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Full text of "Sämtliche Werke : in chronologischer Reihenfolge"

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JOH.  FRIEDR.  HERBART'S 

SÄMTLICHE    WERKE. 


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JOE  FR.  HERBART'S 


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SÄMTLICHE  WERKE. 


H 


IN    CHRONOLOGISCHER  REIHENFOLGE 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


KARL  KEHRBACH. 


FÜNFTER   BAND. 


mIcroformeo  b 

NOV.  .2.2.  M 


LANGENSALZA, 
DRUCK  und  VERLAG  von  HERMANN  BEYER  &  SÖHNE. 

1890. 


VORREDE 

des  Herausgebers  zu  den  Schriften  des  fünften  Bandes. 


Citierte   Ausgaben. 

A.  P.  M  =  Altpreufsische  Monatsschrift,  herausgegeben  von  Reicke  u.  WlCHART. 
HR  =  HERBART'sche  Reliquien,  herausgegeben  von  T.  Ziller. 
KlSch  =  J.    F.    Herbart's    Kleinere   philosophische   Schriften,    herausgegeben    von 
G.  Hartenstein. 
O  =  der  jemalige  Originaltext. 
SW  =  J.  F.  Herbart's  Stimmt  liehe  Werke,  herausgegeben  von  G.  Hartenstein. 


I. 

Erste  Vorlesung  über  praktische  Philosophie.    Im  Sommer  1819. 

S.   1  — 10. 

Die  für  den  Sommer  18 19  angekündigte  Vorlesung  über  die  prak- 
tische Philosophie  verwandelte  Herbart  in  eine  öffentliche,  aus  Gründen, 
die  er  auf  S.  4  u.  ff.  angiebt.  Warum  er  die  erste  Vorlesung  dieses  Kollegs 
sorgfältig  aufschrieb  und  vom  Blatte  ablas,  ist  S.  3   angegeben. 

Das  Manuskript,  2059  der  Königsberger  Universitätsbibliothek,  welches 
vorliegendem  Abdrucke   zu  Grunde  gelegen    hat,    besteht    aus   12   Bll.  40. 

IL 
Ueber  Menschenkenntnisse  in  ihrem  Verhältniss  zu  den  politischen 

Meinungen.  [1821.]  S.  11 — 24. 
Das  Manuskript  2056  (6)  zu  der  bei  der  Geburtstagsfeier  Friedrich 
Wilhelms  III  in  der  deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg  gehaltenen  Fest- 
rede besteht  aus  32  S.  40,  von  denen  27  beschrieben  sind.  Auf  S.  9 
und  10  der  Handschrift  ist  ein  Teil  des  Inhalts  ausgestrichen.  An  den 
Rand  hat  Hartenstein  mit  Bleistift  geschrieben  „das  Ausgestrichene  gilt." 
Es  handelt  sich  hierbei  nur  um  den  Abschnitt  S.  16,  Z.  4  v.  u.  „man 
täuscht  sich,  wenn"  .  .  .  bis  .  .  .  S.  17  Z.  19  v.  o.  „Zeit  betrachten, 
so  wird  leicht  erhellen,  dafs"  ...  Es  sind  dabei  unter  die  oben  an- 
geführten durchstrichen  en  Anfangs-  und  Endworte,  und  zwar  nur  unter 
diese,  Punkte  angebracht  worden,  die  also  belegen,  dafs  Herbart  diese 
Worte  gelten  lassen  wollte.  Ohne  den  dazwischen  liegenden  kreuz  und 
quer  durchstrichenen  Text  ist  aber  eine  Ueberleitung  von  d<en  unter- 
punktirten  Anfangs-  zu  den  Endworten  nicht  ohne  Correkturen  zu  er- 
möglichen. Es  ist  daher  wie  in  SW  und  KlSch  der  durchstrichene  Text 
mit  abgedruckt  worden.  Herbart  hat  wahrscheinlich  den  durchstrichenen 
Text  anfänglich  weglassen  wollen,  sich  aber  dann  eines  anderen  besonnen 
und  durch  die  am  Anfang  und  Ende  angebrachten  Punkte  bezeichnen 
wollen,  dafs  auch  das  daswischen  liegende  Ausgestrichene  Geltung  haben 
sollte.  Uebrigens  ist  auch  noch  auf  S.  15  der  Handschrift  (im  vor- 
liegenden Texte  S.    19,  Z.    18  v.  u.)   ein  Abschnitt  ausgestrichen,  aber  hier 


VIII  Vorrede  des  Herausgebers  zum  V.  Bande. 

ist  wohl  ausgeschlossen,  dafs  Herbart  diesen  Satz  hat  gelten  lassen  wollen. 
Der  Satz,  welcher  sich  nach  „finden  werden"  anschliefst,  lautet: 

„Ueberall  wird  man  in  der  waltenden  Macht,  der  man  unterworfen 
ist,  etwas  zufälliges  finden,  da  sie  bestimmten  Personen  unter  bestimmten, 
veränderlichen  Umständen  zu  Theil  geworden  ist;  überall  wird  man  sich 
fragen,  ob  dieser  Zufälligkeit  zu  dienen  nothwendig  sey  ?  Und  überall  wird 
es  Menschen  geben,  die,  weil  sie  gar  wohl  einen  andern  Staat,  andere 
Formen  und  eine  andere  Verfassung  sich  denken  können,  vergessen  werden, 
dafs  der  Werth  eines  neuen  Gebäudes,  verglichen  mit  dem  eines  alten, 
noch  brauchbaren,  zuerst  davon  abhänge,  ob  man  im  Stande  sey  es 
vechter  zu  bauen  wie  das  alte  ?  Eine  Frage,  die  beym  Staate,  dem  Inbegriff 
aller  Rechstverhältnisse  noch  weit  wichtiger  ist  als  bey  jedem  andern  Ge- 
bäude." 

III. 

Ueber    einige    Beziehungen    zwischen    Psychologie    und    Staats- 
wissenschaft     [1821.]     S.  25—40. 

Die  Handschrift  zum  vorliegenden  Texte  befindet  sich  in  der  Königs- 
berger Bibliothek,  als  Msc.   2058.     Dieselbe  umfafst  24  S.  gr.  40. 

IV. 
De   attentionis   mensura   causisque   primariis.     [1822.]     S.  41  —  89. 

Die  folgenden  unbedeutenden  Verbesserungen  sind  im  Texte  nicht  angemerkt 
worden : 

S.  62,  Z.  2  v.  o.  longa  .  .  .  statt  .  .   .  lange.  —  S.  74,  Z.  17  v.  u.  —  statt     , 

d  u  du 

_  m  dti  m  d  u 

S.  79,  Z.   1   v.  o.    . 4-  .  .  .  statt  .  .  .  -.  —  S.  86,   Z.  3  v.  u.  312,5  du   — 

p  u  Z  p  u-\- 

187,5   •  •  •  statt  •  •  •  4I2>5  du  —   1875. 

Die  Abweichungen  von  SW  sind  unter  dem  Texte  verzeichnet.  Nachzutragen 
wäre  noch  S.  52,  Z.  5  v,  o.  "ut"  in  SAV  gesperrt;  ferner  S.  67,  Z.  10  v.  o.  und  aut 
den  folgenden  Seiten  haben  SW  „log.  nat."  immer  gesperrt.  —  S.  76,  Z.  28  v.  o.  „cum" 
in  SW  statt  „quum"  im  Original. 

V. 

Ueber  die  Möglichkeit  und  Notwendigkeit,   Mathematik  auf  Psy- 
chologie anzuwenden.     [1822.]     S.  91 — 122. 

Der   genaue  Titel,    der   unter  V    abgedruckten   Schrift   lautet:    Ueber 
die  |  Möglichkeit  und  Notwendigkeit,    |  Mathematik   auf  Psychologie 
anzuwenden.      Von  [  Johann  Friedrich  Herbart,  |  Professor  der  Philo- 
sophie zu  Königsberg.  |  Königsberg,  1822.  |  Bey  den  Gebrüder  Born  träger. 
X,    102,  kl.   8  0. 


III.    Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.  —  VI.  Rede.       IX 

Leider  ist  es  dem  Herausgeber  erst  nach  dem  Drucke  des  Text- 
teiles vorliegenden  Bandes  gelungen,  ein  Exemplar  dieser  Schrift  zu  be- 
kommen,  der  Text  ist  daher  nach  SW  gedruckt  worden. 

Die  nachträgliche  Vergleichung  des  Textes  von  SW  und  dem  Original 
(O)  hat  folgende  Abweichungen  ergeben: 

S.  93,  Z.  5  v.  o.  SW:  Auf  solches  Gerathewohl  .  .  .;  O:  Auf  ein  solches  Ge- 
rathewohl. —  S.  94,  Z.  17  v.  o.  SW:  Philosophen  .  .  .;  O:  sind  Philosophen.  —  S.  94, 
Z.  10  v.  u.  SW:  Vorurtheilen  .  .  .;  O:  Urtheilen.  —  S.  95,  Z.  4  v.  o.  SW:  For- 
schungen; O:  Nachforschungen.  —  S.  97,  Z.  15  v.  u.  SW:  unvollkommene;  O:  voll- 
kommene. —  S.  99,  Z.  12  v.  u.  SW:  ganz  natürlich;  O:  sehr  natürlich.  —  S.  102, 
Z.  6  V.  u.  SW:  mit  hin  .  .  . ;  O:  hin  mit.  —  S.  102,  Z.  8  v.  u.  SW:  immer  von 
selbst;  O.:  immer  selbst.  —  S.  106,  Z.  7  SW:  irgend  einer  Sicherheit;  O:  irgend 
einiger  Sicherheit.  —  S.  108,  Z.  2  —  3  v.  o.  SW. :  dahin  unbekannten;  O:  dahin  so 
gut  als  unbekannten.  —  S.  115,  Z.  22  v.  o.  SW  :  und  wir;  O:  und  wie  wir  (Druck- 
fehler). —  S.  115,  Z.  8  v.  u.  SW  :  erst  als;  O:  erst  wie.  —  S.  115,  Z.  7  v.  u.  fehlt 
nach  „Ellipse"  in  SW  der  Zwischensatz :  ,  —  die  Kometenbahn  erst  wie  eine  Parabel, 
und  späterhin  wie  eine  Ellipse.  —  S.  115,  Z.  5.  v.  u.  SW:  Die  Gemälde..  .;  O:  Das 
Gemälde.  —  S.  116,  Z.  11  v.  u.  SW  :  producirt  .  .  .,  O:  reproducirt.  —  S.  118,  Z.  23 
v.  o.  SAV:  merkwürdigsten;  O:  merkwürdigen.  —  Aufserdem  drucken  SW  „etwa", 
statt  O:  „etwan"  und  „von  Fichte"  statt  „von  Fichten"  (S.    108,  Z.  6  v.  o.). 

Durch  ein  Versehen  sind  folgende  Korrekturen  nicht  erledigt  worden: 
S.  93,  Z.  17  v.  o:  ich  in  eben  .  .  .  statt:  ich  eben  in.  —  S.  94,  Z.  10  v.  u. . 
Vorurtheilen  .  .  .  statt :  Urtheilen  (O).  —  S.  94,  Z.  5  v.  u. :  ungeordneter  .  .  .  statt : 
untergeordneter.  —  S.  97,  Z.  15  v.  u. :  imvollkommene  .  .  .  statt:  vollkommene  (ü).  — 
S.  98,  Z.  25  v.  o:  Dafs  es  .  .  .  statt:  Dafs  er.  —  S.  100,  Z.  5  v.  o:  unlautere  moralische 
Gesinnung  .  .  .  statt:  unlautere  Gesinnung.  —  S.  102,  Z.  10  v.  o.:  Zwischen  welchen  .  .  . 
statt:  zwischen  welche.  —  S.  105,  Z.  7  v.  u. :  mag  er  vollkommen  wahr  .  .  .  statt:  mag 
er  noch  so  vollkommen  wahr.  —  S.  107,  Z.  1  v.  o.:  Hemmungsgrad  .  . .  statt:  Hemmungs- 
grund. —  S.  109,  Z.  19  v.  u. :  eine  solche  Menge  .  .  .  statt:  eine  Menge.  —  S.  114, 
Z.  10  v.  u. :  unkräftig  .  .  .  statt:  urkräftig.  —  S.  115,  Z.  7  v.  u.  mufs  nach  „Ellipse" 
der  Zwischensatz  eingeschoben  werden :  —  die  Kometenbahn  erst  wie  eine  Parabel,  und 
späterhin  wie  eine  Ellipse  —  (O).  —  S.  118,  Z.  16,  17,  22  v.  o.:  rationaler,  irratio- 
naler .  .  .  statt:  rationelle,  irrationeller.  —  S.  121,  Z.  8  v.  o. :  werde  angezeigt  .  .  .  statt: 
werden  angezeigt.  —  S.  121,  Z.  13  v.o.:  umgekehrten  der  Zahlen  .  .  .  statt:  umgekehrten 
Zahlen.  —  S.  121,  Z.  17  v.  o.:  Nach  „werden"  mufs  der  Satz  eingefügt  werden:  Allein 
hier  stofsen  wir  auf  ein  unerwartetes  Hindernifs! 


VI. 

Rede,  gehalten  am  Geburtstage  Kant's,  zu  Königsberg.    22.  April 

1823.     s-   -23  —  126. 

Die  Handschrift  zu  VI  scheint  verloren  gegangen  zu  sein.  Der  vor- 
liegende Text  ist  genauer  Abdruck  des  in  den  Herbart'schen  Reliquien 
gebotenen  Textes.     Dieser  wiederum  ist  nach  dem  in  der  Altpreufsischen 


X  Vorrede  des  Herausgebers  zum   V.   Bande. 

Monatsschrift  (A.  P.  M.)  von  Dr.  Reicke  nach  der  Handschrift  heraus- 
gegebenen Texte  gedruckt  worden. 

Dieser  Letztere  enthält  nur  am  Schlüsse  noch  den  Zusatz:  „Kant's Vater- 
stadt soll  leben!"  den  Ziller  weggelassen  hatte  und  der  hier  nachgetragen  sei. 

Der  Text  von  HR  zeigt  gegenüber  dem  von  A.  P.  M  nur  einige  ganz  unbedeutende 
orthographische  Abweichungen.  („Kant's"  statt  „Kants";  „Speculation"  statt  „Speku- 
lation".) 

VII. 

Ueber    die    verschiedenen    Hauptansichten    der   Naturphilosophie. 

S.  127 — 140. 

Die  Veranlassung  dieser  Vorlesung  giebt  Herbart  S.   12g  an. 

Die  Handschrift,  welche  vorliegendem  Abdrucke  zu  Grunde  gelegen 
hat,  befindet  sich  in  der  Königsberger  Universitätsbibliothek  (Msc.  2056 
VII).     Dieselbe  umfafst  35   beschriebene  Seiten. 

VIII. 
Zwei  Vorlesungen.     S.   141  — 161. 

I.   Versuche   und  Betrachtungen    über   den    Gegensatz   der    beyden    Electricitäten. 

S.   147—158. 

II.  Ueber  den  Gegensatz  der  beyden  Electricitäten.    S.  159— 161. 

Herbart  hat  diese  beiden  Vorlesungen  nicht  drucken  lassen,  ob- 
wohl er  es  beabsichtigt  hatte  (s.  S.  143  Z.  1).  Hartenstein  erwähnt 
KlSch  Bd.  I,  S.  LXXV  in  dem  Verzeichnis  der  im  Herbart'schen 
Nachlasse  befindlichen  Schriften  die  vorstehenden  Vorlesungen,  druckt  sie 
aber  nicht  ab,  weil,  wie  er  KlSch  Bd.  II,  S.  XVII  sagt,  der  Vortrag 
(Hartenstein  spricht  nur  von  einem  Vortrage)  „aufser  einer  genauen 
Beschreibung  der  Instrumente,  deren  sich  Herbart  bei  seinen  Versuchen 
über  Electricität  bedient  hat,  nichts  enthält,  was  nicht  im  IL  Bande  der 
Metaphysik  (§  400 — 412,  S.  531 — 587)  auseinandergesetzt  wäre."  In 
SW  sind  die  beiden  Vorträge  auch  nicht  gedruckt  worden.  Obwohl  Her- 
bart ausdrücklich  in  der  Vorrede  (S.  143)  erklärt,  dafs  er  die  beiden 
Vorlesungen  in  „zwei  verschiedenen  gelehrten  Gesellschaften"  gehalten  habe, 
enthält  doch  die  Handschrift  unter  der  Überschrift  eines  jeden  der 
Vorträge  den  Vermerk:  „vorgelesen  in  der  physikalisch-ökonomischen  Ge- 
sellschaft" zu   Königsberg. 

Meine  Nachforschungen  in  Königsberg  über  den  wahren  Sachverhalt 
haben  bis  jetzt  ein  Resultat  nicht  ergeben.  Sollte  das  in  Zukunft  der  Fall 
sein,  so  wird  in  den  Nachträgen  des  Schlufsbandes  der  Herbart-Ausgabe 
darüber  Bericht  erstattet  werden.  Wahrscheinlich  ist  der  eine  Vortrag  in 
der  Deutschen  Gesellschaft  gehalten  worden.    Hätte  Herbart  beide  Vor- 


VII.  Hauptansichten  der  Naturphilosophie.  —  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft  etc.    XI 

träge  in  der  physikalisch-ökonomischen  Gesellschaft  gehalten,  so  würde  er 
sicher  nicht  dieselben  mit  gleichlautenden  Eingangsworten  begonnen  haben. 
Die  Handschrift  trägt  die  No.  2069  der  Königsberger  Universitätsbibliothek 
und  umfafst  60  S.  40.  Die  zweite  Vorlesung  ist  nicht  mehr  vollständig 
erhalten.  Es  darf  nicht  auffallend  erscheinen,  dafs  auf  S.  151  die  ein- 
getragene Seitenangabe  des  Originals  von  S.  [28]  auf  [31]  springt.  Im 
Manuskript  sind  nämlich  die  Seiten  29—30  durchstrichen.  Herbart 
hat  aber  trotz  dieser  Ungiltigerklärung  dieser  Seiten  die  Ziffern  der 
folgenden  Seiten  nicht  geändert. 

IX. 
Mathematischer   Lehrplan   für   die   Realschulen.     [1824.]     S.    163 

bis   170. 

Da  die  Handschrift,  welche  Ziller  bei  der  Herausgabe  des  vor- 
liegenden Textes  in  den  Herbart'schen  Reliquien  benutzen  konnte,  nicht 
mehr  aufzufinden  war,  so  ist  hier  der  Ziller'sche  Text  zu  Grunde  gelegt 
worden.  In  Gemäfsheit  der  in  der  Vorrede  zum  ersten  Bande  vorl. 
Ausgabe  S.  XIV  Anmerkung  angegebenen  Grundsätze,  ist  nur  die  Ortho- 
graphie etwas  verändert  worden. 

S.  167,  Z.  12  v.  u.  ist  der  Druckfehler  „Gerade"  in  „Grade"  stillschweigend  ver- 
bessert worden. 

X. 
Zwei  Promotionsreden  aus  dem  Jahre  1824.     S.   170 — 176. 

Das  Manuskript  zur  ersten  Rede  (Msc.  2382,  (1)  40)  der  Königs- 
berger Universitätsbibliothek)  besteht  aus  4  grofsen  Quartseiten,  von  denen 
3  vollständig  beschrieben,  mit  „tibi  primus  gratulor"  abschliefsen,  die  4. 
nur  die  Worte :  „examine  rigoroso  feliciter  superato  ob  praeclara  in  philo- 
logicis  specimina  exhibita"  enthält.  Diese  Formel  ist  (s.  S.  174)  nach 
„Hamann"  eingefügt  worden. 

Mit  der  Handschrift  zur  2.  Rede  (Msc.  2382,  2  40  4.  S.)  verhält  es 
sich  ähnlich.  Herbart  schliefst  S.  3  mit  „proclamo".  Nachträglich  wird 
er  dann  die  Formel:  „ob  eximia  in  philosophicis  specimina  et  ceterum 
ingeniis  cultum"  auf  die  4.  Seite  eingetragen  haben.  Diese  Formel  ist 
im   vorliegenden  Texte  S.   17Ö  nach  „Sieffart"   eingefügt  worden. 

XL 
Psychologie     als    Wissenschaft    neu    gegründet    auf    Erfahrung, 
Metaphysik    und    Mathematik.      Erster    synthetischer    Teil    1824. 

S.    177—402. 

Folgende  Verbesserungen  sind,  ohne  dafs  eine  Anmerkung  darauf  hinwies, 
stillschweigend  im  Texte  bewirkt  worden : 


XII  Vorrede  des  Herausgebers  zum  V.  Bande. 


S.  341,  Z.  16  v.  u. :  mit  der  Kraft  .  .  .  statt  ...  mit  der  — .  —  S.  351,  Z.  18  v. 
u. :  0,0614  .  2  .  .  .  statt  .  .  .  0,0614  -f  2.  —  S.  352,  Z.   18  v.  u.:  0,6965  .  .  .  statt 

H — I  •  •  • 

statt  .  .  .  [c  -f-  ^—)  [SW  drucken  hier  iälschlich  nach  dem  Original.]   —  S.  384,   Z.  4 

v.  o.:  0,34454  •  •  •  statt  •  •  •  °34454-   —  s-  4IO>  z-  6  v.  o. :  Kraft  gesperrt  (=  SW.) 
—  S.  431,   Z.   7  v.  u. :  Daseyns?  .  .  .  statt  .  .  .  Daseyns.   — 

Folgende  Abweichungen  der  Ausgabe  SW  von  O  sind  im  Texte  selbst  nicht 
angemerkt  worden.  Der  vorliegende  Text  folgt  in  den  folgenden  Fällen  dem  Wortlaut 
von  O  S.  226,  Z.  9  v.  u.  SW:  bei  §  .  .  .  O:  beym  §.  —  S.  233,  Z.  2  v.  o.  SW:  Gang 
setzte...  O:  Gang  setze.  —  S.  233,  Z.  10  v.  o.  SW:  §  11  —  O:  11  — 13.  —  S.  259  im 
griechischen  Chat  hat  SW  accentuiert  (ebenso  266,  Z.  3,  v.  u.  tw.)  —  S.  310,  Z.  5 
v.  u.    hat  SW   die  Worte  H.  S.    aufgelöst   in  „Hemmungs-Summe".    —    S.  311,  Z.   2 

v.u.  SW.:  ß  -—;  O:  ß  =—.   —  S.  311,  Z.  2  v.u.  SW:  (ab+an);  O:  (ap  +  an). 


a 


—  S.    349    die    letzte    Zeile    vor    §    80    SW:    q  =  1 r —  t — - — ; 

°^y  °  a  -|-  c     a  -\-  c 

O:  rf  =  , 1—  =  -4-.  -  S.  355.  2-  9  v.  o.  SW:  (1  =  e~l) .  . .  O:  (1— «-*)- 

a  -f-  c        a  -\-  c 

S.  387,  Z.  5  v.  u.  SW:  .  .  .  und  folglich  eine  Constante  .  .  .  O:  und  folglich  <p  eine  Con- 
stante.  —  S.  391,  Z.  8  v.  u.  SW;  ^c  —  ctpe—ß*...  O:  ctf  -f  V—  ape-ß*.  —  S.  403, 
Z.  5  v.  o.  SW:  Die  Kraft  .  .  .  O:  Diese  Kraft.  —  S.  403,  Z.  3  v.  u.  SW:  in  Gleich- 

13  1 

artigen  ...  O:  in  Gleichartiges.  —  S.  406,   Z.  24  v.  u.  SW:  — u tis  etc.  O:  —  u 

US  etc.  —  S.  407,  Z.  3   v.  o.  SW :   müfsten  . . .  O :   müssen.   —   S.  407,   Z.    3 

v.  u.  SW:  Bewufstsein  verschwunden  .  .  .  O:  Bewufstsein  völlig  verschwunden.  — 
S.  408,  Z.  15  v.  u.  SW:  ertheilten  .  .  .  O:  ertheilen.  —  S.  420,  Z.  9  v.  o.  SW:  „und" 
nicht  gesperrt.  —  S.  423,  Z.    14  v.  u.  SW:  Ja  und  Nein  .  .  .  O:  des  Ja  und  Nein. 

—  S.  431,  Z.  11  v.  o.  SW:  Substanz  uneingeschränkt  .  .  .  O:  Substanz  als  un- 
eingeschränkt. 

Eine  Anzahl  der  vorstehenden  Verbesserungen  und  Abweichungen  würden  bereits 
ira  Texte  als  solche  bezeichnet  worden  sein,  wenn  nicht  befürchtet  worden  wäre,  dafs 
durch  die  dann  notwendigerweise  in  die  mathematischen  Formeln  einzufügenden  Ver- 
weisungsziffern sehr  leicht  Irrtum  oder  doch  eine  Erschwerung  der  Lektüre  hervorgerufen 
werden  könnte. 

Berlin,   März    1890. 

Karl  Kehrbach. 


Inhalt  des  fünften  Bandes. 


Seite 
VII-XI 


Vorrede  des  Herausgebers  zu  den  Schriften  des  V.  Bandes 

I.  Erste  Vorlesung  über  praktische  Philosophie.    Im  Sommer  1819  1  — 10 

II.  Ueber    Menschenkenntniss   in    ihrem  Verhältniss   zu    den    po- 
litischen Meinungen.     Rede  [1821] 11—24 

III.  Ueber  einige  Beziehungen    zwischen   Psychologie    und  Staats- 
wissenschaft.    [1821] 25—40 

IV.  De  Attentionis  Mensura  Causisque  Primariis.     [1822] 41—89 

Prooemium    43— 46 

Conspectus 4/ 

Praemonenda 4°     54 

De  attentionis  causis  primariis 54     °2 

De  iis   attentionis   phaenomenis,    quorum  ratio   ex    causis   primariis 

reddi  nequit     82—89 

V.  Ueber   die  Möglichkeit  und  Nothwendigkeit ,    Mathematik   auf 

Psychologie  anzuwenden.     [1822] 91      I22 

Vorwort      93— 94 

VI.  Rede,  gehalten  am  Geburtstage  KANT's,  zu  Königsberg.    [1823]  123—126 

Vn.  Ueber  die  verschiedenen  Hauptansichten  der  Naturphilosophie. 

[1823] I27-^° 

VHI.  Zwei  Vorlesungen  über  Electricität 141  — 161 

Vorrede    143— »4<> 

Versuche  und  Betrachtungen  über  den  Gegensatz  der  Electricitäten      147  —  158 

Ueber  den  Gegensatz  der  beiden  Electricitäten 159— 161 

IX.  Mathematischer  Lehrplan   für   die  Realschulen.     [1824] 

X.  Zwei  Promotionsreden.     [1824] 

XI.  Psychologie   als  Wissenschaft   neu   gegründet    auf  Erfahrung, 
Metaphysik  und  Mathematik.  Erster  synthetischer  Theil.  [1824] 

Vorrede 

Inhalt  des  ersten  Bandes 

Einleitung 

Erster,  synthetischer  Teil 

Erster   Abschnitt.     Untersuchung    über"  das    Ich,     in    seinen 

nächsten  Beziehungen      ....        23/- 

Erstes  Capitel.     Über   die  philosophische  Bestimmung  des  Begriffs 

vom  Ich    237—242 


163- 

-170 

171- 

-176 

177- 

-402 

179- 

-183 

184 

185- 

-234 

235 

XIV  Inhalt  des  fünften  Bandes. 


Seite 
Zweytes  Capitel.     Darstellung   des    im    Begriff  des  Ich    enthaltenen 

Problems,  nebst  den  ersten  Schritten  zu  dessen  Auflösung  ....  242 — 253 
Drittes  Capitel.     Vergleichung   des    Selbstbewufstseins    mit    andern 

Problemen  der  allgemeinen  Metaphysik 253 — 273 

Viertes    Capitel.      Vorbereitung    der    mathematisch -psychologischen 

Untersuchungen    273  —  280 

Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes....  281 — 337 
Erstes  Capitel.     Summe  und  Verhältnifs  der  Hemmung  bey  vollem 

Gegensatze 281 — 287 

Zweytes  Capitel.     Berechnung  der  Hemmung  bei  vollem  Gegensatz, 

und  erste  Nachweisung  der  Schwellen  des  Bewufstseyns    288 — 297 

Drittes  Capitel.  Abänderungen  des  Vorigen  bey  minderem  Gegensatze  298 — 306 
Viertes  Capitel.     Von    den  vollkommnen  Complicationen  der  Vor- 
stellungen        3°7—3 l  7 

Fünftes  Capitel.     Von  den  unvollkommnen  Complicationen 317 — 324 

Sechstes  Capitel.     Von  den  Verschmelzungen 324 — 337 

Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes..  338 — 402 

Erstes  Capitel.     Vom  Sinken  der  Hemmungssumme 338 — 342 

Zweytes  Capitel.     Von  den  mechanischen  Schwellen 342 — 354 

Drittes  Capitel.     Von  wiedererweckten  Vorstellungen  nach  der  ein- 
fachsten Ansicht         354 — 368 

Viertes  Capitel.     Von  der  mittelbaren  Wiedererweckung 368 — 386 

Fünftes  Capitel.     Vom  zeitlichen  Entstehen  der  Vorstellungen  .  . .  386  —402 


I. 


ERSTE  VORLESUNG 


UEBER 


PRAKTISCHE  PHILOSOPHIE. 


Im  Sommer   1819. 


[Text  nach  dem  Msc.   2059  der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Citirte  Au  sgaben. 

SW  =  J.  F.    Herbart's  Sämmtliche    Werke    (Bd.   IX,    165 — 178),    herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 
KlSch  =  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften  (Bd.  II,   297  —  310),  herausgegeben  von 
G.  Hartenstein. 


Herbart's  Werke.     V. 


Erste  Vorlesung   über   tfie   praktische  Philosophie   im 

Sommer  1819. 


M.  h.  H.  Das  System  der  praktischen  Philosophie,  welches  ich, 
meiner  langen  Gewohnheit  gemäfs,  in  diesem  Halbjahre  wieder  vortrage, 
wurde  niedergeschrieben  und  öfifentlich  durch  den  Druck  bekannt  gemacht 
zu  einer  Zeit,  da  ich  in  Göttingen  als  Unterthan  des  Königs  Hieronymus 
Napoleon  lebte  und  lehrte.  Mit  andern  Worten,  es  erschien  mitten  in 
der  Zeit  der  hoffnungslosesten  Schmach,  welche  Deutschland  jemals  er- 
duldete. Was  damals  die  Zeitgenossen  nicht  mehr  erleben  zu  können 
meinten,  geschah  bald;  Deutschland  wurde  erlöset  vom  fremden  Joche. 
Glauben  Sie  vielleicht,  diese  Veränderung  hätte  gewirkt  auf  meine  Lehr- 
sätze vom  Recht  und  der  Pflicht,  vom  Staate  und  seinen  wesentlichen 
Einrichtungen?  Sie  würden  sich  irren.  Als  mein  Buch  erschien,  war 
der  westphälische  Despotismus  noch  nicht  reif  genug,  um  einem  Lehrer, 
der  nur  allgemeine  Betrachtungen  anstellte,  Zwang  aufzulegen;  daher 
konnte  ich  in  meine  kurzen  Worte  alles  das  einhüllen,  was  jemals,  auch 
in  der  freyesten  Zeit,  im  ausführlichen  mündlichen  Vortrage  auseinander- 
zusetzen mir  Bedürfnifs  geworden  ist  und  noch  werden  wird.  Und  be- 
merken Sie  wohl,  meine  Herrn:  damals  genossen  die  deutschen  Uni- 
versitäten überall,  auch  im  Auslande,  eine  sehr  hohe  Achtung,  durch 
welche  sie  gegen  Machtgriffe  geschützt  waren.  Niemand  glaubte  einen 
Vorwand  finden  zu  können,  um  sie  in  ihrer  alten  Freyheit  des  Lehrens 
und  Lernens  zu  kränken.  Der  grofse  Napoleon  fürchtete,  Deutschland. 
—  das  damals  so  geduldige  Deutschland!  —  aufzuregen,  wenn  er  die 
Universitäten  angriffe.  Soviel  wirkte  der  unbescholtene  Ruf,  dessen  sich 
unsre  Hochschulen  erfreuten !  Seitdem  nun  hat  sich  manches  Jahr  herum- 
gewälzt, mit  allem  dem  Reichthum  der  mannigfaltigsten  Begebenheiten,  um 
derentwillen  man  oft  gesagt  hat,  unsre  Zeit  presse  Jahrhunderte  zusammen 
in  Jahrzehnde.  Und  dafs  ich  in  diesen  Jahren  des  Wechsels  meine  prak- 
tische Philosophie,  die  zwar  immer  dieselbe  blieb,  mit  wechselnder  Stim- 
mung, wechselnder  Hoffnung,  vortragen  mufste,  können  Sie  leicht  denken. 
Doch  niemals,  selbst  in  den  trübesten  Tagen  niemals !  —  habe  ich  beym  An- 
fange dieser  Vorlesungen  eine  solche  Beklommenheit  empfunden,  wie  jetzo. 

Sie  sehn  schon,  meine  Herrn,  dafs  ich  beklommen  bin,  da  ich  ein 
Blatt  mitbringe,  welches  ich  ablese ;  Sie  sehn,  dafs  ich  mir  nicht  getraue, 
mich  nach  meiner  Gewohnheit  der  Eingebung  des  Augenblicks  zu  über- 
lassen. Und  warum  nicht?  Weil  die  Worte,  die  ich  heute  im  Anfange 
der  Stunde  zu  Ihnen  spreche,  bereit  sein  sollen,  Jedem  der  von  mir  des- 
halb Rechenschaft  fordern  könnte,  genau  und  pünklich  vorgelegt  zu  werden. 


I.    Erste  Vorlesung  über  die  praktische  Philosophie. 


Doch  spannen  Sie  Ihre  Erwartung  ja  nicht  zu  hoch  !  Was  ich  Ihnen 
sagen  will,  ist  das  Einfachste  von  der  Welt.  Nichts  weiter  will  ich,  als 
Ihnen  erklären,  weshalb  ich  diesmals  diese  Vorlesungen,  die  schon,  wie  ge- 
wöhnlich, im  Catalog  als  Privat  -  Lektionen  angekündigt  waren,  öffentlich 
halte.  Indessen  freylich,  um  dies  erklären  zu  können,  mufs  ich  des  Gegen- 
standes gedenken,  der  jetzt  das  allgemeine  Gespräch  des  Tages  ausmacht. 

Eine  Begebenheit*  hat  sich  ereignet,  die  wenn  sie  erdichtet  wäre, 
tragisch  heifsen  würde;  tragisch  im  höchsten  Sinne  des  Wortes,  weil  sie 
weder  ein  blofses  Unglück,  noch  ein  blofses  Verbrechen,  noch  eine  blofse 
Abbüfsung  des  einen  durch  das  andre,  —  mit  einem  Worte,  nichts  Ein- 
faches für  Gefühl  und  Beurtheilung,  sondern  gerade  im  Gegentheil,  eine 
so  schreckliche  Verwickelung  darstellt,  dafs  sie  das  Gefühl  betäubt,  indem 
sie  das  Urtheil  auf  zweifache  und  entgegengesetzte  Weise  beschäftigt,  und 
dafs  man  den  Tod  als  Erlöser  zugleich  und  als  verdiente  Strafe  herbey- 
ruft,  damit  der  Verbrecher  die  Nemesis  versöhne,  und  durch  höhere  Er- 
leuchtung von  seinem  unglücklichen  Wahn  gereinigt  werde.  Menschen 
können  ihn  richten  und  sie  müssen  es;  aber  das  ist  nicht  alles;  jenseit 
des  Grabes  mufs  ihm  eine  neue  Sonne  aufgehn,  zunächst  um  die  Nacht 
seines  Irrthums  zu  erhellen,  dann  um  ihm  den  wahren  Weg  der  Tugend 
und  des  Heils  zu  zeigen,  welchen  er,  wie  es  scheint,  redlich  suchte  und 
nicht  finden  konnte.  Jenseit  des  Grabes,  in  der  übersinnlichen  Welt, 
die  wir  jedoch  hier  als  Verlängerung  unseres  irdischen  Lebens  betrachten, 
suchen  wir  die  Milderung,  die  Besänftigung,  deren  unser  empörtes  Ge- 
fühl bedarf;  und  leicht  würden  wir  finden,  was  wir  suchen,  wenn  uns 
ein  Gegenstand  der  Phantasie  beschäftigte,  den  wir  mit  poetischer  Frey- 
heit  behandeln  könnten !  Leider,!  die  That,  von  der  ich  spreche,  ist  wirk- 
lich geschehen.  Kein  glückliches  Hindemifs  hat  den  Dolchstofs  vereitelt, 
kein  besonnener  Freund,  kein  warnendes  Zeichen  hat  den  Irrenden  zurecht- 
geführt.  Er  hat  Zeit  genug  gehabt,  um  fürchterliche  Danksagungen  gen 
Himmel  zu  senden  für  das  Gelingen  einer  That,  die  der  Himmel  niemals 
lohnen,  höchstens  nach  vollständiger  Bufse  verzeihen  kann. 

Und  wer  ist  der  Thäter?  Ein  Studirender.  Und  wo  sucht  man  den 
Grund  der  That  ?  In  dem  Geiste,  der  jetzt  auf  den  Universitäten  herrschen 
soll.  Und  wen  macht  man  deshalb  verantwortlich?  Die  akademischen  Lehrer. 
Und  in  welcher  Fakultät  sucht  man  die  Irrlehren  ?    In  der  philosophischen. 

Dahin  ist  es  gekommen!  Ein  Trugbild  von  heroischer  Tugend  hat 
einen  einzelnen  Jüngling  verleitet,  —  wir  hoffen  wenigstens  bis  jetzt,  es  sey 
ein  Einzelner ;  darum  verklagt  man  die  Freyheit  des  Denkens  und  Lehrens, 
ohne  welche  bald  die  Philosophie  wird  in  Vergessenheit  gerathen  müssen. 

Gleichwohl  ist  es  sehr  gewifs,  dafs  eben  nur  die  Philosophie  vermag, 
die  schwankenden  Meinungen  vestzustellen,  und  das  Paradoxon  zu  lösen, 
wie  eine  That,  an  der  jede  Entschuldigung  scheitert,  hervorgehn  konnte 
aus  Gesinnungen,  die  eine  wahre  moralische  Energie  zu  bezeichnen 
scheinen.  Es  ist  gewifs,  dafs  eben  jene  heilloseste  Verschwendung  der 
edelsten  Gemüthskräfte,  die  wir  betrauern,  durch  die  nämliche  Wissen- 
schaft,   welche  zu  lehren  mir  hier  obliegt,    ohne  viel   Mühe  hätte  in  wohl 


*  Die  Ermordung  Kotzebues. 


Erste  Vorlesung  über  die  praktische  Philosophie  im  Sommer   1819. 


überlegte  Sparsamkeit  können  verwandelt  werden,  vielleicht  mit  Verlust  an 
falscher  Gröfse,  aber  mit  Gewinn  an  wahrer  Würde,  die  sich  nur  auf 
Unschuld  und  Reinheit  gründen  kann. 

Sie  werden  im  Laufe  dieser  Vorlesungen  allmählich  die  verschiedenen 
Arten  der  Beurtheilung  hervortreten  sehen,  aus  welchen  sich  der  Aus- 
spruch über  eine  That  und  Gesinnung  unvermeidlich  zusammensetzt.  Sie 
werden  sehen,  in  wiefern  dies  Beydes,  That  nämlich  und  Gesinnung, 
theils  verbunden,  theils  aber  auch  gesondert  werden  mufs,  um  die  Be- 
urtheilung zur  Reife  zu  bringen.  Sie  werden  auch  jene  unglücklichen 
Verwicklungen  begreifen  lernen,  in  welchen  zuweilen  der  gesunde  Sinn 
der  redlichsten  Menschen  sich  gefangen  findet,  so  dafs  er  nicht  mehr 
vermag  sich  über  Liebe  und  Hafs  zu  erheben,  sondern  nur  partheyische 
Urtheile  zu  Stande  bringt,  die  oft  auf  beyden  Seiten  gleich  verkehrt,  und 
doch  gleich  ehrlich  gemeint,  zum  Vorschein  kommen.  Sie  werden  Ge- 
legenheit finden,  über  jene  Jesuitische  Moral  nachzudenken,  welche  lehrt, 
der  Zweck  heilige  die  Mittel.  Sie  werden  sehn,  dafs  dieser  Grundsatz, 
weit  entfernt,  moralisch  zu  seyn,  vielmehr  alle  Moral  untergräbt;  und 
dafs  er,  unfähig  die  Thaten  zu  reinigen,  die  Gesinnungen  in  ihrem  Innersten 
vergiften  mufs,  wenn  er  ins  Herz  eindringt,  und  nun  mit  Vestigkeit  durch- 
geführt wird.  Sie  werden  sehen,  dafs  die  praktische  Philosophie  den 
Menschen  zum  Handeln  zwar  auffordert,  aber  noch  weit  mehr  darin  be- 
schränkt und  dafs  sie  ihm  im  Voraus  die  Hoffnung  benimmt,  der  wahren 
Tugend  in  den  äufserlichen  Handlungen  einen  richtigen  und  vollständig 
angemessenen  Ausdruck  zu  geben.  Schlagen  Sie  mein  Buch  auf;  es  ist 
vor  mehr  als  einem  Jahrzehend  geschrieben  und  auf  die  heutigen  Be- 
gebenheiten gewifs  nicht  berechnet;  aber  es  schliefst  mit  einem  Capitel 
über  die  Gränzen  der  Geschäfftigkeit.  Und  wie  solle  es  nicht?  Hatte 
doch  schon  Platon,  der  beste  unter  den  alten  Sittenlehrern,  die  Ge- 
rechtigkeit darin  gefunden,  dafs  Jeder  das  Seinige  thue,  und  nur  das 
Seinige!  Wenn  dem  also  ist:  so  liegt  in  der  Vielgeschäftigkeit  das  Un- 
rechte und  Verkehrte;  so  ist  Ueberschreitung  des  Berufs  der  Schritt  zur 
Sünde;  so  ist  falsche  Einbildung  eines  vermeinten  Berufs  der  allergefähr- 
lichste  Wahn,  der  ein  sonst  edles  Herz  umstricken  kann. 

Aber  die  praktische  Philosophie,  wie  genau  sie  auch  lehren  mag, 
was  zu  thun  und  zu  lassen  sey,  hat  gewöhnlich  das  Schicksal,  dafs  sie 
der  Reue  gleicht;  der  Reue,  die  zu  spät  kommt.  Zu  spät  schon  damals, 
als  Platon  ihren  ersten  Grundgedanken  richtig  darlegte;  denn  das  Zeit- 
alter war  schon  verdorben,  ein  verzehrendes  Fieber  erschöpfte  schon  die 
gährenden  Kräfte;  Ordnung  und  Unterordnung  war  schon  entwichen  aus 
dem  Volke,  und  dem  Macedonischen  Despotismus  wurde  schon  die  Ge- 
legenheit bereitet,  die  er  späterhin  so  begierig  ergriff.  Zu  spät  kommt  die 
praktische  Philosophie  auch  jetzt.  Sie  findet  ein  Geschlecht,  das  sich 
einbildet,  ein  philosophisches  zu  seyn,  —  und  das  in  der  Staatslehre 
zwischen  den  ausschweifendsten,  unter  sich  entgegengesetzten  Irrthümern 
umherschwankt,  indem  es  bald  von  Freiheit  und  Gleichheit,  bald  von  der 
Ueberlesenheit  der  Stärkern  und  dem  Bedürfnisse  der  Schwächern,  bald 
von  der  ursprünglichen  Eigentümlichkeit  als  dem  Grunde  alles  Rechts  zu 
reden  beliebt.     Ein  Geschlecht,  das  sich  einbildet,  ein  philosophisches  zu 


6 


I.    Erste  Vorlesung  über  die  praktische  Philosophie. 


seyn,  und  das  mit  besserem  Rechte,  ein  aufgeregtes,  stürmisches,  viel- 
geschäfftiges  genannt  wird;  während  Philosophie  mit  der  nämlichen  Ge- 
müthsruhe  anfangen  mufs,  mit  der  sie  endigen  soll.  Jedoch  eben  deshalb, 
meine  Herrn !  gebiete  ich  mir  in  diesem  Augenblick,  nicht  weiter  zu  klagen. 
Es  soll  nicht  scheinen,  als  hätte  ich  selbst  die  Gemüthsruhe  verloren. 
Wie  in  den  vorigen  Jahren,  so  will  ich  auch  jetzo  meine  Wissenschaft  in 
ihrer  Allgemeinheit  vortragen,  meinen  Zuhörern  aber  nicht  blofs  die  Nutz- 
anwendung überlassen,  sondern  ihnen  auch,  falls  ich  irgend  eines  Ein- 
flusses auf  ihre  Stimmung  mächtig  bin,  die  Stimmung  der  Ueberlegung, 
der  nüchternen  Prüfung,  der  Umsicht  und  Vorsicht  mittheilen,  die  ich 
selbst  zu  allererst  von  demjenigen  fordere,  der  da  begehrt,  für  einen 
Philosophen  gehalten  zu  werden.  Sie  sollen  es  fühlen,  meine  Herrn,  dafs 
die  Wissenschaft,  welche  ich  lehre,  zwar  für  einen  denkenden  Menschen 
nicht  eben  schwer  zu  fassen,  wohl  aber  unfafslich  ist  für  jeden  unruhigen 
Kopf.  Begegnet  es  irgend  einen  von  Ihnen,  dafs  er  sich  hat  hinreifsen 
lassen  von  einer  Angelegenheit  des  Augenblicks,  sey  sie  grofs  oder  klein, 
und  erfülle  sie  ihn  mit  Liebe  oder  mit  Hals:  so  soll  er  gewahr  werden, 
dafs  er  hier  bei  mir  ein  Fremdling  ist,  den  höchstens  das  Einzelne  an- 
sprechen kann,  dem  aber  der  Zusammenhang  fehlt.  Wer  zu  irgend  einer 
Parthey  gehört,  und  wem  diese  Verbindung  mehr  gilt,  als  ruhige  Vernunft 
und  veste  Ordnung:  den  will  ich  bald  überzeugen,  dafs  ich  ihm  nicht 
erlaube,  mich  zu  seiner  Parthey  zu  zählen.  Das,  meine  Herrn,  ist  meine 
AVeise,   und  dafür  bin  ich  hier  lange  genug  bekannt. 

Und  darum  achte  ich  mich  berechtigt  eben  so  sehr  als  verpflichtet, 
unter  den  gegenwärtigen  Umständen  meine  praktische  Philosophie  nicht 
etwa  leiser  vorzutragen,  als  sonst;  sondern  noch  lauter;  ja  so  laut  und 
so  öffentlich,  als  es  ohne  Zudringlichkeit  und  Anmaafsung  nur  möglich  ist. 

Noch  immer  besteht  hier  in  Königsberg  der  unglückliche  Unterschied 
zwischen  öffentlichen  und  Privat- Vorlesungen,  der  anderwärts  beinahe  ver- 
schwunden ist.  Noch  immer  kann  die  Rücksicht  auf  eine  geringfügige, 
dem  wahrhaft  Dürftigen  leicht  zu  erlassende  Zahlung,  es  dahin  bringen, 
dafs  ein  wohlgeordneter  Lehrkursus  zerrissen  wird,  indem  bei  einigen  Vor- 
lesungen das  Lehrzimmer  zu  sehr,  bey  andern  gleich  wichtigen,  ja  als 
Fortsetzung  der  vorigen  geradehin  notwendigen ,  zu  wenig  gefüllt  ist. 
Wenn  ich  eine  solche  Rücksicht  für  dies  mal  hinwegräume,  wenn  ich  die 
Thüren  meines  Lehrzimmers  für  diesen  Sommer  so  weit  als  möglich  öffne, 
so  wird  man  mich  wohl  nicht  anklagen,  als  hätte  ich  mir  und  meinen 
Vorlesungen  nur  übertriebene  Wichtigkeit  beygelegt.  Ich  will  weiter  nichts, 
als  die  Veranlassung  zum  Nachdenken  über  die  wichtigsten  Angelegen- 
heiten des  Lebens  so  öffentlich  als  möglich  darbieten.  Ich  weifs  längst, 
dafs  weder  ich  noch  meine  Lehre  zu  dem  Geiste  dieser  Zeit  passen.  Ich 
wende  auch  nicht  das  kleinste  Mittel  an,  mich  diesem  Geiste  näher  an- 
zubequemen. Wer  mein  Lehrbuch  mit  meinen  Vorträgen  vergleichen  will, 
der  wird  finden,  dafs  sie  sich  verhalten  wie  kleine  Schrift  zu  grofsen;  und 
dafs  meine  mündliche  Rede  blofs  dazu  dient,  damit  man  in  meinem  Buche 
das  lesen  könne,  was  wirklich  darin  steht,  was  aber  freylich,  einer  langen 
Erfahrung  zufolge,  weder  ungeübte  noch  blöde  Augen,  ohne  Hülfe,  darin 
zu  finden  wissen.      Erwarten  Sie  demnach  hier  nichts  Verändertes,  nichts 


Erste  Vorlesung  über  die  praktische  Philosophie  im  Sommer   1819. 


für  den  Augenblick  Ersonnenes!  Am  allerwenigsten  dürfen  Sie  glauben, 
ich  wolle  Ihnen  mit  der  Einschärfung  dessen  beschwerlich  fallen,  was  zwar 
sehr  wahr,  aber  auch  allbekannt  ist,  z.  B.  dafs  der  Meuchelmord  ein  Ver- 
brechen ist,  und  dafs,  wer  für  sich  selbst  Freyheit  der  Rede  verlangt, 
dieselbe  Freyheit  auch  seinem  Gegner  gestatten  mufs.  Unbekanntschaft  mit 
solchen  Sätzen  ist  es  nicht,  um  derentwillen  Sie,  meine  Herrn,  Sich  hier 
versammeln  konnten.  Auch  wollen  wir  die  Erinnerung  an  jene  unselige 
Begebenheit  keineswegs  vesthalten,  sie  würde  uns  stören;  wir  wollen  uns 
ihrer  absichtlich  entschlagen,  und  das  wird  jetzt  um  so  leichter  geschehen, 
nachdem  ich  ein  für  allemal   einige  Worte  darüber  gesprochen  habe. 

Wir  kommen  nunmehr  zu  unserm  eigentlichen  Zweck,   zu  der  Wissen- 
schaft,  die  ich  hier  lehren   soll.      Hiezu  ist  es  allerdings  nützlich,   dafs  wir 
einen  Fall  vor  Augen  haben,   in  welchem  wir  uns   aufgefordert  fühlen,   den 
Werth    einer  Gesinnung    und    Handlung    zu    beurtheilen.      Aber    statt    des 
einen  Beispiels  können  wir  tausend  andre  finden,  und  unter  diesen  andern 
Bevspielen  wiederum  viele,  die  weit  bequemer  sind  für  den  Zweck  meiner 
nächsten  Vorlesungen,   welcher  darin  besteht:    über  die  ersten  Gründe 
solcher   Beurtheilung  Rechenschaft  zu  geben.      Weit  bequemer  — 
denn  die  Fälle,  in  welchen  neben  dem  offenbaren  Verbrechen  noch  etwas 
von    lobenswerthen    Gesinnungen    hervorblickt,     sind    mehr    gemacht,    das 
moralische    Urtheil    zu    verwirren ,    als    es    aufzuklären ;    höchstens    können 
sie  dazu  dienen,  uns  von  der  Nothwendigkeit  der  Wissenschaft,  die  man 
praktische  Philosophie  nennt,   zu  überführen.    So  nämlich  wie  mitten  unter 
Streit  und   Gewaltthätigkeit  sich   das   Bedürfnifs  von   Recht  und  Gesetz  am 
meisten    fühlbar    macht:    eben    so    ergiebt    sich    aus    dem   Streit   der  Mei- 
nungen am   deutlichsten,   wie  nöthig  es  wäre,   veste  und  bestimmte  Gründe 
zu    kennen,    wornach    die    richtigen  Beurtheilungen  des  Guten  und  Bösen 
von  den  falschen  und  verkehrten  können  unterschieden  werden.     Allein  das 
Gefühl  vom  Bedürfnisse  dieser  Kenntnifs  ist  noch  nicht  die  Kenntnifs  selbst ; 
um    die  wahren   Gründe    der  moralischen   Beurtheilung  wirklich  zu  finden, 
mufs    man    sich    zuerst   das  Deutlichste,    Offenbarste,    was  keinen   Zweifel 
und  keine  Verwirrung  in   uns  hervorbringt,   zu  vergegenwärtigen   suchen. 

Man  mufs  ferner  die  Thatsache  des  moralischen  Urtheilens, 
so  wie  es  in  uns  geschieht,  sich  möglichst  vollständig  vor 
Augen  stellen.  Dazu  nun  gehört  erstlich  die  Bemerkung:  dafs  eine 
Handlung,  die  wir  als  moralisch  betrachten,  stets  aus  einem  Wollen  hervor- 
geht, während  die  Strebungen  eines  blofs  thierischen  Triebes  so  wenig 
als  die  Wirkung  einer  Maschiene,  für  gut  oder  böse  gehalten  werde.  Was 
aber  Wollen  sey?  darnach  fragt  man  nicht,  sondern  man  setzt  es  als 
bekannt  voraus,  indem  man  moralische  Urtheile  fällt;  man  hält  sich 
überzeugt,  dafs  Jeder  das  Wollen  aus  seiner  innersten  Erfahrung  kenne, 
und  es  von  Allem,  was  unwillkührlich  in  ihm  vorgeht,  wohl  unterscheide. 
Ueberlegen  Sie  ferner,  meine  Herrn,  dafs  zu  jedem  Wollen  ein  Gegen- 
stand gehört,  welcher  gewollt  wird;  dieser  Gegenstand  heifst  eben  in  so 
fern  ein  Gut,  als  er  die  Befriedigung  des  Wollens  herbey  bringt,  sobald 
er  selbst  erreicht  wird.  Es  heifst  ein  wahres  oder  ein  falsches  Gut, 
weil  entweder  die  Befriedigung,  so  wie  sie  gehofft  wurde,  erfolgt,  oder  im 
Gesentheil    die  Erlangung   des   gewollten  Gegenstandes   den  Willen   selbst 


8  I.    Erste  Vorlesung  über  die  praktische  Philosophie. 

verändert,  ihn  wohl  gar  in  Widerwillen  verwandelt;  da  denn  der  Mensch 
klagt,  von  einem  trüglichen  Schein  verblendet  gewesen  zu  seyn.  Hier 
werden  Sie  Sich  erinnern,  dafs  nach  der  Erlangung  des  angestrebten  Guts 
jedesmal  der  Mensch  darüber  zu  urtheilen  pflegt,  ob  dasselbe  ein  wahres 
oder  falsches  Gut  sey  ?  ob  er  sich  nunmehr  seiner  Erwartung  gemäfs  be- 
friedigt finde  oder  nicht?  Diese  Beurtheilung ,  ist  sie  es  etwan,  die  wir 
die  moralische  nennen?  Sie  werden  leicht  entdecken,  dafs  sie  es  ganz 
und  gar  nicht  ist,  sondern  dafs  man  sich  hier  vor  einer  Verwechselung 
hüten  mufs ,  die  freylich  oft  genug  begangen  ist :  Nämlich  es  sind  zwey 
verschiedene  Urtheile,  das  eine  über  den  Gegenstand,  ob  er  dem  Willen 
entspreche,  oder  nicht;  das  andre  über  den  Willen,  ob  er  moralisch  gut 
sey  oder  böse.  Sie  sehen  aber  auch  den  Anlafs  zu  der  Verwechselung. 
Nämlich  das  Wort  gut  ist  doppelsinnig;  einmal  bedeutet  es  Güter,  die 
man  besitzen  kann;  das  anderemal  bezeichnet  es  den  persönlichen  Werth, 
den  man  uns  selbst  zuschreibt.  Die  Güter  sind  das  Gegentheil  der  Uebel, 
die  das  Unglück  über  uns  verhängt ;  das  Gute  ist  das  Gegentheil  vom 
Bösen,  was  in  unserm  eignen  Herzen  liegt. 

Wir  sind  noch  lange  nicht  fertig  mit  dem  Geschafft,  uns  die  That- 
sache  des  sittlichen  Urtheilens  klar  vor  Augen  zu  stellen.  Denn  man 
schreibt  dem  Menschen,  den  man  als  gut  oder  böse  betrachtet,  nicht  blofs 
Willen  zu,  sondern  auch  Vernunft.  Was  ist  Vernunft?  Auch  dies 
wird  als  bekannt  vorausgesetzt,  und  zwar  wiederum  aus  der  innem  Er- 
fahrung. Jedermann  ist  sich  bewufst,  dafs  er  überlegen  und  wählen 
könne,  jedermann  nennt  die  Andern  um  sich  her  desto  vernünftiger,  je 
genauer  sie  ihr  Wollen  mit  der  Betrachtung  aller  Umstände  in  Einstim- 
mung setzen,  je  besser  sie  es  verstehen,  ihre  Wünsche  zu  beschränken, 
sobald  daran  etwas  Unpassendes  bemerkt  wird ;  unvernünftig  aber  heifst 
derjenige,  welcher  die  Gründe  nicht  vernimmt,  die  ihn  vom  Handeln  ab- 
halten könnten  und  sollten.  Fragen  Sie  mich  noch  nicht,  was  für  Gründe 
das  seyen?  —  Denn  es  ist  eben  diese  Frage,  zu  deren  richtigen  und 
genauen  Beantwortung  wir  uns  erst  von  ferne  vorbereiten.  So  viel  aber 
liegt  klar  vor  Augen,  dafs  wir  bey  einer  vollständigen  Beurtheilung  der 
Moralität  einer  Handlung,  oder  eines  Vorsatzes  dazu,  allemal  annehmen: 
der  Beurtheilte  sey  innerlich  sein  eigner  Zuschauer  gewesen ;  er  habe  als 
solcher  die  Gelegenheit  und  die  Fähigkeit  gehabt,  sich  selbst  zu  loben 
oder  zu  tadeln,  und  hiemit  sich  entweder  anzutreiben  oder  zurückzuhalten ; 
eine  Fähigkeit ,  die  man  bald  Vernunft ,  bald  Freyheit  nennt ;  und  um 
deren  richtige  Benennung  wir  uns  hier  noch  nicht  zu  bekümmern  brauchen, 
weil  wir  noch  nichts  erklären,  sondern  fürs  erste  die  Thatsachen  auffassen 
wollen.  Deshalb  nun  sage  ich  nicht  etwa,  der  Mensch  hat  Vernunft,  oder 
Freyheit,  sondern  vielmehr:  indem  wir  Jemanden  moralisch  beurtheilen, 
setzen  wir  in  ihm  voraus  die  Selbstbeobachtung,  Selbstbeurtheihmg,  und 
Selbstbestimmung  dergestalt,  dafs,  wenn  diese  drey  Stücke  fehlten,  wir 
über  ihn  nicht  glauben  würden  ein  vollständiges  moralisches  Urtheil  fällen 
zu  können.  Hingegen  eine  unvollständige,  oder  besser  eine  partielle  Be- 
urtheilung, würde  dennoch  möglich  seyn,   wie  sich  tiefer  unten  zeigen  wird. 

Wenn  aber  Jemand  sich  selbst  beurtheilt,  thut  er  wohl  dieses  nach 
derselben  Regel,  nach  welcher  auch  wir,  und  jeder  andre  unbefangene  Zu- 


Erste  Vorlesung  über  die  praktische  Philosophie  im  Sommer   1819. 


schauer,  ihn  beurtheilen  würde?  Oder  nach  einer  andern,  oder  vielleicht 
nach  gar  keiner  Regel?  —  Hierüber  läfst  sich,  wenn  man  nicht  gleich 
Anfangs  Erschleichungen  in  die  Thatsachen  einmischen  will,  nichts  anders 
sagen  als  dieses:  es  scheint,  als  müfste  die  Beurtheilung  nach  einer  all- 
gemeinen Regel  geschehen;  denn  man  setzt  voraus,  dafs  alle  Zuschauer, 
wenn  sie  nur  unbefangen  seyen,  über  einerley  Gesinnung  und  That  auch 
einerley  Urtheil  fällen  werden;  und  man  nimmt  an,  dafs,  nach  Hinweg- 
räumung aller  Eigenliebe  und  Verblendung,  auch  der  Thäter  selbst  seine 
That  nicht  anders  als  einstimmig  mit  dem  unpartheyischen  Zuschauer  be- 
urtheilen könne.  Also  mufs  ja  wohl  eine  allgemeine  Regel  vorhanden 
seyn,  die,  weil  sie  in  Allen  dieselbe  ist,  auch  Allen  das  gleiche  Urtheil 
abnöthigt.  So  schliefst  man;-  allein  bemerken  Sie  wohl,  meine  Herrn,  dafs 
ich  mich  für  diesen  Schlufs  nicht  verbürge.  Es  könnte  ja  sein,  dafs  man 
nach  gar  keiner  Regel  urtheilte,  sondern  dafs  nur  das  Urtheilen  eine  Be- 
gebenheit wäre,  die  sich  in  den  Urtheilenden  unter  gleichen  Umständen 
stets  auf  gleiche  Weise  ereignete.  Allein  man  ist  nun  einmal  gewöhnt, 
zu  einem  Urtheil  einen  Richter,  und  zu  dem  Richter  ein  Gesetz,  ja  auch 
zu  dem  Gesetze  einen  Gesetzgeber  hinzuzudenken.  Wendet  man  diese 
Meinung  an  auf  unsern  Gegenstand :  so  entsteht  der  Gedanke,  es  liege  in 
uns  ein  Gesetz,  das  vielleicht  von  der  Gottheit,  als  dem  höchsten  Gesetz- 
geber, uns  eingepflanzt  sey.  Wollen  Sie  indessen  die  blofse  Thatsache 
der  innern  Erfahrung  rein  auffassen,  so  müssen  Sie  fürs  erste  den  Richter, 
das  Gesetz,  und  den  Gesetzgeber  noch  ganz  weglassen,  bis  wir  etwan 
in  der  Folge  genauer  sehen,  was  an  der  Sache  sey. 

Das  aber  ist  unleugbar,  dafs  oftmals  in  der  Brust  des  Menschen  ein 
grofser  Aufruhr  entsteht,  wenn  sich  der  Wille  nicht  nach  dem  Urtheile 
richtet.  Oder  bleibt  auch  Anfangs  Alles  stille,  so  kommt  doch  eine  späte 
Reue  nach;  und  diese  Reue  läfst  sich  nicht  für  Thorheit  erklären,  wenn 
sie  auch  erst  so  spät  eintritt,  dafs  sich  die  begangenen  Thaten  gar  nicht 
mehr  zurücknehmen,  noch  in  ihren  Folgen  abändern  lassen;  vielmehr  ist 
sie  dafür  bekannt,  dafs  sie  unter  allen  Qualen,  die  ein  Mensch  leiden  kann, 
die  schrecklichste  und  unheilbarste  ist.  Mit  ihr  steht  in  genauer  Verbin- 
dung die  Schande,  die  gerade  so  in  dem  Verdammungs  -  Urtheil  Anderer, 
wie  die  Reue  in  der  Selbst-Verklagung  besteht.  Und  auf  ähnliche  Weise 
hängen  auch  die  Gegentheile,  nämlich  das  gute  Gewissen  und  die  Ehre, 
mit  einander  zusammen.  Beydes  ist  sehr  bekannt;  und  ganz  in  der  Nähe 
werden  Sie  noch  einen  dritten  Begriff  finden,  nämlich  den  der  Tugend. 
Sie  dürfen  nur  den  Unterschied  der  Ehre  vom  guten  Gewissen,  dafs  jene 
von  Andern,  dieses  von  uns  selbst  herrührt,  in  Gedanken  weglassen,  so 
bleibt  das  reine  Löbliche  zurück;  dieses  aber,  wenn  es  vollständig  ist, 
und  schon  deshalb  als  dauernde  Eigenschaft  einer  Person  vorgestellt  wird, 
ergiebt  das,  was  man  Tugend  nennt.  Aus  dem  Vorigen  ist  klar,  dafs  die- 
selbe auf  der  innigen  Verbindung  und  Einstimmung  zwischen  Vernunft  und 
Einstimmung  zwischen  Vernunft  und  Willen  beruht. 

Eben  diese  Verbindung  führt  noch  einen  Hauptbegriff  herbey,  den 
wir  sorgfältig  merken  müssen.  Denn  wiewohl  wir  es  oben  zweifelhaft  ge- 
lassen  haben,  ob  das  moralische  Urtheilen  wirklich  nach  einer,  ihm  vor- 
angehenden, Regel  geschehe,  wobey  die  Regel  das  Erste,  das  Urtheil  das 


IO  !•    Erste  Vorlesung  über  praktische  Philosophie. 


Zweyte  seyn  würde :  so  ist  doch  soviel  ganz  offenbar,  dafs,  wenn  einmal 
erst  moralische  Urtheile  ausgesprochen  sind,  und  wenn  sie  als  etwas  Vor- 
handenes und  Bekanntes  angenommen  werden,  sie  alsdann  auch  als  Vor- 
zeichnungen, Vorbilder,  Vorschriften  für  den  Willen  erscheinen,  die,  falls 
sie  allgemein  sind,  und  sich  unter  verschiedenen,  wechselnden  Neben- 
Umständen  gleich  bleiben,  selbst  Regeln  sind,  denen  der  Wille  unterworfen 
ist.  Und  hierin  liegt  nun  der  Begriff  der  Pflicht,  auf  den  ich  Sie  führen 
wollte.  Man  hält  diesen  Gedanken  vest,  obgleich  man  einräumt,  der  Wille 
könne  sich  der  Pflicht  entziehn.  Man  sagt  alsdann,  die  Pflicht  soll  be- 
folgt werden,  obgleich  ihr  der  Wille  nicht  folgen  muls,  sondern  frey  ist. 
Und  hier  kommt  uns  der  Ausdruck  Freyheit  noch  einmal  entgegen,  jedoch 
in  einer  ganz  anderen  Bedeutung,  wie  oben.  Denn  vorhin  fanden  wir 
die  Freyheit  in  der  Vernunft;  hier  in  dem  Willen.  Vorhin  erschien  die 
Freyheit  als  Empfänglichkeit  für  Gründe ;  hier  als  Ungebundenheit  trotz 
den  Gründen.  Eine  sehr  gefährliche  Zweydeutigkeit,  deren  wir  öfter 
werden  erwähnen  müssen. 

Es  ist  jetzt  Zeit,  Ihnen  von  der  Absicht  aller  dieser  Entwickelungen 
Rechenschaft  zu  geben.  Aus  der  Thatsache,  dafs  wir  Willen,  Vernunft, 
und  eine  Verbindung  beyder,  in  jedem  Menschen  voraussetzen,  über  den 
wir  ein  moralisches  Urtheil  fällen,  entspringen  drey  Hauptbegriffe,  der  von 
Gütern,  Tugenden,  und  Pflichten;  und  hiermit  die  drey  Fragen  nach  dem 
höchsten  Gute,  nach  der  ganzen  Tugend,  und  nach  der  allgemeinsten 
Pflicht.  Könnte  man  nur  Eine  dieser  Fragen  beantworten,  so  wäre  der 
Eingang  in  die  praktische  Philosophie  geöffnet.  Dem  höchsten  Gute  würde 
man  die  andern  Güter  unterordnen;  aus  der  Tugend  würde  man  das  Ver- 
hältnifs  aller  ihrer  Theile  bestimmen;  aus  der  allgemeinsten  Pflicht  würde 
man  durch  Anwendung  auf  die  im  Leben  vorkommenden  Fälle  und  Um- 
stände die  sämmtlichen  Verhaltungs-Regeln  ableiten;  und  sobald  man  eins 
von  diesen  Dreyen  geleistet  hätte,  würde  sich  das  Uebrige  leicht  ergeben. 
Denn  zwischen  Gütern,  Tugenden,  Pflichten,  ist  eine  enge  Verbindung, 
wie  Sie  leicht  errathen  werden,  und  wie  ich  nächstens  ausführlich  dar- 
zustellen mir  vorbehalte. 

Nun  hat  wirklich  die  praktische  Philosophie  sich  bisher  immer  ab- 
wechselnd bald  als  eine  Lehre  von  Gütern,  und  deren  Unterordnung  und 
Zusammenstellung   unter   das   höchste  Gut,    bald   als  eine  Darstellung  der 


Tugend,  ihrer  Bestandteile  und  ihrer  Aeufserungen,  bald  als  die  Wissenschaft 
vom  Sittengesetze  und  den  daraus  entspringenden  Pflichten  gestaltet.  Des- 
halb mufs  unsre  erste  gemeinsame  Ueberlegung  darin  bestehen :  welche, 
und  ob  irgend  eine  dieser  Formen,  wir  als  die  richtige  anzuerkennen  und 
uns  anzueignen  befugt  sind  ?  Da  wir  aber  im  Anfange  der  heutigen  Stunde 
uns  nur  gar  zu  deutlich  an  die  Schwankungen  und  an  das  Verwickelte  in 
den  moralischen  Urtheilen  erinnert  haben  :  so  können  Sie  leicht  denken, 
dafs  man  sehr  Ursache  hat,  sich  um  eine  recht  veste  Grundlage  für  unsre 
Wissenschaft  zu  bemühen,  damit  man  zu  sicheren  Entscheidungen  gelange, 
und  nicht  etwan  selbst  über  die  wichtigsten  Angelegenheiten  des  Lebens  in 
fortdauernden  Zweifeln  befangen  bleibe. 


II. 

UEBER 

MENSCHENKENNTNISS 

IN  IHREM 

VERHAELTNISS  zu  den  POLITISCHEN  MEINUNGEN. 

REDE, 

gehalten  in  der  Deutschen  Gesellschaft,  am  3.  August. 

l82I. 


[Text  nach  dem  Msc.   2056  (6)  der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Citirte  Ausgaben. 

SW  =  J.  F.   Herbart's  Sämmtliche    Werke  (Bd.  IX,     179 — 197),    herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 
KlSch  =  T.  F.    Herbart's     Kleinere  Schriften    (Bd.  II,    311 — 330),    herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 


1821.    Rede,  am  3.  August  in  der  Deutschen  Gesellschaft 

gehalten. 

Ueber  Menschenkenntnis,  in  ihrem  Verhältnis  zu  den  politischen  Meinungen. 


Der  heutige  Festtag,  der  noch  eine  lange  Reihe  von  Jahren  hindurch 
möge  gefeyert  werden,  erneuert  jedesmal  die  Veranlassung,  die  kühne 
Stellung  des  Preufsisfchen  Königs -Throns  in  der  Mitte  gröfserer  Mächte 
und  Völker  zu  bewundem ;  und  von  da  weiter  umherschauend,  die  Ver- 
änderungen zu  überdenken,  welche  die  zuletzt  erlebten  Jahre  mit  sich 
brachten.  Gewifs !  wir  Alle  wünschen  einander  Glück,  dafs  der  traurige 
Zeitraum  vor  den  letzten  Befreyungskriegen  uns  jetzt  schon  wie  im  ent- 
fernten Hintergrunde  erscheint;  dafs  der  Mann,  der  einst  allmächtig  war, 
in  diesen  Tagen  als  auf  seinem  einsamen  Felsen  verstorben  konnte  an- 
gekündigt werden,  ohne  eine  merkliche  Bewegung  der  Gemüther  zu  ver- 
anlassen; und  dafs  wir  die  Blitze,  die  jetzt  noch  am  politischen  Horizonte 
flammen,  wie  ein  stummes  Wetterleuchten  mit  ansehen  können,  ohne  zu 
fürchten,  der  Donner  werde  bald  auch  über  unsern  Häuptern  rollen. 
Gleichwohl  kann  der  theilnehmende  Zuschauer  sich  der  mannigfaltigsten 
Empfindungen  nicht  erwehren,  wenn  er  die  schönen  Länder,  Italien  und 
Griechenland,  betrachtet;  wenn  er  den  Schmerz  der  Sehnsucht  sich  denkt, 
womit  ein  unterrichteter  Mann  in  jenen  Gegenden  an  den  Ruinen  einer 
vielleicht  für  immer  begrabenen  Vorwelt  vorbey  gehn  mufs.  Aber  können 
wir  auch  verweilen  in  diesen  Empfindungen  der  Theilnahme?  Können 
wir  unserm  Herzen  uns  überlassen,  während  die  Frage,  was  klug,  was 
unklug  war,  auf  uns  eindringt?  Ueberspannte  Entwürfe,  tollkühne  Wag- 
stücke, stofsen  das  Mitgefühl  zurück;  sie  tragen  die  Schuld,  wenn  erträg- 
liche Uebel  in  gänzliches  Verderben  ausarten.  Die  neuesten  Unter- 
nehmungen, höchst  verschieden  in  Ansehung  der  Frage  von  Recht  und 
Unrecht,  sind  einander  ähnlich  in  Hinsicht  des  Erfolgs;  der  bey  der  einen 
äufserst  mislich  ist,  bey  der  andern  offenbar  verfehlt  war.  Wie  Mancher, 
der  in  Gefühlen  schwärmend,  schon  im  Geiste  den  Einwohnern  von 
Turin  und  Neapel  zujauchzte,  und  mit  ihnen  die  goldne  Wolkengestalt 
anbetete,  die  man,  mit  einem  Worte  von  sehr  schwankender  Bedeutung, 
Freyheit  zu  nennen  pflegt;  wie  Mancher  mag  hinterher  sich  im  Stillen 
geschämt  haben,   als  ihm  die   Zeitungen   den   Ausgang  meldeten ! 

Sie  werden  es  nicht  rnisbilligen,  höchstgeehrte  Anwesende !  wenn  ich 
die   Hindeutung  auf  bestimmte  Thatsachen   hier  ganz  kurz   abbreche,   und 


I_i         II.  Ueber  Menschenkenntnifs  in  ihrem  Verhältnifs  zu  den  politischen  Meinungen. 

mich  in  meine  Behausung,  die  der  allgemeinen  Begriffe,  zurückziehe.  Dafs 
ich  aber  gerade  jetzt  mich  veranlafst  finden  konnte,  über  Menschen- 
kenntnifs in  Beziehung  auf  politische  Meinungen  nachzudenken, 
liegt  deutlich  genug  vor  Augen.  Menschenkenntnifs  ist  eine  natürliche 
Feindin  aller  politischen  Ueberspannung ;  und  wo  man  die  letztere  wahr- 
nimmt, kann  man  sehr  sicher  schliefsen,  es  müsse  an  jener  erstem  gefehlt 
haben.  Stärker  jedoch  kann  sich  die,  der  Menschenkenntnifs  entgegen- 
stehende Verblendung  unmöglich  äufsern,  als  wenn,  im  Angesichte  der 
europäischen  Mächte,  in  solchen  Gegenden  ein  Volksaufstand  gepredigt 
wird,  wo  keine  allgemeine,  drückende  Noth  des  Volkes  voranging,  die 
allein  den  flüchtigen  Worten  und  Meinungen  auch  da  noch  Bestand  geben 
könnte,  wo  es  darauf  ankommt,  das  Aeufserste  zu  wagen. 

Indem  nun  auf  der  einen  Seite  die  wesentlichsten  Bedingungen  und 
Kennzeichen  der  wahren  Menschenkenntnifs,  auf  der  andern  die  Haupt- 
Unterschiede  der  politischen  Meinungen,  den  Gegenstand  meiner  Betrach- 
tungen ausmächen  müssen,  damit  am  Ende  das  Verhältnifs  einleuchte, 
welches  der  Natur  der  Sache  nach  zwischen  beyden  besteht :  kann  ich 
nicht  umhin,  an  jener  eingebildeten,  falschen  Menschenkenntnifs  vorüber- 
zugehn ,  die  so  gemein  ist ,  wie  das  politische  Gespräch ;  so  beschränkt, 
wie  der  Gesichtskreis  in  welchem  sie  entstand;  so  abhängig  von  Vor- 
urtheilen  und  Leidenschaften,  als  nur  irgend  eine  Meinung,  im  Gegensatze 
des  wahren  gründlichen  Wissens,  es  seyn  kann.  Ich  meine  jene  Art  von 
Menschenbeurtheilung,  die  wir  bey  den  gewöhnlichen  Zeitungslesem  fast 
aller  Klassen  und  Stände  antreffen.  Bey  jeder  wichtigen  Neuigkeit,  die 
Europa  durchläuft,  bewegen  sich  unzählige  Zungen;  sie  loben,  sie  tadeln, 
sie  schmähen;  sie  drohen  wohl  gar;  doch  vor  allen  Dingen  sind  sie  be- 
schäftigt, die  Gesinnungen  der  auf  der  Weltbühne  handelnden  Personen 
auszusprechen,  verborgene  Absichten  zu  verkünden,  und  von  geheimen 
Zurüstungen  den  Erfolg  zu  weissagen.  Könnten  wir  alle  diese  Zungen 
auf  einmal  reden  hören,  unstreitig  würden  wir  die  natürliche  Partheylich- 
keit  der  verschiedenen  Stände,  Alter  und  Völker  leicht  wieder  erkennen, 
wir  würden  sehen,  wie  oft  diejenigen  sich  am  klügsten  dünken,  die  sich 
von  den  arglistigen  Absichten  der  Mächtigen  die  abentheuerlichsten  Vor- 
stellungen ausgesonnen  haben ;  und  wie  oft  die  Grofsen  das  Mistrauen 
der  Geringem  mit  gleichem  Mistrauen  vergelten.  Ist  dies  die  wahre 
Menschenkenntnifs  ?  Eben  so  wenig  als  Gespensterfurcht  Naturkunde  ist. 
Vorsichtig  mag  man  den  nennen,  der  sich  jede  Gefahr  so  grofs  als  mög- 
lich, und  jeden  Mächtigen  als  gefährlich  denkt;  aber  dieser  Vorsichtige 
ist  weder  ein  guter  Beobachter,  noch  ein  guter  Bürger;  ob  ein  guter 
Staatsmann  ?  darüber  mögen  Geschichte  und  Erfahrung  reden ;  allein  ich 
besorge,  Sie  werden  den  ängstlichen  Regierungen,  die  stets  gegen  das 
Volk  auf  ihrer  Hut  sind,  nicht  eben  das  beste  Zeugnifs  ausstellen.  Wie 
dem  auch  sey:  jede  Kenntnifs,  also  auch  Menschenkenntnifs,  wird  der 
Unbefangenste  am  sichersten  erwerben.  Daher  erwarte  ich  sie  nicht  etwa 
bey  dem,  welcher  oft  durch  Schaden  klug  wurde,  sondern  bey  dem, 
welchen  sein  natürlich  richtiger  Blick  von  Jugend  auf  vor  Schaden  ge- 
hütet hat.  Und  wenn  die  spätem  Jahre  des  Lebens  den  Vorzug  der 
vollständigem  Beobachtung,  und  der  reifem  Beurtheilung  besitzen,    so  hat 


Rede,  gehalten  in  der  Deutschen  Gesellschaft,  am   3.  August.     1821.  15 


es  mir  doch  oft  geschienen,  die  wahre  Weltklugheit  wachse  mit  dem 
Menschen  heran,  dergestalt  dafs,  wo  sie  dem  Jünglinge  nicht  blüht,  sie 
auch  dem  Manne  keine  Früchte  zeitigt. 

Die  erste  Bedingung  der  ächten  Menschenkenntnifs  liegt  hiemit  schon 
vor  Augen;  sie  heifst:  ruhige,  unbefangene  Beobachtung,  ohne  Furcht 
und  Hoffnung,  ohne  Vorliebe  und  Abneigung.  Schwer  ist  es  gewifs,  diese 
Bedingung  zu  erreichen.  Denn  wer  geht  durchs  Leben,  ohne  beständig 
zu  fürchten  und  zu  hoffen  ?  Welches  menschliche  Antlitz  kann  uns  be- 
gegnen, das  wir  nicht  auf  irgend  eine  Weise,  oft  ohne  es  zu  merken,  mit 
unsern  Wünschen  und  Besorgnissen  in  Verbindung  setzten  ?  —  Wenigstens 
ist  das  die  Art  vieler  Menschen,  alle  Sachen  und  Personen  als  Gelegen- 
heiten und  Gefahren  zu  betrachten;  ihre  Gespräche  sind  Erkundigungen, 
ihre  Grüfse  schon  sind  Gesuche,  wo  nicht  umgekehrt  Begünstigungen  für 
den,  dessen  stummes  Anliegen  sie  zu  erraten  glauben.  Diese  Gattung 
von  Leuten  pflegt  für  sehr  klug  gehalten  zu  werden ;  allein  ihre  Menschen- 
kenntnifs möchte  zu  vergleichen  seyn  mit  der  Botanik  derjenigen,  die  in 
den  Pflanzen  nur  Heilkräfte  suchen,  und  keine  Blume  lieben,  die  nicht 
offizineil  ist  und  nicht  im  Laboratorium  zu  thuh  giebt.  Dem  wahren 
Botaniker  hingegen  ist  jedes  Gewächs  merkwürdig,  was  sein  Wissen  ver- 
mehrt, und  sein  Verhältnifs  zur  Natur  zu  einer  innigem  Vertraulichkeit 
erhebt;  ebenso  werden  auch  nur  diejenigen  Beobachtungen  uns  mit 
Sicherheit  in  das  Wesen  des  Menschen  hineinschauen  lassen,  die  wir  ohne 
weitere  Rücksicht  deshalb  machen,  weil  wir  ein  offenes  Auge  haben,  und 
deshalb  aufbewahren,  weil  wir  keinen  Beytrag  zu  dem  Ganzen  unseres 
Wissens  gering  schätzen. 

Indessen  ist  das  unbestochene  Sehen  und  Urtheilen,  nebst  der  Sorge, 
nicht  Erfahrung  mit  Erschleichung  zu  mischen,  nur  die  erste  vorläufige 
Voraussetzung,  ohne  welche  kein  unverfälschtes  Wahrnehmen  würde  statt 
finden  können;  aber  die  Kunst  des  Beobachtens l  reicht  weiter;  sie  ver- 
langt Schärfe  der  Unterscheidung  und  Vollständigkeit  der  Zusammen- 
fassung. Indem  wir  diese  unentbehrlichen  Tugenden  bey  dem  Menschen- 
kenner aufsuchen :  wird  es  uns  sogleich  auffallen,  dafs  demselben  eine  be- 
sondere Schwierigkeit  im  Wege  steht.  Ihm  ist  nämlich  sein  Gegenstand 
dem  gröfsten  Theile  nach  gar  nicht  unmittelbar  in  der  Erfahrung  gegeben. 
Jeder  Mensch  schaut  zunächst  nur  in  sein  eigenes  Innere;  die  Herzen 
der  Andern  sind  ihm  verschlossen,  wenn  sie  sich  nicht  frey willig  ihm 
öffnen;  und  selbst  in  diesem  Falle,  wie  macht  er  es,  sie  zu  verstehen? 
Er  vergleicht  sie  mit  sich  selbst;  er  deutet  ihre  Aeufserungen  auf  einen 
ähnlichen  Lauf  der  Empfindungen  und  Vorstellungen,  wie  er  in  seinem 
Bewufstseyn  vorfand;  er  deutet  richtig  oder  falsch,  nicht  blofs  weil  er 
Jene  Andern,  sondern  auch  weil  er  sich  selbst  besser  oder  schlechter  be- 
obachtete. Hier  müssen  die  mindesten  Spuren  dessen,  was  er  in  sich  nur 
noch  kaum  unterschied,  zu  Aufschlüssen  dienen,  um  von  den  gröfsten  Ab- 
weichungen der  Charaktere  und  Empfindungsweisen  nur  die  Möglichkeit 
zu  fassen ;  der  Einzelne  mufs  die  Menschheit  in  sich  tragen,  in  sich  finden 
und  durchdenken,  um  alle  die  mannigfaltigen  Aufsenseiten  anderer  Men- 

1    Beobachters  SW. 


t  5      II.  Ueber  Menschenkenntnifs  in  ihrem  Verhältnifs  zu  den  politischen  Meinungen. 


sehen  in  seiner  Vorstellung  auf  ein  Inneres,  das  etwa  dahinter  verborgen 
seyn  könne,  zurückzuführen.  Er  mufs  in  sich  selbst  ganz  allein  den  Dol- 
metscher finden,  um  ihre  Sprache,  —  nicht  blofs  die  Laute  ihres  Mundes, 
sondern  auch  die  Zeichen  ihres  Handelns,  sich  zu  übersetzen  und  aus- 
zulegen. Welche  Feinheit  der  Selbstbeobachtung  setzt  dies  voraus!  Die 
sanze  Möglichkeit  des  Guten  und  des  Schlechten,  des  Edeln  und  der 
Verworfenheit,  die  Kräfte  der  Tugend  und  des  Lasters,  die  Schwächen 
der  Abspannung  und  der  Ueberspannung,  des  Vorwärts  und  Rückwärts 
Schreiten  und  Gleiten,  den  Aufschwung,  die  Stetigkeit  und  das  Nieder- 
sinken —  dies  alles  soll  er  in  sich  erkennen,  um  es  in  Andern  wieder- 
zufinden; denn  er  kann  die  Andern  nicht  einmal  errathen,  aufser  nach  der 
Vorzeichnung,  die  er  in  sich  erblickt,  und  die  er  wohl  in  Gedanken  ver- 
gröfsem,  verkleinern,  hie  und  da  abändern  und  anders  zusammensetzen, 
aber  nicht  aus  anderm  Stoffe  bilden  kann,  nicht  zu  erfinden,  nicht  wirk- 
lich neu  zu  schaffen  vermag. l  Dafs  unter  diesen  Umständen  in  der  That 
Menschenkenntnifs  in  gewissem  Grade  möglich  ist,  und  dafs  es  Manchem 
gelingt,  sie  zu  erwerben :  dies  zeigt  einen  hohen  Grad  von  Gleichartigkeit 
der  menschlichen  Naturen  in  allen  dem,  was  man  die  Elemente  ihrer  Zu- 
sammensetzung nennen  mag;  doch  kann  Jeder  nur  nach  dem  Umfange 
seines  Geistes,  und  nach  der  Geduld,  womit  er  der  Selbstbeobachtung  sich 
widmet,  ohne  vor  der  vollendeten  Auffassung  an  sich  meistern  zu  wollen, 
dahin  gelangen  mehr  oder  weniger  von  dem  Ganzen  der  Menschheit  zu 
verstehen.  Ohne  nun  die  Schwierigkeiten,  welche  selbst  in  das  eigne 
Innere  tief  hineinzuschauen  uns  verwehren,  hier  weiter  zu  erwähnen; 
wende  ich  mich  zu  der  Forderung  der  Vollständigkeit  im  Zusammenstellen 
dessen,  was  die  Erfahrung  darbietet. 

Hier   kommt   es   nicht  darauf  an,    in  vielen  Exemplaren  einerley  vor 
Augen    zu   haben,    sondern   kein  Exemplar  für  ein  Ganzes  zu  halten,    das 
nur    ein  Bruchstück   ist.     In  wiefem   nun  auf  die  Mensch  engeschichte  der 
Spruch  pafst :  es  geschehe  nichts  Neues  unter  der  Sonne,  wiederholt  sich 
in    vielen    Beyspielen    nur    einerley    Erscheinungen    und    Lehren;    und    in 
dieser  Hinsicht  allein,    würde  Geschichte  wenig  geeignet  seyn,  Mensch en- 
.  kenntnifs    zu   fördern.     Aber   aus  einem   andern  Grunde   mufs  die  Summe 
von  allgemeinen  Bemerkungen  über  den  Menschen,  welche  man  Psycho- 
logie   nennt,    sehr    nothwendig    durch   Geschichte    ergänzt    und   berichtigt 
werden.     Nämlich  kein  Mensch  steht  allein,  und  kein  bekanntes  Zeitalter 
beruht   auf  sich   selbst;    in  jeder  Gegenwart  lebt  die  Vergangenheit,    und 
was   der  Einzelne   seine  Persönlichkeit  nennt,    das  ist  selbst  im  strengsten 
Sinne    des  Worts    ein  Gewebe   von  Gedanken    und  Empfindungen,    deren 
bey  weitem  gröfster  Theil  nur  wiederholet,  was  die  Gesellschaft,  in  deren 
Mitte    er   lebt,    als   ein   geistiges  Gemeingut  besitzt  und  verwaltet.     Daher 
täuscht  man  sich  sehr,  wenn  man  die  Beobachtung  eines  einzelnen  Men- 
schen für  vollständig  hält;    man  täuscht  sich,  wenn  man  das  Mannigfaltige 
in    ihm,    und   man   täuscht   sich    nochmals,    wenn   man  die  Einheit  dieses 
Mannigfaltigen,    sey   sie    nun   wirklich   vorhanden   oder  nur  hineingedacht, 
als  bezeichnend  für  das  Ursprüngliche  seines  Wesens  ansieht.    Das  wahre 


i    Nach  „zu  schaffen  vermag"  Absatz  S\V. 


Rede,  gehalten  in  der  Deutschen  Gesellschaft,  am  3.  August.      1821.  \-j 


Ursprüngliche  des  menschlichen  Geistes  ist  vollkommen  einfach;  eben  des- 
halb enthält  es  nicht  das  Mindeste  von  der  Mannigfaltigkeit  der  Gesetze, 
welche  die  Psychologen  in  dem  Denken,  dem  Wollen,  dem  Empfinden 
zu  bemerken  glauben,  sondern  diese  Gesetze  entstehen  erst  mit  den  Ge- 
danken und  aus  denselben;  auch  sind  sie  nur  deshalb  allgemein,  weil  die 
Bedingungen  ihrer  Erzeugung  in  den  menschlichen  Seelen  überall  gleich- 
artig sind.  Doch  ich  darf  mich  hier  nicht  vertiefen  in  diejenige  Wissen- 
schaft, welche  in  Ansehung  der  Seele  das,  was  jenseits  der  Erfahrung  liegt, 
zu  erkennen  gestattet;  es  sey  genug  nur  angedeutet  zu  haben,  dafs  die 
Psychologie,  wenn  sie  vollständig  seyn  soll,  nicht  auf  der  blofsen  Erfahrung 
allein  beruhen  könne;  dafs  es  vielmehr  Quellen  einer  wissenschaftlichen 
Mensch enkenntnifs  gebe,  welche  aufzusuchen  desto  nöthiger  ist,  je  unzu- 
länglicher und  unsicher  jene  Deutung  ausfällt,  die  wir  unserer  inneren 
Wahrnehmung  geben,  wenn  wir  darnach  Andere  beurtheilen,  in  deren 
Inneres  wir  unmittelbar  nicht  hineinschauen  können. 

Mag  man  aber  durch  Speculation  oder  auch  blofs  durch  Erfahrung 
den  Menschen  kennen,  wofern  man  nur  sich  gewöhnt,  nie  die  Auffassung 
des  Einzelnen  allein  für  vollständig  zu  halten,  sondern  ihn  stets  mit  seiner 
Umgebung  und  in  seiner  Zeit  zu  betrachten,  so  wird  leicht  erhellen,  dafs 
in  jedem  Menschen  eine  ihm  eigenthümliche  Form,  und  ein  auf  ihn 
zufällig  übertragener  Stoff  von  Gedanken  und  Meinungen  unterschieden 
werden  müsse.  Die  eigenthümliche  Form  besteht  in  dem  Temperament, 
und  in  einem,  von  Jugend  auf  beynahe  gleichbleibenden,  durch  keine 
Erziehung  und  keine  Schicksale  abzuändernden,  Rhythmus  der  geistigen 
Bewegungen.  Hingegen  die  ganze  Masse  der  Vorstellungen  kommt  eben 
so  gewifs  wie  die  Muttersprache,  von  aufsen,  und  würde  mit  einer  andern 
vertauscht  werden,  wenn  wir  das  neugeborne  Kind  des  Engländers  nach 
China,  das  des  Chinesen  nach  Paris  verpflanzten,  ohne  Kunde  und  Be- 
gleitung aus  dem  väterlichen  Hause.  Diese  Masse  der  Vorstellungen 
ändert  sich  aber  auch  ohne  Verpflanzung  durch  die  Zeit.  So  werden 
unstreitig  Deutsche  Kinder  jetzt  mit  ganz  andern  Darstellungen  der 
Deutschen  Geschichte,  und  hiedurch  mit  ganz  andern  Nationalgefühlen 
ernährt,  als  dies  vor  der  Schlacht  bei  Leipzig,  und  vor  dem  doppelten 
Einzüge  in  Paris  der  Fall  seyn  konnte.  Nur  ist  eine  solche  Veränderung 
nicht  plötzlich  und  nicht  durchgreifend.  Sehr  vieles  von  dem,  was  den 
jungen  Deutschen  jetzt  beschäftigt,  ist  noch  genau  das  nämliche,  als  was  vor 
zwanzig  Jahren  sich  darbot.  Daher  verräth  sich  die  Zufälligkeit  des  Ge- 
dankenstoffes nicht  blofs  darin,  dafs  dem  Einzelnen  eine  veränderte  Um- 
gebung auch  eine  andere  Summe  von  Vorstellungen  würde  zugeführt  haben, 
sondern  überdies  sind  die  Theile  dieser  Summe  einander  selbst  zufällig, 
und  einer  dem  Laufe  der  Dinge  anheimgestellten  Umwandlung  durch  neue 
Zusätze  und  Ausscheidung  des  Alten  unterworfen.  Wird  man  unter  diesen 
Umständen  wohl  erwarten  dürfen,  dafs  alle  Meinungen  und  Gewöhnungen 
eines  Menschen  unter  einander  vollständig  zusammenstimmen  müfsten? 
Wenn  er  im  Laufe  der.  Zeit  manche,  in  ihren  Gründen  widerstreitende 
Ansichten  kennen  gelernt  hat,  so  läuft  er  Gefahr,  von  einer  jeden  unwill- 
kührlich  etwas  zu  halten,  und  abwechselnd  in  längern  oder  kürzern  Perioden 
hie  und  dorthin  zu  schwanken.     So  erwacht  in   dem  Weltmann   in  spätem 

Hkrbart's  Werke.     V.  2 


t 8      IL  Ueber  Menschenkenntnifs  in  ihrem  Verhältnifs  zu  den  politischen  Meinungen. 

Jahren  die  Religion,  zum  Zeichen,  dafs  ihre  Jugend  -  Eindrücke  niemals 
eigentlich  ausgetilgt,  sondern  nur  unterdrückt  waren.  Und  wie  viel 
schnellere  Wechsel,  wie  stürmische  Umkehrungen  der  Gesinnung  würden 
wir  vielleicht  in  dem  heutigen  Spanien  finden,  wenn  wir  dort  die  einzelnen 
Menschen  ganz  nahe  beobachten  könnten!  Denn  man  kann  es  als  psycho- 
logisch unmöglich  ansehn,  dafs  in  dieser  alten  Werkstätte  der  Mönche,  aus 
welcher  jedoch  die  französischen  Waffen  leichter  als  die  mitgekommenen 
Ansichten  vertrieben  werden  konnten,  jetzt  schon  ein  bestimmtes  Gleich- 
gewicht der  Meinungen  sollte  eingetreten  seyn;  vielmehr  ist  die  bürgerliche 
Gährung  in  jenem  Lande  nur  als  ein  äufseres  Zeichen  eines  Kampfes  zu 
betrachten,  den  eine  grofse  Zahl  von  einzelnen  Menschen  mit  sich  selbst 
kämpfen  mufs,  um  die  ersten  Jugendeindrücke  gegen  alles  das  Neue,  was 
der  Lauf  der  Zeit  herbeiführte,  in  ein  bestimmtes  Verhältnifs  zu  setzen. 
Und  wiewohl  Niemand  den  Spaniern  wünschen  wird,  dafs  eine  so  lange 
und  furchtbare  Reibung,  wie  die  des  dreyfsigjährigen  Krieges  in  Deutsch- 
land war,  auch  bey  ihnen  eintrete:  so  kami  man  doch  kaum  verkennen, 
dafs  dem  heftigen  Gegensatze  der  politischen  Meinungen  dort  ein  anderer 
in  Ansehung  der  Religionslehren  beynahe  nothwendig  folgen  müsse,  dessen 
Entscheidung  desto  länger  dauern  dürfte,  je  tiefer  und  schmerzlicher  das 
Andenken  an  erlittene  Verfolgungen  wahrscheinlich  noch  in  manchen 
Familien  fortdauert.  Der  Religionskampf  aber  ist  gewifs  nicht  blofs  ein 
äufserer,  sondern  zuerst  und  vorzüglich  ein  innerer;  ja  in  seine  Strudel 
geräth  gewöhnlich  alles  das,  worin  der  Mensch  mit  sich  selbst  nicht  einig 
werden  kann,  mag  es  Wissenschaft  oder  Kunst,  mag  es  Lebens  plane  oder 
Lebens-Ansichten  betreffen.  Wer  nun  die  Menschen  wünscht  kennen 
zu  lernen,  der  wird  sie  vorzüglich  in  diesem  Zustande  der  Uneinigkeit 
mit  sich  selbst  zu  beobachten  suchen,  und  zwar  nicht  blofs  dann,  wenn 
sie  den  innern  Streit  offen  zu  Tage  legen,  sondern  schon  da,  wo  sie  sich 
ungewifs  fühlen,  und  eben  deshalb  das  Sicherste  statt  des  Besten,  das 
Handgreiflichste  statt  des  Höheren  und  Schöneren  erwählen;  wo  sie  in  die 
Gemeinheit  zurücksinken,  weil  in  ihrem  edlern  Streben  ihnen  der  Gearen- 
stand  dunkel,  oder  ihr  Beruf,  ihre  Kraft,  ihnen  zweifelhaft  geworden  ist. 
Auf  diesem  Punkte  verführt  sie  das  Beyspiel,  ergreift  sie  der  Eigennutz, 
erdrückt  sie  die  Auctorität;  hier  verlieren  sie  die  Freyheit,  die  sie  umsonst 
in  den  Staatsverfassungen  wiedersuchen. 

Diese  Schwankung,  welche  daher  rührt,  dafs  in  dem  Gedankenkreise 
des  Menschen  keine  ursprüngliche  Einheit  ist,  wird  in  ihren  Folgen  noch 
wichtiger  wegen  eines  andern  Umstandes,  dessen  ich  kurz  erwähnen  mufs: 
ich  meine  die  engen  Schranken  der  Möglichkeit,  dafs  der  Mensch  ein 
Mannigfaltiges  zugleich  bedenke,  und  beharrlich  seiner  Betrachtung  gegen- 
wärtig erhalte.  Grofse  Geister,  im  Gegensatze  der  Menschen  von  kleinem 
Gehirn,  würden  wir  nicht  bewundern,  wäre  nicht  der  weite  Umfang  dessen, 
was  sie  theils  zugleich,  theils  schnell  hinter  einander  fassen  und  besorgen, 
eine  Seltenheit,  deren  Mangel  der  gewöhnliche  Mensch  nur  zu  schmerz- 
lich an  sich  selber  tadelt.  Allein  was  heifst  grofs,  und  welcher  Umfang 
ist  weit?  Diese  Worte  bezeichnen  eine  Vergleichung ,  welche,  über  die 
gewohnten  Grenzen  hinaus  fortgesetzt,  und  bald  genug  alle  menschlichen 
Geister  als  schwach  und  klein  darstellt,  wenn  wir  das  Ganze  der  mensch- 


Rede,  gehalten  in  der  Deutschen  Gesellschaft,  am  3.  August.      1821.  iq 

liehen  Angelegenheiten  zum  Mafsstab  nehmen.  Sehr  grofse  Gelehrte  be- 
kennen, die  Tiefe  ihres  Wissens  mit  Einseitigkeit  der  Bildung  bezahlt 
zu  haben,  und  sie  verlangen  sogar  dieselbe  Einseitigkeit  von  ihren  Schülern. 
Der  gröfste  Staatsmann  läfst  eine  Menge  von  untergeordneten  Personen 
für  sich  arbeiten;  und  ein  berühmter  Minister  sagte  von  sich  selbst,  er 
wolle  lieber  seine  Zeit  damit  tödten,  dafs  er  Papier  zwecklos  in  Stücken 
zerschneide,  als  irgend  eine  Arbeit  selbst  verfertigen,  die  er  füglich  einem 
Andern  auftragen  könne.  Gewifs  ein  deutliches  Bekenntnis,  wie  wichtig 
es  sey,  den  Geist  nicht  zu  überfüllen,  wenn  dessen  Beweglichkeit  nicht 
leiden  solle.  Daher  bey  wachsender  Cultur  die  immer  vermehrte  Zahl  der 
Unterschiede  zwischen  Ständen,  Fächern,  Gewerbszweigen,  Arbeiten  aller 
Art.  Aber  bey  dieser  Lage  der  Dinge  rechnen  wir  alle  gegenseitig  auf 
einander;  keiner  vermag  an  seinen  Platz  sich  zu  stellen  und  zu  behaupten, 
wo  nicht  jeder  Andre  auf  dem  seinigen  steht.  Wer  denn  bevestigt  die 
Plätze,  auf  denen  wir  stehn?  Unstreitig  der  Staat.  Woher  denn  empfing 
der  Staat  die  Macht,  so  viele  Plätze  zu  stützen;  so  viele  Personen,  die 
an  diesen  Plätzen  stehen,  zu  tragen?  Ohne  Zweifel  von  dem  allgemeinen 
Gefühle  des  Bedürfnisses,  sich  anzulehnen  an  Gesetz  und  Ordnimg,  sich 
zu  fügen  in  die  bestehenden  Formen.  Aber  wenn  es  wahr  ist,  dafs  die 
Stärke  des  Staats  beruht  auf  der  Schwäche  und  Beschränktheit  der  Einzelnen : 
mufs  nicht  der  Staat  schwächer  werden,  wenn  die  Kraft,  die  Einsicht,  die 
Ausbildung  und  Uebung  bei  den  Einzelnen  wächst?  Wird  nicht  der  Staat, 
indem  er  dieses  wahrnimmt,  die  Bürger  suchen  in  der  Unmündigkeit  zu 
erhalten?  Werden  nicht  die  Einzelnen  ihrer  Seits  dem  Staate  widerstreben, 
wenn  sie  sehen,  ihre  Schlaffheit  und  Sorglosigkeit  sey  es  gewesen,  die  sie 
abhängig  machte  von  einer  zwingenden  Gewalt? 

Dafs  ich  diese  allgemein  bekannten  Fragen  beantworten  sollte,  werden 
Sie,  höchstgeehrte  Anwesende,  nicht  erwarten;  ich  habe  sie  nur  in  Er- 
innerung gebracht,  um  den  Ursprung  der  unvermeidlich  verschiedenen 
politischen  Meinungen  zu  bezeichnen,  die  sich  in  allen  Staaten  zu  allen 
Zeiten  gefunden  haben  und  finden  werden.  Wir  können  alle  politischen 
Meinungen,  wie  mannigfaltig  sie  auch  seyn  mögen,  auf  zwey  bekannte 
Hauptclassen  zurückführen.  Die  Anhänger  der  einen  nennen  sich  Liberale; 
die  der  andern  halten  sich  an  die  Legitimität.  Beyde  kommen  darin  über- 
ein, dafs  sie  das  Recht  zu  ihrem  Schilde  erkoren  haben;  aber  die  einen 
reden  von  dem  Recht,  das,  wie  sie  sagen,  mit  uns  geboren  ward,  die 
andern  verweisen  uns  an  Urkunden  und  bestehende  Verfassungen.  Es 
dürfte  aber  wenig  Menschenkenntnifs  verrathen,  wenn  wir  die  Meinungen 
vom  Recht  als  die  wahre  Quelle  der  Gesinnungen  betrachten  wollten. 
Mag  es  seyn,  dafs  einzelne  Denker  sich  in  dieser  Hinsicht  bestimmte  Ueber- 
zeugungen  gebildet,  und  dafs  sie,  was  weit  mehr  sagen  will,  diese  Ueber- 
zeugungen  auch  wirklich  zur  Grundlage  ihrer  ganzen  politischen  Denkungs- 
art  erhoben  haben.  Aber  die  gröfsere  Zahl  der  Menschen,  wenn  vom 
strengen  Denken,  von  systematischer  Theorie  die  Rede  ist,  mistraut  sich 
selbst;  sie  mistraut  auch  den  Philosophen  und  ist  weit  davon  entfernt, 
etwa  diesen  oder  jenen  Schriftsteller  als  eine  Auctorität  für  sich  anzu- 
führen, der  man  mit  reiner  Hingebung,  vollends  mit  Aufopferung,  folgen 
müfste.     Die  Liberalen    wollen    nur    sich    selber    folgen;    die  Freunde    der 


20       n.  Ueber  Menschenkenntnifs  in  ihrem  Verhältnifs  zu  den  politischen  Meinungen. 

Legitimität  suchen  dagegen  den  Schutz  derer,  welche  die  Macht  in  Händen 
haben;  und  das  beste,  was  man  von  beyden  Parthey en  sagen  kann, 
besteht  darin,  dafs'  die  wahren  Liberalen  Freyheit  nicht  blofs  für  sich, 
sondern  für  Jedermann  verlangen;  die  wahren  Verehrer  der  Legitimität 
aber  nicht  blols  für  sich,  sondern  für  das  bürgerliche  Ganze  den  Schutz 
der  Ordnung  zu  behaupten  wünschen.  Ist  es  nun  möglich,  möchte  man 
fragen,  dafs  die  Liberalen  keine  Ordnung,  dafs  die  Legitimen  keine  Freyheit 
begehren?  Beyde  wollen  ja  beydes;  wie  können  sie  denn  streiten?  Aber 
der  Streitpunkt  liegt  eben  deshalb  nicht  auf  dem  Felde  des  Rechts,  sondern 
auf  dem  der  Menschen-Beurtheilung.  Die  Frage  ist  weit  weniger  über 
das,  was  seyn  solle,  als  über  das,  was  seyn  könne. 

Hören  wir  die  Liberalen :  so  ist  der  Mensch  ursprünglich  ein  strebendes, 
wollendes    Wesen;    so    beruht    der   Staat    auf    der    Zusammenwirkung    der 
Willen;  so  ist  bey  einer  gebildeten  Nation,  und  in  Zeiten  wie  die  unsrigen, 
jede    Unterdrückung   ein   Reiz    zur    Gegenwirkung;    so    spannt   Alles,    was 
nicht  mit  allgemeiner  Zustimmung  geschieht,    die  Kräfte    der  Unzufrieden- 
heit zur  immer  stärkeren  Aeufserung;  das  Ganze  kann  nicht  in  Ruhe  seyn, 
aufser  durch  ein  Gleichgewicht  aller  Wünsche   und  Interessen;    man   mufs 
demnach  erlauben,  dafs  diese  Wünsche,  diese  Interessen,    und    mit   ihnen 
die  Gedanken  und  Meinungen,  sich  laut  äufsern,  man  mufs  auf  sie  hören, 
man  mufs  bereit  seyn,  ihnen  nachzugeben,  selbst    wenn    dem    öffentlichen 
Verlangen  ein  Irrthum  zum  Grunde   läge.     Die  Nation   mufs    nach   dieser 
Ansicht  Erfahrungen  machen;  durch  Erfahrungen  sich  bilden;  sie  wird  als- 
dann endlich  von  selbst  den  Ruhepunkt   finden,    auf   welchem   ein    vestes, 
durch   allgemeine  Ueberzeugung  geheiligtes  Gesetz   die   ferneren  Umwand- 
lungen verhindert.     Dann  erst  wird  das  goldene  Zeitalter  eintreten;  Jeder 
wird  sehen,  dafs  er   nach  Billigkeit   nichts    mehr    verlangen   könne    als    er 
schon  hat;    Alle  werden  darauf  achten,  dafs  Keinem  einfallen  könne,  mehr 
als  das  Billige  zu  fordern.    Ob  es  alsdann  noch  Kriege  geben  könne  unter 
den  Völkern?    Kaum  weifs  ich,  was  ich  im  Namen  der  Liberalen  hierüber 
sagen  soll.     Die  edelsten   und    einsichtsvollsten    unter   ihnen   können   wohl 
nicht  umhin,  anzuerkennen,  dafs,   wenn    einmal   von   politischen  Ideen   die 
Rede  seyn  soll,  die   einer    gesetzlichen  Verknüpfung   aller  Staaten,    welche 
einander  berühren  können,  die  wichtigste  oder  wenigstens  die  gröfste  und 
umfassendste  von  allen  ist;  allein  es  scheint  fast,  als  ob  dieser  allgemeine 
Bund,  diese  Verbrüderung,  heutiges  Tages  von  Manchen  weniger  gewünscht 
würde,  seitdem  etwas  in  die  Wirklichkeit  eingetreten  ist,  das  mit  der  be- 
zeichneten  Idee   eine    unverkennbare   Aehnlichkeit    hat.      Soll   man    denn 
glauben,  es  wäre    besser,    wenn    die   Staaten    gegen    einander    im  Natur- 
zustande lebten,  der,  sobald  einer  es  für  sich   nützlich    findet,    in  Kriegs- 
stand übergehen  wird?     Vielleicht!     Da  Manche  den  Krieg  als  ein  gym- 
nastisches Spiel  betrachten,  dessen    die  Nationen   zuweilen    bedürfen,    um 
sich  zu  ermuthigen   und    zu   erfrischen.     Aber    die  Consequenz   wird    als- 
dann auf  die  Frage  leiten,  ob  eine  ähnliche  Gymnastik  nicht  auch  zwischen 
den  Provinzen  eines  Staats,  ja  zwischen  den  Familien  einer  Stadt,  einzu- 
führen wäre,   damit  die  Wirkung   noch    sicherer    und    heilsamer    ausfallen 
möchte.     Doch,  die  wahren  Denker  können  eine  solche   rückgängige  Be- 
wegung im  Gebiete    der   Ideen   nicht    machen;    und    welche    Meinung    sie 


Rede,  gehalten  in  der  Deutschen  Gesellschaft,  am  3.  August.      1821.  21 


auch  über  einzelne  Begebenheiten  hegen  mögen,  darin  werden  sie  zu- 
sammenstimmen, dafs  die  öffentliche  Anerkennung:  für  christliche  Staaten 
gezieme  sich  ein  christlicher  Bund,  zu  den  besten,  würdigsten  Erzeug- 
nissen der  neueren  Zeit  zu  rechnen  ist. 

Hören  wir  nun  auch  die  Freunde  der  Legitimität:  so  werden  Viele, 
vielleicht    die  Meisten    von    ihnen,    gleich    zuerst    in  Ansehung   des    eben 
erwähnten  christlichen  Bundes  ihre  Menschenkenntnifs  gelten  machen  gegen 
die    Idee;    sie     werden    uns    sagen,     dafs    zwischen    mehreren    Staaten, 
die    kein   gemeinsames  Oberhaupt    anerkennen,    es    kein    wahres  Bündnifs 
o-eben  könne,  als  nur   das    der   gemeinsamen  Vortheile;    weil   aber    dieses 
mit  den  Zeitumständen  veränderlich   sei,    so   müsse    man   sich   mit  jenem 
o-ebrechlichen  europäischen  Gleichgewichte  begnügen,  welches  wir  aus  den 
Zeiten  vor  der  französischen   Staatsumwälzung   wohl    kennen.     Nur   inner- 
halb der  einzelnen  Staaten  gebe  es  einen  rechtlichen  Zustand;  und  auch 
dies  nur  in  so  fern,  als  eine  Herrschaft,  eine  unwiderstehliche  Macht  vor- 
handen sey,  welche  den  Gedanken  des  Rechts,    der   als   blofser  Gedanke 
nichts  vermögen  würde,  in  ein  wirkliches  Verhältnifs  umbilde.    Daher  sey 
Alles  verloren,  sobald  diese  Herrschaft  zweifelhaft   werde;    daher  gebe   es 
keine  Herstellung  des  Verlorenen,  aufser  durch  Rückkehr  und  durch  Wieder- 
Bevestigung   derselben  Herrschaft.    —  Jedoch,   hiermit   allein   werden    die 
Denkenden,  die  Verständigsten  unter  den  Legitimen,  sich  nicht  begnügen. 
Sie    werden    einsehen,    dafs    blofse    Herrschaft    auch    den  Usurpator   zum 
Fürsten    des    Rechts    machen    würde,    so    lange    er    noch    das    Haupt    der 
Armee  ist;  sie  werden   bemerken,    dafs   es   gerade  Mangel    an  Menschen- 
kenntnifs sey,  zu   glauben,   das  Scepter   habe    in  jeder  Hand,    die    es    zu 
führen  wisse,  einerley  Gewicht.     Denn  eben  das  bezeichnet  den  legitimen 
Herrn  nicht  blofs  als  den  rechtlichsten,  sondern  unter  gleichen  Umständen 
auch  als  den  stärksten,  dafs   in  Ansehung   seiner   in    den  Gemüthern    der 
Menschen  keine  Frage  entsteht,  wie  er  dazu  komme,  herrschen  zu  wollen? 
Dafs  ihm  ganz  allein  es  geziemt,  die  Kröne  zu  tragen,  sie   sey   nun    eine 
Last  oder  ein  Schmuck;  weil  es  Schwäche    seyn   würde,    das  Geschäft   zu 
verweigern,  welches  der  Umstand  seiner  Geburt,  und  die  ohne  sein  Zuthun 
vorhandene  Sitte  ihm  anweist.     Oder  wäre  es  etwa  für  Ludwig  den  acht- 
zehnten, da  er  in  der  Verbannung    lebte,    anständig   gewesen,    sein  Recht 
auf  die  Krone,  ich  will  nicht  sagen,  gegen  das    angebotene  Jahrgehalt    zu 
verkaufen,  aber  doch  durch  eine  Verzichtleistung  auszulöschen,   und  hiemit 
sich  selbst  unfähig  zu  machen,  der  Nation  den  Mittelpunkt   der  Ordnung 
darzubieten,  wozu  ihn  nachmals  die  Umstände  wirklich  erhoben?  —  Wohl 
aber  geziemte   es   jenem   andern  Ludwig,    dem  Bruder   des    französischen 
Kaisers,  einen  Thron  zu  verlassen,  für  den  er   nicht   geboren    war;    denn 
zwischen  ihm  und  den  Niederländern    bestand    nur    ein    erkünsteltes,  will- 
kührliches  Verhältnifs,  höchstens  ein  Vertrag,  der  aufgehoben  war,    sobald 
die   völlige  Unmöglichkeit,    die    Pflichten   desselben   seinerseits    zu   erfüllen» 
offenbar  einleuchtete. 

Das  Verhältnifs  des  erblichen  Herrschers  nun,  werden  die  Freunde 
der  Legitimität  fortfahren,  enthüllt  das  ganze  Geheimnifs  aller  Stufen  der 
Güter  und  des  Ranges  im  Staate.  Denn  auch  Adel  und  Reichthum  erben 
sich  fort;  jeder  Besitz  aber  geziemt  dem  am  Meisten,  welchem  er  ungesucht 


22      II-    Ueber  Menschenkenntnifs  in  ihrem  Verhältnifs  zu  den  politischen  Meinungen. 


zu  Theil  wurde.  Ihn  trifft  kein  Vorwurf  der  Habsucht;  aber  der  Vorwurf 
der  Schwäche  würde  ihn  treffen,  wenn  er  fahren  liefse,  was  sein  ist.  Nur 
die  neuen  Reichen  brüsten  sich  mit  ihren  Schätzen;  so  verrathen  sie  die 
Begierde,  womit  sie  die  Hände  darnach  ausstreckten.  Das  ganze  Volk 
empfindet  diesen  Unterschied,  sofern  es  unbefangen  beobachtet;  wer  ihn 
nicht  empfindet,  der  ist  geblendet,  oder  bestochen  durch  eigne  Wünsche. 
Aber  nur  zum  allgemeinen  Nachtheil  können  in  diesem  Punkte  die  Em- 
pfindungen verfälscht  werden,  denn  beginnt  einmal  der  Glaube  an  uralten 
Besitz  zu  wanken  und  zu  zweifeln,  dann  werden  alle  Güter  die  Zielpuncte 
des  Eigennutzes;  Betrug  und  Raub  lauern  auf  Gelegenheit,  Unruhe  und 
Sorge  wird  das  allgemeine  Loos;  die  Nation  hat  dann  ihren  inneren  Frieden 
verloren. 

Nachdem  ich  nunmehr  in  der  Kürze  die  Meinung  der  Liberalen 
und  die  der  Legitimen  anzudeuten  versucht  habe,  wird  es  nöthig  seyn, 
zuvörderst  beyde  unter  einander  zu  vergleichen,  damit  leichter  erhellen 
möge,  auf  welcher  Seite  sich  die  richtigste  Menschen-Beurtheilung  finde. 
Es  läfst  sich  wohl  nicht  verkennen,  dafs  die  Liberalen  sich  eine  ideale 
Zukunft,  die  Legitimen  eine  ideale  Vergangenheit  wenigstens  dunkel 
vorstellen,  die  den  Gegenstand  ihrer  Sehnsucht  ausmacht.  Denn  die  einen 
suchen  das  Neue,  die  andern  streben  zurück  zum  Alten.  Jene  denken 
sich  jeden  Bürger  als  eine  öffentliche  Person,  die  mit  Rath  und  That  ins 
Ganze  zu  wirken  berufen  sey ;  und  wo  dies  in  der  Wirklichkeit  sich  nicht 
zeigt,  da  glauben  sie  eine  Lähmung  der  natürlichen  Kraft,  eine  Folge  der 
Unterdrückung  wahrzunehmen,  da  setzen  sie  einen  Drang  voraus,  der  sich 
einmal  Luft  machen  werde;  dem  man  schon  jetzt,  oder  bald,  oder  doch 
allmählig  Luft  machen  müsse,  um  eine  gefährliche  Explosion  zu  vermeiden. 
Und  wenn  nun  alle  verborgenen  Kräfte  öffentlich  werden  hervorgetreten 
seyn,  dann  erst  erwarten  sie  einen  Zustand  des  ruhigen  Gleichgewichts, 
des  friedlichen  Zusammenlebens,  ja  des  harmonischen  Zusammenwirkens; 
ohne  zu  bedenken,  dafs  unter  vielen  aufgeregten,  stark  gespannten  Kräften, 
bey  vielen  lauten  Ansprüchen,  die  alle  befriedigt  seyn  wollen,  das  Gleich- 
gewicht auch  viel  schwerer  zu  erhalten,  viel  leichter  zu  stören  ist,  als  in 
einem  einfachen  System  der  Wirkung  und  Gegenwirkung.  Die  andern 
aber,  die  Freunde  des  Alten,  denken  sich  eine  Vergangenheit  des  tiefsten 
Friedens,  des  Besitzes  ohne  Tadel,  ohne  Verdacht,  ohne  Frage  nach  seinem 
rechtlichen  Ursprünge;  als  hätten  jemals  die  Armen1  ganz  neidlos  neben 
den  Reichen  gewohnt,  als  hätten  alle  Herrscher  seit  undenklichen  Zeiten 
eine  völlig  legitime  Herrschaft  geübt;  als  wäre  die  Frage,  woher  das  Recht 
zum  Vorrang  der  Einen,  woher  die  Pflicht  der  Andern  zum  Dienen  und 
zur  Unterordnung,  eine  Erfindung  der  neuesten  Zeit.  Allein  das  Loos 
der  Menschheit  war  nicht  so  glücklich,  und  wird  nicht  so  glücklich  seyn, 
wie  die  verschiedenen  Parthey en  sich  überreden.  Jede  Zeit,  jeder  Staat, 
worin  überhaupt  der  Grad  von  Bildung  vorhanden  war  und  seyn  wird, 
den  das  politische  Nachdenken  voraussetzt,  —  hatte  und  wird  haben 
sowohl  Vorwärts-  als  Rückwärts-Strebende ;  sowohl  Freunde  der  Patrizier 
als  Verehrer    des  Volks,    sowohl    eine    rechte    als    eine    linke  Seite,    und, 


1  Die  Aermern  SW. 


Rede,  gehalten  in  der  Deutschen  Gesellschaft,  am  3.  August.      182 1. 


wenn  das  Glück  grofs  ist,  sowohl  einen  Pitt,  als  einen  Fox.  Denn  kein 
Zeitalter  erbt  von  dem  vorhergehenden  einen  durchaus  geläuterten  recht- 
lichen Zustand;  es  erbt  Processe  ohne  Sentenz,  und  Sentenzen  ohne  Exe- 
cution,  und,  was  noch  schlimmer  ist,  Executionen  ohne  Procefs  und  Sentenz ; 
es  erbt  Friedensschlüsse,  die  der  Krieg  erzwang,  und  die  eben  deshalb 
den  Keim  zum  neuen  Kriege  enthalten.  Unter  solchen  Umständen  aber 
gehört  noch  mehr  als  blofse  Rechtlichkeit  dazu,  wenn  der  Krieg  nicht 
ausbrechen  soll.  Die  rohe  Menge  bedarf  des  Druckes  von  Oben,  die 
Gebildeten  bedürfen  des  Ehrgefühls  und  alle  bedürfen  der  Religion,  damit 
jeder  in  seinem  Gewissen  sich  scheue,  die  Vorwände  zu  ergreifen,  die 
allenfalls  den  Streit  beschönigen  könnten.  — 

Wenn  nun  schon  die  erste  Bedingung  der  Menschenkenntnifs,  Unbe- 
fangenheit und  gleiche  Entfernimg  von  Vorliebe  und  Abneigung,  sowohl 
bey  den  Liberalen  als  bey  den  Legitimen  vermifst  wird;  wenn  vielmehr 
die  Einen  als  unmäfsige  Liebhaber  des  Neuen,  die  Andern  des  Alten, 
sich  leicht  genug  verrathen:  werden  wir  sie  die  hohem  Bedingungen  der 
Menschenkenntnifs,  Schärfe  der  Unterscheidung,  und  Vollständigkeit  der 
Zusammenfassung  besser  erfüllen  sehn?  Oder  werden  wir  nicht  vielmehr 
entdecken,  dafs  sie  weit  entfernt,  sich  in  fremde  menschliche  Empfindungen 
wahrhaft  hineinzuversetzen,  ihr  eignes  vorherrschendes  Gefühl  ohne 
Umstände  auch  Andern  beylegen?  Wozu  Neuerungen,  fragte  jener  fran- 
zösische Generalpächter,  befinden  wir  uns  nicht  wohl  ?  Unstreitig  befanden 
die  Generalpächter  sich  wohl;  und  bey  den  übrigen  Menschen  setzten  sie 
eine  Genügsamkeit  voraus,  die  statt  aller  Güter  des  Lebens  dienen  könne, 
um  ein  ähnliches  Wohlseyn  hervorzubringen.  Wie  stark  der  Stachel  der 
Entbehrung  die  gröfsere  Volksmenge  reizen  müsse,  wie  schwer  die  Tugend 
der  geduldigen  Entsagung  sey,  das  haben  von  jeher  gewifs  wenige  Reiche 
erwogen,  sie  haben  deshalb  gewifs  die  Summe  der  Kräfte,  welche  gegen 
sie  und  ihre  Vorrechte  gespannt  seyen,  sehr  selten  richtig  geschätzt; 
sie  haben  schlecht  überlegt,  wie  fern  der  scheinbare  Friede  in  der  bürger- 
lichen Gesellschaft,  auf  den  sie  zählen,  haltbar  und  dauerhaft  sey;  sie  ver- 
rechnen sich  endlich  ganz,  wenn  sie  glauben,  das  Gewicht,  was  die  untern 
Klassen  drückt,  noch  vermehren  zu  müssen;  sie  vergessen  alsdann,  dafs 
eben  der  Druck  es  ist,  welcher  den  widerstrebenden  Kräften  ihre  Spannung 
giebt.  Aber  die  Liberalen  verrechnen  sie  sich  weniger?  Weil  ihr  eignes 
Gemüth  voll  ist  von  politischen  Interessen,  weil  sie  nichts  anderes  be- 
denken, als  öffentliche  Angelegenheiten,  darum  vergessen  sie,  dafs  die 
bei  weitem  gröfsere  Zahl  der  Menschen  nur  ein  bequemes  und  anständiges 
Privatleben  im  Auge  hat;  sie  wundern  sich,  wenn  Versammlungen,  wozu 
alle  Bürger  eingeladen  werden,  um  etwa  für  öffentliche  Posten  den  rechten 
Mann  zu  wählen,  nur  spärlich  besucht  sind;  sie  klagen  über  Erschlaffung 
des  Gemeinsinns,  wenn  nach  solchen  Zeiten,  in  welchen  ausserordentliche 
Umstände  eine  Ueberspannung  des  politischen  Interesse  hervorgerufen 
hatten,  nun  wiederum  die  natürliche  Sorge  eines  Jeden  für  sein  Haus  ihre 
Rechte  gelten  macht.  Nun  ist  zwar  gewifs,  dafs  nicht  die  ganze  Würde 
des  Menschen  Platz  hat  im  Hause,  dafs  sie,  um  in  vollem  Glänze  zu 
erscheinen,  Raum  sucht  im  Felde  oder  auf  dem  Forum,  oder  vielmehr 
auf  den  Tafeln  der  Weltgeschichte,  um  die  Nachwelt  erreichen  zu  können. 


2A      II-    Ueber  Menschenkenntnifs  in  ihrem  Verhältnifs  zu  den  politischen  Meinungen. 

Aber  die  Geschichte  wächst,  während  das  Gedächtnifs  des  Menschen  gleich 
grofs  bleibt;  und  nach  zehn  Jahrtausenden  wird  im  Tempel  des  Nach- 
ruhms der  Platz  so  eng  und  so  kostbar  seyn,  dafs  alle  diejenigen,  welche 
den  Geist  nicht  gänzlich  über  die  Zeit  zu  erheben  Kraft  besitzen,  willig 
einräumen  werden,  die  Bestimmung  des  Menschen  sey  durchgehends  auf 
das  Haus  beschränkt,  mit  Ausnahme  einer  kleinen  Minderzahl,  die  in 
öffentlichen  Geschäften  ihren  Wirkungskreis  findet.  Und  wenn  wir  uns 
das  Bild  dieser  entfernten  Zukunft  mehr  ausmalen  wollen,  so  erblicken 
wir  zwar  ohne  Zweifel  den  ganzen  Erdkreis,  sofern  die  Natur  nicht  Eis- 
felder oder  Sandwüsten  entgegenstellte,  bedeckt  mit  cultivierten  Völkern 
und  Staaten;  wir  erblicken  alle  diese  Staaten  in  Gemeinschaft,  in  Verkehr, 
in  Wechselwirkung;  und  wir  können  leicht  voraussehn,  dafs  alsdann  der- 
jenige Theil  der  Menschenkenntnifs,  welcher  auf  Vollständigkeit  der  Zu- 
sammenfassung beruht,  weit  leichter  zu  erreichen  seyn  mufs  als  jetzt,  weil 
es  alsdann  noch  weit  offenbarer  einleuchten  wird,  wie  in  einem  so  weit 
ausgedehnten  Räume  der  Zusammenwirkung  Aller  mit  Allen,  und  nach 
einer  so  sehr  verlängerten  Weltgeschichte  Jeder  mit  dem  Ganzen  seiner 
Mitwelt  und  Vorwelt  verbunden  ist,  so  dafs  man  aufser  dieser  allgemeinen 
Verknüpfung  den  Einzelnen  aufzufassen  kaum  noch  wird  versuchen  wollen. 
Aber  eben  deswegen,  weil  das  Ganze  so  grofs,  wird  der  Einzelne  desto 
kleiner  seyn;  und  weil  die  Geschichte  so  lang,  wird  das  Leben  des 
Menschen  desto  kürzer  scheinen.  Noch  mehr  als  jetzt  werden  alsdann 
die  verschiedenen  Zweige  der  Industrie  sich  getheilt,  noch  schärfer  als 
jetzt  werden  die  Fächer  der  Kunst  und  der  Gelehrsamkeit  sich  gesondert 
haben;  noch  mehr  als  jetzt  wird  man  bey  der  Uebersicht  des  Ganzen 
der  Wissenschaft  sich  mit  allgemeinen  Umrissen  begnügen  müssen.  Und 
die  noch  weit  wichtigem  Umrisse  des  gesellschaftlichen  Daseyns,  die  man 
Sitten,  Urkunden,  Gesetze,  und  Verfassungen  nennt,  müssen  sie  nicht  in 
demselben  Grade  ehrwürdiger  werden,  wie  es  sich  ldärer  zeigt,  dafs  ohne 
sie  die  ungeheure  Mannigfaltigkeit  der  menschlichen  Verhältnisse  sich 
nicht  einmal  überschauen,  viel  weniger  in  Ordnung  halten,  und  gegen 
den  furchtbarsten  Umsturz  sichern  läfst?  Gewifs,  wenn  erst  ein  ent- 
schiedenes und  unverkennbares  Uebergewicht  des  Allgemeinen  über  jedes 
einzelne  menschliche  Daseyn,  ja  über  die  Fassungskräfte  jedes  Einzelnen 
vorhanden  ist:  dann  wird  ein  tiefes  Gefühl  der  Abhängigkeit  von  dem 
grofsen  Ganzen  der  Dinge  sich  jedem  Versuch  eines  willkührlichen  Ver- 
fahrens entgegensetzen,  und  vor  der  Erkenntnifs  des  Nothwendigen  werden 
die  politischen  Meinungen  verstummen.  • —  Doch  wohin  bin  ich  gerathen? 
und  welche  entlegene  Zukunft  habe  ich  mir  vorgespiegelt?  Die  politischen 
Meinungen  sind  laut  und  werden  noch  lauter  werden;  und  alle  diese 
Meinungen  werden  von  grofsen  Menschenkennern  nicht  blofs  angenommen, 
sondern  vertheidigt  und  verfochten.  Diesen  Streit  kann  meine  Rede,  und 
würde  sie  auch  zur  vollständigsten  Abhandlung,  nicht  enden  und  nicht 
schlichten;  nur  wünschen  und  hoffen  kann  ich,  dafs  die  zugleich  legitime 
und  liberale  Herrschaft,  unter  der  wir  leben,  uns  fortdauernd  mit  dem 
Schutze  beglücken  möge,  unter  welchem  allein  es  möglich  ist,  so  ruhig 
und  so  unbefangen,  wie  ich  es  gethan  habe,  die  politischen  Meinungen  zu 
berühren. 


III. 


UEBER 


EINIGE  BEZIEHUNGEN 


ZWISCHEN 


PSYCHOLOGIE 


UND 


STAATSWISSENSCHAFT. 


1821. 


[Text  nach  dem  Msc.  2058  der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Citirte  Ausgaben. 

S"\V  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche  Werke  (Bd.  IX,  199  — 219),  herausgegeben  von 

G.  Hartenstein. 

KlSch  =  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften  (Bd.  II,  331 — 352),  herausgegeben  Von 

G.  Hartenstein. 


Ueber  einige  Beziehungen  zwischen   Psychologie  und 

Staatswissenschaft. 


Dafs  die  Staaten  aus  Menschen  bestehen,  und  dafs  die  Menschen 
ihre  geistige  Natur  in  den  Staat  mitnehmen,  liegt  unmittelbar  vor  Augen. 
Daher  war  es  natürlich ,  dafs  schon  Plato  in  seinen  Büchern  von  der 
Republik,  Psychologie  und  Staatslehre  verknüpfte.  In  der  Seele  glaubte  er 
zwischen  Denken  und  Begehren  den  ifvf.iog  zu  finden,  die  Thatkraft,  welche 
noch  unbestimmt  in  Ansehung  ihrer  Gegenstände,  sich  nach  beiden  Seiten 
hinwenden,  und  entweder  der  Vernunft  oder  der  Sinnlichkeit  ihren  Nach- 
druck mittheilen  kann;  ein  Begriff,  der  etwas  anders  modificirt,  bey  den 
Heutigen  den  Namen  der  Freyheit  des  Willens  führt,  und  auch  hier 
das  bezeichnet,  was  entweder  für  Vernunft  oder  für  Begierde  sich  ent- 
scheidend, beide  zur  wirklichen  Thätigkeit  ergänzt,  die  sie  für  sich1  allein 
nicht  entwickeln  würden.  In  dem  Staate  suchte  nun  Platon  denselben 
Typus  wieder;  und  indem  er  sich  den  geordneten  Staat  gleich  dem  ge- 
ordneten Menschen  dachte,  sonderte  er  zuerst  unter  den  Staatsbürgern 
diejenigen  aus,  welchen  ein  freyes  Wirken,  eine  überwiegende  Stärke,  durch 
die  Natur  verliehen  war;  wenn  nun  diese  zur  guten  Natur  auch  die  gute 
Bildung  empfangen  würden,  dann,  dachte  er,  seyen  sie  die  wahren  Wächter 
des  Staates,  indem  sie  im  Dienste  des  Weisesten,  das  gemeine  Volk  zu- 
gleich schützten,  und  in  Ordnung  hielten.  Eine  repräsentative  Verfassung 
nach  heutigem  Sinne,  hat  die  Platonische  Republik  ganz  und  gar  nicht, 
und  wenn  sie  dem  Platon  wäre  vorgeschlagen  worden,  möchte  er  sie 
leicht  irgendwo  in  der  Reihe  derjenigen  Verfassungen  eingefügt  haben, 
durch  welche  er  seinen  vollkommenen  Staat,  mit  allmählich  wachsenden 
Fehlern  herabsinkend,  in  seiner  Ausartung  herdurchgehen  läfst.  Oder  noch 
wahrscheinlicher  würde  er  die  Repräsentation,  in  Hinsicht  auf  die  heutige 
Gröfse  der  Staaten,  als  ein  unter  Umständen  brauchbares,  keineswegs  aber 
wesentliches  Hülfsmittel  angesehen  haben,  um  das,  worauf  es  in  den  Staaten 
ankommt,  Uebereinstimmung  derselben  mit  der  menschlichen  Natur,  und 
Entscheidung  des  Unbestimmten  was  in  ihr  liegt,  für  das  Gute  und  Rechte 
—   zu  Stande  zu  bringen  und  vestzuhalten.  — 


*e" 


Ob  die  Psychologie  der  neuern  Zeit  irgend  einen  bedeutenden 
Denker  einladen  könnte,  nach  ihrem  Vorbilde,  sich  einen  wohlgeordneten 
Staat  vorzustellen,  das  ist  eine  Frage,  welche  im  Vorbeygehen  zu  berühren, 
sich    kaum    vermeiden    läfst,    obgleich    sie    einer    Untersuchung    schwerlich 

1  für  sie  allein  SW. 


28    HI-  Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.    1821. 

werth  ist.  Wollen  wir  uns  im  Ernste  den  Staat  in  drey  solche  Gewalten 
zerlegt  denken,  die  sich  verhalten  wie  das  Vorstellungsvermögen,  das  Be- 
gehrungsvermögen, das  Gefühlsvermögen?  Wollen  wir  einer  Corporation  im 
Staat  das  blofse  Anschauen  und  Denken,  der  andern  ein  blofses  Wünschen, 
Streben  und  Wollen,  der  dritten  gar  das  rein  passive  Fühlen  auftragen? 
Wollen  wir  ferner  ein  Collegium  im  Staate  anordnen,  welches  das  allgemeine 
Gedächtnifs  darstellen,  ein  anderes,  welches  die  Einbildungskraft  repräsen- 
tiren;  und  soll,  indem  wir  so  fortgehen,  gar  irgend  ein  Departement  der 
Affecten  und  ein  anderes  der  Leidenschaften  errichtet  werden?  Ehe  wir 
einen  so  ungereimten  Gedanken  völlig  ausführen,  wird  uns  der  Verdacht 
aufsteigen,  die  heutige  Psychologie  mit  ihren  gespaltenen  Seelenvermögen 
möge  wohl  Schuld  daran  seyn,  wenn  sich  zwischen  ihrer  Darstellung  des 
einzelnen  Menschengeistes  und  zwischen  der  bürgerlichen  Vereinigung  vieler 
Menschen,  keine  Analogie  will  finden  lassen;  sie  möge  wohl  das  Untrenn- 
bare zu  trennen  versucht,  und  sich  hintennach  eine  Wiedervereinigung: 
dessen  eingebildet  haben,  was,  wäre  es  einmal  getrennt,  nimmermehr  wieder 
zur  Einheit  zurückkehren  würde. 

Hiegegen  dürfte  Jemand  einwerfen,  es  könne  der  Psychologie  unserer 
Zeit  nicht  zum  Vorwurfe  gereichen,  wenn  sie  einer  zu  weit  getriebenen 
Analogie  nicht  entsprechen  wollte.  Das  sey  eben  der  Fehler  der  heutigen 
Philosophie,  dafs  sie  über  dem  Jagen  nach  Aehnlichkeiten  der  Unterschiede 
vergäfsen.  Schon  habe  man  in  der  heutigen  Naturphilosophie  unternommen, 
den  Staat  nach  dem  Vorbilde  des  Universum  zu  construiren;  das  Mis- 
lingen  eines  solchen  Beginnens  solle  uns  warnen,  nicht  die  Seele  mit  dem 
Staate  zu  vergleichen.  Die  inneren  Verhältnisse  der  Seele  seyen  schwerlich 
von  der  nämlichen  Beschaffenheit  wie  die  äufseren  Verhältnisse  zwischen 
den  Mitgliedern  eines  grofsen  und  öffentlichen  Gemeinwesens;  jeder  Staats- 
bürger sey  ein  ganzer  Mensch,  mit  allem  Vermögen  des  Leibes  und  der 
Seele;  man  könne  nicht  erwarten,  dafs  die  Verhältnisse  auch  nur  zweyer 
Menschen  unter  einander,  viel  weniger  der  unter  den  grofsen  Menschen- 
massen, den  Ständen,  den  Communen,  den  Provinzen,  welche  den  Staat 
ausmachen,  das  im  Grofsen  wiederholen  sollten,  was  im  Kleinen  in  der 
tiefen  Brust  des  Einzelnen  verborgen  liege.  Das  sey  ebenso,  als  ob  man 
sich  einbilden  wolle,  eine  grofse  Menge  von  Uhren  sollen  ein  ähnliches 
Ganzes  darstellen,  wie  die  Theile  einer  einzigen  Uhr;  oder  eine  grofse 
Menge  menschlicher  Leiber  solle  sich  zu  einem  solchen  System  verknüpfen, 
wie  Lunge,  Leber,  Magen,  Herz,  Muskeln,  Nerven,  Knochen  in  dem  ein- 
zelnen menschlichen  Leibe. 

Das  Gewicht  dieses  Einwurfs,  geehrteste  Anwesende,  scheint  mir  in 
der  That  grofs  genug,  um  uns  von  übereilten  Vergleichungen  abzuschrecken. 
Wenn  es  sich  nicht  sollte  nachweisen  lassen,  dafs  in  den  Staaten  eine  ähn- 
liche Verknüpfung  statt  finde,  wie  in  dem  menschlichen  Geiste,  so  möchte 
es  uns  wenig  helfen,  etwan  das  Beyspiel  derer  für  uns  anzuführen,  die  mit 
dem  Mikrokosmos  und  Makrokosmos,  in  alten  Zeiten,  oder  auch  jetzt,  ge- 
spielt haben.  Wer  lieber  phantasirt  als  denkt,  der  verknüpft  freylich  Alles, 
aber  nur  in  seiner  Vorstellung,  denn  über  die  Natur  der  Dinge  hat  er 
keine  Gewalt.  Auch  müssen  wir  uns  darauf  gefafst  halten,  dafs  selbst 
wenn  wir  haltbare  Vergleichungspunkte   zwischen  Seele    und  Staat  wirklich 


Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.  20 

antreffen  sollten,  doch  auch  des  Verschiedenen,  des  Eigenthümlichen,  des 
Unvergleichbaren  sich  auf  beyden  Seiten  genug  zeigen  werde. 

Die  erste  recht  deutliche  Spur  aber,  welche  auf  die  Aehnlichkeit  zwi- 
schen Geist  und  Staat  hinweist,  liegt  in  dem  Umstand,  dafs  die  Sprache 
es  ist,  welche  das  Band  der  menschlichen  Gesellschaft  knüpft.  Denn  ver- 
mittelst des  Wortes,  vermittelst  der  Rede,  geht  der  Gedanke  und  das  Ge- 
fühl des  Einen  hinüber  in  den  Geist  des  andern;  dort  weckt  er  neue 
Gedanken  und  Gefühle,  welche  zugleich  über  die  nämliche  Brücke  wandern, 
um  die  Vorstellung  des  ersten  zu  bereichem;  auf  diese  Weise  geschieht  es, 
dafs  der  allgemeinste  Theil  unserer  Gedanken  aus  uns  selbst  entspringt, 
wir  Alle  vielmehr  gleichsam  aus  einem  öffentlichen  Vorrath  schöpfen  und 
an  einer  allgemeinen  Gedanken-Erzeugung  Theil  nehmen,  zu  welcher  jeder 
Einzelne  nur  einen  verhältnifsmäfsig  geringen  Beytrag  liefern  kann.  Aber 
nicht  blofs  die  Summe  des  geistigen  Lebens,  sofern  sie  im  Denken  besteht, 
ist  ursprünglich  Gemeingut,  das  sich  durch  die  Sprache  Allen  mittheilt: 
sondern  auch  der  Wille  der  Menschen,  der  sich  nach  den  Gedanken 
richtet,  die  Entschliefsungen,  die  wir  fassen,  indem  wir  auf  das  was  Andre 
meinen,  Rücksicht  nehmen,  geben  deutlich  zu  erkennen,  dafs  unsere  ganze 
geistige  Existenz  ursprünglich  von  gesellschaftlicher  Art  ist.  Unser  Privat- 
leben ist  nur  aus  dem  allgemeinen  Leben  abgesondert,  in  welchem  es  seine 
Entstehung,  seine  Hülfsmittel,  seine  Bedingungen,  seine  Richtschnur  findet 
und  immer  finden  wird. 

Nun  ist  aber  offenbar,  dafs  die  Art,  wie  wir  uns  das  allgemeine  Leben 
aneignen,  nothwendig  gleichartig  seyn  mufs  mit  den  innersten  Bestimmungen 
unserer  eignen  Geistes  -  Entwickelung.  Das  allgemeine  Leben  ist  nichts 
aufser  den  Individuen;  es  besteht  eben  in  dem,  was  diese,  jedes  einzeln 
genommen,  in  sich  vollziehn,  nachdem  sie  sich  dazu  gegenseitigen  Anlafs 
gegeben  hatten.  Wenn  wir  einen  fremden  Gedanken  zu  dem  unsrigen 
machen,  so  mufs  derselbe  Gedanke  in  uns  möglich  seyn,  er  mufste  auch 
in  uns,  wennschon  nicht  zuerst,  entstehen  können.  Wenn  der  Plan,  den 
wir  entwarfen,  von  Andern  angenommen  wird,  wenn  er  ihre  Mitwirkung 
erlangt:  so  mufste  er  auch  in  ihren  Neigungen  und  Bestrebungen  Wurzel 
fassen  können.  Es  leuchtet  also  ein,  dafs  das  ganze  Gewebe  des  gesell- 
schaftlichen Daseyns  nicht  nur  aus  den  Fäden  besteht,  welche  die  Indivi- 
duen spinnen,  sondern  dafs  es  auch  auf  dieselbe  Weise  zusammenhängen 
mufs,  wie  die  Individuen  ihre  eignen  Gedanken,  Gesinnungen,  Entschliefsun- 
gen verknüpfen,  denn  es  wird  eben  von  ihnen  verfertigt,  und  aufser  ihren 
Geistern  und  Gemüthern  ist  es  gar  nicht  vorhanden. 

Dies  wird  noch  klärer  werden,  wenn  wir  eine  andere  Betrachtung  an- 
stellen, die  Anfangs  der  vorigen  gerade  entgegenzustehen  scheint.  Sind 
nicht  in  der  Gesellschaft  eine  Menge  von  verschiedenen,  einander  wider- 
sprechenden Meinungen  im  Umlauf?  Giebt  es  nicht  im  Staate  eine  un- 
zählbare Summe  von  streitenden  Interessen?  Und  ehe  sich  ein  allgemeiner 
Wille  bilden  kann,  müssen  nicht  zuvor  die  widerstrebenden  Kräfte  sich 
unter  einander  ins  Gleichgewicht  gesetzt  haben?  —  Aber  gerade  so  geht 
es  in  dem  Geist  des  einzelnen  Menschen.  Jedes  Individuum  trägt  eine 
unermefsliche  Manigfaltigkeit  von  Vorstellungen  in  sich,  die  unter  einander 
vielfach  entgegengesetzt  sind;    eben  wegen    dieses  Gegensatzes  verdrängen 


-?0    HI-   Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.   1821. 

die  Gedanken  einander  aus  dem  Bewufstseyn.  Dieses  wohl  wissend,  suchen 
wir  uns  aller  Störung  von  aufsen  zu  erwehren,  wenn  wir  über  etwas  scharf 
nachdenken,  wenn  wir  irgend  eine,  gröfsere  oder  kleinere,  geistige  Arbeit 
zu  Stande  bringen  wollen;  es  ist  aus  langer  Erfahrung  bekannt,  dafs  der 
Gegenstand,  den  wir  bearbeiten,  sogleich  unser  inneres  Auge  fliehen  wird, 
sobald  ein  unzeitiges  Geräusch,  eine  fremdartige  Nachricht,  ein  unerwar- 
tetes Geschafft,  uns  in  Anspruch  nimmt;  darum  verbieten  wir,  wenn  es  nur 
möglich  ist,  der  äufseren  Welt,  uns  neue  Vorstellungen  zuzuführen,  auf  so 
lange,  als  wir  mit  unserem  schon  gesammelten  Gedankenvorrath  lebhaft 
beschäfftigt  sind.  Aber  was  hilfts?  Wir  tragen  der  störenden  Kräfte  nur 
zu  viele  in  uns  selbst.  Ehe  wir  es  uns  versehen,  hat  das  in  uns,  was  man 
Phantasie  nennt,  einen  Sprung  gemacht;  unsere  Gedanken  sind  auf  einen 
Abweg  gerathen,  haben  sich  in  einem  Walde  verloren;  wir  wissen  nicht 
mehr  was  wir  wollten,  und  müssen  uns  mit  Anstrengung  wieder  auf  den 
Anfangspunkt  unseres  Denkens  zurückversetzen,  um  es  nach  dem  vorigen 
Plan  nur  besser  fortzuführen.  So  leicht  stören  wir  uns  selbst,  so  wirkt 
ein  Theil  unserer  Vorstellungen  wider  den  andern,  so  zerschneidet  ein 
Gedanken-Faden  den  andern.  Und  wie  viel  stärker  noch  zeigen  sich  die 
wider  einander  aufgeregten  Kräfte  in  unserm  Innern,  wenn  das  Gefolge 
von  Begierden  und  Leidenschaften,  wenn  die  Affecten  in  uns  zum  Vor- 
schein kommen.  Diese  sind  sammt  und  sonders  nichts  anderes,  als  ver- 
schiedene Modificationen  der  Abweichung  unserer  vorhandenen  Vorstellun- 
gen vom  Gleichgewichte;  daher  ist  ein  stürmisches  Meer,  dessen  Wogen 
sich  bald  über  den  Spiegel  desselben  Gewässers,  wenn  es  ruhig  ist,  erheben, 
bald  unter  dieser  Fläche  hinabsinken,  das  wahre  und  treffende  Bild  eines 
dem  Wechsel  der  Affecten  unterworfenen  Gemüths.  —  Demnach,  wenn 
in  der  Gesellschaft  der  Menschen  die  Meinungen  einander  widersprechen, 
so  wiederholt  sich  hier  nach  einem  gröfsern  Mafsstabe,  was  wir  in  unserm 
Innern  beobachten  können,  wenn  wir  dem  Spiel  unsrer  eigenen  Gedanken 
zuschauen;  und  wenn  im  Staate  die  Interessen  sich  kreuzen,  so  durch- 
kreuzen sich  nicht  minder  unsere  Wünsche,  unsere  Rücksichten;  ja  wenn 
endlich  im  öffentlichen  Leben  ein  Wechsel  von  Faktionen  die  bürgerliche 
Ruhe  stört,  so  lang  das  Vorbild  nicht  blofs,  sondern  selbst  der  Ursprung 
hiervon  offenbar  in  dem  Tumult  der  Leidenschaften,  die  in  den  Gemüthem 
gähren.  — 

Wir  sehen  nunmehr,  wenn  wir  das  Gesagte  zusammenfassen,  eine 
doppelte  Grund  -  Aehnlichkeit  zwischen  dem  Staate  und  dem  einzelnen 
Menschengeiste;  nämlich  Hemmung  des  Entgegengesetzten,  und  Verbindung 
dessen  was  sich  nicht  hemmt.  Aus  diesen  beyden  Anfängen  entwickelt 
sich  das  geistige  Leben;  und  eben  darum  erblickt  man  sie  wieder  in  der 
Gesellschaft,  wo  die  Sprache  das  Verbindungsglied  wird  für  die  Gedanken 
und  Wünsche  der  verschiedenen  Individuen. 

Bevor  ich  nun  diesem  Principium  seine  Folgen  abzugewinnen  suche: 
mufs  ich  zuerst  meinen  Gegenstand  gehörig  begränzen.  Die  Staatswissen- 
schaft, sofern  sie  vorschreibt  was  seyn  solle,  welche  Verfassung  und  Ver- 
waltung dem  Gemeinwesen  gebühre,  liegt  hier  gänzlich  aufser  meiner 
Sphäre.  Die  angefangene  Betrachtung  ist  rein  theoretisch;  sie  nimmt  die 
Staaten  als  vorhanden  an,    und  als  schwebend    durch    ihre    innern  Kräfte 


Ueber  einige  Beziehungen   zwischen    Psychologie  und  Staatswissenschaft.  3  j 

zwischen  mancherley  Zuständen,  ohne  Rücksicht  auf  die  Frage,  was  in 
diesen  Zuständen  Gutes  oder  Böses  liege.  Die  Beschränkung  auf  einen 
solchen  Standpunkt  ist  unvermeidlich  weil  die  Psychologie,  welche  andern 
das  andre  Glied  der  Vergleichung  darbieten  soll,  eine  rein  theoretische 
Wissenschaft  ist,  innerhalb  deren  die  Moral  gar  keine  Stimme  hat,  wie 
wohl  es  sich  von  selbst  versteht,  dafs  die  Erkenntnifs  des  menschlichen 
Geistes,  nachdem  man  sie  besitzt,  zum  Dienste  sittlicher  Zwecke  soll  ge- 
nutzt werden. 

Zuerst  nun  gilt  von  jedem  System  von  Kräften,  es  sey  welches  es 
wolle,  immer  der  Satz,  dafs  es  zum  Gleichgewichte  strebe.  So  ist  es  in 
der  Seele,  so  ist  es  im  Staate.  Allein  die  geistigen  Kräfte  erreichen  ihren 
Gleichgewichtspunkt  niemals  vollkommen,  und  sie  sind  auch  dann,  wenn 
sie  demselben  schon  nahe  stehen,  äufserst  leicht  ihm  wieder  zu  entführen. 
Das  erfahren  wir  (um  hier  von  der  spekulativen  Erläuterung  dieses  Satzes 
zu  schweigen)  zuvörderst  in  uns  selbst.  Wohl  manchmal  scheinen  unsere 
Gedanken  sich  irgend  einem  Ruhepunkte  zu  nahem,  allein  gar  bald  werden 
wir  inne,  wie  die  mindeste  Veränderung  der  äufsern  Reizung  uns  allerley 
Vorstellungen  aufregt,  die  in  uns  tief  vergraben  geschlafen  hatten,  die  aber 
nunmehr,  verstärkt,  durch  neue  Auffassungen  von  aufsen,  eine  Kraft  ge- 
winnen, wodurch  sie  unseren  geistigen  Horizont  verrücken;  —  uns  zum 
Beyspiel  über  öffentliche  Neuigkeiten  unsre  Privatsorgen  vergessen  machen; 
oder  uns  vom  heitern  Genufs  des  gesellschaftlichen  Lebens  plötzlich  in 
irgend  eine  finstre  wissenschaftliche  Tiefe  hinein  versetzen.  .  Diese  Reiz- 
barkeit, dieselbe  Wandelbarkeit  zeigt  sich  auch  im  Staate;  sofern  wir  unter 
diesem  Worte  nicht  etwa  blofs  die  Verwaltungsmaschinen,  sondern  das 
wahre  gesellschaftliche  Zusammenleben  verstehen;  und  folglich  darauf  Acht 
geben,  welche  Gesinnungen,  und  wie  schnell  sie  wechseln,  je  nachdem  die 
öffentliche  Aufmerksamkeit  auf  diesen  oder  jenen  Gegenstand  gelenkt  wird, 
und  besonders  je  nachdem  sie  für  diese  oder  jene  Personen  gewonnen 
und  in  Anspruch  genommen  wird,  die  eben  sich  hervorthun  oder  sich  eine 
allgemeine  Misbilligung  zuziehen.  Was  es  immer  seyn '  möge ,  das  ein 
allgemeines  Interesse  erregt,  es  wirkt  immer  dahin,  Meinungen  hier  zu  ver- 
binden, und  dort  zu  trennen;  eine  Veränderung,  die  oftmals  vorübergehend 
in  manchen  Fällen  aber  bedeutend  ist  durch  ihre  Folgen.  Denn  jede  Ver- 
einigung der  Meinungen  stiftet  eine  Gesammtkraft,  welche,  wenn  ihr  Ge- 
legenheit gegeben  wird  sich  thätig  zu  äufsern,  nicht  unterlassen  wird,  zu 
verrathen,  dafs  sie  in  etwas  die  Richtung  verändert  hat,  wohinaus  sich  bis 
dahin  das  Ganze  bewegte.  Und  jede  Spaltung  in  den  Meinungen  schwächt 
eine  Kraft,  die  bisher  als  eine  einzige  gewirkt  hat.  Dies  würde  weit  öfter 
merklich  werden  und  sich  in  wichtigen  Folgen  äufsern,  wenn  nicht  gewöhn- 
lich ein  und  dasselbe  Ereignifs  hier  Gleichdenkende  vereinigte,  dort  Ver- 
schiedengesinnte von  einander  entfernte,  so  dafs  mehrere  Kräfte  zugleich 
entstehen,  deren  Wirkungen  sich  gegenseitig  aufheben.  Aber  im  Laufe  der 
Zeit  beobachtet  man  dennoch  höchst  auffallende  Abänderungen  in  der 
Hauptrichtung  des  gesellschaftlichen  Strebens,  die  sich  allmählig  aus  jenen 
kleineren,  und  anfangs  unbedeutendem  Umstimmungen,   ergeben  haben. 


1  was  immer  es  SW. 


•22    IH.   Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.    1821. 

Man  würde  sich  indessen  die  Reizbarkeit  und  Wandelbarkeit,  sowohl 
im  menschlichen  Geiste,  als  im  Staate,  viel  gröfser  vorstellen  als  sie  wirk- 
lich ist,  wenn  man  von  dem  Gedanken  ausginge,  dafs  die  ungeheure 
Menge  von  Kräften,  welche  dort  in  der  ganzen  Summe  aller  Vorstellungen, 
hier  in  der  Menge  aller  Individuen  liegt,  unabläfsig  in  Wirksamkeit  wäre. 
Die  psychologische  Untersuchung  lehrt  aber,  dafs  in  einem  solchen  System 
von  Kräften,  wie  die  Vorstellungen  des  menschlichen  Geistes  es  bilden,  noth- 
wendig  die  grofse  Anzahl  der  schwächeren  Kräfte  dem  Uebergewicht  einiger, 
verhältnifsmäfsig  weniger  hervorragenden,  weichen  müssen,  so  dafs  die 
schwachen  nur  in1  Verbindung  mit  den  starken,  etwas  bedeuten  und  ver- 
mögen. Wer  nun  dieses  der  Psychologie  nicht  würde  glauben  wollen; 
wer  auch  nicht  in  seiner  innern  Erfahrung  wahrzunehmen  wüfste,  welcher 
Unterschied  ist  zwischen  dem  herrschenden  Hauptgedanken,  und  dem 
Schwärm  von  Notizen,  oder  von  Einfällen,  die  nur  von  jenem  hervor- 
gerufen oder  veranlafst,  kommen  und  wieder  gehen,  um  gebraucht  und 
wieder  zur  Seite  geworfen  zu  werden:  wer  diese  Unterordnung  in  sich  selbst 
also  nicht  kennte :  Der  würde  wenigstens  im  Staate  das  Gesrenbild  dazu 
finden,  wo  es  allemal  Patronen  und  Clienten  giebt  und  geben  wird;  und 
wo  niemals  eine  Demokratie  in  dem  Sinne  existiert  hat  oder  existieren 
wird,  dafs  in  der  That  Alle  gleichen  Einflufs  auf  den  Gang  der  öffent- 
lichen Angelegenheiten  hätten.  Was  man  im  Staate  erreichen  kann,  das 
besteht  darin,  dafs  man  die  oftmals  lästigen  Coeffizienten  wegschafft,  welche 
Reich thum  und  Geburt  herbeybringen,  und  vermöge  deren  das  Ueber- 
gewicht gar  sehr  von  dem  natürlichen  Schwerpunkte  der  zusammenwirken- 
den Willen  entfernt  wird;  wer  aber  diesen  Gegenstand  näher  untersuchen 
will,  der  darf  auch  nicht  vergessen,  dafs  gerade  Geburt  und  Reich  thum 
es  sind,  wodurch,  wenn  man  ihnen  einen  mäfsigen  Einflufs  läfst,  die  allzu 
grofse  Wandelbarkeit  und  Reizbarkeit,  die  sonst  nach  psychologischen 
Gründen  im  Staate  noch  immer  vorhanden  sein  würde,  am  sichersten  ver- 
mindert werden  kann.  Auf  den  Reich  thum  pafst  dies  natürlich  nicht,  in 
wiefern  er  sich  in  dem  Besitz  schwindelnder  Spekulanten  befindet,  die  ihn 
jeden  Augenblick  einem  Hasardspiel  Preis  geben,  und  damit  so  lange  fort- 
fahren, bis  sie  ihn  wirklich  verloren,  und  sein  Gewicht  ha  andere  Hände 
gebracht  haben.  Aber  es  pafst  auf  diejenigen  Güter,  welche  ruhig  bey  den 
Familien  bleiben,  während  die  Generationen  wechseln;  und  welche  den 
Glanz  der  Namen,  die  einmal  durch  Glück  oder  Werth  ausgezeichnet 
waren,  zu  erhalten  dienen.  Hiemit  soll  nicht,  nach  Art  einiger  Neuern 
gesagt  seyn,  dafs  die  Idee  des  Staates  ursprünglich  und  nothwendig  Adel 
und  unbedingtes  Erbrecht  einschliefse.  Sondern  nur  soviel  ist  wahr,  dafs 
beyde  als  Nothmittel  nützlich  sind,  so  lange  die  blofs  psychologischen 
Kräfte  den  Staat  gar  zu  beweglich  machen,  das  heifst  so  lange  noch  in 
den  Gedanken,  den  Meinungen,  den  Vorurtheilen,  den  Gefühlen,  den  Sitten, 
den  Gesetzen,  den  Ueberzeugungen,  nicht  diejenige  Vestigkeit  und  Gleich- 
förmigkeit der  Geistesbildung  sich  zeigt,  welche,  gemäfs  den  ewigen  und 
nöthwendigen  Wahrheiten,  dereinst  alle  Nationalität  veredeln  und  über  den 
ferneren  Wechsel  erheben  soll.     Bis  dahin  sind  in   der  That  jene   fremd- 


1  nur  noch  in  SW. 


III.  Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staats-wissenschaft.   1821.      33 

artigen  Gewichte,  in  einer  gewissen,  mäfsigen  Stärke,  dem  Staate  ebenso 
unentbehrlich,  wie  der  Ballast  dem  Schiff,  welches  ohne  ihn  nicht  tief 
cenug  im  Wasser  gehn,  und  deshalb  allen  Windstöfsen  preisgegeben  seyn 
würde.  Denn  nach  den  psychologischen  Gesetzen  wechselt  die  in  einem 
gegebenen  Zeitpunkte  vorhandene  Unterordnung  der  schwachem  Kräfte 
unter  die  stärkern,  sehr  leicht,  und  zuweilen  sogar  ziemlich  schnell;  wovon 
der  Grund  sehr  begreiflich  ist.  Es  sind  nämlich  an  sich  die  schwächern 
vollkommen  gleichartig  den  stärkern,  sowohl  in  der  Seele  die  Vorstellungen, 
als  im  Staate  die  Menschen.  Nun  können  in  der  Seele  die  schwächern 
Vorstellungen,  wenn  sie  gleich  für  jetzt  völlig  dienend  und  unterwürfig 
darnieder  liegen,  und  für  sich  garnichts  zu  vermögen  scheinen,  doch  gar 
leicht  in  einem  sehr  bedeutenden  Grade  verstärkt  werden,  durch  neue 
Wahrnehmungen  oder  durch  neue  Verbindungen;  und  genau  ebenso  werden 
auch  im  Staate  die  Anfangs  wenig  thätigen,  die  ruhig  unterwürfigen  Menschen 
zuweilen  durch  neue  Erfahrungen  geweckt  und  erhitzt;  sie  werden  alsdann 
vollends  stark  und  einfiufsreich ,  indem  sie  sich  versammelen  und  rath- 
schlasren,  indem  sie  Partheven  bilden,  etwas  Gemeinschaftliches  unter- 
nehmen  und  nach  kleinem  Erfolgen  zu  gröisern  Dingen  aufstreben.  Wenn 
so  etwas  begegnet,  alsdann  nimmt  plötzlich  das  Staatsschiff  eine  andere 
Richtung;  gerade  so  wie  das  Denken  und  Handeln  des  Menschen,  wenn 
eine  neue  Combination,  eine  neue  Erfindung  gelungen  ist,  oder  wenn  auch 
nur  eine  neue  Meinung  sich  über  die  andern  Meinungen  erhoben,  wenn 
ein  neues  Vorurtheil  den  Standpunkt  verrückt  hat,  aus  welchem  man  die 
Dinge  zu  sehen,  ■ —  das  heifst  eigentlich,  seine  Vorstellungen  von  den 
Dingen  zu  verknüpfen,  gewohnt  war. 

Es  ist  nun  zwar  schwer  zu  entscheiden,  ob  das  menschliche  Nach- 
denken mehr  von  diesem  psychologischen  Mechanismus,  oder  ob  der 
letztere  mehr  von  jenem  abhänge,  und  durch  dasselbe  könne  zur  Ordnung 
und  Beständigkeit  gebracht  werden.  Soviel  ist  gewifs,  dafs  keine  mensch- 
liche Weisheit  sich  jenen  Anfechtungen  ganz  entziehen  kann,  die  aus  der 
natürlichen  Reizbarkeit  unseres  einmal  vorhandenen  Vorstellungskreises 
gegen  neu  hinzukommende  Vorstellungen  und  Gefühle,  nothwendig  entsteht. 
Allein  andererseits  mufs  man  auch  anerkennen,  dafs,  indem  der  Mensch 
sein  eigener  Zuschauer  ist,  und  indem  die  Menschheit  ihre  eigene  Ge- 
schichte sammelt,  schreibt,  und  beurtheilt,  eben  in  dieser  Selbstbeobachtung 
eine  neue  geistige  Kraft  entspringt,  die  zwar  nicht  ganz  alleinherrschend, 
doch  sehr  mächtig  eingreifend,  zur  Mäfsigung  der  Reizbarkeit,  zur  An- 
ordnung des  Verworrenen,  zur  Bevestigung  des  Wandelbaren,  nach  Be- 
griffen und  mit  Ueberlegung  hinwirkt.  Man  kennt  diese  Kraft,  womit  der 
Mensch  sich  aus  seinem  Taumel  emporarbeitet,  nicht  blofs  aus  eigner 
innerer  Wahrnehmung,  nicht  blofs  durch  die  Erinnerung  aus  den  Jugend- 
jahren, und  durch  den  Uebergang  aus  der  eigenen  früheren  Beweglichkeit 
zu  der  allmählig  gewonnenen  männlichen  Vestigkeit;  sondern  jeder  von 
uns,  und  schon  die  Meisten  vor  uns,  waren  der  Wirksamkeit  einer  Für- 
sorge unterworfen,  womit  die  früheren  Geschlechter  den  späteren  vorarbeiten, 
indem  sie  ihren  eigenen  Schatz  von  Lehre  und  Warnung,  von  Regeln  und 
Grundsätzen,  von  angenommenen  Gesetzen  und  Einrichtungen  überliefern, 
die  zu   den    stärksten   psychologischen   Kräften    gehören,    welche    es   geben 

Herbart's  Werke.     V.  3 


5_i     III.  Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschait.   182 1 


kann,  und  die  in  demselben  Maafse  an  Herrschaft  gewinnen  werden,  wie 
sie  an  innerer  Wahrheit  und  Gültigkeit  gewinnen.  Was  in  dem  Laufe 
eines  Menschenlebens  ein  glücklicher  Augenblick  ist,  da  der  Mensch,  sich 
selbst  mit  seinen  Blicken  umspannend  und  beurtheilend ,  einem  Gesetze 
sich  unterwirft,  dessen  Urheber  er  selbst  ist:  eben  dies  ist  in  der  Geschichte 
ein  grofser  Mann,  ein  Gesetzgeber,  ein  Weiser,  der  sein  Volk  begreift,  und 
demselben  die  Ordnung  vorschreibt,  deren  es  bedarf.  Er  selbst  hat  sich 
erhoben  aus  der  Mitte  der  Uebrigen;  seine  Gedanken  sind  ursprünglich 
entnommen  aus  der  allgemeinen  Gedankenmasse;  darum  passen  sie  auch 
wieder  zu  dem  Denken  und  Fühlen  der  Andern,  sonst  könnten  sie  keinen 
Einflufs   gewinnen,   und   am   wenigsten   nach   seinem   Tode    sich    erhalten. 

Aber  gerade  dieser  Umstand  beweiset  auch  und  erklärt,  dafs,  und 
warum  Individualität  und  Nationalität  in  die  angefangene  Charakterbildung 
mit  hinüber  gehen.  Zu  keiner  Zeit,  in  keinem  Augenblicke,  ist  der  Mensch 
reiner  Geist  ist  ein  Volk  die  reine  Menschheit;  jede  Ueberlegung,  auch 
die,  wodurch  der  Mensch  für  sich,  oder  der  Gesetzgeber  für  das  Volk, 
sich  über  sich  selbst  erhebt,  um  sich  gleich  einem  Fremden,  eine  Lebens- 
ordnung vorzuschreiben,  —  jede  Entschliefsung  und  Handlungsweise,  die 
auf  solche  Ueberlegung  folgt,  verräth  immer  noch  den  Boden,  aus  welchem 
sie  entsprang,  und  zeigt,  wenn  nicht  das  Unrichtige,  so  doch  das  Einseitige 
dessen,  der  über  sich  oder  sein  Volk  verfügte.  Wie  die  Resultate  der 
Wahrheitsforschuns:  zwever  deich  wahrheitsliebender  Denker  entweder  in 
ihrem  Inhalte,  oder  doch  in  der  Methode  sie  zu  erreichen,  von  einander 
abweichen,  so  hat  auch  die  Sittlichkeit  der  trefflichsten  Menschen  ihr 
Persönlich -Eigenthümliches;  so  hat  vollends  jede  Nationalbildung  ihre 
Flecken  und  Schoofssünden,  welche  abzulegen  sie  weder  Fähigkeit  noch 
Neigung  zeigt.  Diese  Abweichungen,  in  ihrem  Ursprung  vielleicht  unbe- 
deutend, werden  in  der  Folge  wichtig,  wenn  die  mehreren  —  Menschen 
oder  Nationen,  zusammen  stofsen.  Kleine  Vorurtheile  reichen  hin,  um 
sie  von  einander  entfernt  zu  halten;  und  wo  keine  Verbindung  glückt,  da 
steht  die  Zwietracht  schon  in  der  Nähe,  um  beym  geringsten  Anlafs 
hervorzubrechen.  Wem  fallen  hiebe}'  nicht  religiöse  Secten  und  Religions- 
kriege ein!  Um  ihnen  auszuweichen,  lehrte  das  achtzehnte  Jahrhundert 
Toleranz,  aber  das  neunzehnte,  sich  klüger  dünkend,  bezeigt  hie  und  da 
schon  wieder  Lust,  die  alten  Reibungen  zu  erneuern. 

Dafs  in  den  Fehlem  der  Nationalbildung  die  Gebrechlichkeit  der 
Staaten  ihren  Sitz  habe,  während  einzelne  Fehler  der  Verwaltung,  und 
selbst,  wenn  man  will,  der  Verfassung  im  Laufe  der  Zeit  in  soweit  pflegen 
gehoben  zu  werden,  als  der  gesunde  Geist  der  Nationen  ihnen  überlegen 
ist,  ■ — ■  dies  ist  zu  bekannt,  um  einer  Anführung  zu  bedürfen.  Wenn  wir 
aber  die  letzte  Folge  jener  Gebrechlichkeit,  den  Untergang  der  Staaten, 
ins  Auge  fassen,  wenn  wir  versuchen,  sie  mit  dem  Tode  der  einzelnen 
Menschen  zu  vergleichen ,  so  werden  wir  inne,  dafs  die  beyden  Fäden 
unserer  Betrachtung  hier  aufhören,  parallel  zu  laufen.  Der  Tod  des 
Menschen  ist  kein  psychologisches,  sondern  ein  physiologisches  Ereignifs; 
dieses  aber  entrückt  den  Gegenstand  der  Psychologie  aller  ferneren  Be- 
obachtung. Hingegen  die  Staaten,  wenn  sie  auch  noch  so  sehr  altern, 
gleichen  doch  jenem  Sterblichen,  dem  eine  Göttin  Unsterblichkeit  geschenkt, 


III.  Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.    1821.     i^ 

aber  die  ewige  Jugend  vergessen  hatte.  So  schleppte  das  griechische 
Kaiserthum  ein  langes,  sündiges  und  sieches  Leben,  und  so  hätte  auch 
das  ihm  verschwisterte  römische  Reich  vielleicht  noch  lange  gedauert,  ja 
es  wäre  vielleicht  mit  Hülfe  des  Christenthums  verjüngt  worden,  wenn 
nicht  die  Stöfse  von  aufsen  ihm  ein  Ziel  gesetzt  hätten.  —  Man  hat  nun 
zwar,  um  die  Parallele  auf  andere  Weise  fortzuführen,  den  Staaten  oft- 
mals ein  organisches  Leben  zugeschrieben;  durch  welche  Vergleichung  die 
Physiologie  an  die  Stelle  der  Psychologie  gesetzt  wird.  Allein  diese  Zu- 
sammenstellung reicht  gerade  soweit  und  nicht  weiter,  als  die  vorige.  Es 
ist  der  Mühe  werth  dies  näher  zu  bestimmen.  Die  Physiologie  hat  zu 
ihrem  Gegenstande  organische  Leiber,  deren  ganze  mögliche  Bildung  sich 
aus  einem  Keim  entwickelt,  dessen  Kleinheit  ihn  den  Sinnen  entzieht. 
Mit  dem  Keime  aber  ist  ganz  bestimmt  die  fernere  Evolution  vollständig 
gegeben;  dergestalt,  dafs  man  den  Keim  wohl  pflegen  oder  verderben,  die 
Evolution  wohl  einigermafsen  beschleunigen  oder  verzögern,  nicht  aber 
dauerhaft  verändern  kann.  Denn  wenn  Jemand  etwan  die  Mifsgeburten  als 
abgeänderte  organische  Form  betrachten  will,  so  mufs  man  ihn  erinnern, 
dafs  diese  an  sich  gebrechlich,  und  der  Fortpflanzung  unfähig  sind.  Solche 
Bestimmtheit  der  Form  nun  ist  weder  in  dem  menschlichen  Geiste,  noch 
in  dem  Staate  zu  finden.  Vielmehr  gilt  vom  Geiste  und  vom  Staate  der 
Satz,  dafs  sie  sich  bestimmten  Organismen  zwar  allmählig,  und  ins  Un- 
endliche fort  nähern,  sie  aber  niemals  völlig  erreichen;  oder  kurz:  Physio- 
logie zeichnet  die  Asymptote  für  Psychologie  und  Staatswissenschaft.  Es 
ergiebt  sich  nämlich  allerdings  aus  dem  System  aller  Vorstellungen  im 
Individuum  und  im  Staate  eine  bestimmte  Assimilationsweise  für  neu  hinzu- 
kommende Vorstellungen,  sammt  den  aus  ihnen  entstehenden  Gefühlen 
und  Begierden;  aber  jede  Assimilation  verändert  zugleich  das  Assimilirende 
und  giebt  dadurch  den  künftigenden  Assimilationen  eine  neue  Richtung. 
Hierauf  beruht  die  Möglichkeit  der  Erziehung,  von  der  man  sehr  unrichtige 
Begriffe  hegt,  wenn  man  sie  der  Gärtnerei  vergleicht;  denn  während  die 
letztere  blofs  die  vorbestimmte  Evolution  der  Pflanzen  fördert,  greift  die 
erstere  allerdings  in  das  Innere  des  Keims  ein,  indem  sie  dem  Menschen 
Gedanken,  Gefühle  und  Bestrebungen  einimpft,  die  er  ohne  sie  niemals 
erlangt  hätte.  Darum  wird  ein  junger  Neuseeländer,  den  wir  in  Europa 
erziehen,  zwar  nicht  völlig  Europäer  werden,  aber  auch  nicht  völlig  Neu- 
seeländer bleiben;  jenes  nicht,  weil  sein  Geist,  als  er  zu  uns  kam,  schon 
ein  Analogon  von  organischer  Bestimmtheit  erlangt  hatte;  dieses  nicht, 
weil  die  Organisation  des  Geistes  nicht  die  Vestigkeit  der  eigentlichen 
Organismen  hat,  sondern  sich  nach  neuen  Eindrücken  innerlich  umändert. 
Und  hiemit  hängt  unmittelbar  der  Unterschied  zusammen,  dafs  Pflanzen 
und  Thiere  eine  zugemessene  Zeit  des  Wachsens,  Bestehens  und  Welkens 
haben ;  hingegen  die  Staaten  sich  bald  schnell  bald  langsam  entwickeln 
(vergleichen  wir  beyspielshalber  nur  das  heutige,  noch  sehr  junge  und  doch 
schon  so  starke  Nordamerika  mit  dem  alten  langsam  wachsenden  Rom!) 
und  dafs  eben  so  wenig  in  der  Abnahme  der  Staaten,  wie  in  ihrem 
Wachsen,  bestimmte  Perioden  herrschen,  vielmehr  oftmals  ein  wechselndes 
Rückgehen  und  Vorwärtsgehen,  wo  nicht  gar  eine  Art  von  Wiedergeburt 
in    ihnen    zu    bemerken    ist,    dergleichen    dem    heutigen    Frankreich,    und 


?6    HI-  Ueber   einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.    1821. 

vielleicht  auch  Spanien  zu  Theil  zu  werden  scheint.     Und  soll  ich  hiebey 
nicht  auch  an  Deutschland,  an  Preufsen  mich  erinnern? 

