant, alfo nur etwas weniger als ein voller Oberft. 
Und mas das Geld anbeträfe, jo fünne man das, weil es 
doch die Generalin Stawrogin fei, gar nicht abzählen, 


uſw., uſw. 


„Mais c’est une dame et très comme il faut“, dachte 
inzwiſchen Stepan Trophimowitſch und [еше wie erlöft 
nach dem Aniffimfchen Angriff auf. Mit angenehmer 


Neugier betrachtete er feine neue Nachbarin, die Übrigens 


den Зее von der Untertafje trank und den Zuder vom 
Stüdchen dazu М. „Ce petit morceau de sucre се 
n’est rien... Es Ш etwas Edles und Unabhängiges und 


gleichzeitig — Stilles in ihr. Le comme il faut tout 


pur, nur ein wenig wie von einer anderen Art.” 
Bald erfuhr er von ihr, daß Пе Sjofja Matwejewna 


Ulitina hieß und eigentlich in Я. wohnte, wo fie eine 


verwitwete Schmwefter unter den Bäuerinnen hatte. Yuch 
fie war Witwe, da ihr Mann bei Sebaftopol gefallen 
war. 

„Uber Sie find noch jo jung, vous n’avez раз trente 
ans.‘ 

„Vierunddreißig“, fagte Sſofja Matwejewna laͤchelnd. 

„Wie, Sie ſprechen auch franzoͤſiſch?“ 

„Ein wenig nur: ich habe nachher in einem adligen 


1013 


Haufe vier Jahre gelebt und da habe ich von den Kindern 
etwas gelernt.” 

Sie erzählte ferner, daß fie паф dem Tode ihres 
Mannes zunachft in Sebaftopol als barmherzige Schmefter 


geblieben ſei, darauf habe fie verſchiedene Stellen gehabt 


und jeßt gehe fie und verfaufe Bibeln. 

„Mais, mon Dieu, waren Sie е8 vielleicht, mit der 
eine jonderbare, ſogar jehr fonderbare Gefchichte bei ung 
paſſierte?“ 

Sie wurde rot: fie war es tätſaͤchlich geweſen. 

„Сез vauriens, ces паШеигеих!“... begann Stepan 


Trophimowitſch mit einer Stimme, die vor Unwillen 
bebte: viefe mwiderliche Erinnerung preßte ihm qualvoll 
das Herz zufammen und er verlor fich darob wieder in | 


Gedanlen. 


„Ach, пе ift fchon fortgegangen”, dachte er erftaunt,. 


als er plößlich bemerkte, daß fie nicht mehr neben ihm 
jaß. „Sie geht ziemlich oft fort und fcheint ja mit irgend 
etwas fehr bejchäftigt zu fein; ich glaube, fie ift ſogar 
aufgeregt... Bah, je deviens &goiste!“ 


Als er nach einiger Zeit auflah, erblidte er wieder | 


и ит, diesmal aber mit einer geradezu bedrohlichen 
GSefolgichaft: das halbe Zimmer war von Bauern ein: 
genommen, die alle Stepan Trophimowitſch nach Spaſſoff 
fahren mollten. Außer Aniſſim flanden noch da: der 
Befiger des Hauſes, ferner der Mann, der ihn hergefahren 
hatte, fodann mehrere andere Männer — иле es ſich 
herausitellte, lauter Fuhrleute — und ein fleiner halb: 
betrunfener Menfch, der am allermeiiten ſprach, иле ein 
Zagelöhner gefleivet war, doch mit feinem rafierten 
Gejiht wie ein heruntergefommener Kleinbürger auss 


1014 


— 








jah. Und alle die zanften fich feinetwegen, zankten fich 
um den armen Ötepan Trophimowitſch! Der Befiker 
der Kuh verficherte in einem fort, daß im Wagen längs 
dem Ufer mindeftens „vierzig Werft Umweg“ zu machen 
feien, und daß man unbedingt mit dem Dampfer fahren 
шие. Der baldbetrunfene Kleinbürger dagegen und 
der Hauswirt widerjpradhen eifrig: 

„Darum daß wenn du, mein Bruderherz, Seiner 
Hochwohlgeboren auch ſagſt, daß es über’n See mohl 
näher 18, fo 18 dag wie’s is, aber der Dampfer fommt 
doch nich!” 

„Bird kommen, er wird ficher — ** noch 'ne 
Woche wird er kommen!“ beteuerte Aniſſim aufgeregt 

„Schoͤn, er kommt, das is wie's is, aber er er 
doch nie nich affurat, und jeßt 18 doch die Zeit ſchon fpät, 
und da fommt’s vor, daß man ihn in Uftjewo runde drei 
Lage rich ſieht!“ fchimpfte der Halbbetrunfene, 

„Morgen wird er ficher fommen, morgen um zwei 
Uhr, und in Spaffoff kommt dann der gnädige Herr 
gerade noch zum Abend ап!" rief Anifjim. 

„Mais qu’est-ce qu’il a cet homme?“ fragte Stepan 
Zrophimomitich, der nicht wußte, um was е8 ſich handelte, 
lich ſchon das Schlimmfte dachte und zitternd fein Schidfal 
‚erwartete. 

Da drängten Jich jchließlich die Fuhrleute immer näher 
und boten 14 an: bis Uftjewo verlangte jeder von ihnen 
drei Rubel. Die anderen fchrien, drei Rubel feien wirklich 
nicht zu viel, da man den ganzen Sommer hindurch von 
Мег bis Uſtjewo für diefen Preis gefahren habe. 

„Aber... hier ЦЕ es ja auch gut... Ich will gar nicht 
fort”, ftammelte Stepan Trophimowitſch abwehrend. 


1015 


„Hier ЦР gut, gnädiger Herr, das ift ſchon wahr, aber 
bei uns in Spajfoff ift es noch тей beſſer, und was wird 
Fiodor Matwejewitſch über den Bejuch fich freuen!" ... 

„Mon Dieu, mes amis, das fommt mir alles fo ип: 
erwartet...” 

Endlich fehrte zum Gluͤck auch Sſofja Matwejewna 
zuruͤck. Sie ſetzte ſich aber traurig und wie zerſchlagen 
auf die Bank. 

„So komme ich denn ſchon nicht mehr nach вое f 
jagte fie niedergeichlagen zur Wirtin. 

„Wie, auch Sie wollen nach Spaſſoff?“ fragte Stepan 
Trophimowitſch ploͤtzlich belebt. 

Es ſtellte ſich heraus, daß eine Gutsbeſitzerin, Nadeſchda 
Jegorowna Swetlizyna, der Bibelfrau geſtern geſagt 
hatte, fie ſolle Пе in Hatoff erwarten, da fie dort durch— 
fahren und ſie dann nach Spaſſoff mitnehmen werde. 


Nun aber traf dieſe Nadeſchda Jegorowna noch immer | 


nicht ein. 


„Das fol ich jeßt tun?” fragte Sfofja Matwejerwna | 


ängftlich. 


„Mais, ma chere et nouvelle amie, ich kann Sie doch 


gleichfalls, ganz wie diefe Gutsbejißerin, mitnehmen! ... | 


in diejes, wie heißt es doch, in diejes Dorf, wohin ich 

fahre und den Fuhrmann |фоп angenommen habe! — 

nun, und morgen find wir dann beide in Spaffoff .. .” 
„за, fahren Sie denn auch nach Spaſſoff?“ 


„Mais que faire, et je suis enchante! Und ih würde 
Sie mit dem größten Vergnügen hinbringen. Sehen: 


Sie, die wollen es doch alle, daß ich hinfahre, und ich 
habe ja auch bereits einen... Wen von euch habe ich 
denn nun engagiert?” fragte @ерап Trophimowitſch 


1016 





lebhaft die Bauern, plößlich fehr damit einverftanden, 
nach Spafjoff zu fahren. 

Eine Viertelftunde fpäter faßen fie bereits in dem ver: 
dedten Wagen: er ungemein angeregt und vollfommen 
zufrieden, fie mit ihrem Wachstuchjad und einem danf: 
baren Lächeln neben ihm. Aniſſim lief rund um den 
Magen und bemühte fich wie für Geld. 

„Slüdliche Reife, gnädiger Herr, habe mich jo gefreut 
über das Wiederſehen!“ 

„Змеи, adieu, leb wohl, mein Freund, leb wohl, 
adieu.” 

„Der gnädige Herr wird nun аиф Fiodor Matwe— 
jewitjch wiederfehen ...“ 

„за, mein Freund, ja... auch Fiodor Pamwlomitich ... 
nur Adieu.“ 

II 

„Sehen Sie, mein Freund — Sie erlauben mir doch, 
mich Ihren Freund zu nennen, n’est-ce pas?‘ begann 
Stepan Zrophimomitich eilig, gleich nachdem fich der 
Magen in Bewegung gejekt hatte, „Sehen Sie, ich... 
J’aime le peuple, c’est indispensable, mais il me semble 
que je ne l’avais jamais vu de ргёз. Stasie... cela va 
sans dire qu’elle est aussi du peuple... mais le vrai 
peuple, das heißt, das wirkliche, das auf der weiten 
Landſtraße ift, das, glaube ich, bekuͤmmert fich um weiter 
nichts in der Welt, als um dieſes eine: wohin ich eigent: 
lich fahre... Doch übergehen wir die Kränfungen. Sch 
glaube, ich |ртефе heute etwas durcheinander, aber das 
fommt wohl nur, еп ich, von der Eile...” 

„Sch fürchte, Sie find nicht ganz wohl”, bemerfte Sfofja 
Matwejewna, die ihn prüfend, wennauchehrerbietig anfah. 


65 Dojtojewsti, Die Dämonen. 35. И, 1017 


„Хет, nein, man muß ſich nur ein тега fefter ein- 
wideln, und überhaupt... der Wind ift etwas frifch, 
etwas zu ПИФ, aber... . vergeffen wir das. За, die Haupt: 
'афе... ich wollte eigentlich gar nicht das fagen. Chere 
et incomparable amie, ich glaube, daß ich Тай glüdlich 
bin, und jchuld daran — find Sie! Mir tut das Glüd 
nicht gut, denn dann vergebe ich gewöhnlich fofort allen 
meinen Feinden...“ 

„Das ЦЕ aber doch fehr gut.” 

„Nicht immer, chere innocente. L’Evangile... Voyez- 
vous, desormais nous le pröcherons ensemble und id} 
werde mit Freuden те netten Büchlein da verkaufen. 
За, ich fühle, daß das fogar eine dee Ш, quelque chose 
de tres nouveau dans се genre. Das Bolf ift religiös, 
c’est admis, aber её fennt noch nicht das Evangelium. 
Ich werde es ihm erklären... . In mündlicher Auslegung 
fann man leichter die Fehler diejed bemerkenswerten 
Buches korrigieren . . Diejes Buch... — ich bin bereit, 
mich mit außerordentlicher Hochachtung zu diefem Buche 
zu verhalten. Sch werde auch auf der großen Landſtraße 
nüßlich fein können. ch bin immer nüßlich geweſen, ich 
habe ihnen das immer gejagt et A cette chere ingrate 
aussi... Oh, vergeben mir, vergeben wir, laſſen Sie 
ung vor allem vergeben, und allen allen vergeben und 
immer vergeben. Und hoffen wir, daß man auch uns 
vergeben wird. Sa, denn alle, jeder einzelne ift vor 
dem anderen jchuldig. Alle find fchuldig!.. 

„Das haben Sie, glaub ich, jehr ſchoͤn gefagt.” 

„За, ja... Sch fühle, daß ich ſehr gut jpreche. Sch 
werde fehr fchön zu ihnen reden, aber... aber... mag 
wollte icy denn eigentlich jagen? Ich komme immer ab 


1018 








und vergeffe... За — würden Sie mir erlauben, mic 
nicht mehr von Ihnen zu trennen? Ich fühle, daß Ihr 
Blick und... ich wundere mid) fogar über Ihre Art und 
Meife. Sie find gütig, Sie |prechen nut nicht ganz comme 
il faut und gießen den Зее ш die Untertafje... und 
dazu dieſes fchredliche Zuderftüdchen . . aber fonft... 
— in Ihnen Ш etwas Wunderbares, und ich fehe in 
Ihren Zügen... Ob, erröten Sie nicht und fürchten 
Sie mich nicht ald Mann! Chere et incomparable, pour 
moi une femme c’est tout! Sch kann nicht, [апп überhaupt 
nicht anders leben, als neben einer Frau, aber eben nur 
neben ihr... Das heißt, ich meine, ich wollte jagen... 
Oh, ich glaube, ich Бабе mich da entleglich verfprochen . . . 
Nur [апп ich mich nicht mehr darauf befinnen, was ich 
eigentlich fagen wollte. Oh, felig ift der, Бет Gott immer 
eine Frau ſchickt und... ich, ich glaube fogar, daß ich in 
einer gewilfen Begeifterung bin. Auch in der großen 
Zandftraße liegt eine höhere Zdee! За, das — das war 
её ja, was ich von dem Gedanken fagen wollte! — jekt 
ЦЕ e8 mir wieder eingefallen, vorhin hatte ich е8 ganz 
vergeffen. Aber warum hat man uns fortgefchidt, in 
diefen Wagen gedrängt? Dort war es doch fehr Schön, 
Мег aber — cela devient {тор froid. A propos, j’ai еп 
tout quarante roubles et voila cet argent, nehmen Sie 
es, nehmen Sie е8, ich verftehe nichts davon... . ich ver: 
liere её, man wird es mir ftehlen, und... Sch glaube, 
ich würde ganz gern ein wenig ſchlafen .. . es dreht ich 
da irgend etwas in meinem Kopf. За, jo, es dreht fich, 
dreht fich, dreht Jich. Ob, wie Sie gut find, womit deden 
Sie mich denn zu?” 

„Sie haben bejtimmt eine gehörige Erkältung weg! 


65* 1019 












34 habe Sie mit meiner Dede zugededt, aber das Geld | 
würde 14...” 
„ОБ, um Gottes willen, n’en parlons plus, parce que 
cela me fait mal, ob, wie gut ©ie find!" | 
Er hörte feltiem plöglich auf zu fprechen und verfiel 
ungewöhnlich fchnell in fieberhaften Schlaf. 

Der Landweg, auf dem fie fiebzehn Werft bis Uſtjewo 
zurüdzulegen hatten, war recht uneben und der Wagen 
auch nicht gerade ſehr elaſtiſch. Stepan Trophimowitich , 
wachte von den Stößen oft auf, erhob ſich dann. schnell 
von dem feinen Kiffen, des Sfofia Matwejewna ihm 
unter den Kopf gefchoben hatte, erfaßte erjchroden ihre | 
Hand und fragte ängftlich: „Sind Sie da?" ganz, als ob 
er gefürchtet hätte, fie Fünnte weggehen und ihn allein 
lafjen. Einmal fagte er, daß er im Traum einen offenen 
Rachen mit fcharfen Zähnen gejehen Бабе, und daß ihm 
das ſehr unangenehm gemejen Sei. Sſofja Matwejewna 
machte fich |фоп nicht wenig Sorgen um ihn. | 

Der Fuhrmann brachte fie zu einem großen Bauern= | 
haufe, das vier Fenfter zur Straße und auf dem Hof 
noch verjchiedene Mohngebäude hatte. Stepan Trophi— 
мою, der gerade in dem Augenblid der Ankunft aufs 
wachte, ftieg ſchnell aus und ging fofort ins zweite, das 
größte und befte Zimmer. Sein verjchlafenes Geſicht 
nahm einen ungemein gejchäftigen Ausdrud an. Er er⸗ 
Нате der Wirtin, einem großen, vierzigjährigen, jehr 
brünetten Weibe, das auf der Oberlippe [ай einen 
Schnurrbart hatte, er wuͤnſche das ganze Zimmer für 
fich allein und „daß Sie mir feinen Menſchen hier herein 
laffen, fchließen Sie die Türen зи, parce que nous avons 
a райег. Ош, j’ai beaucoup а vous dire, chere amie. 





1020 


— Sch bezahle Ihnen alles, ich bezahle, bezahle!” rief er, 
‚der Wirtin erregt abwinfend. 

Er jprach rafch, aber doch wie mit ſchwerer Zunge. 

Die Bäuerin hörte ihn unfreundlich an, und zum 
Zeichen des Einverftändnifjeg fchwieg fie nur; darin lag 
aber |фоп gleichfam etwas Drohendes. Stepan Trophi— 
mowitſch bemerkte davon natürlich nichts und verlangte 
‚eilig — er beeilte fich entjeglich —, fie folle nur ſchnell 
‚aus dem Zimmer gehen und ihm fofort das Eſſen bringen 
= „und feine Zeit vertroͤdeln!“ fügte er hinzu. 

Da aber hielt die Bäuerin mit dem Schnurrbart nicht 
mehr an Sich: 

„Herr, das ЦЕ Hier fein Gafthaus, wir haben Fein Eſſen 
für die Reifenden. Krebje пп ich Ihnen noch fochen 
oder einen Samowar aufftellen, aber weiter auch nichts. 
Friſchen Fisch wird’s erft morgen geben.“ 

Doch Stepan Trophimomitich ertrug feinen Einwand 

und rief fuchtelnd in zorniger Ungeduld: „Bezahle, Бег 

zahle alles, nur jchneller, ſchneller!“ Endlich famen fie 
dahin überein, daß eine Fifchfuppe gefocht und ein Huhn 
gebraten werden follte. Die Bäuerin fagte zwar, daß 
ein Huhn im ganzen Dorf nicht zu haben fei, einftweilen 
aber mollte fie doch verfuchen, eines aufzutreiben, wenn 
fie e8 auch mit einer Miene verjprach, als ob fie damit 
eine ungeheure Gefälligfeit ermeife. 

Kaum war fie aus dem Zimmer, ale Stepan Trophi: 
mowitſch fich fchnell auf den Diwan {ее und Sfofja 
Matwejewna zwang, fich neben ihn zu |еВеп. Es war, 
für eine Bauernftube, ein recht eigentümlich möbliertes 
großes Zimmer. Außer einem gepoliterten Sofa ftanden 
noch zwei alte Lehnftühle darin, und an den Wänden, 


1021 


die mit alten gelben, zerriljenen Tapeten beflebt waren, | 


hingen fchauderhafte mythologifche Oldruckbilder. Nur 
eine Ede war noch Bauernftube: mit einer langen Reihe 


von Heiligenbildern, teild auf Holz, teils in dreiteiligen | 
Metallihränfchen. Im einer anderen Ede ſtand hinter | 


einer niedrigen Scheidewand ein Bett. Kurz, das Zimmer 
machte mit feiner halb ftädtifchen, halb bäurifchen Ein— 
richtung einen unjchönen Eindrud. Doc Stepan Зло: 
phimowitſch ſah das alles überhaupt nicht, ja er warf über: 
kaupt nicht einmal einen Blid durch das Fenfter auf den 
großen See, ber вит dreißig Schritte vom Haufe Бе: 
gann 


„Endlich find wir allein! Wir werden niemanden | 


bereinlafjen! Ich will Ihnen alles, alles, von Anfang 
an erzaͤhlen.“ 

Doch Sofia Matwejerna fiel ihm in nicht geringer 
Unruhe ins Wort: 

„Wiſſen Sie auch, Stepan Trophimomitich . . .“ 


„Comment, vous savez deja mon nom?“ fragte er, | 


freudig lächelnd... 
„sch hörte vorhin, wie Aniſſim Iwanowitſch Sie ап: 


redete, als Sie mit ihm fprachen. Uber ich möchte её — 


wagen, @е meinerjeits auf etwas aufmerfjam zu 
machen... 


Und fie flüfterte ihm, Angftlich nach der gefchloffenen | 
Tuͤr blidend, zu, daß es hier im Dorfein wahrer Jammer | 


fei: die Bauern feien zmar von Haufe aus Fiſcher, lebten 


aber mehr davon, daß fie im Sommer von den Reifen: 


den, die hier auf das Dampfichiff warteten, jo viel Geld 
verlangten, иле ihnen gerade einfiel. Das Dorf liege 
nicht an der großen Landſtraße, fondern abjeits, und man 


1022 






— — 





fomme nur deswegen hierher, weil der Dampfer hier 
anlege, wenn aber nur etwas fchlechteres Wetter fei, fo 
komme er überhaupt nicht, und dann ſammelten fich hier 
ſehr viele Reifende an: jeßt zum Beifpiel fei fchon das 
ganze Dorf bejekt, und darauf warteten die Hausmwirte 
nur, denn dann fönnten fie für alles das Dreifache ver: 
_ langen, der Mann aber diefer Bäuerin mit dem Schnurr= 
bart fei fehr ſtolz und hochmütig, denn er fei der reichfte 
- Mann im Dorf, ein einziges feiner Neke koſte allein fchon 
an die taufend Rubel uſw. ий, 
Stepan Trophimowitſch blidte geradezu vorwurfsvoll 

in das ungewöhnlich belebte Geficht Sſofja Matwejewnas 
und machte mehrmols den Verjuch, fie zu unterbrechen. 
Sie aber ließ fich nicht aufhalten und befräftigte das 
Geſagte noch mit der Erzählung ihrer Erfahrungen, die 
lie im leßten Sommer auf der Durchreife mit einer 
abligen Dame Мег gemacht hatte, — Erfahrungen, an 
die auch nur zurüdzudenfen für fie fchon furchtbar war. 

„Und nun haben Sie, Stepan Trophimowitſch, diejes 
Zimmer für fich ganz allein verlangt... Sch fage es ja 
nur, um zu warnen... Dort im anderen Zimmer find 
Ichon viele Reijende, ein älterer Mann und ein jüngerer 
Mann und noch eine Frau mit Kindern, und М8 morgen 
zwei Uhr wird das ganze Haus bie zum Dach voll fein, 
da das Dampffchiff morgen beftimmt fommen wird, weil 
es jeßt fchon zwei Tage nicht mehr gefommen Ш. Und 
jo werden denn die Leute für das bejondere Zimmer 
und dafür, daß Sie das Eſſen beftellt haben, fo viel von 
Ihnen verlangen, daß es felbft in den Hauptftädten un: 
erhört waͤre ...“ 

Er aber litt, litt inzwiſchen aufrichtig. 


1023 


„Assez, mon enfant, ich flehe Sie ап, nous avons 
notre argent et apr&es — et аргёз le bon Dieu. 68 
wundert mich nur, daß @е mit Ihren hohen Auf: 
fafiungen.... Assez, assez, vous me tourmentez“, rief er 
nervos. „Bor ung liegt unfere ganze Zufunft, und Sie... 
Sie wollen mir Angjt machen vor der Zukunft...” 

Und er begann nun, ihr feine Lebensgefchichte zu er= 
zählen, wobei er zu Anfang dermaßen jchnell fprach, daß 
e8 ſchwer тат, zu folgen. Die Gefchichte war fehr lang. = 
Man brachte fchon die Fifchjuppe, brachte das Huhn, 
brachte endlich auch den Samowar, er aber |prach immer 
поф... 68 ат zwar alles ein wenig feltfam, wie eine 
Sieberphantajie, heraus, aber — er таг ja auch tatjäch- 
lich Нап Das шаг eine plößliche Frampfhafte An— 
ſpannung feiner Berftandesfräfte, die in kurzer Zeit — das 
ſah Sfofjia Matwejermna |фоп befümmert voraus — 
unfehlbar ins Gegenteil umfchlagen mußte. 

Er begann mit feiner Kindheit, alfo mit der Zeit, als 
er noch „mit frifcher Bruft über grüne Wiefen lief”. Erft 
nad) einer Stunde hatte er 14 big zu jeinen beiden Ehen 
durchgearbeitet und dann begann die Erzählung des 
Berliner Lebens. Ich mage aber nicht, darüber zu 
ipotten. 68 lag für ihn tatfächlich etwas „Hoͤheres“ darin, 
oder um einen YAusdrud ипетег Zeit zu gebrauchen: 
eine Art Kampf ums Dafein. Er fah jeßt diejenige 
Frau vor fich, die er |фоп für fein zufünftiges Leben 
erwaͤhlt hatte, und er beeilte fich, fie in feine ganze 
Vergangenheit einzumeihen. Seine Genialität follte für 
lie fein Geheimnis mehr bleiben... Es И wahrjchein: 
lich, daß er Sfofja Matwejewnas Wert und Bedeutung 
vor jich ſelbſt jiarl vergrößerte, aber das hatte weiter 


1024 





nichts auf ПФ, denn fie war jcht fchon feine Ermähite, 
Er fonnte nun einmal nicht ohne Freundin ausfommen 
auf der Welt... Mag machte е8 ihm da aus, daß er 
ihrem Geficht anfah, wie wenig fie ihn verftand... 

„Ce n’est rien, nous attendrons, und vorläufig wird fie 
mit dem Vorgefühl begreifen fünnen . . .“, meinte er 
bei Sich. 

„Mein Freund, ich brauche ja von Ihnen einzig und 
allein Ihr Herz!" rief er ihr, feine Erzählung unter: 
brechend, begeiftert zu, „und jeßt diefer liebe, berüdende 
Blick, mit dem Sie mir in die Augen fehen! Oh, erröten 
Sie nicht! Sch habe Ihnen doch fchon geſagt ...“ 

Am fchleierhafteften aber erfchien ме Gefchichte der 
armen Sſofja Matwejeruna, als er eine ordentliche Rede 
über das Thema hielt: „wie ihn niemand je hat verftehen 
fönnen” und wie „bei uns in Rußland die Talente ums 
fommen”. „Das war alles viel zu Flug für mich”, fagte 
fie uns fpäter melancholifch. Sie hörte ihm dabei mit 
ſichtlichem Mitgefühl zu, mobei fie die Augen nur ein 
wenig weiter aufriß. Als fich aber Stepan Trophimo— 
witſch auf den Humor warf und die geiftreichften Witzchen 
über unjere „Führenden und Herrſchenden“ losiprühen 
ließ, da verließ fie alles und jedes Verftändnis und nur 
aus Mitgefühl mit dem Kranken verjuchte fie noch zu: 
weilen ein Lächeln zuftande zu bringen, um wenigſtens 
ein wenig auf feine Heiterfeit einzugehen, doch es gelang 
ihr jo fchlecht, daß Stepan Trophimowitſch ſchließlich 
jelber ganz verwirrt davon abließ und mit noch größerer 
Mut und Bitterfeit auf die „Nihiliften” und „neuen 
Menſchen“ überging. Da aber wurde es ihr angft und 
bange zumut, und jie atmete ей wieder auf — leider 


1025 


nur viel zu früh —, als der eigentliche Roman begann. 
Eine Frau bleibt immer Frau und wenn fie auch Nonne 
ЦЕ: [о lächelte fie denn, ſchuͤttelte mißbilligend den Kopf 
und errdiete mit gejenften Augen, wodurch fie Stepan 
Trophimowitſch dermaßen in Ekſtaſe brachte, daß er noch 
vieles Hinzudichtete. Warwara Petromna erjchien in 
feiner Erzählung als mwunderjchöne Brünette — „die 
Petersburg und поф viele europäijche Hauptftädte ent— 
zudt hat" — deren Dann „bei Sebaftopol gefallen" war 
und das einzig darum, weil er 14 ihrer Xiebe nicht für 
würdig und fich für verpflichtet gehalten hatte, fie dem: 
jenigen, den fie in Wirflichfeit liebte, das heißt aljo 
Stepan Trophimowitſch, abzutreten.... 

„Oh, werden @е nicht verlegen, meine Stille, meine 
Chriſtin!“ rief er Sjofja Matwejewna zu, als er faft jchon 
jelbft daran glaubte, was er erzählte. „Das war etwas 
Höheres, etwas jo Zartes, daß ши ung beide das ganze 
Leben lang nicht ausgeiprochen haben!" | 

Als Grund einer jolhen Lage der Dinge erjchien 
darauf im weiteren Verlaufe der Erzählung eine jchöne 
Blondine (wenn nıan darunter nicht Darja Pawlowna 
verftehen foll, jo weiß ich wirklich nicht, wen Stepan 
Trophimowitſch damit gemeint haben könnte). Dieje 
Blondine verdanfte alles, mas fie befaß, der Brünetten, 
die fie erzogen hatte und deren mweitläufige Verwandte 
fie war. Die Brünette aber bemerkte bald die Liebe der 
Blonden zu Stepan Trophimowitſch und z0g fich in ſich 
ſelbſt zurüd. Die Blonte aber bemerfte gleichfalls die 
Liebe der Brünetten zu Stepan Trophimowitſch und $08 
ſich auch in ſich felbft zurüd. Und fo fchwiegen fie denn 
alle drei, alle drei in fich ſelbſt zurüdgezogen, alle drei 


1026 





nichts als verförperter Edelmut, und das waͤhrte dann 
zwanzig Sahre lang... 

„Dh, was таг das doch für eine Kiebe, was war das 
doch für eine Leidenſchaft!“ rief er in aufrichtigfter Зе: 
geifterung auffchluchzend aus. „Sch ſah die volle Blüte 
ihrer Schönheit” (der Brünetten), „аб fie mit wundem 
Herzen täglich an mir vorüberziehen, Пе, die dag ſtolze 
Haupt neigte, als fchäme fie fich ihrer Schönheit!" 
Einmal fagte er ftatt ihrer Schönheit: „ihrer Fülle”. 
Schließlich behauptete er, er fei jetzt erft aug мет 
zwanzigjährigen Traume erwacht. — „Vingt ans! Und 
nun plößlich auf der großen Landſtraße . ..“ Darauf 
folgte dann zum Schluß — wahrfcheinlich in einem идей: 
blid noch größerer Benommenheit — die Erflärung deſſen, 
was die heutige zufäliige und doch Jo entjcheidende Be— 
gegnung mit Sfofja Motweiaritn für ihn wie für fie 
bedeutete. 

Sofia Matmwejermna erhob 14 in fchredlichfier Ders 
legenheit vom Sofa. Und als er gar noch den Verſuch 
machte, vor ihr auf die Knie zu fallen, da begann йе 
vor Schred zu meinen. 

Die Dämmerftunde neigte fich fchon dem Abend zu: 
beide hatten fie bereits etliche Stunden in dem ver— 
Ichloffenen Zimmer verbracht... 

„Ach nein, laffen Sie mich jeßt fchon lieber in das 
andere Zimmer,” flüfterte fie erregt, „denn was werden 
fonft die Leute denken!“ 

Endlich gelang es ihr, fich frei zu machen; er aber 
verſprach ihr folgfam, fich fofort ins Bett zu legen. Beim 
Abſchied klagte er, daß er Майе Kopfichmerzen Бабе. 
Sſofija Matwejewna hatte ihre Sachen im vorderen 


1027 


Zimmer gelaffen, mo fie mit den anderen zufammen zu 
übernachten beabjichtigte; Doch es follte anders fommen, 

Уп der Nacht gejchah es nämlich, daß 14 bei Stepan 
Trophimowitſch die mir und all feinen Freunden fo mohl- 
befannte Cholerine einftellte, wie gewöhnlich паф ner— 
vöjen Aufregungen. Die arme Sfofja Matwejewna kam 
aljo die ganze Nacht nicht zum fchlafen. Da fie bei ver 
Wartung des Kranken häufig durch das vordere Familien: 
zimmer aus dem Haufe gehen mußte, fo ftörte fie die 
Schlafenden, die bald aufwachten und ungehalten wurden. 
Und als Sfofja Matwejermna zum Morgen hin gar den 
Samomwar aufftellen wollte, da begannen jie auch noch 
zu ſchimpfen. 

Stepan Trophimomitfch mar fo lange, wie die буфете 
andauerte, halb bewußtlos: zumeilen fchien es ihm mie 
durch einen Nebel, daß man den Samowar aufftellte, 
daß man ihm ein Himbeergetränf zu trinken gab, daß 
man ihm mit irgend etwas den Magen und die Bruft 
wärmte. Dabei fühlte er Ме ganze Zeit und empfand 
её jeden Augenblid, daß „Sie“ bei ihm war und für 
ihn forgte, dag „Sie“ е8 mar, die da ат und ging, tie 
ihn audedte und пати! Um drei Uhr morgens wurde 
ihm ein mwenig bejjer: er jeßte fich auf, ließ die Beine 
über den Bettrand baumeln, und plößlich, ohne fich dabei 
etwas zu denken, fiel er vor ihr auf die Knie. Diejer 
zmeite Kniefall war nicht mehr fo harmlos mie der erfte: 
er fiel ihr einfach zu Füßen und füßte „оеи Saum ihres 
Kleides“ ... | 

„Am Gottes willen, ich bin das doch gar nicht wert”, 
jtammelte die Arme erfchroden und bemühte fich ver: 
geblich, ihn wieder auf Das Bett zu heben. 


