JOH. FRIEDR. HERBART'S
SÄMTLICHE WERKE.
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JOE FR. HERBART'S
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SÄMTLICHE WERKE.
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IN CHRONOLOGISCHER REIHENFOLGE
HERAUSGEGEBEN
VON
KARL KEHRBACH.
FÜNFTER BAND.
mIcroformeo b
NOV. .2.2. M
LANGENSALZA,
DRUCK und VERLAG von HERMANN BEYER & SÖHNE.
1890.
VORREDE
des Herausgebers zu den Schriften des fünften Bandes.
Citierte Ausgaben.
A. P. M = Altpreufsische Monatsschrift, herausgegeben von Reicke u. WlCHART.
HR = HERBART'sche Reliquien, herausgegeben von T. Ziller.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere philosophische Schriften, herausgegeben von
G. Hartenstein.
O = der jemalige Originaltext.
SW = J. F. Herbart's Stimmt liehe Werke, herausgegeben von G. Hartenstein.
I.
Erste Vorlesung über praktische Philosophie. Im Sommer 1819.
S. 1 — 10.
Die für den Sommer 18 19 angekündigte Vorlesung über die prak-
tische Philosophie verwandelte Herbart in eine öffentliche, aus Gründen,
die er auf S. 4 u. ff. angiebt. Warum er die erste Vorlesung dieses Kollegs
sorgfältig aufschrieb und vom Blatte ablas, ist S. 3 angegeben.
Das Manuskript, 2059 der Königsberger Universitätsbibliothek, welches
vorliegendem Abdrucke zu Grunde gelegen hat, besteht aus 12 Bll. 40.
IL
Ueber Menschenkenntnisse in ihrem Verhältniss zu den politischen
Meinungen. [1821.] S. 11 — 24.
Das Manuskript 2056 (6) zu der bei der Geburtstagsfeier Friedrich
Wilhelms III in der deutschen Gesellschaft zu Königsberg gehaltenen Fest-
rede besteht aus 32 S. 40, von denen 27 beschrieben sind. Auf S. 9
und 10 der Handschrift ist ein Teil des Inhalts ausgestrichen. An den
Rand hat Hartenstein mit Bleistift geschrieben „das Ausgestrichene gilt."
Es handelt sich hierbei nur um den Abschnitt S. 16, Z. 4 v. u. „man
täuscht sich, wenn" . . . bis . . . S. 17 Z. 19 v. o. „Zeit betrachten,
so wird leicht erhellen, dafs" ... Es sind dabei unter die oben an-
geführten durchstrichen en Anfangs- und Endworte, und zwar nur unter
diese, Punkte angebracht worden, die also belegen, dafs Herbart diese
Worte gelten lassen wollte. Ohne den dazwischen liegenden kreuz und
quer durchstrichenen Text ist aber eine Ueberleitung von d<en unter-
punktirten Anfangs- zu den Endworten nicht ohne Correkturen zu er-
möglichen. Es ist daher wie in SW und KlSch der durchstrichene Text
mit abgedruckt worden. Herbart hat wahrscheinlich den durchstrichenen
Text anfänglich weglassen wollen, sich aber dann eines anderen besonnen
und durch die am Anfang und Ende angebrachten Punkte bezeichnen
wollen, dafs auch das daswischen liegende Ausgestrichene Geltung haben
sollte. Uebrigens ist auch noch auf S. 15 der Handschrift (im vor-
liegenden Texte S. 19, Z. 18 v. u.) ein Abschnitt ausgestrichen, aber hier
VIII Vorrede des Herausgebers zum V. Bande.
ist wohl ausgeschlossen, dafs Herbart diesen Satz hat gelten lassen wollen.
Der Satz, welcher sich nach „finden werden" anschliefst, lautet:
„Ueberall wird man in der waltenden Macht, der man unterworfen
ist, etwas zufälliges finden, da sie bestimmten Personen unter bestimmten,
veränderlichen Umständen zu Theil geworden ist; überall wird man sich
fragen, ob dieser Zufälligkeit zu dienen nothwendig sey ? Und überall wird
es Menschen geben, die, weil sie gar wohl einen andern Staat, andere
Formen und eine andere Verfassung sich denken können, vergessen werden,
dafs der Werth eines neuen Gebäudes, verglichen mit dem eines alten,
noch brauchbaren, zuerst davon abhänge, ob man im Stande sey es
vechter zu bauen wie das alte ? Eine Frage, die beym Staate, dem Inbegriff
aller Rechstverhältnisse noch weit wichtiger ist als bey jedem andern Ge-
bäude."
III.
Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staats-
wissenschaft [1821.] S. 25—40.
Die Handschrift zum vorliegenden Texte befindet sich in der Königs-
berger Bibliothek, als Msc. 2058. Dieselbe umfafst 24 S. gr. 40.
IV.
De attentionis mensura causisque primariis. [1822.] S. 41 — 89.
Die folgenden unbedeutenden Verbesserungen sind im Texte nicht angemerkt
worden :
S. 62, Z. 2 v. o. longa . . . statt . . . lange. — S. 74, Z. 17 v. u. — statt ,
d u du
_ m dti m d u
S. 79, Z. 1 v. o. . 4- . . . statt . . . -. — S. 86, Z. 3 v. u. 312,5 du —
p u Z p u-\-
187,5 • • • statt • • • 4I2>5 du — 1875.
Die Abweichungen von SW sind unter dem Texte verzeichnet. Nachzutragen
wäre noch S. 52, Z. 5 v, o. "ut" in SAV gesperrt; ferner S. 67, Z. 10 v. o. und aut
den folgenden Seiten haben SW „log. nat." immer gesperrt. — S. 76, Z. 28 v. o. „cum"
in SW statt „quum" im Original.
V.
Ueber die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathematik auf Psy-
chologie anzuwenden. [1822.] S. 91 — 122.
Der genaue Titel, der unter V abgedruckten Schrift lautet: Ueber
die | Möglichkeit und Notwendigkeit, | Mathematik auf Psychologie
anzuwenden. Von [ Johann Friedrich Herbart, | Professor der Philo-
sophie zu Königsberg. | Königsberg, 1822. | Bey den Gebrüder Born träger.
X, 102, kl. 8 0.
III. Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. — VI. Rede. IX
Leider ist es dem Herausgeber erst nach dem Drucke des Text-
teiles vorliegenden Bandes gelungen, ein Exemplar dieser Schrift zu be-
kommen, der Text ist daher nach SW gedruckt worden.
Die nachträgliche Vergleichung des Textes von SW und dem Original
(O) hat folgende Abweichungen ergeben:
S. 93, Z. 5 v. o. SW: Auf solches Gerathewohl . . .; O: Auf ein solches Ge-
rathewohl. — S. 94, Z. 17 v. o. SW: Philosophen . . .; O: sind Philosophen. — S. 94,
Z. 10 v. u. SW: Vorurtheilen . . .; O: Urtheilen. — S. 95, Z. 4 v. o. SW: For-
schungen; O: Nachforschungen. — S. 97, Z. 15 v. u. SW: unvollkommene; O: voll-
kommene. — S. 99, Z. 12 v. u. SW: ganz natürlich; O: sehr natürlich. — S. 102,
Z. 6 V. u. SW: mit hin . . . ; O: hin mit. — S. 102, Z. 8 v. u. SW: immer von
selbst; O.: immer selbst. — S. 106, Z. 7 SW: irgend einer Sicherheit; O: irgend
einiger Sicherheit. — S. 108, Z. 2 — 3 v. o. SW. : dahin unbekannten; O: dahin so
gut als unbekannten. — S. 115, Z. 22 v. o. SW : und wir; O: und wie wir (Druck-
fehler). — S. 115, Z. 8 v. u. SW : erst als; O: erst wie. — S. 115, Z. 7 v. u. fehlt
nach „Ellipse" in SW der Zwischensatz : , — die Kometenbahn erst wie eine Parabel,
und späterhin wie eine Ellipse. — S. 115, Z. 5. v. u. SW: Die Gemälde.. .; O: Das
Gemälde. — S. 116, Z. 11 v. u. SW : producirt . . ., O: reproducirt. — S. 118, Z. 23
v. o. SAV: merkwürdigsten; O: merkwürdigen. — Aufserdem drucken SW „etwa",
statt O: „etwan" und „von Fichte" statt „von Fichten" (S. 108, Z. 6 v. o.).
Durch ein Versehen sind folgende Korrekturen nicht erledigt worden:
S. 93, Z. 17 v. o: ich in eben . . . statt: ich eben in. — S. 94, Z. 10 v. u. .
Vorurtheilen . . . statt : Urtheilen (O). — S. 94, Z. 5 v. u. : ungeordneter . . . statt :
untergeordneter. — S. 97, Z. 15 v. u. : imvollkommene . . . statt: vollkommene (ü). —
S. 98, Z. 25 v. o: Dafs es . . . statt: Dafs er. — S. 100, Z. 5 v. o: unlautere moralische
Gesinnung . . . statt: unlautere Gesinnung. — S. 102, Z. 10 v. o.: Zwischen welchen . . .
statt: zwischen welche. — S. 105, Z. 7 v. u. : mag er vollkommen wahr . . . statt: mag
er noch so vollkommen wahr. — S. 107, Z. 1 v. o.: Hemmungsgrad . . . statt: Hemmungs-
grund. — S. 109, Z. 19 v. u. : eine solche Menge . . . statt: eine Menge. — S. 114,
Z. 10 v. u. : unkräftig . . . statt: urkräftig. — S. 115, Z. 7 v. u. mufs nach „Ellipse"
der Zwischensatz eingeschoben werden : — die Kometenbahn erst wie eine Parabel, und
späterhin wie eine Ellipse — (O). — S. 118, Z. 16, 17, 22 v. o.: rationaler, irratio-
naler . . . statt: rationelle, irrationeller. — S. 121, Z. 8 v. o. : werde angezeigt . . . statt:
werden angezeigt. — S. 121, Z. 13 v.o.: umgekehrten der Zahlen . . . statt: umgekehrten
Zahlen. — S. 121, Z. 17 v. o.: Nach „werden" mufs der Satz eingefügt werden: Allein
hier stofsen wir auf ein unerwartetes Hindernifs!
VI.
Rede, gehalten am Geburtstage Kant's, zu Königsberg. 22. April
1823. s- -23 — 126.
Die Handschrift zu VI scheint verloren gegangen zu sein. Der vor-
liegende Text ist genauer Abdruck des in den Herbart'schen Reliquien
gebotenen Textes. Dieser wiederum ist nach dem in der Altpreufsischen
X Vorrede des Herausgebers zum V. Bande.
Monatsschrift (A. P. M.) von Dr. Reicke nach der Handschrift heraus-
gegebenen Texte gedruckt worden.
Dieser Letztere enthält nur am Schlüsse noch den Zusatz: „Kant's Vater-
stadt soll leben!" den Ziller weggelassen hatte und der hier nachgetragen sei.
Der Text von HR zeigt gegenüber dem von A. P. M nur einige ganz unbedeutende
orthographische Abweichungen. („Kant's" statt „Kants"; „Speculation" statt „Speku-
lation".)
VII.
Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.
S. 127 — 140.
Die Veranlassung dieser Vorlesung giebt Herbart S. 12g an.
Die Handschrift, welche vorliegendem Abdrucke zu Grunde gelegen
hat, befindet sich in der Königsberger Universitätsbibliothek (Msc. 2056
VII). Dieselbe umfafst 35 beschriebene Seiten.
VIII.
Zwei Vorlesungen. S. 141 — 161.
I. Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electricitäten.
S. 147—158.
II. Ueber den Gegensatz der beyden Electricitäten. S. 159— 161.
Herbart hat diese beiden Vorlesungen nicht drucken lassen, ob-
wohl er es beabsichtigt hatte (s. S. 143 Z. 1). Hartenstein erwähnt
KlSch Bd. I, S. LXXV in dem Verzeichnis der im Herbart'schen
Nachlasse befindlichen Schriften die vorstehenden Vorlesungen, druckt sie
aber nicht ab, weil, wie er KlSch Bd. II, S. XVII sagt, der Vortrag
(Hartenstein spricht nur von einem Vortrage) „aufser einer genauen
Beschreibung der Instrumente, deren sich Herbart bei seinen Versuchen
über Electricität bedient hat, nichts enthält, was nicht im IL Bande der
Metaphysik (§ 400 — 412, S. 531 — 587) auseinandergesetzt wäre." In
SW sind die beiden Vorträge auch nicht gedruckt worden. Obwohl Her-
bart ausdrücklich in der Vorrede (S. 143) erklärt, dafs er die beiden
Vorlesungen in „zwei verschiedenen gelehrten Gesellschaften" gehalten habe,
enthält doch die Handschrift unter der Überschrift eines jeden der
Vorträge den Vermerk: „vorgelesen in der physikalisch-ökonomischen Ge-
sellschaft" zu Königsberg.
Meine Nachforschungen in Königsberg über den wahren Sachverhalt
haben bis jetzt ein Resultat nicht ergeben. Sollte das in Zukunft der Fall
sein, so wird in den Nachträgen des Schlufsbandes der Herbart-Ausgabe
darüber Bericht erstattet werden. Wahrscheinlich ist der eine Vortrag in
der Deutschen Gesellschaft gehalten worden. Hätte Herbart beide Vor-
VII. Hauptansichten der Naturphilosophie. — XI. Psychologie als Wissenschaft etc. XI
träge in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft gehalten, so würde er
sicher nicht dieselben mit gleichlautenden Eingangsworten begonnen haben.
Die Handschrift trägt die No. 2069 der Königsberger Universitätsbibliothek
und umfafst 60 S. 40. Die zweite Vorlesung ist nicht mehr vollständig
erhalten. Es darf nicht auffallend erscheinen, dafs auf S. 151 die ein-
getragene Seitenangabe des Originals von S. [28] auf [31] springt. Im
Manuskript sind nämlich die Seiten 29—30 durchstrichen. Herbart
hat aber trotz dieser Ungiltigerklärung dieser Seiten die Ziffern der
folgenden Seiten nicht geändert.
IX.
Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. [1824.] S. 163
bis 170.
Da die Handschrift, welche Ziller bei der Herausgabe des vor-
liegenden Textes in den Herbart'schen Reliquien benutzen konnte, nicht
mehr aufzufinden war, so ist hier der Ziller'sche Text zu Grunde gelegt
worden. In Gemäfsheit der in der Vorrede zum ersten Bande vorl.
Ausgabe S. XIV Anmerkung angegebenen Grundsätze, ist nur die Ortho-
graphie etwas verändert worden.
S. 167, Z. 12 v. u. ist der Druckfehler „Gerade" in „Grade" stillschweigend ver-
bessert worden.
X.
Zwei Promotionsreden aus dem Jahre 1824. S. 170 — 176.
Das Manuskript zur ersten Rede (Msc. 2382, (1) 40) der Königs-
berger Universitätsbibliothek) besteht aus 4 grofsen Quartseiten, von denen
3 vollständig beschrieben, mit „tibi primus gratulor" abschliefsen, die 4.
nur die Worte : „examine rigoroso feliciter superato ob praeclara in philo-
logicis specimina exhibita" enthält. Diese Formel ist (s. S. 174) nach
„Hamann" eingefügt worden.
Mit der Handschrift zur 2. Rede (Msc. 2382, 2 40 4. S.) verhält es
sich ähnlich. Herbart schliefst S. 3 mit „proclamo". Nachträglich wird
er dann die Formel: „ob eximia in philosophicis specimina et ceterum
ingeniis cultum" auf die 4. Seite eingetragen haben. Diese Formel ist
im vorliegenden Texte S. 17Ö nach „Sieffart" eingefügt worden.
XL
Psychologie als Wissenschaft neu gegründet auf Erfahrung,
Metaphysik und Mathematik. Erster synthetischer Teil 1824.
S. 177—402.
Folgende Verbesserungen sind, ohne dafs eine Anmerkung darauf hinwies,
stillschweigend im Texte bewirkt worden :
XII Vorrede des Herausgebers zum V. Bande.
S. 341, Z. 16 v. u. : mit der Kraft . . . statt ... mit der — . — S. 351, Z. 18 v.
u. : 0,0614 . 2 . . . statt . . . 0,0614 -f 2. — S. 352, Z. 18 v. u.: 0,6965 . . . statt
H — I • • •
statt . . . [c -f- ^—) [SW drucken hier iälschlich nach dem Original.] — S. 384, Z. 4
v. o.: 0,34454 • • • statt • • • °34454- — s- 4IO> z- 6 v. o. : Kraft gesperrt (= SW.)
— S. 431, Z. 7 v. u. : Daseyns? . . . statt . . . Daseyns. —
Folgende Abweichungen der Ausgabe SW von O sind im Texte selbst nicht
angemerkt worden. Der vorliegende Text folgt in den folgenden Fällen dem Wortlaut
von O S. 226, Z. 9 v. u. SW: bei § . . . O: beym §. — S. 233, Z. 2 v. o. SW: Gang
setzte... O: Gang setze. — S. 233, Z. 10 v. o. SW: § 11 — O: 11 — 13. — S. 259 im
griechischen Chat hat SW accentuiert (ebenso 266, Z. 3, v. u. tw.) — S. 310, Z. 5
v. u. hat SW die Worte H. S. aufgelöst in „Hemmungs-Summe". — S. 311, Z. 2
v.u. SW.: ß -—; O: ß =—. — S. 311, Z. 2 v.u. SW: (ab+an); O: (ap + an).
a
— S. 349 die letzte Zeile vor § 80 SW: q = 1 r — t — - — ;
°^y ° a -|- c a -\- c
O: rf = , 1— = -4-. - S. 355. 2- 9 v. o. SW: (1 = e~l) . . . O: (1— «-*)-
a -f- c a -\- c
S. 387, Z. 5 v. u. SW: . . . und folglich eine Constante . . . O: und folglich <p eine Con-
stante. — S. 391, Z. 8 v. u. SW; ^c — ctpe—ß*... O: ctf -f V— ape-ß*. — S. 403,
Z. 5 v. o. SW: Die Kraft . . . O: Diese Kraft. — S. 403, Z. 3 v. u. SW: in Gleich-
13 1
artigen ... O: in Gleichartiges. — S. 406, Z. 24 v. u. SW: — u tis etc. O: — u
US etc. — S. 407, Z. 3 v. o. SW : müfsten . . . O : müssen. — S. 407, Z. 3
v. u. SW: Bewufstsein verschwunden . . . O: Bewufstsein völlig verschwunden. —
S. 408, Z. 15 v. u. SW: ertheilten . . . O: ertheilen. — S. 420, Z. 9 v. o. SW: „und"
nicht gesperrt. — S. 423, Z. 14 v. u. SW: Ja und Nein . . . O: des Ja und Nein.
— S. 431, Z. 11 v. o. SW: Substanz uneingeschränkt . . . O: Substanz als un-
eingeschränkt.
Eine Anzahl der vorstehenden Verbesserungen und Abweichungen würden bereits
ira Texte als solche bezeichnet worden sein, wenn nicht befürchtet worden wäre, dafs
durch die dann notwendigerweise in die mathematischen Formeln einzufügenden Ver-
weisungsziffern sehr leicht Irrtum oder doch eine Erschwerung der Lektüre hervorgerufen
werden könnte.
Berlin, März 1890.
Karl Kehrbach.
Inhalt des fünften Bandes.
Seite
VII-XI
Vorrede des Herausgebers zu den Schriften des V. Bandes
I. Erste Vorlesung über praktische Philosophie. Im Sommer 1819 1 — 10
II. Ueber Menschenkenntniss in ihrem Verhältniss zu den po-
litischen Meinungen. Rede [1821] 11—24
III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staats-
wissenschaft. [1821] 25—40
IV. De Attentionis Mensura Causisque Primariis. [1822] 41—89
Prooemium 43— 46
Conspectus 4/
Praemonenda 4° 54
De attentionis causis primariis 54 °2
De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis primariis
reddi nequit 82—89
V. Ueber die Möglichkeit und Nothwendigkeit , Mathematik auf
Psychologie anzuwenden. [1822] 91 I22
Vorwort 93— 94
VI. Rede, gehalten am Geburtstage KANT's, zu Königsberg. [1823] 123—126
Vn. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.
[1823] I27-^°
VHI. Zwei Vorlesungen über Electricität 141 — 161
Vorrede 143— »4<>
Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der Electricitäten 147 — 158
Ueber den Gegensatz der beiden Electricitäten 159— 161
IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. [1824]
X. Zwei Promotionsreden. [1824]
XI. Psychologie als Wissenschaft neu gegründet auf Erfahrung,
Metaphysik und Mathematik. Erster synthetischer Theil. [1824]
Vorrede
Inhalt des ersten Bandes
Einleitung
Erster, synthetischer Teil
Erster Abschnitt. Untersuchung über" das Ich, in seinen
nächsten Beziehungen .... 23/-
Erstes Capitel. Über die philosophische Bestimmung des Begriffs
vom Ich 237—242
163-
-170
171-
-176
177-
-402
179-
-183
184
185-
-234
235
XIV Inhalt des fünften Bandes.
Seite
Zweytes Capitel. Darstellung des im Begriff des Ich enthaltenen
Problems, nebst den ersten Schritten zu dessen Auflösung .... 242 — 253
Drittes Capitel. Vergleichung des Selbstbewufstseins mit andern
Problemen der allgemeinen Metaphysik 253 — 273
Viertes Capitel. Vorbereitung der mathematisch -psychologischen
Untersuchungen 273 — 280
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.... 281 — 337
Erstes Capitel. Summe und Verhältnifs der Hemmung bey vollem
Gegensatze 281 — 287
Zweytes Capitel. Berechnung der Hemmung bei vollem Gegensatz,
und erste Nachweisung der Schwellen des Bewufstseyns 288 — 297
Drittes Capitel. Abänderungen des Vorigen bey minderem Gegensatze 298 — 306
Viertes Capitel. Von den vollkommnen Complicationen der Vor-
stellungen 3°7—3 l 7
Fünftes Capitel. Von den unvollkommnen Complicationen 317 — 324
Sechstes Capitel. Von den Verschmelzungen 324 — 337
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.. 338 — 402
Erstes Capitel. Vom Sinken der Hemmungssumme 338 — 342
Zweytes Capitel. Von den mechanischen Schwellen 342 — 354
Drittes Capitel. Von wiedererweckten Vorstellungen nach der ein-
fachsten Ansicht 354 — 368
Viertes Capitel. Von der mittelbaren Wiedererweckung 368 — 386
Fünftes Capitel. Vom zeitlichen Entstehen der Vorstellungen . . . 386 —402
I.
ERSTE VORLESUNG
UEBER
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE.
Im Sommer 1819.
[Text nach dem Msc. 2059 der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Citirte Au sgaben.
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. IX, 165 — 178), herausgegeben
von G. Hartenstein.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, 297 — 310), herausgegeben von
G. Hartenstein.
Herbart's Werke. V.
Erste Vorlesung über tfie praktische Philosophie im
Sommer 1819.
M. h. H. Das System der praktischen Philosophie, welches ich,
meiner langen Gewohnheit gemäfs, in diesem Halbjahre wieder vortrage,
wurde niedergeschrieben und öfifentlich durch den Druck bekannt gemacht
zu einer Zeit, da ich in Göttingen als Unterthan des Königs Hieronymus
Napoleon lebte und lehrte. Mit andern Worten, es erschien mitten in
der Zeit der hoffnungslosesten Schmach, welche Deutschland jemals er-
duldete. Was damals die Zeitgenossen nicht mehr erleben zu können
meinten, geschah bald; Deutschland wurde erlöset vom fremden Joche.
Glauben Sie vielleicht, diese Veränderung hätte gewirkt auf meine Lehr-
sätze vom Recht und der Pflicht, vom Staate und seinen wesentlichen
Einrichtungen? Sie würden sich irren. Als mein Buch erschien, war
der westphälische Despotismus noch nicht reif genug, um einem Lehrer,
der nur allgemeine Betrachtungen anstellte, Zwang aufzulegen; daher
konnte ich in meine kurzen Worte alles das einhüllen, was jemals, auch
in der freyesten Zeit, im ausführlichen mündlichen Vortrage auseinander-
zusetzen mir Bedürfnifs geworden ist und noch werden wird. Und be-
merken Sie wohl, meine Herrn: damals genossen die deutschen Uni-
versitäten überall, auch im Auslande, eine sehr hohe Achtung, durch
welche sie gegen Machtgriffe geschützt waren. Niemand glaubte einen
Vorwand finden zu können, um sie in ihrer alten Freyheit des Lehrens
und Lernens zu kränken. Der grofse Napoleon fürchtete, Deutschland.
— das damals so geduldige Deutschland! — aufzuregen, wenn er die
Universitäten angriffe. Soviel wirkte der unbescholtene Ruf, dessen sich
unsre Hochschulen erfreuten ! Seitdem nun hat sich manches Jahr herum-
gewälzt, mit allem dem Reichthum der mannigfaltigsten Begebenheiten, um
derentwillen man oft gesagt hat, unsre Zeit presse Jahrhunderte zusammen
in Jahrzehnde. Und dafs ich in diesen Jahren des Wechsels meine prak-
tische Philosophie, die zwar immer dieselbe blieb, mit wechselnder Stim-
mung, wechselnder Hoffnung, vortragen mufste, können Sie leicht denken.
Doch niemals, selbst in den trübesten Tagen niemals ! — habe ich beym An-
fange dieser Vorlesungen eine solche Beklommenheit empfunden, wie jetzo.
Sie sehn schon, meine Herrn, dafs ich beklommen bin, da ich ein
Blatt mitbringe, welches ich ablese ; Sie sehn, dafs ich mir nicht getraue,
mich nach meiner Gewohnheit der Eingebung des Augenblicks zu über-
lassen. Und warum nicht? Weil die Worte, die ich heute im Anfange
der Stunde zu Ihnen spreche, bereit sein sollen, Jedem der von mir des-
halb Rechenschaft fordern könnte, genau und pünklich vorgelegt zu werden.
I. Erste Vorlesung über die praktische Philosophie.
Doch spannen Sie Ihre Erwartung ja nicht zu hoch ! Was ich Ihnen
sagen will, ist das Einfachste von der Welt. Nichts weiter will ich, als
Ihnen erklären, weshalb ich diesmals diese Vorlesungen, die schon, wie ge-
wöhnlich, im Catalog als Privat - Lektionen angekündigt waren, öffentlich
halte. Indessen freylich, um dies erklären zu können, mufs ich des Gegen-
standes gedenken, der jetzt das allgemeine Gespräch des Tages ausmacht.
Eine Begebenheit* hat sich ereignet, die wenn sie erdichtet wäre,
tragisch heifsen würde; tragisch im höchsten Sinne des Wortes, weil sie
weder ein blofses Unglück, noch ein blofses Verbrechen, noch eine blofse
Abbüfsung des einen durch das andre, — mit einem Worte, nichts Ein-
faches für Gefühl und Beurtheilung, sondern gerade im Gegentheil, eine
so schreckliche Verwickelung darstellt, dafs sie das Gefühl betäubt, indem
sie das Urtheil auf zweifache und entgegengesetzte Weise beschäftigt, und
dafs man den Tod als Erlöser zugleich und als verdiente Strafe herbey-
ruft, damit der Verbrecher die Nemesis versöhne, und durch höhere Er-
leuchtung von seinem unglücklichen Wahn gereinigt werde. Menschen
können ihn richten und sie müssen es; aber das ist nicht alles; jenseit
des Grabes mufs ihm eine neue Sonne aufgehn, zunächst um die Nacht
seines Irrthums zu erhellen, dann um ihm den wahren Weg der Tugend
und des Heils zu zeigen, welchen er, wie es scheint, redlich suchte und
nicht finden konnte. Jenseit des Grabes, in der übersinnlichen Welt,
die wir jedoch hier als Verlängerung unseres irdischen Lebens betrachten,
suchen wir die Milderung, die Besänftigung, deren unser empörtes Ge-
fühl bedarf; und leicht würden wir finden, was wir suchen, wenn uns
ein Gegenstand der Phantasie beschäftigte, den wir mit poetischer Frey-
heit behandeln könnten ! Leider,! die That, von der ich spreche, ist wirk-
lich geschehen. Kein glückliches Hindemifs hat den Dolchstofs vereitelt,
kein besonnener Freund, kein warnendes Zeichen hat den Irrenden zurecht-
geführt. Er hat Zeit genug gehabt, um fürchterliche Danksagungen gen
Himmel zu senden für das Gelingen einer That, die der Himmel niemals
lohnen, höchstens nach vollständiger Bufse verzeihen kann.
Und wer ist der Thäter? Ein Studirender. Und wo sucht man den
Grund der That ? In dem Geiste, der jetzt auf den Universitäten herrschen
soll. Und wen macht man deshalb verantwortlich? Die akademischen Lehrer.
Und in welcher Fakultät sucht man die Irrlehren ? In der philosophischen.
Dahin ist es gekommen! Ein Trugbild von heroischer Tugend hat
einen einzelnen Jüngling verleitet, — wir hoffen wenigstens bis jetzt, es sey
ein Einzelner ; darum verklagt man die Freyheit des Denkens und Lehrens,
ohne welche bald die Philosophie wird in Vergessenheit gerathen müssen.
Gleichwohl ist es sehr gewifs, dafs eben nur die Philosophie vermag,
die schwankenden Meinungen vestzustellen, und das Paradoxon zu lösen,
wie eine That, an der jede Entschuldigung scheitert, hervorgehn konnte
aus Gesinnungen, die eine wahre moralische Energie zu bezeichnen
scheinen. Es ist gewifs, dafs eben jene heilloseste Verschwendung der
edelsten Gemüthskräfte, die wir betrauern, durch die nämliche Wissen-
schaft, welche zu lehren mir hier obliegt, ohne viel Mühe hätte in wohl
* Die Ermordung Kotzebues.
Erste Vorlesung über die praktische Philosophie im Sommer 1819.
überlegte Sparsamkeit können verwandelt werden, vielleicht mit Verlust an
falscher Gröfse, aber mit Gewinn an wahrer Würde, die sich nur auf
Unschuld und Reinheit gründen kann.
Sie werden im Laufe dieser Vorlesungen allmählich die verschiedenen
Arten der Beurtheilung hervortreten sehen, aus welchen sich der Aus-
spruch über eine That und Gesinnung unvermeidlich zusammensetzt. Sie
werden sehen, in wiefern dies Beydes, That nämlich und Gesinnung,
theils verbunden, theils aber auch gesondert werden mufs, um die Be-
urtheilung zur Reife zu bringen. Sie werden auch jene unglücklichen
Verwicklungen begreifen lernen, in welchen zuweilen der gesunde Sinn
der redlichsten Menschen sich gefangen findet, so dafs er nicht mehr
vermag sich über Liebe und Hafs zu erheben, sondern nur partheyische
Urtheile zu Stande bringt, die oft auf beyden Seiten gleich verkehrt, und
doch gleich ehrlich gemeint, zum Vorschein kommen. Sie werden Ge-
legenheit finden, über jene Jesuitische Moral nachzudenken, welche lehrt,
der Zweck heilige die Mittel. Sie werden sehn, dafs dieser Grundsatz,
weit entfernt, moralisch zu seyn, vielmehr alle Moral untergräbt; und
dafs er, unfähig die Thaten zu reinigen, die Gesinnungen in ihrem Innersten
vergiften mufs, wenn er ins Herz eindringt, und nun mit Vestigkeit durch-
geführt wird. Sie werden sehen, dafs die praktische Philosophie den
Menschen zum Handeln zwar auffordert, aber noch weit mehr darin be-
schränkt und dafs sie ihm im Voraus die Hoffnung benimmt, der wahren
Tugend in den äufserlichen Handlungen einen richtigen und vollständig
angemessenen Ausdruck zu geben. Schlagen Sie mein Buch auf; es ist
vor mehr als einem Jahrzehend geschrieben und auf die heutigen Be-
gebenheiten gewifs nicht berechnet; aber es schliefst mit einem Capitel
über die Gränzen der Geschäfftigkeit. Und wie solle es nicht? Hatte
doch schon Platon, der beste unter den alten Sittenlehrern, die Ge-
rechtigkeit darin gefunden, dafs Jeder das Seinige thue, und nur das
Seinige! Wenn dem also ist: so liegt in der Vielgeschäftigkeit das Un-
rechte und Verkehrte; so ist Ueberschreitung des Berufs der Schritt zur
Sünde; so ist falsche Einbildung eines vermeinten Berufs der allergefähr-
lichste Wahn, der ein sonst edles Herz umstricken kann.
Aber die praktische Philosophie, wie genau sie auch lehren mag,
was zu thun und zu lassen sey, hat gewöhnlich das Schicksal, dafs sie
der Reue gleicht; der Reue, die zu spät kommt. Zu spät schon damals,
als Platon ihren ersten Grundgedanken richtig darlegte; denn das Zeit-
alter war schon verdorben, ein verzehrendes Fieber erschöpfte schon die
gährenden Kräfte; Ordnung und Unterordnung war schon entwichen aus
dem Volke, und dem Macedonischen Despotismus wurde schon die Ge-
legenheit bereitet, die er späterhin so begierig ergriff. Zu spät kommt die
praktische Philosophie auch jetzt. Sie findet ein Geschlecht, das sich
einbildet, ein philosophisches zu seyn, — und das in der Staatslehre
zwischen den ausschweifendsten, unter sich entgegengesetzten Irrthümern
umherschwankt, indem es bald von Freiheit und Gleichheit, bald von der
Ueberlesenheit der Stärkern und dem Bedürfnisse der Schwächern, bald
von der ursprünglichen Eigentümlichkeit als dem Grunde alles Rechts zu
reden beliebt. Ein Geschlecht, das sich einbildet, ein philosophisches zu
6
I. Erste Vorlesung über die praktische Philosophie.
seyn, und das mit besserem Rechte, ein aufgeregtes, stürmisches, viel-
geschäfftiges genannt wird; während Philosophie mit der nämlichen Ge-
müthsruhe anfangen mufs, mit der sie endigen soll. Jedoch eben deshalb,
meine Herrn ! gebiete ich mir in diesem Augenblick, nicht weiter zu klagen.
Es soll nicht scheinen, als hätte ich selbst die Gemüthsruhe verloren.
Wie in den vorigen Jahren, so will ich auch jetzo meine Wissenschaft in
ihrer Allgemeinheit vortragen, meinen Zuhörern aber nicht blofs die Nutz-
anwendung überlassen, sondern ihnen auch, falls ich irgend eines Ein-
flusses auf ihre Stimmung mächtig bin, die Stimmung der Ueberlegung,
der nüchternen Prüfung, der Umsicht und Vorsicht mittheilen, die ich
selbst zu allererst von demjenigen fordere, der da begehrt, für einen
Philosophen gehalten zu werden. Sie sollen es fühlen, meine Herrn, dafs
die Wissenschaft, welche ich lehre, zwar für einen denkenden Menschen
nicht eben schwer zu fassen, wohl aber unfafslich ist für jeden unruhigen
Kopf. Begegnet es irgend einen von Ihnen, dafs er sich hat hinreifsen
lassen von einer Angelegenheit des Augenblicks, sey sie grofs oder klein,
und erfülle sie ihn mit Liebe oder mit Hals: so soll er gewahr werden,
dafs er hier bei mir ein Fremdling ist, den höchstens das Einzelne an-
sprechen kann, dem aber der Zusammenhang fehlt. Wer zu irgend einer
Parthey gehört, und wem diese Verbindung mehr gilt, als ruhige Vernunft
und veste Ordnung: den will ich bald überzeugen, dafs ich ihm nicht
erlaube, mich zu seiner Parthey zu zählen. Das, meine Herrn, ist meine
AVeise, und dafür bin ich hier lange genug bekannt.
Und darum achte ich mich berechtigt eben so sehr als verpflichtet,
unter den gegenwärtigen Umständen meine praktische Philosophie nicht
etwa leiser vorzutragen, als sonst; sondern noch lauter; ja so laut und
so öffentlich, als es ohne Zudringlichkeit und Anmaafsung nur möglich ist.
Noch immer besteht hier in Königsberg der unglückliche Unterschied
zwischen öffentlichen und Privat- Vorlesungen, der anderwärts beinahe ver-
schwunden ist. Noch immer kann die Rücksicht auf eine geringfügige,
dem wahrhaft Dürftigen leicht zu erlassende Zahlung, es dahin bringen,
dafs ein wohlgeordneter Lehrkursus zerrissen wird, indem bei einigen Vor-
lesungen das Lehrzimmer zu sehr, bey andern gleich wichtigen, ja als
Fortsetzung der vorigen geradehin notwendigen , zu wenig gefüllt ist.
Wenn ich eine solche Rücksicht für dies mal hinwegräume, wenn ich die
Thüren meines Lehrzimmers für diesen Sommer so weit als möglich öffne,
so wird man mich wohl nicht anklagen, als hätte ich mir und meinen
Vorlesungen nur übertriebene Wichtigkeit beygelegt. Ich will weiter nichts,
als die Veranlassung zum Nachdenken über die wichtigsten Angelegen-
heiten des Lebens so öffentlich als möglich darbieten. Ich weifs längst,
dafs weder ich noch meine Lehre zu dem Geiste dieser Zeit passen. Ich
wende auch nicht das kleinste Mittel an, mich diesem Geiste näher an-
zubequemen. Wer mein Lehrbuch mit meinen Vorträgen vergleichen will,
der wird finden, dafs sie sich verhalten wie kleine Schrift zu grofsen; und
dafs meine mündliche Rede blofs dazu dient, damit man in meinem Buche
das lesen könne, was wirklich darin steht, was aber freylich, einer langen
Erfahrung zufolge, weder ungeübte noch blöde Augen, ohne Hülfe, darin
zu finden wissen. Erwarten Sie demnach hier nichts Verändertes, nichts
Erste Vorlesung über die praktische Philosophie im Sommer 1819.
für den Augenblick Ersonnenes! Am allerwenigsten dürfen Sie glauben,
ich wolle Ihnen mit der Einschärfung dessen beschwerlich fallen, was zwar
sehr wahr, aber auch allbekannt ist, z. B. dafs der Meuchelmord ein Ver-
brechen ist, und dafs, wer für sich selbst Freyheit der Rede verlangt,
dieselbe Freyheit auch seinem Gegner gestatten mufs. Unbekanntschaft mit
solchen Sätzen ist es nicht, um derentwillen Sie, meine Herrn, Sich hier
versammeln konnten. Auch wollen wir die Erinnerung an jene unselige
Begebenheit keineswegs vesthalten, sie würde uns stören; wir wollen uns
ihrer absichtlich entschlagen, und das wird jetzt um so leichter geschehen,
nachdem ich ein für allemal einige Worte darüber gesprochen habe.
Wir kommen nunmehr zu unserm eigentlichen Zweck, zu der Wissen-
schaft, die ich hier lehren soll. Hiezu ist es allerdings nützlich, dafs wir
einen Fall vor Augen haben, in welchem wir uns aufgefordert fühlen, den
Werth einer Gesinnung und Handlung zu beurtheilen. Aber statt des
einen Beispiels können wir tausend andre finden, und unter diesen andern
Bevspielen wiederum viele, die weit bequemer sind für den Zweck meiner
nächsten Vorlesungen, welcher darin besteht: über die ersten Gründe
solcher Beurtheilung Rechenschaft zu geben. Weit bequemer —
denn die Fälle, in welchen neben dem offenbaren Verbrechen noch etwas
von lobenswerthen Gesinnungen hervorblickt, sind mehr gemacht, das
moralische Urtheil zu verwirren , als es aufzuklären ; höchstens können
sie dazu dienen, uns von der Nothwendigkeit der Wissenschaft, die man
praktische Philosophie nennt, zu überführen. So nämlich wie mitten unter
Streit und Gewaltthätigkeit sich das Bedürfnifs von Recht und Gesetz am
meisten fühlbar macht: eben so ergiebt sich aus dem Streit der Mei-
nungen am deutlichsten, wie nöthig es wäre, veste und bestimmte Gründe
zu kennen, wornach die richtigen Beurtheilungen des Guten und Bösen
von den falschen und verkehrten können unterschieden werden. Allein das
Gefühl vom Bedürfnisse dieser Kenntnifs ist noch nicht die Kenntnifs selbst ;
um die wahren Gründe der moralischen Beurtheilung wirklich zu finden,
mufs man sich zuerst das Deutlichste, Offenbarste, was keinen Zweifel
und keine Verwirrung in uns hervorbringt, zu vergegenwärtigen suchen.
Man mufs ferner die Thatsache des moralischen Urtheilens,
so wie es in uns geschieht, sich möglichst vollständig vor
Augen stellen. Dazu nun gehört erstlich die Bemerkung: dafs eine
Handlung, die wir als moralisch betrachten, stets aus einem Wollen hervor-
geht, während die Strebungen eines blofs thierischen Triebes so wenig
als die Wirkung einer Maschiene, für gut oder böse gehalten werde. Was
aber Wollen sey? darnach fragt man nicht, sondern man setzt es als
bekannt voraus, indem man moralische Urtheile fällt; man hält sich
überzeugt, dafs Jeder das Wollen aus seiner innersten Erfahrung kenne,
und es von Allem, was unwillkührlich in ihm vorgeht, wohl unterscheide.
Ueberlegen Sie ferner, meine Herrn, dafs zu jedem Wollen ein Gegen-
stand gehört, welcher gewollt wird; dieser Gegenstand heifst eben in so
fern ein Gut, als er die Befriedigung des Wollens herbey bringt, sobald
er selbst erreicht wird. Es heifst ein wahres oder ein falsches Gut,
weil entweder die Befriedigung, so wie sie gehofft wurde, erfolgt, oder im
Gesentheil die Erlangung des gewollten Gegenstandes den Willen selbst
8 I. Erste Vorlesung über die praktische Philosophie.
verändert, ihn wohl gar in Widerwillen verwandelt; da denn der Mensch
klagt, von einem trüglichen Schein verblendet gewesen zu seyn. Hier
werden Sie Sich erinnern, dafs nach der Erlangung des angestrebten Guts
jedesmal der Mensch darüber zu urtheilen pflegt, ob dasselbe ein wahres
oder falsches Gut sey ? ob er sich nunmehr seiner Erwartung gemäfs be-
friedigt finde oder nicht? Diese Beurtheilung , ist sie es etwan, die wir
die moralische nennen? Sie werden leicht entdecken, dafs sie es ganz
und gar nicht ist, sondern dafs man sich hier vor einer Verwechselung
hüten mufs , die freylich oft genug begangen ist : Nämlich es sind zwey
verschiedene Urtheile, das eine über den Gegenstand, ob er dem Willen
entspreche, oder nicht; das andre über den Willen, ob er moralisch gut
sey oder böse. Sie sehen aber auch den Anlafs zu der Verwechselung.
Nämlich das Wort gut ist doppelsinnig; einmal bedeutet es Güter, die
man besitzen kann; das anderemal bezeichnet es den persönlichen Werth,
den man uns selbst zuschreibt. Die Güter sind das Gegentheil der Uebel,
die das Unglück über uns verhängt ; das Gute ist das Gegentheil vom
Bösen, was in unserm eignen Herzen liegt.
Wir sind noch lange nicht fertig mit dem Geschafft, uns die That-
sache des sittlichen Urtheilens klar vor Augen zu stellen. Denn man
schreibt dem Menschen, den man als gut oder böse betrachtet, nicht blofs
Willen zu, sondern auch Vernunft. Was ist Vernunft? Auch dies
wird als bekannt vorausgesetzt, und zwar wiederum aus der innem Er-
fahrung. Jedermann ist sich bewufst, dafs er überlegen und wählen
könne, jedermann nennt die Andern um sich her desto vernünftiger, je
genauer sie ihr Wollen mit der Betrachtung aller Umstände in Einstim-
mung setzen, je besser sie es verstehen, ihre Wünsche zu beschränken,
sobald daran etwas Unpassendes bemerkt wird ; unvernünftig aber heifst
derjenige, welcher die Gründe nicht vernimmt, die ihn vom Handeln ab-
halten könnten und sollten. Fragen Sie mich noch nicht, was für Gründe
das seyen? — Denn es ist eben diese Frage, zu deren richtigen und
genauen Beantwortung wir uns erst von ferne vorbereiten. So viel aber
liegt klar vor Augen, dafs wir bey einer vollständigen Beurtheilung der
Moralität einer Handlung, oder eines Vorsatzes dazu, allemal annehmen:
der Beurtheilte sey innerlich sein eigner Zuschauer gewesen ; er habe als
solcher die Gelegenheit und die Fähigkeit gehabt, sich selbst zu loben
oder zu tadeln, und hiemit sich entweder anzutreiben oder zurückzuhalten ;
eine Fähigkeit , die man bald Vernunft , bald Freyheit nennt ; und um
deren richtige Benennung wir uns hier noch nicht zu bekümmern brauchen,
weil wir noch nichts erklären, sondern fürs erste die Thatsachen auffassen
wollen. Deshalb nun sage ich nicht etwa, der Mensch hat Vernunft, oder
Freyheit, sondern vielmehr: indem wir Jemanden moralisch beurtheilen,
setzen wir in ihm voraus die Selbstbeobachtung, Selbstbeurtheihmg, und
Selbstbestimmung dergestalt, dafs, wenn diese drey Stücke fehlten, wir
über ihn nicht glauben würden ein vollständiges moralisches Urtheil fällen
zu können. Hingegen eine unvollständige, oder besser eine partielle Be-
urtheilung, würde dennoch möglich seyn, wie sich tiefer unten zeigen wird.
Wenn aber Jemand sich selbst beurtheilt, thut er wohl dieses nach
derselben Regel, nach welcher auch wir, und jeder andre unbefangene Zu-
Erste Vorlesung über die praktische Philosophie im Sommer 1819.
schauer, ihn beurtheilen würde? Oder nach einer andern, oder vielleicht
nach gar keiner Regel? — Hierüber läfst sich, wenn man nicht gleich
Anfangs Erschleichungen in die Thatsachen einmischen will, nichts anders
sagen als dieses: es scheint, als müfste die Beurtheilung nach einer all-
gemeinen Regel geschehen; denn man setzt voraus, dafs alle Zuschauer,
wenn sie nur unbefangen seyen, über einerley Gesinnung und That auch
einerley Urtheil fällen werden; und man nimmt an, dafs, nach Hinweg-
räumung aller Eigenliebe und Verblendung, auch der Thäter selbst seine
That nicht anders als einstimmig mit dem unpartheyischen Zuschauer be-
urtheilen könne. Also mufs ja wohl eine allgemeine Regel vorhanden
seyn, die, weil sie in Allen dieselbe ist, auch Allen das gleiche Urtheil
abnöthigt. So schliefst man;- allein bemerken Sie wohl, meine Herrn, dafs
ich mich für diesen Schlufs nicht verbürge. Es könnte ja sein, dafs man
nach gar keiner Regel urtheilte, sondern dafs nur das Urtheilen eine Be-
gebenheit wäre, die sich in den Urtheilenden unter gleichen Umständen
stets auf gleiche Weise ereignete. Allein man ist nun einmal gewöhnt,
zu einem Urtheil einen Richter, und zu dem Richter ein Gesetz, ja auch
zu dem Gesetze einen Gesetzgeber hinzuzudenken. Wendet man diese
Meinung an auf unsern Gegenstand : so entsteht der Gedanke, es liege in
uns ein Gesetz, das vielleicht von der Gottheit, als dem höchsten Gesetz-
geber, uns eingepflanzt sey. Wollen Sie indessen die blofse Thatsache
der innern Erfahrung rein auffassen, so müssen Sie fürs erste den Richter,
das Gesetz, und den Gesetzgeber noch ganz weglassen, bis wir etwan
in der Folge genauer sehen, was an der Sache sey.
Das aber ist unleugbar, dafs oftmals in der Brust des Menschen ein
grofser Aufruhr entsteht, wenn sich der Wille nicht nach dem Urtheile
richtet. Oder bleibt auch Anfangs Alles stille, so kommt doch eine späte
Reue nach; und diese Reue läfst sich nicht für Thorheit erklären, wenn
sie auch erst so spät eintritt, dafs sich die begangenen Thaten gar nicht
mehr zurücknehmen, noch in ihren Folgen abändern lassen; vielmehr ist
sie dafür bekannt, dafs sie unter allen Qualen, die ein Mensch leiden kann,
die schrecklichste und unheilbarste ist. Mit ihr steht in genauer Verbin-
dung die Schande, die gerade so in dem Verdammungs - Urtheil Anderer,
wie die Reue in der Selbst-Verklagung besteht. Und auf ähnliche Weise
hängen auch die Gegentheile, nämlich das gute Gewissen und die Ehre,
mit einander zusammen. Beydes ist sehr bekannt; und ganz in der Nähe
werden Sie noch einen dritten Begriff finden, nämlich den der Tugend.
Sie dürfen nur den Unterschied der Ehre vom guten Gewissen, dafs jene
von Andern, dieses von uns selbst herrührt, in Gedanken weglassen, so
bleibt das reine Löbliche zurück; dieses aber, wenn es vollständig ist,
und schon deshalb als dauernde Eigenschaft einer Person vorgestellt wird,
ergiebt das, was man Tugend nennt. Aus dem Vorigen ist klar, dafs die-
selbe auf der innigen Verbindung und Einstimmung zwischen Vernunft und
Einstimmung zwischen Vernunft und Willen beruht.
Eben diese Verbindung führt noch einen Hauptbegriff herbey, den
wir sorgfältig merken müssen. Denn wiewohl wir es oben zweifelhaft ge-
lassen haben, ob das moralische Urtheilen wirklich nach einer, ihm vor-
angehenden, Regel geschehe, wobey die Regel das Erste, das Urtheil das
IO !• Erste Vorlesung über praktische Philosophie.
Zweyte seyn würde : so ist doch soviel ganz offenbar, dafs, wenn einmal
erst moralische Urtheile ausgesprochen sind, und wenn sie als etwas Vor-
handenes und Bekanntes angenommen werden, sie alsdann auch als Vor-
zeichnungen, Vorbilder, Vorschriften für den Willen erscheinen, die, falls
sie allgemein sind, und sich unter verschiedenen, wechselnden Neben-
Umständen gleich bleiben, selbst Regeln sind, denen der Wille unterworfen
ist. Und hierin liegt nun der Begriff der Pflicht, auf den ich Sie führen
wollte. Man hält diesen Gedanken vest, obgleich man einräumt, der Wille
könne sich der Pflicht entziehn. Man sagt alsdann, die Pflicht soll be-
folgt werden, obgleich ihr der Wille nicht folgen muls, sondern frey ist.
Und hier kommt uns der Ausdruck Freyheit noch einmal entgegen, jedoch
in einer ganz anderen Bedeutung, wie oben. Denn vorhin fanden wir
die Freyheit in der Vernunft; hier in dem Willen. Vorhin erschien die
Freyheit als Empfänglichkeit für Gründe ; hier als Ungebundenheit trotz
den Gründen. Eine sehr gefährliche Zweydeutigkeit, deren wir öfter
werden erwähnen müssen.
Es ist jetzt Zeit, Ihnen von der Absicht aller dieser Entwickelungen
Rechenschaft zu geben. Aus der Thatsache, dafs wir Willen, Vernunft,
und eine Verbindung beyder, in jedem Menschen voraussetzen, über den
wir ein moralisches Urtheil fällen, entspringen drey Hauptbegriffe, der von
Gütern, Tugenden, und Pflichten; und hiermit die drey Fragen nach dem
höchsten Gute, nach der ganzen Tugend, und nach der allgemeinsten
Pflicht. Könnte man nur Eine dieser Fragen beantworten, so wäre der
Eingang in die praktische Philosophie geöffnet. Dem höchsten Gute würde
man die andern Güter unterordnen; aus der Tugend würde man das Ver-
hältnifs aller ihrer Theile bestimmen; aus der allgemeinsten Pflicht würde
man durch Anwendung auf die im Leben vorkommenden Fälle und Um-
stände die sämmtlichen Verhaltungs-Regeln ableiten; und sobald man eins
von diesen Dreyen geleistet hätte, würde sich das Uebrige leicht ergeben.
Denn zwischen Gütern, Tugenden, Pflichten, ist eine enge Verbindung,
wie Sie leicht errathen werden, und wie ich nächstens ausführlich dar-
zustellen mir vorbehalte.
Nun hat wirklich die praktische Philosophie sich bisher immer ab-
wechselnd bald als eine Lehre von Gütern, und deren Unterordnung und
Zusammenstellung unter das höchste Gut, bald als eine Darstellung der
Tugend, ihrer Bestandteile und ihrer Aeufserungen, bald als die Wissenschaft
vom Sittengesetze und den daraus entspringenden Pflichten gestaltet. Des-
halb mufs unsre erste gemeinsame Ueberlegung darin bestehen : welche,
und ob irgend eine dieser Formen, wir als die richtige anzuerkennen und
uns anzueignen befugt sind ? Da wir aber im Anfange der heutigen Stunde
uns nur gar zu deutlich an die Schwankungen und an das Verwickelte in
den moralischen Urtheilen erinnert haben : so können Sie leicht denken,
dafs man sehr Ursache hat, sich um eine recht veste Grundlage für unsre
Wissenschaft zu bemühen, damit man zu sicheren Entscheidungen gelange,
und nicht etwan selbst über die wichtigsten Angelegenheiten des Lebens in
fortdauernden Zweifeln befangen bleibe.
II.
UEBER
MENSCHENKENNTNISS
IN IHREM
VERHAELTNISS zu den POLITISCHEN MEINUNGEN.
REDE,
gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August.
l82I.
[Text nach dem Msc. 2056 (6) der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Citirte Ausgaben.
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. IX, 179 — 197), herausgegeben
von G. Hartenstein.
KlSch = T. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, 311 — 330), herausgegeben
von G. Hartenstein.
1821. Rede, am 3. August in der Deutschen Gesellschaft
gehalten.
Ueber Menschenkenntnis, in ihrem Verhältnis zu den politischen Meinungen.
Der heutige Festtag, der noch eine lange Reihe von Jahren hindurch
möge gefeyert werden, erneuert jedesmal die Veranlassung, die kühne
Stellung des Preufsisfchen Königs -Throns in der Mitte gröfserer Mächte
und Völker zu bewundem ; und von da weiter umherschauend, die Ver-
änderungen zu überdenken, welche die zuletzt erlebten Jahre mit sich
brachten. Gewifs ! wir Alle wünschen einander Glück, dafs der traurige
Zeitraum vor den letzten Befreyungskriegen uns jetzt schon wie im ent-
fernten Hintergrunde erscheint; dafs der Mann, der einst allmächtig war,
in diesen Tagen als auf seinem einsamen Felsen verstorben konnte an-
gekündigt werden, ohne eine merkliche Bewegung der Gemüther zu ver-
anlassen; und dafs wir die Blitze, die jetzt noch am politischen Horizonte
flammen, wie ein stummes Wetterleuchten mit ansehen können, ohne zu
fürchten, der Donner werde bald auch über unsern Häuptern rollen.
Gleichwohl kann der theilnehmende Zuschauer sich der mannigfaltigsten
Empfindungen nicht erwehren, wenn er die schönen Länder, Italien und
Griechenland, betrachtet; wenn er den Schmerz der Sehnsucht sich denkt,
womit ein unterrichteter Mann in jenen Gegenden an den Ruinen einer
vielleicht für immer begrabenen Vorwelt vorbey gehn mufs. Aber können
wir auch verweilen in diesen Empfindungen der Theilnahme? Können
wir unserm Herzen uns überlassen, während die Frage, was klug, was
unklug war, auf uns eindringt? Ueberspannte Entwürfe, tollkühne Wag-
stücke, stofsen das Mitgefühl zurück; sie tragen die Schuld, wenn erträg-
liche Uebel in gänzliches Verderben ausarten. Die neuesten Unter-
nehmungen, höchst verschieden in Ansehung der Frage von Recht und
Unrecht, sind einander ähnlich in Hinsicht des Erfolgs; der bey der einen
äufserst mislich ist, bey der andern offenbar verfehlt war. Wie Mancher,
der in Gefühlen schwärmend, schon im Geiste den Einwohnern von
Turin und Neapel zujauchzte, und mit ihnen die goldne Wolkengestalt
anbetete, die man, mit einem Worte von sehr schwankender Bedeutung,
Freyheit zu nennen pflegt; wie Mancher mag hinterher sich im Stillen
geschämt haben, als ihm die Zeitungen den Ausgang meldeten !
Sie werden es nicht rnisbilligen, höchstgeehrte Anwesende ! wenn ich
die Hindeutung auf bestimmte Thatsachen hier ganz kurz abbreche, und
I_i II. Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.
mich in meine Behausung, die der allgemeinen Begriffe, zurückziehe. Dafs
ich aber gerade jetzt mich veranlafst finden konnte, über Menschen-
kenntnifs in Beziehung auf politische Meinungen nachzudenken,
liegt deutlich genug vor Augen. Menschenkenntnifs ist eine natürliche
Feindin aller politischen Ueberspannung ; und wo man die letztere wahr-
nimmt, kann man sehr sicher schliefsen, es müsse an jener erstem gefehlt
haben. Stärker jedoch kann sich die, der Menschenkenntnifs entgegen-
stehende Verblendung unmöglich äufsern, als wenn, im Angesichte der
europäischen Mächte, in solchen Gegenden ein Volksaufstand gepredigt
wird, wo keine allgemeine, drückende Noth des Volkes voranging, die
allein den flüchtigen Worten und Meinungen auch da noch Bestand geben
könnte, wo es darauf ankommt, das Aeufserste zu wagen.
Indem nun auf der einen Seite die wesentlichsten Bedingungen und
Kennzeichen der wahren Menschenkenntnifs, auf der andern die Haupt-
Unterschiede der politischen Meinungen, den Gegenstand meiner Betrach-
tungen ausmächen müssen, damit am Ende das Verhältnifs einleuchte,
welches der Natur der Sache nach zwischen beyden besteht : kann ich
nicht umhin, an jener eingebildeten, falschen Menschenkenntnifs vorüber-
zugehn , die so gemein ist , wie das politische Gespräch ; so beschränkt,
wie der Gesichtskreis in welchem sie entstand; so abhängig von Vor-
urtheilen und Leidenschaften, als nur irgend eine Meinung, im Gegensatze
des wahren gründlichen Wissens, es seyn kann. Ich meine jene Art von
Menschenbeurtheilung, die wir bey den gewöhnlichen Zeitungslesem fast
aller Klassen und Stände antreffen. Bey jeder wichtigen Neuigkeit, die
Europa durchläuft, bewegen sich unzählige Zungen; sie loben, sie tadeln,
sie schmähen; sie drohen wohl gar; doch vor allen Dingen sind sie be-
schäftigt, die Gesinnungen der auf der Weltbühne handelnden Personen
auszusprechen, verborgene Absichten zu verkünden, und von geheimen
Zurüstungen den Erfolg zu weissagen. Könnten wir alle diese Zungen
auf einmal reden hören, unstreitig würden wir die natürliche Partheylich-
keit der verschiedenen Stände, Alter und Völker leicht wieder erkennen,
wir würden sehen, wie oft diejenigen sich am klügsten dünken, die sich
von den arglistigen Absichten der Mächtigen die abentheuerlichsten Vor-
stellungen ausgesonnen haben ; und wie oft die Grofsen das Mistrauen
der Geringem mit gleichem Mistrauen vergelten. Ist dies die wahre
Menschenkenntnifs ? Eben so wenig als Gespensterfurcht Naturkunde ist.
Vorsichtig mag man den nennen, der sich jede Gefahr so grofs als mög-
lich, und jeden Mächtigen als gefährlich denkt; aber dieser Vorsichtige
ist weder ein guter Beobachter, noch ein guter Bürger; ob ein guter
Staatsmann ? darüber mögen Geschichte und Erfahrung reden ; allein ich
besorge, Sie werden den ängstlichen Regierungen, die stets gegen das
Volk auf ihrer Hut sind, nicht eben das beste Zeugnifs ausstellen. Wie
dem auch sey: jede Kenntnifs, also auch Menschenkenntnifs, wird der
Unbefangenste am sichersten erwerben. Daher erwarte ich sie nicht etwa
bey dem, welcher oft durch Schaden klug wurde, sondern bey dem,
welchen sein natürlich richtiger Blick von Jugend auf vor Schaden ge-
hütet hat. Und wenn die spätem Jahre des Lebens den Vorzug der
vollständigem Beobachtung, und der reifem Beurtheilung besitzen, so hat
Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 1821. 15
es mir doch oft geschienen, die wahre Weltklugheit wachse mit dem
Menschen heran, dergestalt dafs, wo sie dem Jünglinge nicht blüht, sie
auch dem Manne keine Früchte zeitigt.
Die erste Bedingung der ächten Menschenkenntnifs liegt hiemit schon
vor Augen; sie heifst: ruhige, unbefangene Beobachtung, ohne Furcht
und Hoffnung, ohne Vorliebe und Abneigung. Schwer ist es gewifs, diese
Bedingung zu erreichen. Denn wer geht durchs Leben, ohne beständig
zu fürchten und zu hoffen ? Welches menschliche Antlitz kann uns be-
gegnen, das wir nicht auf irgend eine Weise, oft ohne es zu merken, mit
unsern Wünschen und Besorgnissen in Verbindung setzten ? — Wenigstens
ist das die Art vieler Menschen, alle Sachen und Personen als Gelegen-
heiten und Gefahren zu betrachten; ihre Gespräche sind Erkundigungen,
ihre Grüfse schon sind Gesuche, wo nicht umgekehrt Begünstigungen für
den, dessen stummes Anliegen sie zu erraten glauben. Diese Gattung
von Leuten pflegt für sehr klug gehalten zu werden ; allein ihre Menschen-
kenntnifs möchte zu vergleichen seyn mit der Botanik derjenigen, die in
den Pflanzen nur Heilkräfte suchen, und keine Blume lieben, die nicht
offizineil ist und nicht im Laboratorium zu thuh giebt. Dem wahren
Botaniker hingegen ist jedes Gewächs merkwürdig, was sein Wissen ver-
mehrt, und sein Verhältnifs zur Natur zu einer innigem Vertraulichkeit
erhebt; ebenso werden auch nur diejenigen Beobachtungen uns mit
Sicherheit in das Wesen des Menschen hineinschauen lassen, die wir ohne
weitere Rücksicht deshalb machen, weil wir ein offenes Auge haben, und
deshalb aufbewahren, weil wir keinen Beytrag zu dem Ganzen unseres
Wissens gering schätzen.
Indessen ist das unbestochene Sehen und Urtheilen, nebst der Sorge,
nicht Erfahrung mit Erschleichung zu mischen, nur die erste vorläufige
Voraussetzung, ohne welche kein unverfälschtes Wahrnehmen würde statt
finden können; aber die Kunst des Beobachtens l reicht weiter; sie ver-
langt Schärfe der Unterscheidung und Vollständigkeit der Zusammen-
fassung. Indem wir diese unentbehrlichen Tugenden bey dem Menschen-
kenner aufsuchen : wird es uns sogleich auffallen, dafs demselben eine be-
sondere Schwierigkeit im Wege steht. Ihm ist nämlich sein Gegenstand
dem gröfsten Theile nach gar nicht unmittelbar in der Erfahrung gegeben.
Jeder Mensch schaut zunächst nur in sein eigenes Innere; die Herzen
der Andern sind ihm verschlossen, wenn sie sich nicht frey willig ihm
öffnen; und selbst in diesem Falle, wie macht er es, sie zu verstehen?
Er vergleicht sie mit sich selbst; er deutet ihre Aeufserungen auf einen
ähnlichen Lauf der Empfindungen und Vorstellungen, wie er in seinem
Bewufstseyn vorfand; er deutet richtig oder falsch, nicht blofs weil er
Jene Andern, sondern auch weil er sich selbst besser oder schlechter be-
obachtete. Hier müssen die mindesten Spuren dessen, was er in sich nur
noch kaum unterschied, zu Aufschlüssen dienen, um von den gröfsten Ab-
weichungen der Charaktere und Empfindungsweisen nur die Möglichkeit
zu fassen ; der Einzelne mufs die Menschheit in sich tragen, in sich finden
und durchdenken, um alle die mannigfaltigen Aufsenseiten anderer Men-
1 Beobachters SW.
t 5 II. Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.
sehen in seiner Vorstellung auf ein Inneres, das etwa dahinter verborgen
seyn könne, zurückzuführen. Er mufs in sich selbst ganz allein den Dol-
metscher finden, um ihre Sprache, — nicht blofs die Laute ihres Mundes,
sondern auch die Zeichen ihres Handelns, sich zu übersetzen und aus-
zulegen. Welche Feinheit der Selbstbeobachtung setzt dies voraus! Die
sanze Möglichkeit des Guten und des Schlechten, des Edeln und der
Verworfenheit, die Kräfte der Tugend und des Lasters, die Schwächen
der Abspannung und der Ueberspannung, des Vorwärts und Rückwärts
Schreiten und Gleiten, den Aufschwung, die Stetigkeit und das Nieder-
sinken — dies alles soll er in sich erkennen, um es in Andern wieder-
zufinden; denn er kann die Andern nicht einmal errathen, aufser nach der
Vorzeichnung, die er in sich erblickt, und die er wohl in Gedanken ver-
gröfsem, verkleinern, hie und da abändern und anders zusammensetzen,
aber nicht aus anderm Stoffe bilden kann, nicht zu erfinden, nicht wirk-
lich neu zu schaffen vermag. l Dafs unter diesen Umständen in der That
Menschenkenntnifs in gewissem Grade möglich ist, und dafs es Manchem
gelingt, sie zu erwerben : dies zeigt einen hohen Grad von Gleichartigkeit
der menschlichen Naturen in allen dem, was man die Elemente ihrer Zu-
sammensetzung nennen mag; doch kann Jeder nur nach dem Umfange
seines Geistes, und nach der Geduld, womit er der Selbstbeobachtung sich
widmet, ohne vor der vollendeten Auffassung an sich meistern zu wollen,
dahin gelangen mehr oder weniger von dem Ganzen der Menschheit zu
verstehen. Ohne nun die Schwierigkeiten, welche selbst in das eigne
Innere tief hineinzuschauen uns verwehren, hier weiter zu erwähnen;
wende ich mich zu der Forderung der Vollständigkeit im Zusammenstellen
dessen, was die Erfahrung darbietet.
Hier kommt es nicht darauf an, in vielen Exemplaren einerley vor
Augen zu haben, sondern kein Exemplar für ein Ganzes zu halten, das
nur ein Bruchstück ist. In wiefem nun auf die Mensch engeschichte der
Spruch pafst : es geschehe nichts Neues unter der Sonne, wiederholt sich
in vielen Beyspielen nur einerley Erscheinungen und Lehren; und in
dieser Hinsicht allein, würde Geschichte wenig geeignet seyn, Mensch en-
. kenntnifs zu fördern. Aber aus einem andern Grunde mufs die Summe
von allgemeinen Bemerkungen über den Menschen, welche man Psycho-
logie nennt, sehr nothwendig durch Geschichte ergänzt und berichtigt
werden. Nämlich kein Mensch steht allein, und kein bekanntes Zeitalter
beruht auf sich selbst; in jeder Gegenwart lebt die Vergangenheit, und
was der Einzelne seine Persönlichkeit nennt, das ist selbst im strengsten
Sinne des Worts ein Gewebe von Gedanken und Empfindungen, deren
bey weitem gröfster Theil nur wiederholet, was die Gesellschaft, in deren
Mitte er lebt, als ein geistiges Gemeingut besitzt und verwaltet. Daher
täuscht man sich sehr, wenn man die Beobachtung eines einzelnen Men-
schen für vollständig hält; man täuscht sich, wenn man das Mannigfaltige
in ihm, und man täuscht sich nochmals, wenn man die Einheit dieses
Mannigfaltigen, sey sie nun wirklich vorhanden oder nur hineingedacht,
als bezeichnend für das Ursprüngliche seines Wesens ansieht. Das wahre
i Nach „zu schaffen vermag" Absatz S\V.
Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 1821. \-j
Ursprüngliche des menschlichen Geistes ist vollkommen einfach; eben des-
halb enthält es nicht das Mindeste von der Mannigfaltigkeit der Gesetze,
welche die Psychologen in dem Denken, dem Wollen, dem Empfinden
zu bemerken glauben, sondern diese Gesetze entstehen erst mit den Ge-
danken und aus denselben; auch sind sie nur deshalb allgemein, weil die
Bedingungen ihrer Erzeugung in den menschlichen Seelen überall gleich-
artig sind. Doch ich darf mich hier nicht vertiefen in diejenige Wissen-
schaft, welche in Ansehung der Seele das, was jenseits der Erfahrung liegt,
zu erkennen gestattet; es sey genug nur angedeutet zu haben, dafs die
Psychologie, wenn sie vollständig seyn soll, nicht auf der blofsen Erfahrung
allein beruhen könne; dafs es vielmehr Quellen einer wissenschaftlichen
Mensch enkenntnifs gebe, welche aufzusuchen desto nöthiger ist, je unzu-
länglicher und unsicher jene Deutung ausfällt, die wir unserer inneren
Wahrnehmung geben, wenn wir darnach Andere beurtheilen, in deren
Inneres wir unmittelbar nicht hineinschauen können.
Mag man aber durch Speculation oder auch blofs durch Erfahrung
den Menschen kennen, wofern man nur sich gewöhnt, nie die Auffassung
des Einzelnen allein für vollständig zu halten, sondern ihn stets mit seiner
Umgebung und in seiner Zeit zu betrachten, so wird leicht erhellen, dafs
in jedem Menschen eine ihm eigenthümliche Form, und ein auf ihn
zufällig übertragener Stoff von Gedanken und Meinungen unterschieden
werden müsse. Die eigenthümliche Form besteht in dem Temperament,
und in einem, von Jugend auf beynahe gleichbleibenden, durch keine
Erziehung und keine Schicksale abzuändernden, Rhythmus der geistigen
Bewegungen. Hingegen die ganze Masse der Vorstellungen kommt eben
so gewifs wie die Muttersprache, von aufsen, und würde mit einer andern
vertauscht werden, wenn wir das neugeborne Kind des Engländers nach
China, das des Chinesen nach Paris verpflanzten, ohne Kunde und Be-
gleitung aus dem väterlichen Hause. Diese Masse der Vorstellungen
ändert sich aber auch ohne Verpflanzung durch die Zeit. So werden
unstreitig Deutsche Kinder jetzt mit ganz andern Darstellungen der
Deutschen Geschichte, und hiedurch mit ganz andern Nationalgefühlen
ernährt, als dies vor der Schlacht bei Leipzig, und vor dem doppelten
Einzüge in Paris der Fall seyn konnte. Nur ist eine solche Veränderung
nicht plötzlich und nicht durchgreifend. Sehr vieles von dem, was den
jungen Deutschen jetzt beschäftigt, ist noch genau das nämliche, als was vor
zwanzig Jahren sich darbot. Daher verräth sich die Zufälligkeit des Ge-
dankenstoffes nicht blofs darin, dafs dem Einzelnen eine veränderte Um-
gebung auch eine andere Summe von Vorstellungen würde zugeführt haben,
sondern überdies sind die Theile dieser Summe einander selbst zufällig,
und einer dem Laufe der Dinge anheimgestellten Umwandlung durch neue
Zusätze und Ausscheidung des Alten unterworfen. Wird man unter diesen
Umständen wohl erwarten dürfen, dafs alle Meinungen und Gewöhnungen
eines Menschen unter einander vollständig zusammenstimmen müfsten?
Wenn er im Laufe der. Zeit manche, in ihren Gründen widerstreitende
Ansichten kennen gelernt hat, so läuft er Gefahr, von einer jeden unwill-
kührlich etwas zu halten, und abwechselnd in längern oder kürzern Perioden
hie und dorthin zu schwanken. So erwacht in dem Weltmann in spätem
Hkrbart's Werke. V. 2
t 8 IL Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.
Jahren die Religion, zum Zeichen, dafs ihre Jugend - Eindrücke niemals
eigentlich ausgetilgt, sondern nur unterdrückt waren. Und wie viel
schnellere Wechsel, wie stürmische Umkehrungen der Gesinnung würden
wir vielleicht in dem heutigen Spanien finden, wenn wir dort die einzelnen
Menschen ganz nahe beobachten könnten! Denn man kann es als psycho-
logisch unmöglich ansehn, dafs in dieser alten Werkstätte der Mönche, aus
welcher jedoch die französischen Waffen leichter als die mitgekommenen
Ansichten vertrieben werden konnten, jetzt schon ein bestimmtes Gleich-
gewicht der Meinungen sollte eingetreten seyn; vielmehr ist die bürgerliche
Gährung in jenem Lande nur als ein äufseres Zeichen eines Kampfes zu
betrachten, den eine grofse Zahl von einzelnen Menschen mit sich selbst
kämpfen mufs, um die ersten Jugendeindrücke gegen alles das Neue, was
der Lauf der Zeit herbeiführte, in ein bestimmtes Verhältnifs zu setzen.
Und wiewohl Niemand den Spaniern wünschen wird, dafs eine so lange
und furchtbare Reibung, wie die des dreyfsigjährigen Krieges in Deutsch-
land war, auch bey ihnen eintrete: so kami man doch kaum verkennen,
dafs dem heftigen Gegensatze der politischen Meinungen dort ein anderer
in Ansehung der Religionslehren beynahe nothwendig folgen müsse, dessen
Entscheidung desto länger dauern dürfte, je tiefer und schmerzlicher das
Andenken an erlittene Verfolgungen wahrscheinlich noch in manchen
Familien fortdauert. Der Religionskampf aber ist gewifs nicht blofs ein
äufserer, sondern zuerst und vorzüglich ein innerer; ja in seine Strudel
geräth gewöhnlich alles das, worin der Mensch mit sich selbst nicht einig
werden kann, mag es Wissenschaft oder Kunst, mag es Lebens plane oder
Lebens-Ansichten betreffen. Wer nun die Menschen wünscht kennen
zu lernen, der wird sie vorzüglich in diesem Zustande der Uneinigkeit
mit sich selbst zu beobachten suchen, und zwar nicht blofs dann, wenn
sie den innern Streit offen zu Tage legen, sondern schon da, wo sie sich
ungewifs fühlen, und eben deshalb das Sicherste statt des Besten, das
Handgreiflichste statt des Höheren und Schöneren erwählen; wo sie in die
Gemeinheit zurücksinken, weil in ihrem edlern Streben ihnen der Gearen-
stand dunkel, oder ihr Beruf, ihre Kraft, ihnen zweifelhaft geworden ist.
Auf diesem Punkte verführt sie das Beyspiel, ergreift sie der Eigennutz,
erdrückt sie die Auctorität; hier verlieren sie die Freyheit, die sie umsonst
in den Staatsverfassungen wiedersuchen.
Diese Schwankung, welche daher rührt, dafs in dem Gedankenkreise
des Menschen keine ursprüngliche Einheit ist, wird in ihren Folgen noch
wichtiger wegen eines andern Umstandes, dessen ich kurz erwähnen mufs:
ich meine die engen Schranken der Möglichkeit, dafs der Mensch ein
Mannigfaltiges zugleich bedenke, und beharrlich seiner Betrachtung gegen-
wärtig erhalte. Grofse Geister, im Gegensatze der Menschen von kleinem
Gehirn, würden wir nicht bewundern, wäre nicht der weite Umfang dessen,
was sie theils zugleich, theils schnell hinter einander fassen und besorgen,
eine Seltenheit, deren Mangel der gewöhnliche Mensch nur zu schmerz-
lich an sich selber tadelt. Allein was heifst grofs, und welcher Umfang
ist weit? Diese Worte bezeichnen eine Vergleichung , welche, über die
gewohnten Grenzen hinaus fortgesetzt, und bald genug alle menschlichen
Geister als schwach und klein darstellt, wenn wir das Ganze der mensch-
Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 1821. iq
liehen Angelegenheiten zum Mafsstab nehmen. Sehr grofse Gelehrte be-
kennen, die Tiefe ihres Wissens mit Einseitigkeit der Bildung bezahlt
zu haben, und sie verlangen sogar dieselbe Einseitigkeit von ihren Schülern.
Der gröfste Staatsmann läfst eine Menge von untergeordneten Personen
für sich arbeiten; und ein berühmter Minister sagte von sich selbst, er
wolle lieber seine Zeit damit tödten, dafs er Papier zwecklos in Stücken
zerschneide, als irgend eine Arbeit selbst verfertigen, die er füglich einem
Andern auftragen könne. Gewifs ein deutliches Bekenntnis, wie wichtig
es sey, den Geist nicht zu überfüllen, wenn dessen Beweglichkeit nicht
leiden solle. Daher bey wachsender Cultur die immer vermehrte Zahl der
Unterschiede zwischen Ständen, Fächern, Gewerbszweigen, Arbeiten aller
Art. Aber bey dieser Lage der Dinge rechnen wir alle gegenseitig auf
einander; keiner vermag an seinen Platz sich zu stellen und zu behaupten,
wo nicht jeder Andre auf dem seinigen steht. Wer denn bevestigt die
Plätze, auf denen wir stehn? Unstreitig der Staat. Woher denn empfing
der Staat die Macht, so viele Plätze zu stützen; so viele Personen, die
an diesen Plätzen stehen, zu tragen? Ohne Zweifel von dem allgemeinen
Gefühle des Bedürfnisses, sich anzulehnen an Gesetz und Ordnimg, sich
zu fügen in die bestehenden Formen. Aber wenn es wahr ist, dafs die
Stärke des Staats beruht auf der Schwäche und Beschränktheit der Einzelnen :
mufs nicht der Staat schwächer werden, wenn die Kraft, die Einsicht, die
Ausbildung und Uebung bei den Einzelnen wächst? Wird nicht der Staat,
indem er dieses wahrnimmt, die Bürger suchen in der Unmündigkeit zu
erhalten? Werden nicht die Einzelnen ihrer Seits dem Staate widerstreben,
wenn sie sehen, ihre Schlaffheit und Sorglosigkeit sey es gewesen, die sie
abhängig machte von einer zwingenden Gewalt?
Dafs ich diese allgemein bekannten Fragen beantworten sollte, werden
Sie, höchstgeehrte Anwesende, nicht erwarten; ich habe sie nur in Er-
innerung gebracht, um den Ursprung der unvermeidlich verschiedenen
politischen Meinungen zu bezeichnen, die sich in allen Staaten zu allen
Zeiten gefunden haben und finden werden. Wir können alle politischen
Meinungen, wie mannigfaltig sie auch seyn mögen, auf zwey bekannte
Hauptclassen zurückführen. Die Anhänger der einen nennen sich Liberale;
die der andern halten sich an die Legitimität. Beyde kommen darin über-
ein, dafs sie das Recht zu ihrem Schilde erkoren haben; aber die einen
reden von dem Recht, das, wie sie sagen, mit uns geboren ward, die
andern verweisen uns an Urkunden und bestehende Verfassungen. Es
dürfte aber wenig Menschenkenntnifs verrathen, wenn wir die Meinungen
vom Recht als die wahre Quelle der Gesinnungen betrachten wollten.
Mag es seyn, dafs einzelne Denker sich in dieser Hinsicht bestimmte Ueber-
zeugungen gebildet, und dafs sie, was weit mehr sagen will, diese Ueber-
zeugungen auch wirklich zur Grundlage ihrer ganzen politischen Denkungs-
art erhoben haben. Aber die gröfsere Zahl der Menschen, wenn vom
strengen Denken, von systematischer Theorie die Rede ist, mistraut sich
selbst; sie mistraut auch den Philosophen und ist weit davon entfernt,
etwa diesen oder jenen Schriftsteller als eine Auctorität für sich anzu-
führen, der man mit reiner Hingebung, vollends mit Aufopferung, folgen
müfste. Die Liberalen wollen nur sich selber folgen; die Freunde der
20 n. Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.
Legitimität suchen dagegen den Schutz derer, welche die Macht in Händen
haben; und das beste, was man von beyden Parthey en sagen kann,
besteht darin, dafs' die wahren Liberalen Freyheit nicht blofs für sich,
sondern für Jedermann verlangen; die wahren Verehrer der Legitimität
aber nicht blols für sich, sondern für das bürgerliche Ganze den Schutz
der Ordnung zu behaupten wünschen. Ist es nun möglich, möchte man
fragen, dafs die Liberalen keine Ordnung, dafs die Legitimen keine Freyheit
begehren? Beyde wollen ja beydes; wie können sie denn streiten? Aber
der Streitpunkt liegt eben deshalb nicht auf dem Felde des Rechts, sondern
auf dem der Menschen-Beurtheilung. Die Frage ist weit weniger über
das, was seyn solle, als über das, was seyn könne.
Hören wir die Liberalen : so ist der Mensch ursprünglich ein strebendes,
wollendes Wesen; so beruht der Staat auf der Zusammenwirkung der
Willen; so ist bey einer gebildeten Nation, und in Zeiten wie die unsrigen,
jede Unterdrückung ein Reiz zur Gegenwirkung; so spannt Alles, was
nicht mit allgemeiner Zustimmung geschieht, die Kräfte der Unzufrieden-
heit zur immer stärkeren Aeufserung; das Ganze kann nicht in Ruhe seyn,
aufser durch ein Gleichgewicht aller Wünsche und Interessen; man mufs
demnach erlauben, dafs diese Wünsche, diese Interessen, und mit ihnen
die Gedanken und Meinungen, sich laut äufsern, man mufs auf sie hören,
man mufs bereit seyn, ihnen nachzugeben, selbst wenn dem öffentlichen
Verlangen ein Irrthum zum Grunde läge. Die Nation mufs nach dieser
Ansicht Erfahrungen machen; durch Erfahrungen sich bilden; sie wird als-
dann endlich von selbst den Ruhepunkt finden, auf welchem ein vestes,
durch allgemeine Ueberzeugung geheiligtes Gesetz die ferneren Umwand-
lungen verhindert. Dann erst wird das goldene Zeitalter eintreten; Jeder
wird sehen, dafs er nach Billigkeit nichts mehr verlangen könne als er
schon hat; Alle werden darauf achten, dafs Keinem einfallen könne, mehr
als das Billige zu fordern. Ob es alsdann noch Kriege geben könne unter
den Völkern? Kaum weifs ich, was ich im Namen der Liberalen hierüber
sagen soll. Die edelsten und einsichtsvollsten unter ihnen können wohl
nicht umhin, anzuerkennen, dafs, wenn einmal von politischen Ideen die
Rede seyn soll, die einer gesetzlichen Verknüpfung aller Staaten, welche
einander berühren können, die wichtigste oder wenigstens die gröfste und
umfassendste von allen ist; allein es scheint fast, als ob dieser allgemeine
Bund, diese Verbrüderung, heutiges Tages von Manchen weniger gewünscht
würde, seitdem etwas in die Wirklichkeit eingetreten ist, das mit der be-
zeichneten Idee eine unverkennbare Aehnlichkeit hat. Soll man denn
glauben, es wäre besser, wenn die Staaten gegen einander im Natur-
zustande lebten, der, sobald einer es für sich nützlich findet, in Kriegs-
stand übergehen wird? Vielleicht! Da Manche den Krieg als ein gym-
nastisches Spiel betrachten, dessen die Nationen zuweilen bedürfen, um
sich zu ermuthigen und zu erfrischen. Aber die Consequenz wird als-
dann auf die Frage leiten, ob eine ähnliche Gymnastik nicht auch zwischen
den Provinzen eines Staats, ja zwischen den Familien einer Stadt, einzu-
führen wäre, damit die Wirkung noch sicherer und heilsamer ausfallen
möchte. Doch, die wahren Denker können eine solche rückgängige Be-
wegung im Gebiete der Ideen nicht machen; und welche Meinung sie
Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 1821. 21
auch über einzelne Begebenheiten hegen mögen, darin werden sie zu-
sammenstimmen, dafs die öffentliche Anerkennung: für christliche Staaten
gezieme sich ein christlicher Bund, zu den besten, würdigsten Erzeug-
nissen der neueren Zeit zu rechnen ist.
Hören wir nun auch die Freunde der Legitimität: so werden Viele,
vielleicht die Meisten von ihnen, gleich zuerst in Ansehung des eben
erwähnten christlichen Bundes ihre Menschenkenntnifs gelten machen gegen
die Idee; sie werden uns sagen, dafs zwischen mehreren Staaten,
die kein gemeinsames Oberhaupt anerkennen, es kein wahres Bündnifs
o-eben könne, als nur das der gemeinsamen Vortheile; weil aber dieses
mit den Zeitumständen veränderlich sei, so müsse man sich mit jenem
o-ebrechlichen europäischen Gleichgewichte begnügen, welches wir aus den
Zeiten vor der französischen Staatsumwälzung wohl kennen. Nur inner-
halb der einzelnen Staaten gebe es einen rechtlichen Zustand; und auch
dies nur in so fern, als eine Herrschaft, eine unwiderstehliche Macht vor-
handen sey, welche den Gedanken des Rechts, der als blofser Gedanke
nichts vermögen würde, in ein wirkliches Verhältnifs umbilde. Daher sey
Alles verloren, sobald diese Herrschaft zweifelhaft werde; daher gebe es
keine Herstellung des Verlorenen, aufser durch Rückkehr und durch Wieder-
Bevestigung derselben Herrschaft. — Jedoch, hiermit allein werden die
Denkenden, die Verständigsten unter den Legitimen, sich nicht begnügen.
Sie werden einsehen, dafs blofse Herrschaft auch den Usurpator zum
Fürsten des Rechts machen würde, so lange er noch das Haupt der
Armee ist; sie werden bemerken, dafs es gerade Mangel an Menschen-
kenntnifs sey, zu glauben, das Scepter habe in jeder Hand, die es zu
führen wisse, einerley Gewicht. Denn eben das bezeichnet den legitimen
Herrn nicht blofs als den rechtlichsten, sondern unter gleichen Umständen
auch als den stärksten, dafs in Ansehung seiner in den Gemüthern der
Menschen keine Frage entsteht, wie er dazu komme, herrschen zu wollen?
Dafs ihm ganz allein es geziemt, die Kröne zu tragen, sie sey nun eine
Last oder ein Schmuck; weil es Schwäche seyn würde, das Geschäft zu
verweigern, welches der Umstand seiner Geburt, und die ohne sein Zuthun
vorhandene Sitte ihm anweist. Oder wäre es etwa für Ludwig den acht-
zehnten, da er in der Verbannung lebte, anständig gewesen, sein Recht
auf die Krone, ich will nicht sagen, gegen das angebotene Jahrgehalt zu
verkaufen, aber doch durch eine Verzichtleistung auszulöschen, und hiemit
sich selbst unfähig zu machen, der Nation den Mittelpunkt der Ordnung
darzubieten, wozu ihn nachmals die Umstände wirklich erhoben? — Wohl
aber geziemte es jenem andern Ludwig, dem Bruder des französischen
Kaisers, einen Thron zu verlassen, für den er nicht geboren war; denn
zwischen ihm und den Niederländern bestand nur ein erkünsteltes, will-
kührliches Verhältnifs, höchstens ein Vertrag, der aufgehoben war, sobald
die völlige Unmöglichkeit, die Pflichten desselben seinerseits zu erfüllen»
offenbar einleuchtete.
Das Verhältnifs des erblichen Herrschers nun, werden die Freunde
der Legitimität fortfahren, enthüllt das ganze Geheimnifs aller Stufen der
Güter und des Ranges im Staate. Denn auch Adel und Reichthum erben
sich fort; jeder Besitz aber geziemt dem am Meisten, welchem er ungesucht
22 II- Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.
zu Theil wurde. Ihn trifft kein Vorwurf der Habsucht; aber der Vorwurf
der Schwäche würde ihn treffen, wenn er fahren liefse, was sein ist. Nur
die neuen Reichen brüsten sich mit ihren Schätzen; so verrathen sie die
Begierde, womit sie die Hände darnach ausstreckten. Das ganze Volk
empfindet diesen Unterschied, sofern es unbefangen beobachtet; wer ihn
nicht empfindet, der ist geblendet, oder bestochen durch eigne Wünsche.
Aber nur zum allgemeinen Nachtheil können in diesem Punkte die Em-
pfindungen verfälscht werden, denn beginnt einmal der Glaube an uralten
Besitz zu wanken und zu zweifeln, dann werden alle Güter die Zielpuncte
des Eigennutzes; Betrug und Raub lauern auf Gelegenheit, Unruhe und
Sorge wird das allgemeine Loos; die Nation hat dann ihren inneren Frieden
verloren.
Nachdem ich nunmehr in der Kürze die Meinung der Liberalen
und die der Legitimen anzudeuten versucht habe, wird es nöthig seyn,
zuvörderst beyde unter einander zu vergleichen, damit leichter erhellen
möge, auf welcher Seite sich die richtigste Menschen-Beurtheilung finde.
Es läfst sich wohl nicht verkennen, dafs die Liberalen sich eine ideale
Zukunft, die Legitimen eine ideale Vergangenheit wenigstens dunkel
vorstellen, die den Gegenstand ihrer Sehnsucht ausmacht. Denn die einen
suchen das Neue, die andern streben zurück zum Alten. Jene denken
sich jeden Bürger als eine öffentliche Person, die mit Rath und That ins
Ganze zu wirken berufen sey ; und wo dies in der Wirklichkeit sich nicht
zeigt, da glauben sie eine Lähmung der natürlichen Kraft, eine Folge der
Unterdrückung wahrzunehmen, da setzen sie einen Drang voraus, der sich
einmal Luft machen werde; dem man schon jetzt, oder bald, oder doch
allmählig Luft machen müsse, um eine gefährliche Explosion zu vermeiden.
Und wenn nun alle verborgenen Kräfte öffentlich werden hervorgetreten
seyn, dann erst erwarten sie einen Zustand des ruhigen Gleichgewichts,
des friedlichen Zusammenlebens, ja des harmonischen Zusammenwirkens;
ohne zu bedenken, dafs unter vielen aufgeregten, stark gespannten Kräften,
bey vielen lauten Ansprüchen, die alle befriedigt seyn wollen, das Gleich-
gewicht auch viel schwerer zu erhalten, viel leichter zu stören ist, als in
einem einfachen System der Wirkung und Gegenwirkung. Die andern
aber, die Freunde des Alten, denken sich eine Vergangenheit des tiefsten
Friedens, des Besitzes ohne Tadel, ohne Verdacht, ohne Frage nach seinem
rechtlichen Ursprünge; als hätten jemals die Armen1 ganz neidlos neben
den Reichen gewohnt, als hätten alle Herrscher seit undenklichen Zeiten
eine völlig legitime Herrschaft geübt; als wäre die Frage, woher das Recht
zum Vorrang der Einen, woher die Pflicht der Andern zum Dienen und
zur Unterordnung, eine Erfindung der neuesten Zeit. Allein das Loos
der Menschheit war nicht so glücklich, und wird nicht so glücklich seyn,
wie die verschiedenen Parthey en sich überreden. Jede Zeit, jeder Staat,
worin überhaupt der Grad von Bildung vorhanden war und seyn wird,
den das politische Nachdenken voraussetzt, — hatte und wird haben
sowohl Vorwärts- als Rückwärts-Strebende ; sowohl Freunde der Patrizier
als Verehrer des Volks, sowohl eine rechte als eine linke Seite, und,
1 Die Aermern SW.
Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 182 1.
wenn das Glück grofs ist, sowohl einen Pitt, als einen Fox. Denn kein
Zeitalter erbt von dem vorhergehenden einen durchaus geläuterten recht-
lichen Zustand; es erbt Processe ohne Sentenz, und Sentenzen ohne Exe-
cution, und, was noch schlimmer ist, Executionen ohne Procefs und Sentenz ;
es erbt Friedensschlüsse, die der Krieg erzwang, und die eben deshalb
den Keim zum neuen Kriege enthalten. Unter solchen Umständen aber
gehört noch mehr als blofse Rechtlichkeit dazu, wenn der Krieg nicht
ausbrechen soll. Die rohe Menge bedarf des Druckes von Oben, die
Gebildeten bedürfen des Ehrgefühls und alle bedürfen der Religion, damit
jeder in seinem Gewissen sich scheue, die Vorwände zu ergreifen, die
allenfalls den Streit beschönigen könnten. —
Wenn nun schon die erste Bedingung der Menschenkenntnifs, Unbe-
fangenheit und gleiche Entfernimg von Vorliebe und Abneigung, sowohl
bey den Liberalen als bey den Legitimen vermifst wird; wenn vielmehr
die Einen als unmäfsige Liebhaber des Neuen, die Andern des Alten,
sich leicht genug verrathen: werden wir sie die hohem Bedingungen der
Menschenkenntnifs, Schärfe der Unterscheidung, und Vollständigkeit der
Zusammenfassung besser erfüllen sehn? Oder werden wir nicht vielmehr
entdecken, dafs sie weit entfernt, sich in fremde menschliche Empfindungen
wahrhaft hineinzuversetzen, ihr eignes vorherrschendes Gefühl ohne
Umstände auch Andern beylegen? Wozu Neuerungen, fragte jener fran-
zösische Generalpächter, befinden wir uns nicht wohl ? Unstreitig befanden
die Generalpächter sich wohl; und bey den übrigen Menschen setzten sie
eine Genügsamkeit voraus, die statt aller Güter des Lebens dienen könne,
um ein ähnliches Wohlseyn hervorzubringen. Wie stark der Stachel der
Entbehrung die gröfsere Volksmenge reizen müsse, wie schwer die Tugend
der geduldigen Entsagung sey, das haben von jeher gewifs wenige Reiche
erwogen, sie haben deshalb gewifs die Summe der Kräfte, welche gegen
sie und ihre Vorrechte gespannt seyen, sehr selten richtig geschätzt;
sie haben schlecht überlegt, wie fern der scheinbare Friede in der bürger-
lichen Gesellschaft, auf den sie zählen, haltbar und dauerhaft sey; sie ver-
rechnen sich endlich ganz, wenn sie glauben, das Gewicht, was die untern
Klassen drückt, noch vermehren zu müssen; sie vergessen alsdann, dafs
eben der Druck es ist, welcher den widerstrebenden Kräften ihre Spannung
giebt. Aber die Liberalen verrechnen sie sich weniger? Weil ihr eignes
Gemüth voll ist von politischen Interessen, weil sie nichts anderes be-
denken, als öffentliche Angelegenheiten, darum vergessen sie, dafs die
bei weitem gröfsere Zahl der Menschen nur ein bequemes und anständiges
Privatleben im Auge hat; sie wundern sich, wenn Versammlungen, wozu
alle Bürger eingeladen werden, um etwa für öffentliche Posten den rechten
Mann zu wählen, nur spärlich besucht sind; sie klagen über Erschlaffung
des Gemeinsinns, wenn nach solchen Zeiten, in welchen ausserordentliche
Umstände eine Ueberspannung des politischen Interesse hervorgerufen
hatten, nun wiederum die natürliche Sorge eines Jeden für sein Haus ihre
Rechte gelten macht. Nun ist zwar gewifs, dafs nicht die ganze Würde
des Menschen Platz hat im Hause, dafs sie, um in vollem Glänze zu
erscheinen, Raum sucht im Felde oder auf dem Forum, oder vielmehr
auf den Tafeln der Weltgeschichte, um die Nachwelt erreichen zu können.
2A II- Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.
Aber die Geschichte wächst, während das Gedächtnifs des Menschen gleich
grofs bleibt; und nach zehn Jahrtausenden wird im Tempel des Nach-
ruhms der Platz so eng und so kostbar seyn, dafs alle diejenigen, welche
den Geist nicht gänzlich über die Zeit zu erheben Kraft besitzen, willig
einräumen werden, die Bestimmung des Menschen sey durchgehends auf
das Haus beschränkt, mit Ausnahme einer kleinen Minderzahl, die in
öffentlichen Geschäften ihren Wirkungskreis findet. Und wenn wir uns
das Bild dieser entfernten Zukunft mehr ausmalen wollen, so erblicken
wir zwar ohne Zweifel den ganzen Erdkreis, sofern die Natur nicht Eis-
felder oder Sandwüsten entgegenstellte, bedeckt mit cultivierten Völkern
und Staaten; wir erblicken alle diese Staaten in Gemeinschaft, in Verkehr,
in Wechselwirkung; und wir können leicht voraussehn, dafs alsdann der-
jenige Theil der Menschenkenntnifs, welcher auf Vollständigkeit der Zu-
sammenfassung beruht, weit leichter zu erreichen seyn mufs als jetzt, weil
es alsdann noch weit offenbarer einleuchten wird, wie in einem so weit
ausgedehnten Räume der Zusammenwirkung Aller mit Allen, und nach
einer so sehr verlängerten Weltgeschichte Jeder mit dem Ganzen seiner
Mitwelt und Vorwelt verbunden ist, so dafs man aufser dieser allgemeinen
Verknüpfung den Einzelnen aufzufassen kaum noch wird versuchen wollen.
Aber eben deswegen, weil das Ganze so grofs, wird der Einzelne desto
kleiner seyn; und weil die Geschichte so lang, wird das Leben des
Menschen desto kürzer scheinen. Noch mehr als jetzt werden alsdann
die verschiedenen Zweige der Industrie sich getheilt, noch schärfer als
jetzt werden die Fächer der Kunst und der Gelehrsamkeit sich gesondert
haben; noch mehr als jetzt wird man bey der Uebersicht des Ganzen
der Wissenschaft sich mit allgemeinen Umrissen begnügen müssen. Und
die noch weit wichtigem Umrisse des gesellschaftlichen Daseyns, die man
Sitten, Urkunden, Gesetze, und Verfassungen nennt, müssen sie nicht in
demselben Grade ehrwürdiger werden, wie es sich ldärer zeigt, dafs ohne
sie die ungeheure Mannigfaltigkeit der menschlichen Verhältnisse sich
nicht einmal überschauen, viel weniger in Ordnung halten, und gegen
den furchtbarsten Umsturz sichern läfst? Gewifs, wenn erst ein ent-
schiedenes und unverkennbares Uebergewicht des Allgemeinen über jedes
einzelne menschliche Daseyn, ja über die Fassungskräfte jedes Einzelnen
vorhanden ist: dann wird ein tiefes Gefühl der Abhängigkeit von dem
grofsen Ganzen der Dinge sich jedem Versuch eines willkührlichen Ver-
fahrens entgegensetzen, und vor der Erkenntnifs des Nothwendigen werden
die politischen Meinungen verstummen. • — Doch wohin bin ich gerathen?
und welche entlegene Zukunft habe ich mir vorgespiegelt? Die politischen
Meinungen sind laut und werden noch lauter werden; und alle diese
Meinungen werden von grofsen Menschenkennern nicht blofs angenommen,
sondern vertheidigt und verfochten. Diesen Streit kann meine Rede, und
würde sie auch zur vollständigsten Abhandlung, nicht enden und nicht
schlichten; nur wünschen und hoffen kann ich, dafs die zugleich legitime
und liberale Herrschaft, unter der wir leben, uns fortdauernd mit dem
Schutze beglücken möge, unter welchem allein es möglich ist, so ruhig
und so unbefangen, wie ich es gethan habe, die politischen Meinungen zu
berühren.
III.
UEBER
EINIGE BEZIEHUNGEN
ZWISCHEN
PSYCHOLOGIE
UND
STAATSWISSENSCHAFT.
1821.
[Text nach dem Msc. 2058 der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Citirte Ausgaben.
S"\V = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. IX, 199 — 219), herausgegeben von
G. Hartenstein.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, 331 — 352), herausgegeben Von
G. Hartenstein.
Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und
Staatswissenschaft.
Dafs die Staaten aus Menschen bestehen, und dafs die Menschen
ihre geistige Natur in den Staat mitnehmen, liegt unmittelbar vor Augen.
Daher war es natürlich , dafs schon Plato in seinen Büchern von der
Republik, Psychologie und Staatslehre verknüpfte. In der Seele glaubte er
zwischen Denken und Begehren den ifvf.iog zu finden, die Thatkraft, welche
noch unbestimmt in Ansehung ihrer Gegenstände, sich nach beiden Seiten
hinwenden, und entweder der Vernunft oder der Sinnlichkeit ihren Nach-
druck mittheilen kann; ein Begriff, der etwas anders modificirt, bey den
Heutigen den Namen der Freyheit des Willens führt, und auch hier
das bezeichnet, was entweder für Vernunft oder für Begierde sich ent-
scheidend, beide zur wirklichen Thätigkeit ergänzt, die sie für sich1 allein
nicht entwickeln würden. In dem Staate suchte nun Platon denselben
Typus wieder; und indem er sich den geordneten Staat gleich dem ge-
ordneten Menschen dachte, sonderte er zuerst unter den Staatsbürgern
diejenigen aus, welchen ein freyes Wirken, eine überwiegende Stärke, durch
die Natur verliehen war; wenn nun diese zur guten Natur auch die gute
Bildung empfangen würden, dann, dachte er, seyen sie die wahren Wächter
des Staates, indem sie im Dienste des Weisesten, das gemeine Volk zu-
gleich schützten, und in Ordnung hielten. Eine repräsentative Verfassung
nach heutigem Sinne, hat die Platonische Republik ganz und gar nicht,
und wenn sie dem Platon wäre vorgeschlagen worden, möchte er sie
leicht irgendwo in der Reihe derjenigen Verfassungen eingefügt haben,
durch welche er seinen vollkommenen Staat, mit allmählich wachsenden
Fehlern herabsinkend, in seiner Ausartung herdurchgehen läfst. Oder noch
wahrscheinlicher würde er die Repräsentation, in Hinsicht auf die heutige
Gröfse der Staaten, als ein unter Umständen brauchbares, keineswegs aber
wesentliches Hülfsmittel angesehen haben, um das, worauf es in den Staaten
ankommt, Uebereinstimmung derselben mit der menschlichen Natur, und
Entscheidung des Unbestimmten was in ihr liegt, für das Gute und Rechte
— zu Stande zu bringen und vestzuhalten. —
*e"
Ob die Psychologie der neuern Zeit irgend einen bedeutenden
Denker einladen könnte, nach ihrem Vorbilde, sich einen wohlgeordneten
Staat vorzustellen, das ist eine Frage, welche im Vorbeygehen zu berühren,
sich kaum vermeiden läfst, obgleich sie einer Untersuchung schwerlich
1 für sie allein SW.
28 HI- Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 1821.
werth ist. Wollen wir uns im Ernste den Staat in drey solche Gewalten
zerlegt denken, die sich verhalten wie das Vorstellungsvermögen, das Be-
gehrungsvermögen, das Gefühlsvermögen? Wollen wir einer Corporation im
Staat das blofse Anschauen und Denken, der andern ein blofses Wünschen,
Streben und Wollen, der dritten gar das rein passive Fühlen auftragen?
Wollen wir ferner ein Collegium im Staate anordnen, welches das allgemeine
Gedächtnifs darstellen, ein anderes, welches die Einbildungskraft repräsen-
tiren; und soll, indem wir so fortgehen, gar irgend ein Departement der
Affecten und ein anderes der Leidenschaften errichtet werden? Ehe wir
einen so ungereimten Gedanken völlig ausführen, wird uns der Verdacht
aufsteigen, die heutige Psychologie mit ihren gespaltenen Seelenvermögen
möge wohl Schuld daran seyn, wenn sich zwischen ihrer Darstellung des
einzelnen Menschengeistes und zwischen der bürgerlichen Vereinigung vieler
Menschen, keine Analogie will finden lassen; sie möge wohl das Untrenn-
bare zu trennen versucht, und sich hintennach eine Wiedervereinigung:
dessen eingebildet haben, was, wäre es einmal getrennt, nimmermehr wieder
zur Einheit zurückkehren würde.
Hiegegen dürfte Jemand einwerfen, es könne der Psychologie unserer
Zeit nicht zum Vorwurfe gereichen, wenn sie einer zu weit getriebenen
Analogie nicht entsprechen wollte. Das sey eben der Fehler der heutigen
Philosophie, dafs sie über dem Jagen nach Aehnlichkeiten der Unterschiede
vergäfsen. Schon habe man in der heutigen Naturphilosophie unternommen,
den Staat nach dem Vorbilde des Universum zu construiren; das Mis-
lingen eines solchen Beginnens solle uns warnen, nicht die Seele mit dem
Staate zu vergleichen. Die inneren Verhältnisse der Seele seyen schwerlich
von der nämlichen Beschaffenheit wie die äufseren Verhältnisse zwischen
den Mitgliedern eines grofsen und öffentlichen Gemeinwesens; jeder Staats-
bürger sey ein ganzer Mensch, mit allem Vermögen des Leibes und der
Seele; man könne nicht erwarten, dafs die Verhältnisse auch nur zweyer
Menschen unter einander, viel weniger der unter den grofsen Menschen-
massen, den Ständen, den Communen, den Provinzen, welche den Staat
ausmachen, das im Grofsen wiederholen sollten, was im Kleinen in der
tiefen Brust des Einzelnen verborgen liege. Das sey ebenso, als ob man
sich einbilden wolle, eine grofse Menge von Uhren sollen ein ähnliches
Ganzes darstellen, wie die Theile einer einzigen Uhr; oder eine grofse
Menge menschlicher Leiber solle sich zu einem solchen System verknüpfen,
wie Lunge, Leber, Magen, Herz, Muskeln, Nerven, Knochen in dem ein-
zelnen menschlichen Leibe.
Das Gewicht dieses Einwurfs, geehrteste Anwesende, scheint mir in
der That grofs genug, um uns von übereilten Vergleichungen abzuschrecken.
Wenn es sich nicht sollte nachweisen lassen, dafs in den Staaten eine ähn-
liche Verknüpfung statt finde, wie in dem menschlichen Geiste, so möchte
es uns wenig helfen, etwan das Beyspiel derer für uns anzuführen, die mit
dem Mikrokosmos und Makrokosmos, in alten Zeiten, oder auch jetzt, ge-
spielt haben. Wer lieber phantasirt als denkt, der verknüpft freylich Alles,
aber nur in seiner Vorstellung, denn über die Natur der Dinge hat er
keine Gewalt. Auch müssen wir uns darauf gefafst halten, dafs selbst
wenn wir haltbare Vergleichungspunkte zwischen Seele und Staat wirklich
Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 20
antreffen sollten, doch auch des Verschiedenen, des Eigenthümlichen, des
Unvergleichbaren sich auf beyden Seiten genug zeigen werde.
Die erste recht deutliche Spur aber, welche auf die Aehnlichkeit zwi-
schen Geist und Staat hinweist, liegt in dem Umstand, dafs die Sprache
es ist, welche das Band der menschlichen Gesellschaft knüpft. Denn ver-
mittelst des Wortes, vermittelst der Rede, geht der Gedanke und das Ge-
fühl des Einen hinüber in den Geist des andern; dort weckt er neue
Gedanken und Gefühle, welche zugleich über die nämliche Brücke wandern,
um die Vorstellung des ersten zu bereichem; auf diese Weise geschieht es,
dafs der allgemeinste Theil unserer Gedanken aus uns selbst entspringt,
wir Alle vielmehr gleichsam aus einem öffentlichen Vorrath schöpfen und
an einer allgemeinen Gedanken-Erzeugung Theil nehmen, zu welcher jeder
Einzelne nur einen verhältnifsmäfsig geringen Beytrag liefern kann. Aber
nicht blofs die Summe des geistigen Lebens, sofern sie im Denken besteht,
ist ursprünglich Gemeingut, das sich durch die Sprache Allen mittheilt:
sondern auch der Wille der Menschen, der sich nach den Gedanken
richtet, die Entschliefsungen, die wir fassen, indem wir auf das was Andre
meinen, Rücksicht nehmen, geben deutlich zu erkennen, dafs unsere ganze
geistige Existenz ursprünglich von gesellschaftlicher Art ist. Unser Privat-
leben ist nur aus dem allgemeinen Leben abgesondert, in welchem es seine
Entstehung, seine Hülfsmittel, seine Bedingungen, seine Richtschnur findet
und immer finden wird.
Nun ist aber offenbar, dafs die Art, wie wir uns das allgemeine Leben
aneignen, nothwendig gleichartig seyn mufs mit den innersten Bestimmungen
unserer eignen Geistes - Entwickelung. Das allgemeine Leben ist nichts
aufser den Individuen; es besteht eben in dem, was diese, jedes einzeln
genommen, in sich vollziehn, nachdem sie sich dazu gegenseitigen Anlafs
gegeben hatten. Wenn wir einen fremden Gedanken zu dem unsrigen
machen, so mufs derselbe Gedanke in uns möglich seyn, er mufste auch
in uns, wennschon nicht zuerst, entstehen können. Wenn der Plan, den
wir entwarfen, von Andern angenommen wird, wenn er ihre Mitwirkung
erlangt: so mufste er auch in ihren Neigungen und Bestrebungen Wurzel
fassen können. Es leuchtet also ein, dafs das ganze Gewebe des gesell-
schaftlichen Daseyns nicht nur aus den Fäden besteht, welche die Indivi-
duen spinnen, sondern dafs es auch auf dieselbe Weise zusammenhängen
mufs, wie die Individuen ihre eignen Gedanken, Gesinnungen, Entschliefsun-
gen verknüpfen, denn es wird eben von ihnen verfertigt, und aufser ihren
Geistern und Gemüthern ist es gar nicht vorhanden.
Dies wird noch klärer werden, wenn wir eine andere Betrachtung an-
stellen, die Anfangs der vorigen gerade entgegenzustehen scheint. Sind
nicht in der Gesellschaft eine Menge von verschiedenen, einander wider-
sprechenden Meinungen im Umlauf? Giebt es nicht im Staate eine un-
zählbare Summe von streitenden Interessen? Und ehe sich ein allgemeiner
Wille bilden kann, müssen nicht zuvor die widerstrebenden Kräfte sich
unter einander ins Gleichgewicht gesetzt haben? — Aber gerade so geht
es in dem Geist des einzelnen Menschen. Jedes Individuum trägt eine
unermefsliche Manigfaltigkeit von Vorstellungen in sich, die unter einander
vielfach entgegengesetzt sind; eben wegen dieses Gegensatzes verdrängen
-?0 HI- Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 1821.
die Gedanken einander aus dem Bewufstseyn. Dieses wohl wissend, suchen
wir uns aller Störung von aufsen zu erwehren, wenn wir über etwas scharf
nachdenken, wenn wir irgend eine, gröfsere oder kleinere, geistige Arbeit
zu Stande bringen wollen; es ist aus langer Erfahrung bekannt, dafs der
Gegenstand, den wir bearbeiten, sogleich unser inneres Auge fliehen wird,
sobald ein unzeitiges Geräusch, eine fremdartige Nachricht, ein unerwar-
tetes Geschafft, uns in Anspruch nimmt; darum verbieten wir, wenn es nur
möglich ist, der äufseren Welt, uns neue Vorstellungen zuzuführen, auf so
lange, als wir mit unserem schon gesammelten Gedankenvorrath lebhaft
beschäfftigt sind. Aber was hilfts? Wir tragen der störenden Kräfte nur
zu viele in uns selbst. Ehe wir es uns versehen, hat das in uns, was man
Phantasie nennt, einen Sprung gemacht; unsere Gedanken sind auf einen
Abweg gerathen, haben sich in einem Walde verloren; wir wissen nicht
mehr was wir wollten, und müssen uns mit Anstrengung wieder auf den
Anfangspunkt unseres Denkens zurückversetzen, um es nach dem vorigen
Plan nur besser fortzuführen. So leicht stören wir uns selbst, so wirkt
ein Theil unserer Vorstellungen wider den andern, so zerschneidet ein
Gedanken-Faden den andern. Und wie viel stärker noch zeigen sich die
wider einander aufgeregten Kräfte in unserm Innern, wenn das Gefolge
von Begierden und Leidenschaften, wenn die Affecten in uns zum Vor-
schein kommen. Diese sind sammt und sonders nichts anderes, als ver-
schiedene Modificationen der Abweichung unserer vorhandenen Vorstellun-
gen vom Gleichgewichte; daher ist ein stürmisches Meer, dessen Wogen
sich bald über den Spiegel desselben Gewässers, wenn es ruhig ist, erheben,
bald unter dieser Fläche hinabsinken, das wahre und treffende Bild eines
dem Wechsel der Affecten unterworfenen Gemüths. — Demnach, wenn
in der Gesellschaft der Menschen die Meinungen einander widersprechen,
so wiederholt sich hier nach einem gröfsern Mafsstabe, was wir in unserm
Innern beobachten können, wenn wir dem Spiel unsrer eigenen Gedanken
zuschauen; und wenn im Staate die Interessen sich kreuzen, so durch-
kreuzen sich nicht minder unsere Wünsche, unsere Rücksichten; ja wenn
endlich im öffentlichen Leben ein Wechsel von Faktionen die bürgerliche
Ruhe stört, so lang das Vorbild nicht blofs, sondern selbst der Ursprung
hiervon offenbar in dem Tumult der Leidenschaften, die in den Gemüthem
gähren. —
Wir sehen nunmehr, wenn wir das Gesagte zusammenfassen, eine
doppelte Grund - Aehnlichkeit zwischen dem Staate und dem einzelnen
Menschengeiste; nämlich Hemmung des Entgegengesetzten, und Verbindung
dessen was sich nicht hemmt. Aus diesen beyden Anfängen entwickelt
sich das geistige Leben; und eben darum erblickt man sie wieder in der
Gesellschaft, wo die Sprache das Verbindungsglied wird für die Gedanken
und Wünsche der verschiedenen Individuen.
Bevor ich nun diesem Principium seine Folgen abzugewinnen suche:
mufs ich zuerst meinen Gegenstand gehörig begränzen. Die Staatswissen-
schaft, sofern sie vorschreibt was seyn solle, welche Verfassung und Ver-
waltung dem Gemeinwesen gebühre, liegt hier gänzlich aufser meiner
Sphäre. Die angefangene Betrachtung ist rein theoretisch; sie nimmt die
Staaten als vorhanden an, und als schwebend durch ihre innern Kräfte
Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 3 j
zwischen mancherley Zuständen, ohne Rücksicht auf die Frage, was in
diesen Zuständen Gutes oder Böses liege. Die Beschränkung auf einen
solchen Standpunkt ist unvermeidlich weil die Psychologie, welche andern
das andre Glied der Vergleichung darbieten soll, eine rein theoretische
Wissenschaft ist, innerhalb deren die Moral gar keine Stimme hat, wie
wohl es sich von selbst versteht, dafs die Erkenntnifs des menschlichen
Geistes, nachdem man sie besitzt, zum Dienste sittlicher Zwecke soll ge-
nutzt werden.
Zuerst nun gilt von jedem System von Kräften, es sey welches es
wolle, immer der Satz, dafs es zum Gleichgewichte strebe. So ist es in
der Seele, so ist es im Staate. Allein die geistigen Kräfte erreichen ihren
Gleichgewichtspunkt niemals vollkommen, und sie sind auch dann, wenn
sie demselben schon nahe stehen, äufserst leicht ihm wieder zu entführen.
Das erfahren wir (um hier von der spekulativen Erläuterung dieses Satzes
zu schweigen) zuvörderst in uns selbst. Wohl manchmal scheinen unsere
Gedanken sich irgend einem Ruhepunkte zu nahem, allein gar bald werden
wir inne, wie die mindeste Veränderung der äufsern Reizung uns allerley
Vorstellungen aufregt, die in uns tief vergraben geschlafen hatten, die aber
nunmehr, verstärkt, durch neue Auffassungen von aufsen, eine Kraft ge-
winnen, wodurch sie unseren geistigen Horizont verrücken; — uns zum
Beyspiel über öffentliche Neuigkeiten unsre Privatsorgen vergessen machen;
oder uns vom heitern Genufs des gesellschaftlichen Lebens plötzlich in
irgend eine finstre wissenschaftliche Tiefe hinein versetzen. . Diese Reiz-
barkeit, dieselbe Wandelbarkeit zeigt sich auch im Staate; sofern wir unter
diesem Worte nicht etwa blofs die Verwaltungsmaschinen, sondern das
wahre gesellschaftliche Zusammenleben verstehen; und folglich darauf Acht
geben, welche Gesinnungen, und wie schnell sie wechseln, je nachdem die
öffentliche Aufmerksamkeit auf diesen oder jenen Gegenstand gelenkt wird,
und besonders je nachdem sie für diese oder jene Personen gewonnen
und in Anspruch genommen wird, die eben sich hervorthun oder sich eine
allgemeine Misbilligung zuziehen. Was es immer seyn ' möge , das ein
allgemeines Interesse erregt, es wirkt immer dahin, Meinungen hier zu ver-
binden, und dort zu trennen; eine Veränderung, die oftmals vorübergehend
in manchen Fällen aber bedeutend ist durch ihre Folgen. Denn jede Ver-
einigung der Meinungen stiftet eine Gesammtkraft, welche, wenn ihr Ge-
legenheit gegeben wird sich thätig zu äufsern, nicht unterlassen wird, zu
verrathen, dafs sie in etwas die Richtung verändert hat, wohinaus sich bis
dahin das Ganze bewegte. Und jede Spaltung in den Meinungen schwächt
eine Kraft, die bisher als eine einzige gewirkt hat. Dies würde weit öfter
merklich werden und sich in wichtigen Folgen äufsern, wenn nicht gewöhn-
lich ein und dasselbe Ereignifs hier Gleichdenkende vereinigte, dort Ver-
schiedengesinnte von einander entfernte, so dafs mehrere Kräfte zugleich
entstehen, deren Wirkungen sich gegenseitig aufheben. Aber im Laufe der
Zeit beobachtet man dennoch höchst auffallende Abänderungen in der
Hauptrichtung des gesellschaftlichen Strebens, die sich allmählig aus jenen
kleineren, und anfangs unbedeutendem Umstimmungen, ergeben haben.
1 was immer es SW.
•22 IH. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 1821.
Man würde sich indessen die Reizbarkeit und Wandelbarkeit, sowohl
im menschlichen Geiste, als im Staate, viel gröfser vorstellen als sie wirk-
lich ist, wenn man von dem Gedanken ausginge, dafs die ungeheure
Menge von Kräften, welche dort in der ganzen Summe aller Vorstellungen,
hier in der Menge aller Individuen liegt, unabläfsig in Wirksamkeit wäre.
Die psychologische Untersuchung lehrt aber, dafs in einem solchen System
von Kräften, wie die Vorstellungen des menschlichen Geistes es bilden, noth-
wendig die grofse Anzahl der schwächeren Kräfte dem Uebergewicht einiger,
verhältnifsmäfsig weniger hervorragenden, weichen müssen, so dafs die
schwachen nur in1 Verbindung mit den starken, etwas bedeuten und ver-
mögen. Wer nun dieses der Psychologie nicht würde glauben wollen;
wer auch nicht in seiner innern Erfahrung wahrzunehmen wüfste, welcher
Unterschied ist zwischen dem herrschenden Hauptgedanken, und dem
Schwärm von Notizen, oder von Einfällen, die nur von jenem hervor-
gerufen oder veranlafst, kommen und wieder gehen, um gebraucht und
wieder zur Seite geworfen zu werden: wer diese Unterordnung in sich selbst
also nicht kennte : Der würde wenigstens im Staate das Gesrenbild dazu
finden, wo es allemal Patronen und Clienten giebt und geben wird; und
wo niemals eine Demokratie in dem Sinne existiert hat oder existieren
wird, dafs in der That Alle gleichen Einflufs auf den Gang der öffent-
lichen Angelegenheiten hätten. Was man im Staate erreichen kann, das
besteht darin, dafs man die oftmals lästigen Coeffizienten wegschafft, welche
Reich thum und Geburt herbeybringen, und vermöge deren das Ueber-
gewicht gar sehr von dem natürlichen Schwerpunkte der zusammenwirken-
den Willen entfernt wird; wer aber diesen Gegenstand näher untersuchen
will, der darf auch nicht vergessen, dafs gerade Geburt und Reich thum
es sind, wodurch, wenn man ihnen einen mäfsigen Einflufs läfst, die allzu
grofse Wandelbarkeit und Reizbarkeit, die sonst nach psychologischen
Gründen im Staate noch immer vorhanden sein würde, am sichersten ver-
mindert werden kann. Auf den Reich thum pafst dies natürlich nicht, in
wiefern er sich in dem Besitz schwindelnder Spekulanten befindet, die ihn
jeden Augenblick einem Hasardspiel Preis geben, und damit so lange fort-
fahren, bis sie ihn wirklich verloren, und sein Gewicht ha andere Hände
gebracht haben. Aber es pafst auf diejenigen Güter, welche ruhig bey den
Familien bleiben, während die Generationen wechseln; und welche den
Glanz der Namen, die einmal durch Glück oder Werth ausgezeichnet
waren, zu erhalten dienen. Hiemit soll nicht, nach Art einiger Neuern
gesagt seyn, dafs die Idee des Staates ursprünglich und nothwendig Adel
und unbedingtes Erbrecht einschliefse. Sondern nur soviel ist wahr, dafs
beyde als Nothmittel nützlich sind, so lange die blofs psychologischen
Kräfte den Staat gar zu beweglich machen, das heifst so lange noch in
den Gedanken, den Meinungen, den Vorurtheilen, den Gefühlen, den Sitten,
den Gesetzen, den Ueberzeugungen, nicht diejenige Vestigkeit und Gleich-
förmigkeit der Geistesbildung sich zeigt, welche, gemäfs den ewigen und
nöthwendigen Wahrheiten, dereinst alle Nationalität veredeln und über den
ferneren Wechsel erheben soll. Bis dahin sind in der That jene fremd-
1 nur noch in SW.
III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staats-wissenschaft. 1821. 33
artigen Gewichte, in einer gewissen, mäfsigen Stärke, dem Staate ebenso
unentbehrlich, wie der Ballast dem Schiff, welches ohne ihn nicht tief
cenug im Wasser gehn, und deshalb allen Windstöfsen preisgegeben seyn
würde. Denn nach den psychologischen Gesetzen wechselt die in einem
gegebenen Zeitpunkte vorhandene Unterordnung der schwachem Kräfte
unter die stärkern, sehr leicht, und zuweilen sogar ziemlich schnell; wovon
der Grund sehr begreiflich ist. Es sind nämlich an sich die schwächern
vollkommen gleichartig den stärkern, sowohl in der Seele die Vorstellungen,
als im Staate die Menschen. Nun können in der Seele die schwächern
Vorstellungen, wenn sie gleich für jetzt völlig dienend und unterwürfig
darnieder liegen, und für sich garnichts zu vermögen scheinen, doch gar
leicht in einem sehr bedeutenden Grade verstärkt werden, durch neue
Wahrnehmungen oder durch neue Verbindungen; und genau ebenso werden
auch im Staate die Anfangs wenig thätigen, die ruhig unterwürfigen Menschen
zuweilen durch neue Erfahrungen geweckt und erhitzt; sie werden alsdann
vollends stark und einfiufsreich , indem sie sich versammelen und rath-
schlasren, indem sie Partheven bilden, etwas Gemeinschaftliches unter-
nehmen und nach kleinem Erfolgen zu gröisern Dingen aufstreben. Wenn
so etwas begegnet, alsdann nimmt plötzlich das Staatsschiff eine andere
Richtung; gerade so wie das Denken und Handeln des Menschen, wenn
eine neue Combination, eine neue Erfindung gelungen ist, oder wenn auch
nur eine neue Meinung sich über die andern Meinungen erhoben, wenn
ein neues Vorurtheil den Standpunkt verrückt hat, aus welchem man die
Dinge zu sehen, ■ — das heifst eigentlich, seine Vorstellungen von den
Dingen zu verknüpfen, gewohnt war.
Es ist nun zwar schwer zu entscheiden, ob das menschliche Nach-
denken mehr von diesem psychologischen Mechanismus, oder ob der
letztere mehr von jenem abhänge, und durch dasselbe könne zur Ordnung
und Beständigkeit gebracht werden. Soviel ist gewifs, dafs keine mensch-
liche Weisheit sich jenen Anfechtungen ganz entziehen kann, die aus der
natürlichen Reizbarkeit unseres einmal vorhandenen Vorstellungskreises
gegen neu hinzukommende Vorstellungen und Gefühle, nothwendig entsteht.
Allein andererseits mufs man auch anerkennen, dafs, indem der Mensch
sein eigener Zuschauer ist, und indem die Menschheit ihre eigene Ge-
schichte sammelt, schreibt, und beurtheilt, eben in dieser Selbstbeobachtung
eine neue geistige Kraft entspringt, die zwar nicht ganz alleinherrschend,
doch sehr mächtig eingreifend, zur Mäfsigung der Reizbarkeit, zur An-
ordnung des Verworrenen, zur Bevestigung des Wandelbaren, nach Be-
griffen und mit Ueberlegung hinwirkt. Man kennt diese Kraft, womit der
Mensch sich aus seinem Taumel emporarbeitet, nicht blofs aus eigner
innerer Wahrnehmung, nicht blofs durch die Erinnerung aus den Jugend-
jahren, und durch den Uebergang aus der eigenen früheren Beweglichkeit
zu der allmählig gewonnenen männlichen Vestigkeit; sondern jeder von
uns, und schon die Meisten vor uns, waren der Wirksamkeit einer Für-
sorge unterworfen, womit die früheren Geschlechter den späteren vorarbeiten,
indem sie ihren eigenen Schatz von Lehre und Warnung, von Regeln und
Grundsätzen, von angenommenen Gesetzen und Einrichtungen überliefern,
die zu den stärksten psychologischen Kräften gehören, welche es geben
Herbart's Werke. V. 3
5_i III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschait. 182 1
kann, und die in demselben Maafse an Herrschaft gewinnen werden, wie
sie an innerer Wahrheit und Gültigkeit gewinnen. Was in dem Laufe
eines Menschenlebens ein glücklicher Augenblick ist, da der Mensch, sich
selbst mit seinen Blicken umspannend und beurtheilend , einem Gesetze
sich unterwirft, dessen Urheber er selbst ist: eben dies ist in der Geschichte
ein grofser Mann, ein Gesetzgeber, ein Weiser, der sein Volk begreift, und
demselben die Ordnung vorschreibt, deren es bedarf. Er selbst hat sich
erhoben aus der Mitte der Uebrigen; seine Gedanken sind ursprünglich
entnommen aus der allgemeinen Gedankenmasse; darum passen sie auch
wieder zu dem Denken und Fühlen der Andern, sonst könnten sie keinen
Einflufs gewinnen, und am wenigsten nach seinem Tode sich erhalten.
Aber gerade dieser Umstand beweiset auch und erklärt, dafs, und
warum Individualität und Nationalität in die angefangene Charakterbildung
mit hinüber gehen. Zu keiner Zeit, in keinem Augenblicke, ist der Mensch
reiner Geist ist ein Volk die reine Menschheit; jede Ueberlegung, auch
die, wodurch der Mensch für sich, oder der Gesetzgeber für das Volk,
sich über sich selbst erhebt, um sich gleich einem Fremden, eine Lebens-
ordnung vorzuschreiben, — jede Entschliefsung und Handlungsweise, die
auf solche Ueberlegung folgt, verräth immer noch den Boden, aus welchem
sie entsprang, und zeigt, wenn nicht das Unrichtige, so doch das Einseitige
dessen, der über sich oder sein Volk verfügte. Wie die Resultate der
Wahrheitsforschuns: zwever deich wahrheitsliebender Denker entweder in
ihrem Inhalte, oder doch in der Methode sie zu erreichen, von einander
abweichen, so hat auch die Sittlichkeit der trefflichsten Menschen ihr
Persönlich -Eigenthümliches; so hat vollends jede Nationalbildung ihre
Flecken und Schoofssünden, welche abzulegen sie weder Fähigkeit noch
Neigung zeigt. Diese Abweichungen, in ihrem Ursprung vielleicht unbe-
deutend, werden in der Folge wichtig, wenn die mehreren — Menschen
oder Nationen, zusammen stofsen. Kleine Vorurtheile reichen hin, um
sie von einander entfernt zu halten; und wo keine Verbindung glückt, da
steht die Zwietracht schon in der Nähe, um beym geringsten Anlafs
hervorzubrechen. Wem fallen hiebe}' nicht religiöse Secten und Religions-
kriege ein! Um ihnen auszuweichen, lehrte das achtzehnte Jahrhundert
Toleranz, aber das neunzehnte, sich klüger dünkend, bezeigt hie und da
schon wieder Lust, die alten Reibungen zu erneuern.
Dafs in den Fehlem der Nationalbildung die Gebrechlichkeit der
Staaten ihren Sitz habe, während einzelne Fehler der Verwaltung, und
selbst, wenn man will, der Verfassung im Laufe der Zeit in soweit pflegen
gehoben zu werden, als der gesunde Geist der Nationen ihnen überlegen
ist, ■ — ■ dies ist zu bekannt, um einer Anführung zu bedürfen. Wenn wir
aber die letzte Folge jener Gebrechlichkeit, den Untergang der Staaten,
ins Auge fassen, wenn wir versuchen, sie mit dem Tode der einzelnen
Menschen zu vergleichen , so werden wir inne, dafs die beyden Fäden
unserer Betrachtung hier aufhören, parallel zu laufen. Der Tod des
Menschen ist kein psychologisches, sondern ein physiologisches Ereignifs;
dieses aber entrückt den Gegenstand der Psychologie aller ferneren Be-
obachtung. Hingegen die Staaten, wenn sie auch noch so sehr altern,
gleichen doch jenem Sterblichen, dem eine Göttin Unsterblichkeit geschenkt,
III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 1821. i^
aber die ewige Jugend vergessen hatte. So schleppte das griechische
Kaiserthum ein langes, sündiges und sieches Leben, und so hätte auch
das ihm verschwisterte römische Reich vielleicht noch lange gedauert, ja
es wäre vielleicht mit Hülfe des Christenthums verjüngt worden, wenn
nicht die Stöfse von aufsen ihm ein Ziel gesetzt hätten. — Man hat nun
zwar, um die Parallele auf andere Weise fortzuführen, den Staaten oft-
mals ein organisches Leben zugeschrieben; durch welche Vergleichung die
Physiologie an die Stelle der Psychologie gesetzt wird. Allein diese Zu-
sammenstellung reicht gerade soweit und nicht weiter, als die vorige. Es
ist der Mühe werth dies näher zu bestimmen. Die Physiologie hat zu
ihrem Gegenstande organische Leiber, deren ganze mögliche Bildung sich
aus einem Keim entwickelt, dessen Kleinheit ihn den Sinnen entzieht.
Mit dem Keime aber ist ganz bestimmt die fernere Evolution vollständig
gegeben; dergestalt, dafs man den Keim wohl pflegen oder verderben, die
Evolution wohl einigermafsen beschleunigen oder verzögern, nicht aber
dauerhaft verändern kann. Denn wenn Jemand etwan die Mifsgeburten als
abgeänderte organische Form betrachten will, so mufs man ihn erinnern,
dafs diese an sich gebrechlich, und der Fortpflanzung unfähig sind. Solche
Bestimmtheit der Form nun ist weder in dem menschlichen Geiste, noch
in dem Staate zu finden. Vielmehr gilt vom Geiste und vom Staate der
Satz, dafs sie sich bestimmten Organismen zwar allmählig, und ins Un-
endliche fort nähern, sie aber niemals völlig erreichen; oder kurz: Physio-
logie zeichnet die Asymptote für Psychologie und Staatswissenschaft. Es
ergiebt sich nämlich allerdings aus dem System aller Vorstellungen im
Individuum und im Staate eine bestimmte Assimilationsweise für neu hinzu-
kommende Vorstellungen, sammt den aus ihnen entstehenden Gefühlen
und Begierden; aber jede Assimilation verändert zugleich das Assimilirende
und giebt dadurch den künftigenden Assimilationen eine neue Richtung.
Hierauf beruht die Möglichkeit der Erziehung, von der man sehr unrichtige
Begriffe hegt, wenn man sie der Gärtnerei vergleicht; denn während die
letztere blofs die vorbestimmte Evolution der Pflanzen fördert, greift die
erstere allerdings in das Innere des Keims ein, indem sie dem Menschen
Gedanken, Gefühle und Bestrebungen einimpft, die er ohne sie niemals
erlangt hätte. Darum wird ein junger Neuseeländer, den wir in Europa
erziehen, zwar nicht völlig Europäer werden, aber auch nicht völlig Neu-
seeländer bleiben; jenes nicht, weil sein Geist, als er zu uns kam, schon
ein Analogon von organischer Bestimmtheit erlangt hatte; dieses nicht,
weil die Organisation des Geistes nicht die Vestigkeit der eigentlichen
Organismen hat, sondern sich nach neuen Eindrücken innerlich umändert.
Und hiemit hängt unmittelbar der Unterschied zusammen, dafs Pflanzen
und Thiere eine zugemessene Zeit des Wachsens, Bestehens und Welkens
haben ; hingegen die Staaten sich bald schnell bald langsam entwickeln
(vergleichen wir beyspielshalber nur das heutige, noch sehr junge und doch
schon so starke Nordamerika mit dem alten langsam wachsenden Rom!)
und dafs eben so wenig in der Abnahme der Staaten, wie in ihrem
Wachsen, bestimmte Perioden herrschen, vielmehr oftmals ein wechselndes
Rückgehen und Vorwärtsgehen, wo nicht gar eine Art von Wiedergeburt
in ihnen zu bemerken ist, dergleichen dem heutigen Frankreich, und
?6 HI- Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 1821.
vielleicht auch Spanien zu Theil zu werden scheint. Und soll ich hiebey
nicht auch an Deutschland, an Preufsen mich erinnern?
Es sind in der That nicht sowohl die successiven, als die simultanen
Merkmale des Staats und der Organismen, die zwischen beyden eine
Vergleichung rechtfertigen. Wie die Organe, von denen die Organismen
ihre Namen führen, wie Lunge und Herz, Leber und Magen, Muskeln
und Nerven, zum Leben zusammen wirken: so arbeiten bekanntlich im
Staate die verschiedenen Stände, zwischen denen die gemeinsame obliegende
Arbeit setheilt ist, zum Bestehen und Gedeihen der Gesellschaft einander
in die Hand. Um aber diese Vergleichung durchzuführen, reicht es nicht
hin, einen bestimmten Staat mit einer hestimmten Art von Thieren oder
Pflanzen zusammenzustellen, sondern man mufs beynahe die ganze Natur-
geschichte durchlaufen, vom Polypen bis zum Menschen, oder vom Pilz
bis zur Eiche, um den Staat, der eigentlich nie etwas bestimmtes ist,
sondern der stets wird, und schwebt, und vorwärts oder rückwärts geht,
mit dieser seiner ganzen Veränderlichkeit als einen Organismus denken zu
können. Denn beym Ursprung der Staaten war ohne Zweifel die Theilung
der Arbeit in ihnen höchst unvollkommen, gerade wie die Theilung der
organischen Functionen bey den niedrigen Thieren und Pflanzen; aber in
dem aufblühenden Staate sondern sich die Stände immer weiter, sie
nehmen Mittelglieder zwischen sich auf, denen die Sphäre ihres Thuns
immer enger begränzt wird; wie wenn den Thieren ohne Herz, allmählig
Herz und Lunge, denen mit wenigen Nervenknoten allmählig ein Rücken-
mark und ein Hirn einwüchse. Und nun können wir in unsere Be-
trachtung auch wiederum den menschlichen Geist einführen, der uns eine
Aehnlichkeit mit dem Staate darbietet, welcher ich, ihrer Dunkelheit wegen,
vorhin noch nicht wagte zu erwähnen. Nämlich der Geist, wie der Staat
ist zwar niemals ein ganz vest bestimmter Organismus, aber er organisirt
sich fortwährend; und dieses sein Fortschreiten bezieht sich nicht blofs
auf die Weise der Assimilation neuer Vorstellungen, sammt der Reizbarkeit
gegen dieselben (wovon schon oben die Rede war), sondern auch auf die
Sonderung der Functionen, die zum geistigen Leben zusammengehören.
Aber hier mufs man nicht nach aufser einander liegenden, räumlich ge-
trennten Organen fragen, dergleichen wohl Einige im Gehirn gesucht
haben, weil sie das vollkommen intensive Wesen des Geistes, und die
mitten in dieser strengen Intensität dennoch enthaltene Mannigfaltigkeit,
Sonderung, und Entgegengesetztheit, nicht fassen, vielleicht nicht einmal
ahnden konnten. Vielmehr mufs man sich üben, um zuerst nur soviel
zu begreifen, dafs unsere Vorstellungen vom Raum und von den räum-
lichen Dingen, in der Seele nicht aufsereinander, dafs unsere Vorstellungen
von der Zeit und den zeitlichen Dingen, in der Seele nicht nacheinander
seyn können; dafs vielmehr jede solche Vorstellung ihr Mannigfaltiges
völlig zusammenfassen, völlig in Eins drängen mufs, um den vorgestellten
Raum und die vorgestellte Zeit wirklich zu enthalten, und Nichts davon
zu verlieren. Hat man dies begriffen: dann wird man besser vorbereitet
seyn um auch noch zu fassen, dafs in der Einen, ungetheilten Seele,
deren Vorstellungen aber durch sehr vielfältige Gegensätze und daraus ent-
stehende Hemmungen gehindert werden, sich vollständig zu durchdringen,
III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 182 1. 37
es verschiedene, gröfsere und kleinere Vorstellungsmassen gebe, in
deren jeder eine gegenseitige Bestimmung der Partialvorstellungen all-
mählig entstehe, die sich aber in dieser Hinsicht auf verschiedenen Puncten
der Reife befinden; dafs während der stets fortgehenden Abwechselung
unserer Gedanken, sich die mehreren Vorstellungsmassen berühren, in
einigen Punkten verschmelzen, und dadurch eine neue, gegenseitige Wirk-
samkeit erlangen; dafs die stärksten, die herrschenden Vorstellungsmassen
theils mit den meisten schwächeren, auf eine bestimmte Weise verbunden
sind, theils mit neu hervortretenden, sich am ersten, und am einfiufs-
reichsten, verbinden ; und dafs von der Art und Weise dieser Verbindungen
(die unendlich verschieden, aber in jedem einzelnen Falle mit mathe-
matischer Genauigkeit bestimmt ist) die Eigenthümlichkeit der Herrschaft
abhänge, welche die starken Vorstellungsmassen ausüben, und welche die
schwachen von ihnen erleiden. Um hier an etwas Bekanntem anzuknüpfen,
erinnere ich an die wissenschaftlichen Systeme, an die moralischen, poli-
tischen, religiösen Ueberzeugungen, an die Verknüpfung zwischen diesen
und den wichtigsten Lebens- Erfahrungen und Lebensplänen, an das Gefüge
der mancherley Privatverhältnisse; — wer dies alles in sich selbst mit
anhaltender Aufmerksamkeit beobachtet, der wird sehr bald seine eigenen
herrschenden Vorstellungsmassen, und die wichtigsten Verbindungen der-
selben, gewahr werden; auch die Art ihres Wirkens wird ihm nicht ent-
gehn, wenn gleich die Erklärung dieses Wirkens ohne tiefere Speculation
nicht e;enüQ;end ausfallen kann. Der gebildete Mann ist demnach inner-
lieh ausgerüstet mit einer Menge von Organen zu seinem Denken und für
seine Entschliefsungen ; dem Ungebildeten fehlen diese Organe; alle Un-
wissenheit ist Mangel, aller Irrthum ist Krankheit in einem der Organe;
wie viele aber ihrer, und wie vollständig ausgebildet ein jedes eigentlich
seyn solle? — Das ist eine Frage, die gerade so lautet, wie die: Wann
im Staate die Theilung der Arbeit still stehn solle, und welches in den
Unterabtheilungen der Stände die letzten Verzweigungen seyen? Es ist
eine Frage wie die: wie viele Organe eigentlich zu einem ganz voll-
kommenen Leibe gehören, nicht etwan blofs auf der Erde, oder in unserm
Sonnensystem, sondern absolut genommen und auf dem vollkommensten
aller Weltkörper? Man sieht sogleich, dafs alle diese Fragen unbeant-
wortlich sind.
Die Physiologie hat neuerlich angefangen, sich aufs engste mit der
vergleichenden Anatomie zu verbinden; man wird daraus schliefsen dürfen,
dafs sie sich nicht mehr auf die Angabe des Nutzens der einzelnen
Theile in dem menschlichen Leibe beschränke, sondern dafs sie dem
Leben in allen Formen nachspüre, die es anzunehmen fähig ist. Die
Staatswissenschaft wird Niemand mit der Statistik einzelner Staaten ver-
wechseln ; sie ist längst in ihrer natürlichen Verbindung mit der Geschichte
bearbeitet worden; sie haftet also nicht an der besonderen Organisation
dieses oder jenes Staats, sondern sie hat die Möglichkeit und stufenweise
Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt im Auge. Die
Psychologie allein schien zurückzubleiben; und sie kann freylich nicht von
der Stelle kommen, so lange sie sich mit den fabelhaften Seelenvermögen
trägt, die ungefähr so viel bedeuten, als wenn ein Physiolog, der niemals
?8 III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 182 1.
ein anatomisches Messer in Händen gehabt, niemals eine Lunge, einen
Magen, ein Herz, niemals Adern, Nerven, Muskeln gesehen, noch davon
gehört hätte, dem menschlichen Körper allerley Vermögen zueignen wollte,
z. B. ein Vermögen zu athmen, ein Vermögen zu erröthen, ein Vermögen
die Glieder zu bewegen, ein Vermögen zu wachsen, und dergl. mehr.
Allein ich habe mir längst, und auch in dieser Vorlesung, die Freyheit
genommen, die Seelenvermögen, Gedächtnifs, Einbildungskraft, Verstand,
Vernunft, und so weiter, bey Seite zu setzen; die wirksamen Kräfte in
den Vorstellungen selbst aufzusuchen und das geistige Leben, dessen An-
fänge sich in den Thieren, in den Wilden, in den Kindern zeigen, bis
zu seiner höchsten uns bekannten Ausbildung hinauf als ein Continuum
von Phänomenen zu betrachten, dessen gesammte Möglichkeit mit allen
in ihm liegenden Uebergängen und Verbindungen, die eine und untheilbare
Aufgabe der Psychologie ausmacht; eine Aufgabe, die freylich nicht blofs
empirisch ist noch seyn kann, sondern die vielmehr die ganze Speculation,
mit allen ihren Hülfsmitteln und Wendungen, und dann wiederum eine
sorgfältige Vergleichung mit der Erfahrung, unumgänglich erfordert. Sobald
aber die Psychologie auf diese Weise bearbeitet wird, ergeben sich nicht
blofs die Vergleichungen, sondern auch die Anfänge der inneren Ver-
bindung, worin diese Wissenschaft mit anderen zu treten geeignet ist.
Nun bin ich zwar sehr weit entfernt, um einiger neuen philosophischen
Grundsätze willen, sogleich eine Reform in den mit der Philosophie ver-
wandten Wissenschaften anzukündigen; eine Anmaafsung, deren Bey spiele
nur allzubekannt sind. Allein soviel getraue ich mir zu behaupten, dafs eine
richtige Psychologie viel genauer, als die bisherige falsche es vermochte, sich mit
der Staatswissenschaft in Verbindung setzen wird. Was in den Staaten sich
zusammenwirkend erhebe, sich wieder einander wirkend vernichte; was leicht
und schnell veränderlich, was langsam und schwer beweglich sey; wieviel der
blinde Mechanismus durch sich selbst hervorbringe, wie viel kluge Ueberlegung,
und sittlich reines Wollen vermöge; welche Reizbarkeit, welche Unsicher-
heit, welche Gefahr und Hoffnung auch der scheinbar am besten organisirte
Staat übrig lasse; welche Theile seiner Einrichtung, gleich harten Knochen,
blofs durch ihre mechanische Vestigkeit nützlich seyen, und wie man ihre
Dauerhaftigkeit sichern könne; welche andre Theile dagegen die Reiz-
barkeit der Muskeln oder gar die Empfindlichkeit der Nerven besitzen,
und wie man diese durch leise Berührung zugleich schonen und ins Spiel
setzen müsse: diese und tausend ähnliche Fragen wird sich der Staats-
kundige schwerlich je genügend beantworten können, solange nicht die
Hemmungen und Complicationen der Vorstellungen, die Strebungen und
Spannungen der Gemüthszustände , der Ursprung der Formen aller Er-
fahrung, die Stufen der Entwickelung in Urtheilen und Begriffen, die
Verhältnisse der Vorstellungsmassen in der Selbstbeobachtung und Selbst-
beurtheilung, — kurz solange nicht die geistige Organisation ihm klar vor
Augen liegt, die, mehr oder minder ausgebildet, in jedem einzelnen, das
Ganze des Staates mit bestimmenden, Bürger, vorhanden ist; und die
eben darum in Allen wirkt, weil das Ganze der Natur seine ersten, ein-
fachen Bestandtheile niemals verleugnen kann. Wenn nun die Psychologie
einen Theil des Fundaments ausmacht, worauf die Staatswissenschaft,
III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 1821. 30
um vollständig begründet zu seyn, ruhen mufs, so findet zugleich ein um-
gekehrtes Verhältnifs zwischen bevden statt, nämlich dies, dafs die ab-
geleitete Wissenschaft zur Rechnungsprobe diene für die, von der sie
abhängt; dafs also die Irrthümer, welche in die Psychologie eingeschlichen
seyn möchten, sich dadurch verrathen werden, wenn in der Staatswissen-
schaft nichts Haltbares vorkömmt, was ihnen entsprechen könnte. Auch
dieses Verhältnifs aber ist gegenseitig; die richtigen Lehrsätze der Staats-
kunst, sobald sie hinausgehn über die praktischen Ideen, über die Be-
stimmungen dessen, was seyn soll, müssen in Ansehung der Ausführbarkeit
und der Wirksamkeit der durch sie vorgeschriebenen Maafsregeln sich
durch psychologische Gründe, die ihnen zur Unterstützung dienen, bewahr-
heiten, widrigenfalls sind sie ebenfalls des Irrthums verdächtig. Schwerlich
könnte ich diesem Vortrage einen angemessenem Schlufs hinzufügen, als
indem ich zweyer falschen Lehren gedenke, deren eine in der Psychologie
die andere in der Staatswissenschaft ihren Sitz hat, und die durch Zu-
sammenstellung beyder Wissenschaften ihr Irriges sehr leicht verrathen.
Die eine ist die sogenannte transscendentale Freyheit des Willens, durch
welche Kant, verleitet durch eine unrichtige Wendung in seiner Begründung
der Sittenlehre, die der Wahrheit näherliegende Ansicht Leibnitzen's ver-
drängte, und welche Schelling ganz wider den Geist der gesunden Natur-
betrachtung, aufrecht halten wollte. Nach dieser Lehre von der Freyheit
des Willens ist der Causalzusammenhang aufgehoben, welcher den Gang
der Menschengeschichte, und die Bildung1 der Nerven aus psychologischen
Gründen umfassen sollte. Wo jedes Individuum absolut frey ist, da mufs
man in der gesammten Thätigkeit Aller und folglich in dem Resultate
dieser Thätigkeit keinen Zusammenhang, sondern Lücken und Sprünge
erwarten; und da ist es ganz vergeblich, eine auch nur wahrscheinliche
Regelmäfsigkeit der Zusammenwirkung veranstalten zu wollen. Also wäre
die Staatskunst zwar vielleicht eine Aufgabe in der Idee, aber eine voll-
kommene Thorheit in der Ausübung. Da dieses falsch ist, so mufs auch
die Annahme der transscendentalen Freyheit einen Irrthum enthalten,
dessen Entwickelung übrigens nicht dieses Orts ist. Das andere Beyspiel
bietet in der Staatswissenschaft die Meinung dar, als lasse sich irgend
eine Verfassung erfinden, die für alle Staaten die rechte sey oder doch
die beste. Wenn dies wahr seyn soll : so mufs der Schwerpunkt des ge-
sammten Wollens im Staate durch irgend eine Einrichtung können bevestigt
werden, indem, wenn er sich verrückt, offenbar die Constitution des
Staates keinen Haltungspunkt mehr hat. Nun setzt aber die Vestigkeit
jenes Schwerpunkts entweder Unbeweglichkeit aller einzelnen Willen, oder
genaue Compensation ihrer Bewegungen voraus, wovon das letztre, wenn
wir es psychologisch überlegen , sich womöglich noch ungereimter zeigt,
als das erstere. Hat man aber mit der Reizbarkeit des menschlichen
Geistes zugleich auch die Gesetze des Uebergewichts der stärksten und am
besten verbundenen Vorstellungsmassen wohl begriffen, hat man überdies
die psychologische Möglichkeit einer moralischen Bildung eingesehen, ver-
möge deren die herrschenden Vorstellungen eben die des Guten und
Rechten seyn müssen: so ergiebt sich nicht blofs eine Freiheit der Indi-
viduen, die gerade nach Kaxt's eigentlicher Meinung in der Moralität selbst
40 HI. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staats Wissenschaft. 1821.
liegt, sondern es erhellet auch, dafs jenes Streben nach der besten Ver-
fassung des Staats, wofern es nicht widersinnig seyn soll, innigst verbunden
seyn mufs mit dem Bemühen für die allgemeine Veredlung des Volks,
durch welche allein die Wirksamkeit des unter sich entgegengesetzten
Privatinteresse soweit vermindert, und ein gemeinsamer Schwerpunkt alles
Wollens so dauernd bezeichnet werden kann, dafs es erlaubt ist, an eine
wahre Stabilität des Staatsa;ebäudes zu denken. Doch diese Wahrheit
ist zu unserer Zeit der allgemeinen Anerkennung schon so nahe, dafs
ich hoffen darf, in Ihrer Zustimmung:. Q-eehrteste Anwesende, für meinen
Vortrag hier einen Ruhepunkt zu finden.
IV.
DE
ATTENTIONIS MENSURA CAUSISQUE
PRIMARIIS.
1822.
[Text der Originalausgabe, Regiomonti, fratres Boratraeger, 1822.]
Citirte Ausgaben.
O = Originalausgabe, Regiomonti ap. fratres Boratraeger, 1822, XIV u. 65 S. 40.
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. VII, S. 73—128), herausgegeben
von G. Hartenstein'.
KlSch n= J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, 353 — 416), herausgegeben
von G. Hartenstein.
Vollständiger Titel der Originalausgabe:
De I attentionis I mensura causisque primariis.
Psychologiae principia statica et mechanica
exemplo illustraturus.
scripsit | Joannes Fridericus Herbart
philos. et paed. p. p. O. in academia regiomontana.
Regiomonti,
apud fratres Bomtraeger,
1822.
[in] Prooemium.
Disquisitionibus psychologicis cum adductus essem ad aequationem dif-
ferentialem formae sequentis
i
mdu -f- n (i — u) [i du
= dZ,
pu — qZ -\- r
solvi eam posse per methodum notissimam coefficientium indeterminatorum,
ea quidem lege atque conditione, ut, quoties divergere inciperet series infinita,
toties novi quaererentur coefficientes, novaque series adstrueretur; iamdu-
dum demonstravi, eiusque calculi expositionem publici iuris feci*. Verum -
tamen haec erat nomine potius, quam revera problematis solutio. Nam
taedium calculi etsi semel aut iterum diligentia vinci posset, casus tarnen
difficiliores agredi vetuit; quaestionis autem natura postulabat, ut magna
valorum literis m, n, ß, tribuendorum varietas perlustraretur; nee enim
psychologiae praesidium [IV] in numeris singulis computandis positum est, sed
in toto funetionum ambitu percurrendo, eoque, quantum fieri potest, uni
conspectui proponendo. Itaque saepius ad eandem rem reversus, pluribus
modis eam tentavi, ut viam magis expeditam invenirem; nee tarnen suetis
mathematicorum substitutionibus et transformationibus quiequam profeci.
Patet, in aequatione proposita variabiles u et Z esse permixtas, eamque
ab homogeneis, si pro ß ponatur numerus mägnus aut parvus, longe
abhorrere; nee ullum auxilium a theoremate tayloriano exspeetandum esse,
dZ ..,.,.
cum — pendeat ab utraque quantitate vanabih; quamobrem omnes quo-
du
tientes differentiales sunt incogniti. Accedit, quod non tantum Z, sed etiam
dZ ,
— , calculo est eruendum, ad erroris suspicionem propulsandam; negotii
du
enim rite confecti nulluni aliud habemus indicium, nisi illud, quod ipsa
praebebit aequatio, ubi substituto valore invento ipsius Z in idem nos re-
1 7
ducet — , cuius valorem iam cognoverimus. Quibus difficultatibus fractus,
du
ingenii mei tarditatem increpans, totam hanc disquisitionem, in psychologia
quidem admodum necessariam, aliorum diligentiae iam commendandam
atque relinquendam [V] putabam, cum lux nova mihi, de natura serierum di-
vergentium meditanti, affulgere videbatur. Series enim, quibus uti mathe-
* Königsberger Archiv für Philosophie etc., drittes Heft 1812.
44 IV' De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
matici consuerunt, ita procedunt, ut exponentes eandem servent differen-
tiam; quod etsi calculum solet commodiorem reddere, tarnen haud scio,
an ipsi functionum naturae nonnunquam parum sit aptum atque consen-
tiens. Itaque paullulum de via communi deflectens, nullam omnino seriei
formam praescribens, sperabam fore, ut idoneis exponentibus ex ipso cal-
culo haustis, paucissimis terminis id assequerer, quod series praeformatae
ne in infinitum quidem productae potuerint perficere. Cuius rei periculum
facere non frustra sum conatus; adeo enim commodam calculi rationem
sum nactus, et variis numeris constantibus in aequationem introducendis
tarn aequabiliter se applicantem, ut vix mihi persuadere possim, ullam in
tali re solutionem directam meliorem fore, quam hanc indirectam. Minime
tarnen haec ita accipi velim, quasi meam opinionem illorum iudicio ante-
ponam, qui in mathematicis plus studii colloearunt.
Caeterum mea parum refert, quam longe abfuerim a summa calculi
subtilitate; non enim eam sum provinciam sortitus, mathematicorum arti-
ficia ut tra[IV]derem. Neque magis in eo laboravi, ut commendarem hanc,
qua primus sum usus, applicationem matheseos ad psychologiam ; neve id
egi, psychologiae ultima viscera ut patefacerem. Consilium huius libelli
scribendi totum in eo positum est, ut calculi ad psychologiam adhibendi
luculentum praebeatur exemplum; cui consilio satisfacturus, exemplum tale
debebam eligere, quod a reliquis psychologiae partibus posset segregari;
omnia autem erant removenda, quibus adhibitis lectores in metaphysicas
tenebras devoluti sibi fortasse viderentur.
Quaestio causarum, quibus hat, ut animi attentio vel excitetur, con-
servetur, augeatur, vel demittatur, concidat, evanescat, etsi non una omnium
gravissima, tarnen in maximarum numero est habenda. Schola Wolfiana
attentionem putabat esse principium notionum distinctarum, totiusque facul-
tatis superioris, qua homines bestiis praestarent. Quod etsi recte se habere
negabunt ii, qui bestias docent ajtes, futilissimas certe, nee eas ipsas sine
attentione pereipiendas, manifesto tarnen, in quo videmus homines homi-
nibus antecellere, in eodem etiam bestias tarn longe superant homines
euneti, ut nulla fieri possit comparatio. Fichtii dictum memini, attentionem
[VII] esse fontem libertatis ; quod dictum, eo sensu, quo proferebatur, minime
probandum, paullo immutatum verissimum esse libenter concesserim. Quam-
quam enim celeberrimum illud commentum de libertate, quam dieunt,
transcendentali, totius philosophiae theoreticae certissima est pernicies, illud
tarnen vere dici potest, libertatem tantam fore, quantum habeamus impe-
rium in attentionem nostram; ut, si quis sponte sua attentionem posset in
quameunque partem et eunvertere et revocare, eandemque pro arbitrio et
extollere et deprimere, hie certe non finitam illam, quam homines tanquam
\*irtutis praemium consequuntur, sed infinitam libertatem, tanquam donum
naturae esset adeptus. Neque mirum, viros quosdam fortes et strenuos
propositique tenaces, cum in coercendis cupiditatibus tum in regendo cogi-
tationum decursu admodum exercitatos, in eum ineidisse errorem, ut, quam
vim voluntatis multum valere sentirent, eandem ultra omnes terminos
adaugeri, idque ipsum volendi nisu et contentione perfid posse putarent,
atque si quis contrarium affirmaret, eum ignaviae crimen subire arbitraren-
tur. Iidem tarnen si tarn acres fuissent in observando, quam vehementes
Prooemium.
45
fuerunt in disputando, primum [VIII] hoc animadvertissent, attentionem sae-
pissime antecedere omnem voluntatem, neque exspectare, donec libeat eam
provocare ; deinde intellexissent, in ea ipsa voluntate, quae iubeat cogitationes
quasdam deponi atque removeri, messe attentionem quandam ad illas res
quarum oblivisci velimus; postremo si ingenue fateri voluissent, quoties
invitissimi suam attentionem turbari, atque ne summo quidem conatui ob-
temperare sentirent, eo certe redacti fuissent ut suspicarentur, minimam
attentionis partem sitam esse in nostra potestate, voluntatem vero non
tantum maxima ex parte, sed omnem pendere ab attentione, ita quidem,
ut, quandocunque attentio pareat voluntati, tum aliam quandam necesse
sit attentionem subesse ipsi huic voluntati.
Qualemcunque tarnen attentioni statuas nexum intercedere cum volun-
tate atque cum omni hominum facultate superiori, id efficietur quod volui;
quaestionem de causis attentionis maximi in psychologia esse momenti.
Efficietur etiam aliud quid: duo videlicet esse attentionis genera, quorum
alterum pendeat a voluntate, alterum non pendeat. Sed hie denuo est
dividendum : praeeipuae attentionis caussae saepissime latent in cogitationibus
iis, quas dici[IX]mus reproduetas, cum anteriore sint tempore coneeptae,
post dimissae, et nunc primum revocatae; unde sequitur, ceteris omnibus
paribus attentionem nullam fuisse futuram, si forte is, qui nunc animum
attendit, non accessisset praeparatus prioribus illis cogitationibus olim iam
conformandis. Longe aliter se habebit tota quaestio, si attentionem nullis
alienis subnixam adiumentis speetamus; qualis in iis sit necesse est, qui
eiusmodi adminicula sibi nondum compararunt. Atque hoc est punctum
illud quaestionis principale, quod volui designare, ubi in huius commen-
tationis inscriptione de causis attentionis primarüs me dicturum signifieavi.
De reproduetionis vi in sustinenda attentione tantum adiieiam, quantum
potero; uberior tarnen huius rei explicatio reservanda est alii libro, quoniam
non omnia, quae huc pertinent, commode separari possunt ab universo dis-
quisitionum psychologicarum ambitu; eandemque ob causam voluntatis in
attentionem potestas hie fere est silentio praetereunda.
Quod autem metaphysicam quoque missam fecerim, id sane mira-
buntur ii maxime, quorum caussa potissimum haec scripsi; itaque brevi
dicam quod [X] sentio. Recte nihil de rebus psychologicis scribi potest, nisi
iuneta metaphysica atque mathesi; sed quae recte sunt scripta, ea lectorem
desiderant omni ex parte praeparatum. Nostri autem temporis ea est
calamitas, ut foedissimum factum sit illarum artium diseidium : qua cala-
mitate tanto magis atque gravius premitur haec aetas, quanto rariores
sunt, qui illud malum vel agnoscant vel sibi demonstrari patiantur. Mathe-
matici superbiunt in legibus phaenomenorum determinandis, veram rerum
naturam, quae subsit phaenomenis, nihil curantes; philosophi se iaetant in
contemnendis sensuum praestigiis; ubi autem ad phaenomena explicanda
descendunt, destituti matheseos auxilio maxime necessario, ineptissimas
nugas effutiunt; nesciunt enim, quid quamque rem sequatur, quod ex sola
logica satis intelligi non potest: quocirca vel recte positis prineipiis recte
uti nequeunt. Quae cum ita sint: psychologia cuinam sit scribenda,
revera nescio: illorum quidem neutris eam scribi posse video. Ut tarnen
aliqua ex parte initium caperem, confugiendum mihi putavi ad nudam ex-
^6 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
perientiam, atque periculum faciendum, possenine more mathematicorum
rebus, quas omnes norunt, calculum applicare, omissis iis, de quibus plurimi
dubi[IX]tant, pauci consentiunt multi ne audiendum quidem sibi arbitrantur.
Interim ne quis iustum nie putet excedere modum, cum poscam,
qui mathematicus, idem ut sit philosophus : clarissimum adferam exemplum ;
non Piatonis et Pythagorae, non Leibnitzii et Wolfii, qui fortasse in singulis
matheseos partibus excelluisse, nee tarnen in universa arte amplificanda
totum vitae Studium collocasse videbuntur: his, inquam, testibus uti nolo;
locupletiorem habeo; quem iure magistrum omnium, qui nunc vigent,
mathematicorum dicere possumus, Leoxhardum Eulerum! — Cuius cum
evolverem theoriam motus corporum solidorum, formulas et aequationes
inde petiturus (nee enim aliud quid exspeetabam), disputantem inveni
auetorem usque ad §. 184 de loco et tempore, de motu et quiete, de
viribus mechanicis, id est, de metaphysicae notionibus difficillimis; atque
ita quidem disputantem, ut essent luculentissima omnia, multa verissima,
ipsique eirores commissi ad excitandum lectoris ingenium apti; quo nihil
melius de ullo philosophorum easdem res traetante praedicari potest. Jam
ea lectione finita desii mirari, formulae illae paene divinae, quibus totam mecha-
nicam corporum esse su[XII]perstructam sciebam, unde originem traxerint:
quae enim coelesti quodam afflatu pervenisse ad hominum ingenia possunt
videri: ea manifesto philosophandi nisu strenuo et diligentia assidua sunt
deteeta. Quamobrem non omnis mechanicae coelestis inventae laus soli
mathesi est tribuenda, sed metaphysicae sua pars vindicanda: mathesis
autem ad summum dignitatis fastigium tum denique est perventura, ubi
methaphysicam adiuvans mechanicam mentis patefecerit; ut tandem aliquando
genus humanuni eam assequatur scientiam, quam Apollo commendavit Pythius
nobilissimo illo praeeepto: nosce te ipsum.
[xiii] Conspectus.
Caput primum.
Praemonenda.
i. In oraue systema virium oppositarum, qualiscunque sint generis, discrimen cadit
staticae et mechanicae.
2. Eiusmodi vires adesse in mente, experientia docet.
3. Ipsae perceptiones seix ideae oppositae virium naturam induunt; neque de ficti-
ciis illis, quae vulgo feruntur, facultatibus animi (e. c. memoria, imaginatione, in-
tellectu, etc.) ullo modo est cogitandum.
4. Formulae fundamentales, quibus nititur statica et mechanica mentis.
Caput secundum.
De attentionis causis primariis.
5. Eorum, quae de attentione docet experientia, expositio.
6. De calculo instituendo, quantitatibus constantibus ita sumtis, ut solutionibus finiüs
uti liceat.
7. De calculo tum expediendo, cum eius initium a seriebus infinitis capiendum mit.
[XIV] 8. De calculi subsidiis, si in aequatione proposita valor numeri ß fuerit vel magnus
vel parvus.
9. De attentionis mensura.
Caput tertium.
Oe iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis primariis reddi nequit.
10. De reproductione in Universum.
1 1 . Attentio quomodo pendeat a cogitationibus reproductis.
12. De voluntatis vi in sustinenda attentione.
[i] Caput primum.
Praemonenda.
i,
Omnes vires agere censentur, quantum possunt, nisi impediantur
viribus contrariis: qi;od ubi accidit, vel contrarius e'xorietur eventus, vel
nullus. Primum indicat, vim fortiorem vicisse; secundum, vires esse aequales,
unde duetum est nomem aequilibrii. Nam ad libram et pondera hie non
esse respiciendum, omnes norunt: tota vocabuü vis posita est in denotanda
aequalitate actionum et reactionum, se invicem tollentium, ut quaeeunque
ex singularum virium conatibus prodire debuerint, ea prorsus cessent, et,
cum semper sint exstitura, perpetuo tarnen deleantur et evanescant. Jam
per se patet, hanc notionem adeo esse universalem, ut ad motum et
materiam nullo modo possit restringi. Quaeeunque fieri possunt, ea possunt
impediri; quameunque vim animo fingas, aliam contrariam ipsi cogitare
poteris, eamque, sie placet, aequalem priori, aut, si mavis, per se quidem
vel fortiorem vel remissiorem, sed eiusmodi conditionibus implicatam, ut
actiones tarnen evadant aequales, seque invicem in ipso nisu agendi
exstinguant. Cuius rei vectis praebet exemplum, sed ita comparatum, ut
eius notio principalis multo latius pateat. Removere possumus non pondera
tantum, sed fulcrum, iugum, ipsam denique lineam mathematicam atque
vires motrices ei adplicatas; remanebunt vires qualescunque certis con-
ditionibus agendi obnoxiae, [2] quibus determinetur, quantum hae vires sint
acturae, ut diiudicari queat, utrum eventus nascatur, an vero nascens
destruatur.
Igitur eodem iure, quo loquimur de virium magneticarum, electricarum,
chemicarum aequilibrio, psvehologiae quoque tribuenda erit pars quaedam
statica, et aha pars mechanica, quamvis nihil hat in mente, quod ad
notiones loci et spatii possit referri. Multa enim evenire et mutari in
animis nöstris, certissimum est; earumque mutationum vires quasdam esse
causas, nemo negabit, nisi quis putet fortuito fieri, quae fiunt in mentibus,
quod est absurdum. Quarum virium si veras notiones adhuc usque con-
cepissent philosophi, indagare etiam potuissent leges motuum animi, nee
non leges aequilibrii in animo; sed haec omnia non modo neglecta, sed
prorsus incognita iacuerunt, quoniam illi falsissimis de quibusdam faculta-
tibus animi opiniunibus deeipi se passi sunt, in quibus ne minimum quidem
inest veritatis vestigium.
Caput Primum. m
2.
Cum de aequüibrio in animo vel constituto vel sublato, sermonem
inceperim: quaerenda mihi sunt exempla in experientia communi obvia,
quibus ea, quae dixerim, possim illustrare. Ac primo quidem lectores
puto cogitaturos de animi perturbationibus, et de virtutibus iis oppositis,
constantia et gravitate, quarum id videtur esse munus proprium, ut aequi-
librium vel tueantur, vel restaurandum curent. Neque tarnen haec exempla
per se sunt satis perspicua, sed paullo diligentius consideranda: nondum
enim patent vires oppositae, quas quaerebamus, ut earum aequilibrium
cognosceremus. Cave putes, alteram vim esse virtutem, alteram animi
perturbationem : sed virtus illa potius artifici est similis, machinam eversam
reficienti; nee quisquam somniabit de aequilibrio artificis cum machina;
sed ipsi machinae insint pondera quaedam, necesse est, ab artifice ad
aequilibrium redaeta. Sic etiam virtus efficiet, ut in animo [3] perturbato
vires quaedam sibi oppositae, ab aequilibrii statu deieetae, quam celerrime
reponantur. Quales autem hae sint vires, inde nondum perspieimus; nee
spes est, eas, nisi alia subveniant auxilia, posse cognosci. Tanta enim
cogitationum in animo perturbato est multitudo, tamque celeriter moventur
atque aestuant, ut facile intelligatur, totam hanc rem longissime esse
remotam a simplicitate prineipiorum in limine theoriae alieuius ponendorum.
Teneant velim lectores hanc admonitionem , in primordiis psychologiae
perscrutandis omnino abstinendum esse ab exemplorum complicatorum usu:
vera enim initia adeo sunt parva, ut cemi vix queant; atque ut accedant
ad similitudinem punetorum illorum, in quorum motibus describendis prima
mechanicae corporum capita versantur.
3-
Oppositas sibi invicem esse seimus simplicissimas illas pereeptiones
colorum, sonorum, et alias eiusdem generis: nee ullam aliam ob causam,
nisi quoniam sibi sint oppositae, virium naturam eas induere affirmo. Quae
propositio in duas est dividenda:
1) pereeptiones simplices oppositae in se invicem agunt tanquam vires
contrariae ;
2) eius actionis causa est ipsa contrarietas.
Harum propositionum seeunda huc non pertinet; est enim tota metaphysica:
fuit tarnen prununtianda ad arcendas falsas opiniones. Nolo in hac coraraen-
tatione omnia probare: sed recte intelligi cupio.
Primae propositionis veritatem m experientia communi quasi per
nebulam internoscere licet. Fac, te hominem audire utentem lingua tibi
ignota: senties, verba pronuntiata tibi excidere memoria, nisi ille tarn lente
loquatur, ut possis in singulis syllabis excipiendis commode morari: senties
itaque, sonorum oppositorum varietatem [4] eam vim habere, ut pereeptiones
tuae se invicem ex animo tun propellant. Sed fuit quondam tempus, ubi
nullam omnino linguam didiceras: tum omnes soni, quos audiebas, eam in
animo tuo exercebant vim, quae nunc a sermone quidem patrio tibi abesse
videtur, quoniam eum tibi familiärem reddidisti. Ex hoc exemplo reliqua
omnia possunt cognosci. Hominum adultorum experientia maximam partem
Herbart's Werke V. 4
co IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
se habet eodem modo ac sermo patrius; perceptiones singulares ita sunt
inter se arctissimo vinculo coniunctae, ut separatim agere non possint;
et hanc ob causam non sentimus, quanto illae sibi ipsae sint invicem
impedimento, quantamque inter se exerceant pressionem. Ac ne tum
quidem, cum aliquid novi accidit, totam vim contrarietatis, inter novas et
priscas perceptiones intercedentis, experimur; nihil enim accidere potest,
quod homini • adulto omni ex parte sit novum.
Mirari solent homines primo discentes, quantam aeris molem inscii
corpore sustineant: multo magis mirarentur, si scirent, quantus in animo
sit notionum et cogitationum nisus contrarius. Sed maxime mirum hoc
fortasse videbitur, quod ob hunc nisum nullo dolore afficimur: quod tarnen
satis facile poterit explicari.
Effectus enim simplex simplicis pressionis ex notionum vel percep-
tionum contrarietate coortae, nullus est alius, nisi ut illae notiones vel
omnino, vel aliqua ex parte evanescant, prorsus eodem modo, sicut eva-
nescunt tum, cum obruimur somno. Obdorsmiscere autem nemo se sendet
unquam; abeunt enim cogitationes, quas absentes observare non poterit:
eandemque ob causam sensus nullus inest in singulis perceptionibus, qua-
tenus ab aliis se ex animo propelli patiuntur. Longe aliter se habet res,
ubi plures agunt vires, ut effectus pressioni simplici debitus impediatur;
iamque haec est regio dolorum et cupiditatum, quam tarnen in hac commen-
tatione ne e longinquo quidem possum ostendere. Adeant lectores, si
pla[5]cet, meum compendium psychologiae*). Hie ad calculum mihi est
properandum, cuius causa haec scribo.
Formulas fundamentales staticae mentis alibi iam exposui, hie autem
denuo eas evolvi necesse est, propterea quod hac opportunitate utendum,
ad latinos terminos technicos constituendos.
Deest primo in sermone latino vox satis congruens cum nostro:
Vorstellung. Nam notio usurpari solet pro cogitatione generis, non autem
pro pereeptione rei singularis, quam nunc ipsam vel intuemur vel sentimus ;
accedit etiam, quod in vernaculo sermone tria habemus correlata: Vor-
Stellung, Vorgestelltes, Vorstellen; quibus designandis vocula notio se aecorn-
modari non patitur. Sed quoniam verbum aptius vix posse inveniri videtur
(nam idea graecum est, et Platonicae philosophiae, iam nimium falsa
huius vocis interpretatione turbatae, omnino relinquendum), a notione distin-
guere possumus eam, quam refert, imaginem [von der Vorstellung das Vor-
gestellte); dieuntur etiam notiones animo informari, sed eiusmodi infinitivo
non est opus. Prorsus enim falsa est opinio, actum quendam vel facul-
tatem formandarum notionum, diversam ab ipsis notionibus, menti inesse;
eumque errorem genuit mechanicae mentis summa inscientia.
Remotis iam omnibus facultatibus, tum sensuum, tum rationis; remota
etiam tota quaestione de origine notionum (quae quaestio, nimis festinanter
agitata, satis diu praestrinxit philosophorum aciem), poneunus, uni menti
*) Lehrbuch der Psychologie. Königsberg 18 16.