Es  sind  in  der  That  nicht  sowohl  die  successiven,  als  die  simultanen 
Merkmale  des  Staats  und  der  Organismen,  die  zwischen  beyden  eine 
Vergleichung  rechtfertigen.  Wie  die  Organe,  von  denen  die  Organismen 
ihre  Namen  führen,  wie  Lunge  und  Herz,  Leber  und  Magen,  Muskeln 
und  Nerven,  zum  Leben  zusammen  wirken:  so  arbeiten  bekanntlich  im 
Staate  die  verschiedenen  Stände,  zwischen  denen  die  gemeinsame  obliegende 
Arbeit  setheilt  ist,  zum  Bestehen  und  Gedeihen  der  Gesellschaft  einander 
in  die  Hand.  Um  aber  diese  Vergleichung  durchzuführen,  reicht  es  nicht 
hin,  einen  bestimmten  Staat  mit  einer  hestimmten  Art  von  Thieren  oder 
Pflanzen  zusammenzustellen,  sondern  man  mufs  beynahe  die  ganze  Natur- 
geschichte durchlaufen,  vom  Polypen  bis  zum  Menschen,  oder  vom  Pilz 
bis  zur  Eiche,  um  den  Staat,  der  eigentlich  nie  etwas  bestimmtes  ist, 
sondern  der  stets  wird,  und  schwebt,  und  vorwärts  oder  rückwärts  geht, 
mit  dieser  seiner  ganzen  Veränderlichkeit  als  einen  Organismus  denken  zu 
können.  Denn  beym  Ursprung  der  Staaten  war  ohne  Zweifel  die  Theilung 
der  Arbeit  in  ihnen  höchst  unvollkommen,  gerade  wie  die  Theilung  der 
organischen  Functionen  bey  den  niedrigen  Thieren  und  Pflanzen;  aber  in 
dem  aufblühenden  Staate  sondern  sich  die  Stände  immer  weiter,  sie 
nehmen  Mittelglieder  zwischen  sich  auf,  denen  die  Sphäre  ihres  Thuns 
immer  enger  begränzt  wird;  wie  wenn  den  Thieren  ohne  Herz,  allmählig 
Herz  und  Lunge,  denen  mit  wenigen  Nervenknoten  allmählig  ein  Rücken- 
mark und  ein  Hirn  einwüchse.  Und  nun  können  wir  in  unsere  Be- 
trachtung auch  wiederum  den  menschlichen  Geist  einführen,  der  uns  eine 
Aehnlichkeit  mit  dem  Staate  darbietet,  welcher  ich,  ihrer  Dunkelheit  wegen, 
vorhin  noch  nicht  wagte  zu  erwähnen.  Nämlich  der  Geist,  wie  der  Staat 
ist  zwar  niemals  ein  ganz  vest  bestimmter  Organismus,  aber  er  organisirt 
sich  fortwährend;  und  dieses  sein  Fortschreiten  bezieht  sich  nicht  blofs 
auf  die  Weise  der  Assimilation  neuer  Vorstellungen,  sammt  der  Reizbarkeit 
gegen  dieselben  (wovon  schon  oben  die  Rede  war),  sondern  auch  auf  die 
Sonderung  der  Functionen,  die  zum  geistigen  Leben  zusammengehören. 
Aber  hier  mufs  man  nicht  nach  aufser  einander  liegenden,  räumlich  ge- 
trennten Organen  fragen,  dergleichen  wohl  Einige  im  Gehirn  gesucht 
haben,  weil  sie  das  vollkommen  intensive  Wesen  des  Geistes,  und  die 
mitten  in  dieser  strengen  Intensität  dennoch  enthaltene  Mannigfaltigkeit, 
Sonderung,  und  Entgegengesetztheit,  nicht  fassen,  vielleicht  nicht  einmal 
ahnden  konnten.  Vielmehr  mufs  man  sich  üben,  um  zuerst  nur  soviel 
zu  begreifen,  dafs  unsere  Vorstellungen  vom  Raum  und  von  den  räum- 
lichen Dingen,  in  der  Seele  nicht  aufsereinander,  dafs  unsere  Vorstellungen 
von  der  Zeit  und  den  zeitlichen  Dingen,  in  der  Seele  nicht  nacheinander 
seyn  können;  dafs  vielmehr  jede  solche  Vorstellung  ihr  Mannigfaltiges 
völlig  zusammenfassen,  völlig  in  Eins  drängen  mufs,  um  den  vorgestellten 
Raum  und  die  vorgestellte  Zeit  wirklich  zu  enthalten,  und  Nichts  davon 
zu  verlieren.  Hat  man  dies  begriffen:  dann  wird  man  besser  vorbereitet 
seyn  um  auch  noch  zu  fassen,  dafs  in  der  Einen,  ungetheilten  Seele, 
deren  Vorstellungen  aber  durch  sehr  vielfältige  Gegensätze  und  daraus  ent- 
stehende  Hemmungen  gehindert  werden,  sich  vollständig  zu  durchdringen, 


III.  Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.    182 1.     37 


es  verschiedene,  gröfsere  und  kleinere  Vorstellungsmassen  gebe,  in 
deren  jeder  eine  gegenseitige  Bestimmung  der  Partialvorstellungen  all- 
mählig  entstehe,  die  sich  aber  in  dieser  Hinsicht  auf  verschiedenen  Puncten 
der  Reife  befinden;  dafs  während  der  stets  fortgehenden  Abwechselung 
unserer  Gedanken,  sich  die  mehreren  Vorstellungsmassen  berühren,  in 
einigen  Punkten  verschmelzen,  und  dadurch  eine  neue,  gegenseitige  Wirk- 
samkeit erlangen;  dafs  die  stärksten,  die  herrschenden  Vorstellungsmassen 
theils  mit  den  meisten  schwächeren,  auf  eine  bestimmte  Weise  verbunden 
sind,  theils  mit  neu  hervortretenden,  sich  am  ersten,  und  am  einfiufs- 
reichsten,  verbinden ;  und  dafs  von  der  Art  und  Weise  dieser  Verbindungen 
(die  unendlich  verschieden,  aber  in  jedem  einzelnen  Falle  mit  mathe- 
matischer Genauigkeit  bestimmt  ist)  die  Eigenthümlichkeit  der  Herrschaft 
abhänge,  welche  die  starken  Vorstellungsmassen  ausüben,  und  welche  die 
schwachen  von  ihnen  erleiden.  Um  hier  an  etwas  Bekanntem  anzuknüpfen, 
erinnere  ich  an  die  wissenschaftlichen  Systeme,  an  die  moralischen,  poli- 
tischen, religiösen  Ueberzeugungen,  an  die  Verknüpfung  zwischen  diesen 
und  den  wichtigsten  Lebens- Erfahrungen  und  Lebensplänen,  an  das  Gefüge 
der  mancherley  Privatverhältnisse;  —  wer  dies  alles  in  sich  selbst  mit 
anhaltender  Aufmerksamkeit  beobachtet,  der  wird  sehr  bald  seine  eigenen 
herrschenden  Vorstellungsmassen,  und  die  wichtigsten  Verbindungen  der- 
selben, gewahr  werden;  auch  die  Art  ihres  Wirkens  wird  ihm  nicht  ent- 
gehn,  wenn  gleich  die  Erklärung  dieses  Wirkens  ohne  tiefere  Speculation 
nicht  e;enüQ;end  ausfallen  kann.  Der  gebildete  Mann  ist  demnach  inner- 
lieh  ausgerüstet  mit  einer  Menge  von  Organen  zu  seinem  Denken  und  für 
seine  Entschliefsungen ;  dem  Ungebildeten  fehlen  diese  Organe;  alle  Un- 
wissenheit ist  Mangel,  aller  Irrthum  ist  Krankheit  in  einem  der  Organe; 
wie  viele  aber  ihrer,  und  wie  vollständig  ausgebildet  ein  jedes  eigentlich 
seyn  solle?  —  Das  ist  eine  Frage,  die  gerade  so  lautet,  wie  die:  Wann 
im  Staate  die  Theilung  der  Arbeit  still  stehn  solle,  und  welches  in  den 
Unterabtheilungen  der  Stände  die  letzten  Verzweigungen  seyen?  Es  ist 
eine  Frage  wie  die:  wie  viele  Organe  eigentlich  zu  einem  ganz  voll- 
kommenen Leibe  gehören,  nicht  etwan  blofs  auf  der  Erde,  oder  in  unserm 
Sonnensystem,  sondern  absolut  genommen  und  auf  dem  vollkommensten 
aller  Weltkörper?  Man  sieht  sogleich,  dafs  alle  diese  Fragen  unbeant- 
wortlich  sind. 

Die  Physiologie  hat  neuerlich  angefangen,  sich  aufs  engste  mit  der 
vergleichenden  Anatomie  zu  verbinden;  man  wird  daraus  schliefsen  dürfen, 
dafs  sie  sich  nicht  mehr  auf  die  Angabe  des  Nutzens  der  einzelnen 
Theile  in  dem  menschlichen  Leibe  beschränke,  sondern  dafs  sie  dem 
Leben  in  allen  Formen  nachspüre,  die  es  anzunehmen  fähig  ist.  Die 
Staatswissenschaft  wird  Niemand  mit  der  Statistik  einzelner  Staaten  ver- 
wechseln ;  sie  ist  längst  in  ihrer  natürlichen  Verbindung  mit  der  Geschichte 
bearbeitet  worden;  sie  haftet  also  nicht  an  der  besonderen  Organisation 
dieses  oder  jenes  Staats,  sondern  sie  hat  die  Möglichkeit  und  stufenweise 
Entwickelung  der  bürgerlichen  Gesellschaft  überhaupt  im  Auge.  Die 
Psychologie  allein  schien  zurückzubleiben;  und  sie  kann  freylich  nicht  von 
der  Stelle  kommen,  so  lange  sie  sich  mit  den  fabelhaften  Seelenvermögen 
trägt,  die  ungefähr  so  viel  bedeuten,  als  wenn  ein  Physiolog,  der    niemals 


?8    III.  Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.    182 1. 

ein  anatomisches  Messer  in  Händen  gehabt,  niemals  eine  Lunge,  einen 
Magen,  ein  Herz,  niemals  Adern,  Nerven,  Muskeln  gesehen,  noch  davon 
gehört  hätte,  dem  menschlichen  Körper  allerley  Vermögen  zueignen  wollte, 
z.  B.  ein  Vermögen  zu  athmen,  ein  Vermögen  zu  erröthen,  ein  Vermögen 
die  Glieder  zu  bewegen,  ein  Vermögen  zu  wachsen,  und  dergl.  mehr. 
Allein  ich  habe  mir  längst,  und  auch  in  dieser  Vorlesung,  die  Freyheit 
genommen,  die  Seelenvermögen,  Gedächtnifs,  Einbildungskraft,  Verstand, 
Vernunft,  und  so  weiter,  bey  Seite  zu  setzen;  die  wirksamen  Kräfte  in 
den  Vorstellungen  selbst  aufzusuchen  und  das  geistige  Leben,  dessen  An- 
fänge sich  in  den  Thieren,  in  den  Wilden,  in  den  Kindern  zeigen,  bis 
zu  seiner  höchsten  uns  bekannten  Ausbildung  hinauf  als  ein  Continuum 
von  Phänomenen  zu  betrachten,  dessen  gesammte  Möglichkeit  mit  allen 
in  ihm  liegenden  Uebergängen  und  Verbindungen,  die  eine  und  untheilbare 
Aufgabe  der  Psychologie  ausmacht;  eine  Aufgabe,  die  freylich  nicht  blofs 
empirisch  ist  noch  seyn  kann,  sondern  die  vielmehr  die  ganze  Speculation, 
mit  allen  ihren  Hülfsmitteln  und  Wendungen,  und  dann  wiederum  eine 
sorgfältige  Vergleichung  mit  der  Erfahrung,  unumgänglich  erfordert.  Sobald 
aber  die  Psychologie  auf  diese  Weise  bearbeitet  wird,  ergeben  sich  nicht 
blofs  die  Vergleichungen,  sondern  auch  die  Anfänge  der  inneren  Ver- 
bindung, worin  diese  Wissenschaft  mit  anderen  zu  treten  geeignet  ist. 
Nun  bin  ich  zwar  sehr  weit  entfernt,  um  einiger  neuen  philosophischen 
Grundsätze  willen,  sogleich  eine  Reform  in  den  mit  der  Philosophie  ver- 
wandten Wissenschaften  anzukündigen;  eine  Anmaafsung,  deren  Bey  spiele 
nur  allzubekannt  sind.  Allein  soviel  getraue  ich  mir  zu  behaupten,  dafs  eine 
richtige  Psychologie  viel  genauer,  als  die  bisherige  falsche  es  vermochte,  sich  mit 
der  Staatswissenschaft  in  Verbindung  setzen  wird.  Was  in  den  Staaten  sich 
zusammenwirkend  erhebe,  sich  wieder  einander  wirkend  vernichte;  was  leicht 
und  schnell  veränderlich,  was  langsam  und  schwer  beweglich  sey;  wieviel  der 
blinde  Mechanismus  durch  sich  selbst  hervorbringe,  wie  viel  kluge  Ueberlegung, 
und  sittlich  reines  Wollen  vermöge;  welche  Reizbarkeit,  welche  Unsicher- 
heit, welche  Gefahr  und  Hoffnung  auch  der  scheinbar  am  besten  organisirte 
Staat  übrig  lasse;  welche  Theile  seiner  Einrichtung,  gleich  harten  Knochen, 
blofs  durch  ihre  mechanische  Vestigkeit  nützlich  seyen,  und  wie  man  ihre 
Dauerhaftigkeit  sichern  könne;  welche  andre  Theile  dagegen  die  Reiz- 
barkeit der  Muskeln  oder  gar  die  Empfindlichkeit  der  Nerven  besitzen, 
und  wie  man  diese  durch  leise  Berührung  zugleich  schonen  und  ins  Spiel 
setzen  müsse:  diese  und  tausend  ähnliche  Fragen  wird  sich  der  Staats- 
kundige schwerlich  je  genügend  beantworten  können,  solange  nicht  die 
Hemmungen  und  Complicationen  der  Vorstellungen,  die  Strebungen  und 
Spannungen  der  Gemüthszustände ,  der  Ursprung  der  Formen  aller  Er- 
fahrung, die  Stufen  der  Entwickelung  in  Urtheilen  und  Begriffen,  die 
Verhältnisse  der  Vorstellungsmassen  in  der  Selbstbeobachtung  und  Selbst- 
beurtheilung,  —  kurz  solange  nicht  die  geistige  Organisation  ihm  klar  vor 
Augen  liegt,  die,  mehr  oder  minder  ausgebildet,  in  jedem  einzelnen,  das 
Ganze  des  Staates  mit  bestimmenden,  Bürger,  vorhanden  ist;  und  die 
eben  darum  in  Allen  wirkt,  weil  das  Ganze  der  Natur  seine  ersten,  ein- 
fachen Bestandtheile  niemals  verleugnen  kann.  Wenn  nun  die  Psychologie 
einen    Theil    des     Fundaments    ausmacht,    worauf    die   Staatswissenschaft, 


III.  Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staatswissenschaft.    1821.    30 

um  vollständig  begründet  zu  seyn,  ruhen  mufs,  so  findet  zugleich  ein  um- 
gekehrtes Verhältnifs  zwischen  bevden  statt,  nämlich  dies,  dafs  die  ab- 
geleitete  Wissenschaft  zur  Rechnungsprobe  diene  für  die,  von  der  sie 
abhängt;  dafs  also  die  Irrthümer,  welche  in  die  Psychologie  eingeschlichen 
seyn  möchten,  sich  dadurch  verrathen  werden,  wenn  in  der  Staatswissen- 
schaft nichts  Haltbares  vorkömmt,  was  ihnen  entsprechen  könnte.  Auch 
dieses  Verhältnifs  aber  ist  gegenseitig;  die  richtigen  Lehrsätze  der  Staats- 
kunst, sobald  sie  hinausgehn  über  die  praktischen  Ideen,  über  die  Be- 
stimmungen dessen,  was  seyn  soll,  müssen  in  Ansehung  der  Ausführbarkeit 
und  der  Wirksamkeit  der  durch  sie  vorgeschriebenen  Maafsregeln  sich 
durch  psychologische  Gründe,  die  ihnen  zur  Unterstützung  dienen,  bewahr- 
heiten, widrigenfalls  sind  sie  ebenfalls  des  Irrthums  verdächtig.  Schwerlich 
könnte  ich  diesem  Vortrage  einen  angemessenem  Schlufs  hinzufügen,  als 
indem  ich  zweyer  falschen  Lehren  gedenke,  deren  eine  in  der  Psychologie 
die  andere  in  der  Staatswissenschaft  ihren  Sitz  hat,  und  die  durch  Zu- 
sammenstellung beyder  Wissenschaften  ihr  Irriges  sehr  leicht  verrathen. 
Die  eine  ist  die  sogenannte  transscendentale  Freyheit  des  Willens,  durch 
welche  Kant,  verleitet  durch  eine  unrichtige  Wendung  in  seiner  Begründung 
der  Sittenlehre,  die  der  Wahrheit  näherliegende  Ansicht  Leibnitzen's  ver- 
drängte, und  welche  Schelling  ganz  wider  den  Geist  der  gesunden  Natur- 
betrachtung, aufrecht  halten  wollte.  Nach  dieser  Lehre  von  der  Freyheit 
des  Willens  ist  der  Causalzusammenhang  aufgehoben,  welcher  den  Gang 
der  Menschengeschichte,  und  die  Bildung1  der  Nerven  aus  psychologischen 
Gründen  umfassen  sollte.  Wo  jedes  Individuum  absolut  frey  ist,  da  mufs 
man  in  der  gesammten  Thätigkeit  Aller  und  folglich  in  dem  Resultate 
dieser  Thätigkeit  keinen  Zusammenhang,  sondern  Lücken  und  Sprünge 
erwarten;  und  da  ist  es  ganz  vergeblich,  eine  auch  nur  wahrscheinliche 
Regelmäfsigkeit  der  Zusammenwirkung  veranstalten  zu  wollen.  Also  wäre 
die  Staatskunst  zwar  vielleicht  eine  Aufgabe  in  der  Idee,  aber  eine  voll- 
kommene Thorheit  in  der  Ausübung.  Da  dieses  falsch  ist,  so  mufs  auch 
die  Annahme  der  transscendentalen  Freyheit  einen  Irrthum  enthalten, 
dessen  Entwickelung  übrigens  nicht  dieses  Orts  ist.  Das  andere  Beyspiel 
bietet  in  der  Staatswissenschaft  die  Meinung  dar,  als  lasse  sich  irgend 
eine  Verfassung  erfinden,  die  für  alle  Staaten  die  rechte  sey  oder  doch 
die  beste.  Wenn  dies  wahr  seyn  soll :  so  mufs  der  Schwerpunkt  des  ge- 
sammten Wollens  im  Staate  durch  irgend  eine  Einrichtung  können  bevestigt 
werden,  indem,  wenn  er  sich  verrückt,  offenbar  die  Constitution  des 
Staates  keinen  Haltungspunkt  mehr  hat.  Nun  setzt  aber  die  Vestigkeit 
jenes  Schwerpunkts  entweder  Unbeweglichkeit  aller  einzelnen  Willen,  oder 
genaue  Compensation  ihrer  Bewegungen  voraus,  wovon  das  letztre,  wenn 
wir  es  psychologisch  überlegen ,  sich  womöglich  noch  ungereimter  zeigt, 
als  das  erstere.  Hat  man  aber  mit  der  Reizbarkeit  des  menschlichen 
Geistes  zugleich  auch  die  Gesetze  des  Uebergewichts  der  stärksten  und  am 
besten  verbundenen  Vorstellungsmassen  wohl  begriffen,  hat  man  überdies 
die  psychologische  Möglichkeit  einer  moralischen  Bildung  eingesehen,  ver- 
möge deren  die  herrschenden  Vorstellungen  eben  die  des  Guten  und 
Rechten  seyn  müssen:  so  ergiebt  sich  nicht  blofs  eine  Freiheit  der  Indi- 
viduen, die  gerade  nach  Kaxt's  eigentlicher  Meinung  in  der  Moralität  selbst 


40    HI.  Ueber  einige  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Staats  Wissenschaft.   1821. 


liegt,  sondern  es  erhellet  auch,  dafs  jenes  Streben  nach  der  besten  Ver- 
fassung des  Staats,  wofern  es  nicht  widersinnig  seyn  soll,  innigst  verbunden 
seyn  mufs  mit  dem  Bemühen  für  die  allgemeine  Veredlung  des  Volks, 
durch  welche  allein  die  Wirksamkeit  des  unter  sich  entgegengesetzten 
Privatinteresse  soweit  vermindert,  und  ein  gemeinsamer  Schwerpunkt  alles 
Wollens  so  dauernd  bezeichnet  werden  kann,  dafs  es  erlaubt  ist,  an  eine 
wahre  Stabilität  des  Staatsa;ebäudes  zu  denken.  Doch  diese  Wahrheit 
ist  zu  unserer  Zeit  der  allgemeinen  Anerkennung  schon  so  nahe,  dafs 
ich  hoffen  darf,  in  Ihrer  Zustimmung:.  Q-eehrteste  Anwesende,  für  meinen 
Vortrag  hier  einen   Ruhepunkt  zu  finden. 


IV. 
DE 

ATTENTIONIS  MENSURA  CAUSISQUE 

PRIMARIIS. 


1822. 


[Text  der  Originalausgabe,  Regiomonti,   fratres  Boratraeger,   1822.] 


Citirte  Ausgaben. 

O  =  Originalausgabe,  Regiomonti  ap.  fratres  Boratraeger,    1822,  XIV  u.  65  S.    40. 
SW  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche   Werke  (Bd.  VII,  S.  73—128),  herausgegeben 
von  G.  Hartenstein'. 
KlSch   n=  J.    F.    Herbart's   Kleinere   Schriften    (Bd.  II,   353  —  416),    herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 


Vollständiger  Titel  der  Originalausgabe: 


De  I  attentionis  I  mensura  causisque  primariis. 


Psychologiae  principia  statica  et  mechanica 

exemplo  illustraturus. 

scripsit  |  Joannes  Fridericus  Herbart 

philos.  et  paed.  p.  p.  O.  in  academia  regiomontana. 


Regiomonti, 

apud  fratres  Bomtraeger, 

1822. 


[in]  Prooemium. 


Disquisitionibus  psychologicis  cum  adductus  essem  ad  aequationem  dif- 
ferentialem  formae  sequentis 

i 


mdu  -f-  n  (i  —  u)  [i  du 


=  dZ, 


pu  —  qZ  -\-  r 

solvi  eam  posse  per  methodum  notissimam  coefficientium  indeterminatorum, 
ea  quidem  lege  atque  conditione,  ut,  quoties  divergere  inciperet  series  infinita, 
toties  novi  quaererentur  coefficientes,  novaque  series  adstrueretur;  iamdu- 
dum  demonstravi,  eiusque  calculi  expositionem  publici  iuris  feci*.  Verum  - 
tamen  haec  erat  nomine  potius,  quam  revera  problematis  solutio.  Nam 
taedium  calculi  etsi  semel  aut  iterum  diligentia  vinci  posset,  casus  tarnen 
difficiliores  agredi  vetuit;  quaestionis  autem  natura  postulabat,  ut  magna 
valorum  literis  m,  n,  ß,  tribuendorum  varietas  perlustraretur;  nee  enim 
psychologiae  praesidium  [IV]  in  numeris  singulis  computandis  positum  est,  sed 
in  toto  funetionum  ambitu  percurrendo,  eoque,  quantum  fieri  potest,  uni 
conspectui  proponendo.  Itaque  saepius  ad  eandem  rem  reversus,  pluribus 
modis  eam  tentavi,  ut  viam  magis  expeditam  invenirem;  nee  tarnen  suetis 
mathematicorum  substitutionibus  et  transformationibus  quiequam  profeci. 
Patet,  in  aequatione  proposita  variabiles  u  et  Z  esse  permixtas,  eamque 
ab  homogeneis,  si  pro  ß  ponatur  numerus  mägnus  aut  parvus,  longe 
abhorrere;  nee  ullum  auxilium  a  theoremate  tayloriano  exspeetandum  esse, 

dZ  ..,.,. 

cum  —  pendeat  ab  utraque  quantitate  vanabih;  quamobrem  omnes  quo- 
du 

tientes  differentiales  sunt  incogniti.    Accedit,  quod  non  tantum  Z,  sed  etiam 

dZ  , 

— ,  calculo  est  eruendum,  ad  erroris  suspicionem  propulsandam;  negotii 
du 

enim  rite    confecti    nulluni    aliud    habemus    indicium,    nisi    illud,    quod    ipsa 

praebebit  aequatio,  ubi  substituto  valore  invento  ipsius  Z  in  idem  nos  re- 

1  7 

ducet  — ,  cuius  valorem  iam  cognoverimus.     Quibus  difficultatibus  fractus, 
du 

ingenii  mei  tarditatem  increpans,  totam  hanc  disquisitionem,  in  psychologia 

quidem    admodum    necessariam,    aliorum    diligentiae    iam    commendandam 

atque  relinquendam  [V]  putabam,  cum  lux  nova  mihi,  de  natura  serierum  di- 

vergentium  meditanti,  affulgere  videbatur.     Series  enim,  quibus  uti  mathe- 


*  Königsberger  Archiv  für  Philosophie  etc.,  drittes  Heft   1812. 


44  IV'    De  attentionis  mensura  causisque  primariis.     1822. 


matici  consuerunt,  ita  procedunt,  ut  exponentes  eandem  servent  differen- 
tiam;  quod  etsi  calculum  solet  commodiorem  reddere,  tarnen  haud  scio, 
an  ipsi  functionum  naturae  nonnunquam  parum  sit  aptum  atque  consen- 
tiens.  Itaque  paullulum  de  via  communi  deflectens,  nullam  omnino  seriei 
formam  praescribens,  sperabam  fore,  ut  idoneis  exponentibus  ex  ipso  cal- 
culo  haustis,  paucissimis  terminis  id  assequerer,  quod  series  praeformatae 
ne  in  infinitum  quidem  productae  potuerint  perficere.  Cuius  rei  periculum 
facere  non  frustra  sum  conatus;  adeo  enim  commodam  calculi  rationem 
sum  nactus,  et  variis  numeris  constantibus  in  aequationem  introducendis 
tarn  aequabiliter  se  applicantem,  ut  vix  mihi  persuadere  possim,  ullam  in 
tali  re  solutionem  directam  meliorem  fore,  quam  hanc  indirectam.  Minime 
tarnen  haec  ita  accipi  velim,  quasi  meam  opinionem  illorum  iudicio  ante- 
ponam,  qui  in  mathematicis  plus  studii  colloearunt. 

Caeterum  mea  parum  refert,  quam  longe  abfuerim  a  summa  calculi 
subtilitate;  non  enim  eam  sum  provinciam  sortitus,  mathematicorum  arti- 
ficia  ut  tra[IV]derem.  Neque  magis  in  eo  laboravi,  ut  commendarem  hanc, 
qua  primus  sum  usus,  applicationem  matheseos  ad  psychologiam ;  neve  id 
egi,  psychologiae  ultima  viscera  ut  patefacerem.  Consilium  huius  libelli 
scribendi  totum  in  eo  positum  est,  ut  calculi  ad  psychologiam  adhibendi 
luculentum  praebeatur  exemplum;  cui  consilio  satisfacturus,  exemplum  tale 
debebam  eligere,  quod  a  reliquis  psychologiae  partibus  posset  segregari; 
omnia  autem  erant  removenda,  quibus  adhibitis  lectores  in  metaphysicas 
tenebras  devoluti  sibi  fortasse  viderentur. 

Quaestio  causarum,  quibus  hat,  ut  animi  attentio  vel  excitetur,  con- 
servetur,  augeatur,  vel  demittatur,  concidat,  evanescat,  etsi  non  una  omnium 
gravissima,  tarnen  in  maximarum  numero  est  habenda.  Schola  Wolfiana 
attentionem  putabat  esse  principium  notionum  distinctarum,  totiusque  facul- 
tatis  superioris,  qua  homines  bestiis  praestarent.  Quod  etsi  recte  se  habere 
negabunt  ii,  qui  bestias  docent  ajtes,  futilissimas  certe,  nee  eas  ipsas  sine 
attentione  pereipiendas,  manifesto  tarnen,  in  quo  videmus  homines  homi- 
nibus  antecellere,  in  eodem  etiam  bestias  tarn  longe  superant  homines 
euneti,  ut  nulla  fieri  possit  comparatio.  Fichtii  dictum  memini,  attentionem 
[VII]  esse  fontem  libertatis ;  quod  dictum,  eo  sensu,  quo  proferebatur,  minime 
probandum,  paullo  immutatum  verissimum  esse  libenter  concesserim.  Quam- 
quam  enim  celeberrimum  illud  commentum  de  libertate,  quam  dieunt, 
transcendentali,  totius  philosophiae  theoreticae  certissima  est  pernicies,  illud 
tarnen  vere  dici  potest,  libertatem  tantam  fore,  quantum  habeamus  impe- 
rium  in  attentionem  nostram;  ut,  si  quis  sponte  sua  attentionem  posset  in 
quameunque  partem  et  eunvertere  et  revocare,  eandemque  pro  arbitrio  et 
extollere  et  deprimere,  hie  certe  non  finitam  illam,  quam  homines  tanquam 
\*irtutis  praemium  consequuntur,  sed  infinitam  libertatem,  tanquam  donum 
naturae  esset  adeptus.  Neque  mirum,  viros  quosdam  fortes  et  strenuos 
propositique  tenaces,  cum  in  coercendis  cupiditatibus  tum  in  regendo  cogi- 
tationum  decursu  admodum  exercitatos,  in  eum  ineidisse  errorem,  ut,  quam 
vim  voluntatis  multum  valere  sentirent,  eandem  ultra  omnes  terminos 
adaugeri,  idque  ipsum  volendi  nisu  et  contentione  perfid  posse  putarent, 
atque  si  quis  contrarium  affirmaret,  eum  ignaviae  crimen  subire  arbitraren- 
tur.     Iidem  tarnen  si  tarn  acres  fuissent  in  observando,  quam  vehementes 


Prooemium. 


45 


fuerunt  in  disputando,  primum  [VIII]  hoc  animadvertissent,  attentionem  sae- 
pissime  antecedere  omnem  voluntatem,  neque  exspectare,  donec  libeat  eam 
provocare ;  deinde  intellexissent,  in  ea  ipsa  voluntate,  quae  iubeat  cogitationes 
quasdam  deponi  atque  removeri,  messe  attentionem  quandam  ad  illas  res 
quarum  oblivisci  velimus;  postremo  si  ingenue  fateri  voluissent,  quoties 
invitissimi  suam  attentionem  turbari,  atque  ne  summo  quidem  conatui  ob- 
temperare  sentirent,  eo  certe  redacti  fuissent  ut  suspicarentur,  minimam 
attentionis  partem  sitam  esse  in  nostra  potestate,  voluntatem  vero  non 
tantum  maxima  ex  parte,  sed  omnem  pendere  ab  attentione,  ita  quidem, 
ut,  quandocunque  attentio  pareat  voluntati,  tum  aliam  quandam  necesse 
sit  attentionem  subesse  ipsi  huic  voluntati. 

Qualemcunque  tarnen  attentioni  statuas  nexum  intercedere  cum  volun- 
tate atque  cum  omni  hominum  facultate  superiori,  id  efficietur  quod  volui; 
quaestionem  de  causis  attentionis  maximi  in  psychologia  esse  momenti. 
Efficietur  etiam  aliud  quid:  duo  videlicet  esse  attentionis  genera,  quorum 
alterum  pendeat  a  voluntate,  alterum  non  pendeat.  Sed  hie  denuo  est 
dividendum :  praeeipuae  attentionis  caussae  saepissime  latent  in  cogitationibus 
iis,  quas  dici[IX]mus  reproduetas,  cum  anteriore  sint  tempore  coneeptae, 
post  dimissae,  et  nunc  primum  revocatae;  unde  sequitur,  ceteris  omnibus 
paribus  attentionem  nullam  fuisse  futuram,  si  forte  is,  qui  nunc  animum 
attendit,  non  accessisset  praeparatus  prioribus  illis  cogitationibus  olim  iam 
conformandis.  Longe  aliter  se  habebit  tota  quaestio,  si  attentionem  nullis 
alienis  subnixam  adiumentis  speetamus;  qualis  in  iis  sit  necesse  est,  qui 
eiusmodi  adminicula  sibi  nondum  compararunt.  Atque  hoc  est  punctum 
illud  quaestionis  principale,  quod  volui  designare,  ubi  in  huius  commen- 
tationis  inscriptione  de  causis  attentionis  primarüs  me  dicturum  signifieavi. 
De  reproduetionis  vi  in  sustinenda  attentione  tantum  adiieiam,  quantum 
potero;  uberior  tarnen  huius  rei  explicatio  reservanda  est  alii  libro,  quoniam 
non  omnia,  quae  huc  pertinent,  commode  separari  possunt  ab  universo  dis- 
quisitionum  psychologicarum  ambitu;  eandemque  ob  causam  voluntatis  in 
attentionem  potestas  hie  fere  est  silentio  praetereunda. 

Quod  autem  metaphysicam  quoque  missam  fecerim,  id  sane  mira- 
buntur  ii  maxime,  quorum  caussa  potissimum  haec  scripsi;  itaque  brevi 
dicam  quod  [X]  sentio.  Recte  nihil  de  rebus  psychologicis  scribi  potest,  nisi 
iuneta  metaphysica  atque  mathesi;  sed  quae  recte  sunt  scripta,  ea  lectorem 
desiderant  omni  ex  parte  praeparatum.  Nostri  autem  temporis  ea  est 
calamitas,  ut  foedissimum  factum  sit  illarum  artium  diseidium :  qua  cala- 
mitate  tanto  magis  atque  gravius  premitur  haec  aetas,  quanto  rariores 
sunt,  qui  illud  malum  vel  agnoscant  vel  sibi  demonstrari  patiantur.  Mathe- 
matici  superbiunt  in  legibus  phaenomenorum  determinandis,  veram  rerum 
naturam,  quae  subsit  phaenomenis,  nihil  curantes;  philosophi  se  iaetant  in 
contemnendis  sensuum  praestigiis;  ubi  autem  ad  phaenomena  explicanda 
descendunt,  destituti  matheseos  auxilio  maxime  necessario,  ineptissimas 
nugas  effutiunt;  nesciunt  enim,  quid  quamque  rem  sequatur,  quod  ex  sola 
logica  satis  intelligi  non  potest:  quocirca  vel  recte  positis  prineipiis  recte 
uti  nequeunt.  Quae  cum  ita  sint:  psychologia  cuinam  sit  scribenda, 
revera  nescio:  illorum  quidem  neutris  eam  scribi  posse  video.  Ut  tarnen 
aliqua  ex  parte  initium   caperem,   confugiendum   mihi  putavi  ad  nudam  ex- 


^6  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.   1822. 

perientiam,  atque  periculum  faciendum,  possenine  more  mathematicorum 
rebus,  quas  omnes  norunt,  calculum  applicare,  omissis  iis,  de  quibus  plurimi 
dubi[IX]tant,  pauci  consentiunt  multi  ne  audiendum  quidem  sibi  arbitrantur. 
Interim  ne  quis  iustum  nie  putet  excedere  modum,  cum  poscam, 
qui  mathematicus,  idem  ut  sit  philosophus :  clarissimum  adferam  exemplum ; 
non  Piatonis  et  Pythagorae,  non  Leibnitzii  et  Wolfii,  qui  fortasse  in  singulis 
matheseos  partibus  excelluisse,  nee  tarnen  in  universa  arte  amplificanda 
totum  vitae  Studium  collocasse  videbuntur:  his,  inquam,  testibus  uti  nolo; 
locupletiorem  habeo;  quem  iure  magistrum  omnium,  qui  nunc  vigent, 
mathematicorum  dicere  possumus,  Leoxhardum  Eulerum!  —  Cuius  cum 
evolverem  theoriam  motus  corporum  solidorum,  formulas  et  aequationes 
inde  petiturus  (nee  enim  aliud  quid  exspeetabam),  disputantem  inveni 
auetorem  usque  ad  §.  184  de  loco  et  tempore,  de  motu  et  quiete,  de 
viribus  mechanicis,  id  est,  de  metaphysicae  notionibus  difficillimis;  atque 
ita  quidem  disputantem,  ut  essent  luculentissima  omnia,  multa  verissima, 
ipsique  eirores  commissi  ad  excitandum  lectoris  ingenium  apti;  quo  nihil 
melius  de  ullo  philosophorum  easdem  res  traetante  praedicari  potest.  Jam 
ea  lectione  finita  desii  mirari,  formulae  illae  paene  divinae,  quibus  totam  mecha- 
nicam  corporum  esse  su[XII]perstructam  sciebam,  unde  originem  traxerint: 
quae  enim  coelesti  quodam  afflatu  pervenisse  ad  hominum  ingenia  possunt 
videri:  ea  manifesto  philosophandi  nisu  strenuo  et  diligentia  assidua  sunt 
deteeta.  Quamobrem  non  omnis  mechanicae  coelestis  inventae  laus  soli 
mathesi  est  tribuenda,  sed  metaphysicae  sua  pars  vindicanda:  mathesis 
autem  ad  summum  dignitatis  fastigium  tum  denique  est  perventura,  ubi 
methaphysicam  adiuvans  mechanicam  mentis  patefecerit;  ut  tandem  aliquando 
genus  humanuni  eam  assequatur  scientiam,  quam  Apollo  commendavit  Pythius 
nobilissimo  illo  praeeepto:  nosce  te  ipsum. 


[xiii]  Conspectus. 


Caput  primum. 

Praemonenda. 

i.    In    oraue    systema   virium    oppositarum,    qualiscunque    sint  generis,    discrimen    cadit 

staticae  et  mechanicae. 

2.  Eiusmodi  vires  adesse  in  mente,  experientia  docet. 

3.  Ipsae  perceptiones  seix  ideae  oppositae  virium  naturam  induunt;  neque  de  ficti- 
ciis  illis,  quae  vulgo  feruntur,  facultatibus  animi  (e.  c.  memoria,  imaginatione,  in- 
tellectu,   etc.)  ullo  modo  est  cogitandum. 

4.  Formulae  fundamentales,  quibus  nititur  statica  et  mechanica  mentis. 

Caput  secundum. 
De  attentionis  causis  primariis. 

5.  Eorum,  quae  de  attentione  docet  experientia,  expositio. 

6.  De  calculo  instituendo,  quantitatibus  constantibus  ita  sumtis,  ut  solutionibus  finiüs 
uti   liceat. 

7.  De  calculo  tum  expediendo,  cum    eius    initium    a    seriebus   infinitis   capiendum   mit. 
[XIV]  8.    De  calculi  subsidiis,  si  in  aequatione  proposita  valor  numeri  ß  fuerit  vel  magnus 

vel  parvus. 
9.    De  attentionis  mensura. 

Caput  tertium. 
Oe  iis  attentionis  phaenomenis,  quorum  ratio  ex  causis  primariis  reddi  nequit. 

10.  De  reproductione  in  Universum. 

1 1 .  Attentio  quomodo   pendeat  a  cogitationibus  reproductis. 

12.  De  voluntatis  vi  in  sustinenda  attentione. 


[i]  Caput  primum. 

Praemonenda. 


i, 

Omnes  vires  agere  censentur,  quantum  possunt,  nisi  impediantur 
viribus  contrariis:  qi;od  ubi  accidit,  vel  contrarius  e'xorietur  eventus,  vel 
nullus.  Primum  indicat,  vim  fortiorem  vicisse;  secundum,  vires  esse  aequales, 
unde  duetum  est  nomem  aequilibrii.  Nam  ad  libram  et  pondera  hie  non 
esse  respiciendum,  omnes  norunt:  tota  vocabuü  vis  posita  est  in  denotanda 
aequalitate  actionum  et  reactionum,  se  invicem  tollentium,  ut  quaeeunque 
ex  singularum  virium  conatibus  prodire  debuerint,  ea  prorsus  cessent,  et, 
cum  semper  sint  exstitura,  perpetuo  tarnen  deleantur  et  evanescant.  Jam 
per  se  patet,  hanc  notionem  adeo  esse  universalem,  ut  ad  motum  et 
materiam  nullo  modo  possit  restringi.  Quaeeunque  fieri  possunt,  ea  possunt 
impediri;  quameunque  vim  animo  fingas,  aliam  contrariam  ipsi  cogitare 
poteris,  eamque,  sie  placet,  aequalem  priori,  aut,  si  mavis,  per  se  quidem 
vel  fortiorem  vel  remissiorem,  sed  eiusmodi  conditionibus  implicatam,  ut 
actiones  tarnen  evadant  aequales,  seque  invicem  in  ipso  nisu  agendi 
exstinguant.  Cuius  rei  vectis  praebet  exemplum,  sed  ita  comparatum,  ut 
eius  notio  principalis  multo  latius  pateat.  Removere  possumus  non  pondera 
tantum,  sed  fulcrum,  iugum,  ipsam  denique  lineam  mathematicam  atque 
vires  motrices  ei  adplicatas;  remanebunt  vires  qualescunque  certis  con- 
ditionibus agendi  obnoxiae,  [2]  quibus  determinetur,  quantum  hae  vires  sint 
acturae,  ut  diiudicari  queat,  utrum  eventus  nascatur,  an  vero  nascens 
destruatur. 

Igitur  eodem  iure,  quo  loquimur  de  virium  magneticarum,  electricarum, 
chemicarum  aequilibrio,  psvehologiae  quoque  tribuenda  erit  pars  quaedam 
statica,  et  aha  pars  mechanica,  quamvis  nihil  hat  in  mente,  quod  ad 
notiones  loci  et  spatii  possit  referri.  Multa  enim  evenire  et  mutari  in 
animis  nöstris,  certissimum  est;  earumque  mutationum  vires  quasdam  esse 
causas,  nemo  negabit,  nisi  quis  putet  fortuito  fieri,  quae  fiunt  in  mentibus, 
quod  est  absurdum.  Quarum  virium  si  veras  notiones  adhuc  usque  con- 
cepissent  philosophi,  indagare  etiam  potuissent  leges  motuum  animi,  nee 
non  leges  aequilibrii  in  animo;  sed  haec  omnia  non  modo  neglecta,  sed 
prorsus  incognita  iacuerunt,  quoniam  illi  falsissimis  de  quibusdam  faculta- 
tibus  animi  opiniunibus  deeipi  se  passi  sunt,  in  quibus  ne  minimum  quidem 
inest   veritatis  vestigium. 


Caput  Primum.  m 


2. 

Cum  de  aequüibrio  in  animo  vel  constituto  vel  sublato,  sermonem 
inceperim:  quaerenda  mihi  sunt  exempla  in  experientia  communi  obvia, 
quibus  ea,  quae  dixerim,  possim  illustrare.  Ac  primo  quidem  lectores 
puto  cogitaturos  de  animi  perturbationibus,  et  de  virtutibus  iis  oppositis, 
constantia  et  gravitate,  quarum  id  videtur  esse  munus  proprium,  ut  aequi- 
librium  vel  tueantur,  vel  restaurandum  curent.  Neque  tarnen  haec  exempla 
per  se  sunt  satis  perspicua,  sed  paullo  diligentius  consideranda:  nondum 
enim  patent  vires  oppositae,  quas  quaerebamus,  ut  earum  aequilibrium 
cognosceremus.  Cave  putes,  alteram  vim  esse  virtutem,  alteram  animi 
perturbationem :  sed  virtus  illa  potius  artifici  est  similis,  machinam  eversam 
reficienti;  nee  quisquam  somniabit  de  aequilibrio  artificis  cum  machina; 
sed  ipsi  machinae  insint  pondera  quaedam,  necesse  est,  ab  artifice  ad 
aequilibrium  redaeta.  Sic  etiam  virtus  efficiet,  ut  in  animo  [3]  perturbato 
vires  quaedam  sibi  oppositae,  ab  aequilibrii  statu  deieetae,  quam  celerrime 
reponantur.  Quales  autem  hae  sint  vires,  inde  nondum  perspieimus;  nee 
spes  est,  eas,  nisi  alia  subveniant  auxilia,  posse  cognosci.  Tanta  enim 
cogitationum  in  animo  perturbato  est  multitudo,  tamque  celeriter  moventur 
atque  aestuant,  ut  facile  intelligatur,  totam  hanc  rem  longissime  esse 
remotam  a  simplicitate  prineipiorum  in  limine  theoriae  alieuius  ponendorum. 
Teneant  velim  lectores  hanc  admonitionem ,  in  primordiis  psychologiae 
perscrutandis  omnino  abstinendum  esse  ab  exemplorum  complicatorum  usu: 
vera  enim  initia  adeo  sunt  parva,  ut  cemi  vix  queant;  atque  ut  accedant 
ad  similitudinem  punetorum  illorum,  in  quorum  motibus  describendis  prima 
mechanicae  corporum  capita  versantur. 

3- 

Oppositas  sibi  invicem  esse  seimus  simplicissimas  illas  pereeptiones 
colorum,  sonorum,  et  alias  eiusdem  generis:  nee  ullam  aliam  ob  causam, 
nisi  quoniam  sibi  sint  oppositae,  virium  naturam  eas  induere  affirmo.  Quae 
propositio  in  duas   est  dividenda: 

1)  pereeptiones  simplices  oppositae  in  se  invicem  agunt  tanquam  vires 
contrariae ; 

2)  eius  actionis  causa  est  ipsa  contrarietas. 

Harum  propositionum  seeunda  huc  non  pertinet;  est  enim  tota  metaphysica: 
fuit  tarnen  prununtianda  ad  arcendas  falsas  opiniones.  Nolo  in  hac  coraraen- 
tatione  omnia  probare:  sed  recte  intelligi  cupio. 

Primae  propositionis  veritatem  m  experientia  communi  quasi  per 
nebulam  internoscere  licet.  Fac,  te  hominem  audire  utentem  lingua  tibi 
ignota:  senties,  verba  pronuntiata  tibi  excidere  memoria,  nisi  ille  tarn  lente 
loquatur,  ut  possis  in  singulis  syllabis  excipiendis  commode  morari:  senties 
itaque,  sonorum  oppositorum  varietatem  [4]  eam  vim  habere,  ut  pereeptiones 
tuae  se  invicem  ex  animo  tun  propellant.  Sed  fuit  quondam  tempus,  ubi 
nullam  omnino  linguam  didiceras:  tum  omnes  soni,  quos  audiebas,  eam  in 
animo  tuo  exercebant  vim,  quae  nunc  a  sermone  quidem  patrio  tibi  abesse 
videtur,  quoniam  eum  tibi  familiärem  reddidisti.  Ex  hoc  exemplo  reliqua 
omnia  possunt  cognosci.     Hominum  adultorum  experientia  maximam  partem 

Herbart's  Werke  V.  4 


co  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 

se  habet  eodem  modo  ac  sermo  patrius;  perceptiones  singulares  ita  sunt 
inter  se  arctissimo  vinculo  coniunctae,  ut  separatim  agere  non  possint; 
et  hanc  ob  causam  non  sentimus,  quanto  illae  sibi  ipsae  sint  invicem 
impedimento,  quantamque  inter  se  exerceant  pressionem.  Ac  ne  tum 
quidem,  cum  aliquid  novi  accidit,  totam  vim  contrarietatis,  inter  novas  et 
priscas  perceptiones  intercedentis,  experimur;  nihil  enim  accidere  potest, 
quod  homini  •  adulto  omni  ex  parte   sit  novum. 

Mirari  solent  homines  primo  discentes,  quantam  aeris  molem  inscii 
corpore  sustineant:  multo  magis  mirarentur,  si  scirent,  quantus  in  animo 
sit  notionum  et  cogitationum  nisus  contrarius.  Sed  maxime  mirum  hoc 
fortasse  videbitur,  quod  ob  hunc  nisum  nullo  dolore  afficimur:  quod  tarnen 
satis  facile  poterit  explicari. 

Effectus  enim  simplex  simplicis  pressionis  ex  notionum  vel  percep- 
tionum  contrarietate  coortae,  nullus  est  alius,  nisi  ut  illae  notiones  vel 
omnino,  vel  aliqua  ex  parte  evanescant,  prorsus  eodem  modo,  sicut  eva- 
nescunt  tum,  cum  obruimur  somno.  Obdorsmiscere  autem  nemo  se  sendet 
unquam;  abeunt  enim  cogitationes,  quas  absentes  observare  non  poterit: 
eandemque  ob  causam  sensus  nullus  inest  in  singulis  perceptionibus,  qua- 
tenus  ab  aliis  se  ex  animo  propelli  patiuntur.  Longe  aliter  se  habet  res, 
ubi  plures  agunt  vires,  ut  effectus  pressioni  simplici  debitus  impediatur; 
iamque  haec  est  regio  dolorum  et  cupiditatum,  quam  tarnen  in  hac  commen- 
tatione  ne  e  longinquo  quidem  possum  ostendere.  Adeant  lectores,  si 
pla[5]cet,  meum  compendium  psychologiae*).  Hie  ad  calculum  mihi  est 
properandum,  cuius  causa  haec  scribo. 


Formulas  fundamentales  staticae  mentis  alibi  iam  exposui,  hie  autem 
denuo  eas  evolvi  necesse  est,  propterea  quod  hac  opportunitate  utendum, 
ad  latinos  terminos  technicos  constituendos. 

Deest  primo  in  sermone  latino  vox  satis  congruens  cum  nostro: 
Vorstellung.  Nam  notio  usurpari  solet  pro  cogitatione  generis,  non  autem 
pro  pereeptione  rei  singularis,  quam  nunc  ipsam  vel  intuemur  vel  sentimus ; 
accedit  etiam,  quod  in  vernaculo  sermone  tria  habemus  correlata:  Vor- 
Stellung,  Vorgestelltes,  Vorstellen;  quibus  designandis  vocula  notio  se  aecorn- 
modari  non  patitur.  Sed  quoniam  verbum  aptius  vix  posse  inveniri  videtur 
(nam  idea  graecum  est,  et  Platonicae  philosophiae,  iam  nimium  falsa 
huius  vocis  interpretatione  turbatae,  omnino  relinquendum),  a  notione  distin- 
guere  possumus  eam,  quam  refert,  imaginem  [von  der  Vorstellung  das  Vor- 
gestellte); dieuntur  etiam  notiones  animo  informari,  sed  eiusmodi  infinitivo 
non  est  opus.  Prorsus  enim  falsa  est  opinio,  actum  quendam  vel  facul- 
tatem  formandarum  notionum,  diversam  ab  ipsis  notionibus,  menti  inesse; 
eumque  errorem  genuit  mechanicae  mentis  summa  inscientia. 

Remotis  iam  omnibus  facultatibus,  tum  sensuum,  tum  rationis;  remota 
etiam  tota  quaestione  de  origine  notionum  (quae  quaestio,  nimis  festinanter 
agitata,    satis    diu   praestrinxit    philosophorum    aciem),   poneunus,    uni    menti 


*)  Lehrbuch  der  Psychologie.     Königsberg   18 16. 


Caput  Primum.  ct 


messe  ditas  notiones  simplices  contrarias,  et  praeterea  omnino  nihil.  Quae 
notiones  si  vel  maxime  sibi  sint  contrariae,  patet  tarnen,  altera  notione 
prorsus  depressa,  ita  ut  nullam  vim  exercere  possit,  alteram  ab  omni  illa, 
de  qua  antea  dixi,  pressione  fore  immunem:  idque  probe  est  tenendum, 
etsi  iam  per[6]spiciamus,  fieri  non  posse,  ut  altera  totum  pressionis  subeat 
onus,  altera  maneat  intacta,  sed  distribuendum  esse  hoc,  quicquid  sit,  oneris, 
ita  quidem,   ut  utraque  notio  partem   eius  legitimam  sustineat. 

Sed  antequam  hie  pergam,  dicendum  est  de  notionum  robore  proprio, 
quam  intensitatem  nominare  possem,  nisi  lectoribus  cavere  deberem  a  con- 
fundendo  robore  cum  tensione  notionum,  quae  est  res  plane  diversa  atque 
paullo  infra  illustranda. 

Robur  proprium  est  id,  quod  nos  dieimus  Stärke  einer  Vorstellung. 
Experientia  docet,  notionem  aliam  alia  fieri  fortiorem,  ubi  rem  aliquam 
vel  diutius  contemplemur,  vel  clariore  luce  adhibita  conspiciamus,  vel  oculos, 
aures,  etc.  propius  admoveamus.  Quoquo  modo  nata  sit  haec  quantitas 
intensiva  notionum,  sive  hoc  robur,  numeris  iam  possumus  uti  ad  desig- 
nandas  rationes  inter  eiusmodi  quantitates.     Nominemus  alteram  notionem 

A,  alteram  B,  sintque  m  et  n  certi  quidam  numeri:  poterimus  ponere 

A  :  B  —  m  :  n, 

etsi  nulla  nobis  suppetit  mensura,  sive  unitas,  ad  quam  referatur  vel  A  vel 

B,  si  de  absoluta  harum  notionum  quantitate  intensiva  quis  velit  interrogare. 

Sed  suspicor,  fore,  qui  inanes  hoc  loco  möveant  scrupulos,  dicent 
enim,  notionibus  nullam  competere  quantitatem  intensivam,  neque  notionem 
arboris  per  se  fortiorem  esse  notione  domus.  Qui  si  mihi  melius  latine 
reddere  poterunt  id,  quod  nos  dieimus  Vorstellung,  libenter  concedam  illis, 
ut  suo  more  loquantur  de  notionibus:  verborum  enim  erit  haec,  non 
rerum  disputatio.  Arboris  autem  et  domus  notiones  sunt  admodum  com- 
positae,  atque  haue  ob  causam  ab  hac  disquisitione  alienissimae ;  neque 
earum  mentionem  fecissem,  nisi  saepissime  protervas  eius  generis  obiec- 
tiones  essem  expertus. 

Redeamus  ad  propositum;  atque  iam  erit  manifestum,  pressioni  illi  a 
notionum  contrarietate  proficiscenti  utramque  notionem  tanto  fortius  posse 
resistere,  quanto  plus  habeat  roboris.  Itaque  [7]  resistent  in  ratione  m  :  n. 
Quanto  magis  autem  restiterint,  tanto  minorem  mutationem  sunt  passurae; 

itaque  mutationes  erunt  =  —  :  —  =  n  :  m.     Ubi  monendum,    de   nulla 

m       n 

alia   mutatione    hie    cogitandum    esse,    nisi    de    illa,    quam   supra   indieavi, 

scilicet  notiones  prorsus  oppresas    evanescere,   et    quasi    consopiri.     Neque 

tarnen   prorsus   evanescent,   sed    obscurabuntur    tantum.      Etenim   si    altera 

evanuisset,   nihil    superesset,    unde    altera    vel    minimum    pateretur;    cum 

autem  sibi  invicem  sint  impedimento,   neutra   totam   sustinebit    pressionem, 

itaque  utriusque  aliquantum  in  animo   remanebit. 

Calculi  hoc  loco  instituendi  nulluni  aliud  est  negotium,  nisi  ut  iacturam 

faciendam     rite    distribuat.       {Jactura    idem    est    ac     lingua    vemacula    die 

Hemmungssuvune ■;    ratio    distribuendae    iacturae     est    Hemmungsverhältniss) 

Tanta  autem  est  iactura  facienda,  ut  eodem  designetur  numero,  qui  indicat 

minorem  notionem;  minorem  vero  eam  dico,    quae    minus    habet    roboris. 

4* 


52 


IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 


Quod  ut  commodius  perspiciatur,  certos  ponamus  numeros;  sintque  binae 
notiones  =  3:2;  iactura  facienda  erit  =  2.  Nam  st  notio  minor  Iota 
esset  oppressa,  altera  maueret  int  acta  atque  prorsus  incolumis;  quod  cum  fieri 
nequeat,  aliquantum  patietur,  neque  tarnen  plus,  nisi  icL  quod  minori  notioni 
sit  emohcmento ;  ut)  ademtam  alter i  altera  sibi  vindicet  partein;  sive,  ut, 
claritatis  quantum  alteri  detrahatur,  tantum  accedat  alteri.  Notiones  enim 
omnino  nituntur  contra  pressionem,  eamque  ob  causam  iactura  semper  erit 
minima,  qua  esse  polest.      Ita  existit  calculus  sequens : 


(3+-'):{2!  =  -jij 


hl 


unde  residuum  erit 


fortioris    notionis   =3  —  ~  =  ~ 


tenuioris  notionis  =  2 
[8]  sive  universe,  posito  a  >  b, 


± 

5 


bb 


a  +  b 


(a  +  b)  :      =  b  : 

a                 ab 

bb 
a-f  b 

a  +  b 

aa-f-ab  —  bb                    ab 

= !— r-r ,   et  b x-  = 

a  -f  b                           a  -j-  c 

bb 

a-f  b 

unde    a 


Hie  calculus  facillime  aecommodabitur  quoteunque  datis  quantita- 
tibus.  Pro  ternis  notionibus,  posito  a  >>  b,  et  b  >  c,  iactura  facienda  est 
=  b  -f  c;  ut  enim  fortissima  notio  remaneret,  incolumis,  binae  minores 
prorsus  essent  opprimendae;  quod  cum  illa  fortissima  non  possit  efficere, 
obscurabitur  aliqua  ex  parte;  quantum  autem  haec  detrimenti  capiet,  tantum 
illis  accedet    lucri.     Ratio    iacturae    distribuendae   designatur    per   numeros 

— ,  — ,  — ,  sive  commodius  per  b  c,  ac,  ab;  unde  habebitur 
a     b     c 


(b  c  -j-  a  c  -f  a  b) 


bc 
ac 
ab 


=  (b  +  c) 


bc.(b-fc) 


bc-f-ac-fab 
a  c  .  (b  -f-  c) 


bc-J-ac-j-ab 
a  b  .  (b  -f-  c) 


bc-fac-fab 

ubi  tarnen  notandum,  c  non  admittere  valorem  minorem  quam  b   1/ 

a  b  .  (b  -f  c) 


Hie    enim    valor    prodit    ex    aequatione    c  = 

bc-}-ac-|-ab 

notio    minima,    cui    respondet    numerus    c,    prorsus    evanescit. 
a  b  .  (b  +  c) 


b  +  a 
quo    casu 
Nam 


si 


c  — 


bc  -\-  ac  -\-  ab 


evaderet  quantitas  negativa,  omni  sensu  esset  desti- 


Caput  Primum.  o 


ac.   (b  4-  c) 

tuta.     Saepissime  tarnen  accidit,  ut  c  Sit  < ■ ; ;  M  I  gl  sed  tum 

b  c  -\-  a  c  -f-  a  b 

res  redit  ad  calculum  pro  binis  notionibus  a  et  b;  quod  hie  fusius  explicare 

non  possum.     Re  explorata  apparet,  eiusmodi  notiones  omnino  consopitas, 

quamdiu  ita  se  habent,  nihil  facere  ad  determinandum  statum  animi,  atque 

propterea  in  calculo  prorsus  negligendas  esse. 

Totius  staticae  mentis  fundaraentum  iam  est  in  conspectu;    sed   sunt 

quaedam  diligentius  consideranda. 

A)  Notiones  pressionein  ferentes  atque  sustinentes,  niti  contra  nunquam 
desinunt;   quod  si  fieret,   aequilibrium  constitutum   denuo  tolleretur. 

B)  Quo  magis  premuntur,  tanto  magis  contra  nituntur:  unde  efficitur, 
notiones  minimi  roboris  maxime  itendi. 

C)  Etsi  evanuisse,  vel  ex  animo  propulsae  dicantur,  latentes  tarnen 
resident  in  mente,  et  quidem  integrae,  non  truncatae,  nulla  sui  parte  amissa.  *) 

D)  Pressione  sublata,  non  possunt  quin  emergant;  quod  ut  fiat,  nullo 
alieno  auxilio  est  opus ;  etsi  notiones  coniunetae  mutuum  saepissime  sibi 
invicem  auxilium  praebent.  Hinc  petenda  est  memoriae  et  imaginationis 
explicatio.  ♦ 

E)  Notiones  per  se  non  sunt  vires;  itaque  si  quarundam  minor  est 
inter  ipsas  contrarietas,  minus  etiam  virium  inter  sese  exercent.  Nam 
omnis  earum  vis  est  mutua,  quocira  haec  vis  longe  diversa  est  ab  earum 
robore. 

F)  Hinc  patet,  quid  discriminis  intersit  inter  staticam  corporum  et 
staticam  mentis.  Corpora  plerumque  agunt  tanquam  pondera :  est  autem 
suum  cuique  pondus,  quo  cognito  pressionem  etiam  novimus  inde  exspec- 
tandam.  Vectibus  imposita,  mutato  intervallo  [10]  ab  hypomochlio,  diversis 
modis  ab  aequilibrio  recedunt  vel  propius  accedunt;  cuius  rei  nihil  simile 
est  in  notionibus.  Comparari  tarnen  quodammodo  potest  pressio  notionum 
cum  pressione  corporum  elasticorum;  neque  vero  utilitatis  vel  subsidii  ad 
calculos  commodius  peragendos  quiequam  inde  poterit  redundare.  Diffi- 
cillimi  enim  calculi  versantur  in  determinando  aequilibrio  earum  notionum, 
quae  cum  aliis  sunt  aliqua  ex  parte,  nee  tarnen  omnino  atque  perfecte 
coniunetae;  quae  res  psychologiae  ita  est  propria,  ut  prorsus  abhorreat  a 
rebus   in  corporum  natura  considerandis.   — 

Mechanicae  mentis  formulam  fundamentalem  investigaturi,  redeamus 
necesse  est  ad  iacturam  faciendam,  quam  fieri  seimus  non  a  robore 
notionum  nunquam  deminuto,  sed  ab  imaginis,  animo  obversantis,  claritate. 
Qua  iactura  facta,  adest  aequilibrium;  sed  ea  subito  fieri  nequit;  transeant 
enim  necesse  est  notiones  per  omnes  claritatis  gradus  a  summo  ad  infimum 
usque.  Non  opus  in  hac  re  videtur  verborum  ambagibus.  Tota  iactura 
facienda,  quam  neglecta  distributione  in  singulas  notiones  hoc  loco  tanquam 
unicam  Summam    consideramus,    ponatur  =  s;    elapso    tempore  =  t  pars 


i)  <  ^1" l±iL  o  (Druckfehler), 
b  c  -\-  a  c  -\-  a  b 

*)  Distinxi  hie  animum  a  mente;  ut  animus  sit  idem,  quod  gennanice  dicere  con- 

suevi  Beiinifstscyn ;  qua  quidem  in    re    vocabulum    latinum    mihi    aptius    ipso    vernaculo 

videtur. 


ca  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 


illius  sumraae  depressa  sit  =  0;  itaque  pars  residua  =  s  —  n;  haec  pars 

erit  vis    agens    in    temporis    puncto    sequente  ==  d  t;    huic    actioni    propor- 

tionalis  erit  depressio  inde  exstitura,  quam  ponemus  =  d  o:  inde  habebimus 

aequationem 

(s  —  o)  d  t  =  d  n 

Const 

unde  t  =  log.  ■ 

s  - — 0 

Posito  t  =  o  erit  a  =  o,  unde  Const  =  s,  itaque 

s 

t  =  log.  , 

0   s  — o 

atque   a  =  s   (1  —  e~  ) ;   s  • —  a=se—t 
unde    intelligitur ,    aequilibrium    omnino     perfectum     nunquam     adfuturum, 
quoniam  non  fit   a  =  s,   nisi  t  =  00  . 

[11]  Primo  statim  intuitu  apparet  magnum  discrimen  his  formulis  inter- 
cedens  cum  formulis  fundamentalibus  mechanicae  corporum;  quae  repetuntur  a 
differentialibus  secundi  ordinis,  quoniam  a  celeritate  spatium,  celeritatis  autem 
incrementum  pendet  a  vi  motrice.  Manifeste  totum  hoc  discrimen  oritur  a 
corporum  inertia,  qua  pergunt  in  motu,  etiamsi  nulla  vi  externa  söllicitentur. 
Psychologia  nihil  habet,  quod  possit  comparationi  ansam  praebere. 


Caput  Secundum. 

De  attentionis  causis  primariis. 


5- 

Minoris  sane  laboris  esset  ac  negotii,  attentio  quid  efficere  possit, 
perscribere,  quam  quibusnam  causis  fiat  ut  gignatur,  alatur,  adtenuetur. 
Quodcunque  enim  summi  homines  valent  ingeniö  et  diligentia,  id  valent 
attentione;  et  ubicunque  vel  acumen  deficit  vel  Studium,  defuisse  atten- 
tionem  iure  suspicabimur.  Cum  autem  mathematicis  potissimum  haec 
scribantur,  licebit  pace  illorum  impedimenta  etiam  in  causarum  numero 
habere,  quandoquidem  illi  certe  hoc  dabunt,  impedimenta  esse  causas 
negativas:  unde  non  parum  adiumenti  nobis  est  accessurum.  Nam  patebit, 
de  attentione  non  tantopere  quaerendum  esse,  cur  adsit,  quam  cur  deficiat; 
eiusque  rei  rationem  inveniemus  multis  modis  inhaerere  in  iactura  illa 
facienda,  de  qua  locutus  sum  in  capite  superiore. 

Attentus  dicitur  is,  qui  mente  sie  est  dispositus,  ut  eius  notiones 
incrementi  quid  capere  possint:  carent  autem  attentione,  qui  res  obvias  non 
pereipiunt.  Itaque  cernitur  quaedam  integritas  atque  [12]  valetudo  mentis  in 
attentione;  contra  vitio  vertitur  non  attendisse,  quod  vel  videndo,  vel  audiendo, 
vel  cogitando  assequi  potueris.  Hinc  fit,  ut  attendendi  legem  nobis  imponamus : 
eaque  in  re  voluntatis  imperium  multum  posse,  omnes  norunt.  Quamobrem  divi- 
denda  est  attentio  in  duas  partes,  voluntariam  et  non  voluntariam :  quarum  par- 
tium primam  hie  seiungimus  a  nostro  proposito;  altera  qualis  sit,  observando 


Caput  Sucundum.  sc 


necesse  est  didicisse,  antequam  ad  calculum  rem  revocare  in  anknum  in- 
ducere  possimus. 

Ac  primum  omnium  id  experientia  docet  maximeque  confirmat,  tem- 
pori  obnoxiam  esse  attentionem :  debilitatur  enim  atque  frangitur  diutur- 
nitate.  Ipsum  nomen  attentionis,  ductum  a  tendendo,  denotat  vim  quandam 
contrariam,  cui  sit  resistendum  atque  contra  enitendum:  scimus  etiam, 
devicta  attentione  alias  quasdara  cogitationes  prorumpere,  mentemque  in 
diversas  quasi  partes  trahere,  unde  suspicari  licet,  eas  latuisse  tanquam 
hostes  in  insidiis,  atque  iam  antequam  conspicerentur,  coecam  illam  vim 
nobis  intulisse,  cui  resistendum  esse  sentiebamus,  et  cui  tarnen  aliquando 
fuit  cedendum.  Multum  saepe  sublevamur  in  eiusmodi  certamine,  si  in 
ipsa  re,  ad  quam  attendimus,  satis  inest  varietatis,  ut  eam  perlustrando 
quasi  in  ,orbe  circumagamur :  e  contrario  autem  ut  quaeque  res  est  sim- 
plicissima,  ita  maxime  solet  attentionem  defatigare.  Sed  si  quis  inde 
concluderet,  aucta  varietate  semper  diminutum  iri  attentionis  molestiam,  in 
summum  illaberetur  errorem;  id  enim  ipsum  est  difficillimum ,  magnam 
rerum  copiam  sie  animo  comprehensam  tenere,  nihil  ut  excidat,  nullaque 
in  parte  ut  ordo  turbetur.  Videmus,  plures  hostes  a  diversis  partibus 
attentioni  esse  cavendos:  idque  magis  elucescet,  ubi  perpendemus,  rerum 
novitas  quid  adferat  vel  praesidii  vel  difficultatis.  Novi  aliquid  dicere  vel 
monstrare  Student  ömnes,  quorum  interest  aliorum  animos  in  se  converti; 
sed  saepissime  videmus,  nova  repudiari,  ne  antiquis  et  consuetis  pars 
honoris  detrahatur.  Itaque  contradicere  sibi  ipsa  videtur  experientia,  cum 
attentio[i3]nis  fovendae  causa  commendet  modo  simplicitatem,  modo  varieta- 
tem,  modo  nova,  modo  antiqua:  neque  tarnen  hie  adesse  contradictiönes 
veras,  sed  apparentes  tantum,  calculi  ope  infra  ostendetur. 

Tempus  in  attentionem  non  solum  vim  exercet  diuturnitatis,  sed  etiam 
opportunitatis.  Qui  suspenso  sunt  animo,  speetaculo,  meditatione,  curis 
oecupati,  ii  nihil  pereipere  solent;  oculis  non  vident,  auribus  non  audiunt, 
sensibusque  integerrimis  uti  nesciunt.  Fortiorem  tarnen  sonum,  lumenque 
ardentius  pereipiunt;  unde  patet,  ad  proportiones  rem  redire,  ut,  qui  magis 
sit  oecupatus,  is  vehementius  sit  compellandus. 

Sed  cum  pateat,  ut  quaeque  maximo  impetu  in  sensus  irruant,  ita 
plurimum  esse  effectura,  magnopere  mirum  potest  videri,  in  lenissimis  per- 
ceptionibus  tarnen  eam  esse  vim,  ut  penitus  animis  nostris  se  insinuent, 
firmissimasque  nobis  praebeant  notiones.  Cave  putes,  hinc  argumenta 
peti  posse  contra  mechanicam  mentis;  calculus  ipse  totum  miraculum 
destruet,   reique  rationem  exhibebit. 

Reliquum  est,  ut  de  diversitate  hominum,  aetatum,  raorum,  hilari- 
tatis  vel  morositatis,  pauca  adiieiam.  Observamus  sane,  non  omnes  iisdem 
rebus  oculos  et  aures  praebere;  sed  quando  tangi  ea  quisque  sentiat,  quae 
ipsi  sint  cordi,  tum  demum  animum  appellere  et  aures  arrigere:  prima 
artis  euiuseunque  elementa  discentium  perbrevem  esse  attentionem,  sed 
magis  assiduam  fieri  procedente  scientia  et  usu:  hilarem  respuere  tristia, 
morosum  iocosa,  ita  ut  attendere  non  modo  nolit,  sed  etiam  vix  possit: 
et  quae  sunt  eiusdem  generis  plura.  Facillime  perspicitur,  haec  omnia 
pendere  a  cogitationibus  reproduetis,  atque  propterea  nun  referenda  esse 
inter  causas  primarias:  quas  enim   quisque   non   habet   praeformatas  cogi- 


c6  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  piimariis.    1822. 


tationes,  eas  reproducere  nequit;  quibus  autem  est  instructus,  his  augeri 
quidem  vehementer  potest  attentio  et  minui,  sed  semper  licebit  quaerere, 
quid  futurum  fuisset,  si  reliquis  causis  illae  non  insuper  accessissent? 
Deesse  certe  poterant  salvo  eodem  animi  statu,  qui  fuit  [14]  ante  attentionis 
initium:  ita  enim  quiescebant  obrutaeque  iacebant  quasi  in  fundo  mentis, 
ac  si  omnino  nunquam  affuissent.  Causas  autem  primarias  ab  hac  acce- 
dente  reproductione  prorsus  segregandas  esse,  melius  ex  ipso  calculo  appa- 
rebit:  cui  iam  nos   accingamus. 


Primordia  calculi  capienda  sunt  a  quaestione  praevia:  notio  nunc 
primum  exöriens  in  mente,  remotis  omnibus  impedimentis,  qualis  sit  futura 
functio  temporis?  Ac  praesto  videbitur  responsio:  tempori  fore  propor- 
tionalem ;  quoniam  oriatur  in  omnibus  punctis  sive  minimis  particuiis  tem- 
poris. Eödem  modo  celeritas  corporis  cadentis  uniformiter  augetur  cres- 
cente  tempore,  quoniam  a  gravitate  constante  corpus  impellitur.  Verum- 
tamen  responsio  illa  omnino  est  falsa:  experientia  docet,  tempore  minime 
longo  elapso,  perceptionem  quamcunque  ita  esse  perfectam,  ut  nulluni 
amplius  incrementum  (quod  quidem  sentiri  possit),  ipsi  accedat,  etsi  diu- 
tissime  velimus  in  eadem  perceptione  perseverare. 

Paullulum  hie  subsistamus.  Dicent  fortasse  aliqui,  celeritatem  nas- 
centem  non  fuisse  comparandam  cum  notione  nascente,  quoniam  illius 
quidem  causa  sit  nota,  huius  vero  ignota.  Errant;  ignoramus  causam 
celeritatis;  nam  gravitas  nihil  est  nisi  verbum  designahdo  phaenomeno 
aptum,  attractio  autem,  quam  plurimi  putant  agere  in  distans,  certissime 
est  falsa  hypothesis,  quod  cum  nonnisi  metaphysicis  rationibus  explicare 
possim,  hie  tantum  confirmabo  auetoritate  Euleri  in  iheoria  motus  cor- 
porum  rigidorum  §  184.  Omne  argumentum,  unde  cöncludimus,  celeri- 
tatem illam  esse  proportionalem  tempori,  eo  nititur,  quod  in  singulis  parti- 
cuiis temporis  nihil  est  discriminis,  quare  si  quid  in  ullo  temporis  puncto 
iam  oriatur,  id   aeque  in  omnibus   fieri  arbitramur. 

Sed  haec  in  mente  secus  se  haben t.  Quae  dicturus  sum,  metaphy- 
sicis nituntur  rationibus;  lectores  ea  videbunt  experientiae  esse  [15]  consen- 
tanea,  ac  per  se  simplicissimam  praebere  hypothesin,  etsi  argumentis  com- 
probari  non  possent. 

Unaquaeque  notio,  in  statu  suo  completo,  habenda  est  pro  unitate, 
tali,  qualis  est  sinus  vel  cosinus  totus;  quae  augeri  non  potest,  sed  admittit 
fractiones.  Notionem  in  mente  nascentem,  itaque  nondum  completam, 
dieimus  perceptionem;  quae  cum  nascendo  augeatur,  fractio  est  illius 
unitatis.  Quant em  autem  eins  tempore  quodam  elapso  iam  natum  est,  tantum 
denuo  nasci  nequit ;  itaque  ademtum  est  a  facultate  mentis,  eandem  notionem 
in  maius  robur  evehendi.  Ponamus  totam  hanc  facultatem  =  (f ;  elapso 
tempore  =  t  si  notionis  robur  sensim  crescendo  evectum  est  ad  quanti- 
tatem  =  z,  residuum  illius  tacultatis  erit  <\  —  z.  Perceptionis  intensitatem 
ponamus  esse  constantem,   et  =  ß\  habebimus 

ß  (7  —  z)   ()  t  —  <5 z 


Caput  Secundum.  57 


Const 
unde  ßt  =  log. 

7-z 

<f 

Pro  t  =  o  etiam   z  =  o;  hinc  ßt  =  log. 

r/ — z 

/?t\        dz  -ßt 


z  =  7 ■  (1—  e         j  et  --==/yr/e 

Hinc  sequitur: 

1)  facultatem  mentis,  notionem  aliquam  producendi,  cito  decrescere, 
nee  tarnen  unquam  prorsus  in  nihilum  abire.  (Quaestionem,  an  eiusmodi 
facultates  possint  restaurari,  hie  non  curo;  tantum  dico,  notiones,  quibus 
utatur  homo  adultus,  maximam  partem  esse  reproduc/as,  non  autem  denuo 
produetas.     Addentur  nonnulla  de  hac  re  in  capite  sequente.) 

2)  quameunque  pereeptionis  intensitatem,  minimam  aeque  ac  maxi- 
mam, aptam  esse,  ad  idem  efficiendum  notionis  robur,  si  temporis  satis 
sibi  concedatur.  Ita  tollitur  admiratio  illa,  de  qua  in  §  praec.  sum 
locutus. 

[16]  Formulae  propositae  attentionem  indicant  absolutam,  sive  maximam, 
nullis  cum  viribus  contrariis  confligentem :  quae  si  unquam  usu  veniret, 
nomine  quidem  latino,  dueto  e  tendendo,  non  recte  designaretur,  quoniam 
intendi  non  possunt,   quae  secura  sunt  ab  omni  nisu  contrario. 

Sed  nisi  forte  velimus  sermonem  instituere  de  primo  vitae  initio,  ut 
aliae  nullae  nee  praecesserint,  nee  simul  adsint  notiones  (quod  sane  ridi- 
culum  esset),  semper  confligendum  erit  cum  viribus  oppositis;  notionum 
animo  praesentium  quaedam  erunt  contrariae  notioni  nascenti:  hinc  iac- 
tura  facienda,   et  pro  rata  parte  distribuenda. 

I.  Ad  iacturam  determinandam  primo  loco  observandum  est,  orientem 
notionem  initio  certe  admodum  imbecillam  fore,  ipsique  confligendum  esse 
cum  notionibus  priori  tempore  natis;  quod  tempus  nisi  fuerit  perbreve, 
illae  iam  non  parum  roboris  erunt  consecutae.  Itaque  certum  est,  notionem 
nascentem  esse  omnium  notionum  minimam;  atque  iam  patet  ex  supra 
dictis  (4),  ad  iacturam  facienda  m  tantum  unoqiwque  temporis  puncto  aecres- 
cere,  quantum  accedat  ad  notionem  nascentem  *) :  nisi  forte  minor  sit  con- 
trarietas;  qua  de  re  pauca  adhuc  sunt  dicenda. 

Mente  coneipiamus  colorem  rubrum  et  caeruleum:  quos  ita  distare 
seimus,  ut  intennedius  sit  violaceus,  neque  tarnen  unicus  sibique  semper 
par,  sed  modo  propior  rubro,  modo  caeruleo.  Horum  colorum  ea  est 
ratio,  ut  quasi  linea  continua  interposita  videatur  inter  rubrum  et  caeruleum, 
qui  sint  eius  lineae  puneta  extrema:  violacei  autem  coloris  tot  sunt  varietates, 
ut  proximae  quaeque  non  possint  discerni,  earumque  contrarietas  sit  infinite 
parva.  Hoc  [17]  exemplo  ad  euiuseunque  generis  notiones  aecommodate >, 
apparebit,  contrarütatem  notionum  (nostro  sermone  der  Hemmungsgrad)  esse 
quantitatem  talem,  ut  eins  maximus  valor  sit  =  1,  reliqui  valores  intermedii 
sint   inter  0  et   1.      Maximum  valorem  admisimus  supra  (4),  ubi  diximus, 

*)  Docuimus,  pro  ternis  notionibus  a,  b,  c,  posito  a  >  b  et  b  >  c,  fore  iactu- 
ram =  b  -\-  c;  iam  fingamus,  b  vel  c  aliquid  incrementi  capere,  ita  tarnen,  ut  semper 
maneat  <C  a  :  patet,  idem  incrementum  accedere  ad  iacturam,  quae  semper  est  =  b  -f-  c 


e8  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis. 

si  altera  notionum  prorsus  sit  oppressa,  tum  demum  alteram  fore  incolumem: 
quod  si  fieri  posset,  etsi  prior  illa  non  prorsus  esset  oppressa,  contra- 
rietas  notionum  non  esset  =  i,  sed  aequalis  cuidam  fractioni  genuinae  =  n. 
Jactura  facienda  in  hac,  quam  nunc  tractamus,  disquisitione,  non  pro 
constante  haben  debet:  sed  variabilis  est    duplici   ratione,    tum    crescendo, 

dz  —  ßt 

tum  decrescendo.     Invenimus  esse  —  =  ,k/  e  ,  hinc   lacturae   accrescit 

dt  ' 

Tißye  dt,  denotante  n  quantitatem  contrarietatis  inter  notionem  nas- 

centem  et  illas,  ad  quas  animo  praesentes  accedit.  Eodem  autem  tempus- 
culo  =  d  t,  quo  augetur  iactura  =  v,  diminuitur  etiam  suo  ipsius  pondere, 
quoniam  unoquoque  temporis,  puncto  notiones  claritatis  suae  primitivae 
detrimentum  aliquod  capiunt:  ea  iacturae  adhuc  faciendae  deminutio  est 
=  v  d  t.     Hinc  existit  aequatio 

—  ßt 

dv=7i,j<fe  dt  =  vdt. 

Lectores    nosse    censentur    integrationem    formulae   dy-f-Pydx  =  Qdx; 

—  ßt 
qua  applicata  ad  dv-fvdt=/T/^/e  dt  invenietur 

v  =  e        [/"e  .  /r/jf/e  dt  -|-  Const] 

t     —  ßt  t(i—ß)  i  t(i—  ß) 

Est  autem  fe,  .  e  dt  =/e  dt  = ./e 

i  —  ß 

unde  v  = e  -f-le 

I—  ß 

Restat  constans  determinanda.  Fieri  potest,  ut  iam  initio  temporis 
adsit  quaedam  iactura  facienda,  scilicet  ex  iis  notionibus,  quae  animo  ob- 
servantur  antequam  nova  notio  accedat:  neque  tantum  pot[i8]est  fieri,  sed 
revera  necesse  est,  quoniam  scimus  (4),.  nmiquam  ullas  notiones  prorsus 
ad  suum  aequilibrium  pervenire.  Ponamus,  sicut  iam  consuevimus,  illam 
iacturam  primo  fuisse  =  s,  deinde  eius  desedisse  aliquantum  =  0,  eo  autem 
temporis  puncto,  quo  accedat  nostra  nova  notio,  reliquam  esse  quantitatem 
=  s  —  o;   sequitur,   pro  t  =  o   esse  v  =  s  —  0,  unde  fit 


7ljj(f 

atque  hinc  denique  v  = 

—  ßt  -t 

Interdum  commodius  erit  scribi  v  =  ^,>'/ 1- (s — n)  e 

Haec  iactura  facienda  rite  distribuatur  necesse  est,  eaque  distributio  caput  est 
negotii  suscepti:  sed  antequam  eo  procedamus,  iuvabit  paullo  altius  inqui- 
rere  in  formulam  modo  inventam,  variosque  valores  in  illa  comprehensos. 
Primo  intuitu  apparet,  quomodo  pendeant  hi  valores  a  quantitatibus 
n  et  s  —  o;  sed  numerus  ß  multifariam  formulae  implicitus  est:  unde  hoc 
quidem  statim  intelligitur,  inter  iacturam,    sive    pressionem,    et   intensitatem 


n-l*-  +  c 

1—  ,* 

-ßt              (                              TTJtf 

)c~t 

C                           l  S           O 

\                             I—fl 

) c 

-ßt                 -t 
.„ff«,     C                           6                  \      t 

*—n\ 

Caput  Secundum.  cg 


novae  notionis,  non  esse   simplicem    quantitatis   relationem;    etsi   ex   huius 
notionis  adventu  ea  pressio  coorta  videatur. 

—  ßt  — t 

e  —  e  o 

Ponamus  8  =  i  :  inveniemus ; =  — ;  ut  differentiatione 

'  i  —  ß  o 

opus  sit  ad  verum  valorem  cognoscendum;  quam  patet  ita  esse  instituendam, 

ut  ß  sumatur  pro   variabili.     Prodit  t  e       ;   atque  hinc. 

•t    .     ,  ,     —t 


v 


n  r/te         -f-  (s  —  a)  e 


Porro  dv=e       dt  [n(f  (i  —  t)  —  (s  — •  a)] 

Sit  n  (f  (i  —  t)  —  (s  -f-  a)  =  o, 

r      _            .        7i  w  —  (s  —  a) 
iq     sequitur  ■ =  t, 

71  ff 

quo  tempore  elapso  ad  summum  evecta  erit  iactura  facienda;    post  autem 
magis  descrescit,  quam  novis  accessionibus  augetur. 
Differentiando   formulam  universalem,  habebitur 

dv  nß*a>      —ßi        (nßy  \       -t 

-  =  —  — e  4- —  —  (s  —  a) 

dt  i  —ß  T  Vi—  ß         V  \ 

quo  posito  =  o  prodibit 

log.  nat  -Z—L  —  ßt  =  log.  nat  [— '-^  -  -  (s  —  a)  j  -  -  t 

,     .             i       .           .  (i          (s-g)  (1-/8) 
unde  t  =  —j  log.  nat  (^- 

Ex  hac  formula  pro  Omnibus  valoribus  numeri  ß  colligitur,  quando  iactura 
lutura  sit  maxima;  ut  autem  eius  vim  commodius  perspiciamus ,  addam 
quae  sequuntur. 

i )  Sit   s  —  a   adeo   parvum ,    ut    proxime    accedat    ad   valorem  =  o ; 

sequitur  t  =      log  — .     Haec    quantitas    semper    est    positiva,     etsi 

i  —  ß  ß 

ß  >    i ;    fit    autem  infinita,   ubi  ß  evanescit;   et  infinite  parva,   si    ß   crescit 

in  infinitum;   quoniam  logarithmi,    quamvis    infiniti,    inferiorem    iis    numeris 

tenent  ordinem,   cum  quibus  simul  abeunt  in  infinitum. 

2-)  Habeat   s  —  n   valorem   finitum   et    mediocrem   (nequit    enim    esse 

permagnum,  quoniam  pars  est  omnium  notionum  animo  simul  praesentium) ; 

atque  ponamus 

a)  ß  >  i ;  videbimus,  ß  posse  ascendere  ad    infinitum ;    quo   facto   fit 

, '  ,og(i  _!=£.)"__'  (log  (■  +  !=±)  -  iog  fi  _  + 1 

ß       °\  n  ((    j  ß  ß  \  n  y    I  ,» 

log.  ß,   quod  est  infinite  parvum. 

b)  ß  <  i ;  iam  cavendum  erit,  ne  formula  maniscatur  valorem  nega- 
tivum,  qui  futurus  esset  imaginarius,  quoniam  tempus  semper  est  positivum. 
Itaque  scribamus   [20] 

t==       I       .        nß,f.  —  {i—a)(i—ß) 

I    —ß     °°  7lß2(f 

perspicuum  est,  tempus  fore  nulllum,  si  habeatur 


6o 


IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis. 


nßZ(j  =  nßrp  —  (s  —  a)   (i  —  //),  sive 


ff  =  nß(f ,  vel  /j  —  — 


71(1 


f 

His  expositis,  omnia  adhuc  usque  tradita  sunt  exemplis  ad  certos 
numeros  adactis  illustranda.  Simplicitatis  causa  ponamus  s  —  ff  =  i ,  et 
n  =  i,  quoniam  istae  quantitates  parum  molestiae  facessunt;  sed  ß  et  t 
per  varios  valores  sunt  persequendae.  Commodum  erit,  literae  ijp  tribuere 
valorem  =  10,  etsi  vere  est  unitas  illa,  quam  uniuscuiusque  notionis  robur 
non  potest  excedere:  quod  si  stricte  vellemus  observare  numerorum  inte- 
grorum  usus  paene  omnis  tolleretur,  atque  prorsus  in  fractiones  devolveremur. 
Caeterum  patet,  veritatem  nullo  modo  laedi,  si  unitatem  illam  quasi  de- 
cima  sui  parte  demensam  concipiamus;  dummodo  memoria  teneatur  men- 
sura semel  constituta. 


Ex  aequationibus  propositis 

-e-"') 

et  v  = 

n  ßq         -ßt    . 

f             "/''/'  \ 

—  t 
e 

inveniuntur  valores 

sequentes : 

[21] 

/»-T 

fi—  I 

ß  =  2 

10 

z  =   0,4876 
v  =    1,3689 

z  =   0,9516 
v  =   1,8097 

z   =    1,8127 
v  =   2,6270 

2 

z   =   2,2119 
v  =   2,3294 

z  =  3.9347 
v  =  3.6392 

z  =   6,3212 
v  =   5.3795 

t      -=     0,64436 

1 

z   =   7.2437 
v  =   5.513 
maximum. 

t     =      0,9 

z  =  5.9343 

v  =  4.0657 

maximum. 

t     =       I 

z  =  3>9347 
v  =  2,7544 

z   =  6,3212 
v  =  4,0469 

z   =   8,6467 
v  =   4.6510 

t      =       1,17558 

z  =  44444 

v  =   2,7780 

maximum. 

t    =    2 

z  =  6,3212 
v  =   2,4609 

z  -=  8,6467 
v   =   2,8419 

z   =   9,8169 

v   =    2,4756 

t  =  3 

z   =    7.7683 
v  =    1,7833 

z  =   9Ö02  2 
v  =   i,5434 

z   =   9.9753 
v   =  0,9961 

t  =   10 

z   =   9.9327 
v  =   0,06697 

z  =  9.99Q4 
v  =  0,00458 

z   =   9.9999 
v   —  0,00094 

Caput  Secundum.  ßl 


Intuentem  hanc  tabulam  fugere  non  potest,  adesse  etiam  aliud  maxi- 
mum  praeter  illud,  quo  calculo  iam  persecuti  sumus;  comparantes  enim  pro 
tempore  =  2  valores  ipsius  v,  intelligimus,  eam  seriem,  ubi  ß  =  i,  hie 
eminere,  cum  tarnen  et  ab  initio  medium  locum  teneret,  et  sub  finem 
eodem  revertatur.  Quod  latius  patere  primo  confirmabimus  exemplis;  com- 
putantes  enim  pro  ß  ==  —  tem[22]pus  maximi  =  1,3733  et  ipsum  maximum 

=  1,5197,  invenimus,  tempore  =  2  valorem  ipsius  v  inferiorem  fore  hoc 
maximo,  atque  hinc  certe  inferiorem  etiam  valore  2,841g,  quem  adipiscitur 
v  in  serie  illa,  ubi  ß  =  1  :  posito  autem  ß  =  5  prodit  tempus  maximi 
=  0,38312  et  ipsum  maximum  =  7,3618;  sed  deinde  ita  decrescit  v,  ut 
tempore  t  =  2  sit  =  1,8264.  Nee  mirum:  omnis  enim  notionum  motus 
in  mente  (quem  motum  seimus  nihil  esse  praeter  vicissitudinem  minoris  et 
maioris  claritatis),  pendet  ab  earum  contrarietate,  qua  premuntur,  intenduntur, 
et  ad  agendum  excitantur;  itaque  maiores  existunt  motus,  ubi  fortior  accedit 
.pereeptio  nova  ad  notiones  iam  animo  praesentes ;  iique  motus  maiores 
celerius  etiam  tendunt  versus  finem  suum ,  qui  est  aequilibrium :  minores 
autem  motus  sunt  tardiores,   atque  ita  in  longius  tempus  produeuntur. 

Calculo  quoque  eandem  rem  persecuturi,  utamur  differentiatione  ipsius 

v  secundum  ß;  ut  (s  —  a)  e  '  habeatur  pro  constante,  et  factores  n  (p 
itidem  constantes  seponantur.    Restat  differentiandum 


■i      (   —  ßt  -t 


prodibit 

d  a  e-^t(/J2t-/jt+I)_e~t 

Numerator  evanescit  pro  ß  =  1 ;  sed  cum  idem  hat  in  denominatore, 
bis  repetatur  dififerentiatio  necesse  est,  qua  peraeta  perdueimur  ad  nume- 
ratorem 

e~       (ß2t*  —ßa  4/?t2  -f-3t2  -j-  2  t) 

Posito    ß  =  1     et    reiectis    iis     quae    invicem     destruuntur,     superest 

e      p     (2t  — 12),    quod   cum   evanescat   posito    t  =  2,  iam    apparet,    hoc 
tempore  maximum  illud   quaesitum  pro  ß  =  1    revera  adesse. 

Oritur  autem  hie  magna  quaestio,  quid  hoc  sibi  velit,  ß  =>  1  et  t  =  2  ? 
quod  ut  intelligatur,  subsint  unitates  necesse  est,  non  arbitrariae,  sed  deter- 
minatae.  Eiusmodi  unitates  nonnisi  experien[2  3]tiae  ope  constitui  possimt; 
quanti  autem  hoc  sit  laboris,  quot  subtilissimarum  observationum  moles  com- 
paranda  et  exagitanda,  ex  mathematicorum  studiis,  in  cognoscendam  corpo- 
rum  libere  cadentium  celeritatem  aliaque  similia,  impensis,  satis  perspicitur. 
Fateor,  nie  nondum  eo  pervenisse,  ut  certi  aliquid  de  illis  unitatibus  pro- 
ferre  possim ;  iuterim  a  maximis  erroribus  illae  ipsae  disquisitiones  n<  )bis 
cavent,  in  quibus  versamur.  Neminem  latet,  quomodo  afheiamur  n<  »vis 
pereeptionibus :  permovemur  aliquantulum,  mox  autem  animus  quasi  in  inte- 
grum restituitur.  Itaque  satis  breve  nobis  videtur  id  tempus,  quo  iactura 
facienda  primo  evehitur  ad  maximum,  deinde  fere  tota  residit,  ut  animum 
in  motu  esse  non  amplius  sentiamus.  Rite  per}Densis  iis,  quae  in  nobis 
ipsis  observamus,  nemo  diem  aut  annum  putabit  pro  unitate  illius  temporis 


62  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis. 

habendum;  ne  de  tota  quidem  hora  cogitabit  quisquam;  sed  ipsa  horae 
minuta  prima  nimis  longa  videbuntur;  in  minutis  secundis  dubitabundi  haere- 
bimus.  Altera  ex  parte  certissimum  est,  fractiones  admodum  parvas  minuti 
secundi  ab  hac  quaestione  esse  alienissimas;  nee  ulla  alia  est  causa,  cur 
celeritatem  corporum  coelestium  et  luminis  admirari  soleamus,  nisi  haec  una, 
motus  anirai  ita  tardos  esse,  ut  nullam  mutationum  intemarum  seriem,  cum 
illa  celeritate  cömparandam,  in  nobis  queamus  observare. 

Satis  cognita  iactura  facienda,  pergamus  ad  eiusdem  distribuendae 
negotium. 

II.  Differt  haec  distributio  duplici  modo  ab  illa,  quam  antea  (4)  per- 
feeimus:  variabilis  enim  est  ipsa  et  iactura  et  ratio  eius  distribuendae. 

1 )  Quandoquidem  iactura  est  variabilis :  uno  quasi  actu  in  partes 
dissecari  nequit;  sed  redeamus  necesse  est  ad  minimas  eius  particulas,  quibus 
in  tempusculis  infinite  parvis  notionum  claritas  diminuitur.  Cum  v  sit 
funetio  ipsius  t,  post  certum  tempus  quantumeunque  certa  aderit  iactura 
facienda,  quae  per  proximum  tem[2  4]pusculum  dt  manebit  constans;  hinc  vdt 
erit  id,  quod  necessitate  urgente  =  v  in  tempusculo  dt  adimendum  Omni- 
bus simul  sumtis,  atque  hanc  ob  causam  distribuendum  est  in  singulas 
notiones. 

2)  Ut  ratio  distributionis  explicetur,  ponamus,  animo  praesentes  esse 
notiones  duas  a  et  b  eo  ipso  tempore  quo  accedat  nova  notio,  cuius  vim 
variabilem  designemus  per  x.     Respiciendo  ad  anteriora  (4)  patebit,  ratio- 

iii. 
nem    distributionis    denotari    numeris  — ,   — ,    — ;  sive  commodius   numens 

a      b      x 

b  x,  a  x,  ab. 

Hinc     calculus     induit     formam     sequentem     pro     nova     notione    x: 

.  ,  n  a  b  v  d  t 

bx  +  ax  +  ab  :  a  b  =  v  d  t : , - 

bx-f-ax-j-ab 

Ponamus   a-)-b  =  c,  ab  =  c':  terminus   ultimus ,    quem    quaesivimus ,    fit 

c  vdt  .       . 

: — 7:  cuius  Integration  e  peraeta  invenietur  ea  iacturae  pars,  quae  novae 

cx-f-  c 

notioni  erit  ademta.     Hanc   partem   postea    designabimus    litera   Z,   distin- 

c  v  d  i 
guenda  az.     Itaque  ent — r=dZ. 

ex  -\-  c 

Similis  erit  calculi  forma,  si  plures  animo  affuerint  notiones  eo  tem- 
pore quo  accederet  nova.  Potest  etiam  fieri,  ut  non  eadem  sit  omnium 
notionum  inter  sese  quantitas  contrarietatis :  hoc  casu  scribantur  numeri  illi, 
rationem  distributionis  denotantes,  ita: 

— ,  — 1  — »  sive  bxf,  ax»;,  abo-, 
a     b     x 

ubi  i,  77,  &,  determinandi  sunt   seeundum  contrarietatum  quantitates.    Hinc 

abvdt  abtf-vdt  . 

Pro  ü — i 1 — ü  Prodibit    — — : r — — r.     Sed   posito   bf +  a-// 

bx-j-ax-f-ab  (bt  -f-  a  /,)  x  -\-  ab  fr 


Caput  Secundum.  63 


c'vdt 
=  c  et  ab#  =  c,  eadem    recurret   formula  — -,  qua  mm   usi   sumus; 

cx  =  c 


constantium  valore  immutato,    unde    sequenti    calculo    nihil    negotii    potest 

c 
accedere.     Atque  revera  unica  tantum  [25]  adest  constans,  scilicet  quotiens  — , 

isque  variis  modis  existere  potuit  ex  numeris   a,   b,   e,   i],  S,  ut  eundem  cal- 
culum  variis  liceat  constantibus  primitivis  applicare. 

Latet  autem  summa  difficultas  in  illa  vi  variabili,  quam  designavi  litera  x. 
Mirum  fortasse  videbatur  lectoribus,  quod  eius  loco  non  statim  ponerem  illud  z, 

quod  scimus  esse  =  cp  (1  —  e_  ^  );  nam  qualis  tandem  ea  vis  potest  esse, 
nisi  vis  ipsius  novae  notionis  z?  Sane  nulla  est  alia,  sed  non  est  eadem 
tota  atque  integra,  sed  pars  eius  variabilis.  Quod  ut  intelligatur,  res  denuo 
est  consideranda.  Singulis  tempusculis  oritur  dz,  quod  est  infinite  parvum: 
adsunt  autem  vires  finitae  contrariae  notionum  animo  praesentium.  Nonne 
exspectandum  est,  vim  infinite  parvam  a  viribus  finitis  protinus  exstinctum 
iri?  Hoc  revera  fieri  in  quibusdam  casibus,  infra  videbimus:  si  semper 
fieret,  nunquam  alicuius  novae  perceptionis  conscii  nobis  esse  possemus. 
Fac  autem,  singulis  tempusculis  aliquid  remanere  ex  singulis  dz:  omnes 
istae  partiadae  superstites  iimgentnr  inier  se,  atque  ita  vim  efficient  finitam, 
eamque  semper  crescentem.  Ita  revera  fieri  solet;  quomodo  autem  fieri 
possit,  intelligemus  attendendo  ad  ea,  quae  supra  dicta  sunt  de  virium  in 
animo  agentium  natura.  Diximus  (4,  E),  notiones  per  se  non  esse  vires, 
sed  sollicitari  ad  agendum  pressione  mutua.  Hinc  patet,  infinite  parvas 
illas  particulas  dz  exercere  infinite  parvam  pressionem  contra  notiones 
animo  iam  praesentes,  neque  maiorem  pati  reactionem,  quam  excitaverint; 
ut  non  mirum  sit,  aliquantum  remanere,  atque  coalescere  in  quantifa/em 
finitam.  Certissimum  tarnen  est,  hanc  quantitatem  finitam  non  adaequari 
posse  toti  summae  omnium  dz,  sive  toti  z;  multum  enim  est  deperditum, 
atque  quasi  dispersum;  quod  cum  nonnisi  vim  habeat  infinite  parvam,  in 
conflictu  virium  finitarum  pro  nihilo   est  habendum. 

[26]  Jam  duos  constituamus  limites,  quos  inter  necesse  est  quantitatem 
illam  finitam  contineri :  hi  limites,  sunt  z  et  z  —  Z,  denotante  Z  eam 
partem  ipsius  z,  quae  elapso  tempore  t  ita  est  depressa,  ut  non  amplius 
sit  animo  praesens.  Vis  novae  notionis  minor  esse  non  potest  quantitate 
z  —  Z ;  nam  quantum  eius  animo  simul  est  praesens  elapso  tempore  t, 
tantum  certe  coaluit,  unamque  exercet  actionem;  verum  paullo  maiorem 
esse,  inde  sequitur,  quod  notiones  partim  depressae,  vim  tarnen  integram 
conservant  (4,  C).  Distinguamus  duo  tempora  diversa,  t  et  t';  elapso 
breviore  tempore  t,  animo  praesens  sit  z  —  Z;  procedente  tempore  haec 
quantitas  et  augetur  novis  d  z  accedentibus,  et  minuitur  pressione  non  inter- 
missa;  elapso  longiore  tempore  t'  aliud  habebimus  z'  —  Z';  quantum  autem 
prioris  z  —  Z  interea  est  depressum ,  id  non  desinit  agere  in  animo,  sed 
pergit  in  resistendo  viribus  contrariis;  attamen  non  continetur  in  quantitate 
z'  —  Z';  atque  ita  errorem  calculi  efficiet,  si  totam  vim  agentem  ponemus 
=  z  —  Z  . 

Nihilominus  utemur  calculo  sie  instituto,  quoniam  nulla  spes  est,  eum 
aecuratius  exhibendi:    quocirca  deliberandum  est,  quanto  in  errorc  possimus 


64 


IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis. 


versari.     Ac  primo  notandum,   quantitatem   negligendam  non  esse  talem,  ut, 

si  cognita    esset,    simpliciter    addi    deberet    ad    vimagentem;    sed    semper 

quodammodo  est  seiuncta,  atque  hanc  ob  causam  parum  habet  momentr*). 

Negligimus  enim  id,    [27]  quod  animo  non  est  praesens;  hanc  autem  ipsam 

ob  causam  non  potest  coalescere  cum  iis  novae  notionis  incrementis,  quae 

postea  in  animum  inducuntur. 

Deinde   videamus,    quomodo    fieri    possit,    ut    quantitas   negligenda    vel 

augeatur  vel  minuatur.     Quo  magis  priore  tempore  creverit  quantitas  z  —  Z, 

et  quo  fortius  postea  deprimitur,   tanto    maior   habebitur  error.      Sin  statim 

ab  initio  maxima  fuit  pressio  subeunda,  non  multum  potuit   coalescere;    et 

postea  deminuta  pressione   haud    multum    absumetur.      Hoc   modo    dignos- 

cemus    eos    casus,    in   quibus    respiciendum    erit    ad    alterum    limitem,    qui, 

etsi    nunquam   potest    attingi,    de    erroris    commissi    quantitate    tarnen     nos 

poterit  securos  reddere. 

c  v  d  t 

Redeo  nunc  ad  differentiale   illud ; — T  =  dZ,  quod  contineri  vide- 

cx  -j-c 

c'vdt  c'vdt  .  .... 

mus  hmitibus — T  et  — -—-. — -,,    ita    quidem,    ut    a    priore    lnnite 

cz-|-c  c(z  —  Z)-]-c 

semper  satis  longe  absit,  ad  posteriorem  autem  multo  propius  possit  accedere. 

Ex  superioribus   est 


*)  Huius  rei  explanandae  causa  redeamus  ad  supra  (4)  tradita;  et  perpendamus 
exempla  calculi,  quo  determinatur  aequilibrium  notionum,  si  vires  earum  sunt  constantes. 
Ponamus  ternarum  notionum  robora  esse  in  proportione  numerorum  3,  1,  1;  iactura 
facienda  erit  =  2  ;  eaque  sie  distribuetur : 


hl 

\^\ 

6       1 

3 

l    _    2     . 

7 
6 

3 

7 

3  — 


1    — 


11 

7 

1 

7 

1 

7 


Mutemus  exemplum;  ponamus  loco  binarum  notionum,  quarum  utraque  =  1  [27]  unam 
singularem,  cuius  vis  sit  =  duabus  illis,  sive  =  2.  Jactura  etiam  erit  =  2,  sed  longe 
aliam  habebimus  distributionem,  scilicet 


5   = 


l»J 


=   2 


=  Hl1) 
5 

_    J_ 

5 


ubi  patet,  quantum  momenti  sit  in  coniunetione  earum  virium,  quas  antea  pro  disiunetis 
habuimus.  Sed  dicet  fortasse  aliquis,  in  priore  exemplo  notiones  numeris  1  et  1  desig- 
natas  fuisse  oppositas  inter  se;  hinc  maiorem  exstitisse  pressionem.  Itaque  si  non 
fuissent  opposiiae,  sed  tantum  disiunetae,  lenior  fuisset  pressio  subeunda?  Mir.ime! 
nam  et  iactura  et  eius  distributio  eaedem  manent.  Quod  ne  paradoxon  videatur,  pauca 
addam.  Ponantur  binae  notiones,  b  et  c;  iactura  erit  =  c,  ob  contrarietatem  inter  b  et  c.2) 
Accedat  tertia  notio  a;  iactura  erit  b  -f-  c,  ob  contrariam  fortiorem  a.  Itaque  duplex 
adest  ratio,  cur  iactura  involvat  quantitatem  c;  hinc  vero  non  existit  maior  pressio,  sed 
idem  animi  motus  sufficit  duabus  rationibus  simul;  atque  cum  quantitas  c  iam  oppri- 
matur  propter  contrariam  a,   non  potest  denuo  opprimi  propter  contrariam  b. 


i)  —  O  (Druckfehler). 

2)  b  et  a  O,   SW  (Druckfehler). 


Caput  Secundum.       De  attentionis  causis  primariis.  65 


[28]  (  nß<f\    ,     -t 

/     ,  /  —ßt-,  s  —  ° 7    ce        dt 

c  vdt  c  .nßrp.e      'dt  \  1 — ßj 

™  +  ?  =  ^r^(c9.(ir-e--ft)-f:|0        "cyO-e-^  +  c" 
Ad.  hanc  fi  trmulam,   integrationi  satis   facili   se  praebentem,  nisi  valor  nimis 

incommodus  tribuatur  literae  ß;  infra  revertar,   ubi  usus  postulabit. 

c  v  d  t  , 

Longe  ahter  se  habet  aequatio  — ; — 7  =  dZ,    sive    c  vdt 

0  M  c  (z  —  Z)  +  c 

=  czdZ- — cZdZ-|-c'dZ,  sive 

cnßq     —fi-t  ,(  7ißw\     —  t 

dt  +  c    s  —  0 —Je        dt 


I   /3  \  I /3> 

=  cr/  (1  —  e-/?t)dZ  —  cZdZ  +  c'dZ. 
In  hac  aequatione  permixtae  sunt  quantitates  variabiles;  nee  certum  ordinem 
aequationis  assignare  possumus,  quoniam  diversissimos  literae  ß  necesse  est 
tribui  valores;  quamobrem  de  eius  solutione  direeta  et  finita  vix  aliquem 
puto  cogitaturum. 

1 

Ponamus  1 — e      "   -j-  u;  ße  dt  =  du;  e       =  (1 — u)     , 

d  t  = ;  transfomiabitur  tota  aequatio  in  sequentem : 

ß{i—  u) 

1 

__J_du  +  _^<J_7=7j(I-u)  du 

^  cr/udZ  —  cZdZ  -\-  c'dZ. 
Facile  nunc  discerni  poterit  casus,  quo  aequatio  finitam  admittat  solu- 

71  ßa 

tionem,  scilicet  si  s  —  o  = :    eumque    casum    obsolvam ,    antequam 

1  —  ß 

approximationis    methodum    universalem    proponam.      Moneo    tarnen,    non 

multum  esse  praesidii  in  hoc  casu  eiusque  solutione;  angustis  enim  limitibus 

circumscriptus  est.     Primo  ß  non  debet  sumi  >  1 ,  ne  s  —  o  fiat  negativum ; 

deinde  nee  ad  unitatem  ni[2o]mis  prope  debet  accedere,  quoniam  s  —  o  non 

potest  evehi  ad  valores  permagnos^    Sed  ubieunque  ß  habetur  satis  parvum, 

ineipiendum  est  ab  hoc  casu,  ut  reliqua  commodius  perspiciantur. 

.    c       c  7iq> 
Ponatur  Z  =  y  -j , —  ==  m ;    ent    aequatio    nostra 

C         I  ■ —  jJ 

mdu  =  cf/udy  —  cydy, 


sive  d  u  = u  d  y 

m 

-mydy' 

unde  u 

cfJL  (       _  ctpy 
=  e          m      (/e         m    • 

y  d  y  4-  Const. 

m 

) 

Porro  /e~ 

111                            m 
m    y  d  y  =  —  y.  —  e 
c'f 

_  m?  y      m2     _ 

m e  " 

C2  (f)2 

cjpjy 
m 

cpy  /my 

1        C2  (f  2  J 

\  c^> 

Herbart's  Werke.     V. 


66  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.  1822. 


c    fmy  1112    \  C_HJ_ 

Hinc  u  =  — -f-  Const.  e     m 

m   \  c  ff  c2  </  2  / 

Ad  constantem  deterniinandam  habemus  u  =  o  pro  Z  =  o  y  -j ,  sive 


c 


c 

u  =  o  pro  y  = 

c 


1  /  m  \  cyy 

Cum  commodius  scribatur  u  =  —     v  -I 1  4-  Const.  e     m    erit 

7    \ '  c  (f  I 


1    /  m  c'\  .  c  V 


o  =  — ■  —    -f-  Const.  e 

'/    W 

c> 
atque  Const.  =  e    m  . 


m 


m 


9 


(c    +cy). 


Cr/ 

I     r         m 

itaq ue  u  =  — —  I  c  v  H r-     c    — —  I .  e 

c  q>    L  -  (f  V  </  / 

Reponamus  Z  =  y  4- 


-?D*-<+:-+('-a'"] 


c 
c 

[3°]  r  _  /  _.x       QLftZ- 

fiet 

[c  (f  Z 
c  z  4  ( c' )  •  ( e    m  —  l  '  I 

Haec  formula,  etsi  brevissima,  tarnen  aliquid  habet  incommodi,  quoniam 
non  facile  potest  reverti:  assumto  enim  u,  quaeritur  Z;  ex  natura  formulae 
autem  sumto  Z  quaerendum  esset  u.  Levatur  tarnen  haec  molestia  magna 
ex  parte  ope  tabularum  logarithmorium  naturalium;  quod  ut  illustrari  possit 
exemplis,  pro  quantitatibus  constantibus  certi  numeri  sunt  introducendi. 

Constantes  c  et  c'  cum  existant  ex  superioribus  a  et  b,  sit  a  =  b 
=  5;  hinc  a  -}~  b  =  c  -=  10;  ab  =  c'  =  25.  Jam  supra  statuimus 
(f  =  10;  seimus  autem,  hmic  numerum  7  re\-era  esse  unitatem,  quam 
notiones  excedere  non  possunt;  quamobrem  etiam  a  et  b  non  possunt  esse 
>>  10.  Ex  ipsis  autem  existat  necesse  est  s  —  n,  quae  est  illarum  iactura 
adhuc  facienda  inter  se,  si  nihil  novi  esset  ad  illas  accessurum;  unde  patet, 
pro  medioeri  illo  valore  a  =  b  =  5,  s  —  o  non  statui  posse  ultra  valorem 
=  5,  quem  si  haberet,  totä  haec  iactura  adhuc  integra  esset,  sive  o  adhuc 
esset  =  o.  Sed  alia  exstat  ratio,  quae  cavere  nos  iubet,  ne  ipsi  s  —  a 
nimium  valorem  tribuamus.  In  aequatione  c'  v  dt  =  (cz  —  cZ-fc')  dZ 
ponatur  t  =  o;  fient  z  =  Z  =  o,  sed  v  =  s  —  a,  unde  pro  t  =  o  est 
(s  —  n)  dt  =  dZ;  eodem  vero  primo  temporis  initio  ex   aequatione  z  =  </ 

(1  —  e  p  ),  sive  dz=ß(fe  p  dt  habetur  dz  =  ;ir/dt.  Jam  apparet, 
non  posse  statui  primum  illud  dZ  >  dz,  quoniam  non  plus  adimi  potest, 
quam  adest;  itaque  nunquam  committendum  erit,  ut  ponatur  s  —  o>1jf/) 
quod  est  absurdum. 


Caput  Secundum.      De  attentionis  causis  primariis.  67 


Quam    ultimam    invenimus    aequationem ,    ea    nititur    positione    s  —  0 

=  — £_l_;  unde  sequitur  n  <  1  —  ß,  ne  fiat  s  —  o  >  ßq>.    Itaque  [3  1]  posito 
1  —  ß 

ß  =—    licebit  sumere  n  =  o,   6;  unde  habebimus,  propter  f/-=  10,  s  —  o 

-6  ,  C71W 

=  _  =  3  ;  atque  ita,  quoniam  m  =  -  =  25. 9  =  225,    exemplum 

aequationis  nostrae  existit  sequens: 

100 

■-'155  [»* -.(«-WH' =*    -')] 

=  ^[z+T(»iZ-')] 


lz 


Inde  sequitur 

40  u  —  4Z  =  e9      —  1 , 

sive  log.  nat.   (40  u  —  4  Z  -f-  1 )  =  -i-  Z 
Haec  aequatio  ut  solvatur,  ponamus 

Z  =  1,    2,     3,     4,     5,     6,      7     .  .  .  . 

H     7  4         8         12        16        20       24        28 

IT     =  IT'  T'  T'  T'  T'  IT'  7"'  "  "  '  ' 

quibus  fractionibus  conversis  in  decimales,  inspiciendo  in  tabulas  logarith- 
morum  naturalium  facillime  invenietur,  cuinam  numero  integro  proximum 
sit  Z;  deinceps  autem  approximationibus    erit    utendum.     Caeterum    notan- 

dum  est,  u  =  1  —  e  non  posse  ascendere   ultra    unitatem.     Exempl. 

causa  ponamus  u  =  1 ;  conversa  fractione  —  =  2,6666  .  .  .  apparet,  huic 
numero  proximum  esse  log.  nat.  14  =  2,639  •  •  •  '■>  ex  Z  =  6  autem 
sequitur  41  —  4  Z  =  17;  igitur  Z  >  6;  sed  fractio-^-  =  3,1  ....  devol- 
vit  nos  usque  ad  log.  nat.  2  3 ;  atque  simul  quantitas  41  —  4  Z  retrograditur 
usque  ad  13 ;  unde  conspicimus,  propius  nos  abfuisse  a  vero,  cum  poneremus 
Z  =  6.     Approximationis  causa  sit  Z  =  6  +  x;  unde   [32] 


41  —  24  —  4x  =  e9 

(6  4-*) 

2,666 

..±-x 

sive   17  —  4  x  =  e 

e.  9 

2,666  . 
=  e 

"\   fi 

l6     X2 


(•■+^  +  r.-r+'--) 


24 

Est  autem  e  9  =  14,392  ..  .  hinc  fit 


17  — 14,392  =  2,607  =  x  .  (  4  +  ~  •  14,392  4-  •  •  •  ) 


9 

2,607 

et  x  = '7  =  0,25 

10,396 


68  ,IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 

Ut  propius  accedamus,  sit  Z  =  6,25  4-  x';  itaque 

-1  (6,25  +  x') 
41  —  25  —  4x'  =  e   9         3^ 

,  ,  2,777 ...      1  4     ,       16  x'2         \ 

«.I6-4X-.  .   (I  +  -x  +-—.•■) 

2'?77  ,         n 

Cum  sit  e  =  16,0833  . . .  sequitur 

—  0,0833  =x'.    (4  +  —-   16,0833  +...) 

unde  x'  =  —  0,0073  •  •  • 
et  Z  =  6,2426  . . . 

-*'  4     , 

qui  numerus  sequentibus  seriei  e  9      =  1  -I x  .  .  .  terminis    adhibendis 

9 
ulterius,  si  placet,  investigabitur. 

Potuimus  etiam  alia  ratione  calculum  instituere;  eaque  utamur  in  altero 
exemplo.     Sit  u  =  —  habebimus  aequationem 

log.  nat.  (21  —  4  Z)  =  —  Z 

4  16 

Si  z  esset  =  4,  existeret  —  Z  =  — =  1,7771  •••  et   l°g-    nat-   (2I  —  ID) 

=  log.  nat.  5  —  1,60943;  unde  Z>>  4;  sed  si  ponamus  Z  =  3,  fit  [33]  —  Z 

12 
= =  1,333  •  •  ■  et  log.  nat.  (21  —  12)  =  log.  nat.  9  =  2,197  . . .     Est 

autem  1,777...  =  log.  nat.  5,91  ...  et  1,333  •••  =  log.  nat.  3,78... 
atque  videmus  quasi  eodem  tempore  procedere  numerum  5  usque  ad  9, 
et  retrograd!  numerum  5,91  ...  usque  ad  3,78...  ut,  si  Ulis  motum  ab 
aequabilitate  non  nimis  abhorrentem  tribuere  liceat,  celeritates  motuum  sint 
in  ratione  (9 —  5)  :  (5,91  —  3,78)  sive  4  :  2,13.  Occurrant  autem  necesse 
est  sibi  in  aliquo  itineris  conficiendi  loco,  quem  facile  inveniemus.  Inter- 
vallum primitivum  numerorum  5  et  5,91  ...  est  0,91  . .  .  itaque  iam  cognitis 
celeritatibus  habemus 

4  :  2,13  =  x:o,9i—  x 

unde  x  =  0,5938;  et  0,91  —  x  =  0,32.  Quaerimus  autem  illud  Z,  quod 
pertineat  ad  inventum  x;   idque  innotescet  per  hanc  proportionem : 

2,13  ...  :  0,32  ...  =  4  :  0,5938  ..=  1  10,1484  ... 

unde  Z  =  4  —  0,1484  =  3,8516.  Quod  ut  facilius  intelligatur,  numerorum 
mutationes,  quae  sibi  respondent,  ita  proponam: 

Mutato  numero  (21  —  4Z)  ex  5    in  5,5938  et  in  9 

lz 
et  e  9      5,91    .  .   5,5938  •   •   •  3,7%   ■   ■  ■ 

mutatur  Z 4      ...   3,8516   ...   3; 

±Z 

?.tque  propter  aequationem  21  —  jZ  =  e  9      ,    verum    Z    eadem     ratione 

interpositum   sit   necesse   est  inter    4    et   3,    qua   ratione    5,5938    interiacet 


Caput  Secundum.     De  attentionis  causis  primariis.  5ü 

inter  5  et  9,  vel  inter  5,91  et  3,78.  Correctione  tarnen  opus  est,  tum  ob 
defectum  in  numeris  5,91...  et  3,78...;  tum  ob  errorem  admissum  in 
hypothesi  motus  aequabilis  in  functionibus  alia  lege  procedentibus.  Quae 
correctio   sie  instituenda,   logarithmum  convertendo   in  seriem:    [34] 

log.  nat.   (5,5938—  4  x)=-l  5,5938+1(1  —  TT^r)  =4"^'85i6  +  x) 

v  5>593ö/         9 

sive   1,72159  —  f     4X0+-T4Xo1  '  +  ••■)=  1,7118  +-^x 
^5>5938^2    L5,5938J      ^         I  '         ^9 

Neglecto  seriei  logarithmum  referentis  termino  seeundo,  et  qui  eum  sequuntur, 

habebimus 

0,0098  =  x  f  -i  -\ ^-~ 

^  9         5,5938 
unde  x  =  0,00845 
et  Z  =  3,86005 
Ad  ulteriores  correctiones  viam  patere,    manifestum    est;    quas    autem 
adhibui,  eae    iam    usum    psychologiae    excedunt,    quocirca    crassiori    calculo 
utamur;  verum  id  agamus,  ut  totam  rem  uno  adspectu  possimus   amplecti. 
Tentando  e  tabulis  invenietur 

pro  u  =  —  Z  —  2,1 1 

u  =  j-  Z  =5,21 

Itaque  habemus 

diff.  I.  IL  III.  IV. 

pro  u  =  o ,  Z  =  o 

,  2,11 

u  =  — ,  Z  =   2,11  —  0,36 

t     „  Qr        i,75  +  0,04 

u  =  — ,  Z  =  3,86  —  0,40  —  0,12 

3     „  i.35  —  0,08 

u  =  -f,  Z  =  5,21  —  0,32 

u  =  1  ,  Z  =  6,24 
Quamquam  differentiae  non  evaneseunt,  valde  tarnen  diminuuntur,  atque 
licebit  nobis  seriem  tov  Z  habere  pro  arithmetica;  ut  possimus  compin- 
gere  omnia  in  notissimam  formulam  interpolationis :  cuius  ope  invenietur 
z  =  9,332  u  —  4,064  u2  -4-  2,304  u3  —  1,28  u  + 
Haec  formula  si  quem  offendet,  quoniam  non  est  adaequata,  fatendum 
tarnen  erit,  eam  correctionibus  ansam  praebere  commodissi[35]mam  Ponatur 
exempli  causa  u  =  — ;  prodibit  Z  =  2,728;  quod  si  recte  se  haberet,  log. 

nat.  3,42  esset  =  1,21;  est  autem  revera  =  1,23...;  ut  error  quidem 
sit  commissus,  sed  talis  error,  cuius  remedia  secundum  methodos  traditas 
in  promtu  iam  habeamus,  et  facillime  possimus  expedire. 

Comparationis     causa     mutabo     quasdam     quantitates    constantes;     sit 

ß  ==  — ,  unde    1  —  ,  i  =  — ;  hinc  n  <  1  —  ß  poterit  adscendere  in  mai- 

,                                                           n  ß  a 
orem  valorem;  ponamus  igitur  n  ==— ;  atque  habebitur  s  —  a  = 

c  TT  ff  m  c  ff 

=  I'875J  ; s  =  m  =  234,375;  c. =  1,5625;  —  =  0,42667; 

I  —  ß  <f  m 

ut  formula  universalis 


yo  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 


U-^[CZ+(C'-V)-(^Z-')] 

r  r  ,   0,42667  z  1 

u  =  ™  [Z  +°'I5625    (e  —   i)J 


diff.  I.  IL  III.  IV. 

unde  pro  u  =  o ,  Z   =  o 

u  =  — >  Z  =  2,15  —   0,14 

1  „  ,        2,01  +  0,24 

u  =   T,  Z  =  4,16  —  0,38  =  0,23 

3  7  !>63  +   0,01 

u  =  7-1  z  =  5,79  —  0,39 

1,24 

u  =    1,  Z  =  7,03 

Non  morabor  in  serie  ex  his  valoribus  construenda;  patent  enim  primo 
intuitu,   quae  sunt  consideranda.     Erat 

in  primo   exemplo  /?  =  — ;   n  =  0,6;   s — a  =  3; 

in  secundo  .  .  .  .  ß  =  y;  71  =  0,75;  s  —  0=  1,875; 
deminuta  simul  perceptionis  intensitate  (ff)  et  pressione  initiali  (s  —  o),  mirum 
non  est,  initio  fere  eandem  servari  proportionem  inter  notionis  acquisitae 
robur  (10  u  =  z)  et  eius  detrimentum  (Z);  etsi  autem  inde  ab  u  =  o 
usque  ad  u  ==—  inter  quantitates  Z  nihil  [36]  fere  sit  discriminis,  subinde 
tamen  perspicitur,  quid  possit  maior  notionum  contrarietas  (71)  ad  augen- 
dam  derrinienti  quantitatem;  cum  videamus  quantum  distent  valores  finales 
6,24   et  7,03.      Caeterum  in  hoc  genere  calculi  iactura  facienda 

nßcf,     —  ßt         ,  7ißa\     —t 

e         -j-     s  —  o 


i  —  ß  ■     V  1—  ßl 

non   potest    assurgere   ad   maximum;   nam    ex   hypothesi    constituta    s  —  a 

nßq             .                   nß<i      —ßt  —ßt 

=  7  sequitur  v  =  T—  e  ,  sive  (s  —  o)  e  ,  unde  intellisritur, 

pressionem  semper  diminutum  iri,  idque  fieri  eo  celerius,  quo  maius  sit  ß. 

Cum  autem  respiciendum  sit  ad  temporis  decursum,  quaeramus  t  ex  assum- 

,,  ,                                     — Bt\\  ,  .               log.  nat.   (1  — u) 
tis  u.     Habemus  u  =  1  —  e      '     J,  hinc  t  =  — -,  atque 

—  ß 

in  exemplo  primo  secundo 

pro  u  =   o ,  t  =  o  t  =  o 

u  =  --,  t  =  0,86  .  .  .                  1,44 

u  =  -i-,  t  =  2,08  3,46 

u  =  j-,  t  =  4,16  6,93 

u   =     1,    t  =    00  X 

Itaque    propter    minorem    perceptionis    intensitatem    in     secundo    exemplo 
notionem    novam    multo   tardius    et   formari    et   pressioni   cedere    videmus. 

i)  u  =  e—  1  ~?x  SW. 


Caput  Secundum.     De  attentionis  causis  primariis.  7  i 


Quid  autem  accidisset,  si  in  altero  exemplo  eadem  adfuisset  pressio  ini- 
tialis  (s  —  a)  ac  in  primo?  id  quidem  iam  scimus  ex  superioribus ;  nam 
propter  s  —  a  =  3  >>  ß  q>  =  2  notio  nova  ipsis  temporis  punctis,  quibus 
perciperetur,  ita  fuisset  exstincta,  ut  eius  ne  minimum  quidem  vestigium  in 
mente  potuisset  remanere.  Quem  casum  observamus  in  hominibus,  qui 
sanis  sensibus,  sed  animo  suspenso,  nihil  nee  auribus  nee  oculis  pereipere 
videntur.  Restituto  c<  »gitationum  aequilibrio,  prorsus  in  integrum  restituitur 
facultas  notionis  formandae  ex  pereeptionis  particulis  minimis  coalescentibus; 
ipsa  autem  haec  facultas  nihil  aliud  est  nisi  impedimenti  secessio;  [37]  qua 
secessione  facta,  coaleseunt  illae  particulae  nullam  aliam  ob  causam,  nisi 
quoniam  sunt  in  eadem  mente,  nee  distinentur  nimia  pressione. 

7- 

77  ß  (f  .        . 

Cum  rarissime  possit   evenire,  ut  Sit  s  —  o  = -,  aequatioms  pro- 


fr 


positae 


^±An_i_i.L_a_  ±£n  h_u]  ß 


du 


C  n  <p  C    /  n  fj  <{  \ 

~ ~,  du+^s  —  °—  —--5     ( 

I  —  jj  p  \  I  - —  pl 

=  c  r/i  u  d  Z  —  cZdZ-f-c  dZ 

integrandae  negotium  maxima  ex  parte  adhuc  superest   peragendum.     Etsi 

autem    methodum  universalem  approximationis   traditurus  sum,    eius  tarnen 

demonstrandae  causa  utar  numeris  certis  assumtis;  ineipiendum  enim  est  a 

coefficientibus  indeterminatis,   et    enatis    inde    seriebus    infinitis;    quae    series 

nisi  oculis  proponantur,   ostendi  nequit,   quomodo  ulterius   sit  procedendum. 

Sit  ß,    ut  erat,  =  — ,    sed    n  =   1,    et  s  — •  a  =  1,9;    ut   habeamus 
casum  non  longe  abhorrentem  ab   eo,    quem   modo   traetavimus.      Prodibit 
calculus  satis  facilis,  quem  absolvere  licet  serie  infmita  tali,  quatem  Offerent 
coefficientes  indetenninati. 
Habemus  aequationem 

3  12,5   d  u  —  75(i  —  u)  4  d  u  =  (100  u  —  10  Z  -\-  25)  d  Z. 
Ponatur  Z  =  Au  +  B  112  -f-  C  u3  +  D  u+  +  .  .  . 
Coefficientibus  more  solito  determinatis  invenimus 

Z  =  9,5  u  +  5,05  112  —  0,2766  ...  u3  +  7,8  .  .  .  U4  -f- . . . 
Pro  u  =  0,05  fit  Z  =  0,487  .  .  .  atque  cum  novae  notionis  robur  sit  z  = 
10  u  =  0,5;  residuum  eius  ademto  Z  erit  =  0,013,  quod  etsi  parvum,  tarnen 
non  omnino  est  nihil.  Sed  posito  u  =  o,  1 ,  sive  z  =  r ,  existit  Z  ■=■  1 ,00 1 ; 
unde  intelligitur,  iam  plus  esse  detri[38]menti  quam  lucri;  quod  cum  fieri  ne- 
queat  (nam  quantitatibus  negativis  hie  nullus  est  locus),  videmus,  filum 
pereeptionis  quasi  abscindi,  et  parvülam  notionem  natam  ita  esse  oppres- 
sam,  ut  in  maius  robur  crescere  non  possit.  Neque  tarnen  omnino  pro  nihilo 
est  habenda;  iam  enim  adepta  est  quantitatem  finitam;  paullo  post  potent 
reproduci  et  augeri;   sed  reproduetionem  nunc  quidem  non  curamus. 

Minuamus  pressionem;   sit  s  —  0=  r:   maneant  reliqua.    Aequatio  erit 
312,5  d  u  —  187,5  (1  —  u)4  d  u  =  (100  u  —  10  Z  -f  -5)  d  Z 
et  coefficientibus  determinatis 

Z  =  5  u  -\-  iou-  —  21,666  . .  u3  -\-  49,166  . .  u^  --  . . . 


72  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1882. 

quam  seriem  patet  esse  adeo  divergentem,  ut  ea  vix  uti  possimus  usque 
ad  u  =  o,  1 . 

Tandem  perventum  est  ad  ea,  quae  omni  huic  scriptioni  ansam  prae- 
buerunt.  Ad  plenam  problematis  solutionem  duplex  ratio  est  ineunda; 
primo  efficiendum,  ut  totius  functionis  Z  etsi  non  adaequatam  descriptionem, 
imaginem  tarnen  adumbratam  adipiscamur,  deinde  ut  in  singulis  valoribus 
error,   quousque  quis  velit,   approximando  corrigatur. 

Seriei  divergentis  propositae  naturam  diligentius  perpendentem  fugere 
non  potest,  omnes  terminos  sibi  invicem  derogare,  sed  tanto  impetu  fern, 
ut  alius  alii  recte  nequeat  moderari.  Terminus  seeundus,  continens  quadra- 
tum  ipsius  u,  nimis  celeriter  crescit;  qui  cum  sit  coercendus,  accedit  tertius, 
ab  illo  subtrahendus;  sed  hie  involvit  cubum  quantitatis  u,  adeoque  vehe- 
mens  assurgit,  ut  novo  temperamento  sit  opus;  pessimum  autem  remedium 
affert  quartus,  multo  magis  ipse  coercendus  quam  superiores;  et  sie  porro 
alius  super  alium  proruunt,  ut  tota  series  a  veritate  avertatur.  Itaque 
vitium  est  in  forma  seriei,  sive  in  exponentibus,  ad  describendam  funetio- 
nem  placide  fluentem  haud  idoneis.  Si  autem  hoc  vitium  ita  [39]  conemur 
tollere,  ut  sumtis  aliis  exponentibus  sueto  more  coefficientes  determinemus, 
vell  nullos  vel  eosdem  reperiemus.      Ponatur  exempli  causa 

_1  J_  A. 

Z  =  Au2    +  Bu  +  Cu2  -f-Du2  4-Eu2  +... 

eiecti    coefficientes  postliminio  redibunt;    quoniam    prior  illa   aequatio  tacite 

complectitur  hanc  novam,   atque  affirmant   esse   A  =  o,   C  =  o,   E  =  o,   et 

sie   porro;    ut   nihil    relinquatur    nisi    termini    involventes    dignitates  integras 

ipsius   u. 

Quantumvis  divergat  series,    tarnen    ex    ea   bim    valores  ipsius  Z  erui 

poterunt,   sumto  u  satis  parvo:    cognito  autem   Z,   semper  ex  ipso,   aequatione 

dZ  .  , 

inveHietur    — ;   atque  si   contingat,    ut    nunc  quotientem  possimus   determuiare 
du 

tanquam  funetionem   ipsius  u,    integrando  reditus  patebit  ad  ipsum   Z. 

Pro  u -- 0,05   aequatio  proposita  dabit  Z  =  0,2726,  - —  =5,8583; 

dZ 

pro  u  =  0,1    erit  Z  =  0,5832  ;  et  - —  =  0,4964. 

du 

Differentiale  seriei  Z  =  5  u  -\-  10  112  —  2  1,06  .  .  vi  3  est 
dZ 

—  =   5         +   20  U      —   04,99   .   .  U2, 

d  u 

sed  hinc  retinendum  est  nihil   nisi   =  5  -f-  u  u  ;  ubi  per   u  u    ea  om- 

d  u 

nia    designavi,    quae    pendent  ab  u;    eaque  aliqua    ex   parte  cognoscemus 

ex  binis  Ulis  valoribus  iam  inventis.  Quibus  ut  aecommodetur  u  u  ,  po- 
nendum 

i(<.o,05;-  =  0,8583 

,»-0,i;-     =  1,4964 
unde  log  fi  -(-  X  log  0,05  =  1  0,8583 
et  log  fi  -\-  '/.  log  0,1     =  1  1,4964 


Caput  Secundum.    De  attentionis  causis  primariis.  -  2 

[40]  ,  11,4964  —  10,8583 

itaque  /.= —- -, =0,80104 

lo,i     —log  0,05 

et  /i  =  9,4840 
ut  fiat    |^=5  +  9,484  u°-8oi94 

et  integrando   Z  =  5  u  -J-  5,2632  u  I>8oI94 

Confirmantur  hoc  calculo,  quae  dixi  de  exponentibus.  In  seeundo 
seriei  termino  omnia  erant  nimia,  atque  hanc  ob  causam  terminus  tertius 
nimiam  attulit  correctionem,  quae  nunc  non  est  metuenda. 

Procedendi  via  iam  est  aperta;  sed  cautio  quaedam  adhibenda,  ne 
calculi  ambages  fiant  longiores.  Si  poneremus  u  =  0,4  aut  =0,5,  termi- 
nus 9,484  u°' 8oi94  computandus  esset  per  log  9,484-1-0,80194111,  et 
0,80194  lu  denuo  per  1  0,80194  -\-  log  1  u;  atque  cum  eiusmodi  calculus 
saepe  sit  repetendus  (plures  enim  eiusmodi  termini  adsunt  et  prodibunt), 
haec  ratio  descendendi  ad  logarithmos  logarithmorum,  plurimum  incommodi 
esset  allatura.  Itaque  cum  in  arbitrio  positum  sit,  quosnam  valores  veli- 
mus  tribuere  ipsi  u,  eligamus  tales,  ut  eorum  logarithmi  fiant  simplicissimi. 
Sit  u  =  0,316228,  cuius  logarithmus  est  =  0,5  —  1  = — ;   statim  appa- 

ret,  0,80194  lu  esse  =  —  0,40097;  atque  hac  ratione  calculi  quantum 
superest  facillime   expedietur. 

Ex  C—  =  5  +  9.484  °'8°194,  posito  u  =  0,3  16228,  fit  %-  =  8,7716; 
du  du 

atque  Z  =  5  u -|- 5,2632  u1,80194  dat  Z  =  2,24303.  Sed  ex  aequatione 
proposita 

312,5  -  187,5   (1  -u)4  ==  dZ 
ioou  —      10Z-I-25  du 

adhibito    valore  ipsius  Z  modo  invento  prodit   — -   ==  7,9408;  atque   [41] 

facile  perspicitur,  hunc  valorem  multo  propius  illo  superiore  ad  veritatem  acce- 
dere,  quoniam  parum  afficitur  errore,  qui  in  determinando  Z  potuit  committi. 
Eadem  ratione  pro  u  =  0,398 107,  cuius  logarithmus  est  =0,6  —  1  =  —  0,4, 

d  Z 

habebitur   - —  =  9,5313;  et  Z  =  2,99163;  sed  hoc  valore  ipsius  Z  intro- 

dZ 
dueto  in  aequationem  propositam  invenitur  - —  —  8,2504.    Jam  quaeratur, 

.     .       d  Z 

quantum  mtersit  inter  valores  mventos  ipsius  . 

8,77 16      9.5313 
—  7,9408  et  —  8,2504 


0,8308      1,2809 

Ponatur  —-  =  5.4-  9,484  u°'8oi94  _  ,/  u^';   Crit 
d  u 

/<'.  0,316228^  =0,8308 

u  .  0,398107'-  =1,2809 


ja  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.      1822. 

unde  ?/ =  1,8802;  et  ^'=7,2376 

\Z  =  5  +  9,484  u°'8oi94  _  7,2376  u1'8802 
d  u 

et  integrando  Z  =  5  u  -f-  5,2632  uI,8oi94  —  2,5129  a2'8802 

Sed  ultimi  termini  modo  inventi  egent  correctione,  eamque  ipsi  prae- 
bebunt;    certiores    eirim   nos    faciunt  de  valoribus  ipsius  Z  antea  adhibitis, 

,  dZ       ■       . 

ubi  ex  aequatione  quaerebamus  - — .    Repetito  calculo  primus  quotiens  dif- 

ferentialis  erit  =7,7345;  alter  =7,8519;  atque  nunc 

8,7719  9,5313 

—  7,7345  et  —  7,8519 
1,0371  1,6794 

[42]  unde  X'  rectius  =2,0933;  ,"'=II,546 

^  =  5  -f  9,484  u°'8oi94  _  1 1,546  u2'°933 
Z  =  5  u  +  5,2632  uI'8oi94  _  3,7325  u3,0933 

Idem  correctionis  genus  denuo  potest  adhiberi,  verum  id  fieri  minime 
est  necesse.     Procedamus  ponendo  u  =  0,794328,  cuius    numeri  logarith- 

dZ 
mus    est   =0,9 —  1=  —  0,1;    erit  - — =5,7549,    et  Z  =  5,6166;    sed 

hoc    valore    ipsius    Z    introducto   in    aequationem  prodibit   =  6,4746. 

d  u 

Tandem  ponatur  u  =  1 ;  habebitur  - —  =  -,978;  Z  =  6,5307;  quo  valore 

dZ 
substituto,  aequatio  praebet   - —  =  5,2352.     Quaerantur   düferentiae   valo- 

d  u 

rum  inventorum. 

6,4746  5,2352 

—  5,7549  et  —  2,978 


0,7197  2,2572 

r\   7 

Patet,  ad  inventum     —  addendum  esse  terminum  formae  u"  u    ;  eumque, 

d  u 

ut  supra,  accommodandum  valoribus  suscipiendis  0,7197  et  2,2572.  Peracto 

calculo  reperietur 

~  =  5  +  9,484     u°'80I(M  _  ,  I)546  u2'°933  _|_  2,257       u4,9638 
d  u 

Z  =  5  u  +  5,2632  uI'8oi94  _  3,7325  u3,0933  +  0,37845  u*^ 
Huic  seriei  nihil  amplius  est  addendum;  nam  perventum  est  ad  maximum 
valorem  u  =  1 ,  ultra  quem  u  =  1  —  e  —  ^  I  non  potest  extendi.  Coeffi- 
cientes  decrescunt;  exponentes  vero  tarn  cito  assurgunt,  ut  ultimo  termino 
turbari  non  possint  valores  prius  inventi  pro  minoribus  u;  tertius  tarnen 
terminus  aliquantum  erroris  affert,  si  u  =  o,i   vel  paullo  maius  aut  minus; 


Caput  Secundum.    De  attentionis  causis  primariis.  y  c 

sed  eiusmodi  valores  deter[43]minandi  sunt  aut  ex  solis  duobus  terminis  pri- 
mis,  aut  ex  ipsa  serie  primitiva;  itaque  correctione,  alioquin  satis  expedita, 
non  est  opus. 

Prima  negotii  parte  confecta,    sequitur,    ut    pro  singulis  valoribus   in- 
ventis  ad   veritatem   quouspue  quis  velit  appropinquemus. 

Proposita  aequatione  huius  formae 

r 

m  d  u  +  n  (i  —  u)  ^  d  u  =  p  u  d  Z  --  q  Z  d  Z  -f-  r  d  Z 


u  +  nÄ    Li  —  (i  —  u)^J 


integrando    et    constantem    addendo    prodit   m  u  -  -  u  p 

=  P/udZ-     |qZ^  +  rZ 

d  Z     ■  r       _,   n  ■  d  Z 

invento    3 —  mvenin  potest  Au  d  Z ;  quoniam  autem  nostrum  —  non  om- 
d  u  du 

nino  recte  se  habet,  ponatur  pro  certo  quodam    valore  ipsius  u,  p/"u  d  Z 

=  f  -f-  v,   et  simul  Z  =  g  -\-  \v.      Sit  etiam 

m  u  -j-  n  ß,   Li  —  ( 1  —  u)  ^  J  =  M:   erit 

M  =  f  +  v  —  ~  q  g2  —  q  g  w  —  -i-  q  w2  -f  r  g  -j-  r  w 

et  M  -f  -i-  q  g2  —  r  g  —  f  =  v  -f  [r  —  q  g)  w  —  ^-  q  W2 

Valores  f  et  g  functionum  p_/u  d  Z  et  Z  sibi  invicem  respondent;  qua- 
mobrem  etiam  variationes  ipsarum  sibi  respondeant  necesse  est.  Quae 
variationes  cum  sint  v  et  w,  eaeque  satis  parvae,  si  prior  calculus  bene 
successerit:  possumus  uti  hac  proportione;  dZ :  p'u  d  Z  =  w :  v,    sive  v  = 

p  u  w.     Neglecto  —  qw2,  erit 

M+^qg2-rg~f 


w 


p  u  -|-  r  —  q  g 

quo   invento,   supputandum  —  qw2,   et  numeratori  addendum,   atque   divi- 

dendum  denuo.    Repeti  etiam  potest  tota  haec  correctio,  positis  f  -\-  v  =  f ', 
et  g  -(-  w  = 


o- 

o 


dZ   r 
In  exemplo  nostro  ex  invento  —  fit 

d  u 

/u  d  Z  =  2,5  u2  +  3,3848  u2'8oi94  _  2,8207  u4>°933  _|_  0,3241 1  u6'9638 
[44]  Habuimus  autem  pro  u  =  1  *,  Z  =  6,9091 ;  idque  nunc  est  =  g;  porro 
f=  338,82;    M  —  275;    hinc   reperitur   w  =  0,038098;    et  post  additum 

numeratori  —  qw2  fit  \v  =  0,038228;  unde  Z  correctius  =  6,947328. 
Sie    repeti    placet    correctionem ,    inveniemus    INI  -\-  -^- q  g'2  =  516,327,    et 


*  In  subtiliori  calculo  non  pro  u  =  1   quaerenda  statim  erit  haec  correctio,  sed  ad- 
da  ad  terminos  fi  u     seriei  inventae  pr< 
dem  ratione,  quam  exposui,  possunt  inveniri. 


-  A    7 

hibenda  ad  terminos  fi  u     seriei  inventae  pro   — ;  quorum  etiam  plures,   si  placet,    ea- 

d  u 


76  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primams.      1822. 


r  g  -\-  f'  =  516,326;    tota    autem    correctio  redibit  ad ;    ubi  notan- 

55526 

dum,  in  toto  calculo  nie  non  Septem,    sed  tan  tum  quinque  logarithmomm 

notis  decimalibus  usum  esse. 

Peracto  calculo,  paullo    accuratius  inspiciamus,    quid  consecuti  simus; 

et  conferamus  haec  cum  superioribus. 

Posito  ß  =  -j-,  primo  (6,  versus  finem)  fecimus  tt  =  — ,  s  —  0=  1,875; 

inde  exstitit  functio  Z  describens  curvam  concavam;  differentiae  enim  se- 
cundae  seniper  erant  negativae.  Deinde  fecimus  77=1;  s  —  0=1,9; 
ita  parum  mutatis  constantibus  evenit,  ut  Z  non  solum  abiret  in  curvam 
convexam,  sed  etiam  pro  u  =  o,  1  modum  omnino  excederet,  et  percep- 
tionem  vix  inceptam  exstingueret.  Nunc  servavimus  et /?==—,  et  n  =  1 ; 
temperavimus  autem  s  —  o,  ut  esset  =  1 ;  hinc  orta  est  functio  Z  descri- 
bens curvam  primo  quidem  convexam,  sed  puncto  inflexionis  praeditam 
(fere  pro  u  =  0,4 ;  nisi  calculus  crassior  nie  fefellit),  atque  abeuntem  in  con- 
cavam, ita  quidem  ut  primus  quotiens  differentialis  paene  idem  sit  in  fine, 
qui  fuit  statim  ab  initio.  Videmus,  in  eiusmodi  casibus  periculum  instare, 
ne  punctum  inflexionis  nimis  prope  accedat  ad  eam  lineam  rectam,  quam 
describit  z  =  1  o  u,  hac  enim  linea  tacta,  evanescit  z  —  Z,  sive  rumpitur 
perceptio:  sed  eo  periculo  superato,  multo  melius  procedit  nova  notio  for- 
manda,  quam  initio  sperandum  videbatur.  Quaeri  potest,  quantum  s  —  o  sit 
sumendum,  ut  punctum  [45]  inflexionis  cadat  in  lineam  rectam  ipsius  z  =  10  u; 
putabam,  me  hinc  non  longe  ab  futurum  esse,  si  ponerem  s  —  o=,i,5; 
servatis  reliquis  constantibus;  verum  instituto  calculo  reperi,  scindi  lineam 
rectam  a  functione  Z  statim  post  u  =  0,5. 

Tanta  curvarum  varietate  reperta  in  exigua  constantium  mutatione, 
maiores  ipsius  ß  valores  quid  sint  effecturi,  nunc  perscrutemur.  Certum 
est,  aucta  perceptionis  intensitate  notionem  inde  orientem  minus  iacturae 
passuram  esse;  sed  quum  hanc  ob  rem  etiam  primus  quotiens  differentialis 
necessario  adtenuetur,  miruni  videri  potest,  quod  indicat  formula,  eum  pro 
u  ==  1   in  infmitum  abire!  Manifestum  est,  pro  ß  >    1    fieri 


1 

—  1 


(i-u)/* 


(I— u)      ? 


atque  hoc  =  —  pro  u  =  1 ;  unde  procul  dubio  pro  eodem  u. 


o 


m  -+-n(i  —  u)^  dZ 

=  cc 


pu  —  qZ-fr  du 

Ut  totam  rem  cognoscerem,  posui  ß  =  5,  s  —  0=1.  n  =s  i-  ex 
Z  =  A  u  -f-  B  u2  -j-  C  u3  -f-  D  u-  -j-  .  .  .  coefficientibus  determinatis  factum 
est  Z  =  0,2  u  -f  0,688  u2  —  1,1316  u3  -f  5,S5  .  .  u4  —  .  .  .  Hinc  pro 
u  =  0,1,  Z  =  0,026;  pro  u  =.  0,2;  Z  =  0,064;  deinde  determinato  fi  u}; 
calculo  prorsus  eadem  ratione  confecto,  ut  supra  ostendi,  deductus '  sum 
ad  series  sequentes: 


Caput  Secundum.    De  attentionis  causis  primariis.  yy 

r\    7 

—  =  0,2  -f-  0,85789  u°'8~338  _|_  2)22o8     u4,6566  _|_  I5j7976  u3°'681 

Z  =  0,2  u  -f-  0,45794  ^'^338  _|_  0,39261  U5'6S66  _|_  0,49865  u^1'681 
ubi  notandum,  utriusque  seriei  terminum  tertium  inventum  esse  posito 
11  =  0,501187,  cuius  logarithmus  est  =  —  0,3;  et  u  =  0,398107  cuius 
logarithmus  =  —  0,4;  quartus  autem  terminus  cum  non  pos[4Ö]set  quaeri  ex 
u  =  i,  usus  sum  valoribus  u  =  0,954992  et  u  =  0,977237,  quorum  loga- 
rithmi  sunt  =  —  0,02  et  —  0,01.  Pro  u  =  0,977  .  .  .  inventum  est 
Z  =  1,219;  quamquam  autem  u  iam  proximum  est  limiti,  quem  transcen- 
dere  nequit,    magna    tarnen  adhuc  sequitur  mutatio;    quod    ut    intelligatur, 

respiciendum  est  ad  tempus.  Habemus  u  =  1  —  e—  $  ;  haec  autem 
quantitas  citissime  fere  ad  summum,  quo  perduci  potest,  fastigium  extol- 
litur;  et  pro  u  =  0,977  est  t  =  0,76  .  .  .  neque  mirum,  sequenti  tempore, 
incremento  fere  nullo  accedente  ad  u,  augeri  pressionem,  ut  aequilibrium, 
notione  nova  magnopere  turbatum,  possit  restitui.  Quam  rem  calculo,  quan- 
tum  opus  est,  satis  commode  sie  persequemur.  Seimus,  u  fere  ad  quan- 
titatem  constantem  esse  redactum,  eiusque  limites  facillime  posse  assignari; 
itaque  nihil  obstat,  quo  minus  ipsi  certum  tribuamus  valorem.  Numeris 
m  et  n  rite  determinatis,  erit  aequatio  nostra  pro  u  =  0,9 7 7 2.. 

_±_ 

—  62,5  d  u  -j-  67,5  (1  —  u)       5  du=  122,7  d  z  —  10  Z  d  Z 

1 

unde  —  62,5  u  —  337,5  (1  —  u  )  5  =  122,7  Z  —  5  Z2  +  Const. 
Quoniam  Z=  1,219  Pr0  u  =  °>977--  erit  Const.  = —  361,656 

Hinc  pro  u  =  1  inveni  Z  =  2,745  .  .  .  Si  calculum  aecuratius  institui 
placet,  non  tarn  cito  properandum  erit  ad  u  =  1 ,  sed  pro  valore  paullo 
minori  correctionis  genus  supra  demonstratum  adhibeatur  necesse  est,  ut 
inveniatur  numerus  constans  ipsi  u  tribuendus,  qui  minore  errore  usque 
ad  u  =  1  possit  revera  pro  constante  haberi.  Sed  operae  non  est  pre- 
tium;  satis  iam  perspieimus,  augeri  Z,  neque  tarnen  magis  quam  fuit  ex- 
speetandum. 

Nolo  morari  in  aliis  valoribus  tw  s  —  a  pro  eodem  ß  tribuendis;  quanta 
enim  vis  sit  in  pressione  initiali,  superiori  satis  demonstrarunt. 

[47]  Alioloco*  casum  ß  =  — }   et  facilem  et  satis  memorabilem,  fusius 

explieui.  Notandum  est  praeeipue,  pro  s  —  0  =  3,125  et  71  =  0,78125 
funetionem  Z  abire  in  lineam  reetam,  sive  esse  perpetuo  =  A  u ;  sunt  etiam 
alii  earundem  quantitatum  valores,  quibus  sumtis  idem  aeeidit.  Posito 
71  =  0,78125  tantum  potest  pressio  initialis,  ut  pro  s  —  0  =  3,125,  Z  eve- 
hatur  usque  ad  6,25  pro  u=  1,  sed  posito  s  —  n  =  o,  Z  consistat  in 
valore  =  2,y.  Cuius  casus  eam  potissimum  ob  causam  feci  mentionem, 
quod  addenda  sunt  pauca  de  altero  limite,  quem  dixi  hunc  nostrum  calcu- 
lum  non   posse   attingere,    multoque   minus   transire.     Etenim   ubi   primum 

exposui  aequationem  ; — ;  =  d  Z  (6,  II),  locutus  sum  de  limitibus  quan- 

cx  +  c 


Königsberger  Archiv,   Heft  III. 


/8  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 

titatis  x,  quorum  alter  est  z,  alter,  veritati  longe  propior,  z  —  Z;  atque 
ostendi,  illum  primum  tum  potissimum  respiciendum  esse,  ubi  pressio,  ab 
initio  minor,  deiiiceps  augeatur,  quod  videmus  fieri,  si   s  —  0  =  o,    ut   tota 

pressio  pendeat  a  contrarietate  n.     Integrationem   formulae  >  proce- 

cxfc 

O  f 

dere  posito  e  =  x  secundum  regulas  calculi  integralis  notissimas,  loco 

citato  monstravi,  et  res  per  se  satis  est  manifesta;  itaque  hie  tantum  appo- 
nam  valorem  inventum  pro  ß  =s  — }  s  — -0  =  0,  n  =  0,78125,  u  =  1; 
reperi  enim  Z  =  2,334:  alter  autem  calculus,  quem  hie  ubique  secuti 
sumus,  praebuit  Z  =  2,7.  Neque  tarnen  putandum  est,  verum  valorem 
adeo  incertum  relinqui,  ut  fluetuare  possit  inter  2,3  et  2,7;  fac  enim,  Z 
esse  =  2,334;  sequitur,  vim  pressioni  resistentem,  sive  x,  reduci  fere  ad 
z  —  2>334  (scilicet  pro  u  =  1),  itaque  x  =  z  falsa  erat  hypothesis  falsumque 
ipsum  Z  =  2,334,  ex  hac  hypothesi  profectum;  multo  autem  rectius  x  =  z  —  Z 
sive  z  —  2,j;  quoniam  ex  x  =  z  —  Z  inventum  est  Z  =  2,7.  Quodsi  hoc 
casu,  ubi  errare  maxime  potuimus,  parum  [48]  erroris  adesse  videmus:  colli- 
gere  licet,  in  reliquis  calculum  nostrum  veritati  satis  fore  consentaneum. 
Denique,  ne  quid  omissum  videatur,  minuamus  quantitatem  contra- 
rietatis  n;  inveniemus  id,  quod  exspeetandum  est,  notionem  rezentem, 
etsi  initio  impedimentis  laborantem,  procedente  tarnen  tempore  liberius  cres- 
centem.     Sit  ß  =  ~-,  s  —  0  =  2,  sed  n  =  — ;  prodit  calculo  iam  exposito 

dZ  1,824  .  2,753 

^- =  4  —  3.6  u  -f-  3,3545  u  —  0,8149  u 

2,824  3-753 

Z==4u —  1,8  u2  -j-  1,1878  u  — 0,2171  u 

Vel  fi  ==  -i-,   s— 0  =  3,   n  =~;  hinc 

dZ  2,11714  3,08 

T-  *^  O  —   5,6  U   -f-  3,4102    U  —  0,487    U 

^r         a  0,1  3>II7I4  4.08 

Z  =  6u  —  2,8  u2  -f-  1,904  u  J         *  —  0,119  u 

Utrumque    exemplum    ita   comparatum   est,    ut   terniinus   seeundus   sit 

subtrahendus   a   primo,    unde    patet,    pressionem    statim   ab    initio    relaxari. 

Contrarium  observari  potuit  in  exemplis  superioribus,  ubi  terminus  seeundus 

erat  positivus. 

8. 

Cum  in  calculo  peragendo  plurimum  negotii  valores  numeri  ß  facessant, 
vereri  forsitan  aliquis  poterit,  ne  difficultatum  moles  magnopere  augeatur, 
si  ille  numerus  sit  permagnus  vel  admodum  parvus;  quocirca  hanc  rem 
arbitror  non  omnino  silentio  esse  praetereundam. 

I.  Sit   ß   numerus    magnus.      Brevissimo    tempore    u  =  1  —  e       * 
proxime  accedet  ad  unitatem;  hoc   autem   tempore   Z    erit   admodum   exi- 

guum.     Si    calculum    placebit    institui,    notandum  erit, 1  propemodum 

reduci  ad  —  1 ;  ut  loco  aequationis 


Caput  Secundum.     De  attentionis  causis  primariis.  79 


—  1 


[49]  _L 

m  +  n(i—  u)  <*  dZ  .    mdu      .  ndu 

— '— =  —  scnbi  possit —    -4 -—. r =az,. 

pu  —  qZ-fr  du  puZ  r +■  (p — r)u— pu* 

Quomodo  pergendum  sit,  postquam    u    valorem    fere    constantem    sit    asse- 

cutum,  iam  supra  docui. 

Sed  calculo  vix  opus    esse   videtur.     Omnia   enim   eodem   fere   modo 

se  habebunt,  ac  si  totum  robur  notionis  recentis    subito    exstitisset,    atque 

sine  ullo  temporis  decursu  accessisset   ad    eas    notiones,    quae    iam    antea 

animo  observabantur.     Quod  ubi  fit,  calculo  longe  simpliciori  est  utendum, 

quem  hie  non  curo,  quoniam  nimis  est  a  proposito  alienus.     Quae    enim 

fortissima  pereeptione  mentem  percutiunt,  ea  non  pertinent  ad  excitandam 

attentionem,  sed  ad  terrorem  iniieiendum. 

1 
II.  Sit  ß  numerus  admodum  parvus.      Sequitur,  —  esse  permagnuni, 


1 
—  1 


et  (1 — u)  <*  evanescere  pro  u  adhuc   parvo.     Quamobrem   hie,    sicut 

in  priore  casu,    zalculus   dilabitur   in   duas   partes;    quarum   prima   ita    est 
comparata,  ut  u  pro  constante  possit   haberi,    altera   id    praebet    commodi, 


1 
—  1 


quod  evanescente   termino   n   ( 1  —  u)  ^  res  redit  ad   idem   illud   inte- 

grale finitum,  cuius  explicationem  dedi  statim  ab  initio  (6,  in  fine).     Itaque 
loco  aequationis 


1 

m 


+  n(i  —  u)  ^  dZ        . 

=  -  — ,  pnmo   habetur 


pu  —  qZ-f-r  du 


—  1 


mdu-J-n(i  —  u)  ^  du  =  dZ  (Const  —  q Z) 

deinde  m'du  =  p'u'dZ  —  q'Z'dZ  -f-  r'dZ,  ubi  quantitates  m',  p',  u,  Z',  r', 
invenientur  facto  u  =  e  -\-  u    et  Z  ===  r\  -\-  Z  . 

In  utraque  formula  nihil  est  difficultatis ;  atque  iam  patebit,  valores 
ipsius  ß  parvos  aut  magnos  non  augere  calculi  molestiam,  [50]  sed  minuere 
et  levare.  Cavendum  tarnen  erit,  ne  propter  quantitates  neglectas  nimius 
exöriatur  error;  peraeta  igitur  prima  calculi  parte,  adhibeatur  illud  correc- 
tionis  genus,  quo  supra  usus  surn  (7),  ubi  quaesito  integrali 

M  -f -i-qg2_rg  — f 

AidZ    posui  : =  ">■ 

J  pu  +  r—  qg 

Ut  satis  commode  inveniatur  /u  d  Z,  habeatur  necesse  est  Z  =  Au 
-f-Bu2-f-...  ad  hanc  autem  formam  obtinendam  plerumque^  sufficiet, 
inventis  duobus  ipsius  Z  valoribus  —  y  et  =  d,  pro  =  u    et  =  u  ,  pom 

;-  =  Au'-f  Bu'2 
et  <)  =  A  u"  -j-  B  u"2 

Versabitur  enim  calculus  in  quantitatibus  admodum  parvis;  unde  plura  for- 
tasse    orientur    commoda;    sed    ea    mihi    non    magnopere   curanda    putavi, 


So  ^  •  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.   1822. 

quoniam    totius    rei    summam    satis    mihi     videor    explicuisse    in    antece- 
dentibus. 


Quod  matheseos  proprium  est  munus  et  donum  praeclarissimum,  ut 
ex  cogitationum  temere  vagantium  nebulis  nos  eripiat,  distinctarumque 
notionum  lumen  accendat:  hoc  tantum  beneficium  etiam  in  res  psycho- 
logicas  posse  redundare,  attentionis  exemplo  iam  in  eo  sumus  ut  demon- 
stremus.  Satis  enim  cognitis  quatuor  attentionis  causis  primariis,  duabus 
positivis,  qi  et  ß,  duabas  negativis,  s  —  o  et  n,  certam  nunc  constituemus 
attentionis  mensuram. 

Attentio  procul  dubio  est  quantitas;  potest  enim  augeri  et  minui. 
Itaque  ponamus  hanc  quantitatem  =X;  patet  fore  Xdt  incrementum 
notionis,  ad  quam  dirigitur  attentio,  in  tempusculo  dt.  Revocanda  hie  in 
memoriam  sunt  ea,  quae  tradidi  supra  (5),  ubi  dixi,  attentum  vocari  eum, 
qui  sit  mente  ita  dispositus,  ut  eius  notiones  incremen ti  aliquid  capere 
possint. 

[51]  Idem  autem  incrementum  est  d  (z  —  Z);  itaque  d  (z  —  Z)  =  X  d  t, 

„        d(z— Z) 
et   a  = ;  quae  est  attentionis  mensura,  sive  ipsa   attentio,    qua- 

tenus  ut  quantitas  speetatur. 

Sepositis    igitur    omnibus    causis    seeundariis,    quibus    effici    solet,    ut 

quantitates  q,  ß,  s — o,  n,  quas  hie  pro  constantibus   habemus,  reddantur 

variabiles;  nihil  superest  negotii,  nisi  ut  evolvatur  quotiens  differentialis  modo 

propositus. 