1028 





„Meine Retterin”, hauchte er andächtig und faltete 
wie im Gebet die Hände. „Vous &tes noble comme une 
marquise! ch — ich bin ein Nichtsmwürdiger! Dh, ich 
bin mein ganzes Leben lang ehrlog gewejen .. .* 

„Ach, beruhigen Sie fich doch, bitte!" flehte Sfofja 
Matwejewna. 

„Ich habe Ihnen vorhin alles vorgelogen, aus Ruhm— 
ſucht, zur Verſchoͤnerung, aus Eitelkeit, — alles, alles, 
bis aufs legte Wort! Ich Nichtswuͤrdiger, ich Nichts: 
würdiger !" 

So ging denn der Anfall von Cholerine in einen Unfall 
byfterifcher Selbftbefchuldigung über. (Ich habe ja fchon 
früher von dieſen Anfällen, bei Gelegenheit der Neue: 
briefe an Warwara Petrowna, gejprochen.) Plößlich er: 
innerte er fich jeßt Lifas und der Begegnung mit ihr am 
Morgen. >: 

„Das war jo furchtbar,” fagte er, „da war beftimmt 
ein Unglüd gejchehen, ich aber Бабе in meinem ©9018: 
mus nicht einmal gefragt, und nun weiß ich auch nichts! 
Sch habe nur an mich gedacht! Aber was war denn mit 
ihr gejchehen, willen Sie es nicht, was da gefchehen ШЗ" 
flehte er wieder Sſofja Matwejewna ап. 

Gleich darauf ſchwor er, daß er nicht „untreu‘ werden 
iönne und zu „Ihr“ — d. h. zu Warwara Petromna 
— zurüdfehren muͤſſe. 

„Bir werben jeden Tag zu ihrer Treppe gehen” (das 
hieß nun wieder er mit Sfofja Matwejewna zufatamen) 
„und wenn fie jich in ihre Equipage Seht, um ihre Morgen— 
Ipazierfahrt zu machen, fo werden wir {НИ zuſehen ... 
Dh, ich will, daß fie mich auch auf die andere Wange 
Ihlägt: mit Begeifterung will ich es! Sch werde ihr auch 


1029 


meine andere Wange binkalten, comme dans votre 
livrel Seßt Бабе ich... ja, jeßt erft habe ich verftanden, 
was das heißt, feine andere Wange... binhalten. 54 
бабе das früher niemals verftehen koͤnnen!“ 

Für Sfofja Matwejewna maren dag die zwei furcht— 
barſten Tage ihres Lebens: noch heute denkt fie nicht 
anders ale mit Schreden an fie zurüd. Stepan Trophimo— 
witſch erfranfte fo ernftlich, daß er am пафИеп Tage 
unmöglih mit dem Dampfichiff, das diesmal pünft- 
14 um zmwei Uhr anfam, nach Spafjoff weiterfahren 
fonnte, fie aber magte es nicht, ihn allein zu laſſen, und 
fo blieb fie denn in Uftjewo bei ihm. Nach ihren Worten 
foll er fich fogar fehr darüber gefreut haben, daß das 
Dampfichiff endlich fortgefahren mar: 

„un und wunderſchoͤn, fo Ш es jehr gut, fehr gut," 
murmelte er aus dem Bett heraus, „ich fürdhtete ſchon 
die ganze Zeit, daß mir fortfahren müfjen. Hier aber 
ift es ſehr ichön, hier ift eg am beiten... Sie werden 
mich doch nicht verlajjen? O nein, Sie verlajjen mich 
nie mehr!" 

Einjtweilen mar es aber „Мег“ durchaus nicht fo ſchoͤn. 
Er mollte jedoch nichts von ihren Unannehmlichkeiten 
willen. Зи feinem Kopf war jett nur Plaß für eine 
Menge Phantaſien. An feine Krankheit dachte er über: 
haupt nicht, denn er hielt fie ja nur für eine fchnell 
vorübergedende Erfältung, und |ртаф die ganze Zeit 
davon, mie fie beide, wenn er erft wieder geſund fei, 
„мее Kleinen Bücher” verfaufen würden. Und plößlich 
bat er fie, ihm aus dem Evangelium vorzulefen. 

„Sch habe es lange nicht mehr geleſen ... im Original. 
Uber, nicht wahr, es fönnte mich doch jemand beim Kauf 


1030 





eines dieſer Heinen Bücher dies oder jencs fragen, und 
dann пп ih mich irren... Man muß 19 509 
immerhin etwas vorbereiten... ."” 

Sie jeßte fih an fein Bett und fchlug das Bud 
auf. 

„Sie leſen vorzüglich”, unterbrach er fie ſchon nad 
der eriten Zeile. „Sch ſehe jchon, ich fehe, daß ich mich 
nicht getäufcht Бабе!" fügte er unklar, aber begeiltert 
hinzu. 

Und überhaupt war er die ganze Zeit in einem uns 
unterbrochen begeifterten Zuftande, 

@е begann ihm die Bergpredigt vorzulefen. 

„Assez, assez, mon enfant, genug... Glauben @е 
wirklich, daß das noch immer nicht genug iſt?“ 

Und fraftlos fchleß er die Augen. Er war fehr ſchwach, 
doch verlor er noch nicht die Befinnung. Da erhob fich 
denn Sfofja Matwejewna, da fie glaubte, daß er fchlafen 
wolle. Über fiehe da — er mar fofort wieder wach und 
hielt fie zurüd. 

„Mein Freund, ich habe mein Lebelang gelogen. 
Фе dann, wenn ich die Wahrheit ſprach. Sch habe 
nie um der Wahrheit willen geiprochen, fondern immer 
nur für mich, das habe ich auch früher fchon gemußt, 
aber jeßt erft jehe ich «8 jo recht ein... Dh, wo find 
dieſe Treunde, die ich mit meiner Freundfchaft zeitlebens 
beleidigt habe?! Und fie alle, alle! Savez-vous, 14 
glaube, ich де auch jetzt! Beſtimmt Lüge ich auch jeßt! 
Die ЗаирНафе Ш, daß ich mir felbft glaube, wenn ich 


luͤge! Am allerfchwerften ift es im Leben, zu leben und 


nicht zu lügen... und... und den eigenen Zügen nicht 
zu glauben, ja, ja, gerade das! Aber warten Sie, das 


1031 


fommt alles fpäter ... Wir werden zufammen, zus 
janımen ...” fügte er plöslich enthuſiaſtiſch hinzu. 

„Stepan Trophimowitſch,“ begann Sfofja Matwe— 
jerona zaghaft, „jollte man nicht in die Stadt nach einem 
Arzt jchiden 

Er war maßlos erjtaunt. 

„Barum? Est-ce que je suis si maiade? Mais rien 
de serieux. Und wozu andere Menfchen? Dann wird 
man es noch erfahren, daß ich hier bin, und — was wird 
dann fein? Nein, nein, feine fremden Menſchen ... wir 
beide, wir beide!" 

„Bilfen Sie," fagte er nach kurzem Schmeigen, „lejen 
Sie mir noch etwas vor, fo, fchlagen Sie auf gut Gluͤck 
das Buch auf und lejen Sie das, worauf Ihr Blick zuerft 
fallt.“ 

Sfofja Matwejewna fchlug das Buch auf und las. 

„Bo es fich von felbft aufichlägt, wo es fich von felbfi 
aufichlägt“, wiederholte er. 

„und dem Engel... —“ 

„Was ЦЕ das? Woraus? Woraus ift das?" 

„Das Ш aus der Apokalypſe.“ 

„Dh, je m’en souviens, ош, l’Apocalipse. Lisez, lisez. 
Sch wollte über unfere Zufunft etwas hören, darum lief 
ich Sie fo eine Stelle auf gut Gläd lejen, ich will willen, 
was Sie da gefunden haben. Lejen Sie weiter, vom _ 
Engel, vom Engel... 

„Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea fchreibe: 
Das jagt Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der 
Anfang der Kreatur Gottes. Sch weiß deine Werke, daß 
Фи weder falt noch warm bift. Ach, daß du № oder 
warm mwäreft! Weil du aber lau bift, und weder kalt 


1032 





noch warm, merde ich Dich аи |рееп aus meinem Munde. 
Du ſprichſt: Sch bin reich und habe gar fatt, und bedarf 
nichts; und weißt nicht, daß du bift elend und jämmer: 
lich, arm, blind und bloß.“ 

Das... und das Steht in Ihrem Buch! rief er erregt, 
mit glänzenden Augen, und erheb fich vom Kiffen, „dieſe 
wundervolle Stelle habe ich nie gefannt! Hören Sie: 
eher kalt, Falt, als lau, nur lau! Ob, ich werde ihnen 
das auslegen! Nur verlaſſen Sie mich nicht, laſſen Sie 
mich nicht allein! Wir werden es ihnen bemeijen, wir 
werden e8 auslegen!” 

„Aber ich werde Sie ja nicht verlajjen, Stepan Trophi— 
mowitſch, beruhigen Sie ſich, ich werde Sie nie verlajjen !" 
fagte fie und erfaßte jeine Hand, die fie mit Tränen in 
den Augen an ihre Bruft drüdte. („Er tat mir |фоп 
gar zu leid in dieſem Augenblid”, erzählte fie ung jpäter.) 

Seine Lippen begannen zu zuden wie im Krampf. 

„Aber, Stepan Trophimowitſch, foll man nicht doc) 
jemanden von den Ihrigen benachrichtigen laſſen, oder 
sielleicht auch — Ihre Bekannten?” 

Da aber erjchraf er dermaßen, daß fie ganz unglüdlich 

Darüber war, ihn noch einmal daran erinnert zu haben. 
Zitternd und bebend flehte er fie an, „nur um Gottes 
millen niemanden zu benachrichtigen, noch {оп etwas 
zu tun!” Und er nahm ihr das Wort ab und beſchwor 
йе: „Niemanden, niemanden! Wir allein, nur wir beide 
a!lein, et nous partirons ensemble.‘ 

Schlimm war е8 auch, daß Sich Die Hauswirte beun: 
rubßigten, ungehalten wurden und der armen Sfofja 
Matwejewna auf den Hals rüdten. Sie bezahlte ihnen 
und zeigte ihnen Geld: damit beruhigte fie fie für einige 








66 Doſtoſewski, Die Dämonen. Br. I. 1033 


Zeitz aber der Wirt mollte die Legitimationspapiere 
Stepan Trophimowitſchs jehen. Der Kranke mies mit 
hochmütigem Lächeln auf feinen Heinen Reifefoffer, in 
dem Sſofja Matwejewna denn auch einen alten Ausweis 
fand. Bald aber verlangte der Bauer, daß man den 
Kranken fortichaffen folle, denn er könne fchließlich fterben 
und mas gäbe das dann für Echerereien. @оНа Matwe— 
jerona ſprach auch mit ihm über den Arzt, doch eg ftellte 
lich heraus, daß, wenn man ihn aus der Stadt Holen 
wollte, die Koften unerfchwinglich wären. Und jo fehrte 
lie denn niedergefchlagen zu ihrem Kranken zurüd, der 
allmählich ſchwaͤcher und fchmwächer wurde. 

„Jetzt lefen Sie mir noch eine Stelle vor... von den 
Schmeinen”, jagte er plößlich. 

„Wovon?“ fragte @оНа Matwejewna entſetzt. 

„Bon den Schweinen... das iſt auch Мег... ces 
cochons... ich erinnere mich, die Teufel fuhren in die 
Schweine und die Schweine ftürzten fich in den ©ee und 
famen alle um. Leſen Sie mir das unbedingt vor: ich 
werde Ihnen nachher jagen, wozu... 34 will es wort: 
wörtlich hören, wortwoͤrtlich . . .” 

Sſofja Matwejewna fannte die Bibel gut und fand 
ſofort jene Stelle aus Lufas, Kapitel 8, 32—37, die ich 
der Erzählung all diefer Ereigniſſe vorgejchrieben habe. | 
Sch bringe fie Bier noch einmal: : 

„Es war aber dafelbit eine große Herde Säue an der 
Beide auf dem Berge. Und fie baten ihn, daß er ihnen 
erlaubte, in diefelben zu fahren. Und er erlaubte ihnen. 

Da fuhren die Zeufel aus von dem Menfchen, und 
fuhren in die Säue; und die Herde flürzte fih vom 
Abhange in den See, und erfoffen. 


1034 








| 

















Da aber Ме Hirten fahen, was da geſchah, flohen fie 


und verfündigten’g in der Stadt und in den Dörfern. 
Da gingen fie hinaus, zu fehen, was da gejchehen war, 


und famen zu Зе, und fanden den Menjchen, von 
welchem die Teufel ausgefahren waren, fißend zu den 


Füßen Jeſu, befleidvet und vernünftig, und fie erſchraken. 


ungewöhnliche Stelle ift mir mein ganzes Leben lang 
ein Stein des Anftoßes gemejen... dans ce livre... 


Und die es gefehen hatten, verfündigten’s ihnen, wie 
der Befeffene war gefund worden.” 

„Mein Freund,” fagte Stepan Trophimowitſch in 
großer Erregung, „savez-vous, diefe wundervolle und ... 


jo daß ich ме Stelle noch aus der Kindheit — behalten 


babe. Jetzt aber ift mir ein neuer Gedanke gefommen, 
’ une comparaison. 54 habe jeßt furchtbar viele Фе: 


danken: Sehen Sie, das ift genau fo wie unfer Rußland. 
Diefe Teufel und Dämonen, die aus dem Beſeſſenen in 
die Schweine fahren — das find alle fchlechten Säfte, 
alle Miasmen, aller Schmuß, alle Teufel und Зее ег 


` buben, die fich in unferem lieben Kranken, in unferem 


Rußland angefammelt haben, fchon feit vielen, vielen 
Sahrhunderten! Ош, cette Russie, que j’aimais toujours. 


Aber ein großer Gedanke und ein mächtiger Wille werden 


e8 aus der Höhe jegnen, ganz иле dieſen wahnfinnigen 
Beſeſſenen, und alle diefe Unreinlichkeit, dieſe ganze 
Gemeinheit, die fich auf der Oberfläche angejammelt hat 
und langfam angefault Ш... fie werden noch felbft 
darum bitten, in die Schweine fahren zu dürfen! За, 


und fie find ja vielleicht fchon hineingefahren! Das find 


wir, wir und jene und Petrufcha.... et les autres avec 
lui, und ich vielleicht der ее an der Spitze, und wir 


66* 1035 


werden ung, wir Wahnjinnigen und Beſeſſenen, vom 
Fels in das Meer ftürzen und alle ertrinfen, und dorthin 
gehören wir auch, dahin müjjen wir, denn nur Dazu 
allein taugen wir noch! Uber der Kranke jelbjt wird 
wieder gefunden und wird fich ‚zu Füßen Sefu‘ {еБеп... 
und alle werden ihn mit Verwunderung fchauen... 
Meine Liebe, vous comprendrez аргёз, jeßt aber regt 
mich das ſehr auf... Vous comprendrez аргёз... Nous 
comprendrons ensemble.“ 

Er begann zu phantafieren und ſchließlich verlor er 
das Bemußtjein. So verging der ganze folgende Tag. 
Sofia Matwejewna ſaß an feinem Bett und meinte, 
ihlief jhon die dritie Nacht nicht und vermied её nach 
Möglichkeit, den Wirtsleuten unter die Augen zu fommen, 
denn jie ahnte jchon, daß dieſe irgend etwas beabjichtigten. 
Am naͤchſten Morgen wachte Stepan Trophimowitſch 
auf, сапе fie wieder und ftredte Шт die Hand ent: 
gegen. Sie befreuzte jich mit neuer Hoffnung. Er aber 
wollte plößlih aus dem Fenfter jehen. 

„Liens, un lac,“ jagte er, „ach Gott, und ich habe ihn 
noch gar nicht gejehen ...“ 

In меет Augenblid rollte eine Equipage vor Das 
Haus und in den Zimmern wurde es lebendig. 


Ш 


Cs war Warwara Petromna in eigener Perjon, die 
mit einem Viererzug in ihrer größten Equipage mit zwei 
Dienern und Darja Pawlowna angefahren ат. Das 
Wunder erklärte fich fehr einfach: der neugierige Aniſſim 
war in der Stadt gleich am anderen Tage in des Haus 
Warwara Petromnas gegangen und hatte dort den 


1036 





Dienftboten erzählt, daß er Stepan Trophimowitſch 
allein in einem Dorf angetroffen habe, und daß der 
gnädige Herr von dort nach Uſtjewo weitergefahren fei, 
und zwar in Begleitung einer gemillen Sfofja Matwe— 
jewna. Da nun Warwara Petromna fich über ме Flucht 
ihres Freundes ſehr aufgeregt und überall nach ihm zu 
fragen und zu forjchen befohlen hatte, jo war ihr fogleich 
gemeldet worden, was Зи ит erzählt hatte, Gelbft: 
redend mußte Эм ит nun unverzüglich vor der Herrin 
erfcheinen und alles nochmals erzählen, und nachdem fie 
ihn aufmerkſam angehört hatte — bejonders die Schil- 
derung der Abfahrt in einem Magen mit irgendeiner 
Sfofja Matwejewna —, da ward noch im felben Augen: 
БИ die Equipage beftellt. Auf frifcher Spur ging’s dem 
Slüchtling nach. Bon feiner Krankheit mußte fie natür- 
lich noch nichts. 

Ihre ftrenge und befehlende Stimme machte felbft 
den Wirtsleuten bange. Sie ließ hier пит halten, um fich 
zu erfundigen, warn Ötepan Trophimowitſch паф 
Spaſſoff weitergefahren fei. Als fie nun erfuhr, daß er 
noch da war und frank zu Bett lag, da ftieg fie fofort 
aus und trat erregt in das Haus. 

MNun, wo ift er denn hier?” fragte fie. „Ab, das bift 
du!“ rief fie plößlich, als fie Sfofia Matwejewna, die 
gerade in diefem Augenblid aus dem Kranfenzimmer 
trat, in der Tür erblidte. „Sch fehe es fchon deinem 
ſchamloſen Gefichte an, daß du es БЕ. Hinaus, Schänd: 
liche! Daß mir fofort feine Spur mehr von ihr im Haufe 
bleibe! Sagt fie hinaus, — geh! oder ich laffe dich auf 
ewig ins Gefängnis fteden! Bewacht fie mir folange 
in einem anderen Haufe. Sie hat ja fchon einmal im 


1037 


Gefängnis gefeflen, kann aljo wieder hinein. Und du,” 
wandte fie fich befehlend an den Hausmwirt, „Daß du mir 
nicht wagſt, jemanden hereinzulajjen, folange ich Мет 
bin! Sch bin die Generalin Stamrogina und nehme das 
ganze Haus für mich in Beichlag. Du aber, meine Belte, 
du wirft mir noch Rede ftehen !" 

Die bekannte Stimme wirkte erfchütternd auf Stepan 
Trophimowitſch. Er begann zu zittern. Uber da trat 
fie jchon ing Zimmer, trat an fein Bett. Ihre Augen 
bligten. Sie ftieß mit dem Fuß einen Stuhl heran, jeßte 
lich, lehnte fich fteif zurüd und rief Daſcha unmillig zu: 

„Geh vorläufig hinaus! Kannſt folange bei den Wirts- 


leuten bleiben! Was ift das plößlich für eine Neugier? 


Und die Зах zieh hinter dir etwas fefter zu!“ 

Eine ganze Weile firierte fie ffumm, mit einem jelt- 
famen Raubtierblid {ет erjchrodenes Geficht. 

„Kun, wie geht es Ihnen, Stepan Trophimomitich? 


Wie war denn der Spaziergang?” fragte fie plößlich mit | 


grimmiger Sronie. 


„Chere,“ ftotterte Stepan Trophimowitſch wie bes о 
nommen, „ich habe die ruſſiſche Wirklichkeit fennen ger 


lernt... Et je pröcherai l’Evangile...“ 

„Oh, Sie fchamlofer, undankbarer Menjch! rief fie 
zornig aus, die Hände erhebend. „Sit es Ihnen noch 
nicht genug, daß Sie mich jo bloßftellen und mit irgend: 
einer... Oh, Sie alter, ſchamloſer Wüftling !" 

„Chere...“ 


Seine Stimme verjagte und er fonnte nichts mehr 


hervorbringen, er {аб fie vor Entjeßen nur mit шей 
offenen Augen an. 
„Was ИЕ das für eine?“ 


1038 


— 





— 


„C'est un auge... C'était plus qu'un ange pour 
moi, fie hat die ganze Nacht... Ob, fehreien Sie nicht, 
erichreden Sie fie nicht, chere, chere....“ 

Warwara Petromwna fprang plößlich polternd vom 
Stuhl auf; angftvoll rief fie: „Waſſer, Waffer !" 

Stepan Trophimowitſch kam allerdings |фоп wieder 
zu fich, aber ſie zitterte immer noch vor Schred und blidte 
bleich in fein entjtelltes Geficht: jeßt erft begriff fie, wie 
ernft {ет Zuftand тат. 

„Darja,“ flüfterte fie \фие der hereinftürzenden Darja 
Pawlowna zu, „jofort паф dem Arzt, nah Doktor 
Salzfiih! Schide fofort Jegorytſch, er joll Мег Pferde 
mieten und in der Stadt einen anderen Wagen nehmen. 
Daß er mit Salzfifch noch vor dem Abend hier ЦЕ!" 

Зафа ging jchnell hinaus, um den Befehl auszu: 
führen. Stepan Trophimomitjch ſah Warwara Petromna 
immer noch mit demfelben erjchrodenen ЗИ aus тей 
offenen Augen an. Seine weiß gewordenen Lippen 


bebten. 


„Warte, Stepan Trophimowitſch, warte, Taͤubchen, nur 
einen Augenblick,“ redete ſie ihm wie einem kleinen 
Kinde zu. „So warte doch, wart doch, ſieh, Darja wird 
gleich zurüdfommen und... Ach, mein Gott, Wirtin, 
Wirtin, jo komm doch du wenigſtens, Mütterchen !" 

Und in ihrer Ungeduld lief fie felbit nach der Bäuerin. 

„Sofort, fofort jene wieder zurüdbringen! Bring fie 
mir fofort zurüd, zuruͤck!“ 

Zum Glüd war Sjofja Matwejewna mit ihren Sachen 
faum aus dem Haufe gegangen, fo daß man ſie |фоп 
nach ein paar Schritten einholte. Sie wurde зитиф: 
gebracht. Sie war aber jo erjchroden, daß ihre Hände 


1039 


und Knie zitterten. Warmara Petrowna ergriff ihre 
Hand, wie ein Geier ет Küfen, und zog fie eilig zu 
Stepan Trophimomwitich. | 

„Hier, Мет haben Sie fie! Sch habe fie Doch nicht auf> | 
gefrejien! Sie dachten wohl ſchon, daß ich fie einfach 
verichlungen habe?“ 

Stepan Trophimowitich ergriff Warwara Petromnas 
Hand und drüdte fie an feine Augen, und plößlid) 
ichluchzte er auf, ſchmerzhaft, Frampfartig. | 

„Beruhige dich, beruhige dich Doch, mein Taͤubchen, 
beruhige dich, Väterchen ... Nun... Ach, mein 
Gott, aber fo beru—hi—gen Sie fich doch!“ rief fie 
außer fih. „Ob, mein Peiniger, mein ewiger, ewiger 
Peiniger !” 

„Meine Liebe,“ brachte Stepan Trophimowitſch end— 
ich, zu Sfofja Matwejewna gewandt, hervor, „bleiben 
Ste, meine Xiebe, dort — im anderen Zimmer... ich 
will hier noch etwas jagen...” 

Sjofia Matwejewna beeilte ſich jofort, hinauszu— 
gehen. 

„Cherie... cherie...“ — er rang nach tem. 

„Sprechen Sie поф nicht, Stepan Trophimomitich, 
warten Gie поф ein wenig, bis Sie fich erholt haben. 
Hier ift Waſſer. Aber fo war—ten Sie doch noch!“ 

Sie jeßte jich wieder auf ihren Stuhl. Stepan Trophi— 
mowitſch hielt Frampfhaft ihre Hand Гей. Sie ließ ihn 
noch lange nicht {ртефеп. Da 3049 er ihre Hand an die 
Lippen und bededte fie immer wieder mit Küffen. Sie 
big die Zähne zufammen und blidte irgendwohin in 
einen Wintel. 

„Je vous aimais!“ entrang es fich ihm endlich. Noch 


1040 





nie hatte fie von ihm ein ſolches Wort gehört, und jo 
geſprochen. 

„Hm!“ war ihre Antwort. 

„Je vous aimais toute ma vie... vingt ans!“ 

Sie fehwieg immer noch — zwei, drei Minuten lang. 

„is aber Dafcha in Ausſicht ftand, da erjchien er par: 
fuͤmiert —“ ftieß fie plößlich unheimlich flüfternd hervor. 
Stepan Trophimowitjch erftarrte nur jo. 

„... Mit einer neuen ЯтатаНе ...“ 

Mieder Schweigen — ungefähr zwei Minuten lang. 

„And die Zigarre, entlinnen Sie ſich?“ 

„Mein Freund“, ftammelte er, von Schrecken erfaßt. 

„Die Zigarre, am Abend, am Fenfter... der Mond 
ſchien ... nach den Stunden im Park... in Skworeſch— 
nifi? Entfinnft du dich, entfinnft du dich!“ und fie ſprang 
auf, ergriff fein Kiffen an beiden Eden und fchüttelte eg 
mitjamt feinem Kopf. „Entjinnft du dich noch, du leerer, 
leerer, ehrlofer, Fleinmütiger, ewig, ewig leerer Menſch!“ 
zifchte fie nahezu in ihrem ingrimmigen Geflüfter, um 
nicht zu Schreien. Dann ließ fie ihn fahren und fiel zurüd 
auf den Stuhl, das Geficht mit den Händen bededt. 
„Genug!“ fagte fie Furz, ИФ fteif aufrichtend. „Zwanzig 
Sahre find vergangen, die bringt man nicht zurüd; 
dumm war auch ich.“ 

„Je vous aimais“, — er legte bejchmwörend feine 
Hände zulammen. 

„Bas fagft du mir immer aimais und aimais! Genug!" 
@е fuhr wieder auf. „Und wenn Sie jeßt nicht ſofort 
einſchlafen, ſo werde ih... @е brauhen Ruhe! 
Schlafen Sie, fchlafen Sie jofort! Schließen Sie die 
Augen! Ach, mein Gott, vielleicht will er frühftüden? 


1041 


Was е|еп Sie? Was darf er efjen? Ach Gott, wo it - 


denn jene? wo ift jene?” 

Warwara Petrowna ſetzte gleich dag ganze F in 
Bewegung. Doch Stepan Trophimowitſch ſtammelte, 
daß er jetzt allerdings lieber ſchlafen wuͤrde, ein wenig 
nur, une heure, und Dann — un bouillon, un the... 


enfin il est si heureux. Er lag ganz ftill und eg war - 


wirklich, als fei er im Einfchlafen (mahrjcheinlich ftellte 
er fih nur jo). Warwara Petrowna wartete noch ein 
wenig und ging dann auf den Fußipißen zur Tür. 

Im anderen Zimmer feßte ſie jich hin, jchidte ме 
Hauswirte einfach hinaus und befahl Daſcha, „jene“ 
hereinzuführen. Es begann ein етиЙе8 Verhör. 

„Erzähle mir jeßt, meine Liebe, alle Einzelheiten. 
Setze dich hierher, jo! Nun?” 

„Ich traf Stepan Zrophimomitich .. . 


„Warte. Schmeig. ch jage Dir im voraus, daß ich . 


dich, falle es dir einfallen jollte, mir etwas vorzulügen 


oder etwas zu verheimlichen, noch aus deinem Grabe | 


wieder herausholen werde! Nun?” 

„Ich traf Etepan Trophimomitich... wie ich gerade in 
Hatowo тат...’ begann @оПа Matwejewna, atemlos 
vor Angſt. 

„Bart, ſei ftill! was trommelft du gleich los? Zuerft 
fage mir, mas du jelbft für ein Vogel biſt?“ 


Die erzählte nun, fo gut fie fonnte, übrigens in kurzen 


Worten, von 14 und ihrem Leben. Eie fing mit Seba— 


Порой ап. Warwara Petromna hörte fchmweigend zu, 


laß Ней auf ihrem großen Stuhl und jah der Erzählerin 
fireng und unverwandt in ме Augen. 
„Barum bift du fo erfchroden? Warum ſiehſt du zu 


1042 





Boden? Ich liebe jolche, die mir offen in die Augen 
fehen und mit mir ftreiten. Fahre fort!" 

Jene erzählte von der Begegnung, von den Büchern, 
erzählte, wie Stepan Trophimowitſch der Bäuerin den 
Schnaps angeboten hatte... 

„So iſt's gut, vergiß nichts, erzähle alles”, fagte War: 
wara Petromna. Sſofja Matmwejermna erzählte aljo 
weiter, wie йе mit Stepan Zrophimomitjch hierher nach 
Ultjewo gefahren war und wie er „jchon ganz Кап 
Zeug” gejprochen und hier dann fein ganzes Leben von 
Anfang an und mehrere Stunden lang erzählt hatte. 

„Erzähle von feinem Leben.“ 

@ оба Matwejermna verftummte plößlich und fchaute 
hilflos drein. 

„Hiervon verjtehe ich ſchon gar nichts mehr zu erzählen,” 
ftotterte Пе, Бет Weinen nahe. „Und ich Бабе auch nichts 
davon verftanden.” 

„Das Мой du. Nichts verftehen, das konnteſt du gar 
nicht.” 

„Bon einer ſchwarzhaarigen vornehmen Dame fprach 
er lange”, ſagte @оНа Matwejewna ſchließlich zögernd 
und errötete entjeßlich, da es ihr plößlich auffiel, wie 
wenig Warwara Petromna mit ihrem viel helleren Haar 
jener gejchilderten fchwarzhaarigen Schönheit glich. 

„Bon einer Schwarzhaarigen? — Was erzählte er 
denn? Sprich!“ 

„Er... er erzählte, wie мае vornehme Dame fchon 
ganz furchtbar in ihn verliebt geweſen wäre, zwanzig 
Sahre lang, und иле fie immer nicht gewagt hätte, es 
ihm zu fagen, und... und wie fie fich vor ihm geſchaͤmt 
hat, denn ſie war |фоп gar zu Did..." 


1043 


„Diefer Ejel!" fagte Warwara Petromma nachdenklich, 
doch überzeugt vor fich hin. 

Sſofja Matwejewna war nun wirklich ſchon am Weinen. 

„sch weiß hiervon gar nichts mehr zu erzählen, denn 
ich war felbft in großer Angft um ihn und habe аиф gar 
nichts verftanden, da er doch ein Menſch von jo großem 
Verſtande Ш...” 

„Über feinen Verftand zu urteilen fteht nicht fo einer 
Krähe zu, wie du eine БИ. Hat er bei dir angehalten?“ 

Sſofja Matwejemna erzitterte. 

„Hat er fich in dich verliebt? — Sprich! herrſchte 
Warwara Petromna fie an. „Hat er bei Dir ange: 
halten?’ 

„Beinah hörte es fich wirklich fo an,” brachte fie auf: 
Ichluchzend hervor... „Nur habe ich das alles gar nicht 
beachtet, denn er war doch frank“, fügte fie hinzu und jah 
mit feſtem Blid auf. 

„Wie heißt du?“ 

„@оНа Matwejewna.“ 

„Nun, dann wiſſe, Sſofja Matwejewna, daß vieler 
Menſch dag erbärmlichite, leerfte Menfchlein Ш... Mein 
Gott, mein Gott! Du hältft mich wohl für eine Nichts- 
wuͤrdige?“ 

Die riß die Augen auf. 


„Fuͤr eine Nichtswuͤrdige, eine Tyrannin, die ſein 


Leben zerſtoͤrt hat?“ 

„Wie kann denn das ſein, wenn Sie jetzt doch ſelbſt 
weinen!“ 

Tatſaͤchlich ſſtanden Warwara Petrowna Tränen in 
den Augen. 

„Nun, ſetz dich, ſetz dich, brauchſt nicht zu erſchrecken. — 


1044 








Sieh mir noch einmal in die Augen, ganz offen! Warum 
wirft du rot? Dafcha, fomm her, jieh fie Dir ап: was 
glaubft Du, hat fie ein reines Herz..." 

Und zu Sſofja Matwejewnas größter Verwunderung, 
vielleicht aber zu ihrem noch größeren Schred, flreichelte 
ihr Warmara Petromna plößlich die Wange. 