Caput Primum. ct
messe ditas notiones simplices contrarias, et praeterea omnino nihil. Quae
notiones si vel maxime sibi sint contrariae, patet tarnen, altera notione
prorsus depressa, ita ut nullam vim exercere possit, alteram ab omni illa,
de qua antea dixi, pressione fore immunem: idque probe est tenendum,
etsi iam per[6]spiciamus, fieri non posse, ut altera totum pressionis subeat
onus, altera maneat intacta, sed distribuendum esse hoc, quicquid sit, oneris,
ita quidem, ut utraque notio partem eius legitimam sustineat.
Sed antequam hie pergam, dicendum est de notionum robore proprio,
quam intensitatem nominare possem, nisi lectoribus cavere deberem a con-
fundendo robore cum tensione notionum, quae est res plane diversa atque
paullo infra illustranda.
Robur proprium est id, quod nos dieimus Stärke einer Vorstellung.
Experientia docet, notionem aliam alia fieri fortiorem, ubi rem aliquam
vel diutius contemplemur, vel clariore luce adhibita conspiciamus, vel oculos,
aures, etc. propius admoveamus. Quoquo modo nata sit haec quantitas
intensiva notionum, sive hoc robur, numeris iam possumus uti ad desig-
nandas rationes inter eiusmodi quantitates. Nominemus alteram notionem
A, alteram B, sintque m et n certi quidam numeri: poterimus ponere
A : B — m : n,
etsi nulla nobis suppetit mensura, sive unitas, ad quam referatur vel A vel
B, si de absoluta harum notionum quantitate intensiva quis velit interrogare.
Sed suspicor, fore, qui inanes hoc loco möveant scrupulos, dicent
enim, notionibus nullam competere quantitatem intensivam, neque notionem
arboris per se fortiorem esse notione domus. Qui si mihi melius latine
reddere poterunt id, quod nos dieimus Vorstellung, libenter concedam illis,
ut suo more loquantur de notionibus: verborum enim erit haec, non
rerum disputatio. Arboris autem et domus notiones sunt admodum com-
positae, atque haue ob causam ab hac disquisitione alienissimae ; neque
earum mentionem fecissem, nisi saepissime protervas eius generis obiec-
tiones essem expertus.
Redeamus ad propositum; atque iam erit manifestum, pressioni illi a
notionum contrarietate proficiscenti utramque notionem tanto fortius posse
resistere, quanto plus habeat roboris. Itaque [7] resistent in ratione m : n.
Quanto magis autem restiterint, tanto minorem mutationem sunt passurae;
itaque mutationes erunt = — : — = n : m. Ubi monendum, de nulla
m n
alia mutatione hie cogitandum esse, nisi de illa, quam supra indieavi,
scilicet notiones prorsus oppresas evanescere, et quasi consopiri. Neque
tarnen prorsus evanescent, sed obscurabuntur tantum. Etenim si altera
evanuisset, nihil superesset, unde altera vel minimum pateretur; cum
autem sibi invicem sint impedimento, neutra totam sustinebit pressionem,
itaque utriusque aliquantum in animo remanebit.
Calculi hoc loco instituendi nulluni aliud est negotium, nisi ut iacturam
faciendam rite distribuat. {Jactura idem est ac lingua vemacula die
Hemmungssuvune ■; ratio distribuendae iacturae est Hemmungsverhältniss)
Tanta autem est iactura facienda, ut eodem designetur numero, qui indicat
minorem notionem; minorem vero eam dico, quae minus habet roboris.
4*
52
IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
Quod ut commodius perspiciatur, certos ponamus numeros; sintque binae
notiones = 3:2; iactura facienda erit = 2. Nam st notio minor Iota
esset oppressa, altera maueret int acta atque prorsus incolumis; quod cum fieri
nequeat, aliquantum patietur, neque tarnen plus, nisi icL quod minori notioni
sit emohcmento ; ut) ademtam alter i altera sibi vindicet partein; sive, ut,
claritatis quantum alteri detrahatur, tantum accedat alteri. Notiones enim
omnino nituntur contra pressionem, eamque ob causam iactura semper erit
minima, qua esse polest. Ita existit calculus sequens :
(3+-'):{2! = -jij
hl
unde residuum erit
fortioris notionis =3 — ~ = ~
tenuioris notionis = 2
[8] sive universe, posito a > b,
±
5
bb
a + b
(a + b) : = b :
a ab
bb
a-f b
a + b
aa-f-ab — bb ab
= !— r-r , et b x- =
a -f b a -j- c
bb
a-f b
unde a
Hie calculus facillime aecommodabitur quoteunque datis quantita-
tibus. Pro ternis notionibus, posito a >> b, et b > c, iactura facienda est
= b -f c; ut enim fortissima notio remaneret, incolumis, binae minores
prorsus essent opprimendae; quod cum illa fortissima non possit efficere,
obscurabitur aliqua ex parte; quantum autem haec detrimenti capiet, tantum
illis accedet lucri. Ratio iacturae distribuendae designatur per numeros
— , — , — , sive commodius per b c, ac, ab; unde habebitur
a b c
(b c -j- a c -f a b)
bc
ac
ab
= (b + c)
bc.(b-fc)
bc-f-ac-fab
a c . (b -f- c)
bc-J-ac-j-ab
a b . (b -f- c)
bc-fac-fab
ubi tarnen notandum, c non admittere valorem minorem quam b 1/
a b . (b -f c)
Hie enim valor prodit ex aequatione c =
bc-}-ac-|-ab
notio minima, cui respondet numerus c, prorsus evanescit.
a b . (b + c)
b + a
quo casu
Nam
si
c —
bc -\- ac -\- ab
evaderet quantitas negativa, omni sensu esset desti-
Caput Primum. o
ac. (b 4- c)
tuta. Saepissime tarnen accidit, ut c Sit < ■ ; ; M I gl sed tum
b c -\- a c -f- a b
res redit ad calculum pro binis notionibus a et b; quod hie fusius explicare
non possum. Re explorata apparet, eiusmodi notiones omnino consopitas,
quamdiu ita se habent, nihil facere ad determinandum statum animi, atque
propterea in calculo prorsus negligendas esse.
Totius staticae mentis fundaraentum iam est in conspectu; sed sunt
quaedam diligentius consideranda.
A) Notiones pressionein ferentes atque sustinentes, niti contra nunquam
desinunt; quod si fieret, aequilibrium constitutum denuo tolleretur.
B) Quo magis premuntur, tanto magis contra nituntur: unde efficitur,
notiones minimi roboris maxime itendi.
C) Etsi evanuisse, vel ex animo propulsae dicantur, latentes tarnen
resident in mente, et quidem integrae, non truncatae, nulla sui parte amissa. *)
D) Pressione sublata, non possunt quin emergant; quod ut fiat, nullo
alieno auxilio est opus ; etsi notiones coniunetae mutuum saepissime sibi
invicem auxilium praebent. Hinc petenda est memoriae et imaginationis
explicatio. ♦
E) Notiones per se non sunt vires; itaque si quarundam minor est
inter ipsas contrarietas, minus etiam virium inter sese exercent. Nam
omnis earum vis est mutua, quocira haec vis longe diversa est ab earum
robore.
F) Hinc patet, quid discriminis intersit inter staticam corporum et
staticam mentis. Corpora plerumque agunt tanquam pondera : est autem
suum cuique pondus, quo cognito pressionem etiam novimus inde exspec-
tandam. Vectibus imposita, mutato intervallo [10] ab hypomochlio, diversis
modis ab aequilibrio recedunt vel propius accedunt; cuius rei nihil simile
est in notionibus. Comparari tarnen quodammodo potest pressio notionum
cum pressione corporum elasticorum; neque vero utilitatis vel subsidii ad
calculos commodius peragendos quiequam inde poterit redundare. Diffi-
cillimi enim calculi versantur in determinando aequilibrio earum notionum,
quae cum aliis sunt aliqua ex parte, nee tarnen omnino atque perfecte
coniunetae; quae res psychologiae ita est propria, ut prorsus abhorreat a
rebus in corporum natura considerandis. —
Mechanicae mentis formulam fundamentalem investigaturi, redeamus
necesse est ad iacturam faciendam, quam fieri seimus non a robore
notionum nunquam deminuto, sed ab imaginis, animo obversantis, claritate.
Qua iactura facta, adest aequilibrium; sed ea subito fieri nequit; transeant
enim necesse est notiones per omnes claritatis gradus a summo ad infimum
usque. Non opus in hac re videtur verborum ambagibus. Tota iactura
facienda, quam neglecta distributione in singulas notiones hoc loco tanquam
unicam Summam consideramus, ponatur = s; elapso tempore = t pars
i) < ^1" l±iL o (Druckfehler),
b c -\- a c -\- a b
*) Distinxi hie animum a mente; ut animus sit idem, quod gennanice dicere con-
suevi Beiinifstscyn ; qua quidem in re vocabulum latinum mihi aptius ipso vernaculo
videtur.
ca IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
illius sumraae depressa sit = 0; itaque pars residua = s — n; haec pars
erit vis agens in temporis puncto sequente == d t; huic actioni propor-
tionalis erit depressio inde exstitura, quam ponemus = d o: inde habebimus
aequationem
(s — o) d t = d n
Const
unde t = log. ■
s - — 0
Posito t = o erit a = o, unde Const = s, itaque
s
t = log. ,
0 s — o
atque a = s (1 — e~ ) ; s • — a=se—t
unde intelligitur , aequilibrium omnino perfectum nunquam adfuturum,
quoniam non fit a = s, nisi t = 00 .
[11] Primo statim intuitu apparet magnum discrimen his formulis inter-
cedens cum formulis fundamentalibus mechanicae corporum; quae repetuntur a
differentialibus secundi ordinis, quoniam a celeritate spatium, celeritatis autem
incrementum pendet a vi motrice. Manifeste totum hoc discrimen oritur a
corporum inertia, qua pergunt in motu, etiamsi nulla vi externa söllicitentur.
Psychologia nihil habet, quod possit comparationi ansam praebere.
Caput Secundum.
De attentionis causis primariis.
5-
Minoris sane laboris esset ac negotii, attentio quid efficere possit,
perscribere, quam quibusnam causis fiat ut gignatur, alatur, adtenuetur.
Quodcunque enim summi homines valent ingeniö et diligentia, id valent
attentione; et ubicunque vel acumen deficit vel Studium, defuisse atten-
tionem iure suspicabimur. Cum autem mathematicis potissimum haec
scribantur, licebit pace illorum impedimenta etiam in causarum numero
habere, quandoquidem illi certe hoc dabunt, impedimenta esse causas
negativas: unde non parum adiumenti nobis est accessurum. Nam patebit,
de attentione non tantopere quaerendum esse, cur adsit, quam cur deficiat;
eiusque rei rationem inveniemus multis modis inhaerere in iactura illa
facienda, de qua locutus sum in capite superiore.
Attentus dicitur is, qui mente sie est dispositus, ut eius notiones
incrementi quid capere possint: carent autem attentione, qui res obvias non
pereipiunt. Itaque cernitur quaedam integritas atque [12] valetudo mentis in
attentione; contra vitio vertitur non attendisse, quod vel videndo, vel audiendo,
vel cogitando assequi potueris. Hinc fit, ut attendendi legem nobis imponamus :
eaque in re voluntatis imperium multum posse, omnes norunt. Quamobrem divi-
denda est attentio in duas partes, voluntariam et non voluntariam : quarum par-
tium primam hie seiungimus a nostro proposito; altera qualis sit, observando
Caput Sucundum. sc
necesse est didicisse, antequam ad calculum rem revocare in anknum in-
ducere possimus.
Ac primum omnium id experientia docet maximeque confirmat, tem-
pori obnoxiam esse attentionem : debilitatur enim atque frangitur diutur-
nitate. Ipsum nomen attentionis, ductum a tendendo, denotat vim quandam
contrariam, cui sit resistendum atque contra enitendum: scimus etiam,
devicta attentione alias quasdara cogitationes prorumpere, mentemque in
diversas quasi partes trahere, unde suspicari licet, eas latuisse tanquam
hostes in insidiis, atque iam antequam conspicerentur, coecam illam vim
nobis intulisse, cui resistendum esse sentiebamus, et cui tarnen aliquando
fuit cedendum. Multum saepe sublevamur in eiusmodi certamine, si in
ipsa re, ad quam attendimus, satis inest varietatis, ut eam perlustrando
quasi in ,orbe circumagamur : e contrario autem ut quaeque res est sim-
plicissima, ita maxime solet attentionem defatigare. Sed si quis inde
concluderet, aucta varietate semper diminutum iri attentionis molestiam, in
summum illaberetur errorem; id enim ipsum est difficillimum , magnam
rerum copiam sie animo comprehensam tenere, nihil ut excidat, nullaque
in parte ut ordo turbetur. Videmus, plures hostes a diversis partibus
attentioni esse cavendos: idque magis elucescet, ubi perpendemus, rerum
novitas quid adferat vel praesidii vel difficultatis. Novi aliquid dicere vel
monstrare Student ömnes, quorum interest aliorum animos in se converti;
sed saepissime videmus, nova repudiari, ne antiquis et consuetis pars
honoris detrahatur. Itaque contradicere sibi ipsa videtur experientia, cum
attentio[i3]nis fovendae causa commendet modo simplicitatem, modo varieta-
tem, modo nova, modo antiqua: neque tarnen hie adesse contradictiönes
veras, sed apparentes tantum, calculi ope infra ostendetur.
Tempus in attentionem non solum vim exercet diuturnitatis, sed etiam
opportunitatis. Qui suspenso sunt animo, speetaculo, meditatione, curis
oecupati, ii nihil pereipere solent; oculis non vident, auribus non audiunt,
sensibusque integerrimis uti nesciunt. Fortiorem tarnen sonum, lumenque
ardentius pereipiunt; unde patet, ad proportiones rem redire, ut, qui magis
sit oecupatus, is vehementius sit compellandus.
Sed cum pateat, ut quaeque maximo impetu in sensus irruant, ita
plurimum esse effectura, magnopere mirum potest videri, in lenissimis per-
ceptionibus tarnen eam esse vim, ut penitus animis nostris se insinuent,
firmissimasque nobis praebeant notiones. Cave putes, hinc argumenta
peti posse contra mechanicam mentis; calculus ipse totum miraculum
destruet, reique rationem exhibebit.
Reliquum est, ut de diversitate hominum, aetatum, raorum, hilari-
tatis vel morositatis, pauca adiieiam. Observamus sane, non omnes iisdem
rebus oculos et aures praebere; sed quando tangi ea quisque sentiat, quae
ipsi sint cordi, tum demum animum appellere et aures arrigere: prima
artis euiuseunque elementa discentium perbrevem esse attentionem, sed
magis assiduam fieri procedente scientia et usu: hilarem respuere tristia,
morosum iocosa, ita ut attendere non modo nolit, sed etiam vix possit:
et quae sunt eiusdem generis plura. Facillime perspicitur, haec omnia
pendere a cogitationibus reproduetis, atque propterea nun referenda esse
inter causas primarias: quas enim quisque non habet praeformatas cogi-
c6 IV. De attentionis mensura causisque piimariis. 1822.
tationes, eas reproducere nequit; quibus autem est instructus, his augeri
quidem vehementer potest attentio et minui, sed semper licebit quaerere,
quid futurum fuisset, si reliquis causis illae non insuper accessissent?
Deesse certe poterant salvo eodem animi statu, qui fuit [14] ante attentionis
initium: ita enim quiescebant obrutaeque iacebant quasi in fundo mentis,
ac si omnino nunquam affuissent. Causas autem primarias ab hac acce-
dente reproductione prorsus segregandas esse, melius ex ipso calculo appa-
rebit: cui iam nos accingamus.
Primordia calculi capienda sunt a quaestione praevia: notio nunc
primum exöriens in mente, remotis omnibus impedimentis, qualis sit futura
functio temporis? Ac praesto videbitur responsio: tempori fore propor-
tionalem ; quoniam oriatur in omnibus punctis sive minimis particuiis tem-
poris. Eödem modo celeritas corporis cadentis uniformiter augetur cres-
cente tempore, quoniam a gravitate constante corpus impellitur. Verum-
tamen responsio illa omnino est falsa: experientia docet, tempore minime
longo elapso, perceptionem quamcunque ita esse perfectam, ut nulluni
amplius incrementum (quod quidem sentiri possit), ipsi accedat, etsi diu-
tissime velimus in eadem perceptione perseverare.
Paullulum hie subsistamus. Dicent fortasse aliqui, celeritatem nas-
centem non fuisse comparandam cum notione nascente, quoniam illius
quidem causa sit nota, huius vero ignota. Errant; ignoramus causam
celeritatis; nam gravitas nihil est nisi verbum designahdo phaenomeno
aptum, attractio autem, quam plurimi putant agere in distans, certissime
est falsa hypothesis, quod cum nonnisi metaphysicis rationibus explicare
possim, hie tantum confirmabo auetoritate Euleri in iheoria motus cor-
porum rigidorum § 184. Omne argumentum, unde cöncludimus, celeri-
tatem illam esse proportionalem tempori, eo nititur, quod in singulis parti-
cuiis temporis nihil est discriminis, quare si quid in ullo temporis puncto
iam oriatur, id aeque in omnibus fieri arbitramur.
Sed haec in mente secus se haben t. Quae dicturus sum, metaphy-
sicis nituntur rationibus; lectores ea videbunt experientiae esse [15] consen-
tanea, ac per se simplicissimam praebere hypothesin, etsi argumentis com-
probari non possent.
Unaquaeque notio, in statu suo completo, habenda est pro unitate,
tali, qualis est sinus vel cosinus totus; quae augeri non potest, sed admittit
fractiones. Notionem in mente nascentem, itaque nondum completam,
dieimus perceptionem; quae cum nascendo augeatur, fractio est illius
unitatis. Quant em autem eins tempore quodam elapso iam natum est, tantum
denuo nasci nequit ; itaque ademtum est a facultate mentis, eandem notionem
in maius robur evehendi. Ponamus totam hanc facultatem = (f ; elapso
tempore = t si notionis robur sensim crescendo evectum est ad quanti-
tatem = z, residuum illius tacultatis erit <\ — z. Perceptionis intensitatem
ponamus esse constantem, et = ß\ habebimus
ß (7 — z) () t — <5 z
Caput Secundum. 57
Const
unde ßt = log.
7-z
<f
Pro t = o etiam z = o; hinc ßt = log.
r/ — z
/?t\ dz -ßt
z = 7 ■ (1— e j et --==/yr/e
Hinc sequitur:
1) facultatem mentis, notionem aliquam producendi, cito decrescere,
nee tarnen unquam prorsus in nihilum abire. (Quaestionem, an eiusmodi
facultates possint restaurari, hie non curo; tantum dico, notiones, quibus
utatur homo adultus, maximam partem esse reproduc/as, non autem denuo
produetas. Addentur nonnulla de hac re in capite sequente.)
2) quameunque pereeptionis intensitatem, minimam aeque ac maxi-
mam, aptam esse, ad idem efficiendum notionis robur, si temporis satis
sibi concedatur. Ita tollitur admiratio illa, de qua in § praec. sum
locutus.
[16] Formulae propositae attentionem indicant absolutam, sive maximam,
nullis cum viribus contrariis confligentem : quae si unquam usu veniret,
nomine quidem latino, dueto e tendendo, non recte designaretur, quoniam
intendi non possunt, quae secura sunt ab omni nisu contrario.
Sed nisi forte velimus sermonem instituere de primo vitae initio, ut
aliae nullae nee praecesserint, nee simul adsint notiones (quod sane ridi-
culum esset), semper confligendum erit cum viribus oppositis; notionum
animo praesentium quaedam erunt contrariae notioni nascenti: hinc iac-
tura facienda, et pro rata parte distribuenda.
I. Ad iacturam determinandam primo loco observandum est, orientem
notionem initio certe admodum imbecillam fore, ipsique confligendum esse
cum notionibus priori tempore natis; quod tempus nisi fuerit perbreve,
illae iam non parum roboris erunt consecutae. Itaque certum est, notionem
nascentem esse omnium notionum minimam; atque iam patet ex supra
dictis (4), ad iacturam facienda m tantum unoqiwque temporis puncto aecres-
cere, quantum accedat ad notionem nascentem *) : nisi forte minor sit con-
trarietas; qua de re pauca adhuc sunt dicenda.
Mente coneipiamus colorem rubrum et caeruleum: quos ita distare
seimus, ut intennedius sit violaceus, neque tarnen unicus sibique semper
par, sed modo propior rubro, modo caeruleo. Horum colorum ea est
ratio, ut quasi linea continua interposita videatur inter rubrum et caeruleum,
qui sint eius lineae puneta extrema: violacei autem coloris tot sunt varietates,
ut proximae quaeque non possint discerni, earumque contrarietas sit infinite
parva. Hoc [17] exemplo ad euiuseunque generis notiones aecommodate >,
apparebit, contrarütatem notionum (nostro sermone der Hemmungsgrad) esse
quantitatem talem, ut eins maximus valor sit = 1, reliqui valores intermedii
sint inter 0 et 1. Maximum valorem admisimus supra (4), ubi diximus,
*) Docuimus, pro ternis notionibus a, b, c, posito a > b et b > c, fore iactu-
ram = b -\- c; iam fingamus, b vel c aliquid incrementi capere, ita tarnen, ut semper
maneat <C a : patet, idem incrementum accedere ad iacturam, quae semper est = b -f- c
e8 IV. De attentionis mensura causisque primariis.
si altera notionum prorsus sit oppressa, tum demum alteram fore incolumem:
quod si fieri posset, etsi prior illa non prorsus esset oppressa, contra-
rietas notionum non esset = i, sed aequalis cuidam fractioni genuinae = n.
Jactura facienda in hac, quam nunc tractamus, disquisitione, non pro
constante haben debet: sed variabilis est duplici ratione, tum crescendo,
dz — ßt
tum decrescendo. Invenimus esse — = ,k/ e , hinc lacturae accrescit
dt '
Tißye dt, denotante n quantitatem contrarietatis inter notionem nas-
centem et illas, ad quas animo praesentes accedit. Eodem autem tempus-
culo = d t, quo augetur iactura = v, diminuitur etiam suo ipsius pondere,
quoniam unoquoque temporis, puncto notiones claritatis suae primitivae
detrimentum aliquod capiunt: ea iacturae adhuc faciendae deminutio est
= v d t. Hinc existit aequatio
— ßt
dv=7i,j<fe dt = vdt.
Lectores nosse censentur integrationem formulae dy-f-Pydx = Qdx;
— ßt
qua applicata ad dv-fvdt=/T/^/e dt invenietur
v = e [/"e . /r/jf/e dt -|- Const]
t — ßt t(i—ß) i t(i— ß)
Est autem fe, . e dt =/e dt = ./e
i — ß
unde v = e -f-le
I— ß
Restat constans determinanda. Fieri potest, ut iam initio temporis
adsit quaedam iactura facienda, scilicet ex iis notionibus, quae animo ob-
servantur antequam nova notio accedat: neque tantum pot[i8]est fieri, sed
revera necesse est, quoniam scimus (4),. nmiquam ullas notiones prorsus
ad suum aequilibrium pervenire. Ponamus, sicut iam consuevimus, illam
iacturam primo fuisse = s, deinde eius desedisse aliquantum = 0, eo autem
temporis puncto, quo accedat nostra nova notio, reliquam esse quantitatem
= s — o; sequitur, pro t = o esse v = s — 0, unde fit
7ljj(f
atque hinc denique v =
— ßt -t
Interdum commodius erit scribi v = ^,>'/ 1- (s — n) e
Haec iactura facienda rite distribuatur necesse est, eaque distributio caput est
negotii suscepti: sed antequam eo procedamus, iuvabit paullo altius inqui-
rere in formulam modo inventam, variosque valores in illa comprehensos.
Primo intuitu apparet, quomodo pendeant hi valores a quantitatibus
n et s — o; sed numerus ß multifariam formulae implicitus est: unde hoc
quidem statim intelligitur, inter iacturam, sive pressionem, et intensitatem
n-l*- + c
1— ,*
-ßt ( TTJtf
)c~t
C l S O
\ I—fl
) c
-ßt -t
.„ff«, C 6 \ t
*—n\
Caput Secundum. cg
novae notionis, non esse simplicem quantitatis relationem; etsi ex huius
notionis adventu ea pressio coorta videatur.
— ßt — t
e — e o
Ponamus 8 = i : inveniemus ; = — ; ut differentiatione
' i — ß o
opus sit ad verum valorem cognoscendum; quam patet ita esse instituendam,
ut ß sumatur pro variabili. Prodit t e ; atque hinc.
•t . , , —t
v
n r/te -f- (s — a) e
Porro dv=e dt [n(f (i — t) — (s — • a)]
Sit n (f (i — t) — (s -f- a) = o,
r _ . 7i w — (s — a)
iq sequitur ■ = t,
71 ff
quo tempore elapso ad summum evecta erit iactura facienda; post autem
magis descrescit, quam novis accessionibus augetur.
Differentiando formulam universalem, habebitur
dv nß*a> —ßi (nßy \ -t
- = — — e 4- — — (s — a)
dt i —ß T Vi— ß V \
quo posito = o prodibit
log. nat -Z—L — ßt = log. nat [— '-^ - - (s — a) j - - t
, . i . . (i (s-g) (1-/8)
unde t = —j log. nat (^-
Ex hac formula pro Omnibus valoribus numeri ß colligitur, quando iactura
lutura sit maxima; ut autem eius vim commodius perspiciamus , addam
quae sequuntur.
i ) Sit s — a adeo parvum , ut proxime accedat ad valorem = o ;
sequitur t = log — . Haec quantitas semper est positiva, etsi
i — ß ß
ß > i ; fit autem infinita, ubi ß evanescit; et infinite parva, si ß crescit
in infinitum; quoniam logarithmi, quamvis infiniti, inferiorem iis numeris
tenent ordinem, cum quibus simul abeunt in infinitum.
2-) Habeat s — n valorem finitum et mediocrem (nequit enim esse
permagnum, quoniam pars est omnium notionum animo simul praesentium) ;
atque ponamus
a) ß > i ; videbimus, ß posse ascendere ad infinitum ; quo facto fit
, ' ,og(i _!=£.)"__' (log (■ + !=±) - iog fi _ + 1
ß °\ n (( j ß ß \ n y I ,»
log. ß, quod est infinite parvum.
b) ß < i ; iam cavendum erit, ne formula maniscatur valorem nega-
tivum, qui futurus esset imaginarius, quoniam tempus semper est positivum.
Itaque scribamus [20]
t== I . nß,f. — {i—a)(i—ß)
I —ß °° 7lß2(f
perspicuum est, tempus fore nulllum, si habeatur
6o
IV. De attentionis mensura causisque primariis.
nßZ(j = nßrp — (s — a) (i — //), sive
ff = nß(f , vel /j — —
71(1
f
His expositis, omnia adhuc usque tradita sunt exemplis ad certos
numeros adactis illustranda. Simplicitatis causa ponamus s — ff = i , et
n = i, quoniam istae quantitates parum molestiae facessunt; sed ß et t
per varios valores sunt persequendae. Commodum erit, literae ijp tribuere
valorem = 10, etsi vere est unitas illa, quam uniuscuiusque notionis robur
non potest excedere: quod si stricte vellemus observare numerorum inte-
grorum usus paene omnis tolleretur, atque prorsus in fractiones devolveremur.
Caeterum patet, veritatem nullo modo laedi, si unitatem illam quasi de-
cima sui parte demensam concipiamus; dummodo memoria teneatur men-
sura semel constituta.
Ex aequationibus propositis
-e-"')
et v =
n ßq -ßt .
f "/''/' \
— t
e
inveniuntur valores
sequentes :
[21]
/»-T
fi— I
ß = 2
10
z = 0,4876
v = 1,3689
z = 0,9516
v = 1,8097
z = 1,8127
v = 2,6270
2
z = 2,2119
v = 2,3294
z = 3.9347
v = 3.6392
z = 6,3212
v = 5.3795
t -= 0,64436
1
z = 7.2437
v = 5.513
maximum.
t = 0,9
z = 5.9343
v = 4.0657
maximum.
t = I
z = 3>9347
v = 2,7544
z = 6,3212
v = 4,0469
z = 8,6467
v = 4.6510
t = 1,17558
z = 44444
v = 2,7780
maximum.
t = 2
z = 6,3212
v = 2,4609
z -= 8,6467
v = 2,8419
z = 9,8169
v = 2,4756
t = 3
z = 7.7683
v = 1,7833
z = 9Ö02 2
v = i,5434
z = 9.9753
v = 0,9961
t = 10
z = 9.9327
v = 0,06697
z = 9.99Q4
v = 0,00458
z = 9.9999
v — 0,00094
Caput Secundum. ßl
Intuentem hanc tabulam fugere non potest, adesse etiam aliud maxi-
mum praeter illud, quo calculo iam persecuti sumus; comparantes enim pro
tempore = 2 valores ipsius v, intelligimus, eam seriem, ubi ß = i, hie
eminere, cum tarnen et ab initio medium locum teneret, et sub finem
eodem revertatur. Quod latius patere primo confirmabimus exemplis; com-
putantes enim pro ß == — tem[22]pus maximi = 1,3733 et ipsum maximum
= 1,5197, invenimus, tempore = 2 valorem ipsius v inferiorem fore hoc
maximo, atque hinc certe inferiorem etiam valore 2,841g, quem adipiscitur
v in serie illa, ubi ß = 1 : posito autem ß = 5 prodit tempus maximi
= 0,38312 et ipsum maximum = 7,3618; sed deinde ita decrescit v, ut
tempore t = 2 sit = 1,8264. Nee mirum: omnis enim notionum motus
in mente (quem motum seimus nihil esse praeter vicissitudinem minoris et
maioris claritatis), pendet ab earum contrarietate, qua premuntur, intenduntur,
et ad agendum excitantur; itaque maiores existunt motus, ubi fortior accedit
.pereeptio nova ad notiones iam animo praesentes ; iique motus maiores
celerius etiam tendunt versus finem suum , qui est aequilibrium : minores
autem motus sunt tardiores, atque ita in longius tempus produeuntur.
Calculo quoque eandem rem persecuturi, utamur differentiatione ipsius
v secundum ß; ut (s — a) e ' habeatur pro constante, et factores n (p
itidem constantes seponantur. Restat differentiandum
■i ( — ßt -t
prodibit
d a e-^t(/J2t-/jt+I)_e~t
Numerator evanescit pro ß = 1 ; sed cum idem hat in denominatore,
bis repetatur dififerentiatio necesse est, qua peraeta perdueimur ad nume-
ratorem
e~ (ß2t* —ßa 4/?t2 -f-3t2 -j- 2 t)
Posito ß = 1 et reiectis iis quae invicem destruuntur, superest
e p (2t — 12), quod cum evanescat posito t = 2, iam apparet, hoc
tempore maximum illud quaesitum pro ß = 1 revera adesse.
Oritur autem hie magna quaestio, quid hoc sibi velit, ß => 1 et t = 2 ?
quod ut intelligatur, subsint unitates necesse est, non arbitrariae, sed deter-
minatae. Eiusmodi unitates nonnisi experien[2 3]tiae ope constitui possimt;
quanti autem hoc sit laboris, quot subtilissimarum observationum moles com-
paranda et exagitanda, ex mathematicorum studiis, in cognoscendam corpo-
rum libere cadentium celeritatem aliaque similia, impensis, satis perspicitur.
Fateor, nie nondum eo pervenisse, ut certi aliquid de illis unitatibus pro-
ferre possim ; iuterim a maximis erroribus illae ipsae disquisitiones n< )bis
cavent, in quibus versamur. Neminem latet, quomodo afheiamur n< »vis
pereeptionibus : permovemur aliquantulum, mox autem animus quasi in inte-
grum restituitur. Itaque satis breve nobis videtur id tempus, quo iactura
facienda primo evehitur ad maximum, deinde fere tota residit, ut animum
in motu esse non amplius sentiamus. Rite per}Densis iis, quae in nobis
ipsis observamus, nemo diem aut annum putabit pro unitate illius temporis
62 IV. De attentionis mensura causisque primariis.
habendum; ne de tota quidem hora cogitabit quisquam; sed ipsa horae
minuta prima nimis longa videbuntur; in minutis secundis dubitabundi haere-
bimus. Altera ex parte certissimum est, fractiones admodum parvas minuti
secundi ab hac quaestione esse alienissimas; nee ulla alia est causa, cur
celeritatem corporum coelestium et luminis admirari soleamus, nisi haec una,
motus anirai ita tardos esse, ut nullam mutationum intemarum seriem, cum
illa celeritate cömparandam, in nobis queamus observare.
Satis cognita iactura facienda, pergamus ad eiusdem distribuendae
negotium.
II. Differt haec distributio duplici modo ab illa, quam antea (4) per-
feeimus: variabilis enim est ipsa et iactura et ratio eius distribuendae.
1 ) Quandoquidem iactura est variabilis : uno quasi actu in partes
dissecari nequit; sed redeamus necesse est ad minimas eius particulas, quibus
in tempusculis infinite parvis notionum claritas diminuitur. Cum v sit
funetio ipsius t, post certum tempus quantumeunque certa aderit iactura
facienda, quae per proximum tem[2 4]pusculum dt manebit constans; hinc vdt
erit id, quod necessitate urgente = v in tempusculo dt adimendum Omni-
bus simul sumtis, atque hanc ob causam distribuendum est in singulas
notiones.
2) Ut ratio distributionis explicetur, ponamus, animo praesentes esse
notiones duas a et b eo ipso tempore quo accedat nova notio, cuius vim
variabilem designemus per x. Respiciendo ad anteriora (4) patebit, ratio-
iii.
nem distributionis denotari numeris — , — , — ; sive commodius numens
a b x
b x, a x, ab.
Hinc calculus induit formam sequentem pro nova notione x:
. , n a b v d t
bx + ax + ab : a b = v d t : , -
bx-f-ax-j-ab
Ponamus a-)-b = c, ab = c': terminus ultimus , quem quaesivimus , fit
c vdt . .
: — 7: cuius Integration e peraeta invenietur ea iacturae pars, quae novae
cx-f- c
notioni erit ademta. Hanc partem postea designabimus litera Z, distin-
c v d i
guenda az. Itaque ent — r=dZ.
ex -\- c
Similis erit calculi forma, si plures animo affuerint notiones eo tem-
pore quo accederet nova. Potest etiam fieri, ut non eadem sit omnium
notionum inter sese quantitas contrarietatis : hoc casu scribantur numeri illi,
rationem distributionis denotantes, ita:
— , — 1 — » sive bxf, ax»;, abo-,
a b x
ubi i, 77, &, determinandi sunt seeundum contrarietatum quantitates. Hinc
abvdt abtf-vdt .
Pro ü — i 1 — ü Prodibit — — : r — — r. Sed posito bf + a-//
bx-j-ax-f-ab (bt -f- a /,) x -\- ab fr
Caput Secundum. 63
c'vdt
= c et ab# = c, eadem recurret formula — -, qua mm usi sumus;
cx = c
constantium valore immutato, unde sequenti calculo nihil negotii potest
c
accedere. Atque revera unica tantum [25] adest constans, scilicet quotiens — ,
isque variis modis existere potuit ex numeris a, b, e, i], S, ut eundem cal-
culum variis liceat constantibus primitivis applicare.
Latet autem summa difficultas in illa vi variabili, quam designavi litera x.
Mirum fortasse videbatur lectoribus, quod eius loco non statim ponerem illud z,
quod scimus esse = cp (1 — e_ ^ ); nam qualis tandem ea vis potest esse,
nisi vis ipsius novae notionis z? Sane nulla est alia, sed non est eadem
tota atque integra, sed pars eius variabilis. Quod ut intelligatur, res denuo
est consideranda. Singulis tempusculis oritur dz, quod est infinite parvum:
adsunt autem vires finitae contrariae notionum animo praesentium. Nonne
exspectandum est, vim infinite parvam a viribus finitis protinus exstinctum
iri? Hoc revera fieri in quibusdam casibus, infra videbimus: si semper
fieret, nunquam alicuius novae perceptionis conscii nobis esse possemus.
Fac autem, singulis tempusculis aliquid remanere ex singulis dz: omnes
istae partiadae superstites iimgentnr inier se, atque ita vim efficient finitam,
eamque semper crescentem. Ita revera fieri solet; quomodo autem fieri
possit, intelligemus attendendo ad ea, quae supra dicta sunt de virium in
animo agentium natura. Diximus (4, E), notiones per se non esse vires,
sed sollicitari ad agendum pressione mutua. Hinc patet, infinite parvas
illas particulas dz exercere infinite parvam pressionem contra notiones
animo iam praesentes, neque maiorem pati reactionem, quam excitaverint;
ut non mirum sit, aliquantum remanere, atque coalescere in quantifa/em
finitam. Certissimum tarnen est, hanc quantitatem finitam non adaequari
posse toti summae omnium dz, sive toti z; multum enim est deperditum,
atque quasi dispersum; quod cum nonnisi vim habeat infinite parvam, in
conflictu virium finitarum pro nihilo est habendum.
[26] Jam duos constituamus limites, quos inter necesse est quantitatem
illam finitam contineri : hi limites, sunt z et z — Z, denotante Z eam
partem ipsius z, quae elapso tempore t ita est depressa, ut non amplius
sit animo praesens. Vis novae notionis minor esse non potest quantitate
z — Z ; nam quantum eius animo simul est praesens elapso tempore t,
tantum certe coaluit, unamque exercet actionem; verum paullo maiorem
esse, inde sequitur, quod notiones partim depressae, vim tarnen integram
conservant (4, C). Distinguamus duo tempora diversa, t et t'; elapso
breviore tempore t, animo praesens sit z — Z; procedente tempore haec
quantitas et augetur novis d z accedentibus, et minuitur pressione non inter-
missa; elapso longiore tempore t' aliud habebimus z' — Z'; quantum autem
prioris z — Z interea est depressum , id non desinit agere in animo, sed
pergit in resistendo viribus contrariis; attamen non continetur in quantitate
z' — Z'; atque ita errorem calculi efficiet, si totam vim agentem ponemus
= z — Z .
Nihilominus utemur calculo sie instituto, quoniam nulla spes est, eum
aecuratius exhibendi: quocirca deliberandum est, quanto in errorc possimus
64
IV. De attentionis mensura causisque primariis.
versari. Ac primo notandum, quantitatem negligendam non esse talem, ut,
si cognita esset, simpliciter addi deberet ad vimagentem; sed semper
quodammodo est seiuncta, atque hanc ob causam parum habet momentr*).
Negligimus enim id, [27] quod animo non est praesens; hanc autem ipsam
ob causam non potest coalescere cum iis novae notionis incrementis, quae
postea in animum inducuntur.
Deinde videamus, quomodo fieri possit, ut quantitas negligenda vel
augeatur vel minuatur. Quo magis priore tempore creverit quantitas z — Z,
et quo fortius postea deprimitur, tanto maior habebitur error. Sin statim
ab initio maxima fuit pressio subeunda, non multum potuit coalescere; et
postea deminuta pressione haud multum absumetur. Hoc modo dignos-
cemus eos casus, in quibus respiciendum erit ad alterum limitem, qui,
etsi nunquam potest attingi, de erroris commissi quantitate tarnen nos
poterit securos reddere.
c v d t
Redeo nunc ad differentiale illud ; — T = dZ, quod contineri vide-
cx -j-c
c'vdt c'vdt . ....
mus hmitibus — T et — -—-. — -,, ita quidem, ut a priore lnnite
cz-|-c c(z — Z)-]-c
semper satis longe absit, ad posteriorem autem multo propius possit accedere.
Ex superioribus est
*) Huius rei explanandae causa redeamus ad supra (4) tradita; et perpendamus
exempla calculi, quo determinatur aequilibrium notionum, si vires earum sunt constantes.
Ponamus ternarum notionum robora esse in proportione numerorum 3, 1, 1; iactura
facienda erit = 2 ; eaque sie distribuetur :
hl
\^\
6 1
3
l _ 2 .
7
6
3
7
3 —
1 —
11
7
1
7
1
7
Mutemus exemplum; ponamus loco binarum notionum, quarum utraque = 1 [27] unam
singularem, cuius vis sit = duabus illis, sive = 2. Jactura etiam erit = 2, sed longe
aliam habebimus distributionem, scilicet
5 =
l»J
= 2
= Hl1)
5
_ J_
5
ubi patet, quantum momenti sit in coniunetione earum virium, quas antea pro disiunetis
habuimus. Sed dicet fortasse aliquis, in priore exemplo notiones numeris 1 et 1 desig-
natas fuisse oppositas inter se; hinc maiorem exstitisse pressionem. Itaque si non
fuissent opposiiae, sed tantum disiunetae, lenior fuisset pressio subeunda? Mir.ime!
nam et iactura et eius distributio eaedem manent. Quod ne paradoxon videatur, pauca
addam. Ponantur binae notiones, b et c; iactura erit = c, ob contrarietatem inter b et c.2)
Accedat tertia notio a; iactura erit b -f- c, ob contrariam fortiorem a. Itaque duplex
adest ratio, cur iactura involvat quantitatem c; hinc vero non existit maior pressio, sed
idem animi motus sufficit duabus rationibus simul; atque cum quantitas c iam oppri-
matur propter contrariam a, non potest denuo opprimi propter contrariam b.
i) — O (Druckfehler).
2) b et a O, SW (Druckfehler).
Caput Secundum. De attentionis causis primariis. 65
[28] ( nß<f\ , -t
/ , / —ßt-, s — ° 7 ce dt
c vdt c .nßrp.e 'dt \ 1 — ßj
™ + ? = ^r^(c9.(ir-e--ft)-f:|0 "cyO-e-^ + c"
Ad. hanc fi trmulam, integrationi satis facili se praebentem, nisi valor nimis
incommodus tribuatur literae ß; infra revertar, ubi usus postulabit.
c v d t ,
Longe ahter se habet aequatio — ; — 7 = dZ, sive c vdt
0 M c (z — Z) + c
= czdZ- — cZdZ-|-c'dZ, sive
cnßq —fi-t ,( 7ißw\ — t
dt + c s — 0 —Je dt
I /3 \ I /3>
= cr/ (1 — e-/?t)dZ — cZdZ + c'dZ.
In hac aequatione permixtae sunt quantitates variabiles; nee certum ordinem
aequationis assignare possumus, quoniam diversissimos literae ß necesse est
tribui valores; quamobrem de eius solutione direeta et finita vix aliquem
puto cogitaturum.
1
Ponamus 1 — e " -j- u; ße dt = du; e = (1 — u) ,
d t = ; transfomiabitur tota aequatio in sequentem :
ß{i— u)
1
__J_du + _^<J_7=7j(I-u) du
^ cr/udZ — cZdZ -\- c'dZ.
Facile nunc discerni poterit casus, quo aequatio finitam admittat solu-
71 ßa
tionem, scilicet si s — o = : eumque casum obsolvam , antequam
1 — ß
approximationis methodum universalem proponam. Moneo tarnen, non
multum esse praesidii in hoc casu eiusque solutione; angustis enim limitibus
circumscriptus est. Primo ß non debet sumi > 1 , ne s — o fiat negativum ;
deinde nee ad unitatem ni[2o]mis prope debet accedere, quoniam s — o non
potest evehi ad valores permagnos^ Sed ubieunque ß habetur satis parvum,
ineipiendum est ab hoc casu, ut reliqua commodius perspiciantur.
. c c 7iq>
Ponatur Z = y -j , — == m ; ent aequatio nostra
C I ■ — jJ
mdu = cf/udy — cydy,
sive d u = u d y
m
-mydy'
unde u
cfJL ( _ ctpy
= e m (/e m •
y d y 4- Const.
m
)
Porro /e~
111 m
m y d y = — y. — e
c'f
_ m? y m2 _
m e "
C2 (f)2
cjpjy
m
cpy /my
1 C2 (f 2 J
\ c^>
Herbart's Werke. V.
66 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
c fmy 1112 \ C_HJ_
Hinc u = — -f- Const. e m
m \ c ff c2 </ 2 /
Ad constantem deterniinandam habemus u = o pro Z = o y -j , sive
c
c
u = o pro y =
c
1 / m \ cyy
Cum commodius scribatur u = — v -I 1 4- Const. e m erit
7 \ ' c (f I
1 / m c'\ . c V
o = — ■ — -f- Const. e
'/ W
c>
atque Const. = e m .
m
m
9
(c +cy).
Cr/
I r m
itaq ue u = — — I c v H r- c — — I . e
c q> L - (f V </ /
Reponamus Z = y 4-
-?D*-<+:-+('-a'"]
c
c
[3°] r _ / _.x QLftZ-
fiet
[c (f Z
c z 4 ( c' ) • ( e m — l ' I
Haec formula, etsi brevissima, tarnen aliquid habet incommodi, quoniam
non facile potest reverti: assumto enim u, quaeritur Z; ex natura formulae
autem sumto Z quaerendum esset u. Levatur tarnen haec molestia magna
ex parte ope tabularum logarithmorium naturalium; quod ut illustrari possit
exemplis, pro quantitatibus constantibus certi numeri sunt introducendi.
Constantes c et c' cum existant ex superioribus a et b, sit a = b
= 5; hinc a -}~ b = c -= 10; ab = c' = 25. Jam supra statuimus
(f = 10; seimus autem, hmic numerum 7 re\-era esse unitatem, quam
notiones excedere non possunt; quamobrem etiam a et b non possunt esse
>> 10. Ex ipsis autem existat necesse est s — n, quae est illarum iactura
adhuc facienda inter se, si nihil novi esset ad illas accessurum; unde patet,
pro medioeri illo valore a = b = 5, s — o non statui posse ultra valorem
= 5, quem si haberet, totä haec iactura adhuc integra esset, sive o adhuc
esset = o. Sed alia exstat ratio, quae cavere nos iubet, ne ipsi s — a
nimium valorem tribuamus. In aequatione c' v dt = (cz — cZ-fc') dZ
ponatur t = o; fient z = Z = o, sed v = s — a, unde pro t = o est
(s — n) dt = dZ; eodem vero primo temporis initio ex aequatione z = </
(1 — e p ), sive dz=ß(fe p dt habetur dz = ;ir/dt. Jam apparet,
non posse statui primum illud dZ > dz, quoniam non plus adimi potest,
quam adest; itaque nunquam committendum erit, ut ponatur s — o>1jf/)
quod est absurdum.
Caput Secundum. De attentionis causis primariis. 67
Quam ultimam invenimus aequationem , ea nititur positione s — 0
= — £_l_; unde sequitur n < 1 — ß, ne fiat s — o > ßq>. Itaque [3 1] posito
1 — ß
ß =— licebit sumere n = o, 6; unde habebimus, propter f/-= 10, s — o
-6 , C71W
= _ = 3 ; atque ita, quoniam m = - = 25. 9 = 225, exemplum
aequationis nostrae existit sequens:
100
■-'155 [»* -.(«-WH' =* -')]
= ^[z+T(»iZ-')]
lz
Inde sequitur
40 u — 4Z = e9 — 1 ,
sive log. nat. (40 u — 4 Z -f- 1 ) = -i- Z
Haec aequatio ut solvatur, ponamus
Z = 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 . . . .
H 7 4 8 12 16 20 24 28
IT = IT' T' T' T' T' IT' 7"' " " ' '
quibus fractionibus conversis in decimales, inspiciendo in tabulas logarith-
morum naturalium facillime invenietur, cuinam numero integro proximum
sit Z; deinceps autem approximationibus erit utendum. Caeterum notan-
dum est, u = 1 — e non posse ascendere ultra unitatem. Exempl.
causa ponamus u = 1 ; conversa fractione — = 2,6666 . . . apparet, huic
numero proximum esse log. nat. 14 = 2,639 • • • '■> ex Z = 6 autem
sequitur 41 — 4 Z = 17; igitur Z > 6; sed fractio-^- = 3,1 .... devol-
vit nos usque ad log. nat. 2 3 ; atque simul quantitas 41 — 4 Z retrograditur
usque ad 13 ; unde conspicimus, propius nos abfuisse a vero, cum poneremus
Z = 6. Approximationis causa sit Z = 6 + x; unde [32]
41 — 24 — 4x = e9
(6 4-*)
2,666
..±-x
sive 17 — 4 x = e
e. 9
2,666 .
= e
"\ fi
l6 X2
(•■+^ + r.-r+'--)
24
Est autem e 9 = 14,392 .. . hinc fit
17 — 14,392 = 2,607 = x . ( 4 + ~ • 14,392 4- • • • )
9
2,607
et x = '7 = 0,25
10,396
68 ,IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
Ut propius accedamus, sit Z = 6,25 4- x'; itaque
-1 (6,25 + x')
41 — 25 — 4x' = e 9 3^
, , 2,777 ... 1 4 , 16 x'2 \
«.I6-4X-. . (I + -x +-—.•■)
2'?77 , n
Cum sit e = 16,0833 . . . sequitur
— 0,0833 =x'. (4 + —- 16,0833 +...)
unde x' = — 0,0073 • • •
et Z = 6,2426 . . .
-*' 4 ,
qui numerus sequentibus seriei e 9 = 1 -I x . . . terminis adhibendis
9
ulterius, si placet, investigabitur.
Potuimus etiam alia ratione calculum instituere; eaque utamur in altero
exemplo. Sit u = — habebimus aequationem
log. nat. (21 — 4 Z) = — Z
4 16
Si z esset = 4, existeret — Z = — = 1,7771 ••• et l°g- nat- (2I — ID)
= log. nat. 5 — 1,60943; unde Z>> 4; sed si ponamus Z = 3, fit [33] — Z
12
= = 1,333 • • ■ et log. nat. (21 — 12) = log. nat. 9 = 2,197 . . . Est
autem 1,777... = log. nat. 5,91 ... et 1,333 ••• = log. nat. 3,78...
atque videmus quasi eodem tempore procedere numerum 5 usque ad 9,
et retrograd! numerum 5,91 ... usque ad 3,78... ut, si Ulis motum ab
aequabilitate non nimis abhorrentem tribuere liceat, celeritates motuum sint
in ratione (9 — 5) : (5,91 — 3,78) sive 4 : 2,13. Occurrant autem necesse
est sibi in aliquo itineris conficiendi loco, quem facile inveniemus. Inter-
vallum primitivum numerorum 5 et 5,91 ... est 0,91 . . . itaque iam cognitis
celeritatibus habemus
4 : 2,13 = x:o,9i— x
unde x = 0,5938; et 0,91 — x = 0,32. Quaerimus autem illud Z, quod
pertineat ad inventum x; idque innotescet per hanc proportionem :
2,13 ... : 0,32 ... = 4 : 0,5938 ..= 1 10,1484 ...
unde Z = 4 — 0,1484 = 3,8516. Quod ut facilius intelligatur, numerorum
mutationes, quae sibi respondent, ita proponam:
Mutato numero (21 — 4Z) ex 5 in 5,5938 et in 9
lz
et e 9 5,91 . . 5,5938 • • • 3,7% ■ ■ ■
mutatur Z 4 ... 3,8516 ... 3;
±Z
?.tque propter aequationem 21 — jZ = e 9 , verum Z eadem ratione
interpositum sit necesse est inter 4 et 3, qua ratione 5,5938 interiacet
Caput Secundum. De attentionis causis primariis. 5ü
inter 5 et 9, vel inter 5,91 et 3,78. Correctione tarnen opus est, tum ob
defectum in numeris 5,91... et 3,78...; tum ob errorem admissum in
hypothesi motus aequabilis in functionibus alia lege procedentibus. Quae
correctio sie instituenda, logarithmum convertendo in seriem: [34]
log. nat. (5,5938— 4 x)=-l 5,5938+1(1 — TT^r) =4"^'85i6 + x)
v 5>593ö/ 9
sive 1,72159 — f 4X0+-T4Xo1 ' + ••■)= 1,7118 +-^x
^5>5938^2 L5,5938J ^ I ' ^9
Neglecto seriei logarithmum referentis termino seeundo, et qui eum sequuntur,
habebimus
0,0098 = x f -i -\ ^-~
^ 9 5,5938
unde x = 0,00845
et Z = 3,86005
Ad ulteriores correctiones viam patere, manifestum est; quas autem
adhibui, eae iam usum psychologiae excedunt, quocirca crassiori calculo
utamur; verum id agamus, ut totam rem uno adspectu possimus amplecti.
Tentando e tabulis invenietur
pro u = — Z — 2,1 1
u = j- Z =5,21
Itaque habemus
diff. I. IL III. IV.
pro u = o , Z = o
, 2,11
u = — , Z = 2,11 — 0,36
t „ Qr i,75 + 0,04
u = — , Z = 3,86 — 0,40 — 0,12
3 „ i.35 — 0,08
u = -f, Z = 5,21 — 0,32
u = 1 , Z = 6,24
Quamquam differentiae non evaneseunt, valde tarnen diminuuntur, atque
licebit nobis seriem tov Z habere pro arithmetica; ut possimus compin-
gere omnia in notissimam formulam interpolationis : cuius ope invenietur
z = 9,332 u — 4,064 u2 -4- 2,304 u3 — 1,28 u +
Haec formula si quem offendet, quoniam non est adaequata, fatendum
tarnen erit, eam correctionibus ansam praebere commodissi[35]mam Ponatur
exempli causa u = — ; prodibit Z = 2,728; quod si recte se haberet, log.
nat. 3,42 esset = 1,21; est autem revera = 1,23...; ut error quidem
sit commissus, sed talis error, cuius remedia secundum methodos traditas
in promtu iam habeamus, et facillime possimus expedire.
Comparationis causa mutabo quasdam quantitates constantes; sit
ß == — , unde 1 — , i = — ; hinc n < 1 — ß poterit adscendere in mai-
, n ß a
orem valorem; ponamus igitur n ==— ; atque habebitur s — a =
c TT ff m c ff
= I'875J ; s = m = 234,375; c. = 1,5625; — = 0,42667;
I — ß <f m
ut formula universalis
yo IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
U-^[CZ+(C'-V)-(^Z-')]
r r , 0,42667 z 1
u = ™ [Z +°'I5625 (e — i)J
diff. I. IL III. IV.
unde pro u = o , Z = o
u = — > Z = 2,15 — 0,14
1 „ , 2,01 + 0,24
u = T, Z = 4,16 — 0,38 = 0,23
3 7 !>63 + 0,01
u = 7-1 z = 5,79 — 0,39
1,24
u = 1, Z = 7,03
Non morabor in serie ex his valoribus construenda; patent enim primo
intuitu, quae sunt consideranda. Erat
in primo exemplo /? = — ; n = 0,6; s — a = 3;
in secundo . . . . ß = y; 71 = 0,75; s — 0= 1,875;
deminuta simul perceptionis intensitate (ff) et pressione initiali (s — o), mirum
non est, initio fere eandem servari proportionem inter notionis acquisitae
robur (10 u = z) et eius detrimentum (Z); etsi autem inde ab u = o
usque ad u ==— inter quantitates Z nihil [36] fere sit discriminis, subinde
tamen perspicitur, quid possit maior notionum contrarietas (71) ad augen-
dam derrinienti quantitatem; cum videamus quantum distent valores finales
6,24 et 7,03. Caeterum in hoc genere calculi iactura facienda
nßcf, — ßt , 7ißa\ —t
e -j- s — o
i — ß ■ V 1— ßl
non potest assurgere ad maximum; nam ex hypothesi constituta s — a
nßq . nß<i —ßt —ßt
= 7 sequitur v = T— e , sive (s — o) e , unde intellisritur,
pressionem semper diminutum iri, idque fieri eo celerius, quo maius sit ß.
Cum autem respiciendum sit ad temporis decursum, quaeramus t ex assum-
,, , — Bt\\ , . log. nat. (1 — u)
tis u. Habemus u = 1 — e ' J, hinc t = — -, atque
— ß
in exemplo primo secundo
pro u = o , t = o t = o
u = --, t = 0,86 . . . 1,44
u = -i-, t = 2,08 3,46
u = j-, t = 4,16 6,93
u = 1, t = 00 X
Itaque propter minorem perceptionis intensitatem in secundo exemplo
notionem novam multo tardius et formari et pressioni cedere videmus.
i) u = e— 1 ~?x SW.
Caput Secundum. De attentionis causis primariis. 7 i
Quid autem accidisset, si in altero exemplo eadem adfuisset pressio ini-
tialis (s — a) ac in primo? id quidem iam scimus ex superioribus ; nam
propter s — a = 3 >> ß q> = 2 notio nova ipsis temporis punctis, quibus
perciperetur, ita fuisset exstincta, ut eius ne minimum quidem vestigium in
mente potuisset remanere. Quem casum observamus in hominibus, qui
sanis sensibus, sed animo suspenso, nihil nee auribus nee oculis pereipere
videntur. Restituto c< »gitationum aequilibrio, prorsus in integrum restituitur
facultas notionis formandae ex pereeptionis particulis minimis coalescentibus;
ipsa autem haec facultas nihil aliud est nisi impedimenti secessio; [37] qua
secessione facta, coaleseunt illae particulae nullam aliam ob causam, nisi
quoniam sunt in eadem mente, nee distinentur nimia pressione.
7-
77 ß (f . .
Cum rarissime possit evenire, ut Sit s — o = -, aequatioms pro-
fr
positae
^±An_i_i.L_a_ ±£n h_u] ß
du
C n <p C / n fj <{ \
~ ~, du+^s — °— —--5 (
I — jj p \ I - — pl
= c r/i u d Z — cZdZ-f-c dZ
integrandae negotium maxima ex parte adhuc superest peragendum. Etsi
autem methodum universalem approximationis traditurus sum, eius tarnen
demonstrandae causa utar numeris certis assumtis; ineipiendum enim est a
coefficientibus indeterminatis, et enatis inde seriebus infinitis; quae series
nisi oculis proponantur, ostendi nequit, quomodo ulterius sit procedendum.
Sit ß, ut erat, = — , sed n = 1, et s — • a = 1,9; ut habeamus
casum non longe abhorrentem ab eo, quem modo traetavimus. Prodibit
calculus satis facilis, quem absolvere licet serie infmita tali, quatem Offerent
coefficientes indetenninati.
Habemus aequationem
3 12,5 d u — 75(i — u) 4 d u = (100 u — 10 Z -\- 25) d Z.
Ponatur Z = Au + B 112 -f- C u3 + D u+ + . . .
Coefficientibus more solito determinatis invenimus
Z = 9,5 u + 5,05 112 — 0,2766 ... u3 + 7,8 . . . U4 -f- . . .
Pro u = 0,05 fit Z = 0,487 . . . atque cum novae notionis robur sit z =
10 u = 0,5; residuum eius ademto Z erit = 0,013, quod etsi parvum, tarnen
non omnino est nihil. Sed posito u = o, 1 , sive z = r , existit Z ■=■ 1 ,00 1 ;
unde intelligitur, iam plus esse detri[38]menti quam lucri; quod cum fieri ne-
queat (nam quantitatibus negativis hie nullus est locus), videmus, filum
pereeptionis quasi abscindi, et parvülam notionem natam ita esse oppres-
sam, ut in maius robur crescere non possit. Neque tarnen omnino pro nihilo
est habenda; iam enim adepta est quantitatem finitam; paullo post potent
reproduci et augeri; sed reproduetionem nunc quidem non curamus.
Minuamus pressionem; sit s — 0= r: maneant reliqua. Aequatio erit
312,5 d u — 187,5 (1 — u)4 d u = (100 u — 10 Z -f -5) d Z
et coefficientibus determinatis
Z = 5 u -\- iou- — 21,666 . . u3 -\- 49,166 . . u^ -- . . .
72 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1882.
quam seriem patet esse adeo divergentem, ut ea vix uti possimus usque
ad u = o, 1 .
Tandem perventum est ad ea, quae omni huic scriptioni ansam prae-
buerunt. Ad plenam problematis solutionem duplex ratio est ineunda;
primo efficiendum, ut totius functionis Z etsi non adaequatam descriptionem,
imaginem tarnen adumbratam adipiscamur, deinde ut in singulis valoribus
error, quousque quis velit, approximando corrigatur.
Seriei divergentis propositae naturam diligentius perpendentem fugere
non potest, omnes terminos sibi invicem derogare, sed tanto impetu fern,
ut alius alii recte nequeat moderari. Terminus seeundus, continens quadra-
tum ipsius u, nimis celeriter crescit; qui cum sit coercendus, accedit tertius,
ab illo subtrahendus; sed hie involvit cubum quantitatis u, adeoque vehe-
mens assurgit, ut novo temperamento sit opus; pessimum autem remedium
affert quartus, multo magis ipse coercendus quam superiores; et sie porro
alius super alium proruunt, ut tota series a veritate avertatur. Itaque
vitium est in forma seriei, sive in exponentibus, ad describendam funetio-
nem placide fluentem haud idoneis. Si autem hoc vitium ita [39] conemur
tollere, ut sumtis aliis exponentibus sueto more coefficientes determinemus,
vell nullos vel eosdem reperiemus. Ponatur exempli causa
_1 J_ A.
Z = Au2 + Bu + Cu2 -f-Du2 4-Eu2 +...
eiecti coefficientes postliminio redibunt; quoniam prior illa aequatio tacite
complectitur hanc novam, atque affirmant esse A = o, C = o, E = o, et
sie porro; ut nihil relinquatur nisi termini involventes dignitates integras
ipsius u.
Quantumvis divergat series, tarnen ex ea bim valores ipsius Z erui
poterunt, sumto u satis parvo: cognito autem Z, semper ex ipso, aequatione
dZ . ,
inveHietur — ; atque si contingat, ut nunc quotientem possimus determuiare
du
tanquam funetionem ipsius u, integrando reditus patebit ad ipsum Z.
Pro u -- 0,05 aequatio proposita dabit Z = 0,2726, - — =5,8583;
dZ
pro u = 0,1 erit Z = 0,5832 ; et - — = 0,4964.
du
Differentiale seriei Z = 5 u -\- 10 112 — 2 1,06 . . vi 3 est
dZ
— = 5 + 20 U — 04,99 . . U2,
d u
sed hinc retinendum est nihil nisi = 5 -f- u u ; ubi per u u ea om-
d u
nia designavi, quae pendent ab u; eaque aliqua ex parte cognoscemus
ex binis Ulis valoribus iam inventis. Quibus ut aecommodetur u u , po-
nendum
i(<.o,05;- = 0,8583
,»-0,i;- = 1,4964
unde log fi -(- X log 0,05 = 1 0,8583
et log fi -\- '/. log 0,1 = 1 1,4964
Caput Secundum. De attentionis causis primariis. - 2
[40] , 11,4964 — 10,8583
itaque /.= —- -, =0,80104
lo,i —log 0,05
et /i = 9,4840
ut fiat |^=5 + 9,484 u°-8oi94
et integrando Z = 5 u -J- 5,2632 u I>8oI94
Confirmantur hoc calculo, quae dixi de exponentibus. In seeundo
seriei termino omnia erant nimia, atque hanc ob causam terminus tertius
nimiam attulit correctionem, quae nunc non est metuenda.
Procedendi via iam est aperta; sed cautio quaedam adhibenda, ne
calculi ambages fiant longiores. Si poneremus u = 0,4 aut =0,5, termi-
nus 9,484 u°' 8oi94 computandus esset per log 9,484-1-0,80194111, et
0,80194 lu denuo per 1 0,80194 -\- log 1 u; atque cum eiusmodi calculus
saepe sit repetendus (plures enim eiusmodi termini adsunt et prodibunt),
haec ratio descendendi ad logarithmos logarithmorum, plurimum incommodi
esset allatura. Itaque cum in arbitrio positum sit, quosnam valores veli-
mus tribuere ipsi u, eligamus tales, ut eorum logarithmi fiant simplicissimi.
Sit u = 0,316228, cuius logarithmus est = 0,5 — 1 = — ; statim appa-
ret, 0,80194 lu esse = — 0,40097; atque hac ratione calculi quantum
superest facillime expedietur.
Ex C— = 5 + 9.484 °'8°194, posito u = 0,3 16228, fit %- = 8,7716;
du du
atque Z = 5 u -|- 5,2632 u1,80194 dat Z = 2,24303. Sed ex aequatione
proposita
312,5 - 187,5 (1 -u)4 == dZ
ioou — 10Z-I-25 du
adhibito valore ipsius Z modo invento prodit — - == 7,9408; atque [41]
facile perspicitur, hunc valorem multo propius illo superiore ad veritatem acce-
dere, quoniam parum afficitur errore, qui in determinando Z potuit committi.
Eadem ratione pro u = 0,398 107, cuius logarithmus est =0,6 — 1 = — 0,4,
d Z
habebitur - — = 9,5313; et Z = 2,99163; sed hoc valore ipsius Z intro-
dZ
dueto in aequationem propositam invenitur - — — 8,2504. Jam quaeratur,
. . d Z
quantum mtersit inter valores mventos ipsius .
8,77 16 9.5313
— 7,9408 et — 8,2504
0,8308 1,2809
Ponatur —- = 5.4- 9,484 u°'8oi94 _ ,/ u^'; Crit
d u
/<'. 0,316228^ =0,8308
u . 0,398107'- =1,2809
ja IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
unde ?/ = 1,8802; et ^'=7,2376
\Z = 5 + 9,484 u°'8oi94 _ 7,2376 u1'8802
d u
et integrando Z = 5 u -f- 5,2632 uI,8oi94 — 2,5129 a2'8802
Sed ultimi termini modo inventi egent correctione, eamque ipsi prae-
bebunt; certiores eirim nos faciunt de valoribus ipsius Z antea adhibitis,
, dZ ■ .
ubi ex aequatione quaerebamus - — . Repetito calculo primus quotiens dif-
ferentialis erit =7,7345; alter =7,8519; atque nunc
8,7719 9,5313
— 7,7345 et — 7,8519
1,0371 1,6794
[42] unde X' rectius =2,0933; ,"'=II,546
^ = 5 -f 9,484 u°'8oi94 _ 1 1,546 u2'°933
Z = 5 u + 5,2632 uI'8oi94 _ 3,7325 u3,0933
Idem correctionis genus denuo potest adhiberi, verum id fieri minime
est necesse. Procedamus ponendo u = 0,794328, cuius numeri logarith-
dZ
mus est =0,9 — 1= — 0,1; erit - — =5,7549, et Z = 5,6166; sed
hoc valore ipsius Z introducto in aequationem prodibit = 6,4746.
d u
Tandem ponatur u = 1 ; habebitur - — = -,978; Z = 6,5307; quo valore
dZ
substituto, aequatio praebet - — = 5,2352. Quaerantur düferentiae valo-
d u
rum inventorum.
6,4746 5,2352
— 5,7549 et — 2,978
0,7197 2,2572
r\ 7
Patet, ad inventum — addendum esse terminum formae u" u ; eumque,
d u
ut supra, accommodandum valoribus suscipiendis 0,7197 et 2,2572. Peracto
calculo reperietur
~ = 5 + 9,484 u°'80I(M _ , I)546 u2'°933 _|_ 2,257 u4,9638
d u
Z = 5 u + 5,2632 uI'8oi94 _ 3,7325 u3,0933 + 0,37845 u*^
Huic seriei nihil amplius est addendum; nam perventum est ad maximum
valorem u = 1 , ultra quem u = 1 — e — ^ I non potest extendi. Coeffi-
cientes decrescunt; exponentes vero tarn cito assurgunt, ut ultimo termino
turbari non possint valores prius inventi pro minoribus u; tertius tarnen
terminus aliquantum erroris affert, si u = o,i vel paullo maius aut minus;
Caput Secundum. De attentionis causis primariis. y c
sed eiusmodi valores deter[43]minandi sunt aut ex solis duobus terminis pri-
mis, aut ex ipsa serie primitiva; itaque correctione, alioquin satis expedita,
non est opus.
Prima negotii parte confecta, sequitur, ut pro singulis valoribus in-
ventis ad veritatem quouspue quis velit appropinquemus.
Proposita aequatione huius formae
r
m d u + n (i — u) ^ d u = p u d Z -- q Z d Z -f- r d Z
u + nÄ Li — (i — u)^J
integrando et constantem addendo prodit m u - - u p
= P/udZ- |qZ^ + rZ
d Z ■ r _, n ■ d Z
invento 3 — mvenin potest Au d Z ; quoniam autem nostrum — non om-
d u du
nino recte se habet, ponatur pro certo quodam valore ipsius u, p/"u d Z
= f -f- v, et simul Z = g -\- \v. Sit etiam
m u -j- n ß, Li — ( 1 — u) ^ J = M: erit
M = f + v — ~ q g2 — q g w — -i- q w2 -f r g -j- r w
et M -f -i- q g2 — r g — f = v -f [r — q g) w — ^- q W2
Valores f et g functionum p_/u d Z et Z sibi invicem respondent; qua-
mobrem etiam variationes ipsarum sibi respondeant necesse est. Quae
variationes cum sint v et w, eaeque satis parvae, si prior calculus bene
successerit: possumus uti hac proportione; dZ : p'u d Z = w : v, sive v =
p u w. Neglecto — qw2, erit
M+^qg2-rg~f
w
p u -|- r — q g
quo invento, supputandum — qw2, et numeratori addendum, atque divi-
dendum denuo. Repeti etiam potest tota haec correctio, positis f -\- v = f ',
et g -(- w =
o-
o
dZ r
In exemplo nostro ex invento — fit
d u
/u d Z = 2,5 u2 + 3,3848 u2'8oi94 _ 2,8207 u4>°933 _|_ 0,3241 1 u6'9638
[44] Habuimus autem pro u = 1 *, Z = 6,9091 ; idque nunc est = g; porro
f= 338,82; M — 275; hinc reperitur w = 0,038098; et post additum
numeratori — qw2 fit \v = 0,038228; unde Z correctius = 6,947328.
Sie repeti placet correctionem , inveniemus INI -\- -^- q g'2 = 516,327, et
* In subtiliori calculo non pro u = 1 quaerenda statim erit haec correctio, sed ad-
da ad terminos fi u seriei inventae pr<
dem ratione, quam exposui, possunt inveniri.
- A 7
hibenda ad terminos fi u seriei inventae pro — ; quorum etiam plures, si placet, ea-
d u
76 IV. De attentionis mensura causisque primams. 1822.
r g -\- f' = 516,326; tota autem correctio redibit ad ; ubi notan-
55526
dum, in toto calculo nie non Septem, sed tan tum quinque logarithmomm
notis decimalibus usum esse.
Peracto calculo, paullo accuratius inspiciamus, quid consecuti simus;
et conferamus haec cum superioribus.
Posito ß = -j-, primo (6, versus finem) fecimus tt = — , s — 0= 1,875;
inde exstitit functio Z describens curvam concavam; differentiae enim se-
cundae seniper erant negativae. Deinde fecimus 77=1; s — 0=1,9;
ita parum mutatis constantibus evenit, ut Z non solum abiret in curvam
convexam, sed etiam pro u = o, 1 modum omnino excederet, et percep-
tionem vix inceptam exstingueret. Nunc servavimus et /?==—, et n = 1 ;
temperavimus autem s — o, ut esset = 1 ; hinc orta est functio Z descri-
bens curvam primo quidem convexam, sed puncto inflexionis praeditam
(fere pro u = 0,4 ; nisi calculus crassior nie fefellit), atque abeuntem in con-
cavam, ita quidem ut primus quotiens differentialis paene idem sit in fine,
qui fuit statim ab initio. Videmus, in eiusmodi casibus periculum instare,
ne punctum inflexionis nimis prope accedat ad eam lineam rectam, quam
describit z = 1 o u, hac enim linea tacta, evanescit z — Z, sive rumpitur
perceptio: sed eo periculo superato, multo melius procedit nova notio for-
manda, quam initio sperandum videbatur. Quaeri potest, quantum s — o sit
sumendum, ut punctum [45] inflexionis cadat in lineam rectam ipsius z = 10 u;
putabam, me hinc non longe ab futurum esse, si ponerem s — o=,i,5;
servatis reliquis constantibus; verum instituto calculo reperi, scindi lineam
rectam a functione Z statim post u = 0,5.
Tanta curvarum varietate reperta in exigua constantium mutatione,
maiores ipsius ß valores quid sint effecturi, nunc perscrutemur. Certum
est, aucta perceptionis intensitate notionem inde orientem minus iacturae
passuram esse; sed quum hanc ob rem etiam primus quotiens differentialis
necessario adtenuetur, miruni videri potest, quod indicat formula, eum pro
u == 1 in infmitum abire! Manifestum est, pro ß > 1 fieri
1
— 1
(i-u)/*
(I— u) ?
atque hoc = — pro u = 1 ; unde procul dubio pro eodem u.
o
m -+-n(i — u)^ dZ
= cc
pu — qZ-fr du
Ut totam rem cognoscerem, posui ß = 5, s — 0=1. n =s i- ex
Z = A u -f- B u2 -j- C u3 -f- D u- -j- . . . coefficientibus determinatis factum
est Z = 0,2 u -f 0,688 u2 — 1,1316 u3 -f 5,S5 . . u4 — . . . Hinc pro
u = 0,1, Z = 0,026; pro u =. 0,2; Z = 0,064; deinde determinato fi u};
calculo prorsus eadem ratione confecto, ut supra ostendi, deductus ' sum
ad series sequentes:
Caput Secundum. De attentionis causis primariis. yy
r\ 7
— = 0,2 -f- 0,85789 u°'8~338 _|_ 2)22o8 u4,6566 _|_ I5j7976 u3°'681
Z = 0,2 u -f- 0,45794 ^'^338 _|_ 0,39261 U5'6S66 _|_ 0,49865 u^1'681
ubi notandum, utriusque seriei terminum tertium inventum esse posito
11 = 0,501187, cuius logarithmus est = — 0,3; et u = 0,398107 cuius
logarithmus = — 0,4; quartus autem terminus cum non pos[4Ö]set quaeri ex
u = i, usus sum valoribus u = 0,954992 et u = 0,977237, quorum loga-
rithmi sunt = — 0,02 et — 0,01. Pro u = 0,977 . . . inventum est
Z = 1,219; quamquam autem u iam proximum est limiti, quem transcen-
dere nequit, magna tarnen adhuc sequitur mutatio; quod ut intelligatur,
respiciendum est ad tempus. Habemus u = 1 — e— $ ; haec autem
quantitas citissime fere ad summum, quo perduci potest, fastigium extol-
litur; et pro u = 0,977 est t = 0,76 . . . neque mirum, sequenti tempore,
incremento fere nullo accedente ad u, augeri pressionem, ut aequilibrium,
notione nova magnopere turbatum, possit restitui. Quam rem calculo, quan-
tum opus est, satis commode sie persequemur. Seimus, u fere ad quan-
titatem constantem esse redactum, eiusque limites facillime posse assignari;
itaque nihil obstat, quo minus ipsi certum tribuamus valorem. Numeris
m et n rite determinatis, erit aequatio nostra pro u = 0,9 7 7 2..
_±_
— 62,5 d u -j- 67,5 (1 — u) 5 du= 122,7 d z — 10 Z d Z
1
unde — 62,5 u — 337,5 (1 — u ) 5 = 122,7 Z — 5 Z2 + Const.
Quoniam Z= 1,219 Pr0 u = °>977-- erit Const. = — 361,656
Hinc pro u = 1 inveni Z = 2,745 . . . Si calculum aecuratius institui
placet, non tarn cito properandum erit ad u = 1 , sed pro valore paullo
minori correctionis genus supra demonstratum adhibeatur necesse est, ut
inveniatur numerus constans ipsi u tribuendus, qui minore errore usque
ad u = 1 possit revera pro constante haberi. Sed operae non est pre-
tium; satis iam perspieimus, augeri Z, neque tarnen magis quam fuit ex-
speetandum.
Nolo morari in aliis valoribus tw s — a pro eodem ß tribuendis; quanta
enim vis sit in pressione initiali, superiori satis demonstrarunt.
[47] Alioloco* casum ß = — } et facilem et satis memorabilem, fusius
explieui. Notandum est praeeipue, pro s — 0 = 3,125 et 71 = 0,78125
funetionem Z abire in lineam reetam, sive esse perpetuo = A u ; sunt etiam
alii earundem quantitatum valores, quibus sumtis idem aeeidit. Posito
71 = 0,78125 tantum potest pressio initialis, ut pro s — 0 = 3,125, Z eve-
hatur usque ad 6,25 pro u= 1, sed posito s — n = o, Z consistat in
valore = 2,y. Cuius casus eam potissimum ob causam feci mentionem,
quod addenda sunt pauca de altero limite, quem dixi hunc nostrum calcu-
lum non posse attingere, multoque minus transire. Etenim ubi primum
exposui aequationem ; — ; = d Z (6, II), locutus sum de limitibus quan-
cx + c
Königsberger Archiv, Heft III.
/8 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
titatis x, quorum alter est z, alter, veritati longe propior, z — Z; atque
ostendi, illum primum tum potissimum respiciendum esse, ubi pressio, ab
initio minor, deiiiceps augeatur, quod videmus fieri, si s — 0 = o, ut tota
pressio pendeat a contrarietate n. Integrationem formulae > proce-
cxfc
O f
dere posito e = x secundum regulas calculi integralis notissimas, loco
citato monstravi, et res per se satis est manifesta; itaque hie tantum appo-
nam valorem inventum pro ß =s — } s — -0 = 0, n = 0,78125, u = 1;
reperi enim Z = 2,334: alter autem calculus, quem hie ubique secuti
sumus, praebuit Z = 2,7. Neque tarnen putandum est, verum valorem
adeo incertum relinqui, ut fluetuare possit inter 2,3 et 2,7; fac enim, Z
esse = 2,334; sequitur, vim pressioni resistentem, sive x, reduci fere ad
z — 2>334 (scilicet pro u = 1), itaque x = z falsa erat hypothesis falsumque
ipsum Z = 2,334, ex hac hypothesi profectum; multo autem rectius x = z — Z
sive z — 2,j; quoniam ex x = z — Z inventum est Z = 2,7. Quodsi hoc
casu, ubi errare maxime potuimus, parum [48] erroris adesse videmus: colli-
gere licet, in reliquis calculum nostrum veritati satis fore consentaneum.
Denique, ne quid omissum videatur, minuamus quantitatem contra-
rietatis n; inveniemus id, quod exspeetandum est, notionem rezentem,
etsi initio impedimentis laborantem, procedente tarnen tempore liberius cres-
centem. Sit ß = ~-, s — 0 = 2, sed n = — ; prodit calculo iam exposito
dZ 1,824 . 2,753
^- = 4 — 3.6 u -f- 3,3545 u — 0,8149 u
2,824 3-753
Z==4u — 1,8 u2 -j- 1,1878 u — 0,2171 u
Vel fi == -i-, s— 0 = 3, n =~; hinc
dZ 2,11714 3,08
T- *^ O — 5,6 U -f- 3,4102 U — 0,487 U
^r a 0,1 3>II7I4 4.08
Z = 6u — 2,8 u2 -f- 1,904 u J * — 0,119 u
Utrumque exemplum ita comparatum est, ut terniinus seeundus sit
subtrahendus a primo, unde patet, pressionem statim ab initio relaxari.
Contrarium observari potuit in exemplis superioribus, ubi terminus seeundus
erat positivus.
8.
Cum in calculo peragendo plurimum negotii valores numeri ß facessant,
vereri forsitan aliquis poterit, ne difficultatum moles magnopere augeatur,
si ille numerus sit permagnus vel admodum parvus; quocirca hanc rem
arbitror non omnino silentio esse praetereundam.
I. Sit ß numerus magnus. Brevissimo tempore u = 1 — e *
proxime accedet ad unitatem; hoc autem tempore Z erit admodum exi-
guum. Si calculum placebit institui, notandum erit, 1 propemodum
reduci ad — 1 ; ut loco aequationis
Caput Secundum. De attentionis causis primariis. 79
— 1
[49] _L
m + n(i— u) <* dZ . mdu . ndu
— '— = — scnbi possit — -4 -—. r =az,.
pu — qZ-fr du puZ r +■ (p — r)u— pu*
Quomodo pergendum sit, postquam u valorem fere constantem sit asse-
cutum, iam supra docui.
Sed calculo vix opus esse videtur. Omnia enim eodem fere modo
se habebunt, ac si totum robur notionis recentis subito exstitisset, atque
sine ullo temporis decursu accessisset ad eas notiones, quae iam antea
animo observabantur. Quod ubi fit, calculo longe simpliciori est utendum,
quem hie non curo, quoniam nimis est a proposito alienus. Quae enim
fortissima pereeptione mentem percutiunt, ea non pertinent ad excitandam
attentionem, sed ad terrorem iniieiendum.
1
II. Sit ß numerus admodum parvus. Sequitur, — esse permagnuni,
1
— 1
et (1 — u) <* evanescere pro u adhuc parvo. Quamobrem hie, sicut
in priore casu, zalculus dilabitur in duas partes; quarum prima ita est
comparata, ut u pro constante possit haberi, altera id praebet commodi,
1
— 1
quod evanescente termino n ( 1 — u) ^ res redit ad idem illud inte-
grale finitum, cuius explicationem dedi statim ab initio (6, in fine). Itaque
loco aequationis
1
m
+ n(i — u) ^ dZ .
= - — , pnmo habetur
pu — qZ-f-r du
— 1
mdu-J-n(i — u) ^ du = dZ (Const — q Z)
deinde m'du = p'u'dZ — q'Z'dZ -f- r'dZ, ubi quantitates m', p', u, Z', r',
invenientur facto u = e -\- u et Z === r\ -\- Z .
In utraque formula nihil est difficultatis ; atque iam patebit, valores
ipsius ß parvos aut magnos non augere calculi molestiam, [50] sed minuere
et levare. Cavendum tarnen erit, ne propter quantitates neglectas nimius
exöriatur error; peraeta igitur prima calculi parte, adhibeatur illud correc-
tionis genus, quo supra usus surn (7), ubi quaesito integrali
M -f -i-qg2_rg — f
AidZ posui : = ">■
J pu + r— qg
Ut satis commode inveniatur /u d Z, habeatur necesse est Z = Au
-f-Bu2-f-... ad hanc autem formam obtinendam plerumque^ sufficiet,
inventis duobus ipsius Z valoribus — y et = d, pro = u et = u , pom
;- = Au'-f Bu'2
et <) = A u" -j- B u"2
Versabitur enim calculus in quantitatibus admodum parvis; unde plura for-
tasse orientur commoda; sed ea mihi non magnopere curanda putavi,
So ^ • De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
quoniam totius rei summam satis mihi videor explicuisse in antece-
dentibus.
Quod matheseos proprium est munus et donum praeclarissimum, ut
ex cogitationum temere vagantium nebulis nos eripiat, distinctarumque
notionum lumen accendat: hoc tantum beneficium etiam in res psycho-
logicas posse redundare, attentionis exemplo iam in eo sumus ut demon-
stremus. Satis enim cognitis quatuor attentionis causis primariis, duabus
positivis, qi et ß, duabas negativis, s — o et n, certam nunc constituemus
attentionis mensuram.
Attentio procul dubio est quantitas; potest enim augeri et minui.
Itaque ponamus hanc quantitatem =X; patet fore Xdt incrementum
notionis, ad quam dirigitur attentio, in tempusculo dt. Revocanda hie in
memoriam sunt ea, quae tradidi supra (5), ubi dixi, attentum vocari eum,
qui sit mente ita dispositus, ut eius notiones incremen ti aliquid capere
possint.
[51] Idem autem incrementum est d (z — Z); itaque d (z — Z) = X d t,
„ d(z— Z)
et a = ; quae est attentionis mensura, sive ipsa attentio, qua-
tenus ut quantitas speetatur.
Sepositis igitur omnibus causis seeundariis, quibus effici solet, ut
quantitates q, ß, s — o, n, quas hie pro constantibus habemus, reddantur
variabiles; nihil superest negotii, nisi ut evolvatur quotiens differentialis modo
propositus.
^ . , , dZ dZ dZ du
Calculo determmavimus - — ; est autem — = — . — , et propter 10 u
du dt du dt 1
= z,
fit
10 du =
d z;
hinc
d (z —
dt
Z)
10 d
u
dZ du
du' dt
du
~~~ dt
(IO-
dZ\
"du/
dt
Porro
U :
= 1 — e
-£t
du =
ße~
-"«
unde
d
(z-Z)
dt
= tu
-ßt
(,o
du/
= ,^(1
-u)
(IO-
dZ\
'du)
Primo adspectu patet, fore, ut attentio statim ab initio decrescat
propter factorem e ' , nisi alter factor (10 ) contrario motu satis
\ du/
celeri progrediatur. Quanto maius fuerit ß, tanto maior primo temporis
puncto erit attentio, sed ea lege, ut quanto maior fuerit, tanto citius
decrescat. Perceptiones vehementiores fortem quidem excitabunt atten-
tionem, sed talem, quae aufugiat rapidissimo cursu.
Uberius nunc exponam exemplum illud satis memorabile, quo usus
sum in calculo explicando, ubi vidimus, funetionem Z describere lineam
puncto infiexionis praeditam; ut intelligatur, qualis in einsmodi casibus
exstitura sit attentio.
Caput Secundum. De attentionis causis primariis. ß I
Erat in illo exemplo ß = — , s — o = 1,71 = 1, et
dZ 0,80194 2,0933 4.9638
^ = ,5 + 0,4^4^ —11,54611 +2,25711
[52] Invenietur inde
dZ
pro u = 0,1, — = 6,49, Attentio = 0,63
0,2 7,22 0,45
°'3 7>69 0,32
0,4 7>Ö7 0,26
0,5 7.82 0,22
0,6 7,53 0,198
°>7 7.05 0,177
0,8 6,45 0,14
0,9 5,79 0,08
1 5>23 o
Ubi notandum, primo temporis initio attentionem fuisse = 1, celeriterque
esse diminutam, antequam functio Z tenderet versus punctum inflexionis.
Sed inde ab u = 0,4 usque fere ad u = 0,7 videmus illam lentius decres-
cere; quod ut ad temporis decursum reducatur, apponam has temporis
determinationes ;
pro 11 = 0,4, t== 2,55
o,5 3,46
0,6 4,58
— JLt
Cetera satis patent ex ipsa aequatione u = 1 — e 5 . Longe aliter res
se habebit, si u = 1 — e - ; habuimus posito ß = 5, s — a = 1, n = 1,
dZ .00 °'87338 1 o ^6566 30,68
— = 0,2+0,0578911 + 2,2208 u +15,7911
du
itaque attentionis factor 1 — u citissime decrescit, et alter factor
dZ dZ
10 = —*- prorsus evanescit, ubi - — = 10, quod eventurum est tempore
du du
finito. Atque hoc multo latius patet; scimus enim, si ß > 1, [53] semper fieri
dZ , • „. • dZ
-- = ZG pro u= 1, unde intelligitur fore = 10 tempore quodam
du du
finito; idque tempus necessario finis erit attentionis.
Reliquum est, ut exemplum adferam attentionis initio paullulum
crescentis. Inventum est posito ß = —, s — 0 = 3, tt
1
T
dZ 2,11714 3,08
T— = 6 — 5.6 u + 3.4 102 u — 0,487 11
unde pro u ■= o, attentio = 2
0,1 2,04
0,2 2,002
0,3 1,89
etc. etc.
Herbari's Werke. V. 1
g2 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
Facile perspicitur, attentionis fovendae vim maximam esse in valoribus
minoribus ipsius n, id est, contrarietatis notionum; ultimum enim exem-
plum eo potissimum difiert a superioribus, quod posuimus n =— . IMe-
mores autem semper simus necesse est, omnem adhuc usque fuisse
quaestionem de una eademque perceptione per aliquod temporis spatium
perseverante sine ulla mutatione; quid enim sit causae, cur variatio delectet,
hac ipsa disquisitione sumus edocti, scilicet quoniam fieri nullo modo potest,
ut attentio stabilis et immota in una re simplici diutius haereat defixa.
[54] Caput tertium.
De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis
primariis reddi nequit.
10.
Omnis theoria comparanda est cum experientia; quod in rebus psycho-
logicis ita quidem fieri, ut certörum numerorum instituatur comparatio,
rarissime potest*; functionum autem natura satis apparet in phaenomenorum
vestigiis, si modo theoria fuerit satis completa. Expositis igitur attentionis
causis primariis, ulterius quomodo sit progrediendum, paucis adhuc indi-
candum est; quoniam experientia nostra miscet causas primarias cum secun-
dariis. Sunt autem omnes causae pro secundariis habendae, quibus fit, ut
variis modis mutentur Mae primariae.
In experientiam nostram tota illa atque integra notionum producen-
darum facultas vel potius possibi/i/as (verbo utor minus latino, ne foveam
errorem pessimum de facultatibus certis animo insitis), nunquam potent
cadere; sive, ut signa mathematica repetam, quantitas q abit in q. — z non
sua lege, sed minuitur etiam notionibus reproductis, quoniam nulla perceptio
simplex nobis adeo est nova, cuius non aliquid ex priore tempore menti
inhaereat.
Deinde solemus esse in duplici fluxu tum cogitationum tum percep-
tionum; ut quantitates s — n et >t, perpetuis sint mutationibus obnoxiae.
Quae inde sequantur, exponi non possunt, nisi prius cognitis repro-
ductionis legibus.
[55] Omni pressione subita sublata, notionem oppressam qualemcunque
emersuram esse, iam supra dixi (4, D). Ponamus hanc notionem = H ;
elapso tempore t reproducta sit eius quantitas = h; nisus, quo haec notio
mutat statum suum, insequenti tempusculo dt erit H — h," itaque repro-
ducetur (H — h) d t, idque erit = d h. Ex aequatione
* Potest tarnen fieri in re musica ; ut docui iam pridem in Königsbcrger Archiv
für Philosophie etc. Heft IL (s. Bd. III, S. 97 ft". vorl. Ausgabe.) eaque disquisitio
lectoribus hie in memoriam est revocanda.
Caput tertium. De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis etc. 8^
(H— h) dt = dh
dh
sive dt = — —
H — h
H
sequitur t = log
H — h
et h = H (i — e_t)
prorsus eadem ratione, ut vidimus residere iacturam faciendam (4, in fine)-
Verumtamen pressio nee subito, nee omnis umquam tollitur; sed
levatur accedente nova pereeptione homogenea, iisdem notionibus, quibus
illa oppressa tenebatur, contraria et repugnante. Itaque reproduetio non
prorsus sequitur illam legem simplicem modo expositam, sed aliam magis
compositam; cuius formam ut quodam modo intelligant lectores, animad-
vertänt necesse est, aueta pereeptione recente sensim plus spatii sive liber-
tatis dari notioni emergenti; ut liberiori nisu possit statum suum mutare.
Inde fit, ut ab exiguis profeeta initiis magna tarnen celeritate augeatur
reproduetio: expressa enim per seriem procedentem seeundum dignitates
temporis, hanc induit formam:
at3 -|_bt4 -j- . . .
ut appareat, eam statim post initium propemodum proportionem cubi tem-
poris servare.
Est etiam aliud reproduetionis genus, ortum a mutuo eoniunetarum
notionum auxilio; cuius leges calculi ope determinatae tanti [56] sunt
momenti, ut totam psychologiam novo lumine collustrent; quas alio loco
sum expositurus.
1 1.
Notio qualiscunque, anteriore tempore menti informata, si cum Omni-
bus aliis, quibuscum est coniuneta, oppressa et obruta iacet, idque non
mechanicis tantum sed etiam staticis legibus; nihil potest in definiencli»
praesenti animi statu: itaque facultati sive possibilitati, eiusdem generis
notionem pereeptione nova denuo coneipiendi, nihil omnino praeripiet.
Restaurata est igitur tota haec quantitas, quam designare litera q> consue-
vimus. Oborta autem pereeptione homogenea, protinus ineipit reproduetio ;
quae cum augeatur magna celeritate (10), quantitas q> citissime deminuitur;
idque tanto magis est futurum, quanto saepius eiusmodi pereeptiones iam
praecesserunt, quoniam omnes olim coneeptae notionis homogeneae partes
simul reprodueuntur.
Observamus, res quotidiano usu familiäres nobis faetas nullam fere
attentionem excitare. Versamur in domo, in platea, oecurrunt nobis res
plurimae notissimae; sed earum adspectu minime movemur; persequimur
cogitationes eas, puibus eramus oecupati. Ubi vero aliquid ineidit novi,
statim oculi intenduntur, aures arriguntur, cogitationes turbantur et quasi
disiieiuntur. Quod fieri minime posset, nisi ea adesset dicriminis ratio,
quam exposuimus. Attentio fugata reproduetione, redux et praesens cernitur
eodem temporis puncto, quo ab hoc hoste non premitur.
6*
84 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
Ut tarnen semper adversetur attentioni reproductio , tantum abest,
ut potius saepe sociae sint et amicae coniunctissimae. Res aliqua ex parte
iam cognitae multo melius et firmius percipiuntur, quam plane novae et a
consuetudine abhorrentes. Ratio est in promtu. Obest primo rerum
novarum contrarietas n; sunt enim [57] oppositae consuetis; deinde continua
perceptionum sive etiam cogitationum novarum series sibi ipsa repugnat,
magnumque involvit s — a, si tertia et quarta perceptio accedit aequilibrio
nondum constituto inter priores. In consuetis alia res est; quibus homo-
genea nova ubi accedunt, sensim illis adiunguntur quarum ad aequilibrium
iamiam erat perventum.
Audimus vernaculo sermone saepe hanc querimomam: res novas et
antea inauditas non posse comprehendi, earumque cogitationem aegre eo
adduci, ut consistat. (Wir können das nicht begreifen, flicht verstehen.)
Quod tametsi intellectui magis quam attentioni soleat vitio verti, revera
magnam partem redit ad molestiam in conatu attendendi exortam ob
defectum aequilibrii. Sane non est mirum, aegre comprehendi notiones,
quibus adversi aliquid vel revera inest, vel ob cogitationes perperam annexas
inesse putatur; fluctuant enim varia reproductionum excitata mobilitate,
quae priusquam requiescat, consistere non possunt. Multo magis mirandum,
saepissime homines sibi placere in opinione rerum, ut putant, praeclare
exploratarum, quas si recte perspexissent, omnino ne cogitari quidem posse
intellexissent; cuius generis esse omnes experientiae formas universales,
priusquam correctione metaphysica sint subactae, alio löco docui*. Quae
res tanto compluribus viris doctis fuit miraculo, ut ipsi in opinionum
somniis mallent persistere, quam ad genuinam philosophiam criticam exper-
gisci. Ne tarnen in nimiam hoc loco delabamur admirationem, cautum
est in superioribus. Ademta enim molestia aequilibrii in notionibus consti-
tuendi, ademtus est sensus contradictionum; atqui in vulgaris experientiae
formis, prima infantia conceptis, aequilibrium certe nequit deesse; ut vel
ex hac sola ratione intelligatur, quanta vis sit consuetudinis in occultandis
veris theoreticae philosophiae principiis.
[58] Turbato animi aequilibrio per cogitationum reproductarum de-
cursum, impediri attention ein, satis est manifestum. Distingui tarnen possunt
duo attentionis genera, quorum alterum continetur aequilibrio, alterum
requirit animi motum vel adeo perturbationem. Sunt sane quaedam volup-
tatum illecebrae, nee non doloris et irae incitamenta, quibus mente prorsus
quieta non fere attendimus, etsi multo plus habeant imperii in eos, quorum
iam in eam partem declinatus est animus. Hinc ädmonemur, posse talem
esse cogitationum reproductarum seriem et continuationem, ut conspiret cum
serie quadam perceptionum ; idque seetantur omnes et oratores et poetae
et magistri, ubi docilem reddere attentionem cupiunt. Sentiunt enim, magni
sua interesse, ut minime ipsis resistat auditorum animus, sed sua sponte
in eam partem vergat, in quam ipsi ducere velint. Itaque nunquam
longins deflecti eos oportet ab exspeetatione nostra, nee immiscere eius-
modi aliquid, quod possit a re alienum videri; aliquant ulum tarnen deci-
* Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, vierter Abschnitt, (s. Bd. IV vorl.
Ausgabe.)
Caput tertium. De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis etc. 85
pere exspectationem solent, ut novitati consulant; sed ea cautione, ne rum-
patur cogitationum filum, quod ubi semel acciderit, operam perdiderunt.
Maxime autem ridiculi sunt, qui coelum et terram et Acheronta moventes
et miscentes, nihil proficiunt; quoniam nee praesenserunt, quamnam in
partem secuturus sit lectoris animus, nee intelligunt, imaginum diversissi-
marum notiones temere cumulatas, ipsius contrarietatis mole et pondere
necessario ita corruere, ut praeter taedium nihil relinquatur.
12.
m
De voluntatis potestate in attentionem quaerentibus, duplex parata
ex superioribus est responsio. Primo enim vim habet voluntas agendi in
illas causas attentionis primarias; deinde alio impulsu agit in reproduc-
tionem, ut per hoc quasi medium tendat versus eundem finem.
[59] In causam primam q voluntatis imperium est nulluni; ut per se patet.
Alteram, ß, saepissime mutamus pro arbitrio, per actiones externas, sensus
manusque vel etiam res obieetas vel admovendo vel retrahendo, ut per-
ceptiones fiant vel fortiores vel remissiores. Actione autem interna po-
tissimum nobis subiieimus causam tertiam s — rr; eaque actio eultiori vitae
atque honestati et virtuti maxime est propria. Sapientis esse, animum
servare liberum a perturbationibus, omnes norunt; itaque quatenus homines
sapiunt, omni opera et diligentia enituntur, ut quam proxime semper
accedant ad mentis aequilibrium. Tendit eodem omnis fere cura, qua
mens ut sit sana in corpore sano, studemus efficere. Ubi notandum,
prudentium voluntatem saepe suecurrere imbecillitati aliorum; attentio enim
vi et minis, vel etiam preeibus et exhortationibus, solet excitari ; qua ratione
liberi quidem animorum motus, artibus excolendis apti, ad eftectum nun
perdueuntur (quos etiam in nobismet ipsis voluntati non parere seimus);
sed proterva petulantia effrenataeque libidines hoc modo coercentur; et ad
sanitatem revocantur.
Quarta causa primaria n non ita quidem pendet a voluntate, ut
nunc cum maxime possimus pro arbitrio pereeptionum recentium et notio-
num iam dudum menti insitarum contrarietatem et contentionem vel
minuere vel augere: sed tota forma voluntatis, quem charaetcrem hominis
vocare solemus, res novas vel repudiat vel adsciscit; atque ita maximam
in attentionem vim exercet.
Reproductio quomodo dirigatur voluntate, res est a nostro proposito
aliena; sed quomodoeunque id fiat, transeat effectus necesse est in atten-
tionem, quam seimus multis modis affici a reproduetione. Quamobrem
etiam voluntatis in ipsam voluntatem imperium huc pertinet, minime quidem
absolutum, nee miraculum, neque tarnen omnino negandum. Sed sentiant
velim Tectores, plurima esse in psychologia quae nesciant, quorumque cog-
noscendorum l nulla [00] umquam sit spes, nisi tractentur simili ratione
qua usus sum in altero huius libelli capite, ubi primarias quidem atten-
tionis causas in lucem satis mihi videor protraxisse.
1 quarumque cognoscendarum O (Druckfehler.)
86 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
Absoluta hac scriptione, cum iam in eo essem, ut typis excudendam
dimitterem, feliciter mihi contigit, ut collega aestumatissimus Bessel, astro-
nomus celeberrimus , ad me visendum veniret: quocum in eiusmodi
s-ermones deductus sum, ut ei quid nuperrime egerim, narrare, et aequa-
1
m d u -J- n ( 1 — u) P du
tionem dZ = — - proponere non dubitarem.
pu — qZ + r
Summum virum, cui nihil in mathesi est arduum, si- adirem, magna me
posse molestia liberari, iamdudum intellexeram ; sed fuerat verecundia, ne
ipsius otium circulusque turbarem; periclitari etiam volebam, quid meis
viribus possem. Re cognita, illius tarn insignis fuit humanitas, ut statim
de aequatione se meditaturum polliceretur ; aliquot autem diebus elapsis,
de eo, quod invenisset, per literas his verbis certiorem me faceret:
„ Vo?i so verschiedenen Seiten ich Ihr Differential auch anzusehen be-
„müht gewesen bin, so hat sich mir doch keifte zeigen wollen -weiche
„seine Integration gäbe. Ich habe es verschiedene Male vorgenommen
„und wieder liegen lassen, in der Zwischenzeit aber nie meine Gedanken
,, davon entfernt; alles ist fruchtlos gewesen] und am Ende bin ich fast
..überzeugt worden, dafs nur eine successive und ganz kunstlose Näherung
..zum Ziele führen kann. ,,Ich meine dies so, dafs man das Integral,
..durch die Reihe
Z = a s + , j s 2 + y s 3 + . . .
„von u = k bis u = k + s sucht, wo s so klein genommen werden
,,mufs, dafs die höhern Glieder verschwinden, und ivo die Coefficienten
„aus den Gleichungen [61]
25-I5 (l-k)4= «(2 + Sk-^Z')
+ 60(1— k)3 =2/?(2 + 8k — -Z') + a(8—±u)
-9o(i-k)*=3y(2 + 8k-^-Z')+^(8— £-«)— J«Ä
|-6o (i-k) =4<S(2 + 8k- i-z') +37(8- i-«)-i-i2-
5
-15 = 5* (2 + 8k-fZ0 + 4*(8-f«)-fy/?-f/Sy-f«<>
„abgeleitet werden. Der Wer/h Z', von Z, ist bekannt, dadurch dafs
„man von k=o anfängt, und bis k + s = 0, 1 fortgeht; dann von
,,k = o, I bis k + s, so eveil es gehl, u. s. w. — -wodurch man, 'wenn
..man nur die Rechnung flicht scheitet, Jede beliebige Genauigkeit er-
klangen kann.'1
Lectores ne haereant in numeris, quibus cel. Bessel est usus,
dicendum mihi est, illum respexisse ad aequationem supra (7) propositam
312,5 du — 187,5 (J — u)4du = (ioou — ioZ + 25)dZ,
quae multiplicata per — abit in hanc formam :
25 du — 15 ( 1 — u)-* du = (8 u — 0,8 Z + 2) d Z
Captit tertium. De iis attentionis phaenomenis, quoram ratio ex causis etc. 87
Methodus tradita non toto genere mihi differre videtur ab illa, quam
exposueram loco saepius commemorato {Königsberger Archiv Heft III),
ubi scripsi:
„Man setze 1 — e = u, und
Z==Au-f- Bu2 +Cu3 -f-Du+ -f. ...
,,Aas dieser Reihe suche man für irgend ein hinreichend kleines t den Werth
von Z mit der Genauigkeit die man verlangt. Alsdann setze man iveiter
m — e = v, und
Z = A' + B'y + C'y 2 + D'y 4 -f . . . 1
„Hier ist m eine noch unbestimmte Grösse, der man zu zuiederhohlten Malen
einen andern und andern Werth beylegen wird. Man habe nämlich vorhin für ein
Heines t den Werth Z = u gefunden [62] so berechne mau aus demselben t
auch e , und setze dieses = m, folglich y = o, und daher A' = Z = «.
Nun werden sich B', C', D', und so weiter, auf gewohnte Weise bestimmen
lassen; die Reihe wird für etwas grössere t, als die er st er e gestaltete,'1 brauch-
bar sej'n, und man wird, sobald es nöthig ist, das nämliche Verfahren er-
neuern können."
Cum ab ill. Bessel rem suseeptam et serio traetatam viderem, tem-
perare mihi non potui, quin novis preeibus instarem, ut de methodo,
quam in hoc commentario exposui, iudicium ferret. Postridie bene mane
chartis, quas miseram, mihi relatis, repulsam me tulisse putabam; legens
autem epistolam adiunetam vix sanis oculis uti mihi \idebar. Vir gra-
vissimis observationibus et ealculis semper ineumbens, unde se distrahi
aegerrime pati solet, non ea tantum perlegerat, de quibus ut iudicaret
petieram, sed numerorum etiam meo calculo inventorum veritatem explora-
turus, ipse molestissimam rationem perfecerat: ut viginti numeros, qui sunt
totidem valores ipsius Z et , possim illiüs beneficio cum lectoribus
du
communicare! Ita huius viri et benevolentiam et assiduitatem aequari
perspexi egregiae in rebus adversis fortitudini (quam ante aliquot annos
cognoveram, cum laesus rabiosi canis morsu putaretur, miserrimaeque
mortis imagine et acris medicinae doloribus asperrimis simul exeruciaretur) ;
quantum autem polleat sagacitate et acumine, meum non est praedicare,
cum in mathematicorum prineipibus iamdiu ab universo orbe literato
habeatur.
Numeri, ab ipso methodo illa, quam praeeeperat, inventi, hie
sequuntur.
[63] u = o, Z:
0,1
0,2
o,3
0,4
dZ
0,
du
= 5»
0,5810
1.2755
2,0293
2,8070
6,4914
7>3096
7,7068
7,8038
1 Z =-- Au -f- Bus + Cu* 4- . . . . SW.
2 gestattete SW.
88 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.
dZ
u = o, Z = o, — — = 5,
du
0,5 3.5828 7,6787
0,6 4,3376 7,3925
o,7 5,°579 7,0007
o,8 5-7359 6,5531
0,9 6,3680 6,0888
1 6,9541 5,6347
Investigavit etiam punctum inflexionis, eiusque locum assignavit esse
u = 0,3901.
Instituta comparatione primo meum calculum in. eo reprehendere
debeo, quod statim ab initio non satis curae adhibuerim in determinandis
coefficientibus seriei divergentis primitivae
Z = 5u-j- iou2 — 21,66 . . u3 -j- 49,16 . . . u4 — ...
haue enim solam ob rationem fieri potuit, ut neglecto termino quinto et
sexto invenirem pro u = 0,1, Z = 0,5832, et — — = 6,4964; cum ratio
du
dZ
celeberrimi Bessel pronuntiaverit esse Z = 0,5810 et = 6,4914.
du
Sed eo magis mirum est, meum calculum in fine, pro u = I, ubi
necessario est omnium errorum congeries, non longius aberasse; inveni
enim Z = 6,947 . . . quod parum differt a = 6,954 . . . Itaque vitium
non methodo, qua usus sum, videtur inhaerere, sed esse in numeris, quos
nullo fere negotio potuissem aecuratius exhibere. Ceterum patet, eiusmodi
vitia usum psychologicum minime turbare: [64] res autem secus se haberet,
si punctum inflexionis me latuisset; quod melius, quam arbitrabar, est
inventum.
Monuit tarnen cel. Bessel, methodum meam non tarn late patere,
ut constantium valoribus quibuseunque sufriciat. Qua in re speetandus
1
• • • m + n ( r — u) ^
est denominator fractioms propositae ; augetur enim
p u -j- r — q Z
error commissus in determinando Z per coeffieientem q; meusque calculus
totus everteretur, si fieri posset, ut esset q Z > p u -j- r. Respiciant autem
lectores ad supra dieta (6, II), ubi reperient, eiusmodi casus vix fingi
posse : nulla certe adest ratio, cur ponamus, a, b, q , esse fractiones genuinas.
Variae tarnen admitti debent rationes qZ : (pu-f-r), ea, qua usus sum,
aliae magis, aliae minus commodae; quocirca in eligendis valoribus ipsius
u interdum tardius erit procedendum, terminorumque /< u numerus
eiugendus.
Alio monito vir excellentissimus notavit proportionem dZ :pudZ
= w : v ; atque censuit esse v = p u w -j- p/ö Z . d u, ut fd Z . d u omnes
complectatur errores inde ab u = o commissus in valoribus funetionis Z
determinandis. Verum observavit ipse iudex aequissimus, idem fere iam
dictum esse in annotatione mea, de correctione singulis terminis /tu
adhibendis.
Caput tertium. De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis etc. 8o
Adiecit quaedam de methodo mea, significans eam et novam et
casibus non rarissimis esse applieandam; quae an amicitiae magis quam
ipsi1 rei sint tribuenda, videant alii.
Quicquid sit, confirmato iam animo, atque in mathematicis rebus
explanandis, viribus meis paullo minus diffisus, pergam ad altiora in psycho-
logia, cum primum expoliendis iis, quae dudum [65] paravi manus admo-
vere per otium licuerit. Nihil enim curo, nisi ut intelligantur, quae dico;
nihil autem habeo, quod doceam mathematicos, nisi rem unicam: esse ali-
quam provinciam, ad hucusque ab iis intactam (ne ditam iis incognitam),
quae tarnen ad matheseos ditionem aliqua ex parte pertineat, et sine eius
auxilio nullo modo recte possit exeoli. Hanc rem, philosophis nostri
temporis miram, incredibilem, abominandam, mathematicis tarn dilucide
exponi posse spero, ut eam sibi suscipiendam esse putent. Quod ubi
eftecero, officio functus mihi videbor; nara sat scio, errorum latebras maxime
reconditas novo veritatis sole iri collustratum.
1 ipsae O.
V.
UEBER DIE
MOEGLICHKEIT und NOTHWENDIGKEIT,
MATHEMATIK auf PSYCHOLOGIE
ANZUWENDEN.
Vorgelesen in der Königlichen Deutschen Gesellschaft, am 18. April
1822.
[Text nach SW VII, S. 129—172.]
Citirte Ausgaben.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, S. 417 — 458), herausgegeben
von G. Hartenstein-.
Vorwort.
[131] Es trifft sich zuweilen, dafs leicht hingeworfene Aufsätze glück-
licher sind im Publicum, als gründliche Abhandlungen, besonders wenn es
darauf ankommt, von neuen Theorien die ersten Grundbegriffe bekannter
und geläufiger zu machen. Auf solches Gerathewohl hin lasse ich diese
Blätter abdrucken, deren Haupttheil in der letzten Sitzung der hiesigen
königlichen deutschen Gesellschaft mit gefälliger Aufmerksamkeit angehört
wurde. Meine ursprüngliche Absicht war blofs, eine zur wissenschaftlichen
Unterhaltung bestimmte Stunde passend auszufüllen; hiedurch fand ich
mich in Form und Materie beschränkt. Allein man lieset schneller, als
ein mündlicher Vortrag gesprochen wird; um nun den Lesern ebenfalls
für eine Stunde Beschäftigung darzubieten, habe ich Anmerkungen hinzu-
gefügt; und dies gewährte mir zugleich den Vortheil, mich über Manches
ausführlicher äufsern zu können. Unter die Anmerkungen hat der Zufall
eine polemische gemischt, die meine allgemeine praktische Philosophie
betrifft; ein schon im Jahre 1808 herausgegebenes Buch, das aber noch
heute meine Ueberzeugung treulich ausspricht, und das ich eben in dem
Maafse deutlicher und vollständiger werde vertheidigen können, wie meine
psychologischen Darstellungen weiter vorrücken. Praktische Philosophie
und Psychologie stehn in solcher Verbindung, dafs jede von den Fehlern
der andern leiden mufs, und beide nur wechselsweise davon können ge-
reinigt werden. Zuerst mufs man wissen, dafs die Principien der erstem
nicht in Geboten, sondern in willenlosen Urtheilen bestehn; sonst sucht
man in der zweiten nach einer gebietenden praktischen Vernunft als einem
Grundvermögen der menschlichen Seele, welches die Psychologie nicht
nachweisen kann, weil es nicht [132] existirt. Dann mufs man in der
Psychologie den menschlichen Geist in seinem Fortschreiten von den
niedrigsten bis zu den höhern Stufen gleichsam beobachtet haben; sonst
behalten die sittlichen Urtheile, Gefühle, Ueberlegungen, Entschlüsse, Regeln,
Grundsätze und Systeme immer etwas Geheimnifsvolles, welches so lange
die Ueberzeugung stört und irrt, wie lange man nicht ein jedes von dem
Allen an seinem rechten Orte erblickt, wo es sich natürlich bildet, und
eben darum sich in seinem wahren Werthe behaupten kann. Kein Wunder,
dafs Theologen, die von den wissenschaftlichen Untersuchungen über diese
Gegenstände keinen Begriff haben, sich in ängstliche Grübeleien über den
Ursprung des Bösen verlieren; wenn sie aber bis zu dem anmaafsenden
Klageruf fortschreiten, „unkräftig sei alles, was die Philosophen statt des
Christen t hu ms geben," so bleibt nichts übrig, als sie ernstlich zurechtzu-
weisen; denn ihre Gespensterfurcht ist nicht blofs ansteckend, sondern sie
Q4 Vorwort.
kann selbst die Quelle von vielem Bösen werden. Indessen sind sie in
sofern zu bedauern, als zu ihren andern Träumen auch noch der von
Philosophen kommt, die statt des Christenthunis Etwas (ich weiss nicht
was) geben wollen; finden sie einen, dem ein solches Projekt im Kopfe
steckt, so dürfen sie ihn sicher für einen Phantasten halten; denn als
Philosoph würde er ganz andere Geschäfte zu besorgen haben.
Mit der reifsten Ueberzeugung und dem tiefsten Gefühle, dafs gerade
dasjenige Geschäft, welchem ich nicht blofs dies Büchlein, sondern seit Jahren
meine besten Kräfte gewidmet habe, zu den nothwendi<rsten und dringend-
sten gehört, die jemals in der wissenschaftlichen "Welt können unternommen
werden, verbinde ich zugleich das, manchmal niederschlagende, Bewufstsein,
dafs ich mich glücklich schätzen mufs, wenn ich es nur so weit bringe,
anzufangen, was ich Andern zur Vollendung werde überlassen müssen.
Und zu meinem grofsen Schmerze sehe ich: unsre Zeit hat zwar Kräfte
genug zum Vollbringen, aber diese Kräfte sind zersplittert, statt dafs frühere
Jahrhunderte sie wenigstens zuweilen vereinigt sahen. Jetzt sind hier Mathe-
matiker, und dort Philosophen; als ob man, ohne beides zugleich zu sein,
ein ächter Wahrheitsforscher sein könnte! Unsre heutige Mathematik ist
so reich, so ausgedehnt, dafs sie ihren Verehrern nicht Zeit gönnt, noch
etwas [133] Anderes zu bedenken. Von unsern philosophischen Schulen
hat die eine so viel zu phantasiren, zu combiniren, zu deuten, und zu
polemisiren, dafs sie zum Untersuchen nicht kommt; eine andre schwelgt
in Gefühlen, und wiegt sich mit Einbildungen von der Nichtigkeit aller
Demonstration in einen süfsen Schlaf; eine dritte, freier von Vorurtheilen
als jene beiden, ist so ungelenkig, so steif und starr, dafs sie immer das-
selbe wiederholt und nie von der Stelle kommt. Unterdessen wächst der
Empirismus wie Unkraut; und wo ein Streben nach dem Hohem rege
wird, da fehlt die rechte Zucht, und alle Verführung der Schwärmerei findet
leichtes Spiel mit Köpfen voll untergeordneter Gedanken.
Man kann das Zeitalter nicht wählen, in dem man leben und wirken
möchte; ich gebrauche meine Tage nach Gelegenheit und Kraft, wie Andre
das benutzen werden, was ich darbiete, das fällt ihrem Willen und ihrer
Verantwortung anheim.
[_ 1 34J Höchstgeehrte Anwesende!
Da uns die königliche deutsche Gesellschaft den bequemsten und
schicklichsten Vereinigungspunkt darbietet, um uns von der Richtung unserer
wissenschaftlichen Forschungen gegenseitig in Kenntnifs zu setzen : so habe
ich geglaubt, für die heutige Sitzung, in welcher mir die Ehre Ihrer ge-
neigten Aufmerksamkeit zu Theil wird, von der günstigen Gelegenheit
Gebrauch machen, und einen Gegenstand ankündigen zu dürfen, der
freilich abstract scheinen mag, der jedoch gewifs von allgemeinem Interesse
ist. Sokrates wird von allen Jahrhunderten gelobt, dafs er die Philosophie
vom Himmel zur Erde und zu den Menschen herabgerufen habe; wenn
er aber heute, wieder erstanden und bekannt mit dem Zustande unserer
Wissenschaften, noch einmal zum Himmel hinaufblickte, um von dort etwas
Heilsames für die Menschen herunter zu holen , so würde er da oben
weit weniger die heutige Philosophie, als die Mathematik, geschäftig, und
in ihren Bemühungen mit dem glücklichsten und glänzendsten Erfolge
gekrönt finden. Da möchte es ihm denn wohl einfallen zu fragen: „Saget
mir, o ihr Vortrefflichen, was ist besser, die Seele oder das Körperliche ?
Was ist euch wichtiger, die Nutation der Erdaxe oder das Schwanken eurer
Meinungen und Neigungen? Was ist euch nöthiger, die Stabilität des
Sonnensvstems oder die Befestigung eurer Grundsätze und Sitten? Wovon
leidet ihr mehr, von den Perturbationen der Planeten oder von den Re-
volutionen eurer Staaten? — Und wenn die Mathematik ein so vortreff-
liches Werkzeug eurer Nachforschungen ist, warum versucht ihr denn nicht,
es zu brauchen bei dem, was euch das Wichtigste und Nöthigste ist?
Oder wenn die Mathematik bei euch im höchsten Ansehen steht, so dafs
ihr geneigt seid, sie allen andern Wissenschaften vorzuziehen: warum ver-
urtheilt [135] ihr sie denn, entweder solche Gegenstände zu bearbeiten,
die euch so ferne stehen, dafs sie noch kaum die Neugierde einiger wenigen
Gelehrten reizen können, oder so nahe bei euren gemeinsten sinnlichen Be-
dürfnissen und Wünschen, dafs die Beschäftigung damit fast zu der
niedrigen Klasse der banausischen Künste herabsinkt?" Wenn Sokrates
so fragte: wollten wir ihm etwa antworten, die Mathematik arbeite ja auch
in unsern Zeughäusern, und vor den Wällen belagerter Städte? Sie lehre
uns, den menschlichen Kunstfleifs nicht blofs zu beleben, sondern auch
zu zerstören? So möchten wir doch wohl nicht wagen, uns dem Spotte
des bekanntlich sehr ironischen Mannes Preis zu geben. Doch mit welchem
Netze von Fragen er uns umstricken, und wie künstlich er uns aus unsern
gewohnten Vorstellunesarten heraus winden und ziehen würde: wer möchte
es wagen, geehrteste Anwesende, das darzustellen? Wenigstens ich wage
o6 AT. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik aut Psychologie anzuwenden.
es nicht; und um desto weniger, da etwas Anderes mir näher liegt, als
die Art, wie sich etwa Sokrates über unsere beschränkte Anwendung der
Mathematik wundern würde. Mir ist es nämlich nicht unbekannt geblieben,
dafs man sich über meine Versuche, der Mathematik ein Geschäft in der
Psychologie zu geben, gewundert hat, und dafs diese Verwunderung ganz
kürzlich durch die von mir herausgegebene Abhandlung über das Maafs
und die allgemeinsten Bedingungen der Aufmerksamkeit,* von neuem ist
angeregt worden. Je geringer nun die Anzahl der Leser eines Aufsatzes
sein wird, der eine verwickelte Differentialgleichung behandelt: desto mehr
mufs ich darauf gefafst sein, dafs man es dabei lassen werde sich zu
wundern, ohne sich genauer um die Sache zu bekümmern. Deshalb habe
ich mich entschlossen, einmal in anderer Sprache, als in algebraischen
Zeichen, einen kurzen Bericht über mein Unternehmen abzustatten ; ein
Unternehmen, dessen erste Anfänge noch in die letzten Monate des acht-
zehnten Jahrhunderts fallen, ja dessen Keim ich eigentlich noch früher in
der fichte'schen Schule fand (i); und womit ich seitdem, zwar oft und
lange unterbrochen, doch ohne je den Faden zu verlieren, beschäftigt war
(2), jetzt aber von neuem mit der ernstlichen Absicht beschäftigt bin,
nicht eher abzulassen, als bis ich meine Vorarbeit geübtem Mathematikern
zur Fort[i3ö]setzung darbieten kann. In dem Bericht über dieses mein Unter-
nehmen werde ich die Scheingründe, von denen die vorerwähnte Ver-
wunderungherrührt, voranstellen; und erst nach deren Beantwortung hoffe ich
geneigtes Gehör für die Nachweisung, dafs Mathematik auf Psychologie
anzuwenden möglich, und dafs es nothwendig sei (3). Eine kurze Bemerkung
darüber, dafs diese meine Untersuchung sich in der That nicht blofs auf Psy-
chologie beschränkt, sondern dafs sie entferntere Beziehungen auf Physiologie
und auf die gesammte Naturwissenschaft hat, soll den Beschlufs machen.
Der erste von den Scheingründen, die mir entgegenstehen, ist seiner
wahren Natur nach nichts anderes, als die alte Gewohnheit; den Worten
nach aber lehnt er sich an eine völlig unwahre Behauptung. Man hat
nie gehört, dafs die Mathematik anders angewendet sei, als auf Gegen-
stände, die entweder selbst räumlich sind, oder sich doch räumlich dar-
stellen lassen; z. B. auf Kräfte, die mit gewissen Entfernungen wachsen
oder abnehmen, und deren Erfolge man messen oder scharf beobachten
kann. Man sieht aber nicht ein, welches Maafsstabes sich Jemand be-
dienen könnte, um das Geistige in uns, das Wechselnde in unsern Vor-
stellungen, Gefühlen und Begierden, seiner Gröfse nach zu bestimmen und
zu vergleichen. Unsre Gedanken sind schneller, wie der Blitz; wie sollten
wir ihre Bahn beobachten und verzeichnen? Die menschlichen Launen
sind so flüchtig wie der Wind, die Stimmungen so ungewifs wie das
AVetter; wer kann hier gegebene Gröfsen finden, die sich unter das Gesetz
einer mathematischen Regelmäfsigkeit bringen liefsen? Wo man nun aber
nicht messen kann, da kann man auch nicht rechnen; folglich ist es nicht
möglich, in psychologischen Untersuchungen, sich der Mathematik zu be-
dienen. — So lautet der Svllogismus, welcher sich aus dem Kleben an
* De attentionis mensura caxisisque primariis. Regiomonti 1822 (s. Xo. IV vorl.
Bandes).
V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, gj
dem Gewohnten und aus einer augenscheinlichen Unwahrheit zusammen-
setzt. Es ist nämlich, um beim letzten anzufangen, ganz falsch, dafs man
nur da rechnen könne, wo man zuvor gemessen hat. Gerade im Gegen-
theil! Jedes hypothetisch angenommene, ja selbst jedes anerkannt unrich-
tige Gesetz einer Gröfsenverbindung läfst sich berechnen; und man muß
bei tief verborgenen, aber wichtigen Gegenständen sich so lange in Hypo-
thesen versuchen, und die Folgen, welche aus denselben fliefsen würden,
so genau durch [137] Rechnung untersuchen, bis man findet, welche von
den verschiedenen Hypothesen mit der Erfahrung zusammentrifft. So ver-
suchten die altem Astronomen excentrische Kreise, und Kepler versuchte
die Ellipse, um darauf die Bewegungen der Planeten zurückzuführen, der
nämliche verglich die Quadrate der Umlaufszeiten mit den Würfeln der
mittlem Entfernungen, ehe er deren Uebereinstimmung fand; desgleichen
versuchte Newton, ob eine Gravitation, umgekehrt wie das Quadrat der
Entfernung, hinreiche, den Mond in seiner Bahn um die Erde zu erhalten;
hätte aber diese Voraussetzung nicht genügt, so würde er eine andre
Potenz, etwa den Würfel oder die vierte oder fünfte Potenz der Ent-
fernung zum Grunde gelegt, und die Folgen daraus abgeleitet haben, um
sie mit den Erfahrungen zu vergleichen. Das eben ist die gröfste Wohl-
that der Mathematik, dafs man lange vorher, ehe man hinreichend be-
stimmte Erfahrungen besitzt, die Möglichkeiten überschauen kann, in deren
Gebiet irgendwo die Wirklichkeit liegen mufs: daher man denn auch sehr
unvollkommene Andeutungen der Erfahrung benutzen kann, um sich
mindestens von den gröbsten Irrthümern zu befreien. Lange vorher, ehe
ein Vorübergehn der Venus vor der Sonne zur Bestimmung der Sonnen-
parallaxe diente, suchte man den Augenblick zu treffen, wo der Mond
von der Sonne halb erleuchtet ist, um aus gemessenem Abstände beider
Himmelskörper die Entfernung der Sonne zu finden. Das war nicht
möglich; denn alle unsre Zeitmessung ist aus psychologischen Gründen
viel zu grob, als dafs der verlangte Augenblick hätte können genau genug
bestimmt werden; allein dennoch gewann man hiedurch die Einsicht, dafs
die Sonne ein paar hundert mal so weit zum wenigsten entfernt sein
müsse, als der Mond. Dies ist ein sehr einleuchtendes Beispiel, dafs auch
eine höchst unvollkommene Gröfsenschätzung, da wo keine scharfe Be-
obachtung möglich ist, sehr belehrend werden kann, wenn man sie nur
zu benutzen weifs. Und war es etwan nothwendig, für unser Sonnen-
system den Maafsttab zu besitzen, um seine Ordnung im allgemeinen
kennen zu lernen? War es (dafs ich aus einer andern Gegend ein Bei-
spiel nehme) nicht eher möglich, die Gesetze der Bewegung zu erforschen,
ehe man die Fallhöhe in der Secunde an einem bestimmten Orte auf der
Erde genau kannte? Nichts weniger. Solche Erforschungen der Grund-
?naasse sind an [138] sich sehr schwierig, aber glücklicherweise bilden sie
Untersuchungen von eigener Art für sich allein, auf welche die Kenntnifs
der wichtigsten Grundgesetze gar nicht nöthig hat zu warten. — Einladend
freilich ist das Messen zum Rechnen, und jede leicht bemerkliche Regel-
mäfsigkeit gewisser Gröfsen ist ein Reiz für die mathematische Unter-
suchung. Umgekehrt, je weniger Symmetrie in den Erscheinungen, desto
mehr verspätet sich der wissenschaftliche Fleifs. Bewegten sich die Himme^s-
Herbart's Werke. V. 7
g8 "V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
körper in merklich widerstehenden Mitteln, oder wären die Massen nicht
so klein gegen die Distanzen, so wäre vielleicht die Astronomie nicht
weiter, wie jetzt die Psychologie; und jene würde sich alsdann nicht ein-
mal, gleich dieser, wegen des Mangels an Schärfe der Beobachtungen
durch die Menge derselben zu entschädigen hoffen können.
Ein zweiter Einwurf soll sich darauf gründen, dafs die Mathematik
nur Quantitäten behandelt; die Psychologie aber Zustände und Thätigkeiten
von sehr verschiedener Qualität zum Gegenstande hat. Wollte ich diesen
Scheingrund ganz ernsthaft widerlegen, so würde ich davon ausgehen,
metaphysisch nachzuweisen, dafs die wahren, eigentlichen, ursprünglichen
Qualitäten der Wesen uns völlig verborgen, und gar kein Gegenstand
irgend einer Untersuchung sind (4); dafs dagegen, wo wir in der ge-
meinen Erfahrung Qualitäten wahrzunehmen glauben, der Grund davon
oft blofs quantitativ ist; wie z. B. wir ganz verschiedene Töne hören, aus
denen sich noch weit mehr verschiedene Consonanzen und Dissonanzen
zusammensetzen lassen, während blofs längere oder kürzere Saiten schneller
oder langsamer schwingen. Aber so tief will ich mich für jetzt nicht ein-
lassen. Denn es liegt mir hier nichts daran, den Satz zu beweisen, dass
in der menschlichen Seele gar keine Mannigfaltigkeit ursprünglicher Ver-
mögen existirt; das Vorurtheil von innerer qualitativer Vielheit in Einem
Wesen mag hier ganz unangefochten bleiben, obgleich es zu den ersten
Bedingungen wahrer Erkenntnifs gehört, dafs man sich davon losgerissen
habe. Für jetzt genügt es zu sagen, dafs wie viel eingebildete Qualitäten
auch Jemand in der Seele unterscheiden möchte, er dennoch nicht ab-
läugnen könne, dafs er aufserdem eine unendliche Menge von quantita-
tiven Bestimmungen des Geistigen gebe. Unsere Vorstellungen sind stärker,
schwächer, klärer, dunkler; ihr Kommen und Gehen ist [139] schneller
oder langsamer, ihre Menge in jedem Augenblick gröfser oder kleiner,
unsere Empfänglichkeit für Empfindungen, unsere Reizbarkeit für Gefühle
und Affecten schwebt unaufhörlich zwischen einem Mehr oder Wenig-er.
o
Diese und unzählige andere Gröfsenbestimmungen, welche bei den geistigen
Zuständen augenscheinlich vorkommen, hat man sehr mit Unrecht für
Nebenbestimmungen des Wesentlichen gehalten, und dies ist der wahre
Grund, weshalb man die strenge Gesetzmäfsigkeit dessen, was in uns vor-
geht, nicht entdecken konnte. Dafs die vermeinten Nebenbestimmungen
gerade die Hauptsache sind, kann ich hier in der Kürze nur an einem
einzigen auffallenden Beispiele deutlich machen. Jedermann kennt den
Schlaf; jeder weifs, dafs derselbe in einer Unterdrückung unserer Vor-
stellungen besteht, die im tiefen Schlafe vollkommen, im Traume un-
vollständig ist. Aber die Wenigsten denken daran, dafs auch selbst
während des hellsten Wachens in jedem einzelnen Zeitpuncte uns nur
äufserst wenige von unsern Vorstellungen gegenwärtig sind; dahingegen
die sämmtlichen übrigen uns gerade so wenig beschäftigen, wie im Schlafe;
oder, wie man es bestimmter ausdrücken kann, dafs unsre meisten Vor-
, Stellungen latent , und nur wenige jedesmal frei sind. Hier bitte ich,
einen Blick in die Physik zu werfen, um sich an die latente und freie
Wärme zu erinnern (5). Was war die Physik, bevor man diese gehörig
unterschied und in Betracht zog? Gerade das ist heut zu Tage noch
V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, qq
die Psychologie. Alle geistigen Zustände und Erzeugnisse hängen zu
allererst von der Grundbedingung ab, dafs diese oder jene Vorstellungen
in uns wach seien; denn der Schlaf, er sei nun ein totaler oder partialer,
hindert Alles, so weit er reicht; oder mit andern Worten: diejenigen Vor-
stellungen, welche nach den Gesetzen ihres Gleichgewichts in uns latent
sind, wirken für so lange gar nichts im Bewufstsein. Anders verhält es
sich mit solchen latenten Vorstellungen, welche nur nach den Gesetzen
ihrer Bewegung in diesem unterdrückten Zustande sind; diese wirken sehr
stark auf die Gemüthszustände, auf Affecten und Gefühle: doch der Unter-
schied zwischen Statik und Mechanik des Geistes läfst sich hier nicht
entwickeln (6).
Noch andre Einwürfe gründen sich auf die gangbaren Meinungen
von den sogenannten obern Vermögen des Geistes; und ich weifs wohl,
ja ich habe es längst erfahren, dafs ich [140] hier gerade an die mäch-
tigsten Vorurtheile stofse; an Vorurtheile, die darum unüberwindlich sind,
weil man sie nicht ablegen will, und weil man sich gewaltsam sträubt,
dasjenige, was ihnen widerspricht, auch nur zu überlegen. Die Haupt-
punete sind hier das Genie und die Freiheit. Was ist das Genie? Lassen
Sie mich der Kürze wegen durch ein Gleichnifs antworten: das Genie ist
ein Planet. Es geht keine gerade Strafse, sondern seine Bahn ist eine
krumme Linie; auf dieser steht es zuweilen still, um rückwärts zu wandern;
Anfangs langsam, dann geschwind, dann wieder langsam; darauf geht es
vorwärts, nun taucht es sich in die Strahlen der Sonne, und durchwandelt
mit ihr in Gemeinschaft den Himmel; doch nur kurze Zeit, denn bald
wiederum zieht es vor, in dunkeler Nacht zu leuchten, und sich desto
gröfser zu zeigen, je vollkommener die Opposition ist, in welche es sich
setzt gegen das Gestini des Tages. Diese Worte passen, ich gestehe es,
besser auf einen Planeten, als auf das Genie; doch die Aehnlichkeit wird
deutlich genug sein. Das Wort Planet bezeichnet einen Irrenden, und
wenn man will, mit Rücksicht auf die Träume der Astrologie, einen irrenden
Ritter, der recht romantisch auf schreckliche oder liebliche Abenteuer aus-
geht; und wie sich's eben trifft, bald Tod und Verderben dräut, bald Heil
und Segen bringt. Wer möchte die Kreuz- und Querzüge eines Aben-
teurers auf eine feste Regel bringen? Und doch, was ist geschehn?
Die irrenden Ritter sind verschwunden wie Gespenster, seitdem die Un-
wissenheit ist verdrängt worden von der Wissenschaft. Jetzt richten sich
die Planeten nach dem Kalender; und das geht ganz natürlich zu, denn
die Kalender haben gelernt, sich nach den Planeten zu richten. Gerade
eben so und in demselben Sinne würde sich das Genie nach der Psycho-
logie richten, wenn schon jetzt unserer Psychologie so viel wahre Wissen-
schaft zum Grunde läge, als unsern Kalendern. Soviel über das Genie,
welches zwar seine Regel nicht kennt, aber darum doch nicht abläugnen
darf, eine solche zu haben, denn das Nichtwissen ist kein Beweis vom
Nichtsein. Aber was soll ich nun von der Freiheit sagen? Zuerst dies,
dafs ich in der That müde bin, darüber zu reden. Denn längst habe
ich die Gründe der Verwirrung und des Irrthums in diesem Puncte an-
gezeigt, und in allerlei Formen dargestellt; ich habe die ursprünglichen
Urtheile, aus denen das mo[i4i]ralische Gebot hervorgeht, gesondert und
7*
I OO V. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
jedes einzeln bestimmt; ferner nachgewiesen, dafs diese Urtheile, welche
den Unterschied des Löblichen und Schändlichen, des Guten und Bösen
festsetzen, nothwendig ganz willenlos, und selbst das vollkommenste Gegen-
theil alles Wollens sein müssen, indem sie durch jede Vermischung mit
demselben sogleich verfälscht werden, und eine unlautere Gesinnung er-
zeugen würden. Von dem Augenblicke an, da mir diese Grundsätze klar
wurden, habe ich die vermeintliche Unbegreiflichkeit der Willensfreiheit wie
einen Nebel zerfiiefsen gesehen; indem das Würdige und Hohe, was man
darin sucht, einen ganz andern Platz hat, das Gemeine und Schlechte aber,
was nun von der Freiheit, als Quelle der Möglichkeit des Bösen, noch
übrig bleibt, nicht sicherer unter die ihm gebührende Zucht kann gestellt
werden, als nachdem man ihm die blendende Larve der Freiheit abge-
rissen, und es als eine Afterorganisation erkannt hat, die gleich Molen
und Warzen, nach Gesetzen der psychologischen Nothwendigkeit nicht
blofs wachsen, sondern auch abnehmen, und unter gegebenen Umständen
zerstört oder verhütet werden könne. Was ich hier sage, das trifft in
gewissen Puncten zusammen mit den frommen Gefühlen, die den Menschen
warnen, in seinem eignen Selbst, (das heifst hier, in seinem Willen,) den
Ursprung, oder gar das Gesetz des Guten und Bösen zu suchen; und es
besteht vollkommen mit der Zurechnung, die erstlich die That auf den
Willen, dann den Willen auf den beharrlichen Charakter der Person
zurückführt, ohne über den tiefer liegenden Grund irgend eines Charakters
auch nur das Mindeste zu entscheiden, oder darauf irgend eine Rücksicht
zu nehmen. — Doch alle Schwierigkeiten der Freiheitslehre würden bald
verschwinden, wenn man sich nicht von dem Willen, der übrig bleibe,
wenn die bekannte Freiheitslehre weggenommen werde, die allerseltsamsten
Vorstellungen machte. Wer da sagt: ich kann mir keinen Willen denken,
der nicht als solcher schon frei wäre, dem mufs man antworten: behalte
die Freiheit, denn in dem Sinne, worin du das Wort nimmst, ist sie wirk-
lich vorhanden. Die menschliche Seele ist kein Puppentheater; unsre
Wünsche und Entschliefsungen sind keine Marionetten; kein Gaukler steht
dahinter, sondern unser wahres eigenes Leben liegt in unserm Wollen, und
dieses Leben hat seine Regel nicht aufser sich, sondern in sich; es hat seine
[142] eigne, rein geistige, keineswegs aus der Körperwelt entlehnte Regel;
aber diese Regel ist in ihm gewifs und fest, und wegen dieser ihrer
festen Bestimmtheit hat sie mit dem sonst ganz Fremdartigen, den Ge-
setzen des Stofses und Drucks, immer noch mehr Aehnlichkeit, als mit
den Wundern der vorgeblich unbegreiflichen Freiheit (7).
Um nun die Möglichkeit, dafs Mathematik auf Psychologie ange-
wendet werde, nachweisen zu können : mufs ich zuvörderst die materiale
Möglichkeit unterscheiden von der formalen. Jene beruht auf den Gröfsen
selbst, die sich dem Psychologen darbieten; diese auf dem Verfahren,
welches in der Untersuchung zu befolgen ist. Es scheint mir zweckmäfsig,
die Gröfsen selbst einstweilen noch bei Seite zu setzen, und vor allem
die Form des Verfahrens etwas näher zu bezeichnen. Ich besorge näm-
lich, dafs man sich entweder an ältere verfehlte oder an neuere ganz
leichtsinnige Versuche erinnern werde, der Mathematik in der Philosophie
theils etwas nachzuahmen, theils mit den Zeichen und Ausdrücken derselben
V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, j o I
ein unnützes und fhörichtes Spiel zu treiben; welches beides von dem
Gebrauch , der Mathematik, den ich unternommen habe, völlig verschieden
ist. An jenen Verkehrtheiten ist, um es mit Einem Worte zu sagen, die
Unbekanntschaft mit der wahren Natur der metaphysischen Probleme
Schuld, welche die Mathematik aufzulösen so unfähig ist, dafs sie viel-
mehr zu allen Zeiten denselben mit grofser Kunst aus dem Wege ge-
gangen ist. um nur ja nicht dadurch in Verlegenheit gesetzt zu werden.
Wer sich der metaphysischen Untersuchungen mächtig fühlt, der wird in
manchen Puncten nachzuholen finden, was die Mathematik geflissentlich
versäumt, oder nie zu Ende gebracht hat; wie bei den Parallelen, beim
Unendlichen, beim Irrationalen, und bei allem, was mit dem Begriffe der
Continuität zusammenhängt. Weit gefehlt, in den eigentlich metaphy-
sischen Untersuchungen der Mathematik nachahmen zu können, mufs man
hier mit andern Hülfsmitteln und Kräften auch andere Anstrengungen
verbinden, und sich andere Uebungen für neue Verfahrungsarten ver-
schaffen. Die Mathematik vermag wirklich Nichts aufser dem Gebiet der
Gröfsen; bewundernswerth aber ist die Kunst, womit sie sich dieser allent-
halben bemächtigt, wo sie sie antrifft. Erinnern wir uns nur gleich der
Netze, womit sie Himmel und Erde umsponnen hat; jenes Sy[i43]stems
von Linien, die sich auf Azimuth und Höhe, Declination und Rectas-
cension, Länge und Breite beziehn: jener Abscissen und Ordinaten, Tan-
genten und Normalen, Krümmungskreise und Evoluten; jener trigono-
metrischen und logarithmischen Functionen, welche alle im voraus bereit
liegen, und nur darauf warten, dafs man sich ihrer bediene. Ueberblickt
man diesen Apparat: so sieht man freilich, dafs die Mathematiker keine
Zauberer sind, sondern dafs bei ihnen alles natürlich zugeht; man em-
pfängt vielmehr den Eindruck wie von einer Menge künstlicher Maschinen;
zahlreicher Zeugen einer mannigfaltigen und höchst lebendigen Industrie,
die ganz dazu gemacht ist, um wahren und bleibenden Reichthum zu
erwerben. Aber was ist nun dieser Apparat? Besteht er aus wirklichen
Dingen? Wir wollen uns einzelne Beispiele vergegenwärtigen. Was ist die
Himmelskugel? Ist sie ein wirkliches Gewölbe, eine wahre Hohlkugel,
auf der man sphärische Dreiecke zeichnen könnte? Nein! sie ist eine
nützliche Fiction, ein Hülfsmittel des Denkens, eine bequeme Form der
Zusammenfassung aller Gesichtslinien, die zu den Sternen hingehn, und
bei denen man blofs ihre Lage, nicht ihre Länge in Betracht zieht. Was
ist der Schwerpunct? Ist er wirklich ein Punct in einem Körper? Was
der Mittelpunct des Schwungs, sammt den Momenten der Trägheit für
willkürlich anzunehmende Umdrehungsaxen ? Warum redet die Statik vom
mathematischen Hebel, der in der Natur nicht vorkommt? warum die
Mechanik von Bewegungen der Puncte, von einfachen Pendeln, vom Fall
geworfener Körper im luftleeren Räume? Warum nicht gleich vom körper-
lichen Hebel, von bewegter Materie, und von den Wurflinien in der
Atmosphäre? Mit einem Worte, warum bedient sie sich so vieler fingirten
Hülfsgröfsen ; warum berechnet sie nicht unmittelbar das, was in der wirk-
lichen Welt sich vorfindet und geschieht? — Die Antwort liegt schon in
der Frage: jene Fictionen sind nämlich wirkliche Hülfen; jene ange-
nommenen Gröfsen sind solche, auf welche die wirklichen erst müssen
102 V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
zurückgeführt, oder zwischen denen sie müssen eingeschlossen werden,
wenn man sich diese letzteren, die wirklichen Gröfsen, entweder genau
oder doch annäherungsweise will zugänglich machen. Hier ist nun zwar
nichts, was die Psychologie der Mathematik nachahmen könnte; aber desto
gewisser bringt die letztere ihr [144] eigentümliches Verfahren allent-
halben mit hin, wohin sie selbst kommt. Demnach, in wiefern die geistigen
Zustände und Thätigkeiten wirklich von Quantitäten abhängen, in sofern
kann man sicher voraussehn, die Berechnung dieser wirklichen Quantitäten
werde ebenfalls nur durch Zurückführung derselben auf einfachere, be-
quemere Hülfsgröfsen geschehn, zwischen welche jene gleichsam einzu-
schalten, oder auch, von welchen sie abhängig zu machen seien, damit
man ihnen so nahe als möglich auf die Spur kommen könne. Man mache
sich demnach darauf gefafst, nur einen allgemeinen und sehr vereinfachten
Typus des Begehrens, und eben so allgemeine Typen gewisser Hauptklassen
von Gefühlen, Imaginationen u. dergl. wissenschaftlich nachgewiesen zu
sehn; während die individuelle Wirklichkeit sehr sicher ist, sich der mathe-
matischen Bestimmung und Begrenzung auf immer entziehen zu können.
Nichts wäre lächerlicher, als wenn Jemand fürchten wollte, durch irgend
eine Mantik von Zahlen und Buchstaben seiner Geheimnisse beraubt, oder
in den verborgenen Regungen seines Herzens beschlichen und belauscht
zu werden; in dieser Hinsicht wird die gemeine Weltklugheit immer weit
schlauer und furchtbarer sein, als alle Mathematik und Psychologie zu-
sammen genommen.
Es ist nun Zeit, die Gröfsen selbst, welche sich der Berechnung dar-
bieten, genauer anzugeben. Man mufs vom Einfachsten ausgehn, und beim
ersten Anfange noch alle Verbindung der Vorstellungen unter einander bei
Seite setzen (8). Alsdann bleiben nur zwei Gröfsen, auf die man Rück-
sicht zu nehmen hat : die Stärke jeder einzelnen Vorstellung, und der Grad
der Hemmung zivischen je zweien (9). Hier ist schon Stoff genug für die
Rechnung, um von zweien ganz allgemeinen psychologischen Phänomenen
den ersten Hauptgrund zu entdecken; nämlich erstlich von dem oben er-
wähnten Umstände, dafs die allermeisten unserer Vorstellungen in jedem
bestimmten Augenblicke latent sind; und zweitens von der eben so merk-
würdigen Thatsache, dafs, so lange nicht physiologische Gründe den Zu-
stand des Schlafs bewirken, niemals alle Vorstellungen zugleich latent
werden, auch niemals alle bis auf eine, sondern dafs stets, während des leib-
lichen Wachens, irgend Etwas, und nie etwas ganz Einfaches, sondern etwas
einigermaafsen Zusammengesetztes, vorgestellt wird (10). Hier[i45]über
würde man sich längst gewundert, und nach der Ursache gefragt haben,
wenn nicht das Gewohnte und Alltägliche sich in den Augen der Menschen
immer von selbst verstünde.
Die Rechnungen, zu welchen die Stärke jeder einzelnen Vorstellung
und der Grad der Hemmung zwischen je zweien Anlafs geben können,
sind noch sehr einfach; sie werden aber schon weit verwickelter, wenn
man nunmehr auch die dritte Gröfse, den Grad der Verbindung unter den
Vorstellungen, in Betracht zieht. Alsdann ändern sich die früher erhaltenen
Resultate, und neue kommen hinzu. Ueberdies bietet sich jetzt noch eine
vierte Gröfse dar, um in die Rechnung einzugehn, nämlich die Menge der
V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 10^
verbundenen Vorstellungen. Besonders merkwürdig aber sind die längern
oder kürzeren Vor Stellungsreihen, welche bei unvollkommner Verbindung dann
entstehn, wann eine Vorstellung mit der andern, die zweite mit der dritten,
diese mit der vierten, und so fort, in gewissem Grade verknüpft sind,
während die erste mit der dritten, die zweite mit der vierten, und den
folgenden, entweder gar nicht, oder doch wreit schwächer verschmelzen.
Solche Vorstellungsreihen sind gleichsam die Fasern oder Fibern, woraus
sich gröfsere geistige Organe zusammensetzen; und sie tragen dabei ganz
bestimmte Gesetze ihrer Reizbarkeit in sich, auf deren genauere Kenntnifs
in der Psychologie eigentlich alles ankommt. Entfernte, aber höchst unzu-
längliche Andeutungen davon liegen in dem, was man unter dem Namen
der Ideenassociation längst kennt; alles bestimmtere Wissen mufs jedoch
von der Rechnung ausgehn; und diese ist von den wichtigsten Folgen
nicht blofs für die Theorie des Gedächtnisses, der Phantasie, des Ver-
standes, sondern auch für die Lehre von den Gefühlen, Begierden und
Affecten. Nichts hindert mich, es unverhohlen zu sagen, dafs hier die
Mathematik eine grenzenlose Unwissenheit aufdeckt, in welcher sich die
Psychologie bisher befunden hat. Sogar das räumliche und zeitliche Vor-
stellen hat hier, nicht aber in vermeinten Grundformen der Sinnlichkeit,
seinen Sitz und Ursprung.
In Ansehung schon gebildeter Vorstellungsreihen entstehen ferner
neue Quantitätsbestimmungen daraus, ob dieselben von irgend einem Reize
in einem oder in mehrern Puncten zugleich getroffen werden; desgleichen,
ob sie sich mehr oder minder in einem Zustande der Evolution oder In-
volution be[i46]finden; weiter, ob aus diesen Reihen, die ich vorhin
Fasern oder Fibern nannte, sich schon gröfsere oder kleinere Gewebe ge-
bildet haben, und wie diese Gewebe construirt sind; ein Gegenstand, der
zwar bei verschiedenen Menschen, wegen der gemeinschaftlichen Sinnen-
welt, in der wir leben, und auf deren Veranlassung sich unsre Vorstel-
lungen eben so wohl verknüpfen als erzeugen, grüfstentheils gleichartg
sein mufs, doch so, dafs bedeutende Modificationen eintreten, die von
dem geistigen Rhythmus jedes Individuums, zufolge seines Nervenbaues
und seiner ganzen leiblichen Constitution, abhängen; und andre Modi-
ficationen, welche der Erfahrungskreis und die Gewöhnungen des Indi-
viduums bestimmen, und welche man durch Erziehung und Unterricht
suchen kann zweckmäfsig einzurichten. Dieser letztere Punct mufs be-
senders sorgfältig bemerkt werden. Bekanntlich wird die eigentliche
Humanität dem Menschen nicht angeboren, sondern angebildet; der ganz
wilde Mensch ist nichts als ein Thier, wiewohl ein solches Thier, in wel-
chem die Menschheit durch Hülfe der Gesellschaft könnte entwickelt wer-
den. Daher hat man schon oft die Hypothese vernommen, ein höheres
Wesen müsse sich der ersten Menschen angenommen und sie geistig ver-
edelt haben; eine Meinung, die wenigstens nicht so gewaltig gegen die
Erfahrung verstöfst, als die von einem allmäligen Herabsinken der Mensch-
heit aus einem ursprünglich höhern Zustande in den nachmaligen niedern,
statt dafs die ganze Länder- und Völkerkunde uns den ungeselligen Men-
schen roh und thierisch, folglich die eigentliche Menschheit von der Ge-
sellschaft abhängig zeigt. Dies wird sehr schlecht beachtet von denjenigen
104 v- Ueber d. Möglichkeit u. Xothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
Psychologen, welche Vernunft und innern Sinn, Ueberlegung und Selbst-
beschauung für ursprüngliche Vermögen der menschlichen Seele halten;
man mufs sie aber damit entschuldigen, dafs sie aus Unkunde in der
Mathematik und der davon abhängenden Mechanik des Geistes die Wege
nicht errathen können, auf welchen die allmälige Veredelung des mensch-
lichen Geistes fortschreitet. So viel indessen läfst sich leicht bemerken,
dafs in dem Geiste nicht alle Vorstellungen gleichmäfsig verbunden, und
dafs sie in sehr verschiedenem Grade beweglich sind; dafs sie ähnlich
den höhern und niedrigem Wolkenschichten in der Atmosphäre, in ver-
schiedenen Richtungen theils langsam, theils schneller und flüchtiger um-
her[i47]sch\veben; dafs eben deshalb unter diesen verschiedenen Vor-
stellungsmassen, bei ihrem mannigfaltigen Zusammentreffen, sich grofsen-
theils dieselben Verhältnisse wiederholen müssen, die zwischen neuen An-
schauungen und altern dadurch reproducirten Vorstellungen sich erzeugen;
dafs es folglich nicht blofs eine äufsere Apperception, sondern auch ein
inneres Vernehmen, oder eine Vernunft geben müsse, bei welcher das,
was man Ueberlegen und Schliefsen nennt, nur nach vergröfsertem Maafs-
stabe denselben Procefs wiederholt, der schon beim Zueignen sinnlicher
Empfindung durch Anschauung und Urtheil vollzogen wird. Doch welches
ist dieser Procefs? Ich glaube es zu wissen, aber ich kann es hier nicht
entwickeln. Nur so viel kann ich sagen: die hohem Thätigkeiten des
Geistes können unmöglich nach ihren wahren Gründen und Gesetzen er-
forscht werden, so lange man die niedrigem noch nicht kennt, denen sie
ähnlich, und von denen sie abhängig sind; wiewohl man nun die mathe-
matische Betrachtung schwerlich jemals bis in die obersten Regionen des
vernünftigen Denkens und Wollens fortführen wird, so ist dieselbe dennoch
als Grundlage der Erkenntniss auch dieser höchsten Gegenstände ganz
unentbehrlich, damit wir, wenn die Wahrheit in ihren genauesten Bestim-
mungen uns vielleicht verborgen bleibt, wenigstens nicht die Lücken unse-
res Wissens, so wie es bisher geschieht, mit groben Irrthümem ausfüllen,
und durch unnützen Zank von Partheien, die alle gleich Unrecht haben,
uns am Ende die Philosophie selbst verleiden.
Und hier findet sich der Uebergang zu dem letzten Theile meiner
Betrachtung. Es ist nicht blofs möglich, sondern nothwendig, dafs Mathe-
matik auf Psychologie angewendet werde; der Grund dieser Notwendig-
keit liegt, mit einem Worte, darin, dafs sonst dasjenige schlechterdings
nicht kann erreicht werden, was durch alle Speculation am Ende gesucht
wird; und das ist — Ucberzeugung. Die Xothwendigkeit aber, dafs wir
den Weg zur festen Ueberzeugung endlich einschlagen, ist um desto dringen-
der, je gröfser täglich die Gefahr wird, dafs die Philosophie in Deutsch-
land bald in denselben Zustand gerathe, in welchem sie längst in Frank-
reich und England sich befindet. Es gehört mit zu der grofsen Ver-
blendung der meisten heutigen Philosophen Deutschlands, dafs sie diese
Gefahr nicht sehen. Verstünden sie Mathematik, (dazu gehört aber mehr,
als einige [148] geometrische Elemente, und allenfalls quadratische
Gleichungen zu kennen, oder einmal mit den Zeichen der Differentiale
und Integrale gespielt zu haben,) verstünden sie, sage ich, Mathematik:
so würden sie wissen, dafs ein unbestimmtes Reden, wobei jeder das
V. Ueberd. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 105
Seinige denkt, und welches eine täglich wachsende Spaltung der Meinungen
erzeugt, trotz aller schönen Worte und selbst ungeachtet der Grölse der
Gegenstände, doch auf die Länge schlechterdings kein Gleichgewicht be-
haupten könne gegen eine Wissenschaft, die durch jedes Wort, was sie
ausspricht, wirklich belehrt und erhebt, während sie zugleich — nicht etwa
durch ungeheure ausgemessene Räume, — sondern durch das, alle Be-
schreibung übertreffende, Schauspiel des ungeheuersten menschlichen Scharf-
sinnes ein nie ermüdendes Staunen für sich gewinnt. Die Mathematik
ist die herrschende Wissenschaft unserer Zeit; ihre Eroberungen wachsen
täglich, wiewohl ohne Geräusch; wer sie nicht für sich hat, der wird sie
dereinst luider sich haben.
Jetzt mufs ich bestimmter angeben, worin der Grund liege, dafs nicht
blofs die Mathematik Ueberzeugung in sich trägt, sondern sie auch auf
die Gegenstände überträgt, auf die sie angewendet wird. Dieser Grund
findet sich zwar zu allererst in der vollkommenen Genauigkeit, womit die
mathematischen Elementarbegriffe bestimmt sind; und in dieser Hinsicht
mufs jede Wissenschaft ihr eigenes Heil besorgen; keine kann es von der
andern leihen oder geschenkt bekommen; die Psychologie eben so wenig
von der Mathematik, als die letztere von jener. Aber das ist nicht Alles.
Sobald das menschliche Denken sich in langen Schlufsfolgen, oder über-
haupt an schwierigen Gegenständen versucht, deren inneres Mannigfaltiges
sich gegenseitig verdunkelt: so tritt nicht nur die Gefahr, sondern auch
der Verdacht des Irrthums ein; weil man nicht alles Einzelne mit gleich-
zeitiger Klarheit überschauen kann, und sich daher am Ende begnügen
mufs, daran zu glauben, dafs man Anfangs nichts verfehlt habe. Jeder-
mann weifs, wie sehr dieses selbst beim Rechnen, also beim ganz elemen-
taren Gebrauche der Mathematik der Fall ist. Niemand wird sich ein-
bilden, dafs es damit in den höhern Theilen der Mathematik besser gehe;
im Gegentheil, je verwickelter die Rechnung, desto höher steigt, in sehr
schneller Progression, die Unsicherheit und der Verdacht verborgener
Fehler. Wie macht es nun die Mathe[i49]matik, um dieser, ihr selbst
im höchsten Grade beiwohnenden Unbequemlichkeit abzuhelfen? Schärft
sie ihre Beweise? Giebt sie wohl gar neue Regeln, wie man die vorigen
Regeln anwenden solle? Nichts weniger! Jede einzelne Rechnung, für sich
betrachtet, bleibt in dem Zustande einer sehr grolsen Unsicherheit. Aber
es giebt ja Rechnungsproben ! Es giebt auf dem Boden der Mathematik
zu jedem Puncte hundert verschiedene Wege; und wenn man auf allen
hundert Wegen genau dasselbe findet, so überzeugt man sich, den rechten
Punct getroffen zu haben. Eine Rechnung ohne Controle ist so viel wie
gar keine. Gerade so verhält es sich mit einem jeden einzeln stehenden
Beweise in irgend welcher speculativen Wissenschaft; mag er noch so
scharfsinnig, mag er noch so vollkommen wahr und richtig sein, er ge-
währt doch keine bleibende Ueberzeugung. Wer daher in der Meta-
physik, oder in der von ihr abhängenden Psychologie hoffen wollte, seine
höchste Sorgfalt in der schärfsten Bestimmung der Begriffe und im folge-
rechten Denken, schon durch Ueberzeugung, wohl gar durch allgemein
mittheilbare Ueberzeugung — belohnt zu sehen : der würde gar sehr ge-
täuscht werden. Nicht blofs die Schlüsse müssen sich gegenseitig, im-
IOÖ V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
gezwungen und ohne den leisesten Verdacht der Erschleichung, bestätigen:
sondern bei allem, was von Erfahrung ausgeht, oder über Erfahrung urtheilt,
mufs die Erfahrung selbst, und zwar in unzähligen speciellen Fällen, das Re-
sultat der Speculation genau, und nicht blofs obenhin, bekräftigen. Und jetzt
bin ich beinahe am Ziele, denn ich habe nur noch nöthig, auf eine ein-
zige Bedingung aufmerksam zu machen, ohne deren Erfüllung Erfahrungen
und Theorien gar nicht können mit irgend einer Sicherheit verglichen
werden. Alle Erfahrung ist quantitativ bestimmt; und sie ist den gröfsten
Veränderungen ausgesetzt, wenn die Gröfsen, von denen sie abhängt,
verändert werden. Soll ich dies noch durch Beispiele belegen? Soll ich
etwa erinnern an die berühmte Frage der Aerzte : was ein Gift sei? ein
Begriff, der bekanntlich deshalb Schwierigkeit macht, weil für unsre Ge-
sundheit das Heilsamste im Uebermaafse schädlich, das Schädlichste in
rechter Quantität heilbringend wird. Doch wozu mich bei so leichten
Gegenständen aufhalten? Dass, was ich zeigen wollte, liegt schon am
Tage; nämlich dies, dafs jede Theorie, die man mit der Erfahrung ver-
gleichen will, erst soiveit fortgeführt iverden [150] mufs, bis sie die quan-
titativen Bestimmungen angenonunen hat, die in der Erfahrung vorkommen
oder bei ihr zum Grunde liegen. So lange sie diesen Punct nicht erreicht,
schwebt sie in der Luft, ausgesetzt allem Winde des Zweifels, unfähig, sich
mit andern, schon bevestigten Ueberzeugungen zu verbinden. Alle quan-
titativen Bestimmungen aber sind in der Hand der Mathematik, und man
kann daraus sogleich übersehen,' dafs alle Speculation, welche auf Mathe-
matik nicht Achtung giebt, sich mit ihr nicht in Gemeinschaft setzt, nicht
mit ihrer Hülfe die mannigfaltigen Modificationen unterscheidet, welche
durch Veränderung der Gröfsenbestimmungen entstehen müssen, entweder
ein leeres Gedankenspiel, oder im besten Falle eine Anstrengung ist, die
ihr Ziel nicht erreichen kann. Vielerlei wächst auf dem Boden der Specu-
lation, das nicht von Mathematik ausgeht und sich um sie nicht kümmert;
und ich bin sehr weit davon entfernt, alles, was solchergestalt wächst, für
Unkraut zu erklären; wachsen kann wohl manch edles Gewächs, aber zur
letzten Reife gelangen kann keins ohne Mathematik. Selbst über diesen
Punct giebt es jedoch eine empirische Art von Ueberzeugung, die sich
nicht anders als durch eigne Uebung im Gebrauch der Mathematik er-
werben läfst. Man mufs es gleichsam mit Augen gesehen haben, wie die
Rechnung Folgerungen aus den vorhandenen Vordersätzen ableitet, die
man nicht erwartet, Umstände hervorhebt, an deren Wichtigkeit man nicht
gedacht, schiefe Ansichten zerstört, deren man bei aller Behutsamkeit sich
doch nicht erwehrt hatte.
Es wird Ihnen, höchstgeehrte Herren, von selbst aufgefallen sein,
dafs meine letzte Behauptung sich gar nicht auf Psychologie beschränkt,
sondern ganz allgemein alle Speculation trifft; denn überall ist eine
mannigfaltige Controle, und überall genaue Vergleichung mit der Erfahrung
nöthig. Diese Ueberschreitung meines Gegenstandes würde mir jedoch
viell eicht, als hieher nicht gehörig, zum Vorwurfe gereichen, wenn nicht
der Gegenstand selbst die Tendenz zur Erweiterung auf die Naturwissen-
schaft in sich trüge. Damit dies klar werde, bitte ich die Erinnerung
zurückzurufen an diejenigen Gröfsen, welche die Psychologie der Rech-
V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 107
nung darbietet. Es waren: Stärke der Vorstellungen, Hemmungsgrund,
Innigkeit der Verbindung, Menge der Verbundenen, Länge der Vorstel-
lungsreihen, Reizbarkeit derselben an verschiedenen Puncten, das Mehr
oder Weniger der Involution oder Evolution, der Verwebung oder Iso-
lirung, — und, was bei aller geistigen Bewegung sich von selbst versteht,
die Geschwindigkeit oder Langsamkeit in der Veränderung der wechseln-
den Zustände. Bei allen diesen Gröfsen, — an deren vollständiger Auf-
zählung hier nichts gelegen ist, — kommt das, zuas eigentlich vorgestellt wird,
weiter nicht in Betracht, als nur in sofern davon Hemmung und Verbindung
unter den Vorstellungen abhängt. Wir können daher gar nicht sagen,
dafs Rechnungen dieser Art sich gerade auf Vorstellungen, als solche,
ausschliefsend bezögen; im Gegen theil, wenn es andre, innere Zustände
irgend welcher Wesen giebt, die theils unter einander entgegengesetzt,
theils der Verbindung fähig sind, (dies letztere folgt aber unmittelbar aus
der Voraussetzung, sie seien in Einem Wesen,) so passen darauf alle die
nämlichen Rechnungen; und es kommt blofs noch auf die Frage an, ob
wir Ursache haben, innere Zustände der beschriebenen Art noch in andern
Wesen, aufser in uns selbst, anzunehmen. Doch hier, höchstgeehrte Herren,
würde ich wirklich Ihre Zeit und Geduld über das mir gestattete Maafs
ausdehnen, — ich würde selbst bestimmter, als bisher, die verschwiegenen
metaphysischen Voraussetzungen meines Vortrags andeuten müssen, wenn
ich etwas mehr sagen wollte als dieses : dafs alle organische Reizbarkeit,
weit entfernt sich aus blofsen Raumverhältnissen erklären zu lassen, auf
innere Zustände, ja selbst auf einen Grad von innerer Ausbildung hin-
weiset; und dafs, wenn nicht diese letztere, so doch jene, die innern Zu-
stände, schon bei allen chemischen, elektrischen und magnetischen Ver-
hältnissen, — und, was dasselbe sagt, bei aller Construction und Con-
stitution der Materie müssen vorausgesetzt werden; dergestalt, dafs die
Psychologie den Naturwissenschaften überall wird vorangehen müssen, wo-
fern es unserm Zeitalter Ernst ist, den letzteren eine feste philosophische
Stellung und Gestaltung zu geben.
Anmerkungen.
(i) S. 96. „Ein Unternehmen, dessen Keim ich in der flehte1 sehen
Schule fand.'1
Diese Worte sollen nicht so ausgelegt werden, als ob Fichte [152]
selbst den Gedanken gefafst hätte, Psychologie als einen Theil der an-
gewandten Mathematik zu betrachten. Davon war Er, ein so entschiedener
Verfechter der transscendentalen Freiheit, gewifs weit entfernt. Aber Fichte
hat mich hauptsächlich durch seine Irrthümer belehrt; und das vermochte
er, weil er im vorzüglichen Grade das Streben nach Genauigkeit in der
Untersuchung besafs. Mit diesem Streben, und durch dasselbe, wird jeder
Lehrer der Philosophie seinen Schülern nützlich werden ; ohne Genauigkeit
bildet der Unterricht in der Philosophie nur Phantasten und Thoren.
Fichte machte bekanntlich das Ich zum Gegenstande seiner Forschung ;
Io8 V. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
oder mit andern Worten, er suchte nach den Bedingungen des Selbst-
bewufstseins. Hiedurch bereicherte er die Philosophie mit einem bis da-
hin unbekannten Probleme; denn dasselbe war früherhin sehr wenig be-
achtet worden; und Kant, der die Vorstellung Ich für ganz arm und leer
an Inhalt erklärte, hatte durch diese falsche Behauptung vollends die Auf-
merksamkeit davon abgewendet. Von Fichte, der sich immer von neuem
mit diesem Gegenstande beschäftigte, und doch nie damit fertig wurde,
lernte ich einsehen, dafs hier eine eben so reiche als tiefe Fundgrube ver-
borgen liegen müsse, die aber nur den gröfsten Anstrengungen sich öffnen
könne. — Das Erste, was sich mir enthüllte, war dies, dafs die Ichheit
schlechterdings nichts Primitives und Selbstständiges, sondern das Ab-
hängigste und Bedingteste sein müsse, was sich nur irgend denken lasse;
und hiemit lag es am Tage, dafs Fichte's Meinungen das vollkommenste
Widerspiel der Wahrheit sind; ein lehrreicher Warnungsspiegel für die,
welche ihn zu benutzen wissen. Das Zweite, was ich fand, war: dafs die
ursprünglichen Vorstellungen eines intelligenten Wesens, wenn sie jemals
bis zum Selbstbewufstsein sollen ausgebildet werden, (da sie, wie so eben
gesagt, das Ich nicht als ein Fertiges in sich schliefsen können,) entweder
alle, oder doch theilweise einander entgegengesetzt sein, und in Folge dieses
Gegensatzes einander hemmen müssen; so, dafs die Gehemmten nicht verloren
gehen, sondern als Strebungen fortdauern, welche in den Zustand des wirk-
lichen Vorstellens von selbst zurückkehren, sobald aus irgend einem Grunde
die Hemmung entweder ganz oder doch zum Theil unwirksam wird. Diese
Hemmung nun konnte und mufste berechnet werden; und hiemit war es
klar, [153] dafs die Psychologie eines mathematischen sowohl als eines
metaphysischen Fundaments bedürfe.
(2) S. 96. „womit ich seitdem, zwar oft und lange tmterbrochen, doch
ohne je den Faden zu verlieren, beschäftigt war."
Schon in meinen Hauptpuncten der Metaphysik, die im Jahre 1806
zuerst für einen engern Kreis von Bekannten gedruckt wurden, sind die
ersten und leichtesten Elemente der Statik des Geistes angegeben. Im
Königsberger Archiv (181 1 und 18 12) wurden neue Ausführungen ver-
sucht; die erste vollständige mathematisch-psychologische Abhandlung ist
jedoch die ganz kürzlich herausgegebene, de altentionis mensura.
(3) S. 96. ,,dafs Mathematik auf Psychologie anzuivejiden möglich,
und dafs es nolhzvendig sei."
Der beste Beweis der Möglichkeit pflegt immer der durch die Wirk-
lichkeit zu sein; aber man mufs nicht vergessen, dafs bei allen Beweisen
auch auf die Personen, denen etwas soll bewiesen werden, sehr viel an-
kommt. Im gegenwärtigen Falle werden Personen erfordert, die im Diffe-
rentiiren und Integriren geübt sind. Und dies nicht allein: sondern sie
müssen auch metaphysische Argumente und Begriffe fassen können, und
vor allem: sie müssen sich für Psychologie interessiren. Wo soll ich diese
Personen suchen , unter den heutigen Mathematikern ? oder unter den
Philosophen?
Das Beste, was ich mir selbst darauf antworten kann, ist dies, dafs
doch nicht alle psychologischen Berechnungen so besonders schwer und
abschreckend sind. Mag freilich eine Formel wie
V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik aut Psychologie anzuwenden, joq
m + n(i— u)£ __dZ
pu — qZ -f- r du
die Mehrzahl derer, welche von einer Theorie der Aufmerksamkeit wohl
etwas hören möchten, wenn es sich mit ihrer Bequemlichkeit vertrüge, —
zurückschrecken: aber ein so leichter Ausdruck wie
f,
a-fb
kann doch wohl kaum demjenigen anstöfsig sein, welcher übrigens wünscht,
sich mit dem Unterschiede der latenten von den freien Vorstellungen be-
kannt zu machen.
(4) S. 98. „Die zuahren, ursprünglichen Qualitäten der Wesen [154]
sind uns völlig verborgen, und gar kern Gegenstand irgend einer Unter-
suchung."
Hiemit soll nicht das Bekannte: „ins Innere der Natur dringt kein
erschaffener Geist," in Schutz genommen werden. Dieser Spruch findet
nur darum so viel Beifall, weil er der Faulheit im Denken, — einer
heutiges Tags epidemischen Krankheit, — das Wort redet. Aber das
Aeufserste, was wir über die wahren Qualitäten der Wesen bestimmen
können, ist dies, dafs jede dieser Qualitäten, einzeln und für sich allein
betrachtet, mit Beiseitsetzung aller Relationen, schlechthin einfach, — die
verschiedenen Qualitäten mehrerer Wesen aber grofsentheils unter einander
in conlrärem Gegensatze seien. Wenn diese metaphysischen Sätze der
gegenwärtigen Abhandlung als Amulete wider Einmischung des modernen
Spinozismus dienen können, so leisten sie hier, was sie sollen; übrigens
gehören sie nicht zur Sache.
(5) S. 98. „Latente und freie Wärme."
Bekanntlich verbirgt sich in den Flüssigkeiten, besonders den elasti-
schen, eine Menge unfühlbarer Wärme, dafs die höchsten Grade der Hitze
entstehn, wenn man neue chemische Verwandtschaften schnell in Wirksam-
keit setzt, um jene Flüssigkeiten zu einer Aenderung ihrer Form, — das
heifst hier, zu einer Verdichtung, — zu nöthigen. Allein das Gleichnifs,
welches ich von da entlehnt habe, darf nicht zu weit ausgedehnt werden.
Die unfühlbare Wärme ist gebunden; und kein Physiker wird ihr ein
Streben beilegen, sich von selbst aus dieser Gebundenheit zu befreien:
vielmehr sind entgegengesetzte chemische Kräfte nöthig, um sie heraus-
zutreiben. Hingegen die Vorstellungen sind verdunkelt, indem sie gehemmt
werden, gröfstentheils durch ihren Gegensatz unter einander. Wider diese
Gewalt, die sie leiden, streben sie fortwährend zurück in ihren ursprüng-
lichen Zustand; und sobald der Druck weicht, erheben sie sich durch dieses
ihr Streben von selbst ins Bewufstsein, so weit sie können. Man denke
sich vorläufig einmal die Vorstellungen unter dem Bilde elastischer, gegen
einander gedrängter Stahlfedern, deren Spannung vom gegenseitigen Drucke
abhängt. Wäre ein System von vielen solchen, theils stärkeren, theils
schwächeren, und einander theils mehr, theils weniger nahe gerückten
Federn vorhanden; und würde bald hier, bald dort eine neue Feder
zwischen die übri[i55]gen hineingeklemmt, so würde sich, so oft dies
I IO V. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden,
geschähe, der Zustand des Gleichgewichts unter den Federn abändern;
auch würde nach jeder Abänderung das ganze System noch lange fort-
schwingen. Dies mag das beste Gleichnifs sein, was man aus der Körper-
welt entlehnen kann, um das System unsrer Vorstellungen, zu welchem
die Erfahrung immer neue hinzufügt, dadurch abzubilden. Aber auch
hier darf die Vergleichung nicht zu weit ausgedehnt werden. Die Ungleich-
artigkeit des Körperlichen und Geistigen ist bekannt. Für nachdenkende
Leser dienen jedoch Gleichnisse eben so sehr durch ihr Unpassendes als
durch ihr Treffendes zur Belehrung und Uebung.
(6) S. 99. „ Unterschied zwischen Statik und Mechanik des Geistes."
Es giebt eine Menge von Leuten, die über Mechanismus sehr geläufig
plaudern, obgleich sie nicht einmal Statik, vielweniger Mechanik studirt
haben. Die Erinnerung daran veranlafst mich, hier etwas tiefer in die
Sache einzugehen.