^  .    ,      ,  dZ  dZ       dZ   du 

Calculo  determmavimus  - — ;   est  autem  — =  — . — ,  et  propter  10  u 

du  dt         du    dt         1 


=  z, 

fit 

10   du  = 

d  z; 

hinc 

d  (z  — 
dt 

Z) 

10  d 

u 

dZ   du 
du'  dt 

du 

~~~  dt 

(IO- 

dZ\ 
"du/ 

dt 

Porro 

U   : 

=  1  —  e 

-£t 

du  = 

ße~ 

-"« 

unde 

d 

(z-Z) 
dt 

=  tu 

-ßt 

(,o 

du/ 

=  ,^(1 

-u) 

(IO- 

dZ\ 
'du) 

Primo    adspectu    patet,    fore,    ut    attentio    statim    ab    initio    decrescat 

propter  factorem  e      '    ,  nisi  alter  factor    (10 )    contrario  motu  satis 

\  du/ 

celeri  progrediatur.      Quanto  maius  fuerit   ß,    tanto   maior    primo   temporis 

puncto    erit    attentio,    sed    ea   lege,    ut   quanto    maior    fuerit,    tanto    citius 

decrescat.      Perceptiones    vehementiores    fortem    quidem    excitabunt   atten- 

tionem,  sed  talem,  quae  aufugiat  rapidissimo  cursu. 

Uberius  nunc  exponam  exemplum    illud   satis   memorabile,    quo    usus 

sum  in  calculo  explicando,    ubi    vidimus,    funetionem  Z    describere   lineam 

puncto   infiexionis   praeditam;    ut   intelligatur,    qualis    in    einsmodi    casibus 

exstitura  sit  attentio. 


Caput  Secundum.     De  attentionis  causis  primariis.  ß  I 


Erat  in  illo   exemplo   ß  =  — ,   s  —  o  =  1,71  =  1,   et 

dZ  0,80194  2,0933  4.9638 

^  =  ,5  +  0,4^4^  —11,54611  +2,25711 

[52]   Invenietur  inde 

dZ 

pro  u  =  0,1,    —  =  6,49,  Attentio  =  0,63 

0,2                 7,22  0,45 

°'3                7>69  0,32 

0,4               7>Ö7  0,26 

0,5               7.82  0,22 

0,6               7,53  0,198 

°>7                7.05  0,177 

0,8               6,45  0,14 

0,9               5,79  0,08 

1                   5>23  o 

Ubi  notandum,  primo  temporis  initio  attentionem  fuisse  =  1,  celeriterque 
esse  diminutam,  antequam  functio  Z  tenderet  versus  punctum  inflexionis. 
Sed  inde  ab  u  =  0,4  usque  fere  ad  u  =  0,7  videmus  illam  lentius  decres- 

cere;  quod  ut  ad  temporis  decursum  reducatur,  apponam  has  temporis 
determinationes ; 

pro  11  =  0,4,  t==  2,55 

o,5  3,46 

0,6  4,58 

—  JLt 

Cetera  satis  patent   ex   ipsa   aequatione    u  =  1  —  e        5     .   Longe  aliter  res 

se  habebit,  si  u  =  1  —  e       -    ;  habuimus  posito  ß  =  5,  s  —  a  =  1,  n  =  1, 

dZ  .00        °'87338    1  o     ^6566  30,68 

—  =  0,2+0,0578911  +  2,2208  u  +15,7911 

du 

itaque     attentionis     factor     1  —  u     citissime     decrescit,     et     alter     factor 

dZ  dZ 

10  =  —*-    prorsus   evanescit,    ubi     - —  =  10,   quod   eventurum   est  tempore 
du  du 

finito.   Atque  hoc  multo  latius  patet;  scimus  enim,  si  ß  >  1,  [53]  semper  fieri 

dZ  ,      •      „.  •  dZ 

--  =  ZG   pro    u=  1,    unde    intelligitur   fore =  10    tempore    quodam 

du  du 

finito;  idque  tempus  necessario  finis  erit  attentionis. 

Reliquum    est,     ut     exemplum     adferam     attentionis    initio    paullulum 

crescentis.      Inventum   est  posito  ß  =  —,  s  —  0  =  3,  tt 


1 
T 


dZ  2,11714                          3,08 

T—  =  6  —  5.6  u  +  3.4  102  u  —  0,487   11 

unde   pro   u  ■=  o,  attentio  =  2 

0,1  2,04 

0,2  2,002 

0,3  1,89 

etc.  etc. 

Herbari's  Werke.     V.  1 


g2  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 

Facile  perspicitur,  attentionis  fovendae  vim  maximam  esse  in  valoribus 
minoribus  ipsius   n,  id  est,    contrarietatis    notionum;    ultimum    enim    exem- 

plum  eo  potissimum  difiert  a  superioribus,    quod   posuimus   n  =— .     IMe- 

mores  autem  semper  simus  necesse  est,  omnem  adhuc  usque  fuisse 
quaestionem  de  una  eademque  perceptione  per  aliquod  temporis  spatium 
perseverante  sine  ulla  mutatione;  quid  enim  sit  causae,  cur  variatio  delectet, 
hac  ipsa  disquisitione  sumus  edocti,  scilicet  quoniam  fieri  nullo  modo  potest, 
ut  attentio  stabilis  et  immota  in  una  re  simplici  diutius  haereat  defixa. 


[54]     Caput  tertium. 

De  iis  attentionis  phaenomenis,  quorum  ratio  ex  causis 

primariis  reddi  nequit. 


10. 


Omnis  theoria  comparanda  est  cum  experientia;  quod  in  rebus  psycho- 
logicis  ita  quidem  fieri,  ut  certörum  numerorum  instituatur  comparatio, 
rarissime  potest*;  functionum  autem  natura  satis  apparet  in  phaenomenorum 
vestigiis,  si  modo  theoria  fuerit  satis  completa.  Expositis  igitur  attentionis 
causis  primariis,  ulterius  quomodo  sit  progrediendum,  paucis  adhuc  indi- 
candum  est;  quoniam  experientia  nostra  miscet  causas  primarias  cum  secun- 
dariis.  Sunt  autem  omnes  causae  pro  secundariis  habendae,  quibus  fit,  ut 
variis  modis  mutentur  Mae  primariae. 

In  experientiam  nostram  tota  illa  atque  integra  notionum  producen- 
darum  facultas  vel  potius  possibi/i/as  (verbo  utor  minus  latino,  ne  foveam 
errorem  pessimum  de  facultatibus  certis  animo  insitis),  nunquam  potent 
cadere;  sive,  ut  signa  mathematica  repetam,  quantitas  q  abit  in  q.  — z  non 
sua  lege,  sed  minuitur  etiam  notionibus  reproductis,  quoniam  nulla  perceptio 
simplex  nobis  adeo  est  nova,  cuius  non  aliquid  ex  priore  tempore  menti 
inhaereat. 

Deinde  solemus  esse  in  duplici  fluxu  tum  cogitationum  tum  percep- 
tionum;   ut  quantitates   s  —  n    et  >t,    perpetuis    sint    mutationibus    obnoxiae. 

Quae  inde  sequantur,  exponi  non  possunt,  nisi  prius  cognitis  repro- 
ductionis   legibus. 

[55]  Omni  pressione  subita  sublata,  notionem  oppressam  qualemcunque 
emersuram  esse,  iam  supra  dixi  (4,  D).  Ponamus  hanc  notionem  =  H ; 
elapso  tempore  t  reproducta  sit  eius  quantitas  =  h;  nisus,  quo  haec  notio 
mutat  statum  suum,  insequenti  tempusculo  dt  erit  H  —  h,"  itaque  repro- 
ducetur  (H  —  h)  d  t,  idque  erit  =  d  h.      Ex  aequatione 


*  Potest  tarnen  fieri  in  re  musica ;  ut  docui  iam  pridem  in  Königsbcrger  Archiv 
für  Philosophie  etc.  Heft  IL  (s.  Bd.  III,  S.  97  ft".  vorl.  Ausgabe.)  eaque  disquisitio 
lectoribus   hie  in  memoriam  est  revocanda. 


Caput  tertium.     De  iis  attentionis  phaenomenis,   quorum  ratio  ex  causis  etc.  8^ 


(H—  h)  dt  =  dh 

dh 

sive  dt  =  — — 

H  —  h 

H 
sequitur  t  =  log 


H  — h 

et  h  =  H   (i  —  e_t) 

prorsus  eadem  ratione,  ut  vidimus  residere  iacturam  faciendam  (4,  in  fine)- 
Verumtamen  pressio  nee  subito,  nee  omnis  umquam  tollitur;  sed 
levatur  accedente  nova  pereeptione  homogenea,  iisdem  notionibus,  quibus 
illa  oppressa  tenebatur,  contraria  et  repugnante.  Itaque  reproduetio  non 
prorsus  sequitur  illam  legem  simplicem  modo  expositam,  sed  aliam  magis 
compositam;  cuius  formam  ut  quodam  modo  intelligant  lectores,  animad- 
vertänt  necesse  est,  aueta  pereeptione  recente  sensim  plus  spatii  sive  liber- 
tatis  dari  notioni  emergenti;  ut  liberiori  nisu  possit  statum  suum  mutare. 
Inde  fit,  ut  ab  exiguis  profeeta  initiis  magna  tarnen  celeritate  augeatur 
reproduetio:  expressa  enim  per  seriem  procedentem  seeundum  dignitates 
temporis,   hanc  induit  formam: 

at3  -|_bt4  -j-  . . . 

ut   appareat,   eam  statim  post  initium  propemodum  proportionem  cubi  tem- 
poris servare. 

Est  etiam  aliud  reproduetionis  genus,  ortum  a  mutuo  eoniunetarum 
notionum  auxilio;  cuius  leges  calculi  ope  determinatae  tanti  [56]  sunt 
momenti,  ut  totam  psychologiam  novo  lumine  collustrent;  quas  alio  loco 
sum  expositurus. 

1 1. 

Notio  qualiscunque,  anteriore  tempore  menti  informata,  si  cum  Omni- 
bus aliis,  quibuscum  est  coniuneta,  oppressa  et  obruta  iacet,  idque  non 
mechanicis  tantum  sed  etiam  staticis  legibus;  nihil  potest  in  definiencli» 
praesenti  animi  statu:  itaque  facultati  sive  possibilitati,  eiusdem  generis 
notionem  pereeptione  nova  denuo  coneipiendi,  nihil  omnino  praeripiet. 
Restaurata  est  igitur  tota  haec  quantitas,  quam  designare  litera  q>  consue- 
vimus.  Oborta  autem  pereeptione  homogenea,  protinus  ineipit  reproduetio ; 
quae  cum  augeatur  magna  celeritate  (10),  quantitas  q>  citissime  deminuitur; 
idque  tanto  magis  est  futurum,  quanto  saepius  eiusmodi  pereeptiones  iam 
praecesserunt,  quoniam  omnes  olim  coneeptae  notionis  homogeneae  partes 
simul   reprodueuntur. 

Observamus,  res  quotidiano  usu  familiäres  nobis  faetas  nullam  fere 
attentionem  excitare.  Versamur  in  domo,  in  platea,  oecurrunt  nobis  res 
plurimae  notissimae;  sed  earum  adspectu  minime  movemur;  persequimur 
cogitationes  eas,  puibus  eramus  oecupati.  Ubi  vero  aliquid  ineidit  novi, 
statim  oculi  intenduntur,  aures  arriguntur,  cogitationes  turbantur  et  quasi 
disiieiuntur.  Quod  fieri  minime  posset,  nisi  ea  adesset  dicriminis  ratio, 
quam  exposuimus.  Attentio  fugata  reproduetione,  redux  et  praesens  cernitur 
eodem  temporis  puncto,  quo  ab  hoc  hoste  non  premitur. 

6* 


84  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 

Ut  tarnen  semper  adversetur  attentioni  reproductio ,  tantum  abest, 
ut  potius  saepe  sociae  sint  et  amicae  coniunctissimae.  Res  aliqua  ex  parte 
iam  cognitae  multo  melius  et  firmius  percipiuntur,  quam  plane  novae  et  a 
consuetudine  abhorrentes.  Ratio  est  in  promtu.  Obest  primo  rerum 
novarum  contrarietas  n;  sunt  enim  [57]  oppositae  consuetis;  deinde  continua 
perceptionum  sive  etiam  cogitationum  novarum  series  sibi  ipsa  repugnat, 
magnumque  involvit  s  —  a,  si  tertia  et  quarta  perceptio  accedit  aequilibrio 
nondum  constituto  inter  priores.  In  consuetis  alia  res  est;  quibus  homo- 
genea  nova  ubi  accedunt,  sensim  illis  adiunguntur  quarum  ad  aequilibrium 
iamiam  erat  perventum. 

Audimus  vernaculo  sermone  saepe  hanc  querimomam:  res  novas  et 
antea  inauditas  non  posse  comprehendi,  earumque  cogitationem  aegre  eo 
adduci,  ut  consistat.  (Wir  können  das  nicht  begreifen,  flicht  verstehen.) 
Quod  tametsi  intellectui  magis  quam  attentioni  soleat  vitio  verti,  revera 
magnam  partem  redit  ad  molestiam  in  conatu  attendendi  exortam  ob 
defectum  aequilibrii.  Sane  non  est  mirum,  aegre  comprehendi  notiones, 
quibus  adversi  aliquid  vel  revera  inest,  vel  ob  cogitationes  perperam  annexas 
inesse  putatur;  fluctuant  enim  varia  reproductionum  excitata  mobilitate, 
quae  priusquam  requiescat,  consistere  non  possunt.  Multo  magis  mirandum, 
saepissime  homines  sibi  placere  in  opinione  rerum,  ut  putant,  praeclare 
exploratarum,  quas  si  recte  perspexissent,  omnino  ne  cogitari  quidem  posse 
intellexissent;  cuius  generis  esse  omnes  experientiae  formas  universales, 
priusquam  correctione  metaphysica  sint  subactae,  alio  löco  docui*.  Quae 
res  tanto  compluribus  viris  doctis  fuit  miraculo,  ut  ipsi  in  opinionum 
somniis  mallent  persistere,  quam  ad  genuinam  philosophiam  criticam  exper- 
gisci.  Ne  tarnen  in  nimiam  hoc  loco  delabamur  admirationem,  cautum 
est  in  superioribus.  Ademta  enim  molestia  aequilibrii  in  notionibus  consti- 
tuendi,  ademtus  est  sensus  contradictionum;  atqui  in  vulgaris  experientiae 
formis,  prima  infantia  conceptis,  aequilibrium  certe  nequit  deesse;  ut  vel 
ex  hac  sola  ratione  intelligatur,  quanta  vis  sit  consuetudinis  in  occultandis 
veris  theoreticae  philosophiae  principiis. 

[58]  Turbato  animi  aequilibrio  per  cogitationum  reproductarum  de- 
cursum,  impediri  attention  ein,  satis  est  manifestum.  Distingui  tarnen  possunt 
duo  attentionis  genera,  quorum  alterum  continetur  aequilibrio,  alterum 
requirit  animi  motum  vel  adeo  perturbationem.  Sunt  sane  quaedam  volup- 
tatum  illecebrae,  nee  non  doloris  et  irae  incitamenta,  quibus  mente  prorsus 
quieta  non  fere  attendimus,  etsi  multo  plus  habeant  imperii  in  eos,  quorum 
iam  in  eam  partem  declinatus  est  animus.  Hinc  ädmonemur,  posse  talem 
esse  cogitationum  reproductarum  seriem  et  continuationem,  ut  conspiret  cum 
serie  quadam  perceptionum  ;  idque  seetantur  omnes  et  oratores  et  poetae 
et  magistri,  ubi  docilem  reddere  attentionem  cupiunt.  Sentiunt  enim,  magni 
sua  interesse,  ut  minime  ipsis  resistat  auditorum  animus,  sed  sua  sponte 
in  eam  partem  vergat,  in  quam  ipsi  ducere  velint.  Itaque  nunquam 
longins  deflecti  eos  oportet  ab  exspeetatione  nostra,  nee  immiscere  eius- 
modi  aliquid,   quod  possit   a  re  alienum  videri;    aliquant ulum    tarnen    deci- 


*  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie,  vierter  Abschnitt,  (s.  Bd.  IV  vorl. 
Ausgabe.) 


Caput  tertium.     De  iis  attentionis  phaenomenis,  quorum  ratio  ex  causis  etc.  85 


pere  exspectationem  solent,  ut  novitati  consulant;  sed  ea  cautione,  ne  rum- 
patur  cogitationum  filum,  quod  ubi  semel  acciderit,  operam  perdiderunt. 
Maxime  autem  ridiculi  sunt,  qui  coelum  et  terram  et  Acheronta  moventes 
et  miscentes,  nihil  proficiunt;  quoniam  nee  praesenserunt,  quamnam  in 
partem  secuturus  sit  lectoris  animus,  nee  intelligunt,  imaginum  diversissi- 
marum  notiones  temere  cumulatas,  ipsius  contrarietatis  mole  et  pondere 
necessario  ita  corruere,   ut  praeter  taedium  nihil   relinquatur. 

12. 

m 

De  voluntatis  potestate  in  attentionem  quaerentibus,  duplex  parata 
ex  superioribus  est  responsio.  Primo  enim  vim  habet  voluntas  agendi  in 
illas  causas  attentionis  primarias;  deinde  alio  impulsu  agit  in  reproduc- 
tionem,   ut  per  hoc  quasi  medium  tendat  versus   eundem  finem. 

[59]  In  causam  primam  q  voluntatis  imperium  est  nulluni;  ut  per  se  patet. 
Alteram,  ß,  saepissime  mutamus  pro  arbitrio,  per  actiones  externas,  sensus 
manusque  vel  etiam  res  obieetas  vel  admovendo  vel  retrahendo,  ut  per- 
ceptiones  fiant  vel  fortiores  vel  remissiores.  Actione  autem  interna  po- 
tissimum  nobis  subiieimus  causam  tertiam  s  —  rr;  eaque  actio  eultiori  vitae 
atque  honestati  et  virtuti  maxime  est  propria.  Sapientis  esse,  animum 
servare  liberum  a  perturbationibus,  omnes  norunt;  itaque  quatenus  homines 
sapiunt,  omni  opera  et  diligentia  enituntur,  ut  quam  proxime  semper 
accedant  ad  mentis  aequilibrium.  Tendit  eodem  omnis  fere  cura,  qua 
mens  ut  sit  sana  in  corpore  sano,  studemus  efficere.  Ubi  notandum, 
prudentium  voluntatem  saepe  suecurrere  imbecillitati  aliorum;  attentio  enim 
vi  et  minis,  vel  etiam  preeibus  et  exhortationibus,  solet  excitari ;  qua  ratione 
liberi  quidem  animorum  motus,  artibus  excolendis  apti,  ad  eftectum  nun 
perdueuntur  (quos  etiam  in  nobismet  ipsis  voluntati  non  parere  seimus); 
sed  proterva  petulantia  effrenataeque  libidines  hoc  modo  coercentur;  et  ad 
sanitatem  revocantur. 

Quarta  causa  primaria  n  non  ita  quidem  pendet  a  voluntate,  ut 
nunc  cum  maxime  possimus  pro  arbitrio  pereeptionum  recentium  et  notio- 
num  iam  dudum  menti  insitarum  contrarietatem  et  contentionem  vel 
minuere  vel  augere:  sed  tota  forma  voluntatis,  quem  charaetcrem  hominis 
vocare  solemus,  res  novas  vel  repudiat  vel  adsciscit;  atque  ita  maximam 
in   attentionem   vim  exercet. 

Reproductio  quomodo  dirigatur  voluntate,  res  est  a  nostro  proposito 
aliena;  sed  quomodoeunque  id  fiat,  transeat  effectus  necesse  est  in  atten- 
tionem, quam  seimus  multis  modis  affici  a  reproduetione.  Quamobrem 
etiam  voluntatis  in  ipsam  voluntatem  imperium  huc  pertinet,  minime  quidem 
absolutum,  nee  miraculum,  neque  tarnen  omnino  negandum.  Sed  sentiant 
velim  Tectores,  plurima  esse  in  psychologia  quae  nesciant,  quorumque  cog- 
noscendorum l  nulla  [00]  umquam  sit  spes,  nisi  tractentur  simili  ratione 
qua  usus  sum  in  altero  huius  libelli  capite,  ubi  primarias  quidem  atten- 
tionis causas  in  lucem  satis  mihi  videor  protraxisse. 


1   quarumque  cognoscendarum   O    (Druckfehler.) 


86  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 


Absoluta  hac  scriptione,  cum  iam  in  eo  essem,  ut  typis  excudendam 
dimitterem,  feliciter  mihi  contigit,  ut  collega  aestumatissimus  Bessel,  astro- 
nomus  celeberrimus ,  ad  me  visendum  veniret:  quocum  in  eiusmodi 
s-ermones  deductus  sum,   ut  ei  quid  nuperrime    egerim,    narrare,    et    aequa- 

1 

m  d  u  -J-  n  ( 1  —  u)  P  du 

tionem   dZ  = — - proponere     non     dubitarem. 

pu  —  qZ  +  r 

Summum  virum,  cui  nihil  in  mathesi  est  arduum,  si-  adirem,  magna  me 
posse  molestia  liberari,  iamdudum  intellexeram ;  sed  fuerat  verecundia,  ne 
ipsius  otium  circulusque  turbarem;  periclitari  etiam  volebam,  quid  meis 
viribus  possem.  Re  cognita,  illius  tarn  insignis  fuit  humanitas,  ut  statim 
de  aequatione  se  meditaturum  polliceretur ;  aliquot  autem  diebus  elapsis, 
de    eo,  quod  invenisset,  per  literas  his  verbis  certiorem  me  faceret: 

„  Vo?i  so  verschiedenen  Seiten  ich  Ihr  Differential  auch  anzusehen  be- 
„müht  gewesen  bin,  so  hat  sich  mir  doch  keifte  zeigen  wollen  -weiche 
„seine  Integration  gäbe.  Ich  habe  es  verschiedene  Male  vorgenommen 
„und  wieder  liegen  lassen,  in  der  Zwischenzeit  aber  nie  meine  Gedanken 
,, davon  entfernt;  alles  ist  fruchtlos  gewesen]  und  am  Ende  bin  ich  fast 
..überzeugt  worden,  dafs  nur  eine  successive  und  ganz  kunstlose  Näherung 
..zum  Ziele  führen  kann.  ,,Ich  meine  dies  so,  dafs  man  das  Integral, 
..durch  die  Reihe 

Z  =  a  s  +  , j  s  2  +  y  s  3  +  .  .  . 

„von  u  =  k  bis  u  =  k  +  s  sucht,  wo  s  so  klein  genommen  werden 
,,mufs,  dafs  die  höhern  Glieder  verschwinden,  und  ivo  die  Coefficienten 
„aus  den    Gleichungen    [61] 

25-I5  (l-k)4=      «(2  +  Sk-^Z') 

+  60(1—  k)3  =2/?(2  +  8k — -Z')  +    a(8—±u) 
-9o(i-k)*=3y(2  +  8k-^-Z')+^(8— £-«)— J«Ä 


|-6o  (i-k)    =4<S(2  +  8k-  i-z') +37(8-  i-«)-i-i2- 


5 


-15  =  5*  (2  +  8k-fZ0  +  4*(8-f«)-fy/?-f/Sy-f«<> 


„abgeleitet  werden.  Der  Wer/h  Z',  von  Z,  ist  bekannt,  dadurch  dafs 
„man  von  k=o  anfängt,  und  bis  k  +  s  =  0, 1  fortgeht;  dann  von 
,,k  =  o, I  bis  k  +  s,  so  eveil  es  gehl,  u.  s.  w.  —  -wodurch  man,  'wenn 
..man  nur  die  Rechnung  flicht  scheitet,  Jede  beliebige  Genauigkeit  er- 
klangen  kann.'1 

Lectores    ne    haereant    in    numeris,    quibus    cel.     Bessel    est    usus, 
dicendum  mihi  est,  illum  respexisse  ad  aequationem  supra  (7)  propositam 

312,5   du —  187,5   (J — u)4du  =  (ioou — ioZ  +  25)dZ, 
quae  multiplicata  per  —  abit  in  hanc  formam : 

25   du  —   15   ( 1  —  u)-*  du  =  (8  u  —  0,8  Z  +  2)  d Z 


Captit  tertium.     De  iis  attentionis  phaenomenis,  quoram  ratio  ex  causis  etc.  87 

Methodus  tradita  non  toto  genere  mihi  differre  videtur  ab  illa,  quam 
exposueram  loco  saepius  commemorato  {Königsberger  Archiv  Heft  III), 
ubi  scripsi: 

„Man  setze  1  —  e  =  u,   und 

Z==Au-f-  Bu2  +Cu3  -f-Du+  -f.  ... 

,,Aas  dieser  Reihe  suche  man  für  irgend  ein  hinreichend  kleines  t  den  Werth 
von   Z   mit    der    Genauigkeit    die    man    verlangt.      Alsdann    setze    man    iveiter 

m  —  e  =  v,   und 

Z  =  A'  +  B'y  +  C'y 2  +  D'y  4  -f  . . .  1 
„Hier   ist  m   eine  noch   unbestimmte  Grösse,   der  man   zu   zuiederhohlten  Malen 
einen  andern  und  andern   Werth  beylegen  wird.    Man  habe  nämlich  vorhin  für  ein 
Heines  t  den    Werth   Z  =  u  gefunden    [62]    so   berechne   mau  aus  demselben   t 

auch  e  ,   und  setze  dieses  =  m,  folglich  y  =  o,   und  daher  A'  =  Z  =  «. 

Nun  werden  sich  B',  C',  D',  und  so  weiter,  auf  gewohnte  Weise  bestimmen 
lassen;  die  Reihe  wird  für  etwas  grössere  t,  als  die  er  st  er  e  gestaltete,'1  brauch- 
bar sej'n,  und  man  wird,  sobald  es  nöthig  ist,  das  nämliche  Verfahren  er- 
neuern  können." 

Cum  ab  ill.  Bessel  rem  suseeptam  et  serio  traetatam  viderem,  tem- 
perare  mihi  non  potui,  quin  novis  preeibus  instarem,  ut  de  methodo, 
quam  in  hoc  commentario  exposui,  iudicium  ferret.  Postridie  bene  mane 
chartis,  quas  miseram,  mihi  relatis,  repulsam  me  tulisse  putabam;  legens 
autem  epistolam  adiunetam  vix  sanis  oculis  uti  mihi  \idebar.  Vir  gra- 
vissimis  observationibus  et  ealculis  semper  ineumbens,  unde  se  distrahi 
aegerrime  pati  solet,  non  ea  tantum  perlegerat,  de  quibus  ut  iudicaret 
petieram,  sed  numerorum  etiam  meo  calculo  inventorum  veritatem  explora- 
turus,   ipse  molestissimam   rationem  perfecerat:   ut  viginti  numeros,  qui  sunt 

totidem  valores  ipsius    Z  et   ,    possim    illiüs    beneficio    cum    lectoribus 

du 

communicare!      Ita   huius    viri    et    benevolentiam    et    assiduitatem    aequari 

perspexi  egregiae  in  rebus  adversis    fortitudini    (quam    ante    aliquot    annos 

cognoveram,    cum    laesus    rabiosi    canis    morsu    putaretur,    miserrimaeque 

mortis  imagine  et  acris  medicinae  doloribus  asperrimis  simul  exeruciaretur) ; 

quantum  autem  polleat  sagacitate  et  acumine,    meum    non    est    praedicare, 

cum    in    mathematicorum     prineipibus     iamdiu     ab    universo    orbe    literato 

habeatur. 

Numeri,    ab    ipso    methodo    illa,     quam     praeeeperat,     inventi,     hie 

sequuntur. 

[63]    u  =  o,        Z: 

0,1 
0,2 

o,3 
0,4 


dZ 


0, 

du 

=  5» 

0,5810 

1.2755 
2,0293 

2,8070 

6,4914 
7>3096 
7,7068 
7,8038 

1  Z  =--  Au  -f-  Bus  +  Cu*  4-  .  .  .  .  SW. 

2  gestattete  SW. 


88  IV.  De  attentionis  mensura  causisque  primariis.    1822. 

dZ 

u  =  o,       Z  =  o,  — —  =  5, 

du 

0,5  3.5828  7,6787 

0,6  4,3376  7,3925 

o,7  5,°579  7,0007 

o,8  5-7359  6,5531 

0,9  6,3680  6,0888 

1  6,9541  5,6347 

Investigavit    etiam    punctum    inflexionis,     eiusque     locum     assignavit     esse 
u  =  0,3901. 

Instituta  comparatione  primo  meum  calculum  in.  eo  reprehendere 
debeo,  quod  statim  ab  initio  non  satis  curae  adhibuerim  in  determinandis 
coefficientibus  seriei  divergentis  primitivae 

Z  =  5u-j-  iou2  —  21,66  . .  u3  -j-  49,16  . . .  u4  —  ... 
haue   enim    solam   ob  rationem  fieri  potuit,  ut  neglecto  termino   quinto    et 

sexto  invenirem  pro  u  =  0,1,  Z  =  0,5832,  et  — —  =  6,4964;  cum  ratio 

du 

dZ 

celeberrimi  Bessel  pronuntiaverit  esse  Z  =  0,5810  et  =  6,4914. 

du 

Sed  eo  magis  mirum  est,  meum  calculum  in  fine,  pro  u  =  I,  ubi 
necessario  est  omnium  errorum  congeries,  non  longius  aberasse;  inveni 
enim  Z  =  6,947  .  .  .  quod  parum  differt  a  =  6,954  .  .  .  Itaque  vitium 
non  methodo,  qua  usus  sum,  videtur  inhaerere,  sed  esse  in  numeris,  quos 
nullo  fere  negotio  potuissem  aecuratius  exhibere.  Ceterum  patet,  eiusmodi 
vitia  usum  psychologicum  minime  turbare:  [64]  res  autem  secus  se  haberet, 
si  punctum  inflexionis  me  latuisset;  quod  melius,  quam  arbitrabar,  est 
inventum. 

Monuit  tarnen  cel.  Bessel,  methodum  meam  non  tarn  late  patere, 
ut    constantium    valoribus   quibuseunque    sufriciat.      Qua    in    re    speetandus 

1 

•     •  •         m  + n  ( r  —  u)  ^ 

est  denominator  fractioms   propositae ;   augetur  enim 

p  u  -j-  r  —  q  Z 

error  commissus  in  determinando  Z  per  coeffieientem  q;  meusque  calculus 

totus  everteretur,  si  fieri  posset,  ut  esset  q  Z  >  p  u  -j-  r.     Respiciant  autem 

lectores    ad    supra    dieta  (6,  II),    ubi    reperient,    eiusmodi    casus    vix    fingi 

posse :  nulla  certe  adest  ratio,  cur  ponamus,  a,  b,  q  ,  esse  fractiones  genuinas. 

Variae  tarnen  admitti   debent    rationes   qZ  :  (pu-f-r),    ea,    qua   usus   sum, 

aliae  magis,  aliae  minus  commodae;  quocirca  in  eligendis  valoribus  ipsius 

u    interdum     tardius     erit     procedendum,     terminorumque    /<  u       numerus 
eiugendus. 

Alio  monito  vir  excellentissimus  notavit  proportionem  dZ  :pudZ 
=  w  :  v ;  atque  censuit  esse  v  =  p  u  w  -j-  p/ö  Z  .  d  u,  ut  fd  Z  .  d  u  omnes 
complectatur  errores  inde  ab  u  =  o  commissus  in  valoribus  funetionis  Z 
determinandis.     Verum  observavit  ipse  iudex  aequissimus,    idem   fere    iam 

dictum    esse    in    annotatione    mea,    de   correctione    singulis    terminis  /tu 
adhibendis. 


Caput  tertium.      De  iis  attentionis  phaenomenis,   quorum   ratio  ex  causis   etc.  8o 


Adiecit  quaedam  de  methodo  mea,  significans  eam  et  novam  et 
casibus  non  rarissimis  esse  applieandam;  quae  an  amicitiae  magis  quam 
ipsi1   rei  sint  tribuenda,   videant  alii. 

Quicquid  sit,  confirmato  iam  animo,  atque  in  mathematicis  rebus 
explanandis,  viribus  meis  paullo  minus  diffisus,  pergam  ad  altiora  in  psycho- 
logia,  cum  primum  expoliendis  iis,  quae  dudum  [65]  paravi  manus  admo- 
vere  per  otium  licuerit.  Nihil  enim  curo,  nisi  ut  intelligantur,  quae  dico; 
nihil  autem  habeo,  quod  doceam  mathematicos,  nisi  rem  unicam:  esse  ali- 
quam  provinciam,  ad  hucusque  ab  iis  intactam  (ne  ditam  iis  incognitam), 
quae  tarnen  ad  matheseos  ditionem  aliqua  ex  parte  pertineat,  et  sine  eius 
auxilio  nullo  modo  recte  possit  exeoli.  Hanc  rem,  philosophis  nostri 
temporis  miram,  incredibilem,  abominandam,  mathematicis  tarn  dilucide 
exponi  posse  spero,  ut  eam  sibi  suscipiendam  esse  putent.  Quod  ubi 
eftecero,  officio  functus  mihi  videbor;  nara  sat  scio,  errorum  latebras  maxime 
reconditas  novo  veritatis   sole  iri   collustratum. 


1  ipsae  O. 


V. 
UEBER   DIE 

MOEGLICHKEIT  und  NOTHWENDIGKEIT, 

MATHEMATIK  auf  PSYCHOLOGIE 

ANZUWENDEN. 

Vorgelesen  in  der  Königlichen  Deutschen  Gesellschaft,  am  18.  April 

1822. 

[Text  nach  SW  VII,  S.    129—172.] 


Citirte  Ausgaben. 

KlSch  =  J.   F.   Herbart's  Kleinere  Schriften  (Bd.   II,   S.   417  —  458),    herausgegeben 
von  G.  Hartenstein-. 


Vorwort. 


[131]  Es  trifft  sich  zuweilen,  dafs  leicht  hingeworfene  Aufsätze  glück- 
licher sind  im  Publicum,  als  gründliche  Abhandlungen,  besonders  wenn  es 
darauf  ankommt,  von  neuen  Theorien  die  ersten  Grundbegriffe  bekannter 
und  geläufiger  zu  machen.  Auf  solches  Gerathewohl  hin  lasse  ich  diese 
Blätter  abdrucken,  deren  Haupttheil  in  der  letzten  Sitzung  der  hiesigen 
königlichen  deutschen  Gesellschaft  mit  gefälliger  Aufmerksamkeit  angehört 
wurde.  Meine  ursprüngliche  Absicht  war  blofs,  eine  zur  wissenschaftlichen 
Unterhaltung  bestimmte  Stunde  passend  auszufüllen;  hiedurch  fand  ich 
mich  in  Form  und  Materie  beschränkt.  Allein  man  lieset  schneller,  als 
ein  mündlicher  Vortrag  gesprochen  wird;  um  nun  den  Lesern  ebenfalls 
für  eine  Stunde  Beschäftigung  darzubieten,  habe  ich  Anmerkungen  hinzu- 
gefügt; und  dies  gewährte  mir  zugleich  den  Vortheil,  mich  über  Manches 
ausführlicher  äufsern  zu  können.  Unter  die  Anmerkungen  hat  der  Zufall 
eine  polemische  gemischt,  die  meine  allgemeine  praktische  Philosophie 
betrifft;  ein  schon  im  Jahre  1808  herausgegebenes  Buch,  das  aber  noch 
heute  meine  Ueberzeugung  treulich  ausspricht,  und  das  ich  eben  in  dem 
Maafse  deutlicher  und  vollständiger  werde  vertheidigen  können,  wie  meine 
psychologischen  Darstellungen  weiter  vorrücken.  Praktische  Philosophie 
und  Psychologie  stehn  in  solcher  Verbindung,  dafs  jede  von  den  Fehlern 
der  andern  leiden  mufs,  und  beide  nur  wechselsweise  davon  können  ge- 
reinigt werden.  Zuerst  mufs  man  wissen,  dafs  die  Principien  der  erstem 
nicht  in  Geboten,  sondern  in  willenlosen  Urtheilen  bestehn;  sonst  sucht 
man  in  der  zweiten  nach  einer  gebietenden  praktischen  Vernunft  als  einem 
Grundvermögen  der  menschlichen  Seele,  welches  die  Psychologie  nicht 
nachweisen  kann,  weil  es  nicht  [132]  existirt.  Dann  mufs  man  in  der 
Psychologie  den  menschlichen  Geist  in  seinem  Fortschreiten  von  den 
niedrigsten  bis  zu  den  höhern  Stufen  gleichsam  beobachtet  haben;  sonst 
behalten  die  sittlichen  Urtheile,  Gefühle,  Ueberlegungen,  Entschlüsse,  Regeln, 
Grundsätze  und  Systeme  immer  etwas  Geheimnifsvolles,  welches  so  lange 
die  Ueberzeugung  stört  und  irrt,  wie  lange  man  nicht  ein  jedes  von  dem 
Allen  an  seinem  rechten  Orte  erblickt,  wo  es  sich  natürlich  bildet,  und 
eben  darum  sich  in  seinem  wahren  Werthe  behaupten  kann.  Kein  Wunder, 
dafs  Theologen,  die  von  den  wissenschaftlichen  Untersuchungen  über  diese 
Gegenstände  keinen  Begriff  haben,  sich  in  ängstliche  Grübeleien  über  den 
Ursprung  des  Bösen  verlieren;  wenn  sie  aber  bis  zu  dem  anmaafsenden 
Klageruf  fortschreiten,  „unkräftig  sei  alles,  was  die  Philosophen  statt  des 
Christen  t hu  ms  geben,"  so  bleibt  nichts  übrig,  als  sie  ernstlich  zurechtzu- 
weisen;  denn  ihre  Gespensterfurcht  ist  nicht  blofs  ansteckend,   sondern  sie 


Q4  Vorwort. 

kann  selbst  die  Quelle  von  vielem  Bösen  werden.  Indessen  sind  sie  in 
sofern  zu  bedauern,  als  zu  ihren  andern  Träumen  auch  noch  der  von 
Philosophen  kommt,  die  statt  des  Christenthunis  Etwas  (ich  weiss  nicht 
was)  geben  wollen;  finden  sie  einen,  dem  ein  solches  Projekt  im  Kopfe 
steckt,  so  dürfen  sie  ihn  sicher  für  einen  Phantasten  halten;  denn  als 
Philosoph  würde  er  ganz  andere   Geschäfte  zu  besorgen  haben. 

Mit  der  reifsten  Ueberzeugung  und  dem  tiefsten  Gefühle,  dafs  gerade 
dasjenige  Geschäft,  welchem  ich  nicht  blofs  dies  Büchlein,  sondern  seit  Jahren 
meine  besten  Kräfte  gewidmet  habe,  zu  den  nothwendi<rsten  und  dringend- 
sten  gehört,  die  jemals  in  der  wissenschaftlichen  "Welt  können  unternommen 
werden,  verbinde  ich  zugleich  das,  manchmal  niederschlagende,  Bewufstsein, 
dafs  ich  mich  glücklich  schätzen  mufs,  wenn  ich  es  nur  so  weit  bringe, 
anzufangen,  was  ich  Andern  zur  Vollendung  werde  überlassen  müssen. 
Und  zu  meinem  grofsen  Schmerze  sehe  ich:  unsre  Zeit  hat  zwar  Kräfte 
genug  zum  Vollbringen,  aber  diese  Kräfte  sind  zersplittert,  statt  dafs  frühere 
Jahrhunderte  sie  wenigstens  zuweilen  vereinigt  sahen.  Jetzt  sind  hier  Mathe- 
matiker, und  dort  Philosophen;  als  ob  man,  ohne  beides  zugleich  zu  sein, 
ein  ächter  Wahrheitsforscher  sein  könnte!  Unsre  heutige  Mathematik  ist 
so  reich,  so  ausgedehnt,  dafs  sie  ihren  Verehrern  nicht  Zeit  gönnt,  noch 
etwas  [133]  Anderes  zu  bedenken.  Von  unsern  philosophischen  Schulen 
hat  die  eine  so  viel  zu  phantasiren,  zu  combiniren,  zu  deuten,  und  zu 
polemisiren,  dafs  sie  zum  Untersuchen  nicht  kommt;  eine  andre  schwelgt 
in  Gefühlen,  und  wiegt  sich  mit  Einbildungen  von  der  Nichtigkeit  aller 
Demonstration  in  einen  süfsen  Schlaf;  eine  dritte,  freier  von  Vorurtheilen 
als  jene  beiden,  ist  so  ungelenkig,  so  steif  und  starr,  dafs  sie  immer  das- 
selbe wiederholt  und  nie  von  der  Stelle  kommt.  Unterdessen  wächst  der 
Empirismus  wie  Unkraut;  und  wo  ein  Streben  nach  dem  Hohem  rege 
wird,  da  fehlt  die  rechte  Zucht,  und  alle  Verführung  der  Schwärmerei  findet 
leichtes   Spiel  mit   Köpfen  voll  untergeordneter  Gedanken. 

Man  kann  das  Zeitalter  nicht  wählen,  in  dem  man  leben  und  wirken 
möchte;  ich  gebrauche  meine  Tage  nach  Gelegenheit  und  Kraft,  wie  Andre 
das  benutzen  werden,  was  ich  darbiete,  das  fällt  ihrem  Willen  und  ihrer 
Verantwortung  anheim. 


[_ 1 34J    Höchstgeehrte  Anwesende! 

Da  uns  die  königliche  deutsche  Gesellschaft  den  bequemsten  und 
schicklichsten  Vereinigungspunkt  darbietet,  um  uns  von  der  Richtung  unserer 
wissenschaftlichen  Forschungen  gegenseitig  in  Kenntnifs  zu  setzen :  so  habe 
ich  geglaubt,  für  die  heutige  Sitzung,  in  welcher  mir  die  Ehre  Ihrer  ge- 
neigten Aufmerksamkeit  zu  Theil  wird,  von  der  günstigen  Gelegenheit 
Gebrauch  machen,  und  einen  Gegenstand  ankündigen  zu  dürfen,  der 
freilich  abstract  scheinen  mag,  der  jedoch  gewifs  von  allgemeinem  Interesse 
ist.  Sokrates  wird  von  allen  Jahrhunderten  gelobt,  dafs  er  die  Philosophie 
vom  Himmel  zur  Erde  und  zu  den  Menschen  herabgerufen  habe;  wenn 
er  aber  heute,  wieder  erstanden  und  bekannt  mit  dem  Zustande  unserer 
Wissenschaften,  noch  einmal  zum  Himmel  hinaufblickte,  um  von  dort  etwas 
Heilsames  für  die  Menschen  herunter  zu  holen ,  so  würde  er  da  oben 
weit  weniger  die  heutige  Philosophie,  als  die  Mathematik,  geschäftig,  und 
in  ihren  Bemühungen  mit  dem  glücklichsten  und  glänzendsten  Erfolge 
gekrönt  finden.  Da  möchte  es  ihm  denn  wohl  einfallen  zu  fragen:  „Saget 
mir,  o  ihr  Vortrefflichen,  was  ist  besser,  die  Seele  oder  das  Körperliche  ? 
Was  ist  euch  wichtiger,  die  Nutation  der  Erdaxe  oder  das  Schwanken  eurer 
Meinungen  und  Neigungen?  Was  ist  euch  nöthiger,  die  Stabilität  des 
Sonnensvstems  oder  die  Befestigung  eurer  Grundsätze  und  Sitten?  Wovon 
leidet  ihr  mehr,  von  den  Perturbationen  der  Planeten  oder  von  den  Re- 
volutionen eurer  Staaten?  —  Und  wenn  die  Mathematik  ein  so  vortreff- 
liches Werkzeug  eurer  Nachforschungen  ist,  warum  versucht  ihr  denn  nicht, 
es  zu  brauchen  bei  dem,  was  euch  das  Wichtigste  und  Nöthigste  ist? 
Oder  wenn  die  Mathematik  bei  euch  im  höchsten  Ansehen  steht,  so  dafs 
ihr  geneigt  seid,  sie  allen  andern  Wissenschaften  vorzuziehen:  warum  ver- 
urtheilt  [135]  ihr  sie  denn,  entweder  solche  Gegenstände  zu  bearbeiten, 
die  euch  so  ferne  stehen,  dafs  sie  noch  kaum  die  Neugierde  einiger  wenigen 
Gelehrten  reizen  können,  oder  so  nahe  bei  euren  gemeinsten  sinnlichen  Be- 
dürfnissen und  Wünschen,  dafs  die  Beschäftigung  damit  fast  zu  der 
niedrigen  Klasse  der  banausischen  Künste  herabsinkt?"  Wenn  Sokrates 
so  fragte:  wollten  wir  ihm  etwa  antworten,  die  Mathematik  arbeite  ja  auch 
in  unsern  Zeughäusern,  und  vor  den  Wällen  belagerter  Städte?  Sie  lehre 
uns,  den  menschlichen  Kunstfleifs  nicht  blofs  zu  beleben,  sondern  auch 
zu  zerstören?  So  möchten  wir  doch  wohl  nicht  wagen,  uns  dem  Spotte 
des  bekanntlich  sehr  ironischen  Mannes  Preis  zu  geben.  Doch  mit  welchem 
Netze  von  Fragen  er  uns  umstricken,  und  wie  künstlich  er  uns  aus  unsern 
gewohnten  Vorstellunesarten  heraus  winden  und  ziehen  würde:  wer  möchte 
es  wagen,  geehrteste  Anwesende,  das  darzustellen?     Wenigstens    ich  wage 


o6     AT.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Nothwendigkeit,  Mathematik  aut  Psychologie  anzuwenden. 

es  nicht;  und  um  desto  weniger,  da  etwas  Anderes  mir  näher  liegt,  als 
die  Art,  wie  sich  etwa  Sokrates  über  unsere  beschränkte  Anwendung  der 
Mathematik  wundern  würde.  Mir  ist  es  nämlich  nicht  unbekannt  geblieben, 
dafs  man  sich  über  meine  Versuche,  der  Mathematik  ein  Geschäft  in  der 
Psychologie  zu  geben,  gewundert  hat,  und  dafs  diese  Verwunderung  ganz 
kürzlich  durch  die  von  mir  herausgegebene  Abhandlung  über  das  Maafs 
und  die  allgemeinsten  Bedingungen  der  Aufmerksamkeit,*  von  neuem  ist 
angeregt  worden.  Je  geringer  nun  die  Anzahl  der  Leser  eines  Aufsatzes 
sein  wird,  der  eine  verwickelte  Differentialgleichung  behandelt:  desto  mehr 
mufs  ich  darauf  gefafst  sein,  dafs  man  es  dabei  lassen  werde  sich  zu 
wundern,  ohne  sich  genauer  um  die  Sache  zu  bekümmern.  Deshalb  habe 
ich  mich  entschlossen,  einmal  in  anderer  Sprache,  als  in  algebraischen 
Zeichen,  einen  kurzen  Bericht  über  mein  Unternehmen  abzustatten ;  ein 
Unternehmen,  dessen  erste  Anfänge  noch  in  die  letzten  Monate  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  fallen,  ja  dessen  Keim  ich  eigentlich  noch  früher  in 
der  fichte'schen  Schule  fand  (i);  und  womit  ich  seitdem,  zwar  oft  und 
lange  unterbrochen,  doch  ohne  je  den  Faden  zu  verlieren,  beschäftigt  war 
(2),  jetzt  aber  von  neuem  mit  der  ernstlichen  Absicht  beschäftigt  bin, 
nicht  eher  abzulassen,  als  bis  ich  meine  Vorarbeit  geübtem  Mathematikern 
zur  Fort[i3ö]setzung  darbieten  kann.  In  dem  Bericht  über  dieses  mein  Unter- 
nehmen werde  ich  die  Scheingründe,  von  denen  die  vorerwähnte  Ver- 
wunderungherrührt, voranstellen;  und  erst  nach  deren  Beantwortung  hoffe  ich 
geneigtes  Gehör  für  die  Nachweisung,  dafs  Mathematik  auf  Psychologie 
anzuwenden  möglich,  und  dafs  es  nothwendig  sei  (3).  Eine  kurze  Bemerkung 
darüber,  dafs  diese  meine  Untersuchung  sich  in  der  That  nicht  blofs  auf  Psy- 
chologie beschränkt,  sondern  dafs  sie  entferntere  Beziehungen  auf  Physiologie 
und  auf  die  gesammte  Naturwissenschaft  hat,  soll  den  Beschlufs  machen. 
Der  erste  von  den  Scheingründen,  die  mir  entgegenstehen,  ist  seiner 
wahren  Natur  nach  nichts  anderes,  als  die  alte  Gewohnheit;  den  Worten 
nach  aber  lehnt  er  sich  an  eine  völlig  unwahre  Behauptung.  Man  hat 
nie  gehört,  dafs  die  Mathematik  anders  angewendet  sei,  als  auf  Gegen- 
stände, die  entweder  selbst  räumlich  sind,  oder  sich  doch  räumlich  dar- 
stellen lassen;  z.  B.  auf  Kräfte,  die  mit  gewissen  Entfernungen  wachsen 
oder  abnehmen,  und  deren  Erfolge  man  messen  oder  scharf  beobachten 
kann.  Man  sieht  aber  nicht  ein,  welches  Maafsstabes  sich  Jemand  be- 
dienen könnte,  um  das  Geistige  in  uns,  das  Wechselnde  in  unsern  Vor- 
stellungen, Gefühlen  und  Begierden,  seiner  Gröfse  nach  zu  bestimmen  und 
zu  vergleichen.  Unsre  Gedanken  sind  schneller,  wie  der  Blitz;  wie  sollten 
wir  ihre  Bahn  beobachten  und  verzeichnen?  Die  menschlichen  Launen 
sind  so  flüchtig  wie  der  Wind,  die  Stimmungen  so  ungewifs  wie  das 
AVetter;  wer  kann  hier  gegebene  Gröfsen  finden,  die  sich  unter  das  Gesetz 
einer  mathematischen  Regelmäfsigkeit  bringen  liefsen?  Wo  man  nun  aber 
nicht  messen  kann,  da  kann  man  auch  nicht  rechnen;  folglich  ist  es  nicht 
möglich,  in  psychologischen  Untersuchungen,  sich  der  Mathematik  zu  be- 
dienen.  —  So    lautet    der  Svllogismus,    welcher   sich    aus    dem  Kleben    an 


*  De  attentionis  mensura  caxisisque  primariis.    Regiomonti  1822    (s.   Xo.  IV  vorl. 
Bandes). 


V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden,      gj 

dem  Gewohnten  und  aus  einer  augenscheinlichen  Unwahrheit  zusammen- 
setzt.     Es  ist  nämlich,   um  beim  letzten  anzufangen,  ganz  falsch,  dafs  man 
nur  da  rechnen  könne,  wo  man  zuvor  gemessen  hat.     Gerade  im  Gegen- 
theil!     Jedes  hypothetisch   angenommene,  ja  selbst  jedes  anerkannt  unrich- 
tige Gesetz   einer  Gröfsenverbindung  läfst  sich  berechnen;  und    man    muß 
bei  tief  verborgenen,  aber  wichtigen  Gegenständen  sich  so  lange  in  Hypo- 
thesen versuchen,  und  die  Folgen,  welche  aus   denselben   fliefsen   würden, 
so  genau  durch   [137]  Rechnung  untersuchen,  bis  man  findet,  welche  von 
den  verschiedenen  Hypothesen  mit  der  Erfahrung  zusammentrifft.     So  ver- 
suchten die  altem  Astronomen  excentrische  Kreise,  und  Kepler  versuchte 
die  Ellipse,  um  darauf  die  Bewegungen  der  Planeten  zurückzuführen,    der 
nämliche  verglich   die  Quadrate    der  Umlaufszeiten   mit   den  Würfeln   der 
mittlem  Entfernungen,   ehe   er  deren   Uebereinstimmung  fand;    desgleichen 
versuchte  Newton,  ob    eine  Gravitation,    umgekehrt   wie    das  Quadrat   der 
Entfernung,  hinreiche,  den  Mond  in  seiner  Bahn  um  die  Erde  zu  erhalten; 
hätte    aber    diese    Voraussetzung   nicht   genügt,    so    würde    er    eine    andre 
Potenz,    etwa    den  Würfel    oder    die    vierte    oder    fünfte  Potenz    der  Ent- 
fernung zum  Grunde  gelegt,  und  die  Folgen  daraus  abgeleitet  haben,  um 
sie  mit  den  Erfahrungen  zu  vergleichen.     Das  eben  ist  die  gröfste  Wohl- 
that  der  Mathematik,  dafs  man   lange   vorher,    ehe    man    hinreichend    be- 
stimmte Erfahrungen  besitzt,  die  Möglichkeiten  überschauen  kann,  in  deren 
Gebiet  irgendwo  die  Wirklichkeit  liegen  mufs:  daher  man  denn  auch  sehr 
unvollkommene    Andeutungen    der    Erfahrung    benutzen    kann,    um    sich 
mindestens  von  den  gröbsten  Irrthümern  zu  befreien.      Lange  vorher,  ehe 
ein  Vorübergehn  der  Venus  vor  der  Sonne  zur  Bestimmung  der  Sonnen- 
parallaxe diente,    suchte   man    den  Augenblick    zu    treffen,    wo   der  Mond 
von  der  Sonne  halb  erleuchtet  ist,  um  aus   gemessenem  Abstände   beider 
Himmelskörper    die    Entfernung    der    Sonne    zu    finden.      Das    war    nicht 
möglich;    denn    alle    unsre  Zeitmessung   ist    aus    psychologischen  Gründen 
viel  zu  grob,  als  dafs  der  verlangte  Augenblick  hätte  können  genau  genug 
bestimmt  werden;  allein  dennoch  gewann  man  hiedurch  die  Einsicht,  dafs 
die  Sonne    ein    paar    hundert    mal    so    weit    zum    wenigsten    entfernt    sein 
müsse,  als  der  Mond.     Dies  ist  ein  sehr  einleuchtendes  Beispiel,  dafs  auch 
eine   höchst   unvollkommene    Gröfsenschätzung,    da   wo   keine    scharfe    Be- 
obachtung möglich  ist,  sehr  belehrend   werden   kann,   wenn   man   sie    nur 
zu  benutzen   weifs.     Und    war   es    etwan   nothwendig,    für   unser   Sonnen- 
system   den    Maafsttab    zu    besitzen,    um    seine   Ordnung    im    allgemeinen 
kennen  zu  lernen?     War  es  (dafs  ich  aus  einer  andern  Gegend    ein  Bei- 
spiel nehme)  nicht  eher  möglich,  die  Gesetze  der  Bewegung  zu  erforschen, 
ehe  man  die  Fallhöhe  in  der  Secunde  an  einem  bestimmten  Orte  auf  der 
Erde  genau  kannte?    Nichts    weniger.     Solche  Erforschungen   der   Grund- 
?naasse  sind   an   [138]   sich  sehr  schwierig,   aber  glücklicherweise  bilden  sie 
Untersuchungen  von  eigener  Art  für  sich  allein,  auf  welche  die  Kenntnifs 
der  wichtigsten  Grundgesetze  gar  nicht  nöthig  hat  zu  warten.  —  Einladend 
freilich  ist  das  Messen  zum  Rechnen,  und  jede  leicht  bemerkliche   Regel- 
mäfsigkeit    gewisser   Gröfsen    ist    ein    Reiz    für    die    mathematische  Unter- 
suchung.    Umgekehrt,  je  weniger  Symmetrie  in  den  Erscheinungen,    desto 
mehr  verspätet  sich  der  wissenschaftliche  Fleifs.   Bewegten  sich  die  Himme^s- 

Herbart's  Werke.     V.  7 


g8     "V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

körper  in  merklich  widerstehenden  Mitteln,  oder  wären  die  Massen  nicht 
so  klein  gegen  die  Distanzen,  so  wäre  vielleicht  die  Astronomie  nicht 
weiter,  wie  jetzt  die  Psychologie;  und  jene  würde  sich  alsdann  nicht  ein- 
mal, gleich  dieser,  wegen  des  Mangels  an  Schärfe  der  Beobachtungen 
durch  die  Menge  derselben  zu  entschädigen  hoffen  können. 

Ein  zweiter  Einwurf  soll  sich  darauf  gründen,  dafs  die  Mathematik 
nur  Quantitäten  behandelt;  die  Psychologie  aber  Zustände  und  Thätigkeiten 
von  sehr  verschiedener  Qualität  zum  Gegenstande  hat.  Wollte  ich  diesen 
Scheingrund  ganz  ernsthaft  widerlegen,  so  würde  ich  davon  ausgehen, 
metaphysisch  nachzuweisen,  dafs  die  wahren,  eigentlichen,  ursprünglichen 
Qualitäten  der  Wesen  uns  völlig  verborgen,  und  gar  kein  Gegenstand 
irgend  einer  Untersuchung  sind  (4);  dafs  dagegen,  wo  wir  in  der  ge- 
meinen Erfahrung  Qualitäten  wahrzunehmen  glauben,  der  Grund  davon 
oft  blofs  quantitativ  ist;  wie  z.  B.  wir  ganz  verschiedene  Töne  hören,  aus 
denen  sich  noch  weit  mehr  verschiedene  Consonanzen  und  Dissonanzen 
zusammensetzen  lassen,  während  blofs  längere  oder  kürzere  Saiten  schneller 
oder  langsamer  schwingen.  Aber  so  tief  will  ich  mich  für  jetzt  nicht  ein- 
lassen. Denn  es  liegt  mir  hier  nichts  daran,  den  Satz  zu  beweisen,  dass 
in  der  menschlichen  Seele  gar  keine  Mannigfaltigkeit  ursprünglicher  Ver- 
mögen existirt;  das  Vorurtheil  von  innerer  qualitativer  Vielheit  in  Einem 
Wesen  mag  hier  ganz  unangefochten  bleiben,  obgleich  es  zu  den  ersten 
Bedingungen  wahrer  Erkenntnifs  gehört,  dafs  man  sich  davon  losgerissen 
habe.  Für  jetzt  genügt  es  zu  sagen,  dafs  wie  viel  eingebildete  Qualitäten 
auch  Jemand  in  der  Seele  unterscheiden  möchte,  er  dennoch  nicht  ab- 
läugnen  könne,  dafs  er  aufserdem  eine  unendliche  Menge  von  quantita- 
tiven Bestimmungen  des  Geistigen  gebe.  Unsere  Vorstellungen  sind  stärker, 
schwächer,  klärer,  dunkler;  ihr  Kommen  und  Gehen  ist  [139]  schneller 
oder  langsamer,  ihre  Menge  in  jedem  Augenblick  gröfser  oder  kleiner, 
unsere  Empfänglichkeit  für  Empfindungen,  unsere  Reizbarkeit  für  Gefühle 
und  Affecten  schwebt   unaufhörlich   zwischen   einem  Mehr    oder  Wenig-er. 


o 


Diese  und  unzählige  andere  Gröfsenbestimmungen,  welche  bei  den  geistigen 
Zuständen  augenscheinlich  vorkommen,  hat  man  sehr  mit  Unrecht  für 
Nebenbestimmungen  des  Wesentlichen  gehalten,  und  dies  ist  der  wahre 
Grund,  weshalb  man  die  strenge  Gesetzmäfsigkeit  dessen,  was  in  uns  vor- 
geht, nicht  entdecken  konnte.  Dafs  die  vermeinten  Nebenbestimmungen 
gerade  die  Hauptsache  sind,  kann  ich  hier  in  der  Kürze  nur  an  einem 
einzigen  auffallenden  Beispiele  deutlich  machen.  Jedermann  kennt  den 
Schlaf;  jeder  weifs,  dafs  derselbe  in  einer  Unterdrückung  unserer  Vor- 
stellungen besteht,  die  im  tiefen  Schlafe  vollkommen,  im  Traume  un- 
vollständig ist.  Aber  die  Wenigsten  denken  daran,  dafs  auch  selbst 
während  des  hellsten  Wachens  in  jedem  einzelnen  Zeitpuncte  uns  nur 
äufserst  wenige  von  unsern  Vorstellungen  gegenwärtig  sind;  dahingegen 
die  sämmtlichen  übrigen  uns  gerade  so  wenig  beschäftigen,  wie  im  Schlafe; 
oder,  wie  man  es  bestimmter  ausdrücken  kann,  dafs  unsre  meisten  Vor- 
,  Stellungen  latent ,  und  nur  wenige  jedesmal  frei  sind.  Hier  bitte  ich, 
einen  Blick  in  die  Physik  zu  werfen,  um  sich  an  die  latente  und  freie 
Wärme  zu  erinnern  (5).  Was  war  die  Physik,  bevor  man  diese  gehörig 
unterschied   und   in  Betracht   zog?     Gerade    das   ist    heut   zu  Tage   noch 


V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden,     qq 

die  Psychologie.  Alle  geistigen  Zustände  und  Erzeugnisse  hängen  zu 
allererst  von  der  Grundbedingung  ab,  dafs  diese  oder  jene  Vorstellungen 
in  uns  wach  seien;  denn  der  Schlaf,  er  sei  nun  ein  totaler  oder  partialer, 
hindert  Alles,  so  weit  er  reicht;  oder  mit  andern  Worten:  diejenigen  Vor- 
stellungen, welche  nach  den  Gesetzen  ihres  Gleichgewichts  in  uns  latent 
sind,  wirken  für  so  lange  gar  nichts  im  Bewufstsein.  Anders  verhält  es 
sich  mit  solchen  latenten  Vorstellungen,  welche  nur  nach  den  Gesetzen 
ihrer  Bewegung  in  diesem  unterdrückten  Zustande  sind;  diese  wirken  sehr 
stark  auf  die  Gemüthszustände,  auf  Affecten  und  Gefühle:  doch  der  Unter- 
schied zwischen  Statik  und  Mechanik  des  Geistes  läfst  sich  hier  nicht 
entwickeln  (6). 

Noch  andre  Einwürfe  gründen  sich  auf  die  gangbaren  Meinungen 
von  den  sogenannten  obern  Vermögen  des  Geistes;  und  ich  weifs  wohl, 
ja  ich  habe  es  längst  erfahren,  dafs  ich  [140]  hier  gerade  an  die  mäch- 
tigsten Vorurtheile  stofse;  an  Vorurtheile,  die  darum  unüberwindlich  sind, 
weil  man  sie  nicht  ablegen  will,  und  weil  man  sich  gewaltsam  sträubt, 
dasjenige,  was  ihnen  widerspricht,  auch  nur  zu  überlegen.  Die  Haupt- 
punete  sind  hier  das  Genie  und  die  Freiheit.  Was  ist  das  Genie?  Lassen 
Sie  mich  der  Kürze  wegen  durch  ein  Gleichnifs  antworten:  das  Genie  ist 
ein  Planet.  Es  geht  keine  gerade  Strafse,  sondern  seine  Bahn  ist  eine 
krumme  Linie;  auf  dieser  steht  es  zuweilen  still,  um  rückwärts  zu  wandern; 
Anfangs  langsam,  dann  geschwind,  dann  wieder  langsam;  darauf  geht  es 
vorwärts,  nun  taucht  es  sich  in  die  Strahlen  der  Sonne,  und  durchwandelt 
mit  ihr  in  Gemeinschaft  den  Himmel;  doch  nur  kurze  Zeit,  denn  bald 
wiederum  zieht  es  vor,  in  dunkeler  Nacht  zu  leuchten,  und  sich  desto 
gröfser  zu  zeigen,  je  vollkommener  die  Opposition  ist,  in  welche  es  sich 
setzt  gegen  das  Gestini  des  Tages.  Diese  Worte  passen,  ich  gestehe  es, 
besser  auf  einen  Planeten,  als  auf  das  Genie;  doch  die  Aehnlichkeit  wird 
deutlich  genug  sein.  Das  Wort  Planet  bezeichnet  einen  Irrenden,  und 
wenn  man  will,  mit  Rücksicht  auf  die  Träume  der  Astrologie,  einen  irrenden 
Ritter,  der  recht  romantisch  auf  schreckliche  oder  liebliche  Abenteuer  aus- 
geht; und  wie  sich's  eben  trifft,  bald  Tod  und  Verderben  dräut,  bald  Heil 
und  Segen  bringt.  Wer  möchte  die  Kreuz-  und  Querzüge  eines  Aben- 
teurers auf  eine  feste  Regel  bringen?  Und  doch,  was  ist  geschehn? 
Die  irrenden  Ritter  sind  verschwunden  wie  Gespenster,  seitdem  die  Un- 
wissenheit ist  verdrängt  worden  von  der  Wissenschaft.  Jetzt  richten  sich 
die  Planeten  nach  dem  Kalender;  und  das  geht  ganz  natürlich  zu,  denn 
die  Kalender  haben  gelernt,  sich  nach  den  Planeten  zu  richten.  Gerade 
eben  so  und  in  demselben  Sinne  würde  sich  das  Genie  nach  der  Psycho- 
logie richten,  wenn  schon  jetzt  unserer  Psychologie  so  viel  wahre  Wissen- 
schaft zum  Grunde  läge,  als  unsern  Kalendern.  Soviel  über  das  Genie, 
welches  zwar  seine  Regel  nicht  kennt,  aber  darum  doch  nicht  abläugnen 
darf,  eine  solche  zu  haben,  denn  das  Nichtwissen  ist  kein  Beweis  vom 
Nichtsein.  Aber  was  soll  ich  nun  von  der  Freiheit  sagen?  Zuerst  dies, 
dafs  ich  in  der  That  müde  bin,  darüber  zu  reden.  Denn  längst  habe 
ich  die  Gründe  der  Verwirrung  und  des  Irrthums  in  diesem  Puncte  an- 
gezeigt, und  in  allerlei  Formen  dargestellt;  ich  habe  die  ursprünglichen 
Urtheile,  aus  denen  das  mo[i4i]ralische  Gebot  hervorgeht,  gesondert  und 

7* 


I OO  V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Nothwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

jedes  einzeln  bestimmt;  ferner  nachgewiesen,  dafs  diese  Urtheile,  welche 
den  Unterschied  des  Löblichen  und  Schändlichen,  des  Guten  und  Bösen 
festsetzen,  nothwendig  ganz  willenlos,  und  selbst  das  vollkommenste  Gegen- 
theil  alles  Wollens  sein  müssen,  indem  sie  durch  jede  Vermischung  mit 
demselben  sogleich  verfälscht  werden,  und  eine  unlautere  Gesinnung  er- 
zeugen würden.  Von  dem  Augenblicke  an,  da  mir  diese  Grundsätze  klar 
wurden,  habe  ich  die  vermeintliche  Unbegreiflichkeit  der  Willensfreiheit  wie 
einen  Nebel  zerfiiefsen  gesehen;  indem  das  Würdige  und  Hohe,  was  man 
darin  sucht,  einen  ganz  andern  Platz  hat,  das  Gemeine  und  Schlechte  aber, 
was  nun  von  der  Freiheit,  als  Quelle  der  Möglichkeit  des  Bösen,  noch 
übrig  bleibt,  nicht  sicherer  unter  die  ihm  gebührende  Zucht  kann  gestellt 
werden,  als  nachdem  man  ihm  die  blendende  Larve  der  Freiheit  abge- 
rissen, und  es  als  eine  Afterorganisation  erkannt  hat,  die  gleich  Molen 
und  Warzen,  nach  Gesetzen  der  psychologischen  Nothwendigkeit  nicht 
blofs  wachsen,  sondern  auch  abnehmen,  und  unter  gegebenen  Umständen 
zerstört  oder  verhütet  werden  könne.  Was  ich  hier  sage,  das  trifft  in 
gewissen  Puncten  zusammen  mit  den  frommen  Gefühlen,  die  den  Menschen 
warnen,  in  seinem  eignen  Selbst,  (das  heifst  hier,  in  seinem  Willen,)  den 
Ursprung,  oder  gar  das  Gesetz  des  Guten  und  Bösen  zu  suchen;  und  es 
besteht  vollkommen  mit  der  Zurechnung,  die  erstlich  die  That  auf  den 
Willen,  dann  den  Willen  auf  den  beharrlichen  Charakter  der  Person 
zurückführt,  ohne  über  den  tiefer  liegenden  Grund  irgend  eines  Charakters 
auch  nur  das  Mindeste  zu  entscheiden,  oder  darauf  irgend  eine  Rücksicht 
zu  nehmen.  —  Doch  alle  Schwierigkeiten  der  Freiheitslehre  würden  bald 
verschwinden,  wenn  man  sich  nicht  von  dem  Willen,  der  übrig  bleibe, 
wenn  die  bekannte  Freiheitslehre  weggenommen  werde,  die  allerseltsamsten 
Vorstellungen  machte.  Wer  da  sagt:  ich  kann  mir  keinen  Willen  denken, 
der  nicht  als  solcher  schon  frei  wäre,  dem  mufs  man  antworten:  behalte 
die  Freiheit,  denn  in  dem  Sinne,  worin  du  das  Wort  nimmst,  ist  sie  wirk- 
lich vorhanden.  Die  menschliche  Seele  ist  kein  Puppentheater;  unsre 
Wünsche  und  Entschliefsungen  sind  keine  Marionetten;  kein  Gaukler  steht 
dahinter,  sondern  unser  wahres  eigenes  Leben  liegt  in  unserm  Wollen,  und 
dieses  Leben  hat  seine  Regel  nicht  aufser  sich,  sondern  in  sich;  es  hat  seine 
[142]  eigne,  rein  geistige,  keineswegs  aus  der  Körperwelt  entlehnte  Regel; 
aber  diese  Regel  ist  in  ihm  gewifs  und  fest,  und  wegen  dieser  ihrer 
festen  Bestimmtheit  hat  sie  mit  dem  sonst  ganz  Fremdartigen,  den  Ge- 
setzen des  Stofses  und  Drucks,  immer  noch  mehr  Aehnlichkeit,  als  mit 
den  Wundern  der  vorgeblich  unbegreiflichen  Freiheit  (7). 

Um  nun  die  Möglichkeit,  dafs  Mathematik  auf  Psychologie  ange- 
wendet werde,  nachweisen  zu  können :  mufs  ich  zuvörderst  die  materiale 
Möglichkeit  unterscheiden  von  der  formalen.  Jene  beruht  auf  den  Gröfsen 
selbst,  die  sich  dem  Psychologen  darbieten;  diese  auf  dem  Verfahren, 
welches  in  der  Untersuchung  zu  befolgen  ist.  Es  scheint  mir  zweckmäfsig, 
die  Gröfsen  selbst  einstweilen  noch  bei  Seite  zu  setzen,  und  vor  allem 
die  Form  des  Verfahrens  etwas  näher  zu  bezeichnen.  Ich  besorge  näm- 
lich, dafs  man  sich  entweder  an  ältere  verfehlte  oder  an  neuere  ganz 
leichtsinnige  Versuche  erinnern  werde,  der  Mathematik  in  der  Philosophie 
theils  etwas  nachzuahmen,  theils  mit  den  Zeichen  und  Ausdrücken  derselben 


V.   Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden,    j  o  I 

ein  unnützes  und  fhörichtes  Spiel  zu  treiben;  welches  beides  von  dem 
Gebrauch ,  der  Mathematik,  den  ich  unternommen  habe,  völlig  verschieden 
ist.  An  jenen  Verkehrtheiten  ist,  um  es  mit  Einem  Worte  zu  sagen,  die 
Unbekanntschaft  mit  der  wahren  Natur  der  metaphysischen  Probleme 
Schuld,  welche  die  Mathematik  aufzulösen  so  unfähig  ist,  dafs  sie  viel- 
mehr zu  allen  Zeiten  denselben  mit  grofser  Kunst  aus  dem  Wege  ge- 
gangen ist.  um  nur  ja  nicht  dadurch  in  Verlegenheit  gesetzt  zu  werden. 
Wer  sich  der  metaphysischen  Untersuchungen  mächtig  fühlt,  der  wird  in 
manchen  Puncten  nachzuholen  finden,  was  die  Mathematik  geflissentlich 
versäumt,  oder  nie  zu  Ende  gebracht  hat;  wie  bei  den  Parallelen,  beim 
Unendlichen,  beim  Irrationalen,  und  bei  allem,  was  mit  dem  Begriffe  der 
Continuität  zusammenhängt.  Weit  gefehlt,  in  den  eigentlich  metaphy- 
sischen Untersuchungen  der  Mathematik  nachahmen  zu  können,  mufs  man 
hier  mit  andern  Hülfsmitteln  und  Kräften  auch  andere  Anstrengungen 
verbinden,  und  sich  andere  Uebungen  für  neue  Verfahrungsarten  ver- 
schaffen. Die  Mathematik  vermag  wirklich  Nichts  aufser  dem  Gebiet  der 
Gröfsen;  bewundernswerth  aber  ist  die  Kunst,  womit  sie  sich  dieser  allent- 
halben bemächtigt,  wo  sie  sie  antrifft.  Erinnern  wir  uns  nur  gleich  der 
Netze,  womit  sie  Himmel  und  Erde  umsponnen  hat;  jenes  Sy[i43]stems 
von  Linien,  die  sich  auf  Azimuth  und  Höhe,  Declination  und  Rectas- 
cension,  Länge  und  Breite  beziehn:  jener  Abscissen  und  Ordinaten,  Tan- 
genten und  Normalen,  Krümmungskreise  und  Evoluten;  jener  trigono- 
metrischen und  logarithmischen  Functionen,  welche  alle  im  voraus  bereit 
liegen,  und  nur  darauf  warten,  dafs  man  sich  ihrer  bediene.  Ueberblickt 
man  diesen  Apparat:  so  sieht  man  freilich,  dafs  die  Mathematiker  keine 
Zauberer  sind,  sondern  dafs  bei  ihnen  alles  natürlich  zugeht;  man  em- 
pfängt vielmehr  den  Eindruck  wie  von  einer  Menge  künstlicher  Maschinen; 
zahlreicher  Zeugen  einer  mannigfaltigen  und  höchst  lebendigen  Industrie, 
die  ganz  dazu  gemacht  ist,  um  wahren  und  bleibenden  Reichthum  zu 
erwerben.  Aber  was  ist  nun  dieser  Apparat?  Besteht  er  aus  wirklichen 
Dingen?  Wir  wollen  uns  einzelne  Beispiele  vergegenwärtigen.  Was  ist  die 
Himmelskugel?  Ist  sie  ein  wirkliches  Gewölbe,  eine  wahre  Hohlkugel, 
auf  der  man  sphärische  Dreiecke  zeichnen  könnte?  Nein!  sie  ist  eine 
nützliche  Fiction,  ein  Hülfsmittel  des  Denkens,  eine  bequeme  Form  der 
Zusammenfassung  aller  Gesichtslinien,  die  zu  den  Sternen  hingehn,  und 
bei  denen  man  blofs  ihre  Lage,  nicht  ihre  Länge  in  Betracht  zieht.  Was 
ist  der  Schwerpunct?  Ist  er  wirklich  ein  Punct  in  einem  Körper?  Was 
der  Mittelpunct  des  Schwungs,  sammt  den  Momenten  der  Trägheit  für 
willkürlich  anzunehmende  Umdrehungsaxen  ?  Warum  redet  die  Statik  vom 
mathematischen  Hebel,  der  in  der  Natur  nicht  vorkommt?  warum  die 
Mechanik  von  Bewegungen  der  Puncte,  von  einfachen  Pendeln,  vom  Fall 
geworfener  Körper  im  luftleeren  Räume?  Warum  nicht  gleich  vom  körper- 
lichen Hebel,  von  bewegter  Materie,  und  von  den  Wurflinien  in  der 
Atmosphäre?  Mit  einem  Worte,  warum  bedient  sie  sich  so  vieler  fingirten 
Hülfsgröfsen ;  warum  berechnet  sie  nicht  unmittelbar  das,  was  in  der  wirk- 
lichen Welt  sich  vorfindet  und  geschieht?  —  Die  Antwort  liegt  schon  in 
der  Frage:  jene  Fictionen  sind  nämlich  wirkliche  Hülfen;  jene  ange- 
nommenen   Gröfsen   sind    solche,    auf  welche    die   wirklichen   erst    müssen 


102  V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

zurückgeführt,  oder  zwischen  denen  sie  müssen  eingeschlossen  werden, 
wenn  man  sich  diese  letzteren,  die  wirklichen  Gröfsen,  entweder  genau 
oder  doch  annäherungsweise  will  zugänglich  machen.  Hier  ist  nun  zwar 
nichts,  was  die  Psychologie  der  Mathematik  nachahmen  könnte;  aber  desto 
gewisser  bringt  die  letztere  ihr  [144]  eigentümliches  Verfahren  allent- 
halben mit  hin,  wohin  sie  selbst  kommt.  Demnach,  in  wiefern  die  geistigen 
Zustände  und  Thätigkeiten  wirklich  von  Quantitäten  abhängen,  in  sofern 
kann  man  sicher  voraussehn,  die  Berechnung  dieser  wirklichen  Quantitäten 
werde  ebenfalls  nur  durch  Zurückführung  derselben  auf  einfachere,  be- 
quemere Hülfsgröfsen  geschehn,  zwischen  welche  jene  gleichsam  einzu- 
schalten, oder  auch,  von  welchen  sie  abhängig  zu  machen  seien,  damit 
man  ihnen  so  nahe  als  möglich  auf  die  Spur  kommen  könne.  Man  mache 
sich  demnach  darauf  gefafst,  nur  einen  allgemeinen  und  sehr  vereinfachten 
Typus  des  Begehrens,  und  eben  so  allgemeine  Typen  gewisser  Hauptklassen 
von  Gefühlen,  Imaginationen  u.  dergl.  wissenschaftlich  nachgewiesen  zu 
sehn;  während  die  individuelle  Wirklichkeit  sehr  sicher  ist,  sich  der  mathe- 
matischen Bestimmung  und  Begrenzung  auf  immer  entziehen  zu  können. 
Nichts  wäre  lächerlicher,  als  wenn  Jemand  fürchten  wollte,  durch  irgend 
eine  Mantik  von  Zahlen  und  Buchstaben  seiner  Geheimnisse  beraubt,  oder 
in  den  verborgenen  Regungen  seines  Herzens  beschlichen  und  belauscht 
zu  werden;  in  dieser  Hinsicht  wird  die  gemeine  Weltklugheit  immer  weit 
schlauer  und  furchtbarer  sein,  als  alle  Mathematik  und  Psychologie  zu- 
sammen genommen. 

Es  ist  nun  Zeit,  die  Gröfsen  selbst,  welche  sich  der  Berechnung  dar- 
bieten, genauer  anzugeben.  Man  mufs  vom  Einfachsten  ausgehn,  und  beim 
ersten  Anfange  noch  alle  Verbindung  der  Vorstellungen  unter  einander  bei 
Seite  setzen  (8).  Alsdann  bleiben  nur  zwei  Gröfsen,  auf  die  man  Rück- 
sicht zu  nehmen  hat :  die  Stärke  jeder  einzelnen  Vorstellung,  und  der  Grad 
der  Hemmung  zivischen  je  zweien  (9).  Hier  ist  schon  Stoff  genug  für  die 
Rechnung,  um  von  zweien  ganz  allgemeinen  psychologischen  Phänomenen 
den  ersten  Hauptgrund  zu  entdecken;  nämlich  erstlich  von  dem  oben  er- 
wähnten Umstände,  dafs  die  allermeisten  unserer  Vorstellungen  in  jedem 
bestimmten  Augenblicke  latent  sind;  und  zweitens  von  der  eben  so  merk- 
würdigen Thatsache,  dafs,  so  lange  nicht  physiologische  Gründe  den  Zu- 
stand des  Schlafs  bewirken,  niemals  alle  Vorstellungen  zugleich  latent 
werden,  auch  niemals  alle  bis  auf  eine,  sondern  dafs  stets,  während  des  leib- 
lichen Wachens,  irgend  Etwas,  und  nie  etwas  ganz  Einfaches,  sondern  etwas 
einigermaafsen  Zusammengesetztes,  vorgestellt  wird  (10).  Hier[i45]über 
würde  man  sich  längst  gewundert,  und  nach  der  Ursache  gefragt  haben, 
wenn  nicht  das  Gewohnte  und  Alltägliche  sich  in  den  Augen  der  Menschen 
immer   von  selbst  verstünde. 

Die  Rechnungen,  zu  welchen  die  Stärke  jeder  einzelnen  Vorstellung 
und  der  Grad  der  Hemmung  zwischen  je  zweien  Anlafs  geben  können, 
sind  noch  sehr  einfach;  sie  werden  aber  schon  weit  verwickelter,  wenn 
man  nunmehr  auch  die  dritte  Gröfse,  den  Grad  der  Verbindung  unter  den 
Vorstellungen,  in  Betracht  zieht.  Alsdann  ändern  sich  die  früher  erhaltenen 
Resultate,  und  neue  kommen  hinzu.  Ueberdies  bietet  sich  jetzt  noch  eine 
vierte  Gröfse  dar,  um  in  die  Rechnung  einzugehn,  nämlich  die  Menge  der 


V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden.   10^ 

verbundenen  Vorstellungen.  Besonders  merkwürdig  aber  sind  die  längern 
oder  kürzeren  Vor  Stellungsreihen,  welche  bei  unvollkommner  Verbindung  dann 
entstehn,  wann  eine  Vorstellung  mit  der  andern,  die  zweite  mit  der  dritten, 
diese  mit  der  vierten,  und  so  fort,  in  gewissem  Grade  verknüpft  sind, 
während  die  erste  mit  der  dritten,  die  zweite  mit  der  vierten,  und  den 
folgenden,  entweder  gar  nicht,  oder  doch  wreit  schwächer  verschmelzen. 
Solche  Vorstellungsreihen  sind  gleichsam  die  Fasern  oder  Fibern,  woraus 
sich  gröfsere  geistige  Organe  zusammensetzen;  und  sie  tragen  dabei  ganz 
bestimmte  Gesetze  ihrer  Reizbarkeit  in  sich,  auf  deren  genauere  Kenntnifs 
in  der  Psychologie  eigentlich  alles  ankommt.  Entfernte,  aber  höchst  unzu- 
längliche Andeutungen  davon  liegen  in  dem,  was  man  unter  dem  Namen 
der  Ideenassociation  längst  kennt;  alles  bestimmtere  Wissen  mufs  jedoch 
von  der  Rechnung  ausgehn;  und  diese  ist  von  den  wichtigsten  Folgen 
nicht  blofs  für  die  Theorie  des  Gedächtnisses,  der  Phantasie,  des  Ver- 
standes, sondern  auch  für  die  Lehre  von  den  Gefühlen,  Begierden  und 
Affecten.  Nichts  hindert  mich,  es  unverhohlen  zu  sagen,  dafs  hier  die 
Mathematik  eine  grenzenlose  Unwissenheit  aufdeckt,  in  welcher  sich  die 
Psychologie  bisher  befunden  hat.  Sogar  das  räumliche  und  zeitliche  Vor- 
stellen hat  hier,  nicht  aber  in  vermeinten  Grundformen  der  Sinnlichkeit, 
seinen  Sitz  und  Ursprung. 

In  Ansehung  schon  gebildeter  Vorstellungsreihen  entstehen  ferner 
neue  Quantitätsbestimmungen  daraus,  ob  dieselben  von  irgend  einem  Reize 
in  einem  oder  in  mehrern  Puncten  zugleich  getroffen  werden;  desgleichen, 
ob  sie  sich  mehr  oder  minder  in  einem  Zustande  der  Evolution  oder  In- 
volution be[i46]finden;  weiter,  ob  aus  diesen  Reihen,  die  ich  vorhin 
Fasern  oder  Fibern  nannte,  sich  schon  gröfsere  oder  kleinere  Gewebe  ge- 
bildet haben,  und  wie  diese  Gewebe  construirt  sind;  ein  Gegenstand,  der 
zwar  bei  verschiedenen  Menschen,  wegen  der  gemeinschaftlichen  Sinnen- 
welt, in  der  wir  leben,  und  auf  deren  Veranlassung  sich  unsre  Vorstel- 
lungen eben  so  wohl  verknüpfen  als  erzeugen,  grüfstentheils  gleichartg 
sein  mufs,  doch  so,  dafs  bedeutende  Modificationen  eintreten,  die  von 
dem  geistigen  Rhythmus  jedes  Individuums,  zufolge  seines  Nervenbaues 
und  seiner  ganzen  leiblichen  Constitution,  abhängen;  und  andre  Modi- 
ficationen, welche  der  Erfahrungskreis  und  die  Gewöhnungen  des  Indi- 
viduums bestimmen,  und  welche  man  durch  Erziehung  und  Unterricht 
suchen  kann  zweckmäfsig  einzurichten.  Dieser  letztere  Punct  mufs  be- 
senders  sorgfältig  bemerkt  werden.  Bekanntlich  wird  die  eigentliche 
Humanität  dem  Menschen  nicht  angeboren,  sondern  angebildet;  der  ganz 
wilde  Mensch  ist  nichts  als  ein  Thier,  wiewohl  ein  solches  Thier,  in  wel- 
chem die  Menschheit  durch  Hülfe  der  Gesellschaft  könnte  entwickelt  wer- 
den. Daher  hat  man  schon  oft  die  Hypothese  vernommen,  ein  höheres 
Wesen  müsse  sich  der  ersten  Menschen  angenommen  und  sie  geistig  ver- 
edelt haben;  eine  Meinung,  die  wenigstens  nicht  so  gewaltig  gegen  die 
Erfahrung  verstöfst,  als  die  von  einem  allmäligen  Herabsinken  der  Mensch- 
heit aus  einem  ursprünglich  höhern  Zustande  in  den  nachmaligen  niedern, 
statt  dafs  die  ganze  Länder-  und  Völkerkunde  uns  den  ungeselligen  Men- 
schen roh  und  thierisch,  folglich  die  eigentliche  Menschheit  von  der  Ge- 
sellschaft abhängig  zeigt.    Dies  wird  sehr  schlecht  beachtet  von  denjenigen 


104  v-  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Xothwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

Psychologen,    welche  Vernunft  und  innern  Sinn,  Ueberlegung  und  Selbst- 
beschauung    für    ursprüngliche  Vermögen    der   menschlichen    Seele    halten; 
man    mufs    sie  aber    damit    entschuldigen,    dafs    sie    aus  Unkunde    in   der 
Mathematik  und  der  davon  abhängenden  Mechanik  des  Geistes  die  Wege 
nicht  errathen  können,  auf  welchen  die  allmälige  Veredelung  des  mensch- 
lichen Geistes    fortschreitet.     So    viel    indessen    läfst   sich  leicht   bemerken, 
dafs  in  dem  Geiste  nicht  alle  Vorstellungen    gleichmäfsig  verbunden,   und 
dafs    sie    in    sehr    verschiedenem  Grade    beweglich  sind;    dafs    sie   ähnlich 
den    höhern    und    niedrigem  Wolkenschichten  in  der  Atmosphäre,  in  ver- 
schiedenen Richtungen  theils  langsam,    theils  schneller  und  flüchtiger  um- 
her[i47]sch\veben;    dafs    eben    deshalb    unter    diesen    verschiedenen   Vor- 
stellungsmassen,   bei  ihrem  mannigfaltigen  Zusammentreffen,    sich   grofsen- 
theils  dieselben  Verhältnisse  wiederholen  müssen,  die  zwischen  neuen  An- 
schauungen und  altern  dadurch  reproducirten  Vorstellungen  sich  erzeugen; 
dafs    es    folglich    nicht  blofs  eine  äufsere  Apperception,    sondern  auch  ein 
inneres  Vernehmen,    oder    eine  Vernunft   geben   müsse,    bei    welcher  das, 
was  man  Ueberlegen  und  Schliefsen  nennt,  nur  nach  vergröfsertem  Maafs- 
stabe    denselben  Procefs    wiederholt,    der    schon   beim  Zueignen   sinnlicher 
Empfindung  durch  Anschauung  und  Urtheil  vollzogen  wird.    Doch  welches 
ist  dieser  Procefs?    Ich   glaube  es  zu  wissen,    aber  ich  kann  es  hier  nicht 
entwickeln.     Nur    so    viel    kann    ich    sagen:    die    hohem  Thätigkeiten  des 
Geistes  können  unmöglich  nach  ihren  wahren  Gründen  und  Gesetzen  er- 
forscht werden,  so  lange  man  die  niedrigem  noch  nicht  kennt,    denen  sie 
ähnlich,  und  von  denen  sie  abhängig  sind;   wiewohl  man  nun  die  mathe- 
matische Betrachtung    schwerlich  jemals  bis  in  die  obersten  Regionen  des 
vernünftigen  Denkens  und  Wollens  fortführen  wird,  so  ist  dieselbe  dennoch 
als   Grundlage    der    Erkenntniss    auch    dieser    höchsten  Gegenstände    ganz 
unentbehrlich,  damit  wir,  wenn  die  Wahrheit  in  ihren  genauesten  Bestim- 
mungen uns  vielleicht  verborgen  bleibt,  wenigstens  nicht  die  Lücken  unse- 
res Wissens,  so  wie  es  bisher  geschieht,    mit  groben  Irrthümem  ausfüllen, 
und    durch  unnützen  Zank  von  Partheien,    die  alle  gleich  Unrecht  haben, 
uns  am  Ende  die  Philosophie  selbst  verleiden. 

Und  hier  findet  sich  der  Uebergang  zu  dem  letzten  Theile  meiner 
Betrachtung.  Es  ist  nicht  blofs  möglich,  sondern  nothwendig,  dafs  Mathe- 
matik auf  Psychologie  angewendet  werde;  der  Grund  dieser  Notwendig- 
keit liegt,  mit  einem  Worte,  darin,  dafs  sonst  dasjenige  schlechterdings 
nicht  kann  erreicht  werden,  was  durch  alle  Speculation  am  Ende  gesucht 
wird;  und  das  ist  —  Ucberzeugung.  Die  Xothwendigkeit  aber,  dafs  wir 
den  Weg  zur  festen  Ueberzeugung  endlich  einschlagen,  ist  um  desto  dringen- 
der, je  gröfser  täglich  die  Gefahr  wird,  dafs  die  Philosophie  in  Deutsch- 
land bald  in  denselben  Zustand  gerathe,  in  welchem  sie  längst  in  Frank- 
reich und  England  sich  befindet.  Es  gehört  mit  zu  der  grofsen  Ver- 
blendung der  meisten  heutigen  Philosophen  Deutschlands,  dafs  sie  diese 
Gefahr  nicht  sehen.  Verstünden  sie  Mathematik,  (dazu  gehört  aber  mehr, 
als  einige  [148]  geometrische  Elemente,  und  allenfalls  quadratische 
Gleichungen  zu  kennen,  oder  einmal  mit  den  Zeichen  der  Differentiale 
und  Integrale  gespielt  zu  haben,)  verstünden  sie,  sage  ich,  Mathematik: 
so    würden    sie    wissen,    dafs    ein    unbestimmtes    Reden,    wobei  jeder  das 


V.  Ueberd.  Möglichkeit  u.  Nothwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden.   105 

Seinige  denkt,  und  welches  eine  täglich  wachsende  Spaltung  der  Meinungen 
erzeugt,  trotz  aller  schönen  Worte  und  selbst  ungeachtet  der  Grölse  der 
Gegenstände,  doch  auf  die  Länge  schlechterdings  kein  Gleichgewicht  be- 
haupten könne  gegen  eine  Wissenschaft,  die  durch  jedes  Wort,  was  sie 
ausspricht,  wirklich  belehrt  und  erhebt,  während  sie  zugleich  —  nicht  etwa 
durch  ungeheure  ausgemessene  Räume,  —  sondern  durch  das,  alle  Be- 
schreibung übertreffende,  Schauspiel  des  ungeheuersten  menschlichen  Scharf- 
sinnes ein  nie  ermüdendes  Staunen  für  sich  gewinnt.  Die  Mathematik 
ist  die  herrschende  Wissenschaft  unserer  Zeit;  ihre  Eroberungen  wachsen 
täglich,  wiewohl  ohne  Geräusch;  wer  sie  nicht  für  sich  hat,  der  wird  sie 
dereinst  luider  sich  haben. 

Jetzt  mufs  ich  bestimmter  angeben,  worin  der  Grund  liege,  dafs  nicht 
blofs  die  Mathematik  Ueberzeugung  in  sich  trägt,  sondern  sie  auch  auf 
die  Gegenstände  überträgt,  auf  die  sie  angewendet  wird.  Dieser  Grund 
findet  sich  zwar  zu  allererst  in  der  vollkommenen  Genauigkeit,  womit  die 
mathematischen  Elementarbegriffe  bestimmt  sind;  und  in  dieser  Hinsicht 
mufs  jede  Wissenschaft  ihr  eigenes  Heil  besorgen;  keine  kann  es  von  der 
andern  leihen  oder  geschenkt  bekommen;  die  Psychologie  eben  so  wenig 
von  der  Mathematik,  als  die  letztere  von  jener.  Aber  das  ist  nicht  Alles. 
Sobald  das  menschliche  Denken  sich  in  langen  Schlufsfolgen,  oder  über- 
haupt an  schwierigen  Gegenständen  versucht,  deren  inneres  Mannigfaltiges 
sich  gegenseitig  verdunkelt:  so  tritt  nicht  nur  die  Gefahr,  sondern  auch 
der  Verdacht  des  Irrthums  ein;  weil  man  nicht  alles  Einzelne  mit  gleich- 
zeitiger Klarheit  überschauen  kann,  und  sich  daher  am  Ende  begnügen 
mufs,  daran  zu  glauben,  dafs  man  Anfangs  nichts  verfehlt  habe.  Jeder- 
mann weifs,  wie  sehr  dieses  selbst  beim  Rechnen,  also  beim  ganz  elemen- 
taren Gebrauche  der  Mathematik  der  Fall  ist.  Niemand  wird  sich  ein- 
bilden, dafs  es  damit  in  den  höhern  Theilen  der  Mathematik  besser  gehe; 
im  Gegentheil,  je  verwickelter  die  Rechnung,  desto  höher  steigt,  in  sehr 
schneller  Progression,  die  Unsicherheit  und  der  Verdacht  verborgener 
Fehler.  Wie  macht  es  nun  die  Mathe[i49]matik,  um  dieser,  ihr  selbst 
im  höchsten  Grade  beiwohnenden  Unbequemlichkeit  abzuhelfen?  Schärft 
sie  ihre  Beweise?  Giebt  sie  wohl  gar  neue  Regeln,  wie  man  die  vorigen 
Regeln  anwenden  solle?  Nichts  weniger!  Jede  einzelne  Rechnung,  für  sich 
betrachtet,  bleibt  in  dem  Zustande  einer  sehr  grolsen  Unsicherheit.  Aber 
es  giebt  ja  Rechnungsproben !  Es  giebt  auf  dem  Boden  der  Mathematik 
zu  jedem  Puncte  hundert  verschiedene  Wege;  und  wenn  man  auf  allen 
hundert  Wegen  genau  dasselbe  findet,  so  überzeugt  man  sich,  den  rechten 
Punct  getroffen  zu  haben.  Eine  Rechnung  ohne  Controle  ist  so  viel  wie 
gar  keine.  Gerade  so  verhält  es  sich  mit  einem  jeden  einzeln  stehenden 
Beweise  in  irgend  welcher  speculativen  Wissenschaft;  mag  er  noch  so 
scharfsinnig,  mag  er  noch  so  vollkommen  wahr  und  richtig  sein,  er  ge- 
währt doch  keine  bleibende  Ueberzeugung.  Wer  daher  in  der  Meta- 
physik, oder  in  der  von  ihr  abhängenden  Psychologie  hoffen  wollte,  seine 
höchste  Sorgfalt  in  der  schärfsten  Bestimmung  der  Begriffe  und  im  folge- 
rechten Denken,  schon  durch  Ueberzeugung,  wohl  gar  durch  allgemein 
mittheilbare  Ueberzeugung  —  belohnt  zu  sehen :  der  würde  gar  sehr  ge- 
täuscht   werden.      Nicht    blofs    die  Schlüsse    müssen    sich  gegenseitig,    im- 


IOÖ  V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

gezwungen  und  ohne  den  leisesten  Verdacht  der  Erschleichung,  bestätigen: 
sondern  bei  allem,  was  von  Erfahrung  ausgeht,  oder  über  Erfahrung  urtheilt, 
mufs  die  Erfahrung  selbst,  und  zwar  in  unzähligen  speciellen  Fällen,  das  Re- 
sultat der  Speculation  genau,  und  nicht  blofs  obenhin,  bekräftigen.  Und  jetzt 
bin  ich  beinahe  am  Ziele,  denn  ich  habe  nur  noch  nöthig,  auf  eine  ein- 
zige Bedingung  aufmerksam  zu  machen,  ohne  deren  Erfüllung  Erfahrungen 
und  Theorien  gar  nicht  können  mit  irgend  einer  Sicherheit  verglichen 
werden.  Alle  Erfahrung  ist  quantitativ  bestimmt;  und  sie  ist  den  gröfsten 
Veränderungen  ausgesetzt,  wenn  die  Gröfsen,  von  denen  sie  abhängt, 
verändert  werden.  Soll  ich  dies  noch  durch  Beispiele  belegen?  Soll  ich 
etwa  erinnern  an  die  berühmte  Frage  der  Aerzte :  was  ein  Gift  sei?  ein 
Begriff,  der  bekanntlich  deshalb  Schwierigkeit  macht,  weil  für  unsre  Ge- 
sundheit das  Heilsamste  im  Uebermaafse  schädlich,  das  Schädlichste  in 
rechter  Quantität  heilbringend  wird.  Doch  wozu  mich  bei  so  leichten 
Gegenständen  aufhalten?  Dass,  was  ich  zeigen  wollte,  liegt  schon  am 
Tage;  nämlich  dies,  dafs  jede  Theorie,  die  man  mit  der  Erfahrung  ver- 
gleichen will,  erst  soiveit  fortgeführt  iverden  [150]  mufs,  bis  sie  die  quan- 
titativen Bestimmungen  angenonunen  hat,  die  in  der  Erfahrung  vorkommen 
oder  bei  ihr  zum  Grunde  liegen.  So  lange  sie  diesen  Punct  nicht  erreicht, 
schwebt  sie  in  der  Luft,  ausgesetzt  allem  Winde  des  Zweifels,  unfähig,  sich 
mit  andern,  schon  bevestigten  Ueberzeugungen  zu  verbinden.  Alle  quan- 
titativen Bestimmungen  aber  sind  in  der  Hand  der  Mathematik,  und  man 
kann  daraus  sogleich  übersehen,'  dafs  alle  Speculation,  welche  auf  Mathe- 
matik nicht  Achtung  giebt,  sich  mit  ihr  nicht  in  Gemeinschaft  setzt,  nicht 
mit  ihrer  Hülfe  die  mannigfaltigen  Modificationen  unterscheidet,  welche 
durch  Veränderung  der  Gröfsenbestimmungen  entstehen  müssen,  entweder 
ein  leeres  Gedankenspiel,  oder  im  besten  Falle  eine  Anstrengung  ist,  die 
ihr  Ziel  nicht  erreichen  kann.  Vielerlei  wächst  auf  dem  Boden  der  Specu- 
lation, das  nicht  von  Mathematik  ausgeht  und  sich  um  sie  nicht  kümmert; 
und  ich  bin  sehr  weit  davon  entfernt,  alles,  was  solchergestalt  wächst,  für 
Unkraut  zu  erklären;  wachsen  kann  wohl  manch  edles  Gewächs,  aber  zur 
letzten  Reife  gelangen  kann  keins  ohne  Mathematik.  Selbst  über  diesen 
Punct  giebt  es  jedoch  eine  empirische  Art  von  Ueberzeugung,  die  sich 
nicht  anders  als  durch  eigne  Uebung  im  Gebrauch  der  Mathematik  er- 
werben läfst.  Man  mufs  es  gleichsam  mit  Augen  gesehen  haben,  wie  die 
Rechnung  Folgerungen  aus  den  vorhandenen  Vordersätzen  ableitet,  die 
man  nicht  erwartet,  Umstände  hervorhebt,  an  deren  Wichtigkeit  man  nicht 
gedacht,  schiefe  Ansichten  zerstört,  deren  man  bei  aller  Behutsamkeit  sich 
doch  nicht  erwehrt  hatte. 

Es  wird  Ihnen,  höchstgeehrte  Herren,  von  selbst  aufgefallen  sein, 
dafs  meine  letzte  Behauptung  sich  gar  nicht  auf  Psychologie  beschränkt, 
sondern  ganz  allgemein  alle  Speculation  trifft;  denn  überall  ist  eine 
mannigfaltige  Controle,  und  überall  genaue  Vergleichung  mit  der  Erfahrung 
nöthig.  Diese  Ueberschreitung  meines  Gegenstandes  würde  mir  jedoch 
viell eicht,  als  hieher  nicht  gehörig,  zum  Vorwurfe  gereichen,  wenn  nicht 
der  Gegenstand  selbst  die  Tendenz  zur  Erweiterung  auf  die  Naturwissen- 
schaft in  sich  trüge.  Damit  dies  klar  werde,  bitte  ich  die  Erinnerung 
zurückzurufen    an    diejenigen  Gröfsen,    welche    die  Psychologie    der  Rech- 


V.  Ueber  d.  Möglichkeit u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden.  107 

nung  darbietet.  Es  waren:  Stärke  der  Vorstellungen,  Hemmungsgrund, 
Innigkeit  der  Verbindung,  Menge  der  Verbundenen,  Länge  der  Vorstel- 
lungsreihen, Reizbarkeit  derselben  an  verschiedenen  Puncten,  das  Mehr 
oder  Weniger  der  Involution  oder  Evolution,  der  Verwebung  oder  Iso- 
lirung,  —  und,  was  bei  aller  geistigen  Bewegung  sich  von  selbst  versteht, 
die  Geschwindigkeit  oder  Langsamkeit  in  der  Veränderung  der  wechseln- 
den Zustände.  Bei  allen  diesen  Gröfsen,  —  an  deren  vollständiger  Auf- 
zählung hier  nichts  gelegen  ist,  —  kommt  das,  zuas  eigentlich  vorgestellt  wird, 
weiter  nicht  in  Betracht,  als  nur  in  sofern  davon  Hemmung  und  Verbindung 
unter  den  Vorstellungen  abhängt.  Wir  können  daher  gar  nicht  sagen, 
dafs  Rechnungen  dieser  Art  sich  gerade  auf  Vorstellungen,  als  solche, 
ausschliefsend  bezögen;  im  Gegen theil,  wenn  es  andre,  innere  Zustände 
irgend  welcher  Wesen  giebt,  die  theils  unter  einander  entgegengesetzt, 
theils  der  Verbindung  fähig  sind,  (dies  letztere  folgt  aber  unmittelbar  aus 
der  Voraussetzung,  sie  seien  in  Einem  Wesen,)  so  passen  darauf  alle  die 
nämlichen  Rechnungen;  und  es  kommt  blofs  noch  auf  die  Frage  an,  ob 
wir  Ursache  haben,  innere  Zustände  der  beschriebenen  Art  noch  in  andern 
Wesen,  aufser  in  uns  selbst,  anzunehmen.  Doch  hier,  höchstgeehrte  Herren, 
würde  ich  wirklich  Ihre  Zeit  und  Geduld  über  das  mir  gestattete  Maafs 
ausdehnen,  —  ich  würde  selbst  bestimmter,  als  bisher,  die  verschwiegenen 
metaphysischen  Voraussetzungen  meines  Vortrags  andeuten  müssen,  wenn 
ich  etwas  mehr  sagen  wollte  als  dieses :  dafs  alle  organische  Reizbarkeit, 
weit  entfernt  sich  aus  blofsen  Raumverhältnissen  erklären  zu  lassen,  auf 
innere  Zustände,  ja  selbst  auf  einen  Grad  von  innerer  Ausbildung  hin- 
weiset; und  dafs,  wenn  nicht  diese  letztere,  so  doch  jene,  die  innern  Zu- 
stände, schon  bei  allen  chemischen,  elektrischen  und  magnetischen  Ver- 
hältnissen, —  und,  was  dasselbe  sagt,  bei  aller  Construction  und  Con- 
stitution der  Materie  müssen  vorausgesetzt  werden;  dergestalt,  dafs  die 
Psychologie  den  Naturwissenschaften  überall  wird  vorangehen  müssen,  wo- 
fern es  unserm  Zeitalter  Ernst  ist,  den  letzteren  eine  feste  philosophische 
Stellung  und  Gestaltung  zu  geben. 


Anmerkungen. 

(i)  S.  96.  „Ein  Unternehmen,  dessen  Keim  ich  in  der  flehte1  sehen 
Schule  fand.'1 

Diese  Worte  sollen  nicht  so  ausgelegt  werden,  als  ob  Fichte  [152] 
selbst  den  Gedanken  gefafst  hätte,  Psychologie  als  einen  Theil  der  an- 
gewandten Mathematik  zu  betrachten.  Davon  war  Er,  ein  so  entschiedener 
Verfechter  der  transscendentalen  Freiheit,  gewifs  weit  entfernt.  Aber  Fichte 
hat  mich  hauptsächlich  durch  seine  Irrthümer  belehrt;  und  das  vermochte 
er,  weil  er  im  vorzüglichen  Grade  das  Streben  nach  Genauigkeit  in  der 
Untersuchung  besafs.  Mit  diesem  Streben,  und  durch  dasselbe,  wird  jeder 
Lehrer  der  Philosophie  seinen  Schülern  nützlich  werden ;  ohne  Genauigkeit 
bildet  der  Unterricht  in  der  Philosophie  nur  Phantasten  und  Thoren. 

Fichte  machte  bekanntlich  das  Ich  zum  Gegenstande  seiner  Forschung ; 


Io8  V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Nothwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

oder  mit  andern  Worten,  er  suchte  nach  den  Bedingungen  des  Selbst- 
bewufstseins.  Hiedurch  bereicherte  er  die  Philosophie  mit  einem  bis  da- 
hin unbekannten  Probleme;  denn  dasselbe  war  früherhin  sehr  wenig  be- 
achtet worden;  und  Kant,  der  die  Vorstellung  Ich  für  ganz  arm  und  leer 
an  Inhalt  erklärte,  hatte  durch  diese  falsche  Behauptung  vollends  die  Auf- 
merksamkeit davon  abgewendet.  Von  Fichte,  der  sich  immer  von  neuem 
mit  diesem  Gegenstande  beschäftigte,  und  doch  nie  damit  fertig  wurde, 
lernte  ich  einsehen,  dafs  hier  eine  eben  so  reiche  als  tiefe  Fundgrube  ver- 
borgen liegen  müsse,  die  aber  nur  den  gröfsten  Anstrengungen  sich  öffnen 
könne.  —  Das  Erste,  was  sich  mir  enthüllte,  war  dies,  dafs  die  Ichheit 
schlechterdings  nichts  Primitives  und  Selbstständiges,  sondern  das  Ab- 
hängigste und  Bedingteste  sein  müsse,  was  sich  nur  irgend  denken  lasse; 
und  hiemit  lag  es  am  Tage,  dafs  Fichte's  Meinungen  das  vollkommenste 
Widerspiel  der  Wahrheit  sind;  ein  lehrreicher  Warnungsspiegel  für  die, 
welche  ihn  zu  benutzen  wissen.  Das  Zweite,  was  ich  fand,  war:  dafs  die 
ursprünglichen  Vorstellungen  eines  intelligenten  Wesens,  wenn  sie  jemals 
bis  zum  Selbstbewufstsein  sollen  ausgebildet  werden,  (da  sie,  wie  so  eben 
gesagt,  das  Ich  nicht  als  ein  Fertiges  in  sich  schliefsen  können,)  entweder 
alle,  oder  doch  theilweise  einander  entgegengesetzt  sein,  und  in  Folge  dieses 
Gegensatzes  einander  hemmen  müssen;  so,  dafs  die  Gehemmten  nicht  verloren 
gehen,  sondern  als  Strebungen  fortdauern,  welche  in  den  Zustand  des  wirk- 
lichen Vorstellens  von  selbst  zurückkehren,  sobald  aus  irgend  einem  Grunde 
die  Hemmung  entweder  ganz  oder  doch  zum  Theil  unwirksam  wird.  Diese 
Hemmung  nun  konnte  und  mufste  berechnet  werden;  und  hiemit  war  es 
klar,  [153]  dafs  die  Psychologie  eines  mathematischen  sowohl  als  eines 
metaphysischen  Fundaments  bedürfe. 

(2)  S.  96.  „womit  ich  seitdem,  zwar  oft  und  lange  tmterbrochen,  doch 
ohne  je  den  Faden   zu  verlieren,   beschäftigt   war." 

Schon  in  meinen  Hauptpuncten  der  Metaphysik,  die  im  Jahre  1806 
zuerst  für  einen  engern  Kreis  von  Bekannten  gedruckt  wurden,  sind  die 
ersten  und  leichtesten  Elemente  der  Statik  des  Geistes  angegeben.  Im 
Königsberger  Archiv  (181 1  und  18 12)  wurden  neue  Ausführungen  ver- 
sucht; die  erste  vollständige  mathematisch-psychologische  Abhandlung  ist 
jedoch    die  ganz  kürzlich  herausgegebene,   de  altentionis  mensura. 

(3)  S.  96.  ,,dafs  Mathematik  auf  Psychologie  anzuivejiden  möglich, 
und  dafs  es  nolhzvendig  sei." 

Der  beste  Beweis  der  Möglichkeit  pflegt  immer  der  durch  die  Wirk- 
lichkeit zu  sein;  aber  man  mufs  nicht  vergessen,  dafs  bei  allen  Beweisen 
auch  auf  die  Personen,  denen  etwas  soll  bewiesen  werden,  sehr  viel  an- 
kommt. Im  gegenwärtigen  Falle  werden  Personen  erfordert,  die  im  Diffe- 
rentiiren  und  Integriren  geübt  sind.  Und  dies  nicht  allein:  sondern  sie 
müssen  auch  metaphysische  Argumente  und  Begriffe  fassen  können,  und 
vor  allem:  sie  müssen  sich  für  Psychologie  interessiren.  Wo  soll  ich  diese 
Personen  suchen ,  unter  den  heutigen  Mathematikern  ?  oder  unter  den 
Philosophen? 

Das  Beste,  was  ich  mir  selbst  darauf  antworten  kann,  ist  dies,  dafs 
doch  nicht  alle  psychologischen  Berechnungen  so  besonders  schwer  und 
abschreckend  sind.     Mag  freilich  eine  Formel  wie 


V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  aut  Psychologie  anzuwenden,   joq 


m  +  n(i— u)£  __dZ 

pu  —  qZ  -f-  r  du 

die  Mehrzahl  derer,  welche  von  einer  Theorie  der  Aufmerksamkeit  wohl 
etwas  hören  möchten,  wenn  es  sich  mit  ihrer  Bequemlichkeit  vertrüge,  — 
zurückschrecken:  aber  ein  so  leichter  Ausdruck  wie 


f, 


a-fb 

kann  doch  wohl  kaum  demjenigen  anstöfsig  sein,  welcher  übrigens  wünscht, 
sich  mit  dem  Unterschiede  der  latenten  von  den  freien  Vorstellungen  be- 
kannt zu  machen. 

(4)  S.  98.  „Die  zuahren,  ursprünglichen  Qualitäten  der  Wesen  [154] 
sind  uns  völlig  verborgen,  und  gar  kern  Gegenstand  irgend  einer  Unter- 
suchung." 

Hiemit  soll  nicht  das  Bekannte:  „ins  Innere  der  Natur  dringt  kein 
erschaffener  Geist,"  in  Schutz  genommen  werden.  Dieser  Spruch  findet 
nur  darum  so  viel  Beifall,  weil  er  der  Faulheit  im  Denken,  —  einer 
heutiges  Tags  epidemischen  Krankheit,  —  das  Wort  redet.  Aber  das 
Aeufserste,  was  wir  über  die  wahren  Qualitäten  der  Wesen  bestimmen 
können,  ist  dies,  dafs  jede  dieser  Qualitäten,  einzeln  und  für  sich  allein 
betrachtet,  mit  Beiseitsetzung  aller  Relationen,  schlechthin  einfach,  —  die 
verschiedenen  Qualitäten  mehrerer  Wesen  aber  grofsentheils  unter  einander 
in  conlrärem  Gegensatze  seien.  Wenn  diese  metaphysischen  Sätze  der 
gegenwärtigen  Abhandlung  als  Amulete  wider  Einmischung  des  modernen 
Spinozismus  dienen  können,  so  leisten  sie  hier,  was  sie  sollen;  übrigens 
gehören  sie  nicht  zur  Sache. 

(5)  S.   98.     „Latente  und  freie    Wärme." 

Bekanntlich  verbirgt  sich  in  den  Flüssigkeiten,  besonders  den  elasti- 
schen, eine  Menge  unfühlbarer  Wärme,  dafs  die  höchsten  Grade  der  Hitze 
entstehn,  wenn  man  neue  chemische  Verwandtschaften  schnell  in  Wirksam- 
keit setzt,  um  jene  Flüssigkeiten  zu  einer  Aenderung  ihrer  Form,  —  das 
heifst  hier,  zu  einer  Verdichtung,  —  zu  nöthigen.  Allein  das  Gleichnifs, 
welches  ich  von  da  entlehnt  habe,  darf  nicht  zu  weit  ausgedehnt  werden. 
Die  unfühlbare  Wärme  ist  gebunden;  und  kein  Physiker  wird  ihr  ein 
Streben  beilegen,  sich  von  selbst  aus  dieser  Gebundenheit  zu  befreien: 
vielmehr  sind  entgegengesetzte  chemische  Kräfte  nöthig,  um  sie  heraus- 
zutreiben. Hingegen  die  Vorstellungen  sind  verdunkelt,  indem  sie  gehemmt 
werden,  gröfstentheils  durch  ihren  Gegensatz  unter  einander.  Wider  diese 
Gewalt,  die  sie  leiden,  streben  sie  fortwährend  zurück  in  ihren  ursprüng- 
lichen Zustand;  und  sobald  der  Druck  weicht,  erheben  sie  sich  durch  dieses 
ihr  Streben  von  selbst  ins  Bewufstsein,  so  weit  sie  können.  Man  denke 
sich  vorläufig  einmal  die  Vorstellungen  unter  dem  Bilde  elastischer,  gegen 
einander  gedrängter  Stahlfedern,  deren  Spannung  vom  gegenseitigen  Drucke 
abhängt.  Wäre  ein  System  von  vielen  solchen,  theils  stärkeren,  theils 
schwächeren,  und  einander  theils  mehr,  theils  weniger  nahe  gerückten 
Federn  vorhanden;  und  würde  bald  hier,  bald  dort  eine  neue  Feder 
zwischen  die  übri[i55]gen  hineingeklemmt,    so    würde    sich,    so     oft     dies 


I IO  V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Nothwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden, 

geschähe,  der  Zustand  des  Gleichgewichts  unter  den  Federn  abändern; 
auch  würde  nach  jeder  Abänderung  das  ganze  System  noch  lange  fort- 
schwingen.  Dies  mag  das  beste  Gleichnifs  sein,  was  man  aus  der  Körper- 
welt entlehnen  kann,  um  das  System  unsrer  Vorstellungen,  zu  welchem 
die  Erfahrung  immer  neue  hinzufügt,  dadurch  abzubilden.  Aber  auch 
hier  darf  die  Vergleichung  nicht  zu  weit  ausgedehnt  werden.  Die  Ungleich- 
artigkeit  des  Körperlichen  und  Geistigen  ist  bekannt.  Für  nachdenkende 
Leser  dienen  jedoch  Gleichnisse  eben  so  sehr  durch  ihr  Unpassendes  als 
durch  ihr  Treffendes  zur  Belehrung  und  Uebung. 

(6)    S.    99.      „  Unterschied   zwischen   Statik    und  Mechanik  des    Geistes." 

Es  giebt  eine  Menge  von  Leuten,   die  über  Mechanismus  sehr  geläufig 

plaudern,    obgleich    sie    nicht    einmal  Statik,    vielweniger  Mechanik   studirt 

haben.     Die  Erinnerung  daran  veranlafst    mich,    hier    etwas    tiefer    in    die 

Sache  einzugehen. 

Statik  heifst  die  Lehre  vom  Gleichgewichte,  Mechanik  die  Lehre  von 
den  Veränderungen,  welche  dem  Gleichgewichte  entweder  vorhergehfi,  ehe 
es  sich  bilden  kann,  oder  ihm  nachfolgen,  wenn  es  aufgehoben  wurde. 
Bei  dem  Worte  Gleichgeivicht  denkt  Niemand  an  Getvichte;  die  Kräfte 
und  deren  Richtungen  mögen  sein,  welche  sie  wollen;  es  kommt  nur 
darauf  an,  ob  ihre  Wirksamkeit  sich  dergestalt  gegenseitig  aufhebt,  dafs 
kein  weiterer  Erfolg  daraus  entstehen  kann,  und  dafs  der  ganze  Zustand 
so  bleiben  mufs,  wie  er  ist.  Eben  so  wenig  ist  es  nöthig,  bei  den  Worten 
Statik  und  Mechanik  an  die  Körperwelt  zu  denken;  blofs  der  Umstand, 
dafs  die  Principien  der  Körpermechanik  leichter  zu  finden  sind,  als  die 
mehr  verborgenen  der  Mechanik  des  Geistes,  —  dieser  Umstand  ist 
Schuld,  dafs  es  eher  eine  Mechanik  der  ersten  als  der  zweiten  Art  gegeben 
hat.  Kennten  wir  noch  eine  dritte  Art  von  Kräften  aufser  den  körper- 
lichen und  den  geistigen:  so  würde  es  ganz  unstreitig  auch  dafür  eine 
Statik  und  Mechanik  geben;  denn  diese  beiden  Wissenschaften  finden 
überall  Platz,  wo  es  ein  System  von  Kräften  giebt,  die  einander  entgegen- 
wirken, so  dafs  sie  einander  entweder  aufheben  oder  nicht.  Und  immer 
werden  die  Bedingungen,  unter  denen  sie  sich  vollkommen  am  weitern 
Erfolge  hindern,  die  ersten  festen  Puncte  der  Untersuchung  darbieten; 
das  heifst,  [156]  immer  wird  die  Statik  vorangehn  vor  der  viel  schwerern 
und  weitläuftigern  Mechanik;  gesetzt  auch,  es  fände  sich,  dafs  das  voll- 
kommene Gleichgewicht  eigentlich  ein  idealer,  niemals  ganz  erreichbarer 
Zustand  sei;  wie  es  bei  den  geistigen  Kräften,  laut  Zeugnifs  der  Erfahrung, 
wirklich  ist,  und  laut  Zeugnifs  der  Rechnung  nothwendig  sein  mufs.  Es 
ist  nämlich  frerade  die  immerwährende  Bewegung  und  Beweglichkeit  des 
Geistes,  die  wir  in  uns  wahrnehmen,  —  und  deren  Mangel  oder  Ueber- 
maafs  ein  Hauptkennzeichen  von  Geisteszerrüttung  ausmacht,  —  einer  der 
ersten  Puncte,  worüber  die  Mathematik  Rechenschaft  darbietet,  und  Ein- 
sicht in  die  Gründe  verschafft. 

(7)   S.    IOO.    ,,  Wunder  der  vorgeblich   unbegreiflichen   Freiheit." 
Die    Wundergläubigen    selbst    werden    vermuthlich    einräumen,     dafs 
Wunder  die  Ausnahme,  natürliche  Ereignisse  aber  die  Regel  bilden.    Wie 
wäre  es,  wenn  sie,  um  der  Bewunderung  recht  voll  zu  werden,  sich    ein- 
mal entschlössen,  erst    die   Regel,   —   die   sie   wahrlich   noch   sehr    wenig 


V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden.   1 1 1 

kennen,  —  aufmerksam  zu  studiren?  Der  Contrast  würde  doch  vermuth- 
lich  desto  auffallender  hervortreten.  Dafs  aber  des  Natürlichen  in  uns, 
so  wie  außer  uns,  weit  Mehr  geschieht,  als  des  Wunderbaren;  dafs  auch 
die  grofse  Zahl  der  Menschen,  von  denen  hauptsächlich  die  Volksmenge 
im  Staate  abhängt,  uns  des  Ge?neinen  unendlich  viel  mehr  als  des  Aufser- 
ordentlichen  und  des  Erhabenen  zu  schauen  giebt,  weifs  Jedermann. 
Wüfste  nur  auch  Jedermann,  wie  viel  dazu  gehört,  um  von  dem  Gemeinen, 
z.  E.  vom  Fallen  der  Steine,  oder  vom  Mondwechsel,  oder  vom  Aus- 
wendigbehalten des  Gelernten,  oder  vom  Schreck  und  vom  Zorn,  — 
Grund  und  Ursache  anzuheben!  Nachdenkenden  Menschen  ist  es  be- 
kanntlich  schon  oft  begegnet,  dafs  das  Gemeine  selbst  für  sie  zum  Wunder 
geworden   ist. 

Doch  ich  mufs  ernster  sprechen  über  den  höchst  ernsten  Gegenstand. 
Freiheit  —  dies  Wort  hat  Wunder  gewirkt;  und  sie  selbst,  die  Freiheit, 
sollte  kein  Wunder  sein?  So  wird  Mancher  fragen,  und  sich  dabei  der 
Männer,  welche  grofs  waren  durch  Selbstbeherrschung,  mit  Achtung,  ja  mit 
Ehrfurcht  erinnern.  Diese  Ehrfurcht  ist  und  bleibt  gerecht,  man  mag  nun 
ihren  Gegenstand  in  seiner  Tiefe,  oder  nur  oberflächlich  erkennen.  Aber 
gegründet  ist  auch  die  Furcht  vor  den  Vorurtheilen ,  die  an  das  Wort 
Freiheit  sich  zu  hängen  pflegen;  —  und  jede  Gemüthsbewegung,  sei  sie 
nun  ihrem  Gegenstande  günstig  [157]  oder  ungünstig,  wirkt  immer  nach- 
theilig da,  wo  es  auf  kaltblütige  Untersuchung  ankommt. 

Als  die  kantische  Lehre  von  der  transscendentalen  Freiheit  des  Willens 
sich  in  Deutschland  gelten  machte:  da  war  die  Zeit  des  ersten  Enthusiasmus 
für  die  Revolution  in  Frankreich.  Wer  jene  Zeit  erlebt  hat,  der  wird 
nicht  läugnen  können,  dafs  auf  die  philosophischen  Untersuchungen  eine 
politische  Stimmung  Einflufs  hatte,  die  gar  sehr  der  Unbefangenheit  des 
Nachdenkens  zuwider  war.  Jetzt  ist  es  um  nichts  besser.  Zwar  die  poli- 
tischen Meinungen  sind  gemäfsigter,  denn  sie  gingen  durch  eine  schmerz- 
liche Schule  der  Erfahrung;  aber  den  Schutz  der  wieder  erwachten 
religiösen  Stimmung  mifsbraucht  ein  düsterer  Geist  des  Grübelns  über  ver- 
alteten  Dogmen;  ja  wenn  wir  Herrn  geheimen  Kirchenrath  Daub  in 
Heidelberg  glauben  wollen,  —  der  Teufel  selbst  ist  los  und  spukt,  wo 
nicht  in   den  Gemüthern,   so  doch  in  den  Köpfen. 

Die  heidelbergische  Theologie  hat  schon  einmal  meine  Federn  in 
Bewegung  gesetzt;1  jetzt  eben,  da  ich  dies  schreibe,  finde  ich  in  den 
Heidelberger  Jahrbüchern  der  Literatur,  Januar  1822,  eine  persönliche 
Veranlassung,  noch  etwas  deutlicher  zu  sprechen,  als  in  meinen  Gesprächen 
über  das  Böse  schon  geschehen  war.     Es  heifst  daselbst: 

„Herbart  zeigt,  dafs  die  Moral  als  Güter-,  Tugend-  und  Pflichtenlehre 
„unwirksam  sei,  und  macht  zur  Grundlage  seines  Moralsystems  den  sitt- 
lichen Geschmack  für  die  eigenthümliche  Schönheit  der  sittlichen  Ver- 
hältnisse des  innern  Menschen.  Allein  da  der  Geschmack  des  Indivi- 
duums doch  nur  der  Geschmack  seiner  Vernunft  ist,  und  Herbart  selbst 
„auch  unrichtige  Charaktere  annimmt,  so  ist  nicht  zu  sehen,  wie  dieser 
„Geschmack  zur  herrschenden  Kraft  werde,  und  man  müfste  immer  wieder 


1  Vgl.  die  „Gespräche  über  das   Böse"  im  IV.  Bande. 


112  V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

„einen   Geschmack   an   diesem    Geschmack    und    so    bis    ins    Unendliche 
„voraussetzen,   ohne  je  auf  einen  lebendigen   Grund  zu  kommen." 

Wie  vielen  Antheil  an  diesen  Worten  der,  mir  nicht  näher  bekannte, 
recensirte  Verfasser  habe,  weifs  ich  nicht;  mir  ist  der  Recensent,  (ich  will 
ihn  nicht  nennen,  obgleich  er  sich  selbst  genannt  hat,)  verantwortlich,  der 
so  Etwas  auf  meine  [158]  Kosten  abdrucken  liefs,  ohne  es  zu  verbessern! 
Da  ich  die  Stelle  eben  jetzt  zu  lesen  bekomme,  so  gewinnt  sie  das  zu- 
fällige Verdienst,  mich  zu  erinnern,  dafs  ich  vergebens  über  Möglichkeit 
und  Nothwendigkeit  einer  verbesserten  Psychologie  schreiben  würde,  wenn 
ich  unterliefse,  zugleich  über  praktische  Philosophie  das  Nöthige  zu  sagen, 
die  mit  jener  in  der  engsten  Gemeinschaft,  theils  der  Wahrheit,  theils 
noch  weit  mehr  des  Irrthums  steht. 

Wenn  es  wahr  ist,  dafs  ich  gezeigt  habe,  Güter-,  Tugend-  und  Pflichten- 
lehre sei  unwirksam,  —  welches  unstreitig  so  viel  heifst  als,  diese  Lehren 
können  nichts  wirken,  und  haben  folglich  nie  etwas  gewirkt,  —  so  mufs  ein 
böser  Dämon  sich  meiner  Person  bedient  haben,  um  ein  unheilvolles,  ent- 
setzliches Wunder  zu  vollbringen,  wodurch  alle  die  segensreichen  Früchte 
vernichtet  sind,  welche  die  stoische  Tugendlehre,  die  kantische  Pflichten- 
lehre, und  selbst  die  Glückseligkeitslehre  so  vieler  edlen  Männer  von 
richtigem  Ueberblick  über  das  Ganze  der  menschlichen  Natur,  theils  in 
alten,  theils  in  neuern  Zeiten  ganz  unstreitig  hatte  heranreifen  lassen.  Zu 
meinem  Tröste  über  eine  so  schreckliche  Verwüstung,  die  ich  in  der 
moralischen  Welt  angerichtet  habe,  gereicht  es  indessen,  dafs  mein  per- 
sönliches Ich,  mein  Selbstbewufstsein,  ganz  frei  und  rein  ist  von  allem 
Mitwissen  um  die  That  des  besagten  bösen  Dämons;  ja  sogar  mein 
Buch,  —  meine  allgemeine  praktische  Philosophie,  enthält  nicht  Einen 
Buchstaben,  welcher,  mit  wachenden  Augen  und  mit  Besinnung  an  den 
Zusammenhang  des  Ganzen  gelesen,  als  Mitschuldiger  an  jener  Unthat 
könnte  zur  Rechenschaft  gezogen  werden.  Vielmehr  bezeugt  das  Buch 
schon  auf  Seite  17,  [vgl.  Bd.  II,  337]  (und  bis  zur  siebenzehnten  Seite 
pflegen  ja  wohl  auch  diejenigen  zu  kommen,  die  zwar  nicht  die  Bücher, 
aber  in  den  Büchern  lesen,)  Folgendes  deutlich  und  wörtlich: 

„dafs  nun  die  bisher  vorhandenen  Lehren  von  Pflichten,  Tugenden, 
„und  Gütern,  vom  Herzen  zum  Herzen  gesprochen,  das  Bessere  in  den 
„Menschen  zum  Noch-Besseren  vielfältig  erhöht  haben,  dies  zu  ver- 
kennen sei  ferne!  Gleichgesinnte  Gemüther  verstehen  einander  trotz 
„dem  unrichtigen  Ausdruck." 
Ja  vollends  S.  270,  [Bd.  II,  411]  nachdem  von  der  Freiheitslehre  die 
Rede  gewesen,  heifst  es  daselbst: 

„Möchte  nun  die  innere  Möglichkeit  der  Tugend  für  die  [159]  Theorie 
„noch  so  räthselhaft  sein:  die  gegenwärtige  Untersuchung  (das  heifst: 
„die  praktische  Philosophie  in  ihren  Haupttheilen,)  ignorirt  das  Räthsel 
„ganz  und  gar.11 

Diese  Stelle  möchte  wohl  eines  Commentars  bedürfen,  besonders  für 
Leute,  die  alles  durch  einander  mengen,  und  von  der,  dem  besonnenen 
Forscher  höchst  nöthigen,  Fertigkeit,  jede  Untersuchung  in  ihre  eigenihüm- 
liche  Sphäre  einzuschlie/sen,  ja  die  verschiedenartigen  Betrachtungen  so  streng  zu 
sondern,  als  ob  jede  für  die  andre  ein  Gehehnnifs  iväre,  —  keinen  Begriff  haben. 


V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden.   113 


Als  ich  meine  praktische  Philosophie  schrieb,  da  wufste  ich  sehr  gut, 
dafs  meine  Metaphysik  die  transscendentale  Freiheit  verwirft,  und  dafs  in 
meiner  Pädagogik,  (denn  dahin  gehört  die  Frage,)  von  den  Bedingungen, 
unter  welchen  die  sittlichen  Urtheile  wirksam  fürs  Leben  werden,  viel- 
fältig geredet  werde.  Ich  wufste  das,  aber  meine  praktische  Philosophie 
durfte  es  nicht  wissen.  Nicht  ihre  Sache  war  es,  der  Psychologie  vor- 
greifend, von  dem  Wirken  und  wirklichen  Geschehen  im  menschlichen 
Geiste  Lehrsätze  aufzustellen.  Ausdrücklich  bekannte  meine  praktische 
Philosophie,  dafs  sie  nur 

„über  Bilder  des  möglichen  Wollens  zu  urtheilen,  den  Willen  selbst 
hingegen,  und  sein  wirkliches  Thun  ganz  ungebunden  zu  lassen  habe.'' 
Es  mag  sein,  dafs  eine  solche  Beschränkung  in  den  Augen  mancher 
Menschen  die  praktische  Philosophie  vernichte.  Sie  freilich  würden  es 
viel  besser  machen,  sie  würden  den  Himmel  und  die  Unterwelt  in  Be- 
wegung setzen,  —  um  Effect  zu  machen.  Mir  liegt  am  Effect  überhaupt 
wenig,  in  der  praktischen  Philosophie  vollends  beinahe  Nichts;  aber  alles 
liegt  mir  an  der  Wahrheit. 

Die   Reden  von  der  Tugend,   von    der  Pflicht,    von    den  Gütern,    von 
der  Freiheit,   von  der  Erbsünde  u.  s.  w.  sind  eine  wirksame  Rhetorik;  denn 
sie  fassen  das  menschliche  Gemüth  an  seinen  empfindlichsten  Stellen;  sie 
resen   die  Affecten  auf;    und    sie    stiften    auf   diese   Weise    viel   Gutes    und 
viel  Böses.      Will   man  aber  wissen,  was  der  wahre  und  ächte  Gehalt  aller 
dieser  Reden   sei,  so  müssen    die   Affecten    ruhen,    und    die  Rhetorik    mit 
allen  ihren   Künsten  mufs  schweigen.      Was  vorzuziehn,  was    zu    verwerfen 
sei,   mufs  ohne  irgend  eine   Regung    des  Willens,    erkannt    werden;   •    •   so 
dafs  nicht  blofs  die   Schönheit,  sondern  auch  das   Häßliche,   —  nicht  blofs 
des    inner n,    son[iöo]dern    auch    des     in    geselliger    Gemeinschaft     lebenden 
Menschen,   offenbar  werde;   und   zwar  ohne  im  logischen  Zirkel  schon  sitt- 
liche Verhältnisse  vorauszusetzen,   die  vielmehr    als   sittlich    erst    durch    die 
willenlose    Beurtheilung   selbst    bezeichnet    und    ursprünglich    unterschieden 
werden  können.      Wer   hiebei    nicht    sein    individuelles    Begehren,    Meinen, 
und   einseitiges   Auffassen,   durch   die   Kraft  der  Selbstbeherrschung,   welche 
die    Grundbedingung    der    Speculation    ist,     zu    unterdrücken    vermag;    wer 
nicht  versteht,   seine  Gedanken   so  zu  stellen  und  zu  halten,  wie  sie  durch 
die  ersten  leitenden  Principien    der  Untersuchung   gefordert   werden;    wer 
überhaupt  nicht  sein  objectiv  nothwendiges  Denken  von  seinem  subjectiven. 
und   insofern    zufälligen   Gedankenlauf   zu    unterscheiden  geübt  ist:    der    ist 
nicht  reif  weder  für  diese  noch   für  irgend   eine  Speculation;   und  er   wird 
sich  nicht   über   seinen    individuellen  Geschmack    erheben.      Wer    aber    gar 
noch    in   Frage    stellen    wollte,    ob    unrichtige    Charaktere    anzunehmen    seien 
oder  nicht:   der  würde   eine  grenzenlose  Unwissenheit   verrathen;   denn   die 
unrichtigen     Charaktere    sind    eine    allbekannte  Thatsache.      Dafs    nicht    zu 
sehen    sei,    wie    der    sittliche    Geschmack    zur    herrschenden    Kraft    werde,     ist 
wahr    in    der    praktischen    Philosophie;    denn    in    diese   Wissenschaft,    wenn 
man  nicht  schon   die  Psychologie  als  bekannt  voraussetzen  will,  gehört  die 
ganze    Frage    nicht;    die    praktische    Philosophie    bringt    den    sittlichen  Ge- 
schmack zur  Sprache;   sie  sondert  und   begrenzt  die    durch    ihn    erzeugten 
Begriffe •   sie  selbst  ist    ein  Denken,    aber    nicht    ein    Herrschen.      Dafs    der 
Hekhakt's  Werke.    V. 


114  ^"-  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit.  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 


sittliche  Geschmack  für  sich  selbst  ein  Gegenstand  der  Beurtheilung  wird, 
ist  wahr,  insofern  er  in  ein  Verhältnifs  mit  dem  Willen  eingeht;  wer 
aber  diese  Wahrheit  verstanden  hat,  der  wird  hiebei  nicht  an  ein  Fort- 
schreiten ins  Unendliche  denken,  und  noch  viel  weniger  die  Frage  vom 
Wirken  und  Herrschen  des  sittlichen  Urtheils  dahinein  mengen. 

Die  oben  dargelegte  Stelle  der  Heidelberger  Jahrbücher  steht  nicht 
allein,  sondern  in  der  Mitte  von  Xexiex  an  Kant,  Fichte,  Schellixg, 
Schulze,  Bouterwek,  Fries  und  Köppex;  der  Epilog  dazu  lautet 
folgendermaafsen : 

„Also   unkräftig  ist  alles,    was    die   Philosoplien    statt    des    Christenthums 
geben.1' 

Man  sieht:  die  Philosophen  haben  undankbare  Schüler;  das  ist  in- 
dessen nichts  Neues,  und  kein  Unglück:  der  Undank  läfst  [161]  sich  ertragen, 
aber  die  Mißverständnisse  sind  ein  Unkraut,  das  man  ausraufen  mufs,  so 
oft  sich  Gelegenheit  findet.  In  dieser  Hinsicht  sind  mathematische  Dar- 
stellungen eine  treffliche  Sache;  sie  werden  entweder  verstanden  oder  nicht; 
ein  Drittes  ist  bei  ihnen  kaum  denkbar. 

Da  mir  einmal  die  heidelberger  Jahrbücher  vor  Augen  liegen,  will  ich 
zum  Schlufs  noch  ein  paar  Zeilen  von  Herrn  Kirchenrath  Paulus  daraus 
abschreiben,  die  ich  zugleich  bereit  bin  zu  unterschreiben:  „Unendlich  und 
absolut  an  sich  ist  geivifs  unsre  Freiheit  nicht.  .Dennoch  ist  sie  in  Be- 
ziehung auf  die  Gewalt  der  sintilichen  Begierde,  im  besonnenen  Zustande, 
kräftig  genug.  Wir  sind  frei,  um  immer  freier  zu  werden.  Es  giebt 
Grade  der  Freiheit,  wie  Grade  der  Einsicht  und  Vollkommenheit."  Das 
war  von  jeher  meine  Lehre,  und  sie  ist  es  noch  heute.  Um  diese  Lehre 
zu  begreifen  und  begreiflich  zu  machen,  braucht  man  nicht  alte  Streit- 
fragen wieder  zu  wecken,  nicht  alte  Streitigkeiten  wieder  zu  entzünden, 
nicht  den  Fanatismus  wieder  in  Gährung  zu  versetzen;  man  braucht  nicht 
die  unermefslichen  Gefahren  über  das  bürgerliche  Leben  nochmals  herbei- 
zurufen, von  denen  die  Kirchengeschichte  so  traurige  Kunde  giebt.  Die- 
jenigen, die  solches  thun,  sind  verantwortlich  für  die  Folgen,  und  die  leere 
Ausflucht:  das  hatten  wir  nicht  gedacht,  nicht  beabsichtigt,  kann  ihnen  nicht 
zur  Entschuldigung  gereichen.  Sie  mufsten  wissen,  dafs  die  menschliche 
Xatur  sich  zu  allen  Zeiten  gleicht,  und  dafs  furchtbare  Ausbrüche  des 
Fanatismus  auch  in  unsern  Tagen  leider!  nicht  ohne  Beispiel  sind.  Die 
Folgen  solcher  Lehren,  wie  Herr  K.  R.  Paulus,  S.  37  und  38  des  er- 
wähnten Journals,  warnend  und  mit  gerechter  Besorgnifs,  anführt,  lassen 
sich  nicht  berechnen;  wenn  aber  der  theologische  Uebermuth,  der  jetzt 
die  Philosophie  urkräftig  schilt,  auf  gerader  Bahn  fortschseitet,  so  bereitet 
er  sich  selbst  eine  Zeit  der  schmerzlichen  Reue,  wodurch  er  der  ge- 
schmähten und  verachteten  eine  unverlangte   Genugthuung  geben  wird. 

(8)  S.  102.  „Man  muß  vom  Einfachsten  ausgehn,  und  beim  ersten 
Anfange  noch  alle  Verbindung  der  Vorstellungen  unter  einander  bei  Seile 
setzen." 

Wollte  ich  dies  mit  Rücksicht  auf  die  nächstvorhenrehende  Anmerkung 
erläutern:  so  würde  ich  auseinandersetzen,  dafs  man  überhaupt  die  Kunst 
verstehen  müsse,  eine  Untersuchung  anzufangen,  und  dafs  einer  der 
schwersten    Theile    dieser    Kunst    [162]    darin    bestehe,    das    bei    Seite    zu 


V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.Nothwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden,    i  i  g 


setzen,  zvas  zum  Anfange  nicht  gehört.  Ich  würde  hinzufügen,  dafs  die- 
jenigen Leser  philosophischer  Schriften,  denen  es  Ernst  ist,  daraus  lernen 
zu  wollen,  vor  allen  Dingen  die  Sonderung  der  verschiedenartigen  Probleme 
daraus  lernen  müssen,  damit  Licht  und  Ordnung  in  ihre  Köpfe  komme, 
und  ihnen  nicht  etwa  die  Ungereimtheit  begegne,  auf  den  ersten  Seiten 
einer  praktischen  Philosophie  nach  den  Bedingungen  zu  suchen,  unter 
denen  moralische  Vorstellungen  im  menschlichen  Gemüthe  wirksam  und 
kräftig  werden  können.  Die  Psychologie  ist  nun  noch  ungleich  schwerer 
als  die  praktische  Philosophie;  und  wer  hier  die  voreiligen  Fragen  nicht 
zurückhalten  kann,  wer  nicht  Geduld  hat,  beim  Atifange  anzufangen,  dem 
mufs  man  ohne  Schonung  zurufen :   odi  profanum   vulgus,  et  areeo. 

Es  ist  nun  die  Verbindung  der  Vorstellungen,  welche  beim  Anfange 
der  Psychologie  mufs  bei  Seite  gesetzt  werden,  damit  man  erst  die  Wir- 
kungsart einfacher  Vorstellungen  kennen  lerne.  Giebt  es  denn  einfache  Vor- 
stellungen ?  So  höre  ich  fragen.  Ich  antworte,  dafs  ich  beim  Anfange  der 
Psychologie  diese  Frage  bei  Seite  setze,  weil  erst  die  Psychologie  selbst, 
in  ihrem  Fortgange,  sie  beantworten  kann;  und  weil  man,  um  anfangen 
zu  können,  gar  nicht  nöthig  hat  darüber  zu  entscheiden.  Die  Probleme 
müssen  vereinfacht  werden;  das  ist  das  Bedürfnifs  der  Untersuchung; 
und  dies  Bedürfnifs  mufs  man  befriedigen,  wie  weit  man  sich  auch  da- 
durch fürs  erste  von  der  Wirklichkeit  entfernen  möchte ;  sonst  kommt  die 
Untersuchung  nicht  in  Gang,  und  wir  lernen  nichts,  sondern  bleiben 
stecken  in  der  alten  Finsternifs.  Die  Frage:  giebt  es  einfache  Vor- 
stellungen? bedeutet  für  den  Psychologen  gerade  so  viel,  als  für  den 
Mechaniker,  der  von  der  Bewegung  der  Puncte  handelt,  die  Frage:  giebt 
es  denn  einfache  Puncte  ?  Darauf  würde  der  Mechaniker  ohne  Zweifel 
antworten,  er  verlange  einen  gelehrigen  Schüler,  der  Geduld  habe  zu 
warten,  bis  der  Nutzen  und  die  Anwendung  des  Vorgetragenen  an  die 
Reihe  komme. 

Allerdings  aber  mufs  man  von  Anfang  an  die  Länge  des  Weges 
einigermaafsen  zu  schätzen  wissen,  den  man  wird  zurückzulegen  haben. 
Indem  wir  mit  der  Untersuchung  über  die  Wirkungsart  einfacher  Vorstel- 
lungen beginnen,  stehen  wir  noch  ganz  aufser  dem  Kreise  dessen,  wovon 
unser  wirkliches  Bewufstsein  uns  die  Beispiele  darbietet.  In  uns  sind  alle 
Vor[i63]stellungen  in  unermefslich  mannigfaltiger  Verbindung,  und  dieser 
Umstand  ist  höchst  entscheidend  für  deren  Energie  und  Wirkungsart.  Nur 
allmälig,  und  immer  mehr,  und  immer  genauer,  wie  sie  weiter  fortschreitet, 
kann  die  Psychologie  uns  über  dasjenige  belehren,  was  in  uns  vorgeht. 
Darüber  würde  man  jedoch  dem  geübten  Mathematiker  gar  nicht  nöthig 
haben,  etwas  zu  sagen.  Dieser  weifs  sehr  gut,  dafs  in  der  Astronomie 
die  Erde  erst  als  eine  Kugel,  dann  wie  ein  Ellipsoid,  —  die  Erdbahn 
erst  wie  ein  Kreis,  dann  wie  eine  Ellipse  betrachtet  wird;  und  eben  so 
in  unzähligen  andern  Fällen.  Die  Correctionen  kommen  nach;  aber  erst 
mufs  man  Umrisse  entwerfen,  ehe  man  die  Gemälde  auszeichnen  kann. 
Niemand  tadele  hier  meine  Weitläuftigkeit ;  ich  habe  aus  Erfahrung 
gelernt,  wie  nöthig  sie  ist.  Irgendwo  hatte  ich  den  Satz  ausgesprochen, 
dafs  von  ztveien  Vorstellungen  niemals  eine  die  andre  ganz  unterdrückt ,  daß 
hinsesen   von   dreien  Vorstellungen   sehr  leicht  die  schwächste  durch  die  beiden 

8* 


I  l6  V.  Ueberd.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

stärkeren  könne  völlig  aus  dem  Bewufstsein  verdrängt  werden.  Dieser  Satz 
gilt  von  einfachen  Vorstellungen,  und  das  war  ausdrücklich  dabei  bemerkt 
worden.  Sollte  man  für  möglich  halten,  Jemand  könne  auf  den  Einfall 
kommen,  zu  versuchen,  ob  wohl  von  den  Vorstellungen  dreier  Menschen 
sich  der  Satz  in  der  Erfahrung  bestätigen  werde?  dergestalt,  dafs  die 
Vorstellung  eines  dieser  Menschen  in  uns  unterdrückt  werde  durch  die 
beiden  Vorstellungen  der  andern  Menschen  ?  Es  liegt  ja  am  Tage,  dafs  die 
Vorstellung  eines  jeden  Menschen  eine  ungeheuer  vielfache  und  verwickelte 
Vorstellung  ist ;  und  dafs  wegen  der  höchst  vielfältigen  Aehnlichkeit  der 
Menschen  unter  einander,  jede  solche  Vorstellung  die  andre  vielmehr 
producirt,  als  verdrängt!  Nichts  destoweniger  ist  ein  Psychologe,  ein  nam- 
hafter Schriftsteller,  mit  diesem  Einwurfe  gegen  mich  öffentlich  aufgetreten. 
Gewifs  haben  die  Mathematiker,  in  deren  Kreis  solche  Gedankenlosigkeit 
niemals  kommt,  keinen  Begriff  davon,  mit  welcher  Dreistigkeit  sich  die 
unbesonnensten,  lächerlichsten  Plaudereien  einem  philosophischen  Vortrage 
in   den  Weg  stellen. 

(9)  S.  102.  „Die  Stärke  jeder  einzelnen  Vorstellung,  und  der  Grad  der 
Hemmung  zivischen  je  zweien." 

Jetzt  komme  ich  auf  einen  Punct,  den  selbst  Mathematiker  \ielleicht 
mifsverstehen  könnten,  wenn  sie  nicht  aufmerksam  gemacht  würden.  Ich 
meine  nicht  die  Stärke  jeder  einzelnen  [164]  Vorstellung;  der  Unterschied 
zwischen  stärkeren  und  schwächeren  Vorstellungen  ist  aus  der  Erfahrung 
bekannt  genug.  Aber  schwerer  zu  fassen  ist  der  Begriff  vom  Gegen  satze, 
oder  vom  Hemmungsgrade  der  Vorstellungen. 

Wenn  man  zu  dem  Mathematiker  von  entgegengesetzten  Kräften 
spricht:  so  denkt  er  sich  zunächst  solche  Kräfte,  die,  wenn  sie  gleich 
stark  sind,  einander  auf  Null  reduciren.  Wollte  man  dieses  auf  Vor- 
stellungen anwenden :  so  würde  der  falsche  Gedanke  herauskommen,  als 
wäre  eine  Vorstellung  das  Negative  der  andern ;  so  dafs,;awenn  ihrer  zwei 
gleich  starke  auf  einander  wirkten,  sie  sich  gegenseitig  vernichteten,  und 
alles  Vorstellen  aufhörte.  Nun  giebt  es  aber  unter  Vorstellungen  gar  kein 
solches  Verhältnils.  Keine  ist  an  sich  das  Negative  der  andern;  jede  für 
sich  genommen  ist  rein  positiv,  sie  ist  das  Vorstellen  ihres  Vorgestellten. 
Zum  Beispiel :  die  Vorstellung  Blau  ist  nicht  Minus  Roth ,  und  eben  so 
rückwärts :  die  Vorstellung  Roth  ist  nicht  Minus  Blau.  Daher  können 
sie  mit  einander  auch  nicht  Null  machen.  Gleichwohl  sind  sie  entgegen- 
gesetzt, und  zwar  dergestalt,  dafs  ihr  Gegensatz  das  Extrem  ist  für  ein 
ganzes  Continuum  schwächerer  Gegensätze.  Denn  zwischen  Blau  und 
Roth  läuft  eine  Linie  des  Violetten  in  allen  seinen  Abstufungen.  Mischt 
man  Blau  und  Roth  zu  gleichen  Theilen,  so  hat  man  ein  Violett,  welches 
dem  reinen  Blau  und  dem  reinen  Roth  gleich  stark  entgegengesetzt  i.-t. 
nämlich  halb  so  stark,  als  die  beiden  reinen  Farben  unter  einander.  Die 
Vorstellung  eines  solchen  Violett  kann  daher  zum  Beispiele  dienen,  wenn 
es  darauf  ankommt,  den  Begriff  des  Hemmungsgrades  unter  den  Vor- 
stellungen deutlich   zu  machen. 

Wenn   nun    die  Vorstellungen    sich  nicht  vernichten ,    und    doch    ent- 

l  engesetzt  sind,  so  werden  sie  wohl,   —  möchte  Jemand  meinen,  —  ein 

drittes  Mittleres    hervorbringen;    so    wie    zwei    Kräfte,    deren   Richtungen 


V.  Ueber  d.  Möglickkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden,   ny 

einen  Winkel  bilden,  den  Körper,  auf  den  sie  wirken,  nach  der  Diagonale 
treiben.  Aber  dieses  ist  eben  so  falsch  wie  das  Vorige.  Die  Erfahrung 
lehrt  aufs  bestimmteste,  dafs  die  beiden  Vorstellungen  des  Rothen  und 
des  Blauen  sich  in  unserm  Geiste  keineswegs  dergestalt  mischen,  wie  die 
Pigmente  im  Farbentopfe.  Die  beiden  Vorstellungen  gehen  nicht  zu- 
sammen in  eine  Vorstellung  des  Violetten,  sondern  sie  bleiben  völlig  rein 
und  gesondert. 

Man  sieht  demnach,  dafs  hier  alle  Analogien  mit  dem,  was  [165]  von 
räumlich  entgegengesetzten  Kräften  bekannt  ist,  irre  führen  würden ,  und 
dafs  man  sich  solcher  Analogien  gänzlich  zu   enthalten  habe. 

Böte  nun  die  Erfahrung  unmittelbar  den  Grundbegriff  von  dem  Ge- 
setze de?-  Kraft,  womit  Vorstellungen  einander  entgegenwirken,  dar:  so 
wäre  ohne  Zweifel  schon  seit  Jahrhunderten  die  mathematische  Psychologie 
eine  bekannte  Wissenschaft;  und  man  würde  sie  viel  früher  gefunden 
haben ,  als  die  physische  Astronomie ;  denn  für  diese  ist  das  Gesetz 
der  Gravitation  auch  nicht  unmittelbar  gegeben;  es  hat  müssen  errathen 
werden,  und  dies  ist  spät  genug  geschehen. 

Mittelbar  ist  indessen  die  Erfahrung  auch  für  die  Psychologie  das 
Erkenntnifsprincip ;  aber  das  Medium  der  Ableitung  ist  hier  die  Meta- 
physik, welche,  vom  Begriff  des  Ich,  als  dem  durchs  Bewufstsein  unmittel- 
bar Gegebenen,  ausgehend,  die  Bedingungen  erforscht,  unter  denen  allein 
ein  vorstellendes  Wesen  zur  Vorstellung  Ich  gelangen  könne.  Da  findet 
sich  denn,  dafs  die  ursprünglichen  Vorstellungen  entgegengesetzt  sein 
müssen,  ohne  sich  zu  vernichten,  und  ohne  in  ein  Mittleres  zusammen 
zu  laufen,  wie  die  Erfahrung  es  bestätigt.  Aber  es  findet  sich  nun  auch 
der  bestimmte  Begriff,  den  man  der  weiteren  Untersuchung  zum  Grunde 
legen  mufs,  nämlich  dieser  :  die  unter  zwei  Vorstellungen  entstehende ,  für 
beide  ganz  zufällige,  Hemmung  ist  eine  ge?neinsame  Last  für  beide,  die  nicht 
gröfser ,  aber  wohl  kleiner  sein  kann,  als  die  schwächste  von  beiden  Vor- 
stellungen ;  diese  Last  vertheilt  sich  tinter  beide  nach  dem  umgekehrten  Ver- 
hältnisse  ihrer  Stärke. 

Das  ist  der  Begriff,  welchen  die  Metaphysik  an  die  Mathematik  ab- 
liefert, und  welchen  die  letztere  so  nehmen  mufs,  wie  er  gegeben  wird. 
Zum  Behuf  der  Rechnung  besitzt  der  Begriff  eine  vollkommen  zulängliche 
Bestimmtheit.  Will  aber  der  Mathematiker  nicht  daran  glauben,  dafs  die 
Metaphysik  ihm  einen  wahren  Begriff,  angemessen  der  Natur  des  mensch- 
lichen Geistes,  darbiete :  so  steht  ihm  nun  noch  frei,  den  Begriff  als  eine 
Hypothese  zu  betrachten,  ihn  als  solche  der  Rechnung  zum  Grunde  zu 
legen;  alsdann  aber  so  weit  im  Calcul  fortzuschreiten,  bis  er  auf  solche 
Puncte  trifft,  wo  sich  die  Erfahrung  bestimmt  genug  vergleichen  läfst,  um 
über  die  Wahrheit  oder  Falschheit  des   Princips  zu  entscheiden. 

Man  begreift  leicht,  dafs  selbst  ein  verfehlter  Versuch  nicht  [166] 
ein  vergeblicher  sein  würde.  Denn  sobald  die  Erfahrung  erst  anfängt 
eine  Theorie  zu  widerlegen ,  so  beginnt  sie  auch  hiermit  schon ,  einen 
Wink  zu  geben,  wie  man  eine  bessere  Theorie  an  die  Stelle  setzen  soll. 
Der  Fehler  wird  irgend  eine  Gröfse  haben;  aus  mehrern  solchen  Fehlem 
werden  Verbesserungen  entstehen;  und  wo  es  darauf  ankommt,  aus  Fehlern 
die  Wahrheit   zu    finden,    da    sind    die   Mathematiker    in    ihrem   Elemente. 


1 18  V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

Solcher  Puncte,  wo  die  Erfahrung  im  allgemeinen,  ohne  scharfe  Be- 
stimmung der  Quantitäten,  mit  der  Rechnung  zusammentrifft,  lassen  sich 
manche,  und  darunter  sehr  auffallende  und  bedeutende  nachweisen,  aber 
keine  Untersuchung,  wenigstens  von  den  leichteren,  scheint  mir  geschickter 
zu  dem  Zwecke,  die  Theorie  an  der  Erfahrung  zu  prüfen,  als  die  über 
die  consonirenden  und  dissonirenden  Intervalle  und  Accorde  in  der  Musik, 
Denn  hier  giebt  es  bekannte  und  längst  bestimmte  Zahlen  Verhältnisse; 
und  dieser  Gegenstand  ist  daher  für  die  Psychologie  eben  so  wichtig,  als 
die  Lehre  vom  Pendel,  nach  Theorie  und  Erfahrung,  zur  Bestimmung  der 
Fallhöhe.  Daher  habe  ich  vor  vielen  Jahren  schon  die  psychologischen 
Gründe  der  Musik  untersucht  und  bekannt  gemacht,  aber,  wie  es  scheint, 
ohne  Leser  zu  finden,  die  eine  solche  Untersuchung  zu  schätzen  wufsten. 
Zu  bemerken  ist  übrigens  hier,  dafs  die  Erfahrung  doch  ziemlich  weite 
Grenzen,  nach  mathematischer  Schätzung,  offen  läfst,  innerhalb  deren  das, 
was  man  die  Beobachtungsfehler  nennen  kann,  liegen  bleibt;  und  thöricht 
genug  ist  die  Meinung,  als  ob  die  Musik  auf  dem  Unterschiede  ratio- 
neller und  irrationeller  Tonverhältnisse  beruhete.  Kein  menschliches  Ohr 
vermag  diesen  Unterschied  so  genau  zu  fassen,  dafs  man  darauf  bauen 
könnte;  im  Gegentheil,  selbst  wenn  die  falschen  Töne  schon  anfangen, 
das  Ohr  zu  beleidigen,  bleibt  die  Musik  dennoch  verständlich;  und  das  ist 
ein  Glück;  denn  vollkommen  reine  Musik  hören  wir  niemals;  und  an 
wahrhaft  rationelle   Verhältnisse    ist   in    der  Wirklichkeit   nicht    zu    denken. 

(10)  S.    102.    „Von    der    merkwürdigsten    ThatsacJie,    dafs    niemals    alle 
Vorstellungen  zugleich   latent  werden,    sondern    stets    irgend    etwas,    nie   ganz 
Einfaches,   vielmehr   einigermafsen   Zusammengesetztes,   vorgestellt  wird." 

Diese  Stelle  kann  ohne  Rechnung  nicht  erläutert  werden,  so  wenig 
wie  das  darauf  Folgende;  aber  sie  veranlafst  mich,  einige  [167]  Resultate 
von  Rechnungen  herzusetzen.  Geübten  Mathematikern  mag  es  vielleicht 
einige  Unterhaltung  gewähren,  sich  zu  den  Zahlen  die  Formel  selbst  zu 
suchen,  die  sie  theils  aus  dem  eben  zuvor  angegebenen  Gesetze,  von  der 
Hemmung  als  einer  gemeinsamen  Last  für  die  wider  einander  strebenden 
Vorstellungen,  leicht  finden,  theils  durch  Induction  aus  den  gleich  folgenden 
Zahlen  eben  so  leicht  errathen  können.  Minder  geübten  Rechnern  wird 
hier  freilich  keine  Unterhaltung,  aber  eine  desto  nützlichere  Gelegenheit, 
ihr  Nachdenken  anzustrengen,  dargeboten  werden;  —  doch  kaum  darf 
ich  bei  einer  so  leichten  Sache  von  Anstrengung  reden.  Nur  darauf 
kommt  es  an,  dafs  man  eine  kleine  Ueberwindung  nicht  scheue,  um  seine 
Aufmerksamkeit  auf  die  Gröfsenverhältnisse  zu  richten,  die  unter  Vor- 
stellungen stattfinden  können. 

Die  allerleichteste  und  einfachste  Voraussetzung,  welche  man  machen 
kann,  ist  diese:  zwei  vollkommen  entgegengesetzte  Vorstellungen,  auf  die 
keine  andere  Kraft  wirkt  als  eben  nur  ihr  Gegensatz,  seien  gleich  stark. 
Die  Folge  wird  sein,  dafs  eine  jede  zur  Hälfte  gehemmt,  also  verdunkelt 
wird;   und  dafs  von   beiden  die  Hälfte    im  Bewufstsein   gegenwärtig   bleibt. 

Gesetzt  aber,  die  eine  sei  doppelt  so  stark  wie  die  andre:  so  wird 
von  der  stärkeren  fünfmal  so  viel  als  von  der  schwächeren,  im  Bewufst- 
sein als  ein  wirkliches  Vorstellen  übrig  bleiben,  nachdem  die  Hemmung 
geschehen  ist.   —   Man  konnte  wohl  schon  ohne  Rechnung  vermuthen,  die 


V.  Ueberd.  Möglichkeit  u.  Nothwendigkeii,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden,   i  ig 

schwächere  würde  von  der  Hemmung  am  meisten  zu  leiden  haben;  aber 
dafs  der  Unterschied  so  grofs  ausfalle,  wird  man  Mühe  haben  zu  glauben. 
Allein  man  vergleiche  diesen  Fall  mit  dem  vorigen.  Da  ist  denn  zuerst 
zu  bemerken,  dafs  die  gemeinsame  Last,  oder  die  Hemmungssumme,  welche 
aus  dem  Gegensatze  der  Voi  Stellungen  entsteht,  und  welche  unter  ihnen 
mufs  vertheilt  werden,  hier  nickt  im  mindesten  größer  ist  als  zuvor.  Denn 
es  ist  zwar  eine  der  Vorstellungen  jetzt  doppelt  so  stark,  als  sie  vorhin 
war;  aber  eine  Vorstellung  a//ei'n  macht  keinen  Gegensatz;  hätte  die 
Hemmung  sich  auch  verdoppeln  sollen,  so  hätte  die  andre  Vorstellung 
ebenfalls  und  um  eben  so  viel  stärker  werden  müssen;  dies  ist  nicht  ge- 
schehn ;  also  bleibt  die  Hemmungssumme  wie  vorhin.  Ganz  anders  steht 
es  um  das  Verhältnifs,  in  welchem  diese  gemeinsame  Last  vertheilt  werden 
mufs  unter  beide  Vorstellungen,  die  daran  zu  tragen  haben.  Die  schwä- 
[i68]chere  mufs  sich  doppelt  so  viel  gefallen  lassen  als  die  stärkere;  wir 
wollen  demnach  die  gemeinsame  Last  in  drei  gleiche  Theile  theilen;  zwei 
davon  wollen  wir  derjenigen  Vorstellung  auflegen,  welche  nur  einfache 
Stärke  hat;  einen  Theil  aber  soll  die  doppelt  so  starke  Vorstellung  über- 
nehmen. Nun  müssen  wir  uns  erinnern,  dafs  der  Ausdruck:  eine  Last 
tragen,  hier  blofs  bildlich  ist.  Eine  Vorstellung  trägt  eine  Last,  —  das 
heifst  soviel,  als:  ihr  Vorgestelltes,  oder  das  durch  sie  uns  vorschwebende 
Bild,  wird  verdunkelt ;  es  entsteht  ein  Verlust,  —  nicht  an  der  Thätigkeit 
des  Vorstellens,  sondern  am  Erfolge,  am  Vorgestelltwerden.  Also:  das  Vor- 
stellen verwandelt  sich  zum  Theil  in  eine  vergebliche  Anstrengung,  vorzu- 
stellen. Jedoch  bleibt  einiger  Erfolg  dieser  Anstrengung;  sonst  würde  unter 
den  beiden  Vorstellungen  wenigstens  eine,  ganz  verdunkelt  werden,  da  sie 
beide,  der  Voraussetzung  nach,  ganz  entgegengesetzt  sein  sollen.  Demnach: 
um  unsre  Rechnung  zu  vollenden,  müssen  wir  das,  was  wir  vorhin  eine 
Last  nannten,  die  wir  einer  Vorstellung  auflegen  wollten,  jetzo  als  einen 
Verlust  des  wirkliehen  Vorstellens  von  ihr  abzielm;  alsdann  ist  das  Abee- 
zogene  anzusehn  als  eine  völlig  vergebliche  Anstrengung,  und  der  Rest 
als  ein  völlig  ungehemmtes,  völlig  wirkliches  Vorstellen;  obgleich  eigentlich 
die  ganze  Vorstellung  nicht  in  zwei  Theile,  die  man  einen  vom  andern 
abschneiden  könnte,  zerfällt,  sondern  nur  der  Grad  des  wirklichen  Vor- 
stellens vermindert,  und  die  ganze  Vorstellung  in  einen  Zustand  der  An- 
strengung oder  des  Strebens  versetzt  wird.  Wenn  wir  jetzo  die  beiden 
Vorstellungen  in  Hinsicht  ihrer  Stärke,  ausdrücken  durch  die  Zahlen  Eins 
und  Zwei;  wenn  wir  uns  überdies  erinnern,  dafs  die  Hemmungssumme  so 
grofs  ist  wie  die  schwächste  der  beiden  Vorstellungen  (da  ja  der  Ueber- 
schufs  der  stärkeren  über  die  schwächere,  wie  vorhin  gezeigt,  die  gemein- 
same  Last  oder  die  Hemmung  nicht  vermehrt) :  so  haben  wir  Zweidrittel 
abzuziehen  von  Eins,  und  ein  Drittheil  von  Zwei.  Der  Rest  vom  ersten 
Abzüge  ist  nur  ein  einziges  Drittheil,  —  so  viel  beträgt  das  wirkliche 
Vorstellen,  was  nach  der  Verdunkelung  von   der   schwächeren  Vorstellung 

noch  übrig  ist;  aber  der  Rest  vom  zweiten  Abzüge  ist  2  —  ,  oder  Fünf- 
drittel;  also  verhält  sich  dieser  Rest  zu  jenem  wie   Fünf  zu   Eins. 

Hätten    wir  Anfangs    die   stärkere  Vorstellung  =  10,    die    schwächere 
—  1    gesetzt:   so  wäre    die   Hemmungssumme    auch   jetzt   [i<>o]   noch,    wie 


1 20  V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

vorhin,  =  i  ;    diese   zerfiele   nun    in    i  o  -f-  i  =  1 1    gleiche  Theile ;   jeder 

solche  Theil  wäre  =  — ;   zehn  derselben  abgezogen  von  i  läfst  i —  —  =— : 

ii  °       °  ii        ii  ' 

einer    der    nämlichen    Theile    hin  weggenommen    von    10    giebt    zum    Rest 

10  —  ^-==^;  also  sind  die  Reste  jetzt  sogar  im  Verhältnifs  wie  i  zu  109. 

Man  sieht  daraus,  wie  wichtig  für  den  Erfolg  die  Unterschiede  der  ur- 
sprünglichen Stärke  der  Vorstellungen  sind. 

Jetzt  wollen  wir  einmal  die  Hemmungssumme  vergrüfsem.  Die  ur- 
sprüngliche Stärke    der  Vorstellungen    soll    sein  Zwei    und  Drei.  Nun    ist 

die  Hemmungssumme  =  2;  das  Hemmungsverhältnifs  =  —  :  —  =  2  ;  2. 
Die  Hemmungsumme  zerfällt  in  2  +  3  =  5  gleiche  Theile;  jeder  dieser 
Theile  ist  =— :  die  stärkere  Vorstellung  verliert  zwei  solche  Theile;  die 
schwächere  deren  drei.     Es  findet   sich    * —  =  — ,  und    2  —  —  =  —  • 

°  5  5  '  5  5' 

also  das  Verhältnifs  der  Reste  ist   11:4. 

Noch  ein  paar  Beispiele  zur  Uebung  im  Rechnen!  Die  Vorstellungen 
seien  3  und  5;  die  Hemmungssumme  =  3,  das  Hemmungsverhältnifs 
y:y=5:3>    aber    5  +  3  =  8,    also    8  :  5  =  3  :  -g5 ,  und  8  :  3  =  3  :  -|-  ; 

*s 0     ..„,1    .         9   31 

o  —  -g-  —  x  und   0  —  -g-  —  x- 

Es  seien   die  Vorstellungen  4  und   5;    die    Rechnung    steht   kurz   so: 

9'Ui    4l?f  s-f=f. 

Wer  nun  alle  diese  Beispiele,  die  man  leicht  nach  Belieben  vermehren 
kann,  in  Gedanken  zusammenfafst  und  überlegt:  der  wird  sogleich  finden, 
dafs  ungeachtet  des  grofsen  Vortheils,  welchen  die  ursprünglich  stärkere 
Vorstellung  behauptet,  doch  auch  die  schwächste  von  der  stärksten  niemals 
wird  ganz  und  völlig  unterdrückt  werden  können;  denn  die  Hemmungs- 
summe mufs  sich  immer  vertheilen;  und  da  sie  niemals  gröfser  sein  kann 
als  die  schwächere  Vorstellung,  so  bleibt  von  dieser  letztem  allemal  so 
viel  übrig,   als   wieviel  von   der  stärkeren  gehemmt  wird. 

Dieses  wichtige  Resultat  aber  darf  man  nicht  zu  weit  ausdehnen; 
denn  es  gilt  nur  von  zweien  Vorstellungen.  Sobald  drei  oder  mehrere 
Vorstellungen  zusammentreffen,  ergiebt  sich,  dafs  die  dritte  und  die  fol- 
genden sehr  leicht  ganz  unterdrückt  werden.  Jedoch  wir  wollen  auch  hier 
vom  Leichtesten  anfangen. 

Drei  gleich  starke  Vorstellungen,  jede  =  1,  seien  vollkom[i  7o]men 
entgegengesetzt,  und  in  voller  Wirksamkeit  wider  einander  ohne  Einflufs 
einer  fremden  Kraft.  Die  beiden  letztem  Bedingungen  sind  die  nämlichen 
wie  oben;  allein  ich  wiederhole  sie  absichtlich,  theils  damit  man  sie  sich 
einpräge,  theils  damit  man  auch  die  Möglichkeit  andrer  Fälle  (die  eine 
andre  Rechnung  erfordern)  nicht  ganz  aus  den  Augen  verliere.  Es  ist 
nun  klar,  dais  in  diesem  Falle  nur  eine  der  drei  Vorstellungen  könnte  un- 
gehemmt bleiben,  wenn  die  andern  beiden  ganz  gehemmt  würden.  Denn 
nach  der  Voraussetzung  sind  alle  drei  einander  vollkommen  zuwider;  das 
heifst,  die  erste  der  zweiten,  die  zweite  der  dritten,  und  die  dritte  der 
ersten;  jede  mufs  demnach  weichen  vor  den  beiden  übrigen.     Man  nehme 


V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  Nothwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden.   121 


zwei  heraus,  welche  man  will;  die  Hemmungssumme  unter  ihnen  ist  nach 
dem  Vorigen  =  1 ;  das  Uebrigbleibende  demnach  ebenfalls  =  1 ;  kömmt 
hinzu  die  dritte  Vorstellung,  so  bildet  sich  eine  neue  Hemmungssumme, 
wiederum  =  1;  also  ist  die  ganze  Hemmungssumme  =  2.  Diese  zerfällt 
in  drei   gleiche   Theile   für   die   drei   gleich    starken  Vorstellungen,    folglich 

verliert  jede  —  und  behält  jede  — . 

Nun  wollen  wir  die  Voraussetzung  abändern,  Die  Stärke  der  drei 
Vorstellungen  werden  angezeigt  durch  die  Zahlen  1,  2,  3.  Für  die  beiden 
schwächern  wäre  die  Hemmungssumme,  wie  oben  gezeigt,  =  1,  und  das 
Uebrigbleibende  =  2 ;  kommt  dazu  die  stärkste  =  3 ,  so  ist  die  neue 
Hemmungssumme  =  2 ,  wie  ebenfalls  schon  nachgewiesen  wurde ;  also 
beides  addirt  giebt  die  ganze  Hemmungssumme  =  1  -J-  2  =  3.  Die 
Hemmungsverhältnisse     sind     die     umgekehrten     Zahlen     selbst;     also     1, 

--,  — ;   oder  schicklicher  ausgedrückt:    6,   3,    2.      Man    wird    demnach    die 

Hemmungssumme  in  11  gleiche  Theile  zerlegen ,  damit  hievon  6  der 
schwächsten,  3  der  mittlem,  und  2  der  stärksten  Vorstellung  als  Verlust 
angerechnet  werden.     Die   Hemmungssumme  war  =3,  davon  könnten  wir 

nun  zwar  leicht  —  nehmen,  welches  — —  =  —  Verlust   trabe   für   die   Vor- 
11  11         11  ° 

Stellung   ^ ;  und  eben  so  -^  =  —    Verlust    für    die    mittlere   =  2 ;    aber 
0  J)  11  11 

wenn    wir    nun    auf    ähnliche    Weise  —   von    ^    oder  —  Verlust    für    die 

11  ^  11 

schwächste  Vorstellung,  die  nur  =  1  ist,  berechnen:  was  soll  das  bedeuten? 
Der  Mathematiker  wird  hier  eine  Minusgröfse  anzutreffen  glauben;  der- 
gleichen kann  aber  hier  gar  nicht  stattfinden;  denn  dafs  eine  Vorstellung 
negativ  werde,  hat  schlech[i7i]terdings  keinen  Sinn.  Vielmehr  entdeckt 
es  sich,  dafs  wir  eine  unpassende  Rechnung  geführt  haben,  weil  wir  nicht 
zuvor  die  Bedingung  berechnet  hatten,  unter  welcher  auf  die  zuvor  be- 
schriebene Weise  drei  Vorstellungen  in  Wirkung  und  Gegenwirkung  treten 
können. 

Dieser  Gegenstand  ist  nun  schon  ein  klein  wenig  schwerer,  wie  das 
Vorhergehende;  und  er  läfst  sich  nicht  füglich  so  ganz  im  Tone  des  Unter- 
richts für  Anfänger  vortragen.     Doch  will  ich  einen  Versuch  nicht  scheuen. 

Man  hat  aus  der  vorigen  Rechnung  so  viel  gesehen,  dafs,  wenn 
2  Vorstellungen  =  2  und  3  vorhanden  sind,  alsdann  eine  dritte  Vor- 
stellung merklich  gröfser  sein  mufs  als  1,  wenn  von  ihr  auch  nur  das 
Mindeste  neben  jenen  übrig  bleiben  soll.  Es  wird  nun  irgend  eine  Gröfse 
geben,  welche  diese  dritte,  um  der  eben  ausgesprochenen  Forderung  zu 
genügen,  zum  wenigsten  besitzen  mufs.  Oder  bestimmter  und  wissen- 
schaftlich gesprochen:  es  mufs  eine  Grenze  geben,  die  den  Unterschied 
festsetzt  zwischen  solchen  Vorstellungen,  welche  hinzukommend  zu  jenen 
beiden  stärkern,  von  ihnen  ganz,  oder  nicht  ganz,  verdunkelt  werden. 
Diese  Grenze  nenne  ich  die  Schwelle  des  Beivufstseins.  Sie  zu  bestimmen, 
erfordert  nichts  als  eine  höchst  leichte  algebraische  Rechnung;  wer  Algebra 
versteht,  wird  sie  ohne  die  geringste  Mühe  selbst  finden,  und  daraus 
schliefsen,    dafs   z.   B.    für    zwei   Vorstellungen,    beide  =  1,    die    gesuchte 

Grenze    *ei  =  *—  =  0,707  .  .  .,   allein  hierum   bekümmere  ich  mich    für 


122  V.  Ueber  d.  Möglichkeit  u.  XoÜnvendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden. 

jetzt  nicht;  vielmehr  will  ich  blofs  die  Frage  beantworten,  was  für  eine 
Rechnung  nun  an  die  Stelle  jener  treten  solle,  die  wir  eben  vergeblich 
geführt  haben? 

Da  die  Vorstellung  =  i  nicht  bestehen  konnte  neben  den  beiden 
andern  =  2,  und  =  3 :  so  wird  sie  ohne  allen  Zweifel  ganz  unterdrückt; 
aber  mehr  Leides  kann  ihr  nicht  geschehn.  Sie  ist  nun  in  eine  ganz 
vergebliche  Anstrengung  zum  Vorstellen  verwandelt  worden;  sie  richtet 
nichts  mehr  aus;  kann  aber  auch  von  der  Hemmungssumme  nicht  das 
Geringste  mehr  zu  tragen  übernehmen,  sie  trägt  davon  nur  gerade  so  viel, 
als  wieviel  ihre  eigne  Gröfse  ausmacht',  oder  mit  andern  Worten:  wieviel 
sie  selbst  zur  Henunungssumme  beigetragen  hatte,  soviel  nimmt  sie  jetzt,  da 
sie  verschzvindet,  mit  sich  hinweg.  Wo  bleibt  denn  das  Uebrige  der 
Hemmungssumme?  Dieses  müssen  die  beiden  stärkeren  Vorstellungen 