„Schade nur, daß du dumm ВБИ. Dümmer als es 
deinen Sahren anfteht. Gut, meine Liebe, ich werde 
mich deiner annehmen. Sehe ſchon, daß alles das 
Unfinn Ц Bleibe folange Мех in der Nähe, man wird 
dir hier eine Wohnung mieten, — Koft und alles übrige 
befommft du von mir... bis ich Dich rufen laſſe.“ 

@]оба Matwejewna verſuchte erfchroden einzuwenden, 
daß Пе fort шие. 

„Wohin? Deine Bücher аще ich dir alle ab, und du 
bleibit Мег. Du hätteft ihn doch, wenn ich nicht gefommen 
wäre, auch nicht verlaſſen?“ 

„Fuͤr feinen Preis hätte ich ihn allein gelaffen”, fagte 
Sſofja Matwejewna leife, doch mit fefter Stimme und 
trodnete 14 die Augen. 

Doktor Salzfiſch traf erft fpät in der Nacht ein. Es 
war ein ehrwürdiger alter, Heiner Herr und ein recht 
erfahrener Arzt, der erft unlängft infolge eines‘ ambi- 
tiöjen Streites mit der ihm vorgejeßten Behörde feinen 
offiziellen Poften verloren hatte. In demielben Augen: 
БИ Hatte Warwara Petrorona ihn aus allen Kräften zu 
„protegieren” angefangen. Er unterjuhte Stepan 
Trophimowitſch aufmerffam und gewifjenhaft, fragte 
dies und dag, und berichtete {офапи Warwara Petromna, 
daß der Zuftand des Kranken „ſehr bedenklich” fei und 
daß man ſich „auf das Schlimmfte gefaßt machen“ müffe. 


1045 


Warwara Petromna, die in den zwanzig Sahren fich von 
der Vorftellung völlig entmöhnt hatte, daß irgend etwas 
das Stepan Trophimowitſch perfünlich anging, ernft 
zu nehmen oder gar gefährlich {ет fönnte, war tief er: 
Ichüttert und erbleichte ſogar. 

„sit denn тии gar Feine Hoffnung mehr?" 

„Das Ш nicht gejagt, denn Hoffnung ift nie aus— 
geichlofien, aber...“ 

Warwara Petromna machte Ме ganze Nacht bei dem 
Kranken und fonnte faum den Morgen erwarten. Als 
Stepan Trophimomitich die Augen aufſchlug und zu ſich 
ют (er war die ganze Zeit bei Befinnung, nur wurde er 
von Stunde zu Stunde fchmwächer), trat fie entſchloſſen 
zu ihm. 

„Stepan Trophimowitſch, man muß auf alles vor: 
bereitet fein. Sch babe den bh rufen laffen. Sie 
müfjen Ihre Pflicht tun. 

Da fie feine religiöfen дей адйией fannte, fo 
fürchtete fie jehr eine Abſage. Er aber {аб fie nur ет: 
ftaunt an. 

„Unſinn, Unfinn !" rief fie erregt, denn fie glaubte ſchon, 
er wolle 14 widerſetzen. „Jetzt handelt es fich nicht mehr 
um SKindereien. Haben doch genug Dummheiten ge: 
macht!" 

„Aber... bin ich denn wirklich fchon fo frank?“ 

Nachdenklich milligte er ein. Zu meiner nicht geringen 
Vermunderung erfuhr ich {раст von Warmara Petromna, 
daß das Öterben ihn gar nicht gefchredt hat. Möglich, 
daß er einfach nicht an feinen Tod glaubte und die Kranf- 
Бе! nur für eine vorübergehende Erfältung hielt. 

Er beichtete und nahm das Abendmahl — und zwar 


1046 








mit großer Bereitwilligfeit. Alle, auch Sfofia Matwe— 
jewna, die Wirtsleute und felbit die Dienftboten famen, 
um ihn nach Empfang des heiligen Saframents zu Бе: 
glüdwünfchen. Alle ohne Ausnahme meinten МИ, als 
йе fein eingefallenes, müdes Geficht fahen, und die 
bleichen, zudenden Lippen. 

„Ош, mes amis, und её wundert mich nur, daß ihr 
euch alle fo ... forgt. Morgen werde ich wahrfcheinlich 
aufftehen, und wir ... fahren dann ... Toute cette 
сёгётоше ... der ich natürlich alles lafje, mas recht und 
billig Ш... mar 504...” 

„sch würde Sie bitten, Wäterchen, noch nicht Гог 
zugehen,” hielt Warwara Petromna den Priefter zurüd, 
der fein Ornat |фоп ablegen mollte. „Könnten Sie 
nicht, wenn der Зее gebracht wird, mit ihm noch über 
Religiöfes |ртефеп, um feinen Glauben zu ſtaͤrken.“ 

Das tat der Priefter denn auch; alle faßen oder ftanden 
in der Nähe des Kranken. 

„In unferer fündigen Zeit,” führte er aus, die Tee- 
tajje in der Hand und in fingendem Zone, „ift der Glaube 
an den Allmächtigen die einzige Zuflucht des Menſchen— 
gefchlechts, in allen Leiden und Nöten des Lebens, ganz 
wie die Zuverlicht auf die ewige Seligkeit, ме den Ge: 
rechten verheißen ...“ 

Stepan Trophimomitich war plößlich wie neu belebt: 
ein feines Spottlächeln glitt über feine Lippen. 

„Mon рёге, je vous remercie, et vous &tes bien bon, 

mais» ..” 

„Bas Ш da noch für ein mais, durchaus Fein mais!" 

fiel ihm Warwara Petromna auflpringend erregt ins 
| Wort. „Vaͤterchen,“ wandte пе fich wieder an den Popen, 


1047 


„das, dag ijt ſolch ein Menſch, das Ш {614$ ein Menſch ... 
nach einer Stunde wird men ihn noch einmal das Abend: 
та nehmen lafjen müfjen! Sehen Sie, |614 ein 
Menſch ИЕ das!" 

Stephan Zrophimomitich Tächelte zurüdhaltenn. 

„Meine Freunde,“ fagte er, „Gott ift mir jchon des: 
wegen unentbehrlich, weil er das einzige Weſen ift, das 
man emig lieben fann...” 

Ob er nun in der Tat gläubig geworden mar, oder 
ob ме mächtige Zeremonie des leßten Abendmahls nur 
die kuͤnſtleriſche Empfänglichkeit feiner Natur angeregt 
hatte, — jedenfalls hat er noch mit fefter Stimme und, 
wie man mir fagte, auch mit echtem Gefühl einige Ge: 
danken ausgejprochen, die zu manchen feiner früheren 
Überzeugungen in geradem Widerſpruch ftanden. 

„Meine Unfterblichkeit ЦЕ {фоп desmegen notwendig, 
weil Gott 504 nicht das Unrecht wird begehen wollen, 
das Feuer der Liebe, das einmal in meinem Herzen 
zu Ihm entbrannt И, ganz auszulöjchen. Was aber 
ИЕ teurer als Liebe? Die Liebe fteht höher als das Фет, 
die Liebe Ш ме Krone des Seins, wie jollte da das 
Leben ihr nicht unteztan jein? Wenn ich Ihn jeßt lieben 
gelernt habe, und dieſe meine Liebe mir eine Freude 
ift — mie wäre её dann möglich, daß Er mich und meine 
Freude wieder auslöjchte und uns in Nichts verwandelte? 
Wenn es einen Gott gibt, {6 bin auch 14 unfterblich! 
Voila ma profession de foi.“ 

„Es gibt einen Gott, Stepan Trophimowitſch, ich 
verliere Ihnen, es gibt einen Gott,” beſchwor ihn 
Warwara Petromna, „lajjen Sie 504 endlich Ihre Dumm: 
beiten, lafjen Sie fie doch wenigſtens einmal im Leben!" 


1048 





(Sie hatte wohl feine profession de foi nicht recht ver: 
ftanden.) 

„Mein Freund, jagte er mit wachjender Begeifterung, 
wenn auch feine Stimme mehr und mehr verjagte, „mein 
Freund, als ich begriff... . dieſe andere hingehaltene 
Зафе, da... begriff ich im felben Augenblid — noch 
manches. J’ai menti toute ma vie, mein ganzes, ganzes 
Leben lang! 94 würde gern... übrigens, morgen... 
Morgen fahren wir alle... 

Warwara Petromwna brach in Tränen aus. Er fuchte 
jemanden mit den Augen. 

„Hier ЦЕ fie, hier ИЕ fie!’ rief Warwara Petromna 
{фие und z0g Sjofja Matwejewna an der Hand zu ihm 
hin. Er lächelte gerührt. 

„Oh, ich würde fehr gern wieder leben wollen!” rief 
er mit einem ungewöhnlichen Zuftrom von Kraft. „Sede 
Minute, jeder Augenblid des Lebens muͤſſen für den 
Menfchen eine Seligfeit fein... muͤſſen, muͤſſen es un: 
bedingt! Das ift die Pflicht des Menfchen, es felbft fo 
zu machen; das ift fein Geſetz, — ein geheimes ФееВ, 
das её aber troßdem unbedingt gibt... Oh, ich würde 
jeßt gern Wetrufcha jehen wollen... und fie alle... 
und Schatoff!" 

Sch muß bier bemerken, daß fie noch nichts von Schatoff 
wußten, weder feine Schweiter Darja Pamlomna, noch 
Warwara Petromna, noch felbft Dr. Salzfijch, der als 
leßter aus der Stadt gefommen war. 

Stepan Trophimomitjch regte fich, ftatt ruhig zu fein, 
weit über feine Kräfte auf. 

„Allein fchon der immermwährende Gedanke, daß es 
etwas unendlich Gerechteres und Glüdlicheres gibt als 


57 Doitojewöti, Die Dämonen. 35. I. 1049 


mich, erfüllt auch fchon mein ganzes Ich mit unermeß— 
licher Ruͤhrung und — Herrlichfeit, — oh, wer ich auch 
jei, was ich auch getan habe! Viel notwendiger als das 
eigene Gluͤck Ш für den Menfchen das Wiſſen und der 
allgegenmärtige Glaube, daß es irgendwo fchon ein 
vollfommenes und ruhiges Оша für alle und für jeden 
gibt... Das ganze Gejeß des menfchlihen Seins 
beiteht nur darin, daß der Menſch ſich ftets vor etwas ип: 
ermeßlich Großem beugen kann. Wollte man aber den 
Menichen das unermeßlich Große nehmen, jo mürden 
lie das Leben nicht mehr auf 14 nehmen und in Ver: 
zweiflung den Tod fuchen. Das Unermeßliche und Un: 
endliche ЦЕ fir den Menjchen ebenjo notwendig, mie 
diefer Heine Planet, auf dem er lebt... Meine Freunde, 
alle, alle: e8 lebe der Große Gedanke! Der Emige, 
unermeßliche Gedanke! Jeder Menich, wer er аш fei, 
muß fich davor beugen, daß der Große Gedante eriftiert! 
Sogar der duͤmmſte Menſch braucht unbedingt wenig: 
jtens irgend etwas Großes. Petruſcha ... Ob, wie gern 


ich fie alle wiederjehen würde! @е milfen nicht, fie | 


willen nicht, daß auch in ihnen immer ganz derjelbe 
Ewige Große Gedanke enthalten И!" 

Doktor Salzfich war bei der Zeremonie nicht zugegen 
geweſen. Als er nun plößlich eintrat, war er entjeßt: 
er trieb fofort die ganze Verfammlung auseinander und 
beftand darauf, daß der Kranke unbedingt Ruhe haben 
muͤſſe. 

Stepan Trophimowitſch ſtarb nach drei Tagen, nach— 
dem er die letzte Zeit in voller Bewußtloſigkeit gelegen 
hatte. Er erloſch gleichſam, wie ein zu Ende gebranntes 
Licht. Warwara Petrowna ließ noch in Uſtjewo das — 


1050 





Zotenamt für den Verftorbenen halten und brachte 
dann die Leiche ihres arnıen Freundes nach Skworeſch— 
niki. ©ein Grab auf dem Kirchhofe Ш heute bereits 
mit einer Marmorplatte bededt, doch die Auflchrift 
und das eijerne Gitter follen erft im Frühling gemacht 
werden. 

Die Abweſenheit Warwara Petrownas aus der Stadt 
dauerte ganze acht Tage. Mit ihre zufammen, in der: 
jelben Equipage, ат auch Sſofja Matwejerna, die ſich 
nun, wie's ſcheint, endgültig bei ihr niedergelaffen het. 
Bemerkenswert ИЕ noch, daß Warwara Petrowna jofort, 
nachdem Stepan Trophimowitſch die Belinnung ver: 

loren hatte — alſo noch am felben Morgen —, Sfofja 
Matwejeruna aus dem Haufe fchidte und ganz allein den 
Kranken bis zu feinem Tode pflegte. Kaum aber war er 
verjchieden, da ließ fie auch „jene” wieder zu ſich rufen. 
Das Anerbieten (richtiger, der Befehl) Warwara Pe: 
trownas, für immer nach Skworeſchniki zu ziehen, er- 
Ichredte die arme Sofia Matwejewna entſetzlich, Doch 
alle ihre ängftlichen Einwendungen wurden von War: 
wara Petromna überhaupt nicht angehört: 

„Unfinn! Sch werde felbft für Dich ме Bibeln ver: 
faufen gehen. Habe ich Doch jeßt niemanden mehr auf 
der Welt.” 

„Sie haben Doch noch Ihren Sohn, gnädige Frau‘, 
bemerkte Doktor Salzfiſch, der zugegen war. 

„Sch habe feinen Sohn“, ſagte Warwara Petrowna 
furz und — hatte es ſomit vorhergejagt. 





67* 1051 


Dreiundzmwanzigftes Kapitel, 
Der Schluß 


I 


Ile die begangenen Schandtaten und Verbrechen — 
wurden erftaunlich fchnell befannt, тей fchneller, | 
als Piotr Stepanomitjch angenommen hatte. Es begann 
damit, daß die unglüdliche ата Sgnatjewna nach der _ 
Nacht, in der ihr Mann ermordet worden war, fehr früh, | 
noch vor Sonnenaufgang, aus tiefem Schlaf erwachte, | 
und zu ihrem Schred und zu ihrer Angft Schatoff nicht 
bei jich, nicht an ihrem Bett, noch im Zimmer ſah. In 
einer Ede jchlief nur die von Эта Prochoromna bejorgte 
Waͤrterin. Dieſe vermochte aber die Kranke nicht zu Бег | 
ruhigen, und fchließlich wußte fie nichts anderes zu tun, | 
als fchnell zu Arina Prochoromna zu laufen, nachdem 
jie ihrer Pflegebefohlenen noch verjichert hatte, daß 
Wirginskis beftimmt wiſſen würden, mo Schatoff ge: 
blieben war, und wann er zurüdfehren werde. 
Waͤhrenddeſſen war auch Yrina Prochoromna in nicht | 
geringer Aufregung: fie wußte jchon durch ihren Dann, 
mas im Park zu Skworefchnifi gefchehen war. Wirgingfi 
war erſt um elf Uhr nachts in einem furchtbaren Zuftande 
nach Haufe gefommen: er hatte die Hände gerungen und 
fih auf das Bett geworfen, um das Geſicht in den 
Kiffen zu vergraben und immer nur unter Zuden und 


1052 





Beben, ſchluchzend, immer nur dies eine zu wiederholen: 
„Das ift doch nicht Das, nicht das; das ift ja gar nicht 
das!" Gelbftverftändlich endete es fchließlich damit, 
daß er feiner Frau, die unabläflig in ihn drang, alles 
beichtete — übrigens doch nur ihr allein. Эта Procho: 
rowna hieß ihn im Bett bleiben und fchärfte ihm ftreng: 
ftens ein, daß er, falls er heulen wolle, dann ins Kiffen 
heulen folle, damit e8 die anderen nicht hörten, und daß 
er ein Ejel wäre, wenn er ſich am nächlten Tage etwas 
anmerken ließe. Darauf überlegte fie rajch und machte 
jih dann fchnell daran, auf alle Fälle gemilfe Vorkeh— 
rungen zu treffen: alle zweifelhaften Papiere und 
Bücher, und vielleicht fogar Proflamationen Fonnte fie 
teils noch beijeite fchaffen, teils |purlos vernichten. Nach 
kurzem Nachdenken fagte fie fich aber, daß ſie jelbft, ihre 
Schweſter, die Tante und die Studentin weiter nichts 
zu fürchten hatten, ja, und vielleicht nicht einmal ihr 
langohriges Brüderlein — Schigaleff. Als dann gegen 
Morgen die Wärterin fam und fie zu аа Ignatjewna 
tief, verlor fie weiter feinen YAugenblid und ging fofort 
zu ihrer Kranken. Übrigens wollte fie fich auch felbft 
überzeugen, иле e8 fich damit verhielt, was ihr Mann 
in der Nacht, halb unzurechnungsfähig, von den Зет: 
liherungen Piotr Stepanowitſchs erzählt hatte: daß 
Kirilloff alles auf fich nehmen und ſich erfchießen werde. 

Uber fie ют zu jpät. Marja Ignatjewna hatte, nach: 
dem fie die Wärterin zu Arina Prochoromnma gejchidt, 
es nicht lange allein ausgehalten, war aufgeftanden, 
hatte fich irgendwie halb angezogen, und war dann jelbft 
zu Kitilloff in den Fügel gegangen, da er, wie fie meinte, 
ihr am eheften jagen konnte, mo ihr Mann geblieben war, 


1053 


Man kann fich vorftellen, wie dag, was jie dort erblidte, 
auf die Wöchnerin wirkte, Merkwuͤrdigerweiſe hat ſie 
Dabei den Brief, den Kirilloff hinterlaſſen hatte und der 
ſichtbar auf dem Зе lag, gar nicht gelejen, — fie wird 
ihn in ihrem Schred und Entſetzen wohl gar nicht Бе: 
те haben. Sie lief in ме Dachſtube zurüd, ergriff 
ihr Fleines Kind und verließ das Haus. Der Morgen | 
mar feucht, Nebel ftand ringsum. Kein Menjch war in 
diejer abgelegenen Straße zu ſehen. Sie lief und lief, 
atemlos, immer weiter durch den falten jumpfigen 
Straßenſchmutz; und ſchließlich begann fie, an die Häufer 
zu Hopfen. Im erften Hauje wurde nicht aufgemacht, 
im zweiten hörte fie endlich Stimmen. Doch fie verlor 
die Geduld, zu warten, und lief zum dritten Haufe. Das 
war das Haus unjeres Kaufmanns Titoff. Hier rief jie 
große Beftürzung hervor: fie |фие und verjicherte zu— 
jammenbanglos, man Бабе ihren Mann, Schatoff, er: 
mordet. Zitoffs wußten, wer Schatoff mar, und fannten 
zum Teil auch feine Lebensgeichiczte. Sie erjchrafen 
nicht wenig, als ſie von diejer fremden Frau hörten, daß 
пе vor noch nicht vierundzwanzig Stunden geboren | 
habe und nun faum befleidet in diefer Kälte mit dem 
fait nadten Kindchen herumlief. Zuerft glaubte man, fie 
habe den Verftand verloren, um jo mehr, ald man aus 
ihren Worten nicht recht Нид werden fonnte, wer nun 
eigentlih ermordet worden wear: Kirilloff oder ihr 
Mann? Marja Sanatjerona aber wollte jchon wieder | 
aus dem Hauje laufen, da jie mohl troß ihrer Erregung 
merfte, daß man ihr nicht ganz glauben zu wollen jchien; 
doch da hielt man fie mit Gemalt zurüd, obgleich jie 
furchtbar fchrie und um Sich ſchlug. Jedenfalls ging man 


1054 





jofort zu Kirilloff, um zu fehen, was mit ihm gejchehen 
war — und jo wußte denn fchon nach zwei Stunden die 
ganze Stadt von dem Selbſtmord Kirilloffs und dem 
Brief, den er hinterlaſſen hatte. Die Polizei erjchien 
zum Verhoͤr bei Marja Ignatjewna, Die noch bei Be: 
wußtjein war. Und eben hierbei fiellte es fich heraus, 
daß fie Kirilloffs Schreiben gar nicht gelejen hatte, 
warum fie aber zu dem Schluß gelommen war, daß auch 
ihr Mann tot ſei — darüber konnte man von ihr nichts 
Dernünftiges erfahren. Ste fchrie immer nur, wenn 
jener ermordet lei, dann fei auch ihr Mann ermordet, 
denn — „пе waren zujammen, zulammen!” Gegen 
Mittag verlor fie das Bewußtſein; fie ftarb am über: 
nächiten Tage, ohne noch einmal zu fich zu fommen. Das 
erfältete Kindchen ftarb noch vor ihr. 

Inzwiſchen war Xrina Prechoromma bei Schatoffe 
angelangt: als fie weder die junge Mutter noch dag Kind 


vorfand, ſagte fie fich fofort, daß Мег etwas Schlimmes 


geichehen jein шие, und wollte jchon wieder nach Haus 
zu ihrem Mann laufen, doch noch an der Pforte befann 
пе по und ſchickte die Wärterin in den Flügel zu Kirilloff, 
damit fie 14 bei diefem erfundige, ob er etwas ше, 
oder ob die Kranke bei ihm war. Die Frau fam mit 
entjeßtem Geſchrei zurüdgelaufen. Эта Prochoromna 
hielt ihr jofort ven Mund zu und brachte fie mit dem be: 
fannten Argument: „Wenn Du mas fagft, jo wird man 
dich für ме Schuldige halten! zum Schweigen und 
verließ dann felbit jchneli den Hof. 

Selbſtredend erſchien die Polizei noch am felben 
Morgen bei ihr, da Пе ja Schatoff3 Frau entbunden hatte. 
6$ war aber nicht viel, was man von ihr erfuhr: ай: 


1055 


blütig und fehr fachlich erzählte fie, mas fie bei Schatoffs 
gejehen und gehört hatte, Doch von den leßten Vor— 
fällen behauptete fie, weder etwas Näheres zu willen, 
noch überhaupt das Gejchehnis begreifen zu fönnen. 
Man kann fich vorftellen, wie groß ме Aufregung in 
der Stadt war. Wieder eine „Geſchichte“, wieder ein 
Mord! Und jekt Fam noch etwas anderes hinzu: eg war 
nun Нат, daß es aljo Doch eine geheime Verſchwoͤrer— 
bande gab: revolutionäre Brandftifter, Aufrührer und 
Mörder. Der furchtbare Tod Liſas, Ме Ermordung der 
Frau Nicolai Stamrogins, Stamrogins Verhalten, der 
Brand, der Ball für ме Gouvernanten, die Ungebunden= 
Бей in der Umgebung Julija Michailomnas: das alles 
[ат zufammen! Sogar in dem plößlihen Verſchwinden 
Stepan Zrophimomitichs wollte man unbedingt etwas 
Bedeutſames {ебеп. Ча, es gingen jchon jehr, jehr 
ſchlimme Urteile und Gerüchte über Stamrogin um. 
Am Abend diejes Tages erfuhr man auch die Abreije 
Piotr Stepanowitſchs, Doch ſonderbarerweiſe murde 
darüber am allermenigften gejprochen — am. meiften 
Dagegen jprah man von dem „Öenator”, der aus 
Petersburg bereits eingetroffen fein jollte. Vor dem 
Silippoffihen Haufe ftand den ganzen Vormittag über 
eine anjehnliche Volksmenge. Die Polizei wurde durch 
Kirilloffs „Brief an die ganze Welt” zunaͤchſt tatfächlich 
irre gemacht. Man glaubte an die Ermordung Schatoffs 
durch Kirilloff und an den Selbitmord des „Moͤrders“. 
Übrigens glüdte die Srreführung Doch nicht jo ganz. 
Das Wort „Park zum Beilpiel, das ſich ohne nähere 
Ortsangabe in dem Brief fand, шаг für feinen ein 
Nätjel, wie Piotr Stepanomitjch erwartet hatte. Die 


1056 








Polizei jagte vielmehr fofort паф Skworeſchniki, und 


zwar nicht nur deshalb, weil es einen anderen Park 


weder in der Stadt noch in deren Umkreiſe gab, jondern 
gewillermaßen fchon aus bloßem Inſtinkt, da doch alle 
Schreden der letzten Tage teils mittelbar, teils unmittel- 
bar mit Skworeſchniki verbunden waren. (Sch muß Мет 


bemerken, daß Warwara Petromna |фоп am Morgen 
dieſes Tages aus ihrem Stadthaufe auf die Suche nach 


Stepan Trophimomitich ausgefahren war.) Die Leiche 
Schatoffs wurde am Abend desielben Tages im Teich 
gefunden: neben der Grotte hatten die Mörder in ип? 
glaublihem Leichtſinn Schatoffs Müße liegen еп, 
und von dort aus ließen fich dann deutliche Spuren bis 


zur Fundſtelle verfolgen. Diefer Umftand ſowie einige 
aͤrztliche Feltitellungen bei der Leichenſchau legten 


fofort den Verdacht nahe, daß Kirilloff Helfershelfer 
gehabt haben пифе. Man vermutete zunächit eine 
„SchatoffsKirilloffihe geheime Gejellichaft”, ме mit den 
Proflamationen irgendwie in Zuſammenhang ftehen 
mußte. Wer aber waren dieje Leute? Don den „Циие 
gen” ahnte man an diefem Tage noch nicht das geringfte. 
Aus dem Briefe war nur hervorgegangen, daß Fedjka, 
den man überall vergeblich gejucht, gerade in dieſen 
Tagen völlig unbemerft bei Kirilloff hatte leben können! 
... Der Hauptlummer aller blieb, daß man aus dem 
ganzen Wirrwarr der ЗаНафеп nichts Allgemeines und 
Zufammenhängendes fombinieren fonnte. Und ganz uns 
möglich ift es abzujehen, zu melden abenteuerlichen 
Folgerungen man поф gelommen mwäre, wenn man 
nicht plößlich, |фоп am anderen Tage, den ganzen wahren 
Sachverhalt erfahren hätte — dank Laͤmſchin. 


1057 


Der Мей es nicht aus. Es gejchah mit ihm das, was 
fogar Piotr Stepanomwitih zum Schluß vorauszufühlen 
begonnen hatte. Laͤmſchin war zuerft der Obhut Tolka— 
НфепЁо8, dann Erfels anvertraut worden und ver: 
brachte diefen ganzen Tag im Bett: er lag, anjcheinend 
ganz zahm, mit dem Geſicht zur Wand, jprach fein Wort 
und antwortete nicht einmal, wenn man zu ihm redete, 
©o erfuhr er denn auch nichts davon, was in der Stadt 
geichah. Da fiel eg aber Tolkatſchenko, der natürlich 
alles wußte, gegen Abend ein, den von Piotr Stepano— 
witſch ihm ausdrüdlich gegebenen Auftrag, Laͤmſchin 
zu bewachen, einfach abzufchütteln und die Stadt zu 
verlaijen, d. Б. 14 einfach aus dem Staube zu machen. 
Mahrlich, Erfel hatte recht, als er ſagte, jie hätten Doch 
ihon alle ме Vernurft verloren. Hier mag gleich er: 
waͤhnt fein, daß auch Liputin an eben diefem Tage aus 
der Stadt verfchwand, und zwar jchon am Morgen. 
Das erfuhr man eber erjt ат Abend des nächiten Tages, 


als die Polizei 14 zu Liputin begab und dort nur deſſen 


vor Angft über die Abweſenheit des Gatten und Vaters 
zitternde Familie vorfand. Doch ich fahre fort, von 
Laͤmſchin zu erzählen. Kaum war er aljo allein ge— 
blieben (Erfel wer, da er fich auf Tolkatſchenko verlaſſen 
zu fönnen glaubte, fortgegangen), als er jofort aus dem 
Haufe lief und natürlich jehr bald die ganze Lage der 
Dinge erfuhr. Ohne nach Haus zurüdzufehren, begann 
er zu laufen, weiter und immer meiter. Uber die Nacht 
war fo dunfel und fein Vorhaben dermaßen graufig und 
ſchwer, daß er jchon nad) ein paar Straßen umkehrte 
und Doch nach Haufe ging, wo er fich für die ganze Nacht 
einſchloß. Sch glaube, gegen Morgen machte er einen 


1058 








КИ nen ео nee — — _ 


Selbftmordverfuch; aber der mißlang ihm. Фо faß er 
in dem verjchloffenen Zimmer bis zum Mittag des 
nächiten Tages, und — plößlich lief er ſchnurſtracks auf 
die Polizei. Man fagte, er lei Dort auf den Knien herum 
geruticht, habe geſchluchzt und gefreifcht und die Diele 
gefüßt, Бабе in einem fort gejchrien, ec {её nicht einmal 
wert, ме Stiefel der vor ihm ftehenden „Mürdenträger” 
zu fülfen. Man beruhigte ihn und war fehr freundlich 
zu ihm. Das Verhör z0g ſich durch ganze drei Stunden 
bin. Er geftand alles, alles, erzäglte vie lebten Einzel: 
heiten, griff vor, überhaftete fich mit feinen Geftändniffen 
und miſchte, ohne Danach gefragt zu fein, alles mögliche 
Unnötige hinein. Sm allgemeinen aber mußte er die 
Sache doch ganz anfchaulich darzuftellen: die Tragödie 
mit Schatoff und Kirilloff, die Feuersbrunft, die Ermor: 
dung der Lebaͤdkins ulm. traten als das Unmichtigeve mehr 
in den Hintergrund; in den Vordergrund aber traten: 
Piotr Stepanowitich, der Geheimbund, feine Organi— 
fation, die Fünfergruppen, das ев. Auf die Frage, 
warum man denn lo viele Menjchen ermordet, fo viele 
Verbrechen begangen hatte, antwortete er mit eilfertigem 
Eifer: „Zur ſyſtematiſchen Erfchütterung der rund: 
feften und zur foftematifchen Zerjeßung der ganzen Ge: 
jellichaft und alles bisher Beftehenden; um alle zu ent: 
mutigen und aus allem einen einzigen großen Brei zu 
machen, dann aber die auf dieſe Weife zerrüttete, Нат, 
zyniſche, ungläubige Mafje, die fich jedoch bis zum 
Außerften nach einer leitenden Idee und nach Seibfterhal: 
tung jehnt, — plößlich in die Hand zu nehmen, die Fahne 
des Bundes zu erheben und im übrigen fich auf dag weit: 
verzweigte ев der ‚Fünfergruppen‘ zu ftüßen, die in: 


1059 


zwilchen ihrerjeits alle nicht müßig geweſen find, Sünger 
geworben und praftifch alle Möglichkeiten geprüft und 
alle ſchwachen Stellen des Gegners ausfindig gemacht 
haben, jo daß man genau тей, wo er am beiten zu 
fallen Ш.” Er fchloß mit der Mitteilung, daß Мег in 
unjerer Stadt von Piotr Stepanomwitich nur der erite 
Derjuch einer folchen ſyſtematiſch hervorgerufenen Uns 
ordnung gemacht worden {её — jozujagen eine Art 
Prüfung des Programms der ferneren Tätigkeit nicht 
nur dieſer, jondern auch aller übrigen Fünfergruppen. 
Letzteres jei aber jeine — d. Б. Laͤmſchins — eigene Ver: 
mutung und er Ба nur, daß man das alles nicht дет: 
geile, vielmehr in Betracht ziehe, bis zu welchem Grade 
er aufrichtig fei und wie gut er den Sachverhalt Harlege, 
jo daß er noch jehr nüßlich fein koͤnnte, wenn die Polizei 
п feiner annehmen wollte. Auf die Frage, ob е8 viele 


jolher „Fünfergruppen” in Rußland gäbe, antwortete 


er, es gäbe ihrer eine unzählige Menge, die wie ein ев 
ganz Rußland umfpinne. Daran hat er, wie mir fcheint, 
jelbft vollflommen aufrichtig geglaubt, wenn er auch feine 
Beweiſe anführen fonnte. Vorzeigen fonnte er nur ein 
im Yuslande gedrudtes Programm der ФееШфай und 
ferner ein Projekt der „Entwidlung des Syſtems aller 
weiteren Handlungen‘, das von Piotr Stepanowitſch 


Eye 


ſelbſt geſchrieben war. Es erwies ИФ, daß Laͤmſchin den 


ganzen langen Satz von der „Erjchütterung der Grund— 
feſten“ wortwörtlich, ohne ein Komma oder einen Punkt 
zu vergejjen, nach diefem Blatt zitiert hatte, troß feiner 
Beteuerung hinterher, daß es feine eigene Auffaſſung 
jei. Über Julija Michailowna äußerte er ſich erftaunlich 
iherzhaft und fogar ohne gefragt zu fein, indem er wieder 


1060 





vorgriff, daß fie „ganz unfchuldig” fei und man fie „nur 
zum beſten“ gehabt habe. Bemerkenswert ИЕ aber, daß 
er auch Nicolai Stamrogin von jeder Teilnahme an dem 
Geheimbunde, ſowie von jedem Einverftändnis mit 
Piotr Stepanowitjch freifprach. (Won den geheimnis: 
vollen lächerlichen Hoffnungen Piotr Stepanomitichs auf 
Stamwrogin ahnte Lämfchin natürlich nichts.) Auch Die 
Ermordung der Lebaͤdkins war nach feinen Worten von 
Piotr Stepanomwitich ganz allein ven Mördern befohlen 
worden, ohne jeden Anteil Stawrogins, und nur in der 
Ichlauen Abficht, diefen in ein Verbrechen hereinzuzieben, 
um dann über ihn Macht zu befommen — anftatt der 
Dankbarkeit aber, auf die er zweifellos gerechnet, habe 
Piotr Stepanowitſch nur heftigen Unmillen und fogar 
Verzweiflung in dem „е еп“ Nicolai Wizemolodomitich 
hervorgerufen. Und zum Schluß fügte Laͤmſchin in 
ſeinen Ausjagen über Stamrogin noch hinzu — Übrigens 
gleichfalls ungefragt und fich überhaftend, augenſchein— 
lich in der Abſicht, einen Wink zu geben —, daß diefer 
ein ungeheuer wichtiges Tier fei, nur шие das ип: 
bedingt ein Geheimnis bleiben; aufgehalten habe er fich 
bei uns fozujagen infognito, und dabei habe er hoch: 
wichtige geheime Aufträge gehabt, und deshalb {ет es 
ſehr möglich, daß er aus Petersburg bald wieder zu ung 
zurüdfehren werde (Lämjchin war überzeugt, daß Staw— 
rogin in Petersburg fei), dann aber fchon mit ganz 
anderen Aufträgen und mit einer Suite von folchen 
Perfönlichkeiten, von denen man vielleicht auch bei ung 
ſchon bald hören werde, und alles das habe er von Piotr 
Stepanowitſch gehört, ет „geheimen Feinde Nicolai 
Stawrogins“. 