Statik heifst die Lehre vom Gleichgewichte, Mechanik die Lehre von
den Veränderungen, welche dem Gleichgewichte entweder vorhergehfi, ehe
es sich bilden kann, oder ihm nachfolgen, wenn es aufgehoben wurde.
Bei dem Worte Gleichgeivicht denkt Niemand an Getvichte; die Kräfte
und deren Richtungen mögen sein, welche sie wollen; es kommt nur
darauf an, ob ihre Wirksamkeit sich dergestalt gegenseitig aufhebt, dafs
kein weiterer Erfolg daraus entstehen kann, und dafs der ganze Zustand
so bleiben mufs, wie er ist. Eben so wenig ist es nöthig, bei den Worten
Statik und Mechanik an die Körperwelt zu denken; blofs der Umstand,
dafs die Principien der Körpermechanik leichter zu finden sind, als die
mehr verborgenen der Mechanik des Geistes, — dieser Umstand ist
Schuld, dafs es eher eine Mechanik der ersten als der zweiten Art gegeben
hat. Kennten wir noch eine dritte Art von Kräften aufser den körper-
lichen und den geistigen: so würde es ganz unstreitig auch dafür eine
Statik und Mechanik geben; denn diese beiden Wissenschaften finden
überall Platz, wo es ein System von Kräften giebt, die einander entgegen-
wirken, so dafs sie einander entweder aufheben oder nicht. Und immer
werden die Bedingungen, unter denen sie sich vollkommen am weitern
Erfolge hindern, die ersten festen Puncte der Untersuchung darbieten;
das heifst, [156] immer wird die Statik vorangehn vor der viel schwerern
und weitläuftigern Mechanik; gesetzt auch, es fände sich, dafs das voll-
kommene Gleichgewicht eigentlich ein idealer, niemals ganz erreichbarer
Zustand sei; wie es bei den geistigen Kräften, laut Zeugnifs der Erfahrung,
wirklich ist, und laut Zeugnifs der Rechnung nothwendig sein mufs. Es
ist nämlich frerade die immerwährende Bewegung und Beweglichkeit des
Geistes, die wir in uns wahrnehmen, — und deren Mangel oder Ueber-
maafs ein Hauptkennzeichen von Geisteszerrüttung ausmacht, — einer der
ersten Puncte, worüber die Mathematik Rechenschaft darbietet, und Ein-
sicht in die Gründe verschafft.
(7) S. IOO. ,, Wunder der vorgeblich unbegreiflichen Freiheit."
Die Wundergläubigen selbst werden vermuthlich einräumen, dafs
Wunder die Ausnahme, natürliche Ereignisse aber die Regel bilden. Wie
wäre es, wenn sie, um der Bewunderung recht voll zu werden, sich ein-
mal entschlössen, erst die Regel, — die sie wahrlich noch sehr wenig
V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 1 1 1
kennen, — aufmerksam zu studiren? Der Contrast würde doch vermuth-
lich desto auffallender hervortreten. Dafs aber des Natürlichen in uns,
so wie außer uns, weit Mehr geschieht, als des Wunderbaren; dafs auch
die grofse Zahl der Menschen, von denen hauptsächlich die Volksmenge
im Staate abhängt, uns des Ge?neinen unendlich viel mehr als des Aufser-
ordentlichen und des Erhabenen zu schauen giebt, weifs Jedermann.
Wüfste nur auch Jedermann, wie viel dazu gehört, um von dem Gemeinen,
z. E. vom Fallen der Steine, oder vom Mondwechsel, oder vom Aus-
wendigbehalten des Gelernten, oder vom Schreck und vom Zorn, —
Grund und Ursache anzuheben! Nachdenkenden Menschen ist es be-
kanntlich schon oft begegnet, dafs das Gemeine selbst für sie zum Wunder
geworden ist.
Doch ich mufs ernster sprechen über den höchst ernsten Gegenstand.
Freiheit — dies Wort hat Wunder gewirkt; und sie selbst, die Freiheit,
sollte kein Wunder sein? So wird Mancher fragen, und sich dabei der
Männer, welche grofs waren durch Selbstbeherrschung, mit Achtung, ja mit
Ehrfurcht erinnern. Diese Ehrfurcht ist und bleibt gerecht, man mag nun
ihren Gegenstand in seiner Tiefe, oder nur oberflächlich erkennen. Aber
gegründet ist auch die Furcht vor den Vorurtheilen , die an das Wort
Freiheit sich zu hängen pflegen; — und jede Gemüthsbewegung, sei sie
nun ihrem Gegenstande günstig [157] oder ungünstig, wirkt immer nach-
theilig da, wo es auf kaltblütige Untersuchung ankommt.
Als die kantische Lehre von der transscendentalen Freiheit des Willens
sich in Deutschland gelten machte: da war die Zeit des ersten Enthusiasmus
für die Revolution in Frankreich. Wer jene Zeit erlebt hat, der wird
nicht läugnen können, dafs auf die philosophischen Untersuchungen eine
politische Stimmung Einflufs hatte, die gar sehr der Unbefangenheit des
Nachdenkens zuwider war. Jetzt ist es um nichts besser. Zwar die poli-
tischen Meinungen sind gemäfsigter, denn sie gingen durch eine schmerz-
liche Schule der Erfahrung; aber den Schutz der wieder erwachten
religiösen Stimmung mifsbraucht ein düsterer Geist des Grübelns über ver-
alteten Dogmen; ja wenn wir Herrn geheimen Kirchenrath Daub in
Heidelberg glauben wollen, — der Teufel selbst ist los und spukt, wo
nicht in den Gemüthern, so doch in den Köpfen.
Die heidelbergische Theologie hat schon einmal meine Federn in
Bewegung gesetzt;1 jetzt eben, da ich dies schreibe, finde ich in den
Heidelberger Jahrbüchern der Literatur, Januar 1822, eine persönliche
Veranlassung, noch etwas deutlicher zu sprechen, als in meinen Gesprächen
über das Böse schon geschehen war. Es heifst daselbst:
„Herbart zeigt, dafs die Moral als Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre
„unwirksam sei, und macht zur Grundlage seines Moralsystems den sitt-
lichen Geschmack für die eigenthümliche Schönheit der sittlichen Ver-
hältnisse des innern Menschen. Allein da der Geschmack des Indivi-
duums doch nur der Geschmack seiner Vernunft ist, und Herbart selbst
„auch unrichtige Charaktere annimmt, so ist nicht zu sehen, wie dieser
„Geschmack zur herrschenden Kraft werde, und man müfste immer wieder
1 Vgl. die „Gespräche über das Böse" im IV. Bande.
112 V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
„einen Geschmack an diesem Geschmack und so bis ins Unendliche
„voraussetzen, ohne je auf einen lebendigen Grund zu kommen."
Wie vielen Antheil an diesen Worten der, mir nicht näher bekannte,
recensirte Verfasser habe, weifs ich nicht; mir ist der Recensent, (ich will
ihn nicht nennen, obgleich er sich selbst genannt hat,) verantwortlich, der
so Etwas auf meine [158] Kosten abdrucken liefs, ohne es zu verbessern!
Da ich die Stelle eben jetzt zu lesen bekomme, so gewinnt sie das zu-
fällige Verdienst, mich zu erinnern, dafs ich vergebens über Möglichkeit
und Nothwendigkeit einer verbesserten Psychologie schreiben würde, wenn
ich unterliefse, zugleich über praktische Philosophie das Nöthige zu sagen,
die mit jener in der engsten Gemeinschaft, theils der Wahrheit, theils
noch weit mehr des Irrthums steht.
Wenn es wahr ist, dafs ich gezeigt habe, Güter-, Tugend- und Pflichten-
lehre sei unwirksam, — welches unstreitig so viel heifst als, diese Lehren
können nichts wirken, und haben folglich nie etwas gewirkt, — so mufs ein
böser Dämon sich meiner Person bedient haben, um ein unheilvolles, ent-
setzliches Wunder zu vollbringen, wodurch alle die segensreichen Früchte
vernichtet sind, welche die stoische Tugendlehre, die kantische Pflichten-
lehre, und selbst die Glückseligkeitslehre so vieler edlen Männer von
richtigem Ueberblick über das Ganze der menschlichen Natur, theils in
alten, theils in neuern Zeiten ganz unstreitig hatte heranreifen lassen. Zu
meinem Tröste über eine so schreckliche Verwüstung, die ich in der
moralischen Welt angerichtet habe, gereicht es indessen, dafs mein per-
sönliches Ich, mein Selbstbewufstsein, ganz frei und rein ist von allem
Mitwissen um die That des besagten bösen Dämons; ja sogar mein
Buch, — meine allgemeine praktische Philosophie, enthält nicht Einen
Buchstaben, welcher, mit wachenden Augen und mit Besinnung an den
Zusammenhang des Ganzen gelesen, als Mitschuldiger an jener Unthat
könnte zur Rechenschaft gezogen werden. Vielmehr bezeugt das Buch
schon auf Seite 17, [vgl. Bd. II, 337] (und bis zur siebenzehnten Seite
pflegen ja wohl auch diejenigen zu kommen, die zwar nicht die Bücher,
aber in den Büchern lesen,) Folgendes deutlich und wörtlich:
„dafs nun die bisher vorhandenen Lehren von Pflichten, Tugenden,
„und Gütern, vom Herzen zum Herzen gesprochen, das Bessere in den
„Menschen zum Noch-Besseren vielfältig erhöht haben, dies zu ver-
kennen sei ferne! Gleichgesinnte Gemüther verstehen einander trotz
„dem unrichtigen Ausdruck."
Ja vollends S. 270, [Bd. II, 411] nachdem von der Freiheitslehre die
Rede gewesen, heifst es daselbst:
„Möchte nun die innere Möglichkeit der Tugend für die [159] Theorie
„noch so räthselhaft sein: die gegenwärtige Untersuchung (das heifst:
„die praktische Philosophie in ihren Haupttheilen,) ignorirt das Räthsel
„ganz und gar.11
Diese Stelle möchte wohl eines Commentars bedürfen, besonders für
Leute, die alles durch einander mengen, und von der, dem besonnenen
Forscher höchst nöthigen, Fertigkeit, jede Untersuchung in ihre eigenihüm-
liche Sphäre einzuschlie/sen, ja die verschiedenartigen Betrachtungen so streng zu
sondern, als ob jede für die andre ein Gehehnnifs iväre, — keinen Begriff haben.
V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 113
Als ich meine praktische Philosophie schrieb, da wufste ich sehr gut,
dafs meine Metaphysik die transscendentale Freiheit verwirft, und dafs in
meiner Pädagogik, (denn dahin gehört die Frage,) von den Bedingungen,
unter welchen die sittlichen Urtheile wirksam fürs Leben werden, viel-
fältig geredet werde. Ich wufste das, aber meine praktische Philosophie
durfte es nicht wissen. Nicht ihre Sache war es, der Psychologie vor-
greifend, von dem Wirken und wirklichen Geschehen im menschlichen
Geiste Lehrsätze aufzustellen. Ausdrücklich bekannte meine praktische
Philosophie, dafs sie nur
„über Bilder des möglichen Wollens zu urtheilen, den Willen selbst
hingegen, und sein wirkliches Thun ganz ungebunden zu lassen habe.''
Es mag sein, dafs eine solche Beschränkung in den Augen mancher
Menschen die praktische Philosophie vernichte. Sie freilich würden es
viel besser machen, sie würden den Himmel und die Unterwelt in Be-
wegung setzen, — um Effect zu machen. Mir liegt am Effect überhaupt
wenig, in der praktischen Philosophie vollends beinahe Nichts; aber alles
liegt mir an der Wahrheit.
Die Reden von der Tugend, von der Pflicht, von den Gütern, von
der Freiheit, von der Erbsünde u. s. w. sind eine wirksame Rhetorik; denn
sie fassen das menschliche Gemüth an seinen empfindlichsten Stellen; sie
resen die Affecten auf; und sie stiften auf diese Weise viel Gutes und
viel Böses. Will man aber wissen, was der wahre und ächte Gehalt aller
dieser Reden sei, so müssen die Affecten ruhen, und die Rhetorik mit
allen ihren Künsten mufs schweigen. Was vorzuziehn, was zu verwerfen
sei, mufs ohne irgend eine Regung des Willens, erkannt werden; • • so
dafs nicht blofs die Schönheit, sondern auch das Häßliche, — nicht blofs
des inner n, son[iöo]dern auch des in geselliger Gemeinschaft lebenden
Menschen, offenbar werde; und zwar ohne im logischen Zirkel schon sitt-
liche Verhältnisse vorauszusetzen, die vielmehr als sittlich erst durch die
willenlose Beurtheilung selbst bezeichnet und ursprünglich unterschieden
werden können. Wer hiebei nicht sein individuelles Begehren, Meinen,
und einseitiges Auffassen, durch die Kraft der Selbstbeherrschung, welche
die Grundbedingung der Speculation ist, zu unterdrücken vermag; wer
nicht versteht, seine Gedanken so zu stellen und zu halten, wie sie durch
die ersten leitenden Principien der Untersuchung gefordert werden; wer
überhaupt nicht sein objectiv nothwendiges Denken von seinem subjectiven.
und insofern zufälligen Gedankenlauf zu unterscheiden geübt ist: der ist
nicht reif weder für diese noch für irgend eine Speculation; und er wird
sich nicht über seinen individuellen Geschmack erheben. Wer aber gar
noch in Frage stellen wollte, ob unrichtige Charaktere anzunehmen seien
oder nicht: der würde eine grenzenlose Unwissenheit verrathen; denn die
unrichtigen Charaktere sind eine allbekannte Thatsache. Dafs nicht zu
sehen sei, wie der sittliche Geschmack zur herrschenden Kraft werde, ist
wahr in der praktischen Philosophie; denn in diese Wissenschaft, wenn
man nicht schon die Psychologie als bekannt voraussetzen will, gehört die
ganze Frage nicht; die praktische Philosophie bringt den sittlichen Ge-
schmack zur Sprache; sie sondert und begrenzt die durch ihn erzeugten
Begriffe • sie selbst ist ein Denken, aber nicht ein Herrschen. Dafs der
Hekhakt's Werke. V.
114 ^"- Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit. Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
sittliche Geschmack für sich selbst ein Gegenstand der Beurtheilung wird,
ist wahr, insofern er in ein Verhältnifs mit dem Willen eingeht; wer
aber diese Wahrheit verstanden hat, der wird hiebei nicht an ein Fort-
schreiten ins Unendliche denken, und noch viel weniger die Frage vom
Wirken und Herrschen des sittlichen Urtheils dahinein mengen.
Die oben dargelegte Stelle der Heidelberger Jahrbücher steht nicht
allein, sondern in der Mitte von Xexiex an Kant, Fichte, Schellixg,
Schulze, Bouterwek, Fries und Köppex; der Epilog dazu lautet
folgendermaafsen :
„Also unkräftig ist alles, was die Philosoplien statt des Christenthums
geben.1'
Man sieht: die Philosophen haben undankbare Schüler; das ist in-
dessen nichts Neues, und kein Unglück: der Undank läfst [161] sich ertragen,
aber die Mißverständnisse sind ein Unkraut, das man ausraufen mufs, so
oft sich Gelegenheit findet. In dieser Hinsicht sind mathematische Dar-
stellungen eine treffliche Sache; sie werden entweder verstanden oder nicht;
ein Drittes ist bei ihnen kaum denkbar.
Da mir einmal die heidelberger Jahrbücher vor Augen liegen, will ich
zum Schlufs noch ein paar Zeilen von Herrn Kirchenrath Paulus daraus
abschreiben, die ich zugleich bereit bin zu unterschreiben: „Unendlich und
absolut an sich ist geivifs unsre Freiheit nicht. .Dennoch ist sie in Be-
ziehung auf die Gewalt der sintilichen Begierde, im besonnenen Zustande,
kräftig genug. Wir sind frei, um immer freier zu werden. Es giebt
Grade der Freiheit, wie Grade der Einsicht und Vollkommenheit." Das
war von jeher meine Lehre, und sie ist es noch heute. Um diese Lehre
zu begreifen und begreiflich zu machen, braucht man nicht alte Streit-
fragen wieder zu wecken, nicht alte Streitigkeiten wieder zu entzünden,
nicht den Fanatismus wieder in Gährung zu versetzen; man braucht nicht
die unermefslichen Gefahren über das bürgerliche Leben nochmals herbei-
zurufen, von denen die Kirchengeschichte so traurige Kunde giebt. Die-
jenigen, die solches thun, sind verantwortlich für die Folgen, und die leere
Ausflucht: das hatten wir nicht gedacht, nicht beabsichtigt, kann ihnen nicht
zur Entschuldigung gereichen. Sie mufsten wissen, dafs die menschliche
Xatur sich zu allen Zeiten gleicht, und dafs furchtbare Ausbrüche des
Fanatismus auch in unsern Tagen leider! nicht ohne Beispiel sind. Die
Folgen solcher Lehren, wie Herr K. R. Paulus, S. 37 und 38 des er-
wähnten Journals, warnend und mit gerechter Besorgnifs, anführt, lassen
sich nicht berechnen; wenn aber der theologische Uebermuth, der jetzt
die Philosophie urkräftig schilt, auf gerader Bahn fortschseitet, so bereitet
er sich selbst eine Zeit der schmerzlichen Reue, wodurch er der ge-
schmähten und verachteten eine unverlangte Genugthuung geben wird.
(8) S. 102. „Man muß vom Einfachsten ausgehn, und beim ersten
Anfange noch alle Verbindung der Vorstellungen unter einander bei Seile
setzen."
Wollte ich dies mit Rücksicht auf die nächstvorhenrehende Anmerkung
erläutern: so würde ich auseinandersetzen, dafs man überhaupt die Kunst
verstehen müsse, eine Untersuchung anzufangen, und dafs einer der
schwersten Theile dieser Kunst [162] darin bestehe, das bei Seite zu
V. Ueber d. Möglichkeit u.Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, i i g
setzen, zvas zum Anfange nicht gehört. Ich würde hinzufügen, dafs die-
jenigen Leser philosophischer Schriften, denen es Ernst ist, daraus lernen
zu wollen, vor allen Dingen die Sonderung der verschiedenartigen Probleme
daraus lernen müssen, damit Licht und Ordnung in ihre Köpfe komme,
und ihnen nicht etwa die Ungereimtheit begegne, auf den ersten Seiten
einer praktischen Philosophie nach den Bedingungen zu suchen, unter
denen moralische Vorstellungen im menschlichen Gemüthe wirksam und
kräftig werden können. Die Psychologie ist nun noch ungleich schwerer
als die praktische Philosophie; und wer hier die voreiligen Fragen nicht
zurückhalten kann, wer nicht Geduld hat, beim Atifange anzufangen, dem
mufs man ohne Schonung zurufen : odi profanum vulgus, et areeo.
Es ist nun die Verbindung der Vorstellungen, welche beim Anfange
der Psychologie mufs bei Seite gesetzt werden, damit man erst die Wir-
kungsart einfacher Vorstellungen kennen lerne. Giebt es denn einfache Vor-
stellungen ? So höre ich fragen. Ich antworte, dafs ich beim Anfange der
Psychologie diese Frage bei Seite setze, weil erst die Psychologie selbst,
in ihrem Fortgange, sie beantworten kann; und weil man, um anfangen
zu können, gar nicht nöthig hat darüber zu entscheiden. Die Probleme
müssen vereinfacht werden; das ist das Bedürfnifs der Untersuchung;
und dies Bedürfnifs mufs man befriedigen, wie weit man sich auch da-
durch fürs erste von der Wirklichkeit entfernen möchte ; sonst kommt die
Untersuchung nicht in Gang, und wir lernen nichts, sondern bleiben
stecken in der alten Finsternifs. Die Frage: giebt es einfache Vor-
stellungen? bedeutet für den Psychologen gerade so viel, als für den
Mechaniker, der von der Bewegung der Puncte handelt, die Frage: giebt
es denn einfache Puncte ? Darauf würde der Mechaniker ohne Zweifel
antworten, er verlange einen gelehrigen Schüler, der Geduld habe zu
warten, bis der Nutzen und die Anwendung des Vorgetragenen an die
Reihe komme.
Allerdings aber mufs man von Anfang an die Länge des Weges
einigermaafsen zu schätzen wissen, den man wird zurückzulegen haben.
Indem wir mit der Untersuchung über die Wirkungsart einfacher Vorstel-
lungen beginnen, stehen wir noch ganz aufser dem Kreise dessen, wovon
unser wirkliches Bewufstsein uns die Beispiele darbietet. In uns sind alle
Vor[i63]stellungen in unermefslich mannigfaltiger Verbindung, und dieser
Umstand ist höchst entscheidend für deren Energie und Wirkungsart. Nur
allmälig, und immer mehr, und immer genauer, wie sie weiter fortschreitet,
kann die Psychologie uns über dasjenige belehren, was in uns vorgeht.
Darüber würde man jedoch dem geübten Mathematiker gar nicht nöthig
haben, etwas zu sagen. Dieser weifs sehr gut, dafs in der Astronomie
die Erde erst als eine Kugel, dann wie ein Ellipsoid, — die Erdbahn
erst wie ein Kreis, dann wie eine Ellipse betrachtet wird; und eben so
in unzähligen andern Fällen. Die Correctionen kommen nach; aber erst
mufs man Umrisse entwerfen, ehe man die Gemälde auszeichnen kann.
Niemand tadele hier meine Weitläuftigkeit ; ich habe aus Erfahrung
gelernt, wie nöthig sie ist. Irgendwo hatte ich den Satz ausgesprochen,
dafs von ztveien Vorstellungen niemals eine die andre ganz unterdrückt , daß
hinsesen von dreien Vorstellungen sehr leicht die schwächste durch die beiden
8*
I l6 V. Ueberd. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
stärkeren könne völlig aus dem Bewufstsein verdrängt werden. Dieser Satz
gilt von einfachen Vorstellungen, und das war ausdrücklich dabei bemerkt
worden. Sollte man für möglich halten, Jemand könne auf den Einfall
kommen, zu versuchen, ob wohl von den Vorstellungen dreier Menschen
sich der Satz in der Erfahrung bestätigen werde? dergestalt, dafs die
Vorstellung eines dieser Menschen in uns unterdrückt werde durch die
beiden Vorstellungen der andern Menschen ? Es liegt ja am Tage, dafs die
Vorstellung eines jeden Menschen eine ungeheuer vielfache und verwickelte
Vorstellung ist ; und dafs wegen der höchst vielfältigen Aehnlichkeit der
Menschen unter einander, jede solche Vorstellung die andre vielmehr
producirt, als verdrängt! Nichts destoweniger ist ein Psychologe, ein nam-
hafter Schriftsteller, mit diesem Einwurfe gegen mich öffentlich aufgetreten.
Gewifs haben die Mathematiker, in deren Kreis solche Gedankenlosigkeit
niemals kommt, keinen Begriff davon, mit welcher Dreistigkeit sich die
unbesonnensten, lächerlichsten Plaudereien einem philosophischen Vortrage
in den Weg stellen.
(9) S. 102. „Die Stärke jeder einzelnen Vorstellung, und der Grad der
Hemmung zivischen je zweien."
Jetzt komme ich auf einen Punct, den selbst Mathematiker \ielleicht
mifsverstehen könnten, wenn sie nicht aufmerksam gemacht würden. Ich
meine nicht die Stärke jeder einzelnen [164] Vorstellung; der Unterschied
zwischen stärkeren und schwächeren Vorstellungen ist aus der Erfahrung
bekannt genug. Aber schwerer zu fassen ist der Begriff vom Gegen satze,
oder vom Hemmungsgrade der Vorstellungen.
Wenn man zu dem Mathematiker von entgegengesetzten Kräften
spricht: so denkt er sich zunächst solche Kräfte, die, wenn sie gleich
stark sind, einander auf Null reduciren. Wollte man dieses auf Vor-
stellungen anwenden : so würde der falsche Gedanke herauskommen, als
wäre eine Vorstellung das Negative der andern ; so dafs,;awenn ihrer zwei
gleich starke auf einander wirkten, sie sich gegenseitig vernichteten, und
alles Vorstellen aufhörte. Nun giebt es aber unter Vorstellungen gar kein
solches Verhältnils. Keine ist an sich das Negative der andern; jede für
sich genommen ist rein positiv, sie ist das Vorstellen ihres Vorgestellten.
Zum Beispiel : die Vorstellung Blau ist nicht Minus Roth , und eben so
rückwärts : die Vorstellung Roth ist nicht Minus Blau. Daher können
sie mit einander auch nicht Null machen. Gleichwohl sind sie entgegen-
gesetzt, und zwar dergestalt, dafs ihr Gegensatz das Extrem ist für ein
ganzes Continuum schwächerer Gegensätze. Denn zwischen Blau und
Roth läuft eine Linie des Violetten in allen seinen Abstufungen. Mischt
man Blau und Roth zu gleichen Theilen, so hat man ein Violett, welches
dem reinen Blau und dem reinen Roth gleich stark entgegengesetzt i.-t.
nämlich halb so stark, als die beiden reinen Farben unter einander. Die
Vorstellung eines solchen Violett kann daher zum Beispiele dienen, wenn
es darauf ankommt, den Begriff des Hemmungsgrades unter den Vor-
stellungen deutlich zu machen.
Wenn nun die Vorstellungen sich nicht vernichten , und doch ent-
l engesetzt sind, so werden sie wohl, — möchte Jemand meinen, — ein
drittes Mittleres hervorbringen; so wie zwei Kräfte, deren Richtungen
V. Ueber d. Möglickkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, ny
einen Winkel bilden, den Körper, auf den sie wirken, nach der Diagonale
treiben. Aber dieses ist eben so falsch wie das Vorige. Die Erfahrung
lehrt aufs bestimmteste, dafs die beiden Vorstellungen des Rothen und
des Blauen sich in unserm Geiste keineswegs dergestalt mischen, wie die
Pigmente im Farbentopfe. Die beiden Vorstellungen gehen nicht zu-
sammen in eine Vorstellung des Violetten, sondern sie bleiben völlig rein
und gesondert.
Man sieht demnach, dafs hier alle Analogien mit dem, was [165] von
räumlich entgegengesetzten Kräften bekannt ist, irre führen würden , und
dafs man sich solcher Analogien gänzlich zu enthalten habe.
Böte nun die Erfahrung unmittelbar den Grundbegriff von dem Ge-
setze de?- Kraft, womit Vorstellungen einander entgegenwirken, dar: so
wäre ohne Zweifel schon seit Jahrhunderten die mathematische Psychologie
eine bekannte Wissenschaft; und man würde sie viel früher gefunden
haben , als die physische Astronomie ; denn für diese ist das Gesetz
der Gravitation auch nicht unmittelbar gegeben; es hat müssen errathen
werden, und dies ist spät genug geschehen.
Mittelbar ist indessen die Erfahrung auch für die Psychologie das
Erkenntnifsprincip ; aber das Medium der Ableitung ist hier die Meta-
physik, welche, vom Begriff des Ich, als dem durchs Bewufstsein unmittel-
bar Gegebenen, ausgehend, die Bedingungen erforscht, unter denen allein
ein vorstellendes Wesen zur Vorstellung Ich gelangen könne. Da findet
sich denn, dafs die ursprünglichen Vorstellungen entgegengesetzt sein
müssen, ohne sich zu vernichten, und ohne in ein Mittleres zusammen
zu laufen, wie die Erfahrung es bestätigt. Aber es findet sich nun auch
der bestimmte Begriff, den man der weiteren Untersuchung zum Grunde
legen mufs, nämlich dieser : die unter zwei Vorstellungen entstehende , für
beide ganz zufällige, Hemmung ist eine ge?neinsame Last für beide, die nicht
gröfser , aber wohl kleiner sein kann, als die schwächste von beiden Vor-
stellungen ; diese Last vertheilt sich tinter beide nach dem umgekehrten Ver-
hältnisse ihrer Stärke.
Das ist der Begriff, welchen die Metaphysik an die Mathematik ab-
liefert, und welchen die letztere so nehmen mufs, wie er gegeben wird.
Zum Behuf der Rechnung besitzt der Begriff eine vollkommen zulängliche
Bestimmtheit. Will aber der Mathematiker nicht daran glauben, dafs die
Metaphysik ihm einen wahren Begriff, angemessen der Natur des mensch-
lichen Geistes, darbiete : so steht ihm nun noch frei, den Begriff als eine
Hypothese zu betrachten, ihn als solche der Rechnung zum Grunde zu
legen; alsdann aber so weit im Calcul fortzuschreiten, bis er auf solche
Puncte trifft, wo sich die Erfahrung bestimmt genug vergleichen läfst, um
über die Wahrheit oder Falschheit des Princips zu entscheiden.
Man begreift leicht, dafs selbst ein verfehlter Versuch nicht [166]
ein vergeblicher sein würde. Denn sobald die Erfahrung erst anfängt
eine Theorie zu widerlegen , so beginnt sie auch hiermit schon , einen
Wink zu geben, wie man eine bessere Theorie an die Stelle setzen soll.
Der Fehler wird irgend eine Gröfse haben; aus mehrern solchen Fehlem
werden Verbesserungen entstehen; und wo es darauf ankommt, aus Fehlern
die Wahrheit zu finden, da sind die Mathematiker in ihrem Elemente.
1 18 V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
Solcher Puncte, wo die Erfahrung im allgemeinen, ohne scharfe Be-
stimmung der Quantitäten, mit der Rechnung zusammentrifft, lassen sich
manche, und darunter sehr auffallende und bedeutende nachweisen, aber
keine Untersuchung, wenigstens von den leichteren, scheint mir geschickter
zu dem Zwecke, die Theorie an der Erfahrung zu prüfen, als die über
die consonirenden und dissonirenden Intervalle und Accorde in der Musik,
Denn hier giebt es bekannte und längst bestimmte Zahlen Verhältnisse;
und dieser Gegenstand ist daher für die Psychologie eben so wichtig, als
die Lehre vom Pendel, nach Theorie und Erfahrung, zur Bestimmung der
Fallhöhe. Daher habe ich vor vielen Jahren schon die psychologischen
Gründe der Musik untersucht und bekannt gemacht, aber, wie es scheint,
ohne Leser zu finden, die eine solche Untersuchung zu schätzen wufsten.
Zu bemerken ist übrigens hier, dafs die Erfahrung doch ziemlich weite
Grenzen, nach mathematischer Schätzung, offen läfst, innerhalb deren das,
was man die Beobachtungsfehler nennen kann, liegen bleibt; und thöricht
genug ist die Meinung, als ob die Musik auf dem Unterschiede ratio-
neller und irrationeller Tonverhältnisse beruhete. Kein menschliches Ohr
vermag diesen Unterschied so genau zu fassen, dafs man darauf bauen
könnte; im Gegentheil, selbst wenn die falschen Töne schon anfangen,
das Ohr zu beleidigen, bleibt die Musik dennoch verständlich; und das ist
ein Glück; denn vollkommen reine Musik hören wir niemals; und an
wahrhaft rationelle Verhältnisse ist in der Wirklichkeit nicht zu denken.
(10) S. 102. „Von der merkwürdigsten ThatsacJie, dafs niemals alle
Vorstellungen zugleich latent werden, sondern stets irgend etwas, nie ganz
Einfaches, vielmehr einigermafsen Zusammengesetztes, vorgestellt wird."
Diese Stelle kann ohne Rechnung nicht erläutert werden, so wenig
wie das darauf Folgende; aber sie veranlafst mich, einige [167] Resultate
von Rechnungen herzusetzen. Geübten Mathematikern mag es vielleicht
einige Unterhaltung gewähren, sich zu den Zahlen die Formel selbst zu
suchen, die sie theils aus dem eben zuvor angegebenen Gesetze, von der
Hemmung als einer gemeinsamen Last für die wider einander strebenden
Vorstellungen, leicht finden, theils durch Induction aus den gleich folgenden
Zahlen eben so leicht errathen können. Minder geübten Rechnern wird
hier freilich keine Unterhaltung, aber eine desto nützlichere Gelegenheit,
ihr Nachdenken anzustrengen, dargeboten werden; — doch kaum darf
ich bei einer so leichten Sache von Anstrengung reden. Nur darauf
kommt es an, dafs man eine kleine Ueberwindung nicht scheue, um seine
Aufmerksamkeit auf die Gröfsenverhältnisse zu richten, die unter Vor-
stellungen stattfinden können.
Die allerleichteste und einfachste Voraussetzung, welche man machen
kann, ist diese: zwei vollkommen entgegengesetzte Vorstellungen, auf die
keine andere Kraft wirkt als eben nur ihr Gegensatz, seien gleich stark.
Die Folge wird sein, dafs eine jede zur Hälfte gehemmt, also verdunkelt
wird; und dafs von beiden die Hälfte im Bewufstsein gegenwärtig bleibt.
Gesetzt aber, die eine sei doppelt so stark wie die andre: so wird
von der stärkeren fünfmal so viel als von der schwächeren, im Bewufst-
sein als ein wirkliches Vorstellen übrig bleiben, nachdem die Hemmung
geschehen ist. — Man konnte wohl schon ohne Rechnung vermuthen, die
V. Ueberd. Möglichkeit u. Nothwendigkeii, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, i ig
schwächere würde von der Hemmung am meisten zu leiden haben; aber
dafs der Unterschied so grofs ausfalle, wird man Mühe haben zu glauben.
Allein man vergleiche diesen Fall mit dem vorigen. Da ist denn zuerst
zu bemerken, dafs die gemeinsame Last, oder die Hemmungssumme, welche
aus dem Gegensatze der Voi Stellungen entsteht, und welche unter ihnen
mufs vertheilt werden, hier nickt im mindesten größer ist als zuvor. Denn
es ist zwar eine der Vorstellungen jetzt doppelt so stark, als sie vorhin
war; aber eine Vorstellung a//ei'n macht keinen Gegensatz; hätte die
Hemmung sich auch verdoppeln sollen, so hätte die andre Vorstellung
ebenfalls und um eben so viel stärker werden müssen; dies ist nicht ge-
schehn ; also bleibt die Hemmungssumme wie vorhin. Ganz anders steht
es um das Verhältnifs, in welchem diese gemeinsame Last vertheilt werden
mufs unter beide Vorstellungen, die daran zu tragen haben. Die schwä-
[i68]chere mufs sich doppelt so viel gefallen lassen als die stärkere; wir
wollen demnach die gemeinsame Last in drei gleiche Theile theilen; zwei
davon wollen wir derjenigen Vorstellung auflegen, welche nur einfache
Stärke hat; einen Theil aber soll die doppelt so starke Vorstellung über-
nehmen. Nun müssen wir uns erinnern, dafs der Ausdruck: eine Last
tragen, hier blofs bildlich ist. Eine Vorstellung trägt eine Last, — das
heifst soviel, als: ihr Vorgestelltes, oder das durch sie uns vorschwebende
Bild, wird verdunkelt ; es entsteht ein Verlust, — nicht an der Thätigkeit
des Vorstellens, sondern am Erfolge, am Vorgestelltwerden. Also: das Vor-
stellen verwandelt sich zum Theil in eine vergebliche Anstrengung, vorzu-
stellen. Jedoch bleibt einiger Erfolg dieser Anstrengung; sonst würde unter
den beiden Vorstellungen wenigstens eine, ganz verdunkelt werden, da sie
beide, der Voraussetzung nach, ganz entgegengesetzt sein sollen. Demnach:
um unsre Rechnung zu vollenden, müssen wir das, was wir vorhin eine
Last nannten, die wir einer Vorstellung auflegen wollten, jetzo als einen
Verlust des wirkliehen Vorstellens von ihr abzielm; alsdann ist das Abee-
zogene anzusehn als eine völlig vergebliche Anstrengung, und der Rest
als ein völlig ungehemmtes, völlig wirkliches Vorstellen; obgleich eigentlich
die ganze Vorstellung nicht in zwei Theile, die man einen vom andern
abschneiden könnte, zerfällt, sondern nur der Grad des wirklichen Vor-
stellens vermindert, und die ganze Vorstellung in einen Zustand der An-
strengung oder des Strebens versetzt wird. Wenn wir jetzo die beiden
Vorstellungen in Hinsicht ihrer Stärke, ausdrücken durch die Zahlen Eins
und Zwei; wenn wir uns überdies erinnern, dafs die Hemmungssumme so
grofs ist wie die schwächste der beiden Vorstellungen (da ja der Ueber-
schufs der stärkeren über die schwächere, wie vorhin gezeigt, die gemein-
same Last oder die Hemmung nicht vermehrt) : so haben wir Zweidrittel
abzuziehen von Eins, und ein Drittheil von Zwei. Der Rest vom ersten
Abzüge ist nur ein einziges Drittheil, — so viel beträgt das wirkliche
Vorstellen, was nach der Verdunkelung von der schwächeren Vorstellung
noch übrig ist; aber der Rest vom zweiten Abzüge ist 2 — , oder Fünf-
drittel; also verhält sich dieser Rest zu jenem wie Fünf zu Eins.
Hätten wir Anfangs die stärkere Vorstellung = 10, die schwächere
— 1 gesetzt: so wäre die Hemmungssumme auch jetzt [i<>o] noch, wie
1 20 V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
vorhin, = i ; diese zerfiele nun in i o -f- i = 1 1 gleiche Theile ; jeder
solche Theil wäre = — ; zehn derselben abgezogen von i läfst i — — =— :
ii ° ° ii ii '
einer der nämlichen Theile hin weggenommen von 10 giebt zum Rest
10 — ^-==^; also sind die Reste jetzt sogar im Verhältnifs wie i zu 109.
Man sieht daraus, wie wichtig für den Erfolg die Unterschiede der ur-
sprünglichen Stärke der Vorstellungen sind.
Jetzt wollen wir einmal die Hemmungssumme vergrüfsem. Die ur-
sprüngliche Stärke der Vorstellungen soll sein Zwei und Drei. Nun ist
die Hemmungssumme = 2; das Hemmungsverhältnifs = — : — = 2 ; 2.
Die Hemmungsumme zerfällt in 2 + 3 = 5 gleiche Theile; jeder dieser
Theile ist =— : die stärkere Vorstellung verliert zwei solche Theile; die
schwächere deren drei. Es findet sich * — = — , und 2 — — = — •
° 5 5 ' 5 5'
also das Verhältnifs der Reste ist 11:4.
Noch ein paar Beispiele zur Uebung im Rechnen! Die Vorstellungen
seien 3 und 5; die Hemmungssumme = 3, das Hemmungsverhältnifs
y:y=5:3> aber 5 + 3 = 8, also 8 : 5 = 3 : -g5 , und 8 : 3 = 3 : -|- ;
*s 0 ..„,1 . 9 31
o — -g- — x und 0 — -g- — x-
Es seien die Vorstellungen 4 und 5; die Rechnung steht kurz so:
9'Ui 4l?f s-f=f.
Wer nun alle diese Beispiele, die man leicht nach Belieben vermehren
kann, in Gedanken zusammenfafst und überlegt: der wird sogleich finden,
dafs ungeachtet des grofsen Vortheils, welchen die ursprünglich stärkere
Vorstellung behauptet, doch auch die schwächste von der stärksten niemals
wird ganz und völlig unterdrückt werden können; denn die Hemmungs-
summe mufs sich immer vertheilen; und da sie niemals gröfser sein kann
als die schwächere Vorstellung, so bleibt von dieser letztem allemal so
viel übrig, als wieviel von der stärkeren gehemmt wird.
Dieses wichtige Resultat aber darf man nicht zu weit ausdehnen;
denn es gilt nur von zweien Vorstellungen. Sobald drei oder mehrere
Vorstellungen zusammentreffen, ergiebt sich, dafs die dritte und die fol-
genden sehr leicht ganz unterdrückt werden. Jedoch wir wollen auch hier
vom Leichtesten anfangen.
Drei gleich starke Vorstellungen, jede = 1, seien vollkom[i 7o]men
entgegengesetzt, und in voller Wirksamkeit wider einander ohne Einflufs
einer fremden Kraft. Die beiden letztem Bedingungen sind die nämlichen
wie oben; allein ich wiederhole sie absichtlich, theils damit man sie sich
einpräge, theils damit man auch die Möglichkeit andrer Fälle (die eine
andre Rechnung erfordern) nicht ganz aus den Augen verliere. Es ist
nun klar, dais in diesem Falle nur eine der drei Vorstellungen könnte un-
gehemmt bleiben, wenn die andern beiden ganz gehemmt würden. Denn
nach der Voraussetzung sind alle drei einander vollkommen zuwider; das
heifst, die erste der zweiten, die zweite der dritten, und die dritte der
ersten; jede mufs demnach weichen vor den beiden übrigen. Man nehme
V. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 121
zwei heraus, welche man will; die Hemmungssumme unter ihnen ist nach
dem Vorigen = 1 ; das Uebrigbleibende demnach ebenfalls = 1 ; kömmt
hinzu die dritte Vorstellung, so bildet sich eine neue Hemmungssumme,
wiederum = 1; also ist die ganze Hemmungssumme = 2. Diese zerfällt
in drei gleiche Theile für die drei gleich starken Vorstellungen, folglich
verliert jede — und behält jede — .
Nun wollen wir die Voraussetzung abändern, Die Stärke der drei
Vorstellungen werden angezeigt durch die Zahlen 1, 2, 3. Für die beiden
schwächern wäre die Hemmungssumme, wie oben gezeigt, = 1, und das
Uebrigbleibende = 2 ; kommt dazu die stärkste = 3 , so ist die neue
Hemmungssumme = 2 , wie ebenfalls schon nachgewiesen wurde ; also
beides addirt giebt die ganze Hemmungssumme = 1 -J- 2 = 3. Die
Hemmungsverhältnisse sind die umgekehrten Zahlen selbst; also 1,
--, — ; oder schicklicher ausgedrückt: 6, 3, 2. Man wird demnach die
Hemmungssumme in 11 gleiche Theile zerlegen , damit hievon 6 der
schwächsten, 3 der mittlem, und 2 der stärksten Vorstellung als Verlust
angerechnet werden. Die Hemmungssumme war =3, davon könnten wir
nun zwar leicht — nehmen, welches — — = — Verlust trabe für die Vor-
11 11 11 °
Stellung ^ ; und eben so -^ = — Verlust für die mittlere = 2 ; aber
0 J) 11 11
wenn wir nun auf ähnliche Weise — von ^ oder — Verlust für die
11 ^ 11
schwächste Vorstellung, die nur = 1 ist, berechnen: was soll das bedeuten?
Der Mathematiker wird hier eine Minusgröfse anzutreffen glauben; der-
gleichen kann aber hier gar nicht stattfinden; denn dafs eine Vorstellung
negativ werde, hat schlech[i7i]terdings keinen Sinn. Vielmehr entdeckt
es sich, dafs wir eine unpassende Rechnung geführt haben, weil wir nicht
zuvor die Bedingung berechnet hatten, unter welcher auf die zuvor be-
schriebene Weise drei Vorstellungen in Wirkung und Gegenwirkung treten
können.
Dieser Gegenstand ist nun schon ein klein wenig schwerer, wie das
Vorhergehende; und er läfst sich nicht füglich so ganz im Tone des Unter-
richts für Anfänger vortragen. Doch will ich einen Versuch nicht scheuen.
Man hat aus der vorigen Rechnung so viel gesehen, dafs, wenn
2 Vorstellungen = 2 und 3 vorhanden sind, alsdann eine dritte Vor-
stellung merklich gröfser sein mufs als 1, wenn von ihr auch nur das
Mindeste neben jenen übrig bleiben soll. Es wird nun irgend eine Gröfse
geben, welche diese dritte, um der eben ausgesprochenen Forderung zu
genügen, zum wenigsten besitzen mufs. Oder bestimmter und wissen-
schaftlich gesprochen: es mufs eine Grenze geben, die den Unterschied
festsetzt zwischen solchen Vorstellungen, welche hinzukommend zu jenen
beiden stärkern, von ihnen ganz, oder nicht ganz, verdunkelt werden.
Diese Grenze nenne ich die Schwelle des Beivufstseins. Sie zu bestimmen,
erfordert nichts als eine höchst leichte algebraische Rechnung; wer Algebra
versteht, wird sie ohne die geringste Mühe selbst finden, und daraus
schliefsen, dafs z. B. für zwei Vorstellungen, beide = 1, die gesuchte
Grenze *ei = *— = 0,707 . . ., allein hierum bekümmere ich mich für
122 V. Ueber d. Möglichkeit u. XoÜnvendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.
jetzt nicht; vielmehr will ich blofs die Frage beantworten, was für eine
Rechnung nun an die Stelle jener treten solle, die wir eben vergeblich
geführt haben?
Da die Vorstellung = i nicht bestehen konnte neben den beiden
andern = 2, und = 3 : so wird sie ohne allen Zweifel ganz unterdrückt;
aber mehr Leides kann ihr nicht geschehn. Sie ist nun in eine ganz
vergebliche Anstrengung zum Vorstellen verwandelt worden; sie richtet
nichts mehr aus; kann aber auch von der Hemmungssumme nicht das
Geringste mehr zu tragen übernehmen, sie trägt davon nur gerade so viel,
als wieviel ihre eigne Gröfse ausmacht', oder mit andern Worten: wieviel
sie selbst zur Henunungssumme beigetragen hatte, soviel nimmt sie jetzt, da
sie verschzvindet, mit sich hinweg. Wo bleibt denn das Uebrige der
Hemmungssumme? Dieses müssen die beiden stärkeren Vorstellungen
unter sich vertheilen. Aber [172] das hätten sie auch gethan, wenn
die schwächste gleich Anfangs gar nicht zugegen gewesen wäre; sie
hätten alsdann gerade eben so viel, nämlich ihre Hemmungssumme
unter sich, zu vertheilen gehabt, wie jetzt, nachdem die dritte Vorstellung
der Hemmungssumme zwar einen Zusatz gegeben, aber das diesem Zu-
sätze gleiche Quantum auch wieder mit sich genommen hat. Also müfste
man die dritte gar nicht mit in die Rechnung einführen, sondern sie völlig
ignoriren; und das richtige Resultat ist schon dort gefunden, wo wir den
Verlust für die Vorstellungen = 2 und = 3 bestimmten, in der Voraus-
setzung, dafs nur diese beiden allein vorhanden seien.
Jetzt brauche ich kaum noch zu sagen, dafs latente Vorstellungen die-
jenigen sind, welche unter die Schwelle des Bewufstseins fallen; so wie
hier die Vorstellmag = 1 neben den beiden = 2 und = 3. Allein man
mufs nicht unbeachtet lassen, dafs hier blofs von dem Zustande des Gleich-
gewichts, also von der Statik des Geistes die Rede war. Die Bewegungs-
gesetze führen auf eine ganz andere Art von Schwellen des Bewufstsein.
Und das hier Vorgetragene ist bei Verminderung des Hemmungsgrades
und bei eintretender Verbindung der Vorstellungen , den mannigfaltigsten
Abänderungen unterworfen. Aber man mufs, wie schon oben gesagt, beim
Anfange a?ifangen, und darum allein war es hier zu thun.
VI.
REDE,
GEHALTEN am GEBURTSTAGE Kant'S,
ZU KOENIGSBERG.
22. April 1823.
[Text nach HR, S. 322—324.]
Citirte Ausgaben.
A.P.M. = Altpreufsische Monatsschrift, herausgegeben von R. Reicke und Wichert.
1865, S. 245.
Rede an Kant's Geburtstag, von Herbart gehalten in
der Kant-Gesellschaft zu Königsberg den 22. April 1823.
[322] Höchst geehrte Herren!
Dem grofsen Archimedes, dessen Namen leben wird, so lange die
Mathematik lebt, war ein Grabmal errichtet worden; aber die Syracusaner
hatten das Grabmal vergessen; sie leugneten das Dasein desselben, als
Cicero, der einige Verse der Inschrift auswendig wufste, sich darnach
erkundigte. Er selbst mufste es aufsuchen, erkannte es an der Kugel und
dem Cylinder, die man zum Andenken an eine schöne Erfindung des
Archimedes oben darauf abgebildet hatte; rief nun einen Haufen von
Arbeitern herbei, die den Platz vom dichten Gesträuch reinigen mufsten,
damit man hinzutreten könne; und so kam die Inschrift zum Vorschein,
deren Zeilen beinahe [323] schon zur Hälfte verwittert waren. So schlecht
erhält sich das Andenken an grofse Männer, wenn es nicht sorgsam be-
wahrt wird! So wenig leisten todte Monumente, wenn keine lebendige
Rede den eingehauenen Buchstaben zu Hülfe kommt! So zerstörend
wirkt der Wechsel der Zeiten, der Sorgen, der Meinungen, der Herren
und Diener und alles des künftig blendenden Glanzes, der die Augen der
Menge bald hierhin, bald dorthin zieht. Selbst die Sprache unterwirft
sich dem Wechsel; und der Schriftsteller, den heute Jeder versteht, bedarf
vielleicht schon nach hundert Jahren eines Commentars.
Der ehrenwerthe Kreis, in dessen Mitte ich rede, bewahrt das An-
denken Kant's. Zwar nicht er allein; denn für jetzt noch werden Kant's
eigene Werke gelesen; sie bilden fortwährend die Grundlage unserer
heutigen philosophischen Literatur. Aber welches Zeitalter kannte so
reifsende Wechsel wie das unsrige? Wie weit hin schon entschwanden jene
Tage, in denen Kant lehrte! Damals, welche Empfänglichkeit für Specu-
lation, heute, welche Sättigung, welcher Ueberdrufs! Damals, welches
Aufstreben zum Lichte; heute, wie viel Angst, es möge zu hell werden!
Damals, welches Wohlgefühl frischer Kräfte, die nur beschäftigt sein wollten;
heute, wie viel Noth, Verlegenheit, Erschöpfung; welche Schwärmerei und
Deutelei; welche Verbrechen aus politischem und religiösem Fanatismus!
Es leidet keinen Zweifel, heute würde Kant weit mehr Mühe haben, mit
seiner Lehre durchzudringen, als damals; und ein Zeitalter, das wenig auf-
gelegt ist, gewisse Wahrheiten zu empfangen, wird es um Vieles fähiger
sein, sie fest zu halten? Düstere Wolken verhüllen die Zukunft; ernster
wird die Bestimmung der schönen Stiftung, die uns heute vereinigt; ernster
I2Ö VI. Rede, gehalten am Geburtstage Kant's zu Königsberg. 22. April 1823.
schon durch den Gedanken an die Möglichkeit, dafs irgend einmal ein
Bedürfnifs entstehen könnte, von hieraus auf einen grofsen Kreis zu
wirken und das Andenken Kant's friedlich und lebendig zu erhalten.
Nicht von einzelnen Lehrsätzen ist die Rede, wenn man die Ehre
Kant's feiert. Was unter dem Namen des Kantischen Systems pflegt
gelehrt und gelernt zu werden, das ist einer verschiedenartigen Beurtheilung
unterworfen und es fällt selbst in den Wechsel der Zeit; vorzüglich aber
mufs man bedenken, dafs Kant's Hauptschriften mehr die Form und den
Zweck einer Propädeutik, als eines Systems haben, und wer [324] die
höchst dürftige vorkantische Philosophie kennt, der verlangt gewifs nicht,
dafs die Zeit der Aussaat auf einem beinahe wüstliegenden Brachfelde
zugleich auch die Zeit der Ernte hätte sein sollen.
Aber an Kant's Namen haftet die Ehrfurcht für einen Inbegriff
persönlicher Eigenschaften, die man äufserst selten in einem und dem-
selben literarischen Charakter vereinigt findet. Bei diesem Tiefsinn so
viel Gelehrsamkeit, bei dieser äufsersten Zartheit des moralischen Gefühls
so viel klarer gesunder Verstand; bei dieser Fähigkeit, das Gröfste und
Fernste zu umfassen, so viel Ruhe des Geistes, ja so viel Pünktlichkeit
im Einzelnen, so viel Enthaltsamkeit, so viel kritische Selbstbeherrschung. —
Das ist's, was man um so mehr bewundert, je mehr man die Einseitigkeit
Anderer, die Vereinzelung jener Eigenschaften und die Uebertreibungen,
die Verirrungen kennen lernt, welche so leicht entstehen, wo das Gleich-
gewicht mangelt, in welchem Kant's Geist sich schwebend zu erhalten
vermochte.
Unser Zeitalter ist vielfältig aus dem Gleichgewicht gekommen und
während es durchgehends den Grund seiner Uebel zum grofsen Theile in
der Schwankung der Meinungen sucht, bemerkt man dennoch wenig
Interesse an den tiefern Forschungen, wodurch eigentlich allein die
Meinungen auf bestimmte Principien können zurückgeführt und darnach
geregelt und festgestellt werden.
Möchte Kant verjüngt zu uns wiederkehren! Möchte er die Denk-
kraft neu aufregen! Möchte er Maafs und Ziel setzen den Befürchtungen
und Hoffnungen, den Dogmen und dem gelehrten Eifer, dem Deuten und
Behaupten, wie dem Zweifeln und Streiten! — Vergebliche Sehnsucht!
Kant wohnt in hohem Regionen. Aber möge sein Geist fortwirken;
möge die Erinnerung an ihn wach bleiben; möge das Studium zu ihm
wiederkehren; möge die Dankbarkeit diesen Verein erhalten, welchen die
Freundschaft für ihn stiftete! Möge seine Vaterstadt sich stets, wie jetzt,
durch ihn geehrt fühlen, wie sie selbst ihn zu ehren gewohnt ist!
VII.
UEBER DIE
VERSCHIEDENEN HAUPTANSICHTEN
DER
NATURPHILOSOPHIE.
Vorgelesen in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg am 24. April
1823.
[Text nach dem Msc. 2056 der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Citirte Ausgaben.
S\Y = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. I), herausgegeben von G. Har-
tenstein.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II), herausgegeben von G. Har-
tenstein.
I
Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Natur-
philosophie.
Vorgelesen in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, am 24. April 1823.
Höchstgeehrte Herren!
Ein Jahr ungefähr ist verflossen, seitdem ich die Ehre hatte, diesem
gelehrten Kreise Rechenschaft von den Gründen abzulegen, weshalb ich
einen Theil der Psychologie mathematisch zu behandeln für nöthig erachte.1
Damals gedachte ich die nächste Aufforderung, hier einen Vortrag zu
halten, zu einer Fortsetzung jener Betrachtungen zu benutzen; wenn aber
dieses für heute noch unterbleibt, so bitte ich Sie wenigstens nicht zu
glauben, [2] ich sey mir ungetreu geworden. Im Schoofse des philosophischen
Denkens erzeugt sich gleiches Interesse für das Körperliche wie für das
Geistige; jenes aber stellt sich uns jetzt besonders, in den Entdeckungen
der Physiker, so oft von neuen Seiten dar, dafs man wenig Reizbarkeit
besitzen müfste, um nicht davon angezogen zu werden. Kurz, ich war
in den letzten Wochen mit Experimenten beschäfftigt ; diese riefen mir
meine frühern naturphilosophischen Untersuchungen ins Gedächtmfs; jetzt
bitte ich um Erlaubnifs, von dem reden zu dürfen, was mir gerade am
lebendigsten vorschwebt; so jedoch, dafs ich am Ende einige Blicke auf
das psychologische Feld zurückwerfen werde.
Lassen Sie mich jene bekannten Verse Schiller's voranstellen:
Welche wohl bleibt von allen den Philosophieen ? ich weifs nicht;
Aber die Philosophie hoff' ich, soll immer bestehn.
Schiller sah in der Philosophie ein Streben, welches stets achtungs-
werth bleibe, auch wenn seine Producte mifsrathen. Diese Gesinnung,
glaube ich, müssen wir uns vorzüglich [3] dann vergegenwärtigen, wann von
Naturphilosophie die Rede ist. Die Natur spricht zu uns in Räthseln;
ziemt es etwa dem Menschen nicht, darauf zu hören? Wer Ohren hat
zu hören, der hört; und wer irgend ein Mittel weifs, um die Untersuchung
anzugreifen, der untersucht; wenn er nicht entweder zu träge, oder sonst
schon zu sehr beschäfftigt ist. In dem letzten Falle befinden sich, wie
mich dünkt, alle diejenigen, die uns rathen, uns lieber mit Beobachtungen
1 Vergl. die vorhergehende Abhandlung: „Ueber die Möglichkeit und Notwendig-
keit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden."
Herbart's Werke V. *
I-JO VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.
und Rechnungen zu begnügen, welche dazu hinreichen können, um die
Gesetze und die regelmäfsige Wiederkehr der Erscheinungen ans Licht zu
bringen. Diese Männer wissen ohne Zweifel, dafs das Gesetz noch nicht
der Grund der Erscheinung ist; sie wissen, dafs die Frage nach den
Quellen des Nils nicht schweigt, wenn man auch im Delta noch so
genau das Steigen und Fallen des Stroms beobachtet hat. Gleichwohl
finden sie sich durch den Gewinn der empirischen und mathematischen
Naturforschung so reichlich belohnt, [4] dafs sie demselben gern ihre
ganze Mufse schenken, gern dahin ihre ganze Kraft und Uebung
richten. Darüber wird die tiefere Forschung erst versäumt, dann
für unnütz erklärt, endlich ganz verworfen unter dem Vorwande, sie sey
schon so Vielen mifslungen, und könne eben deshalb Niemandem ge-
lingen. Ein offenbar übereilter Schlufs; wozu man weniger geneigt seyn
würde, wenn man wüfste, welche Ursachen, welche mangelhafte Vor-
bereitungen an dem bisherigen Mislingen Schuld waren. Einseitige
Ansichten, schwärmerische Vorliebe für Hypothesen, fremd-
artige Einmischungen, das sind drey grofse Fehler, die vieles ver-
derben können, die sich aber vermeiden lassen. Hierüber eine kurze
Erläuterung, welche nützlich seyn wird, um uns den Gegenstand unserer
heutigen Betrachtung lebhafter zu vergegenwärtigen.
Was zuvörderst die einseitigen Ansichten betrifft, so werden uns deren
sogleich vier einfallen, wenn wir uns an den bekannten Unterschied der
mechanischen, chemischen, vitalen, und psychischen Kräfte erinnern. Aus
frühern Zeiten sind Versuche genug bekannt, alle Natur, selbst die
geistige, aus Materie und Bewegung zu erklären, die Materie aber
aus [5] Atomen von absoluter Härte und Undurchdringlichkeit zu con-
struiren. An diese Fabel glaubt jetzt Niemand mehr. Eben so wenig
an einen alles erklärenden Chemismus; aber Vielen behagt das Leben,
und die Einbildung, wenn man nur die Vitalität klein genug nehme, so
könne man auf den untersten Stufen des Lebens selbst die starre Masse,
mit ihren rein statischen und mechanischen Phänomenen antreffen. Diese
Einseitigkeit ist um Nichts besser als die Vorigen; und eben so wenig
besser als die folgende, welche nur psychische Kräfte anerkennen will,
alle äufsere Natur aber als blofse Vorstellung betrachtet; die noch heute
nicht ganz verschwundene Irrlehre des Idealismus. Alle diese Vor-
stellungsarten thun der Natur Gewalt an, und zwar in völlig gleichem
Grade; das wird auch ohne Beweis derjenige empfinden, der sich gewöhnt
hat, mit gleichmäfsiger Aufmerksamkeit die verschiedenen Gebiete der
Natur ins Auge zu fassen.
Als Beyspiel der andern beyden, zuvor genannten, Fehler, drängt sich
nur zu sehr jene Naturphilosophie auf, welche als das Eigenthum einer
heutigen philosophischen Schule allgemein bekannt ist. Sie setzt absolute
Identität, wider die Erfahrung, die uns ein Mannigfaltiges in zufälligen Ver-
bindungen [6] und Trennungen zeigt; wider das Bewufstseyn vernünftiger
Individuen, die sich frey, — das heifst zum Mindesten, Einer unab-
hängig vom Andern fühlen; sie setzt diese absolute Identität ohne Beweis,
demnach als Hypothese; aber mit einer schwärmerischen Zuversicht, für
welche der Name intellektuale Anschauung ist erfunden worden.
Vorgelesen in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, am 24. April 1823. t 7 1
Da sich Anschauungen nicht widerlegen lassen, so kann der Beweis, dafs jene
absolute Identität nicht blofs erfahrungswidrig, sondern auch vernunftwidrig
und völlig ungereimt ist, denen nichts nützen, die einmal in jener Schwä-
merey befangen sind. Für die Naturphilosophie ist es ein Unglück, damit
in Verbindung gerathen zu seyn. Die Folge davon war der dritte FeMer,
nämlich fremdartige Einmischung von theologischen und politischen, ja
selbst von den, unter einander selbst entgegengesetzten spinozistischen
und platonischen Meinungen; daher man jetzt in Einem Zuge von der
Freyheit und dem Magneten, von der Tugend und der Schwere, von dem
Wasser und der Liebe reden hört; ja ich erinnere mich sogar von einem
Laster gelesen zu haben, das dem Nichts entsprechen sollte; welches
Laster ohne allen Zweifel die Deuteley ist.
[7] Mufste die Naturphilosophie in diese Fehler gerathen? Davon ist
sie so weit entfernt, dafs vielmehr nicht einmal deren Möglichkeit sich
aus ihrem Gegenstande oder aus ihren Hülfsmitteln erklären läfst. Ihr
Gegenstand ist die Natur; mit dem ganzen Reichthum von Thatsachen,
welche mit der Vorsicht heutiger Beobachter und Experimentatoren sind
gesammelt worden; aber menschliche Sorgen, Bedürfnisse, Leidenschaften
gehören nicht in diesen Kreis; und können denjenigen, welcher sich hieher
begiebt, am wenigsten erreichen. Ihre Hülfsmittel sind Mathematik und
Metaphysik, von denen die erste1 das Muster der Besonnenheit, die andre
freylich ein oft mislungenes Werk des menschlichen Denkens, doch wenigstens
seit dem sehr nüchternen Aristoteles keine Schwärmerey ist, die mit der
eingebildeten intellectualen Anschauung könnte verwechselt werden. Wenn
nun die Metaphysik eine Probe aushalten soll, bey der ihre möglichen
Irrthümer sich verrathen müssen, so kann dazu nichts besser dienen, als
eine schon vorhandene Verbindung von geläuterten Erfahrungen mit der
Mathematik, wie sie jetzt in den Händen unserer Physiker ist. Gesetzt,
die Metaphysik trage [8] in diesen schon grofsentheils geordneten Gedanken-
kreis falsche Ansichten hinein: so ist die Gefahr' gering und von kurzer
Dauer; sie ist nicht gröfser als die einer unrichtigen mathematischen
Hypothese. Denn die Folgerungen wird das Experiment und die Rech-
nung widerlegen; man wird alsdann den Gründen rückwärts nachgehn, bis
man den Ursprung des Fehlers entdeckt. Das ist das Verfahren wahr-
heitliebender Männer; dies Verfahren ist unter den mathematischen Phy-
sikern längst üblich; und es bleibt nur zu wünschen übrig, dafs man in
dem Kreise dieser höchst achtungswerthen Gelehrten sich nicht mit halber
Wahrheit begnüge, sondern nach der ganzen und vollen Wahrheit
strebe, die man ohne Metaphysik eben so wenig wird erreichen können,
als ohne Mathematik.
Wollen Sie, höchstgeehrte Herrn! mir nun erlauben, dafs ich Ihnen
in wenigen Umrissen das Bild einer künftigen Naturphilosophie, wie ich
es im Geiste zu erblicken glaube, mit Worten darzustellen suche: so ist
es am bequemsten, sogleich vier verschiedene Haupt-Ansichten zu unter-
scheiden, von denen zwey der Form nach verschieden, zwey andere der
Materie nach entgegengesetzt sind. Die [9] Naturphilosophie kann theils in
1 die erstre SW.
9*
\-\2 VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.
synthetischer, theils in analytischer Form ihre Untersuchungen anstellen;
und sie kann theils von der Voraussetzung einer universalen Einheit, theils
eines ursprünglich Mannigfaltigen Gebrauch machen. Hier leuchtet sogleich
ein, dafs die beyden letzten, der Materie nach verschiedenen Ansichten,
sich unter einander aufheben; man kann sie daher nur als Versuche neben
einander stellen, von denen einer sich im Verfolg der Untersuchung als
unhaltbar zeigen mufs, dennoch aber zum Ganzen wesentlich mit gehören
wird, wofern man nicht schon a priori seine Unzulässigkeit deutlich genug
möchte erkannt haben.- Anders verhält es sich mit jenen, der Form nach
verschiedenen Ansichten; diese bestehn neben einander, und sie unter-
stützen sich gegenseitig, wie ich nun sogleich entwickeln werde.
Wenn sich in den Naturerscheinungen das, ihnen zum Grunde liegende
Reale unmittelbar finden liefse; wenn es darin blofs verhüllt, und nicht
verlarvt wäre: so [10] würde man, wie bey der Blumenknospe, in welcher
schon die Samenkapsel versteckt liegt, eine Hülle nach der andern vor-
sichtig hinwegnehmen, und das allmählig entkleidete Reale würde endlich
nackt vor unsern Augen dastehn. Die Naturphilosophie wäre alsdann
ganz analytisch; sie hätte keinen synthetischen Theil; am wenigsten brauchte
ein solcher dem analytischen voranzutreten. Könnte es so seyn, so wäre es
gewifs schon längst so; denn der Geist des analytischen Verfahrens ist
bey unsern Naturforschern im hohen Grade ausgebildet. Dafs es nicht
so seyn kann, hat psychologische Gründe, die mit dem Ursprünge und
dem Bildungsgange der menschlichen Erkenntnifs innig zusammenhängen.
Das Reale ist schlechterdings nirgends, in keinem Puncte, unmittelbarer
Gegenstand der Erkenntnifs; es mufs, ungeachtet alles dessen, was einige
Schulen in ihrer Rathlosigkeit, von unmittelbarer Offenbarung oder An-
schauung gefabelt haben, — lediglich durch Schlüsse in so weit gefunden
und bestimmt werden, als es sich überhaupt finden und bestimmen läfst. [i i]
Diese nämlichen Schlüsse müssen nun in ihrem Fortgange dahin gelangen,
die Möglichkeit der Materie, nicht als eines wirklichen Dinges, sondern
als Erscheinung, darzuthun; und zugleich die mannigfaltigen Grundbe-
stimmungen, sowohl der Materie im Allgemeinen, als ihrer Hauptarten,
zu entwickeln. Nur unter der Voraussetzung, dafs dies gelungen, wenig-
stens nicht ganz und nicht in den Grundzügen verfehlt sey, lohnt es sich
überhaupt, von Naturphilosophie zu reden. Gesetzt, auf dem ganzen
Wege der Speculation bis hieher, sey gar kein Fehler gemacht worden,
auch besitze die Untersuchung in jedem Puncte die gebührende wissen-
schaftliche Bestimmtheit: so können nun, da in der Construction der
Materie gewifs Gröfsen-Begriffe vorkommen müssen, sogleich mathematische
Untersuchungen an die metaphysischen geknüpft werden; und es läfst
sich denken, dafs auf solche Weise eine mögliche Natur a priori erkannt
werde, von der unsre wirkliche irdische Erscheinungswelt ein kleiner Theil
ist. — Allein, ein so weiter, glücklicher Fortgang ist nicht zu hoffen. Je
weiter der Weg, desto gröfser die [12] Gefahr des Irrthums. Daher mufs man,
sobald es irgend geschehen kann, von der Erfahrung her der Speculation
entgegen kommen. Nicht als ob die Erfahrung unmittelbar bekräftigen
sollte, irgend ein Reales sey wirklich so, wie die Metaphysik sage; —
das kann nicht geschehn, weil in der Erfahrung das Reale nicht gegeben,
Vorgelesen in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, am 24. April 1823. 133
sondern nur angedeutet wird, nämlich als eine nothwendige Ergänzung,
ohne welche die Erfahrung sich nicht würde denken lassen. Aber sobald
die Speculation anfängt anzugeben, wie gewisse Erscheinungen darum,
weil sie aus dem Realen entspringen, beschaffen seyn müssen: also gleich
kann man die Erfahrung fragen, ob diese Erscheinungen in unsrer Sinnen-
welt vorkommen, und zwar genau so, wie man geglaubt hatte es voraus-
zusehn. Findet sich nun Aehnlichkeit der Abweichung: so wird man die
frühere Untersuchung so lange prüfen und berichtigen, bis vollkommene
Congruenz vorhanden ist. Diese Arbeit erfordert nun nicht blofs syn-
thetische, von der Metaphysik ausgehende [13] Speculation, sondern auch
Analysis der Erfahrung. Gesetzt, man habe es darin zur Fertigkeit gebracht :
so wird man, nachdem die allgemeinsten Bestimmungen schon durch
Synthesis bekannt sind, hierauf eine grofse Mannigfaltigkeit von Er-
scheinungen zurückführen können; weit leichter, als wenn man dieselben
alle hätte a priori finden sollen. Dafs hier überall die Mathematik
zwischen Erfahrung und Metaphysik in die Mitte treten müsse, weil sonst
gar keine bestimmte Vergleichung beyder möglich seyn würde, bedarf
für den Kundigen kaum der Erinnerung.
Das Bisherige würde das Verhältnifs zwischen Synthesis und Analysis
in der Naturphilosophie zureichend angeben, wenn man annehmen dürfte,
beyde würden von einer einzigen Person vollzogen. Allein der geübte
Metaphysiker und der geübte Experimentator müssen wohl als zwey ver-
schiedene Personen gedacht werden; und überdies der geübte Mathematiker
als ein dritter zwischen beyden. Hier wird nun immer einiges Mistrauen
Platz behalten. Der Experimentator wird die, ihm dargebotene synthetische
Grundlage immer nur als [14] Hypothese betrachten; er wird versuchen wollen,
ob nicht noch ein andrer Schlüssel eben so gut zu den Erscheinungen
passe. Darum mufs neben der wahren Metaphysik noch eine falsche aus-
gebildet, und versuchsweise der Erfahrung angepafst werden; und dieses
führt mich nun auf die beyden, der Materie nach entgegengesetzten,
Hauptansichten der Naturphilosophie.
Diese beyden Ansichten sind beynahe so alt wie die Philosophie
selbst. Wenn ich sie bis auf Platon zurückführe, so leitet dieser sie von
Jonischen und Eleatischen Philosophen ab; ja er will die eine schon beym
Homer finden. Es ist der Mühe werth, uns hier an die bekannte Stelle
im Theätet zu erinnern, wo der Satz des Protagoras angeführt wird:
aller Dinge Maafs sey der Mensch. Oder mit andern Worten: was mir
scheint, ist wahr für mich, was Dir scheint, wahr für Dich. Wie
ist das möglich, und was will Protagoras damit sagen? Der geheime
Sinn des Satzes, bemerkt Platon, sey dieser: Nichts ist an sich irgend
etwas Bestimmtes; aber aus Bewegung, Veränderung, Mischung entsteht
Alles; es giebt kein ruhendes Seyn, sondern nur ein Werden.
Unsre Philosophen sagen mit blofser [15] Veränderung der Worte: mit dem
Seyn gleich ewig, und mit ihm ursprünglich Eins und Dasselbe, ist das
Werden. Dafs jedes individuelle Leben aus dem allgemeinen zu begreifen,
dafs hingegen die Elemente der Natur, wie sie die Chemiker aufstellen,
nur Gedankendinge seyen, dals das Leben des Menschen ein stetes Aufge-
nommen-Werden seines leiblichen Daseyns in seine Beseelung sei ; u. dgl. m.
1^4 VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.
Das sind neue Worte, aber alte Ansichten; es sind diejenigen Meinungen,
gegen welche sich Platon auf alle Weise stemmte; begreiflich mit mehr
Aufwand von Worten, als heutiges Tages nöthig ist, weil die Chemie in
in ihrem gebildeten Zustande sich durch sich selbst dagegen vertheidigt.
Unsre Chemie nämlich führt auf den gerade entgegengesetzten Grund-
gedanken, von Elementen, die ungeachtet alles Wechsels der Zustände,
die sie in zufälligen Mischungen durchlaufen, dennoch innerlich, ihrem
wahren Wesen nach, bleiben was sie ursprünglich sind; aber auch diese
Ansicht, von dem ruhenden Seyn, welches, einzeln genommen, von selbst
keinen Wechsel beginnt, und von dem Gegensatze dieses Seyenden gegen
die Erscheinung, die eben durch [16] ihren Trieb zum Wechsel sich als
blofse Erscheinung, als ein Nichtiges, Unwahres charakterisirt; auch diese
Ansicht ist nicht neu; sie ist die Grund -Voraussetzung der Eleaten und
des Platon, die nur nicht im Stande waren, sie durchzuführen; zum Theil
darum, weil ihnen die heutigen Kenntnisse der Mathematik und Natur-
forschung abgingen. Selbst die Atomenlehre des Leukipp und Demokrit,
gehört dem ursprünglichen Streben nach hieher; so sehr sie auch durch
das Kleben an Raumbestimmungen, durch die Unfähigkeit, sich ein un-
räumliches Seyn zu denken, ist verdorben worden.
Wie wohl ich nun aus metaphysischen Gründen mich für die zweyte,
und gegen die erste Ansicht entscheide: so wünsche ich dennoch der
Naturphilosophie, sie möge fortwährend nach beyden Ansichten zugleich
bearbeitet werden. Denn ich bin überzeugt, dafs die Lehre vom allgemeinen
Naturleben, welches sich in die Gattungen, Arten, und Individuen der
Naturproducte nur verzweige, und im Laufe der Zeit verschiedene Evo-
lutionsstufen durchlaufe, sich ohne jene Fehler durchführen lasse, welche
den heutigen, schwärmerischen, und Alles bunt durch einander mengenden
Darstellungen ankleben.
[17] Das Beste, was diese Ansicht für sich hat, ist keine vor-
geblich intellectuale, sondern die ganz gemeine sinnliche Anschauung;
die Erfahrung selbst, wie derjenige sie erblickt, der sich, ohne kritischen
Geist, ohne tieferes Nachdenken, dem Gesammt-Eindrucke der Erschei-
nungen hingiebt. Dafs man eine Meinung, die ganz offen auf der Ober-
fläche vor Jedermanns Augen daliegt, als ein Werk tiefsinniger Specu-
lation anpreifst, fällt ins Lächerliche. Jedermann sieht das Wachsen der
Pflanzen und Thiere, er sieht die Metamorphosen der Knospen und Keime';
kennt die Nahrungsmittel, und begreift, dafs dieselben in einem continuir-
lichen Uebergange aus einem Zustande in einen andern begriffen seyn
müssen, bis sie sich in die verschiedenen vesten und flüssigen Theile der
organischen Leiber verwandelt haben. Jedermann weifs überdies, dafs die
Arten und Gattungen der Thiere und Pflanzen gewisse Stufenfolgen der
Aehnlichkeit und Verschiedenheit durchlaufen; und es kann Niemandem
unerwartet seyn zu hören, dafs die Naturforscher zwischen den bekannten
Arten und Bildungen noch eine Menge [18] von Mittelgliedern einzuschieben,
neue Vergleichungspuncte aufzustellen, die Reihen des Aehnlichen und
Verschiedenen zu verlängern, endlich die Natur mehr und mehr als ein
Ganzes darzustellen Gelegenheit gefunden haben, welches wie von einem
Triebe beseelt scheint, und in welchem es Mühe kostet, sich irgend ein
Vorgelesen in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, am 24. April 1823. 135
Ruhendes, vom allgemeinen Wandel und Wechsel Ausgenommenes auch
nur zu denken. Weit weniger Anstrengung ist nöthig, Alles in Einem
Strome schwimmend sich vorzustellen, als einzusehen, dafs, und warum
man diesem Strome sich entgegenstemmen müsse. Weit bequemer ist die
Rede vom allgemeinen Leben, als die Forschung nach irgend einem von
den Gründen, warum denn nicht jedes Ding bereit ist, in jedes andre
überzufiiefsen? Warum die Arten und Gattungen der lebenden Wesen
vest stehn? Warum die chemischen Verbindungen nach bestimmten Pro-
portionen geschehen? Warum das Licht nur in geraden Linien gehn will,
alle krummen Wege aber verschmäht ? Warum die Weltkörper den strengen
Regeln der Himmels-Mechanik Folge leisten, von allen andern uns [19] be-
kannten Naturkräften aber nicht die mindeste Notiz zu nehmen scheinen?
Warum im Ganzen genommen das eigentliche Leben, das der Pflanzen
und Thiere, nur einen so äufserst kleinen Theil des ganzen Daseyns der
Natur ausmacht, während so ungeheure Massen von Gestein und Metall
übrig bleiben, welchen Leben einzuhauchen selbst der kühnsten Phantasie
kaum gelingen will? — Mag man indessen versuchen, diese und so viele
ähnliche Schwierigkeiten zu besiegen! Wer es nicht genau nimmt, der
wird gar leicht darüber etwas Scheinbares sagen können.
Weit schwerer ist eine Naturphilosophie nach der entgegengesetzten
Ansicht; und zwar besonders deswegen, weil diese nur im strengen Denken,
(keinesweges aber in dem, an sich nichts entscheidenden, Sinnen- Eindruck
einer Mehrheit unabhängiger Gegenstände,) ihren Grund hat, und deshalb
mit derselben Strenge des Denkens, woraus sie entstand, auch durchgeführt
werden mufs, wenn sie nicht als ungenügend in sich selbst zusammenfallen soll.
Nach dieser Ansicht nun besteht zwar die Materie, einstimmig mit
dem Erfahrungsbegriffe und mit der [20] Chemie, wirklich aus ihren einfachen
Elementen, und ist in dieselben endlich theilbar, — sie ist demnach, als
raum-ausfüllende Masse, kein geometrisches Continuum: aber sie ist auch
nicht, wie die gedankenlose Atomistik meint, eine blofse Anhäufung un-
durchdringlicher Theile, die neben einander lägen ohne einen Grund des
Zusammenhangs und der innem Configuration. Sondern die Materie ist
ganz und gar das Resultat innerer Zustände ihrer Elemente; und die
ganze Naturphilosophie ist Nach Weisung des not h wendigen
Zusammenhangs der innern und äufsern Zustände. Diesen
Begriff auseinanderzusetzen ist schwer, weil weder Physiker noch Philosophen
geübt sind, auf innere Zustände dessen, woraus Materie besteht, ihr Augen-
merk zu richten. Es würde mir wenig helfen, wenn ich hier blofs an
Leibniz erinnern wollte, der die Materie aus Monaden bestehn liefs,
welchen er Vorstellungen, also innere Zustände, beylegte; denn freylich bey
dem Worte Vorstellungen denken wir an Bilder äufserer Gegenstände;
und was diese leisten könnten, um daraus materielle Eigenschaften zu be-
greifen, läfst sich kaum einsehn. [21] Ich will daher lieber an einen Gegen-
stand erinnern, der es dem Physiologen längst nahe gelegt hat, an innere
Zustände zu glauben; ich meine die Reizbarkeit und Wirksamkeit der
Nerven. Hier, hoffe ich, wird man der Hypothesen von einem Nerven-
Fluidum, oder von Nervenschwingungen, oder von den Nerven als galva-
nischen Conductoren, längst müde seyn; man wird einsehn, dafs man jeden
136 VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.
Nerven als eine Kette empfindender T heile betrachten mufs, dafs
also der Nerv in jedem Punkte lebendig ist, und dafs dieses Leben durch-
aus nicht durch blofs materielle Bestimmungen kann beschrieben werden.
Aber nicht blofs den Nerven, sondern auch andern vesten Theilen des
Leibes, und nicht blofs den vesten, sondern auch allen flüssigen Theilen
jedes lebenden Organismus hat man mit vollkommenem Rechte Vitalität
zugeschrieben. Die flüssigen Theile nun haben gar keine bestimmte Con-
struction; sie streben aber beständig nach einer solchen; und
gelangen dazu wirklich, in so fem sie die vesten Theile ernähren. Genau
so strebt auch die unorganische Materie, sich zu krystallisiren; ihr aber
genügt die Krystallform, weil ihre innere Bildung nicht den Grad erreicht
hat, welchem der \_22~] Bau eines organischen Leibes entsprechen würde. End-
lich selbst die nicht sichtbar krystallisirte Materie verräth wenigstens, dafs
ihr die Lage ihrer Theile nicht gleichgültig ist; sie erhält sich gegen wider-
strebende Kräfte in ihrer Dichtigkeit und Cohäsion; es sey denn, dafs sie
einem ihrer Auf lösungsmittel begegne, denn alsdann beginnen neue innere
Zustände, und als Folge derselben neue Constructionen im äufserlichen
Daseyn.
Es wird nun scheinen, als hätte diese meine Darstelluno- viel Aehn-
lichkeit mit jener frühem Ansicht, die vom allgemeinen Leben ausgehend,
dieses nur vermindert, um auf die rohe Materie zu kommen. Aber die
Aehnlichkeit ist nur zufällig; und liegt mehr in den Gegenständen, die
erklärt werden sollen, als in den Principien der Erklärung. Zwar habe
ich hier, um mich in der Kürze einigermafsen verständlich zu machen,
von den höchsten Phänomenen des Lebens angefangen, und bin von da
rückwärts zu den untersten Stufen der Materie herabgestiegen. Aber die
regelmäfsige Untersuchung geht den umgekehrten Weg. Sie setzt nicht
das Leben voraus, um die Materie zu erklären; [23] sondern sie findet zuerst
solche innern Zustände, welchen die blofse, chemische Durchdringung ge-
nügt; und sie erblickt die ganze räumliche Existenz als eine blofse Folge
davon, dafs unter gewissen Umständen es unmöglich wird, jenen innern
Zuständen ganz vollständig zu genügen. Was wir chemische Durch-
dringung nennen, das ist, in seiner höchsten Reinheit gedacht, gar keine
räumliche Existenz; es ist ein reines Causal - Verhältnifs ; und zwar nicht
ein solches nach der Kantischen Ansicht, welches an die Zeit gebunden
wäre, sondern ein völlig unzeitliches und eben so völlig unräumliches.
Aber es giebt Umstände, unter welchen sich dieses reine Causalverhältnifs
nicht völlig ausbilden kann; alsdann nehmen die Elemente, die sich darin
befinden, eine räumliche und zeitliche Form des Daseyns an; so entsteht
Materie, als eine Beschränkung, als ein Mangel dessen, was eigentlich hätte
seyn sollen. Das mag mystisch klingen; es ist aber metaphysisch, das
heifst aus klar gedachten, in der Erfahrung gegebenen [24] Begriffen, mit
logischer Nothwendigkeit geschlossen; und die ganze Schlufskette ist so
weit entfernt von reizenden Bildern oder erhabenen Ideen, dafs man dafür
keine andere Vorliebe fassen kann, als für das erste beste mathematische
Theorem.
Als man nach Kaxt's Anleitung versuchte, sich die Materie aus den
beyden Kräften, der Attraction und Repulsion, zu construiren: -da erhob
Vorgelesen in der Königl Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, am 24. April 1823. 137
sich die Frage: sollen wir denn nur die Materie blofs als Kraft, und gar
nicht als Substanz denken? Oder sollen wir die Substanz, die reale Grund-
lage beybehalten, und dieser hintennach die Kräfte beylegen; gleichsam
wie Prädicate im logischen Urtheil dem Subjecte gegeben werden? Wenn
die Materie, als Substanz, schon da ist, wird sie noch etwas, als Zugabe,
in sich aufnehmen, das nicht unmittelbar in ihrer Substantialität schon
enthalten ist? Und diese Zugabe, wie wäre sie beschaffen? Zwey unter-
einander entgegengesetzte Kräfte, eine anziehende, eine abstofsende! Ist
denn die Materie etwa ein Staat nach Montesquieu's Beschreibung, der
sich durch gleiche, wider einander strebende Kräfte in seiner Verfassung
erhält? Ein solcher Staat würde nicht in Ruhe, sondern im innern Kriege
begriffen seyn; und eine solche Materie [25] würde sich selbst aufheben; daher
wie dort der Staat, so hier die Materie ist misverstanden worden. — Und
dennoch ist es wahr, dafs Attraction und Repulsion das ursprüngliche
Wesen der Materie ausmachen; es ist ebenso wahr, dafs beyden die Sub-
stanz zum Grunde liegt; aber der Fehler lag darin, dafs man weder die
Möglichkeit, diese entgegengesetzten Kräfte zu vereinigen, noch den Zu-
sammenhang derselben mit der Substanz nachzuweisen vermochte. Die
Wahrheit ist, dafs Attraction und Repulsion die nothwendigen äufsern
Folgen der innern Zustände sind, in welche mehrere verschiedene
Substanzen (eine allein reicht nicht hin) sich gegenseitig versetzen.
Daher giebt es nicht in den Substanzen Kräfte, als deren Eigenschaften:
sondern es entstehn aus dem innern, unräumlichen, wahren Causalver-
hältnifs der Substanzen zwei blofs scheinbare Kräfte, die nichts anders
sind als eine doppelte Nothwendigkeit, dafs zu dem inneren Zustande ein
ihm angemessener, äufserer Zustand hinzutrete.
Von dieser doppelten Nothwendigkeit nun sind die [26] chemischen
Kräfte nur die nähern Bestimmungen nach Verschiedenheit der, ins Causal-
Verhältnifs tretenden Substanzen, die mechanischen Kräfte sind davon
entferntere Folgen, die vitalen sind beydes vorhergehende verbunden, aber
auf hohem Stufen der innern, und dämm auch der äufsern Ausbildung;
endlich die psychischen Kräfte enthüllen uns das Innere, welchem das
Aeufsere entspricht; aber freylich erblicken wir dieses Innere in unserm
Selbstbewufstseyn auf einem so hoch gestellten Puncte, dafs wir damit
kaum noch die psychischen Zustände der Thiere, vollends die weit niedrigem
der Monaden, woraus die Körper bestehn, zu vergleichen im Stande sind.
Hier ist nun die Stelle, wo die Psychologie in die Naturphilosophie
eingreift. Ungefähr so, wie uns die Astronomie gewöhnt, ungeheure Räume,
vor denen Anfangs die Phantasie erschrickt, mit Leichtigkeit zu durch-
laufen: so mufs die Psychologie uns üben, die weite Strecke der ver-
schiedenen Ausbildung von Menschen und Menschenracen zu überschauen;
dann von da rückwärts gehend thierische Zustände zu begreifen ; endlich einzu-
sehn, [2 7] dafs trotz der anscheinenden gänzlichen Ungleichartigkeit dennoch
die Linie, auf der wir uns bewegen, zurückläuft zu den innern Zuständen
der Elemente nicht blofs belebter, sondern selbst roher Körper; obgleich
hier von Selbstbewufstseyn , von Vorstellungen, von Erkenntnissen, von
Entschliefsungen, nicht aufs entfernteste die Rede seyn kann. So paradox
nun das hier Gesagte lauten mag, so ist es denn doch schlechterdings
1^8 VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Xaturphilosophie.
unentbehrlich, um die so oft aufgeworfene, so oft flüchtig beantwortete
Frage gehörig zu erörtern: Wie denn Materie und Geist in Verbindung
treten können? Es ist bekannt, dafs man dieser Verbindung durch mehr
als eine Art von prästabilirter Harmonie bald aus dem Wege gegangen,
bald ihr mit mehr als einer idealistischen Lehre in den Weg getreten ist,
um ihr ewiges Stillschweigen aufzuerlegen; aber die Frage schweigt nicht;
und kann von keiner Theorie gehörig behandelt werden, die entweder
Geistiges auf Kosten des Körperlichen, oder Körperliches auf Kosten des
Geistigen begünstigt. Denn die Verbindung steht ganz deutlich als eine
gegenseitige Abhängigkeit vor Augen; zugleich aber ist die Abhängigkeit
nicht so grofs, [28] dafs man sie in völlige Einheit verwandeln dürfte; sondern
die geistigen Functionen wechseln zwischen Regsamkeit und Unthätigkeit,
und die leiblichen Kräfte entwickeln sich und schwinden, ohne dafs irgend
eine veste und deutliche Proportion zwischen jenen und diesen zum Vor-
schein käme. Hat man aber den innem Bildungsgang der Seele psycho-
logisch kennen gelernt: so ist nicht schwer einzusehn, wie einerseits der-
selbe Anfangs mit dem Organismus und dessen Entfaltungen verknüpft
seyn, und doch, einmal in Gang gesetzt, nun andererseits von jenem in
hohem Grade unabhängig fortgehn, und seinen Weg auch noch über die
Grenzen des irdischen Lebens hinaus verfolgen könne. Noch weniger
schwer aber ist alsdann die Verbindung zwischen Leib und Geist zu be-
greifen, denn beyde gehören zusammen wie Aeufseres und Inneres; der
Leib ist ein Aeufseres, das den innern Zuständen aller seiner Elemente
entspricht, welche Elemente sich auf sehr verschiedenen Stufen ihrer
innern Ausbildung befinden; unter diesen Elementen befindet sich Eins,
(oder wenn man will, einige wenige, statt deren aber die Voraussetzung
eines einzigen [29] allemal hinreicht,) welches zu einer ganz vorzüglichen Aus-
bildung emporsteigt; dieses eine nennen wir die Seele; und das ganze
System seiner innern Zustände nennen wir Geist. In dem Geiste ruht
das Selbstbewufstseyn, welches demnach keineswegs in den Elementen der
Materie verstreut liegt; das kann es auch nicht, denn das Ich setzt Ein-
heit, das heifst hier, völlige Durchdringung aller dazu gehörigen Vor-
stellungen, voraus. So ists beym Menschen; hingegen bei den Thieren
verschwindet, je tiefer wir hinabsteigen, desto mehr jener Unterschied in
der Ausbildung der Elemente, welche zusammengenommen äufserlich als
Leib erscheinen; kein Wunder also, dafs die Hervorragung des einen Ele-
ments, dessen innere Zustände in ihrer Wechselwirkung wir unter dem
Namen des Geistes kennen, sich bei ihnen nicht mehr deutlich offenbart,
vielmehr der Geist vom Leibe verschlungen seheint, weil sich hier kein
Herrschendes, kein einzelnes Vorzügliches, hervorgearbeitet hat. Wo keine
Diener, da kein Herr; wo kein Gehirn, da keine Seele!
Lassen Sie uns jetzt zurückschauen auf die zuvor [30] genannten, der
Form nach verschiedenen Natur-Ansichten. Was ich soeben von der
Materie, von ihren scheinbaren Kräften, von ihrer Verbindung mit dem
Geistigen sagte, das hat seinen Grund in dem synthetischen Theile der
Naturforschung; dem beobachtenden und analysierenden Physiker wird es
dagegen ziemlich gleichgültig, in sein Geschafft wenig eingreifend erscheinen.
Er beobachtet nicht Materie im Allgemeinen, sondern starre, tropfbare,
Vorgelesen in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, am 24. April 1823. 13g.
dampfartige und gasförmige Körper; um ihm näher zu treten, mufs man
erst nachweisen, dafs es Umstände giebt, in denen die Repulsion ein grofses
Uebergewicht über die Attraction gewinnt; dafs hiedurch ein Unterschied,
aber auch eine vielförmige Verbindung zwischen dichter und dünner
Materie begründet wird; hiemit läfst sich analytisch die Erscheinung des
Ponderabeln und Imponderabeln vergleichen. Aber auch dies führt uns
noch nicht ganz in die Sphäre des Beobachters und Analysten; er will
überhaupt nicht allgemeine Begriffe, sondern wirkliche Körper bearbeiten;
und jede Allgemeinheit ist ihm verdächtig, die er nicht aus dem Indi-
viduellen durch Induction erlangen kann. Mit einem Worte; er sucht
nicht Ei nheit, sondern nur Abkürzung des Ausdrucks; [31] seine Allgemein-
heiten sind nur Abbreviaturen für das Einzelne. — Doch wie? Gehe ich
nicht vielleicht zu weit? Zwar erinnere ich mich wohl, dafs hie und da
ein Physiker sich rühmt, seine Theorie sey durchaus nichts weiter als die
unmittelbare Aussage der Erfahrung. Allein die Physik strebt zur Geometrie
hinan; und diese begnügt sich nicht mit Inductionen. Der Mathematiker
betrachtet das allgemeine Gravitationsgesetz nicht als die Folge von ein-
zelnen Erfahrungen; sondern er wagt die Voraussetzung, es gebe wirklich
in der Natur einen allgemeinen Grund der Anziehung, von welchem die
einzelnen Anziehungen als Wirkungen mit Recht können abgeleitet werden.
Wollte der Physiker nicht eben so seine Lehre von Bindung und Ent-
bindung der Wärme bey den Form-Aenderungen der Körper, wenigstens
versuchsweise als Erkenntnifs einer in der Natur selbst liegenden, allge-
meinen Nothwendigkeit betrachten; wollte er nicht ernstlich den einzelnen
Fall als untergeordnet, als beherrscht von der höhern Regel, ansehen;
sollte in der That die Induction, die im Felde der Erfahrung niemals
über den heutigen Tag hinausreicht, der Physik die einzig zulässige Art
der Einheit darbieten: dann könnte niemals ein künftiger Erfolg voraus-
gesetzt, niemals ein Experiment [32] als Bekräftigung eines zuvor aufgestellten
Lehrsatzes unternommen werden; sondern man müfste stets warten, ob die
Erfahrung wohl in der nächsten Stunde so gefällig seyn wolle, noch ein-
mal zu wiederhohlen, was sie kurz zuvor unter den nämlichen Umständen
gelehrt hatte. Kurz: auch die Erfahrungs -Wahrheit fordert bleibende
Gründe, welche im Wechsel der Zeiten beharren; und auch der Physiker
setzt stillschweigend ein Reales voraus, welches er auf dem Wege der
Induction nie würde gefunden haben. In so fern nun gleitet alle Physik
hinüber in Naturphilosophie; aber zunächst nur in deren analytischen
Theil; und hier giebt es allerdings noch kein Streben nach universaler
Einheit; hier finden sich einzelne Untersuchungen in unbestimmter Menge,
die sich durch neue Beobachtungen vermehren. Wer hier das vorhandene
Mannigfaltige zu einem organisch-wissenschaftlichen Ganzen umbilden wollte,
der würde sich kein Verdienst erwerben; denn die Analysis mufs vom Ge-
gebenen ausgehn; dieses findet sich Anfangs als ein nur lose zusammen-
hängendes Mannigfaltiges; so gerade mufs die treue Natur- Darstellung es
wiedergeben; sie mufs nicht ins Schöne [33] malen, nicht idealisiren wollen.
Strebt die analytische Naturphilosophie nach etwas Höherem : so mufs sie
warten, bis der synthetische Theil weit genug vorgerückt ist; alsdann muls
sie sich diesem anschliefsen ; will sie aber, seine Manier nachahmend,
140 VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.
allein stehn und unabhängig auftreten, so verwandelt sie sich in einen
Zwitter, ähnlich den historischen Romanen, unwissenschaftlich und ver-
werflich gleich diesen. Verwaltet die analytische Naturlehre treulich ihr
Amt: so ist sie nur Vorbereitung; nichts Vollendetes; sie besitzt Einheiten;
aber noch keine Einheit. Sie widerstrebt keiner Theorie; aber sie ist
neutral, und sieht dem Kampfe der verschiedenen Theorien gelassen zu.
Anders verhält es sich mit dem synthetischen Theile der Natur-
wissenschaft. Diesem mufs allerdings die Idee der organischen Einheit
vorschweben; aber hier drohen gefährliche Verwechselungen. Die orga-
nische Einheit ist nicht ursprüngliche Identität; und nach einer Idee ver-
fahren, heifst nicht, den Gegenstand des Verfahrens [34] für ein System von
Ideen halten. Der Künstler bildet den Marmor nach der Idee des
Schönen; aber den Marmor hält er nicht für schön, sondern betrachtet
und behandelt ihn als einen gegebenen Stoff. Der Naturlehrer findet
Thon und Sand, Gestrüpp und Gewürm, Schlangen und Kröten, neben
den edlern Gebilden; wollte er nun damit anfangen, die Unterschiede der
Dinge zu verwischen, so würde er nichts weiter gewinnen, als die Mühe,
sie hintennach doch wieder hinzuzeichnen; und den Vorwurf, erst geleugnet
zu haben, was späterhin, gleichviel mit welcher Wendung, doch mufs ein-
gestanden werden. Die Idee der Einheit erfordert vielmehr eine solche
Allgemeinheit der Grundbegriffe, welche sich von selbst allen den Modi-
ficationen darbiete, die genügen können, um der Mannigfaltigkeit der Natur-
gegenstände zu entsprechen. Ob nun diese Allgemeinheit durch Annahme
eines Realen, mit einem inwohnenden Evolutions-Triebe, oder ob sie
durch Aufstellung eines Verhältnisses [35] unter dem ursprünglichen Mannig-
faltigen, welches geschmeidig genug sey für nähere Bestimmungen jeder
Art, — möge erreicht werden: dies gehört schon zu den materialen Ver-
schiedenheiten der Naturansichten, wovon oben die Rede war; allein der
synthetischen Grundlegung zu unserer Wissenschaft, sofern sie blofs formale
Forderungen zu erfüllen sucht, ist es nicht wesentlich, dazwischen eine
Wahl zu treffen. Es ist vielmehr vortheilhaft, selbst unhaltbare Ansichten
so weit auszubilden, als es mit einigem Schein der Wahrheit geschehen
kann; denn eben dadurch erreicht man den Punct, wo die Täuschungen
ohne Zwang von selbst entfliehen.
Kaum wird es nöthig seyn, dals ich jetzt noch den Wunsch aus-
spreche: die Einseitigkeit der heutigen Naturphilosophie möge bald durch
diejenige Wahrheitsliebe gemildert werden, welche Alles prüft, um das
Beste zu behalten.
VIII.
ZWEI VORLESUNGEN.
I. VERSUCHE UND BETRACHTUNGEN ÜBER DEN
GEGENSATZ DER BEYDEN ELECTRICITÄTEN.
Vorgelesen in der physikalisch - ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg,
am 23. Januar 1824.
IL UEBER den GEGENSATZ der BEYDEN
i ELECTRICITÄTEN.
Vorgelesen in der physikalisch - ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg.
1824.
[Text nach dem Msc. 2069 der Königsberger Universitäts-Bibliothek.]
Vorrede.
Die beyden Vorlesungen, welche ich hier zusammen drucken lasse,
sind in zwey verschiedenen gelehrten Gesellschaften gehalten worden; man
wird sich nicht wundern, wenn man sie eben so ungleichartig findet, als
sie es ihrer Bestimmung nach seyn mufsten. Die erste wandte sich un-
mittelbar an das Denken; die zweyte, bey welcher Versuche vorgezeigt
wurden, zunächst an das Anschauen, und alsdann an diejenige Art der
der Betrachtung, welche von den Thatsachen ausgeht, ohne darauf all-
gemeine Voraussetzungen zu übertragen. Ueber diese zweyte Vorlesung
zuerst einige Worte.
Dafs ich Thatsachen bekannt mache, und dafs ich wünsche, meine
Versuche von Physikern wiederhohlt, geprüft und weiter geführt zu sehen,
wird mir wohl Niemand verdenken; besonders da hier von den so schwer
zu beobachtenden [2] kleinen Electricitäten die Rede ist, die ohne Zweifel in
der Natur viel häufiger vorkommen, als die starken und gewaltsamen, deren
Glanz auch die flüchtigen Zuschauer zu fesseln pflegt. Die Erscheinungen,
die mir meine Werkzeuge darboten, waren nichts weniger als glänzend;
aber sie waren deutlich und gleichförmig. Dafs ich etwas übersehen haben
könne, weifs ich sehr wohl; und wünsche eben so wohl Berichtigung als
Fortführung und Ergänzung meiner Versuche. Mich in den Rang eines
geübten Physikers zu stellen, fällt mir übrigens nicht ein, aber Physik gehört
eben so wohl als Mathematik zu den Hülfswissenschaften der Philosophie; und
die gelehrte Welt kennt glücklicherweise keine geschlossenen Zünfte. Um
das Eine darf ich gewifs bitten, dafs man nicht die Richtigkeit meiner
Beobachtungen leugne, wenn man sie nicht mit zulänglichen Werkzeugen
wiederhohlt. Wer aber einmal die Kosten angewandt hat, sich einen recht
wirksamen und fehlerfreyen Elektro-Multiplicator anzuschaffen und über-
dies einen Condensat. >r, dessen Sammlungsplatte blofs zwischen zwey höchst
dünnen Luftschichten, [3] ohne Berührung solcher Körper, die leicht durch
Reiben elektrisch werden, eingeschlossen ist : — der wird ja diesen Apparat
auch zu unzähligen anderen Versuchen gebrauchen können, und nicht be-
fürchten dürfen, dafs ihn der Aufwand gereuen werde.
Von der Uebung und Vorsicht, welche der Multiplicator nötig macht,
will ich nichts sagen; die Physiker wissen das besser als ich. Ob meine
Versuche zur Aufklärung theoretischer Ansichten dienen können? ist nicht
meine erste Sorge; aber angenommen, dafs sie als Versuche, nicht irgend
einen, mir verborgenen, Fehler haben, so glaube ich in der That, dafs
sie einiges Licht geben können; und zwar deswegen, weil sie äufserst
einfach sind, und folglich nicht so vielerley Auslegungen unterworfen,
wie Manches, an sich höchst Schätzbare, das wir neuerlich gelernt haben.
Iji VIII. Zwei Vorlesungen.
Um verstanden zu werden, braucht die zweyte dieser Vorlesungen
wohl nur aufmerksames Lesen: allein mit der ersten, besorge ich, könnte
es sich anders verhalten. Sie ist eigentlich ein Seitenstück zu meiner kürzlich
herausgegebenen kleinen Schrift: über die Möglichkeit und Nothwendigkeit,
Mathematik auf Psychologie anzuwenden. [Vgl. No. VI vorl. Bandes.] "Wie
diese, [4] will sie nicht beweisen, sondern nur das Verstehen dessen erleichtem,
was anderwärts war bewiesen und begründet worden. Aber selbst eine solche
Erleichterung setzt doch voraus, dafs der Leser sich auch um die anderen
Schriften des Verfassers bekümmere, nicht aber fordere, man solle ihm Dinge,
die ihrer Natur nach verborgen liegen, und zu denen nur eine, in die Tiefe
hinabsteigende Untersuchung gelangen kann, auf der Oberfläche hinlegen, als
ob sie mit den Vorstellungsarten des gemeinen Verstandes erreichbar oder
gar mit gewissen gangbaren Irrthümern der Schulen verträglich wären. —
In meiner Abhandlung: theoriae de attractione elementorum principia meta-
physica, [s. Bd. III, No. VIII] habe * ich schon vor zwölf Jahren meine
allgemeine Untersuchung über das Wesen der Materie bekannt gemacht.
Diese Abhandlung war eine akademische Gelegenheitsschrift; schon als
solche wurde sie damals wenig verbreitet; und überdies bezieht sie sich
genau auf meine Hauptpuncte der Metaphysik, deren wahrer Inhalt noch
bis heute ein öffentliches Geheimnifs zu seyn scheint, und vielleicht so
lange bleiben wird, bis einmal ein Zweyter, durch die ursprünglichen meta-
physischen Probleme selbst angetrieben, auf meinen Weg geräth, da ihm
denn meine Spuren zu Hülfe kommen werden. Der Grund aber, weshalb
ich bisher keine ausführliche Darstellung meiner Metaphysik übernommen
habe, lag einfach darin, dafs ich in den Naturwissenschaften zuvor weiter
vorzudringen suchen wollte, um alsdann eins mit dem andern in die
gehörige Verbindung bringen zu können. Für jetzt noch wird es für den
Leser am bequemsten seyn, wenn ich ihn an das letzte Capitel meiner Ein-
leitung in die Philosophie [s. Bd. IV, No. I] verweise, worin das Resultat jener
frühern, und zugleich einige spätere Untersuchungen kurz angegeben sind.
Zu ausführlichen Anmerkungen, dergleichen ich der Vorlesung über
Anwendung der Mathematik auf Psychologie beygefügt habe, wäre auch
diesmal Veranlassung genug gewesen; hätte ich aber derselben einmal nach-
gegeben, so möchten leicht der Zusätze mehr geworden seyn, als mir für
diese flüchtigen Blätter passend scheint. Mich zu vertheidigen gegen Leute,
die nicht sowohl meine Schriften, als mich selbst angreifen, scheint mir
vollends nicht nöthig. Oder soll ich etwa darum, weil Einer so artig ist
an meinem Namen zu zupfen, damit ein philosophischer Bart heraus-
komme, mich zum Schutze meines Namens aufgefordert glauben? — Nicht
viel mehr Antwort verdient der unpartheyische Richter, der meine offene Er-
zählung, wie Fichte meine psychologischen Untersuchungen veranlafst habe
(woran gar nichts zu verheimlichen ist,) zu einem „merkwürdigen Geständ-
nisse" verdreht; während er selbst, indem er mir Ueberschätzung der
Kategorie der Quantität vorwirft, das unfreywillige Geständnifs ablegt,
dafs er von meinen Hauptarbeiten, — die nach der Sprache der Kan-
tianer im Bezirke der Qualität und der Relation liegen, und die ich
zum mindesten höher schätze als meine Rechnungen — nicht das Geringste
weifs; ja vermuthlich nicht einmal soviel davon gehört hat, dafs in meiner
Vorrede. 145
Lehre alle Kategorien ohne Ausnahme verworfen werden. Etwas ernsthafter
ist [7] indessen die Anzüglichkeit: es scheine bey mir ein Axiom zu seyn, dafs
es, aufser mir, wenige oder keine Philosophen gebe, die zugleich Mathe-
matiker seven. Aufser mir? ich bin kein Mathematiker; eben so wenig
als ich darum ein Schlösser bin, weil ich mich zuweilen des Hammers und
der Feile bediene, wenn ich zu einem bestimmten Gebrauch diese Werk-
zeuge nöthig habe, die allein dazu taugen. Beliebe der Herr nur recht
bald die Liste der „mehrern sehr hochachtbaren Philosophen in Deutsch-
land und in Frankreich, die zugleich Mathematiker sind", anzufertigen,
auch sich selbst etwa den. obersten Platz auf dieser Liste anzuweisen, den
ich ihm nicht beengen werde. Ich bin noch neugieriger auf die Philo-
sophen in Frankreich, als auf die mehr als wenigen Mathematiker in
Deutschland, welche da zum Vorschein kommen werden; besonders aber
bitte ich, dafs die Liste einerseits den Philosophen, andererseits den Mathe-
matikern zum Durchstreichen vorgelegt werde, damit nur die sehr hoch-
achtbaren Namen, die vor beyden bestehn können, übrig bleiben. Als-
dann können wir weiter überlegen, wie viele wohl mehrere im Gegen -
satze von wenigen seyen? und wieviel Grund wohl vorhanden war, [8] mir
zu widersprechen, indem ich auf die unleugbare Thatsache aufmerksam
machte, dafs sich bey uns Mathematik und Philosophie weit getrennt
haben.
Hierüber zur Selbsterkenntnifs zu gelangen, ist dem heutigen gelehrten
Publicum höchst nöthig, freylich aber giebt es auch noch andere Puncte,
worin die Selbsterkenntnifs heilsam seyn würde; und noch andre Stimmen,
aufser der meinigen, die trotz dem Gerede der Schulen frey und offen die
Wahrheit sagen.
Folgende merkwürdige Äufserungen stehen im Novemberheft der
Jenaischen Literaturzeitung :
„Jedermann weifs, dafs die neueren Entdeckungen in der Physik,
Chemie, Astronomie, Naturgeschichte, die Philosophen bald nach Kant
veranlafsten, den bisher allgemein sicher geglaubten Weg zu verlassen. —
Die Philosophie nahm jetzt ein pantheistisches Colorit an, welches sie dem
vollendeten Spinozismus sehr ähnlich machte. Hieraus erklärt es sich, wo-
her diese Philosophie zu zwey wesentlichen Eigenheiten kam, wodurch sie
sich nach Leibnitzen's, Wolf's, Hume's, Kant's Vorgange nicht mehr
auszeichnen sollte. Die eine ist, dafs die Bekenner der Naturphilosophie
in Sachen der Logik, Psychologie u. s. w. sich einem ähnlichen [9] Schauen
und Wahrnehmen zu überlassen pflegen, wie das in der sichtbaren Natur
möglich ist; d. h. man pflegt blofse Visionen für baare Wahrheit zu nehmen,
ohne streng zu untersuchen, wieviel die Phantasie dabey zum Schaden der
Wahrheit Antheil haben könne. — Eine zweyte, wo möglich noch kläg-
lichere Eigenheit ist das unselige, oder viel armselige Streben nach Tota-
lität, das Universalisiren oder Generalisiren , das die begründesten, von
den gröfsten Denkern anerkannten Unterscheidungen gänzlich annullirt,
und überall ein leeres, nutz- und liebloses ev y.a) nav an ihre Stelle setzt.
Man plage sich nur durch ein Produkt dieser Philosophie hindurch, und
frage sich alsdann, was man eigentlich dabey gewonnen habe, ob etwas
Anderes, als eine Masse von Bildern, die kaum zu Erläuterungsmitteln
Hkrbart's Werke. V. IO
\a6 VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.
dienen, geschweige dafs sie poetischen Werth hätten ! Wie wohlthätig für
die Bildung des Verstandes, wurden Aristoteles, und in neuern Zeiten Wolf,
Baumgarten, Kant; wie wenig dürfte sich aber ernst eine [10] Philo-
sophie dieses Svstemes zu rühmen haben, die, das Philosophiren aus und
in reinen Begriffen verlassend, — - sich in Spielereyen über Dinge verliert,
die aufserhalb des Kreises der für uns sicheren Wahrheit liegen! — Was
das Ende einer solchen Philosophie seyn mufs, liegt der Welt theils schon
vor Augen, theils kann man es aus jedem Handbuche der Geschichte der
Philosophie ersehen. Sie wird vermöge ihres Hanges zum Dogma-
tismus, allmählich in das Gebiet des Positiven zurückkehren,
— bis zuletzt ein alles zermalmender Skepticismus die Ge-
spenster verjagt, und einen heilern Tag vorbereitet." U. s. w.
Die Feder, aus welcher diese Worte geflossen sind, ist mir unbekannt;
auch bin ich weit entfernt, der ganzen Recension, aus der ich sie entlehne,
meinen Beyfall zu geben. Aber was ich ausgezogen habe, das ist wahr,
und mufs laut gesagt werden. Denn das Uebel der heutigen unphilo-
sophischen Geistesrichtung ist grofs, und liegt tief, daher man sich nach
gewissen zarten Ohren, die keinen unangenehmen Ton hören mögen, nicht
richten kann. Doch gestehe ich, es ist mir willkommen, [11] dafs ein Andrer
als ich, das vorgetragen hat, was die heutige gelehrte Welt sich so ungern
sagt, obgleich sie es seit langen Jahren fühlt.
Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der
beyden Electricitäten.
Vorgelesen in der physikalisch-oekonomischen Gesellschaft zu Königsberg,
am 23. Januar 1824.
Sie wollten mir nicht erlauben, höchstgeehrte Herrn! blofs als Zu-
hörer Ihren Sitzungen beyzuwohnen; aber Sie werden auch nicht verlangen,
dafs ein blofser Liebhaber der Physik den Gegenstand, welchen er berührt,
erschöpfen solle; und das um desto weniger, da an eigentliche Vollständig-
keit in physikalischen Untersuchungen heut zu Tage selbst die Meister
noch nicht denken können.
Hare und Silliman haben neuerlich die Meinung geäufsert: der
Kupferpol des Defiagrators sey positiv, der Zinkpol negativ electrisch.1
Wenn ich dies recht verstehe, so ist es derselbe Gedanke, auf den ich
durch Versuche, die den eigentlichen Gegenstand meiner heutigen Mit-
theilungen ausmachen sollen, bin geführt worden. Meine Meinung will ich,
der Deutlichkeit wegen, im Voraus so angeben: Die Franklinsche Lehre
scheint, diesen Versuchen zu folge, die wahre; jedoch mit umgekehrter
Bedeutung der Worte Plus und Minus.
Erlauben Sie mir zuerst eine kurze einleitende Betrachtung über die
jetzt mehr geltende Symmersche Ansicht, wornach zwey electrische Fluida
vorhanden seyn sollen, die in ihrer Verbindung mit einander den
für uns unbemerkbaren electrischen Stoff ausmachen. So drückt
sich selbst Berzelius aus;2 also auch ein so grofser Chemiker fand keine
Spur von demjenigen Dritten, was als das Neutrale aus der Verbindung
jener beyden Entgegengesetzten entstehen müfste. Um so eher wird es
mir erlaubt seyn, zu zweifeln, ob ein solches Neutrales überhaupt existire.
Zwar [15] behauptet man, jene Annahme zweyer Flüssigkeiten liefere die ein-
fache Erklärung aller Thatsachen. Ganz bestimmt sagen dieses Ampere
und Babinet;3 und das erste Merkmal der beyden Flüssigkeiten, welches
sie angeben, ist dies: sie sollen sich gegenseitig neutralisiren. Wenn wir
uns nun die bekanntesten Thatsachen vergegenwärtigen, von dem Un-
gestüm, womit die beyden Electricitäten zu vereinigen pflegen, dem Zer-
malmen des Glases, wenn eine geladene Flasche springt, den mannigfaltigen
1 Schweiggkr's Journal für Chemie und Physik, Band 9, Heft 1.
2 Lehrbuch der Chemie, S. 63.
3 Darstellung der neuen Entdeckungen über Electricität und Magnetismus; gleich
im Eingange.
IO*
tj.8 VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.
Zerstörungen des Blitzes u. dergl. m., so sollte man auf den Gedanken
kommen, die Verwandtschaft jener beyden Flüssigkeiten sey eine der stärk-
sten Naturkräfte, die es gebe; es werde demnach sehr schwer seyn, das
aus beyden gebildete Dritte zu zerlegen; und jede von beyden werde den
Körper, in welchem sie sich befinde, sehr leicht verlassen, wenn es darauf
ankomme, mit ihrer entgegengesetzten in Verbindung zu seyn und zu
bleiben. Lassen Sie uns mit diesen Gedanken an die Betrachtung des
ersten besten Electrometers gehn, um zu erfahren, ob wir die sich dar-
bietenden Erscheinungen nun erklären können.
Divergirt das Electrometer : so prüfen wir es mit nahe gehaltenem
geriebenen Siegellack; fallen jetzt die Kügelchen zusammen, so sagen wir:
die mitgetheilte Electricität, welche das Werkzeug enthält, ist positiv; denn
sie läfst sich von der negativen, die vom Siegellack her auf sie wirkt, neu-
tralisiren. Nun aber erwarte ich die einmal geschehene Neutralisation werde
beharren; die Verbindung so nahe verwandter Flüssigkeiten werde keiner
geringfügigen Ursache wegen wieder aufhören. Allein was geschieht? Ich
ziehe das Siegellack zurück und das Electrometer divergirt wie Anfangs!
Wie soll ich das erklären? Warum verläfst nicht entweder die eine Flüssig-
keit das Siegellack oder die andere das Electrometer? Dann könnten sie
ja in Verbindung bleiben. Hängt vielleicht doch die Flüssigkeit, die wir
negative Flüssigkeit nennen, zu stark am Siegellack? Wohlan! statt des
Siegellacks wollen wir den Knopf einer geladenen Flasche aufs Electrometer
wirken lassen; dieser ist dafür bekannt, dafs man sehr leicht aus ihm einen
Funken ziehen kann, er wird also auch jetzt seine Electricität leicht her-
geben, um die entgegengesetzte zu sättigen. So sollte man denken. Aber
der Erfolg des Versuchs bleibt wie vorhin. Widersteht vielleicht die Luft?
Aber diese weicht beim electrischen Puppen tanze sehr leicht aus; ein
mechanisches Hindernils kann sie also für so feine Flüssigkeiten, wie die
angenommenen, nicht seyn. Aber in ihr selbst war ohne Zweifel zwischen
dem Electrometer und dem Knopfe der Flasche eine Vertheilung vor-
gegangen! Recht wohl; alle dadurch entstandenen partiellen Neutralisationen
können bleiben, wofern nur die Lufttheilchen , welche dem Knopfe der
Flasche die nächsten sind, ihm soviel Electricität abgewinnen, als nöthig
ist, um die in ihnen durch die Vertheilung angezogene Flüssigkeit zu sät-
tigen. Allein das geschieht nicht. Wo bleibt nun die angenommene, sehr
starke, alle andere Verwandtschaften überbietende Kraft, womit [18] die
beyden Flüssigkeiten unaufhaltbar zu einander streben?
Auf diese Betrachtungen bin ich eigentlich durch eine Erfahrung
von anderer Art geführt worden; die mir die feinen Werkzeuge, welche
ich gleich die Ehre haben werde hier vorzuzeigen, nur zu oft darboten.
Häufig genug fand ich, dafs meine isolirenden, mit Fimifs überzogenen
Träger, an diesen Instrumenten elektrisch geworden waren, wodurch meine
Versuche gestört wurden. Ausgehend nun von der Voraussetzung einer
vorhandenen Flüssigkeit, die man durch ihre entgegengesetzte sättigen
müsse, nahm ich meine Zuflucht zur Electrisirmaschine ; ich liefs einen
Strom entgegengesetzter Electricität durch jene Werkzeuge gehn. Aber
ich verfehlte meinen Zweck. Anfangs fand ich die Werkzeuge mm be-
haftet von einem Residuum der ihnen mitgetheilten Electricität; doch dies
Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electrici täten. 14g
war leicht herauszubringen. Allein dann fand sich der vorige Fehler unver-
ändert wieder ein; diejenige Electricität, die ich hatte [19] neutralisiren wollen,
schien aus den Winkeln, wo hinein sie sich vor ihrer Gegnerin mochte
verkrochen haben, vollständig wieder hervorzutreten. Ist das ein Phänomen,
was man bei Voraussetzung einer mächtigen Verwandtschaft zwischen
beyden, erwarten mufste ?
Eine andre Thatsache will ich hier sogleich anführen, welche be-
weiset, dafs die gangbaren Vorstellungen vom Gegensatze der Electricitäten
einer sehr starken Reform bedürfen. Diese Thatsache bietet sich sehr
leicht in verschiedenen Formen dar; gleichwohl habe ich sie in den mir
bekannten Darstellungen der Electricitätslehre so durchaus nicht erwähnt
gefunden, dafs ich in Versuchung gerathen könnte, sie für neu zu halten,
wenn nicht mein hochgeehrter College, Herr Professor Wrede, sie schon
gekannt hätte, als ich mit ihm davon zu reden anfing.
Man setze eine geladene Flasche (gleichviel ob positiv oder negativ
geladen) auf ein, nicht gar zu grofses Isolirbrett. Da die Luft den Knopf
nicht vollkommen [20] isolirt, so wird, aus besonderen Gründen, das Brett in
wenigen Augenblicken eine schwache, der Ladung entgegengesetzte Elec-
tricität annehmen. Jetzt fasse man ein gewöhnliches Goldblatt-Electro-
meter an dem metallenen Deckel, von welchem herab die Goldblättchen
in dem gläsernen Cylinder hängen. Man sollte glauben, das Electrometer
könne so angefafst, unmöglich divergiren, da jede, ihm etwa mitgetheilte
Electricität durch die Hand, die mit den Goldblättchen durch Metall ver-
bunden ist, verschwinden müsse. Will man es denn wagen, das Electro-
meter neben die Flasche auf jenes Isolirbrett zu stellen? Man läuft Gefahr
die Goldblättchen zerrissen an den Wänden des Cylinders wieder zu finden,
sie divergiren schon bey der Annäherung an das Isolirbrett.
Deutlicher wird dieser Versuch unter einer anderen Gestalt. Um
ein Quadranten-Electrometer recht genau zu isoliren, hatte ich es auf der
Spitze einer Siegellackstange befestigen lassen, die vertikal [21] auf einem
hölzernen Fufse stand. Dies Werkzeug war auf ein Isolirbrett gestellt
worden; ich electrisirte das Brett, und berührte zufällig das Electro-
meter. Augenblicklich fing es an zu divergiren. Noch mehr: ich suchte
ihm durch öftere Berührungen die Electricität zu entziehen, aber dies war
nicht eher möglich, als bis zuvor das Isolirbrett von der seinigen war be-
freyt worden. Und der wichtigste Umstand ist folgender. Dem diver-
girenden Electrometer nähere man den Finger oder einen andern Leiter;
statt davon angezogen zu werden, entflieht es vor ihm; und auch diese
Repulsion dauert so lange, wie das Isolirbrett seine Electricität behält.
Nachdem man es derselben beraubt hat, zeigt sich die gewöhnliche Er-
scheinung, Attraction statt der vorigen Repulsion. Auch ist diejenige
Electricität, mit welcher das Electrometer divergirt die entgegengesetzte von
der, welche man dem Isolirbrette mitgetheilt hatte.
Wenn wir diese Erscheinungen an unsere gewohnten Vorstellungsarten
anknüpfen wollen: so sind wir zu allererst [_2 2~\ genöthigt zu sagen: das Electro-
meter, obwohl durch die ganze Länge der Siegelstange getrennt von dem
elektrischen Brette, auf dem es steht, wird dennoch durch dies Brett in
einen solchen Zustand versetzt, vermöge dessen es diejenige Electricität,
j e.Q VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.
womit es divergirt, so vest an sich bindet, dafs sie in keinen Leiter über-
gehn kann. Dieser Zustand des Electrometers ist aber nicht selbst Elec-
tricität; denn gerade erst dadurch entsteht die Divergenz, dafs man durch
Berührung diejenige E. herauszieht, welche der dem Fufsgestelle mitge-
theilten gleichartig ist. Also giebt es gewisse Zustände der Körper,
welche der Electricität analog sind, ohne sie selbst zu seyn. —
Ferner: mit diesem seinen Zustande wirkt das Electrometer nicht blofs
bindend auf die in ihm enthaltene E., sondern auch vertheilend auf den
sich annähernden Finger, der sonst unmöglich aus der Feme auf dasselbe
wirken könnte, da er für sich in gar keinem electrischen Zustande sich
befindet. Jetzt wollen wir die Beschaffenheit der E. näher berücksichtigen.
Es sey [23] dem Fufsgestelle -j- E. mitgetheilt worden. Dadurch geschieht
längs der Siegellackstange eine Vertheilung, vermöge deren, wenn sie stark
genug wäre, das Electrometer gleichfalls mit + E. divergiren würde. Durch
die Berührung nimmt man diese letztern hinweg. Nun divergirt das
Elektrometer wirklich, aber mit — E. Weil dieses — E. gebunden ist, so
hängt nicht von ihm, sondern von der noch immer im positiven Zustande
befindlichen Masse des Electrometers die Vertheilung ab, die sich in dem
angenäherten Finger ereignet. Demnach wird in ihm, nach gewohnter
Art zu reden, -f- E. zurückgestofsen, und — E. zu dem Electrometer hin-
wärts gezogen. Weil aber im Electrometer — E. gebunden ist, so ent-
steht Repulsion zwischen den beyden Electricitäten, und ihr giebt die Kugel des
Electrometers nach, indem sie den Finger flieht. Sobald jedoch das Fufs-
gestell von seiner + E. befreyt wird: hört der positive Zustand der Masse
des Electrometers auf, und hiermit auch die davon abhängende Vertheilung.
Das Electrometer [24] divergirt jetzt wie zuvor; aber in demselben ist nun — E.
frey; hievon geht die Vertheilung aus; also ist sie in dem Finger jetzt
die umgekehrte der vorigen; daher erfolgt Anziehung zwischen dem Finger
und der Kugel; diese nähert sich dem Finger und das Electrometer wird
entladen.
Sehr merkwürdig ist in diesem Versuche der Umstand, dafs bey ihm
die Vertheilung und die Divergenz nicht von einerley, sondern von ent-
gegengesetzten Ursachen bestimmt werden. Hinge die Divergenz von dem
Zustand der Körpermasse des Elektrometers ab: so müfste sie schon vor-
handen seyn, ehe dasselbe berührt wird; ja sie würde dann sich am
stärksten zeigen, weil sie durch zwey zusammenwirkende Ursachen hervor-
gebracht würde, nämlich zugleich von dem Zustande der Masse des Electro-
meters, und von jenem, ihm gleichartigen, + E., das erst durch die Be-
rührung herausgezogen wird. Aber von der Berührung verräth das Electro-
meter seinen elektrischen Zustand keineswegs; es divergirt erst in dem
Augenblicke, wo man es [25] anfafst. Vor der Berührung war das vor-
handen, was man Neutralisation der beyden E. durch einander zu nennen
pflegt. Erst nach der Berührung, also wenn — E. allein zugegen ist, geschieht
die Divergenz und die mit ihr gleichartige Repulsion zwischen dem Finger
und der Kugel des Electrometers. Nun sollte man erwarten, dafs dieselbe
E., welche fähig ist, Divergenz zu verursachen, auch die Vertheilung be-
stimmen würde. Aber gerade das ist das Wesentliche des Versuchs, dafs
sich hievon das Gegentheil ereignet. Ein Electrometer, welches durch die
Virsuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electricitäten. t ^ i
in ihm vorhandene Electrieität die Vertheilung bestimmt, nähert pich alle-
mal dem angenäherten Leiter; hier aber sehen wir Repulsion statt Attrak-
tion; und eben daraus folgt der wichtige Satz: dafs die Masse des Körpers,
welcher die in ihm enthaltene E. gebunden hält, selbst im Stande ist, die
Vertheilung zu bestimmen.
[26] Es war mir interessant, zu wissen, wie weit sich wohl dieser Zustand
der Körpermasse möchte erstrecken können, und ob eine merkliche Zeit nöthig
wäre, ihn hervorzubringen. Um dies näher kennen zu lernen : stellte ich auf ein
Isolirbrett ein zweytes, und auf dieses ein drittes, beyde etwan einen Fufs hoch.
Jetzt setzte ich die geladene Flasche auf das unterste; ein Goldblatt-
Electrometer aber auf das oberste. Die Flasche war äufserst schwach ge-
laden. Ich zog aus ihrem Knopfe den Funken. Dadurch erhielt das
unterste Brett die entgegengesetzte Electrieität. Jetzt war das Electro-
meter durch beyde isolirenden Stative, und noch durch seinen eignen Glas-
cylinder von dem electrisirten Brette entfernt; und man sollte denken, es
wäre hiedurch aus aller Gemeinschaft mit demselben gesetzt worden.
Allein sobald ich die oberste metallene Deckplatte, von wo die Gold-
plättchen herabhängen, anfafste: zeigte sich auch die Divergenz. Doch
war diese Wirkung [2 7] schwächer, wenn drey, als wenn nur zwey Isolirbretter
auf einander gestellt wurden. Die Wirkung nimmt also zwar ab, wenn
die Entfernung wächst, aber eigentlich scheint sie durch Leiter und Nicht-
Leiter ins Unendliche fortgepflanzt zu werden; wenigstens habe ich eine
Verschiedenheit von Zonen, oder dergleichen, die man wegen der bis-
herigen Vorstellun^sarten etwa denken möchte, nicht bemerken können.
Indessen wird der Versuch mancher Wiederhohlung bedürfen, wenn er
durch alle möglichen Abänderungen soll verfolgt werden. Aber auch
manche andere Versuche möchten nun einer neuen Beleuchtung bedürfen,
in die sich ein Zustand der Körper, welcher der Electrieität analog ist,
wird eingemischt haben, ohne dafs man darauf geachtet, und bey den
theoretischen Erklärungen die nöthige Rücksicht darauf genommen hätte.
[2 8] Freylich giebt es manche Erscheinungen, die uns auf den Gedanken
bringen können, die Electrieität wandere nur auf der Oberfläche der Körper
umher, ohne mit der innern Beschaffenheit derselben in irgend eine Ge-
meinschaft zu treten; und diese Meinung, welcher Biot geneigt zu seyn
scheint, wird besonders durch den Umstand begünstigt, dafs ein und der-
selbe Körper, wenn seine glatte Oberfläche nur rauh gemacht wird, oft
ganz veränderte electrische Verhältnisse zeigt. Allein es scheint mir, der
angeführte Versuch müsse die Vorsicht unseres Urtheils über diesen Punkt
noch vermehren. Indessen kehre ich jetzt zu den Erfahrungen zurück;
und nehme mir die Freyheit, zuerst ein paar Worte über die Werkzeuge
zu sagen, die ich hier vorzeige.
[31] Sie sehen hier zwar Nichts, als den bekannten Multiplicator, und
Condensator. Allein bey der Einrichtung sind einige kleine Veränderungen
angebracht.
Jedermann weifs, dafs die Wirkung des Multiplicators auf der soge-
nannten Vertheilung beruht. Eine isolirte Metallscheibe ist electrisirt;
dicht neben ihr geht in einer parallelen Ebene eine andre vorbey, deren
Rückseite eine ableitende Metallfeder streift; indem sie nun vermöge der
I?2 VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.
Vertheilung die entgegengesetzte Electricität von jener erstem angenommen
hat, verläfst sie die Feder; und da sie an einer sich drehenden Axe
isolirt bevestigt ist, wird sie nach einem halben Umlaufe einer dritten
Metallplatte zugeführt, der sie ihre Electricität abgeben kann. Aber diese
dritte Metallplatte steht ebenfalls auf einer isolirenden Glassäule, überdies
dient sie als Condensator-Deckel, indem ihr parallel und ganz nahe eine
vierte Platte, ohne Isolirung aufgestellt ist. Daher kann man durch öftere
Umdrehungen jener Axe, die nämliche Vertheilung nach Belieben wieder-
hohlen; und so erhält man eine Art von Vervielfältigung, nicht derjenigen
Electricität, die man will kennen lernen, sondern der durch sie bey jeder
neuen Umdrehung von neuem erregten entgegengesetzten. [32] Die Conden-
sation wird alsdann aufgehoben, indem die vierte jener Platten auf einem
Schieber beweglich, welchen man nur nöthig hat hinwegzuziehn, damit die
angesammelte Electricität sich in dem, mit der dritten Platte verbundenen
Electrometer offenbare.
Untersucht man jedoch dies sinnreich erfundene Instrument genauer:
so sieht man bald, dafs die Multiplication eigentlich nur eine Summirung
von Gliedern ist, deren Gröfse sich vermindert und sehr bald unmerklich
wird. Denn die dritte Platte nimmt der zweyten nur so lange und in
so fern die durch Vertheilung entstandene Electricität ab, wie ihre Capa-
cität, verbunden mit dem Grade der Condensation, es zuläfst. Die zurück-
stofsende Wirkung der schon angesammelten Electricität müfste vermindert,
und beseitigt werden, wenn man das Instrument verbessern wollte. Als-
dann aber könnte man füglich statt einer zweyten Platte, worin die Ver-
theilung geschieht, ihrer so viele nehmen, als sich bequem an einer Axe
bevestigen, und genau genug in einer Ebene herumführen lassen.
Dem gemäfs habe ich mir zwey Multiplicatoren verfertigen lassen,
deren einer vier Scheiben, der andre sechs [33] im Kreise herumführt; zu-
gleich sind die Platten, welche den Condensator bilden, beträchtlich ver-
gröfsert. Allein hieraus hätte eine neue Unbequemlichkeit entstehen
können. Je gröfser der Condensator, desto mehr zerstreut sich die Elec-
tricität. Daher hat mein Electrometer noch einen zweyten, ganz kleinen
Condensator, der aus der gröfseren Platte, die ich vorhin als die dritte
zählte, nach Oeffnung des ersten Condensatörs die Electricität anzieht und
verdichtet. Und mit diesem zweyten Condensator ist das Electrometer
um seine Axe beweglich. Folglich kann man, nachdem der erste Conden-
sator seine Electricität an den zweyten abgab, diesen wiederum von jenem
entfernen, und dann die Umdrehung der Axe mit Erfolg wiederhohlen.
Endlich steht neben dem ersten Electrometer mit Hollundermark-Kügel-
chen, noch ein zweytes weit empfindlicheres von Goldblättchen, dessen
Verbindung mit jenem man durch einen beweglichen Draht nach Belieben
bewirkt und aufhebt. Die Wirksamkeit des Multiplicators ist oft unerwartet
so grofs, dafs die Goldblättchen zerreifsen würden, wenn sie mit ihm in
unmittelbarer Verbindung stünden.
[34] Singer, in seinen Elementen der Electricität, beschuldigt dieses, und
die ihm ähnlichen Werkzeuge einer geringen Zuverlässigkeit, indem sie
Electricität selbst hervorbrächten. Ich darf hinzusetzen: wenn mein
Multiplicator dies thut, so ist er so aufrichtig, es selbst' anzuzeigen, sobald
Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electricitäten. 153
man nur nicht vergifst, ihn oft zu fragen. Aber noch mehr: meinen viel-
fältigen Erfahrungen zu Folge geschieht dies erstlich nicht so gar leicht,
wofern man sich hütet, die Glasstäbe zu berühren; zweytens, bey weitem
die gefährlichste Stelle ist der gläserne Träger der ersten Platte, der man
die zu prüfende Electricität mittheilt. Dieser Träger nun steht ohnehin
auf einem Schieber, daher habe ich mir mehrere solche Träger sammt
Platten und Schiebern machen lassen; wird einer electrisch, so nehme ich
einen anderen; und das Instrument ist von seinem Fehler befreyt. End-
lich, will man den Zustand desselben ganz genau prüfen, so berührt man
nach geschehenen Umdrehungen den Electrometer des einen Multiplicators
mit der auffangenden Spitze des andern; alsdann zeigt der zweyte das-
jenige vergröfsert, was das erste nicht mehr [35] zeigen konnte. Werkzeuge,
die man oft gebrauchen will, mufs man ohnehin wenigstens paarweise
haben.
Weit kürzer kann ich mich fassen über meine Condensatoren. Es
sind Metallplatten, an isolirten Trägern seitwärts bevestigt, die zwischen
zwey anderen, nicht isolirten, eingeschlossen werden können; so dafs sie
nur durch eine dünne Luftschicht getrennt sind; ohne Anwendung solcher
Substanzen, die durch Reiben elektrisch werden könnten. Die Conden-
sätion ist also zwiefach vorhanden. Die oberste und unterste Platte können
theils geschoben, theils nach gehöriger Entfernung von der mittlem, ge-
dreht werden um die Axe, woran sie seitwärts bevestigt sind. Der Be-
quemlichkeit wegen ist mit der mittleren Platte, worin sich die Electricität
sammeln soll, ein Draht verbunden, worin ein paar Gelenke angebracht
sind, und der sich in eine Spitze endigt; so kann man den Condensator
leicht mit andern Körpern in Gemeinschaft bringen. Uebrigens läfst sich
für den Fall, wo stärkere Electricitäten zum Ausströmen geneigt sind, der
Draht sammt der Spitze auch abschrauben.
Den Anfang meiner Versuche mit diesen, oder vielmehr zuerst mit
grobem Werkzeugen, habe ich schon bekannt gemacht; in der Meinung,
dafs Thatsachen, die einer weitem Prüfung und Verfolgung [36] Anlafs
geben können, als Gemeingut zu betrachten seyen.
Hier werde ich davon nur ganz kurz sprechen.
Um zu sehen, ob Phänomene der Voltaischen Electricität schon aus
momentaner Berührung isolirter Metallplatten blofs am Rande oder in
wenigen Puncten hervorgehn würden: schmolz ich Handgriffe von Siegel-
lack an Platten von Kupfer und Zink; und versuchte mancherley Be-
rührungen; unter andern auch solcher Platten, die zu Condensator-Deckeln
dienten. Durch einige Spuren von Erfolg aufmerksam gemacht, liefs ich
mehrere Platten von verschiedenen Metallen mit isolirenden Handgriffen
versehen; wurde- nun eine solche Platte auf die Siegellack-Puncte eines
metallenen Untersatzes gestellt; so dafs sie mit diesem einen Condensator
bildete; wurde sie alsdann mit einer von der andern isolirten Platte am
Rande berührt, die letztere femer an den Multiplicator gebracht, und diese
Operation einigemale wiederholet: so zeigte der Multiplicator zuvörderst
positive Electricität; entledigte man ihn aber derselben, und prüfte man,
mittelst seiner, jene erstere Platte, die als Condensator -Deckel gebraucht
war, so zeigte er nunmehr negative Electricität an. Gleichen Erfolg er-
I s^. VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.
gaben die beyden Platten, wenn man sie [37] umtauschte; stets erhielt der
Condensator-Deckel — E., und die andere, zwischen ihm und dem Multi-
plicator hin und hergetragene, -f- E. Auch war die Wahl der Metalle so
gut als gleichgültig. Hieraus schlofs ich damals: die Condensation müsse
den Grund ausmachen, dafs eine ihr unterworfene Metallplatte vorzugs-
weise negativ electrisirt werde. Allein späterhin wurde ich darauf geleitet
zu bemerken, dafs eine sehr schwache, durch meine jetzigen feineren
Werkzeuge jedoch leicht zu entdeckende, Electricität der isolirenden Hand-
griffe mit im Spiel gewesen sey. Daher vermuthete ich einen electrophorischen
Einflufs; der Gegenstand schien nun zu verwickelt, um ihn für sich allein
aufzuklären. — Andere Versuche führten auf eine neue Spur. Ich wünschte
zu wissen, ob eine Menge von Plattenpaaren der Voltaischen Säule, nicht
durch einen feuchten Leiter, sondern durch wenige, aber gut leitende
Puncte verbunden, wohl Polarität zeisren möchten? Demnach liefs ich
Metallknöpfe kommen, von der kleinsten Art, wie wir sie in unseren Tuch-
kleidern gebrauchen; drev derselben stellte ich auf ein Voltaisches Platten-
paar; [38] darauf legte ich ein neues Plattenpaar, und so weiter; daher die
Verbindung der nächsten Plattenpaare blofs in den drev Punkten statt
fand, wo das obere durch die unter ihm stehenden Knöpfe getraten
wurde. Jetzt versuchte ich mit dem Condensator und Multiplicator die
oberste Platte; ich erhielt negative Electricität. x\lsdann prüfte ich die
untere Piatte; diese gab nicht die entgegengesetzte, sondern dieselbe Elec-
tricität. Ich untersuchte die Mitte meiner Säule; der Erfolg war dersebe;
ja ich konnte Verbindungs-Drähte anbringen wo ich wollte, stets lud sich
mein Condensator negativ. Die Vermuthung lag nahe, dafs ich zum
zweytenmale nach Voltaischer Electricität vergebens gesucht, aber etwas
ganz anderes gefunden hatte. Jetzt prüfte ich mit dem Condensator
andere Metallmassen; indem ich mit ihnen die an jenem befindliche Auf-
fange-Spitze wiederhohlt in Berührung brachte. Jedesmal bekam ich nega-
tive Electricität; doch merklicher durch meinen grofsen Condensator als
durch den kleinen; und besser aus gröfsern als aus [39] kleinern isolirten
Metallmassen. Jedoch zeigten sich Spuren von negativer Electricität auch
dann, wann ich die Spitze meines grofsen Condensators wiederhohlt in
Wasser steckte, ja selbst wenn ich Glas mit ihr öfter berührte. — ■ Noch
später bemerkte ich, dafs hiebey auch Wirkungen in kleine Entfernungen
stattfinden können, wenn man die auffangende Spitze des Condensators
sehr nahe, doch nicht völlig in Berührung bringt mit den Spitzen oder
scharfen Kanten anderer Metallkörper. Insbesondre hatte ich zu andern
Zwecken ein stark magnetisches Hufeisen auf eine isolirte Glassäule be-
vestigen, die Pole aber mit messingenen Fassungen versehen lassen, worin
bewegliche Stahlspitzen eingeschroben waren ; wenn ich nun eben diese
Stahlspitzen, entweder beyde zugleich oder einzeln, nahe an die Spitze
meines grofsen Condensators brachte, und sie während einer Minute etwan
in dieser Stellung liefs, so war die negative Electricität zuweilen so stark,
dafs man, um sie wahrnehmen zu können, beynahe nicht einmal des
Multiplicators bedurft hätte. Die [40] beyden Pole des Magneten machten
dabey keinen merklichen Unterschied.
Was soll ich nun aus diesen Versuchen schliefsen? War die Luft in
Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beiden Electricitäten. kc
meinem Zimmer negativ electrisch? Dann hätte man die Metalle durch
Berührung davon befreyt; zum Ueberflufs wiederhohlte ich die Versuche
in einem andern Zimmer; ich liefs auch, nach Oeffnung des Fensters
einen Windstofs auf meine Metallplatten wirken; aber dies änderte Nichts.
Ich liefs sogar durch die Electrisirmaschine positive E. im Zimmer ver-
breiten ; meine Werkzeuge sogen etwas davon ein ; aber nach wenigen Be-
rührungen waren sie davon frey; und nun begannen die vorigen Erfolge
von neuem. Gaben die Condensatoren Electricität her? Sie wurden für
sich allein vielfältig am Multiplicator geprüft, und zeigten sich rein. —
Der natürlichste Gedanke, der sich darbietet, ist dieser: da der Conden-
sator, so lange er geschlossen ist, die electrische Repulsion vermindert, so
wird er einer Repulsion, die von aufsen auf ihn wirkt, nachgeben. Ist
nun die Electricität ein Fluidum, welches in einigermaafsen elastischem
Zustande sich in andern Körpern befindet, so wird sie aus ihnen in jenen
bey der Berührung hinübergehn. Wiederhohlt man die Berührung: so
wird sich im Condensator das schon angesammelte Fluidum langsamer
gegen den berührenden Körper, als aus diesem gegen jenen bewegen; es
wird also kein Gleichgewicht eintreten, wofern die Berührung nicht zu
lange dauert, sondern der Condensator wird sich noch mehr anfüllen.
Gröfsere Metallmassen werden mehr herbeyleiten, [41] als kleinere, besonders
isolirte. Weil aber das, was wir negative E. nennen, sich so beständig und
regelmäfsig, als man es bey Versuchen mit schwachen Electricitäten nur
irgend erwarten darf, im Condensator einfindet, so wird die negative Elec-
tricität selbst jenes in den Körpern vorhandene Fluidum seyn; und wenn
wir aus andern Gründen die Symmersche Theorie von zweyen, einander
neutralisirenden Flüssigkeiten verwerfen, so werden wir versuchen müssen,
ob die Franklinsche, auf die bekannten Phänomene mit der Modifikation
pafst, die sogenannte negative E. sey die wahre positive.
Mit diesen Gedanken ging ich nun an die Betrachtung derjenigen
Versuche, durch welche man früher schon den Unterschied der beyden
Electricitäten zu bestimmen gesucht hat. Zuerst [42] erwähne ich hier der
mit Zinnober gefärbten Karte, durch die man die Funken einer geladenen
Flasche schlagen läfst. Die Enden der Drähte sollen nicht gerade ein-
ander gegenüber, sondern einen Zoll weit von einander abstehen. Alsdann,
sagt Singer, zeigt sich der Lauf des Fluidums vom positiven Drahte her
durch eine schmale schwarze Linie auf dem Kartenblatte, die sich bis
zum Loche erstreckt, und auf der entgegengesetzten Seite durch einen
schwarzen ausgebreiteten Fleck, der das durchbohrte Loch in der Nähe
des negativen Drahtes umgiebt. Ist nun wohl diese Erklärung richtig? —
Ein Unterschied der beyden E. ist zwar offenbar vorhanden; allein
angenommen, dafs die Electricität von dem sogenannten positiven Drahte
komme: so wird sie erstlich gegen den Widerstand der Luft anstreben,
und zwar nach allen Seiten; kann sie demnach den Zinnober schwärzen,
so wird sie hier einen ausgebreiteten Fleck hervorbringen, den aber
Singer nicht am positiven, sondern am negativen Ende bemerkte.
Zweytens, an der Seite, woher sie kommt, wird ihre Wirkung, welche es
auch sey, sich am stärksten zeigen; denn weiterhin zerstreut sich [43] gewifs
etwas von ihr auf der mit Zinnober bedeckten Karte. Also wollen wir
156 VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.
den Punct, wo sie noch ganz gesammelt hervortritt, lieber da suchen, wo
wir das Loch finden; und das ist an der negativen Seite. Hier sprang
der Funke heraus; er sollte nun gerade zum entgegengesetzten Drahte
hinübergehn; dann wäre das Loch in die Mitte gekommen; aber zurück-
gehalten von der Luft und angezogen von der Karte, durchbohrte er die-
selbe früher, und das Loch findet sich nun näher dem Punkte, wo sich
der Funke zuerst erzeugte.
Nicht schwerer, sondern leichter noch erklären sich die andern hierher-
gehörigen Versuche. Singer liefs auf ein Flugrad beyde entgegengesetzten
Drähte des allgemeinen Ausladers wirken; das Flugrad, sagt er mit Recht,
hätte still stehen müssen, wenn zwey Fluide von beyden Seiten her gleich-
mäfsig darauf gewirkt hätten. Nun bewegte sich aber das Flugrad, und
zwar in der Richtung vom positiven zum negativen Drahte. Also, schliefst
Singer, bewegt sich auch das Fluidum in dieser Richtung. Wie? [44] ist
denn die Electricität ein Wind, der die Körper vor sich her treibt und fort-
reifst? Ich denke, sie zieht die Körper an; und wenn das Flugrad zum
negativen Drahte hin ging, so kam eben daher die anziehende Kraft.
Eben so verhält es sich mit der Lichtflamme zwischen zwey Drähten,
die zum negativen Drahte hin, nicht, wie man behauptet, geblasen, sondern
gezogen wird.
Allein am meisten beschäfftigt die Anhänger der Franklinschen Lehre
das elektrische Licht. Dies, sagen sie, kommt sichtbar aus der positiven
Seite. Wir wollen die Sache näher ansehn. Eine negativ electrisirte
Spitze leuchtet nur mit einem Puncte, oder doch mit einem kleineren
Büschel als die positive. Soll ich den Grund angeben? Meiner Meinung
nach findet sich derselbe unmittelbar darin, dafs es hier die Spitze selbst
ist, welche die Electricität zerstreut. Der leuchtende Punkt ist allemal
der, von dem die Strahlen ausgehn. Aber die positive elektrische Spitze?
Diese leuchtet nicht, wohl aber leuchten alle die Lufttheilchen, [45] welche
dieser Spitze, die man der Wahrheit gemäfs die negative nennen sollte,
die Electricität, deren sie bedart, zusenden. Kein Wunder, dafs da viel
Licht erscheint, wo viele Luft die Electricität hergiebt; hingegen weniger
dort, wo nur eine Spitze ausströmt. Aber man scheint zu glauben, die
Elektricität sey selbst der leuchtende Körper! Wie könnte sie
doch das? Leuchten erfordert eine Bewegung nach allen Richtungen
ringsum. Hingegen die Electricität geht ihren geraden Weg zum nächsten
Leiter, den sie antrifft. Sie selbst kann also gar nicht leuchten; wie sie
es auch im vollkommenen Vacuo nicht thut. Aber wenn eine Spitze
oder ein Lufttheilchen von ihr zu stark, das heifst, über dessen Empfäng-
lichkeit, ergriffen und gleichsam glühend gemacht ist : dann mufs ein Theil
sich von ihr gefallen lassen, nach allen Richtungen ausgeworfen zu werden;
und nun gelangt das elektrische Licht zu unsern Augen. Man hat ge-
glaubt, der elektrische Funke sey ein Baum, hervorgewachsen zuerst nnt
dem Stamm, dann sich vertheilend in Aeste und Zweige. Aber wir [46] wollen
ihn lieber vergleichen einem Strome, der aus vielen Quellen hervorging,
und der viele Nebenflüsse in sich aufnimmt. Die Mimdung des Stroms
ist da, wo man vorhin glaubte, den Stamm aus dem Boden hervortreten
zu sehn.
Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electricitäten. 157
[49] Nach dieser Ansicht nun würde sich die Erregung der Electricität in
unseren Maschinen sehr einfach so erklären: Durch Reibung wird das Glas
zum Schwingen gereizt; bey dieser Veränderung in seiner Cohäsion läfst es
sein Electricum fahren, und das leitende Amalgama sammt dem Küssen und
der Kette führt sie hinweg. Nach der Schwingung stellt sich vermöge der
Elasticität des Glases sein Cohäsionszustand wieder her, und mit ihm die
Verwandtschaft zum Electricum, daher es dasselbe dem Conductor entreifst,
den wir positiv nennen, aber negativ nennen sollten. Das Glas mufs glatt
seyn, weil eine mattgeschliffene Oberfläche durch Reibung nicht zum
Schwingen würde gereizt werden. Bey der Berührung zwischen Kupfer
und Zink u. dergl. zieht der vollkommnere Leiter das Kupfer etwas vom
Electricum des unvollkommnern mit sich hinweg, oder führt es dem feuchten
Leiter in den Säulen zu. Flaschen laden sich, wenn durch ihre ganze
Masse sich der Zustand fortpflanzt, den eine Seite bekommen hat; das
Uebrige ergiebt sich von selbst. Electrometer [48] divergiren, indem sie ent-
weder vom mitgetheilten Electricum anschwellen, oder weil es ihnen ent-
zogen worden, es aus der Luft, und folglich die Luft selbst, die es nicht
fahren läfst, an sich heranziehn, und auf diese Weise gleichsam eine Feder
zwischen sich spannen. Die Vertheilung ist nichts als ein Druck des Elec-
tricums von der Seite, die dessen mehr besitzt, gegen die andere, wo ein
relativer Mangel stattfindet. Wenn wir eine lange Metallstange in die Luft
hinaufstrecken, so zieht diese nicht Electricität an, sondern haucht sie aus,
dann heifst sie in unserer Sprache positiv electrisch.
Ob diese Ansichten einen Werth haben, mag hier unentschieden
bleiben. Allein folgende Umstände sind factisch, und führen zu merk-
würdigen Betrachtungen.
Erstlich : mit meinem grofsen Condensator, von fünf vertikal stehenden
Platten, 6 Zoll im Durchmesser, deren drey isolirt und verbunden sind,
während zwey andre dazwischen tretende zur Verdichtung der Elasticität
in jenen Dreyen dienen, und an einer Axe, worauf sie verschoben werden
können, bevestigte, — ein Werkzeug, das durch Schieben und Drehen
sich sehr [49] genau behandeln läfst, — mit diesem gewifs viel fassenden In-
strumente glaubte ich kleinen isolirten Metallplatten die Electricität der-
gestalt entziehen zu können, dafs sie in unserer Sprache positiv electrisch
würden. Allein vergebens habe ich nach einem sichern Zeichen hievon
gesucht. In allen Versuchen dieser Art war immer nur Eine Electricität,
unsre sogenannte negative deutlich zu bemerken, die sich im Condensator
einfand. Daher vermuthe ich, dafs hier das Electricum, was die Ober-
tläche verliert, sich aus dem Inneren wieder ersetzt; und dies ist mir desto
wahrscheinlicher, weil auch nach öfterer Wiederhohlung ein solches isolirtes
Metall davon immer ziemlich gleichviel herzugeben scheint.
Zweytens: steht die Spitze meines grofsen Condensators eine kurze
Zeit lang über Wasser : so ladet sich auch dadurch der Condensator negativ ;
und dies scheint um so mehr der Fall zu seyn, wenn eine Metallstange
im Wasser steht. Wieviel Electricität würde nun wohl das Meer, und der
feuchte Erdboden, — wieviel folglich [50] der ganze Körper der Erde her-
geben, wenn überall solch einsaugende Spitzen und Condensatoren vor-
handen wären. Weswegen ich aber die Spitzen einsaugend nenne, wird
I c$ VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.
aus dem Vorigen noch erinnerlich seyn; deshalb nämlich, weil allen Er-
fahrungen zu folge der Condensator in jeder Hypothese als ein Werkzeug
mufs gedacht werden, das in sich die electrische Repulsion vermindert,
daher nicht abzusehen ist, wie es dazu kommen könnte, einem unisolirten
Körper, den seine Spitze nicht einmal völlig berührt, Electricität abzugeben;
wohl aber begreiflich ist, dafs es ihm dieselbe abnehmen werde, wenn in
diesem Körper die Electricität auch nur die geringste Spannung hat. An-
genommen nun, dafs in unserem Falle das Wasser seine Electricität aus-
haucht, so wird es dieses in einem freylich weit geringem Grade immer
thun. Denn es verhält sich zur Atmosphäre stets einigermaafsen so, wie
eine aufgerichtete Metallstange; ist es nun richtig, dafs diese, durch welche
wir die Luft [51] positiv electrisch zu finden glauben, eigentlich an die Luft
ihr Electricum abgiebt: so wird, in geringerem Maafse, auch die Luft dem
Wasser die Electricität abnehmen, die, wie wir gesehen haben, in dem
letztem einige Spannung hat. Folglich wird die ganze Atmosphäre eine
bedeutende Menge Electricität aus dem ganzen Erdball fortwährend auf-
nehmen, vielleicht aber beym Gewitter, und noch öfter beym Regen, den
wir negativ elektrisch nennen, wieder zurückgeben.
Doch ich bin weit entfernt, schon jetzt Resultate ziehen zu wollen.
Blofs der Deutlichkeit wegen schliefse ich mit dem Satze: es giebt nur Ein
Electricum, aber in Hinsicht seiner zwey entgegengesetzte Zustände der
Körper; und diese Zustände, indem sie sich durch das Innere der Körper
fortpflanzen, geben Anlafs zu den Erscheinungen, um derentwillen man zwey
Electricitäten angenommen hat. Ob nun dieser Satz richtig sey, das werden
fernere Erfahrungen lehren.
[52] Anhangsweise noch ein paar Worte über den Magneten. Wie alle
andre Metalle hat derselbe, gleichviel durch welchen Pol, meinem Con-
densator negative Electricität mitgetheilt. Allein ich erhielt positive, wenn
ich einem zweyten Magneten ein wenig Eisenfeile dargeboten hatte, und
nun wiederhohlt mit einigen von den Borsten, welche die Eisenfeile bekannt-
lich bildet, wenn sie am Magneten hängt, über die Spitze des Conden-
sators weg gegen die Mitte des ersten Magneten hinfuhr. Doch ist dieser
Versuch nicht immer gelungen; und das ist natürlich. Denn man mufs
die Spitze des Condensators nahe neben den ruhenden Magneten stellen
und mit dem andern, den man in der Hand hält, nahe daran vorbei-
streichen, welche Umstände für sich allein negative Electricität erzeugen.
Auch weifs ich nichts zur Erklärung dieser Erscheinung anzuführen; und
kann nur soviel sagen, dafs meine Erfahrungen weit entfernt sind, mich
an Identität von Electricität und Magnetismus glauben zu machen.
Ueber den Gegensatz der beyden Electricitäten. tcq,
•[53] Ueber den Gegensatz der beyden Electricitäten.
Vorgelesen in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg, am . . . l
Sie wollten mir nicht erlauben, höchstgeehrte Herrn! blofs als Zu-
hörer Ihren Sitzungen beyzuwohnen; Sie werden auch nicht verlangen,
dafs ein blofser Liebhaber der Physik den Gegenstand, welchen er berührt,
erschöpfen solle; und dies um desto weniger, da an eigentliche Vollständig-
keit in physikalischen Untersuchungen heut zu Tage selbst die Meister
noch nicht denken können. —
Aus der Zeit, in welcher die Franklinsche Theorie der Electricität
am meisten verbreitet war, haben sich die Benennungen : -(- E. und — E.
bis jetzt erhalten; obgleich die Symmersche Ansicht mehr Beyfall gewonnen,
und im Grunde den Begriff von einem negativ - electrischen Zustande der
Körper, der ein Zustand des Mangels und Bedürfnisses seyn [54] würde, ver-
drängt hat durch die Meinung, negative Electricität sey eben so und in
demselben Sinne etwas Wirkliches, wie die positive, und man könne beyde
nur gegenseitig, jede als das Widerspiel der andern, charakterisiren. Dafs
sehr viele Thatsachen auf diese Vorstellungsart führen, setze ich als bekannt
voraus; allein der Deutlichkeit wegen will ich sogleich hinzufügen, dafs
mich andre Umstände neuerlich hierüber sehr zweifelhaft gemacht haben.
Vielleicht wird es mir gelingen, in diesem heutigen Vortrage Einiges zu
Gunsten der Franklinschen Theorie aufzustellen; jedoch mit der Bestim-
mung: die sogenannte negative, oder die Harz-Electricität sey die wahre
positive, die Glas-Electricität dagegen die eigentliche negative, oder der-
jenige Zustand der Körper, worin sie jener ersteren bedürfen, und sie
entweder leihen oder an sich reifsen.
Zuvörderst verweile ich einige Augenblicke bei der Prüfung der Lehre
von zweyen Flüssigkeiten, wie sie noch ganz neuerlich an der Spitze des
Werkes von Ampere und Babinet (Darstellung der neuen Entdeckungen
[55] über Electricität und Magnetismus) mit der Behauptung ist gestellt
worden: sie liefern zu allen Thatsachen eine einfache Erklärungsart.
Gleich das erste dort angegebne Merkmal ist dies: die beyden
Flüssigkeiten sollen sich gegenseitig neutralisiren. Und gleich die erste
und gemeinste Thatsache, die jedes Electrometer darbietet, scheint mir da-
mit im Widerspruch zu stehen. Das Electrometer sey electrisirt; um zu
erfahren, ob positiv oder negativ? halten wir nahe daran etwan geriebenes
Siegellack; die Kügelchen fallen zusammen; nun haben wir die Antwort
auf unsre Frage; die Electricität nämlich ist positiv. Aber wie fanden
wir das? Wir wissen, unser Siegellack versetze die Kügelchen in den nega-
tiven Zustand. Gesetzt, dies geschehe durch eine Flüssigkeit, die wir Harz-
Electricität nennen können, und sie neutralisire, wie behauptet wurde, die ent-
gegengesetzte Flüssigkeit, welche sie antraf: so mufs nach unsern chemischen
Kenntnissen vom Neutralisirungs-Procefs jetzt aus der Verbindung beyder
Flüssigkeiten im Electrometer ein Drittes entstehn, [56] wodurch die Eigen-
schaften verhüllt werden, die vorhin jede der beyden Flüssigkeiten aus-
1 Die Zeitangabe fehlt in der Handschrift.
IÖO VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.
zeichneten. Für den Augenblick scheint es auch wirklich so; das Electrometer
würde durch jede einzeln genommen, divergiren; allein jetzt bemerkt man in
ihm keine Spannung. Nun aber ziehn wir das geriebene Siegellack zurück,
und sogleich tritt die frühere Electricität wiederum hervor. Wie ist das
möglich ? Hatten nicht beyde Flüssigkeiten sich gegenseitig vermöge ihrer
Verwandtschaft vereinigt? Mufs denn das Dritte, welches wir als Product
dieser Verwandtschaft betrachteten, nicht beharren; so gut wie jede
chemische Verbindung, die einmal zu Stande gekommen, so lange besteht,
bis sie durch mächtigere Kräfte zerstört wird ? Wodurch sind denn hier
die vereinigten Electricitäten wieder getrennt worden? Etwa durch die An-
ziehung der Masse, woraus das Electrometer besteht? Wenn diese An-
ziehung stark genug ist, wie hat sie denn vorhin nachgiebig genug seyn
können, um die sogenannte Vertheilung in ihrem Innern zu gestatten?
Denn man lehrt ja: bey Annäherung des geriebenen Siegellacks werde,
— noch dazu aus der Ferne! — die ungleichartige E. angezogen; die
gleichartige zurückgestofsen ; und dies lasse sich der Körper, worin [57] die
Vertheilung vor sich gehe, ganz ruhig gefallen. So mächtig also ist die
gegenseitige Anziehung der ungleichartigen Electricitäten; gegen sie kommt
die Attraction des Körpers nicht in Betracht; — und hintennach, wenn
nun in dem Electrometer die Vereinigung der beyden Flüssigkeiten wirk-
lich geschehen, dann ist dieselbe so wandelbar, dafs sie wie ein Hauch
verfliegt, ohne eine Spur zurückzulassen, obgleich gar keine neue Kraft
auf sie wirkt. — Es scheint mir klar, dafs hiedurch die Vorstellung einer
Neutralisation, sobald man einen Augenblick über die Thatsachen nach-
denkt, gänzlich zerstört wird. Entweder kommt die Anziehung, welche die
Masse des Electrometers ausüben kann, in Betracht, oder nicht. Im ersten
Falle mufste bey der Annäherung des geriebenen Siegellacks eine doppelte
Wahlverwandtschaft eintreten; die negative E. des Siegellacks band die
positive im Electrometer, wodurch beyde neutralisirt wurden; ferner band
nun der Körper des Electrometers, die in ihm frey gewordene negative;
dann aber mufste dasselbe durch jene positive, die wir als ihm mitgetheilt
voraussetzen, fortdauernd divergiren; [56] indem nun die Erfahrung das
Gegentheil zeigt, widerlegt sie die Meinung von der Anziehung des Körpers
gegen die angenommene Flüssigkeit. Hiemit sind wir auf den zweyten
Fall verwiesen. Das aus der Ferne wirkende Siegellack entbindet demnach
die im Electrometer vereinigten Flüssigkeiten ihrer gegenseitigen Einwirkung;
eine derselben bemächtigt sich nun der, in demselben vorhandenen, mit-
getheilten Electricität, und auch jetzt haben wir eine doppelte Verknüpfung,
an der nichts wunderbar ist als die Leichtigkeit, womit sie zerstört wird,
indem man das geriebene Siegellack wieder entfernt. Zwar möchte Jemand
sagen: Das Divergiren des Electrometers rühre nur her von derjenigen
Portion der positiven Electricität, die so eben von der negativen des Siegel-
lacks war verlassen worden, als wir dies letztere hinwegnahmen. Allein
hier erzeugt sich die obige Frage von neuem. Warum denn wird nicht,
vermöge der einmal vorhandenen Verbindung, sammt dem
Siegellack auch die von demselben schon ergriffene Electricität
des Körpers mit fortgeführt? Widersteht etwan die Luft? Doch ist sie
beweglich genug, um sogar ldeine Papierblättchen durchschlüpfen zu lassen,
Ueber den Gegensatz der beyden Electridtäten. 161
falls diese [59] einer elektrischen Anziehung unterworfen werden; wieviel
leichter mutete ein höchst feines und theilbares Fluidum durch sie hindurchgehn
können! Oder spielte hiebey die Luft eine mehr thatige Rolle? War etwan
auch in ihren kleinsten Theilen überall vom Siegellack bis zum Electro-
meter eine Vertheilung vorgegangen? Vermuthlich ! Demgemäfs wurde in
denjenigen Lufttheilchen , die sich dem Siegellack zunächst befanden, ein
Quantum positiver Electricität gebunden; und ich frage nun, warum diese
nicht in demselben Grade und derselben Art von Verbindung, worin sie
einmal ist, dem Siegellack nachfolgt, sobald es vom Electrometer entfernt
wird? Alsdann können die übrigen Verbindungen ebenfalls bleiben wie sie
sind; und die im Electrometer vorhandene mitgeth eilte Electricität wird die
entgegengesetzte, von der sie einmal neutralisirt war, eben so wenig fahren
lassen, als irgend eine durch den vorigen Procefs frey gewordne und
wieder gebundene sich aus ihrem einmal erlangten Besitze wird vertrieben
finden.
Noch auffallender wird dies, wenn wir an die Stelle des Siegellacks
etwan den Knopf einer geladenen Flasche setzen; der sehr leicht etwas
von seiner Electricität [60] fahren läfst. Könnte bey dem ganzen Vorgange,
von dem die Rede ist, irgend eine Kraft, die nach Art der chemischen
Verwandtschaften wirkte, ins Spiel kommen: so würde der Knopf, dessen
Nähe einmal ein Electrometer zusammenfallen machte, gewifs nicht durch
seine Entfernung neue Divergenz hervorbringen ; viel eher würde die mittel-
bar oder die unmittelbar mit dem Electrometer in Verbindung getretene
Electricität des Knopfs, sich in dem Augenblick, da er zurückbewegt würde,
von ihm trennen, um die einmal geschlossenen chemischen Verbindungen
nicht zu stören.
Der Einwurf, den ich hier gegen den Begriff der Neutralisation der
beyden E gemacht habe, läfst sich leicht allgemeiner vortragen; und be-
sonders auf jede vorgebliche Zersetzung der electrischen Flüssigkeiten
bey ihrer ursprünglichen Erregung anwenden. Allein ohne mich dabey
aufzuhalten, erwähne ich noch eines anderen Merkmals, das auf eine
mir unbegreifliche Weise dem Gegensatze der beyden Flüssigkeiten zu-
geschrieben wird.
Ampere und Babinet wollen die Bezeichnungen durch Plus und Minus
bevbehalten wissen, weil diese Worte in allen Anwendungen der mathe-
matischen ....
HEBRAhT's W. rke. V. I I
IX.
MATHEMATISCHER LEHRPLAN
FÜR DIE
REALSCHULEN.
Juni 1824.
[Text nach HR, S. 302 — 309. ]
1 1
Mathematischer Lehrplan für die Realschulen.
[302] Da ich in Ansehung der Bürgerschule mit Herrn Consistorial-
rat Dinter im ganzen übereinstimme und überdies der Meinung bin,
dafs der Wert der Schulpläne größtenteils von deren Ausführung und
der Beaufsichtigung dieser letzteren abhängt: so glaube ich der mir ge-
wordenen Aufforderung durch eine Beilage zu Herrn etc. Dinter's Gut-
achten hinlänglich nachzukommen; worin ich nur den Haupt- Gegenstand
des Unterrichts in jenen Schulen ins Auge fassen und alles andere als
Zusatz zu jenem betrachten werde.
Eine Provinz, deren Wohlstand sehr gesunken ist, darf sich zwar
nicht schämen, das Wiederaufblühen desselben bei solchen Schulen, deren
Zweck nicht eigentliche Gelehrsamkeit ist, sehr ernstlich zu berücksichtigen.
Aber jede Schule mufs ihre Ehre haben, unabhängig von ihrem Nutzen.
Sonst giebt sie dem Fleifse keine Begeisterung.
Aus beiden Gründen betrachte ich die Mathematik als den Haupt-
gegenstand der Bürgerschule. Keine ehrenvollere Gymnastik des Geistes
läfst sich finden; und die Spannkraft, welche sie hervorbringt, ist selbst
gröfser als die durch die Sprachen des Altertums; ihr Nutzen aber ist
unbezweifelt.
Doch wegen der Einseitigkeit, womit die Mathematik droht, mufs ihr
Geschichte, mit manchen ihrer Nebenstudien, zur Seite stehen. Und
als erste vorläufige Bedingung des Gedeihens betrachte ich die Voraus-
setzung: es sei ein Lehrer vorhanden, der im hohen Grade die Kunst
des Erzählens besitze; ja es sollten deren wenigstens zwei sein. Denn
die ältesten Schüler brauchen einen derselben; aber schon die [303]
jüngsten brauchen einen zweiten; besonders weil nichts so geschickt ist,
Kinder, die von verschiedenen Seiten her zusammenkommen, gleichartig zu
machen, als ein Strom von Erzählungen, der sie alle gemeinschaftlich fortreifst.
Dies nun vorausgesetzt, und angenommen überdies, dafs Botanik
im Sommer und Mineralogie nebst einer wohlbegrenzten Zoologie (ohne
unzartes Berühren de^r Geschlechts-Verhältnisse) im Winter, gleich von der
untersten Klasse an in Gang gesetzt seien: so mufs aus der Mitte dieser
Studien die Mathematik hoch emporsteigen, und ihre Zweige weit verbreiten.
Alles wäre verdorben, wenn man sich hier ein anderes Ziel setzen
wollte. Sobald Mathematik über Regeldetri und gemeine Planimetrie
hinausgeht, mufs sie ernstlich angefafst werden, damit nicht ein halbes,
totes und deshalb unnützes Wissen herauskomme. Das kann leicht be-
gegnen; aber auch das Gegenteil läfst sich leisten, wie ich aus Erfahrung
weifs. Und besonders eine Schule, worin Mathematik die Gymnastik des
l66 IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824.
Geistes liefern soll, kann und darf sich mit einigen mühselig eingelernten
Rechnungsformeln durchaus nicht begnügen.
Höhere Mathematik ist das Ziel, welches man erreichen mufs,
nicht um die ganze, höchst abstrakte Wissenschaft, sondern nur eine
gründliche Einsicht in diejenigen Lehren darzubieten, welche sich auf
Artillerie, Baukunst und Maschinenwesen dergestalt beziehen, dafs sie
künftige spezielle Studien zu unmittelbarem Gebrauche vorbereiten und
hinlänglich erleichtern können.
Der höhere Kalkül, wiederum nicht in seiner mannigfaltigen Ver-
zweigung, sondern nur in seinen allgemeinsten und leichtesten
Anfangsgründen (von denen sich aber unzählige fruchtbare An-
wendungen machen lassen), ist das Mittel, durch welches man zum Ziele
gelangt.
Damit aber meine Behauptungen nicht zu nackt da stehen und nicht
die Grenzen einer Schule, die vielleicht keine altern als siebzehnjährigen
Schüler haben wird, zu überschreiten scheinen, sehe ich mich genötigt,
in einiges Detail über den mathematischen Unterricht einzutreten.
Die Kraft der Jugend mufs frühzeitig dahin gelenkt werden. Dies
geschieht im allgemeinen durch vorläufige, grofsenteils empirische Be-
schäftigung mit mathematischen [304] Gegenständen. Hierher gehören
die Anschauungs- Übungen mit ihren teils ebenen, teils sphärischen, aus
Holz, Pappe, oder zum Teil durch Zeichnen auf der Schiefertafel, zum
Teil durch künstlichere messingene Werkzeuge dargestellten Dreiecken. Das
Wesentliche ist Anschauung s^esrebener mathematischer Formen,
besonders im Anfange Schätzung der Winkel, und Beachtung ihrer trigono-
metrischen Funktionen (der Tangenten, Sekanten, Sinus, Kosinus), weiter-
hin leichte Rechnung, und selbst die einfachsten Formeln der sphärischen
Trigonometrie, mit Hilfe eines passenden Werkzeuges beinahe unmittelbar
dem Auge dargestellt.
Die Wirkung dieser Vorübungen zeigt sich erst später, wenn der
mathematische Unterricht selbst eintritt, durch eine weit stärkere Auffassung
und durch ein schnelleres Nachdenken, als unvorbereitete Schüler zu leisten
pflegen. — Von der Sorgfalt, womit diese Anschauungsübungen geleitet
werden, hängt die ganze Bürgschaft ab, dafs der nachfolgende Unterricht
gelingen werde. Aber diese Sorgfalt mufs nicht aus Mifsverstand ängstlich
werden. Man darf die Anschauungsübungen nicht in die Länge ziehen,
als ob jeder Knabe sie pünktlich einlernen sollte. In gemessenem Schritte
müssen sie vorübergeführt werden; sie können im ganzen anderthalb Jahre
dauern mit Einschlufs des sphärischen Teils; eine beträchtliche Pause
mufs in die Mitte fallen, denn die zweite Hälfte ist schon um vieles
schwerer wie die erste.*
* Meine sphärischen Anschauungs-Übungen sind nicht gedruckt, obgleich schon
mehrmals im pädagogischen Seminar durchgeführt. Auf Verlangen würde ich sie be-
kannt machen. l
1 Die sphärischen Anschauungs - Übungen etc. „Anschauungslehre der sphär.
Formen" sind von Hartenstein herausgegeben in SW. Bd. XI, S. 234 ff. (nicht
Bd. XII, S. 319 wie HR angeben). — In vorliegender Ausgabe mit den Akten des
pädagogischen Seminars abgedruckt.
IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824. 167
Die zweite Stufe des mathematischen Unterrichts ist sehr bekannt;
auf ihr stehen gemeines Rechnen und Planimetrie. Dabei ist nur zu be-
merken, dafs diese Planimetrie nicht höher gehalten werden mufs, als jenes;
denn in der That sind die feineren Anwendungen der Proportionen (die
ich hier unter dem gemeinen Rechnen mit begreife) wohl reichlich eben-
so schwer, als die gewöhnliche Geometrie, selbst Stereometrie mit einge-
schlossen. — Auf dieser zweiten Stufe darf man nicht eilen; und der
Unterricht darin ist längst, im ganzen genommen richtig, geordnet worden,
daher ich weiter nichts darüber sage.