unter  sich  vertheilen.  Aber  [172]  das  hätten  sie  auch  gethan,  wenn 
die  schwächste  gleich  Anfangs  gar  nicht  zugegen  gewesen  wäre;  sie 
hätten  alsdann  gerade  eben  so  viel,  nämlich  ihre  Hemmungssumme 
unter  sich,  zu  vertheilen  gehabt,  wie  jetzt,  nachdem  die  dritte  Vorstellung 
der  Hemmungssumme  zwar  einen  Zusatz  gegeben,  aber  das  diesem  Zu- 
sätze gleiche  Quantum  auch  wieder  mit  sich  genommen  hat.  Also  müfste 
man  die  dritte  gar  nicht  mit  in  die  Rechnung  einführen,  sondern  sie  völlig 
ignoriren;  und  das  richtige  Resultat  ist  schon  dort  gefunden,  wo  wir  den 
Verlust  für  die  Vorstellungen  =  2  und  =  3  bestimmten,  in  der  Voraus- 
setzung, dafs  nur  diese  beiden  allein  vorhanden  seien. 

Jetzt  brauche  ich  kaum  noch  zu  sagen,  dafs  latente  Vorstellungen  die- 
jenigen sind,  welche  unter  die  Schwelle  des  Bewufstseins  fallen;  so  wie 
hier  die  Vorstellmag  =  1  neben  den  beiden  =  2  und  =  3.  Allein  man 
mufs  nicht  unbeachtet  lassen,  dafs  hier  blofs  von  dem  Zustande  des  Gleich- 
gewichts, also  von  der  Statik  des  Geistes  die  Rede  war.  Die  Bewegungs- 
gesetze führen  auf  eine  ganz  andere  Art  von  Schwellen  des  Bewufstsein. 
Und  das  hier  Vorgetragene  ist  bei  Verminderung  des  Hemmungsgrades 
und  bei  eintretender  Verbindung  der  Vorstellungen ,  den  mannigfaltigsten 
Abänderungen  unterworfen.  Aber  man  mufs,  wie  schon  oben  gesagt,  beim 
Anfange    a?ifangen,  und  darum  allein  war  es  hier  zu  thun. 


VI. 

REDE, 

GEHALTEN  am  GEBURTSTAGE  Kant'S, 

ZU  KOENIGSBERG. 
22.  April  1823. 

[Text  nach  HR,  S.  322—324.] 


Citirte  Ausgaben. 

A.P.M.  =  Altpreufsische  Monatsschrift,  herausgegeben  von  R.  Reicke  und  Wichert. 
1865,   S.   245. 


Rede   an  Kant's   Geburtstag,   von  Herbart  gehalten  in 
der  Kant-Gesellschaft  zu  Königsberg  den  22.  April  1823. 


[322]   Höchst  geehrte  Herren! 

Dem  grofsen  Archimedes,  dessen  Namen  leben  wird,  so  lange  die 
Mathematik  lebt,  war  ein  Grabmal  errichtet  worden;  aber  die  Syracusaner 
hatten  das  Grabmal  vergessen;  sie  leugneten  das  Dasein  desselben,  als 
Cicero,  der  einige  Verse  der  Inschrift  auswendig  wufste,  sich  darnach 
erkundigte.  Er  selbst  mufste  es  aufsuchen,  erkannte  es  an  der  Kugel  und 
dem  Cylinder,  die  man  zum  Andenken  an  eine  schöne  Erfindung  des 
Archimedes  oben  darauf  abgebildet  hatte;  rief  nun  einen  Haufen  von 
Arbeitern  herbei,  die  den  Platz  vom  dichten  Gesträuch  reinigen  mufsten, 
damit  man  hinzutreten  könne;  und  so  kam  die  Inschrift  zum  Vorschein, 
deren  Zeilen  beinahe  [323]  schon  zur  Hälfte  verwittert  waren.  So  schlecht 
erhält  sich  das  Andenken  an  grofse  Männer,  wenn  es  nicht  sorgsam  be- 
wahrt wird!  So  wenig  leisten  todte  Monumente,  wenn  keine  lebendige 
Rede  den  eingehauenen  Buchstaben  zu  Hülfe  kommt!  So  zerstörend 
wirkt  der  Wechsel  der  Zeiten,  der  Sorgen,  der  Meinungen,  der  Herren 
und  Diener  und  alles  des  künftig  blendenden  Glanzes,  der  die  Augen  der 
Menge  bald  hierhin,  bald  dorthin  zieht.  Selbst  die  Sprache  unterwirft 
sich  dem  Wechsel;  und  der  Schriftsteller,  den  heute  Jeder  versteht,  bedarf 
vielleicht  schon  nach  hundert  Jahren  eines  Commentars. 

Der  ehrenwerthe  Kreis,  in  dessen  Mitte  ich  rede,  bewahrt  das  An- 
denken Kant's.  Zwar  nicht  er  allein;  denn  für  jetzt  noch  werden  Kant's 
eigene  Werke  gelesen;  sie  bilden  fortwährend  die  Grundlage  unserer 
heutigen  philosophischen  Literatur.  Aber  welches  Zeitalter  kannte  so 
reifsende  Wechsel  wie  das  unsrige?  Wie  weit  hin  schon  entschwanden  jene 
Tage,  in  denen  Kant  lehrte!  Damals,  welche  Empfänglichkeit  für  Specu- 
lation,  heute,  welche  Sättigung,  welcher  Ueberdrufs!  Damals,  welches 
Aufstreben  zum  Lichte;  heute,  wie  viel  Angst,  es  möge  zu  hell  werden! 
Damals,  welches  Wohlgefühl  frischer  Kräfte,  die  nur  beschäftigt  sein  wollten; 
heute,  wie  viel  Noth,  Verlegenheit,  Erschöpfung;  welche  Schwärmerei  und 
Deutelei;  welche  Verbrechen  aus  politischem  und  religiösem  Fanatismus! 
Es  leidet  keinen  Zweifel,  heute  würde  Kant  weit  mehr  Mühe  haben,  mit 
seiner  Lehre  durchzudringen,  als  damals;  und  ein  Zeitalter,  das  wenig  auf- 
gelegt ist,  gewisse  Wahrheiten  zu  empfangen,  wird  es  um  Vieles  fähiger 
sein,  sie  fest  zu  halten?  Düstere  Wolken  verhüllen  die  Zukunft;  ernster 
wird   die  Bestimmung  der  schönen  Stiftung,  die  uns  heute  vereinigt;  ernster 


I2Ö      VI.  Rede,  gehalten  am  Geburtstage  Kant's  zu  Königsberg.     22.  April   1823. 

schon  durch  den  Gedanken  an  die  Möglichkeit,  dafs  irgend  einmal  ein 
Bedürfnifs  entstehen  könnte,  von  hieraus  auf  einen  grofsen  Kreis  zu 
wirken  und  das  Andenken  Kant's  friedlich  und  lebendig  zu  erhalten. 

Nicht  von  einzelnen  Lehrsätzen  ist  die  Rede,  wenn  man  die  Ehre 
Kant's  feiert.  Was  unter  dem  Namen  des  Kantischen  Systems  pflegt 
gelehrt  und  gelernt  zu  werden,  das  ist  einer  verschiedenartigen  Beurtheilung 
unterworfen  und  es  fällt  selbst  in  den  Wechsel  der  Zeit;  vorzüglich  aber 
mufs  man  bedenken,  dafs  Kant's  Hauptschriften  mehr  die  Form  und  den 
Zweck  einer  Propädeutik,  als  eines  Systems  haben,  und  wer  [324]  die 
höchst  dürftige  vorkantische  Philosophie  kennt,  der  verlangt  gewifs  nicht, 
dafs  die  Zeit  der  Aussaat  auf  einem  beinahe  wüstliegenden  Brachfelde 
zugleich  auch  die  Zeit  der  Ernte  hätte  sein  sollen. 

Aber  an  Kant's  Namen  haftet  die  Ehrfurcht  für  einen  Inbegriff 
persönlicher  Eigenschaften,  die  man  äufserst  selten  in  einem  und  dem- 
selben literarischen  Charakter  vereinigt  findet.  Bei  diesem  Tiefsinn  so 
viel  Gelehrsamkeit,  bei  dieser  äufsersten  Zartheit  des  moralischen  Gefühls 
so  viel  klarer  gesunder  Verstand;  bei  dieser  Fähigkeit,  das  Gröfste  und 
Fernste  zu  umfassen,  so  viel  Ruhe  des  Geistes,  ja  so  viel  Pünktlichkeit 
im  Einzelnen,  so  viel  Enthaltsamkeit,  so  viel  kritische  Selbstbeherrschung.  — 
Das  ist's,  was  man  um  so  mehr  bewundert,  je  mehr  man  die  Einseitigkeit 
Anderer,  die  Vereinzelung  jener  Eigenschaften  und  die  Uebertreibungen, 
die  Verirrungen  kennen  lernt,  welche  so  leicht  entstehen,  wo  das  Gleich- 
gewicht mangelt,  in  welchem  Kant's  Geist  sich  schwebend  zu  erhalten 
vermochte. 

Unser  Zeitalter  ist  vielfältig  aus  dem  Gleichgewicht  gekommen  und 
während  es  durchgehends  den  Grund  seiner  Uebel  zum  grofsen  Theile  in 
der  Schwankung  der  Meinungen  sucht,  bemerkt  man  dennoch  wenig 
Interesse  an  den  tiefern  Forschungen,  wodurch  eigentlich  allein  die 
Meinungen  auf  bestimmte  Principien  können  zurückgeführt  und  darnach 
geregelt  und  festgestellt  werden. 

Möchte  Kant  verjüngt  zu  uns  wiederkehren!  Möchte  er  die  Denk- 
kraft neu  aufregen!  Möchte  er  Maafs  und  Ziel  setzen  den  Befürchtungen 
und  Hoffnungen,  den  Dogmen  und  dem  gelehrten  Eifer,  dem  Deuten  und 
Behaupten,  wie  dem  Zweifeln  und  Streiten!  —  Vergebliche  Sehnsucht! 
Kant  wohnt  in  hohem  Regionen.  Aber  möge  sein  Geist  fortwirken; 
möge  die  Erinnerung  an  ihn  wach  bleiben;  möge  das  Studium  zu  ihm 
wiederkehren;  möge  die  Dankbarkeit  diesen  Verein  erhalten,  welchen  die 
Freundschaft  für  ihn  stiftete!  Möge  seine  Vaterstadt  sich  stets,  wie  jetzt, 
durch  ihn  geehrt  fühlen,  wie  sie  selbst  ihn  zu  ehren  gewohnt  ist! 


VII. 

UEBER  DIE 

VERSCHIEDENEN  HAUPTANSICHTEN 

DER 

NATURPHILOSOPHIE. 

Vorgelesen  in  der  Königl.  Deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg  am  24.  April 

1823. 

[Text  nach  dem  Msc.   2056  der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Citirte  Ausgaben. 

S\Y  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche   Werke  (Bd.  I),   herausgegeben   von  G.  Har- 
tenstein. 
KlSch  =  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften  (Bd.  II),  herausgegeben  von  G.  Har- 


tenstein. 


I 


Ueber    die    verschiedenen  Hauptansichten    der    Natur- 
philosophie. 

Vorgelesen  in  der  Königl.  Deutschen  Gesellschaft   zu  Königsberg,    am   24.  April   1823. 


Höchstgeehrte  Herren! 

Ein  Jahr  ungefähr  ist  verflossen,  seitdem  ich  die  Ehre  hatte,  diesem 
gelehrten  Kreise  Rechenschaft  von  den  Gründen  abzulegen,  weshalb  ich 
einen  Theil  der  Psychologie  mathematisch  zu  behandeln  für  nöthig  erachte.1 
Damals  gedachte  ich  die  nächste  Aufforderung,  hier  einen  Vortrag  zu 
halten,  zu  einer  Fortsetzung  jener  Betrachtungen  zu  benutzen;  wenn  aber 
dieses  für  heute  noch  unterbleibt,  so  bitte  ich  Sie  wenigstens  nicht  zu 
glauben,  [2]  ich  sey  mir  ungetreu  geworden.  Im  Schoofse  des  philosophischen 
Denkens  erzeugt  sich  gleiches  Interesse  für  das  Körperliche  wie  für  das 
Geistige;  jenes  aber  stellt  sich  uns  jetzt  besonders,  in  den  Entdeckungen 
der  Physiker,  so  oft  von  neuen  Seiten  dar,  dafs  man  wenig  Reizbarkeit 
besitzen  müfste,  um  nicht  davon  angezogen  zu  werden.  Kurz,  ich  war 
in  den  letzten  Wochen  mit  Experimenten  beschäfftigt ;  diese  riefen  mir 
meine  frühern  naturphilosophischen  Untersuchungen  ins  Gedächtmfs;  jetzt 
bitte  ich  um  Erlaubnifs,  von  dem  reden  zu  dürfen,  was  mir  gerade  am 
lebendigsten  vorschwebt;  so  jedoch,  dafs  ich  am  Ende  einige  Blicke  auf 
das  psychologische   Feld  zurückwerfen  werde. 

Lassen  Sie  mich  jene  bekannten  Verse  Schiller's  voranstellen: 

Welche  wohl  bleibt  von  allen  den  Philosophieen  ?  ich  weifs  nicht; 
Aber  die  Philosophie  hoff'  ich,  soll   immer  bestehn. 

Schiller  sah  in  der  Philosophie  ein  Streben,  welches  stets  achtungs- 
werth  bleibe,  auch  wenn  seine  Producte  mifsrathen.  Diese  Gesinnung, 
glaube  ich,  müssen  wir  uns  vorzüglich  [3]  dann  vergegenwärtigen,  wann  von 
Naturphilosophie  die  Rede  ist.  Die  Natur  spricht  zu  uns  in  Räthseln; 
ziemt  es  etwa  dem  Menschen  nicht,  darauf  zu  hören?  Wer  Ohren  hat 
zu  hören,  der  hört;  und  wer  irgend  ein  Mittel  weifs,  um  die  Untersuchung 
anzugreifen,  der  untersucht;  wenn  er  nicht  entweder  zu  träge,  oder  sonst 
schon  zu  sehr  beschäfftigt  ist.  In  dem  letzten  Falle  befinden  sich,  wie 
mich   dünkt,   alle   diejenigen,   die  uns   rathen,   uns  lieber  mit  Beobachtungen 

1  Vergl.  die  vorhergehende  Abhandlung:  „Ueber  die  Möglichkeit  und  Notwendig- 
keit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden." 

Herbart's  Werke  V.  * 


I-JO  VII.  Ueber  die  verschiedenen  Hauptansichten  der  Naturphilosophie. 

und  Rechnungen  zu  begnügen,  welche  dazu  hinreichen  können,  um  die 
Gesetze  und  die  regelmäfsige  Wiederkehr  der  Erscheinungen  ans  Licht  zu 
bringen.  Diese  Männer  wissen  ohne  Zweifel,  dafs  das  Gesetz  noch  nicht 
der  Grund  der  Erscheinung  ist;  sie  wissen,  dafs  die  Frage  nach  den 
Quellen  des  Nils  nicht  schweigt,  wenn  man  auch  im  Delta  noch  so 
genau  das  Steigen  und  Fallen  des  Stroms  beobachtet  hat.  Gleichwohl 
finden  sie  sich  durch  den  Gewinn  der  empirischen  und  mathematischen 
Naturforschung  so  reichlich  belohnt,  [4]  dafs  sie  demselben  gern  ihre 
ganze  Mufse  schenken,  gern  dahin  ihre  ganze  Kraft  und  Uebung 
richten.  Darüber  wird  die  tiefere  Forschung  erst  versäumt,  dann 
für  unnütz  erklärt,  endlich  ganz  verworfen  unter  dem  Vorwande,  sie  sey 
schon  so  Vielen  mifslungen,  und  könne  eben  deshalb  Niemandem  ge- 
lingen. Ein  offenbar  übereilter  Schlufs;  wozu  man  weniger  geneigt  seyn 
würde,  wenn  man  wüfste,  welche  Ursachen,  welche  mangelhafte  Vor- 
bereitungen an  dem  bisherigen  Mislingen  Schuld  waren.  Einseitige 
Ansichten,  schwärmerische  Vorliebe  für  Hypothesen,  fremd- 
artige Einmischungen,  das  sind  drey  grofse  Fehler,  die  vieles  ver- 
derben können,  die  sich  aber  vermeiden  lassen.  Hierüber  eine  kurze 
Erläuterung,  welche  nützlich  seyn  wird,  um  uns  den  Gegenstand  unserer 
heutigen  Betrachtung  lebhafter  zu  vergegenwärtigen. 

Was  zuvörderst  die  einseitigen  Ansichten  betrifft,  so  werden  uns  deren 
sogleich  vier  einfallen,  wenn  wir  uns  an  den  bekannten  Unterschied  der 
mechanischen,  chemischen,  vitalen,  und  psychischen  Kräfte  erinnern.  Aus 
frühern  Zeiten  sind  Versuche  genug  bekannt,  alle  Natur,  selbst  die 
geistige,  aus  Materie  und  Bewegung  zu  erklären,  die  Materie  aber 
aus  [5]  Atomen  von  absoluter  Härte  und  Undurchdringlichkeit  zu  con- 
struiren.  An  diese  Fabel  glaubt  jetzt  Niemand  mehr.  Eben  so  wenig 
an  einen  alles  erklärenden  Chemismus;  aber  Vielen  behagt  das  Leben, 
und  die  Einbildung,  wenn  man  nur  die  Vitalität  klein  genug  nehme,  so 
könne  man  auf  den  untersten  Stufen  des  Lebens  selbst  die  starre  Masse, 
mit  ihren  rein  statischen  und  mechanischen  Phänomenen  antreffen.  Diese 
Einseitigkeit  ist  um  Nichts  besser  als  die  Vorigen;  und  eben  so  wenig 
besser  als  die  folgende,  welche  nur  psychische  Kräfte  anerkennen  will, 
alle  äufsere  Natur  aber  als  blofse  Vorstellung  betrachtet;  die  noch  heute 
nicht  ganz  verschwundene  Irrlehre  des  Idealismus.  Alle  diese  Vor- 
stellungsarten thun  der  Natur  Gewalt  an,  und  zwar  in  völlig  gleichem 
Grade;  das  wird  auch  ohne  Beweis  derjenige  empfinden,  der  sich  gewöhnt 
hat,  mit  gleichmäfsiger  Aufmerksamkeit  die  verschiedenen  Gebiete  der 
Natur  ins  Auge  zu  fassen. 

Als  Beyspiel  der  andern  beyden,  zuvor  genannten,  Fehler,  drängt  sich 
nur  zu  sehr  jene  Naturphilosophie  auf,  welche  als  das  Eigenthum  einer 
heutigen  philosophischen  Schule  allgemein  bekannt  ist.  Sie  setzt  absolute 
Identität,  wider  die  Erfahrung,  die  uns  ein  Mannigfaltiges  in  zufälligen  Ver- 
bindungen [6]  und  Trennungen  zeigt;  wider  das  Bewufstseyn  vernünftiger 
Individuen,  die  sich  frey,  —  das  heifst  zum  Mindesten,  Einer  unab- 
hängig vom  Andern  fühlen;  sie  setzt  diese  absolute  Identität  ohne  Beweis, 
demnach  als  Hypothese;  aber  mit  einer  schwärmerischen  Zuversicht,  für 
welche    der    Name    intellektuale    Anschauung    ist    erfunden    worden. 


Vorgelesen  in  der  Königl.  Deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg,  am  24.  April  1823.   t  7  1 

Da  sich  Anschauungen  nicht  widerlegen  lassen,  so  kann  der  Beweis,  dafs  jene 
absolute  Identität  nicht  blofs  erfahrungswidrig,  sondern  auch  vernunftwidrig 
und  völlig  ungereimt  ist,  denen  nichts  nützen,  die  einmal  in  jener  Schwä- 
merey  befangen  sind.  Für  die  Naturphilosophie  ist  es  ein  Unglück,  damit 
in  Verbindung  gerathen  zu  seyn.  Die  Folge  davon  war  der  dritte  FeMer, 
nämlich  fremdartige  Einmischung  von  theologischen  und  politischen,  ja 
selbst  von  den,  unter  einander  selbst  entgegengesetzten  spinozistischen 
und  platonischen  Meinungen;  daher  man  jetzt  in  Einem  Zuge  von  der 
Freyheit  und  dem  Magneten,  von  der  Tugend  und  der  Schwere,  von  dem 
Wasser  und  der  Liebe  reden  hört;  ja  ich  erinnere  mich  sogar  von  einem 
Laster  gelesen  zu  haben,  das  dem  Nichts  entsprechen  sollte;  welches 
Laster  ohne  allen  Zweifel  die  Deuteley  ist. 

[7]  Mufste  die  Naturphilosophie  in  diese  Fehler  gerathen?  Davon  ist 
sie  so  weit  entfernt,  dafs  vielmehr  nicht  einmal  deren  Möglichkeit  sich 
aus  ihrem  Gegenstande  oder  aus  ihren  Hülfsmitteln  erklären  läfst.  Ihr 
Gegenstand  ist  die  Natur;  mit  dem  ganzen  Reichthum  von  Thatsachen, 
welche  mit  der  Vorsicht  heutiger  Beobachter  und  Experimentatoren  sind 
gesammelt  worden;  aber  menschliche  Sorgen,  Bedürfnisse,  Leidenschaften 
gehören  nicht  in  diesen  Kreis;  und  können  denjenigen,  welcher  sich  hieher 
begiebt,  am  wenigsten  erreichen.  Ihre  Hülfsmittel  sind  Mathematik  und 
Metaphysik,  von  denen  die  erste1  das  Muster  der  Besonnenheit,  die  andre 
freylich  ein  oft  mislungenes  Werk  des  menschlichen  Denkens,  doch  wenigstens 
seit  dem  sehr  nüchternen  Aristoteles  keine  Schwärmerey  ist,  die  mit  der 
eingebildeten  intellectualen  Anschauung  könnte  verwechselt  werden.  Wenn 
nun  die  Metaphysik  eine  Probe  aushalten  soll,  bey  der  ihre  möglichen 
Irrthümer  sich  verrathen  müssen,  so  kann  dazu  nichts  besser  dienen,  als 
eine  schon  vorhandene  Verbindung  von  geläuterten  Erfahrungen  mit  der 
Mathematik,  wie  sie  jetzt  in  den  Händen  unserer  Physiker  ist.  Gesetzt, 
die  Metaphysik  trage  [8]  in  diesen  schon  grofsentheils  geordneten  Gedanken- 
kreis falsche  Ansichten  hinein:  so  ist  die  Gefahr'  gering  und  von  kurzer 
Dauer;  sie  ist  nicht  gröfser  als  die  einer  unrichtigen  mathematischen 
Hypothese.  Denn  die  Folgerungen  wird  das  Experiment  und  die  Rech- 
nung widerlegen;  man  wird  alsdann  den  Gründen  rückwärts  nachgehn,  bis 
man  den  Ursprung  des  Fehlers  entdeckt.  Das  ist  das  Verfahren  wahr- 
heitliebender Männer;  dies  Verfahren  ist  unter  den  mathematischen  Phy- 
sikern längst  üblich;  und  es  bleibt  nur  zu  wünschen  übrig,  dafs  man  in 
dem  Kreise  dieser  höchst  achtungswerthen  Gelehrten  sich  nicht  mit  halber 
Wahrheit  begnüge,  sondern  nach  der  ganzen  und  vollen  Wahrheit 
strebe,  die  man  ohne  Metaphysik  eben  so  wenig  wird  erreichen  können, 
als  ohne   Mathematik. 

Wollen  Sie,  höchstgeehrte  Herrn!  mir  nun  erlauben,  dafs  ich  Ihnen 
in  wenigen  Umrissen  das  Bild  einer  künftigen  Naturphilosophie,  wie  ich 
es  im  Geiste  zu  erblicken  glaube,  mit  Worten  darzustellen  suche:  so  ist 
es  am  bequemsten,  sogleich  vier  verschiedene  Haupt-Ansichten  zu  unter- 
scheiden, von  denen  zwey  der  Form  nach  verschieden,  zwey  andere  der 
Materie  nach  entgegengesetzt  sind.      Die  [9]  Naturphilosophie  kann  theils  in 


1  die  erstre  SW. 


9* 


\-\2  VII.  Ueber  die  verschiedenen  Hauptansichten  der  Naturphilosophie. 

synthetischer,  theils  in  analytischer  Form  ihre  Untersuchungen  anstellen; 
und  sie  kann  theils  von  der  Voraussetzung  einer  universalen  Einheit,  theils 
eines  ursprünglich  Mannigfaltigen  Gebrauch  machen.  Hier  leuchtet  sogleich 
ein,  dafs  die  beyden  letzten,  der  Materie  nach  verschiedenen  Ansichten, 
sich  unter  einander  aufheben;  man  kann  sie  daher  nur  als  Versuche  neben 
einander  stellen,  von  denen  einer  sich  im  Verfolg  der  Untersuchung  als 
unhaltbar  zeigen  mufs,  dennoch  aber  zum  Ganzen  wesentlich  mit  gehören 
wird,  wofern  man  nicht  schon  a  priori  seine  Unzulässigkeit  deutlich  genug 
möchte  erkannt  haben.-  Anders  verhält  es  sich  mit  jenen,  der  Form  nach 
verschiedenen  Ansichten;  diese  bestehn  neben  einander,  und  sie  unter- 
stützen sich  gegenseitig,   wie  ich  nun  sogleich   entwickeln  werde. 

Wenn  sich  in  den  Naturerscheinungen  das,  ihnen  zum  Grunde  liegende 
Reale  unmittelbar  finden  liefse;  wenn  es  darin  blofs  verhüllt,  und  nicht 
verlarvt  wäre:  so  [10]  würde  man,  wie  bey  der  Blumenknospe,  in  welcher 
schon  die  Samenkapsel  versteckt  liegt,  eine  Hülle  nach  der  andern  vor- 
sichtig hinwegnehmen,  und  das  allmählig  entkleidete  Reale  würde  endlich 
nackt  vor  unsern  Augen  dastehn.  Die  Naturphilosophie  wäre  alsdann 
ganz  analytisch;  sie  hätte  keinen  synthetischen  Theil;  am  wenigsten  brauchte 
ein  solcher  dem  analytischen  voranzutreten.  Könnte  es  so  seyn,  so  wäre  es 
gewifs  schon  längst  so;  denn  der  Geist  des  analytischen  Verfahrens  ist 
bey  unsern  Naturforschern  im  hohen  Grade  ausgebildet.  Dafs  es  nicht 
so  seyn  kann,  hat  psychologische  Gründe,  die  mit  dem  Ursprünge  und 
dem  Bildungsgange  der  menschlichen  Erkenntnifs  innig  zusammenhängen. 
Das  Reale  ist  schlechterdings  nirgends,  in  keinem  Puncte,  unmittelbarer 
Gegenstand  der  Erkenntnifs;  es  mufs,  ungeachtet  alles  dessen,  was  einige 
Schulen  in  ihrer  Rathlosigkeit,  von  unmittelbarer  Offenbarung  oder  An- 
schauung gefabelt  haben,  —  lediglich  durch  Schlüsse  in  so  weit  gefunden 
und  bestimmt  werden,  als  es  sich  überhaupt  finden  und  bestimmen  läfst.  [i  i] 
Diese  nämlichen  Schlüsse  müssen  nun  in  ihrem  Fortgange  dahin  gelangen, 
die  Möglichkeit  der  Materie,  nicht  als  eines  wirklichen  Dinges,  sondern 
als  Erscheinung,  darzuthun;  und  zugleich  die  mannigfaltigen  Grundbe- 
stimmungen, sowohl  der  Materie  im  Allgemeinen,  als  ihrer  Hauptarten, 
zu  entwickeln.  Nur  unter  der  Voraussetzung,  dafs  dies  gelungen,  wenig- 
stens nicht  ganz  und  nicht  in  den  Grundzügen  verfehlt  sey,  lohnt  es  sich 
überhaupt,  von  Naturphilosophie  zu  reden.  Gesetzt,  auf  dem  ganzen 
Wege  der  Speculation  bis  hieher,  sey  gar  kein  Fehler  gemacht  worden, 
auch  besitze  die  Untersuchung  in  jedem  Puncte  die  gebührende  wissen- 
schaftliche Bestimmtheit:  so  können  nun,  da  in  der  Construction  der 
Materie  gewifs  Gröfsen-Begriffe  vorkommen  müssen,  sogleich  mathematische 
Untersuchungen  an  die  metaphysischen  geknüpft  werden;  und  es  läfst 
sich  denken,  dafs  auf  solche  Weise  eine  mögliche  Natur  a  priori  erkannt 
werde,  von  der  unsre  wirkliche  irdische  Erscheinungswelt  ein  kleiner  Theil 
ist.  —  Allein,  ein  so  weiter,  glücklicher  Fortgang  ist  nicht  zu  hoffen.  Je 
weiter  der  Weg,  desto  gröfser  die  [12]  Gefahr  des  Irrthums.  Daher  mufs  man, 
sobald  es  irgend  geschehen  kann,  von  der  Erfahrung  her  der  Speculation 
entgegen  kommen.  Nicht  als  ob  die  Erfahrung  unmittelbar  bekräftigen 
sollte,  irgend  ein  Reales  sey  wirklich  so,  wie  die  Metaphysik  sage;  — 
das  kann  nicht  geschehn,  weil  in  der  Erfahrung  das  Reale  nicht  gegeben, 


Vorgelesen  in  der  Königl.  Deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg,  am  24.  April  1823.   133 

sondern  nur  angedeutet  wird,  nämlich  als  eine  nothwendige  Ergänzung, 
ohne  welche  die  Erfahrung  sich  nicht  würde  denken  lassen.  Aber  sobald 
die  Speculation  anfängt  anzugeben,  wie  gewisse  Erscheinungen  darum, 
weil  sie  aus  dem  Realen  entspringen,  beschaffen  seyn  müssen:  also  gleich 
kann  man  die  Erfahrung  fragen,  ob  diese  Erscheinungen  in  unsrer  Sinnen- 
welt vorkommen,  und  zwar  genau  so,  wie  man  geglaubt  hatte  es  voraus- 
zusehn.  Findet  sich  nun  Aehnlichkeit  der  Abweichung:  so  wird  man  die 
frühere  Untersuchung  so  lange  prüfen  und  berichtigen,  bis  vollkommene 
Congruenz  vorhanden  ist.  Diese  Arbeit  erfordert  nun  nicht  blofs  syn- 
thetische, von  der  Metaphysik  ausgehende  [13]  Speculation,  sondern  auch 
Analysis  der  Erfahrung.  Gesetzt,  man  habe  es  darin  zur  Fertigkeit  gebracht : 
so  wird  man,  nachdem  die  allgemeinsten  Bestimmungen  schon  durch 
Synthesis  bekannt  sind,  hierauf  eine  grofse  Mannigfaltigkeit  von  Er- 
scheinungen zurückführen  können;  weit  leichter,  als  wenn  man  dieselben 
alle  hätte  a  priori  finden  sollen.  Dafs  hier  überall  die  Mathematik 
zwischen  Erfahrung  und  Metaphysik  in  die  Mitte  treten  müsse,  weil  sonst 
gar  keine  bestimmte  Vergleichung  beyder  möglich  seyn  würde,  bedarf 
für  den   Kundigen  kaum  der  Erinnerung. 

Das  Bisherige  würde  das  Verhältnifs  zwischen  Synthesis  und  Analysis 
in  der  Naturphilosophie  zureichend  angeben,  wenn  man  annehmen  dürfte, 
beyde  würden  von  einer  einzigen  Person  vollzogen.  Allein  der  geübte 
Metaphysiker  und  der  geübte  Experimentator  müssen  wohl  als  zwey  ver- 
schiedene Personen  gedacht  werden;  und  überdies  der  geübte  Mathematiker 
als  ein  dritter  zwischen  beyden.  Hier  wird  nun  immer  einiges  Mistrauen 
Platz  behalten.  Der  Experimentator  wird  die,  ihm  dargebotene  synthetische 
Grundlage  immer  nur  als  [14]  Hypothese  betrachten;  er  wird  versuchen  wollen, 
ob  nicht  noch  ein  andrer  Schlüssel  eben  so  gut  zu  den  Erscheinungen 
passe.  Darum  mufs  neben  der  wahren  Metaphysik  noch  eine  falsche  aus- 
gebildet, und  versuchsweise  der  Erfahrung  angepafst  werden;  und  dieses 
führt  mich  nun  auf  die  beyden,  der  Materie  nach  entgegengesetzten, 
Hauptansichten  der  Naturphilosophie. 

Diese  beyden  Ansichten  sind  beynahe  so  alt  wie  die  Philosophie 
selbst.  Wenn  ich  sie  bis  auf  Platon  zurückführe,  so  leitet  dieser  sie  von 
Jonischen  und  Eleatischen  Philosophen  ab;  ja  er  will  die  eine  schon  beym 
Homer  finden.  Es  ist  der  Mühe  werth,  uns  hier  an  die  bekannte  Stelle 
im  Theätet  zu  erinnern,  wo  der  Satz  des  Protagoras  angeführt  wird: 
aller  Dinge  Maafs  sey  der  Mensch.  Oder  mit  andern  Worten:  was  mir 
scheint,  ist  wahr  für  mich,  was  Dir  scheint,  wahr  für  Dich.  Wie 
ist  das  möglich,  und  was  will  Protagoras  damit  sagen?  Der  geheime 
Sinn  des  Satzes,  bemerkt  Platon,  sey  dieser:  Nichts  ist  an  sich  irgend 
etwas  Bestimmtes;  aber  aus  Bewegung,  Veränderung,  Mischung  entsteht 
Alles;  es  giebt  kein  ruhendes  Seyn,  sondern  nur  ein  Werden. 
Unsre  Philosophen  sagen  mit  blofser  [15]  Veränderung  der  Worte:  mit  dem 
Seyn  gleich  ewig,  und  mit  ihm  ursprünglich  Eins  und  Dasselbe,  ist  das 
Werden.  Dafs  jedes  individuelle  Leben  aus  dem  allgemeinen  zu  begreifen, 
dafs  hingegen  die  Elemente  der  Natur,  wie  sie  die  Chemiker  aufstellen, 
nur  Gedankendinge  seyen,  dals  das  Leben  des  Menschen  ein  stetes  Aufge- 
nommen-Werden  seines  leiblichen  Daseyns  in  seine  Beseelung  sei ;  u.  dgl.  m. 


1^4  VII.  Ueber  die  verschiedenen  Hauptansichten  der  Naturphilosophie. 

Das  sind  neue  Worte,  aber  alte  Ansichten;  es  sind  diejenigen  Meinungen, 
gegen  welche  sich  Platon  auf  alle  Weise  stemmte;  begreiflich  mit  mehr 
Aufwand  von  Worten,  als  heutiges  Tages  nöthig  ist,  weil  die  Chemie  in 
in  ihrem  gebildeten  Zustande  sich  durch  sich  selbst  dagegen  vertheidigt. 
Unsre  Chemie  nämlich  führt  auf  den  gerade  entgegengesetzten  Grund- 
gedanken, von  Elementen,  die  ungeachtet  alles  Wechsels  der  Zustände, 
die  sie  in  zufälligen  Mischungen  durchlaufen,  dennoch  innerlich,  ihrem 
wahren  Wesen  nach,  bleiben  was  sie  ursprünglich  sind;  aber  auch  diese 
Ansicht,  von  dem  ruhenden  Seyn,  welches,  einzeln  genommen,  von  selbst 
keinen  Wechsel  beginnt,  und  von  dem  Gegensatze  dieses  Seyenden  gegen 
die  Erscheinung,  die  eben  durch  [16]  ihren  Trieb  zum  Wechsel  sich  als 
blofse  Erscheinung,  als  ein  Nichtiges,  Unwahres  charakterisirt;  auch  diese 
Ansicht  ist  nicht  neu;  sie  ist  die  Grund -Voraussetzung  der  Eleaten  und 
des  Platon,  die  nur  nicht  im  Stande  waren,  sie  durchzuführen;  zum  Theil 
darum,  weil  ihnen  die  heutigen  Kenntnisse  der  Mathematik  und  Natur- 
forschung abgingen.  Selbst  die  Atomenlehre  des  Leukipp  und  Demokrit, 
gehört  dem  ursprünglichen  Streben  nach  hieher;  so  sehr  sie  auch  durch 
das  Kleben  an  Raumbestimmungen,  durch  die  Unfähigkeit,  sich  ein  un- 
räumliches Seyn  zu  denken,   ist  verdorben  worden. 

Wie  wohl  ich  nun  aus  metaphysischen  Gründen  mich  für  die  zweyte, 
und  gegen  die  erste  Ansicht  entscheide:  so  wünsche  ich  dennoch  der 
Naturphilosophie,  sie  möge  fortwährend  nach  beyden  Ansichten  zugleich 
bearbeitet  werden.  Denn  ich  bin  überzeugt,  dafs  die  Lehre  vom  allgemeinen 
Naturleben,  welches  sich  in  die  Gattungen,  Arten,  und  Individuen  der 
Naturproducte  nur  verzweige,  und  im  Laufe  der  Zeit  verschiedene  Evo- 
lutionsstufen durchlaufe,  sich  ohne  jene  Fehler  durchführen  lasse,  welche 
den  heutigen,  schwärmerischen,  und  Alles  bunt  durch  einander  mengenden 
Darstellungen  ankleben. 

[17]  Das  Beste,  was  diese  Ansicht  für  sich  hat,  ist  keine  vor- 
geblich intellectuale,  sondern  die  ganz  gemeine  sinnliche  Anschauung; 
die  Erfahrung  selbst,  wie  derjenige  sie  erblickt,  der  sich,  ohne  kritischen 
Geist,  ohne  tieferes  Nachdenken,  dem  Gesammt-Eindrucke  der  Erschei- 
nungen hingiebt.  Dafs  man  eine  Meinung,  die  ganz  offen  auf  der  Ober- 
fläche vor  Jedermanns  Augen  daliegt,  als  ein  Werk  tiefsinniger  Specu- 
lation  anpreifst,  fällt  ins  Lächerliche.  Jedermann  sieht  das  Wachsen  der 
Pflanzen  und  Thiere,  er  sieht  die  Metamorphosen  der  Knospen  und  Keime'; 
kennt  die  Nahrungsmittel,  und  begreift,  dafs  dieselben  in  einem  continuir- 
lichen  Uebergange  aus  einem  Zustande  in  einen  andern  begriffen  seyn 
müssen,  bis  sie  sich  in  die  verschiedenen  vesten  und  flüssigen  Theile  der 
organischen  Leiber  verwandelt  haben.  Jedermann  weifs  überdies,  dafs  die 
Arten  und  Gattungen  der  Thiere  und  Pflanzen  gewisse  Stufenfolgen  der 
Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit  durchlaufen;  und  es  kann  Niemandem 
unerwartet  seyn  zu  hören,  dafs  die  Naturforscher  zwischen  den  bekannten 
Arten  und  Bildungen  noch  eine  Menge  [18]  von  Mittelgliedern  einzuschieben, 
neue  Vergleichungspuncte  aufzustellen,  die  Reihen  des  Aehnlichen  und 
Verschiedenen  zu  verlängern,  endlich  die  Natur  mehr  und  mehr  als  ein 
Ganzes  darzustellen  Gelegenheit  gefunden  haben,  welches  wie  von  einem 
Triebe  beseelt  scheint,  und  in  welchem    es  Mühe   kostet,    sich   irgend    ein 


Vorgelesen  in  der  Königl.  Deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg,  am  24.  April  1823.  135 

Ruhendes,  vom  allgemeinen  Wandel  und  Wechsel  Ausgenommenes  auch 
nur  zu  denken.  Weit  weniger  Anstrengung  ist  nöthig,  Alles  in  Einem 
Strome  schwimmend  sich  vorzustellen,  als  einzusehen,  dafs,  und  warum 
man  diesem  Strome  sich  entgegenstemmen  müsse.  Weit  bequemer  ist  die 
Rede  vom  allgemeinen  Leben,  als  die  Forschung  nach  irgend  einem  von 
den  Gründen,  warum  denn  nicht  jedes  Ding  bereit  ist,  in  jedes  andre 
überzufiiefsen?  Warum  die  Arten  und  Gattungen  der  lebenden  Wesen 
vest  stehn?  Warum  die  chemischen  Verbindungen  nach  bestimmten  Pro- 
portionen geschehen?  Warum  das  Licht  nur  in  geraden  Linien  gehn  will, 
alle  krummen  Wege  aber  verschmäht  ?  Warum  die  Weltkörper  den  strengen 
Regeln  der  Himmels-Mechanik  Folge  leisten,  von  allen  andern  uns  [19]  be- 
kannten Naturkräften  aber  nicht  die  mindeste  Notiz  zu  nehmen  scheinen? 
Warum  im  Ganzen  genommen  das  eigentliche  Leben,  das  der  Pflanzen 
und  Thiere,  nur  einen  so  äufserst  kleinen  Theil  des  ganzen  Daseyns  der 
Natur  ausmacht,  während  so  ungeheure  Massen  von  Gestein  und  Metall 
übrig  bleiben,  welchen  Leben  einzuhauchen  selbst  der  kühnsten  Phantasie 
kaum  gelingen  will?  —  Mag  man  indessen  versuchen,  diese  und  so  viele 
ähnliche  Schwierigkeiten  zu  besiegen!  Wer  es  nicht  genau  nimmt,  der 
wird  gar  leicht  darüber  etwas  Scheinbares  sagen  können. 

Weit  schwerer  ist  eine  Naturphilosophie  nach  der  entgegengesetzten 
Ansicht;  und  zwar  besonders  deswegen,  weil  diese  nur  im  strengen  Denken, 
(keinesweges  aber  in  dem,  an  sich  nichts  entscheidenden,  Sinnen- Eindruck 
einer  Mehrheit  unabhängiger  Gegenstände,)  ihren  Grund  hat,  und  deshalb 
mit  derselben  Strenge  des  Denkens,  woraus  sie  entstand,  auch  durchgeführt 
werden  mufs,  wenn  sie  nicht  als  ungenügend  in  sich  selbst  zusammenfallen  soll. 

Nach  dieser  Ansicht  nun  besteht  zwar  die  Materie,  einstimmig  mit 
dem  Erfahrungsbegriffe  und  mit  der  [20]  Chemie,  wirklich  aus  ihren  einfachen 
Elementen,  und  ist  in  dieselben  endlich  theilbar,  —  sie  ist  demnach,  als 
raum-ausfüllende  Masse,  kein  geometrisches  Continuum:  aber  sie  ist  auch 
nicht,  wie  die  gedankenlose  Atomistik  meint,  eine  blofse  Anhäufung  un- 
durchdringlicher Theile,  die  neben  einander  lägen  ohne  einen  Grund  des 
Zusammenhangs  und  der  innem  Configuration.  Sondern  die  Materie  ist 
ganz  und  gar  das  Resultat  innerer  Zustände  ihrer  Elemente;  und  die 
ganze  Naturphilosophie  ist  Nach  Weisung  des  not  h  wendigen 
Zusammenhangs  der  innern  und  äufsern  Zustände.  Diesen 
Begriff  auseinanderzusetzen  ist  schwer,  weil  weder  Physiker  noch  Philosophen 
geübt  sind,  auf  innere  Zustände  dessen,  woraus  Materie  besteht,  ihr  Augen- 
merk zu  richten.  Es  würde  mir  wenig  helfen,  wenn  ich  hier  blofs  an 
Leibniz  erinnern  wollte,  der  die  Materie  aus  Monaden  bestehn  liefs, 
welchen  er  Vorstellungen,  also  innere  Zustände,  beylegte;  denn  freylich  bey 
dem  Worte  Vorstellungen  denken  wir  an  Bilder  äufserer  Gegenstände; 
und  was  diese  leisten  könnten,  um  daraus  materielle  Eigenschaften  zu  be- 
greifen, läfst  sich  kaum  einsehn.  [21]  Ich  will  daher  lieber  an  einen  Gegen- 
stand erinnern,  der  es  dem  Physiologen  längst  nahe  gelegt  hat,  an  innere 
Zustände  zu  glauben;  ich  meine  die  Reizbarkeit  und  Wirksamkeit  der 
Nerven.  Hier,  hoffe  ich,  wird  man  der  Hypothesen  von  einem  Nerven- 
Fluidum,  oder  von  Nervenschwingungen,  oder  von  den  Nerven  als  galva- 
nischen Conductoren,  längst  müde  seyn;  man  wird  einsehn,  dafs  man  jeden 


136  VII.  Ueber  die  verschiedenen  Hauptansichten  der  Naturphilosophie. 


Nerven  als  eine  Kette  empfindender  T heile  betrachten  mufs,  dafs 
also  der  Nerv  in  jedem  Punkte  lebendig  ist,  und  dafs  dieses  Leben  durch- 
aus nicht  durch  blofs  materielle  Bestimmungen  kann  beschrieben  werden. 
Aber  nicht  blofs  den  Nerven,  sondern  auch  andern  vesten  Theilen  des 
Leibes,  und  nicht  blofs  den  vesten,  sondern  auch  allen  flüssigen  Theilen 
jedes  lebenden  Organismus  hat  man  mit  vollkommenem  Rechte  Vitalität 
zugeschrieben.  Die  flüssigen  Theile  nun  haben  gar  keine  bestimmte  Con- 
struction;  sie  streben  aber  beständig  nach  einer  solchen;  und 
gelangen  dazu  wirklich,  in  so  fem  sie  die  vesten  Theile  ernähren.  Genau 
so  strebt  auch  die  unorganische  Materie,  sich  zu  krystallisiren;  ihr  aber 
genügt  die  Krystallform,  weil  ihre  innere  Bildung  nicht  den  Grad  erreicht 
hat,  welchem  der  \_22~]  Bau  eines  organischen  Leibes  entsprechen  würde.  End- 
lich selbst  die  nicht  sichtbar  krystallisirte  Materie  verräth  wenigstens,  dafs 
ihr  die  Lage  ihrer  Theile  nicht  gleichgültig  ist;  sie  erhält  sich  gegen  wider- 
strebende Kräfte  in  ihrer  Dichtigkeit  und  Cohäsion;  es  sey  denn,  dafs  sie 
einem  ihrer  Auf  lösungsmittel  begegne,  denn  alsdann  beginnen  neue  innere 
Zustände,  und  als  Folge  derselben  neue  Constructionen  im  äufserlichen 
Daseyn. 

Es  wird  nun  scheinen,  als  hätte  diese  meine  Darstelluno-  viel  Aehn- 
lichkeit  mit  jener  frühem  Ansicht,  die  vom  allgemeinen  Leben  ausgehend, 
dieses  nur  vermindert,  um  auf  die  rohe  Materie  zu  kommen.  Aber  die 
Aehnlichkeit  ist  nur  zufällig;  und  liegt  mehr  in  den  Gegenständen,  die 
erklärt  werden  sollen,  als  in  den  Principien  der  Erklärung.  Zwar  habe 
ich  hier,  um  mich  in  der  Kürze  einigermafsen  verständlich  zu  machen, 
von  den  höchsten  Phänomenen  des  Lebens  angefangen,  und  bin  von  da 
rückwärts  zu  den  untersten  Stufen  der  Materie  herabgestiegen.  Aber  die 
regelmäfsige  Untersuchung  geht  den  umgekehrten  Weg.  Sie  setzt  nicht 
das  Leben  voraus,  um  die  Materie  zu  erklären;  [23]  sondern  sie  findet  zuerst 
solche  innern  Zustände,  welchen  die  blofse,  chemische  Durchdringung  ge- 
nügt; und  sie  erblickt  die  ganze  räumliche  Existenz  als  eine  blofse  Folge 
davon,  dafs  unter  gewissen  Umständen  es  unmöglich  wird,  jenen  innern 
Zuständen  ganz  vollständig  zu  genügen.  Was  wir  chemische  Durch- 
dringung nennen,  das  ist,  in  seiner  höchsten  Reinheit  gedacht,  gar  keine 
räumliche  Existenz;  es  ist  ein  reines  Causal - Verhältnifs ;  und  zwar  nicht 
ein  solches  nach  der  Kantischen  Ansicht,  welches  an  die  Zeit  gebunden 
wäre,  sondern  ein  völlig  unzeitliches  und  eben  so  völlig  unräumliches. 
Aber  es  giebt  Umstände,  unter  welchen  sich  dieses  reine  Causalverhältnifs 
nicht  völlig  ausbilden  kann;  alsdann  nehmen  die  Elemente,  die  sich  darin 
befinden,  eine  räumliche  und  zeitliche  Form  des  Daseyns  an;  so  entsteht 
Materie,  als  eine  Beschränkung,  als  ein  Mangel  dessen,  was  eigentlich  hätte 
seyn  sollen.  Das  mag  mystisch  klingen;  es  ist  aber  metaphysisch,  das 
heifst  aus  klar  gedachten,  in  der  Erfahrung  gegebenen  [24]  Begriffen,  mit 
logischer  Nothwendigkeit  geschlossen;  und  die  ganze  Schlufskette  ist  so 
weit  entfernt  von  reizenden  Bildern  oder  erhabenen  Ideen,  dafs  man  dafür 
keine  andere  Vorliebe  fassen  kann,  als  für  das  erste  beste  mathematische 
Theorem. 

Als  man  nach  Kaxt's  Anleitung  versuchte,  sich  die  Materie  aus  den 
beyden   Kräften,   der  Attraction  und   Repulsion,   zu  construiren:  -da    erhob 


Vorgelesen  in  der  Königl   Deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg,  am  24.  April  1823.  137 

sich  die  Frage:  sollen  wir  denn  nur  die  Materie  blofs  als  Kraft,  und  gar 
nicht  als  Substanz  denken?  Oder  sollen  wir  die  Substanz,  die  reale  Grund- 
lage beybehalten,  und  dieser  hintennach  die  Kräfte  beylegen;  gleichsam 
wie  Prädicate  im  logischen  Urtheil  dem  Subjecte  gegeben  werden?  Wenn 
die  Materie,  als  Substanz,  schon  da  ist,  wird  sie  noch  etwas,  als  Zugabe, 
in  sich  aufnehmen,  das  nicht  unmittelbar  in  ihrer  Substantialität  schon 
enthalten  ist?  Und  diese  Zugabe,  wie  wäre  sie  beschaffen?  Zwey  unter- 
einander entgegengesetzte  Kräfte,  eine  anziehende,  eine  abstofsende!  Ist 
denn  die  Materie  etwa  ein  Staat  nach  Montesquieu's  Beschreibung,  der 
sich  durch  gleiche,  wider  einander  strebende  Kräfte  in  seiner  Verfassung 
erhält?  Ein  solcher  Staat  würde  nicht  in  Ruhe,  sondern  im  innern  Kriege 
begriffen  seyn;  und  eine  solche  Materie  [25]  würde  sich  selbst  aufheben;  daher 
wie  dort  der  Staat,  so  hier  die  Materie  ist  misverstanden  worden.  —  Und 
dennoch  ist  es  wahr,  dafs  Attraction  und  Repulsion  das  ursprüngliche 
Wesen  der  Materie  ausmachen;  es  ist  ebenso  wahr,  dafs  beyden  die  Sub- 
stanz zum  Grunde  liegt;  aber  der  Fehler  lag  darin,  dafs  man  weder  die 
Möglichkeit,  diese  entgegengesetzten  Kräfte  zu  vereinigen,  noch  den  Zu- 
sammenhang derselben  mit  der  Substanz  nachzuweisen  vermochte.  Die 
Wahrheit  ist,  dafs  Attraction  und  Repulsion  die  nothwendigen  äufsern 
Folgen  der  innern  Zustände  sind,  in  welche  mehrere  verschiedene 
Substanzen  (eine  allein  reicht  nicht  hin)  sich  gegenseitig  versetzen. 
Daher  giebt  es  nicht  in  den  Substanzen  Kräfte,  als  deren  Eigenschaften: 
sondern  es  entstehn  aus  dem  innern,  unräumlichen,  wahren  Causalver- 
hältnifs  der  Substanzen  zwei  blofs  scheinbare  Kräfte,  die  nichts  anders 
sind  als  eine  doppelte  Nothwendigkeit,  dafs  zu  dem  inneren  Zustande  ein 
ihm  angemessener,   äufserer  Zustand  hinzutrete. 

Von  dieser  doppelten  Nothwendigkeit  nun  sind  die  [26]  chemischen 
Kräfte  nur  die  nähern  Bestimmungen  nach  Verschiedenheit  der,  ins  Causal- 
Verhältnifs  tretenden  Substanzen,  die  mechanischen  Kräfte  sind  davon 
entferntere  Folgen,  die  vitalen  sind  beydes  vorhergehende  verbunden,  aber 
auf  hohem  Stufen  der  innern,  und  dämm  auch  der  äufsern  Ausbildung; 
endlich  die  psychischen  Kräfte  enthüllen  uns  das  Innere,  welchem  das 
Aeufsere  entspricht;  aber  freylich  erblicken  wir  dieses  Innere  in  unserm 
Selbstbewufstseyn  auf  einem  so  hoch  gestellten  Puncte,  dafs  wir  damit 
kaum  noch  die  psychischen  Zustände  der  Thiere,  vollends  die  weit  niedrigem 
der  Monaden,   woraus  die  Körper  bestehn,   zu  vergleichen  im  Stande  sind. 

Hier  ist  nun  die  Stelle,  wo  die  Psychologie  in  die  Naturphilosophie 
eingreift.  Ungefähr  so,  wie  uns  die  Astronomie  gewöhnt,  ungeheure  Räume, 
vor  denen  Anfangs  die  Phantasie  erschrickt,  mit  Leichtigkeit  zu  durch- 
laufen: so  mufs  die  Psychologie  uns  üben,  die  weite  Strecke  der  ver- 
schiedenen Ausbildung  von  Menschen  und  Menschenracen  zu  überschauen; 
dann  von  da  rückwärts  gehend  thierische  Zustände  zu  begreifen ;  endlich  einzu- 
sehn,  [2  7]  dafs  trotz  der  anscheinenden  gänzlichen  Ungleichartigkeit  dennoch 
die  Linie,  auf  der  wir  uns  bewegen,  zurückläuft  zu  den  innern  Zuständen 
der  Elemente  nicht  blofs  belebter,  sondern  selbst  roher  Körper;  obgleich 
hier  von  Selbstbewufstseyn ,  von  Vorstellungen,  von  Erkenntnissen,  von 
Entschliefsungen,  nicht  aufs  entfernteste  die  Rede  seyn  kann.  So  paradox 
nun  das    hier  Gesagte   lauten   mag,    so   ist   es   denn    doch    schlechterdings 


1^8  VII.  Ueber  die  verschiedenen  Hauptansichten  der  Xaturphilosophie. 

unentbehrlich,  um  die  so  oft  aufgeworfene,  so  oft  flüchtig  beantwortete 
Frage  gehörig  zu  erörtern:  Wie  denn  Materie  und  Geist  in  Verbindung 
treten  können?  Es  ist  bekannt,  dafs  man  dieser  Verbindung  durch  mehr 
als  eine  Art  von  prästabilirter  Harmonie  bald  aus  dem  Wege  gegangen, 
bald  ihr  mit  mehr  als  einer  idealistischen  Lehre  in  den  Weg  getreten  ist, 
um  ihr  ewiges  Stillschweigen  aufzuerlegen;  aber  die  Frage  schweigt  nicht; 
und  kann  von  keiner  Theorie  gehörig  behandelt  werden,  die  entweder 
Geistiges  auf  Kosten  des  Körperlichen,  oder  Körperliches  auf  Kosten  des 
Geistigen  begünstigt.  Denn  die  Verbindung  steht  ganz  deutlich  als  eine 
gegenseitige  Abhängigkeit  vor  Augen;  zugleich  aber  ist  die  Abhängigkeit 
nicht  so  grofs,  [28]  dafs  man  sie  in  völlige  Einheit  verwandeln  dürfte;  sondern 
die  geistigen  Functionen  wechseln  zwischen  Regsamkeit  und  Unthätigkeit, 
und  die  leiblichen  Kräfte  entwickeln  sich  und  schwinden,  ohne  dafs  irgend 
eine  veste  und  deutliche  Proportion  zwischen  jenen  und  diesen  zum  Vor- 
schein käme.  Hat  man  aber  den  innem  Bildungsgang  der  Seele  psycho- 
logisch kennen  gelernt:  so  ist  nicht  schwer  einzusehn,  wie  einerseits  der- 
selbe Anfangs  mit  dem  Organismus  und  dessen  Entfaltungen  verknüpft 
seyn,  und  doch,  einmal  in  Gang  gesetzt,  nun  andererseits  von  jenem  in 
hohem  Grade  unabhängig  fortgehn,  und  seinen  Weg  auch  noch  über  die 
Grenzen  des  irdischen  Lebens  hinaus  verfolgen  könne.  Noch  weniger 
schwer  aber  ist  alsdann  die  Verbindung  zwischen  Leib  und  Geist  zu  be- 
greifen,  denn  beyde  gehören  zusammen  wie  Aeufseres  und  Inneres;  der 
Leib  ist  ein  Aeufseres,  das  den  innern  Zuständen  aller  seiner  Elemente 
entspricht,  welche  Elemente  sich  auf  sehr  verschiedenen  Stufen  ihrer 
innern  Ausbildung  befinden;  unter  diesen  Elementen  befindet  sich  Eins, 
(oder  wenn  man  will,  einige  wenige,  statt  deren  aber  die  Voraussetzung 
eines  einzigen  [29]  allemal  hinreicht,)  welches  zu  einer  ganz  vorzüglichen  Aus- 
bildung emporsteigt;  dieses  eine  nennen  wir  die  Seele;  und  das  ganze 
System  seiner  innern  Zustände  nennen  wir  Geist.  In  dem  Geiste  ruht 
das  Selbstbewufstseyn,  welches  demnach  keineswegs  in  den  Elementen  der 
Materie  verstreut  liegt;  das  kann  es  auch  nicht,  denn  das  Ich  setzt  Ein- 
heit, das  heifst  hier,  völlige  Durchdringung  aller  dazu  gehörigen  Vor- 
stellungen, voraus.  So  ists  beym  Menschen;  hingegen  bei  den  Thieren 
verschwindet,  je  tiefer  wir  hinabsteigen,  desto  mehr  jener  Unterschied  in 
der  Ausbildung  der  Elemente,  welche  zusammengenommen  äufserlich  als 
Leib  erscheinen;  kein  Wunder  also,  dafs  die  Hervorragung  des  einen  Ele- 
ments, dessen  innere  Zustände  in  ihrer  Wechselwirkung  wir  unter  dem 
Namen  des  Geistes  kennen,  sich  bei  ihnen  nicht  mehr  deutlich  offenbart, 
vielmehr  der  Geist  vom  Leibe  verschlungen  seheint,  weil  sich  hier  kein 
Herrschendes,  kein  einzelnes  Vorzügliches,  hervorgearbeitet  hat.  Wo  keine 
Diener,   da  kein  Herr;  wo  kein  Gehirn,  da  keine  Seele! 

Lassen  Sie  uns  jetzt  zurückschauen  auf  die  zuvor  [30]  genannten,  der 
Form  nach  verschiedenen  Natur-Ansichten.  Was  ich  soeben  von  der 
Materie,  von  ihren  scheinbaren  Kräften,  von  ihrer  Verbindung  mit  dem 
Geistigen  sagte,  das  hat  seinen  Grund  in  dem  synthetischen  Theile  der 
Naturforschung;  dem  beobachtenden  und  analysierenden  Physiker  wird  es 
dagegen  ziemlich  gleichgültig,  in  sein  Geschafft  wenig  eingreifend  erscheinen. 
Er   beobachtet   nicht   Materie   im  Allgemeinen,    sondern   starre,    tropfbare, 


Vorgelesen  in  der  Königl.  Deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg,  am  24.  April  1823.   13g. 

dampfartige  und  gasförmige  Körper;  um  ihm  näher  zu  treten,  mufs  man 
erst  nachweisen,  dafs  es  Umstände  giebt,  in  denen  die  Repulsion  ein  grofses 
Uebergewicht  über  die  Attraction  gewinnt;  dafs  hiedurch  ein  Unterschied, 
aber  auch  eine  vielförmige  Verbindung  zwischen  dichter  und  dünner 
Materie  begründet  wird;  hiemit  läfst  sich  analytisch  die  Erscheinung  des 
Ponderabeln  und  Imponderabeln  vergleichen.  Aber  auch  dies  führt  uns 
noch  nicht  ganz  in  die  Sphäre  des  Beobachters  und  Analysten;  er  will 
überhaupt  nicht  allgemeine  Begriffe,  sondern  wirkliche  Körper  bearbeiten; 
und  jede  Allgemeinheit  ist  ihm  verdächtig,  die  er  nicht  aus  dem  Indi- 
viduellen durch  Induction  erlangen  kann.  Mit  einem  Worte;  er  sucht 
nicht  Ei  nheit,  sondern  nur  Abkürzung  des  Ausdrucks;  [31]  seine  Allgemein- 
heiten sind  nur  Abbreviaturen  für  das  Einzelne.  —  Doch  wie?  Gehe  ich 
nicht  vielleicht  zu  weit?  Zwar  erinnere  ich  mich  wohl,  dafs  hie  und  da 
ein  Physiker  sich  rühmt,  seine  Theorie  sey  durchaus  nichts  weiter  als  die 
unmittelbare  Aussage  der  Erfahrung.  Allein  die  Physik  strebt  zur  Geometrie 
hinan;  und  diese  begnügt  sich  nicht  mit  Inductionen.  Der  Mathematiker 
betrachtet  das  allgemeine  Gravitationsgesetz  nicht  als  die  Folge  von  ein- 
zelnen Erfahrungen;  sondern  er  wagt  die  Voraussetzung,  es  gebe  wirklich 
in  der  Natur  einen  allgemeinen  Grund  der  Anziehung,  von  welchem  die 
einzelnen  Anziehungen  als  Wirkungen  mit  Recht  können  abgeleitet  werden. 
Wollte  der  Physiker  nicht  eben  so  seine  Lehre  von  Bindung  und  Ent- 
bindung der  Wärme  bey  den  Form-Aenderungen  der  Körper,  wenigstens 
versuchsweise  als  Erkenntnifs  einer  in  der  Natur  selbst  liegenden,  allge- 
meinen Nothwendigkeit  betrachten;  wollte  er  nicht  ernstlich  den  einzelnen 
Fall  als  untergeordnet,  als  beherrscht  von  der  höhern  Regel,  ansehen; 
sollte  in  der  That  die  Induction,  die  im  Felde  der  Erfahrung  niemals 
über  den  heutigen  Tag  hinausreicht,  der  Physik  die  einzig  zulässige  Art 
der  Einheit  darbieten:  dann  könnte  niemals  ein  künftiger  Erfolg  voraus- 
gesetzt, niemals  ein  Experiment  [32]  als  Bekräftigung  eines  zuvor  aufgestellten 
Lehrsatzes  unternommen  werden;  sondern  man  müfste  stets  warten,  ob  die 
Erfahrung  wohl  in  der  nächsten  Stunde  so  gefällig  seyn  wolle,  noch  ein- 
mal zu  wiederhohlen,  was  sie  kurz  zuvor  unter  den  nämlichen  Umständen 
gelehrt  hatte.  Kurz:  auch  die  Erfahrungs -Wahrheit  fordert  bleibende 
Gründe,  welche  im  Wechsel  der  Zeiten  beharren;  und  auch  der  Physiker 
setzt  stillschweigend  ein  Reales  voraus,  welches  er  auf  dem  Wege  der 
Induction  nie  würde  gefunden  haben.  In  so  fern  nun  gleitet  alle  Physik 
hinüber  in  Naturphilosophie;  aber  zunächst  nur  in  deren  analytischen 
Theil;  und  hier  giebt  es  allerdings  noch  kein  Streben  nach  universaler 
Einheit;  hier  finden  sich  einzelne  Untersuchungen  in  unbestimmter  Menge, 
die  sich  durch  neue  Beobachtungen  vermehren.  Wer  hier  das  vorhandene 
Mannigfaltige  zu  einem  organisch-wissenschaftlichen  Ganzen  umbilden  wollte, 
der  würde  sich  kein  Verdienst  erwerben;  denn  die  Analysis  mufs  vom  Ge- 
gebenen ausgehn;  dieses  findet  sich  Anfangs  als  ein  nur  lose  zusammen- 
hängendes Mannigfaltiges;  so  gerade  mufs  die  treue  Natur- Darstellung  es 
wiedergeben;  sie  mufs  nicht  ins  Schöne  [33]  malen,  nicht  idealisiren  wollen. 
Strebt  die  analytische  Naturphilosophie  nach  etwas  Höherem :  so  mufs  sie 
warten,  bis  der  synthetische  Theil  weit  genug  vorgerückt  ist;  alsdann  muls 
sie    sich    diesem   anschliefsen ;   will    sie    aber,    seine    Manier    nachahmend, 


140  VII.  Ueber  die  verschiedenen  Hauptansichten  der  Naturphilosophie. 


allein  stehn  und  unabhängig  auftreten,  so  verwandelt  sie  sich  in  einen 
Zwitter,  ähnlich  den  historischen  Romanen,  unwissenschaftlich  und  ver- 
werflich gleich  diesen.  Verwaltet  die  analytische  Naturlehre  treulich  ihr 
Amt:  so  ist  sie  nur  Vorbereitung;  nichts  Vollendetes;  sie  besitzt  Einheiten; 
aber  noch  keine  Einheit.  Sie  widerstrebt  keiner  Theorie;  aber  sie  ist 
neutral,  und  sieht  dem  Kampfe   der   verschiedenen  Theorien  gelassen    zu. 

Anders  verhält  es  sich  mit  dem  synthetischen  Theile  der  Natur- 
wissenschaft. Diesem  mufs  allerdings  die  Idee  der  organischen  Einheit 
vorschweben;  aber  hier  drohen  gefährliche  Verwechselungen.  Die  orga- 
nische Einheit  ist  nicht  ursprüngliche  Identität;  und  nach  einer  Idee  ver- 
fahren, heifst  nicht,  den  Gegenstand  des  Verfahrens  [34]  für  ein  System  von 
Ideen  halten.  Der  Künstler  bildet  den  Marmor  nach  der  Idee  des 
Schönen;  aber  den  Marmor  hält  er  nicht  für  schön,  sondern  betrachtet 
und  behandelt  ihn  als  einen  gegebenen  Stoff.  Der  Naturlehrer  findet 
Thon  und  Sand,  Gestrüpp  und  Gewürm,  Schlangen  und  Kröten,  neben 
den  edlern  Gebilden;  wollte  er  nun  damit  anfangen,  die  Unterschiede  der 
Dinge  zu  verwischen,  so  würde  er  nichts  weiter  gewinnen,  als  die  Mühe, 
sie  hintennach  doch  wieder  hinzuzeichnen;  und  den  Vorwurf,  erst  geleugnet 
zu  haben,  was  späterhin,  gleichviel  mit  welcher  Wendung,  doch  mufs  ein- 
gestanden werden.  Die  Idee  der  Einheit  erfordert  vielmehr  eine  solche 
Allgemeinheit  der  Grundbegriffe,  welche  sich  von  selbst  allen  den  Modi- 
ficationen  darbiete,  die  genügen  können,  um  der  Mannigfaltigkeit  der  Natur- 
gegenstände zu  entsprechen.  Ob  nun  diese  Allgemeinheit  durch  Annahme 
eines  Realen,  mit  einem  inwohnenden  Evolutions-Triebe,  oder  ob  sie 
durch  Aufstellung  eines  Verhältnisses  [35]  unter  dem  ursprünglichen  Mannig- 
faltigen, welches  geschmeidig  genug  sey  für  nähere  Bestimmungen  jeder 
Art,  —  möge  erreicht  werden:  dies  gehört  schon  zu  den  materialen  Ver- 
schiedenheiten der  Naturansichten,  wovon  oben  die  Rede  war;  allein  der 
synthetischen  Grundlegung  zu  unserer  Wissenschaft,  sofern  sie  blofs  formale 
Forderungen  zu  erfüllen  sucht,  ist  es  nicht  wesentlich,  dazwischen  eine 
Wahl  zu  treffen.  Es  ist  vielmehr  vortheilhaft,  selbst  unhaltbare  Ansichten 
so  weit  auszubilden,  als  es  mit  einigem  Schein  der  Wahrheit  geschehen 
kann;  denn  eben  dadurch  erreicht  man  den  Punct,  wo  die  Täuschungen 
ohne  Zwang  von  selbst  entfliehen. 

Kaum  wird  es  nöthig  seyn,  dals  ich  jetzt  noch  den  Wunsch  aus- 
spreche: die  Einseitigkeit  der  heutigen  Naturphilosophie  möge  bald  durch 
diejenige  Wahrheitsliebe  gemildert  werden,  welche  Alles  prüft,  um  das 
Beste  zu  behalten. 


VIII. 


ZWEI  VORLESUNGEN. 

I.    VERSUCHE    UND    BETRACHTUNGEN    ÜBER   DEN 
GEGENSATZ  DER  BEYDEN  ELECTRICITÄTEN. 

Vorgelesen    in    der  physikalisch  -  ökonomischen  Gesellschaft   zu  Königsberg, 

am   23.  Januar   1824. 

IL   UEBER   den   GEGENSATZ  der  BEYDEN 
i  ELECTRICITÄTEN. 

Vorgelesen   in   der   physikalisch  -  ökonomischen  Gesellschaft  zu   Königsberg. 

1824. 


[Text  nach  dem  Msc.   2069  der  Königsberger  Universitäts-Bibliothek.] 


Vorrede. 

Die  beyden  Vorlesungen,  welche  ich  hier  zusammen  drucken  lasse, 
sind  in  zwey  verschiedenen  gelehrten  Gesellschaften  gehalten  worden;  man 
wird  sich  nicht  wundern,  wenn  man  sie  eben  so  ungleichartig  findet,  als 
sie  es  ihrer  Bestimmung  nach  seyn  mufsten.  Die  erste  wandte  sich  un- 
mittelbar an  das  Denken;  die  zweyte,  bey  welcher  Versuche  vorgezeigt 
wurden,  zunächst  an  das  Anschauen,  und  alsdann  an  diejenige  Art  der 
der  Betrachtung,  welche  von  den  Thatsachen  ausgeht,  ohne  darauf  all- 
gemeine Voraussetzungen  zu  übertragen.  Ueber  diese  zweyte  Vorlesung 
zuerst  einige  Worte. 

Dafs  ich  Thatsachen  bekannt  mache,  und  dafs  ich  wünsche,  meine 
Versuche  von  Physikern  wiederhohlt,  geprüft  und  weiter  geführt  zu  sehen, 
wird  mir  wohl  Niemand  verdenken;  besonders  da  hier  von  den  so  schwer 
zu  beobachtenden  [2]  kleinen  Electricitäten  die  Rede  ist,  die  ohne  Zweifel  in 
der  Natur  viel  häufiger  vorkommen,  als  die  starken  und  gewaltsamen,  deren 
Glanz  auch  die  flüchtigen  Zuschauer  zu  fesseln  pflegt.  Die  Erscheinungen, 
die  mir  meine  Werkzeuge  darboten,  waren  nichts  weniger  als  glänzend; 
aber  sie  waren  deutlich  und  gleichförmig.  Dafs  ich  etwas  übersehen  haben 
könne,  weifs  ich  sehr  wohl;  und  wünsche  eben  so  wohl  Berichtigung  als 
Fortführung  und  Ergänzung  meiner  Versuche.  Mich  in  den  Rang  eines 
geübten  Physikers  zu  stellen,  fällt  mir  übrigens  nicht  ein,  aber  Physik  gehört 
eben  so  wohl  als  Mathematik  zu  den  Hülfswissenschaften  der  Philosophie;  und 
die  gelehrte  Welt  kennt  glücklicherweise  keine  geschlossenen  Zünfte.  Um 
das  Eine  darf  ich  gewifs  bitten,  dafs  man  nicht  die  Richtigkeit  meiner 
Beobachtungen  leugne,  wenn  man  sie  nicht  mit  zulänglichen  Werkzeugen 
wiederhohlt.  Wer  aber  einmal  die  Kosten  angewandt  hat,  sich  einen  recht 
wirksamen  und  fehlerfreyen  Elektro-Multiplicator  anzuschaffen  und  über- 
dies einen  Condensat.  >r,  dessen  Sammlungsplatte  blofs  zwischen  zwey  höchst 
dünnen  Luftschichten,  [3]  ohne  Berührung  solcher  Körper,  die  leicht  durch 
Reiben  elektrisch  werden,  eingeschlossen  ist :  —  der  wird  ja  diesen  Apparat 
auch  zu  unzähligen  anderen  Versuchen  gebrauchen  können,  und  nicht  be- 
fürchten dürfen,   dafs   ihn  der  Aufwand  gereuen  werde. 

Von  der  Uebung  und  Vorsicht,  welche  der  Multiplicator  nötig  macht, 
will  ich  nichts  sagen;  die  Physiker  wissen  das  besser  als  ich.  Ob  meine 
Versuche  zur  Aufklärung  theoretischer  Ansichten  dienen  können?  ist  nicht 
meine  erste  Sorge;  aber  angenommen,  dafs  sie  als  Versuche,  nicht  irgend 
einen,  mir  verborgenen,  Fehler  haben,  so  glaube  ich  in  der  That,  dafs 
sie  einiges  Licht  geben  können;  und  zwar  deswegen,  weil  sie  äufserst 
einfach  sind,  und  folglich  nicht  so  vielerley  Auslegungen  unterworfen, 
wie  Manches,  an  sich  höchst  Schätzbare,  das  wir  neuerlich  gelernt  haben. 


Iji  VIII.  Zwei  Vorlesungen. 


Um  verstanden  zu  werden,  braucht  die  zweyte  dieser  Vorlesungen 
wohl  nur  aufmerksames  Lesen:  allein  mit  der  ersten,  besorge  ich,  könnte 
es  sich  anders  verhalten.  Sie  ist  eigentlich  ein  Seitenstück  zu  meiner  kürzlich 
herausgegebenen  kleinen  Schrift:  über  die  Möglichkeit  und  Nothwendigkeit, 
Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden.  [Vgl.  No.  VI  vorl.  Bandes.]  "Wie 
diese,  [4]  will  sie  nicht  beweisen,  sondern  nur  das  Verstehen  dessen  erleichtem, 
was  anderwärts  war  bewiesen  und  begründet  worden.  Aber  selbst  eine  solche 
Erleichterung  setzt  doch  voraus,  dafs  der  Leser  sich  auch  um  die  anderen 
Schriften  des  Verfassers  bekümmere,  nicht  aber  fordere,  man  solle  ihm  Dinge, 
die  ihrer  Natur  nach  verborgen  liegen,  und  zu  denen  nur  eine,  in  die  Tiefe 
hinabsteigende  Untersuchung  gelangen  kann,  auf  der  Oberfläche  hinlegen,  als 
ob  sie  mit  den  Vorstellungsarten  des  gemeinen  Verstandes  erreichbar  oder 
gar  mit  gewissen  gangbaren  Irrthümern  der  Schulen  verträglich  wären.  — 
In  meiner  Abhandlung:  theoriae  de  attractione  elementorum  principia  meta- 
physica,  [s.  Bd.  III,  No.  VIII]  habe  *  ich  schon  vor  zwölf  Jahren  meine 
allgemeine  Untersuchung  über  das  Wesen  der  Materie  bekannt  gemacht. 
Diese  Abhandlung  war  eine  akademische  Gelegenheitsschrift;  schon  als 
solche  wurde  sie  damals  wenig  verbreitet;  und  überdies  bezieht  sie  sich 
genau  auf  meine  Hauptpuncte  der  Metaphysik,  deren  wahrer  Inhalt  noch 
bis  heute  ein  öffentliches  Geheimnifs  zu  seyn  scheint,  und  vielleicht  so 
lange  bleiben  wird,  bis  einmal  ein  Zweyter,  durch  die  ursprünglichen  meta- 
physischen Probleme  selbst  angetrieben,  auf  meinen  Weg  geräth,  da  ihm 
denn  meine  Spuren  zu  Hülfe  kommen  werden.  Der  Grund  aber,  weshalb 
ich  bisher  keine  ausführliche  Darstellung  meiner  Metaphysik  übernommen 
habe,  lag  einfach  darin,  dafs  ich  in  den  Naturwissenschaften  zuvor  weiter 
vorzudringen  suchen  wollte,  um  alsdann  eins  mit  dem  andern  in  die 
gehörige  Verbindung  bringen  zu  können.  Für  jetzt  noch  wird  es  für  den 
Leser  am  bequemsten  seyn,  wenn  ich  ihn  an  das  letzte  Capitel  meiner  Ein- 
leitung in  die  Philosophie  [s.  Bd.  IV,  No.  I]  verweise,  worin  das  Resultat  jener 
frühern,   und  zugleich  einige  spätere  Untersuchungen  kurz  angegeben  sind. 

Zu  ausführlichen  Anmerkungen,  dergleichen  ich  der  Vorlesung  über 
Anwendung  der  Mathematik  auf  Psychologie  beygefügt  habe,  wäre  auch 
diesmal  Veranlassung  genug  gewesen;  hätte  ich  aber  derselben  einmal  nach- 
gegeben, so  möchten  leicht  der  Zusätze  mehr  geworden  seyn,  als  mir  für 
diese  flüchtigen  Blätter  passend  scheint.  Mich  zu  vertheidigen  gegen  Leute, 
die  nicht  sowohl  meine  Schriften,  als  mich  selbst  angreifen,  scheint  mir 
vollends  nicht  nöthig.  Oder  soll  ich  etwa  darum,  weil  Einer  so  artig  ist 
an  meinem  Namen  zu  zupfen,  damit  ein  philosophischer  Bart  heraus- 
komme, mich  zum  Schutze  meines  Namens  aufgefordert  glauben?  —  Nicht 
viel  mehr  Antwort  verdient  der  unpartheyische  Richter,  der  meine  offene  Er- 
zählung, wie  Fichte  meine  psychologischen  Untersuchungen  veranlafst  habe 
(woran  gar  nichts  zu  verheimlichen  ist,)  zu  einem  „merkwürdigen  Geständ- 
nisse" verdreht;  während  er  selbst,  indem  er  mir  Ueberschätzung  der 
Kategorie  der  Quantität  vorwirft,  das  unfreywillige  Geständnifs  ablegt, 
dafs  er  von  meinen  Hauptarbeiten,  —  die  nach  der  Sprache  der  Kan- 
tianer im  Bezirke  der  Qualität  und  der  Relation  liegen,  und  die  ich 
zum  mindesten  höher  schätze  als  meine  Rechnungen  —  nicht  das  Geringste 
weifs;  ja  vermuthlich  nicht  einmal  soviel   davon  gehört  hat,  dafs  in  meiner 


Vorrede.  145 

Lehre  alle  Kategorien  ohne  Ausnahme  verworfen  werden.  Etwas  ernsthafter 
ist  [7]  indessen  die  Anzüglichkeit:  es  scheine  bey  mir  ein  Axiom  zu  seyn,  dafs 
es,  aufser  mir,  wenige  oder  keine  Philosophen  gebe,  die  zugleich  Mathe- 
matiker seven.  Aufser  mir?  ich  bin  kein  Mathematiker;  eben  so  wenig 
als  ich  darum  ein  Schlösser  bin,  weil  ich  mich  zuweilen  des  Hammers  und 
der  Feile  bediene,  wenn  ich  zu  einem  bestimmten  Gebrauch  diese  Werk- 
zeuge nöthig  habe,  die  allein  dazu  taugen.  Beliebe  der  Herr  nur  recht 
bald  die  Liste  der  „mehrern  sehr  hochachtbaren  Philosophen  in  Deutsch- 
land und  in  Frankreich,  die  zugleich  Mathematiker  sind",  anzufertigen, 
auch  sich  selbst  etwa  den.  obersten  Platz  auf  dieser  Liste  anzuweisen,  den 
ich  ihm  nicht  beengen  werde.  Ich  bin  noch  neugieriger  auf  die  Philo- 
sophen in  Frankreich,  als  auf  die  mehr  als  wenigen  Mathematiker  in 
Deutschland,  welche  da  zum  Vorschein  kommen  werden;  besonders  aber 
bitte  ich,  dafs  die  Liste  einerseits  den  Philosophen,  andererseits  den  Mathe- 
matikern zum  Durchstreichen  vorgelegt  werde,  damit  nur  die  sehr  hoch- 
achtbaren Namen,  die  vor  beyden  bestehn  können,  übrig  bleiben.  Als- 
dann können  wir  weiter  überlegen,  wie  viele  wohl  mehrere  im  Gegen - 
satze  von  wenigen  seyen?  und  wieviel  Grund  wohl  vorhanden  war,  [8]  mir 
zu  widersprechen,  indem  ich  auf  die  unleugbare  Thatsache  aufmerksam 
machte,  dafs  sich  bey  uns  Mathematik  und  Philosophie  weit  getrennt 
haben. 

Hierüber  zur  Selbsterkenntnifs  zu  gelangen,  ist  dem  heutigen  gelehrten 
Publicum  höchst  nöthig,  freylich  aber  giebt  es  auch  noch  andere  Puncte, 
worin  die  Selbsterkenntnifs  heilsam  seyn  würde;  und  noch  andre  Stimmen, 
aufser  der  meinigen,  die  trotz  dem  Gerede  der  Schulen  frey  und  offen  die 
Wahrheit  sagen. 

Folgende  merkwürdige  Äufserungen  stehen  im  Novemberheft  der 
Jenaischen  Literaturzeitung : 

„Jedermann  weifs,  dafs  die  neueren  Entdeckungen  in  der  Physik, 
Chemie,  Astronomie,  Naturgeschichte,  die  Philosophen  bald  nach  Kant 
veranlafsten,  den  bisher  allgemein  sicher  geglaubten  Weg  zu  verlassen.  — 
Die  Philosophie  nahm  jetzt  ein  pantheistisches  Colorit  an,  welches  sie  dem 
vollendeten  Spinozismus  sehr  ähnlich  machte.  Hieraus  erklärt  es  sich,  wo- 
her diese  Philosophie  zu  zwey  wesentlichen  Eigenheiten  kam,  wodurch  sie 
sich  nach  Leibnitzen's,  Wolf's,  Hume's,  Kant's  Vorgange  nicht  mehr 
auszeichnen  sollte.  Die  eine  ist,  dafs  die  Bekenner  der  Naturphilosophie 
in  Sachen  der  Logik,  Psychologie  u.  s.  w.  sich  einem  ähnlichen  [9]  Schauen 
und  Wahrnehmen  zu  überlassen  pflegen,  wie  das  in  der  sichtbaren  Natur 
möglich  ist;  d.  h.  man  pflegt  blofse  Visionen  für  baare  Wahrheit  zu  nehmen, 
ohne  streng  zu  untersuchen,  wieviel  die  Phantasie  dabey  zum  Schaden  der 
Wahrheit  Antheil  haben  könne.  —  Eine  zweyte,  wo  möglich  noch  kläg- 
lichere Eigenheit  ist  das  unselige,  oder  viel  armselige  Streben  nach  Tota- 
lität, das  Universalisiren  oder  Generalisiren ,  das  die  begründesten,  von 
den  gröfsten  Denkern  anerkannten  Unterscheidungen  gänzlich  annullirt, 
und  überall  ein  leeres,  nutz-  und  liebloses  ev  y.a)  nav  an  ihre  Stelle  setzt. 
Man  plage  sich  nur  durch  ein  Produkt  dieser  Philosophie  hindurch,  und 
frage  sich  alsdann,  was  man  eigentlich  dabey  gewonnen  habe,  ob  etwas 
Anderes,    als    eine  Masse    von  Bildern,    die    kaum    zu    Erläuterungsmitteln 

Hkrbart's  Werke.     V.  IO 


\a6  VIII.   Zwei  Vorlesungen.     1824. 

dienen,  geschweige  dafs  sie  poetischen  Werth  hätten !  Wie  wohlthätig  für 
die  Bildung  des  Verstandes,  wurden  Aristoteles,  und  in  neuern  Zeiten  Wolf, 
Baumgarten,  Kant;  wie  wenig  dürfte  sich  aber  ernst  eine  [10]  Philo- 
sophie dieses  Svstemes  zu  rühmen  haben,  die,  das  Philosophiren  aus  und 
in  reinen  Begriffen  verlassend,  — -  sich  in  Spielereyen  über  Dinge  verliert, 
die  aufserhalb  des  Kreises  der  für  uns  sicheren  Wahrheit  liegen!  —  Was 
das  Ende  einer  solchen  Philosophie  seyn  mufs,  liegt  der  Welt  theils  schon 
vor  Augen,  theils  kann  man  es  aus  jedem  Handbuche  der  Geschichte  der 
Philosophie  ersehen.  Sie  wird  vermöge  ihres  Hanges  zum  Dogma- 
tismus, allmählich  in  das  Gebiet  des  Positiven  zurückkehren, 
—  bis  zuletzt  ein  alles  zermalmender  Skepticismus  die  Ge- 
spenster verjagt,  und  einen  heilern  Tag  vorbereitet."  U.  s.  w. 
Die  Feder,  aus  welcher  diese  Worte  geflossen  sind,  ist  mir  unbekannt; 
auch  bin  ich  weit  entfernt,  der  ganzen  Recension,  aus  der  ich  sie  entlehne, 
meinen  Beyfall  zu  geben.  Aber  was  ich  ausgezogen  habe,  das  ist  wahr, 
und  mufs  laut  gesagt  werden.  Denn  das  Uebel  der  heutigen  unphilo- 
sophischen Geistesrichtung  ist  grofs,  und  liegt  tief,  daher  man  sich  nach 
gewissen  zarten  Ohren,  die  keinen  unangenehmen  Ton  hören  mögen,  nicht 
richten  kann.  Doch  gestehe  ich,  es  ist  mir  willkommen,  [11]  dafs  ein  Andrer 
als  ich,  das  vorgetragen  hat,  was  die  heutige  gelehrte  Welt  sich  so  ungern 
sagt,  obgleich  sie  es  seit  langen  Jahren  fühlt. 


Versuche  und  Betrachtungen  über  den  Gegensatz  der 

beyden  Electricitäten. 

Vorgelesen  in  der  physikalisch-oekonomischen  Gesellschaft  zu  Königsberg, 

am  23.  Januar   1824. 


Sie  wollten  mir  nicht  erlauben,  höchstgeehrte  Herrn!  blofs  als  Zu- 
hörer Ihren  Sitzungen  beyzuwohnen;  aber  Sie  werden  auch  nicht  verlangen, 
dafs  ein  blofser  Liebhaber  der  Physik  den  Gegenstand,  welchen  er  berührt, 
erschöpfen  solle;  und  das  um  desto  weniger,  da  an  eigentliche  Vollständig- 
keit in  physikalischen  Untersuchungen  heut  zu  Tage  selbst  die  Meister 
noch  nicht  denken  können. 

Hare  und  Silliman  haben  neuerlich  die  Meinung  geäufsert:  der 
Kupferpol  des  Defiagrators  sey  positiv,  der  Zinkpol  negativ  electrisch.1 
Wenn  ich  dies  recht  verstehe,  so  ist  es  derselbe  Gedanke,  auf  den  ich 
durch  Versuche,  die  den  eigentlichen  Gegenstand  meiner  heutigen  Mit- 
theilungen ausmachen  sollen,  bin  geführt  worden.  Meine  Meinung  will  ich, 
der  Deutlichkeit  wegen,  im  Voraus  so  angeben:  Die  Franklinsche  Lehre 
scheint,  diesen  Versuchen  zu  folge,  die  wahre;  jedoch  mit  umgekehrter 
Bedeutung  der  Worte  Plus  und  Minus. 

Erlauben  Sie  mir  zuerst  eine  kurze  einleitende  Betrachtung  über  die 
jetzt  mehr  geltende  Symmersche  Ansicht,  wornach  zwey  electrische  Fluida 
vorhanden  seyn  sollen,  die  in  ihrer  Verbindung  mit  einander  den 
für  uns  unbemerkbaren  electrischen  Stoff  ausmachen.  So  drückt 
sich  selbst  Berzelius  aus;2  also  auch  ein  so  grofser  Chemiker  fand  keine 
Spur  von  demjenigen  Dritten,  was  als  das  Neutrale  aus  der  Verbindung 
jener  beyden  Entgegengesetzten  entstehen  müfste.  Um  so  eher  wird  es 
mir  erlaubt  seyn,  zu  zweifeln,  ob  ein  solches  Neutrales  überhaupt  existire. 
Zwar  [15]  behauptet  man,  jene  Annahme  zweyer  Flüssigkeiten  liefere  die  ein- 
fache Erklärung  aller  Thatsachen.  Ganz  bestimmt  sagen  dieses  Ampere 
und  Babinet;3  und  das  erste  Merkmal  der  beyden  Flüssigkeiten,  welches 
sie  angeben,  ist  dies:  sie  sollen  sich  gegenseitig  neutralisiren.  Wenn  wir 
uns  nun  die  bekanntesten  Thatsachen  vergegenwärtigen,  von  dem  Un- 
gestüm, womit  die  beyden  Electricitäten  zu  vereinigen  pflegen,  dem  Zer- 
malmen des  Glases,   wenn  eine  geladene  Flasche  springt,   den  mannigfaltigen 

1  Schweiggkr's  Journal  für  Chemie  und  Physik,  Band  9,  Heft   1. 

2  Lehrbuch  der  Chemie,   S.   63. 

3  Darstellung  der  neuen  Entdeckungen  über  Electricität  und  Magnetismus;  gleich 
im  Eingange. 

IO* 


tj.8  VIII.  Zwei  Vorlesungen.   1824. 

Zerstörungen  des  Blitzes  u.  dergl.  m.,  so  sollte  man  auf  den  Gedanken 
kommen,  die  Verwandtschaft  jener  beyden  Flüssigkeiten  sey  eine  der  stärk- 
sten Naturkräfte,  die  es  gebe;  es  werde  demnach  sehr  schwer  seyn,  das 
aus  beyden  gebildete  Dritte  zu  zerlegen;  und  jede  von  beyden  werde  den 
Körper,  in  welchem  sie  sich  befinde,  sehr  leicht  verlassen,  wenn  es  darauf 
ankomme,  mit  ihrer  entgegengesetzten  in  Verbindung  zu  seyn  und  zu 
bleiben.  Lassen  Sie  uns  mit  diesen  Gedanken  an  die  Betrachtung  des 
ersten  besten  Electrometers  gehn,  um  zu  erfahren,  ob  wir  die  sich  dar- 
bietenden Erscheinungen  nun   erklären  können. 

Divergirt  das  Electrometer :  so  prüfen  wir  es  mit  nahe  gehaltenem 
geriebenen  Siegellack;  fallen  jetzt  die  Kügelchen  zusammen,  so  sagen  wir: 
die  mitgetheilte  Electricität,  welche  das  Werkzeug  enthält,  ist  positiv;  denn 
sie  läfst  sich  von  der  negativen,  die  vom  Siegellack  her  auf  sie  wirkt,  neu- 
tralisiren.  Nun  aber  erwarte  ich  die  einmal  geschehene  Neutralisation  werde 
beharren;  die  Verbindung  so  nahe  verwandter  Flüssigkeiten  werde  keiner 
geringfügigen  Ursache  wegen  wieder  aufhören.  Allein  was  geschieht?  Ich 
ziehe  das  Siegellack  zurück  und  das  Electrometer  divergirt  wie  Anfangs! 
Wie  soll  ich  das  erklären?  Warum  verläfst  nicht  entweder  die  eine  Flüssig- 
keit das  Siegellack  oder  die  andere  das  Electrometer?  Dann  könnten  sie 
ja  in  Verbindung  bleiben.  Hängt  vielleicht  doch  die  Flüssigkeit,  die  wir 
negative  Flüssigkeit  nennen,  zu  stark  am  Siegellack?  Wohlan!  statt  des 
Siegellacks  wollen  wir  den  Knopf  einer  geladenen  Flasche  aufs  Electrometer 
wirken  lassen;  dieser  ist  dafür  bekannt,  dafs  man  sehr  leicht  aus  ihm  einen 
Funken  ziehen  kann,  er  wird  also  auch  jetzt  seine  Electricität  leicht  her- 
geben, um  die  entgegengesetzte  zu  sättigen.  So  sollte  man  denken.  Aber 
der  Erfolg  des  Versuchs  bleibt  wie  vorhin.  Widersteht  vielleicht  die  Luft? 
Aber  diese  weicht  beim  electrischen  Puppen  tanze  sehr  leicht  aus;  ein 
mechanisches  Hindernils  kann  sie  also  für  so  feine  Flüssigkeiten,  wie  die 
angenommenen,  nicht  seyn.  Aber  in  ihr  selbst  war  ohne  Zweifel  zwischen 
dem  Electrometer  und  dem  Knopfe  der  Flasche  eine  Vertheilung  vor- 
gegangen! Recht  wohl;  alle  dadurch  entstandenen  partiellen  Neutralisationen 
können  bleiben,  wofern  nur  die  Lufttheilchen ,  welche  dem  Knopfe  der 
Flasche  die  nächsten  sind,  ihm  soviel  Electricität  abgewinnen,  als  nöthig 
ist,  um  die  in  ihnen  durch  die  Vertheilung  angezogene  Flüssigkeit  zu  sät- 
tigen. Allein  das  geschieht  nicht.  Wo  bleibt  nun  die  angenommene,  sehr 
starke,  alle  andere  Verwandtschaften  überbietende  Kraft,  womit  [18]  die 
beyden  Flüssigkeiten  unaufhaltbar  zu  einander  streben? 

Auf  diese  Betrachtungen  bin  ich  eigentlich  durch  eine  Erfahrung 
von  anderer  Art  geführt  worden;  die  mir  die  feinen  Werkzeuge,  welche 
ich  gleich  die  Ehre  haben  werde  hier  vorzuzeigen,  nur  zu  oft  darboten. 
Häufig  genug  fand  ich,  dafs  meine  isolirenden,  mit  Fimifs  überzogenen 
Träger,  an  diesen  Instrumenten  elektrisch  geworden  waren,  wodurch  meine 
Versuche  gestört  wurden.  Ausgehend  nun  von  der  Voraussetzung  einer 
vorhandenen  Flüssigkeit,  die  man  durch  ihre  entgegengesetzte  sättigen 
müsse,  nahm  ich  meine  Zuflucht  zur  Electrisirmaschine ;  ich  liefs  einen 
Strom  entgegengesetzter  Electricität  durch  jene  Werkzeuge  gehn.  Aber 
ich  verfehlte  meinen  Zweck.  Anfangs  fand  ich  die  Werkzeuge  mm  be- 
haftet von  einem  Residuum  der  ihnen  mitgetheilten  Electricität;  doch  dies 


Versuche  und  Betrachtungen  über  den  Gegensatz  der  beyden  Electrici täten.      14g 


war  leicht  herauszubringen.  Allein  dann  fand  sich  der  vorige  Fehler  unver- 
ändert wieder  ein;  diejenige  Electricität,  die  ich  hatte  [19]  neutralisiren  wollen, 
schien  aus  den  Winkeln,  wo  hinein  sie  sich  vor  ihrer  Gegnerin  mochte 
verkrochen  haben,  vollständig  wieder  hervorzutreten.  Ist  das  ein  Phänomen, 
was  man  bei  Voraussetzung  einer  mächtigen  Verwandtschaft  zwischen 
beyden,  erwarten  mufste  ? 

Eine  andre  Thatsache  will  ich  hier  sogleich  anführen,  welche  be- 
weiset, dafs  die  gangbaren  Vorstellungen  vom  Gegensatze  der  Electricitäten 
einer  sehr  starken  Reform  bedürfen.  Diese  Thatsache  bietet  sich  sehr 
leicht  in  verschiedenen  Formen  dar;  gleichwohl  habe  ich  sie  in  den  mir 
bekannten  Darstellungen  der  Electricitätslehre  so  durchaus  nicht  erwähnt 
gefunden,  dafs  ich  in  Versuchung  gerathen  könnte,  sie  für  neu  zu  halten, 
wenn  nicht  mein  hochgeehrter  College,  Herr  Professor  Wrede,  sie  schon 
gekannt  hätte,  als  ich  mit  ihm  davon  zu  reden  anfing. 

Man  setze  eine  geladene  Flasche  (gleichviel  ob  positiv  oder  negativ 
geladen)  auf  ein,  nicht  gar  zu  grofses  Isolirbrett.  Da  die  Luft  den  Knopf 
nicht  vollkommen  [20]  isolirt,  so  wird,  aus  besonderen  Gründen,  das  Brett  in 
wenigen  Augenblicken  eine  schwache,  der  Ladung  entgegengesetzte  Elec- 
tricität annehmen.  Jetzt  fasse  man  ein  gewöhnliches  Goldblatt-Electro- 
meter  an  dem  metallenen  Deckel,  von  welchem  herab  die  Goldblättchen 
in  dem  gläsernen  Cylinder  hängen.  Man  sollte  glauben,  das  Electrometer 
könne  so  angefafst,  unmöglich  divergiren,  da  jede,  ihm  etwa  mitgetheilte 
Electricität  durch  die  Hand,  die  mit  den  Goldblättchen  durch  Metall  ver- 
bunden ist,  verschwinden  müsse.  Will  man  es  denn  wagen,  das  Electro- 
meter neben  die  Flasche  auf  jenes  Isolirbrett  zu  stellen?  Man  läuft  Gefahr 
die  Goldblättchen  zerrissen  an  den  Wänden  des  Cylinders  wieder  zu  finden, 
sie  divergiren  schon  bey  der  Annäherung  an  das  Isolirbrett. 

Deutlicher  wird  dieser  Versuch  unter  einer  anderen  Gestalt.  Um 
ein  Quadranten-Electrometer  recht  genau  zu  isoliren,  hatte  ich  es  auf  der 
Spitze  einer  Siegellackstange  befestigen  lassen,  die  vertikal  [21]  auf  einem 
hölzernen  Fufse  stand.  Dies  Werkzeug  war  auf  ein  Isolirbrett  gestellt 
worden;  ich  electrisirte  das  Brett,  und  berührte  zufällig  das  Electro- 
meter. Augenblicklich  fing  es  an  zu  divergiren.  Noch  mehr:  ich  suchte 
ihm  durch  öftere  Berührungen  die  Electricität  zu  entziehen,  aber  dies  war 
nicht  eher  möglich,  als  bis  zuvor  das  Isolirbrett  von  der  seinigen  war  be- 
freyt  worden.  Und  der  wichtigste  Umstand  ist  folgender.  Dem  diver- 
girenden  Electrometer  nähere  man  den  Finger  oder  einen  andern  Leiter; 
statt  davon  angezogen  zu  werden,  entflieht  es  vor  ihm;  und  auch  diese 
Repulsion  dauert  so  lange,  wie  das  Isolirbrett  seine  Electricität  behält. 
Nachdem  man  es  derselben  beraubt  hat,  zeigt  sich  die  gewöhnliche  Er- 
scheinung, Attraction  statt  der  vorigen  Repulsion.  Auch  ist  diejenige 
Electricität,  mit  welcher  das  Electrometer  divergirt  die  entgegengesetzte  von 
der,   welche  man  dem  Isolirbrette  mitgetheilt  hatte. 

Wenn  wir  diese  Erscheinungen  an  unsere  gewohnten  Vorstellungsarten 
anknüpfen  wollen:  so  sind  wir  zu  allererst  [_2  2~\  genöthigt  zu  sagen:  das  Electro- 
meter, obwohl  durch  die  ganze  Länge  der  Siegelstange  getrennt  von  dem 
elektrischen  Brette,  auf  dem  es  steht,  wird  dennoch  durch  dies  Brett  in 
einen  solchen  Zustand   versetzt,    vermöge    dessen   es    diejenige  Electricität, 


j  e.Q  VIII.  Zwei  Vorlesungen.    1824. 

womit  es  divergirt,  so  vest  an  sich  bindet,  dafs  sie  in  keinen  Leiter  über- 
gehn  kann.  Dieser  Zustand  des  Electrometers  ist  aber  nicht  selbst  Elec- 
tricität;  denn  gerade  erst  dadurch  entsteht  die  Divergenz,  dafs  man  durch 
Berührung  diejenige  E.  herauszieht,  welche  der  dem  Fufsgestelle  mitge- 
theilten  gleichartig  ist.  Also  giebt  es  gewisse  Zustände  der  Körper, 
welche  der  Electricität  analog  sind,  ohne  sie  selbst  zu  seyn.  — 
Ferner:  mit  diesem  seinen  Zustande  wirkt  das  Electrometer  nicht  blofs 
bindend  auf  die  in  ihm  enthaltene  E.,  sondern  auch  vertheilend  auf  den 
sich  annähernden  Finger,  der  sonst  unmöglich  aus  der  Feme  auf  dasselbe 
wirken  könnte,  da  er  für  sich  in  gar  keinem  electrischen  Zustande  sich 
befindet.  Jetzt  wollen  wir  die  Beschaffenheit  der  E.  näher  berücksichtigen. 
Es  sey  [23]  dem  Fufsgestelle  -j-  E.  mitgetheilt  worden.  Dadurch  geschieht 
längs  der  Siegellackstange  eine  Vertheilung,  vermöge  deren,  wenn  sie  stark 
genug  wäre,  das  Electrometer  gleichfalls  mit  +  E.  divergiren  würde.  Durch 
die  Berührung  nimmt  man  diese  letztern  hinweg.  Nun  divergirt  das 
Elektrometer  wirklich,  aber  mit  —  E.  Weil  dieses  —  E.  gebunden  ist,  so 
hängt  nicht  von  ihm,  sondern  von  der  noch  immer  im  positiven  Zustande 
befindlichen  Masse  des  Electrometers  die  Vertheilung  ab,  die  sich  in  dem 
angenäherten  Finger  ereignet.  Demnach  wird  in  ihm,  nach  gewohnter 
Art  zu  reden,  -f-  E.  zurückgestofsen,  und  —  E.  zu  dem  Electrometer  hin- 
wärts gezogen.  Weil  aber  im  Electrometer  —  E.  gebunden  ist,  so  ent- 
steht Repulsion  zwischen  den  beyden  Electricitäten,  und  ihr  giebt  die  Kugel  des 
Electrometers  nach,  indem  sie  den  Finger  flieht.  Sobald  jedoch  das  Fufs- 
gestell  von  seiner  +  E.  befreyt  wird:  hört  der  positive  Zustand  der  Masse 
des  Electrometers  auf,  und  hiermit  auch  die  davon  abhängende  Vertheilung. 
Das  Electrometer  [24]  divergirt  jetzt  wie  zuvor;  aber  in  demselben  ist  nun  —  E. 
frey;  hievon  geht  die  Vertheilung  aus;  also  ist  sie  in  dem  Finger  jetzt 
die  umgekehrte  der  vorigen;  daher  erfolgt  Anziehung  zwischen  dem  Finger 
und  der  Kugel;  diese  nähert  sich  dem  Finger  und  das  Electrometer  wird 
entladen. 

Sehr  merkwürdig  ist  in  diesem  Versuche  der  Umstand,  dafs  bey  ihm 
die  Vertheilung  und  die  Divergenz  nicht  von  einerley,  sondern  von  ent- 
gegengesetzten Ursachen  bestimmt  werden.  Hinge  die  Divergenz  von  dem 
Zustand  der  Körpermasse  des  Elektrometers  ab:  so  müfste  sie  schon  vor- 
handen seyn,  ehe  dasselbe  berührt  wird;  ja  sie  würde  dann  sich  am 
stärksten  zeigen,  weil  sie  durch  zwey  zusammenwirkende  Ursachen  hervor- 
gebracht würde,  nämlich  zugleich  von  dem  Zustande  der  Masse  des  Electro- 
meters, und  von  jenem,  ihm  gleichartigen,  +  E.,  das  erst  durch  die  Be- 
rührung herausgezogen  wird.  Aber  von  der  Berührung  verräth  das  Electro- 
meter seinen  elektrischen  Zustand  keineswegs;  es  divergirt  erst  in  dem 
Augenblicke,  wo  man  es  [25]  anfafst.  Vor  der  Berührung  war  das  vor- 
handen, was  man  Neutralisation  der  beyden  E.  durch  einander  zu  nennen 
pflegt.  Erst  nach  der  Berührung,  also  wenn  —  E.  allein  zugegen  ist,  geschieht 
die  Divergenz  und  die  mit  ihr  gleichartige  Repulsion  zwischen  dem  Finger 
und  der  Kugel  des  Electrometers.  Nun  sollte  man  erwarten,  dafs  dieselbe 
E.,  welche  fähig  ist,  Divergenz  zu  verursachen,  auch  die  Vertheilung  be- 
stimmen würde.  Aber  gerade  das  ist  das  Wesentliche  des  Versuchs,  dafs 
sich  hievon  das  Gegentheil  ereignet.     Ein  Electrometer,  welches  durch  die 


Virsuche  und  Betrachtungen  über  den  Gegensatz  der  beyden  Electricitäten.       t  ^  i 

in  ihm  vorhandene  Electrieität  die  Vertheilung  bestimmt,  nähert  pich  alle- 
mal dem  angenäherten  Leiter;  hier  aber  sehen  wir  Repulsion  statt  Attrak- 
tion; und  eben  daraus  folgt  der  wichtige  Satz:  dafs  die  Masse  des  Körpers, 
welcher  die  in  ihm  enthaltene  E.  gebunden  hält,  selbst  im  Stande  ist,  die 
Vertheilung  zu  bestimmen. 

[26]  Es  war  mir  interessant,  zu  wissen,  wie  weit  sich  wohl  dieser  Zustand 
der  Körpermasse  möchte  erstrecken  können,  und  ob  eine  merkliche  Zeit  nöthig 
wäre,  ihn  hervorzubringen.  Um  dies  näher  kennen  zu  lernen :  stellte  ich  auf  ein 
Isolirbrett  ein  zweytes,  und  auf  dieses  ein  drittes,  beyde  etwan  einen  Fufs  hoch. 
Jetzt  setzte  ich  die  geladene  Flasche  auf  das  unterste;  ein  Goldblatt- 
Electrometer  aber  auf  das  oberste.  Die  Flasche  war  äufserst  schwach  ge- 
laden. Ich  zog  aus  ihrem  Knopfe  den  Funken.  Dadurch  erhielt  das 
unterste  Brett  die  entgegengesetzte  Electrieität.  Jetzt  war  das  Electro- 
meter  durch  beyde  isolirenden  Stative,  und  noch  durch  seinen  eignen  Glas- 
cylinder  von  dem  electrisirten  Brette  entfernt;  und  man  sollte  denken,  es 
wäre  hiedurch  aus  aller  Gemeinschaft  mit  demselben  gesetzt  worden. 
Allein  sobald  ich  die  oberste  metallene  Deckplatte,  von  wo  die  Gold- 
plättchen  herabhängen,  anfafste:  zeigte  sich  auch  die  Divergenz.  Doch 
war  diese  Wirkung  [2  7]  schwächer,  wenn  drey,  als  wenn  nur  zwey  Isolirbretter 
auf  einander  gestellt  wurden.  Die  Wirkung  nimmt  also  zwar  ab,  wenn 
die  Entfernung  wächst,  aber  eigentlich  scheint  sie  durch  Leiter  und  Nicht- 
Leiter  ins  Unendliche  fortgepflanzt  zu  werden;  wenigstens  habe  ich  eine 
Verschiedenheit  von  Zonen,  oder  dergleichen,  die  man  wegen  der  bis- 
herigen Vorstellun^sarten  etwa  denken  möchte,  nicht  bemerken  können. 
Indessen  wird  der  Versuch  mancher  Wiederhohlung  bedürfen,  wenn  er 
durch  alle  möglichen  Abänderungen  soll  verfolgt  werden.  Aber  auch 
manche  andere  Versuche  möchten  nun  einer  neuen  Beleuchtung  bedürfen, 
in  die  sich  ein  Zustand  der  Körper,  welcher  der  Electrieität  analog  ist, 
wird  eingemischt  haben,  ohne  dafs  man  darauf  geachtet,  und  bey  den 
theoretischen  Erklärungen  die    nöthige   Rücksicht    darauf  genommen    hätte. 

[2  8]  Freylich  giebt  es  manche  Erscheinungen,  die  uns  auf  den  Gedanken 
bringen  können,  die  Electrieität  wandere  nur  auf  der  Oberfläche  der  Körper 
umher,  ohne  mit  der  innern  Beschaffenheit  derselben  in  irgend  eine  Ge- 
meinschaft zu  treten;  und  diese  Meinung,  welcher  Biot  geneigt  zu  seyn 
scheint,  wird  besonders  durch  den  Umstand  begünstigt,  dafs  ein  und  der- 
selbe Körper,  wenn  seine  glatte  Oberfläche  nur  rauh  gemacht  wird,  oft 
ganz  veränderte  electrische  Verhältnisse  zeigt.  Allein  es  scheint  mir,  der 
angeführte  Versuch  müsse  die  Vorsicht  unseres  Urtheils  über  diesen  Punkt 
noch  vermehren.  Indessen  kehre  ich  jetzt  zu  den  Erfahrungen  zurück; 
und  nehme  mir  die  Freyheit,  zuerst  ein  paar  Worte  über  die  Werkzeuge 
zu  sagen,  die  ich  hier  vorzeige. 

[31]  Sie  sehen  hier  zwar  Nichts,  als  den  bekannten  Multiplicator,  und 
Condensator.  Allein  bey  der  Einrichtung  sind  einige  kleine  Veränderungen 
angebracht. 

Jedermann  weifs,  dafs  die  Wirkung  des  Multiplicators  auf  der  soge- 
nannten Vertheilung  beruht.  Eine  isolirte  Metallscheibe  ist  electrisirt; 
dicht  neben  ihr  geht  in  einer  parallelen  Ebene  eine  andre  vorbey,  deren 
Rückseite   eine  ableitende  Metallfeder  streift;  indem  sie    nun  vermöge    der 


I?2  VIII.  Zwei  Vorlesungen.    1824. 


Vertheilung  die  entgegengesetzte  Electricität  von  jener  erstem  angenommen 
hat,  verläfst  sie  die  Feder;  und  da  sie  an  einer  sich  drehenden  Axe 
isolirt  bevestigt  ist,  wird  sie  nach  einem  halben  Umlaufe  einer  dritten 
Metallplatte  zugeführt,  der  sie  ihre  Electricität  abgeben  kann.  Aber  diese 
dritte  Metallplatte  steht  ebenfalls  auf  einer  isolirenden  Glassäule,  überdies 
dient  sie  als  Condensator-Deckel,  indem  ihr  parallel  und  ganz  nahe  eine 
vierte  Platte,  ohne  Isolirung  aufgestellt  ist.  Daher  kann  man  durch  öftere 
Umdrehungen  jener  Axe,  die  nämliche  Vertheilung  nach  Belieben  wieder- 
hohlen; und  so  erhält  man  eine  Art  von  Vervielfältigung,  nicht  derjenigen 
Electricität,  die  man  will  kennen  lernen,  sondern  der  durch  sie  bey  jeder 
neuen  Umdrehung  von  neuem  erregten  entgegengesetzten.  [32]  Die  Conden- 
sation  wird  alsdann  aufgehoben,  indem  die  vierte  jener  Platten  auf  einem 
Schieber  beweglich,  welchen  man  nur  nöthig  hat  hinwegzuziehn,  damit  die 
angesammelte  Electricität  sich  in  dem,  mit  der  dritten  Platte  verbundenen 
Electrometer  offenbare. 

Untersucht  man  jedoch  dies  sinnreich  erfundene  Instrument  genauer: 
so  sieht  man  bald,  dafs  die  Multiplication  eigentlich  nur  eine  Summirung 
von  Gliedern  ist,  deren  Gröfse  sich  vermindert  und  sehr  bald  unmerklich 
wird.  Denn  die  dritte  Platte  nimmt  der  zweyten  nur  so  lange  und  in 
so  fern  die  durch  Vertheilung  entstandene  Electricität  ab,  wie  ihre  Capa- 
cität,  verbunden  mit  dem  Grade  der  Condensation,  es  zuläfst.  Die  zurück- 
stofsende  Wirkung  der  schon  angesammelten  Electricität  müfste  vermindert, 
und  beseitigt  werden,  wenn  man  das  Instrument  verbessern  wollte.  Als- 
dann aber  könnte  man  füglich  statt  einer  zweyten  Platte,  worin  die  Ver- 
theilung geschieht,  ihrer  so  viele  nehmen,  als  sich  bequem  an  einer  Axe 
bevestigen,   und  genau  genug  in  einer  Ebene   herumführen  lassen. 

Dem  gemäfs  habe  ich  mir  zwey  Multiplicatoren  verfertigen  lassen, 
deren  einer  vier  Scheiben,  der  andre  sechs  [33]  im  Kreise  herumführt;  zu- 
gleich sind  die  Platten,  welche  den  Condensator  bilden,  beträchtlich  ver- 
gröfsert.  Allein  hieraus  hätte  eine  neue  Unbequemlichkeit  entstehen 
können.  Je  gröfser  der  Condensator,  desto  mehr  zerstreut  sich  die  Elec- 
tricität. Daher  hat  mein  Electrometer  noch  einen  zweyten,  ganz  kleinen 
Condensator,  der  aus  der  gröfseren  Platte,  die  ich  vorhin  als  die  dritte 
zählte,  nach  Oeffnung  des  ersten  Condensatörs  die  Electricität  anzieht  und 
verdichtet.  Und  mit  diesem  zweyten  Condensator  ist  das  Electrometer 
um  seine  Axe  beweglich.  Folglich  kann  man,  nachdem  der  erste  Conden- 
sator seine  Electricität  an  den  zweyten  abgab,  diesen  wiederum  von  jenem 
entfernen,  und  dann  die  Umdrehung  der  Axe  mit  Erfolg  wiederhohlen. 
Endlich  steht  neben  dem  ersten  Electrometer  mit  Hollundermark-Kügel- 
chen,  noch  ein  zweytes  weit  empfindlicheres  von  Goldblättchen,  dessen 
Verbindung  mit  jenem  man  durch  einen  beweglichen  Draht  nach  Belieben 
bewirkt  und  aufhebt.  Die  Wirksamkeit  des  Multiplicators  ist  oft  unerwartet 
so  grofs,  dafs  die  Goldblättchen  zerreifsen  würden,  wenn  sie  mit  ihm  in 
unmittelbarer  Verbindung  stünden. 

[34]  Singer,  in  seinen  Elementen  der  Electricität,  beschuldigt  dieses,  und 
die  ihm  ähnlichen  Werkzeuge  einer  geringen  Zuverlässigkeit,  indem  sie 
Electricität  selbst  hervorbrächten.  Ich  darf  hinzusetzen:  wenn  mein 
Multiplicator  dies  thut,   so  ist  er  so  aufrichtig,   es  selbst'  anzuzeigen,  sobald 


Versuche  und  Betrachtungen  über  den  Gegensatz  der  beyden  Electricitäten.        153 

man  nur  nicht  vergifst,  ihn  oft  zu  fragen.  Aber  noch  mehr:  meinen  viel- 
fältigen Erfahrungen  zu  Folge  geschieht  dies  erstlich  nicht  so  gar  leicht, 
wofern  man  sich  hütet,  die  Glasstäbe  zu  berühren;  zweytens,  bey  weitem 
die  gefährlichste  Stelle  ist  der  gläserne  Träger  der  ersten  Platte,  der  man 
die  zu  prüfende  Electricität  mittheilt.  Dieser  Träger  nun  steht  ohnehin 
auf  einem  Schieber,  daher  habe  ich  mir  mehrere  solche  Träger  sammt 
Platten  und  Schiebern  machen  lassen;  wird  einer  electrisch,  so  nehme  ich 
einen  anderen;  und  das  Instrument  ist  von  seinem  Fehler  befreyt.  End- 
lich, will  man  den  Zustand  desselben  ganz  genau  prüfen,  so  berührt  man 
nach  geschehenen  Umdrehungen  den  Electrometer  des  einen  Multiplicators 
mit  der  auffangenden  Spitze  des  andern;  alsdann  zeigt  der  zweyte  das- 
jenige vergröfsert,  was  das  erste  nicht  mehr  [35]  zeigen  konnte.  Werkzeuge, 
die  man  oft  gebrauchen  will,  mufs  man  ohnehin  wenigstens  paarweise 
haben. 

Weit  kürzer  kann  ich  mich  fassen  über  meine  Condensatoren.  Es 
sind  Metallplatten,  an  isolirten  Trägern  seitwärts  bevestigt,  die  zwischen 
zwey  anderen,  nicht  isolirten,  eingeschlossen  werden  können;  so  dafs  sie 
nur  durch  eine  dünne  Luftschicht  getrennt  sind;  ohne  Anwendung  solcher 
Substanzen,  die  durch  Reiben  elektrisch  werden  könnten.  Die  Conden- 
sätion  ist  also  zwiefach  vorhanden.  Die  oberste  und  unterste  Platte  können 
theils  geschoben,  theils  nach  gehöriger  Entfernung  von  der  mittlem,  ge- 
dreht werden  um  die  Axe,  woran  sie  seitwärts  bevestigt  sind.  Der  Be- 
quemlichkeit wegen  ist  mit  der  mittleren  Platte,  worin  sich  die  Electricität 
sammeln  soll,  ein  Draht  verbunden,  worin  ein  paar  Gelenke  angebracht 
sind,  und  der  sich  in  eine  Spitze  endigt;  so  kann  man  den  Condensator 
leicht  mit  andern  Körpern  in  Gemeinschaft  bringen.  Uebrigens  läfst  sich 
für  den  Fall,  wo  stärkere  Electricitäten  zum  Ausströmen  geneigt  sind,  der 
Draht  sammt  der  Spitze  auch  abschrauben. 

Den  Anfang  meiner  Versuche  mit  diesen,  oder  vielmehr  zuerst  mit 
grobem  Werkzeugen,  habe  ich  schon  bekannt  gemacht;  in  der  Meinung, 
dafs  Thatsachen,  die  einer  weitem  Prüfung  und  Verfolgung  [36]  Anlafs 
geben  können,  als  Gemeingut  zu  betrachten  seyen. 

Hier  werde  ich   davon  nur  ganz  kurz   sprechen. 

Um  zu  sehen,  ob  Phänomene  der  Voltaischen  Electricität  schon  aus 
momentaner  Berührung  isolirter  Metallplatten  blofs  am  Rande  oder  in 
wenigen  Puncten  hervorgehn  würden:  schmolz  ich  Handgriffe  von  Siegel- 
lack an  Platten  von  Kupfer  und  Zink;  und  versuchte  mancherley  Be- 
rührungen; unter  andern  auch  solcher  Platten,  die  zu  Condensator-Deckeln 
dienten.  Durch  einige  Spuren  von  Erfolg  aufmerksam  gemacht,  liefs  ich 
mehrere  Platten  von  verschiedenen  Metallen  mit  isolirenden  Handgriffen 
versehen;  wurde-  nun  eine  solche  Platte  auf  die  Siegellack-Puncte  eines 
metallenen  Untersatzes  gestellt;  so  dafs  sie  mit  diesem  einen  Condensator 
bildete;  wurde  sie  alsdann  mit  einer  von  der  andern  isolirten  Platte  am 
Rande  berührt,  die  letztere  femer  an  den  Multiplicator  gebracht,  und  diese 
Operation  einigemale  wiederholet:  so  zeigte  der  Multiplicator  zuvörderst 
positive  Electricität;  entledigte  man  ihn  aber  derselben,  und  prüfte  man, 
mittelst  seiner,  jene  erstere  Platte,  die  als  Condensator -Deckel  gebraucht 
war,   so    zeigte    er   nunmehr   negative  Electricität    an.      Gleichen  Erfolg    er- 


I  s^.  VIII.   Zwei  Vorlesungen.    1824. 

gaben  die  beyden  Platten,  wenn  man  sie  [37]  umtauschte;  stets  erhielt  der 
Condensator-Deckel  —  E.,  und  die  andere,  zwischen  ihm  und  dem  Multi- 
plicator  hin  und  hergetragene,  -f-  E.  Auch  war  die  Wahl  der  Metalle  so 
gut  als  gleichgültig.  Hieraus  schlofs  ich  damals:  die  Condensation  müsse 
den  Grund  ausmachen,  dafs  eine  ihr  unterworfene  Metallplatte  vorzugs- 
weise negativ  electrisirt  werde.  Allein  späterhin  wurde  ich  darauf  geleitet 
zu  bemerken,  dafs  eine  sehr  schwache,  durch  meine  jetzigen  feineren 
Werkzeuge  jedoch  leicht  zu  entdeckende,  Electricität  der  isolirenden  Hand- 
griffe mit  im  Spiel  gewesen  sey.  Daher  vermuthete  ich  einen  electrophorischen 
Einflufs;  der  Gegenstand  schien  nun  zu  verwickelt,  um  ihn  für  sich  allein 
aufzuklären.  —  Andere  Versuche  führten  auf  eine  neue  Spur.  Ich  wünschte 
zu  wissen,  ob  eine  Menge  von  Plattenpaaren  der  Voltaischen  Säule,  nicht 
durch  einen  feuchten  Leiter,  sondern  durch  wenige,  aber  gut  leitende 
Puncte  verbunden,  wohl  Polarität  zeisren  möchten?  Demnach  liefs  ich 
Metallknöpfe  kommen,  von  der  kleinsten  Art,  wie  wir  sie  in  unseren  Tuch- 
kleidern gebrauchen;  drev  derselben  stellte  ich  auf  ein  Voltaisches  Platten- 
paar; [38]  darauf  legte  ich  ein  neues  Plattenpaar,  und  so  weiter;  daher  die 
Verbindung  der  nächsten  Plattenpaare  blofs  in  den  drev  Punkten  statt 
fand,  wo  das  obere  durch  die  unter  ihm  stehenden  Knöpfe  getraten 
wurde.  Jetzt  versuchte  ich  mit  dem  Condensator  und  Multiplicator  die 
oberste  Platte;  ich  erhielt  negative  Electricität.  x\lsdann  prüfte  ich  die 
untere  Piatte;  diese  gab  nicht  die  entgegengesetzte,  sondern  dieselbe  Elec- 
tricität. Ich  untersuchte  die  Mitte  meiner  Säule;  der  Erfolg  war  dersebe; 
ja  ich  konnte  Verbindungs-Drähte  anbringen  wo  ich  wollte,  stets  lud  sich 
mein  Condensator  negativ.  Die  Vermuthung  lag  nahe,  dafs  ich  zum 
zweytenmale  nach  Voltaischer  Electricität  vergebens  gesucht,  aber  etwas 
ganz  anderes  gefunden  hatte.  Jetzt  prüfte  ich  mit  dem  Condensator 
andere  Metallmassen;  indem  ich  mit  ihnen  die  an  jenem  befindliche  Auf- 
fange-Spitze  wiederhohlt  in  Berührung  brachte.  Jedesmal  bekam  ich  nega- 
tive Electricität;  doch  merklicher  durch  meinen  grofsen  Condensator  als 
durch  den  kleinen;  und  besser  aus  gröfsern  als  aus  [39]  kleinern  isolirten 
Metallmassen.  Jedoch  zeigten  sich  Spuren  von  negativer  Electricität  auch 
dann,  wann  ich  die  Spitze  meines  grofsen  Condensators  wiederhohlt  in 
Wasser  steckte,  ja  selbst  wenn  ich  Glas  mit  ihr  öfter  berührte.  — ■  Noch 
später  bemerkte  ich,  dafs  hiebey  auch  Wirkungen  in  kleine  Entfernungen 
stattfinden  können,  wenn  man  die  auffangende  Spitze  des  Condensators 
sehr  nahe,  doch  nicht  völlig  in  Berührung  bringt  mit  den  Spitzen  oder 
scharfen  Kanten  anderer  Metallkörper.  Insbesondre  hatte  ich  zu  andern 
Zwecken  ein  stark  magnetisches  Hufeisen  auf  eine  isolirte  Glassäule  be- 
vestigen,  die  Pole  aber  mit  messingenen  Fassungen  versehen  lassen,  worin 
bewegliche  Stahlspitzen  eingeschroben  waren ;  wenn  ich  nun  eben  diese 
Stahlspitzen,  entweder  beyde  zugleich  oder  einzeln,  nahe  an  die  Spitze 
meines  grofsen  Condensators  brachte,  und  sie  während  einer  Minute  etwan 
in  dieser  Stellung  liefs,  so  war  die  negative  Electricität  zuweilen  so  stark, 
dafs  man,  um  sie  wahrnehmen  zu  können,  beynahe  nicht  einmal  des 
Multiplicators  bedurft  hätte.  Die  [40]  beyden  Pole  des  Magneten  machten 
dabey  keinen  merklichen  Unterschied. 

Was  soll  ich  nun   aus  diesen  Versuchen   schliefsen?     War  die  Luft  in 


Versuche  und  Betrachtungen  über  den  Gegensatz  der  beiden  Electricitäten.        kc 

meinem  Zimmer  negativ  electrisch?  Dann  hätte  man  die  Metalle  durch 
Berührung  davon  befreyt;  zum  Ueberflufs  wiederhohlte  ich  die  Versuche 
in  einem  andern  Zimmer;  ich  liefs  auch,  nach  Oeffnung  des  Fensters 
einen  Windstofs  auf  meine  Metallplatten  wirken;  aber  dies  änderte  Nichts. 
Ich  liefs  sogar  durch  die  Electrisirmaschine  positive  E.  im  Zimmer  ver- 
breiten ;  meine  Werkzeuge  sogen  etwas  davon  ein ;  aber  nach  wenigen  Be- 
rührungen waren  sie  davon  frey;  und  nun  begannen  die  vorigen  Erfolge 
von  neuem.  Gaben  die  Condensatoren  Electricität  her?  Sie  wurden  für 
sich  allein  vielfältig  am  Multiplicator  geprüft,  und  zeigten  sich  rein.  — 
Der  natürlichste  Gedanke,  der  sich  darbietet,  ist  dieser:  da  der  Conden- 
sator,  so  lange  er  geschlossen  ist,  die  electrische  Repulsion  vermindert,  so 
wird  er  einer  Repulsion,  die  von  aufsen  auf  ihn  wirkt,  nachgeben.  Ist 
nun  die  Electricität  ein  Fluidum,  welches  in  einigermaafsen  elastischem 
Zustande  sich  in  andern  Körpern  befindet,  so  wird  sie  aus  ihnen  in  jenen 
bey  der  Berührung  hinübergehn.  Wiederhohlt  man  die  Berührung:  so 
wird  sich  im  Condensator  das  schon  angesammelte  Fluidum  langsamer 
gegen  den  berührenden  Körper,  als  aus  diesem  gegen  jenen  bewegen;  es 
wird  also  kein  Gleichgewicht  eintreten,  wofern  die  Berührung  nicht  zu 
lange  dauert,  sondern  der  Condensator  wird  sich  noch  mehr  anfüllen. 
Gröfsere  Metallmassen  werden  mehr  herbeyleiten,  [41]  als  kleinere,  besonders 
isolirte.  Weil  aber  das,  was  wir  negative  E.  nennen,  sich  so  beständig  und 
regelmäfsig,  als  man  es  bey  Versuchen  mit  schwachen  Electricitäten  nur 
irgend  erwarten  darf,  im  Condensator  einfindet,  so  wird  die  negative  Elec- 
tricität selbst  jenes  in  den  Körpern  vorhandene  Fluidum  seyn;  und  wenn 
wir  aus  andern  Gründen  die  Symmersche  Theorie  von  zweyen,  einander 
neutralisirenden  Flüssigkeiten  verwerfen,  so  werden  wir  versuchen  müssen, 
ob  die  Franklinsche,  auf  die  bekannten  Phänomene  mit  der  Modifikation 
pafst,  die  sogenannte  negative  E.  sey  die  wahre  positive. 

Mit  diesen  Gedanken  ging  ich  nun  an  die  Betrachtung  derjenigen 
Versuche,  durch  welche  man  früher  schon  den  Unterschied  der  beyden 
Electricitäten  zu  bestimmen  gesucht  hat.  Zuerst  [42]  erwähne  ich  hier  der 
mit  Zinnober  gefärbten  Karte,  durch  die  man  die  Funken  einer  geladenen 
Flasche  schlagen  läfst.  Die  Enden  der  Drähte  sollen  nicht  gerade  ein- 
ander gegenüber,  sondern  einen  Zoll  weit  von  einander  abstehen.  Alsdann, 
sagt  Singer,  zeigt  sich  der  Lauf  des  Fluidums  vom  positiven  Drahte  her 
durch  eine  schmale  schwarze  Linie  auf  dem  Kartenblatte,  die  sich  bis 
zum  Loche  erstreckt,  und  auf  der  entgegengesetzten  Seite  durch  einen 
schwarzen  ausgebreiteten  Fleck,  der  das  durchbohrte  Loch  in  der  Nähe 
des  negativen  Drahtes  umgiebt.  Ist  nun  wohl  diese  Erklärung  richtig?  — 
Ein  Unterschied  der  beyden  E.  ist  zwar  offenbar  vorhanden;  allein 
angenommen,  dafs  die  Electricität  von  dem  sogenannten  positiven  Drahte 
komme:  so  wird  sie  erstlich  gegen  den  Widerstand  der  Luft  anstreben, 
und  zwar  nach  allen  Seiten;  kann  sie  demnach  den  Zinnober  schwärzen, 
so  wird  sie  hier  einen  ausgebreiteten  Fleck  hervorbringen,  den  aber 
Singer  nicht  am  positiven,  sondern  am  negativen  Ende  bemerkte. 
Zweytens,  an  der  Seite,  woher  sie  kommt,  wird  ihre  Wirkung,  welche  es 
auch  sey,  sich  am  stärksten  zeigen;  denn  weiterhin  zerstreut  sich  [43]  gewifs 
etwas  von  ihr    auf  der    mit  Zinnober    bedeckten   Karte.      Also    wollen    wir 


156  VIII.  Zwei  Vorlesungen.    1824. 


den  Punct,  wo  sie  noch  ganz  gesammelt  hervortritt,  lieber  da  suchen,  wo 
wir  das  Loch  finden;  und  das  ist  an  der  negativen  Seite.  Hier  sprang 
der  Funke  heraus;  er  sollte  nun  gerade  zum  entgegengesetzten  Drahte 
hinübergehn;  dann  wäre  das  Loch  in  die  Mitte  gekommen;  aber  zurück- 
gehalten von  der  Luft  und  angezogen  von  der  Karte,  durchbohrte  er  die- 
selbe früher,  und  das  Loch  findet  sich  nun  näher  dem  Punkte,  wo  sich 
der  Funke  zuerst  erzeugte. 

Nicht  schwerer,  sondern  leichter  noch  erklären  sich  die  andern  hierher- 
gehörigen Versuche.  Singer  liefs  auf  ein  Flugrad  beyde  entgegengesetzten 
Drähte  des  allgemeinen  Ausladers  wirken;  das  Flugrad,  sagt  er  mit  Recht, 
hätte  still  stehen  müssen,  wenn  zwey  Fluide  von  beyden  Seiten  her  gleich- 
mäfsig  darauf  gewirkt  hätten.  Nun  bewegte  sich  aber  das  Flugrad,  und 
zwar  in  der  Richtung  vom  positiven  zum  negativen  Drahte.  Also,  schliefst 
Singer,  bewegt  sich  auch  das  Fluidum  in  dieser  Richtung.  Wie?  [44]  ist 
denn  die  Electricität  ein  Wind,  der  die  Körper  vor  sich  her  treibt  und  fort- 
reifst? Ich  denke,  sie  zieht  die  Körper  an;  und  wenn  das  Flugrad  zum 
negativen  Drahte  hin  ging,  so  kam  eben  daher  die  anziehende  Kraft. 

Eben  so  verhält  es  sich  mit  der  Lichtflamme  zwischen  zwey  Drähten, 
die  zum  negativen  Drahte  hin,  nicht,  wie  man  behauptet,  geblasen,  sondern 
gezogen  wird. 

Allein  am  meisten  beschäfftigt  die  Anhänger  der  Franklinschen  Lehre 
das  elektrische  Licht.  Dies,  sagen  sie,  kommt  sichtbar  aus  der  positiven 
Seite.  Wir  wollen  die  Sache  näher  ansehn.  Eine  negativ  electrisirte 
Spitze  leuchtet  nur  mit  einem  Puncte,  oder  doch  mit  einem  kleineren 
Büschel  als  die  positive.  Soll  ich  den  Grund  angeben?  Meiner  Meinung 
nach  findet  sich  derselbe  unmittelbar  darin,  dafs  es  hier  die  Spitze  selbst 
ist,  welche  die  Electricität  zerstreut.  Der  leuchtende  Punkt  ist  allemal 
der,  von  dem  die  Strahlen  ausgehn.  Aber  die  positive  elektrische  Spitze? 
Diese  leuchtet  nicht,  wohl  aber  leuchten  alle  die  Lufttheilchen,  [45]  welche 
dieser  Spitze,  die  man  der  Wahrheit  gemäfs  die  negative  nennen  sollte, 
die  Electricität,  deren  sie  bedart,  zusenden.  Kein  Wunder,  dafs  da  viel 
Licht  erscheint,  wo  viele  Luft  die  Electricität  hergiebt;  hingegen  weniger 
dort,  wo  nur  eine  Spitze  ausströmt.  Aber  man  scheint  zu  glauben,  die 
Elektricität  sey  selbst  der  leuchtende  Körper!  Wie  könnte  sie 
doch  das?  Leuchten  erfordert  eine  Bewegung  nach  allen  Richtungen 
ringsum.  Hingegen  die  Electricität  geht  ihren  geraden  Weg  zum  nächsten 
Leiter,  den  sie  antrifft.  Sie  selbst  kann  also  gar  nicht  leuchten;  wie  sie 
es  auch  im  vollkommenen  Vacuo  nicht  thut.  Aber  wenn  eine  Spitze 
oder  ein  Lufttheilchen  von  ihr  zu  stark,  das  heifst,  über  dessen  Empfäng- 
lichkeit, ergriffen  und  gleichsam  glühend  gemacht  ist :  dann  mufs  ein  Theil 
sich  von  ihr  gefallen  lassen,  nach  allen  Richtungen  ausgeworfen  zu  werden; 
und  nun  gelangt  das  elektrische  Licht  zu  unsern  Augen.  Man  hat  ge- 
glaubt, der  elektrische  Funke  sey  ein  Baum,  hervorgewachsen  zuerst  nnt 
dem  Stamm,  dann  sich  vertheilend  in  Aeste  und  Zweige.  Aber  wir  [46]  wollen 
ihn  lieber  vergleichen  einem  Strome,  der  aus  vielen  Quellen  hervorging, 
und  der  viele  Nebenflüsse  in  sich  aufnimmt.  Die  Mimdung  des  Stroms 
ist  da,  wo  man  vorhin  glaubte,  den  Stamm  aus  dem  Boden  hervortreten 
zu  sehn. 


Versuche  und  Betrachtungen  über  den  Gegensatz  der  beyden  Electricitäten.      157 


[49]  Nach  dieser  Ansicht  nun  würde  sich  die  Erregung  der  Electricität  in 
unseren  Maschinen  sehr  einfach  so  erklären:  Durch  Reibung  wird  das  Glas 
zum  Schwingen  gereizt;  bey  dieser  Veränderung  in  seiner  Cohäsion  läfst  es 
sein  Electricum  fahren,  und  das  leitende  Amalgama  sammt  dem  Küssen  und 
der  Kette  führt  sie  hinweg.  Nach  der  Schwingung  stellt  sich  vermöge  der 
Elasticität  des  Glases  sein  Cohäsionszustand  wieder  her,  und  mit  ihm  die 
Verwandtschaft  zum  Electricum,  daher  es  dasselbe  dem  Conductor  entreifst, 
den  wir  positiv  nennen,  aber  negativ  nennen  sollten.  Das  Glas  mufs  glatt 
seyn,  weil  eine  mattgeschliffene  Oberfläche  durch  Reibung  nicht  zum 
Schwingen  würde  gereizt  werden.  Bey  der  Berührung  zwischen  Kupfer 
und  Zink  u.  dergl.  zieht  der  vollkommnere  Leiter  das  Kupfer  etwas  vom 
Electricum  des  unvollkommnern  mit  sich  hinweg,  oder  führt  es  dem  feuchten 
Leiter  in  den  Säulen  zu.  Flaschen  laden  sich,  wenn  durch  ihre  ganze 
Masse  sich  der  Zustand  fortpflanzt,  den  eine  Seite  bekommen  hat;  das 
Uebrige  ergiebt  sich  von  selbst.  Electrometer  [48]  divergiren,  indem  sie  ent- 
weder vom  mitgetheilten  Electricum  anschwellen,  oder  weil  es  ihnen  ent- 
zogen worden,  es  aus  der  Luft,  und  folglich  die  Luft  selbst,  die  es  nicht 
fahren  läfst,  an  sich  heranziehn,  und  auf  diese  Weise  gleichsam  eine  Feder 
zwischen  sich  spannen.  Die  Vertheilung  ist  nichts  als  ein  Druck  des  Elec- 
tricums  von  der  Seite,  die  dessen  mehr  besitzt,  gegen  die  andere,  wo  ein 
relativer  Mangel  stattfindet.  Wenn  wir  eine  lange  Metallstange  in  die  Luft 
hinaufstrecken,  so  zieht  diese  nicht  Electricität  an,  sondern  haucht  sie  aus, 
dann  heifst  sie  in  unserer  Sprache  positiv  electrisch. 

Ob  diese  Ansichten  einen  Werth  haben,  mag  hier  unentschieden 
bleiben.  Allein  folgende  Umstände  sind  factisch,  und  führen  zu  merk- 
würdigen Betrachtungen. 

Erstlich :  mit  meinem  grofsen  Condensator,  von  fünf  vertikal  stehenden 
Platten,  6  Zoll  im  Durchmesser,  deren  drey  isolirt  und  verbunden  sind, 
während  zwey  andre  dazwischen  tretende  zur  Verdichtung  der  Elasticität 
in  jenen  Dreyen  dienen,  und  an  einer  Axe,  worauf  sie  verschoben  werden 
können,  bevestigte,  —  ein  Werkzeug,  das  durch  Schieben  und  Drehen 
sich  sehr  [49]  genau  behandeln  läfst,  —  mit  diesem  gewifs  viel  fassenden  In- 
strumente glaubte  ich  kleinen  isolirten  Metallplatten  die  Electricität  der- 
gestalt entziehen  zu  können,  dafs  sie  in  unserer  Sprache  positiv  electrisch 
würden.  Allein  vergebens  habe  ich  nach  einem  sichern  Zeichen  hievon 
gesucht.  In  allen  Versuchen  dieser  Art  war  immer  nur  Eine  Electricität, 
unsre  sogenannte  negative  deutlich  zu  bemerken,  die  sich  im  Condensator 
einfand.  Daher  vermuthe  ich,  dafs  hier  das  Electricum,  was  die  Ober- 
tläche  verliert,  sich  aus  dem  Inneren  wieder  ersetzt;  und  dies  ist  mir  desto 
wahrscheinlicher,  weil  auch  nach  öfterer  Wiederhohlung  ein  solches  isolirtes 
Metall   davon  immer  ziemlich  gleichviel  herzugeben  scheint. 

Zweytens:  steht  die  Spitze  meines  grofsen  Condensators  eine  kurze 
Zeit  lang  über  Wasser :  so  ladet  sich  auch  dadurch  der  Condensator  negativ ; 
und  dies  scheint  um  so  mehr  der  Fall  zu  seyn,  wenn  eine  Metallstange 
im  Wasser  steht.  Wieviel  Electricität  würde  nun  wohl  das  Meer,  und  der 
feuchte  Erdboden,  —  wieviel  folglich  [50]  der  ganze  Körper  der  Erde  her- 
geben, wenn  überall  solch  einsaugende  Spitzen  und  Condensatoren  vor- 
handen   wären.      Weswegen    ich  aber  die  Spitzen  einsaugend  nenne,    wird 


I  c$  VIII.  Zwei  Vorlesungen.      1824. 


aus  dem  Vorigen  noch  erinnerlich  seyn;  deshalb  nämlich,  weil  allen  Er- 
fahrungen zu  folge  der  Condensator  in  jeder  Hypothese  als  ein  Werkzeug 
mufs  gedacht  werden,  das  in  sich  die  electrische  Repulsion  vermindert, 
daher  nicht  abzusehen  ist,  wie  es  dazu  kommen  könnte,  einem  unisolirten 
Körper,  den  seine  Spitze  nicht  einmal  völlig  berührt,  Electricität  abzugeben; 
wohl  aber  begreiflich  ist,  dafs  es  ihm  dieselbe  abnehmen  werde,  wenn  in 
diesem  Körper  die  Electricität  auch  nur  die  geringste  Spannung  hat.  An- 
genommen nun,  dafs  in  unserem  Falle  das  Wasser  seine  Electricität  aus- 
haucht, so  wird  es  dieses  in  einem  freylich  weit  geringem  Grade  immer 
thun.  Denn  es  verhält  sich  zur  Atmosphäre  stets  einigermaafsen  so,  wie 
eine  aufgerichtete  Metallstange;  ist  es  nun  richtig,  dafs  diese,  durch  welche 
wir  die  Luft  [51]  positiv  electrisch  zu  finden  glauben,  eigentlich  an  die  Luft 
ihr  Electricum  abgiebt:  so  wird,  in  geringerem  Maafse,  auch  die  Luft  dem 
Wasser  die  Electricität  abnehmen,  die,  wie  wir  gesehen  haben,  in  dem 
letztem  einige  Spannung  hat.  Folglich  wird  die  ganze  Atmosphäre  eine 
bedeutende  Menge  Electricität  aus  dem  ganzen  Erdball  fortwährend  auf- 
nehmen, vielleicht  aber  beym  Gewitter,  und  noch  öfter  beym  Regen,  den 
wir  negativ  elektrisch  nennen,   wieder  zurückgeben. 

Doch  ich  bin  weit  entfernt,  schon  jetzt  Resultate  ziehen  zu  wollen. 
Blofs  der  Deutlichkeit  wegen  schliefse  ich  mit  dem  Satze:  es  giebt  nur  Ein 
Electricum,  aber  in  Hinsicht  seiner  zwey  entgegengesetzte  Zustände  der 
Körper;  und  diese  Zustände,  indem  sie  sich  durch  das  Innere  der  Körper 
fortpflanzen,  geben  Anlafs  zu  den  Erscheinungen,  um  derentwillen  man  zwey 
Electricitäten  angenommen  hat.  Ob  nun  dieser  Satz  richtig  sey,  das  werden 
fernere  Erfahrungen  lehren. 

[52]  Anhangsweise  noch  ein  paar  Worte  über  den  Magneten.  Wie  alle 
andre  Metalle  hat  derselbe,  gleichviel  durch  welchen  Pol,  meinem  Con- 
densator negative  Electricität  mitgetheilt.  Allein  ich  erhielt  positive,  wenn 
ich  einem  zweyten  Magneten  ein  wenig  Eisenfeile  dargeboten  hatte,  und 
nun  wiederhohlt  mit  einigen  von  den  Borsten,  welche  die  Eisenfeile  bekannt- 
lich bildet,  wenn  sie  am  Magneten  hängt,  über  die  Spitze  des  Conden- 
sators  weg  gegen  die  Mitte  des  ersten  Magneten  hinfuhr.  Doch  ist  dieser 
Versuch  nicht  immer  gelungen;  und  das  ist  natürlich.  Denn  man  mufs 
die  Spitze  des  Condensators  nahe  neben  den  ruhenden  Magneten  stellen 
und  mit  dem  andern,  den  man  in  der  Hand  hält,  nahe  daran  vorbei- 
streichen, welche  Umstände  für  sich  allein  negative  Electricität  erzeugen. 
Auch  weifs  ich  nichts  zur  Erklärung  dieser  Erscheinung  anzuführen;  und 
kann  nur  soviel  sagen,  dafs  meine  Erfahrungen  weit  entfernt  sind,  mich 
an  Identität  von  Electricität  und  Magnetismus  glauben  zu  machen. 


Ueber  den  Gegensatz  der  beyden  Electricitäten.  tcq, 

•[53]  Ueber  den  Gegensatz  der  beyden  Electricitäten. 

Vorgelesen  in  der  physikalisch-ökonomischen   Gesellschaft  zu  Königsberg,    am  .  .  .  l 


Sie  wollten  mir  nicht  erlauben,  höchstgeehrte  Herrn!  blofs  als  Zu- 
hörer Ihren  Sitzungen  beyzuwohnen;  Sie  werden  auch  nicht  verlangen, 
dafs  ein  blofser  Liebhaber  der  Physik  den  Gegenstand,  welchen  er  berührt, 
erschöpfen  solle;  und  dies  um  desto  weniger,  da  an  eigentliche  Vollständig- 
keit in  physikalischen  Untersuchungen  heut  zu  Tage  selbst  die  Meister 
noch  nicht  denken  können.   — 

Aus  der  Zeit,  in  welcher  die  Franklinsche  Theorie  der  Electricität 
am  meisten  verbreitet  war,  haben  sich  die  Benennungen :  -(-  E.  und  —  E. 
bis  jetzt  erhalten;  obgleich  die  Symmersche  Ansicht  mehr  Beyfall  gewonnen, 
und  im  Grunde  den  Begriff  von  einem  negativ  -  electrischen  Zustande  der 
Körper,  der  ein  Zustand  des  Mangels  und  Bedürfnisses  seyn  [54]  würde,  ver- 
drängt hat  durch  die  Meinung,  negative  Electricität  sey  eben  so  und  in 
demselben  Sinne  etwas  Wirkliches,  wie  die  positive,  und  man  könne  beyde 
nur  gegenseitig,  jede  als  das  Widerspiel  der  andern,  charakterisiren.  Dafs 
sehr  viele  Thatsachen  auf  diese  Vorstellungsart  führen,  setze  ich  als  bekannt 
voraus;  allein  der  Deutlichkeit  wegen  will  ich  sogleich  hinzufügen,  dafs 
mich  andre  Umstände  neuerlich  hierüber  sehr  zweifelhaft  gemacht  haben. 
Vielleicht  wird  es  mir  gelingen,  in  diesem  heutigen  Vortrage  Einiges  zu 
Gunsten  der  Franklinschen  Theorie  aufzustellen;  jedoch  mit  der  Bestim- 
mung: die  sogenannte  negative,  oder  die  Harz-Electricität  sey  die  wahre 
positive,  die  Glas-Electricität  dagegen  die  eigentliche  negative,  oder  der- 
jenige Zustand  der  Körper,  worin  sie  jener  ersteren  bedürfen,  und  sie 
entweder  leihen  oder  an  sich  reifsen. 

Zuvörderst  verweile  ich  einige  Augenblicke  bei  der  Prüfung  der  Lehre 
von  zweyen  Flüssigkeiten,  wie  sie  noch  ganz  neuerlich  an  der  Spitze  des 
Werkes  von  Ampere  und  Babinet  (Darstellung  der  neuen  Entdeckungen 
[55]  über  Electricität  und  Magnetismus)  mit  der  Behauptung  ist  gestellt 
worden:   sie  liefern  zu  allen  Thatsachen  eine   einfache  Erklärungsart. 

Gleich  das  erste  dort  angegebne  Merkmal  ist  dies:  die  beyden 
Flüssigkeiten  sollen  sich  gegenseitig  neutralisiren.  Und  gleich  die  erste 
und  gemeinste  Thatsache,  die  jedes  Electrometer  darbietet,  scheint  mir  da- 
mit im  Widerspruch  zu  stehen.  Das  Electrometer  sey  electrisirt;  um  zu 
erfahren,  ob  positiv  oder  negativ?  halten  wir  nahe  daran  etwan  geriebenes 
Siegellack;  die  Kügelchen  fallen  zusammen;  nun  haben  wir  die  Antwort 
auf  unsre  Frage;  die  Electricität  nämlich  ist  positiv.  Aber  wie  fanden 
wir  das?  Wir  wissen,  unser  Siegellack  versetze  die  Kügelchen  in  den  nega- 
tiven Zustand.  Gesetzt,  dies  geschehe  durch  eine  Flüssigkeit,  die  wir  Harz- 
Electricität  nennen  können,  und  sie  neutralisire,  wie  behauptet  wurde,  die  ent- 
gegengesetzte Flüssigkeit,  welche  sie  antraf:  so  mufs  nach  unsern  chemischen 
Kenntnissen  vom  Neutralisirungs-Procefs  jetzt  aus  der  Verbindung  beyder 
Flüssigkeiten  im  Electrometer  ein  Drittes  entstehn,  [56]  wodurch  die  Eigen- 
schaften   verhüllt    werden,    die    vorhin    jede  der  beyden   Flüssigkeiten  aus- 

1    Die  Zeitangabe   fehlt  in   der  Handschrift. 


IÖO  VIII.  Zwei  Vorlesungen.   1824. 

zeichneten.  Für  den  Augenblick  scheint  es  auch  wirklich  so;  das  Electrometer 
würde  durch  jede  einzeln  genommen,  divergiren;  allein  jetzt  bemerkt  man  in 
ihm  keine  Spannung.  Nun  aber  ziehn  wir  das  geriebene  Siegellack  zurück, 
und  sogleich  tritt  die  frühere  Electricität  wiederum  hervor.  Wie  ist  das 
möglich  ?  Hatten  nicht  beyde  Flüssigkeiten  sich  gegenseitig  vermöge  ihrer 
Verwandtschaft  vereinigt?  Mufs  denn  das  Dritte,  welches  wir  als  Product 
dieser  Verwandtschaft  betrachteten,  nicht  beharren;  so  gut  wie  jede 
chemische  Verbindung,  die  einmal  zu  Stande  gekommen,  so  lange  besteht, 
bis  sie  durch  mächtigere  Kräfte  zerstört  wird  ?  Wodurch  sind  denn  hier 
die  vereinigten  Electricitäten  wieder  getrennt  worden?  Etwa  durch  die  An- 
ziehung der  Masse,  woraus  das  Electrometer  besteht?  Wenn  diese  An- 
ziehung stark  genug  ist,  wie  hat  sie  denn  vorhin  nachgiebig  genug  seyn 
können,  um  die  sogenannte  Vertheilung  in  ihrem  Innern  zu  gestatten? 
Denn  man  lehrt  ja:  bey  Annäherung  des  geriebenen  Siegellacks  werde, 
—  noch  dazu  aus  der  Ferne!  —  die  ungleichartige  E.  angezogen;  die 
gleichartige  zurückgestofsen ;  und  dies  lasse  sich  der  Körper,  worin  [57]  die 
Vertheilung  vor  sich  gehe,  ganz  ruhig  gefallen.  So  mächtig  also  ist  die 
gegenseitige  Anziehung  der  ungleichartigen  Electricitäten;  gegen  sie  kommt 
die  Attraction  des  Körpers  nicht  in  Betracht;  —  und  hintennach,  wenn 
nun  in  dem  Electrometer  die  Vereinigung  der  beyden  Flüssigkeiten  wirk- 
lich geschehen,  dann  ist  dieselbe  so  wandelbar,  dafs  sie  wie  ein  Hauch 
verfliegt,  ohne  eine  Spur  zurückzulassen,  obgleich  gar  keine  neue  Kraft 
auf  sie  wirkt.  —  Es  scheint  mir  klar,  dafs  hiedurch  die  Vorstellung  einer 
Neutralisation,  sobald  man  einen  Augenblick  über  die  Thatsachen  nach- 
denkt, gänzlich  zerstört  wird.  Entweder  kommt  die  Anziehung,  welche  die 
Masse  des  Electrometers  ausüben  kann,  in  Betracht,  oder  nicht.  Im  ersten 
Falle  mufste  bey  der  Annäherung  des  geriebenen  Siegellacks  eine  doppelte 
Wahlverwandtschaft  eintreten;  die  negative  E.  des  Siegellacks  band  die 
positive  im  Electrometer,  wodurch  beyde  neutralisirt  wurden;  ferner  band 
nun  der  Körper  des  Electrometers,  die  in  ihm  frey  gewordene  negative; 
dann  aber  mufste  dasselbe  durch  jene  positive,  die  wir  als  ihm  mitgetheilt 
voraussetzen,  fortdauernd  divergiren;  [56]  indem  nun  die  Erfahrung  das 
Gegentheil  zeigt,  widerlegt  sie  die  Meinung  von  der  Anziehung  des  Körpers 
gegen  die  angenommene  Flüssigkeit.  Hiemit  sind  wir  auf  den  zweyten 
Fall  verwiesen.  Das  aus  der  Ferne  wirkende  Siegellack  entbindet  demnach 
die  im  Electrometer  vereinigten  Flüssigkeiten  ihrer  gegenseitigen  Einwirkung; 
eine  derselben  bemächtigt  sich  nun  der,  in  demselben  vorhandenen,  mit- 
getheilten  Electricität,  und  auch  jetzt  haben  wir  eine  doppelte  Verknüpfung, 
an  der  nichts  wunderbar  ist  als  die  Leichtigkeit,  womit  sie  zerstört  wird, 
indem  man  das  geriebene  Siegellack  wieder  entfernt.  Zwar  möchte  Jemand 
sagen:  Das  Divergiren  des  Electrometers  rühre  nur  her  von  derjenigen 
Portion  der  positiven  Electricität,  die  so  eben  von  der  negativen  des  Siegel- 
lacks war  verlassen  worden,  als  wir  dies  letztere  hinwegnahmen.  Allein 
hier  erzeugt  sich  die  obige  Frage  von  neuem.  Warum  denn  wird  nicht, 
vermöge  der  einmal  vorhandenen  Verbindung,  sammt  dem 
Siegellack  auch  die  von  demselben  schon  ergriffene  Electricität 
des  Körpers  mit  fortgeführt?  Widersteht  etwan  die  Luft?  Doch  ist  sie 
beweglich  genug,  um  sogar  ldeine  Papierblättchen  durchschlüpfen  zu  lassen, 


Ueber  den  Gegensatz  der  beyden  Electridtäten.  161 


falls  diese  [59]  einer  elektrischen  Anziehung  unterworfen  werden;  wieviel 
leichter  mutete  ein  höchst  feines  und  theilbares  Fluidum  durch  sie  hindurchgehn 
können!  Oder  spielte  hiebey  die  Luft  eine  mehr  thatige  Rolle?  War  etwan 
auch  in  ihren  kleinsten  Theilen  überall  vom  Siegellack  bis  zum  Electro- 
meter  eine  Vertheilung  vorgegangen?  Vermuthlich !  Demgemäfs  wurde  in 
denjenigen  Lufttheilchen ,  die  sich  dem  Siegellack  zunächst  befanden,  ein 
Quantum  positiver  Electricität  gebunden;  und  ich  frage  nun,  warum  diese 
nicht  in  demselben  Grade  und  derselben  Art  von  Verbindung,  worin  sie 
einmal  ist,  dem  Siegellack  nachfolgt,  sobald  es  vom  Electrometer  entfernt 
wird?  Alsdann  können  die  übrigen  Verbindungen  ebenfalls  bleiben  wie  sie 
sind;  und  die  im  Electrometer  vorhandene  mitgeth eilte  Electricität  wird  die 
entgegengesetzte,  von  der  sie  einmal  neutralisirt  war,  eben  so  wenig  fahren 
lassen,  als  irgend  eine  durch  den  vorigen  Procefs  frey  gewordne  und 
wieder  gebundene  sich  aus  ihrem  einmal  erlangten  Besitze  wird  vertrieben 
finden. 

Noch  auffallender  wird  dies,  wenn  wir  an  die  Stelle  des  Siegellacks 
etwan  den  Knopf  einer  geladenen  Flasche  setzen;  der  sehr  leicht  etwas 
von  seiner  Electricität  [60]  fahren  läfst.  Könnte  bey  dem  ganzen  Vorgange, 
von  dem  die  Rede  ist,  irgend  eine  Kraft,  die  nach  Art  der  chemischen 
Verwandtschaften  wirkte,  ins  Spiel  kommen:  so  würde  der  Knopf,  dessen 
Nähe  einmal  ein  Electrometer  zusammenfallen  machte,  gewifs  nicht  durch 
seine  Entfernung  neue  Divergenz  hervorbringen ;  viel  eher  würde  die  mittel- 
bar oder  die  unmittelbar  mit  dem  Electrometer  in  Verbindung  getretene 
Electricität  des  Knopfs,  sich  in  dem  Augenblick,  da  er  zurückbewegt  würde, 
von  ihm  trennen,  um  die  einmal  geschlossenen  chemischen  Verbindungen 
nicht  zu   stören. 

Der  Einwurf,  den  ich  hier  gegen  den  Begriff  der  Neutralisation  der 
beyden  E  gemacht  habe,  läfst  sich  leicht  allgemeiner  vortragen;  und  be- 
sonders auf  jede  vorgebliche  Zersetzung  der  electrischen  Flüssigkeiten 
bey  ihrer  ursprünglichen  Erregung  anwenden.  Allein  ohne  mich  dabey 
aufzuhalten,  erwähne  ich  noch  eines  anderen  Merkmals,  das  auf  eine 
mir  unbegreifliche  Weise  dem  Gegensatze  der  beyden  Flüssigkeiten  zu- 
geschrieben wird. 

Ampere  und  Babinet  wollen  die  Bezeichnungen  durch  Plus  und  Minus 
bevbehalten  wissen,  weil  diese  Worte  in  allen  Anwendungen  der  mathe- 
matischen .... 


HEBRAhT's  W.  rke.     V.  I  I 


IX. 


MATHEMATISCHER  LEHRPLAN 

FÜR    DIE 

REALSCHULEN. 

Juni   1824. 

[Text  nach  HR,  S.   302 — 309. ] 


1  1 


Mathematischer  Lehrplan  für  die  Realschulen. 


[302]  Da  ich  in  Ansehung  der  Bürgerschule  mit  Herrn  Consistorial- 
rat  Dinter  im  ganzen  übereinstimme  und  überdies  der  Meinung  bin, 
dafs  der  Wert  der  Schulpläne  größtenteils  von  deren  Ausführung  und 
der  Beaufsichtigung  dieser  letzteren  abhängt:  so  glaube  ich  der  mir  ge- 
wordenen Aufforderung  durch  eine  Beilage  zu  Herrn  etc.  Dinter's  Gut- 
achten hinlänglich  nachzukommen;  worin  ich  nur  den  Haupt- Gegenstand 
des  Unterrichts  in  jenen  Schulen  ins  Auge  fassen  und  alles  andere  als 
Zusatz   zu  jenem   betrachten  werde. 

Eine  Provinz,  deren  Wohlstand  sehr  gesunken  ist,  darf  sich  zwar 
nicht  schämen,  das  Wiederaufblühen  desselben  bei  solchen  Schulen,  deren 
Zweck  nicht  eigentliche  Gelehrsamkeit  ist,  sehr  ernstlich  zu  berücksichtigen. 
Aber  jede  Schule  mufs  ihre  Ehre  haben,  unabhängig  von  ihrem  Nutzen. 
Sonst  giebt  sie  dem  Fleifse  keine  Begeisterung. 

Aus  beiden  Gründen  betrachte  ich  die  Mathematik  als  den  Haupt- 
gegenstand der  Bürgerschule.  Keine  ehrenvollere  Gymnastik  des  Geistes 
läfst  sich  finden;  und  die  Spannkraft,  welche  sie  hervorbringt,  ist  selbst 
gröfser  als  die  durch  die  Sprachen  des  Altertums;  ihr  Nutzen  aber  ist 
unbezweifelt. 

Doch  wegen  der  Einseitigkeit,  womit  die  Mathematik  droht,  mufs  ihr 
Geschichte,  mit  manchen  ihrer  Nebenstudien,  zur  Seite  stehen.  Und 
als  erste  vorläufige  Bedingung  des  Gedeihens  betrachte  ich  die  Voraus- 
setzung: es  sei  ein  Lehrer  vorhanden,  der  im  hohen  Grade  die  Kunst 
des  Erzählens  besitze;  ja  es  sollten  deren  wenigstens  zwei  sein.  Denn 
die  ältesten  Schüler  brauchen  einen  derselben;  aber  schon  die  [303] 
jüngsten  brauchen  einen  zweiten;  besonders  weil  nichts  so  geschickt  ist, 
Kinder,  die  von  verschiedenen  Seiten  her  zusammenkommen,  gleichartig  zu 
machen,  als  ein  Strom  von  Erzählungen,  der  sie  alle  gemeinschaftlich  fortreifst. 

Dies  nun  vorausgesetzt,  und  angenommen  überdies,  dafs  Botanik 
im  Sommer  und  Mineralogie  nebst  einer  wohlbegrenzten  Zoologie  (ohne 
unzartes  Berühren  de^r  Geschlechts-Verhältnisse)  im  Winter,  gleich  von  der 
untersten  Klasse  an  in  Gang  gesetzt  seien:  so  mufs  aus  der  Mitte  dieser 
Studien  die  Mathematik  hoch  emporsteigen,  und  ihre  Zweige  weit  verbreiten. 

Alles  wäre  verdorben,  wenn  man  sich  hier  ein  anderes  Ziel  setzen 
wollte.  Sobald  Mathematik  über  Regeldetri  und  gemeine  Planimetrie 
hinausgeht,  mufs  sie  ernstlich  angefafst  werden,  damit  nicht  ein  halbes, 
totes  und  deshalb  unnützes  Wissen  herauskomme.  Das  kann  leicht  be- 
gegnen; aber  auch  das  Gegenteil  läfst  sich  leisten,  wie  ich  aus  Erfahrung 
weifs.      Und  besonders   eine  Schule,  worin  Mathematik  die  Gymnastik  des 


l66  IX.  Mathematischer  Lehrplan  für  die  Realschulen.   1824. 

Geistes  liefern  soll,  kann  und  darf  sich  mit  einigen  mühselig  eingelernten 
Rechnungsformeln  durchaus  nicht  begnügen. 

Höhere  Mathematik  ist  das  Ziel,  welches  man  erreichen  mufs, 
nicht  um  die  ganze,  höchst  abstrakte  Wissenschaft,  sondern  nur  eine 
gründliche  Einsicht  in  diejenigen  Lehren  darzubieten,  welche  sich  auf 
Artillerie,  Baukunst  und  Maschinenwesen  dergestalt  beziehen,  dafs  sie 
künftige  spezielle  Studien  zu  unmittelbarem  Gebrauche  vorbereiten  und 
hinlänglich  erleichtern  können. 

Der  höhere  Kalkül,  wiederum  nicht  in  seiner  mannigfaltigen  Ver- 
zweigung, sondern  nur  in  seinen  allgemeinsten  und  leichtesten 
Anfangsgründen  (von  denen  sich  aber  unzählige  fruchtbare  An- 
wendungen machen  lassen),  ist  das  Mittel,  durch  welches  man  zum  Ziele 
gelangt. 

Damit  aber  meine  Behauptungen  nicht  zu  nackt  da  stehen  und  nicht 
die  Grenzen  einer  Schule,  die  vielleicht  keine  altern  als  siebzehnjährigen 
Schüler  haben  wird,  zu  überschreiten  scheinen,  sehe  ich  mich  genötigt, 
in  einiges   Detail  über  den  mathematischen   Unterricht  einzutreten. 

Die  Kraft  der  Jugend  mufs  frühzeitig  dahin  gelenkt  werden.  Dies 
geschieht  im  allgemeinen  durch  vorläufige,  grofsenteils  empirische  Be- 
schäftigung mit  mathematischen  [304]  Gegenständen.  Hierher  gehören 
die  Anschauungs- Übungen  mit  ihren  teils  ebenen,  teils  sphärischen,  aus 
Holz,  Pappe,  oder  zum  Teil  durch  Zeichnen  auf  der  Schiefertafel,  zum 
Teil  durch  künstlichere  messingene  Werkzeuge  dargestellten  Dreiecken.  Das 
Wesentliche  ist  Anschauung  s^esrebener  mathematischer  Formen, 
besonders  im  Anfange  Schätzung  der  Winkel,  und  Beachtung  ihrer  trigono- 
metrischen Funktionen  (der  Tangenten,  Sekanten,  Sinus,  Kosinus),  weiter- 
hin leichte  Rechnung,  und  selbst  die  einfachsten  Formeln  der  sphärischen 
Trigonometrie,  mit  Hilfe  eines  passenden  Werkzeuges  beinahe  unmittelbar 
dem  Auge  dargestellt. 

Die  Wirkung  dieser  Vorübungen  zeigt  sich  erst  später,  wenn  der 
mathematische  Unterricht  selbst  eintritt,  durch  eine  weit  stärkere  Auffassung 
und  durch  ein  schnelleres  Nachdenken,  als  unvorbereitete  Schüler  zu  leisten 
pflegen.  —  Von  der  Sorgfalt,  womit  diese  Anschauungsübungen  geleitet 
werden,  hängt  die  ganze  Bürgschaft  ab,  dafs  der  nachfolgende  Unterricht 
gelingen  werde.  Aber  diese  Sorgfalt  mufs  nicht  aus  Mifsverstand  ängstlich 
werden.  Man  darf  die  Anschauungsübungen  nicht  in  die  Länge  ziehen, 
als  ob  jeder  Knabe  sie  pünktlich  einlernen  sollte.  In  gemessenem  Schritte 
müssen  sie  vorübergeführt  werden;  sie  können  im  ganzen  anderthalb  Jahre 
dauern  mit  Einschlufs  des  sphärischen  Teils;  eine  beträchtliche  Pause 
mufs  in  die  Mitte  fallen,  denn  die  zweite  Hälfte  ist  schon  um  vieles 
schwerer  wie  die  erste.* 


*  Meine  sphärischen  Anschauungs-Übungen  sind  nicht  gedruckt,  obgleich  schon 
mehrmals  im  pädagogischen  Seminar  durchgeführt.  Auf  Verlangen  würde  ich  sie  be- 
kannt machen. l 

1  Die  sphärischen  Anschauungs  -  Übungen  etc.  „Anschauungslehre  der  sphär. 
Formen"  sind  von  Hartenstein  herausgegeben  in  SW.  Bd.  XI,  S.  234  ff.  (nicht 
Bd.  XII,  S.  319  wie  HR  angeben).  —  In  vorliegender  Ausgabe  mit  den  Akten  des 
pädagogischen   Seminars  abgedruckt. 


IX.  Mathematischer  Lehrplan  für  die  Realschulen.   1824.  167 


Die  zweite  Stufe  des  mathematischen  Unterrichts  ist  sehr  bekannt; 
auf  ihr  stehen  gemeines  Rechnen  und  Planimetrie.  Dabei  ist  nur  zu  be- 
merken, dafs  diese  Planimetrie  nicht  höher  gehalten  werden  mufs,  als  jenes; 
denn  in  der  That  sind  die  feineren  Anwendungen  der  Proportionen  (die 
ich  hier  unter  dem  gemeinen  Rechnen  mit  begreife)  wohl  reichlich  eben- 
so schwer,  als  die  gewöhnliche  Geometrie,  selbst  Stereometrie  mit  einge- 
schlossen. —  Auf  dieser  zweiten  Stufe  darf  man  nicht  eilen;  und  der 
Unterricht  darin  ist  längst,  im  ganzen  genommen  richtig,  geordnet  worden, 
daher  ich  weiter  nichts  darüber  sage. 

[305]  Allein  jetzt  folgt  eine  dritte  Stufe,  in  Hinsicht  deren  ich  mit 
dem  gewöhnlichen  Verfahren  durchaus  nicht  zufrieden  bin.  Man  pflegt 
nämlich  hier  entweder  eine  weitläufige  Algebra,  oder  teils  eine  ebenso 
trockene  und  langgestreckte  Lehre  von  den  Kegelschnitten  folgen  zu  lassen, 
teils  sich  in  die  Trigonometrie  zu  verlieren,  —  ohne  zu  überlegen,  dafs 
man  dem  Schüler  nunmehr  so  bald  als  möglich  irgend  einen  grofsen 
Gegenstand  zeigen  mufs,  der  sich  durch  mathematische  Arbeit  den  Augen 
näher  bringen  läfst.  Dabei  tritt  nun  ein  unglücklicher  Respect,  wo  nicht 
eine  wahre  Scheu,  vor  der  Differential-  und  Integral-Rechnung  hinzu,  als 
wenn  beide  etwas  an  sich  besonders  Hohes,  einen  eigentlich  für  sich 
bestehenden  Teil  der  Wissenschaft  ausmachen  könnten,  Dieses  aber  ist 
durchaus  unrichtig.  Man  sollte  niemals  von  Differenzieren  anders  reden, 
als  so,  wie  man  vom  Multiplizieren  oder  Dividieren  spricht;  eins  und  das 
andere  sind  Rechnungs-Arten,  die  gebraucht  werden,  wo  sie  passen,  und 
deren  man  mächtig  sein  mufs,  sobald  man  irgend  einen  mathematischen 
Gegenstand,  der  über  die  gemeinen  Proportionen  hinaus  liegt,  vollständig 
in   seine  Gewalt  bringen  will. 

Was>äuf  der  dritten  Stufe  des  mathematischen  Unterrichts  eigentlich 
vorkommen  mufs,  das  könnte  ich  Trigonometrie  nennen,  wenn  nicht  dies 
Wort  teils  zu  viel,  teils  zu  wenig  ankündigt;  ich  will  mich  also  ausführ- 
licher erklären. 

Der  Natur  der  Sache  nach  folgt  auf  die  Begriffe  der  Proportionen 
sogleich  die  Lehre  von  den  Potenzen,  wobei  die  von  Wurzeln  und  Loga- 
rithmen sich  notwendig  mit  anschliefst.  Und  auf  die  gemeine  Geometrie 
folgen  die  Kurven,  oder  was  dasselbe  ist,  die  räumlichen  Symbole  der 
Funktionen,  von  dem  einfachsten  angefangen.  Hiervon  sind  eigentlich  die 
Gleichungen  des  zweiten  und  der  höheren  Grade  nur  spezielle  Fälle;  und 
aus  der  Auflösung  derselben  eine  eigene  Wissenschaft  zu  machen,  die  man 
Algebra  nennt,  ist  wiederum  nichts  als  eine  äufserliche  Verunstaltung  der 
innerlich   vollkommen  gesunden  Wissenschaft. 

Indem  man  nun  den  Schüler  zu  den  Potenzen,  Kurven  und  Gleichungen 
führt,  mufs  man  ihm  zugleich  eine  Beschäftigung  darbieten,  die  so  schnell 
als  möglich  in  Anwendung  übergeht;  und  hierzu  braucht  er  die  Elemente 
der  Trigonometrie,  aber  noch  nicht  den  hochgehäuften  Vorrat  der  ana- 
lytischen  Formeln. 

[306]  Demnach  setze  ich  aus  einer  Reihe  von  Lehrsätzen  ein  kleines 
Ganzes  zusammen,  welches  dem  Schüler  die  Möglichkeit  der  Trigonometrie 
vollständig  erklärt  und   zugleich   ihm    aus    derselben    ein  Werkzeug    macht, 


IÖ8  IX.  Mathematischer  Lehrplan  für  die  Realschulen.   1824. 

das  er  gebrauchen  könne.  Hierher  gehören  * :  der  binomische  Satz ;  zuerst 
nur  aus  der  Kombinationslehre  bewiesen  für  ganze  bejahte  Exponenten. 
Dann  der  Tayl< >r'sche  Satz,  entwickelt  aus  der  Lehre  von  den  arith- 
metrischen  Reihen,  wobei  der  Beweis  aus  höchst  einfachen  Elementen  sehr 
leicht  hervortritt;  hiemächst  Erweiterung  des  binomischen  Satzes  durch 
den  Taylor'schen  und  durch  die  leichtesten  Betrachtungen  der  Differential- 
Rechnung  auf  einem  bekannten  Wege,  alsdann  weitere  Benutzung  des 
Taylor'schen  Satzes  zur  Aufsuchung  der  Reihen  für  Sinus  und  Kosinus, 
wenn  der  Bogen  in  Länge  gegeben  ist;  ferner  Aufsuchung  der  Bogen  für 
gegebene    Anzahl    von    Graden    mittelst    der    Integration    des  Differentials 

dt 

,   welches  s  elbst  sehr  leicht  geometrisch  gefunden  wird,  endlich  die 

1  — j—  dt 

Lehre    von    den  Logarithmen,    gebaut    auf    den    binomischen   Satz,    indem 

X 

ex  =  ^  1  -f-  dx)  d-x.  entwickelt  wird,  wobei  alles  auf  deutliche  Erklärung  von 
e  ankommt,  oder,  was  nahe  dasselbe  ist,  deutliche  Erklärung  der  Gleichung 
ax=y,    wo  x  und  y  veränderlich    sind.      Die   Rechnung    wird    fortgeführt 

,  .            T             .                     du                                1  -{-  u 
bis  zur  Integration  von  , und  zu  log. . 

0  1  +  u  °     1  —  u 

Hierbei  ist  zu  bemerken,  dafs  nach  allen  den  hier  gewonnenen  Formeln 
wirklich  einige  Rechnungen  müssen  gemacht  werden,  z.  B.  Aufsuchung  der 
natürlichen  Logarithmen  für  alle  Zahlen  von  1  bis  10  und  Berechnung 
des  Sinus  und  Kosinus  von  6°  u.  s.  f.  Denn  Formeln,  nach  denen  der 
Schüler  wirklich  niemals  rechnet,   sind  ein  toter  Schatz. 

Erst  nachdem  der  Schüler  auf  diese  Weise  eingesehen  hat,  wie  sich 
auf  hinreichend  gebahnten  Wegen  (denn  von  mühseligen  Umwegen  mufs 
man  mit  Schülern  nicht  reden,  schon  um  sie  nicht  zu  verwirren)  die 
Trigonometrie  sowohl  [307]  ihre  eigenen  Funktionen,  als  ihre  Hilfsmittel, 
die  Logarithmen,  verschaffen  könne:  ist  es  Zeit,  ihn  nach  den  Haupt- 
formeln zur  Auflösung  der  Dreiecke  (die  sehr  leicht  gefunden  und  erklärt 
werden)  rechnen  zu  lassen.  L'nd  nunmehr  bedarf  er  noch  einiger  weniger 
Vorkenntnisse  aus  den  leichtesten  Grundsätzen  der  Statik  und  Mechanik, 
um  eine  populäre  Astronomie  mit  seinem  Lehrer  zu  durchlaufen, 
wozu  sich  die  Briefe  von  Brandes  trefflich  eignen,  unter  der  Voraus- 
setzung, dafs  der  Lehrer  vielfältig  über  das  Buch  hinausgehe  und  Rech- 
nungen zur  Übung  einschalte,  jedoch  ohne  sich  auf  zusammen- 
hängende mathematische  Darstellung  einzulassen,  die  hier  viel  zu  weit- 
läufig sein  und  die  Erhebung  des  Geistes,  die  hier  eigentlich  beabsichtigt 
wird,  nicht  vermehren  würde. 

Denn  die  Zeit  der  Schule  ist  bekanntlich  kurz,  der  vorerwähnte  mathe- 
matische Unterricht  der  dritten  Stufe  braucht  etwa  ein  halbes  Jahr,  täglich 
eine  Stunde,  und  ebensoviel  jene  populäre  Astronomie.  Um  uns  zu 
orientieren,  wollen   wir  diesen  ganzen  Unterricht  auf  Sekunda   verlegen;   so 


*  Eine  vollständige  Aufzählung  wird  man  hier  nicht  erwarten.  Ob  z.  B.  und  in- 
wieweit die  Stereometrie  schon  hier,  oder  erst  in  Prima  Zeit  und  Platz  finde,  wird 
durchgehends  von  Lehrern  und  Schülern  abhängen,  und  sich  kaum  allgemein  bestimmen 
lassen.  H. 


IX.  Mathematischer  Lehrplan  für  die  Realschulen.    1824.  i6n 


kommt  auf  Tertia  das  früher  erwähnte  Rechnen  mit  Proportionen  samt 
der  Elementar-Geometrie,  und  die  untem  Klassen  haben  Zeit  genug,  um 
nebst  den  Anschauungs-Übungen  die  ganz  gewöhnlichen  Rechnungs-Arten 
zu  lehren  und  zu  üben.  Es  bleibt  also  nur  noch  übrig,  von  dem  Unter- 
richte in  Prima  zu  sprechen. 

Hier  mufs  wohl  die  Bemerkung  eingeschaltet  werden,  dafs  eine 
Bürgerschule  nicht  Hoffnung  hat,  die  ganze  Summe  ihrer  Schüler  bis 
Prima  zu  führen.  Drückt  doch  dieser  Umstand  schon  die  Gymnasien! 
Doch  haben  alsdann  die  Eltern  sich  meistens  selbst  den  Nachteil 
zuzuschreiben,  wenn  das  Angefangene  nicht  vollendet  wird;  denn  warum 
lassen  sie  die  Kinder  auf  dem  Gymnasium,  wenn  sie  sie  nicht  wollen 
studieren  lassen?  Sie  könnten  sie  ja  auf  die  Bürgerschule  schicken! 
Allein  eben  deshalb,  weil  sich  denjenigen  Bürgerschülern,  die  ihren  Weg 
nicht  ganz  zu  Ende  fortsetzen,  keine  andere  Lehranstalt,  die  sie  zweck  - 
mäfsiger  hätten  besuchen  können,  darbietet,  ist  es  hier  die  Schule  selbst, 
welche  so  viel  als  möglich  sorgen  mufs,  dafs  allenfalls  schon  auf 
Sekunda  ein  Stillstand  stattfinden  könne.  Und  das  wird  als  ein  Neben- 
Vorteil  aus  der  vorherbezeichneten  Anordnung  des  mathematischen  Unter- 
richts sich  auch  ergeben.  Nämlich  die  Schüler  haben  nun  [308]  auf 
Sekunda  gelernt,  mit  Logarithmen  zu  rechnen  und  mindestens  die  ebene 
Trigonometrie  zu  gebrauchen;  sie  werden  demnach  so  viel  Theorie  und 
Vorübung  besitzen,  als  der  gemeine  Feldmesser  bedarf,  wenn  nur  noch 
die  dazu  nötigen  speziellen  Anleitungen  (die  nicht  gar  zu  viel  Zeit  kosten 