1061 


Hierzu eine Randbemerkung: zwei Monate {рае 
geftand Laͤmſchin, er habe Stamrogin abfichtlich von 
allem freigejprochen, und zwar in der Hoffnung auf 
deſſen Proteltion: er habe geglaubt, Stamrogin werde 
Шт dann aus Dankbarkeit in Wetersburg eine bedeutende 
Erleichterung feiner Strafe erwirken fünnen und ihm 
vielleicht euch nach Sibirien Geld und Empfehlungen 
ſchicken. Aus diefem zweiten Geftändnis erjieht man 
erft, wie hoch Stamrogin auch von einem Laͤmſchin еше 
gejchäßt wurde. 

Am felben Tage wurde natürlich auch Wirginski ver: 
банер, und im Eifer verkaftete man auch gleich feine 
ganze „батше“. (Heute jind Arina Prochoromna, ihre 
Schwefter und Zante jowie die Studentin ſchon пай 
wieder frei und es heißt jogar, auch Schigaleff werde in 
fürzefter Zeit aus der Unterjuchungshaft entlajlen werden, 
da er in feine Kategorie der Angeklagten hineinpajje.) 
Wirginski bekannte fich jofort in allen Dingen ſchuldig: 
er war frank und hatte hohes Fieber, ald man ihn ver- 
haftete. Man erzählt, er babe fich faft gefreut: nun fei 
её „vom Herzen gemwälzt“, joll er gejagt haben. Sekt 
heißt es von ihm, daß er jeine Ausſagen mwahrheitsgetreu 
und fogar mit einer gewiljen Würde mache, doch von 
jeinen „hellen Hoffnungen‘ noch immer nicht laſſe und 


nur den politifhen Weg, auf den er jo unverhofft und = 


unfchuldig gelodt worden war, verwünjche (im Gegen: 
jaß zum fozialen). Sein Verhalten während des Ver— 
brechens im Park foll, glaube ich, zur Milderung feiner 
Strafe in Betracht gezogen werden. Wenigſtens Бег 
bauptet man das allgemein bei uns. 

Anders fteht es mit dem Schidjal Erfels. Der ſchweigt 


1062 





feit jeiner Verhaftung hartnädig, oder er entitellt ме 
Wahrheit foviel er nur kann. Noch hat man Fein einziges 
Mort der Neue aus ihm herauszuholen vermocht. Und 
doch Bat er jelbft in den firengften Richtern Sympathie 
erwedt, — durch feine Jugend, durch feine Schußlofig- 
feit, ſowie durch die erwiejene ЗаНафе, daß er nur das 
fanatifche Opfer eines politifchen Verfuͤhrers И, vor 
allem aber durch fein jeßt befannt gemordenes Verhältnis 
zu feiner armen Mütter, der er monatlich faft die Hälfte 
jeines Heinen Gehaltes zugefchidt hat. Seine Mutter Ш 
jetzt Мег: fie ift eine ſchwache, Franke, vorzeitig alt ges 
wordene Frau. Sie weint und wirft ſich — e8 ЦЕ wort— 
wörtlich zu nehmen — den Richtern zu Füßen, um für 
ihren Sohn Gnade zu erflehen. 

Liputin murde jchließlich in Petersburg verhaftet, 
nachdem er dort zmei volle Wochen ſich aufgehalten hatte. 
Mit ihm war etwas ganz Unmahrjcheinliches gefchehen, 
etwas, das man Sich nur jchwer erklären fann. Er, der 
einen Paß auf einen fremden Namen und bei beträcht: 
lichen Geldmitteln durchaus die Möglichkeit hatte, ing 
Ausland zu entlommen, mar troßdem in Petersburg 
geblieben: eine Zeitlang hatte er Stamrogin und Pjotr 
Stepanowitſch gejucht, dann aber hatte er plößlich zu 
trinken begonnen und ein über alle Maßen ausjchmweifen: 
des Leben geführt, ganz wie ein Menſch, der jede gefunde 
Vernunft ſowie jede Vorftellung von feiner Lage ver: 
loren hat. Berhaftet wurde er denn auch in einem 
Bordell, in betrunfenem Zuftande. Sekt joll er aber 


wieder zur Vernunft gelommen fein, durchaus nicht den 
Mut verloren haben, in feinen Ausfagen lügen und zu 
der Gerichtsverhandlung fich mit einer gewiſſen Feierlich— 


1063 


feit und Hoffnungsfreudigfeit vorbereiten (?). За, er 
joll {ода ме Abficht Haben, vor Gericht eine Rede zu 
halten. 

ZTolfatichenfo dagegen, der irgendwo im Nachbarfreife 
zehn Tage nach feiner Flucht verhaftet wurde, verhält 
fich тей bejcheidener, luͤgt nicht und verftellt ſich nicht, 
ſondern fagt alles, was er weiß, ohne ſich dabei frei— 
Iprechen zu mollen, ift aber gleichfalls ein wenig zum 
„Reden“ geneigt: er fpricht viel und gern, und wenn 
man auf die Kenntnis des Volfes und deſſen revolu— 
tionäre (?) Elemente zu jprechen fommt, dann beginnt 
er fogar zu polieren und nach Effekt zu Ба]феп. Auch er 
joll, wie man hört, eine Rede zur Gerichtsverhandlung 
vorbereiten. Überhaupt find er und Liputin nicht allzu 
eingejchüchtert, und das ift eigentlich jonderbar. 

Wie gejagt, das gerichtliche Urteil in diefer Sache ift 
noch nicht geiprochen. 

Unſere Gejellichaft jedoch hat ſich jekt, nach drei 
Monaten, fchon wieder einigermaßen erholt, gefammelt, 
und fich fogar eine eigene Meinung gebildet — allerdings 
eine dermaßen eigene, daß jekt viele bei ung Piotr 
Stepanowitſch für ein Genie halten, oder doch wenig 
ftens für einen Menjchen mit „hoch genialen Anlagen”. 

„Da fieht man, was Organifation bedeutet!" fagt man 
im Klub und erhebt dabei den Finger. Übrigens ift das 


alles furchtbar harmlos, und ſchließlich find es nicht ет? — 


mal viele, die fo reden. 

Andere dagegen urteilen weit weniger günftig über ihn, 
und wenn fie ihm auch eine große Begabung nicht ab: 
Iprechen, fo tadeln fie doch feine volllommene Unkenntnis 


der Wirklichkeit, bei fchredlicher Abftraftion und uns о 


1064 








‚geheuerlicher und ftumpfer Entwidlung nur nad) einer 
©eite hin und daraus folgendem außergewöhnlichen 
Leichtſinn. 

Das Urteil uͤber ſeine Moral iſt natuͤrlich bei allen das 
gleiche; daruͤber ſtreitet ſchon niemand mehr. 

Ich weiß eigentlich nicht, wen ich der Vollſtaͤndigkeit 
halber noch zu erwaͤhnen haͤtte. Mawrikij Nicolajewitſch 
iſt irgendwohin auf immer von Мег weggereiſt. Liſas 
Mutter ИЕ kindiſch geworden ... Nur eine duͤſtere Ge: 
ſchichte bleibt mir noch zu erzaͤhlen uͤbrig. Ich werde 
mich mit den Tatſachen begnuͤgen. 

Warwara Petrowna war nach ihrer Ruͤckkehr mit 
der Leiche Stepan Trophimowitſchs aus Uſtjewo wieder 
in ihrem Stadthauſe abgeſtiegen. Die Neuigkeiten, die 
ſich hier inzwiſchen angeſammelt hatten und die fie nun 
alle mit einem Male erfuhr, erjchütterten fie entjeßlich. 
Es war Abend; alle waren müde und man ging früher 
zu Bett. 

Am folgenden Morgen übergab die Kammerzofe 
Darja Pawlowna mit geheimnisooller Miene einen 
Brief. Sie fagte, fie hätte ihn erſt ſpaͤt am Abend er- 
halten, als alle ſchon fchliefen, und nicht gewagt, Darja 
Pawlowna aufzuweden. Der Brief war nicht mit der 
Poft gelommen, fondern in Skworeſchniki von einem 
unbefannten Menfchen Ulerei Jegorowitſch eingehändigt 
worden. Diefer aber Бабе den Brief geftern Abend ihr 
— der Kammerzofe — felbft überbracht und ſei darauf 
jofort nach Skworeſchniki zurüdgefahren. 

Darija Фанона betrachtete mit Hopfendem Herzen 
lange dieſen Brief und wagte nicht ihn zu öffnen. Sie 
wußte, von wem er war: fo fchrieb nur Nicolai Stamrogin. 


68 Doſtojewski, Die Dämonen. Bd. II. 1065 


Sie 108 die ЭшИфий auf dem Kuvert: „An ЭЦехе 
Jegorytſch zur Übergabe an Darja Pawlowna, heimlich.” 

Hier ift diefer Brief, Wort für Wert, ohne Korreltur 
auch nur des geringften Fehlers in den Säßen dieſes ruſſi⸗ 
ſchen Edelmannes, der ungeachtet feiner ganzen europäi- 
(hen Bildung die Grammatik feiner Mutterjprache nicht 
zu Ende gelernt hatte, 


„ziebe Darja Pawlowna, 


Sie wollten einmal ‚ald Krankenjchwefter‘ zu mir 
fommen und nahmen mir das Wort ab, Sie zu rufen, 
wenn es nötig wird, Ich fahre in zwei Tagen und 
merde nie mehr wiederkehren. Wollen Sie mit mir 
gehen? 

Im vorigen Jahr habe ich mich wie feinerzeit Herzen 
als Bürger des Kantons Uri aufnehmen laffen, und 
das weiß niemand. 5% habe mir dort ſchon ein kleines 
Haus gekauft. Sch habe noch zmölftaufend Rubel; wir 
fahren dann fort und werden dort ewig leben. Ich 
werde ſonſt niemals nirgend wohin mehr reifen. 

Die Stelle ift jehr öde, eine Schlucht; die Berge Ве 
engen den Blid und den Gedanken. Es ift jehr duͤſter. 
Sch tat es, weil das kleine Haus gerade verkauft wurde. 
Menn е8 Ihnen nicht gefällt, fo verkaufe ich её und 
faufe ein anderes an einem anderen Ort. 

Sch bin nicht gefund, aber von den Halluzinationen 
hoffe ich mich durch die dortige Luft zu befreien. 
Phyſiſch; moraliſch aber wiſſen Sie alles; nur, ift eg 
auch wirklich alles? 

Sch habe Ihnen vieles aus meinem Leben erzählt. 
Über nicht alles. Sogar Ihnen nicht alles! Übrigens, 


1066 





ich beftätige, daß ich mit dem Gewiſſen an dem Tode 
meiner Freu {фи bin. Sch Бабе Ste nachher nicht 
mehr gejehen und darum fage ic) es hier, Schuld bin 
ich auch vor Liſaweta Nicolajewna; aber hiervon 
willen Sie alles; hier haben Sie fat alles voraus: 
gelagt. 

Kommen Ste lieber nicht. Daß ich @е zu mir 
rufe, ЦЕ eine fchredliche Gemeinheit. За und warum 
jollten Sie auch mit mir Ihr Leben begraben? Mir 
find Sie lieb und im Leid war es mir wohl bei Ihnen: 
nur bei Shnen allein habe ic; von mir laut ſprechen 
fönnen. Daraus folgt aber nichts. Sie haben es jelbft 
geprägt: ‚als Krankenſchweſter‘ — das ift Ihr Ausdrud; 
wozu fo viel opfern? Begreifen Sie auch, daß ich 
Sie nicht bemitleide, wenn ich Sie rufe, und nicht 
achte, wenn ich Sie erwarte, Und währenddefjen rufe 
ich Sie und erwarte ich @е doch. Jedenfalls brauche 
ich Ihre Antwort, denn man muß fehr jchnell fahren. 
Sn dem Falle werde ich allein fortfahren. 

Sch hoffe nichts von Uri; ich fahre einfach. Sch Habe 
nicht mit Abficht diefen duͤſteren Ort gewählt. In Ruß— 
land bin ich an nichts gebunden, — bier ift mir alles 
ebenio fremd иле überall, Es Ш wahr, in Nußland 
liebte ich am allerwenigſten zu leben; aber jelbft in 
Rußland habe ich nichts zu haſſen vermocht! 

Sch Бабе überall meine Kraft verjucht. Sie rieten 
mir einmal dazu: ‚um fich felbft zu erfennen‘. Sn den 
Verſuchen für mich felbft und in den Verfuchen nach 
außen, um mit dieſer Kraft zu prahlen, wie auch früher 

‚in meinem ganzen Leben, erwies fie jich immer als 
grenzenlos. Vor Ihren Augen ertrug ich die Ohrfeige 


г. 1067 


von Ihrem Bruder. Sch befannte öffentlich meine 
Ehe. Uber ai was Diele Kraft anlegen — das ift eg, 
was ich nie gejehen habe, auch jeßt nicht fehe, troß 
Ihres Beifalls in der Schweiz und Ihres Zuſpruchs, 
dem ich Наше. Ich kann auch jeßt noch ganz fo, wie 
auch früher immer, eine gute Tat zu begehen wünjchen 
und empfinde Vergnügen dabei; Daneben aber will 
ih auch Böjes und empfinde dabei aleichfalls Ver: 
gnügen. Über dieſes wie jenes Gefühl ift, ganz иле 
früher, immer zu Нейт und flach, jehr ftarf aber pflegt 
es nie zu fein. Meine Wünfche find viel zu wenig ſtark; 
йе fönnen nicht leiten. Auf einem Balken fann man 
über einen Fluß ſchwimmen, auf einem Holzipan aber 
nicht. Sch fchreibe Das nur, damit Sie nicht denken, 
daß ich mit irgendwelchen Hoffnungen nach Uri fahre. 

Ich beichuldige wie immer niemanden. Sch habe ein 
grenzenlos ausjchweifendes Leben verlucht und meine 
Kraft in ihm erfchöpft: aber ich Tiebe Ausfchweifung 
nicht, noch wollte ich fie. Sie haben пиф in der 
legten Zeit beobachtet. Wiſſen Sie auch, daß ich foger 
auf unjere Verneiner mit Haß geblidt Бабе, aus Neid 
auf ihre Hoffnungen? Uber Sie haben fih umfonft 
gefürchtet; ich Tonnte denen nicht Freund fein, denn 
ich erblidte nichts. Zum Spott aber, aus Bosheit, 
habe ich es auch nicht gekonnt und nicht, weil ich Das 
Laͤcherliche fürchte, — das Lächerliche kann mich nicht 
Ichreden, — fondern weil 1 immerhin die Angewohn⸗ 
heiten eines anftändigen Menfchen habe und ed mich 
anefelte. Doch wenn ich mehr Bosheit und Neid für 
fie Бане, jo würde ich vielleicht auch mit ihnen ge= 
gangen fein, Urteilen Sie nun jelbft, wie leicht eg mir 


1068 





zumute war und wie ich mich hin und ber gewaͤlzt 
babe! 

Du, mein liebfter Freund, Du zartes und großmütiges 
Gefchöpf, das ich nun endlich erraten habe! Vielleicht 
träumen Sie davon, mir fo viel Kiebe zu geben und 
mich mit fo viel Schönem aus Ihrer wundervollen 
Seele zu überfshütten, daß Sie hoffen, fchon damit 
endlich auch ein Ziel vor mich hinftellen zu koͤnnen? 
Nein, Sie follten lieber vorfichtiger fein; meine Liebe 
wird ebenſo flach fein, wie ich felbft bin, Sie aber 
werden unglüdlich fein. Ihr Bruder hat mir einmal 
gelagt, daß derjenige, der die Verbindung mit feiner 
Erde verliert, ſofort auch feine Götter verliert, das 
heißt alfo alle feine Ziele. Über alles [апп man end 
los ftreiten, aber aus mir И nur Verneinung gelommen, 
ohne jede Großmut und ohne jede Kraft. Sogar nicht 
einmal Verneinung! Alles Ш immer Паб und fchlaff. 
Der hochherzige Kirilloff ertrug die Idee nicht und — 
erſchoß fich: aber ich weiß Doch, daß er deshalb Бо: 
herzig war, weil er nicht bei gefunder Vernunft war 
Sch werde nie meine Vernunft verlieren Fünnen und 
werde nie in dem Maße an eine Idee glauben fünnen, 
wie er. Sch kann mic) in dem Maße nicht einmal mit 
einer Idee bejchäftigen. Nie, nie werde ich mich er= 
ſchießen koͤnnen! 

Ich weiß, daß ich mich toͤten muͤßte, mich wie ein 
ſcheußliches Inſekt von der Erde wegfegen; aber ich 
fürchte den Selbſtmord, denn ich fürchte mich, Hoch⸗ 
herzigkeit zu zeigen, Ich weiß, daß das noch ein Betrug 
fein würde, — der leßte Betrug in der endlofen Reihe 
der Betruͤge. Mas hätte es für einen Nutzen, fi 


1069 


ſelbſt zu betrügen, nur um einmal den Hochhergigen zu 
fpielen? Unmille und Scham fann in mir niemals 
fein; folglich аиф feine Verzweiflung. 

Derzeihen Sie, daß ich fo viel fchreibe. Sch bin 
wieder zur Befinnung gelommen. 34 habe das aus 
Verſehen getan. So find Hundert Seiten zu wenig und 
zehn Zeilen genug. Zehn Zeilen genügen, wenn 
man jemand ‚als Kranfenfchwefter‘ ruft. 

©eit ich fortgefahren bin, lebe ich auf der fechften 
Station beim Stationschef. Seine Bekanntſchaft habe 
ich vor fünf Jahren in Petersburg in der wuͤſten Zeit 
gemacht. Niemand weiß её, daß ich bei ihm Bin. 
Schreiben Sie unter feinem Namen. Die Adreſſe 
füge ich bei. Nicolai Stawrogin.“ 

Darja Pawlowna ging jofort zu Warwara Petromna 
und gab ihr den Brief. Diefe las ihn Durch und bat darauf 
Dafcha, fie allein zu laſſen, da fie den Brief noch einmal 
lefen wolle. Aber fie rief fie ſchon fehr bald zurüd, 

„Wirſt du fahren?” fragte fie fait zaghaft. 

„Sa, ich werde fahren”, antwortete Daſcha. 

„Dann mach dich bereit! Wir fahren zufammen!“ 

Daſcha {аб fie fragend an. 

„Was ſoll ich hier jet noch? Iſt es nicht einerlei, wo 
ich weiterlebe? Ich werde mich gleichfalls in Uri auf- 
nehmen laffen und in der Schlucht leben... Sei uns 
beforgt, werde euch nicht ftören.” 

Sie begannen jchnell einzupaden, um noch mit dem 
Mittagzuge abfahren zu fönnen. Es war aber noch) еще 
halbe Stunde vergangen, а!8 Alerei Segorytich aus 
Skworeſchniki eintraf und meldete, daß Nicolai Wizemo- 


1070 











lodowitſch plößlih am Morgen angelommen mar, mit 
dem Frühzuge, und fich in Skworeſchniki befinde, aber 
„in einem Zuftande, daß der Herr auf die Fragen nicht 
zu antworten geruhten, durch alle Zimmer gingen, und 
ih dann in feiner Hälfte eingejchloffen haben..." 

„Ich bin ohne Befehl des Herrn hergefahren, um zu 
melden“, fügte Alexei Jegorytſch verhalten, mit fehr 
aufmerkſamen Blick Hinzu. 

Warwara Petrowna [а ihn durchdringend an und 
fragte nicht weiter. Sm Augenblid war der Wagen 
bereit. Sie fuhr mit Dafcha nach Skworeſchniki. Während 
der Fahrt foll fie ſich mehrmals befreuzt haben. 

In „Seiner Hälfte” waren alle Türen unverfchloffen, 
doch Nicolai Wſzewolodowitſch war nirgendwo zu finden. 

„Sollte der Herr nicht vielleicht im oberen Stod fein?” 
fragte Fomuſchka vorjichtig. 

6$ war fonderbar, daß Diesmal mehrere Dienftboten 
Warwara Petromna in die „Hälfte des Herrn“ folgten, 
während die anderen im großen Saal warteten. Noch 
nie hatien fie её gemagt, [о die Etifette zu überfchreiten. 
Warwara Petrowna bemerkte es wohl, aber fie ſchwieg. 

Man {Мед in ven oberen Stod. Dort waren nur drei 
Zimmer, doch in feinem einzigen fand man ihn. 

„За, follte der Herr nicht vielleicht dahin gegangen 
ſein?“ fragte jemand und wies auf die Зди zur Dach: 
fammertreppe. 

Tatſaͤchlich war dieſe fonft ftets gefchlofjene Heine Tür 
zur Dachkammer diesmal offen, Eine jchmale, lange und 
fehr fteile Treppe führte hinauf. 

„Dorthin gehe ich nicht! Aus welchem Grunde 
hätte er dorthin geben follen?” fragte Warwara 


1071 


Petrowna, unheimlich erbleichend, und {аб ſich nach den 
Dienftboten um. Die jahen Пе an und ſchwiegen. Daſcha 
zitterte. 

Dann ſtuͤrzte Warwara Petrowna die Treppe hinauf. 
Daſcha folgte ihr. Doch kaum hatte Warwara Petrowna 
in die Dachkammer hineingeſehen, als ſie aufſchrie und 
bewußtlos hinfiel. 

Der Buͤrger des Kantons Uri hing hier gleich hinter 
der Heinen Tür. Auf dem Heinen Tiſch lag ein Stuͤck 
Papier, auf dem mit Blei gefrigelt die Worte ftanden: 

„Niemanden beichuldigen. Ich ſelbſt.“ 

Auf demſelben Tiſchchen lag ferner ein Hammer, ein 
Stud Seife und ein großer Nagel. Die ſtarke jeidene 
Schnur, mit der Nicolai Stamwrogin 1199 erhängt hatte, 
war dick eingefeift. Alles wies auf volle Abficht hin und 
auf klares Bewußtſein bis zum lebten Augenblid. 

Die Annahme, daß die Tat in geiftiger Umnacdhtung 
oder im Irrſinn geichehen fei, wurde von unjeren Ürzten 
паф der Obduktion mit aller Entichiedenheit zurüd- 
gewieſen. 





Ende des zweiten Teiles 


1072 


Erfter Anhang. 


Material zum Roman „Die Dämonen“ 


Aus den Notizbüchern 5. M. Doſtojewskis.*) 


I. Januar 1870. 
Stamwrogin (der Fürft). 


Der volllommen entgegengefeßte Typ jenes Sproffes 
aus gräflichem Haufe, den Graf Tolſtoi in „Kindheit und 
Jugend“dargeſtellt hat**). Ein Typaus der Urbevölferung, 
der unbewußt von feiner eigenen typifshen Kraft Бе: 
unruhigt wird, ganz unmittelbar, und die nicht weiß, 
worauf fie fich aufbauen ивр] Fönnte, Solche 
autochthone Typen find haufig entweder Оки За: 
fins ***) oder Danila Filippowitſchs), oder fie gehen bis 





*) In formgetrener Wiedergabe der zum Teil fprunghaft no; 
tierten Gäße, m. а 2 
*x) Irtenjeff — Tolſtois jugendliches Sbſtporträt. Е. К. В. 
**s) Anführer des Koſakenaufſtandes von 1667— 1670. Machte bag 
Land von Kafan big Perfien unficher, wollte dann gegen die un: 
beliebten moskauſchen Boiaren ziehen, wurde jedoch gefhlagen, ge: 
fangen und hingerichtet. Vielbefungener Freiheitsheld (ſ. S. 378). 
7) Der als Goti-VBater angebetete Heilige der Geißlerfefte. 
Mitte 568 XVIL, Jahrhunderts. Spielt innerhalb der Sekte eine 
größere Rolle als der Papſt im Katholizismus, Der jeweilige 


1073 


zum Qußerften des Geißler oder Sfopzentrums. | 
Es ЦЕ das eine außergewöhnliche, für fie felbft Schwere | 
unmittelbare Kraft, die etwas verlangt und fucht, | 
worauf fie Fuß fallen [itehen bleiben) und das fie 
fich zur Richtfehnur nehmen блик, die bis zur Qual 
Ruhe, Erlöfung von den Stürmen verlangt und die vor- 
Yäufig doch unmöglich nichtftürmen kann bis zu der 
Zeit, da fie die Beruhigung findet. Er ftellt fich fchließ- 
lich auf Chriftus, doch fein ganzes Xeben war Sturm | 
und Unordnung. (Die Maffe des Volkes Теб un: 
mittelbar, ИШ und harmonifch, urtümlich, doch kaum 
zeigt fich in ihr Bewegung, d. Б. einfache Lebensfunftion, 
fo Пе fie immer diefe Typen hervor). Es ift eine un: 
umfaßbare unmittelbare Kraft, die Ruhe fucht, die erregt ° 
ИЕ bis zu Schmerzen und die ПФ während der Zeit des 
Suchens und des Umherirrens mit Freuden in ип: 
geheuerliche Abweichungen und Erperimente ftürzi, bis 
fie auf einer fo ftarfen Idee Fuß fat, die ihrer unmittel= | 
baren tierifchen Kraft vollfommen proportional И, — 
auf einer Idee, die dermaßen ſtark ıft, daß fie dieſe Kraft 
endlich organifieren und bis zu weihevoller Stille Бе: 
rubigen kann. 

Überhaupt ein ernfterer Charakter, ernft bis zur Selt- 
ſamkeit. Iſt zurückgekehrt mit Gedanken und Fragen, ° 
die ihn um fo mehr Пи machen, als ihm alfes neu — 
И. Manche halten ihn für einen Nihiliften (3. 3. die 
Mutter), ja er gilt fogar allgemein für einen Nihiliſten. 
tegierende Nachko mme Danilas nennt fih „Chriftus“. ©. 650, 651, 
YAnfpielung, daß Stawrogin als „Prinz Iwan” mehr fein würde 
als ein „Swan Filippowitſch“. Der „Zarewitfh Iwän“ ИЕ „der 
lichte Фены“ im ruſſiſchen Märchen. E.K.R. 


1074 





Nur Gr, fieht, daß das nicht ein Nihiliſt ift (aber was 
denn fonft?), Er meint, ein von fich felbft eingenom: 
nıener Tor, wie es ihrer viele unter ihnen gibt, Der 
Fürft Рона immer, was Gr. mißfällt und verleßt. 
Sr, denkt ſchließlich, W. бабе den Fürften in der Hand. 
Mitunter uͤberraſchen Gr. am Fürften Yusbrüche ſo— 
wohl von Ernft wie von Забей, Ein fehr ernftes 
Geſpraͤch. Ein tiefer Zug, daß der Fürft fehr viel und 
пийпе ат zuhoͤrt. Uber die Mutter fürchtet ihn doch 
immer. W. пабт ihn ſchon in die Hand (5. h. er glaubte, 
daß es ihm gelungen fei), doch bald wurde es felbft 
dem foralofen W, Far, daß das etwas anderes mar. 
Er will übrigens dennoch (auf den Rat und die War- 
nungen U—ffs hin) den Fürften in den Mord hinein: 
ziehen, Doch W, ИЕ bloß Teichtfinnig und forglos, wenn 
es aber nötig Ш — Sehr Нид: er gewahrt plößlich, 
daß er den Fürften nicht in den Mord hineinziehen Рапп, 
daß es bier gar nicht das ift, was er vermutet hatte, 
daß der Fürft nur zuhört, fchweigt und aufpaßt, ja fogar 
felbft auf Sch—fs Seite fteht. Da loͤſt W. mit einem 
Schlage das Mordproblem auf eine andere Зее und 
umgeht den Fürften. Der Verdacht falli dennoch zum 
Zeil auf den Fürftenz doch nun nimmt plößlich der Fuͤrſt 
ſelbſt ме Sache in die Hand und enthuͤllt fich. 

Cr wird mit einem Schlage Herr der Sache und 
befiegt U—f; dDiefer gefteht. Geht geradeswegs zum 
Zögling, zeigt ihr feine ganze tiefe Жебе, ftellt aber 
Bedingungen — fie tft mit Begeisterung einverftanden. 
Neue Menfchen, erneutes Leben! Gößen zerftören und 
Schiffe verbrennen. Sit, falls nötig, bereit, fich von 
der Erbichaft loszuſagen; doch die Mutter zittert fchon 


1075 








und fügt ſich. Schredi den ©ouverneur und dem 
großen Schriftfteiller. Hat großmütig Mitleid mit de 
jungen Schönheit, die er brutal und fchroff verftöß 
wegen eines leichtfertigen Ausfalls. (Anfangs fcherzt 
er mit ihr; fie hielt ihn für einen Nihtliften und Tieß es 
fich einfallen, mit ihm ein wenig zu fpielen; её Пе 
fie brutal im Stich, war aber im Unrecht: denn е8 war 
nicht Verderbtheit, wie ihm fehten, fondern leichtfertige 
und gewiſſensruhige Überzeugung.) Überhaupt: er uͤber— 
zeugt fich, daß ehrlich und befonders ein neuer Menſch 
zu fein, nicht fo leicht ift, daß dazu nicht Enthuſiasmus 
allein genügt, was er auch ihr, dem Zögling feiner 
Mutter, erklärt: „Sch werde kein neuer Menfch fein, 
ich bin viel zu unoriginell dazu,” fagt er, „aber ich Бабе | 
endlich einige wertuolie Ideen gefunden, an die ich mich 
jeßt halten will.” Doch vor jeder Wiedergeburt oder, 
Auferftehung — Selbftüberwindung; und deshalb: > 
bift mir nötig, du ФИТ mich retten mit deiner Stille”. 
Er ſagt: „Früher verurteilte ich den Nihilismus und 
war fein erbitterter Feind, jeht aber fehe ich ein, daß 
die Schuldigften und Schlechteften wir, die Herren, find, | 
wir vom Erdboden Losgertffenen, und darum muͤſſen 
zuerſt wir uns umgeſtalten. Wir ſind die Hauptfaͤulnis, 
auf uns ruht der Hauptfluch und aus uns iſt alles 
gekommen.“ 








7. Maͤrz 1870. 
Stawrogin (uͤrſt). 


Der Fuͤrſt war der ausſchweifendſte Menſch und ein 
hochmuͤtiger Ariſtokrat. Er hat ſich bereits bekannt ges 


1076 


| 
| 


echt ol8 ein Erzfeind der Aufhebung der Leibeigen- 
фай und als ein Unterdrücer der Bauern. 