[305] Allein jetzt folgt eine dritte Stufe, in Hinsicht deren ich mit
dem gewöhnlichen Verfahren durchaus nicht zufrieden bin. Man pflegt
nämlich hier entweder eine weitläufige Algebra, oder teils eine ebenso
trockene und langgestreckte Lehre von den Kegelschnitten folgen zu lassen,
teils sich in die Trigonometrie zu verlieren, — ohne zu überlegen, dafs
man dem Schüler nunmehr so bald als möglich irgend einen grofsen
Gegenstand zeigen mufs, der sich durch mathematische Arbeit den Augen
näher bringen läfst. Dabei tritt nun ein unglücklicher Respect, wo nicht
eine wahre Scheu, vor der Differential- und Integral-Rechnung hinzu, als
wenn beide etwas an sich besonders Hohes, einen eigentlich für sich
bestehenden Teil der Wissenschaft ausmachen könnten, Dieses aber ist
durchaus unrichtig. Man sollte niemals von Differenzieren anders reden,
als so, wie man vom Multiplizieren oder Dividieren spricht; eins und das
andere sind Rechnungs-Arten, die gebraucht werden, wo sie passen, und
deren man mächtig sein mufs, sobald man irgend einen mathematischen
Gegenstand, der über die gemeinen Proportionen hinaus liegt, vollständig
in seine Gewalt bringen will.
Was>äuf der dritten Stufe des mathematischen Unterrichts eigentlich
vorkommen mufs, das könnte ich Trigonometrie nennen, wenn nicht dies
Wort teils zu viel, teils zu wenig ankündigt; ich will mich also ausführ-
licher erklären.
Der Natur der Sache nach folgt auf die Begriffe der Proportionen
sogleich die Lehre von den Potenzen, wobei die von Wurzeln und Loga-
rithmen sich notwendig mit anschliefst. Und auf die gemeine Geometrie
folgen die Kurven, oder was dasselbe ist, die räumlichen Symbole der
Funktionen, von dem einfachsten angefangen. Hiervon sind eigentlich die
Gleichungen des zweiten und der höheren Grade nur spezielle Fälle; und
aus der Auflösung derselben eine eigene Wissenschaft zu machen, die man
Algebra nennt, ist wiederum nichts als eine äufserliche Verunstaltung der
innerlich vollkommen gesunden Wissenschaft.
Indem man nun den Schüler zu den Potenzen, Kurven und Gleichungen
führt, mufs man ihm zugleich eine Beschäftigung darbieten, die so schnell
als möglich in Anwendung übergeht; und hierzu braucht er die Elemente
der Trigonometrie, aber noch nicht den hochgehäuften Vorrat der ana-
lytischen Formeln.
[306] Demnach setze ich aus einer Reihe von Lehrsätzen ein kleines
Ganzes zusammen, welches dem Schüler die Möglichkeit der Trigonometrie
vollständig erklärt und zugleich ihm aus derselben ein Werkzeug macht,
IÖ8 IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824.
das er gebrauchen könne. Hierher gehören * : der binomische Satz ; zuerst
nur aus der Kombinationslehre bewiesen für ganze bejahte Exponenten.
Dann der Tayl< >r'sche Satz, entwickelt aus der Lehre von den arith-
metrischen Reihen, wobei der Beweis aus höchst einfachen Elementen sehr
leicht hervortritt; hiemächst Erweiterung des binomischen Satzes durch
den Taylor'schen und durch die leichtesten Betrachtungen der Differential-
Rechnung auf einem bekannten Wege, alsdann weitere Benutzung des
Taylor'schen Satzes zur Aufsuchung der Reihen für Sinus und Kosinus,
wenn der Bogen in Länge gegeben ist; ferner Aufsuchung der Bogen für
gegebene Anzahl von Graden mittelst der Integration des Differentials
dt
, welches s elbst sehr leicht geometrisch gefunden wird, endlich die
1 — j— dt
Lehre von den Logarithmen, gebaut auf den binomischen Satz, indem
X
ex = ^ 1 -f- dx) d-x. entwickelt wird, wobei alles auf deutliche Erklärung von
e ankommt, oder, was nahe dasselbe ist, deutliche Erklärung der Gleichung
ax=y, wo x und y veränderlich sind. Die Rechnung wird fortgeführt
, . T . du 1 -{- u
bis zur Integration von , und zu log. .
0 1 + u ° 1 — u
Hierbei ist zu bemerken, dafs nach allen den hier gewonnenen Formeln
wirklich einige Rechnungen müssen gemacht werden, z. B. Aufsuchung der
natürlichen Logarithmen für alle Zahlen von 1 bis 10 und Berechnung
des Sinus und Kosinus von 6° u. s. f. Denn Formeln, nach denen der
Schüler wirklich niemals rechnet, sind ein toter Schatz.
Erst nachdem der Schüler auf diese Weise eingesehen hat, wie sich
auf hinreichend gebahnten Wegen (denn von mühseligen Umwegen mufs
man mit Schülern nicht reden, schon um sie nicht zu verwirren) die
Trigonometrie sowohl [307] ihre eigenen Funktionen, als ihre Hilfsmittel,
die Logarithmen, verschaffen könne: ist es Zeit, ihn nach den Haupt-
formeln zur Auflösung der Dreiecke (die sehr leicht gefunden und erklärt
werden) rechnen zu lassen. L'nd nunmehr bedarf er noch einiger weniger
Vorkenntnisse aus den leichtesten Grundsätzen der Statik und Mechanik,
um eine populäre Astronomie mit seinem Lehrer zu durchlaufen,
wozu sich die Briefe von Brandes trefflich eignen, unter der Voraus-
setzung, dafs der Lehrer vielfältig über das Buch hinausgehe und Rech-
nungen zur Übung einschalte, jedoch ohne sich auf zusammen-
hängende mathematische Darstellung einzulassen, die hier viel zu weit-
läufig sein und die Erhebung des Geistes, die hier eigentlich beabsichtigt
wird, nicht vermehren würde.
Denn die Zeit der Schule ist bekanntlich kurz, der vorerwähnte mathe-
matische Unterricht der dritten Stufe braucht etwa ein halbes Jahr, täglich
eine Stunde, und ebensoviel jene populäre Astronomie. Um uns zu
orientieren, wollen wir diesen ganzen Unterricht auf Sekunda verlegen; so
* Eine vollständige Aufzählung wird man hier nicht erwarten. Ob z. B. und in-
wieweit die Stereometrie schon hier, oder erst in Prima Zeit und Platz finde, wird
durchgehends von Lehrern und Schülern abhängen, und sich kaum allgemein bestimmen
lassen. H.
IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824. i6n
kommt auf Tertia das früher erwähnte Rechnen mit Proportionen samt
der Elementar-Geometrie, und die untem Klassen haben Zeit genug, um
nebst den Anschauungs-Übungen die ganz gewöhnlichen Rechnungs-Arten
zu lehren und zu üben. Es bleibt also nur noch übrig, von dem Unter-
richte in Prima zu sprechen.
Hier mufs wohl die Bemerkung eingeschaltet werden, dafs eine
Bürgerschule nicht Hoffnung hat, die ganze Summe ihrer Schüler bis
Prima zu führen. Drückt doch dieser Umstand schon die Gymnasien!
Doch haben alsdann die Eltern sich meistens selbst den Nachteil
zuzuschreiben, wenn das Angefangene nicht vollendet wird; denn warum
lassen sie die Kinder auf dem Gymnasium, wenn sie sie nicht wollen
studieren lassen? Sie könnten sie ja auf die Bürgerschule schicken!
Allein eben deshalb, weil sich denjenigen Bürgerschülern, die ihren Weg
nicht ganz zu Ende fortsetzen, keine andere Lehranstalt, die sie zweck -
mäfsiger hätten besuchen können, darbietet, ist es hier die Schule selbst,
welche so viel als möglich sorgen mufs, dafs allenfalls schon auf
Sekunda ein Stillstand stattfinden könne. Und das wird als ein Neben-
Vorteil aus der vorherbezeichneten Anordnung des mathematischen Unter-
richts sich auch ergeben. Nämlich die Schüler haben nun [308] auf
Sekunda gelernt, mit Logarithmen zu rechnen und mindestens die ebene
Trigonometrie zu gebrauchen; sie werden demnach so viel Theorie und
Vorübung besitzen, als der gemeine Feldmesser bedarf, wenn nur noch
die dazu nötigen speziellen Anleitungen (die nicht gar zu viel Zeit kosten
können) insoweit hinzukommen, als man sie von der Schule verlangen
wird, und als das Alter von etwa 15 Jahren sie anzunehmen aufgelegt
ist. Auch solche, die wegen schwächerer Anlage, oder aus Unaufmerk-
samkeit, das Vorgetragene nicht ganz fassen, werden so viel Routine aus
den Übungs-Beispielen gewinnen, dafs sie denjenigen ungefähr gleich-
zustellen sind, die von den Gymnasien zwar keine gründliche Kenntnifs
des Altertums, aber doch manche nützliche Notiz mit hinwegnehmen, die
sie späterhin irgendwie zu ihrem Fortkommen benutzen.
Inzwischen können solche Nebenrücksichten nicht Anspruch machen,
auf den Hauptplan einzufiiefsen.
Für Prima bleibt der Bürgerschule nun noch der Unterricht in der
Mechanik und Statik samt denjenigen Erweiterungen der reinen Mathe-
matik, die man dafür zweckmäßig finden wird; wohin teils die Lehre
von den kubischen Gleichungen (falls diese nicht schon auf Sekunda Zeit
fanden) und teils Übungen in der analytischen Trigonometrie, teils
Kenntnis verschiedener Kurven gehören wird. Ausführlicher Vortrag der
Lehre von den Kegelschnitten scheint mir nicht passend für die Bürger-
schule; es liegt darin zu viel gelehrter Luxus, der ohne Wert ist, wenn
keine Anwendung und Fortsetzung hinzukommt. Dagegen braucht die
Mechanik manche einzelne Kunstgriffe des Integrierens, welche gelegent-
lich, so wie sie nötig sind, können gezeigt werden, ohne dafs man in
das System der Integral-Rechnung (wie es in den Abstraktionen der
Mathematiker nun einmal existiert) sich einzulassen nötig hätte, welches
auch ganz unmöglich sein würde.
Das hohe Ministerium hat einen sehr umfassenden Unterricht in der
IjO X.I. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824.
Naturlehre von der Bürgerschule verlangt. An diesen hohen Befehl
schliefst sich nun hier mein Vorschlag an. Naturkunde würde ihrer festesten
Punkte und Stützen entbehren, wenn Statik und Mechanik nicht gehörig
gelehrt würden, — so dafs, wer künftig weiter gehen will, dieser seinen
Weg wenigstens vor sich sehe und es als möglich betrachte, darauf fort-
zuwandeln. Alles nun, was ich zuvor vom [309] mathematischen Studium
gesagt habe, findet hier sein Ziel, wohin es strebte und worauf es be-
rechnet war.
Sechs Stunden wöchentlich Mathematik durch alle Klassen, zuzeiten
aber noch einige Stunden mehr für besondere Zweige oder Anwendungen —
ungefähr, doch nicht ganz ein solches Verhältnis der Mathematik, wie der
alten Sprachen auf den Gymnasien zu den sämtlichen übrigen Studien,
das wird hier ein Gesetz sein müssen, wovon kein Vorwand des künftigen
Berufs, als ob derselbe so viel Mathematik nicht brauche — mufs dispen-
sieren können; gerade so wenig als auf den Gymnasien ähnliche Dispen-
sation vom Griechischen und dergleichen erlaubt wird. Denn die Mathe-
matik soll ihre beste Wirkung unmittelbar leisten durch Förderung des
scharfen Denkens und des Erfind ungsgeistes.
Freilich wird der Gewinn nun noch sehr davon abhängen, ob ein
Unterricht in der Physik und Chemie hinzukommt. Ja eigentlich bleibt
der wahre WTert einer Schule immer ein Produkt aus der Gesamt-
wirkung aller Lehren. Und wenn ich hier blofs den mathematisch-physi-
kalischen Teil des Unterrichts betrachtete, so möchte ich dadurch nicht
gern den Schein auf mich ziehen, als ob dies Folge irgend einer Vorliebe
wäre, indem ich vielmehr das übrige stillschweigend voraussetze, auch
noch besonders bemerke, dafs eine Schule, welche (dem hohen Ministerial-
Rescript gemäfs) neuere Sprachen sorgfältig lehren soll, nicht unterlassen
kann, der neueren Geschichte auf ihren obersten Klassen eine grofse
Bedeutung zu geben und überhaupt den abgehenden Schüler, so voll-
ständig, wie nur immer sein Alter es erlaubt, in die heutige wirkliche
Welt einzuführen.
i. Juni 1824. Herbart.
X.
ZWEI PROMOTIONSREDEN
aus dem Jahre 1824.
I. Zur Promotion von Heinr. Otto Hamann.
II. Zur Promotion von Friedr. Ludw. Sieffert.
[Text nach dem Msc. 2382, (1 u. 2) der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Maiores nostri in constituendis literarum universitatibus , cum theo-
logorum iurisconsultorum, medicorum studia segregassent, hanc nostram
artium facultatem, plurimarum rerum varietatem amplectentem, unam tarnen
esse voluerunt, eamque non historicam, mathematicam, philologicam, sed
philosophicam nominaverunt. Qua in re quid consilii sint secuti, facile
apparet. Artium omnium originem et naturam spectabant; philosophiam
sciebant iis temporibus ortam, quae historiae lovo nihil fere nisi mythos
habuerint, in matheseos primis elementis elaboraverint, de philologia cogi-
tare non potuerint; itaque, quam artem cognoverant esse antiquissimam,
hominumque studiis primis quaesitam, eam primo loco posuerunt, verum
ea lege et conditione, arctissimum illud vinculum, quod cunctis inter sese
artibus intercedit, ne laederetur et rumperetur, sed qui mathesi, ant historiae,
ant philologiae studeret, idem ut philosophiae operam daret; neve quis
philosophum se posse recte dici arbitraretur, nisi rerum sensibus occuren-
tium, quarum in rationibus et finibus indagandis versaretur, copiam satis
amplam historiae et philologiae ope cognovisset, quantumque in rebus ex-
plicandis quantitatum et numerorum iusta observatio et computatio posset,
in mathematicorum scholis didicisset.
Ab hisce maiorum institutis sapientissimis aetas nostra haud parum
deliexit. Historia ipso temporum fluxu in maximam molem excrevit; ma-
thesis hominum acutissimorum diligentia in admirandae altitudinis fastigium
esUevecta; philologia. totius antiquitatis portas nobis pandens, in scholis
usum habet maxime necessarium; philosophia fata sua conqueritur, quod,
quantum augmenti acceptum referat Leibnitzio et Kantio, tantum fere
detrimenti ceperit scholastica Wolfii sterilitate et Schellingii ubertate
sive, ut rectius dicam levitate vana, et temeraria; ut non mirum sit, reperiri
quosdam, qui, etsi in philosophando non fuerint laboriosi, tarnen inter histo-
ricos, mathematicos, philologos, dignitatis locum satis amplum se consecuturos
esse minime desperent. Itaque iamdudum nobis fuerunt philosophiae doc-
tores creandi, quos melius philologiae, historiae, matheseos doctores salu-
taremus; summique in philosophia honores iis haud raro conferuntur, qui
philosophiam vix primis labris attigerunt. Quam rem etsi multas habere
excusationes non diffiteor, tarnen tu, Candidate humanissime, quid de deceat,
vide et cura! Piatonis, Aristotelis, Ciceronis libri manibus tuis terantur
necesse est, diseipulisque tuis et explicandi tibi sunt et commendandi: quos
libros ubiubi evolveris, in summas philosophiae laudes atque in ipsam philo-
I 7 i X. Zwei lateinische Promotionsreden aus dem Jahre 1824.
sophiam incides, ut eam si maxime velles, effugere tarnen non posses.
Atque cave putes, temporum nostrorum rationem tarn longe abhorrere ab
illa veteris aevi, ut tibi negligenda sint, quae olim optimi ingenii viri sum-
mis studiis prosequebantur. Humani generis natura non est immutata;
iisdem alimentis indigemus hodie, quibus illi veteres; versamur in eadem
natura, premimur iisdem quaestionibus, propositi nobis iidem sunt virtutis
labores, aspiramus ad eadem sapientiae praemia. Esse quosdam scio, qui
contrarium affirmare audeant: qui tibi non sunt audiendi; mihi vero errores
illorum dolendi quidem, neque tarnen nunc temporis refellendi, sed ad-
monitionis, in officii mei rationibus positae, finis est faciendus. Ut autem
doctorem te pronuntiare possim, prius iuramento solito es astringendus,
quod his terminis continetur:
amplecti Te de singulis doctrinae caelestis articulis Universum scrip-
turae propheticae et apostolicae consensum et praecipua symbola cum
his consentientia : consentire in illud doctrinae genus, quod ex his con-
stitutum sub titulo Augustanae confessionis traditum et deinceps in Apo-
logia repetitum est, eo intellectu at sensu, qui cum universa scriptura
prophetica et apostolica congruit; teque in hac agnita veritate adiuvante
gratia Dei permansurum, publicam utilitatem huius Academiae promo-
turum animi gratitudinem in illustrem Borussia Principem, in acadenüae
huius Professores, et inprimis in Decanum et collegium artisticum debita
subiectione et observatione declaraturum nee denuo Magisterii titulum alibi
repetiturum esse.
Praestitis praestandis, Ego, J. F. H. Doctor Gottingae a. celeb. Eich-
hornio rite promotus ea qua polleo auetoritate, te, Henrice Otto Hamann,
examine rigoroso feliciter superato, ob praeclara in philologicis speeimina
exhibita Doct. philosophiae creo, ren. procl. eamque dignitatem tibi primus
gratulor.
IL
Dignum te esse qui consequaris quod petieris, ordo philosopborum, id
est, amplissimi, qui adsunt, prudentissimique viri, et intellexerunt et pronun-
tiarunt. Sanxerunt autem maiores nostri, at religione quadam obstringamus
eum, cui honores nostros simus delaturi; iuramenti severitatem adhibuerunt,
non eo quidem consilio, quasi rem quandam magnam, difficilem, arduam,
a novo doctore peragendam spectarent, vel officium aliquod gravius ab illo
postul-arent : sed ab hoc promotionis actu omnem levitatem longe abesse
voluerunt, iurisque non scripti, et legum a sola ratione profectarum, quibus
uti decet doctam civitatem, sensus vividiores excitari curaverunt. Quamobrem
meum esse arbitror, ut hoc ipso temporis puncto tali ad te rae convertam
oratione, qualem, si unquam andiendus tibi fui, non audire tan tum, sed
alta mente debes reponere atque conservare. Philosophiae doctorem te
creamus, non ornamenti solum, verum etiam perpetuae admonitionis causa.
Notam indelebilem tibi inurimus; ut, cum theologus velis et esse et dici,
nunquam obliviscaris, theologiam a philosophia nunquam posse recte segregari.
Nam philosophiae proprium est, animos erectos tenere ad cogitandum, alacres
ad veritatem investigandam, strenuos in repellendis erroribus vel veteribus vel
novis, sinceros et candidos in confitenda ignoratione rerum obscurarum. Theo-
logis autem quam multi tendantur laquei, ut paullatim deflectantur ab illo since-
ritate, atque, ut auctoritate, necessario quidem ipsis concessa, abutantur ad
commovendos perturbandos, offuscandos hominum animos ; hoc neque te fugit,
et melius etiam, quam nunc fert aetas tua, procedentibus annis perspicies.
Accedat enim necesse est usus vitae ad studia tua : libris deditus fuisti ; homines
non libris, sed vita et usu cognoscuntur. Itaque melius, quam potuisti,
intelliges, rem maxime salutarem, religionem dico, imbuere homines quos-
dam auctoritate tanta, quantam homo vix ferre potest, ut maxima opus sit inte-
gritate ne theologo idem accidat, quod pati solent, qui sunt magna potentia,
magnis opibus elati atque inflati. Dummodo in medio hoc discrimine col-
locatus integritatem tuam poteris tueri et conservare, tibique temperare,
ne in dominatione turpissima laudem tibi quaerendam putes : hac lege et
conditione gratulor tibi ex animo non hunc tantum, quem iam in eo sum
ut tibi conferam, honorem nostrum, sed maiores etiam illos, quos aüquando
te consecuturum puto, honores theologicos. Scio sane, philosophiae non
cam esse vim, ut possit multorum animos sibi conciliare; fateor, non mul-
tis solum, sed omnibus nobis, quotquot sumus, religionis disciplinam esse
admodum necessariam; nihil ab hac laude detrahere cupio. Tantum dico,
philosophiam tibi aut semper fore colendam, aut, intermissione facta, maion
etiam cura recolendam, ut possis in bis, quos nunc excitatos videmus,
176 X. Zwei lateinische Promotionsreden aus dem Jahre 1824.
opinionum fluctibus, et stare cum dignitate, et peragere, quae debentur,
officio et lionestati, atque ita vere de hominum genere et de virorum doc-
torum civitate bene mereri.
Voce iam tibi praeibo, ut solito iure iurando te possis adstringere; quod
his verbis continetur:
amplecti te de singulis doctrinae caelestis articulis Universum scripturae
propheticae et apostolicae consensum, et praecipua symbola cum his
consentientia : consentire in illud doctrinae genus, quod ex his constitutum
et sub titulo augustanae confessionis traditum, et deinceps in apologia
repetitum est, eo intellectu et sensu, qui cum universa scriptura pro-
phetica et apostolica congruit, et in hac agnita veritate adiuvante gratia
Dei te esse permansurum, publicam utilitatem academiae promoturum,
animi gratitudinem in illustrissimum borussiae principem, academiae huius
professores, et inprimis in Decanum et collegium artisticum debita sub-
iectione et observatione declaraturum, nee denuo magisterii titulüm alibi
repetturam.
Itaque te, Fridericum Ludovicum Sieffert, ob eximia in philosophicis
speeimina et ceterum ingeniis cultum, ego J. F. H. consentiente ampl.
philos. ordine ea, qua polleo auetoritate, doctorem philosophiae creo,
renuntio, proclamo.
XI.
PSYCHOLOGIE als WISSENSCHAFT
NEU GEGRÜNDET AUF
ERFAHRUNG, METAPHYSIK und MATHEMATIK.
ERSTER SYNTHETISCHER THEIL.
1824.
[Text der Originalausgabe, Königsberg, A. W. Unzer, 1824.]
Citirte Ausgaben:
O = Originalausgabe, Königsberg, A. W. Unzer. 1824, XIV u. 390 S. 8°.
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. V, S. 189 — 514), herausgegeben
von G. Hartenstein.
Herbart's Werke. V. 12
Vollständiger Titel der Originalausgabe:
PSYCHOLOGIE ALS WISSENSCHAFT
neu gegründet auf
Erfahrung, Metaphysik und Mathematik.
Von
Johann Friedrich Herbart
Professor der Philosophie zu Königsberg.
Erster, synthetischer Theil.
Königsberg, 1824.
Auf Kosten des Verfassers und in Commission bey
August "Wilhelm Unzer.
Vorrede.
Die Philosophie stand in ihrer Blüthe zu Kant's und Fichte's Zeiten;
jetzt welkt sie, allein ihre Wurzeln sind unvergänglich, und sie kann sich
wieder aufrichten, wenn dem Untersuchungsgeiste neue Nahrung dargeboten
wird. Damit mir dieses mein Vorhaben erleichtert werde, bitte ich den
Leser, sich in jene Periode des eifrigen Strebens, der unglücklicherweise
eine zweyte des Schwindels, und eine dritte der Abspannung gefolgt ist,
zurückzuversetzen; über alles, was nachkam, aber fürs erste einen Schleyer
fallen zu lassen. Es ist kein Wunder, wenn eine Kraft sich verzehrt und
erschöpft, indem sie arbeitet, ohne die nothwendigen Hülfsmittel zu be-
sitzen. Aber es ist zu wünschen, und vielleicht zu hoffen, dafs, nachdem
die Hülfsmittel gefunden sind, nun auch der Wille zurückkehre, sich ihrer
zu bedienen.
Kant wurde Idealist wider seinen Willen; er hat seine Anhänglich-
keit an die Dinge an sich nie verleugnet, obgleich er die Unmöglichkeit
behauptete, sie zu erkennen. Fichte ergab sich dem Idealismus williger,
wiewohl auch noch mit einigem Widerstreben; aber ihm geschah es wider
seine Absicht, dafs er ein von tausend [IV] Bedingungen umwickeltes Ich
zum Vorschein brachte, obgleich er das absolute Ich auf den Thron zu
heben gedachte. Ein absolutes Urwesen, Grund der Welt und Grund des
Ich, liefs sich Schelling gefallen; er wurde Spinozist vielleicht eben so
sehr wider sein Wollen und Meinen, als Kant Idealist gewesen war. —
Wenn nun die Geschichte der Philosophie diese Ereignisse kurz erzählen
will, so wird sie sagen : die Begriffe verwandeln sich den Philosophen unter
den Händen unwillkührlich, während sie sie bearbeiten. Wenn aber die
Philosophie selbst zu dieser Geschichte hinzukommt: so mufs sie in dem
scheinbar zufälligen Ereignifs das Nothwendige, und in den besondern
Fällen das Allgemeine nachweisen, was sich in jenen Beyspielen nur un-
vollkommen abspiegelt.
Richtige Erkenntnifs dieser nothwendigen und allgemeinen Umwand-
lung gewisser Begriffe im Denken, ist das erste Hülfsmittel, welches bisher
gefehlt hat.
Mathematische Untersuchungen über den Zusammenhang und den
Lauf unserer Vorstellungen sind das zweyte. Die Seelenvermögen waren
ein Surrogat, dessen sich bisher nicht blofs die empirische Psychologie,
sondern auch Kant bev seinem kritischen Unternehmen bediente. Frever
von Vorurtheilen in diesem Puncte zeigte sich Fichte; er wollte zu den
Producten des menschlichen Geistes .die Acte des Producirens finden.
12*
j go XL Psychologie als Wissenschaft.
Warum hat man diese nothwendige Untersuchung vernachlässigt? Ohne
Zweifel aus zwey Gründen. Erstlich, weil Fichte in dieser Hinsicht
wirklich blofs gewollt, aber nichts geleistet hat, auch bey seinem Verfahren
nichts leisten konnte; kein Wunder, dafs nun die Fortsetzung unterblieb,
da gar kein Anfang gegeben war. Zweytens, weil man sich blenden liefs
von der Kehrseite des FiCHTE'schen Unternehmens, näm[V]lich von dem
gigantischen Project, aus dem Ich die Welt zu deduciren. Man verliefs
zwar das Ich, aber man behielt die weltumspannende Tendenz. Kennen
wir denn unsern Standpunct auf dieser Erde noch so wenig, um uns kos-
mologischen Träumen hinzugeben? Ist etwa der Himmel noch jetzt für
uns eine Kugel, in deren Mitte wir auf einer unermefslichen Ebene vest-
stehn? Welt- Ansichten gehören dem Glauben; aber die wahre Philosophie
sagt nicht mehr als sie weifs. Und um etwas zu wissen, prüft sie die
Anschauungen jeder Art, die ihr gegeben sind, ohne irgend einer unbe-
dingt zu vertrauen.
Man wird mich nun fragen, wie denn mathematische Untersuchungen
über den menschlichen Geist möglich seyen? Und welchen Gewinn
sie bringen? Auf die erste Frage kann nicht die Vorrede, sondern nur
■das Buch antworten; über die zweyte sollen hier einige Worte Platz finden.
Die Psychologie hat einige Aehnlichkeit mit der Physiologie; wie
diese den Leib aus Fibern, so construirt sie den Geist aus Vorstellungs-
reihen. Und wie dort die Reizbarkeit der Fibern ein Hauptproblem, so
ist hier die Reizbarkeit der Vorstellungsreihen gerade das, wovon alle
weitere Erkenntnifs der geistigen Thätigkeiten abhängt. Man wird aber
dieses Buch nicht halb, sondern ganz lesen müssen, um hievon unter-
richtet zu werden. Dem zweyten Theile dieses Werks, welcher die psycho-
logischen Thatsachen auf ihre Gründe zurückführen soll, ist es vorbehalten
zu zeigen, dafs die Spannung in den Vorstellungsreihen eben so wohl der
Grund der Gemüthszustände, als die Ordnung, in welcher jede Vorstellung
auf die übrigen mit ihr verbundenen wirkt, der Grund aller Formen ist,
welche wir in unserm Anschauen und Denken bemerken. Aber die Ord-
nung beruht hier auf einem Mehr [VI] oder Weniger der Verbindung;
die Spannung auf einem Mehr oder Weniger der Hemmung; bey des hängt
innig zusammen; jedoch Niemand hoffe davon etwas zu begreifen, wenn
er nicht rechnen will. Kann er doch ohne dies Hülfsmittel nicht einmal
die Gestalt und die Spannung einer Kette begreifen, wie wollte er die
Gestalt und die Wirksamkeit seiner unermefslich vielfach verwebten Vor-
stellungen aus ihren Gründen erkennen? Aber gerade so wie eine an
zwey vesten Puncten aufgehängte Kette dem gemeinen Beschauer ein
gemeines Ding zu seyn scheint, das er gedankenlos ansieht, ohne sich um
die ungleiche Spannung, um das Gesetz ihres Wachsens und Abnehmern,
um die Abhängigkeit der Krümmung von der Spannung, das heifst, der
äufseren Erscheinung des Ganzen von der Wechselwirkung der einzelnen
Theile, zu bekümmern : gerade so gedankenlos steht seit Jahrhunderten
die empirische Psychologie vor dem Schauspiel, was die von ihr sogenannte
Association der Ideen ihr darbietet; sie erzählt, dafs sich die Vorstellungen
nach Raum und Zeit associiren; und es fällt ihr nicht einmal ein, dafs
alle Räumlichkeit und Zeitlichkeit eben nur die näheren Bestimmungen
Vorrede. I 8 I
dieser Association sind, die in der Wirklichkeit nicht so schwankend vor-
handen ist, wie die gangbare Beschreibung davon lautet, sondern mit der
strengsten mathematischen Regelmäfsigkeit sich erzeugt und fortwirkt. Wo
nun die allerersten Elemente von Kenntnifs der geistigen Natur noch so
unbekannt und ungeahndet liegen: da wolle man von Verstand und Ver-
nunft doch ja lieber schweigen als reden! Man kennt davon Nichts, als
die Aufsenseite; und alles, was vermeintlich darauf gebaut worden, ist
nichts als ein Wunsch, der künftig einmal kann erfüllt werden, wenn man
erst einen Begriff haben wird von der Arbeit, die dazu nöthig ist.
[VII] Was ich hier gesagt habe, kann nicht hart klingen für wahrheit-
liebende Männer; und es kann dem Publicum nicht unerwartet seyn, welches-
so viele Jahre lang Zeuge war vom endlosen Streite der Schulen; viel-
mehr wird man hieraus längst geschlossen haben, dafs es allen Partheyen
an den entscheidenden Gründen fehlte. Und gerade dieser Umstand ist
der Ursprung der Partheylichkeit. Wenn die Mathematiker streiten, so
rechnen sie; und die Rechnung bindet dergestalt alle Willkühr, dafs der
Versuch jeder Widerrede aufhören mufs. Die Philosophie wird nicht
alles berechnen können, aber sie wird grofse Schritte thun können, damit
sich in ihr das Gewisse vom Ungewissen sondere; und wenn der Streit
der Schulen fortdauert, so wird er sich doch mäfsigen, und nicht mehr,
wie jetzt, zu unheilbarem Zwiespalt führen, der ein noch weit gröfseres
Uebel ist, als selbst der lauteste Streit, so lange er mit der Aussicht auf
künftige Vereinigung geführt wird.
Hiemit sind meine Ansichten und Gesinnungen hinreichend ange-
deutet; besonders wenn man das hinzudenkt, was ich in Ansehung der
heutigen Schulen, worüber ernst und ausführlich zu reden ich mich
dringend veranlafst finden könnte, — hier verschweige, und selbst im
Buche nur selten berührt habe; weil ich lieber will, dafs die Knoten sich
allmählig lüften und lösen, als dafs sie durch eine heftige Behandlung
sich noch mehr zusammenziehn. Aussprechen mufs ich jedoch, dafs
während eines vollen Viertel-Jahrhunderts ankämpfend wider Wind und
Strom, ich nur mit äufserster Anstrengung meine Richtung habe behaupten
können, und dafs ohne die Stütze der Mathematik ich sicherlich hätte
unterliegen müssen. Auf den Schwierigkeiten, die mir ein widerwärtiges
Zeitalter in den Weg legte, beruht mein Anspruch auf nachsichtige Be-
urthei[VIII]lung von Seiten des competenten Richters, welchem früher
oder später mein Werk begegnen wird. Sorgfältige Vergleichung desselben
mit meinen früheren Schriften darf ich in Fällen, wo etwas dunkel scheinen
möchte, wohl von jedem aufmerksamen Leser erwarten.
Noch ein Wort habe ich zu sagen über den Gang der vorliegenden
Untersuchungen in Beziehung auf die Verschiedenheit der Leser. Für
Manchen würde es ohne Zweifel bequemer gewesen seyn, wenn ich die
Grundlinien der Statik und Mechanik des Geistes gerade zu auf den em-
pirischen Boden gestellt hätte. Da es hiebey nur auf die Hemmung
unter entgegengesetzten Vorstellungen ankommt, welche sich ziemlich deut-
lich unmittelbar in der Erfahrung zu erkennen giebt: so hätte ich recht
füglich im Geiste der Mathematiker an ein Gegebenes die Rechnung
knüpfen können; man würde mir den Satz: dafs entgegengesetzte Vor-
l82 XI. Psychologie als Wissenschaft.
Stellungen sich zum Theil in ein Streben vorzustellen verwandeln,
entweder als Thatsache zugegeben, oder, Falls jemand seiner innern Wahr-
nehmung nicht so viel zugetraut hätte (und das wäre allerdings auch bey
mir der Fall gewesen), wenigstens die Hypothese gestattet haben, die sich
alsdann durch ihre Fruchtbarkeit hätte rechtfertigen müssen. Allein hiemit
wäre der geschichtliche Gang meiner Untersuchungen verdeckt worden.
Diesen habe ich gerade im Gegentheil ganz offen dargestellt. Von der
Untersuchung des Ich bin ich wirklich ausgegangen; die noth wendigen
Reflexionen über das Selbstbewufstseyn haben sich von ihrer besonderen
Veranlassung späterhin losgemacht; daraus ist ein allgemeiner Ausdruck
derselben entstanden, den ich Methode der Beziehungen nenne, und
auch für andre metaphysische Grund-Probleme passend gefunden habe;
zugleich ergab sich aus jenen Reflexionen [IX] der Begriff des Strebens
vorzustellen mit einer solchen Bestimmtheit und Notwendigkeit, dafs
nunmehr auch seine Fähigkeit, sich der Rechnung zu unterwerfen, vor
Augen lag; und erst viel später (als ich das Lehrbuch zur Psychologie
niederschrieb) bemerkte ich, dafs zum Behuf des Vortrags für Solche, die
man mit Metaphysik nicht behelligen darf oder will, das nämliche Princip
auch als Hypothese konnte dargestellt werden. — Wenn sich ein Indi-
viduum lange Jahre hindurch auf einer und der nämlichen Linie des
Forschens mit möglichster Behutsamkeit fortbewegt: so entsteht daraus für
dieses Individuum Ueberzeugung, für Andre zunächst nur eine Thatsache
auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Denkens, die ihnen rein und voll-
ständig, nur von zufälligen Nebenumständen gesondert, mufs vorgelegt
werden. Die Thatsache nach ihrer Art zu betrachten, ist ihre Sache; als
ihre Pflicht aber kann man ihnen zumuthen, dafs sie dieselbe aufbewahren,
und unverfälscht weiter mittheilen, damit sie noch in späterer Zeit von
anderen Augen könne gesehen, und vielleicht anders ausgelegt werden.
Nichts verhindert übrigens, dafs jeder Leser sich nach seinem Be-
dürfnifs einen Anfangspunct in diesem Buche aufsuche, der ihm bequemer
ist, als der meinige. Man kann immerhin die metaphysische Untersuchung
über das Ich, fürs erste wenigstens, ignoriren; man kann die Grundlinien
der Statik und Mechanik des Geistes gleich Anfangs aufschlagen; es wird
nicht gerade schwer seyn, auch hievon ausgehend, das Nachfolgende zu
verstehen; und man wird sich hiemit unmittelbar in den Besitz des Vor-
theils setzen, den mathematische Entwicklungen durch ihre natürliche
Deutlichkeit gewähren.
Eine andre Classe von Lesern kann ich mir denken, die wegen ihrer
vorhandenen Angewüh[X]nungen beynahe nur von hinten anfangend sich
einen Zugang zu diesen Untersuchungen zu schaffen aufgelegt seyn dürften.
Dahin gehören die, welche in ihrem System, und eben deshalb in dessen
Gedankenkreise vesthängen; so dafs ein Buch, worin nicht von denselben
Gegenständen unmittelbar die Rede ist, die sie zu bedenken gewohnt
sind, für sie eine Wüste ohne Ruhepunct ist. Für solche Leser kann ich
nicht schreiben! Sollte mir gleichwohl ein Besuch von ihnen zugedacht
seyn, so müfste ich bedauern, dafs nicht der zweyte Theil meines Werks
zugleich mit dem ersten hat erscheinen können; wäre dies der Fall, so
würde es leichter als jetzt geschehen, dafs man sich zuerst bey den An-
Vorrede. 1 83
Wendungen orientirte, und von da rückwärts zu den Granden fortginge.
Indessen enthält auch dieser erste Band am Ende Einiges, das für Manche
zur Einleitung gehören würde.
Will endlich Jemand versuchen, sich auf meine Schultern zu stellen,
um weiter zu sehen wie ich: so darf er wenigstens nicht besorgen, dafs
unter mir der Boden einbreche. Denn ich stehe nicht (wie man bey
oberflächlicher Ansicht etwa glauben könnte) auf der einzigen Spitze des
Ich: sondern meine Basis ist so breit wie die gesammte Erfahrung. Zwar
habe ich gesucht, einem einzigen Princip so viel als möglich abzugewinnen;
aber außerdem habe ich auch die andern Quellen des menschlichen
Wissens benutzt; in welcher Hinsicht meine Einleitung in die Philosophie
mag nachgesehn werden. Personen, die aufgelegt waren mir Unrecht zu
thun, haben zwar wider den klaren Augenschein, den meine Einleitung
darbietet, mich in den Ruf gebracht, als suchte ich einen Ruhm darin,
der Erfahrung zu widersprechen; allein nicht alle Nachreden haften; und
meine Versicherung wird doch auch einigen [XI] Glauben finden : es sey in
der theoretischen Philosophie meine Hauptangelegenheit, die Erfahrung
mit sich selbst zu versöhnen. Uebrigens kenne ich die Macht der
Vorurtheile; und wenn man aus dem hier vorliegenden Buche eben so
deutlich herauslieset, ich sey ein vollkommener Empirist, als aus jenem,
ich sey Gegner aller Erfahrung, so werde ich mich darüber nicht mehr
wundern, und nicht sehr betrüben. Misdeutung ist für jede neue Lehre
das alte Schicksal; und jetzt, da ich diese Blätter aus meinen Händen
lasse, darf ich mich ruhig darin ergeben. Bereit fühle ich mich zu dieser
Resignation; allein indem ich mir alle Umstände nochmals vergegenwärtige,
glaube ich nicht, dafs sie nöthig ist. Deutlich gesprochen habe ich in
diesem Buche. Und die Philosophie der letzten zwanzig Jahre ist ein
Baum, den man im Grunde längst an seinen Erüchten erkannt hat.
Diese Philosophie ist keineswegs das Werk eines Übeln Willens, oder
geistloser Köpfe; aber sie ist auch eben so wenig das Werk ächter Specu-
lation; sondern das Kind eines Enthusiasmus, der es unterliefe, sich selbst
die kritischen Zügel anzulegen. Kant besafs den Geist der Kritik; aber
welcher Mensch hat je sein Werk vollendet? — Unvollendet blieb das
Werk der Kritik. Darum konnte die Philosophie sich mit dem Wissen
des Zeitalters, wie es in andern Fächern fortwächst, nicht ins Gleichgewicht
setzen. Vergebens sucht man Rath bey altern Zeiten; sie wußten nicht
mehr wie wir. Des-Cartes, Locke, Leibniz, Spinoza, selbst Platon und
Aristoteles taugen bey uns nur zur Vorbereitung; in noch frühere
Zeiten müfsten wir wissentlich hineindichten, was die Documente nicht
enthalten. Unsre Mathematiker und Physiker verachten die Philosophie
der Zeit, und sie haben nicht Unrecht. Die Kirche weifs, dafs sie auf
[XII] einem antiken, und in seiner Art vollkommen klassischen Funda-
mente beruht; für die allgemeinen Bedürfnisse der Menschheit ist längst
gesorgt. Nicht so für die Angelegenheiten des Wissens und für das, was
davon abhängt. Darum wolle man den neuen Versuch gefällig aufnehmen,
und ihn sorgfältig prüfen.
Inhalt des ersten Bandes.
Einleitung.
I. Von den verschiedenen Weisen, wie die gemeine Kenntnifs der Thatsachen
des Bewufstseyns gewonnen wird. § I — 6.
II. Von einer allgemeinen Eigenschaft alles dessen, was innerlich wahrgenom-
men wird. § 7 — 9.
III. Weshalb sind wir so geneigt, uns in der Psychologie mit Abstractionen
zu behelfen ? §10.
IV. Allgemeine Angabe des Verfahrens, um Thatsachen des Bewufstseyns zu
Principien der Psychologie zu benutzen. § 11 — 13.
V. Vom Verhältnisse der Psychologie zur allgemeinen Metaphysik. § 14 — 16.
VI. Blicke auf die Geschichte der Psychologie seit Des-Cartes. § 17—22.
VII. Plan und Eintheilung der bevorstehenden Untersuchungen. § 23.
Erster, synthetischer Theil.
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich, in seinen näch-
sten Beziehungen.
Erstes Capitel. Ueber die philosophische Bestimmung des Begriffs vom Ich.
§ 24—26.
Zweytes Capitel. Darstellung des im Begriffe des Ich enthaltenen Problems,
nebst den ersten Schritten zu dessen Auflösung. § 27 — 30.
Drittes Capitel. Vergleichung des Selbstbewufstseyns mit andern Problemen
der allgemeinen Metaphysik. § 31 — 35.
Viertes Capitel. Vorbereitung der mathematisch-psychologischen Untersuchungen.
§ 36-40-
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.
Erstes Capitel. Summe und Verhältnifs der Hemmung bey vollem Gegen-
satze. § 41—43.
Zweytes Capitel Berechnung der Hemmung bey vollem Gegensatze, und
erste Nachweisung der Schwellen des Bewufstseyns. § 44 — 51.
Drittes Capitel. Abänderung des Vorigen bey minderem Gegensatze. § 52
bis 56.
Viertes Capitel. Von den vollkommenen Complicationen der Vorstellungen.
§ 57-62.
Fünftes Capitel. Von den unvollkommenen Complicationen. § 63 — 66.
Sechstes Capitel. Von den Verschmelzungen. § 67 — 73.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
Erstes Capitel. Vom Sinken der Hemmungssumme. § 74 — 76.
Zweytes Capitel. Von den mechanischen Schwellen. § "JJ — 80.
Drittes Capitel. Von wiedererweckten Vorstellungen nach der einfachsten
Ansicht. § 81—85.
Viertes Capitel. Von der mittelbaren "Wiedererweckung. § 86 — 93.
Fünftes Capitel. Vom zeitlichen Entstehen der Vorstellungen. § 94 — 97.
Sechstes Capitel. Ueber Abnahme und Erneuerung der Empfänglichkeit.
§ 98—99-
Siebentes Capitel. Von den Vorstellungsreihen niederer und höherer Ord-
nungen; ihrer Verwebung und Wechselwirkung. § 100 — 102.
Einleitung.
[i] Die Absicht dieses Werkes geht dahin, eine Seelenforschung her-
beyzuführen, welche der Naturforschung gleiche; in so fern dieselbe den
völlig regelmäfsigen Zusammenhang der Erscheinungen überall voraussetzt,
und ihm nachspürt durch Sichtung der Thatsachen, durch behutsame
Schlüsse, durch gewagte, geprüfte, berichtigte Hypothesen, endlich, wo es
irgend seyn kann, durch Erwägung der Gröfsen und durch Rechnung.
Dafs die Seelenlehre sich von mehrern Seiten der Rechnung darbietet, diese
Bemerkung hat mich auf die Bahn der jetzt vorzulegenden Untersuchungen
gebracht; und je weiter ich sie verfolge, um desto mehr überzeuge ich
mich, dafs nur auf solchem Wege das Misverhältnifs zwischen unsern
Kenntnissen von der äufseren Welt, und der Ungewifsheit über unser
eigenes Innere, kann ausgeglichen, nur auf solche Weise der Stoff, welchen
Selbstbeobachtung, Umgang mit Menschen, und Geschichte, uns darbieten,
gehörig kann verarbeitet werden.
Von den Meinungen derer, die auf innere, auf intellectuale An-
schauungen eine Naturlehre gründen, werde ich freilich mich weit entfernen
müssen. Ihre Naturlehre ist nicht das passende Gleichnifs für die Psycho-
logie; ihre Anschauungen sind der Selbsttäuschung mehr als verdächtig,
denn es sind offenbar nur unrichtige Begriffe, die aus speculativen Ver-
legenheiten entsprangen; hätte es aber auch mit diesen Anschauungen, als
Thatsachen, [2] seine Richtigkeit, so würde dabey noch vergessen oder ver-
kannt seyn, dafs alle Anschauung, innere sowohl als äufsere, um sichere
Ueberzeugung zu begründen, erst die Probe machen mufs, ob sie sich im
Denken halten könne? oder ob sie ein blofser Stoff für Kritik und Um-
arbeitung werde, sobald der Denker sie ernstlich angreift? Des leichten
Beyspiels, welches die Astronomie uns liefert, indem sie die scheinbaren
Bewegungen auf die wahren zurückführt, ist kaum nöthig, zu erwähnen.
Um nichts besser werde ich zusammenstimmen mit Denen, welche
durch das Dogma von der sogenannten transscen dentalen Freyheit
des Willens einen grofsen Theil der psychologischen Thatsachen der all-
gemeinen Gesetzmässigkeit entweder geradezu entziehen, oder doch diese
Gesetzmäfsigkeit für blofse Erscheinung erklären. Diese häufen irrige An-
sichten der praktischen Philosophie auf psychologische Vorurtheile; indem
sie die Selbstständigkeit des sittlichen Urtheils mit einer Selbstständigkeit des
Willens verwechseln; die Zurechnung, welche den Willen treffen sollte,
über ihr Ziel hinaustreiben, und sich dabey in müssige Fragen nach dem
Ursprünge des Willens verlieren; endlich das Urtheil mit dem Gebute
l86 XL Psychologie als Wissenschaft.
zusammenschmelzend sich eine praktische Vernunft erfinden, deren Ver-
hältnifs zu der theoretischen sie in die unnützesten Streitigkeiten verwickelt.
Das Gewebe dieser Täuschungen aufzulösen, ist zum Theil die Sache der
praktischen Philosophie, und in so fern mufs ich mich auf eine frühere
Schrift beziehen*; damit aber auch die Psychologie von ihrer Seite zu Hülfe
komme, mufs erst sie selbst mit vorurtheilsfreyem Geiste bearbeitet werden.
Abweichen mufs endlich von allen Denen, welche die innern That-
sachen zu erklären glauben, indem sie sie classificiren , und nun für jede
Classe von Thatsafjjjchen eine besondere, ihr entsprechende Möglichkeit
annehmen, diese Möglichkeiten aber in eben so viele Vermögen übersetzen;
wobey die logischen, zur vorläufigen Uebersicht der Phänomene brauch-
baren Einteilungen, wider alles Recht, für Erkenntnisse realer Vielheit
und Verschiedenheit ausgegeben werden; und wodurch statt des ächten
Systems, der, unter sich nothwendig zusammenhängenden psychologischen
Gesetze ein blofses Aggregat von Seelenvermögen herauskommt, ohne Spur
einer Antwort auf die Frage: warum doch gerade solche und so viele
Vermögen in uns beysammen, und warum sie in dieser, und keiner andern
Gemeinschaft begriffen sevn mögen? — Die sogenannte empirische Psycho-
logie, welche aus solcher Behandlung des Gegenstandes entsteht, ist be-
kannt genug, es wird auch noch jetzt hie und da daran gekünstelt, ob-
gleich das Interesse dafür sich grofsentheils verloren hat. Hier aber ent-
steht ein Kreislauf von Uebeln. Unrichtiges Verfahren siebt schlechten
Erfolg; das Mislingen bricht den Muth und hemmt den Fleifs; je nach-
lässiger nun gearbeitet wird, desto weniger bessert sich das Verfahren ; und
der Irrthum, dessen man längst müde geworden, fährt gleichwohl fort zu
täuschen. —
Nach den vorstehenden Erklärungen werden Manche dies Buch für
immer bey Seite legen; möchten nun die Wenigen, welche noch nicht ab-
geschreckt sind, sich zuerst der längst anerkannten, höchsten Wichtigkeit
einer ächten Wissenschaft von Uns selbst, von unserem Geiste und Ge-
müthe, erinnern! Einer Wissenschaft, die wir im Grunde immer, als ob
wir sie schon besäfsen, im Stillen voraussetzen, wo wir von uns etwas
fordeni, für uns etwas wünschen, wo wir mit unsern Kräften etwas unter-
nehmen, oder daran zweifelnd etwas aufgeben, wo wir im Wissen oder
im Handeln oder im Geniefsen vorwärts streben oder rückwärts gleiten.
Uns selbst schauen und denken wir in Alles hinein, darum weil wir mit
unsern Augen sehen, und mit unserm Geiste den[_|.]ken; in unsern
eigenen Zuständen liegt das Glück und das Uebel, welches wir empfinden,
und dessen Vorstellung1 wir auf Andere übertragen; nach dem Standpuncte,
auf welchem der Mensch steht, richtet sich sein Begriff von Gott und vom
Teufel, so wie von der Erde aus und mit irdischen Werkzeugen wir
in das Licht der Sonnen und in die Nebel der Kometen hineinblicken.
Können wir nun das, was wir in unser Wissen und Meinen selbst hinein-
trugen, wieder abrechnen? Und bleibt alsdann noch ein wahrhaft objectives
Nämlich auf meine allgemeine praktische Philosophie.
1 Vorstellungen S\Y.
Einleitung. 187
Wissen übrig? Oder ist die Abrechnung unmöglich, und ist die ganze
Welt, die ganze Natur, blofs für uns und in uns? Oder sind wir selbst
dergestalt in der Welt, dafs in der Selbstanschauung der Welt auch die
Geister der Menschen, wie Theile im Ganzen enthalten sind? — Solche
Fragen, ohne alle Psychologie zu beantworten, wird wohl Niemand ver-
suchen. Dadurch aber, dafs man in die Lehren vom Ich oder von der
Weltseele die gemeinen Vorstellungsarten der empirischen Psychologie
einwickelt, ohne sie zu verbessern, kommt die Wissenschaft nicht von der
Stelle. Und gleichwohl, wo wäre die Wissenschaftslehre oder die Natur-
philosophie, die nicht auf der Einbildungskraft, der Urtheilskraft,
der Vernunft, dem Verstände, dem freyen Willen, als auf eben so
vielen unentbehrlichen Krücken sich gelehnt hätte und einhergegangen wäre?
die nicht, obgleich undankbar, dennoch Dienste von der empirischen Psy-
chologie angenommen, und dadurch ein mittelbares Bekenntnifs von der
Wichtigkeit unseres Gegenstandes abgelegt hätte?
Möchten ferner die Leser, die sich entschlossen haben, mir ernstlich
und beharrlich auf meiner Bahn zu folgen, in der Ueberlegung dessen,
wornach sie zuerst zu fragen haben, mir zuvorkommen! Dieses aber sind
die Principien, die ich zum Grunde lege1, und die Methoden, deren
ich mich bedienen werde. Wobey sogleich zu bemerken, dafs hier lediglich
von Principien der Er[5]kenntnifs, das heifst, von Anfangspuncten des
Wissens die Rede seyn kann; keineswegs aber von Real-Principien, das
heifst, Anfangspuncten des Seyns und Geschehens. Denn wie, und ob
überhaupt, wir die letztem zu erkennen vermögen? das ist eben die
Frage; es ist keine Gewifsheit, von der man ausgehn könnte. Und den
Lehren, nach welchen es irgend ein Reales geben soll, das man unmittel-
bar und ursprünglich erkenne, steht die Thatsache entgegen, dafs sie be-
zweifelt werden, da doch kein Zweifel möglich wäre, wenn durch irgend
ein Princip des Wissens geradezu ein realer Gegenstand gewufst würde.
Meinerseits benachrichtige ich den Leser, dafs ich alle vorgebliche Identität
von Ideal- und Real-Principien schlechthin leugne, und jede Behauptung
der Art als einen Schlagbaum betrachte, wodurch der Weg zur Wahrheit
gleich Anfangs versperrt wird. Alles unmittelbar-Gegebene ist Erscheinung;
alle Kenntnifs des Realen beruht auf der Einsicht, dafs das Gegebene
nicht erscheinen könnte, wenn das Reale nicht wäre. Die Schlüsse aber
von der Erscheinung auf das Reale, beruhen nicht auf eingebildeten For-
men des Anschauens und Denkens; — dergleichen Manche in dem Räume
und der Zeit, ja sogar in dem Causal-Gesetze, oder noch allgemeiner in
einem sogenannten Satze des Grundes zu finden glauben; dergestalt, dafs
sie diese Formen für zufällige Bedingungen halten, auf welche nun einmal
das menschliche Erkenntnifsvermögen beschränkt sey, während andre Ver-
nunftwesen wohl eine andre Einrichtung ihres Denkens haben könnten. —
Wer dieser Meinung zugethan ist, der verfährt consequent, wenn er die
Schlüsse von der Erscheinung auf das Reale für ein blofses Ereignifs in
unserm Erkenntnifsverm<">gen hält; der Fehler liegt aber daran, dafs er die
Formen des Denkens blofs empirisch kennt, ohne Einsicht in deren innere
1 zum Grunde O („lege" fehlt).
l88 XI. Psychologie als Wissenschaft.
und unabänderliche Nothwendigkeit. Wäre ihm diese klar, so würde er
auch richtigen Schlüssen vertrauen; und das Suchen nach einem hohem
Standpuncte, auf welchem die einmal er[6]kannte Wahrheit wohl wieder
Irrthum werden möge, würde er als eine Träumerey betrachten, deren
Ungereimtheit daraus entsteht, dafs die Evidenz des Wachens verloren geht
und vergessen wird. Diejenigen, welche auf verschiedenen Standpuncten
Verschiedenes wahr fanden, hatten auf keinem richtig gesehen.
Eine zweyte Bemerkung, die gleich hier nöthig scheint, betrifft das
Verhältnifs der Principien und Methoden. Beyde bestimmen einander
gegenseitig. Nämlich ein Princip soll die doppelte Eigenschaft besitzen,
eigene Gewifsheit ursprünglich zu haben, und andere Gewifsheit zu er-
zeugen. Die Art und Weise, wie das letztere geschieht, ist die Methode.
Daher richtet sich aber auch die Methode nach dem Princip, auf welches-
sie pafst; und ihm selbst mufs sie abgewonnen werden. Der Denker,
welcher in der Mitte seiner Beschäftigung mit einem (nicht willkürlichen,
sondern gegebenen) Begriffe, gewahr wird, dafs dieser Begriff ihm nöthige
neue Begriffe an jenen anzuknüpfen, die zu ihm wesentlich gehören;,
derselbe findet, und erfindet eben dadurch die Methode, welche zu jenem
Begriffe, als dem Princip, gehören wird. Ueber ein solches Verhältnifs
zwischen Methoden und den entsprechenden Principien lassen sich all-
gemeine Untersuchungen anstellen; aber in der reinen formalen Logik mufs
man dergleichen nicht suchen; denn eben weil diese von allem Inhalte
der Begriffe abstrahirt, kann sie das Eigenthümliche besonderer Erkenntnifs-
quellen, und die besondere Art, wie daraus geschöpft werden mufs, nicht
erreichen. Daher kann auch die Frage, wie vieles aus einem einzigen
Princip könne abgeleitet werden? nicht durch die allbekannte Bemerkung,
dafs zu einer logischen Conclusion wenigstens zwey Prämissen gehören,
zurückgewiesen werden. Wer in der Philosophie gute Fortschritte machen
will, der mufs sich vor allen Dingen hüten, in der Form seines Denkens
nicht einseitig zu werden, und sich keiner beschränkten Angewöhnung zu
überlassen. Fast jede Classe von Problemen [7] hat ihr Eigenthümliches,
sie verlangt neue Uebungen und Anstrengungen.
Hieraus erklärt sichs, dafs oft die fruchtbarsten Principien lange Zeit
ungenutzt liegen bleiben. Man kennt sie in ihrer ersten Eigenschaft, näm-
lich dafs sie an sich gewifs sind; aber man ist noch nicht aufmerksam
geworden auf die zweyte, vermöge deren sie neue Gewifsheit erzeugen
können. Und warum nicht? Weil man die dazu nöthige Methode nicht
hat, und die derselben angemessene Geistesrichtung und Uebung nicht
besitzt.
Die Gefahr aber, dafs vorhandene Principien ungenutzt bleiben, ist
um desto gröfser, je mehr unsre Aufmerksamkeit getheilt wird, je mehr
die Menge der Principien uns zerstreut; je unbestimmter sie vor unsern
Augen gleichsam herum schweben; endlich je mannigfaltiger wir noch
aufser dem speculativen Interesse von ihnen beschäfttigt werden.
In solchem Falle nun sind wir mit den Principien der Psychologie.
An ihnen haben wir einen Reichthum, den wir nicht zählen können; ein
Wissen, das, wie ein Irrlicht, uns stets begleitet, und stets flieht; eine
Ueberzeugung, deren Stärke zwar die gröfste, deren Bestimmtheit aber die
Einleitung. 189
allerlei einste ist; eine Basis von Untersuchungen, welche als Ganzes völlig
vest lieo-t, und doch in jedem einzelnen Puncte schwankt; endlich eine
Aufforderung zum Nachdenken, die so dringend und auf so mannigfaltige
Weise einladend, die mit so vielerley Angelegenheiten unsere Lebens und
unserer Geschaffte verflochten ist, dafs wir vor lauter Interesse zu der-
jenigen rein speculativen Gemüthsfassung, deren es zur Untersuchung ein-
zig bedarf, kaum gelangen können.
Welches sind denn die Principien der Psychologie? Diese
Frage hoffe ich mit allgemeiner Zustimmung so zu beantworten: es sind
diejenigen Thatsachen des Bewufstseyns, aus welchen die Gesetze dessen,
was in uns geschieht, können erkannt werden. — Die Thatsachen des
Bewufstseyns sind ohne Zweifel die An[8]fangspuncte alles psychologischen
Nachdenkens; abgesehen von ihnen, was hätten wir von der Seele zu
sagen oder zu fragen? Nun soll auch aus den Principien etwas weiteres
erkannt werden; und hier möchte man sich vielleicht nicht mit den Ge-
setzen der geistigen Ereignisse begnügen wollen, sondern auch noch Auf-
schlufs über das reale Wesen der Seele verlangen. Allein ob dieses er-
kennbar sey? wird wohl der Leser das vor der Untersuchung entscheiden
wollen? Wir suchen ein speculatives Wissen; also freylich kein blofses
Register von Thatsachen, sondern eine gesetzmäfsige Verknüpfung derselben;
darüber hinaus grundlose Behauptungen aufzustellen, würde Nichts helfen;
ergiebt sich aber auf rechtmäfsigem Wege noch etwas Mehr, so ist dies
als eine willkommene Zugabe zu betrachten.
Wenn nun gleich die gegebene Antwort einleuchtend ist, so hat sie
doch nur den Werth einer Nominal-Definition. Denn wir sehen noch
nicht, ob es denn solche Thatsachen des Bewufstseyns wirklich gebe, die
zu Erkenntnifsgründen der aufzusuchenden Gesetze dienen können? Welche
es seven? Wie man sie herauswählen könne aus der Fülle der innern
Wahrnehmungen? Wie aus ihnen etwas folge, und wie Vieles? Ob man
mehrere solche Thatsachen verbinden müsse, oder nicht? Ob man sich
aller deren, welche die Würde von Principien behaupten können, noth-
wendig bedienen müsse; oder ob sie den mehrern Thoren Einer Stadt
zu vergleichen seyen, unter denen man wählen darf, weil jedes den Ein-
gang zu der ganzen Stadt darbietet, obgleich vielleicht Eines schneller
und bequemer als die andern, uns in den Mittelpunct der Stadt würde
gelangen lassen?
Diese Fragen, ohne Zweifel schwer genug zu beantworten, setzen alle
schon voraus; dafs man die Thatsachen des Bewufstseyns, so wie die innere
Wahrnehmung sie darbietet, wenigstens kenne und übersehe. Aber hat
uns die empirische Psychologie auch nur so weit vorgearbeitet? Sie erzählt
vom Vorstellungsvermögen, Gefühl[o]verm<">gen, Begehrungsvermögen; sie
ordnet diesen Vermögen, als ob es Gattungsbegriffe wären, andere
Vermögen unter, zum Beyspiel, Gedächtnifs, Einbildungskraft, Verstand,
Vernunft; ja in dieser Unterordnung geht sie noch weiter, indem sie ein
Ortgedächtnifs, Namengedächtnifs, Sachgedächtnifs, einen theoretischen und
praktischen Verstand, u. dgl. aufweist. Ist nun wohl hier ein Ende der
Unterordnung ? Und ist das Allgemeine, dem etwas subsumirt wird, eine
Thatsache? Gewifs nichts weniger; alle Thatsachen sind etwas individuelles,
190 XI. Psychologie als Wissenschaft.
sie sind weder Gattungen noch Arten. Die letztem aber müssen durch
eine regelmäfsige Abstraction aus der Auffassung des Individuellen ent-
springen. Wie nun, wenn das Individuelle nicht still genug hielte,
um sich zu einer regelmäfsigen Abstraction hemigeben ?
Wer auch nur einen Versuch macht, die hier aufgeworfenen Fragen
ernstlich zu überlegen: der wird bald inne werden, dafs der Stoff, den
wir behandeln wollen, äufserst schlüpfrig ist. Daher können wir diejenigen
Untersuchungen, welche den wesentlichen Inhalt dieses Buchs ausmachen,
nicht gleich vornehmen, sondern es sind einige vorbereitenden Betrachtungen
nöthig. Zuerst über die Auffassung und Benutzung der psychologischen
Principien. Femer über das Verhältnifs der Wissenschaft, die wir Psycho-
logie nennen, zur allgemeinen Metaphysik Dann werden wir uns in der
Kürze an die neuere Geschichte der Psychologie erinnern; und erst am
Ende dieser ganzen Einleitung kann über den Plan des Buchs eine nähere
Auskunft gegeben werden. Die Leser aber werden gebeten, sich einen
ruhigen Schritt gefallen zu lassen; und vest zu glauben, dafs in der Philo-
sophie allemal der Weg, den man in scheinbaren Geniesprüngen vorwärts
macht, langsam wieder rückwärts gegangen wird.
[IO] I.
Von den verschiedenen Weisen, wie die gemeine Kenntnifs der
Thatsachen des Bewufstseins gewonnen wird.
§ i.
Die Thatsachen des Bewufstseyns (unter welchen die psychologischen
Principien sich befinden müssen) werden entweder unwillkührlich gefunden,
oder sie werden absichtlich gesucht. Man könnte hinzufügen, entweder
durch Beobachtung unserer selbst, oder Anderer: allein es ist bekannt, dafs
die Aeufserungen Anderer nur mit Hülfe der Selbstbeobachtung ihre Aus-
legung erhalten können; daher es rathsam seyn wird, zunächst bey der
Selbstbeobachtung stehen zu bleiben.
Die Absicht, unser Inneres wahrzunehmen, kommt zwar im gemeinen
Leben nicht gar häufig vor. Desto mehr aber wird man durch psycho-
logische Beschäftigungen dazu veranlafst, und selbst angetrieben, indem
man den Gegenstand, wovon die Rede ist, unmittelbar auffassen möchte.
Aus diesem Grunde wird es hier ganz passend seyn, von der absicht-
lichen Betrachtung der Thatsachen des Bewufstseyns anzufangen.
§ 2.
Den Versuch, in sein Inneres zu blicken, kann man jeden Augen-
blick anstellen. Immer wird sich etwas finden, woran gerade jetzt gedacht
wurde; immer auch ein körperliches Gefühl sich entdecken lassen, wäre
es auch nur das, welches mit dem Stehen, Sitzen, Liegen, überhaupt mit
der nothwendigen Unterstützung des Körpers verbunden ist. Ferner wird
das, woran gedacht wurde, nicht einfach seyn; auf seiner Mannigfaltigkeit
wird die Selbstbetrachtung umherlaufen, und es einigermafsen verdeutlichen.
Aber nicht nur das Hervorgehobene wird alsbald wieder schwinden;
sondern alles, was die innere [i i] Wahrnehmung gefunden hatte, wird sich
gar bald verdunkeln, und irgend eine Veränderung in dem Schauspiele sich
zeigen. Am gewöhnlichsten ist es die Selbstbeobachtung selber, von der
eine neue Gedankenreihe anhebt, die wenige Augenblicke später aufs neue
zum Object einer wiederhohltcn Reflexion sich darbietet.
Das eben Beschriebene wird sich mannigfaltig abändern, wenn mitten
im Geschafft, in der Leidenschaft, während des Sprechens mit Andern,
wir uns selber belauschen. Das Geschafft geräth dadurch ins Stocken und
die Leidenschaft mäfsigt sich, und macht gar oft einem Affecte Platz, der
aus dem Urtheil über uns selbst entspringt. Das Zuhören bey der eignen
IQ2 XI. Psychologie als Wissenschaft.
Rede hemmt ihr rasches Fortströmen; und es regt sich ein Bestreben,
den Gedanken zu concentriren, den die Worte aus einander legen; den
Ausdruck entsprechender, ja den Ton der Stimme anklingender zu machen.
Will man verhüten, dafs nicht der Zuschauer in die Handlung ein-
greife? Will man sich absichtlich gehen lassen; um rein aufzufassen, was
von selbst innerlich geschehe? Nur um so eher wird alles, was zu sehen
war, sich verdunkeln, und gar bald wird nur noch der Zuschauer sich und
sein eignes Warten beschauen. Eine Stunde lang, wohl gar einen Tag
lang unablässig und streng sich selbst beobachten, um in jedem Augen-
blick den eben vorhandenen inneren Zustand unmittelbar wahrzunehmen:
dies könnte als eine der stärksten Selbstpeinigungen denen empfohlen
werden, die darin ein Verdienst suchen.
§ 3-
Unabsichtlich ist Jeder sein eigner Zuschauer während seines ganzen
Lebens, und eben dadurch gewinnt er seine eigene Lebensgeschichte. Auch
bringt er diese Geschichte, und die aus ihr geschöpfte Kenntnifs seiner
Person, zu jeder Selbstbeobachtung mit; jene ergiebt das Subject, zu
welchem diese nur die Prädicate liefern soll. Und schon aus diesem
Grunde kann die absichtliche [12] Selbstbetrachtung niemals reine Resultate
liefern; der Beobachter kennt sich, den er kennen lernen will, schon viel
zu gut im Voraus.
Die eigne Lebensgeschichte ist jedoch weder eine völlig zusammen-
hängende Kenntnifs, noch aus bestimmt begränzten Theilen zusammen-
gesetzt. Ihre Parthieen treten durch Anstrengung sich ihrer zu erinnern,
oder durch zufällige Veranlassungen, heller und ausführlicher hervor; wie
viele aber der übrig gebliebenen Lücken sich noch möchten ausfüllen
lassen, das leidet keine genaue Angabe.
Der Faden der Lebensceschiehte ist überdies sehr vielfältig der Faden
äufserer Begebenheiten, die in ihrem Zusammenhange mit Interesse be-
trachtet wurden, und wozu nur hinterher hinzugedacht ist, dafs man
dieses Alles erlebt habe. Wiewohl nun auch die äufsere Begebenheiten
innerlich mufsten aufgefafst werden, und alle innere Auffassungen zu den
Thatsachen des Bewufstseyns zu rechnen sind: so kann man doch keines-
weges behaupten, dafs das Auffassen selbst wiederum innerlich
wahrgenommen sey, — eben so wenig, als dafs dieses Wahrnehmen
des Auffassens abermals Gegenstand einer hohem Wahrnehmung geworden
sey, — welches ins Unendliche laufen würde! Demnach ist der
Gegenstand der Wahrnehmung keinesweges immerfort Wir
selbst; vielmehr wird die innere Wahrnehmung häufig durch
die äufsere, oder auch durch andere Gemüthsbewegungcn
unterbrochen. Ueberdies läfst sich das Eintreten einer erneuerten,
also früher erloschen gewesenen, Aufmerksamkeit auf uns selbst, oft genug
deutlich wahrnehmen.
§ 4-
Was aber in solchen Zeiten in uns vorging, da wir weder willkührlich
noch unwillkührlich auf uns achteten: das erfahren wir sehr häufig aus
Einleitung. j q :>
dem Munde Anderer, oder wir schliefsen es aus den Pioducten unserer
eigenen Thätigkeit; und dieses giebt eine dritte Art, wie wir [13] zur
Kenntnifs der Thatsachen unseres Bewufstseyns gelangen. Wir sind zum
Beyspiel «ine Strecke gegangen; ganz in Gedanken vertieft; aber die
Stelle, wo wir uns jetzo befinden, verräth, wie weit unsre Schritte uns ge-
tragen haben. Oder wir haben Jemanden die Zeitung vorgelesen, ohne
Interesse und Aufmerksamkeit; so wissen wir vielleicht Nichts von mehrern
Zeilen, die doch der Zuhörer gar wohl vernommen hat. Oder, mitten im
Phantasmen an einem Instrumente sind unsre Gedanken von der Musik
abgekommen; und während wir mit ganz andern Gegenständen uns leb-
haft beschäfftigen , stört uns ein Anwesender mit Bemerkungen über das
was wir so eben gespielt haben. So erfahren wir hintennach, was alles
durch unseni Kopf gegangen ist. — Es ist hier der Ort, einer Zwev-
deutigkeit zu gedenken, an welche der Leser schon kann gestofsen seyn.
Thatsachen des Bewufstseyns würden im engsten Sinne nur die innerlich
beobachteten seyn. Durch diese Bestimmung des Begriffs wären nicht
blofs diejenigen Vorstellungen ausgeschlossen, welche wegen ihrer Dunkel-
heit unbemerkt bleiben: sondern auch das active Beobachten, sofern
es nicht wiederum in einer höhern Reflexion ein Beobachtetes wird. Aber
das active Wissen gehört gewifs mit zum Bewufstseyn, wenn es nicht selbst
ein Gewufstes wird. Und die dunkeln Vorstellungen verdunkeln sich so
allmählig, dafs das innerlich Beobachtete von dem, was sich der Beob-
achtung entzieht, nicht kann scharf abgeschnitten werden. Ueberdies wird
Niemand bezweifeln, dafs das Beobachtete mit dem Nicht- Beobachteten
in einem unzertrennlichen Zusammenhange fortlaufender Gemüths-Thätigkeit
stehe. Daher rechnen wir zu den Thatsachen des Bewufstseyns
alles wirkliche Vorstellen; und folglich zu den Arten, sie zu erfahren,
auch die Beobachtung der Producte unserer vorstellenden Thätigkeit, sollte
auch die innere Wahrnehmung unseres Thuns gemangelt haben.
Bekannte Beyspiele zu häufen, wäre unnütz. Aber [14] desto not-
wendiger mufs bemerkt werden, dafs ganze Massen un serer geistigen
Thätigkeit uns nicht eher als solche bekannt werden, als bis
die Betrachtungen über unser inneres Produciren, von wo die
idealistischen Systeme ausgehn, uns darauf führen. Ein Reisender
erzählt wohl von dem was er gesehn hat; aber indem er seines Sehens
erwähnt, und was er dabey empfunden, beschreibt, fällt ihm nicht ein,
\<>n denjenigen Thätigkeiten seines Geistes zu sprechen, vermöge deren
er das, an sich intensive, Wahrnehmen, in ein räumliches Vorstellen aus-
gedehnter Gegenstände verwandelt hat. Und in unsern Psychologien
lesen wir zwar von der Form der Anschauung und des Denkens, welche
die gegebene Materie der Empfindungen in sich aufgenommen habe; allein
man unterläfst die eben so wichtige als weitläuftige Erörterung, durch
welche Stufenfolge die sogenannten reinen Formen des Anschauens all-
mählig zum klaren Bewufstseyn gelangen; wie die Unterscheidung be-
stimmter Figuren möglich geworden sey; wie das Augenmaafs, wie das
rhythmische Gefühl sich ausbilde.
Man kann die Frage, was für eine Bewandnifs es mit den behaup-
teten Formen des Anschauens und Denkens haben möge, hier noch ganz
Herbart's Werke. V. 13
I Q_|_ XL Psychologie als "Wissenschaft.
unentschieden lassen: gleichwohl steht der Satz vest, dafs in den An-
wendungen und dem deutlichen Vorstellen dieser Formen eine Menge
psychologischer Thatsachen verborgen liegen, die ohne Zweifel in wesent-
lichem Zusammenhange mit den übrigen Thatsachen des Bewufstseyns
stehen, und schon deshalb der Aufmerksamkeit der Psychologie keines-
weges entgehen dürfen. Allein, sowohl diese, als überhaupt die ganze
Classe derjenigen Thatsachen, welche nicht unmittelbar wahrgenommen,
sondern aus den Producten unserer Thätijrkeit erst <resehlossen werden,
entfernen sich eben dadurch von der Eigenschaft der Principien; sie
sind vielmehr Probleme, welche die Wissenschaft durch Lehrsätze zu
lösen hat, und wobey wir uns [15] wohl hüten müssen, den Er-
schleichungen T h ü r und Thor zu ö f f n e n !
§ 5-
Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auffindung psycho-
logischer Thatsachen, läfst sich wohl kaum etwas sagen, das nicht in die
vorstehenden Erörterungen zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage
nach der Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankommen,
wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst auffassen und erzählen,
und wie richtig wir theils ihre Erzählungen verstehen, theils die äufsern
Zeichen ihrer inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassungen
nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den unsrigen: um aber ihre
Beschreibungen zu verstehen, können wir unsre eignen innern Wahr-
nehmungen zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die Andern
nach sich selbst; und die seitnern Zustände der Leidenschaft oder Be-
geisterung, die zarteren Regungen empfindlicher Gemüther, werden von
der bey weitem gröfseren Menge der Menschen nicht verstanden.
Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist wohl diese, dafs die
Unsicherheit in den, auf dem Wege der Ueberlieferung erworbenen psycho-
logischen Kenntnissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe,
und deshalb gröfser sey, als bey der Selbstbeobachtung. Denn hier ver-
einigen sich die Mängel und die Erschleichungen in der überlieferten
Nachricht mit denen in unserer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr
einer doppelten Täuschung. Sie kann auch noch gröfser werden, wenn
die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von Menschen fortläuft, deren
Jeder das Seinige hinzuthut. Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo
Einer von seiner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition davon
ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedentlich gestimmter Schwärmer
nimmt, die Alle in sich selbst wiederfinden wollen, was sie vernahmen?
Zu einer zweyten Bemerkung veranlafst die Neigung [16] einiger
Psychologen, bey den seltenen und sonderbaren Erscheinungen der Nacht-
wandler und Wahnsinnigen länger zu verweilen, als bey denen, die sich
im gewöhnlichen Zustande ereignen; oder auch nur, sich über die Träume
und ihre Sprünge mehr zu verwundern, als über den regelmäfsigen Ge-
dankengang der Wachenden. Natürlich ist es zwar, dafs aufserordentliche
Erscheinungen zuerst die Aufmerksamkeit wecken und auf sich ziehen;
allein schon aus der Physik weifs man, dafs von den gewöhnlichsten Be-
gebenheiten (z. B. von den Veränderungen des Wetters) die Gründe oft
Einleitung. j <, ^
am tiefsten verborgen liegen. Und in der Psychologie finden sieh die
gröfsten Schwierigkeiten eben da, wo man am schnellsten mit einem Worte
fertig zu werden glaubt. Ich erinnere nur an das Wort Vernunft;
dieses allbekannte Wort, dessen Erklärung gewifs Jeder in seinem eignen
Bewufstseyn anzutreffen, behauptet, während er die psychologischen Curiosa
meistens bey Andern aufsucht. — Es dürfte sich finden, dafs wir nicht
so sehr Ursache hätten, die Nachrichten von ungewöhnlichen Gemüths-
zuständen zu sammeln. Der Reich thum von Auffassungen, die wir tätlich
an uns selbst machen können, ist eben so grofs, als dessen Verarbeituno
schwierig und weitläuftig; und in dem Maafse, als wir für die Erscheinungen
in uns, die allgemeinen Gesetze erkennen, mufs es uns auch möglich
werden, aus den nämlichen Gesetzen viel besser, als aus blofser Ueber-
tragung eigner Gefühle, die Gemüthszustände Anderer, selbst in ihren
weitesten Abweichungen vom Gewöhnlichen, zu verstehen und zu erklären.
So braucht der Astronom nur den Lauf der bekanntesten Planeten auf
die Kegelschnitte zurückgeführt zu haben, um seinen Calcul gar bald auch
den neuesten und fremdartigsten Phänomenen am Himmel anpassen zu
können.
Hiemit leugne ich jedoch keineswegs irgend einer ächten psycho-
logischen Beobachtung ihren Werth ab. Für alle Erfahrungen mufs sich
irgendwo eine Stelle in den Wissenschaften finden, wo sie willkommen
seyn kön[i7]nen. Nur ist ein sehr grofser Unterschied zwischen dem,
was am meisten auffällt, und dem, was die tiefsten Untersuchungen fordert-
so wie zwischen dem, was am weitesten hergehohlt wird, und dem. was
die reichsten, oder die ersten und nöthigsten Aufschlüsse darbietet.
§ ö.
Es kann von Nutzen seyn, wenn der Leser die vorhin o-ewiesenen
Wege, wie wir zur Kenntnifs der inneren Thatsachen gelangen, weiter ver-
folgen will; besonders um sich Rechenschaft davon zu geben, wie der Vor-
rath psychologischer Kenntnisse, den man schon zu besitzen "-laubt
aus absichtlicher oder unabsichtlicher Selbst-Auffassung, aus Deutuno- der
vorgefundenen Producte eigner Thätigkeit, aus Zeugnissen und aus Beob-
achtung Anderer, allmählig sich zusammengesetzt habe. Diese Ueberlegunq-
soll nicht auf einen Lehrsatz hinführen; aber sie soll heraushelfen aus dem
Glauben an die Abstractionen der Schulen; sie soll das unmittelbare Be-
wufstseyn dessen zurückführen, was den Erklärungen von Sinnlichkeit und
Verstand, von Begehrungsvermögen und Gefühlvermögen, und wie diese Ge-
dankendinge weiter heifsen, eigentlich an ächter Erfahrung zum Grunde lieo-t.
Gesetzt nun, der Vorrath der psychologischen Thatsachen sev bev-
sammen: welche Art von R egelmäfsigkeit Iäfst sich im Allgemeinen an
ihnen erkennen oder doch vermuthen ? Dies ist die erste Frage der
speculativen Psychologie.
13'
IQ 6 XL Psychologie als Wissenschaft.
IL
Von einer allgemeinen Eigenschaft alles dessen, was innerlich
wahrgenommen wird.
§ 7-
Erinnert man sich der Veränderlichkeit des Schauspiels, was die ab-
sichtliche Selbstbeobachtung antriftt, [18] ohne es in einerley Zustande
vesthalten zu können, und überdies der Abwechselungen in einander über-
fliefsender Gemüthslagen, welche den Stoff unserer eigenen Lebensge-
schichte ausmachen: so zeigt sich Alles als kommend und gehend, als
schwankend und schwebend; mit einem Worte, als etwas, das stärker
und schwächer wird.
In jedem der eben gebrauchten Ausdrücke liegt ein Grüfsenbegriff.
Also ist in den Thatsachen des Bewufstseyns entweder keine genaue
Regelmäfsigkeit , oder sie ist durchweg von mathematischer Art; und
man mufs versuchen, sie mathematisch auseinanderzusetzen.
Warum ist dies nicht längst unternommen worden? Darauf könnten
die älteren Zeiten, sich entschuldigend, antworten : die Mathematik sey, vor
Erfindung der Rechnung des Unendlichen, noch zu unvollkommen gewesen.
Allein folgende Bemerkungen sind allgemeiner.
§ 8.
Erstlich: die psychologischen Gröfsen sind nicht dergestalt gegeben
dafs sie sich messen liefsen; sie gestatten nur eine unvollkommne
Schätzung. Dies schreckt ab von der Rechnung; jedoch mit Unrecht.
Denn man kann die Veränderlichkeit gewisser Gröfsen, und sie selbst, in
so fern sie veränderlich sind, berechnen, ohne sie vollständig zu bestimmen;
hierauf beruht die ganze Analysis des Unendlichen. Man kann ferner
Gesetze der Grüfsenveränderung hypothetisch annehmen, und mit den
berechneten Folgen aus den Hypothesen die Erfahrung vergleichen. Sind
die einzelnen Erfahrungen wenig genau, so ist dagegen ihre Menge in der
Psychologie unermefslich grofs, und es kommt nur darauf an, sie geschickt
zu benutzen. Uebrigens werden wir keiner Hypothese bedürfen, sondern
auf einem vesten Wege der Untersuchung diejenigen Voraussetzungen
finden, deren Kreis zum Behüte der Psychologie mathematisch durchlaufen
werden mufs.
Die Schwierigkeit des Messens kommt daher fürs Erste nicht in
Betracht; aber wichtiger ist das Folgende.
[19] § 9-
Zwcytens: Gerade das Schwanken und Fliefsen der psychologischen
Thatsachen, welches eine mathematische Regelmäfsigkeit derselben im
Allgemeinen vermuthen läfst, erschwert gar sehr den Anfing der Unter-
suchung. Denn hiezu sind veste, genau bestimmte und begränzte Prin-
zipien die erste Bedingung; was aber soll man aus jener allgemeinen
S< hwankung dergestalt herausheben, dafs man es mit Sicherheit gesondert
Einleitung. T g y
betrachten könne? Mufs man nicht fürchten, Zusammengehöriges aus-
einander zu reifsen, und Bruchstücke eines unheilbaren Ganzen als selbst-
ständig zu behandeln? — Man sagt z. B. vom Menschen: er habe Ver-
stand und Willen; man handelt in den Psychologien zuerst vom Er-
kenntnifs vermögen, dann vom Begehrungsvermögen. Wie wenn man von
einem Dreyecke sagte: es habe Seiten und Winkel? und wenn man
dem gemäfs die Trigonometrie in zwey Abschnitte zerlegen wollte, deren
einer von den Seiten, der andere von den Winkeln handele ? Wer bürgt
uns dafür, dafs unsre Psychologien weniger ungereimt seven, als eine solche
Trigonometrie seyn würde? Stehen nicht vielleicht diejenigen Thatsachen
des Bewufstseyns, die wir zu trennen pflegen, durch gewisse unbemerkte
Mittelglieder in eben so genauer Beziehung, als Seiten und Winkel im
Dreyecke ?
Diese Betrachtung müssen wir erst weiter führen, ehe von Principien
der Psychologie, und von deren wissenschaftlicher Behandlung die Rede
seyn kann.
III.
Weshalb sind wir so geneigt, uns in der Psychologie mit Ab-
stractionen zu behelfen?
§ 10.
In andern Wissenschaften ist die Abstraction ein absichtliches Ver-
fahren; wobey man weifs, was man zu [20] rücklegt, und warum man
anderes hervorhebt. Die Reflexion hält gerade diejenigen Begriffe vest,
unter welchen gewisse merkwürdige Relationen statt finden; und nachdem
dieselben untersucht sind, steht es der Determination frev, die gesetz-
mäfsige Anwendung davon auf den Umfang der Begriffe zu machen. —
In der Psychologie sind dagegen unsre Aussagen von dem innerlich Wahr-
genommenen schon unwillkührlich Abstractionen, ehe wir es wissen, und
sie werden es noch immer mehr, je bestimmter wir uns darüber erklären
wollen.
Sie sind schon Abstractionen, ehe wir es wissen. Denn die genaue
Bestimmung des Fliefsenden unserer Zustände (durch Ordinaten, zu denen
die Zeit als Abscissenlinie gehören würde,) fehlt schon, indem wir dieselben
zum Object unsers Vorstellens machen. Sie verliert sich immer mehr, je
länger wir die Erinnerung an ein innerlich Wahrgenommenes aufbehalten
wollen. Sie verfälscht sich, je mehr wir uns anstrengen, sie vest zu halten;
denn eben dadurch mischt sie sich mit dem übrigen Vorrathe unserer
verwandten Vorstellungen.
Aber auch je bestimmter wir uns darüber erklären wollen, desto
weiter kommen wir ab von der Wahrheit dessen, was eigentlich wahr-
genommen wurde, und desto tiefer gerathen wir in die Abstractionen
hinein. Aus einem zwiefachen Grunde.
Erstlich, je mehr wir uns bemühen, recht getreulich nur Das zu
berichten, was wir erfahren haben: desto lieber verschweigen wir Alles
Iq8 XI. Psychologie als Wissenschaft.
was wir nicht genau bemerkten, was wir nicht gewifs verbürgen können;
wir heben demnach nur das Gewisseste heraus. Daher lassen wir in der
Erinnerung an die inneren Wahrnehmungen absichtlich los von dem,
dessen Schwankung wir fühlen, dessen bestimmte Angabe wir nicht zu
erreichen hoffen. Was wir übrig behalten, ist ein Abstractum. — Dies
Verfahren herrscht sichtbar in allen Psychologien. Die Verfasser derselben
sprechen z. B. recht gern vom Gedächtnifs; denn dafs es überhaupt ein
| solches gebe, [21] daran zu zweifeln fällt ihnen nicht ein; jeder Mensch mufs
ja unzählige Thatsachen dafür anführen können! Aber schon von den
nächsten Arten, welche der Gattung: Gedächtnifs, untergeordnet sind, als
von dem ' Ortsgedächtnifs, dem Namengedächtnifs, dem Zahlengedächtnifs,
dem Gedächtnifs für Begriffe und Lehrsätze, für Urtheile und Schlüsse,
für die Empfindungen während des Denkens, Ueberlegens und Beschliefsens,
für das Wünschen und Wollen, für das was man gethan oder gelitten hat:
hievon getrauen sich die Psychologen nicht, uns viel zu sagen. — Warum
denn nicht? Doch wohl nicht darum, weil das Gedächtnifs schon beym
niedem Vorstellungsvermögen abgehandelt wird, und es an diesem Orte
in den Büchern ein vgtgov tiqmxsqov seyn würde, schon auf Begriffe, Ur-
theile, Schlüsse, auf Fühlen und Wollen, Rücksicht zu nehmen? Denn
hieraus würde blofs folgen, dafs die Stellung der Lehre vom Gedächtnifs
eine Veränderung erleiden müsse. Aber daran liegt der Fehler, dafs beym
genauem Eingehn auf das Specielle, und auf die einzelnen Thatsachen,
sich das Gedächtnifs nicht so bequem würde losreifsen und abgesondert
als eine eigene Seelenkraft hinstellen lassen; indem in jedem einzelnen
Falle sich eine Menge von schwer zu bemerkenden, und noch schwerer
zu beschreibenden, — daher gern mit Stillschweigen übergangenen — Neben-
umständen geltend machen, die theils auf das erste Auffassen, theils auf
das Merken, theils auf das Verknüpfen mit andern Vorstellungen, theils
auf den Vorsatz des Behaltens und das Interesse des Gegenstandes, theils
auf die Zeit, während welcher das Gemerkte noch vor dem ersten Ver-
schwinden im Bewufstseyn gegenwärtig blieb, theils auf die Gemüthszustände
in der Zwischenzeit bis zur Reproduction selbst, ihre Geschwindigkeit,
Lebhaftigkeit und Treue, — Einrlufs gehabt haben, und die bey jenen
Arten des Gedächtnisses sehr verschieden zu seyn und zu wirken pflegen.
Der Erste, der dies Alles gehörig in Erwägung zieht, und da[2 2]bey mit
der Genauigkeit eines tüchtigen Physikers zu Werke geht, wird finden, dafs
die vermeinten Nebenumstände die Hauptsache sind, und dafs von dem
sogenannten Gedächtnifs nichts als der leere Name übrig bleibt.
Jede andere Seelenkraft würde auf gleiche Weise zum Beispiel dienen
können. Ueberall werden die obersten Gattungsbegriffe mit der gröfsten
Dreistigkeit hingestellt; allein überall fehlt die Achtsamkeit auf das Specielle,
und die genaue Beschreibung des Einzelnen ; und doch ist es eben
dies, worauf in einer empirischen Wissenschaft Alles ankommt!
Oder hat schon Jemand vollständig nachgewiesen, wie sich die Einbildungs-
kraft verschiedentlich in Dichtern, in Gelehrten, in Denkern, in Staats-
männern, in Feldherren, äufsere? Was den Verstand der Frauen, der
Künstler und der Logiker unterscheide ? Welche Abstufungen die Ver-
nunft in ihrer Entwickelung zeige, bey Kindern und Erwachsenen, bey
Einleitung. jgg
Wilden, Barbaren, Gebildeten, bey Bauern, Handwerkern, und bey den
hohem Ständen? Doch die Erwähnung des Verstandes und der Vernunft,
zweyer Namen, die neuerlich so verschiedene Auslegungen erhalten haben,
dafs kaum noch etwas Gemeinsames übrig bleibt, — erinnert mich, fort-
zugehen zu dem zweyten Grunde, der uns in den psychologischen Ab-
stractionen vesthält, und uns immer mehr darin vertieft.
Nachdem einmal die Seelenvermögen da sind, sollen sie auch ge-
braucht werden zur Erklärung dessen was in uns vorgeht. Aber je weniger
von den nähern Bestimmungen der Thatsachen in den Begriffen jener Ver-
mögen enthalten ist: desto schlechter gelingt die Erklärung. Es fehlen
die Mittelglieder zur Verknüpfung. Es entstehen unbeantwortliche Fragen
über das Causalverhältnifs der Seelenvermögen unter einander,
wodurch sie beym Zusammenwirken eins in das andere eingreifen, und
sich gegenseitig zur Wirksamkeit auffordern, oder veranlassen, oder nöthigen.
Jede solche Frage, in[23]dem sie mit einem Geständnifs der Unwissenheit
endigt, bringt den Schein hervor, als liege eine dunkle, unübersteigliche
Kluft zwischen den Seelenvermügen, die nun gleich Inseln aus einem un-
ergründlichen und unfahrbaren Meere herausragen. Was Wunder, wenn
man es endlich müde wird, um das Zusammenwirken der Seelenvermögen
sich zu bekümmern; wenn man vielmehr sich darin gefällt, die weite
Trennung derselben durch recht grofse Unterschiede des einen Vermögens
vom andern, deutlich zu beschreiben? Und hierin hat man es in der
That weit gebracht. Die Seelenvermögen scheinen in ein/em wahren
bellum omnium contra omnes begriffen zu sevn.
Die Einbildungskraft sich selbst überlassen, erschafft Phantome; aber
die Sinne verscheuchen sie; doch manchmal auch lassen sie sich von jener
bethören, so dafs wohl gar Gespenster mit Augen gesehen werden. Starkes
Gedächtnifs findet sich bey schwachem Verstände, und umgekehrt; die
Ausbildung des einen läfst Nachtheil besorgen für das andere. Nocli
weniger Friede hält der Verstand mit den Sinnen; er entdeckt ihren Trug,
er zeigt, dafs die Sonne still steht, und das Ruder auch im Wasser ge-
rade ist; er erblickt einfache Gesetze, wo die Sinne lauter Unordnung
sahen. Nicht besser vertragen sich Verstand und Einbildungskraft; er findet
sie thöricht und flatterhaft, sie ihn unbehülflich und trocken. Besser als
beyde dünkt sich die Urtheilskraft; der Verstand wufste nur die Regel,
sie erst erkennt das Rechte und Wahre mit Bestimmtheit im Einzelnen.
Aber die Vernunft erscheint; sie schwingt sich auf zum Uebersinnlichen,
Unendlichen, zur eigentlichen Wahrheit, während alle jene auf dem Boden
der Erscheinungswelt kriechen. Bey diesen Streitigkeiten bleiben Gefühl
und Begehrungsvermögen nicht müssig. Die letzte Entscheidung über
Wahrheit und Irrthum behauptet am Ende das Gefühl; insbesondere
spricht es bald für, bald wider den Verstand; der doch seinerseits gegen
die Einmischungen des Gefühls in seine Untersuchungen sich nachdrück-
lich ver[24]wahrt. Die Begierden bedienen sich des Verstandes, wo er
ihnen nützlich seyn kann, aber sie verweisen ihm seine difficiles nugas,
seine brodlosen Künste. Er will von ihnen nicht gestört, am wenigsten
verblendet seyn; doch er mufs weichen oder fr < 'ihnen, da sogar die Ver-
nunft sich ihrer kaum erwehren, und das Vernünfteln der Leidenschaften
2oo XI. Psychologie als Wissenschaft.
nicht verhindern kann. Die ästhetische Urtheilskraft kämpft wider die
Sinnenlust; und sie vertheidigt zuweilen die Einbildungskraft wider den
Verstand. Aber die Vernunft pflegt ihr zu widersprechen, und das Schöne
mit dem Häfslichen in den Rang blofser Erscheinungen zurückzustellen. —
Unser eignes Ich ist der Kampfplatz für alle diese Streitigkeiten! Ja es
ist selbst die Gesammtheit aller dieser streitenden Partheyen!
Wird man dieses im Ernste glauben? — Und doch stützt sich alles
zuvor Gesagte auf bekannte Thatsachen. Die Frage ist blofs, ob eine
wirkliche Vielheit von Kräften, die mit einem beharrlichen Daseyn in uns
bestehen und wirken, und einander bald helfen, bald anfeinden, aus den
Thatsachen solle geschlossen werden? Ob man immer fortfahren wolle,
dem augenscheinlich flüssigen Wesen aller Gemüthszustände Trotz zu
bieten: und, je mehr dieselben jeder Auffassung in harten und starren
Formen widerstreben, desto hartnäckiger und eifriger ihnen dergleichen
aufzudringen? Unseres Wissens hat die bisherige, auch die neuere und
neueste, Psychologie, durchaus nichts anderes geleistet, als immer neue,
vergröfserte, schärfer gezeichnete Spaltungen und Gegensätze unter den
vermeinten Seelenkräften. — Jedoch, unsere Philosophen fangen schon an
sich zu entschuldigen, wenn sie aus Noth, wie sie meinen, und weil man
sich doch müsse ausdrücken können, von Seelenvermögen reden; sie wollen
es schon nicht Wort haben, dafs sie wirklich und im Ernste jene
Trennungen vorgenommen hätten; sie verehren die unbekannte Einheit
aller jener Vermögen. Damit haben sie nun zwar an wirklicher Kennt-
nifs der Seele noch nichts gewonnen, und die eigentliche [25] Physik
des Geistes mag wohl so bald noch nicht neben der falschen Freyheits-
lehre der neuem Zeit aufkommen können; doch sind die Zeichen vor-
handen, dafs die alten Götter nicht mehr lange bestehen, und dafs ihre
Orakel bald verstummen werden. Denn in der That ist es, beym Lichte
besehen, nicht so sehr übler Wille, noch unbeugsames Vorurfheil, sondern
es ist Ungeschick, und Mangel an Kenntnifs der Möglichkeit einer bessern
Auffassung der Thatsachen, was der bessern Psychologie im Wege
steht. Unsre Philosophen smd nicht Mathematiker; darum kennen sie
nicht die Geschmeidigkeit, womit die mathematischen Begriffe sich dem
Fliefsenden anpassen; vielmehr pflegen sie sich bey den mathematischen
Formeln etwas recht Steifes, Starres und Todtes zu denken; — in diesem
Puncte aber kann man ihre Unwissenheit lediglich bedauern.
IV.
Allgemeine Angabe des Verfahrens, um Thatsachen des Bewufst-
seyns zu Principien der Psychologie zu benutzen.
§ ".
Wollten wir schon hier einen bestimmten, schmalen, systematischen
Pfad anzeigen, auf welchem man in die Psychologie eingehn könne: so
würde dem nächsten und dringendsten Bedürfnifs nicht Genüge gesehehn.
Einleitung. 20 1
Dieses Bedürfnifs besteht darin, eine richtige Ansicht im All
von der Umwandlung zu fassen, welcher unsre Vorstellungsart mufs unter-
worfen werden ; und es rührt her von der Menge der psychologischen
Abstractionen, an die wir gewöhnt sind. Wir finden nun einmal uns selbst
bald anschauend, bald denkend, bald wollend und so ferner; und ohne
uns unter dergleichen Abstracta, [26] wie Anschauen, Denken, Wollen,
zu subsumiren, wissen wir kaum, uns über unsre eignen Zustände und
Bestrebungen Rechenschaft zu geben. Die ganze Masse unserer Meinungen
von uns selbst und von dem was in uns vorgeht, bedarf einer Totalreform ;
und sie mufs dazu in Bereitschaft gesetzt werden. Eben deshalb ist vor-
hin die unvermeidliche Mangelhaftigkeit aller unserer unmittelbaren
Kenntnisse von den inneren Thatsachen, und die daraus entstehende
Neigung, dieselben in abgezogenen Begriffen, und zwar in den weitesten
am liebsten, vorzustellen, hinterher aber diese Begriffe, sammt ihren Sub-
Straten, den Seelenvermögen, so gut oder so schlecht es gehn will, wieder
an einander zu fügen, — in Betracht gezogen worden: damit es einleuchten
möge, dafs hier ganz andere Operationen des Denkens zur Verbesserung
erfordert werden, als die blofse Classification, Induction, Analogie, oder
welche andre Zusammenstellung eines Vorraths von Kenntnissen da an-
gebracht seyn würde, wo das erste Material mit Bestimmtheit
gegeben wäre, und wo die Abstractionen stufenweise von unten auf,
mit aller Besonnenheit, und beliebiger Verweilung auf jeder Stufe, würden
vollzogen werden können.
Diejenige Operation des Denkens, wodurch die Mangelhaftigkeit ver-
bessert wird, heifst Ergänzung. Und wo die Mangelhaftigkeit der em-
pirischen Auffassung unvermeidlich ist, da mufs die Ergänzung auf specu-
lativem Wege unternommen werden. Dieses aber ist nur möglich durch
Nachweisung der Beziehungen; das heifst, derjenigen Relationen, ver-
möge deren eins das andere nothw endig voraussetzt, und, was das
Zeichen davon ist, eins ohne das andere nicht kann gedacht
werden.
Dergleichen Beziehungen liegen zum Theil offenbar durch den Begriff
selbst vor Augen, (wie zwischen einem Logarithmus und der Basis sammt
dem Modulus des Systems, oder zwischen dem Differential und seinem
Integral, nämlich abgesehen von der wirklichen Berechnung,) [2 7] und alsdann
brauchen sie nur nachgewiesen zu werden. Zum Theil können sie leicht bev
einiger Aufmerksamkeit, und auf dem Wege logischer Schlüsse gefunden
werden, (wie zwischen einem Paar unmöglicher Wurzeln einer Gleichuug).
Zum Theil aber verräth sich die Nothwendigkeit, den Beziehungen nach-
zuforschen, erst durch das Widersprechende eines von seinen nothwendigen
Voraussetzungen entblöfsten Begriffes: welcher letztere Fall in den ersten
Grundbegriffen der allgemeinen Metaphysik vorkommt. Alsdann mufs die
Aufsuchung der Beziehungen nach derjenigen Methode eingeleitet werden,
welche ich in den Hauptpuncten der Metaphysik angegeben, und Methode
der Beziehungen genannt habe. Hievon wird tiefer unten noch etwas
vorkommen.
Die ganze Psychologie kann nichts anders seyn, als Ergänzung der
innerlich wahrgenommenen Thatsachen: Nachweisung des Zusammenhangs
202 XL Psychologie als Wissenschaft.
dessen was sich wahrnehmen liefs, vermittelst dessen was die Wahrnehmung
nicht erreicht; nach allgemeinen Gesetzen.
Während die Beobachtung nur dann erst und nur so lange die im
Bewufstseyn auf und niedersteigenden Vorstellungen erblickt, wann sie in
einem gewissen höheren Grade von Lebhaftigkeit sich äufsem : müssen sie
der Wissenschaft immer gleich klar vor Augen liegen, sie mögen nun
wachen und das Gemüth erfüllen, oder in den Vorrathskammem des Ge-
dächtnisses ruhig schlafen, und auf Anlässe zum Hervortreten warten. Denn
von den geistigen Bewegungsgesetzen sind sie hier so wenig ausgenommen
wie dort.
Während die moralische Selbstkritik bekennt, die Falten des eignen
Herzens nicht durchforschen zu können: mufs die Wissenschaft eben so
wohl von der Möglichkeit des Einflusses der schwächsten Motive unter-
richtet seyn, als von der Gewalt, welche die stärksten ausüben, und von
der Klarheit, wodurch die überdachtesten sich auszeichnen.
Aber was die Wissenschaft mehr w^ifs als die Er [2 8] fahrung: das
kann sie nur dadurch wissen, dafs das Erfahrene ohne Voraus-
setzung des Verborgenen sich nicht denken läfst. Denn nichts
anders als eben die Erfahrung ist ihr gegeben: in dieser mufs sie die
Spuren alles dessen antreffen und erkennen, was hinter dem Vorhange
sich regt und wirkt.
In diesem Sinne also mufs sie die Erfahrung überschreiten: welches
übrigens von jeher jede Philosophie gethan hat; auch jene, die zwar das
Ueberschreiten verbot, aber gleichwohl von einem noch unverbundenen, in
der Receptivität anzutreffenden Mannigfaltigen redete; das in der Erfahrung
niemals vorkommen kann, vielmehr erst, indem es die Formen der Spon-
taneität annähme, sich ins Bewufstseyn erhoben finden müfste: — anderer
Beyspiele nicht zu gedenken !
Wo nun und in wie vielen Puncten der ganzen Masse aller innern
Wahrnehmungen sich Beziehungen entdecken lassen, die auf Voraussetzungen,
auf Ergänzungen, auf nothwendigen Zusammenhang mit anderem, das ent-
weder im Bewufstseyn oder hinter dem Bewufstseyn vorgegangen seyn
mufs, hindeuten, und nach was immer für einer Methode mit Sicherheit
darauf zu schliefsen erlauben: da, und so vielfach sind die Principien der
Psychologie.
§ 12.
Ein Paar Beyspiele von Beziehungen in der Psychologie, wenn auch
nur von den offenbarsten, sind vielleicht nicht überflüssig; sie können
wenigstens einigermafsen dienen, um von der Gestalt psychologischer Nach-
forschungen einen vorläufigen Begriff zu fassen.
Das Begehren steht in offenbarer Beziehung zu dem Vorstellen; denn
es hat einen Gegenstand, auf welchen, als auf sein Ziel, es sich richtet.
Denselben in Vergessenheit bringen, ist das sicherste Mittel, die Begierde
zu beschwichtigen. Wiewohl nun diese Beziehung vor Augen liegt: so ist
sie doch bey weitem noch nicht hinreichend bestimmt. Denn es fragt
sich: unter welchen Bedingungen wird das Vorgestellte ein Begehrtes?
Wel[29]che Beschaffenheit des Vorgestellten, und des Vorstellens, mufs
Einleitung. 20"
man voraussetzen, wenn es unter der Form des Begehrens im Bewufst-
sevn erscheinen soll ? Läfst sich die Antwort finden, indem man von dem
Begehren, als dem Bedingten, zu seinen bis jetzt unbekannten Bedingungen
fortschliefst: so ist die Thatsache, dafs wir begehren, zum Princip einer
psychologischen Untersuchung erhoben.
Das Gedächtnifs bezieht sich offenbar auf den Gegenstand, welcher
behalten wird; folglich auch auf die Production oder erste Auffassung dieses
Gegenstandes. Demnach bezieht es sich auf die Sinnlichkeit; denn was
es aufbewahrt, das sind grofsentheils Anschauungen. Es bezieht sich eben
so offenbar auf die Phantasie, das heifst, wir behalten viele von den Bil-
dern, die wir selbst entworfen haben. Es bezieht sich nicht minder auf
den Verstand, denn wir behalten auch die Resultate unsrer Speculationen;
auf das Gefühl, denn wir erinnern uns an Lust und Schmerz; endlich auf
den Willen, denn auch unsre Entschliefsungen halten wir vest, und ihre
Wirksamkeit erneuert sich nach Unterbrechungen. Mit gutem Bedacht
habe ich in der Pädagogik vom Gedächtnifs des Willens geredet; einem
für die Erziehung höchst wichtigen Gegenstande, denn darauf beruhet die
Möglichkeit des Charakters und des consequenten Handelns. Ohne Ge-
dächtnifs des Willens bleiben angefangene Arbeiten liegen, und aus ent-
worfenen Plänen entweicht das Feuer, das sie zur Reife bringen sollte.
Am meisten Gedächtnifs des Willens zeigt die Rache, und kann dadurch
auch den, welcher an der Existenz desselben zweifeln möchte, zur Ueber-
zeugung bringen. — Aber das Gedächtnifs bezieht sich vor allen Dingen
auf das Vergessen, im weitern Sinne dieses Worts, da es nämlich nicht
den vergeblichen Versuch, sich an etwas zu erinnern, sondern überhaupt
die Entweichung einer gehabten Vorstellung aus dem Bewufstseyn bedeutet.
Denn eben in so fern schreiben wir uns ein Gedächtnifs zu, in wiefern
[30] eine Zeit verfliefsen kann, in welcher wir an einen gewissen
Gegenstand gar nicht denken, ohne dafs doch darum uns die Kennt-
nifs desselben verloren ginge, die vielmehr auf gegebene Veranlassung
wieder hervortritt. — Wer nun aber alle diese Beziehungen des Gedächt-
nisses, welche nur im Allgemeinen bekannt sind, dadurch gehörig zu be-
stimmen und vollständig zu machen wüfste , dafs er auch noch die Be-
dingungen, sowohl bey der Erzeugung, als bey der Entweichung, als auch
endlich bey der Erneuerung einer Vorstellung, (ohne welche Bedingungen
die Reproduction ausbleibt,) angäbe und bewiese : der hätte die bekannten
Facta ergänzt, indem er die Vorstellungen bis in den Hintergrund des
Bewufstseyns, wohin sie sich zurückziehn , und von wo sie wiederkehren,
gleichsam würde begleitet haben. Und wer diese Kenntnifs sich auf sol-
chem Wege verschafft hätte, dafs von dem Gedächtnifs, als einem Inbegriff
bekannter Thatsachen, auf dessen noth wendige Voraussetzungen wäre ge-
schlossen worden : der würde dadurch diese Thatsachen zu psychologischen
Principien gestempelt haben. Wer aber vom Gedächtnifs nur in Namen-
erklärungen, und in Distinctionen, und in einigen Sätzen redet, die Jeden
die Erfahrung längst gelehrt hat, der misbraucht ein vielsagendes Wort,
wenn er sich eine Theorie des Gedächtnisses zuschreibt.
Nicht zu den offenbaren Beziehungen gehört die des Selbstbewufst-
seyns auf die Individualität eines Jeden. Daher hat man den Gedanken
204 XL Psychologie als "Wissenschaft.
fassen können, das Ich als Absolutum aufzustellen ; ein sehr grofser Fehler,
der aber zu seiner Aufdeckung schon wissenschaftlicher Reflexionen be-
darf. Und die Geschichte der neuem Philosophie hat nur zu gut gelehrt,
wie leicht diese Reflexionen verfehlt werden können.
Nichts desto weniger sind Fichte's ältere Werke voll von Bestrebungen,
die weitgreifenden Beziehungen des Selbstbewufstseins aufzufinden; und
ohne allen Zweifel wird die Nachwelt, sehr ungleich den Zeitgenossen,
[31] diesen Werken, selbst abgesehen von dem Verdienst, den Idealismus
mit einer bis dahin unbekannten Consequenz zu verfolgen, schon deshalb
Gerechtigkeit widerfahren lassen, weil darin das Ich als Mittelpunct von
Beziehungen aufgestellt, und der erste Versuch gemacht ist, ein weit-
läuftiges System von Beziehungen nach allen Richtungen hin zu durch-
suchen. Fichte's gröfster Fehler bestand darin, dafs er der einmal an-
genommenen Gewohnheit, das Ich absolut zu setzen, auch dann noch an-
hing, als ihn schon die Untersuchung in ihrem Verlauf durch jeden Schritt
aufmerksam machte, dafs er nicht mit einem Absoluten, sondern mit einem
vielfach Bedingten zu thun habe; welcher Folgerung er dadurch zu ent-
gehn meinte, dafs er alle die gefundenen Bedingungen in das Ich selbst
einschlofs. Aber die unrichtige Ansicht verdarb selbst die Kenntnifs dieser
Bedingungen, und daher konnte freilich nur eine unhaltbare Theorie her-
auskommen. Dieselbe Art der Untersuchung über denselben Gegenstand,
aber nach einer ganz entgegengesetzten Methode, (welche trennt, wo Fichte
verbinden wollte,) und zu ganz entgegengesetzten Resultaten hinführend,
wird einen Theil dieses Buches ausmachen; und das eben Gesagte mag
als entfernte Vorbereitung dazu dienen.
§ 13-
Wenn es Methoden giebt, durch welche man verborgene Beziehungen
aufdecken kann, so ist eben der Umstand, welcher zuvor der wahre Ur-
sprung psychologischer Schwierigkeiten zu seyn schien, und welcher in der
That eine empirische Naturgeschichte des Geistes unmöglich macht,
— für die speculative Psychologie eher vortheilhaft als nachtheilig. Der
Umstand nämlich, dafs alle psvchologische Wahrnehmung, um vestgehalten
zu werden, sich unwillkührlich in eine Abstraction verlieren mufs: und da-
her von den wirklichen Thatsachen nur Bruchstücke liefert. Dieses ist
nicht nachtheilig:
Denn der abstracte Begriff kann durch seine Beziehungen wieder er-
gänzt werden; und je allgemeiner er ist, [$2] um desto eher ergiebt er
in Verbindung mit den Ergänzungen eben das, was in allen Wissenschaften
zuerst gesucht wird, nämlich eine allgemeine Theorie, durch deren Hülfe
eine grofse Mannigfaltigkeit von Thatsachen gleich Anfangs überschaut
werden kann. Ueberdies ist ein Begriff für die speculative Behandlung
allemal um so bequemer, je allgemeiner, das heifst, je ärmer an Inhalt
er ist; so lange nur die Abstraction nicht den Keim der Beziehungen in
ihm zerstört hat. Im letztem Falle freylich wird er unbrauchbar; allein
alle Ueberladung mit Merkmalen, welche die Untersuchung nicht fördern,
bringt nur Verwirrung hervor.
Ein neuer Zuwachs an Bequemlichkeit aber ist es, wenn, der All-
Einleitung. 205
gemeinheit unbeschadet, ein Begriff uns nicht nöthigt, sogleich in seinen Um-
fang hinabzusteigen, und specielle Fälle zu durchlaufen, um uns seiner Gültig-
keit, und seiner wesentlichen Merkmale zu versichern. Um dies deutlich
zu machen, nehme man zuvörderst ein Paar Beyspiele des Gegentheils. Der
Begriff des Willens ist sehr allgemein; aber um uns seiner Gültigkeit zu
versichern, (dafs er aus dem Gegebenen entsprungen, nicht willkührlich ge-
macht ist,) müssen wir Beyspiele dazu in der innem Wahrnehmung unseres
eignen Wollens aufsuchen. Was finden wir nun hier? Sehr verschiedene,
continuirlich in einander fliefsende Grade des Wollens ! Entschlüsse, aber auch
Neigungen, Launen, unbestimmte Aufregungen; freye Wahl, aber auch das
erzwungene Wollen wider Willen, womit der Wehrlose sich entschliefst, den
Räuber abzukaufen. Was heifst nun eigentlich Wollen? Die innere Wahr-
nehmung mufs es lehren, aber ihre Belehrung ist zu weitläuftig für einen
Begriff, der mit Präcision aufgefafst, und der Speculation überliefert, zum
Princip einer Untersuchung dienen soll. — Desgleichen, der Begriff des
Gedächtnisses ist sehr allgemein; wenden wir aber den Blick einwärts, um
uns genau an das Gegebene zu erinnern, was dem Begriffe seinen Inhalt
bestimmt, so kommen uns die An[3 3] schauungen, Einbildungen, Begriffe,,
Urtheile, Gefühle, Entschliefsungen, — entgegen, welche alle das Gedächt-
nils aufbewahrt; aber es ist dessen zuviel; und wiederum in dem abstracten
Begriffe eines Gemüthszustandes überhaupt, den das Gedächtnifs erneuere,
zu wenig unmittelbare Klarheit, als dafs man sich einem solchen Princip
gern anvertrauen könnte. Ist schon von andern Seiten her Licht genug
vorhanden, dann mag man auch solche Principien gleichsam zu Rechnungs-
proben benutzen; allein für die Haupt-Untersuchung bedarf es eines hel-
leren Anfangspunctes ; eines Punctes, der nicht zerfliefse, indem man ihn
in der Wahrnehmung aufsucht.
Solch ein Punct nun ist ganz vorzüglich das Ich. Dieses läfst sich
in einer vollkommnen Abstraction vom Individuellen noch deutlich machen,
nämlich als Identität des Objects und Subjects; ohne dafs darum das Selbst-
bewufstseyn aufhörte, sich für den Begriff zu verbürgen. Nun sind zwar
im Selbtbewufstseyn die Bedingungen nur verdunkelt, unter denen er
Realität besitzt, und man würde sich sehr täuschen, wenn man ihn darum
an gar keine Bedingungen geknüpft glauben wollte. Allein die methodisch«
Speculation, indem sie den Begriff des Ich bearbeitet, findet gar bald seine
innere Unzulänglichkeit; und weis't ihm dann ferner seine Ergänzungen
mit einer Bestimmtheit und Sicherheit nach, welche die innere Wahr-
nehmung nie zu erreichen vermöchte.
Da nun der Begriff des Ich zugleich der allgemeine Begleiter aller
Gemüthszustände ist, in so fern wir sie uns selbst zueignen: so vereinigt
er im hohen Grade die Eigenschaften eines bequemen Prineips, nämlich
Allgemeinheit und Präcision. Und deshalb werden wir von diesem
Princip in der Folge vorzüglich Gebrauch machen; ohne jedoch die übrigen
ganz zu vernachlässigen, und besonders ohne solche Vernachlässigung wühl
gar einem künftigen Bearbeiter der ganzen Wissenschaft zu empfehlen.
2o6 XI- Psychologie als Wissenschaft.
[34] V.
Von dem Verhältnifs der Psychologie zur allgemeinen Metaphysik.
§ 14-
Bisher sind wir so viel möglich in der Nähe dessen geblieben, was
unmittelbare Klarheit besitzt, indem es an die innere Wahrnehmung sich
anschliefst; jetzt mufs auch von den systematischen Verhältnissen der Psy-
chologie als Wissenschaft die Rede seyn.
Die Psychologie wurde in der Wolffischen Periode als der dritte Theil
der Metaphysik angesehn. Die Kosmologie ging ihr voran, die natürliche
Theologie folgte nach; die Ontologie stand an der Spitze aller drey Wissen-
schaften, um ihnen die allgemeinsten Begriffe vorzubereiten. Die ganze
Metaphysik trat der praktischen Philosophie gegenüber: denn man war auf
den, aller Etymologie widerstreitenden Ausdruck Metaphysik der Sitten
noch nicht gekommen.* Leider pafst dieser Ausdruck, der das verderb-
liche Vermengen der theoretischen und praktischen Philosophie bedeutet,
nur gar zu nahe auf die neuesten Versuche, die Ethik im Geiste des
Spinoza zu behandeln, wodurch der wahre Sinn der Billigung und Mis-
billigung, kraft welcher Löbliches und Schändliches ursprünglich unter-
schieden wird, ganz und gar zu Grunde geht.**
Ich erkläre mich für jene ältere Weise, die Metaphysik zu unter-
scheiden und einzutheilen ; mit einigen Veränderungen, welche hier folgen.
[35] Erstlich dasjenige, wovon, als dem andern grofsen Haupttheile
der Philosophie, die Metaphysik mufs unterschieden werden, (um der
Logik, die nur einen Vorhof ausmacht, nicht zu erwähnen,) ist nicht allein
die praktische Philosophie, sondern die gesammte Aesthetik. Von dieser ist
die praktische Philosophie ein Theil; aber kein untergeordneter; denn in
der allgemeinen Aesthetik sind die Haupttheile nur neben einander ge-
ordnet, weil die verschiedenen ästhetischen Beurth eilungen der Farben,
Figuren, Töne u. s. w., und so auch der Willens-Verhältnisse, alle ursprüng-
lich für sich bestehn, und durch keine gegenseitige Abhängigkeit verknüpft
sind. Daher bilden die verschiedenen Kunstlehren, von denen die Tugend-
lehre Eine ist, lauter selbstständige Disciplinen, die nur wegen der Gleichartig-
keit ihrer Principien (Beurtheilung durch Beyfall oder Misfallen, olme Rück-
sicht auf das was ist und seyn kann,) unter den allgemeinen Ciassennamen
Aesthetik, logisch zusammengestellt werden. Hierüber habe ich an andern
Orten ausführlicher gesprochen, und werde mich jetzt nicht dabey aufhalten.
Zweytens, die Eintheilung der Metaphysik würde klärer seyn, wenn
zuvörderst allgemeine Metaphysik von der speciellen oder angewandten
getrennt wäre. Es bedarf wohl keiner Erinnerung, dals die allgemeine
Metaphysik den Platz der Ontologie einnehmen mufs, welcher letztre Name
um so eher aufgegeben werden kann, weil die vormals durch ihn bezeich-
nete Lehre ohnehin einer völligen Umschaffung bedurfte. Zur angewandten
Neuerlich hat man dagegen sogar eine Metaphysik des Civil-Processes erfunden;
ja ich erinnere mich in einem französischen Buche von einer Metaphysik des Violin-
spielens gelesen zu haben.
** Man kann hier meine Gespräche über das Böse vergleichen. (Siehe Bd. IV
vorl. Ausgabe.)
Einleitung. ?0*
Metaphysik aber sind ferner zu rechnen : Psychologie, Naturphilosophie,
und philosophische Religionslehre. Dafs der Name Kosmologie passender
in Naturphilosophie übersetzt werde, schliefse ich daraus, weil wir die
Probleme dieser Wissenschaft aus der Erfahrung nehmen müssen, welche
dem Menschen auf der Oberfläche der Erde zugänglich ist, während der
Begriff der Welt als eines Ganzen, mit dem unser Erfahrungskreis kaum
verglichen werden kann, vielmehr in der allgemeinen Metaphysik seinen
Platz hat. [36] Die Religionslehre würde mit der Ontologie verschmolzen,
an der Spitze der ganzen Metaphysik treten, wenn eine unmittelbare
Erkenntnifs Gottes, als des Absoluten, vorhanden wäre : worüber mit ver-
schiedenen Systemen zu rechten hier nicht der Ort ist.
Die nämliche Ehre aber, an die Spitze der Metaphysik gestellt zu
werden, müfste vielmehr der Psychologie widerfahren, wenn anders das
berühmte Unternehmen der Vernunftkritik, ich will nicht sagen richtig
ausgeführt worden, sondern nur in der ersten Anlage ein richtiger Gedanke
gewesen wäre oder jemals werden könnte. — Eine Vernunftkritik hat zu
ihrem Gegenstande die Vernunft, oder besser das gesammte Erkenntnifs-
vermögen; diesen Gegenstand muis sie als bekannt voraussetzen; und
hierin liegen Irrthümer, die sich durch gar Nichts wieder gut machen
lassen. Vom Erkenntnifsvermögen wissen wir als von einer Summe von
Thatsachen des Bewufstseyns. Noch glücklich, wenn uns diese durch innere
Wahrnehmung, oder wenn man lieber will, durch Anschauung des innern
Sinnes bekannt geworden sind. Alsdann aber fragt sich sogleich, wie viel
Glauben die innere Anschauung verdiene? Eine Frage, welche die An-
schauung selbst, nimmermehr beantworten kann. — Allein es ist nicht
einmal wahr, dafs wir eine so unmittelbare Kenntnifs von dem sogenannten
Erkenntnifsvermögen besäfsen, dessen Begriff wir vielmehr aus den vor-
gefundenen Producten unserer geistigen Thätigkeit herausgedeutet haben.
Jedoch was darüber vom § 4 an schon ist gesagt worden, darf hier nicht
wiederhohlt werden : auf die entgegenstehende Täuschung; werde ich weiter-
DO D
hin noch zurückkommen.
Wofern nun die Psychologie, weit entfernt der allgemeinen Meta-
physik eine Grundlage geben zu können, an ihren Platz in der angewandten
Metaphysik zurücktritt (wo sie übrigens aus Gründen, die hier noch nicht
klar seyn können, der Naturphilosophie mufs vorangestellt werden) : so 1
beruhet sie selbst auf der allgemeinen [37] Metaphysik, und kann, ohne
diese voranzuschicken, weder abgehandelt noch auch nur begründet werden.
In der That, wenn ich tiefer unten behaupten werde, dafs die Seele
ein einfaches Wesen, und dafs sie eben aus dem Grunde nicht ursprüng-
lich Kraft ist: so mufs ich dabei nothwendig auf die allgemeine Meta-
physik (und zunächst, bis eine ausführlichere Darstellung erscheint, auf
meine Hauptpuncte der Metaphysik,) hinweisen.
Um jedoch den Hauptstamm meiner gegenwärtigen Untersuchung
genugsam bevestigen zu können, werde ich mir erlauben, das Nöthigste
aus der allgemeinen Metaphysik, nämlich die Untersuchung über das Ich,
hier einzuschalten ; und auch auf andere Puncte jener 'Wissenschaft so
1 „so" fehlt in S\V
2oS 2SJ- Psychologie als Wissenschaft.
viel Licht werfen als hier geschehen kann; wozu sich die Gelegenheiten
häufig genug darbieten werden. Und um möglichen Misverständnissen zu-
vor zu kommen, bemühe ich mich sogleich, das Verhältnifs der Prin-
cipien von beyden, der allgemeinen Metaphysik, und der Psychologie,
deutlich auszusprechen.
§ 15-
Die allgemeinen Formen der Erscheinungen, so wie sie vor allem
Philosophiren vorgefunden werden, sind die Principien der allgemeinen
Metaphysik. Könnten diese Formen, so wie sie vorgefunden (oder, im
wissenschaftlichen Sinne des Worts, gegeben) sind, eben so auch gedacht
werden, so bliebe es bey der ersten Auffassung oder Anschauung; dieser
würde man glauben, und eben deshalb würde keine Wissenschaft, Meta-
physik genannt, entstehen; es sey denn als ein Spiel müssiger Köpfe, das
man gerade so ignoriren, und von aller soliden Erfahrungs- Erkenntnifs
hinwegscheuchen müfste, wie gegenwärtig die Metaphysik von ihren Ver-
ächtern in der That ignorirt, und aus der Naturforschung wirklich verbannt
wird. Diese Verächter und Widersacher können nur dadurch widerlegt
werden, dafs man ihnen die Widersprüche nachweis't, in denen sie aus
Mangel an Metaphvsik [38] unvermeidlich befangen sind. Sie können nur
dadurch versöhnt werden, dafs sie einsehn lernen, wie die Metaphysik
gerade dasselbe Geschafft nur fortführt und zu Ende bringt, was der ge-
meine Verstand, nothgedrungen durch das Widersprechende in den Formen
der Erscheinung, von selbst beginnt, indem er die Begriffe von Substanz
und Ursache erfindet. Denn diese Begriffe sind keine angeborne, son-
dern erfundene; sie sind nicht Kategorien, die unbeweglich vest stünden,
und die man darum so lassen mülste, wie sie stünden; sondern es sind
halbvollendete Productionen, die man ganz zu Stande bringen mufs, damit
die Knoten, welche der gemeine Verstand nur vorläufig zur Seite geschoben
hat, zu einer vollständigen Auflösung gelangen mögen.
Jene Formen der Erscheinungen aber sind keine andern, als die Com-
plexionen, welche wir für die Verknüpfungen mehrerer Merkmale Eines
Dinges ansehn; die Veränderungen dieser Complexionen, welche wir für
Veränderungen der Dinge nehmen ; ferner der Raum, die Zeit und das Ich.
Nachdem die Einsicht gewonnen ist, dafs keine dieser, in der Anschauung
gefundenen Formen für sich denkbar ist, sucht die Metaphysik die Be-
ziehungen derselben auf, wodurch die vorigen Widersprüche verschwinden. *
Wie verhalten sich nun dazu die Principien der Psychologie ?
Unter den vorhin genannten Formen ist eine, nämlich das Ich, welche
eben sowohl zur Psychologie als zur allgemeinen Metaphysik gerechnet
werden kann; ja das Ich scheint nicht eine Form, sondern gerade der
• igentliche Gegenstand der Psychologie zu seyn. Dafs nun gleichwohl
die Untersuchung desselben in die allgemeine [39] Metaphysik gezogen
werden mufs, rührt her von dem untrennbaren Zusammenhange der ersten
Was hier behauptet ist, müssen fürs erste meine schon oben genannten Haupt-
punkte der Metaphysik (siehe Bd. II vorl. Ausgabe) verantworten. Man vergleiche auch
unten, § 33 — 35, und mein Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, im vierten
Abschnitte. (Siehe Bd. IV vorl. Ausgabe.)
Einleitung. 2 0Q
metaphysischen Nachforschungen mit der eben erwähnten; welches schon
die leichteste Erinnerung an den Idealismus kann vermuthen lassen. Allein
wenn auch in einem vollständigen Systeme der Philosophie dasjenige nicht
in der Psychologie darf wiederhohlt werden, was die allgemeine Meta-
physik schon vorweggenommen hat: so bleibt doch der Gegenstand selbst
psychologisch, und bezeichnet die innige Verbindung der allgemeinen
Wissenschaft mit der ihr untergeordneten besonderen.
Aufserdem nun hat die Psychologie an den mannigfaltigen Thatsachen
des Bewufstseyns, wie schon oben bemerkt worden, ein unermefsliches
Eigenthum, welches die allgemeine Metaphysik unangetastet läfst; so dafs
auch diejenigen unter diesen Thatsachen, welche die Eigenschaften eines
Princips an sich tragen, der Psychologie allein gehören,
Aber die wissenschaftliche Behandlung dieser blofs psycholi »o-ischen
Principien, die Auflösung der in ihnen enthaltenen Probleme*, diese mufs
immer mit Zuziehung der allgemein metaphysischen Lehrsätze bewerk-
stelligt werden, damit alles gehörig zusammenstimme; und sie kann auch
einer solchen Hülfe nicht entbehren, weil in allen speciellen Problemen
sich immer die allgemein metaphysischen, wie die Gattung in der Art,
wiederfinden.
Man sieht nämlich auf den ersten Blick: dafs alle psvchologischen
Principien, so wie sie aus der hinern Wahrnehmung geschöpft werden,
zzvej' Umstände an sich tragen, um derentwillen sie unfehlbar in
die allgemein metaphysischen Haupt-Probleme zurückfallen.
Sie befinden sich alle unter der Mehrheit von Bestim[4o]mungen, die
dem Gemüth als einer Einheit zugeschrieben werden; dadurch rufen sie
die allgemeine Frage herbey, wiefern überhaupt Mehreres Einem
zukommen könne? und diese Frage wird durch die Lehre von der
Substanz entschieden. Ferner ist alles innerlich Wahrgenommene im be-
ständigen Kommen und Gehen begriffen, es bezeichnet veränderliche Zu-
stände des Gemüths; dadurch gehört es in das Gebiet des Veränder-
lichen überhaupt, und die Theorie der Veränderung wird dabey unent-
behrlich.
Wie nun Jemand die Möglichkeit der Veränderung sich denkt; ob
er sie aus äufsern Gründen, oder aus inneren, durch Selbstbestimmung,
erklärt, oder ob er ein absolutes Werden annimmt**): dieses entscheidet
über die möglichen psychologischen Vorstellungsarten, denen er zugänglich
ist. Eben so ist es mit den angenommenen Meinungen über die Substanz.
Deshalb ist es völlig vergeblich, Jemanden für eine Psychologie ge-
winnen zu wollen, die seinen metaphysischen Vorstellungsarten widerstreitet ;
es sey denn, dafs man seine Metaphysik zugleich mit umbilden könne.
Dürfen aber die Seelenlehrer, welche durch blofse Erfahrung sich berech-
tigt halten, die metaphysischen Begriffe von Vermögen, Kräften, Thätig-
keiten anzuwenden, um dem Gemüth eine Mehrheit davon bevzulcgen,
* Wer sich nicht gleich erinnert, wie die Principien Probleme enthalten, nämlich
vermöge ihrer Beziehungen, welche vollständig aufzusuchen eine Aufgabe ist: der beliebe
in die §§ 1 1 — 13 zurückzublicken.
** Vergl. mein Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie , Abschn. 4, Cap. 2,
[s. Bd. IV, No. I].
Heruart's Werke. V. 14
2 I O XL Psychologie als "Wissenschaft.
dürfen sie erwarten, denjenigen zu überzeugen, der eine Metaphysik ent-
weder hat, oder auch nur für nöthig hält, darnach methodisch zu suchen?
Es werden weiterhin historische Beispiele vorkommen, welche dies erläutern
können.
§ 16.
Aufser dem richtigen Verhältnils der Psychologie zur allgemeinen
Metaphysik mufs auch noch ein scheinbares in Betracht gezogen werden;
eben dasjenige, welches die [41] Versuche veranlafst hat, der Metaphysik
eine psychologische Grundlage zu geben.
Um sich hierin desto leichter zu finden: bemerke man, dafs ursprüng-
lich die Metaphysik von Naturbetrachtungen anhebt, dafs sie dabev so-
gleich auf die Unzuverlässigkeit und Undankbarkeit der sinnlichen Er-
fahrung stofsen mufs, dafs es ihr aber nicht so leicht wird, das Bessere an
die Stelle zu setzen. Nachdem die ältesten Philosophen bald, mit Heraklit,
ein absolutes Werden; bald, mit den Eleaten, ein absolutes Seyn; bald,
mit Leukipp, das Volle und das Leere und die kleinsten Körperchen;
bald, mit den Pythagoräern, die Zahlen, oder mit Platox, die Ideen zum
Grunde gelegt hatten: wuchs immer mehr der Verdacht heran, den die
Sophisten aussprachen, den Sokrates begünstigte, den die Akademiker und
Skeptiker fortdauernd ernährten, dafs nämlich jene älteren in eine Tiefe
hätten blicken wollen, wo hinein das menschliche Auge nicht reiche; und
dafs die eigentliche Weisheit darin bestehe, die Schranken unserer Erkennt-
nifs wohl einzusehen. * Hierin nun liegt offenbar schon die Weisung, erst
das: quid vakant humer i, quid ferre recusent, zu erwägen, das heifst, erst
das Vermögen unserer Erkenntnifs genau zu schätzen, ehe man sich in
Untersuchunngen über die Natur der Dinge verliere. Und was ist natür-
licher, als dafs man über einem Sprunge, über einer Vernachlässigung
des Zunächstliegenden, sich zu ertappen glaube, wenn man bemerkt, man
habe in den Sternen geforscht, ohne das eigne Herz zu kennen?
Nichts destoweniger ist unsre Kenntnifs der Himmels-Mechanik gegen-
wärtig ohne Vergleich vollkommner, als die Kenntnifs des Gesetzmäfsigen
in unserm Innern. [42] Und wenn Sokrates wirklich glaubte, mit dem
yvütd-i oavTQv leichter fertig zu werden, als mit jenen Nachforschungen,
die ihm zu verwegen schienen , so war er in einer mächtigen grofsen
Täuschung befanden.
Er hatte vergessen, dafs es nicht sowohl auf die Distanz eines Gegen-
standes von uns, sondern auf das Auge ankommt, welches wir für ihn
haben. Das sinnliche Auge sieht mit einer Genauigkeit, die sich einer
mathematischen Bestimmtheit nahe bringen läfst, und es pflegt seinen
Gegenstand nicht selbst zu entstellen; aber die innere Wahrnehmung unter-
liegt diesem Vorwurfe und entbehrt jenes Vortheils. Es ist wahr, die
sinnlichen Gegenstände wechseln, sie entstehn und vergehen; aber wir
* In Hinsicht der Sophisten ist hoffenüich nicht nöthig, die Hauptsätze des Gorgias
und Protagoras hier anzuführen, welche in der That auf das angegebene Resultat hinaus-
laufen, so weit auch übrigens ihre Lehrart von der des Sokrates entfernt war. Das:
Txarrvjv %()7/fiaTOJv utT^ov av&Qwnoi, ist eigenüich eine Ermahnung, alles "Wissen sey
relativ und subjectiv.
Einleitung. 2 11
selbst mit unsem Gemütbszuständen sind noch weit unbeständiger als irgend
ein äufserer Wechsel. Man mufs gestehen, dafs die sinnlichen Merkmale
der Dinge keinesweges für reale Qualitäten gelten können; aber wenn die
Dinge nur in so fern sie uns erscheinen, sich mit Merkmalen bekleiden,
so ist es eben so wahr, dafs auch wir selbst nur erkennen, wollen und
fühlen, in wie fem uns Objecte gegenüber treten, als Zielpuncte unseres
Anschauens und Begehrens; Objecte, von deren Jedem einzeln genommen
wir schon im gemeinen Leben bekennen, dafs es uns nur zufällig begegne.
Denn wir lassen dieselben Gegenstände gar nicht für Bedingungen unseres
Daseyns gelten, von denen doch nicht zu leugnen ist, dafs sie unser ganzes
Wissen um uns selbst bedingen. Und während nun dieses Wissen von
uns selbst eben so durch Relationen auf das Aeufsere afficirt ist, wie das
Erkennen der Aufsendinge durch die Relation auf uns: vermischt sich
jenes sehr leicht mit Einbildungen aller Art, von denen dieses viel freyer
ist. Das Brüten über sich selbst erzeugt Schwärmer; die Beschäffti<nmo-
mit dem was draufsen vorgeht, vermag Schwärmer zu heilen.
Allen diesen bekannten Wahrheiten zum Trotz nun hat man dennoch
gemeint, und meint noch heute, man [43] könne wohl mit grofsej Sicher-
heit Lehren über die Formen und Gränzen des Erkenntnifsvermögens auf-
stellen, und diese zum Maafsstabe aller Wahrheit machen; ohne dafs man
nöthig habe genau zu prüfen, wie das Erkenntnifsvermögen selbst erkannt
werde; ob die Wahrnehmung desselben zuverlässig und bestimmt, ob die
Begriffe, die man. darauf überträgt, deutlich, ob sie auch nur denkbar
seyen? Da nun in der allgemeinen Metaphysik nachgewiesen wird, dafs
ein Gemüth, als Einheit r it allerley Vermögen, dafs schon ein reales Ver-
mögen, welches auf Anlässe zum Handeln wartet, dafs endlich das Ich,
dieser vermeintlich gehaltlose und unschuldige Begleiter aller unserer Ge-
danken, lauter undenkbare Begriffe und vollständige Widersprüche sind:
so mufs das Psychologische, auf welches eine Kritik der Metaphysik sollte
gegründet werden, vielmehr sich selbst einer Kritik von Seiten der Meta-
physik unterziehen; und jene Lehren, die das Unterste oben gekehrt haben,
müssen sich eine neue Umkehrung gefallen lassen, auf dafs die alte gute
Ordnung wieder hergestellt werde.
Weil aber nun einmal eine Abweichung von der alten Ordnung Statt
gefunden, und Beyfall gewonnen, und selbst vielfältigen, nicht zu verküm-
mernden Dank verdient hat, wegen neuer Aufregung der gesammten specu-
lativen Thätigkeit: so ist es nun nothwendig geworden, vor einer ausführ-
lichen allgemeinen Metaphysik, die Beleuchtung der Psychologie, und der
Grundlage, die sie haben oder nicht haben kann, vorhergehn zu lassen.
Und das gegenwärtige Buch hat wirklich, abgesehen von seinem positiven
Inhalte, die Tendenz, eine durchgeführte Ableugnung dessen darzustellen,
wovon Andre, als von dem Ersten was man ihnen zugestehen müsse, aus-
zugehn gewohnt sind.
14'
2 j 2 XI. Psychologie als Wissenschaft.
[44] VI.
Blicke auf die Geschichte der Psychologie seit Des-CäRTES.
§ 17-
Wir haben neuerlich eine Geschichte der Psychologie von Carus
erhalten, ohne Zweifel ein verdienstliches Werk. Doch wäre eine Kritik
der Psychologie, im Geiste von Schleiermacher's Kritik der Sittenlehre,
etwas weit wünschenswertheres.
Es kann mir nicht einfallen, hier auch nur den geringsten Versuch
dieser Art machen zu wollen. Damit meine weitläuftige Einleitung ein
Ende finde, mufs ich mich begnügen, bis auf diejenigen Vorstellungsarten l
zurückzugehn, welche noch jetzt von Einflufs sind, und ich werde sie nur
in so fem in Betracht ziehn, als dadurch für meinen jetzigen Zweck
etwas gewonnen wird.
Der erste, den ich hier achtungsvoll nennen mufs, ist Des-Cartes;
selbständig und reif in seiner Art als Denker, und geistreich, ohne Künstele}-,
als Schriftsteller. Seine meditationes de prima philosophia sind noch heute
höchst empfehlungswerth für Anfänger; besonders wenn ein tüchtiger Lehrer
hinzukommt. Das grofse Verdienst des Des-Cartes besteht nicht blofs
in scharfer Scheidung des Geistes von der Materie, sondern darin, dafs
er für die ganze Philosophie den rechten Ton angab, indem er in das
Gebiet des Zweifels vorläufig die ganze Körpenveit, und alle unsre Vor-
stellungen von derselben verwies; hingegen das Ich als den Lichtpunct
der ersten Gewifsheit hervorhob; wodurch jene Besonnenheit möglich
wurde, die Kant unter uns erneuerte, und die man niemals wieder hätte
verlieren sollen; die Besonnenheit an das eigne Denken, welches auch
der Gegenstand unseres Denkens seyn möge. — Und welches ist sein
Beweis für das Daseyn Gottes? Nicht ursprünglich [45] jenes bekannte
Sophisma, nach welchem die Existenz eine der göttlichen Vollkommen-
heiten seyn soll; dieses rief er freylich zu Hülfe; allein erst, nachdem die
grofse Frage: woher kommt die Erhebung meines Geistes zu
solchen Gedanken, deren Gegenstand in der Erfahrung nicht
angetroffen wird? — ihn dahin gedrängt hatte, den übersinnlichen
Ursprung derselben in Gott zu suchen. Seine Lehre von den angebornen
Ideen ist übrigens nicht im mindesten schwärmerisch, sondern unver-
meidlich für den, welcher nicht schon alles dasjenige weifs, was ich in
diesem Buche erst vorzutragen gedenke; nunquam iudicavi, sagt er (in den
notis in prögramma quoddam in Belgio editumj, meutern indigere ideis innatis,
quae sint aliquid diver sum ab eins facnltate cogitandi: sed cum adver t er em,
quasdam in me esse cogitationes, quae non ab obiectis externis, nee a volun-
tatis meae determinatione procedebant, sed a sola cogitandi facultate, illas
innaias voeavi; eodem sensu, quo dieimus, generositatem esse quibusdam familiis
innalam, aliis vero quosdam morbos: non quod istarum familiarum injanies
morbis istis in utero matris /aboreut, sed quod nascantur cum qu<idam
dispositione sive facultate ad illos contrahendos.
1 diejenigen Vorstellungen SW.
I
Einleitung. 2 1 3.
Eine eigentliche Untersuchung über das Ich, mufs man jedoch bey
Des-Cartes eben so wenig, als bei so vielen Späteren, suchen. Auch
liegen bey ihm zu viele metaphysische Irrthümer im Wege, als dafs er die
wahre Psychologie hätte finden können. Zwar nicht das kann ihm zum
Vorwurf gereichen, was vermuthlich unsre heutigen Anthropologen zuerst
an ihm tadeln würden, dafs er die Seele zu weit vom Körper trenne:
denn von der engen Verbindung beyder war er so überzeugt, dafs er
sogar, auf der entgegengesetzten Seite übertreibend, meint, die Ver-
besserung des Menschengeschlechts müsse in der Medicin ge-
sucht werden*. Eben so wenig hat ihn eine falsche Freyheitslehre —
der Punct, [46] an welchem so Viele scheitern, geblendet, er lehrt sehr
richtig: indiffereniia, quam experior, cum nulla me ratio in unam partem
magis quam in alt er am impellit, est infimus gradus libertatis; et nullam in
ea perfectionem , sed tantummodo in cognitione defectum testatur ; nam si
semper, quid verum et bonum sit, clare viderem, nwiquam de eo quod esset
indicandum vel e/igendum, deliberarem. ** Aber sehr nachtheilig mufsten
ihm solche Irrthümer werden, wie die Anknüpfung des Seyn an die Zeit,
und die Meinung, dafs die Zeittheile von einander unabhängig wären;
daher denn aus unserm Daseyn in einem Augenblicke noch nicht das
Daseyn im nächsten Augenblicke folgen soll.*** Wichtiger noch sind die
Fehler in seiner Lehre von der Substanz; er läfst eine Mehrheit von Attri-
buten zu; läfst die Substanzen afficirt und verändert werden; glaubt deren
Natur zu erkennen, indem Ausdehnung das Wesen des Körpers, Denken das
des Geistes ausmache; nimmt gleichwohl eigentlich nur eine wahre Substanz
an, nämlich Gott, welcher allein zu seinem Daseyn keines andern Gegen-
standes bedürfet: — kurz, man erblickt hier den ganzen Spinozismus im
Keime. Mögen alle Anhänger des Spinoza sorgfältig den Des-Cartes
studiren; sie werden ihn dann weniger anstaunen; — so wie die Gegnei
desselben eine Lehre in milderem Lichte erblicken werden, die nichts als ein
natürlicher Auswuchs aus Des-Cartes Irrthümern ist. Doch dieser Gegen-
stand kann hier nicht ausgeführt werden ; ich gehe über zu dem berühmten
Widersacher des Des-Cartes im Puncte der angebornen Ideen; zu Locken,
dem eine länger dauernde Wirksamkeit beschieden war.
Locke nannte sein Werk einen Versuch über das Denkver-
mögen, tt Jemand, der von unsern [47] neuern Psychologien zu dem-
selben käme, würde sich über den Plan des Werks wundern können. Die
Erwartung einer Abhandlung der verschiedenen Vermögen, die man dem
Erkenntnifsvermögen (als ob die Vermögen wie Arten unter Gattungen
enthalten wären) unterzuordnen pflegt, also die Erwartung einer Lehre von
der Sinnlichkeit und so ferner bis zur Vernunft, würde sehr getäuscht
werden. Nicht nur hat Locke, wie Tennemann (in der Uebersetzung von
* In der dissertatione de mcthodo, gegen das Ende.
** Meditatio quarta.
*** princ. philos. I, 21.
t Ibid. 51—56.
tt Er sagt im zweyten Buch, c. VI. § 2 : the power of thinking is called the
under standing ; und um so weniger habe ich das Wort understanding, wie gewöhnlich,
durch Verstand übersetzen wollen.
2i 4 XL Psychologie als Wissenschaft.
Degerando's Geschichte d. Philos. I. Band, S. 226. in der Note) bemerkt,
die vollständige Aufzählung der Geistesvermögen nicht zum Gegenstande
seines Nachdenkens gemacht: — sondern er erscheint auf den ersten
Anblick äufserst nachlässig in der Stellung dieser Geistesvermögen. Mitten
im zweyten Buch, das überschrieben ist von den Ideen, handeln das
neunte, zehnte und elfte Capitel von Wahrnehmung, Gedächtnifs, Witz,
Scharfsinn, Abstractionsvermögen ; vorher und nachher ist von einfachen
und von zusammengesetzten Ideen die Rede. Dann aber findet sich viel
weiter hin, nämlich im vierten Buch, das vierzehnte Capitel von der Be-
urtheilungskraft, und nach eingeschobenen Untersuchungen über die Wahr-
scheinlichkeit, das siebenzehnte Capitel von der Vernunft. Man erräth
sogleich, dafs diese scheinbare Unordnung von einem Plane herrührt, der
die Aufzählung der Geistesvermögen ausschliefst; und das erhelltauch
aus dem Sätze: alle unsre Ideen kommen von Sensation und
Reflexion, welche beyde Thätigkeiten bev Locke noch so ziemlich dem
ähnlich sehen, was Andre Geistesvermögen nennen; aber auch grofsentheils
die Stelle der übrigen Vermögen vertreten.
Jedoch die Hauptsache ist, dafs Locke der ächten Erfahrung, um
einen guten Schritt näher blieb, als Jene, die uns von ihren Abstractionen,
und deren hinzugedach[48]ten Substraten, den Seelenvermögen, unterhalten.
Locke durchsucht unsern ganzen Gedankenvorrath, und er unternimmt
sich darauf zu besinnen, wie wir zu jeder Art von Gedanken mögen ge-
kommen seyn. Er hat hier wenigstens in so fem vesten Grund, dafs die
Gedanken und Vorstellungsarten, von denen er redet, wirklich vorhanden
sind; diese kann man nicht, gleich den Seelenvermögen, für Hirngespinnste
erklären, denn man ist sich ihrer wirklich unmittelbar bewufst. Auch das,
was er über die Entstehung dieser Gedanken sagt, kann dienen, uns an
Vieles zu erinnern, was wir, mehr oder minder bestimmt, von den geistigen
Bewegungen innerlich wahrzunehmen vermögen. Freylich verräth sich
dabev auch oft genug die allgemeine Neigung, die Erfahrimg durch Er-
schleichungen zu verunstalten, und besondere Anlagen nach Bequemlich-
keit zu erdichten. Ein Beyspiel giebt das Gedächtnifs. Dieses ist auch
dem Locke eine „ability in the mind, when it wiü to revive them (die
Vorstellungen) again"*. Und wenn man ja geneigt wäre, diese ability
nicht für ein erdichtetes Vermögen, sondern für die blofse allgemeine Be-
zeichnung einer Classe von Thatsachen, ohne Erklärung derselben, zu
halten: so verdirbt Locke alles an der Stelle, wo er des höchst merk-
würdigen und ranz allgemeinen Phänomens erwähnt, dafs wir nur eine
sehr kleine Anzahl von Vorstellungen auf einmal im Bewufstseyn gegen-
wärtig haben können. Hier spricht er von einer narrowness of the human
mind, als von einer besondern Eigentümlichkeit der menschlichen Anlage,
und erlaubt sich die Hypothese, dafs bey andern endlichen Vernunft-
wesen dies wühl anders seyn könne! Wie gänzlich darin jede
Ahndung einer richtigen psychologischen Ansicht verfehlt ist, wird hoffent-
lich tiefer unten klar genug werden. Und doch ist dies völlig gemäfs der
gewohnten Weise, die Phänomene, die [49] man als Principien benutzen
* Book II. Chap. X. § 2.
Einleitung. 2 I 5
sollte, durch Erdichtung verborgener Qualitäten für alle weitere Forschung
zu verderben.
Im Allgemeinen jedoch ist Locke's Ansicht dem Fehler, den er in
Ansehung des Gedächtnisses beging, gerade entgegengesetzt. Als eifriger
Bestreiter der angebornen Ideen, wollte er die Seele von der Mannig-
faltigkeit dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte, vielmehr
befreven; um für eine, auf Erfahrung gebaute, Theorie Raum zu gewinnen,
die, wenn nicht einer mathematisch-physikalischen Demonstration, so doch
einer pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen werden. Schade,
dafs ihm das Haupt-Argument seiner Gegner, das von den allgemeinen
und nothwendigen Wahrheiten hergenommen ist, und das Leibniz in den
nouveaux essays gegen ihn gelten macht, nicht in seiner ganzen Stärke
scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Argument beginnt mit triftigen
Gründen, und endigt mit einer Erschleichung. Man sagt mit Recht, Er-
fahrung gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine und Not-
wendige. Man schliefst auch noch richtig, es müsse das letztre auf der
Eigentümlichkeit des erkennenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht
die Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntnifs Vermögens, oder auch
die Mehrheit der angebornen Ideen; mit einem Wort, man erschleicht die
vorausgesetzte Mannigfaltigkeit der Anlage und die besondre Natur
des Subjects, woraus man erklären will, dafs dieses Subject, der Mensch,
gerade diese und gerade so viele nothwendige Wahrheiten, und keine
andern, in seinem Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob
nicht die Notwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur von einerley Art
sey; und ob nicht der Eine Grund dieser Nothwendigkeit unmittelbar in
der Einheit des erkennenden Wesens, ohne irgend eine weitere
Bestimmung seiner Qualität, vollends ohne irgend eine Mannigfaltigkeit
von Einrichtungen in demselben, vollständig [50] enthalten sey. Dieses
nun ist meine Behauptung, und das gegenwärtige Buch, in Verbindung
mit der allgemeinen Metaphysik, soll den Beweis davon führen.
Ich behaupte dem gemäfs ferner, dafs Locke und Leibniz in dem
Puncte, von wo ihre Streitigkeit ausging, beyde Recht hatten; und nur
in so fern Unrecht, als sie ihre Meinungen nicht zu vereinigen wufsten,
Locke hat vollkommen Recht, die Seele eine tabula rasa zu nennen;
Leibniz ihm gegenüber Unrecht, wenn er die Seele einer mit Adern durch-
wachsenen Marmorplatte vergleicht. Hinwiederum Leibniz hat vollkommen
Recht, wenn er (im Anfange des zweyten Buchs der nouveaux essays) dem
Satze: nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, die Erinnerung bey-
fügt: nisi ipse intellectus. Nur dafs in diesem intelkctus nichts Präformirtes,
von welcher Art es immer sey, angenommen werde! Die blofse Einheit
der Seele, welche nicht einmal eine Eigenschaft derselben, sondern nur
eine Bestimmung unseres Begriffs von der Seele ist, — diese reicht hin,
alles das zu erklären, was Leibniz aus der Erfahrung nicht wollte ab-
geleitet wissen.
An dem Locke'schen Werke aber müssen wir noch eine Hauptseite
auffassen; gerade die, worüber er selbst gleich im Anfange sich am aus-
führlichsten und nachdrücklichsten erklärt. Den ersten Antrieb zu seiner
Arbeit hat er in dem Gedanken gefunden, dafs wir überlegen müssen,
2 1 6 XI. Psychologie als Wissenschaft.
wie weit unsre erkennenden Kräfte reichen, ehe wir uns auf den
weiten Ocean der Dinge wagen dürfen ; und dafs wir unsre Aussicht und
Hoffnunsr auf Erkenntnifs nach unsem Fähigkeiten zu beschränken haben.
Ursprung, Gewifsheit und Ausdehnung der menschlichen Erkenntnifs, das
ist's was Locke ermessen will. Ein solches Unternehmen sind wir heutiges
Tages gewohnt eine Vernunftkritik zu nennen. Aber es ist weit leichter
zu begreifen, wie Locke, als wie Kant seinen philosophischen Nach-
forschungen eine solche Form geben konnte. Locke, der Weltmann, ver-
liefs sich weit [51] vester auf seine unmittelbare gesunde Ansicht aller
Dinge, als auf irgend eine schulmäfsige Untersuchung; wie weit er darin
geht, sieht man unter andern aus seinen harten Erklärungen gegen die
Syllogismen.* Ihm konnte es daher am wenigsten in den Sinn kommen,
sich die Frage: wie macht man es, das Erkenntnifsve rmögen zu
erkennen, ernsthaft vorzulegen; denn die Reflexion, der Blick in sich
selbst, schien ihm diejenige Erkenntnifsart zu seyn, über welcher eine zuver-
lässigere sich gar nicht denken lasse. Er traute also der innern Wahr-
nehmung geradehin ; und hätte sich z. B. nie einfallen lassen, die Ver-
standesbegriffe aus den logischen Functionen im Urtheilen erst noch ab-
leiten zu wollen. Er hatte auch keinen kategorischen Imperativ; sondern
der Satz: 110 innate practica/ principhs! gehörte wesentlich zu seiner ganzen
Ansicht. Worin das Wesen des Geistes bestehe, wiefern unsre Gedanken
von der Materie abhängen, sind ihm : specidations, tvhich, however curious
and entertaüiing, I shall decline, as lying out of my way. So sprechen die
Weltleute; aber nur ein Mann von Locke's ernstem, wahrheitliebendem,
frommen Charakter, konnte sich ein Geschafft daraus machen, durch aus-
führliche Musterung unsers ganzen Gedankenvorraths diejenigen Warnungen
gegen die Speculation zu unterstützen, welche Andre leicht angedeutet und
lächelnd hinzuwerfen pflegen. So entstand seine Vernunftkritik, und in
ihr passen Form und Inhalt, Principien, Methoden und Resultate voll-
kommen wohl zusammen. Will man sich über sie erheben, so ist zu
wünschen, dafs man es ganz thue, — dafs man vor allen Dingen die
Unzulänglichkeit der innern Wahrnehmung, welche zu jeder Vernunftkritik
das Object der Untersuchung herbeyschaffen mufs, vollständig erwäge.
[52] § 18.
Genügen wird keinem das Locke'sche Werk, der metaphysische Ueber-
zeugungen besitzt. Gleich die erste Erkenntnifsquelle, die Sensation, mufste
Leibxiz ableuguen, der bey seiner Einsicht in die Unmöglichkeit jedes
physischen Einflusses, alle Vorstellungen der Seele ohne Ausnahme, von
ihrer eignen Entwickelung erwartete. Und es ist nur Gefälligkeit (die
aber die Untersuchung erschweren dürfte,) wenn sich Leibniz schon beym
ersten Paragraphen auf einen Standpunct herabläfst, wo er von Vorstellungen,
die durch die Sinne gegeben werden, reden kann, im Gegensatz gegen die
nothwendigen Wahrheiten. Dafs die Leibniz'schen nouveaux essays dem
* Book IV. Chap. XVII. § 4. Their chief and inain itse is in the sehoois,
ivhere men are allowed without shatne to deny the agreetnent of ideas, that do mani-
festly agree etc.
Einleitung. 2 17
Locke'schen Versuche Schritt für Schritt folgen, hindert vielfältig die freye
und vollständige Entwickelung der Gedanken. Wie die Erfahrungslehre
des Engländers gegen die Metaphysik des Deutschen anstiefs, übersieht
man besser auf einen Blick in den kurzen reflexions sur Vessay de Mr.
Locke*); wo Leibniz unter andern das wahre Wort spricht: la quaestion
de l'origine de nos idies n'est pas preliminaire en Philosophie, et il faul avoir
fait de grands progris pour la dien resoudre. —
Eine erhabene Phantasie, unterstützt von einigen tiefgegriffenen specu-
lativen Hauptgedanken, hatte LEiBNizen dahin gebracht, überall in der
Welt und in der Seele, lauter Fülle und Continuität, gesetzmäfsige und
harmonische Entwickelung zu erblicken. Daraus entsprang ein psycho-
logischer Hauptsatz, der hoch hervorragt, über die Verbindung der beyden
so genannten Haupt vermögen des Verstandes und Willens. Les qualitis
et actions internes d'une vionade fie peuvent etre autre chose que ses percep-
tions — et ses appetitions, c' est-ä-dire, ses tendances d'une percep-
tion ä V autre.** Deutlicher noch: actio principii interni qua fit mutatio,
seu transitus [53] ab una perceplione ad alteram, appetitus appellari polest. Verum
quidem est, quod appetitus non semper prorsus pervenire possid ad omnem
perceptionem, ad quam tendit ; semper tarnen aliquid eins 00t inet, atque ad
novas perceptiones pervenit.*** Die Seele, in stetiger Entwickelung fort-
schreitend, erzeugt Vorstellungen; die Erzeugung selbst, die Handlung des
innern Princips, als noch nicht vollendet sondern eben jetzt im Streben
zum Vorstellen begriffen, ist das Begehren. Hier ist zwar leicht zu sehen,
dafs noch genauere Bestimmungen fehlen; denn das blofse Aufstreben einer
Vorstellung, für sich allein, und wenn es ungehindert vollzogen werden
kann, giebt so zu sagen die Befriedigung vor der Begehrung, und eben
darum weder eins noch das andre; indem in jedem Augenblicke dem
Streben vorzustellen auch das realisirte Vorstellen entspricht. Es mufs also
noch eine Hemmung hinzukommen, welche das Streben zu überwinden
habe; ■ — doch an diesem Orte ist es uns nicht um eine Theorie der Be-
gierde, sondern darum zu thun, dafs man den Keim einer solchen Theorie
bemerke, welcher gemäfs die Beziehung des Begehrens auf das Vorstellen
(§ 12.) begreiflich, und der Umstand vermieden werde, dafs dieser offen-
baren Beziehung ungeachtet, die Psychologien das Begehrungsvermögen
neben dem Erkenntnifsvermögen hinstellen, und jedes besonders abhandeln,
ohne sich um die Umstände zu bekümmern, unter denen das Vorstellen
unfehlbar in ein Begehren übergehen mufs. LEiBNizens richtigen Gedanken
hoffe ich am gehörigen Orte bestätigen und ausführen zu können; ob-
gleich die dahin gehörigen Ueberzeugungen viel früher, bevor ich die
Werke jenes Philosophen studirte, bey mir vest standen. Es ist die Unter-
suchung über das Ich, welche mich hier, wie [54] in mehrern Puncten,
auf LEiBNizens Spur geführt hat, wie man tiefer unten t sehen wird.
* Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. IL pag. 218.
** A. a. O. S. 32.
*** A. a. O. S. 22. Mit Hülfe dieser Stelle des Leibniz würden vielleicht Einige
das besser verstanden haben, was ich in meiner praktischen Philosophie S. 28 — 31 [s. Bd. II,
S. 341 vorl. Ausgabe] über das Begehren gesagt habe,
t § 36. 37. 104.
2 i g XI. Psychologie als Wissenschaft.
Wie das Begehren sarnmt dem Vorstellen nach Leibxiz zu den
Qualitäten der Seele als einer Substanz gehört: so heftet sich bey
ihm an denselben Punct auch noch der Satz, dafs die Seele stets denkt.
Die Substanz kann nicht ohne Wirkung, und in der Seele kann keine
o-eistio-e Leerheit seyn. Wiewohl ich nun hier so wenig, als in dem Grund-
begriff der Substanz selbst mit Leibniz einstimme, so mufs ich doch auf
einige Folgerungen aufmerksam machen, die er aus jenen Sätzen zieht.
Die Seele hat eine Menge von kleinen Vorstellungen; verbinden sich
dieselben zu stärkeren, so wird man sich ihrer bewufst; aufserdem kann
man sich von ihnen keine Rechenschaft geben; und man mufs demnach die
Perceptionen von der Apperception wohl unterscheiden. U Apperception
est la conscience, on la con?iaissance reflexive de Vetat intirieur.* Das Ge-
räusch des Meeres entsteht aus dem Geräusch jeder Welle; die einzelne
Welle würde keine bemerkbare Vorstellung darbieten; gleichwohl mufs aus
der Summe aller einzelnen kleinen Vorstellungen das gesammte Geräusch
entspringen, welches zu vernehmen wir uns bewufst sind.** — Dafs
dieser wichtige Gegenstand, über welchen neuerlich Plattxer und Rein-
hold verschiedener Meinung gewesen sind***, wieder in Frage genommen
werde, mufs mir für meine Untersuchungen wünschenswerth seyn. Schon
anderwärts! habe ich gezeigt, dafs die momentanen Auffassungen durch
die Dauer einer Wahrnehmung zu einer Totalkraft erwachsen, wofern nicht
die momentane Auf [55]fassung zu schwach ist; ich habe versucht, dieses
mathematisch zu bestimmen. Hierher aber gehört vorzüglich die Be-
merkung, dafs zwey beynahe gleichklingende Ausdrücke einen ganz ver-
schiedenen Sinn haben: ins Bewufstseyn kommen, und, den Gegen-
stand ausmachen, dessen man sich bewufst wird. Die zuvor ge-
nannten kleinen Vorstellungen kommen ohne Zweifel ins Bewufstseyn:
gleichwohl werden wir uns ihrer nicht bewufst, wir können es uns nicht
sagen, dafs sie ins Bewufstseyn gekommen seyen. Dieses, was schwer
zu verstehen scheint, mufs am gehörigen Orte vollkommen klar werden;
indessen wird es Gewinn seyn, die Sache schon hier so weit als möglich
ins Licht zu setzen. Zuvörderst: die Seele hat viele Vorstellungen, die
dennoch nicht im Bewufstseyn sind. Dieses sind die völlig gehemmten,
oder nach gewöhnlicher Benennung, die im Gedächtnifs ruhenden Vor-
stellungen. Ferner, diese gehemmten Vorstellungen waren früher im
Bewufstseyn, und kehren in dasselbe zurück, wenn die Hemmung
nachläfst. Allein um nun auch noch sich ihrer bewufst zu werden,
(sie zu appercipiren,) — dazu gehört, dafs sie selbst Objecte eines neuen
Vorstellens werden; welches niemals durch sie selbst, sondern allemal nur
durch eine andre Vorstellungsreihe geschehn kann. Dieses aber hängt
gewöhnlich von ihrer Stärke, zuweilen von ihrer Neuheit, überhaupt von
* A. a. O. S. 33-
** Nouveaux essays im Anfange.
*** Plattner's philos. Aphorismen § 63. 65. Rjeinhold's Theorie des Vor-
stellungsvermögens, drittes Buch § 38.
t Königsberger Archiv für Philosophie u. s. w., drittes Stück, [s. Bd. III, Xo. VI]
und de altentionis mensura [s. oben Xo. IV].
Einleitung. 2 I 9
den Umständen ab, unter denen eine Vorstellungsreihe auf eine andere
Einflufs hat, und ein Object derselben wird.
LEiBNizens Aufmerksamkeit auf die kleinen Vorstellungen, durch deren
Hülfe er die Continuität der geistigen Phänomene verfolgt, und denen
er „mehr Kraft als man denken sollte," zuschreibt, verräth das Auge
des Metaphysikers, dem es nicht genügt, nur das anzuschauen, was auf
dem Vorhange der Wahrnehmung zu sehn ist, sondern der hinter den
Vorhang blickt, und dort ■ — nicht etwan erdichtete Seelenvermögen, sondern
die wahren Kräfte aufsucht, aus denen die sämmt[56]liche Thätigkeit
des Gemüths erklärt werden mufs. Denn eben die Vorstellungen selbst
sind die Kräfte der Seele. Vorstellungen sind nicht etwan blofse Bilder,
ein nichtiger Widerschein des Seyenden, sondern sie sind das wirkliche
Thun und Geschehen, vermöge dessen die Seele ihr Wesen aufrecht hält,
und ohne welches sie aufhören würde zu seyn was sie ist. Um aber die
Art, wie die Vorstellungen zusammenwirken, genau kennen zu lernen mufs
man nicht die grofsen Massen von Vorstellungen, welche die innere
Wahrnehmung vorfindet, noch die ganzen Classen von Gemüthszuständen,
an welchen der logische Scharfsinn der meisten Psychologen sich übt, —
sondern man mufs gerade wie Leibniz die kleinen Vorstellungen ins Auge
fassen, — und ich kann hinzusetzen, man mufs auch durch LEiBNizens
Erfindung, die Rechnung des Unendlichen, das Auge schärfen, um die
kleinen Vorstellungen in ihrer Wirksamkeit beobachten zu können.
Nehme ich noch hinzu, dafs schon Leibniz den vollkommen richtigen
Gedanken verbreitete, die Seele erzeuge alle ihre Vorstellungen
aus sich selbst: so könnte ich mich einen Augenblick der Verwunderung
hingeben, dafs so treffliche Vorarbeiten dennoch keine tüchtige
Psychologie erzeugt haben! — Aber die prästabilirte Harmonie —
nach welcher die Seele nicht blofs aus und durch sich selbst, sondern
auch von selbst, ohne äufsere Veranlassung, ihre Vorstellungen erzeugen
soll, hat ihre schwachen Seiten; sie ist mit theologischen und naturphilo-
sophischen Meinungen verwickelt; sie wurde dadurch vielmehr ein Gegen-
stand, als eine Quelle neuer Nachforschungen; sie wurde verworfen, und
vielleicht beynahe vergessen. LEiBNizens Lehre wurde niedergedrückt,
theils durch die auf den ersten Anblick klarere Lehre des Locke, welcher
sie noch mehr zu widerstreiten schien, als sie ihr wirklich entgegen ist,
(denn die Sätze, dafs die Seele ursprünglich eine tabula rasa ist; und,
dafs sie ihre Vorstellungen aus sich selbs er[57]zeugt, können und müssen
vereinigt werden,) theils durch den scheinbar befreundeten Einflufs des
Wolffischen Systems.
§ 19«
Wenn das imposante Ansehen eines, in viele Fächer getheilten, von
Definitionen und Divisionen angefüllten, Lehrgebäudes eben so geschickt
wäre, achtes Denken zu erwecken, als es fähig ist, Schüler anzulocken : so müfste
die Wolffische Periode in der That die Blüthezeit der Philosophie gewesen
seyn. Aber je gröfser die Menge des eingebildeten Wissens, desto geringer ist
die Spannung des Forschungsgeistes; und dieser wird durch einen kurzen Auf-
satz von Leibniz mehr angeregt, als durch einen ganzen Band von Wolfe.
2 2Q -^I- Psychologie als Wissenschaft.
Der Wolffischen Philosophie wird manchmal so erwähnt, als ob sie
zu der Leibnizischen beynahe wie die Form zum Inhalte gehörte. Aber
wer LEiBNizens Lehre vollends ausarbeiten und systematisch vortragen
wollte (womit ihr vielleicht kein grofser Dienst geschähe, denn als System
betrachtet, dürfte sie manche Blöfsen zeigen, und als eine Summe von
geistreichen Räsonnements ist sie von Leibniz selbst in sehr ansprechende
Formen gebracht worden), der müfste doch vor allen Dingen die prästa-
bilirte Harmonie, auf deren Erfindung Leibniz selbst überall so vieles Ge-
wicht legt, oder eigentlich den Grundgedanken dieser Lehre, dafs keine
Substanz in die andre eingreifen könne,* zum Haupt- und Mittelpunct
des Ganzen machen; er müfste also wohl vor allen Dingen selbst recht
vest davon überzeugt seyn. Aber es ist bekannt, wie Wolff diesen
Punct zu umgehen, wie er davon alles übrige möglichst unabhängig zu
machen sucht. Mea partim refert, quid de causa comercii animae cum cor-
pore slalualur; sind seine eignen Worte.** Wie verträgt sich diese Gleich-
gültigkeit mit [58] dem Unternehmen, in der Psychologie, in der Meta-
physik, Hauptwerke zu schreiben!
Auf Wollff's Versuch einer Trennung der rationalen und empirischen
Seelenlehre weiter einzugehn, verbietet schon der Umstand, dafs eben in
seiner empirischen Psychologie, wo er reine Erfahrung verspricht, der
Hauptsitz der Seelenvermögen sich befindet. Die Art, wie er diese Ver-
mögen einführt, die Rechtfertigung aber verschiebt, ist auffallend genug.
Quotnam sint animae facultates, et quales sint, in Psychologia empirica decla-
ramus; quid vero proprie sint et quomodo animae insint , in Psychologia
rationali demum declarabitur . *** Wir sollen also in der empirischen Psycho-
logie zuvörderst uns an die Seelenvermögen gewöhnen; wir sollen auch
vorläufig allen Erschleichungen überlassen bleiben, die sich damit verbinden
möchten; ein andermal will man unsre Begriffe berichtigen! Doch wir
wenden uns sogleich an die Psychologia rational is : was werden wir finden?
Facultates animae — cum sint nudae agendi possibilitates : animae tribuere
diver sas facultates idem est ac affirmare, possibile esse ut diver sae eidem
inexistent actiones.j Woraus folgt, dafs die Seele so vielerley Vermögen
habe, als nur immer Handlungen in ihr vorgehn; so dafs alles auf die
Richtigkeit und Zulänglichkeit der Abstractionen ankommt, durch welche
man die Arten und Gattungen dieser Handlungen vestsetzt. Wie sicher
und genau nun das Geschafft des Abstrahirens da vollbracht werden könne,
wo man nichts als ftiefsende und schwindende Zustände vorfindet; wie
viel alsdann ferner die gemachtesten Abstractionen helfen können, um
die Erfahrung von diesen fliefsenden Zuständen, nicht etwan zu erklären,
sondern nur treulich aufzufassen; wie wohl oder übel demnach die em-
* Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. II. pag. 21. § 7.
** Wolffii psychol. rationalis in praefatione.
*** Wolffii psych, empirica § 29.
+ Wolffii psych, ration § 81. — Wie es aber eigentlich gemeint sey, das erfährt
man nicht so wohl wenn man die Psychologen fragt, als wenn man sie ertappt. So
läfst sich Wolff ertappen im § 601 der psych, empir. Zuerst sagt er recht gut : appe-
titus mutatur in aversationem ; dann verbessert er sich: appetittts dicitur mutari in
aversationem, quando loco facultat is appetendi sese exer it factilt as aversandi!
Einleitung. 2 21
pirische Psychologie mit dem Register von Seelenvermögen berathen sey:
darüber ist oben geredet worden. Wir wollen uns daher nicht damit be-
mühen, diejenigen Abstractionen, welche Wolff wirklich verzeichnet hat,
näher anzusehen. Und wenn die Neuern ihm zu seinem Erkenntnifs-
und Begehrungsvermögen noch ein ganzes Hauptvermögen, das Gefühl-
vermögen, hinzugefügt haben: so wollen wir darum eben nicht glauben, die
Neuern hätten es besser verstanden wie Er, sondern wir wollen diese Mis-
helligkeit lieber aus der Unsicherheit des ganzen Unternehmens, die nahe
an Unbrauchbarkeit gränzt, zu begreifen suchen. Dagegen aber begleiten
wir WoLFFen, den Metaphysiker, noch ein Paar Schritte in seine Ontologie
hinein. Er selbst weiset uns dahin. Denn in dem schon angeführten §
sagt er weiter: necesse est ut detur ratio suffieüns , cur falia in anima
possibilia sint. Quare cum in essen tia contineatur ratio eorum, quae praeter
eam enti vel constanter insunt, vel inesse possunt, — per vim anima e int eil igt
debet, cur talia in anima possibilia sint. Man spanne aber die Erwartung
ja nicht zu hoch! Denn es heifst gleich weiter: Tribuuntur itaque animae
tales faculiates, quia possibile est ut talia per vim eiusdem diversis legibus
obtemperantem actuentur. Man lege also nur die verschiedenen Möglich-
keiten in die Eine Kraft hinein, damit man sie alsdann wieder daraus be-
greifen könne! Es folgen aber noch Beyspiele. Die Luft läfst sich verdichten;
also hat sie ein Vermögen verdichtet zu werden. Der Stein kann warm
werden; also hat er ein Vermögen warm zu werden. ,,Haec calefiendi potentia
quo modo inest lapidi, eodem modo facultas quaelibet inest animae.'1 Da wir
aber noch nicht wissen, wie eigentlich der Stein und die Luft allerley
Vermögen enthalten können, vielmehr diese gar nicht geringen physikalischen
Fragen noch eher an den Seelen[6o]vermögen, welche wenigstens schein-
bar durch ein Gefühl des Könnens sich innerlich kund thun, Beyspiel und
Erläuterung finden möchten: so werden wir am Ende in die Ontologie
geschickt; und zwar in das Capitel de notione cutis; wo wir unter andern
folgende Offenbarung empfangen : Si ens quoddam concipiendum, primo loco in eo
ponenda sunt, quae s ibi mutuo non repugnant* Hier mufs nothwendig
derjenige bestürzt werden, der bisher von dem Seyenden den Begriff hatte,
dafs es eine völlige Einheit, ohne alle Mannigfaltigkeit, ausmache. Bey
WoLFFen scheint es nicht einmal einer Frage werth, ob, und in wiefern
eine innere Mehrheit sich mit der notione entis vertrage? Auch giebt es
dann gleich weiter so viele essentialia, altributa, modi, die alle geraden
Weges durch Namenerklärungen eingeführt werden; dafs wir schon darauf
gefafst seyn müssen, diese Fülle auch bey dem ens simplex nicht los zu
werden, von welchem keine andre Vereinigungen vorkommen, als die sich
auf die Ausdehnung beziehen.** Und auch in dem langen Capitel mit
dem vielversprechenden Titel : de modificationibus rerum, praesertim simplicium,
wird man schwerlich eine tüchtigere Aussage finden , als die im >j ~ 12:
Pracsupponi dcbent in ente essentialia, aniequam altributa et modi sequi
possunt. — Doch es ist bekannt, wie Wolff durchgängig über dem ens,
(dem was seyn kann) das Esse vergafs, wie er die Möglichkeit und die
Woi.fi- ii ontologia. § 142.