können)  insoweit  hinzukommen,  als  man  sie  von  der  Schule  verlangen 
wird,  und  als  das  Alter  von  etwa  15  Jahren  sie  anzunehmen  aufgelegt 
ist.  Auch  solche,  die  wegen  schwächerer  Anlage,  oder  aus  Unaufmerk- 
samkeit, das  Vorgetragene  nicht  ganz  fassen,  werden  so  viel  Routine  aus 
den  Übungs-Beispielen  gewinnen,  dafs  sie  denjenigen  ungefähr  gleich- 
zustellen sind,  die  von  den  Gymnasien  zwar  keine  gründliche  Kenntnifs 
des  Altertums,  aber  doch  manche  nützliche  Notiz  mit  hinwegnehmen,  die 
sie   späterhin  irgendwie  zu  ihrem  Fortkommen  benutzen. 

Inzwischen  können  solche  Nebenrücksichten  nicht  Anspruch  machen, 
auf  den   Hauptplan  einzufiiefsen. 

Für  Prima  bleibt  der  Bürgerschule  nun  noch  der  Unterricht  in  der 
Mechanik  und  Statik  samt  denjenigen  Erweiterungen  der  reinen  Mathe- 
matik, die  man  dafür  zweckmäßig  finden  wird;  wohin  teils  die  Lehre 
von  den  kubischen  Gleichungen  (falls  diese  nicht  schon  auf  Sekunda  Zeit 
fanden)  und  teils  Übungen  in  der  analytischen  Trigonometrie,  teils 
Kenntnis  verschiedener  Kurven  gehören  wird.  Ausführlicher  Vortrag  der 
Lehre  von  den  Kegelschnitten  scheint  mir  nicht  passend  für  die  Bürger- 
schule; es  liegt  darin  zu  viel  gelehrter  Luxus,  der  ohne  Wert  ist,  wenn 
keine  Anwendung  und  Fortsetzung  hinzukommt.  Dagegen  braucht  die 
Mechanik  manche  einzelne  Kunstgriffe  des  Integrierens,  welche  gelegent- 
lich, so  wie  sie  nötig  sind,  können  gezeigt  werden,  ohne  dafs  man  in 
das  System  der  Integral-Rechnung  (wie  es  in  den  Abstraktionen  der 
Mathematiker  nun  einmal  existiert)  sich  einzulassen  nötig  hätte,  welches 
auch  ganz  unmöglich  sein  würde. 

Das  hohe  Ministerium  hat  einen  sehr  umfassenden  Unterricht  in   der 


IjO  X.I.  Mathematischer  Lehrplan  für  die  Realschulen.    1824. 

Naturlehre  von  der  Bürgerschule  verlangt.  An  diesen  hohen  Befehl 
schliefst  sich  nun  hier  mein  Vorschlag  an.  Naturkunde  würde  ihrer  festesten 
Punkte  und  Stützen  entbehren,  wenn  Statik  und  Mechanik  nicht  gehörig 
gelehrt  würden,  —  so  dafs,  wer  künftig  weiter  gehen  will,  dieser  seinen 
Weg  wenigstens  vor  sich  sehe  und  es  als  möglich  betrachte,  darauf  fort- 
zuwandeln.  Alles  nun,  was  ich  zuvor  vom  [309]  mathematischen  Studium 
gesagt  habe,  findet  hier  sein  Ziel,  wohin  es  strebte  und  worauf  es  be- 
rechnet war. 

Sechs  Stunden  wöchentlich  Mathematik  durch  alle  Klassen,  zuzeiten 
aber  noch  einige  Stunden  mehr  für  besondere  Zweige  oder  Anwendungen  — 
ungefähr,  doch  nicht  ganz  ein  solches  Verhältnis  der  Mathematik,  wie  der 
alten  Sprachen  auf  den  Gymnasien  zu  den  sämtlichen  übrigen  Studien, 
das  wird  hier  ein  Gesetz  sein  müssen,  wovon  kein  Vorwand  des  künftigen 
Berufs,  als  ob  derselbe  so  viel  Mathematik  nicht  brauche  —  mufs  dispen- 
sieren können;  gerade  so  wenig  als  auf  den  Gymnasien  ähnliche  Dispen- 
sation vom  Griechischen  und  dergleichen  erlaubt  wird.  Denn  die  Mathe- 
matik soll  ihre  beste  Wirkung  unmittelbar  leisten  durch  Förderung  des 
scharfen  Denkens  und   des   Erfind ungsgeistes. 

Freilich  wird  der  Gewinn  nun  noch  sehr  davon  abhängen,  ob  ein 
Unterricht  in  der  Physik  und  Chemie  hinzukommt.  Ja  eigentlich  bleibt 
der  wahre  WTert  einer  Schule  immer  ein  Produkt  aus  der  Gesamt- 
wirkung aller  Lehren.  Und  wenn  ich  hier  blofs  den  mathematisch-physi- 
kalischen Teil  des  Unterrichts  betrachtete,  so  möchte  ich  dadurch  nicht 
gern  den  Schein  auf  mich  ziehen,  als  ob  dies  Folge  irgend  einer  Vorliebe 
wäre,  indem  ich  vielmehr  das  übrige  stillschweigend  voraussetze,  auch 
noch  besonders  bemerke,  dafs  eine  Schule,  welche  (dem  hohen  Ministerial- 
Rescript  gemäfs)  neuere  Sprachen  sorgfältig  lehren  soll,  nicht  unterlassen 
kann,  der  neueren  Geschichte  auf  ihren  obersten  Klassen  eine  grofse 
Bedeutung  zu  geben  und  überhaupt  den  abgehenden  Schüler,  so  voll- 
ständig, wie  nur  immer  sein  Alter  es  erlaubt,  in  die  heutige  wirkliche 
Welt  einzuführen. 

i.  Juni    1824.  Herbart. 


X. 


ZWEI    PROMOTIONSREDEN 

aus  dem  Jahre    1824. 

I.  Zur  Promotion  von  Heinr.  Otto   Hamann. 
II.  Zur  Promotion  von  Friedr.   Ludw.   Sieffert. 


[Text  nach  dem  Msc.   2382,   (1   u.   2)  der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Maiores  nostri  in  constituendis  literarum  universitatibus ,  cum  theo- 
logorum  iurisconsultorum,  medicorum  studia  segregassent,  hanc  nostram 
artium  facultatem,  plurimarum  rerum  varietatem  amplectentem,  unam  tarnen 
esse  voluerunt,  eamque  non  historicam,  mathematicam,  philologicam,  sed 
philosophicam  nominaverunt.  Qua  in  re  quid  consilii  sint  secuti,  facile 
apparet.  Artium  omnium  originem  et  naturam  spectabant;  philosophiam 
sciebant  iis  temporibus  ortam,  quae  historiae  lovo  nihil  fere  nisi  mythos 
habuerint,  in  matheseos  primis  elementis  elaboraverint,  de  philologia  cogi- 
tare  non  potuerint;  itaque,  quam  artem  cognoverant  esse  antiquissimam, 
hominumque  studiis  primis  quaesitam,  eam  primo  loco  posuerunt,  verum 
ea  lege  et  conditione,  arctissimum  illud  vinculum,  quod  cunctis  inter  sese 
artibus  intercedit,  ne  laederetur  et  rumperetur,  sed  qui  mathesi,  ant  historiae, 
ant  philologiae  studeret,  idem  ut  philosophiae  operam  daret;  neve  quis 
philosophum  se  posse  recte  dici  arbitraretur,  nisi  rerum  sensibus  occuren- 
tium,  quarum  in  rationibus  et  finibus  indagandis  versaretur,  copiam  satis 
amplam  historiae  et  philologiae  ope  cognovisset,  quantumque  in  rebus  ex- 
plicandis  quantitatum  et  numerorum  iusta  observatio  et  computatio  posset, 
in  mathematicorum   scholis  didicisset. 

Ab  hisce  maiorum  institutis  sapientissimis  aetas  nostra  haud  parum 
deliexit.  Historia  ipso  temporum  fluxu  in  maximam  molem  excrevit;  ma- 
thesis  hominum  acutissimorum  diligentia  in  admirandae  altitudinis  fastigium 
esUevecta;  philologia.  totius  antiquitatis  portas  nobis  pandens,  in  scholis 
usum  habet  maxime  necessarium;  philosophia  fata  sua  conqueritur,  quod, 
quantum  augmenti  acceptum  referat  Leibnitzio  et  Kantio,  tantum  fere 
detrimenti  ceperit  scholastica  Wolfii  sterilitate  et  Schellingii  ubertate 
sive,  ut  rectius  dicam  levitate  vana,  et  temeraria;  ut  non  mirum  sit,  reperiri 
quosdam,  qui,  etsi  in  philosophando  non  fuerint  laboriosi,  tarnen  inter  histo- 
ricos,  mathematicos,  philologos,  dignitatis  locum  satis  amplum  se  consecuturos 
esse  minime  desperent.  Itaque  iamdudum  nobis  fuerunt  philosophiae  doc- 
tores  creandi,  quos  melius  philologiae,  historiae,  matheseos  doctores  salu- 
taremus;  summique  in  philosophia  honores  iis  haud  raro  conferuntur,  qui 
philosophiam  vix  primis  labris  attigerunt.  Quam  rem  etsi  multas  habere 
excusationes  non  diffiteor,  tarnen  tu,  Candidate  humanissime,  quid  de  deceat, 
vide  et  cura!  Piatonis,  Aristotelis,  Ciceronis  libri  manibus  tuis  terantur 
necesse  est,  diseipulisque  tuis  et  explicandi  tibi  sunt  et  commendandi:  quos 
libros  ubiubi  evolveris,   in  summas  philosophiae  laudes  atque  in  ipsam  philo- 


I  7  i  X.    Zwei  lateinische  Promotionsreden  aus  dem  Jahre   1824. 

sophiam  incides,  ut  eam  si  maxime  velles,  effugere  tarnen  non  posses. 
Atque  cave  putes,  temporum  nostrorum  rationem  tarn  longe  abhorrere  ab 
illa  veteris  aevi,  ut  tibi  negligenda  sint,  quae  olim  optimi  ingenii  viri  sum- 
mis  studiis  prosequebantur.  Humani  generis  natura  non  est  immutata; 
iisdem  alimentis  indigemus  hodie,  quibus  illi  veteres;  versamur  in  eadem 
natura,  premimur  iisdem  quaestionibus,  propositi  nobis  iidem  sunt  virtutis 
labores,  aspiramus  ad  eadem  sapientiae  praemia.  Esse  quosdam  scio,  qui 
contrarium  affirmare  audeant:  qui  tibi  non  sunt  audiendi;  mihi  vero  errores 
illorum  dolendi  quidem,  neque  tarnen  nunc  temporis  refellendi,  sed  ad- 
monitionis,  in  officii  mei  rationibus  positae,  finis  est  faciendus.  Ut  autem 
doctorem  te  pronuntiare  possim,  prius  iuramento  solito  es  astringendus, 
quod  his  terminis  continetur: 

amplecti  Te  de  singulis  doctrinae  caelestis  articulis  Universum  scrip- 
turae  propheticae  et  apostolicae  consensum  et  praecipua  symbola  cum 
his  consentientia :  consentire  in  illud  doctrinae  genus,  quod  ex  his  con- 
stitutum sub  titulo  Augustanae  confessionis  traditum  et  deinceps  in  Apo- 
logia  repetitum  est,  eo  intellectu  at  sensu,  qui  cum  universa  scriptura 
prophetica  et  apostolica  congruit;  teque  in  hac  agnita  veritate  adiuvante 
gratia  Dei  permansurum,  publicam  utilitatem  huius  Academiae  promo- 
turum  animi  gratitudinem  in  illustrem  Borussia  Principem,  in  acadenüae 
huius  Professores,  et  inprimis  in  Decanum  et  collegium  artisticum  debita 
subiectione  et  observatione  declaraturum  nee  denuo  Magisterii  titulum  alibi 
repetiturum  esse. 

Praestitis  praestandis,  Ego,  J.  F.  H.  Doctor  Gottingae  a.  celeb.  Eich- 
hornio  rite  promotus  ea  qua  polleo  auetoritate,  te,  Henrice  Otto  Hamann, 
examine  rigoroso  feliciter  superato,  ob  praeclara  in  philologicis  speeimina 
exhibita  Doct.  philosophiae  creo,  ren.  procl.  eamque  dignitatem  tibi  primus 
gratulor. 


IL 

Dignum  te  esse  qui  consequaris  quod  petieris,  ordo  philosopborum,  id 
est,  amplissimi,  qui  adsunt,  prudentissimique  viri,   et  intellexerunt  et  pronun- 
tiarunt.     Sanxerunt  autem  maiores  nostri,   at  religione  quadam  obstringamus 
eum,   cui  honores  nostros  simus  delaturi;   iuramenti  severitatem  adhibuerunt, 
non   eo  quidem  consilio,   quasi  rem  quandam    magnam,    difficilem,    arduam, 
a  novo   doctore  peragendam  spectarent,   vel  officium  aliquod  gravius  ab  illo 
postul-arent :   sed  ab  hoc    promotionis  actu    omnem    levitatem  longe  abesse 
voluerunt,    iurisque  non  scripti,   et  legum  a  sola  ratione  profectarum,   quibus 
uti  decet  doctam  civitatem,  sensus  vividiores  excitari  curaverunt.   Quamobrem 
meum  esse   arbitror,   ut  hoc  ipso  temporis  puncto  tali  ad  te  rae  convertam 
oratione,    qualem,    si  unquam  andiendus  tibi   fui,   non   audire    tan  tum,    sed 
alta    mente    debes    reponere    atque    conservare.      Philosophiae    doctorem    te 
creamus,  non  ornamenti  solum,   verum  etiam  perpetuae  admonitionis  causa. 
Notam  indelebilem   tibi  inurimus;    ut,    cum  theologus   velis   et  esse  et  dici, 
nunquam  obliviscaris,  theologiam  a  philosophia  nunquam  posse  recte  segregari. 
Nam  philosophiae  proprium  est,  animos  erectos  tenere  ad  cogitandum,  alacres 
ad  veritatem  investigandam,  strenuos  in  repellendis  erroribus  vel  veteribus  vel 
novis,  sinceros  et  candidos  in  confitenda  ignoratione  rerum  obscurarum.   Theo- 
logis autem  quam  multi  tendantur  laquei,  ut  paullatim  deflectantur  ab  illo  since- 
ritate,  atque,  ut  auctoritate,  necessario  quidem  ipsis   concessa,   abutantur  ad 
commovendos  perturbandos,  offuscandos  hominum  animos ;  hoc  neque  te  fugit, 
et  melius  etiam,  quam  nunc   fert  aetas   tua,   procedentibus  annis   perspicies. 
Accedat  enim  necesse  est  usus  vitae  ad  studia  tua :  libris  deditus  fuisti ;  homines 
non    libris,    sed    vita    et    usu  cognoscuntur.      Itaque  melius,   quam  potuisti, 
intelliges,   rem   maxime  salutarem,   religionem  dico,    imbuere  homines  quos- 
dam  auctoritate  tanta,  quantam  homo  vix  ferre  potest,  ut  maxima  opus  sit  inte- 
gritate  ne  theologo  idem  accidat,  quod  pati  solent,  qui   sunt  magna  potentia, 
magnis  opibus  elati  atque  inflati.    Dummodo  in  medio  hoc  discrimine  col- 
locatus    integritatem  tuam    poteris    tueri    et    conservare,    tibique  temperare, 
ne  in  dominatione    turpissima    laudem  tibi   quaerendam  putes :   hac  lege  et 
conditione  gratulor  tibi  ex  animo  non  hunc   tantum,   quem   iam  in  eo  sum 
ut  tibi  conferam,  honorem  nostrum,   sed  maiores  etiam  illos,   quos  aüquando 
te  consecuturum  puto,    honores   theologicos.      Scio  sane,    philosophiae  non 
cam  esse  vim,  ut  possit  multorum  animos  sibi  conciliare;   fateor,   non  mul- 
tis  solum,    sed  omnibus  nobis,    quotquot  sumus,    religionis   disciplinam  esse 
admodum  necessariam;  nihil   ab  hac  laude  detrahere  cupio.    Tantum  dico, 
philosophiam  tibi  aut  semper  fore  colendam,  aut,  intermissione  facta,  maion 
etiam    cura    recolendam,    ut   possis   in  bis,    quos  nunc    excitatos    videmus, 


176  X.  Zwei  lateinische  Promotionsreden  aus  dem  Jahre   1824. 

opinionum   fluctibus,    et  stare  cum  dignitate,    et  peragere,    quae    debentur, 

officio  et  lionestati,   atque  ita  vere  de  hominum  genere  et  de  virorum  doc- 

torum  civitate  bene  mereri. 

Voce  iam  tibi  praeibo,  ut  solito  iure  iurando  te  possis  adstringere;  quod 

his  verbis  continetur: 

amplecti  te  de  singulis  doctrinae  caelestis  articulis  Universum  scripturae 
propheticae  et  apostolicae  consensum,  et  praecipua  symbola  cum  his 
consentientia :  consentire  in  illud  doctrinae  genus,  quod  ex  his  constitutum 
et  sub  titulo  augustanae  confessionis  traditum,  et  deinceps  in  apologia 
repetitum  est,  eo  intellectu  et  sensu,  qui  cum  universa  scriptura  pro- 
phetica  et  apostolica  congruit,  et  in  hac  agnita  veritate  adiuvante  gratia 
Dei  te  esse  permansurum,  publicam  utilitatem  academiae  promoturum, 
animi  gratitudinem  in  illustrissimum  borussiae  principem,  academiae  huius 
professores,  et  inprimis  in  Decanum  et  collegium  artisticum  debita  sub- 
iectione  et  observatione  declaraturum,  nee  denuo  magisterii  titulüm  alibi 
repetturam. 

Itaque  te,   Fridericum  Ludovicum  Sieffert,    ob  eximia  in  philosophicis 

speeimina    et   ceterum    ingeniis    cultum,    ego   J.    F.    H.    consentiente    ampl. 

philos.    ordine    ea,    qua    polleo    auetoritate,    doctorem    philosophiae    creo, 

renuntio,   proclamo. 


XI. 


PSYCHOLOGIE  als  WISSENSCHAFT 


NEU  GEGRÜNDET  AUF 


ERFAHRUNG,  METAPHYSIK  und  MATHEMATIK. 

ERSTER    SYNTHETISCHER    THEIL. 

1824. 

[Text  der  Originalausgabe,  Königsberg,  A.  W.  Unzer,    1824.] 


Citirte  Ausgaben: 

O  =  Originalausgabe,   Königsberg,  A.  W.  Unzer.      1824,  XIV  u.  390  S.  8°. 
SW  =  J.  F.    Herbart's   Sämmtliche    Werke  (Bd.   V,   S.    189  —  514),   herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 

Herbart's  Werke.     V.  12 


Vollständiger  Titel  der  Originalausgabe: 


PSYCHOLOGIE  ALS  WISSENSCHAFT 

neu  gegründet  auf 

Erfahrung,  Metaphysik  und  Mathematik. 


Von 


Johann  Friedrich   Herbart 

Professor  der  Philosophie  zu  Königsberg. 


Erster,  synthetischer  Theil. 


Königsberg,    1824. 

Auf  Kosten  des  Verfassers  und  in  Commission  bey 

August  "Wilhelm  Unzer. 


Vorrede. 


Die  Philosophie  stand  in  ihrer  Blüthe  zu  Kant's  und  Fichte's  Zeiten; 
jetzt  welkt  sie,  allein  ihre  Wurzeln  sind  unvergänglich,  und  sie  kann  sich 
wieder  aufrichten,  wenn  dem  Untersuchungsgeiste  neue  Nahrung  dargeboten 
wird.  Damit  mir  dieses  mein  Vorhaben  erleichtert  werde,  bitte  ich  den 
Leser,  sich  in  jene  Periode  des  eifrigen  Strebens,  der  unglücklicherweise 
eine  zweyte  des  Schwindels,  und  eine  dritte  der  Abspannung  gefolgt  ist, 
zurückzuversetzen;  über  alles,  was  nachkam,  aber  fürs  erste  einen  Schleyer 
fallen  zu  lassen.  Es  ist  kein  Wunder,  wenn  eine  Kraft  sich  verzehrt  und 
erschöpft,  indem  sie  arbeitet,  ohne  die  nothwendigen  Hülfsmittel  zu  be- 
sitzen. Aber  es  ist  zu  wünschen,  und  vielleicht  zu  hoffen,  dafs,  nachdem 
die  Hülfsmittel  gefunden  sind,  nun  auch  der  Wille  zurückkehre,  sich  ihrer 
zu  bedienen. 

Kant  wurde  Idealist  wider  seinen  Willen;  er  hat  seine  Anhänglich- 
keit an  die  Dinge  an  sich  nie  verleugnet,  obgleich  er  die  Unmöglichkeit 
behauptete,  sie  zu  erkennen.  Fichte  ergab  sich  dem  Idealismus  williger, 
wiewohl  auch  noch  mit  einigem  Widerstreben;  aber  ihm  geschah  es  wider 
seine  Absicht,  dafs  er  ein  von  tausend  [IV]  Bedingungen  umwickeltes  Ich 
zum  Vorschein  brachte,  obgleich  er  das  absolute  Ich  auf  den  Thron  zu 
heben  gedachte.  Ein  absolutes  Urwesen,  Grund  der  Welt  und  Grund  des 
Ich,  liefs  sich  Schelling  gefallen;  er  wurde  Spinozist  vielleicht  eben  so 
sehr  wider  sein  Wollen  und  Meinen,  als  Kant  Idealist  gewesen  war.  — 
Wenn  nun  die  Geschichte  der  Philosophie  diese  Ereignisse  kurz  erzählen 
will,  so  wird  sie  sagen :  die  Begriffe  verwandeln  sich  den  Philosophen  unter 
den  Händen  unwillkührlich,  während  sie  sie  bearbeiten.  Wenn  aber  die 
Philosophie  selbst  zu  dieser  Geschichte  hinzukommt:  so  mufs  sie  in  dem 
scheinbar  zufälligen  Ereignifs  das  Nothwendige,  und  in  den  besondern 
Fällen  das  Allgemeine  nachweisen,  was  sich  in  jenen  Beyspielen  nur  un- 
vollkommen abspiegelt. 

Richtige  Erkenntnifs  dieser  nothwendigen  und  allgemeinen  Umwand- 
lung gewisser  Begriffe  im  Denken,  ist  das  erste  Hülfsmittel,  welches  bisher 
gefehlt  hat. 

Mathematische  Untersuchungen  über  den  Zusammenhang  und  den 
Lauf  unserer  Vorstellungen  sind  das  zweyte.  Die  Seelenvermögen  waren 
ein  Surrogat,  dessen  sich  bisher  nicht  blofs  die  empirische  Psychologie, 
sondern  auch  Kant  bev  seinem  kritischen  Unternehmen  bediente.  Frever 
von  Vorurtheilen  in  diesem  Puncte  zeigte  sich  Fichte;  er  wollte  zu  den 
Producten    des    menschlichen    Geistes  .die    Acte     des    Producirens     finden. 

12* 


j  go  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Warum  hat  man  diese  nothwendige  Untersuchung  vernachlässigt?  Ohne 
Zweifel  aus  zwey  Gründen.  Erstlich,  weil  Fichte  in  dieser  Hinsicht 
wirklich  blofs  gewollt,  aber  nichts  geleistet  hat,  auch  bey  seinem  Verfahren 
nichts  leisten  konnte;  kein  Wunder,  dafs  nun  die  Fortsetzung  unterblieb, 
da  gar  kein  Anfang  gegeben  war.  Zweytens,  weil  man  sich  blenden  liefs 
von  der  Kehrseite  des  FiCHTE'schen  Unternehmens,  näm[V]lich  von  dem 
gigantischen  Project,  aus  dem  Ich  die  Welt  zu  deduciren.  Man  verliefs 
zwar  das  Ich,  aber  man  behielt  die  weltumspannende  Tendenz.  Kennen 
wir  denn  unsern  Standpunct  auf  dieser  Erde  noch  so  wenig,  um  uns  kos- 
mologischen  Träumen  hinzugeben?  Ist  etwa  der  Himmel  noch  jetzt  für 
uns  eine  Kugel,  in  deren  Mitte  wir  auf  einer  unermefslichen  Ebene  vest- 
stehn?  Welt- Ansichten  gehören  dem  Glauben;  aber  die  wahre  Philosophie 
sagt  nicht  mehr  als  sie  weifs.  Und  um  etwas  zu  wissen,  prüft  sie  die 
Anschauungen  jeder  Art,  die  ihr  gegeben  sind,  ohne  irgend  einer  unbe- 
dingt zu  vertrauen. 

Man  wird  mich  nun  fragen,  wie  denn  mathematische  Untersuchungen 
über  den  menschlichen  Geist  möglich  seyen?  Und  welchen  Gewinn 
sie  bringen?  Auf  die  erste  Frage  kann  nicht  die  Vorrede,  sondern  nur 
■das  Buch  antworten;  über  die  zweyte  sollen  hier  einige  Worte  Platz  finden. 

Die  Psychologie  hat  einige  Aehnlichkeit  mit  der  Physiologie;  wie 
diese  den  Leib  aus  Fibern,  so  construirt  sie  den  Geist  aus  Vorstellungs- 
reihen. Und  wie  dort  die  Reizbarkeit  der  Fibern  ein  Hauptproblem,  so 
ist    hier    die   Reizbarkeit    der    Vorstellungsreihen    gerade    das,    wovon    alle 


weitere  Erkenntnifs    der    geistigen  Thätigkeiten    abhängt.      Man    wird    aber 
dieses   Buch  nicht  halb,    sondern    ganz    lesen    müssen,    um    hievon    unter- 
richtet zu  werden.     Dem  zweyten  Theile  dieses  Werks,  welcher  die  psycho- 
logischen Thatsachen  auf  ihre  Gründe  zurückführen  soll,   ist  es  vorbehalten 
zu  zeigen,   dafs  die  Spannung  in  den  Vorstellungsreihen  eben  so  wohl  der 
Grund  der  Gemüthszustände,   als   die  Ordnung,  in  welcher  jede  Vorstellung 
auf  die  übrigen  mit  ihr  verbundenen  wirkt,    der  Grund    aller  Formen    ist, 
welche  wir  in  unserm  Anschauen  und   Denken  bemerken.     Aber  die  Ord- 
nung   beruht    hier    auf    einem   Mehr   [VI]   oder  Weniger    der  Verbindung; 
die  Spannung  auf  einem  Mehr  oder  Weniger  der  Hemmung;  bey  des  hängt 
innig  zusammen;  jedoch   Niemand  hoffe    davon    etwas    zu    begreifen,    wenn 
er  nicht  rechnen  will.      Kann  er  doch  ohne  dies   Hülfsmittel  nicht    einmal 
die  Gestalt    und    die  Spannung    einer   Kette    begreifen,    wie    wollte    er    die 
Gestalt  und  die  Wirksamkeit  seiner  unermefslich  vielfach    verwebten  Vor- 
stellungen aus    ihren   Gründen    erkennen?      Aber    gerade    so    wie    eine    an 
zwey    vesten    Puncten    aufgehängte    Kette    dem    gemeinen    Beschauer    ein 
gemeines  Ding  zu  seyn  scheint,   das  er  gedankenlos  ansieht,   ohne  sich  um 
die  ungleiche  Spannung,   um  das  Gesetz  ihres  Wachsens  und  Abnehmern, 
um  die  Abhängigkeit  der  Krümmung  von    der  Spannung,    das    heifst,    der 
äufseren  Erscheinung  des  Ganzen  von   der  Wechselwirkung    der    einzelnen 
Theile,   zu    bekümmern :    gerade    so    gedankenlos    steht    seit  Jahrhunderten 
die  empirische  Psychologie   vor  dem  Schauspiel,  was  die  von  ihr  sogenannte 
Association  der  Ideen  ihr  darbietet;  sie  erzählt,  dafs  sich  die  Vorstellungen 
nach   Raum  und  Zeit  associiren;   und   es  fällt    ihr    nicht    einmal    ein,    dafs 
alle  Räumlichkeit    und    Zeitlichkeit    eben    nur    die    näheren    Bestimmungen 


Vorrede.  I  8  I 

dieser  Association  sind,  die  in  der  Wirklichkeit  nicht  so  schwankend  vor- 
handen ist,  wie  die  gangbare  Beschreibung  davon  lautet,  sondern  mit  der 
strengsten  mathematischen  Regelmäfsigkeit  sich  erzeugt  und  fortwirkt.  Wo 
nun  die  allerersten  Elemente  von  Kenntnifs  der  geistigen  Natur  noch  so 
unbekannt  und  ungeahndet  liegen:  da  wolle  man  von  Verstand  und  Ver- 
nunft doch  ja  lieber  schweigen  als  reden!  Man  kennt  davon  Nichts,  als 
die  Aufsenseite;  und  alles,  was  vermeintlich  darauf  gebaut  worden,  ist 
nichts  als  ein  Wunsch,  der  künftig  einmal  kann  erfüllt  werden,  wenn  man 
erst  einen  Begriff  haben  wird   von  der  Arbeit,   die   dazu  nöthig  ist. 

[VII]  Was  ich  hier  gesagt  habe,  kann  nicht  hart  klingen  für  wahrheit- 
liebende Männer;  und  es  kann  dem  Publicum  nicht  unerwartet  seyn,  welches- 
so  viele  Jahre  lang  Zeuge  war  vom  endlosen  Streite  der  Schulen;  viel- 
mehr wird  man  hieraus  längst  geschlossen  haben,  dafs  es  allen  Partheyen 
an  den  entscheidenden  Gründen  fehlte.  Und  gerade  dieser  Umstand  ist 
der  Ursprung  der  Partheylichkeit.  Wenn  die  Mathematiker  streiten,  so 
rechnen  sie;  und  die  Rechnung  bindet  dergestalt  alle  Willkühr,  dafs  der 
Versuch  jeder  Widerrede  aufhören  mufs.  Die  Philosophie  wird  nicht 
alles  berechnen  können,  aber  sie  wird  grofse  Schritte  thun  können,  damit 
sich  in  ihr  das  Gewisse  vom  Ungewissen  sondere;  und  wenn  der  Streit 
der  Schulen  fortdauert,  so  wird  er  sich  doch  mäfsigen,  und  nicht  mehr, 
wie  jetzt,  zu  unheilbarem  Zwiespalt  führen,  der  ein  noch  weit  gröfseres 
Uebel  ist,  als  selbst  der  lauteste  Streit,  so  lange  er  mit  der  Aussicht  auf 
künftige  Vereinigung  geführt  wird. 

Hiemit  sind  meine  Ansichten  und  Gesinnungen  hinreichend  ange- 
deutet; besonders  wenn  man  das  hinzudenkt,  was  ich  in  Ansehung  der 
heutigen  Schulen,  worüber  ernst  und  ausführlich  zu  reden  ich  mich 
dringend  veranlafst  finden  könnte,  —  hier  verschweige,  und  selbst  im 
Buche  nur  selten  berührt  habe;  weil  ich  lieber  will,  dafs  die  Knoten  sich 
allmählig  lüften  und  lösen,  als  dafs  sie  durch  eine  heftige  Behandlung 
sich  noch  mehr  zusammenziehn.  Aussprechen  mufs  ich  jedoch,  dafs 
während  eines  vollen  Viertel-Jahrhunderts  ankämpfend  wider  Wind  und 
Strom,  ich  nur  mit  äufserster  Anstrengung  meine  Richtung  habe  behaupten 
können,  und  dafs  ohne  die  Stütze  der  Mathematik  ich  sicherlich  hätte 
unterliegen  müssen.  Auf  den  Schwierigkeiten,  die  mir  ein  widerwärtiges 
Zeitalter  in  den  Weg  legte,  beruht  mein  Anspruch  auf  nachsichtige  Be- 
urthei[VIII]lung  von  Seiten  des  competenten  Richters,  welchem  früher 
oder  später  mein  Werk  begegnen  wird.  Sorgfältige  Vergleichung  desselben 
mit  meinen  früheren  Schriften  darf  ich  in  Fällen,  wo  etwas  dunkel  scheinen 
möchte,  wohl  von  jedem  aufmerksamen  Leser  erwarten. 

Noch  ein  Wort  habe  ich  zu  sagen  über  den  Gang  der  vorliegenden 
Untersuchungen  in  Beziehung  auf  die  Verschiedenheit  der  Leser.  Für 
Manchen  würde  es  ohne  Zweifel  bequemer  gewesen  seyn,  wenn  ich  die 
Grundlinien  der  Statik  und  Mechanik  des  Geistes  gerade  zu  auf  den  em- 
pirischen Boden  gestellt  hätte.  Da  es  hiebey  nur  auf  die  Hemmung 
unter  entgegengesetzten  Vorstellungen  ankommt,  welche  sich  ziemlich  deut- 
lich unmittelbar  in  der  Erfahrung  zu  erkennen  giebt:  so  hätte  ich  recht 
füglich  im  Geiste  der  Mathematiker  an  ein  Gegebenes  die  Rechnung 
knüpfen  können;    man    würde    mir    den  Satz:    dafs    entgegengesetzte  Vor- 


l82  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Stellungen  sich  zum  Theil  in  ein  Streben  vorzustellen  verwandeln, 
entweder  als  Thatsache  zugegeben,  oder,  Falls  jemand  seiner  innern  Wahr- 
nehmung nicht  so  viel  zugetraut  hätte  (und  das  wäre  allerdings  auch  bey 
mir  der  Fall  gewesen),  wenigstens  die  Hypothese  gestattet  haben,  die  sich 
alsdann  durch  ihre  Fruchtbarkeit  hätte  rechtfertigen  müssen.  Allein  hiemit 
wäre  der  geschichtliche  Gang  meiner  Untersuchungen  verdeckt  worden. 
Diesen  habe  ich  gerade  im  Gegentheil  ganz  offen  dargestellt.  Von  der 
Untersuchung  des  Ich  bin  ich  wirklich  ausgegangen;  die  noth wendigen 
Reflexionen  über  das  Selbstbewufstseyn  haben  sich  von  ihrer  besonderen 
Veranlassung  späterhin  losgemacht;  daraus  ist  ein  allgemeiner  Ausdruck 
derselben  entstanden,  den  ich  Methode  der  Beziehungen  nenne,  und 
auch  für  andre  metaphysische  Grund-Probleme  passend  gefunden  habe; 
zugleich  ergab  sich  aus  jenen  Reflexionen  [IX]  der  Begriff  des  Strebens 
vorzustellen  mit  einer  solchen  Bestimmtheit  und  Notwendigkeit,  dafs 
nunmehr  auch  seine  Fähigkeit,  sich  der  Rechnung  zu  unterwerfen,  vor 
Augen  lag;  und  erst  viel  später  (als  ich  das  Lehrbuch  zur  Psychologie 
niederschrieb)  bemerkte  ich,  dafs  zum  Behuf  des  Vortrags  für  Solche,  die 
man  mit  Metaphysik  nicht  behelligen  darf  oder  will,  das  nämliche  Princip 
auch  als  Hypothese  konnte  dargestellt  werden.  —  Wenn  sich  ein  Indi- 
viduum lange  Jahre  hindurch  auf  einer  und  der  nämlichen  Linie  des 
Forschens  mit  möglichster  Behutsamkeit  fortbewegt:  so  entsteht  daraus  für 
dieses  Individuum  Ueberzeugung,  für  Andre  zunächst  nur  eine  Thatsache 
auf  dem  Gebiete  des  wissenschaftlichen  Denkens,  die  ihnen  rein  und  voll- 
ständig, nur  von  zufälligen  Nebenumständen  gesondert,  mufs  vorgelegt 
werden.  Die  Thatsache  nach  ihrer  Art  zu  betrachten,  ist  ihre  Sache;  als 
ihre  Pflicht  aber  kann  man  ihnen  zumuthen,  dafs  sie  dieselbe  aufbewahren, 
und  unverfälscht  weiter  mittheilen,  damit  sie  noch  in  späterer  Zeit  von 
anderen  Augen    könne    gesehen,    und    vielleicht    anders    ausgelegt    werden. 

Nichts  verhindert  übrigens,  dafs  jeder  Leser  sich  nach  seinem  Be- 
dürfnifs  einen  Anfangspunct  in  diesem  Buche  aufsuche,  der  ihm  bequemer 
ist,  als  der  meinige.  Man  kann  immerhin  die  metaphysische  Untersuchung 
über  das  Ich,  fürs  erste  wenigstens,  ignoriren;  man  kann  die  Grundlinien 
der  Statik  und  Mechanik  des  Geistes  gleich  Anfangs  aufschlagen;  es  wird 
nicht  gerade  schwer  seyn,  auch  hievon  ausgehend,  das  Nachfolgende  zu 
verstehen;  und  man  wird  sich  hiemit  unmittelbar  in  den  Besitz  des  Vor- 
theils  setzen,  den  mathematische  Entwicklungen  durch  ihre  natürliche 
Deutlichkeit  gewähren. 

Eine  andre  Classe  von  Lesern  kann  ich  mir  denken,  die  wegen  ihrer 
vorhandenen  Angewüh[X]nungen  beynahe  nur  von  hinten  anfangend  sich 
einen  Zugang  zu  diesen  Untersuchungen  zu  schaffen  aufgelegt  seyn  dürften. 
Dahin  gehören  die,  welche  in  ihrem  System,  und  eben  deshalb  in  dessen 
Gedankenkreise  vesthängen;  so  dafs  ein  Buch,  worin  nicht  von  denselben 
Gegenständen  unmittelbar  die  Rede  ist,  die  sie  zu  bedenken  gewohnt 
sind,  für  sie  eine  Wüste  ohne  Ruhepunct  ist.  Für  solche  Leser  kann  ich 
nicht  schreiben!  Sollte  mir  gleichwohl  ein  Besuch  von  ihnen  zugedacht 
seyn,  so  müfste  ich  bedauern,  dafs  nicht  der  zweyte  Theil  meines  Werks 
zugleich  mit  dem  ersten  hat  erscheinen  können;  wäre  dies  der  Fall,  so 
würde  es  leichter  als  jetzt  geschehen,  dafs  man  sich    zuerst   bey   den  An- 


Vorrede.  1 83 

Wendungen  orientirte,  und  von  da  rückwärts  zu  den  Granden  fortginge. 
Indessen  enthält  auch  dieser  erste  Band  am  Ende  Einiges,  das  für  Manche 
zur  Einleitung  gehören  würde. 

Will  endlich  Jemand  versuchen,  sich  auf  meine  Schultern  zu  stellen, 
um  weiter  zu  sehen  wie  ich:  so  darf  er  wenigstens  nicht  besorgen,  dafs 
unter  mir  der  Boden  einbreche.  Denn  ich  stehe  nicht  (wie  man  bey 
oberflächlicher  Ansicht  etwa  glauben  könnte)  auf  der  einzigen  Spitze  des 
Ich:  sondern  meine  Basis  ist  so  breit  wie  die  gesammte  Erfahrung.  Zwar 
habe  ich  gesucht,  einem  einzigen  Princip  so  viel  als  möglich  abzugewinnen; 
aber  außerdem  habe  ich  auch  die  andern  Quellen  des  menschlichen 
Wissens  benutzt;  in  welcher  Hinsicht  meine  Einleitung  in  die  Philosophie 
mag  nachgesehn  werden.  Personen,  die  aufgelegt  waren  mir  Unrecht  zu 
thun,  haben  zwar  wider  den  klaren  Augenschein,  den  meine  Einleitung 
darbietet,  mich  in  den  Ruf  gebracht,  als  suchte  ich  einen  Ruhm  darin, 
der  Erfahrung  zu  widersprechen;  allein  nicht  alle  Nachreden  haften;  und 
meine  Versicherung  wird  doch  auch  einigen  [XI]  Glauben  finden :  es  sey  in 
der  theoretischen  Philosophie  meine  Hauptangelegenheit,  die  Erfahrung 
mit  sich  selbst  zu  versöhnen.  Uebrigens  kenne  ich  die  Macht  der 
Vorurtheile;  und  wenn  man  aus  dem  hier  vorliegenden  Buche  eben  so 
deutlich  herauslieset,  ich  sey  ein  vollkommener  Empirist,  als  aus  jenem, 
ich  sey  Gegner  aller  Erfahrung,  so  werde  ich  mich  darüber  nicht  mehr 
wundern,  und  nicht  sehr  betrüben.  Misdeutung  ist  für  jede  neue  Lehre 
das  alte  Schicksal;  und  jetzt,  da  ich  diese  Blätter  aus  meinen  Händen 
lasse,  darf  ich  mich  ruhig  darin  ergeben.  Bereit  fühle  ich  mich  zu  dieser 
Resignation;  allein  indem  ich  mir  alle  Umstände  nochmals  vergegenwärtige, 
glaube  ich  nicht,  dafs  sie  nöthig  ist.  Deutlich  gesprochen  habe  ich  in 
diesem  Buche.  Und  die  Philosophie  der  letzten  zwanzig  Jahre  ist  ein 
Baum,  den  man  im  Grunde  längst  an  seinen  Erüchten  erkannt  hat. 
Diese  Philosophie  ist  keineswegs  das  Werk  eines  Übeln  Willens,  oder 
geistloser  Köpfe;  aber  sie  ist  auch  eben  so  wenig  das  Werk  ächter  Specu- 
lation;  sondern  das  Kind  eines  Enthusiasmus,  der  es  unterliefe,  sich  selbst 
die  kritischen  Zügel  anzulegen.  Kant  besafs  den  Geist  der  Kritik;  aber 
welcher  Mensch  hat  je  sein  Werk  vollendet?  —  Unvollendet  blieb  das 
Werk  der  Kritik.  Darum  konnte  die  Philosophie  sich  mit  dem  Wissen 
des  Zeitalters,  wie  es  in  andern  Fächern  fortwächst,  nicht  ins  Gleichgewicht 
setzen.  Vergebens  sucht  man  Rath  bey  altern  Zeiten;  sie  wußten  nicht 
mehr  wie  wir.  Des-Cartes,  Locke,  Leibniz,  Spinoza,  selbst  Platon  und 
Aristoteles  taugen  bey  uns  nur  zur  Vorbereitung;  in  noch  frühere 
Zeiten  müfsten  wir  wissentlich  hineindichten,  was  die  Documente  nicht 
enthalten.  Unsre  Mathematiker  und  Physiker  verachten  die  Philosophie 
der  Zeit,  und  sie  haben  nicht  Unrecht.  Die  Kirche  weifs,  dafs  sie  auf 
[XII]  einem  antiken,  und  in  seiner  Art  vollkommen  klassischen  Funda- 
mente beruht;  für  die  allgemeinen  Bedürfnisse  der  Menschheit  ist  längst 
gesorgt.  Nicht  so  für  die  Angelegenheiten  des  Wissens  und  für  das,  was 
davon  abhängt.  Darum  wolle  man  den  neuen  Versuch  gefällig  aufnehmen, 
und  ihn  sorgfältig  prüfen. 


Inhalt  des  ersten  Bandes. 


Einleitung. 

I.    Von  den  verschiedenen  Weisen,  wie  die  gemeine  Kenntnifs  der  Thatsachen 

des  Bewufstseyns  gewonnen  wird.     §    I — 6. 
II.    Von  einer  allgemeinen  Eigenschaft  alles  dessen,  was  innerlich  wahrgenom- 
men wird.     §  7  —  9. 

III.  Weshalb  sind  wir  so  geneigt,    uns    in  der  Psychologie  mit  Abstractionen 
zu  behelfen  ?    §10. 

IV.  Allgemeine  Angabe  des  Verfahrens,   um  Thatsachen  des  Bewufstseyns  zu 
Principien  der  Psychologie  zu  benutzen.     §    11  — 13. 

V.    Vom  Verhältnisse  der  Psychologie  zur  allgemeinen  Metaphysik.    §  14 — 16. 
VI.    Blicke  auf  die  Geschichte  der  Psychologie  seit  Des-Cartes.     §  17—22. 
VII.    Plan  und  Eintheilung  der  bevorstehenden  Untersuchungen.     §  23. 

Erster,   synthetischer    Theil. 

Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich,  in  seinen  näch- 
sten Beziehungen. 

Erstes  Capitel.     Ueber  die  philosophische  Bestimmung  des  Begriffs  vom  Ich. 

§  24—26. 
Zweytes  Capitel.     Darstellung  des  im  Begriffe  des  Ich  enthaltenen  Problems, 

nebst  den  ersten  Schritten  zu  dessen  Auflösung.     §  27 — 30. 
Drittes  Capitel.     Vergleichung  des  Selbstbewufstseyns  mit  andern  Problemen 

der  allgemeinen  Metaphysik.     §  31 — 35. 
Viertes  Capitel.  Vorbereitung  der  mathematisch-psychologischen  Untersuchungen. 

§   36-40- 

Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes. 

Erstes  Capitel.  Summe  und  Verhältnifs  der  Hemmung  bey  vollem  Gegen- 
satze.    §  41—43. 

Zweytes  Capitel  Berechnung  der  Hemmung  bey  vollem  Gegensatze,  und 
erste  Nachweisung  der  Schwellen  des  Bewufstseyns.     §  44  —  51. 

Drittes  Capitel.  Abänderung  des  Vorigen  bey  minderem  Gegensatze.  §  52 
bis  56. 

Viertes  Capitel.  Von  den  vollkommenen  Complicationen  der  Vorstellungen. 
§  57-62. 

Fünftes  Capitel.     Von   den  unvollkommenen   Complicationen.     §  63 — 66. 

Sechstes  Capitel.     Von  den  Verschmelzungen.     §  67 — 73. 

Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 

Erstes  Capitel.  Vom  Sinken  der  Hemmungssumme.  §  74  —  76. 
Zweytes  Capitel.  Von  den  mechanischen  Schwellen.  §  "JJ — 80. 
Drittes    Capitel.      Von    wiedererweckten    Vorstellungen    nach   der   einfachsten 

Ansicht.     §  81—85. 
Viertes  Capitel.     Von  der  mittelbaren  "Wiedererweckung.     §  86 — 93. 
Fünftes    Capitel.     Vom    zeitlichen    Entstehen   der   Vorstellungen.     §  94 — 97. 
Sechstes   Capitel.      Ueber   Abnahme    und    Erneuerung    der    Empfänglichkeit. 

§  98—99- 
Siebentes   Capitel.     Von    den    Vorstellungsreihen   niederer  und   höherer   Ord- 
nungen;  ihrer  Verwebung  und  Wechselwirkung.      §    100 — 102. 


Einleitung. 


[i]  Die  Absicht  dieses  Werkes  geht  dahin,  eine  Seelenforschung  her- 
beyzuführen,  welche  der  Naturforschung  gleiche;  in  so  fern  dieselbe  den 
völlig  regelmäfsigen  Zusammenhang  der  Erscheinungen  überall  voraussetzt, 
und  ihm  nachspürt  durch  Sichtung  der  Thatsachen,  durch  behutsame 
Schlüsse,  durch  gewagte,  geprüfte,  berichtigte  Hypothesen,  endlich,  wo  es 
irgend  seyn  kann,  durch  Erwägung  der  Gröfsen  und  durch  Rechnung. 
Dafs  die  Seelenlehre  sich  von  mehrern  Seiten  der  Rechnung  darbietet,  diese 
Bemerkung  hat  mich  auf  die  Bahn  der  jetzt  vorzulegenden  Untersuchungen 
gebracht;  und  je  weiter  ich  sie  verfolge,  um  desto  mehr  überzeuge  ich 
mich,  dafs  nur  auf  solchem  Wege  das  Misverhältnifs  zwischen  unsern 
Kenntnissen  von  der  äufseren  Welt,  und  der  Ungewifsheit  über  unser 
eigenes  Innere,  kann  ausgeglichen,  nur  auf  solche  Weise  der  Stoff,  welchen 
Selbstbeobachtung,  Umgang  mit  Menschen,  und  Geschichte,  uns  darbieten, 
gehörig  kann  verarbeitet  werden. 

Von    den    Meinungen    derer,    die    auf   innere,    auf   intellectuale    An- 
schauungen eine  Naturlehre  gründen,   werde  ich  freilich  mich  weit  entfernen 
müssen.     Ihre  Naturlehre  ist  nicht  das  passende  Gleichnifs  für  die  Psycho- 
logie;   ihre    Anschauungen   sind    der   Selbsttäuschung   mehr    als    verdächtig, 
denn    es    sind    offenbar   nur    unrichtige  Begriffe,    die  aus  speculativen  Ver- 
legenheiten entsprangen;  hätte  es  aber  auch  mit  diesen  Anschauungen,   als 
Thatsachen,    [2]  seine  Richtigkeit,   so  würde  dabey  noch  vergessen  oder  ver- 
kannt seyn,    dafs  alle  Anschauung,    innere  sowohl  als   äufsere,    um  sichere 
Ueberzeugung  zu  begründen,   erst  die  Probe  machen  mufs,   ob  sie  sich  im 
Denken  halten  könne?    oder    ob    sie  ein  blofser  Stoff  für  Kritik  und  Um- 
arbeitung   werde,    sobald  der  Denker    sie    ernstlich    angreift?    Des    leichten 
Beyspiels,    welches  die  Astronomie    uns  liefert,    indem  sie  die  scheinbaren 
Bewegungen    auf  die   wahren    zurückführt,    ist    kaum  nöthig,    zu  erwähnen. 
Um    nichts    besser   werde  ich   zusammenstimmen  mit  Denen,    welche 
durch    das    Dogma    von    der    sogenannten    transscen dentalen    Freyheit 
des  Willens    einen  grofsen  Theil  der  psychologischen  Thatsachen    der  all- 
gemeinen Gesetzmässigkeit    entweder   geradezu  entziehen,    oder  doch  diese 
Gesetzmäfsigkeit  für  blofse  Erscheinung  erklären.      Diese  häufen  irrige  An- 
sichten der  praktischen  Philosophie  auf  psychologische  Vorurtheile;    indem 
sie  die  Selbstständigkeit  des  sittlichen  Urtheils  mit  einer  Selbstständigkeit  des 
Willens    verwechseln;    die  Zurechnung,    welche    den    Willen    treffen    sollte, 
über  ihr  Ziel  hinaustreiben,   und  sich  dabey  in  müssige  Fragen  nach  dem 
Ursprünge    des  Willens    verlieren;    endlich   das   Urtheil  mit  dem  Gebute 


l86  XL    Psychologie  als  Wissenschaft. 

zusammenschmelzend  sich  eine  praktische  Vernunft  erfinden,  deren  Ver- 
hältnifs  zu  der  theoretischen  sie  in  die  unnützesten  Streitigkeiten  verwickelt. 
Das  Gewebe  dieser  Täuschungen  aufzulösen,  ist  zum  Theil  die  Sache  der 
praktischen  Philosophie,  und  in  so  fern  mufs  ich  mich  auf  eine  frühere 
Schrift  beziehen*;  damit  aber  auch  die  Psychologie  von  ihrer  Seite  zu  Hülfe 
komme,   mufs  erst  sie  selbst  mit  vorurtheilsfreyem  Geiste  bearbeitet  werden. 

Abweichen  mufs  endlich  von  allen  Denen,  welche  die  innern  That- 
sachen  zu  erklären  glauben,  indem  sie  sie  classificiren ,  und  nun  für  jede 
Classe  von  Thatsafjjjchen  eine  besondere,  ihr  entsprechende  Möglichkeit 
annehmen,  diese  Möglichkeiten  aber  in  eben  so  viele  Vermögen  übersetzen; 
wobey  die  logischen,  zur  vorläufigen  Uebersicht  der  Phänomene  brauch- 
baren Einteilungen,  wider  alles  Recht,  für  Erkenntnisse  realer  Vielheit 
und  Verschiedenheit  ausgegeben  werden;  und  wodurch  statt  des  ächten 
Systems,  der,  unter  sich  nothwendig  zusammenhängenden  psychologischen 
Gesetze  ein  blofses  Aggregat  von  Seelenvermögen  herauskommt,  ohne  Spur 
einer  Antwort  auf  die  Frage:  warum  doch  gerade  solche  und  so  viele 
Vermögen  in  uns  beysammen,  und  warum  sie  in  dieser,  und  keiner  andern 
Gemeinschaft  begriffen  sevn  mögen?  —  Die  sogenannte  empirische  Psycho- 
logie, welche  aus  solcher  Behandlung  des  Gegenstandes  entsteht,  ist  be- 
kannt genug,  es  wird  auch  noch  jetzt  hie  und  da  daran  gekünstelt,  ob- 
gleich das  Interesse  dafür  sich  grofsentheils  verloren  hat.  Hier  aber  ent- 
steht ein  Kreislauf  von  Uebeln.  Unrichtiges  Verfahren  siebt  schlechten 
Erfolg;  das  Mislingen  bricht  den  Muth  und  hemmt  den  Fleifs;  je  nach- 
lässiger nun  gearbeitet  wird,  desto  weniger  bessert  sich  das  Verfahren ;  und 
der  Irrthum,  dessen  man  längst  müde  geworden,  fährt  gleichwohl  fort  zu 
täuschen.   — 

Nach  den  vorstehenden  Erklärungen  werden  Manche  dies  Buch  für 
immer  bey  Seite  legen;  möchten  nun  die  Wenigen,  welche  noch  nicht  ab- 
geschreckt sind,  sich  zuerst  der  längst  anerkannten,  höchsten  Wichtigkeit 
einer  ächten  Wissenschaft  von  Uns  selbst,  von  unserem  Geiste  und  Ge- 
müthe,  erinnern!  Einer  Wissenschaft,  die  wir  im  Grunde  immer,  als  ob 
wir  sie  schon  besäfsen,  im  Stillen  voraussetzen,  wo  wir  von  uns  etwas 
fordeni,  für  uns  etwas  wünschen,  wo  wir  mit  unsern  Kräften  etwas  unter- 
nehmen, oder  daran  zweifelnd  etwas  aufgeben,  wo  wir  im  Wissen  oder 
im  Handeln  oder  im  Geniefsen  vorwärts  streben  oder  rückwärts  gleiten. 
Uns  selbst  schauen  und  denken  wir  in  Alles  hinein,  darum  weil  wir  mit 
unsern  Augen  sehen,  und  mit  unserm  Geiste  den[_|.]ken;  in  unsern 
eigenen  Zuständen  liegt  das  Glück  und  das  Uebel,  welches  wir  empfinden, 
und  dessen  Vorstellung1  wir  auf  Andere  übertragen;  nach  dem  Standpuncte, 
auf  welchem  der  Mensch  steht,  richtet  sich  sein  Begriff  von  Gott  und  vom 
Teufel,  so  wie  von  der  Erde  aus  und  mit  irdischen  Werkzeugen  wir 
in  das  Licht  der  Sonnen  und  in  die  Nebel  der  Kometen  hineinblicken. 
Können  wir  nun  das,  was  wir  in  unser  Wissen  und  Meinen  selbst  hinein- 
trugen,  wieder  abrechnen?   Und  bleibt  alsdann  noch  ein  wahrhaft  objectives 


Nämlich  auf  meine  allgemeine  praktische  Philosophie. 


1  Vorstellungen  S\Y. 


Einleitung.  187 


Wissen  übrig?  Oder  ist  die  Abrechnung  unmöglich,  und  ist  die  ganze 
Welt,  die  ganze  Natur,  blofs  für  uns  und  in  uns?  Oder  sind  wir  selbst 
dergestalt  in  der  Welt,  dafs  in  der  Selbstanschauung  der  Welt  auch  die 
Geister  der  Menschen,  wie  Theile  im  Ganzen  enthalten  sind?  —  Solche 
Fragen,  ohne  alle  Psychologie  zu  beantworten,  wird  wohl  Niemand  ver- 
suchen. Dadurch  aber,  dafs  man  in  die  Lehren  vom  Ich  oder  von  der 
Weltseele  die  gemeinen  Vorstellungsarten  der  empirischen  Psychologie 
einwickelt,  ohne  sie  zu  verbessern,  kommt  die  Wissenschaft  nicht  von  der 
Stelle.  Und  gleichwohl,  wo  wäre  die  Wissenschaftslehre  oder  die  Natur- 
philosophie, die  nicht  auf  der  Einbildungskraft,  der  Urtheilskraft, 
der  Vernunft,  dem  Verstände,  dem  freyen  Willen,  als  auf  eben  so 
vielen  unentbehrlichen  Krücken  sich  gelehnt  hätte  und  einhergegangen  wäre? 
die  nicht,  obgleich  undankbar,  dennoch  Dienste  von  der  empirischen  Psy- 
chologie angenommen,  und  dadurch  ein  mittelbares  Bekenntnifs  von  der 
Wichtigkeit  unseres  Gegenstandes  abgelegt  hätte? 

Möchten  ferner  die  Leser,  die  sich  entschlossen  haben,  mir  ernstlich 
und  beharrlich  auf  meiner  Bahn  zu  folgen,  in  der  Ueberlegung  dessen, 
wornach  sie  zuerst  zu  fragen  haben,  mir  zuvorkommen!  Dieses  aber  sind 
die  Principien,  die  ich  zum  Grunde  lege1,  und  die  Methoden,  deren 
ich  mich  bedienen  werde.  Wobey  sogleich  zu  bemerken,  dafs  hier  lediglich 
von  Principien  der  Er[5]kenntnifs,  das  heifst,  von  Anfangspuncten  des 
Wissens  die  Rede  seyn  kann;  keineswegs  aber  von  Real-Principien,  das 
heifst,  Anfangspuncten  des  Seyns  und  Geschehens.  Denn  wie,  und  ob 
überhaupt,  wir  die  letztem  zu  erkennen  vermögen?  das  ist  eben  die 
Frage;  es  ist  keine  Gewifsheit,  von  der  man  ausgehn  könnte.  Und  den 
Lehren,  nach  welchen  es  irgend  ein  Reales  geben  soll,  das  man  unmittel- 
bar und  ursprünglich  erkenne,  steht  die  Thatsache  entgegen,  dafs  sie  be- 
zweifelt werden,  da  doch  kein  Zweifel  möglich  wäre,  wenn  durch  irgend 
ein  Princip  des  Wissens  geradezu  ein  realer  Gegenstand  gewufst  würde. 
Meinerseits  benachrichtige  ich  den  Leser,  dafs  ich  alle  vorgebliche  Identität 
von  Ideal-  und  Real-Principien  schlechthin  leugne,  und  jede  Behauptung 
der  Art  als  einen  Schlagbaum  betrachte,  wodurch  der  Weg  zur  Wahrheit 
gleich  Anfangs  versperrt  wird.  Alles  unmittelbar-Gegebene  ist  Erscheinung; 
alle  Kenntnifs  des  Realen  beruht  auf  der  Einsicht,  dafs  das  Gegebene 
nicht  erscheinen  könnte,  wenn  das  Reale  nicht  wäre.  Die  Schlüsse  aber 
von  der  Erscheinung  auf  das  Reale,  beruhen  nicht  auf  eingebildeten  For- 
men des  Anschauens  und  Denkens;  —  dergleichen  Manche  in  dem  Räume 
und  der  Zeit,  ja  sogar  in  dem  Causal-Gesetze,  oder  noch  allgemeiner  in 
einem  sogenannten  Satze  des  Grundes  zu  finden  glauben;  dergestalt,  dafs 
sie  diese  Formen  für  zufällige  Bedingungen  halten,  auf  welche  nun  einmal 
das  menschliche  Erkenntnifsvermögen  beschränkt  sey,  während  andre  Ver- 
nunftwesen wohl  eine  andre  Einrichtung  ihres  Denkens  haben  könnten.  — 
Wer  dieser  Meinung  zugethan  ist,  der  verfährt  consequent,  wenn  er  die 
Schlüsse  von  der  Erscheinung  auf  das  Reale  für  ein  blofses  Ereignifs  in 
unserm  Erkenntnifsverm<">gen  hält;  der  Fehler  liegt  aber  daran,  dafs  er  die 
Formen  des  Denkens  blofs  empirisch  kennt,   ohne  Einsicht  in  deren  innere 


1  zum  Grunde  O  („lege"  fehlt). 


l88  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


und  unabänderliche  Nothwendigkeit.  Wäre  ihm  diese  klar,  so  würde  er 
auch  richtigen  Schlüssen  vertrauen;  und  das  Suchen  nach  einem  hohem 
Standpuncte,  auf  welchem  die  einmal  er[6]kannte  Wahrheit  wohl  wieder 
Irrthum  werden  möge,  würde  er  als  eine  Träumerey  betrachten,  deren 
Ungereimtheit  daraus  entsteht,  dafs  die  Evidenz  des  Wachens  verloren  geht 
und  vergessen  wird.  Diejenigen,  welche  auf  verschiedenen  Standpuncten 
Verschiedenes  wahr  fanden,  hatten  auf  keinem  richtig  gesehen. 

Eine  zweyte  Bemerkung,  die  gleich  hier  nöthig  scheint,  betrifft  das 
Verhältnifs  der  Principien  und  Methoden.  Beyde  bestimmen  einander 
gegenseitig.  Nämlich  ein  Princip  soll  die  doppelte  Eigenschaft  besitzen, 
eigene  Gewifsheit  ursprünglich  zu  haben,  und  andere  Gewifsheit  zu  er- 
zeugen. Die  Art  und  Weise,  wie  das  letztere  geschieht,  ist  die  Methode. 
Daher  richtet  sich  aber  auch  die  Methode  nach  dem  Princip,  auf  welches- 
sie  pafst;  und  ihm  selbst  mufs  sie  abgewonnen  werden.  Der  Denker, 
welcher  in  der  Mitte  seiner  Beschäftigung  mit  einem  (nicht  willkürlichen, 
sondern  gegebenen)  Begriffe,  gewahr  wird,  dafs  dieser  Begriff  ihm  nöthige 
neue  Begriffe  an  jenen  anzuknüpfen,  die  zu  ihm  wesentlich  gehören;, 
derselbe  findet,  und  erfindet  eben  dadurch  die  Methode,  welche  zu  jenem 
Begriffe,  als  dem  Princip,  gehören  wird.  Ueber  ein  solches  Verhältnifs 
zwischen  Methoden  und  den  entsprechenden  Principien  lassen  sich  all- 
gemeine Untersuchungen  anstellen;  aber  in  der  reinen  formalen  Logik  mufs 
man  dergleichen  nicht  suchen;  denn  eben  weil  diese  von  allem  Inhalte 
der  Begriffe  abstrahirt,  kann  sie  das  Eigenthümliche  besonderer  Erkenntnifs- 
quellen,  und  die  besondere  Art,  wie  daraus  geschöpft  werden  mufs,  nicht 
erreichen.  Daher  kann  auch  die  Frage,  wie  vieles  aus  einem  einzigen 
Princip  könne  abgeleitet  werden?  nicht  durch  die  allbekannte  Bemerkung, 
dafs  zu  einer  logischen  Conclusion  wenigstens  zwey  Prämissen  gehören, 
zurückgewiesen  werden.  Wer  in  der  Philosophie  gute  Fortschritte  machen 
will,  der  mufs  sich  vor  allen  Dingen  hüten,  in  der  Form  seines  Denkens 
nicht  einseitig  zu  werden,  und  sich  keiner  beschränkten  Angewöhnung  zu 
überlassen.  Fast  jede  Classe  von  Problemen  [7]  hat  ihr  Eigenthümliches, 
sie   verlangt  neue  Uebungen  und  Anstrengungen. 

Hieraus  erklärt  sichs,  dafs  oft  die  fruchtbarsten  Principien  lange  Zeit 
ungenutzt  liegen  bleiben.  Man  kennt  sie  in  ihrer  ersten  Eigenschaft,  näm- 
lich dafs  sie  an  sich  gewifs  sind;  aber  man  ist  noch  nicht  aufmerksam 
geworden  auf  die  zweyte,  vermöge  deren  sie  neue  Gewifsheit  erzeugen 
können.  Und  warum  nicht?  Weil  man  die  dazu  nöthige  Methode  nicht 
hat,  und  die  derselben  angemessene  Geistesrichtung  und  Uebung  nicht 
besitzt. 

Die  Gefahr  aber,  dafs  vorhandene  Principien  ungenutzt  bleiben,  ist 
um  desto  gröfser,  je  mehr  unsre  Aufmerksamkeit  getheilt  wird,  je  mehr 
die  Menge  der  Principien  uns  zerstreut;  je  unbestimmter  sie  vor  unsern 
Augen  gleichsam  herum  schweben;  endlich  je  mannigfaltiger  wir  noch 
aufser  dem  speculativen  Interesse  von  ihnen  beschäfttigt  werden. 

In  solchem  Falle  nun  sind  wir  mit  den  Principien  der  Psychologie. 
An  ihnen  haben  wir  einen  Reichthum,  den  wir  nicht  zählen  können;  ein 
Wissen,  das,  wie  ein  Irrlicht,  uns  stets  begleitet,  und  stets  flieht;  eine 
Ueberzeugung,  deren  Stärke  zwar  die  gröfste,  deren  Bestimmtheit  aber  die 


Einleitung.  189 


allerlei einste  ist;  eine  Basis  von  Untersuchungen,  welche  als  Ganzes  völlig 
vest  lieo-t,  und  doch  in  jedem  einzelnen  Puncte  schwankt;  endlich  eine 
Aufforderung  zum  Nachdenken,  die  so  dringend  und  auf  so  mannigfaltige 
Weise  einladend,  die  mit  so  vielerley  Angelegenheiten  unsere  Lebens  und 
unserer  Geschaffte  verflochten  ist,  dafs  wir  vor  lauter  Interesse  zu  der- 
jenigen rein  speculativen  Gemüthsfassung,  deren  es  zur  Untersuchung  ein- 
zig bedarf,  kaum  gelangen  können. 

Welches  sind  denn  die  Principien  der  Psychologie?  Diese 
Frage  hoffe  ich  mit  allgemeiner  Zustimmung  so  zu  beantworten:  es  sind 
diejenigen  Thatsachen  des  Bewufstseyns,  aus  welchen  die  Gesetze  dessen, 
was  in  uns  geschieht,  können  erkannt  werden.  —  Die  Thatsachen  des 
Bewufstseyns  sind  ohne  Zweifel  die  An[8]fangspuncte  alles  psychologischen 
Nachdenkens;  abgesehen  von  ihnen,  was  hätten  wir  von  der  Seele  zu 
sagen  oder  zu  fragen?  Nun  soll  auch  aus  den  Principien  etwas  weiteres 
erkannt  werden;  und  hier  möchte  man  sich  vielleicht  nicht  mit  den  Ge- 
setzen der  geistigen  Ereignisse  begnügen  wollen,  sondern  auch  noch  Auf- 
schlufs  über  das  reale  Wesen  der  Seele  verlangen.  Allein  ob  dieses  er- 
kennbar sey?  wird  wohl  der  Leser  das  vor  der  Untersuchung  entscheiden 
wollen?  Wir  suchen  ein  speculatives  Wissen;  also  freylich  kein  blofses 
Register  von  Thatsachen,  sondern  eine  gesetzmäfsige  Verknüpfung  derselben; 
darüber  hinaus  grundlose  Behauptungen  aufzustellen,  würde  Nichts  helfen; 
ergiebt  sich  aber  auf  rechtmäfsigem  Wege  noch  etwas  Mehr,  so  ist  dies 
als  eine  willkommene   Zugabe  zu  betrachten. 

Wenn  nun  gleich  die  gegebene  Antwort  einleuchtend  ist,  so  hat  sie 
doch  nur  den  Werth  einer  Nominal-Definition.  Denn  wir  sehen  noch 
nicht,  ob  es  denn  solche  Thatsachen  des  Bewufstseyns  wirklich  gebe,  die 
zu  Erkenntnifsgründen  der  aufzusuchenden  Gesetze  dienen  können?  Welche 
es  seven?  Wie  man  sie  herauswählen  könne  aus  der  Fülle  der  innern 
Wahrnehmungen?  Wie  aus  ihnen  etwas  folge,  und  wie  Vieles?  Ob  man 
mehrere  solche  Thatsachen  verbinden  müsse,  oder  nicht?  Ob  man  sich 
aller  deren,  welche  die  Würde  von  Principien  behaupten  können,  noth- 
wendig  bedienen  müsse;  oder  ob  sie  den  mehrern  Thoren  Einer  Stadt 
zu  vergleichen  seyen,  unter  denen  man  wählen  darf,  weil  jedes  den  Ein- 
gang zu  der  ganzen  Stadt  darbietet,  obgleich  vielleicht  Eines  schneller 
und  bequemer  als  die  andern,  uns  in  den  Mittelpunct  der  Stadt  würde 
gelangen  lassen? 

Diese  Fragen,  ohne  Zweifel  schwer  genug  zu  beantworten,  setzen  alle 
schon  voraus;  dafs  man  die  Thatsachen  des  Bewufstseyns,  so  wie  die  innere 
Wahrnehmung  sie  darbietet,  wenigstens  kenne  und  übersehe.  Aber  hat 
uns  die  empirische  Psychologie  auch  nur  so  weit  vorgearbeitet?  Sie  erzählt 
vom  Vorstellungsvermögen,  Gefühl[o]verm<">gen,  Begehrungsvermögen;  sie 
ordnet  diesen  Vermögen,  als  ob  es  Gattungsbegriffe  wären,  andere 
Vermögen  unter,  zum  Beyspiel,  Gedächtnifs,  Einbildungskraft,  Verstand, 
Vernunft;  ja  in  dieser  Unterordnung  geht  sie  noch  weiter,  indem  sie  ein 
Ortgedächtnifs,  Namengedächtnifs,  Sachgedächtnifs,  einen  theoretischen  und 
praktischen  Verstand,  u.  dgl.  aufweist.  Ist  nun  wohl  hier  ein  Ende  der 
Unterordnung  ?  Und  ist  das  Allgemeine,  dem  etwas  subsumirt  wird,  eine 
Thatsache?    Gewifs  nichts   weniger;   alle  Thatsachen  sind  etwas  individuelles, 


190  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


sie  sind  weder  Gattungen  noch  Arten.  Die  letztem  aber  müssen  durch 
eine  regelmäfsige  Abstraction  aus  der  Auffassung  des  Individuellen  ent- 
springen. Wie  nun,  wenn  das  Individuelle  nicht  still  genug  hielte, 
um  sich  zu  einer  regelmäfsigen  Abstraction  hemigeben  ? 

Wer  auch  nur  einen  Versuch  macht,  die  hier  aufgeworfenen  Fragen 
ernstlich  zu  überlegen:  der  wird  bald  inne  werden,  dafs  der  Stoff,  den 
wir  behandeln  wollen,  äufserst  schlüpfrig  ist.  Daher  können  wir  diejenigen 
Untersuchungen,  welche  den  wesentlichen  Inhalt  dieses  Buchs  ausmachen, 
nicht  gleich  vornehmen,  sondern  es  sind  einige  vorbereitenden  Betrachtungen 
nöthig.  Zuerst  über  die  Auffassung  und  Benutzung  der  psychologischen 
Principien.  Femer  über  das  Verhältnifs  der  Wissenschaft,  die  wir  Psycho- 
logie nennen,  zur  allgemeinen  Metaphysik  Dann  werden  wir  uns  in  der 
Kürze  an  die  neuere  Geschichte  der  Psychologie  erinnern;  und  erst  am 
Ende  dieser  ganzen  Einleitung  kann  über  den  Plan  des  Buchs  eine  nähere 
Auskunft  gegeben  werden.  Die  Leser  aber  werden  gebeten,  sich  einen 
ruhigen  Schritt  gefallen  zu  lassen;  und  vest  zu  glauben,  dafs  in  der  Philo- 
sophie allemal  der  Weg,  den  man  in  scheinbaren  Geniesprüngen  vorwärts 
macht,   langsam  wieder  rückwärts  gegangen  wird. 


[IO]      I. 

Von   den   verschiedenen  Weisen,   wie   die   gemeine  Kenntnifs   der 
Thatsachen  des  Bewufstseins  gewonnen  wird. 

§   i. 

Die  Thatsachen  des  Bewufstseyns  (unter  welchen  die  psychologischen 
Principien  sich  befinden  müssen)  werden  entweder  unwillkührlich  gefunden, 
oder  sie  werden  absichtlich  gesucht.  Man  könnte  hinzufügen,  entweder 
durch  Beobachtung  unserer  selbst,  oder  Anderer:  allein  es  ist  bekannt,  dafs 
die  Aeufserungen  Anderer  nur  mit  Hülfe  der  Selbstbeobachtung  ihre  Aus- 
legung erhalten  können;  daher  es  rathsam  seyn  wird,  zunächst  bey  der 
Selbstbeobachtung  stehen  zu  bleiben. 

Die  Absicht,  unser  Inneres  wahrzunehmen,  kommt  zwar  im  gemeinen 
Leben  nicht  gar  häufig  vor.  Desto  mehr  aber  wird  man  durch  psycho- 
logische Beschäftigungen  dazu  veranlafst,  und  selbst  angetrieben,  indem 
man  den  Gegenstand,  wovon  die  Rede  ist,  unmittelbar  auffassen  möchte. 
Aus  diesem  Grunde  wird  es  hier  ganz  passend  seyn,  von  der  absicht- 
lichen  Betrachtung  der  Thatsachen   des  Bewufstseyns  anzufangen. 

§    2. 

Den  Versuch,  in  sein  Inneres  zu  blicken,  kann  man  jeden  Augen- 
blick anstellen.  Immer  wird  sich  etwas  finden,  woran  gerade  jetzt  gedacht 
wurde;  immer  auch  ein  körperliches  Gefühl  sich  entdecken  lassen,  wäre 
es  auch  nur  das,  welches  mit  dem  Stehen,  Sitzen,  Liegen,  überhaupt  mit 
der  nothwendigen  Unterstützung  des  Körpers  verbunden  ist.  Ferner  wird 
das,  woran  gedacht  wurde,  nicht  einfach  seyn;  auf  seiner  Mannigfaltigkeit 
wird  die  Selbstbetrachtung  umherlaufen,  und  es  einigermafsen  verdeutlichen. 
Aber  nicht  nur  das  Hervorgehobene  wird  alsbald  wieder  schwinden; 
sondern  alles,  was  die  innere  [i  i]  Wahrnehmung  gefunden  hatte,  wird  sich 
gar  bald  verdunkeln,  und  irgend  eine  Veränderung  in  dem  Schauspiele  sich 
zeigen.  Am  gewöhnlichsten  ist  es  die  Selbstbeobachtung  selber,  von  der 
eine  neue  Gedankenreihe  anhebt,  die  wenige  Augenblicke  später  aufs  neue 
zum   Object  einer  wiederhohltcn   Reflexion  sich   darbietet. 

Das  eben  Beschriebene  wird  sich  mannigfaltig  abändern,  wenn  mitten 
im  Geschafft,  in  der  Leidenschaft,  während  des  Sprechens  mit  Andern, 
wir  uns  selber  belauschen.  Das  Geschafft  geräth  dadurch  ins  Stocken  und 
die  Leidenschaft  mäfsigt  sich,  und  macht  gar  oft  einem  Affecte  Platz,  der 
aus   dem  Urtheil   über  uns  selbst  entspringt.     Das  Zuhören  bey  der  eignen 


IQ2  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

Rede  hemmt  ihr  rasches  Fortströmen;  und  es  regt  sich  ein  Bestreben, 
den  Gedanken  zu  concentriren,  den  die  Worte  aus  einander  legen;  den 
Ausdruck  entsprechender,  ja  den  Ton  der  Stimme  anklingender  zu  machen. 
Will  man  verhüten,  dafs  nicht  der  Zuschauer  in  die  Handlung  ein- 
greife?  Will  man  sich  absichtlich  gehen  lassen;  um  rein  aufzufassen,  was 
von  selbst  innerlich  geschehe?  Nur  um  so  eher  wird  alles,  was  zu  sehen 
war,  sich  verdunkeln,  und  gar  bald  wird  nur  noch  der  Zuschauer  sich  und 
sein  eignes  Warten  beschauen.  Eine  Stunde  lang,  wohl  gar  einen  Tag 
lang  unablässig  und  streng  sich  selbst  beobachten,  um  in  jedem  Augen- 
blick den  eben  vorhandenen  inneren  Zustand  unmittelbar  wahrzunehmen: 
dies  könnte  als  eine  der  stärksten  Selbstpeinigungen  denen  empfohlen 
werden,   die   darin  ein  Verdienst  suchen. 

§  3- 

Unabsichtlich  ist  Jeder  sein  eigner  Zuschauer  während  seines  ganzen 
Lebens,  und  eben  dadurch  gewinnt  er  seine  eigene  Lebensgeschichte.  Auch 
bringt  er  diese  Geschichte,  und  die  aus  ihr  geschöpfte  Kenntnifs  seiner 
Person,  zu  jeder  Selbstbeobachtung  mit;  jene  ergiebt  das  Subject,  zu 
welchem  diese  nur  die  Prädicate  liefern  soll.  Und  schon  aus  diesem 
Grunde  kann  die  absichtliche  [12]  Selbstbetrachtung  niemals  reine  Resultate 
liefern;  der  Beobachter  kennt  sich,  den  er  kennen  lernen  will,  schon  viel 
zu  gut  im  Voraus. 

Die  eigne  Lebensgeschichte  ist  jedoch  weder  eine  völlig  zusammen- 
hängende Kenntnifs,  noch  aus  bestimmt  begränzten  Theilen  zusammen- 
gesetzt. Ihre  Parthieen  treten  durch  Anstrengung  sich  ihrer  zu  erinnern, 
oder  durch  zufällige  Veranlassungen,  heller  und  ausführlicher  hervor;  wie 
viele  aber  der  übrig  gebliebenen  Lücken  sich  noch  möchten  ausfüllen 
lassen,  das  leidet  keine  genaue  Angabe. 

Der  Faden  der  Lebensceschiehte  ist  überdies  sehr  vielfältig  der  Faden 
äufserer  Begebenheiten,  die  in  ihrem  Zusammenhange  mit  Interesse  be- 
trachtet wurden,  und  wozu  nur  hinterher  hinzugedacht  ist,  dafs  man 
dieses  Alles  erlebt  habe.  Wiewohl  nun  auch  die  äufsere  Begebenheiten 
innerlich  mufsten  aufgefafst  werden,  und  alle  innere  Auffassungen  zu  den 
Thatsachen  des  Bewufstseyns  zu  rechnen  sind:  so  kann  man  doch  keines- 
weges  behaupten,  dafs  das  Auffassen  selbst  wiederum  innerlich 
wahrgenommen  sey,  —  eben  so  wenig,  als  dafs  dieses  Wahrnehmen 
des  Auffassens  abermals  Gegenstand  einer  hohem  Wahrnehmung  geworden 
sey,  —  welches  ins  Unendliche  laufen  würde!  Demnach  ist  der 
Gegenstand  der  Wahrnehmung  keinesweges  immerfort  Wir 
selbst;  vielmehr  wird  die  innere  Wahrnehmung  häufig  durch 
die  äufsere,  oder  auch  durch  andere  Gemüthsbewegungcn 
unterbrochen.  Ueberdies  läfst  sich  das  Eintreten  einer  erneuerten, 
also  früher  erloschen  gewesenen,  Aufmerksamkeit  auf  uns  selbst,  oft  genug 
deutlich  wahrnehmen. 

§  4- 

Was  aber  in  solchen  Zeiten  in  uns  vorging,  da  wir  weder  willkührlich 
noch  unwillkührlich    auf  uns    achteten:    das    erfahren    wir    sehr   häufig   aus 


Einleitung.  j  q  :> 


dem  Munde  Anderer,  oder  wir  schliefsen  es  aus  den  Pioducten  unserer 
eigenen  Thätigkeit;  und  dieses  giebt  eine  dritte  Art,  wie  wir  [13]  zur 
Kenntnifs  der  Thatsachen  unseres  Bewufstseyns  gelangen.  Wir  sind  zum 
Beyspiel  «ine  Strecke  gegangen;  ganz  in  Gedanken  vertieft;  aber  die 
Stelle,  wo  wir  uns  jetzo  befinden,  verräth,  wie  weit  unsre  Schritte  uns  ge- 
tragen haben.  Oder  wir  haben  Jemanden  die  Zeitung  vorgelesen,  ohne 
Interesse  und  Aufmerksamkeit;  so  wissen  wir  vielleicht  Nichts  von  mehrern 
Zeilen,  die  doch  der  Zuhörer  gar  wohl  vernommen  hat.  Oder,  mitten  im 
Phantasmen  an  einem  Instrumente  sind  unsre  Gedanken  von  der  Musik 
abgekommen;  und  während  wir  mit  ganz  andern  Gegenständen  uns  leb- 
haft beschäfftigen ,  stört  uns  ein  Anwesender  mit  Bemerkungen  über  das 
was  wir  so  eben  gespielt  haben.  So  erfahren  wir  hintennach,  was  alles 
durch  unseni  Kopf  gegangen  ist.  —  Es  ist  hier  der  Ort,  einer  Zwev- 
deutigkeit  zu  gedenken,  an  welche  der  Leser  schon  kann  gestofsen  seyn. 
Thatsachen  des  Bewufstseyns  würden  im  engsten  Sinne  nur  die  innerlich 
beobachteten  seyn.  Durch  diese  Bestimmung  des  Begriffs  wären  nicht 
blofs  diejenigen  Vorstellungen  ausgeschlossen,  welche  wegen  ihrer  Dunkel- 
heit unbemerkt  bleiben:  sondern  auch  das  active  Beobachten,  sofern 
es  nicht  wiederum  in  einer  höhern  Reflexion  ein  Beobachtetes  wird.  Aber 
das  active  Wissen  gehört  gewifs  mit  zum  Bewufstseyn,  wenn  es  nicht  selbst 
ein  Gewufstes  wird.  Und  die  dunkeln  Vorstellungen  verdunkeln  sich  so 
allmählig,  dafs  das  innerlich  Beobachtete  von  dem,  was  sich  der  Beob- 
achtung entzieht,  nicht  kann  scharf  abgeschnitten  werden.  Ueberdies  wird 
Niemand  bezweifeln,  dafs  das  Beobachtete  mit  dem  Nicht- Beobachteten 
in  einem  unzertrennlichen  Zusammenhange  fortlaufender  Gemüths-Thätigkeit 
stehe.  Daher  rechnen  wir  zu  den  Thatsachen  des  Bewufstseyns 
alles  wirkliche  Vorstellen;  und  folglich  zu  den  Arten,  sie  zu  erfahren, 
auch  die  Beobachtung  der  Producte  unserer  vorstellenden  Thätigkeit,  sollte 
auch  die  innere  Wahrnehmung  unseres  Thuns  gemangelt  haben. 

Bekannte  Beyspiele  zu  häufen,  wäre  unnütz.  Aber  [14]  desto  not- 
wendiger mufs  bemerkt  werden,  dafs  ganze  Massen  un  serer  geistigen 
Thätigkeit  uns  nicht  eher  als  solche  bekannt  werden,  als  bis 
die  Betrachtungen  über  unser  inneres  Produciren,  von  wo  die 
idealistischen  Systeme  ausgehn,  uns  darauf  führen.  Ein  Reisender 
erzählt  wohl  von  dem  was  er  gesehn  hat;  aber  indem  er  seines  Sehens 
erwähnt,  und  was  er  dabey  empfunden,  beschreibt,  fällt  ihm  nicht  ein, 
\<>n  denjenigen  Thätigkeiten  seines  Geistes  zu  sprechen,  vermöge  deren 
er  das,  an  sich  intensive,  Wahrnehmen,  in  ein  räumliches  Vorstellen  aus- 
gedehnter Gegenstände  verwandelt  hat.  Und  in  unsern  Psychologien 
lesen  wir  zwar  von  der  Form  der  Anschauung  und  des  Denkens,  welche 
die  gegebene  Materie  der  Empfindungen  in  sich  aufgenommen  habe;  allein 
man  unterläfst  die  eben  so  wichtige  als  weitläuftige  Erörterung,  durch 
welche  Stufenfolge  die  sogenannten  reinen  Formen  des  Anschauens  all- 
mählig zum  klaren  Bewufstseyn  gelangen;  wie  die  Unterscheidung  be- 
stimmter Figuren  möglich  geworden  sey;  wie  das  Augenmaafs,  wie  das 
rhythmische   Gefühl  sich   ausbilde. 

Man  kann  die   Frage,   was   für  eine   Bewandnifs   es   mit    den    behaup- 
teten Formen   des  Anschauens  und  Denkens  haben   möge,   hier  noch  ganz 
Herbart's  Werke.     V.  13 


I  Q_|_  XL  Psychologie   als  "Wissenschaft. 


unentschieden  lassen:  gleichwohl  steht  der  Satz  vest,  dafs  in  den  An- 
wendungen und  dem  deutlichen  Vorstellen  dieser  Formen  eine  Menge 
psychologischer  Thatsachen  verborgen  liegen,  die  ohne  Zweifel  in  wesent- 
lichem Zusammenhange  mit  den  übrigen  Thatsachen  des  Bewufstseyns 
stehen,  und  schon  deshalb  der  Aufmerksamkeit  der  Psychologie  keines- 
weges  entgehen  dürfen.  Allein,  sowohl  diese,  als  überhaupt  die  ganze 
Classe  derjenigen  Thatsachen,  welche  nicht  unmittelbar  wahrgenommen, 
sondern  aus  den  Producten  unserer  Thätijrkeit  erst  <resehlossen  werden, 
entfernen  sich  eben  dadurch  von  der  Eigenschaft  der  Principien;  sie 
sind  vielmehr  Probleme,  welche  die  Wissenschaft  durch  Lehrsätze  zu 
lösen  hat,  und  wobey  wir  uns  [15]  wohl  hüten  müssen,  den  Er- 
schleichungen T h ü r  und  Thor  zu  ö f f n  e n ! 

§  5- 
Ueber  Beobachtung  Anderer,  als  ein  Mittel  zur  Auffindung  psycho- 
logischer Thatsachen,  läfst  sich  wohl  kaum  etwas  sagen,  das  nicht  in  die 
vorstehenden  Erörterungen  zurückliefe.  Denn,  abgesehen  von  der  Frage 
nach  der  Glaubwürdigkeit  der  Zeugnisse,  wird  alles  darauf  ankommen, 
wieviel  und  wie  genau  jene  Anderen  von  sich  selbst  auffassen  und  erzählen, 
und  wie  richtig  wir  theils  ihre  Erzählungen  verstehen,  theils  die  äufsern 
Zeichen  ihrer  inneren  Zustände  auslegen.  Mit  ihren  eignen  Auffassungen 
nun  sind  jene  in  eben  der  Lage,  wie  wir  mit  den  unsrigen:  um  aber  ihre 
Beschreibungen  zu  verstehen,  können  wir  unsre  eignen  innern  Wahr- 
nehmungen zu  Hülfe  rufen.  Daher  beurtheilt  denn  auch  Jeder  die  Andern 
nach  sich  selbst;  und  die  seitnern  Zustände  der  Leidenschaft  oder  Be- 
geisterung, die  zarteren  Regungen  empfindlicher  Gemüther,  werden  von 
der  bey  weitem  gröfseren  Menge  der  Menschen  nicht  verstanden. 

Die  erste  Bemerkung,  die  sich  hier  aufdringt,  ist  wohl  diese,  dafs  die 
Unsicherheit  in  den,  auf  dem  Wege  der  Ueberlieferung  erworbenen  psycho- 
logischen Kenntnissen,  in  einem  zusammengesetzten  Verhältnisse  stehe, 
und  deshalb  gröfser  sey,  als  bey  der  Selbstbeobachtung.  Denn  hier  ver- 
einigen sich  die  Mängel  und  die  Erschleichungen  in  der  überlieferten 
Nachricht  mit  denen  in  unserer  Auslegung,  und  so  laufen  wir  die  Gefahr 
einer  doppelten  Täuschung.  Sie  kann  auch  noch  gröfser  werden,  wenn 
die  Ueberlieferung  durch  eine  ganze  Reihe  von  Menschen  fortläuft,  deren 
Jeder  das  Seinige  hinzuthut.  Sollte  wohl  dieser  Fall  da  statt  finden,  wo 
Einer  von  seiner  intellectualen  Anschauung  redet,  und  die  Tradition  davon 
ihren  Weg  durch  Kopf  und  Mund  verschiedentlich  gestimmter  Schwärmer 
nimmt,   die  Alle  in  sich   selbst    wiederfinden    wollen,    was    sie    vernahmen? 

Zu  einer  zweyten  Bemerkung  veranlafst  die  Neigung  [16]  einiger 
Psychologen,  bey  den  seltenen  und  sonderbaren  Erscheinungen  der  Nacht- 
wandler und  Wahnsinnigen  länger  zu  verweilen,  als  bey  denen,  die  sich 
im  gewöhnlichen  Zustande  ereignen;  oder  auch  nur,  sich  über  die  Träume 
und  ihre  Sprünge  mehr  zu  verwundern,  als  über  den  regelmäfsigen  Ge- 
dankengang der  Wachenden.  Natürlich  ist  es  zwar,  dafs  aufserordentliche 
Erscheinungen  zuerst  die  Aufmerksamkeit  wecken  und  auf  sich  ziehen; 
allein  schon  aus  der  Physik  weifs  man,  dafs  von  den  gewöhnlichsten  Be- 
gebenheiten (z.  B.   von   den  Veränderungen    des  Wetters)    die  Gründe  oft 


Einleitung.  j  <,  ^ 


am  tiefsten  verborgen  liegen.  Und  in  der  Psychologie  finden  sieh  die 
gröfsten  Schwierigkeiten  eben  da,  wo  man  am  schnellsten  mit  einem  Worte 
fertig  zu  werden  glaubt.  Ich  erinnere  nur  an  das  Wort  Vernunft; 
dieses  allbekannte  Wort,  dessen  Erklärung  gewifs  Jeder  in  seinem  eignen 
Bewufstseyn  anzutreffen,  behauptet,  während  er  die  psychologischen  Curiosa 
meistens  bey  Andern  aufsucht.  —  Es  dürfte  sich  finden,  dafs  wir  nicht 
so  sehr  Ursache  hätten,  die  Nachrichten  von  ungewöhnlichen  Gemüths- 
zuständen  zu  sammeln.  Der  Reich thum  von  Auffassungen,  die  wir  tätlich 
an  uns  selbst  machen  können,  ist  eben  so  grofs,  als  dessen  Verarbeituno 
schwierig  und  weitläuftig;  und  in  dem  Maafse,  als  wir  für  die  Erscheinungen 
in  uns,  die  allgemeinen  Gesetze  erkennen,  mufs  es  uns  auch  möglich 
werden,  aus  den  nämlichen  Gesetzen  viel  besser,  als  aus  blofser  Ueber- 
tragung  eigner  Gefühle,  die  Gemüthszustände  Anderer,  selbst  in  ihren 
weitesten  Abweichungen  vom  Gewöhnlichen,  zu  verstehen  und  zu  erklären. 
So  braucht  der  Astronom  nur  den  Lauf  der  bekanntesten  Planeten  auf 
die  Kegelschnitte  zurückgeführt  zu  haben,  um  seinen  Calcul  gar  bald  auch 
den  neuesten  und  fremdartigsten  Phänomenen  am  Himmel  anpassen  zu 
können. 

Hiemit  leugne  ich  jedoch  keineswegs  irgend  einer  ächten  psycho- 
logischen Beobachtung  ihren  Werth  ab.  Für  alle  Erfahrungen  mufs  sich 
irgendwo  eine  Stelle  in  den  Wissenschaften  finden,  wo  sie  willkommen 
seyn  kön[i7]nen.  Nur  ist  ein  sehr  grofser  Unterschied  zwischen  dem, 
was  am  meisten  auffällt,  und  dem,  was  die  tiefsten  Untersuchungen  fordert- 
so  wie  zwischen  dem,  was  am  weitesten  hergehohlt  wird,  und  dem.  was 
die  reichsten,  oder  die  ersten  und  nöthigsten  Aufschlüsse  darbietet. 

§  ö. 

Es  kann  von  Nutzen  seyn,  wenn  der  Leser  die  vorhin  o-ewiesenen 
Wege,  wie  wir  zur  Kenntnifs  der  inneren  Thatsachen  gelangen,  weiter  ver- 
folgen will;  besonders  um  sich  Rechenschaft  davon  zu  geben,  wie  der  Vor- 
rath  psychologischer  Kenntnisse,  den  man  schon  zu  besitzen  "-laubt 
aus  absichtlicher  oder  unabsichtlicher  Selbst-Auffassung,  aus  Deutuno-  der 
vorgefundenen  Producte  eigner  Thätigkeit,  aus  Zeugnissen  und  aus  Beob- 
achtung Anderer,  allmählig  sich  zusammengesetzt  habe.  Diese  Ueberlegunq- 
soll  nicht  auf  einen  Lehrsatz  hinführen;  aber  sie  soll  heraushelfen  aus  dem 
Glauben  an  die  Abstractionen  der  Schulen;  sie  soll  das  unmittelbare  Be- 
wufstseyn dessen  zurückführen,  was  den  Erklärungen  von  Sinnlichkeit  und 
Verstand,  von  Begehrungsvermögen  und  Gefühlvermögen,  und  wie  diese  Ge- 
dankendinge weiter  heifsen,  eigentlich  an  ächter  Erfahrung  zum  Grunde  lieo-t. 

Gesetzt  nun,  der  Vorrath  der  psychologischen  Thatsachen  sev  bev- 
sammen:  welche  Art  von  R  egelmäfsigkeit  Iäfst  sich  im  Allgemeinen  an 
ihnen  erkennen  oder  doch  vermuthen  ?  Dies  ist  die  erste  Frage  der 
speculativen  Psychologie. 


13' 


IQ 6  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


IL 

Von    einer    allgemeinen   Eigenschaft   alles    dessen,   was    innerlich 

wahrgenommen  wird. 

§  7- 

Erinnert  man  sich  der  Veränderlichkeit  des  Schauspiels,  was  die  ab- 
sichtliche Selbstbeobachtung  antriftt,  [18]  ohne  es  in  einerley  Zustande 
vesthalten  zu  können,  und  überdies  der  Abwechselungen  in  einander  über- 
fliefsender  Gemüthslagen,  welche  den  Stoff  unserer  eigenen  Lebensge- 
schichte ausmachen:  so  zeigt  sich  Alles  als  kommend  und  gehend,  als 
schwankend  und  schwebend;  mit  einem  Worte,  als  etwas,  das  stärker 
und  schwächer  wird. 

In  jedem  der  eben  gebrauchten  Ausdrücke  liegt  ein  Grüfsenbegriff. 
Also  ist  in  den  Thatsachen  des  Bewufstseyns  entweder  keine  genaue 
Regelmäfsigkeit ,  oder  sie  ist  durchweg  von  mathematischer  Art;  und 
man  mufs  versuchen,   sie  mathematisch  auseinanderzusetzen. 

Warum  ist  dies  nicht  längst  unternommen  worden?  Darauf  könnten 
die  älteren  Zeiten,  sich  entschuldigend,  antworten :  die  Mathematik  sey,  vor 
Erfindung  der  Rechnung  des  Unendlichen,  noch  zu  unvollkommen  gewesen. 
Allein  folgende  Bemerkungen  sind  allgemeiner. 

§  8. 

Erstlich:  die  psychologischen  Gröfsen  sind  nicht  dergestalt  gegeben 
dafs  sie  sich  messen  liefsen;  sie  gestatten  nur  eine  unvollkommne 
Schätzung.  Dies  schreckt  ab  von  der  Rechnung;  jedoch  mit  Unrecht. 
Denn  man  kann  die  Veränderlichkeit  gewisser  Gröfsen,  und  sie  selbst,  in 
so  fern  sie  veränderlich  sind,  berechnen,  ohne  sie  vollständig  zu  bestimmen; 
hierauf  beruht  die  ganze  Analysis  des  Unendlichen.  Man  kann  ferner 
Gesetze  der  Grüfsenveränderung  hypothetisch  annehmen,  und  mit  den 
berechneten  Folgen  aus  den  Hypothesen  die  Erfahrung  vergleichen.  Sind 
die  einzelnen  Erfahrungen  wenig  genau,  so  ist  dagegen  ihre  Menge  in  der 
Psychologie  unermefslich  grofs,  und  es  kommt  nur  darauf  an,  sie  geschickt 
zu  benutzen.  Uebrigens  werden  wir  keiner  Hypothese  bedürfen,  sondern 
auf  einem  vesten  Wege  der  Untersuchung  diejenigen  Voraussetzungen 
finden,  deren  Kreis  zum  Behüte  der  Psychologie  mathematisch  durchlaufen 
werden  mufs. 

Die  Schwierigkeit  des  Messens  kommt  daher  fürs  Erste  nicht  in 
Betracht;  aber  wichtiger  ist  das  Folgende. 

[19]  §  9- 
Zwcytens:  Gerade  das  Schwanken  und  Fliefsen  der  psychologischen 
Thatsachen,  welches  eine  mathematische  Regelmäfsigkeit  derselben  im 
Allgemeinen  vermuthen  läfst,  erschwert  gar  sehr  den  Anfing  der  Unter- 
suchung.  Denn  hiezu  sind  veste,  genau  bestimmte  und  begränzte  Prin- 
zipien die  erste  Bedingung;  was  aber  soll  man  aus  jener  allgemeinen 
S<  hwankung  dergestalt  herausheben,  dafs   man  es    mit   Sicherheit   gesondert 


Einleitung.  T  g  y 


betrachten  könne?  Mufs  man  nicht  fürchten,  Zusammengehöriges  aus- 
einander zu  reifsen,  und  Bruchstücke  eines  unheilbaren  Ganzen  als  selbst- 
ständig zu  behandeln?  —  Man  sagt  z.  B.  vom  Menschen:  er  habe  Ver- 
stand und  Willen;  man  handelt  in  den  Psychologien  zuerst  vom  Er- 
kenntnifs vermögen,  dann  vom  Begehrungsvermögen.  Wie  wenn  man  von 
einem  Dreyecke  sagte:  es  habe  Seiten  und  Winkel?  und  wenn  man 
dem  gemäfs  die  Trigonometrie  in  zwey  Abschnitte  zerlegen  wollte,  deren 
einer  von  den  Seiten,  der  andere  von  den  Winkeln  handele  ?  Wer  bürgt 
uns  dafür,  dafs  unsre  Psychologien  weniger  ungereimt  seven,  als  eine  solche 
Trigonometrie  seyn  würde?  Stehen  nicht  vielleicht  diejenigen  Thatsachen 
des  Bewufstseyns,  die  wir  zu  trennen  pflegen,  durch  gewisse  unbemerkte 
Mittelglieder  in  eben  so  genauer  Beziehung,  als  Seiten  und  Winkel  im 
Dreyecke  ? 

Diese  Betrachtung  müssen  wir  erst  weiter  führen,  ehe  von  Principien 
der  Psychologie,  und  von  deren  wissenschaftlicher  Behandlung  die  Rede 
seyn  kann. 


III. 

Weshalb   sind   wir  so  geneigt,   uns  in  der  Psychologie  mit  Ab- 

stractionen  zu  behelfen? 

§   10. 

In  andern  Wissenschaften  ist  die  Abstraction  ein  absichtliches  Ver- 
fahren; wobey  man  weifs,  was  man  zu [20] rücklegt,  und  warum  man 
anderes  hervorhebt.  Die  Reflexion  hält  gerade  diejenigen  Begriffe  vest, 
unter  welchen  gewisse  merkwürdige  Relationen  statt  finden;  und  nachdem 
dieselben  untersucht  sind,  steht  es  der  Determination  frev,  die  gesetz- 
mäfsige  Anwendung  davon  auf  den  Umfang  der  Begriffe  zu  machen.  — 
In  der  Psychologie  sind  dagegen  unsre  Aussagen  von  dem  innerlich  Wahr- 
genommenen schon  unwillkührlich  Abstractionen,  ehe  wir  es  wissen,  und 
sie  werden  es  noch  immer  mehr,  je  bestimmter  wir  uns  darüber  erklären 
wollen. 

Sie  sind  schon  Abstractionen,  ehe  wir  es  wissen.  Denn  die  genaue 
Bestimmung  des  Fliefsenden  unserer  Zustände  (durch  Ordinaten,  zu  denen 
die  Zeit  als  Abscissenlinie  gehören  würde,)  fehlt  schon,  indem  wir  dieselben 
zum  Object  unsers  Vorstellens  machen.  Sie  verliert  sich  immer  mehr,  je 
länger  wir  die  Erinnerung  an  ein  innerlich  Wahrgenommenes  aufbehalten 
wollen.  Sie  verfälscht  sich,  je  mehr  wir  uns  anstrengen,  sie  vest  zu  halten; 
denn  eben  dadurch  mischt  sie  sich  mit  dem  übrigen  Vorrathe  unserer 
verwandten  Vorstellungen. 

Aber  auch  je  bestimmter  wir  uns  darüber  erklären  wollen,  desto 
weiter  kommen  wir  ab  von  der  Wahrheit  dessen,  was  eigentlich  wahr- 
genommen wurde,  und  desto  tiefer  gerathen  wir  in  die  Abstractionen 
hinein.      Aus  einem  zwiefachen  Grunde. 

Erstlich,  je  mehr  wir  uns  bemühen,  recht  getreulich  nur  Das  zu 
berichten,    was    wir    erfahren    haben:    desto    lieber   verschweigen   wir  Alles 


Iq8  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

was  wir  nicht  genau  bemerkten,  was  wir  nicht  gewifs  verbürgen  können; 
wir  heben  demnach  nur  das  Gewisseste  heraus.  Daher  lassen  wir  in  der 
Erinnerung  an  die  inneren  Wahrnehmungen  absichtlich  los  von  dem, 
dessen  Schwankung  wir  fühlen,  dessen  bestimmte  Angabe  wir  nicht  zu 
erreichen  hoffen.  Was  wir  übrig  behalten,  ist  ein  Abstractum.  —  Dies 
Verfahren  herrscht  sichtbar  in  allen  Psychologien.  Die  Verfasser  derselben 
sprechen  z.  B.  recht  gern  vom  Gedächtnifs;  denn  dafs  es  überhaupt  ein 
|  solches  gebe,  [21]  daran  zu  zweifeln  fällt  ihnen  nicht  ein;  jeder  Mensch  mufs 
ja  unzählige  Thatsachen  dafür  anführen  können!  Aber  schon  von  den 
nächsten  Arten,  welche  der  Gattung:  Gedächtnifs,  untergeordnet  sind,  als 
von  dem  '  Ortsgedächtnifs,  dem  Namengedächtnifs,  dem  Zahlengedächtnifs, 
dem  Gedächtnifs  für  Begriffe  und  Lehrsätze,  für  Urtheile  und  Schlüsse, 
für  die  Empfindungen  während  des  Denkens,  Ueberlegens  und  Beschliefsens, 
für  das  Wünschen  und  Wollen,  für  das  was  man  gethan  oder  gelitten  hat: 
hievon  getrauen  sich  die  Psychologen  nicht,  uns  viel  zu  sagen.  —  Warum 
denn  nicht?  Doch  wohl  nicht  darum,  weil  das  Gedächtnifs  schon  beym 
niedem  Vorstellungsvermögen  abgehandelt  wird,  und  es  an  diesem  Orte 
in  den  Büchern  ein  vgtgov  tiqmxsqov  seyn  würde,  schon  auf  Begriffe,  Ur- 
theile, Schlüsse,  auf  Fühlen  und  Wollen,  Rücksicht  zu  nehmen?  Denn 
hieraus  würde  blofs  folgen,  dafs  die  Stellung  der  Lehre  vom  Gedächtnifs 
eine  Veränderung  erleiden  müsse.  Aber  daran  liegt  der  Fehler,  dafs  beym 
genauem  Eingehn  auf  das  Specielle,  und  auf  die  einzelnen  Thatsachen, 
sich  das  Gedächtnifs  nicht  so  bequem  würde  losreifsen  und  abgesondert 
als  eine  eigene  Seelenkraft  hinstellen  lassen;  indem  in  jedem  einzelnen 
Falle  sich  eine  Menge  von  schwer  zu  bemerkenden,  und  noch  schwerer 
zu  beschreibenden,  —  daher  gern  mit  Stillschweigen  übergangenen  —  Neben- 
umständen geltend  machen,  die  theils  auf  das  erste  Auffassen,  theils  auf 
das  Merken,  theils  auf  das  Verknüpfen  mit  andern  Vorstellungen,  theils 
auf  den  Vorsatz  des  Behaltens  und  das  Interesse  des  Gegenstandes,  theils 
auf  die  Zeit,  während  welcher  das  Gemerkte  noch  vor  dem  ersten  Ver- 
schwinden im  Bewufstseyn  gegenwärtig  blieb,  theils  auf  die  Gemüthszustände 
in  der  Zwischenzeit  bis  zur  Reproduction  selbst,  ihre  Geschwindigkeit, 
Lebhaftigkeit  und  Treue,  —  Einrlufs  gehabt  haben,  und  die  bey  jenen 
Arten  des  Gedächtnisses  sehr  verschieden  zu  seyn  und  zu  wirken  pflegen. 
Der  Erste,  der  dies  Alles  gehörig  in  Erwägung  zieht,  und  da[2  2]bey  mit 
der  Genauigkeit  eines  tüchtigen  Physikers  zu  Werke  geht,  wird  finden,  dafs 
die  vermeinten  Nebenumstände  die  Hauptsache  sind,  und  dafs  von  dem 
sogenannten  Gedächtnifs  nichts   als  der  leere   Name   übrig  bleibt. 

Jede  andere  Seelenkraft  würde  auf  gleiche  Weise  zum  Beispiel  dienen 
können.  Ueberall  werden  die  obersten  Gattungsbegriffe  mit  der  gröfsten 
Dreistigkeit  hingestellt;  allein  überall  fehlt  die  Achtsamkeit  auf  das  Specielle, 
und  die  genaue  Beschreibung  des  Einzelnen ;  und  doch  ist  es  eben 
dies,  worauf  in  einer  empirischen  Wissenschaft  Alles  ankommt! 
Oder  hat  schon  Jemand  vollständig  nachgewiesen,  wie  sich  die  Einbildungs- 
kraft verschiedentlich  in  Dichtern,  in  Gelehrten,  in  Denkern,  in  Staats- 
männern, in  Feldherren,  äufsere?  Was  den  Verstand  der  Frauen,  der 
Künstler  und  der  Logiker  unterscheide  ?  Welche  Abstufungen  die  Ver- 
nunft   in    ihrer  Entwickelung    zeige,    bey   Kindern    und    Erwachsenen,    bey 


Einleitung.  jgg 


Wilden,  Barbaren,  Gebildeten,  bey  Bauern,  Handwerkern,  und  bey  den 
hohem  Ständen?  Doch  die  Erwähnung  des  Verstandes  und  der  Vernunft, 
zweyer  Namen,  die  neuerlich  so  verschiedene  Auslegungen  erhalten  haben, 
dafs  kaum  noch  etwas  Gemeinsames  übrig  bleibt,  —  erinnert  mich,  fort- 
zugehen zu  dem  zweyten  Grunde,  der  uns  in  den  psychologischen  Ab- 
stractionen  vesthält,  und  uns  immer  mehr  darin  vertieft. 

Nachdem  einmal  die  Seelenvermögen  da  sind,  sollen  sie  auch  ge- 
braucht werden  zur  Erklärung  dessen  was  in  uns  vorgeht.  Aber  je  weniger 
von  den  nähern  Bestimmungen  der  Thatsachen  in  den  Begriffen  jener  Ver- 
mögen enthalten  ist:  desto  schlechter  gelingt  die  Erklärung.  Es  fehlen 
die  Mittelglieder  zur  Verknüpfung.  Es  entstehen  unbeantwortliche  Fragen 
über  das  Causalverhältnifs  der  Seelenvermögen  unter  einander, 
wodurch  sie  beym  Zusammenwirken  eins  in  das  andere  eingreifen,  und 
sich  gegenseitig  zur  Wirksamkeit  auffordern,  oder  veranlassen,  oder  nöthigen. 
Jede  solche  Frage,  in[23]dem  sie  mit  einem  Geständnifs  der  Unwissenheit 
endigt,  bringt  den  Schein  hervor,  als  liege  eine  dunkle,  unübersteigliche 
Kluft  zwischen  den  Seelenvermügen,  die  nun  gleich  Inseln  aus  einem  un- 
ergründlichen und  unfahrbaren  Meere  herausragen.  Was  Wunder,  wenn 
man  es  endlich  müde  wird,  um  das  Zusammenwirken  der  Seelenvermögen 
sich  zu  bekümmern;  wenn  man  vielmehr  sich  darin  gefällt,  die  weite 
Trennung  derselben  durch  recht  grofse  Unterschiede  des  einen  Vermögens 
vom  andern,  deutlich  zu  beschreiben?  Und  hierin  hat  man  es  in  der 
That  weit  gebracht.  Die  Seelenvermögen  scheinen  in  ein/em  wahren 
bellum   omnium  contra  omnes  begriffen   zu  sevn. 

Die  Einbildungskraft  sich  selbst  überlassen,  erschafft  Phantome;  aber 
die  Sinne  verscheuchen  sie;  doch  manchmal  auch  lassen  sie  sich  von  jener 
bethören,  so  dafs  wohl  gar  Gespenster  mit  Augen  gesehen  werden.  Starkes 
Gedächtnifs  findet  sich  bey  schwachem  Verstände,  und  umgekehrt;  die 
Ausbildung  des  einen  läfst  Nachtheil  besorgen  für  das  andere.  Nocli 
weniger  Friede  hält  der  Verstand  mit  den  Sinnen;  er  entdeckt  ihren  Trug, 
er  zeigt,  dafs  die  Sonne  still  steht,  und  das  Ruder  auch  im  Wasser  ge- 
rade ist;  er  erblickt  einfache  Gesetze,  wo  die  Sinne  lauter  Unordnung 
sahen.  Nicht  besser  vertragen  sich  Verstand  und  Einbildungskraft;  er  findet 
sie  thöricht  und  flatterhaft,  sie  ihn  unbehülflich  und  trocken.  Besser  als 
beyde  dünkt  sich  die  Urtheilskraft;  der  Verstand  wufste  nur  die  Regel, 
sie  erst  erkennt  das  Rechte  und  Wahre  mit  Bestimmtheit  im  Einzelnen. 
Aber  die  Vernunft  erscheint;  sie  schwingt  sich  auf  zum  Uebersinnlichen, 
Unendlichen,  zur  eigentlichen  Wahrheit,  während  alle  jene  auf  dem  Boden 
der  Erscheinungswelt  kriechen.  Bey  diesen  Streitigkeiten  bleiben  Gefühl 
und  Begehrungsvermögen  nicht  müssig.  Die  letzte  Entscheidung  über 
Wahrheit  und  Irrthum  behauptet  am  Ende  das  Gefühl;  insbesondere 
spricht  es  bald  für,  bald  wider  den  Verstand;  der  doch  seinerseits  gegen 
die  Einmischungen  des  Gefühls  in  seine  Untersuchungen  sich  nachdrück- 
lich ver[24]wahrt.  Die  Begierden  bedienen  sich  des  Verstandes,  wo  er 
ihnen  nützlich  seyn  kann,  aber  sie  verweisen  ihm  seine  difficiles  nugas, 
seine  brodlosen   Künste.      Er  will    von    ihnen    nicht   gestört,    am    wenigsten 


verblendet  seyn;   doch  er  mufs  weichen  oder   fr < 'ihnen,   da  sogar    die  Ver- 
nunft sich  ihrer  kaum   erwehren,   und   das   Vernünfteln   der   Leidenschaften 


2oo  XI.   Psychologie  als  Wissenschaft. 


nicht  verhindern  kann.  Die  ästhetische  Urtheilskraft  kämpft  wider  die 
Sinnenlust;  und  sie  vertheidigt  zuweilen  die  Einbildungskraft  wider  den 
Verstand.  Aber  die  Vernunft  pflegt  ihr  zu  widersprechen,  und  das  Schöne 
mit  dem  Häfslichen  in  den  Rang  blofser  Erscheinungen  zurückzustellen.  — 
Unser  eignes  Ich  ist  der  Kampfplatz  für  alle  diese  Streitigkeiten!  Ja  es 
ist  selbst   die  Gesammtheit  aller  dieser  streitenden  Partheyen! 

Wird  man  dieses  im  Ernste  glauben?   —   Und  doch  stützt  sich  alles 


zuvor  Gesagte  auf  bekannte  Thatsachen.  Die  Frage  ist  blofs,  ob  eine 
wirkliche  Vielheit  von  Kräften,  die  mit  einem  beharrlichen  Daseyn  in  uns 
bestehen  und  wirken,  und  einander  bald  helfen,  bald  anfeinden,  aus  den 
Thatsachen  solle  geschlossen  werden?  Ob  man  immer  fortfahren  wolle, 
dem  augenscheinlich  flüssigen  Wesen  aller  Gemüthszustände  Trotz  zu 
bieten:  und,  je  mehr  dieselben  jeder  Auffassung  in  harten  und  starren 
Formen  widerstreben,  desto  hartnäckiger  und  eifriger  ihnen  dergleichen 
aufzudringen?  Unseres  Wissens  hat  die  bisherige,  auch  die  neuere  und 
neueste,  Psychologie,  durchaus  nichts  anderes  geleistet,  als  immer  neue, 
vergröfserte,  schärfer  gezeichnete  Spaltungen  und  Gegensätze  unter  den 
vermeinten  Seelenkräften.  —  Jedoch,  unsere  Philosophen  fangen  schon  an 
sich  zu  entschuldigen,  wenn  sie  aus  Noth,  wie  sie  meinen,  und  weil  man 
sich  doch  müsse  ausdrücken  können,  von  Seelenvermögen  reden;  sie  wollen 
es  schon  nicht  Wort  haben,  dafs  sie  wirklich  und  im  Ernste  jene 
Trennungen  vorgenommen  hätten;  sie  verehren  die  unbekannte  Einheit 
aller  jener  Vermögen.  Damit  haben  sie  nun  zwar  an  wirklicher  Kennt- 
nifs  der  Seele  noch  nichts  gewonnen,  und  die  eigentliche  [25]  Physik 
des  Geistes  mag  wohl  so  bald  noch  nicht  neben  der  falschen  Freyheits- 
lehre  der  neuem  Zeit  aufkommen  können;  doch  sind  die  Zeichen  vor- 
handen, dafs  die  alten  Götter  nicht  mehr  lange  bestehen,  und  dafs  ihre 
Orakel  bald  verstummen  werden.  Denn  in  der  That  ist  es,  beym  Lichte 
besehen,  nicht  so  sehr  übler  Wille,  noch  unbeugsames  Vorurfheil,  sondern 
es  ist  Ungeschick,  und  Mangel  an  Kenntnifs  der  Möglichkeit  einer  bessern 
Auffassung  der  Thatsachen,  was  der  bessern  Psychologie  im  Wege 
steht.  Unsre  Philosophen  smd  nicht  Mathematiker;  darum  kennen  sie 
nicht  die  Geschmeidigkeit,  womit  die  mathematischen  Begriffe  sich  dem 
Fliefsenden  anpassen;  vielmehr  pflegen  sie  sich  bey  den  mathematischen 
Formeln  etwas  recht  Steifes,  Starres  und  Todtes  zu  denken;  —  in  diesem 
Puncte  aber  kann  man  ihre  Unwissenheit  lediglich  bedauern. 


IV. 

Allgemeine  Angabe  des  Verfahrens,  um  Thatsachen  des  Bewufst- 
seyns  zu  Principien  der  Psychologie  zu  benutzen. 

§   ". 

Wollten  wir  schon  hier  einen  bestimmten,  schmalen,  systematischen 
Pfad  anzeigen,  auf  welchem  man  in  die  Psychologie  eingehn  könne:  so 
würde  dem  nächsten  und   dringendsten  Bedürfnifs  nicht  Genüge  gesehehn. 


Einleitung.  20 1 


Dieses  Bedürfnifs  besteht  darin,  eine  richtige  Ansicht  im  All 
von  der  Umwandlung  zu  fassen,  welcher  unsre  Vorstellungsart  mufs  unter- 
worfen werden ;  und  es  rührt  her  von  der  Menge  der  psychologischen 
Abstractionen,  an  die  wir  gewöhnt  sind.  Wir  finden  nun  einmal  uns  selbst 
bald  anschauend,  bald  denkend,  bald  wollend  und  so  ferner;  und  ohne 
uns  unter  dergleichen  Abstracta,  [26]  wie  Anschauen,  Denken,  Wollen, 
zu  subsumiren,  wissen  wir  kaum,  uns  über  unsre  eignen  Zustände  und 
Bestrebungen  Rechenschaft  zu  geben.  Die  ganze  Masse  unserer  Meinungen 
von  uns  selbst  und  von  dem  was  in  uns  vorgeht,  bedarf  einer  Totalreform ; 
und  sie  mufs  dazu  in  Bereitschaft  gesetzt  werden.  Eben  deshalb  ist  vor- 
hin die  unvermeidliche  Mangelhaftigkeit  aller  unserer  unmittelbaren 
Kenntnisse  von  den  inneren  Thatsachen,  und  die  daraus  entstehende 
Neigung,  dieselben  in  abgezogenen  Begriffen,  und  zwar  in  den  weitesten 
am  liebsten,  vorzustellen,  hinterher  aber  diese  Begriffe,  sammt  ihren  Sub- 
Straten, den  Seelenvermögen,  so  gut  oder  so  schlecht  es  gehn  will,  wieder 
an  einander  zu  fügen,  —  in  Betracht  gezogen  worden:  damit  es  einleuchten 
möge,  dafs  hier  ganz  andere  Operationen  des  Denkens  zur  Verbesserung 
erfordert  werden,  als  die  blofse  Classification,  Induction,  Analogie,  oder 
welche  andre  Zusammenstellung  eines  Vorraths  von  Kenntnissen  da  an- 
gebracht seyn  würde,  wo  das  erste  Material  mit  Bestimmtheit 
gegeben  wäre,  und  wo  die  Abstractionen  stufenweise  von  unten  auf, 
mit  aller  Besonnenheit,  und  beliebiger  Verweilung  auf  jeder  Stufe,  würden 
vollzogen  werden  können. 

Diejenige  Operation  des  Denkens,  wodurch  die  Mangelhaftigkeit  ver- 
bessert wird,  heifst  Ergänzung.  Und  wo  die  Mangelhaftigkeit  der  em- 
pirischen Auffassung  unvermeidlich  ist,  da  mufs  die  Ergänzung  auf  specu- 
lativem  Wege  unternommen  werden.    Dieses  aber  ist  nur  möglich  durch 


Nachweisung  der  Beziehungen;  das  heifst,  derjenigen  Relationen,  ver- 
möge deren  eins  das  andere  nothw endig  voraussetzt,  und,  was  das 
Zeichen  davon  ist,  eins  ohne  das  andere  nicht  kann  gedacht 
werden. 

Dergleichen  Beziehungen  liegen  zum  Theil  offenbar  durch  den  Begriff 
selbst  vor  Augen,  (wie  zwischen  einem  Logarithmus  und  der  Basis  sammt 
dem  Modulus  des  Systems,  oder  zwischen  dem  Differential  und  seinem 
Integral,  nämlich  abgesehen  von  der  wirklichen  Berechnung,)  [2  7]  und  alsdann 
brauchen  sie  nur  nachgewiesen  zu  werden.  Zum  Theil  können  sie  leicht  bev 
einiger  Aufmerksamkeit,  und  auf  dem  Wege  logischer  Schlüsse  gefunden 
werden,  (wie  zwischen  einem  Paar  unmöglicher  Wurzeln  einer  Gleichuug). 
Zum  Theil  aber  verräth  sich  die  Nothwendigkeit,  den  Beziehungen  nach- 
zuforschen, erst  durch  das  Widersprechende  eines  von  seinen  nothwendigen 
Voraussetzungen  entblöfsten  Begriffes:  welcher  letztere  Fall  in  den  ersten 
Grundbegriffen  der  allgemeinen  Metaphysik  vorkommt.  Alsdann  mufs  die 
Aufsuchung  der  Beziehungen  nach  derjenigen  Methode  eingeleitet  werden, 
welche  ich  in  den  Hauptpuncten  der  Metaphysik  angegeben,  und  Methode 
der  Beziehungen  genannt  habe.  Hievon  wird  tiefer  unten  noch  etwas 
vorkommen. 

Die  ganze  Psychologie  kann  nichts  anders  seyn,  als  Ergänzung  der 
innerlich  wahrgenommenen   Thatsachen:   Nachweisung  des  Zusammenhangs 


202  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 

dessen  was  sich  wahrnehmen  liefs,  vermittelst  dessen  was  die  Wahrnehmung 
nicht  erreicht;  nach  allgemeinen  Gesetzen. 

Während  die  Beobachtung  nur  dann  erst  und  nur  so  lange  die  im 
Bewufstseyn  auf  und  niedersteigenden  Vorstellungen  erblickt,  wann  sie  in 
einem  gewissen  höheren  Grade  von  Lebhaftigkeit  sich  äufsem :  müssen  sie 
der  Wissenschaft  immer  gleich  klar  vor  Augen  liegen,  sie  mögen  nun 
wachen  und  das  Gemüth  erfüllen,  oder  in  den  Vorrathskammem  des  Ge- 
dächtnisses ruhig  schlafen,  und  auf  Anlässe  zum  Hervortreten  warten.  Denn 
von  den  geistigen  Bewegungsgesetzen  sind  sie  hier  so  wenig  ausgenommen 
wie  dort. 

Während  die  moralische  Selbstkritik  bekennt,  die  Falten  des  eignen 
Herzens  nicht  durchforschen  zu  können:  mufs  die  Wissenschaft  eben  so 
wohl  von  der  Möglichkeit  des  Einflusses  der  schwächsten  Motive  unter- 
richtet seyn,  als  von  der  Gewalt,  welche  die  stärksten  ausüben,  und  von 
der  Klarheit,  wodurch  die  überdachtesten   sich   auszeichnen. 

Aber  was  die  Wissenschaft  mehr  w^ifs  als  die  Er [2 8] fahrung:  das 
kann  sie  nur  dadurch  wissen,  dafs  das  Erfahrene  ohne  Voraus- 
setzung des  Verborgenen  sich  nicht  denken  läfst.  Denn  nichts 
anders  als  eben  die  Erfahrung  ist  ihr  gegeben:  in  dieser  mufs  sie  die 
Spuren  alles  dessen  antreffen  und  erkennen,  was  hinter  dem  Vorhange 
sich  regt  und  wirkt. 

In  diesem  Sinne  also  mufs  sie  die  Erfahrung  überschreiten:  welches 
übrigens  von  jeher  jede  Philosophie  gethan  hat;  auch  jene,  die  zwar  das 
Ueberschreiten  verbot,  aber  gleichwohl  von  einem  noch  unverbundenen,  in 
der  Receptivität  anzutreffenden  Mannigfaltigen  redete;  das  in  der  Erfahrung 
niemals  vorkommen  kann,  vielmehr  erst,  indem  es  die  Formen  der  Spon- 
taneität annähme,  sich  ins  Bewufstseyn  erhoben  finden  müfste:  —  anderer 
Beyspiele  nicht  zu  gedenken ! 

Wo  nun  und  in  wie  vielen  Puncten  der  ganzen  Masse  aller  innern 
Wahrnehmungen  sich  Beziehungen  entdecken  lassen,  die  auf  Voraussetzungen, 
auf  Ergänzungen,  auf  nothwendigen  Zusammenhang  mit  anderem,  das  ent- 
weder im  Bewufstseyn  oder  hinter  dem  Bewufstseyn  vorgegangen  seyn 
mufs,  hindeuten,  und  nach  was  immer  für  einer  Methode  mit  Sicherheit 
darauf  zu  schliefsen  erlauben:  da,  und  so  vielfach  sind  die  Principien  der 
Psychologie. 

§    12. 

Ein  Paar  Beyspiele  von  Beziehungen  in  der  Psychologie,  wenn  auch 
nur  von  den  offenbarsten,  sind  vielleicht  nicht  überflüssig;  sie  können 
wenigstens  einigermafsen  dienen,  um  von  der  Gestalt  psychologischer  Nach- 
forschungen  einen  vorläufigen  Begriff  zu  fassen. 

Das  Begehren  steht  in  offenbarer  Beziehung  zu  dem  Vorstellen;  denn 
es  hat  einen  Gegenstand,  auf  welchen,  als  auf  sein  Ziel,  es  sich  richtet. 
Denselben  in  Vergessenheit  bringen,  ist  das  sicherste  Mittel,  die  Begierde 
zu  beschwichtigen.  Wiewohl  nun  diese  Beziehung  vor  Augen  liegt:  so  ist 
sie  doch  bey  weitem  noch  nicht  hinreichend  bestimmt.  Denn  es  fragt 
sich:  unter  welchen  Bedingungen  wird  das  Vorgestellte  ein  Begehrtes? 
Wel[29]che  Beschaffenheit    des  Vorgestellten,    und    des    Vorstellens,    mufs 


Einleitung.  20" 


man  voraussetzen,  wenn  es  unter  der  Form  des  Begehrens  im  Bewufst- 
sevn  erscheinen  soll  ?  Läfst  sich  die  Antwort  finden,  indem  man  von  dem 
Begehren,  als  dem  Bedingten,  zu  seinen  bis  jetzt  unbekannten  Bedingungen 
fortschliefst:  so  ist  die  Thatsache,  dafs  wir  begehren,  zum  Princip  einer 
psychologischen  Untersuchung  erhoben. 

Das  Gedächtnifs  bezieht  sich  offenbar  auf  den  Gegenstand,  welcher 
behalten  wird;  folglich  auch  auf  die  Production  oder  erste  Auffassung  dieses 
Gegenstandes.  Demnach  bezieht  es  sich  auf  die  Sinnlichkeit;  denn  was 
es  aufbewahrt,  das  sind  grofsentheils  Anschauungen.  Es  bezieht  sich  eben 
so  offenbar  auf  die  Phantasie,  das  heifst,  wir  behalten  viele  von  den  Bil- 
dern, die  wir  selbst  entworfen  haben.  Es  bezieht  sich  nicht  minder  auf 
den  Verstand,  denn  wir  behalten  auch  die  Resultate  unsrer  Speculationen; 
auf  das  Gefühl,  denn  wir  erinnern  uns  an  Lust  und  Schmerz;  endlich  auf 
den  Willen,  denn  auch  unsre  Entschliefsungen  halten  wir  vest,  und  ihre 
Wirksamkeit  erneuert  sich  nach  Unterbrechungen.  Mit  gutem  Bedacht 
habe  ich  in  der  Pädagogik  vom  Gedächtnifs  des  Willens  geredet;  einem 
für  die  Erziehung  höchst  wichtigen  Gegenstande,  denn  darauf  beruhet  die 
Möglichkeit  des  Charakters  und  des  consequenten  Handelns.  Ohne  Ge- 
dächtnifs des  Willens  bleiben  angefangene  Arbeiten  liegen,  und  aus  ent- 
worfenen Plänen  entweicht  das  Feuer,  das  sie  zur  Reife  bringen  sollte. 
Am  meisten  Gedächtnifs  des  Willens  zeigt  die  Rache,  und  kann  dadurch 
auch  den,  welcher  an  der  Existenz  desselben  zweifeln  möchte,  zur  Ueber- 
zeugung  bringen.  —  Aber  das  Gedächtnifs  bezieht  sich  vor  allen  Dingen 
auf  das  Vergessen,  im  weitern  Sinne  dieses  Worts,  da  es  nämlich  nicht 
den  vergeblichen  Versuch,  sich  an  etwas  zu  erinnern,  sondern  überhaupt 
die  Entweichung  einer  gehabten  Vorstellung  aus  dem  Bewufstseyn  bedeutet. 
Denn  eben  in  so  fern  schreiben  wir  uns  ein  Gedächtnifs  zu,  in  wiefern 
[30]  eine  Zeit  verfliefsen  kann,  in  welcher  wir  an  einen  gewissen 
Gegenstand  gar  nicht  denken,  ohne  dafs  doch  darum  uns  die  Kennt- 
nifs  desselben  verloren  ginge,  die  vielmehr  auf  gegebene  Veranlassung 
wieder  hervortritt.  —  Wer  nun  aber  alle  diese  Beziehungen  des  Gedächt- 
nisses, welche  nur  im  Allgemeinen  bekannt  sind,  dadurch  gehörig  zu  be- 
stimmen und  vollständig  zu  machen  wüfste ,  dafs  er  auch  noch  die  Be- 
dingungen, sowohl  bey  der  Erzeugung,  als  bey  der  Entweichung,  als  auch 
endlich  bey  der  Erneuerung  einer  Vorstellung,  (ohne  welche  Bedingungen 
die  Reproduction  ausbleibt,)  angäbe  und  bewiese :  der  hätte  die  bekannten 
Facta  ergänzt,  indem  er  die  Vorstellungen  bis  in  den  Hintergrund  des 
Bewufstseyns,  wohin  sie  sich  zurückziehn ,  und  von  wo  sie  wiederkehren, 
gleichsam  würde  begleitet  haben.  Und  wer  diese  Kenntnifs  sich  auf  sol- 
chem Wege  verschafft  hätte,  dafs  von  dem  Gedächtnifs,  als  einem  Inbegriff 
bekannter  Thatsachen,  auf  dessen  noth wendige  Voraussetzungen  wäre  ge- 
schlossen worden :  der  würde  dadurch  diese  Thatsachen  zu  psychologischen 
Principien  gestempelt  haben.  Wer  aber  vom  Gedächtnifs  nur  in  Namen- 
erklärungen, und  in  Distinctionen,  und  in  einigen  Sätzen  redet,  die  Jeden 
die  Erfahrung  längst  gelehrt  hat,  der  misbraucht  ein  vielsagendes  Wort, 
wenn   er  sich   eine  Theorie  des   Gedächtnisses  zuschreibt. 

Nicht  zu  den  offenbaren  Beziehungen  gehört  die  des  Selbstbewufst- 
seyns  auf  die   Individualität  eines  Jeden.      Daher  hat  man   den  Gedanken 


204  XL  Psychologie  als  "Wissenschaft. 

fassen  können,  das  Ich  als  Absolutum  aufzustellen ;  ein  sehr  grofser  Fehler, 
der  aber  zu  seiner  Aufdeckung  schon  wissenschaftlicher  Reflexionen  be- 
darf. Und  die  Geschichte  der  neuem  Philosophie  hat  nur  zu  gut  gelehrt, 
wie  leicht  diese  Reflexionen  verfehlt  werden  können. 

Nichts  desto  weniger  sind  Fichte's  ältere  Werke  voll  von  Bestrebungen, 
die  weitgreifenden  Beziehungen  des  Selbstbewufstseins  aufzufinden;  und 
ohne  allen  Zweifel  wird  die  Nachwelt,  sehr  ungleich  den  Zeitgenossen, 
[31]  diesen  Werken,  selbst  abgesehen  von  dem  Verdienst,  den  Idealismus 
mit  einer  bis  dahin  unbekannten  Consequenz  zu  verfolgen,  schon  deshalb 
Gerechtigkeit  widerfahren  lassen,  weil  darin  das  Ich  als  Mittelpunct  von 
Beziehungen  aufgestellt,  und  der  erste  Versuch  gemacht  ist,  ein  weit- 
läuftiges  System  von  Beziehungen  nach  allen  Richtungen  hin  zu  durch- 
suchen. Fichte's  gröfster  Fehler  bestand  darin,  dafs  er  der  einmal  an- 
genommenen Gewohnheit,  das  Ich  absolut  zu  setzen,  auch  dann  noch  an- 
hing, als  ihn  schon  die  Untersuchung  in  ihrem  Verlauf  durch  jeden  Schritt 
aufmerksam  machte,  dafs  er  nicht  mit  einem  Absoluten,  sondern  mit  einem 
vielfach  Bedingten  zu  thun  habe;  welcher  Folgerung  er  dadurch  zu  ent- 
gehn  meinte,  dafs  er  alle  die  gefundenen  Bedingungen  in  das  Ich  selbst 
einschlofs.  Aber  die  unrichtige  Ansicht  verdarb  selbst  die  Kenntnifs  dieser 
Bedingungen,  und  daher  konnte  freilich  nur  eine  unhaltbare  Theorie  her- 
auskommen. Dieselbe  Art  der  Untersuchung  über  denselben  Gegenstand, 
aber  nach  einer  ganz  entgegengesetzten  Methode,  (welche  trennt,  wo  Fichte 
verbinden  wollte,)  und  zu  ganz  entgegengesetzten  Resultaten  hinführend, 
wird  einen  Theil  dieses  Buches  ausmachen;  und  das  eben  Gesagte  mag 
als  entfernte  Vorbereitung  dazu  dienen. 

§  13- 

Wenn  es  Methoden  giebt,  durch  welche  man  verborgene  Beziehungen 
aufdecken  kann,  so  ist  eben  der  Umstand,  welcher  zuvor  der  wahre  Ur- 
sprung psychologischer  Schwierigkeiten  zu  seyn  schien,  und  welcher  in  der 
That  eine  empirische  Naturgeschichte  des  Geistes  unmöglich  macht, 
—  für  die  speculative  Psychologie  eher  vortheilhaft  als  nachtheilig.  Der 
Umstand  nämlich,  dafs  alle  psvchologische  Wahrnehmung,  um  vestgehalten 
zu  werden,  sich  unwillkührlich  in  eine  Abstraction  verlieren  mufs:  und  da- 
her von  den  wirklichen  Thatsachen  nur  Bruchstücke  liefert.  Dieses  ist 
nicht  nachtheilig: 

Denn  der  abstracte  Begriff  kann  durch  seine  Beziehungen  wieder  er- 
gänzt werden;  und  je  allgemeiner  er  ist,  [$2]  um  desto  eher  ergiebt  er 
in  Verbindung  mit  den  Ergänzungen  eben  das,  was  in  allen  Wissenschaften 
zuerst  gesucht  wird,  nämlich  eine  allgemeine  Theorie,  durch  deren  Hülfe 
eine  grofse  Mannigfaltigkeit  von  Thatsachen  gleich  Anfangs  überschaut 
werden  kann.  Ueberdies  ist  ein  Begriff  für  die  speculative  Behandlung 
allemal  um  so  bequemer,  je  allgemeiner,  das  heifst,  je  ärmer  an  Inhalt 
er  ist;  so  lange  nur  die  Abstraction  nicht  den  Keim  der  Beziehungen  in 
ihm  zerstört  hat.  Im  letztem  Falle  freylich  wird  er  unbrauchbar;  allein 
alle  Ueberladung  mit  Merkmalen,  welche  die  Untersuchung  nicht  fördern, 
bringt  nur  Verwirrung  hervor. 

Ein  neuer  Zuwachs  an   Bequemlichkeit  aber    ist    es,    wenn,    der  All- 


Einleitung.  205 


gemeinheit  unbeschadet,  ein  Begriff  uns  nicht  nöthigt,  sogleich  in  seinen  Um- 
fang hinabzusteigen,  und  specielle  Fälle  zu  durchlaufen,  um  uns  seiner  Gültig- 
keit, und  seiner  wesentlichen  Merkmale  zu  versichern.  Um  dies  deutlich 
zu  machen,  nehme  man  zuvörderst  ein  Paar  Beyspiele  des  Gegentheils.  Der 
Begriff  des  Willens  ist  sehr  allgemein;  aber  um  uns  seiner  Gültigkeit  zu 
versichern,  (dafs  er  aus  dem  Gegebenen  entsprungen,  nicht  willkührlich  ge- 
macht ist,)  müssen  wir  Beyspiele  dazu  in  der  innem  Wahrnehmung  unseres 
eignen  Wollens  aufsuchen.  Was  finden  wir  nun  hier?  Sehr  verschiedene, 
continuirlich  in  einander  fliefsende  Grade  des  Wollens  !  Entschlüsse,  aber  auch 
Neigungen,  Launen,  unbestimmte  Aufregungen;  freye  Wahl,  aber  auch  das 
erzwungene  Wollen  wider  Willen,  womit  der  Wehrlose  sich  entschliefst,  den 
Räuber  abzukaufen.  Was  heifst  nun  eigentlich  Wollen?  Die  innere  Wahr- 
nehmung mufs  es  lehren,  aber  ihre  Belehrung  ist  zu  weitläuftig  für  einen 
Begriff,  der  mit  Präcision  aufgefafst,  und  der  Speculation  überliefert,  zum 
Princip  einer  Untersuchung  dienen  soll.  —  Desgleichen,  der  Begriff  des 
Gedächtnisses  ist  sehr  allgemein;  wenden  wir  aber  den  Blick  einwärts,  um 
uns  genau  an  das  Gegebene  zu  erinnern,  was  dem  Begriffe  seinen  Inhalt 
bestimmt,  so  kommen  uns  die  An[3 3] schauungen,  Einbildungen,  Begriffe,, 
Urtheile,  Gefühle,  Entschliefsungen,  —  entgegen,  welche  alle  das  Gedächt- 
nils aufbewahrt;  aber  es  ist  dessen  zuviel;  und  wiederum  in  dem  abstracten 
Begriffe  eines  Gemüthszustandes  überhaupt,  den  das  Gedächtnifs  erneuere, 
zu  wenig  unmittelbare  Klarheit,  als  dafs  man  sich  einem  solchen  Princip 
gern  anvertrauen  könnte.  Ist  schon  von  andern  Seiten  her  Licht  genug 
vorhanden,  dann  mag  man  auch  solche  Principien  gleichsam  zu  Rechnungs- 
proben benutzen;  allein  für  die  Haupt-Untersuchung  bedarf  es  eines  hel- 
leren Anfangspunctes ;  eines  Punctes,  der  nicht  zerfliefse,  indem  man  ihn 
in   der  Wahrnehmung  aufsucht. 

Solch  ein  Punct  nun  ist  ganz  vorzüglich  das  Ich.  Dieses  läfst  sich 
in  einer  vollkommnen  Abstraction  vom  Individuellen  noch  deutlich  machen, 
nämlich  als  Identität  des  Objects  und  Subjects;  ohne  dafs  darum  das  Selbst- 
bewufstseyn  aufhörte,  sich  für  den  Begriff  zu  verbürgen.  Nun  sind  zwar 
im  Selbtbewufstseyn  die  Bedingungen  nur  verdunkelt,  unter  denen  er 
Realität  besitzt,  und  man  würde  sich  sehr  täuschen,  wenn  man  ihn  darum 
an  gar  keine  Bedingungen  geknüpft  glauben  wollte.  Allein  die  methodisch« 
Speculation,  indem  sie  den  Begriff  des  Ich  bearbeitet,  findet  gar  bald  seine 
innere  Unzulänglichkeit;  und  weis't  ihm  dann  ferner  seine  Ergänzungen 
mit  einer  Bestimmtheit  und  Sicherheit  nach,  welche  die  innere  Wahr- 
nehmung nie   zu  erreichen  vermöchte. 

Da  nun  der  Begriff  des  Ich  zugleich  der  allgemeine  Begleiter  aller 
Gemüthszustände  ist,  in  so  fern  wir  sie  uns  selbst  zueignen:  so  vereinigt 
er  im  hohen  Grade  die  Eigenschaften  eines  bequemen  Prineips,  nämlich 
Allgemeinheit  und  Präcision.  Und  deshalb  werden  wir  von  diesem 
Princip  in  der  Folge  vorzüglich  Gebrauch  machen;  ohne  jedoch  die  übrigen 
ganz  zu  vernachlässigen,  und  besonders  ohne  solche  Vernachlässigung  wühl 
gar  einem  künftigen   Bearbeiter  der  ganzen   Wissenschaft  zu   empfehlen. 


2o6  XI-  Psychologie  als  Wissenschaft. 


[34]   V. 
Von  dem  Verhältnifs  der  Psychologie  zur  allgemeinen  Metaphysik. 

§  14- 

Bisher  sind  wir  so  viel  möglich  in  der  Nähe  dessen  geblieben,  was 
unmittelbare  Klarheit  besitzt,  indem  es  an  die  innere  Wahrnehmung  sich 
anschliefst;  jetzt  mufs  auch  von  den  systematischen  Verhältnissen  der  Psy- 
chologie als  Wissenschaft  die  Rede  seyn. 

Die  Psychologie  wurde  in  der  Wolffischen  Periode  als  der  dritte  Theil 
der  Metaphysik  angesehn.  Die  Kosmologie  ging  ihr  voran,  die  natürliche 
Theologie  folgte  nach;  die  Ontologie  stand  an  der  Spitze  aller  drey  Wissen- 
schaften, um  ihnen  die  allgemeinsten  Begriffe  vorzubereiten.  Die  ganze 
Metaphysik  trat  der  praktischen  Philosophie  gegenüber:  denn  man  war  auf 
den,  aller  Etymologie  widerstreitenden  Ausdruck  Metaphysik  der  Sitten 
noch  nicht  gekommen.*  Leider  pafst  dieser  Ausdruck,  der  das  verderb- 
liche Vermengen  der  theoretischen  und  praktischen  Philosophie  bedeutet, 
nur  gar  zu  nahe  auf  die  neuesten  Versuche,  die  Ethik  im  Geiste  des 
Spinoza  zu  behandeln,  wodurch  der  wahre  Sinn  der  Billigung  und  Mis- 
billigung,  kraft  welcher  Löbliches  und  Schändliches  ursprünglich  unter- 
schieden wird,  ganz  und  gar  zu  Grunde  geht.** 

Ich  erkläre  mich  für  jene  ältere  Weise,  die  Metaphysik  zu  unter- 
scheiden und  einzutheilen ;   mit  einigen  Veränderungen,   welche  hier  folgen. 

[35]  Erstlich  dasjenige,  wovon,  als  dem  andern  grofsen  Haupttheile 
der  Philosophie,  die  Metaphysik  mufs  unterschieden  werden,  (um  der 
Logik,  die  nur  einen  Vorhof  ausmacht,  nicht  zu  erwähnen,)  ist  nicht  allein 
die  praktische  Philosophie,  sondern  die  gesammte  Aesthetik.  Von  dieser  ist 
die  praktische  Philosophie  ein  Theil;  aber  kein  untergeordneter;  denn  in 
der  allgemeinen  Aesthetik  sind  die  Haupttheile  nur  neben  einander  ge- 
ordnet, weil  die  verschiedenen  ästhetischen  Beurth eilungen  der  Farben, 
Figuren,  Töne  u.  s.  w.,  und  so  auch  der  Willens-Verhältnisse,  alle  ursprüng- 
lich für  sich  bestehn,  und  durch  keine  gegenseitige  Abhängigkeit  verknüpft 
sind.  Daher  bilden  die  verschiedenen  Kunstlehren,  von  denen  die  Tugend- 
lehre Eine  ist,  lauter  selbstständige  Disciplinen,  die  nur  wegen  der  Gleichartig- 
keit ihrer  Principien  (Beurtheilung  durch  Beyfall  oder  Misfallen,  olme  Rück- 
sicht auf  das  was  ist  und  seyn  kann,)  unter  den  allgemeinen  Ciassennamen 
Aesthetik,  logisch  zusammengestellt  werden.  Hierüber  habe  ich  an  andern 
Orten  ausführlicher  gesprochen,  und  werde  mich  jetzt  nicht  dabey  aufhalten. 

Zweytens,  die  Eintheilung  der  Metaphysik  würde  klärer  seyn,  wenn 
zuvörderst  allgemeine  Metaphysik  von  der  speciellen  oder  angewandten 
getrennt  wäre.  Es  bedarf  wohl  keiner  Erinnerung,  dals  die  allgemeine 
Metaphysik  den  Platz  der  Ontologie  einnehmen  mufs,  welcher  letztre  Name 
um  so  eher  aufgegeben  werden  kann,  weil  die  vormals  durch  ihn  bezeich- 
nete Lehre  ohnehin  einer  völligen  Umschaffung  bedurfte.     Zur  angewandten 


Neuerlich  hat  man  dagegen  sogar  eine  Metaphysik  des  Civil-Processes  erfunden; 
ja  ich  erinnere  mich  in  einem  französischen  Buche  von  einer  Metaphysik  des  Violin- 
spielens  gelesen  zu  haben. 

**  Man  kann  hier  meine  Gespräche  über  das  Böse  vergleichen.    (Siehe  Bd.  IV 
vorl.  Ausgabe.) 


Einleitung.  ?0* 


Metaphysik  aber  sind  ferner  zu  rechnen :  Psychologie,  Naturphilosophie, 
und  philosophische  Religionslehre.  Dafs  der  Name  Kosmologie  passender 
in  Naturphilosophie  übersetzt  werde,  schliefse  ich  daraus,  weil  wir  die 
Probleme  dieser  Wissenschaft  aus  der  Erfahrung  nehmen  müssen,  welche 
dem  Menschen  auf  der  Oberfläche  der  Erde  zugänglich  ist,  während  der 
Begriff  der  Welt  als  eines  Ganzen,  mit  dem  unser  Erfahrungskreis  kaum 
verglichen  werden  kann,  vielmehr  in  der  allgemeinen  Metaphysik  seinen 
Platz  hat.  [36]  Die  Religionslehre  würde  mit  der  Ontologie  verschmolzen, 
an  der  Spitze  der  ganzen  Metaphysik  treten,  wenn  eine  unmittelbare 
Erkenntnifs  Gottes,  als  des  Absoluten,  vorhanden  wäre :  worüber  mit  ver- 
schiedenen Systemen  zu  rechten  hier  nicht  der  Ort  ist. 

Die  nämliche  Ehre  aber,  an  die  Spitze  der  Metaphysik  gestellt  zu 
werden,  müfste  vielmehr  der  Psychologie  widerfahren,  wenn  anders  das 
berühmte  Unternehmen  der  Vernunftkritik,  ich  will  nicht  sagen  richtig 
ausgeführt  worden,  sondern  nur  in  der  ersten  Anlage  ein  richtiger  Gedanke 
gewesen  wäre  oder  jemals  werden  könnte.  —  Eine  Vernunftkritik  hat  zu 
ihrem  Gegenstande  die  Vernunft,  oder  besser  das  gesammte  Erkenntnifs- 
vermögen;  diesen  Gegenstand  muis  sie  als  bekannt  voraussetzen;  und 
hierin  liegen  Irrthümer,  die  sich  durch  gar  Nichts  wieder  gut  machen 
lassen.  Vom  Erkenntnifsvermögen  wissen  wir  als  von  einer  Summe  von 
Thatsachen  des  Bewufstseyns.  Noch  glücklich,  wenn  uns  diese  durch  innere 
Wahrnehmung,  oder  wenn  man  lieber  will,  durch  Anschauung  des  innern 
Sinnes  bekannt  geworden  sind.  Alsdann  aber  fragt  sich  sogleich,  wie  viel 
Glauben  die  innere  Anschauung  verdiene?  Eine  Frage,  welche  die  An- 
schauung selbst,  nimmermehr  beantworten  kann.  —  Allein  es  ist  nicht 
einmal  wahr,  dafs  wir  eine  so  unmittelbare  Kenntnifs  von  dem  sogenannten 
Erkenntnifsvermögen  besäfsen,  dessen  Begriff  wir  vielmehr  aus  den  vor- 
gefundenen Producten  unserer  geistigen  Thätigkeit  herausgedeutet  haben. 
Jedoch  was  darüber  vom  §  4  an  schon  ist  gesagt  worden,  darf  hier  nicht 
wiederhohlt  werden :   auf  die  entgegenstehende  Täuschung;  werde  ich  weiter- 

DO  D 

hin  noch   zurückkommen. 

Wofern  nun  die  Psychologie,  weit  entfernt  der  allgemeinen  Meta- 
physik eine  Grundlage  geben  zu  können,  an  ihren  Platz  in  der  angewandten 
Metaphysik  zurücktritt  (wo  sie  übrigens  aus  Gründen,  die  hier  noch  nicht 
klar  seyn  können,  der  Naturphilosophie  mufs  vorangestellt  werden) :  so 1 
beruhet  sie  selbst  auf  der  allgemeinen  [37]  Metaphysik,  und  kann,  ohne 
diese  voranzuschicken,  weder  abgehandelt  noch  auch  nur  begründet  werden. 

In  der  That,  wenn  ich  tiefer  unten  behaupten  werde,  dafs  die  Seele 
ein  einfaches  Wesen,  und  dafs  sie  eben  aus  dem  Grunde  nicht  ursprüng- 
lich Kraft  ist:  so  mufs  ich  dabei  nothwendig  auf  die  allgemeine  Meta- 
physik (und  zunächst,  bis  eine  ausführlichere  Darstellung  erscheint,  auf 
meine   Hauptpuncte  der  Metaphysik,)   hinweisen. 

Um  jedoch  den  Hauptstamm  meiner  gegenwärtigen  Untersuchung 
genugsam  bevestigen  zu  können,  werde  ich  mir  erlauben,  das  Nöthigste 
aus  der  allgemeinen  Metaphysik,  nämlich  die  Untersuchung  über  das  Ich, 
hier    einzuschalten ;    und    auch    auf   andere   Puncte   jener  'Wissenschaft   so 


1    „so"  fehlt  in   S\V 


2oS  2SJ-  Psychologie  als  Wissenschaft. 


viel  Licht  werfen  als  hier  geschehen  kann;  wozu  sich  die  Gelegenheiten 
häufig  genug  darbieten  werden.  Und  um  möglichen  Misverständnissen  zu- 
vor zu  kommen,  bemühe  ich  mich  sogleich,  das  Verhältnifs  der  Prin- 
cipien  von  beyden,  der  allgemeinen  Metaphysik,  und  der  Psychologie, 
deutlich  auszusprechen. 

§  15- 

Die  allgemeinen  Formen  der  Erscheinungen,  so  wie  sie  vor  allem 
Philosophiren  vorgefunden  werden,  sind  die  Principien  der  allgemeinen 
Metaphysik.  Könnten  diese  Formen,  so  wie  sie  vorgefunden  (oder,  im 
wissenschaftlichen  Sinne  des  Worts,  gegeben)  sind,  eben  so  auch  gedacht 
werden,  so  bliebe  es  bey  der  ersten  Auffassung  oder  Anschauung;  dieser 
würde  man  glauben,  und  eben  deshalb  würde  keine  Wissenschaft,  Meta- 
physik genannt,  entstehen;  es  sey  denn  als  ein  Spiel  müssiger  Köpfe,  das 
man  gerade  so  ignoriren,  und  von  aller  soliden  Erfahrungs-  Erkenntnifs 
hinwegscheuchen  müfste,  wie  gegenwärtig  die  Metaphysik  von  ihren  Ver- 
ächtern in  der  That  ignorirt,  und  aus  der  Naturforschung  wirklich  verbannt 
wird.  Diese  Verächter  und  Widersacher  können  nur  dadurch  widerlegt 
werden,  dafs  man  ihnen  die  Widersprüche  nachweis't,  in  denen  sie  aus 
Mangel  an  Metaphvsik  [38]  unvermeidlich  befangen  sind.  Sie  können  nur 
dadurch  versöhnt  werden,  dafs  sie  einsehn  lernen,  wie  die  Metaphysik 
gerade  dasselbe  Geschafft  nur  fortführt  und  zu  Ende  bringt,  was  der  ge- 
meine Verstand,  nothgedrungen  durch  das  Widersprechende  in  den  Formen 
der  Erscheinung,  von  selbst  beginnt,  indem  er  die  Begriffe  von  Substanz 
und  Ursache  erfindet.  Denn  diese  Begriffe  sind  keine  angeborne,  son- 
dern erfundene;  sie  sind  nicht  Kategorien,  die  unbeweglich  vest  stünden, 
und  die  man  darum  so  lassen  mülste,  wie  sie  stünden;  sondern  es  sind 
halbvollendete  Productionen,  die  man  ganz  zu  Stande  bringen  mufs,  damit 
die  Knoten,  welche  der  gemeine  Verstand  nur  vorläufig  zur  Seite  geschoben 
hat,   zu   einer  vollständigen   Auflösung  gelangen  mögen. 

Jene  Formen  der  Erscheinungen  aber  sind  keine  andern,  als  die  Com- 
plexionen,  welche  wir  für  die  Verknüpfungen  mehrerer  Merkmale  Eines 
Dinges  ansehn;  die  Veränderungen  dieser  Complexionen,  welche  wir  für 
Veränderungen  der  Dinge  nehmen ;  ferner  der  Raum,  die  Zeit  und  das  Ich. 
Nachdem  die  Einsicht  gewonnen  ist,  dafs  keine  dieser,  in  der  Anschauung 
gefundenen  Formen  für  sich  denkbar  ist,  sucht  die  Metaphysik  die  Be- 
ziehungen derselben  auf,  wodurch  die  vorigen  Widersprüche  verschwinden. * 

Wie  verhalten  sich  nun  dazu  die  Principien  der  Psychologie  ? 

Unter  den  vorhin  genannten  Formen  ist  eine,  nämlich  das  Ich,  welche 
eben  sowohl  zur  Psychologie  als  zur  allgemeinen  Metaphysik  gerechnet 
werden  kann;  ja  das  Ich  scheint  nicht  eine  Form,  sondern  gerade  der 
•  igentliche  Gegenstand  der  Psychologie  zu  seyn.  Dafs  nun  gleichwohl 
die  Untersuchung  desselben  in  die  allgemeine  [39]  Metaphysik  gezogen 
werden  mufs,  rührt  her  von   dem  untrennbaren  Zusammenhange  der  ersten 


Was  hier  behauptet  ist,  müssen  fürs  erste  meine  schon  oben  genannten  Haupt- 
punkte der  Metaphysik  (siehe  Bd.  II  vorl.  Ausgabe)  verantworten.  Man  vergleiche  auch 
unten,  §  33 — 35,  und  mein  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie,  im  vierten 
Abschnitte.     (Siehe  Bd.  IV  vorl.   Ausgabe.) 


Einleitung.  2  0Q 


metaphysischen  Nachforschungen  mit  der  eben  erwähnten;  welches  schon 
die  leichteste  Erinnerung  an  den  Idealismus  kann  vermuthen  lassen.  Allein 
wenn  auch  in  einem  vollständigen  Systeme  der  Philosophie  dasjenige  nicht 
in  der  Psychologie  darf  wiederhohlt  werden,  was  die  allgemeine  Meta- 
physik schon  vorweggenommen  hat:  so  bleibt  doch  der  Gegenstand  selbst 
psychologisch,  und  bezeichnet  die  innige  Verbindung  der  allgemeinen 
Wissenschaft  mit  der  ihr  untergeordneten  besonderen. 

Aufserdem  nun  hat  die  Psychologie  an  den  mannigfaltigen  Thatsachen 
des  Bewufstseyns,  wie  schon  oben  bemerkt  worden,  ein  unermefsliches 
Eigenthum,  welches  die  allgemeine  Metaphysik  unangetastet  läfst;  so  dafs 
auch  diejenigen  unter  diesen  Thatsachen,  welche  die  Eigenschaften  eines 
Princips  an  sich  tragen,   der  Psychologie  allein  gehören, 

Aber  die  wissenschaftliche  Behandlung  dieser  blofs  psycholi  »o-ischen 
Principien,  die  Auflösung  der  in  ihnen  enthaltenen  Probleme*,  diese  mufs 
immer  mit  Zuziehung  der  allgemein  metaphysischen  Lehrsätze  bewerk- 
stelligt werden,  damit  alles  gehörig  zusammenstimme;  und  sie  kann  auch 
einer  solchen  Hülfe  nicht  entbehren,  weil  in  allen  speciellen  Problemen 
sich  immer  die  allgemein  metaphysischen,  wie  die  Gattung  in  der  Art, 
wiederfinden. 

Man  sieht  nämlich  auf  den  ersten  Blick:  dafs  alle  psvchologischen 
Principien,  so  wie  sie  aus  der  hinern  Wahrnehmung  geschöpft  werden, 
zzvej'  Umstände  an  sich  tragen,  um  derentwillen  sie  unfehlbar  in 
die  allgemein  metaphysischen  Haupt-Probleme  zurückfallen. 
Sie  befinden  sich  alle  unter  der  Mehrheit  von  Bestim[4o]mungen,  die 
dem  Gemüth  als  einer  Einheit  zugeschrieben  werden;  dadurch  rufen  sie 
die  allgemeine  Frage  herbey,  wiefern  überhaupt  Mehreres  Einem 
zukommen  könne?  und  diese  Frage  wird  durch  die  Lehre  von  der 
Substanz  entschieden.  Ferner  ist  alles  innerlich  Wahrgenommene  im  be- 
ständigen Kommen  und  Gehen  begriffen,  es  bezeichnet  veränderliche  Zu- 
stände des  Gemüths;  dadurch  gehört  es  in  das  Gebiet  des  Veränder- 
lichen überhaupt,  und  die  Theorie  der  Veränderung  wird  dabey  unent- 
behrlich. 

Wie  nun  Jemand  die  Möglichkeit  der  Veränderung  sich  denkt;  ob 
er  sie  aus  äufsern  Gründen,  oder  aus  inneren,  durch  Selbstbestimmung, 
erklärt,  oder  ob  er  ein  absolutes  Werden  annimmt**):  dieses  entscheidet 
über  die  möglichen  psychologischen  Vorstellungsarten,  denen  er  zugänglich 
ist.     Eben  so  ist  es  mit  den  angenommenen  Meinungen  über  die  Substanz. 

Deshalb  ist  es  völlig  vergeblich,  Jemanden  für  eine  Psychologie  ge- 
winnen zu  wollen,  die  seinen  metaphysischen  Vorstellungsarten  widerstreitet ; 
es  sey  denn,  dafs  man  seine  Metaphysik  zugleich  mit  umbilden  könne. 
Dürfen  aber  die  Seelenlehrer,  welche  durch  blofse  Erfahrung  sich  berech- 
tigt halten,  die  metaphysischen  Begriffe  von  Vermögen,  Kräften,  Thätig- 
keiten    anzuwenden,    um    dem   Gemüth    eine  Mehrheit    davon   bevzulcgen, 


*  Wer  sich  nicht  gleich  erinnert,  wie  die  Principien  Probleme  enthalten,  nämlich 
vermöge  ihrer  Beziehungen,  welche  vollständig  aufzusuchen  eine  Aufgabe  ist:  der  beliebe 
in  die  §§    1 1  — 13   zurückzublicken. 

**  Vergl.   mein   Lehrbuch   zur  Einleitung    in    die  Philosophie ,    Abschn.   4,    Cap.    2, 
[s.  Bd.  IV,  No.  I]. 

Heruart's  Werke.     V.  14 


2  I O  XL   Psychologie  als  "Wissenschaft. 

dürfen  sie  erwarten,  denjenigen  zu  überzeugen,  der  eine  Metaphysik  ent- 
weder hat,  oder  auch  nur  für  nöthig  hält,  darnach  methodisch  zu  suchen? 
Es  werden  weiterhin  historische  Beispiele  vorkommen,  welche  dies  erläutern 
können. 

§  16. 

Aufser  dem  richtigen  Verhältnils  der  Psychologie  zur  allgemeinen 
Metaphysik  mufs  auch  noch  ein  scheinbares  in  Betracht  gezogen  werden; 
eben  dasjenige,  welches  die  [41]  Versuche  veranlafst  hat,  der  Metaphysik 
eine  psychologische  Grundlage  zu  geben. 

Um  sich  hierin  desto  leichter  zu  finden:  bemerke  man,  dafs  ursprüng- 
lich die  Metaphysik  von  Naturbetrachtungen  anhebt,  dafs  sie  dabev  so- 
gleich auf  die  Unzuverlässigkeit  und  Undankbarkeit  der  sinnlichen  Er- 
fahrung stofsen  mufs,  dafs  es  ihr  aber  nicht  so  leicht  wird,  das  Bessere  an 
die  Stelle  zu  setzen.  Nachdem  die  ältesten  Philosophen  bald,  mit  Heraklit, 
ein  absolutes  Werden;  bald,  mit  den  Eleaten,  ein  absolutes  Seyn;  bald, 
mit  Leukipp,  das  Volle  und  das  Leere  und  die  kleinsten  Körperchen; 
bald,  mit  den  Pythagoräern,  die  Zahlen,  oder  mit  Platox,  die  Ideen  zum 
Grunde  gelegt  hatten:  wuchs  immer  mehr  der  Verdacht  heran,  den  die 
Sophisten  aussprachen,  den  Sokrates  begünstigte,  den  die  Akademiker  und 
Skeptiker  fortdauernd  ernährten,  dafs  nämlich  jene  älteren  in  eine  Tiefe 
hätten  blicken  wollen,  wo  hinein  das  menschliche  Auge  nicht  reiche;  und 
dafs  die  eigentliche  Weisheit  darin  bestehe,  die  Schranken  unserer  Erkennt- 
nifs  wohl  einzusehen.  *  Hierin  nun  liegt  offenbar  schon  die  Weisung,  erst 
das:  quid  vakant  humer i,  quid  ferre  recusent,  zu  erwägen,  das  heifst,  erst 
das  Vermögen  unserer  Erkenntnifs  genau  zu  schätzen,  ehe  man  sich  in 
Untersuchunngen  über  die  Natur  der  Dinge  verliere.  Und  was  ist  natür- 
licher, als  dafs  man  über  einem  Sprunge,  über  einer  Vernachlässigung 
des  Zunächstliegenden,  sich  zu  ertappen  glaube,  wenn  man  bemerkt,  man 
habe  in  den  Sternen  geforscht,   ohne  das  eigne  Herz   zu  kennen? 

Nichts  destoweniger  ist  unsre  Kenntnifs  der  Himmels-Mechanik  gegen- 
wärtig ohne  Vergleich  vollkommner,  als  die  Kenntnifs  des  Gesetzmäfsigen 
in  unserm  Innern.  [42]  Und  wenn  Sokrates  wirklich  glaubte,  mit  dem 
yvütd-i  oavTQv  leichter  fertig  zu  werden,  als  mit  jenen  Nachforschungen, 
die  ihm  zu  verwegen  schienen ,  so  war  er  in  einer  mächtigen  grofsen 
Täuschung  befanden. 

Er  hatte  vergessen,  dafs  es  nicht  sowohl  auf  die  Distanz  eines  Gegen- 
standes von  uns,  sondern  auf  das  Auge  ankommt,  welches  wir  für  ihn 
haben.  Das  sinnliche  Auge  sieht  mit  einer  Genauigkeit,  die  sich  einer 
mathematischen  Bestimmtheit  nahe  bringen  läfst,  und  es  pflegt  seinen 
Gegenstand  nicht  selbst  zu  entstellen;  aber  die  innere  Wahrnehmung  unter- 
liegt diesem  Vorwurfe  und  entbehrt  jenes  Vortheils.  Es  ist  wahr,  die 
sinnlichen    Gegenstände    wechseln,    sie    entstehn    und    vergehen;    aber    wir 


*  In  Hinsicht  der  Sophisten  ist  hoffenüich  nicht  nöthig,  die  Hauptsätze  des  Gorgias 
und  Protagoras  hier  anzuführen,  welche  in  der  That  auf  das  angegebene  Resultat  hinaus- 
laufen, so  weit  auch  übrigens  ihre  Lehrart  von  der  des  Sokrates  entfernt  war.  Das: 
Txarrvjv  %()7/fiaTOJv  utT^ov  av&Qwnoi,  ist  eigenüich  eine  Ermahnung,  alles  "Wissen  sey 
relativ  und  subjectiv. 


Einleitung.  2  11 


selbst  mit  unsem  Gemütbszuständen  sind  noch  weit  unbeständiger  als  irgend 
ein  äufserer  Wechsel.  Man  mufs  gestehen,  dafs  die  sinnlichen  Merkmale 
der  Dinge  keinesweges  für  reale  Qualitäten  gelten  können;  aber  wenn  die 
Dinge  nur  in  so  fern  sie  uns  erscheinen,  sich  mit  Merkmalen  bekleiden, 
so  ist  es  eben  so  wahr,  dafs  auch  wir  selbst  nur  erkennen,  wollen  und 
fühlen,  in  wie  fem  uns  Objecte  gegenüber  treten,  als  Zielpuncte  unseres 
Anschauens  und  Begehrens;  Objecte,  von  deren  Jedem  einzeln  genommen 
wir  schon  im  gemeinen  Leben  bekennen,  dafs  es  uns  nur  zufällig  begegne. 
Denn  wir  lassen  dieselben  Gegenstände  gar  nicht  für  Bedingungen  unseres 
Daseyns  gelten,  von  denen  doch  nicht  zu  leugnen  ist,  dafs  sie  unser  ganzes 
Wissen  um  uns  selbst  bedingen.  Und  während  nun  dieses  Wissen  von 
uns  selbst  eben  so  durch  Relationen  auf  das  Aeufsere  afficirt  ist,  wie  das 
Erkennen  der  Aufsendinge  durch  die  Relation  auf  uns:  vermischt  sich 
jenes  sehr  leicht  mit  Einbildungen  aller  Art,  von  denen  dieses  viel  freyer 
ist.  Das  Brüten  über  sich  selbst  erzeugt  Schwärmer;  die  Beschäffti<nmo- 
mit  dem  was  draufsen  vorgeht,   vermag  Schwärmer  zu  heilen. 

Allen  diesen  bekannten  Wahrheiten  zum  Trotz  nun  hat  man  dennoch 
gemeint,  und  meint  noch  heute,  man  [43]  könne  wohl  mit  grofsej  Sicher- 
heit Lehren  über  die  Formen  und  Gränzen  des  Erkenntnifsvermögens  auf- 
stellen, und  diese  zum  Maafsstabe  aller  Wahrheit  machen;  ohne  dafs  man 
nöthig  habe  genau  zu  prüfen,  wie  das  Erkenntnifsvermögen  selbst  erkannt 
werde;  ob  die  Wahrnehmung  desselben  zuverlässig  und  bestimmt,  ob  die 
Begriffe,  die  man.  darauf  überträgt,  deutlich,  ob  sie  auch  nur  denkbar 
seyen?  Da  nun  in  der  allgemeinen  Metaphysik  nachgewiesen  wird,  dafs 
ein  Gemüth,  als  Einheit  r  it  allerley  Vermögen,  dafs  schon  ein  reales  Ver- 
mögen, welches  auf  Anlässe  zum  Handeln  wartet,  dafs  endlich  das  Ich, 
dieser  vermeintlich  gehaltlose  und  unschuldige  Begleiter  aller  unserer  Ge- 
danken, lauter  undenkbare  Begriffe  und  vollständige  Widersprüche  sind: 
so  mufs  das  Psychologische,  auf  welches  eine  Kritik  der  Metaphysik  sollte 
gegründet  werden,  vielmehr  sich  selbst  einer  Kritik  von  Seiten  der  Meta- 
physik unterziehen;  und  jene  Lehren,  die  das  Unterste  oben  gekehrt  haben, 
müssen  sich  eine  neue  Umkehrung  gefallen  lassen,  auf  dafs  die  alte  gute 
Ordnung  wieder  hergestellt  werde. 

Weil  aber  nun  einmal  eine  Abweichung  von  der  alten  Ordnung  Statt 
gefunden,  und  Beyfall  gewonnen,  und  selbst  vielfältigen,  nicht  zu  verküm- 
mernden Dank  verdient  hat,  wegen  neuer  Aufregung  der  gesammten  specu- 
lativen  Thätigkeit:  so  ist  es  nun  nothwendig  geworden,  vor  einer  ausführ- 
lichen allgemeinen  Metaphysik,  die  Beleuchtung  der  Psychologie,  und  der 
Grundlage,  die  sie  haben  oder  nicht  haben  kann,  vorhergehn  zu  lassen. 
Und  das  gegenwärtige  Buch  hat  wirklich,  abgesehen  von  seinem  positiven 
Inhalte,  die  Tendenz,  eine  durchgeführte  Ableugnung  dessen  darzustellen, 
wovon  Andre,  als  von  dem  Ersten  was  man  ihnen  zugestehen  müsse,  aus- 
zugehn  gewohnt  sind. 


14' 


2  j  2  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


[44]     VI. 
Blicke  auf  die  Geschichte  der  Psychologie  seit  Des-CäRTES. 

§   17- 

Wir  haben  neuerlich  eine  Geschichte  der  Psychologie  von  Carus 
erhalten,  ohne  Zweifel  ein  verdienstliches  Werk.  Doch  wäre  eine  Kritik 
der  Psychologie,  im  Geiste  von  Schleiermacher's  Kritik  der  Sittenlehre, 
etwas  weit  wünschenswertheres. 

Es  kann  mir  nicht  einfallen,  hier  auch  nur  den  geringsten  Versuch 
dieser  Art  machen  zu  wollen.  Damit  meine  weitläuftige  Einleitung  ein 
Ende  finde,  mufs  ich  mich  begnügen,  bis  auf  diejenigen  Vorstellungsarten  l 
zurückzugehn,  welche  noch  jetzt  von  Einflufs  sind,  und  ich  werde  sie  nur 
in  so  fem  in  Betracht  ziehn,  als  dadurch  für  meinen  jetzigen  Zweck 
etwas  gewonnen  wird. 

Der  erste,  den  ich  hier  achtungsvoll  nennen  mufs,  ist  Des-Cartes; 
selbständig  und  reif  in  seiner  Art  als  Denker,  und  geistreich,  ohne  Künstele}-, 
als  Schriftsteller.  Seine  meditationes  de  prima  philosophia  sind  noch  heute 
höchst  empfehlungswerth  für  Anfänger;  besonders  wenn  ein  tüchtiger  Lehrer 
hinzukommt.  Das  grofse  Verdienst  des  Des-Cartes  besteht  nicht  blofs 
in  scharfer  Scheidung  des  Geistes  von  der  Materie,  sondern  darin,  dafs 
er  für  die  ganze  Philosophie  den  rechten  Ton  angab,  indem  er  in  das 
Gebiet  des  Zweifels  vorläufig  die  ganze  Körpenveit,  und  alle  unsre  Vor- 
stellungen von  derselben  verwies;  hingegen  das  Ich  als  den  Lichtpunct 
der  ersten  Gewifsheit  hervorhob;  wodurch  jene  Besonnenheit  möglich 
wurde,  die  Kant  unter  uns  erneuerte,  und  die  man  niemals  wieder  hätte 
verlieren  sollen;  die  Besonnenheit  an  das  eigne  Denken,  welches  auch 
der  Gegenstand  unseres  Denkens  seyn  möge.  —  Und  welches  ist  sein 
Beweis  für  das  Daseyn  Gottes?  Nicht  ursprünglich  [45]  jenes  bekannte 
Sophisma,  nach  welchem  die  Existenz  eine  der  göttlichen  Vollkommen- 
heiten seyn  soll;  dieses  rief  er  freylich  zu  Hülfe;  allein  erst,  nachdem  die 
grofse  Frage:  woher  kommt  die  Erhebung  meines  Geistes  zu 
solchen  Gedanken,  deren  Gegenstand  in  der  Erfahrung  nicht 
angetroffen  wird?  —  ihn  dahin  gedrängt  hatte,  den  übersinnlichen 
Ursprung  derselben  in  Gott  zu  suchen.  Seine  Lehre  von  den  angebornen 
Ideen  ist  übrigens  nicht  im  mindesten  schwärmerisch,  sondern  unver- 
meidlich für  den,  welcher  nicht  schon  alles  dasjenige  weifs,  was  ich  in 
diesem  Buche  erst  vorzutragen  gedenke;  nunquam  iudicavi,  sagt  er  (in  den 
notis  in  prögramma  quoddam  in  Belgio  editumj,  meutern  indigere  ideis  innatis, 
quae  sint  aliquid  diver sum  ab  eins  facnltate  cogitandi:  sed  cum  adver t er em, 
quasdam  in  me  esse  cogitationes,  quae  non  ab  obiectis  externis,  nee  a  volun- 
tatis  meae  determinatione  procedebant,  sed  a  sola  cogitandi  facultate,  illas 
innaias  voeavi;  eodem  sensu,  quo  dieimus,  generositatem  esse  quibusdam  familiis 
innalam,  aliis  vero  quosdam  morbos:  non  quod  istarum  familiarum  injanies 
morbis  istis  in  utero  matris  /aboreut,  sed  quod  nascantur  cum  qu<idam 
dispositione  sive  facultate  ad  illos  contrahendos. 


1  diejenigen   Vorstellungen  SW. 

I 


Einleitung.  2  1 3. 


Eine  eigentliche  Untersuchung  über  das  Ich,  mufs  man  jedoch  bey 
Des-Cartes  eben  so  wenig,  als  bei  so  vielen  Späteren,  suchen.  Auch 
liegen  bey  ihm  zu  viele  metaphysische  Irrthümer  im  Wege,  als  dafs  er  die 
wahre  Psychologie  hätte  finden  können.  Zwar  nicht  das  kann  ihm  zum 
Vorwurf  gereichen,  was  vermuthlich  unsre  heutigen  Anthropologen  zuerst 
an  ihm  tadeln  würden,  dafs  er  die  Seele  zu  weit  vom  Körper  trenne: 
denn  von  der  engen  Verbindung  beyder  war  er  so  überzeugt,  dafs  er 
sogar,  auf  der  entgegengesetzten  Seite  übertreibend,  meint,  die  Ver- 
besserung des  Menschengeschlechts  müsse  in  der  Medicin  ge- 
sucht werden*.  Eben  so  wenig  hat  ihn  eine  falsche  Freyheitslehre  — 
der  Punct,  [46]  an  welchem  so  Viele  scheitern,  geblendet,  er  lehrt  sehr 
richtig:  indiffereniia,  quam  experior,  cum  nulla  me  ratio  in  unam  partem 
magis  quam  in  alt  er  am  impellit,  est  infimus  gradus  libertatis;  et  nullam  in 
ea  perfectionem ,  sed  tantummodo  in  cognitione  defectum  testatur ;  nam  si 
semper,  quid  verum  et  bonum  sit,  clare  viderem,  nwiquam  de  eo  quod  esset 
indicandum  vel  e/igendum,  deliberarem.  **  Aber  sehr  nachtheilig  mufsten 
ihm  solche  Irrthümer  werden,  wie  die  Anknüpfung  des  Seyn  an  die  Zeit, 
und  die  Meinung,  dafs  die  Zeittheile  von  einander  unabhängig  wären; 
daher  denn  aus  unserm  Daseyn  in  einem  Augenblicke  noch  nicht  das 
Daseyn  im  nächsten  Augenblicke  folgen  soll.***  Wichtiger  noch  sind  die 
Fehler  in  seiner  Lehre  von  der  Substanz;  er  läfst  eine  Mehrheit  von  Attri- 
buten zu;  läfst  die  Substanzen  afficirt  und  verändert  werden;  glaubt  deren 
Natur  zu  erkennen,  indem  Ausdehnung  das  Wesen  des  Körpers,  Denken  das 
des  Geistes  ausmache;  nimmt  gleichwohl  eigentlich  nur  eine  wahre  Substanz 
an,  nämlich  Gott,  welcher  allein  zu  seinem  Daseyn  keines  andern  Gegen- 
standes   bedürfet:   —  kurz,   man  erblickt  hier  den  ganzen  Spinozismus  im 


Keime.  Mögen  alle  Anhänger  des  Spinoza  sorgfältig  den  Des-Cartes 
studiren;  sie  werden  ihn  dann  weniger  anstaunen;  —  so  wie  die  Gegnei 
desselben  eine  Lehre  in  milderem  Lichte  erblicken  werden,  die  nichts  als  ein 
natürlicher  Auswuchs  aus  Des-Cartes  Irrthümern  ist.  Doch  dieser  Gegen- 
stand kann  hier  nicht  ausgeführt  werden ;  ich  gehe  über  zu  dem  berühmten 
Widersacher  des  Des-Cartes  im  Puncte  der  angebornen  Ideen;  zu  Locken, 
dem   eine  länger  dauernde  Wirksamkeit  beschieden  war. 

Locke  nannte  sein  Werk  einen  Versuch  über  das  Denkver- 
mögen, tt  Jemand,  der  von  unsern  [47]  neuern  Psychologien  zu  dem- 
selben käme,  würde  sich  über  den  Plan  des  Werks  wundern  können.  Die 
Erwartung  einer  Abhandlung  der  verschiedenen  Vermögen,  die  man  dem 
Erkenntnifsvermögen  (als  ob  die  Vermögen  wie  Arten  unter  Gattungen 
enthalten  wären)  unterzuordnen  pflegt,  also  die  Erwartung  einer  Lehre  von 
der  Sinnlichkeit  und  so  ferner  bis  zur  Vernunft,  würde  sehr  getäuscht 
werden.     Nicht  nur  hat  Locke,  wie  Tennemann  (in  der  Uebersetzung  von 


*  In  der  dissertatione  de  mcthodo,   gegen  das  Ende. 
**  Meditatio   quarta. 
***  princ.  philos.  I,   21. 
t  Ibid.   51—56. 
tt  Er  sagt    im    zweyten  Buch,   c.  VI.   §  2 :     the  power  of  thinking    is   called    the 
under standing ;  und  um  so  weniger  habe  ich  das  Wort  understanding,  wie  gewöhnlich, 
durch  Verstand  übersetzen  wollen. 


2i  4  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Degerando's  Geschichte  d.  Philos.  I.  Band,  S.  226.  in  der  Note)  bemerkt, 
die  vollständige  Aufzählung  der  Geistesvermögen  nicht  zum  Gegenstande 
seines  Nachdenkens  gemacht:  —  sondern  er  erscheint  auf  den  ersten 
Anblick  äufserst  nachlässig  in  der  Stellung  dieser  Geistesvermögen.  Mitten 
im  zweyten  Buch,  das  überschrieben  ist  von  den  Ideen,  handeln  das 
neunte,  zehnte  und  elfte  Capitel  von  Wahrnehmung,  Gedächtnifs,  Witz, 
Scharfsinn,  Abstractionsvermögen ;  vorher  und  nachher  ist  von  einfachen 