Er ift Ideenmenſch. Die Idee, ме ihn einmal 
vgreift, beherrfcht ihn ganz; herrfeht aber dann nicht fo 
ehr in feinen Gedanken, als wie fie fich in ihm ver: 
örpert, in feine Natur übergeht (immer mit Leiden 
nd Unruhe), und dann, einmal in feiner Natur inkar— 
tert, verlangt fie ihre fofortige Umfehung in die Tat. 

Während feiner Abweſenheit aus unferer Stadt het 
р feine Überzeugungen geändert. Seine Überzeugungen 
indern heißt für ihn fofort auch fein ganzes Leben 
indern, fo daß er ſchon mit der geheimen Abficht zurück: 
ehrt, fich von der Erbſchaft Yoszufagen und mit allem 
u brechen, Er ЦЕ ploͤtzlich ein furchtbarer Sfeptifer ge— 
worden, ift maßlos mißtrauiſch und vermutet immer das 
Schlimmfte, — eine Erfeheinung, die bei einem feiten 
Menschen, für den fich entfcheiden, die Schiffe verbrennen 
md Handeln heißt, fehr verftändlich Ч, Diefer Menſch 
kann noch vor dem Entfchluß zweifeln, wenn er noch nicht 
ganz überzeugt iſt; zweifelt er aber, jo wird er infolge 
der Leidenfchaftlichkeit feiner Natur zum Skeptiker 
DIS zum Zynismus. 

Die Ideen Goluboffs find: Ergebung und Selbſt— 
iberwindung und daß Gott und das Himmelreich in 
ung liegen, in der Selbftbeherrfchung, desaleichen die 
Freiheit. 

II. Maͤrz 1870. 


Der letzte Entwurf zum Fuͤrſten Stawrogin, 


Als der Fuͤrſt ankam, hatte er bereits alle Zweifel 
überwunden. Er ift — ein neuer Menſch. Er bricht 


1097 


mit zwei Mädchen, beabfichtigt auch mit der Mutter zu 
brechen. Befeffen von mwahnfinniger, nach innen ge= 
Schlagener und verhaltener Energie, fpricht er fich wenig 
aus, ſchaut fpöttifch und fEeptifch zu, wie ein Menich, 
der fchon die endgültige Löfurg und die große Idee 
gefunden hat, Er Hört vorläufig alle an, widerfpricht 
ſelten. Macht fich innerlich Hochmütig luſtig über Gr., 
ift Franfhaft betroffen durch Sch. und fieht volllommen 
deutlich deſſen Buchgelehrtheit und Ausfichtslofigkeit, be⸗ 
ginnt mit Erftaunen und Neugier W. zu beobachten 
und horcht gefpannt — da er endlich erraten will: 
worauf diefe Menfchen fo feft ftehen Finnen? (NB, Mit 
W. frühere Beziehungen.) Einzig Goluboff erfchüttert 
ihn, doch mit Enthuſiasmus gefteht er ihm (aber Виз, 
in zwei Morten), daß diefes ganz und gar auch fein 
Gedanke ift, die von ihm gefundene Überzeugung. Er 
ift zurückgekehrt, um feine Verftöße, Beleidigungen ufw. 
in der Stadt wieder gutzumachen. Verföhnt fich mit den 
Beleidigten, nimmt eine Ohrfeige hin, tritt für die ver: 
übte Religiongfpötterei ein, fucht die Mörder auf, und 
Schließlich erklärt er feierlich dem Zögling, daß er fie 
liebt, erklärt die Bedingungen. Sie beftehen darin, 
dad er von nun an ein Ruffifcher Menfch ift und dag 
man fogar an das glauben muß, wes von ihm bei Golu= 
бой gefagt wurde, (daß Rußland und der ruffifche Ge: 
danke die Menfchheit retten wird). Er betet vor Heiligen 
bildern ибо. Während der ganzen Zeit, Ме er in der 
Stadt verlebt, zeichnet er ПФ durch die wildefte Energie 
in der neuen Überzeugung aus und feßt feine Mutter 
in Erftaunen, Dem 3Zögling fagt er, er бабе fie 
beobachtet und fich überzeugt, daß er fie liebt und mit 


1078 








ihr auferftehen wird, wenn fie diefelben Überzeugungen 
bat. Und dann plößlich erſchießt er fich. 


Stamwrogin (der Fürft) und Schatoff. 


Der Hauptgedanke, an dem der Fürft Eranft und den 
er im fich trägt, Ш folgender: wir haben Ме Recht: 
gläubigkeit, unfer Volk iſt groß und jchön, weil es 
glaubt und weil es die Nechtgläubigfeit Katz wir 
Nuffen find ſtark und ftärker als alle, weil wir eine 
unermeßliche rechtgläubige Volksmaſſe haben, Würde 
im Volk der Glaube an die Rechtgläubigkeit wankend 
werden, jo wirde es fofort anfangen fich zu zerfeßen, 
ein Vorgang, der bei den Völkern des Weftens bereits 
begonnen Hat, denn im Weiten hat man den Ölauben 
(Katholizismus, Proteftantismus, Selten, Entſtel⸗ 
ungen des Chriftentums) ſchon eingebüßt, und hat ihn 
dort einbüßen müffen. (Ber uns И natürlich die 
‚obere Volksſchicht, die fogenannte höhere Gefellfchaft, 
eine angeſchwemmte Schicht, aus dem Meften über: 
nommen — folglich Hier nur „Gras im Feuer” und 
hat nichts zu bedeuten.) 

Jetzt aber fragt es fich: wer kann denn glauben? 
Glaubt denn auch nur jemand (von den Panflawen 
und ſelbſt Slawophilen)? und fchließlih fogar die 
Trage: kann man überhaupt glauben? Menn man es 
aber nicht Fann, wozu dann fo viel von der Kraft des 
ruſſiſchen Volkes, die in der Rechtglaͤubigkeit liegen ſoll, 
reden? Folglich iſt dieſe Kraft nur eine Frage der Zeit. 
Dort hat die Zerſetzung, der Atheismus, fruͤher begonnen, 
bei uns — wird ſie eben ſpaͤter beginnen, beginnen aber 


1079 








wird fie unbedingt mit der Ausbreitung des Atheismus- 
Wenn das aber fogar unvermeidlich ift, fo muß man 
fogar wünfchen, daß es noch fehneller geſchehe — je 
Schneller defto beffer. 

(Der Fürft bemerkt plößlich, daß er mit den Anz 
fchauungen 3—8 übereinftimmt: daß alles verbrennen 
das ЗеЙе ift.) 

Es ergibt ſich alfo folgendes: 

т. daß die gefchäftigen Leute, die diefe Frage für 
leer und überflüffig halten und glauben, daß man auch 
ohne fie auskommen Fönne, Pöbel und Infelten find, 
Gras im Feuers 

2, Daß es fih um die dringende Frage handelt: 
fann man, wenn man zioilifiert, d. 5, Europäer ift, 
überhaupt glauben? Sch meine: einwandlos an Die 
Göttlichkeit des Gottesfohnes Jeſus Chriftus glauben? 
(Denn nur darin befteht doch der ganze Glaube, daß 
man an Chriſti Goͤttlichkeit glaubt.) 

МВ, Auf diefe Frage antwortet die Zivilifation durch 
Tatfachen mit einem Nein (Renan) und mit dem Beweis, 
daß die Gefellfehaft das reine Verſtaͤndnis Chrifti nicht 
hat rein erhalten Fönnen (der Katholizismus ИЕ Anti: 
chrift, Hure, der lutheriſche Proteſtantismus aber iſt Mo: 
Iofanentum)*). 
+) Molokanen (Milcheffer), ruffifhe Sekte an der Wolga feit dem 
Anfang 568 XIX, Jahrhunderts, fo genannt, da fie auch in der | 
Faſtenzeit Milch genießen, Proteſtantiſch infofern, als fie die © 
Bibel fehr Hoch Halten und die Entfiehung der Sekte auf Berüh⸗ 
rung mit den profeftantifgen deutſchen Koloniften zurückzuführen 
it. Sm übrigen glauben fie 598 Urgriftentum zu befißen, und 
ein jeder kaun ПФ die Heilige Schrift nach eigener Überzeugung 
auslegen. Е. КВ. 


1080 








3. Wenn e8 aber fo ift (d. В. wenn man alfo nicht daran 
glauben Рапп), vermag dann die Menfchheit überhaupt 
ohne Glauben zu leben (mit der Wiffenfchaft 3. B., 
Alexander Herzen)?*) Die fittlihen Grundlagen werden 
den Menfihen durch Offenbarung gegeben. Vernichtet 
man im Glauben bloß irgend etwas, fo ftürzt die 
ganze fittliche Grundlage des Chriftentums ein, denn 


(alles Ш untereinander verbunden) das eine zieht Das 


andere nach fich, 

Iſt nun alfo eine andere, eine wiffenfchaftliche Sitt: 
lichkeit (ein wiffenfchaftliches Ethos) überhaupt möglich? 

Menn nicht, fo wird folglich ме Sittlichkeit nur vom 
ruffifchen Зее aufbewehrt, denn das ruſſiſche Volk 
it rechtgläubig, 

Wenn aber die Rechtsläubigkeit fir den Zivilifierten 
*) Herzen, dem Sohn der Proteſtantin Louife Haag, war der 
um jeden Sreis-geforderte blinde orthodoxe Slaube der Slawo—⸗ 
philen — befonders8 der Aomantifer unter diefen — ebenfo 
un möglich, wie die mofante Skepſis feines Vaters, 568 ruffifhen 
Ariftofraten Jakowleff. Die Miffenfheft war für ihn „gleichfalls 
Liebe”, Das Gefühl der Religion erfegte ihm eine Hohe Meinung 
von der „Würde des Menfchen”, Auf diefer Grundlage befämpft 
Herzen das abfolutiftifche Regierungsſyſtem zunächſt als Repus 
blitaner, in feinen legten Lebensjahren jedoch wicht mehr als 
prinzipieller Antimonardift. Als Fortfeger der aufrufenden 
Arbeit Belingfis, als Publizift und glängender Schriftfteller 
hatte er um die Mitte des 19. Jahrhunderts (1848—63) den 
größten Einfluß auf die geiftige Entwidlung Rußlands. (Geb. 
1812 in Moskau, feit 1847 Emigrent, 1870 geft. in Paris.) 
Doftojewefi hat erft fpäter (1876 im „Jüngling“, 1880 in der 
„Puſchkinrede“) die Weftler, zu denen Herzen, Belinski, Tſcha— 
adajeff und Granowski gezählt wurden, gleichfalls ald Träger 
der „eufjifhen Idee“ anerfannt. : Е. К. В. 


69 Dofiojemwsti, Die Dämonen. Bb. IT, 1081 


unmöglich ift (und in Hundert Jahren wird Halb 
Rußland zivilifiert fein), fo ИЕ folglich alles nur ein 
Naturfpiel, und die ganze Kraft Rußlands nur eine 
zeitweilige. Auf daß fie jedoch ewig fei, ЧЕ voller Glaube 
an alles unbedingt erforderlich . +. Aber kann man | 
denn glauben? | | 

Zuerft, vor allen anderen Dingen, gilt e8, diefe Frage | 
zu löfen: Kann man überhaupt ernftlich und wahrhaft | 
glauben? | 

Hierin Tiegt alles, der ganze Lebensknoten des 
ruffifchen Volkes, feine ganze Beftimmung in der Зиг | 
kunft und fein ganzes zafünftiges Sein. 

Sit es aber unmöglich, fo zu glauben, dann ift es doch | 
durchaus nicht fo unverzeihlich, wenn jemand verlangt, 
daß man alles verbrennen ſoll. Beide Forderungen find 
vollkommen gleich menfchenfreundlich. (Langes Leiden 
und dann 305 oder Eurzes Leiden und Tod, Das Letztere | 
ift felbftverftändlich menfchenfreundficher.) | 

Das alſo wäre das Nätfel? 

ХВ. Sie können natürlich gegen die Richtigkeit der | 
Yogifhen Folgerung obiger Thefen vieles einmwenden, 
fönnen ftreiten, nicht zuftimmen, $, B. von der gelehrten 
rechten Seite behaupten, daß das Chriftentum nicht in 
der Form des [utherifchen Proteftantismug fallen werde, — 
d. 5. indem man Chriftus nur als gewöhnlichen Men 
chen, als fegensreichen Philofophen auffaßt (denn das 
ИЕ Doch der Ausgang des lutherifchen Proteftantismus), 
oder von der linken Seite behaupten, das Chriftentum 
ſei Feineswegs eine Notwendigkeit für die Menfchheit und 
durchaus nicht die Duelle des lebendigen Lebens 
(die hitzigen Kleinen fchreien ja |фоп, daß es fogar 


1082 












ſchaͤdlich fer), daß 3, B. die Miffenfchaft der Menfchheit 
das Iebendige Leben ſowie das vollendetfte fittliche 
Ideal geben koͤnne. Diefe MWiderfprüche find natürlich 
u erwarten, ift doch die Welt voll von ihnen und dag 
wird fie ja noch lange fein. Uber Sie, Schatoff, und ich, 
wir beide willen doch, daß das alles Unfinn Ш, бай 
Chriſtus-Menſch im Gegenfaß zu Chriftus:Gottesfohn 
weder Erlöfer noch Quelle des Lebens fein апп, Рав 
die Wilfenfchaft allein niemals das ganze menfchliche 
Ideal erfüllen wird, und daß die Lebensquelle, die Bes 
zuhigung des Menfchen und die Rettung aller Menfchen 
vor der Verzweiflung und die Bedingung sine quanon 
für das Sein der ganzen Welt in diefen Worten ent: 
halten Ш; Und das Wort ward Fleifch, und im 
Glauben an diefe Worte, Früher oder fpäter werden 
doch alle darin übereinftimmen, und fomit ift denn 
wieder die ganze Frage nur: Яапи man an all das 
glauben, woran zu glauben die NRechtgläubigkfeit bes 
fiehlt? Wenn nicht, fo ift es viel beffer und humaner — 
alles зи verbrennen und fich Werchowenski anzufchließen. 


Stamwrogin (der Fürft) und Schatoff. 


Der Fürft: „Sch mache Ste darauf aufmerkffam, und 
ich hebe es noch ganz befonders hervor, daß Diefe Fragen 
unvergleichlich wichtiger find, als fie zu fein fcheinen, 
wenn аиф das fehr alte Neue an ihnen nur dies ЦТ, daß 
wir beide ihre unermeßliche Bedeutung und die uns 
bedingte Notwendigkeit ihrer Löfung erkannt haben.“ 

„Ach! Wozu auf ganze taufend Jahre vorauslöfen !“ 
rief Schatoff (5, h. alfo die langſame Zerfeßung). „Beſſer 


69* 1083 





ift, wir leben ir der Gegenwart und erfüllen das Gegen 
märtige, ohne daran zu zweifeln, daß weiterhin @ой | 
helfen wird.“ 


lachend und ging. 


Stamrogin (der Fürft) und Schatoff. 


„Darum Ш Werchowensfi auch fo ruhig,” fagt der 
Fürft, „weil er überzeugt ift, daß das Chriftentum für 
das lebendige Leben der Menschheit nicht nur nicht un⸗ 
bedingt nötig, fondern fogar pofitiv fchädlich fei, und daß 
die Menfchheit, wenn man das Chriftentum volllommen 
augrottete, fofort zu neuem, wirflichem Leben auf: 
leben würde. Darin befteht feine furchtbare Kraft. Sie! 
werden {ебеп: der Weften wird mit diefen Leuten nicht 
fertig werden, alles wird dort durch fie untergehen.“ 

„Und was wird dann fein?” | 

„Eine tote Mafchine, die natürlich nicht зи verwirk⸗ 
lichen ift, aber . . . vielleicht ift fie doch zu verwirklichen, | 
denn in ein paar Jahrhunderten wird man die Welt 
ſchon fo weit ertöten Fönnen, daß fie vor Verzweiflung 
wirklich lieber wird tot fein wollen. ‚Berge fallt über ung ° 
und det ung zu.‘ Und ſo wird es auch fein. (Wenn _ 
$. 3. die Mittel der Wiffenfchaft fich für die Ernährung 
als unzureichend erweifen und es eng fein wird, auf der 
Melt zu leben, jo wird man die Neugeborenen т... 
werfen oder aufeffen. Mich foll es nicht wundern, weni 
das eine wie das andere gefchieht. Es wird fo fein 
müffen, betonders wenn die Wiffenfchaft es fo für richtig 
haͤlt).“ 


1084 


„Erklären Sie das näher,” fagt Schatoff, 

„Wenn die Stahrungsmittel fich verringern und man 
mit Feiner Wiffenfchaft weder Nahrung noch Holz zum 
eigen erlangen Рапп, die Menfchheit fich aber immer 
noch vermehrt, fo wird man die Vermehrung aufhalten 
muͤſſen. Die Wifjenfchaft fagt: ‚Du bift nicht fchuld 
daran, daß Ме Natur es fo eingerichtet hat‘, und allem 
voran geht der Selbfterhaltungstrieb, folglich heißt eg, 
die Neugeborenen verbrennen. Das ift die Moral der 
Wiftenfchaft. Malthus Hat durchaus nicht fo unrecht mit 
feiner Theorie, nur ИЕ bie jeßt noch zu wenig Zeit ver: 
gangen, um fie durch praftifche Erfahrung beftätigt zu 
fehen. Blicken Sie etiwag weiter, fragen Sie fich, was 
dann fein wird; und wird denn Europa eine Bevölkerung 
‚ohne Nahrung und Heizmaterial aushalten Eönnen? 
Und wird dann die Wiſſenſchaft zur rechten Zeit helfen, 
felbft wenn fie helfen koͤnnte? Das Verbrennen der 
Kinder wird zur Ungewohnheit werden, denn alle fitt: 
lichen Grundlagen im Menfchen, der einzig feinen 
eigenen Kräften überlaffen tft, — find bedingt. 
Der Wilde Nordamerikas ffaipiert feinen Feind, wir 
aber finden das vorläufig noch fchändlich (wenn wir 
auch felbft eine Unzahl von vielleicht noch fchlimmeren 
Gemeinheiten begehen, Gemeinheiten, die wir nicht ein— 
mal bemerken oder womöglich für Zugenden halten). Jeßt 
jehen Sie einmal: wenn fie glauben, daß das Chriftentum 
eine Notwendigkeit И und (ein Geſchenk) eine Gnade 
Gottes für die Menfchheit, die der Menfch allein, von 
fich aus, nie würde erlangt haben, — wenn Sie glauben, 
daß der Menich von feiner Wiege an in unmittel- 
barer Verbindung mit Gott fteht, zuerft durch die 


1085 











Offenbarung und denn durch das Wunder der Er 


fcheinung Chriſti, und Schließlich, wenn Sie glauben, daß 


der Menfch, nur auf feine eigenen Kräfte angewiefen, 
ganz auf fich allein geftellt, unfehlbar untergegangen 


wäre, und man folglich glauben muß, daß Gott mit 


dem Menfchen in unmittelbarer Verbindung fteht, — 
dann (5. 5. wenn Sie jich dem Chriftentum ergeben 
haben) würden Sie fich niemals mit dem Gefühl des 


Kinder-Verbrennens ausföhnen. Da haben Sie jekt 
eine vollfommen andere Sittlichkeit. Folglich enthaͤlt 


nur das Chriftentum allein das lebendige Waffer, kann 
nur das Chriftentum allein den Menschen zu den Quellen 
der Waffer des Lebens bringen und ihn vor der Zer- 
feßung bewahren, Ohne Chriftentum wird fich die 
Menschheit zerfeßen und untergehen. 

Alſo kann man ſowohl an diefes wie an jenes glauben. 
Somit befteht denn die Frage bloß darin, was denn 
eigentlich richtiger ЦЕ und wo die Quellen des lebendigen 
Maffers find, Meiner Meinung nach wird die Menjch- 


heit mit der Wiffenfchaft allein, wenn diefe es bis zu 
Gleichgültigkeit gegen die Neugeborenen gebracht 


hat, verwildern und eusfterben, und darum И ver: 
brennen beffer als fterben, Doch andererfeits glaube 
ich feft, daß das Chriftentum die Menfchheit retten 
wuͤrde.“ 

Schatoff: „Wie, wie?“ 

Der Fuͤrſt: „Es enthaͤlt alle Bedingungen zur ее 
tung wie der Sklaven fo auch der Herren. Wenn man 
fich vorftellt, daß alle Chriftuffe wären, würde dann der 
Pauperisinus überhaupt möglich fein? Im Chriftentum 
wäre Sogar der Mangel an Nahrung und Heizmaterial 


1086 


erträglich (nicht die Neugeborenen umbringen, fondern 
felbft für meinen Bruder fterben). 

Schatoff: „Wenn das fo ift, worin befteht dann das 
Problem?” 

Der Fürft: „Immer in dem einen: пи denn ein 
sivififierter Menfch überhaupt glauben? 

Nur aus Leichtiinn ftellt ver Menfch diefe Frage 
nicht auf den erften Wan, Übrigens, viele mühen fich 
darum, fchreiben und reden darüber, Wir forgen uns 
aus Leichtfinn und aus Ärger nur um dag Gegen: 
wärtige und glauben, das ſei alles, was nötig Ш. 
Andere wiederum denken fich verfchiedene Verdauungs— 
philofophien aus, in dem Sinne, daß das Chriftentum 
fogar mit der unendlichen Entwicelung der Zivilifetion, 
nicht nur mit der gegenwärtigen allein, vereinbar fei. 
Aber wir beide wiffen doch, daß das alles Unfinn ift 
und daß es nur zwei Snitiativen gibi? entweder der 
Slaube oder Verbrennen. Merchowensfi hat fich für 
das zweite entfchieden und ift ftarf und ruhig. Ich 
beobachte ihn jetzt, um feftzuftellen, was in feiner Kraft 
aus der Überzeugung kommt und was einfach nur aus 
der Natur.” 


Stamwrogin (der Fürft) und Schatoff. 


Schatoff: „Wenn der Menfch fich verändern wird — 
wie wird er dann mit feinem Verftande leben Eönnen? 
Der Befiß des Verftandes entipricht nur dem gegen 
wärtigen Organismus.” 

Der Fürft: „Woher wiffen Sie, ob der jeßige Ver— 
ftand überhaupt nötig fein wird?” 


1087 


Schatoff: „Was denn fonft? Wohl etwas Höheres?” 

Der Fürft: „Zweifellos etwas viel Höheres.“ 

Schatoff: „За, апп es denn überhaupt etwas 
Höheres als den Verftand geben?” 

Der Fürft: „So fragt die Wiffenfchaft, aber — 
fehen Ste, dort an der Wand kriecht eine Wanze. Die 
Wiffenfchaft weiß, daß fie ein Organismus ift, daß fie 
irgendein Leben lebt und Eindrüde hat, fogar ihre 
eigene Vorftellung, und Gott weiß was noch alles. Kann 
aber die Wiffenfchaft auch das Wefen des Lebens, der 
Vorftellungen und Empfindungen der Wanze erfahren 
und fie mir mitteilen? Das Fann fie natürlich nicht 
und das wird fie auch niemals Fönnen. Um das erfahren 
zu fönnen, müßte man wenigftens auf eine Minute felbft 
zur Wanze werden. Зепп der Wiffenfchaft das ип: 
möglich ift, fo Рапп ich annehmen, daß fie mir auch das 
Mefen eines anderen höheren Organismus oder Seins 
nicht mitzuteilen vermag, und folglich auch nicht den 
Zuftand des Menfchen nach feiner Ausartung im Millen: 
nium, wenn es dann auch meinetwegen feinen Berftand 
mehr geben follte.” 

„Sie haben mich ganz wirr gemacht,” fagt Schatoff, 
„aber ich werde von Ihnen nicht ablaffen.” 

Der Fürft: „Sch verftehe nicht, warum Sie den 
Beſitz des Verftandes, 5. Б. der Erfenntnig, für das 
höchfte Sein von allen, die es überhaupt geben апп, 
halten? Meiner Meinung nach ift das ſchon nicht die 
Riffenichaft, fondern der Glaube, und jchlieglih kann 
man fagen, daß hier wiederum ein Gaufelfpiel der Natur 
vorliegt, und zwar: fich felbft zu ſchaͤtzen (im Ganzen, 
5. Б. als einzelner Menich in der Menschheit), ЦЕ zur 


1088 





Erhaltung des Menfchen unbedingt nötig. Ein jedes 
Weſen muß fich für das Ulerhöchfte halten, Die Wanze 
halt fich beftimmt für höher als Ste, und fie würde 
beftimmt nicht zu einem Menfchen werden wollen, ganz 
abgejehen davon, daß fie es nicht Рапп, fondern würde 
unbedingt gerade Wanze bfeiben wollen. Die Wanze ift 
ein Geheimnis, und fchließlich ift alles ein Geheimnis. 
Warum leugnen Sie die Geheimniffe anderer? Und 
merfen Sie fich noch, daß der Unglaube dem Menfchen 
vielleicht gerade deswegen angeboren ift, weil der Un: 
glaube den Berftand über alles ftellt, da aber der Ver— 
ftand nur dem menfchlichen Organismus eigen ift, fo 
Рапп und will er auch nicht ein Leben in einer anderen 
Geſtalt verftehen, 5. Б. ein Leben nach dem Tode, und 
darum glaubt er nicht, daß es höher fei. Andererfeits 
iſt dem Menfchen ſchon von Natur das Gefühl der Ver: 
zweiflung und des auf ihm ruhenden Fluches eigen, 
denn der menschliche DVerftand ИЕ fo eingerichtet, daß 
er beſtaͤndig an fich nicht glaubt, fich feibit nicht befriedigt, 
und darum ift er geneigt, feine Eriftenz für ungenügend 
zu halten. Daraus ergibt fich der Drang zum Glauben 
an ein Leben jenfeits des Grabes. Wir find offenbar 
Übergangsmefen und unfer Dafein auf der Erde Ш 
augenscheinlich der Vorgang oder das unausgefehte 
Dafein einer Puppe, die fich in einen Schmetterling 
verwandelt. Erinnern Ste fich des Ausſpruchs: der 
Engel fällt niemals, der Teufel ИЕ fo gefallen, daß er 
immer liegt, der Menfch fällt und kann auferftehn. 
Sch glaube, die Menfchen werden entweder Teufel oder 
Engel. Man fagt, ewige Strafe fei ungerecht, und 
die franzöfifche Verdauungsphilofophie hat fich aus— 


1089 


gedacht, daß allen verziehen wird, Aber das Erdenleben 
ЦЕ doch ein Prozeß der Umgeburt. Wer ИЕ ſchuld daran, 
daß man fich in einen Teufel ummwandelt? Alles wird 
natürlich aufgewogen werden. Uber das Ш doch eine 
ЗаНафе, ein Refultat — ganz genau fo, wie fich auch 
auf der Erde dei allem immer eines aus dem anderen 
ergibt. Und vergefien Sie auch nicht, daß ‚die Zeit nicht 
mehr fein wird‘, mie der Engel in der Apokalypſe 
ichwört. Und vergeffen Sie gleichfalls noch das eine 
nicht, daß die Teufel — wiſſen! Folglich Haben auch 
die Naturen des Jenſeits Erkenntnis und Gedächtnis, 
und nicht nur der Menfch allein, allerdings — vielleicht 
nicht menschliche Erkenntnis und menschliches Gedächt- 
nis, Sterben апп man gar nicht. Sein ift, aber Nicht: 
fein ИЕ überhaupt nicht.” 

Schatoff: „Solcher Gejpräche, wie das unfrige, gibt 
es in Rußland unendlich viele. Uber... wie, wenn Sie 
fich über mich nur luftig machen?” 

„Und was wäre denn dabei fo ſchlimm?“ fragte der 
Fuͤrſt Tachend, 

Schatoff: „Ich glaube es nicht. Ein Menfch, der die 
Rechtaläubigfeit als das Wefen Rußlands begriffen Hat, 
und das noch fo begriffen hat wie Sie, kann nicht darüber 
ſpotten.“ 

Der Fuͤrſt: „Das tue ich ja auch gar nicht.“ 

Schatoff: „Wirklich nicht? Ich bin ein Buchmenſch. 
Ich wuͤrde gern kein Buchmenſch ſein. Was muß = 
dazu tun?” 

Der Fürjt: „Glauben Sie.“ 

Schatoff: „An die Rechtgläubigfeit und Rußland?“ 

Der Fürft: „за.“ 


1090 





Schatoff: „Sa, natuͤrlich, dann ift man erloͤſt. Ich 
„vielleicht glaube ih. Warum fihweigen Sie?“ 

Der Fürft: „Ste glauben alfo nicht.” 

Schatoff: „Und Sie?“ 

Der Fürft: „Uber was habe ich denn damit zu tun?“ 

Schatoff: „Sollten wir uns beide wirklich auch ohne 
Morte verftehen ?” 

Der Fürft: „Leben Sie wohl... Und erlauben Sie, 
Schatoff, Sie noch auf eines aufmerkſam zu machen: 
Sie fagten vorhin: ‚ich werde nicht von Ihnen ablaffen‘! 
Das mwünfche ich durchaus nicht, im Gegenteil, ich 
wiünfche, daß Sie mich vollfommen in Ruhe laffen. Ich 
fage das im Ernft. Ich Habe meine Gründe . . .“ 


Stepan Trophimowitſch Werchowenski und 
Schatoff. 


Stepan Trophimomitfch zitiert Tſchatzki): 
„Зиг Feder von den Karten, von ihr zurüc zum Spiel, 
Wie Flut und Ebbe mechfelnd nach ftehendem Ge: 


jeß sn ao 

















*) Die Hauptperfon in Gribojedoffs Haffifcher Komödie „Verſtand 
фойе Leid” (gefehrieben 1822, durfte erft 1833 verffümmelt ges 
deudt werden): Tſchatzki fehrt von feinen Reifen im Auslande, 
erfüllt von Heimetliebe, nah Moskau zurüd, ärgert ИФ aber 
fogleich dermaßen über feine Landsleute, über ihren gedanken— 
Iofen Materialismus, ihre Strebertum, das für fie der einzige 
Antrieb zu ihrem Staatsdienft ift, über ihre ſtolzloſe Ausländer: 
verehrung, daß er noch am felben Tage in Verzweiflung пай 
feinem Wagen ruft, um wieder zu verreifen. Der aufrüttelnde 
Einfluß diefer im Driginaltert big in die fechzgiger Jahre nur 
handfchriftlich, doch in ungezählten Taufenden von Eremplaren 
verbreiteten Satire ИЕ nicht abzufhägen: Die Jugend wollte ſich 


19091 





Schatoff greift fofort auf: „Tſchatzki begriff über: 
haupt nicht, als beſchraͤnkter Dummkopf, bis zu welch 
einem Grade er dumm war, als er dieſes, was Gie da 
foeben zitierten, fagte. Er ruft im ftärkften Unwillen: 
‚Den Wagen mir, den Wagen!“ weil er nicht einmal 
fähig ift, von felbjt darauf zu verfallen, daß man die 
Zeit auch anders als ‚zur Feder von den Slarten, von ihr 
zurüd zum Spiel‘ verbringen апп — fogar in dem 
damaligen Moskau! Er war Herr und Butsbefißer 
und für ihn eriftierte außer feinem SKreife überhaupt 
nichts, — das Ш der Grund, warum er über das Leben 
der höheren Moskauer Sefellfchaft in folche Verzweif— 
fung gerät, ganz als ob es außer diefem Leben in Кий: 
land ein anderes gar nicht gegeben hätte. Das ruſſiſche 
Volk überfah er einfach, wie dieg alle unfere ‚VBorderen’*) 
taten, überfah es um fo mehr, je mehr er zu den ‚Bor 
deren‘ gehörte. Зе mehr Herr er war und je mehr 
Borderfter, um jo mehr empfand er Haß — nicht gegen 
dte ruffiichen Einrichtungen, fondern gegen dag ruffische 
nicht mehr зи diefen von D. von Wifin, Gribojedoff, Gogol uf, 
gezeigten Spiegelbildern der Gefellfchaft entwideln, gab in den 
dreißiger Jahren mit Tfchaadajeff Rußland Гай auf, nannte ji 
international, um in den vierziger Jahren mit Bjelinski, in den 
fünfziger Jahren mit Herzen, in den fechziger Jahren mit Tſcher⸗ 
nyſchewski immer wieder — wie diefe — auf dem Ummege über 
Europa erft recht zu Rußland zurüdzufehren. Ihr Anflug 
an Doſtojewski — nah ihrem Anfhlug an Tolftoi — ſteht im 
mwefentlichen erft noch bevor. Е. К. В. 
*) Die im Ruffifhen übliche Bezeihnung für geiffige Führer, 
Kornphäen, wie überhaupt für fortfchrittlich gefinnte bedeutende 
Menfhen. Hier von dem flawophilen Schatoff⸗Doſtojewski in 
feindlich herabfegendem Sinne gebraucht, da die Fortfchrittler 
meift Weftler waren oder für Weftler gehalten wurden, E.K.R. 