Ibid. § 683.
XI. Psychologie als Wissenschaft.
Namenerklärungen voranschickte, die Realität aber, man weifs nicht recht
wie, hintennach dazu kommen liefs; wie er vor lauter logischer Deutlich-
keit die eigentlichen Dunkelheiten gar unsichtbar machte. Ein solcher
Mann konnte der Psychologie nicht aufhelfen; wohl aber den Winken des
Leibniz die nöthige Aufmerksamkeit entziehen.
§ 20.
Seit Wolff's Zeiten haben zwar Materialisten, Skeptiker, Physiologen,
die Seelenlehre in mancherley Schwankungen zu setzen, die Freunde der
Erfahrung dagegen sie vestzuhalten und durch Beobachtungen zu bereichern
versucht. Allein erst die Kant'sche Lehre gewann, wenigstens in Deutsch-
land, eine allgemeinere Herrschaft, und damit einen entscheidendem Ein-
flufs auch auf die Psychologie. Und ungeachtet des Zwischenraums zwischen
Wolff und Kant, erinnert doch der letztere oft genug an jenen, wie
auch an dessen Vorgänger. Die ersten Worte der Kritik der reinen Ver-
nunft scheinen zu LocKEn geredet; die Erwähnung der noth wendigen
und allgemeinen Wahrheiten unterstützt LEiBNizen; und vielfältig in dem
Kant'schen Hauptwerke werden Locke und Leibniz einander gegenüber
gestellt. Ohne Vergleich lebendiger ist der Ausdruck der Speculation bey
Kant als bey Wolff; aber die Namenerklärungen, aus denen Wolff
grofsentheils sein Lehrgebäude aufführte, finden doch einen Nachklang in
der Terminologie, womit Kant, über den Bedarf, sein Werk ausschmückte.
Die rationale Psychologie, welche sich Wolff als sein verdienstliches Werk
zuschrieb, fand ihren Gegner in Kant; aber den Seelenvermögen, die jener
systematisch abhandelte, widerfuhr die Ehre, von dem letztem noch weit
mehr auseinander gesetzt zu werden.
Erinnert man sich der starken Gegensätze, welche Kant zwischen der
Sinnlichkeit und dem Verstände, zwischen dem Verstände und der Vernunft,
zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft, zwischen der praktischen
Vernunft und dem niedern Be°;ehrun£svermö2;en, endlich zwischen den bev-
den Arten der Urtheilskraft bevestigte: so mag man wohl überlegen, ob je-
mals ein Philosoph die Einheit unsrer Persönlichkeit so gewaltsam behandelt;
das fliefsende unserer Zustände, das Ineinander-Greifen aller unsrer Vor-
stellungen, das allmählige Entstehen eines Gedankens aus dem andern, so
wenig [62] in Betracht gezogen; hingegen an der Verschiedenheit einiger
Haupt-Resultate der geistigen Bewegungen, und an dem Widereinanderstofsen
einiger Vorstellungsreihen sich so einzig gehalten haben möge? — Und wel-
ches ist das Band, durch welches jene weitgetrennten Vermögen zusammen-
gehalten werden sollen? Um es zu finden, müssen wir bemerken, dafs Kant
für die Vereinigung des Mannigfaltigen in der Anschauung weit mehr besorgt
war, als für die Einheit des Geistes selbst; und dafs er zu diesem Behufe
eine ursprünglich synthetische Einheit der Apperception, nebst einer ob-
jectiven Einheit des Selbstbewufstseyns aufstellte, indem er das: Ich denke,
allen unsern Vorstellungen zum (möglichen) Begleiter gab. Aber dieses
Ich erklärt er weiter hin für die ärmste und gehaltloseste Vorstellung unter
allen; ein Gegenstand, auf den wir weiterhin zurückkommen müssen. Was
Wunder indessen, wenn das Gefühl des Mangels an Verbindung, schon
von den nächsten Nachfolgern Kant's Einige antrieb, eben an dieser
Einleitung. 22X
Stelle, wo noch eine Spur von Zusammenhang sich zeigte, sich anzubauen?
Das Bewufstseyn und das Selbstbewufstseyn zum Princip der Kant'schen
Philosophie, und damit der Philosophie selbst, — als zu dem Einen was
Noth thue, zu erheben? An diesen Versuch haben Mehrere der scharf-
sinnigsten Männer ihre Kräfte gewendet, und zum Theil verschwendet; in
der That aus zu grofsem Vertrauen auf die Kant'sche Lehre, welche sie
dadurch besser zu stützen gedachten. Gegenwärtig ist es Zeit, es laut zu
sagen, dafs dieser Weg irre führt; obgleich die Kant'schen Schriften einen
Schatz von Belehrungen enthalten, den Niemand verschmähen soll.
Was nun insbesondre Kant's Kritik der rationalen Psychologie an-
langt: so sind darüber zwey Bemerkungen zu machen. Die eine ist nur
Anwendung einer allgemeinen Betrachtung auf einen speciellen Fall. Kant
iiat nämlich überhaupt nicht genug dafür gesorgt, an den Stellen, wo er
die ältere Metaphysik widerlegen will, sich Metaphysik von der besten Art
zu verschaffen. So nun [63] auch schiebt er die Schuld des Irrthums
in der rationalen Psychologie auf einen Paralogismus, der wohl schwerlich
fähig seyn oder gewesen seyn möchte, irgend Jemanden unter den besseren
und sorgfältigeren Denkern zu täuschen. Oder sollte wohl Leibniz darum
die Seele für Substanz gehalten haben (man weifs wie viel Gewicht er
eben hierauf legt), weil: „ein denkendes Wesen, blofs als ein solches be-
trachtet, nicht anders, denn als Subject kann gedacht werden" — ?*
Schlagen wir den Leibniz auf, so finden wir alles was wir brauchen in
folgenden Worten beysammen: II faut dien qu'ily ait des substa?ices simples
par-tout, parceque sans les simples il ny anroit point de composees ; et par
consequent tonte la ?iature est pleine de vie.** Hier finden wir früher Sub-
stanzen als Seelen; früher die Ueberzeugung von einfachen Bestandtheilen
des Zusammengesetzten, als von der Einfachheit der Seele; mit einem
Worte, früher allgemeine Metaphysik der Psychologie. Und so ist es
natürlich. Erst überlegt man, ob Substanzen als einfache Wesen anzu-
nehmen seyen ? Dann folgt die Frage, was diese Substanzen seyn mögen?
Worauf Leibniz, in der That voreilig, aber in der Absicht, ihnen eine
nicht blofs relative, sondern rein-innerliche Qualität anzuweisen, antwortete:
sie sind vorstellende Wesen, eben darum, weil sie Substanzen sind. Leib-
Nizens Satz heifst nicht, die Seelen sind Substanzen, sondern: die
Substanzen sind Seelen. Wer aber diese Vorschnelligkeit vermeidet,
der fängt freylich in Hinsicht der Seele von der innern Wahrnehmung
an; aber er schliefst nicht von dem: Ich denke, als dem allgemeinen
Subjecte zu allen vorgestellten Objecten, auf eine Existenz eines Subjects,
das nie Prädicat seyn könne; — sondern von der gegenseitigen Durch-
dringung aller unserer Vorstellungen, und ihrer Concentration in dem Einen
Be[b4]wufstseyn, schliefst er auf die Unmöglichkeit, dieser Durchdringung
und Einheit ein zusammengesetztes Substrat zu geben, als in dessen
Bestandtheilen die Vorstellungen zerstreut liegen würden; und
nun folgt die Nothwendigkeit, die Einfachheit zu erwählen, weil die Zu-
sammengesetztheit verworfen werden mufste; endlich aber die Einfachheit
* Kant's Kritik d. r. V. S. 411.
** Leibnitii op. Vol. II. pag. 32.
22 l -^-k Psychologie als "Wissenschaft.
auf eine Substanz zu beziehen,* weil die wirklich vorhandenen Vor-
stellungen etwas Reales erfordern, dem sie beygelegt werden können. Wer
diese Art zu schließen widerlegen will, der mufs entweder das Mittel
erfinden, wie man alles realen Substrats entbehren könne, ■ — welches
Fichte versuchte, aber ohne Gewinn für Kant, denn das Fichte'sche Ich
ist in der That Substanz, nur eine solche, deren Qualität in einem System
nothwendig verbundener Handlungen besteht; — oder er mufs nach-
weisen, wie das zusammengesetzte Substrat eine wahre Einheit des Be-
wufstsevns besitzen könne, welches man wohl eine offenbare Ungereimtheit
nennen darf.** Mit der Angabe eines Paralogismus aber, dessen sich Nie-
mand schuldig macht, ist hier gar nichts gewonnen; und am wenigsten
dann etwas gewonnen, wenn noch obendrein die Begriffe selbst, aus denen
der vorgebliche Paralogismus seinen Ursprung nehmen soll, im höchste»
Grade mangelhaft aufgefafst sind. Dies ist die zwevte Bemerkung, welche
hier gegen Kant gemacht werden mufs. Es kann gar nicht zugegeben
werden, dafs Kant den Begriff des Ich richtig gefafst habe. Dieser Be-
griff ist der Anfangspunct einer [05] weitläuftigen Untersuchung, auf deren
Bahn uns Fjchte geholfen hat; ein nicht genug zu schätzendes Verdienst,
zu dessen Anerkennung ich durch das gegenwärtige Buch etwas beizutragen
wünsche.
§ 21.
Unter den Psvchologen, welche jünger sind als Kant, befindet sich
Einer, der leider schon zu den Verstorbenen gehört. Es ist der vortreff-
liche, auch von mir sehr hochgeschätzte Carus. Ich wünschte sehr, nicht
bekennen zu müssen, dafs dessen Psychologie mich die darin gesuchten
Aufklärungen hat vermissen lassen. Was ich gefunden, brauche ich hier
nicht zu beurtheilen, da meine Ansicht sehr leicht aus demjenigen kann
geschlossen werden, was bereits über die Seelenvermögen, und die auf sie
gedeuteten Abstracta, ist gesagt worden.
Von den noch Lebenden werde ich mir nur erlauben, die Herren
Professoren Hoffbauer, Fries und Weiss zu nennen.
Der Grundrifs der Erfahrungsseelenlehre von Hoffbauer kann meiner
Meinung nach nicht blofs als Beyspiel, sondern beynahe als Muster einer
klaren und verständig geordneten Uebersicht bisheriger Psychologie be-
trachtet werden. Das Streben, sich vor Erschleichungen zu hüten, ist in
sorgfältiger Wahl der Ausdrücke überall sichtbar. Als Methode wird so-
gleich im § 10 die Induction angegeben. Auffallend aber ist es, dafs
nun gleichwohl das ganze Buch den gewöhnlichen Weg vom Allgemeinen
zum Besondern hinabsteigt, während die Induction den gerade entgegen-
gesetzten Gang- erfordert. Sollen Leser und Zuhörer von den letzten
Resultaten zu der Erkenntnifsquelle geführt werden? Sollen sie mit dem
* Ich lasse hier unentschieden, ob die Seele Substanz für sich allein, oder ob
nur Eine Substanz für mehrere Individuen anzunehmen sey? welche Frage übrigens die
Psychologie nicht berühren darf, weil das Letztere schon aus Gründen der allgemeinen
Metaphysik entschieden zu verneinen ist.
** Blofs um zu erinnern, dafs dieser Gedanke längst bekannt ist, citire ich, was
mir zuerst in die Hände fällt, Poley's I40ste Anmerkung zu seiner Uebersetzung des
Locke.
Einleitung.
22,5
Glauben anfangen, und mit dem Schauen endigen? So giebt es auch Vor-
träge der Chemie, worin mit dem Sauerstoff angefangen, mit den bekannten
und sichtbaren Körpern geendigt wird; anstatt dem Zuhörer zuerst die
Experimente bekannt zu machen, aus welchen auf den Sauerstoff und
seines Gleichen zu schliefsen ist. — Aber ich [66] bin weit entfernt, hier
einen eigenthümlichen Fehler jenes Grundrisses erblicken zu wollen; da
ich vielmehr selbst gezeigt habe, wie unwillkührlich die Psychologie wegen
der Schlüpfrigkeit ihres Stoffs in Abstractii >nen hineingleitet, worin sie
nicht eher vesten Fufs gewinnt, als bis sie bey den äufsersten Abstractionen
angekommen ist, von denen sie alsdann wieder rückwärts den Weg der
Determination versucht, und ihn fortsetzt, wie und soweit sie eben kann.
Wir schliefsen also aus dem genannten Buche nur soviel, dafs auch ein
vorsichtiger und vorzüglicher Denker durch dieselben Schwierigkeiten, welche
seine Vorgänger drückten, noch jetzt bewogen werden mag, eine seiner
eignen Angabe gerade zuwiderlaufende Richtung zu verfolgen. Wollten
wir tiefer eintreten, so würden uns gleich bey der Theorie der Sinnlichkeit
einige Untersuchungen der schwierigsten Art, die hier viel zu leicht ge-
nommen sind, entgegenkommen; nämlich wie die Auffassung der räum-
lichen und zeitlichen Bestimmungen möglich sey, welche in der eigent-
lichen Materie der Empfindungen (den Tönen, Farben u. s. w.) schlechter-
dings nicht enthalten sind. Aber hier nur die Frage zu verstehen und
gehörig zu würdigen, erfordert schon ein Nachdenken, das sich über die
Sphäre der sogenannten Erfahrungsseelenlehre weit erhebt; und welches
leider eben dadurch pflegt erdrückt zu werden, dafs man den Anfängern
die schwersten Sachen so leicht vorstellt. —
Bey Herrn Prof. Fries finden wir manche eigentümliche Ansichten
eingewebt in eine, der Hauptsache nach Kantische, Lehre. Jene scheinen
vorzüglich in der Polemik gegen Fichte und Schelling entsprungen zu
seyn. Da die Absicht der gegenwärtigen Schrift nichts weniger als po-
lemisch ist, so wollen wir uns mit einigen Proben begnügen, die sich
am leichtesten aus der Schrift: System der Philosophie als evi-
dente Wissenschaft, herausheben lassen, weil diese in kurzen Sätzen ab-
gefafst ist.
[67] Im § 41 des genannten Werkes finden wir, im Widerspruch
gegen Fichte's erste Grundgedanken, die Behauptung: „Unsere Vernunft
besitzt ein reines Selbstbewufstseyn, welches wir aussprechen: Ich bin.
Dieses ist aber nicht zugleieh mit der innern Anschauung gegeben, viel-
mehr ist es gar keine Anschauung, sondern nur ein unbestimm-
tes Gefühl." Es folgt ein Beweis, der in zweyen Gliedern mit richtigen
Bemerkungen anhebt, und mit Erschleichungen endigt. Zuerst die Be-
merkung, dafs das reine Selbstbewufstseyn kein Object hat;* woraus ge-
folgert wird, es sey keine Anschauung, sondern ein unbestimmtes
Gefühl. Das erste ist wahr, und das zweyte falsch. Weil das reine
Selbstbewufstseyn eine Vorstellung ohne Gegenstand seyn soll, so ist es
ein klarer Widerspruch; und man kann davon gar nichts, auch nicht ein
unbestimmtes Gefühl übrig behalten; welches ein Gefühl ohne Gefühltes
* Man vergleiche unten ^ 27 im Anfange.
HbKBARi's Werke. V.
2 2Ö XL Psychologie als "Wissenschaft.
seyn würde, während das Selbstbewufstseyn seinem Begriffe nach überall
kein Gefühl, sondern eine Vorstellung seyn soll. Vielmehr mufs man an-
erkennen, dafs unsre Behauptung, es gebe ein reines Selbstbewufstseyn,
eine von jenen Abstractiönen ist, die wir von den besondern Selbst-
anschauungen hergenommen, dann aber, der Einheit unsrer Persönlichkeit
wegen, für etwas angesehen haben, das wohl ohne 'die besondern An-
schauungen für sich bestehen, oder, wie Herr Fries im zweyten Gliede
seines Beweises meint, zum Grunde liegen könne. Wir sind nun aller-
dings genöthigt, uns einen solchen Begriff von uns selbst zu machen;
wir sind aber eben so wohl genöthigt einzugestehen, dafs dieser Begriff
ohne allen Sinn, folglich auch keine wahre Erkenntnifs eines realen Gegen-
standes sey ; — dafs es kein reines Selbstbewufstseyn, keine blofse Ichheit
wirklich gebe; — sondern dafs wir den erwähnten Begriff vielmehr als
Anfangspunct einer Theorie, als einen wissenschaftlichen Stoff gebrau-
[68]chen müssen, den wir zu verarbeiten haben, bis die Widersprüche
(deren er noch mehrere in sich trägt) verschwinden werden. Weil aber
Herr Fries mit seiner Polemik gegen Fichte nicht zu Ende gekommen
ist: darum läfst er von dem reinen Selbstbewufstseyn noch das unbestimmte
Gefühl stehen; darum auch redet er von einem Bewufstseyn des Gegen-
standes, nicht wie er ist, sondern dafs er ist. Dieser Widersinn einer
Realität ohne Qualität, ist aber eben so wenig eine Wahrheit, als er eine Be-
hauptung des Herrn Fries seyn würde, wenn derselbe den Muth gehabt hätte,
dem Probleme gerade ins Gesicht zu schauen, und, alle Halbheiten und
Ausflüchte bey Seite setzend, das Unding, welches der Begriff des Ich
uns vorspiegelt, so ernstlich anzufassen, wie man es fassen mufs, um es zu
zerstören.
Weiterhin mischt sich nun bey Herrn Fries die Erdichtung des innern
Sinnes und einer Empfänglichkeit desselben, mit richtigen Ahndungen von
dem Gedächtnifs, und mit dem völlig wahren Satze: die Vorstellungen
im Gemüthe werden von selbst fortdauern, bis sie durch etwas
anderes verdrängt werden. Eben so wahr ist der § 51, nach welchem
der allgemeine Grund der Association in der Einheit des Subjects und
seiner Thätigkeit enthalten ist. Neben so richtigen Ansichten hätte die
transscen dentale Einbildungskraft (§ 57.) verschwinden sollen, die abermals
erdichtet wird, damit die, für ursprünglich gehaltenen formalen Anschau-
ungen, zur Erkenntnifs (soll heifsen: zur Materie der Empfindung, welche
allerdings die formalen Bestimmungen keinesweges in sich schliefst) hinzu-
k( mimen mögen. Der Kantianismus aber, als Gewöhnung an ein System,
mit Uebergehung ganz nahe gelegter Fragen, welche die Ruhe der ange-
nommenen Meinungen hätten stören sollen, zeigt sich auffallend beym
§ 59 — 62; wo die figürliche synthetische Einheit als Erfolg der Selbst-
tätigkeit beschrieben wird, während die Gegenstände in der Anschauung
uns unter der Bedingung einer jederzeit möglichen Con-[6c)]
struction gegeben werden. Was mögen doch das für Bedingungen seyn,
vermöge deren die selbstthätige transscendentale Einbildungskraft gewisse
Auffassungen von Farben lieber in die Form eines Vierecks, als in die
Form eines Cirkels bringt? Gegebene Bedingungen sind es ohne Zweifel;
denn wir können nicht willkührlicher Weise das Runde als viereckigt, oder
Einleitung. 2 2 7
das Viereckigte als rund anschauen. In der Form des Sinnes, dem Räume,
kann der Grund des Unterschiedes nicht liegen, denn diese Form ist für
alle sinnliche Anschauungen als Eine und dieselbe Bedingung vorhanden.
Wenn nun etwa die Vorstellungen ihrem Stoße nach von den Dingen
an sich herrühren, wie sie denn in der KANT'schen Lehre ohne Zweifel
thun: so müssen diese Dinge an sich, trotz dem, dafs sie von Raum und
Zeit nichts wissen, sich doch aufser ordentlich genau auf diese
Formen des innern Sinnes beziehen, damit ein Unterschied in jene
figürliche synthetische Einheit hineinkomme. Wir erkennen also von den
Dingen an sich, dafs in ihnen gerade so viel Verschiedenheit Statt findet,
als nöthig ist, um die mannigfaltigen Bedingungen herzugeben, deren wir
für die figürliche synthetische Einheit der Einbildungskraft in ihren bunten
Abwechselungen bedürfen. Dieses wäre denn eine nicht unbedeutende
Kenntnifs von den Dingen an sich, welche die KANT'sche Lehre eben so wenig
vermeiden, als leiden kann; und worüber sich die bessern Anhänger der-
selben längst hätten erklären sollen, wenn sie es vermöchten. Das Wahre
an der Sache aber ist, dafs diese ganze Theorie auch keine leiseste Ahn-
dung der Gründe enthält, aus denen die Auffassungen des Räumlichen
und Zeitlichen psychologisch erklärt werden müssen. Nicht einmal das
Problem ist hier vollständig aufgefafst; denn es fragt sich eben so sehr,
was für Bedingungen uns bestimmen, einer Substanz gerade solche und
keine andern Eigenschäften zusammengenommen anzuweisen; z. B. dem
Wasser die Flüssigkeit neben der Durchsichtigkeit; dem Queck[7o]silber
aber weder die Nässe noch die Durchsichtigkeit des Wassers, sondern
neben der Flüssigkeit den Glanz und die vorzügliche Schwere. Auch hier
liegt in der Materie der Empfindung keineswegs die Gruppirung derselben;
und in den vorgeblichen Formen des Verstandes kann sie eben so
wenig liegen, weil diese sich gegen alle die verschiedenen Vor-
stellungen verschiedener Substanzen auf gleiche Weise ver-
halten müssen.
Eine beynahe unbegreifliche Mischung der richtigen Ansichten, nach
welchen die Vorstellungen selbst die Kräfte in der Seele sind, und des
falschen Bestrebens, Seelenvermögen zu spalten (nämlich wenn die vorige
richtige Erklärungsart irgendwo nicht ganz leicht von selbst sich darbietet) :
geht nun bey Herrn Fries immer weiter fort. Er findet § 79, den ersten
Grund der Abstraction darin, dafs in ähnlichen Vorstellungen, welche im
Gemüth zugleich verstärkt werden, die ihnen gemeinschaftliche Theilvor-
stellung mehr verstärkt wird, als die unterscheidende Nebenvorstellung.
Dieses reicht zwar nicht hin zur Erklärung; denn die angehängte Clausel:
das Gemeinschaftliche könne also abgesondert vorgestellt werden, ist eine
grofse Uebereilung und Unwahrheit. Dennoch ist der erstere Gedanke
richtig, und in der That um so mehr zu schätzen, weil wir damit das Ab-
stractionsvermögen, als ob es etwas Besonderes wäre, beseitigen können;
und weil hier die Verbindung zwischen der sogenannten Einbildungskraft
und dem sogenannten Verstände anfängt hervorzuleuchten.
Die Psychologie des Herrn Fries würde nach solchen Proben sich
ohne Zweifel besser dabey befinden, wenn er sie einmal zum Mittelpuncte
eines wissenschaftlichen Strebens machte, als so lange er sie nur als den
15*
■y 7 g XI. Psychologie als Wissenschaft.
Vorhof der Philosophie betrachtet.* Ohne Zweifel verjjijdient es Dank
von Seiten derjenigen, welche den unhaltbaren Grund der Kant sehen
Lehre für sich allein nicht entdecken können, dafs ein Mann aufgetreten
ist, der in eine sogenannte philosophische Anthropologie alles das Schwan-
kende zusammengestellt hat, worauf Kaxt, als auf gutem Grunde, vesten
Fufs fassen wollte. Dies erleichtert die Prüfung; und wer in den Dar-
stellungen des Herrn Fries noch nicht sehen kann, wie in den ersten
Voraussetzungen Wahres und Falsches gemischt, und wie selbst das Wahre
als roher Stoff unausgearbeitet daliegt, der wird sich schwerlich je darauf
besinnen. Mir ist es wahrscheinlich, dafs wenn Kant, mit alter rüstiger
Kraft des Denkens, noch lebte, Niemand besser als Herr Fries ihn zu
einer Revision seines Systems würde vermögen können. Denn ohne
Zweifel bedurfte ein so vortrefflicher Geist nichts anderes, als nur eine
Zusammenstellung seiner eignen Voraussetzungen, nur eine Richtung seiner
Aufmerksamkeit, welche in den HuME'schen Problemen zu sehr befangen
war, um alle die verschiedenen Anfangspuncte der Speculation gehörig zu
benutzen. — Soll aber nicht von Beleuchtung der KAXT'schen Lehre,
sondern von Psychologie die Rede seyn, so bedarf diese der allgemeinen
Metaphvsik zu ihrer Unterstätzung; und Herr Prof. Fries hat das Hinterste
nach vom gewendet, indem er der Metaphysik seine Anthropologie voran-
schickt.** (Man sehe oben § 15 gegen das Ende.)
Diesem Verfahren gerade entgegengesetzt ist das des Herrn Prof.
Weiss ; in seinen Untersuchungen über das Wesen und Wirken der mensch-
lichen Seele. Er legt eine dynamische Xatur-Ansicht zum Grunde, —
und macht es mir eben dadurch unmöglich, mich hier, wo für ausführliche
Betrachtungen aus allgemeiner Metaphy[72]sik kein Platz ist, anders als
nur sehr kurz über sein Werk zu erklären. Die ursprüngliche und noth-
wendige Duplicität in der Kraft, die das Daseyn eines jeden Dinges con-
stituiren soll (S. 27.), mufs ich gänzlich ableugnen. Und eine solche Dupli-
cität zuletzt aus einer absoluten Einheit abzuleiten, kann meiner Meinung
nach keine Aufgabe für die Speculation seyn, weil umgekehrt es zu den
Aufgaben derselben gehört, alle dergleichen undenkbare Einheiten, aus
denen eine Vielheit entspringen soll (zu deren Annahme manche Phäno-
mene des Geistes und der Natur allerdings verleiten), gänzlich hinweg-
zuschaffen, und die Wissenschaft von ihnen zu reinigen. So kann ich
denn auch in keine Gemeinschaft treten mit einer Philosophie, welche das
Unendliche als Grund des Endlichen, und dieses als Erscheinung von
jenem betrachtet (S. 5.). Dergleichen Philosophie mufs ich dem Spinoza
und seinen Erneuerern überlassen; indem ich überzeugt bin, dafs von dem,
was wahrhaft Ist, sowohl die Unendlichkeit als die Endlichkeit mufs ver-
neint werden; und dafs die Endlichkeit noch überdies auf eine unge-
schickte Weise in die Unendlichkeit hineingeschoben wird, von denen, die
sich mit diesen Vorstellungsarten tragen ; welches Ungeschickte zu ver-
Man sieht leicht, dafs diese Stelle vor vielen Jahren ist niedergeschrieben worden.
Auf die neuern Werke des Herrn Prof. Fries wird hier aus denselben Gründen
keine Rücksicht genommen, derentwegen hier alles vermieden wird, was als Persönlich-
heit könnte ausgelegt werden. Der Leser hat nun die Freyheit, anzunehmen, der Gegen-
siand meines Tadels sey schon verschwunden, und das Neueste sey davon weit verschieden.
Einleitung. 2 2Q
bessern jeder Versuch vergeblich ist, weil die Unendlichkeit, wenn sie
selbst den Keim enthielte, aus dem die Endlichkeit konnte abgeleitet
werden, mit sich selbst im Widerspruche stände. — Wäre nicht nach
diesen Erklärungen jedes weitere Wort überflüssig: so würde ich noch
hinzusetzen, dafs in dem genannten Buche die vorläufige Erörterung dessen, was
die innere Wahrnehmung geben und nicht geben kann, und die genaue Angabe
der Art und Weise vermisse, wie an die Wahrnehmung, und die von ihr
dargebotenen Erkenntnifs-Principien, die Speculation sev angeknüpft worden.
Noch Einer ist übrig, zu welchem wir näher hinzutreten müssen,
nämlich Fichte. Nicht zwar, um von [73] seiner realen und idealen
Thätigkeit weitläuftig zu reden; den heterogenen Elementen, woraus er das
für real gehaltene Ich, nicht glücklicher zusammensetzt, als nach ihm
Herr Prof. Weiss aus Sinn und Trieb die Seele. Eben so wenig wird
uns die unbegreifliche Schranke im Ich, beschäfftigen können, welche die
Unmöglichkeit, einen haltbaren Idealismus aufzustellen, klar an den Tag
legt. — Wohl aber ist es die erste Behandlung des Begriffs des Ich, die
uns hier interessirt. Ich schlage Fichte's Sittenlehre auf, welche ich noch
jetzt für seine Hauptschrift halte.* Den schon sonst gezeigten Schlufs-
fehler, S. 14. 15., wo statt des Denkens der allgemeinere Begriff des
Handelns, statt dieses wiederum der ihm untergeordnete des realen Handelns
eingeschoben wird, werde ich hier nicht genauer ins Licht setzen; aber
die Anmerkung S. 18. 19. ist von der höchsten Wichtigkeit für Fichte's
Lehre und wir müssen sie auch hier erwägen. Sie beginnt so: „Dafs das
Wollen in der erklärten Bedeutung, als absolut erscheine, ist Factum
des Bewufstseyns ; ■ — daraus aber folgt nicht, dafs diese Erscheinung
nicht selbst weiter erklärt, und abgeleitet werden müsse, wodurch die Ab-
solutheit aufhörte, Absolutheit zu sein, und die Erscheinung derselben sich
in Schein verwandelte: — gerade so, wie es allerdings auch erscheint,
dafs bestimmte Dinge in Raum und Zeit unabhängig von uns da sind, und
diese Erscheinung doch weiter erklärt wird. — Wenn man sich nun doch
entschliefst, diese Erscheinung nicht weiter zu erklären; und sie für absolut
unerklärbar, d. i. für Wahrheit, und für unsre einige Wahrheit zu halten, nach der
alle andre Wahrheit beurtheilt, und gerichtet werden müsse, — wie denn eben
auf diese Entschliefsung unsre ganze Philosophie aufgebaut ist, so geschieht
dies nicht zufolge einer theoretischen Einsicht, sondern zufolge [74] eines
praktischen Interesse; ich will selbständig seyn, darum halte ich mich dafür.''
Diese Aussage enthält den einzigen denkbaren Erklärungsgrund, wes-
halb Fichte, dem die Unmöglichkeit des Ich deutlich genug vor Augen
lag, dennoch dabey beharrte, dasselbe als real, als absolut, und in dieser
Gestalt als Princip der Philosophie zu betrachten. Ein wenig weiter hin
(S. 42.), sagt uns Fichte : „Nicht das subjective, noch das objective, sondern —
eine Identität ist das Wesen des Ich; und das erstere wird nur gesagt,
um die leere Stelle dieser Identität zu bezeichnen. Kann nun irgend
* Von Fichte's späteren Schriften braucht hier eben so wenig die Rede zu seyn.
als von einigen neuern Schriftstellern, die in denselben Irrthümern befangen sind, wie
die oben bezeichneten.
2 -iq XL Psychologie als Wissenschaft.
Jemand diese Identität, als sich selbst, denken? Schlechterdings nicht;
denn um sich selbst zu denken, mufs man ja eben jene Unterscheidung
zwischen subjectivem, und objectivem, vornehmen, die in diesem
Begriffe nicht vorgenommen werden soll. — So kann man sich allerdings
nicht wohl enthalten, zu fragen: bin ich denn darum, weil ich mich denke,
oder denke ich mich darum, weil ich bin? Aber ein solches Weil, und ein
solches Darum, findet hier gar nicht statt; du bist kein« von beyden, weil du das
Andre bist; Du bist überhaupt nicht zweyerley, sondern absolut einerley; und
dieses denkbare Eine bist du, schlechthin weil Du es bist."
Dafs ein Undenkbares nicht seyn kann, — dafs derjenige sein eignes
Denken aufhebt, welcher von dem Undenkbaren denken will, Es sey, —
dafs also, wenn der Lauf der Speculation auf einen solchen Punct geführt
hat, man denselben schlechterdings verlassen müsse: dieses leuchtet un-
mittelbar ein. Nachdem also Fichte sich den Begriff des Ich dergestalt
analysirt hatte, dafs er einsah, derselbe sey undenkbar: mufste schon dieses,
noch ohne vollständigere Entwicklung aller Widersprüche im Ich, ihn be-
stimmen, die zuerst angenommene Realität des Ich, sammt der vermeinten
intellectualen Anschauung desselben, völlig zu verwerfen. Jede Art von Täu-
schung [75] in der Auffassung eines so ungereimten Wesens war eher zu ver-
muthen, als an die Wahrheit einer solchen Auffassung konnte geglaubt werden.
Und wenn dennoch die Ueberzeugung veststand, das Selbstbewufstseyn lasse
sich durch keinen andern Begriff, als nur gerade durch jene Identität des
Subjects und Objects rein aussprechen: so folgte eben daraus, man habe
ein Gegebenes vor sich, das, weil es nicht gleich einer zufälligen Täuschung
verworfen, doch aber auch nicht im Denken beybehalten werden könne,
zu einer Umarbeitung des Begriffs auffordere und nöthige; und auf diese
Weise zwar keinesweges ein Real-Princip, wohl aber ein Erkenntnifs-Princip
für die Speculation abgebe.
Aber Fichte hatte einmal seinem Wollen Einflufs auf das Denken
verstattet. Er glaubte in dem Ich die Freyheit zu finden, und von der
Freyheit wollte er nicht lassen. Er behielt also den undenkbaren Ge-
danken; er gab ihm Auctorität durch das Vorgeben einer intellectualen
Anschauung, denn dafür hielt er den Zustand der Anstrengung, mit welcher
das Undenkbare als ein Gegebenes der innern Wahrnehmung vestgehalten
wurde; und so wurde einer der gröfsten Denker, die je gewesen sind, zum
Urheber einer Schvvärmerey, die in der Folge, als sie sich die sogenannte
absolute Identität zum Mittelpuncte erkoren, und diese mit Spinozismus,
Piatonismus, Physik und Physiologie amalgamirt hatte, in einem weiten
Kreise die Stelle der Philosophie besetzte, und aus einem noch viel
weitern Kreise die Philosophie verscheuchte, weil man über der intellec-
tualen Anschauung nicht den Verstand verlieren wollte.
Dieses letztere ist nun das einzige Wollen, welches in die Forschung
einzulassen ich mir erlaube. Da ich einmal denke, und nicht umhin kann,
alles Angeschaute zu denken und in Begriffe zu fassen, so will ich weiter
nichts als nur, dafs das Angeschaute denkbar seyn, oder, falls es dieses
nicht von selbst wäre, denkbar werden solle, wozu denn freylich eine
milche Umwandlung der [76] unmittelbar aus der Anschauung gewonnenen
Begriffe gehört, die sich als nothwendig, und nicht willkührlich, in jedem
Einleitung. 2 3 1
Puncte rechtfertigen könne. Ich stehe demnach in der Mitte zwischen
denen, welche wollen, dafs es bey der Anschauung, bey der Erfahrung
wie sie unmittelbar gegeben wird, sein Bewenden haben solle, weil sie das
Widersprechende in dem Gegebenen nicht erblicken, — und zwischen
jenen, welche gar wohl Augen haben für dieses Widersprechende, aber
davon nicht lassen wollen, vielmehr ins Erstaunen, ins Entzücken über alle
die Wunder sich versenken, die ihnen um so vortrefflicher scheinen, je
ungereimter sie sind. Ich gebe den erstem Recht, dafs sie um ihre
Nüchternheit nicht mögen gebracht seyn, und dafs sie von keiner intellec-
tualen Anschauung wissen wollen, welche die ächte Anschauung nur ent-
stellen würde; ich gebe den zweyten Recht, dafs sie die gemeinen An-
sichten der Dinge, welche alles lassen wie es zuerst gefunden wird, für
unzulänglich erkennen, und auf eine Veränderung, auf eine Schärfung des
Blickes selbst antragen, wodurch in der That alles viel wunderbarer
erscheinen mufs, als jenen ersteren gelegen ist zu glauben. Aber den
einen und den andern mufs ich Unrecht geben, weil sie beyderseits zur
eigentlichen Untersuchung zu träge sind, sowohl jene, die im Aufsammeln
und Registriren gewisser äufserer oder innerer Wahrnehmungen verweilen,
als diese, die es freut, hochtönende Reden zu erfinden, um das Seltsame,
was sie gesehen haben, anzupreisen statt es besser zu bedenken. —
VII.
Plan und Eintheilung der bevorstehenden Untersuchungen.
§ 23-
Wir machen uns nun auf den Weg in das vor uns liegende Gebirge,
wohin uns diejenigen sicher nicht fol[/7]gen werden, die immer nur in
lachenden Ebenen gemächlich zu lustwandeln gewohnt sind. Der Leser über-
lege, ob er gehörig gerüstet sey; was er mitnehmen, was zu Hause lassen wolle.
Viel schweres Gepäck frommt dem Reisenden nicht, am wenigsten solches,
was ihm, nach seiner Eigenthümlichkeit, besonders lästig fallen würde.
Geduld und frischer Muth ist die Hauptsache.
Ganz ohne mathematisches Werkzeug darf der Wanderer nicht seyn.
Aber grofse Anmuthungen mache ich in dieser Hinsicht nicht; sie würden mit
verdoppeltem Gewicht auf mich zurückfallen. Der Leser vergegenwärtige
sich nur die leichteren Rechnungen mit veränderlichen Grüfsen, und deren
Symbole, die bekanntesten Curven; er überlege, dafs diese Curven eben nur
Symbole für gewisse Regeln sind, wornach jede mögliche, intensive
sowohl als extensive, Gröfse wachsen und abnehmen kann; er rufe,
wenn es nöthig ist, einen Freund zu Hülfe, der ihm die einfachsten Grund-
lehren und Formeln der höhern Mechanik erkläre; und er wird finden,
dafs es nicht viel schwerer ist, das Sinken einer Hemmungssumme, als das
Fallen eines Steins zu begreifen, Hat er aber erst dies gefafst, so kann
er auch von den Grundlehren der Reproductionsgesetze, (worauf Alles
ankommt) das Wesentlichste verstehn; und eben so den Hauptsatz über
die Abnahme der Empfänglichkeit. Das Schwerere ist weniger nöthig;
nicht Jeder braucht mir auf allen meinen Wanderungen zu folgen; man
kann sich dennoch wieder zusammen finden.
2 t -j XI. Psychologie als "Wissenschaft.
Ablegen mufs der Leser die metaphysischen Vorurtheile, die er, wer
weifs unter welchen Namen, etwan bey sich tragen möchte. Meine Meta-
physik wird er, mit Hülfe dieses Buchs, allmählig verstehen lernen. Er
durchdenke nur recht sorgfältig den ausführlichen Vortrag über das Ich,
welchen er hier finden wird; vergleiche, nachdem dieses geschehen, meine
Einleitung in die Philosophie, um sich mit den metaphysischen Problemen,
theils im Allgemeinen, theils mit jedem einzeln genom[78]men, vertraut
zu machen; präge sich nun vest ein, dafs die befremdende Gestalt, worin
die metaphysischen Probleme Anfangs erscheinen, nichts anderes ist als
ein psychologisches Phänomen, welches aus psychologischen Gründen
erklärbar sevn mufs, die wir im zweyten Theile dieses Buchs aufsuchen
wollen; die aber Niemand finden kann, wenn er die Knoten ungeduldig
zerhauen will, die er höchst behutsam durch unbefangenes Nachdenken
auflösen sollte. — Dafs man der leichtem Uebersicht wegen mein Lehr-
buch zur Psychologie benutzen könne, brauche ich kaum zu bemerken.
Aber sehr dringend mufs ich den Leser an die Fragen erinnern: ob er
mit seiner praktischen Philosophie im Reinen sey? und ob er die meinige
kenne? Das erste ist an sich nothwendig; das zweyte fordere ich, so
gewifs ich nicht will misverstanden seyn. Wessen praktische Philosophie
noch schwankt: dessen Gemüth kann bey speculativen Untersuchungen
nicht in Ruhe seyn; am wenigsten bey solchen, die den menschlichen
Geist betreffen; ohne Gleichmuth aber gelingt keine Speculation, sondern
sie erzeugt Wahn und Trug. Wer meine praktische Philosophie nicht
kennt, der begreift nicht was ich will, und muthet mir an, Dinge zu
wollen, die ich verwerfe. Ein Beyspiel hievon: ich will keine angebornen
Rechte; nicht blofs, weil ich weifs, dafs alle angebornen Formen psycho-
logisch unmöglich sind, sondern auch, weil ich weifs, dafs, wenn es der-
gleichen Rechte gäbe, sie Streit, und hiemit Unrecht erzeugen würden.
Ein anderes Beyspiel : ich will kein ursprünglich gesetzgebendes moralisches
Gefühl, und eben so wenig einen kategorischen Imperativ, nicht blofs,
weil auch dieses angeborne Formen seyn würden, sondern weil ich das
moralische Gefühl, sammt der aus ihm entstehenden Bereitwilligkeit zum
moralischen Gehorsam, ableiten gelernt habe als Gesammtwirkung aus den
verschiedenen praktischen Ideen, die wiederum durch eben so viele ver-
schiedene ästhetische Urtheile erzeugt werden. Wenn [79] ich nicht jedes
einzelne von diesen Urtheilen genau kennte, nicht geübt wäre, die vor-
geblichen Aussprüche des moralischen Gefühls auf sie zurückzuführen,
nicht aus den nämlichen Gründen die Tugend als ein Ganzes verschiedener
Bestandtheile erkannt hätte, die zum Theil gelehrt, zum Theil geübt
werden, zum Theil vor aller Lehre und Uebung voraus, unter Begünstigung
einer glücklichen Organisation im Menschen entstehn müssen; wenn ich
nicht auf diese Weise einer Menge von psychologischen Fragen, mit denen
Andre sieh quälen, im Voraus überhüben gewesen wäre: so möchte leicht
der psychologische Mechanismus mich mit eben dem Schrecken erfüllt
haben, mit welchem so Viele vor ihm die Augen verschliefsen, die eben
so wenig vertragen, ins Innere des menschlichen Geistes zu schauen, als
sie das Innere des Leibes ohne Grauen betrachten können. —
Nach diesen Erinnerungen kehre ich zur Hauptsache zurück.
Einleitung. 233
Von der Grundlegung zu einer Wissenschaft erwartet man, dafs sie
die dahin gehörigen Untersuchungen in Gang setze; und weit genug fort-
führe, um die Möglichkeit der Wissenschaft, und das in derselben zu
beobachtende Verfahren, vor Augen zu stellen. Sie soll demnach die ver-
schiedenen Erkenntnifsgründe dieser Wissenschaft, wofern es deren mehrere
giebt, durchmustern, und an jedem derselben den Anfang der Forschung
zeigen; sey es nun, dafs jedes eigne Aufschlüsse ertheile, oder dafs die
verschiedenen auf einerley Resultat führen, in welchem Falle sie immer
noch dienen, die Intension der Ueberzeugung zu verstärken.
Von der Psychologie ist nach 11 — n, anzunehmen, dafs sie mehrere
Erkenntnifsgründe besitze, und zwar nicht eben in dem Sinne, als ob die-
selben gleich Vordersätzen zu Schlüssen unter einander zu verknüpfen
wären; sondern so, dafs jedes für sich ein Factum des Bewuistseyns dar-
stelle, wovon, als dem Bedingten, auf die Be[8o]dingungen, mit Zuziehung
der allgemeinen Metaphysik, (§ 15) geschlossen werde.
Wenn nun die Grundlegung zur Psychologie auf solche Weise mit
einem oder dem andern der Erkenntnifsgründe dieser Wissenschaft ver-
fährt: so ist zu hoffen, dafs bald einige der Realprincipien erkannt
werden mögen, aus welchen, als Ursachen, die Phänomene des Bewufst-
seyns ihren Ursprung nehmen. In diesem Falle läfst sich von einer
solchen, einmal gewonnenen Kenntnifs weiterer Gebrauch machen; die
Realprincipien werden zwar niemals eigentliche principia cognoscendi, denn
das Wissen von denselben ist immer ein Abgeleitetes; aber die Forschung
verändert von hier an ihre Richtung, in so fern sie jetzt von der Be-
dingung auf das Bedingte, — mit dem Strom der Ereignisse, nicht mehr,
wie zu Anfange, wider den Strom, vom Bedingten zur Bedingung fortgeht.
Darum aber, dafs aus einem oder dem andern der Erkenntnifsgründe
dergleichen Realprincipien, vielleicht selbst die wichtigsten Hauptgesetze der
geistigen Bewegungen, entdeckt seyn mögen: verlieren die übrigen Erkenntnifs-
gründe noch nicht ihren Werth. Es mufs auch an sie die Reihe kommen, be-
nutzt zu werden: jedoch kann man nun die Untersuchung abkürzen, indem man,
anstatt sich noch ganz unwissend zu stellen, vielmehr die schon vorhin ge-
wonnenen Aufschlüsse, sobald dieselben gehörig gesichert sind, zum Grunde
legt, und nur noch fragt, wie sich darauf die jetzt in Betracht genommenen
Phänomene zurückführen, wie sie sich daraus begreifen lassen?
Man wird geneigt seyn, dem gewöhnlichen Sprachgebrauche gemüfs,
solche Untersuchungen, die mit dem Laufe der Ereignisse, also von Real-
principien zu realen Folgen fortschreiten, synthetisch zu nennen; dagegen
werden die andern, vermöge deren die noch nicht erklärten Phänomene
auf jene Realprincipien zurückgeführt werden sollen, analytisch heifsen.
[81] Streng genommen freylich beginnt jede Untersuchung ohne Aus-
nahme mit einer Analysis, indem sie zuerst den Erkenntnifsgrund logisch
klar und deutlich macht; und dann geht sie über zu einer Synthesis, indem
sie dem Princip seine Beziehungen, dem Phänomen seine Bedingungen
oder noth wendigen Voraussetzungen nachweist. Dieses letztere ist ganz
eigentlich Synthetsis a priori ; weil die Angabe der nothwendigen Voraus-
setzungen in dem Erkenntnifsgründe selbst noch nicht enthalten war. Allein hier
ist nicht der Ort, dergleichen dialektische Betrachtungen im Allgemeinen anzu-
2% a XL Psychologie als Wissenschaft.
stellen; im Verfolg werden sie an dem Beyspiel unserer Untersuchung selbst
soweit entwickelt werden, als zu unserer jetzigen Absicht nöthig ist. —
Es soll nun die Untersuchung über das Ich, als über denjenigen Er-
kenntnifsgrund, welcher am nächsten und bestimmtesten zu psychologischen
Realprincipien hinleitet, den Anfang machen. Daraus werden sich sogleich
mathematisch bestimmbare Gesetze des Bewufstseyns ergeben, und so weit
entwickelt werden, dafs die Möglichkeit, hier eine neue Bahn zu brechen,
und namentlich ohne die angenommenen Seelen vermögen in der Psy-
chologie fortzukommen, im Allgemeinen erhelle. Diese Untersuchungen
zusammengenommen wollen wir (a potiorij den synthetischen Theil
unserer Abhandlung nennen. Darauf wird der analytische Theil folgen,
welcher die wichtigsten der noch übrigen Phänomene des Bewufstseyns auf
die vorhin gewonnene Kenntnifs von den Gesetzen des Geistes zurückführt.
Es ist offenbar, dafs der synthetische Theil keine veste Gränze hat,
wie weit er in der Wissenschaft, — vielweniger, wie weit er hier, in
unserer Grundlegung, auszudehnen sey. Die Folgen aus Realprincipien
sind endlos in der Natur der Dinge, unabsehlich in der Wissenschaft.
Und für den gegenwärtigen Zweck, Andern die Theilnahme an den be-
gonnenen neuen Untersuchungen möglich zu machen, könnte ziemlich
willkührlich ein [82] Mehr oder Weniger geschehn, wenn nicht eben die
Neuheit der Sache hierin noch Gränzen setzte. Der analytische Theil
aber mufs sich nach dem synthetischen richten, in so fern in ihm keine
Untersuchung ganz selbstständig, sofern jede unter Voraussetzung des zuvor
Bekannten soll geführt werden.
Um nun diesem Buche Rundung und Ganzheit zu geben : wählen
wir das Ich, damit es nicht blofs den Anfang, sondern auch das Ende
der Abhandlung bezeichne. Denn es mufs hier vorausgesagt werden,
dafs aus diesem Erkenntnifsprincip viel früher die mathematische Be-
trachtungsart der gesammten Psychologie hervortritt, als die vollständige
Auflösung des in ihm enthaltenen Problems sich gewinnen läfst. Daher
wird es nothwendig, dieses Problem, nachdem die ersten Schritte zu seiner
Erklärung geschehn sind, auf langehin bey Seite zu legen; und so kann
es, wenn nicht das Vehiculum, doch den Rahmen bilden, der alle die
übrigen hier anzustellenden Untersuchungen einschliefse.
Indessen wird man bald wahrnehmen, dafs nicht die Lehre vom Ich,
sondern von den Gegensätzen und Hemmungen unserer Vorstellungen
unter einander, den Hauptstamm der Forschung ausmacht. Diese Gegen-
sätze finden sich unmittelbar in der Beobachtung; und in so fern hängt
ihre Betrachtung nicht einmal nothwendis; ab von der vornan msren Unter-
suchung des Ich; jedoch bringt die letztere den Vortheil, jene mit mehr
Bestimmtheit, und mit mehr Einsicht in ihre grofse Wichtigkeit, einzu-
führen. Auch lassen sich auf solchem Weore die nöthicren Erörterungen
aus der allgemeinen Metaphysik bequem hinzufügen; welche gegen das.
Ende des ersten Abschnittes ihre Stelle finden sollen.
ERSTER,
SYNTHETISCHER THEIL.
[85] Erster Abschnitt.
Untersuchung über das Ieh, in seinen nächsten
Beziehungen.
Erstes Capitel.
Ueber die philosophische Bestimmung des Begriffs
vom Ich.
§ 24.
Wer bin ich? — Diese Frage wirft der gemeine Mensch nicht auf,
denn er glaubt sich selbst sehr gut zu kennen. Wer sie aufwirft, der
sucht etwas Unbekanntes in sich. Gesetzt nun, er fände dieses Unbe-
kannte, wem würde er es zuschreiben? Ohne Zweifel sich selbst. Also
scheint es, er kenne sich schon, in so fern er überhaupt ein Ich ist. Was
aber ist denn dieses Ich? Kann man es losreifsen von der individuellen
Persönlichkeit? Oder bin ich, um nur überhaupt von Mir reden, Mich
denken zu können, nothwendig ein bestimmtes Individuum? — Diese
Frage wird uns zuerst beschäftigen.
Es ist schon nicht ganz leicht, nur die Frage zu verstehen; wir wollen
also langsam gehn.
Fichte erklärte das Ich als: Identität des Objects und Sub-
jects; und hiemit stimmt der grammatische Begriff des Ich, im Gegen-
satze gegen das Du und das Er, wohl zusammen, denn die erste Person
ist die, welche von sich selbst redet.
[86] Finden wir denn jemals im Selbstbewufstseyn Uns Selbst blofs
und lediglich als ein solches Wissen von Sich? Keineswegs. Immer schiebt
sich irgend eine individuelle Bestimmung ein; man findet sich denkend,
wollend, fühlend, leidend, handelnd; mit bestimmter Beziehung auf das,
was so eben gedacht, gewollt, gefühlt, gelitten, gehandelt wird. Ist nun
diese individuelle Bestimmung etwas Fremdes im Ich, wodurch es ver-
fälscht, verunreinigt wird?
Man kann wohl Gründe finden, diese Frage zu bejahen. Zuvörderst:
in der obigen Erklärung des Ich, es sey Identität des Objects und Sub-
jects, kommt gar keine individuelle Bestimmung vor. Ferner: im gemeinen
Leben selbst betrachten wir das, was wir eben jetzo thun oder leiden,
als etwas Uns Zufälliges. Der Augenblick, in welchem wir uns also finden,
2ig XI. Psychologie als Wissenschaft.
ist nur ein Durchgang, aus welchem wir höchstens, wenn es ein bedeu-
tender Lebens -Moment wäre, einen bleibenden Eindruck mitnehmen könnten,
so wie wir in ihn hineinbrachten, was in früheren Lebenslagen stark auf uns
wirkte. Aber in der Zeit, und durch die Zeit, konnten wir anders ge-
bildet oder verbildet werden; gleichwohl wären wir dieselben Personen
geblieben, die wir jetzt sind. Daher kann der ganze Zwischenraum
zwischen Geburt und Tod, mit Allem, was er aus Uns macht, überall
nicht die entscheidende Antwort auf die Frage geben: Wer bin ich denn
eigentlich? Und das heifst denn eben so viel, als: in der zeitlichen
Wahrnehmung kann ich überhaupt nicht Mich finden, als den-
jenigen, der ich eigentlich bin. Diese Wahrnehmung, obschon eine
innere, hängt doch an lauter Aeufserlichkeiten; und kann daher bis zu
dem wahren Kern unseres eigentlichen Selbst nicht durchdringen.
Allein es möchte Jemand einwenden, die Frage sey lediglich von dem
Ich, wie es als ein Gegebenes gefunden werde; man könne nicht
leugnen, dafs man jederzeit sich selbst als denjenigen erblicke, der ein
Ge[87]schöpf zwar nicht des Augenblicks sey, wohl aber der ganzen
früheren Lebenszeit; und auf solche Weise bilde sich das Selbstbewufst-
seyn derer, die in Pecking, und die am Orinoko, wie deren, die bey uns
leben. Wolle man fragen, wer würde ich seyn, wenn ich da oder dort
geboren wäre? so sey dieses widersinnig, denn es setze voraus, dafs eben
derselbe Ich, welcher bey uns dieser bestimmte Mensch geworden ist,
auch ein ganz Anderer hätte werden können, und dafs der Andere
und Ich einerley seyen. Vielmehr könne die Identität der Persönlichkeit
an gar Nichts vestgehalten werden, wofern die Bedingungen einer be-
stimmten Persönlichkeit mit andern vertauscht gedacht würden. Sogar die
Meinung, dafs die nämliche Seele unter verschiedenen Umständen einen
verschiedenen Gedanken- und Begehrungs-Kreis erlange, könne zugelassen
werden, ohne darum das Selbstbewufstseyn in dem einen Gedankenkreise
und das in einem andern dem nämlichen Subject zuzuschreiben; denn
die Seele sey weder das Subject noch das Object des Selbstbewufstseyns,
da sie im Bewufstseyn gar nicht vorkomme. Sonach möge immerhin von
der Seele gesagt werden, dafs die ihr angebildete Ichheit ihr zufällig sey,
beynahe eben so zufällig aber sey auch der Ichheit die Seele, dem Selbst-
bewufstseyn das unbewufste Substrat; daher dürfe man die innere Wahr-
nehmung nicht verlassen, als welche allein einen Jeden lehren
könne, wer er sey; und welche mit Hülfe der Erinnerung aus dem
früheren Leben ihn dieses auch bestimmt genug lehre.
Wir haben hier zwei verschiedene Ansichten einander gegenüber ge-
stellt, deren jede wir noch genauer prüfen müssen, und zwar — welches
wohl zu merken, — hier noch nicht in der Absicht, zu entscheiden, welche
von beyden der Wahrheit am nächsten komme, sondern welche jetzo
zunächst müsse vestgehalten werden, um von dem Gegebenen in
unserm Nachdenken auszugehn, ohne einen Sprung zu machen.
[88] § 25.
Käme es darauf an, die erstere Behauptung annehmlich vorzustellen:
v > würden sich viele bekannte Meinungen von der Vernunft und Freyheit,
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2^0
nebst ihren Formen und Gesetzen, als von unserer hohem, unzeitlichen,
durch intellectuale Anschauung zu erkennenden Natur, im Gegensatze
gegen die empirische Auffassung unserer Individualität, hiebey benutzen
lassen. Ich erwähne derselben nur, um zu erinnern, dafs dergleichen
Lieblingsmeinungen mancher Personen auf den Gang der Speculation nicht
den geringsten Einflufs haben dürfen.
Demjenigen, was in der innern Wahrnehmung unzweydeutig gegeben
ist und unwillkührlich gefunden wird, scheint ohne Zweifel die zweyte Be-
hauptung angemessener als die erste.
Fragt man im gemeinen Leben jemanden, wer er sey, so nennt er
Stand und Namen, Wohnort und Geburtsort. Diese und andre äufser-
liche Bestimmungen seiner selbst leiten ihn auch im Handeln. Er erfüllt
seinen individuellen Beruf, seine Familienpflichten; und je mehr er seiner
besondern Stellung in der Welt gemäfs sich beträgt, um desto verständiger
finden wir ihn. Wollte er einen andern Begriff von sich selbst bey seinen
Entschliefsungen zum Grunde legen, wollte er einen Augenblick von seiner
Individualität abstrahiren: wir würden bald sagen, er vergesse sich, er
sey ein Thor.
Haben wir denn nun aufser dieser individuellen Ichheit noch eine
andre? Wenn wir einmal eingestehen müssen, dafs unser zeitlich be-
stimmtes Individuum Wir selbst ist, und wenn wir rückwärts, so oft wir
un befangen von uns selbst reden, Niemanden sonst, als eben dieses
Individuum im Auge haben: wozu soll es denn führen, dafs man in der
Philosophie von diesem nämlichen Individuum zu abstrahiren versucht?
Und ist es nicht schon im gemeinen Leben ein Irrthum, wenn man die
Umstände des Lebens, die freylich hätten anders kom[8g]men können,
als etwas unserer Persönlichkeit zufälliges betrachtet; da wir doch gerade
nur unter diesen Umständen, und in Beziehung auf dieselben, unsre
eigene Person kennen lernen? —
Gewifs würde diese Vorstellungsart den Sieg davon tragen: wenn es
möglich wäre, sie in sich selbst zu vollenden. Aber
Erstlich: in keiner augenblicklichen Wahrnehmung finde ich Mich,
auch nur als Individuum; vielmehr mufs die Erinnerung zu Hülfe kommen.
Ich setze mich als bekannt aus voriger Zeit in jedem neuen Moment vor-
aus. Nun ist dieses als bekannt Vorausgesetzte eben so unbestimmt,
wie eine Summe von halberloschenen Erinnerungen aus verschiedenen,
zum Theil entfernten Zeiten, nur immer seyn kann. Daraus würde folgen,
dafs ich nicht genau wüfste, Wen ich eigentlich meinte, falls ich von mir
als Individuum redete.
Zweytens: die individuellen Bestimmungen meiner selbst sind ein
Aggregat, welches allmählig angewachsen, und noch jetzt im Fortwachsen
begriffen ist. Richtet sich die Ichheit nach diesem Aggregat: so wird sie
unaufhörlich verändert, und niemals vollendet. Aber im Selbstbewufstseyn
sehen wir uns an als ein Bekanntes, Bestehendes, und schon Vorhandenes.
Drittens: ein Aggregat besitzt keine reale Einheit; es ist Vieles; von
Mir aber rede ich als von Einem, und einem Realen.
Viertens: die ganze Summe meiner Vorstellungen, Begehrungen und
individuellen Zustände, würde keine Persönlichkeit bilden, weifern nicht
2 iQ XL Psychologie als "Wissenschaft.
das Subject vorhanden wäre, welchem jene individuellen Bestimmungen
zum innerlichen Schauspiele dienen.
Fünftens: für dieses Subject, für das Wissen um uns selbst, ist es
zufällig, was als Gewufstes sich darbieten möge; darum abstrahirt man von
den besondern Bestimmungen des Gewufsten, und fafst blofs das Ver-
hält[go]nifs des innerlichen Wissens zu irgend einem beliebigen inneren
Verlauf von objectiven Erscheinungen, als Charakter der Ichheit auf.
Sechstens: die eben erwähnte Abstraction reicht noch nicht hin. Das
Ich fände sonst Sich als eine Reihe wandelbarer Erscheinungen, wenn
schon ohne nähere Bestimmung, was für eine Reihe dies seyn möge.
Das Subject kann aber sich selbst nichts gleich setzen, was nicht eben so
einfach ist, als es selbst. Folglich mufs nicht blofs die Mannigfaltigkeit
individueller Bestimmungen, sondern auch der allgemeine Begriff dieser
Mannigfaltigkeit, aus der Ichheit ausgeschieden werden. Und so bleibt
denn für das reine Ich nichts übrig, als die blofse Identität des Objects
und Subjects.
Da sind wir denn wieder angelangt bey dem oben erwähnten gramma-
tischen Begriff der ersten Person; nur noch mit der negativen Bestimmung,
dafs diese erste Person als Sich selbst nichts von allen dem denken könne,
was ihr auf individuelle Weise anzuhängen scheint.
Man bemerke wohl, dafs wir von der Einheit des Subjects, des
innerlichen Wissens, ausgegangen sind, um die Mannigfaltigkeit des objec-
tiven auszustofsen. Wir haben dabey angenommen, dafs in dem activen
Wissen um sich selbst Niemand eine Vielheit finde, dafs er vielmehr sich
als Einen Wissenden betrachte, wenn schon eine Mannigfaltigkeit dessen,
was er von sich wisse, ihm vorschwebe. ■ — Selbst unsere Träume eignen
wir uns selbst zu, so sehr wir über das Object lachen, was wir selbst dar-
stellen würden, wenn wir lachend dieselben wären, als die wir uns im
Traume gebehrden. Wie wir nun von dieser erträumten Individualität
abstrahiren, um wachend den Begriff von uns selbst zu bilden; — wie
jeder, nachdem er sich übereilt hat, vollends der Reuige, der Büfsende,
indem er Vergebung der Sünden bittet, sehr gern von den individuellen
Zügen seiner Persönlichkeit abstrahiren mag, die ihn als einen Thoren,
oder [91] als einen Sünder bezeichnen ; wie er einen Kern seines wahren
Wesens annimmt, aus welchem bald das Bessere hervortreten werde : so
sollen wir in der Speculation von aller Individualität abstrahiren, weil wil-
dem letzten, inwendigsten Kern unserer selbst, der Selbstbeschauung nichts
buntes und vielfältig wandelbares gleich setzen können, und weil ein
mannigfaltiges Objective im Ich, vermöge der Gleichheit mit dem, sich
selbst betrachtenden Subject, auch dieses in ein Aggregat von allerley
Handlungen des Wissens zerspalten würde; wobey die Einheit des Ich
gänzlich verloren ginge, für welche doch die eigne Selbstauffassung eines
Jeden sich verbürgt.
§ 26.
Fafst man die vorstehenden Ueberlegungen, welche Jeder für sich
durch ursprüngliche Besinnung auf Sich selbst, zur Reife bringen
mufs, — nochmals zusammen, so ergiebt sich:
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 94 1
Die philosophische Bestimmung des Ich, als Identität des Objects
und Subjects, scheint sich dadurch vom Gegebenen zu entfernen, dafs sie
die zeitliche Wahrnehmung zurückstufst. Aber hiedurch vollendet sie nur
das, und spricht rein aus, was wir im gemeinen Selbstbewufstsevn unbe-
stimmt beginnen. Nämlich wir setzen in jedem Augenblick Uns als bekannt
voraus; und betrachten die neuen Bestimmungen, welche der Augenblick
bringt, als zufällig; so dafs wir vollkommen Dieselben geblieben wären,
wenn schon ganz andre Begegnisse uns widerfahren seyn möchten. Daraus
entsteht ein Begriff von uns selbst, der sich, näher betrachtet, mit gar
keinen Zufälligkeiten, weder vergangenen, noch künftigen verträgt.
Weil nun die zeitliche Wahrnehmung, oder der innere Sinn, von der
eigentlichen Selbstauffassung hinweggewiesen worden ist: so scheint es
allerdings, als hätten wir zu dieser Selbstauffassung ein ganz eigenes Grund-
vermögen. Und weil es denn doch etwas schwer ist zu sagen, was eigent-
lich für einen Gegenstand die reine [92] Selbstanschauung erblicke (hier
nämlich wird eine Verlegenheit gefühlt, welche von den, im nächsten
Capitel zu entwickelnden, Widersprüchen im Begriff des Ich herrührt): so
entsteht eine Neigung, das reine Ich mit allerley Prädicaten zu begaben,
welche die Quelle vieler Fehlschlüsse (unter andern bey Fichte) ge-
worden ist.
Hier ist nun der Ort, an Kant's Behauptung zu erinnern, das Ich
sey eine rein individuelle Vorstellung, aber zugleich die ärmste unter
allen. Durch die erste Hälfte der Behauptung wird zugegeben, dafs man
den Begriff des Ich nicht durch innere Wahrnehmung bestimmen könne.
Die zweyte Hälfte mag diejenigen warnen, welche glauben, den Inhalt der
Vi irstellung des reinen Ich ohne Schwierigkeit angeben zu können. Uebrigens
ist hier ein doppelter Fehler begangen ; theils in der übereilten Annahme
eines reinen intellectuellen Vermögens;* theils in dem Vergessen des
grammatischen Begriffs des Ich, welcher durch den Gegensatz und die
Einerleyheit des Objects und Subjects, der Speculation mehr zu thun giebt,
als zahllose andre, an Inhalte viel reichere Begriffe.
Wer aber die vorhin bemerkten Schwierigkeiten, sich von den indi-
viduellen Bestimmungen des Ich zu trennen, wohl im Auge hat, und über-
dies bedenkt, dafs in dem speculativen Begriffe vom Ich jene Abstraction
vom Individuellen allerdings noch weiter getrieben wird, als sie im ge-
meinen Bewufstseyh vorkommt: der kann schon errathen, dafs die Be-
ziehungen der Ichheit auf die Individualität sich nur verbergen, nichts desto-
weniger aber vorhanden sind; und dafs der Erfolg der Speculation kein
andrer seyn kann, als eben diese Beziehungen in ihrer Notwendigkeit zu
offenbaren, womit denn das Grundvermögen der reinen Selbstauffassung
verschwindet, und der innere Sinn seine gehörige Erklärung erhält. So
nun ist es in der That. Die philosophische Bestimmung treibt [93] nur
die gemeine Vorstellung vom Ich aufs äufserste, um sie an offenbare Un-
möglichkeiten anstofsen zu machen; woraus sich ergiebt, dafs der Begriff
des Ich, der ein täuschendes Erzeugnifs unseres Denkens war, einer Ver-
besserung bedarf, und dafs die zum Irrthum führende Dunkelheit des ge-
:: Krit. d. r. V., S. 423, ganz unten.
Herbart's Werke. V. 1 6
2i2 XL Psychologie als Wissenschaft.
gemeinen Bewufstseyns hier, wie in andern Fällen, durch Philosophie
erleuchtet werden mufs.
Wir bleiben also für jetzt bey der Erklärung: das Ich ist die Iden-
tität des Objects und Subjects; nachdem wir gesehen haben, dafs dieselbe
für den Anfang der Untersuchung einzig zulässig ist. Wir werden
die Widersprüche entwickeln, die hierin liegen. Wir werden aus diesen
Widersprüchen erkennen, was in dem Begriffe des Ich mufs verändert, und
was hinzugedacht werden. Die Leser mögen sich hüten, sich bey dieser
Untersuchung nicht von angenommenen psychologischen Vorstellungsarten
beschleichen zu lassen. Das Problem ist viel zu schwer, als dafs es durch
bisher gewohnte Meinungen zu bezwingen wäre; wohl aber kann es durch
Einmen<run£ derselben verdunkelt und entstellt werden.
Zweytes Capitel.
Darstellung des im Begriff des Ich enthaltenen Problems,
nebst den ersten Schritten zu dessen Auflösung.
§ 27.
Das Problem entsteht aus den Widersprüchen im Begriff des Ich;
und es ist kein anderes, als, diejenige nothwendige Umwandlung dieses
Begriffs zu finden, wodurch die Widersprüche verschwinden.
Die erwähnten Widersprüche lassen sich auf zwey zurückführen (unge-
rechnet diejenigen, welche durch das Nicht-Ich, in Fichte's Sprache,
herbeygeführt werden).
[94] 1. Das Ich erscheint als ein im Bewufstseyn Gegebenes, und
der Begriff dieses Gegebenen wird für den vollständigen Ausdruck des-
selben gehalten. Aber es fehlt ihm sowohl am Objecte als am Subjectc,
mithin an seiner ganzen Materie.
2. die vorgegebene Identität des Objects und Subjects widerstreitet
dem unvermeidlichen Gegensatze zwischen beyden; mithin ist der Begriff
der Form nach ungereimt.
Die Erläuterung des ersten Punctes zerfällt wiederum zwiefach; es
mufs sowohl der Mangel des Objects, als des Subjects nachgewiesen werden.
Zuvörderst: Wer, oder Was ist das Object des Selbstbewufstseyns ?
Die Antwort mufs in dem Satze liegen: das Ich stellt Sich vor. Dieses
Sich ist das Ich selbst. Man substituire den Begriff des Ich, so ver-
wandelt sich der erste Satz in folgenden: das Ich stellt vor das Sich
vorstellende. Für den Ausdruck Sich wiederhohle man dieselbe Sub-
stitution, so kommt heraus: das Ich stellt vor das, was vorstellt das
Sich vorstellende. Hier kehrt der Ausdruck Sich von neuem zurück;
es bedarf der nämlichen Substitution. Dieselbe ergiebt den Satz: das Ich
stellt vor das, was vorstellt das Vorstellende des Sick-Yov-
stellens. Erneuert man die Frage: was dieses Sich bedeute? Wer
denn am Ende eigentlich der Vorgestellte sey? so kann wiederum keine
andere Antwort erfolgen, als durch die Auflösung des Sich in sein Ich,
und des Ich in das Sich vorstellen. Dieser Cirkel wird ins Unend-
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2AX
liehe fort durchlaufen werden, ohne Angabe des eigentlichen Objects in
der Vorstellung Ich. — Der Genauigkeit wegen kann man noch bemerken,
dafs in den nachgewiesenen Umwandlungen des ersten Satzes eine Be-
stimmung ausgelassen ist, die hier nichts zur Sache thut; nämlich dafs
das Ich nicht überhaupt irgend ein Ich, sondern Sich, mithin nicht blofs
das Sich vorstellende, sondern sein eignes Sich- Vorstellen zum Gegen-
stande hat. Allein [95] dieses gehört zu der geforderten Identität, folglich
zu dem zwevten formalen Widerspruch. Hier kommt es uns darauf an,
dafs jede Angabe dessen, was das Ich eigentlich vorstelle, wiederum die
Frage nach demselben in sich schliefse; folglich die Frage schlechterdings
unbeantwortlich ist. Statt der Antwort entsteht eine unendliche Reihe, die
sich niemals nähert, sondern von ihrer gesuchten Bedeutung immer gleich
weit entfernt bleibt. Diese Reihe ist nun schon darum fehlerhaft, weil
das Selbstbewufstseyn von einer solchen vielfachen Einschaltung in sich
selbst, nichts weifs. Aber überdies ist sie widersinnig, weil anstatt des
wirklich vollbrachten Sich-Selbst-Setzens nichts anderes herauskommt, als
eine ewige Frage nach sich selbst.
Nicht besser ergeht es auf der Seite des Subjects. Das Ich mufs
seinem Begriffe nach, von sich wissen; was in ihm als Subjectives gedacht
wird, mufs wiederum objeetiv, mufs ein Vorgestelltes werden für ein neues
Wissen. (Ein Umstand, den Fichte in seinen altem Schriften, ohne ihn
vollständig zu erwägen, vielfältig zur Methode des Fortschreitens in der
Nachforschung benutzt hat.) Man nehme also an, das Ich sey objeetiv
gegeben; so ist es Sich selbst, und keinem Anderen, gegeben; es wird von
Sich selbst vorgestellt. Der Actus dieses Vorstellens darf aber auch nicht
ausbleiben; was das Ich ist, das mufs es, seinem Begriffe nach, auch
wissen; was es nicht weifs, das ist es nicht. Es ist nun wirklich: Sich
vorstellend; als ein solches Sich vorstellendes mufs es demnach abermals
vorgestellt werden. Aber auch das neue Vorstellen, welches hiezu erfordert
war, mufs, so gewifs es ein wirkliches Handeln des Ich ist, wiederum
Object werden, für ein noch höheres Wissen. Und dieses Wissen ver-
langt, um ein Gewufstes zu werden, femer einen Actus derselben Art.
Diese Reihe läuft offenbar ebenfalls ins Unendliche; und sie sollte es
eben so wenig wie die vorige; denn auch hier weifs das Selbstbe-[g6]
wufstseyn, zwar in seltenen Fällen von einigen wenigen Wiederhohlungen
der Reflexion, die das Wissen selbst zum Gegenstande einer neuen Be-
trachtung macht, aber es weifs nichts von der Nothwendigkeit solcher
Wiederhohlung, um von uns selbst zu reden; viel weniger kennt es eine
unendliche Furtsetzung der Reihe. Noch mehr; die wiederhohlte Rück-
kehr zu uns selbst, wobey wir immer wiederum Gegenstand des Bewufst-
seyns werden, verbraucht Zeit; aber der Begriff des Ich läfst uns gar
keine Zeit; ihm gemäfs mufs das Ich, falls es überhaupt gedacht wird,
alles dies Denken des Denkens vollständig in sich schliefsen; sonst ist es
kein Ich, denn es fehlt ihm an irgend einer Stelle das Wissen um sich
selbst. Wir sehn also, wie das Ich nach dieser Betrachtungsart, wenn es
auch sein Object wirklich gefunden hätte, dennoch für sich selbst eine
unendliche, und eben deshalb eine niemals vollbrachte und nimmer zu
vollbringende Aufgabe seyn würde. —
16*
244 ^*" Psychologie als Wissenschaft.
Hat nun schon die doppelte Unendlichkeit, in welche das Ich sich
hinausstreckt, deutlich genug gezeigt, dafs durch diesen Begriff, so wie er
gefafst ist, wirklich nichts begriffen wird: so treibt vollends die Forderung
der Identität aller Glieder der unendlichen Reihen, die Ungereimtheit aufs
höchste. Zwar hier möchte Jemand sich die Sache leicht machen wollen.
Es ist ja so schwer sich ein Ding zu denken, das mit dem Wissen von
sich selbst begabt sey! Auf die Weise lassen die Dichter etwan einen
Bauin von Sich sprechen. Dieser, seiner selbst bewufste Baum, was ist er
denn eigentlich? Erstlich ein Baum, und dann zweytens die Vorstellung
eines solchen Baums; auch, wenns hoch kommt, noch eine Vorstellung von
der Vorstellung des Baums. Aber der Baum ist nicht die Vorstellung
von dem Baume, und, rückwärts, die Vorstellung eines solchen Baumes
ist nicht der Baum! Gleichwohl soll die erwähnte Vorstellung, wenn
sie sich ausspricht, von dem Baume reden, als von Sich selbst. Die
zwey völlig verschiede[o,/]nen, und blofs in Gedanken zusammengeklebten,
der Baum, und ein gewisses Vorstellen von demselben Baume, werden
für Eins ausgegeben. Diese Einheit ist ein leeres Wort ohne allen Sinn;
und daraus sieht man, dafs es unüberlegt war, dem ersten besten, durch
seine eigenthümliche Qualität schon bestimmten, Gegenstande,
Selbstbewufstseyn zuschreiben zu wollen. Man setze statt des Baumes
die Seele, als ein Wesen mit allerley Kräften, das unter andern auch
Selbstbewufstseyn habe. Man wird gerade den nämlichen Fehler begangen
haben. Die Seele, als ein solches und kein anderes Wesen, soll ein Bild
von sich selbst mit sich tragen; und damit ein Bild der Art vorhanden
seyn könne, wird ein eignes Vermögen angenommen, welches sey ein
Vermögen ein solches Bild zu tragen oder vorzustellen. Nun meint man,
die Seele wisse von sich, weil man in Gedanken eine Summe gemacht
hat aus der Seele und aus dem Vermögen, welches ein Bild von der
Seele bereitet. Man dringt wohl gar darauf, dafs beydes zusammen nur
Ein reales Wesen seyn solle. Und jetzt beantworte man nur noch die
Frage, was für ein Wesen das sey? Man gebe die Qualität desselben
an. Die Antwort wird sich in zwey Theile spalten; die Seele, und das
Vorstellen dieser Seele. Daraus wird nimmermehr Eins, so wenig wie
aus der Person, die sich malen läfst, und dem gegenüber sitzenden
Maler. — Zum Glück weifs unser Selbstbewufstseyn auch gar nichts von
dem Wesen unserer Seele zu sagen; und um so eher dürfte man in der
Psychologie jenes Grundvermögen der Selbstauffassung sparen, vor welchem
das, was wir wahrhaft sind, sich doch nicht sehn läfst.
Nach dieser Digression kehren wir zurück zum Begriff des Ich. Der-
selbe ist weit entfernt, uns in die eben erwähnte Verlegenheit zu setzen.
Ganz ein anderes ist, was er erheischt. Das Object soll keinesweges ein
Ding an sich, es soll das wahre Subject selbst seyn. Da nun auch das
Subject nichts für sich allein, sondern lediglich [98] das Vorstellen seiner
selbst ist, so soll eben dieses Vorstellen, als ein Erzeugen des Bildes,
auch das Vorgestellte, das Bild seyn. Die That soll selbst das Gethane,
die Bedingung soll das Bedingte, der wirkliche Actus des Vorstellens
soll das, als solches nichtige, Bild selber seyn! Will man der Strenge
dieser, offenbar ungereimten, Forderung sich entziehen? Wohlan! so ist
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 245
das Object erstlich ein Reales für sich, und nun kommt zweitens das
Subject mit einer Abspiegelung jenes Realen dazu. Da hat man das Ich
entzweyet, und ist gerade in das vorhin gerügte Widersinnige des selbst-
bewufsten Baumes verfallen. Es bleibt also dabey, dafs das Abgespiegelte
ohne alle Vermittelung der Spiegel selbst sey; dafs Ich Mich nur alsdann
finde, wann das Vorstellen, anstatt von seinem Vorgestellten unterschieden
zu werden, vielmehr eben als actives Vorstellen sein eignes Vorgestelltes
ist; folglich die Entgegengesetzten eben als Entgegengesetzte Einerley
sind : — wobey denn alle jene Begriffe, von der That und dem Gethanen,
der Bedingung und dem Bedingten, dem Wirklichen und seinem Bilde,
die nur in ihren Gegensätzen einen Sinn hatten, in Unsinn übergehen
müssen. Und die vorhin entwickelten unendlichen Reihen wiederhohlen
diesen Unsinn ins Unendliche. —
Wäre die Rede vom viereckigten Cirkel: so würde sich niemand über
dessen Möglichkeit den Kopf zerbrechen. Aber die Rede ist vom Ich,
das wir jeden Augenblick aussprechen; von uns selbst, so fern wir uns
das Bewufstseyn unsrer selbst zuschreiben. Die Frage ist, Wen wir
eigentlich meinen, indem wir von uns reden? Und wenn wir diesen Wen
gefunden hätten, was wir denn beginnen, indem wir ihm das Wissen von
sich selbst beylegen? Er, der dieses Prädicat empfangen soll, mufs ohne
Zweifel dafür empfänglich sevn. Er mufs also kein Ding an sich, er
kann aber auch nicht das Von-Sich- Wissen selber seyn. Denn wir sehen
nun endlich deutlich genug, dafs dieses Von-Sich-Wissen auf etwas [99]
Vorauszusetzendes, und bis jetzt Ausgelassenes, sich bezieht; und dafs
man die Auslassung durch eine Ergänzung verbessern mufs. Erst müssen
gewisse objective Prädicate herbeygeschafft werden; diese aber dürfen nicht
von der Art seyn, dafs sie für sich allein bestünden, und uns am Ende
in die beschämende Nothwendigkeit setzten, das Darum-Wissen wie ein
Fremdes nur gerade daranfügen zu müssen. Sondern aus der objec-
tiven Grundlage jnufs jenes wunderbare, in sich zurücklaufende Wissen
von selbst hervorkommen; und zwar dergestalt, dafs vor diesem Wissen
sich das Objective gleichsam zurückziehe, damit das Ich nicht Sich als
irgend ein bestimmtes Anderes, sondern als Sich selbst antreffen möge.
Diese vorläufigen Vermuthungen werden wir nun genauer auszuführen
haben.
Anmerkung.
Es wird erlaubt, und beynahe nothwendig seyn, dafs ich hier meinen
Vortrag unterbreche. Denn der Leser mufs hier anhalten; er mufs sich
das Vorgehende vollkommen überlegen und einprägen; sonst kann er
nicht Einen Schritt weiter gehen. — Dafs ich ihn bisher nicht zum Lichte,
sondern vielmehr in die dunkelste Nacht geführt habe, weifs ich sehr
wohl. Das mufste geschehen; die Natur der Sache bringt es mit sich;
und für Denjenigen, der hier ungeduldig wird, rede ich kein Wort weiter.
Wohl aber könnte auch der Geduldigste ermüden, und sich in einen
Zustand versetzt fühlen, der eine Art von Krankheit ist; ich kenne diesen
Zustand aus Erfahrung, und weifs, wie schwer es ist, ihn zu ertragen,
wenn man nichts destowenic;er in der Zeit fortleben und forthandeln soll.
2_i6 XL Psychologie als "Wissenschaft.
Daher werde ich auf die dunkle Stelle schon jetzt ein Licht fallen lassen,
das von Untersuchungen ausgeht, die erst viel später an die Reihe kommen
können.
Die Frage: wer bin ich? ist für den gewöhnlichen Menschen in
jedem Augenblick auf individuelle Weise [ioo] zulänglich beantwortet;
nimmt man aber die individuellen Bestimmungen hinweg, so bleibt nichts
übrig, als eine leere Stelle, und diese läfst sich schlechterdings nicht
auf eine allgemeingültige Weise ausfüllen. Daher fasse man die Frage
nun so: wie kommt der Mensch dazu, jene Stelle, die für sich allein leer
seyn würde, zu setzen, sie mit individuellen Bestimmungen auszufüllen,
sie als die erste in seinem ganzen Vorstellungskreise zu betrachten, für
die alles Andre ein Zwevtes, Drittes, kurz ein Aeufseres ist; und endlich
sie als den Punct anzusehn, worin Wisser und Gewufstes unmittelbar
zusammenfallen ?
Diese Fraare zielt, wie es sevn mufs, nicht mehr auf ein Reales,
sondern lediglich auf ein Formales; und sie fällt nun zurück in das weite
Gebiet der Untersuchung über den Ursprung der Formen in unserem ge-
sammten Vorstellen. Eine Untersuchung, die sich ohne Mechanik des
Geistes nicht einmal anfangen läfst.
Der formalen Constructionen, in welchen das Ich eine Stelle —
nicht hat, sondern ist: giebt es mancherley; verschieden an Einfluß und
Werth; mehr oder minder zahlreich nach dem erreichten Grade der
Cultur. Die bekannteste dieser Constructionen, und, wenn man den zeit-
lichen Ursprung des Ich betrachtet, die wichtigste, ist der sinnliche Raum.
Wenn die Anschauung dahin gelangt, Objecte zu begränzen und zu
sondern, so zieht sie auch Linien von diesen Objecten gegen den Mittel-
punct hin, worin der Mensch (oder das Thier) sich befindet. Nahe diesem
Mittelpuncte sieht der Mensch wenigstens einige Theile seines Leibes;
durchläuft ein Object die Linie dahin, so endet die Zeitreihe der Wahr-
nehmungen mit einer nenen Empfindung (etwa des Stofses oder Schlages);
bewegt sich der Mensch, so verändert sich das ganze System seiner Ge-
sichtslinien; begehrt er und handelt, so wird die Vorstellung des Begehrten
der Anfangspunct einer Reihe, die mit einer Veränderung in der An-
schauung des [101] Aeufsern endigt. Demnach fallen Glieder des Leibes,
Empfindungen, und Anfänge des Wirkens in jenen beweglichen Punct;
von welchem an, jedem Aufsendinge seine Entfernung bestimmt wird;
in welchen hinein er späterhin die Bilder abwesender Gegenstände, die
ihm vorschweben, verlegen mufs, weil sie ihn begleiten, und draufsen
keinen Platz haben. So wird der Mensch in seinen eignen Augen ein
vorstellendes Wesen; und von da zu der Bemerkung, dafs unter den Vor-
stellungen auch eine des Vorstellenden vorkomme; ist nur noch ein
leichter Schritt.
Es mächte nun scheinen, als klebe die Vorstellung des Ich an dem
sinnlichen Räume; allein nichts weniger! Es giebt eine Menge ähnlicher,
nur nicht so ausgebildeter Constructionen, wie der Raum. Sich findet der
Bürger mitten in bürgerlichen Verhältnissen: er hat dort einen Rang und
Namen; Sich findet der thätige Mann in der Mitte andrer Kräfte; der
. -lehrte in dem Kreise andrer Gelehrten: der sittlich und
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 247
fühlende Mensch findet sich in einer höhern Ordnung der Dinge; aber
hier ist der Platz, den sein, schon sonst bekanntes Ich darin einnimmt,
nicht SO leicht zu bestimmen; hier nimmt die Frage, wer bin ich? eine
ernste Bedeutung an; auf die wir jedoch jetzt nicht eingehn können.
Je nachdem die Reihen von Vorstellungen beschaffen sind, welche im
Ich zusammentreffen und sich kreuzen; und je nachdem sie in jedem be-
stimmten Augenblick aufgeregt sind: darnach richtet es sich, wie der
Mensch Sich in diesem Augenblick sieht. Wirklich schwankt das Ich
unaufhörlich; es ist bald ein sinnliches, bald ein vernünftiges, bald stark,
bald schwach; es scheint bald auf der Oberfläche, bald in einer uner-
gründlichen Tiefe zu liegen. Diese Wechsel erklären sich sämmtlich aus
der angedeuteten Lehre; und ebenso der sonderbare Umstand, dafs die
gewöhnliche Art zu reden Alles dem Ich zueignet, selbst das, was der
denkende Mensch als den eigentlichen Gehalt, das wahre Wesen [102]
des Ich ansehen möchte. Wir sagen nicht blofs mein Leib, sondern
auch mein Geist, meine Vernunft, mein Wille, ja sogar: mein
Selbs tbe wufst seyn, mein Leben, und mein Tod. Denn alle diese
Bestimmungen fallen in den Punct, welcher Ich heifst.
Der Leser kann nun vermuthen, dafs diese Ansicht vom Ich wohl
die richtige seyn möge, aber er weifs von dem Allen noch nichts; ver-
versteht auch noch nicht, wie die Vorstellung eines Puncts in einer Reihe
möglich ist; begreift also von der gegebenen Erläuterung noch sehr wenig.
Um weiter zu kommen, ist es nöthig, diese ganze Anmerkung bey Seite
zu setzen, und den Faden des frühern Vortrags wieder aufzunehmen.
Derselbe blieb liegen in der tiefsten Finsternifs; wir müssen daher sehr
langsam fortschreiten.
§ 28.
Irgend etwas, wenn auch noch so dunkel vorgestellt, hat ohne Zweifel
Jeder im Auge, der von Sich redet; denn ein Vorstellen ganz ohne
Gegenstand kann doch die Aussage des Ich nicht seyn. Wir müssen
also zuerst dem Begriff des Ich ein unbekanntes, und noch zu be-
stimmendes Object leihen; und nachsehn, was weiter daraus werde.
Sogleich nun wird das Geständnifs unvermeidlich, dafs wir von der
eigentlichen Bedeutung des Begriffs abgewichen sind. Denn nicht ein
unbekanntes Object sollten wir annehmen, sondern uns damit begnügen,
dafs das Subject zugleich die Stelle des Objects vertrete; dafs das Ich
nicht etwas Anderes, sondern Sich setze.
Dieses Geständnifs darf jedoch nicht im geringsten befremden. Denn
es versteht sich von selbst, dafs ein widersprechender Begriff, wenn er
nicht ganz verworfen werden kann, wenigstens eine Veränderung erleiden
mufs. Und die gemachte Veränderung war nothwendig; denn [103] dafs
in dem gegebenen Begriff das Object fehlt, haben wir oben gesehn.
Nichts destoweniger bringt die Abweichung vom Gegebenen uns in
Verlegenheit. Von dem Vorstellen eines unbekannten Objects liefse sich
gar viel reden, ohne dafs dies mit dem vorliegenden Problem nur den
,, ,y XI. Psychologie als Wissenschaft.
mindesten Zusammenhang hätte. Wir finden uns in Gefahr, in ein will-
kührliches Denken hineinzugerathen, sobald wir den Begriff des Ich nicht
in seiner Strenge vesthalten.
Dieses also darf nicht vernachlässigt werden. Und wir können dem-
nach dem Ich nur unter der Voraussetzung ein Object leihen, dafs es aus
der Selbst-Auffassung wieder verschwinde.
Verschwindet es aber: so entsteht von neuem das Bedürfnifs eines
Objects; obgleich nicht gerade des nämlichen, welches wir zuerst ein-
geschoben hatten.
Es steht uns also frev, mehrere und verschiedene Objecte ab-
wechselnd dem Ich zum Grunde zu legen. Und nicht blofs steht es frev,
sondern bey näherer Ueberlegung findet sich dieses durchaus nothwendig.
Wir würden nämlich im Denken gar nicht von der Stelle rücken,
und die Auflösung des Problems nicht im mindesten fördern, wofern wir
uns fortdauernd im Kreise jener beyden Reflexionen herumtreiben wollten:
der einen, dafs das Ich eines von ihm zu unterscheidenden Objects
bedürfe; der andern, dafs das Ich kein von ihm unterschiedenes
Object als Sich selbst ansehn könne. Diese Betrachtungen würden
uns dahin bringen, das geliehene Object wieder abzusondern, und es dann
nochmals herbevzubringen, um es nochmals wegzunehmen; eine Oscillation
ganz ohne Ende und ohne Gewinn. Wollten wir dabei das Successive
unseres Nachdenkens aufheben, und nach dem Resultat fragen, so wäre
es der klare Widerspruch: zum Ich gehört ein fremdes Object,
und gehört auch nicht zu ihm. Ein Widerspruch, den man, so wie
er vorliegt, durch keine Distinction lösen kann; denn so [104] lange wir
nur von einem einzigen fremden Object reden, ist gar nicht abzusehen,
woher eine Modifikation kommen sollte, vermöge deren dasselbe in einer
Rücksicht dem Ich angehören, und in einer andern Rücksicht von ihm
ausgeschieden werden könne.
Hingegen sobald wir uns besinnen, dafs, indem ein geliehenes Object
wieder ausgesondert werde, dagegen ein anderes und wieder ein anderes
eingeschoben werden könne : geht uns ein Licht auf. Es zeigt sich nämlich
jetzt soviel, dafs die Ichheit auf einer mannigfaltigen objectiven
Grundlage beruht, wovon jeder Theil ihr zufällig ist, sofern die
übrigen Theile noch immer dem Ich zur Stütze dienen würden, falls
jener weggenommen wäre. Ich setze mich als dies oder jenes, aber ich
bin an keines gebunden, so lange ich wechseln kann. So ruhet ein Tisch.
der viele Füfse hat, zwar eigentlich auf allen zugleich, doch könnte er
wechselnd, jeden einzelnen entbehren, weil ihn die übrigen noch tragen
würden.
Dafs dieses zwar bey weitem nicht die vollständige Auflösung des
Räthsels, aber doch der nächste nothwendige Schritt zu derselben ist, zeigt
sich noch klärer durch folgendes: Jedes fremde Object, was als das letzte
Vorgestellte im Selbstbewufstseyn angesehen wird, bedarf durchaus der
vorhin erwähnten Modification; es mufs in gewisser Rücksicht für das-
jenige gelten bönnen, was vorgestellt wird, indem wir uns selbst vorstellen;
in anderer Rücksicht aber wiederum als dasjenige zu erkennen seyn, was
nicht Wir selbst ist. Woher soll nun diese Modification, diese Verschieden-
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen.
249
heit der Rücksichten ihren Ursprung nehmen? Sollen wir etwan selbst,
sie willkührlich erdenken, willkührlich gebrauchen? Aber auf dieser Modi-
fication beruht das Selbstbewufstseyn, als Gegebenes, welches keinesweges
unserer Willkühr Preis gegeben ist. Soll ein Gesetz, eine ursprüngliche
Form unseres Geistes erdacht werden, wornach wir unwillkührlich, und
unserer eignen Thätigkeit uns nicht bewufst, ein Fremdes [105] in die
Bestimmung unseres Selbst bald aufnehmen, bald ausstofsen? oder auch
in verschiedener Rücksicht aufnehmen, und ausstofsen? Aber so lange
dieses fremde Object nur ein einziges ist, kann keine Form unseres Geistes
den Widerspruch erzwingen, dafs Ich dasjenige sey, was eben nicht Ich
selbst, sondern ein Fremdes ist. Auf gar keine Weise kann die eigne
Qualität des Fremden in die Ichheit eingelassen werden! Erst dann,
wenn mehrere Objecte vorgestellt werden, gehört Etwas an ihnen
dem Vorstellenden; nämlich ihre Zusammenfassung in Ein Vor-
stellen; und was aus dieser weiter entspringt. Daraus mufs also auch
die gesuchte Modification hervorgehn, durch welche an den verschiedenen
Objecten etwas zu bemerken sey, das keinem von ihnen einzeln
genommen zukommen würde, das also eben darum vielleicht Uns ange-
hören könnte. Dabey bleibt denn die Vorstellung Meiner selbst zwar ab-
hängig von der Vorstellung der Objecte, — sie bezieht sich auf die-
selben, — aber sie fällt dennoch nicht damit zusammen.*
Wir wollen uns erlauben, diese ersten Anfänge der Speculation
sogleich mit der Erfahrung zu vergleichen. Irgend eine Aehnlichkeit
mufs doch schon zu bemerken seyn. Ich finde mich denkend, wollend,
fühlend. Aber Denken ist das Uebergehen von Gedanken zu Gedanken,
Wollen das Fortstreben aus einer Lage der Vorstellungen in eine andere;
hier bezieht sich das Uebergehen auf eine Mannigfaltigkeit im Objectiven,
das Fortstreben desgleichen; nicht das Objective selbst, wohl aber das
Umherwandeln unter seiner Mannigfaltigkeit schreiben wir Uns zu. Was
das heifse, Ich finde mich fühlend, mag etwas schwerer zu erklären seyn;
doch ist hier soviel sichtbar, dafs keinesweges das Gefühlte (das Objective
[106] in eigner Qualität), diese Lust oder jener Schmerz, dasjenige ab-
giebt, was wir als unser eignes Ich ansehen.
§ 29.
Noch ein Schritt, und zwar ein sehr wichtiger, ist nüthig, bevor wir
unseren Betrachtungen eine neue Richtung und zugleich einen neuen
Schwung geben können.
Die mehrern Objecte (wie sich versteht, nicht reale Gegenstände,
sondern blofse Vorgestellte, als solche), welche zusammengenommen leisten
sollen, was sie einzeln gar nicht vermögen würden, nämlich der boden-
losen Ichheit den Boden bereiten: taugen offenbar dazu, als blofse Summe
oder als Aggregat, um gar nichts besser, wie die einzelnen für si. h.
Modificiren sollen sie einander gegenseitig; so viel wissen wir schon. Aber
* Der § 34 wird die Sache noch mehr ins Licht setzen ; durch ein Verfahren,
welches bisher absichtlich ist im Dunkeln gehalten worden.
2Zo XL Psychologie als Wissenschaft.
wie sie sich modificiren sollen, das läfst sich aus den. nämlichen Gründen
noch bestimmter angeben.
Denken wir uns ein Subject, begriffen im Vorstellen mehrerer Ob-
jecte, und hierin noch ohne Selbstbewufstsevn befangen: so sehn wir
sogleich, dafs dasselbe, um zum Ich zu gelangen, nothwendig aus jener
Befangenheit im gewissen Grade herauskommen müsse. Da möchte nun
Mancher ihm zurufen: hilf Dir selber! Brich die vorigen Gedanken ab,
und komme zu Dir! Aber noch ohne Rücksicht auf die hier geforderte
Frevheit der Reflexion, welche gar nicht dazu pafst, dafs das Ich als ein
Gegebenes gefunden wird, hiefse ein solcher Zuruf soviel, als: tritt aus
dem Denkbaren hinüber in das Undenkbare, — nämlich in jenen
widersprechenden Begriff des Ich; welcher, um von dem Widerspruche
geheilt zu werden, nicht einer Losreifsung, sondern einer Anknüpfung an
die Objecte bedurfte.
Von den Objecten aus, und durch sie selbst geleitet, müssen wir zu
Uns kommen; denn ohne sie ist das Selbstbewufstsevn eine Ungereimt-
heit; und eine Sache der Frevheit ist es ganz und gar nicht. Wer sich
findet in Schmerz und Elend, wer sich seine Schwäche gesteht, [107]
wer an sich selbst verzweifelt: der findet allerdings Sich, aber so wie er
nicht will, und nicht würde, wenn er anders könnte. Hier ist also auch
nicht einmal für die Erschleichungen Platz, welche man sonst an das Be-
wufstsevn des Wollens anzuheften pflegt. Wer sich über sich selbst
wundert, wer sich mit Selbstgefälligkeit beschaut, der ist wo möglich noch
weiter als jene von einem Zustande des freyen Wollens entfernt, aber
seiner selbst sich bewufst ist er dennoch.
Alle Jene aber befinden sich gleichwohl vermöge des Selbstbewufst-
sevns herausgehoben aus der Befangenheit in den Objecten ihres Vor-
stellens. Denn die Prädicate zwar, welche sie in den erwähnten Zu-
ständen sich selbst beylegen, sind etwas objectives; aber das Subject, dem
sie dieselben beylegen, wird dabey als schon bekannt vorausgesetzt. Die
Urtheile: ich bin beschämt, ich bin traurig, ich bin fröhlich, sind ins-
gesammt synthetisch, denn ihre Prädicate werden keinesweges angesehen
als inhärirend dem Subjecte. Und selbst solche Urtheile, wie: ich bin
klug, ich bin ein Thor, welche eine beständige Eigenschaft bezeichnen,
sind dennoch synthetisch, denn sie stützen sich auf eine Reihe von Er-
fahrungen und Selbstbeobachtungen, aus denen ihr Prädicat erst durch
Induction abs;ezo2;en ist. Dem gemäfs liegt die Iehheit nicht in den Auf-
fassungen des objectiven, wie sie denn auch ihrem Begriffe nach nicht
kann; sondern sie bildet einen Gegensatz selbst gegen die, dem Ich bey-
gelegten Prädicate, vermöge deren sie mitten in der Verknüpfung noch
von ihnen zu unterscheiden ist.
Da wir nun, so fern wir uns selbst vorstellen, gewifs nicht in dem
V< irstellen des fremden objectiven begriffen sind; und wir doch gleich-
wohl aus diesem nämlichen Vorstellen des fremden objectiven und durch
dasselbe, haben zu uns selbst kommen müssen: so kann nur in diesem
objectiven der Grund liegen, welhalb wir aus dem Vorstellen desselben
herausgehoben werden. Das Vi ^gestellte selbst in seiner Mannigfaltigkeit
mufs von sol[io8]cher Beschaffenheit seyn, dafs es die Fesseln lös't, in
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen.
251
welchen ein Subject befangen seyn würde, das nur blofs Gegenstände, aber
niemals Sich, kennen lernte.
Die Forderung, unser Vorgestelltes müsse uns über sich selbst hinaus-
heben, damit wir zu Uns kommen, ist eine besondere, enthalten unter
einer allgemeinem, welche so lautet: unser Vorgestelltes mufs uns
auf gewisse Weise aus dem Vorstellen seiner selbst heraus-
versetzen.
Nun ist es ein Widerspruch, dafs irgend ein bestimmtes Vorgestelltes
A, selbst den Actus des Vorstellens von A zu verändern, oder zu ver-
mindern geeignet seyn sollte. Auf die Weise müfste A sich selbst ent-
gegengesetzt seyn.
Da nun kein Vorstellen, für sich einzeln genommen, als das Vor-
stellen eines bestimmten A, oder B, oder C, und so weiter, uns aus sich
selbst herausversetzen kann: so bleibt nichts übrig, als dafs verschiedenes
Vorstellen, so fern es durch seine verschiedenen Vorgestellten als ein
solches und anderes bestimmt ist, sich gegenseitig vermindere; dafs eins
uns aus dem andern herausversetze.
Es müssen also die mannigfaltigen Vorstellungen sich
unter einander aufheben, wenn die Ichheit möglich seyn soll.
Dieser Satz ist das Resultat, be.y welchem wir verweilen werden.
Dafs ihn die Erfahrung bestätigt, läfst sich sogleich zeigen; dafs er im
höchsten Grade fruchtbar ist, wird sich tiefer unten ergeben.
Die innere Wahrnehmuno: lehrt, dafs p-leich unsre einfachsten sinn-
liehen Empfindungen verschiedene Reihen bilden, deren jede eine zahl-
lose Menge solcher Vorstellungen einschliefst, die in allen möglichen
Graden von Gegensätzen stehn. Die verschiedenen Farben verdrängen
einander im Bewufstseyn, die Gestalten desgleichen; nicht minder die ver-
schiedenen Töne, Gerüche, Geschmacks- und Gefühls- Empfindungen. Wir
können die [109] Vorstellung des Blauen nicht vollkommen vesthalten,
wenn die des Rothen dazu kommt; die Contraste beschäfftigen uns, indem
sie uns anstrengen; aber eine bedeutende Menge des Contrastirenden
macht, dafs die Auffassung erliegt. Auf solche Weise kommt Bewegung
ins Gemüth; und nicht blofs Bewegung, sondern auch Bildung. Diese
flüchtige Erwähnung der Thatsachen mufs vorläufig genügen.
§ 3°-
Bey der allgemeinen Gewöhnung, in dem Subjecte des Bewufstseyns
alle die nöthigen Vermögen, Thätigkeiten, Formen und Gesetze anzunehmen,
welche die Erklärung psychologischer Thatsachen nur immer fordern möchte,
läfst sich auch erwarten, dafs man das nüchstvorhergehende Räsonnement
eines Sprunges beschuldigen werde; indem es in den Gegensätzen des
Vorgestellten dasjenige suche, was man in der Natur des denkenden Sub-
jeets viel besser voraussetzen könne. Wir wollen demnach, um den Grund
unserer Untersuchung genugsam zu bevestigen, uns auf das vermeinte Ver-
mögen der Selbst-Anschauung noch einmal einlassen, um zu überlegen,
was für ein Vermögen es denn eigentlich seyn solle.
1. Ein Vermögen, Sich schlechthin zu setzen, oder auch, das:
Ich denke, zu allen unsern Vorstellungen schlechthin von selbst
., - -, XI. Psychologie als 'Wissenschaft.
"~ - — ■ — -■ —
hinzuzusetzen; ein solches verlangt man nun hoffentlich nicht mehr, da
wir im § 2~ die Masse von Ungereimtheiten gezeigt haben, welche
für real, ja für sein eignes Wesen zu halten, demjenigen würde ange-
muthet werden, welcher also Sich selbst setzen sollte. * (Man vergleiche
noch § 26.)
2. Ein Vermögen, erst etwas objectives, etwas anderes als das Ich,
zu denken, dann aber durch einen absoluten Aufsprung sich selbst
in diesem Denken zu ergreifen, — würde um nichts weiter führen.
Zugegeben, dafs in dem Subjecte ein Vermögen zu einem solchen Auf-
sprunge sevn könne (welches aus allge[i iojmein metaphysischen Gründen
schon unmöglich ist : so möchte immerhin zu der Vorstellung des objec-
tiven noch die Vorstellung von dieser Vorstellung hinzukommen; damit
aber der Vorstellende sie als sein Vorstellen Sich zueignete, mutete er
zuvor Sich gefunden haben; welches zeigt, dafs die Erklärung das Er-
klärte voraussetzt, Dafs aber der Vorstellende nicht das Objective, und
dessen Vorstellung, unter einander gleich setzen, und daraus ein Ich
bereiten könne, springt offenbar in die Augen, da jene zwey nichts weniger
als identisch sind.
3. Aber, nachdem man eingesehen hat, dafs in einer gegenseitigen
Modification mehrerer objectiven -Vorstellungen allein der Grund des
Selbstbewufstseyns gesucht werden könne: ist nun noch zu besorgen, man
werde sich die Sache leicht machen, und das Modificiren der mehrern
Vorstellungen einem deus ex machinä, einem hinzutretenden
Geistesvermögen von eigends dazu erfundener Beschaffenheit auftragen
wollen. Einen Verdacht dieser Art dürfen wenigstens Diejenigen gar nicht
übelnehmen, welche ganz auf gleiche Weise zu den Vorstellungen des
Erkenntnisvermögens das Begehrungsvermögen hinzubringen, damit es die
bis jetzt nur noch erkannten äufsem Dinge in Gegenstände der Be-
gierden umpräge!
Die nun von dem Geiste der Naturforschung so ganz und gar ab-
weichen, mögen denn überlegen, was wohl für eine Modification der vor-
handenen Vorstellungen jenes hinzutretende Vermögen bewirken solle?
Eine solche mufs es offenbar sevn, wobey das eigentümliche Was einer
jeden dieser Vorstellungen beseitigt, und etwas von ihnen allen verschiedenes,
nämlich die Ichheit, aus ihnen herausgezogen werde. Nun hat man zwar
wohl in der Naturlehre Beyspiele, dafs "gewisse Stoffe, vermöge ihrer innern
Gegensätze, wenn sie zusammenkommen, mit einander ein Drittes bilden,
worin die Eigenschaften, welche jedes zuvor allein genommen zeigte, ver-
schwin[lll]den, um ganz neuen Platz zu machen. Da äufsem sich diese
Stoffe selbst als Kräfte: — und es mag wohl erlaubt sevn, diesem
Gleichnifs als eine entferntere Andeutung dessen zu benutzen, was
unser mannigfaltiges Vorgestelltes, indem es sich in Einem Vorstellen zu-
sammenfmdet, mit einander macht: um so mehr, da wir an den Harmonien
und Disharmonien, nicht blofs zusammentreffender Töne, sondern aller
Arten von Gegenständen, welche ästhetischer Verhältnisse fähig sind, die
klaren Beyspiele davon haben. — Aber nimmermehr ist erhört gewesen,
dafs aus Stoffen, die sich passiv verhalten, eine hinzukommende
Thätigkeit etwas gemacht hätte, das der Beschaffenheit dieser Stoffe selbst
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Bezielvungen. 2^1
entgegengesetzt gewesen wäre. Dazu gehört eine innere Verwandlung;
und diese ist einer neuen Production gleich zu achten. Kann irgend
ein Geistesvermögen aus Vorstellungen, die zum Nicht-Ich zu
zählen sind, die Ichheit bereiten: so mas; dasselbe Vermögen
immerhin auch ein Ich absolut constituiren. Da aber das letzte,
laut den geführten Beweisen, ein völliger Ungedanke ist, so ist es auch
das erste.
Man lasse also endlich die Geistesvermögen, wodurch unser Vorge-
stelltes, als ob es ein todter Vorrath wäre, soll umgebildet werden, ein-
für allemal gänzlich fahren! Dagegen besinne man sich auf das Leben
und Streben in jeder einzelnen Vorstellung; welches Leben genau zu-
sammenhängt mit der Qualität des Vorgestellten, und sich daher mit
andern Vorstellungen nur in so fern verträgt, als zwischen den Vorge-
stellten keine Gegensätze sind. So verträgt sich der Ton mit der Farbe;
aber die Töne unter einander, die Farben unter einander, als Vorstellungen
in uns, widerstreben sich nach dem Maafse ihrer Gegensätze und ihrer
Stärke.
Uebrigens würde dieser ganze Paragraph in einer, auf allgemeine
Metaphysik mit streng systematischer Kürze aufgebauten Psychologie, völlig
unnöthig seyn, weil die[i I2]selbe des Begriffs von einem Wesen mit allerlev
Vermögen gar nicht mehr erwähnen dürfte.
Drittes Capitel.
Vergleichung des Selbstbewufstseyns mit andern
Problemen der allgemeinen Metaphysik.
§31.
Dieses Capitel wäre eine blofse Episode, wenn nicht die vorstehende
Untersuchung selbst uns in ein Gebiet allgemeinerer metaphysischer Fragen
hineintriebe.
Auf ein Subject mit mannigfaltigen, zusammen und wider einander
wirkenden Vorstellungen, sind wir geführt worden. Ist dieses Subject
Substanz? Und erzeugt es seine Vorstellungen von selbst, oder unter
äufsern Bedingungen? Sind diese Vorstellungen ursprünglich Kräfte? oder
kommt ihnen ihre Wirksamkeit, mit der sie wider einander streben, nur
zufälliger Weise, nur unter Umständen zu?
Um leichter verstanden zu werden, will ich es wagen, meine Antwort
auf diese Fragen, fürs erste ohne Beweis, herzusetzen.
Das vorstellende Subject ist eine einfache Substanz, und
führt mit Recht den Namen Seele. Die Vorstellungen ent-
halten nichts von aufsen aufgenommenes; jedoch werden sie
nicht von selbst, sondern unter äufsern Bedingungen erzeugt,
und eben so wohl von diesen, als von der Natur der Seele
selbst, ihrer Qualität nach bestimmt. Die Seele ist demnach
nicht ursprünglich eine vorstellende Kraft, sondern sie wird
2 za XL Psychologie als Wissenschaft.
es unter Umständen. Vollends die Vorstellungen, einzeln ge-
nommen, sind keineswe [i 13] ges Kräfte, aber sie werden es ver-
möge ihres Gegensatzes unter einander.
Sollen nun diese Behauptungen bewiesen werden, so bedarf es dazu
offenbar der allgemein-metaphysischen Lehren von Substanz und Kraft.
Aber sollten dieselben Behauptungen bestritten werden: so bedarf
es dazu etwas mehr als der bisher bekannten kritischen oder idealistischen
oder naturphilosophischen Systeme. Denn keins von diesen allen ist darauf
gefafst, mit den Widersprüchen im Begriff des Ich zu kämpfen. Keins
hat dieselben genau erwogen; überall sehen wir mit gleichem Leichtsinn
das Ich entweder absolut hingestellt, oder von anderem abgeleitet, oder an
anderes angekriüpft; immer zum Verderben der Systeme, und immer um
so mehr, je mehr sie die Betrachtung des erkennenden Subjectes selbst,
zum Mittelpuncte ihrer Untersuchungen machen.
Anm erkung.
Wer die idealistischen und naturphilosophischen Lehren, von denen
hier die Rede ist, noch nicht kennt, der mufs Anstalt machen, sie wenig-
stens aus einigen Proben kennen zu lernen. Auf Fichte's Wissenschafts-
lehre, und die darauf gebaute Sittenlehre, als auf die eigentlichen Haupt-
werke dieser Art, sollte ich ihn hinweisen, wenn von gründlichem historischen
Studium die Rede wäre; allein, wer es wagt, diese Schriften ernstlich zu
studiren, der wird viel Zeit daran verlieren, und er darf nur auf geringen
Gewinn rechnen. Kürzer gelangt man in der Hauptsache zum Ziele durch
Schelling's Schrift über das Ich, vom Jahre 1795. Hier zeigt sich der
falsche Enthusiasmus, welcher seitdem der Philosophie so viel Schaden zu-
fügte, schon mit aller seiner Verkehrtheit, aber noch in jugendlicher Liebens-
würdigkeit; und was, in Hinsicht seiner, eigentlich allein wissenswürdig ist,
man lernt hier sein Entstehen begreifen. Hier sieht man zugleich das
Kleben an Auctoritäten, und das Streben, sich über [114] sie hinauszu-
schwingen; man sieht ein Klettern an der Kantischen Kategorien-Leiter,
ungeachtet der sehr wahren Bemerkung, die Kategorien seyen zwar nach
einer Tafel der Urtheilsformen, diese aber nach gar keinem Princip ge-
ordnet; welches freylich so viel heifst, als, sie sey unzuverlässig, und von
keinem sichern Gebrauche; — man findet eine Art von Versprechen, ein
Gegenstück zu Spinoza 's Ethik aufzustellen, woraus bekanntlich ein
Seitenstück geworden ist, weil der nüchterne Geist Spinoza's mit allen
seinen Fehlern, denn doch mächtiger war, als der phantastische, der ihm
entgegen treten wollte; man findet endlich eine bewundernswerthe Leichtig-
keit, sich in Fichte's Redensarten einzuüben, um das Ich, dessen Tiefe
Fichte zu ergründen suchte, nach der Dimension der Breite auseinander
zu ziehen. Schon hier erwacht die Begeisterung für jene unglückliche Ein-
heit, in welcher das Wesen des Menschen bestehen, und darum das
Sollen mit dem Seyn in ein Chaos zusammengeworfen werden soll; das
Vorspiel des bekannten Satzes :
Was vernünftig ist, das ist wirklich,
und was wirklich ist, das ist vernünftig;
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 255
eines Satzes, für den glücklicherweise die Menschheit nicht träge genug
ist; denn nach dem Vernünftigen, welches noch nicht ist aber werden
soll, strebt sie wirklich; nur oftmals mit verkehrtem Ungestüm, weil
ihr das Vernünftige so vorschwebt, als wäre es schon ganz nahe und
liefse sich mit ein paar raschen Schritten erreichen. Von diesem ver-
kehrten Ungestüm, der das verdirbt, was er gewinnen will, giebt gleich
der Anfang des vorhin genannten Buchs ein Beyspiel, das statt aller dienen
kann. Man vernehme die enthusiastische Rede:
„Wer etwas wissen will, will zugleich, dafs sein Wissen Realität
habe. Ein Wissen ohne Realität ist kein Wissen." Was folgt daraus?
„Entweder mufs unser Wissen schlechthin ohne Realität — ein
ewiger Kreislauf (?), ein beständig I5]ges wechselseitiges (?) Verfliefsen
aller einzelnen Sätze in einander, ein Chaos seyn, in dem kein Ele-
ment sich scheidet, oder —
„Es mufs einen letzten Punct der Realität geben," (warum nur
einen letzten? Ist die Realität nicht in allen Puncten real?) „an
dem alles hängt, von dem aller Bestand und alle Form unseres Wissens
ausgeht, der die Elemente scheidet, und jedem den Kreis" (wieder einen
Kreis! Wunderbare Vorliebe für die Figur der Kreislinie!) „seiner fort-
gehenden Wirkuno- im Universum des Wissens beschreibt."
„Es mufs etwas geben, in dem und durch welches alles was ist,
zum Daseyn, alles was gedacht wird, zur Realität (!), und das Denken
selbst zur Form der Einheit und Unwandelbarkeit gelangt. Dieses
Etwas müfste das Vollendende im ganzen System des menschlichen
Wissens" (des ewig unvollendeten!) „seyn, es müfste die ganze
Sphäre, die unser Wissen durchmifst, beschreiben, und überall, wo unser
letztes Denken und Erkennen noch hinreicht, — im ganzen y.o<\i«>;
unseres Wissens, als Urgrund aller Realität herrschen."
Wohin strebt dieser Wortprunk? Dahin, dafs im Ich das Princip
des Seyns und des Denkens zusammen falle, dafs es durch sein Denken
sich selbst hervorbringe. Eine Täuschung, die jetzt für Jedermann veraltet
ist! Dafs das absolute Ich durchaus Nichts wissen würde, eben weil es
Sich wissen soll, und nur Sich wissen darf, (um nicht ins Nicht-Ich zu
verfallen) dieses Sich aber eben nichts anderes seyn darf als nur ein Sich-
Wissen, — ein Wissen dessen Gegenstand bis ins Unendliche gesucht
und nie gefunden wird; — dafs ferner das absolute Ich, eben darum
weil es nichts weifs, auch nichts ist: diese höchst leichten Ueberlegungen
konnten recht füglich im Jahre 1795 angestellt werden; ich selbst habe
die ganze Entwickelung derselben in den letzten Jahren [ 1 1 6] des v< »rigen
Jahrhunderts gefunden; und bin dadurch wenigstens für meine Person
gegen unzählige nachmalige Thorheiten gesichert worden.
Warum haben diese Ueberlegungen sich dem Herrn Schellixg nicht
aufgedrungen; damals, als es für ihn Zeit war, sie anzustellen und anzu-
erkennen? Weil sein falscher Enthusiasmus ihnen Widerstand leistete.
Er forderte, die Wahrheit solle sich wenigstens in Einem Puncte unmittelbar
offenbaren. Thäte sie dieses, so müfste es allerdings im Ich ge-
schehen; dies ist der einzige Punct, worin man Seyn und Wissen un-
mittelbar vereinigt olauben kann; und alsdann wäre die älteste Lehre
2 -(j XI. Psychologie als "Wissenschaft.
Schelling's gerade die beste. Allein auf ein Fordern und Sollen läfst
sich die Wahrheit nicht ein; sie erscheint nicht wie ein Dämon auf irgend
eine Beschwörungsformel. Unmittelbar offenbart sie sich dem Philosophen
in gar keinem Puncte. Und was folgt daraus? Vermuthlich dieses, dafs
es für uns gar keine Wahrheit gebe! Wir wollen dies für einen x\ugen-
blick annehmen. Unser vermeintes Wissen mag also ein blofses Meinen
seyn, das entweder gerade fort fliefst, von hypothetischen oder irrigen
Vordersätzen zu deren Consequenzen, oder auch, falls Jemand gern von
krummen Linien reden will, — unser Wissen mag hyperbolisch, para-
bolisch, spiralförmig, oder endlich kreisförmig in sich zurück fliefsen,
nach Belieben! Wenn aber Jemand schon dahin gelangt, die Nullität des
vermeinten Wissens zu erkennen: so besitzt er gerade hierin den Anfang
des wahren Wissens; und er braucht jetzt nur noch Geduld und An-
strengung, um dahin zu gelangen. Denn eben die unumstöfsliche Gewifs-
heit, dafs es für uns ein scheinbares Wissen giebt, und als Gegenstand
desselben eine grofse und weite Erscheinungswelt in uns und aufser uns:
diese Gewifsheit ist das vollkommen veste Fundament, die eben so grofse
und eben so breite Basis des wahren Wissens. Es ist nämlich nur nöthig,
die Bedingungen zu finden, unter welchen allein die Erschei[i I7]nungs-
welt erscheinen kann; dergestalt, dafs sie nicht erscheinen würde, wenn
diese Bedingungen nicht wären. Hiebey ist von einem letzten Puncte,
von einem einzigen Princip, — von einem Talismann, dessen Besitz uns
zur Herrschaft über das gesammte Universum des Wissens verhelfen würde,
nicht aufs entfernteste die Rede. Weifs Jemand die Bedingungen anzu-
geben, unter denen allein es möglich ist, dafs Materie erscheine: so
findet er hiemit die allgemeine Grmidlehre der Naturphilosophie. Weifs
Jemand die Bedingungen anzugeben, unter denen allein es möglich ist, dafs
ein Magnet, sammt seiner Polarität, erscheine: so findet er hiemit einen
besondern Theil der Naturphilosophie. Weifs Jemand anzugeben, unter
welchen Bedingungen es allein möglich ist, dafs die Totalität eines Ge-
dankenkreises in der Form der Ichheit eingeschlossen erscheine: so
findet er hiemit die Anfänge der wahren Psychologie. Weifs er von
allen dem Nichts : so beharrt er in der Welt des Scheins, die für ihn nur
gröfser und trüglicher wird, wenn er neben der sinnlichen Anschauung
sich auch noch intellectuale Anschauungen einbildet.
Uebrigens wird man mir sagen: es sey beynahe die erste, früheste
Schrift Schelling's, gegen die ich hier gesprochen. Ich weifs das, und
weifs auch, wie der erste Fehlgriff die folgenden erzeugt hat; die Ver-
irrungen des Meisters und die Thorheiten seiner Schüler.
Seit diese Thorheiten in Umlauf kamen, ist die Philosophie mit einer
Geschwindigkeit rückwärts gegangen, die selbst mir, dem Zeitgenossen, bey-
nahe unbegreiflich vorkommt; künftige Literatoren, wenn sie die nüchternen
Werke Kant's so nahe beysammen finden mit der Deuteley, die heute
Philosophie heifst, werden den Jahrszahlen auf den Büchertiteln nicht
trauen. Auch sucht mehr und mehr die Gelehrsamkeit sich ohne Philo-
sophie zu behelfen; sie weifs, das Ansichten, deren Wandelbarkeit die
Geschichte bezeugt, ihr wenig nützen können. Die Schwärmerey kommt
im Gefolge des Em[i i8]pirismus; und ihre Fortschritte sind reifsend.
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 257
Der Respect, welchen ehedem die Wissenschaft dem Staate und der
Kirche einflöfste, wird nicht gröfser sondern kleiner. - — Wäre das Publi-
licum stärker gewesen, so hätten einige Schriftsteller nicht so viel schaden
können.
§ 3*-
Um über den Begriff eines Subjects mit mannigfaltigen und wider
einander wirkenden Vorstellungen etwas zu entscheiden: kann man sich
theils an seinen höhern Gattungsbegriff, den einer Einheit, welche ein
gegenseitig widerstrebendes Mannigfaltiges einschliefse, theils
an das specifische Merkmal wenden, dafs von Vorstellungen, und einem
Subjecte derselben die Rede sey. Die eine wie die andre Betrachtungs-
art erfordert allgemein-metaphysische Reflexionen.
Der Begriff der Vorstellung bezeichnet das Vorgestellte als etwas
Nicht-Reales, als ein blofses Bild; welches, um vorhanden zu seyn, einer
fremden Realität bedarf, nämlich des realen Subjects. Kann man nun die
Qualität desjenigen Wesens, welches das Subject der Vorstellung ausmacht,
unmittelbar darin setzen, dafs es ein Vorstellendes (die Existenz zu gewissen
Bildern) sey? Um diese Frage zu beantworten, müfste man überlegen,
ob der Begriff einer solchen Qualität eine absolute Position vertrage?
(Man sehe in meinen Hauptpuncten der Metaphysik die §§ 1 und 2.)
Im Fall einer verneinenden Antwort wird folgen, dafs dem Wesen das
Vorstellen zufällig sey; und es wird weiter nachzusehn seyn, in wiefern
einem Wesen überhaupt Accidenzen zugeschrieben werden können; welches
auf die Theorie der Störungen und Selbsterhaltungen zurückkommt. (Hauptp.
der Metaph. § 5.)
Eben dahin weiset die andere Reihe von Betrachtungen. Einheit eines
widerstrebenden Mannigfaltigen ist ein Begriff, der, mit innern Gegensätzen
behaftet, eine [119] absolute Position geradezu ausschlägt.* In solchen
Gegensätzen steht schon das Mannigfaltige als solches; dann die Mannig-
faltigkeit überhaupt wider die Einheit, endlich vollends das Widerstreben
in diesem Mannigfaltigen. Also auch hier ist an Qualität eines Seyenden
nicht zu denken; sondern nur an ein Zusammen mit andern und andern
Wesen, sammt den Folgen davon, den Störungen und Selbsterhaltungen.
Nun sind die Selbsterhaltungen innere Thätigkeiten eines Wesens; sie
sind aber nichts äufseres, oder nach aufsen hin gerichtetes. Sollen deren
mehrere unmittelbar zusammen oder wider einander wirken (wie hier die
Vorstellungen) : so müssen sie die verschiedenen Selbsterhaltungen eines
einzigen Wesens seyn. Daraus erhellet die Einfachheit der vorstellenden
Substanz, oder der Seele.
Hiermit wäre nun in der Kürze der Weg der allgemein-metaphy-
sischen Untersuchungen nachgewiesen, welchen man gehen mufs, um die
* Bequemere Dienste, als die äufserst gedrängten Hauptpuncte der Metaphysik,
[s. Band II, 175 — 226] wird für manche der hier berührten allgemein-metaphysischen
Gegenstände mein Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie leisten können. Man ver-
gleiche daselbst §§ 97. 101. und besonders § 113. [s. Band IV vorl. Ausgabe.]
Herbart's Werke V. 17
2c8 XI. Psychologie als Wissenschaft. -
Beweise der vorhin aufgestellten Behauptungen zu finden. Begreiflicher
Weise kann ich mich hier nicht auf ausführliche Erörterungen dessen ein-
lassen, was an seinem rechten Orte ohne alle unmittelbare Beziehung auf
Psychologie entwickelt wird. Wohl aber kann ich denjenigen Lesern,
welche neben der gegenwärtigen Schrift meine Hauptpuncte der Meta-
physik nicht blofs anzusehen, sondern ernstlich zu durchdenken geneigt
seyn möchten, durch die, in der Ueberschrift dieses Capitels angekündigte
Vergleichung zwischen den Untersuchungen über das Ich, und denen, die
zu den Begriffen von Substanz und Ursache führen, zu Hülfe kommen;
denn eine solche Vergleichung wird eben so sehr zur genauem Einsicht
in das Räsonnement des vorigen Capitels, als zum leichtern Verständ-[i2o]
nifs der angedeuteten metaphysischen Lehrsätze beytragen.
§ 33-
Die anzustellende Vergleichung geht theils auf die Materie der Pro-
bleme, theils auf die Form der Untersuchung.
Der Materie nach sind die beyden ersten Hauptprobleme der allge-
meinen Metaphysik (Hauptp. d. Metaph. §§ 3. 4.) dem hier abgehandelten
darin ähnlich, dafs sie Principien sind; in der gleich Anfangs bestimmten
zwiefachen Eigenschaft eines Princips, welches erstlich an sich gewifs,
zweytens eine abgeleitete Gewifsheit zu ergeben geschickt seyn mufs.
Erstlich, es ist gewifs, dafs wir uns Dinge mit verschiedenen, und
veränderlichen Merkmalen vorzustellen genöthigt sind; denn der-
gleichen sind uns in der äufsern Erfahrung eben so wohl, als das Selbst-
bewufstseyn innerlich, gegeben.
Zweytens, die Begriffe solcher Dinge sind Anfangspunkte eines fort-
laufenden Räsonnements gerade so, wie seinerseits das Ich; denn sie ent-
halten Widersprüche, welche aufgelös't werden müssen; und deren Auf-
lösung zu neuen Lehrsätzen führt.
Am auffallendsten ist der Widerspruch im Begriffe des veränderlichen
Dinges; der nämliche, über welchen die Eleaten, und nachmals Platon
vielfältig geklagt, den aber die Neuern, theils ganz sorglos, theils im Besitz
eingebildeter Aufschlüsse vernachlässigt haben. — Da der Begriff des
Seyn nur in Beziehung auf ein Was, auf eine Qualität, Sinn und Be-
deutung hat: so mufs vor allem die Qualität des Sey enden bestimmt
können angegeben, oder falls sie unbekannt wäre, doch wenigstens als
eine bestimmte vorausgesetzt werden. Ist nun im Gegentheil die Qualität,
welcher das Seyn zugeschrieben wird, veränderlich, so entsteht der Begriff
von anderem und anderem Seyenden; eben so vielfach, als die Angabe
dessen wechselt, was da sey. Wird aber endlich Sol[i2i]ches und
wieder Anderes Seyendes für Eins und dasselbe ausgegeben, — wie denn
dieses durch die Behauptung, dafs ein Veränderliches immerfort ein und
dasselbe Ding bleibe, wirklich geschieht, — so liegt der Widerspruch, dafs
Entgegengesetztes einerley seyn solle, klar am Tage.
Statt diesem Widerspruch abzuhelfen, hat man in unsern Zeiten den
Begriff der Substanz zur Kategorie gestempelt und uns versichert, ein
solcher Begriff läge nun einmal in unserm Verstände.
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 ^Q
Der Begriff nämlich von dem beharrlichen Substrat der wechselnden
Erscheinungen. Wobey zuvörderst anzumerken, dafs das Beharrliche ohne
Widerspruch beharren und die Erscheinungen ohne Widerspruch wechseln
möchten, wofern nur zwischen jenem und diesen gar keine Gemeinschaft
wäre, und die wechselnden, gleich fliegenden Schatten, die Qualität des
Beharrlichen ganz unangetastet liefsen. Wenn aber das Wasser (um ein
altes Platonisches Beyspiel zu brauchen) bald flüssig, bald vest, bald dampf-
förmig erscheint,* so meint niemand die Flüssigkeit, Vestigkeit, Dampf-
förmigkeit, ginge das beharrliche Substrat des Wassers nichts an: sondern,
die entgegengesetzten Möglichkeiten dieser entgegengesetzten Erscheinungen
legt man zusammen genommen dem Einen und sich selbst gleichen Be-
harrlichen, als in wohnende Eigenschaften, bey; und giebt ihm dadurch
denn freylich eine beharrliche, aber zugleich widersprechende Qualität.
Klagt nun Jemand, dafs für das Platonische trtQOi' und ravrov der Sinn
unter uns verloren scheine: so hilft man sich mit der Versicherung, es sey
ja nur von Phänomenen die Rede! Und alsdann macht man das
Hauptgeschäfft unseres Verstandes daraus, dergleichen ungereimte Phäno-
mene ernstlich, ja gar wissenschaftlich aufzustellen und abzuhandeln.
[122] Wäre wirklich unser Verstand von Natur mit jener wider-
sinnigen Kategorie behaftet: alsdann eben bestünde die wahre Philosophie
in einer Kritik des Verstandes; nämlich damit er lernen möchte, sich
seiner misgebornen Natur zu schämen, und, falls er nach andern Formen
nicht denken könnte, das Denken lieber gar aufzugeben.
Dagegen nun findet sich, dafs die Form der unvermeidlichen Auf-
fassung sinnlicher Erscheinungen uns einen widersprechenden Begriff auf-
bürden will, den glücklicherweise der menschliche Verstand nur braucht
gewahr zu werden, um ihn zu verabscheuen und auszustofsen : wie denn
die Alten die kräftigsten Mittel sich haben gefallen lassen, um nur jene
ungereimten Erscheinungen aus dem Gebiet des Wissens zu verbannen;
und sie entweder (wie die Eleaten) für Gegenstände schwankender
Meinungen erklären zu können. Weil sich nun hiebey die Alten offenbar
zu weit von der Erfahrung entfernt haben, so müssen wir andre Wege
einschlagen, um nämlich für die Erfahrung andre und bessere Begriffe zu
gewinnen, die in dem Kreise der erwähnten Kategorien nicht liegen
können. Und dieses ist denn das Hauptgeschäfft der allgemeinen Meta-
physik. —
Was hier von dem Begriffe des veränderlichen Dinges gesagt worden,
dasselbe gilt im Wesentlichen von dem Begriffe des Dinges mit mehrern
Merkmalen. Nämlich es brauchen nicht entgegengesetzte, noch successive
Merkmale zu seyn, um jenen Widerspruch in der Qualität des Seyenden
zu erzeugen; er entsteht schon aus der Summe derjenigen Eigenschaften,
die man im gemeinen Leben einem Dinge ganz unbedenklich neben ein-
ander einräumt. Das Quecksilber ist weifs und flüssig und schwer; —
wird wohl hierin ein Widerspruch liegen? Allerdings! sobald das Eine
* Plat. TlMÄEUS pag. 342. Man wolle den Ausruf beherzigen : oi'tvj <??, tstojv
ödtnuTi nur avxvtr txaswv (pavT<t£o[t6V(ov, noiov avrutv, ojf ov utiöv xaxo y.n.i «x
a/J.o, 7caytfjg, Öiig^i yi^outro:, üx aioyvvat yt ztg avror; uy. i?tv\
17*
25o -^-I- Psychologie als Wissenschaft.
Ding durch eine vielfältige Qualität bezeichnet wird. Man lege sich die
Frage vor: Was ist das Quecksilber? Diese Frage verträgt nicht die
Antwort: das Quecksilber ist weifs und flüssig und [123] schwer. Die
Verkehrtheit läfst sich fühlbar machen durch eine neue Frage: Ist denn
das Weifse flüssig und schwer? Oder ist das Flüssige, weifs und schwer?
Oder ist das Schwere, weifs und flüssig? — Will man nun die erste falsche
Antwort verbessern, so wird man das Quecksilber als den Stoff bezeichnen,
welcher die mehrern Eigenschaften hat, und in sich vereinigt. Könnte
man nur dieses Haben, dieses In-sich- vereinigen, deutlich machen!
Unglücklicherweise ist das Haben eines Mannigfaltigen selbst mannigfaltig,
und es will scheinen, als müfste dies vielfältige Haben, um die Qualität
des Einen Seyenden nur berühren zu können, erst wiederum gehabt
werden, durch ein neues, — ohne allen Zweifel wiederum vielfältiges
Haben! Bey dem In-sich-vereinigen sagt es nun gar der Klang des
Wortes, dafs man eben ein Wort eingeschoben, wo der Sinn mangelte.
Denn gerade von der Einigung des Mannigfaltigen war die Frage, indem
bev den bekannten sinnlichen Kennzeichen des Quecksilbers dennoch von
dem Was desselben als von einem unbekannten geredet wurde. Nun be-
ruhigen sich die Meisten dabey, dafs sie nicht wissen, wie das Eine zu
mehrern Eigenschaften komme? Und freylich wissen sie es nicht. Denn
setzen wir irgend ein A als die Qualität des Seyenden, so ist dies Eine
und sich selbst gleiche weit entfernt, eine Mehrheit zu ergeben. Haben
wir aber in A gleich Anfangs eine Mannigfaltigkeit einzuschliefsen uns
erlaubt: so dürfen wir nun schon gar nicht wagen, uns die Frage vorzu-
leben, was. eigentlich sey? Denn die Antwort enthält sogleich das Ge-
ständnifs, dafs wir Mehrem das Seyn beygelegt, und dennoch für diese
Mehrern eine Einheit, — wir wissen nicht Welche? angenommen haben.
Der Widerspruch ist nun hoffentlich klar genug. Man nimmt an,
das Seyende sey Eins; und auf die Frage: Was für eins? antwortet man
durch eine Mehrheit von Bestimmungen. Mehrerley nun ist nicht Einerley.
Und es ist völlig vergeblich, eine unbekannte Qualität anzu[i24]nehmen,
von der nur soviel bekannt sey, dafs sie die mehrem Bestimmungen zu-
lasse. Denn immer ist es schon Mehrerley in ihr selber, dafs sie gestattet,
von jenen mehrern Bestimmungen auf was immer für eine Weise behelligt
zu werden.
Das Gesagte beruhet übrigens auf der Voraussetzung: man habe die
Qualität eines Seyenden anzugeben. Daraus eben entspringt die Gefahr,
Vieles Seyendes einem einzigen unterzuschieben. Wird der Begriff des
Seyn bey Seite gesetzt, so ist für ganz andre Betrachtungen Raum, die
wir aber hier nicht verfolgen können.
Statt dessen möchte es beynahe erlaubt seyn, die Warnung gegen
das andächtige: die Dinge an sich kennen wir freylich nicht! noch-
mals zu wiederhohlen; und zu erinnern, dafs widersprechende Be-
griffe auf das, was zu seyn scheint, eben so wenig passen, als
auf das was ist. Hiezu aber kommt noch, dafs, wie oben gezeigt, die
für vest gehaltene Burg des Idealismus (das Selbstbewufstseyn) eben so-
W >hl auf einem Vulkan erbaut ist, als jede Naturlehre, welche die Begriffe
von Substanz und Kraft nicht im voraus berichtigt hat; daher denn die
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 26 1
gangbare Theorie von Phänomenen und Noumenen schwerlich noch einen
vesten Punct besitzen möchte, auf welchen sich verlassend, sie die Um-
arbeitung der vorliegenden widersprechenden Erfahrungs-Begrifle für unnütz
erklären dürfte.
Anmerkung.
Eine historische Erinnerung kann behülflich seyn, dafs man den
Gegenstand des vorstehenden Paragraphen leichter ins Auge fasse. Be-
kanntlich ist es gerade der Begriff der Substanz, um welchen die Spitz-
findigkeiten der aristotelisch-scholastischen Philosophie sich vorzugsweise
drehen. Nun sind zwar diese Spitzfindigkeiten an sich keine Erkenntnifs
der Wahrheit; aber sie geben in so fem ein lehrreiches Schauspiel, als
sie aufmerksam machen auf einen Punct, der die Denker nothwendig in
[125] Verlegenheit setzen mufste. Ich will aus Baumgarten's Meta-
physik ein paar Paragraphen hierher setzen.
§ 40. Complexus essentialium in possibili est essentia, (esse rei, ratio
formal is, natura, quidditas , forma, formale totius, ovoiu, riroric, sub-
stantia, conceptus entis primus.) Hier zeigen schon die vielen Synonymen,
wie viel Mühe man sich gegeben hat, den complexus, die Einigung des
Vielen, aufzufassen.
§ 196. Id in substantia, cui itihaerere possunt accidentia, sive sub-
stantia, quatenus est subiectum ; id, cui accidentia inhaerere possunt, sub-
stantielle vocatur ; nee accidentia existunt extra substaniiale.
Welche monströse Erfindung! So möchte man hier ausrufen. —
Wie? Braucht denn die Substanz noch ein substaniiale, damit Accidenzen
in ihr wohnen können? Heifst sie nicht gerade in dieser Beziehung Sub-
stanz, in wiefern sie Accidenzen trägt? Mufs und kann und darf denn
zwischen sie selbst, und ihre Accidenzen — die ja eben die ihrigen
sind, — noch ein Mittelglied, das substaniiale, eingeschoben werden? Was
ist denn damit gewonnen? Wollen wir nicht noch einen neuen Kitt
erfinden, vermöge dessen das substaniiale mit der Substanz zusammen
hänge? Und abermals einen andern Kitt, um die Accidenzen in das
substaniiale hinein zu leimen? Wird denn dieser Kitt nicht nochmals an
die Glieder, die er verknüpfen soll, angeheftet werden müssen? Wird man
nicht auf diese Weise die Mittelglieder ins Unendliche vervielfältigen müssen?
Oder was ist das für ein quatenus, in dem Ausdrucke: substaufia,
quatenus est subiectum ? Soll die Substanz sich selbst entgegengesetzt
werden? Will man sie auffassen, einmal in so fern, in wie ferne sie nicht
Subject für ihre Prädicate ist? Darf sie denn jemals anders gedacht
werden, als eben in so fern, in wie ferne sie ihre essentialia^ ihre atlributa,
in sich vereinigt ?
Hier habe ich die Sprache einer Verwunderung an[i 2 6]genommen,
wie sie demjenigen natürlich ist, der — noch nicht tief ins metaphysische
Denken eingedrungen ist.
Denn allerdings mufsten die Scholastiker die Substanz sich selbst ent-
gegensetzen. Allerdings soll sie selbst gedacht werden als Eins; ihr
substaniiale aber soll empfänglich seyn für das vielfache Haben der vielen
Accidenzen und Attribute. Allerdings sind hier nothwendig zwey Gedanken,
2 62 XT. Psychologie als "Wissenschaft.
die aber freylich Einer seyn sollten, — und nicht können. Die Substanz
ist jener homerische Herkules, der selbst bei den seligen Göttern wohnt,
während sein Schatten in der Unterwelt wandelt.
Mit einem Worte : das substantielle ist der Widerspruch im Begriff der
Substanz, wodurch sie ein metaphysisches Problem wird.
Was wird nun derjenige thun, dem dies Problem, das allgemeinste
der ganzen Metaphysik, eine Anregung zum Denken gegeben hat? Eine
dreyfache Wahl liegt vor ihm. Entweder sich in scholastische Grübeley
zu versenken, oder mit dem Verslein: grau. Freund, ist alle Theorie,
sich tröstend, aus der Schule ins freye Leben sorglos hinüberzutreten
(wobey er nicht vergessen darf, dafs sich alsdann die Pforte der Schule
hinter ihm schliefst), oder endlich, die Kraft seines Denkens anzustrengen,
damit er den Grund des Widerspruchs genau erkenne, ihn hinweghebe,
und nachsehe, welche Veränderung hiedurch in dem vorliegenden Begriffe
entstehe. Hierüber giebt das Folgende weitere Auskunft.
§ 34-
Wenn die drey Begriffe, des Ich, der Veränderung, und des Dinges
mit mehrem Merkmalen, undenkbar erfunden werden, so ist gewifs schwer
zu sagen, was denn noch denkbares in dem ganzen Kreise unserer realen
Erkenntnisse übrig bleibe? Wenn aber einem von diesen Begriffen durch
irgend eine Art von Reflexion eine Hülfe hat geleistet werden können,
so ist wohl zu vermuthen, [127] dafs eine ähnliche Hülfe für alle bereit
seyn werde. Haben wir demnach zur Auflösung der Widersprüche im
Ich wenigstens einige Schritte thun können, so wäre es schon der Mühe
werth, der Analogie nachzugehn, um zu versuchen, ob nicht das Nach-
denken über die andern Probleme dieselbe Richtung nehmen dürfte?
Aber diese Analogie würde sich zu einer Methode erheben, sobald
man fände, dafs im Allgemeinen auf der Natur eines widersprechenden
Begriffes ein gewisser Gang des Denkens beruhe, welchen zu nehmen man
gezwungen sey, falls man den Widerspruch los werden wolle.
Bey diesem zweyten formalen Theile unserer Vergleichung der ver-
schiedenen Probleme, kommt uns nun sogleich die Logik mit einer allge-
meinen, und höchst einfachen Bemerkung zu Hülfe; nämlich dafs von
zweyen contradictorischen Gegentheilen gewifs eins wahr sey, wenn das
andre falsch ist. Demnach, wenn es falsch ist, dafs Entgegengesetztes
einerley sey, so ist wahr, dafs Entgegengesetztes nicht einerley ist. Wenn
es falsch ist, dafs im Ich, Object und Subject dasselbe seyen, so mufs
es wahr seyn, dafs Object und Subject dasselbe sind. Wenn es undenkbar
ist, dafs ein Ding mit veränderter Qualität eins und dasselbe sey, so mufs
man zugeben, dafs es nicht dasselbe ist. Wenn es keinen Sinn hat, dafs
der Stoff eines Dinges, und die Realitäten, welche man wegen der mehrern
Merkmale dieses Dinges annimmt, ein und dasselbe seyen, so mufs an-
erkannt werden, dafs die genannten Realitäten von jenem Stoffe zu unter-
scheiden sind. Mit einem Worte, die Identität, welche den Widerspruch
verursacht, muls geleugnet werden.
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 263
So klar nun dieses ist, so haben wir dennoch in den neuesten Zeiten
manchmal von Widersprüchen gelesen, die man vereinigen wollte. Die
entgegengesetzten sollten Eins und dasselbe werden. Das heifst mit
andern Worten: der Widerspruch solle, wenn er etwa noch nicht vor-
handen wäre, jetzt eben gestiftet wer[i2 8]den! Denn die Entgegen-
gesetzten, die ei einschliefst, fechten einander gar nicht an, wenn sie nicht
für Eins ausgegeben werden. Weifs und schwarz bestehen vollkommen
neben einander, nur dafs man das Weifse nicht selbst für schwarz erklären
wolle. Jene Vereinigung aber sieht einer Versöhnung ähnlich, wobei man
den Charakter der Feinde nicht gehörig erforscht hat. Der Streit dauert
im Verborgenen fort, und verdirbt die Systeme wie die scheinbaren Freund-
schaften. — Im Grunde beweis't ein solches Verfahren, dafs man an das
Widersprechende in den aufgestellten Problemen nicht ernstlich glaubt.
Und dies ist soviel, als dafs man das Bedürfhifs metaphysicher Unter-
suchungen nicht in seiner ganzen Stärke empfindet. Es ist eine Schwach-
heit der neuem Zeiten, speculative Schwierigkeiten durch alle ersinnlichen
Künste, bald schöner Worte, und aufgeregter Phantasien und Gefühle, bald
harter Machtsprüche, und vorgegebener Anschauungen und Offenbarungen, —
zu bedecken, zu verhüllen, aus den Augen zu rücken, aus dem Sinn zu
schlagen. Was Wunder, dafs die Speculation nicht von der Stelle kommt,
da ihr erstes Gesetz Aufrichtigkeit ist, nämlich Aufrichtigkeit gegen
sich selbst!
Waren die oben entwickelten Begriffe nicht widersprechend? Dann
brauchte man sie nicht als solche aufzustellen. Eine blofse Künstelev, ein
gesuchter Schein des Mühsamen der Nachforschung, ist der Philosophie
ganz und gar unwürdig. Sind sie aber in der That, so wie sie gegeben
und gefunden werden, mit sich selbst im Streit: so mufs man damit an-
fangen, das Streitende zu sondern; ja man mufs diese nämliche
Operation so vielemal wiederhohlen, als noch eine neue Spur
widerstreitender Bestimmungen sich entdeckt.
Dieses nun gerade ist der allgemeine Charakter derjenigen Methode,
welche ich Methode der Beziehungen genannt, und in den Hauptpuncten
der Metaphysik gleich [129] im Anfange vorgetragen habe. An dem
Faden derselben läuft auch das Räsonnement im §28 dieses Buches fort,
obgleich daselbst von keiner Methode ist gesprochen worden.
Diese Methode hat verschiedene Misverständnisse erlitten; man würde
aber dieselbe sehr bald, entweder verstehen und annehmen, oder aber
verstehen und verbessern, wenn man nur erst von der widersprechenden
Natur der metaphysischen Principien überzeugt wäre. So hinge es daran
fehlt, wird die Methode für ein Hirngespinnst gehalten werden. In-
zwischen wird mir erlaubt sein zu sagen, dafs dieselbe gröfstentheils durch
Abstraction aus den Reflexionen über die erwähnten Probleme ist gewonnen
worden; dafs sie demnach von dem Gefühl der Notwendigkeit, von
welcher das Nachdenken über jene Probleme getrieben wird, eingegeben,
und nichts weniger als willkührlich ersonnen ist. Ihren Platz aber bekam
sie in den Hauptpuncten der Metaphysik deshalb ganz vorne, weil sie als
allgemeine Methode jeder ihr unterzuordnenden Untersuchung vorangestellt
werden mufste. Dabey ist nun unvermeidlich, dafs sie dem nicht gehörig
264 -^- Psychologie als Wissenschaft.
vorbereiteten Leser früher entgegentritt, als er das Bedürfhifs darnach
empfunden, und hiemit die Möglichkeit der Einsicht in dieselbe sich
verschafft hat.
Die Methode beruht auf folgenden Momenten: Ein widersprechender
Begriff A enthalte die entgegengesetzten Glieder M und X, welche er für
identisch ausgiebt ; so mufs zuvörderst, wie schon auseinandergesetzt, deren
Identität geleugnet werden. Soweit sind wir beym Ich, indem wir ihm
ein fremdes Object leihen, welches gerade so viel heifst, als, das Object
ist ein anderes als das Subject. Nun ferner entsteht allemal die
Schwierigkeit, dafs die Glieder M und N, welche in dem widersprechenden,
aber gegebenen Begriffe als Eins und dasselbe aufgefafst waren (wie
Object und Subject in dem gegebenen Begriffe des Ich) ihre Gültig-
keit verlieren, sobald sie gesondert werden: denn als gesondert sind
sie [130] nicht gegeben. Ein Object, welches dem Subjecte nicht
gleich ist, kommt im Begriff des Ich nicht vor, und ist eben deshalb ein
Begriff ohne Bedeutung, wenn wir ihn nicht wieder an das Gegebene an-
zuknüpfen wissen. Folglich müssen wir jedes der gesonderten abermals
identisch setzen dem andern; z. B. M, welches von N gesondert war, mufs
dem N wiederum gleich gesetzt werden. Dies verwickelt uns in einen
secundären "Widerspruch ; INI nicht = N, und M dennoch = X. Im § 28
entsprechen dieser Formel die beyden Reflexionen: zum Ich gehört ein
Object, das ihm fremd, — und dennoch nicht fremd, sondern dem Sub-
jecte gleich sey. — Da nun hier M mit sich selbst im Widerspruche
erscheint, so mufs wiederum, wie vorhin, nach der angeführten allgemeinen
logischen Regel, die Identität verneint werden. Dem gemäfs ist es nicht
dasselbe M, dessen Identität mit N gefordert und doch auch geleugnet
wurde; sondern man mufs dafür mehrere INI annehmen. So sind im
Ich mehrere Objecte angenommen worden. Will man nun die Methode
nach aller Strenge beschreiben, so ist hiebey zu bemerken, dafs zwar An-
fangs die mehrern M so auftreten, als ob eins die Identität mit N besäfse,
das andre nicht; dafs aber jenes im alten "Widerspruch befangen, dieses
vom Gegebenen abweichend und folglich ein ungültiger Begriff seyn würde;
dafs demnach beyden beydes, Identität und Nicht-Identität mit N, zu-
komme; wodurch jedes in den vorigen Widerspruch verwickelt, und aber-
mals in eine Mehrheit zerschlagen werden mufs. Kurz, der secundäre
Widerspruch steigt gleichsam auf Potenzen ins Unendliche fort (nur nicht
gerade auf Potenzen der Zahl zwey, denn die Leugnung der Identität
ergiebt nicht bestimmt zwei AI, sondern überhaupt mehrere). Dieses nun
ist in der Betrachtung des Ich übergangen worden, weil man bey einem
bestimmt vorliegenden Probleme sich gleich auf der Stelle sehr leicht be-
sinnt, worauf es ferner ankomme. Nämlich, sobald mehrere M ange-
nommen sind, bietet sich die Betrachtung dar, dafs je[i3i]des derselben
einzeln genommen die alte Schwierigkeit der Identität mit N, welche
nicht denkbar und doch durchs Gegebene gefordert ist, erneuern werde;
daher man voraussetzen mufs, dafs sie zusammengenommen eine ge-
wisse Modifikation erlangen werden, aus welcher dasjenige hervorgehe, was
dem andern Gliede des Hauptbegriffs gleich zu setzen sey. Eine solche
Modification müssen die mehrern Objecte, welche einem und demselben
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 26^
Vorstellenden vorschweben, sich gegenseitig schaffen. — Die fernere Unter-
suchung des §29, welcher gemäfs die Vorstellungen jener Objecte als
Kräfte wider einander wirken müssen, geht schon über das Allgemeine
hinaus, was bey allen gegebenen Widersprüchen einerley Gang des Denkens,
oder einerley Methode erfordert. Das Resultat der Methode ist allemal
die Vervielfältigung eines von den beyden Gliedern des gegebenen Wider-
spruchs; welches das zu vervielfältigende Glied sey, mufs man aus der Eigen -
thümlichkeit des Problems beurtheilen. Z. B. beym Ich wird es Niemandem ein-
fallen, eine Mehrheit der Subjecte anzunehmen, um diese dem Objecte gleich
zu setzen; weil dies geradezu die Einheit des Bewufstseyns aufheben würde.
Zu dem nämlichen Resultate führt ein anderer, kürzerer Weg, der
aber gleich Anfangs durch eine Hypothese betreten wird. Da M für sich
nicht gleich N seyn kann: so werde M durch irgend ein X modificirt,
und in so fern gleich N. Nun enthält der Hauptbegriff nur M und N.
Um sich also vom Gegebenen so wenig als möglich zu entfernen, und
keine fremdartigen Merkmale eines beliebig angenommenen X zuzulassen:
setze man X gleich M; so hat man mehrere M, wie zuvor. Das Object
im Ich werde durch irgend ein X modificirt, um dem Subjecte gleich seyn
zu können. Aber was für ein X wird man in den Begriff des Ich ein-
lassen dürfen, der nichts anderes kennt, als nur Object und Subject? Die
geringste mögliche Abweichung von dem gegebenen Begriff besteht darin,
ein Object durch ein anderes modificiren zu lassen. So [132] wird X
selbst ein Object, ein Vorgestelltes; oder, wenn es nöthig seyn sollte, eine
unbestimmte Menge von Vorgestellten und folglich von Vorstellungen wird
sich gegenseitig dahin bringen, dafs, wer sie unter ihrer nun gewonnenen
Modification sich denkt, dieser in ihnen das Vorstellende selbst erblickt.
Worin sich diese zweyte Form des Räsonnements von der ersten
unterscheide, ist leicht zu sehen. Was bey der ersten den Beschlufs machte,
wird hier zuerst angenommen. Dort fand sich am Ende, dafs auf dem
Zusammen, auf der gegenseitigen Modification der M, die Auflösung be-
ruhen müsse; hier wird die Modification gleich Anfangs gefordert. Dabey
aber wird der Fehler begangen, den allgemeinen Begriff irgend eines modifi-
cirenden X so einzuführen, als ob es erlaubt wäre, das Problem wie ein
Räthsel zu behandeln, und frey umherzusinnen, was wohl für ein X taugen
möchte um M zu modificiren? Dieser Fehler wird hintennach verbessert,
indem X gleich M gesetzt wird. So erscheint die Auflösung als beruhend
auf der kleinsten möglichen Veränderung des gegebenen Begriffs. Der-
selbe war Anfangs: Identität von M und N. Er ist am Ende: Identität
von N mit M modificirt durch M; nämlich mit einem M, modificirt durch
ein anderes, das der Art nach auch ein M ist. Dabev kommen keine
neuen Merkmale in den Begriff, aufser nur das der Vielheit der M,
und diejenigen, welche in der Modification der M entspringen, oder
wegen derselben angenommen werden müssen. So bleibt der Haupt-
begriff in seinen nothwendigen Beziehungen eingeschlossen, die sich aus
ihm selbst ergeben. Wäre X aber nicht = M, sondern ein Begriff
mit fremden Bestimmungen: so käme das Fremde am Ende in der
Auflösung als Abweichung vom Gegebenen zum Vorschein. Die Auf-
lösung ergäbe nämlich: Identität von N mit M, so fern das letztere modi-
2 56 ^LL Psychologie als Wissenschaft.
ficirt würde, durch etwas solches, wovon im Gegebenen nichts zu finden
wäre. Dergleichen möchte höchstens als Hypothese zu dulden seyn, [133]
falls zuvor die Auflösung nach unserer Methode vergebens versucht wäre.
Es möchte aber Jemand fragen, warum nicht X = N gesetzt werden
könne, da doch diese Bestimmung nichts aufser dem gegebenen Begriffe
liegendes herbeyführen würde.* Versucht man dieses, so lautet die Auf-
lösung: N ist identisch mit M modificirt durch N. Da kommen zwev ver-
schiedene N vor; eins, welches in der Modification des M erst entspringen,
welches das modificirte M seyn soll; ein anderes, welches dieser Modifi-
cation vorausgesetzt wird, da es sie selbst vollbringen soll. Hier wird
offenbar N in verschiedenem Sinn genommen; und das modificirende N
wäre in der That für den gegebenen Begriff, der nur von dem mit M
identischen N Kunde gab, ein Fremdes.
Im Bevspiel: Das Subject werde gleich gesetzt dem Object modificirt
durchs Subject. Diese Auflösung des Problems vom Ich möchte wohl
Jemand unterstützen, indem er sie so auslegte: Wir erkennen uns selbst,
indem das Denkende in uns die ihm vorschwebenden Objecte modificirt;
sie, die bisher als Dinge erschienen, jetzt (durch einen Sprung) als blofse
Bilder auffafst, und einsieht, dafs die Realität dieser Bilder nur die des
Denkenden seyn könne. Da wäre also dem Denkenden gerade jene
Spontaneität der Reflexion zugeschrieben, welche wir oben verwarfen; jener
absolute Aufsprung, wodurch das Vorstellende in seiner Thätigkeit sich
selbst ergreifen sollte. Aber der Begriff des Ich macht uns mit einem
solchen selbstthätigen Subjecte, welches in seine eignen Vorstel[i34]lungen
eingriffe, und sie dadurch in Spiegel seiner selbst aus eigner Macht ver-
wandelte, — keinesweges bekannt. Der Begriff des Ich setzt nicht das
Subject als ein Thätiges dem Selbstbewufstseyn voran: sondern er setzt
es in das Selbstbewufstseyn hinein, und bindet es an die Identität mit
dem Objecte. Wenn wir aber gleichwohl in der Auflösung ein Subject
überhaupt vorauszusetzen scheinen: so geschieht dieses in dem Sinne, als
wir bev jedem Object ein Subject voraussetzen, für jedes Vorgestellte ein
Vorstellendes annehmen müssen. Diesen Begriff würden wir überschreiten,
wenn wir dem nämlichen Subject, welchem irgend ein Bild vorschwebt,
nun noch aufser dem Vorstellen dieses Bildes sprungweise das Modificiren
desselben Bildes zuschreiben wollten, wodurch es bev Gelegenheit desselben
seiner selbst gewahr werden sollte. Ein solches Gewahr-werden . ereignet
sich zwar wirklich, es geschieht aber nicht sprungweise, sondern im natür-
lichen Laufe objectiver Vorstellungen. Besäfse hingegen das Subject
erstlich eine Thätigkeit allerley Fremdes vorzustellen, und zweytens eine
andre Thätigkeit, sich selbst absolut über dem Vorstellen zu ertappen:
so geriethe es in den allgemeinen Widerspruch des Dinges mit mehrern Merk-
malen hinein, welchen wir in der letztem Hälfte des § 33 entwickelt haben.
* In meiner Abhandlung: theoriae de attractione elementorum principia meta-
physica. hat sich in die Xote^ zum § 9, wo die zweyte Formel der Methode kurz an-
gegeben ist, ein Fehler eingeschlichen, den ich hier berichtigen mufs. [s. Band III,
S. 162 vorl. Ausgabe.] Es heifst nämlich dort: accedente autem rv> N ad M, pristina
redit contradictio. Allein dies pafst nicht, denn die Meinung würde seyn, dafs M durch
X modificirt werden, nicht dafs es ihm gleich seyn solle; und das blofse Modificiren
würde keinen Widerspruch in sich schliefsen.
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 267
Fragt man nun endlich noch, was für eine Gewifsheit unserer Methode
denn eigen sey, dafs vermöge ihrer Bearbeitung die Widersprüche weichen
müfsten? so ist die Antwort: eine solche Gewifsheit ist der Methode ganz
und gar nicht eigen, und eben so wenig ihr jemals zugeschrieben worden.
Die Gewifsheit der Auflösbarkeit müssen die Probleme selbst mit sich
führen; und das ist allemal der Fall, wenn ein gegebener Begriff, durch
welchen ein Reales gedacht werden soll, einen Widerspruch verräth.
Dafs im Begriff des Ich keine Widersprüche stecken bleiben dürfen, fordert
das Selbstbewufstseyn ; und es verbürgt den Erfolg der Untersu[i35]chung
noch vor dem Beginn. Die Methode aber bezeichnet nun dem Denker
die ersten Schritte, welche er, durch das Problem selbst getrieben, wird
nehmen müssen; und dadurch erleichtert sie es, gleich Anfangs die rechte
Bahn zu finden. Gesetzt jedoch, es käme ein Fall vor, wo die Methode
sich aus irgend einem Grunde unbrauchbar zeigte bey einem Widerspruch,
dessen Auflösbarkeit nicht bezweifelt werden könnte : was würde daraus
folgen? Etwa dafs die Methode falsch sey? Keinesweges! Sondern
dieses, dafs die ersten Schritte im Denken, welche man auf allen
Fall versuchen mafste, nicht hinreichten; dafs man vielmehr seinen
Weg werde weiter fortsetzen müssen. Es könnte seyn (um die vorige
zweyte Formel wieder zu gebrauchen), dafs M in der That durch ein X,
welches nicht gleich M wäre, modificirt werden müfste, um der Identität
mit N zu entsprechen. Allein in diesem Falle wäre der gegebene Begriff
kein Princip (und überdies in hohem Grade mangelhaft gegeben oder
aufgefafst); weil er die fremden Bestimmungen des einzuführenden X
nicht angeben, daher auch den Gang des Nachdenkens nicht leiten könnte.
Der beste Rath bestünde hier darin, eine solche Untersuchung, welche
keinen bestimmten Weg finden könnte, so lange bey Seite zu setzen, bis
aus andern erlangten Kenntnissen sich Hülfsbestimmungen darböten. Gewifs
ist es der Fall, dafs man oftmals Probleme zu früh ergreift, und sich
Gegenstände des Nachdenkens wählt, welche die nothwendigen Eigen-
schaften der Principien nicht besitzen.
§ 35-
Um die Vergleichung der verschiedenen Probleme, und ihrer Be-
handlung, zwar nicht Schritt für Schritt zu verfolgen (welches nun dem
Leser kann überlassen werden), — aber doch zu einer Uebersicht zu
bringen, erinnern wir an den berühmten Satz des zureichenden
Grundes; welcher oft als Axiom aufgestellt, zuweilen auch mit Beweisen
versehen worden ist, die aber fehlerhaft waren. Leibniz trieb den Ge-
brauch dieses Satzes [136] so weit, dafs er fragte: warum vielmehr Etwas
sey als Nichts?* Wir wollen uns beschränken, vom zureichenden Grunde
der Veränderungen zu reden; und alsdann wird sich die Nothwendig-
keit, einen solchen Grund anzunehmen, und damit der gesuchte Beweis
jenes Satzes, in dem Widerspruche finden, der nach ^ ^ in dem Begriffe
eines veränderlichen Dinges enthalten ist.
* Leibnit. op. ed. Dutens. Tom. II. pag. 35. §
2 68 XL Psychologie als Wissenschaft.
Wenn eine Sache, die man als eine solche und keine andre zu kennen
glaubte, sich vor unsern Augen verändert: so bleibt schon der gemeine
Verstand nicht bey dem Ungedanken stehn, dieses Neue und jenes Alte
sey Eins und dasselbe; sondern er nimmt an, ein Zusammen der Sache
mit irgend einer andern Sache sey entweder eingetreten oder aufgehoben.
Das flüssige Wasser in Eis verwandelt, habe Wärme verloren; dasselbe als
Dampf verflüchtigt, habe Wärme in sich genommen. So wird die Schuld
des anscheinenden Widerspruchs auf etwas Fremdes geschoben. Dieses
Fremde wird gedacht als eingreifend, als sich verbindend mit dem,
was die Veränderung leidet; es wird also gedacht, wegen einer Noth-
wendigkeit, die im Denken entsteht; es wird nicht angeschaut, denn die
Erfahrung begnügt sich vielmehr, uns in der sinnlichen Erscheinung das
widersprechende veränderliche Ding vor die Augen zu stellen. Uns selbst
bleibt es überlassen, getrieben vom Bedürfnifs des Denkens unter den be-
gleitenden Umständen der Erscheinung dasjenige aufzusuchen, auf welches
wir die Schuld des Widerspruchs abladen, welches wir als das Hinzu-
kommende oder Entweichende ansehen können.
Eine völlig fertige Kategorie der Ursache aber ist hier eben so
wenig zu finden, als vorhin eine Kategorie der Substanz. Vielmehr wird
das Zusammen der mehrern, in so fern daraus eine neue Erscheinung an
einem sonst wohlbekannten Gegenstande soll verstanden werden, uns
sogleich zum Räthsel, sobad wir uns fra[i37]gen, wie denn die Wirkung
in dem Einen habe erfolgen können, vermöge des andern? Wobey nur
so viel klar ist, dafs dazu mehr gehöre, als blofses Nebeneinander seyn,
dafs das Zusammenkommen der Ursache und des leidenden Gegenstandes
die blofs räumliche oder zeitliche Nähe überschreiten, und etwas dabey
vorgehn müsse, welches vorläufig mit den Worten Eingreifen, Ver-
wandtseyn und sich gegenseitig binden, bezeichnet werden könne.
Hier nun mufs der gemeine Verstand, wie er unter andern in der,
so eben gebrauchten metaphorischen Sprache der Chemiker sich äufsert,
in Schutz genommen werden gegen die unrichtigen Ansichten der KAXT'schen
Schule, welche aus der Verlegenheit entstanden, dem Causalbegriffe, der
allerdings nicht im Gegebenen unmittelbar gefundn, sondern in dasselbe
hineingetragen wird, seinen Ursprung nachzuweisen. Kant lehnte in dieser
Verlegenheit die Causalität an die Zeit, mit der sie gerade gar nichts
gemein hat! Es ist längst bemerkt, dafs zwischen Ursache und Wirkung
sich kein Vorher und Nachher einschieben darf, als ob die Wirkung noch
dürfte auf sich warten lassen, nachdem sie schon vollständig begründet ist.
Die Priorität der Ursache liegt blofs im Begriffe; man mufs das Zu-
sammen der Mehrern voraussetzen, damit die neue Erscheinung nicht
die Identität dessen verletze, an dem sie erscheint. — Ueber der Be-
trachtung der Zeit- Verhältnisse geht bey Kant das wesentliche Merkmal
des Eingreifens ganz verloren; und je schlechter nun eben in diesem
Puncte der allgemein vorhandene Begriff der Ursache aufgefafst ist, um
desto weniger hätte ein so misverstandener, seiner Bedeutung und seinem
Ursprünge entfremdeter Gedanke, unter dem Namen einer Kategorie für
eine Form des Denkens ausgegeben werden sollen.
Statt einer vesten Form des Denkens zeigen sich in der Annahme
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 260,
einer Ursache zu der Veränderung vielmehr die ersten nothwendigen
Schritte der Untersuchung; [138] eben dieselben, welche sich nach der
Methode der Beziehungen ergeben müssen, und sich folglich aus ihr
erläutern lassen. Das in der Veränderung entstandene Neue wird als
eine Modification des Schon- Vorhandenen mit Hülfe eines Dazutretenden
angesehn. Zwey Stoffe (die mehrern M) zusammengenommen sollen das
Neue (N) ergeben. Hier ist die Untersuchung über die Möglichkeit der
Veränderung gerade so weit gediehen, als die Untersuchung über die
Möglichkeit des Ich an der Stelle, wo mehrere Objecte für dasselbe Vor-
stellende angenommen werden. Aber so wenig man nun hieraus das Ich
begreift, so gewifs vielmehr noch eine weitläuftige Untersuchung bevorsteht,
zu der man nur den ersten Anlauf genommen hat: eben so sicher ist der
Begriff der Ursache auch nur der Anfang und die Eröffnung einer weit-
aussehenden Nachforschung, welche die Metaphysik vollenden mufs,
während der gemeine Verstand schon bey den ersten Schritten ermattet.
Eine wichtige Bemerkung über die ersten Schritte mufs noch hinzu-
gefügt werden, wodurch sich unsre Vergleichung der verschiedenen Pro-
bleme am Ziele finden wird. Wir haben oben im § 33 gesehn, dafs
nicht blofs die successiven Merkmale des Veränderlichen, sondern auch
die gleichzeitigen, — überhaupt die mehrern Bestimmungen Eines und
desselben Dinges, einen Widerspruch erzeugen. Dieser seltener bemerkte
Widerspruch zieht gleichwohl eine ganz ähnliche Untersuchung nach sich,
als jener; und es findet sich, dafs kein einziges, in der gemeinen Erkennt-
nifs vorkommendes Merkmal der Dinge, als wahre Eigenschaft des Wesens
angesehen werden könne, sondern dafs jedes Element der Erscheinung
als Andeutung einer Modification eines Wesens durch ein
anderes betrachtet werden müsse. Dieses giebt der Untersuchung,
auf welche der Causalbegriff führt, eine aufserordentliche Erweiterung; und
es wird Ein und dasselbe Geschafft, den Zusammenhang zwischen Ursachen
und Wirkungen, [139] und den zwischen Accidenzen und Substanzen zu
erklären. —
Der äufserste Punct, bis zu welchem die Vergleichung, die uns be-
schäfftigt, kann getrieben werden, und von wo schon die fernere Divergenz
anhebt, zeigt sich bey der Auflösung des Problems vom Ich, an jener
Stelle, wo die verschiedenen Objecte, auf deren Zusammen das Selbst-
bewufstseyn beruhen soll, als Entgegengesetzte, und deren Vorstellungen
als einander aufhebend nachgewiesen werden. Dem entspricht bey der
Untersuchung über Substanz und Causalität der Gegensatz unter den
Qualitäten der Wesen, auf deren Zusammen theils die successiven,
theils die simultanen Merkmale der sinnlichen Dinge zurückgeführt werden.*
Nämlich gerade so, wie eine blofse Summe von Objecten die Unter-
suchung über das Ich nicht fördern würde, eben so vermag eine blofse
Summe von Wesen nichts zur Erklärung der Veränderungen, noch über-
.haupt der Eigenschaften sinnlicher Dinge. Die Wesen, wie die Vor-
stellungen der Objecte, müssen einander auf irgend eine näher zu be-
stimmende Weise afficiren.
Hauptpuncte der Metaphysik § 5. [s. Band II, 194 — 196 vorl. Ausgabe. J
2~jO "SIL. Psychologie als Wissenschaft.
Aber in der nähern Bestimmung tritt nun auch sogleich der Unter-
schied hervor, dafs bey den Vorstellungen ein wirkliches Weichen der
einen vor der andern denkbar und zur Erklärung des Ich nothwendig
ist. Hingegen die Wesen würden sich in vollkommne Undinge verwandeln,
wenn sie, entweder, in ihrer Qualität eine Abänderung erlitten, und dennoch,
nachdem sie schon andere geworden wären, dieselben blieben wie zuvor,
— oder, in ihrem Seyn sich vermindern liefsen, während das Seyn gar
keine Grade zuläfst, die sich vermehren oder vermindern könnten.* Daher
kann der Gegensatz [140] der Wesen höchstens die Folge haben, dafs
sie demselben innerlich widerstehen, und sich selbst erhalten;
wobey die Art des Widerstandes sich nach der Art der Anfechtung, oder
Störung, richtet, und deshalb eben so mannigfaltig ist, als diese nur
immer seyn mag. Dafs aber der Gegensatz der Wesen (der keinesweges
ein reales Prädicat derselben ist) die bezeichnete Folge oftmals (obschon
bey weitem nicht immer) wirklich habe, dieses und nichts anderes macht
den Begriff des Zusammen der Wesen aus; welches, wo es vorkommt,
nicht aus den Wesen, denen es zufällig ist, sondern aus den Erscheinungen
geschlossen wird, zu deren Erklärung es mufs vorausgesetzt werden.
[141] Und so wären wir nun wiederum bey denselben Puncten angelangt,
auf die wir schon im Anfange dieses Capitels durch die aufgestellte Be-
hauptung geführt wurden, dafs die Vorstellungen nichts anderes als Selbst-
erhaltungen der Seele seyen. Weitere Erörterungen des Allgemein-
metaphysischen, worauf dieser Satz sich stützt, sind hier nicht am rechten
Platze, und können demjenigen kaum Bedürfhifs seyn, welcher mit dem
schon Gesagten die oft angeführten Hauptpuncte der Metaphysik, das
Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, im vierten Abschnitte, und
allenfalls noch das erste Capitel der oben genannten Abhandlung de aitra-
ctione elementorum, gehörig vergleichen will.