und  von  zusammengesetzten  Ideen  die  Rede.  Dann  aber  findet  sich  viel 
weiter  hin,  nämlich  im  vierten  Buch,  das  vierzehnte  Capitel  von  der  Be- 
urtheilungskraft,  und  nach  eingeschobenen  Untersuchungen  über  die  Wahr- 
scheinlichkeit, das  siebenzehnte  Capitel  von  der  Vernunft.  Man  erräth 
sogleich,  dafs  diese  scheinbare  Unordnung  von  einem  Plane  herrührt,  der 
die  Aufzählung  der  Geistesvermögen  ausschliefst;  und  das  erhelltauch 
aus  dem  Sätze:  alle  unsre  Ideen  kommen  von  Sensation  und 
Reflexion,  welche  beyde  Thätigkeiten  bev  Locke  noch  so  ziemlich  dem 
ähnlich  sehen,  was  Andre  Geistesvermögen  nennen;  aber  auch  grofsentheils 
die  Stelle  der  übrigen  Vermögen  vertreten. 

Jedoch  die  Hauptsache  ist,  dafs  Locke  der  ächten  Erfahrung,  um 
einen  guten  Schritt  näher  blieb,  als  Jene,  die  uns  von  ihren  Abstractionen, 
und  deren  hinzugedach[48]ten  Substraten,  den  Seelenvermögen,  unterhalten. 
Locke  durchsucht  unsern  ganzen  Gedankenvorrath,  und  er  unternimmt 
sich  darauf  zu  besinnen,  wie  wir  zu  jeder  Art  von  Gedanken  mögen  ge- 
kommen seyn.  Er  hat  hier  wenigstens  in  so  fem  vesten  Grund,  dafs  die 
Gedanken  und  Vorstellungsarten,  von  denen  er  redet,  wirklich  vorhanden 
sind;  diese  kann  man  nicht,  gleich  den  Seelenvermögen,  für  Hirngespinnste 
erklären,  denn  man  ist  sich  ihrer  wirklich  unmittelbar  bewufst.  Auch  das, 
was  er  über  die  Entstehung  dieser  Gedanken  sagt,  kann  dienen,  uns  an 
Vieles  zu  erinnern,  was  wir,  mehr  oder  minder  bestimmt,  von  den  geistigen 
Bewegungen  innerlich  wahrzunehmen  vermögen.  Freylich  verräth  sich 
dabev  auch  oft  genug  die  allgemeine  Neigung,  die  Erfahrimg  durch  Er- 
schleichungen zu  verunstalten,  und  besondere  Anlagen  nach  Bequemlich- 
keit zu  erdichten.  Ein  Beyspiel  giebt  das  Gedächtnifs.  Dieses  ist  auch 
dem  Locke  eine  „ability  in  the  mind,  when  it  wiü  to  revive  them  (die 
Vorstellungen)  again"*.  Und  wenn  man  ja  geneigt  wäre,  diese  ability 
nicht  für  ein  erdichtetes  Vermögen,  sondern  für  die  blofse  allgemeine  Be- 
zeichnung einer  Classe  von  Thatsachen,  ohne  Erklärung  derselben,  zu 
halten:  so  verdirbt  Locke  alles  an  der  Stelle,  wo  er  des  höchst  merk- 
würdigen und  ranz  allgemeinen  Phänomens  erwähnt,  dafs  wir  nur  eine 
sehr  kleine  Anzahl  von  Vorstellungen  auf  einmal  im  Bewufstseyn  gegen- 
wärtig haben  können.  Hier  spricht  er  von  einer  narrowness  of  the  human 
mind,  als  von  einer  besondern  Eigentümlichkeit  der  menschlichen  Anlage, 
und  erlaubt  sich  die  Hypothese,  dafs  bey  andern  endlichen  Vernunft- 
wesen dies  wühl  anders  seyn  könne!  Wie  gänzlich  darin  jede 
Ahndung  einer  richtigen  psychologischen  Ansicht  verfehlt  ist,  wird  hoffent- 
lich tiefer  unten  klar  genug  werden.  Und  doch  ist  dies  völlig  gemäfs  der 
gewohnten  Weise,  die  Phänomene,  die   [49]   man  als  Principien  benutzen 


*  Book  II.  Chap.  X.  §  2. 


Einleitung.  2  I  5 


sollte,   durch  Erdichtung  verborgener  Qualitäten  für  alle  weitere  Forschung 
zu  verderben. 

Im  Allgemeinen  jedoch  ist  Locke's  Ansicht  dem  Fehler,  den  er  in 
Ansehung  des  Gedächtnisses  beging,  gerade  entgegengesetzt.  Als  eifriger 
Bestreiter  der  angebornen  Ideen,  wollte  er  die  Seele  von  der  Mannig- 
faltigkeit dessen,  womit  man  sie  ursprünglich  ausgesteuert  glaubte,  vielmehr 
befreven;  um  für  eine,  auf  Erfahrung  gebaute,  Theorie  Raum  zu  gewinnen, 
die,  wenn  nicht  einer  mathematisch-physikalischen  Demonstration,  so  doch 
einer  pragmatischen  Geschichtserzählung  mag  verglichen  werden.  Schade, 
dafs  ihm  das  Haupt-Argument  seiner  Gegner,  das  von  den  allgemeinen 
und  nothwendigen  Wahrheiten  hergenommen  ist,  und  das  Leibniz  in  den 
nouveaux  essays  gegen  ihn  gelten  macht,  nicht  in  seiner  ganzen  Stärke 
scheint  vorgeschwebt  zu  haben.  Dies  Argument  beginnt  mit  triftigen 
Gründen,  und  endigt  mit  einer  Erschleichung.  Man  sagt  mit  Recht,  Er- 
fahrung gebe  nur  das  Einzelne,  Wirkliche,  nicht  das  Allgemeine  und  Not- 
wendige. Man  schliefst  auch  noch  richtig,  es  müsse  das  letztre  auf  der 
Eigentümlichkeit  des  erkennenden  Subjects  beruhen.  Aber  man  erschleicht 
die  Mehrheit  verschiedener  Formen  des  Erkenntnifs Vermögens,  oder  auch 
die  Mehrheit  der  angebornen  Ideen;  mit  einem  Wort,  man  erschleicht  die 
vorausgesetzte  Mannigfaltigkeit  der  Anlage  und  die  besondre  Natur 
des  Subjects,  woraus  man  erklären  will,  dafs  dieses  Subject,  der  Mensch, 
gerade  diese  und  gerade  so  viele  nothwendige  Wahrheiten,  und  keine 
andern,  in  seinem  Denken  antreffe.  Denn  man  hat  nicht  untersucht,  ob 
nicht  die  Notwendigkeit  in  allen  jenen  Wahrheiten  nur  von  einerley  Art 
sey;  und  ob  nicht  der  Eine  Grund  dieser  Nothwendigkeit  unmittelbar  in 
der  Einheit  des  erkennenden  Wesens,  ohne  irgend  eine  weitere 
Bestimmung  seiner  Qualität,  vollends  ohne  irgend  eine  Mannigfaltigkeit 
von  Einrichtungen  in  demselben,  vollständig  [50]  enthalten  sey.  Dieses 
nun  ist  meine  Behauptung,  und  das  gegenwärtige  Buch,  in  Verbindung 
mit  der  allgemeinen  Metaphysik,  soll  den  Beweis  davon  führen. 

Ich  behaupte  dem  gemäfs  ferner,  dafs  Locke  und  Leibniz  in  dem 
Puncte,  von  wo  ihre  Streitigkeit  ausging,  beyde  Recht  hatten;  und  nur 
in   so  fern  Unrecht,  als  sie    ihre   Meinungen   nicht    zu    vereinigen   wufsten, 

Locke  hat  vollkommen  Recht,  die  Seele  eine  tabula  rasa  zu  nennen; 
Leibniz  ihm  gegenüber  Unrecht,  wenn  er  die  Seele  einer  mit  Adern  durch- 
wachsenen Marmorplatte  vergleicht.  Hinwiederum  Leibniz  hat  vollkommen 
Recht,  wenn  er  (im  Anfange  des  zweyten  Buchs  der  nouveaux  essays)  dem 
Satze:  nihil  est  in  intellectu,  quod  non  fuerit  in  sensu,  die  Erinnerung  bey- 
fügt:  nisi  ipse  intellectus.  Nur  dafs  in  diesem  intelkctus  nichts  Präformirtes, 
von  welcher  Art  es  immer  sey,  angenommen  werde!  Die  blofse  Einheit 
der  Seele,  welche  nicht  einmal  eine  Eigenschaft  derselben,  sondern  nur 
eine  Bestimmung  unseres  Begriffs  von  der  Seele  ist,  —  diese  reicht  hin, 
alles  das  zu  erklären,  was  Leibniz  aus  der  Erfahrung  nicht  wollte  ab- 
geleitet wissen. 

An  dem  Locke'schen  Werke  aber  müssen  wir  noch  eine  Hauptseite 
auffassen;  gerade  die,  worüber  er  selbst  gleich  im  Anfange  sich  am  aus- 
führlichsten und  nachdrücklichsten  erklärt.  Den  ersten  Antrieb  zu  seiner 
Arbeit  hat  er  in   dem   Gedanken   gefunden,    dafs    wir    überlegen    müssen, 


2  1 6  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

wie  weit  unsre  erkennenden  Kräfte  reichen,  ehe  wir  uns  auf  den 
weiten  Ocean  der  Dinge  wagen  dürfen ;  und  dafs  wir  unsre  Aussicht  und 
Hoffnunsr  auf  Erkenntnifs  nach  unsem  Fähigkeiten  zu  beschränken  haben. 
Ursprung,  Gewifsheit  und  Ausdehnung  der  menschlichen  Erkenntnifs,  das 
ist's  was  Locke  ermessen  will.  Ein  solches  Unternehmen  sind  wir  heutiges 
Tages  gewohnt  eine  Vernunftkritik  zu  nennen.  Aber  es  ist  weit  leichter 
zu  begreifen,  wie  Locke,  als  wie  Kant  seinen  philosophischen  Nach- 
forschungen eine  solche  Form  geben  konnte.  Locke,  der  Weltmann,  ver- 
liefs  sich  weit  [51]  vester  auf  seine  unmittelbare  gesunde  Ansicht  aller 
Dinge,  als  auf  irgend  eine  schulmäfsige  Untersuchung;  wie  weit  er  darin 
geht,  sieht  man  unter  andern  aus  seinen  harten  Erklärungen  gegen  die 
Syllogismen.*  Ihm  konnte  es  daher  am  wenigsten  in  den  Sinn  kommen, 
sich  die  Frage:  wie  macht  man  es,  das  Erkenntnifsve  rmögen  zu 
erkennen,  ernsthaft  vorzulegen;  denn  die  Reflexion,  der  Blick  in  sich 
selbst,  schien  ihm  diejenige  Erkenntnifsart  zu  seyn,  über  welcher  eine  zuver- 
lässigere sich  gar  nicht  denken  lasse.  Er  traute  also  der  innern  Wahr- 
nehmung geradehin ;  und  hätte  sich  z.  B.  nie  einfallen  lassen,  die  Ver- 
standesbegriffe aus  den  logischen  Functionen  im  Urtheilen  erst  noch  ab- 
leiten zu  wollen.  Er  hatte  auch  keinen  kategorischen  Imperativ;  sondern 
der  Satz:  110  innate  practica/ principhs!  gehörte  wesentlich  zu  seiner  ganzen 
Ansicht.  Worin  das  Wesen  des  Geistes  bestehe,  wiefern  unsre  Gedanken 
von  der  Materie  abhängen,  sind  ihm :  specidations,  tvhich,  however  curious 
and  entertaüiing,  I  shall  decline,  as  lying  out  of  my  way.  So  sprechen  die 
Weltleute;  aber  nur  ein  Mann  von  Locke's  ernstem,  wahrheitliebendem, 
frommen  Charakter,  konnte  sich  ein  Geschafft  daraus  machen,  durch  aus- 
führliche Musterung  unsers  ganzen  Gedankenvorraths  diejenigen  Warnungen 
gegen  die  Speculation  zu  unterstützen,  welche  Andre  leicht  angedeutet  und 
lächelnd  hinzuwerfen  pflegen.  So  entstand  seine  Vernunftkritik,  und  in 
ihr  passen  Form  und  Inhalt,  Principien,  Methoden  und  Resultate  voll- 
kommen wohl  zusammen.  Will  man  sich  über  sie  erheben,  so  ist  zu 
wünschen,  dafs  man  es  ganz  thue,  —  dafs  man  vor  allen  Dingen  die 
Unzulänglichkeit  der  innern  Wahrnehmung,  welche  zu  jeder  Vernunftkritik 
das  Object  der   Untersuchung  herbeyschaffen  mufs,   vollständig  erwäge. 

[52]  §  18. 
Genügen  wird  keinem  das  Locke'sche  Werk,  der  metaphysische  Ueber- 
zeugungen  besitzt.  Gleich  die  erste  Erkenntnifsquelle,  die  Sensation,  mufste 
Leibxiz  ableuguen,  der  bey  seiner  Einsicht  in  die  Unmöglichkeit  jedes 
physischen  Einflusses,  alle  Vorstellungen  der  Seele  ohne  Ausnahme,  von 
ihrer  eignen  Entwickelung  erwartete.  Und  es  ist  nur  Gefälligkeit  (die 
aber  die  Untersuchung  erschweren  dürfte,)  wenn  sich  Leibniz  schon  beym 
ersten  Paragraphen  auf  einen  Standpunct  herabläfst,  wo  er  von  Vorstellungen, 
die  durch  die  Sinne  gegeben  werden,  reden  kann,  im  Gegensatz  gegen  die 
nothwendigen    Wahrheiten.      Dafs    die    Leibniz'schen    nouveaux   essays    dem 


*  Book  IV.   Chap.  XVII.  §  4.      Their  chief  and   inain    itse  is    in    the  sehoois, 
ivhere  men  are  allowed  without  shatne  to  deny  the  agreetnent  of  ideas,  that  do  mani- 


festly  agree  etc. 


Einleitung.  2  17 

Locke'schen  Versuche  Schritt  für  Schritt  folgen,  hindert  vielfältig  die  freye 
und  vollständige  Entwickelung  der  Gedanken.  Wie  die  Erfahrungslehre 
des  Engländers  gegen  die  Metaphysik  des  Deutschen  anstiefs,  übersieht 
man  besser  auf  einen  Blick  in  den  kurzen  reflexions  sur  Vessay  de  Mr. 
Locke*);  wo  Leibniz  unter  andern  das  wahre  Wort  spricht:  la  quaestion 
de  l'origine  de  nos  idies  n'est  pas  preliminaire  en  Philosophie,  et  il  faul  avoir 
fait  de  grands  progris  pour   la   dien   resoudre.   — 

Eine  erhabene  Phantasie,  unterstützt  von  einigen  tiefgegriffenen  specu- 
lativen  Hauptgedanken,  hatte  LEiBNizen  dahin  gebracht,  überall  in  der 
Welt  und  in  der  Seele,  lauter  Fülle  und  Continuität,  gesetzmäfsige  und 
harmonische  Entwickelung  zu  erblicken.  Daraus  entsprang  ein  psycho- 
logischer Hauptsatz,  der  hoch  hervorragt,  über  die  Verbindung  der  beyden 
so  genannten  Haupt  vermögen  des  Verstandes  und  Willens.  Les  qualitis 
et  actions  internes  d'une  vionade  fie  peuvent  etre  autre  chose  que  ses  percep- 
tions  —  et  ses  appetitions,  c' est-ä-dire,  ses  tendances  d'une  percep- 
tion  ä  V  autre.**  Deutlicher  noch:  actio  principii  interni  qua  fit  mutatio, 
seu  transitus  [53]  ab  una perceplione  ad  alteram,  appetitus  appellari polest.  Verum 
quidem  est,  quod  appetitus  non  semper  prorsus  pervenire  possid  ad  omnem 
perceptionem,  ad  quam  tendit ;  semper  tarnen  aliquid  eins  00t  inet,  atque  ad 
novas  perceptiones  pervenit.***  Die  Seele,  in  stetiger  Entwickelung  fort- 
schreitend, erzeugt  Vorstellungen;  die  Erzeugung  selbst,  die  Handlung  des 
innern  Princips,  als  noch  nicht  vollendet  sondern  eben  jetzt  im  Streben 
zum  Vorstellen  begriffen,  ist  das  Begehren.  Hier  ist  zwar  leicht  zu  sehen, 
dafs  noch  genauere  Bestimmungen  fehlen;  denn  das  blofse  Aufstreben  einer 
Vorstellung,  für  sich  allein,  und  wenn  es  ungehindert  vollzogen  werden 
kann,  giebt  so  zu  sagen  die  Befriedigung  vor  der  Begehrung,  und  eben 
darum  weder  eins  noch  das  andre;  indem  in  jedem  Augenblicke  dem 
Streben  vorzustellen  auch  das  realisirte  Vorstellen  entspricht.  Es  mufs  also 
noch  eine  Hemmung  hinzukommen,  welche  das  Streben  zu  überwinden 
habe;  ■ —  doch  an  diesem  Orte  ist  es  uns  nicht  um  eine  Theorie  der  Be- 
gierde, sondern  darum  zu  thun,  dafs  man  den  Keim  einer  solchen  Theorie 
bemerke,  welcher  gemäfs  die  Beziehung  des  Begehrens  auf  das  Vorstellen 
(§  12.)  begreiflich,  und  der  Umstand  vermieden  werde,  dafs  dieser  offen- 
baren Beziehung  ungeachtet,  die  Psychologien  das  Begehrungsvermögen 
neben  dem  Erkenntnifsvermögen  hinstellen,  und  jedes  besonders  abhandeln, 
ohne  sich  um  die  Umstände  zu  bekümmern,  unter  denen  das  Vorstellen 
unfehlbar  in  ein  Begehren  übergehen  mufs.  LEiBNizens  richtigen  Gedanken 
hoffe  ich  am  gehörigen  Orte  bestätigen  und  ausführen  zu  können;  ob- 
gleich die  dahin  gehörigen  Ueberzeugungen  viel  früher,  bevor  ich  die 
Werke  jenes  Philosophen  studirte,  bey  mir  vest  standen.  Es  ist  die  Unter- 
suchung über  das  Ich,  welche  mich  hier,  wie  [54]  in  mehrern  Puncten, 
auf  LEiBNizens  Spur  geführt  hat,  wie  man  tiefer  unten  t  sehen  wird. 


*  Leibnitii  op.  ed.  Dutens.  Vol.  IL  pag.   218. 
**  A.  a.  O.  S.  32. 
***  A.  a.  O.  S.   22.      Mit  Hülfe  dieser  Stelle  des  Leibniz  würden  vielleicht  Einige 
das  besser  verstanden  haben,  was  ich  in  meiner  praktischen  Philosophie  S.  28  —  31  [s.  Bd.  II, 
S.  341   vorl.  Ausgabe]  über  das  Begehren  gesagt  habe, 
t  §  36.  37.    104. 


2  i  g  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Wie  das  Begehren  sarnmt  dem  Vorstellen  nach  Leibxiz  zu  den 
Qualitäten  der  Seele  als  einer  Substanz  gehört:  so  heftet  sich  bey 
ihm  an  denselben  Punct  auch  noch  der  Satz,  dafs  die  Seele  stets  denkt. 
Die  Substanz  kann  nicht  ohne  Wirkung,  und  in  der  Seele  kann  keine 
o-eistio-e  Leerheit  seyn.  Wiewohl  ich  nun  hier  so  wenig,  als  in  dem  Grund- 
begriff der  Substanz  selbst  mit  Leibniz  einstimme,  so  mufs  ich  doch  auf 
einige  Folgerungen  aufmerksam  machen,  die  er  aus  jenen  Sätzen  zieht. 
Die  Seele  hat  eine  Menge  von  kleinen  Vorstellungen;  verbinden  sich 
dieselben  zu  stärkeren,  so  wird  man  sich  ihrer  bewufst;  aufserdem  kann 
man  sich  von  ihnen  keine  Rechenschaft  geben;  und  man  mufs  demnach  die 
Perceptionen  von  der  Apperception  wohl  unterscheiden.  U  Apperception 
est  la  conscience,  on  la  con?iaissance  reflexive  de  Vetat  intirieur.*  Das  Ge- 
räusch des  Meeres  entsteht  aus  dem  Geräusch  jeder  Welle;  die  einzelne 
Welle  würde  keine  bemerkbare  Vorstellung  darbieten;  gleichwohl  mufs  aus 
der  Summe  aller  einzelnen  kleinen  Vorstellungen  das  gesammte  Geräusch 
entspringen,  welches  zu  vernehmen  wir  uns  bewufst  sind.**  —  Dafs 
dieser  wichtige  Gegenstand,  über  welchen  neuerlich  Plattxer  und  Rein- 
hold verschiedener  Meinung  gewesen  sind***,  wieder  in  Frage  genommen 
werde,  mufs  mir  für  meine  Untersuchungen  wünschenswerth  seyn.  Schon 
anderwärts!  habe  ich  gezeigt,  dafs  die  momentanen  Auffassungen  durch 
die  Dauer  einer  Wahrnehmung  zu  einer  Totalkraft  erwachsen,  wofern  nicht 
die  momentane  Auf  [55]fassung  zu  schwach  ist;  ich  habe  versucht,  dieses 
mathematisch  zu  bestimmen.  Hierher  aber  gehört  vorzüglich  die  Be- 
merkung, dafs  zwey  beynahe  gleichklingende  Ausdrücke  einen  ganz  ver- 
schiedenen Sinn  haben:  ins  Bewufstseyn  kommen,  und,  den  Gegen- 
stand ausmachen,  dessen  man  sich  bewufst  wird.  Die  zuvor  ge- 
nannten kleinen  Vorstellungen  kommen  ohne  Zweifel  ins  Bewufstseyn: 
gleichwohl  werden  wir  uns  ihrer  nicht  bewufst,  wir  können  es  uns  nicht 
sagen,  dafs  sie  ins  Bewufstseyn  gekommen  seyen.  Dieses,  was  schwer 
zu  verstehen  scheint,  mufs  am  gehörigen  Orte  vollkommen  klar  werden; 
indessen  wird  es  Gewinn  seyn,  die  Sache  schon  hier  so  weit  als  möglich 
ins  Licht  zu  setzen.  Zuvörderst:  die  Seele  hat  viele  Vorstellungen,  die 
dennoch  nicht  im  Bewufstseyn  sind.  Dieses  sind  die  völlig  gehemmten, 
oder  nach  gewöhnlicher  Benennung,  die  im  Gedächtnifs  ruhenden  Vor- 
stellungen. Ferner,  diese  gehemmten  Vorstellungen  waren  früher  im 
Bewufstseyn,  und  kehren  in  dasselbe  zurück,  wenn  die  Hemmung 
nachläfst.  Allein  um  nun  auch  noch  sich  ihrer  bewufst  zu  werden, 
(sie  zu  appercipiren,)  —  dazu  gehört,  dafs  sie  selbst  Objecte  eines  neuen 
Vorstellens  werden;  welches  niemals  durch  sie  selbst,  sondern  allemal  nur 
durch  eine  andre  Vorstellungsreihe  geschehn  kann.  Dieses  aber  hängt 
gewöhnlich  von  ihrer  Stärke,   zuweilen  von    ihrer  Neuheit,    überhaupt   von 


*  A.  a.  O.  S.  33- 
**  Nouveaux  essays  im  Anfange. 

***  Plattner's    philos.    Aphorismen    §  63.  65.       Rjeinhold's    Theorie   des    Vor- 
stellungsvermögens, drittes  Buch  §  38. 

t  Königsberger  Archiv  für  Philosophie  u.  s.  w.,  drittes  Stück,  [s.  Bd.  III,  Xo.  VI] 
und  de  altentionis  mensura   [s.  oben  Xo.  IV]. 


Einleitung.  2  I  9 


den  Umständen  ab,  unter  denen  eine  Vorstellungsreihe  auf  eine  andere 
Einflufs  hat,   und   ein  Object  derselben  wird. 

LEiBNizens  Aufmerksamkeit  auf  die  kleinen  Vorstellungen,  durch  deren 
Hülfe  er  die  Continuität  der  geistigen  Phänomene  verfolgt,  und  denen 
er  „mehr  Kraft  als  man  denken  sollte,"  zuschreibt,  verräth  das  Auge 
des  Metaphysikers,  dem  es  nicht  genügt,  nur  das  anzuschauen,  was  auf 
dem  Vorhange  der  Wahrnehmung  zu  sehn  ist,  sondern  der  hinter  den 
Vorhang  blickt,  und  dort  ■ —  nicht  etwan  erdichtete  Seelenvermögen,  sondern 
die  wahren  Kräfte  aufsucht,  aus  denen  die  sämmt[56]liche  Thätigkeit 
des  Gemüths  erklärt  werden  mufs.  Denn  eben  die  Vorstellungen  selbst 
sind  die  Kräfte  der  Seele.  Vorstellungen  sind  nicht  etwan  blofse  Bilder, 
ein  nichtiger  Widerschein  des  Seyenden,  sondern  sie  sind  das  wirkliche 
Thun  und  Geschehen,  vermöge  dessen  die  Seele  ihr  Wesen  aufrecht  hält, 
und  ohne  welches  sie  aufhören  würde  zu  seyn  was  sie  ist.  Um  aber  die 
Art,  wie  die  Vorstellungen  zusammenwirken,  genau  kennen  zu  lernen  mufs 
man  nicht  die  grofsen  Massen  von  Vorstellungen,  welche  die  innere 
Wahrnehmung  vorfindet,  noch  die  ganzen  Classen  von  Gemüthszuständen, 
an  welchen  der  logische  Scharfsinn  der  meisten  Psychologen  sich  übt,  — 
sondern  man  mufs  gerade  wie  Leibniz  die  kleinen  Vorstellungen  ins  Auge 
fassen,  —  und  ich  kann  hinzusetzen,  man  mufs  auch  durch  LEiBNizens 
Erfindung,  die  Rechnung  des  Unendlichen,  das  Auge  schärfen,  um  die 
kleinen  Vorstellungen  in  ihrer  Wirksamkeit  beobachten  zu  können. 

Nehme  ich  noch  hinzu,  dafs  schon  Leibniz  den  vollkommen  richtigen 
Gedanken  verbreitete,  die  Seele  erzeuge  alle  ihre  Vorstellungen 
aus  sich  selbst:  so  könnte  ich  mich  einen  Augenblick  der  Verwunderung 
hingeben,  dafs  so  treffliche  Vorarbeiten  dennoch  keine  tüchtige 
Psychologie  erzeugt  haben!  —  Aber  die  prästabilirte  Harmonie  — 
nach  welcher  die  Seele  nicht  blofs  aus  und  durch  sich  selbst,  sondern 
auch  von  selbst,  ohne  äufsere  Veranlassung,  ihre  Vorstellungen  erzeugen 
soll,  hat  ihre  schwachen  Seiten;  sie  ist  mit  theologischen  und  naturphilo- 
sophischen Meinungen  verwickelt;  sie  wurde  dadurch  vielmehr  ein  Gegen- 
stand, als  eine  Quelle  neuer  Nachforschungen;  sie  wurde  verworfen,  und 
vielleicht  beynahe  vergessen.  LEiBNizens  Lehre  wurde  niedergedrückt, 
theils  durch  die  auf  den  ersten  Anblick  klarere  Lehre  des  Locke,  welcher 
sie  noch  mehr  zu  widerstreiten  schien,  als  sie  ihr  wirklich  entgegen  ist, 
(denn  die  Sätze,  dafs  die  Seele  ursprünglich  eine  tabula  rasa  ist;  und, 
dafs  sie  ihre  Vorstellungen  aus  sich  selbs  er[57]zeugt,  können  und  müssen 
vereinigt  werden,)  theils  durch  den  scheinbar  befreundeten  Einflufs  des 
Wolffischen  Systems. 

§  19« 
Wenn  das  imposante  Ansehen  eines,  in  viele  Fächer  getheilten,  von 
Definitionen  und  Divisionen  angefüllten,  Lehrgebäudes  eben  so  geschickt 
wäre,  achtes  Denken  zu  erwecken,  als  es  fähig  ist,  Schüler  anzulocken :  so  müfste 
die  Wolffische  Periode  in  der  That  die  Blüthezeit  der  Philosophie  gewesen 
seyn.  Aber  je  gröfser  die  Menge  des  eingebildeten  Wissens,  desto  geringer  ist 
die  Spannung  des  Forschungsgeistes;  und  dieser  wird  durch  einen  kurzen  Auf- 
satz von  Leibniz  mehr  angeregt,  als  durch  einen  ganzen  Band  von  Wolfe. 


2  2Q  -^I-  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Der  Wolffischen  Philosophie  wird  manchmal  so  erwähnt,  als  ob  sie 
zu  der  Leibnizischen  beynahe  wie  die  Form  zum  Inhalte  gehörte.  Aber 
wer  LEiBNizens  Lehre  vollends  ausarbeiten  und  systematisch  vortragen 
wollte  (womit  ihr  vielleicht  kein  grofser  Dienst  geschähe,  denn  als  System 
betrachtet,  dürfte  sie  manche  Blöfsen  zeigen,  und  als  eine  Summe  von 
geistreichen  Räsonnements  ist  sie  von  Leibniz  selbst  in  sehr  ansprechende 
Formen  gebracht  worden),  der  müfste  doch  vor  allen  Dingen  die  prästa- 
bilirte  Harmonie,  auf  deren  Erfindung  Leibniz  selbst  überall  so  vieles  Ge- 
wicht legt,  oder  eigentlich  den  Grundgedanken  dieser  Lehre,  dafs  keine 
Substanz  in  die  andre  eingreifen  könne,*  zum  Haupt-  und  Mittelpunct 
des  Ganzen  machen;  er  müfste  also  wohl  vor  allen  Dingen  selbst  recht 
vest  davon  überzeugt  seyn.  Aber  es  ist  bekannt,  wie  Wolff  diesen 
Punct  zu  umgehen,  wie  er  davon  alles  übrige  möglichst  unabhängig  zu 
machen  sucht.  Mea  partim  refert,  quid  de  causa  comercii  animae  cum  cor- 
pore slalualur;  sind  seine  eignen  Worte.**  Wie  verträgt  sich  diese  Gleich- 
gültigkeit mit  [58]  dem  Unternehmen,  in  der  Psychologie,  in  der  Meta- 
physik,  Hauptwerke  zu  schreiben! 

Auf  Wollff's  Versuch  einer  Trennung  der  rationalen  und  empirischen 
Seelenlehre  weiter  einzugehn,  verbietet  schon  der  Umstand,  dafs  eben  in 
seiner  empirischen  Psychologie,  wo  er  reine  Erfahrung  verspricht,  der 
Hauptsitz  der  Seelenvermögen  sich  befindet.  Die  Art,  wie  er  diese  Ver- 
mögen einführt,  die  Rechtfertigung  aber  verschiebt,  ist  auffallend  genug. 
Quotnam  sint  animae  facultates,  et  quales  sint,  in  Psychologia  empirica  decla- 
ramus;  quid  vero  proprie  sint  et  quomodo  animae  insint ,  in  Psychologia 
rationali  demum  declarabitur .  ***  Wir  sollen  also  in  der  empirischen  Psycho- 
logie zuvörderst  uns  an  die  Seelenvermögen  gewöhnen;  wir  sollen  auch 
vorläufig  allen  Erschleichungen  überlassen  bleiben,  die  sich  damit  verbinden 
möchten;  ein  andermal  will  man  unsre  Begriffe  berichtigen!  Doch  wir 
wenden  uns  sogleich  an  die  Psychologia  rational  is  :  was  werden  wir  finden? 
Facultates  animae  —  cum  sint  nudae  agendi  possibilitates :  animae  tribuere 
diver sas  facultates  idem  est  ac  affirmare,  possibile  esse  ut  diver sae  eidem 
inexistent  actiones.j  Woraus  folgt,  dafs  die  Seele  so  vielerley  Vermögen 
habe,  als  nur  immer  Handlungen  in  ihr  vorgehn;  so  dafs  alles  auf  die 
Richtigkeit  und  Zulänglichkeit  der  Abstractionen  ankommt,  durch  welche 
man  die  Arten  und  Gattungen  dieser  Handlungen  vestsetzt.  Wie  sicher 
und  genau  nun  das  Geschafft  des  Abstrahirens  da  vollbracht  werden  könne, 
wo  man  nichts  als  ftiefsende  und  schwindende  Zustände  vorfindet;  wie 
viel  alsdann  ferner  die  gemachtesten  Abstractionen  helfen  können,  um 
die  Erfahrung  von  diesen  fliefsenden  Zuständen,  nicht  etwan  zu  erklären, 
sondern  nur  treulich  aufzufassen;  wie  wohl    oder   übel    demnach    die    em- 


*  Leibnitii  op.  ed.  Dutens.  Vol.  II.  pag.  21.  §  7. 
**  Wolffii  psychol.  rationalis  in  praefatione. 
***  Wolffii  psych,  empirica  §  29. 

+  Wolffii  psych,  ration  §  81.  —  Wie  es  aber  eigentlich  gemeint  sey,  das  erfährt 
man  nicht  so  wohl  wenn  man  die  Psychologen  fragt,  als  wenn  man  sie  ertappt.  So 
läfst  sich  Wolff  ertappen  im  §  601  der  psych,  empir.  Zuerst  sagt  er  recht  gut :  appe- 
titus  mutatur  in  aversationem ;  dann  verbessert  er  sich:  appetittts  dicitur  mutari  in 
aversationem,  quando  loco  facultat is  appetendi  sese  exer  it  factilt  as    aversandi! 


Einleitung.  2  21 


pirische  Psychologie  mit  dem  Register  von  Seelenvermögen  berathen  sey: 
darüber  ist  oben  geredet  worden.  Wir  wollen  uns  daher  nicht  damit  be- 
mühen, diejenigen  Abstractionen,  welche  Wolff  wirklich  verzeichnet  hat, 
näher  anzusehen.  Und  wenn  die  Neuern  ihm  zu  seinem  Erkenntnifs- 
und  Begehrungsvermögen  noch  ein  ganzes  Hauptvermögen,  das  Gefühl- 
vermögen, hinzugefügt  haben:  so  wollen  wir  darum  eben  nicht  glauben,  die 
Neuern  hätten  es  besser  verstanden  wie  Er,  sondern  wir  wollen  diese  Mis- 
helligkeit  lieber  aus  der  Unsicherheit  des  ganzen  Unternehmens,  die  nahe 
an  Unbrauchbarkeit  gränzt,  zu  begreifen  suchen.  Dagegen  aber  begleiten 
wir  WoLFFen,  den  Metaphysiker,  noch  ein  Paar  Schritte  in  seine  Ontologie 
hinein.  Er  selbst  weiset  uns  dahin.  Denn  in  dem  schon  angeführten  § 
sagt  er  weiter:  necesse  est  ut  detur  ratio  suffieüns ,  cur  falia  in  anima 
possibilia  sint.  Quare  cum  in  essen tia  contineatur  ratio  eorum,  quae  praeter 
eam  enti  vel  constanter  insunt,  vel  inesse  possunt,  — per  vim  anima  e  int  eil  igt 
debet,  cur  talia  in  anima  possibilia  sint.  Man  spanne  aber  die  Erwartung 
ja  nicht  zu  hoch!  Denn  es  heifst  gleich  weiter:  Tribuuntur  itaque  animae 
tales  faculiates,  quia  possibile  est  ut  talia  per  vim  eiusdem  diversis  legibus 
obtemperantem  actuentur.  Man  lege  also  nur  die  verschiedenen  Möglich- 
keiten in  die  Eine  Kraft  hinein,  damit  man  sie  alsdann  wieder  daraus  be- 
greifen könne!  Es  folgen  aber  noch  Beyspiele.  Die  Luft  läfst  sich  verdichten; 
also  hat  sie  ein  Vermögen  verdichtet  zu  werden.  Der  Stein  kann  warm 
werden;  also  hat  er  ein  Vermögen  warm  zu  werden.  ,,Haec  calefiendi potentia 
quo  modo  inest  lapidi,  eodem  modo  facultas  quaelibet  inest  animae.'1  Da  wir 
aber  noch  nicht  wissen,  wie  eigentlich  der  Stein  und  die  Luft  allerley 
Vermögen  enthalten  können,  vielmehr  diese  gar  nicht  geringen  physikalischen 
Fragen  noch  eher  an  den  Seelen[6o]vermögen,  welche  wenigstens  schein- 
bar durch  ein  Gefühl  des  Könnens  sich  innerlich  kund  thun,  Beyspiel  und 
Erläuterung  finden  möchten:  so  werden  wir  am  Ende  in  die  Ontologie 
geschickt;  und  zwar  in  das  Capitel  de  notione  cutis;  wo  wir  unter  andern 
folgende  Offenbarung  empfangen :  Si  ens  quoddam  concipiendum,  primo  loco  in  eo 
ponenda  sunt,  quae  s  ibi  mutuo  non  repugnant*  Hier  mufs  nothwendig 
derjenige  bestürzt  werden,  der  bisher  von  dem  Seyenden  den  Begriff  hatte, 
dafs  es  eine  völlige  Einheit,  ohne  alle  Mannigfaltigkeit,  ausmache.  Bey 
WoLFFen  scheint  es  nicht  einmal  einer  Frage  werth,  ob,  und  in  wiefern 
eine  innere  Mehrheit  sich  mit  der  notione  entis  vertrage?  Auch  giebt  es 
dann  gleich  weiter  so  viele  essentialia,  altributa,  modi,  die  alle  geraden 
Weges  durch  Namenerklärungen  eingeführt  werden;  dafs  wir  schon  darauf 
gefafst  seyn  müssen,  diese  Fülle  auch  bey  dem  ens  simplex  nicht  los  zu 
werden,  von  welchem  keine  andre  Vereinigungen  vorkommen,  als  die  sich 
auf  die  Ausdehnung  beziehen.**  Und  auch  in  dem  langen  Capitel  mit 
dem  vielversprechenden  Titel :  de  modificationibus  rerum,  praesertim  simplicium, 
wird  man  schwerlich  eine  tüchtigere  Aussage  finden ,  als  die  im  >j  ~ 12: 
Pracsupponi  dcbent  in  ente  essentialia,  aniequam  altributa  et  modi  sequi 
possunt.  —  Doch  es  ist  bekannt,  wie  Wolff  durchgängig  über  dem  ens, 
(dem  was  seyn  kann)   das  Esse  vergafs,   wie    er    die   Möglichkeit    und    die 


Woi.fi- ii  ontologia.  §   142. 
Ibid.  §  683. 


XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Namenerklärungen  voranschickte,  die  Realität  aber,  man  weifs  nicht  recht 
wie,  hintennach  dazu  kommen  liefs;  wie  er  vor  lauter  logischer  Deutlich- 
keit die  eigentlichen  Dunkelheiten  gar  unsichtbar  machte.  Ein  solcher 
Mann  konnte  der  Psychologie  nicht  aufhelfen;  wohl  aber  den  Winken  des 
Leibniz  die  nöthige  Aufmerksamkeit  entziehen. 

§  20. 

Seit  Wolff's  Zeiten  haben  zwar  Materialisten,  Skeptiker,  Physiologen, 
die  Seelenlehre  in  mancherley  Schwankungen  zu  setzen,  die  Freunde  der 
Erfahrung  dagegen  sie  vestzuhalten  und  durch  Beobachtungen  zu  bereichern 
versucht.  Allein  erst  die  Kant'sche  Lehre  gewann,  wenigstens  in  Deutsch- 
land, eine  allgemeinere  Herrschaft,  und  damit  einen  entscheidendem  Ein- 
flufs  auch  auf  die  Psychologie.  Und  ungeachtet  des  Zwischenraums  zwischen 
Wolff  und  Kant,  erinnert  doch  der  letztere  oft  genug  an  jenen,  wie 
auch  an  dessen  Vorgänger.  Die  ersten  Worte  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft scheinen  zu  LocKEn  geredet;  die  Erwähnung  der  noth wendigen 
und  allgemeinen  Wahrheiten  unterstützt  LEiBNizen;  und  vielfältig  in  dem 
Kant'schen  Hauptwerke  werden  Locke  und  Leibniz  einander  gegenüber 
gestellt.  Ohne  Vergleich  lebendiger  ist  der  Ausdruck  der  Speculation  bey 
Kant  als  bey  Wolff;  aber  die  Namenerklärungen,  aus  denen  Wolff 
grofsentheils  sein  Lehrgebäude  aufführte,  finden  doch  einen  Nachklang  in 
der  Terminologie,  womit  Kant,  über  den  Bedarf,  sein  Werk  ausschmückte. 
Die  rationale  Psychologie,  welche  sich  Wolff  als  sein  verdienstliches  Werk 
zuschrieb,  fand  ihren  Gegner  in  Kant;  aber  den  Seelenvermögen,  die  jener 
systematisch  abhandelte,  widerfuhr  die  Ehre,  von  dem  letztem  noch  weit 
mehr  auseinander  gesetzt  zu  werden. 

Erinnert  man  sich  der  starken  Gegensätze,  welche  Kant  zwischen  der 
Sinnlichkeit  und  dem  Verstände,  zwischen  dem  Verstände  und  der  Vernunft, 
zwischen  der  theoretischen  und  praktischen  Vernunft,  zwischen  der  praktischen 
Vernunft  und  dem  niedern  Be°;ehrun£svermö2;en,  endlich  zwischen  den  bev- 
den  Arten  der  Urtheilskraft  bevestigte:  so  mag  man  wohl  überlegen,  ob  je- 
mals ein  Philosoph  die  Einheit  unsrer  Persönlichkeit  so  gewaltsam  behandelt; 
das  fliefsende  unserer  Zustände,  das  Ineinander-Greifen  aller  unsrer  Vor- 
stellungen, das  allmählige  Entstehen  eines  Gedankens  aus  dem  andern,  so 
wenig  [62]  in  Betracht  gezogen;  hingegen  an  der  Verschiedenheit  einiger 
Haupt-Resultate  der  geistigen  Bewegungen,  und  an  dem  Widereinanderstofsen 
einiger  Vorstellungsreihen  sich  so  einzig  gehalten  haben  möge?  —  Und  wel- 
ches ist  das  Band,  durch  welches  jene  weitgetrennten  Vermögen  zusammen- 
gehalten werden  sollen?  Um  es  zu  finden,  müssen  wir  bemerken,  dafs  Kant 
für  die  Vereinigung  des  Mannigfaltigen  in  der  Anschauung  weit  mehr  besorgt 
war,  als  für  die  Einheit  des  Geistes  selbst;  und  dafs  er  zu  diesem  Behufe 
eine  ursprünglich  synthetische  Einheit  der  Apperception,  nebst  einer  ob- 
jectiven  Einheit  des  Selbstbewufstseyns  aufstellte,  indem  er  das:  Ich  denke, 
allen  unsern  Vorstellungen  zum  (möglichen)  Begleiter  gab.  Aber  dieses 
Ich  erklärt  er  weiter  hin  für  die  ärmste  und  gehaltloseste  Vorstellung  unter 
allen;  ein  Gegenstand,  auf  den  wir  weiterhin  zurückkommen  müssen.  Was 
Wunder  indessen,  wenn  das  Gefühl  des  Mangels  an  Verbindung,  schon 
von    den    nächsten    Nachfolgern    Kant's  Einige    antrieb,    eben    an    dieser 


Einleitung.  22X 


Stelle,  wo  noch  eine  Spur  von  Zusammenhang  sich  zeigte,  sich  anzubauen? 
Das  Bewufstseyn  und  das  Selbstbewufstseyn  zum  Princip  der  Kant'schen 
Philosophie,  und  damit  der  Philosophie  selbst,  —  als  zu  dem  Einen  was 
Noth  thue,  zu  erheben?  An  diesen  Versuch  haben  Mehrere  der  scharf- 
sinnigsten Männer  ihre  Kräfte  gewendet,  und  zum  Theil  verschwendet;  in 
der  That  aus  zu  grofsem  Vertrauen  auf  die  Kant'sche  Lehre,  welche  sie 
dadurch  besser  zu  stützen  gedachten.  Gegenwärtig  ist  es  Zeit,  es  laut  zu 
sagen,  dafs  dieser  Weg  irre  führt;  obgleich  die  Kant'schen  Schriften  einen 
Schatz  von  Belehrungen  enthalten,   den   Niemand  verschmähen  soll. 

Was  nun  insbesondre  Kant's  Kritik  der  rationalen  Psychologie  an- 
langt: so  sind  darüber  zwey  Bemerkungen  zu  machen.  Die  eine  ist  nur 
Anwendung  einer  allgemeinen  Betrachtung  auf  einen  speciellen  Fall.  Kant 
iiat  nämlich  überhaupt  nicht  genug  dafür  gesorgt,  an  den  Stellen,  wo  er 
die  ältere  Metaphysik  widerlegen  will,  sich  Metaphysik  von  der  besten  Art 
zu  verschaffen.  So  nun  [63]  auch  schiebt  er  die  Schuld  des  Irrthums 
in  der  rationalen  Psychologie  auf  einen  Paralogismus,  der  wohl  schwerlich 
fähig  seyn  oder  gewesen  seyn  möchte,  irgend  Jemanden  unter  den  besseren 
und  sorgfältigeren  Denkern  zu  täuschen.  Oder  sollte  wohl  Leibniz  darum 
die  Seele  für  Substanz  gehalten  haben  (man  weifs  wie  viel  Gewicht  er 
eben  hierauf  legt),  weil:  „ein  denkendes  Wesen,  blofs  als  ein  solches  be- 
trachtet, nicht  anders,  denn  als  Subject  kann  gedacht  werden"  —  ?* 
Schlagen  wir  den  Leibniz  auf,  so  finden  wir  alles  was  wir  brauchen  in 
folgenden  Worten  beysammen:  II  faut  dien  qu'ily  ait  des  substa?ices  simples 
par-tout,  parceque  sans  les  simples  il  ny  anroit  point  de  composees ;  et  par 
consequent  tonte  la  ?iature  est  pleine  de  vie.**  Hier  finden  wir  früher  Sub- 
stanzen als  Seelen;  früher  die  Ueberzeugung  von  einfachen  Bestandtheilen 
des  Zusammengesetzten,  als  von  der  Einfachheit  der  Seele;  mit  einem 
Worte,  früher  allgemeine  Metaphysik  der  Psychologie.  Und  so  ist  es 
natürlich.  Erst  überlegt  man,  ob  Substanzen  als  einfache  Wesen  anzu- 
nehmen seyen  ?  Dann  folgt  die  Frage,  was  diese  Substanzen  seyn  mögen? 
Worauf  Leibniz,  in  der  That  voreilig,  aber  in  der  Absicht,  ihnen  eine 
nicht  blofs  relative,  sondern  rein-innerliche  Qualität  anzuweisen,  antwortete: 
sie  sind  vorstellende  Wesen,  eben  darum,  weil  sie  Substanzen  sind.  Leib- 
Nizens  Satz  heifst  nicht,  die  Seelen  sind  Substanzen,  sondern:  die 
Substanzen  sind  Seelen.  Wer  aber  diese  Vorschnelligkeit  vermeidet, 
der  fängt  freylich  in  Hinsicht  der  Seele  von  der  innern  Wahrnehmung 
an;  aber  er  schliefst  nicht  von  dem:  Ich  denke,  als  dem  allgemeinen 
Subjecte  zu  allen  vorgestellten  Objecten,  auf  eine  Existenz  eines  Subjects, 
das  nie  Prädicat  seyn  könne;  —  sondern  von  der  gegenseitigen  Durch- 
dringung aller  unserer  Vorstellungen,  und  ihrer  Concentration  in  dem  Einen 
Be[b4]wufstseyn,  schliefst  er  auf  die  Unmöglichkeit,  dieser  Durchdringung 
und  Einheit  ein  zusammengesetztes  Substrat  zu  geben,  als  in  dessen 
Bestandtheilen  die  Vorstellungen  zerstreut  liegen  würden;  und 
nun  folgt  die  Nothwendigkeit,  die  Einfachheit  zu  erwählen,  weil  die  Zu- 
sammengesetztheit verworfen  werden  mufste;    endlich   aber  die  Einfachheit 


*  Kant's  Kritik  d.  r.  V.  S.  411. 
**  Leibnitii  op.  Vol.  II.  pag.  32. 


22  l  -^-k  Psychologie  als  "Wissenschaft. 

auf  eine  Substanz  zu  beziehen,*  weil  die  wirklich  vorhandenen  Vor- 
stellungen etwas  Reales  erfordern,  dem  sie  beygelegt  werden  können.  Wer 
diese  Art  zu  schließen  widerlegen  will,  der  mufs  entweder  das  Mittel 
erfinden,  wie  man  alles  realen  Substrats  entbehren  könne,  ■ —  welches 
Fichte  versuchte,  aber  ohne  Gewinn  für  Kant,  denn  das  Fichte'sche  Ich 
ist  in  der  That  Substanz,  nur  eine  solche,  deren  Qualität  in  einem  System 
nothwendig  verbundener  Handlungen  besteht;  —  oder  er  mufs  nach- 
weisen, wie  das  zusammengesetzte  Substrat  eine  wahre  Einheit  des  Be- 
wufstsevns  besitzen  könne,  welches  man  wohl  eine  offenbare  Ungereimtheit 
nennen  darf.**  Mit  der  Angabe  eines  Paralogismus  aber,  dessen  sich  Nie- 
mand schuldig  macht,  ist  hier  gar  nichts  gewonnen;  und  am  wenigsten 
dann  etwas  gewonnen,  wenn  noch  obendrein  die  Begriffe  selbst,  aus  denen 
der  vorgebliche  Paralogismus  seinen  Ursprung  nehmen  soll,  im  höchste» 
Grade  mangelhaft  aufgefafst  sind.  Dies  ist  die  zwevte  Bemerkung,  welche 
hier  gegen  Kant  gemacht  werden  mufs.  Es  kann  gar  nicht  zugegeben 
werden,  dafs  Kant  den  Begriff  des  Ich  richtig  gefafst  habe.  Dieser  Be- 
griff ist  der  Anfangspunct  einer  [05]  weitläuftigen  Untersuchung,  auf  deren 
Bahn  uns  Fjchte  geholfen  hat;  ein  nicht  genug  zu  schätzendes  Verdienst, 
zu  dessen  Anerkennung  ich  durch  das  gegenwärtige  Buch  etwas  beizutragen 
wünsche. 

§  21. 

Unter  den  Psvchologen,  welche  jünger  sind  als  Kant,  befindet  sich 
Einer,  der  leider  schon  zu  den  Verstorbenen  gehört.  Es  ist  der  vortreff- 
liche, auch  von  mir  sehr  hochgeschätzte  Carus.  Ich  wünschte  sehr,  nicht 
bekennen  zu  müssen,  dafs  dessen  Psychologie  mich  die  darin  gesuchten 
Aufklärungen  hat  vermissen  lassen.  Was  ich  gefunden,  brauche  ich  hier 
nicht  zu  beurtheilen,  da  meine  Ansicht  sehr  leicht  aus  demjenigen  kann 
geschlossen  werden,  was  bereits  über  die  Seelenvermögen,  und  die  auf  sie 
gedeuteten  Abstracta,  ist  gesagt  worden. 

Von  den  noch  Lebenden  werde  ich  mir  nur  erlauben,  die  Herren 
Professoren  Hoffbauer,   Fries  und  Weiss  zu  nennen. 

Der  Grundrifs  der  Erfahrungsseelenlehre  von  Hoffbauer  kann  meiner 
Meinung  nach  nicht  blofs  als  Beyspiel,  sondern  beynahe  als  Muster  einer 
klaren  und  verständig  geordneten  Uebersicht  bisheriger  Psychologie  be- 
trachtet werden.  Das  Streben,  sich  vor  Erschleichungen  zu  hüten,  ist  in 
sorgfältiger  Wahl  der  Ausdrücke  überall  sichtbar.  Als  Methode  wird  so- 
gleich  im  §  10  die  Induction  angegeben.  Auffallend  aber  ist  es,  dafs 
nun  gleichwohl  das  ganze  Buch  den  gewöhnlichen  Weg  vom  Allgemeinen 
zum  Besondern  hinabsteigt,  während  die  Induction  den  gerade  entgegen- 
gesetzten Gang-  erfordert.  Sollen  Leser  und  Zuhörer  von  den  letzten 
Resultaten  zu  der  Erkenntnifsquelle  geführt  werden?    Sollen    sie    mit  dem 


*  Ich  lasse  hier  unentschieden,  ob  die  Seele  Substanz  für  sich  allein,  oder  ob 
nur  Eine  Substanz  für  mehrere  Individuen  anzunehmen  sey?  welche  Frage  übrigens  die 
Psychologie  nicht  berühren  darf,  weil  das  Letztere  schon  aus  Gründen  der  allgemeinen 
Metaphysik  entschieden  zu  verneinen  ist. 

**  Blofs  um  zu  erinnern,  dafs  dieser  Gedanke  längst  bekannt  ist,  citire  ich,  was 
mir  zuerst  in  die  Hände  fällt,  Poley's  I40ste  Anmerkung  zu  seiner  Uebersetzung  des 
Locke. 


Einleitung. 


22,5 


Glauben  anfangen,  und  mit  dem  Schauen  endigen?  So  giebt  es  auch  Vor- 
träge der  Chemie,  worin  mit  dem  Sauerstoff  angefangen,  mit  den  bekannten 
und  sichtbaren  Körpern  geendigt  wird;  anstatt  dem  Zuhörer  zuerst  die 
Experimente  bekannt  zu  machen,  aus  welchen  auf  den  Sauerstoff  und 
seines  Gleichen  zu  schliefsen  ist.  —  Aber  ich  [66]  bin  weit  entfernt,  hier 
einen  eigenthümlichen  Fehler  jenes  Grundrisses  erblicken  zu  wollen;  da 
ich  vielmehr  selbst  gezeigt  habe,  wie  unwillkührlich  die  Psychologie  wegen 
der  Schlüpfrigkeit  ihres  Stoffs  in  Abstractii >nen  hineingleitet,  worin  sie 
nicht  eher  vesten  Fufs  gewinnt,  als  bis  sie  bey  den  äufsersten  Abstractionen 
angekommen  ist,  von  denen  sie  alsdann  wieder  rückwärts  den  Weg  der 
Determination  versucht,  und  ihn  fortsetzt,  wie  und  soweit  sie  eben  kann. 
Wir  schliefsen  also  aus  dem  genannten  Buche  nur  soviel,  dafs  auch  ein 
vorsichtiger  und  vorzüglicher  Denker  durch  dieselben  Schwierigkeiten,  welche 
seine  Vorgänger  drückten,  noch  jetzt  bewogen  werden  mag,  eine  seiner 
eignen  Angabe  gerade  zuwiderlaufende  Richtung  zu  verfolgen.  Wollten 
wir  tiefer  eintreten,  so  würden  uns  gleich  bey  der  Theorie  der  Sinnlichkeit 
einige  Untersuchungen  der  schwierigsten  Art,  die  hier  viel  zu  leicht  ge- 
nommen sind,  entgegenkommen;  nämlich  wie  die  Auffassung  der  räum- 
lichen und  zeitlichen  Bestimmungen  möglich  sey,  welche  in  der  eigent- 
lichen Materie  der  Empfindungen  (den  Tönen,  Farben  u.  s.  w.)  schlechter- 
dings nicht  enthalten  sind.  Aber  hier  nur  die  Frage  zu  verstehen  und 
gehörig  zu  würdigen,  erfordert  schon  ein  Nachdenken,  das  sich  über  die 
Sphäre  der  sogenannten  Erfahrungsseelenlehre  weit  erhebt;  und  welches 
leider  eben  dadurch  pflegt  erdrückt  zu  werden,  dafs  man  den  Anfängern 
die  schwersten  Sachen  so  leicht  vorstellt.   — 

Bey  Herrn  Prof.  Fries  finden  wir  manche  eigentümliche  Ansichten 
eingewebt  in  eine,  der  Hauptsache  nach  Kantische,  Lehre.  Jene  scheinen 
vorzüglich  in  der  Polemik  gegen  Fichte  und  Schelling  entsprungen  zu 
seyn.  Da  die  Absicht  der  gegenwärtigen  Schrift  nichts  weniger  als  po- 
lemisch ist,  so  wollen  wir  uns  mit  einigen  Proben  begnügen,  die  sich 
am  leichtesten  aus  der  Schrift:  System  der  Philosophie  als  evi- 
dente Wissenschaft,  herausheben  lassen,  weil  diese  in  kurzen  Sätzen  ab- 
gefafst  ist. 

[67]  Im  §  41  des  genannten  Werkes  finden  wir,  im  Widerspruch 
gegen  Fichte's  erste  Grundgedanken,  die  Behauptung:  „Unsere  Vernunft 
besitzt  ein  reines  Selbstbewufstseyn,  welches  wir  aussprechen:  Ich  bin. 
Dieses  ist  aber  nicht  zugleieh  mit  der  innern  Anschauung  gegeben,  viel- 
mehr ist  es  gar  keine  Anschauung,  sondern  nur  ein  unbestimm- 
tes Gefühl."  Es  folgt  ein  Beweis,  der  in  zweyen  Gliedern  mit  richtigen 
Bemerkungen  anhebt,  und  mit  Erschleichungen  endigt.  Zuerst  die  Be- 
merkung, dafs  das  reine  Selbstbewufstseyn  kein  Object  hat;*  woraus  ge- 
folgert wird,  es  sey  keine  Anschauung,  sondern  ein  unbestimmtes 
Gefühl.  Das  erste  ist  wahr,  und  das  zweyte  falsch.  Weil  das  reine 
Selbstbewufstseyn  eine  Vorstellung  ohne  Gegenstand  seyn  soll,  so  ist  es 
ein  klarer  Widerspruch;  und  man  kann  davon  gar  nichts,  auch  nicht  ein 
unbestimmtes  Gefühl    übrig    behalten;    welches    ein   Gefühl    ohne  Gefühltes 


*   Man   vergleiche  unten   ^   27   im   Anfange. 
HbKBARi's  Werke.    V. 


2  2Ö  XL  Psychologie  als   "Wissenschaft. 


seyn  würde,  während  das  Selbstbewufstseyn  seinem  Begriffe  nach  überall 
kein  Gefühl,  sondern  eine  Vorstellung  seyn  soll.  Vielmehr  mufs  man  an- 
erkennen, dafs  unsre  Behauptung,  es  gebe  ein  reines  Selbstbewufstseyn, 
eine  von  jenen  Abstractiönen  ist,  die  wir  von  den  besondern  Selbst- 
anschauungen hergenommen,  dann  aber,  der  Einheit  unsrer  Persönlichkeit 
wegen,  für  etwas  angesehen  haben,  das  wohl  ohne  'die  besondern  An- 
schauungen für  sich  bestehen,  oder,  wie  Herr  Fries  im  zweyten  Gliede 
seines  Beweises  meint,  zum  Grunde  liegen  könne.  Wir  sind  nun  aller- 
dings genöthigt,  uns  einen  solchen  Begriff  von  uns  selbst  zu  machen; 
wir  sind  aber  eben  so  wohl  genöthigt  einzugestehen,  dafs  dieser  Begriff 
ohne  allen  Sinn,  folglich  auch  keine  wahre  Erkenntnifs  eines  realen  Gegen- 
standes sey ;  —  dafs  es  kein  reines  Selbstbewufstseyn,  keine  blofse  Ichheit 
wirklich  gebe;  —  sondern  dafs  wir  den  erwähnten  Begriff  vielmehr  als 
Anfangspunct  einer  Theorie,  als  einen  wissenschaftlichen  Stoff  gebrau- 
[68]chen  müssen,  den  wir  zu  verarbeiten  haben,  bis  die  Widersprüche 
(deren  er  noch  mehrere  in  sich  trägt)  verschwinden  werden.  Weil  aber 
Herr  Fries  mit  seiner  Polemik  gegen  Fichte  nicht  zu  Ende  gekommen 
ist:  darum  läfst  er  von  dem  reinen  Selbstbewufstseyn  noch  das  unbestimmte 
Gefühl  stehen;  darum  auch  redet  er  von  einem  Bewufstseyn  des  Gegen- 
standes, nicht  wie  er  ist,  sondern  dafs  er  ist.  Dieser  Widersinn  einer 
Realität  ohne  Qualität,  ist  aber  eben  so  wenig  eine  Wahrheit,  als  er  eine  Be- 
hauptung des  Herrn  Fries  seyn  würde,  wenn  derselbe  den  Muth  gehabt  hätte, 
dem  Probleme  gerade  ins  Gesicht  zu  schauen,  und,  alle  Halbheiten  und 
Ausflüchte  bey  Seite  setzend,  das  Unding,  welches  der  Begriff  des  Ich 
uns  vorspiegelt,  so  ernstlich  anzufassen,  wie  man  es  fassen  mufs,  um  es  zu 
zerstören. 

Weiterhin  mischt  sich  nun  bey  Herrn  Fries  die  Erdichtung  des  innern 
Sinnes  und  einer  Empfänglichkeit  desselben,  mit  richtigen  Ahndungen  von 
dem  Gedächtnifs,  und  mit  dem  völlig  wahren  Satze:  die  Vorstellungen 
im  Gemüthe  werden  von  selbst  fortdauern,  bis  sie  durch  etwas 
anderes  verdrängt  werden.  Eben  so  wahr  ist  der  §  51,  nach  welchem 
der  allgemeine  Grund  der  Association  in  der  Einheit  des  Subjects  und 
seiner  Thätigkeit  enthalten  ist.  Neben  so  richtigen  Ansichten  hätte  die 
transscen dentale  Einbildungskraft  (§  57.)  verschwinden  sollen,  die  abermals 
erdichtet  wird,  damit  die,  für  ursprünglich  gehaltenen  formalen  Anschau- 
ungen, zur  Erkenntnifs  (soll  heifsen:  zur  Materie  der  Empfindung,  welche 
allerdings  die  formalen  Bestimmungen  keinesweges  in  sich  schliefst)  hinzu- 
k(  mimen  mögen.  Der  Kantianismus  aber,  als  Gewöhnung  an  ein  System, 
mit  Uebergehung  ganz  nahe  gelegter  Fragen,  welche  die  Ruhe  der  ange- 
nommenen Meinungen  hätten  stören  sollen,  zeigt  sich  auffallend  beym 
§  59 — 62;  wo  die  figürliche  synthetische  Einheit  als  Erfolg  der  Selbst- 
tätigkeit beschrieben  wird,  während  die  Gegenstände  in  der  Anschauung 
uns  unter  der  Bedingung  einer  jederzeit  möglichen  Con-[6c)] 
struction  gegeben  werden.  Was  mögen  doch  das  für  Bedingungen  seyn, 
vermöge  deren  die  selbstthätige  transscendentale  Einbildungskraft  gewisse 
Auffassungen  von  Farben  lieber  in  die  Form  eines  Vierecks,  als  in  die 
Form  eines  Cirkels  bringt?  Gegebene  Bedingungen  sind  es  ohne  Zweifel; 
denn  wir  können  nicht  willkührlicher  Weise  das  Runde  als  viereckigt,  oder 


Einleitung.  2  2  7 


das  Viereckigte  als  rund  anschauen.  In  der  Form  des  Sinnes,  dem  Räume, 
kann  der  Grund  des  Unterschiedes  nicht  liegen,  denn  diese  Form  ist  für 
alle  sinnliche  Anschauungen  als  Eine  und  dieselbe  Bedingung  vorhanden. 
Wenn  nun  etwa  die  Vorstellungen  ihrem  Stoße  nach  von  den  Dingen 
an  sich  herrühren,  wie  sie  denn  in  der  KANT'schen  Lehre  ohne  Zweifel 
thun:  so  müssen  diese  Dinge  an  sich,  trotz  dem,  dafs  sie  von  Raum  und 
Zeit  nichts  wissen,  sich  doch  aufser ordentlich  genau  auf  diese 
Formen  des  innern  Sinnes  beziehen,  damit  ein  Unterschied  in  jene 
figürliche  synthetische  Einheit  hineinkomme.  Wir  erkennen  also  von  den 
Dingen  an  sich,  dafs  in  ihnen  gerade  so  viel  Verschiedenheit  Statt  findet, 
als  nöthig  ist,  um  die  mannigfaltigen  Bedingungen  herzugeben,  deren  wir 
für  die  figürliche  synthetische  Einheit  der  Einbildungskraft  in  ihren  bunten 
Abwechselungen  bedürfen.  Dieses  wäre  denn  eine  nicht  unbedeutende 
Kenntnifs  von  den  Dingen  an  sich,  welche  die  KANT'sche  Lehre  eben  so  wenig 
vermeiden,  als  leiden  kann;  und  worüber  sich  die  bessern  Anhänger  der- 
selben längst  hätten  erklären  sollen,  wenn  sie  es  vermöchten.  Das  Wahre 
an  der  Sache  aber  ist,  dafs  diese  ganze  Theorie  auch  keine  leiseste  Ahn- 
dung der  Gründe  enthält,  aus  denen  die  Auffassungen  des  Räumlichen 
und  Zeitlichen  psychologisch  erklärt  werden  müssen.  Nicht  einmal  das 
Problem  ist  hier  vollständig  aufgefafst;  denn  es  fragt  sich  eben  so  sehr, 
was  für  Bedingungen  uns  bestimmen,  einer  Substanz  gerade  solche  und 
keine  andern  Eigenschäften  zusammengenommen  anzuweisen;  z.  B.  dem 
Wasser  die  Flüssigkeit  neben  der  Durchsichtigkeit;  dem  Queck[7o]silber 
aber  weder  die  Nässe  noch  die  Durchsichtigkeit  des  Wassers,  sondern 
neben  der  Flüssigkeit  den  Glanz  und  die  vorzügliche  Schwere.  Auch  hier 
liegt  in  der  Materie  der  Empfindung  keineswegs  die  Gruppirung  derselben; 
und  in  den  vorgeblichen  Formen  des  Verstandes  kann  sie  eben  so 
wenig  liegen,  weil  diese  sich  gegen  alle  die  verschiedenen  Vor- 
stellungen verschiedener  Substanzen  auf  gleiche  Weise  ver- 
halten müssen. 

Eine  beynahe  unbegreifliche  Mischung  der  richtigen  Ansichten,  nach 
welchen  die  Vorstellungen  selbst  die  Kräfte  in  der  Seele  sind,  und  des 
falschen  Bestrebens,  Seelenvermögen  zu  spalten  (nämlich  wenn  die  vorige 
richtige  Erklärungsart  irgendwo  nicht  ganz  leicht  von  selbst  sich  darbietet) : 
geht  nun  bey  Herrn  Fries  immer  weiter  fort.  Er  findet  §  79,  den  ersten 
Grund  der  Abstraction  darin,  dafs  in  ähnlichen  Vorstellungen,  welche  im 
Gemüth  zugleich  verstärkt  werden,  die  ihnen  gemeinschaftliche  Theilvor- 
stellung  mehr  verstärkt  wird,  als  die  unterscheidende  Nebenvorstellung. 
Dieses  reicht  zwar  nicht  hin  zur  Erklärung;  denn  die  angehängte  Clausel: 
das  Gemeinschaftliche  könne  also  abgesondert  vorgestellt  werden,  ist  eine 
grofse  Uebereilung  und  Unwahrheit.  Dennoch  ist  der  erstere  Gedanke 
richtig,  und  in  der  That  um  so  mehr  zu  schätzen,  weil  wir  damit  das  Ab- 
stractionsvermögen,  als  ob  es  etwas  Besonderes  wäre,  beseitigen  können; 
und  weil  hier  die  Verbindung  zwischen  der  sogenannten  Einbildungskraft 
und  dem  sogenannten  Verstände  anfängt  hervorzuleuchten. 

Die  Psychologie  des  Herrn  Fries  würde  nach  solchen  Proben  sich 
ohne  Zweifel  besser  dabey  befinden,  wenn  er  sie  einmal  zum  Mittelpuncte 
eines  wissenschaftlichen  Strebens    machte,    als  so  lange  er  sie  nur  als  den 

15* 


■y  7  g  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Vorhof  der  Philosophie  betrachtet.*  Ohne  Zweifel  verjjijdient  es  Dank 
von  Seiten  derjenigen,  welche  den  unhaltbaren  Grund  der  Kant  sehen 
Lehre  für  sich  allein  nicht  entdecken  können,  dafs  ein  Mann  aufgetreten 
ist,  der  in  eine  sogenannte  philosophische  Anthropologie  alles  das  Schwan- 
kende zusammengestellt  hat,  worauf  Kaxt,  als  auf  gutem  Grunde,  vesten 
Fufs  fassen  wollte.  Dies  erleichtert  die  Prüfung;  und  wer  in  den  Dar- 
stellungen des  Herrn  Fries  noch  nicht  sehen  kann,  wie  in  den  ersten 
Voraussetzungen  Wahres  und  Falsches  gemischt,  und  wie  selbst  das  Wahre 
als  roher  Stoff  unausgearbeitet  daliegt,  der  wird  sich  schwerlich  je  darauf 
besinnen.  Mir  ist  es  wahrscheinlich,  dafs  wenn  Kant,  mit  alter  rüstiger 
Kraft  des  Denkens,  noch  lebte,  Niemand  besser  als  Herr  Fries  ihn  zu 
einer  Revision  seines  Systems  würde  vermögen  können.  Denn  ohne 
Zweifel  bedurfte  ein  so  vortrefflicher  Geist  nichts  anderes,  als  nur  eine 
Zusammenstellung  seiner  eignen  Voraussetzungen,  nur  eine  Richtung  seiner 
Aufmerksamkeit,  welche  in  den  HuME'schen  Problemen  zu  sehr  befangen 
war,  um  alle  die  verschiedenen  Anfangspuncte  der  Speculation  gehörig  zu 
benutzen.  —  Soll  aber  nicht  von  Beleuchtung  der  KAXT'schen  Lehre, 
sondern  von  Psychologie  die  Rede  seyn,  so  bedarf  diese  der  allgemeinen 
Metaphvsik  zu  ihrer  Unterstätzung;  und  Herr  Prof.  Fries  hat  das  Hinterste 
nach  vom  gewendet,  indem  er  der  Metaphysik  seine  Anthropologie  voran- 
schickt.**    (Man  sehe  oben  §    15  gegen  das  Ende.) 

Diesem    Verfahren   gerade    entgegengesetzt    ist    das    des    Herrn   Prof. 
Weiss  ;  in  seinen  Untersuchungen  über  das  Wesen  und  Wirken  der  mensch- 
lichen   Seele.      Er    legt    eine    dynamische   Xatur-Ansicht    zum    Grunde,   — 
und  macht  es  mir  eben  dadurch   unmöglich,   mich  hier,  wo  für  ausführliche 
Betrachtungen  aus   allgemeiner  Metaphy[72]sik    kein  Platz    ist,    anders    als 
nur  sehr  kurz  über  sein  Werk  zu  erklären.      Die  ursprüngliche  und  noth- 
wendige  Duplicität  in   der  Kraft,   die  das  Daseyn   eines  jeden  Dinges  con- 
stituiren  soll  (S.  27.),  mufs  ich  gänzlich  ableugnen.      Und  eine  solche  Dupli- 
cität zuletzt  aus  einer  absoluten   Einheit  abzuleiten,  kann  meiner  Meinung 
nach  keine  Aufgabe  für  die  Speculation  seyn,  weil  umgekehrt  es  zu  den 
Aufgaben    derselben   gehört,    alle   dergleichen   undenkbare   Einheiten,    aus 
denen   eine  Vielheit  entspringen  soll   (zu  deren  Annahme   manche   Phäno- 
mene des  Geistes  und    der  Natur    allerdings    verleiten),    gänzlich    hinweg- 
zuschaffen,    und    die  Wissenschaft    von    ihnen    zu    reinigen.      So    kann    ich 
denn  auch  in  keine  Gemeinschaft  treten  mit  einer  Philosophie,   welche  das 
Unendliche    als    Grund    des    Endlichen,    und    dieses    als    Erscheinung    von 
jenem  betrachtet  (S.  5.).     Dergleichen  Philosophie  mufs    ich    dem  Spinoza 
und  seinen  Erneuerern  überlassen;  indem  ich  überzeugt  bin,  dafs  von  dem, 
was  wahrhaft  Ist,   sowohl   die   Unendlichkeit  als  die  Endlichkeit   mufs    ver- 
neint   werden;    und    dafs    die    Endlichkeit    noch   überdies    auf   eine    unge- 
schickte Weise  in  die  Unendlichkeit  hineingeschoben  wird,   von  denen,  die 
sich    mit    diesen  Vorstellungsarten    tragen ;    welches    Ungeschickte    zu    ver- 


Man  sieht  leicht,  dafs  diese  Stelle  vor  vielen  Jahren  ist  niedergeschrieben  worden. 

Auf  die  neuern  Werke  des  Herrn  Prof.  Fries  wird  hier  aus  denselben  Gründen 
keine  Rücksicht  genommen,  derentwegen  hier  alles  vermieden  wird,  was  als  Persönlich- 
heit könnte  ausgelegt  werden.  Der  Leser  hat  nun  die  Freyheit,  anzunehmen,  der  Gegen- 
siand  meines  Tadels  sey  schon  verschwunden,  und  das  Neueste  sey  davon  weit  verschieden. 


Einleitung.  2  2Q 


bessern  jeder  Versuch  vergeblich  ist,  weil  die  Unendlichkeit,  wenn  sie 
selbst  den  Keim  enthielte,  aus  dem  die  Endlichkeit  konnte  abgeleitet 
werden,  mit  sich  selbst  im  Widerspruche  stände.  —  Wäre  nicht  nach 
diesen  Erklärungen  jedes  weitere  Wort  überflüssig:  so  würde  ich  noch 
hinzusetzen,  dafs  in  dem  genannten  Buche  die  vorläufige  Erörterung  dessen,  was 
die  innere  Wahrnehmung  geben  und  nicht  geben  kann,  und  die  genaue  Angabe 
der  Art  und  Weise  vermisse,  wie  an  die  Wahrnehmung,  und  die  von  ihr 
dargebotenen  Erkenntnifs-Principien,  die  Speculation  sev  angeknüpft  worden. 


Noch  Einer  ist  übrig,  zu  welchem  wir  näher  hinzutreten  müssen, 
nämlich  Fichte.  Nicht  zwar,  um  von  [73]  seiner  realen  und  idealen 
Thätigkeit  weitläuftig  zu  reden;  den  heterogenen  Elementen,  woraus  er  das 
für  real  gehaltene  Ich,  nicht  glücklicher  zusammensetzt,  als  nach  ihm 
Herr  Prof.  Weiss  aus  Sinn  und  Trieb  die  Seele.  Eben  so  wenig  wird 
uns  die  unbegreifliche  Schranke  im  Ich,  beschäfftigen  können,  welche  die 
Unmöglichkeit,  einen  haltbaren  Idealismus  aufzustellen,  klar  an  den  Tag 
legt.  —  Wohl  aber  ist  es  die  erste  Behandlung  des  Begriffs  des  Ich,  die 
uns  hier  interessirt.  Ich  schlage  Fichte's  Sittenlehre  auf,  welche  ich  noch 
jetzt  für  seine  Hauptschrift  halte.*  Den  schon  sonst  gezeigten  Schlufs- 
fehler,  S.  14.  15.,  wo  statt  des  Denkens  der  allgemeinere  Begriff  des 
Handelns,  statt  dieses  wiederum  der  ihm  untergeordnete  des  realen  Handelns 
eingeschoben  wird,  werde  ich  hier  nicht  genauer  ins  Licht  setzen;  aber 
die  Anmerkung  S.  18.  19.  ist  von  der  höchsten  Wichtigkeit  für  Fichte's 
Lehre  und  wir  müssen  sie  auch  hier  erwägen.  Sie  beginnt  so:  „Dafs  das 
Wollen  in  der  erklärten  Bedeutung,  als  absolut  erscheine,  ist  Factum 
des  Bewufstseyns ;  ■ —  daraus  aber  folgt  nicht,  dafs  diese  Erscheinung 
nicht  selbst  weiter  erklärt,  und  abgeleitet  werden  müsse,  wodurch  die  Ab- 
solutheit aufhörte,  Absolutheit  zu  sein,  und  die  Erscheinung  derselben  sich 
in  Schein  verwandelte:  —  gerade  so,  wie  es  allerdings  auch  erscheint, 
dafs  bestimmte  Dinge  in  Raum  und  Zeit  unabhängig  von  uns  da  sind,  und 
diese  Erscheinung  doch  weiter  erklärt  wird.  —  Wenn  man  sich  nun  doch 
entschliefst,  diese  Erscheinung  nicht  weiter  zu  erklären;  und  sie  für  absolut 
unerklärbar,  d.  i.  für  Wahrheit,  und  für  unsre  einige  Wahrheit  zu  halten,  nach  der 
alle  andre  Wahrheit  beurtheilt,  und  gerichtet  werden  müsse,  —  wie  denn  eben 
auf  diese  Entschliefsung  unsre  ganze  Philosophie  aufgebaut  ist,  so  geschieht 
dies  nicht  zufolge  einer  theoretischen  Einsicht,  sondern  zufolge  [74]  eines 
praktischen  Interesse;  ich  will  selbständig  seyn,  darum  halte  ich  mich  dafür.'' 

Diese  Aussage  enthält  den  einzigen  denkbaren  Erklärungsgrund,  wes- 
halb Fichte,  dem  die  Unmöglichkeit  des  Ich  deutlich  genug  vor  Augen 
lag,  dennoch  dabey  beharrte,  dasselbe  als  real,  als  absolut,  und  in  dieser 
Gestalt  als  Princip  der  Philosophie  zu  betrachten.  Ein  wenig  weiter  hin 
(S.  42.),  sagt  uns  Fichte  :  „Nicht  das  subjective,  noch  das  objective,  sondern  — 
eine  Identität  ist  das  Wesen  des  Ich;  und  das  erstere  wird  nur  gesagt, 
um    die    leere    Stelle    dieser    Identität    zu    bezeichnen.      Kann    nun    irgend 

*  Von  Fichte's  späteren  Schriften  braucht  hier  eben  so  wenig  die  Rede  zu  seyn. 
als  von  einigen  neuern  Schriftstellern,  die  in  denselben  Irrthümern  befangen  sind,  wie 
die  oben  bezeichneten. 


2 -iq  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Jemand  diese  Identität,  als  sich  selbst,  denken?  Schlechterdings  nicht; 
denn  um  sich  selbst  zu  denken,  mufs  man  ja  eben  jene  Unterscheidung 
zwischen  subjectivem,  und  objectivem,  vornehmen,  die  in  diesem 
Begriffe  nicht  vorgenommen  werden  soll.  —  So  kann  man  sich  allerdings 
nicht  wohl  enthalten,  zu  fragen:  bin  ich  denn  darum,  weil  ich  mich  denke, 
oder  denke  ich  mich  darum,  weil  ich  bin?  Aber  ein  solches  Weil,  und  ein 
solches  Darum,  findet  hier  gar  nicht  statt;  du  bist  kein«  von  beyden,  weil  du  das 
Andre  bist;  Du  bist  überhaupt  nicht  zweyerley,  sondern  absolut  einerley;  und 
dieses  denkbare  Eine  bist  du,   schlechthin  weil  Du   es  bist." 

Dafs  ein  Undenkbares  nicht  seyn  kann,  —  dafs  derjenige  sein  eignes 
Denken  aufhebt,  welcher  von  dem  Undenkbaren  denken  will,  Es  sey,  — 
dafs  also,  wenn  der  Lauf  der  Speculation  auf  einen  solchen  Punct  geführt 
hat,  man  denselben  schlechterdings  verlassen  müsse:  dieses  leuchtet  un- 
mittelbar ein.  Nachdem  also  Fichte  sich  den  Begriff  des  Ich  dergestalt 
analysirt  hatte,  dafs  er  einsah,  derselbe  sey  undenkbar:  mufste  schon  dieses, 
noch  ohne  vollständigere  Entwicklung  aller  Widersprüche  im  Ich,  ihn  be- 
stimmen, die  zuerst  angenommene  Realität  des  Ich,  sammt  der  vermeinten 
intellectualen  Anschauung  desselben,  völlig  zu  verwerfen.  Jede  Art  von  Täu- 
schung [75]  in  der  Auffassung  eines  so  ungereimten  Wesens  war  eher  zu  ver- 
muthen,  als  an  die  Wahrheit  einer  solchen  Auffassung  konnte  geglaubt  werden. 
Und  wenn  dennoch  die  Ueberzeugung  veststand,  das  Selbstbewufstseyn  lasse 
sich  durch  keinen  andern  Begriff,  als  nur  gerade  durch  jene  Identität  des 
Subjects  und  Objects  rein  aussprechen:  so  folgte  eben  daraus,  man  habe 
ein  Gegebenes  vor  sich,  das,  weil  es  nicht  gleich  einer  zufälligen  Täuschung 
verworfen,  doch  aber  auch  nicht  im  Denken  beybehalten  werden  könne, 
zu  einer  Umarbeitung  des  Begriffs  auffordere  und  nöthige;  und  auf  diese 
Weise  zwar  keinesweges  ein  Real-Princip,  wohl  aber  ein  Erkenntnifs-Princip 
für  die  Speculation  abgebe. 

Aber  Fichte  hatte  einmal  seinem  Wollen  Einflufs  auf  das  Denken 
verstattet.  Er  glaubte  in  dem  Ich  die  Freyheit  zu  finden,  und  von  der 
Freyheit  wollte  er  nicht  lassen.  Er  behielt  also  den  undenkbaren  Ge- 
danken; er  gab  ihm  Auctorität  durch  das  Vorgeben  einer  intellectualen 
Anschauung,  denn  dafür  hielt  er  den  Zustand  der  Anstrengung,  mit  welcher 
das  Undenkbare  als  ein  Gegebenes  der  innern  Wahrnehmung  vestgehalten 
wurde;  und  so  wurde  einer  der  gröfsten  Denker,  die  je  gewesen  sind,  zum 
Urheber  einer  Schvvärmerey,  die  in  der  Folge,  als  sie  sich  die  sogenannte 
absolute  Identität  zum  Mittelpuncte  erkoren,  und  diese  mit  Spinozismus, 
Piatonismus,  Physik  und  Physiologie  amalgamirt  hatte,  in  einem  weiten 
Kreise  die  Stelle  der  Philosophie  besetzte,  und  aus  einem  noch  viel 
weitern  Kreise  die  Philosophie  verscheuchte,  weil  man  über  der  intellec- 
tualen Anschauung  nicht  den  Verstand  verlieren  wollte. 

Dieses  letztere  ist  nun  das  einzige  Wollen,  welches  in  die  Forschung 
einzulassen  ich  mir  erlaube.  Da  ich  einmal  denke,  und  nicht  umhin  kann, 
alles  Angeschaute  zu  denken  und  in  Begriffe  zu  fassen,  so  will  ich  weiter 
nichts  als  nur,  dafs  das  Angeschaute  denkbar  seyn,  oder,  falls  es  dieses 
nicht  von  selbst  wäre,  denkbar  werden  solle,  wozu  denn  freylich  eine 
milche  Umwandlung  der  [76]  unmittelbar  aus  der  Anschauung  gewonnenen 
Begriffe  gehört,   die  sich  als  nothwendig,   und  nicht    willkührlich,    in    jedem 


Einleitung.  2  3  1 


Puncte  rechtfertigen  könne.  Ich  stehe  demnach  in  der  Mitte  zwischen 
denen,  welche  wollen,  dafs  es  bey  der  Anschauung,  bey  der  Erfahrung 
wie  sie  unmittelbar  gegeben  wird,  sein  Bewenden  haben  solle,  weil  sie  das 
Widersprechende  in  dem  Gegebenen  nicht  erblicken,  —  und  zwischen 
jenen,  welche  gar  wohl  Augen  haben  für  dieses  Widersprechende,  aber 
davon  nicht  lassen  wollen,  vielmehr  ins  Erstaunen,  ins  Entzücken  über  alle 
die  Wunder  sich  versenken,  die  ihnen  um  so  vortrefflicher  scheinen,  je 
ungereimter  sie  sind.  Ich  gebe  den  erstem  Recht,  dafs  sie  um  ihre 
Nüchternheit  nicht  mögen  gebracht  seyn,  und  dafs  sie  von  keiner  intellec- 
tualen  Anschauung  wissen  wollen,  welche  die  ächte  Anschauung  nur  ent- 
stellen würde;  ich  gebe  den  zweyten  Recht,  dafs  sie  die  gemeinen  An- 
sichten der  Dinge,  welche  alles  lassen  wie  es  zuerst  gefunden  wird,  für 
unzulänglich  erkennen,  und  auf  eine  Veränderung,  auf  eine  Schärfung  des 
Blickes  selbst  antragen,  wodurch  in  der  That  alles  viel  wunderbarer 
erscheinen  mufs,  als  jenen  ersteren  gelegen  ist  zu  glauben.  Aber  den 
einen  und  den  andern  mufs  ich  Unrecht  geben,  weil  sie  beyderseits  zur 
eigentlichen  Untersuchung  zu  träge  sind,  sowohl  jene,  die  im  Aufsammeln 
und  Registriren  gewisser  äufserer  oder  innerer  Wahrnehmungen  verweilen, 
als  diese,  die  es  freut,  hochtönende  Reden  zu  erfinden,  um  das  Seltsame, 
was  sie  gesehen  haben,   anzupreisen  statt  es  besser  zu  bedenken.  — 


VII. 
Plan  und  Eintheilung  der  bevorstehenden  Untersuchungen. 

§  23- 

Wir  machen  uns  nun  auf  den  Weg  in  das  vor  uns  liegende  Gebirge, 
wohin  uns  diejenigen  sicher  nicht  fol[/7]gen  werden,  die  immer  nur  in 
lachenden  Ebenen  gemächlich  zu  lustwandeln  gewohnt  sind.  Der  Leser  über- 
lege, ob  er  gehörig  gerüstet  sey;  was  er  mitnehmen,  was  zu  Hause  lassen  wolle. 
Viel  schweres  Gepäck  frommt  dem  Reisenden  nicht,  am  wenigsten  solches, 
was  ihm,  nach  seiner  Eigenthümlichkeit,  besonders  lästig  fallen  würde. 
Geduld   und   frischer  Muth  ist  die   Hauptsache. 

Ganz  ohne  mathematisches  Werkzeug  darf  der  Wanderer  nicht  seyn. 
Aber  grofse  Anmuthungen  mache  ich  in  dieser  Hinsicht  nicht;  sie  würden  mit 
verdoppeltem  Gewicht  auf  mich  zurückfallen.  Der  Leser  vergegenwärtige 
sich  nur  die  leichteren  Rechnungen  mit  veränderlichen  Grüfsen,  und  deren 
Symbole,  die  bekanntesten  Curven;  er  überlege,  dafs  diese  Curven  eben  nur 
Symbole  für  gewisse  Regeln  sind,  wornach  jede  mögliche,  intensive 
sowohl  als  extensive,  Gröfse  wachsen  und  abnehmen  kann;  er  rufe, 
wenn  es  nöthig  ist,  einen  Freund  zu  Hülfe,  der  ihm  die  einfachsten  Grund- 
lehren und  Formeln  der  höhern  Mechanik  erkläre;  und  er  wird  finden, 
dafs  es  nicht  viel  schwerer  ist,  das  Sinken  einer  Hemmungssumme,  als  das 
Fallen  eines  Steins  zu  begreifen,  Hat  er  aber  erst  dies  gefafst,  so  kann 
er  auch  von  den  Grundlehren  der  Reproductionsgesetze,  (worauf  Alles 
ankommt)  das  Wesentlichste  verstehn;  und  eben  so  den  Hauptsatz  über 
die  Abnahme  der  Empfänglichkeit.  Das  Schwerere  ist  weniger  nöthig; 
nicht  Jeder  braucht  mir  auf  allen  meinen  Wanderungen  zu  folgen;  man 
kann   sich   dennoch  wieder  zusammen   finden. 


2  t  -j  XI.  Psychologie  als  "Wissenschaft. 


Ablegen  mufs  der  Leser  die  metaphysischen  Vorurtheile,  die  er,  wer 
weifs  unter  welchen  Namen,   etwan  bey  sich  tragen  möchte.      Meine  Meta- 
physik  wird  er,    mit   Hülfe    dieses  Buchs,   allmählig   verstehen    lernen.      Er 
durchdenke  nur  recht  sorgfältig    den    ausführlichen  Vortrag   über    das  Ich, 
welchen  er  hier  finden  wird;   vergleiche,   nachdem  dieses  geschehen,  meine 
Einleitung  in  die  Philosophie,   um  sich  mit  den  metaphysischen  Problemen, 
theils  im   Allgemeinen,   theils    mit   jedem    einzeln    genom[78]men,    vertraut 
zu  machen;   präge   sich  nun  vest  ein,  dafs   die  befremdende  Gestalt,  worin 
die  metaphysischen  Probleme  Anfangs    erscheinen,    nichts    anderes    ist   als 
ein    psychologisches    Phänomen,    welches    aus     psychologischen     Gründen 
erklärbar  sevn  mufs,   die    wir  im    zweyten  Theile    dieses   Buchs    aufsuchen 
wollen;  die   aber  Niemand  finden  kann,   wenn  er    die   Knoten    ungeduldig 
zerhauen  will,  die    er    höchst    behutsam    durch    unbefangenes  Nachdenken 
auflösen  sollte.   —   Dafs  man  der  leichtem  Uebersicht  wegen   mein  Lehr- 
buch  zur  Psychologie  benutzen    könne,    brauche    ich    kaum    zu    bemerken. 
Aber  sehr  dringend   mufs  ich  den  Leser    an    die  Fragen    erinnern:    ob    er 
mit  seiner  praktischen  Philosophie  im  Reinen   sey?  und  ob   er  die  meinige 
kenne?      Das  erste  ist    an    sich    nothwendig;    das    zweyte    fordere    ich,    so 
gewifs  ich  nicht  will    misverstanden    seyn.      Wessen    praktische   Philosophie 
noch    schwankt:    dessen    Gemüth    kann    bey    speculativen    Untersuchungen 
nicht  in   Ruhe    seyn;    am    wenigsten    bey    solchen,    die    den    menschlichen 
Geist  betreffen;   ohne   Gleichmuth  aber    gelingt   keine  Speculation,    sondern 
sie    erzeugt  Wahn    und    Trug.      Wer    meine    praktische    Philosophie    nicht 
kennt,    der   begreift    nicht    was    ich    will,    und    muthet    mir    an,   Dinge    zu 
wollen,   die  ich  verwerfe.      Ein  Beyspiel  hievon:   ich  will  keine  angebornen 
Rechte;   nicht  blofs,   weil  ich  weifs,   dafs  alle  angebornen  Formen  psycho- 
logisch unmöglich   sind,   sondern  auch,  weil  ich  weifs,   dafs,    wenn    es    der- 
gleichen   Rechte    gäbe,    sie  Streit,    und    hiemit    Unrecht    erzeugen    würden. 
Ein  anderes  Beyspiel :   ich  will  kein  ursprünglich  gesetzgebendes  moralisches 
Gefühl,    und    eben    so    wenig    einen    kategorischen    Imperativ,    nicht    blofs, 
weil  auch  dieses  angeborne   Formen  seyn  würden,    sondern    weil    ich    das 
moralische  Gefühl,   sammt  der  aus    ihm    entstehenden    Bereitwilligkeit    zum 
moralischen  Gehorsam,   ableiten  gelernt  habe  als  Gesammtwirkung  aus  den 
verschiedenen  praktischen  Ideen,  die  wiederum  durch    eben    so    viele    ver- 
schiedene ästhetische  Urtheile  erzeugt  werden.      Wenn  [79]  ich  nicht  jedes 
einzelne   von  diesen   Urtheilen  genau  kennte,   nicht  geübt  wäre,   die  vor- 
geblichen   Aussprüche     des    moralischen    Gefühls     auf    sie     zurückzuführen, 
nicht  aus  den  nämlichen  Gründen  die  Tugend  als  ein  Ganzes  verschiedener 
Bestandtheile    erkannt    hätte,    die    zum    Theil    gelehrt,     zum    Theil     geübt 
werden,   zum  Theil   vor  aller  Lehre  und  Uebung  voraus,  unter  Begünstigung 
einer  glücklichen  Organisation    im   Menschen    entstehn    müssen;    wenn    ich 
nicht   auf  diese  Weise  einer  Menge   von  psychologischen  Fragen,  mit  denen 
Andre  sieh   quälen,   im  Voraus  überhüben  gewesen  wäre:   so   möchte  leicht 
der    psychologische    Mechanismus    mich    mit    eben    dem    Schrecken    erfüllt 
haben,   mit  welchem   so  Viele  vor  ihm    die  Augen    verschliefsen,    die    eben 
so  wenig  vertragen,  ins  Innere  des    menschlichen  Geistes   zu   schauen,   als 
sie   das    Innere   des   Leibes  ohne   Grauen   betrachten   können.   — 
Nach   diesen   Erinnerungen  kehre  ich   zur  Hauptsache  zurück. 


Einleitung.  233 


Von  der  Grundlegung  zu  einer  Wissenschaft  erwartet  man,  dafs  sie 
die  dahin  gehörigen  Untersuchungen  in  Gang  setze;  und  weit  genug  fort- 
führe, um  die  Möglichkeit  der  Wissenschaft,  und  das  in  derselben  zu 
beobachtende  Verfahren,  vor  Augen  zu  stellen.  Sie  soll  demnach  die  ver- 
schiedenen Erkenntnifsgründe  dieser  Wissenschaft,  wofern  es  deren  mehrere 
giebt,  durchmustern,  und  an  jedem  derselben  den  Anfang  der  Forschung 
zeigen;  sey  es  nun,  dafs  jedes  eigne  Aufschlüsse  ertheile,  oder  dafs  die 
verschiedenen  auf  einerley  Resultat  führen,  in  welchem  Falle  sie  immer 
noch    dienen,    die  Intension    der   Ueberzeugung    zu    verstärken. 

Von  der  Psychologie  ist  nach  11  —  n,  anzunehmen,  dafs  sie  mehrere 
Erkenntnifsgründe  besitze,  und  zwar  nicht  eben  in  dem  Sinne,  als  ob  die- 
selben gleich  Vordersätzen  zu  Schlüssen  unter  einander  zu  verknüpfen 
wären;  sondern  so,  dafs  jedes  für  sich  ein  Factum  des  Bewuistseyns  dar- 
stelle, wovon,  als  dem  Bedingten,  auf  die  Be[8o]dingungen,  mit  Zuziehung 
der  allgemeinen  Metaphysik,  (§    15)  geschlossen  werde. 

Wenn  nun  die  Grundlegung  zur  Psychologie  auf  solche  Weise  mit 
einem  oder  dem  andern  der  Erkenntnifsgründe  dieser  Wissenschaft  ver- 
fährt: so  ist  zu  hoffen,  dafs  bald  einige  der  Realprincipien  erkannt 
werden  mögen,  aus  welchen,  als  Ursachen,  die  Phänomene  des  Bewufst- 
seyns  ihren  Ursprung  nehmen.  In  diesem  Falle  läfst  sich  von  einer 
solchen,  einmal  gewonnenen  Kenntnifs  weiterer  Gebrauch  machen;  die 
Realprincipien  werden  zwar  niemals  eigentliche  principia  cognoscendi,  denn 
das  Wissen  von  denselben  ist  immer  ein  Abgeleitetes;  aber  die  Forschung 
verändert  von  hier  an  ihre  Richtung,  in  so  fern  sie  jetzt  von  der  Be- 
dingung auf  das  Bedingte,  —  mit  dem  Strom  der  Ereignisse,  nicht  mehr, 
wie   zu  Anfange,   wider  den  Strom,   vom  Bedingten  zur  Bedingung  fortgeht. 

Darum  aber,  dafs  aus  einem  oder  dem  andern  der  Erkenntnifsgründe 
dergleichen  Realprincipien,  vielleicht  selbst  die  wichtigsten  Hauptgesetze  der 
geistigen  Bewegungen,  entdeckt  seyn  mögen:  verlieren  die  übrigen  Erkenntnifs- 
gründe noch  nicht  ihren  Werth.  Es  mufs  auch  an  sie  die  Reihe  kommen,  be- 
nutzt zu  werden:  jedoch  kann  man  nun  die  Untersuchung  abkürzen,  indem  man, 
anstatt  sich  noch  ganz  unwissend  zu  stellen,  vielmehr  die  schon  vorhin  ge- 
wonnenen Aufschlüsse,  sobald  dieselben  gehörig  gesichert  sind,  zum  Grunde 
legt,  und  nur  noch  fragt,  wie  sich  darauf  die  jetzt  in  Betracht  genommenen 
Phänomene   zurückführen,  wie  sie  sich  daraus  begreifen  lassen? 

Man  wird  geneigt  seyn,  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  gemüfs, 
solche  Untersuchungen,  die  mit  dem  Laufe  der  Ereignisse,  also  von  Real- 
principien zu  realen  Folgen  fortschreiten,  synthetisch  zu  nennen;  dagegen 
werden  die  andern,  vermöge  deren  die  noch  nicht  erklärten  Phänomene 
auf  jene  Realprincipien  zurückgeführt  werden    sollen,    analytisch    heifsen. 

[81]  Streng  genommen  freylich  beginnt  jede  Untersuchung  ohne  Aus- 
nahme mit  einer  Analysis,  indem  sie  zuerst  den  Erkenntnifsgrund  logisch 
klar  und  deutlich  macht;  und  dann  geht  sie  über  zu  einer  Synthesis,  indem 
sie  dem  Princip  seine  Beziehungen,  dem  Phänomen  seine  Bedingungen 
oder  noth wendigen  Voraussetzungen  nachweist.  Dieses  letztere  ist  ganz 
eigentlich  Synthetsis  a  priori ;  weil  die  Angabe  der  nothwendigen  Voraus- 
setzungen in  dem  Erkenntnifsgründe  selbst  noch  nicht  enthalten  war.  Allein  hier 
ist  nicht  der  Ort,  dergleichen  dialektische  Betrachtungen  im  Allgemeinen  anzu- 


2% a  XL    Psychologie  als  Wissenschaft. 


stellen;  im  Verfolg  werden  sie  an  dem  Beyspiel  unserer  Untersuchung  selbst 
soweit    entwickelt    werden,    als    zu    unserer  jetzigen  Absicht   nöthig   ist.    — 

Es  soll  nun  die  Untersuchung  über  das  Ich,  als  über  denjenigen  Er- 
kenntnifsgrund,  welcher  am  nächsten  und  bestimmtesten  zu  psychologischen 
Realprincipien  hinleitet,  den  Anfang  machen.  Daraus  werden  sich  sogleich 
mathematisch  bestimmbare  Gesetze  des  Bewufstseyns  ergeben,  und  so  weit 
entwickelt  werden,  dafs  die  Möglichkeit,  hier  eine  neue  Bahn  zu  brechen, 
und  namentlich  ohne  die  angenommenen  Seelen  vermögen  in  der  Psy- 
chologie fortzukommen,  im  Allgemeinen  erhelle.  Diese  Untersuchungen 
zusammengenommen  wollen  wir  (a  potiorij  den  synthetischen  Theil 
unserer  Abhandlung  nennen.  Darauf  wird  der  analytische  Theil  folgen, 
welcher  die  wichtigsten  der  noch  übrigen  Phänomene  des  Bewufstseyns  auf 
die  vorhin  gewonnene  Kenntnifs  von  den  Gesetzen  des  Geistes  zurückführt. 

Es  ist  offenbar,  dafs  der  synthetische  Theil  keine  veste  Gränze  hat, 
wie  weit  er  in  der  Wissenschaft,  —  vielweniger,  wie  weit  er  hier,  in 
unserer  Grundlegung,  auszudehnen  sey.  Die  Folgen  aus  Realprincipien 
sind  endlos  in  der  Natur  der  Dinge,  unabsehlich  in  der  Wissenschaft. 
Und  für  den  gegenwärtigen  Zweck,  Andern  die  Theilnahme  an  den  be- 
gonnenen neuen  Untersuchungen  möglich  zu  machen,  könnte  ziemlich 
willkührlich  ein  [82]  Mehr  oder  Weniger  geschehn,  wenn  nicht  eben  die 
Neuheit  der  Sache  hierin  noch  Gränzen  setzte.  Der  analytische  Theil 
aber  mufs  sich  nach  dem  synthetischen  richten,  in  so  fern  in  ihm  keine 
Untersuchung  ganz  selbstständig,  sofern  jede  unter  Voraussetzung  des  zuvor 
Bekannten  soll  geführt  werden. 

Um  nun  diesem  Buche  Rundung  und  Ganzheit  zu  geben :  wählen 
wir  das  Ich,  damit  es  nicht  blofs  den  Anfang,  sondern  auch  das  Ende 
der  Abhandlung  bezeichne.  Denn  es  mufs  hier  vorausgesagt  werden, 
dafs  aus  diesem  Erkenntnifsprincip  viel  früher  die  mathematische  Be- 
trachtungsart der  gesammten  Psychologie  hervortritt,  als  die  vollständige 
Auflösung  des  in  ihm  enthaltenen  Problems  sich  gewinnen  läfst.  Daher 
wird  es  nothwendig,  dieses  Problem,  nachdem  die  ersten  Schritte  zu  seiner 
Erklärung  geschehn  sind,  auf  langehin  bey  Seite  zu  legen;  und  so  kann 
es,  wenn  nicht  das  Vehiculum,  doch  den  Rahmen  bilden,  der  alle  die 
übrigen  hier  anzustellenden   Untersuchungen  einschliefse. 

Indessen  wird  man  bald  wahrnehmen,  dafs  nicht  die  Lehre  vom  Ich, 
sondern  von  den  Gegensätzen  und  Hemmungen  unserer  Vorstellungen 
unter  einander,  den  Hauptstamm  der  Forschung  ausmacht.  Diese  Gegen- 
sätze finden  sich  unmittelbar  in  der  Beobachtung;  und  in  so  fern  hängt 
ihre  Betrachtung  nicht  einmal  nothwendis;  ab  von  der  vornan msren  Unter- 
suchung  des  Ich;  jedoch  bringt  die  letztere  den  Vortheil,  jene  mit  mehr 
Bestimmtheit,  und  mit  mehr  Einsicht  in  ihre  grofse  Wichtigkeit,  einzu- 
führen. Auch  lassen  sich  auf  solchem  Weore  die  nöthicren  Erörterungen 
aus  der  allgemeinen  Metaphysik  bequem  hinzufügen;  welche  gegen  das. 
Ende  des  ersten  Abschnittes  ihre  Stelle  finden  sollen. 


ERSTER, 


SYNTHETISCHER    THEIL. 


[85]     Erster   Abschnitt. 

Untersuchung  über  das  Ieh,  in  seinen  nächsten 

Beziehungen. 


Erstes  Capitel. 

Ueber  die  philosophische  Bestimmung  des  Begriffs 

vom  Ich. 

§  24. 

Wer  bin  ich?  —  Diese  Frage  wirft  der  gemeine  Mensch  nicht  auf, 
denn  er  glaubt  sich  selbst  sehr  gut  zu  kennen.  Wer  sie  aufwirft,  der 
sucht  etwas  Unbekanntes  in  sich.  Gesetzt  nun,  er  fände  dieses  Unbe- 
kannte, wem  würde  er  es  zuschreiben?  Ohne  Zweifel  sich  selbst.  Also 
scheint  es,  er  kenne  sich  schon,  in  so  fern  er  überhaupt  ein  Ich  ist.  Was 
aber  ist  denn  dieses  Ich?  Kann  man  es  losreifsen  von  der  individuellen 
Persönlichkeit?  Oder  bin  ich,  um  nur  überhaupt  von  Mir  reden,  Mich 
denken  zu  können,  nothwendig  ein  bestimmtes  Individuum?  —  Diese 
Frage  wird  uns  zuerst  beschäftigen. 

Es  ist  schon  nicht  ganz  leicht,  nur  die  Frage  zu  verstehen;  wir  wollen 
also  langsam  gehn. 

Fichte  erklärte  das  Ich  als:  Identität  des  Objects  und  Sub- 
jects;  und  hiemit  stimmt  der  grammatische  Begriff  des  Ich,  im  Gegen- 
satze gegen  das  Du  und  das  Er,  wohl  zusammen,  denn  die  erste  Person 
ist  die,  welche  von  sich  selbst  redet. 

[86]  Finden  wir  denn  jemals  im  Selbstbewufstseyn  Uns  Selbst  blofs 
und  lediglich  als  ein  solches  Wissen  von  Sich?  Keineswegs.  Immer  schiebt 
sich  irgend  eine  individuelle  Bestimmung  ein;  man  findet  sich  denkend, 
wollend,  fühlend,  leidend,  handelnd;  mit  bestimmter  Beziehung  auf  das, 
was  so  eben  gedacht,  gewollt,  gefühlt,  gelitten,  gehandelt  wird.  Ist  nun 
diese  individuelle  Bestimmung  etwas  Fremdes  im  Ich,  wodurch  es  ver- 
fälscht,  verunreinigt  wird? 

Man  kann  wohl  Gründe  finden,  diese  Frage  zu  bejahen.  Zuvörderst: 
in  der  obigen  Erklärung  des  Ich,  es  sey  Identität  des  Objects  und  Sub- 
jects,  kommt  gar  keine  individuelle  Bestimmung  vor.  Ferner:  im  gemeinen 
Leben  selbst  betrachten  wir  das,  was  wir  eben  jetzo  thun  oder  leiden, 
als   etwas  Uns   Zufälliges.     Der  Augenblick,   in  welchem   wir  uns  also  finden, 


2ig  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


ist  nur  ein  Durchgang,  aus  welchem  wir  höchstens,  wenn  es  ein  bedeu- 
tender Lebens -Moment  wäre,  einen  bleibenden  Eindruck  mitnehmen  könnten, 
so  wie  wir  in  ihn  hineinbrachten,  was  in  früheren  Lebenslagen  stark  auf  uns 
wirkte.  Aber  in  der  Zeit,  und  durch  die  Zeit,  konnten  wir  anders  ge- 
bildet oder  verbildet  werden;  gleichwohl  wären  wir  dieselben  Personen 
geblieben,  die  wir  jetzt  sind.  Daher  kann  der  ganze  Zwischenraum 
zwischen  Geburt  und  Tod,  mit  Allem,  was  er  aus  Uns  macht,  überall 
nicht  die  entscheidende  Antwort  auf  die  Frage  geben:  Wer  bin  ich  denn 
eigentlich?  Und  das  heifst  denn  eben  so  viel,  als:  in  der  zeitlichen 
Wahrnehmung  kann  ich  überhaupt  nicht  Mich  finden,  als  den- 
jenigen, der  ich  eigentlich  bin.  Diese  Wahrnehmung,  obschon  eine 
innere,  hängt  doch  an  lauter  Aeufserlichkeiten;  und  kann  daher  bis  zu 
dem  wahren   Kern  unseres  eigentlichen  Selbst  nicht  durchdringen. 

Allein  es  möchte  Jemand  einwenden,  die  Frage  sey  lediglich  von  dem 
Ich,  wie  es  als  ein  Gegebenes  gefunden  werde;  man  könne  nicht 
leugnen,  dafs  man  jederzeit  sich  selbst  als  denjenigen  erblicke,  der  ein 
Ge[87]schöpf  zwar  nicht  des  Augenblicks  sey,  wohl  aber  der  ganzen 
früheren  Lebenszeit;  und  auf  solche  Weise  bilde  sich  das  Selbstbewufst- 
seyn  derer,  die  in  Pecking,  und  die  am  Orinoko,  wie  deren,  die  bey  uns 
leben.  Wolle  man  fragen,  wer  würde  ich  seyn,  wenn  ich  da  oder  dort 
geboren  wäre?  so  sey  dieses  widersinnig,  denn  es  setze  voraus,  dafs  eben 
derselbe  Ich,  welcher  bey  uns  dieser  bestimmte  Mensch  geworden  ist, 
auch  ein  ganz  Anderer  hätte  werden  können,  und  dafs  der  Andere 
und  Ich  einerley  seyen.  Vielmehr  könne  die  Identität  der  Persönlichkeit 
an  gar  Nichts  vestgehalten  werden,  wofern  die  Bedingungen  einer  be- 
stimmten Persönlichkeit  mit  andern  vertauscht  gedacht  würden.  Sogar  die 
Meinung,  dafs  die  nämliche  Seele  unter  verschiedenen  Umständen  einen 
verschiedenen  Gedanken-  und  Begehrungs-Kreis  erlange,  könne  zugelassen 
werden,  ohne  darum  das  Selbstbewufstseyn  in  dem  einen  Gedankenkreise 
und  das  in  einem  andern  dem  nämlichen  Subject  zuzuschreiben;  denn 
die  Seele  sey  weder  das  Subject  noch  das  Object  des  Selbstbewufstseyns, 
da  sie  im  Bewufstseyn  gar  nicht  vorkomme.  Sonach  möge  immerhin  von 
der  Seele  gesagt  werden,  dafs  die  ihr  angebildete  Ichheit  ihr  zufällig  sey, 
beynahe  eben  so  zufällig  aber  sey  auch  der  Ichheit  die  Seele,  dem  Selbst- 
bewufstseyn das  unbewufste  Substrat;  daher  dürfe  man  die  innere  Wahr- 
nehmung nicht  verlassen,  als  welche  allein  einen  Jeden  lehren 
könne,  wer  er  sey;  und  welche  mit  Hülfe  der  Erinnerung  aus  dem 
früheren   Leben  ihn  dieses  auch  bestimmt  genug  lehre. 

Wir  haben  hier  zwei  verschiedene  Ansichten  einander  gegenüber  ge- 
stellt, deren  jede  wir  noch  genauer  prüfen  müssen,  und  zwar  —  welches 
wohl  zu  merken,  —  hier  noch  nicht  in  der  Absicht,  zu  entscheiden,  welche 
von  beyden  der  Wahrheit  am  nächsten  komme,  sondern  welche  jetzo 
zunächst  müsse  vestgehalten  werden,  um  von  dem  Gegebenen  in 
unserm  Nachdenken  auszugehn,  ohne  einen  Sprung  zu  machen. 

[88]      §  25. 
Käme  es  darauf  an,   die  erstere  Behauptung  annehmlich  vorzustellen: 
v  >   würden   sich   viele  bekannte  Meinungen  von  der  Vernunft  und  Freyheit, 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten   Beziehungen.        2^0 

nebst  ihren  Formen  und  Gesetzen,  als  von  unserer  hohem,  unzeitlichen, 
durch  intellectuale  Anschauung  zu  erkennenden  Natur,  im  Gegensatze 
gegen  die  empirische  Auffassung  unserer  Individualität,  hiebey  benutzen 
lassen.  Ich  erwähne  derselben  nur,  um  zu  erinnern,  dafs  dergleichen 
Lieblingsmeinungen  mancher  Personen  auf  den  Gang  der  Speculation  nicht 
den  geringsten  Einflufs  haben  dürfen. 

Demjenigen,  was  in  der  innern  Wahrnehmung  unzweydeutig  gegeben 
ist  und  unwillkührlich  gefunden  wird,  scheint  ohne  Zweifel  die  zweyte  Be- 
hauptung angemessener  als  die  erste. 

Fragt  man  im  gemeinen  Leben  jemanden,  wer  er  sey,  so  nennt  er 
Stand  und  Namen,  Wohnort  und  Geburtsort.  Diese  und  andre  äufser- 
liche  Bestimmungen  seiner  selbst  leiten  ihn  auch  im  Handeln.  Er  erfüllt 
seinen  individuellen  Beruf,  seine  Familienpflichten;  und  je  mehr  er  seiner 
besondern  Stellung  in  der  Welt  gemäfs  sich  beträgt,  um  desto  verständiger 
finden  wir  ihn.  Wollte  er  einen  andern  Begriff  von  sich  selbst  bey  seinen 
Entschliefsungen  zum  Grunde  legen,  wollte  er  einen  Augenblick  von  seiner 
Individualität  abstrahiren:  wir  würden  bald  sagen,  er  vergesse  sich,  er 
sey  ein  Thor. 

Haben  wir  denn  nun  aufser  dieser  individuellen  Ichheit  noch  eine 
andre?  Wenn  wir  einmal  eingestehen  müssen,  dafs  unser  zeitlich  be- 
stimmtes Individuum  Wir  selbst  ist,  und  wenn  wir  rückwärts,  so  oft  wir 
un befangen  von  uns  selbst  reden,  Niemanden  sonst,  als  eben  dieses 
Individuum  im  Auge  haben:  wozu  soll  es  denn  führen,  dafs  man  in  der 
Philosophie  von  diesem  nämlichen  Individuum  zu  abstrahiren  versucht? 
Und  ist  es  nicht  schon  im  gemeinen  Leben  ein  Irrthum,  wenn  man  die 
Umstände  des  Lebens,  die  freylich  hätten  anders  kom[8g]men  können, 
als  etwas  unserer  Persönlichkeit  zufälliges  betrachtet;  da  wir  doch  gerade 
nur  unter  diesen  Umständen,  und  in  Beziehung  auf  dieselben,  unsre 
eigene  Person  kennen  lernen?   — 

Gewifs  würde  diese  Vorstellungsart  den  Sieg  davon  tragen:  wenn  es 
möglich  wäre,   sie  in   sich   selbst  zu  vollenden.      Aber 

Erstlich:  in  keiner  augenblicklichen  Wahrnehmung  finde  ich  Mich, 
auch  nur  als  Individuum;  vielmehr  mufs  die  Erinnerung  zu  Hülfe  kommen. 
Ich  setze  mich  als  bekannt  aus  voriger  Zeit  in  jedem  neuen  Moment  vor- 
aus. Nun  ist  dieses  als  bekannt  Vorausgesetzte  eben  so  unbestimmt, 
wie  eine  Summe  von  halberloschenen  Erinnerungen  aus  verschiedenen, 
zum  Theil  entfernten  Zeiten,  nur  immer  seyn  kann.  Daraus  würde  folgen, 
dafs  ich  nicht  genau  wüfste,  Wen  ich  eigentlich  meinte,  falls  ich  von  mir 
als  Individuum  redete. 

Zweytens:  die  individuellen  Bestimmungen  meiner  selbst  sind  ein 
Aggregat,  welches  allmählig  angewachsen,  und  noch  jetzt  im  Fortwachsen 
begriffen  ist.  Richtet  sich  die  Ichheit  nach  diesem  Aggregat:  so  wird  sie 
unaufhörlich  verändert,  und  niemals  vollendet.  Aber  im  Selbstbewufstseyn 
sehen  wir  uns  an  als  ein  Bekanntes,  Bestehendes,  und  schon  Vorhandenes. 

Drittens:  ein  Aggregat  besitzt  keine  reale  Einheit;  es  ist  Vieles;  von 
Mir  aber  rede  ich  als  von   Einem,   und   einem   Realen. 

Viertens:  die  ganze  Summe  meiner  Vorstellungen,  Begehrungen  und 
individuellen    Zustände,    würde    keine    Persönlichkeit    bilden,    weifern    nicht 


2  iQ  XL  Psychologie  als  "Wissenschaft. 


das  Subject  vorhanden  wäre,  welchem  jene  individuellen  Bestimmungen 
zum  innerlichen   Schauspiele   dienen. 

Fünftens:  für  dieses  Subject,  für  das  Wissen  um  uns  selbst,  ist  es 
zufällig,  was  als  Gewufstes  sich  darbieten  möge;  darum  abstrahirt  man  von 
den  besondern  Bestimmungen  des  Gewufsten,  und  fafst  blofs  das  Ver- 
hält[go]nifs  des  innerlichen  Wissens  zu  irgend  einem  beliebigen  inneren 
Verlauf  von  objectiven  Erscheinungen,   als   Charakter  der  Ichheit  auf. 

Sechstens:  die  eben  erwähnte  Abstraction  reicht  noch  nicht  hin.  Das 
Ich  fände  sonst  Sich  als  eine  Reihe  wandelbarer  Erscheinungen,  wenn 
schon  ohne  nähere  Bestimmung,  was  für  eine  Reihe  dies  seyn  möge. 
Das  Subject  kann  aber  sich  selbst  nichts  gleich  setzen,  was  nicht  eben  so 
einfach  ist,  als  es  selbst.  Folglich  mufs  nicht  blofs  die  Mannigfaltigkeit 
individueller  Bestimmungen,  sondern  auch  der  allgemeine  Begriff  dieser 
Mannigfaltigkeit,  aus  der  Ichheit  ausgeschieden  werden.  Und  so  bleibt 
denn  für  das  reine  Ich  nichts  übrig,  als  die  blofse  Identität  des  Objects 
und  Subjects. 

Da  sind  wir  denn  wieder  angelangt  bey  dem  oben  erwähnten  gramma- 
tischen Begriff  der  ersten  Person;  nur  noch  mit  der  negativen  Bestimmung, 
dafs  diese  erste  Person  als  Sich  selbst  nichts  von  allen  dem  denken  könne, 
was  ihr  auf  individuelle  Weise  anzuhängen  scheint. 

Man  bemerke  wohl,  dafs  wir  von  der  Einheit  des  Subjects,  des 
innerlichen  Wissens,  ausgegangen  sind,  um  die  Mannigfaltigkeit  des  objec- 
tiven auszustofsen.  Wir  haben  dabey  angenommen,  dafs  in  dem  activen 
Wissen  um  sich  selbst  Niemand  eine  Vielheit  finde,  dafs  er  vielmehr  sich 
als  Einen  Wissenden  betrachte,  wenn  schon  eine  Mannigfaltigkeit  dessen, 
was  er  von  sich  wisse,  ihm  vorschwebe.  ■ —  Selbst  unsere  Träume  eignen 
wir  uns  selbst  zu,  so  sehr  wir  über  das  Object  lachen,  was  wir  selbst  dar- 
stellen würden,  wenn  wir  lachend  dieselben  wären,  als  die  wir  uns  im 
Traume  gebehrden.  Wie  wir  nun  von  dieser  erträumten  Individualität 
abstrahiren,  um  wachend  den  Begriff  von  uns  selbst  zu  bilden;  —  wie 
jeder,  nachdem  er  sich  übereilt  hat,  vollends  der  Reuige,  der  Büfsende, 
indem  er  Vergebung  der  Sünden  bittet,  sehr  gern  von  den  individuellen 
Zügen  seiner  Persönlichkeit  abstrahiren  mag,  die  ihn  als  einen  Thoren, 
oder  [91]  als  einen  Sünder  bezeichnen ;  wie  er  einen  Kern  seines  wahren 
Wesens  annimmt,  aus  welchem  bald  das  Bessere  hervortreten  werde :  so 
sollen  wir  in  der  Speculation  von  aller  Individualität  abstrahiren,  weil  wil- 
dem letzten,  inwendigsten  Kern  unserer  selbst,  der  Selbstbeschauung  nichts 
buntes  und  vielfältig  wandelbares  gleich  setzen  können,  und  weil  ein 
mannigfaltiges  Objective  im  Ich,  vermöge  der  Gleichheit  mit  dem,  sich 
selbst  betrachtenden  Subject,  auch  dieses  in  ein  Aggregat  von  allerley 
Handlungen  des  Wissens  zerspalten  würde;  wobey  die  Einheit  des  Ich 
gänzlich  verloren  ginge,  für  welche  doch  die  eigne  Selbstauffassung  eines 
Jeden  sich   verbürgt. 

§   26. 
Fafst    man    die    vorstehenden   Ueberlegungen,    welche   Jeder    für    sich 
durch   ursprüngliche   Besinnung  auf  Sich  selbst,   zur  Reife  bringen 
mufs,   —  nochmals   zusammen,   so  ergiebt  sich: 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten  Beziehungen.        94 1 

Die  philosophische  Bestimmung  des  Ich,  als  Identität  des  Objects 
und  Subjects,  scheint  sich  dadurch  vom  Gegebenen  zu  entfernen,  dafs  sie 
die  zeitliche  Wahrnehmung  zurückstufst.  Aber  hiedurch  vollendet  sie  nur 
das,  und  spricht  rein  aus,  was  wir  im  gemeinen  Selbstbewufstsevn  unbe- 
stimmt beginnen.  Nämlich  wir  setzen  in  jedem  Augenblick  Uns  als  bekannt 
voraus;  und  betrachten  die  neuen  Bestimmungen,  welche  der  Augenblick 
bringt,  als  zufällig;  so  dafs  wir  vollkommen  Dieselben  geblieben  wären, 
wenn  schon  ganz  andre  Begegnisse  uns  widerfahren  seyn  möchten.  Daraus 
entsteht  ein  Begriff  von  uns  selbst,  der  sich,  näher  betrachtet,  mit  gar 
keinen   Zufälligkeiten,  weder  vergangenen,   noch  künftigen  verträgt. 

Weil  nun  die  zeitliche  Wahrnehmung,  oder  der  innere  Sinn,  von  der 
eigentlichen  Selbstauffassung  hinweggewiesen  worden  ist:  so  scheint  es 
allerdings,  als  hätten  wir  zu  dieser  Selbstauffassung  ein  ganz  eigenes  Grund- 
vermögen. Und  weil  es  denn  doch  etwas  schwer  ist  zu  sagen,  was  eigent- 
lich für  einen  Gegenstand  die  reine  [92]  Selbstanschauung  erblicke  (hier 
nämlich  wird  eine  Verlegenheit  gefühlt,  welche  von  den,  im  nächsten 
Capitel  zu  entwickelnden,  Widersprüchen  im  Begriff  des  Ich  herrührt):  so 
entsteht  eine  Neigung,  das  reine  Ich  mit  allerley  Prädicaten  zu  begaben, 
welche  die  Quelle  vieler  Fehlschlüsse  (unter  andern  bey  Fichte)  ge- 
worden ist. 

Hier  ist  nun  der  Ort,  an  Kant's  Behauptung  zu  erinnern,  das  Ich 
sey  eine  rein  individuelle  Vorstellung,  aber  zugleich  die  ärmste  unter 
allen.  Durch  die  erste  Hälfte  der  Behauptung  wird  zugegeben,  dafs  man 
den  Begriff  des  Ich  nicht  durch  innere  Wahrnehmung  bestimmen  könne. 
Die  zweyte  Hälfte  mag  diejenigen  warnen,  welche  glauben,  den  Inhalt  der 
Vi  irstellung  des  reinen  Ich  ohne  Schwierigkeit  angeben  zu  können.  Uebrigens 
ist  hier  ein  doppelter  Fehler  begangen ;  theils  in  der  übereilten  Annahme 
eines  reinen  intellectuellen  Vermögens;*  theils  in  dem  Vergessen  des 
grammatischen  Begriffs  des  Ich,  welcher  durch  den  Gegensatz  und  die 
Einerleyheit  des  Objects  und  Subjects,  der  Speculation  mehr  zu  thun  giebt, 
als  zahllose   andre,   an  Inhalte  viel  reichere   Begriffe. 

Wer  aber  die  vorhin  bemerkten  Schwierigkeiten,  sich  von  den  indi- 
viduellen Bestimmungen  des  Ich  zu  trennen,  wohl  im  Auge  hat,  und  über- 
dies bedenkt,  dafs  in  dem  speculativen  Begriffe  vom  Ich  jene  Abstraction 
vom  Individuellen  allerdings  noch  weiter  getrieben  wird,  als  sie  im  ge- 
meinen Bewufstseyh  vorkommt:  der  kann  schon  errathen,  dafs  die  Be- 
ziehungen der  Ichheit  auf  die  Individualität  sich  nur  verbergen,  nichts  desto- 
weniger  aber  vorhanden  sind;  und  dafs  der  Erfolg  der  Speculation  kein 
andrer  seyn  kann,  als  eben  diese  Beziehungen  in  ihrer  Notwendigkeit  zu 
offenbaren,  womit  denn  das  Grundvermögen  der  reinen  Selbstauffassung 
verschwindet,  und  der  innere  Sinn  seine  gehörige  Erklärung  erhält.  So 
nun  ist  es  in  der  That.  Die  philosophische  Bestimmung  treibt  [93]  nur 
die  gemeine  Vorstellung  vom  Ich  aufs  äufserste,  um  sie  an  offenbare  Un- 
möglichkeiten anstofsen  zu  machen;  woraus  sich  ergiebt,  dafs  der  Begriff 
des  Ich,  der  ein  täuschendes  Erzeugnifs  unseres  Denkens  war,  einer  Ver- 
besserung bedarf,  und   dafs   die  zum   Irrthum   führende  Dunkelheit  des  ge- 


::   Krit.   d.   r.   V.,   S.   423,   ganz   unten. 
Herbart's  Werke.     V.  1 6 


2i2  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 

gemeinen    Bewufstseyns    hier,    wie    in    andern    Fällen,    durch    Philosophie 
erleuchtet  werden  mufs. 

Wir  bleiben  also  für  jetzt  bey  der  Erklärung:  das  Ich  ist  die  Iden- 
tität des  Objects  und  Subjects;  nachdem  wir  gesehen  haben,  dafs  dieselbe 
für  den  Anfang  der  Untersuchung  einzig  zulässig  ist.  Wir  werden 
die  Widersprüche  entwickeln,  die  hierin  liegen.  Wir  werden  aus  diesen 
Widersprüchen  erkennen,  was  in  dem  Begriffe  des  Ich  mufs  verändert,  und 
was  hinzugedacht  werden.  Die  Leser  mögen  sich  hüten,  sich  bey  dieser 
Untersuchung  nicht  von  angenommenen  psychologischen  Vorstellungsarten 
beschleichen  zu  lassen.  Das  Problem  ist  viel  zu  schwer,  als  dafs  es  durch 
bisher  gewohnte  Meinungen  zu  bezwingen  wäre;  wohl  aber  kann  es  durch 
Einmen<run£  derselben  verdunkelt  und  entstellt  werden. 


Zweytes  Capitel. 

Darstellung  des  im  Begriff  des  Ich  enthaltenen  Problems, 
nebst  den  ersten  Schritten  zu  dessen  Auflösung. 

§  27. 

Das  Problem  entsteht  aus  den  Widersprüchen  im  Begriff  des  Ich; 
und  es  ist  kein  anderes,  als,  diejenige  nothwendige  Umwandlung  dieses 
Begriffs  zu  finden,  wodurch  die  Widersprüche  verschwinden. 

Die  erwähnten  Widersprüche  lassen  sich  auf  zwey  zurückführen  (unge- 
rechnet diejenigen,  welche  durch  das  Nicht-Ich,  in  Fichte's  Sprache, 
herbeygeführt  werden). 

[94]  1.  Das  Ich  erscheint  als  ein  im  Bewufstseyn  Gegebenes,  und 
der  Begriff  dieses  Gegebenen  wird  für  den  vollständigen  Ausdruck  des- 
selben gehalten.  Aber  es  fehlt  ihm  sowohl  am  Objecte  als  am  Subjectc, 
mithin  an  seiner  ganzen  Materie. 

2.  die  vorgegebene  Identität  des  Objects  und  Subjects  widerstreitet 
dem  unvermeidlichen  Gegensatze  zwischen  beyden;  mithin  ist  der  Begriff 
der  Form  nach  ungereimt. 

Die  Erläuterung  des  ersten  Punctes  zerfällt  wiederum  zwiefach;  es 
mufs  sowohl  der  Mangel  des  Objects,  als  des  Subjects  nachgewiesen  werden. 

Zuvörderst:  Wer,  oder  Was  ist  das  Object  des  Selbstbewufstseyns ? 
Die  Antwort  mufs  in  dem  Satze  liegen:  das  Ich  stellt  Sich  vor.  Dieses 
Sich  ist  das  Ich  selbst.  Man  substituire  den  Begriff  des  Ich,  so  ver- 
wandelt sich  der  erste  Satz  in  folgenden:  das  Ich  stellt  vor  das  Sich 
vorstellende.  Für  den  Ausdruck  Sich  wiederhohle  man  dieselbe  Sub- 
stitution, so  kommt  heraus:  das  Ich  stellt  vor  das,  was  vorstellt  das 
Sich  vorstellende.  Hier  kehrt  der  Ausdruck  Sich  von  neuem  zurück; 
es  bedarf  der  nämlichen  Substitution.  Dieselbe  ergiebt  den  Satz:  das  Ich 
stellt  vor  das,  was  vorstellt  das  Vorstellende  des  Sick-Yov- 
stellens.  Erneuert  man  die  Frage:  was  dieses  Sich  bedeute?  Wer 
denn  am  Ende  eigentlich  der  Vorgestellte  sey?  so  kann  wiederum  keine 
andere  Antwort  erfolgen,  als  durch  die  Auflösung  des  Sich  in  sein  Ich, 
und  des  Ich  in  das  Sich   vorstellen.     Dieser  Cirkel    wird    ins  Unend- 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten  Beziehungen.        2AX 

liehe  fort  durchlaufen  werden,  ohne  Angabe  des  eigentlichen  Objects  in 
der  Vorstellung  Ich.  —  Der  Genauigkeit  wegen  kann  man  noch  bemerken, 
dafs  in  den  nachgewiesenen  Umwandlungen  des  ersten  Satzes  eine  Be- 
stimmung ausgelassen  ist,  die  hier  nichts  zur  Sache  thut;  nämlich  dafs 
das  Ich  nicht  überhaupt  irgend  ein  Ich,  sondern  Sich,  mithin  nicht  blofs 
das  Sich  vorstellende,  sondern  sein  eignes  Sich- Vorstellen  zum  Gegen- 
stande hat.  Allein  [95]  dieses  gehört  zu  der  geforderten  Identität,  folglich 
zu  dem  zwevten  formalen  Widerspruch.  Hier  kommt  es  uns  darauf  an, 
dafs  jede  Angabe  dessen,  was  das  Ich  eigentlich  vorstelle,  wiederum  die 
Frage  nach  demselben  in  sich  schliefse;  folglich  die  Frage  schlechterdings 
unbeantwortlich  ist.  Statt  der  Antwort  entsteht  eine  unendliche  Reihe,  die 
sich  niemals  nähert,  sondern  von  ihrer  gesuchten  Bedeutung  immer  gleich 
weit  entfernt  bleibt.  Diese  Reihe  ist  nun  schon  darum  fehlerhaft,  weil 
das  Selbstbewufstseyn  von  einer  solchen  vielfachen  Einschaltung  in  sich 
selbst,  nichts  weifs.  Aber  überdies  ist  sie  widersinnig,  weil  anstatt  des 
wirklich  vollbrachten  Sich-Selbst-Setzens  nichts  anderes  herauskommt,  als 
eine  ewige  Frage  nach  sich  selbst. 

Nicht  besser  ergeht  es  auf  der  Seite  des  Subjects.  Das  Ich  mufs 
seinem  Begriffe  nach,  von  sich  wissen;  was  in  ihm  als  Subjectives  gedacht 
wird,  mufs  wiederum  objeetiv,  mufs  ein  Vorgestelltes  werden  für  ein  neues 
Wissen.  (Ein  Umstand,  den  Fichte  in  seinen  altem  Schriften,  ohne  ihn 
vollständig  zu  erwägen,  vielfältig  zur  Methode  des  Fortschreitens  in  der 
Nachforschung  benutzt  hat.)  Man  nehme  also  an,  das  Ich  sey  objeetiv 
gegeben;  so  ist  es  Sich  selbst,  und  keinem  Anderen,  gegeben;  es  wird  von 
Sich  selbst  vorgestellt.  Der  Actus  dieses  Vorstellens  darf  aber  auch  nicht 
ausbleiben;  was  das  Ich  ist,  das  mufs  es,  seinem  Begriffe  nach,  auch 
wissen;  was  es  nicht  weifs,  das  ist  es  nicht.  Es  ist  nun  wirklich:  Sich 
vorstellend;  als  ein  solches  Sich  vorstellendes  mufs  es  demnach  abermals 
vorgestellt  werden.  Aber  auch  das  neue  Vorstellen,  welches  hiezu  erfordert 
war,  mufs,  so  gewifs  es  ein  wirkliches  Handeln  des  Ich  ist,  wiederum 
Object  werden,  für  ein  noch  höheres  Wissen.  Und  dieses  Wissen  ver- 
langt, um  ein  Gewufstes  zu  werden,  femer  einen  Actus  derselben  Art. 
Diese  Reihe  läuft  offenbar  ebenfalls  ins  Unendliche;  und  sie  sollte  es 
eben  so  wenig  wie  die  vorige;  denn  auch  hier  weifs  das  Selbstbe-[g6] 
wufstseyn,  zwar  in  seltenen  Fällen  von  einigen  wenigen  Wiederhohlungen 
der  Reflexion,  die  das  Wissen  selbst  zum  Gegenstande  einer  neuen  Be- 
trachtung macht,  aber  es  weifs  nichts  von  der  Nothwendigkeit  solcher 
Wiederhohlung,  um  von  uns  selbst  zu  reden;  viel  weniger  kennt  es  eine 
unendliche  Furtsetzung  der  Reihe.  Noch  mehr;  die  wiederhohlte  Rück- 
kehr zu  uns  selbst,  wobey  wir  immer  wiederum  Gegenstand  des  Bewufst- 
seyns  werden,  verbraucht  Zeit;  aber  der  Begriff  des  Ich  läfst  uns  gar 
keine  Zeit;  ihm  gemäfs  mufs  das  Ich,  falls  es  überhaupt  gedacht  wird, 
alles  dies  Denken  des  Denkens  vollständig  in  sich  schliefsen;  sonst  ist  es 
kein  Ich,  denn  es  fehlt  ihm  an  irgend  einer  Stelle  das  Wissen  um  sich 
selbst.  Wir  sehn  also,  wie  das  Ich  nach  dieser  Betrachtungsart,  wenn  es 
auch  sein  Object  wirklich  gefunden  hätte,  dennoch  für  sich  selbst  eine 
unendliche,  und  eben  deshalb  eine  niemals  vollbrachte  und  nimmer  zu 
vollbringende   Aufgabe  seyn   würde.   — 

16* 


244  ^*"  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Hat  nun  schon  die  doppelte  Unendlichkeit,  in  welche  das  Ich  sich 
hinausstreckt,  deutlich  genug  gezeigt,  dafs  durch  diesen  Begriff,  so  wie  er 
gefafst  ist,  wirklich  nichts  begriffen  wird:  so  treibt  vollends  die  Forderung 
der  Identität  aller  Glieder  der  unendlichen  Reihen,  die  Ungereimtheit  aufs 
höchste.  Zwar  hier  möchte  Jemand  sich  die  Sache  leicht  machen  wollen. 
Es  ist  ja  so  schwer  sich  ein  Ding  zu  denken,  das  mit  dem  Wissen  von 
sich  selbst  begabt  sey!  Auf  die  Weise  lassen  die  Dichter  etwan  einen 
Bauin  von  Sich  sprechen.  Dieser,  seiner  selbst  bewufste  Baum,  was  ist  er 
denn  eigentlich?  Erstlich  ein  Baum,  und  dann  zweytens  die  Vorstellung 
eines  solchen  Baums;  auch,  wenns  hoch  kommt,  noch  eine  Vorstellung  von 
der  Vorstellung  des  Baums.  Aber  der  Baum  ist  nicht  die  Vorstellung 
von  dem  Baume,  und,  rückwärts,  die  Vorstellung  eines  solchen  Baumes 
ist  nicht  der  Baum!  Gleichwohl  soll  die  erwähnte  Vorstellung,  wenn 
sie  sich  ausspricht,  von  dem  Baume  reden,  als  von  Sich  selbst.  Die 
zwey  völlig  verschiede[o,/]nen,  und  blofs  in  Gedanken  zusammengeklebten, 
der  Baum,  und  ein  gewisses  Vorstellen  von  demselben  Baume,  werden 
für  Eins  ausgegeben.  Diese  Einheit  ist  ein  leeres  Wort  ohne  allen  Sinn; 
und  daraus  sieht  man,  dafs  es  unüberlegt  war,  dem  ersten  besten,  durch 
seine  eigenthümliche  Qualität  schon  bestimmten,  Gegenstande, 
Selbstbewufstseyn  zuschreiben  zu  wollen.  Man  setze  statt  des  Baumes 
die  Seele,  als  ein  Wesen  mit  allerley  Kräften,  das  unter  andern  auch 
Selbstbewufstseyn  habe.  Man  wird  gerade  den  nämlichen  Fehler  begangen 
haben.  Die  Seele,  als  ein  solches  und  kein  anderes  Wesen,  soll  ein  Bild 
von  sich  selbst  mit  sich  tragen;  und  damit  ein  Bild  der  Art  vorhanden 
seyn  könne,  wird  ein  eignes  Vermögen  angenommen,  welches  sey  ein 
Vermögen  ein  solches  Bild  zu  tragen  oder  vorzustellen.  Nun  meint  man, 
die  Seele  wisse  von  sich,  weil  man  in  Gedanken  eine  Summe  gemacht 
hat  aus  der  Seele  und  aus  dem  Vermögen,  welches  ein  Bild  von  der 
Seele  bereitet.  Man  dringt  wohl  gar  darauf,  dafs  beydes  zusammen  nur 
Ein  reales  Wesen  seyn  solle.  Und  jetzt  beantworte  man  nur  noch  die 
Frage,  was  für  ein  Wesen  das  sey?  Man  gebe  die  Qualität  desselben 
an.  Die  Antwort  wird  sich  in  zwey  Theile  spalten;  die  Seele,  und  das 
Vorstellen  dieser  Seele.  Daraus  wird  nimmermehr  Eins,  so  wenig  wie 
aus  der  Person,  die  sich  malen  läfst,  und  dem  gegenüber  sitzenden 
Maler.  —  Zum  Glück  weifs  unser  Selbstbewufstseyn  auch  gar  nichts  von 
dem  Wesen  unserer  Seele  zu  sagen;  und  um  so  eher  dürfte  man  in  der 
Psychologie  jenes  Grundvermögen  der  Selbstauffassung  sparen,  vor  welchem 
das,  was  wir  wahrhaft  sind,   sich  doch  nicht  sehn  läfst. 

Nach  dieser  Digression  kehren  wir  zurück  zum  Begriff  des  Ich.  Der- 
selbe ist  weit  entfernt,  uns  in  die  eben  erwähnte  Verlegenheit  zu  setzen. 
Ganz  ein  anderes  ist,  was  er  erheischt.  Das  Object  soll  keinesweges  ein 
Ding  an  sich,  es  soll  das  wahre  Subject  selbst  seyn.  Da  nun  auch  das 
Subject  nichts  für  sich  allein,  sondern  lediglich  [98]  das  Vorstellen  seiner 
selbst  ist,  so  soll  eben  dieses  Vorstellen,  als  ein  Erzeugen  des  Bildes, 
auch  das  Vorgestellte,  das  Bild  seyn.  Die  That  soll  selbst  das  Gethane, 
die  Bedingung  soll  das  Bedingte,  der  wirkliche  Actus  des  Vorstellens 
soll  das,  als  solches  nichtige,  Bild  selber  seyn!  Will  man  der  Strenge 
dieser,  offenbar  ungereimten,  Forderung  sich   entziehen?     Wohlan!    so    ist 


Erster  Abschnitt.      Untersuchung  über  das   Ich  in  seinen   nächsten  Beziehungen.       245 

das  Object  erstlich  ein  Reales  für  sich,  und  nun  kommt  zweitens  das 
Subject  mit  einer  Abspiegelung  jenes  Realen  dazu.  Da  hat  man  das  Ich 
entzweyet,  und  ist  gerade  in  das  vorhin  gerügte  Widersinnige  des  selbst- 
bewufsten  Baumes  verfallen.  Es  bleibt  also  dabey,  dafs  das  Abgespiegelte 
ohne  alle  Vermittelung  der  Spiegel  selbst  sey;  dafs  Ich  Mich  nur  alsdann 
finde,  wann  das  Vorstellen,  anstatt  von  seinem  Vorgestellten  unterschieden 
zu  werden,  vielmehr  eben  als  actives  Vorstellen  sein  eignes  Vorgestelltes 
ist;  folglich  die  Entgegengesetzten  eben  als  Entgegengesetzte  Einerley 
sind :  —  wobey  denn  alle  jene  Begriffe,  von  der  That  und  dem  Gethanen, 
der  Bedingung  und  dem  Bedingten,  dem  Wirklichen  und  seinem  Bilde, 
die  nur  in  ihren  Gegensätzen  einen  Sinn  hatten,  in  Unsinn  übergehen 
müssen.  Und  die  vorhin  entwickelten  unendlichen  Reihen  wiederhohlen 
diesen   Unsinn  ins   Unendliche.   — 

Wäre  die  Rede  vom  viereckigten  Cirkel:  so  würde  sich  niemand  über 
dessen  Möglichkeit  den  Kopf  zerbrechen.  Aber  die  Rede  ist  vom  Ich, 
das  wir  jeden  Augenblick  aussprechen;  von  uns  selbst,  so  fern  wir  uns 
das  Bewufstseyn  unsrer  selbst  zuschreiben.  Die  Frage  ist,  Wen  wir 
eigentlich  meinen,  indem  wir  von  uns  reden?  Und  wenn  wir  diesen  Wen 
gefunden  hätten,  was  wir  denn  beginnen,  indem  wir  ihm  das  Wissen  von 
sich  selbst  beylegen?  Er,  der  dieses  Prädicat  empfangen  soll,  mufs  ohne 
Zweifel  dafür  empfänglich  sevn.  Er  mufs  also  kein  Ding  an  sich,  er 
kann  aber  auch  nicht  das  Von-Sich- Wissen  selber  seyn.  Denn  wir  sehen 
nun  endlich  deutlich  genug,  dafs  dieses  Von-Sich-Wissen  auf  etwas  [99] 
Vorauszusetzendes,  und  bis  jetzt  Ausgelassenes,  sich  bezieht;  und  dafs 
man  die  Auslassung  durch  eine  Ergänzung  verbessern  mufs.  Erst  müssen 
gewisse  objective  Prädicate  herbeygeschafft  werden;  diese  aber  dürfen  nicht 
von  der  Art  seyn,  dafs  sie  für  sich  allein  bestünden,  und  uns  am  Ende 
in  die  beschämende  Nothwendigkeit  setzten,  das  Darum-Wissen  wie  ein 
Fremdes  nur  gerade  daranfügen  zu  müssen.  Sondern  aus  der  objec- 
tiven  Grundlage  jnufs  jenes  wunderbare,  in  sich  zurücklaufende  Wissen 
von  selbst  hervorkommen;  und  zwar  dergestalt,  dafs  vor  diesem  Wissen 
sich  das  Objective  gleichsam  zurückziehe,  damit  das  Ich  nicht  Sich  als 
irgend   ein  bestimmtes  Anderes,    sondern    als  Sich    selbst    antreffen    möge. 

Diese  vorläufigen  Vermuthungen  werden  wir  nun  genauer  auszuführen 
haben. 

Anmerkung. 

Es  wird  erlaubt,  und  beynahe  nothwendig  seyn,  dafs  ich  hier  meinen 
Vortrag  unterbreche.  Denn  der  Leser  mufs  hier  anhalten;  er  mufs  sich 
das  Vorgehende  vollkommen  überlegen  und  einprägen;  sonst  kann  er 
nicht  Einen  Schritt  weiter  gehen.  —  Dafs  ich  ihn  bisher  nicht  zum  Lichte, 
sondern  vielmehr  in  die  dunkelste  Nacht  geführt  habe,  weifs  ich  sehr 
wohl.  Das  mufste  geschehen;  die  Natur  der  Sache  bringt  es  mit  sich; 
und  für  Denjenigen,  der  hier  ungeduldig  wird,  rede  ich  kein  Wort  weiter. 
Wohl  aber  könnte  auch  der  Geduldigste  ermüden,  und  sich  in  einen 
Zustand  versetzt  fühlen,  der  eine  Art  von  Krankheit  ist;  ich  kenne  diesen 
Zustand  aus  Erfahrung,  und  weifs,  wie  schwer  es  ist,  ihn  zu  ertragen, 
wenn  man  nichts  destowenic;er  in   der  Zeit  fortleben   und   forthandeln  soll. 


2_i6  XL  Psychologie  als  "Wissenschaft. 

Daher  werde  ich  auf  die  dunkle  Stelle  schon  jetzt  ein  Licht  fallen  lassen, 
das  von  Untersuchungen  ausgeht,  die  erst  viel  später  an  die  Reihe  kommen 
können. 

Die  Frage:  wer  bin  ich?  ist  für  den  gewöhnlichen  Menschen  in 
jedem  Augenblick  auf  individuelle  Weise  [ioo]  zulänglich  beantwortet; 
nimmt  man  aber  die  individuellen  Bestimmungen  hinweg,  so  bleibt  nichts 
übrig,  als  eine  leere  Stelle,  und  diese  läfst  sich  schlechterdings  nicht 
auf  eine  allgemeingültige  Weise  ausfüllen.  Daher  fasse  man  die  Frage 
nun  so:  wie  kommt  der  Mensch  dazu,  jene  Stelle,  die  für  sich  allein  leer 
seyn  würde,  zu  setzen,  sie  mit  individuellen  Bestimmungen  auszufüllen, 
sie  als  die  erste  in  seinem  ganzen  Vorstellungskreise  zu  betrachten,  für 
die  alles  Andre  ein  Zwevtes,  Drittes,  kurz  ein  Aeufseres  ist;  und  endlich 
sie  als  den  Punct  anzusehn,  worin  Wisser  und  Gewufstes  unmittelbar 
zusammenfallen  ? 

Diese  Fraare  zielt,  wie  es  sevn  mufs,  nicht  mehr  auf  ein  Reales, 
sondern  lediglich  auf  ein  Formales;  und  sie  fällt  nun  zurück  in  das  weite 
Gebiet  der  Untersuchung  über  den  Ursprung  der  Formen  in  unserem  ge- 
sammten  Vorstellen.  Eine  Untersuchung,  die  sich  ohne  Mechanik  des 
Geistes  nicht  einmal  anfangen  läfst. 

Der  formalen  Constructionen,  in  welchen  das  Ich  eine  Stelle  — 
nicht  hat,  sondern  ist:  giebt  es  mancherley;  verschieden  an  Einfluß  und 
Werth;  mehr  oder  minder  zahlreich  nach  dem  erreichten  Grade  der 
Cultur.  Die  bekannteste  dieser  Constructionen,  und,  wenn  man  den  zeit- 
lichen Ursprung  des   Ich  betrachtet,   die  wichtigste,  ist  der  sinnliche  Raum. 

Wenn  die  Anschauung  dahin  gelangt,  Objecte  zu  begränzen  und  zu 
sondern,  so  zieht  sie  auch  Linien  von  diesen  Objecten  gegen  den  Mittel- 
punct  hin,  worin  der  Mensch  (oder  das  Thier)  sich  befindet.  Nahe  diesem 
Mittelpuncte  sieht  der  Mensch  wenigstens  einige  Theile  seines  Leibes; 
durchläuft  ein  Object  die  Linie  dahin,  so  endet  die  Zeitreihe  der  Wahr- 
nehmungen mit  einer  nenen  Empfindung  (etwa  des  Stofses  oder  Schlages); 
bewegt  sich  der  Mensch,  so  verändert  sich  das  ganze  System  seiner  Ge- 
sichtslinien; begehrt  er  und  handelt,  so  wird  die  Vorstellung  des  Begehrten 
der  Anfangspunct  einer  Reihe,  die  mit  einer  Veränderung  in  der  An- 
schauung des  [101]  Aeufsern  endigt.  Demnach  fallen  Glieder  des  Leibes, 
Empfindungen,  und  Anfänge  des  Wirkens  in  jenen  beweglichen  Punct; 
von  welchem  an,  jedem  Aufsendinge  seine  Entfernung  bestimmt  wird; 
in  welchen  hinein  er  späterhin  die  Bilder  abwesender  Gegenstände,  die 
ihm  vorschweben,  verlegen  mufs,  weil  sie  ihn  begleiten,  und  draufsen 
keinen  Platz  haben.  So  wird  der  Mensch  in  seinen  eignen  Augen  ein 
vorstellendes  Wesen;  und  von  da  zu  der  Bemerkung,  dafs  unter  den  Vor- 
stellungen auch  eine  des  Vorstellenden  vorkomme;  ist  nur  noch  ein 
leichter  Schritt. 

Es  mächte  nun  scheinen,  als  klebe  die  Vorstellung  des  Ich  an  dem 
sinnlichen  Räume;  allein  nichts  weniger!  Es  giebt  eine  Menge  ähnlicher, 
nur  nicht  so  ausgebildeter  Constructionen,  wie  der  Raum.  Sich  findet  der 
Bürger  mitten  in  bürgerlichen  Verhältnissen:  er  hat  dort  einen  Rang  und 
Namen;  Sich  findet  der  thätige  Mann  in  der  Mitte  andrer  Kräfte;  der 
. -lehrte    in     dem     Kreise     andrer     Gelehrten:     der     sittlich     und 


Erster  Abschnitt.      Untersuchung  über  das  Ich  in   seinen   nächsten   Beziehungen.       247 

fühlende  Mensch  findet  sich  in  einer  höhern  Ordnung  der  Dinge;  aber 
hier  ist  der  Platz,  den  sein,  schon  sonst  bekanntes  Ich  darin  einnimmt, 
nicht  SO  leicht  zu  bestimmen;  hier  nimmt  die  Frage,  wer  bin  ich?  eine 
ernste  Bedeutung  an;  auf  die  wir  jedoch  jetzt  nicht  eingehn  können. 

Je  nachdem  die  Reihen  von  Vorstellungen  beschaffen  sind,  welche  im 
Ich  zusammentreffen  und  sich  kreuzen;  und  je  nachdem  sie  in  jedem  be- 
stimmten Augenblick  aufgeregt  sind:  darnach  richtet  es  sich,  wie  der 
Mensch  Sich  in  diesem  Augenblick  sieht.  Wirklich  schwankt  das  Ich 
unaufhörlich;  es  ist  bald  ein  sinnliches,  bald  ein  vernünftiges,  bald  stark, 
bald  schwach;  es  scheint  bald  auf  der  Oberfläche,  bald  in  einer  uner- 
gründlichen Tiefe  zu  liegen.  Diese  Wechsel  erklären  sich  sämmtlich  aus 
der  angedeuteten  Lehre;  und  ebenso  der  sonderbare  Umstand,  dafs  die 
gewöhnliche  Art  zu  reden  Alles  dem  Ich  zueignet,  selbst  das,  was  der 
denkende  Mensch  als  den  eigentlichen  Gehalt,  das  wahre  Wesen  [102] 
des  Ich  ansehen  möchte.  Wir  sagen  nicht  blofs  mein  Leib,  sondern 
auch  mein  Geist,  meine  Vernunft,  mein  Wille,  ja  sogar:  mein 
Selbs  tbe  wufst  seyn,  mein  Leben,  und  mein  Tod.  Denn  alle  diese 
Bestimmungen  fallen  in  den   Punct,   welcher  Ich  heifst. 

Der  Leser  kann  nun  vermuthen,  dafs  diese  Ansicht  vom  Ich  wohl 
die  richtige  seyn  möge,  aber  er  weifs  von  dem  Allen  noch  nichts;  ver- 
versteht auch  noch  nicht,  wie  die  Vorstellung  eines  Puncts  in  einer  Reihe 
möglich  ist;  begreift  also  von  der  gegebenen  Erläuterung  noch  sehr  wenig. 
Um  weiter  zu  kommen,  ist  es  nöthig,  diese  ganze  Anmerkung  bey  Seite 
zu  setzen,  und  den  Faden  des  frühern  Vortrags  wieder  aufzunehmen. 
Derselbe  blieb  liegen  in  der  tiefsten  Finsternifs;  wir  müssen  daher  sehr 
langsam  fortschreiten. 


§   28. 

Irgend  etwas,  wenn  auch  noch  so  dunkel  vorgestellt,  hat  ohne  Zweifel 
Jeder  im  Auge,  der  von  Sich  redet;  denn  ein  Vorstellen  ganz  ohne 
Gegenstand  kann  doch  die  Aussage  des  Ich  nicht  seyn.  Wir  müssen 
also  zuerst  dem  Begriff  des  Ich  ein  unbekanntes,  und  noch  zu  be- 
stimmendes Object  leihen;   und  nachsehn,   was  weiter  daraus  werde. 

Sogleich  nun  wird  das  Geständnifs  unvermeidlich,  dafs  wir  von  der 
eigentlichen  Bedeutung  des  Begriffs  abgewichen  sind.  Denn  nicht  ein 
unbekanntes  Object  sollten  wir  annehmen,  sondern  uns  damit  begnügen, 
dafs  das  Subject  zugleich  die  Stelle  des  Objects  vertrete;  dafs  das  Ich 
nicht  etwas   Anderes,   sondern  Sich  setze. 

Dieses  Geständnifs  darf  jedoch  nicht  im  geringsten  befremden.  Denn 
es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  ein  widersprechender  Begriff,  wenn  er 
nicht  ganz  verworfen  werden  kann,  wenigstens  eine  Veränderung  erleiden 
mufs.  Und  die  gemachte  Veränderung  war  nothwendig;  denn  [103]  dafs 
in  dem  gegebenen  Begriff  das   Object  fehlt,   haben   wir  oben  gesehn. 

Nichts  destoweniger  bringt  die  Abweichung  vom  Gegebenen  uns  in 
Verlegenheit.  Von  dem  Vorstellen  eines  unbekannten  Objects  liefse  sich 
gar  viel  reden,   ohne    dafs    dies    mit    dem    vorliegenden   Problem    nur    den 


,,  ,y  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


mindesten  Zusammenhang  hätte.  Wir  finden  uns  in  Gefahr,  in  ein  will- 
kührliches  Denken  hineinzugerathen,  sobald  wir  den  Begriff  des  Ich  nicht 
in  seiner  Strenge  vesthalten. 

Dieses  also  darf  nicht  vernachlässigt  werden.  Und  wir  können  dem- 
nach dem  Ich  nur  unter  der  Voraussetzung  ein  Object  leihen,  dafs  es  aus 
der  Selbst-Auffassung  wieder  verschwinde. 

Verschwindet  es  aber:  so  entsteht  von  neuem  das  Bedürfnifs  eines 
Objects;  obgleich  nicht  gerade  des  nämlichen,  welches  wir  zuerst  ein- 
geschoben hatten. 

Es  steht  uns  also  frev,  mehrere  und  verschiedene  Objecte  ab- 
wechselnd dem  Ich  zum  Grunde  zu  legen.  Und  nicht  blofs  steht  es  frev, 
sondern  bey  näherer  Ueberlegung  findet  sich  dieses  durchaus  nothwendig. 

Wir  würden  nämlich  im  Denken  gar  nicht  von  der  Stelle  rücken, 
und  die  Auflösung  des  Problems  nicht  im  mindesten  fördern,  wofern  wir 
uns  fortdauernd  im  Kreise  jener  beyden  Reflexionen  herumtreiben  wollten: 
der  einen,  dafs  das  Ich  eines  von  ihm  zu  unterscheidenden  Objects 
bedürfe;  der  andern,  dafs  das  Ich  kein  von  ihm  unterschiedenes 
Object  als  Sich  selbst  ansehn  könne.  Diese  Betrachtungen  würden 
uns  dahin  bringen,  das  geliehene  Object  wieder  abzusondern,  und  es  dann 
nochmals  herbevzubringen,  um  es  nochmals  wegzunehmen;  eine  Oscillation 
ganz  ohne  Ende  und  ohne  Gewinn.  Wollten  wir  dabei  das  Successive 
unseres  Nachdenkens  aufheben,  und  nach  dem  Resultat  fragen,  so  wäre 
es  der  klare  Widerspruch:  zum  Ich  gehört  ein  fremdes  Object, 
und  gehört  auch  nicht  zu  ihm.  Ein  Widerspruch,  den  man,  so  wie 
er  vorliegt,  durch  keine  Distinction  lösen  kann;  denn  so  [104]  lange  wir 
nur  von  einem  einzigen  fremden  Object  reden,  ist  gar  nicht  abzusehen, 
woher  eine  Modifikation  kommen  sollte,  vermöge  deren  dasselbe  in  einer 
Rücksicht  dem  Ich  angehören,  und  in  einer  andern  Rücksicht  von  ihm 
ausgeschieden  werden   könne. 

Hingegen  sobald  wir  uns  besinnen,  dafs,  indem  ein  geliehenes  Object 
wieder  ausgesondert  werde,  dagegen  ein  anderes  und  wieder  ein  anderes 
eingeschoben  werden  könne :  geht  uns  ein  Licht  auf.  Es  zeigt  sich  nämlich 
jetzt  soviel,  dafs  die  Ichheit  auf  einer  mannigfaltigen  objectiven 
Grundlage  beruht,  wovon  jeder  Theil  ihr  zufällig  ist,  sofern  die 
übrigen  Theile  noch  immer  dem  Ich  zur  Stütze  dienen  würden,  falls 
jener  weggenommen  wäre.  Ich  setze  mich  als  dies  oder  jenes,  aber  ich 
bin  an  keines  gebunden,  so  lange  ich  wechseln  kann.  So  ruhet  ein  Tisch. 
der  viele  Füfse  hat,  zwar  eigentlich  auf  allen  zugleich,  doch  könnte  er 
wechselnd,  jeden  einzelnen  entbehren,  weil  ihn  die  übrigen  noch  tragen 
würden. 

Dafs  dieses  zwar  bey  weitem  nicht  die  vollständige  Auflösung  des 
Räthsels,  aber  doch  der  nächste  nothwendige  Schritt  zu  derselben  ist,  zeigt 
sich  noch  klärer  durch  folgendes:  Jedes  fremde  Object,  was  als  das  letzte 
Vorgestellte  im  Selbstbewufstseyn  angesehen  wird,  bedarf  durchaus  der 
vorhin  erwähnten  Modification;  es  mufs  in  gewisser  Rücksicht  für  das- 
jenige gelten  bönnen,  was  vorgestellt  wird,  indem  wir  uns  selbst  vorstellen; 
in  anderer  Rücksicht  aber  wiederum  als  dasjenige  zu  erkennen  seyn,  was 
nicht  Wir  selbst  ist.     Woher  soll  nun  diese  Modification,  diese  Verschieden- 


Erster  Abschnitt.      Untersuchung  über  das  Ich   in   seinen   nächsten   Beziehungen. 


249 


heit  der  Rücksichten  ihren  Ursprung  nehmen?  Sollen  wir  etwan  selbst, 
sie  willkührlich  erdenken,  willkührlich  gebrauchen?  Aber  auf  dieser  Modi- 
fication  beruht  das  Selbstbewufstseyn,  als  Gegebenes,  welches  keinesweges 
unserer  Willkühr  Preis  gegeben  ist.  Soll  ein  Gesetz,  eine  ursprüngliche 
Form  unseres  Geistes  erdacht  werden,  wornach  wir  unwillkührlich,  und 
unserer  eignen  Thätigkeit  uns  nicht  bewufst,  ein  Fremdes  [105]  in  die 
Bestimmung  unseres  Selbst  bald  aufnehmen,  bald  ausstofsen?  oder  auch 
in  verschiedener  Rücksicht  aufnehmen,  und  ausstofsen?  Aber  so  lange 
dieses  fremde  Object  nur  ein  einziges  ist,  kann  keine  Form  unseres  Geistes 
den  Widerspruch  erzwingen,  dafs  Ich  dasjenige  sey,  was  eben  nicht  Ich 
selbst,  sondern  ein  Fremdes  ist.  Auf  gar  keine  Weise  kann  die  eigne 
Qualität  des  Fremden  in  die  Ichheit  eingelassen  werden!  Erst  dann, 
wenn  mehrere  Objecte  vorgestellt  werden,  gehört  Etwas  an  ihnen 
dem  Vorstellenden;  nämlich  ihre  Zusammenfassung  in  Ein  Vor- 
stellen; und  was  aus  dieser  weiter  entspringt.  Daraus  mufs  also  auch 
die  gesuchte  Modification  hervorgehn,  durch  welche  an  den  verschiedenen 
Objecten  etwas  zu  bemerken  sey,  das  keinem  von  ihnen  einzeln 
genommen  zukommen  würde,  das  also  eben  darum  vielleicht  Uns  ange- 
hören könnte.  Dabey  bleibt  denn  die  Vorstellung  Meiner  selbst  zwar  ab- 
hängig von  der  Vorstellung  der  Objecte,  —  sie  bezieht  sich  auf  die- 
selben,  —   aber  sie   fällt  dennoch  nicht  damit  zusammen.* 

Wir    wollen    uns     erlauben,     diese     ersten    Anfänge    der    Speculation 


sogleich  mit  der  Erfahrung  zu  vergleichen.  Irgend  eine  Aehnlichkeit 
mufs  doch  schon  zu  bemerken  seyn.  Ich  finde  mich  denkend,  wollend, 
fühlend.  Aber  Denken  ist  das  Uebergehen  von  Gedanken  zu  Gedanken, 
Wollen  das  Fortstreben  aus  einer  Lage  der  Vorstellungen  in  eine  andere; 
hier  bezieht  sich  das  Uebergehen  auf  eine  Mannigfaltigkeit  im  Objectiven, 
das  Fortstreben  desgleichen;  nicht  das  Objective  selbst,  wohl  aber  das 
Umherwandeln  unter  seiner  Mannigfaltigkeit  schreiben  wir  Uns  zu.  Was 
das  heifse,  Ich  finde  mich  fühlend,  mag  etwas  schwerer  zu  erklären  seyn; 
doch  ist  hier  soviel  sichtbar,  dafs  keinesweges  das  Gefühlte  (das  Objective 
[106]  in  eigner  Qualität),  diese  Lust  oder  jener  Schmerz,  dasjenige  ab- 
giebt,   was  wir  als   unser  eignes   Ich  ansehen. 

§   29. 

Noch  ein  Schritt,  und  zwar  ein  sehr  wichtiger,  ist  nüthig,  bevor  wir 
unseren  Betrachtungen  eine  neue  Richtung  und  zugleich  einen  neuen 
Schwung  geben  können. 

Die  mehrern  Objecte  (wie  sich  versteht,  nicht  reale  Gegenstände, 
sondern  blofse  Vorgestellte,  als  solche),  welche  zusammengenommen  leisten 
sollen,  was  sie  einzeln  gar  nicht  vermögen  würden,  nämlich  der  boden- 
losen Ichheit  den  Boden  bereiten:  taugen  offenbar  dazu,  als  blofse  Summe 
oder  als  Aggregat,  um  gar  nichts  besser,  wie  die  einzelnen  für  si.  h. 
Modificiren  sollen  sie  einander  gegenseitig;   so  viel  wissen  wir  schon.     Aber 


*  Der  §  34    wird  die  Sache   noch    mehr   ins  Licht   setzen ;    durch   ein    Verfahren, 
welches  bisher   absichtlich   ist  im  Dunkeln   gehalten  worden. 


2Zo  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


wie  sie  sich  modificiren  sollen,  das  läfst  sich  aus  den.  nämlichen  Gründen 
noch  bestimmter  angeben. 

Denken  wir  uns  ein  Subject,  begriffen  im  Vorstellen  mehrerer  Ob- 
jecte,  und  hierin  noch  ohne  Selbstbewufstsevn  befangen:  so  sehn  wir 
sogleich,  dafs  dasselbe,  um  zum  Ich  zu  gelangen,  nothwendig  aus  jener 
Befangenheit  im  gewissen  Grade  herauskommen  müsse.  Da  möchte  nun 
Mancher  ihm  zurufen:  hilf  Dir  selber!  Brich  die  vorigen  Gedanken  ab, 
und  komme  zu  Dir!  Aber  noch  ohne  Rücksicht  auf  die  hier  geforderte 
Frevheit  der  Reflexion,  welche  gar  nicht  dazu  pafst,  dafs  das  Ich  als  ein 
Gegebenes  gefunden  wird,  hiefse  ein  solcher  Zuruf  soviel,  als:  tritt  aus 
dem  Denkbaren  hinüber  in  das  Undenkbare,  — nämlich  in  jenen 
widersprechenden  Begriff  des  Ich;  welcher,  um  von  dem  Widerspruche 
geheilt  zu  werden,  nicht  einer  Losreifsung,  sondern  einer  Anknüpfung  an 
die  Objecte  bedurfte. 

Von  den  Objecten  aus,  und  durch  sie  selbst  geleitet,  müssen  wir  zu 
Uns  kommen;  denn  ohne  sie  ist  das  Selbstbewufstsevn  eine  Ungereimt- 
heit; und  eine  Sache  der  Frevheit  ist  es  ganz  und  gar  nicht.  Wer  sich 
findet  in  Schmerz  und  Elend,  wer  sich  seine  Schwäche  gesteht,  [107] 
wer  an  sich  selbst  verzweifelt:  der  findet  allerdings  Sich,  aber  so  wie  er 
nicht  will,  und  nicht  würde,  wenn  er  anders  könnte.  Hier  ist  also  auch 
nicht  einmal  für  die  Erschleichungen  Platz,  welche  man  sonst  an  das  Be- 
wufstsevn  des  Wollens  anzuheften  pflegt.  Wer  sich  über  sich  selbst 
wundert,  wer  sich  mit  Selbstgefälligkeit  beschaut,  der  ist  wo  möglich  noch 
weiter  als  jene  von  einem  Zustande  des  freyen  Wollens  entfernt,  aber 
seiner  selbst  sich  bewufst  ist  er  dennoch. 

Alle  Jene  aber  befinden  sich  gleichwohl  vermöge  des  Selbstbewufst- 
sevns  herausgehoben  aus  der  Befangenheit  in  den  Objecten  ihres  Vor- 
stellens.  Denn  die  Prädicate  zwar,  welche  sie  in  den  erwähnten  Zu- 
ständen sich  selbst  beylegen,  sind  etwas  objectives;  aber  das  Subject,  dem 
sie  dieselben  beylegen,  wird  dabey  als  schon  bekannt  vorausgesetzt.  Die 
Urtheile:  ich  bin  beschämt,  ich  bin  traurig,  ich  bin  fröhlich,  sind  ins- 
gesammt  synthetisch,  denn  ihre  Prädicate  werden  keinesweges  angesehen 
als  inhärirend  dem  Subjecte.  Und  selbst  solche  Urtheile,  wie:  ich  bin 
klug,  ich  bin  ein  Thor,  welche  eine  beständige  Eigenschaft  bezeichnen, 
sind  dennoch  synthetisch,  denn  sie  stützen  sich  auf  eine  Reihe  von  Er- 
fahrungen und  Selbstbeobachtungen,  aus  denen  ihr  Prädicat  erst  durch 
Induction  abs;ezo2;en  ist.  Dem  gemäfs  liegt  die  Iehheit  nicht  in  den  Auf- 
fassungen  des  objectiven,  wie  sie  denn  auch  ihrem  Begriffe  nach  nicht 
kann;  sondern  sie  bildet  einen  Gegensatz  selbst  gegen  die,  dem  Ich  bey- 
gelegten  Prädicate,  vermöge  deren  sie  mitten  in  der  Verknüpfung  noch 
von  ihnen  zu  unterscheiden  ist. 

Da  wir  nun,  so  fern  wir  uns  selbst  vorstellen,  gewifs  nicht  in  dem 
V<  irstellen  des  fremden  objectiven  begriffen  sind;  und  wir  doch  gleich- 
wohl aus  diesem  nämlichen  Vorstellen  des  fremden  objectiven  und  durch 
dasselbe,  haben  zu  uns  selbst  kommen  müssen:  so  kann  nur  in  diesem 
objectiven  der  Grund  liegen,  welhalb  wir  aus  dem  Vorstellen  desselben 
herausgehoben  werden.  Das  Vi  ^gestellte  selbst  in  seiner  Mannigfaltigkeit 
mufs  von  sol[io8]cher  Beschaffenheit  seyn,  dafs  es    die  Fesseln    lös't,    in 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich   in   seinen   nächsten   Beziehungen. 


251 


welchen  ein  Subject  befangen  seyn  würde,  das  nur  blofs  Gegenstände,  aber 
niemals  Sich,  kennen  lernte. 

Die  Forderung,  unser  Vorgestelltes  müsse  uns  über  sich  selbst  hinaus- 
heben, damit  wir  zu  Uns  kommen,  ist  eine  besondere,  enthalten  unter 
einer  allgemeinem,  welche  so  lautet:  unser  Vorgestelltes  mufs  uns 
auf  gewisse  Weise  aus  dem  Vorstellen  seiner  selbst  heraus- 
versetzen. 

Nun  ist  es  ein  Widerspruch,  dafs  irgend  ein  bestimmtes  Vorgestelltes 
A,  selbst  den  Actus  des  Vorstellens  von  A  zu  verändern,  oder  zu  ver- 
mindern geeignet  seyn  sollte.  Auf  die  Weise  müfste  A  sich  selbst  ent- 
gegengesetzt seyn. 

Da  nun  kein  Vorstellen,  für  sich  einzeln  genommen,  als  das  Vor- 
stellen eines  bestimmten  A,  oder  B,  oder  C,  und  so  weiter,  uns  aus  sich 
selbst  herausversetzen  kann:  so  bleibt  nichts  übrig,  als  dafs  verschiedenes 
Vorstellen,  so  fern  es  durch  seine  verschiedenen  Vorgestellten  als  ein 
solches  und  anderes  bestimmt  ist,  sich  gegenseitig  vermindere;  dafs  eins 
uns  aus  dem  andern  herausversetze. 

Es  müssen  also  die  mannigfaltigen  Vorstellungen  sich 
unter  einander  aufheben,  wenn   die  Ichheit    möglich    seyn    soll. 

Dieser  Satz  ist  das  Resultat,  be.y  welchem  wir  verweilen  werden. 
Dafs  ihn  die  Erfahrung  bestätigt,  läfst  sich  sogleich  zeigen;  dafs  er  im 
höchsten  Grade  fruchtbar  ist,   wird  sich  tiefer  unten  ergeben. 

Die  innere  Wahrnehmuno:  lehrt,  dafs  p-leich  unsre  einfachsten  sinn- 
liehen  Empfindungen  verschiedene  Reihen  bilden,  deren  jede  eine  zahl- 
lose Menge  solcher  Vorstellungen  einschliefst,  die  in  allen  möglichen 
Graden  von  Gegensätzen  stehn.  Die  verschiedenen  Farben  verdrängen 
einander  im  Bewufstseyn,  die  Gestalten  desgleichen;  nicht  minder  die  ver- 
schiedenen Töne,  Gerüche,  Geschmacks-  und  Gefühls- Empfindungen.  Wir 
können  die  [109]  Vorstellung  des  Blauen  nicht  vollkommen  vesthalten, 
wenn  die  des  Rothen  dazu  kommt;  die  Contraste  beschäfftigen  uns,  indem 
sie  uns  anstrengen;  aber  eine  bedeutende  Menge  des  Contrastirenden 
macht,  dafs  die  Auffassung  erliegt.  Auf  solche  Weise  kommt  Bewegung 
ins  Gemüth;  und  nicht  blofs  Bewegung,  sondern  auch  Bildung.  Diese 
flüchtige  Erwähnung   der  Thatsachen  mufs  vorläufig  genügen. 

§  3°- 
Bey  der  allgemeinen  Gewöhnung,  in  dem  Subjecte  des  Bewufstseyns 
alle  die  nöthigen  Vermögen,  Thätigkeiten,  Formen  und  Gesetze  anzunehmen, 
welche  die  Erklärung  psychologischer  Thatsachen  nur  immer  fordern  möchte, 
läfst  sich  auch  erwarten,  dafs  man  das  nüchstvorhergehende  Räsonnement 
eines  Sprunges  beschuldigen  werde;  indem  es  in  den  Gegensätzen  des 
Vorgestellten  dasjenige  suche,  was  man  in  der  Natur  des  denkenden  Sub- 
jeets  viel  besser  voraussetzen  könne.  Wir  wollen  demnach,  um  den  Grund 
unserer  Untersuchung  genugsam  zu  bevestigen,  uns  auf  das  vermeinte  Ver- 
mögen der  Selbst-Anschauung  noch  einmal  einlassen,  um  zu  überlegen, 
was   für  ein  Vermögen  es  denn  eigentlich   seyn  solle. 

1.   Ein    Vermögen,    Sich    schlechthin    zu    setzen,    oder    auch,     das: 
Ich    denke,    zu    allen    unsern    Vorstellungen    schlechthin    von    selbst 


.,  -  -,  XI.  Psychologie  als  'Wissenschaft. 

"~  -      — ■ — -■    — 


hinzuzusetzen;  ein  solches  verlangt  man  nun  hoffentlich  nicht  mehr,  da 
wir  im  §  2~  die  Masse  von  Ungereimtheiten  gezeigt  haben,  welche 
für  real,  ja  für  sein  eignes  Wesen  zu  halten,  demjenigen  würde  ange- 
muthet  werden,  welcher    also  Sich   selbst   setzen    sollte.  *  (Man   vergleiche 

noch  §  26.) 

2.  Ein  Vermögen,  erst  etwas  objectives,  etwas  anderes  als  das  Ich, 
zu  denken,  dann  aber  durch  einen  absoluten  Aufsprung  sich  selbst 
in  diesem  Denken  zu  ergreifen,  —  würde  um  nichts  weiter  führen. 
Zugegeben,  dafs  in  dem  Subjecte  ein  Vermögen  zu  einem  solchen  Auf- 
sprunge sevn  könne  (welches  aus  allge[i  iojmein  metaphysischen  Gründen 
schon  unmöglich  ist  :  so  möchte  immerhin  zu  der  Vorstellung  des  objec- 
tiven  noch  die  Vorstellung  von  dieser  Vorstellung  hinzukommen;  damit 
aber  der  Vorstellende  sie  als  sein  Vorstellen  Sich  zueignete,  mutete  er 
zuvor  Sich  gefunden  haben;  welches  zeigt,  dafs  die  Erklärung  das  Er- 
klärte voraussetzt,  Dafs  aber  der  Vorstellende  nicht  das  Objective,  und 
dessen  Vorstellung,  unter  einander  gleich  setzen,  und  daraus  ein  Ich 
bereiten  könne,  springt  offenbar  in  die  Augen,  da  jene  zwey  nichts  weniger 
als  identisch  sind. 

3.  Aber,  nachdem  man  eingesehen  hat,  dafs  in  einer  gegenseitigen 
Modification  mehrerer  objectiven  -Vorstellungen  allein  der  Grund  des 
Selbstbewufstseyns  gesucht  werden  könne:  ist  nun  noch  zu  besorgen,  man 
werde  sich  die  Sache  leicht  machen,  und  das  Modificiren  der  mehrern 
Vorstellungen  einem  deus  ex  machinä,  einem  hinzutretenden 
Geistesvermögen  von  eigends  dazu  erfundener  Beschaffenheit  auftragen 
wollen.  Einen  Verdacht  dieser  Art  dürfen  wenigstens  Diejenigen  gar  nicht 
übelnehmen,  welche  ganz  auf  gleiche  Weise  zu  den  Vorstellungen  des 
Erkenntnisvermögens  das  Begehrungsvermögen  hinzubringen,  damit  es  die 
bis  jetzt  nur  noch  erkannten  äufsem  Dinge  in  Gegenstände  der  Be- 
gierden umpräge! 

Die  nun  von  dem  Geiste  der  Naturforschung  so  ganz  und  gar  ab- 
weichen, mögen  denn  überlegen,  was  wohl  für  eine  Modification  der  vor- 
handenen Vorstellungen  jenes  hinzutretende  Vermögen  bewirken  solle? 
Eine  solche  mufs  es  offenbar  sevn,  wobey  das  eigentümliche  Was  einer 
jeden  dieser  Vorstellungen  beseitigt,  und  etwas  von  ihnen  allen  verschiedenes, 
nämlich  die  Ichheit,  aus  ihnen  herausgezogen  werde.  Nun  hat  man  zwar 
wohl  in  der  Naturlehre  Beyspiele,  dafs  "gewisse  Stoffe,  vermöge  ihrer  innern 
Gegensätze,  wenn  sie  zusammenkommen,  mit  einander  ein  Drittes  bilden, 
worin  die  Eigenschaften,  welche  jedes  zuvor  allein  genommen  zeigte,  ver- 
schwin[lll]den,  um  ganz  neuen  Platz  zu  machen.  Da  äufsem  sich  diese 
Stoffe  selbst  als  Kräfte:  —  und  es  mag  wohl  erlaubt  sevn,  diesem 
Gleichnifs  als  eine  entferntere  Andeutung  dessen  zu  benutzen,  was 
unser  mannigfaltiges  Vorgestelltes,  indem  es  sich  in  Einem  Vorstellen  zu- 
sammenfmdet,  mit  einander  macht:  um  so  mehr,  da  wir  an  den  Harmonien 
und  Disharmonien,  nicht  blofs  zusammentreffender  Töne,  sondern  aller 
Arten  von  Gegenständen,  welche  ästhetischer  Verhältnisse  fähig  sind,  die 
klaren  Beyspiele  davon  haben.  —  Aber  nimmermehr  ist  erhört  gewesen, 
dafs  aus  Stoffen,  die  sich  passiv  verhalten,  eine  hinzukommende 
Thätigkeit  etwas  gemacht  hätte,  das  der  Beschaffenheit  dieser  Stoffe  selbst 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten  Bezielvungen.        2^1 

entgegengesetzt  gewesen  wäre.  Dazu  gehört  eine  innere  Verwandlung; 
und  diese  ist  einer  neuen  Production  gleich  zu  achten.  Kann  irgend 
ein  Geistesvermögen  aus  Vorstellungen,  die  zum  Nicht-Ich  zu 
zählen  sind,  die  Ichheit  bereiten:  so  mas;  dasselbe  Vermögen 
immerhin  auch  ein  Ich  absolut  constituiren.  Da  aber  das  letzte, 
laut  den  geführten  Beweisen,  ein  völliger  Ungedanke  ist,  so  ist  es  auch 
das  erste. 

Man  lasse  also  endlich  die  Geistesvermögen,  wodurch  unser  Vorge- 
stelltes, als  ob  es  ein  todter  Vorrath  wäre,  soll  umgebildet  werden,  ein- 
für allemal  gänzlich  fahren!  Dagegen  besinne  man  sich  auf  das  Leben 
und  Streben  in  jeder  einzelnen  Vorstellung;  welches  Leben  genau  zu- 
sammenhängt mit  der  Qualität  des  Vorgestellten,  und  sich  daher  mit 
andern  Vorstellungen  nur  in  so  fern  verträgt,  als  zwischen  den  Vorge- 