1092 





Volk, Über das ruffiiche Volk, über feinen Glauben, 
feine Gefchichte, feine Sitten, feine Bedeutung und 
feine große Millionenmaſſe dachte er fich nichts mehr 
als über den Pachtzinsparagraphen. Und genau fo 
dachten auch die Defabriften*) und Profefloren und 


*) Siehe ©. 300, Anm. Die Gründer des geheimen „Wohl 
fahrtsvereins” und der anderen Geheimbände — meift Offiziere, 
fomwie ehemalige Freimaurer oder Söhne von folden — erjtrebten 
anfangs (efwa 1816—18) nur eine freiheitlihe Umgeftaltung 
der ruffifhen Autofratie nach weſtlichen Vorbildern (England), 
Doc ihr bedeutendfter Vertreter, Oberft Paul von Veftel (Ad; 
jutant des Feldmarfhalls Grafen Wittgenftein und Haupt des 
Südlichen Geheimbundes in Kiew) war von Unfang an für die 
Republif und die Befeitigung des Katferhaufes. Peſtel arbeit:te 
für Rußland eine Verfaffung in Anlehnung an die der Nord, 
amerifanifchen Staaten und der Schweiz aus, ging aber in vielem 
ſehr viel weiter und plante bereits eine Bodenreform auf ſtaats⸗ 
wirtfchaftliher Grundlage, weshalb er „ein Sozialift vor dem 
Sozialismus“, aber wegen feines Abſolutismus диф „eher ein 
Bonaparte als ein Wafhington” genannt worden iſt. Das Land 
follte nad feinem Plan den Bauern überwiefen werden, da 
anderenfall8 die Proflamation der Republik „nur eine leere 
Namensänderung wäre”. (Das hat Doſtojewski noch nicht gewußt). 

Der plöslide Tod AlerandersI. und die Ungemißheit über 
feinen Nachfolger verleitete die Geheimbündier zu einem ver; 
frühten Aufſtand (am 14. Dezember 1825 — daher „Deka; 
briften“), der von Nikolai I mit Kartätfchen niedergefchlagen 
wurde. Es folgten über тооо Verhaftungen. Die Tragödie der 
Hinrichtung ihrer Führer durch den Strang (urfpränglich follten 
die 5 Hauptfchuldigen, Dberft von Peftel, Oberſt Muramjoff, 
der „heilige“ Dichter Aylejeff u. a. gevierteilt, 31 guillotiniert, 
die übrigen als GSträflinge nah Sibirien verbannt werden), 
fowie die Haltung der Verurteilten big zur Hinrichtung oder 
während ihres fibirifhen Martyriumg, das von ihren Frauen 
freiwillig geteilt wurde, hatte zur Folge, daß die Defabriften 


1093 


Dichter und Liberalen, und überhaupt alle Neformas 
toren bis zum Zar-Befreier.*) 

Tſchatzki ließ fich von feinen Bauern Pacht zahlen, um 
mit diefem Gelde in Varis leben zu Eönnen, Coufin zu 
hören und womöglich mit ZTichaadajeffichem**) oder 
Fürft Sagarinfchem***), Katholizismus zu enden oder, 
wenn er Freidenfer war, mit einem Haß auf Rußland, 
wie etwa Belinsfi und tutti quantif). Bor allem 
aber: er konnte es fich nicht einmal vorftellen, daß esin 
Rußland noch eine andere Welt als die der Moskauer 
höheren Gefellfchaft geben koͤnnte, weil — er felbft ein 
Moskauer Herr und Gutebefiger war. Und um wieviel 
Doch diefe ftumpffinnigen, Eartenfpielenden Moskowiter 
Elüger waren als er! Aber wenn er auch dumm war, 
dafür hatte er ein gutes Herz, wenn er амф nicht von 





4:8 Helden und Märtyrer verehrt wurden und fo unzählige Хай 
folger fanden. Aus biefer befonders durch; die Dekabriſten in 
Rußland hervorgerufenen Verehrung der politifhen Verbannten 
Ш dann auch Stepan Trophimowitſchs Teidenfchaftlicher 
Wunfd, ein „Verbannter” und „Verfolgter” zu fein, zu erklären, 
und weshalb um dieſe beiden Worte ein gemiffer „Haffifcher 
Glanz fpielt“ (ſiehe Seite 2.) Die literarifchen und politifhen 
Schriften ber Defabriften find zum Teil erft in jüngfter Zeit 
herausgegeben worden, zum Teil find fie auch 168: noch unver; 
öffe ntlicht. Е. К. В. 
*) Alerander II, der 186r die Leibeigenfhaft aufhob. Е. К.В. 
++) Tfchaadajeffs Vorliebe für den Papismus war fo befannt, 
daß fogar dag Gerücht von feinem Übertritt eine Zeitlang glaub⸗ 
würdig erſchien. Е. К. В. 
=>) Freund und Zeitgenoffe Tfchaadajeffs, wurde Jeſuit, gab 1862 
eine Auswahl von Tfhaadajeffd Schriften heraus, 

1) Зв fpäteren Jahren (1877) urteilt Deſtojewski gerechter Aber 
Belenski. Val. Bd, XI., „Alte Erinnerungen“, 


1094 








weiten her war, daflır war fein Gedanke doch originell — 
denn damals waren doch Ме Tiraden gegen Moskau 
immerhin originell! Uber Ste, Sie, was find Sie, 
wenn Sie das jeßt wiederholen? Oh, wenn Sie wüßten, 
wie weit Sie fogar hinter den damaligen Fartenfpielenden 
und ihren Dienft tuenden Moskowitern zurückgeblieben 
find, und dabei halten Ste und Shresgleichen fich immer 
noch für ‚WVordere‘! Wer auf den alten Formen des 
Liberalismus reitet, der Ш fchon zuruͤckgeblieben. Die 
Form des Liberalismus muß immer originell fein, jede 
Generation muß eine neue haben, Sch Ipreche nicht 
vom Wefen des Liberalismus, fondern von feiner Form. 
Liberalismus, der mit Antinationalismus und реги: 
lihem Haß gegen Rußland endet, ИЕ Ruͤckſtand und 
Blödfinn, Sie aber fehen das nicht ein und halten es 
noch für das Vorderfte und Hoͤchſte, dag es überhaupt 
gibt. 

Und bitte auch nicht zu vergeffen, daß der Zar das 
Volk befreit hat, nicht Ste und Ihre Zeitgenoffen. Herr: 
gott, Sie Haben ja noch nicht einmal begriffen, daß die 
Zaren unvergleichlich Tiberaler und fortgefchrittener 
waren, als Sie, denn die Zaren find immer Hand in 
Hand mit dem Volke gegangen, fogar zu Birons”) 





*) Günftling der Защ Anna Iwanowna, die ihn 1737 zum Netz 
$09 von Kurland erhob. Nach ihrem Tode (1740) Vormund des 
minderjährigen Thronfolgers Swan und Regent, im felben Jahr 
von deffen Mutter Anna Leopoldowna nad) Sibirien verbannt, im 
nächften Jahre von der Zarin Elifabeth zurüdgerufen. Zeichnefe 
ſich durch Grauſamkeit in der Regierung aus; ließ gwar vom 
Volk Abgaben für frühere Jahre eintreiben, verfolgte aber be; 
fonders den ruffifchen Adel und die Geiſtlichkeit. Е. К. В. 


1095 


Zeiten. Der Gedanke, das Volk zu befreien, war den 
Zaren ſchon ГапаЙ vertraut, dem Defabriften Tichagki 
aber kam er überhaupt nicht in den Sinn. За, мес 
Tichagfis wurden manchmol fogar wegen graufamer 
Behandlung ihrer Bauern unter Kuratel geftellt, — 
und warum nur? Waren fie denn fo Schlechte Menſchen? 
Taten fie es etwa aus Bosheit? Keineswegs. Sie taten 
es, weil fie einfach nicht origineller auf Rußland zu 
jehen verftanden, weil fie ihre Moskauer höhere Geſell— 
{фай für gang Rußland hielten. Sch Eönnte wetten, 
daß die Dekabriſten das Volk fofort befreit hätten, 
beftimmt aber ohne ihm Land zu geben — wofür das 
Volk ihnen unbedingt fofort die Köpfe abgedreht und 
ihnen damit zu ihrer größten Verwunderung bewiefen 
hätte, daß nicht die Moskauer Gefellichaft allein ganz 
Rußland ausmacht. Uber, fchlieflih — аиф ohne 
Köpfe Hätten fie nichts verftanden, obgleich es gerade 
ihre Köpfe waren, die fie am meiften am Berftehen 
Hinderten. Nein, mit Verlaub, das war Raskol, {ей 
Peter dem Großen hat es bei ung zwei Raslole ge⸗ 
geben, einen oberen und einen unteren“.) 


*) NRaskol=Spaltung: Bezeichnung für die ruffifche Kirchens 
ſpaltung, 5. 6. die Abfonderung der fogenannten Altgläubigen 
von der Staatskirche wegen der Korreftur der Gefang- und 
Gebetbücher, die durch) das Abfchreiben immer fehlerhafter gewor⸗ 
den waren und deshalb 1654 auf Anordnung des Patriarchen 
Nikon in ihrem richtigen Tert neuhergeftellt wurden. Mit diefem 
Raskol НЕ hier von Doſtojewski die erfie Abſonderung einer unte⸗ 
ren Bolfsfhiht gemeint. Mit der zweiten Abfonderung einer 
oberen Schicht feit Veter find die Weftler gemeint — das Weftler; 
tum der ruffifhen Herrenkafte als Folge der Europäifierung 
Rußlands durch Peter den Großen, @ из BL. K. В, 


1096 





Stepan Trophimowitfch und Schatoff. 


„Ste, meine Herren, Sie Verneiner Gottes und Chriftt, 
haben nicht einmal daran gedacht, wie ohne Chriftus 
alles in der Welt fofort ſchmutzig und ſuͤndhaft wird. Sie 
verurteilen Shriftus und lachen über Gott, aber was 
für Beifpiele geben Sie denn der Menfchheit? Wie 
Fleinlich find Site, wie verderbt, wie neitifch, wie ruhm— 
fühtig! Indem Sie Chriftus befeitigen —, entfernen 
Sie dag unerreichbare Fdeal der Schönheit und Güte 
aus der Menfchheit. Und was Schlagen Sie zum Erfaß 
Bleichwertiges vor?” 

Stepan Trophimowitſch: „Sch glaube, hierüber 
ließe jich noch ein wenig ftreiten — aber wer Hindert 
einen denn, wenn man an Chriftus nicht als an Gott 
glauben will, ihn als deal der Volllommenheit und 
fittlichen Schönheit zu verehren ?“ 

Schatoff: „Und zu gleicher Zeit doch nicht an ‚daß, 
Wort ward Fleifih‘ zu glauben, 5. Б. daß das Ideal 
leibhaftig gegenwärtig war, folglich auf Erden nicht 
unmöglich und der ganzen Menschheit wirklich ers 
reichbar Ш? Sa, kann denn die Menfchheit ohne diefen 
Troſt auskommen? Aber Chriftus tft ja doch nur des: 
wegen gekommen, damit die Menfchheit es erfahre, daß 
‚auch ihre irdifche Natur, der menfchliche Geift wirklich 
in einem fo himmlischen Glanze tatfächlich und leib— 
haftig erfcheinen kann, und nicht nur geiftig, als Jdeal — 
daß das fowohl möglich wie natürlich ЧЕ. Die Anhänger 
Chriſti, die diefes durchleuchtete Fleifch vergätterten, 
bewiefen unter den graufamften Martern, welch ein 
Glück es ift, diefe Leibhaftigkeit in fich zu tragen, der 


70 Doitviewstiı. Die Dämonen. 35.1. 1097 


Vollkommenheit diefer Зе nachzuahmen und an 
ihre Leibhaftigkeit zu glauben. Die anderen aber, die 
da fahen, welch ein Gluͤck diefe Leibhaftigkeit gab, 
kaum daß der Menfch anfing, ihrer teilhaftig zu werden 
und fich in Wirklichkeit ihrer Schönheit zu nähern, — 
wunderten fich, fraunten, und wollten fchließlich ſelbſt 
мае Seligfeit genießen: fie wurden Chriften und freuten 
fich Schon im voraus der Qualen. Das Ganze liegt hier 
eben darin, daß ‚das Wort‘ wirklich ‚Fleifch ward‘, 
Darin Tiegt der ganze Glaube und der ganze Troft der 
Menfchheit, der Zroft, auf den fie niemals verzichten 
wird. Das aber ИЕ es ja gerade, was Sie und Ihres— 
gleichen der Menfchheit nehmen wollen. Übrigens, 
Sie würden es ihr nehmen Fönnen, wenn Sie ihr etwas 
Befferes als Chriftus zeigen Fönnten, Фо zeigen Sie es | 
оф № 
Stepan Trephbinomitfch fagt: „Smmerhin muß | 
man fich doch über das Übermäßige Quantum Dumme | 
heit wundern, das in Rußland ſteckt.“ | 
Der Fürft: „Aber das find doch alles nur unreife 
Knaben, die weder von der Gefellichaft noch vom Volk 
etwas verftehen.” 
Stepan Trophimomitfch: „Die aber bei uns doch 
fo viel Stüßfraft gefunden haben und finden, und zu 
denen alles hinftrömt, — wenn auch die Hinftrömenden | 
meinetwegen nur Knaben und Mädchen find, fo- find 
е8 doch nicht zehnjährige, fondern immerhin zwanzig: 
und über zweanzigjährige, In dieſem Alter aber Ш 
es nicht mehr ftatthaft, fo dumm zu fein.” 
Schatoff: „Ich bitte Ste! Sind denn bei ung nicht 


1098 


alle fo dumm, felbft die Sechziafährigen der gebildeten 
Gefellfchaft nicht ausgenommen? Зтеки doch ganze 
Zeitungen und Zeitfchrifien, ernite Menfchen, fogar 
Profefforen und Direktoren und alle möglichen Autori— 
täten für die Jdee der Aufteilung Rußlands und die 
Lostrennung unferer Grenzprovinzen ein! Iſt das denn 
nicht ebenfo dumm? 

Waren Sie es nicht felöft, Stepan Trophimowitſch, 
der uns noch vor kurzem erzählte, wie die Herren Lite: 
raten oder die literarifchen Herren mit Belinski darüber 
diskutiert haben, име diefes vder jenes in der Zukunfts— 
geſellſchaft fein werde? Alles ИЕ doch aus Ihrer Gene: 
ration gekommen, ftammt aus Ihrer Zeit, Maren Sie 
denn Elüger? Sit denn die Idee, daß alle Völker des 
Weſtens national fein und wir fie deswegen achten 
und die Sonderheit der ganzen nationalen Entwicklung 
eines jeden Volkes andächtig anerkennen müffen, die 
Ruſſen aber unter feinen Umftänden fie felbft fein Dürfen, 
und ihnen nicht einmal in Gedenken etwas Befonderes, 
Eigenes zugeftanden werden darf*), — Ш diefe Idee 
etwa nicht duͤmmer, als was diefe Sinaben in ihren 
Proklamationen von den Genofienfchaften reden? Sa, 








_*) Doftojewgfi hat urfprünglich Tſchaadajeff zur Hauptfigur eineg 
 Komans machen wollen, den bedeutenden „Weftler”, der in einem 
Schreiben von Rußland gefagt hatte, e8 Бабе feine Фе, 
feine Tradition, „denn e8 hatte und haf Feine leitende 9566, 
die Völker aber leben und gedeihen nur, wenn fie eine [eigene] 
Idee Haben und verwirklichen.“ Nah der Veröffentlichung 
feines „Schreibens“ fuchte Tſchaadajeff fih in einer „Apologie“ 
zu rechffertigen, in der er feine FKritif Rußlands zum Teil аб: 
ſchwächt, 500 auch fo МЕБ fie für Doſtojewski zeitlebens ein 
Dorn im Fleiſch. ВНОК г В 


70° 1099 









genau genommen ftügen fich diefe Knaben gerade auf 
die Anfchauungen Ihrer Generation, denn Ihre Gene: 
ration hat durch die Unkenntnis Rußlands und die Ver: 
leugnung feiner Selbftändigkeit Die ganze Sache ein: 
gebrodt. Way aber diefe Knaben anbetrifft, fo ftellen 
fie fich ja durch ihr Programm felbft in ein Kriegsver: 
haͤltnis zu jeder Gefellfchaft, alfo dürfen fie fih auch 
nicht wundern oder fich beflagen, wenn die Gefellfchaft 
fie vernichtet. Sie fagen, daß fie vor moralifchen Ver 
danterien nicht zurücichreden, fondern morden und 
brennen werden, folglich kann man auch mit ihnen fo 
verfahren. Wenn fie die Regierung gefchlachtet haben 
werden, wollen fie nur ein paar Tage Zeit laffen, damit 
alle ihr Hab und Gut ihnen übergeben, 16 von allem 
Beſitz auf ewig losfagen und fich in die Genoffenfchaften 
als Schufter einfchreiben koͤnnen. Folglich koͤnnen alle, 
die das nicht wollen, auch mit ihnen ebenfo zeremonielos | 
verfahren.” | 


Schatoff. 


Schatoff fpricht während der Sitzung: 

„Ich {фате mich, ein folches Programm mit meinem _ 
Namen zu unterfchreiben. (In wenigen Tagen find _ 
dann alle Schufter.) Zehnjährige Knaben find kluͤger als 
Sie. Nach dem Ton des Programms zu urteilen, find | 
Sie, meine Herren, vollkommen überzeugt, daß alle, ' 
bingeriffen von Shrer Kühnheit, Weib, Kind, Belig und 
Kirchen verlaffen werden, um mit Ihnen zu fehlen, zu 
morden und zu brennen. Aus Ihren Worten erfieht man, { 
wie feft Sie glauben, daß das Volk den Zaren баЙе und _ 
nur darauf warte, endlich alles von fich werfen und ſich 


1100 


Ihnen anfchließen зи Fönnen. Sie find ja fogar dermaßen 
davon überzeugt, daß Sie mit ruhigem Gemiffen bereits 
angefangen haben, Sowohl zu rauben, wie zu brennen 
und zu morden. Sie find fo unreife Knaben, daß Sie 
nicht einmal die gewöhnliche Eigentiebe der Menfchen 
in Betracht ziehen — ganz abgefehen von alldem 
anderen —, wenn Sie glauben, die Menfchen werden 
zu Ihnen gelaufen fommen, зи Ihnen, den grünen 
Jungen! Sie find dermaßen flach und dumm, Бай Sie 
überzeugt find, Sie hätten eine große Entdeckung ges 
macht, ohne auch nur ein einziges Mel auf den Gedanken 
zu fommen, daß die Menfchheit das alles wohl {оп 
längft getan hätte, wenn das die Wahrheit wäre, und 
nicht taufend Jahre lang gelitten hätte, einzig um auf 
Sie zu warten, Sie fchämen fich nicht, fo zu Lügen, wie 
Sie es in Ihren Proflamationen tun, wenn Sie die 
Tatfachen entftellen und dazu uͤbernaiv bemerken, dies 
ſei eben jefuitifch und die Jefuiten feien gemwandte 
Leute, und daß Sie genau fo wie die Jefuiten handeln 
werden; und dabei laffen Sie es fich nicht einmal 
träumen, daß jede Lüge und jede Entftellung der Зав 
fachen in ungewöhnlich Eurzer Zeit an den Tag kommt, 
und daß dann die Menfchen fehen werden, daß Ste abe 
fichtliche Lügner find, und daß Ihnen dann niemand 
folgen wird. Sie find, im Gegenteil, wie dumme 
Sungen feſt überzeugt, daß die Lügen weiter nichts 
auf fich hätten, daß fie vielmehr allen gefallen 
und die Menfchen fich über Ihre gefchiekten Lügen nur 
freuen und alles, was fie bis dahin heilig gehalten, 
was fie geliebt, im Stich [аЙеп werden — Gott, Weib 
und Kinder, Ordnung, Anſtand —, um zu Ihnen 


1101 





überzulaufen, einzig тей Ste morden und brennen — 
ohne dabei felbft zu willen, warum und wozu eigentlich, | 
Sie ſchaͤmen fich nicht, zu fchreiben, dad Sie dem 
Achtzigmillionenvolfe eine Frift von nur ein paar 
Tagen geben werden, innerhalb welcher Zeit es fein 
Hab und Gut Ihnen auszuliefern, die Kinder zu verlafjen, 
die Kirchen zu befchimpfen und fich in die Genofien= 
fchaften als Schujter einzufchreiben habe, Ste find über: 
zeugt, daß alle die Kirchen Hafen und die Ehe als Laſt 
empfinden und fich nur nach den Aluminiumpaläften 
fehnen, in denen man nach Herzensluft tanzen und die 
gemeinfamen Frauen und Männer in befondere Zimmer 
führen kann*). Sie verfallen gar nicht darauf, дай 








) Yufpielung auf Tſchernyſchewskis beruhnten Roman „Was 
tun 2” (1863), in dem von der Heldin vier im Traume gefchaute 
Zufunftsvifionen erzählt werden (Aluminiumpaläſte des Volkes, 
Arbeit bei Gefarg, Wanderung nad) dem Süden, freie Liebe uſw.) 
Den ungeheuren Erfolg jedoch errang der phantaftifche Roman — 
nach den Fünftlerifch hochwertigen, doc) als Spiegelbilder der 
Gegenwart auf die Jugend „Erofflog” wirkenden Werfen Gogols, 
Herzens, Turgenjeffs — durch die mit größtem Temperament 
und Optimismus gezeigte Nettungsmöglichfeit aus diefem 
„korrumpierten“ Leben: „ing Volk“ zu gehen, feldft wieder Volk 
zu werden . Die Musführung diefer Зее durch die Helden des — 
Romans wirkte dazu wie eine Dffenbarung und bewog uns 
zählige Menſchen der gebildeten Schicht, ihr Leben hinfort buch: | 
ſtäblich unter dem Volt wie unter Gleichftehenden зи verbringen 

oder fih ihm gang zu widmen, Die Möglichkeit zu gläubiger 
Hingabe war für fie nafürlich wichtiger als die Frage nad) dem 
fünftlerifhen Wert 568 Romans oder mandem felbfigeüdten 

Dilettantismus. Zudem lag in dieſer Idee etwas fehr Ruffifches, 

dag einem noch unbewußten Triebe in den Menfchen jener Zeit 

entgegenfam. Auch Tolftoi und viele andere find ja fpäter 

еп Weg gegangen Überdies waren die im Roman gefhil: 





-— 
= 
> 
DD 

4 





u майн na u En 








eine fo Findifche Auffaffung der Sache, als handle 


e8 fich hierbei um ein Spielzeug, nur verrät, бай Sie 
noch Bengel find, denen man fehmerzhaft die Nute 
geben müßte; und die Sefellichaft achten Sie fo gering, 
daß Sie fich nicht einmal bemüht haben, die Prokla— 
mation forgfältiger zu redigieren, Wenn dag Publikum 
leſen wird, wie Eindifch Rußland Ihrer Meinung nach 


verfahren Fönnte, wie e8 in ein paar Tagen alles hin— 


werfen und fich verwandeln ſoll, wird eg ſich nur über Shre 
Dummheit wundern; doch wenn es fehen wird, daß Sie 
außerdem noch Böfewichter find, wird es Sie als 16452 
liche Irrſinnige befeitigen, und zwar mit aller Strenge 
befeitigen, Doch leider find ja auch Alle nicht Elüger 
als Sie und das kommt alles nur daher, tft nur deshalb 


fo, weil fie fih vom Boden Yosgelöft und nicht ein 


eigenes, fondern ein fremdes Leben geführt und be: 
ftändig unter Vormundfchaft gelebt Haben.” 

„Man bat in diefem unter Bormundfchaft verlebten 
Leben ger zu Weniges lieb gewonnen, um für diefes 
Leben einzuſtehen. Es hat fich viel Unzucht und Leichte 


— — — — 





derten Menſchen in ihrer ſich als Selbſtverſtändlichkeit gebenden 
Menſchlichkeit trotz aller Utopien ſo entwaffnend, wie es etwa 
bier in den „DRämonen“ nicht die lauten Revolutionäre, ſondern 
die faft ſtummen, 509 im Innerſten neuen Menfhen find, 
(Auch die vier ſtarken, folgen Srauengeftalten in den „Damouen“ 
haben in der ruffiichen Literatur viele Vorgängerinnen). Daher 
Doſtojewskis Geftändnig im 9. Kapitel: „Oh, wie quälte ihn 
diefes Buch!” uſw und feine wiederholten leidenfchaftlichen 
Angriffe gegen die übernaiven Zukunftsträume in dieſem Ro 
man, die bei der Jugend die radıkalften politifchen Forderungen 
zur Folge hatten, jeden lebenserfahrenen Menſchen aber ber 
ängftigen mußten, E.K.R. 


1105 











finn aufgehäuft. Wenn man fich um das Leben gemüht, 


wenn man es fich durch Arbeit erworben hätte, felb: 


ftändig, mit Leid und Kampf, mit Mühen und Plagen 


und allen Freuden des Erfolges nach dem Kampf, doch | 


vor allen Dingen durch Arbeit — die eigene Mühe ift 
ja die Hauptfache —, nicht aber nur unter adminiftra= 
tiver Vormundschaft, jo hätte man Tatfachen erworben, 
viele Erlebniffe aufgefpeichert, eg würden fich lebendige 
Erinnerungen an den Kampf und die Arbeit erhalten, 


und diefes Crlebte und Durchlebte würde allen teuer | 


fein, Teuer wäre dann auch das Andenken an die 
verftorbenen Tatmenſchen und Hoch würde man die 
lebenden Zatmenfchen fchägen, die dann einen ganz 
anderen Einfluß auf die Menfchen hätten, und nicht fo 


feichtfinnig wie jeßt würde die Gefellfchaft dann auf . 


jeden Schwindel dummer und verderbter, feelenlofer 
Bengel antworten. Wahrlich, fie Ш uns eine gute 
Lehre! — diefe deutfche Vormundfchaft! O Gott, 
was für eine Lehre das ift! Es gibt fein einziges Volk, 
keine einzige Nation in Europa, die fich nicht aus eigener 
Kraft hat retten Finnen, — felbft in der flammenöften 
Revolution, felbft auf den Barrikaden ift das erjte, was 
geichieht, daß eine neue Ordung feſtgeſetzt wird und die 
Diche, Plünderer und Brandftifter erfcheffen werden. 


Sie aber, Sie wollen bei ung ein Achtzigmillionenvolf — 


einzig durch Brandftiftung, Zotfchlag und Zarenmord 
anloden und für fih Sympathie erwecken! So glauben 
Sie, daß diefe Geſellſchaft überhaupt nichts aus ihrem 
durchlebten Leben achte, und daß dieſes Leben unter 
adininiftrativer Vormundſchaft fo fchön geweſen ſei! 
Зи was find Ste entartet? Und Sie, Sie fehen noch 


1104 





immer nicht, daß das Volk fich ſchon vollftändig, aber voll: 
ftändig von Ihnen losgefagt hat! Nun wohl! — verfuchen 
Sie e8 doch noch einmal, das Volk unter Vormundfchaft 
zu nehmen, verfuchen Sie es doch! Wahrlich, Sie haben 
doch ſchon gar zu Holfleinifch auf das Volk gefehen № 

Und denn fofort der Verfaffer der Chronik von fich 
_ aus: So ſprach Sch. wie außer fich, und vielleicht 
war in feinen Morten auch wirklich einiges doch ganz 
Wahre, In der Tat, Vormundfchaft und Entfremdung 
vom Зое Haben ja gerade das bewirkt, daß die Ge: 
feilfchaft erftens nichts mehr hat, was ihr teuer ift und 
wofür fie einftehen würde, und zweitens, da fie ficht, 
daß hingegen dem Volk zweifellos das Eigene teuer 
iſt und es dafür einfteht und dabei ein fo volles Leben 
lebt — fo hat das der Gefellfchaft den Vorwand ge: 
geben, das Volk nun endgültig zu haffen, alfo gerade 
feinesvollen Lebens wegen. ch verftehe jetzt, was Schatoff 
ſagen wollte, als er von diefem Haß der Belinsfi und 
unferer fämtlichen Weftler gegen das Volk fprach, 
_ und wenn fie felbft diefen Haß leugnen wollen, fo ift 
es Far, daß fie felbft ihn nicht erkennen. За, fo war 
e8 Doch: fie glaubten, daß fie das Volk „haffend liebten“, 
und jo fagten fie eg auch von fich. Aber Пе ſchaͤmten 
fich nicht einmal ihres 68 vor dem Зое, wenn fie 
praftifch mit ihm in Berührung kamen. (In der Theorie 
allerdings liebten fie es.) 

Stepan Trophimowitſch (©r.) fagt: „За, aber 
das Volk wurde doch ebenfo bevormundet, wie die 
anderen, und Sie geben doch felbft zu, daß es ruſſiſches 
Зо geblieben und nicht unter der Vormundfchaft 
entartet Ц und nicht Rußland haft.“ 


1105 


Schatoff: „Das Vol wurde mit der deutfchen 
Reform verfchont und von Anfang an als Hoffnungslos 
aufgegeben. Man erlaubte бит auch fofort wieder, den 
Bart zu tragen. Damals hielt man das Volk für etwas 
Unmichtiges, man fah auf dasfeibe wie auf Rohmaterial 
oder Öteuerzahler herab. Zwar bevormundete man es 
ftreng, das ıft wahr, aber fein inneres, eigenes Leben 
ließ man ihm unangerührt, und wenn es auch viel 
zu erdulden und viel zu leiden hatte, fo endete es doch 
damit, daß es auch Jein Leiden lieb gewann. Dagegen 
wurden alle Rufen der cberen Gefellfchaftsichicht zu 
Deutichen, und diefe vom Erdboden Losgeriffenen hatten 
dann bald nur für Deutfchland noch Liebe übrig, für 
ihr Vaterland aber und für ihr eigenes Volk nur 


Verachtung und Hab. So mar es ja überall, Фо | 


begannen auch in Litauen die Stammruffen ihre eigene 
Хайе zu mißachten.” 


Sragen und Antworten. 


„Sie bieten das Gluͤck ап. Uber felbjt wenn wir an: 
nehmen, daß Ste im Endziel des Strebens volllommen ° 
recht Haben (was natürlich abfurd ift, doch worüber ich 
vorläufig nicht ftreiten will), fo erfieht man Робб ſchon 
aus Ihrer Proflamation*), bis zu welch einem Grade 
Ihre Köpfe urreif, flach und leishtfinnig find und fomit 
— ие wenig fie zum Erreichen Ihres eigenen Zteles 
taugen. Sollten Sie denn wirklich nicht einsehen, | 





») Näheres über diefe und andere Proflamationen, die zu Anfang 
der fechsiger Fahre verbreitet wurden, fiehe Band ХТ der Ausgabe 
„Auiobiographifhe Schriften“, Seite 169—173 ER, B; 


1106 





| ай eine Umwandlung, wie Ме, die Sie vorfchlagen, 


eine Umgeburt des einzelnen Menfchen wie des ganzen 
Volkes, fich doch nicht fo Teicht und fchnell vollziehen 
ann, wie Sie glauben!? Denn Sie fagen doch, daf 
alles mit dem Beil und durch Raub gemacht werden 
werde, auf daß fich aber der Menfch von Gott, von der 
Liebe zu Ehriftus, von der Liebe zu feinen Kindern und 


_ вон feinen Pflichten ihnen gegenüber losfage, von feiner 


Perfönlichkeit und ihrer Sicherftellung, — dazu find 
Sahrhunderte noch zu wenig. Зи Jahrtaufenden hat 
fich 3. B. die geſellſchaftliche, juridifche Sicherstellung im 
Staate herausgearbeitet, und Doch — bis zu welch einem 
Grade ift fie noch iberall unzureichend! So Yangfam 
arbeitet fich in der Praxis felbft ein fo alltägliches Be: 
dürfnis eines jeden Menfchen heraus! Darum aber, 
wenn auch dag, was bereits Ш, way fich bereits heraus: 
gearbeitet hat, meinetwegen auch unzureichend tft, {5 
wird der Menfch doch nicht fo leicht darauf verzichten 
und Ihnen nachlaufen: denn wenn е8 auch nicht gut, 
wenn es auch nur wenig ift, jo ЧЕ damit Doch immerhin 
fchon etwas da, bei Ihnen aber ИЕ nichts, denn Sie fagen 


ja felbft ganz offen, daß alles auf Grund liebevoller Ver: 


einbarung gefchehen und niemandem und für nichts 


eine Garantie geboten werden foll, wenn's nicht ges 
rade die Genoffenfchaft betrifft. Um Fragen einfach 
abzufchneiden, behaupten Sie kurzweg, daß es in der 
neuen Geſellſchaft Verletzungen nicht mehr geben werde 
und folglich feien Garantien gar nicht nötig. Uber fo 
etwas апп doch nur ein Verrückter behaupten, der noch 
nichts erprobt hat, und fo ohne alle Unterfagen, wie Sie 
da Ihre Verfiherungen abgeben. 