* Die Elanguescenz der Substanz, womit Kant (Krit. d. r. V. pag. 414) gegen
Mendelssohn auftritt, ist nichts als ein Beweis mehr, wie gänzlich der berühmte Kritiker
seinen metaphysischen Scharfsinn in die Frage nach dem Ursprünge der Form unserer
Erkenntnifs versenkt, wie wenig er dagegen die eigen thümliche Bedeutung mancher
Hauptbegriffe, und besonders des Begriffs vom Seyn, erwogen hatte. (Ein paar andre
Beyspiele haben wir oben an den Begriffen von Substanz und Ursache gehabt.) Dem
Seyenden eine reale Mehrheit von Graden beyzulegen, welche wirklich ab- und zunehmen
könnten ; oder ihm eine reale Mehrheit von Attributen beylegen, die sich (wie in
Spixoza's Gott) unabhängig von einander entwickeln könnten; oder ihm eine Ausdehnung
durch wirklich verschiedene Theile des Raums, oder eine reale Dauer in der Zeit, oder
endlich gar eine Veränderlichkeit in der Zeit zuschreiben: alles dies sind gleich arge,
klare Ungereimtheiten ; denn sie setzen immer Ein Seyendes als ein Mehreres, und das
Mehrere wiederum durch wer weifs welches Band zu einer unbekannten Einheil ver-
bunden; von welcher Einheit gleichwohl so viel bekannt ist, dafs eben sie die wahre
Qualität jenes Seyenden aasmachen würde (indem von dem Mehrern nur als von Einem
gesagt wird, dafs es sey) ; womit denn das Geständnifs abgelegt wäre, dafs die vorgeb-
liche Mehrheit, in ihrem Gegensatze gegen die Einheit, nicht real, nicht die wahre
Qualität des Wesens sey, sondern aufs Höchste (falls sie sich dazu schickt) für eine zu-
fällige Ansicht des "Wesens gelten könne. — Wie dergleichen zufällige Ansichten als
Hü 11s mittel unseres Denkens gebraucht werden müssen, wenn Wir von den
Störungen und Selbsterhaltungen der Wesen eine Theorie aufstellen wollen (so wie der
Astronom seine Logarithmen und Integralformeln beym Rechnen braucht, ohne der-
gleichen für reale Prädicate der Gestirne zu halten), dies ist in meinen Hauptpuncten
der Metaphysik a. a. O. angegeben worden.
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 7 I
Anmerkung.
Ueber die Kunst des metaphysischen Denkens.
Die Behandlung eines jeden metaphysischen Problems hat Anfang,
Mittel und Ende; man mufs den Knoten so, wie unsre geistige Natur,
ihren Verhältnissen gemäfs, ihn schürzt, erkennen; man mufs alsdann die
verschiedenen Operationen, welche zusammen die Auflösung ausmachen,
richtig durchführen; und endlich die gefundenen Resultate genau vesthalten
und richtig anwenden.
1. Um die Probleme richtig aufzufassen, mufs man wissen, dafs sie
allemal Begriffe sind, und weder etwas Höheres noch etwas Niedrigeres.
Nicht Ideen, in welchen ein ästhetisches Urtheil verborgen liegen würde,
wodurch sich der Denker in einen bestochenen Richter verwandelt; (so
verdarb sich Fichte das Ich, indem er die von ihm hoch verehrte Frey-
heit darin zu sehen glaubte). Nicht Wahrnehmungen, denn über sie
hat das Denken keine Gewalt, sie müssen bleiben wie sie sind. — Von
den Begriffen ist nun immer zuerst eine logische Analyse nöthig, und in
Folge derselben eine gute Namen-Erklärung, wie jene des Ich, es sey
Identität des Objects und Subjects, oder die alte der Substanz, sie sey
das [142] Subject, was nie Prädicat werden könne. Hier ist gegen die
falsche Genialität derer zu warnen, die sich über logische Pünctlichkeiten
erhaben wähnen. Dann aber mufs die Namen-Erklärung verglichen werden
mit denjenigen Wahrnehmungen, durch welche der Begriff gegeben ist.
So haben wir oben lange gezweifelt, ob wir die individuelle Persönlichkeit
in den Begriff des Ich aufnehmen sollten oder nicht; und endlich ge-
funden, die Wahrnehmung selbst verbiete uns dies, weil im Selbstbewufst-
seyn das Ich als ein Beharrliches betrachtet wird, die Individualität aber
sich vom zufällig Wechselnden nicht rein abscheiden läfst. So mufs in
Ansehung der Substanz gezweifelt werden, ob sie als Eins gegeben sey ? —
Dieses Eine wird sich unter dem Vorrath des Gegebenen nicht unmittelbar
finden. Oder ob man die vielen Merkmale blofs als Vieles betrachten,
deren Einheit aber aufgeben wolle? Dagegen wird sich die Wahrnehmung
abermals sträuben; und es wird dabey bleiben, dafs man genöthigt sey,
den vielen gegebenen Merkmalen ein unbekanntes Eins zum Grunde zu
legen. — Ist man nun so weit gekommen, durch Vergleichung mit der
Wahrnehmung den Begriff so zu bestimmen, wie er als durchs Gegebene
uns aufgenöthigt, das heifst, als ein gültiger Begriff zu denken ist: als-
dann folgt abermals eine Analyse, die ihn als einen widersprechenden
bezeichnen wird, wenn er ein metaphysisches Problem ist, denn träfe
dieses nicht ein, so könnte er bleiben, wie er ist, und die Metaphysik
brauchte keine Kunst an ihn zu verschwenden; der blofsen logischen
Ueberlegung würde es anheim fallen, ihm in dem Systeme der übrigen
Begriffe seinen Platz anzuweisen.
2. War es schon schwer, in sich selbst das Geständnifs zur Reife zu
bringen, dafs ein durchs Gegebene unvermeidlich aufgedrungener Begriff
widersprechend sey: so wird es nun noch schwerer, in der Klemmt
zwischen den beyden widersprechenden Gliedern des Begriffs so lange an-
zudauern, ja, sich von ihnen so lange hin- und [143] hertreiben zu lassen,
,j2 XL Psychologie als Wissenschaft.
so vielen anscheinend unnützen Versuchen des Denkens sich hinzugeben,
als die regelmäßige Auflösung erfordert. Manche glauben nicht zu denken,
sondern zu phantasiren, wenn sie ihre Gedanken nicht gleich in gerader
Linie fortführen können ; und hier begegnet selbst Männern dasselbe, was
man sonst an Jünglingen bemerkt: sie können sich zuweilen schlechter-
dings nicht enthalten, schnell abzuurtheilen ; sie fühlen nicht die Not-
wendigkeit, sich erst auf Untersuchung einzulassen. Wie man von uner-
fahrnen jungen Königen erzählt, die den Richterstuhl bestiegen hatten, und
nun erst von einer Parthey, dann von der andern sich überreden liefsen,
unfähig, sich das: audiatur et altera pars, einzuprägen; so geht es auch
denen, welche in der Betrachtung eines metaphysischen Problems nicht
geübt sind. Die Einheit des Ich, die Einheit der Substanz, ist ihrer
Meinung nach so vollkommen klar, dafs dagegen gar kein Einspruch statt
finde; aber die Vielheit im Ich (Object und Subject) ist ihnen eben so
klar; desgleichen die Vielheit der Attribute und Accidenzen. Daher lassen
sie unbedenklich ein ganzes Universum aus dem Ich oder aus der Sub-
stanz hervorgehn; sind sie eben mit der Vielheit beschäfftigt, so achten
sie nicht auf die Einheit; diese mufs sich nun gefallen lassen, ein inten-
sives Vieles zu seyn, so voll und so grofs als eben nöthig ist, damit sich
eine Welt daraus entwickele; sind sie hingegen mit der Einheit beschäfftigt,
so kostet es sie nichts, dem Vielen zu gebieten, dafs es nur dem Scheine
nach für ein Vieles gelten solle, der Wahrheit nach aber Eins seyn müsse.
Woher der Schein in der Wahrheit? Diese Frage drückt sie so
wenig, dafs sie vielmehr den Wirbel ihrer Gedanken, wie ein wirkliches
Hervorgehn aus der Einheit, und Rückkehren in dieselbe beschreiben. —
Gerade umgekehrt mufs der wahre Metaphysiker nicht blofs die wider-
sprechenden Glieder seines Problems, sondern auch den doppelten An-
spruch der Denkbarkeit und der Gültigkeit, streng vesthalten, keinem etwas
vergeben, keinem [144] mehr einräumen als ihm zukommt. Er mufs die
nothwendige Bewegung seines Denkens nicht als einen vorübergehenden
Wechsel von Gedanken selber durchlaufen, sondern jeden Schritt in dieser
nothwendigen Bewegung als ein Vestes und Unveränderliches sich ein-
prägen; gleichsam wie eine Reihe von historischen Gemälden, deren jedes
einen Moment des Handelns fixirt, so dafs alle zusammen auch die
sämmtlichen Puncte des Uebergangs, woraus die ganze Begebenheit besteht,
zur beständigen Anschauung aufbewahren. Dieses Stehen mitten im noth-
wendigen Wechsel ist allerdings schwer, weil alle Puncte des Wechsels von
der Art sind, dafs man auf ihnen nicht stehen bleiben kann. Aber gerade
dieses: Nicht stehen bleiben können, hat der Metaphysiker ein-
für allemal darzustellen, so dafs er den Procefs des Denkens, wodurch
ihm seine Resultate gewifs wurden, in jedem Augenblick erneuern könne.
Wem der Kopf leicht schwindelt, der kann die metaphysischen Steige
nicht gehn; wer, um den Schwindel zu vermeiden, mit verschlossenen
Augen heiübergehn will, der findet die Steige nicht, und nur in seiner
Einbildung kommt er hinüber.
3. Ist endlich ein Punct erreicht, wo man stehen bleiben kann, so
folgt daraus nicht, dafs man hier lange stehen und ausruhen müsse. Die
Auflösung eines metaphysischen Problems zeigt unmittelbar noch nichts,
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 272
_____^ _ _^ * *■ 1 J
als nur eine allgemeine Bedingung der Denkbarkeit des aufgestellten- Be-
griffes; wer mehr verlangt, der mufs weiter fort arbeiten. Er mufs nicht
blofs seine Kräfte, sondern auch seine Ueberlegung sammeln für eine,
vielleicht völlig veränderte, Art des Fortschreitens, die ganz neue Vorübungen
erfordern kann. — Im Allgemeinen ergeben sich aus metaphysischen Auf-
lösungen sehr bald mathematische Probleme; denn alle Erscheinungen
sind Quanta; alles, was als Wirkung von Kräften erscheint, hat Gesetze,
die an ein Mehr und Weniger in diesen Kräften gebunden sind; daher
die metaphysischen Prineipien unmittelbar gar nichts bestimmtes in der
Erscheinungswelt [145] erklären können, sondern allemal auf die hinzu-
tretenden Gröfsenbestimmungen mufs Rücksicht genommen werden. Dies
wird sich nun im Nachfolgenden gar bald zeigen.
Am schwersten übrigens ist die negative Bedingung des metaphysischen
Denkens zu erfüllen; das Verhüten fremdartiger Einmischungen, je schwerer
die Probleme, desto mehr mufs man sich bemühen sie gesondert zu halten,
um sie einzeln und deutlich zu betrachten. Nirgends mufs mehr Meta-
physik angehäuft werden, als der Gegenstand fordert. Ans den Grund-
lehren der praktischen Philosophie mufs sie ganz wegbleiben. Und ob-
gleich zum vollständigen Aufschlufs über das Ich, auch die Untersuchung
über den Raum, und seine Analoga, nöthig ist: so würde doch, wenn ich
den Raum, oder gar die Materie und den Leib, schon hier hätte ein-
mischen wollen, die Finsternifs undurchdringlich geworden seyn.
Viertes Capitel.
Vorbereitung der mathematisch-psychologischen
Untersuchungen.
§ 36.
Es sind die Betrachtungen des ^29, deren Faden wir wieder auf-
nehmen müssen. Dort fand sich der Satz, dafs die mannigfaltigen Vor-
stellungen eines Subjects, welches zur Ichheit gelangen soll, unter einander
entgegengesetzt seyn müssen; und dieses zwar in dem Sinne, dafs ein
Vorstellen das andere vermindere, oder gar aufhebe. Was das heifsen
solle, ist jetzt noch näher zu überlegen.
Man denke sich zuvörderst ein Vorstellendes, noch ohne Selbst-
bewufstseyn ; auch, um nichts willkührlich anzunehmen und voreilig voraus-
zusetzen, noch ohne alle [146] formalen Bestimmungen durch Begriffe,
oder durch Raum und Zeit: lediglich hingegeben der Materie der Empfin-
dung, wie den Tönen, oder den Auffassungen des Geschmacks, Geruchs,
Gefühls. (Der Gesichtssinn würde kein ganz passendes Beyspiel liefern,
oder wenigstens wäre ein solches einem Misverständnifs ausgesetzt, weil
man bey den Farben immer sogleich irgend etwas von Gestalt und Gröfse
hinzudenkt.) Die Forderung ist nun, dafs dies unser Vorstellendes über-
gehe zum Vorstellen seiner selbst; aber, wie wir gesehen haben, nicht
durch einen absoluten Act, sondern einzig und allein bestimmt durch die
Hekbart's Werke. V. 18
_>- i XI. Psychologie als Wissenschaft.
Beschaffenheit derjenigen Vorstellungen, welche wir bey ihm schon voraus-
gesetzt haben.
Da also die Vorstellung Ich nicht hinzukommen, sondern werden
soll aus dem was schon da ist, so kann dieses Vorhandene nicht ein
solches Vorgestelltes bleiben, dergleichen es jetzt ist, sondern es mufs auf
allen Fall ein Anderes werden.
Allein hier würde es uns nichts helfen, wenn eine objective Be-
stimmung überginge in eine andere. Man setze, die Vorstellung Roth
gehe über in die Vorstellung blau, oder die eines hohen Tons verwandele
sich in die eines tiefen Tons, so ist das Blaue und der tiefe Ton für die
Vorstellung Ich (welche entstehen soll) eben so fremdartig, als die Vor-
stellungen des Rothen und des höheren Tones. Mit einer solchen Ab-
änderung wäre also nichts gewonnen.
Oder wollte man sagen, die objeetiven Vorstellungen müfsten ganz
aus ihrer Art herausarehn, um statt eines Nicht-Ich vielmehr das Ich dar-
zubieten : so wäre dieses, auch abgesehen von der Frage nach der Möglich-
keit, dem Probleme gar nicht angemessen. Denn wir haben gesehen, dafs
die nackte Ichheit ein Widersprach ist; und jene Forderung hiefse dem-
nach nichts anderes als, die Vorstellungen sollten aus der Art des Vor-
stellbaren hinübergehen in die Art des Undenkbaren und Ungereimten.
[147] Vielmehr, da die Ichheit (nach § 28) sich nothwendig bezieht
auf eine Mannigfaltigkeit solcher Objecte, die Nicht-Ich sind: so müssen
jene objeetiven Vorstellungen in ihrer eignen Art bleiben ; weil sonst gar
der Beziehungspunct für das Ich wieder verloren ginge.
Wenn wir ihnen nun ihre Qualität lassen: so kann ihre Veränderung
zunächst nur die Quantität des Vorstellens betreffen.
Allein auch hier ist ein Misverständnifs zu verhüten; nämlich als ob
es zuviel wäre an der Menge oder an dem Grade des Vorstellens; da
doch nichts Zuviel seyn kann in demjenigen, was wir eben als Bedingung
der Ichheit angenommen haben. Es mufs also in einem gewissen Sinne
auch die Quantität des Vorstellens die nämliche bleiben.
In einem anderen Sinne aber soll sie gleichwohl vermindert werden :
denn so befangen in fremdem Objeetiven, wie wir unser Subject uns bis
jetzt denken, darf es offenbar nicht bleiben, wofern es zu sich selbst
kommen soll.
Hier kommt es darauf an, einen neuen Begriff zu erzeugen, der allen
Rücksichten Genüge leiste.
Wenn wir sagen, das Objective, was es auch sey, tauge nicht einzu-
gehn in das Selbstbewufstseyn, indem wir sonst uns selbst als ein Anderes
und Fremdes vorstellen würden: so richten wir da unsre Aufmerksamkeit
auf die Objecte, auf die Bilder, welche dem Vorstellenden vorschweben:
nicht aber auf das Vorstellen, welches wir als eine Thätigkeit dem Sub-
jeete selber beylegen. Jenen ersten Punct also trifft unsre Forderung,
dafs eine Veränderung in der Quantität des Vorgestellten sich ereignen
soll; und wenn wir dabey die Quantität des Vorstellens, subjeeliv ge-
nommen, unverändert vesthalten können, so sind die verschiedenen Rück-
sichten vereinigt, ohne dafs wir hiebe}' auf einen wahren Widerspruch ge-
stofsen wären.
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 7 S
Also die Thätigkeit des Subjects im Vorstellen, soll unvermindert
beharren, aber ihr Effect, das vorgestellte [148] Bild, soll geschwächt oder
gar aufgehoben werden; und hierin soll dasjenige bestehen, was mehrere
Vorstellungen vermöge ihres Gegensatzes untereinander bewirken.
Aber eine Thätigkeit, welche fortdauert, während ihr Effect, den sie
vermöge ihrer Eigenthümlichkeit hervorbringen würde, durch etwas Fremdes
zurückgehalten wird, eine solche kann man nur mit dem Namen eines
Strebens bezeichnen.
Aus Vorstellungen wird demnach ein Streben vorzustellen, wenn
entgegengesetzte Vorstellungen in einem und demselben Subject, das zum
Selbstbewufstseyn gelangen soll, vereinigt sind.
§ 37- x
Den eben gefundenen Gedanken können wir sogleich mit der Er-
fahrung vergleichen. Diese lehrt, dafs unsre Vorstellungen sich verdunkeln,
schwinden, wiederkehren. Ueber den Zustand, in welchem sie, so fern
sie aus dem Bewufstseyn verschwunden sind, sich befinden mögen, kann
keine Erfahrung belehren, denn Erfahrung haben wir nur, so fern wir
wirklich vorstellen; und die eignen Vorstellungen in ihrem Schwinden be-
obachten zu wollen, wäre gerade so viel, als sein eignes Einschlafen l
wahrnehmen zu wollen. Wohin die Erfahrung nicht reicht, das läfst sich
gleichwohl sehr häufig durch Speculation erreichen: und wir haben so eben
gesehn, dafs unsre, aus dem Bewufstseyn zurückweichenden Vorstellungen,
sich in ein Streben vorzustellen verwandeln; und dafs sie als ein solches
Streben unvermindert fortdauern; daher auch ihr Vorgestelltes wiederkehren
mufs, sobald die Hindernisse, von denen sie gedrängt wurden, über-
wunden sind.
So wenig nun die Erfahrung diesen Aufschlufs unmittelbar geben
lonnte, so brauchbar ist derselbe zur Erklärung der Phänomene. Auf
zwey der allerwichtigsten psychologischen Gegenstände, das Gedächtnifs
und den Willen, fällt hier ein unerwartetes Licht. Dafs bevde sich auf
das Vorstellen beziehen, ist schon im § 12 vorläufig bemerkt worden.
Dafs sie allein aus dem Vorstel[i4g]len abgeleitet werden müssen, und
ganz und gar nicht als besondre Seelenkräfte angesehen werden dürfen,
folgt schon aus der allgemein-metaphysischen, in der letztern Hälfte des
§33 angedeuteten, Untersuchung, aus welcher hervorgeht, dafs überhaupt
Ein Seyendes keine ursprüngliche Mehrheit von Bestimmungen, — ein
Vorstellendes keine ursprüngliche Mehrheit von Gemüthskräften, — ent-
halten könne. Wie aber das Vorstellen in ein Wollen übergehe, kann
jetzt nicht mehr zweifelhaft seyn, da wir gesehen haben, dafs Vorstellungen.
vermöge gegenseitiger Hemmung, sich in ein Streben vorzustellen ver-
wandeln. Modifikationen dieses Strebens müssen alle diejenigen Phänomene
seyn, welche unter dem Namen des Willens, im weitesten Sinne des Worts,
begriffen werden. Denn alles Wollen trachtet nur dahin, sein Vorgestelltes
entweder vollkommen ins Bewufstseyn zu bringen, oder vollkommen hinaus-
zuschaffen; (das letztre ist der Fall bevm Verabscheuen.) Mehr aber als
1 sein Einschlafen SW.
18*
■yjft XI. Psychologie als Wissenschaft.
eine Vorstellung ihres Gegenstandes kann keine Begierde erreichen;
denn keine Dinge, sondern nur Vorstellungen, haben Platz in einem Vor-
stellenden: auch wird jede Begierde befriedigt, nicht durch die Realität,
s< »ndern durch neues Gegeben- Werden der Vorstellung ihres Gegenstandes,
welches aber freylich in der Regel nur durch sinnliche Gegenwart desselben
vollständig erreicht werden kann. Hier bestätigt sich nun der oben ange-
führte Gedanke von Leibxiz: die Seele begehre, so fern sie von einer
Vorstellung zur andern strebe. (Man vergleiche § 18.) Genauer aber be-
steht jedes Vollen in dem Streben gewisser Vorstellungen; und zwar das
Bekehren in dem Streben eben derselben Vorstellungen, durch welche
früherhin der begehrte Gegenstand ist aufgefafst worden (denn diese näm-
lichen Vorstellungen dauern fort im gehemmten Zustande, und wirken in
der Seele unaufhörlich gleich elastischen Stahlfedern), hingegen das Ver-
abscheuen besteht im Streben anderer Vorstellungen, welche der des Ver-
abscheueten entgegengesetzt sind. Dun[i5o]kel bleibt Jbriebey für jetzt
noch, wie es zugehe, dafs nicht alle gehemmten Vorstellungen sich unauf-
hörlich als Begierden, und, in Beziehung auf dieselben, ihre entgegen-
gesetzten sich als Verabscheuungen äufsern? Diese Frage aber kann nur
dienen uns zu erinnern, dafs der Begriff des Strebens vorzustellen, ein viel
weiterer ist, als der des Begehrens und Verabscheuens, und dafs zu jenem
noch viele nähere, bis jetzt unbekannte, Bestimmungen hinzukommen
müssen, uro diesen zu ergeben. So wissen wir auch noch nichts von den
Gesetzen, nach welchen Vorstellungen, erst bis zum Vergessen gehemmt,
dann als ein Eigenthum des Gedächtnisses wieder hervorgehoben werden.
Die Aufschlüsse hierüber können erst durch Vergleichung der Erfahrung
mit den Lehrsätzen der Mechanik des Geistes herbeigeführt werden.
Allein schon die Kenntnifs des genus, noch ohne die genauere Einsicht
in das Eigenthümliche der species, hilft eine Menge von Irrthümern zu
entfernen, denen man in Hinsicht des Gedächtnisses und des Willens sich
gemeinhin zu ergeben pflegt.
§ 38.
Während nun die eben erwähnten Gegenstände eine unerwartete
Aufhellung empfangen haben: bleibt dagegen das Hauptproblem noch sehr
im Dunkeln liegen, und wird auch noch lange nicht aus demselben hervor-
gehoben werden können. Was das Streben vorzustellen, für die
Ichheit leiste? das ist bis jetzt nur noch in dem höchst allgemeinen
Räsonnement zu erkennen, dafs die fremden Vorstellungen bleiben, ihre
Objecte aber weichen müssen, wenn das Ich, das sich auf sie bezieht,
und dennoch ihnen allen entgegengesetzt ist, hervortreten soll. Doch um
wahrzunehmen, dafs wir der Auflösung um etwas näher gerückt sind,
wolle man zurückblicken in den § 28. Dort kam der Satz vor: „Erst
dann, wenn mehrere Objecte vorgestellt werden, gehört etwas an ihnen
dem Xi erstellenden; nämlich ihre Zusammenfassung in Ein Vorstellen; und
was aus dieser wei[i5i]ter entspringt." Jetzt ist uns gestattet, dieses, was
aus der Zusammenfassung in Ein Vorstellen entspringt, näher anzugeben,
nämlich in so fem es die Grundlage der Ichheit bildet. Die Objecte
«Irr Vorstellungen sind es nicht, wohl aber die Regsamkeit des Vor-
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 77
i — ■■-— — — ■ — —
stellens selbst in seiner Hemmung, wovon sieh einsehn läfst, dafs es das-
jenige ausmachen werde, worin wir Uns Selbst erkennen. Eben das, was
zum Gedächtnifs und zum Willen gerechnet werden kann, dieses mag
auch Uns bezeichnen; es mag helfen, jenes bisher vergeblich gesuchte Ob-
ject im Begriff des Ich (§ 27) allmählig aufzufinden.
Gleichwohl, wie weit sind wir noch vom Ziele! Wir begreifen noch
nicht einmal so viel, wie denn ein Vorstellen, vollends ein Streben vorzu-
stellen; zum Gegenstande einer höhern Vorstellung werden könne. Und
dieses wäre doch die erste Voraussetzung für jedes Finden seiner selbst.
Absolute Acte des Aufspringens zur Reflexion auf sich selbst, haben wir
anzunehmen uns vielfältig untersagt; wollen wir aber dergleichen Wunder
entbehren, und den schwierigen Weg einer ächten Natur-Erklärung ein-
schlagen: so müssen wir uns schon gefallen lassen, das Gesuchte eine
Zeitlang aus den Augen zu setzen, um andere Spuren desjenigen, was
seiner Natur nach leichter und früher erkannt werden kann, zu verfolgen,
und auf solche Weise uns erst mit den nöthigen Hülfs-Kenntnissen für
die unternommene Nachforschung zu versorgen.
Demnach sey nun auf langehin die Frage nach dem Ich verab-
schiedet; der Begriff aber von dem Streben vorzustellen, dieser Haupt-
gewinn unserer bisherigen vom Begriff des Ich ausgegangenen Nach-
forschungen, wird uns einen reichlichen, ja unerschöpflichen Stoff zu fernem
Untersuchungen darbieten, welche selbst wiederum (im § 132) zu der Be-
trachtung des Selbstbewufstseyns zurückführen werden.
§ 39-
Dafs unter mehrern, einander entgegengesetzten Vor[i52]stellungen,
die Hemmung gegenseitig seyn, folglich die Objecte sämmtlich in
gewissem Grade verdunkelt, und die Thätigkeiten des Vorstellens in eben
dem Grade in Strebungen verwandelt werden müssen : dies leuchtet so
unmittelbar ein, dafs der Beweis überflüssig seyn würde. Zu dem weifs
die innere Wahrnehmung nichts von solchen Vorstellungen, die gar keiner
Verdunkelung unterworfen wären; vielmehr ist unleugbar, dafs alle uns be-
kannten Empfindungen, Gedanken, Gesinnungen, Motive, mit einem Worte
alles was im Bewufstseyn angetroffen wird, eben so wohl von anderem
verdrängt wird, als es selbst anderes zu verdrängen vermag, jeder Gegen-
stand, der das Gemüth beschäfftigt, steht nicht, sondern schwebt im
Bewulstseyn; er schwebt in beständiger Gefahr, vergessen zu werden über
etwas neuem, — wenn auch nur auf Augenblicke.
Dennoch bedarf der Begriff der gegenseitigen Hemmung mancher
Erläuterungen. — Wir erblicken hier die Vorstellungen als wider einander
wirkende Kräfte. Aber gerade wie in der allgemeinen Metaphysik sich
findet, dafs das Merkmal der Kraft gar kein reales Prädicat irgend eines
Wesens seyn kann, sondern, dafs die Wesen nur zufälliger Weise Kräfte
werden, und dafs sie dies auf unendlich verschiedene Weise werden
können, ohne alle reale Mannigfaltigkeit in ihnen selber:* eben so ergiebt
* Ueber diesen so höchst wichtigen Punet werden aufmerksame Leser vielleicht
nicht blofs den § 5 meiner Hauptpuncte der Metaphysik, sondern auch die schon an-
278 XI. Psychologie als Wissenschaft.
auch die gegenwärtige Betrachtung der Vorstellungen, dafs ihnen alle
Kraftäufserung nur zufällig, und in dem Maafse entsteht, als sie gehemmt
werden. Jede einzelne Vorstellung ist zuerst und für sich allein nur durch
ihr Object, durch das was vorgestellt wird, [153] hiedurch aber vollständig,
bestimmt als eine solche und keine andre. So gewifs sie nun dieses
Object wirklich vorstellt, eben so gewifs ist sie keinesweges ein Streben
vorzustellen; denn die Eigenschaft des Strebens geht erst hervor in der
Hemmung durch ein hinzukommendes entgegengesetztes. Es ist auch in
ihr gar keine Activität, die auf etwas Fremdes, und gleichsam Aeufseres
gerichtet wäre; denn ihrem Begriffe nach besteht eine Vorstellung nur im
Erzeugen und Vesthalten ihres vorgestellten Bildes; darin erschöpft sie
sich, und aufserdem ist in ihr nichts zu finden. — Erst indem sie in
einem und demselben Subject mit einer andern ihr entgegenstehenden
Vorstellung zusammentrifft, kommt ihr die Activität, wodurch sie über sich
selbst hinausgeht. Sie drängt die andre, weil sie von der andern gedrängt
wird; beyde aber drängen einander vermöge des unter ihnen entstehenden
Gegensatzes. Dieser Gegensatz ist wiederum kein Prädicat weder der
einen noch der andern, einzeln genommen; sondern eine formale Be-
stimmung, welche nur in Beziehung auf beyde zusammen genommen, Sinn
und Bedeutung hat. Wer den Ton c hört, der hört ihn für sich und
durch sich selbst, nicht aber als entgegengesetztes von d. Desgleichen,
wer den Ton d hört, der hört den einfachen Klang d ohne Gegensatz
gegen c Aber wer die Töne c und d beyde hört, oder beyder Vor-
stellungen zugleich im Bewufstseyn hat, der vernimmt nicht blofs die
Summe c und d, sondern auch überdem den Contrast beyder, und sein
Vorstellen ist der Wirkung des Gegensatzes beyder unterworfen. Eben
so, wer sich in das Anschaun des ungetrübten Himmels versenkt, der sieht
reines Blau ohne Gegensatz, und diese Vorstellung ist für sich vollständig;
aber dasselbe reine Blau ist fähig in unendlich viele Contraste einzugehn,
gegen andre und andre Farben. Wollte man diese Contraste, und die
dazu gehörigen hemmenden Kräfte der Vorstellungen, für inwohnende Be-
stimmungen derselben Vorstellungen halten, so wäre keine Vorstellung
etwas für sich; es [154] stünde auch niemals eine in einem bestimmten
Contraste gegen einzelne andre; sondern sie enthielte zugleich alle die
zahllosen möglichen Contraste als Eigenthümlichkeiten in sich ; und am
Ende wären gar in jede Vorstellung alle übrigen Vorstellungen, als Be-
dingungen dieser sämmtlichen Contraste, mit eingeschlossen, und die
Mannigfaltigkeit und Abwechselung der Vorstellungen würde unmöglich.
Diesen Hauptgedanken, dafs nur im Zusammentreffen die entgegen-
stehenden Vorstellungen Kräfte werden, wollen wir nun näher bestimmen.
Schon die Beyspiele der Farben, der Töne u. s. w., erinnern uns, dafs der
Gegensatz zweyer Vorstellungen gradweise verschieden seyn könne. Dem
Blau steht das Roth, aber weniger das Violet, in seinen verschiedenen
geführte Abhandlung de attractione elementorum vergleichen, worin ich ausführlich die
Unmöglichkeit realer bewegender Kräfte gezeigt, und die Anziehung der Elemente
auf eine blofs formale Notwendigkeit zurückgeführt habe, welche in der Art der Raum-
erfüllung durch einfache Wesen ihren Sitz hat.
Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 7Q
Nuancen, entgegen; dem Tone c mehr der Ton d, als eis; mehr g, als e.
Die Hemmungen, als unmittelbare Erfolge der Gegensätze, müssen sich
wie diese, gradweise abstufen. Dafs also Vorstellungen Kräfte werden,
dies hat sein Maafs; und zwar ein veränderliches Maafs, weil die
Gröfse des Gegensatzes Veränderungen zuläfst.
Neben dieser Gröfsenbestimmung werden wir sogleich noch eine
andre als möglich erkennen. — Der Erfolg der Hemmung ist Verdunkelung
des Objects, und Verwandlung des Vorstellens in ein Streben vorzustellen.
Kann ein gewisser Grad des Gegensatzes totale Verdunkelung eines Ob-
jects bewirken: so wird ein geringerer Gegensatz nur partielle Verdunkelung
zur Folge haben; gradweise verschieden nach den Graden der minderen
Gegensätze. Diese partielle Verdunkelung läfst also noch einen Grad des
Vorstellens übrig. Auch das Vorstellen der Objecte also hat Grade, wie
die Erfahrung bestätigt.
Offenbar aber ist nöthig anzunehmen, dafs ein gewisses Vorstellen,
um, verglichen mit einem andern, ein schwächeres zu seyn, erst eine
partielle Verdunkelung erlitten haben müsse: auch ohne alle Hemmung
kann es ursprünglich ein schwächeres oder stärke[i55]res seyn.* Dieses
ist wiederum in der Erfahruno; völlig bekannt ; wir schreiben allen unsem
Auffassungen ursprünglich einen Grad zu.
Verbinden wir nun diese Gradbestimmung mit jener, also den Unter-
schied der Vorstellungen ihrer Stärke noch mit der Gröfse ihres Gegen-
satzes unter einander: so mufs sich daraus ergeben, wie grofs in jedem
Falle die Verdunkelung, die Hemmung, das Streben, und auch das noch
übrige wirkliche Vorstellen sevn werde. Hier findet die Rechnung einen
ihr angemessenen Stoff; und es kommt darauf an, uns von der Form
solcher Rechnung einen allgemeinen Begriff zu bilden; womit die Ueber-
sicht über die nachfolgenden Untersuchungen zusammenhängt.
§ 40.
Die Verdunkelung der Vorstellungen, vollends wenn sie successiv
durch verschiedene Grade fortläuft, hat so viel Aehnlichkeit mit einer
Bewegung, dafs es gar nicht befremdend seyn kann, wenn die Theorie
von den Gesetzen der Verdunkelung, und der ihr entgegenstehenden Er-
hellung, oder dem Wieder-Hervortreten der Vorstellungen ins Bewufstseyn,
sich der Theorie von den Bewegungsgesetzen der Körper im Ganzen
ähnlich gestaltet. Wenigstens die Sprache mufs von da her ihre Aus-
drücke entlehnen, falls nicht eine neue, und deshalb unverständliche
Sprache unnützer Weise soll erfunden werden. Nur einige Benennungen,
welche als Metaphern neu sind, wird man sich müssen gefallen lassen,
damit die neuen Begriffe eine Bezeichnung erhalten können.
Zu allererst werden wir den Unterschied der Statik [150] und
'f Es ist jedoch nur die logische Möglichkeit verschiedener Grade der Stärke
und des Gegensatzes , welche hier nachgewiesen worden. Eey einem Gegenstände,
worüber die Erfahrung so deutlich spricht, mag dies zum Beginnen der Untersuchut:;,'
hinreichen. Die reale Möglichkeit folgt aus allgemein -metaphysischen Betrachtungen
über die zufälligen Ansichten der Wesen, und über das Zxisammen derselben, als !•
ilingungen der Störungen und Sclbstcrhaltungcn.
28o XL Psychologie als Wissenschaft.
Mechanik, welcher die Lehre von den räumlichen Kräften beherrscht,
auch hier wieder finden. Denn das Gleichgewicht, im Gegensatze der
noch fortgehenden Bewegung vermöge des Uebergewichts einiger
Kräfte über die andern, - — ist dasjenige, was auch in Hinsicht der wider
einander wirkenden Vorstellungen sich zuerst . darbietet, und sich am
leichtesten bestimmen läfst. Die obige Frage, wie grofs, bey gegebener
Stärke und gegebenem Gegensatze mehrerer Vorstellungen, die Verdunkelung
einer jeden sevn werde, ist offenbar eine statische Frage; denn es wird
eine solche Hemmung einer jeden gesucht, bey welcher dem Gegensatze
Genüge geschieht, und die Kräfte nicht weiter gegen einander etwas aus-
richten können. Allein falls ein solcher gehemmter Zustand einer jeden
Vorstellung nicht etwan plötzlich, sondern, wie schon zu vermuthen,
allmählig eintritt, so entsteht nun noch eine ganz andre Untersuchung,
nämlich mit welcher, sey es gleichbleibenden, sey es veränderlichen Ge-
schwindigkeit, die Verdunkelung fortdauernd geschehen, und in welcher
Zeit sie geendigt sevn werde. Diese letztre Frage erkennt man ohne
Zweifel sogleich für eine mechanische Frage.
Die angeführten Beispiele können hinreichen, um die Aehnlichkeit
einer Mechanik des Geistes mit der Mechanik der Körperwelt im Allge-
meinen wahrzunehmen. Allein über der Aehnlichkeit darf die Verschieden-
heit nicht übersehen werden. Wir haben hier keine räumliche Zusammen-
setzung und Zerlegung der Kräfte; wir haben keine Winkel, also keine
Sinus und Cosinus, und keine drehende Bewegung; wir haben keinen
unendlichen Raum, sondern alle Bewegung der Vorstellungen ist zwischen
zwey vesten Puncten eingeschlossen, ihrem völlig gehemmten, und ihrem
völlig ungehemmten Zustande; wir haben endlich gar kein beharrliches
Fortgehen des Bewegten, folglich auch keine ähnliche Beschleunigung, wie
in der Mechanik der Körper, denn jede augenblickliche Bewegung einer
Vorstellung ist das unmittelbare Resultat der [157] treibenden Kräfte.
Wir haben dagegen hier eine Menge ganz anderer Grundbegriffe, welche
die Mechanik der Körper nicht kennt, und auch dann nicht kennen würde,
wenn sie, um sich der Analogie der Geistes-Mechanik anzubequemen, die
gegenseitigen Drückungen einer Menge von elastischen Körpern unter-
suchen wollte, (denn dergleichen liefse sich mit den Vorstellungen noch am
ersten vergleichen). Statt der Schwere, welche die Körper nach unten
drängt, haben wir hier das natürliche und beständige Aufstreben aller
Vorstellungen, um in ihren ungehemmten Zustand zurückzukehren; dieses
jedoch ist vielmehr eine Aehnlichkeit als eine Verschiedenheit, indem es
einen inwohnenden Trieb nach einer bestimmten Richtung anzeigt,
welcher in jedem Augenblick so viel wirkt, als ihm die Umstände gestatten.
Doch wir wollen diese vorläufigen und oberflächlichen Vergleichungcn
nicht weiter fortsetzen, sondern zur Sache kommen. Im Begriff, die ersten
Linien der Statik und Mechanik des Geistes vorzulegen, kann ich nicht
unterlassen, die Nachsicht der Leser anzurufen, welcher das Unternehmen
eines blufsen Liebhabers der Mathematik, bey einer so neuen Unter-
suchung, ohne Zweifel bedürfen wird.
[158] Zweyter Abschnitt.
Grundlinien der Statik des Geistes.
Erstes Capitel.
Summe und Verhältnis der Hemmung bey vollem
Gegensatze.
§ 41-
Der Gegensatz zweyer Vorstellungen ist voll, oder so grofs als
möglich, wenn eine von beyden ganz gehemmt werden mufs, damit die
andre ungehemmt bleibe. Dieser Fall tritt zwar niemals ein: denn eine
Vorstellung wird nur gehemmt, indem sie widersteht; und ihr Widerstand
mufs allemal auch in der entgegengesetzten eine gewisse Hemmung hervor-
bringen. Aber man kann sich die Fiction erlauben, dafs die ganze Stärke
des Gegensatzes, folglich die ganze Nöthigung zum Sinken nur auf eine
der beyden falle: alsdann ist das höchste, was geschehn kann, völliges
Sinken dieser einen, oder völliges Erlöschen ihres Vorgestellten, bev Ver-
wandlung ihrer ganzen Thätigkeit in ein blofses Streben wider die ent-
gegengesetzte. Mehr als Sinken kann sie nicht, und es würde keinen
Sinn haben, wenn man sich das Quantum des wirklichen Vorstellens noch
über Null hinaus abnehmend, folglich negativ, denken wollte.
Wohl aber läfst sich ein minderer Gegensatz denken. Diesem zu-
folge würde eine Vorstellung ganz ungehemmt bleiben können, wenn von
der andern nur ein be[ verstimmter Bruch, das heifst eigentlich, wenn
die andere nur in einem bestimmten Grade gehemmt würde.
Der Unterschied des vollen und des minderen Gegensatzes ist von
der Stärke der Vorstellungen unabhängig. Es sev die eine = a, die
andre = b, wo a und b Zahlen bedeuten, vermittelst deren die Stärke
beyder verglichen wird; der Gegensatz aber = m} wo in einen Bruch
bedeutet, oder höchstens die Einheit: so mufs bey vollem Gegensatze (für
welchen m = 1), eben sowohl a ganz sinken, wenn b soll ungehemmt
bleiben, als b ganz sinken mufs, damit a ungehemmt bleibe. Denn das
Hemmende mufs ganz und gar weichen, wofern für das entgegenstehende
alle Hemmung verschwinden, und volle Freyheit wiederkehren soll; und
dies ist ganz auf gleiche Weise nothwendig, es mag nun jenes oder dieses
das stärkere oder schwächere seyn. Bey minderem Gegensatze mufs inb
sinken, falls a, oder es mufs via sinken, falls b ungehemmt bleiben soll.
282 XL Psychologie als Wissenschaft.
Denn je mehr von dem Hemmenden vorhanden ist, in demselben Ver-
hältnisse mehr mufs weichen, wofern das gegenüberstehende unangetastet
bleiben soll. Bestünde b aus unendlich vielen kleinen Theilen: so würde
jedem derselben das Merkmal, einen Gegensatz gegen a zu bilden, zuzu-
schreiben seyn, und zwar in dem Grade ?n; mit der Menge der Theile
in b aber würde sich diese Entgegengesetztheit vervielfältigen, und deshalb
in dem Producte mb ihren Ausdruck finden.
Die Voraussetzung des vollen Gegensatzes wird die nächstfolgenden
Untersuchungen erleichtern; deshalb machen wir mit ihr den Anfang.
§ 4-'.
Die Summe der Hemmung ist das Quantum des Vorstellens, welches
von den einander entgegenwirkenden Vorstellungen zusammengenommen,
mufs gehemmt werden.
Diese Hemmungssumme mufs nothwendig zuerst bestimmt seyn, wenn
die Hemmung jeder einzelnen Vor[i6o]stellung soll gefunden werden.
Denn, wie schon im § 39 bemerkt, das Widereinanderstreben ist den
sämmtlichen Vorstellungen zufällig, und sie äufsern sich demnach nur in
so fern als Kräfte, als das Quantum des Gegensatzes, welcher sich
zwischen ihnen bildet, es mit sich bringt. Je stärker nun der Grad des
Gegensatzes (das obige m) und je Mehr des entgegenstehenden (wegen
der Stärke der einzelnen Vorstellungen) : um desto gröfser ist das Quantum
dessen, was weichen mufs aus dem Bewufstseyn. Dieses Quantum bildet
alsdann gleichsam die Last, welche sich vertheilt unter den verschiedenen
Vorstellungen, die daran zu tragen haben; und das sind die sämmtlichen
wider einander strebenden. Aber nicht eher können wir füglich von der
Vertheilung sprechen, als bis wir die Last kennen, die vertheilt werden soll.
Für vollen Gegensatz nun, und für zwey Vorstellungen a und b,
liegt gleich so viel klar vor Augen, dafs entweder a, oder b die
Hemmungssumme seyn müsse. Denn es wird zwar von beyden Etwas
gehemmt werden, und dafs irgend eins von beyden gänzlich weiche, ist
eine blofse Fiction, der die Wirklichkeit durchaus nicht entsprechen kann,
weil nothwendig jedes von der ihm entgegenstrebenden Kraft etwas leiden
mufs: allein in welchem Verhältnisse auch die Last sich vertheile, sie
bleibt doch an sich immer dieselbe; wir haben aber schon im vorigen §
bemerkt, dafs diese Last, oder das Zu-Hemmende a seyn würde, wenn b
ungehemmt bleiben sollte; hingegen b, wenn a von der Hemmung frey
gedacht würde. Gesetzt also, die Hemmungssumme wäre der Gröfse
nach gleich a: so würde zwar darum nicht die ganze Vorstellung a
gehemmt, aber der Grund hievon läge nur darin, dafs ein Theil dieser
Hemmungssumme auf b fiele, und gerade so viel, als auf b käme, dürfte
nun von a ungehemmt bleiben. Gesetzt im Gegen theil, die Hemmungs-
summe wäre der Gröfse nach = b, so würde nur so viel von b unge-
hemmt bleiben kön[i6i]nen, als dagegen von a aus dem Bewufstseyn
verdrängt würde.
Wir schwanken demnach nur zwischen zweyen denkbaren Bestimmungen
der Hemmungssumme; allein die Entscheidung, welche unter diesen beyden
die richtige sey, kann einen Augenblick schwierig scheinen.
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 283
Der entscheidende Grund zwar bietet sich leicht genug dar. Nämlich
man mufs sich die Hemmungssumme so klein als möglich denken;
weil der natürliche Zustand der Vorstellungen der ungehemmte ist, und
sie sich diesem, zu welchem sie sämmtlich zurückstreben, gewifs so sehr
nähern als sie können. Daraus folgt, dafs wenn a die stärkere, b die
schwächere Vorstellung ist, die Hemmungssumme der Gröfse nach nicht
= </, sondern = b seyn werde.
Auch wenn man auf die Vertheilung der Hemmungssumme einen
Vorblick wirft, so leuchtet gleich so viel ein, dafs zwar die stärkere Vor-
stellung das Uebergewicht haben müsse, doch aber unmöglich mehr, als
die schwächere ganz, gehemmt werden könne; und dafs dieses Aeufserste
völlig das nämliche bleibe, wenn schon die stärkere wie sehr immer
wachsen möchte. Z. B. es sey a =■ 10, b=\: so wird zwar gewifs b
beynahe ganz gehemmt werden; aber mehr als das ganze b kann auch
dann nicht zu unterdrücken seyn, wenn schon a anstatt = 10, vielmehr
= 100 wäre. Es ist einmal nicht mehr vorhanden als nur b, was dem a
entgegengesetzt wäre! Folglich durch Vergröfserung der stärksten
unter den Vorstellungen wächst die Hemmungssumme nicht.
Hingegen es sey a= 10, b = 2: so ist nun des entgegengesetzten gewifs
mehr geworden. Denn indem b von 1 bis 2 gewachsen ist, mute a einer
stärkern Kraft widerstehen, als vorhin, es wird dadurch mehr ins Streben
versetzt; und dasselbe ist der Fall bey b, wenn schon dieses nun ver-
bal tnifsmäfsig nicht so viel leidet, wie vorhin.
Da nun die Hemmungssumme nicht gröfser seyn [162] kann als b;
aber auch nicht kleiner (denn bey vollem Gegensatz ist b ganz und gar
dem a zuwider): so ist sie gewifs == b. Dasselbe erhellet auch aus
folgender Betrachtung: man setze a ungehemmt, so ist b ganz gehemmt;
nun verbessere man die Vertheilung, so dafs auf a auch ein Theil der
Last falle, und b dagegen steige: so kann unmöglich durch die veränderte
Vertheilung das Quantum des wider einander Wirkenden wachsen oder
abnehmen, denn das Wirksame, und seine eigenthümliche Beschaffenheit,
vermöge deren es einen bestimmten Gegensatz mit einander macht, bleibt
genau das nämliche wie zuvor; also mufs die Summe der Hemmung = b
seyn und bleiben.
Allein gerade diese letzte Betrachtungsart möchte man benutzen, um
daraus einen Einwurf zu bilden. Setzet umgekehrt (möchte man sagen),
es sey b ungehemmt, folglich o ganz gehemmt; bey verbesserter Ver-
theilung kann nun das Quantum der Hemmung nicht abnehmen, eben
darum weil dies Quantum von der Vertheilung unabhängig ist; folglich
ist die Hemmungssumme = a und nicht b. Oder, wenn auf gleichem
Wege bewiesen wird, sie sey a, und auch, sie sey b: so verräth sich da-
durch die Schwäche der Beweisart, die sich selbst widerstreitet.
Wenn man jedoch das vorhin entwickelte zurückruft, so sieht man
offenbar, dafs in der Voraussetzung, a sey ganz gehemmt, das Quantum
der Hemmung gröfser angenommen ist, als es nach der Beschaffenheit
von a und b zu seyn braucht. Diese beyden können unleugbar eine
Stellung gegen einander annehmen, worin weniger von ihnen gehemmt
wird; und eben darum werden sie es unfehlbar thun, sobald die Ver-
2$a XL Psychologie als "Wissenschaft.
theilung sich ändert; wiewohl dieses nicht von der neuen Yertheilung
herrührt. Vielmehr dasselbe Aufstreben beyder Verstellungen, welches
eine bessere Proportion in die Vertheilung bringen wird, eben dieses
widersetzt sich auch dem Uebermaafse der Hemmung, und führt sie auf
das Nothwendige zurück. — [I(:)3] Es scheint demnach unsre Bestimmung
der Hemmungssumme hinreichend gesichert zu sevn.
Die gleiche Bestimmung aber wird sich, unter Voraussetzung des
vollkommenen Gegensatzes, sehr leicht von zwey Vorstellungen auf
mehrere in beliebiger Anzahl ausdehnen lassen. Es seyen aufser a, der
stärksten, noch vorhanden b, c, d, ...;/: so ist die Hemmungssumme
= b -\- c -\- d -\- . . . -\- n. Denn b und die übrigen stehn dem a ganz
und gar entgegen; kleiner also als ihre Summe kann das Quantum der
Hemmung nicht sevn: aber auch nicht gröfser, denn wenn jene alle völlig
unterdrückt wären, bliebe die stärkste ganz ungehemmt. — Will man
dagegen versuchen, sich b ungehemmt zu denken, so ist die Summe des
Gehemmten = a -f- < ' -f- d -j- . . -\- n ; also gröfser wie vorhin, und so bey
jeder andern ähnlichen Voraussetzung. Folglich ist die obige Angabe
allein zulässig. —
Bevor wir indessen die Betrachtung der Hemmungssumme verlassen,
mufs noch einem möglichen Misverständnisse begegnet werden, welches
aus der Vergleichung jener Summe mit einer zu vertheilenden Last, ent-
stehen könnte. Es wird nämlich dem Geiste unsrer vestgestellten Sätze
ganz gemäfs gefunden werden, dafs die Vorstellungen sämmtlich in eben
dem Grade, wie sie leiden, auch in wirksame Kräfte verwandelt, dafs sie
durch den Druck angespannt werden, und dafs das Gleichgewicht eintrete,
sobald Spannung und Druck einander gegenseitig aufheben. Hieraus nun
scheint zu folgen, dafs die Summe des wirklich Gehemmten weit weniger
betragen müsse, als die ursprüngliche Nöthigung zum Sinken erfordert.
Denn diese Nötlrgung und die Spannung der Vorstellungen, werden wider
einander wirken; und die erstere kann also den Punct nicht erreichen,
wohin sie strebt. — Dieses ist scheinbar, aber gleichwohl unrichtig. Es
wird nämlich dabev vorausgesetzt, die Vorstellungen könnten der Hemmungs-
summe widerstreben. Aber die [104] Vorstellungen widerstreben vielmehr
eine der andern. Die Hemmungssumme ist nichts von ihnen Ver-
schiedenes; sie ist keine, ihnen gleichsam von aufsen her aufgelegte La>t.
an der sie gemeinschaftlich zu tragen hätten ; sondern sie ist nur der Aus-
druck von dem Quantum des Widerstreits, der sich unter ihnen erhebt,
und unter ihnen bleibt, so fern sie im Bewufstseyn zusammentreffen. Was
daher eine Vorstellung durch ihre Spannung gewinnt, das kann nicht Ver-
minderung des ursprünglichen, in der Beschaffenheit der Vorstellungen ge-
gründeten Widerstreits sevn (sonst müfsten sie ihre Natur ändern), sondern
jede Vorstellung gewinnt, so viel sie vermag, über die andern Vorstellungen,
die sie um gerade so viel hemmt, als um wie viel sie die Verdunkelung
ihres eignen Objects im Bewufstseyn abhält. Und weit entfernt, dafs die
Hemmungssumme in der Spannung eine Gegenkraft finden sollte, ist sie
vielmehr gerade der Ausdruck dieser Spannung selbst, die mit dem Wider-
streite identisch ist, so fern derselbe als Summe des activen Streitens der
einzelnen Vorstellungen betrachtet wird. Tiefer unten wird sich Gelegen-
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 28 5
heit finden, dieses sowohl, als die entgegenstehende unrichtige Ansicht in
mathematischen Formeln auszusprechen: da sich denn zeigen wird, dafs
ganz verschiedene Gesetze des allmähligen Sinkens der Hemmunessumme
1 laraus hervorgehn,
Endlich wolle man nicht fragen, ob wir uns denn solcher Spannung
unsrer Vorstellungen auch bewufst seyen? Nach unsrer ganzen vorstehenden
Entwickelung sind die Vorstellungen in so fern kein wirkliches Vorstellen,
als sie sich in ein blofses Streben vorzustellen verwandelt haben, — das
heifst mit andern Worten, als sie in Spannung versetzt sind. Unmöglich
also kann man diese Spannung im Bewufstseyn dessen geben, was kein
Vorstellen, sondern gerade die Abwesenheit desselben ist. — Unsre Be-
strebungen, Begierden u. s. w., s deren wir uns wirklich bewufst sind, dürfen
demnach nicht [165] zu voreilig aus jener Spannung erklärt werden, ob-
gleich sie damit wesentlich zusammenhängen.
§ 43-
Das Verhältnifs der Hemmung ist dasjenige Verhältnifs, in welchem
sich die Hemmungssumme auf die verschiedenen, wider einander wirkenden,
Vi ^Stellungen vertheilt.
Jede Vorstellung behauptet sich, so gut sie kann, unter allen übrigen;
sie darf aber nicht als eine ursprünglich angreifende, sondern nur
als eine widerstehende Kraft betrachtet werden. Es ist hier gleich An-
fangs ein möglicher Irrthum abzuhalten, der zu falschen Berechnungen
verleiten würde. Man könnte nämlich glauben: jede Kraft wirke im
Verhältnifs ihrer Stärke auf die übrigen. Wäre also z. B. die Vor-
stellung a = 2, die Vorstellung b = 1 , und was von b gehemmt würde
= x : so müsse für a = 4, das von b Gehemmte = 2 x werden, indem
die hemmende Kraft verdoppelt sey. Dies ist darum unrichtig, weil
ä = 4 verhältnifsmäfsig weniger von b = 1 angegriffen wird, als a = 2
von dem nämlichen b. Aber a kann nur wirken in so fern es durch
das entgegengesetzte dazu getrieben wird. Hätte, zugleich mit a, sich
auch b verdoppelt: dann erst wäre mit der Kraft auch die Reizung,
folglich der Effect verdoppelt worden.
Gewifs aber widersteht jede Vorstellung dem, zwischen den
mehrern entstandenen, Gegensatz um so besser, je stärker sie ist.
Sie leidet also im umgekehrten Verhältnifs ihrer Stärke.
Und jetzt können wir leicht den Gegenstand völlig ins Klare setzen.
Drey Betrachtungen müssen gesondert, und wieder verbunden werden.
Erstlich: jede Vorstellung wirkt im Verhältnifs ihrer Stärke = i.
1
Zwevtens: sie wirkt in dem Verhältnifs, in welchem sie leidet, = —..
1
[166] Drittens: sie leidet im umgekehrten Verhältnifs ihrer Stärke, das
heilst, im Verhältnifs — .
i
Das Verhältnifs des Wirkens ist zusammengesetzt aus / und — , es
i
ist also allemal = 1; und folglich kann man es aus der Rechnung weg-
286 ^I- Psychologie als Wissenschaft.
lassen. Das Verhältnils des Leidens = — bleibt allein übrig und be-
i
stimmt die Vertheilung der Hemmungssumme.
So ist es bey vollem Gegensatze, wovon wir jetzt reden. Bey
minderem Gegensatze bringt dieser noch einen Zusatz in das Verhältnifs
des Wirkens, wovon tiefer unten.
Bev vollem Gegensatze wirken auf jede einzelne Vor-
stellung alle andern gleich viel, sie mögen wie immer ungleich
seyn an Stärke.
Um diesen Satz ganz einleuchtend zu machen, wollen wir von der
leichtesten Voraussetzung anfangen. Es seyen also zuvörderst nur zwey
Vorstellungen mit einander im Conflict, die stärkere = a, die schwächere = b.
Die Hemmungssumme, welche die Stärke des Conflicts angiebt. ist nun
dasjenige, wovon beyde Vorstellungen leiden. Und zwar leidet a im Ver-
hältnifs — , b im Verhältnisse -7-. Beyde wirken auf dieses Leiden zurück
a b
(nur nicht etwan erst hintennach, sondern indem und in so fern sie die
Wirkung erleiden,) im zusammengesetzten Verhältnisse ihres Leidens und
ihrer eignen Stärke, welches = a . — und b .— ist, oder = 1. Diese
0 ab
Rückwirkung von a trifft b, und die Rückwirkung von b trifft a; allein
beyde Rückwirkungen sind gleich, und heben sich auf; daher das erste
Verhältnifs, des Leidens von der Hemmungssumme, allein entscheidet.
Es seyen jetzt drey Vorstellungen im Conflict; a, [167] b, c, und «>/>,
1 .
auch a > c. Von der Hemmungssumme leidet a im Verhältnisse — , b im
Verhältnisse -T, c im Verhältnisse--. Alle Rückwirkungen sind == 1. Jede
b c
derselben mag sich gleich vertheilen auf die entgegenstehenden (denn eine
besondre Richtung, wider eine vielmehr als wider die andre, kann sie
nicht haben), so wird jeder Theil aufgehoben durch einen ihm gleichen
entgegengesetzten.
Um noch sorgfältiger zu gehn, wollen wir die Betrachtung darin
ändern, dafs wir die Hemmungssumme bey Seite setzen, die Vor-
stellungen aber paarweise ins Auge fassen, um nicht blofs jede gegen alle
übrigen zusammen, sondern jede gegen jede einzelne im Conflict zu
beobachten.
Erstlich: in dem Conflicte zwischen a und b leiden beyde, wie
vorhin gefunden, in den Verhältnissen J - und - . Wir wissen noch nicht
0 ab
x
wie viel sie leiden ; es sev aber das Leiden von a = — , so ist das von
a
b = — . Zwevtens: mit a ist auch c im Conflict. Wofern nun c von
b
a mehr oder weniger leidet als b, so kann dieses nur von dem Ver-
hältnisse b : c herrühren; welches das Verhältnis des Widerstandes be-
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 287
stimmt, den beyde der gleichen Kraft a, und ihrer gleichen Spannung,,
entgegensetzen. Nach der Proportion
x x
0 c
X X
i^t — dasjenige, was c von a leidet. Folglich a von c leidet . Drittens:
a a
in dem Cönflict zwischen b und c findet man auf doppeltem Wege die
Bestimmung für das [168] Leiden eines jeden. Nämlich man weifs schon,
wie viel a leidet von #; daraus findet sich, wie viel c leiden müsse von
der nämlichen und gleichgespannten Kraft. Man weifs auch wie viel a
leidet von c: daraus findet sich, wie viel b leiden müsse von der nämlichen
Kraft. Endlich müssen beyde Resultate einander gegenseitig erproben.
Es ist aber
x x
c :a = — : — ,
a c
und b : a = — : — ;
a b
wo die vierten Glieder im umgekehrten Verhältnisse von c und b stehen,
wie gehörig. — Fafst man nun alles zusammen: so ist das Leiden
2X
von a =
a
von b =
2X
b '
2 X
von c = - —,
c
welche Gröfsen zusammen der Hemmungssumme gleich seyn müssen, so«
dafs man daraus x finden kann. Zugleich ist der obige Satz bewiesen,
denn a leidet von b und von c gleich viel, b von c und von a gleich
viel, c v< »n b und von a gleich viel.
Es würde unverzeihlich seyn, eine so leichte Sache auch noch für
\ier und mehrere Vorstellungen weitläuftig darthun zu wollen, da der
Gang des Beweises klar vor Augen liegt.
Es seyen nun Vorstellungen a, b, r, . . . n gegeben, so sind die
Hemmungsverhältnisse — , -r-, — .... — . Der Rechnung wesren ist nur zu
O 7 7 ' DO
a o c 11
bemerken, dafs hier etwas Combinatorisches eintritt, weil man diese Gröfsen
auf ganze Zahlen wird bringen müssen. Daraus entstehn für a, b, c,
die Binionen bc, ac, ab; für a, b, c, </, die Ternionen bcd, acd, abd,
abc, u. s. f.
'.8S
XI. Psychologie als Wissenschaft.
[i6q] Zweytes Capitel.
Berechnung der Hemmung bey vollem Gegensatz, und
erste Nachweisung der Schwellen des Bewufstseyns.
§ 44-
Die Berechnung dessen, was von jeder Vorstellung gehemmt werde,
geschieht ohne allen Zweifel durch Proportionen, zu welchen die Hemmungs-
summe das dritte Glied liefert, und deren erste beyde Glieder aus den
Hemmungs- Verhältnissen hervorgehn.
Es seyen die Vorstellungen a und b gegeben, als wider einander
wirkend im Bewufstseyn, und stehend im vollen Gegensatze: so ist, laut
voriger Entwickelungen, die Hemmungssumme gleich der schwächeren, oder
= b\ das Hemmungsverhältnifs wie b : a. Folglich wird man schliefsen:
wie die Summe der Verhältnifszahlen zu jeder einzelnen Verhältnüszahl,
so das zu Vertheilende (die Hemmungssumme) zu jedem Theile; oder
(« + *)
*
b2
a-\-b
ab
a-\-b
Die Verhältnifszahl b gehört (wegen der Umkehrung des Verhältnisses)
b2
zu a\ folglich
der Rest von a = a
und der Rest von b = b
a^b
ab
b2
a-j- b a-\~ b
Diese Reste sind natürlich nicht abgeschnittene Stücke der Vor-
stellungen a und b, sondern es sind die Grade der noch übrigen Leb-
haftigkeit der Vorstellungen, nachdem durch die Hemmung der zuvor be-
rechnete Theil des wirklichen Vorstellens ist aufgehoben, und in ein
blofses Streben vorzustellen ist verwandelt worden.
Es seyen auf eben die Art drev Vorstellungen gegeben, nämlich a
b, c, worunter a die stärkste, c die schwächste: so ist die H. S. (= Hem-
iii
mungssumme) = b -j- c, das H. V. (= Hemmungsverhältnifs)
a
b'
oder bc, ac, ab] und die Proportionen
bc
[bc -(- ac -\- ab) :
ac= (b -f- c)
ab
bc(b-\-c)
bc -{- ac -\-ab
ac (b -\- c)
bc -\-ac -^-ab
ab (b + c)
bc 4- ac -\- ab
woraus die Reste
von a, =a
be{b + c)
bc -\- ac -\~ ab
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 280
ac{b-\-c)
von b, =b — - v ' '—
bc -\-ac -\- ab
ab(b-\-c)
von c, =c — —-r-± — ~—u
bc -j- ac-\- ab
Man sieht leicht, wie dies für vier und mehrere Vorstellungen fortgeht.
Hier einige Berechnungen in Zahlen. Zuerst für zwey Vorstellungen.
Es sey a = 1 , b = 1 , so ist der Rest
Es sey a
von
a,
1
2
von
b,
1
2, b
= I
, so
ist
dei
■ Rest
von
a,
3
10,
b =
I, !
von
io ist
der Rest
von
a,
109
11
II,
b =
IO,
von b,
so ist
1
11
der Rest
von
a,
*3'
21
von
b,
100
21
Es sey a
Man sieht, dafs die Reste in einem weit gröfseren Verhältnisse ver-
schieden sind, als die Vorstellungen selbst. [171] Doch kann der Rest von b
niemals = o werden, denn erst tür a = 00 wird der Werth der Formel
bz
— — : — r unendlich ldein.
a-f-b
Jetzt für drey Vorstellungen.
a= l, b = 1 , c =s 1 , giebt den Rest
von a, = — : von b, = — • von c, = —
3 ' 3 ' 3
a = z, b=i, fs=i( giebt den Rest
von a, = — ; von b, ■==.—• von r, = —
5 ' 5 ' '5
Wäre hier, statt b und ^, eine einzige Vorstellung von der Stärke
b -\- c vorhanden gewesen: so würde von dieser ein gleicher Rest, wie
von a, nämlich von jeder der Rest = 1 geblieben seyn. Im gegen-
wärtigen Falle bleibt achtmal so viel von a, als von b und von c. So
wichtig ist der Unterschied, ob das nämliche Quantum des Vorstellens
als Eine Gesammtkraft wirkt, oder ob es in zwey wider einander wirkende
Vorstellungen vertheilt ist. — Es sey endlich noch
a = 6, £ = 5, ^ = 4, so ist
von a der Rest = I32
37
von b „ „ =~
von C „ „ = j3
Eine Gesammtkraft =b -\- c, anstatt der beyden Kräfte b und c,
hätte hier eine viel kleinere Hemmungssumme ergeben; sie wäre = 6,
Herrart's Werke. V. 19
2C)0
XL Psychologie als Wissenschaft.
anstatt jetzt = 9, geworden. Auch würde von a nur wenig, von der
Gesammtkraft desto mehr übrig geblieben seyn.
Der Rest von b kann auch für drey Vorstellungen nicht = o werden ;
sonst müfste bbc-\-abb — acc = o seyn können, welches nicht angeht,
weil b nicht kleiner als c seyn soll, folglich entweder abb> acc, oder doch
abb = acc; so dafs immer das Positive überwiegt.
Hingegen der Rest von c kann allerdings = o werden ; ein sehr
wichtiger Umstand, wovon bald ein Mehreres.
§ 45-
Der Zweck der allgemeinen Formeln kann bey den gegenwärtigen
Untersuchungen kein anderer seyn, als, [172] eine Uebersicht über ein
ganzes Feld von Möglichkeiten, oder noch genauer, von Erfolgen möglicher
Voraussetzungen, zu erlangen. Dieser Zweck wird gar sehr durch kleine
Tafeln befördert, welche die Werthe der Formeln für angenommene Grund-
gröfsen in Zahlen berechnet darstellen. Um aber die Arbeit abzukürzen,
die solche Tafeln kosten, ist es rathsam, einige, für die Rechnung leichte
Fälle herauszuheben, und wo möglich so, dafs die übrigen Fälle als zwischen
jene einzuschaltende können gedacht werden.
Wir wollen damit hier den Anfang machen. Für drey Vorstellungen
sey der Rest von a=p, von b = q, von c = r. Man setze erstlich
b = c, woraus q = r folgen mufs. Man setze zweytens b ■= a, woraus
p ==q folgen mufs. So findet sich nach gehöriger Rechnung aus den
Formeln des vorigen §
für b = cy für b = a,
2 b2 c_{aJrc)
2c -f- a
p = a
b -\- 2a
b2
p = q = a
2C
a'
b -\- 2a 2c -\-a
Im ersten Falle sey £= 10, im zweyten c= 10; so kommt
200 , io(io-f-rt)
1) q = a— t 2) p = q = a
10 -J- 2a
100
20 -{- a
200 — a2
1 o -f- 2 a
b = c = 10
20-\-a
a = b, und c = 1 o
p
q = r
a— 10
a= 11
3,33 ■ •
4,75 • •
3,33 ••
3>12 • •
0=15
10
2,5
a= 20
16
2
a==4o
37,77 ••
1,11 ..
p=q
r
a = b = 10
a = b= 11
3,33 ••
4,22 ..
3,33 ••
2,54 ••
a = b = 12
a = b= 13
a = b — 14
5,17 • •
6,03 . .
6,94 • •
i,75
0,93 • ■
0, 1 1
a = b = 1 5
7,5
0
a = b =. 20
10
0
[173] Die letzten Werthe des Täfelchens hängen mit den Schwellen
zusammen, wovon weiterhin.
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 201
§ 46.
Es mag nicht unnütz seyn, auch noch der Aufgabe zu erwähnen,
rückwärts aus den Resten als gegebenen Gröfsen die Vorstellungen selbst
zu finden. In den Gleichungen
bc (b 4- c)
p =a
q = b
bc -\-ac -\- ab
ac (b --J- c)
bc -l-ac 4- ab
at b (b -j- c)
bc 4- ac 4- ab
seyen demnach, a, b, c, unbekannt; so bietet sich zuvörderst, sowohl aus
der Natur der Sache als auch aus den Formeln, die Gleichung dar:
a=P + <! + >'.
Ferner sey - — ■ — — =/; so hat man
bc -\-ac -^-ab J
folglich
a —p — bc/; b — q = ac/; c — r = ab/;
a — p b a — p c
b — q a ' c — r a
oder a2 — ap = b2 — bq = c2 — Cr.
Man setze die schon bekannte Gröfse a2 — ap = h, so ist
Dafs man vor der Wurzelgröfse nur das Zeichen 4- gebrauchen kann
ist offenbar, indem b und c gröfser seyn müssen als ihre halben Reste.
§ 47-
Aus der Bemerkung, dafs der Rest von c negativ werden kann, ent-
wickelt sich der Keim zu sehr weitgreifenden Nachforschungen.
Die Frage: was ein negativ gewordenes Vorstellen bedeuten könne,
ist leicht beantwortet. Es kann gar nichts bedeuten ; denn nach den vorigen *
Erörterungen ist das [174] Aeufserste, was einer Vorstellung begegnen
kann, dieses, dafs sie ganz und gar in ein blofses Streben vorzustellen
verwandelt, oder dafs der Rest des wirklichen Vorstellens = o werde.
Die Gleichung r = o setzt daher der Anwendbarkeit der vorigen Rechnungsart
eine Gränze; denn ein negatives r ist in unserm Falle so gut als eine
unmögliche Gröfse.
Aus r = o folgt c = b\/ . Wofern c im Verhältnifs zu b und
0 r b-\-a
a kleiner ist, als nach dieser Formel : so ist jede nähere Bestimmung seiner
Gröfse für die obige Hemmungsrechnung ganz gleichgültig; denn es wird
auf allen Fall ganz gehemmt; daher ist sein Antheil an der Hemmungs-
1 nach vorigen O.
19"
2Q2 XI. Psychologie als Wissenschaft.
summe gerade gleich seinem Beytrage zu derselben, und die stärkeren
Vorstellungen theilen ihren Beytrag gerade so, als ob c gar nicht vor-
handen gewesen wäre. Der Zustand des Bewufstseyns also, in wiefern er
statisch bestimmt werden kann, hängt gar nicht ab von c; — noch viel
weniger aber von was immer für noch schwächeren Vorstellungen,
deren eine unendliche Anzahl vorhanden seyn möchte, ohne
dafs sie im geringsten im Bewufstseyn zu spüren seyn würden,
so lange dasselbe im Zustande d'es Gleichgewichts aller Vor-
stellungen wäre und bliebe.
Dieser Satz, der sich hier mit der höchsten mathematischen Evidenz
ergiebt, bietet uns nun den Aufschlufs dar über das allgemeinste aller
psychologischen Wunder. Wir alle bemerken an uns, dafs von unserm
sämmtlichen Wissen, Denken, Wünschen, in jedem einzelnen Augenblicke
eine unvergleichbar kleinere Menge uns wirklich beschaff tigt, als diejenige
ist, welche auf gehörige Veranlassung in uns hervortreten könnte. Dieses
abwesende, aber nicht entlaufene, sondern in unserm Besitz gebliebene
und verharrende Wissen, in welchem Zustande befindet es sich in uns ?
Wie geht es zu, dafs es, obschon vorhanden, dennoch nicht eher zur Be-
stim[i75]mung unseres Gemüthszustandes etwas beyträgt, als bis es uns
wieder einfällt? Was kann unsre lebhaftesten Überzeugungen, unsre besten
Vorsätze, unsre ausgebildeten Gefühle, manchmal auf lange Zeiten, verhindern
wirksam zu werden; was kann ihnen die unglückliche Trägheit beybringen,
durch die sie uns der vergeblichen Reue so oft Preis geben? ■ — Andre
Gedanken haben uns zu lebhaft beschäfftigt ! Dies wissen wir schon aus
der Erfahrung. Und dennoch hat man sich lieber bis in die, alle ge-
sunde Metaphysik zerstörenden, Irrlehren, von der transscendentalen Frey-
heit, und vom radicalen Bösen, verlieren, als den psychologischen Mechanis-
mus, an welchem offenbar die Schuld liegen mufs, genauer untersuchen
wollen. —
Der eben aufgestellte Lehrsatz ist der erste, obgleich noch sehr be-
schränkte, Anfang der Einsicht in diesen Mechanismus. Zwey Vorstel-
lungen reichen hin, um eine dritte aus dem Bewufstseyn völlig zu ver-
drängen, und einen von ihr ganz unabhängigen Gemüthszustand herbey-
zuführen. Eine allein vermag dies nicht gegen die zweyte; wie wir oben
sahen, indem wir bemerkten, dafs der Rest von b niemals =o werden
kann. Was aber zwey «regen die dritte vermögen, das leisten sie auch
gegen eine wie immer grofse Anzahl von schwächern Vorstellungen.
Fernere Untersuchungen werden lehren, dafs ganz ähnliche psychologische
■ Ereignisse auch unter gewissen Umständen Statt haben können, ohne dafs
die aus dem Bewufstseyn verdrängten Vorstellungen gerade schwächer zu
seyn brauchen, als die verdrängenden.
Indessen wollen wir schon hier das Allgemeine dieser Ereignisse mit
einem Kunstworte bezeichnen, dessen Gebrauch in der Folge noch oftmals
nöthig seyn wird. So wie man gewohnt ist, vom Eintritt der Vor-
stellungen ins Bewufstseyn zu reden, so nenne ich Schwelle des Be-
wufstseyns diejenige Gränze, welche eine Vorstellung scheint zu über-
s< breiten, indem sie aus dem völlig gehemmten Zustande zu einem Grade
des wirklichen Vor[ 1 7 6] stellens übergeht. B er echnung der S ch w el 1 e ist ein
Ziveyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 293
verkürzter Ausdruck für Berechnung derjenigen Bedingungen, unter welchen
eine Vorstellung nur noch vermag, einen unendlich geringen Grad des
wirklichen Vorstellens zu behaupten ; unter welchen sie also gerade an jener
Gränze steht. Wie wir vom Steigen und Sinken der Vorstellungen reden :
so nenne ich eine Vorstellung unter der Schwelle, wenn es ihr an
Kraft fehlt, jene Bedingungen zu erfüllen. Zwar der Zustand, in welchem
sie sich alsdann befindet, ist immer der gleiche der vollständigen Hem-
mung; aber dennoch kann sie mehr od er weniger weit unter der
Schwelle seyn, je nachdem ihr mehr oder weniger Stärke fehlt, und noch
zugesetzt werden müfste, um die Schwelle zu erreichen. Eben so ist eine
Vorstellung über der Schwelle, in so fern sie einen gewissen Grad des
wirklichen Vorstellens erreicht hat.
Ist von den Bedingungen die Rede, unter welchen im Zustande des
Gleichgewichts eine Vorstellung gerade an der Schwelle steht: so nennen
wir die letztere die statische Schwelle. Tiefer unten werden sich auch
mechanische Schwellen zeigen, die von den Bewegungsgesetzen der
Vorstellungen abhängen. Unter den statischen Schwellen befinden sich
einige, die von Complicationen und Verschmelzungen mehrerer Vorstellungen
abhängen: zum Unterschiede von denselben sollen die, welche blofs durch
die Stärke und den Gegensatz einfacher Vorstellungen bestimmt werden,
gemeine Schwellen htifsen. Die erste Art der gemeinen Schwellen ist
die bey vollem Gegensatze, welche wir bisher betrachtet, und durch die
Formel c — b\ -— bestimmt haben.
f a -4-0
+
§ 48.
Es ist hier der Ort, auf ein paar früher vorgekommene Bemerkungen
zurückzublicken. Schon im § 4 ward angegeben, was unter dem Ausdruck :
Thatsachen [177] des Bewufstseyns zu verstehen sey. Im § 18 war die Rede
von dem Unterschiede dessen, was ins Bewufstseyn kommt, von dem-
jenigen, dessen man sich bewufst ist. Zu dieser Unterscheidung nöthigt
der Mangel an Sprache, welchem der Mangel an psychologischen Ein-
sichten zum Grunde liegt. Viele nämlich halten das Vorstellen und das
Selbstbeobachten dieses Vorstellens für unzertrennlich ; oder sie verwechseln
wohl gar eins mit dem andern. Daher wird der Ausdruck : Bewufstseyn,
zweydeutig; indem er bald das gesammte wirkliche Vorstellen, — ■ also
das Hervorragen einiger Vorstellungen über die Schwelle, die Erhebung
derselben über den ganz gehemmten Zustand, — bald aber die Beobach-
tung dieses Vorstellens als des uns r igen, die Anknüpfung desselben an
das Ich, zu bezeichnen gebraucht wird. Wir nehmen hier das Wort Be-
wufstseyn überall in der ersten Bedeutung; bedienen uns aber für das
zweyte der Wendung: man ist Sich einer Sache bewufst.
Hiemit soll zwar noch nicht über die Frage von den sogenannten
bewufstlosen Vorstellungen entschieden werden, oder, wie wir uns aus-
drücken würden, von den Vorstellungen, die im Bewufstseyn sind, ohne
dafs man sich ihrer bewufst ist. Aber, erstlich liegt nach allem Vor-
stehenden klar vor Augen, dafs die Gesetze, nach welchen Vorstellungen
ins Bewufstseyn treten, viel früher anfangen sich uns zu entdecken, als
2QA X.I. Psychologie als Wissenschaft.
diejenigen, nach welchen das Ich als das Vorstellende mag aufgefafst
werden. Die Selbstbeobachtung ist ohne Zweifel etwas ungleich mehr Ver-
wickeltes, als das blofse Hervortreten über die Schwelle; und mufs daher,
in der Untersuchung, von diesem ganz gesondert werden. Zweytens
bedürfen wir eines Namens für die Gesammtheit des jedesmal
gleichzeitig zusammentreffenden Vorstellens; und diese ist es,
für welche kaum ein passenderer Ausdruck als das Wort Bewufstseyn
möchte gefunden werden. Sie ist darum so wichtig, weil sie, für jede in ihr
zu einem bestimmten Zeitpuncte enthal[i78]tene Vorstellung, die Wirkungs-
sphäre ausmacht ; indem alle gleichzeitig in Activität befindliche Vorstel-
lungen sich auf irgend eine Weise gegenseitig afficiren, und zusammen-
genommen den eben jetzt vorhandenen Gemüthszustand ergeben. Sollte
es übrigens den Sprachgebrauch zu verletzen scheinen, wenn wir von Vor-
stellungen im Bewufstseyn reden, deren wir uns gleichwohl nicht bewufst
seyen : so wolle man sich erinnern, dafs auch selbst die ganz gemeine
Sprache durch den Ausdruck: Er ist ohne Bewufstseyn, einen Zustand
bezeichnet, der weit verschieden ist von dem, welchem ein Denker oder
Dichter sich in dem Maafse nähert, als er, seiner selbst vergessend,
sich in seinen Gegenstand wissenschaftlich oder künstlerisch vertieft. —
Im § 17 bot sich die Gelegenheit dar, an Locke's gerechte Ver-
wunderung über die „narrowness of the human mind" zu erinnern. Schon
jetzt ist soviel sichtbar, dafs diese scheinbare Eigenschaft der Seele, nur
eine sehr kleine Anzahl von Vorstellungen gleichzeitig in Thätigkeit setzen
zu können, und bey dem Wechsel der Vorstellungen, immer die alten über
den neuen fahren zu lassen, ohne sie doch zu verlieren, — gar keine
Eigenschaft der Seele, sondern blofs ein nothwendiger Erfolg der Gegen-
sätze unter unsern Vorstellungen ist. In welche Hypothesen würde man
wohl gerathen, wenn man dem Gemüthe gleichsam eine enge Pupille bey-
legen wollte, vielleicht mit irgend einer Iris versehen, die sich nach ihren
eignen Gesetzen erweiterte und zusammenzöge ? — Aus dem obigen ist
klar, dafs das Quantum dessen, was im Gleichgewichte beysammen seyn
kann im Bewufstseyn, gar kein allgemeines Gesetz hat, sondern in
jedem einzelnen Falle von der Stärke und den Gegensätzen der zu-
sammentreffenden Vorstellungen abhängig ist. Von physiologischen
Einflüssen, welche dieses einigermaafsen modificiren, und der Aehnlichkeit
mit jener Pupille um ein weniges näher bringen können, reden wir hier
noch nicht.
[179] § 49-
Die Wichtigkeit des Gegenstandes fordert uns auf, einige berechnete
Werthe der so einfachen Schwellenformel c = b 1/ — ■ — - vorzulegen. Wir
' a -f- 0
verbinden damit eine Betrachtung über die zugehörigen Reste von a und
von b.
Aus der Gleichung des § 46
ab(b-\- c)
r = c — — — A— ^— '— = o
bc -j- ac -\- ab
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.
'95
ist bekanntlich die Formel c
' a
a
gefunden worden.
Anstatt
diesen Werth von c in die dortigen Gleichungen für p und für q zu
substituiren : nehme man die weiterhin im angeführten § vorkommende
Gleichung
wo // =■ a 2 -f- ap.
Für r = o ergiebt sich hieraus c == V k = V a2 — ap, oder c2=a2 — ap,
oder ap = a2 — c2 = (a -f- c) (a — c). Ferner ist jetzo a = p -J- q, und
c2 c2
p = a — q = a , woraus q ===== — , oder aq == c2.
a a
Dies giebt eine sehr fafsliche Relation zwischen q, dem Rest von b,
und a, der stärksten der drey Vorstellungen, und c, wenn es seinen
Schwellenwerth hat. Man kann sich q als beständige Gröfse, als den
Parameter einer Parabel vorstellen, so gehört eine stetige Folge von Werthen
für c und a zusammen, wie Ordinaten und Abscissen vom Scheitel auf der
Axe genommen. Da a nicht <Cb, so fängt dies ein von a = b, wofür a
einen Werth erhält, der von q abhängt (nämlich a = 2q, aus einer gleich
folgenden Formel), und alsdann geht es fort bis a = oo (wofür b und c
unendliche von der Ordnung — werden, indem b = — q -j- 1/ 1-q2-\-qa.
TiSol Aus a=p-\-q\md , -
1 b — q
bb
wird ferner
b
a
oder q == — - — • deich der Formel im § 44; wie gehörig, weil a und/' nur
a -\- b
die Hemmungssumme b zu theilen haben, sobald c auf der Schwelle ist.
Will man also alle zusammengehörige Gröfsen auf einmal berechnen : so
bb
ist es bequem, für willkührlich angenommene a und b zuerst — r = q
^ ° a-\-b
dann p = a — q und c=Saq zu berechnen.
Bey spiele können wir anknüpfen an die im § 44 berechneten Reste
für zwey Vorstellungen, indem wir nur die Schwellenwerthe für eine dritte
Vorstellung hinzufügen dürfen.
a
b
/
9
C
1
1
1
— = °>5
2 'O
1
— = °>5
0,707..
2
1
-5-« 1,666..
3
■! =0.333 ••
0,8l6..
10
1
rr = 9-909 • •
77 = °'°9° • •
0,953 • •
1 1
10
^ = 6,236..
1 .„ „1 — i_
IOO
—=-41761..
7,2 i7 ■■
c folgt in diesem Täfelchen ; welches unter der beständigen Voraussetzung
b = 1 berechnet ist :
296
XI. Psychologie als Wissenschaft.
a
c
1
0,7071
1,1
0,7237
1,2
o,7385
i,3
0,7518
i,4
0,7637
i,5
o,7745
1,6
0,7844
i,7
o,7934
1,8
0,8017
i,9
0,8094
a
c
2
0,8164
3
0,8660
4
0,894
5
0,912
6
0,925
7
o,935
8
0,942
9
0,948
10
o,953
00
1
[181] Es versteht sich, dafs wenn statt der Zahl 1 ein andrer Werth für
b gesetzt wird, dann die übrigen Zahlen in gleichem Verhältnisse wachsen
müssen. So wenn b = 10, wird a = 11 anstatt 1,1 ; und c = 7,237
anstatt 0,7237; wie das vorige Täfelchen zeigt.
§ 50.'
Will man nun die Henunungsrechnung des § 44 auf angenommene
Gröfsen von drey Vorstellungen anwenden : so mufs man zuvor nachsehn,
ob nicht die Anwendbarkeit der Rechnung dadurch verändert wird, dafs
die schwächste der drev Vorstellungen neben den andern unter die Schwelle
sinken mufs ? in welchem Falle die Rechnung gleich Anfangs blofs auf die
beyden stärkeren zu beziehen ist.
Z. B. es mögen sich die Vorstellungen ihrer Stärke nach verhalten
wie 1, 2, 3. Um hier das vorstehende Täfelchen anzuwenden, dividire
man die gegebenen Zahlen durch 2 , damit b = 1 werde. So ist
a = -$- = 1,5; und c = 0,5. Nun zeigt das Täfelchen, dafs schon
c = 0,77 . . . neben a und b zur Schwelle sinken würde; es fehlt also
viel, dafs c = 0,5 hier in Rechnung kommen könnte. Die Hemmungs-
rechnung geht nach der Formel für zwey Vorstellungen, sie giebt den Rest
von a = — , imd von b = — .
5 s
Das Beyspiel zeigt den Nutzen, ja beynahe die Unentbehrlichkeit von
Schwellentafeln. Zum Unglück hängen in der Wirklichkeit die Schwellen
von so manchen, höchst verwickelten Bestimmungen ab (wie sich bald
mehr und mehr zeigen wird), ja auch die allgemeinen Formeln, die sich
noch finden lassen, sind so zahlreich und zum Theil so schwer zu
gebrauchen, dafs nicht wenig Geduld dazu gehören wird, wenn jemals
der speculativen Psychologie diese Art van Hülfsmitteln soll geschafft
werden.
Indessen ist es schon ein grofser Gewinn, sich nur richtige Begriffe
über diese Gegenstände zu erwerben, und im Allgemeinen die Möglichkeit
und die Gesetze zu überschauen, nach denen in der Seele sich etwas
ereignet und ereignen kann.
[182] In der gegenwärtigen Grundlegung können wir überdies an voll-
ständige Ausführungen nicht denken. Nur erwähnen wollen wir daher der
Schwellen für mehr als drey Vorstellungen.
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 2Q7
§ 5i-
Es seyen gegeben die Vorstellungen a, b, c, d, geordnet, wie wir
stets annehmen, nach ihrer Stärke von der stärksten zur schwächsten. So
ist die Hemmungssumme = b -f- c -j-^ d, die Hemmungsverhältnisse
sind bcd : acd : abd : abc, und der Rest von d:
abc (b -J- c -\- d)
d
bcd -|- acd -{- <?^^ -[- rt$<:
1 f abc (b 4- c )
Aus j=o folgt d=y -j — —v~ - r — ;—
6 K /;r -J- Äf -|- ät£
Eben so würde man für fünf Vorstellungen a, b, c, d, e, den Rest
von e, oder / finden.
abcd (b -f- c -f d + e)
und aus / ••= o
bcde -}- «<r^/^ -|- abde -j- ß/r^ -f- tf^rrtf
fabcd(b -\- c -j- d)
bcd-\- acd -f- ß^-|- tf£f
Der Vergleichung wegen wollen wir die schon bekannte Formel
]/" a -\fab.b
c — by — - so schreiben: c=\ — — -■ so wird das Gesetz des Fort-
r a-j-b ' a-{- b
gangs so klar vor Augen liegen, dafs jeder Zusatz überflüssig wäre.
Es seyen nun alle Vorstellungen, aufser der jedesmaligen schwächsten,
= I. So geben die Schwellenformeln
=Y v= 0,707
0,816.
,866.
welche Reihe sich der Zahl 1 unendlich nähert. Also jemehr Vorstellungen,
desto weniger darf die schwächste, um nicht auf die Schwelle zu sinken,
von den stärkeren entfernt seyn. Dies gilt um so gewisser, wenn die
übrigen Vorstellungen verschieden sind. Denn es wachse a, [183] so bleibt die
Hemmungssumme gleich, aber a trägt weniger davon, und wirft desto
mehr auf die schwächeren Vorstellungen. Es wachse auch b, so vermehrt
sich sogar die Hemmungssumme, und die schwächeren müssen um so
eher unterliegen.
Die Möglichkeit, dafs mehr als drey Vorstellungen im Bewufstsevn
zusammen bestehen könnten, scheint hiernach in sehr enge Gränzen ein-
geschlossen. Allein dies gilt blofs für vollen Gegensatz, und wird über-
dies noch durch manche Umstände modificirt.
2q8 XL Psychologie als "Wissenschaft.
Drittes Capitel.
Abänderungen des Vorigen bey minderem Gegensatze.
§ 52.
Zwar das Princip zur Bestimmung der Hemmungssumme, dessen wir
uns im § 42 bedient haben, wird uns auch hier nicht verlassen, wo wir
die erleichternde Voraussetzung des vollen Gegensatzes entbehren, und
zwischen jedem Paare von Vorstellungen jeden möglichen Grad des Gegen-
satzes gestatten sollen. Immer werden wir Eine Vorstellung als ganz
ungehemmt denken müssen, um nachzusehn, wie viel nun von den
übrigen zusammengenommen müsse gehemmt werden; und immer werden
wir diejenige Vorstellung auszuwählen haben, welche, damit sie selbst
ungehemmt bleibe, den übrigen die kleinste Hemmung auferlege. Allein
das Geschafft dieser Auswahl führt eine lästige Weitläuftigkeit mit sich ;
die wir jedoch der Genauigkeit wegen wenigstens kenntlich machen
müssen.
Zuvörderst ist zu bemerken, dafs die frühere sehr einfache Weise,
die bey vollem Gegensatze ausreicht, [184] immer anwendbar ist, so oft alle
Vorstellungen in allen Paaren, die aus ihnen genommen werden können,
nur einerley Grad des Gegensatzes haben. — Unter zwey Vorstellungen
o und b, wo a > b, sey der Gegensatz = ?n, welches, wenn nicht = 1,
allemal ein ächter Bruch ist (§ 41), so ist die Hemmungssumme = mb)
welches man findet, indem a ungehemmt gedacht wird. Denn b un-
gehemmt, hätte ma zur Hemmungssumme gegeben, welches gröfser ist als
mb. — Unter drey Vorstellungen, a, b, c, wenn die Paare a und b, b
und c, a und c, immer einerley Gegensatz ;/z mit sich führen, denke man
die stärkste, a, ungehemmt, so ergiebt sich die H. S. = mb -f- mc.
b ungehemmt, gäbe ma -|- mc) c ungehemmt, gäbe ma -\- mb) immer''
eine gröfsere Hemmung, als die Vorstellungen ihrer Xatur nach noth-
wendig fordern, und als ihr Aufstreben zulassen wird. — Wie viele nun
der Vorstellungen seyn mögen, — es seyen ihrer a -\- b -^- c -j-. ..-{-«, —
immer denke man die stärkste, a, ungehemmt, so ist, für den durch-
gängigen Hemmungsgrad = m, die H. S. = m (b -|- c -j- • • • -j- «)•
Bey verschiedenem Grade der Hemmung aber, für drey Vorstellungen
a, b, c, giebt es drev Paare, ab, ac, bc, und folglich drey Hemmungs-
grade, deren stärksten wir ?n, den mittlem n, den schwächsten p nennen
wollen. Es soll noch nicht entschieden werden, welchem unter den
Paaren jeder von ihnen zugehöre; vielmehr, da jeder in jedem Paare
statt finden kann, giebt es Versetzungen der Hemmungsgrade zwischen
den Vorstellungen, oder, wenn man will, der Vorstellungen zwischen den
Hemmungsgraden. Dieser Versetzungen sind an der Zahl sechs ; und
jede von ihnen bildet einen besonderen Fall zur Untersuchung der H. S.
Man kann diese Fälle bequem durch Dreyecke andeuten, in deren Winkel-
punrte man die Verhältnifszahlen für die Vorstellungen setzt, und deren
Seiten den Hemmungsgraden proportional sind.
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 2QQ
[185] c b
^ n & n
I. b p a IL c p a
c a
<$> n $ n
III. a p b IV. c p b
b a
$• n & n
V. a p c VI. b p c
Die beyden ersten Fälle haben den stärksten Gegensatz zwischen den
schwächsten Vorstellungen; die beiden folgenden zwischen der stärksten
und schwächsten ; die beyden letzten zwischen den stärksten.
Was die Hemmungsgrade selbst betrifft, so gilt für sie ein ähnliches
Gesetz, wie für die Seiten eines Dreyecks. Ihrer zwey zusammen-
genommen dürfen nicht kleiner seyn als der dritte. Denn der
Uebergang aus einet Vorstellung zu einer andern durch alle zwischen-
liegenden Verschiedenheiten kann wohl kleiner, aber er braucht nicht
gröfser zu seyn, als die Summe zweyer Uebergänge von der ersten zu
einer dritten, und von dieser zu jener andern; jeder gröfsere Weg ist
gewifs ein Umweg, der den wirklich zwischenliegenden Verschieden-
heiten etwas fremdartiges beymischt. — Ich finde nicht nöthig, die Be-
griffe über diesen Punct, der eine Art von geometrischer Evidenz besitzt,
hier mehr aufzuklären; welches in die allgemeine Metaphysik zurückführen
würde, indem es mit der Construction des intelligibelen Raums zusammen-
hängt. Beyspiele werden kaum nöthig seyn; man wird nicht in Ver-
suchung gerathen, etwan p = — , n == — und daneben m, welches
höchstens = — sevn kann, = 1 zu setzen. Wichtiger ist es vielleicht,
4
an die Natur unserer einfachen sinnlichen Vorstellungen zu erinnern. [186]
Die Töne bilden ein Continuum von nur Einer Dimension, welches wir
die Tonlinie nennen wollen.* Ist von ihnen die Rede, so ist allemal
P -j- n = m. Hingegen schon die Vocale bilden ein Continuum von
wenigstens zwey Dimensionen, denn der Uebergang vom U zum / geht
gewifs nicht nothwendig durch A, sondern gerade durch Ü\ obgleich auch
der Umweg durch O, A und E möglich ist. Die Farben haben eben-
falls zum wenigsten zwey Dimensionen, indem schon Roth, Blau und Gelb,
paarweise genommen, eine Folge von Nuancen in gerader Linie zwischen
sich einschliefsen, und alle drey in der That ein gleichseitiges Dreieck zu
bilden scheinen, in welchem jedoch weder Weifs noch Schwarz, noch selbst,
wie es scheint, das reine Braun mit eingeschlossen liegt. Für Farben
daher kann man gewifs p = n = m setzen, welches bei Temen unmög-
lich ist. — Hingegen wird man, wofern vier Vorstellungen von Farben
zusammen zu nehmen sind, sich hüten müssen, der vierten ihre Gegen-
sätze gegen alle drey andre willkührlich anzuweisen, indem auch hier, wie
* Nicht zu verwechseln mit Tonleiter, die nur einzelne Puncte jener Linie enthalt.
?00 3CI. Psychologie als "Wissenschaft.
beim vierten Puncte auf einer Fläche, aus zweyen Gegensätzen und gleich-
sam Distanzen, der dritte von selbst folgt. Dies unter der Voraussetzung,
dafs man nicht noch eine dritte Dimension für die Farben rechtfertigen
könne, oder dafs man wenigstens in dem vorhandenen Falle von dieser
dritten Dimension nicht Gebrauch gemacht habe. Es scheint zwar eine
dritte Dimension vorhanden zu seyn, nämlich in dem Gegensatz des
Hellen und Dunkeln, welches, auf die Mitteltinte aller übrigen Farben
bezogen, Weifs, Grau und Schwarz ergeben dürfte; während doch auch
alle reinen Farben bei den Extremen der Verdunkelung oder Erhellung in
Schwarz und Weifs überzugehn pflegen. Allein eben aus diesem letztem
Grunde laufen wir hier Gefahr, die Intensität der Vorstellungen (den
Unter[i87]schied des a, b, c) zu verwechseln mit ihrer specifischen Ver-
schiedenheit (dem m, n, p).
Indem wir nun die Hemmungssumme für die unterschiedenen sechs
Fälle aufsuchen, werden uns die ersten beyden nicht lange zweifelhaft
lassen. Offenbar ist
für den Fall I. die Hemmungssumme = pb -j- nc,
„ IL „ „ = pc + nb.
Beydemale wird hier a ungehemmt angenommen, welches nicht blofs selbst
am stärksten, sondern hier zugleich von den schwächsten Gegensätzen
umgeben ist.
Aber für den Fall III. ist die H. S. j ^tweder Pa + *J
( oder mc -\- pb.
Jene findet sich unter der Voraussetzung, dafs b ungehemmt, diese, dafs a
ungehemmt sey. Zwischen beyden kann man nicht im Allgemeinen, son-
dern nur in besondern Fällen entscheiden, weil zwar pa > pb, aber zu-
gleich nc < mc.
Für den Fall IV. ist die H. S. ] entweder^ c + na wo zwzrpc<mc,
i oder mc -\-nb
aber na > nb.
Für den Fall V. ist die H. S. ( entweder/« + np ^ zwar pa>pCi
\ oder mp -\-p c
aber nb < mb.
Der letzte Fall endlich ist der schwierigste. Denn
( entweder pb -(- na
für den Fall VI. ist die H. S. I oder ma-\-pc
\ oder mb -j- ?ic
wo keine der drey Angaben vor der andern einen im Allgemeinen zu
erkennenden Vorzug besitzt. Sind die Gröfsen in Zahlen gegeben, so
versteht sich, dafs man in allen Fällen die kleinste sogleich herausfinden
werde. In allgemeinen Rechnungen aber entsteht hieraus eine Unbequem-
lichkeit, indem sie oft nur bis auf einen gewissen Punct vollführt werden
können, über welchen hinaus man sich auf die Unterscheidung der mög-
lichen Fälle einlas[i88]sen mufs. — Diese Unbequemlichkeit vermindert
sich um etwas durch die Bemerkung, dafs nur in zweyen Angaben, beym
Fall V. und VI., c in der Hemmungssumme fehlt. Diese kann man als
Ausnahmen betrachten, und dagegen als Regel annehmen, dafs c sich in
der H. S. befinde.
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ?oi
Wer noch Erläuterungen wünscht, der versuche im Fall III. an-
zunehmen, dafs c ungehemmt bleibe. Daraus wird folgen, dafs ci und b
so weit sinken müssen, als es ihr Gegensatz gegen c mit sich bringt.
Also wird die Hemmungssumme = ma -f" n&- Man vergleiche hiemit
die obigen Angaben. Die erste, unter der Voraussetzung, b sey un-
gehemmt, war pa -j- nc; diese ist allemal kleiner als jene, derm pa << ma,
und ;/ c <; nb- Schon hieraus folgt, dafs die Angabe ma -\- nb ganz un-
statthaft ist; und die andre Vergleich ung mit mc -\- pb ist nicht mehr
nöthig. Auf ähnliche Weise ist im Fall V. die Annahme, b sey un-
gehemmt, ausgeschieden; sie hätte gegeben: H. S. = ma -\- nc, welches
verglichen mit inb -L. pc allemal gröfser, und also unbrauchbar ist. Und
so sind auch die übrigen unstatthaften Annahmen ausgeschlossen worden.
Auf die Hemmungssumme für mehr als drey Vorstellungen werden
wir uns nicht einlassen. Die abschreckende Weitläuftiq-keit der Untersuchung:,
auf die man aus dem Vorstehenden schliefsen kann, einerseits, und die
mindere Wichtigkeit der Sache andrerseits, wird dies entschuldigen. Natür-
lich kommt bey mehr als drey Vorstellungen das Meßte immer auf die
drey stärksten an. Sucht man für diese die Hemmungssumme, und addirt
dazu, für jede der schwächeren, denjenigen ihrer Gegensätze gegen jene
drey, welcher der stärkste ist, und also die geringeren in sich fafst: so
wird man schwerlich einen bedeutenden Rechnungsfehler begehn können.
Aufserdem giebt die oben erwähnte Voraussetzung eines .durchgängig
gleichen Hemmungsgrades aller Vorstellungen unter einander, immer einen
Gesichtspunct ab, von wo aus man sich unter den übrigen möglichen
Fällen [189] orientiren kann. Diesem analog ist der Fall, wo alle Vor-
stellungen gleich stark, aber die Hemmungsgrade verschieden sind. Hier
hebe man zuvörderst diejenigen drey Vorstellungen heraus, welche unter
einander die gröfste Hemmungssumme bilden. Eine darunter wird bey
Bestimmung der H. S. als ungehemmt betrachtet werden; dieser gegen-
über denke man sich die sämmtlichen übrigen als sinkend nach ihrem
Hemmungsgrade, und addire, was herauskommt, zur Hemmungsumme der
herausgehobenen drey. Das Gesagte wird für unsre gegenwärtigen Zwecke
völlig hinreichen.
§ 53-
Die Bestimmung des Hemmungsverhältnisses bei minderem Gegensatz
ist noch bey weitem schwieriger, als die der Hemmungssumme, falls dabey
auf alle Umstände, die vorkommen können, soll Rücksicht genommen wer-
den. Die Angabe derselben gehört in die folgenden Capitel; hier werden
wir nur das Leichteste, Allgemeinste, und was die Grundlage der Unter-
suchung bildet, in Betracht ziehen.
Zuerst müssen die Ueberlegungen des $ 43 zurückgerufen werden.
An der Stelle, wo dort gesagt wurde, jede Vorstellung wirke im Ver-
hältnifs ihrer Stärke, ist jetzt hinzuzufügen: und im Verhältnisse
ihres Gegensatzes. Daher leidet nun auch jede Vorstellung nicht blofs
im umgekehrten Verhältnifs ihrer Stärke, sondern sie leidet von jeder
andern nach dem Hemmungsgrade, den sie gegen diese andre bildet. Bey
zweyen Vorstellungen hebt dieses sich auf, aber nicht so bey mehrern.
302
XI. Psychologie als Wissenschaft.
oder — , —
b ab
Aber für drey Vorstellungen, und drey Hemmungs-
Für a und b, und den Hemmungsgrad vi, sind die Hemmungsverhältnisse
771 7)1
a'
grade, müssen wir die Sache etwas genauer betrachten.
Wir gehn zurück zu den oben unterschiedenen sechs Fällen, wie-
wohl nur, um uns der dortigen Bezeichnung zu bedienen, denn der Unter-
schied der Fälle selbst kommt [190] hier nicht in Anschlag. Beyspielshalber
nehme man den Fall I. Hier leidet a von b und von c. Laut § 43
würde es von beyden gleich viel leiden, wenn der Gegensatz voll wäre.
Jetzt leidet es weniger, von b im Verhältnifs p, und von c im Verhält-
P ~r~ n
Also ist sein Leiden überhaupt durch die Verhältnifszahl
a
nifs n.
zu bestimmen, wenn wir auf ähnliche Weise das Leiden von b durch
m -1— n
Es ist nun leicht, die
und das von c durch - - ausdrücken
b c
sechs Fälle zu durchlaufen. Jeder bekommt sein eignes Hemmungs-
verhältnifs, aber nur nach einerley Regel, indem man für jede Vorstellung
die nebenstehenden Hemmungsgrade addirt, und daraus den
Zähler eines Bruches bildet, welchem die eigne Stärke der Vorstellung
zum Nenner dient. Dies ist alles, was für jetzt von den Hemmungs-
verhältnissen kann gesagt werden; auch ist es auf mehr als drey Vor-
stellungen leicht auszudehnen.
§ 54-
Wir dürfen nur das Vorhergehende zusammenstellen, um die Hem-
mungsrechnung anzuordnen. Es seyen gegeben die beyden Vorstellungen
a und b, der Hemmungsgrad ;«, so hat man
7)i b2
(«+*)
7)1 i
a
a + b
mab
P
a
q = b
m b2
a + b
7)1 ab
a + b
ist der Rest von a,
ist der Rest von b.
a + b
Beyde Reste zusammen sind = ci - - (1 ■ - m) b, wovon man, wenn
der eine in Decimalbrüchen schon berechnet ist, denselben nur abziehn
darf, um den andern zu finden.
[191] Bey spiele :
« — I, h = 1, m = ~} giebt P = \
m -= -i-, giebt p=-\
giebt p =
m
a= 1, b = 1
a= 1, b = 1
a = 2, b = 1
a = 2, b = 1
für a = 00 wird p
m = -i-, giebt p --
m= y> giebt /; =
a, q = (1
8
5
8 :
11
T
q = f = °>75
? = f = 0,87
5
= f = 0,625
= 1,833.., q = — = 0,666..
1,916 . . , q = 0,833 . .
- m) b.
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.
305
Für drey Vorstellungen nehme man die Hemmungssumme aus §52,
und nenne sie S; die Hemmungsverhältnisse aus § 53 ; auch nenne man
die Zähler der Brüche, wodurch die Verhältnisse bezeichnet werden, 1, rt, &;
l 1] d~
so sind ganz allgemein die Verhältnifszahlen = — , -£-, — ; oder bei, acri,
a b c
abd; und die Rechnung steht so:
(bei -\- ac )] -{- abd) :<
ba.
ac r, = S:
abd
bciS
bei -\- aci] -\- abd
ae>]S
bei -\- aci] -|- abd
abd-S
bei -j- aci] -\- abd
woraus sich die Reste durch gehörigen Abzug ohne Mühe finden. —
Man weifs schon, dafs für den Fall L, 1 = p -j- n, i] = p -f- m,
d = m -J- 11 ; für den Fall IL, t = p -\- n, i] — m -)- n, d = m -f- p;
für den Fall III., t=p-\-tn, ij=p-\-n, & = m -f- », «• s. f. Die
Werthe von e, q, d, liegen zwischen o und 2.
Für durchgängig gleiche Hemmungsgrade, oder für p = m = n, folg-
lich e = >] = d, fallen diese Gröfsen aus den Verhältnifszahlen heraus,
und bleiben nur noch in der Bestimmung von S zurück ; daher verhalten
sich alsdann die Theile, welche gehemmt werden, zu den entsprechenden
im § 44, gerade wie 5 : (b -f- c).
§ 55-
Die Berechnung der Schwelle für die schwächste der drey Vor-
stellungen stützt sich hier auf die Gleichung:
[192] abdS
bei -j- aci] -j- abd
oder C2- (bi -j- arj) -J- ab de = abdS,
wobey man nicht vergessen darf, dafs £ in der Regel nach e enthält, also
die Gleichung nicht so geradezu kann aufgelöset werden.
Wir wollen hier c = 1 setzen, indem wir es als den beständigen
Maafsstab der übrigen Gröfsen ansehn, und aus ihm die zugehörigen b
und a berechnen. Auch sey -— = x, welches also das Verhältnifs zwischen
(i und b andeutet, und uns die Substitution a = y.b verschafft, wodurch
die Gleichung zur Division mit b vorbereitet wird. Su kommt
1 + xi, -\- xbd = xbdS
oder i+-^ — b (S—i).
xd
Bekanntlich liegen die Werthe von a zwischen b und cc ; also die von x
zwischen 1 und 00 . Und da S, nach § 52, meistens b und e, jedes
mit einem Hemmungsgrade multiplicirt, enthält, so sey 5 = ob -j- rr,
oder weil c = 1, S = ob -\- r; alsdann ergiebt sich
für a
1 -4- i]
b, oder x = 1, — L__i = b (ab -f- r — 1)
304 -^- Psychologie als Wissenschaft.
7 I~T 1 l/*1"— r)2 1 * + V
woraus b = \- 1/ — -
2a ~ V 4a2 ' $0
für a = 00 , also x = x> , ~ = /) (a£ -|- r — 1)
Xf
(A)
woraus 3 = I=? + /^- + A (B)
Diese Gleichungen sind für die Bestimmung der Schwellen wichtig,
indem sie dieselben in ihre Gränzen einschliefsen. Wenn a = b beyde
kleiner sind, als die Gleichung A anzeigt, so sey übrigens ihre Gröfse
welche sie wolle, sie können c = 1 nicht auf die Schwelle bringen. Wenn
b allein, kleiner ist als die Gleichung B angiebt, so sey a so grofs es
wolle, es bringt doch [193] nicht c = 1 auf die Schwelle. Wenn endlich b
(folglich auch a) gröfser ist, als die Gleichung A bestimmt, so ist c = 1
allemal unter der Schwelle, b und a mögen übrigens se}m was sie wollen.
Die beyden Gränzen für b liegen, wie die Formeln zeigen, sehr nahe
beysammen. Ihr ganzer Unterschied hängt ab von 1, welches in dem
zweyten Theile der Wurzelgröfse einmal zugegen ist, das andremal fehlt.
Da e, als Summe zweyer ächten Brüche, höchstens = 2 seyn kann, so
müßte & oder a sehr klein seyn, wenn der Unterschied bedeutend werden
sollte.
Wir haben die Gültigkeit dieser Formeln auf die Voraussetzung be-
schränkt, dafs b und c in der Hemmungssumme sich befinden. Falls
statt dessen a und c in ihr vorkommen, behält dennoch S die Form
ab -j- t, nur mufs alsdann a zugleich /. einschliefsen. Nämlich es sey
die H. S. na -\- xc, so ist dieses = ny.b -f- xc, wegen a -|- y.b; nun lasse
man in diesen Fällen tiy. = o seyn, so passen auch jetzt die nämlichen
Formeln. — Man denke aber nicht, dafs a darum eine grofse Zahl werden
könne. Denn obschon ■/. bis zum Unendlichen wachsen kann : so wird
<i, wemi es einigermafsen grofs ist, niemals in der Hemmungssumme vor-
kommen.
Nur die beyden Fälle, wo c in der Hemmungssumme fehlt, nöthigen
uns zu einer neuen Rechnung. Für dieselben sey S = :ia-\-rb = b
(nx -j- t), so wird, wenn nx = a),
t -4— xv. „
aus -X-J = b(S-i)
jetzt für x = i, —^ = bb (a ~f- r) — b
]/ 1 4 (* - - v) (° - - T
woraus b — — - — ( . [ 1 -\- 1/ 1 -|-
2 (ö 4- t) ' V " &
Es ist aber in beyden hieher gehörigen Fällen a-\-r-=p-\-n = d;
daher die eben gefundene Formel noch einfacher so zu schreiben ist:
[194] *=2V(I+K: + 4 (* + *?))•
Dies ist die eine Gränze, über welche b nicht steigen darf, wofern
c = I nicht auf jeden Fall unter der Schwelle seyn soll. Die andre
Glänze, unter welcher b nicht seyn darf, mufs aus den vorigen Formeln
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ^q
6^ö
entnommen werden. Denn wenn a = -jo , gehört es gewifs nicht selbst
zur Hemmungssumme.
Demnach ist die Formel B ganz allgemein, und zwar in der ersten
Bedeutung von n; nur die Formel A erleidet zuweilen die angegebene
Abänderung des Werths von a, und in seltnen Fällen tritt in ihre Stelle
die Formel C.
§ 56.
Nimmt man durchgängig gleiche Hemmung an, also p — n = m,
und f — i, = d , auch a =-— t = in, so verschwindet aller Unterschied
der sechs Fälle; a kann in der H. S. nicht vorkommen, und die Glei-
chungen A und B verwandeln sich in folgende:
... . 1 — m + V(i — vi)'1 -f- 8?/ß
für a = o, 0= — — — ■ — -
2 m
für a = -X) , b = —
;//
Hieraus ergiebt sich in Zahlen folgendes : soll c = 1 auf die Schwelle
gebracht werden, so ist für m = 1
b höchstens = 1,414 . . b wenigstens = 1
*&'
[195]
m
=
0,9
I.-547 •
•
m
=
0,8
1,711 .
m
=
0,7
1,918 .
.
m
=
o,6
2,180 .
m
=
o,5
2,561 .
in
=
o,4
3,108 .
111
=
o,3
4
in
=
0,2
5.740 •
■
111
=
0,1
10,840
I,III
1,25
1,428
1,666
2,5
0
10
III = 0,01
100,98 . . 100
Hier nimmt die Differenz der zusammengehörigen Werthe zwar
immer zu; aber im Verhältnifs gegen die Zahlen selbst sehr stark ab.
Wie die Voraussetzung des durchgängig gleichen Gegensatzes in der
Mitte aller Fälle liegt, und zugleich für die Rechnung eine Bequemlichkeit
mit sich führt: so giebt es noch ein paar andre Arten, etwas Mittleres
zwischen zwey Fällen hervorzuheben. Man kann rt = .'), und zugleich
o = r setzen, wodurch sieh die Gleichung B in b = verwandelt:
Herbart's Werke V. 20
?o6 XI. Psychologie als Wissenschaft.
Erstlich, wenn man in den Fällen I. und IL p = n setzt, wodurch
der Unterschied dieser Fälle aufgehoben wird. Denn
im Fall I. ist r\ = p -(- m, fr = vi -j- n, n = p, r = n,
im Fall IL ist it = vi -\- ji, fr = vi -\- p, n = n, x ■= p.
Zweytens, wenn man in den Fällen IV. und VI., ;;/ = n setzt,
wodurch der Unterschied dieser Fälle, wenigstens in Beziehung auf a = co ,
also auf die Gleichung B verschwindet. Denn hier kann nur diejenige
Angabe der H. S. brauchbar seyn, in welcher kein a vorkommt. Dies
vorausgesetzt, findet sich
im Falf IV. i; '=. p -f- v, fr = vi -\- p, n = ;/, t = m,
im Fall VI. it == p -{- vi, fr = n -j- p, a === m, r = ;/,
wo wiederum für ;/ = vi der Unterschied wegfällt.
In den Fällen I. und IL wird also b = — , in den TiOÖl Fällen IV. und
P L
VI. aber b —- — für a = oo . Be^•des sind die niedrigsten Werthe, welche
m
b haben darf. Aber jener ist grüfser als dieser. Sehr natürlich, denn
die Hemmungssumme ist in jenen Fällen kleiner, daher mufs b mehr
Kraft besitzen, um c zur Schwelle zu treiben. —
Aber die Gleichung p = n macht auch die sämmtlichen Fälle I. IL
III. und IV. einander gleich in Hinsicht der Gränzformel A. Denn diese
Formel beruhte auf der Annahme a = b ; dafür aber werden die Hem-
mungssummen alle = p (b -f- c), also wiederum n = t, und auch die
Summe e •{- ij bleibt sich gleich, während t) für sich überall gleich ist.
Ob es sich belohnen könne, den verschiedenen Werthen, welche die
gefundenen Formeln anzunehmen fähig sind, noch genauer nachzugehn :
dies läfst sich im Allgemeinen nicht entscheiden. Vielleicht wird man
künftig entdecken, dafs zur Erklärung gewisser, in der Erfahrung vor-
kommenden Phänomene, auch die feinsten Unterschiede, deren Möglich-
keit in den Formeln liegt, müssen berücksichtigt werden.
Hier mag noch ein kurzes Rechnungs-Beyspiel Platz finden. Man
nehme, der Bequemlichkeit wegen, die Hemmungsgrade als gegeben an;
es sey p = — , n = — , vi = — ; und hieraus für den ersten Fall
e = — , i, = i, fr = — ■ auch a = — , r = — . Nun suche man zuerst
die Gränzen für b. In § 55 giebt die Gleichung A, b = ^,,^y . . . die
Gleichung B giebt b = 3,05. Zwischen diesen beyden Werthen mufs
man b annehmen, damit c = 1 auf der Schwelle ^ey;- welches für ein
kleineres b nicht möglich wäre, wie stark auch a seyn möchte ; für ein
gröfseres sich von selbst verstände, oder eigentlich wäre dann c nicht
auf, sondern unter der Schwelle. Gesetzt demnach, b sey =3,1; so
giebt die Formel
•/.fr
Hingegen sey b = 3,5, so wird v. = 1,19 . , und a = 4,16 .. . Länger
wollen wir hie[i97]bey nicht verweilen; indem wichtigere Untersuchungen
bevorstehn.
TJp. = l (ß— 1), * = 11,4; folglich a == 35,3 ..
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 3°7
Viertes Capitel.
Von den vollkommenen Complicationen der Vor-
stellungen.
§ 57-
Die Voraussetzungen, deren Folgen wir bisher aufgesucht haben,
waren so einfach, dafs die mannigfaltig verwickelten Zustände des Be-
wufstseVns ihnen selten genau entsprechen können. Aber eben so hebt
auch die Statik der Körperwelt von Untersuchungen an, die auf die
Wirklichkeit nicht vollkommen passen. Der einfache Hebel, ohne eigne
Masse und Schwere, die Bewegung fallender und geworfener Körper im
luftleeren Räume, der Schwerpunkt von mathematischen Flächen und
Curven, — alles dies sind Gedankendinge, die dennoch in der Wissen-
schaft den Vortritt haben vor den realen Gegenständen, weil sich an
jenen besser als an diesen die Elemente der Wissenschaft nachweisen
lassen. — In der Psychologie können wir bey dem Mangel oder doch
der Schwierigkeit bestimmter Beobachtungen weniger darauf ausgehn, ir-
gend ein wirkliches und individuelles geistiges Ereignifs genau zu erkennen
und zu erklären : als die einfachen Gesetze einzusehen, deren höchst
mannigfaltige Verflechtung die Wirklichkeit bestimmt. Doch es ist nicht
nöthig, über das Voranstellen der abstractesten Voraussetzungen demjenigen
ein Wort zu sagen , der von irgend einem Theile der angewandten
Mathematik auch nur oberflächliche Kenntnifs hat. —
Das grofse Prinzip, welches minder offenbar schon die bisherigen
Untersuchungen leitete, und immer klärer die [198] folgenden bestimmen
mufs, ist die Einheit der Seele. Darum, weil die Vorstellungen alle
in Einem Vorstellenden als Thätigkeiten (Selbsterhaltungen) desselben bey-
sammen sind, müssen sie Ein intensives Thun ausmachen, sofern sie nicht
entgegengesetzt und nicht gehemmt sind. Eben darum auch müssen sie
sich hemmen, in so weit ihr Gegensatz es mit sich bringt. Weder un-
angefochten, noch un vereinigt können sie bleiben; das erste haben
wir bisher betrachtet, das zweyte müssen wir jetzt suchen, allmählig in
seinen nähern Bestimmungen kennen zu lernen. Eben dadurch werden
wir die abstracten Voraussetzungen mehr und mehr dem Wirklichen an-
zupassen im Stande seyn.
Zuerst mufs hier hingewiesen werden auf die verschiedenen Con-
tinua, welche durch ganze Gassen von Vorstellungen gebildet werden.
Die sämmtlichen Farben ergeben Ein Continuum , die Gestalten ein
anderes; die Töne machen ein drittes; die Vocale ein viertes, selbst die
Consonanten können wenigstens zusammengestellt werden ; an Gerüche,
Geschmäcke, Gefühle ist kaum noch nöthig zu erinnern. Auch lehrt die
Erfahrung, dafs zwar verschiedene Vorstellungen aus Einem Continuum
einander entgegengesetzt sind, aber nicht Vorstellungen aus verschiedenen
Continuen. Die Farbe hemmt nicht die Vorstellung des Hörbaren, viel-
mehr das. hörbare Wort, die sichtbare Schrift, und ein von beyden ganz
verschiedener Gedanke, der aus mancherley, durch verschiedene Sinne
20 ;;
308 XL Psychologie als Wissenschaft.
wahrgenommenen Eigenschaften irgend eines Dinges zusammengesetzt ist,
alles dies tritt in eine Verbindung, die unerklärlich wäre, wenn die grofsen
Verschiedenheiten so heterogener Vorstellungen für hemmende Gegen-
sätze zu halten wären.
Aus dieser Erfahrung, deren genauere Prüfung und gehörige Be-
schränkung nicht dieses Orts ist, wollen wir hier blofs den, schon a priori
wenigstens möglichen, Gedanken herausheben, dafs es mehrere Continuen
von Vor[ 199] Stellungen geben könne, aus deren einem in das andere
kein hemmender Gegensatz hinübergreife, während innerhalb eines jeden
alles Mannigfaltige in bestimmten Hemmungsgraden einander im Bewufst-
seyn verdunkele.
Nun mufs alles gleichzeitige wirkliche Vorstellen, wegen seiner Durch-
dringung in der Einheit des Vorstellenden, sich vereinigen, so weit die
Hemmung es nicht hindert. Hier ist sogleich offenbar, dafs es zwey
ganz verschiedene Arten der Vereinigung geben müsse, je nachdem
ein paar Vorstellungen entweder aus einerley Continuum sind, oder aus
verschiedenen. Im ersten Falle werden sie nach dem Grade ihrer Un-
gleichheit sich hemmen, und sich nur so weit vereinigen, als die Hem-
mung es zuläfst. Im andern Falle ist zwischen ihnen keine gegenseitige
Hemmung, sie können sich also gänzlich verbinden.
Zwar auch im letztern Falle wird eine zufällige Hemmung die
Verbindung beschränken können. Es seyen die Vorstellungen a und «
gleichzeitig im Bewufstseyn, wo die Verschiedenheit der zur Bezeichnung
gewählten Alphabete auf Vorstellungen aus verschiedenen Continuen hin-
weist: sind nun noch andere Vorstellungen, b, c, ß, y, gegenwärtig, so
wird a durch b und C, a durch ß und y gehemmt; und um so viel als
die Hemmung beträgt, die Möglichkeit der Vereinigung von a und « ver-
mindert. Denn das Streben einer gehemmten Vorstellung ist ausschliefsend
wider die hemmenden gerichtet; und da die Vorstellung einzig in diesem
Streben noch besteht, so hat sie nun nur ein isolirtes Daseyn, und un-
geachtet der Einheit der Seele, worin sie immer noch mit allen andern
Vorstellungen ein intensives Eins ausmacht, kann sie sich doch nicht mit
irgend einer andern, selbst nicht mit einer ihr gleichen, zu einer Total-
kraft verbinden. Wenn daher a und « zum Theil gehemmt, zum Theil
aber noch als wirkliches Vorstellen, gleichzeitig im Bewufstseyn zusammen-
treffen: so entsteht eine unvollkommne [200] Verbindung beyder; der
Grad der Verbindung aber hängt nicht von ihnen selbst, sondern von
den zufällig mitwirkenden Kräften ab.
Jetzt wird die Eintheilung verständlich seyn, welche den weitern
Untersuchungen mufs vorangestellt werden. Vorstellungen aus ver-
schiedenen Continuen können sich gänzlich verbinden, so dafs sie nur Eine'
Kraft ausmachen, und als solche in Rechnung kommen; dergleichen Ver-
bindung nenne ich eine vollkommene Complication. Vorstellungen
aus einerley Continuum können sich, wegen des unter ihnen stattfindenden
Gegensatzes, nicht gänzlich verbinden. (Falls sie nicht gänzlich gleich-
artig sind, wie die Wiederhohlungen der nämlichen Wahrnehmung) ; als-
dann ergiebt sich aus ihrer Stärke und ihrem Gegensatze das Gesetz, wie
genau ihre Vereinigung werden kann; dergleichen Vereinigungen nenne
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ?oQ
ich Verschmelzungen. Endlich wegen zufälliger Hindernisse kann es
sowohl unvollkommne Complicationen als unvollkommne Ver-
schmelzungen geben.
§ &?■
Es seyen zwey vollkommene Complexionen gegeben, A = a -\- «,
und B = b -\- ß. Welches wird die Summe und das Verhältnifs ihrer
Hemmung seyn?
Die Summe macht bey vollkommenen Complicationen keine besondere
Schwierigkeit. Denn das Widerstreitende, Unvereinbare gewisser Vor-
stellungen, welches einmal in ihrer Natur liegt, kann durch ihre Ver-
bindungen nicht gröfser noch kleiner werden. Sowohl a und b bilden
unter sich, als a und ß unter sich, eine Hemmungssumme nach den
obigen Bestimmungen; beydes addirt, ergiebt die H. S. der Complexionen
A und B. Es sey also der Hemmungsgrad zwischen a und b, = p;
zwischen a und ß, = n; so ist nur noch zu bedenken, dafs, obgleich
A^> B, dennoch u •< ß seyn kann, wofern nur um so mehr a > b. An-
genommen, dafs sich dies also verhalte: so ist die H. S. = pb -\- na.
Mehr Mühe macht das Hemmungs- Verhältnifs. Man [201] wolle
hier zurückblicken in die §§ 43 und 53. — £0 fern die Complexionen
als widerstehende Kräfte betrachtet werden, sind sie Totalkräfte; sie leiden
im umgekehrten Verhältnisse dieser Totalkräfte, sie wirken auch der da-
durch erhaltenen Spannung gemäfs zurück. Aber so fern die Wirkung
einer jeden unmittelbar von ihrer Stärke und ihrem Hemmungsgrade ab-
hängt, entsteht eine Schwierigkeit oder wenigstens eine Weitläuftigkeit aus
dem Umstände, dafs die Bestandteile der Complexionen einen ver-
schiedenen Hemmungsgrad haben können, und dafs in so fern auch die
Kräfte als aus verschiedenen Bestandtheilen zusammengesetzt betrachtet
werden müssen. Wir wollen nun die drey Ueberlegungen des § 43 er-
neuern.
Erstlich: A wirkt im Verhältnisse ap -(- u.n.
Zwevtens: A wirkt im Verhältnisse seiner Spannung = — .
1 o A
Drittens: A leidet im Verhältnisse — .
A
Dasselbe läfst sich leicht auf B anwenden.
\xr t i- -i ap-A-un bp -\- ßn
Wotern nun hier, so wie oben, — und = 1 wäre
A B
(denn wenn man ein gleichartiges Vorstellen von der Stärke A, als aus
Theilen a und a besteherd, und eben so ein andres gleichartiges Vor-
stellen von der Stärke B, als aus Theilen b und ß bestehend, betrachten
a -j- «
wollte, so wäre p=n, und bey vollem Gegensatze = 1, und
— — — ■ aber = i), so würde blofs das Verhältnifs des Leidens, — : — ,
B h AB
übrig bleiben. Jetzt aber ist nur in speciellen Fällen p = n, und des-
■i i o XL Psychologie als Wissenschaft.
halb mufs das Hemmungsverhältnifs aus allen den angegebenen Gröfsen
zusammengesetzt werden.
Indem nun die Hemmungssumme die Spannungen in den Verhält-
nissen — und — bewirkt*), mufs sie zu("2o2]gleich in dem Verhältnifs der
AB1 L JO
• i T bp 4- ßn ap 4- an «
wirkenden Kräfte ■ und — — : vertheüt werden. Die erste
B A
Kraft nämlich ist diejenige, die A durch B erleidet, die andre Kraft ist
die, mit welcher A auf B einwirkt. Also dieses zusammengenommen
sind die Verhältnifszahlen :
1 bp 4- 8 n i ap 4- « n . , ■
— . r ^ ^ , — . -?—±- , oder bp 4- ßn, ap 4- an. Für p = n
A B ' B A r \ i > r r
wird daraus B, A; wie gehörig nach §§ 43 und 53.
§ 59-
Wir schreiten fort zu drey Complexionen, A = a -\- u, B = b -\- ß,
C=c-\-y, wo A die stärkste, C die schwächste, während die Bestand-
theile mancherley Gröfsenverhältnisse haben können. Auch seyen die
Hemmungsgrade
zwischen a und b, p-, zwischen « und ß, n
„ a ,, c, n; „ « „ y, v
„ b „ c, m; „ ß „ y, ft.
Um nun zuerst blofs die wirkenden Kräfte zu betrachten, so fern sie
von der Stärke der Vorstellungen und den Hemmungsgraden unmittelbar
abhängen, so wirkt
A auf B im Verhältnifs ap 4- an,
„ auf C „ „ an -\- a>>,
B auf A „ „ bp -\- ßn.
„ auf C „ „ bm-\-ßu,
C auf A „ „ cn -\- yv,
„ auf B „ „ cm -f- ■/,//.
Mit jedem dieser Verhältnisse ist zusammenzusetsen die Spannung
der wirkenden Vorstellung. Endlich ist mit der Summe der Kräfte, von
denen eine jede Com[2 03]p)exion leidet, zusammenzusetzen das umgekehrte
Verhältnifs ihrer Totalkraft, nach welchem sie sich den einwirkenden
Kräften unterwirft. Auf diese Weise entspringen folgende Verhältnifszahlen :
[bp 4- ß* cn 4- yv\ I
A leidet im Verhältnifs F ~ ' 1 ^— . -
\ B C J A
c _ föi±*r +
C
cm
+ 7,"
C t
bin
-f AM
A
1
B]
1
J ~C'
*) Diese anspannende Wirkung der H[emmungs] S[umme] bleibt während der
ganzen Zeit ihres Sinkens immer in denselben Verhältnissen, denn bey jedem neuen
Element, welches sinkt, fragt sich gleichsam von neuem, wie es vertheüt werden solle i
und es regt dadurch die widerstrebenden Kräfte auf. Auch widerstehen dieser Ver-
theilung immer die ganzen Vorstellungen, folglich die nämlichen Kräfte.
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 3 1 1
Kürzer: C(bp -j- ßn) -J- B{cn -f- yr) ;
C{ap -j- «y-z) -|- ^4 (/« -f- yu);
B {an -f ar) -f -J (* « "f /*/')■
Zwey Bemerkungen könhen hier sogleich hinzugefügt werden.
lp + ßn
Erstlich: es sey p ==■ tt, n = v, m = tu ; so wird -— ==/>
^ —i— y
weil "o— = 1 ; eben so bev den folgenden ähnlichen Gröfsen; daher
B
werden die Vrerhältnifszahlen
P -j- n p -\- m n-\r m
A '■ ' ~B~~' C~
ganz ähnlich jenen im § 53.
Zweytens: es sey b = ß, c = y, a —=. u, so ist A =2a, B = 2b,
C ' = ic\ und die Verhältnifszahlen werden :
p -f- tt -|- n -\- v p -j- n -f- w + /< ;/ 4~ '' + ;w ~h 1"
Zur Abkürzung kann man auch hier wieder die zu A, B, C, ge-
hörigen Zähler mit t, rh Ö bezeichnen. Nur dürfen die Bedeutungen
dieser Buchstaben dann nicht mit den obigen verwechselt werden. Die-
selbe Erinnerung trifft auch p, m und n. —
Was die Hemmungssumme für drey Complexionen anlangt : so er-
giebt schon der vorige §, dafs dieselbe auch hier die beiden Hemmungs-
summen für die Bestandteile der Complexionen in sich schliefse.
Uebrigens mufs es hier genügen, dafs drey binomische Complexionen
zur Untersuchung gezogen werden. [204] In das Detail, welches mehrere
und vieltheilige Complexionen verursachen würden, können wir uns nicht
einlassen.
§ 60.
Die Berechnungen, welche aus den bisherigen Bestimmungen folgen,
•werden den grufsen Einfiufs der Complicationen unserer Vorstellungen
ins Licht setzen : — Für zwey Complexionen ist die Rechnung im All-
gemeinen diese :
r/ 1 j.\ -a 1 / 1 a\ "I ic l v\ y(a + *)/ + (" + ß)n
yaß + a.Tt j{a-\-b)p-\-(a + (i)n
Durch S und ^" deute ich nämlich die beyden Theile der Hem-
mungssumme an, deren einer aus a und b, der andere aus « und ß ent-
springt.
1. Wir wollen annehmen, Ä und B seyen ähnliche Complexionen, d. h.
a:a = b: ß-} also ß == ■■ - und bp -j- ßn = b (p -f- - - n) = ~~ {aP + an)'>
a ad
daher beyde Verhältnifszahlen ganz kurz =b und a; demnach
X12 XI. Psychologie als Wissenschaft.
a + t)
b
fl
das heifst: zwey ähnliche Complexionen hemmen sich im um-
gekehrten Verhältnisse ihrer analogen Theile.
Bey spiel: die Vorstellung eines Klanges von der Stärke = 2 sey
complicirt mit der Vorstellung einer Farbe von der Stärke = 3 ; die Vor-
stellung eines andern Klanges von der Stärke = 8 sey complicirt mit der
Vorstellung einer andern Farbe von der Stärke = 12; die Verschiedenheit
der Farben sowohl als der Klänge sey welche sie wolle : so wird von
der ersten Complexion viermal so viel gehemmt als von der zweyten.
2. Die Hemmungsgrade seyen gleich, oder p = n; [205] so lassen
sich dadurch die Verhältnifszahlen dividiren, und die Rechnung bekommt
folgende Form :
(S+2)A
A + ß
Das heifst: wenn unter den Bestandteilen zweyer Com-
plexionen nur einerley Grad der Hemmung herrscht: so ist die
Gröfse dieser Bestandtheile von keinem Einflufs auf das Ver-
häitnifs der Hemmung, wofern nur die ganzen Complexionen
gleich bleiben, als von welchen nun allein das Hemmungsver-
hältnifs abhängt.
Der Gröfse nach aber sind die zu hemmenden Theile
um so kleiner, je ungleicher an Gröfse die Bestandtheile der
Complexionen. Dieses folgt aus der Hemmungssumme, welche von
jedem Paar entgegengesetzter Vorstellungen nur die kleinste in sich
fafst.
Bey spiele: Ein Klang = 2 sey complicirt mit einer Farbe = 3,
ein andrer Klang = 2 mit einer andern Farbe = 4 ; überdies voller
Gegensatz sowohl zwischen den Klängen unter einander als zwischen den
Farben; so ist die H. S. = 2 -f- 3 — 5» das H. V. wie 6 : 5, also leidet
die erste Complexion die Hemmung von 3°, die andre von — . — Es sey
aber ein Klang = 1 complicirt mit einer Farbe = 4, und ein andrer
Klang = 3 mit einer Farbe = 3 ; der Gegensatz wie vorhin : so ist die
H. S. = i — (— 3 = 4, das H. V. wie 6:5, also wird von der ersten Com-
plexion gehemmt — , von der andern -°.
3. Es sey bp -\- ßn = ap -f- « n, oder p [b — d) = n (« — ß), oder
p:n = (a — ß) : (b — a),
so ergiebt sich der Satz: von beyden Complexionen wird gleich
viel gehemmt, wenn die Hemmungsgrade sich umgekehrt ver-
halten wie die Differenzen der ihnen zugehörigen Vorstel-
lungen. [206] Damit dieses möglich sey, müssen die Complexionen un-
ähnlich seyn in dem Grade, dafs jede bestehe aus der stärksten des einen
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. -i t -i
Paares entgegengesetzter Vorstellungen, und aus der schwächsten des andern.
Denn kein Hemmungsgrad kann negativ seyn.
Beyspiel: Zwischen zwey Klängen sey der Gegensatz = i, zwischen
zwey Farben = — ; ein Klang = 2 complicirt mit einer Farbe = 6,
der andre Klang = 5 complicirt mit der andern Farbe = 2 : so ergiebt
sich das H. K(5-j-2,^-):(2 + 6.-3-) = ^^ :?-i-8=26 : 26 == 1 : 1.
4 4
Das Auffallende in diesem Beyspiel, dafs eine Complexion = 7 und
eine andre = 8 sich gegenseitig gleich stark hemmen, wird noch mehr
hervortreten in dem folgenden Satze.
4. Es sey n =■ o, so ist das H. V. wie b : a, und die Rechnung
b S a S
giebt die vierten Glieder — - — - und — ; u. und ß mögen sevn was
a -\- b a -\- b,
sie wollen.
Das heifst: wenn von zweven entgegenstehenden Vorstel-
lungen jede complicirt ist mit einer solchen die nichts ihr ent-
gegengesetztes im Bewufstseyn antrifft: so geschieht die Hem-
mung lediglich im A^erhältnifs jener entgegengesetzten; ob-
gleich die ganzen Complexionen derselben unterworfen sind.
Beyspiel: Mit der Vorstellung eines Farbigten von der Stärke 3,
sey complicirt ein Klang = 1 , mit der Vorstellung eines andern Farbigten
von der Stärke 1, sey complicirt eine Gefühlsvorstellung = n: so erleidet
die letztre Complexion = 12 eine dreymal so starke Hemmung wie die
erstere = 4. Wie sehr die Farben entgegengesetzt seyn mögen, wirkt
nur auf die Hemmungssumme.
Das Seltsame, dafs die stärkste Kraft hier am meisten leidet, ist
leicht zu erklären. Die Gefühlsvorstellung kann nur widerstehen; aber ihr
ist kein Gegensatz eigen, [-07] durch den sie für sich etwas aus dem
Bewufstseyn verdrängen könnte. Dagegen erhält sie etwas im Bewufstseyn,
das vor einer andern stärkern Vorstellung weichen sollte. Deshalb leidet
sie unter derselben Einwirkung, der jenes ausgesetzt ist. Nicht anders
ereignet sich dies selbst dann, wenn die gegenüberstehende Vorstellung
einfach ist. Es sey u = o, oder im Beyspiel, der Klang fehle gänzlich:
so übt dennoch die Vorstellung = 3 die nämliche Gewalt gegen die Com-
plexion = 12. Nur mit dem Unterschiede, dafs nun diejenige Hemmung,
welche sonst die Vorstellung des Farbigten = 3 mit der des Klanges
= 1 gemeinschaftlich getragen hätte, allein der ersteren zur Last fällt. —
Es ist der Mühe werth, nachzusehen, in wie fern diese bey zwey
Complexionen sich so leicht darbietenden Sätze, auch auf drey derselben
Anwendung finden mögen.
Damit erstlich drey Complexionen einander ähnlich seyen , mufs
a : a = b : ß = c : y gesetzt werden. Hieraus ist im § 59
bp ~\- fin = — {aP ~\~ u /T) ', c n -\- yr = — [a n -\- a v) ;
a a
cm -\- y u = — (</ m -4- ufi), bm -\- ßfi = — am -f~ ".")•
a a
■2 i 1 XI. Psychologie als Wissenschaft.
Auch ist C = c-4-~ =c(i +— ), B = b(i4-—), A =-- a (i -f — );
a a a a
«...
daher sich die Yerhältnifszahlen sämmtlich durch \ A dividiren lassen.
a
Demnach sind dieselben, wenn noch mit a multiplicirt wird:
cb (a,p + utt) -f- bc (an -f- «*')
r a (ap 4- « >-t) -(- « r (rt! ;« -j- « |«)
/;c7 (a» -f- o »') -f- a^ {am -f- « «)•
Damit ein fafsliches Yerhältnifs gewonnen werde, bedarf es hier noch
eines Zusatzes, der bev zwey Complexionen nicht bemerklich werden
konnte. Es sey nämlich p : n = n :y = m : u, folglich an -\- ur = an
-\~ a - [208] = — (ap -}- « n), und # m -{- au = — (a/ -|- « 71), so werden
p p ' p
jene Zahlen:
£ <r [p -f- «), »^ + ;« ), ab (n -\- m) ;
/ ~\~ n p -\- m n -\- rn
oder
a b c
wo das umgekehrte Yerhältnifs der analogen Theile allerdings vorhanden,
nur noch durch die zugehörigen Hemmungsgrade afficirt ist.
Ueber den zweyten Satz erhellt schon aus § 59, dafs für p = n,
n = v, m = u, die Verhältnisse sind
n -\- p m -f- p n -f- m
~H~' ~B~ ~C~'
Was den dritten Satz anlangt, so scheint es nicht, dafs die Bedingung
der gleichen Hemmung für drey Complexionen auf einen schicklichen Aus-
druck zu bringen sey.
Auch die vierte Yoraussetzung, n = o , veranlafst hier nur die Be-
merkung, dafs, wenn von den drey Vorstellungen «, ß und ;', eine zu
einem andern Continuum gehört als die übrigen beyden, dann zugleich
zwey Hemmungsgrade = o werden, also mit 71 = 0, zugleich r = o oder
u = o.
§ 61.
Zu den sämmtlichen hier geführten Rechnungen kommt nun der Satz :
dafs bey vollkommenen Complexionen sich stets das Gehemmte
auf die Bestandtheile in demselben Verhältnisse vertheilen
mufs; in welchem sie zur Complexion beytragen. Es sey von der
au
Complexion A = a -\- u gehemmt die Gröfse u , so ist gehemmt
von a, und — . — gehemmt von «. Dies versteht sich von selbst aus der
a -f- «
Natur einer Totalkraft, deren Theile gleichmäfsig widerstehen und leiden,
und deren ungleiche Theile eben deshalb einem gerade so ungleichen
Leiden unterworfen seyn müssen.
Hieraus geht zugleich hervor, dafs vollkommne Com-[2 0C)]plexionen
sich in allen ihren Zuständen (d. h. bey jedem Grade der Verdunkelung
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ? T e
im Bewufstseyn) doch immer ähnlich bleiben. Denn die Reste müssen
ähnlich sein, wenn das Gehemmte immer dieselbe Proportion beobachtet.
Merkwürdig ist femer, dafs von den Elementen der Complexionen
bald mehr bald weniger als die aus ihnen resultirende Hemmungssumme
sinken wird. Denn die partiellen Hemmungssummen vereinigen sich hier
zu einer allgemeinen Last, deren Vertheilung nun andern Regeln folgt, als
jenen, die in dem Widerstreit der Elemente ursprünglich gegründet waren.
— Gehn wir zu dem ersten Beyspiele des § 60 zurück: so sey dort für
die beyden Klänge der Hemmungsgrad = ^-, für die Farben = 1 : so
o .
ist »S — {— — = 1 -j- 3 = 4 ; von der ersten Complexion wird gehemmt —
2 -f- 8
= 3,2; also für den Klang = 2 beträgt die Hemmung 2-^-2 = i,28;
o
für die Farbe = 3 beträgt dieselbe — — — = 1,92; von der zweyten
0
2 . 4
Complexion wird gehemmt = 0,8; also für den Klan« = 8 ergiebt
10 00
sich das Gehemmte = —^-— = 0,32, und für die Farbe = 12 kommt
20
12 . 0,8
= 0,48. Denken wir die Complication hinweg: so haben wir für
den Klang = 2 das Gehemmte = 0,8 ; für den Klang = 8 kommt 0,2 ;
für die Farbe = 3 findet sich das Gehemmte = 2,4 ; und für die Farbe
= 12 beträgt dasselbe 0,6. Offenbar verursacht hier die Complication
einen Nachtheil für die Klänge, und einen Vortheil für die Farben, indem
der gröfsere Hemmungsgrad der letztern auf jene mit einfiiefst. Die Hem-
mungssumme für die Klänge ist = 1 ; aber wegen der Complication wird
von ihnen gehemmt 1,28 -f- 0,32 === 1,6; die H. S. für die Farben ist = 3,
die Complication vermindert dies bis auf 1,92 -[-0,48=2,4. Aber auch
[210] nur in der Hemmungssumme liegt der Grund hievon, wie man aus
der hierher gehörigen Formel des § 60 sehr leicht sehn wird. Setzt
man nun bei ähnlichen Complexionen auch noch die Hem-
mungsgrade gleich: so geschieht die Hemtaung gänzlich so, als
ob keine Complication Statt gefunden hätte. Denn hiedurch be-
kommt die ganze Hemmungssumme zu den ganzen Complexionen dasselbe
Yerhältnifs, wie es bey den einzelnen Vorstellungen gewesen wäre. — In
jedem hievon abweichenden Falle entsteht ein Gefühl des Con-
ti-ast es unter den zu wenig gehemmten Vorstellungen, weil sie mit
dem Drange, sich zu hemmen, im Bewufstseyn bleiben. Davon
tiefer unten im § 104.
S
62.
Welche Arbeit es kosten werde, Schwellentafeln für die vollkommnen
Complexionen zu berechnen, läfst sich aus den verwickelten Hemmungs-
verhältnissen für drey Complexionen nur gar zu leicht erkennen. Denn
für zwey Complexionen kann es keine Schwellen geben, da die Hemmungs-
■i 1 5 XI. Psychologie als Wissenschaft.
summe niemals gröfser seyn kann, als die schwächere Complexion, diese
aber nicht völlig sinken wird, ohne einen Theil der Hemmungssumme auf
die stärkere zu werfen.
Nur in den vorbemerkten Fällen, wo die Hemmungsverhältnisse auf
Q, «-4-
die Form — , — , — , oder auch — , -~, — , können gebracht werden.
a b c ABC
bieten sich die Wendungen der Rechnung abermals dar, welche schon
bey einfachen Vorstellungen mit verschiedenen Hemmungsgraden gebraucht
sind. Denn die Formel des § 55,
y.o
wird mit gehöriger Veränderung und besonders mit gehöriger Bestimmung
von e, rn &, S, auch jetzo passen.
Wir zeichnen hier einen Fall aus, der sehr einfach [211] und zu-
gleich sehr abweichend ist von den Bestimmungen der Schwellen in den
vorigen Capiteln. Es sey nur eine Complexion im Bewufstseyn gegen-
wärtig, allein zugleich zwey einfache Vorstellungen, deren jede einem Ele-
mente der Complexion widerstreite. Also a -f- a, b, und y. Alsdann sind
(j = o, c = o, C = y, B = b, auch n = u = n = m = o ; indem blofs
zwischen a und b der Hemmungsgrad p, und zwischen a und y der
Hemmungsgrad *' noch übrig bleibt. Dem gemäfs sind aus § 59 die
Hemmungsverhältnisse
für a -f- a, für b, für 7,
ybp-\-byv; yap\ bw.
Ferner wegen der Hemmungssumme, da y auf der Schwelle seyn
soll, ist am natürlichsten anzunehmen dafs y << u, folglich dafs vy zur
Hemmungssumme gehöre. Unentschieden mag es bleiben, ob a^>b-f wir
wollen den Buchstaben h einführen, der a bedeuten soll, wenn a < b,
aber b, wenn a^> b; so ist auf allen Fall ph der andre Theil der Hem-
mungssumme; also dieselbe =p/i -J- vy. Was nun von y gehemmt wird,
findet sich so:
0 ipp -f- br -f ap) -4- bar]: bar = ph + vy: r ■■ ***?. , T ,— r—
u w ' ' *' .' J * V * y^bp-\-bi'-\-ap)-\-bav
und y ist auf der Schwelle, wenn
buvtyh + vy)
1 '
y (bp -\- bv -\- ap) -(- bav
woraus
y2 {bp -\- bv -j- ap) -\- ybav — ybav2 = phbar
. bav (1 — v) phbav
oder y2 -4- y . — — — — = f ■ .
bp -\-bv -j- ap bp-\-bv-\-ap
ier Gleichung versteht sich ni
Coefficient von y wird = o für v = 1 ; und alsdann
Die Auflösung der Gleichung versteht sich nun von selbst. Der
r-¥-
phba
b(j>+i) + aj>
Die Zweydeutigkeit , ob h •= a oder h = b, wird wegfallen wenn
a = b, alsdann ist
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. -i\n
[212] _ l/ paa_
' ~ V 2i> 4- I
\faa
und für _/> = r , y = 1/ — . Ist endlich auch u = a = b, so kommt
;' = (?v '. Mit dieser Complicationsschwelle vergleiche man nach § 47
die gemeine Schwelle, welche entstehn würde, wenn aus einem einzigen
Continuum von Vorstellungen die stärkste = a -\- a, zwey andre = b
und = y genommen wären, auch a = «■ = b = 1, da dann y = V 1 auf
3
der Schwelle seyn würde. Es leuchtet ein, dafs hier das ganze a -f- f<
im Streite wäre mit jeder der beyden einfachen Vorstellungen; während
in unserm Falle nur a wider b, und u wider y streitet, daher ein
schwächeres y hinreicht, um noch die Schwelle des Bewufstseyns zu be-
haupten.
Fünftes Capitel.
Von den unvollkommnen Complicationen.
§ 63.
Schon der Anfang des vorigen Capitels erklärt den Ausdruck un-
vollkommne Complicationen. Die Untersuchung der statischen Ge-
setze für dieselben ist schwerer, als die zunächst vorhergegangene für die
vollkommenen Complicationen; auch die Mannigfaltigkeit der Fälle ist hier
unendlich grüfser, weil die Innigkeit der Verbindung jeden beliebigen
Grad haben kann. Daher läfst sich alles bisher über die Complicationen
Vorgetragene ansehn als gehörig zu einem speciellen Fall aus einem sehr
weiten Gebiete, in welchem wir uns jetzo umsehen wollen. Doch nur das
Allgemeinste und Leichteste können wir hier angeben. —
[213] Eine Vorstellung = a sey durch irgend welche Kräfte gehemmt
bis auf den Rest = r ; desgleichen eine Vorstellung = a, aus einem andern
Continuum, gehemmt bis auf den Rest = p. Wenn sie also zusammen-
treffen im Bewufstseyn : so verbinden sich die Reste r und q zu Einer
Totalkraft, die aber unabtrennlich ist von den ganzen, wiewohl nicht durch-
aus verbundenen Vorstellungen a und «. Wird nun eine dieser beyden
noch mehr gehemmt, so widersteht nicht nur sie selbst mit ihrer ganzen
untheilbaren Kraft, sondern mit ihr und für sie wirkt noch eine gewisse
Hülfe, welche die andre Vorstellung ihr leistet. Diese Hülfe zu bestimmen,
ist unsre erste Aufgabe. Es ist klar, dafs die Hülfe vollkommen seyn
würde wenn r = a und Q = «, welches eine vollkommene Complication
ergeben hätte. Um wie viel nun dem r fehlt zu a, und dem o zu c,
beydes mufs die zu leistende Hülfe vermindern.
Erstlich, wenn a die Hülfe empfängt: so ist das helfende Quan-
tum = o.
Zwevtens, die ganze Hülfe = 0 wird dadurch vermindert, dafs nicht
o l g XI. Psychologie als Wissenschaft.
das ganze a, sondern nur ein Bruch von ihm, sich dieselbe aneignen kann.
Dieser Bruch ist = — .
a
ro
Beydes zusammen ergiebt die Hülfe = — . Desgleichen diejenige
or
Hülfe, welche u erhalten kann, = —
«
Demnach bilden sich aus den ganzen Vorstellungen und den ihnen
i r9 a* + ro
zukommenden Hülfen, Totalkräfte, deren eine = a -) = s'
a a
A- A _L_ '"? "' + rQ
die andre =■ a -f- — =
« «
§ 64.
Um nun die Wirkungsart dieser Complicationshülfen näher kennen
zu lernen, wollen wir annehmen, mit der unvollkommnen Complication
zugleich sey eine einfache Vorstellung im Bewufstseyn, die mit einem Be-
standtheile jener im Widerstreite stehe. Sie heifse b.
[214] Zwischen a und b sey der Hemmungsgrad =m; a mit « com-
plicirt, vermöge der Reste r und q. So steht dem « unmittelbar keine
Kraft entgegen, sondern nur b wirkt auf dasselbe vermittelst der Reste r
und q. Die Wirkung von b auf a ist beschränkt durch den Hemmungs-
grad vi; dieser mufs auch die vermittelte Einwirkung auf « beschränken.
Aufserdem bezeichnet der Bruch -- das Verhältnifs, in welchem die ganze
a
Vermittelung jener Einwirkung, welche das ganze a hätte leisten können,
vermindert wird. Und überdies ergiebt der Bruch — , in welchem Ver-
a
hältnisse die Fähigkeit von u verringert ist, sich dieselbe Einwirkung zu-
zueignen.
T O
Also b wirkt auf a als eine Kraft = m . - - . — . b. Aber b wirkt
a o.
nur, in so fern es durch die Hemmungssumme gespannt wird ; diese
Spannung ist im Verhältnisse — . Endlich « leidet im umgekehrten Ver-
hältnisse seiner Kraft; diese Kraft mit der Complicationshülfe verbunden,
istra=." " ■r— . Also erhalten wir, alles zusammengenommen, für das
a
Leiden von o. die Verhältnifszahl
r q 1 « mrq
m ' 1t ' ~u ' ' T ' ' f.2 + rQ~ " a (a2 -f- rQ)
Ferner auf a wirkt die Kraft mb, in der Spannung — ; und a leidet
b
a2 -r >{> n-
sammt seiner Hülfe im umgekehrten Verhältnisse von • .uieses
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 2 ig
zusammengenommen findet sich für das Leiden von a die Verhältnifszahl
, 1 a ma
mb
b a2 -\- ro a2 -\- ro
Endlieh auf b wirkt nur die Kraft am; es entsteht aber die Frage,
welches die Spannung dieser Kraft seyn werde? Für a allein wäre sie
— , für eine vollkommne [215] Complexion a -f- « wäre sie •
a a -f- a '
für die unvollkommne Complexion ist sie wegen der Hülfe ohne Zweifel
& . 1
= -TT. • Das Leiden von b verhält sich überdies wie — ; also findet
a2 -\- rQ b
man für das Leiden von b die Verhältnifszahl —
b{a2 -j- ro
Alle gefundene Verhältnifszahlen lassen sich durch m dividiren, daher
setzen wir
>'9 ^r et — «2
a (u2 -f- ro) a2 -j- ro b (a2 + ro)
Nun ist wohl zu bemerken, dafs in diesen Verhältnissen unmöglich
die Hemmungssumme könne vertheilt werden. Denn die Totalkräfte
ro ro
a>-\ , «H , sind nicht, wie die Kräfte in allen unsern bisherigen
a u. °
r o
Berechnungen, rein verschiedene Kräfte, sondern der Theil — steckt
a
in a, welches dem a diese Hülfe giebt ; und der Theil — steckt eben so
a
in a. Was daher diese Totalkräfte an Hemmung erleiden, das ist eben
so wenig rein gesondert; sondern es liegt auf ähnliche Weise in einander
verschränkt, wie die Kräfte. Wollte man das alles, was die Totalkräfte
zusammengenommen leiden, addiren, so bekäme man mehr als die Hem-
mungssumme beträgt; denn man bekäme das alles doppelt, was der Wahr-
heit nach in einem andern enthalten ist, obgleich die Rechnung es neben
dem andern aufstellt.
ro
Demnach sev das, was von der Totalkraft a -I gehemmt wird,
a
ro
r= u : so mufs dieses 11 zuvörderst zwischen a und - getheilt werden.
a
Nur der erste Theil, der sich für a ergeben wird, gehört wahrhaft z
ur
ro
Hemmungssumme; der andre Theil, welcher auf — kommt, ist ein Leiden
a
[21Ö] für das helfende a. Dessen ungeachtet darf er diesem nicht besonders
angerechnet werden, denn er liegt versteckt in dem wirklichen Leiden des
«, welches man findet, indem man diejenige Hemmung, die zur Totalkrat t
« -I gehört, nach dem Verhältnifs u : ein theil t, wo denn wiederum
nur der erste Theil zur Hemmungssumme gehört, der andre aber in dem
3^o
XI. Psychologie als Wissenschaft.
eben gefundenen Leiden von a versteckt liegt, und keineswegs zu dem-
selben zu addiren ist.
Nach diesen Prämissen wird folgender Gang der Rechnung klar seyn :
man denke sich irgend ein Ar, als ob es dasjenige wäre, was nach den
zuvor bestimmten Verhältnissen getheilt würde. Die vierten Glieder der
Proportionen zerlege man durch neue Proportionen, um dasjenige, was
wirklich zur Hemmungssumme gehört, herauszusondern; man addire das-
selbe, und setze es der zuvor bestimmten Hemmungssumme gleich ; dar-
aus finde man X, und substituire seinen Werth in die zuvor mit Hülfe
desselben bestimmten wahren Theile der Hemmungssumme ; diese Theile
sind nun wirklich das, was die einzelnen Vorstellungen leiden, und die
Aufgabe ist dadurch aufgelöst.
Durch die Rechnung mag diese Vorschrift vollends klar werden. —
Zuerst werde X getheilt nach den obigen Verhältnissen M, A, P
(M+N+P):
M
A~ = X
P
MX
J/-f .V+ P
NX
J/+ N+ ~P
PX
MX
M f X-\- P
ro
- ist das Leiden für die Totalkraft « -I-
M-\- N-{- P u
es zerfällt nach
ro
dem Verhältnisse « : - in zwey Theile. Nur [217] der erstre wird zur
«
Hemmungssumme gehören ; man sondere ihn ab durch • die Proportion
«2 +>'P
MX
u
MX
a
u
Ferner
MX
j/_|_ N '+ P («2 + rQ) (J/+ 2V-f- P)
ro
M-\- N+ P
ist das Leiden für die Totalkraft a -| ; es
r o
zerfällt nach a : — in zwey Theile; den ersten sondere man ab durch die
Proportion
a* -\-ro
a
1
N
NX
a
a
N X
!/_}_ N+P' j/_|_ N-\- P
PX
Endlich -■ — — ist das Leiden für b\ welches keine Hülfe be-
J/+ N-\- P
kommen hat, sondern seine Hemmung allein trägt. Daher ist hier keine
Absonderung anzubringen, sondern dieses Leiden gehört ganz zur Summe
der Hemmunir.
Jetzt müssen die gefundenen Theile addirt, und der Hemmungssumme
S gleich gesetzt werden ; also
X
«2 M
und folglich A'
M-\-N+P W -f- rn
S(M±N-\- P)
tt2 -j- r o
+ mW+PJ
s
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.
^2 1
Dieser Werth von X ist zu substituiren in die gefundenen Theile,
welche gehemmt werden von a, <?, und b; demnach:
u2 MS
i" +''(££-,+'» + $
wird gehemmt von «
a X2 S
wird gehemmt von a
u2 M
a2 + rn '
PS
- wird gehemmt von b.
a2 M °
[2 1 8] Hieraus sieht man nun die wahren Verhältnifszahlen, nach denen
die Hemmungssumme sich wirklich theilt.
u2 M
Sie sind , , ai\2, und P,
U2 + r Q
f O d (l2
und weil M "= — -, N-== : , P = — — -j so wird die
a (a2 -\- rQ) a2 -\- r c> b (a2 -J- r Q)
erste Verhältnifszahl ===
die zweyte wird =
die dritte ist und bleibt =
b (a2 -j- r q
In dieser Bestimmung der Verhältnisse müssen zwey andre, aus dem
Vorigen schon bekannte, mit enthalten seyn, an denen wir ihre Richtig-
keit erproben können. Für. r = a und q === a mufs die unvollkommne
Complexion in eine vollkommne übergehn. Dafür wird
«j a a
die Verhältnifszahl für <>.,
\
a2 ff()
U2 rQ
a
K + e>t'
ß3
(«
? + r9y
a2
a (a2 -\- au)2 (a -|- a)2'
ai a
für d, — — — = — - ,
a2 -f- d a)2 (d -j- u)2
für b,
a2 d
b (d2 -\- du) b (a -j- «)'
oder mit b [a -j- a)2 multiplicirt, a b, a b, d (a -j- «). Nach §^ 60 und 1 1 1
aber würden wir folgende Rechnung geführt haben: erstlich hätten wir
ß und n = o gesetzt; daraus wäre das Hemmungsverhältnils b : a gefunden ;
bS
demnach von der Complexion würde gehemmt — ; dieses müfste zer-
rt -}- b
legt werden nach dem Verhältnils der Bestandtheile der Complexion; und
t • /->i- j , abS abS
die vierten Glieder würden seyn : — v und 1
(a -f a) (a + b) (a -j- a) (a -J- b)
daher wäre gehemmt
Herhart's Werke. V. 2 1
■12 2 ^LL Psychologie als Wissenschaft.
ab S
von «,
[219] von ai
von £,
(« + «) (a + J)'
abS
(a + «) (T+äj'
(7 5
a-f-3'
welche Gröfsen sich verhalten wie — : — , — : — , und a; oder wie üb,
a -\- « a -\- u
ab, a (a -f- u); dieses aber sind die nämlichen Verhältnisse, welche sich
aus den obigen Formeln ergeben haben. —
Für a = o, folglich für 0 = 0, sind blofs a und b im Widerstreit;
II. .
nun werden jene Verhaltnifszahlen o, — , — , wie gehöng.
a b
§ 65.
Mit der nunmehr bestehenden Bestimmung des Hemmungs-Verhält-
nisses begnügen wir uns hier, weil die nach demselben zu erwartende
wirkliche Hemmung allemal noch von andern beygemischten Umständen
abhängen wird. Denn wir müssen wegen der angenommenen unvoll-
kommenen Complexion voraussetzen, dafs die Elemente derselben, a und u,
beyde von irgend welchen, hier unerwähnt gebliebenen, Kräften, gehindert
werden sich im Bewufstseyn höher zu heben, wodurch sogleich auch ihre
Verbindung inniger werden, folglich r und o sich vergrößern, und deren
Wirkung wachsen würde. Eigentlich haben wir im Vorigen nur die Ver-
theilung des Drucks bestimmt, der aus dem Gegensatze des a und b
entsteht.
Jetzt suchen wir uns die Bedeutung der gefundenen Formeln klärer
zu machen. Der Schlufs des vorigen § zeigt, dafs wenn die Complication
sich der Vollkommenheit nähert, « beynahe in dem Verhältnils seiner
eignen Stärke die ihm fremde Hemmung zwischen a und b, tragen hilft.
Am weitesten hievon verschieden ist der Fall einer sehr unvollkommenen
Verbindung zwischen a und «. Gesetzt, das Product rp sey so klein, dals
man es neben a2 und [220] u2 vernachlässigen könne: so werden die
Verhaltnifszahlen nahe
1 ; 0 1 1
ö a «' ci b
Das heifst, die Hemmung zwischen a und b wird durch das complicirte
a, nun wenig verändert; « leidet desto weniger, je stärker es ist, und je
weniger r gegen a, und q gegen u. beträgt. Zwischen diesen beyden
äufsersten Fällen liegt in der Mitte die Annahme r = y 0 und(T= — «;
und nun werden jene Zahlen
a a a
4(„ + _L_a)2 (a + -i-a)- #(« + Jj-a)
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. -i 2 2
für a = u wird hieraus
_! ± L
Sa ga b'
Man kann auch diese Annahme a = « gleich in die allgemeinen
Ausdrücke setzen; alsdann lassen sich diese durch — dividiren, und
man findet
VQ
a2 -f- r (J a2 -\- >-q b'
Hier ist merkwürdig, dafs die Summe der ersten beyden Zahlen = 1
ist. Demnach verhält sich das, was von der ganzen Complexion a -\- a
gehemmt wird, zu dem Verluste von b, im angenommenen Falle wie b
zu a; die Reste r und q aber, die niemals einzeln, sondern immer zu
einem Producte verbunden in Betracht kommen, bestimmen dann ferner
die Vertheilung dessen, was von der Complexion zu hemmen ist, auf die
Elemente derselben.
§ 66.
Die höchst wichtige Verschiedenheit der unvollkommenen Com-
plexionen von den vollkommenen liegt nun klar vor Augen. Wir haben
im vorigen Capitel gesehen, dafs unsre Vorstellungen, so weit sie voll-
kommen verbunden sind, trotz allen Hemmungen stets ihren Zusammen-
hang unversehrt behaupten; denn vollkommene Complexionen bleiben sich
stets ähnlich (§ 61). Ganz an[22i]ders verhält es sich, sobald eine Ver-
bindung unvollkommen ist. Da wird durch jede, auch die kleinste Hem-
mung, die das eine Element der Complexion stärker trifft, als das andre,
auch die Verknüpfung lockerer gemacht, indem eins dem andern um so
viel entzogen wird, als dies minder wie jenes unter dem vorhandenen
Drucke leidet. Noch mehr! die vorhandene Verknüpfung wird ver-
fälscht durch eine entgegengesetzte. Denn nach geschehener Hemmung
complicirt sich b mit « in eben dem Maafse stärker, als von a mehr ver-
drängt wurde; dergestalt, dafs nunmehr a nicht blofs mit a, sondern auch
mit b, dem Widerspiel von a, verbunden ist. — Allein hiebey besteht
nichts desto weniger in u das Streben, a bis auf den vorigen Punct der
Verbindung wieder mit sich zu vereinigen. Denn die ganze Stärke dieser
Verbindung wird fortwährend als Bedingung des vorhandenen Gleich-
gewichts vorausgesetzt; wäre sie schwächer, so würde b noch mehr als
schon geschehen, von a hemmen. Hiedurch kommen wir weiter in der
Lehre von den Gefühlen. Denn der Zustand einer Vorstellung:, —
wie hier u, — da sie eine andre, gegen die Gesetze des Gleichgewichts,
höher ins Bewufstseyn zu heben bemüht ist, verändert das Vorgestellte
um gar nichts, kann also auch nicht zu dem sogenannten Vorstellungs-
vermögen gerechnet werden. Es ist ein Sehtien, welches befriedigt
werden würde, wenn die angestrebte Vorstellung (hier a) von neuem ge-
geben würde; jedoch so, dafs darauf sehr bald ein entgegengesetztes
Sehnen, nach b, folgen würde, sobald nämlich dies durch das neue a
21*
324 -^-I- Psychologie als Wissenschaft.
merklich gehemmt, und dadurch seiner Verbindung mit « entzogen wäre.
Jedoch dergleichen Betrachtungen lassen sich hier noch nicht ausführen;
sie gehören sammt der obigen, am Ende des § 61, in den zweyten Theil
dieses Werks.
\_222~] Sechstes Capitel.
Von den Verschmelzungen.
§ 67.
Die ersten Vorbegriffe von den Verschmelzungen der Vorstellungen
rinden sich im Anfange des vierten Capitels. Die Vereinigung solcher
Vorstellungen, die zu einerley Continuum gehören (wie roth und blau,
welches beydes Farben sind, — oder wie ein paar Töne, od. dgl.), soll
Verschmelzung heifsen. Sie führt einen besondern Namen, weil der Grad
•der Verbindung hier nicht, wie bey den Complicationen ungleichartiger
Vorstellungen (wie Ton und Farbe), blofs von zufälligen Umständen ab-
hängt, sondern durch den Hemmungsgrad der verschmelzenden Vor-
stellungen selbst, beschränkt wird. Während nun diese Art der Ver-
einigung verschiedener Vorstellungen zu einer Gesammtkraft, niemals voll-
ständiger werden kann, als der Hemmungsgrad derselben es gestattet:
können recht füglich noch zufällige Hemmungen dazu kommen, um derent-
willen die Vereinigung noch geringer wird. Allein solche Nebenumstände
setzen wir hier bey Seite.
Es ist aber nöthig, zweyerley Verschmelzung zu unterscheiden, eine
nach der Hemmung, eine andre vor der Hemmung.*
Zuvörderst nämlich ist klar, dafs wegen der Einheit der Seele, Alles,
was sich nicht widerstrebt, ein intensives Eins werden mufs; daher die
Verschmelzung nach der Hemmung. Diejenigen entgegengesetzten Vor-
stellungen, deren Hemmung geschehn ist, verschmelzen gerade so weit,
als sie sich nun nicht mehr hemmen. Die Reste bilden eine Totalkraft,
ähnlich jener bey den unvollkommenen Complicationen; jedoch mit dem
Unterschiede, [223] dafs die Complication vollkommener wird, wenn die
■complicirten Vorstellungen zugleich steigen; hingegen, wenn die ver-
schmolzenen ihren Verschmelzungspunct übersteigen, die Hemmung von
neuem beginnt; (mit einer Einschränkung, die im § 93 erst vorkommt).
Verschieden hievon ist die Verschmelzung vor der Hemmung. Diese
hängt ab von einem gewissen Grade der Gleichartigkeit der Vorstellungen.
Bey völlig entgegengesetzten kann sie nicht Statt finden, welche gleichwohl
jener andern, nach der Hemmung, unterworfen sind. — Man denke sich
zuvörderst zwey vollkommen gleichartige Vorstellungen, z. B. beym Sehen
zweyer gleich gefärbter Puncte, oder beym Hören zweyer gleich gestimmter
Saiten. Dafs diese gleichartigen völlig (und augenblicklich) in eine ein-
zige Intension des Vorstellens verschmelzen werden, wofern sie gleich-
* Beydes ist eigenüich Verschmelzung während der Hemmung; allein die obige
Unterscheidung befördert die Fafslichkeit.
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 325
zeitig ungehemmt im Bewufstseyn sind, versteht sich ganz von selbst.
Was wird aber daraus werden, wenn ein paar unendlich nahe Vor-
stellungen, das heilst, zwey fast gleichartige, und deren Gegensatz unendlich
klein ist, sich gleichzeitig ungehemmt zusammenfinden? Natürlich kann
der Erfolg nur unendlich wenig von dem vorbemerkten abweichen. Den-
*ö
noch hindert der Gegensatz eine völlige Vereinigung. Und — was die
Hauptsache ist — er läfst sich von dem Gleichartigen nicht absondern.
Nur in Gedanken kann man eine Vorstellung, verglichen mit einer andern,
zerlegen in Gleiches und Entgegengesetztes; der Wirklichkeit nach aber
sind dieses nicht wahre Bestandteile der einfachen und sich selbst
gleichen Vorstellungen. So ist die Wahrnehmung der violetten, oder der
grünen Farbe, — desgleichen die irgend eines musikalischen Tones, —
gewifs eine einfache Wahrnehmung; wenn schon die Zerlegung jener in
Roth und Blau, u. s. w. als eine zufällige Ansicht zulässig ist. — Da nun
das Gleichartige gewifs, und sogleich, verschmelzen sollte, da es aber
nicht losgerissen von dem Entgegengesetzten, für sich allein verschmelzen
kann; da es vielmehr das letztere in seine [224] Verschmelzung mit sich
hineinziehen mufs, — so wird der wirklichen Vereinigung ein Kampf
vorangehn, dessen Entscheidung bestimmt, wie innig die wirkliche Ver-
einigung seyn werde. Also äufsert sich das Gleichartige der Vorstellungen
(man vergesse nie, dafs wir von einfachen Vorstellungen reden, und
nicht etwa von Complexionen) zuerst als ein Streben zur Verschmel-
zung; dergleichen bey den völlig Gleichartigen nicht vorkommen konnte.
Dieses Streben wird nun bey unendlich Nahen nur unendlich geringen
Widerstand finden.
Nehmen wir hingegen jetzt Vorstellungen, deren Gegensatz eine end-
liche Gröfse hat: so kann, erstlich, die Verschmelzung nur allmählig zu
Stande kommen, in dem Maafse nämlich, als die Gegensätze dem Streben
zur Vereinigung allmählig nachgeben; zweytens, aus dem Grade des Gegen-
satzes und der Gleichartigkeit mufs die Stärke des Strebens zur Ver-
einigung, und hieraus weiter berechnet werden, wie viel dieses Streben
über die Gegensätze vermögen, wie viel wirkliche Vereinigung, und folglich
welche Totalkräfte es am Ende erzeugen werde.
So viel zur vorläufigen Aufklärung der Begriffe; wir suchen jetzt die
allgemeine Methode aller Verschmelzungs-Rechnung; welche der Rechnung
für unvollkommne Complicationen im wesentlichen ähnlich ist.
§ 68.
Für die drey Vorstellungen a, b, c, gebe es drey Verschmelzungs-
hülfen, //, h' , //'; welche nach was immer für einem Gesetze bestimmt
seyn mögen, nur aber nicht von fremden Einflüssen herrühren, sondern
aus gegenseitiger Wirkung von a, b, und c auf einander entsprungen seyn
müssen. Auch sey a -j- h = u, b -\- h' = ß, c -\~ h" — y. Der
Hemmungssumme widerstehen nun diese Totalkräfle nach dem umge-
kehrten Verhältnifs ihrer Stärke, und vielleicht noch im geraden Verhält-
nisse irgend welcher Hemmungsgrade oder Summen von Hemmungsgraden,
um deren Bestimmung wir uns hier nicht bekümmern, deren Stelle wir
326
XI. Psychologie als Wissenschaft.
aber', nach Analogie der Unter[22 5]suchungen im dritten Capitel , mit
e, i(, &, bezeichnen. So werden die Hemmungsverhältnisse
e i, &
—, — , — ; oder tßy, ituy, Saß.