stellten keine  Gegensätze  sind.  So  verträgt  sich  der  Ton  mit  der  Farbe; 
aber  die  Töne  unter  einander,  die  Farben  unter  einander,  als  Vorstellungen 
in  uns,  widerstreben  sich  nach  dem  Maafse  ihrer  Gegensätze  und  ihrer 
Stärke. 

Uebrigens  würde  dieser  ganze  Paragraph  in  einer,  auf  allgemeine 
Metaphysik  mit  streng  systematischer  Kürze  aufgebauten  Psychologie,  völlig 
unnöthig  seyn,  weil  die[i  I2]selbe  des  Begriffs  von  einem  Wesen  mit  allerlev 
Vermögen  gar  nicht  mehr  erwähnen  dürfte. 


Drittes  Capitel. 

Vergleichung  des  Selbstbewufstseyns  mit  andern 
Problemen  der  allgemeinen  Metaphysik. 

§31. 

Dieses  Capitel  wäre  eine  blofse  Episode,  wenn  nicht  die  vorstehende 
Untersuchung  selbst  uns  in  ein  Gebiet  allgemeinerer  metaphysischer  Fragen 
hineintriebe. 

Auf  ein  Subject  mit  mannigfaltigen,  zusammen  und  wider  einander 
wirkenden  Vorstellungen,  sind  wir  geführt  worden.  Ist  dieses  Subject 
Substanz?  Und  erzeugt  es  seine  Vorstellungen  von  selbst,  oder  unter 
äufsern  Bedingungen?  Sind  diese  Vorstellungen  ursprünglich  Kräfte?  oder 
kommt  ihnen  ihre  Wirksamkeit,  mit  der  sie  wider  einander  streben,  nur 
zufälliger  Weise,  nur  unter   Umständen  zu? 

Um  leichter  verstanden  zu  werden,  will  ich  es  wagen,  meine  Antwort 
auf  diese   Fragen,   fürs   erste  ohne   Beweis,  herzusetzen. 

Das  vorstellende  Subject  ist  eine  einfache  Substanz,  und 
führt  mit  Recht  den  Namen  Seele.  Die  Vorstellungen  ent- 
halten nichts  von  aufsen  aufgenommenes;  jedoch  werden  sie 
nicht  von  selbst,  sondern  unter  äufsern  Bedingungen  erzeugt, 
und  eben  so  wohl  von  diesen,  als  von  der  Natur  der  Seele 
selbst,  ihrer  Qualität  nach  bestimmt.  Die  Seele  ist  demnach 
nicht  ursprünglich   eine   vorstellende   Kraft,   sondern   sie  wird 


2  za  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


es  unter  Umständen.  Vollends  die  Vorstellungen,  einzeln  ge- 
nommen, sind  keineswe  [i  13]  ges  Kräfte,  aber  sie  werden  es  ver- 
möge ihres   Gegensatzes  unter  einander. 

Sollen  nun  diese  Behauptungen  bewiesen  werden,  so  bedarf  es  dazu 
offenbar  der  allgemein-metaphysischen  Lehren  von  Substanz   und  Kraft. 

Aber  sollten  dieselben  Behauptungen  bestritten  werden:  so  bedarf 
es  dazu  etwas  mehr  als  der  bisher  bekannten  kritischen  oder  idealistischen 
oder  naturphilosophischen  Systeme.  Denn  keins  von  diesen  allen  ist  darauf 
gefafst,  mit  den  Widersprüchen  im  Begriff  des  Ich  zu  kämpfen.  Keins 
hat  dieselben  genau  erwogen;  überall  sehen  wir  mit  gleichem  Leichtsinn 
das  Ich  entweder  absolut  hingestellt,  oder  von  anderem  abgeleitet,  oder  an 
anderes  angekriüpft;  immer  zum  Verderben  der  Systeme,  und  immer  um 
so  mehr,  je  mehr  sie  die  Betrachtung  des  erkennenden  Subjectes  selbst, 
zum  Mittelpuncte  ihrer  Untersuchungen  machen. 

Anm  erkung. 

Wer  die  idealistischen  und  naturphilosophischen  Lehren,  von  denen 
hier  die  Rede  ist,  noch  nicht  kennt,  der  mufs  Anstalt  machen,  sie  wenig- 
stens aus  einigen  Proben  kennen  zu  lernen.  Auf  Fichte's  Wissenschafts- 
lehre, und  die  darauf  gebaute  Sittenlehre,  als  auf  die  eigentlichen  Haupt- 
werke dieser  Art,  sollte  ich  ihn  hinweisen,  wenn  von  gründlichem  historischen 
Studium  die  Rede  wäre;  allein,  wer  es  wagt,  diese  Schriften  ernstlich  zu 
studiren,  der  wird  viel  Zeit  daran  verlieren,  und  er  darf  nur  auf  geringen 
Gewinn  rechnen.  Kürzer  gelangt  man  in  der  Hauptsache  zum  Ziele  durch 
Schelling's  Schrift  über  das  Ich,  vom  Jahre  1795.  Hier  zeigt  sich  der 
falsche  Enthusiasmus,  welcher  seitdem  der  Philosophie  so  viel  Schaden  zu- 
fügte, schon  mit  aller  seiner  Verkehrtheit,  aber  noch  in  jugendlicher  Liebens- 
würdigkeit; und  was,  in  Hinsicht  seiner,  eigentlich  allein  wissenswürdig  ist, 
man  lernt  hier  sein  Entstehen  begreifen.  Hier  sieht  man  zugleich  das 
Kleben  an  Auctoritäten,  und  das  Streben,  sich  über  [114]  sie  hinauszu- 
schwingen;  man  sieht  ein  Klettern  an  der  Kantischen  Kategorien-Leiter, 
ungeachtet  der  sehr  wahren  Bemerkung,  die  Kategorien  seyen  zwar  nach 
einer  Tafel  der  Urtheilsformen,  diese  aber  nach  gar  keinem  Princip  ge- 
ordnet; welches  freylich  so  viel  heifst,  als,  sie  sey  unzuverlässig,  und  von 
keinem  sichern  Gebrauche;  —  man  findet  eine  Art  von  Versprechen,  ein 
Gegenstück  zu  Spinoza 's  Ethik  aufzustellen,  woraus  bekanntlich  ein 
Seitenstück  geworden  ist,  weil  der  nüchterne  Geist  Spinoza's  mit  allen 
seinen  Fehlern,  denn  doch  mächtiger  war,  als  der  phantastische,  der  ihm 
entgegen  treten  wollte;  man  findet  endlich  eine  bewundernswerthe  Leichtig- 
keit, sich  in  Fichte's  Redensarten  einzuüben,  um  das  Ich,  dessen  Tiefe 
Fichte  zu  ergründen  suchte,  nach  der  Dimension  der  Breite  auseinander 
zu  ziehen.  Schon  hier  erwacht  die  Begeisterung  für  jene  unglückliche  Ein- 
heit, in  welcher  das  Wesen  des  Menschen  bestehen,  und  darum  das 
Sollen  mit  dem  Seyn  in  ein  Chaos  zusammengeworfen  werden  soll;  das 
Vorspiel  des  bekannten  Satzes : 

Was  vernünftig  ist,   das  ist  wirklich, 
und  was  wirklich  ist,   das  ist  vernünftig; 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten  Beziehungen.        255 

eines  Satzes,  für  den  glücklicherweise  die  Menschheit  nicht  träge  genug 
ist;  denn  nach  dem  Vernünftigen,  welches  noch  nicht  ist  aber  werden 
soll,  strebt  sie  wirklich;  nur  oftmals  mit  verkehrtem  Ungestüm,  weil 
ihr  das  Vernünftige  so  vorschwebt,  als  wäre  es  schon  ganz  nahe  und 
liefse  sich  mit  ein  paar  raschen  Schritten  erreichen.  Von  diesem  ver- 
kehrten Ungestüm,  der  das  verdirbt,  was  er  gewinnen  will,  giebt  gleich 
der  Anfang  des  vorhin  genannten  Buchs  ein  Beyspiel,  das  statt  aller  dienen 
kann.     Man  vernehme  die  enthusiastische  Rede: 

„Wer  etwas  wissen  will,  will  zugleich,  dafs  sein  Wissen  Realität 
habe.  Ein  Wissen  ohne  Realität  ist  kein  Wissen."  Was  folgt  daraus? 
„Entweder  mufs  unser  Wissen  schlechthin  ohne  Realität  —  ein 
ewiger  Kreislauf  (?),  ein  beständig  I5]ges  wechselseitiges  (?)  Verfliefsen 
aller  einzelnen  Sätze  in  einander,  ein  Chaos  seyn,  in  dem  kein  Ele- 
ment sich  scheidet,  oder  — 

„Es  mufs  einen  letzten  Punct  der  Realität  geben,"  (warum  nur 
einen  letzten?  Ist  die  Realität  nicht  in  allen  Puncten  real?)  „an 
dem  alles  hängt,  von  dem  aller  Bestand  und  alle  Form  unseres  Wissens 
ausgeht,  der  die  Elemente  scheidet,  und  jedem  den  Kreis"  (wieder  einen 
Kreis!  Wunderbare  Vorliebe  für  die  Figur  der  Kreislinie!)  „seiner  fort- 
gehenden Wirkuno-  im   Universum  des  Wissens  beschreibt." 

„Es  mufs  etwas  geben,  in  dem  und  durch  welches  alles  was  ist, 
zum  Daseyn,  alles  was  gedacht  wird,  zur  Realität  (!),  und  das  Denken 
selbst  zur  Form  der  Einheit  und  Unwandelbarkeit  gelangt.  Dieses 
Etwas  müfste  das  Vollendende  im  ganzen  System  des  menschlichen 
Wissens"  (des  ewig  unvollendeten!)  „seyn,  es  müfste  die  ganze 
Sphäre,  die  unser  Wissen  durchmifst,  beschreiben,  und  überall,  wo  unser 
letztes  Denken  und  Erkennen  noch  hinreicht,  —  im  ganzen  y.o<\i«>; 
unseres  Wissens,   als   Urgrund  aller  Realität  herrschen." 

Wohin  strebt  dieser  Wortprunk?  Dahin,  dafs  im  Ich  das  Princip 
des  Seyns  und  des  Denkens  zusammen  falle,  dafs  es  durch  sein  Denken 
sich  selbst  hervorbringe.  Eine  Täuschung,  die  jetzt  für  Jedermann  veraltet 
ist!  Dafs  das  absolute  Ich  durchaus  Nichts  wissen  würde,  eben  weil  es 
Sich  wissen  soll,  und  nur  Sich  wissen  darf,  (um  nicht  ins  Nicht-Ich  zu 
verfallen)  dieses  Sich  aber  eben  nichts  anderes  seyn  darf  als  nur  ein  Sich- 
Wissen,  —  ein  Wissen  dessen  Gegenstand  bis  ins  Unendliche  gesucht 
und  nie  gefunden  wird;  —  dafs  ferner  das  absolute  Ich,  eben  darum 
weil  es  nichts  weifs,  auch  nichts  ist:  diese  höchst  leichten  Ueberlegungen 
konnten  recht  füglich  im  Jahre  1795  angestellt  werden;  ich  selbst  habe 
die  ganze  Entwickelung  derselben  in  den  letzten  Jahren  [  1  1 6]  des  v<  »rigen 
Jahrhunderts  gefunden;  und  bin  dadurch  wenigstens  für  meine  Person 
gegen  unzählige  nachmalige  Thorheiten  gesichert  worden. 

Warum  haben  diese  Ueberlegungen  sich  dem  Herrn  Schellixg  nicht 
aufgedrungen;  damals,  als  es  für  ihn  Zeit  war,  sie  anzustellen  und  anzu- 
erkennen? Weil  sein  falscher  Enthusiasmus  ihnen  Widerstand  leistete. 
Er  forderte,  die  Wahrheit  solle  sich  wenigstens  in  Einem  Puncte  unmittelbar 
offenbaren.  Thäte  sie  dieses,  so  müfste  es  allerdings  im  Ich  ge- 
schehen; dies  ist  der  einzige  Punct,  worin  man  Seyn  und  Wissen  un- 
mittelbar   vereinigt   olauben   kann;    und    alsdann    wäre    die    älteste    Lehre 


2  -(j  XI.   Psychologie  als  "Wissenschaft. 


Schelling's  gerade   die    beste.     Allein   auf  ein  Fordern   und  Sollen    läfst 
sich   die  Wahrheit  nicht  ein;   sie  erscheint  nicht  wie   ein  Dämon  auf  irgend 
eine  Beschwörungsformel.      Unmittelbar  offenbart  sie  sich  dem  Philosophen 
in  gar  keinem  Puncte.      Und  was  folgt  daraus?      Vermuthlich  dieses,   dafs 
es  für  uns  gar  keine  Wahrheit  gebe!      Wir  wollen    dies    für    einen  x\ugen- 
blick  annehmen.     Unser  vermeintes  Wissen  mag  also    ein   blofses  Meinen 
seyn,   das    entweder   gerade    fort    fliefst,    von   hypothetischen    oder   irrigen 
Vordersätzen  zu  deren  Consequenzen,   oder    auch,    falls  Jemand   gern   von 
krummen    Linien    reden    will,    —    unser   Wissen    mag    hyperbolisch,    para- 
bolisch,  spiralförmig,   oder  endlich  kreisförmig  in    sich    zurück   fliefsen, 
nach  Belieben!      Wenn  aber  Jemand  schon  dahin  gelangt,   die  Nullität  des 
vermeinten  Wissens  zu  erkennen:   so  besitzt  er  gerade  hierin  den  Anfang 
des   wahren   Wissens;    und    er   braucht   jetzt   nur    noch    Geduld    und    An- 
strengung,  um   dahin  zu  gelangen.      Denn  eben  die  unumstöfsliche  Gewifs- 
heit,  dafs  es    für   uns    ein   scheinbares  Wissen   giebt,    und    als  Gegenstand 
desselben  eine  grofse  und  weite   Erscheinungswelt  in  uns  und  aufser    uns: 
diese  Gewifsheit  ist  das   vollkommen  veste  Fundament,   die  eben  so  grofse 
und  eben  so  breite  Basis  des  wahren  Wissens.    Es  ist  nämlich  nur  nöthig, 
die  Bedingungen    zu    finden,   unter    welchen    allein    die  Erschei[i  I7]nungs- 
welt  erscheinen    kann;    dergestalt,    dafs    sie    nicht    erscheinen    würde,    wenn 
diese    Bedingungen    nicht    wären.      Hiebey    ist    von    einem    letzten  Puncte, 
von  einem  einzigen  Princip,   —   von   einem  Talismann,  dessen  Besitz  uns 
zur  Herrschaft  über  das  gesammte  Universum  des  Wissens  verhelfen  würde, 
nicht    aufs    entfernteste  die   Rede.      Weifs  Jemand    die   Bedingungen   anzu- 
geben,   unter    denen    allein    es    möglich    ist,    dafs    Materie    erscheine:    so 
findet  er  hiemit    die    allgemeine   Grmidlehre    der  Naturphilosophie.      Weifs 
Jemand  die  Bedingungen  anzugeben,  unter  denen  allein  es  möglich  ist,  dafs 
ein  Magnet,   sammt  seiner  Polarität,   erscheine:   so  findet  er  hiemit  einen 
besondern  Theil    der    Naturphilosophie.      Weifs   Jemand    anzugeben,    unter 
welchen  Bedingungen    es   allein    möglich    ist,    dafs    die  Totalität    eines   Ge- 
dankenkreises   in    der   Form    der   Ichheit    eingeschlossen    erscheine:    so 
findet    er    hiemit    die  Anfänge    der    wahren    Psychologie.      Weifs    er    von 
allen  dem  Nichts :   so  beharrt  er  in  der  Welt  des  Scheins,   die  für  ihn  nur 
gröfser  und    trüglicher    wird,    wenn    er    neben    der    sinnlichen  Anschauung 
sich  auch  noch  intellectuale  Anschauungen  einbildet. 

Uebrigens  wird  man  mir  sagen:  es  sey  beynahe  die  erste,  früheste 
Schrift  Schelling's,  gegen  die  ich  hier  gesprochen.  Ich  weifs  das,  und 
weifs  auch,  wie  der  erste  Fehlgriff  die  folgenden  erzeugt  hat;  die  Ver- 
irrungen  des  Meisters  und  die  Thorheiten  seiner  Schüler. 

Seit  diese  Thorheiten  in  Umlauf  kamen,  ist  die  Philosophie  mit  einer 
Geschwindigkeit  rückwärts  gegangen,  die  selbst  mir,  dem  Zeitgenossen,  bey- 
nahe unbegreiflich  vorkommt;  künftige  Literatoren,  wenn  sie  die  nüchternen 
Werke  Kant's  so  nahe  beysammen  finden  mit  der  Deuteley,  die  heute 
Philosophie  heifst,  werden  den  Jahrszahlen  auf  den  Büchertiteln  nicht 
trauen.  Auch  sucht  mehr  und  mehr  die  Gelehrsamkeit  sich  ohne  Philo- 
sophie zu  behelfen;  sie  weifs,  das  Ansichten,  deren  Wandelbarkeit  die 
Geschichte  bezeugt,  ihr  wenig  nützen  können.  Die  Schwärmerey  kommt 
im    Gefolge    des    Em[i  i8]pirismus;    und    ihre    Fortschritte    sind    reifsend. 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten  Beziehungen.        257 

Der  Respect,  welchen  ehedem  die  Wissenschaft  dem  Staate  und  der 
Kirche  einflöfste,  wird  nicht  gröfser  sondern  kleiner.  - —  Wäre  das  Publi- 
licum  stärker  gewesen,  so  hätten  einige  Schriftsteller  nicht  so  viel  schaden 
können. 


§  3*- 

Um  über  den  Begriff  eines  Subjects  mit  mannigfaltigen  und  wider 
einander  wirkenden  Vorstellungen  etwas  zu  entscheiden:  kann  man  sich 
theils  an  seinen  höhern  Gattungsbegriff,  den  einer  Einheit,  welche  ein 
gegenseitig  widerstrebendes  Mannigfaltiges  einschliefse,  theils 
an  das  specifische  Merkmal  wenden,  dafs  von  Vorstellungen,  und  einem 
Subjecte  derselben  die  Rede  sey.  Die  eine  wie  die  andre  Betrachtungs- 
art erfordert  allgemein-metaphysische  Reflexionen. 

Der  Begriff  der  Vorstellung  bezeichnet  das  Vorgestellte  als  etwas 
Nicht-Reales,  als  ein  blofses  Bild;  welches,  um  vorhanden  zu  seyn,  einer 
fremden  Realität  bedarf,  nämlich  des  realen  Subjects.  Kann  man  nun  die 
Qualität  desjenigen  Wesens,  welches  das  Subject  der  Vorstellung  ausmacht, 
unmittelbar  darin  setzen,  dafs  es  ein  Vorstellendes  (die  Existenz  zu  gewissen 
Bildern)  sey?  Um  diese  Frage  zu  beantworten,  müfste  man  überlegen, 
ob  der  Begriff  einer  solchen  Qualität  eine  absolute  Position  vertrage? 
(Man  sehe  in  meinen  Hauptpuncten  der  Metaphysik  die  §§  1  und  2.) 
Im  Fall  einer  verneinenden  Antwort  wird  folgen,  dafs  dem  Wesen  das 
Vorstellen  zufällig  sey;  und  es  wird  weiter  nachzusehn  seyn,  in  wiefern 
einem  Wesen  überhaupt  Accidenzen  zugeschrieben  werden  können;  welches 
auf  die  Theorie  der  Störungen  und  Selbsterhaltungen  zurückkommt.  (Hauptp. 
der  Metaph.  §  5.) 

Eben  dahin  weiset  die  andere  Reihe  von  Betrachtungen.  Einheit  eines 
widerstrebenden  Mannigfaltigen  ist  ein  Begriff,  der,  mit  innern  Gegensätzen 
behaftet,  eine  [119]  absolute  Position  geradezu  ausschlägt.*  In  solchen 
Gegensätzen  steht  schon  das  Mannigfaltige  als  solches;  dann  die  Mannig- 
faltigkeit überhaupt  wider  die  Einheit,  endlich  vollends  das  Widerstreben 
in  diesem  Mannigfaltigen.  Also  auch  hier  ist  an  Qualität  eines  Seyenden 
nicht  zu  denken;  sondern  nur  an  ein  Zusammen  mit  andern  und  andern 
Wesen,   sammt    den  Folgen    davon,    den  Störungen    und   Selbsterhaltungen. 

Nun  sind  die  Selbsterhaltungen  innere  Thätigkeiten  eines  Wesens;  sie 
sind  aber  nichts  äufseres,  oder  nach  aufsen  hin  gerichtetes.  Sollen  deren 
mehrere  unmittelbar  zusammen  oder  wider  einander  wirken  (wie  hier  die 
Vorstellungen) :  so  müssen  sie  die  verschiedenen  Selbsterhaltungen  eines 
einzigen  Wesens  seyn.  Daraus  erhellet  die  Einfachheit  der  vorstellenden 
Substanz,   oder  der  Seele. 

Hiermit  wäre  nun  in  der  Kürze  der  Weg  der  allgemein-metaphy- 
sischen  Untersuchungen  nachgewiesen,  welchen  man  gehen    mufs,    um    die 


*  Bequemere  Dienste,  als  die  äufserst  gedrängten  Hauptpuncte  der  Metaphysik, 
[s.  Band  II,  175  —  226]  wird  für  manche  der  hier  berührten  allgemein-metaphysischen 
Gegenstände  mein  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie  leisten  können.  Man  ver- 
gleiche daselbst  §§  97.    101.    und  besonders  §   113.     [s.  Band  IV  vorl.  Ausgabe.] 

Herbart's  Werke  V.  17 


2c8  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft.  - 

Beweise  der  vorhin  aufgestellten  Behauptungen  zu  finden.  Begreiflicher 
Weise  kann  ich  mich  hier  nicht  auf  ausführliche  Erörterungen  dessen  ein- 
lassen, was  an  seinem  rechten  Orte  ohne  alle  unmittelbare  Beziehung  auf 
Psychologie  entwickelt  wird.  Wohl  aber  kann  ich  denjenigen  Lesern, 
welche  neben  der  gegenwärtigen  Schrift  meine  Hauptpuncte  der  Meta- 
physik nicht  blofs  anzusehen,  sondern  ernstlich  zu  durchdenken  geneigt 
seyn  möchten,  durch  die,  in  der  Ueberschrift  dieses  Capitels  angekündigte 
Vergleichung  zwischen  den  Untersuchungen  über  das  Ich,  und  denen,  die 
zu  den  Begriffen  von  Substanz  und  Ursache  führen,  zu  Hülfe  kommen; 
denn  eine  solche  Vergleichung  wird  eben  so  sehr  zur  genauem  Einsicht 
in  das  Räsonnement  des  vorigen  Capitels,  als  zum  leichtern  Verständ-[i2o] 
nifs  der  angedeuteten  metaphysischen  Lehrsätze  beytragen. 


§  33- 

Die  anzustellende  Vergleichung  geht  theils  auf  die  Materie  der  Pro- 
bleme,  theils  auf  die   Form   der   Untersuchung. 

Der  Materie  nach  sind  die  beyden  ersten  Hauptprobleme  der  allge- 
meinen Metaphysik  (Hauptp.  d.  Metaph.  §§  3.  4.)  dem  hier  abgehandelten 
darin  ähnlich,  dafs  sie  Principien  sind;  in  der  gleich  Anfangs  bestimmten 
zwiefachen  Eigenschaft  eines  Princips,  welches  erstlich  an  sich  gewifs, 
zweytens   eine  abgeleitete  Gewifsheit  zu  ergeben  geschickt  seyn  mufs. 

Erstlich,  es  ist  gewifs,  dafs  wir  uns  Dinge  mit  verschiedenen,  und 
veränderlichen  Merkmalen  vorzustellen  genöthigt  sind;  denn  der- 
gleichen sind  uns  in  der  äufsern  Erfahrung  eben  so  wohl,  als  das  Selbst- 
bewufstseyn  innerlich,  gegeben. 

Zweytens,  die  Begriffe  solcher  Dinge  sind  Anfangspunkte  eines  fort- 
laufenden Räsonnements  gerade  so,  wie  seinerseits  das  Ich;  denn  sie  ent- 
halten Widersprüche,  welche  aufgelös't  werden  müssen;  und  deren  Auf- 
lösung zu  neuen  Lehrsätzen  führt. 

Am  auffallendsten  ist  der  Widerspruch  im  Begriffe  des  veränderlichen 
Dinges;  der  nämliche,  über  welchen  die  Eleaten,  und  nachmals  Platon 
vielfältig  geklagt,  den  aber  die  Neuern,  theils  ganz  sorglos,  theils  im  Besitz 
eingebildeter  Aufschlüsse  vernachlässigt  haben.  —  Da  der  Begriff  des 
Seyn  nur  in  Beziehung  auf  ein  Was,  auf  eine  Qualität,  Sinn  und  Be- 
deutung hat:  so  mufs  vor  allem  die  Qualität  des  Sey enden  bestimmt 
können  angegeben,  oder  falls  sie  unbekannt  wäre,  doch  wenigstens  als 
eine  bestimmte  vorausgesetzt  werden.  Ist  nun  im  Gegentheil  die  Qualität, 
welcher  das  Seyn  zugeschrieben  wird,  veränderlich,  so  entsteht  der  Begriff 
von  anderem  und  anderem  Seyenden;  eben  so  vielfach,  als  die  Angabe 
dessen  wechselt,  was  da  sey.  Wird  aber  endlich  Sol[i2i]ches  und 
wieder  Anderes  Seyendes  für  Eins  und  dasselbe  ausgegeben,  —  wie  denn 
dieses  durch  die  Behauptung,  dafs  ein  Veränderliches  immerfort  ein  und 
dasselbe  Ding  bleibe,  wirklich  geschieht,  —  so  liegt  der  Widerspruch,  dafs 
Entgegengesetztes   einerley  seyn  solle,   klar  am   Tage. 

Statt  diesem  Widerspruch  abzuhelfen,  hat  man  in  unsern  Zeiten  den 
Begriff  der  Substanz  zur  Kategorie  gestempelt  und  uns  versichert,  ein 
solcher  Begriff  läge  nun  einmal  in  unserm  Verstände. 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in   seinen  nächsten   Beziehungen.         2  ^Q 

Der  Begriff  nämlich  von  dem  beharrlichen  Substrat  der  wechselnden 
Erscheinungen.  Wobey  zuvörderst  anzumerken,  dafs  das  Beharrliche  ohne 
Widerspruch  beharren  und  die  Erscheinungen  ohne  Widerspruch  wechseln 
möchten,  wofern  nur  zwischen  jenem  und  diesen  gar  keine  Gemeinschaft 
wäre,  und  die  wechselnden,  gleich  fliegenden  Schatten,  die  Qualität  des 
Beharrlichen  ganz  unangetastet  liefsen.  Wenn  aber  das  Wasser  (um  ein 
altes  Platonisches  Beyspiel  zu  brauchen)  bald  flüssig,  bald  vest,  bald  dampf- 
förmig erscheint,*  so  meint  niemand  die  Flüssigkeit,  Vestigkeit,  Dampf- 
förmigkeit, ginge  das  beharrliche  Substrat  des  Wassers  nichts  an:  sondern, 
die  entgegengesetzten  Möglichkeiten  dieser  entgegengesetzten  Erscheinungen 
legt  man  zusammen  genommen  dem  Einen  und  sich  selbst  gleichen  Be- 
harrlichen, als  in  wohnende  Eigenschaften,  bey;  und  giebt  ihm  dadurch 
denn  freylich  eine  beharrliche,  aber  zugleich  widersprechende  Qualität. 
Klagt  nun  Jemand,  dafs  für  das  Platonische  trtQOi'  und  ravrov  der  Sinn 
unter  uns  verloren  scheine:  so  hilft  man  sich  mit  der  Versicherung,  es  sey 
ja  nur  von  Phänomenen  die  Rede!  Und  alsdann  macht  man  das 
Hauptgeschäfft  unseres  Verstandes  daraus,  dergleichen  ungereimte  Phäno- 
mene  ernstlich,  ja  gar  wissenschaftlich  aufzustellen  und  abzuhandeln. 

[122]  Wäre  wirklich  unser  Verstand  von  Natur  mit  jener  wider- 
sinnigen Kategorie  behaftet:  alsdann  eben  bestünde  die  wahre  Philosophie 
in  einer  Kritik  des  Verstandes;  nämlich  damit  er  lernen  möchte,  sich 
seiner  misgebornen  Natur  zu  schämen,  und,  falls  er  nach  andern  Formen 
nicht  denken  könnte,   das   Denken  lieber  gar  aufzugeben. 

Dagegen  nun  findet  sich,  dafs  die  Form  der  unvermeidlichen  Auf- 
fassung sinnlicher  Erscheinungen  uns  einen  widersprechenden  Begriff  auf- 
bürden will,  den  glücklicherweise  der  menschliche  Verstand  nur  braucht 
gewahr  zu  werden,  um  ihn  zu  verabscheuen  und  auszustofsen :  wie  denn 
die  Alten  die  kräftigsten  Mittel  sich  haben  gefallen  lassen,  um  nur  jene 
ungereimten  Erscheinungen  aus  dem  Gebiet  des  Wissens  zu  verbannen; 
und  sie  entweder  (wie  die  Eleaten)  für  Gegenstände  schwankender 
Meinungen  erklären  zu  können.  Weil  sich  nun  hiebey  die  Alten  offenbar 
zu  weit  von  der  Erfahrung  entfernt  haben,  so  müssen  wir  andre  Wege 
einschlagen,  um  nämlich  für  die  Erfahrung  andre  und  bessere  Begriffe  zu 
gewinnen,  die  in  dem  Kreise  der  erwähnten  Kategorien  nicht  liegen 
können.  Und  dieses  ist  denn  das  Hauptgeschäfft  der  allgemeinen  Meta- 
physik.  — 

Was  hier  von  dem  Begriffe  des  veränderlichen  Dinges  gesagt  worden, 
dasselbe  gilt  im  Wesentlichen  von  dem  Begriffe  des  Dinges  mit  mehrern 
Merkmalen.  Nämlich  es  brauchen  nicht  entgegengesetzte,  noch  successive 
Merkmale  zu  seyn,  um  jenen  Widerspruch  in  der  Qualität  des  Seyenden 
zu  erzeugen;  er  entsteht  schon  aus  der  Summe  derjenigen  Eigenschaften, 
die  man  im  gemeinen  Leben  einem  Dinge  ganz  unbedenklich  neben  ein- 
ander einräumt.  Das  Quecksilber  ist  weifs  und  flüssig  und  schwer;  — 
wird    wohl    hierin    ein    Widerspruch    liegen?      Allerdings!    sobald    das    Eine 


*  Plat.  TlMÄEUS  pag.  342.  Man  wolle  den  Ausruf  beherzigen  :  oi'tvj  <??,  tstojv 
ödtnuTi  nur  avxvtr  txaswv  (pavT<t£o[t6V(ov,  noiov  avrutv,  ojf  ov  utiöv  xaxo  y.n.i  «x 
a/J.o,  7caytfjg,  Öiig^i  yi^outro:,  üx   aioyvvat  yt  ztg  avror;  uy.  i?tv\ 


17* 


25o  -^-I-  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Ding  durch  eine  vielfältige  Qualität  bezeichnet  wird.  Man  lege  sich  die 
Frage  vor:  Was  ist  das  Quecksilber?  Diese  Frage  verträgt  nicht  die 
Antwort:  das  Quecksilber  ist  weifs  und  flüssig  und  [123]  schwer.  Die 
Verkehrtheit  läfst  sich  fühlbar  machen  durch  eine  neue  Frage:  Ist  denn 
das  Weifse  flüssig  und  schwer?  Oder  ist  das  Flüssige,  weifs  und  schwer? 
Oder  ist  das  Schwere,  weifs  und  flüssig?  —  Will  man  nun  die  erste  falsche 
Antwort  verbessern,  so  wird  man  das  Quecksilber  als  den  Stoff  bezeichnen, 
welcher  die  mehrern  Eigenschaften  hat,  und  in  sich  vereinigt.  Könnte 
man  nur  dieses  Haben,  dieses  In-sich- vereinigen,  deutlich  machen! 
Unglücklicherweise  ist  das  Haben  eines  Mannigfaltigen  selbst  mannigfaltig, 
und  es  will  scheinen,  als  müfste  dies  vielfältige  Haben,  um  die  Qualität 
des  Einen  Seyenden  nur  berühren  zu  können,  erst  wiederum  gehabt 
werden,  durch  ein  neues,  —  ohne  allen  Zweifel  wiederum  vielfältiges 
Haben!  Bey  dem  In-sich-vereinigen  sagt  es  nun  gar  der  Klang  des 
Wortes,  dafs  man  eben  ein  Wort  eingeschoben,  wo  der  Sinn  mangelte. 
Denn  gerade  von  der  Einigung  des  Mannigfaltigen  war  die  Frage,  indem 
bev  den  bekannten  sinnlichen  Kennzeichen  des  Quecksilbers  dennoch  von 
dem  Was  desselben  als  von  einem  unbekannten  geredet  wurde.  Nun  be- 
ruhigen sich  die  Meisten  dabey,  dafs  sie  nicht  wissen,  wie  das  Eine  zu 
mehrern  Eigenschaften  komme?  Und  freylich  wissen  sie  es  nicht.  Denn 
setzen  wir  irgend  ein  A  als  die  Qualität  des  Seyenden,  so  ist  dies  Eine 
und  sich  selbst  gleiche  weit  entfernt,  eine  Mehrheit  zu  ergeben.  Haben 
wir  aber  in  A  gleich  Anfangs  eine  Mannigfaltigkeit  einzuschliefsen  uns 
erlaubt:  so  dürfen  wir  nun  schon  gar  nicht  wagen,  uns  die  Frage  vorzu- 
leben, was.  eigentlich  sey?  Denn  die  Antwort  enthält  sogleich  das  Ge- 
ständnifs,  dafs  wir  Mehrem  das  Seyn  beygelegt,  und  dennoch  für  diese 
Mehrern  eine  Einheit,  —  wir  wissen  nicht  Welche?  angenommen  haben. 
Der  Widerspruch  ist  nun  hoffentlich  klar  genug.  Man  nimmt  an, 
das  Seyende  sey  Eins;  und  auf  die  Frage:  Was  für  eins?  antwortet  man 
durch  eine  Mehrheit  von  Bestimmungen.  Mehrerley  nun  ist  nicht  Einerley. 
Und  es  ist  völlig  vergeblich,  eine  unbekannte  Qualität  anzu[i24]nehmen, 
von  der  nur  soviel  bekannt  sey,  dafs  sie  die  mehrem  Bestimmungen  zu- 
lasse. Denn  immer  ist  es  schon  Mehrerley  in  ihr  selber,  dafs  sie  gestattet, 
von  jenen  mehrern  Bestimmungen  auf  was  immer  für  eine  Weise  behelligt 
zu  werden. 

Das  Gesagte  beruhet  übrigens  auf  der  Voraussetzung:  man  habe  die 
Qualität  eines  Seyenden  anzugeben.  Daraus  eben  entspringt  die  Gefahr, 
Vieles  Seyendes  einem  einzigen  unterzuschieben.  Wird  der  Begriff  des 
Seyn  bey  Seite  gesetzt,  so  ist  für  ganz  andre  Betrachtungen  Raum,  die 
wir  aber  hier  nicht  verfolgen  können. 

Statt  dessen  möchte  es  beynahe  erlaubt  seyn,  die  Warnung  gegen 
das  andächtige:  die  Dinge  an  sich  kennen  wir  freylich  nicht!  noch- 
mals zu  wiederhohlen;  und  zu  erinnern,  dafs  widersprechende  Be- 
griffe auf  das,  was  zu  seyn  scheint,  eben  so  wenig  passen,  als 
auf  das  was  ist.  Hiezu  aber  kommt  noch,  dafs,  wie  oben  gezeigt,  die 
für  vest  gehaltene  Burg  des  Idealismus  (das  Selbstbewufstseyn)  eben  so- 
W  >hl  auf  einem  Vulkan  erbaut  ist,  als  jede  Naturlehre,  welche  die  Begriffe 
von  Substanz   und   Kraft  nicht  im  voraus  berichtigt   hat;    daher    denn    die 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in   seinen   nächsten  Beziehungen.         26 1 

gangbare  Theorie  von  Phänomenen  und  Noumenen  schwerlich  noch  einen 
vesten  Punct  besitzen  möchte,  auf  welchen  sich  verlassend,  sie  die  Um- 
arbeitung der  vorliegenden  widersprechenden  Erfahrungs-Begrifle  für  unnütz 
erklären  dürfte. 

Anmerkung. 

Eine  historische  Erinnerung  kann  behülflich  seyn,  dafs  man  den 
Gegenstand  des  vorstehenden  Paragraphen  leichter  ins  Auge  fasse.  Be- 
kanntlich ist  es  gerade  der  Begriff  der  Substanz,  um  welchen  die  Spitz- 
findigkeiten der  aristotelisch-scholastischen  Philosophie  sich  vorzugsweise 
drehen.  Nun  sind  zwar  diese  Spitzfindigkeiten  an  sich  keine  Erkenntnifs 
der  Wahrheit;  aber  sie  geben  in  so  fem  ein  lehrreiches  Schauspiel,  als 
sie  aufmerksam  machen  auf  einen  Punct,  der  die  Denker  nothwendig  in 
[125]  Verlegenheit  setzen  mufste.  Ich  will  aus  Baumgarten's  Meta- 
physik  ein   paar  Paragraphen  hierher  setzen. 

§  40.  Complexus  essentialium  in  possibili  est  essentia,  (esse  rei,  ratio 
formal is,  natura,  quidditas ,  forma,  formale  totius,  ovoiu,  riroric,  sub- 
stantia,  conceptus  entis  primus.)  Hier  zeigen  schon  die  vielen  Synonymen, 
wie  viel  Mühe  man  sich  gegeben  hat,  den  complexus,  die  Einigung  des 
Vielen,   aufzufassen. 

§  196.  Id  in  substantia,  cui  itihaerere  possunt  accidentia,  sive  sub- 
stantia, quatenus  est  subiectum  ;  id,  cui  accidentia  inhaerere  possunt,  sub- 
stantielle  vocatur ;  nee  accidentia   existunt  extra   substaniiale. 

Welche  monströse  Erfindung!  So  möchte  man  hier  ausrufen.  — 
Wie?  Braucht  denn  die  Substanz  noch  ein  substaniiale,  damit  Accidenzen 
in  ihr  wohnen  können?  Heifst  sie  nicht  gerade  in  dieser  Beziehung  Sub- 
stanz, in  wiefern  sie  Accidenzen  trägt?  Mufs  und  kann  und  darf  denn 
zwischen  sie  selbst,  und  ihre  Accidenzen  —  die  ja  eben  die  ihrigen 
sind,  —  noch  ein  Mittelglied,  das  substaniiale,  eingeschoben  werden?  Was 
ist  denn  damit  gewonnen?  Wollen  wir  nicht  noch  einen  neuen  Kitt 
erfinden,  vermöge  dessen  das  substaniiale  mit  der  Substanz  zusammen 
hänge?  Und  abermals  einen  andern  Kitt,  um  die  Accidenzen  in  das 
substaniiale  hinein  zu  leimen?  Wird  denn  dieser  Kitt  nicht  nochmals  an 
die  Glieder,  die  er  verknüpfen  soll,  angeheftet  werden  müssen?  Wird  man 
nicht  auf  diese  Weise  die  Mittelglieder  ins  Unendliche  vervielfältigen  müssen? 

Oder  was  ist  das  für  ein  quatenus,  in  dem  Ausdrucke:  substaufia, 
quatenus  est  subiectum  ?  Soll  die  Substanz  sich  selbst  entgegengesetzt 
werden?  Will  man  sie  auffassen,  einmal  in  so  fern,  in  wie  ferne  sie  nicht 
Subject  für  ihre  Prädicate  ist?  Darf  sie  denn  jemals  anders  gedacht 
werden,  als  eben  in  so  fern,  in  wie  ferne  sie  ihre  essentialia^  ihre  atlributa, 
in  sich  vereinigt  ? 

Hier  habe  ich  die  Sprache  einer  Verwunderung  an[i  2  6]genommen, 
wie  sie  demjenigen  natürlich  ist,  der  —  noch  nicht  tief  ins  metaphysische 
Denken  eingedrungen  ist. 

Denn  allerdings  mufsten  die  Scholastiker  die  Substanz  sich  selbst  ent- 
gegensetzen. Allerdings  soll  sie  selbst  gedacht  werden  als  Eins;  ihr 
substaniiale  aber  soll  empfänglich  seyn  für  das  vielfache  Haben  der  vielen 
Accidenzen  und  Attribute.    Allerdings  sind   hier  nothwendig  zwey  Gedanken, 


2  62  XT.  Psychologie  als  "Wissenschaft. 

die  aber  freylich  Einer  seyn  sollten,  —  und  nicht  können.  Die  Substanz 
ist  jener  homerische  Herkules,  der  selbst  bei  den  seligen  Göttern  wohnt, 
während  sein  Schatten  in  der  Unterwelt  wandelt. 

Mit  einem  Worte :  das  substantielle  ist  der  Widerspruch  im  Begriff  der 
Substanz,  wodurch  sie  ein  metaphysisches  Problem  wird. 

Was  wird  nun  derjenige  thun,  dem  dies  Problem,  das  allgemeinste 
der  ganzen  Metaphysik,  eine  Anregung  zum  Denken  gegeben  hat?  Eine 
dreyfache  Wahl  liegt  vor  ihm.  Entweder  sich  in  scholastische  Grübeley 
zu  versenken,  oder  mit  dem  Verslein:  grau.  Freund,  ist  alle  Theorie, 
sich  tröstend,  aus  der  Schule  ins  freye  Leben  sorglos  hinüberzutreten 
(wobey  er  nicht  vergessen  darf,  dafs  sich  alsdann  die  Pforte  der  Schule 
hinter  ihm  schliefst),  oder  endlich,  die  Kraft  seines  Denkens  anzustrengen, 
damit  er  den  Grund  des  Widerspruchs  genau  erkenne,  ihn  hinweghebe, 
und  nachsehe,  welche  Veränderung  hiedurch  in  dem  vorliegenden  Begriffe 
entstehe.     Hierüber  giebt  das  Folgende  weitere  Auskunft. 


§  34- 

Wenn  die  drey  Begriffe,  des  Ich,  der  Veränderung,  und  des  Dinges 
mit  mehrem  Merkmalen,  undenkbar  erfunden  werden,  so  ist  gewifs  schwer 
zu  sagen,  was  denn  noch  denkbares  in  dem  ganzen  Kreise  unserer  realen 
Erkenntnisse  übrig  bleibe?  Wenn  aber  einem  von  diesen  Begriffen  durch 
irgend  eine  Art  von  Reflexion  eine  Hülfe  hat  geleistet  werden  können, 
so  ist  wohl  zu  vermuthen,  [127]  dafs  eine  ähnliche  Hülfe  für  alle  bereit 
seyn  werde.  Haben  wir  demnach  zur  Auflösung  der  Widersprüche  im 
Ich  wenigstens  einige  Schritte  thun  können,  so  wäre  es  schon  der  Mühe 
werth,  der  Analogie  nachzugehn,  um  zu  versuchen,  ob  nicht  das  Nach- 
denken über  die  andern  Probleme  dieselbe   Richtung  nehmen   dürfte? 

Aber  diese  Analogie  würde  sich  zu  einer  Methode  erheben,  sobald 
man  fände,  dafs  im  Allgemeinen  auf  der  Natur  eines  widersprechenden 
Begriffes  ein  gewisser  Gang  des  Denkens  beruhe,  welchen  zu  nehmen  man 
gezwungen  sey,   falls  man  den  Widerspruch  los  werden  wolle. 

Bey  diesem  zweyten  formalen  Theile  unserer  Vergleichung  der  ver- 
schiedenen Probleme,  kommt  uns  nun  sogleich  die  Logik  mit  einer  allge- 
meinen, und  höchst  einfachen  Bemerkung  zu  Hülfe;  nämlich  dafs  von 
zweyen  contradictorischen  Gegentheilen  gewifs  eins  wahr  sey,  wenn  das 
andre  falsch  ist.  Demnach,  wenn  es  falsch  ist,  dafs  Entgegengesetztes 
einerley  sey,  so  ist  wahr,  dafs  Entgegengesetztes  nicht  einerley  ist.  Wenn 
es  falsch  ist,  dafs  im  Ich,  Object  und  Subject  dasselbe  seyen,  so  mufs 
es  wahr  seyn,  dafs  Object  und  Subject  dasselbe  sind.  Wenn  es  undenkbar 
ist,  dafs  ein  Ding  mit  veränderter  Qualität  eins  und  dasselbe  sey,  so  mufs 
man  zugeben,  dafs  es  nicht  dasselbe  ist.  Wenn  es  keinen  Sinn  hat,  dafs 
der  Stoff  eines  Dinges,  und  die  Realitäten,  welche  man  wegen  der  mehrern 
Merkmale  dieses  Dinges  annimmt,  ein  und  dasselbe  seyen,  so  mufs  an- 
erkannt werden,  dafs  die  genannten  Realitäten  von  jenem  Stoffe  zu  unter- 
scheiden sind.  Mit  einem  Worte,  die  Identität,  welche  den  Widerspruch 
verursacht,  muls  geleugnet  werden. 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten  Beziehungen.         263 


So  klar  nun  dieses  ist,  so  haben  wir  dennoch  in  den  neuesten  Zeiten 
manchmal  von  Widersprüchen  gelesen,  die  man  vereinigen  wollte.  Die 
entgegengesetzten  sollten  Eins  und  dasselbe  werden.  Das  heifst  mit 
andern  Worten:  der  Widerspruch  solle,  wenn  er  etwa  noch  nicht  vor- 
handen wäre,  jetzt  eben  gestiftet  wer[i2  8]den!  Denn  die  Entgegen- 
gesetzten, die  ei  einschliefst,  fechten  einander  gar  nicht  an,  wenn  sie  nicht 
für  Eins  ausgegeben  werden.  Weifs  und  schwarz  bestehen  vollkommen 
neben  einander,  nur  dafs  man  das  Weifse  nicht  selbst  für  schwarz  erklären 
wolle.  Jene  Vereinigung  aber  sieht  einer  Versöhnung  ähnlich,  wobei  man 
den  Charakter  der  Feinde  nicht  gehörig  erforscht  hat.  Der  Streit  dauert 
im  Verborgenen  fort,  und  verdirbt  die  Systeme  wie  die  scheinbaren  Freund- 
schaften. —  Im  Grunde  beweis't  ein  solches  Verfahren,  dafs  man  an  das 
Widersprechende  in  den  aufgestellten  Problemen  nicht  ernstlich  glaubt. 
Und  dies  ist  soviel,  als  dafs  man  das  Bedürfhifs  metaphysicher  Unter- 
suchungen nicht  in  seiner  ganzen  Stärke  empfindet.  Es  ist  eine  Schwach- 
heit der  neuem  Zeiten,  speculative  Schwierigkeiten  durch  alle  ersinnlichen 
Künste,  bald  schöner  Worte,  und  aufgeregter  Phantasien  und  Gefühle,  bald 
harter  Machtsprüche,  und  vorgegebener  Anschauungen  und  Offenbarungen,  — 
zu  bedecken,  zu  verhüllen,  aus  den  Augen  zu  rücken,  aus  dem  Sinn  zu 
schlagen.  Was  Wunder,  dafs  die  Speculation  nicht  von  der  Stelle  kommt, 
da  ihr  erstes  Gesetz  Aufrichtigkeit  ist,  nämlich  Aufrichtigkeit  gegen 
sich  selbst! 

Waren  die  oben  entwickelten  Begriffe  nicht  widersprechend?  Dann 
brauchte  man  sie  nicht  als  solche  aufzustellen.  Eine  blofse  Künstelev,  ein 
gesuchter  Schein  des  Mühsamen  der  Nachforschung,  ist  der  Philosophie 
ganz  und  gar  unwürdig.  Sind  sie  aber  in  der  That,  so  wie  sie  gegeben 
und  gefunden  werden,  mit  sich  selbst  im  Streit:  so  mufs  man  damit  an- 
fangen, das  Streitende  zu  sondern;  ja  man  mufs  diese  nämliche 
Operation  so  vielemal  wiederhohlen,  als  noch  eine  neue  Spur 
widerstreitender  Bestimmungen   sich   entdeckt. 

Dieses  nun  gerade  ist  der  allgemeine  Charakter  derjenigen  Methode, 
welche  ich  Methode  der  Beziehungen  genannt,  und  in  den  Hauptpuncten 
der  Metaphysik  gleich  [129]  im  Anfange  vorgetragen  habe.  An  dem 
Faden  derselben  läuft  auch  das  Räsonnement  im  §28  dieses  Buches  fort, 
obgleich   daselbst  von  keiner  Methode  ist  gesprochen  worden. 

Diese  Methode  hat  verschiedene  Misverständnisse  erlitten;  man  würde 
aber  dieselbe  sehr  bald,  entweder  verstehen  und  annehmen,  oder  aber 
verstehen  und  verbessern,  wenn  man  nur  erst  von  der  widersprechenden 
Natur  der  metaphysischen  Principien  überzeugt  wäre.  So  hinge  es  daran 
fehlt,  wird  die  Methode  für  ein  Hirngespinnst  gehalten  werden.  In- 
zwischen wird  mir  erlaubt  sein  zu  sagen,  dafs  dieselbe  gröfstentheils  durch 
Abstraction  aus  den  Reflexionen  über  die  erwähnten  Probleme  ist  gewonnen 
worden;  dafs  sie  demnach  von  dem  Gefühl  der  Notwendigkeit,  von 
welcher  das  Nachdenken  über  jene  Probleme  getrieben  wird,  eingegeben, 
und  nichts  weniger  als  willkührlich  ersonnen  ist.  Ihren  Platz  aber  bekam 
sie  in  den  Hauptpuncten  der  Metaphysik  deshalb  ganz  vorne,  weil  sie  als 
allgemeine  Methode  jeder  ihr  unterzuordnenden  Untersuchung  vorangestellt 
werden  mufste.      Dabey  ist  nun   unvermeidlich,   dafs  sie  dem   nicht  gehörig 


264  -^-  Psychologie  als  Wissenschaft. 

vorbereiteten  Leser  früher  entgegentritt,  als  er  das  Bedürfhifs  darnach 
empfunden,  und  hiemit  die  Möglichkeit  der  Einsicht  in  dieselbe  sich 
verschafft  hat. 

Die  Methode  beruht  auf  folgenden  Momenten:  Ein  widersprechender 
Begriff  A  enthalte  die  entgegengesetzten  Glieder  M  und  X,  welche  er  für 
identisch  ausgiebt ;  so  mufs  zuvörderst,  wie  schon  auseinandergesetzt,  deren 
Identität  geleugnet  werden.  Soweit  sind  wir  beym  Ich,  indem  wir  ihm 
ein  fremdes  Object  leihen,  welches  gerade  so  viel  heifst,  als,  das  Object 
ist  ein  anderes  als  das  Subject.  Nun  ferner  entsteht  allemal  die 
Schwierigkeit,  dafs  die  Glieder  M  und  N,  welche  in  dem  widersprechenden, 
aber  gegebenen  Begriffe  als  Eins  und  dasselbe  aufgefafst  waren  (wie 
Object  und  Subject  in  dem  gegebenen  Begriffe  des  Ich)  ihre  Gültig- 
keit verlieren,  sobald  sie  gesondert  werden:  denn  als  gesondert  sind 
sie  [130]  nicht  gegeben.  Ein  Object,  welches  dem  Subjecte  nicht 
gleich  ist,  kommt  im  Begriff  des  Ich  nicht  vor,  und  ist  eben  deshalb  ein 
Begriff  ohne  Bedeutung,  wenn  wir  ihn  nicht  wieder  an  das  Gegebene  an- 
zuknüpfen wissen.  Folglich  müssen  wir  jedes  der  gesonderten  abermals 
identisch  setzen  dem  andern;  z.  B.  M,  welches  von  N  gesondert  war,  mufs 
dem  N  wiederum  gleich  gesetzt  werden.  Dies  verwickelt  uns  in  einen 
secundären  "Widerspruch ;  INI  nicht  =  N,  und  M  dennoch  =  X.  Im  §  28 
entsprechen  dieser  Formel  die  beyden  Reflexionen:  zum  Ich  gehört  ein 
Object,  das  ihm  fremd,  —  und  dennoch  nicht  fremd,  sondern  dem  Sub- 
jecte gleich  sey.  —  Da  nun  hier  M  mit  sich  selbst  im  Widerspruche 
erscheint,  so  mufs  wiederum,  wie  vorhin,  nach  der  angeführten  allgemeinen 
logischen  Regel,  die  Identität  verneint  werden.  Dem  gemäfs  ist  es  nicht 
dasselbe  M,  dessen  Identität  mit  N  gefordert  und  doch  auch  geleugnet 
wurde;  sondern  man  mufs  dafür  mehrere  INI  annehmen.  So  sind  im 
Ich  mehrere  Objecte  angenommen  worden.  Will  man  nun  die  Methode 
nach  aller  Strenge  beschreiben,  so  ist  hiebey  zu  bemerken,  dafs  zwar  An- 
fangs die  mehrern  M  so  auftreten,  als  ob  eins  die  Identität  mit  N  besäfse, 
das  andre  nicht;  dafs  aber  jenes  im  alten  "Widerspruch  befangen,  dieses 
vom  Gegebenen  abweichend  und  folglich  ein  ungültiger  Begriff  seyn  würde; 
dafs  demnach  beyden  beydes,  Identität  und  Nicht-Identität  mit  N,  zu- 
komme; wodurch  jedes  in  den  vorigen  Widerspruch  verwickelt,  und  aber- 
mals in  eine  Mehrheit  zerschlagen  werden  mufs.  Kurz,  der  secundäre 
Widerspruch  steigt  gleichsam  auf  Potenzen  ins  Unendliche  fort  (nur  nicht 
gerade  auf  Potenzen  der  Zahl  zwey,  denn  die  Leugnung  der  Identität 
ergiebt  nicht  bestimmt  zwei  AI,  sondern  überhaupt  mehrere).  Dieses  nun 
ist  in  der  Betrachtung  des  Ich  übergangen  worden,  weil  man  bey  einem 
bestimmt  vorliegenden  Probleme  sich  gleich  auf  der  Stelle  sehr  leicht  be- 
sinnt, worauf  es  ferner  ankomme.  Nämlich,  sobald  mehrere  M  ange- 
nommen sind,  bietet  sich  die  Betrachtung  dar,  dafs  je[i3i]des  derselben 
einzeln  genommen  die  alte  Schwierigkeit  der  Identität  mit  N,  welche 
nicht  denkbar  und  doch  durchs  Gegebene  gefordert  ist,  erneuern  werde; 
daher  man  voraussetzen  mufs,  dafs  sie  zusammengenommen  eine  ge- 
wisse Modifikation  erlangen  werden,  aus  welcher  dasjenige  hervorgehe,  was 
dem  andern  Gliede  des  Hauptbegriffs  gleich  zu  setzen  sey.  Eine  solche 
Modification  müssen  die  mehrern  Objecte,    welche    einem    und    demselben 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten  Beziehungen.        26^ 

Vorstellenden  vorschweben,  sich  gegenseitig  schaffen.  —  Die  fernere  Unter- 
suchung des  §29,  welcher  gemäfs  die  Vorstellungen  jener  Objecte  als 
Kräfte  wider  einander  wirken  müssen,  geht  schon  über  das  Allgemeine 
hinaus,  was  bey  allen  gegebenen  Widersprüchen  einerley  Gang  des  Denkens, 
oder  einerley  Methode  erfordert.  Das  Resultat  der  Methode  ist  allemal 
die  Vervielfältigung  eines  von  den  beyden  Gliedern  des  gegebenen  Wider- 
spruchs; welches  das  zu  vervielfältigende  Glied  sey,  mufs  man  aus  der  Eigen - 
thümlichkeit  des  Problems  beurtheilen.  Z.  B.  beym  Ich  wird  es  Niemandem  ein- 
fallen, eine  Mehrheit  der  Subjecte  anzunehmen,  um  diese  dem  Objecte  gleich 
zu  setzen;  weil  dies  geradezu  die  Einheit  des  Bewufstseyns  aufheben  würde. 

Zu  dem  nämlichen  Resultate  führt  ein  anderer,  kürzerer  Weg,  der 
aber  gleich  Anfangs  durch  eine  Hypothese  betreten  wird.  Da  M  für  sich 
nicht  gleich  N  seyn  kann:  so  werde  M  durch  irgend  ein  X  modificirt, 
und  in  so  fern  gleich  N.  Nun  enthält  der  Hauptbegriff  nur  M  und  N. 
Um  sich  also  vom  Gegebenen  so  wenig  als  möglich  zu  entfernen,  und 
keine  fremdartigen  Merkmale  eines  beliebig  angenommenen  X  zuzulassen: 
setze  man  X  gleich  M;  so  hat  man  mehrere  M,  wie  zuvor.  Das  Object 
im  Ich  werde  durch  irgend  ein  X  modificirt,  um  dem  Subjecte  gleich  seyn 
zu  können.  Aber  was  für  ein  X  wird  man  in  den  Begriff  des  Ich  ein- 
lassen dürfen,  der  nichts  anderes  kennt,  als  nur  Object  und  Subject?  Die 
geringste  mögliche  Abweichung  von  dem  gegebenen  Begriff  besteht  darin, 
ein  Object  durch  ein  anderes  modificiren  zu  lassen.  So  [132]  wird  X 
selbst  ein  Object,  ein  Vorgestelltes;  oder,  wenn  es  nöthig  seyn  sollte,  eine 
unbestimmte  Menge  von  Vorgestellten  und  folglich  von  Vorstellungen  wird 
sich  gegenseitig  dahin  bringen,  dafs,  wer  sie  unter  ihrer  nun  gewonnenen 
Modification  sich  denkt,   dieser  in   ihnen    das  Vorstellende    selbst    erblickt. 

Worin  sich  diese  zweyte  Form  des  Räsonnements  von  der  ersten 
unterscheide,  ist  leicht  zu  sehen.  Was  bey  der  ersten  den  Beschlufs  machte, 
wird  hier  zuerst  angenommen.  Dort  fand  sich  am  Ende,  dafs  auf  dem 
Zusammen,  auf  der  gegenseitigen  Modification  der  M,  die  Auflösung  be- 
ruhen müsse;  hier  wird  die  Modification  gleich  Anfangs  gefordert.  Dabey 
aber  wird  der  Fehler  begangen,  den  allgemeinen  Begriff  irgend  eines  modifi- 
cirenden  X  so  einzuführen,  als  ob  es  erlaubt  wäre,  das  Problem  wie  ein 
Räthsel  zu  behandeln,  und  frey  umherzusinnen,  was  wohl  für  ein  X  taugen 
möchte  um  M  zu  modificiren?  Dieser  Fehler  wird  hintennach  verbessert, 
indem  X  gleich  M  gesetzt  wird.  So  erscheint  die  Auflösung  als  beruhend 
auf  der  kleinsten  möglichen  Veränderung  des  gegebenen  Begriffs.  Der- 
selbe war  Anfangs:  Identität  von  M  und  N.  Er  ist  am  Ende:  Identität 
von  N  mit  M  modificirt  durch  M;  nämlich  mit  einem  M,  modificirt  durch 
ein  anderes,  das  der  Art  nach  auch  ein  M  ist.  Dabev  kommen  keine 
neuen  Merkmale  in  den  Begriff,  aufser  nur  das  der  Vielheit  der  M, 
und  diejenigen,  welche  in  der  Modification  der  M  entspringen,  oder 
wegen  derselben  angenommen  werden  müssen.  So  bleibt  der  Haupt- 
begriff in  seinen  nothwendigen  Beziehungen  eingeschlossen,  die  sich  aus 
ihm  selbst  ergeben.  Wäre  X  aber  nicht  =  M,  sondern  ein  Begriff 
mit  fremden  Bestimmungen:  so  käme  das  Fremde  am  Ende  in  der 
Auflösung  als  Abweichung  vom  Gegebenen  zum  Vorschein.  Die  Auf- 
lösung ergäbe  nämlich:   Identität  von  N  mit  M,  so  fern  das  letztere  modi- 


2  56  ^LL   Psychologie  als  Wissenschaft. 


ficirt  würde,  durch  etwas  solches,  wovon  im  Gegebenen  nichts  zu  finden 
wäre.  Dergleichen  möchte  höchstens  als  Hypothese  zu  dulden  seyn,  [133] 
falls  zuvor  die  Auflösung  nach  unserer  Methode  vergebens  versucht  wäre. 
Es  möchte  aber  Jemand  fragen,  warum  nicht  X  =  N  gesetzt  werden 
könne,  da  doch  diese  Bestimmung  nichts  aufser  dem  gegebenen  Begriffe 
liegendes  herbeyführen  würde.*  Versucht  man  dieses,  so  lautet  die  Auf- 
lösung: N  ist  identisch  mit  M  modificirt  durch  N.  Da  kommen  zwev  ver- 
schiedene N  vor;  eins,  welches  in  der  Modification  des  M  erst  entspringen, 
welches  das  modificirte  M  seyn  soll;  ein  anderes,  welches  dieser  Modifi- 
cation vorausgesetzt  wird,  da  es  sie  selbst  vollbringen  soll.  Hier  wird 
offenbar  N  in  verschiedenem  Sinn  genommen;  und  das  modificirende  N 
wäre  in  der  That  für  den  gegebenen  Begriff,  der  nur  von  dem  mit  M 
identischen  N  Kunde  gab,  ein  Fremdes. 

Im  Bevspiel:  Das  Subject  werde  gleich  gesetzt  dem  Object  modificirt 
durchs    Subject.      Diese    Auflösung    des    Problems    vom    Ich    möchte    wohl 
Jemand  unterstützen,  indem   er  sie  so  auslegte:  Wir  erkennen    uns    selbst, 
indem  das  Denkende  in  uns  die  ihm    vorschwebenden  Objecte    modificirt; 
sie,  die  bisher  als  Dinge  erschienen,  jetzt  (durch   einen  Sprung)  als  blofse 
Bilder  auffafst,   und   einsieht,   dafs    die  Realität    dieser  Bilder    nur    die    des 
Denkenden    seyn    könne.      Da    wäre    also    dem    Denkenden    gerade    jene 
Spontaneität  der  Reflexion  zugeschrieben,  welche  wir  oben  verwarfen;  jener 
absolute    Aufsprung,    wodurch    das  Vorstellende    in    seiner   Thätigkeit    sich 
selbst  ergreifen  sollte.      Aber    der  Begriff   des   Ich    macht    uns    mit    einem 
solchen  selbstthätigen  Subjecte,   welches  in  seine  eignen  Vorstel[i34]lungen 
eingriffe,  und  sie  dadurch  in  Spiegel  seiner  selbst   aus    eigner  Macht   ver- 
wandelte,  —  keinesweges  bekannt.      Der  Begriff  des  Ich    setzt    nicht    das 
Subject  als  ein  Thätiges  dem  Selbstbewufstseyn  voran:    sondern    er    setzt 
es  in  das  Selbstbewufstseyn  hinein,  und  bindet  es    an    die  Identität   mit 
dem  Objecte.      Wenn    wir   aber   gleichwohl    in    der  Auflösung    ein  Subject 
überhaupt  vorauszusetzen  scheinen:   so  geschieht  dieses  in    dem   Sinne,    als 
wir  bev  jedem  Object  ein  Subject  voraussetzen,  für  jedes  Vorgestellte  ein 
Vorstellendes  annehmen  müssen.     Diesen  Begriff  würden  wir  überschreiten, 
wenn  wir    dem    nämlichen  Subject,    welchem    irgend    ein   Bild    vorschwebt, 
nun  noch  aufser  dem  Vorstellen  dieses   Bildes  sprungweise  das  Modificiren 
desselben  Bildes  zuschreiben  wollten,  wodurch  es  bev  Gelegenheit  desselben 
seiner  selbst  gewahr  werden    sollte.      Ein    solches  Gewahr-werden  .  ereignet 
sich  zwar  wirklich,   es  geschieht  aber  nicht  sprungweise,  sondern  im  natür- 
lichen   Laufe     objectiver    Vorstellungen.       Besäfse     hingegen     das    Subject 
erstlich  eine  Thätigkeit  allerley  Fremdes  vorzustellen,  und  zweytens  eine 
andre  Thätigkeit,   sich   selbst    absolut    über    dem  Vorstellen    zu    ertappen: 
so  geriethe  es  in  den  allgemeinen  Widerspruch  des  Dinges  mit  mehrern  Merk- 
malen hinein,  welchen  wir  in  der  letztem  Hälfte  des  §  33  entwickelt  haben. 


*  In  meiner  Abhandlung:  theoriae  de  attractione  elementorum  principia  meta- 
physica.  hat  sich  in  die  Xote^  zum  §  9,  wo  die  zweyte  Formel  der  Methode  kurz  an- 
gegeben ist,  ein  Fehler  eingeschlichen,  den  ich  hier  berichtigen  mufs.  [s.  Band  III, 
S.  162  vorl.  Ausgabe.]  Es  heifst  nämlich  dort:  accedente  autem  rv>  N  ad  M,  pristina 
redit  contradictio.  Allein  dies  pafst  nicht,  denn  die  Meinung  würde  seyn,  dafs  M  durch 
X  modificirt  werden,  nicht  dafs  es  ihm  gleich  seyn  solle;  und  das  blofse  Modificiren 
würde  keinen   Widerspruch  in  sich  schliefsen. 


Erster  Abschnitt.      Untersuchung  über  das  Ich  in   seinen  nächsten  Beziehungen.         267 

Fragt  man  nun  endlich  noch,  was  für  eine  Gewifsheit  unserer  Methode 
denn  eigen  sey,  dafs  vermöge  ihrer  Bearbeitung  die  Widersprüche  weichen 
müfsten?  so  ist  die  Antwort:  eine  solche  Gewifsheit  ist  der  Methode  ganz 
und  gar  nicht  eigen,  und  eben  so  wenig  ihr  jemals  zugeschrieben  worden. 
Die  Gewifsheit  der  Auflösbarkeit  müssen  die  Probleme  selbst  mit  sich 
führen;  und  das  ist  allemal  der  Fall,  wenn  ein  gegebener  Begriff,  durch 
welchen  ein  Reales  gedacht  werden  soll,  einen  Widerspruch  verräth. 
Dafs  im  Begriff  des  Ich  keine  Widersprüche  stecken  bleiben  dürfen,  fordert 
das  Selbstbewufstseyn ;  und  es  verbürgt  den  Erfolg  der  Untersu[i35]chung 
noch  vor  dem  Beginn.  Die  Methode  aber  bezeichnet  nun  dem  Denker 
die  ersten  Schritte,  welche  er,  durch  das  Problem  selbst  getrieben,  wird 
nehmen  müssen;  und  dadurch  erleichtert  sie  es,  gleich  Anfangs  die  rechte 
Bahn  zu  finden.  Gesetzt  jedoch,  es  käme  ein  Fall  vor,  wo  die  Methode 
sich  aus  irgend  einem  Grunde  unbrauchbar  zeigte  bey  einem  Widerspruch, 
dessen  Auflösbarkeit  nicht  bezweifelt  werden  könnte :  was  würde  daraus 
folgen?  Etwa  dafs  die  Methode  falsch  sey?  Keinesweges!  Sondern 
dieses,  dafs  die  ersten  Schritte  im  Denken,  welche  man  auf  allen 
Fall  versuchen  mafste,  nicht  hinreichten;  dafs  man  vielmehr  seinen 
Weg  werde  weiter  fortsetzen  müssen.  Es  könnte  seyn  (um  die  vorige 
zweyte  Formel  wieder  zu  gebrauchen),  dafs  M  in  der  That  durch  ein  X, 
welches  nicht  gleich  M  wäre,  modificirt  werden  müfste,  um  der  Identität 
mit  N  zu  entsprechen.  Allein  in  diesem  Falle  wäre  der  gegebene  Begriff 
kein  Princip  (und  überdies  in  hohem  Grade  mangelhaft  gegeben  oder 
aufgefafst);  weil  er  die  fremden  Bestimmungen  des  einzuführenden  X 
nicht  angeben,  daher  auch  den  Gang  des  Nachdenkens  nicht  leiten  könnte. 
Der  beste  Rath  bestünde  hier  darin,  eine  solche  Untersuchung,  welche 
keinen  bestimmten  Weg  finden  könnte,  so  lange  bey  Seite  zu  setzen,  bis 
aus  andern  erlangten  Kenntnissen  sich  Hülfsbestimmungen  darböten.  Gewifs 
ist  es  der  Fall,  dafs  man  oftmals  Probleme  zu  früh  ergreift,  und  sich 
Gegenstände  des  Nachdenkens  wählt,  welche  die  nothwendigen  Eigen- 
schaften  der  Principien  nicht  besitzen. 

§  35- 

Um  die  Vergleichung  der  verschiedenen  Probleme,  und  ihrer  Be- 
handlung, zwar  nicht  Schritt  für  Schritt  zu  verfolgen  (welches  nun  dem 
Leser  kann  überlassen  werden),  —  aber  doch  zu  einer  Uebersicht  zu 
bringen,  erinnern  wir  an  den  berühmten  Satz  des  zureichenden 
Grundes;  welcher  oft  als  Axiom  aufgestellt,  zuweilen  auch  mit  Beweisen 
versehen  worden  ist,  die  aber  fehlerhaft  waren.  Leibniz  trieb  den  Ge- 
brauch dieses  Satzes  [136]  so  weit,  dafs  er  fragte:  warum  vielmehr  Etwas 
sey  als  Nichts?*  Wir  wollen  uns  beschränken,  vom  zureichenden  Grunde 
der  Veränderungen  zu  reden;  und  alsdann  wird  sich  die  Nothwendig- 
keit,  einen  solchen  Grund  anzunehmen,  und  damit  der  gesuchte  Beweis 
jenes  Satzes,  in  dem  Widerspruche  finden,  der  nach  ^  ^  in  dem  Begriffe 
eines  veränderlichen  Dinges  enthalten  ist. 


*  Leibnit.  op.  ed.  Dutens.  Tom.  II.  pag.  35.  § 


2 68  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Wenn  eine  Sache,  die  man  als  eine  solche  und  keine  andre  zu  kennen 
glaubte,  sich  vor  unsern  Augen  verändert:  so  bleibt  schon  der  gemeine 
Verstand  nicht  bey  dem  Ungedanken  stehn,  dieses  Neue  und  jenes  Alte 
sey  Eins  und  dasselbe;  sondern  er  nimmt  an,  ein  Zusammen  der  Sache 
mit  irgend  einer  andern  Sache  sey  entweder  eingetreten  oder  aufgehoben. 
Das  flüssige  Wasser  in  Eis  verwandelt,  habe  Wärme  verloren;  dasselbe  als 
Dampf  verflüchtigt,  habe  Wärme  in  sich  genommen.  So  wird  die  Schuld 
des  anscheinenden  Widerspruchs  auf  etwas  Fremdes  geschoben.  Dieses 
Fremde  wird  gedacht  als  eingreifend,  als  sich  verbindend  mit  dem, 
was  die  Veränderung  leidet;  es  wird  also  gedacht,  wegen  einer  Noth- 
wendigkeit,  die  im  Denken  entsteht;  es  wird  nicht  angeschaut,  denn  die 
Erfahrung  begnügt  sich  vielmehr,  uns  in  der  sinnlichen  Erscheinung  das 
widersprechende  veränderliche  Ding  vor  die  Augen  zu  stellen.  Uns  selbst 
bleibt  es  überlassen,  getrieben  vom  Bedürfnifs  des  Denkens  unter  den  be- 
gleitenden Umständen  der  Erscheinung  dasjenige  aufzusuchen,  auf  welches 
wir  die  Schuld  des  Widerspruchs  abladen,  welches  wir  als  das  Hinzu- 
kommende oder  Entweichende  ansehen  können. 

Eine  völlig  fertige  Kategorie  der  Ursache  aber  ist  hier  eben  so 
wenig  zu  finden,  als  vorhin  eine  Kategorie  der  Substanz.  Vielmehr  wird 
das  Zusammen  der  mehrern,  in  so  fern  daraus  eine  neue  Erscheinung  an 
einem  sonst  wohlbekannten  Gegenstande  soll  verstanden  werden,  uns 
sogleich  zum  Räthsel,  sobad  wir  uns  fra[i37]gen,  wie  denn  die  Wirkung 
in  dem  Einen  habe  erfolgen  können,  vermöge  des  andern?  Wobey  nur 
so  viel  klar  ist,  dafs  dazu  mehr  gehöre,  als  blofses  Nebeneinander  seyn, 
dafs  das  Zusammenkommen  der  Ursache  und  des  leidenden  Gegenstandes 
die  blofs  räumliche  oder  zeitliche  Nähe  überschreiten,  und  etwas  dabey 
vorgehn  müsse,  welches  vorläufig  mit  den  Worten  Eingreifen,  Ver- 
wandtseyn  und  sich  gegenseitig  binden,   bezeichnet  werden    könne. 

Hier  nun  mufs  der  gemeine  Verstand,  wie  er  unter  andern  in  der, 
so  eben  gebrauchten  metaphorischen  Sprache  der  Chemiker  sich  äufsert, 
in  Schutz  genommen  werden  gegen  die  unrichtigen  Ansichten  der  KAXT'schen 
Schule,  welche  aus  der  Verlegenheit  entstanden,  dem  Causalbegriffe,  der 
allerdings  nicht  im  Gegebenen  unmittelbar  gefundn,  sondern  in  dasselbe 
hineingetragen  wird,  seinen  Ursprung  nachzuweisen.  Kant  lehnte  in  dieser 
Verlegenheit  die  Causalität  an  die  Zeit,  mit  der  sie  gerade  gar  nichts 
gemein  hat!  Es  ist  längst  bemerkt,  dafs  zwischen  Ursache  und  Wirkung 
sich  kein  Vorher  und  Nachher  einschieben  darf,  als  ob  die  Wirkung  noch 
dürfte  auf  sich  warten  lassen,  nachdem  sie  schon  vollständig  begründet  ist. 
Die  Priorität  der  Ursache  liegt  blofs  im  Begriffe;  man  mufs  das  Zu- 
sammen der  Mehrern  voraussetzen,  damit  die  neue  Erscheinung  nicht 
die  Identität  dessen  verletze,  an  dem  sie  erscheint.  —  Ueber  der  Be- 
trachtung der  Zeit- Verhältnisse  geht  bey  Kant  das  wesentliche  Merkmal 
des  Eingreifens  ganz  verloren;  und  je  schlechter  nun  eben  in  diesem 
Puncte  der  allgemein  vorhandene  Begriff  der  Ursache  aufgefafst  ist,  um 
desto  weniger  hätte  ein  so  misverstandener,  seiner  Bedeutung  und  seinem 
Ursprünge  entfremdeter  Gedanke,  unter  dem  Namen  einer  Kategorie  für 
eine  Form  des  Denkens  ausgegeben  werden  sollen. 

Statt   einer  vesten  Form   des  Denkens    zeigen    sich    in    der  Annahme 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das   Ich  in   seinen   nächsten  Beziehungen.         260, 

einer  Ursache  zu  der  Veränderung  vielmehr  die  ersten  nothwendigen 
Schritte  der  Untersuchung;  [138]  eben  dieselben,  welche  sich  nach  der 
Methode  der  Beziehungen  ergeben  müssen,  und  sich  folglich  aus  ihr 
erläutern  lassen.  Das  in  der  Veränderung  entstandene  Neue  wird  als 
eine  Modification  des  Schon- Vorhandenen  mit  Hülfe  eines  Dazutretenden 
angesehn.  Zwey  Stoffe  (die  mehrern  M)  zusammengenommen  sollen  das 
Neue  (N)  ergeben.  Hier  ist  die  Untersuchung  über  die  Möglichkeit  der 
Veränderung  gerade  so  weit  gediehen,  als  die  Untersuchung  über  die 
Möglichkeit  des  Ich  an  der  Stelle,  wo  mehrere  Objecte  für  dasselbe  Vor- 
stellende angenommen  werden.  Aber  so  wenig  man  nun  hieraus  das  Ich 
begreift,  so  gewifs  vielmehr  noch  eine  weitläuftige  Untersuchung  bevorsteht, 
zu  der  man  nur  den  ersten  Anlauf  genommen  hat:  eben  so  sicher  ist  der 
Begriff  der  Ursache  auch  nur  der  Anfang  und  die  Eröffnung  einer  weit- 
aussehenden Nachforschung,  welche  die  Metaphysik  vollenden  mufs, 
während  der  gemeine  Verstand  schon  bey  den  ersten  Schritten  ermattet. 
Eine  wichtige  Bemerkung  über  die  ersten  Schritte  mufs  noch  hinzu- 
gefügt werden,  wodurch  sich  unsre  Vergleichung  der  verschiedenen  Pro- 
bleme am  Ziele  finden  wird.  Wir  haben  oben  im  §  33  gesehn,  dafs 
nicht  blofs  die  successiven  Merkmale  des  Veränderlichen,  sondern  auch 
die  gleichzeitigen,  —  überhaupt  die  mehrern  Bestimmungen  Eines  und 
desselben  Dinges,  einen  Widerspruch  erzeugen.  Dieser  seltener  bemerkte 
Widerspruch  zieht  gleichwohl  eine  ganz  ähnliche  Untersuchung  nach  sich, 
als  jener;  und  es  findet  sich,  dafs  kein  einziges,  in  der  gemeinen  Erkennt- 
nifs  vorkommendes  Merkmal  der  Dinge,  als  wahre  Eigenschaft  des  Wesens 
angesehen  werden  könne,  sondern  dafs  jedes  Element  der  Erscheinung 
als  Andeutung  einer  Modification  eines  Wesens  durch  ein 
anderes  betrachtet  werden  müsse.  Dieses  giebt  der  Untersuchung, 
auf  welche  der  Causalbegriff  führt,  eine  aufserordentliche  Erweiterung;  und 
es  wird  Ein  und  dasselbe  Geschafft,  den  Zusammenhang  zwischen  Ursachen 
und  Wirkungen,  [139]  und  den  zwischen  Accidenzen  und  Substanzen  zu 
erklären.   — 

Der  äufserste  Punct,  bis  zu  welchem  die  Vergleichung,  die  uns  be- 
schäfftigt,  kann  getrieben  werden,  und  von  wo  schon  die  fernere  Divergenz 
anhebt,  zeigt  sich  bey  der  Auflösung  des  Problems  vom  Ich,  an  jener 
Stelle,  wo  die  verschiedenen  Objecte,  auf  deren  Zusammen  das  Selbst- 
bewufstseyn  beruhen  soll,  als  Entgegengesetzte,  und  deren  Vorstellungen 
als  einander  aufhebend  nachgewiesen  werden.  Dem  entspricht  bey  der 
Untersuchung  über  Substanz  und  Causalität  der  Gegensatz  unter  den 
Qualitäten  der  Wesen,  auf  deren  Zusammen  theils  die  successiven, 
theils  die  simultanen  Merkmale  der  sinnlichen  Dinge  zurückgeführt  werden.* 
Nämlich  gerade  so,  wie  eine  blofse  Summe  von  Objecten  die  Unter- 
suchung über  das  Ich  nicht  fördern  würde,  eben  so  vermag  eine  blofse 
Summe  von  Wesen  nichts  zur  Erklärung  der  Veränderungen,  noch  über- 
.haupt  der  Eigenschaften  sinnlicher  Dinge.  Die  Wesen,  wie  die  Vor- 
stellungen der  Objecte,  müssen  einander  auf  irgend  eine  näher  zu  be- 
stimmende Weise  afficiren. 


Hauptpuncte  der  Metaphysik  §  5.     [s.  Band  II,    194 — 196  vorl.  Ausgabe. J 


2~jO  "SIL.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

Aber  in  der  nähern  Bestimmung  tritt  nun  auch  sogleich  der  Unter- 
schied hervor,  dafs  bey  den  Vorstellungen  ein  wirkliches  Weichen  der 
einen  vor  der  andern  denkbar  und  zur  Erklärung  des  Ich  nothwendig 
ist.  Hingegen  die  Wesen  würden  sich  in  vollkommne  Undinge  verwandeln, 
wenn  sie,  entweder,  in  ihrer  Qualität  eine  Abänderung  erlitten,  und  dennoch, 
nachdem  sie  schon  andere  geworden  wären,  dieselben  blieben  wie  zuvor, 
—  oder,  in  ihrem  Seyn  sich  vermindern  liefsen,  während  das  Seyn  gar 
keine  Grade  zuläfst,  die  sich  vermehren  oder  vermindern  könnten.*  Daher 
kann  der  Gegensatz  [140]  der  Wesen  höchstens  die  Folge  haben,  dafs 
sie  demselben  innerlich  widerstehen,  und  sich  selbst  erhalten; 
wobey  die  Art  des  Widerstandes  sich  nach  der  Art  der  Anfechtung,  oder 
Störung,  richtet,  und  deshalb  eben  so  mannigfaltig  ist,  als  diese  nur 
immer  seyn  mag.  Dafs  aber  der  Gegensatz  der  Wesen  (der  keinesweges 
ein  reales  Prädicat  derselben  ist)  die  bezeichnete  Folge  oftmals  (obschon 
bey  weitem  nicht  immer)  wirklich  habe,  dieses  und  nichts  anderes  macht 
den  Begriff  des  Zusammen  der  Wesen  aus;  welches,  wo  es  vorkommt, 
nicht  aus  den  Wesen,  denen  es  zufällig  ist,  sondern  aus  den  Erscheinungen 
geschlossen  wird,   zu  deren   Erklärung  es  mufs  vorausgesetzt  werden. 

[141]  Und  so  wären  wir  nun  wiederum  bey  denselben  Puncten  angelangt, 
auf  die  wir  schon  im  Anfange  dieses  Capitels  durch  die  aufgestellte  Be- 
hauptung geführt  wurden,  dafs  die  Vorstellungen  nichts  anderes  als  Selbst- 
erhaltungen der  Seele  seyen.  Weitere  Erörterungen  des  Allgemein- 
metaphysischen, worauf  dieser  Satz  sich  stützt,  sind  hier  nicht  am  rechten 
Platze,  und  können  demjenigen  kaum  Bedürfhifs  seyn,  welcher  mit  dem 
schon  Gesagten  die  oft  angeführten  Hauptpuncte  der  Metaphysik,  das 
Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie,  im  vierten  Abschnitte,  und 
allenfalls  noch  das  erste  Capitel  der  oben  genannten  Abhandlung  de  aitra- 
ctione  elementorum,   gehörig  vergleichen  will. 


*  Die  Elanguescenz  der  Substanz,  womit  Kant  (Krit.  d.  r.  V.  pag.  414)  gegen 
Mendelssohn  auftritt,  ist  nichts  als  ein  Beweis  mehr,  wie  gänzlich  der  berühmte  Kritiker 
seinen  metaphysischen  Scharfsinn  in  die  Frage  nach  dem  Ursprünge  der  Form  unserer 
Erkenntnifs  versenkt,  wie  wenig  er  dagegen  die  eigen thümliche  Bedeutung  mancher 
Hauptbegriffe,  und  besonders  des  Begriffs  vom  Seyn,  erwogen  hatte.  (Ein  paar  andre 
Beyspiele  haben  wir  oben  an  den  Begriffen  von  Substanz  und  Ursache  gehabt.)  Dem 
Seyenden  eine  reale  Mehrheit  von  Graden  beyzulegen,  welche  wirklich  ab-  und  zunehmen 
könnten ;  oder  ihm  eine  reale  Mehrheit  von  Attributen  beylegen,  die  sich  (wie  in 
Spixoza's  Gott)  unabhängig  von  einander  entwickeln  könnten;  oder  ihm  eine  Ausdehnung 
durch  wirklich  verschiedene  Theile  des  Raums,  oder  eine  reale  Dauer  in  der  Zeit,  oder 
endlich  gar  eine  Veränderlichkeit  in  der  Zeit  zuschreiben:  alles  dies  sind  gleich  arge, 
klare  Ungereimtheiten ;  denn  sie  setzen  immer  Ein  Seyendes  als  ein  Mehreres,  und  das 
Mehrere  wiederum  durch  wer  weifs  welches  Band  zu  einer  unbekannten  Einheil  ver- 
bunden; von  welcher  Einheit  gleichwohl  so  viel  bekannt  ist,  dafs  eben  sie  die  wahre 
Qualität  jenes  Seyenden  aasmachen  würde  (indem  von  dem  Mehrern  nur  als  von  Einem 
gesagt  wird,  dafs  es  sey) ;  womit  denn  das  Geständnifs  abgelegt  wäre,  dafs  die  vorgeb- 
liche Mehrheit,  in  ihrem  Gegensatze  gegen  die  Einheit,  nicht  real,  nicht  die  wahre 
Qualität  des  Wesens  sey,  sondern  aufs  Höchste  (falls  sie  sich  dazu  schickt)  für  eine  zu- 
fällige Ansicht  des  "Wesens  gelten  könne.  —  Wie  dergleichen  zufällige  Ansichten  als 
Hü  11s mittel  unseres  Denkens  gebraucht  werden  müssen,  wenn  Wir  von  den 
Störungen  und  Selbsterhaltungen  der  Wesen  eine  Theorie  aufstellen  wollen  (so  wie  der 
Astronom  seine  Logarithmen  und  Integralformeln  beym  Rechnen  braucht,  ohne  der- 
gleichen für  reale  Prädicate  der  Gestirne  zu  halten),  dies  ist  in  meinen  Hauptpuncten 
der  Metaphysik  a.  a.  O.  angegeben  worden. 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich   in   seinen  nächsten  Beziehungen.         2  7  I 


Anmerkung. 
Ueber  die  Kunst  des  metaphysischen  Denkens. 
Die  Behandlung  eines  jeden  metaphysischen  Problems  hat  Anfang, 
Mittel  und  Ende;  man  mufs  den  Knoten  so,  wie  unsre  geistige  Natur, 
ihren  Verhältnissen  gemäfs,  ihn  schürzt,  erkennen;  man  mufs  alsdann  die 
verschiedenen  Operationen,  welche  zusammen  die  Auflösung  ausmachen, 
richtig  durchführen;   und  endlich  die  gefundenen  Resultate  genau  vesthalten 


und  richtig  anwenden. 

1.   Um  die   Probleme  richtig  aufzufassen,   mufs  man    wissen,    dafs    sie 
allemal  Begriffe   sind,   und  weder  etwas  Höheres  noch  etwas  Niedrigeres. 
Nicht  Ideen,   in  welchen   ein  ästhetisches  Urtheil   verborgen  liegen  würde, 
wodurch  sich    der  Denker    in    einen    bestochenen   Richter    verwandelt;    (so 
verdarb  sich  Fichte  das  Ich,  indem  er  die  von  ihm  hoch  verehrte  Frey- 
heit  darin  zu  sehen  glaubte).      Nicht  Wahrnehmungen,  denn    über    sie 
hat  das  Denken  keine  Gewalt,  sie  müssen   bleiben    wie    sie    sind.   —   Von 
den   Begriffen  ist  nun  immer  zuerst  eine  logische  Analyse  nöthig,   und   in 
Folge    derselben    eine   gute  Namen-Erklärung,    wie   jene    des  Ich,    es    sey 
Identität  des  Objects    und  Subjects,    oder    die    alte    der  Substanz,    sie    sey 
das   [142]   Subject,   was  nie  Prädicat  werden    könne.      Hier    ist    gegen    die 
falsche  Genialität  derer  zu  warnen,  die   sich   über   logische  Pünctlichkeiten 
erhaben   wähnen.    Dann  aber  mufs  die  Namen-Erklärung  verglichen  werden 
mit    denjenigen    Wahrnehmungen,    durch    welche    der  Begriff   gegeben    ist. 
So  haben  wir  oben  lange  gezweifelt,   ob  wir  die  individuelle  Persönlichkeit 
in    den   Begriff  des  Ich    aufnehmen    sollten    oder    nicht;    und    endlich    ge- 
funden,  die  Wahrnehmung  selbst  verbiete  uns  dies,  weil  im  Selbstbewufst- 
seyn  das  Ich  als  ein   Beharrliches  betrachtet  wird,    die  Individualität   aber 
sich  vom  zufällig  Wechselnden    nicht    rein    abscheiden    läfst.      So    mufs    in 
Ansehung  der  Substanz  gezweifelt  werden,  ob  sie  als  Eins  gegeben  sey  ?  — 
Dieses  Eine  wird  sich   unter  dem  Vorrath  des  Gegebenen  nicht  unmittelbar 
finden.     Oder  ob  man    die    vielen  Merkmale    blofs    als  Vieles    betrachten, 
deren  Einheit  aber  aufgeben  wolle?      Dagegen  wird  sich  die  Wahrnehmung 
abermals  sträuben;  und  es  wird    dabey    bleiben,    dafs    man    genöthigt   sey, 
den  vielen  gegebenen  Merkmalen    ein   unbekanntes  Eins    zum  Grunde    zu 
legen.   —  Ist  man    nun    so    weit   gekommen,    durch  Vergleichung    mit    der 
Wahrnehmung  den   Begriff  so  zu  bestimmen,   wie  er  als    durchs  Gegebene 
uns  aufgenöthigt,   das  heifst,   als  ein  gültiger  Begriff  zu    denken    ist:    als- 
dann folgt  abermals  eine  Analyse,   die  ihn  als  einen  widersprechenden 
bezeichnen    wird,   wenn    er    ein    metaphysisches   Problem    ist,    denn    träfe 
dieses  nicht  ein,  so  könnte  er    bleiben,    wie    er    ist,    und    die  Metaphysik 
brauchte    keine    Kunst    an    ihn    zu    verschwenden;    der    blofsen    logischen 
Ueberlegung  würde   es    anheim    fallen,    ihm    in    dem  Systeme    der   übrigen 
Begriffe  seinen   Platz  anzuweisen. 

2.  War  es  schon  schwer,   in  sich  selbst  das   Geständnifs   zur  Reife   zu 
bringen,    dafs    ein   durchs    Gegebene   unvermeidlich    aufgedrungener   Begriff 
widersprechend    sey:    so    wird    es    nun    noch    schwerer,    in     der    Klemmt 
zwischen  den  beyden  widersprechenden  Gliedern  des  Begriffs  so  lange  an- 
zudauern, ja,   sich  von  ihnen  so  lange  hin-  und  [143]  hertreiben  zu  lassen, 


,j2  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


so  vielen  anscheinend  unnützen  Versuchen  des  Denkens  sich    hinzugeben, 
als  die  regelmäßige  Auflösung  erfordert.     Manche  glauben  nicht  zu  denken, 
sondern  zu  phantasiren,  wenn  sie  ihre  Gedanken  nicht   gleich    in    gerader 
Linie  fortführen  können ;  und  hier  begegnet  selbst  Männern  dasselbe,   was 
man   sonst    an  Jünglingen    bemerkt:    sie    können    sich    zuweilen    schlechter- 
dings nicht  enthalten,    schnell    abzuurtheilen ;    sie    fühlen    nicht    die   Not- 
wendigkeit,  sich   erst  auf  Untersuchung  einzulassen.      Wie    man   von    uner- 
fahrnen jungen  Königen  erzählt,   die  den  Richterstuhl  bestiegen  hatten,  und 
nun  erst  von   einer  Parthey,   dann  von  der  andern  sich   überreden   liefsen, 
unfähig,   sich   das:   audiatur  et  altera  pars,    einzuprägen;    so    geht   es    auch 
denen,    welche    in    der  Betrachtung    eines    metaphysischen  Problems   nicht 
geübt    sind.       Die    Einheit    des    Ich,    die    Einheit    der  Substanz,    ist    ihrer 
Meinung  nach  so  vollkommen  klar,   dafs  dagegen  gar  kein  Einspruch  statt 
finde;  aber  die  Vielheit  im  Ich  (Object  und  Subject)    ist    ihnen    eben   so 
klar;   desgleichen  die  Vielheit  der  Attribute  und  Accidenzen.      Daher  lassen 
sie  unbedenklich  ein  ganzes  Universum  aus  dem  Ich  oder    aus    der  Sub- 
stanz hervorgehn;   sind  sie  eben  mit    der  Vielheit    beschäfftigt,    so    achten 
sie  nicht  auf  die  Einheit;   diese  mufs  sich  nun  gefallen    lassen,    ein    inten- 
sives Vieles  zu  seyn,   so  voll  und  so  grofs   als   eben  nöthig  ist,   damit  sich 
eine  Welt  daraus  entwickele;  sind  sie  hingegen  mit  der  Einheit  beschäfftigt, 
so  kostet  es  sie  nichts,   dem  Vielen  zu  gebieten,   dafs   es  nur  dem  Scheine 
nach  für  ein  Vieles  gelten  solle,  der  Wahrheit  nach  aber  Eins  seyn  müsse. 
Woher    der  Schein    in    der  Wahrheit?     Diese   Frage    drückt    sie    so 
wenig,  dafs  sie   vielmehr    den  Wirbel    ihrer  Gedanken,    wie    ein  wirkliches 
Hervorgehn  aus  der  Einheit,   und   Rückkehren  in  dieselbe  beschreiben.  — 
Gerade  umgekehrt  mufs  der    wahre  Metaphysiker    nicht    blofs    die    wider- 
sprechenden Glieder    seines  Problems,    sondern    auch    den    doppelten  An- 
spruch der  Denkbarkeit  und  der  Gültigkeit,   streng  vesthalten,  keinem  etwas 
vergeben,  keinem  [144]  mehr  einräumen  als  ihm  zukommt.      Er  mufs   die 
nothwendige  Bewegung  seines  Denkens    nicht   als    einen    vorübergehenden 
Wechsel   von  Gedanken  selber  durchlaufen,   sondern  jeden  Schritt  in  dieser 
nothwendigen    Bewegung   als    ein  Vestes     und  Unveränderliches    sich    ein- 
prägen; gleichsam  wie   eine   Reihe  von  historischen  Gemälden,   deren  jedes 
einen    Moment    des    Handelns    fixirt,    so     dafs    alle    zusammen     auch    die 
sämmtlichen  Puncte  des  Uebergangs,  woraus  die  ganze  Begebenheit  besteht, 
zur  beständigen  Anschauung  aufbewahren.      Dieses  Stehen  mitten  im  noth- 
wendigen Wechsel  ist  allerdings  schwer,  weil  alle  Puncte  des  Wechsels  von 
der  Art  sind,  dafs  man  auf  ihnen  nicht  stehen  bleiben  kann.    Aber  gerade 
dieses:    Nicht    stehen    bleiben    können,    hat    der  Metaphysiker    ein- 
für allemal    darzustellen,    so    dafs    er    den  Procefs    des  Denkens,    wodurch 
ihm  seine   Resultate  gewifs  wurden,   in  jedem  Augenblick  erneuern  könne. 
Wem    der  Kopf  leicht    schwindelt,    der    kann    die    metaphysischen  Steige 
nicht  gehn;    wer,    um    den   Schwindel    zu    vermeiden,    mit    verschlossenen 
Augen  heiübergehn  will,    der    findet   die  Steige    nicht,    und    nur    in    seiner 
Einbildung  kommt  er  hinüber. 

3.  Ist  endlich  ein  Punct  erreicht,  wo  man  stehen  bleiben  kann,  so 
folgt  daraus  nicht,  dafs  man  hier  lange  stehen  und  ausruhen  müsse.  Die 
Auflösung   eines   metaphysischen  Problems   zeigt   unmittelbar   noch   nichts, 


Erster  Abschnitt.  Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten  Beziehungen.  272 
_____^ _ _^ * *■  1  J 

als  nur  eine  allgemeine  Bedingung  der  Denkbarkeit  des  aufgestellten-  Be- 
griffes; wer  mehr  verlangt,  der  mufs  weiter  fort  arbeiten.  Er  mufs  nicht 
blofs  seine  Kräfte,  sondern  auch  seine  Ueberlegung  sammeln  für  eine, 
vielleicht  völlig  veränderte,  Art  des  Fortschreitens,  die  ganz  neue  Vorübungen 
erfordern  kann.  —  Im  Allgemeinen  ergeben  sich  aus  metaphysischen  Auf- 
lösungen sehr  bald  mathematische  Probleme;  denn  alle  Erscheinungen 
sind  Quanta;  alles,  was  als  Wirkung  von  Kräften  erscheint,  hat  Gesetze, 
die  an  ein  Mehr  und  Weniger  in  diesen  Kräften  gebunden  sind;  daher 
die  metaphysischen  Prineipien  unmittelbar  gar  nichts  bestimmtes  in  der 
Erscheinungswelt  [145]  erklären  können,  sondern  allemal  auf  die  hinzu- 
tretenden Gröfsenbestimmungen  mufs  Rücksicht  genommen  werden.  Dies 
wird   sich  nun  im   Nachfolgenden  gar  bald  zeigen. 

Am  schwersten  übrigens  ist  die  negative  Bedingung  des  metaphysischen 
Denkens  zu  erfüllen;  das  Verhüten  fremdartiger  Einmischungen,  je  schwerer 
die  Probleme,  desto  mehr  mufs  man  sich  bemühen  sie  gesondert  zu  halten, 
um  sie  einzeln  und  deutlich  zu  betrachten.  Nirgends  mufs  mehr  Meta- 
physik angehäuft  werden,  als  der  Gegenstand  fordert.  Ans  den  Grund- 
lehren der  praktischen  Philosophie  mufs  sie  ganz  wegbleiben.  Und  ob- 
gleich zum  vollständigen  Aufschlufs  über  das  Ich,  auch  die  Untersuchung 
über  den  Raum,  und  seine  Analoga,  nöthig  ist:  so  würde  doch,  wenn  ich 
den  Raum,  oder  gar  die  Materie  und  den  Leib,  schon  hier  hätte  ein- 
mischen wollen,   die   Finsternifs  undurchdringlich  geworden  seyn. 


Viertes   Capitel. 

Vorbereitung  der  mathematisch-psychologischen 

Untersuchungen. 

§  36. 

Es  sind  die  Betrachtungen  des  ^29,  deren  Faden  wir  wieder  auf- 
nehmen müssen.  Dort  fand  sich  der  Satz,  dafs  die  mannigfaltigen  Vor- 
stellungen eines  Subjects,  welches  zur  Ichheit  gelangen  soll,  unter  einander 
entgegengesetzt  seyn  müssen;  und  dieses  zwar  in  dem  Sinne,  dafs  ein 
Vorstellen  das  andere  vermindere,  oder  gar  aufhebe.  Was  das  heifsen 
solle,   ist  jetzt  noch   näher  zu   überlegen. 

Man  denke  sich  zuvörderst  ein  Vorstellendes,  noch  ohne  Selbst- 
bewufstseyn ;  auch,  um  nichts  willkührlich  anzunehmen  und  voreilig  voraus- 
zusetzen, noch  ohne  alle  [146]  formalen  Bestimmungen  durch  Begriffe, 
oder  durch  Raum  und  Zeit:  lediglich  hingegeben  der  Materie  der  Empfin- 
dung, wie  den  Tönen,  oder  den  Auffassungen  des  Geschmacks,  Geruchs, 
Gefühls.  (Der  Gesichtssinn  würde  kein  ganz  passendes  Beyspiel  liefern, 
oder  wenigstens  wäre  ein  solches  einem  Misverständnifs  ausgesetzt,  weil 
man  bey  den  Farben  immer  sogleich  irgend  etwas  von  Gestalt  und  Gröfse 
hinzudenkt.)  Die  Forderung  ist  nun,  dafs  dies  unser  Vorstellendes  über- 
gehe zum  Vorstellen  seiner  selbst;  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  nicht 
durch  einen  absoluten  Act,  sondern  einzig  und  allein  bestimmt  durch  die 
Hekbart's  Werke.    V.  18 


_>-  i  XI.    Psychologie  als  Wissenschaft. 

Beschaffenheit  derjenigen  Vorstellungen,  welche  wir  bey  ihm  schon  voraus- 
gesetzt haben. 

Da  also  die  Vorstellung  Ich  nicht  hinzukommen,  sondern  werden 
soll  aus  dem  was  schon  da  ist,  so  kann  dieses  Vorhandene  nicht  ein 
solches  Vorgestelltes  bleiben,  dergleichen  es  jetzt  ist,  sondern  es  mufs  auf 
allen  Fall  ein  Anderes  werden. 

Allein  hier  würde  es  uns  nichts  helfen,  wenn  eine  objective  Be- 
stimmung überginge  in  eine  andere.  Man  setze,  die  Vorstellung  Roth 
gehe  über  in  die  Vorstellung  blau,  oder  die  eines  hohen  Tons  verwandele 
sich  in  die  eines  tiefen  Tons,  so  ist  das  Blaue  und  der  tiefe  Ton  für  die 
Vorstellung  Ich  (welche  entstehen  soll)  eben  so  fremdartig,  als  die  Vor- 
stellungen des  Rothen  und  des  höheren  Tones.  Mit  einer  solchen  Ab- 
änderung wäre  also  nichts  gewonnen. 

Oder  wollte  man  sagen,  die  objeetiven  Vorstellungen  müfsten  ganz 
aus  ihrer  Art  herausarehn,  um  statt  eines  Nicht-Ich  vielmehr  das  Ich  dar- 
zubieten :  so  wäre  dieses,  auch  abgesehen  von  der  Frage  nach  der  Möglich- 
keit, dem  Probleme  gar  nicht  angemessen.  Denn  wir  haben  gesehen,  dafs 
die  nackte  Ichheit  ein  Widersprach  ist;  und  jene  Forderung  hiefse  dem- 
nach nichts  anderes  als,  die  Vorstellungen  sollten  aus  der  Art  des  Vor- 
stellbaren  hinübergehen   in  die  Art  des   Undenkbaren  und  Ungereimten. 

[147]  Vielmehr,  da  die  Ichheit  (nach  §  28)  sich  nothwendig  bezieht 
auf  eine  Mannigfaltigkeit  solcher  Objecte,  die  Nicht-Ich  sind:  so  müssen 
jene  objeetiven  Vorstellungen  in  ihrer  eignen  Art  bleiben ;  weil  sonst  gar 
der  Beziehungspunct  für  das  Ich  wieder  verloren  ginge. 

Wenn  wir  ihnen  nun  ihre  Qualität  lassen:  so  kann  ihre  Veränderung 
zunächst  nur  die  Quantität  des  Vorstellens  betreffen. 

Allein  auch  hier  ist  ein  Misverständnifs  zu  verhüten;  nämlich  als  ob 
es  zuviel  wäre  an  der  Menge  oder  an  dem  Grade  des  Vorstellens;  da 
doch  nichts  Zuviel  seyn  kann  in  demjenigen,  was  wir  eben  als  Bedingung 
der  Ichheit  angenommen  haben.  Es  mufs  also  in  einem  gewissen  Sinne 
auch  die  Quantität  des  Vorstellens  die  nämliche  bleiben. 

In  einem  anderen  Sinne  aber  soll  sie  gleichwohl  vermindert  werden : 
denn  so  befangen  in  fremdem  Objeetiven,  wie  wir  unser  Subject  uns  bis 
jetzt  denken,  darf  es  offenbar  nicht  bleiben,  wofern  es  zu  sich  selbst 
kommen  soll. 

Hier  kommt  es  darauf  an,  einen  neuen  Begriff  zu  erzeugen,  der  allen 
Rücksichten  Genüge  leiste. 

Wenn  wir  sagen,  das  Objective,  was  es  auch  sey,  tauge  nicht  einzu- 
gehn  in  das  Selbstbewufstseyn,  indem  wir  sonst  uns  selbst  als  ein  Anderes 
und  Fremdes  vorstellen  würden:  so  richten  wir  da  unsre  Aufmerksamkeit 
auf  die  Objecte,  auf  die  Bilder,  welche  dem  Vorstellenden  vorschweben: 
nicht  aber  auf  das  Vorstellen,  welches  wir  als  eine  Thätigkeit  dem  Sub- 
jeete  selber  beylegen.  Jenen  ersten  Punct  also  trifft  unsre  Forderung, 
dafs  eine  Veränderung  in  der  Quantität  des  Vorgestellten  sich  ereignen 
soll;  und  wenn  wir  dabey  die  Quantität  des  Vorstellens,  subjeeliv  ge- 
nommen, unverändert  vesthalten  können,  so  sind  die  verschiedenen  Rück- 
sichten vereinigt,  ohne  dafs  wir  hiebe}'  auf  einen  wahren  Widerspruch  ge- 
stofsen  wären. 


Erster  Abschnitt.     Untersuchung  über  das  Ich  in  seinen  nächsten  Beziehungen.        2  7  S 

Also  die  Thätigkeit  des  Subjects  im  Vorstellen,  soll  unvermindert 
beharren,  aber  ihr  Effect,  das  vorgestellte  [148]  Bild,  soll  geschwächt  oder 
gar  aufgehoben  werden;  und  hierin  soll  dasjenige  bestehen,  was  mehrere 
Vorstellungen  vermöge  ihres   Gegensatzes  untereinander  bewirken. 

Aber  eine  Thätigkeit,  welche  fortdauert,  während  ihr  Effect,  den  sie 
vermöge  ihrer  Eigenthümlichkeit  hervorbringen  würde,  durch  etwas  Fremdes 
zurückgehalten  wird,  eine  solche  kann  man  nur  mit  dem  Namen  eines 
Strebens  bezeichnen. 

Aus  Vorstellungen  wird  demnach  ein  Streben  vorzustellen,  wenn 
entgegengesetzte  Vorstellungen  in  einem  und  demselben  Subject,  das  zum 
Selbstbewufstseyn  gelangen  soll,  vereinigt  sind. 

§  37-    x 

Den  eben  gefundenen  Gedanken  können  wir  sogleich  mit  der  Er- 
fahrung vergleichen.  Diese  lehrt,  dafs  unsre  Vorstellungen  sich  verdunkeln, 
schwinden,  wiederkehren.  Ueber  den  Zustand,  in  welchem  sie,  so  fern 
sie  aus  dem  Bewufstseyn  verschwunden  sind,  sich  befinden  mögen,  kann 
keine  Erfahrung  belehren,  denn  Erfahrung  haben  wir  nur,  so  fern  wir 
wirklich  vorstellen;  und  die  eignen  Vorstellungen  in  ihrem  Schwinden  be- 
obachten zu  wollen,  wäre  gerade  so  viel,  als  sein  eignes  Einschlafen l 
wahrnehmen  zu  wollen.  Wohin  die  Erfahrung  nicht  reicht,  das  läfst  sich 
gleichwohl  sehr  häufig  durch  Speculation  erreichen:  und  wir  haben  so  eben 
gesehn,  dafs  unsre,  aus  dem  Bewufstseyn  zurückweichenden  Vorstellungen, 
sich  in  ein  Streben  vorzustellen  verwandeln;  und  dafs  sie  als  ein  solches 
Streben  unvermindert  fortdauern;  daher  auch  ihr  Vorgestelltes  wiederkehren 
mufs,  sobald  die  Hindernisse,  von  denen  sie  gedrängt  wurden,  über- 
wunden sind. 

So  wenig  nun  die  Erfahrung  diesen  Aufschlufs  unmittelbar  geben 
lonnte,  so  brauchbar  ist  derselbe  zur  Erklärung  der  Phänomene.  Auf 
zwey  der  allerwichtigsten  psychologischen  Gegenstände,  das  Gedächtnifs 
und  den  Willen,  fällt  hier  ein  unerwartetes  Licht.  Dafs  bevde  sich  auf 
das  Vorstellen  beziehen,  ist  schon  im  §  12  vorläufig  bemerkt  worden. 
Dafs  sie  allein  aus  dem  Vorstel[i4g]len  abgeleitet  werden  müssen,  und 
ganz  und  gar  nicht  als  besondre  Seelenkräfte  angesehen  werden  dürfen, 
folgt  schon  aus  der  allgemein-metaphysischen,  in  der  letztern  Hälfte  des 
§33  angedeuteten,  Untersuchung,  aus  welcher  hervorgeht,  dafs  überhaupt 
Ein  Seyendes  keine  ursprüngliche  Mehrheit  von  Bestimmungen,  —  ein 
Vorstellendes  keine  ursprüngliche  Mehrheit  von  Gemüthskräften,  —  ent- 
halten könne.  Wie  aber  das  Vorstellen  in  ein  Wollen  übergehe,  kann 
jetzt  nicht  mehr  zweifelhaft  seyn,  da  wir  gesehen  haben,  dafs  Vorstellungen. 
vermöge  gegenseitiger  Hemmung,  sich  in  ein  Streben  vorzustellen  ver- 
wandeln. Modifikationen  dieses  Strebens  müssen  alle  diejenigen  Phänomene 
seyn,  welche  unter  dem  Namen  des  Willens,  im  weitesten  Sinne  des  Worts, 
begriffen  werden.  Denn  alles  Wollen  trachtet  nur  dahin,  sein  Vorgestelltes 
entweder  vollkommen  ins  Bewufstseyn  zu  bringen,  oder  vollkommen  hinaus- 
zuschaffen;  (das  letztre   ist  der   Fall   bevm  Verabscheuen.)      Mehr  aber  als 

1  sein   Einschlafen   SW. 

18* 


■yjft  XI.   Psychologie  als   Wissenschaft. 


eine    Vorstellung    ihres    Gegenstandes    kann    keine    Begierde    erreichen; 
denn  keine   Dinge,   sondern  nur  Vorstellungen,   haben  Platz  in  einem  Vor- 
stellenden:  auch  wird  jede  Begierde    befriedigt,    nicht    durch    die  Realität, 
s<  »ndern   durch  neues  Gegeben- Werden  der  Vorstellung  ihres  Gegenstandes, 
welches  aber  freylich  in  der  Regel  nur  durch  sinnliche  Gegenwart  desselben 
vollständig  erreicht  werden  kann.     Hier  bestätigt  sich  nun  der  oben  ange- 
führte Gedanke  von  Leibxiz:    die  Seele    begehre,    so    fern    sie    von    einer 
Vorstellung  zur  andern  strebe.    (Man  vergleiche  §   18.)    Genauer  aber  be- 
steht jedes  Vollen  in  dem  Streben  gewisser  Vorstellungen;  und   zwar   das 
Bekehren  in  dem  Streben  eben  derselben  Vorstellungen,    durch    welche 
früherhin   der  begehrte  Gegenstand  ist  aufgefafst  worden  (denn  diese  näm- 
lichen  Vorstellungen  dauern  fort  im  gehemmten  Zustande,  und  wirken    in 
der  Seele  unaufhörlich  gleich   elastischen  Stahlfedern),    hingegen   das  Ver- 
abscheuen besteht  im  Streben  anderer  Vorstellungen,   welche   der  des  Ver- 
abscheueten    entgegengesetzt    sind.      Dun[i5o]kel    bleibt  Jbriebey    für    jetzt 
noch,  wie  es   zugehe,  dafs  nicht  alle  gehemmten  Vorstellungen  sich  unauf- 
hörlich als  Begierden,  und,  in  Beziehung   auf   dieselben,    ihre    entgegen- 
gesetzten sich  als  Verabscheuungen  äufsern?      Diese  Frage   aber  kann  nur 
dienen  uns   zu  erinnern,  dafs  der  Begriff  des  Strebens  vorzustellen,  ein  viel 
weiterer  ist,   als  der  des  Begehrens  und  Verabscheuens,   und   dafs  zu  jenem 
noch    viele    nähere,    bis    jetzt     unbekannte,    Bestimmungen     hinzukommen 
müssen,   uro   diesen   zu  ergeben.    So   wissen  wir  auch  noch  nichts  von  den 
Gesetzen,  nach  welchen  Vorstellungen,  erst    bis   zum  Vergessen   gehemmt, 
dann  als  ein  Eigenthum  des  Gedächtnisses  wieder  hervorgehoben  werden. 
Die  Aufschlüsse    hierüber   können   erst   durch  Vergleichung   der  Erfahrung 
mit    den    Lehrsätzen    der    Mechanik    des    Geistes    herbeigeführt    werden. 
Allein  schon  die   Kenntnifs  des  genus,    noch    ohne    die    genauere   Einsicht 
in    das   Eigenthümliche    der    species,    hilft    eine   Menge    von    Irrthümern    zu 
entfernen,  denen  man  in   Hinsicht  des  Gedächtnisses  und   des  Willens  sich 
gemeinhin  zu   ergeben  pflegt. 

§   38. 

Während    nun    die    eben    erwähnten    Gegenstände     eine     unerwartete 
Aufhellung  empfangen  haben:   bleibt  dagegen  das  Hauptproblem  noch  sehr 
im  Dunkeln  liegen,   und  wird  auch  noch  lange  nicht  aus  demselben  hervor- 
gehoben werden  können.     Was    das  Streben    vorzustellen,    für    die 
Ichheit  leiste?   das  ist  bis  jetzt  nur  noch  in    dem    höchst    allgemeinen 
Räsonnement   zu   erkennen,    dafs   die  fremden  Vorstellungen    bleiben,   ihre 
Objecte  aber  weichen  müssen,  wenn    das    Ich,    das    sich    auf   sie    bezieht, 
und  dennoch  ihnen   allen   entgegengesetzt  ist,   hervortreten  soll.      Doch  um 
wahrzunehmen,    dafs    wir    der   Auflösung    um    etwas    näher    gerückt    sind, 
wolle   man  zurückblicken    in    den    §   28.      Dort    kam    der  Satz    vor:    „Erst 
dann,  wenn   mehrere  Objecte   vorgestellt    werden,    gehört    etwas    an    ihnen 
dem  Xi erstellenden;   nämlich  ihre  Zusammenfassung  in  Ein  Vorstellen;   und 
was  aus  dieser  wei[i5i]ter  entspringt."     Jetzt  ist  uns  gestattet,  dieses,  was 
aus  der  Zusammenfassung  in   Ein  Vorstellen  entspringt,    näher   anzugeben, 
nämlich  in   so  fem   es    die  Grundlage    der  Ichheit    bildet.     Die  Objecte 
«Irr   Vorstellungen   sind    es    nicht,    wohl    aber    die   Regsamkeit    des   Vor- 


Erster  Abschnitt.      Untersuchung  über  das   Ich  in   seinen   nächsten  Beziehungen.         2  77 

i    —  ■■-— — —  ■  —  — 

stellens  selbst  in  seiner  Hemmung,  wovon  sieh  einsehn  läfst,  dafs  es  das- 
jenige ausmachen  werde,  worin  wir  Uns  Selbst  erkennen.  Eben  das,  was 
zum  Gedächtnifs  und  zum  Willen  gerechnet  werden  kann,  dieses  mag 
auch  Uns  bezeichnen;  es  mag  helfen,  jenes  bisher  vergeblich  gesuchte  Ob- 
ject  im   Begriff  des  Ich   (§   27)   allmählig  aufzufinden. 

Gleichwohl,  wie  weit  sind  wir  noch  vom  Ziele!  Wir  begreifen  noch 
nicht  einmal  so  viel,  wie  denn  ein  Vorstellen,  vollends  ein  Streben  vorzu- 
stellen; zum  Gegenstande  einer  höhern  Vorstellung  werden  könne.  Und 
dieses  wäre  doch  die  erste  Voraussetzung  für  jedes  Finden  seiner  selbst. 
Absolute  Acte  des  Aufspringens  zur  Reflexion  auf  sich  selbst,  haben  wir 
anzunehmen  uns  vielfältig  untersagt;  wollen  wir  aber  dergleichen  Wunder 
entbehren,  und  den  schwierigen  Weg  einer  ächten  Natur-Erklärung  ein- 
schlagen: so  müssen  wir  uns  schon  gefallen  lassen,  das  Gesuchte  eine 
Zeitlang  aus  den  Augen  zu  setzen,  um  andere  Spuren  desjenigen,  was 
seiner  Natur  nach  leichter  und  früher  erkannt  werden  kann,  zu  verfolgen, 
und  auf  solche  Weise  uns  erst  mit  den  nöthigen  Hülfs-Kenntnissen  für 
die  unternommene  Nachforschung  zu   versorgen. 

Demnach  sey  nun  auf  langehin  die  Frage  nach  dem  Ich  verab- 
schiedet; der  Begriff  aber  von  dem  Streben  vorzustellen,  dieser  Haupt- 
gewinn unserer  bisherigen  vom  Begriff  des  Ich  ausgegangenen  Nach- 
forschungen, wird  uns  einen  reichlichen,  ja  unerschöpflichen  Stoff  zu  fernem 
Untersuchungen  darbieten,  welche  selbst  wiederum  (im  §  132)  zu  der  Be- 
trachtung des  Selbstbewufstseyns  zurückführen   werden. 

§  39- 

Dafs  unter  mehrern,  einander  entgegengesetzten  Vor[i52]stellungen, 
die  Hemmung  gegenseitig  seyn,  folglich  die  Objecte  sämmtlich  in 
gewissem  Grade  verdunkelt,  und  die  Thätigkeiten  des  Vorstellens  in  eben 
dem  Grade  in  Strebungen  verwandelt  werden  müssen :  dies  leuchtet  so 
unmittelbar  ein,  dafs  der  Beweis  überflüssig  seyn  würde.  Zu  dem  weifs 
die  innere  Wahrnehmung  nichts  von  solchen  Vorstellungen,  die  gar  keiner 
Verdunkelung  unterworfen  wären;  vielmehr  ist  unleugbar,  dafs  alle  uns  be- 
kannten Empfindungen,  Gedanken,  Gesinnungen,  Motive,  mit  einem  Worte 
alles  was  im  Bewufstseyn  angetroffen  wird,  eben  so  wohl  von  anderem 
verdrängt  wird,  als  es  selbst  anderes  zu  verdrängen  vermag,  jeder  Gegen- 
stand, der  das  Gemüth  beschäfftigt,  steht  nicht,  sondern  schwebt  im 
Bewulstseyn;  er  schwebt  in  beständiger  Gefahr,  vergessen  zu  werden  über 
etwas  neuem,   —   wenn  auch  nur  auf  Augenblicke. 

Dennoch  bedarf  der  Begriff  der  gegenseitigen  Hemmung  mancher 
Erläuterungen.  —  Wir  erblicken  hier  die  Vorstellungen  als  wider  einander 
wirkende  Kräfte.  Aber  gerade  wie  in  der  allgemeinen  Metaphysik  sich 
findet,  dafs  das  Merkmal  der  Kraft  gar  kein  reales  Prädicat  irgend  eines 
Wesens  seyn  kann,  sondern,  dafs  die  Wesen  nur  zufälliger  Weise  Kräfte 
werden,  und  dafs  sie  dies  auf  unendlich  verschiedene  Weise  werden 
können,   ohne  alle  reale  Mannigfaltigkeit   in   ihnen   selber:*   eben   so  ergiebt 


*  Ueber  diesen  so  höchst   wichtigen   Punet   werden    aufmerksame  Leser    vielleicht 
nicht  blofs   den   §   5    meiner  Hauptpuncte  der  Metaphysik,   sondern  auch    die    schon    an- 


278  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

auch  die  gegenwärtige  Betrachtung  der  Vorstellungen,  dafs  ihnen  alle 
Kraftäufserung  nur  zufällig,  und  in  dem  Maafse  entsteht,  als  sie  gehemmt 
werden.  Jede  einzelne  Vorstellung  ist  zuerst  und  für  sich  allein  nur  durch 
ihr  Object,  durch  das  was  vorgestellt  wird,  [153]  hiedurch  aber  vollständig, 
bestimmt  als  eine  solche  und  keine  andre.  So  gewifs  sie  nun  dieses 
Object  wirklich  vorstellt,  eben  so  gewifs  ist  sie  keinesweges  ein  Streben 
vorzustellen;  denn  die  Eigenschaft  des  Strebens  geht  erst  hervor  in  der 
Hemmung  durch  ein  hinzukommendes  entgegengesetztes.  Es  ist  auch  in 
ihr  gar  keine  Activität,  die  auf  etwas  Fremdes,  und  gleichsam  Aeufseres 
gerichtet  wäre;  denn  ihrem  Begriffe  nach  besteht  eine  Vorstellung  nur  im 
Erzeugen  und  Vesthalten  ihres  vorgestellten  Bildes;  darin  erschöpft  sie 
sich,  und  aufserdem  ist  in  ihr  nichts  zu  finden.  —  Erst  indem  sie  in 
einem  und  demselben  Subject  mit  einer  andern  ihr  entgegenstehenden 
Vorstellung  zusammentrifft,  kommt  ihr  die  Activität,  wodurch  sie  über  sich 
selbst  hinausgeht.  Sie  drängt  die  andre,  weil  sie  von  der  andern  gedrängt 
wird;  beyde  aber  drängen  einander  vermöge  des  unter  ihnen  entstehenden 
Gegensatzes.  Dieser  Gegensatz  ist  wiederum  kein  Prädicat  weder  der 
einen  noch  der  andern,  einzeln  genommen;  sondern  eine  formale  Be- 
stimmung, welche  nur  in  Beziehung  auf  beyde  zusammen  genommen,  Sinn 
und  Bedeutung  hat.  Wer  den  Ton  c  hört,  der  hört  ihn  für  sich  und 
durch  sich  selbst,  nicht  aber  als  entgegengesetztes  von  d.  Desgleichen, 
wer  den  Ton  d  hört,  der  hört  den  einfachen  Klang  d  ohne  Gegensatz 
gegen  c  Aber  wer  die  Töne  c  und  d  beyde  hört,  oder  beyder  Vor- 
stellungen zugleich  im  Bewufstseyn  hat,  der  vernimmt  nicht  blofs  die 
Summe  c  und  d,  sondern  auch  überdem  den  Contrast  beyder,  und  sein 
Vorstellen  ist  der  Wirkung  des  Gegensatzes  beyder  unterworfen.  Eben 
so,  wer  sich  in  das  Anschaun  des  ungetrübten  Himmels  versenkt,  der  sieht 
reines  Blau  ohne  Gegensatz,  und  diese  Vorstellung  ist  für  sich  vollständig; 
aber  dasselbe  reine  Blau  ist  fähig  in  unendlich  viele  Contraste  einzugehn, 
gegen  andre  und  andre  Farben.  Wollte  man  diese  Contraste,  und  die 
dazu  gehörigen  hemmenden  Kräfte  der  Vorstellungen,  für  inwohnende  Be- 
stimmungen derselben  Vorstellungen  halten,  so  wäre  keine  Vorstellung 
etwas  für  sich;  es  [154]  stünde  auch  niemals  eine  in  einem  bestimmten 
Contraste  gegen  einzelne  andre;  sondern  sie  enthielte  zugleich  alle  die 
zahllosen  möglichen  Contraste  als  Eigenthümlichkeiten  in  sich ;  und  am 
Ende  wären  gar  in  jede  Vorstellung  alle  übrigen  Vorstellungen,  als  Be- 
dingungen dieser  sämmtlichen  Contraste,  mit  eingeschlossen,  und  die 
Mannigfaltigkeit  und  Abwechselung  der  Vorstellungen  würde  unmöglich. 

Diesen  Hauptgedanken,  dafs  nur  im  Zusammentreffen  die  entgegen- 
stehenden Vorstellungen  Kräfte  werden,  wollen  wir  nun  näher  bestimmen. 
Schon  die  Beyspiele  der  Farben,  der  Töne  u.  s.  w.,  erinnern  uns,  dafs  der 
Gegensatz  zweyer  Vorstellungen  gradweise  verschieden  seyn  könne.  Dem 
Blau    steht    das   Roth,    aber   weniger    das  Violet,    in    seinen    verschiedenen 


geführte  Abhandlung  de  attractione  elementorum  vergleichen,  worin  ich  ausführlich  die 
Unmöglichkeit  realer  bewegender  Kräfte  gezeigt,  und  die  Anziehung  der  Elemente 
auf  eine  blofs  formale  Notwendigkeit  zurückgeführt  habe,  welche  in  der  Art  der  Raum- 
erfüllung durch  einfache   Wesen   ihren   Sitz   hat. 


Erster  Abschnitt.      Untersuchung  über  das   Ich  in  seinen  nächsten  Beziehungen.         2  7Q 

Nuancen,  entgegen;  dem  Tone  c  mehr  der  Ton  d,  als  eis;  mehr  g,  als  e. 
Die  Hemmungen,  als  unmittelbare  Erfolge  der  Gegensätze,  müssen  sich 
wie  diese,  gradweise  abstufen.  Dafs  also  Vorstellungen  Kräfte  werden, 
dies  hat  sein  Maafs;  und  zwar  ein  veränderliches  Maafs,  weil  die 
Gröfse  des  Gegensatzes  Veränderungen  zuläfst. 

Neben  dieser  Gröfsenbestimmung  werden  wir  sogleich  noch  eine 
andre  als  möglich  erkennen.  —  Der  Erfolg  der  Hemmung  ist  Verdunkelung 
des  Objects,  und  Verwandlung  des  Vorstellens  in  ein  Streben  vorzustellen. 
Kann  ein  gewisser  Grad  des  Gegensatzes  totale  Verdunkelung  eines  Ob- 
jects bewirken:  so  wird  ein  geringerer  Gegensatz  nur  partielle  Verdunkelung 
zur  Folge  haben;  gradweise  verschieden  nach  den  Graden  der  minderen 
Gegensätze.  Diese  partielle  Verdunkelung  läfst  also  noch  einen  Grad  des 
Vorstellens  übrig.  Auch  das  Vorstellen  der  Objecte  also  hat  Grade,  wie 
die   Erfahrung  bestätigt. 

Offenbar  aber  ist  nöthig  anzunehmen,  dafs  ein  gewisses  Vorstellen, 
um,  verglichen  mit  einem  andern,  ein  schwächeres  zu  seyn,  erst  eine 
partielle  Verdunkelung  erlitten  haben  müsse:  auch  ohne  alle  Hemmung 
kann  es  ursprünglich  ein  schwächeres  oder  stärke[i55]res  seyn.*  Dieses 
ist  wiederum  in  der  Erfahruno;  völlig  bekannt ;  wir  schreiben  allen  unsem 
Auffassungen  ursprünglich   einen  Grad  zu. 

Verbinden  wir  nun  diese  Gradbestimmung  mit  jener,  also  den  Unter- 
schied der  Vorstellungen  ihrer  Stärke  noch  mit  der  Gröfse  ihres  Gegen- 
satzes unter  einander:  so  mufs  sich  daraus  ergeben,  wie  grofs  in  jedem 
Falle  die  Verdunkelung,  die  Hemmung,  das  Streben,  und  auch  das  noch 
übrige  wirkliche  Vorstellen  sevn  werde.  Hier  findet  die  Rechnung  einen 
ihr  angemessenen  Stoff;  und  es  kommt  darauf  an,  uns  von  der  Form 
solcher  Rechnung  einen  allgemeinen  Begriff  zu  bilden;  womit  die  Ueber- 
sicht  über  die  nachfolgenden   Untersuchungen   zusammenhängt. 

§   40. 

Die  Verdunkelung  der  Vorstellungen,  vollends  wenn  sie  successiv 
durch  verschiedene  Grade  fortläuft,  hat  so  viel  Aehnlichkeit  mit  einer 
Bewegung,  dafs  es  gar  nicht  befremdend  seyn  kann,  wenn  die  Theorie 
von  den  Gesetzen  der  Verdunkelung,  und  der  ihr  entgegenstehenden  Er- 
hellung, oder  dem  Wieder-Hervortreten  der  Vorstellungen  ins  Bewufstseyn, 
sich  der  Theorie  von  den  Bewegungsgesetzen  der  Körper  im  Ganzen 
ähnlich  gestaltet.  Wenigstens  die  Sprache  mufs  von  da  her  ihre  Aus- 
drücke entlehnen,  falls  nicht  eine  neue,  und  deshalb  unverständliche 
Sprache  unnützer  Weise  soll  erfunden  werden.  Nur  einige  Benennungen, 
welche  als  Metaphern  neu  sind,  wird  man  sich  müssen  gefallen  lassen, 
damit  die  neuen  Begriffe  eine   Bezeichnung  erhalten  können. 

Zu    allererst    werden    wir    den    Unterschied    der    Statik    [150]    und 


'f  Es  ist  jedoch  nur  die  logische  Möglichkeit  verschiedener  Grade  der  Stärke 
und  des  Gegensatzes ,  welche  hier  nachgewiesen  worden.  Eey  einem  Gegenstände, 
worüber  die  Erfahrung  so  deutlich  spricht,  mag  dies  zum  Beginnen  der  Untersuchut:;,' 
hinreichen.  Die  reale  Möglichkeit  folgt  aus  allgemein -metaphysischen  Betrachtungen 
über  die  zufälligen  Ansichten  der  Wesen,  und  über  das  Zxisammen  derselben,  als  !• 
ilingungen  der  Störungen   und   Sclbstcrhaltungcn. 


28o  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Mechanik,  welcher  die  Lehre  von  den  räumlichen  Kräften  beherrscht, 
auch  hier  wieder  finden.  Denn  das  Gleichgewicht,  im  Gegensatze  der 
noch  fortgehenden  Bewegung  vermöge  des  Uebergewichts  einiger 
Kräfte  über  die  andern,  - —  ist  dasjenige,  was  auch  in  Hinsicht  der  wider 
einander  wirkenden  Vorstellungen  sich  zuerst  .  darbietet,  und  sich  am 
leichtesten  bestimmen  läfst.  Die  obige  Frage,  wie  grofs,  bey  gegebener 
Stärke  und  gegebenem  Gegensatze  mehrerer  Vorstellungen,  die  Verdunkelung 
einer  jeden  sevn  werde,  ist  offenbar  eine  statische  Frage;  denn  es  wird 
eine  solche  Hemmung  einer  jeden  gesucht,  bey  welcher  dem  Gegensatze 
Genüge  geschieht,  und  die  Kräfte  nicht  weiter  gegen  einander  etwas  aus- 
richten können.  Allein  falls  ein  solcher  gehemmter  Zustand  einer  jeden 
Vorstellung  nicht  etwan  plötzlich,  sondern,  wie  schon  zu  vermuthen, 
allmählig  eintritt,  so  entsteht  nun  noch  eine  ganz  andre  Untersuchung, 
nämlich  mit  welcher,  sey  es  gleichbleibenden,  sey  es  veränderlichen  Ge- 
schwindigkeit, die  Verdunkelung  fortdauernd  geschehen,  und  in  welcher 
Zeit  sie  geendigt  sevn  werde.  Diese  letztre  Frage  erkennt  man  ohne 
Zweifel  sogleich  für  eine  mechanische  Frage. 

Die  angeführten  Beispiele  können  hinreichen,  um  die  Aehnlichkeit 
einer  Mechanik  des  Geistes  mit  der  Mechanik  der  Körperwelt  im  Allge- 
meinen wahrzunehmen.  Allein  über  der  Aehnlichkeit  darf  die  Verschieden- 
heit nicht  übersehen  werden.  Wir  haben  hier  keine  räumliche  Zusammen- 
setzung und  Zerlegung  der  Kräfte;  wir  haben  keine  Winkel,  also  keine 
Sinus  und  Cosinus,  und  keine  drehende  Bewegung;  wir  haben  keinen 
unendlichen  Raum,  sondern  alle  Bewegung  der  Vorstellungen  ist  zwischen 
zwey  vesten  Puncten  eingeschlossen,  ihrem  völlig  gehemmten,  und  ihrem 
völlig  ungehemmten  Zustande;  wir  haben  endlich  gar  kein  beharrliches 
Fortgehen  des  Bewegten,  folglich  auch  keine  ähnliche  Beschleunigung,  wie 
in  der  Mechanik  der  Körper,  denn  jede  augenblickliche  Bewegung  einer 
Vorstellung  ist  das  unmittelbare  Resultat  der  [157]  treibenden  Kräfte. 
Wir  haben  dagegen  hier  eine  Menge  ganz  anderer  Grundbegriffe,  welche 
die  Mechanik  der  Körper  nicht  kennt,  und  auch  dann  nicht  kennen  würde, 
wenn  sie,  um  sich  der  Analogie  der  Geistes-Mechanik  anzubequemen,  die 
gegenseitigen  Drückungen  einer  Menge  von  elastischen  Körpern  unter- 
suchen wollte,  (denn  dergleichen  liefse  sich  mit  den  Vorstellungen  noch  am 
ersten  vergleichen).  Statt  der  Schwere,  welche  die  Körper  nach  unten 
drängt,  haben  wir  hier  das  natürliche  und  beständige  Aufstreben  aller 
Vorstellungen,  um  in  ihren  ungehemmten  Zustand  zurückzukehren;  dieses 
jedoch  ist  vielmehr  eine  Aehnlichkeit  als  eine  Verschiedenheit,  indem  es 
einen  inwohnenden  Trieb  nach  einer  bestimmten  Richtung  anzeigt, 
welcher  in  jedem  Augenblick  so  viel  wirkt,  als  ihm  die  Umstände  gestatten. 

Doch  wir  wollen  diese  vorläufigen  und  oberflächlichen  Vergleichungcn 
nicht  weiter  fortsetzen,  sondern  zur  Sache  kommen.  Im  Begriff,  die  ersten 
Linien  der  Statik  und  Mechanik  des  Geistes  vorzulegen,  kann  ich  nicht 
unterlassen,  die  Nachsicht  der  Leser  anzurufen,  welcher  das  Unternehmen 
eines  blufsen  Liebhabers  der  Mathematik,  bey  einer  so  neuen  Unter- 
suchung,  ohne   Zweifel  bedürfen  wird. 


[158]     Zweyter   Abschnitt. 

Grundlinien  der  Statik  des  Geistes. 


Erstes  Capitel. 

Summe  und  Verhältnis  der  Hemmung  bey  vollem 

Gegensatze. 

§  41- 

Der  Gegensatz  zweyer  Vorstellungen  ist  voll,  oder  so  grofs  als 
möglich,  wenn  eine  von  beyden  ganz  gehemmt  werden  mufs,  damit  die 
andre  ungehemmt  bleibe.  Dieser  Fall  tritt  zwar  niemals  ein:  denn  eine 
Vorstellung  wird  nur  gehemmt,  indem  sie  widersteht;  und  ihr  Widerstand 
mufs  allemal  auch  in  der  entgegengesetzten  eine  gewisse  Hemmung  hervor- 
bringen. Aber  man  kann  sich  die  Fiction  erlauben,  dafs  die  ganze  Stärke 
des  Gegensatzes,  folglich  die  ganze  Nöthigung  zum  Sinken  nur  auf  eine 
der  beyden  falle:  alsdann  ist  das  höchste,  was  geschehn  kann,  völliges 
Sinken  dieser  einen,  oder  völliges  Erlöschen  ihres  Vorgestellten,  bev  Ver- 
wandlung ihrer  ganzen  Thätigkeit  in  ein  blofses  Streben  wider  die  ent- 
gegengesetzte. Mehr  als  Sinken  kann  sie  nicht,  und  es  würde  keinen 
Sinn  haben,  wenn  man  sich  das  Quantum  des  wirklichen  Vorstellens  noch 
über  Null   hinaus  abnehmend,   folglich   negativ,   denken  wollte. 

Wohl  aber  läfst  sich  ein  minderer  Gegensatz  denken.  Diesem  zu- 
folge würde  eine  Vorstellung  ganz  ungehemmt  bleiben  können,  wenn  von 
der  andern  nur  ein  be[ verstimmter  Bruch,  das  heifst  eigentlich,  wenn 
die  andere   nur  in   einem  bestimmten  Grade  gehemmt   würde. 

Der  Unterschied  des  vollen  und  des  minderen  Gegensatzes  ist  von 
der  Stärke  der  Vorstellungen  unabhängig.  Es  sev  die  eine  =  a,  die 
andre  =  b,  wo  a  und  b  Zahlen  bedeuten,  vermittelst  deren  die  Stärke 
beyder  verglichen  wird;  der  Gegensatz  aber  =  m}  wo  in  einen  Bruch 
bedeutet,  oder  höchstens  die  Einheit:  so  mufs  bey  vollem  Gegensatze  (für 
welchen  m  =  1),  eben  sowohl  a  ganz  sinken,  wenn  b  soll  ungehemmt 
bleiben,  als  b  ganz  sinken  mufs,  damit  a  ungehemmt  bleibe.  Denn  das 
Hemmende  mufs  ganz  und  gar  weichen,  wofern  für  das  entgegenstehende 
alle  Hemmung  verschwinden,  und  volle  Freyheit  wiederkehren  soll;  und 
dies  ist  ganz  auf  gleiche  Weise  nothwendig,  es  mag  nun  jenes  oder  dieses 
das  stärkere  oder  schwächere  seyn.  Bey  minderem  Gegensatze  mufs  inb 
sinken,   falls  a,   oder  es  mufs   via  sinken,   falls  b    ungehemmt    bleiben    soll. 


282  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Denn  je  mehr  von  dem  Hemmenden  vorhanden  ist,  in  demselben  Ver- 
hältnisse mehr  mufs  weichen,  wofern  das  gegenüberstehende  unangetastet 
bleiben  soll.  Bestünde  b  aus  unendlich  vielen  kleinen  Theilen:  so  würde 
jedem  derselben  das  Merkmal,  einen  Gegensatz  gegen  a  zu  bilden,  zuzu- 
schreiben seyn,  und  zwar  in  dem  Grade  ?n;  mit  der  Menge  der  Theile 
in  b  aber  würde  sich  diese  Entgegengesetztheit  vervielfältigen,  und  deshalb 
in  dem   Producte   mb  ihren  Ausdruck  finden. 

Die  Voraussetzung  des  vollen  Gegensatzes  wird  die  nächstfolgenden 
Untersuchungen  erleichtern;   deshalb  machen  wir  mit  ihr  den  Anfang. 

§  4-'. 

Die  Summe  der  Hemmung  ist  das  Quantum  des  Vorstellens,  welches 
von  den  einander  entgegenwirkenden  Vorstellungen  zusammengenommen, 
mufs  gehemmt  werden. 

Diese  Hemmungssumme  mufs  nothwendig  zuerst  bestimmt  seyn,  wenn 
die  Hemmung  jeder  einzelnen  Vor[i6o]stellung  soll  gefunden  werden. 
Denn,  wie  schon  im  §  39  bemerkt,  das  Widereinanderstreben  ist  den 
sämmtlichen  Vorstellungen  zufällig,  und  sie  äufsern  sich  demnach  nur  in 
so  fern  als  Kräfte,  als  das  Quantum  des  Gegensatzes,  welcher  sich 
zwischen  ihnen  bildet,  es  mit  sich  bringt.  Je  stärker  nun  der  Grad  des 
Gegensatzes  (das  obige  m)  und  je  Mehr  des  entgegenstehenden  (wegen 
der  Stärke  der  einzelnen  Vorstellungen) :  um  desto  gröfser  ist  das  Quantum 
dessen,  was  weichen  mufs  aus  dem  Bewufstseyn.  Dieses  Quantum  bildet 
alsdann  gleichsam  die  Last,  welche  sich  vertheilt  unter  den  verschiedenen 
Vorstellungen,  die  daran  zu  tragen  haben;  und  das  sind  die  sämmtlichen 
wider  einander  strebenden.  Aber  nicht  eher  können  wir  füglich  von  der 
Vertheilung  sprechen,   als  bis  wir  die  Last  kennen,  die  vertheilt  werden  soll. 

Für  vollen  Gegensatz  nun,  und  für  zwey  Vorstellungen  a  und  b, 
liegt  gleich  so  viel  klar  vor  Augen,  dafs  entweder  a,  oder  b  die 
Hemmungssumme  seyn  müsse.  Denn  es  wird  zwar  von  beyden  Etwas 
gehemmt  werden,  und  dafs  irgend  eins  von  beyden  gänzlich  weiche,  ist 
eine  blofse  Fiction,  der  die  Wirklichkeit  durchaus  nicht  entsprechen  kann, 
weil  nothwendig  jedes  von  der  ihm  entgegenstrebenden  Kraft  etwas  leiden 
mufs:  allein  in  welchem  Verhältnisse  auch  die  Last  sich  vertheile,  sie 
bleibt  doch  an  sich  immer  dieselbe;  wir  haben  aber  schon  im  vorigen  § 
bemerkt,  dafs  diese  Last,  oder  das  Zu-Hemmende  a  seyn  würde,  wenn  b 
ungehemmt  bleiben  sollte;  hingegen  b,  wenn  a  von  der  Hemmung  frey 
gedacht  würde.  Gesetzt  also,  die  Hemmungssumme  wäre  der  Gröfse 
nach  gleich  a:  so  würde  zwar  darum  nicht  die  ganze  Vorstellung  a 
gehemmt,  aber  der  Grund  hievon  läge  nur  darin,  dafs  ein  Theil  dieser 
Hemmungssumme  auf  b  fiele,  und  gerade  so  viel,  als  auf  b  käme,  dürfte 
nun  von  a  ungehemmt  bleiben.  Gesetzt  im  Gegen  theil,  die  Hemmungs- 
summe wäre  der  Gröfse  nach  =  b,  so  würde  nur  so  viel  von  b  unge- 
hemmt bleiben  kön[i6i]nen,  als  dagegen  von  a  aus  dem  Bewufstseyn 
verdrängt  würde. 

Wir  schwanken  demnach  nur  zwischen  zweyen  denkbaren  Bestimmungen 
der  Hemmungssumme;  allein  die  Entscheidung,  welche  unter  diesen  beyden 
die  richtige  sey,   kann  einen  Augenblick  schwierig  scheinen. 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  283 


Der  entscheidende  Grund  zwar  bietet  sich  leicht  genug  dar.  Nämlich 
man  mufs  sich  die  Hemmungssumme  so  klein  als  möglich  denken; 
weil  der  natürliche  Zustand  der  Vorstellungen  der  ungehemmte  ist,  und 
sie  sich  diesem,  zu  welchem  sie  sämmtlich  zurückstreben,  gewifs  so  sehr 
nähern  als  sie  können.  Daraus  folgt,  dafs  wenn  a  die  stärkere,  b  die 
schwächere  Vorstellung  ist,  die  Hemmungssumme  der  Gröfse  nach  nicht 
=  </,   sondern  =  b  seyn  werde. 

Auch  wenn  man  auf  die  Vertheilung  der  Hemmungssumme  einen 
Vorblick  wirft,  so  leuchtet  gleich  so  viel  ein,  dafs  zwar  die  stärkere  Vor- 
stellung das  Uebergewicht  haben  müsse,  doch  aber  unmöglich  mehr,  als 
die  schwächere  ganz,  gehemmt  werden  könne;  und  dafs  dieses  Aeufserste 
völlig  das  nämliche  bleibe,  wenn  schon  die  stärkere  wie  sehr  immer 
wachsen  möchte.  Z.  B.  es  sey  a  =■  10,  b=\:  so  wird  zwar  gewifs  b 
beynahe  ganz  gehemmt  werden;  aber  mehr  als  das  ganze  b  kann  auch 
dann  nicht  zu  unterdrücken  seyn,  wenn  schon  a  anstatt  =  10,  vielmehr 
=  100  wäre.  Es  ist  einmal  nicht  mehr  vorhanden  als  nur  b,  was  dem  a 
entgegengesetzt  wäre!  Folglich  durch  Vergröfserung  der  stärksten 
unter  den  Vorstellungen  wächst  die  Hemmungssumme  nicht. 
Hingegen  es  sey  a=  10,  b  =  2:  so  ist  nun  des  entgegengesetzten  gewifs 
mehr  geworden.  Denn  indem  b  von  1  bis  2  gewachsen  ist,  mute  a  einer 
stärkern  Kraft  widerstehen,  als  vorhin,  es  wird  dadurch  mehr  ins  Streben 
versetzt;  und  dasselbe  ist  der  Fall  bey  b,  wenn  schon  dieses  nun  ver- 
bal tnifsmäfsig  nicht  so  viel  leidet,  wie   vorhin. 

Da  nun  die  Hemmungssumme  nicht  gröfser  seyn  [162]  kann  als  b; 
aber  auch  nicht  kleiner  (denn  bey  vollem  Gegensatz  ist  b  ganz  und  gar 
dem  a  zuwider):  so  ist  sie  gewifs  ==  b.  Dasselbe  erhellet  auch  aus 
folgender  Betrachtung:  man  setze  a  ungehemmt,  so  ist  b  ganz  gehemmt; 
nun  verbessere  man  die  Vertheilung,  so  dafs  auf  a  auch  ein  Theil  der 
Last  falle,  und  b  dagegen  steige:  so  kann  unmöglich  durch  die  veränderte 
Vertheilung  das  Quantum  des  wider  einander  Wirkenden  wachsen  oder 
abnehmen,  denn  das  Wirksame,  und  seine  eigenthümliche  Beschaffenheit, 
vermöge  deren  es  einen  bestimmten  Gegensatz  mit  einander  macht,  bleibt 
genau  das  nämliche  wie  zuvor;  also  mufs  die  Summe  der  Hemmung  =  b 
seyn  und  bleiben. 

Allein  gerade  diese  letzte  Betrachtungsart  möchte  man  benutzen,  um 
daraus  einen  Einwurf  zu  bilden.  Setzet  umgekehrt  (möchte  man  sagen), 
es  sey  b  ungehemmt,  folglich  o  ganz  gehemmt;  bey  verbesserter  Ver- 
theilung kann  nun  das  Quantum  der  Hemmung  nicht  abnehmen,  eben 
darum  weil  dies  Quantum  von  der  Vertheilung  unabhängig  ist;  folglich 
ist  die  Hemmungssumme  =  a  und  nicht  b.  Oder,  wenn  auf  gleichem 
Wege  bewiesen  wird,  sie  sey  a,  und  auch,  sie  sey  b:  so  verräth  sich  da- 
durch die  Schwäche  der  Beweisart,   die  sich  selbst  widerstreitet. 

Wenn  man  jedoch  das  vorhin  entwickelte  zurückruft,  so  sieht  man 
offenbar,  dafs  in  der  Voraussetzung,  a  sey  ganz  gehemmt,  das  Quantum 
der  Hemmung  gröfser  angenommen  ist,  als  es  nach  der  Beschaffenheit 
von  a  und  b  zu  seyn  braucht.  Diese  beyden  können  unleugbar  eine 
Stellung  gegen  einander  annehmen,  worin  weniger  von  ihnen  gehemmt 
wird;    und    eben    darum    werden    sie    es    unfehlbar    thun,    sobald    die   Ver- 


2$a  XL  Psychologie  als  "Wissenschaft. 

theilung  sich  ändert;  wiewohl  dieses  nicht  von  der  neuen  Yertheilung 
herrührt.  Vielmehr  dasselbe  Aufstreben  beyder  Verstellungen,  welches 
eine  bessere  Proportion  in  die  Vertheilung  bringen  wird,  eben  dieses 
widersetzt  sich  auch  dem  Uebermaafse  der  Hemmung,  und  führt  sie  auf 
das  Nothwendige  zurück.  —  [I(:)3]  Es  scheint  demnach  unsre  Bestimmung 
der  Hemmungssumme  hinreichend   gesichert  zu  sevn. 

Die  gleiche  Bestimmung  aber  wird  sich,  unter  Voraussetzung  des 
vollkommenen  Gegensatzes,  sehr  leicht  von  zwey  Vorstellungen  auf 
mehrere  in  beliebiger  Anzahl  ausdehnen  lassen.  Es  seyen  aufser  a,  der 
stärksten,  noch  vorhanden  b,  c,  d,  ...;/:  so  ist  die  Hemmungssumme 
=  b  -\-  c  -\-  d  -\-  .  .  .  -\-  n.  Denn  b  und  die  übrigen  stehn  dem  a  ganz 
und  gar  entgegen;  kleiner  also  als  ihre  Summe  kann  das  Quantum  der 
Hemmung  nicht  sevn:  aber  auch  nicht  gröfser,  denn  wenn  jene  alle  völlig 
unterdrückt  wären,  bliebe  die  stärkste  ganz  ungehemmt.  —  Will  man 
dagegen  versuchen,  sich  b  ungehemmt  zu  denken,  so  ist  die  Summe  des 
Gehemmten  =  a  -f-  < '  -f-  d  -j-  .  .  -\-  n ;  also  gröfser  wie  vorhin,  und  so  bey 
jeder  andern  ähnlichen  Voraussetzung.  Folglich  ist  die  obige  Angabe 
allein  zulässig.   — 

Bevor  wir  indessen  die  Betrachtung  der  Hemmungssumme  verlassen, 
mufs  noch  einem  möglichen  Misverständnisse  begegnet  werden,  welches 
aus  der  Vergleichung  jener  Summe  mit  einer  zu  vertheilenden  Last,  ent- 
stehen könnte.  Es  wird  nämlich  dem  Geiste  unsrer  vestgestellten  Sätze 
ganz  gemäfs  gefunden  werden,  dafs  die  Vorstellungen  sämmtlich  in  eben 
dem  Grade,  wie  sie  leiden,  auch  in  wirksame  Kräfte  verwandelt,  dafs  sie 
durch  den  Druck  angespannt  werden,  und  dafs  das  Gleichgewicht  eintrete, 
sobald  Spannung  und  Druck  einander  gegenseitig  aufheben.  Hieraus  nun 
scheint  zu  folgen,  dafs  die  Summe  des  wirklich  Gehemmten  weit  weniger 
betragen  müsse,  als  die  ursprüngliche  Nöthigung  zum  Sinken  erfordert. 
Denn  diese  Nötlrgung  und  die  Spannung  der  Vorstellungen,  werden  wider 
einander  wirken;  und  die  erstere  kann  also  den  Punct  nicht  erreichen, 
wohin  sie  strebt.  —  Dieses  ist  scheinbar,  aber  gleichwohl  unrichtig.  Es 
wird  nämlich  dabev  vorausgesetzt,  die  Vorstellungen  könnten  der  Hemmungs- 
summe widerstreben.  Aber  die  [104]  Vorstellungen  widerstreben  vielmehr 
eine  der  andern.  Die  Hemmungssumme  ist  nichts  von  ihnen  Ver- 
schiedenes;  sie  ist  keine,  ihnen  gleichsam  von  aufsen  her  aufgelegte  La>t. 
an  der  sie  gemeinschaftlich  zu  tragen  hätten ;  sondern  sie  ist  nur  der  Aus- 
druck  von  dem  Quantum  des  Widerstreits,  der  sich  unter  ihnen  erhebt, 
und  unter  ihnen  bleibt,  so  fern  sie  im  Bewufstseyn  zusammentreffen.  Was 
daher  eine  Vorstellung  durch  ihre  Spannung  gewinnt,  das  kann  nicht  Ver- 
minderung des  ursprünglichen,  in  der  Beschaffenheit  der  Vorstellungen  ge- 
gründeten Widerstreits  sevn  (sonst  müfsten  sie  ihre  Natur  ändern),  sondern 
jede  Vorstellung  gewinnt,  so  viel  sie  vermag,  über  die  andern  Vorstellungen, 
die  sie  um  gerade  so  viel  hemmt,  als  um  wie  viel  sie  die  Verdunkelung 
ihres  eignen  Objects  im  Bewufstseyn  abhält.  Und  weit  entfernt,  dafs  die 
Hemmungssumme  in  der  Spannung  eine  Gegenkraft  finden  sollte,  ist  sie 
vielmehr  gerade  der  Ausdruck  dieser  Spannung  selbst,  die  mit  dem  Wider- 
streite identisch  ist,  so  fern  derselbe  als  Summe  des  activen  Streitens  der 
einzelnen  Vorstellungen  betrachtet  wird.     Tiefer  unten  wird  sich  Gelegen- 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  28  5 

heit  finden,  dieses  sowohl,  als  die  entgegenstehende  unrichtige  Ansicht  in 
mathematischen  Formeln  auszusprechen:  da  sich  denn  zeigen  wird,  dafs 
ganz  verschiedene  Gesetze  des  allmähligen  Sinkens  der  Hemmunessumme 
1  laraus  hervorgehn, 

Endlich  wolle  man  nicht  fragen,  ob  wir  uns  denn  solcher  Spannung 
unsrer  Vorstellungen  auch  bewufst  seyen?  Nach  unsrer  ganzen  vorstehenden 
Entwickelung  sind  die  Vorstellungen  in  so  fern  kein  wirkliches  Vorstellen, 
als  sie  sich  in  ein  blofses  Streben  vorzustellen  verwandelt  haben,  —  das 
heifst  mit  andern  Worten,  als  sie  in  Spannung  versetzt  sind.  Unmöglich 
also  kann  man  diese  Spannung  im  Bewufstseyn  dessen  geben,  was  kein 
Vorstellen,  sondern  gerade  die  Abwesenheit  desselben  ist.  —  Unsre  Be- 
strebungen, Begierden  u.  s.  w., s deren  wir  uns  wirklich  bewufst  sind,  dürfen 
demnach  nicht  [165]  zu  voreilig  aus  jener  Spannung  erklärt  werden,  ob- 
gleich sie  damit   wesentlich   zusammenhängen. 

§  43- 

Das  Verhältnifs  der  Hemmung  ist  dasjenige  Verhältnifs,  in  welchem 
sich  die  Hemmungssumme  auf  die  verschiedenen,  wider  einander  wirkenden, 
Vi  ^Stellungen  vertheilt. 

Jede  Vorstellung  behauptet  sich,  so  gut  sie  kann,  unter  allen  übrigen; 
sie  darf  aber  nicht  als  eine  ursprünglich  angreifende,  sondern  nur 
als  eine  widerstehende  Kraft  betrachtet  werden.  Es  ist  hier  gleich  An- 
fangs  ein  möglicher  Irrthum  abzuhalten,  der  zu  falschen  Berechnungen 
verleiten  würde.  Man  könnte  nämlich  glauben:  jede  Kraft  wirke  im 
Verhältnifs  ihrer  Stärke  auf  die  übrigen.  Wäre  also  z.  B.  die  Vor- 
stellung a  =  2,  die  Vorstellung  b  =  1 ,  und  was  von  b  gehemmt  würde 
=  x :  so  müsse  für  a  =  4,  das  von  b  Gehemmte  =  2  x  werden,  indem 
die  hemmende  Kraft  verdoppelt  sey.  Dies  ist  darum  unrichtig,  weil 
ä  =  4  verhältnifsmäfsig  weniger  von  b  =  1  angegriffen  wird,  als  a  =  2 
von  dem  nämlichen  b.  Aber  a  kann  nur  wirken  in  so  fern  es  durch 
das  entgegengesetzte  dazu  getrieben  wird.  Hätte,  zugleich  mit  a,  sich 
auch  b  verdoppelt:  dann  erst  wäre  mit  der  Kraft  auch  die  Reizung, 
folglich  der  Effect  verdoppelt  worden. 

Gewifs  aber  widersteht  jede  Vorstellung  dem,  zwischen  den 
mehrern  entstandenen,  Gegensatz  um  so  besser,  je  stärker  sie  ist. 
Sie   leidet  also   im   umgekehrten  Verhältnifs  ihrer  Stärke. 

Und  jetzt  können  wir  leicht  den  Gegenstand  völlig  ins  Klare  setzen. 
Drey  Betrachtungen  müssen  gesondert,   und   wieder  verbunden  werden. 

Erstlich:  jede  Vorstellung   wirkt   im  Verhältnifs  ihrer  Stärke   =  i. 

1 

Zwevtens:   sie   wirkt  in   dem  Verhältnifs,   in  welchem  sie  leidet,  =  —.. 

1 

[166]  Drittens:  sie  leidet  im  umgekehrten  Verhältnifs  ihrer  Stärke,  das 

heilst,  im  Verhältnifs  — . 

i 

Das    Verhältnifs    des    Wirkens    ist    zusammengesetzt    aus   /  und   — ,  es 

i 

ist  also   allemal   =   1;    und    folglich    kann    man    es   aus   der    Rechnung    weg- 


286  ^I-  Psychologie  als  Wissenschaft. 


lassen.     Das  Verhältnils    des  Leidens  =  —    bleibt    allein    übrig    und    be- 

i 

stimmt  die  Vertheilung  der  Hemmungssumme. 

So  ist  es  bey  vollem  Gegensatze,  wovon  wir  jetzt  reden.  Bey 
minderem  Gegensatze  bringt  dieser  noch  einen  Zusatz  in  das  Verhältnifs 
des  Wirkens,  wovon  tiefer  unten. 

Bev  vollem  Gegensatze  wirken  auf  jede  einzelne  Vor- 
stellung alle  andern  gleich  viel,  sie  mögen  wie  immer  ungleich 
seyn  an  Stärke. 

Um  diesen  Satz  ganz  einleuchtend  zu  machen,  wollen  wir  von  der 
leichtesten  Voraussetzung  anfangen.  Es  seyen  also  zuvörderst  nur  zwey 
Vorstellungen  mit  einander  im  Conflict,  die  stärkere  =  a,  die  schwächere  =  b. 
Die  Hemmungssumme,  welche  die  Stärke  des  Conflicts  angiebt.  ist  nun 
dasjenige,  wovon  beyde  Vorstellungen  leiden.  Und  zwar  leidet  a  im  Ver- 
hältnifs — ,  b  im  Verhältnisse  -7-.  Beyde  wirken  auf  dieses  Leiden  zurück 
a  b 

(nur  nicht  etwan  erst  hintennach,   sondern   indem  und  in  so   fern    sie    die 
Wirkung  erleiden,)  im  zusammengesetzten  Verhältnisse   ihres  Leidens   und 

ihrer  eignen  Stärke,  welches  =  a  . —  und    b  .—  ist,    oder    =    1.       Diese 
0  ab 

Rückwirkung  von  a  trifft  b,   und    die   Rückwirkung    von    b    trifft    a;    allein 

beyde   Rückwirkungen  sind  gleich,   und  heben     sich    auf;    daher    das    erste 

Verhältnifs,  des  Leidens  von  der  Hemmungssumme,   allein  entscheidet. 

Es  seyen  jetzt  drey  Vorstellungen  im  Conflict;  a,  [167]  b,  c,  und  «>/>, 

1        . 
auch  a  >  c.     Von  der  Hemmungssumme  leidet  a  im  Verhältnisse  — ,  b  im 


Verhältnisse  -T,    c  im  Verhältnisse--.     Alle  Rückwirkungen  sind  ==  1.  Jede 
b  c 


derselben  mag  sich  gleich  vertheilen  auf  die  entgegenstehenden  (denn  eine 
besondre  Richtung,  wider  eine  vielmehr  als  wider  die  andre,  kann  sie 
nicht  haben),  so  wird  jeder  Theil  aufgehoben  durch  einen  ihm  gleichen 
entgegengesetzten. 

Um  noch  sorgfältiger  zu  gehn,  wollen  wir  die  Betrachtung  darin 
ändern,  dafs  wir  die  Hemmungssumme  bey  Seite  setzen,  die  Vor- 
stellungen aber  paarweise  ins  Auge  fassen,  um  nicht  blofs  jede  gegen  alle 
übrigen  zusammen,  sondern  jede  gegen  jede  einzelne  im  Conflict  zu 
beobachten. 

Erstlich:    in    dem  Conflicte    zwischen    a    und    b    leiden    beyde,     wie 

vorhin  gefunden,   in  den  Verhältnissen  J  -  und   -  .      Wir  wissen  noch  nicht 
0  ab 

x 

wie  viel  sie  leiden ;   es  sev  aber  das  Leiden  von  a  =  — ,  so    ist    das    von 

a 

b  =  — .      Zwevtens:   mit  a  ist  auch  c   im   Conflict.      Wofern  nun  c    von 
b 

a  mehr  oder  weniger  leidet  als  b,  so  kann  dieses  nur  von  dem  Ver- 
hältnisse   b  :  c    herrühren;    welches    das    Verhältnis    des    Widerstandes    be- 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  287 


stimmt,    den    beyde    der    gleichen   Kraft  a,    und    ihrer    gleichen   Spannung,, 
entgegensetzen.      Nach  der  Proportion 

x    x 

0      c 

X  X 

i^t  —   dasjenige,   was  c  von  a  leidet.      Folglich  a  von  c  leidet      .    Drittens: 
a  a 

in  dem  Cönflict  zwischen  b  und   c    findet    man    auf  doppeltem  Wege    die 

Bestimmung  für  das  [168]  Leiden  eines  jeden.      Nämlich  man  weifs  schon, 

wie  viel  a  leidet  von  #;    daraus   findet  sich,  wie    viel  c  leiden    müsse    von 

der  nämlichen  und  gleichgespannten   Kraft.      Man    weifs    auch    wie    viel    a 

leidet  von  c:   daraus  findet  sich,  wie  viel  b  leiden  müsse  von  der  nämlichen 

Kraft.      Endlich    müssen    beyde    Resultate    einander   gegenseitig    erproben. 

Es  ist  aber 

x    x 

c  :a  =  —  :  — , 
a      c 


und  b  :  a  =  —  :  — ; 
a     b 

wo  die  vierten  Glieder  im  umgekehrten  Verhältnisse   von  c   und    b  stehen, 

wie  gehörig.    —   Fafst  man  nun  alles  zusammen:  so  ist  das  Leiden 

2X 


von  a  = 

a 

von  b  = 

2X 

b   ' 

2  X 

von  c  =  -  —, 
c 

welche  Gröfsen  zusammen  der   Hemmungssumme  gleich  seyn    müssen,    so« 

dafs  man  daraus  x  finden   kann.      Zugleich    ist    der    obige  Satz    bewiesen, 

denn   a    leidet  von  b  und  von  c  gleich   viel,    b    von    c    und    von  a  gleich 

viel,   c  v<  »n  b  und   von  a  gleich  viel. 

Es  würde  unverzeihlich  seyn,  eine  so  leichte  Sache  auch  noch  für 
\ier  und  mehrere  Vorstellungen  weitläuftig  darthun  zu  wollen,  da  der 
Gang  des   Beweises  klar  vor  Augen  liegt. 

Es    seyen    nun    Vorstellungen    a,    b,    r,    .  .  .  n    gegeben,     so    sind    die 

Hemmungsverhältnisse  — ,  -r-,  —  ....  — .     Der  Rechnung  wesren  ist  nur  zu 

O  7       7    '  DO 

a      o      c  11 

bemerken,  dafs  hier  etwas  Combinatorisches  eintritt,  weil  man  diese  Gröfsen 
auf  ganze  Zahlen  wird  bringen  müssen.  Daraus  entstehn  für  a,  b,  c, 
die  Binionen  bc,  ac,  ab;  für  a,  b,  c,  </,  die  Ternionen  bcd,  acd,  abd, 
abc,  u.  s.  f. 


'.8S 


XI.     Psychologie  als  Wissenschaft. 


[i6q]      Zweytes  Capitel. 

Berechnung  der  Hemmung  bey  vollem  Gegensatz,  und 
erste    Nachweisung   der   Schwellen    des  Bewufstseyns. 

§   44- 

Die  Berechnung  dessen,  was  von  jeder  Vorstellung  gehemmt  werde, 
geschieht  ohne  allen  Zweifel  durch  Proportionen,  zu  welchen  die  Hemmungs- 
summe das  dritte  Glied  liefert,  und  deren  erste  beyde  Glieder  aus  den 
Hemmungs- Verhältnissen  hervorgehn. 

Es  seyen  die  Vorstellungen  a  und  b  gegeben,  als  wider  einander 
wirkend  im  Bewufstseyn,  und  stehend  im  vollen  Gegensatze:  so  ist,  laut 
voriger  Entwickelungen,  die  Hemmungssumme  gleich  der  schwächeren,  oder 
=  b\  das  Hemmungsverhältnifs  wie  b  :  a.  Folglich  wird  man  schliefsen: 
wie  die  Summe  der  Verhältnifszahlen  zu  jeder  einzelnen  Verhältnüszahl, 
so  das  zu  Vertheilende   (die   Hemmungssumme)   zu  jedem   Theile;  oder 


(«  +  *) 


* 


b2 

a-\-b 

ab 

a-\-b 


Die  Verhältnifszahl  b  gehört  (wegen  der  Umkehrung  des  Verhältnisses) 

b2 


zu  a\  folglich 


der  Rest  von    a  =  a 


und  der  Rest  von    b  =  b 


a^b 
ab 


b2 


a-j-  b        a-\~  b 

Diese  Reste  sind  natürlich  nicht  abgeschnittene  Stücke  der  Vor- 
stellungen a  und  b,  sondern  es  sind  die  Grade  der  noch  übrigen  Leb- 
haftigkeit der  Vorstellungen,  nachdem  durch  die  Hemmung  der  zuvor  be- 
rechnete Theil  des  wirklichen  Vorstellens  ist  aufgehoben,  und  in  ein 
blofses  Streben  vorzustellen  ist  verwandelt  worden. 

Es  seyen  auf  eben  die  Art  drev  Vorstellungen  gegeben,  nämlich  a 
b,   c,  worunter  a  die   stärkste,   c    die  schwächste:   so  ist  die  H.  S.  (=  Hem- 

iii 
mungssumme)  =  b  -j-  c,  das  H.  V.  (=  Hemmungsverhältnifs) 


a 


b' 


oder  bc,  ac,  ab]  und  die  Proportionen 

bc 


[bc  -(-  ac  -\-  ab)  : 


ac=  (b  -f-  c) 


ab 


bc(b-\-c) 


bc  -{-  ac  -\-ab 
ac  (b  -\-  c) 

bc  -\-ac  -^-ab 
ab  (b  +  c) 

bc  4-  ac  -\-  ab 


woraus  die  Reste 


von    a,   =a 


be{b  +  c) 

bc  -\-  ac  -\~  ab 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  280 

ac{b-\-c) 

von  b,  =b  —  - v     '     '— 

bc  -\-ac  -\-  ab 

ab(b-\-c) 
von  c,  =c  —  —-r-± — ~—u 
bc  -j-  ac-\-  ab 

Man  sieht  leicht,  wie  dies  für  vier  und  mehrere  Vorstellungen  fortgeht. 
Hier  einige  Berechnungen  in  Zahlen.  Zuerst  für  zwey  Vorstellungen. 
Es  sey  a  =  1 ,  b  =  1 ,  so  ist  der  Rest 


Es  sey  a 


von 

a, 

1 
2 

von 

b, 

1 

2,  b 

=  I 

,  so 

ist 

dei 

■  Rest 

von 

a, 

3 

10, 

b  = 

I,    ! 

von 
io  ist 

der  Rest 

von 

a, 

109 
11 

II, 

b  = 

IO, 

von  b, 
so  ist 

1 
11 

der  Rest 

von 

a, 

*3' 

21 

von 

b, 

100 
21 

Es   sey  a 


Man  sieht,  dafs  die  Reste  in  einem  weit  gröfseren  Verhältnisse  ver- 
schieden sind,  als  die  Vorstellungen  selbst.  [171]  Doch  kann  der  Rest  von  b 
niemals  =  o  werden,    denn   erst  tür  a  =  00  wird  der  Werth   der  Formel 

bz 
— — : — r   unendlich  ldein. 
a-f-b 

Jetzt  für  drey  Vorstellungen. 

a=  l,  b  =  1 ,  c  =s  1 ,  giebt  den  Rest 

von  a,  =  — :  von  b,  =  —  •  von  c,  =  — 
3  '  3  '  3 

a  =  z,  b=i,  fs=i(  giebt  den  Rest 

von  a,  = — ;  von  b,  ■==.—•  von  r,  =  — 

5  '  5  '  '5 

Wäre  hier,  statt  b  und  ^,  eine  einzige  Vorstellung  von  der  Stärke 
b  -\-  c  vorhanden  gewesen:  so  würde  von  dieser  ein  gleicher  Rest,  wie 
von  a,  nämlich  von  jeder  der  Rest  =  1  geblieben  seyn.  Im  gegen- 
wärtigen Falle  bleibt  achtmal  so  viel  von  a,  als  von  b  und  von  c.  So 
wichtig  ist  der  Unterschied,  ob  das  nämliche  Quantum  des  Vorstellens 
als  Eine  Gesammtkraft  wirkt,  oder  ob  es  in  zwey  wider  einander  wirkende 
Vorstellungen  vertheilt  ist.  —  Es  sey  endlich  noch 

a  =  6,  £  =  5,   ^  =  4,  so  ist 

von  a  der  Rest  =  I32 

37 

von  b     „         „      =~ 
von  C    „        „      =  j3 
Eine    Gesammtkraft   =b  -\-  c,   anstatt   der    beyden   Kräfte   b   und   c, 
hätte   hier   eine   viel   kleinere    Hemmungssumme   ergeben;   sie   wäre  =  6, 

Herrart's  Werke.     V.  19 


2C)0 


XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


anstatt  jetzt  =  9,  geworden.  Auch  würde  von  a  nur  wenig,  von  der 
Gesammtkraft  desto  mehr  übrig  geblieben  seyn. 

Der  Rest  von  b  kann  auch  für  drey  Vorstellungen  nicht  =  o  werden ; 
sonst  müfste  bbc-\-abb —  acc  =  o  seyn  können,  welches  nicht  angeht, 
weil  b  nicht  kleiner  als  c  seyn  soll,  folglich  entweder  abb>  acc,  oder  doch 
abb  =  acc;  so  dafs  immer  das  Positive  überwiegt. 

Hingegen  der  Rest  von  c  kann  allerdings  =  o  werden ;  ein  sehr 
wichtiger  Umstand,  wovon  bald  ein  Mehreres. 

§  45- 
Der  Zweck  der  allgemeinen  Formeln  kann  bey  den  gegenwärtigen 
Untersuchungen  kein  anderer  seyn,  als,  [172]  eine  Uebersicht  über  ein 
ganzes  Feld  von  Möglichkeiten,  oder  noch  genauer,  von  Erfolgen  möglicher 
Voraussetzungen,  zu  erlangen.  Dieser  Zweck  wird  gar  sehr  durch  kleine 
Tafeln  befördert,  welche  die  Werthe  der  Formeln  für  angenommene  Grund- 
gröfsen  in  Zahlen  berechnet  darstellen.  Um  aber  die  Arbeit  abzukürzen, 
die  solche  Tafeln  kosten,  ist  es  rathsam,  einige,  für  die  Rechnung  leichte 
Fälle  herauszuheben,  und  wo  möglich  so,  dafs  die  übrigen  Fälle  als  zwischen 
jene  einzuschaltende  können  gedacht  werden. 

Wir  wollen  damit  hier  den  Anfang  machen.  Für  drey  Vorstellungen 
sey  der  Rest  von  a=p,  von  b  =  q,  von  c  =  r.  Man  setze  erstlich 
b  =  c,  woraus  q  =  r  folgen  mufs.  Man  setze  zweytens  b  ■=  a,  woraus 
p  ==q  folgen  mufs.  So  findet  sich  nach  gehöriger  Rechnung  aus  den 
Formeln  des  vorigen  § 

für  b  =  cy  für  b  =  a, 

2  b2  c_{aJrc) 

2c  -f-  a 


p  =  a 


b  -\-  2a 
b2 


p  =  q  =  a 


2C 


a' 


b  -\-  2a  2c  -\-a 

Im  ersten  Falle  sey  £=  10,  im  zweyten  c=  10;  so  kommt 

200  ,  io(io-f-rt) 

1)  q  =  a—         t  2)  p  =  q  =  a 


10  -J-  2a 


100 


20  -{-  a 
200  —  a2 


1  o  -f-  2  a 
b  =  c  =  10 


20-\-a 
a  =  b,  und  c  =  1  o 


p 

q  =  r 

a—  10 
a=  11 

3,33  ■  • 

4,75  •  • 

3,33  •• 
3>12  •  • 

0=15 

10 

2,5 

a=  20 

16 

2 

a==4o 

37,77  •• 

1,11  .. 

p=q 

r 

a  =  b  =  10 
a  =  b=  11 

3,33  •• 
4,22  .. 

3,33  •• 

2,54  •• 

a  =  b  =  12 
a  =  b=  13 

a  =  b  —  14 

5,17  •  • 
6,03  . . 

6,94  •  • 

i,75 
0,93  •  ■ 
0, 1 1 

a  =  b  =  1 5 

7,5 

0 

a  =  b  =.  20 

10 

0 

[173]   Die  letzten  Werthe  des  Täfelchens  hängen  mit  den  Schwellen 
zusammen,  wovon  weiterhin. 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  201 

§    46. 

Es  mag  nicht  unnütz  seyn,  auch  noch  der  Aufgabe  zu  erwähnen, 
rückwärts  aus  den  Resten  als  gegebenen  Gröfsen  die  Vorstellungen  selbst 
zu  finden.     In  den  Gleichungen 

bc  (b  4-  c) 


p  =a 

q  =  b 


bc -\-ac -\-  ab 

ac  (b  --J-  c) 

bc  -l-ac  4-  ab 
at b  (b  -j-  c) 


bc  4-  ac  4-  ab 
seyen  demnach,  a,  b,   c,  unbekannt;    so  bietet  sich  zuvörderst,  sowohl   aus 
der   Natur    der    Sache    als    auch    aus    den    Formeln,    die    Gleichung    dar: 
a=P +  <!  +  >'. 

Ferner  sey   - — ■ — — =/;  so  hat  man 

bc  -\-ac  -^-ab       J 


folglich 


a  —p  —  bc/;  b  —  q  =  ac/;  c  —  r  =  ab/; 
a  — p  b     a  — p         c 


b  —  q         a  '    c  —  r         a 
oder  a2  —  ap  =  b2  —  bq  =  c2  —  Cr. 

Man  setze  die  schon  bekannte  Gröfse  a2  —  ap  =  h,  so  ist 

Dafs  man  vor  der  Wurzelgröfse  nur  das  Zeichen  4-  gebrauchen  kann 
ist  offenbar,  indem  b  und   c  gröfser   seyn    müssen    als    ihre    halben  Reste. 

§  47- 

Aus  der  Bemerkung,  dafs  der  Rest  von  c  negativ  werden  kann,  ent- 
wickelt sich  der  Keim   zu  sehr  weitgreifenden  Nachforschungen. 

Die  Frage:  was  ein  negativ  gewordenes  Vorstellen  bedeuten  könne, 
ist  leicht  beantwortet.  Es  kann  gar  nichts  bedeuten ;  denn  nach  den  vorigen  * 
Erörterungen  ist  das  [174]  Aeufserste,  was  einer  Vorstellung  begegnen 
kann,  dieses,  dafs  sie  ganz  und  gar  in  ein  blofses  Streben  vorzustellen 
verwandelt,  oder  dafs  der  Rest  des  wirklichen  Vorstellens  =  o  werde. 
Die  Gleichung  r  =  o  setzt  daher  der  Anwendbarkeit  der  vorigen  Rechnungsart 
eine  Gränze;  denn  ein  negatives  r  ist  in  unserm  Falle  so  gut  als  eine 
unmögliche  Gröfse. 


Aus    r  =  o   folgt  c  =  b\/ .     Wofern   c  im  Verhältnifs  zu  b  und 

0  r    b-\-a 

a  kleiner  ist,   als  nach   dieser  Formel :  so  ist  jede  nähere  Bestimmung  seiner 

Gröfse  für  die  obige  Hemmungsrechnung  ganz  gleichgültig;    denn   es    wird 

auf  allen  Fall  ganz  gehemmt;  daher  ist   sein  Antheil   an   der  Hemmungs- 


1  nach  vorigen   O. 


19" 


2Q2  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

summe  gerade  gleich  seinem  Beytrage  zu  derselben,  und  die  stärkeren 
Vorstellungen  theilen  ihren  Beytrag  gerade  so,  als  ob  c  gar  nicht  vor- 
handen gewesen  wäre.  Der  Zustand  des  Bewufstseyns  also,  in  wiefern  er 
statisch  bestimmt  werden  kann,  hängt  gar  nicht  ab  von  c;  —  noch  viel 
weniger  aber  von  was  immer  für  noch  schwächeren  Vorstellungen, 
deren  eine  unendliche  Anzahl  vorhanden  seyn  möchte,  ohne 
dafs  sie  im  geringsten  im  Bewufstseyn  zu  spüren  seyn  würden, 
so  lange  dasselbe  im  Zustande  d'es  Gleichgewichts  aller  Vor- 
stellungen wäre  und  bliebe. 

Dieser  Satz,  der  sich  hier  mit  der  höchsten  mathematischen  Evidenz 
ergiebt,  bietet  uns  nun  den  Aufschlufs  dar  über  das  allgemeinste  aller 
psychologischen  Wunder.  Wir  alle  bemerken  an  uns,  dafs  von  unserm 
sämmtlichen  Wissen,  Denken,  Wünschen,  in  jedem  einzelnen  Augenblicke 
eine  unvergleichbar  kleinere  Menge  uns  wirklich  beschaff tigt,  als  diejenige 
ist,  welche  auf  gehörige  Veranlassung  in  uns  hervortreten  könnte.  Dieses 
abwesende,  aber  nicht  entlaufene,  sondern  in  unserm  Besitz  gebliebene 
und  verharrende  Wissen,  in  welchem  Zustande  befindet  es  sich  in  uns  ? 
Wie  geht  es  zu,  dafs  es,  obschon  vorhanden,  dennoch  nicht  eher  zur  Be- 
stim[i75]mung  unseres  Gemüthszustandes  etwas  beyträgt,  als  bis  es  uns 
wieder  einfällt?  Was  kann  unsre  lebhaftesten  Überzeugungen,  unsre  besten 
Vorsätze,  unsre  ausgebildeten  Gefühle,  manchmal  auf  lange  Zeiten,  verhindern 
wirksam  zu  werden;  was  kann  ihnen  die  unglückliche  Trägheit  beybringen, 
durch  die  sie  uns  der  vergeblichen  Reue  so  oft  Preis  geben?  ■ —  Andre 