1167 


Wenn aber der Menfch nicht einmal darauf leicht ver: 
sichten wird, wie wird er ИФ dann noch von feinen Kin: 
dern, von feiner Liebe zu ihnen, von Gott und fchließlich 
von feiner ganzen Freiheit losfagen? Sie antworten 
auf Feine einzige der Fragen, die die ganze Menfchheit | 
erregen, Sie fehieben alles beifeite. Doch wenn Sie die | 
Fragen nicht beantworten, wie wollen Sie dann die 
Aufgaben löfen? Und deshalb — mie fönnten denn 
alle fich Ihnen anfchließen und fich fofort zu der neuen 
Geſellſchaft umfchaffen [umgebären]? Ihnen wird nur 
ein Häufchen Teichtfinniger Menfchen folgen oder Nichts— 
würdige, die Sie mit der Ausficht auf Pıünderung 
anloden. Wenn aber fo etwas nur in Sehrhunderten — 
entftehen апп, wie koͤnnen Sie dann verfprechen, dasfelbe 
in wenigen Tagen zu fchaffen (wie Sie fich ja buchftäblich 
ausdrücken)? Alſo find Sie nun nach alledem nicht leichte — 
finnig, und welch eine Verantwortung übernehmen Sie | 
für die Ströme von Menjchenblut, die Sie vergießen. | 
wollen? Aufbauen ЦЕ ſchwer; darum reißen Sie auch 
nur nieder, weil das am leichteiten ift.” 

„Uberhaupt keine Verantwortung, wir bringen аи 
fach unfere Köpfe. Die zukünftige Фес wird vom 
Зое gefchaffen werden nach der allgemeinen Зет: 
ftörung, je ſchneller deito beffer.” | 

„Aber erftens, das Volk wird nicht anfangen drein- 
zufchlagen, wenn e8 nicht weiß, wofür; hauen, brennen | 
und plündern wird nur ein Haufe geheimer Böfewichter, 
Denn das Volk kann doch nicht Ihr Programm ans 
nehmen: Vernichtung der Verfönlichkeit, des Eigentums, 
Gottes und der Familie, Ich fage nochmals: felbit 
wenn Ihr Progremm gerecht wäre, koͤnnte es doch nur 


1108 


u A 





im Laufe von Jahrhunderten angenommen werden, 
in Sabrhunderten friedlicher, praftifcher Studien und 
Entwicklung. Und felbft wenn das Volk fich vom Auf— 
ruhr und Plündern hinreißen latfen follte, fo wird es 
fich doch fofort wieder beruhigen und dann etwas anderes 
aufbauen, jedenfalls aber auf feine Art, und — nun ja — 
vielleicht fogar etwas noch viel Schlechteres.” 

„Meinetwegen; aber auch das Ш fchon gut, ай 
wenigftens eine Welt untergeht. Dann wird eben eine 
andere Welt beginnen, meinetwegen eine mit Fehlern, 
eine vom Volk errichtete, aber ficher wird fie ſchon ein 
wenig befter fein. Зепп man dann deren Fehler erkannt 
hat, werden wir oder unfere Nachfolger auch diefe 
Melt wieder ftürzen, und fo weiter, bis ſchließlich unfer 
ganzes Programm durchgefegt И Doch auch beim 
erften Experiment werden wir unferen Zweck fchon damit 
erreichen: daß erft einmal das Prinzip des Beiles und 
der Revolution angenommen wird,” 

„uber auf Grund weſſen find Sie denn fo überzeugt, 
daß Ihr Programm unfehlber ЧЁ? Wie nun, wenn das 
alles nur Unfinn ift und die abfurdefte Unkenninig der 
menfchlichen Natur im allgemeinen und des ruffifchen 
Volkes im befonderen? Sie Eünnen das Gegenteil doch 
mit nichts bemweifen, höchftens den Einwand vorbringen, 
daß es Ihnen unfehlbar erfcheint. Aber es Ш doch 
möglich, daß Sie alle fehr dumm find und es Ihnen 
nur deshalb fo erfcheint; dann aber Fönnen Sie doch nicht 
verlangen, daß alle übrigen Menfchen ausschließlich zu 
diefem Zweck gleichfalls zu Dummköpfen werden, nur 
um Ihnen folgen zu können. Uber fiehe da, Sie meigern 
fich ja, darüber auch nur zu reden. Sie fagen: wer 


1109 


nicht für ung ift, der ИР wider ung, und weihen alle, Ме 
entgegengefeßter Meinung und Überzeugung find, ein: 
fach dem Tode, wobei Ste ganz zu vergeffen fcheinen, 
рав Streit unter allen Unftänden Entwicklung der Sache 
ИТ. Und mit welch einer Wut erfennen Sie diejenigen 
nicht einmal an, die gegen Sie fogar handeln werden, 
da Пе mit Ihren Überzeugungen nicht übereinftimmen.“ 

„les das iſt Unfinn und Finefjen № 

„Wenn Sie aber nicht mit aller Sicherheit wiffen, | 
daß Ihr Programm richtig Ц, wie Eönnen Sie dann 
das Verbrechen der Zerftöorung auf Ihr Gemiffen 
nehmen ?“ | 

„Wir glauben aber, daß unfer Programm richtig 
И, und Daß ein jeder, der es annimmt, glüdlich wird. 
Deshalb entfcheiden wir uns auch fürs Blut, denn 
nur mit Blut wird Glück erfauft.” 

„Wenn es aber nicht damit erfauft wird, was dann?! 
Geglaubt wird nur an Gott, im Leben aber find Tat: 
ſachen erforderlich,“ 

„Bir find uͤberzeugt, daß man es damit Faufen kann, 
und das genügt ung.“ 

„Ob Ihr Unfeligen! Mich freut nur eines: daß es 
Ihnen um feinen Preis gelingen wird, denn Sie kennen 
das Volk nicht. Geſetzt, Ihnen gelingen einige Münde- 
rungen, Branöftiftungen, Morde und BVerführungen, 
nehmen wir felbft an, daß Sie es bis zu einem Aufftande 
bringen, das genze Volk aber wird Sie рай: doch fofort 
auffnüpfen; nicht aber Ihr Programm annehmen, denn 
ее Programm ИЕ widernatürlich und außerdem auf 
der größten Unkenntnis des ruffifchen Volkes aufgebaut. 
Niemals wird der Mensch Ihnen feinen Glauben, feine 


1110 








Familie ausliefern und in diefes Zuchthaus uͤberſiedeln, 
das Sie ihm in Ihrem Programm anbieten, und niemals 
wird er feine perfönliche Freiheit für eine folche Knecht— 
Schaft verkaufen . . . Das Зо aber wird Ihnen ше 
mals feinen Zar-Befreier ausliefern.“ 

Sie wollen morden und plündern, weil das am leich- 
teten ЧЕ, Diefe Lehre tauchte in Franfreich gerade da— 
mals auf, als die Kommuniften überall durchfielen und 
fich als nichtswuͤrdige Bengel erwieſen. 


Stepan Trophimowitſch und 
Piotr Stepanowitſch Werchowenski. 


„Ich mache die Sache, weil ſie gemacht werden muß. 
Damit (mit der Zerſtoͤrung) muß naturgemaͤß jede Sache 
beginnen; das weiß ich, und darum beginne ich eben. 
Das Ende geht mich nichts an, ich weiß nur, daß man 
damit beginnen muß, alles übrige ЦЕ nur zeitraubendes 
Geſchwaͤtz. Alle diefe Reformen und Korrekturen und 
Verbeſſerungen — find Unfinn. Je mehr man reformiert 
und verbeffert, um fo fehlimmer iſt's, denn auf Diele 
Meife erhält man noch einige Zeit Eünftlich das Leben 
eines Dinges, das doch unbeüingt fterben und einftürzen 
muß. Зе fchneller defto beffer, je früher Damit begonnen 
wird, un fo befjer. (Zuerjt natürlich Gott, Verwandt: 
Schaft, Familie ufw.) Man muß alles zerfiören, um das 
neue Gebäude aufbauen zu Fönnen, das alte Gebäude 
aber mit Stößen noch zu ſtuͤtzen, tft nichts weiter als 
eine Pfuſcherei.“ 

„tun, $. B., du weißt, dad du fruͤher oder Tpäter 


1111 


doch einmal fterben mußt, warum erfchießt du dich 
denn nicht jeßt gleich — je Schneller defto beſſer?“ 
„Einzig weil ich noch nicht will und weil die Sache 
gemacht werden muß.” 
„Ich bin Fein Genie, und ich will auch gar nicht eines 
fein, aber ich weiß, daß man es jeßt machen muß, und 
fo mache ich es denn. Auch ihr wußtet das, du und о 
deine Generation, doch ihr weintet bloß. Wir aber | 
weinen nicht, fondern tun’s einfach.” 


Stepan Trophimomitfch und Pjotr 
Merchomensfi, 


„Der verftorbene Belinsfi befchimpfte Chriſtus, hätte 
dabei aber nicht einmal einem Huhn etwas zuleide tun 
können.” 

„ob, in der Wirflichfeit und im DVerftehen der wirk- 
lichen Dinge war Belinski fehr ſchwach. Qurgenjeff 


hatte ganz recht, als er von ihm faate, daß er, Belinski, | 


fogar wifjenfchaftlich fehr wenig gewußt бабе, Uber er 
begriff doch beſſer als fie alle. Du lachft, du fcheinft 
fagen zu wollen: viel haben fie wahrlich alfefamt be: _ 
griffen! Mein Freund, ich erhebe feinen Anſpruch 
auf das PBegreifen der Einzelheiten des wirklichen о 
Lebens. Doch ich Fam ja auf Belinski zu fprechen, 


Sc erinnere mich des Schriftftellers D., der Damals | 


faft noch ein Süngling war*). Belinsfi wollte ihn zum — 


*) >. war Doſtojewski felbft, der in feinem vierundzwanzigiten 
Lebensjahr (1845) Belinsfi fennen lernte. Dasfelbe Erlebnig 


1112 





Atheismus befegren und nach den Entgegnungen D's, 
der Chriftus verteidigte, begann er Chriftug zu fchmähen. 
‚Und immer macht er, wenn ich fchimpfe, eine fo 6е: 
trübte, niedergefchlagene Phyfiognomie,‘ fagte Belinski 
plöglich, indem er mit dem gutmütigften, unfchuldigiten 
Lachen auf D. wies. Einmal traf diefer D. zufällig 
Belinsfi am Bahnhof der erfi im Bau befindlichen 
erſten Eifenbahnftrede. ‚Sch kann nicht Paltblütig war: 
ten‘, Гаде Belinski zu Шт, ‚ich habe mir den Weg 
hierher zum Spaziergang erwählt und jeden Tag fehe 
ich mir den Bahnbau an.‘ Dh, wenn er, der Arme, 
gewußt hätte, mit welchen Augen damals viele auf diefe 
Cifenbahn fahen, befonders die Erbauer der Bahn! 
Belinski fagte: ‚Ich bin nicht fo wie die anderen, кб bin 
fchon, wie Sie fehen, gerade davon krank. Wenn ich 
verfcharrt jein werde, — wird man erfahren, wen man 
hegraben hat,‘ *) 3, Schloß fich ihm an und begann über 
die Eiſenbahn zu {ртефеп, dann über Ме zufünftigen 
Eiſenbahnen überhaupt, über die Beheizung der Wagen 
und fchließlich über die Behetzungsfrage in Moskau, 
wo das Brennholz immer teurer wurde und in Зи: 
hat Doſtojewski fpäter noch ausführlicher wiedergegeben: in 
35. Al, „Autobisgraphifhe Schriften“, Seite 313. Е. К. В. 
=) Belinski war ſchwindſüchtig und ftarb [фоп 1848, fiebenund; 
dreißig Sahre alt. (Much feine fpäteren, von der Jugend gleichz 
1418 angeſchwärmten Nachfolger, die 418 Kritiker den Kampf 
gegen die „Kunft um der Kunft willen“ immer radifaler fort; 
festen, find jung geftorben: Dobroljuboff 1861 mit vierundzwanzig 
Jahren, Piffareff 1868 mit fiebenundygwanzig Забей. Dobrol, 
juͤloffs Yet, dem berühmten Turgenjeff Wahrheiten ungeniert 
ing Geſicht м Sagen, ift in der Unverfrorenheit Piotr Wercho— 
wenskis gegenüber Karmafinoff wiedergegeben.) E.K.R. 
71 Doftojewsti, Die Dämmen. 35. II. 1113 


funfi, wenn Moskau der Knotenpunkt aller Eifenbahnen 
fein wird, noch fehr viel teurer werden müffe. Wahr: 
fcheinlich werde man das Holz dann mit der Bahn aus 
den waldreichen Gegenden herbeifchaffen. Da begann 
Belinsfi zu lachen über diefe, wie ihm fchien, geringe 
Kenntnis der Wirklichkeit: ‚Brennholz will er mit der 
Eifenbahn befördern!‘ Das erfchten ihm ungeheuerlich. 
Stellen Ste fich vor, er glaubte wirklich, daß man mit der 
Cifenbahn nur Paffagiere, von Waren aber höchftens 
die feinften und wertvolliten articles de Paris Ве: 
fördern werde. Das war feine Kenntnis der Wirklich- 
feit ... Uber er begriff doch mehr als alle.” 

„Dann haben alle wohl viel begriffen № 

„Mein Freund, ich Бабе mich vom tätigen Leben 
zuruͤckgezogen . . . Sebt unter den Tätigen fein, das 
will und kann ich nicht ...“ 

„За, zu was Eönnteft du jeßt auch noch taugen!” 


Charafteriftif Pjotr Werchowenskis. 


„Eigentlich geht mich ja weder das Volk noch die 
Kenntnis desſelben etwas an. Ich weiß nur, daß man 
das Volk jetzt zu einem Aufſtand bringen kann, und das 
iſt alles, worauf es ankommt.“ 

Wenn er vom Volk ſpricht, bekundet er ploͤtzlich in 
einem Punkt eine himmelſchreiende und ganz ſonderbare 
Unwiſſenheit und Ahnungsloſigkeit (eine unbedingt ſo 
ſonderbare, daß die Ungeheuerlichkeit ſofort in die 
Augen fpringt.) Unter Gelächter wird er überführt, 
werden feine Behauptungen widerlegt; aber bemer=- | 
Fenswert ift, daß ihn das nicht im geringften verwirrt, 
weder wanft er, noch ЦЕ er pifiert, ja er fühlt ſich nicht 


1114 








einmal in feiner Eigenliebe verlegt. Unglaublich Falt: 
blütig und nachläffig nimmt er es hin: 

„Bielleicht ИЕ es auch fo,” fagt er, „aber das Ш 504 
ganz einerlei, nicht darauf Fommt es an, fondern darauf, 
daß man jebt einen YAufftand machen kann, und fo will 
ich ihn denn jeßt machen.“ 

_ Man antwortet ihm, daß auch ein Aufruhr ihm be: 
ftimmt nicht gelingen wird, wenn er nicht das Volt 
fennt, und daß die VProflamation eine Abjurdität ift. 

„Das ИЕ Unfinn,” antwortet er, „laßt mich nur eine 
Viertelftunde ohne Zenfur mit dem Зое fprechen, und 
es wird mir fofort folgen,” 

Man verfichert ihm, daß das Volk weit fefter fie, 
er aber fagt: „Na, das ЦЕ erft recht Unfinn !” und weift 
auf die ЗаНафеп hin — NRäuberhorden, Branöftif: 
tungen, von Sohn*) —. „Und ihr feht es ja felbft ein, 
daß das еше unentjchiedene Sache ИТ, da ihr jetzt ſelbſt 
verftummt und nichts mehr zu fagen wißt. (Auf die gol— 
dene Urfunde**) Kin ging Doch das Volk, warum foll 
es auf die Proflamatisnen hin nicht gehen?” 

Iſt mitunter ganz entfeßlich unwiffend. Den ernften 





*) Ein Herr, der in den fechziger Fahren des vorigen Jahrhunderts 
in einem Petersburger öffentlihen Haufe ermordet wurde Die 
gerichtlihe Unterfuchung des Falles ergab ein abfihredendes 
Bild von der großftädtifchen Verrohung. — 
**) Nach der Aufhebung der Leibeigenſchaft verbreitete ſich 
unter den Bauern das Gerücht, der Zar habe ihnen viel mehr 
Land zugedacht, und in einer Goldenen Urkunde (fie glaubten, 
Zarenmworte würden nur in Gold gefchrieben) fei dies zu lefen, 
abe: die Beamten und der Adel hätten die Urkunde unter; 
drückt. Gegen die auffäffigen, plündernden Bauernhaufen 
mußte wiederholt Militär vorgeſchickt werden, ЕКВ. 


71* 1115 


Einwendungen feines Vaters ($. B., daß nicht die ganze 
Natur des Menſchen bekannt ift und der Verftand nur 
1155 des ganzen Menfchen ausmacht) ſchenkt er überhaupt 
feine Beachtung und will und verfucht auch nicht einmal, 
ihm zu entgegnen, gibt ſogar offen zu, daß er das nicht 
weiß, aber: „nicht darauf kommt es an“, 

Sit in feiner Unwiffenheit vollfommen ruhig. 

Die Rede feines Vaters bei der Fürftin bat er nicht 
einmal gehört. 

Und dabei "Бад er den Vater doch vollfommen. 
(„Mit ihm kann man nicht ftreiten,” fagt der Vater.) 

Die Etreitfragen der Slawophilen und Weftler find 
ihm nicht einmal annähernd befannt, er hat nur gehört, 
daß es fo etwas wie Slawophile und Weftler gibt, 
aber: „alles das ift Unfinn“ und „nicht darum han⸗ 
delt es fich.” 

Schreibt ſogar unortHographifch. 


Charakteriſtik Stepan Trophimomitfche. 


Porträt eines reinen und idealen Weſtlers mit allen 
Schönheiten. 

Lebt vielleicht (in Moskau) in einer Gouvernements— 
hauptſtadt. 

Die charakteriſtiſchen Zuͤge. — Eine lebens: 
laͤngliche Zielloſigkeit und Unfeſtigkeit in den Anſichten 
und in den Gefuͤhlen, unter der er fruͤher gelitten hat, 
die aber jetzt zu ſeiner zweiten Natur geworden iſt. 
(Der Sohn macht ſich darüber luſtig.) 

Iſt zum drittenmal verheiratet. (Ein hoͤchſt charakte⸗ 
riſtiſcher Zug.) 

Wuͤnſcht ſehnſuͤchtig, verfolgt zu werden, und liebt es, 


1116 








von den früheren Verfolgungen, denen er ausgeſetzt 
gewefen, zu fpreihen. 

Ein Menfch der vierziger Jahre, Denkt gern an diefes 
Jahrzehnt und die Überlebenden zurück („ich und Timofei 
Granowski“). 

Er iſt — ein beruͤhmt geweſener Name (zwei oder drei 
Artikel, eine kritiſche Unterſuchung, Reiſe durch Spanien, 
handſchriftliche Aufzeichnungen uͤber den Krimkrieg, die 
unter ſeinen Bekannten von Hand zu Hand gingen 
und ihm die Verfolgung eingetragen haben). Stellt 
ſich unbewußt auf ein Piedeſtal, wie etwa eine Reliquie, 
die man anbeten kommt — liebt das. Spricht haͤufig 
ohne Fuͤrwoͤrter. 

Iſt wirklich ehrlich, rein und haͤlt ſich fuͤr die tiefſte 
Allwiſſenheit. Widerſtandsunfaͤhigkeit in Anſichtsſachen. 

Großer Poet, jedoch nicht ohne Phraſe. 

Hat das ruſſiſche Leben ganz uͤberſehen. 

„Tſchurrt fich“*) vor dem Nihilismus und begreift 
ihn nicht, 

55 Sahre alt. Literarifche Erinnerungen; Belinski, 
Granowski, Herzen, Turgenieff и, a. 

Liebt Champagner, 

Rolle eines Sfads**), 

*) „Zfchurr” heißt „Grenze“, год bei Spielen im Freien zugleih: 
„sch darf nicht angerührt werden ! ich ftehe außerhalb (der Grenze) 
des Spiels!” — Yus dem ſüddeutſchen „Bonde !” und dem nordz 
deutichen „ES brennt!” läßt fic) feine ähnlich draſtiſche Ableitung 
bilden, die dag Verhalten Stepan Trophimowitſchs fo erſchöpfend 
bezeichnete: die wenig männliche Art, ПФ perfönlih vor einer 
Gefahr zu fihern, indem man fih mit einem billigen Mittelchen 
dem Kampfe entzieht, fich für unantaftbar erflärt und „abgrenzt”. 
**) Зв Drushinins Roman „Polinfa Sſacks“ der Gatte, der 


1117 


— — — 


Liebt es, Klagebriefe zu fchreiben. Hat Мег und da 
Tränen vergoffen. 

„Laßt mir Gott und die Kunft. Trete auch Chriftus ab.” 

George Sand und feine Bögen blicken fortwährend 
Durch den Стий hervor. Ч 

Echter Dichter. Dies irae, Goldenes Zeitalter, 
Griechifche Götter! Ein infpiriertes Kapitel. Hat das 
Pefuniare gut geordnet. Bildchen, Memoirchen (ufw. 
in dieſer Art). 

Sein Sohn wird im Auslande erzogen. | 

Noch eine Фей: junge Frau Сей vier Monaten 
ſchwanger). | 

NB.Beweintallefeine Frauen und heiratetimmerwieder. 

„Kann mich nicht zufrieden geben, ſehne mich ewig.“ 

Iſt Низ und geiftreich.*) 
feiner Frau den Ehebruch verzeiht, felbft jedoch bald darauf an 
Zuberfulofe ftirbt. Е. К. В. 
*) Doſtojewski hat die Geftalt des Stepan Trophimowitſch zum 
Teil nah dem ſchönen, doch fehr unbedeutenden Dichter Kukolnik 
gezeichnet, deffen Romane Ende der dreißiger, Anfang der vier, 
ziger Заре noch Beifall gefunden hatten, ein Jahrzehnt ſpäter 
jedoch Гфоп vergeffen waren, — zum Teil nach dem befannten 
Moskauer Gefhichtsprofeffor $. N. Granowski, dem Freunde 
von Herzen, Belinsfi, Bakunin, Stankewitfh u. a., die um 
1840 im geiftigen Leben Moskaus eine Rolle fpielten. Auch 
Granowski war eine ſchöne Erfcheinung, von gepflegtem Außeren, 
das (nach Herzens Ausſpruch) ein wenig an einen feinen pros 
teftantifhen Paftor erinnerte. Seine Frau war eine Фен фе, | 
finderlog, in ihrer Erſcheinung ihm fo ähnlich, daß fie wie feine” 
Schwefter wirkte. Seit 1839 hielt Granowski, der beiden Stu⸗ 
denten und freien Zuhörern fehr beliebt war, und auch fonft 
allgemein verehrt wurde, an der Moskauer philoſophiſchen 
Fakultät feine Vorlefungen, doch war es ihm u. а. verboten, 
über die Reformation oder eine Revolution zu leſen, da die 


1118 { 






| 
| 
$ 


Aufgabe der КН dem Defabriftenaufftand vom Zaren gehaßten 
Univerfitäten nichts weiter fein follte, als die Erziehung der Stu; 
denten „su freuen Söhnen der orthodoren Kirche, zu freuen 
Untertanen für den SKaifer und zu guten Bürgern für dag 
Vaterland”. Während der Regierung Nikolais I. (1825—1855) 
hatte jeder Schriftftellee von einigem Wert unter dem geiftigen 
Drud und den perfönlichen Verfolgungen der Neaktion zu leiden. 


So war das „Verfolgtwerden“ unbedingt eine Ehre. Stepan 





Trophimo witſchs Ehrgeiz und zugleih Furchtſamkeit in der Ber 
ziehung ift durchaus lebenswahr gefchildert, obfchon fich für dieſen 
Zug feine Porträtähnlichkeit nachweiſen läßt: Kukolnik war in 
feinen patriotifchen Dramen Überpatriot, Granowski als Weftler 
zwar liberal gefinnt, doch ein Charakter, dem ähnliche Heine Eitel; 
feiten und Schwächen fern lagen. 1876 fchreibt Doſtojewski felbft 


über Granowski: „Das war einer unferer ehrlichiten Stepan 
Trophimowitſche (in meinem Roman ‚Die Dämonen‘ der Typ 
des Sdealiften der vierziger jahre, den unfere Kritiker richtig 


gezeichnetfanden . . .) und vielleicht fogar einer ohne den geringften 
fomifchen Zug, der diefem Typ fonft leicht anhafter...” Während 
Granowskis Freunde, die Hegelverehrer Bakunin, Belingki, Her; 
zen u. а. раке Atheiften und Sosialiften wurden, blieb Gra; 
nowski bei feinem Glauben an die Unfterblichfeit der Seele und 
hielt е8 mit den deutfchen Romantifern. 

Gegen diefen fogenannten „Sdealismus der vierziger 
Fahre”, den Stepan Trophimowitfch vertritt, läßt Doſtojewski 


die hiftorifchen Nachfolger diefer Sdealiften, die in den Semi; 


nariften und dem Anhang Piotr Stepanowitſchs gefhildert find, 
den fogenannten „Realismus der fehziger Jahre” aus; 
fpielen: Der unruſſiſchen Romantik und dem unruffifchen Sym⸗ 
bolismus (in Karmafinoffs Potpourri „Merci” und in Stepan 
Trophimowitſchs „Dichtung in Igrifhsdramatifher Form“, wie 
in feiner unruſſiſchen Schwärmerei für Abftraftionen) werden 


die von den Seminariften vergötterten Naturmwiflenfchaften und 


die angewandte entfprechende Philofophie, 5. 1. radikale Poli- 
tif, entgegengeftellt. 

Die Reden Schatoffs in den Notizbuchentwürfen find Ent: 
gegnungen auf faft wörtlich miedergegebene Ausſprüche Ba— 


1119 


tuning, des Begründers bes revolutionären Anarchismus, und 
№8 Terroriften Netfchajeft. 

gegierer (Prototyp Pjotr Werchowenskis) hatte die Lehre Ba; 
kunins — von der Notwendigfeit der radikalen Zerſtörung der 
bisherigen Gefellfhaftsform, damit die neue Form vom Volt 
nach ganz anderen, wirklich neuen Grundfägen gefchaffen werden 
könne — fogleich in die Tat umzufegen verfucht und 1869 in 
Moskau die Mitglieder feines Geheimbundes zur Ermordung 
eineg ihrer Genoffen (des Studenten Iwanoff) zu zwingen gewußt. 
Lie W. Sfolomjoff hervorhebt, ift in den „Dämonen“ „der 
Netfchaieffprogeg vorweggenommen” Der Roman wat 1871 
zum Zeil ſchon gedrudt, als der Prozeß erft begann. (Näheres 
über Netfchajeff und die Netſchajewen — den „Prozeß der 
Siebenundachtzig“ — fiebe Band XI, „Autobiographiſche Schrifz 
ten”, ©. 323—351.) Netſchajeff felbft entkam zunächft nach der 
Schweiz, wurde aber 1872 an Rußland ausgeliefert und flard 
nach zwanzigiähriger Kerferhaft im Schlüffelburger Gefängnis. 
Seine Zeitgenoffen fhildern ihn als einen Charakter von „ftähs 
lerner Exrergie”. Seine Ideen über die „Pandeſtruktion“ vers 
öffentlichte er 1869 in Genf in einem Blatt, das er „Das Volks— 
gericht“ nannte. Pläne für deu zukünftigen Aufbau wurden von 
ihm überhaupt nicht geduldet. Unter fein Bild fohrieb er die 
Worte: „Das Werf der Zerftörung ЦЕ getan, — das Werk des 
Yufbaus fieht bevor und wird nicht nur eine Generation bes 
fhäftigen.“ Bon feinem Grundfaß, dag auch Jeſuitismus und 
Macchiavillismus im Kampf ver Klaffen als Mittel anzumenden 
feien, haben fich feine Lehrer Bakunin und andere Unardiften 
alsbald losgeſagt. 

In der Philofophie Kiriloffs Hat Doftojemgfi die Gedanken 
Michael Bakunins wiedergegeben und mweitergefponnen, — wie 
übrigens aud in den folgenden Romanen „Der Jüngling“, 
„Die Brüder Karamafoff“, und in Heineren Werfen, Bafunin 
wollte vor allem „die dee ‚Gotf‘ in den Menſchen töten”, 

Vorläufer Stawroging find in gemiffem Sinne Га alle Helben 
Puſchkins. Aber auch Tſchatzki und die Helden 2ermontoffg, 
Gontſcharoffs, Turgenjeffs u, a, find eine Vorbereitung zu мет 
Geftait, Е. К. В. 


1120 





Zweiter Anhang 


Bruchſtuͤck aus einem bisher unveröffentlichten Kapitel 
des Romans „Die Dämonen“ *) 


I 


... Ungefähr um Halb elf erreichte Stawrogin die 
Hohe Pforte unjeres Spaſſo-Jefimjeffſchen Bogorod— 
jfifchen Klofters, das außerhalb der Stadt am Fluß lag. 
Ст hier ſchien er wieder zu fich zu kommen und | 
plößlich einer Sache zu erinnern: er blieb ſtehen, befühlte 
haftig und erregt feine Seitentajche, und — ein Lächeln 
glitt über fein Geſicht. Nachdem er eingetreten mar, 
erfundigte er fich bei einem Heinen Klofterdiener, den er 


bier erblidte, wie er zu dem im Klofter lebenden Biſchof 





Tichon gelangen fönnte, Der Kleine verneigte ſich mehr: 


mals untertänigft vor ihm und bat ihn höflich, ihm zu 


folgen; doch an der Treppe, die an dem einen Ende des 
langen zweiftödigen Kloftergebäudes lag, machte ihm 


ein dider, grauhaariger Mönch den Gaft geſchickt und 
wie mit vollftem Recht einfach abjpenftig. Diefer führte 
nun Ötamrogin durch einen langen, ſchmalen Korridor, 


verneigte fich gleichfalls fortwährend vor ihm oder 


eigentlich nidte er nur immer wieder mit dem Kopf, da 
ihm dag Verbeugen bei feiner Korpulenz augenjcheinlich 


— — — — — — EEE 


*) S. Bd. J, Vorbemerkung. Е. К. В. 


72 Doſtojewski, Die Dämonen. Bd, II, 1121 


{бег fiel, und forderte ihn ununterbrochen auf, ihm 
zu folgen, obgleich Stawrogin das ohnehin fchon tat. 
Der Mönch ftellte auch noch verfchiedene Fragen an ihn 
und |prach vom Archimandriten, da er aber feine Antwort 
erhielt, verftummte er ehrerbietig. Stamrogin fiel es 
auf, daß man ihn im Klofter zu fennen ſchien, obgleich 
er doch, joweit er fich erinnern Fonnte, nur in der Kindheit 
hier gewefen war. Als fie bei der Iekten Tür des Korris 
dors angelangt waren, blieb der Mönch ftehen unt 
öffnete fie mit einer Miene, als ob er der Bifchof ſelber 
waͤre, erfundigte ſich familiär bei dem flinf herbeis 
gelaufenen Zellendiener, ob man eintreten fönne, ftieß 
aber dann, ohne die Antwort abzuwarten, die Tür тей 
auf und ließ mit einer Verbeugung den „teuren Gaft an 
fich vorüber, Nachdem er aber den Flingenden „Dank“ 
empfangen ВаНе, verfchwand er mit einer Gejchwindigs 
feit, ме man ihm gar nicht zugetraut hätte. 