Weil aber die Totalkräfte zum Theil in einander enthalten sind, so
wird auch das Gehemmte nach eben denselben Verhältnissen in einander
verschränkt seyn (gerade wie im fünften Capitel). Wenn z. B. b dem a
eine Verschmelzungshülfe leistet, so ist das Leiden der hieraus entsprungenen
Totalkraft nur zum Theil ein Leiden von a; der andre Theil steckt in dem
Leiden von b. Daher darf man nicht das Gehemmte der Totalkräfte zu-
sammengenommen der Hemmungssumme gleich setzen. Vielmehr sey das-
selbe = X; eine noch unbekannte Gröfse. Nun hat man die Proportionen:
tßyX
(eßy -f r,uy + fraß):
tßy
I (t "
= X
d-uji
ißy -\- >,ay -f- fraß
rpyX
eßy + rjay -f ituß
ü-aß.X
tßy -f- ijay + &aß
Aus den vierten Gliedern hat man abzusondern das Leiden von <?,
ö, und c, durch folgende drey Proportionen:
aeßy X
a
tßyX
ß : b —
eßy -\- ituy -\- fraß ' a (eßy -\- itay -\- Süß)
ijuy X b ■ i, « y X
eßy 4. ltay -f &uß • ß.(tßy + V,ay + Saß)
SaßX cS-aßX
tßy 4" 'iuy -f- Stuß ' y • {eßy 4~ '/"/' 4~ &uft)
Die Summe der gefundenen vierten Glieder ist die wirkliche Hem-
mungssumme, also
X (aeßy brtuy , c&aß'
eßy 4" 'iu'/ -f- &aß
«
+
;>
+
— S,
woraus X =
S . (e'ßy 4- Vuy + &aß) . aßy
b =
aetPy2 -{- bi]U2y2 4- c&a2ß2
[226] Durch Substitution dieses Werthes von Är findet sich nun
, T ., S . aeßSy2
das Leiden von a = ; ; ; -
aeß*f 4- btja2y2 -\- c&a'ß*
S . bi,a2y2
a e , J2 f 4- br\tff -\- c $■ u2 ß2
S . cttu2^
" c = atpf 4_ brtff 4- c&a?ß*
Oder ganz kurz: aetPy2, bi,u.2y2, cfrtfß2, sind die Verhältnifszahlen
wornach die Hemmungssumme sich vertheilt. Man übersieht diese Ver-
hältnisse noch leichter, wenn man sie so schreibt :
<j e b i, c &
c.
2' ->2
P
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ?27
Und weil a = a + h, so ist — = — — — . — - ; Qft aber wird
«2 a2 ~\- 2 ah -j- h2
h ein so kleiner Bruch seyn, dafs man im Nenner h2 weglassen kann.
Alsdann ist beynahe — = — -; welche Abkürzung auch auf die
« a -f- 2 h °
übrigen Verhältnifszahlen pafst.
Sind nur zwey Vorstellungen a und b gegeben: so ist c = o; man
kann durch y2 dividiren; und es ist
, . 5 . tff/?2
das Leiden von # = — '
rt:4/y2 -j- ^//«2
b =
.S* . ^ ^
«
2
d^/312 -f- £y/a2'
Für mehr als drey Vorstellungen würde man die Rechnung nach
Analogie der hier gezeigten anzuordnen haben.
§ 69.
Um von den gefundenen Formeln eine leichte Anwendung zu machen,
wollen wir die Verschmelzung nach der Hemmung mit der Einschränkung
in Betracht ziehn, dafs wir zunächst volle Hemmung aller Vorstellungen
untereinander annehmen. Dieses befreyt uns von den Rücksichten, welche
die Verschmelzung vor der Hemmung sonst erfordern würde; indem die
letztere nicht ein [2 2 7] treten kann, wo gar keine Gleichartigkeit der Vor-
stellungen vorhanden ist.
Es seyen demnach von a und b, nach vollendeter Hemmung, die
Reste verschmolzen. Darauf komme plötzlich die Vorstellung c hinzu;
(plötzlich, damit nicht der Zeitverlauf einer länger anhaltenden Wahr-
nehmung es nöthig mache, über die Statik des Geistes zur Mechanik
hinauszugehn.) Man sucht für die Hemmung zwischen a, b, und c den
Punct des Gleichgewichts; (also nur das Ende der Hemmung, nicht ihr
allmähliches Werden, welches wiederum in die Mechanik hineingehört)
Offenbar müssen wir hier zuerst die Verschmelzungshülfe bestimmen,
welche a und b einander gegenseitig leisten, indem sie von c zum weitem
Sinken gedrängt werden. Für c selbst giebt es hier noch keine solche
Hülfe, dergleichen es erst nach geschehener Hemmung bekommen wird.
So viel liegt vor Augen, dafs a und b nun dem c stärker widerstehen
werden, als wenn sie noch unverschmolzen wären, denn sie wirken ihm
jetzt zum Theil als Eine Totalkraft entgegen.
Zuvörderst ist im Allgemeinen die Bestimmung der Verschmelzungs-
hülfe hier dieselbe, wie im vorigen Capitel. Es sey der Rest von a, = r,
der von b, = Q, so hilft r dem b, in so fern der Bruch — die Aneignung
b
der Hülfe gestattet; desgleichen q dem a, in so weit der gedrückte Zu-
stand von a, gemäß; dem Bruche — , für die Hülfe empfänglich ist. Mit
a
einem Worte: a bekommt die Hülfe v- ; und b die Hülfe -.
a b
•2 2 8 XL Psychologie als "Wissenschaft.
Ferner müssen wir in das erste Capitel zurückgehn, um dort die
Werthe von r und p zu finden. Denn diese hängen ab von der Hemmung
b2
zwischen b und a. Es ist aber nach § 44 r = a - — : — , und
a ~ b
(> = 7T+?
ab2 b*
Folglich ro =
o
a + b (a -f- b)*'
a2Y.2 (1 4- x ■ — y.2)
[228] Es sev b — y.a; so wird ro = -
L J (i + y.)2
gr a(y.2 -f- y3 — Jf4) gr ff(x -j- y.z — *3) 1 gr
d b° ~ä = (1 + x)2 ün 7' ~~ (1 -f y)2~ ~ y. ' Ä "
Wir werden einen Augenblick verweilen bey diesen Gröfsen, die man
offenbar als Functionen von •/., d. h. von dem Verhältnisse zwischen a
und <5, ansehn kann. Für x = 1 wird — = — a, und — == — ff. Ist
die
pr ffx2 or «x
weglassen, und es wird — ; , und — = — — Wird von
y.2 -\- y.i — yA
der Function ' ; das Differential = o gesetzt, so kommt
Qr 1 , Qr
— = — a, und —
a 4 b
y. ein kleiner Bruch, so kann man die höchste Potenz als unbedeutend
or ay2 or ay.
- = ■ , und ^— = ■ .
a \ -\- y. a 1 -j- /.
(1 + *y
man auf die Gleichung y.i -\- ±-y.2 — |x — 1 =0, deren einzige posi-
y. 4- y.2 — yJ
tive Wurzel = 1 ; desgleichen von der Function — ; ; r- das Dif-
0 (1 -f- x)2
ferential = o gesetzt, führt zur Gleichung x3 -(- 3 y2 — y. — 1 =0,
deren einzige positive Wurzel etwas kleiner ist als 0,7. Dieser letztere
Werth von /. giebt ohne Zweifel ein Maximum; eigentlich auch für jene
erste Function der Werth /. = 1, doch dieser ist zugleich der höchste
brauchbare Werth von y., denn die Formeln für r und p setzen voraus,
dafs ff > b. — Dafs es für die Verschmelzungshülfe, welche b erhält,
ein Maximum giebt, verdient bemerkt zu werden.
Hier folgen einige berechnete Werthe der Verschmelzungshülfen, für
a = 1.
[229]
a
= 0,25
y. = 0,9
rg
b
= 0,25
0,244
0,2717
x = o,8
0,228
0,286
y. = 0,7
0,205
0,293
X ans 0,Ö
0,174
0,291
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 2 20,
x = o, =;
— = 0,I3Q -^ =0,278
0,101 0,253
* = o,3
0,064 0,215
/. = 0,2
0,03 2 o, 1 6 1
Für kleinere x findet man sehr leicht -7- = = ax (1 -— ■/.)
0 1 -|- /.
näherungsweise; also z. B. für x = o, 1 ist -- nahe = 0,09; folglich —
= 0,009. Man sieht, dafs die Verschmelzungshülfe für /; hier sehr be-
deutend ist, indem sie die Stärke desselben beynahe verdoppelt, während
dagegen die Hülfe für a nicht in Betracht kommt.
Jetzt können wir in den Formeln des vorigen §. a und ß bestimmen.
Die Hemmungscoefficienten e, /;, & werden herausfallen; denn wir haben
volle, also gewifs gleiche Hemmung angenommen, und die Verschmel-
zungsh ülfen müssen in eben den Graden gehemmt werden wie
die Vorstellungen, denen sie helfen, und vermittelst welcher
die Hemmung zu ihnen übergeht. Ferner ist c=.y, weil es für c
noch keine Hülfe giebt, wie schon erinnert worden. Daher läfst sich durch
C = y dividiren; und die Formeln geben nun einfacher
[230]
das
Leiden
»3
von
b,
=
Sbya*
1
u2 ß*
»j
ayß2 -f- byu2
Su2ß>
+
u2ß2
" " ayßt + bya' + a'ß*
wobey noch zu bemerken, dafs hier c jede beliebige Gröfse haben kann,
indem zu a und /', den schon verschmolzenen, jede starke oder schwache
dritte Vorstellung hinzutreten mag. Nur in der Bestimmung der Hemmungs-
summe mufs hierauf gehörige Rücksicht genommen werden.
Es sey zuvörderst a = b = c = 1 . Demnach 5 = 2 ; a = ß = 1,25 ;
ur = 1,5625 ; uzß2 = 2,4414 . . . und hieraus
das Leiden von a === 0,5614..
„ b = 0,5614 . .
„ „ „ c = 0,8772 . .
woraus die starke Wirkung der Verschmelzung zu erkennen ist; denn ohne
sie hätte das Leiden von allen dreyen gleich grofs, und = — = 0,666 . .
seyn sollen.
Es sey ferner a = I ; b = 0,7 ; c =■■ 1 ; also S = 1,7 ; « = 1,205 !
ß = 0,993 ; u2 = 1,4520; fi* = 0,98605 . . ; u2ß2 = 1,43 1 7 . . , woraus
das Leiden von <z = 0,48814
„ b = 0,50317
„ c — 0,7087
iiQ XI. Psychologie als Wissenschaft.
Dieses Beyspiel zeigt noch weit auffallender die grofse Veränderung,
welche aus der Verschmelzung hervorgeht. Denn nach § 49 hätte b unter
die Schwelle sinken sollen, weil neben zweyen Vorstellungen, deren Stärke
= 1, die dritte schwächere = V_I_ = 0,707 .. seyn mufs, um sich nur
2
auf der Schwelle behaupten zu können. Jetzt hingegen tritt an die Stelle
von b nicht nur die Totalkraft 0,993 ; sondern selbst was diese leidet, ist
zum Theil enthalten in dem Leiden von a; daher denn a fast so stark
als b selbst, von der Hemmung ergriffen wird. Dennoch gewinnt auch a
durch den Schutz der Verschmelzung. Denn ohne diesen wäre zwischen c
und a die Hemmungssumme = 1 gleich geth eilt worden, [231] folglich hätte
das Leiden von a == 0,5 seyn müssen. Desto gröfser wird die Last für
die neu hinzukommende Vorstellung; und, was wohl zu bemerken, auch
die Verschmelzungshülfen, welche sie selbst für die Zukunft erlangt, werden
um so kleiner, je kleiner ihr Rest ausfällt. Nichts desto weniger ver-
ursacht sie für eine kurze Zeit den altern Vorstellungen grofse Beschwerde,
wie der folgende Abschnitt zeigen wird; und nicht ohne bedeutende Be-
wegung des Gemüths wird der hier gefundene Zustand des Gleichgewichts
gewonnen. Dieses eben so wohl als jenes ist der Erfahrung vollkommen
gemäfs.
§ 70.
Wir können hier die Fragen nach den Schwellen nicht mit Still-
schweigen übergehn, deren zwey verschiedene aus der Verschmelzung folgen
müssen. Denn entweder soll b, ungeachtet der Hülfe, die ihm zu Theil
wird, von a und c auf die Schwelle getrieben werden; oder c selbst,
welches jetzt stärkern Widerstand findet, soll zur Schwelle sinken.
Die erstere Schwelle wird bestimmt durch die Gleichung
Sbyu2
~~ ayß2 + bya2 -\-a2ß2
oder a y ß2 -f- byu2 -\- a2 ß2 = Sy u2.
Es ist hier am leichtesten, y zu finden, also die übrigen Gröfsen nach
Gefallen anzunehmen. Daher stellen wir die Gleichung so:
a2ßz = y (Sa2 — aß2 — ba2).
Für 5 finden zwey Fälle statt. Entweder das hinzukommende c mufs der
Schwelle wegen, auf die es b treiben soll, gröfser seyn als a; dann ist
S = a -j- b ; oder b ist so klein , dafs zur Schwelle ein kleineres c hin-
reicht, nämlich c <a; dann ist S = b -f- c , oder = b -f- y, weil hier c = y.
In jenem Falle fällt ba2 aus den Klammern weg, und man hat
a2 ß2
a (a2 — (i*) = Y'
[232] Dies wird unendlich für « = ß, welches, wie man aus dem obigen
leicht übersieht, nur möglich ist für a = b; aufserdem ist allemal « > ß,
demnach immer ein positiver Werth für y zu finden. Die Rechnung er-
giebt zum Beyspiel
für a = 1 , b = 0,9 ; y = 1 2, 1 6 . .
,-, 0=== 1, b = 0,y; y= 3,07 . .
„ a= ij b==* 0,5; y — 1,13 . •
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 331
Hier nähern wir uns schon dem andern Falle; es ist vorauszusehn, dafs
ein noch kleineres b auf ein y < 1 hinweisen werde. Demnach nehmen
wir nun S = b -f- ;', und ändern die Formel. Es fällt auch jetzt b «2 aus
den Klammern weg, und man findet
aß
2
f - y • -- = P
ajL y^
' 2U2 ' f 4«4
wo man vor der Wurzelgröfse nur das positive Zeichen nehmen darf, weil
sonst y negativ würde, welches keinen Sinn hat. Des Beyspiels wegen sey
a = 1, b = 0,1 ; so ergiebt sich y = 0,208 . . — Es versteht sich, dafs, um
dieses und die vorigen Bevspiele mit § 49 zu vergleichen, man überall
die Gröfse im Auge haben mufs, welche durch die beyden andern auf
die Schwelle getrieben wird, diese ist hier b, aber im § 49 war sie c
Ferner war dort die mittlere der drey Gröfsen = 1 gesetzt, dieses mufs
also auch hier geschehn, um in der Vergleichung nicht anzustofsen. In
den drey ersten Beyspielen ist a = 1 , und zugleich die mittlere Gröfse;
in dem letzten Beyspiele ist y oder c diese mittlere Gröfse, und sie sollte
hier zur Einheit, oder zum Maafse für die andern Gröfsen genommen
werden.
Doch wir eilen zu der zweyten Aufgabe, c soll auf die Schwelle
getrieben werden durch die verschmolzenen a und b. Dafür gilt die
Gleichung
Su2ß2
C = a^ß^+bya2 + u2 ß2
[233] oder, weil c = y, und 5 = b + c , indem c, wenn es die stärkste
•der Vorstellungen wäre, nicht zur Schwelle sinken würde :
c2 {aß2 -f ba2) = ba2ß2
V aß1
2 -\-bu-2
Es sey a = = b, folglich « = ß, so ist c = «VZ =0,884, wenn a = 1
2
und folglich u = 1,25. Ohne Verschmelzung ist c = » — , nach § 49.
Für ein sehr grofses a, und sehr kleines /. (man sehe § 69) ist — ■ nahe
= av. = b, folglich ß = 2b; ferner « = a, und c = 2aby - — ^-- — '
oder, indem für ein sehr grofses a füglich 4 a b2 neben ba2 kann weg-
gelassen werden, c = 2 b. Dies ist zwar nur ein Gränzwerth, der nicht
völlig erreicht wird; allein man sieht daraus, dafs vermöge der
Verschmelzung, selbst eine stärkere Vorstellung neben einer
schwächeren kann aus dem Bewufstseyn verdrängt werden. —
Uebrigens mufs nun auch für irgend ein Verhältnifs von a und b, c = b
auf der Schwelle seyn. Es ist schwer, dieses Verhältnifs genau zu finden.
Man müfste a und ß durch a und b ausdrücken ; oder für a = 1 durch /.,
, , -, XI. Psychologie als Wissenschaft.
nach § 69. Allein schon « = a -f- — enthält die vierte Potenz von /. im
Zähler, und die zweyte im Nenner; ß die dritte im Zähler und die zweyte
im Nenner; daher würde die Gleichung, worin u2 r>2 vorkommt, auf einen
so hohen Grad steigen, dafs die Auflösung so gut als unmöglich fiele.
Durch Entwicklung von (i-f *)~2 in eine Reihe, durch Multiplication
der zugehörigen Zähler, und Berechnung der daraus entstehenden Gröfsen
bis auf die dritte Potenz von ■/., finde ich aus einer cubischen Gleichung v.
oder b nahe = — ; eine Verbesserung mit Hülfe der Annahme /. = —
-I- u o-iebt u = -1 , /. = 0,6. Dieses trifft bev der Probe ziemlich nahe
zu; doch ist für /. oder b = 0,6 schon c = 0,63 . . [234] auf der Schwelle,
also ist es hier schon gröfser als b; daher mufs der gesuchte Werth von b
etwas gröfser sevn als 0,6. Der Gegenstand würde eine sorgfältigere Rech-
nung, durch Auflösung einer biquadratischen Gleichung und Verbesserung
vermittelst höherer Potenzen von tt, wohl kaum belohnen.
§ 7i-
Der am mindesten schwierige Fall der Verschmelzung nach der
Hemmung, nämlich der Fall worin alle Hemmungsgrade = I, ist jetzt,
so weit es hier nöthig schien, abgehandelt worden. In den übrigen Fällen
ist eine Verschmelzung schon vor der Hemmung, im Allgemeinen zu er-
warten; wir müssen daher jetzt hieher unsre Aufmerksamkeit wenden.
Schon im § 67 ist erinnert worden, dafs zwischen völliger Identität
und völligem Gegensatze zweyer Vorstellungen, ein Continuum möglicher
Fälle liege; und dafs diesem ein Continuum möglicher Erfolge entspreche,
die aus dem Zusammentreffen zweyer Vorstellungen entspringen müssen.
Nun hat die völlige Identität eben so gewifs ein völliges Zusammenfliefsen,
also vollständige Bildung einer Totalkraft, als völliger Gegensatz die volle
Hemmung zur Folge. Zwischen den Extremen können demnach nicht
blofs mindere Hemmungen, es müssen dazwischen auch mindere Grade des
Zusammenfliefsens, das heifst, Verschmelzungen vor der Hemmung, statt
finden. Liefse sich nun das Verschmelzende zweyer Vorstellungen absondern
Vi <n ihrem Gegensatze : so wären die Begriffe hierüber von selbst im Klaren ;
wir hätten aber alsdann auch gleich im dritten Capitel die Totalkräfte,
welche aus der Verschmelzung entstehen, gehörig in Rechnung bringen, und
nicht blofs auf die Grade der Hemmung sehen sollen. — Allein Gleich-
heit und Gegensatz sind keineswegs Bestandteile der Vorstellungen, sondern
Prädicate, die erst im zufälligen Zusammentreffen der Vorstellungen entstehn.
Daher kann man die Rechnung nicht so führen, als ob ohne weiteres das
Gleiche [235] verschmelze und das Entgegengesetzte sich hemme: sondern
man mufs die Verschmelzung ansehen als etwas, das wegen eines gewissen
Grades von Gleichartigkeit der Vorstellungen sich ereignen sollte, das aber
in dem Gegensatze ein Hindernifs antreffe. Alsdann wird eine vorläufige
Berechnung nöthig, in wie weit dies Hindernifs überwunden werden, und
dem gemäfs die Verschmelzung wirklich vor sich gehen könne.
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 333
Ehe wir uns auf die eben erwähnte Berechnung einlassen, wollen wir
überlegen, was der Erfolg einer wirklichen Verschmelzung seyn möge?
Keineswegs eine Verminderung der Hemmungssumme; sondern blofs eine
Verrückung des Hemmungsverhältnisses: dies ist schon aus dem obigen
klar. Denn die Verschmelzung bringt gewisse Totalkräfte hervor, die nun
in einem andern Verhältnisse, als es die Stärke der Vorstellungen ursprüng-
lich mit sich brachte, der Hemmung entgegenwirken, — derselben
Hemmung, welche in dem Widerstreitenden der Vorstellungen einmal liegt,
und welche sich nicht verändern kann, weil sonst diese Vorstellungen
nicht mehr die nämlichen bleiben würden. — Allein das Hemmungsver-
hältnifs kann auch nicht plötzlich verrückt werden. Sonst müfste das
Hindemifs, welches durch das Streben zur Verschmelzung erst soll über-
wunden werden, plötzlich entweichen; ein unmöglicher Sprung, wie durch
Betrachtungen des folgenden Abschnittes noch klärer werden wird, und
wie man hier einstweilen als wahrscheinlich einräumen mag. Nun hat die
Hemmungssumme ihr Gesetz, nach welchem sie fortdauernd sinkt; ein Um-
stand, der ebenfalls in den folgenden Abschnitt gehört. Man denke sich
also die Hemmungssumme fortwährend im Sinken begriffen; aber in der
nämlichen Zeit das Hemmungsverhältnifs unaufhörlich verändert: so wird
man einsehn, dafs, wofern eine wirkliche Verschmelzung zu Stande kommt,
die Frage nach dem Quantum des Gehemmten für jede einzelne Vor-
stellung nicht mehr eine statische Frage, wie bisher, sondern eine mecha-
nische ist. Denn [236] nun hängt dies Quantum des Gehemmten, und der
Gleichgewichtspunct, bey welchem die Hemmung still steht, davon ab, wie
weit die Bewegungsgesetze der Vorstellungen die Verschmelzung zur Reife
gelangen lassen. Folgendes sind die Puncte , worauf es hier ankommt.
Erstlich, die Hemmungssumme sinkt allmählig.
Zweitens, in der nämlichen Zeit ändert sich das Hemmungsverhältnifs
allmählig, indem das Streben zur Verschmelzung wider die Gegensätze
sich aufarbeitet.
Drittens, hieraus folgt, dafs in jedem Augenblicke die bis dahin voll-
brachte Hemmung von dem jetzigen Hemmungsverhältnifs um etwas ab-
weicht, und dafs also jene sich diesem gemäfs berichtigt.
Viertens, diese Berichtigung mufs zwar damit endigen, dafs die Vor-
stellungen sich nach demjenigen Hemmungsverhältnifs ins Gleichgewicht
setzen, welches nach gesunkener Hemmungssumme sich zuletzt ausbildet.
Aber eben das letzte Hemmungsverhältnifs hängt von dem Grade der
Verschmelzung ab, welchen die fortschreitende Hemmung gestattete. Denn
die Vorstellungen können nicht verschmelzen, in so fern sie schon gehemmt
sind; (ein Punct, über den wir schon im § 57 gesprochen haben.) Je
schneller sie also von Anfang an niedergedrückt werden, desto mehr geht
von derjenigen Verschmelzung verloren, welche entstehen würde, wenn es
möglich wäre, dafs von der doppelten Wirkung der Gegensätze, nämlich
die Vorstellungen sinken zu machen und ihre Verschmelzung aufzuhalten, die
erste so lange aufgeschoben würde, bis die zweytc ihr Ende erreicht
hätte.
Am gegenwärtigen Orte können diese Betrachtungen nur dazu dienen,
den Gegenstand in die Mechanik des Geistes zu verweisen.
22 A. XI. Psychologie als Wissenschaft.
Hier aber ist besonders zu bedenken, was schon vorhin angedeutet
wurde, dafs die nämlichen Betrachtungen in die Nachforschungen der
vorigen Capitel zurückgreifen müssen. Schon im dritten Capitel durften
wir, Falls die Untersuchung vollständig seyn sollte, das Hemmungsver-[2 37]
hältnifs nicht blofs von den Hemmungsgraden und von der Stärke der
Vorstellungen abhängig machen. Dort, und dann ferner bey den Com-
plexionen, deren Elemente aus einerley Continuum ebenfalls der Ver-
schmelzung schon vor der Hemmung (oder vielmehr, wie wir nun sehen,
während derselben), unterworfen sind, mufste auf die daraus hervorgehende
Abänderung des Hemmungsverhältnisses Rücksicht genommen werden.
Würde dieses als ein Vorwurf gegen den bisherigen Vortrag angesehen:
so läge die Antwort in der einzigen Erinnerung, dafs die Aufstellung der
Elementarbegriffe nicht mit so verwickelten Fragen belastet werden durfte,
wie die vom Einflufs der Verschmelzung auf die Hemmung.
Ueberdies aber ist der Einflufs der Verschmelzung nicht von so
grofsem Umfange, als es Anfangs scheinen mufs. Und die gehörige Be-
grenzung dieses Einflusses ist nun das nächste, was zu bestimmen uns obliegt.
§ 72.
Zuvörderst : die Stärke des Strebens zur Verschmelzung ist von dem
Hemmungsgrade zweyer Vorstellungen, und von der schwächeren, nicht
aber von der stärkeren unter beyden, abhängig.
Der Hemmungsgrad sey m, ein ächter Bruch; so ist 1 - — m das
Gleichartige beyder Vorstellungen. Gleichartigkeit aber ist nichts, was
einer für sich allein zukäme, sie ist nur Eine für beyde Vorstellungen,
während das Entgegengesetzte allemal zweyerley Verschiedenes ist, indem
es auf zweyen Eigenthümlichkeiten zweyer Vorstellungen beruht. Die
Gleichartigkeit, und mit ihr das Streben nach Verschmelzung, wächst nun
ohne Zweifel in demselben arithmetischen Verbältnisse, in welchem der
Hemmungsgrad abnimmt. Sie wächst auch, wenn zwey gleich starke Vor-
stellungen gleichmäfsig wachsen oder abnehmen; nämlich die Gleichartig-
keit ist alsdann gleichsam in einer gröfseren oder geringeren Masse
realisirt, daher auch das Streben nach Verschmelzung in einer [238]
gröfseren Masse des Vorstellens sich wirksam äufsern wird. — - Aber wenn
von zweyen, zuvor gleich starken Vorstellungen, jetzo eine sich verstärkt,
die andre gleich stark bleibt wie vorhin: so ist hier ein ähnlicher Fall
wie schon oben im § 42 bey der Hemmungssumme vorkam. Nämlich
die Notwendigkeit der Verschmelzung wächst hier eben so wenig, wie
dort die Nothwendigkeit der Hemmung. Denn die Zerlegung der stärkeren
Vorstellung in Gleiches und Entgegengesetztes wächst nicht darum, weil die
Vorstellung selbst wächst, sondern sie bleibt in der nämlichen Kraft und
Bedeutung, so lange die schwächere, zerlegende Vorstellung sich gleich
bleibt. Die Spannung ist nun geringer, sowohl die,, welche zur Ver-
schmelzung antreibt, als die welche der Verschmelzung entgegenwirkt. —
Dieses hindert aber nicht, dafs die Totalkräfte, welche die wirkliche Ver-
schmelzung hervorbringt, von der Stärke einer jeden verschmelzenden
abhängen. Mau mufs die Energie des Verschmelzens sehr wohl
Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.
335
unterscheiden von den Kraft -Verhältnissen der verschmolzenen Vor-
stellungen.
Ferner: dem Einen, aus der Gleichartigkeit entspringenden Streben
zur Verschmelzung, wirken beyde entgegengesetzte Eigentümlichkeiten
gerade in so fern zuwider, als sie sich unter einander anfechten, und
dadurch das Sinken der Vorstellungen bewirken. Denn derselbe Wider-
streit, welcher die Hemmungssumme hervorbringt, macht auch die Ver-
einigung in Eine Totalkraft unmöglich, oder doch schwierig und unvoll-
kommen. — Demnach sind hier bey zweyen Vorstellungen drey Kräfte
vorhanden; die eine zur Verschmelzung wirkende, = i — m, und die
beyden entgegengesetzten Eigenthümlichkeiten, oder mit einem verkürzten
Ausdrucke, die beyden Gegensätze, jeder == m, dem Hemmungsgrade,
weil die ungleiche Stärke der Vorstellungen hier aus den Augen zu lassen
ist. Diese drey Kräfte stehn unter einander in voller Hemmung; denn
erstlich ist das Entgegengesetzte zweyer Vorstellungen, so fern es aus
ihnen herausgehoben gedacht [23g] wird, gewifs völlig entgegengesetzt;
zweytens ist eine jede der entgegengesetzten Eigenthümlichkeiten eben so
gewifs in vollkommenem Widerstreit gegen die Verschmelzung.
Wie nun mit dreyen, einander völlig entgegengesetzten Kräften zu
rechnen sey, wissen wir aus dem ersten und zweyten Capitel dieses Ab-
schnitts. Eben so wie dort, mufs auch hier theils ein Quantum Kraft,
welches gehemmt wird, — also eine Hemmungssumme — theils ein Ver-
hältnifs angegeben werden, nach welchem die vorhandenen Kräfte den
Verlust unter sich theilen. Die drey Kräfte m, m, und 1 — m, seyen
fürs erste so bestimmt, dafs vi > 1 — m. Alsdann ist nach den ersten
Grundsätzen die Hemmungssumme = 1 — ?n -\- »1 = 1. Und das
Hemmungs-Verhältnifs wie 1 — m, 1 — m, vi. Die Summe der Zahlen,
welche das Hemmungsverhältnifs ausdrücken, = 2 - — m. Daher die
Rechnung folgende :
(2 — vi) : \ 1
m
— vi
vi
I —
m
2
vi
I
vi
2
m
m
m
wenn 1
Hier mufs es etwas der Schwelle des Bewufstseyns Analoges geben,
2 — V 2 , und 1 — vi = V 2 — 1 ;
vi
IV
woraus vi
2 — vi
daher vi : (1 — vi) = V2 : 1; wie sich gebührt, wenn neben zwey
gleichen Kräften eine dritte auf der Schwelle seyn soll. Es ergiebt sich
hieraus folgender Satz:
Wenn der Hemmungsgrad zweyer Vorstellungen nicht
kleiner ist als 2 — V 2 = 0,585 . . . , so wird die, zur Verschmel-
zung vor der Hemmung wirkende Kraft, gänzlich gehemmt; es
geschieht also keine solche Verschmelzung, sondern für alle
Fälle dieser Art bleiben die früher gezeigten Rechnungen
. ■}() XI. Psychologie als Wissenschaft.
unverändert. Aber dieses ist noch [240] nicht die engste Gränze, worin
die Abänderung des Hemmungs- Verhältnisses durch die Verschmelzung vor
der Hemmung, mufs eingeschlossen werden.
Die Vorstellungen sind ursprünglich unverschniolzen. Wenn sie nun
auch einander nahe genug, oder gleichartig genug, sind, damit nicht, nach
der eben geführten Rechnung, die Energie des Verschmelzens gänzlich
überwunden werde von dem entgegengesetzten Eigenthümlichen einer jeden
einzelnen Vorstellung: so fragt es sich dennoch, ob irgend etwas von
wirklicher Verschmelzung zu Stande kommen könne? Dazu gehört, dafs
die Energie der Gleichartigkeit, welche ursprünglich in beyden Vorstellungen
nur Eine ist, sich in zwey gleiche Kräfte theile. Denn sie mufs die eine
Vorstellung mit der andern, und auch die andere mit jener, verschmelzen.
Nun sind aber die Vorstellungen nicht einerley; und es kann auch
in keiner von beyden ' das Gleichartige vom Entgegengesetzten wirklich
losgerissen werden, um sich mit der andern zu vereinigen. Also bleibt
nichts übrig, als dafs mit jeder von beyden sich die andre in einem ge-
wissen, beschränkten Grade verbinde. Jede einzelne Vorstellung wird
gleichsam ein Subject, mit welchem sich die andre, so weit sie kann, als
Prädicat vereinigen soll. Demnach giebt es nicht eine, sondern zwey Ver-
knüpfungen; und die eine, verschmelzende Kraft theilt sich nicht blofs in
zwev Kräfte, sondern diese beyden Kräfte sind auch unter einander in
vollem Widerstreite, in so fern sie auf umgekehrte Weise eine der beyden
Vorstellungen als eine solche setzen, mit welcher die andre unvollkommen
verbunden werde. Fragt man aber, wie sich die eine, verschmelzende
Kraft theilen könne? so ist die Antwort: sie liegt ursprünglich eben so
wohl in der einen als in der andern der beyden Vorstellungen, da zur
Gleichheit derselben gewifs beyde nöthig sind; und nur in ihren beyden
Aeufseruncren ist sie mit sich selbst im Streite. — In dieser Beziehung
sind nun offenbar vier [241] Kräfte in eine Hemmungsrechnung zusammen
1 — m 1 — tn TT
zu fassen; nämlich m, m, , ■ Die Hemmungssumme um-
2 2
1 — m
fafst die drey schwächern, und ist folglich = 1 . Von wird ge-
hemmt . Dieses sey = , so wird jede der schwächren
1 -j- m 2 __
Kräfte völlig gehemmt, und es findet sich m = V 2 — 1 = 0,414 .. .
Wenn nun der Hemmungsgrad auch kleiner ist als 0,585 . . .
aber gröfser als 0,414 so hindert noch immer das Entgegenge-
setzte derVorstellungen ihreVerbindung, denn es können die beyden
Verknüpfungen, welche jede mit der andern eingehn sollte, nicht zu Stande
kommen. Erst für niedrigere Hemmungsgrade tritt die Verschmelzung vor der
Hemmung wirklich ein. Und auch da kann ihre Wirkung, in so fern dadurch
die Hemmungs- Verhältnisse verändert werden, nicht sehr beträchtlich werden,
da nicht blofs die verschmelzende Kraft immer in zwey gleiche Theile
zerfällt, sondern diese auch nur mit derjenigen Stärke wirken können,
welche ihnen aus dem Streite mit einander und mit den Gegensätzen übrig
bleibt. Für sehr kleine Hemmungsgrade endlich fällt die Verschmelzung
Zweyter Abschritt. Grundlinien der Statik des Geistes. ? ? 7
vor der Hemmung mit der nach der Hemmung beynahe zusammen,
indem es fast gar keine Hemmung mehr giebt.
In einer ganz andern Hinsicht aber mufs der Faden dieser Unter-
suchung weiter verfolgt werden. Wir sind nämlich hier wieder unvermerkt,
so wie schon im § 61 und 66, auf das Feld der Gefühle gefathen; und
zwar diesmal auf das der ästhetischen Gefühle. Denn der Zustand
des Strebens und Gegenstrebens der Vorstellungen, in Ansehung ihrer Ver-
schmelzung, ist etwas ganz Anderes als eine Bestimmung des Vor-
gestellten; vielmehr lassen sich die vorgefundenen Zustände ganz genau
mit den musikalischen Auffassungen gewis- [2ai]ser Intervalle
vergleichen; wovon jedoch hier nicht der Ort ist weiter zu reden.
§ 73-
Wir sehen jetzt, dafs es für die gröfsere Hälfte der möglichen Hem-
mungsgrade nur.blofs eine Verschmelzung nach der Hemmung, und keine
vor der Hemmung, giebt; nämlich für die Hemmungsgrade zwischen 1
und 0,414... Es sev nun derselbe = — , auch -:=%, wie oben, die
8 a
, Ir~ , , ab
Reste r und p aus ^ 54 jetzt = a — — und b -— -, ihr
2 [a -f- b) 2 (a -\- b)
Product durch /. ausgedrückt = a2 . — — --^— — ; daraus
4(i+*)2
findet sich für a = 1 folgende Reihe von Verschmelzungshülfen :
Wenn /. = 1, wird - = 0,5625 . . . und -^ = 0,5625 . . .
a b
*==o,9 0.522 0,580
°>8 o,474 0,593
0,7 0,423 0,004
0,6 0,366 0,61016
0,5 0,305 0,61067
0,4 0,242 0,600 1
o,3 0,178 0,5 Q4
0,2 0,1148 0,574
Es leuchtet ein, dafs diese beträchtlichen Verschmelzungshülfen grofsen Ein-
llufs haben müssen, insbesondere auf die Schwelle des Bewufstscyns. Uebrigens
rg
hat die Gröfse " auch hier wieder ein Maximum, ungefähr für jc = o,5.
Hiemit sey dieser Abschnitt beschlossen. Es scheint nicht, dafs die
Statik des Geistes, so weit sie unabhängig von der Mechanik ist, noch
andere Hauptclassen von Untersuchungen enthalten könne, als die, von
welchen [243] die ersten Begriffe in den vorstehenden Capiteln sind auf-
gestellt worden.* Wir gehen nunmehro an das schwerere Werk, den Be-
wegungen nachzuspüren, durch welche der Geist sich dem Gleichgewichte
der Vorstellungen annähert, oder davon entfernt.
Man vergleiche jedoch unten § 100 gegen das Ende.
Hbrbart's Werke. V. 22
[244] Dritter Abschnitt.
Grundlinien der Mechanik des Geistes.
Erstes Capitel.
Vom Sinken der Hemmungssumme.
§ 74-
Wenn schon ein Gleichgewicht vorhanden ist, dann kann es nur
durch neue, hinzutretende Kräfte gestört werden. Allein da wir von Vor-
stellungen reden, so dringt sich zuerst die Bemerkung auf, dafs in An-
sehung ihrer es nicht erlaubt ist, das Gleichgewicht als ihren anfänglichen
Zustand vorauszusetzen. Vielmehr sind sie ursprünglich alle ganz un-
gehemmt: eben in diesem ihren natürlichen Zustande bilden sie auch
(wofern nur ihrer mehrere entgegengesetzte beysammen sind) eine Hem-
mungssumme; diese nun mufs sinken, und hiemit ist sogleich eine Be-
wegung der Vorstellungen vorhanden. In der Reihe der Untersuchungen
mufsten wir zuerst das Gleichgewicht bestimmen ; in der Wirklichkeit geht
die Bewegung dem Gleichgewichte voran.
Indem die Hemmungssumme sinkt : hat sie in iedem Augenblicke eine
bestimmte Geschwindigkeit, und in der bis dahin abgelaufenen Zeit
ist ein bestimmtes Quantum gesunken. Beydes haben wir zu berechnen.
Oder wird das Sinken keine Zeit verbrauchen ? Wird mit unend-
licher Geschwindigkeit, plötzlich, das ungehemmte Vorstellen zu dem ge-
hörig gehemmten übersprin[245]gen ? — Die innere Erfahrung, so fern
sie sich hierüber befragen läfst, antwortet: dafs allerdings jeder Wechsel
unserer Gemüthslagen Zeit verbrauche. Aber auch a priori ist dasselbe
mit grofser Bestimmtheit zu erkennen. Zwischen dem ungehemmten und
dem gehörig gehemmten Zustande liegt ein Continuum von Mittelzuständen :
durch jeden derselben würde selbst ein unendlich schneller Uebergang,
wenn ein solcher statt fände, successiv herdurch gehn müssen. Aber bey
jedem dieser Mittelzustände ist die Notwendigkeit des ferneren Sinkens
geringer, als bey dem vorhergehenden einer, noch weiter vom Ziele ent-
fernten Hemmung. Folglich werden die Vorstellungen weniger gedrängt,
um aus dem Bewufstseyn zu entweichen. Demnach mufs das Sinken der
Hemmungssumme mit abnehmender Geschwindigkeit von Statten gehn,
und damit die Geschwindigkeit abnehmen könne, mufs Zeit verfliefsen. —
Dieses nun mag sich Jeder auf beliebige Weise in seine metaphysische
Sprache übersetzen. Der Idealist, und schon der Kantianer, mag immer-
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
339
hin vorläufig sagen, es sey hier nur von Phänomenen die Rede; und zu
dem Sinken der Vorstellungen gehöre Zeit in demselben Sinne, als worin
die Bewegung der Körper Zeit und Raum verbrauche. Es ist hier nicht
der Ort, in der Lehre von Raum und Zeit Falsches und Wahres zu
scheiden; oder den, höchst dürftigen, Gegensatz zwischen Phänomenen
und Noumenen näher zu beleuchten.
In jedem beliebigen Augenblicke ist die Notwendigkeit des Sinkens
der Hemmungssumme so grofs, als das noch ungehemmte Quantum der-
selben. Was wirklich sinkt in diesem Augenblicke, ist zugleich dem Augen-
blicke und dieser Notwendigkeit proportional. Es sey S die Hemmungs-
summe, o das Gehemmte nach Verlauf der Zeit /, so ist
(S — es) dt = des.
Kaum wird es nöthig seyn, zu erinnern, dafs man sich nicht durch
Analogie mit der Mechanik der Kör[24Ö]per verleiten lassen solle, auch hier an
ein Fortgehen mit einmal erlangter Geschwindigkeit zu denken. Die Vor-
stellungen streben ihrer Natur nach immer aufwärts ins Bewufstseyn; und
ihr Sinken ist keine räumliche Bewegung, sondern eine erzwungene Ver-
dunkelung des Vorgestellten. Jedes augenblickliche Sinken ist immer der
unmittelbare Ausdruck der Nöthigung zum Sinken. Während also in der
Mechanik der Körper die Kraft nur das Differential der Geschwindigkeit
bestimmt, ergiebt sie hier geradezu die Geschwindigkeit selbst. Dagegen
haben wir hier gar keine gleichförmig wirkende, sondern mir veränder-
liche Kräfte.
des
Für /
c
jleichu
mg a
'-*-
— integnrt giebt
/
= log.
Const.
S—o
o
auch
CS =
o giebt
Const.
= S, also
t
= log.
S
S — a"
')■
Das Gehemmte, oder a = S ( i — e
Noch zu hemmen S — o = Se — l.
Wegen der grofsen Wichtigkeit dieser Formeln setze ich für die-
jenigen , denen eine Gröfse wie e — l und i — e — * nicht geläufig seyn
möchte, folgende Werthe derselben her :
= 0,7788
= 0,6065
= 0,3678
= 0,1353
- 0,0497
Für
4
/ = -'-
2
ist
e t
e *
J3
'= 1,
>>
e 4
1>
1 = 2,
jj
e '
t = 1,
e t
1 — e
1 — e
I — e~
I — e'
1 — e -
= 0,221 1 .
= 0,3934 •
= 0,6321 .
= 0,8646 .
= 0,9502 .
Hiezu nehme man, was auf den ersten Blick offenbar ist, dafs für
/ = 0, oder im Anfange des Zeitverlaufs, e~t= 1, Se~~ l — S, oder die
Hemmungssumme noch ganz ungehemmt; für t = oo, oder nach einem
unendlich langem Zeitverlauf (der, wie sich versteht, nur eine Fiction seyn
kann, die man sich erlaubt anstatt einer äufsersten [247] Gränze), e~ £= -
,,,:
^O XL Psychologie als Wissenschaft.
Se~t = S . — , oder die Hemmungssumme bis auf einen unendlich kleinen
00 °
Rest gehemmt, folglich in gar keiner Zeit die Hemmung schlechthin
gänzlich vollbracht ist. So sieht man nun das Fortschreiten der Hem-
mung deutlich vor Augen. Anfangs verdoppelt sich dieselbe beynahe, wenn
die Zeit verdoppelt wird ; aber wenn die Zeit = — achtmal verlaufen ist,
oder für / = 2, hat sich das Gehemmte jener ersten Zeit noch nicht
vervierfacht, denn 0,86.. ist noch nicht völlig viermal 0,22.. Weiterhin
rückt selbst bey der längsten Dauer die Hemmung nur äufserst wenig, ja
nur ganz unmerklich, dennoch aber unablässig vor, so dafs das Ge-
müth sehr bald beynahe, aber nimmermehr völlig in Ruhe ist*
§ 75-
Die Hemmungssumme ist bekanntlich nichts für sich bestehendes,
noch irgend einer Vorstellung insbesondre angehöriges; damit also die
vorstehenden Formeln eine reale Bedeutung erlangen, müssen wir weiter
nachsehen, welche Verdunkelungen der wider einander wirkenden Vor-
stellungen es sind, die zusammengefafst dem Ausdruck : Sinken der Hem-
mungssumme, entsprechen.
Es seyen die Hemmungs Verhältnisse der Vorstellungen ausgedrückt
durch die Zahlen f, g, h; so sinkt von derjenigen Vorstellung, der die
Zahl f zugehört, der Bruch — ■ — -=.<?, nämlich bezogen auf das
y + S + h
Ganze, was überhaupt sinkt. In dem Zeittheilehen dt nun sinkt über-
haupt do=($ — o)dt=Se~tdt, folglich von jener Vorstellung sinkt
qSe~x dt; wovon das Integral = — qSe~ l -\- C. Für t = o ist dieses
= 0, also C=qS, und das vollständige Integral =qS(l — e~ l) == X;
woraus
qS
t — log. -J—, .
</o — A
[248] Gestattet nun das Verhältnifs der Vorstellungen, dafs man sie
alle in einerley Hemmungsrechnung bringe : so ist am Ende der Hem-
mung X=qS, also / unendlich. Das heifst, jede Vorstellung sinkt
in einerley Proportion mit der Hemmungssumme, und gelangt
daher sehr bald beynahe, aber nie völlig zur Ruhe.
Allein ganz anders verhält es sich mit Vorstellungen, die unter die
Schwelle fallen. Es sey eine solche Vorstellung = c, so mufs sie ganz
und gar gehemmt werden, oder es ist zuletzt X = c, und die Zeit, während
welcher sie völlig sinkt, ist
, 1 qS
q o — c
Der Nenner ist hier immer positiv, weil das, was von ihr hätte sinken
sollen, immer gröfser ist als sie selbst. Demnach die Zeit des völligen
Wegen des Zeitmaafses, oder der Zeit-Einheit, welche bey den Rechnungen
hinzuzudenken ist, vergleiche man unten § 144.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. iai
Sinkens allemal endlich; obschon niemals = o, so lange nicht c selbst
Beyspiele: Bey voller Hemmung sey a = 3, £ = 2, c=l, wofür,
wenn nicht c unter die Schwelle fiele, das Hemmungsverhältnifs aus-
zudrücken wäre durch die Zahlen 2, 3, 6; also ^ = — ; ferner S = 2
+ i=3> ?S= 77, und t = log. nat. ~ = 0,944 . .
Es sey ferner bey voller Hemmung a = 4, # = 3, <r = 2 ; woraus
die Hemmungsverhältnisse 3, 4, 6; und q = — ; .S"— . 5 ; ^»S'= — ; also
/ — log. nat. — = 2>oi5.
Es sey endlich bey voller Hemmung a = 10, b=io, r = y, also
r, wie bekannt, beynahe auf der Schwelle: so ist das Verhältnifs der
or. nat.
Hemmung wie 7, 7, 10; ?==^- = -l; .S" = 17; £S=-|; t ===== loj
85 = 4,4426..
Wäre in dem letzten Beyspiele c = 7,07 . . = 10 ' — - genommen
worden, so würde die Zeit unendlich grofs geworden sevn. Man sieht
also, dafs, wenn, wenn c seinem Schwellenwerthe auch schon sehr nahe
ist, doch eine kurze Zeit hinreicht, um es aus dem Bewufstsevn zu ver-
drängen. —
[249] Merkwürdig ist hiebey noch die Veränderung in der Geschwin-
digkeit der übrigen Vorstellungen, welche in dem Augenblicke
vorgeht, da die schwächste zur Schwelle sinkt. Die Hemmungs-
summe mufs ihrem Gesetze gemäfs continuirlich sinken; verschwindet nun
plötzlich diejenige Vorstellung, welche bisher von der Hemmungssumme
am meisten zu leiden hatte, so müssen in diesem Augenblicke die stärkeren
einen weit beträchtlichem Druck erleiden, als sie bisher zu tragen hatten.
In dem ersten Beyspiele ist nach Verlauf der Zeit =0,944.. noch
zu hemmen übrig Se~ t = ^.e~ °>944-- = T, 1 7 ...; dieses drückt, unmittel-
bar vor dem völligen Sinken von o, mit der Kraft 1,17.. X — auf a, und
mit der Kraft 1, 17..X— auf b; hingegen unmittelbar darnach ändert
sich das Hemmungsverhälnifs; a und b müssen den Rest der Hemmungs-
summe allein theilen; es drückt auf a die Kraft 1,17.. X % auf b die
Kraft 1,17.. X --• Die Geschwindigkeit des Sinkens ist, wie oben gesagt,
allemal der unmittelbare Ausdruck der zum Sinken nöthigenden Kraft,
und derselben proportional. Sie wird demnach in unserm Falle plötzlich
mehr als verdoppelt.
Sind mehr als drey Vorstellungen im Spiele: so können sich dergleichen
plötzliche Aenderungen mehrmals ereignen ; denn jede der schwächeren
hat ihren Zeitpunct, wo sie zur Schwelle sinkt, und den übrigen die
Theilung der Hemmungssumme überläfst.
Dies ist ein leichtes Beyspiel von dem, was keine empirische Psycho-
logie jemals hätte wissen können. Ueber den Gegensatz der plötzlichen
und der continuirlichen Veränderungen im Bewufsteyn kann sie sich nur
wundern, nicht sie erklären.
7.A2 XL Psychologie als Wissenschaft.
§ 76.
Die Anwendung des Bisherigen auf Complexionen und Verschmelzungen
kann wohl kaum Schwierigkeit finden. Immer beharrt die Hemmungssumme
bey dem gleichen Gesetze des Sinkens. Aber die Elemente der Ver-[2 5o]
bindungen erleiden mancherley Beschleunigungen und Verzögerungen; auf
ähnliche Art, wie deren Gleichgewicht durch die Complication verändert wird.
Die plötzlichen Aenderungen der Geschwindigkeit bey stärkeren Vor-
stellungen, indem schwächere zur Schwelle sinken, werden gemildert durch
Verschmelzungen und unvollkommne Complicationen. Denn indem die
schwächeren zur Schwelle getrieben sind, haben auch die Hülfen, durch
welche sie unterstützt waren, völlig gehemmt werden müssen. Diese
Hülfen rühren von den stärkeren Vorstellungen her, welche schneller sinken,
um die schwächern verschmolzenen oder complicirten länger im Bewufst-
seyn verweilen zu machen. Also kann der Abstand der Geschwindigkeiten
jetzt nicht so grofs seyn, als bey unverbundenen Vorstellungen, wo in
Einem Augenblick der Druck der Hemmungssumme sich ganz auf die
stärkeren wirft, nachdem er unmittelbar zuvor diese in eben dem Ver-
hältnis weniger, als die schwächern stärker, angegriffen hatte.
Demnach, je weniger Verbindung noch unter den Vor-
stellungen statt findet, desto mehr gehen die Bewegungen
des Gemüths stofsweise, und mit harten Rückungen; je mehr
die Verbindungen zunehmen, desto gleichmäfsiger und sanfter
wird der Flufs der Vorstellungen. —
Wesentlich ist noch die Bemerkung, dafs alle Verschmelzungen nach
der Hemmung, in ihrer Ausbildung eben so fortschreiten müssen, wie die
Hemmung abnimmt. Sollten sie erst bey völliger Ruhe entstehn, so ent-
stünden sie niemals, weil die Hemmungssumme nie gänzlich sinkt. Aber
in wie fern ein paar Vorstellungen einander noch widerstreben, können
sie sich nicht vereinigen. — Demnach seyen die Reste zweyer Vorstel-
lungen, welche nach der Hemmung überbleiben werden, und also sich
verbinden können, = r und o; so ist die wirkliche Verbindung am Ende
der Zeit /, nach dem obigen =ro (1 — e~~ l). Und so tritt denn auch
die Ver[25i]bindung sehr bald bey nahe, aber niemals völlig ein.
Für Vorstellungen, die zur Schwelle sinken sollen, giebt es keine Reste,
also keine Verschmelzung nach der Hemmung. — In Hinsicht der Ver-
Schmelzung vor der Hemmung müssen wir uns die Uebergänge der Zu-
stände, die aus dem Streben zur Vereinigung und den dawider streitenden
Gegensätzen hervorgehn, eben so allmählig geschehend denken, wie die bis-
her betrachtete Hemmung.
Zweytes Capitel.
Von den mechanischen Schwellen.
* 77
Bey den höchst einfachen Voraussetzungen, nach denen wir bis jetzt
gerechnet haben, und womach das Vorstellende nur von äufserst wenigen
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. -i i 2
Vorstellungen beschäfftigt wird, können wir nichts anders erwarten, als
dafs sehr bald von der eben vorhandenen Hemmungssumme nur noch
wenig übrig seyn, dafs also ein der Ruhe ganz nahe kommender Zustand
eintreten werde; aus welchem nur neu hinzukommende Vorstellungen das
Gemüth aufzuregen vermögen.
Zu einem Paar im Gleichgewichte befindlicher Vorstellungen komme
demnach eine dritte, und zwar plötzlich, d. h. schnell und stark genug,
damit wir den Zeitverlauf und das verwickelte Gesetz allmähliger Wahr-
nehmung hier als unbedeutend bev Seite setzen können: es wird gefräst
nach den Bewegungen der Vorstellungen, die daraus entstehen müssen.
Die hinzukommende wird eine Hemmungssumme bilden, welche sinken
mufs. An diesem Sinken werden auch die früher vorhandenen Theil
nehmen; und zwar werden [252] sie dabey unter ihren statischen Punct
hinabsinken, bald aber wieder zu demselben hinaufsteigen. Hiebey können
sie für eine Zeitlang auf die Schwelle des Bewufstsevns getrieben wer-
den, welche wir für einen solchen Fall schon oben (im § 47), mecha-
nische Schwelle genannt haben.
Um dies leichter aufzuklären: nehmen wir zuvörderst an, zu schon
im Gleichgewichte befindlichen, und nach der Hemmung verschmolzenen,
a, und b, komme ein so schwaches c, dafs es neben jenen auf die längst
bekannte statische Schwelle sinken müsse. Alsdann kann es in statischer
Hinsicht auf a und b keinen Einflufs haben. Aber ehe es aus dem un-
gehemmten Zustande in den gehemmten übergeht, mufs es durch a und b
zum Sinken gebracht werden; dabey wirkt es auf diese zurück und zwingt
also auch sie, die schon auf ihrem statischen Puncte waren, unter den-
selben hinab zu sinken. Dieses wird so fortgehn, bis die durch c ent-
standene Hemmungssumme völlig niedergedrückt ist. Aber hiezu wird
keine unendliche Zeit nöthig seyn, denn das Streben jener, auf ihren
statischen Punct zurückzukehren, wirkt mit, und beschleunigt alle Be-
wegungen. Indem nun a und b wieder steigen, wird c zur Schwelle ge-
trieben werden. Man bemerke aber, dafs hier die Bewegung nicht
nach einerley Gesetze fortdauernd geschehn kann. Ein Be-
wegungsgesetz wird statt finden, so lange a und b sinken, ein anderes
wird eintreten, indem sie anlangen sich wieder zu erheben. Dazwischen
kann es noch ein drittes geben, wofern etwa b bis zur Schwelle hinab-
gedrückt, daselbst eine Zeitlang verweilen müfste, also nur einen gleich-
förmigen Druck gegen die übrigen, ferner sinkenden Vorstellungen aus-
üben könnte.
Nehmen wir nun die Voraussetzung zurück, dafs c neben </ und b
unter der statischen Schwelle seyn solle: so wird zwar der statische Punct
von a und b erniedrigt, und die anfängliche Bewegung kann von keinem
Zurückstreben dieser Vorstellungen zu ihrem statischen [253] Puncte be-
schleunigt werden. Aber sobald derselbe erreicht ist, entsteht ein solches
Streben, und wächst bev fortgehendem Sinken; von da an ist der Verlauf
des Ereignisses im Allgemeinen wie oben, nur dafs c nicht auf die Schwelle,
sondern bis zu seinem statischen Puncte getrieben wird.
Dieses mufs jetzo durch Rechnung näher bestimmt werden. Wir
knüpfen dieselbe an eleu § 69, wegen der unfehlbar vorhandenen Ver-
T.AA XL Psychologie als "Wissenschaft.
Schmelzung nach der Hemmung: und nehmen auch hier die abkürzende
Voraussetzung voller Hemmung an: zwar nicht eben, um der ziemlich
eng begränzten Verschmelzung vor der Hemmung auszuweichen, sondern
weil über die Einführung verschiedener Hemmungsgrade in die Rechnung,
nach den frühem Auseinandersetzungen wohl kein Zweifel mehr walten kann.
Es sey zuerst c neben a und b auf der statischen Schwelle.
So ist bev voller Hemmuno- die neu entstehende Hemmunorssumme ge-
wifs = c. Die Verhältnisse, worin sie vertheilt wird, sind aus § 69, (w. >
y ■■■= c) acß2, bcu2, u2 ß2. Ist also nach Verlauf der Zeit / das Gehemmte
= ff, so wird alsdann
von a gehemmt seyn a c ß2 a : (acß2 -\-bcu2 -\- u2 ß2)
„6 „ „ bcu2o:(acß2 -\-bcu2 -j- u2ß2)
„ c „ „ u2ß2o: (acß2 -f- bcu2 -j- a2ß2).
Im Zeittheilchen dt drängt zum Sinken erstlich der Rest der Hem-
mungssumme, c — n, dann aber auch das Wieder- Aufstreben von a und b.
Dieses zwar wirkt zunächst nur gegen c, allein dadurch wird die Spannung
von c vermehrt, und durch seinen Widerstand wirft es den erlittenen
Druck auf a und b zurück. Ueberhaupt kann das Sinken von c wohl
beschleunigt werden, aber dann mufs auch das Sinken von a und b
rascher gehn, denn die einmal in den Kräften gegründeten Hemmungs-
verhältnisse können nicht verletzt werden. Nun beträgt das Wieder-Auf-
streben von a und b so viel als ihr Gehemmtes unter dem statischen
Puncte: und da sie von [254] Anfang an schon auf dem Puncte waren,
zu dem sie zurückkehren müssen, so ist ihr ganzes Gehemmtes gleich
ihrem Wieder-Aufstreben. Folglich kommt hinzu die Kraft
{acß2 -f- bcu2)a
acß2 -f. bcu2 -f- u*ß*'
und wir haben die Gleichung
iacß2 -\-bcu2)a \
— a-\ n ', 7- -i — — dt = du.
' acß2 +bcu2 -\-u2ß2)
acß2 4- bcu.2 u2ß2
Es se\- 1 —
acß2 -\- bcu2 -\- u2ß2 acß2 -j- bcu2 -f. u2 ß2
so ist (c - - qa) dt = d a
1 , c
woraus / = — loo:.
q c — qa
c
und 0 = — (1 — e~ 1 *).
Q
Wofern keine mechanische Schwelle eintritt: so geht nach diesem
Gesetze das Sinken fort, bis die ganze Hemmungssumme niedergedrückt
ist. Denn so lange sich von ihr noch etwas vorfindet, mufs dasselbe auf
alle Vorstellungen vertheilt werden. Erst wann nichts mehr zu vertheilen
ist, können a und // um so viel steigen, als um wie viel sie c sinken
machen.
Man setze also in dem Ausdrucke für /, o = c; so kommt
1 1
/ = — los
q ^ I — q
für die Zeit, während welcher jenes Gesetz bestehen kann. Es ist
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
345
log . ==1-4- <7-r- q 2 -4- — q 3 -4- . . . daher man
q e i — q ~ 2 * ' 3 Y ' 4 y '
leicht übersieht, wie diese Zeit um so kleiner ist, je kleiner q, das heilst,
je gröfser c, denn der Zähler von dem Bruche q ist die Verhältnifszahl
der Hemmung für c. Da q nie = i seyn kann, so ist auch diese Zeit
allemal endlich. Es ist merkwürdig, dafs sich die früher vorhandenen Vor-
stellungen nur um so kürzere Zeit niederdrücken lassen, je stärker der
Druck ist.
Nachdem nun der Hemmung Genüge geschehen, kann c nicht länger
a und b zum Sinken zwingen. Das heifst, [255] sie steigen, wie wenn
c nicht wäre, nach ihrem eigenen Gesetze; um wie viel aber be'yde zu-
sammengenommen steigen, um so viel mufs c sinken. (Nämlich sie steigen
zu ihrem statischen Puncte; dieser aber freylich hängt von c ab, wofern
nicht, wie hier angenommen, c auf der statischen Schwelle, oder dar-
unter ist.)
Die Entfernung vom statischen Puncte bestimmt in jedem Augen-
blicke die Kraft und Geschwindigkeit des Steigens. Die anfängliche Ent-
fernung ergeben die Ausdrücke für das Gehemmte von a und b, wenn
darin o = c gesetzt wird. Also für a ist diese Entfernung = ac2[r:
(ac(i2 -4- bca2 -\- a2 ,'i2). Sie heifst S'; und nach einer Zeit des Steigens
= /', habe sich von a wieder erhoben das Quantum a. So ist jetzt die
Entfernung vom statischen Puncte = S' — a\ und hieraus die Zunahme
des Steigens
da = ($' — o')dt'
S'
woraus /' = log. — ,— — , , a = S' (1 — e~1').
S — es
Es mufs nun auch b nach einem ganz ähnlichen Gesetze steigen.
c aber nach demselben sinken. Folglich tritt auch hier, wie die Formeln
zeigen, das Gleichgewicht nie vollkommen ein, obgleich sehr bald beynahe;
die frühern Vorstellungen behalten immer noch eine geringe Bewegung des
Steigens, die späteren des Sinkens. —
Zu einem Beyspiele sollen einige Zahlen aus § 69 verhelfen. Es
sey a = b = 1, also «2 = 1,5625; u2 (i2 = 2,4414 . .; auch sey
2,4414 . .
c = -, also q = ■ = 0,61 . . und / = 1,54 . .
1,5625 -f 2,4414 . .
Um diese Zeit ist von a gehemmt - , nahe 0,1; von b eben so
4
viel; von c wenig über 0,3. Jetzt erheben sich a und b, um das ver-
1< >rene Zehntel wieder zu gewinnen ; unterdessen wird c zwey Zehntel (be\ -
nahe) verlieren, und dann auf der Schwelle seyn, wohin es jedoch nie
völlig o-ebracht wird; obgleich es in statischer Hinsicht unter der Schwelle
ist, [256] und selbst von noch nicht verschmolzenen a und b sehr bald würde
zur Schwelle getrieben seyn, wäre es gleichzeitig mit a und b ins Be-
wufstseyn gekommen. (Man sehe § 75.) — Vielleicht ist nicht über-
flüssig zu erinnern, dafs a und b ein Zehntel verlieren, nachdem schon
ihre eigne gegenseitige Hemmung so gut als vollbracht war; das heifst,
nachdem sie schon halb gehemmt waren. Also ihr niedrigster Stand
i5 XL Psychologie als Wissenschaft.
ist = 0,4; von da an erheben sie sich wieder auf den vorigen Stand
= 0,5.
§ 78.
Auf die mechanische Schwelle wird b getrieben werden, wofern das,
was von b zu hemmen ist, dem Reste von /; aus der frühern Hemmung
eher gleich wird, als die Zeit / = — log . abgelaufen ist.
Es sollte von b gehemmt werden die Gröfse bca2a : (acß'- -f- bca2
-\- a2ß2). Nach Ablauf der eben erwähnten Zeit ist a = c. Gesetzt
nun, es sey bc2u2 : {acß2 -\- bca2 -f- a2 ß2) gerade gleich dem Reste
von b aus der frühern Hemmung: so wird dieser Rest eben in dem
Augenblicke völlig gehemmt seyn, da b sammt a wiederum beginnt zu
steigen. Also stufst gleichsam b nur augenblicklich an die
Schwelle, ohne auf derselben zu verweilen. Dieser Fall liegt in der
Mitte zwischen den beyden, da die Schwelle nicht berührt wird, und da
die Verweilung auf derselben ein neues Gesetz für den Fortgang der
Hemmung herbeigeführt. Von hier also müssen die genauem Betrach-
tungen der mechanischen Schwelle ausgehn.
bb , p
Der Rest von b aus der frühem Hemmung ist = — - nach § 44.
a -\- b
Ihm soll die Gröfse bc2a2 : (acß2 -\- bca2 -f- «2 ß2) gleich seyn. Wir
haben also
und daraus
a -f- b acß2 + bca2 -f a2 ß2
b(aß2 -f ba2) bß
(a -f b)a2 a -\- b
[257] Um sich unter den Bedeutungen, welche diese Formel an-
b2a
nehmen kann, eher zu orientiren, setze man für c2 den Werth — 7,
' a -j- 0
wegen der Voraussetzung, dafs es auf der statischen Schwelle oder unter
b
derselben sey. Alsdann läfst sich durch - — ■ — - dividiren; und man sieht
J a -\- b
auf den ersten Blick so viel, dafs ab > ß2 seyn mufs. Bey Vergleichung
des Täfelchens im § 69 zeigt sich, dafs diese Bedingung ungefähr bey
- .== x = 0,3 anfängt in Erfüllung zu gehn.
a
Es sey nun des Beyspiels wegen a = 10, b= 2; demnach a = 10,32 ;
ß = 3,61; a2 = 106,5; fi* = l3>°32; so nndet sich c = 2>766 • •>
welches der Forderung entspricht, neben q und b unter der statischen
Schwelle zu seyn. Denn man nehme b zum Maafse der Gröfsen, so ist
b= i, 0 = 5, c = 0,883 . .;' aber nach § 49 würde schon c = 0,91 . .
zur Schwelle sinken.
Demnach ist es möglich, und es kann selbst ziemlich viele Fälle
geben, da die dritte, hinzukommende Vorstellung, neben zwey frühem
i
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
347
(sogar wenn sie unverschmolzen wären) zur statischen Schwelle getrieben
wird, und dennoch im Stande ist, während ihres Sinkens, die
schwächere der frühem zuvor auf die mechanische Schwelle
zu bringen; und selbst sie dort eine kurze Zeit lang aufzuhalten. Denn
während das berechnete c, nur b an die Schwelle anstofsen macht,
würde ein anderes, um ein weniges stärkere, z. E. c = 0,9, eine kurze
Verweilung auf der mechanischen Schwelle bewirkt haben. — In der That
ist die Sphäre dieser Möglichkeit noch um Etwas gröfser, als wir sie hier
obenhin bezeichnet haben. Denn die Schwellenformel c = b
\ a +b
gilt für unverschmolzene Vorstellungen; aber a und b sind verschmolzen,
und neben ihnen ist auch ein etwas gröfseres c auf der statischen Schwelle;
welches wir annah[2 58]men, damit durch das Hinzukommen des c der
statische Punct von a und von b nicht möge verrückt werden.
& 79-
Zweyerley ist noch übrig: erstlich, das Gesetz zu bestimmen, nach
welchem sich während der Zeit, da eine Vorstellung auf der mechanischen
Schwelle verweilt, die übrigen bewegen; zweytens, die beschränkende Vor-
aussetzung, dafs c auf der statischen Schwelle oder darunter sey, zurück-
zunehmen, und die Folgen davon zu erörtern.
Ruhet b auf der mechanischen Schwelle, so liegt eben darin der
Unterschied dieser Schwelle von der statischen, dafs nun gleichwohl b nicht
aufhört, Einnufs zu haben auf das was im Bewufstseyn vorgeht. Denn
wie weit es von seinem statischen Puncte entfernt ist, um so weit ver-
mag es, sich wieder zu erheben, wenn schon nicht plötzlich, sondern erst
nach vorgängigem ferneren Sinken der übrigen Vorstellungen. Der ganze
Unterschied seiner jetzigen Wirksamkeit von jener, da es noch selbst im
Sinken begriffen war, ist nur dieser, dafs es zuvor an Spannung zunahm,
indem es tiefer sank; jetzt hingegen übt es einen gleichbleibenden Druck,
so lance bis es sich von der mechanischen Schwelle wieder erheben
kann.
Um hiernach die Formel des § 77, nämlich
(c — qa) dt = da,
abzuändern, bedenke man, dafs q aus drey Theilen besteht, unter welchen
einer die Wirksamkeit von a, ein andrer die von b ausdrückt. Der letztre
wird offenbar jetzt constant, und hängt nicht mehr von 0 ab. Alles C< in-
stante (welches näher zu bestimmen noch vorbehalten bleibt) mag mit c
zu Einer Gröfse zusammengefaßt werden, welche C heifse. Auch sey
das übrigbleibende Veränderliche == q n, so wird die Formel
(C — q a) dt = da,
woraus man sieht, dafs das Bewegungsgesetz mit geringer Veränderung
dasselbe ist wie zuvor. Um aber zu[2 59]erst die Zeit zu finden, wann
b auf die mechanische Schwelle gesunken, nehme man erst aus § 77 das
von b Gehemmte; dieses dem Rest gleich gesetzt, giebt
a -\- b
7aS XL Psychologie als Wissenschaft.
b2 (acß2 -4- /;r«2 -4- u2 ß2) __ ,
« = — ; ; — , — — , welcher Werth von o zu substituiren
{a -\- b) . bcu*
I c
ist in die Formel t == — los; . . Hiedurch beschränkt sich die
Anwendung des vorigen Bewegungsgesetzes, und ergiebt sich der Anfang
des jetzigen.
Diejenige Zeit, welche von diesem Anfangspuncte verläuft, wollen
wir, zum Unterschiede von der vorigen, mit /' bezeichnen, und daher die
schon gegebene Formel nun so schreiben
{C—q'a)dt' = da,
woraus zunächst /' = -, log. (C — q ' a) -f- Const.
Damit die Constante bestimmt werde, setzen wir zuvörderst den
Werth von a für / ' = o, nämlich
b2 (ac,i2 + bcu2 -L. a2ß2 v
(a -\-!>)~. bca2) '
so wird o = — , log. (C — q '— ) -|- Const., und folglich
I C-q'2
t = — log. — — .
q C — q es
Hieraus erfährt man das Ende des jetzigen Bewegungsgesetzes, oder
die Zeit, wann b sich wiederum von der Schwelle erhebt, indem man
o = c setzt. Denn nicht eher kann sich b erheben, als bis nichts mehr
zu hemmen da ist; indem, hätte sich vorher b nur im geringsten ge-
hoben, es sogleich wiederum durch ein endliches Quotum der Hemmungs-
summe würde niedergedrückt seyn. Nachdem aber diese gesunken, steigt
nothwendig b, wie schon gezeigt, zu seinem statischen Puncte, als ob ihm
keine Kraft entgegenwirkte. Dasselbe gilt von a ; sie beginnen ihre Er-
hebung zugleich, und können sie niemals ganz vollenden. —
[260] Nun haben wir noch C und q' zu bestimmen. Man über-
lege, wie a vertheilt wird, während b auf der mechanischen Schwelle ver-
harrt. Nur unter a und c kann es vertheilt werden; also entsteht hier
eine ähnliche Beschleunigung plötzlich, wie im § 75 bemerkt.
Ferner, die Verschmelzungshülfe des b kann dem a nicht mehr zu Statten
kommen, da von b nichts mehr zu hemmen ist, allemal aber das Helfende
einen Theil des Leidens von dem, welchem es hilft übernehmen mufs.
Also a und c theilen ganz nach ihrem ursprünglichen Hemmungsverhält-
nisse das Quantum der Hemmungssumme , welches in diesem Zeiträume
sinkt. Dadurch wird a verhältnifsmäfsig mehr und schneller angespannt,
als vorhin ; und die Kraft seines Wiederaufstrebens folgt jetzt einem neuen
Gesetze. Aber von dieser Kraft ist derjenige Theil constant, der durch
das Sinken des a, bevor b die Schwelle erreichte, gebildet worden. Diesen
finden wir, indem wir — statt es in den Werth des von a Gehemmten
setzen (§ 77); es ist also derselbe = ■ — -. — . Dazu mufs addirt wer-
(a -f- b) u.z
den das gleichfalls constante Gehemmte von b, nämlich der ganze Rest
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 24g
, c .., TT b2 ,. . , <^^2 4- b2u2)
aus der frühem Hemmung, = ; dies giebt — ! -. Hiezu
a -\- b (a -\- b) a2
kommt endlich noch c, als Hemmungssumme; so bilden diese drev
Theile zusammen die constante Kraft, welche die Bewesmno- verursacht,
baß2 4- b2a2
= H , : — rr . Mit dieser constanten Kraft ist nun noch die ver-
[a -f- b) u2
änderliche verbunden ; und sie ist = der hinzukommenden Spannung von
a seit völliger Hemmung von b, weniger n. Wegen der Vertheilung des
Gehemmten zwischen a und c, finden wir die hinzukommende Spannung
c
von a, wenn wir mit dem Bruche dasjenige multipliciren , was ge-
hemmt worden, seit b die Schwelle erreicht hat; nämlich o — 2. Die so
(° — - ) c
entstehende Gröfse - zerleg 6 ilaren wir noch in den constanten
a-\- c _ L J3
— C CG
Theil — : und den veränderlichen . Jener mufs der obis:en
a-\- c a -j- c
constanten Kraft beygefügt werden, dieser dem veränderlichen — o. So
kommt endlich
baß2 -f- b2a2 2c
— ' 1 Tl.
(a + b) a2 a -f- c
und ' = — -
a -\- c a -\- c
% 80.
Drey verschiedene Zeiträume, jedoch mit einem eigenen Bewegungs-
gesetze, haben wir schon unterschieden; einen von dem Sinken auf die
mechanische Schwelle, den zweyten während der Verweilung auf der-
selben, den dritten, unendlich langen, während der Wieder-Erhebung von
dieser Schwelle. Diesen Zeiträumen allen geht ein vierter, oder, wenn
man will, ein erster voran, wofern c nicht neben a und b auf, oder unter
der statischen Schwelle ist. Alsdann wird allemal der statische Punct von
a und b erniedrigt ; und so weit sinken diese Vorstellungen, ohne durch
ihr Aufstreben in das Hemmungsgesetz auf die vorhin beschriebene Art
einzugreifen.
Man mufs also damit anfangen, diesen ersten Zeitraum zu berechnen.
Das geschieht mittelst der Formel / = log. — — -, (§74), indem für a
o — o
dasjenige Quantum der Hemmungssumme gesetzt wird , welches von allen
Vorstellungen zusammengenommen mufs gesunken seyn, wann a und b
bey ihrem statischen Puncte anlangen. Wir nehmen vorläufig an, beyde
kommen zugleich auf diesen Punct; die Abänderungen wegen des
Gegentheils sollen an einem Beyspiel gezeigt werden. Der erwähnte
Werth von o sev = — °.
t -0 XI. Psychologie als "Wissenschaft.
Hierauf beginnt die zweyte, jetzt mit t' zu bezeichnende Zeit, bis b
die mechanische Schwelle erreicht. War die anfängliche Hemmungssumme
= S, so ist jetzt [262] von derselben noch übrig S — -°. Was aber in
der Zeit t' sinken wird, ist auszudrücken durch « — 3°. Dasselbe wird
sich in den gehörigen Verhältnissen vertheilen; also wird (nach § 77
nur a — 2° statt a gesetzt) im Verlauf der Zeit /', wenn
acß-\-bc& -\-o.2ß2 =D,
von a gehemmt seyn acß2 (a — Z°) : D
» b „ „ bca2{a — Z°):D
„ c „ .. «»/9?(a — 2>)>.D
Demnach wird
[(acß2 A-bca2) (o — 2°)l.
S— 2° — (0 — 2°) -f- [ ' ^ -^ -J dt =do
a2ß2
oder , indem völlig wie oben q = —fr,
<cß2 -\-bca2
D
Vo
qa 1 dt ' =■ da.
acß2 -f bcu2
Es sey noch zur Abkürzung S — • — ° = o ,
so wird t'- = log. 'S' — qn) -\- Const.
b
und weil für / ' = o, o = JT°,
1 tf-gl* 1 S'-2°
' = 7 bg • ~S'—go = 7 ^^ ~S^=~qa
woraus, Falls b nicht zur mechanischen Schwelle sinkt, die Zeit bis zum
Steigen gefunden wird durch Substitution von -S" für o.
Im entgegengesetzten Falle wird zuvor der frühere Rest von b, oder
= (2?° 4- a — 2?°) , indem die Hemmung sowohl während /
a-\-b D K ~ '
als während /' immer nach einerley Verhältnifs fortgeschritten ist; oder es ist
bD ^
(a-\-b)ca2 '
Es schliefst sich also die zweyte Zeit mit
I S'-q^°
t = — log. _,, -p=.
q S — q 21
Nun begiimt die dritte Zeit = / " während der Verweilung auf der
mechanischen Schwelle. Von der Hemmungssumme ist noch übrig S — J5" ,
in der Zeit t" wird [263] sinken o — 2 '. Von a und b zusammengenommen
• • „ . , , faß* +bcu2) L2" — 2°) __
ist in der Zeit / gehemmt — I—-1 . Von a wird
0 D
(o ^* ) C CS C ^* c
während / " gehemmt ^ = — ■ . Es sey nun
a -\- c a -\- c a -j- <■"
(acß2 + bcu2) (-5T — JS*) 2'c c
S -\ '- ! -i-1 '- ■— = S , und I j = q ,
D a -f- c a -\- c
so ist (S" — q'n) dt" = da,
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. i c i
und /" = -, log. (S" — q'a) -j- Const.
weil aber für /" = o, u = JSV, so wird
t == — lüg. - — ,— .
q S — q o
Für das Ende der Zeit t" ist hierin a = S, und alsdann beginnt die
vierte, unendliche Zeit der Annäherung zum statischen Puncte.
Um Beyspiele zu haben, vollenden wir die im § 69 geführten
statischen Berechnungen. Es sey a = b = c = I. Demnach hier £= 1 ;
(nämlich die Hemmungssumme zwischen a und b war schon gesunken, und
die ganze jetzige Bewegung hängt ab von dem hinzukommenden c, — -
obgleich oben die statischen Puncte mit Hülfe des ganzen Gegen-
satzes zwischen a, b, und c mufsten bestimmt werden). Ferner — ° zu
finden, mufs man erst überlegen, wie weit a und b zu sinken hatten, um
auf ihren jetzigen statischen Punct zu kommen. Der frühere war = 0,5;.
der jetzige ist nach § 69 eine Hemmung = 0,5614; also um 0,0614
mufsten sie sinken. Dies verhält sich zu dem, was gleichzeitig von c hat
sinken müssen, wie u.2 : «4 (indem wegen a = b auch u = ß) oder wie
1 : «2 = 1 : 1,5625. Also das Gehemmte von c bis dahin beträgt
0,0959... Nun 0,0614 • - + °>°959 = — °> oder — ° = 0,2187...
Hieraus S — -° = 0,7812 ... und t = log. = log. nat. 10000
0,7812
— log. nat. 7812 = 0,2469.. Dies ist die erste Zeit. — [-64]
Weiter, q = — -- - = 0,4386 . . ; S' = 1 ~- . -T° = 0,8772 . . .
2 -\- (x2 2 -\- a-
Nun kann b nicht auf die mechanische Schwelle kommen ; denn der Ausdruck
11 ° ■ ■
des von b Gehemmten ist — - = - — , wird hierin a = b = 1,
2 + «2 3,5 • •
so ist jenes Gehemmte nahe — y- < — , welches letztre den Rest von b
aus der frühem Hemmung ausmacht. Also setzen wir gleich nebst dem
gefundenen q und S' auch S für a in die Gleichung für /', und eihalten
/' = 1,316.. Dies ist die zweyte Zeit. Eine dritte der Verweilung
auf der Schwelle fällt hier weg, indem nun sogleich die unendliche Zeit
des Steigens beginnt. Es ist t + t' = 1,563; in dieser Zeit sinkt jetzt
die ganze Hemmungssumme, wozu sonst unendliche Zeit nöthig ist. Der
niedrigste Stand von a und von b ist nach der obigen Bemerkung nahe
= 1 — (— 4- —\ = — ; ihm gleichzeitig ist von c noch 1 — = —
im Bewufstseyn; von hier an mufs aber c doppelt so schnell sinken, als
a und b steigen.
Zwevtens sey a = i; b = 0,7; c = 1; demnach S = 1 ; um aber
^1o zu finden, müssen wir zuerst die frühere Hemmung von a und b
betrachten. Von a war gehemmt ' ; von b ' ; jenes = 0,28823 . .
i,7 i»7
dieses = 0,41177 .. Da nun c hinzukommt, so ist nach § 69 von a zu
, - 9 XI. Psychologie als Wissenschaft.
O J-
hemmen 0,48814; von b, 0,50317 ... Die Differenzen sind, für a, 0,1999;
für b, 0,0914. Hier zeigt sich, dafs nicht zugleich a und b auf ihren
neuen statischen Punct von dem vorigen herabsinken; denn gevifs verliert
eher b die kleine Gröfse 0,0914, als a um 0,1999 herabsinkt. Deshalb
erstreckt sich jetzt die erste Zeit nur bis dahin, wo b seinen statischen
Punct erreicht; alsdann folgt eine einzuschaltende Zeit, bis auch a den
seinio-en antrifft. Was b verliert, verhält sich zu dem was a verliert, wie
lu2 : aßz = 1,016 : 0,986; also während von /;, 0,0914, wird von a
gehemmt 0,0887. Was a verliert, [265] verhält sich zum Verluste von c
wie ac : a2 = 1 : 1,452; also während von a, 0,0887, wird von c ge-
hemmt 0,1288. Demnach ist J^° = 0,0914 + 0,0887 + 0,1288 = 0,3089;
1000
und S — — ° = 0,691. Daraus / = log. nat. — = 0,369 . . Dies
ist die erste Zeit. In der nächsten einzuschaltenden Zeit ist die
bri'.o (o — S?°) , ,
hemmende Kraft = S — <> -f- — — , daher setze man
bca2 _ ,., . bca2 .
S J^o = *S , und 1 — — — — = q, so ist 6=1 — 0,09143
— 0,9085 . . und q = 0,704 . . Am Schlüsse dieser Zeit soll von a ge-
hemmt sevn 0,1999, wofür füglich 0,2 kann gesetzt werden; gleichzeitig
damit ist nach obigen Verhältnissen von b gesunken 0,200 1 . . und von
c o-ehemmt 0,2904; zusammen = 0,6965 = _2f . Hieraus findet sich in
Verbindung mit S' und q die einzuschaltende Zeit; sie ist = 0,714 . .
Nach Verlauf derselben beginnt derjenige Zeitraum, in welchem a und b
zusammen wirken, um die Hemmung zu beschleunigen: die obige zweyte
Zeit, zu deren Berechnung wir nun noch einmal die Formel, wodurch die
eingeschaltete bestimmt wurde, aber mit andern Bedeutungen von .S'' und
q, von Jl"0 und ^', anwenden. Was so eben JT war, wird jetzt ^u,
also S^° = 0,6965. Zu S' mufs jetzt das im verflossenen Zeiträume von
b o-ehemmte mit gerechnet werden; denn es wirkt fortdauernd als eine
constante Kraft. Dieses beträgt 0,2061 — 0,0914 = 0,1147. Außer-
dem können wir den Formeln folgen. Demnach wird S' = 0,7087; und
q = 0,4169. Endlich JS" = 0,074 . . Daraus /' = 0,777 . . Dies ist
die zweyte Zeit, nach obiger Benennung. Um die dritte Zeit, oder/"
zu berechnen, mufs wiederum, und aus dem schon angegebenen Grunde,
zu S" die Gröfse 0,1147 addirt werden. Es findet sich S" = 0,790..;
q' =0,5; und hieraus /" =0,087.. Dies ist die dritte Zeit, die
der Verweilung von b auf der mechanischen Schwelle; worauf die vierte,
unendliche, des Steigens folgt. Um zu sehen, wie lange Zeit die Hemmungs-
summe [2 66] braucht, um ganz zu sinken, addiren wir die verschiedenen
Zeiten. Wir fanden
die erste Zeit = 0,300
die eingeschaltete = 0.714
die zweyte = 0,777
die dritte = 0,087
deren Summe = 1,94 7.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
353
Hiemit läfst sich das vorige Beyspiel vergleichen. 'Beydemal war die
Hemmungssumme = i, aber der Unterschied, dafs dort b = I, hier
b = 0,7; hat die Zeit des Sinkens der Hemmungssumme von 1,563 bis
auf 1,947 verlängert. Der Grund ist nicht schwer zu finden. Die
hemmenden Kräfte sind hier schwächer als oben. Gleich die erste Zeit
findet sich hier in einem etwas gröfsern Verhältnisse gegen das Gehemmte
vermehrt, als dort. In der eingeschalteten aber wirkte vollends nur b
allein zum schleunigem Sinken, indem a noch nicht seinen statischen
Punct erreicht hatte, also auch den Drang zum Sinken noch nicht ver-
mehren konnte. Hingegen im ersten Beyspiele waren gleich am Ende
der ersten Zeit a und b zugleich auf ihrem statischen Puncte, und wider-
strebten gemeinschaftlich dem Uebermaafse der Hemmung, wodurch sie
unter derselben herabgedrückt wurden. Dazu kommt noch die Zeit der
Verweilung auf der Schwelle, während welcher die Spannung von b nicht
mehr anwachsen konnte. Dieses alles mufste in dem zweyten Beyspiele
die Bewegung um etwas langsamer machen.
Vergleichen wir aber auch noch die Zeiten mit dem was in ihnen
gehemmt wird! Dazu ist nur nöthig, die Differenzen JT' — .3° den
Zeiten gegenüber zu stellen.
Zu der Zeit 0,369 gehört das Gehemmte 0,309
» >! » °j7i4 » » » °)3^7
» » » °>777 » » v 0,278
„ „ „ 0,087 » » „ 0,025
Hier ist zwar im Allgemeinen noch immer etwas von allmählig ver-
minderter Geschwindigkeit zu bemerken, aber auch etwas scheinbar im-
regelmäfsiges, welches von [267] den verschiedenen Bewegungsgesetzen
herrührt, die nach einander eintreten, und den gleichförmigen Lauf des
Ereignisses nicht weniger als viermal abbrechen.
Man begreift leicht, dafs diese so merkwürdigen Abänderungen der
einmal vorhandenen Regel der Bewegung, sich noch sehr vervielfältigen
müssen, wofern mehr als drey Vorstellungen im Spiele sind. So oft
eine davon ihren statischen Punct, oder die mechanische Schwelle erreicht,
ändert sich das Gesetz des Fortgangs der Bewe^uns:.
Wir wollen uns darüber eben so wenig in Untersuchung einlassen,
als über die Frage: was geschehen müsse, wenn c früher eintrete,
als a und b ihre Hemmung unter einander vollendet haben?
Nämlich vollendet bis auf einen unbedeutenden Rest, da das eigentliche
Ende nie eintritt, wenn sie sich selbst überlassen bleiben. — Dergleichen
Fälle liegen in der Mitte zwischen dem eben abgehandelten, und dem
gleichzeitigen Zusammentreffen dreyer Vorstellungen. Die mechanische
Schwelle wird alsdann seltener erreicht, und die Verweilung auf der-
selben verkürzt.
Endlich möchte man noch fragen, ob nicht ein hinreichend starkes
c im Stande seyn könne, sowohl a ;ils b auf die mechanische Schwelle
zu treiben? Die Antwort hängt von der Betrachtung der Hemmungssumme
ab. Ist c gröfser als a, so ist es in der Regel selbst nicht mit in der
Hemmungssumme. Vielmehr ist diese alsdann = a\ weil der frühem
Hemmung die Summe = b zugehörte. Nun kann a niemals ganz nieder-
Hekkart s Werki:. V. 23
354
XI. Psychologie als Wissenschaft.
Jb
gedrückt werden; denn gesetzt, a und b seyen zugleich auf der mecha-
nischen Schwelle, so tragen sie die ganze Hemmungssumme allein; aber
dieses ist nicht möglich, da nothwendig auch von c etwas mufs gehemmt sevn.
Ganz anders jedoch wird sich dies verhalten, wenn man übergehn
will zu der Annahme, dafs nach c noch eine Reihe anderer Vorstellungen,
</, e, f, u. s. w. successiv hinzutrete. Dadurch wird die Hemmungssumme
[268] unfehlbar bedeutend wachsen; es mufs aber a von jeder neu hin-
zukommenden leiden; und da es vorhin schon der mechanischen Schwelle
nahe war, kann es ohne Zweifel sehr leicht vollends auf dieselbe getrieben
werden, gesetzt auch, dafs keine der hinzukommenden stark genug sev,
um a und vielleicht selbst um b auf die statische Schwelle zu bringen.
Während also 'jene Reihe von Vorstellungen noch in ihrem Verlauf be-
griffen ist, werden a und b fortwährend auf der mechanischen Schwelle
bleiben; dennoch aber, nachdem die Reihe zu Ende ist, sehr bald sich
von selbst wieder ins Bewufstseyn erheben. So etwas ereignet sich zu
jeder Stunde in jedem Menschen, nur nach einem weit vergröfserten
Maafsstabe, bey jeder Störung in einem Geschaffte, das man vergifst, so
lange die Störung dauert, und wieder ergreift, sobald sie beseitigt ist. Das
unangenehme Gefühl der Störung, welches, wenn es heftig ist, im ersten
Augenblicke gleich den Organismus in Mitleidenschaft zieht, und dann den
Affect des Schrecks erzeugt, — ■ rührt her von der Gewalt, womit die
zur mechanischen Schwelle getriebenen Vorstellungen, deren man sich nicht
bewufst ist, sich denen widersetzen, durch welche sie verdrängt werden.
Wirkten die Vorstellungen auf der statischen Schwelle eben so wie die auf
der mechanischen: so würde der Mensch sein Dasevn nicht aushalten können.
Drittes Capitel.
Von wiedererweckten Vorstellungen nach der ein-
fachsten Ansicht.
§. 81.
Kaum bedarf es der Erinnerung, dafs das zuletzt betrachtete Ereignifs
noch von andern wichtigen Folgen be[2ög]gleitet seyn müsse, wofern man
nur die sehr natürliche Voraussetzung hinzudenkt, dafs wohl mehrere ältere
Vorstellungen, wo nicht im Bewufstseyn, so doch im Gemüthe vorhanden
sevn mögen. Um allzu grofse Schwierigkeiten zu vermeiden, wollen wir
annehmen, es seyen dergleichen neben a und b auf der statischen Schwelle;
die also nur durch a und b zurückgehalten sind, und sich sogleich regen
müssen, wofern die entgegenwirkenden von einer fremden Gewalt leiden.
Es mögen sich drey Vorstellungen mit einander im Gleichgewichte
befinden. Sinken zwev davon unter ihren Gleichgewichtspunct hinab: so
kann die dritte gerade um so viel, als jene zusammengenommen
verlieren, sich wieder erheben. Die Hemmungssumme wird dabei nur
anders vertheilt. — Dafs eine Vorstellung, welche steigen kann, auch steigen
werde, leidet keinen Zweifel; jedoch giebt es ein Gesetz, nach welchem
sie sich allmählig erhebt, mit abnehmender Geschwindigkeit, weil, je höher
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ->cc
sie sich schon gehoben, um so kleiner die Nothwendigkeit wird, ihren Zu-
stand zu verändern, um sich vollends ins klare Bewufstsein aufzurichten.
Plötzlich können die dazu nöthigen Uebergänge aus einem Zustande in
den andern, eben so wenig geschehn, als eine Hemmungssumme plötzlich
sinkt, das heilst, als die gehörige Verdunkelung des Vorstellens sogleich
vollständig eintritt, indem der Grund dazu vorhanden ist. — Angenommen,
die Vorstellung ff sey völlig niedergedrückt; auf einmal verschwinde alle
Hemmung; nach einer Zeit t habe sich erhoben das Quantum h; so ist
dh = {ff — h) dt, also / == log. — - - ; h = ff (i — e~l). Ver-
ff — li
schwindet aber nicht alle Hemmung: so giebt es für die Vorstellung ff
einen Punct, bis zu welchem ihr gestattet ist zu steigen.* Derselbe sey
rj '
ff'; so ist dh = (ff' — h) dt; t = log. — , -, h = ff' (i — <?-*)
ff — h ^
Man bemerke wohl, dafs in diesen Ausdrücken die Stärke der [270] Vorstellung
ff gar nicht vorkommt; Falls daher ff' nicht von ff bestimmt wird, so
ist das Steigen dieser Vorstellung von ihrer eignen Stärke völlig unabhängig.
In diesem Falle befindet sich die Vorstellung ff, wenn sie darum,
und so weit sich zu erheben sucht, weil und wie weit die andern, von
denen sie gehemmt war, niedersinken. Das Gesetz eines solchen Steigens
macht den Gegenstand unsrer nächsten Untersuchung aus.
§ 82.
Neben den Vorstellungen a und b können viele Vorstellungen, die
ehemals mit ihnen im Conflict waren, zur Schwelle gesunken seyn. Alle
diese regen sich sogleich, wenn eine neu hinzukommende a und b sinken
macht. Aber wie sie sich regen, treten sie theils unter einander, theils
gegen die hinzukommende, in gegenseitige Hemmung; so dafs diejenigen
kaum merklich steigen können, welche auf solche Weise bedeutenden
Hindernissen entgegengehn. — Um das Einfachste, und zugleich für die
aufstrebende Vorstellung Vortheilhafteste vorauszusetzen, wollen wir an-
nehmen, es sey nur Eine, und zwar der neu hinzukommenden völlig gleich-
artige, neben a und b auf der statischen Schwelle; diese trete nun, frev
von den erwähnten Hindernissen, wieder ins Bewufstsein. Also z. B. eine
zuvor gesehene Farbe, ein früher gehörter Ton, woran eben jetzt nicht
gedacht wurde, erscheint oder erklingt von neuem; die Frage ist, wie die
ältere Vorstellung nun der gleichartigen neuen entgegenkommen werde?
Die ältere, sich erhebende Vorstellung heifse ff. Sie sucht nach dem
im vorigen § angegebenen Gesetze den Punct zu erreichen, bis zu welchem
sie ungehindert steigen kann. Aber dieser Punct ist veränderlich; denn
er hängt ab vom Sinken jener beyden, a und b. Die veränderliche Ent-
fernung dieses Punctes von der Schwelle, oder das, derselben gleiche,
Sinken der beyden, a und b zusammengenommen, heifse .r; die zugehörige
Zeit sey /; [271] und das Quantum von ff, welches beym Ablauf von / sich
schon erhoben hat, sey ==■}', so ergiebt sich die Gleichung
ix — y) dt = dy.
23*
? c 6 Psychologie als Wissenschaft.
Nun ist .v eine Function von /, welche fürs erste = // gesetzt werde.
So folgt
ftdt = dy -\-ydt
woraus y = e~ t/et . ftdt.
Aus dem vorigen Capitel läfst sich ft näher bestimmen. Ist die neu
hinzukommende Vorstellung stark genug, um nicht neben a und b auf
die statische Schwelle zu fallen, so gehn die Bewegungen, welche sie ver-
ursacht, nach § 80; wo in der ersten Zeit die Formel / = log. —
gilt. Damit hängt zusammen o=S(l- -e~~ '). Die beiden Theile von o,
welche, nach den Hemmungsverhältnissen, von a und b gehemmt werden,
fasse man zusammen in den Ausdruck ma==mS(l — e~ *), so ist dies
= x = ft ; denn um so viel Freyheit ist nun dem H eingeräumt um sich
zu erheben. Nun ist mS .fe^\\ — e~l) dt = mS (? — /) -f- Const. ; und
dieses mit e~~ l multrpficirt == mS{\ — ■ t'e~ l) -J- Ce~ *. Für / = o ist y
= o ; also vollständig
ys=mS[i -(1+/) e-*\
'o
w^[^/2-v/3 + i/4---]
o
3
In dieser Formel ist -S diejenige Hemmungssumme, welche beym Hinzu-
treten der neuen Vorstellung c zu a und b, sich zwischen diesen dreyen
gebildet hat ; bev voller Hemmung ist sie = c, wenn c ■< a, oder im um-
gekehrten Falle ist sie — a. Hiemit nun steht das Hervortreten der
älteren, H, im einfachen geraden Verhältnifs; aber dasselbe richtet
sich Anfangs nach dem Quadrate der Zeit. Und der Anfang ist
hier das wichtigste ; denn die erste Zeit ist gewöhnlich sehr kurz, wie
schon die Beyspiele des vorigen Capitels vermuthen lassen. Es mufs c
sehr grofs sevn, und den statischen Punct von a und b bedeutend herab-
setzen können, wenn [272] die erste Zeit sich ansehnlich verlängern soll. Da-
S
durch nämlich wächst«— in der Formel t = log . — ^ und wird dem
Werthe 6" nahe kommen können. In dieser Hinsicht mag es nicht un-
nütz seyn, die Gröfse te~t, welche mit dem Minuszeichen in v vorkommt,
näher anzusehn. Sie ist =0 für / = o und für / = cc ; und hat ihr
Maximum für t = I. nämlich den Werth =0,36..; weiterhin wird
2,7..
sie bald ziemlich unbedeutend, und kann alsdann den Gang der Gröfse
1 — e— ', mit der sie verbunden ist, nur wenig modificiren. Wo sie den
meisten Einflufs hat, nämlich für /= 1, erkennt man den Werth von y
sogleich aus der Reihe; es ist nämlich alsdann y = m S (-£■ T 4" T
-- + ■■■)
In den darauf folgenden Zeiten erscheint immer / unter einer Form
wie / == — los. -7 — 1 woraus o = , folglich ma = //
q * S'—qo t q
m S' m Ce ~ 1 l', , , . .
= q (S — Ce-i*). Hieraus y = ; + Ae-1 wo A eine
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 3 c 7
noch zu bestimmende Constante ist. Für / = o sey y = Y, so ist nun
m S' . .,. mC . .
vollständig v = (1 — e~t) -. r(^_qt — *_t ) + Y e-*-
q q{l— q) v
Hier wird zuerst die Gröfse e i1' — e~x unsre Aufmerksamkeit
anziehn. Sie ist = o für /' = o und für /' = cc ; und hat ein Maximum
für / = — — ' welcher Ausdruck, wie man sogleich übersieht, nur
1 — q
scheinbar negativ ist.
Es ist nun leicht, nach Anleitung des vorigen Capitels für jeden Zeit-
raum nach dem ersten, die gehörigen Werthe von S", q, und C, in die
gefundene Formel zu setzen. Allein der Gültigkeit der Formel kann die
eigne Gröfse der Vorstellung H, wovon y ein Theil ist, eine [273] Gränze
setzen. Man mufs sich erinnern, dafs //in, oder das von a und b
zusammengenommen Gehemmte, den freyen Spielraum ausdrückt, in
welchem sich H ausdehnen kann. Nur gröfser als es ist, kann es durch
die ihm gegebene Freyheit nicht werden, noch zu werden streben. So-
bald daher mo = H, hört in der Formel (x — y) dt = dy, von der wir
ausgingen, x auf, veränderlich zu seyn ; es wird = H\ und
aus (H — y) dt" = dy
folgt /" = log. — ,
rl = y
wenn y ■=== Y' für /" = o. Zuvor mufs man wissen, wann ma = H; das
heifst, man mufs das Ende von /' wissen. Aus dem Vorigen ergiebt sich
sehr leicht die Formel dafür, nämlich
, 1 in C
1 "" 7 ^ mS'^TqH-
Oder sollte sich der Fall m n = //"wegen grofser Schwäche der Vor-
stellung H schon früher ereignen, ehe noch die Zeit /' anfängt, so hätte
man aus dem Obigen H = m S (l — e ~~ l) und hieraus alsdann
m S
i = los:.
'O*
mS—ti
Bis nun diese, oder die vorbemerkte Zeit abgelaufen ist,
erhebt sich jede schwache oder starke Vorstellung, die in dem
Falle von H sich befinden mag, völlig auf gleiche Weise; erst
in dem hier bestimmten Augenblicke, und zwar plötzlich, eig-
net sich eine solche Vorstellung ein Bewegungsgesetz zu, das
ihrer Stärke (oder vielmehr ihrer Schwäche) angemessen ist. Die
stärksten thun dies am spätesten. — Aufserdem sieht man hier noch
ausdrücklicher, was eigentlich schon im vorigen § klar wurde: dafs näm-
lich niemals eine wieder hervortretende Vorstellung zu einem
völlig ungehemmten Zustande zurückkehren kann. Sollte dies
geschehn, so müfste in dem obigen [274] Ausdrucke für /", y = H werden
können, und dabei einen endlichen Werth für t" ergeben ; aber /" wird
unendlich für y = H.
Das erste Beyspiel des § 80 wollen wir hier verfolgen. Dort ist
a = b= 1, und beyde sind verschmolzen, ehe c= 1 hinzukommt. Hiezu
fügen wir jetzt die Voraussetzung, eine ältere, dem c gleichartige Vorstel-
358 Pschologie als Wissenschaft.
lung H = 0,88 sey im Gemüthe vorhanden; sie kann von den verschmol-
zenen a und b auf die statische Schwelle gebracht seyn, laut § 70. Es ist
ac ß2 -\- bca2
m
acß2 -f- bca2 -f a$ß2
hier = = . — = o, ^6i ; und 5= 1 ; also wenn in ma auch
2 + a2 3,56.. °
0 = S, dennoch mo = 0,561 . . immer noch viel kleiner als H; woraus
folgt, dafs in keiner Zeit die Gröfse von H auf die aufstrebende Be-
wegung desselben Einflufs haben wird. Alles jetzt zu berechnende gilt
also eben so wohl für jedes H^> 0,561 . . .
Die erste Zeit ist bey ihrem Ablauf = 0,2469; also e ~ l= 0,782 . . ,
dies multiplicirt mit I -J- t = 1,2469 giebt 0,975; daher y = 0,561
X 0,024 . . = 0,013 . . am Ende der ersten Zeit; eine noch sehr kleine
Gröfse; ungefähr der zehnte Theil dessen was von a und b zusammen-
genommen jetzt schon gehemmt ist; denn dies beträgt nach § 80 o, 1228 . .
Für die zweyte Zeit ist q = 0,4386; S' = 0,8772 .. ; C = S' — q J^°
= 0,7812; und die zweyte Zeit bey ihrem Ende = 1,316. Hieraus
-(i — *-*) = 0,8208: - (e~^' — e~ l') =0,5201; Fe-*
1 q (1 — q)
=■ 0,0035; demnach y = 0,304 . . am Ende der zweyten Zeit. Höher
steigt y nicht, weil von jetzt an sich a und b gegen c wieder heben. Es
befindet sich aber auch jetzt in einem ganz andern Verhältnisse zu dem
Spielraum, in welchem H sich ausdehnen konnte. Denn jetzt, da die
Hemmungssumme zwischen a, b und c, ganz gesunken, beträgt die hinzu-
[2 75]gekommene Hemmung von a und b, die obige Gröfse = 0,561 ;
aber y = 0,304 ist hievon mehr als die Hälfte. Man sieht also in dem
Beyspiel bestätigt, was aus dem Gesetze des Hervortretens vorauszusehen
war, dafs die aufsteigende Vorstellung Anfangs weit von dem
ihr gesteckten, oder vielmehr ihr voranschreitenden Zielpuncte,
entfernt bleiben, nach einiger Zeit aber ihm bedeutend näher
kommen, obschon noch eine gute Strecke zwischen sich und
ihm, offen lassen werde.
Wir haben in diesem Beyspiele nur Eine plötzliche Veränderung des
Bewegungssgesetzes der hervortretenden Vorstellung bemerken können; es
ist jedoch offenbar, dafs jeder der im vorigen Capitel bemerkten Ueber-
gänge auch hier Einflufs haben müsse. — -
§ 83.
Da in den Bewegungen der Vorstellungen a, b und c ein wichtiger
Unterschied davon abhängt, ob c neben a und b auf die statische Schwelle
fallen müsse oder nicht: so haben wir den Einflufs dieses Umstandes auf
das Hervortreten der altern Vorstellung zu prüfen.
Es sey also jetzt c auf die statische Schwelle zu sinken bestimmt :
so verrückt sich der statische Punct für a und b nicht; ihr Wiederauf-
streben beschleunigt von Anfang an das Sinken der Hemmungssumme ;
1 c
und für / gilt gleich Anfangs die Formel t = — log. nach § 77.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. -i rg
■-■ ■ ■ — - — ■ \ - ■■ . . - . . .
Diese aber kann für eine nähere Bestimmung der im § 82 für die nach-
folgenden Zeiten gebrauchten angesehen werden, wenn C = S' = c gesetzt
wird, wobey denn noch q seinen gehörigen Werth nach den Umständen
des § 77 bekommt. Hieraus wird
tnc , . m c
y = 1 — e-i) , -qt_,-t.
q ' g{i — q) '
Denn Y ist jetzt = o, weil beym Anfang der Zeit noch nichts hervor-
getreten ist. Aber unsre Formel läfst sich jetzt besser als vorhin zu-
sammenziehn; sie wird
r ,-, mc 1 — q-\~qe~t — e~ **
[276] y =
q 1 --p
mc
L2 6 I — q 24 I — q J
Hier offenbart sich sogleich, dafs der Anfang des Hervortretens genau
eben so geschieht, wie wenn c nicht auf der statischen Schwelle wäre;
nämlich proportional der Hemmungssumme = c, und dem Quadrate der
Zeit (wöbe}' noch hier, und auch im vorigen § hinzuzufügen ist, dafs auch
m mit c oder 6" wächst und abnimmt). Hingegen im Fortgange zeigt sich
I — q2 I — qn
eine Abweichung, die von den Brüchen , -, näher bestimmt
I —q 1 —q
wird. Es ist q ein ächter Bruch; sein Werth liegt also zwischen o und 1 ;
1 — qn 1 — ■ qn
für q = o ist = 1 , für q = 1 wird - — = n q n — l = 11. Für
I — q I — q
diese letzte Gränze wäre das allgemeine Glied der eingeklammerten Reihe
1
= -J_ /"
2 . 3 . . . (n — 2) . n '
I — q n-1
wozu nämlich der Bruch gehören würde. Genau dasselbe all-
I — q °
gemeine Glied folgt im § 82 aus der Entwickelung von 1 — (1 ~\- l)e~x;
also wären beyde Reihen ganz dieselben. Nun aber ist q niemals ==• 1,
I — qa qn — 1
sondern allemal kleiner; auch = = qn~ » -L q D — 2 . ..
1 — q q — 1
-j- q -f- 1 um so kleiner, je kleiner q\ also ist in der jetzigen Reihe jedes
Glied nach dem ersten, kleiner als das entsprechende in der Reihe des
vorigen §; und unsre Reihe überhaupt convergenter als jene.
Im Beyspiele des § 77 war a = b = i, c = — , q=o,6i; und die
Zeit des Sinkens von a und b, das heilst hier, des Steigens von //,
= 1,54 . . . Auch m = 1 — q. Hieraus y = 0,1 od . . . Dies Bcyspiel
läfst sich mit dem des vorigen § um so eher vergleichen, da die Zeiten
des [277] Steigens beynahe gleich sind. Im Anfange des Steigens ver-
hält sich das Hervortretende im vorigen Beyspiele zu dem im gegen-
wärtigen wie das dortige mS zu dem jetzigen nie, oder wie 0,50 1 : o, 105;
jenes beynahe das Dreyfache von diesem; nahe so findet sichg am Ende
wieder, indem dort y = 0,304 ; hier y = 0,106 wird. Aber der Unter-
schied beyder Beyspiele beruht blafs darauf, dafs dort ^=1, hier t =
ö
60 X.I. Psychologie als Wissenschaft.
gesetzt ist. — Im Verhältnifs zu dem ihm eröffneten Spielraum sehen
wir H hier fast gerade so weit hervortreten wie dort; beydemal nämlich
um ein wenig über die Hälfte dieses Raums. Denn a und b sinken im
jetzigen Beyspiele zusammengenommen beynahe um 0,2. Noch wollen
wir wegen des Fortgangs in der Zeit eine Vergleichung anstellen. Die
erste Zeit im § 82 war 0,246g, nahe ==— ; setzen wir diese in unsre
l q* l (7 2
jetzige Formel, so ist — /2 = — : = 1 -f?= 1,61; -r- . /3
J ° 2 32 ' 1 — q ' ' 6 1 — q
nahe = = - — , etwas über 0,004, die Gröfse in
6.4.16 6.4.10 240
der Klammer wird demnach nahe 0,027; dieses multiplicirt mit —.0,39
giebt y = 0,0053 . . . , um so viel ist also H hervorgetreten in der Zeit
==— . Aber diese Zeit hat sich mehr als versechsfacht, wann t = 1,54 . .
Dem Quadrate der Zeit gemäfs sollte sich y bis zum 3 6 fachen erhoben
haben; so wäre es bis o, iq . . hervorgetreten. Allein für />i gewinnen
die hohem Potenzen von /, also die folgenden Glieder der Reihe einen
zu bedeutenden Einflufs. Endlich der verschiedene Fortgang in dem jetzigen
und dem vorigen Beyspiele wird nirgends klärer, als am Ende der Zeit —
Denn hier ist das jetzige y beträchtlich mehr als ein Drittheil des obigen
(jenes war =0,013, dieses ist =0,0053). Ginge die Abweichung von
dem Verhältnifs 3:1 so fort; so würde ein solches Verhältnifs am Ende
nicht mehr zu bemerken seyn. Die Formeln zeigen, dafs Anfangs das
jetzige y der Proportionalität mit dem Quadrate der Zeit näher bleibt als
das obige; aber im vorigen Beyspiele trat sehr bald ein an-[2 78]dres
Gesetz des Fortgangs ein, während in dem letzten das ganze Steigen nach
einerley Regel konnte vollbracht werden.
§ 84.
In den beyden vorhergeh enden §§ haben wir absichtlich einen wich-
tigen Umstand aus den Augen gesetzt, der die erhaltenen Resultate einer
Correctur unterwirft, den wir aber erst jetzt ins Licht zu setzen unter-
nehmen können.
Da die ältere, wieder ins Bewufstseyn tretende Vorstellung H, mit
der neu hinzukommenden c, gleichartig seyn soll: so kann es nicht fehlen,
dafs, in dem Maafse wie ihr Zusammentreffen im Bewufstseyn es möglich
macht, bevde mit einander verschmelzen. Hierdurch entsteht eine wachsende
Totalkraft gegen a und b, wodurch das Sinken derselben beschleunigt wird.
Aber um desto mehr gewinnt die Vorstellung H an Frevheit hervortreten
zu können ; und wiederum desto schneller sinken a und b, getrieben durch
das Zunehmen jener Totalkraft. Man braucht dieses nur auszusprechen,
um fühlbar zu machen, welche Schwierigkeiten uns erwarten, indem wir
diese Verschmelzung mit in die Rechnung bringen wollen.
Durch eine jede Verschmelzung entstehn eigentlich, aus der gegen-
seitigen Verstärkung beyder Verschmelzenden, zwey Totalkräfte, die zum
Theil in einander verschränkt sind; wie dieses in den letzten Capiteln des
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 36 1
vorigen Abschnittes hoffentlich wird klar genug geworden seyn. In unserm
gegenwärtigen Falle wird die ältere Vorstellung verstärkt durch die neue,
und gleichfalls die neue durch die ältere. Allein die erste dieser bevden
Verstärkungen werden wir nicht in Rechnung zu bringen haben; aus folgen-
dem Grunde. H ist nach der Voraussetzung unter der statischen Schwelle
neben a und b\ es bestimmt also für sich allein nichts an dem Zustande
dieser bevden Vorstellungen. Es wird auch nichts daran bestimmen können,
so lange es nicht durch die erhaltene Verstär-[2 79]kung über die statische
Schwelle erhoben wird. Aber selbst wenn dies geschieht: was kann da-
von die Folge seyn? Es bekommt nun einen statischen Pünct, zu welchem
es aufstreben sollte, einwirkend auf a und b, damit diese sinken müfsten.
Nun sind gegenwärtig a und b schon längst im Sinken begriffen ;* gedrängt
durch c, haben sie dem H schon weitern Spielraum gegeben, als den es
in seinem allmähligen Steigen benutzte. Denn es erhellt aus den vorigen
Untersuchungen offenbar, dafs auch ohne Rücksicht auf die Verschmelzung
zwischen H und c, sich a und b schneller bewegen, als H ihnen nach-
kommen mag. Folglich, was die Verstärkung des H durch c bewirken
könnte bey a und b, das ist schon geschehn ehe es gefordert wird; und
daher ist die eine jener beyden Totalkräfte für jetzt als unwirksam zu
betrachten.
Es bleibt aber die andre; es bleibt die Verstärkung des c durch das
allmählig mit ihm verschmelzende y ; und dadurch wirkt jetzt H allerdings
mit auf a und b. Dies ists, was wir bisher aus der Acht liefsen, und
jetzt in die Rechnung einführen müssen. Wie wird dieselbe dadurch ab-
geändert werden?
Die Gleichung des § 82,
{x—y)dt==dy
verbleibt in ihrer Kraft ; auch ist noch ferner x eine Function von /, aber
nicht von / allein, sondern zugleich von y selbst.
Nämlich x ist = ma, dem, was von a und b zusammengenommen
(aß2-\-ba2)c
gehemmt wird. Nun war m bisher = - — . — —- — , ■— — -r- nach $ 77.
{aß2 -\- b a2) c -{-< u ß2
Jetzo bekommt c eine Verschmelzungshülfe, deren Quantum ursprünglich
— y, die aber nur in dem Verhältnifs, in welchem c nicht gehemmt ist,
sich mit c verbinden kann. (Man sehe § 63.) Es sey z = demjenigen,
was am Ende der Zeit / von dem sinkenden c noch im Bewufstseyn gegen-
wärtig ist, so' kommt für die Verschmelzungshülfe zunächst [280] der Aus-
yz
druck — . Diese mufs dem c, wo es vorkommt, addirt werden. Demnach
c
findet sich / yz\
o
(aß2 _J_3a2)^_j_^J -\-U2ß2
Fragen wir nun nach dem Werthe von z, so hängt wiederum dieses
selbst von y ab. Denn
,£,-> XI. Psychologie als Wissenschaft.
u2ß2
fi .
(^+*«*W,+^V+«^
Endlich ist auch a selbst einer Abänderung zu unterwerfen; denn
nach § 77 ergiebt sich a aus der Gleichung (c — qo)dt = dn, und q =
«2/?2 , zy
'- , wo ebenfalls für c zu setzen c A .
(aß2 Arlane A-«2ß2 c
Wir sehen hieraus, dafs z = — - ; welche Bemerkung uns den Weg der
dt
Rechnung bahnen mufs. Der Abkürzung wegen sey aß2Arba2 = f, u2ß2 = g.
dy
Die Gleichung x — y = -p- verwandelt sich in folgende :
, dn dy
' dt " <//
c — 1 dt
Was die erste dieser Gleichungen betrifft, so fällt ins Auge, das sie
von o und — fast jranz auf gleiche Weise bestimmt wird, wie von y und
dt
dv
— Ohne Zweifel sind alle diese Gröfsen Functionen von t; setzen wir
dt
nun zuvörderst y -f — =//, so wird y = * — 4 {ffiftdt -f- C), und aus
o — c A = // oder aus a A =/ / + c wird
' dt J ~ dt
n==e — t(/et yt _j_ C] d/ j^_ C') = e — 'f&ft dtArcArC'e — *;
daher a = y — Ce~ l -\- t -f- G"« — »; weil aber sowohl a als ;- = o für
/= o, so ist c = C— C, daher endlich a =y + c (i — e~ l).
Aus der zweyten Gleichung wird
/r + ^J'C/'" + *'—/*') =^3 +^2 *"*'*
In diese Gleichung mufs der eben zuvor gefundene Werth von V
substituirt werden; nämlich y = a — c (i — e l).
Man setze I — « — ' = «, (welches für / = o von selbst = o wird)
also y = o — cu\ überdies nehme man an:_
y =Au -f #u2 + C«3 Ar Du* + . . .
daher auch
fl _ (j _|_ f) w -f Bu2 + Cu3 -\- Du* -{-■■■
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
363
^7 = (A + c) -f. 2 5« + 3 C* + 4 #«3 +
und wesren d t = ,
1
u
da da
dt die
A -f c \- 2 Bit -f 3 Ca2 -f 4 Z>«3
A — c) u — 2 Bti2 — 3 Cui — ...
— fBc2
tii
C
Bringt man nun alle Glieder der Gleichung auf eine Seite, und fängt
an, die Coefficienten zu bestimmen : so findet sich zuerst
fa+gC — (fc2 +gc) [A + c) = o,
oder c — (A-\- c) = o, das ist, A = o. Dies erleichtert die Rechnung.
Es findet sich nämlich weiter, wenn fc2 -J- gc = tt,
0 = — gc2 \u — gcB \u2 — gcC
-^(2B-c)j _^(3C— 2 B) -n{AD-
+ fc2B \ + fcB{2 B—c)
+ fc2C
— fB(AtBc-2C2)
— fCc2
Die fernere Rechnung mag sogleich an das Beyspiel des % 77 ge-
knüpft werden. In demselben waren a = b = 1, [282] c = — ■ Hieraus
B = 0,097b; C= 0,0453; D = 0,033; E = 0,0225; f ungefähr
= 0,017 und 6r = 0,014, Da jedoch diese Coefficienten nicht genug
convergiren, so sey
100 v
1
"5
z
— = 9>76 + 4,53 « + 3.3 "2 + 2,25 «3 -f- 1,7 «4 -}_ . . .
und man suche die Coefficienten der Reihe
2 = Ä -f .ff'« -f CV +...
so findet sich
z = 0,1024 — 0,0475 u — °>OI25 "2 — 0,0017 iß — 0,002 «+,
n2
und v = — 7.
100 z
Die Resultate dieser Rechnung, zusammengestellt mit denen des vorig.
§, welche das gleiche Beyspiel ohne Rücksicht auf die Verschmelzung dar-
bietet, sind nun folgende :
nach § 83
v = 0,0053
y = 0,01893
/= 1, y = 0,0584
'=1,54; .7 = 0,106
für / = — ,
4
„ / = ",
verbessert wegen der Verschmelzung
y = 0,0053
v = 0,01897
y = 0,05999
für /= 1,52 ; y = 0,1088
Es ist von selbst offenbar, dafs im Anfange die Verschmelzung der
wieder hervortretenden Vorstellung mit der eben jetzt gegebenen keinen
Einllufs haben könne. Dieses zeigt sich in den Formeln dadurch, dafs,
so wie oben y nur vom Quadrate und den höhern Potenzen der Zeit ab-
hängend gefunden war, auf gleiche Weise auch hier die Reihe für y mit
dem Gliede Bu2 anhebt, indem A = o ist. (Nämlich «=I — t
oßi XI. Psychologie als "Wissenschaft.
= / — t2 -4- . . .) Bis zu / = — sind nun die Resultate bevder Rech-
2 ' ' 2 . J
nungen beynahe nicht zu unterscheiden (auch die Zahl 0,01897 ist in
der letzten Ziffer nicht ganz sicher, weil die Coefficienten hier nicht
scharf genug berechnet sind). Weiterhin zeigt sich die Wirkung der Ver-
schmelzung zwar merklich, doch, in diesem Beyspiele wenigstens, fast un-
bedeutend gering. Weder V erhebt sich beträchtlich mehr, noch auch
die Zeit ist um vieles verkürzt. Wegen des letzten Puncts ist zu be-
merken, dafs nach der Formel a=y -\- c (1 — e — *), [283] für t = 1,52 auch
CT = 0,4994... also ganz nahe =-^-==£ wird; das heifst, dafs hier
das Ereignifs aufhört, indem nun der Hemmung Genüge geschehn ist,
und a und b wieder anfangen aufzustreben. Die Dauer des Ereignisses
zeigt sich jetzo kürzer, weil die Verstärkung des c durch das ihm ver-
schmelzende y mehr Spannung in die entgegengesetzten Kräfte bringt,
wodurch die Hemmung beschleunigt, so wie das Leiden von a und b um
ein geringes vermehrt, und das von c um ein geringes vermindert wird.
Um etwas beträchtlicher mag die Wirkung der Verschmelzung für ein
gröfseres c ausfallen, welches a und b mehr niederdrückt, und dadurch
die Verein icuner der altern und der neuen Vorstellung befördert. Allein
da die Rechnungen äufsert beschwerlich werden würden, wenn man sie
allen denen, in dem vorigen Capitel nachgewiesenen Abänderungen in dem
V erlauf der Hemmung anpassen wollte, so mufs an diesem Orte die ge-
gebene Probe genügen ; aus der sich schliefsen läfst, dafs man eine leid-
liche Uebersicht über den Gang der wiedererweckten Vorstellung auch
ohne Rücksicht auf die Verschmelzung, schon durch das Verfahren der
§$82 und 83, erlangen könne.
§ 85.
Bevor wir die weiteren Folgen des bisher betrachteten Ereignisses
überlegen, ist es dienlich zur Vorbereitung, einer an sich geringfügigen
Unrichtigkeit zu erwähnen, welche unter gewissen Umständen sich in die
eben geendigte Berechnung einschleichen könnte.
1/ g
Die Verschmelzungshülfe — - war der Gegenstand dieser Berechnung;
in so fem sie die Wirkung der Vorstellung c vermehrte. Da nun y zu-
nimmt, während 2, das im Bewufstseyn übrige von dem sinkenden c, sich
fortdauernd vermindert, so könnte für das Productj'2 ein Maximum ent-
stehn. Alsdann wäre dieses Maximum die, ferner nicht mehr veränder-
liche Verschmelzungshülfe; die Unrichtigkeit der vorstehenden Rechnung
aber bestünde [284] darin, für die ganze Dauer des Ereignisses die Gröfse —
als Verschmelzungshülfe zu behandeln, welches sie doch nur bis zur Er-
reichung des Maximum hätte darstellen können.
Bedenkt man, wie langsam Anfangs y zunimmt, wie unwahrscheinlich
es daher ist, dals das Maximum bald eintrete; wie kurz die Zeit, auf
welche der Irrthum seinen Einflufs äufsern könnte, endlich wie gering die
Abweichung der Gröfsen selbst ausfallen wurde: so _ wird man es schwer-
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ?6^
ö
lieh hier für zweckmäfsig halten, diesen Punct einer schärfern Bestimmung
zu unterwerfen. —
Eine zweite Bemerkung über die nämliche Verschmelzungshülfe be-
trifft nun schon die Folgen des HerVortretens einer altern Vorstellung,
während die gleichartige neue gegeben wurde.
Man hat gesehen, dafs die hervortretende bei weitem nicht den ganzen,
ihr frey gegebenen Raum, während des Sinkens von a und b, wirklich
ausfüllt. Was wird geschehen , indem nun a und b wiederum beginnen
zu steigen? Der Punct, bis zu welchem y steigen konnte, bewegt sich
rückwärts ; und zwar mit einer Geschwindigkeit, die gleich Anfangs am
gröfsten ist, gemäfs dem schon bekannten Bewegungsgesetze von a und b\
es wird daher zwar/ noch fortfahren, sich um etwas weniges zu erheben,
bis es jenem ihm vorgehaltenen Zielpuncte gleichsam begegnet ; allein sein
Aufstreben erleidet gleich Anfangs eine plötzliche Verminderung, und der
schnell verminderte Zuwachs mufs sehr bald in eine rückgängige Bewegung
übergehen. — Hiezu kommt noch ein kleiner Verlust für y, in so fern
es als zum Theil verschmolzen mit c, auch mit diesem zugleich zum
Sinken genüthigt wird.
Aber die wichtigsten Folgen des Hervortretens von y zeigen sich
jetzo, indem es wiederum sinken soll. Da nach §77 sich a und b zwar
zu ihrem statischen Puncte erheben, aber mit abnehmender Geschwindig-
keit, so dafs [285] sie diesen Punct nie völlig erreichen: so würde schon
deshalb y sowohl als c nie völlig durch a und b aus dem Bewufstseyn
verdrängt werden; vielmehr könnten beyde mit etwa hinzutretenden neuen
Vorstellungen, so fern ihnen diese nicht entgegengesetzt wären, sich com-
pliciren, und dadurch Schutz finden gegen die Nothwendigkeit zur Schwelle
zu sinken. — Allein durch die Verschmelzung von y und c sind zwey
Totalkräfte gebildet worden. Wir haben bis jetzt aus dem, im Anfange
des § 84 angegebenem Grunde nur diejenige Verschmelzungshülfe in Be-
tracht gezogen, welche c erlangt. Die Wirkung derselben ward gering
befunden; und sie wird selten viel bedeutender werden, weil die Hülfe
sich nur vergröfsert, wenn c selbst schon gröfser ist; so dafs dadurch ver-
hältnifsmäfsig nicht viel gewonnen wird. Nur wenn c gegen a und b sehr
nahe den Werth hat, der es gerade zur statischen Schwelle bestimmt,
dann wird auch eine geringe Verschmelzungshülfe bedeutend, indem da-
durch c einen statischen Punkt im Bewufstsein bekommt. Dieser Um-
stand nun ist in Hinsicht des y immer von Wichtigkeit. Wir haben an-
genommen, y sey ein Theil der Vorstellung H, deren Gröfse aber während
des Steigens von y nicht in Betracht komme (§§ 81, 82). Es ist uns
erlaubt, vorauszusetzen, H sey zwar unter der statischen Schwelle neben
a und b, aber nur um ein weniges; so wird die Verschmelzungshülfe
— , die es erlangt, es jetzo über die statische Schwelle erheben
können. Oder, ist H für diesen Erfolg zu klein: so wächst dagegen der
Werth des Ausdrucks ' , das heilst, dem kleineren // wird eine gröfsere
Hülfe zu Theil, durch welche es dem Werthe beträchtlich näher gebracht
366 XI. Psychologie als "Wissenschaft.
wird, den es haben müfste, um über der Schwelle hervorzuragen. Ge-
winnt also auch die wiedererweckte Vorstellung nicht so viel, dafs sie sich
im Bewufstseyn halten könnte, so gewinnt sie doch bedeutend an der
Möglichkeit, dahin [286] gebfacht zu werden. Angenommen, es
komme noch eine dritte, dem y und dem c gleichartige Vorstellung hinzu,
oder wie wir im gemeinen Leben sagen würden, es werde die nämliche
Wahrnehmung mehrmals, kurz hinter einander wiederholt (kurz hinter
einander, damit nicht anstatt a und b andre widerstrebende Vorstellungen
eintreten) : so giebt die dritte Vorstellung eine neue Verschmelzungshülfe
für y, die, nun wenigstens, leicht hinreichen kann, um dem H wieder eine
Stelle im Bewufstseyn zu versichern.
Auf diese Weise werden häufig schwächere Vorstellungen
ergänzt, ältere angefrischt. Nur gar zu schwach dürfen sie nicht
seyn. Wenn H so klein ist, dafs es von ma bald übertroffen wird (man
V z
sehe §82), alsdann vermindern sich in dem Ausdrucke' — , y und H zu-
gleich; und die ganz schwache Vorstellung erhält auch nur eine unbedeu-
tende Hülfe. Während daher solche Vorstellungen, die ursprünglich eine
gewisse Stärke besafsen, immer fortleben, weil sie immer neue Nahrung
durch jede Wiedererweckung bekommen: verschwinden andre, die nicht
so viel Kraft haben, um sich die Nahrung zuzueignen; sie verschwinden,
obgleich sie nicht ausgetilgt werden; das heifst, sie dauern fort als Stre-
bungen im Grunde der Seele, von denen aber im Bewufstseyn keine
Wirkung erscheint.
.Merkwürdig ist, dafs die wiederholten Wahrnehmungen eines und des-
selben Objects keinesweges zu einer einzigen Vorstellung von dem Einen
Objecte zusammenfliefsen. Wir haben nicht, wie man im gemeinen Leben
wohl glaubt, von jedem Dinge nur Eine Vorstellung, sondern der Vor-
stellungen bleiben so viele, als der Wahrnehmungen. Denn nur ihrem
kleineren Theile nach verschmelzen die frühern Wahrnehmungen mit den
späteren; und nur das Verschmolzene kann für eine einzige, aus
den mehrern Wahrnehmungen entsprungene Vorstellung gehalten
werden. —
[287] Noch mit einem Worte mufs hier der minderen Gegensätze
und der Complicationen Erwähnung geschehn. — Falls c, und das ihm
gleichartige H, nicht vollen Gegensatz gegen a und b bilden, so wird durch
c nur ein geringeres Sinken von a und b bewirkt; also auch nur ein ge-
ringeres Hervortreten von H oder von y. Es scheint also, dafs die, unsern
jetzigen Vorstellungen näher liegenden, schwerer wieder erweckt werden,
als die entferntem. Dagegen bedenke man, dafs dergleichen näher liegende
Vorstellungen bey weitem schwächer seyn müssen, wofern sie sich der
Voraussetzung gemäfs neben a und b auf der statischen Schwelle befinden
sollen.
In Hinsicht der Complicationen werde angenommen, es seyen anstatt
a und b ein paar Complexionen A und B im Bewufstseyn vorhanden;
das hinzukommende c, eine einfache Vorstellung, widerstreite nur Einem
Elemente von jeder Complexion ; H und folglich y seyen dagegen aus
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 3 6?
einem andern Continuum von Vorstellungen; und mit den andern Elementen
jener Complexionen im Widerstreite. Weil A und B sinken müssen, in-
dem c eintritt, so entsteht für H ein ähnlicher Spielraum wie oben, und
indem es sich erhebt, eine Complication mit c. Dieses Ereignifs würde
also dem zuvor betrachteten völlig ähnlich seyn, pafste nicht dasselbe auf
gleiche Weise auf alle Vorstellungen des gleichen Continuum wozu H ge-
hört. Also, zwar irgend welche frühere Vorstellungen dieser Reihe müssen
wieder erweckt werden, falls sie nicht Hindernisse im Bewufstseyn antreffen;
welche es aber seyn werden, hängt von den gegenseitigen Verhältnissen
ihrer Stärke ab. Immer werden sie zufälligen Gedanken und Einfällen
gleichen, indem sie mit der erweckenden weder Aehnlichkeit noch Zu-
sammenhang haben. Wo schon Aufmerksamkeit vermöge gewisser herr-
schender Vorstellungen gebildet ist, da kommen dergleichen Einfälle nicht
weit; und machen sich kaum bemerklich, weil sie im Entstehen erdrückt
werden. —
Endlich noch eine Erinnerung an die mechanischen [288] Schwellen.
Wir haben am Schlüsse des vorhergehenden Capitels bemerkt, dafs während
eines fortdauernden Flusses neu eintretender Vorstellungen, die älteren
eine Zeitlang auf der mechanischen Schwelle verweilen können. Wird
eine solche wieder erweckt durch eine ihr gleichartige neue, so mufs ihr
Hervortreten eine viel gröfsere Lebhaftigkeit zeigen, als beym Hervortreten
von der statischen Schwelle vorkommen mag. Eigentlich aber ist das
Phänomen von ganz anderer Art als das vorige. Dort wurde eine Vor-
stellung auf kurze Zeit hervorgerufen, die wieder sinken mufste; hier wird
eine Vorstellung wieder hergestellt, die nur auf eine Zeitlang aus dem
Bewufstseyn verdrängt war. Dort, welches« sehr merkwürdig ist, erschien
die gerufene Vorstellung sogleich, aber schwach, und mit allmählig an-
wachsender Geschwindigkeit; hier kann sie nicht sogleich erscheinen;
kommt sie aber, so geschieht es wie mit einem Stofse, dessen Geschwindig-
keit jedoch nicht anhält, sondern bald abnimmt. Dieses einzusehn, darf
man nur die bekannten Bedingungen des Phänomens erwägen. Die auf
der mechanischen Schwelle verweilende Vorstellung kann sich nicht eher
erheben, als bis eine gewisse Hemmungssumme gesunken ist; sobald
dieses geschehen, steigt sie von selbst mit einer Geschwindigkeit, die
Anfangs am ffröfsten ist und sich bald vermindert. Durch das Hinzu-
kommen der gleichartigen neuen Vorstellung wird jene eigentlich nicht
geweckt, es wird nur das Sinken derer beschleunigt, welche ihrem Hervor-
treten hinderlich waren. Also nicht eher, als bis dieses Sinken derjenigen
Hemmungssumme genügt, um derentwillen jene Vorstellung auf der
mechanischen Schwelle verweilt, kann die letztere hervortreten; die Ver-
weilung dauert noch einige, wenn gleich sehr kleine und vielleicht un-
merkliche Zeit; dann springt die nun befreyte Vorstellung hervor, und
verschmilzt sehr schnell in einem bedeutenden Grade mit der neuen
Wahrnehmung.
Anmerkung. Auf den schwierigsten Gegenstand dieses Capitels,
die Untersuchung des § 84, habe ich die [289] Rechnung mit Reihen,
die nach Potenzen mit irrationalen Exponenten fortschreiten, angewendet,
welche man in meiner Abhandlung dt attentionis viensura finden kann;
'6
->68 XI. Psychologie als Wissenschaft.
\J
bey dieser Methode lassen sich durch Zusammenziehung mehrerer Glieder
in Eins, noch Vortheile anbringen, die ein Mathematiker leicht finden
wird. Allein ich habe kein auffallendes Resultat erhalten, obgleich ich die
Voraussetzung dahin abänderte, dafs statt einer einzigen, viele gleichartige
Vorstellungen zugleich reproducirt werden. Die Gegenstände dieses, und
der beyden folgenden Capitel müssen in besondern Monographien be-
arbeitet werden. Hier will ich die Aufmerksamkeit des Lesers nicht
ermüden; sondern sie sparen für das folgende Capitel, worauf aller Fleifs
mufs gewendet werden, wenn man sich den Kern dieses ganzen Buchs
.zueignen will. Die feinern Rechenkünste werden von selbst ihren Platz
einnehmen, wenn man erst begriffen hat, wozu sie dienen sollen.
Viertes Capitel.
Von der mittelbaren Wiedererweckung.
§ 86.
Eine Untersuchung von grofser Wichtigkeit steht bevor; die. nicht
blofs dasjenige unter sich befafst, was gewöhnlich mit dem Namen der
Association belegt wird, sondern die mit ihren Folgen tief in die, durch
falsche Metaphysik verdunkelten, Fragen von den Formen der Er-
fahrung hineingreift. —
Sey es nun, dafs eine Vorstellung von der mechanischen Schwelle
sich von selbst erhebt, oder dafs ihr vergönnt ist, von der statischen
Schwelle emporzukommen, indem eine hinzutretende ihr Freyheit schafft;
im[2go]mer wird sie dasjenige mitzubringen trachten, was mit ihr durch
irgend welche Verschmelzungen und Complicationen verbunden ist. Dieses
Verschmolzene oder Complicirte wird also mittelbar wiedererweckt; und
hier ist der Ort, auch dieses Phänomen zu untersuchen, da es gewöhn-
lich die zuvor betrachteten begleiten wird.
Ein ganz einfaches Problem soll zur Vorbereitung dienen, das zwar
in der Wirklichkeit niemals so frey von Nebenbestimmungen vorkommen
kann, das aber die Hauptpuncte sogleich ins Licht setzen wird.
Von zweyen Vorstellungen Pund 71 seyen verschmolzen oder compli-
cirt die Reste r und o; beyde Vorstellungen mögen darnach auf irgend
eine Weise zur Schwelle gesunken seyn. Auf einmal verschwinde für P
alles Hindemifs: so richtet sich P ins Bewufstseyn auf nach dem im § Si
angegebenen Gesetze. Aber TL empfängt von P eine Verschmelzungs-
oder Complications -Hülfe = ^ (§§ 63. 6g). Diese Hülfe ist eigentlich
ein Bestreben der Vorstellung P (oder der Seele, in so fern sie das Vor-
stellende von P ist), welches Streben dahin gerichtet ist, U wieder auf
den Verschmelzungs- oder Complicationspunct zu erheben, das heifst, von
II wiederum das Quantum o ins Bewufstseyn zu bringen. So lange dies
Ziel nicht erreicht ist, dauert das nämliche Streben fort. Die eigentliche
Stinke desselben ist = r; aber nur in dem Grade — kann es wirken
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ?>£>Q
auf 77, weil es nur in diesem Grade von dieser Vorstellung ist angeeignet
worden. Ueberdas nimmt das Bestreben ab in dem Grade wie ihm Ge-
nüge geschieht; worüber die Betrachtungen der §§ 74 und 81 zu wieder-
hohlen sind.
Wäre es nun möglich, dafs die Vorstellung P für sich allein wirkte,
nicht gehindert und nicht begünstigt von andern Kräften: wie würde das
aus dieser Wirksamkeit entspringende Ereignifs beschaffen seyn?
Erstlich, wie schon erwähnt, P würde sich selbst ins [291] Bewufst-
seyn erheben, nach einem Gesetze, welches, wenn p das wieder Hervor-
getretene von P am Ende der Zeit / bedeutet, in folgender Gleichung
P
liegt: (P — p) dl = dp; oder / = log. — P (1 — e — l) = p.
rg
Aber zweytens: die Hülfe — würde zugleich auf 77, welches wir
hier als völlig träge und passiv ansehn, dergestalt einwirken, dafs, wenn
das von II hervorgetretene ==== <o, folglich das bis zum Verschmelzungs-
puncte noch hervorzurufende = g — 10, alsdann diese Gleichung gelten
müfste :
Die Brüche -^- und — sind hier blofse Zahlen, womit die Kraft r
IL (j
multiplicirt wird. Es ergiebt sich nun
( __ rA
"> = Q \ l — e ' nj-
Dieses Resultat zeigt uns vollkommen klar, von 10 wie (), ;-, /, und
77 abhängt.
Erstlich: das von 77 am Ende der Zeit / Hervorgetretene, nämlich
(o, verhält sich gerade wie dasjenige Quantum von 77, welches mit P ver-
schmolzen war; nämlich wie q.
Zweytens: je gröfser der mit verschmolzene Theil von P, um so ge-
schwinder nähert sich das Hervorgetretene seiner Gränze = p.
Drittens: je gröfser .11 selbst, um so langsamer wird es durch die
Hülfe gehoben.
Viertens: die Wirkung der Hülfe endigt nie, obgleich sie ihrem Ziele
bald sehr nahe kommen kann.
Wir wollen jetzt die Geschwindigkeiten vergleichen, jene, mit der sich
P selbst erhebt, und diese, womit die Hülfe wirkt. Die Geschwindigkeiten
sind bekanntlich in der Psychologie allemal gleich den Kräften, als deren
. dp dm
[292] unmittelbarer Abdruck; die bevden Kräfte aber sind ■— und .
dl dt
Nun ist
' ** = Pe - S und
dl
1 dm rg ^
di = n e n
Hbrbart's Wekkk. V. 24
2 7o XL Psychologie als Wissenschaft.
Man kann bevdes gleich setzen, so findet sich
n pn
t = _ log . — .
IL — r j-q
Nämlich um diesen Zeitpunct hat die Anfangs weit gröfsere Ge-
schwindigkeit, mit der P sich selbst erhebt, so weit nachgelassen, dafs die
geringere, aber gleichförmiger anhaltende, womit U gehoben wird, jene ein-
hohlen, und übertreffen kann. Aber dieser Zeitpunct rückt unendlich weit
hinaus, falls II = r, und er findet gar nicht statt, wofern r > IL.
Es sey P= H = i ; r ■== q = — ; so kommt für die Zeit, da beyde
Geschwindigkeiten gleich werden, / = 2,77 . . . Um diese Zeit ist p=~-,
und m = ~ beynahe. Aber die Gränze, oder das Ziel für p ist = 1 , und
für (1) ist es = — ; also fehlt dort noch -^-, hier noch 4" ', daher die Hülfe
2 ' 16 8 '
nun mehr eilen mufs, zum Ziele zu gelangen; auch wird ihre Geschwindig-
keit zuletzt unendlich gröfser, als die mit ihr verglichene. —
Um nun die Untersuchung fruchtbar zu machen, nehmen wir an, es
seyen mit einer und derselben Vorstellung P viele andre verschmolzen und
complicirt; von verschiedener Stärke; auch seyen theils mit dem gleichen Quan-
tum von P verschiedene Quanta jener andern Vorstellungen, theils mit verschie-
denen Theilen von P einerley oder verschiedene Theile der übrigen verbunden.
Sind die mit P Verbundenen von verschiedener Stärke, so bekommt
.77 verschiedene Werthe. Hier mufs man sich vor einem möglichen Mis-
verständnis hüten. Es würde eine falsche Auslegung der obigen Sätze seyn,
[2 93] wenn man glauben wollte, gröfsere H würden überhaupt weniger und
schwerer durch die Hülfen gehoben, als kleinere. Freylich werden sie das,
wenn ihr Rest, der mit P verschmolzen ist, gleich geringfügig ausfällt, wie
der von schwächeren Vorstellungen. Aber es ist längst gezeigt, dafs die
Reste stärkerer Vorstellungen in einem weit gröfseren Verhältnisse die Reste
der schwächeren zu übertreffen pflegen; als in welchem Verhältnisse die Vor-
stellungen selbst verschieden sind. Daher wird unter gleichen Umständen
ein gröfseres H auch ein viel beträchtlicheres q bey sich führen. Und so
mufs der dritte der obigen vier Sätze vielmehr so gedeutet werden: ein
gröfseres II wird durch die Hülfe gleichförmiger und anhaltender
gehoben; eine schwache Vorstellung hingegen eilt mehr, und
ersetzt für eine kurze Zeit durch ihre Geschwindigkeit den
Mangel der Stärke.
Damit r verschiedene Werthe annehmen möge, oder, damit eine und
dieselbe Vorstellung P sich in verschiedenem Grade mit verschiedenen ver-
bunden finde : kann man voraussetzen, es sey P allmählig gesunken, und
während der Zeit des Sinkens mit mehreren Vorstellungen, die nach ein-
ander ins Bewufstseyn traten, verschmolzen. Es mögen aber auch die
verschiedenen Grade der Hemmung und der Stärke bey gleichzeitigen
Vorstellungen den erwähnten Unterschied hervorgebracht haben. Immer
wird dieses die Folge seyn: Jede der mit verschiedenen Quantis
von P Verbundenen, hat ihre eigne Geschwindigkeit; das
gröfsere Quantum ergiebt die gröfsere, aber auch schneller ab-
nehmende Geschwindigkeit.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. -j 7 t
Unmittelbar aus der angegebenen Differentialgleichuno- ist
rt — IL log.- **—
Es können also 11, p, und tu unverändert bleiben, [294] alsdann
stehen r und t unter einander im umgekehrten Verhältnifs.
Bey spiel: Es habe, wie vorhin, die Vorstellung P eine Stärke = i-
ein Theil von ihr, r =~ sey verschmolzen mit q — - , einem Theile von
II==i; aber ein andrer Theil von P, r =-!, sey verschmolzen mit 0'=— ,
4 t * 2
einem Theile von einer andern Vorstellung TT = 1 ; man sucht m für
r =~ und t—i, desgleichen 10' für r' ==— und t=2. Es findet sich
(o = «>' = 0,196... In dem Zeitpuncte aber, da w' diesen Werth erlangt,
oder für/ = 2, und r = y, ist w= 0,316...
Mit r' = T sey überdies noch verschmolzen q" = 3, ein Theil von
JT" = 4 ; so wird für / = 1 , «)" = o, 1 8 1 8 . . . Aber für t = 2 wird (0 " =
0,352... Vergleicht man w mit w', so sieht man, dafs beyde Gröfsen in
ihrem Laufe einander irgendwo durchkreuzen. Denn für / = r ist w > (»",
aber für t = 2 findet sich w < (»".
Es kann also eine und die nämliche Vorstellung durch
zwey verschiedene Hülfen auf zwey andre Vorstellungen der-
gestalt wirken, dafs von diesen eine, schneller im Bewufstseyn
hervortretende, nach einiger Zeit zurückbleibt hinter der
andern, die Anfangs langsamer hervorgehoben wurde.
§ 87.
Die hervorgehobene Vorstellung wurde bisher als gänzlich passiv be-
trachtet. Diese Ansicht ist immer dann gültig, wann sich die erwähnte
Vorstellung auf ihrem statischen Puncte, also auch, wann sie sich auf der
statischen Schwelle befindet. Denn die Kraft, womit sie von diesem
Puncte sich selbst höher heben möchte, wird völlig aufgewogen durch die
entgegenstehenden Kräfte, mit denen sie sich ins Gleichgewicht gesetzt hat
Welches Widerstreben aber die Hülfe zu überwinden habe, davon bald
ein Mehreres.
Setzen wir hingegen, die hervorgehobene Vorstellung werde zugleich
mit der hebenden von aller Hemmung, [295] oder auch nur von einem
Theile derselben befreyt; sie steige daher mit jener zugleich, aber nicht
blofs durch ihre Hülfe, sondern auch durch eigene Kraft, von der statischen
Schwelle empor : so kann man sehr leicht zu einem Irrthume verleitet
werden, der mich wenigstens lange geblendet, und mir den Zugang zu
einem Hauptpuncte in der Lehre von den Gefühlen versperrt hat.
Es scheint nämlich, man müfste nun zu dem obigen Differential dof
noch dasjenige addiren, welches das Steigen durch eigene Kraft ausdrückt;
also wenn H auf einmal von aller Hemmung frey wäre, folgendermaafsen :
— . {q — 0) dl + (J7 — w) dl = d(o.
Die Folge hiervon wäre, dafs (0 nun geschwinder als sonst, oder
dafs ein gröfseres w in bestimmter Zeit hervorträte.
24*
■\n 2 XL Psychologie als Wissenschalt.
Allein es ist falsch, dafs durch ein Zusammentreffen von Kräften, die
nicht schon zuvor eine Gesammtkraft gebildet haben, die Geschwindigkeit
könnte vermehrt werden. Denn jede von diesen Kräften, sey sie eine
Hülfe, oder eigene Energie der steigenden Vorstellung, hat ihr Zeitmaafs,
in welchem sie wirkt; wie wir dieses aus dem vorigen § kennen. Wenn
nun das, was sie in diesem Zeitmaafse zu vollbringen im Begriff war,
durch eine andre, stärkere Kraft, geschwinder geschieht: so kann sie zum
Mitwirken gar nicht gelangen ; eben weil in jedem Augenblicke ihr Streben
mehr als befriedigt wird. Wirken demnach mehrere solche Kräfte zu-
sammen: so bestimmt die stärkste derselben für sich allein die Ge-
schwindigkeit des Ereignisses; für alle übrigen aber ist eine Befriedigung
ihres Strebens durch glücklichen Zufall vorhanden. Und dieser ihr Zu-
stand mufs im Bewufstseyn eine Bestimmung abgeben, die den Gefühlen
anheim fällt, — ohne Zweifel als ein Lustgefühl, — während in An-
sehung des Vorgestellten sich dadurch nichts verändert.
Wenn nun JT zugleich durch eigne Kraft steigt, in[2q6]dem seinem
Reste o die Hülfe des Restes r von P zukommt: so ist seine eigene Be-
wegung (Falls man nicht r, und folglich P, sehr grofs annimmt), ohne
Zweifel die geschwindeste; und die Hülfe, anstatt hiezu mitzuwirken, wird
der Sitz eines Lustgefühls, dergleichen sich allemal bey rasch fortschreiten-
der und leicht gelingender Thätigkeit einfindet; besonders in solchen Fällen,
wo das im Grofsen geschieht, hundertfach und tausendfach vervielfältigt
was wir hier im Kleinen, als ob nur zwey oder drey Vorstellungen in der
Seele wären, elementarisch untersuchen.
§ 88.
An der Betrachtung des § 86 fehlt noch etwas sehr Nöthiges, näm-
lich die Erwägung des Widerstandes, den die hervorgehobene Vorstellung
finden wird.
Es sey II auf der statischen Schwelle neben den im Bewufstseyn
gegenwärtigen Vorstellungen a und b, so kann es nicht ausbleiben, dafs
eine Hemmungssumme entstehe, indem P auf JT wirkt, und es durch
die Hülfe emporhebt. Diese Hemmungssumme sey = « t» , indem « den
Hemmungsgrad des U gegen a und b bezeichnet (der nach § 52 zu be-
stimmen ist), und 01 seine obige Bedeutung behält. Das Sinken der
Hemmungssumme gleicht jenem im §77, dergestalt, dafs sie verteilt werde,
auf a, b, II, und die Hülfe; dafs aber auch zugleich das Wieder- Auf-
stehen von a und b zu ihrem statischen Puncte (auf welchem sie Anfangs
mögen gewesen seyn), den Verlauf der Hemmung beschleunige.
In wiefern II und die Hülfe zusammen dahin wirken, dafs nicht
II von dem schon erreichten Puncte wieder herabsinke, in so
fern sind sie anzusehn als eine einzige Kraft. Dieselbe heifse VJT, also
\Z7 = H -\- -ff Weil a und b verschmolzen seyn werden, so sind die
Hemmungsverhältnisse für die drey Kräfte \/Z, a, und b, nach § 68 zu
bestimmen. Diese Verhältnisse sind constant, weil die Kräfte es sind; die
[297] Hemmungssumme aber ist veränderlich. Was von TI zu hemmen
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 373
ist, verhalte sich zu dem was a und b zusammengenommen verlieren
müssen, wie m : n ; so sind m und n beständige Gröfsen.
Da die Hemmungssumme = a to, so ist in jedem Augenblicke zu ver-
theilen aadt. Auf JZ komme via«) dt, auf a und b zusammen na«) dt.
Was von a und b aus dem eben angegebenen Grunde nach Verlauf
der Zeit / gehemmt ist, wird = nafiodt. Dies ist eine Kraft, welche
die Hemmung beschleunigt *). Durch sie sinkt in jedem Augenblicke
dt .na/ o) dt. Vertheilt auf Jl, und auf a und b zusammen ergiebt sie,
für jenes, eine Hemmung = md t . na f od t; für diese, eine Hemmung
= ndt . na f «>dt. Es ist also die augenblickliche Hemmung für a und b
zusammen, nicht blofs, wie vorhin angegeben, ==nacodt; sondern dazu
kommt noch ndt .na / «> dt. Folglich ist auch nach Verlauf der Zeit /
die Kraft, wodurch die Hemmung beschleunigt wird, nicht blofs nuf«>dt,
sondern noch darüber n/dt.na/wdt. Auch die letztre Gröfse bewirkt
einen Druck, der zu vertheilen ist; der die Hemmung von a und b ver-
mehren wird ; der eben damit abermals einen Zuwachs an Hemmung er-
geben wird. Sichtbar sind wir hier in einen Cirkel gerathen, der eine
unendliche Menge in einander eingewickelter Integrale ergiebt, welche zu
berechnen ganz unmöglich wäre.
Es ist also, fürs erste wenigstens, nothwendig, Annäherungen und
Gränzbestimmungen zu suchen. Wenn wir annehmen, die Kraft na/otdt
drücke nur blofs auf vi2 allein, so machen wir ohne Zweifel du> zu klein;
alsdann aber vermeiden wir den Zuwachs der Hemmung für a und b, und
wir bekommen eine Rechnung, die sich ausführen läfst. Nehmen wir hin-
gegen Rücksicht auf die Vertheilung, so dafs wegen jener Kraft die augen-
blickliche Hemmung von" FE, = mdt . nufoidt; und ignoriren wir alsdann
den Zuwachs der Hemmung wegen des Druk[298]kes, der auf a und b
fällt: so machen wir dm zu grofs, weil die Hemmung zu klein wird. Der
wahre Werth von da mufs zwischen beyden Gränzen eingeschlossen seyn.
Die Rechnung für beyde Gränzen ist nur Eine, bey welcher ein bestän-
diger Factor zugesetzt und weggelassen wird. Für die erste Gränze ist
die Gleichung
V
(p — «>) dt — m u(o dt — d t f na «t dt = d(o,
r
n
oder nach We^schaffunc; des Integral-Zeichens
— [ — -\- m «) d «> dt — dd(o = na dt2.
Es sev — = P\ und nach der Division mit dt werde für das noch
3 dt r
do)
zurückbleibende dt gesetzt — , so kommt
P
— [ f- ma)pd(') — p d p = n a cod(o.
Durch die Substitution p = ui,i, dp = ud<» -}- «> d u, wird nach gehöriger
*) "Vergleiche § 77.
374 -^-1- Psychologie als Wissenschaft.
Rechnung d(o u d u
(0
n a -j- [ — -j- m a J u -J- z*2
Aus — — =. p =. u (<> ist == w <f /, und folglich
du
dt=
n u -j- | — -|- m a\ n -j- «2
Weil die Gröfsen r, JT, ;«, «, kein vestes Verhältnifs unter einander
haben, ist es im Allgemeinen zweifelhaft, ob dieses Differential durch Loga-
rithmen, oder durch eine Circular - Function integrirt werden müsse. Im
ersten Falle kommt das Integral auf die Form
i u 4- r.
wo i = 2 1/ j-^ -f- maj —na
, I r \ "i / , / r
[299] ö^^+mo^+y^+ma) -na.
dio
]\Ian darf keine Constante beyfügen. Denn u = — j- ist unendlich
für / = o, indem alsdann auch (0 — o; daher verschwinden >y und &
u .
neben 7<r, und log. — ist = o.
u i
Es ergiebt sich nun e — e * = — __ daher
}] — Se — £* d(o
e — et — 1 uidt
r, — & e — £ t d«ß
Demnach . dt = .
e — b t _ ! „> dx
Setzt man e — *i = xi so ist — ee — et dt = dx, also dt = -'
tx
ldx &dx rtdx d~dx
Nunistzuintegriren ; 4 ; -, oder — r .
f x (x — 1) ' t (x — 1) 4 x (1 — x) t(i —x
Weil = 1 , auch rt — $ = — 1 , aus den oben an-
x(i—x) x i — x }]dx
gegebenen Werthen dieser Gröfsen, so wird dies Differential = — —
dx
— ■ , und das Integral
I — x
log. x — , (: _ v) . Const. = log . (o
das heifst x* . (1 — x) . C= o» = * — 7* . r — e — «*) . C
Dritter Abschnitt. Grandlinien der Mechanik des Geistes. 3 7 5
Um hier die Constante zu bestimmen, reicht die Forderung to = o
für / = o nicht zu, denn der Factor 1 — e — et erfüllt dieselbe, was auch C
sevn mag. Allein man gehe zum Differential zurück. Für / = o mufs
rp </w
nicht blofs 10, sondern auch fn and t = o seyn, also ist alsdann —==—-.
Aber aus dem gefundenen Integral ist
,/r„ = C . ( — X * ' </.v (1 — x) — * * dx\
Das erste Glied ist = 0 für t === q, denn es enthält [300] den Factor
1 — x; das zweyte ist = . — Cdx — -\- Cid t. Also 77= £ f = jr
und hieraus C =-=£-. Demnach endlich
ilt
rp
o.» = — - e — vHi — e — *t).
IL 1
Man kann to noch bequemer durch 8 ausdrücken, weil, nach dem
obigen ij -f- 1 = fo Nämlich
'" P Q. ^
„__,-„_, -»0 H
Diese Rechnung gilt der ersten Gränze; sie ergiebt aber auch die
zweyte, wenn man für n setzt mn, und darnach die Werthe von f, >j, #,
abändert; doch ist dies nicht willkührlich, sondern ergiebt sich erst, wenn
man bestimmte Zahlen in die Rechnung einführt.
Aus dem so sehr einfachen Ausdrucke für cö läfst sich überdies mit
leichter Mühe f m d /, ja auch fdt^fio dt finden; und man wird hieraus
die Correcturen beurtheilen können, welche noch anzubringen waren.
Auch ohne genauere Untersuchung läfst sich, allenfalls durch Vergleichung
mit den Differentialen der Linien, Flächen, und Körper wohl vermuthen,
dafs in der Reihe der <o, f w d t, / d tf w d /, u. s. w. immer die nach-
folgenden später als die vorhergehenden einen merklichen Werth erlangen
werden.
Das erste Merkwürdige, was das gefundene Integral uns darbietet,
ist, dafs tu = o sowohl für / = o als für / = ao ; daher wir nach seinem
gröfsten Werthe zu suchen haben. Derselbe tritt ein (wie man durch die
Differentiation findet), für / = ■- log. — . Offenbar eine kurze Zeit, da
* n
& nur wenig gröfser wie »7; und t nicht leicht ein sehr kleiner Bruch
werden kann.
Wenn also eine und dieselbe Vorstellung mehrere andre
hervorhebt, so hat nicht blofs, wie vorhin schon gefunden,
jede der hervorgehobenen ihre eigne Geschwindigkeit, sondern
[301] auch ihren eignen Zeitpunct, da sie im Bewufstseyn ihr
Maximum erreicht. Die Bestätigung durch die innere Erfahrung dringt
sich von selbst auf.
376
XI. Psychologie als Wissenschaft.
Löset man (o in eine Reihe auf, so sind die ersten Glieder:
Da die verschiedenen Potenzen von / eine nach der andern bedeutend
werden, so zeigt sich hier der Anfang der Erhebung von (o. Es be-
stätigen sich die Bemerkungen des § 86 über die Abhängigkeit des «> von
p, r, II. Es verhält sich w gerade wie q (abgerechnet den geringen Ein-
fiufs, welchen g auf die Gröfsen in und ;/ haben kann); und je gröfser — ,
um so gröfser, aber auch um so schneller abnehmend, ist die Geschwindig-
keit, mit der (o hervortritt. Noch ist zu bemerken, dafs co im ersten An-
fang weder von m noch ;;, dann zuvörderst von m, und zuletzt von n ab-
hängig wird; indem n erst bey ß und den folgenden Gliedern Einflufs be-
kommt.
Noch bequemer läfst sich bey dem Werthe von /, der zum Maximum
von (o gehört, die Auflösung in eine Reihe benutzen, um zu sehen, wie
dieser Werth durch die beständigen Gröfsen bestimmt wird. — ■ Man setze
-f [jL 4- »«) =/; also ;; =/— V/2— *«, 0 =/ 4- V/*-»«,
f
3
i +
na
= 2 V/2 — na; — =
=J=, Zog. - =
-tf na
n a\
f2>
+ f(--^ + f(-^ +
f2
& i
+f(--a+vG-3+-
, so ist jener Werth von / = —
Wenn /2 nahe
= n a, so ist sogleich offenbar, dafs die Zeit fürs Maximum, wächst, wenn f,
r
und folglich auch wenn — . abnimmt; und umgekehrt. Es sey nun weiter
n
[302] ~ = ±-, so ist dieselbe Zeit =Y7Ta tr+f-V + f "T +
f +-]-
1,2
ist jene Zeit =
Vna' M
ä
VT
" ri— 4- + 4-
Mna1 J T 5
; aber wenn /" = \ 7z «, ist /
indem /" gewachsen, ist t kleiner geworden. Es sey ferner — =2, so
V««'
n a
also
f +. .... •]•
Die eingeklammerte
Reihe ist aus der Kreisrechnung bekannt; sie ist = — 77 = 0,78
tj = dem Halbkreise für den Halbmesser =
. wenn
1. Also die gesuchte Zeit
=*-p= . 1,1 1 ... daher nun / gröfser geworden, indem f abnahm. So
V 71 a
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 377
r
bestätigt es sich immer, dafs ein gröfseres — schneller, aber auch minder
anhaltend wirkt.
Es sey eine und dieselbe Vorstellung P durch verschiedene
ihrer Reste r, r, r" u. s. w. verschmolzen mit verschiedenen
Vorstellungen II, IT, II" u. s. w. und der Gröfse nach ZT = II'
= FL" u. s. f. auch alle übrigen Umstände gleich: so ist die
Folge der Zeitpuncte, worin II, IT, H", durch die Hülfen zum
Maximum gehoben werden, wie die Folge der Reste r, r, r"
u. s. w. vom gröfsten bis zum kleinsten.
Die Formel für jenes /, woraus wir diesen sehr folgenreichen Satz
gefunden, ist um so brauchbarer, da sie allgemein ist, indem sie die un-
mögliche Wurzelgröfse nicht mehr enthält, welche oben durch die Inte-
gration vermittelst der Logarithmen in dem Falle entsteht, dafsy"2 >• nu.
Nur für u) selbst müssen wir noch auf diesen Fall einen bequemen
Ausdruck suchen. Oben ergab sich
du
— dt =
n u -\- ( — -{- m u j u -\- u2
Im erwähnten Falle kommt das Integral auf folgende Form:
[303] Const. — / = — ang- tang.
4- mu\ -[-
u
WO i
fnu~T\ii+ mu)
also = tang. (Const. — et)
und u = t tang. (C — et) — —(.•==. + mu).
d<o 2\II J
Da u = unendlich für / = o und w = o, so ist C die Zahl,
(od i
welche den Bogen von 90 ° für den Halbmesser == 1 ausdrückt; oder
es ist C = — n in der gewöhnlichen Bedeutung von n. Aber tang. (— n
— tt) = cot. tt; daher wird nun
diu , ! ( r \
— = idt . cot. tt = — — + 7>i u) dt
(o 2 \n ~ J
Es ist cot. e t = und t dt cos. tt = d . sin. 1 1, also
sin. tt
C -\- log. 0) = log. sin. tt — — I— -(- mu) t
in j / r
oder log. -——. = — 4- mu
6 C sin. tt 2 \n '
woraus w == C sin. tt . e V\~Ff ~^~ ma)
?~8 3CL Psychologie als Wissenschaft.
d(0 , .
Die Constante mufs wie vorhin aus -— für t = o bestimmt werden.
dt
Es ist ^w = (o . (tdt cos. tt — (— -j- muj dt)
worin man den gefundenen Werth von i» substituiren mufs. Derselbe ist
= C sin. tt für / = o, weil alsdann die Exponentialgröfse = i. Aber
C sin. tt ist selbst = o für / = o; das Glied also, worin diese Gröfse
keinen ihr gegenübertretenden Divisor antrifft, der zugleich auch = o wird,
mufs wegfallen. Hingegen Cos. t t = ist ein solcher Divisor; da-
° ° ° tang. et
her fmdet sich [^04! doj = edt . = zdt . C cos. tt
LO J tang. et
Da cos. it = i, für / = o, so ist endlich — — = Ct; welches,
dt
den ro '
verglichen mit dem schon bekannten Werthe — — = — , endlich ergiebt
dt IL
ro
C = Jl . Demnach ist nun vollständig
rg
sin. t
t . e \ (— + muj t.
Es kann nur zur Rechnungsprobe dienen, wenn wir auch hieraus die
Zeit für das Maximum von w suchen.
- Aus deo = — ^- (tdt cos. et e—ft — sin. tt e—ft ./dt) = O
wird i cos. tt = f sin. tt; also — = tang. tt, oder tt = ang. tang.
— welches in eine Reihe zu entwickeln ist. So findet sich
/'
T f-2 #4 f6
t = - --LiiJLf Li _j- . . .
f 3 /3 ' 5 fS 7 fl '
Da nun t = V«« — f2, so ist — - = 1/ -
-T^--)+T(^--r-T(^--)3+-.
— — I, und
/2
i
' = 7
wo man nur nöthig hat, statt — f — — ij zu schreiben -f- (i — — j,
um die vollkommene Identität dieses Ausdrucks für t mit jenem vor Augen
i 9-
zu haben, der sich aus dem obigen / = — log. — ergab.
§ 89.
Die Berechnungen des vorigen §, wiewohl nur Gränzbestimmungen,
haben uns die wichtigsten Aufschlüsse, über den Einflufs von r, g, II,
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
379
und über das Maximum, schon gegeben; und es mag scheinen, wir könnten
uns damit für die jetzige Absicht begnügen. AI[305]lein bey einer Unter-
suchung, worauf weiterhin so vieles gebaut werden soll, wäre es mindestens
doch unschicklich, die schon nahe liegende Auflösung des Problems nicht
vollends zu erreichen. Die gefundenen Gränzen sind zu weit aus einander,
als dafs sie für eine Berechnung von <>> gelten könnten; auch die Zeit für
das Maximum ist noch nicht berechnet, denn die Formel dafür erhält
zwey verschiedene Werthe, je nachdem man sie der einen oder der andern
von den Gränzbestimmungen anpafst, die für (<> gemacht sind.
Zu der ursprünglichen Differentialgleichung müssen wir zurückgehen,
und dieselbe genauer als zuvor angeben. Aus den oben bemerkten Grün-
den ist eigentlich
»
r
d<o = — (g — ff;) dt mu.u)dt — mnadt f <odt
.' — mdt . n2u f dt f u>dt — mdt . n^u / dt / dt / (odt
— mdt . »4« f dt f dt / dt / <»dt
und so weiter ins Unendliche.
Man fasse die ersten drey Glieder zusammen; das Integral davon
ergeben die Formeln des vorigen §, wenn in denselben mn statt n gesetzt
wird. Man nehme ferner an (was aus obigen Gründen zu vermuthen, und
was sich sogleich bestätigen wird), das Integral der ersten drey Glieder
sey, besonders für eine kleine Zeit, von o> nicht weit verschieden; man
setze dasselbe statt (o in f dt f < odt; so wird man die Integration des
vierten Gliedes vollführen können, und dadurch eine Verbesserung des
vorigen Werths von ro erhalten. Man verfahre eben so mit den folgenden
Gliedern; man benutze, Falls es nöthig scheint, die schon gefundenen
Verbesserungen jedesmal bey den noch zu suchenden.
Dieses schon oben angedeutete Verfahren, müssen wir jetzt vollziehen,
um zu sehen, wohin es führen möge.
Den, in der Formel [_Ä\ angegebenen Werth von (o lösen wir der
ro
Bequemlichkeit wegen in eine Reihe auf, und setzen -~- = F, so ist [306]
W=^((#-^)/-^(^-tf)*.+ f (5-3_^)/3_^(d4-^)>---)
folglich
fuuit= F[± (fr _ rj) f _ -L (fr* _ f) ,3 + ± (fr3 _ ,3) * _ J. (fr* _ ,,4) /s . .
/ dt /.odt = F [L (fr _ ,,) n - JJ- (fr* - r,*) /4 + 4_ (fr3 _ ,3) fi . .
f dt f dtf ^dt =* F\± (fr - V) * - s (*■ - u2) * + £ (^ - v) '6 ■ ■
/dt J dt/ d}/ mdt = F [£. (fr - n) ft _ 2_ (fr, _ V) fi . .
/ dt / dt/ dt / dt f (odt = F . [-^ (fr — i,) t6 . . | u. s. w.
Die Integrale des vierten, fünften, und sechsten Gliedes von dut sind
also zusammengenommen folgende :
•>3o -^-I- Psychologie als Wissenschaft.
F.
— m n2 u(& — ),) m n2 a ,' . mn2 u
S i't 4 -| (^-2 _ rf) t S - (fr — ?/3) / 1
24 120 720
mn3 a ,„ . mn* u ,„
{? - *,) '5 + -— -(** — f V6 ■ • •
120 720
m »'4 «
(5- _ , ,6 . . .
720
Und dieses ist die ganze Verbesserung für w, Falls man nicht / 7
und noch höhere Potenzen von / in Rechnung bringen will. Denn erstlich,
das siebente Glied von do> ergiebt eine Reihe, die mit ti anfängt. Zwey-
tens, will man f dt fdt fi»t aus sich selbst verbessern, so hat man zu
dem anfänglichen Werthe von o>, noch -/4 und das Folgende,
mit gehörigem Zeichen und Coefficienten hinzuzufügen, und daraus von
neuem fdtfdtfwdt zu suchen; wobey denn aufser dem vorigen Werthe
noch ein Glied erscheinen wird, das P enthält. Daraus ist auf die folgen-
den, dieser ähnlichen, Verbesserungen zu schliefsen.
§ 90.
Um nun den Sinn und die Absicht dieser Rechnungen deutlicher
zu machen, wollen wir ein Bey spiel durchführen. Man wird sehen, dafs
die Formeln, so fem dadurch bestimmte Zahlen gesucht werden, noch sehr
unvollkommen, aber für unsem Zweck, das Gesetz eines psychologischen
Ereignisses im Allgemeinen kennen zu lernen, mehr als hinreichend sind.
Gemäfs der Voraussetzung des § 88 soll TL auf [307] oder unter der
statischen Schwelle seyn neben a und b. Es sey demnach a = t> = 1 ,
und TL = 0,7. Auch ;-=p=— . Daraus ergiebt sich 'TT = TT -\- — —
1,05714. Die Hemmungsverhältnisse, also m und n, sollen nach § 68;
oder, wenn wir « = 1 setzen , indem zugleich nur a und b unter sich,
nicht aber mit %_Z7 verschmolzen sind, nach § 69, bestimmt werden. Dem-
nach wird w = 0,42496; »=i — m = 0,57504; nm = 0,24437.
Nun theilt sich die Rechnung; denn es giebt für sie zwey Wege.
Es ist -M •= + *»«)=/= 0,56962, also/2 = 0,3 2 446. Folglich/ >nm
und<«; daher die Wurzelgröfse V7T ~n im ersten Falle, nachdem nm
für n gesetzt worden, möglich, im andern, wo n allein stehn bleibt, un-
möglich. Der erste Fall gehört für die Formel A, der zweyte für die
Formel B. Wir müssen also beym Gebrauch der ersten Formel überall
m n für ti setzen.
Man weifs aus den Entwicklungen des § 88, dafs, wenn n stehn
bleibt, d(o zu klein gemacht wird; oder, was dasselbe sagt, dafs wir uns
alsdann die Hemmung, gegen welche die zu reproducirende Vorstellung
aufsteigen mufs, ein wenig gröfser denken, wie sie wirklich ist. Diese An-
nahme giebt die leichteste Rechnung; man wird wohl thun, sie zuerst zu
brauchen, um gleichsam den Umrifs des psychologischen Ereignisses zu
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 3 8 1
erhalten. Es findet sich für diesen Fall e — 0,50058. Daher aus tt =
t
ang. fang. —
die Zeit des Maximum = 1,4403
hieraus das Maximum selbst =0,20734.
Ferner wird in der Formel B, o> = o für <-/= n, wo n wie gewöhnlich,
den Bogen von 1800 bedeutet. Hieraus ergiebt sich
für 0 = o, / = 6,276.
Will man nun noch dem Steigen und Sinken des 10 [308] genauer zu-
sehn, so kann man dasselbe für willkührliche Werthe von / berechnen. Z. B.
für / = 1 findet sich rr> = 6,19374
„ 1,4403 hatten wir «> = 0,20734
„ 2 wird «)== 0,19231
3 „ «« = 0,12889
4 „ « = 0,06638
5 „ « = 0,02465
6 „ w = 0,00322.
Allein dies ist nur die erste Gränzbestimmung. Denken wir uns die
Hemmung kleiner, so werden wir gezwungen, die erste Formel A, sammt
ihrer Verbesserung im § 89, anzuwenden. Für die Zahlen unseres Bey-
spiels wird
(A) 10 = 0,63 105 (e — 0,28664 t — e — o 85260 t)
und die Verbesserung = — 0,00269 /+ -f- 0,00023 /s — 0,00005 /5.
Hieraus ergiebt sich z. B. für t = T, «0 = 0,20286
„ /= 1,4403, w= 0,22481
w / = 3 « = 0,06908.
Nach dieser Rechnung steigt also ro etwas höher, und sinkt etwas
schneller als nach der vorigen. Man darf sich darüber nicht wundern,
denn die Integrale f adt, fdt ftadt u. s. w., wodurch «> in den spätem
Zeittheilen vermindert wird, müssen wachsen, wenn w Anfangs gröfser ge-
nommen war.
Diese zweyte Rechnung ist nun der Wahrheit näher als die erste ;
aber sie läfst sich nicht füglich so ausführen, dafs man den Zeitpunct fürs
Maximum und für w = o mit Genauigkeit angeben könnte. Daran ist
nun auch für jetzt wenig gelegen, genug, wenn wir wissen, dafs es für die
reproducirte Vorstellung ein, von der Stärke der Vorstellungen, dem Grade
ihrer Verbindung und Hemmung abhängendes Maximum giebt, und dafs
sie, nachdem es erreicht worden, ungefähr noch einmal so viel Zeit braucht,
um wieder völlig zu sinken. Aber für die Zukunft können wir nicht be-
stimmen, was in Dingen dieser Art wichtig oder unwichtig sey ; denn oft
ist Beach[309]tung der kleinsten Umstände nöthig, um die Wahrheit zu
finden. Daher will ich die Untersuchung noch einen Schritt weiter führen.
§ 91-
Auf unser Problem pafst in grofser Allgemeinheit eine Methode,
welche Euler lehrt in den institutt. calc. integralis Vol. IL See/. 2. cap. 2.
Wir wollen uns indessen begnügen, das Verfahren an einer Differential-
382 XI. Psychologie als "Wissenschaft.
gleichung des dritten Grades zu üben; da wir von jener, im § 89 aus-
einandergesetzten Formel für dco, so viel Glieder nehmen können als wir
wollen. Denn ungeachtet die Methode schön ist durch ihre Einfachheit,
so wird bey hohem Graden die Anwendung doch beschwerlich; theils
wegen der Auflösung einer höhern Gleichung, theils besonders wegen der
Bestimmung vieler Constanten.
Es sey aus § 89
r
du = — (g — co) dt — mawdt — vinadt fw dt — mrß adtfdtfn dt.
Das Uebrige lassen wir weg, um nicht über das dritte Differential
hinauszugehn. Es wird nämlich hieraus
eß(o= - — ■ (-^--f- ?««] d2(odt — mn&dt2 . d(t, — mn2udt3 . co
d(o d2 co
oder wenn — = p, = q,
dt F dt2 *
■ (r , \ , di°>
mn2 a co -j- mnu.p -j- I— -\-mu\ q -j- — — = o.
Dieser Gleichung genügt die Form (o = e *-t ; daraus nämlich wird
d$(t>
p = le'-t; q = X2 et- 1- . — _ = }.3e^t. Die Substitution dieser Werthe, nebst
dt*
der Division der Gleichung durch e^t giebt
mn 2u-j- m n u). -\- \y?~\~ ma) >- 2-f- ^ 3= o.
Jede der drey "Wurzeln dieser Gleichung kann zur Bestimmung von
Ä dienen; doch jede einzeln würde nur ein particujäres Integral geben.
Allein sie lassen sich auch alle drey verbinden. Es seyen die Wurzeln
= a°, /.', ).", [310] so genügen der Gleichung die für w zu setzenden
Werthe e^°t; e''-'t\ e'-"t-y aber auch der Werth
(o = Aetet -f Bel't _L Ce^'t,
indem aus der Natur der aufgegebenen Gleichung klar ist, dafs, Falls die
aus den drey Bedeutungen von ). entspringenden Werthe oj = P, «j = Q,
(• = R, einzeln genommen, derselben angemessen sind, dann auch gesetzt
werden könne
at = AP+£Q+ CR.
Es entsteht nämlich alsdann eine Summe dreyer Gleichungen, deren
jede für sich, daher auch ihre Summe = o ist.
So entspringt hier aus dreyen particulären Integralen das vollständige;
zu erkennen an den drey willkührlichen Constanten, deren gerade so viele
zu einer Differential-Gleichung des dritten Grades gehören.
Hat die cubische Gleichung für Ä zwey unmögliche Wurzeln, so mufs
die Form der daraus entspringenden Glieder um etwas abgeändert werden.
Es sey X' = p -|- v V — 1 und folglich /." = /li — v \ — 1 so ist
Be%t-\- Ce^'t=^ef-t{Bevt Y — ■ 1 -|- Ce — vt V~T).
Es ist Bevt% — 1 =B cos. vt -f- B sin. vt V— 1
und Ce vt V — 1 = Ccos. vt — C sin. vt V — 1.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ^8^
Die Constanten B und C sind noch unbestimmt. Man nehme an
es sey 2 B = B' —J^t^l ; 2 C=B' + C VZT7; so ist B+C=B'\
B—C=— C V— 1 ; und BeXt + CeV't = eut (# cos, r/_|. q' sin. vt).
Man kann die neuen Constanten abermals verändern. Es sey
B' = B" sin. ff, C' = B" cos. ff, so folgt :
Belt-\- Cel"t= eiit.B" sin. (ff + vt)
demnach m = Ae^°t-\- ep* . B" sin. (ff -f vt) [C].
„ dir) d2 (0
Die Constanten A, B , <y>, müssen aus a , — , für / = o be-
' dt dt2
stimmt werden. Alsdann nämlich ist aus der gegebenen Gleichung
d(< ro d2 m l r \ rQ
' dt 11 dt2 [11 j n
[311] Aber aus der eben gefundenen ist alsdann
(o = A -f- B" sin. ff ;
d (1) . ., ,,
— = 1° AeWt 4. pept . B sin. (ff -f- vt) -j- ef-t . ß v cos. r(fl _|_ vt)
verwandelt sich alsdann in
d(<> ,, .,
— = X°A -\- fiB sin. (j -f- v B cos. ff
und endlich
_ ^ = )°'Ael°t + fi2e^t . ß" sin. (ff -\- vt) -f p e/it . B" v cos. (ff ~j- vi)
— ept . B" v2 sin. (ff. -f- vi) -(- fiept . ß" v cos. (ff ■{- vt)
geht über in
— ™ = ;k°2 .4 -J- (/< 2 -f- j'2 ) .5" sin. (f -f- 2/1 vB" cos. (f
Also haben wir die drey Gleichungen
o = A -\- B" sin. (f
a' = jj.= X°A + 11 B" sin. ff -f vB" cos. ff
b' =-- — (-- -f n a j^| = Ä°2 ,4 -f (,«2 — r2) ,5" «». </ -f- 2 /< r^"" «w. ff
2fia — b' „ .
woraus ; ; — - =-- B sin. q< = — .4
y.°2 -|- ,u2 -f v2 — 2 /m a° '
b v — 2/1 va
—r~, : ; TT-, ;— r s== tan (f. <i
a (112 — A°2 — v2 ) — b (fi — A°) ö '
—A-=B".
sin. ff
Angewandt auf das obige Beyspiel, ist 1 zu suchen aus der Geichung
0,14055 + 0,2444 * + M392 l2 + *3 ~ o.
Die mögliche Wurzel ist nahe == — 1,03375 = Ä°
die beyden unmöglichen sind = — 0,05272 -j- o, 36420. V - — 1
also (.1 = — 0,05272, und v = 0,36420.
Es findet sich A = — 0,33682
'/ = 77° 5o' 45"
184 -^-k Psychologie als Wissenschaft.
arc. ff = 1,35866
.£" = 0,34454
demnach
<o = — 0,33682 e — I'°337S t _j_ 0,34454 e ~ 0<°M2 t . sin. ( 1 ,35866 + 0,3642 /)
Für / = 1 ergiebt sich hieraus ta = 0,2032 . . . wozu [312] man aus § 89
Fmtäu
die Verbesserung - (ir — //)/5 etc. nehmen mufs (denn die obere
Reihe der Verbesserung ist jetzt in der Formel schon inbegriffen), um den
Werth ff> = 0,202g zu erhalten, der oben schon gefunden wurde.
Für das Maximum und für ro = o die Zeit zu finden, ist wegen der
Verwickelung transcendenter Gröfsen in u) und d(o, nicht ganz leicht. Man
kann jedoch entweder durch Versuche, oder nach Anleitung der obigen
Formeln, und der aus ihnen gefolgerten für den Zeitpunct des Maximum,
sich der Bestimmung der erwähnten Zeiten nähern, und alsdann mit Hülfe
des Taylor'schen Lehrsatzes die Näherung weiter treiben.
Was die Zeit fürs Maximum anlangt: so suche man im Beyspiele
zuerst 0 für ^=1,5; wegen der Angabe im § 90. Es findet sich
^ = 0,2264; etwas gröfser als nach der obigen Berechnung; obgleich
von der Verbesserung nach § 89 das erste Glied mit zugezogen ist.
dw ....
Ferner gehört zu diesem Zeitpuncte — - = -\- 0,0 103.., also ist hier das
dt
Maximum noch nicht erreicht. Nimmt man nun von der Reihe des
Taylorschen Satzes nur die ersten beyden Glieder, und setzt — =p =ft,
den Zuwachs der Zeit bis zum Maximum aber = / , so kommt
dp
dt'
f (t + /) == o =p + t' . -?, also
dt
'=-p-TP'
woraus /' = 0,075... a'so die ganze Zeit bis zum Maximum = 1,575 •• •
Dafür wird n> = 0,2268. Es würde leicht seyn, aus mehrern Gliedern
der Taylorschen Reihe ein genaueres Resultat zu erhalten ; hier kam es
nur auf kurze Bezeichnung einer brauchbaren Methode an.
Um den fernem Gang der Gröfse (<> kennen zu lernen, insbesondere
um zu sehen, ob sie eben so schnell abnehme, als sie zunahm, ver-
doppeln wir die eben gefundene Zeit, und suchen to für / = 3,i5. Es
findet sich [313] w = o,n ... Also hat es noch ungefähr die Hälfte
seines gröfsten Werthes.
Allein jetzt ist es in einem schnellern Abnehmen begriffen. Durch
Versuche findet man es = o ungefähr für / = 3,7 . . mit welcher An-
gabe wir uns hier begnügen können. Eine genaue Bestimmung dieses
Zeitpuncts wird immer mühsam bleiben.
§ 92.
Was von a und b zusammengenommen -gehemmt wird, das läfst sich,
nach § 88 so ausdrücken :
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 285
na f (»dt -\- n2a f dt f (»dt -j-«3« f dt f dt / (»dt etc.
Fragt man nach dem Maximum dieser Gröfse : so ist offenbar, dafs das
Differential des ersten Gliedes = o ist für 10 = o , dafs aber alsdann die
übrigen Glieder ihr Maximum noch nicht erreicht haben. Also bis <o = o
wächst die Hemmung von a und b immer fort. Hier aber ist sie wirk-
lich am gröfsten, weil hier die Bedeutung der Formel aufhört, indem (»
nicht negativ werden kann. — ■ Auch ohne Formel folgt es so aus der
Natur der Sache. Die hemmenden Vorstellungen, indem sie schon m
zum Sinken bringen, müssen doch auch allemal ihren Theil von der vor-
handenen Hemmungssumme übernehmen. Nur erst, nachdem diese ver-
schwunden, das heifst hier, nachdem <» wieder den Nullpunct erreicht
hat, können und müssen jene sich erheben.
Jetzt aber erhält auch die Bestrebung der Hülfe, wodurch (» gehoben
wurde, wiederum ihre ganze Spannung, indem sie nun so unbefriedigt ist,
wie zu Anfang. Es kommt daher wirklich, Falls nicht veränderte Um-
stände eintreten, zu einer Art von Oscillation, wie es die Formeln für w
andeuten. Eine kleine Zeit muis verfliefsen, während welcher 10 auf der
Schwelle bleibt, weil die Gewalt, womit es dahin gebracht ist, und durch
die es noch tiefer hätte sinken sollen, nicht eher nachlassen kann, als bis
a und b sich wieder etwas erhoben haben. In dieser Zeit wird das
helfende P, auf welches ein Theil der Hemmung fällt, der schon vor-
handenen, nur nicht [314] plötzlich befolgten, Nöthigung zum Sinken, noch
fortdauernd nachgeben. Aber bald mufs der Moment eintreten, wo P
gespannt genug, a und b nachgiebig genug sind, damit w wieder gehoben
werden könne. Es mufs jetzt abermals eine endliche Gröfse im Bewufst-
seyn erreichen, denn nicht anders kann es als Hemmungssumme einen
neuen endlichen Widerstand finden, durch den es wieder zum Sinken ge-
bracht werde. Doch wird es nicht so hoch steigen wie das erstemal,
weil es sich jetzo während einer noch vorhandenen Spannung der wider-
strebenden Kräfte erhoben hat. So weit ungefähr mögen die Conjecturen
reichen, die man hier ohne Berechnung wagen darf. * —
Wir sollten jetzo untersuchen, was erfolgen müsse, wenn mit einer
Vorstellung P, sich mehrere, 7T, IT, IT" u. s. w. verschmolzen finden, ja
auch wenn diese unter einander verbunden sind; oder, wenn IL' nicht
mit P, wohl aber mit IT verbunden ist, u. dgl. Allein statt dessen müssen
wir vielmehr in dem Geschaffte, zu neuen psychologischen Untersuchungen
den Grund zu legen, fortfahren.
Nur eine Bemerkung, welche bey den eben angedeuteten Unter-
suchungen, und noch bey manchen andern in Betracht kommen wird, soll
hier anhangsweise eine Stelle finden.
§ 93'
Mehrere Vorstellungen, die durch verschiedene Ursachen zur Schwelle
gesunken waren, können entweder durch die Wirkung den Verschmelzungs-
* Diese Untersuchungen mögen Andre fortsetzen. Sie können sehr wichtig wer-
den in Hinsicht auf Alles, was sich mit zwischenfallendcn Pausen im Gemüthe gleich-
mäfsig wiederhohlt ; auf die Stöfse erneuerter Anstrengung ; desgleichen auf Hebung und
Senkung in der Metrik und Musik.
Herbart's Werke. V. 25
-g(j XI. Psychologie als Wissenschaft.
o
und Complications-Hülfen, oder weil sie zugleich frey von einer Hem-
[3i5]mung werden, gleichzeitig wieder ins Bewufstseyn hervortreten. Man
würde sich irren, wenn man die Hemmung, welche sie jetzo wider einander
ausüben, nach den ersten Grundsätzen der Statik ermessen wollte. Dieselbe
ist beträchtlich kleiner; denn die Hemmungssumme entsteht jetzt nur all-
mählig durch das Steigen der entgegengesetzten Vorstellungen, während
sie bey solchen, die zugleich aus dem ungehemmten Zustande sinken,
gleich Anfangs vollständig vorhanden ist, und ihre volle Wirkung äufsert.
Eine ganz kurze Berechnung für zwey Vorstellungen, die mit einander
steigen, kann dies genugsam erläutern.
Dieselben seyen a und b; was von ihnen hervorgetreten, heifse «
und ß ; der Hemmungsgrad sey = m. So ist, wenn a > b, die Hem-
mungssumme nach Verlauf der Zeit /, oder S, = mß. Davon sinkt im
. . . bmßdt
Zeittheilchen dt der Theil »iß dt; und dieser ist zu zerlegen in — - — -,
a -\- b
amßdt , . ' '.' .. ',
welches von a, und in — - — -, welches von /; gehemmt wird. JNun würde
a -j- b
ohne Hemmung das Steigen von b ausgedrückt durch dß = (b — ß)dt;
also mit der Hemmuno:
amßs
*ö
/ a»iji\
, b 7 \ . am
woraus 8 -— — i — e — **] wenn /. = i A -— .
x \ / a-\-ö
Also ß nähert sich der Gränze — . Es sey m=i, a = b, so ist
/. = i -| -, und b und a können zusammen steigen bis zu — ihres
Werths. Eben diese Vorstellungen, wenn sie aus dem ungehemmten Zu-
stande mit einander sinken, müssen sich hemmen bis zur Hälfte ihres
Werths. Der Unterschied, der sich hier zeigt, ist besonders merkwürdig
wegen der innigem Verschmelzung, die aus dem gemeinschaftlichen Steigen
hervorgehn . mufs. Man denke an den Werth häufiger Wiederhohlung beym
Lernen, erneuerter Versuche im Forschen; und ganz be [3 1 6] sonders an
den Unterschied der spätem und der frühern Jahre in Ansehung dessen,
was oftmals wiederkehrend bearbeitet wird.
Fünftes Capitel.
Vom zeitlichen Entstehen der Vorstellungen.
§ 94-
Es mag scheinen, dafs dieses Capitel hätte das erste dieses Ab-
schnitts seyn sollen ; indem die Vorstellungen erst entstehen müssen, ehe
sie da seyn können. Aber es wird sich bald zeigen, wie schwierig die
vorstehenden Untersuchungen ausgefallen wären, wenn wir in ihre Vor-
aussetzungen den zeitlichen Ursprung der Vorstellungen aufgenommen hätten.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ^87
Der Gegenstand, den wir jetzt auffassen, gehört zunächst der all-
gemeinen Metaphysik. Man wolle zuvörderst das dritte Capitel des ersten
Abschnitts wieder nachlesen; an dessen Ende der Satz vorkam, dafs die
Vorstellungen nichts anderes sind als Selbsterhaltungen der Seele in ihrem
eignen Wesen; wobey denn die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen von
der Mannigfaltigkeit der Störungen herrührt, welchen die Seele in jeder
Selbsterhaltung widersteht.
An den Begriff der Störung knüpft sich in der allgemeinen Meta-
physik der Begriff des Zusammen ; welches ein unvollkommenes seyn kann,
und alsdann Grade hat, die auf das vollkommene Zusammen wie Brüche
auf die Einheit müssen bezogen werden.
Dem vollkommenen Zusammen entspricht die vollkommene Störung
und die vollkommene Selbsterhaltung, — welche letztere hier eine Vor-
stellung im Maximum der Stärke seyn würde, dergleichen sich in der Er-
fahrung [317] nicht nachweisen läfst. Gleichwohl, indem die Grade des Zu-
sammen auf Grade der Störung und auf Grade der Selbsterhaltung hin-
deuten, mufs das Maximum der Stärke, die eine Vorstellung erhalten
könnte, als die ideale Einheit angesehen werden, wovon jedes wirkliche
Vorstellen ein Bruch ist.
Wie die Seele gestört, und dadurch zu Vorstellungen gebracht werde,
ist nicht blofs eine einfache metaphysische, sondern zugleich eine höchst
verwickelte physiologische Frage, über welche ich an diesem Orte gänzlich
schweigen mufs.
Hier aber bemerke man vorzüglich, dafs einmal gebildete Vor-
stellungen in der Seele bleiben (sonst könnte, nach den obigen Unter-
suchungen, nimmermehr ein Selbstbewufstseyn zu Stande kommen); dafs
also, wenn eine gewisse Störung eine Zeitlang dauert, alsdann
das in jedem Augenblick neu entstehende Vorstellen sich an-
sammelt, demnach ein Integral ergiebt, woran das augenblicklich erzeugte
Vorstellen das Differential ist.
Dies Differential nun wäre constant, und sein Integral verhielte sich
gerade wie die Zeit, wenn die augenblickliche Zunahme des Vorstellens
sich immer gleich bliebe. Alsdann aber ginge das ganze Quantum des an-
zusammelnden Vorstellens ins Unendliche,, so wie die Zeit.
Giebt es hingegen ein Maximum der möglichen Stärke für jede Vor-
stellung, so sieht man auf den ersten Blick, dafs die augenblickliche Zu-
nahme, oder jenes Differential, sich verhalten mufs wie die Entfernung vom
Maximum. Alsdann nämlich ist ursprünglich die Möglichkeit, eine solche
Vorstellung zu erzeugen, eine endliche Gröfse; und diese Möglichkeit
nimmt um eben so viel ab, als wieviel das Quantum des schon erzeugten
Vorstellens der nämlichen Art, beträgt. Wir werden dieselbe mit dem
Namen der Empfänglichkeit bezeichnen. Sie sey ursprünglich = <f ;
und folglich 7 eine Constante; im [318] Laufe der Zeit / werde erzeugt ein
Quantum des Vorstellens = z, so. beträgt am Ende von t die Empfäng-
lichkeit noch ff — z. Ferner die Stärke der Störung sey = ß (hiebey
denke man sich die Stärke, mit der ein sinnlicher Eindruck gegeben wird,
also die Helligkeit einer Farbe, die Intensität eines Geruchs, eines Ge-
25*
^yg XI. Psychologie als Wissenschaft.
schmacks, eines Tons); auch bleibe ß der Kürze wegen unverändert: so
haben wir die Gleichung
ß (ff — z) dt = dz
woraus z = ff (i — e — ßt)
In unendlicher Zeit wird z= <p} oder erreicht das fortdauernd an-
wachsende Vorstellen sein Maximum.
Ungeachtet der physiologischen Dunkelheiten der sinnlichen Wahr-
nehmung werden wir die eben gefundene Formel ferner zum Grunde
legen. Sie enthält das einfachste Gesetz über den Anwachs eines gleich-
artigen Vorstellens während der Dauer einer sinnlichen Affection, was wir
annehmen können, wenn wir nicht diesen Anwachs der Zeit proportional
glauben wollen. Dem widerspricht aber, nicht blofs der allgemein - meta-
physische Grundsatz, dafs in jedem Wesen jede Selbsterhaltung, die aus
dem vollkommenen Zusammen dieses Wesens mit einem andern Wesen
hervorgeht, anzusehen ist als die Einheit und zugleich als das Maximum,
wonach die minderen Selbsterhaltungen beym unvollkommnen Zusammen
der nämlichen Wesen, abzumessen sind: — - sondern auch die Erfahrung;
welcher gemäfs, erstlich, zwar jede Wahrnehmung eine kleine Zeit erfordert,
wenn das durch sie gewonnene Vorstellen einen endlichen Grad von Stärke
unter den übrigen Vorstellungen erlangen soll; aber auch zweytens, eine
Wahrnehmung, über eine gewisse mälsige Zeit hinaus ver-
längert, keinen Gewinn für die dadurch entstandene Stärke des
Vorstellens mehr spüren läfst. Beydes wird man durch die eben
gefundene Formel ausgedrückt finden. — Man bemerke noch, dafs aus
derselben [3 1 9] die Stärke des augenblicklichen Anwachses des Vorstellens oder
dz
§ 95-
Aus dem Vorigen versteht sich von selbst, dafs eine Vorstellung, die
nicht gerade die erste ihrer Classe ist, für das vorstellende Wesen, schon
andere entgegengesetzte im Bewufstseyn antreffen wird; und dafs sie von
der Hemmung durch dieselben zu leiden hat, schon während der Zeit
ihrer allmähligen Erzeugung. Dieses ergiebt die wichtige Folge, dafs die
successiv erzeugten Elemente des Vorstellens nicht vollständig
verschmelzen können; dafs also die aus ihnen entspringende
Totalkraft bey weitem nicht gleich kommt der ganzen Summe
des Vorstellens.
Und hiemit haben wir nun den Gegenstand unsrer nächsten Unter-
suchung. Es fragt sich nämlich: wie grofs ist am Ende der Zeit / der
eigentliche Gewinn der Wahrnehmung, die aus den unendlich kleinen Ele-
menten erwachsene endliche Stärke der gegebenen Vorstellung? — Um
dieses zu beantworten, müssen wir vor Allem den Verlauf der Hemmung
des Wahrgenommenen während der Wahrnehmung, näher betrachten.
Zunächst ist die veränderliche Hemmungssuinme zu bestimmen. Die-
selbe sey = >', so nimmt sie im Zeittheilchen d/, wegen der wirklichen
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 3&9
Hemmung ab um vdt. Sie nimmt aber auch zu um n ß (p e — ß( dt, wenn
7i der Hemmungsgrad des Wahrgenommenen gegen die schon vorhan-
denen Vorstellungen. Denn ßqe—ßt ist die Stärke des augenblicklichen
Anwachsens (§ 94), und es ist kein Zweifel, dafs die erst entstehende
Vorstellung, welche, Anfangs wenigstens, die schwächste von allen ist, selbst
mit in die Hemmungssumme eingehe; obgleich dieses weiterhin sich ändern
kann. (Man vergleiche § 52.) Demnach
[320] di'=nß(fe~ ß*dt _ vdt
woraus v = -^-^ e~ ?f + Ce ~ *.
1 — ß
Es können nun die früher im Bewufstseyn vorhandenen Vorstellungen
beym Anfange der Wahrnehmung noch von ihrem statischen Puncte um
etwas entfernt seyn*; alsdann ist für / = o nicht v = o, sondern v = S,
wo ^ den Rest bedeutet, der von einer früheren Hemmungssumme
noch vorhanden ist. Folglich
S~T^ß+C
und ,= ±I^.e-fl' + (S-^L)
1 — ß \ 1 —<f)
e-ßt_e-t
Nur für ß = 1 ist = — , daher
' 1 — ß °
alsdann v = n ß q t e t -\- Se ~ t.
Das Hemmungsverhältnifs ist ebenfalls veränderlich; und zwar, wenn
man die Sache genau nehmen will, auf eine höchst verwickelte Weise.
Denn erstlich: die frühem Vorstellungen, noch in gegenseitiger Hemmung
begriffen, sind in einem Mittelzustande angefangener und noch nicht vollen-
deter Verschmelzung. (Vergl. §§ 68, 69 und 76.) Zweytens: diese Ver-
schmelzung wird aufgehalten, und selbst vermindert, durch die hinzu-
kommende Wahrnehmung, welche den Conflict vermehrt. Drittens: das
Wahrgenommene ist eine veränderliche Kraft, die gegen d.ie Hemmung
einen veränderlichen Widerstand leistet.
Unsre Aufmerksamkeit ist jedoch hier nur auf den letzten Umstand
gerichtet; daher wir jene beyden ganz ignoriren, welches um so eher er-
laubt ist, weil statt der schon geschehenen Verschmelzung die vorhandenen
Vorstellungen etwas gröfser mögen gedacht werden; die während der Wahr-
nehmung noch zunehmende Verschmeiß 2 ijzung aber kaum bedeutend
seyn kann, eben wegen des vermehrten Conflicts.
Bey nahe stehenden Vorstellungen hätten wir auch noch die Ver-
schmelzung vor der Hemmung in Betracht zu ziehn (§ J2). Allein wir
können gröfsere Hemmungsgrade voraussetzen, um auch diesen Umstand
zu beseitigen.
* Dieses ist genau genommen immer der Fall, weil niemals die Hemmungssummen
ganz sinken. Vergl. § 74.
^QO XL Psychologie als Wissenschaft.
Da wir nun blofs den veränderlichen Widerstand des Wahrgenommenen
ins Auge fassen: so sey die Kraft, welche dasselbe dem Druck der
Hemmungssumme entgegensetzt, vorläufig = x; alsdann läfst sich der Bruch,
welcher das von dem Wahrgenommenen zu hemmende Quotum bezeichnet,
c
durch — — ausdrücken, wenn c und c ein paar Constanten sind, die
ex -\- c
man aus den frühem Vorstellungen und den zugehörigen Hemmungsgraden
herleiten mufs. (Man vergleiche § 54, und daselbst für drey Vorstellungen
die Formel, welche das Gehemmte der schwächsten Vorstellung anzeigt.
Dieses ist = ; ,— , das dortige ab fr heifse hier V, das
bei -\- ac rt -j- ab fr
dortige be-\-arp womit die schwächste Vorstellung, dort c, hier x, multi-
plicirt ist, — wird jetzo durch c bezeichnet.)
Nun aber tritt die gröfste Schwierigkeit hervor. Was soll x seyn?
Es wäre = z oder = q> ( 1 — e~ ^ 0 , wenn am Ende der Zeit / alles
während derselben Gegebene als eine Gesammtkraft wirken, und sich der
Hemmung widersetzen könnte. Aber die Hemmung hat vom Anfang an
das Wahrgenommene verdunkelt; sie hat nur eine mangelhafte Verschmel-
zung des später mit dem früher gegebenen gestattet. Hätte sie jedes
Element des Vorstellens, so wie es erzeugt war, auch vollständig auf die
Schwelle des Bewufstseyns niederdrücken können, so wäre gar kein Wider-
stand vorhanden, denn die Summe aller vereinzelten, unendlich kleinen
Elemente, vermag gar nichts wider die vorhandenen endlichen Kräfte.
Irgend etwas von Totalkräften mufs durch Verschmelzung jener [322]
Elemente gebildet worden seyn. Aber wiederum nicht Eine Total-
kraft; denn auch was schon verschmolzen war zu einer endlichen
Gröfse, das mufste dennoch fortdauernd sinken, wenn schon während des
Sinkens noch in stets vermindertem Grade verschmelzend mit dem Nach-
folgenden.
Wir nehmen hier zu Gränzbestimmungen unsere Zuflucht. Nämlich x
ist kleiner als z, aber gröfser als z — Z, wenn Z das Gehemmte vom
Wahrgenommenen am Ende der Zeit / bedeutet. Es wäre x = z — Z,
wenn blofs z — Z verschmolzen wäre, und eine Totalkraft gebildet hätte.
Wegen der vor Ablauf der Zeit / schon zu Stande gekommenen, aber
unter sich nicht vollkommen vereinigten endlichen Kräfte, die einen eben
so unvollkommen concentrirten Widerstand gegen die Hemmung leisten,
mufs x etwas gröfser seyn, denn es soll sie alle repräsentiren. Indessen
ist offenbar die Voraussetzung x = z — Z weniger unrichtig als x = z.
Nun würde die letztere Annahme geben:
V v dt
hingegen die erstere giebt
■■ + '
V vdt
= dZ
= dZ
c(z — Z)-\-\
das heifst Vr d t = ezd Z — cZd Z + \d Z.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. tqi
\rdt
Nun läfst sich zwar r-r- =■ d Z am leichtesten integriren; allein
cz-\- i °
bey der minder richtigen Annahme wollen wir uns hier gar nicht auf-
halten. *
Die Differential -Gleichung könnte Glied für Glied integrirt werden,
wenn nicht czdZ bey gehöriger Substi[323]tution sich verwandelte in
(fdZ = cq>e — ßf dZ, in welchem letztern Gliede die veränderlichen
Gröisen vermengt sind.
Verlangt man keine grofse Genauigkeit (dergleichen die Rechnung
ihrer ganzen Anlage nach nicht zuläfst), so kann man in cye — ßt d Z an-
"cvdt
statt d Z setzen
c z -j- V
Folgendes ist alsdann der Gang der Rechnung.
_ a f c v dt
Erstlich mufs man cue " . - — -— integriren. Durch Substitution
' cz-\- c
der Werthe für v und z entsteht hieraus
c n S(i e-2Pfdt . \ l—ß
c<r • — ~ ■ — ; zrtir — + c<p
i—ß c(f(i —e-ßf)-\-'c c<p{i--e — P*)'+\
— d*'
Es sev e — ßt = x, woraus dt === — - ; so folgt
1 ßx
e~2ßtdt — xdx — xdx
wenn r =
cq> + "c'
Das Integral, so genommen, dafs es für t = o verschwinde, ist
(c<p -f 7)_l r ' r2 * r—il
femer
ß
1
e>-(i + ß)*dt -xJdx
Cfp^j _>-£') _|_V ß ■ («f +V0 (1 -->'xj
Hier mufs für ß ein Werth in Zahlen angenommen werden. Es sey
ß = — . So wird das Integral
2
C(P ~\~ c
2 — 1 x — 1 1 rx — 1
2 r ' r2 ' r3 ö r — I
* Schon im dritten Heft des Königsberger Archiv für Philosophie u. s. w. habe
ich die gegenwärtige Aufgabe behandelt, und dort die Rechnungen ausführlicher als liier
dargestellt, auch einige Erörterungen und Folgerungen umständlicher entwickelt; indessen
wolle man lieber die neue Bearbeitung in der Abhandlung: de attrntionis »nnsur«,
vergleichen.
39;
XI. Psychologie als Wissenschaft.
Nach dieser Vorbereitung nehme man die ganze vorgegebene Diffe-
rentialgleichung. Sie ist
^^Le-ßtdt + \{s-^L\e-tdt =
I — ß ~ \ I — ßj
(c (f, _|_ V) dZ—cye-^dZ— cZdZ.
[324] Danun//?^~^^=i-^ und / e~ fdt= 1 — x2, (das
letztere wegen ß = —); so kommt
(^, + Y>Z- i-,#_
2Vrrr/) (1 — *)-{-V (5 — n(f) (l — x2)
1
-J- 2 VyTf|;
1 r#
(^ — 1 ) H — log. —
r r -
x2
- + -
-j- 2 ^C (S 7l(f)
oder nach Weglassung dessen was sich aufhebt:
ZI + 1 A* . ^
r ' r2 r — 1 J
2 c
r
1 5— Ä9^ 1 1
Tief -f - -I log. —
2
rx
(S 71 (f) ( I X)
Um Beyspiele zu berechnen, setzen wir zuvörderst y=io (obgleich
eigentlich q> als Einheit zu betrachten, die aber durch ihren zehnten Theil
gemessen werden mag), auch sey c = io, V = 25 (welche Zahlen man
unter andern erhalten kann, wenn man ein paar frühere Vorstellungen
a und 3, jede = 5, und alle Hemmungsgrade gleich annimmt), endlich
5=i, n = 1 ; so wird
■T_|_V=i25; -^=5;r = -f; — = 62,5; 5 — 7ty = — 9;
,5 — TT«) 1 — rx c<p ,
na 4 = — 1,25 ; -=5—4*; endlich — = 4, und log.
' r 1 — r c
nat. 4= 1,38629... Demnach wird die Formel:
Z2 — 2s Z=i 2,5 [1,25 log. (5 — 4*)— 9(1 — *)].
Man sieht sogleich, dafs für / = 00 , Z einen endlichen, sehr mäfsigen
Werth erlangt. Derselbe ist = 4,199 .. . Aber diesem Werthe nähert
sich Z sehr bald. Schon für t = 3 ist Z = 2,964 . . . Für / = ^-findet
sich Z= 0,1085.
In der ersten der oben angeführten Abhandlungen habe ich aus der
Kcvdt .
Differentialgleichung, ohne dZ= — in dieselbe zu setzen, aut eine
cz -j- C
hie von ganz verschiedene, sehr mühsame Weise, ein kleines Täfelchen be-
rechnet, worin die zusammen gehörigen Werthe von z, Z, und z — Z sich
bey einander finden. Es ist folgendes:
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
393
[325]
' 2
*■-*
*-'- 7
ß = 1
•S" = 3.125
S = 0
5 = 1
•S" = 3,125
71 = 0,78l25
TT = 0,78125
n = 1
n = 0,78125
2
2 = 2,2119
Z = 1,3824
2 = 2,212
Z = 0,253
0 = 2,212
Z = 0,652
2 = 3,93
Z = 1,24
0,8295
1.959
1,560
2,69
t = I
* = 3.9347
Z = 2,4592
^ == 3,935
Z « 0,671
* = 3,935
Z = 1,330
2 = 6,32
Z = 2,12
L4755
3,264
2,605
4,20
/ = 2
z = 6,3211
z = 6,321
2 = 6,321
z = 8,65
^ = 3.95°7
Z = 1,390
Z = 2,530
Z = 3,21
2,3704
4,931
3,791
5,44
' = 3
z = 7,7686
z = 4,8554
2 = 7,77
Z = 1,89
2 = 7.77
^ = 3.33
2 = 9,50
z= 3,71
2,9132
5,88
4,44
5.79
t = 4
2 = 8,6466
Z = 5.4041
2 = 8,65
Z = 2,20
2 = 8,65
Z = 3,84
z = 9,81
Z = 3,92
•
3,2425
6,45
4,81
5,89
/ = 00
2 = 10
z = 10
2 = 10
2 = 10
Z = 6,25
Z = 2,7
Z = 4,64
Z = 4,1
3,75
7.3
5,36
5.9
Zu diesem Täfelchen, welches unter den oben erwähnten Gränz-
bestimmungen diejenige ergiebt, die der Wahrheit am nächsten kommt,
gehört noch folgendes, minder vollständige, zur Andeutung der andern
Gränze, aus dZ — - — — .
cz -f- c
[326]
f-T
*-T
1 2
/» = 1
■S = 3,125
5 = 0
6' = 1
S= 3,125
71 = 0,78l25
71 = 0,78125
71 == I
TT = 0,78l25
2
Z = 1,138
Z = 0,244
Z = 0,599
Z = 1,066
/ = I
Z = 1,845
Z = 0,614
Z = 1,180
Z = 1,756
/ = 4
Z = 3,486
Z = 1,918
Z = 2,957
z = 3.177
/ r= 00
z == 3.915
■? =3? 2,334
Z = 3.494
Z = 3.333
->q i XI. Psychologie als Wissenschaft.
Vergleicht man mit beyden Täfelchen die vorhin gefundenen Werthe
von Z. so sieht man, dafs dieselben zwischen den Gränzen liegen; wie
natürlich, indem bey der hier gebrauchten Methode beyde Gränzen, ver-
\vdt
möge der gemachten Substitution, dZ = :— — -, gewissermaalsen ver-
00 cz -\- c
mischt worden.
Diese Methode giebt also wahrscheinliche Werthe; nur ohne Be-
stimmung, wie weit man fehlen könne. In Hinsicht der letztern, und
überhaupt wegen der sorgfältigem Behandlung dieses Gegenstandes, be-
ziehe ich mich auf die angeführte Abhandlung.
§ 9ö.
Man kann fordern, die Gröfse ß solle veränderlich seyn, d. h. die
Wahrnehmung solle an Stärke zu- oder abnehmen. Nur kurz wollen wir
diesen Gegenstand hier berühren.
In der Gleichung ß (ff — z) dt = dz (man sehe § 94), sey ß = t't,
eine Function der Zeit; so kommt
dz + z/t dt = ffftdt
woraus z = e— fftdt . (/ e fftdt (fftdt -f C).
Nun kann man überlegen, welche Form man der Function von / geben
wolle, damit nicht schon diese erste Integration erschwert werde.
Es sey ft — f- -, welcher Form man durch Ab[32 7]änderung
m -j- 71 1
der Werthe von p, ?n, n, mannigfaltige Bedeutungen geben kann. (Die
Buchstaben p, m, n, haben hier nicht mehr die Bedeutung, wie im vorher-
gehenden §.) So ist / // dt = — log. (m -f- nt) und
P_ P_
efftdt = {m _)_ „/) "; ferner (ff efftdt ftdt == (f (vi -\- nt) n>
— ( — \
" . [cf (m + «/)«+ Q)
daher z == (m -\- nt)
_ L
= (p -\- C (m -f- nt) n
oder endlich, damit z = o für / = o,
z = y \i — mn . (m -f nt) n)
nt
für p = n wird hieraus z = a< . : —
T m -\- nt
mint 4- n2 12
für p = 2n wird 2 = a . —. -^ — -r— -, u. s. w.
(m -\- nt)2
Wird / = 00, so ist ß = — — , und z gelangt zu seiner Gränze
n 00
= <f. Das Gesetz der abnehmenden Empfänglichkeit bewirkt,
dafs bey verminderter sowohl als bey gleichbleibender Stärke
der Wahrnehmung in unendlicher Zeit doch einerley Quantum
des Wahrgenommenen herauskommt.
Dntter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ?gr
Soll aber die Stärke der Wahrnehmung wachsen: so mufs n negativ
P
seyn. Alsdann gilt die Formel ß = , nur bis m = — n t, oder
m -}- nt
m
bis / = — — , wofür ß unendlich wird. Es kann aber in grofs genug
genommen werden, damit diese Zeit sich erstrecke so weit man will.
Setzt man nun p = — n, so wird z = -£-=—. Für /=
m n p
({ P
ist wiederum z = a. Zugleich ist dz = — dl. Demnach : unter der
tn
jetzigen Voraussetzung erreicht z [328] seine Gränze in einer endlichen
Zeit, und sein Differential ist constant. Wir haben also hier auch rück-
wärts dasjenige Gesetz der anwachsenden Stärke der Wahr-
nehmung gefunden, vermöge dessen, ungeachtet der abnehmen-
den Empfänglichkeit, das Quantum des Wahrgenommenen der
Zeit proportional bleibt.
Erneuern wir nun die obige Frage nach dem Verlauf der Hemmung
des Wahrgenommenen während der Wahrnehmung: so ist allgemein
dv = np(f--m n (m + nt) v " ' dt — vdt
( L ■ -(- + ■)
v==e—t\fet,np (f m n (jn _|_M/) \n I dt - - Cj
P
Man setze 1- 1 = g, so kömmt es nun darauf an, et (m -X-n{\ — qdt
zu integriren. Zur Umformung sey ef = x, so bekommt das Differential
diese Gestalt:
Es ist d
folglich ^
(m -\- n log. x) ? '
x dx an dx
(in -\- n Ix) « {tu -j- n Ix) « (in -\- nix) a -\- 1
dx 1 x 1 r dx
x 1 r
n-lx)a an J (
(m -\- nix) « + 1 an ' (tn -\- n-lx)a an J (111 -\- nix) «
Hieraus kann eine Reductionsformel gebildet werden, die bis « = 1
herabläuft. Und
dx 1 m . m
— — e li . e "1 e
m-\-nlx n n n
Hier bedeutet li so viel als Integrallogarithmus*; und es ist
/dx
. Die eben angegebne Formel findet man auf folgende
Weise: Es ist
* Von den Integrallogarithmen sehe man Soi.DNER's theorie et tables d'une nouvelle
fonction transcendante, ä Afunic. 1809; und Herrn Professor Bessel's Aufsatz im ersten
Stück des Königsberger Arclnv's für Naturwissenschaft und Mathematik.
9g5 XI. Psychologie als Wissenschaft.
r dx r et dt i f et dt .
n 2 q\ / ; =- = I : = — / ; und es ist zugleich
J m + nlr J m + w/ n J m i
w 4- 2
«* — ' m
~ + t en dt — et dt
d .li .e n =- = e
m . m .
-.+ / - + /
n 71
Doch genug um ermessen zu lassen, in welche Schwierigkeiten sich
die Berechnung von Z und z — Z für abnehmende Stärke der Wahr-
nehmung verwickeln würde. Hingegen der oben bemerkte Fall der zu-
(fpt
nehmenden Stärke , wo z = - — , ist leichter zu behandeln. Für diesen ist
m
n qp
dv = — f— dt — vdt,
m
m
Um nun der Differential - Gleichung \vdt = czdZ — cZdZ -\-"cdZ
einen bequemen und wahrscheinlichen Ausdruck abzugewinnen, setzen wir,
c v dl
wie vorhin, in c z dZ wiederum dZ — -— ; und suchen zuerst Je z dZ.
ez-\- e
. , ...... , .- ^l)e-')äl
cz . cvdt \ 7ii \ ml I
Es ist j-r— = -. : wovon das
c "' ftf + v)
_ e\n<f2p2tdt , . , . _
erste Glied — : — ; r- leicht zu integnren ist. Denn
M-I-+(*
m
(cypt -\-m c
I.
ltdt \t v
los.
fll-\-V [u (l2 (.lt-\-V
welches = o für / — o. Mehr Mühe macht das zweyte Glied
Scypis — ltlz\ e — ttdt
ceppt -\- nie
te — tdi
Denn die Form führt auf Integrallogarithmen.
r -i twt ,. , te — tdt . ., i te—tdt
330 Nämlich anstatt , schreibe man zuvörderst — . .
Nun ist ferner
tli . e \ el=dtU.e~\il
d.tli.e~~\ ' tl =dlU . e~~\ ' e / -{- e ~ T . iLll—
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 397
,■"-">' tL -('+t) „„. A' + t)
also /- — = ' • L"'-' •l—fitk.t
J t — 1—
Die Exponentialgröfse * \ * ' — e \ c<fP! ist äufserst klein,
sobald man, um i nicht in zu enge Gränzen einzuschliefsen , m einiger-
m
maafsen grofs nimmt (indem nach dem obigen / höchstens = — ). Aber
die Integrallogarithmen ganz kleiner Gröfsen verstatten einen sehr bequemen
/' dx x f dx
abgekürzten Ausdruck. Es ist allgemein U . x = I -- _j_ — _j_ / -^- ;
eine Auflösung, die man beliebig fortsetzen kann, und wobey für kleine
x allemal das am Ende zurückbleibende Integral viel kleiner seyn mufs,
als die entwickelten Glieder. (Man stelle sich, wie schon Herr Soldner
erinnert, die Differentiale - - , -J— , -y*-, u. s. w. als Differentiale einer
Ix {Ix)2 (lx)i
I I
Fläche vor, welche bestimmt wird von den Ordinaten — , . u. s. w.
so ist offenbar die Fläche /— für ein kleines x eine sehr kleine negative
J Ix
Gröfse; aber / * ist noch viel kleiner, und kommt neben -, — wenig
J (/*)* lx
oder gar [331] nicht in Betracht.) Es sey nun e 6 =y, daher
(-I = — dt, so ist f dtli . e ^ E' = / H . y. Setzen wir hier
y y
abkürzend li . y = —-, so haben wir / — -y- oder — li . y ; und dem
ly ty
zufolge
/
ie — t dt ee —■(' + -)
= — . (t -\- 1) li. e \ «/
worin, wie bekannt, ( = Cq>pt und t] = vic. Auch ist noch mit
c'ccfp IS — — : j zu multipliciren, um das zweyte Glied von fczdZ
zu haben.
Jetzt ist /"er dt zu bestimmen. Und es findet sich
revdt = ^^- (t 4. e - *) - KcSe-t
m
Zusammen genommen ergiebt sich
398
XI. Psychologie als Wissenschaft.
UZ?
2
vz=
\S{e — t — i) —
' 71 (f'P
m
+
c Cny 2p
vi
+
cyp c 'f2p
log-
0
VI c
Capt-
in c
+ V 5
?rqp/
;«
(/+!)//.«
c9/ _
/z'.<?
17 <Pl>
Zum Gebrauche dieser Formel bedarf es zuvörderst einer Bemerkung
über die Gröfse S. Nämlich die Stärke der Wahrnehmung, oder
p ...
ß = , ist während des gröfsten Theils der Zeit sehr gering,
tn — pt
wenn vi grofs ist gegen p. Allein im Anfange der Wahrnehmung, also
für t = o ist das Gehemmte = Sdt\ während das Wahrgenommene
= ßydt. Jenes darf nicht gröfser seyn als dieses, also S nicht > ßy.
Soll daher das Wahrgenommene von Anfang an zum Theil verschmelzen,
und eine endliche Gröfse erlangen, so mufs bey der jetzigen Untersuchung
S entweder sehr klein, oder = o genommen werden. Der Kürze wegen
geschehe hier das Letz[332]tere. Auch sey p = i, und vi = ctp; über-
y
dies werde bey den Integrallogarithmen die obige Abkürzung h'.jr= — —
angewendet; so können wir die Formel auf folgende Weise zusammen-
ziehn :
Z* —
2 C
Z =
2ir c
+ V log.
+
/-f V
Setzt man, wie oben, (f = io, c = io, c =
sich zusammen :
für t = i für t = 4 für t = io
Z = 0,1 3 = 0,4 2=1
Z = 0,036 Z = 0,294 Z = 0,91
('+!)«
/ + \
— t
25-
7i 1 ; so findet
für t = 15
^ = i>57
— 0,07.
0,004 0,106 0,09
Offenbar ist der letztere Werth von Z unbrauchbar, denn das Ge-
hemmte kann nicht gröfser seyn als das Wahrgenommene. Aber er ver-
räth, dafs irgendwo der Rest des Wahrgenommenen ein Maximum hatte,
und weiterhin = o wurde, ungeachtet die Summe der elementarischen
Wahrnehmungen nicht blofs zunimmt, sondern sogar die Stärke der Wahr-
nehmung im Wachsen begriffen ist. Dies erklärt sich aus der vermehrten
Spannung der entgegenwirkenden Vorstellungen. Rückwärts, aus der an-
fänglich äufserst geringen Spannung der letzteren ist einzusehn, wie es
überhaupt möglich war, dafs bey den angenommenen Gröfsen noch irgend
ein positives z — Z herauskommen konnte. Der Annahme c = IO,
\ = 25, entsprechen ein paar gegenwirkende Vorstellungen a und b,
jede = 5 ; aber die Stärke der Wahrnehmung, oder ß, ist bey / = o,
nur — ; bey t = 1 5 noch nicht mehr als
85'
* Die Untersuchung dieses § gebe ich unvollendet, wie sie ist; weil sie, ohne
mir besonders wichtig zu seyn, Andre veranlassen kann weiter zu gehn.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
399
§ 97-
Die Untersuchungen des zweyten und dritten Capitels beruheten auf
der Voraussetzung, dafs eine neue [333] Vorstellung plötzlich zu den
schon vorhandenen hinzutrete. Diese Voraussetzung kann der Wahrheit
nahe kommen, da, wie wir jetzt sehen, bey etwas bedeutender Stärke der
Wahrnehmung eine sehr geringe Zeit hinreicht, um eine mäfsig starke
Vorstellung entstehen zu machen. (Man setze z. B. im § 95, ß = 3,
oder gar = 10; und man wird sehen, wie wenig Zeit nöthig ist, damit
sich eine Stärke des Vorstellens erzeuge, die den Beyspielen des zweiten
und dritten Capitels entsprechen könne. Es versteht sich, dafs hier von
Verhältnissen der neuen Vorstellung gegen die vorhandenen die Rede
ist, da wir für das, was Wenig oder Viel sey, keinen andern Maafsstab
haben; was aber das Zeitmaafs anlangt, so wird darüber erst im zweyten
Theile etwas können gesagt werden, woraus zu erkennen ist, dafs man
sich die Zeit-Einheit, im Vergleich mit unsern Minuten und Secunden, als
eine nicht ganz kleine Gröfse zu denken hat.)
Es kann aber auch begegnen, und begegnet meistens, dafs eine
schwächere Wahrnehmung erst durch längere Dauer eine Vorstellung zu
ihrer Energie erhebt; und alsdann entsteht die Frage, welche Abände-
rungen daraus für jene früher betrachteten Ereignisse entspringen?
Zuvörderst, dasjenige Sinken der schon vorhandenen Vorstellungen,
welches die Hemmung des Wahrgenommenen begleiten mufs, ist aus den
vorhergehenden Formeln leicht zu berechnen. Die ganze Hemmungssumme
war = »', das Gehemmte in jedem Augenblick = rdt\ das Gehemmte
am Ende der Zeit / ist =fvdt; folglich fvdt — Z ist dasjenige, was
von den früher vorhandenen Vorstellungen zusammengenommen gehemmt
wird, und welches man nur nach den Hemmungsverhältnissen vertheilen
mufs, um das Sinken jeder einzelnen von diesen Vorstellungen zu be-
stimmen.
Ferner, hieraus ergiebt sich auch das Gesetz für eine, dem Wahr-
genommenen gleichartige, ältere Vorstellung, die sich jetzo, da sie von der
Hemmung frey wird, wieder ins Bewufstseyn erhebt. Wir verweilen hie-
bey we[334]nigstens in so fern, als nöthig ist, um den Anfang dieser
Wieder -Erhebung kennen zu lernen, der sich nach § 82 verhält wie das
Quadrat der Zeit. Die dortige Formel (x • — y)dt=dy wird uns auch
hier leiten; jedoch ohne Rücksicht auf die im § 84 erwogene, schwer zu
berechnende, aber ziemlich unbedeutend gefundene, Wirkung der Ver-
schmelzungshülfe. Auch werde eine gleichförmig beharrende Stärke der
Wahrnehmung vorausgesetzt, also die Rechnung an jene des § 95 an-
geknüpft.
Hier nun würden wir auf jeden Fall die Formel für Z viel zu ver-
wickelt finden, um sie in einen fernem Calcül einzuführen, böte sich nicht
ein Abkürzungsmittel dar. Man habe nämlich eine Reihe berechneter
Werthe von Z vor sich, etwa wie das Täfelchen jenes § sie angiebt. Als-
dann ist leicht zu erkennen, dafs Z sich nahe durch 2 ausdrücken läfst;
wenn man die Zeit t nicht zu grofs nimmt; hier aber kommt es uns blofs
auf den Anfang der Zeit an. Es sey Z = C -J- az -J- Kbz2. So ist gewifs
400
XI. Psychologie als Wissenschaft.
C = o , denn Z und z sind zugleich = o. Man braucht also nur ein
paar berechnete Werthe von Z nebst den zugehörigen z, um hieraus die
nöthigen Constanten "a und "b zu bestimmen, so wird die Formel sehr
nahe auch die zwischenfallenden Werthe von Z aus den ohne Mühe zu
findenden z herleiten helfen.
Dies vorausgesetzt, so ist nun / vdt — "az — b"z2 an die Stelle jenes x
im § 82 zu setzen, das die Entfernung desjenigen Punctes, wohin y strebt,
von der Schwelle des Bewufstseyns , bezeichnete; indem y, das Hervor-
tretende der älteren Vorstellung, sich gleichsam in dem Räume auszu-
dehnen strebt, welcher frey wird durch das Zurückweichen der Kräfte, von
denen es gehemmt war. Und so haben wir nun anstatt (x — y)dt = dy
folgende Gleichung:
az
sbz2 — y) dt = dy.
{/vdt
Zuerst folgt hieraus
y = e * f et \_fvdt — "az = "bz:]dt.
[335] Man nehme nun v aus § 95; nämlich
» + (*-*$
daher f v dt
71 q
ß
71 ßq
{i-e-P^ + lS
nßq>\g_t
l-ß.
71 ß q
• c
'),
ferner z = q (1 — e &*), also
"az^-"bz2 = "aq~\-"bq2 — (aq -f 2"bq2)e~ ^
Hieraus wird nach gehöriger Rechnung:
y =
TT ff
l-ß
+ s-
Tißq
l—ß
— tW
= "bq2>
- bq2
TT (f
(!-'-") +
aq -\- 2"bq2
(«"
2ßt _
()
l-ß
s —
.{e-Pt-e-t)
nßq
te
— t
l — 2ÖX \ l — ß)
Es verlohnt sich, diesen Ausdruck in eine Reihe zu entwickeln, um
zu sehen, wie die verschiedenen Potenzen von t mit ihren Coefficienten
nach einander bedeutend werden. Es ist
(?— e-t)=*t — -p+ \p- ...
e-ßt_e-t=(i-ß)t-^(i -ß*)t2+-\(i -/?3)/3_...
e - 2ßt — e-t = (l - 2 3)t-±. (, — 4^>)^4-i(i— »/»»)* — ...
te - t = t — t2 + — V — ■ . .
Man sieht nun sogleich, dafs der Coefficient von t bey gehöriger Zu-
sammenfassung = o wird. Um den zweyten Coefficienten näher kennen
zu lernen, mufs man zu der Annahme: Z = "az -}- "bz2 zurückgehn. Aus
derselben ist dZ — (a = 2"bz)dz, also für t = o ist dZ = "adz. Aber
aus der Grundformel — ^— — , === dZ ist für /= o, dZ = vdt =Sdt,
c{z-Z)+c
iZ
und ebenfalls für i = o ist dz = ß q dt- daher — , = "a = — -
r ' dz ßq
Ver-
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
401
mittelst dieser Substitution wird auch der zwevte Coefficient = o. Es
lieben sich unter einander alle Glieder desselben, welche £ enthalten;
ferner alle, welche ,7, und endlich alle, die b </ 2 enthalten.
[330] Erst der Coefficient für ß bekommt einen realen Werth. Da-
mit ist der merkwürdige Satz bewiesen, dafs die Bewegung der wieder
hervortretenden Vorstellung sich Anfangs verhält wie der Cu-
bus der Zeit; so dafs sie weniger scheinen mufs hervorzutreten als
vielmehr hervorzuspringen.
Es ist übrigens sehr natürlich, dafs durch eine fortdauernde Wahr-
nehmung, die ihr gleichartige ältere Vorstellung mehr hervorgeschnellt
wird, als durch den Stofs, welchen eine plötzlich hinzukommende, dann
gleich von der Hemmung ergriffene, neue Vorstellung, auszuüben vermag.
Aus dem Stofse erfolgt eine im ersten Zeittheilchen schnellere, aber nicht
so sehr beschleunigte Bewegung (obgleich auch da noch eine Beschleuni-
gung statt findet, da wir oben sahen, dafs die Bewegung sich Anfangs
nach dem Quadrate der Zeit richtet). Die eben gefundene Erhebung der
älteren Vorstellung, gemäfs dem Cubus der Zeit, geht in den ersten Zeit-
theilchen langsamer, weil die hervorrufende Wahrnehmung sich nur all-
mählig bildet; jedoch bald um so geschwinder, weil jeder Augenblick die
Begünstigung vermehrt, vermöge welcher die zuvor unterdrückte Kraft sich
jetzo in einem freyern Räume ausbreitet.
Sechstes Capitel.
Ueber Abnahme und Erneuerung der Empfänglichkeit.
§ 98.
Jedes Continuum möglicher Vorstellungen ist zugleich ein Continuum
möglicher Selbsterhaltungen der Seele. Und zu solchen Vorstellungen, die
unendlich nahe sind, gehören Selbsterhaltungen fast von völlig gleicher
Art, deren [337] eine also nur eine unendlich geringe Modification der
andern ist. Etwas entfernteren Vorstellungen entsprechen minder gleich-
artige Selbsterhaltungen, doch nicht eher als beym vollen Gegensatz der
Vorstellungen können völlig verschiedene Selbsterhaltungen Statt finden.
Um dieses gehörig zu verstehen, bedenke man, dafs Selbsterhaltungen
der Seele, und Vorstellungen, völlig Eins und dasselbe sind, nur in
verschiedenen Beziehungen ; ungefähr so wie Logarithmen und < Potenz-
Exponenten.
Durch das Wort Vorstellungen deuten wir zunächst auf das
Phänomen, sofern es sich im Bewufstseyn antreffen läfst : hingegen der
Ausdruck Selbsterhaltung der Seele, bedeutet den realen Actus, der un-
mittelbar das Phänomen hervorbringt Dieser reale Actus ist nicht Gegen-
stand des Bewufstseyns, denn er ist die Thätigkeit seil ist, welche das Be-
wufstsevn möglich macht. So gehören Selbsterhaltung der Seele und
Vorstellung zusammen wie Tlnin und Geschehen. —
Herbart's Werke V.
26
402 XL Psychologie als Wissenschaft.
Dies vorausgesetzt: so ist offenbar, dafs die Abnahme der Empfäng-
lichkeit, deren Gesetz im vorigen Capitel angegeben wurde , sich nicht
blofs auf völlig gleichartige , sondern auch auf zum Theil ungleichartige
Vorstellungen erstrecken mufs. Eine Selbsterhaltung, sofern sie schon
vollzogen ist, und fortdauernd geschieht, kann nicht noch einmal geschehn :
darauf beruht die Abnahme der Empfänglichkeit. Folglich, wenn eine
Selbsterhaltung oder Vorstellung der andern zum Theil gleich-
artig ist, so wird durch die erste auch die Empänglichkei t
der andern zum Theil erschöpft. Hieraus haben wir nun die näch-
sten Folgerungen zu ziehen.
Zwey Wahrnehmungen des nämlichen Continuums können entweder
gleichzeitig statt finden, oder einander nachfolgen.
Sind die gleichzeitigen zum Theil gleichartig (wie roth und violett,
oder wie ein paar Töne der nämlichen Octave), so ist die Empfänglich-
keit, die sie erschöpfen, [338] zum Theil die nämliche. Man mufs hier die
Zerlegungen der Vorstellungen in Gleiches und Entgegengesetztes (nicht
in der Wirklichkeit sondern im Denken) wieder anwenden, die schon oben
in den §§67, 71, ~t2 vorkamen. Sofern die Wahrnehmungen gleichartig
sind, in so fem geschieht in beyden nur einerley Selbsterhaltung, Anfangs
mit verdoppelter Intensität; die aber nur um so schneller abnimmt, je
stärker sie im ersten Beginnen war. Hingegen wiefern die Vorstellungen
einander entgegen sind, in so fern liegt in den Selbsterhaltungen etwas
Verschiedenartiges; dieses beginnt mit geringerer Intension, und die Ab-
nahme der Empfänglichkeit kann in Hinsicht dessen nicht so schnell fort-
schreiten. Daraus folgt, erstlich, dafs die Quantität des Vorstellens, gleich-
sam die Masse desselben, minder grofs ausfällt, als sie seyn würde, wenn
jede der beyden Vorstellungen besonders, und mit unversehrter Empfäng-
lichkeit gebildet werden könnte. Zweytens, dafs des Gleichartigen für beyde
zusammengenommen, verglichen mit dem Entgegengesetzten, verhältnifs-
mäfsig weniger ist, als in der Summe beyder seyn sollte, wenn sie ab-
gesondert entstanden wären. Drittens : nichts desto weniger sind bevde
Vorstellungen genau die nämlichen , die sie abgesondert seyn würden.
Denn des Gleichartigen entsteht während der gleichzeitigen Wahrnehmung
beyder Vorstellungen nur in so fern weniger, als es schon vorhanden ist;
vorhanden als Gemeingut für beyde Vorstellungen in der Einen Seele,
und hinreichend vorhanden, damit bevde Wahrnehmungen in ihrer eigcn-
thümlichen Qualität fortdauern können.
Hier mufs man zurückrufen, was schon im § 72 bemerkt wurde. In
den Rechnungen, welche sich auf das Verhältnifs des Gleichartigen zum
Gegensatze in ein paar Vorstellungen, beziehn, kommt das Gleichartige nur
als Eins in Betracht, wenn es schon in beyden Vorstellungen, und also
zwevmal vorhanden ist. Denn Gleichartigkeit ist nichts was einer Vor-
Stellung allein zukäme : sie liegt blofs in dem Grade von Einerleyheit eines
man[33ö]nigfaltigen Thuns in der Seele. Eben darum auch ist es in
dieser Hinsicht einerley, ob eine der beyden Vorstellungen stärker oder
schwächer seyn möge: wovon sonst auch das Quantum des Gleichartigen,
im V ergleich mit dem Entgegengesetzten, abhängen müfste.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
403
Nur wenn von der Masse der Kraft die Rede ist, welche jene bey-
den, in gleichzeitiger Wahrnehmung entsprungenen Vorstellungen, einer
andern Kraft im Bewufstseyn entgegenzustellen haben, dann kommt es in
Betracht, wie grofs die Stärke sey, die ihnen beyden zusammen, als einer
unzertrennlichen Einheit, angehören möge. Diese Kraft wird, nach den
eben aufgestellten Sätzen, gröfser ausfallen wenn die Vorstellungen weniger
gleichartig sind. Allein es ist nicht aufser Acht zu lassen, dafs die minder
gleichartigen, also mehr entgegengesetzten, sich schon während der Wahr-
nehmung um so mehr hemmen, daher die Elemente der Wahrnehmung
sich weniger zu Totalkräften vereinigen können. Dieser Umstand mag
sich mit jenem ungefähr aufheben. Es könnte hierüber eine Rechnung
angestellt werden, die den Berechnungen des vorigen Capitels analog seyn
würde, und die wir eben deshalb hier übergehen.
Eher mag es sich verlohnen, über successive Wahrnehmungen in
Rechnungen einzutreten.
Die Wahrnehmung z' gehe voran der Wahrnehmung 2"; ihr Hem-
mungsgrad sey =1 — «, damit wir den Grad der Gleichartigkeit — u
setzen können. Man denke sich 2 " = u -\- a> , so , dafs u das Quantum
des Gleichartigen, was die Vorstellung 2" enthalten wird, hingegen ta das
Entgegengesetzte bedeute. So bieten sich folgende Gleichungen dar:
[« (//• — z') — u\ ßdt— du; [(1 — «) (j — to] ßdt = dto
Nämlich die Empfänglichkeit </ zerfällt in die Theile aq, und (1 — u) y,.
sofern 2" zerlegt wird nach u und 1 — «; aber die Empfänglichkeit utf
ist vermindert um z" , sofern darin Gleichartiges mit 2" liegt, d. h. um
az'. Wie zuvor bedeutet hier ß die Stärke der Wahrnehmung, die wir
als beständig ansehn, daher ß als eine Constante zu behandeln ist.
Aus den beyden Gleichungen ergiebt sich
u = a (r^ — 2') (1 — e — ßl ; m = (i — «) r/> (1 — e — ß{)
u -4- (( = z" *= (cp — uz) ( 1 — e — ß*)
welches letztere Resultat sich vorher sehn liefs, da z = </ . (1 — e—§1)
nach § 94.
Es folge weiter eine dritte Wahrnehmung =2"', die wir in Gleich-
artiges und Entgegengesetztes auf doppelte Weise zerlegen müssen; sowohl
im Vergleich mit 2' als mit 2". Zur Erleichterung führen wir noch die
Voraussetzung ein, dafs alle drey Vorstellungen in der gleichen Linie
liegen (wie in der Tonlinie), oder dafs ihre Verschiedenheit blofs auf dem
Mehr oder Minder des Gegensatzes beruhe. Alsdann läfst sich z"
selbst durch eine Linie darstellen, die man nur nicht für eine Darstel-
lung des linearischen Continuums halten mufs, von welchem z" ' sowohl
als z" und z' nur einzelne Puncte sind.
7 1
« I — u
Die ganze Linie bedeutet die Vorstellung z " '. Ihre Qualität sey
in Rücksicht auf 2' zu zerlegen in Gleichartiges =v« und Entgegengesetztes
= 1 — \< ; in Rücksicht auf 2" aber in Gleichartiges == y und Entgegen-
gesetztes = 1 — y. Das Gleichartige = y zerfällt in gemeinsam Gleich-
artiges = u und in besonderes Gleichartiges y — u. Daher sind eigent-
26*
404 -^- Psychologie als Wissenschaft.
lieh drey Theile vorhanden, nämlich u, y — a und 1 — y; auch ist yz"
= uz' -[" (7 — \t) z". In Rücksicht auf den Theil a ist nun an der
Empfänglichkeit für z' " nicht nur durch z' sondern auch durch z" etwas
verloren gegangen; nämlich zusammengenommen uz' -\- "uz". In Rück-
sicht auf den Theil y — sa ist nur verloren (y — s<z)z". In Rücksicht
auf den dritten Theil 1 — y ist die Empfänglichkeit noch unversehrt.
Daher folgende drey Gleichungen, worin die drey quantitativen Theile
von 2, welche dem u, y — K<z, und 1 — y entsprechen, mit u, v, «, be-
zeichnet sind:
[341] [_« (<jp — 2' — z") — u\ ßdt = du;
[(/' — V«) {'f — 2") — ''] ßdt = dv;
[(1 — y) 7 — w] /W/ = <A</.
Woraus nach der Integration u -j- v -\- 10 oder
III / \ I H\ / 3 4.
z = (rp — «s — yz ) (1 ■ — « — pf).
Für eine vierte Wahrnehmung z"" findet man
z = (f/> — «2 — yz — dz ) (1 — e—pt)
und so läfst sich die Reihe ohne Mühe fortsetzen.
Substituirt man die Werthe von z , z", z" , und setzt für einen be-
stimmten Zeitabschnitt (1 — e — ßt) = f, so kommt
z — (f f
z" = <p (/■ - aP)
z" = 9 (/ - C« + 7) f2 + r«/"3)
z"" = 9) (/■ - f« + V + 0)/2 + («V + W + yd) f* - aydß)
u. s. f.
§ 99-
Verwandt hiemit ist folgende mehr verwickelte Aufgabe: Eine Wahr-
nehmung durchlaufe unabgesetzt und im gleichförmigen Zuge
ein Continuum von Vorstellungen; es soll das ganze Quantum
des hiedurch entstandenen Vorstellens gefunden werden.
P 1 -| Q
M R
Hier soll nun die Linie PR nicht, gleich jener vorhin gebrauchten
Linie, eine einzige Vorstellung, sondern das zu durchlaufende Continuum
möglicher Vorstellungen bedeuten; und zwar das ganze Intervall zwischen
zweyen solchen Vorstellungen, die im vollen Gegensatze stehen. R sey
fürs erste ein fester Punct an einer beliebigen Stelle. M dagegen ein Punct,
der von P nach R hin vorrückt. Auch sey PQ = A, MR = x, RQ
= m. T sey die Zeit, in welcher von der wandelbaren Wahrnehmung
das ganze Intervall A durchlaufen wird. Während der veränderlichen
Zeit / sey der Raum PM = [342] A — x — m durchlaufen. Wegen
gleichförmiger Bewegung ist nun
/ : T = (A — x — m) : A
x = A f I — — J — m.
In dem Zeittheilchen dt, während welches die fortrückende Wahr-
nehmung sich im Puncte M befindet (d. h. diejenige Vorstellung hervor-
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
405
bringt, welche in dem ganzen Continuum die Stelle M einnimmt), wird
zugleich ein Quantum von R gegeben (nämlich von der Vorstellung, wel-
cher die Stelle R zukommt). Denn R hat gegen M den Hemmungsgrad
x, folglich mit ihm einen Grad der Gleichartigkeit =1 — x) oder A — x,
in so fem die Einheit der Gleichartigkeit denselben Ausdruck ihrer Gröfse
bekommt wie die Einheit des Gegensatzes. Da dieses in allen Zeittheilchen
Statt gefunden, während welcher das von P ausgegangene Wahrnehmen
bis zu der jetzigen Stelle gekommen ist; so giebt es ein Integral, welches
ausdrückt, wieviel von R schon vorher, als enthalten in den
frühern, dem R zum Theil gleichartigen Vorstellungen., ge-
geben ist, ehe der veränderliche Punct M, oder, wenn man
will, ehe der veste Punct R selbst, erreicht wird. Dieses Integral
zu bestimmen, ist eine nothwendige Vorbereitung zur Auflösung unserer
Aufgabe.
Für bekannte Bedeutungen, von </, ß} z, haben wir folgende Gleichung:
(r/ — z) ß {A — x) dt = dz
_ (At , \ dz
oder ß I — -\- vi dt =
T ■ J cp
woraus — ß A — -j- ßmt — log.
1 (f — Z
und z = (p
Nun rücke der Punct M vor, bis er in R eintrifft; alsdann ist
, T
t = (A — f/i) — , und
A
[343] ( _U{A2-m2)\
z = (f\i — e 2Ä )
So viel ist von derjenigen Vorstellung, die dem Puncte R entspricht,
schon gegeben, ehe die fortrückende Wahrnehmung den Punct R selbst
erreicht; um eben so viel ist also die Empfänglichkeit für diese Vorstel-
lung schon im Voraus erschöpft. Dies abgezogen von der ursprünglichen
Empfänglichkeit, läfst nun die Bestimmung zurück: wie viel an neuer
Wahrnehmung eben in dem Augenblick erzeugt werden könne,
da das wandelbare Wahrnehmen sich in dem Puncte R selbst
befindet. Es ist nämlich dieses = ß (q z)dt, w z in der so eben
gefundenen Bedeutung genommen wird. Allein hier war z eine Constante;
statt dessen mufs es eine veränderliche Gröfse werden, indem nun der
Punct R als wandelbar, und damit auch vi als veränderlich, und zwar als
eine Function von / betrachtet wird. Denn nur dadurch werden wir das
verlangte ganze Quantum des allmählig entstandenen Vorstellens finden,
wenn wir dessen Differential, das was durch jede augenblickliche Wahr-
nehmung in jedem Puncte des Continuums gegeben wird, integriren. Daher
mufs jeder Punct durch R angedeutet seyn können, indem R das ganze
Continuum von P bis Q durchläuft.
Aus der Proportion / : T= (A — vi) : (A folgt m = All ■- — j ; da-
durch wird
406 XI. Psychologie als Wissenschaft.
— 8A [t— ^A
ß((f — z)dt = ß(fe V zTl dt.
Wir können hier A wiederum = i setzen; es war nur vorhin zu
mehrerer Deutlichkeit besonders bezeichnet worden.
Die Integration scheint am leichtesten von Statten zu gehn, indem
t2
man / = — T ( i — u 2) setzt. Daraus wird / = T ( i — u ) ■
_ rjr 2 \ / \ ' ,
— —Tß . {1—112)
dt = — TV«, also das ganze Differential = — T3(fe 2
1+ Tß — Tßu*
du = — Tßqe 2 . e2 du. [344] Die Form e >>"2 </# läfst sich
bequem durch Entwicklung in eine Reihe integriren, sobald l, hier — Tß
nicht zu grofs genommen wird. Denn aus
ein* = 1 4. iu* _j_ ^- A2?;4 _)_ J_;k3W6 _|_^_x*«8 -|- . .. wird fe *>k* du=
u 4- —Xu3 4- — X2«S _J_-^;t37<7 _L_ i-X4«9 4- -!- ÄS«" ... 4- Co»j/.
1 2 ' 10 42 2I° 1320
Das Integral mufs = o werden für / = o; aber für / = o ist u = 1.
Es sey ß = —, T= 4, also Ä = 1, so ist Const. = — (1 -j- ~~h_ — h
— -{-...*= 1,4626 .. .). Demnach das ganze Integral
= 7,3576... X (1,4626 — U — j- u3—±-u5 — ±-u7...)
t
wo u = 1 — — . Für t = T aber ist u = o also das ganze Quantum des
gewonnenen Vorstellens, vermöge einer Wahrnehmung, die während der
Zeit T= 4 das Intervall voller Hemmung gleichförmig durchläuft, ist
= 10,761. Dies» Resultat bleibt das nämliche, so lange das Product Tß
unverändert bleibt, z. B. für ß= 1, T= 2. Zur Vergleichung sey /==— T,
so kommt 6,5446; mehr als die Hälfte, wie natürlich wegen der ab-
nehmenden Empfänglichkeit, die in der zweyten Hälfte der Zeit nicht
noch ein gleiches Quantum des Vorstellens hervorzubringen erlaubt. Noch
halte man hiemit zusammen das erste Täfelchen des § 95, wo für ß = - ,
2 = 8,646... wenn / = 4, und 2 = 6,321... wenn / = 2, oder =— T,
nach unserer jetzigen Annahme, gefunden wird. Die jetzigen Werthe sind
beydemal gröfser, weil die Empfänglichkeit bey veränderlicher Qualität der
Wahrnehmung weniger leidet, als bey gleichbleibender.
So viel von der Abnahme der Empfänglichkeit. Da die Erfahrung
dieselbe schon in einer Minutenlangen Wahrnehmung deutlich genug spüren
läfst, indem das Gemüth sich bald unbeschäfftigt findet, und andre zurück-
gedrängte Vorstellungen sich wieder erheben, zum Zeichen, dafs die
zurückdrängende Kraft nicht mehr wächst: so dürfen wir die noch
unbestimmt ge[345]bliebene Zeit-Einheit gar nicht für besonders grofs
nach unserem Zeitmaafse halten; und daraus entsteht denn die wichtige
Frage, ob die einmal erschöpfte Empfänglichkeit immer so schwach bleibe,
oder ob es für sie eine Erneuerung gebe? Und wie eine solche sich
denken lasse?
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
407
Dafs die Empfänglichkeit sich erneuere, mufs man schon der Er-
fahrung gemäfs höchst wahrscheinlich finden. Wenige Stunden, vollends
Tage, müssen nach den bisherigen Betrachtungen, die ursprüngliche Em-
pfänglichkeit zwar nicht im strengsten Sinne ganz erschöpfen (hievon lehren
die Formeln das Gegentheil), aber doch sie auf einen äufserst kleinen,
mit ihrer ursprünglichen Stärke kaum vergleichbaren, Bruch herabbringen,
der selbst noch immer abnimmt, und bald wiederum mit seiner eignen
früheren Gröfse fast nicht zu vergleichen ist. Dies auf die menschliche
Lebensdauer angewendet, so müfste die erste kindliche Empfänglichkeit
schnell verschwinden, bis auf beynahe Nichts, der Empfänglichkeit reifer
Jahre aber müfste man eine undenkbare Kleinheit beylegen, — wenn sie
ein für allemal verbraucht wäre.
Allein auch wie die Empfänglichkeit sich erneuere, läfst sich begreifen
und näher bestimmen, sobald man sich nur hütet, die metaphysischen
Gründe ihrer Abnahme nicht über die gehörigen Schranken auszudehnen.
Jede Selbsterhaltung der Seele, also jede Vorstellung, hat ein Aeufserstes,
bey welchem sie vollbracht seyn würde, wenn sie es erreichte. Sie kann
nur wachsen, wiefern sie zu diesem Aeufsersten noch nicht gelangt ist.
Die Empfänglichkeit nimmt ab, in wiefern das, was durch die Wahr-
nehmung in der Seele geschehen soll, schon geschehen ist. — Rückwärts
also, die Empfänglichkeit nimmt nicht ab, in wiefern das, was
geschehen soll, eben jetzt noch nicht geschieht.
Hieraus könnte man schliefsen, die Empfänglichkeit erneuere sich
schon dadurch, dafs die in früherer Wahrnehmung gebildeten Vorstellungen
gehemmt werden; welches doch, ohne nähere Bestimmung ausgesprochen,
[346] zu viel geschlossen wäre. Denn so lange jene Vorstellungen nur
zum Theil gehemmt, so lange sie noch in einer fortgehenden Hemmung
begriffen sind, eben so lange wirken sie noch im Bewufstseyn, und es
richten sich nach ihnen die Zustände der übrigen Vorstellungen. Allein,
wenn sich eine Vorstellung auf der statischen Schwelle befindet, alsdann
ist, wie wir längst wissen, alles was im Bewufstseyn vorgeht, von ihrem
Einflüsse unabhängig. Ja sogar in dem Augenblicke, wo sie die Schwelle
erreicht, tritt ein neues Bewegungsgesetz für die noch im Bewufstseyn vor-
handenen Vorstellungen ein, welches der Ausdruck und Erfolg dieser Un-
abhängigkeit ist (§ 75).' Nun strebt zwar die Seele fortdauernd, auch diese
Art der Selbsterhaltung, oder diese Vorstellung, wieder herzustellen. Allein
sie ist in diesem Streben völlig gebunden; ja dieses Streben ist eine iso-
lirte Modification der Seele, indem es die wirkliche Thätigkeit, die Zustände
des Bewufstseyns, nicht im mindesten abzuändern und nach sich zu ge-
stalten vermag. Also ist hier wirklich der Fall, wo die Empfänglichkeit
nicht vermindert seyn kann. Die frühere Vorstellung befindet sich nicht
unter den wirklichen Thätigkeiten der Seele, weder unmittelbar als Vor-
stellung, noch mittelbar durch ihre Einwirkung auf die Zustände des Be-
wufstseyns. Vielleicht noch einleuchtender wird dies durch die Ver-
gleichung mit Vorstellungen auf der mechanischen Schwelle (§ 79). Diese
sind ebenfalls aus dem Bewufstseyn völlig verschwunden, aber nur
um so vollständiger ist auch die Spannung, mit der sie dasjenige be-
stimmen helfen, was im Bewufstseyn vorgeht. Von ihnen also dürfen
aqS XL Psychologie als "Wissenschaft.
wir nicht sagen, dafs in Hinsicht ihrer die Empfänglichkeit unvermindert
seyn werde.
Wohl aber dürfen wir den Satz aufstellen: die Empfänglichkeit
für eine gewisse Wahrnehmung erneuert sich, indem die frühere,
gleichartige Vorstellung auf die statische Schwelle getrieben
w i r d.
[347] Und hiedurch mufs sich die Empfänglichkeit vollständig und
plötzlich erneuern. Nichts desto weniger sind hiebey Umstände zu be-
merken, welche dieser Behauptung nur eine augenblickliche Gültigkeit ge-
statten.
Indem eine neue Wahrnehmung eintritt, beginnt auch jede frühere
gleichartige Vorstellung (ja selbst die nur zum Theil gleichartigen), sich zu
erheben, weil die vorhandenen hemmenden Kräfte zurückwichen (§81
u. s. w.). Sogleich also verschwindet die Bedingung, unter der eine voll-
ständig erneuerte Empfänglichkeit vorhanden seyn konnte.
Jedoch verschwindet dadurch die erneuerte Empfänglichkeit bey weitem
nicht ganz. Man mufs hier die Untersuchungen des dritten Capitels zu-
rückrufen. Diesen zufolge erhebt sich die ältere gleichartige Vorstellung
im ersten Anfange nur langsam; sie übt dabey gar keine eigne Wirkung
gegen die widerstrebenden Kräfte; blofs als Verschmelzungshülfe verbindet
sie sich mit der neu eintretenden Wahrnehmung in dem geringen Grade
des wiedererweckten Vorstellens. Also ändert sich der Zustand, in wel-
chem sich diese Vorstellung auf der statischen Schwelle befand, nur all-
mählig und nicht um gar Vieles. Dem gemäfs verliert auch die vollständig
erneuerte Empfänglichkeit nur allmählig und nur ein mäfsiges Quantum.
Hierauf können nun wieder Nebenumstände Einflufs haben. Gesetzt,
die wiedererweckte Vorstellung sey durch eine Menge von Verschmelzungs-
und Complications-Hülfen verbunden mit den im Bewufstseyn vorhandenen
Vorstellungen; sie sey nur so eben erst durch eine andringende entgegen-
wirkende Kraft aus dem Bewufstseyn verdrängt: so läfst sich, wenn sie
auch schon wirklich auf der statischen, und nicht etwa nur auf der mecha-
nischen Schwelle. sich befand, dennoch wohl denken, dafs die Zusammen-
wirkung vieler Kräfte ihr jetzt, da sie durch eine gleichartige Wahrnehmung
wieder geweckt wird, eine Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit ertheilen,
wodurch [348] die erneuerte Empfänglichkeit schnell und beträchtlich leidet.
Aber nicht blofs diese Nebenumstände, sondern ein allgemeiner Grund
bewirkt eine Abänderung in dem, was zuvor über den geringen Verlust
der erneuerten Empfänglichkeit bemerkt wurde.
Freylich, wenn nur Eine ältere, gleichartige Vorstellung in der Seele
ruhet, deren Erwachen der neuen Wahrnehmung Abbruch thun kann: als-
dann gilt das zuvor Gesagte; und es ist leicht zu übersehen, dafs die
zwar verminderte Empfänglichkeit dennoch eine beträchtliche Stärke des
Vorstellens durch die jetzige Wahrnehmung zu erzeugen vermag. Es ge-
schehe nun wirklich also; und nicht blofs einmal, sondern vielemal wieder-
holet : so werden bev jedem künftigen Eintreten einer neuen . gleich-
artigen Wahrnehmung, sich alle jene einzelnen, zuvor gebildeten Vor-
stellungen durch eigne Kraft, und zum Theil verstärkt durch ihre Ver-
bindungen unter einander, zumal hervorheben. Offenbar bilden sie auf
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
40Q
diese Weise eine Summe, die immer beträchtlicher wird, und wodurch
die, zwar vollständig erneuerte, Empfänglichkeit doch immer schneller ver-
mindert, ja endlich, bey sehr häutiger Wiederhohlung der nämlichen Wahr-
nehmung, beynahe plötzlich von ihrer ersten Stärke auf einen aufseist ge-
ringen Grad kann herabgebracht werden. In diesem Falle befinden wir
uns mit den Dingen, die wir täglich um uns sehn, und die eben deshalb
keinen merklichen Eindruck auf uns machen.
Unter solchen Umständen ergiebt sich dann von selbst, dafs unmög-
lich die einzelnen, aus den wiederhohlten Wahrnehmungen gewonnenen,
Vorstellungen, sich ins, Bewufstseyn hoch erheben können. Denn die
Summe des wirklichen Vorstellens kann nicht jenen äufsersten Grad über-
steigen, in welchem die volle und ganze Selbsterhaltung dieser Art be-
stehen würde. Desto gröfser und anhaltender aber kann die Anstrengung
seyn, [349] mit welcher sich eine Gesammtheit gleichartiger Vorstellungen
im Bewufstseyn behauptet.
Siebentes Capitel.
Von den Vorstellungsreihen niederer und höherer Ord-
nungen; ihrer Verwebung und Wechselwirkung.
§ 100.
Wir dürfen jetzt freyere Blicke wagen. Bisher waren wir eng ein-
geschlossen durch die Nothwendigkeit, die Vorstellungen als einzelne zu
betrachten, um die Elemente ihrer Wirksamkeit kennen zu lernen. Jetzt
fange der Leser damit an, sich alles Vorhergehende gleichsam nach einem
gröfseren Maafsstabe ausgeführt zu denken. Tausende oder Millionen von
Vorstellungen, die auf einmal im Bewufstseyn sind, und, sich gegenseitig
hemmend, ins Gleichgewicht treten! Complexionen, die nicht entweder
vollkommen oder unvollkommen seven, sondern in welchen mit zehn
oder zwanzigen völlig verbundenen, noch unzählige andere mit allen mög-
lichen Abstufungen minder und minder zusammenhängen! Statt zweyer
oder dreyer Töne, deren musikalische Intervalle wir in der Lehre von
der Verschmelzung vor der Hemmung im Auge hatten, denke man
sich jetzt eine Menge unendlich nahe stehender, zusammenfliefsender ein-
facher Empfindungen; so wird in der unauflöslichen Mischung aller, zwar
nicht ein scharf bestimmtes ästhetisches Urtheil, aber ein Gefühl des Au-
genehmen oder Unangenehmen entspringen. Auch die Bewegungen der
Vorstellungen bey ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Reproduction seyen
dergestalt mannigfaltig, dafs die Hemmungssummen, während sie abnehmen,
schon wieder neue Zusätze [350] bekommen; und dafs, indem aus neuen
Verbindungen stets neue Gesammtkräfte entstehn, auch die < ileichgewichts-
Puncte, wohin das ganze System sich neigt, stets verrückt werden, folglich
die Bewegung nie zur Ruhe komme, sondern in immer neuen Richtungen
fortlaufe. Doch dies letzte ist noch nicht verständlich genug; wir sind
jetzt im Begriff, die Gründe davon anzuzeigen.
4 I o XL Psychologie als Wissenschaft.
Man gehe zurück ins vierte Capitel, von der mittelbaren Reproduction.
Dort haben wir (§88) den grofsen Hauptsatz gefunden, aus welchem sich
der Ursprung der Reihenbildung in den Vorstellungen erklärt.
Nun sey nicht blofs, wie dort, eine Vorstellung P mit verschiedenen
II, II', H", u. s. w. verschmolzen : sondern es sey a mit b, c, d, e, . . .
und eben so b mit c, d, e, . . . und gleichfalls c mit d, e, . . . u. s. w.
verschmolzen: so wird das dort (a. a. 0.) gefundene Gesetz der Repro-
duction nicht blofs einmal, sondern so vielmal zur Anwendung kommen, •
als wie viele Vorstellungen zu der Reihe gehören. Dies wird sich voll-
ständiger entwickeln lassen, wenn wir erst die beyden Bedingungen er-
wägen, unter denen sich eine solche Reihe bilden kann. Die eine hängt
von der Zeit ab, die andre von der Qualität der Vorstellungen.
i . Wenn zuerst a, dann gleich darauf b gegeben (durch Wahrnehmung
producirt) wird: so wird zuvörderst a sogleich von der Hemmung durch
andre, eben vorhandene, ihm entgegengesetzte Vorstellungen ergriffen. Hie-
durch sinke es bis auf den Rest r; jetzt trete b hinzu; so verschmilzt b
mit dem Reste r von a (wir wollen nämlich hier die Hemmung zwischen
a und b bey Seite setzen ; denn wenn auch eine solche vorhanden ist, so
wird dadurch nur die Gröfse r um etwas vermindert, und auch b ver-
schmilzt dann nicht ganz mit r; dadurch wird die Sache nicht wesent-
lich verändert, sondern erhält nur eine leichte Modification). Es sinke
weiter sowohl a bis auf den Rest r', als b bis auf den Rest R; jetzt
komme c hinzu; so verschmilzt das ganze c mit r und R. Nun [351]
sinke a bis auf den Rest r", B bis auf den Rest R', c bis auf den Rest q,
jetzt mögen alle diese Reste mit dem eben eintretenden d, verschmelzen.
Man sieht wie dies fortgeht, nach folgendem Schema:
a
d
x, u. s. w.
r(«) R{n — 1) f)(n — 2) r(" — 3) u. s. w.
Gesetzt, alle diese Vorstellungen werden, nachdem sie in solche Ver-
knüpfung mit einander geriethen, auf die Schwelle des Bewufstseyns ge-
drückt; nachmals aber finde sich Gelegenheit, dafs eine von ihnen sich
wieder erheben könne ; so wirkt sie auf alle übrigen reproducirend. Wie
dies geschehe : ist in dem Falle, dafs a sich zuerst erhebe, unmittelbar klar
aus § 88 ; es reproducirt nämlich nach der Reihe am schnellsten b, minder
schnell c, noch langsamer d, u. s. f. Wäre es aber c, das sich zuerst er-
höbe, so würde dieses mit seiner eignen ganzen Kiaft und Ge-
schwindigkeit die Reste R und r reproduciren, und dann erst würde
es die Reihe d, e, f, u. s. w. ablaufen machen.
2. Die Vorstellungen a, b, c, d, u. s. f. brauchen nicht nach ein-
ander gegeben zu werden; wenn sie dagegen in wachsenden Hem-
mungsgraden unter einander stehn, und einander an Stärke gleich sind,
r
b
r
R
c
1 /
r
R'
Q
111
r
R"
9
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
411
so wird ihre Verbindung und die davon abhängende Wirksamkeit gerade
die nämliche wie vorhin. Ist nämlich c mehr als b, d mehr als beyde,
u. s. f. dem a entgegengesetzt, und kann die Verschmelzung ungehindert
dem Grade des Gegensatzes umgekehrt gemäfs erfolgen (d. h. so dafs
je weniger Gegensatz, desto mehr Verschmelzung), so [352] entsteht eine
Vorstellungsreihe, deren Anordnung durch die Qualität der Vorstellungen
bestimmt ist.
Im analytischen Theile werden wir auf diesen Gegenstand seiner
grofsen Wichtigkeit wegen, zurückkommen, und ihn dort nochmals in Ver-
bindung mit seinen Anwendungen auf die Erklärung der psychologischen
Phänomene in Betracht ziehn.
Hier wollen wir, damit der Leser sich in die Sache hineindenke, nur
irgend eine Vorstellung aus der Mitte einer Reihe, ins Auge
fassen. Es gilt von ihr der merkwürdige Satz, dafs ihr ein Weiterstreben
bey wohnt, wodurch sie eine Wirkung wider sich selbst ausübt, um
anderen Platz zu machen; unter der Voraussetzung, dafs zwischen den ihr
in der Reihe vorhergehenden und nachfolgenden, Gegensatz vorhanden sey.
Man betrachte noch einmal das obige Schema, und in ihm die Vor-
stellung c. Es ist ihr, vermöge der eingegangenen Verbindung, wesentlich,
dafs mit ihr der Rest R von b, und der Rest r von a zugleich im
Bewufstseyn gegenwärtig sey; hierauf ist ihr Streben in demselben Grade
gerichtet, womit sie sich selbst im Bewufstseyn zu erhalten, oder sich in
dasselbe zu erheben sucht; denn das ganze c ist mit R und r ver-
schmolzen. Aber es ist ihr auch, wenn gleich in abnehmendem Grade,
wesentlich, dafs sie allmählig das ganze d, das ganzem das ganze/",
u. s. w. hervorrufe. Wenn nun d, e, f, dem b und a entgegengesetzt sind,
so ist ein Streben, d, e, f zu erheben, zugleich ein Diuck auf b und q,
folglich auch auf das mit ihnen verbundene c selbst. Also wirkt c wider
sich selbst; und man würde sich irren, wenn man glaubte, diese
Wirkung zerstöre sich selbst. Denn angenommen, c sinke wirklich
bis auf den Rest q, so verliert es damit noch nichts an seinem Vermögen,
// zu erheben; mit welchem es gerade nur durch seinen Rest q verbunden
war. Erst wenn es tiefer, als bis auf diese Gröfse q niedergedrückt wird,
kann seine Wirkung auf d abnehmen. Gesetzt: es sey nun [353] bis
auf seinen zweyten Rest o' gesunken: so wirkt es noch eben so- stark wie
Anfangs, um e zu heben; und eben so wird f von dem Reste q", g von
(/", u. s. w. immer gleich stark wider a und b gehoben, so lange nicht c
unter q , q" , q" . . . successiv herabgedrückt ist.
Was nun hier von c gesagt worden, das gilt eben so von d in Be-
ziehung des ihm Vorhergehenden und Nachfolgenden, desgleichen von
£,/,... mit einem Worte, von jedem mittlem Gliede einer Reihe; nur
nicht vom ersten und vom letzten. Denn das erste Glied, indem es die
nachfolgenden successiv hebt, überschreitet weder hierin den Grad von
Verbindung, den es mit den nachfolgenden eingehn konnte (und darin
gleichen ihm auch die mittlem Glieder), noch hat es solche Vorher-
sehende, denen die Nachfolgenden zuwider wären; das aber ist eben der
Umstand, weswegen die mittlem sich selbst niederdrücken. Was das
letzte Glied anlangt : so ist es der natürliche Ruhepunct für die ganze
a\2 XL Psychologie als Wissenschaft.
Reihe ; es hat nichts mehr hinter sich , wodurch es wider das vorher-
gehende wirken könnte ; und seinem inwohnenden Streben geschieht Ge-
nüge, so lange, bis alle vorhergehenden auf den Punct der mit ihm ein-
gegangenen Verschmelzung herabgesunken sind; ist alsdann noch ein
fremdartiger Grund zur fernem Hemmung vorhanden, so verliert sich
allmählig die ganze Reihe aus dem Bewufstsevn.
Sollte nun in dem, was hier vorgetragen worden, noch irgend etwas
dunkel scheinen : so liegt es an mangelhafter Auffassung des vierten
Capitels ; welches man übrigens bey weitem noch nicht ganz zu verstehen
braucht, um das gegenwärtige zu fassen. Alles kommt darauf an, dafs
man vollkommen einsehe, weshalb eine Vorstellung ihre Nachfolgenden
ganz, aber successiv, hingegen ihre Vorhergehenden partial und ab-
gestuft, aber simultan, hervorzuheben trachtet. Hieraus ergiebt sich
das Uebrige von selbst.
Jetzt ist noch ein wichtiger Umstand zu erwägen, der von der Länge
der Reihen abhängt. Wir wollen [354] hiebey die Reihe als gleichartig
betrachten, das heifst, die Reste r, R, q, . . . gleich setzen, desgleichen die
Unterschiede r — r" , R' - — R" u. s. f., so dafs die r, r , r" . . . u. dgl.
eine gemeine arithmetische Reihe bilden ; folglich in der Vorstellungsreihe
die Distanz der Glieder allein den Grad der Verbindung bestimme. Als-
dann kommt es nur noch auf die Gröfse der Differenz r — r an ; sie
wird bestimmen, mit wie vielen folgenden eine jede vorhergehende
Vorstellung verschmelze; ob z. B. a schon ganz gesunken sey, ehe die
Vorstellungen g, h, i, k, hinzukommen, während die Reihe sich bildet:
oder ob vielleicht x, y, z, noch etwas von a im Bewufstsevn antreffen,
womit sie verschmelzen können. Wenn nämiich während des Entstehens
der Reihe, sich a noch mit x, y, z, verbindet, so wird es sie auch bey
der Reproduction wieder zu heben suchen ; erreicht aber a nicht einmal
g, h, z', k, so geht auch ein Streben andre hervorzurufen, nicht bis in
diese Entfernung hinaus. Unterschiede dieser Art haben einen wesent-
lichen Einfiufs auf die Kraft der ganzen Reihe, sich geordnet zu re-
produciren, oder kurz, auf ihr Evolutions- Vermögen ; und dies ists,
was wir jetzt untersuchen wollen.
Wir nehmen an, die Reihe sey eine Zeit lang ganz aus dem Be-
wufstsevn verschwunden gewesen ; jetzt könne sie sich wieder erheben ;
aber es sey gleich viel Grund zu dieser Erhebung für alle, in der
Reihe enthaltenen, Vorstellungen vorhanden: nun fragt sich, ob dennoch
die Reihe geordnet hervortreten werde? Es ist nämlich klar, dafs wenn
auch nur das erste und das vierte — oder überhaupt das ;«te und das
7/te Glied — zugleich ins Bewufstsevn kämen, alsdann Verwirrung ent-
stehn müfste ; denn das vierte würde die folgenden schon reproduciren,
die vorigen schon herabdrücken, während das erste noch im Streben zur
Repioduction des zweyten und dritten begriffen wäre.
Um die Sache leichter zu übersehen, wollen wir uns abermals ein
Schema entwerfen. Die einzelnen Vorstel[355]hingen in der Reihe sollen
durch Linien angedeutet werden ; und eben so die Verschmelzungshülfen,
die sie von andern Vorstellungen empfangen. Man wird leicht folgende
Bezeichnung verstehn :
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
413
B
Die Linie AB soll die erste Vorstellung oder das Anfangsglied in
der Reihe bedeuten. Die erste Linie rechts neben ihr zeigt die Ver-
schmelzungshülfe, welche ihr die zweyte Vorstellung derselben Reihe
leistet ; die folgenden Linien deuten auf die immer geringeren Strebungen
der nachfolgenden Vorstellungen, wodurch sie das Anfangsglied im Be-
wufstseyn zu rufen wirken. Also die ganze Figur bezeichnet die Ge-
sammt kraft, womit das Anfangsglied hervorgehoben wird. Dem ähnlich
würden wir das Endglied so ausdrücken :
Dabey ist nun gleich zu bemerken, dafs, wenn auch das Endglied
eben so viele Verschmelzungshülfen durch die ihm vorangehenden Vor-
stellungen bekömmt, wie das Anfangsglied durch die ihm nachfolgenden,
die Wirkung dennoch nicht gleichartig ist; denn auf das Anfangsglied
wirken alle Hülfen simultan ; hingegen auf das Endglied dergestalt successiv,
dafs es durch seine schwächere Hülfen langsamer, als durch die stärkeren
gehoben [356] wird. Eins der mittlem Glieder aber kann so bezeichnet
werden :
Ein Glied in der Gegend der Mitte erhält nämlich, Falls die Reihe
lang genug ist, eben so viele Hülfe von seinen vorhergehenden und nach-
folgenden, als das Anfangs- und das Endglied zusammen genommen. Soll
dies nicht geschehn: so mufs die Reihe kürzer seyn; und man sieht
sogleich, dafs dies die Bedingung des Evolutions- Vermögens ist.
Denn wenn die Mitte durch eine gleiche, simultan wirkende Kraft ge-
hoben wird, wie der Anfang, so ist unmöglich , dafs die Reihe geordnet
ablaufe, dafs alsdann Mitte und Anfang zugleich ins Bewufstseyn kommen.
Wir wollen nun die Reihe kürzer nehmen ; und zwar dergestalt, dafs
sich das Anfangsglied gerade noch beym Verschwinden, also durch seinen
kleinsten Rest, mit dem Endglied verbunden habe. Alsdann mufs unsre
Figur für das Mittelglied sowohl rechts als links etwas verlieren ; denn
die ganze Basis derselben mufs jetzt nicht doppelt, sondern nur einfach
4 1 4 2Q- Psychologie als Wissenschaft.
so lang seyn, wie die des Anfangs- oder Endgliedes. Die Figur besteht
nunmehr nicht aus zwey an einander gestellten rechtwinkliehten Drey-
ecken, wie vorhin, sondern aus zwey Trapezien. Der Inhalt eines jeden
dieser Trapezien liegt sogleich vor Augen, wenn die Figur als ein Con-
tinuum, oder die Menge der Vorstellungen in der Reihe unendlich grofs,
und die Verschmelzung continuirlich abnehmend gedacht wird. Die Höhe
der Figur sey = a, ihre halbe Basis = b, so ist jedes Trapezium
1 Z I ' Z. I S 7
= — ab a . — b . — = -%- ab;
2 2 2 2 8
und dies ist die ganze, simultan wirkende, Kraft zum Hervorhe[357]ben
der mittlem Vorstellung; die successiv wirkende, welche das andre Tra-
pezium darstellt, kommt hier nicht in Betracht. Da nun das Anfangs-
glied mit der Gesammtkraft — . ab simultan gehoben wird, wie unmittelbar
einleuchtet : so hebt es sich um ^r ab stärker als die Mitte ; es tritt dem-
nach hervor, und bestimmt das geordnete Ablaufen der Reihe.
Es ist leicht, dies allgemeiner zu fassen. Ein unbestimmter Theil
der Linie b sey die Basis unseres Trapeziums; diesen Theil nennen wir
bx; so findet sich die kleinere, auf der Basis senkrechte Seite des Trape-
ziums durch die Proportion
b : a — (b — b x) : a (i — x).
Folglich das kleine Dreyeck, durch dessen Wegnahme vom gröfsern
das Trapezium entsteht, ist nun
a p 1 1 x) 2
= _L a . ( i — x) . l>. ( i — x) = ; und das Trapezium selbst =
— ab (2x — x2). Wenn nun die Reihe nicht zu lang ist: so entsteht das
Ganze der Verschmelzungshülfe für das Anfangsglied aus allen ihm nach-
folgenden Gliedern, in so weit es mit ihnen verschmolzen ist; aber für das
mittelste Glied nur aus denen, die ihm folgen (so fern von der simultan
wirkenden Kraft geredet wird). Die eben gefundene Formel gilt demnach
zwar für beyde; allein x ist in ihr halb so grofs für das mittelste Glied
als für das erste; dies Riebt für die Mitte eine Kraft = — <*& {x — — x2).
' o 24'
Also verhält sich die Kraft für das Anfangsglied zu der für das mittlere
wie 2 — x zu 1 -x. Und nimmt man x unendlich klein, oder die
4
Reihe unendlich kurz: so hat man das Verhältnifs 2:1, das heifst, der
Anfang besitzt zum Hervortreten doppelt so viel Kraft wie die Mitte.
Man sieht hieraus, dafs die Reihen desto mehr Evolutions-
Vermögen besitzen, je kürzer sie sind.
Hat dagegen eine Reihe durch ihre Länge — oder durch irgend
welchen andern Grund, — sich einmal der[358]gestalt verwirrt, dafs ihre
Glieder näher verschmelzen als es ihre Anordnung mit sich bringt, so
ist die Reihe verdorben; weil sie jetzt verschiedenen in ihr entstandenen
Reproductionsgesetzen, die unter einander unverträglich sind, zugleich Genüge
zu leisten strebt. (Hieher gehören falsche Gewöhnungen in Allem, was
durch Wiederhohlung und Uebung gelernt werden soll.)
Weit besser als lange Reihen, sind Reihen von Reihen, oder auch
Reihen aus Reihen von Reihen u. s. f., dergleichen vielfältig und
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
415
in sehr bunten Zusammensetzungen beym geordneten Denken vor-
kommen. (Auch gehört aller Rhythmus hieher; denn er beruht auf
Hauptreihen mit weit entfernten Gliedern, deren jedes eine kurze,
untergeordnete Reihe zwischen einschaltet.) Die Glieder solcher Reihen
können selbst verwickelte Complexionen seyn.
Ganz vorzüglich wird die Verwebung mehrerer Reihen zu weitern
Untersuchungen Stoff geben.
Es ist das Wesentliche der Verwebung, dafs in Einem Puncte mehrere
Reihen sich kreuzen; oder auch, dafs man von demselben Puncte an-
fangend, mehrere Reihen z u g 1 e i c h durchlaufe ; dieses Zugleich aber be-
deutet, dafs diese Reihen nicht etwan successive Glieder einer höhern
Reihe seyen, sondern wenn sie ja als ein Früheres oder Späteres gedacht
würden, die Succession unter ihnen sich auch umkehren liefse.
Gegen die psychologische Möglichkeit solcher Verwebung lassen sich
Zweifel erheben. Mag a der gemeinsame Anfang zweyer Reihen seyn,
die durch b, c, d, und durch ß, y, d, fortlaufen: so scheint es, die Reihen
könnten nicht zwey geschiedene bleiben, sondern es müfsten Com-
plexionen bß, cy, dö entstehn, indem der Rest r von a sowohl b als ß,
der Rest r von a sowohl c als y, der Rest r" von a sowohl d als ■>
durch einen untheilbaren Act der Reproduction hervorrufe.
Wir wollen uns nun hier nicht auf die Thatsache berufen, dafs zwey Ra-
dien eines Kreises, indem sie durch {359] alle concentrische Kreise laufen,
wirklich zwey solche Reihen darstellen : sondern es zeigt sich hier die Noth-
wendigkeit dessen was die Thatsache vor Augen legt ; nämlich dafs b und ß,
wenn sie geschieden bleiben sollen, etwas zwischen sich schieben
müssen, wodurch und um wie viel sie getrennt sind. Allerdings ist hier
ein Streben zur Vereinigung vorhanden; und die Vereinigung mufs
wirklich zu Stande kommen, wenn nicht ein Widerstreben wegen der
Reproduction des Zwischenliegenden hinzutritt. Gerade hierin nun be-
steht die Verwebung der Reihen, dafs, indem ihrer mehrere ablaufen, zu-
gleich nicht nur jedes Glied eine von ihm ausgehende Reihe anregt, son-
dern dafs auch die secundären Reihen sich nach einer Regel in andern
Reihen Glied für Glied vereinigt finden; so dafs die Vereinigungspuncte
jedesmal mehrfach gegeben sind, und dafs die Construction unendlich
vielfach in sich selbst zurücklaufe, ohne mit sich selbst in Mishellig-
keit zu gerathen. Das Product solcher, sich gegenseitig hervorrufender
Reihen ist allemal ein Räumliches, obgleich nicht nothwendig eins im
sinnlichen Weltraum.
(Denkt man sich die drey Hauptfarben Roth, Gelb, Blau, sammt
allen Zwischenliegenden, die aus ihnen gemischt oder in sie zerlegt werden
können : so erscheint das ganze System nothwendig als ein gleichseitiges
Dreveck, — gleichseitig, weil gleichviel Verschiedenheit der möglichen
Mischung zwischen Roth und Blau, Blau und Gelb, Roth und Gelb liegt.*)
Auf dem Inhalte dieses Drevecks, der eine vollständige Fläche ausmacht,
* Diese Voraussetzung gegen mögliche Einwürfe zu rechtfertigen, ist hier nicht
nöthig. Andre Voraussetzungen werden andre Constructioncn ergeben, auf deren Gestalt
hier nichts ankommt.
, j5 VI. Psychologie als Wissenschaft.
angefüllt von allen Mischungen aus dreven Farben, kann man in Ge-
danken alle möglichen Figuren zeichnen, darunter auch ähnliche, oder
gleiche, mit den bekannten geometrischen Eigenschaften. Dieses Farben-
dreveck hängt mit [360] dem sinnlichen Weltraum durchaus nicht zu-
sammen : hat auch mit ihm kein gemeinsames Maafs, sondern seine Maafse
müssen aus ihm selbst genommen werden; z. E. ein Zehntheil der Distanz
zwischen Roth und Blau: dies ist eine völlig bestimmte Gröfse für das
Farbendreveck, und ein zulängliches Maafs für alle darauf zu entwerfenden
Figuren. Wollte man aber das Farbendreveck aufs Papier zeichnen, so
könnte es eben so gut ein Differential -Dreveck sevn, als eine Quadrat-
Meile im sinnlichen Weltraum einnehmen. — Es giebt noch andre Ver-
anlassungen, Raum zu eonstruiren; der intelligible Raum in der Meta-
physik gehört hieher. Genau genommen, liegen auch die Gegenstände
der reinen Geometrie nicht im sinnlichen Weltraum; dieser letztere ist
theils von Körpern erfüllt, theils liegt es leer zwischen ihnen; die geo-
metrischen Kreise, Quadrate, Polygone aber sind nirgends in ihm, haben
in ihm nicht einmal Platz, wurden auch nicht durch Begränzung aus ihm
herausgehoben, sondern der Geometer macht jeden von ihnen ganz von
vorn an, und würde aus jedem derselben einen ganz vollständigen Raum,
als dessen Umgebung, produciren, wenn ihm daran gelegen wäre, so dafs
auch dieser Raum gar keine bestimmte Lage gegen oder in dem sinn-
lichen Weltraum hätte, sondern man einen davon sich aus dem Sinne
schlagen müfste, um den andern zu denken. Bequemer ist es, die Con-
structionen, die nicht noth wendig geschieden bleiben müssen, in einander
fallen zu lassen; eigentlich aber ist zwischen dem Kreise des Geometers
imd den sämmtlichen sinnlich wahrnehmbaren Kreisen das Verhältnifs
einer platonischen Idee zu ihren Nachahmungen; wobey man sich erinnern
wird, dafs eine solche Idee durchaus nicht selbst einen Platz in der Sinnen-
welt hat, wo sie könnte gefunden oder auch nur dürfte gesucht werden. —
ja sogar der sinnliche Weltraum ist nicht ursprünglich nur Einer; sondern
Auge, und Gefühl oder Getast, haben unabhängig von einander Ge-
legenheit zur Production des Raums gegeben; später ist bey[3Öi]des ver-
schmolzen und erweitert. — Man kann nicht oft genug gegen das Vor-
urtheil warnen, als gebe es nur Einen Raum, den des sinnlichen Weltalls.
Es giebt ganz und gar keinen Raum; aber es giebt Veranlassungen, dafs
Systeme von Vorstellungen ein Gewebe von Reproductions-Gesetzen durch
ihre Verschmelzung erzeugen, dessen Vorgestelltes nothwendig ein Räum-
liches — nämlich für den Vorstellenden — ■ seyn mufs, und solcher
Veranlassungen finden sich mehrere, die nicht alle gleichen Erfolg haben;
denn manche angefangene Raum-Erzeugung bleibt unvollendet im Dunkeln
liegen. Das Vorurtheil aber, von dem hier die Rede ist, reicht schon für
sich allein zu, alle Metaphysik zu verderben. Dagegen ist jeder Licht-
strahl, der auf die Lehren vom Räume fällt, der Metaphysik im Ganzen
wuhlthätig. Wie viel hat Kaxt nicht schon allein dadurch gewirkt, dafs
er zu neuer Untersuchung über den Raum wenigstens die erste An-
regung gab!)
Obgleich wir hier mehr und mehr auf Gegenstände kommen, die sich
ohne Hülfe des analytischen Theils der Psychologie kaum deutlich machen
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 417
lassen : so mufs doch wenigstens mit kurzen Worten angemerkt werden,
dafs die Reihenbildung unter den Vorstellungen auch auf die Hemmuno-,
O CT C"
und auf die Schwellen des Bewufstseyns, einen sehr starken Einflufs aus-
übt. Im Allgemeinen läfst sich dieses leicht einsehn. Gesetzt, eine Wahr-
nehmung reproducire eine früher gebildete Reihe, zugleich aber gebe sie
Anlafs zur Verknüpfung ihrer Partial -Vorstellungen in eine andre Reihe:
so mufs nothwendig eins das andre stören. Allein hier ist an keine
vestbestimmte Hemmungssumme , und eben so wenig an ein fixirtes
Hemmungsverhältnifs, zu denken: denn die Reproductions - Gesetze
wirken allmählig, und eben so allmählig gerathen sie in Conflict. Damit
ist aber nicht gesagt, dafs sich Gegenstände dieser Art niemals würden
der Rechnung unterwerfen lassen; vielmehr haben wir schon im fünften
Capitel sowohl veränderliche Hemmungssum[3Ö2]men als auch veränder-
liche Hemmun2;sverhältnisse in die Rechnuno; eingeführt.
CT OO
Dies ist jedoch nicht Alles. Wo Hemmung wegen der Gestalt
(so nenne ich kurz diesen Conflict der Reproduktionen) Statt findet, da
giebt es auch Begünstigung wegen der Gestalt, oder das Gegen-
theil; und wo dieser psychologische Procefs durch die Auffassung eines ge-
wissen Gegenstandes herbevgeführt wird, da heifst in gewöhnlicher Sprache,
die nur das Vorgestellte bezeichnet, von dem verborgenen Act des Vor-
stellens aber nichts aussagen kann, — der Gegenstand schön oder
häfslich. Will man jemals über das Schöne im Räume nähere Kennt-
nifs erlangen: so wird man die Mechanik des Geistes bis hieher fortführen
müssen.
Alle Vorstellungen im engern Sinne, das heifst, solche, die ein
Bild sind von irgend einem, gleichviel ob wirklichen, oder scheinbaren,
oder erdichteten Gegenstande, sind Gewebe von Reihen, die in einer
schnellen Succession unmerklich fortfliefsend , durchlaufen werden. Der
Schwung durch die Partial -Vorstellungen läfst einen Gesammt - Eindruck
zurück, der jeden Augenblick auf die geringste Veranlassung wieder in
irgend eine innere Bewegung gerathen kann. Man betrachte drev Puncte;
sollte die Anschauung gleichmäfsig auf diesem Bilde ruhen, so müfste das
Auge auf den Mittelpunct des Kreises gerichtet werden, der das Dreyeck
umschliefst; allein dies geschieht gewifs nicht bey solchen Drevecken, die
vom gleichseitigen bedeutend abweichen; hier giebt es einen andern Punct,
in welchen das Maximum des Z ugleich- Auffassens der sämmtlichen
Winkelpuncte fallen würde. Aber auch da ruhet das Auge nicht , . eben
deswegen, weil hier noch immer Ungleichheit Statt findet, indem einer von
den Puncten am meisten, ein anderer am wenigsten gesehen wird; nur
ein successives Sehen kann dies ausgleichen. Was nun vom Vorstellen
dreyer Puncte (aufs Sehen mit dem leiblichen Auge kommt hier [363]
nichts an), das gilt um so mehr von vielen Puncten, von ganzen Figuren
und Körpern.
Durch diesen Schwung im Vorstellen wird nun die Hemmung zwischen
den Theilen des Bildes bey weitem weniger merklich als sie sonst sevn
würde. Was wir schnell (aber doch nicht ganz gleichmäfsig, sondern mit
successivem Vorherrschen einzelner Theil- Vorstellungen) übersehen können,
das gilt uns für eine simultane Wahrnehmung; nur dürfen die darin ent-
Herhart's Wkrkk. V. 27
_j. i 8 XI. Psychologie als "Wissenschaft.
haltenen Reihen sich nicht verwirren; sonst trübt sich das Bild wegen der
wider einander strebenden Reproductionen, durch welche jeder Punct auf
die übrigen führt.
Anmerkungen.
Gegen das Ende des vorhergehenden Paragraphen wird der Leser
eine Dunkelheit bemerkt haben, die sich nicht hinwegräumen Iäfst. Sie
liegt nicht in der Sache, aber in der notwendigen Form des Vortrags.
Wir nähern uns dem Ende des synthetischen Theils ; es kommt darauf
an, dafs derselbe sich mit dem folgenden, analytischen, gehörig verbinde.
Wird dafür nicht im Voraus gesorgt: so steht der synthetische Theil zu
nackt, und späterhin wird die Anknüpfung zu schwer. Hier mufs der
Leser mit eignem Denken dem Buche, welches an diesem Orte nur An-
deutungen der analytischen Betrachtung geben kann, zu Hülfe kommen.
Er mufs sich dabey vor Uebereilungen hüten; sonst entstehen Deuteleven,
wodurch das Gegebene entstellt, und die Theorie auf falsche Wege ge-
leitet wird; wovon die Beyspiele in unserer neuesten Philosophie (da, wo
sie irgend welche Naturgegenstände deducirt zu haben glaubt) nur zu
reichlich vorhanden sind.
Wollte man die Gegenstände, welche des analytischen Verfahrens zur
deutlichen Darstellung bedürfen, im synthetischen Theile noch ganz uner-
wähnt lassen : so würde noch eine andre Unbequemlichkeit entstehn.
Manches, das in den psychologischen Erscheinungen auf ver[36-).]schiedene
Weise zum Vorschein kommt, und deshalb im analytischen Theile an
verschiedenen Orten seinen Platz hat, ist gleichwohl einfach für die syn-
thetische Betrachtung, denn es ist ein und derselbe Grund für eine Mehr-
heit von Folgen, die unter verschiedenen nähern Bestimmungen daraus
entspringen. Um es in dieser Einheit darzustellen, mufs es im synthe-
tischen Theile mit aufgeführt werden. Deshalb will ich hier noch neben-
her ein paar wichtige Puncte berühren, die mit den übrigen Gegenständen
dieses Capitels nicht in gerader Linie liegen, und daher in den Paragraphen
selbst nicht füglich ihre Stelle erhalten konnten.
■r
A. Involution der Vorstellungs-Reihen. Es ist im Vorher-
gehenden vom Ablaufen der Vorstellungs-Reihen, und von ihrem Evolutions-
Vermögen gehandelt worden. Man weifs, dafs hiebe}" alles auf die ver-
schiedene Wirksamkeit der Reste ;-, r , r", u. s. f. ankommt, wodurch jede
einzelne Vorstellung in verschiedenem Grade mit den andern Vorstellungen
verknüpft ist. Damit aber diese Verschiedenheit irgend eine Folge habe,
mufs eine solche Vorstellung im Bewufstseyn wenigstens so hoch hervor-
gehoben seyn, als der gröfste jener Reste anzeigt. Wäre z. B. von der
Vorstellung a wohl das kleinere Quantum r" im Bewufstseyn gegenwärtig,
nicht aber der gröfsere Rest r und noch weniger der gröfste, r : so würde
die mit r" verbundene Vorstellung d gerade so geschwind gehoben, als
die mit r verknüpfte c, und die mit r verschmolzene, b. Folglich könn-
ten nun b, c, d, nicht als Glieder einer Reihe auseinander treten : und
dieser Theil der Reihe a, b, c, d, e, /', g, wäre demnach eingewickelt ;
während die nachfolgenden Glieder e, /, g, zwar wohl unter sich zur Evo-
lution bereit wären ; aber deshalb einem andern Nachtheil unterworfen
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 4 IQ
seyn würden, weil b, c, d nicht gehörig nach einander ihr Maximum er-
reicht hätten und von da wieder herabgesunken wären, also gewissermaafsen
noch im Wege stünden, und das Bewufstseyn anfüllten.
[365] Befinden sich nun die Vorstellungsreihen im Zustande der In-
volution (und das ist immer der Eall, wenn ein besonderer Grund zu
ihrer hinlänglichen Aufregung wirkt), so ist die Mehrheit und Verschieden-
heit ihrer Glieder unbemerkbar; sie gelten alsdann für Einheiten, wie z. B.
die Vorstellung eines Buches, eines Flusses, eines Beweises; wo die Mannig-
faltigkeit der Beyspiele deutlich zeigt, dafs aus der Lehre von der In-
volution sich Folgerungen ergeben müssen, die an ganz verschiedene Orte
des analytischen Theils hinzuweisen sind. Es ist übrigens von selbst klar,
dafs unsre Vorstellung eines Buches nichts anderes enthält, als die einzel-
nen Vorstellungen von dem, was auf den verschiedenen Blättern desselben
nach einander zu lesen steht, sammt der entsprechenden Reihe von Ge-
danken und Gefühlen während des Lesens; und so auch in den andern
Beyspielen, die man ohne Mühe vervielfältigen kann. Man denke nun
an eine Bibliothek, eine Stromkarte, und eine systematische Theorie; so
so wird man sogleich gewahr, dafs hier Bücher, Flüsse, Beweise, wiederum
einzelne Glieder von Reihen und von Geweben aus diesen Reihen ge-
worden sind; gerade so, wie, noch weiter fortschreitend, wir einer Bibliothek
einen Platz in der Reihe der Merkwürdigkeiten einer Stadt anweisen.
B. Wölbung und Zuspitzung der reproducirten Vorstel-
lungen. Was ich durch diese figürlichen Ausdrücke bezeichne, das hat
einen noch viel gröfsem Umfang als das Vorige, und ist in der Erfahrung
nicht so leicht aufzufinden. Man erkennt es jedoch an dem so wichtigen
Unterschiede der schärfern oder stumpferen Auffassungen, von denen der
Grad der Bestimmtheit im Wahrnehmen und im Denken abhängt. Um
von der synthetischen Seite her den Gegenstand deutlich zu machen,
wollen wir uns fürs erste zurückversetzen zu ganz einfachen Vorstellungen,
etwa zum Hören eines Tons, oder zum Sehen einer Farbe; die Anwen-
dung auf die Vorstellungsreihen wird alsdann leicht seyn.
[366] Wenn eine Vorstellung eben jetzt erzeugt, oder, wie man zu
sagen pflegt, durch die Sinne als Empfindung gegeben wird : so reprodu-
cirt sie nicht blofs die völlig gleichartigen, sondern man kann sie mit einem
Lichte vergleichen, das einen Schein ringsumher verbreitet. Denn indem
die neue Vorstellung alles ihr Entgegengesetzte zurückdrängt, was sich so
eben im Bewufstseyn findet, wird auch alles das, worauf dieses Entgegen-
gesetzte hemmend wirkte, mehr oder weniger frey. Es erhebt sich also,
wenn wir z. B. einen Ton hören, nicht blofs die völlig gleichartige ältere
Vorstellung eben dieses Tones, sondern beynahe in gleichem Falle mit
ihm befinden sich die nächst höheren und niedrigeren Töne; daher streben
sie gleichfalls empor ins Bewufstseyn ; und so geht das in abnehmendem
Grade auf die entfernteren Töne fort. Also kommt eine ganze Tonmasse, oder
in einem andern Beyspiele eine ganze Farbenmasse in Bewegung; nur nicht
so merklich, als ob alle diese Töne und Farben wirklich wahrgenommen
würden. — Jetzt kommt es aber darauf an, ob die Empfindung des wirk-
lich gehörten Tones länger anhalte. Wenn das geschieht: so stöfst diese
Empfindung mehr und mehr die nicht völlig gleichartigen Vorstellungen
27*
A20 XI. Psychologie als Wissenschaft.
wieder zurück; und hiebey wird der innere Widerstreit um desto stärker,
je mehr die älteren Vorstellungen unter sich verschmolzen, und je ge-
neigter sie deshalb sind, alle in Gesellschaft ins Bewufstseyn zu kommen.
Vergleicht man nun die ganze aufgeregte Masse der Vorstellungen mit
einem Gewölbe : so kann man fortfahren zu sagen, das Gewölbe werde
vom äufsem Umfange gegen die Mitte hin mehr und mehr niedergedrückt;
und endlich müsse es sich dergestalt zuspitzen, dafs gerade nur die, der
neuen Wahrnehmung völlig gleichartige ältere Vorstellung hervorrage. So
geschieht es, so oft wir einen Gegenstand bestimmt als diesen und
keinen andern auffassen; denn hierin liegt offenbar ein Actus der
Ausschliefsung [367] dessen, was wegen der nähern oder fernem Aehn-
lichkeit ins Bewufstseyn mit hervorgetreten war.
Die Uebertragung des hier Gesagten auf unvollkommene Complexionen
und auf Reihen ist sehr leicht. Wird ein einzelnes Glied derselben neu
gegeben: so regt sich der Verbindung wegen die ganze Complexion oder
die ganze Reihe; und im letztern Falle ist nun die Reihe im Begriff ab-
zulaufen. Damit aber tritt eine Hemmungssumme ins Bewufstseyn, welche
wieder sinken mufs; unter der Voraussetzung nämlich, die neue Auffassung
dauere noch fort, und die gleichartige ältere Vorstellung könne daher
ihrem Weiter-Streben nicht nachgeben.
Man erinnere sich hiebey des Gefühls, welches entsteht, wenn eine
Folge von Vorstellungen langsamer als gewöhnlich, dargeboten wird. Z. B.
wenn eine Reihe von Wagen vorüberfährt beym Leichenzuge; oder wenn
Jemand sehr langsam spricht; oder wenn eine bekannte Melodie auffallend
langsam gesungen wird. Alles Langsame, wenn es nicht aus andern Grün-
den widrig ist, nähert sich dem Feyerlichen; es stöfst die schneller fort-
eilenden Vorstellungsreihen zurück. So gerathen wir ins Gebiet der ästhe-
tischen Beurtheilung. Hier versteht sich von selbst, dafs das Langsame
nicht matt und schwach seyn mufs, sondern energisch genug, um den
Flufs des Vorstellens wirklich anzuhalten, und das Vordrängende zurück
zu zwingen.
Andererseits kommt es darauf an, ob der Mensch sich Zeit lasse,
und ob in ihm der Drang der Vorstellungen von zufälligen Hemmungen
frey sey. Schwache und langsame Köpfe sind nicht aufgelegt zu scharfen,
wohlbegränzten Auffassungen. Der beschriebene Procefs erfordert nämlich,
dafs Energie in der Reproduction sey; sonst kommt es gar nicht zum
Anstofsen an eine Gränze, welches allemal das innere Streben voraussetzt,
dieselbe zu überschreiten, es kommt also nicht zu dem Conflict von dem
wir reden. Die Complexionen und Reihen müs[3ö8]sen auf inniger Ver-
bindung ihrer Glieder beruhen; sonst ruft nicht eine Vorstellung die andere
so lebhaft auf, dafs dadurch eine starke Zurückstofsung könnte veranlafst
werden. Aber auch deshalb kann die letztere unmerklich werden, weil
ihr nicht Zeit gelassen wird. Uebereilung ist das Gegentheil des Scharf-
sinns, auch bei sonst lebhaften Naturen. Verweilung bei jedem einzelnen
Puncte ist die psychologische Bedingung des genauen Denkens; sonst
lassen sich Verwechselungen, sammt allen ihren Täuschungen, nicht ver-
meiden; die Vorstellungen wölben sich wohl, aber zum Zuspitzen gelangen
sie nicht, das heifst, die Gedanken kommen nicht zur Reife.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 42 I
§ 101.
Da es an diesem Orte nicht blofs noch darauf ankommt, die Ver-
bindung zwischen dem synthetischen und dem analytischen Theile der
Psychologie zu vermitteln: so werde ich auch einige andre, an sich höchst
wichtige Gegenstände, hier nur so betrachten, wie sie sich als Folgen
aus dem bisher Vorgetragenen gleichsam aus der Ferne zeigen lassen.
Ursprünglich fällt jede Vorstellung, indem sie entsteht, in mehr als
Eine Reihe. Sie verknüpft sich zum Theil mit denen, die sie eben im
Bewufstseyn vorfindet; theils mit gleichzeitig gegebenen; theils mit den-
jenigen, deren Reproduction sie, erst unmittelbar, dann mittelbar, veran-
lafst. Geht man den reproducirten weiter nach, so sind diese ehemals
auf ähnliche Weise, seltener oder öfter, Verbindungen mit anderen ein-
gegangen. Daher finden sich in der dritten von jenen drey Arten der
Verknüpfung mancherley nähere Bestimmungen, die nur allmählig ent-
wickelt werden können. Vermöge der ersten Art bekommt die Vorstel-
lung eine Stelle in der Zeit; vermöge der zweyten einen Ort im Räume;
vermöge der dritten einen Platz im Reiche der Begriffe.
Bey jeder neuen Reproduction strebt die Vorstellung, alles Verbun-
dene theils simultan, theils successiv (§ 100) ins Bewufstseyn zu bringen;
hierin wird sie theils begün[3ÖQ]stigt, theils gehindert; und sofern die
Reproduction wirklich zu Stande kommt, ist sie das Resultat des Zusammen-
wirkens vieler zugleich strebender Vorstellungen. In der Regel kehren
diejenigen Vorstellungen am leichtesten wieder, die erst kurz vorher im
Bewufstseyn waren ; denn die Zeitreihe, in der sie liegen, hebt sich von
zwey Puncten aus, vom jetzigen und von jenem früheren; diese Zusammen-
wirkung wird bey längeren Zwischenzeiten unwirksam, wenn nicht gewisse
hervorragende Momente in der Zeitreihe (die man Epochen nennen
kann), unter sich eine stärkere Verbindung eingegangen waren.
Wir wollen nun annehmen, einerley Vorstellung sey schon sehr oft
gegeben worden: so wird sie mit sehr Vielem verbunden seyn; und dies
Viele wird in mancherley Gegensätzen stehn; daraus werden vielerley theils
materiale Hemmungen (wegen der Beschaffenheit der einzelnen Partial-
Vorstellungen), theils formale (Hemmungen wegen der Gestalt, nach
vorigem §) entspringen. Nun sollte zwar die oftmals gegebene Vorstellung
eine grofse Gesammt-Kraft besitzen; allein ihr Verbundenes steht sich
und ihr im Wege; es verdunkelt sich gegenseitig, und sie wird dadurch
im Aufstreben gehindert.
Hiebey ist insbesondere zu merken, dafs wegen der successiven
Reproductionen (nach § 88) das Verbundene jener Hauptvorstellung nur
allmählig mehr und mehr ins Bewufstseyn treten sollte; die Folge davon
läfst sich leicht einsehn. Nämlich wenn die Hauptvorstellung mit vielen
Reihen verbunden ist, diese Reihen aber unter einander entgegengesetzt
sind, so mufs die Wirksamkeit, womit sie einander widerstreben, noth-
wendig wachsen, indem die Zeit verläuft; denn während dieses Zeit-
verlaufs sollen die Reihen sich im Bewufstseyn entwickeln. Weil sie sich
nun daran gegenseitig mehr und mehr hindern, je weiter ihre Entwickelung
nach dem Reproductionsgesetze fortschreiten müfste: so leidet die Haupt-
422 XL Psychologie als "Wissenschaft.
Vorstellung selbst hiedurch einen wachsenden Wi[3 7 o]d erstand; sie kann
sich im Bewufstseyn nicht lange halten, sondern erliegt gar leicht unter
der Last ihrer Verbindungen.
(Dies ist die eigen thümliche Schwierigkeit, welche sich bei Menschen
ohne wissenschaftliche Bildung dann äufsert, wann sie allgemeine Begriffe
vesthalten sollen. Die Gedanken vergehn ihnen ; sie wissen gar bald nicht
mehr, wovon die Rede ist; sie werden müde und gähnen. Umgekehrt
erhellet hieraus die Kraft der Bevspiele, das Denken zu unterstützen, in-
dem jedes derselben eine bestimmte Reihe veststellt, und den Widerstand
der übrigen abwehrt.)
Gleichwohl bereitet sich durch den eben erwähnten Hemmungs-Procefs
ein wichtiger Fortschritt in der geistigen Bildung. Ist nämlich die Haupt-
vorstellung nur gehörig gebildet worden, durch möglichst vollständiges Ver-
schmelzen ihrer früheren Theile mit den späteren, so oft sie gegeben wurde
(vergl. § 85), und hat nur nicht irgend ein physiologisches Hindernifs diese
Verschmelzungen verkümmert (wie bey Kranken, bey Blödsinnigen, oder
schon bey schwachen Köpfen), so giebt ihr die häufige Wiederhohlung
unter verschiedenen Umständen dennoch Kraft genug, um in der Mitte
andrer Vorstellungen einen Platz zu behaupten. Zugleich erscheint sie
nun beinahe isolirt, weil das Ablaufen der ihr anhängenden, sich unter
einander hemmenden, Reihen nicht merklich ist. Sie ist also abgelöset
von ihren zufälligen Verbindungen nach Zeit und Ort. Mehrere Vorstel-
lungen dieser Art können nun unter sich in solche Verbindungen treten,
die von ihnen selbst, von ihrem Inhalte, ihrem Vorgestellten, abhängen:
kurz, sie können sich nach ihrer Qualität verknüpfen. In so fern aber
werden sie dem Verstände zugeschrieben und heifsen Begriffe.
Man kann von den Begriffen auch sagen, sie seyen die Vorstellungen
in dem Zustande, worin sie unmittelbar an die Sprache geknüpft seyen;
und von der Sprache: sie sev ganz eigentlich das, was verstanden oder
nicht verstanden werde, so dafs hieraus sich die ursprüngliche, obgleich
nicht die ganze Bedeutung des Wortes Verstand ergebe. Hierauf wer-
den wir sogleich zurückkommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von
den Vorstellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten.
Eine Complexion aus den Vorstellungen A und B sey im Begriff
sich zu bilden. Wenn sie zu Stande kommen soll, so müssen die Reihen,
welche von A ausgehn, und die, welche an B geknüpft sind, einander
nicht dergestalt hemmen, dafs ihr ferneres Ablaufen dadurch unmöglich
würde; sonst wirkt die Hemmung auf A und B zurück, und die Com-
plication mufs unterbleiben. Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis
zu dem Puncte ihres Zusammenstofsens würde aufgehalten, so würde die
Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden, und so lange dauern,
bis jene Gegenwirkung der Reihen hervortrete und sie zerstörte. Dafs
diese Art der vorläufigen, aber unhaltbaren Complication, das Wesentliche
des Traums ausmacht, läfst sich leicht übersehen; dasselbe ist beym
Wahnsinn der Fall, nur so, dafs hier das Ablaufen der Reihen sich bis
zur Heilung des Kranken verzögert, während die Träume nur des Auf-
wachens bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden; so wie der
Unverstand der Kinder, deren Vorstellungsreihen noch kurz, und mangel-
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 4^3
haft verknüpft sind, durch zunehmende Erfahrung und durch reifere Ge-
danken-Verbindung allmählig verscheucht wird.
Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir sogleich, dafs jedes
gesprochene Wort für den Hörer ein Anfangspunct von Reihen ist, welche
sich alle in einander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden
werden. Alles, was diesen Procefs der Verwebung hindert, macht die
Rede unverständlich.
Aber die Sprache liegt nicht blofs in den Worten, sondern auch in
den Dingen. Der Verständige erräth das Verborgene , indem er den Zu-
sammenhang ergänzt; und er verwirft die thörichten Meinungen und Pläne,
in[372]dem er den Lauf der Begebenheiten vorwärts und rückwärts in
Gedanken verfolgt. Es ist klar, dafs hiebey alles auf das Zusammen-
wirken seiner Vorstellungsreihen ankommt; gleichviel ob vom praktischen
oder vom theoretischen Verstände die Rede ist. Man kann dem Ver-
stände zwey Dimensionen zuschreiben: Weite und Tiefe. Die Weite
hängt ab von der Menge und Mannigfaltigkeit solcher Reihen, deren Par-
tial-Vorstellungen möglichst genau, und ohne Verwirrung, verschmolzen und
geordnet seyen; die Tiefe bezieht sich auf die Reproduction der gleich-
artigen Vorstellungen, wodurch sie Begriffe sind. Oberflächliche Menschen
reproduciren heute nur das Gestrige und Vorgestrige; bey tiefen Charak-
teren bewegt jeder Gedanke den Stamm des ganzen früheren Lebens.
Für die Sprache sind alle Begriffe, als solche, Substantiva; das Gehen
und Stehen ebensowohl als der Baum und das Haus; das Wenn und
das Aber eben so gut wie das Süfse und das Kalte. Aber keine unserer
Vorstellungen ist blofs und ursprünglich ein Begriff; eine jede, wie sehr
sie auch isolirt zu seyn scheine, hängt noch immer in allen ihren, wie
sehr auch verdunkelten, Verbindungen; darum liegt in jeder ein mannig-
faltiges Weiterstreben, so wie es oben (im vorigen §) beschrieben
wurde. In diesem Weiterstreben müssen die Gedanken sich gegenseitig
tragen und halten; darum biegt die Sprache ihre Worte, und baut daraus
Perioden. Hiezu dienen ihr vorzüglich ihre verba activa und passiva ;
ohne uns aber bey den Worten aufzuhalten, müssen wir noch einen Blick
werfen auf die Begriffe des Thuns und Leidens; und wir werden dar-
auf sogleich kommen, nachdem wir noch zuvor angemerkt haben, dafs die
Bildung der Periode auf dem Gegensatze des J a und Nein (auf der so-
genannten Qualität des Urtheils) beruht, und dieses wiederum ein
mögliches Schweben zwischen Ja und Nein voraussetzt. Das Nein,
welches gewifs kein Erfahrungsbegriff seyn [373] kann, da alle Erfahrung
nur Positives giebt, ist nichts anderes als eine veste Hemmung, wogegen
eine Vorstellungsreihe anläuft. Absolut vest braucht die Hemmung nicht
zu seyn; nur so vest, wie die Aufsenwelt sich uns zeigt, wenn sie, unserti
Wünschen und Bemühungen trotzend, uns fortwährend einerley Wahr-
nehmung erneuert; so dafs dagegen unsre Wünsche vergeblich anlauten,
und hiedurch verneint werden. Dafs auch diese Art von relativer Vestig-
keit nicht ursprünglich in den einzelnen Vorstellungen liegt: weifs man
aus den ersten Elementen der Statik des Geistes, bey fortschreitender
Ausbildung aber kann sehr leicht in einem Systeme von Vorstellungen
eine Wirksamkeit entstehn, die sich gegen ein anderes eben s< > 6 artwShrend
A2A XI. Psychologie als Wissenschaft.
erneuert, wie die äufeere Anschauung gegen die von innen hervordringen-
den Gedanken.
§ I02.
Die Lehren der Mechanik des Geistes sind so allgemein, dals sie
auch dann noch gelten müfsten, wenn wir in einer ganz anderen Natur,
als in der wirklichen, lebten ; so wie die Mechanik der vesten Körper sich.
mutatis mutandis, ohne besondre Schwierigkeit auch auf eine Astronomie
würde übertragen lassen, deren Grundgesetz eine ..Anziehung verkehrt wie
der Würfel der Entfernung seyn möchte. Damit würden aber die Er-
scheinungen der Himmelskörper keineswegs zusammenstimmen; will der
Astronom, während er rechnet, die Thatsachen nicht ganz aus den Augen
verlieren, so mufs er innerhalb solcher Voraussetzungen bleiben, die zu
den Thatsachen passen. Eben so: wollen wir allmählig uns vorbereiten,
die Mechanik des Geistes mit dem zu verknüpfen, was wir in uns fühlen,
und aus der Erfahrung von uns wissen: so ist es nöthig, dafs wir uns,
nun bestimmter, als zuvor, an unsre Welt, das heifst, an die eigenthüm-
lichen Beschaffenheiten solcher Yorstellungsreihen erinnern, die sich im
menschlichen Geiste unter [374] den vorhandenen menschlichen Verhält-
nissen unwillkührlich bilden.
Hier kommen uns nun zuerst die Unterschiede des Thätigen und
Leidenden entgegen. Viele Complexionen wahrgenommener Merkmale,
— oder, in unserer gewöhnlichen Sprache, viele Dinge, — zeigen sich
und ihre Veränderungen in der Regel nur als Endpuncte von Reihen,
die von andern Dingen ausgehn; oder doch nur in so fern als x\nfangs-
Puncte, wie fern sie zuvor Endpuncte früherer Reihen waren. Weit sel-
tener sind die andern Dinge, von denen eben so oft Reihen ausgehn,
als bey ihnen anlangen. Jene erstem nun werden als Stoff, als Materie,
die mit sich machen läfst, bezeichnet; diese letztern, so fem sie von
vielen verschiedenen Reihen die möglichen Anfangspuncte sind, denkt man
als thätig, als Quelle und Ursprung von Ereignissen.
Man unterscheide hier sorgfältig, was die Worte: Thun und Leiden,
eigentlich bedeuten sollten, von dem, was sie in gemeiner Sprache wirk-
lich bedeuten. Jenes ist eine metaphysische Frage, deren Gewicht der
gemeine Verstand gar nicht empfindet, und deren Beantwortung nicht
hieher gehört; aber die zweyte, psychologische Frage ist schon vollständig
beantwortet durch das, was oben von den Vorstellungsreihen gelehrt
wurde. Wer sich ein Thun denken will, der versetzt sich in einen Zu-
stand, als ob in ihm eine Reihe dergestalt abliefe, dafs sie vorzugsweise
durch das reproducirende Streben des Anfangsgliedes hervorgehoben würde;
um den Verlauf der Reihe bekümmert er sich dabey nicht. Deshalb ist
eine Quelle das natürliche Symbol des Thätigen; obgleich sich bey
näherer Betrachtung finden würde, dafs auch hier alles, was das sinnliche
Auge wahrnimmt, sich lediglich leidend zeigt, indem ja tlie Einfassung der
Quelle ruhet, und das ^'asser blofs hervortritt, um fortzufiiefsen, ohne
irgend etwas, wenn nicht zufällig, zu ergreifen und abzuändern. Aber
unsern eigenen Gemüths[375]zustand, indem eine Vorstellung die von ihr
ausgehende Reihe hervorzuheben strebt, leihen wir der Quelle; darum
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 425
belebt sie sich für uns, als ob auch in ihr etwas wäre, welches sich an-
strengte, das Wasser zu heben und zu fördern. Ueberhaupt bedeutet im
gemeinen Sprachgebrauche die Redensart: das kommt davon, genau so
viel als: dies hier ist die Wirkung von jener Ursache dort; und wenn
hiemit der gemeine Verstand noch ein dunkles Gefühl des Widerspruchs
verbindet, der in dem Leidenden entstanden wäre, wenn es sich selbst
verändert hätte, so geht er schon weiter als die Kantische Schule ihn
führen würde, die, freylich seltsam genug, in dem Causal - Begriff auch
nichts anderes zu finden wufste, als den Anfang einer Reihe.
Ein zweyter Umstand, den wir aus unserm Verhältnisse zur Aufsen-
welt hervorheben müssen, ist die Beweglichkeit des Menschen in
seiner Umgebung. Ohne diese würden die Anschauungen der Dinge
stets für die Dinge selbst gehalten werden; dadurch aber, dafs der Mensch
einen Unterschied des Abwesenden und des Gegenwärtigen fafst, lernt er,
dafs den Gegenständen ihr Erscheinen oder Nicht-Erscheinen zufällig ist.
Die Gegenstände bekommen, so lern sie vest stehn, auch veste Plätze in
seinen sich»allmählig bildenden, ordnenden, und verknüpfenden Vorstellungs-
reihen, worin die Reihenfolge der Anschauungen aufbewahrt wird. Ihr
Erscheinen aber (ihre Sichtbarkeit, Hörbarkeit u. dergl.) wird ihnen wie
eine Art von Ausstrahlungs-Sphäre zugeschrieben, die mit wachsender Ent-
fernung an Stärke abnimmt. Sie selbst, die Gegenstände, werden betrachtet
als das, woher das Erscheinen kommt; und der Mittelpunkt, in welchem
die Strahlen des Erscheinens sich von allen Seiten her vereinigen und
kreuzen, legt den Grund des Ich, welches zu seiner Ausbildung noch
der innern Welt bedaif, die in der Mitte der Aufsenwelt oder des Nicht-
Ich sich umherbewegend, nicht blofs Reihen in sich aufnimmt und endigt,
sondern auch andre Reihen theils von [376] sich aussendet, theils auszusenden
im Begriff ist, durch welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt,
clafs man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder passiv erscheine,
indem fast stets beydes zugleich und nahe in gleichem Maafse Statt findet.
Die innere Welt aber, oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in
steter Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung höchst ver-
schieden; sie erscheint anders dem Dichter, anders dem Philosophen, und
beyden anders als dem schuldbewufsten Sünder, oder als dem Tugend-
haften, der sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal aber baut
sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die Aufsenwelt; so dafs auch in
ihr das Ich wie ein umhervvandelnder Punct erscheint, dem bald diese
bald jene Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zerlegen,
so wird man finden, dafs sie gerade so wie unsre Aufsenwelt, aus Vor-
stellungsreihen besteht ; mit dem Unterschiede, dafs in ihr die Gesetze der
Wirksamkeit und Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren,
als in der Aulsenwelt, in welche wir jeden Augenblick neue Vorstellungen
aufnehmen müssen, weil unser Verhältnifs zu dem, was wirklich aufser
uns existirt, sich unaufhöilieh ändert.
Bei dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht als ob die innere
Wahrnehmung nicht in die Mechanik des Geistes gehörte. Unstreitig
mufs eine Zeit kommen, wo man auch das Verhältnifs derjenigen Vor-
stellungs - Massen, die sich zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen
2 5 XI. Psychologie als Wissenschalt.
Umgebungen und Umständen bildeten, auf synthetischem Wege vollständiger
untersuchen wird, wie es auf analytische Weise geschehen kann. Viel-
leicht wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige von den
Gesetzen erkennen, nach welchen von den stärkeren und älteren jener
A'orstellungsmassen die schwächern appercipirt werden; ähnlich der An-
eisrnuno; neuer Wahrnehmungjen des äufsern Sinnes durch die älteren Vor-
Stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute [377] beurtheilen.
Die Aufforderung, Untersuchungen dieser Art anzustellen, ist von der
dringendsten Art; denn es kommt darauf an, die Bedingungen der Selbst-
beherrschung zu finden, von welcher offenbar die Apperception des eignen
Inneren die erste Voraussetzung ist. Es kommt darauf an, die praktische
Vernunft zu ergründen, welche man durch die praktische Philosophie
allein noch nicht hinreichend kennen lernt. Denn die Vernunft ist kein
blofses Sollen, sie ist auch ein wirkliches Handeln; sie vollzieht alle-
mal in einigem Grade das, was sie gebietet; es bewegt sich allemal durch
sie der innere Mensch, wenn er auch nur erschüttert, und nicht von der
Stelle gerückt wird.
Sollen aber die synthetischen Untersuchungen so weit fortgeführt
werden: so müssen die Elemente, welche ich hier vortrug, erst geprüft,
dann vollständiger ausgearbeitet werden. Diese Mühe, wer wird sie über-
nehmen? Ohne Zweifel der Erste, dem dies Buch begegnet, wenn er so
viel Mathematik versteht, als nöthig ist, und wenn er sich in das Ganze
meiner Lehre zu finden weifs. Allein damit pflegt es nach meinen Er-
fahrungen etwas lange zu dauern. Manchmal habe ich bemerkt, dafs Zu-
hörer, die ungefähr auf dem Puncte standen, wohin ich den Leser jetzt
geführt habe, nun erst irre wurden an dem Ich; nun erst bemerkten, mit
welchem schwierigen Probleme sie von Anfang an beschäftigt gewesen
waren; nun erst in die Stimmung des Nachdenkens geriethen, worin sie
vom ersten Anfang an hätten seyn sollen, Wohl denen, die, wenn auch
spät, doch wenigstens irgend einmal dazu gelangen, sich zum ernstlichen
Forschen aufgeregt zu fühlen !
Nun erst werden auch diejenigen Untersuchungen gelingen können,
mit welchen sich das philosophische Publicum in den letzten Zeiten ver-
gebens beschäfftigt hat.
[378] Kant begann ein preiswürdiges Unternehmen, indem er den
frühern Dogmatismus durch Kritik des Erkenntnifsvermögens , — das
heifst: durch die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens, — er-
schütterte, und neue Anstrengungen des Denkens hervorrief. Aber in so
fern er damit ein neues System begründen wollte, fehlte es ihm selbst am
Grunde und Boden. Dem starken Geiste fehlten die nothwendigen Hülfs-
mittel und Vorarbeiten.
Es liegt mir ob, im zweyten Theile dieses Werks die Möglichkeit des
Erkennens aus psychologischen Principien zu erklären und zu begränzen.
Dort aber wird sich diese Absicht meiner Bemühungen vielleicht zu sehr
unter den übrigen verlieren; daher, und um einigen Lesern mehr An-
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.
427
knüpfungspuncte darzubieten, will ich hier noch anhangsweise einige Be-
merkungen über die Kant'sche Lehre, sofern sie Kritik seyn soll, hinzu-
fügen. Dabey könnte ich mich auf den Erfolg berufen, und diesen gegen
Kant gelten machen. Die Sätze, dafs Räumliches und Zeitliches blofse
Erscheinung, Substanzen und Ursachen nur unsre Gedanken, Einheit und
Regierung der Welt nur Ideen der Vernunft seyen, haben bekanntlich die
Nachfolger verleitet, sich die Welt a priori zu construiren ; und sich in
sich selbst zu versenken, um die Dinge wie sie sind, aus der Idee hervor-
gehen zu lassen. Diese ganz unkritische Art zu philosophiren setze ich
fürs erste bey Seite, denn sie war nicht Kant's Absicht, der vielmehr das
Wissen vom Glauben trennen, und es auf Erfahrung beschränken wollte.
Was aber mich eigentlich beschäfftigt, das ist das Unkritische der Kant-
schen Kritik selbst.
Kann man das Erkenntnifsvermögen kritisiren, wenn man den Procefs
des Erkennens ganz und gar verkennt ? wenn man nicht einmal nach
diesem Processe fragt; wenn man unterläfst, die Nachforschung auf ihn
zu richten ?
„Was sind Raum und Zeit ?" So stellt Kant die Frage seiner
transscendentalen Aesthetik. Er macht also [379] den Raum und die
Zeit zu Objecten seines Denkens. Kein Wunder, dafs seine Antworten sich
auf den Weltraum beziehn, der übrig bleibt, wenn die Körper weggedacht
werden; und auf die Zeit, worin die Weltbegebenheiten geschehn ; der-
gestalt, dafs dieser Raum und diese Zeit die notwendigen Voraussetzungen
der Sinnenwelt selbst auszumachen scheinen. So wird das Leere dem
Vollen vorausgeschickt; das Nichts wird zur Bedingung des Etwas. Gewifs
die seltsamste und ungereimteste aller Täuschungen !
In der That aber ist der Raum nur die Möglichkeit, dafs Körper da
seyen, und die Zeit nur die Möglichkeit, dafs Begebenheiten geschehen.
Diese Möglichkeiten lassen sich nicht mehr ableugnen, nachdem einmal
wirkliche Körper wirklich als ein Räumliches, Ausgedehntes und Be-
gränztes aufgefafst, und nachdem einmal wirkliche Begebenheiten als
dauernd eine bestimmte Zeit, und als solche, die gerade nicht früher ein-
traten und nicht später endigten, sind vorgestellt worden. Gerade dasselbe
gilt von allem, was sich jemals in der Wirklichkeit vorgefunden hat. Man
denke einmal alle wirklichen Töne und Laute, alles Hörbare hinweg !
Das kann man ; aber die Möglichkeit, dafs Töne gehört werden könnten,
kann man nicht leugnen. Folglich bleiben auch alle Regeln der Musik
gerade so unwandelbar stehn, wie die Geometrie ohne Körperwelt. Das
Verhältnifs der Terzen, Quinten, Octaven ; die Notwendigkeit, den Leitton
nach oben, die kleine Septime aber nach unten hin aufzulösen, dies alles
steht vest a priori, ob nun in diesem Augenblick wirkliche Saiten und
Ohren vorhanden sind oder nicht. Desgleichen denke man alle Farben
hinweg: aber die Möglichkeit der Farben kann man nicht leugnen; folg-,
lieh auch nicht den Satz, dafs das Farbendreyeck zwei Dimensionen, hin-
gegen die Tonlinie nur eine Dimension habe. Nichts desto weniger be-
ziehen sich alle diese Sätze auf vorausgesetzte Töne und Farben, die
wirklich gehört und gesehen werden könnten; und eben [3 80] so bezieht
sich das Aufser- Einander auf irgend ein a und b, welches könnte eins
428 -^-I- Psychologie als Wissenschaft.
hier und das andre dort sevn ; und das Nach-Einander auf ein « und
[i, wovon eins früher und ein andres später kommen soll. Die Form der
Zusammenfassung ist freylich losgerissen vom Zusammengefafsten ; sie ist
über dasselbe hinaus, ins Unendliche erweitert worden, weil die Erweite-
rung, nachdem sie einmal in Gang kam, durch keine Gränze aufgehalten
wurde; das heifst, weil eine Unmöglichkeit des weitern Aufser-
und Nach-Einander nirgends anfängt. Gerade so fanden wir oben
das Ich losgerissen von allen individuellen Bestimmungen. Aber nichts
desto weniger bezieht sich das Ich auf die Individualität, der Raum auf
das Räumliche, die Zeit auf das Zeitliche ; und die Kantische Untersuchung,
die eher vom Raum als vom Räumlichen redet, behandelt die leere Form
als eine Sache, zerreifst Beziehungspunct und Bezogenes; kehrt das
Hinterste nach vornen, und klebt an nichtigen Hirngespinnsten.
Was geschieht in mir, indem ich a, b, c, d neben und aufser ein-
ander denke ? Denn vom Anschauen mit dem leiblichen Auge ist hier
nicht nöthig zu reden. Welche Modification erleidet mein Vorstellen des
a dadurch, dafs sich mit ihm das Vorstellen des b, C, d durch die Be-
stimmung verbindet, b liege zwischen a und c, und wiederum c zwischen
b und d? Warum ist mein Vorstellen im Uebergange von a zu d, oder
von d zu a begriffen, und warum geschieht dieser Uebergang nicht sprung-
weise ? Da alle diese Vorstellungen in mir sind, nehmen sie denn auch
in mir einen Raum ein ? Etwa so, wie die eingebildeten materialen Ideen,
das heifst, Gehirn-Eindrücke, in verschiedenen Theilen der Gehirnmasse
neben einander liegen sollten? Wenn dies eine lächerliche Hypothese
ist, wie geht es denn zu, dafs mein Vorgestelltes sich aufser einander, und
reihenförmig darstellt, während doch die Acte des Vorstellens hiebey
schlechterdings nicht auseinander gerissen werden dürfen ?
[381] Das sind die Fragen, die beantwortet werden müssen. Sie
passen auf die Landkarte von Utopien eben so gut, als auf die von
Europa ; und, mit gehöriger Abänderung auf die Zeit übertragen, eben so
wohl auf die Geschichte von Udepoten, als auf die vom Erdball und vom
Sonnensystem. Die Antworten darauf müssen eben so wohl die Raum-
vorstellungen des Hundes und des Hasen erklären, als die des Menschen,
obgleich von den Thieren schwerlich jemand glauben wird, sie stellten
Raum und Zeit als unendliche gegebene Gröfsen vor. Wo und wie
irgend ein Räumliches oder Zeitliches gedacht, oder gedichtet, oder ge-
träumt, oder gesehen, oder gefühlt, oder als Symbol gleichnifsweise zur
Erläuterung unsinnlicher Gegenstände gebraucht und gestaltet wird, in diesen
und allen erdenklichen Fällen mufs das Vorgestellte darum geordnet aus-
einander treten, weil in dem Vorstellen ein geordnetes Streben ist, ver-
möge dessen jede kleinste Partial - Vorstellung alle die andern in be-
stimmter Reihenfolge nach sich zieht, und in sie hinüberfliefst Zu er-
klären, wie dieses Streben und Wirken in die Vorstellungen
komme, das war die Aufgabe; aber ein paar unendliche leere Gefäfse
hinzustellen, in welche die Sinne ihre Empfindungen hineinschütten sollten,
ohne irgend einen Grund der Anordnung und Gestaltung, das war eine
völlig gehaltlose, nichtssagende, unpassende Hypothese.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 42 0,
Eben so unkritisch war die Uebereilung, darum, weil Raum und Zeit
Formen unseres Anschaueiis sind, zu behaupten, sie wären nicht Formen
der Auflassung unsinnlicher Gegenstände, oder mit andern Worten, sie
kämen den Dingen an sich nicht zu. Gerade umgekehrt ! Dieselben
Gründe, derentwegen das Farbige und das Fühlbare sich räumlich ordnet,
kehren mit geringer Veränderung auch dort wieder, wo. die Mannigfaltig-
keit des unsinnlichen Realen im zusammenfassenden Denken soll über-
schauet werden. Wir schauen freylich blofs mit den Sinnen, wenn
Schauen eine formale Modifikation des [382] Empfindens seyn soll.
Aber die Form des Anschauens hat eine viel weitere Sphäre; sie ist
Form des geordneten Zusammenfassens überhaupt, der Gegenstand sev
welcher er wolle. Nur allein da, wo alle Zusammenfassung wegfällt; da,
wo man das primitive Reale einzeln betrachten will: hier gilt auch keine
Form der Zusammenfassung ; hier müssen Raum und Zeit verneint wer-
den. Räumliches und Zeitliches ist seinem Begriffe nach ein Relatives;
jedes Reale an sich betrachtet ist ein Absolutes; darum, und aus keinem
andern Grunde, ist das Reale an sich unzeitlich und unräumlich.
Ungeachtet aller Mängel behält gleichwohl die KANTsche transscenden-
tale Aesthetik immer noch ihr grofses Verdienst durch die einfache Be-
merkung, dafs Raum und Zeit Formen des Vorstellens sind. Dasselbe
Verdienst besitzt auch die transscendentale Logik in Ansehung der so-
genannten Kategorien; indessen ist längst bemerkt worden, dafs dieser
Theil der Kant sehen Lehre noch viel hohler und verworrener ist als
jener. Man würde ein weitläufiges Werk schreiben müssen, um die un-
geheure Masse von Fehlern aller Art, welche sich hier aufgehäuft findet,
auseinander zu setzen; und niemals hat sich die Blindheit der Sectirer
auffallender gezeigt, als an den Kantianern, die viele hundertmal diese
Fehler nachgebetet, und der Welt als hohe Weisheit angepriesen haben.*
Nichts in diesem ganzen Abschnitte der Vernunftkritik ist gesund; von
dem eingebildeten Leitfaden zur Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe,
der in einer falschen Tabelle der logischen Functionen bestehn soll, bis
zu der dreisten und völlig grundlosen Behauptung einer Wechselwirkung
aller Substanzen, wobey das Zugleichseyn der Dinge für eine objeetive
Bestimmung [383] derselben ausgegeben wird (als ob daraus, dafs der
Jupiter im Zeichen der Zwillinge steht, und dort mit den Sternen dieses
Zeichens zugleich wahrgenommen wird, ein Causalverhältnifs zwischen diesem
Planeten und jenen Fixsternen folgte), ist hier Alles leere System-Künsteley,
und Mishandlung der wichtigsten metaphysischen Grundbegriffe. Von
dieser meiner Behauptung, die ich im Nothfalle durch einen ausführlichen
Commentar belegen werde, kann ich hier nur den einen Punct näher be-
leuchten, welcher den obigen Fehlern der transscendentalen Aesthetik ana-
log ist.
Was ist Einheit und Vielheit? Was Realität und Negation? Was
Substanz und Ursache? Was Möglichkeit und Notwendigkeit? Sind es
* Die Starrheit mancher Kantianer ist so grofs, dafs sie als drofsc etwas Achtungs-
werthes bekommt. Auch haben diese Männer darin Recht, dafs sie nicht mit den
rüstigen Führern der Zeit vorwärts eilen wollten; aber sehr unrecht, wenn sie vom
Standpuncte Kants auch nicht weiter rückwärts gehen wollen.
aoq XI. Psychologie als Wissenschaft.
leere Gefäfse, aufgestellt im menschlichen Verstände, in welche die Er-
fahrung ihre Anschauungen hineinschütten und bunt durch einander werfen
soll? Auf welche Anschauung (die als solche allemal positiv ist) pafst die
Kategorie der Negation; und wann ist von irgend einem anschauenden
Wesen ein Negatives unmittelbar wahrgenommen worden? Welche Sub-
stanz, in ihrem Gegensatze als letztes Subject gegen ihre Prädicate,
Attribute und Accidenzen, und als Beharrliches gegen das Mancherley
was an ihr wechselt, ist jemals ins Reich der Erscheinungen eingetreten?
Welche Kraft hat je die Nothwendigkeit, womit aus ihr die Wirkung folgt,
den Sinnen dargeboten? Welche Möglichkeit, in ihrem Gegensatze gegen
das Wirkliche, hat jemals ihren Platz mitten unter den Erfahrungen, die
als solche lauter Wirklichkeiten sind, eingenommen und behauptet? —
Wenn nun die Anschauung, unmittelbar und für sich allein, ganz unfähig
ist, sich der zu ihr gehörigen Kategorien zu bemächtigen: wie kommen
denn diese dazu, sich jener zu bemächtigen? Durch den Verstand?
Also hat der Verstand die Realität früher als das Reale, die Substantialität
früher als bestimmte Substanzen, die Causalität eher als bestimmte Ur-
sachen, die Wirklichkeit eher als wirkliche [384] Dinge! Gerade so hatte
die Sinnlichkeit eher die leeren Undinge, Raum und Zeit, als das Räum-
liche und das Zeitliche ! Aber Realität, Substantialität, Wirklichkeit u. s. f.,
sind nichts als abstracte, und, wie die Geschichte der Metaphysik bezeugt,
sehr dunkle Begriffe, die, wenn sie zu den Anschauungen gleichsam als
eine fremde Zuthat hinzukämen, ihnen den sehr schlechten Dienst leisten
würden, sie zu verfinstern und zu verwirren, anstatt sie zu ordnen und
verständlich oder verständig zu machen. Ist der Verstand ein Vermögen,
die Anschauungen zu verderben ? Ihrer Klarheit ein trübes Element bey-
zumischen ? Dafs für ihn zu fürchten sey, er werde im Vergleich mit der
Sinnlichkeit verlieren, scheint Kant gefühlt zu haben; denn sonst lag ihm
die Versuchung sehr nahe, seine transscendentale Logik und Aesthetik ganz
analog und parallel abzufassen. Den bekannten vier Sätzen der meta-
physischen Erörterung über Raum und Zeit wären dann folgende vier
Behauptungen gegenüber getreten :
1. Damit gewisse Empfindungen als Attribute auf eine Substanz, als
Wirkungen auf eine Kraft u. s. w. bezogen werden, dazu müssen die Vor-
stellungen von Substanz, Kraft u. s. f., schon zum Grunde liegen.
2. Substanz, Kraft, Reales, Nothwendiges u. s. f., sind nothwendige
Vorstellungen a priori. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon
machen, dafs gar Nichts sey und wirke, obgleich man sich ganz wohl denken
kann, dafs jedes einzelne Ding, jede einzelne Thätigkeit aufgehoben würde.
3. Substanz, Realität, Kraft u. s. w., sind keine discursiven, allgemeinen
Begriffe, sondern reine Anschauungen. Denn erstlich kann man sich nur
eine einzige Substanz vorstellen; und wenn man von vielen Substanzen
redet, so verstehet man darunter nur Theile einer und derselben alleinigen
Substanz. Diese Theile können auch nicht vor der einigen allbefassenden
Substanz gleichsam als deren Bestandtheile (daraus ihre Zusammensetzung
m(">g[385]lich sey), vorhergehen, sondern nur in ihr gedacht werden. Sie
ist wesentlich einig; das Mannigfaltige in ihr, mithin auch der allgemeine
Begriff' von Substanzen überhaupt, beruhet lediglich auf Einschränkungen.
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 43 1
Hieraus folgt, dafs in Ansehung ihrer eine Anschauung a priori allen Be-
griffen von derselben zum Grunde liegt. So werden auch alle naturphilo-
sophische Grundsätze, z. E. dafs alle Substanzen in der Welt in Wechsel-
wirkung stehn, niemals aus allgemeinen Begriffen von Substanz und Welt,
sondern aus der Anschauung, und zwar a priori, mit apodictischer Ge-
wifsheit abgeleitet.
4. Die Substanz wird als eine unendliche gegebene Gröfse vorgestellt.
Diese Unendlichkeit bedeutet Nichts weiter, als dafs alle bestimmte Gröfse
von Substanzen nur durch Einschränkungen einer einzigen zum Grunde
liegenden Substanz möglich sey. Daher mufs die ursprüngliche Erkennt-
nis der Substanz als uneingeschränkt gegeben seyn.
Wer Kants Kritik aufschlägt, wird sehn, dafs ich hier mit geringer
Veränderung wörtlich abgeschrieben habe. In diesen Sätzen spiegelt sich
aber die heutige sogenannte Naturphilosophie so klar, dafs Niemand mir
die veränderte Lesart als meine Erfindung zurechnen wird.
Nun hat Kant, obgleich er die Symmetrie, die er hier so leicht er-
langen konnte, nur gar zu sehr liebte, doch nicht für gut befunden, sich
selbst in der Lehre von den Kategorien also abzuschreiben. Er läfst es
sich vielmehr eine saure Mühe kosten, seine Kategorien als Formen der
Verknüpfung darzustellen, wodurch das Mannigfaltige der Erfahrung,
nicht blofs so, wie es in der Zeit zufällig zusammenkomme, sondern wie es
in der Zeit objeetiv sey, zu einer Erkenntnifs von Objecten zusammen-
trete. Die Substantialität ist daher bey ihm keine Substanz, die Realität
kein Reales, die Causalität keine Kraft, sondern es sollen erst Substanzen
reale Gegenstände, Kräfte u. s. w., in der zeitlichen Erfahrung gefunden
werden; und nach seiner ausdrücklichen Versiche[386]rung „hat die Kate-
gorie keinen andern Gebrauch zur Erkenntnifs der Dinge, als ihre An-
wendung auf Gegenstände der Erfahrung."
Kant sähe also ein, dafs in Ansehung der wahren Bedeutung der
Kategorien alles auf die Frage ankomme: wie bildet sich unsre Er-
fahrung?
Wenn er nun dies einsah: wie mag es zugegangen seyn, dafs er in
einer so wichtigen Untersuchung die einfachsten Zeugnisse der Erfahrung
selbst überhörte ?
Es ist nämlich klare Thatsache: dafs in Ansehung des Gebrauchs,
den wir von den Kategorien zu machen haben, die Erfahrung
noch bey weitem nicht vollständig bestimmt, dafs sie nichts
Fertiges, sondern im Werden und im Schwanken begriffen ist.
Das Universum, ist es Eins? Oder ist die Welt nur eine Summe
von ursprünglich Vielem? Darüber ist Streit! Das geistige Erdenleben des
Menschen, ist es eine Realität, oder eine Negation, und blofse Ein-
schränkung eines höheren Daseyns ? Darüber ist Streit! Die Imponde-
rabilien, Licht, Wärme, Elekricität u. s. w., ja die Seele selbst, sind es
Substanzen oder Accidenzen? Darüber ist Streit! Die sogenannten
freyen Handlungen der Menschen, sind sie zufällig oder nothwendig?
Darüber ist Streit !
Wie sollen diese Streitfragen zu ihrer Beantwortung gelangen ? Durch
die Kateo-orien? Allerdings müfste es so geschehen, wenn dieselben den
±7.2 Xi Psychologie als Wissenschaft.
vollständigen Grund ihrer Anwendung auf Erfahrungsgegenstände in sich
selbst enthielten. Warum aber, wenn die Kategorien in jedem mensch-
lichen Verstände, die nämlichen, wenn die Verfahrungsarten und Gesetze
des Verstandes in uns Allen die gleichen sind, warum finden wir nicht
alle die Beantwortung dieser Fragen auf gleichlautende Weise? Ohne
Zweifel darum, weil weder unser Nachdenken vollendet, noch unsre Wahr-
nehmung und Beobachtung vollständig ist.
[387] Noch weit weniger vollendet ist die Erfahrung des gemeinen
Mannes, so wie er sie sich denkt. Er empfindet jeden Augenblick Wärme
oder Kälte; aber die Fragen: Ist die Wärme eine Substanz? Mufs
man die Kälte blofse Negation der Wärme, oder umgekehrt die
Wärme als Aufhebung der Kälte betrachten? — Diese Fragen
fallen ihm nicht ein. Er hält von Jugend auf das Wasser für eine Sub-
stanz; aber bey weiterer Ausbildung läfst er sich geduldig belehren: das
Wasser sey nur eine Verbindung des Eises mit der Wärme, das Eis aber
nur eine Form, wie Sauerstoff und Wasserstoff verbunden sich in der Er-
scheinung darstellen. Seine Kategorien haben ihn nicht belehrt, und
widersetzen sich der Belehrung nicht; sie verhalten sich blofs passiv!
Die kritische Untersuchung des Verstandes, was will sie nun eigent-
lich wissen? Die Anzahl der ursprünglich vorhandenen Kategorien? An-
genommen, es gäbe dergleichen ursprüngliche Denkformen wirklich : so sind
dieselben für sich allein nur leere Begriffe, aber kein wirkliches Denken
und Erkennen; dasjenige aber, was wir kritisiren wollten, um es besser
zu leiten, war eben das wirkliche Erkennen. Die Bewegung, welche in
uns vorgeht, während wir denken, die Aufregung, die Erregbarkeit,
selbst, welche dabey vorausgesetzt wird, diese mufste untersucht werden.
Hat aber diese Bewegung bestimmte Gesetze, denen sie mit Not-
wendigkeit folgt: so können auch die Kategorien Erzeugnisse des
Denkens sevn; und zwar unvollendete Erzeugnisse eines noch weiter
fortzusetzenden Denkens. Die Notwendigkeit, welche einigen Lehr-
sätzen über dieselben bevwohnt, ist alsdann zwar nicht empirisch, sondern
a priori] jedoch auf eine Weise, die mit präformirten Begriffen nicht die
geringste Aehnlichkeit hat. Hierüber schweigen aber die Argumente der
Kant sehen Schule gänzlich, und das ist sehr natürlich, denn sie hat vom
Mechanismus des Denkens keine Kenntnifs.
[388] Kant dachte sich seine Kritik als Propädeutik zu einem künftigen
System. Hinwiederum seine Lehre von den Formen der Sinnlichkeit und
des Verstandes sollte die Vorbereitung ausmachen zur Kritik der Vernunft
im engem Sinne. Allein ich glaube jetzt hinreichend gezeigt zu haben,
dafs noch etwas ganz anderes, nämlich die Hauptansichten der Statik
und Mechanik des Geistes, vorausgehn müssen, wenn selbst das, was
Kant als seine Elementarlehre betrachtete, zum Gegenstande einer gründ-
lichen Untersuchung soll gemacht werden. Im Allgemeinen hat man
längst erkannt, dafs der Kant sehen Kritik irgend etwas vorangeschickt
werden müsse. Aber man wird sich nicht verhehlen können, dafs Reix-
hold, Fichte und Schelling sich in ihren Bemühungen, die Kant sehen
Untersuchungen besser zu begründen, sehr weit von diesem Gegenstande
entfernten; während Fries, Krug u. a. der Darstellung ihres Meisters
Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 433
so nahe blieben, dafs eigentlich nur die Form des Vortrags geändert wurde.
Die deutsche Philosophie befindet sich nun noch immer in einer solchen
Lage, dafs Kants Schriften die Hauptwerke sind, welche Jeder lesen mufs,
um sich zu orientiren; dafs also auch der Gang, welchen Kant einmal
eingeschlagen hat, eine ganz entschiedene historische Wichtigkeit behauptet,
wie man auch übrigens darüber urtheilen möge. Daher können wir diese
Lehren von den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes weder bey
Seite setzen, noch sie mit allen ihren Fehlem so lassen wie sie sind; es
bleibt nichts anderes übrig, als sie genauer zu prüfen. Wollen nun einige
Leser dieses Buchs sich vorläufig selbst versuchen, ob sie aus dem, was
hier vorgetragen worden, sich Rechenschaft über den Ursprung unserer
Vorstellungen von Raum, Zeit, und den Kategorien herleiten können: so
wird dies für sie eine zweckmäfsige Vorbereitung auf den zweyten Theil
dieses Werks seyn; obgleich meine Absicht, indem sie die ganze
Psychologie umfafst, sich beträchtlich weiter erstreckt.
Durch Fichte, und ganz unstreitig schon durch sei[3 Schnell Vor-
gänger Kant, war die Philosophie auf den Weg des Idealismus gerathen;
hier stand ihr ein theoretischer, höchst durchgreifender Irrthum im Wege,
und sie konnte nicht von der Stelle kommen. Später sind die Dinge des
Wissens und des Glaubens, die Kant sorgfältig geschieden hatte, wieder
durch einander gemengt worden; daher ist der Untersuchungsgeist gelähmt;
der Nebel der Mystik hat sich überall ausgebreitet; und die Philosophie
liegt wiederum still. Den Idealismus zerstört die Untersuchung über das
Ich, schon in der noch unvollendeten Gestalt, wie ich sie hier (mit dem
Vorbehalte, sie im zweyten Theile dieses Werkes wieder aufzunehmen)
fürs erste liegen lasse. Damit die Mystik sich von der Wissenschaft zu-
rückziehe, braucht nur die Verbindung zwischen Mathematik und Philo-
sophie, die ich hier wieder angeknüpft habe, gehörig benutzt zu werden.
Daher schliefse ich diesen Theil mit der Ueberzeugung, schon jetzt das
Nothwendige geleistet zu haben, um die Wissenschaft von ihren Hinder-
nissen zu befreyen. Nur guter Wille mufs hinzukommen; diesen kann ich
nicht schaffen, ich kann ihn nur wünschen, nicht mir sondern der Wissen-
schaft. Wenn man nicht nachdenken will, so gehn nicht blofs meine
Bemühungen verloren, sondern jeder Andere, der Aehnliches versucht,
wird gleiches Schicksal haben. Glaubt dies heutige Geschlecht, es dürfe
nur mit alten Formen und Gebräuchen auch alte Meinungen und Irrthümer
wieder auf die Bahn bringen; versinkt es in den Wahn von einer goldenen
alten Zeit, die Einige in die Jahre unserer Väter, Andre ins Mittelalter,
noch Andre in eine vorhistorische Periode hineindichten; kennt es keine
andre Weisheit als den Empirismus, und liebt es kein geistiges Wohlseyn
aufser Träumen unci Ahnungen; so wird der psychologische Mechanismus,
der in der Weltgeschichte wie im Einzelnen wirkt, die nächsten Jahr-
hunderte so fortführen, wie er die vorhergehenden geführt hat; man wird
abwechselnd von Freyheit und von Gesetzmäfsigkeit reden, und weder
Eins [390] noch das Andre erreichen; die Literatur wird die Bibliotheken
sprengen; aber aus allem Schreiben und Lesen, ja aus allem Beobachten
und Versuchen wird kein wahres Wissen hervorgehn. Einer spätem Zeit
aber ist es alsdann vorbehalten, sich das Licht, was man hatte ausgeht)
2B
,?a XI. Psychologie als Wissenschaft.
lassen, noch einmal anzuzünden. Was geschehen kann, das geschieht
irgend einmal gewifs. Dem menschlichen Geiste ist es möglich, seine
wahre Natur zu erkennen; darum wird er sie erkennen; alsdann werden
die Wege des Lebens sich erhellen; der Mensch wird wissen was er thut,
er wird seine Kräfte nutzen, und nicht mehr blindlings sein Heil zer-
stören.
u
DEC 1 5 1983