Stamwrogin trat in das Heine Zimmer, und Юй im 
jelben Augenblick erfchten in der Tür des Nebenzimmerg 
сте hohe, hagere Geftalt: е8 war ein Mann von uns 
gefähr fünfundfünfzig Jahren, in einem einfachen Leib— 
tod, wie er unter dem Meßgewand getragen wird, ein 
Menfch, der dem Ausfehen nach leidend war, ein ſonder— 
bar unbeftimmtes Lächeln hatte und einen fonderbaren, 
gleichfam fcheuen Blick. Das mar jener Tichon, defjen 
Kamen Stamrogin zum erftenmal von Schatoff gehört. 
hatte. 

Stawrogin hatte inzmwifchen Näheres über ihn zu er= 
fahren gefucht, doch was er an Urteilen über ihn zu hören 
befam, mar ſehr verfchieden und fogar Außerfi wider— 
ſpruchsvoll geweſen. Trotzdem hatten felbjt die еше 
1122 





gegengefekteften Ausfagen etwas Gemeinfames gehabt, 
und zwar: jowohl die Anhänger wie die Gegner Tichons 
(und folche gab es) hatten alle gleichlam irgend etwas 
von ihm verfchwiegen — die einen wahrjcheinlich aus 
Geringſchaͤtzung oder Verachtung, Ме anderen, die 
Anhänger und fogar die leidenfchaftlichften, aus einer 
gewiſſen Scheu, als ob fie etwas von ihm hätten ver: 
heimlichen wollen, irgendeine feiner Schwächen, viel: 
leicht jogar — eine gewiſſe Unzurechnungsfähigfeit, 
Stamrogin hatte erfahren, daß er fchon ſeit Sechs Jahren 
in unferem Klofter wohnte, und daß zu ihm nicht nur 
Das einfache Volk pilgerte, fonderr auch die angejehenften 
Nerfönlichkeiten fuhren, daß er ſogar im fernen Peters: 
burg leidenfchaftlihe Anhänger und vornehmlich Anz 
bängerinnen hatte, Andererjeits aber hatte er von einem 
würdevollen alten „Klubherrn“, und zwar einem доНе8: 
fürchtigen, gehört, daß „dieſer Tichon“ fo gut wie volle 
fommen verrüdt oder wenigftens ein ganz unbegabter 
Menſch fei und „zweifellos mitunter trinke", Hierzu 
möchte ich von mir aus bemerlen, obgleich ich Damit 
vorgreife, Daß lehteres entichieden nicht der Wahrheit 
entjprach; er hatte nur Наше Füße — irgendein hart: 
nädiges rheumatifches Leiden — und von Zeit zu Zeit 
mar er irgendwelchen nervöjen Krämpfen oder Anfällen 
unterworfen. Ferner hatte Stamwrogin gehört, daß der 
zurüdgezogene Biſchof — fei её aus Charafterichwäche 
oder aus einer „bei feinem Rang unverzeihlichen Nach: 
laͤſſigkeit“ — es nicht verftanden habe, im Kloſter be: 
ſondere Ehrfurcht für fich zu erweden. Es hieß fogar, 
daß der Archimanpdrit, ein in feinen Amtspflichten fehr 
firenger Mann, der außerdem wegen feiner Gelehrfams 
72* 1123 


feit berühmt war, zu Tichon ein gemwillermaßen feind: 
liches Gefühl nähre und ihm — natürlich nicht offen, 
ſondern nur mittelbar — unordentliches Leben und faft 
Keßerei vorwerfe. Die Brüderfchaft des Klofters ver: 
hielt И zu dem Kranken, wenn auch nicht gerade nach: 
ТАЙ, jo doch, jagen wir, familiär. 

Die zwei Zimmer, aus denen die Zelle Tichons Бе: 
Капо, waren etwas jonderbar eingerichtet. Neben den 
obigen alten Kloftermöbeln, deren Lederbezug ſchon 
recht abgenußt war, befanden Sich dajelbft drei oder vier 
elegante Gegenftände: ein teurer Lehnftuhl, ein pracht: 
voller großer Schreibtijch, ein teurer gefchnißter Bücher: 
ſchrank, Tiſchchen und Etageren — lauter gejchenfte 
Sachen; auf dem Fußboden ein foftbarer bucharifcher 
Teppich und neben ihm eine einfache geflochtene Matte. 
An den Wänden hingen Gravüren mit mythologifchen 
oder „weltlichen Daritellungen, in der Ede aber war 
ein großer Heiligenfchranf, deifen Heiligenbilder in Gold 
und @Ибег fchimmerten. Eines von ihnen war jehr alt 
und enthielt Reliquien, Seine Bibliothek, hieß es, ſollte 
gleichfalls {ебу jonderbar zufammengefeßt fein: пебеп 
den Werfen der großen Kirchenväter follte fie Werfe 
„der Theaterdichtfunft (!), vielleicht aber noch ſchlimmere“ 
enthalten. 

Nach den е еп Begrüßungsmorten, die aus einem 
ungewillen Grunde von beiden ein wenig befangen und 
fogar faum verftändlich ausgetaufcht wurden, führte 
Tichon den бай in fein Kabinett, wies ihm einen Platz 
neben dem 3414 auf dem Sofa an, und feßte fich felbit 
auf einen geflochtenen Lehnſtuhl. Stamrogin war immer 
noch [ебу zerftreut — er ſchien es von einer inneren, bez 


1124 











druͤckenden Erregung zu fein. Man hätte glauben Eönnen, 
daß er fich zu etwas Ungewoͤhnlichem entjchloffen habe, 
das, einmal getan, nicht mehr rückgängig zu machen 
ware, deſſen Erfüllung aber feine Kraft doch zu tiber: 
fteigen fehlen. Er blickte fich im Zimmer um, doch augen: 
Icheinlich ohne etwas zu bemerken; er dachte, doch wußte 
er natürlich jelbft nicht, was. Die Stille weckte ihn 
ichließlich und es ſchien ihm plößlich, daß Tichon gleichſam 
verfehämt die Augen zu Boden gefenft Мей und daß 
ein ganz überflüffiges, unbeholfenes Lächeln un feine 
Lippen fpielte. Das vief ſofort Widermwillen in ihm 
hervor; er wollte ſchon aufftehen und iweggehen, um fo 
mehr, als Ziehon feiner Meinung nach entfchieden bes 
trunfen war. Da erhob aber Ticehon plößlich die Augen 
und ſah фи mit einem fo feiten, gedanfendurchdrungenen 
Blick an und zu gleicher Zeit mit einem fo unerwarteten 
und rätjelhaften Ausdruck, daß er faſt zufammenfuhr. 
Es ſchien ihm plößlich aus irgendeinem Grunde, daß 
Tichon fchon wilfe, warum er zu ihm gekommen war, 
daß man ihn ſchon von feinem Befuch benachrichtigt Бабе 
(obgleich Fein Menfch in der ganzen Welt die ſen Grund 
feines Beſuches wiſſen Fonnte), und wenn er nicht ale 
eriter zu Sprechen anfing, dies nur deshalb nicht tat, weil 
er ihn Schonen wollte, — vielleicht weil er Fürchtete, ihn 
zu demütigen. 

„Ste Eennen mich?” fragte Stawrogin fchroff. „Habe 
ich mich Ihnen vorgeftellt oder nicht, als ich eintrat? 
Sch bin fo zerftreut . . .“ 

„Sie haben fich nicht vorgeftellt, aber ich habe Sie 
Ichon einmal vor vier Jahren geſehen, hier im ке... 
zufällig.“ 


1125 


Tichon fprach nicht fehnell, gleichmäßig, mit einer 
weichen Stimme, und er ſprach die Worte Har und 
deutlich aus. 

„Bor vier Забтей bin ich überhaupt nicht in — 
Kloſter geweſen,“ entgegnete Stawrogin in einem Ton, 
der an Grobheit grenzte; „nur als Knabe en ich hier 
geweſen, als Sie noch gar nicht hier waren.“ 

„Vielleicht Haben Sie es vergeſſen?“ bemerfte Tichon 
vorſichtig, doch ohne darauf zu beſtehen. 

„Nein, ich habe es nicht vergeſſen; und es waͤre auch 
laͤcherlich, wenn ich mich deſſen nicht mehr erinnern 
wuͤrde,“ beſtand Stawrogin wiederum unverhaͤltnis— 
mäßig heftig auf feiner Behauptung. „Sie haben лее 
leicht nur von mir gehört und fich dann irgendeine Vor: 
ftellung von mir gemacht, und fo glauben Sie jekt, daß 
Sie mich gefehen hätten.“ 

Tichon fchwieg. Da bemerkte Stamrogin, daß es über 
fein Geficht zumweilen wie ein Nervenzuden lief, ein 
Kennzeichen feiner Krankheit. 

„sch jehe nur, рав Sie heute nicht ganz wohl find,” 
fagte er, „ich glaube, ich tue befjer, wenn ich fortgehe.“ 

Er erhob fich ſogar vom Sofa. 

„за, ich fühle {ей geftern ftarfe Schmerzen in den 
Füßen, und in der Nacht habe ich wenig geichlafen ...“ 

Tichon verftummte. Seinen бай aber hatte die vorige 
Nachdenklichkeit jchon von neuem und ganz plößlich über: 
fallen. Das Schweigen dauerte lange an, mehr als zmei 
Minuten. 

„Sie haben mich vorhin beobachtet?” fragte Stamrogin 
plößlich erregt und mißtrauifch. 

„sch habe Sie angefehen und mich dabei der Geſichts— 
1126 





züge Ihrer Mutter erinnert. Zwifchen Ihnen und ihr 
ift bei äußerer Unähnlichkeit viel innere, geiftige Ähnlich: 
keit.“ 

„Durchaus keine Ahnlichkeit, beſonders keine geiſtige. 
Sogar uͤberhaupt keine!“ rief Stawrogin wieder ganz 
unverhaͤltnismaͤßig erregt und heftig. „Sie ſagen das 
nur fo aus Mitleid zu mir und... Unſinn! ... Kommt 
denn meine Mutter hierher?” 

„Sa, zuweilen.“ | 

„Das wußte ich nicht. Habe es niemals von ihr gehört. 
Kommt fie oft?" 

„за in jedem Monat einmal; aber auch öfter.“ 

„Habe es niemals gehört. Kein einziges Mal... 
Nie gehört... Sie haben dann natürlich von ihr 
ſchon erfahren, daß ich verrüdt bin?” fügte er plößlich 
Hinzu. 

„Nein, nicht gerade verrüdt. Übrigens habe ich auch 
von diefer Auffaffung gehört, aber von anderen.“ 

„Sie haben wohl ein gutes ©edächtnis, wenn Sie То 
viele Dummheiten behalten fünnen. Und von der Ohr: 
feige haben Sie gleichfalls gehört?“ 

„за, einiges.” 

„Das heißt alſo alles. Sie haben ja ungemein viel 
Zeit übrig. Und vom Duell? 

„uch vom Duell. | 

„Sie bören bier allerdings erftaunlich viel. Wozu 
druckt man bei ung eigentlich Zeitungen? Schatoff hat 
Ihnen mohl gejagt, daß ich fommen werde? Nicht?" 

„Kein. Sch fenne Herrn —— aber jetzt habe ich 
ihn lange nicht mehr geſehen.“ 

„Hm. Was haben Sie dort fuͤr eine Karte? — 

1127 


ih recht! Die Karte des lebten Krieges! Was machen 
Sie denn damit?“ 

„sch orientiere mich auf der Sandfarte nach dem Text. 
68 Ш eine interejjante Beſchreibung.“ 

„zeigen Sie; ja, das Ш Feine jchlechte Darftellung. 
Aber Doch eine fonderbare Lektüre für Sie.“ | 
бт 309 das Buch zu fich heran und blidte flüchtig 
hinein. Es war eine umfangreiche Gejchichte des letzten 


Krieges, gut dargeftellt, — übrigens nicht jo jehr vom | 


militärijchen als vielmehr vom rein literarifchen Stand= 
punfte aus. Nachdem er das Buch zu ſich umgedreht 
hatte, ſchob er es plößlich ungeduldig wieder zurüd, 

„Sch weiß wirklich nicht, warum ich hergefommen 
bin!" ftieß er gereizt hervor, Tichon gerade in die Augen 
blickend, als ob er von ihm eine Antwort darauf erwartete. 

„Sie fcheinen auch nicht ganz geſund zu fein?“ 

„sa, ich bin nicht ganz gejund.” 

Und plößlich erzählte er in Ffurzen, fchroffen Worten — 
manches war nur ſchwer zu verftehen —, daß er belonders 
nachts jo etwas wie Halluzinationen unterworfen jei, 
daß er zuweilen irgendein boshaftes, ein ſpoͤttiſches und 
„vernuͤnftiges“ Weſen neben fich jehe oder fühle, „in 
verfchiedenen Öeftalten und von verfchiedenem Charafter, 
doch ift es ftets ein und dasjelbe Weſen — ich aber ärgere 
1114 dann immer...” 

Wild und wire war diefes Geftändnis; man hätte 
wirflich glauben koͤnnen, daß ein tatjächlih Wahn— 
jinniger es machte. Doch bei alledem ſprach Stamwrogin 
mit einer jo fonderbaren Aufrichtigfeit, wie fie wohl 
noch nie jemand an ihm gejehen hatte, mit einer Offen 
heit, die ihm fonft gar nicht eigen war, daß man glauben 
1128 











НН 





Гопие, der frühere Menſch in ihm fei plößlich — und auch 
für ihn felbft ganz unverhofft — ſpurlos verſchwunden. Er 
jchämte fich nicht im geringften, die Angft zu zeigen, die 
er vor feinem Gefpenft hatte. Doch das währte nur 
einen Augenblid und verjchwand dann ebenfo fchnell, 
wie с8 fich eingeftellt hatte. 

„ber alles das ift natürlich Unfinn,” unterbrach er fich 
»lößlich ärgerlich. „Sch werde zum Arzt gehen.“ 

„Tun Sie das unbedingt”, riet ihm Tichon zu. 

„Sie jagen das jo beftimmt... Haben Sie denn 
{фе Menfchen jchon je geſehen, wie mich, mit folchen 
Erſcheinungen?“ 

„Ja, aber nur ſehr ſelten. Ich erinnere mich nur noch 
eines Offiziers, nach dem Tode ſeiner Frau, ſeines 
unerſetzlichen Kameraden. Von einem anderen habe 
ich nur gehoͤrt. Beide ſind ſie im Auslande geheilt worden. 
... Leiden Sie ſchon lange daran?” 

„Ungefähr feit einem Jahr, aber das ЦЕ ja alles Unfinn. 
Sch werde zum Arzt gehen. Das ganze ift ja Doch nur 
ein Unfinn, ein furchtbarer Unfinn! Das bin ich felbft 
in verfchiedenen Geftalten und weiter ift es nichte. — 


Da ich foeben Ме... Phrafe hinzugefügt habe, denken 
Sie jetzt gewiß, daß ich immer noch zweifle und mich 


noch nicht überzeugt habe, daß ich es bin und nicht 


wirklich der Teufel?” 


Tichon blidte ihn fragend an. 
„Und... Sie fehen ihn wirklich?" fragte er, ohne 


die Erklaͤrung Stawrogins, daß es ganz zweifellos eine 
krankhafte Halluzination ſei, überhaupt zu beachten, 
„ſehen Sie wirklich eine Geſtalt?“ 


„Sonderbar, daß Sie das noch fragen, nachdem ich 
1129 


Ihnen doch ſchon gelagt Бабе, daß ich ihn fehe,” еп 
gegnete Stawrogin, nach jedem Wort mehr und mehr 
gereizt. „Selbftverftändlich fehe ich ihn. Sch fehe ihn fo, 
mie ich jeßt Sie vor mir fehe, zumeilen abet fehe ich ihn 
und bin Doch nicht uͤberzeugt, daß ich fehe, obgleich ich 
fehe.... zumeilen aber bin 44 überzeugt, daß ich fehe, 
und ich weiß bloß nicht, wen ich fehe: mich oder би... 
Ach, Unfinn ift das alles! Sie aber — können @е ſich 
denn das ganz und gar nicht vorftellen, daß es wirklich | 
ein Zeufel ИЕ?" fügte er lachend die Frage hinzu: er 
ging etwas gar zu ſchnell auf den fpöttifchen Ton über. 
„Das wäre doch Ihrem Beruf angemeſſener?“ 
„Es ИЕ wahrfcheinlich nur Krankheit, wenn es auch .. 
„Wenn es auch was?” 


„Wenn es auch Teufel — а doch. kann пап | 


fie fehr verjchieden auffallen.” 

„sch werde Ihnen fagen, warum Sie vorhin Shren 
Blick fenkten,” unterbrach ihn Stamrogin mit gereiztem 
Spott. „Sie fchämten fich für mich, weil ich — an den 
Teufel glaube, doch unter dem Anfcheine, daß ich felbft 
nicht glaube, Ihnen fchlau die Frage ftellte: gibt es ihn 
in Wirflichfeit oder nicht?“ 

Zichon lächelte unbeftimmt. 

„And wiſſen Sie, es fteht Ihnen durchaus nicht, wenn 
Sie die Augen niederfchlagen: es ift unnatürlich, geziert 
und lächerlih. Und um Ihnen in der Grobheit Genuͤge 
zu tun, werde ich Ihnen fofort vollfommen ernft und 
unverfchämt die ganze Wahrheit fagen: ja, ich glaube 
an den Teufel, glaube kanoniſch an ihn, an den Teufel 
als Perfönlichfeit, nicht als Allegorie, und ich brauche 
überhaupt niemanden zu fragen oder etwas über ihn 


1130 





erfahren zu wollen, — da haben Sie alles! Sie müffen 

jeßt fehr froh fein...“ 

Nervoͤs, unnatürlich lachte er auf. 

Tichon blidte ihn mit einem weichen, beinahe ein 
wenig fchüchternen Blick fafl neugierig an. 

„Slauben Sie an Gott?" warf ihm plößlich Staw— 
rogin die Frage zu. 

„sch glaube.” 

„Es fteht Doch gejchrieben, wenn du glaubft und dem 
Berge befiehlit, von der Stelle zu rüden, fo wird er von 
der Stelle rüden... Übrigens, Blödfinn! Aber ich 

will Sie Doch fragen: werden Sie einen Berg von der 
| Stelle rüden oder nicht?" 

„Wenn @оН её befiehlt, werde ich auch Berge ver: 
ſetzen,“ fagte Tichon leife und zurüdhaltend, und alle 
тариф {епНе er wieder den Blick. 

„Убит, das ИЕ ebenfogut, wie: Gott macht es ſelbſt. Nein, 
Sie, Sie, als Belohnung für den Ölauben an Gott?” 
„Es kann fein, daß ich ihm vielleicht auch nicht von der 
Stelle rüden werde.“ 

_ „Менее? Das Ш nicht übel. Warum zweifeln 
Sie denn?" 
„Sch glaube nicht vollfommen.“ 
„Wie? Sie nicht volllommen? Nicht ganz?” 
„за... vielleicht glaube ich nicht vollkommen.“ 
Nun! Aber wenigitens glauben Sie doch, daß Sie 
ihn mit Gottes Hilfe von der Stelle rüden würden, und 
das iſt Schließlich nicht wenig. Das Ш immerhin mehr, 
als jenes ‚tres peu‘ eines, der gleichfalls Biſchof, Erz 
bifchof war... Mlerdingg — das Ш wahr — unter 
dem Säbel... Sie find natürlich auch Chriſt?“ 


1131 


„Deines Kreuzes, Herr, werde ich mich nicht ſchaͤmen“, 


fagte Tichon flüfternd, — е8 war ein fonderbares Flüftern, 


und er jenfte den Kopf noch tiefer. Seine Mundwinfel 
zudten nervös, 

„Aber kann man auch an den Teufel glauben, wenn 
man überhaupt nicht an Gott glaubt?” fragte Stawrogin 
lächelnd. 

„Oh, ſogar jehr, das tun faft alle”, jagte Tichon, erhob 
jeinen ЗИ und lächelte gleichfalls. 

„sch bin überzeugt, daß Sie folh einen Glauben 
immerhin achtbarer finden, als volle Glaubenslofigfeit .. . 


Ob, Доре!" rief Stamrogin auflachend. Wieder lächelte | 


Tichon ihm zu. 

„sm Gegenteil, der vollitändige Atheismus ift weit 
achtbarer, als die weltliche Gleichgültigfeit”, — 
er heiter und gutmuͤtig. 

„Oho, alſo ſo ſind Sie!“ 


„Der vollſtaͤndige Atheiſt ſteht auf der vorletzten 


hoͤchſten Stufe zum vollſtaͤndigſten Glauben — mag er 
ſie dann betreten oder nicht —, der Gleichmuͤtige dagegen 


hat uͤberhaupt keinen Glauben außer einer ſchlechten 


Angſt.“ 


„Aber Sie... — Haben Sie ме Apokalypſe geleſen?“ 


a. u 
nA» 


„Erinnern Sie jich der Stelle: ‚Und dem Engel der 


Gemeine zu Laodicea jchreibe ...“ 

„Sch weiß, wundervolle Worte.‘ 

„Wundervoll? Sonderbarer Yusdrud für einen 
Biſchof, und überhaupt find Sie ein Sonderling... 
wo haben Sie hier das Buch?” fragte Stamrogin auf: 


fallend eilig und erregt und feine Augen fuchten es auf | 


1132 





ENDETE RL ль 


dem Tiſch, „ich will es Ihnen vorlefen ... haben Sie die 
ruſſiſche Überfegung 

„sch weiß, ich kenne die Stelle, ich kenne fie ganz 
genau‘, fagte Tichon. 

„Kennen Sie jie auswendig? Sagen Sie fiel"... 

Er ſenkte fchnell die Augen, ftüßte beide Hände auf 
die Anie und wartete ungeduldig. 

Tichon fagte Wort fir Wort: 

„Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea fchreibe: 
Das jaget Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der 
Anfang der Kreatur Gottes. Sch weiß deine Werke, daß 
du weder № noch warm bift. Ach, daß du а oder 
warm märeft! Weil du aber lau БИ, und weder kalt 
noch warm, werde ic) dich аи реет aus meinem Munde. 
Du рифй: Sch bin reich, und habe gar fatt, und bedarf 
nichts; und weißt nicht, daß du bift elend und jämmerlich, 
arm, blind und bloß...” 

„Genug,“ unterbrach ihn Stawrogin, „das ift für die 
Mittelforte, für die Gleichmütigen, nicht wahr? Wiſſen 

Sie, ich liebe Sie ſehr.“ 
„und ich Sie”, ſagte Tichon halblaut. 

Stawrogin verſtummte und verſank wieder in ſeine 
Gedanken. Das kam wie ein Anfall uͤber ihn, ſchon 
zum drittenmal. Und auch das „ich liebe Sie“ hatte er 
wie in einem Anfall geſagt, wenigſtens ganz uͤber— 

raſchend fuͤr ſich ſelbſt. Es verging mehr als eine Minute. 

Fcrgere dich nicht“, ſagte Tichon ploͤtzlich ganz leiſe, 
und beruͤhrte mit dem Finger vorſichtig, als ob er ſich 
ſcheue, ſeinen Ellenbogen. 

Stawrogin fuhr zuſammen und runzelte unwillig 
die Stirn. 








1133 


„Woher willen Sie, daß ich mich aͤrgerte?“ fragte | 


er haftig. Zichon mollte etwas fagen, Doch er unter: 
brach ihn in ungewöhnlicher Erregung. 

„Barum glaubten Sie, daß ich mich unbedingt ärgern 
mußte? За, ich ärgerte mich, Sie haben recht, und 
gerade deswegen, meil ich Ihnen gelagt hatte: ‚ich liebe 


Sie‘. Sie haben recht, aber Sie find ein grober Zyniker, 


niedrig denken Sie von der menjchlichen Natur. Es hätte 


fein Arger zu fein brauchen, wenn es nur ein anderer | 


Menſch geweſen wäre, und nicht ich... Übrigens, hier 
handelt eg 14 nicht um den Menjchen, fondern um mid). 


Immerhin find Sie ein Sonderling und ein Geiftes: 


ſchwacher ...“ 

Er regte ſich immer mehr auf und, ſonderbar, tat ſich 
in den Worten überhaupt feinen Zwang an: 

„Hören Sie, ich liebe feine Spione und Piychologen, 
wenigftens nicht folche, die in meine ©eele friechen. Sch 
rufe niemanden in meine Феее, ich brauche niemanden, 
ich verftehe mit mir felbft auszufommen. Sie glauben, 
daß ich Sie fürchte?” fragte er mit lauterer Stimme und 
erhob herausfordernd fein Geficht. „Sie ſind wohl voll: 
fommen überzeugt, daß 14 gefommen bin, Ihnen ein 
‚furchtbares‘ Geheimnis zu offenbaren? Nun, fo hören 
Sie denn, daß ich Ihnen Überhaupt nichts jagen werde, 
nichts von einem Geheimnis, denn ich habe ©ie über: 
haupt nicht nötig...” | 

„Es hat Sie betroffen gemacht, daß das Lamm den 
falten mehr liebt als den bloß lauen,” fagte Злфоп, „Sie 
wolien nicht nur lau fein. 54 ahne её, daß eine uns 
gewöhnliche, vielleicht furchtbare. Abficht Sie quält, 
Wenn es [о Ш, jo flehe ich Sie an, quälen Sie ji 


1134 








nicht und fagen Sie alles, womit Sie gefommen 
find.” | 

„Und Sie wiffen сб fo genau, daß ich mit irgend 
etwas gefommen bin?“ 

„Sch. ‹ errict es an Ihrem Geſicht“, flüfterte Tichon 
und fenfte wieder den Blick, 
Stawrogin war etwas bleich und feine Hände zitterten 
ein wenig. Einige Sekunden lang {аб er unbeweglich 
und ftumm Zichon an, als ob er fich endgültig entichlöffe. 
Dann zog er aus der Seitentafche feines Noces irgends 
welche Drudbogen hervor und legte fie auf den Tiſch. 

„Das find die Blätter, die zur Verbreitung beftimmt 
find,“ fagte er mit einer etwas ftocdenden Stimme, 
„Wenn auch nur ein einziger Menfch fte lieft, dann, das 
fage ich Ihnen, werde ich Пе nicht mehr verbergen, dann 
werden alle fie leſen. So ИЕ es befchloffen. Sch habe 
Sie überhaupt nicht nötig, denn ich habe felbft ſchon 
alles bei mir befchloffen. Aber leſen Sie... Während 
des Lefens fagen Sie nichts, aber wenn Sie es gelefen 
haben — dann fagen Sie а...“ 

„Sell ich?* fragte Tichon unentfchloffen, zögernd, 

„Lefen Sie; ich bin Schon laͤngſt ruhig.“ 

„Nein, ohne Brille kann ich es nicht entziffern ... 
Feine Schrift . . . ausländifch.“ 

„Hier ЧЕ die Brille”, fagte Stawrogin, reichte fie ihm 
vom Tisch und lehnte fich zurüc in die Ede des Sofas. 

Tichon verfenkte fich in die Lektuͤre. 


— —* II | 
Der Druck war tatfächlich ausländifch — drei brofchierte 
Drucdbogen von gewöhnlichen Poſtpapier Eleineren 
1135 


Formats. Mahrjcheinlich Hatte er Ме im einer der ge— 
heimen ruſſiſchen Drudereien im Auslande feßen laſſen. 
Auf den erjten Blid glichen fie jehr einer Proflamation. 
Als Überschrift ftand: „Von Stawrogin“. 

Sch nehme diejes Dokument unverändert in meine 
Chronik auf. Wahrjcheinlich fennen es jeßt ſchon viele. 
Sch Бабе mir nur erlaubt, die orthographiichen Fehler 
zu forrigieren, ме ziemlich zahlreich waren und die mich 
jogar gemiljermaßen mwundernahmen, da doch der Autor 
immerhin ein gebildeter und belefener Menſch war 
(natürlich relativ gejprochen). Ут Stil dagegen habe 
ich nichts verändert, Нов der Unrichtigfeiten und fogar 
Unklarheiten. Jedenfalls erjieht man aus ihnen, daß der 
Verfaſſer Fein Schriftfteller war. 

Nur eine Bemerkung will ich mir doch noch erlauben, 
obgleich ich damit vorgreife. Meiner Meinung паф ift 
diejes Dokument — ein Кап аНе8 Erzeugnis, ein Ве 
des Teufels, der fich dieſes Menſchen bemächtigt hatte. 
Es Ш, wie wenn ein Kranker, den ein großer, fcharfer 
Schmerz peinigt, ſich in feinem Bette mwälzt, einzig in 
dem Verlangen, eine Stellung einzunehmen, die Шт. 
wenigftens auf einen Augenblid Erleichterung jchafft, 
oder nicht einmal Erleichterung, fondern bloß den alten 
Schmerz durch einen anderen Schmerz verdrängt, wenn 
auch nur auf einen Augenblid, Und dann fommt es 
ihm natürlich nicht mehr auf die Schönheit oder Ver: ° 


nünftigfeit der Stellung ап. Der Ausgangspunft dieſes 


Dofuments war — das furchtdare, ungeheuchelte Зе: 
dürfnig einer Strafe, einer öffentlichen Hinrichtung. 
Und dabei war diejes Bedürfnis, das Kreuz auf fich 
zu nehmen, in einem Menichen, der an das Kreuz 


1136 





nicht glaubte, — „doch auch dag macht fchon eine Idee 
aus, — wie einmal Stepan Trophimowitſch gejagt 
bat, wenn auch in einem ganz anderen Zujammens 
Бапде. 

Und doch wirkt dabei das ganze Dofument wie etivag 
Wildes und Verwegenes, obgleich её anjcheinend mit 
einer ganz anderen Xbficht gejchrieben worden И, Der 
Autor erflärt darin, daß er dag „unmöglich nicht ſchrei— 
ben Гоппе”, daß er dazu „gezwungen” war — und das 
И ziemlich wehrjcheinlich: er hätte gern den Kelch ums 
gangen, wenn er её gekonnt hätte, aber er fonnte eg, 
wie её fcheint, tatjächlich nicht und griff nur nach der 
Möglichkeit einer neuen Oewalttat. За, fürwahr: ein 
Kranker waͤlzt fich auf dem Lager und will den einen 
Schmerz durch den anderen betäuben — und ſiehe, da 
ſchien ihm der Kampf mit der Gejellichaft die leichtefte 
Lage, und fo wirft er denn der Gejellichaft die Heraus 
forderung zu. За, jchon aus der Tatjache, daß ein folches 
Dokument entitehen fonnte, fühlt man eine neue, uns 
erwartete und ehrfurchtslofe Herausforderung der Ge: 
fellichaft. Da heißt es: nur jihnell irgendeinen Feind 
finden... 

Doch wer weiß, vielleicht Ш das Ganze, d. h., find 
diefe Blätter mit der ihnen zugebachten Veröffentlichung 
— wiederum nichts anderes, als ein gebifjenes Gou— 
verneursohr, nur in einer anderen Geſtalt? Warum mir 
das fogar jekt noch in den Sinn fommt, jeßt, nachdem 
fich ſchon [о vieles erflärt hat, — das weiß ich ſelbſt nicht. 
Sch führe weiter Feine Beweiſe an gegen eine etmaige 
Vermutung, die Tat, von der in dem Dofument die 
Rede Ш, fei falfch, d. b., volifommen erdichtet. Am wahr: 


1137 


Iheinlichfen ift, daß man die Wahrheit irgendwo in der 
Mitte fuchen muß... Doc, ich greife zu тей vor; es 
ift beffer, ich wende mich zu dem Dokument ſelbſt 
zurüd, 


Und Tichon las folgendest 








Anmerfung. 


Е. 160. Die Antwort Kiriloffd auf die Frage паф Gott ift 
ein abfoluter Widerfpruch, wie nein und ja: „Jewö njet, no on 
jestj“. Man könnte ebenfogut jagen: „Er Ш nicht, aber «8 
‚gibt ihn.“ 
S. 896 fagt Schatoff zu Kirilloff! „Gib mir, Bruder, ich gebe 
ed dir morgen wieder”, Die Anrede mit dem Wort „Bruder“ 
ift unter Nuffen fo üblich, wie im Deutfchen die Anrede mit 
„Freund“ oder „Lieber“. 

Die ruffiihe Frau wird von ruffifchen Männern häufig 
„Freund“ genannt, obſchon es die Form „Freundin“ auch gibt. 
Es iſt das pſychologiſch nicht unwichtig. 








E. K. R. 


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