Gedanken  haben  uns  zu  lebhaft  beschäfftigt !  Dies  wissen  wir  schon  aus 
der  Erfahrung.  Und  dennoch  hat  man  sich  lieber  bis  in  die,  alle  ge- 
sunde Metaphysik  zerstörenden,  Irrlehren,  von  der  transscendentalen  Frey- 
heit,  und  vom  radicalen  Bösen,  verlieren,  als  den  psychologischen  Mechanis- 
mus, an  welchem  offenbar  die  Schuld  liegen  mufs,  genauer  untersuchen 
wollen.    — 

Der  eben  aufgestellte  Lehrsatz  ist  der  erste,  obgleich  noch  sehr  be- 
schränkte, Anfang  der  Einsicht  in  diesen  Mechanismus.  Zwey  Vorstel- 
lungen reichen  hin,  um  eine  dritte  aus  dem  Bewufstseyn  völlig  zu  ver- 
drängen, und  einen  von  ihr  ganz  unabhängigen  Gemüthszustand  herbey- 
zuführen.  Eine  allein  vermag  dies  nicht  gegen  die  zweyte;  wie  wir  oben 
sahen,  indem  wir  bemerkten,  dafs  der  Rest  von  b  niemals  =o  werden 
kann.  Was  aber  zwey  «regen  die  dritte  vermögen,  das  leisten  sie  auch 
gegen  eine  wie  immer  grofse  Anzahl  von  schwächern  Vorstellungen. 
Fernere  Untersuchungen  werden  lehren,  dafs  ganz  ähnliche  psychologische 
■  Ereignisse  auch  unter  gewissen  Umständen  Statt  haben  können,  ohne  dafs 
die  aus  dem  Bewufstseyn  verdrängten  Vorstellungen  gerade  schwächer  zu 
seyn  brauchen,  als  die  verdrängenden. 

Indessen  wollen  wir  schon  hier  das  Allgemeine  dieser  Ereignisse  mit 
einem  Kunstworte  bezeichnen,  dessen  Gebrauch  in  der  Folge  noch  oftmals 
nöthig  seyn  wird.  So  wie  man  gewohnt  ist,  vom  Eintritt  der  Vor- 
stellungen ins  Bewufstseyn  zu  reden,  so  nenne  ich  Schwelle  des  Be- 
wufstseyns diejenige  Gränze,  welche  eine  Vorstellung  scheint  zu  über- 
s<  breiten,  indem  sie  aus  dem  völlig  gehemmten  Zustande  zu  einem  Grade 
des  wirklichen  Vor[  1 7 6] stellens  übergeht.  B  er echnung  der  S ch w el  1  e  ist  ein 


Ziveyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  293 

verkürzter  Ausdruck  für  Berechnung  derjenigen  Bedingungen,  unter  welchen 
eine  Vorstellung  nur  noch  vermag,  einen  unendlich  geringen  Grad  des 
wirklichen  Vorstellens  zu  behaupten ;  unter  welchen  sie  also  gerade  an  jener 
Gränze  steht.  Wie  wir  vom  Steigen  und  Sinken  der  Vorstellungen  reden : 
so  nenne  ich  eine  Vorstellung  unter  der  Schwelle,  wenn  es  ihr  an 
Kraft  fehlt,  jene  Bedingungen  zu  erfüllen.  Zwar  der  Zustand,  in  welchem 
sie  sich  alsdann  befindet,  ist  immer  der  gleiche  der  vollständigen  Hem- 
mung; aber  dennoch  kann  sie  mehr  od  er  weniger  weit  unter  der 
Schwelle  seyn,  je  nachdem  ihr  mehr  oder  weniger  Stärke  fehlt,  und  noch 
zugesetzt  werden  müfste,  um  die  Schwelle  zu  erreichen.  Eben  so  ist  eine 
Vorstellung  über  der  Schwelle,  in  so  fern  sie  einen  gewissen  Grad  des 
wirklichen  Vorstellens  erreicht  hat. 

Ist  von  den  Bedingungen  die  Rede,  unter  welchen  im  Zustande  des 
Gleichgewichts  eine  Vorstellung  gerade  an  der  Schwelle  steht:  so  nennen 
wir  die  letztere  die  statische  Schwelle.  Tiefer  unten  werden  sich  auch 
mechanische  Schwellen  zeigen,  die  von  den  Bewegungsgesetzen  der 
Vorstellungen  abhängen.  Unter  den  statischen  Schwellen  befinden  sich 
einige,  die  von  Complicationen  und  Verschmelzungen  mehrerer  Vorstellungen 
abhängen:  zum  Unterschiede  von  denselben  sollen  die,  welche  blofs  durch 
die  Stärke  und  den  Gegensatz  einfacher  Vorstellungen  bestimmt  werden, 
gemeine  Schwellen  htifsen.  Die  erste  Art  der  gemeinen  Schwellen  ist 
die  bey  vollem  Gegensatze,   welche    wir   bisher   betrachtet,    und    durch   die 


Formel    c  —  b\  -—  bestimmt  haben. 

f     a  -4-0 


+ 

§   48. 

Es  ist  hier  der  Ort,  auf  ein  paar  früher  vorgekommene  Bemerkungen 
zurückzublicken.  Schon  im  §  4  ward  angegeben,  was  unter  dem  Ausdruck : 
Thatsachen  [177]  des  Bewufstseyns  zu  verstehen  sey.  Im  §  18  war  die  Rede 
von  dem  Unterschiede  dessen,  was  ins  Bewufstseyn  kommt,  von  dem- 
jenigen, dessen  man  sich  bewufst  ist.  Zu  dieser  Unterscheidung  nöthigt 
der  Mangel  an  Sprache,  welchem  der  Mangel  an  psychologischen  Ein- 
sichten zum  Grunde  liegt.  Viele  nämlich  halten  das  Vorstellen  und  das 
Selbstbeobachten  dieses  Vorstellens  für  unzertrennlich ;  oder  sie  verwechseln 
wohl  gar  eins  mit  dem  andern.  Daher  wird  der  Ausdruck  :  Bewufstseyn, 
zweydeutig;  indem  er  bald  das  gesammte  wirkliche  Vorstellen,  — ■  also 
das  Hervorragen  einiger  Vorstellungen  über  die  Schwelle,  die  Erhebung 
derselben  über  den  ganz  gehemmten  Zustand,  —  bald  aber  die  Beobach- 
tung dieses  Vorstellens  als  des  uns r igen,  die  Anknüpfung  desselben  an 
das  Ich,  zu  bezeichnen  gebraucht  wird.  Wir  nehmen  hier  das  Wort  Be- 
wufstseyn überall  in  der  ersten  Bedeutung;  bedienen  uns  aber  für  das 
zweyte  der  Wendung:    man  ist  Sich   einer  Sache  bewufst. 

Hiemit  soll  zwar  noch  nicht  über  die  Frage  von  den  sogenannten 
bewufstlosen  Vorstellungen  entschieden  werden,  oder,  wie  wir  uns  aus- 
drücken würden,  von  den  Vorstellungen,  die  im  Bewufstseyn  sind,  ohne 
dafs  man  sich  ihrer  bewufst  ist.  Aber,  erstlich  liegt  nach  allem  Vor- 
stehenden klar  vor  Augen,  dafs  die  Gesetze,  nach  welchen  Vorstellungen 
ins  Bewufstseyn    treten,    viel    früher    anfangen  sich   uns  zu  entdecken,    als 


2QA  X.I.    Psychologie  als  Wissenschaft. 


diejenigen,  nach  welchen  das  Ich  als  das  Vorstellende  mag  aufgefafst 
werden.  Die  Selbstbeobachtung  ist  ohne  Zweifel  etwas  ungleich  mehr  Ver- 
wickeltes, als  das  blofse  Hervortreten  über  die  Schwelle;  und  mufs  daher, 
in  der  Untersuchung,  von  diesem  ganz  gesondert  werden.  Zweytens 
bedürfen  wir  eines  Namens  für  die  Gesammtheit  des  jedesmal 
gleichzeitig  zusammentreffenden  Vorstellens;  und  diese  ist  es, 
für  welche  kaum  ein  passenderer  Ausdruck  als  das  Wort  Bewufstseyn 
möchte  gefunden  werden.  Sie  ist  darum  so  wichtig,  weil  sie,  für  jede  in  ihr 
zu  einem  bestimmten  Zeitpuncte  enthal[i78]tene  Vorstellung,  die  Wirkungs- 
sphäre ausmacht ;  indem  alle  gleichzeitig  in  Activität  befindliche  Vorstel- 
lungen sich  auf  irgend  eine  Weise  gegenseitig  afficiren,  und  zusammen- 
genommen den  eben  jetzt  vorhandenen  Gemüthszustand  ergeben.  Sollte 
es  übrigens  den  Sprachgebrauch  zu  verletzen  scheinen,  wenn  wir  von  Vor- 
stellungen im  Bewufstseyn  reden,  deren  wir  uns  gleichwohl  nicht  bewufst 
seyen :  so  wolle  man  sich  erinnern,  dafs  auch  selbst  die  ganz  gemeine 
Sprache  durch  den  Ausdruck:  Er  ist  ohne  Bewufstseyn,  einen  Zustand 
bezeichnet,  der  weit  verschieden  ist  von  dem,  welchem  ein  Denker  oder 
Dichter  sich  in  dem  Maafse  nähert,  als  er,  seiner  selbst  vergessend, 
sich  in  seinen  Gegenstand  wissenschaftlich  oder  künstlerisch  vertieft.   — 

Im  §  17  bot  sich  die  Gelegenheit  dar,  an  Locke's  gerechte  Ver- 
wunderung über  die  „narrowness  of  the  human  mind"  zu  erinnern.  Schon 
jetzt  ist  soviel  sichtbar,  dafs  diese  scheinbare  Eigenschaft  der  Seele,  nur 
eine  sehr  kleine  Anzahl  von  Vorstellungen  gleichzeitig  in  Thätigkeit  setzen 
zu  können,  und  bey  dem  Wechsel  der  Vorstellungen,  immer  die  alten  über 
den  neuen  fahren  zu  lassen,  ohne  sie  doch  zu  verlieren,  —  gar  keine 
Eigenschaft  der  Seele,  sondern  blofs  ein  nothwendiger  Erfolg  der  Gegen- 
sätze unter  unsern  Vorstellungen  ist.  In  welche  Hypothesen  würde  man 
wohl  gerathen,  wenn  man  dem  Gemüthe  gleichsam  eine  enge  Pupille  bey- 
legen  wollte,  vielleicht  mit  irgend  einer  Iris  versehen,  die  sich  nach  ihren 
eignen  Gesetzen  erweiterte  und  zusammenzöge  ?  —  Aus  dem  obigen  ist 
klar,  dafs  das  Quantum  dessen,  was  im  Gleichgewichte  beysammen  seyn 
kann  im  Bewufstseyn,  gar  kein  allgemeines  Gesetz  hat,  sondern  in 
jedem  einzelnen  Falle  von  der  Stärke  und  den  Gegensätzen  der  zu- 
sammentreffenden Vorstellungen  abhängig  ist.  Von  physiologischen 
Einflüssen,  welche  dieses  einigermaafsen  modificiren,  und  der  Aehnlichkeit 
mit  jener  Pupille  um  ein  weniges  näher  bringen  können,  reden  wir  hier 
noch  nicht. 

[179]     §   49- 
Die   Wichtigkeit  des  Gegenstandes  fordert  uns  auf,   einige    berechnete 

Werthe  der  so  einfachen  Schwellenformel    c  =  b  1/  — ■ — -  vorzulegen.  Wir 

'     a  -f-  0 

verbinden    damit  eine   Betrachtung  über  die  zugehörigen  Reste   von  a  und 

von    b. 

Aus  der  Gleichung  des  §  46 

ab(b-\-  c) 
r  =  c  —  —  — A— ^— '—  =  o 

bc  -j-  ac  -\-  ab 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes. 


'95 


ist  bekanntlich    die  Formel    c 


'     a 


a 


gefunden    worden. 


Anstatt 


diesen  Werth  von    c    in    die    dortigen    Gleichungen    für  p    und    für    q  zu 
substituiren :    nehme    man    die  weiterhin    im    angeführten    §    vorkommende 


Gleichung 


wo  //  =■  a 2  -f-  ap. 


Für  r  =  o  ergiebt  sich  hieraus    c  ==  V k  =  V  a2 —  ap,  oder  c2=a2 —  ap, 

oder  ap  =  a2  —  c2  =  (a  -f-  c)   (a  —  c).      Ferner   ist  jetzo    a  =  p  -J-  q,  und 

c2  c2 

p  =  a  —  q  =  a ,  woraus  q  =====  — ,   oder  aq  ==  c2. 

a  a 

Dies  giebt  eine  sehr  fafsliche  Relation  zwischen  q,  dem  Rest  von  b, 
und  a,  der  stärksten  der  drey  Vorstellungen,  und  c,  wenn  es  seinen 
Schwellenwerth  hat.  Man  kann  sich  q  als  beständige  Gröfse,  als  den 
Parameter  einer  Parabel  vorstellen,  so  gehört  eine  stetige  Folge  von  Werthen 
für  c  und  a  zusammen,  wie  Ordinaten  und  Abscissen  vom  Scheitel  auf  der 
Axe  genommen.  Da  a  nicht  <Cb,  so  fängt  dies  ein  von  a  =  b,  wofür  a 
einen  Werth  erhält,  der  von  q  abhängt  (nämlich  a  =  2q,  aus  einer  gleich 
folgenden  Formel),    und  alsdann   geht   es    fort   bis  a  =  oo   (wofür  b   und  c 

unendliche  von   der  Ordnung  —  werden,    indem  b  =  —  q  -j-  1/   1-q2-\-qa. 


TiSol  Aus  a=p-\-q\md     , - 

1  b  —  q 

bb 


wird    ferner 


b 
a 


oder    q  == — - —  •   deich  der  Formel  im  §  44;  wie  gehörig,  weil  a  und/'  nur 
a  -\-  b 

die  Hemmungssumme  b  zu  theilen  haben,    sobald  c  auf  der  Schwelle    ist. 

Will  man  also  alle  zusammengehörige  Gröfsen  auf  einmal  berechnen :  so 

bb 
ist  es  bequem,   für  willkührlich   angenommene   a  und  b  zuerst         — r  =  q 
^  °  a-\-b 

dann  p  =  a —  q  und    c=Saq  zu  berechnen. 

Bey spiele  können  wir  anknüpfen  an  die  im  §  44  berechneten  Reste 
für  zwey  Vorstellungen,  indem  wir  nur  die  Schwellenwerthe  für  eine  dritte 
Vorstellung  hinzufügen  dürfen. 


a 

b 

/ 

9 

C 

1 

1 

1 
—  =  °>5 

2                     'O 

1 

—  =  °>5 

0,707.. 

2 

1 

-5-«  1,666.. 

3 

■!  =0.333  •• 

0,8l6.. 

10 

1 

rr  =  9-909  •  • 

77  =  °'°9°  •  • 

0,953  •  • 

1 1 

10 

^  =  6,236.. 
1 .„ „1 —  i_ 

IOO 

—=-41761.. 

7,2 i7  ■■ 

c  folgt  in  diesem  Täfelchen ;   welches  unter  der  beständigen  Voraussetzung 

b  =    1    berechnet  ist : 


296 


XI.    Psychologie  als  Wissenschaft. 


a 

c 

1 

0,7071 

1,1 

0,7237 

1,2 

o,7385 

i,3 

0,7518 

i,4 

0,7637 

i,5 

o,7745 

1,6 

0,7844 

i,7 

o,7934 

1,8 

0,8017 

i,9 

0,8094 

a 

c 

2 

0,8164 

3 

0,8660 

4 

0,894 

5 

0,912 

6 

0,925 

7 

o,935 

8 

0,942 

9 

0,948 

10 

o,953 

00 

1 

[181]  Es  versteht  sich,  dafs  wenn  statt  der  Zahl  1  ein  andrer  Werth  für 
b  gesetzt  wird,  dann  die  übrigen  Zahlen  in  gleichem  Verhältnisse  wachsen 
müssen.  So  wenn  b  =  10,  wird  a  =  11  anstatt  1,1  ;  und  c  =  7,237 
anstatt  0,7237;    wie  das  vorige  Täfelchen  zeigt. 

§  50.' 

Will  man  nun  die  Henunungsrechnung  des  §  44  auf  angenommene 
Gröfsen  von  drey  Vorstellungen  anwenden :  so  mufs  man  zuvor  nachsehn, 
ob  nicht  die  Anwendbarkeit  der  Rechnung  dadurch  verändert  wird,  dafs 
die  schwächste  der  drev  Vorstellungen  neben  den  andern  unter  die  Schwelle 
sinken  mufs  ?  in  welchem  Falle  die  Rechnung  gleich  Anfangs  blofs  auf  die 
beyden  stärkeren  zu  beziehen  ist. 

Z.  B.  es  mögen  sich  die  Vorstellungen  ihrer  Stärke  nach  verhalten 
wie  1,  2,  3.  Um  hier  das  vorstehende  Täfelchen  anzuwenden,  dividire 
man    die    gegebenen    Zahlen    durch    2 ,    damit    b  =   1    werde.      So    ist 

a  =  -$-  =   1,5;    und  c   =  0,5.     Nun   zeigt   das  Täfelchen,    dafs  schon 

c  =  0,77  .  .  .  neben  a  und  b  zur  Schwelle  sinken  würde;  es  fehlt  also 
viel,  dafs  c  =  0,5  hier  in  Rechnung  kommen  könnte.  Die  Hemmungs- 
rechnung geht  nach  der  Formel  für  zwey  Vorstellungen,  sie  giebt  den  Rest 

von   a  =  — ,    imd  von  b  =  — . 
5  s 

Das  Beyspiel  zeigt  den  Nutzen,  ja  beynahe  die  Unentbehrlichkeit  von 
Schwellentafeln.  Zum  Unglück  hängen  in  der  Wirklichkeit  die  Schwellen 
von  so  manchen,  höchst  verwickelten  Bestimmungen  ab  (wie  sich  bald 
mehr  und  mehr  zeigen  wird),  ja  auch  die  allgemeinen  Formeln,  die  sich 
noch  finden  lassen,  sind  so  zahlreich  und  zum  Theil  so  schwer  zu 
gebrauchen,  dafs  nicht  wenig  Geduld  dazu  gehören  wird,  wenn  jemals 
der  speculativen  Psychologie  diese  Art  van  Hülfsmitteln  soll  geschafft 
werden. 

Indessen  ist  es  schon  ein  grofser  Gewinn,  sich  nur  richtige  Begriffe 
über  diese  Gegenstände  zu  erwerben,  und  im  Allgemeinen  die  Möglichkeit 
und  die  Gesetze  zu  überschauen,  nach  denen  in  der  Seele  sich  etwas 
ereignet  und  ereignen  kann. 

[182]  In  der  gegenwärtigen  Grundlegung  können  wir  überdies  an  voll- 
ständige Ausführungen  nicht  denken.  Nur  erwähnen  wollen  wir  daher  der 
Schwellen   für  mehr  als  drey  Vorstellungen. 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  2Q7 

§  5i- 
Es   seyen   gegeben    die  Vorstellungen  a,  b,    c,  d,   geordnet,    wie  wir 
stets   annehmen,   nach  ihrer  Stärke  von  der  stärksten  zur  schwächsten.     So 
ist     die     Hemmungssumme    =  b  -f-  c  -j-^  d,     die     Hemmungsverhältnisse 
sind  bcd  :  acd  :  abd  :  abc,  und  der  Rest  von  d: 

abc  (b  -J-  c    -\-  d) 


d 


bcd  -|-  acd  -{-  <?^^  -[-  rt$<: 


1  f    abc  (b  4-  c ) 

Aus  j=o  folgt  d=y  -j — —v~ - r — ;— 

6  K       /;r   -J-   Äf   -|-   ät£ 


Eben    so   würde   man  für  fünf  Vorstellungen  a,  b,    c,  d,  e,  den  Rest 
von  e,  oder  /  finden. 

abcd  (b  -f-  c  -f  d  +  e) 


und  aus   /  ••=  o 


bcde  -}-  «<r^/^  -|-  abde  -j-  ß/r^  -f-  tf^rrtf 

fabcd(b  -\-  c  -j-  d) 


bcd-\-  acd  -f-  ß^-|-  tf£f 


Der    Vergleichung    wegen    wollen    wir    die    schon    bekannte    Formel 

]/"     a  -\fab.b 

c  —  by — -  so  schreiben:    c=\       — — -■   so  wird  das  Gesetz  des  Fort- 

r     a-j-b  '     a-{-  b 

gangs   so  klar  vor  Augen  liegen,  dafs  jeder  Zusatz  überflüssig  wäre. 

Es  seyen  nun  alle  Vorstellungen,  aufser  der  jedesmaligen  schwächsten, 

=    I.      So  geben  die  Schwellenformeln 


=Y  v= 0,707 


0,816. 

,866. 


welche  Reihe  sich  der  Zahl  1  unendlich  nähert.  Also  jemehr  Vorstellungen, 
desto  weniger  darf  die  schwächste,  um  nicht  auf  die  Schwelle  zu  sinken, 
von  den  stärkeren  entfernt  seyn.  Dies  gilt  um  so  gewisser,  wenn  die 
übrigen  Vorstellungen  verschieden  sind.  Denn  es  wachse  a,  [183]  so  bleibt  die 
Hemmungssumme  gleich,  aber  a  trägt  weniger  davon,  und  wirft  desto 
mehr  auf  die  schwächeren  Vorstellungen.  Es  wachse  auch  b,  so  vermehrt 
sich  sogar  die  Hemmungssumme,  und  die  schwächeren  müssen  um  so 
eher  unterliegen. 

Die  Möglichkeit,  dafs  mehr  als  drey  Vorstellungen  im  Bewufstsevn 
zusammen  bestehen  könnten,  scheint  hiernach  in  sehr  enge  Gränzen  ein- 
geschlossen. Allein  dies  gilt  blofs  für  vollen  Gegensatz,  und  wird  über- 
dies noch  durch  manche  Umstände  modificirt. 


2q8  XL   Psychologie  als  "Wissenschaft. 

Drittes  Capitel. 

Abänderungen  des  Vorigen  bey  minderem  Gegensatze. 

§  52. 

Zwar  das  Princip  zur  Bestimmung  der  Hemmungssumme,  dessen  wir 
uns  im  §  42  bedient  haben,  wird  uns  auch  hier  nicht  verlassen,  wo  wir 
die  erleichternde  Voraussetzung  des  vollen  Gegensatzes  entbehren,  und 
zwischen  jedem  Paare  von  Vorstellungen  jeden  möglichen  Grad  des  Gegen- 
satzes gestatten  sollen.  Immer  werden  wir  Eine  Vorstellung  als  ganz 
ungehemmt  denken  müssen,  um  nachzusehn,  wie  viel  nun  von  den 
übrigen  zusammengenommen  müsse  gehemmt  werden;  und  immer  werden 
wir  diejenige  Vorstellung  auszuwählen  haben,  welche,  damit  sie  selbst 
ungehemmt  bleibe,  den  übrigen  die  kleinste  Hemmung  auferlege.  Allein 
das  Geschafft  dieser  Auswahl  führt  eine  lästige  Weitläuftigkeit  mit  sich ; 
die  wir  jedoch  der  Genauigkeit  wegen  wenigstens  kenntlich  machen 
müssen. 

Zuvörderst  ist  zu  bemerken,  dafs  die  frühere  sehr  einfache  Weise, 
die  bey  vollem  Gegensatze  ausreicht,  [184]  immer  anwendbar  ist,  so  oft  alle 
Vorstellungen  in  allen  Paaren,  die  aus  ihnen  genommen  werden  können, 
nur  einerley  Grad  des  Gegensatzes  haben.  —  Unter  zwey  Vorstellungen 
o  und  b,  wo  a  >  b,  sey  der  Gegensatz  =  ?n,  welches,  wenn  nicht  =  1, 
allemal  ein  ächter  Bruch  ist  (§  41),  so  ist  die  Hemmungssumme  =  mb) 
welches  man  findet,  indem  a  ungehemmt  gedacht  wird.  Denn  b  un- 
gehemmt, hätte  ma  zur  Hemmungssumme  gegeben,  welches  gröfser  ist  als 
mb.  —  Unter  drey  Vorstellungen,  a,  b,  c,  wenn  die  Paare  a  und  b,  b 
und  c,  a  und  c,  immer  einerley  Gegensatz  ;/z  mit  sich  führen,  denke  man 
die  stärkste,  a,  ungehemmt,  so  ergiebt  sich  die  H.  S.  =  mb  -f-  mc. 
b  ungehemmt,  gäbe  ma  -|-  mc)  c  ungehemmt,  gäbe  ma  -\-  mb)  immer'' 
eine  gröfsere  Hemmung,  als  die  Vorstellungen  ihrer  Xatur  nach  noth- 
wendig  fordern,  und  als  ihr  Aufstreben  zulassen  wird.  —  Wie  viele  nun 
der  Vorstellungen  seyn  mögen,  —  es  seyen  ihrer  a  -\-  b  -^-  c  -j-. ..-{-«,  — 
immer  denke  man  die  stärkste,  a,  ungehemmt,  so  ist,  für  den  durch- 
gängigen Hemmungsgrad  =  m,   die   H.   S.   =  m  (b  -|-  c  -j-  •  •  •  -j-  «)• 

Bey  verschiedenem  Grade  der  Hemmung  aber,  für  drey  Vorstellungen 
a,  b,  c,  giebt  es  drev  Paare,  ab,  ac,  bc,  und  folglich  drey  Hemmungs- 
grade, deren  stärksten  wir  ?n,  den  mittlem  n,  den  schwächsten  p  nennen 
wollen.  Es  soll  noch  nicht  entschieden  werden,  welchem  unter  den 
Paaren  jeder  von  ihnen  zugehöre;  vielmehr,  da  jeder  in  jedem  Paare 
statt  finden  kann,  giebt  es  Versetzungen  der  Hemmungsgrade  zwischen 
den  Vorstellungen,  oder,  wenn  man  will,  der  Vorstellungen  zwischen  den 
Hemmungsgraden.  Dieser  Versetzungen  sind  an  der  Zahl  sechs ;  und 
jede  von  ihnen  bildet  einen  besonderen  Fall  zur  Untersuchung  der  H.  S. 
Man  kann  diese  Fälle  bequem  durch  Dreyecke  andeuten,  in  deren  Winkel- 
punrte  man  die  Verhältnifszahlen  für  die  Vorstellungen  setzt,  und  deren 
Seiten  den  Hemmungsgraden  proportional  sind. 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  2QQ 

[185]  c  b 

^       n  &       n 

I.  b     p      a  IL  c     p     a 

c  a 

<$>       n  $      n 

III.  a     p      b  IV.  c     p      b 

b  a 

$•       n  &     n 

V.  a     p      c  VI.  b     p       c 

Die  beyden  ersten  Fälle  haben  den  stärksten  Gegensatz  zwischen  den 
schwächsten  Vorstellungen;  die  beiden  folgenden  zwischen  der  stärksten 
und  schwächsten ;    die  beyden  letzten  zwischen  den  stärksten. 

Was  die  Hemmungsgrade  selbst  betrifft,  so  gilt  für  sie  ein  ähnliches 
Gesetz,  wie  für  die  Seiten  eines  Dreyecks.  Ihrer  zwey  zusammen- 
genommen dürfen  nicht  kleiner  seyn  als  der  dritte.  Denn  der 
Uebergang  aus  einet  Vorstellung  zu  einer  andern  durch  alle  zwischen- 
liegenden Verschiedenheiten  kann  wohl  kleiner,  aber  er  braucht  nicht 
gröfser  zu  seyn,  als  die  Summe  zweyer  Uebergänge  von  der  ersten  zu 
einer  dritten,  und  von  dieser  zu  jener  andern;  jeder  gröfsere  Weg  ist 
gewifs  ein  Umweg,  der  den  wirklich  zwischenliegenden  Verschieden- 
heiten etwas  fremdartiges  beymischt.  —  Ich  finde  nicht  nöthig,  die  Be- 
griffe über  diesen  Punct,  der  eine  Art  von  geometrischer  Evidenz  besitzt, 
hier  mehr  aufzuklären;  welches  in  die  allgemeine  Metaphysik  zurückführen 
würde,  indem  es  mit  der  Construction  des  intelligibelen  Raums  zusammen- 
hängt. Beyspiele  werden  kaum  nöthig  seyn;  man  wird  nicht  in  Ver- 
suchung  gerathen,    etwan    p  =  — ,    n  ==  —  und    daneben    m,    welches 

höchstens  =  —  sevn  kann,   =    1    zu  setzen.      Wichtiger   ist    es  vielleicht, 

4 

an  die  Natur  unserer  einfachen  sinnlichen  Vorstellungen  zu  erinnern.  [186] 
Die  Töne  bilden  ein  Continuum  von  nur  Einer  Dimension,  welches  wir 
die  Tonlinie  nennen  wollen.*  Ist  von  ihnen  die  Rede,  so  ist  allemal 
P  -j-  n  =  m.  Hingegen  schon  die  Vocale  bilden  ein  Continuum  von 
wenigstens  zwey  Dimensionen,  denn  der  Uebergang  vom  U  zum  /  geht 
gewifs  nicht  nothwendig  durch  A,  sondern  gerade  durch  Ü\  obgleich  auch 
der  Umweg  durch  O,  A  und  E  möglich  ist.  Die  Farben  haben  eben- 
falls zum  wenigsten  zwey  Dimensionen,  indem  schon  Roth,  Blau  und  Gelb, 
paarweise  genommen,  eine  Folge  von  Nuancen  in  gerader  Linie  zwischen 
sich  einschliefsen,  und  alle  drey  in  der  That  ein  gleichseitiges  Dreieck  zu 
bilden  scheinen,  in  welchem  jedoch  weder  Weifs  noch  Schwarz,  noch  selbst, 
wie  es  scheint,  das  reine  Braun  mit  eingeschlossen  liegt.  Für  Farben 
daher  kann  man  gewifs  p  =  n  =  m  setzen,  welches  bei  Temen  unmög- 
lich ist.  —  Hingegen  wird  man,  wofern  vier  Vorstellungen  von  Farben 
zusammen  zu  nehmen  sind,  sich  hüten  müssen,  der  vierten  ihre  Gegen- 
sätze gegen  alle  drey  andre  willkührlich  anzuweisen,  indem  auch  hier,   wie 


*  Nicht  zu  verwechseln  mit  Tonleiter,  die  nur  einzelne  Puncte  jener  Linie  enthalt. 


?00  3CI.    Psychologie  als  "Wissenschaft. 

beim  vierten  Puncte  auf  einer  Fläche,  aus  zweyen  Gegensätzen  und  gleich- 
sam Distanzen,  der  dritte  von  selbst  folgt.  Dies  unter  der  Voraussetzung, 
dafs  man  nicht  noch  eine  dritte  Dimension  für  die  Farben  rechtfertigen 
könne,  oder  dafs  man  wenigstens  in  dem  vorhandenen  Falle  von  dieser 
dritten  Dimension  nicht  Gebrauch  gemacht  habe.  Es  scheint  zwar  eine 
dritte  Dimension  vorhanden  zu  seyn,  nämlich  in  dem  Gegensatz  des 
Hellen  und  Dunkeln,  welches,  auf  die  Mitteltinte  aller  übrigen  Farben 
bezogen,  Weifs,  Grau  und  Schwarz  ergeben  dürfte;  während  doch  auch 
alle  reinen  Farben  bei  den  Extremen  der  Verdunkelung  oder  Erhellung  in 
Schwarz  und  Weifs  überzugehn  pflegen.  Allein  eben  aus  diesem  letztem 
Grunde  laufen  wir  hier  Gefahr,  die  Intensität  der  Vorstellungen  (den 
Unter[i87]schied  des  a,  b,  c)  zu  verwechseln  mit  ihrer  specifischen  Ver- 
schiedenheit (dem  m,  n,  p). 

Indem  wir  nun  die  Hemmungssumme  für  die  unterschiedenen  sechs 
Fälle  aufsuchen,  werden  uns  die  ersten  beyden  nicht  lange  zweifelhaft 
lassen.     Offenbar  ist 

für  den  Fall     I.  die  Hemmungssumme  =  pb  -j-  nc, 
„      IL    „  „  =  pc  +  nb. 

Beydemale  wird  hier  a  ungehemmt  angenommen,  welches  nicht  blofs  selbst 
am  stärksten,  sondern  hier  zugleich  von  den  schwächsten  Gegensätzen 
umgeben  ist. 

Aber   für  den  Fall  III.  ist  die   H.   S.  j  ^tweder  Pa  +  *J 

(  oder  mc  -\-  pb. 

Jene  findet  sich  unter  der  Voraussetzung,  dafs  b  ungehemmt,  diese,  dafs  a 
ungehemmt  sey.  Zwischen  beyden  kann  man  nicht  im  Allgemeinen,  son- 
dern nur  in  besondern  Fällen  entscheiden,  weil  zwar  pa  >  pb,  aber  zu- 
gleich nc  <  mc. 

Für  den  Fall  IV.  ist  die  H.  S.  ]  entweder^ c  +  na  wo  zwzrpc<mc, 

i  oder         mc  -\-nb 

aber  na  >    nb. 

Für   den  Fall  V.  ist    die    H.  S.  ( entweder/«  +  np  ^  zwar  pa>pCi 

\  oder         mp  -\-p  c 
aber  nb  <  mb. 

Der  letzte   Fall  endlich  ist  der  schwierigste.      Denn 

(  entweder  pb  -(-  na 
für  den  Fall  VI.  ist  die  H.  S.  I  oder  ma-\-pc 

\  oder  mb  -j-  ?ic 

wo  keine  der  drey  Angaben  vor  der  andern  einen  im  Allgemeinen  zu 
erkennenden  Vorzug  besitzt.  Sind  die  Gröfsen  in  Zahlen  gegeben,  so 
versteht  sich,  dafs  man  in  allen  Fällen  die  kleinste  sogleich  herausfinden 
werde.  In  allgemeinen  Rechnungen  aber  entsteht  hieraus  eine  Unbequem- 
lichkeit, indem  sie  oft  nur  bis  auf  einen  gewissen  Punct  vollführt  werden 
können,  über  welchen  hinaus  man  sich  auf  die  Unterscheidung  der  mög- 
lichen Fälle  einlas[i88]sen  mufs.  —  Diese  Unbequemlichkeit  vermindert 
sich  um  etwas  durch  die  Bemerkung,  dafs  nur  in  zweyen  Angaben,  beym 
Fall  V.  und  VI.,  c  in  der  Hemmungssumme  fehlt.  Diese  kann  man  als 
Ausnahmen  betrachten,  und  dagegen  als  Regel  annehmen,  dafs  c  sich  in 
der  H.  S.  befinde. 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  ?oi 


Wer  noch  Erläuterungen  wünscht,  der  versuche  im  Fall  III.  an- 
zunehmen, dafs  c  ungehemmt  bleibe.  Daraus  wird  folgen,  dafs  ci  und  b 
so  weit  sinken  müssen,  als  es  ihr  Gegensatz  gegen  c  mit  sich  bringt. 
Also  wird  die  Hemmungssumme  =  ma  -f"  n&-  Man  vergleiche  hiemit 
die  obigen  Angaben.  Die  erste,  unter  der  Voraussetzung,  b  sey  un- 
gehemmt, war  pa  -j-  nc;  diese  ist  allemal  kleiner  als  jene,  derm  pa  <<  ma, 
und  ;/ c  <;  nb-  Schon  hieraus  folgt,  dafs  die  Angabe  ma  -\-  nb  ganz  un- 
statthaft ist;  und  die  andre  Vergleich ung  mit  mc  -\-  pb  ist  nicht  mehr 
nöthig.  Auf  ähnliche  Weise  ist  im  Fall  V.  die  Annahme,  b  sey  un- 
gehemmt, ausgeschieden;  sie  hätte  gegeben:  H.  S.  =  ma  -\-  nc,  welches 
verglichen  mit  inb  -L.  pc  allemal  gröfser,  und  also  unbrauchbar  ist.  Und 
so  sind  auch   die  übrigen    unstatthaften   Annahmen  ausgeschlossen  worden. 

Auf  die  Hemmungssumme  für  mehr  als  drey  Vorstellungen  werden 
wir  uns  nicht  einlassen.  Die  abschreckende  Weitläuftiq-keit  der  Untersuchung:, 
auf  die  man  aus  dem  Vorstehenden  schliefsen  kann,  einerseits,  und  die 
mindere  Wichtigkeit  der  Sache  andrerseits,  wird  dies  entschuldigen.  Natür- 
lich kommt  bey  mehr  als  drey  Vorstellungen  das  Meßte  immer  auf  die 
drey  stärksten  an.  Sucht  man  für  diese  die  Hemmungssumme,  und  addirt 
dazu,  für  jede  der  schwächeren,  denjenigen  ihrer  Gegensätze  gegen  jene 
drey,  welcher  der  stärkste  ist,  und  also  die  geringeren  in  sich  fafst:  so 
wird  man  schwerlich  einen  bedeutenden  Rechnungsfehler  begehn  können. 
Aufserdem  giebt  die  oben  erwähnte  Voraussetzung  eines  .durchgängig 
gleichen  Hemmungsgrades  aller  Vorstellungen  unter  einander,  immer  einen 
Gesichtspunct  ab,  von  wo  aus  man  sich  unter  den  übrigen  möglichen 
Fällen  [189]  orientiren  kann.  Diesem  analog  ist  der  Fall,  wo  alle  Vor- 
stellungen gleich  stark,  aber  die  Hemmungsgrade  verschieden  sind.  Hier 
hebe  man  zuvörderst  diejenigen  drey  Vorstellungen  heraus,  welche  unter 
einander  die  gröfste  Hemmungssumme  bilden.  Eine  darunter  wird  bey 
Bestimmung  der  H.  S.  als  ungehemmt  betrachtet  werden;  dieser  gegen- 
über denke  man  sich  die  sämmtlichen  übrigen  als  sinkend  nach  ihrem 
Hemmungsgrade,  und  addire,  was  herauskommt,  zur  Hemmungsumme  der 
herausgehobenen  drey.  Das  Gesagte  wird  für  unsre  gegenwärtigen  Zwecke 
völlig  hinreichen. 

§  53- 

Die  Bestimmung  des  Hemmungsverhältnisses  bei  minderem  Gegensatz 
ist  noch  bey  weitem  schwieriger,  als  die  der  Hemmungssumme,  falls  dabey 
auf  alle  Umstände,  die  vorkommen  können,  soll  Rücksicht  genommen  wer- 
den. Die  Angabe  derselben  gehört  in  die  folgenden  Capitel;  hier  werden 
wir  nur  das  Leichteste,  Allgemeinste,  und  was  die  Grundlage  der  Unter- 
suchung bildet,  in  Betracht  ziehen. 

Zuerst  müssen  die  Ueberlegungen  des  $  43  zurückgerufen  werden. 
An  der  Stelle,  wo  dort  gesagt  wurde,  jede  Vorstellung  wirke  im  Ver- 
hältnifs  ihrer  Stärke,  ist  jetzt  hinzuzufügen:  und  im  Verhältnisse 
ihres  Gegensatzes.  Daher  leidet  nun  auch  jede  Vorstellung  nicht  blofs 
im  umgekehrten  Verhältnifs  ihrer  Stärke,  sondern  sie  leidet  von  jeder 
andern  nach  dem  Hemmungsgrade,  den  sie  gegen  diese  andre  bildet.  Bey 
zweyen  Vorstellungen    hebt    dieses    sich    auf,    aber  nicht  so  bey  mehrern. 


302 


XI.    Psychologie  als  Wissenschaft. 


oder  — ,  — 
b  ab 


Aber  für  drey  Vorstellungen,  und  drey  Hemmungs- 


Für  a  und  b,   und  den  Hemmungsgrad  vi,  sind  die  Hemmungsverhältnisse 

771      7)1 

a' 

grade,  müssen  wir  die  Sache  etwas  genauer  betrachten. 

Wir  gehn  zurück  zu  den  oben  unterschiedenen  sechs  Fällen,  wie- 
wohl nur,  um  uns  der  dortigen  Bezeichnung  zu  bedienen,  denn  der  Unter- 
schied der  Fälle  selbst  kommt  [190]  hier  nicht  in  Anschlag.  Beyspielshalber 
nehme  man  den  Fall  I.  Hier  leidet  a  von  b  und  von  c.  Laut  §  43 
würde  es  von  beyden  gleich  viel  leiden,  wenn  der  Gegensatz  voll  wäre. 
Jetzt   leidet  es  weniger,    von  b  im  Verhältnifs  p,    und    von  c  im  Verhält- 

P  ~r~  n 
Also   ist   sein  Leiden  überhaupt  durch  die  Verhältnifszahl 


a 


nifs  n. 

zu   bestimmen,    wenn    wir    auf  ähnliche    Weise    das  Leiden   von  b  durch 

m  -1—  n 

Es  ist  nun  leicht,  die 


und  das  von  c  durch  -  -  ausdrücken 


b  c 

sechs  Fälle  zu  durchlaufen.  Jeder  bekommt  sein  eignes  Hemmungs- 
verhältnifs,  aber  nur  nach  einerley  Regel,  indem  man  für  jede  Vorstellung 
die  nebenstehenden  Hemmungsgrade  addirt,  und  daraus  den 
Zähler  eines  Bruches  bildet,  welchem  die  eigne  Stärke  der  Vorstellung 
zum  Nenner  dient.  Dies  ist  alles,  was  für  jetzt  von  den  Hemmungs- 
verhältnissen   kann   gesagt    werden;    auch    ist    es   auf  mehr  als  drey  Vor- 


stellungen leicht  auszudehnen. 


§  54- 


Wir  dürfen  nur  das  Vorhergehende  zusammenstellen,  um  die  Hem- 
mungsrechnung anzuordnen.  Es  seyen  gegeben  die  beyden  Vorstellungen 
a  und  b,  der  Hemmungsgrad  ;«,  so  hat  man 

7)i  b2 


(«+*) 


7)1  i 


a 


a  +  b 
mab 


P 


a 


q  =  b 


m  b2 

a  +  b 
7)1  ab 


a  +  b 
ist  der  Rest  von  a, 

ist  der  Rest  von  b. 


a  +  b 

Beyde  Reste  zusammen  sind  =  ci  -  -  (1  ■  -  m)  b,  wovon  man,  wenn 
der  eine  in  Decimalbrüchen  schon  berechnet  ist,  denselben  nur  abziehn 
darf,  um  den  andern  zu  finden. 

[191]   Bey spiele  : 

«  —  I,  h  =  1,  m  =  ~}  giebt  P  =  \ 
m  -=  -i-,  giebt  p=-\ 
giebt  p  = 


m 


a=  1,  b  =  1 
a=  1,  b  =  1 

a  =  2,  b  =  1 
a  =  2,  b  =  1 
für  a  =  00  wird  p 


m  =  -i-,  giebt  p  -- 

m=  y>  giebt  /;  = 
a,   q  =  (1 


8 
5 

8  : 
11 

T 


q  =  f  =  °>75 

?  =  f  =  0,87 

5 


=  f  =  0,625 


=    1,833..,    q  =  —  =  0,666.. 

1,916  .  .  ,    q  =  0,833  .  . 
-  m)  b. 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes. 


305 


Für  drey  Vorstellungen  nehme  man  die  Hemmungssumme  aus  §52, 
und  nenne  sie  S;  die  Hemmungsverhältnisse  aus  §  53  ;  auch  nenne  man 
die  Zähler  der  Brüche,  wodurch  die  Verhältnisse  bezeichnet  werden,  1,  rt,  &; 

l        1]       d~ 

so  sind  ganz  allgemein  die  Verhältnifszahlen  =  — ,  -£-,  — ;    oder  bei,  acri, 

a     b      c 

abd;    und  die  Rechnung  steht  so: 


(bei  -\-  ac )]  -{-  abd)  :< 


ba. 


ac  r,  =  S: 


abd 


bciS 


bei  -\-  aci]  -\-  abd 

ae>]S 
bei  -\-  aci]  -|-  abd 

abd-S 


bei  -j-  aci]  -\-  abd 
woraus  sich  die  Reste  durch  gehörigen  Abzug  ohne  Mühe  finden.  — 
Man  weifs  schon,  dafs  für  den  Fall  L,  1  =  p  -j-  n,  i]  =  p  -f-  m, 
d  =  m  -J-  11 ;  für  den  Fall  IL,  t  =  p  -\-  n,  i]  —  m  -)-  n,  d  =  m  -f-  p; 
für  den  Fall  III.,  t=p-\-tn,  ij=p-\-n,  &  =  m  -f-  »,  «•  s.  f.  Die 
Werthe  von  e,  q,   d,  liegen  zwischen  o  und  2. 

Für  durchgängig  gleiche  Hemmungsgrade,  oder  für  p  =  m  =  n,  folg- 
lich e  =  >]  =  d,  fallen  diese  Gröfsen  aus  den  Verhältnifszahlen  heraus, 
und  bleiben  nur  noch  in  der  Bestimmung  von  S  zurück ;  daher  verhalten 
sich  alsdann  die  Theile,  welche  gehemmt  werden,  zu  den  entsprechenden 
im  §  44,  gerade  wie  5 :  (b  -f-  c). 


§  55- 
Die    Berechnung    der    Schwelle    für    die    schwächste    der    drey    Vor- 
stellungen stützt  sich  hier  auf  die  Gleichung: 
[192]  abdS 

bei  -j-  aci]  -j-  abd 
oder  C2-  (bi  -j-  arj)  -J-  ab  de  =  abdS, 
wobey  man  nicht  vergessen  darf,  dafs  £  in  der  Regel  nach  e  enthält,  also 
die  Gleichung  nicht  so  geradezu  kann  aufgelöset  werden. 

Wir   wollen   hier   c  =   1    setzen,   indem   wir   es   als    den   beständigen 
Maafsstab  der   übrigen  Gröfsen   ansehn,    und   aus   ihm   die   zugehörigen   b 

und  a  berechnen.    Auch  sey  -—  =  x,  welches  also  das  Verhältnifs  zwischen 

(i  und  b  andeutet,    und  uns   die  Substitution  a  =  y.b   verschafft,   wodurch 
die  Gleichung  zur  Division  mit  b  vorbereitet  wird.     Su  kommt 

1  +  xi,  -\-  xbd  =  xbdS 

oder  i+-^  —  b  (S—i). 
xd 

Bekanntlich  liegen  die  Werthe  von  a  zwischen  b  und  cc  ;  also  die  von  x 

zwischen    1    und  00  .      Und   da  S,    nach    §  52,    meistens   b   und   e,   jedes 

mit   einem    Hemmungsgrade    multiplicirt,    enthält,    so   sey    5  =  ob  -j-  rr, 

oder  weil  c  =  1,  S  =  ob  -\-  r;  alsdann  ergiebt  sich 


für  a 


1  -4-  i] 
b,  oder  x  =  1,    — L__i  =  b  (ab  -f-  r — 1) 


304  -^-  Psychologie  als   Wissenschaft. 

7  I~T     1     l/*1"— r)2      1     *  +  V 

woraus  b  = \-  1/ — - 

2a     ~   V       4a2        '        $0 
für  a  =  00  ,  also  x  =  x> ,  ~  =  /)  (a£  -|-  r — 1) 

Xf 


(A) 


woraus  3  =   I=?  +  /^-  +  A  (B) 

Diese  Gleichungen  sind  für  die  Bestimmung  der  Schwellen  wichtig, 
indem  sie  dieselben  in  ihre  Gränzen  einschliefsen.  Wenn  a  =  b  beyde 
kleiner  sind,  als  die  Gleichung  A  anzeigt,  so  sey  übrigens  ihre  Gröfse 
welche  sie  wolle,  sie  können  c  =  1  nicht  auf  die  Schwelle  bringen.  Wenn 
b  allein,  kleiner  ist  als  die  Gleichung  B  angiebt,  so  sey  a  so  grofs  es 
wolle,  es  bringt  doch  [193]  nicht  c  =  1  auf  die  Schwelle.  Wenn  endlich  b 
(folglich  auch  a)  gröfser  ist,  als  die  Gleichung  A  bestimmt,  so  ist  c  =  1 
allemal  unter  der  Schwelle,  b  und  a  mögen  übrigens  se}m  was  sie  wollen. 

Die  beyden  Gränzen  für  b  liegen,  wie  die  Formeln  zeigen,  sehr  nahe 
beysammen.  Ihr  ganzer  Unterschied  hängt  ab  von  1,  welches  in  dem 
zweyten  Theile  der  Wurzelgröfse  einmal  zugegen  ist,  das  andremal  fehlt. 
Da  e,  als  Summe  zweyer  ächten  Brüche,  höchstens  =  2  seyn  kann,  so 
müßte  &  oder  a  sehr  klein  seyn,  wenn  der  Unterschied  bedeutend  werden 
sollte. 

Wir  haben  die  Gültigkeit  dieser  Formeln  auf  die  Voraussetzung  be- 
schränkt, dafs  b  und  c  in  der  Hemmungssumme  sich  befinden.  Falls 
statt  dessen  a  und  c  in  ihr  vorkommen,  behält  dennoch  S  die  Form 
ab  -j-  t,  nur  mufs  alsdann  a  zugleich  /.  einschliefsen.  Nämlich  es  sey 
die  H.  S.  na  -\-  xc,  so  ist  dieses  =  ny.b  -f-  xc,  wegen  a  -|-  y.b;  nun  lasse 
man  in  diesen  Fällen  tiy.  =  o  seyn,  so  passen  auch  jetzt  die  nämlichen 
Formeln.  —  Man  denke  aber  nicht,  dafs  a  darum  eine  grofse  Zahl  werden 
könne.  Denn  obschon  ■/.  bis  zum  Unendlichen  wachsen  kann :  so  wird 
<i,  wemi  es  einigermafsen  grofs  ist,  niemals  in  der  Hemmungssumme  vor- 
kommen. 

Nur  die  beyden  Fälle,  wo  c  in  der  Hemmungssumme  fehlt,  nöthigen 
uns  zu  einer  neuen  Rechnung.  Für  dieselben  sey  S  =  :ia-\-rb  =  b 
(nx  -j-  t),  so  wird,  wenn  nx  =  a), 

t  -4—  xv.  „ 

aus  -X-J  =  b(S-i) 

jetzt  für  x  =  i,    —^  =  bb  (a  ~f-  r)  —  b 


]/      1     4  (*  -  -  v)  (°  -  -  T 
woraus  b  —  — - — ( .  [  1  -\-   1/    1  -|- 


2  (ö  4-  t)  '  V  "  & 

Es  ist  aber  in  beyden  hieher  gehörigen  Fällen  a-\-r-=p-\-n  =  d; 
daher  die  eben  gefundene  Formel  noch  einfacher  so  zu  schreiben  ist: 


[194]        *=2V(I+K:  +  4  (*  +  *?))• 


Dies  ist  die  eine  Gränze,  über  welche  b  nicht  steigen  darf,  wofern 
c  =  I  nicht  auf  jeden  Fall  unter  der  Schwelle  seyn  soll.  Die  andre 
Glänze,    unter  welcher  b  nicht  seyn  darf,  mufs  aus  den  vorigen  Formeln 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  ^q 


6^ö 


entnommen  werden.      Denn  wenn  a  =  -jo  ,   gehört  es    gewifs    nicht    selbst 
zur  Hemmungssumme. 

Demnach  ist  die  Formel  B  ganz  allgemein,  und  zwar  in  der  ersten 
Bedeutung  von  n;  nur  die  Formel  A  erleidet  zuweilen  die  angegebene 
Abänderung  des  Werths  von  a,  und  in  seltnen  Fällen  tritt  in  ihre  Stelle 
die  Formel    C. 

§   56. 

Nimmt  man  durchgängig  gleiche  Hemmung  an,  also  p  —  n  =  m, 
und  f  —  i,  =  d ,  auch  a  =-—  t  =  in,  so  verschwindet  aller  Unterschied 
der  sechs  Fälle;  a  kann  in  der  H.  S.  nicht  vorkommen,  und  die  Glei- 
chungen A   und  B  verwandeln   sich   in   folgende: 

...  .  1  —  m  +  V(i  —  vi)'1  -f-  8?/ß 

für  a  =  o,         0=  — — — ■ —    - 

2  m 

für  a  =  -X)  ,       b  =  — 

;// 

Hieraus  ergiebt  sich  in  Zahlen  folgendes :  soll  c  =  1  auf  die  Schwelle 

gebracht  werden,   so  ist  für  m  =  1 

b  höchstens   =    1,414  .  .  b  wenigstens  =    1 


*&' 


[195] 


m 

= 

0,9 

I.-547  • 

• 

m 

= 

0,8 

1,711  . 

m 

= 

0,7 

1,918  . 

. 

m 

= 

o,6 

2,180  . 

m 

= 

o,5 

2,561  . 

in 

= 

o,4 

3,108  . 

111 

= 

o,3 

4 

in 

= 

0,2 

5.740  • 

■ 

111 

= 

0,1 

10,840 

I,III 

1,25 

1,428 
1,666 


2,5 


0 

10 

III  =  0,01 

100,98  .  .  100 

Hier  nimmt  die  Differenz  der  zusammengehörigen  Werthe  zwar 
immer  zu;   aber  im  Verhältnifs  gegen  die  Zahlen  selbst  sehr  stark  ab. 

Wie  die  Voraussetzung  des  durchgängig  gleichen  Gegensatzes  in  der 
Mitte  aller  Fälle  liegt,  und  zugleich  für  die  Rechnung  eine  Bequemlichkeit 
mit  sich  führt:  so  giebt  es  noch  ein  paar  andre  Arten,  etwas  Mittleres 
zwischen    zwey    Fällen    hervorzuheben.      Man    kann    rt  =  .'),    und    zugleich 

o  =  r    setzen,    wodurch    sieh    die     Gleichung    B   in    b  =         verwandelt: 

Herbart's  Werke  V.  20 


?o6  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

Erstlich,    wenn    man    in    den    Fällen    I.    und    IL   p  =  n    setzt,    wodurch 
der  Unterschied  dieser  Fälle   aufgehoben  wird.      Denn 

im  Fall  I.  ist  r\  =  p  -(-  m,  fr  =  vi  -j-  n,  n  =  p,  r  =  n, 
im  Fall  IL  ist  it  =  vi  -\-  ji,  fr  =  vi  -\-  p,  n  =  n,  x  ■=  p. 
Zweytens,  wenn  man  in  den  Fällen  IV.  und  VI.,  ;;/  =  n  setzt, 
wodurch  der  Unterschied  dieser  Fälle,  wenigstens  in  Beziehung  auf  a  =  co  , 
also  auf  die  Gleichung  B  verschwindet.  Denn  hier  kann  nur  diejenige 
Angabe  der  H.  S.  brauchbar  seyn,  in  welcher  kein  a  vorkommt.  Dies 
vorausgesetzt,   findet  sich 

im  Falf  IV.    i;  '=.  p  -f-  v,   fr  =  vi  -\-  p,   n  =  ;/,   t  =  m, 
im   Fall  VI.   it  ==  p  -{-  vi,   fr  =  n  -j-  p,   a  ===  m,   r  =  ;/, 
wo  wiederum  für  ;/  =  vi  der  Unterschied  wegfällt. 

In  den  Fällen  I.  und  IL  wird  also  b  =  — ,  in  den  TiOÖl  Fällen  IV.  und 

P  L 

VI.  aber  b  —-  —  für  a  =  oo  .    Be^•des  sind  die  niedrigsten  Werthe,  welche 
m 

b    haben    darf.      Aber  jener    ist    grüfser   als    dieser.      Sehr   natürlich,    denn 

die    Hemmungssumme    ist    in   jenen    Fällen    kleiner,    daher    mufs    b    mehr 

Kraft  besitzen,   um  c  zur  Schwelle  zu  treiben.   — 

Aber  die  Gleichung  p  =  n  macht  auch  die  sämmtlichen  Fälle  I.  IL 
III.  und  IV.  einander  gleich  in  Hinsicht  der  Gränzformel  A.  Denn  diese 
Formel  beruhte  auf  der  Annahme  a  =  b  ;  dafür  aber  werden  die  Hem- 
mungssummen alle  =  p  (b  -f-  c),  also  wiederum  n  =  t,  und  auch  die 
Summe  e  •{-  ij    bleibt    sich   gleich,    während   t)   für   sich  überall    gleich    ist. 

Ob  es  sich  belohnen  könne,  den  verschiedenen  Werthen,  welche  die 
gefundenen  Formeln  anzunehmen  fähig  sind,  noch  genauer  nachzugehn : 
dies  läfst  sich  im  Allgemeinen  nicht  entscheiden.  Vielleicht  wird  man 
künftig  entdecken,  dafs  zur  Erklärung  gewisser,  in  der  Erfahrung  vor- 
kommenden Phänomene,  auch  die  feinsten  Unterschiede,  deren  Möglich- 
keit in   den   Formeln  liegt,   müssen  berücksichtigt  werden. 

Hier  mag  noch  ein  kurzes  Rechnungs-Beyspiel  Platz  finden.  Man 
nehme,   der  Bequemlichkeit  wegen,    die   Hemmungsgrade    als    gegeben    an; 

es  sey  p  =  — ,  n  =  — ,  vi  =  — ;  und  hieraus  für  den  ersten  Fall 
e  =  — ,    i,  =  i,   fr  =  —  ■   auch   a  =  — ,   r  =  — .     Nun  suche  man  zuerst 

die  Gränzen  für  b.  In  §  55  giebt  die  Gleichung  A,  b  =  ^,,^y  .  .  .  die 
Gleichung  B  giebt  b  =  3,05.  Zwischen  diesen  beyden  Werthen  mufs 
man  b  annehmen,  damit  c  =  1  auf  der  Schwelle  ^ey;-  welches  für  ein 
kleineres  b  nicht  möglich  wäre,  wie  stark  auch  a  seyn  möchte ;  für  ein 
gröfseres  sich  von  selbst  verstände,  oder  eigentlich  wäre  dann  c  nicht 
auf,    sondern  unter    der  Schwelle.      Gesetzt  demnach,    b    sey  =3,1;    so 

giebt    die  Formel 

•/.fr 

Hingegen  sey   b  =  3,5,    so  wird   v.  =  1,19  . ,   und  a  =  4,16  ..  .      Länger 

wollen  wir  hie[i97]bey   nicht    verweilen;   indem  wichtigere  Untersuchungen 

bevorstehn. 


TJp.  =  l  (ß—  1),    *  =  11,4;  folglich   a  ==  35,3  .. 


Zweyter  Abschnitt.      Grundlinien   der  Statik  des   Geistes.  3°7 

Viertes  Capitel. 

Von  den  vollkommenen  Complicationen  der  Vor- 
stellungen. 

§  57- 

Die  Voraussetzungen,  deren  Folgen  wir  bisher  aufgesucht  haben, 
waren  so  einfach,  dafs  die  mannigfaltig  verwickelten  Zustände  des  Be- 
wufstseVns  ihnen  selten  genau  entsprechen  können.  Aber  eben  so  hebt 
auch  die  Statik  der  Körperwelt  von  Untersuchungen  an,  die  auf  die 
Wirklichkeit  nicht  vollkommen  passen.  Der  einfache  Hebel,  ohne  eigne 
Masse  und  Schwere,  die  Bewegung  fallender  und  geworfener  Körper  im 
luftleeren  Räume,  der  Schwerpunkt  von  mathematischen  Flächen  und 
Curven,  —  alles  dies  sind  Gedankendinge,  die  dennoch  in  der  Wissen- 
schaft den  Vortritt  haben  vor  den  realen  Gegenständen,  weil  sich  an 
jenen  besser  als  an  diesen  die  Elemente  der  Wissenschaft  nachweisen 
lassen.  —  In  der  Psychologie  können  wir  bey  dem  Mangel  oder  doch 
der  Schwierigkeit  bestimmter  Beobachtungen  weniger  darauf  ausgehn,  ir- 
gend ein  wirkliches  und  individuelles  geistiges  Ereignifs  genau  zu  erkennen 
und  zu  erklären :  als  die  einfachen  Gesetze  einzusehen,  deren  höchst 
mannigfaltige  Verflechtung  die  Wirklichkeit  bestimmt.  Doch  es  ist  nicht 
nöthig,  über  das  Voranstellen  der  abstractesten  Voraussetzungen  demjenigen 
ein  Wort  zu  sagen ,  der  von  irgend  einem  Theile  der  angewandten 
Mathematik  auch   nur  oberflächliche   Kenntnifs  hat.   — 

Das  grofse  Prinzip,  welches  minder  offenbar  schon  die  bisherigen 
Untersuchungen  leitete,  und  immer  klärer  die  [198]  folgenden  bestimmen 
mufs,  ist  die  Einheit  der  Seele.  Darum,  weil  die  Vorstellungen  alle 
in  Einem  Vorstellenden  als  Thätigkeiten  (Selbsterhaltungen)  desselben  bey- 
sammen  sind,  müssen  sie  Ein  intensives  Thun  ausmachen,  sofern  sie  nicht 
entgegengesetzt  und  nicht  gehemmt  sind.  Eben  darum  auch  müssen  sie 
sich  hemmen,  in  so  weit  ihr  Gegensatz  es  mit  sich  bringt.  Weder  un- 
angefochten, noch  un vereinigt  können  sie  bleiben;  das  erste  haben 
wir  bisher  betrachtet,  das  zweyte  müssen  wir  jetzt  suchen,  allmählig  in 
seinen  nähern  Bestimmungen  kennen  zu  lernen.  Eben  dadurch  werden 
wir  die  abstracten  Voraussetzungen  mehr  und  mehr  dem  Wirklichen  an- 
zupassen im  Stande   seyn. 

Zuerst  mufs  hier  hingewiesen  werden  auf  die  verschiedenen  Con- 
tinua,  welche  durch  ganze  Gassen  von  Vorstellungen  gebildet  werden. 
Die  sämmtlichen  Farben  ergeben  Ein  Continuum ,  die  Gestalten  ein 
anderes;  die  Töne  machen  ein  drittes;  die  Vocale  ein  viertes,  selbst  die 
Consonanten  können  wenigstens  zusammengestellt  werden ;  an  Gerüche, 
Geschmäcke,  Gefühle  ist  kaum  noch  nöthig  zu  erinnern.  Auch  lehrt  die 
Erfahrung,  dafs  zwar  verschiedene  Vorstellungen  aus  Einem  Continuum 
einander  entgegengesetzt  sind,  aber  nicht  Vorstellungen  aus  verschiedenen 
Continuen.  Die  Farbe  hemmt  nicht  die  Vorstellung  des  Hörbaren,  viel- 
mehr das.  hörbare  Wort,  die  sichtbare  Schrift,  und  ein  von  beyden  ganz 
verschiedener    Gedanke,    der    aus    mancherley,    durch    verschiedene  Sinne 

20  ;; 


308  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


wahrgenommenen  Eigenschaften  irgend  eines  Dinges  zusammengesetzt  ist, 
alles  dies  tritt  in  eine  Verbindung,  die  unerklärlich  wäre,  wenn  die  grofsen 
Verschiedenheiten  so  heterogener  Vorstellungen  für  hemmende  Gegen- 
sätze zu  halten  wären. 

Aus  dieser  Erfahrung,  deren  genauere  Prüfung  und  gehörige  Be- 
schränkung nicht  dieses  Orts  ist,  wollen  wir  hier  blofs  den,  schon  a  priori 
wenigstens  möglichen,  Gedanken  herausheben,  dafs  es  mehrere  Continuen 
von  Vor[  199] Stellungen  geben  könne,  aus  deren  einem  in  das  andere 
kein  hemmender  Gegensatz  hinübergreife,  während  innerhalb  eines  jeden 
alles  Mannigfaltige  in  bestimmten  Hemmungsgraden  einander  im  Bewufst- 
seyn  verdunkele. 

Nun  mufs  alles  gleichzeitige  wirkliche  Vorstellen,  wegen  seiner  Durch- 
dringung in  der  Einheit  des  Vorstellenden,  sich  vereinigen,  so  weit  die 
Hemmung  es  nicht  hindert.  Hier  ist  sogleich  offenbar,  dafs  es  zwey 
ganz  verschiedene  Arten  der  Vereinigung  geben  müsse,  je  nachdem 
ein  paar  Vorstellungen  entweder  aus  einerley  Continuum  sind,  oder  aus 
verschiedenen.  Im  ersten  Falle  werden  sie  nach  dem  Grade  ihrer  Un- 
gleichheit sich  hemmen,  und  sich  nur  so  weit  vereinigen,  als  die  Hem- 
mung es  zuläfst.  Im  andern  Falle  ist  zwischen  ihnen  keine  gegenseitige 
Hemmung,   sie  können  sich  also  gänzlich  verbinden. 

Zwar  auch  im  letztern  Falle  wird  eine  zufällige  Hemmung  die 
Verbindung  beschränken  können.  Es  seyen  die  Vorstellungen  a  und  « 
gleichzeitig  im  Bewufstseyn,  wo  die  Verschiedenheit  der  zur  Bezeichnung 
gewählten  Alphabete  auf  Vorstellungen  aus  verschiedenen  Continuen  hin- 
weist:  sind  nun  noch  andere  Vorstellungen,  b,  c,  ß,  y,  gegenwärtig,  so 
wird  a  durch  b  und  C,  a  durch  ß  und  y  gehemmt;  und  um  so  viel  als 
die  Hemmung  beträgt,  die  Möglichkeit  der  Vereinigung  von  a  und  «  ver- 
mindert. Denn  das  Streben  einer  gehemmten  Vorstellung  ist  ausschliefsend 
wider  die  hemmenden  gerichtet;  und  da  die  Vorstellung  einzig  in  diesem 
Streben  noch  besteht,  so  hat  sie  nun  nur  ein  isolirtes  Daseyn,  und  un- 
geachtet der  Einheit  der  Seele,  worin  sie  immer  noch  mit  allen  andern 
Vorstellungen  ein  intensives  Eins  ausmacht,  kann  sie  sich  doch  nicht  mit 
irgend  einer  andern,  selbst  nicht  mit  einer  ihr  gleichen,  zu  einer  Total- 
kraft verbinden.  Wenn  daher  a  und  «  zum  Theil  gehemmt,  zum  Theil 
aber  noch  als  wirkliches  Vorstellen,  gleichzeitig  im  Bewufstseyn  zusammen- 
treffen: so  entsteht  eine  unvollkommne  [200]  Verbindung  beyder;  der 
Grad  der  Verbindung  aber  hängt  nicht  von  ihnen  selbst,  sondern  von 
den  zufällig  mitwirkenden  Kräften  ab. 

Jetzt  wird  die  Eintheilung  verständlich  seyn,  welche  den  weitern 
Untersuchungen  mufs  vorangestellt  werden.  Vorstellungen  aus  ver- 
schiedenen Continuen  können  sich  gänzlich  verbinden,  so  dafs  sie  nur  Eine' 
Kraft  ausmachen,  und  als  solche  in  Rechnung  kommen;  dergleichen  Ver- 
bindung nenne  ich  eine  vollkommene  Complication.  Vorstellungen 
aus  einerley  Continuum  können  sich,  wegen  des  unter  ihnen  stattfindenden 
Gegensatzes,  nicht  gänzlich  verbinden.  (Falls  sie  nicht  gänzlich  gleich- 
artig sind,  wie  die  Wiederhohlungen  der  nämlichen  Wahrnehmung) ;  als- 
dann ergiebt  sich  aus  ihrer  Stärke  und  ihrem  Gegensatze  das  Gesetz,  wie 
genau    ihre   Vereinigung    werden   kann;    dergleichen   Vereinigungen   nenne 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  ?oQ 


ich  Verschmelzungen.  Endlich  wegen  zufälliger  Hindernisse  kann  es 
sowohl  unvollkommne  Complicationen  als  unvollkommne  Ver- 
schmelzungen geben. 

§  &?■ 

Es  seyen  zwey  vollkommene  Complexionen  gegeben,  A  =  a  -\-  «, 
und  B  =  b  -\-  ß.  Welches  wird  die  Summe  und  das  Verhältnifs  ihrer 
Hemmung  seyn? 

Die  Summe  macht  bey  vollkommenen  Complicationen  keine  besondere 
Schwierigkeit.  Denn  das  Widerstreitende,  Unvereinbare  gewisser  Vor- 
stellungen, welches  einmal  in  ihrer  Natur  liegt,  kann  durch  ihre  Ver- 
bindungen nicht  gröfser  noch  kleiner  werden.  Sowohl  a  und  b  bilden 
unter  sich,  als  a  und  ß  unter  sich,  eine  Hemmungssumme  nach  den 
obigen  Bestimmungen;  beydes  addirt,  ergiebt  die  H.  S.  der  Complexionen 
A  und  B.  Es  sey  also  der  Hemmungsgrad  zwischen  a  und  b,  =  p; 
zwischen  a  und  ß,  =  n;  so  ist  nur  noch  zu  bedenken,  dafs,  obgleich 
A^>  B,  dennoch  u  •<  ß  seyn  kann,  wofern  nur  um  so  mehr  a  >  b.  An- 
genommen,   dafs  sich    dies    also    verhalte:    so    ist    die   H.   S.   =  pb  -\-  na. 

Mehr  Mühe  macht  das  Hemmungs- Verhältnifs.  Man  [201]  wolle 
hier  zurückblicken  in  die  §§  43  und  53.  —  £0  fern  die  Complexionen 
als  widerstehende  Kräfte  betrachtet  werden,  sind  sie  Totalkräfte;  sie  leiden 
im  umgekehrten  Verhältnisse  dieser  Totalkräfte,  sie  wirken  auch  der  da- 
durch erhaltenen  Spannung  gemäfs  zurück.  Aber  so  fern  die  Wirkung 
einer  jeden  unmittelbar  von  ihrer  Stärke  und  ihrem  Hemmungsgrade  ab- 
hängt, entsteht  eine  Schwierigkeit  oder  wenigstens  eine  Weitläuftigkeit  aus 
dem  Umstände,  dafs  die  Bestandteile  der  Complexionen  einen  ver- 
schiedenen Hemmungsgrad  haben  können,  und  dafs  in  so  fern  auch  die 
Kräfte  als  aus  verschiedenen  Bestandtheilen  zusammengesetzt  betrachtet 
werden  müssen.  Wir  wollen  nun  die  drey  Ueberlegungen  des  §  43  er- 
neuern. 

Erstlich:   A  wirkt  im  Verhältnisse  ap  -(-  u.n. 

Zwevtens:  A   wirkt  im  Verhältnisse  seiner  Spannung  =  — . 

1  o  A 

Drittens:  A   leidet  im  Verhältnisse  — . 

A 

Dasselbe  läfst  sich  leicht  auf  B  anwenden. 

\xr  t  i-  -i  ap-A-un  bp -\- ßn 

Wotern  nun   hier,    so  wie  oben,      —  und =  1     wäre 

A  B 

(denn  wenn  man  ein  gleichartiges  Vorstellen  von  der  Stärke  A,  als  aus 
Theilen  a  und  a  besteherd,  und  eben  so  ein  andres  gleichartiges  Vor- 
stellen von  der  Stärke  B,  als  aus  Theilen  b  und  ß  bestehend,   betrachten 

a  -j-  « 


wollte,    so   wäre  p=n,    und    bey    vollem    Gegensatze    =   1,  und 


— — —  ■    aber  =  i),    so  würde    blofs    das    Verhältnifs    des    Leidens,   —  :  — , 
B  h  AB 

übrig  bleiben.     Jetzt  aber   ist   nur    in    speciellen   Fällen  p  =  n,    und    des- 


■i  i  o  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 

halb  mufs   das  Hemmungsverhältnifs    aus    allen   den   angegebenen  Gröfsen 
zusammengesetzt  werden. 

Indem  nun   die  Hemmungssumme    die  Spannungen   in    den  Verhält- 
nissen —  und  —  bewirkt*),  mufs  sie  zu("2o2]gleich  in  dem  Verhältnifs  der 
AB1  L       JO 

•  i  T  bp  4-  ßn  ap  4-  an  « 

wirkenden    Kräfte    ■ und  — — : vertheüt   werden.     Die    erste 

B  A 

Kraft  nämlich  ist  diejenige,    die  A  durch  B   erleidet,    die   andre  Kraft   ist 

die,    mit    welcher    A    auf   B   einwirkt.     Also    dieses    zusammengenommen 

sind  die  Verhältnifszahlen : 

1       bp  4-  8  n      i       ap  4-  « n  .  ,  ■ 

—  .    r  ^  ^    ,  —  .  -?—±- ,     oder   bp  4-  ßn,    ap  4-  an.      Für  p  =  n 

A  B        '   B  A  r    \    i     >     r     r 

wird  daraus  B,  A;  wie  gehörig  nach  §§  43   und  53. 

§  59- 
Wir  schreiten  fort  zu    drey   Complexionen,    A  =  a  -\-  u,   B  =  b  -\-  ß, 
C=c-\-y,  wo  A  die  stärkste,    C  die  schwächste,    während  die  Bestand- 
theile    mancherley    Gröfsenverhältnisse    haben    können.      Auch    seyen    die 
Hemmungsgrade 

zwischen  a  und  b,  p-,     zwischen  «  und  ß,   n 
„         a     ,,      c,  n;  „       «     „     y,    v 

„         b     „      c,  m;  „        ß     „     y,  ft. 

Um  nun  zuerst  blofs  die  wirkenden  Kräfte  zu  betrachten,  so  fern  sie 
von  der  Stärke  der  Vorstellungen  und  den  Hemmungsgraden  unmittelbar 
abhängen,  so  wirkt 

A  auf  B  im  Verhältnifs  ap  4-  an, 
„  auf   C    „  „  an  -\-  a>>, 

B  auf  A    „  „  bp  -\-  ßn. 

„  auf  C    „  „  bm-\-ßu, 

C  auf  A    „  „  cn  -\-  yv, 

„  auf  B   „  „  cm  -f-  ■/,//. 

Mit  jedem  dieser  Verhältnisse  ist  zusammenzusetsen  die  Spannung 
der  wirkenden  Vorstellung.  Endlich  ist  mit  der  Summe  der  Kräfte,  von 
denen  eine  jede  Com[2  03]p)exion  leidet,  zusammenzusetzen  das  umgekehrte 
Verhältnifs  ihrer  Totalkraft,  nach  welchem  sie  sich  den  einwirkenden 
Kräften  unterwirft.    Auf  diese  Weise  entspringen  folgende  Verhältnifszahlen : 


[bp  4-  ß*         cn  4-  yv\      I 

A  leidet  im  Verhältnifs      F  ~  ' 1 ^—     .  - 

\        B  C        J      A 

c _     föi±*r  + 


C 

cm 

+  7," 

C       t 

bin 

-f  AM 

A 
1 

B] 

1 

J     ~C' 


*)  Diese  anspannende  Wirkung  der  H[emmungs]  S[umme]  bleibt  während  der 
ganzen  Zeit  ihres  Sinkens  immer  in  denselben  Verhältnissen,  denn  bey  jedem  neuen 
Element,  welches  sinkt,  fragt  sich  gleichsam  von  neuem,  wie  es  vertheüt  werden  solle  i 
und  es  regt  dadurch  die  widerstrebenden  Kräfte  auf.  Auch  widerstehen  dieser  Ver- 
theilung  immer  die  ganzen  Vorstellungen,  folglich  die  nämlichen  Kräfte. 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  3  1  1 


Kürzer:    C(bp  -j-  ßn)  -J-  B{cn  -f-  yr) ; 

C{ap  -j-  «y-z)  -|-  ^4  (/«  -f-  yu); 

B  {an  -f  ar)  -f  -J  (*  «  "f  /*/')■ 

Zwey   Bemerkungen  könhen  hier  sogleich   hinzugefügt  werden. 

lp  +  ßn 

Erstlich:    es    sey   p  ==■  tt,    n  =  v,   m  =  tu  ;    so    wird -—      ==/> 

^  —i—  y 

weil     "o—  =  1 ;    eben   so   bev  den  folgenden    ähnlichen  Gröfsen;    daher 
B 

werden  die   Vrerhältnifszahlen 

P  -j-  n    p  -\-  m     n-\r  m 

A  '■  '     ~B~~'        C~ 

ganz  ähnlich  jenen  im  §   53. 

Zweytens:  es  sey  b  =  ß,  c  =  y,  a  —=.  u,  so  ist  A  =2a,  B  =  2b, 
C '  =  ic\  und  die  Verhältnifszahlen  werden : 

p  -f-  tt  -|-  n  -\-  v     p  -j-  n  -f-  w  +  /<     ;/  4~  ''  +  ;w  ~h  1" 

Zur  Abkürzung  kann  man  auch  hier  wieder  die  zu  A,  B,  C,  ge- 
hörigen Zähler  mit  t,  rh  Ö  bezeichnen.  Nur  dürfen  die  Bedeutungen 
dieser  Buchstaben  dann  nicht  mit  den  obigen  verwechselt  werden.  Die- 
selbe Erinnerung  trifft  auch  p,  m  und   n.   — 

Was  die  Hemmungssumme  für  drey  Complexionen  anlangt :  so  er- 
giebt  schon  der  vorige  §,  dafs  dieselbe  auch  hier  die  beiden  Hemmungs- 
summen für  die  Bestandteile  der  Complexionen  in  sich  schliefse. 

Uebrigens  mufs  es  hier  genügen,  dafs  drey  binomische  Complexionen 
zur  Untersuchung  gezogen  werden.  [204]  In  das  Detail,  welches  mehrere 
und  vieltheilige  Complexionen  verursachen  würden,  können  wir  uns  nicht 
einlassen. 

§   60. 

Die  Berechnungen,  welche  aus  den  bisherigen  Bestimmungen  folgen, 
•werden  den  grufsen  Einfiufs  der  Complicationen  unserer  Vorstellungen 
ins  Licht  setzen :  —  Für  zwey  Complexionen  ist  die  Rechnung  im  All- 
gemeinen diese  : 

r/      1    j.\    -a    1   /      1    a\        "I  ic    l   v\     y(a  +  *)/  +  ("  +  ß)n 

yaß  +  a.Tt  j{a-\-b)p-\-(a  +  (i)n 

Durch  S  und  ^"  deute  ich  nämlich  die  beyden  Theile  der  Hem- 
mungssumme an,  deren  einer  aus  a  und  b,  der  andere  aus  «  und  ß  ent- 
springt. 

1.  Wir  wollen  annehmen,  Ä  und  B  seyen  ähnliche  Complexionen,  d.  h. 

a:a  =  b:  ß-}  also  ß  ==   ■■  -  und  bp  -j-  ßn  =  b  (p  -f-  -  -  n)  =  ~~  {aP  +  an)'> 

a  ad 

daher  beyde  Verhältnifszahlen  ganz  kurz  =b  und  a;  demnach 


X12  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


a  +  t) 


b 


fl 


das  heifst:  zwey  ähnliche  Complexionen  hemmen  sich  im  um- 
gekehrten Verhältnisse  ihrer  analogen  Theile. 

Bey spiel:  die  Vorstellung  eines  Klanges  von  der  Stärke  =  2  sey 
complicirt  mit  der  Vorstellung  einer  Farbe  von  der  Stärke  =  3  ;  die  Vor- 
stellung eines  andern  Klanges  von  der  Stärke  =  8  sey  complicirt  mit  der 
Vorstellung  einer  andern  Farbe  von  der  Stärke  =  12;  die  Verschiedenheit 
der  Farben  sowohl  als  der  Klänge  sey  welche  sie  wolle :  so  wird  von 
der  ersten   Complexion  viermal  so  viel  gehemmt  als  von  der  zweyten. 

2.  Die  Hemmungsgrade  seyen  gleich,  oder  p  =  n;  [205]  so  lassen 
sich  dadurch  die  Verhältnifszahlen  dividiren,  und  die  Rechnung  bekommt 
folgende  Form : 


(S+2)A 


A  +  ß 

Das  heifst:  wenn  unter  den  Bestandteilen  zweyer  Com- 
plexionen nur  einerley  Grad  der  Hemmung  herrscht:  so  ist  die 
Gröfse  dieser  Bestandtheile  von  keinem  Einflufs  auf  das  Ver- 
häitnifs  der  Hemmung,  wofern  nur  die  ganzen  Complexionen 
gleich  bleiben,  als  von  welchen  nun  allein  das  Hemmungsver- 
hältnifs  abhängt. 

Der  Gröfse  nach  aber  sind  die  zu  hemmenden  Theile 
um  so  kleiner,  je  ungleicher  an  Gröfse  die  Bestandtheile  der 
Complexionen.  Dieses  folgt  aus  der  Hemmungssumme,  welche  von 
jedem  Paar  entgegengesetzter  Vorstellungen  nur  die  kleinste  in  sich 
fafst. 

Bey  spiele:  Ein  Klang  =  2  sey  complicirt  mit  einer  Farbe  =  3, 
ein  andrer  Klang  =  2  mit  einer  andern  Farbe  =  4 ;  überdies  voller 
Gegensatz  sowohl  zwischen  den  Klängen  unter  einander  als  zwischen  den 
Farben;  so  ist  die  H.  S.  =  2  -f-  3  —  5»  das  H.  V.  wie  6  :  5,  also  leidet 
die  erste  Complexion  die  Hemmung  von  3°,  die  andre  von  — .  —  Es  sey 
aber  ein  Klang  =  1  complicirt  mit  einer  Farbe  =  4,  und  ein  andrer 
Klang  =  3  mit  einer  Farbe  =  3 ;  der  Gegensatz  wie  vorhin :  so  ist  die 
H.  S.  =  i  — (—  3  =  4,  das  H.  V.  wie  6:5,  also  wird  von  der  ersten  Com- 
plexion gehemmt   — ,  von  der  andern  -°. 

3.  Es  sey  bp  -\-  ßn  =  ap  -f-  «  n,  oder  p  [b  —  d)  =  n  («  —  ß),  oder 
p:n  =  (a  —  ß)  :  (b  —  a), 
so  ergiebt  sich  der  Satz:  von  beyden  Complexionen  wird  gleich 
viel  gehemmt,  wenn  die  Hemmungsgrade  sich  umgekehrt  ver- 
halten wie  die  Differenzen  der  ihnen  zugehörigen  Vorstel- 
lungen. [206]  Damit  dieses  möglich  sey,  müssen  die  Complexionen  un- 
ähnlich seyn  in  dem  Grade,  dafs  jede  bestehe  aus  der  stärksten  des  einen 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien   der  Statik  des  Geistes.  -i  t  -i 


Paares  entgegengesetzter  Vorstellungen,  und  aus  der  schwächsten  des  andern. 
Denn   kein  Hemmungsgrad  kann  negativ  seyn. 

Beyspiel:   Zwischen  zwey  Klängen  sey  der  Gegensatz  =  i,   zwischen 

zwey  Farben  =  — ;    ein  Klang  =   2    complicirt    mit    einer    Farbe  =  6, 

der  andre   Klang  =  5   complicirt  mit  der  andern   Farbe  =  2 :   so  ergiebt 

sich  das  H.  K(5-j-2,^-):(2  +  6.-3-)  =  ^^  :?-i-8=26  :  26  ==  1 : 1. 

4  4 

Das   Auffallende  in  diesem   Beyspiel,   dafs  eine  Complexion  =  7   und 

eine  andre  =   8   sich  gegenseitig  gleich  stark  hemmen,    wird    noch   mehr 

hervortreten  in   dem  folgenden  Satze. 

4.  Es   sey  n  =■  o,    so    ist    das  H.    V.  wie  b :  a,    und    die   Rechnung 

b  S  a  S 

giebt    die    vierten  Glieder  — - — -    und  — ; u.  und  ß   mögen   sevn  was 

a  -\-  b  a  -\-  b, 

sie  wollen. 

Das  heifst:  wenn  von  zweven  entgegenstehenden  Vorstel- 
lungen  jede  complicirt  ist  mit  einer  solchen  die  nichts  ihr  ent- 
gegengesetztes im  Bewufstseyn  antrifft:  so  geschieht  die  Hem- 
mung lediglich  im  A^erhältnifs  jener  entgegengesetzten;  ob- 
gleich  die  ganzen   Complexionen    derselben    unterworfen    sind. 

Beyspiel:  Mit  der  Vorstellung  eines  Farbigten  von  der  Stärke  3, 
sey  complicirt  ein  Klang  =  1 ,  mit  der  Vorstellung  eines  andern  Farbigten 
von  der  Stärke  1,  sey  complicirt  eine  Gefühlsvorstellung  =  n:  so  erleidet 
die  letztre  Complexion  =  12  eine  dreymal  so  starke  Hemmung  wie  die 
erstere  =  4.  Wie  sehr  die  Farben  entgegengesetzt  seyn  mögen,  wirkt 
nur  auf  die   Hemmungssumme. 

Das  Seltsame,  dafs  die  stärkste  Kraft  hier  am  meisten  leidet,  ist 
leicht  zu  erklären.  Die  Gefühlsvorstellung  kann  nur  widerstehen;  aber  ihr 
ist  kein  Gegensatz  eigen,  [-07]  durch  den  sie  für  sich  etwas  aus  dem 
Bewufstseyn  verdrängen  könnte.  Dagegen  erhält  sie  etwas  im  Bewufstseyn, 
das  vor  einer  andern  stärkern  Vorstellung  weichen  sollte.  Deshalb  leidet 
sie  unter  derselben  Einwirkung,  der  jenes  ausgesetzt  ist.  Nicht  anders 
ereignet  sich  dies  selbst  dann,  wenn  die  gegenüberstehende  Vorstellung 
einfach  ist.  Es  sey  u  =  o,  oder  im  Beyspiel,  der  Klang  fehle  gänzlich: 
so  übt  dennoch  die  Vorstellung  =  3  die  nämliche  Gewalt  gegen  die  Com- 
plexion =  12.  Nur  mit  dem  Unterschiede,  dafs  nun  diejenige  Hemmung, 
welche  sonst  die  Vorstellung  des  Farbigten  =  3  mit  der  des  Klanges 
=  1    gemeinschaftlich  getragen  hätte,   allein  der  ersteren  zur  Last  fällt.  — 

Es  ist  der  Mühe  werth,  nachzusehen,  in  wie  fern  diese  bey  zwey 
Complexionen  sich  so  leicht  darbietenden  Sätze,  auch  auf  drey  derselben 
Anwendung  finden  mögen. 

Damit  erstlich  drey  Complexionen  einander  ähnlich  seyen ,  mufs 
a  :  a  =  b  :  ß  =  c  :  y  gesetzt  werden.      Hieraus   ist  im  §   59 


bp  ~\-  fin  =  —  {aP  ~\~  u  /T) ',  c  n  -\-  yr  =  —  [a  n  -\-  a  v) ; 
a  a 

cm  -\-  y  u  =  —  (</  m  -4-  ufi),  bm  -\-  ßfi  = —  am  -f~  ".")• 
a  a 


■2  i  1  XI.  Psychologie   als   Wissenschaft. 

Auch    ist    C  =  c-4-~  =c(i  +— ),    B  =  b(i4-—),    A  =--  a  (i  -f  — ); 

a  a  a  a 

«... 

daher  sich  die  Yerhältnifszahlen   sämmtlich    durch    \  A dividiren  lassen. 

a 

Demnach   sind  dieselben,   wenn  noch  mit  a  multiplicirt  wird: 

cb  (a,p  +  utt)  -f-  bc  (an  -f-  «*') 

r  a  (ap  4-  «  >-t)  -(-  «  r  (rt! ;«  -j-  «  |«) 

/;c7  (a»  -f-  o  »')  -f-  a^  {am  -f-  «  «)• 
Damit  ein  fafsliches  Yerhältnifs  gewonnen  werde,  bedarf  es  hier  noch 
eines    Zusatzes,     der   bev    zwey    Complexionen    nicht    bemerklich    werden 
konnte.      Es    sey    nämlich   p  :  n  =  n  :y  =  m  :  u,    folglich    an  -\-  ur  =  an 

-\~  a  -     [208]  =  —  (ap  -}-  «  n),  und  #  m  -{-  au  =  —  (a/  -|-  « 71),  so  werden 
p  p    '  p 

jene  Zahlen: 

£ <r  [p  -f-  «),      »^  +  ;« ),      ab  (n  -\-  m) ; 

/  ~\~  n  p  -\-  m  n  -\-  rn 


oder 


a  b  c 


wo  das  umgekehrte  Yerhältnifs   der  analogen  Theile  allerdings  vorhanden, 
nur  noch  durch  die  zugehörigen   Hemmungsgrade  afficirt  ist. 

Ueber  den  zweyten  Satz  erhellt  schon  aus  §  59,  dafs  für  p  =  n, 
n  =  v,  m  =  u,   die   Verhältnisse  sind 

n  -\-  p       m  -f-  p      n  -f-  m 

~H~'       ~B~        ~C~' 

Was  den  dritten  Satz  anlangt,  so  scheint  es  nicht,  dafs  die  Bedingung 
der  gleichen  Hemmung  für  drey  Complexionen  auf  einen  schicklichen  Aus- 
druck zu  bringen  sey. 

Auch  die  vierte  Yoraussetzung,  n  =  o ,  veranlafst  hier  nur  die  Be- 
merkung, dafs,  wenn  von  den  drey  Vorstellungen  «,  ß  und  ;',  eine  zu 
einem  andern  Continuum  gehört  als  die  übrigen  beyden,  dann  zugleich 
zwey  Hemmungsgrade  =  o  werden,  also  mit  71  =  0,  zugleich  r  =  o  oder 
u  =  o. 

§   61. 

Zu  den  sämmtlichen  hier  geführten  Rechnungen  kommt  nun  der  Satz : 

dafs  bey  vollkommenen  Complexionen  sich  stets  das  Gehemmte 

auf   die    Bestandtheile    in    demselben    Verhältnisse    vertheilen 

mufs;  in  welchem  sie  zur  Complexion  beytragen.    Es  sey  von  der 

au 
Complexion  A  =  a  -\-  u   gehemmt   die  Gröfse  u ,    so    ist  gehemmt 

von  a,  und  — . —  gehemmt  von  «.    Dies  versteht  sich  von  selbst  aus  der 
a  -f-  « 

Natur  einer  Totalkraft,   deren  Theile  gleichmäfsig  widerstehen  und  leiden, 

und    deren    ungleiche  Theile    eben  deshalb  einem  gerade  so  ungleichen 

Leiden  unterworfen  seyn  müssen. 

Hieraus    geht    zugleich  hervor,   dafs  vollkommne  Com-[2  0C)]plexionen 

sich  in  allen  ihren  Zuständen   (d.  h.  bey  jedem  Grade  der  Verdunkelung 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des   Geistes.  ?  T  e 

im  Bewufstseyn)  doch  immer  ähnlich  bleiben.  Denn  die  Reste  müssen 
ähnlich  sein,  wenn  das  Gehemmte  immer  dieselbe  Proportion  beobachtet. 
Merkwürdig  ist  femer,  dafs  von  den  Elementen  der  Complexionen 
bald  mehr  bald  weniger  als  die  aus  ihnen  resultirende  Hemmungssumme 
sinken  wird.  Denn  die  partiellen  Hemmungssummen  vereinigen  sich  hier 
zu  einer  allgemeinen  Last,  deren  Vertheilung  nun  andern  Regeln  folgt,  als 
jenen,  die  in  dem  Widerstreit  der  Elemente  ursprünglich  gegründet  waren. 
—  Gehn  wir  zu  dem  ersten  Beyspiele  des  §  60  zurück:  so  sey  dort  für 
die  beyden  Klänge  der  Hemmungsgrad  =  ^-,    für    die  Farben  =    1 :    so 

o        . 

ist  »S  — {—  —  =  1  -j-  3  =  4 ;  von  der  ersten  Complexion  wird  gehemmt — 

2  -f-  8 

=  3,2;    also    für    den   Klang  =   2   beträgt  die   Hemmung   2-^-2  =  i,28; 

o 

für    die    Farbe  =  3    beträgt    dieselbe    — — —  =  1,92;    von    der    zweyten 

0 
2  .  4 

Complexion  wird  gehemmt =  0,8;  also  für  den  Klan«  =   8   ergiebt 

10  00 

sich    das  Gehemmte  =  —^-—  =  0,32,    und   für  die   Farbe  =    12   kommt 

20 

12  .  0,8 
=  0,48.      Denken  wir  die  Complication  hinweg:   so  haben  wir  für 

den  Klang  =  2  das  Gehemmte  =  0,8  ;  für  den  Klang  =  8  kommt  0,2  ; 
für  die  Farbe  =  3  findet  sich  das  Gehemmte  =  2,4 ;  und  für  die  Farbe 
=  12  beträgt  dasselbe  0,6.  Offenbar  verursacht  hier  die  Complication 
einen  Nachtheil  für  die  Klänge,  und  einen  Vortheil  für  die  Farben,  indem 
der  gröfsere  Hemmungsgrad  der  letztern  auf  jene  mit  einfiiefst.  Die  Hem- 
mungssumme für  die  Klänge  ist  =  1 ;  aber  wegen  der  Complication  wird 
von  ihnen  gehemmt  1,28  -f-  0,32  ===  1,6;  die  H.  S.  für  die  Farben  ist  =  3, 
die  Complication  vermindert  dies  bis  auf  1,92  -[-0,48=2,4.  Aber  auch 
[210]  nur  in  der  Hemmungssumme  liegt  der  Grund  hievon,  wie  man  aus 
der  hierher  gehörigen  Formel  des  §  60  sehr  leicht  sehn  wird.  Setzt 
man  nun  bei  ähnlichen  Complexionen  auch  noch  die  Hem- 
mungsgrade gleich:  so  geschieht  die  Hemtaung  gänzlich  so,  als 
ob  keine  Complication  Statt  gefunden  hätte.  Denn  hiedurch  be- 
kommt die  ganze  Hemmungssumme  zu  den  ganzen  Complexionen  dasselbe 
Yerhältnifs,  wie  es  bey  den  einzelnen  Vorstellungen  gewesen  wäre.  —  In 
jedem  hievon  abweichenden  Falle  entsteht  ein  Gefühl  des  Con- 
ti-ast  es  unter  den  zu  wenig  gehemmten  Vorstellungen,  weil  sie  mit 
dem  Drange,  sich  zu  hemmen,  im  Bewufstseyn  bleiben.  Davon 
tiefer  unten  im  §    104. 


S 


62. 


Welche  Arbeit  es  kosten  werde,  Schwellentafeln  für  die  vollkommnen 
Complexionen  zu  berechnen,  läfst  sich  aus  den  verwickelten  Hemmungs- 
verhältnissen für  drey  Complexionen  nur  gar  zu  leicht  erkennen.  Denn 
für  zwey  Complexionen  kann  es  keine  Schwellen  geben,   da  die  Hemmungs- 


■i  1 5  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


summe  niemals  gröfser  seyn  kann,  als  die  schwächere  Complexion,  diese 
aber  nicht  völlig  sinken  wird,  ohne  einen  Theil  der  Hemmungssumme  auf 
die  stärkere  zu  werfen. 

Nur  in  den  vorbemerkten   Fällen,    wo   die   Hemmungsverhältnisse  auf 

Q,  «-4- 

die    Form  — ,  — ,  — ,    oder   auch  — ,  -~,   — ,    können    gebracht    werden. 
a      b      c  ABC 

bieten    sich    die  Wendungen    der   Rechnung    abermals    dar,    welche    schon 

bey  einfachen  Vorstellungen  mit  verschiedenen  Hemmungsgraden  gebraucht 

sind.     Denn  die  Formel  des  §  55, 

y.o 

wird  mit  gehöriger  Veränderung  und  besonders  mit  gehöriger  Bestimmung 
von  e,   rn   &,  S,  auch  jetzo  passen. 

Wir  zeichnen  hier  einen  Fall  aus,  der  sehr  einfach  [211]  und  zu- 
gleich sehr  abweichend  ist  von  den  Bestimmungen  der  Schwellen  in  den 
vorigen  Capiteln.  Es  sey  nur  eine  Complexion  im  Bewufstseyn  gegen- 
wärtig, allein  zugleich  zwey  einfache  Vorstellungen,  deren  jede  einem  Ele- 
mente der  Complexion  widerstreite.  Also  a  -f-  a,  b,  und  y.  Alsdann  sind 
(j  =  o,  c  =  o,  C  =  y,  B  =  b,  auch  n  =  u  =  n  =  m  =  o ;  indem  blofs 
zwischen  a  und  b  der  Hemmungsgrad  p,  und  zwischen  a  und  y  der 
Hemmungsgrad  *'  noch  übrig  bleibt.  Dem  gemäfs  sind  aus  §  59  die 
Hemmungsverhältnisse 

für  a  -f-  a,  für  b,  für  7, 

ybp-\-byv;  yap\  bw. 

Ferner  wegen  der  Hemmungssumme,  da  y  auf  der  Schwelle  seyn 
soll,  ist  am  natürlichsten  anzunehmen  dafs  y  <<  u,  folglich  dafs  vy  zur 
Hemmungssumme  gehöre.  Unentschieden  mag  es  bleiben,  ob  a^>b-f  wir 
wollen  den  Buchstaben  h  einführen,  der  a  bedeuten  soll,  wenn  a  <  b, 
aber  b,  wenn  a^>  b;  so  ist  auf  allen  Fall  ph  der  andre  Theil  der  Hem- 
mungssumme; also  dieselbe  =p/i  -J-  vy.  Was  nun  von  y  gehemmt  wird, 
findet  sich  so: 

0  ipp  -f-  br  -f  ap)  -4-  bar]:  bar  =  ph  +  vy:  r    ■■    ***?.   ,        T   ,— r— 
u  w      '  '      *'  .'  J  *      V      *      y^bp-\-bi'-\-ap)-\-bav 

und   y  ist  auf  der  Schwelle,   wenn 

buvtyh  +  vy) 

1  ' 


y  (bp  -\-  bv  -\-  ap)  -(-  bav 


woraus 


y2  {bp  -\-  bv  -j-  ap)  -\-  ybav  —  ybav2  =  phbar 

.  bav  (1  —  v)  phbav 

oder  y2  -4-  y  . — — — —  = f ■ . 

bp  -\-bv  -j-  ap         bp-\-bv-\-ap 

ier    Gleichung    versteht    sich    ni 
Coefficient  von  y  wird  =  o   für  v  =  1  ;   und  alsdann 


Die    Auflösung    der    Gleichung    versteht    sich    nun    von    selbst.     Der 


r-¥- 


phba 


b(j>+i)  +  aj> 

Die    Zweydeutigkeit ,    ob    h  •=  a   oder  h  =  b,    wird    wegfallen    wenn 
a  =  b,  alsdann  ist 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  -i\n 


[212]  _    l/    paa_ 

'  ~  V     2i>  4-  I 


\faa 


und    für  _/>  =   r ,    y  =   1/     — .      Ist    endlich    auch    u  =  a  =  b,    so    kommt 

;'  =  (?v  '.      Mit  dieser  Complicationsschwelle  vergleiche   man    nach    §   47 

die  gemeine  Schwelle,  welche  entstehn  würde,  wenn  aus  einem  einzigen 
Continuum    von    Vorstellungen    die    stärkste  =  a  -\-  a,    zwey    andre  =  b 

und  =  y  genommen  wären,    auch   a  =  «■  =  b  =  1,    da  dann   y  =  V 1     auf 

3 
der  Schwelle   seyn  würde.      Es    leuchtet    ein,    dafs    hier    das   ganze    a  -f-  f< 

im  Streite  wäre  mit  jeder  der  beyden  einfachen  Vorstellungen;  während 
in  unserm  Falle  nur  a  wider  b,  und  u  wider  y  streitet,  daher  ein 
schwächeres  y  hinreicht,  um  noch  die  Schwelle  des  Bewufstseyns  zu  be- 
haupten. 


Fünftes  Capitel. 

Von  den  unvollkommnen  Complicationen. 

§  63. 

Schon  der  Anfang  des  vorigen  Capitels  erklärt  den  Ausdruck  un- 
vollkommne  Complicationen.  Die  Untersuchung  der  statischen  Ge- 
setze für  dieselben  ist  schwerer,  als  die  zunächst  vorhergegangene  für  die 
vollkommenen  Complicationen;  auch  die  Mannigfaltigkeit  der  Fälle  ist  hier 
unendlich  grüfser,  weil  die  Innigkeit  der  Verbindung  jeden  beliebigen 
Grad  haben  kann.  Daher  läfst  sich  alles  bisher  über  die  Complicationen 
Vorgetragene  ansehn  als  gehörig  zu  einem  speciellen  Fall  aus  einem  sehr 
weiten  Gebiete,  in  welchem  wir  uns  jetzo  umsehen  wollen.  Doch  nur  das 
Allgemeinste  und  Leichteste  können  wir  hier  angeben.   — 

[213]  Eine  Vorstellung  =  a  sey  durch  irgend  welche  Kräfte  gehemmt 
bis  auf  den  Rest  =  r ;  desgleichen  eine  Vorstellung  =  a,  aus  einem  andern 
Continuum,  gehemmt  bis  auf  den  Rest  =  p.  Wenn  sie  also  zusammen- 
treffen im  Bewufstseyn :  so  verbinden  sich  die  Reste  r  und  q  zu  Einer 
Totalkraft,  die  aber  unabtrennlich  ist  von  den  ganzen,  wiewohl  nicht  durch- 
aus verbundenen  Vorstellungen  a  und  «.  Wird  nun  eine  dieser  beyden 
noch  mehr  gehemmt,  so  widersteht  nicht  nur  sie  selbst  mit  ihrer  ganzen 
untheilbaren  Kraft,  sondern  mit  ihr  und  für  sie  wirkt  noch  eine  gewisse 
Hülfe,  welche  die  andre  Vorstellung  ihr  leistet.  Diese  Hülfe  zu  bestimmen, 
ist  unsre  erste  Aufgabe.  Es  ist  klar,  dafs  die  Hülfe  vollkommen  seyn 
würde  wenn  r  =  a  und  Q  =  «,  welches  eine  vollkommene  Complication 
ergeben  hätte.  Um  wie  viel  nun  dem  r  fehlt  zu  a,  und  dem  o  zu  c, 
beydes  mufs  die   zu  leistende   Hülfe  vermindern. 

Erstlich,  wenn  a  die  Hülfe  empfängt:  so  ist  das  helfende  Quan- 
tum  =   o. 

Zwevtens,   die  ganze  Hülfe   =   0   wird  dadurch  vermindert,   dafs  nicht 


o  l  g  XI.   Psychologie  als  Wissenschaft. 


das  ganze  a,  sondern  nur  ein  Bruch  von  ihm,  sich  dieselbe  aneignen  kann. 
Dieser   Bruch  ist  =  — . 


a 

ro 

Beydes    zusammen    ergiebt    die    Hülfe  =    — .     Desgleichen  diejenige 

or 
Hülfe,   welche  u  erhalten  kann,   =   — 

« 

Demnach   bilden   sich    aus  den  ganzen  Vorstellungen  und  den  ihnen 

i     r9  a*  +  ro 

zukommenden  Hülfen,  Totalkräfte,  deren  eine   =  a  -) = s' 

a  a 

A-  A  _L_     '"?  "'     +     rQ 

die    andre  =■   a   -f-   —   =   

«  « 

§   64. 

Um  nun  die  Wirkungsart  dieser  Complicationshülfen  näher  kennen 
zu  lernen,  wollen  wir  annehmen,  mit  der  unvollkommnen  Complication 
zugleich  sey  eine  einfache  Vorstellung  im  Bewufstseyn,  die  mit  einem  Be- 
standtheile  jener  im   Widerstreite   stehe.      Sie  heifse  b. 

[214]  Zwischen  a  und  b  sey  der  Hemmungsgrad  =m;  a  mit  «  com- 
plicirt,  vermöge  der  Reste  r  und  q.  So  steht  dem  «  unmittelbar  keine 
Kraft  entgegen,  sondern  nur  b  wirkt  auf  dasselbe  vermittelst  der  Reste  r 
und  q.  Die  Wirkung  von  b  auf  a  ist  beschränkt  durch  den  Hemmungs- 
grad  vi;    dieser  mufs  auch  die   vermittelte  Einwirkung  auf  «   beschränken. 

Aufserdem  bezeichnet  der  Bruch  --  das  Verhältnifs,  in  welchem  die  ganze 

a 

Vermittelung  jener  Einwirkung,  welche  das  ganze  a  hätte  leisten  können, 

vermindert  wird.     Und  überdies  ergiebt  der  Bruch  — ,  in  welchem  Ver- 

a 

hältnisse  die  Fähigkeit  von  u  verringert  ist,  sich  dieselbe  Einwirkung  zu- 
zueignen. 

T        O 

Also  b  wirkt  auf  a  als   eine   Kraft  =  m  .  -  -  .  —  .  b.      Aber   b     wirkt 

a      o. 

nur,  in  so  fern  es  durch  die  Hemmungssumme  gespannt  wird  ;  diese 
Spannung  ist  im  Verhältnisse  — .  Endlich  «  leidet  im  umgekehrten  Ver- 
hältnisse seiner  Kraft;  diese  Kraft  mit  der  Complicationshülfe  verbunden, 

istra=."    " ■r— .      Also    erhalten    wir,    alles    zusammengenommen,    für    das 

a 
Leiden  von  o.  die  Verhältnifszahl 

r      q  1  «  mrq 

m  '  1t  '  ~u  '     '  T '  '  f.2  +  rQ~ "  a  (a2  -f-  rQ) 

Ferner  auf  a  wirkt  die   Kraft  mb,   in  der  Spannung  — ;   und  a  leidet 

b 

a2  -r  >{>      n- 
sammt   seiner    Hülfe   im   umgekehrten  Verhältnisse   von   •     .uieses 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  2  ig 


zusammengenommen   findet  sich   für  das   Leiden  von   a  die  Verhältnifszahl 

,      1  a  ma 

mb 


b     a2  -\-  ro         a2  -\-  ro 

Endlieh   auf  b  wirkt  nur  die   Kraft  am;    es  entsteht  aber  die   Frage, 
welches    die    Spannung   dieser  Kraft   seyn    werde?    Für   a   allein   wäre  sie 

— ,     für    eine    vollkommne    [215]    Complexion    a  -f-  «    wäre    sie • 

a  a  -f-  a  ' 

für    die    unvollkommne  Complexion    ist  sie  wegen  der  Hülfe  ohne  Zweifel 

&  .  1 

=  -TT. •    Das  Leiden  von  b  verhält  sich  überdies  wie  — ;   also  findet 

a2  -\-  rQ  b 

man    für   das  Leiden   von  b  die  Verhältnifszahl    — 


b{a2  -j-  ro 

Alle  gefundene   Verhältnifszahlen  lassen   sich  durch  m  dividiren,   daher 
setzen  wir 

>'9  ^r  et  —  «2 


a  (u2  -f-  ro)  a2  -j-  ro  b  (a2  +  ro) 

Nun  ist  wohl  zu  bemerken,    dafs  in  diesen  Verhältnissen  unmöglich 

die     Hemmungssumme    könne    vertheilt    werden.       Denn    die    Totalkräfte 

ro  ro 

a>-\ ,  «H ,    sind  nicht,    wie    die   Kräfte    in    allen  unsern  bisherigen 

a  u.  ° 

r  o 

Berechnungen,  rein  verschiedene  Kräfte,  sondern  der  Theil  —    steckt 

a 

in  a,  welches  dem  a  diese  Hülfe  giebt ;    und  der  Theil  —  steckt  eben  so 

a 

in  a.  Was  daher  diese  Totalkräfte  an  Hemmung  erleiden,  das  ist  eben 
so  wenig  rein  gesondert;  sondern  es  liegt  auf  ähnliche  Weise  in  einander 
verschränkt,  wie  die  Kräfte.  Wollte  man  das  alles,  was  die  Totalkräfte 
zusammengenommen  leiden,  addiren,  so  bekäme  man  mehr  als  die  Hem- 
mungssumme beträgt;  denn  man  bekäme  das  alles  doppelt,  was  der  Wahr- 
heit nach  in  einem  andern  enthalten  ist,  obgleich  die  Rechnung  es  neben 
dem  andern  aufstellt. 

ro 

Demnach    sev  das,    was  von  der  Totalkraft  a  -I gehemmt    wird, 

a 

ro 

r=  u  :    so    mufs    dieses   11  zuvörderst    zwischen   a  und  -       getheilt    werden. 

a 


Nur    der    erste  Theil,    der    sich    für  a  ergeben   wird,    gehört  wahrhaft  z 


ur 


ro 


Hemmungssumme;    der    andre  Theil,    welcher  auf  —  kommt,  ist  ein  Leiden 

a 

[21Ö]  für  das  helfende  a.     Dessen  ungeachtet  darf  er  diesem  nicht  besonders 

angerechnet  werden,   denn  er  liegt  versteckt  in   dem  wirklichen  Leiden  des 

«,   welches  man   findet,   indem  man   diejenige  Hemmung,   die  zur  Totalkrat t 

«  -I gehört,    nach  dem   Verhältnifs  u  :         ein  theil  t,    wo  denn  wiederum 

nur  der  erste  Theil   zur  Hemmungssumme  gehört,   der  andre  aber  in  dem 


3^o 


XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


eben  gefundenen  Leiden  von  a  versteckt  liegt,  und  keineswegs  zu  dem- 
selben zu  addiren  ist. 

Nach  diesen  Prämissen  wird  folgender  Gang  der  Rechnung  klar  seyn : 
man  denke  sich  irgend  ein  Ar,  als  ob  es  dasjenige  wäre,  was  nach  den 
zuvor  bestimmten  Verhältnissen  getheilt  würde.  Die  vierten  Glieder  der 
Proportionen  zerlege  man  durch  neue  Proportionen,  um  dasjenige,  was 
wirklich  zur  Hemmungssumme  gehört,  herauszusondern;  man  addire  das- 
selbe, und  setze  es  der  zuvor  bestimmten  Hemmungssumme  gleich ;  dar- 
aus finde  man  X,  und  substituire  seinen  Werth  in  die  zuvor  mit  Hülfe 
desselben  bestimmten  wahren  Theile  der  Hemmungssumme ;  diese  Theile 
sind  nun  wirklich  das,  was  die  einzelnen  Vorstellungen  leiden,  und  die 
Aufgabe  ist  dadurch   aufgelöst. 

Durch  die  Rechnung  mag  diese  Vorschrift  vollends  klar  werden.  — 
Zuerst  werde   X  getheilt  nach  den  obigen   Verhältnissen   M,   A,   P 


(M+N+P): 


M 

A~  = X 
P 


MX 


J/-f  .V+  P 
NX 

J/+  N+  ~P 
PX 


MX 


M  f  X-\-  P 
ro 


-  ist  das  Leiden  für  die  Totalkraft  «  -I- 
M-\-  N-{-  P  u 


es  zerfällt  nach 


ro 


dem  Verhältnisse    «  :  -     in  zwey  Theile.      Nur   [217]   der  erstre  wird   zur 


« 


Hemmungssumme  gehören ;    man  sondere  ihn  ab   durch  •  die   Proportion 


«2  +>'P 


MX 


u 


MX 


a 


u 


Ferner 


MX 


j/_|_  N '+  P  («2  +  rQ)  (J/+  2V-f-  P) 


ro 


M-\-  N+  P 


ist    das    Leiden    für   die    Totalkraft  a  -| ;   es 


r  o 


zerfällt  nach   a  :  —  in  zwey  Theile;   den   ersten   sondere  man  ab  durch  die 
Proportion 


a*  -\-ro 


a 


1 
N 


NX 


a 


a 


N  X 


!/_}_  N+P'  j/_|_  N-\-  P 

PX 

Endlich      -■  — —  ist  das  Leiden  für  b\    welches  keine  Hülfe  be- 

J/+  N-\-  P 

kommen   hat,  sondern   seine   Hemmung  allein  trägt.     Daher  ist  hier  keine 

Absonderung  anzubringen,   sondern  dieses   Leiden  gehört  ganz   zur  Summe 

der  Hemmunir. 

Jetzt  müssen  die  gefundenen  Theile  addirt,   und  der  Hemmungssumme 


S  gleich  gesetzt  werden ;   also 


X 


«2  M 


und   folglich  A' 


M-\-N+P  W  -f-  rn 

S(M±N-\-  P) 

tt2  -j-  r  o 


+  mW+PJ 


s 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes. 


^2  1 


Dieser  Werth    von  X   ist   zu    substituiren    in   die  gefundenen   Theile, 
welche  gehemmt  werden  von  a,  <?,  und  b;  demnach: 

u2  MS 


i" +''(££-,+'»  +  $ 


wird  gehemmt  von  « 


a  X2  S 

wird  gehemmt  von  a 


u2  M 

a2  +  rn    ' 


PS 

-  wird  gehemmt  von  b. 


a2  M  ° 

[2  1 8]  Hieraus  sieht  man  nun  die  wahren  Verhältnifszahlen,  nach  denen 
die  Hemmungssumme  sich  wirklich  theilt. 

u2  M 

Sie  sind , ,  ai\2,  und  P, 

U2    +    r  Q 

f  O  d  (l2 

und  weil  M "=  — -,   N-== : ,   P  =  — —     -j    so    wird   die 

a  (a2  -\-  rQ)  a2  -\-  r  c>  b  (a2  -J-  r  Q) 

erste  Verhältnifszahl  === 

die  zweyte  wird  = 

die  dritte  ist  und  bleibt  = 

b  (a2  -j-  r  q 

In  dieser  Bestimmung  der  Verhältnisse  müssen  zwey  andre,  aus  dem 
Vorigen  schon  bekannte,  mit  enthalten  seyn,  an  denen  wir  ihre  Richtig- 
keit erproben  können.  Für.  r  =  a  und  q  ===  a  mufs  die  unvollkommne 
Complexion  in  eine  vollkommne  übergehn.      Dafür  wird 

«j  a  a 

die  Verhältnifszahl   für  <>., 


\ 

a2  ff() 

U2  rQ 

a 

K  +  e>t' 

ß3 

(« 

?  +  r9y 

a2 

a  (a2  -\-  au)2        (a  -|-  a)2' 

ai  a 

für  d,      — — —  =  —  -  , 

a2  -f-  d  a)2  (d  -j-  u)2 

für  b, 


a2  d 


b  (d2  -\-  du)  b  (a  -j- «)' 

oder  mit  b  [a  -j-  a)2  multiplicirt,  a  b,  a  b,  d  (a  -j-  «).      Nach  §^   60  und  1 1 1 

aber   würden    wir    folgende   Rechnung   geführt    haben:    erstlich    hätten    wir 

ß  und  n  =  o  gesetzt;  daraus  wäre  das  Hemmungsverhältnils  b  :  a  gefunden ; 

bS 
demnach  von  der  Complexion  würde  gehemmt  — ;   dieses   müfste  zer- 

rt -}-  b 

legt  werden  nach  dem   Verhältnils  der  Bestandtheile   der  Complexion;  und 

t       •  /->i-   j  ,  abS  abS 

die   vierten  Glieder    würden   seyn : — v  und  1 

(a  -f  a)  (a  +  b)  (a  -j-  a)   (a  -J-  b) 

daher  wäre  gehemmt 

Herhart's  Werke.     V.  2 1 


■12  2  ^LL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


ab  S 


von  «, 


[219]  von  ai 

von  £, 


(«  +  «)   (a  +  J)' 

abS 
(a  +  «)   (T+äj' 

(7  5 


a-f-3' 


welche  Gröfsen  sich  verhalten  wie  — : — ,  — : — ,    und   a;     oder   wie    üb, 

a  -\-  «    a  -\-  u 

ab,  a  (a  -f-  u);    dieses    aber  sind    die    nämlichen  Verhältnisse,    welche    sich 
aus  den  obigen  Formeln  ergeben   haben.   — 

Für  a  =  o,   folglich  für  0  =  0,    sind    blofs  a   und  b  im  Widerstreit; 

II.  . 

nun  werden  jene  Verhaltnifszahlen  o,  — ,  — ,  wie  gehöng. 

a      b 

§  65. 

Mit  der  nunmehr  bestehenden  Bestimmung  des  Hemmungs-Verhält- 
nisses  begnügen  wir  uns  hier,  weil  die  nach  demselben  zu  erwartende 
wirkliche  Hemmung  allemal  noch  von  andern  beygemischten  Umständen 
abhängen  wird.  Denn  wir  müssen  wegen  der  angenommenen  unvoll- 
kommenen Complexion  voraussetzen,  dafs  die  Elemente  derselben,  a  und  u, 
beyde  von  irgend  welchen,  hier  unerwähnt  gebliebenen,  Kräften,  gehindert 
werden  sich  im  Bewufstseyn  höher  zu  heben,  wodurch  sogleich  auch  ihre 
Verbindung  inniger  werden,  folglich  r  und  o  sich  vergrößern,  und  deren 
Wirkung  wachsen  würde.  Eigentlich  haben  wir  im  Vorigen  nur  die  Ver- 
theilung  des  Drucks  bestimmt,  der  aus  dem  Gegensatze  des  a  und  b 
entsteht. 

Jetzt  suchen  wir  uns  die  Bedeutung  der  gefundenen  Formeln  klärer 
zu  machen.  Der  Schlufs  des  vorigen  §  zeigt,  dafs  wenn  die  Complication 
sich  der  Vollkommenheit  nähert,  «  beynahe  in  dem  Verhältnils  seiner 
eignen  Stärke  die  ihm  fremde  Hemmung  zwischen  a  und  b,  tragen  hilft. 
Am  weitesten  hievon  verschieden  ist  der  Fall  einer  sehr  unvollkommenen 
Verbindung  zwischen  a  und  «.  Gesetzt,  das  Product  rp  sey  so  klein,  dals 
man  es  neben  a2  und  [220]  u2  vernachlässigen  könne:  so  werden  die 
Verhaltnifszahlen  nahe 

1     ;  0      1       1 

ö  a «'  ci  b 
Das  heifst,  die  Hemmung  zwischen  a  und  b  wird  durch  das  complicirte 
a,  nun  wenig  verändert;  «  leidet  desto  weniger,  je  stärker  es  ist,  und  je 
weniger  r  gegen  a,  und  q  gegen  u.  beträgt.  Zwischen  diesen  beyden 
äufsersten  Fällen  liegt  in  der  Mitte  die  Annahme  r  =  y  0  und(T=  — «; 
und  nun  werden  jene  Zahlen 

a  a  a 


4(„  +  _L_a)2     (a  +  -i-a)-     #(«  +  Jj-a) 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  -i  2  2 

für  a  =  u  wird  hieraus 

_!   ±    L 

Sa     ga     b' 

Man    kann    auch    diese   Annahme  a  =  «    gleich    in    die    allgemeinen 

Ausdrücke  setzen;   alsdann  lassen  sich  diese  durch   —    dividiren,  und 


man   findet 


VQ 


a2  -f-  r (J  a2  -\-  >-q  b' 
Hier  ist  merkwürdig,  dafs  die  Summe  der  ersten  beyden  Zahlen  =  1 
ist.  Demnach  verhält  sich  das,  was  von  der  ganzen  Complexion  a  -\-  a 
gehemmt  wird,  zu  dem  Verluste  von  b,  im  angenommenen  Falle  wie  b 
zu  a;  die  Reste  r  und  q  aber,  die  niemals  einzeln,  sondern  immer  zu 
einem  Producte  verbunden  in  Betracht  kommen,  bestimmen  dann  ferner 
die  Vertheilung  dessen,  was  von  der  Complexion  zu  hemmen  ist,  auf  die 
Elemente  derselben. 

§  66. 

Die  höchst  wichtige  Verschiedenheit  der  unvollkommenen  Com- 
plexionen  von  den  vollkommenen  liegt  nun  klar  vor  Augen.  Wir  haben 
im  vorigen  Capitel  gesehen,  dafs  unsre  Vorstellungen,  so  weit  sie  voll- 
kommen verbunden  sind,  trotz  allen  Hemmungen  stets  ihren  Zusammen- 
hang unversehrt  behaupten;  denn  vollkommene  Complexionen  bleiben  sich 
stets  ähnlich  (§  61).  Ganz  an[22i]ders  verhält  es  sich,  sobald  eine  Ver- 
bindung unvollkommen  ist.  Da  wird  durch  jede,  auch  die  kleinste  Hem- 
mung, die  das  eine  Element  der  Complexion  stärker  trifft,  als  das  andre, 
auch  die  Verknüpfung  lockerer  gemacht,  indem  eins  dem  andern  um  so 
viel  entzogen  wird,  als  dies  minder  wie  jenes  unter  dem  vorhandenen 
Drucke  leidet.  Noch  mehr!  die  vorhandene  Verknüpfung  wird  ver- 
fälscht durch  eine  entgegengesetzte.  Denn  nach  geschehener  Hemmung 
complicirt  sich  b  mit  «  in  eben  dem  Maafse  stärker,  als  von  a  mehr  ver- 
drängt wurde;  dergestalt,  dafs  nunmehr  a  nicht  blofs  mit  a,  sondern  auch 
mit  b,  dem  Widerspiel  von  a,  verbunden  ist.  —  Allein  hiebey  besteht 
nichts  desto  weniger  in  u  das  Streben,  a  bis  auf  den  vorigen  Punct  der 
Verbindung  wieder  mit  sich  zu  vereinigen.  Denn  die  ganze  Stärke  dieser 
Verbindung  wird  fortwährend  als  Bedingung  des  vorhandenen  Gleich- 
gewichts vorausgesetzt;  wäre  sie  schwächer,  so  würde  b  noch  mehr  als 
schon  geschehen,  von  a  hemmen.  Hiedurch  kommen  wir  weiter  in  der 
Lehre  von  den  Gefühlen.  Denn  der  Zustand  einer  Vorstellung:,  — 
wie  hier  u,  —  da  sie  eine  andre,  gegen  die  Gesetze  des  Gleichgewichts, 
höher  ins  Bewufstseyn  zu  heben  bemüht  ist,  verändert  das  Vorgestellte 
um  gar  nichts,  kann  also  auch  nicht  zu  dem  sogenannten  Vorstellungs- 
vermögen gerechnet  werden.  Es  ist  ein  Sehtien,  welches  befriedigt 
werden  würde,  wenn  die  angestrebte  Vorstellung  (hier  a)  von  neuem  ge- 
geben würde;  jedoch  so,  dafs  darauf  sehr  bald  ein  entgegengesetztes 
Sehnen,    nach    b,  folgen    würde,    sobald    nämlich    dies    durch    das    neue  a 

21* 


324  -^-I-  Psychologie  als  Wissenschaft. 


merklich  gehemmt,  und  dadurch  seiner  Verbindung  mit  «  entzogen  wäre. 
Jedoch  dergleichen  Betrachtungen  lassen  sich  hier  noch  nicht  ausführen; 
sie  gehören  sammt  der  obigen,  am  Ende  des  §  61,  in  den  zweyten  Theil 
dieses  Werks. 


\_222~]     Sechstes   Capitel. 

Von  den  Verschmelzungen. 

§  67. 

Die  ersten  Vorbegriffe  von  den  Verschmelzungen  der  Vorstellungen 
rinden  sich  im  Anfange  des  vierten  Capitels.  Die  Vereinigung  solcher 
Vorstellungen,  die  zu  einerley  Continuum  gehören  (wie  roth  und  blau, 
welches  beydes  Farben  sind,  —  oder  wie  ein  paar  Töne,  od.  dgl.),  soll 
Verschmelzung  heifsen.  Sie  führt  einen  besondern  Namen,  weil  der  Grad 
•der  Verbindung  hier  nicht,  wie  bey  den  Complicationen  ungleichartiger 
Vorstellungen  (wie  Ton  und  Farbe),  blofs  von  zufälligen  Umständen  ab- 
hängt, sondern  durch  den  Hemmungsgrad  der  verschmelzenden  Vor- 
stellungen selbst,  beschränkt  wird.  Während  nun  diese  Art  der  Ver- 
einigung verschiedener  Vorstellungen  zu  einer  Gesammtkraft,  niemals  voll- 
ständiger werden  kann,  als  der  Hemmungsgrad  derselben  es  gestattet: 
können  recht  füglich  noch  zufällige  Hemmungen  dazu  kommen,  um  derent- 
willen die  Vereinigung  noch  geringer  wird.  Allein  solche  Nebenumstände 
setzen  wir  hier  bey  Seite. 

Es  ist  aber  nöthig,  zweyerley  Verschmelzung  zu  unterscheiden,  eine 
nach  der  Hemmung,   eine  andre  vor  der  Hemmung.* 

Zuvörderst  nämlich  ist  klar,  dafs  wegen  der  Einheit  der  Seele,  Alles, 
was  sich  nicht  widerstrebt,  ein  intensives  Eins  werden  mufs;  daher  die 
Verschmelzung  nach  der  Hemmung.  Diejenigen  entgegengesetzten  Vor- 
stellungen, deren  Hemmung  geschehn  ist,  verschmelzen  gerade  so  weit, 
als  sie  sich  nun  nicht  mehr  hemmen.  Die  Reste  bilden  eine  Totalkraft, 
ähnlich  jener  bey  den  unvollkommenen  Complicationen;  jedoch  mit  dem 
Unterschiede,  [223]  dafs  die  Complication  vollkommener  wird,  wenn  die 
■complicirten  Vorstellungen  zugleich  steigen;  hingegen,  wenn  die  ver- 
schmolzenen ihren  Verschmelzungspunct  übersteigen,  die  Hemmung  von 
neuem  beginnt;   (mit  einer  Einschränkung,    die    im    §   93    erst    vorkommt). 

Verschieden  hievon  ist  die  Verschmelzung  vor  der  Hemmung.  Diese 
hängt  ab  von  einem  gewissen  Grade  der  Gleichartigkeit  der  Vorstellungen. 
Bey  völlig  entgegengesetzten  kann  sie  nicht  Statt  finden,  welche  gleichwohl 
jener  andern,  nach  der  Hemmung,  unterworfen  sind.  —  Man  denke  sich 
zuvörderst  zwey  vollkommen  gleichartige  Vorstellungen,  z.  B.  beym  Sehen 
zweyer  gleich  gefärbter  Puncte,  oder  beym  Hören  zweyer  gleich  gestimmter 
Saiten.  Dafs  diese  gleichartigen  völlig  (und  augenblicklich)  in  eine  ein- 
zige   Intension    des    Vorstellens    verschmelzen    werden,    wofern    sie    gleich- 


*  Beydes  ist  eigenüich  Verschmelzung  während  der  Hemmung;  allein  die  obige 
Unterscheidung  befördert  die  Fafslichkeit. 


Zweyter   Abschnitt.      Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  325 


zeitig  ungehemmt  im  Bewufstseyn  sind,  versteht  sich  ganz  von  selbst. 
Was  wird  aber  daraus  werden,  wenn  ein  paar  unendlich  nahe  Vor- 
stellungen, das  heilst,  zwey  fast  gleichartige,  und  deren  Gegensatz  unendlich 
klein  ist,  sich  gleichzeitig  ungehemmt  zusammenfinden?  Natürlich  kann 
der  Erfolg  nur  unendlich   wenig  von  dem  vorbemerkten  abweichen.      Den- 


*ö 


noch  hindert  der  Gegensatz  eine  völlige  Vereinigung.  Und  —  was  die 
Hauptsache  ist  —  er  läfst  sich  von  dem  Gleichartigen  nicht  absondern. 
Nur  in  Gedanken  kann  man  eine  Vorstellung,  verglichen  mit  einer  andern, 
zerlegen  in  Gleiches  und  Entgegengesetztes;  der  Wirklichkeit  nach  aber 
sind  dieses  nicht  wahre  Bestandteile  der  einfachen  und  sich  selbst 
gleichen  Vorstellungen.  So  ist  die  Wahrnehmung  der  violetten,  oder  der 
grünen  Farbe,  —  desgleichen  die  irgend  eines  musikalischen  Tones,  — 
gewifs  eine  einfache  Wahrnehmung;  wenn  schon  die  Zerlegung  jener  in 
Roth  und  Blau,  u.  s.  w.  als  eine  zufällige  Ansicht  zulässig  ist.  —  Da  nun 
das  Gleichartige  gewifs,  und  sogleich,  verschmelzen  sollte,  da  es  aber 
nicht  losgerissen  von  dem  Entgegengesetzten,  für  sich  allein  verschmelzen 
kann;  da  es  vielmehr  das  letztere  in  seine  [224]  Verschmelzung  mit  sich 
hineinziehen  mufs,  —  so  wird  der  wirklichen  Vereinigung  ein  Kampf 
vorangehn,  dessen  Entscheidung  bestimmt,  wie  innig  die  wirkliche  Ver- 
einigung seyn  werde.  Also  äufsert  sich  das  Gleichartige  der  Vorstellungen 
(man  vergesse  nie,  dafs  wir  von  einfachen  Vorstellungen  reden,  und 
nicht  etwa  von  Complexionen)  zuerst  als  ein  Streben  zur  Verschmel- 
zung; dergleichen  bey  den  völlig  Gleichartigen  nicht  vorkommen  konnte. 
Dieses  Streben  wird  nun  bey  unendlich  Nahen  nur  unendlich  geringen 
Widerstand  finden. 

Nehmen  wir  hingegen  jetzt  Vorstellungen,  deren  Gegensatz  eine  end- 
liche Gröfse  hat:  so  kann,  erstlich,  die  Verschmelzung  nur  allmählig  zu 
Stande  kommen,  in  dem  Maafse  nämlich,  als  die  Gegensätze  dem  Streben 
zur  Vereinigung  allmählig  nachgeben;  zweytens,  aus  dem  Grade  des  Gegen- 
satzes und  der  Gleichartigkeit  mufs  die  Stärke  des  Strebens  zur  Ver- 
einigung, und  hieraus  weiter  berechnet  werden,  wie  viel  dieses  Streben 
über  die  Gegensätze  vermögen,  wie  viel  wirkliche  Vereinigung,  und  folglich 
welche  Totalkräfte   es  am  Ende  erzeugen  werde. 

So  viel  zur  vorläufigen  Aufklärung  der  Begriffe;  wir  suchen  jetzt  die 
allgemeine  Methode  aller  Verschmelzungs-Rechnung;  welche  der  Rechnung 
für  unvollkommne   Complicationen  im  wesentlichen  ähnlich  ist. 

§  68. 

Für  die  drey  Vorstellungen  a,  b,  c,  gebe  es  drey  Verschmelzungs- 
hülfen,  //,  h' ,  //';  welche  nach  was  immer  für  einem  Gesetze  bestimmt 
seyn  mögen,  nur  aber  nicht  von  fremden  Einflüssen  herrühren,  sondern 
aus  gegenseitiger  Wirkung  von  a,  b,  und  c  auf  einander  entsprungen  seyn 
müssen.  Auch  sey  a  -j-  h  =  u,  b  -\-  h'  =  ß,  c  -\~  h"  —  y.  Der 
Hemmungssumme  widerstehen  nun  diese  Totalkräfle  nach  dem  umge- 
kehrten Verhältnifs  ihrer  Stärke,  und  vielleicht  noch  im  geraden  Verhält- 
nisse irgend  welcher  Hemmungsgrade  oder  Summen  von  Hemmungsgraden, 
um    deren  Bestimmung   wir    uns    hier   nicht    bekümmern,    deren  Stelle    wir 


326 


XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


aber',    nach    Analogie    der    Unter[22  5]suchungen    im    dritten    Capitel ,    mit 

e,   i(,  &,  bezeichnen.     So  werden  die  Hemmungsverhältnisse 

e      i,     & 
—,  — ,  — ;    oder  tßy,   ituy,  Saß. 

Weil  aber  die  Totalkräfte  zum  Theil  in  einander  enthalten  sind,  so 
wird  auch  das  Gehemmte  nach  eben  denselben  Verhältnissen  in  einander 
verschränkt  seyn  (gerade  wie  im  fünften  Capitel).  Wenn  z.  B.  b  dem  a 
eine  Verschmelzungshülfe  leistet,  so  ist  das  Leiden  der  hieraus  entsprungenen 
Totalkraft  nur  zum  Theil  ein  Leiden  von  a;  der  andre  Theil  steckt  in  dem 
Leiden  von  b.  Daher  darf  man  nicht  das  Gehemmte  der  Totalkräfte  zu- 
sammengenommen der  Hemmungssumme  gleich  setzen.  Vielmehr  sey  das- 
selbe =  X;  eine  noch  unbekannte  Gröfse.    Nun  hat  man  die  Proportionen: 

tßyX 


(eßy  -f   r,uy  +  fraß): 


tßy 


I    (t  " 


=  X 


d-uji 


ißy  -\-    >,ay  -f-  fraß 

rpyX 

eßy  +  rjay  -f  ituß 
ü-aß.X 


tßy  -f-   ijay  +  &aß 

Aus   den  vierten  Gliedern    hat   man  abzusondern    das  Leiden  von  <?, 
ö,  und  c,  durch  folgende  drey  Proportionen: 

aeßy  X 


a 


tßyX 


ß  :  b  — 


eßy  -\-   ituy  -\-  fraß  '  a  (eßy  -\-   itay  -\-  Süß) 

ijuy  X  b  ■  i, « y  X 

eßy  4.   ltay  -f  &uß  •  ß.(tßy   +  V,ay  +  Saß) 
SaßX  cS-aßX 


tßy  4"  'iuy  -f-  Stuß  '  y  •  {eßy  4~  '/"/'  4~  &uft) 
Die  Summe  der  gefundenen  vierten  Glieder    ist   die  wirkliche  Hem- 
mungssumme, also 

X  (aeßy  brtuy     ,     c&aß' 


eßy  4"   'iu'/  -f-  &aß 


« 


+ 


;> 


+ 


—  S, 


woraus  X  = 


S  .   (e'ßy  4-    Vuy  +  &aß)  .  aßy 


b  = 


aetPy2  -{-  bi]U2y2    4-   c&a2ß2 
[226]   Durch  Substitution  dieses  Werthes  von  Är  findet  sich  nun 

,       T    .,  S  .  aeßSy2 

das  Leiden  von  a  = ; ; ; - 

aeß*f  4-  btja2y2    -\-  c&a'ß* 

S  .  bi,a2y2 

a  e , J2  f  4-  br\tff   -\-  c  $■  u2 ß2 

S  .   cttu2^ 

"     c  =   atpf  4_  brtff   4-  c&a?ß* 

Oder  ganz  kurz:  aetPy2,  bi,u.2y2,  cfrtfß2,  sind  die  Verhältnifszahlen 
wornach  die  Hemmungssumme  sich  vertheilt.  Man  übersieht  diese  Ver- 
hältnisse noch  leichter,   wenn   man  sie  so  schreibt : 

<j  e    b  i,     c  & 


c. 


2'        ->2 
P 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  ?27 

Und  weil  a  =  a  +  h,  so  ist  —  =  — — — . — -  ;    Qft    aber  wird 

«2  a2   ~\-    2  ah   -j-   h2 

h  ein   so    kleiner  Bruch  seyn,    dafs    man    im  Nenner  h2  weglassen    kann. 

Alsdann  ist  beynahe  —   =      — -;    welche    Abkürzung    auch    auf   die 

«  a  -f-   2  h  ° 

übrigen  Verhältnifszahlen  pafst. 

Sind  nur  zwey  Vorstellungen  a  und  b  gegeben:    so  ist  c  =  o;  man 

kann  durch  y2   dividiren;   und  es  ist 

,  .  5  .   tff/?2 

das  Leiden  von  #  = — ' 

rt:4/y2   -j-  ^//«2 


b  = 


.S*  .  ^  ^ 


« 


2 


d^/312   -f-   £y/a2' 

Für   mehr   als   drey  Vorstellungen    würde    man    die    Rechnung    nach 
Analogie  der  hier  gezeigten  anzuordnen  haben. 

§  69. 

Um  von  den  gefundenen  Formeln  eine  leichte  Anwendung  zu  machen, 
wollen  wir  die  Verschmelzung  nach  der  Hemmung  mit  der  Einschränkung 
in  Betracht  ziehn,  dafs  wir  zunächst  volle  Hemmung  aller  Vorstellungen 
untereinander  annehmen.  Dieses  befreyt  uns  von  den  Rücksichten,  welche 
die  Verschmelzung  vor  der  Hemmung  sonst  erfordern  würde;  indem  die 
letztere  nicht  ein  [2  2  7] treten  kann,  wo  gar  keine  Gleichartigkeit  der  Vor- 
stellungen vorhanden  ist. 

Es  seyen  demnach  von  a  und  b,  nach  vollendeter  Hemmung,  die 
Reste  verschmolzen.  Darauf  komme  plötzlich  die  Vorstellung  c  hinzu; 
(plötzlich,  damit  nicht  der  Zeitverlauf  einer  länger  anhaltenden  Wahr- 
nehmung es  nöthig  mache,  über  die  Statik  des  Geistes  zur  Mechanik 
hinauszugehn.)  Man  sucht  für  die  Hemmung  zwischen  a,  b,  und  c  den 
Punct  des  Gleichgewichts;  (also  nur  das  Ende  der  Hemmung,  nicht  ihr 
allmähliches  Werden,  welches  wiederum  in  die  Mechanik  hineingehört) 

Offenbar  müssen  wir  hier  zuerst  die  Verschmelzungshülfe  bestimmen, 
welche  a  und  b  einander  gegenseitig  leisten,  indem  sie  von  c  zum  weitem 
Sinken  gedrängt  werden.  Für  c  selbst  giebt  es  hier  noch  keine  solche 
Hülfe,  dergleichen  es  erst  nach  geschehener  Hemmung  bekommen  wird. 
So  viel  liegt  vor  Augen,  dafs  a  und  b  nun  dem  c  stärker  widerstehen 
werden,  als  wenn  sie  noch  unverschmolzen  wären,  denn  sie  wirken  ihm 
jetzt  zum  Theil  als  Eine  Totalkraft  entgegen. 

Zuvörderst  ist  im  Allgemeinen  die  Bestimmung  der  Verschmelzungs- 
hülfe hier  dieselbe,  wie  im  vorigen  Capitel.    Es  sey  der  Rest  von  a,  =  r, 

der  von  b,  =  Q,  so  hilft  r  dem  b,  in  so  fern  der  Bruch    —  die  Aneignung 

b 
der  Hülfe  gestattet;    desgleichen  q  dem  a,    in   so  weit  der   gedrückte  Zu- 
stand von  a,  gemäß;  dem  Bruche  — ,  für  die  Hülfe  empfänglich  ist.      Mit 

a 

einem  Worte:  a  bekommt  die   Hülfe   v- ;   und  b  die  Hülfe      -. 

a  b 


•2  2  8  XL  Psychologie  als  "Wissenschaft. 


Ferner    müssen    wir    in    das    erste    Capitel   zurückgehn,    um    dort    die 

Werthe  von  r  und  p  zu  finden.    Denn  diese  hängen  ab  von  der  Hemmung 

b2 
zwischen    b    und    a.       Es    ist    aber    nach    §    44    r  =   a  - —    : —  ,  und 


a  ~   b 


(>  =  7T+? 


ab2  b* 

Folglich  ro   = 


o 


a  +   b  (a    -f-   b)*' 

a2Y.2  (1   4-  x  ■ —  y.2) 

[228]    Es  sev  b  —   y.a;    so  wird  ro  = - 

L        J  (i    +   y.)2 

gr  a(y.2    -f-    y3    —   Jf4)  gr  ff(x   -j-    y.z  —    *3)  1       gr 

d  b°  ~ä    =  (1    +  x)2  ün      7'    ~~  (1    -f  y)2~         ~    y.   '    Ä  " 

Wir  werden   einen  Augenblick  verweilen  bey  diesen  Gröfsen,   die  man 
offenbar    als   Functionen    von  •/.,    d.  h.    von    dem  Verhältnisse    zwischen    a 


und  <5,   ansehn  kann.      Für  x  =    1    wird    —  =  —  a,  und   —  ==  —  ff.     Ist 

die 

pr  ffx2  or  «x 

weglassen,  und  es  wird  — ; ,  und   —  =       — —  Wird    von 

y.2   -\-    y.i   —    yA 
der  Function  ' ; das   Differential   =    o    gesetzt,    so    kommt 


Qr  1  ,  Qr 

—  =  —  a,  und  — 
a  4  b 

y.  ein   kleiner  Bruch,    so    kann    man  die   höchste  Potenz    als  unbedeutend 

or  ay2  or  ay. 

-    =  ■ ,  und   ^—   =    ■ . 

a  \    -\-  y.  a  1    -j-   /. 

(1  +  *y 

man  auf  die  Gleichung  y.i  -\-  ±-y.2  —  |x  —   1  =0,  deren  einzige  posi- 

y.   4-   y.2  —   yJ 

tive  Wurzel  =  1 ;  desgleichen  von  der  Function  — ; ; r- das  Dif- 

0  (1   -f-  x)2 

ferential   =  o   gesetzt,    führt   zur  Gleichung  x3  -(-   3  y2  —   y.   —    1    =0, 

deren    einzige    positive  Wurzel    etwas    kleiner    ist    als  0,7.     Dieser  letztere 

Werth  von  /.  giebt    ohne  Zweifel  ein  Maximum;    eigentlich  auch  für  jene 

erste   Function    der  Werth  /.  =    1,    doch    dieser    ist    zugleich    der  höchste 

brauchbare  Werth   von  y.,    denn   die  Formeln   für  r  und  p  setzen  voraus, 

dafs  ff  >   b.    —    Dafs   es   für   die  Verschmelzungshülfe,    welche  b   erhält, 

ein  Maximum  giebt,   verdient  bemerkt  zu  werden. 

Hier  folgen   einige  berechnete  Werthe  der  Verschmelzungshülfen,    für 

a  =    1. 


[229] 


a 

=  0,25 

y.  =  0,9 

rg 

b 

=  0,25 

0,244 

0,2717 

x  =  o,8 

0,228 

0,286 

y.  =  0,7 

0,205 

0,293 

X  ans  0,Ö 

0,174 

0,291 

Zweyter  Abschnitt.      Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  2  20, 

x  =  o,  =; 

—    =    0,I3Q  -^   =0,278 

0,101  0,253 

*  =  o,3 
0,064  0,215 

/.  =  0,2 
0,03  2  o,  1 6 1 

Für    kleinere    x    findet    man    sehr    leicht    -7-  = =  ax  (1  -—  ■/.) 

0         1  -|-  /. 

näherungsweise;    also  z.  B.   für  x  =  o,  1    ist   --  nahe   =  0,09;    folglich  — 

=  0,009.  Man  sieht,  dafs  die  Verschmelzungshülfe  für  /;  hier  sehr  be- 
deutend ist,  indem  sie  die  Stärke  desselben  beynahe  verdoppelt,  während 
dagegen  die   Hülfe  für  a  nicht  in   Betracht  kommt. 

Jetzt  können  wir  in  den  Formeln  des  vorigen  §.  a  und  ß  bestimmen. 
Die  Hemmungscoefficienten  e,  /;,  &  werden  herausfallen;  denn  wir  haben 
volle,  also  gewifs  gleiche  Hemmung  angenommen,  und  die  Verschmel- 
zungsh  ülfen  müssen  in  eben  den  Graden  gehemmt  werden  wie 
die  Vorstellungen,  denen  sie  helfen,  und  vermittelst  welcher 
die  Hemmung  zu  ihnen  übergeht.  Ferner  ist  c=.y,  weil  es  für  c 
noch  keine  Hülfe  giebt,  wie  schon  erinnert  worden.  Daher  läfst  sich  durch 
C  =  y  dividiren;   und  die   Formeln  geben  nun  einfacher 


[230] 


das 

Leiden 
»3 

von 

b, 

= 

Sbya* 

1 

u2  ß* 

»j 

ayß2  -f-  byu2 
Su2ß> 

+ 

u2ß2 

"     "  ayßt  +  bya'  +  a'ß* 

wobey  noch  zu  bemerken,  dafs  hier  c  jede  beliebige  Gröfse  haben  kann, 
indem  zu  a  und  /',  den  schon  verschmolzenen,  jede  starke  oder  schwache 
dritte  Vorstellung  hinzutreten  mag.  Nur  in  der  Bestimmung  der  Hemmungs- 
summe  mufs  hierauf  gehörige  Rücksicht  genommen  werden. 

Es  sey  zuvörderst  a  =  b  =  c  =  1 .     Demnach  5  =  2  ;  a  =  ß  =  1,25  ; 
ur  =  1,5625  ;   uzß2  =  2,4414  .  .  .   und   hieraus 

das  Leiden  von  a  ===  0,5614.. 
„     b  =  0,5614  .  . 
„  „  „     c  =  0,8772  .  . 

woraus  die  starke  Wirkung  der  Verschmelzung  zu  erkennen  ist;   denn  ohne 

sie  hätte  das  Leiden  von  allen  dreyen  gleich  grofs,  und  =  —  =  0,666  .  . 

seyn  sollen. 

Es  sey  ferner  a  =  I ;    b  =  0,7  ;    c  =■■  1  ;    also  S  =  1,7  ;    «  =  1,205  ! 
ß  =  0,993  ;   u2  =  1,4520;  fi*  =  0,98605  .  . ;   u2ß2  =  1,43  1  7  .  . ,   woraus 

das  Leiden  von  <z  =  0,48814 
„  b  =  0,50317 
„     c  —  0,7087 


iiQ  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

Dieses  Beyspiel  zeigt  noch  weit  auffallender  die  grofse  Veränderung, 
welche  aus  der  Verschmelzung  hervorgeht.  Denn  nach  §  49  hätte  b  unter 
die  Schwelle  sinken  sollen,  weil  neben  zweyen  Vorstellungen,  deren  Stärke 

=  1,  die  dritte  schwächere  =  V_I_  =  0,707  ..  seyn  mufs,    um   sich   nur 

2 

auf  der  Schwelle  behaupten  zu  können.  Jetzt  hingegen  tritt  an  die  Stelle 
von  b  nicht  nur  die  Totalkraft  0,993  ;  sondern  selbst  was  diese  leidet,  ist 
zum  Theil  enthalten  in  dem  Leiden  von  a;  daher  denn  a  fast  so  stark 
als  b  selbst,  von  der  Hemmung  ergriffen  wird.  Dennoch  gewinnt  auch  a 
durch  den  Schutz  der  Verschmelzung.  Denn  ohne  diesen  wäre  zwischen  c 
und  a  die  Hemmungssumme  =  1  gleich  geth eilt  worden,  [231]  folglich  hätte 
das  Leiden  von  a  ==  0,5  seyn  müssen.  Desto  gröfser  wird  die  Last  für 
die  neu  hinzukommende  Vorstellung;  und,  was  wohl  zu  bemerken,  auch 
die  Verschmelzungshülfen,  welche  sie  selbst  für  die  Zukunft  erlangt,  werden 
um  so  kleiner,  je  kleiner  ihr  Rest  ausfällt.  Nichts  desto  weniger  ver- 
ursacht sie  für  eine  kurze  Zeit  den  altern  Vorstellungen  grofse  Beschwerde, 
wie  der  folgende  Abschnitt  zeigen  wird;  und  nicht  ohne  bedeutende  Be- 
wegung des  Gemüths  wird  der  hier  gefundene  Zustand  des  Gleichgewichts 
gewonnen.  Dieses  eben  so  wohl  als  jenes  ist  der  Erfahrung  vollkommen 
gemäfs. 

§   70. 

Wir  können  hier  die  Fragen  nach  den  Schwellen  nicht  mit  Still- 
schweigen übergehn,  deren  zwey  verschiedene  aus  der  Verschmelzung  folgen 
müssen.  Denn  entweder  soll  b,  ungeachtet  der  Hülfe,  die  ihm  zu  Theil 
wird,  von  a  und  c  auf  die  Schwelle  getrieben  werden;  oder  c  selbst, 
welches  jetzt  stärkern  Widerstand  findet,  soll  zur  Schwelle  sinken. 

Die  erstere  Schwelle  wird  bestimmt  durch  die   Gleichung 

Sbyu2 

~~  ayß2  +  bya2  -\-a2ß2 
oder  a y  ß2  -f-  byu2  -\-  a2  ß2  =  Sy  u2. 
Es    ist   hier    am    leichtesten,    y  zu  finden,    also  die  übrigen  Gröfsen  nach 
Gefallen  anzunehmen.     Daher  stellen  wir  die  Gleichung  so: 

a2ßz  =  y  (Sa2  —  aß2  —  ba2). 
Für  5  finden  zwey  Fälle  statt.  Entweder  das  hinzukommende  c  mufs  der 
Schwelle  wegen,  auf  die  es  b  treiben  soll,  gröfser  seyn  als  a;  dann  ist 
S  =  a  -j-  b ;  oder  b  ist  so  klein ,  dafs  zur  Schwelle  ein  kleineres  c  hin- 
reicht, nämlich  c  <a;  dann  ist  S  =  b  -f-  c ,  oder  =  b  -f-  y,  weil  hier  c  =  y. 
In  jenem  Falle  fällt  ba2  aus  den  Klammern  weg,  und  man  hat 

a2  ß2 

a  (a2  —  (i*)  =  Y' 
[232]   Dies  wird  unendlich  für  «  =  ß,  welches,  wie  man  aus  dem  obigen 
leicht  übersieht,    nur  möglich  ist  für  a  =  b;    aufserdem  ist  allemal  «  >  ß, 
demnach  immer  ein  positiver  Werth  für  y  zu   finden.      Die  Rechnung  er- 
giebt  zum  Beyspiel 

für  a  =  1 ,  b  =  0,9 ;  y  =  1 2, 1 6  .  . 
,-,  0===  1,  b  =  0,y;  y=  3,07  .  . 
„    a=  ij  b==*  0,5;  y  —    1,13  .  • 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  331 


Hier  nähern  wir  uns  schon  dem  andern  Falle;  es  ist  vorauszusehn,  dafs 
ein  noch  kleineres  b  auf  ein  y  <  1  hinweisen  werde.  Demnach  nehmen 
wir  nun  S  =  b  -f-  ;',  und  ändern  die  Formel.  Es  fällt  auch  jetzt  b  «2  aus 
den  Klammern  weg,   und  man  findet 


aß 


2 


f  -  y  •  --  =  P 


ajL    y^ 

'  2U2       '      f      4«4 

wo  man  vor  der  Wurzelgröfse  nur  das  positive  Zeichen  nehmen  darf,  weil 
sonst  y  negativ  würde,  welches  keinen  Sinn  hat.  Des  Beyspiels  wegen  sey 
a  =  1,  b  =  0,1 ;  so  ergiebt  sich  y  =  0,208  . .  —  Es  versteht  sich,  dafs,  um 
dieses  und  die  vorigen  Bevspiele  mit  §  49  zu  vergleichen,  man  überall 
die  Gröfse  im  Auge  haben  mufs,  welche  durch  die  beyden  andern  auf 
die  Schwelle  getrieben  wird,  diese  ist  hier  b,  aber  im  §  49  war  sie  c 
Ferner  war  dort  die  mittlere  der  drey  Gröfsen  =  1  gesetzt,  dieses  mufs 
also  auch  hier  geschehn,  um  in  der  Vergleichung  nicht  anzustofsen.  In 
den  drey  ersten  Beyspielen  ist  a  =  1 ,  und  zugleich  die  mittlere  Gröfse; 
in  dem  letzten  Beyspiele  ist  y  oder  c  diese  mittlere  Gröfse,  und  sie  sollte 
hier  zur  Einheit,  oder  zum  Maafse  für  die  andern  Gröfsen  genommen 
werden. 

Doch  wir  eilen  zu  der  zweyten  Aufgabe,  c  soll  auf  die  Schwelle 
getrieben  werden  durch  die  verschmolzenen  a  und  b.  Dafür  gilt  die 
Gleichung 

Su2ß2  

C  =  a^ß^+bya2  +  u2  ß2 
[233]   oder,  weil  c  =  y,  und  5  =  b  +  c ,    indem  c,  wenn   es    die  stärkste 
•der  Vorstellungen  wäre,   nicht  zur  Schwelle   sinken  würde : 

c2  {aß2   -f  ba2)  =  ba2ß2 


V    aß1 


2  -\-bu-2 

Es  sey  a  =  =  b,  folglich  «  =  ß,   so  ist  c  =  «VZ  =0,884,    wenn  a  =  1 

2 

und  folglich  u  =  1,25.  Ohne  Verschmelzung  ist  c  =  »  — ,  nach  §  49. 
Für  ein  sehr  grofses  a,    und  sehr  kleines  /.   (man  sehe  §   69)   ist   — ■   nahe 

=  av.  =  b,  folglich  ß  =  2b;    ferner  «  =  a,  und  c  =  2aby   - — ^--      — ' 

oder,  indem  für  ein  sehr  grofses  a  füglich  4  a  b2  neben  ba2  kann  weg- 
gelassen werden,  c  =  2  b.  Dies  ist  zwar  nur  ein  Gränzwerth,  der  nicht 
völlig  erreicht  wird;  allein  man  sieht  daraus,  dafs  vermöge  der 
Verschmelzung,  selbst  eine  stärkere  Vorstellung  neben  einer 
schwächeren  kann  aus  dem  Bewufstseyn  verdrängt  werden.  — 
Uebrigens  mufs  nun  auch  für  irgend  ein  Verhältnifs  von  a  und  b,  c  =  b 
auf  der  Schwelle  seyn.  Es  ist  schwer,  dieses  Verhältnifs  genau  zu  finden. 
Man  müfste  a  und  ß  durch  a  und  b  ausdrücken ;   oder  für  a  =  1   durch  /., 


,  ,  -,  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


nach  §  69.     Allein  schon  «  =  a  -f-  —   enthält  die  vierte  Potenz  von  /.  im 

Zähler,  und  die  zweyte  im  Nenner;  ß  die  dritte  im  Zähler  und  die  zweyte 
im  Nenner;  daher  würde  die  Gleichung,  worin  u2  r>2  vorkommt,  auf  einen 
so  hohen  Grad  steigen,  dafs  die  Auflösung  so  gut  als  unmöglich  fiele. 
Durch  Entwicklung  von  (i-f  *)~2  in  eine  Reihe,  durch  Multiplication 
der  zugehörigen  Zähler,  und  Berechnung  der  daraus  entstehenden  Gröfsen 
bis  auf  die  dritte  Potenz  von  ■/.,  finde  ich  aus  einer  cubischen  Gleichung  v. 
oder  b  nahe  =  —  ;  eine  Verbesserung  mit  Hülfe  der  Annahme  /.  =  — 
-I-  u  o-iebt  u  =  -1  ,  /.  =  0,6.  Dieses  trifft  bev  der  Probe  ziemlich  nahe 
zu;  doch  ist  für  /.  oder  b  =  0,6  schon  c  =  0,63  .  .  [234]  auf  der  Schwelle, 
also  ist  es  hier  schon  gröfser  als  b;  daher  mufs  der  gesuchte  Werth  von  b 
etwas  gröfser  sevn  als  0,6.  Der  Gegenstand  würde  eine  sorgfältigere  Rech- 
nung, durch  Auflösung  einer  biquadratischen  Gleichung  und  Verbesserung 
vermittelst  höherer  Potenzen  von   tt,  wohl  kaum  belohnen. 


§    7i- 

Der  am  mindesten  schwierige  Fall  der  Verschmelzung  nach  der 
Hemmung,  nämlich  der  Fall  worin  alle  Hemmungsgrade  =  I,  ist  jetzt, 
so  weit  es  hier  nöthig  schien,  abgehandelt  worden.  In  den  übrigen  Fällen 
ist  eine  Verschmelzung  schon  vor  der  Hemmung,  im  Allgemeinen  zu  er- 
warten;  wir  müssen  daher  jetzt  hieher  unsre   Aufmerksamkeit  wenden. 

Schon  im  §  67  ist  erinnert  worden,  dafs  zwischen  völliger  Identität 
und  völligem  Gegensatze  zweyer  Vorstellungen,  ein  Continuum  möglicher 
Fälle  liege;  und  dafs  diesem  ein  Continuum  möglicher  Erfolge  entspreche, 
die  aus  dem  Zusammentreffen  zweyer  Vorstellungen  entspringen  müssen. 
Nun  hat  die  völlige  Identität  eben  so  gewifs  ein  völliges  Zusammenfliefsen, 
also  vollständige  Bildung  einer  Totalkraft,  als  völliger  Gegensatz  die  volle 
Hemmung  zur  Folge.  Zwischen  den  Extremen  können  demnach  nicht 
blofs  mindere  Hemmungen,  es  müssen  dazwischen  auch  mindere  Grade  des 
Zusammenfliefsens,  das  heifst,  Verschmelzungen  vor  der  Hemmung,  statt 
finden.  Liefse  sich  nun  das  Verschmelzende  zweyer  Vorstellungen  absondern 
Vi  <n  ihrem  Gegensatze :  so  wären  die  Begriffe  hierüber  von  selbst  im  Klaren ; 
wir  hätten  aber  alsdann  auch  gleich  im  dritten  Capitel  die  Totalkräfte, 
welche  aus  der  Verschmelzung  entstehen,  gehörig  in  Rechnung  bringen,  und 
nicht  blofs  auf  die  Grade  der  Hemmung  sehen  sollen.  —  Allein  Gleich- 
heit und  Gegensatz  sind  keineswegs  Bestandteile  der  Vorstellungen,  sondern 
Prädicate,  die  erst  im  zufälligen  Zusammentreffen  der  Vorstellungen  entstehn. 
Daher  kann  man  die  Rechnung  nicht  so  führen,  als  ob  ohne  weiteres  das 
Gleiche  [235]  verschmelze  und  das  Entgegengesetzte  sich  hemme:  sondern 
man  mufs  die  Verschmelzung  ansehen  als  etwas,  das  wegen  eines  gewissen 
Grades  von  Gleichartigkeit  der  Vorstellungen  sich  ereignen  sollte,  das  aber 
in  dem  Gegensatze  ein  Hindernifs  antreffe.  Alsdann  wird  eine  vorläufige 
Berechnung  nöthig,  in  wie  weit  dies  Hindernifs  überwunden  werden,  und 
dem    gemäfs  die  Verschmelzung  wirklich  vor  sich  gehen  könne. 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  333 


Ehe  wir  uns  auf  die  eben  erwähnte  Berechnung  einlassen,  wollen  wir 
überlegen,  was  der  Erfolg  einer  wirklichen  Verschmelzung  seyn  möge? 
Keineswegs  eine  Verminderung  der  Hemmungssumme;  sondern  blofs  eine 
Verrückung  des  Hemmungsverhältnisses:  dies  ist  schon  aus  dem  obigen 
klar.  Denn  die  Verschmelzung  bringt  gewisse  Totalkräfte  hervor,  die  nun 
in  einem  andern  Verhältnisse,  als  es  die  Stärke  der  Vorstellungen  ursprüng- 
lich mit  sich  brachte,  der  Hemmung  entgegenwirken,  —  derselben 
Hemmung,  welche  in  dem  Widerstreitenden  der  Vorstellungen  einmal  liegt, 
und  welche  sich  nicht  verändern  kann,  weil  sonst  diese  Vorstellungen 
nicht  mehr  die  nämlichen  bleiben  würden.  —  Allein  das  Hemmungsver- 
hältnifs  kann  auch  nicht  plötzlich  verrückt  werden.  Sonst  müfste  das 
Hindemifs,  welches  durch  das  Streben  zur  Verschmelzung  erst  soll  über- 
wunden werden,  plötzlich  entweichen;  ein  unmöglicher  Sprung,  wie  durch 
Betrachtungen  des  folgenden  Abschnittes  noch  klärer  werden  wird,  und 
wie  man  hier  einstweilen  als  wahrscheinlich  einräumen  mag.  Nun  hat  die 
Hemmungssumme  ihr  Gesetz,  nach  welchem  sie  fortdauernd  sinkt;  ein  Um- 
stand, der  ebenfalls  in  den  folgenden  Abschnitt  gehört.  Man  denke  sich 
also  die  Hemmungssumme  fortwährend  im  Sinken  begriffen;  aber  in  der 
nämlichen  Zeit  das  Hemmungsverhältnifs  unaufhörlich  verändert:  so  wird 
man  einsehn,  dafs,  wofern  eine  wirkliche  Verschmelzung  zu  Stande  kommt, 
die  Frage  nach  dem  Quantum  des  Gehemmten  für  jede  einzelne  Vor- 
stellung nicht  mehr  eine  statische  Frage,  wie  bisher,  sondern  eine  mecha- 
nische ist.  Denn  [236]  nun  hängt  dies  Quantum  des  Gehemmten,  und  der 
Gleichgewichtspunct,  bey  welchem  die  Hemmung  still  steht,  davon  ab,  wie 
weit  die  Bewegungsgesetze  der  Vorstellungen  die  Verschmelzung  zur  Reife 
gelangen    lassen.       Folgendes  sind  die   Puncte ,    worauf   es    hier    ankommt. 

Erstlich,   die   Hemmungssumme  sinkt  allmählig. 

Zweitens,  in  der  nämlichen  Zeit  ändert  sich  das  Hemmungsverhältnifs 
allmählig,  indem  das  Streben  zur  Verschmelzung  wider  die  Gegensätze 
sich  aufarbeitet. 

Drittens,  hieraus  folgt,  dafs  in  jedem  Augenblicke  die  bis  dahin  voll- 
brachte Hemmung  von  dem  jetzigen  Hemmungsverhältnifs  um  etwas  ab- 
weicht, und  dafs  also  jene  sich  diesem  gemäfs  berichtigt. 

Viertens,  diese  Berichtigung  mufs  zwar  damit  endigen,  dafs  die  Vor- 
stellungen sich  nach  demjenigen  Hemmungsverhältnifs  ins  Gleichgewicht 
setzen,  welches  nach  gesunkener  Hemmungssumme  sich  zuletzt  ausbildet. 
Aber  eben  das  letzte  Hemmungsverhältnifs  hängt  von  dem  Grade  der 
Verschmelzung  ab,  welchen  die  fortschreitende  Hemmung  gestattete.  Denn 
die  Vorstellungen  können  nicht  verschmelzen,  in  so  fern  sie  schon  gehemmt 
sind;  (ein  Punct,  über  den  wir  schon  im  §  57  gesprochen  haben.)  Je 
schneller  sie  also  von  Anfang  an  niedergedrückt  werden,  desto  mehr  geht 
von  derjenigen  Verschmelzung  verloren,  welche  entstehen  würde,  wenn  es 
möglich  wäre,  dafs  von  der  doppelten  Wirkung  der  Gegensätze,  nämlich 
die  Vorstellungen  sinken  zu  machen  und  ihre  Verschmelzung  aufzuhalten,  die 
erste  so  lange  aufgeschoben  würde,  bis  die  zweytc  ihr  Ende  erreicht 
hätte. 

Am  gegenwärtigen  Orte  können  diese  Betrachtungen  nur  dazu  dienen, 
den  Gegenstand  in   die   Mechanik  des  Geistes   zu   verweisen. 


22 A.  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

Hier  aber  ist  besonders  zu  bedenken,  was  schon  vorhin  angedeutet 
wurde,  dafs  die  nämlichen  Betrachtungen  in  die  Nachforschungen  der 
vorigen  Capitel  zurückgreifen  müssen.  Schon  im  dritten  Capitel  durften 
wir,  Falls  die  Untersuchung  vollständig  seyn  sollte,  das  Hemmungsver-[2  37] 
hältnifs  nicht  blofs  von  den  Hemmungsgraden  und  von  der  Stärke  der 
Vorstellungen  abhängig  machen.  Dort,  und  dann  ferner  bey  den  Com- 
plexionen,  deren  Elemente  aus  einerley  Continuum  ebenfalls  der  Ver- 
schmelzung schon  vor  der  Hemmung  (oder  vielmehr,  wie  wir  nun  sehen, 
während  derselben),  unterworfen  sind,  mufste  auf  die  daraus  hervorgehende 
Abänderung  des  Hemmungsverhältnisses    Rücksicht  genommen  werden. 

Würde  dieses  als  ein  Vorwurf  gegen  den  bisherigen  Vortrag  angesehen: 
so  läge  die  Antwort  in  der  einzigen  Erinnerung,  dafs  die  Aufstellung  der 
Elementarbegriffe  nicht  mit  so  verwickelten  Fragen  belastet  werden  durfte, 
wie  die  vom  Einflufs   der  Verschmelzung  auf  die  Hemmung. 

Ueberdies  aber  ist  der  Einflufs  der  Verschmelzung  nicht  von  so 
grofsem  Umfange,  als  es  Anfangs  scheinen  mufs.  Und  die  gehörige  Be- 
grenzung dieses  Einflusses  ist  nun  das  nächste,  was  zu  bestimmen  uns  obliegt. 


§   72. 

Zuvörderst :  die  Stärke  des  Strebens  zur  Verschmelzung  ist  von  dem 
Hemmungsgrade  zweyer  Vorstellungen,  und  von  der  schwächeren,  nicht 
aber  von  der  stärkeren  unter  beyden,   abhängig. 

Der  Hemmungsgrad  sey  m,  ein  ächter  Bruch;  so  ist  1  - —  m  das 
Gleichartige  beyder  Vorstellungen.  Gleichartigkeit  aber  ist  nichts,  was 
einer  für  sich  allein  zukäme,  sie  ist  nur  Eine  für  beyde  Vorstellungen, 
während  das  Entgegengesetzte  allemal  zweyerley  Verschiedenes  ist,  indem 
es  auf  zweyen  Eigenthümlichkeiten  zweyer  Vorstellungen  beruht.  Die 
Gleichartigkeit,  und  mit  ihr  das  Streben  nach  Verschmelzung,  wächst  nun 
ohne  Zweifel  in  demselben  arithmetischen  Verbältnisse,  in  welchem  der 
Hemmungsgrad  abnimmt.  Sie  wächst  auch,  wenn  zwey  gleich  starke  Vor- 
stellungen gleichmäfsig  wachsen  oder  abnehmen;  nämlich  die  Gleichartig- 
keit ist  alsdann  gleichsam  in  einer  gröfseren  oder  geringeren  Masse 
realisirt,  daher  auch  das  Streben  nach  Verschmelzung  in  einer  [238] 
gröfseren  Masse  des  Vorstellens  sich  wirksam  äufsern  wird.  — -  Aber  wenn 
von  zweyen,  zuvor  gleich  starken  Vorstellungen,  jetzo  eine  sich  verstärkt, 
die  andre  gleich  stark  bleibt  wie  vorhin:  so  ist  hier  ein  ähnlicher  Fall 
wie  schon  oben  im  §  42  bey  der  Hemmungssumme  vorkam.  Nämlich 
die  Notwendigkeit  der  Verschmelzung   wächst   hier    eben    so    wenig,    wie 


dort  die  Nothwendigkeit  der  Hemmung.  Denn  die  Zerlegung  der  stärkeren 
Vorstellung  in  Gleiches  und  Entgegengesetztes  wächst  nicht  darum,  weil  die 
Vorstellung  selbst  wächst,  sondern  sie  bleibt  in  der  nämlichen  Kraft  und 
Bedeutung,  so  lange  die  schwächere,  zerlegende  Vorstellung  sich  gleich 
bleibt.  Die  Spannung  ist  nun  geringer,  sowohl  die,,  welche  zur  Ver- 
schmelzung antreibt,  als  die  welche  der  Verschmelzung  entgegenwirkt.  — 
Dieses  hindert  aber  nicht,  dafs  die  Totalkräfte,  welche  die  wirkliche  Ver- 
schmelzung hervorbringt,  von  der  Stärke  einer  jeden  verschmelzenden 
abhängen.       Mau    mufs    die  Energie    des    Verschmelzens    sehr    wohl 


Zweyter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes. 


335 


unterscheiden     von     den     Kraft -Verhältnissen     der     verschmolzenen    Vor- 
stellungen. 

Ferner:  dem  Einen,  aus  der  Gleichartigkeit  entspringenden  Streben 
zur  Verschmelzung,  wirken  beyde  entgegengesetzte  Eigentümlichkeiten 
gerade  in  so  fern  zuwider,  als  sie  sich  unter  einander  anfechten,  und 
dadurch  das  Sinken  der  Vorstellungen  bewirken.  Denn  derselbe  Wider- 
streit, welcher  die  Hemmungssumme  hervorbringt,  macht  auch  die  Ver- 
einigung in  Eine  Totalkraft  unmöglich,  oder  doch  schwierig  und  unvoll- 
kommen. —  Demnach  sind  hier  bey  zweyen  Vorstellungen  drey  Kräfte 
vorhanden;  die  eine  zur  Verschmelzung  wirkende,  =  i  —  m,  und  die 
beyden  entgegengesetzten  Eigenthümlichkeiten,  oder  mit  einem  verkürzten 
Ausdrucke,  die  beyden  Gegensätze,  jeder  ==  m,  dem  Hemmungsgrade, 
weil  die  ungleiche  Stärke  der  Vorstellungen  hier  aus  den  Augen  zu  lassen 
ist.  Diese  drey  Kräfte  stehn  unter  einander  in  voller  Hemmung;  denn 
erstlich  ist  das  Entgegengesetzte  zweyer  Vorstellungen,  so  fern  es  aus 
ihnen  herausgehoben  gedacht  [23g]  wird,  gewifs  völlig  entgegengesetzt; 
zweytens  ist  eine  jede  der  entgegengesetzten  Eigenthümlichkeiten  eben  so 
gewifs  in  vollkommenem  Widerstreit  gegen  die  Verschmelzung. 

Wie  nun  mit  dreyen,  einander  völlig  entgegengesetzten  Kräften  zu 
rechnen  sey,  wissen  wir  aus  dem  ersten  und  zweyten  Capitel  dieses  Ab- 
schnitts. Eben  so  wie  dort,  mufs  auch  hier  theils  ein  Quantum  Kraft, 
welches  gehemmt  wird,  —  also  eine  Hemmungssumme  —  theils  ein  Ver- 
hältnifs  angegeben  werden,  nach  welchem  die  vorhandenen  Kräfte  den 
Verlust  unter  sich  theilen.  Die  drey  Kräfte  m,  m,  und  1  —  m,  seyen 
fürs  erste  so  bestimmt,  dafs  vi  >  1  —  m.  Alsdann  ist  nach  den  ersten 
Grundsätzen  die  Hemmungssumme  =  1  —  ?n  -\-  »1  =  1.  Und  das 
Hemmungs-Verhältnifs  wie  1  —  m,  1  —  m,  vi.  Die  Summe  der  Zahlen, 
welche  das  Hemmungsverhältnifs  ausdrücken,  =  2  - —  m.  Daher  die 
Rechnung  folgende : 


(2    —    vi)   :   \    1 


m 


—    vi 


vi 


I    — 

m 

2     

vi 

I     

vi 

2 

m 

m 

m 


wenn    1 


Hier  mufs  es  etwas  der  Schwelle    des  Bewufstseyns  Analoges   geben, 

2  —  V  2 ,  und  1  —  vi  =  V  2  —  1 ; 


vi 


IV 


woraus   vi 


2    —  vi 
daher    vi  :  (1    —  vi)  =  V2  :  1;     wie     sich    gebührt,     wenn     neben     zwey 
gleichen   Kräften   eine  dritte  auf  der  Schwelle  seyn    soll.      Es    ergiebt    sich 
hieraus   folgender  Satz: 

Wenn     der     Hemmungsgrad     zweyer    Vorstellungen     nicht 

kleiner  ist  als  2  —  V  2  =  0,585  .  .  .  ,  so  wird  die,  zur  Verschmel- 
zung vor  der  Hemmung  wirkende  Kraft,  gänzlich  gehemmt;  es 
geschieht  also  keine  solche  Verschmelzung,  sondern  für  alle 
Fälle    dieser    Art    bleiben    die    früher     gezeigten    Rechnungen 


.  ■}()  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


unverändert.  Aber  dieses  ist  noch  [240]  nicht  die  engste  Gränze,  worin 
die  Abänderung  des  Hemmungs- Verhältnisses  durch  die  Verschmelzung  vor 
der  Hemmung,   mufs   eingeschlossen  werden. 

Die  Vorstellungen  sind  ursprünglich  unverschniolzen.  Wenn  sie  nun 
auch  einander  nahe  genug,  oder  gleichartig  genug,  sind,  damit  nicht,  nach 
der  eben  geführten  Rechnung,  die  Energie  des  Verschmelzens  gänzlich 
überwunden  werde  von  dem  entgegengesetzten  Eigenthümlichen  einer  jeden 
einzelnen  Vorstellung:  so  fragt  es  sich  dennoch,  ob  irgend  etwas  von 
wirklicher  Verschmelzung  zu  Stande  kommen  könne?  Dazu  gehört,  dafs 
die  Energie  der  Gleichartigkeit,  welche  ursprünglich  in  beyden  Vorstellungen 
nur  Eine  ist,  sich  in  zwey  gleiche  Kräfte  theile.  Denn  sie  mufs  die  eine 
Vorstellung  mit  der  andern,  und  auch  die   andere  mit  jener,  verschmelzen. 

Nun  sind  aber  die  Vorstellungen  nicht  einerley;  und  es  kann  auch 
in  keiner  von  beyden  '  das  Gleichartige  vom  Entgegengesetzten  wirklich 
losgerissen  werden,  um  sich  mit  der  andern  zu  vereinigen.  Also  bleibt 
nichts  übrig,  als  dafs  mit  jeder  von  beyden  sich  die  andre  in  einem  ge- 
wissen, beschränkten  Grade  verbinde.  Jede  einzelne  Vorstellung  wird 
gleichsam  ein  Subject,  mit  welchem  sich  die  andre,  so  weit  sie  kann,  als 
Prädicat  vereinigen  soll.  Demnach  giebt  es  nicht  eine,  sondern  zwey  Ver- 
knüpfungen; und  die  eine,  verschmelzende  Kraft  theilt  sich  nicht  blofs  in 
zwev  Kräfte,  sondern  diese  beyden  Kräfte  sind  auch  unter  einander  in 
vollem  Widerstreite,  in  so  fern  sie  auf  umgekehrte  Weise  eine  der  beyden 
Vorstellungen  als  eine  solche  setzen,  mit  welcher  die  andre  unvollkommen 
verbunden  werde.  Fragt  man  aber,  wie  sich  die  eine,  verschmelzende 
Kraft  theilen  könne?  so  ist  die  Antwort:  sie  liegt  ursprünglich  eben  so 
wohl  in  der  einen  als  in  der  andern  der  beyden  Vorstellungen,  da  zur 
Gleichheit  derselben  gewifs  beyde  nöthig  sind;  und  nur  in  ihren  beyden 
Aeufseruncren  ist  sie  mit  sich  selbst  im  Streite.  —  In  dieser  Beziehung 
sind  nun  offenbar  vier  [241]  Kräfte  in  eine  Hemmungsrechnung  zusammen 

1  —  m      1  —  tn  TT 

zu  fassen;  nämlich    m,  m, , ■    Die  Hemmungssumme  um- 

2  2 

1  —  m 
fafst  die  drey  schwächern,  und  ist  folglich    =    1 .     Von wird  ge- 
hemmt   .      Dieses  sey  = ,  so   wird  jede   der  schwächren 

1  -j-  m  2  __ 

Kräfte   völlig  gehemmt,  und  es  findet  sich  m  =  V  2  —  1  =  0,414  ..  . 

Wenn  nun  der  Hemmungsgrad  auch  kleiner  ist  als  0,585  .  .  . 
aber  gröfser  als  0,414  so  hindert  noch  immer  das  Entgegenge- 
setzte derVorstellungen  ihreVerbindung,  denn  es  können  die  beyden 
Verknüpfungen,  welche  jede  mit  der  andern  eingehn  sollte,  nicht  zu  Stande 
kommen.  Erst  für  niedrigere  Hemmungsgrade  tritt  die  Verschmelzung  vor  der 
Hemmung  wirklich  ein.  Und  auch  da  kann  ihre  Wirkung,  in  so  fern  dadurch 
die  Hemmungs- Verhältnisse  verändert  werden,  nicht  sehr  beträchtlich  werden, 
da  nicht  blofs  die  verschmelzende  Kraft  immer  in  zwey  gleiche  Theile 
zerfällt,  sondern  diese  auch  nur  mit  derjenigen  Stärke  wirken  können, 
welche  ihnen  aus  dem  Streite  mit  einander  und  mit  den  Gegensätzen  übrig 
bleibt.      Für  sehr  kleine  Hemmungsgrade    endlich    fällt    die   Verschmelzung 


Zweyter  Abschritt.     Grundlinien  der  Statik  des  Geistes.  ?  ?  7 

vor    der    Hemmung    mit    der    nach    der    Hemmung    beynahe    zusammen, 
indem   es   fast  gar  keine  Hemmung  mehr  giebt. 

In  einer  ganz  andern  Hinsicht  aber  mufs  der  Faden  dieser  Unter- 
suchung weiter  verfolgt  werden.  Wir  sind  nämlich  hier  wieder  unvermerkt, 
so  wie  schon  im  §  61  und  66,  auf  das  Feld  der  Gefühle  gefathen;  und 
zwar  diesmal  auf  das  der  ästhetischen  Gefühle.  Denn  der  Zustand 
des  Strebens  und  Gegenstrebens  der  Vorstellungen,  in  Ansehung  ihrer  Ver- 
schmelzung, ist  etwas  ganz  Anderes  als  eine  Bestimmung  des  Vor- 
gestellten; vielmehr  lassen  sich  die  vorgefundenen  Zustände  ganz  genau 
mit  den  musikalischen  Auffassungen  gewis-  [2ai]ser  Intervalle 
vergleichen;    wovon  jedoch   hier  nicht  der  Ort  ist  weiter  zu  reden. 

§  73- 
Wir  sehen  jetzt,   dafs  es   für  die  gröfsere  Hälfte  der  möglichen  Hem- 
mungsgrade nur.blofs   eine  Verschmelzung  nach  der  Hemmung,   und  keine 
vor    der   Hemmung,    giebt;    nämlich    für  die   Hemmungsgrade  zwischen    1 

und   0,414...     Es  sev  nun  derselbe  =  — ,    auch     -:=%,    wie  oben,  die 

8  a 

,  Ir~  ,    ,  ab 

Reste  r  und   p   aus  ^    54  jetzt  =  a — —  und    b -— -,    ihr 

2  [a  -f-  b)  2  (a  -\-  b) 

Product    durch  /.  ausgedrückt  =  a2  .  —  —  --^—  — ;  daraus 

4(i+*)2 
findet  sich   für  a  =  1    folgende   Reihe  von  Verschmelzungshülfen  : 

Wenn  /.  =  1,  wird     -  =  0,5625  .  .  .    und   -^  =  0,5625  .  .  . 

a  b 

*==o,9  0.522  0,580 

°>8  o,474  0,593 

0,7  0,423  0,004 

0,6  0,366  0,61016 

0,5  0,305  0,61067 

0,4  0,242  0,600 1 

o,3  0,178  0,5  Q4 

0,2  0,1148  0,574 

Es  leuchtet  ein,  dafs  diese  beträchtlichen  Verschmelzungshülfen  grofsen  Ein- 
llufs  haben  müssen,  insbesondere  auf  die  Schwelle  des  Bewufstscyns.  Uebrigens 

rg 

hat  die  Gröfse     "    auch  hier  wieder  ein  Maximum,   ungefähr  für  jc  =  o,5. 

Hiemit  sey  dieser  Abschnitt  beschlossen.  Es  scheint  nicht,  dafs  die 
Statik  des  Geistes,  so  weit  sie  unabhängig  von  der  Mechanik  ist,  noch 
andere  Hauptclassen  von  Untersuchungen  enthalten  könne,  als  die,  von 
welchen  [243]  die  ersten  Begriffe  in  den  vorstehenden  Capiteln  sind  auf- 
gestellt worden.*  Wir  gehen  nunmehro  an  das  schwerere  Werk,  den  Be- 
wegungen nachzuspüren,  durch  welche  der  Geist  sich  dem  Gleichgewichte 
der  Vorstellungen  annähert,   oder  davon   entfernt. 


Man  vergleiche  jedoch  unten  §   100  gegen  das   Ende. 


Hbrbart's  Werke.     V.  22 


[244]  Dritter  Abschnitt. 

Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


Erstes  Capitel. 

Vom  Sinken  der  Hemmungssumme. 

§   74- 

Wenn  schon  ein  Gleichgewicht  vorhanden  ist,  dann  kann  es  nur 
durch  neue,  hinzutretende  Kräfte  gestört  werden.  Allein  da  wir  von  Vor- 
stellungen reden,  so  dringt  sich  zuerst  die  Bemerkung  auf,  dafs  in  An- 
sehung ihrer  es  nicht  erlaubt  ist,  das  Gleichgewicht  als  ihren  anfänglichen 
Zustand  vorauszusetzen.  Vielmehr  sind  sie  ursprünglich  alle  ganz  un- 
gehemmt: eben  in  diesem  ihren  natürlichen  Zustande  bilden  sie  auch 
(wofern  nur  ihrer  mehrere  entgegengesetzte  beysammen  sind)  eine  Hem- 
mungssumme; diese  nun  mufs  sinken,  und  hiemit  ist  sogleich  eine  Be- 
wegung der  Vorstellungen  vorhanden.  In  der  Reihe  der  Untersuchungen 
mufsten  wir  zuerst  das  Gleichgewicht  bestimmen ;  in  der  Wirklichkeit  geht 
die  Bewegung  dem  Gleichgewichte  voran. 

Indem  die  Hemmungssumme  sinkt :  hat  sie  in  iedem  Augenblicke  eine 
bestimmte  Geschwindigkeit,  und  in  der  bis  dahin  abgelaufenen  Zeit 
ist  ein  bestimmtes  Quantum  gesunken.      Beydes  haben  wir    zu  berechnen. 

Oder  wird  das  Sinken  keine  Zeit  verbrauchen  ?  Wird  mit  unend- 
licher Geschwindigkeit,  plötzlich,  das  ungehemmte  Vorstellen  zu  dem  ge- 
hörig gehemmten  übersprin[245]gen  ?  —  Die  innere  Erfahrung,  so  fern 
sie  sich  hierüber  befragen  läfst,  antwortet:  dafs  allerdings  jeder  Wechsel 
unserer  Gemüthslagen  Zeit  verbrauche.  Aber  auch  a  priori  ist  dasselbe 
mit  grofser  Bestimmtheit  zu  erkennen.  Zwischen  dem  ungehemmten  und 
dem  gehörig  gehemmten  Zustande  liegt  ein  Continuum  von  Mittelzuständen : 
durch  jeden  derselben  würde  selbst  ein  unendlich  schneller  Uebergang, 
wenn  ein  solcher  statt  fände,  successiv  herdurch  gehn  müssen.  Aber  bey 
jedem  dieser  Mittelzustände  ist  die  Notwendigkeit  des  ferneren  Sinkens 
geringer,  als  bey  dem  vorhergehenden  einer,  noch  weiter  vom  Ziele  ent- 
fernten Hemmung.  Folglich  werden  die  Vorstellungen  weniger  gedrängt, 
um  aus  dem  Bewufstseyn  zu  entweichen.  Demnach  mufs  das  Sinken  der 
Hemmungssumme  mit  abnehmender  Geschwindigkeit  von  Statten  gehn, 
und  damit  die  Geschwindigkeit  abnehmen  könne,  mufs  Zeit  verfliefsen.  — 
Dieses  nun  mag  sich  Jeder  auf  beliebige  Weise  in  seine  metaphysische 
Sprache  übersetzen.    Der  Idealist,   und  schon   der  Kantianer,   mag  immer- 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


339 


hin  vorläufig  sagen,  es  sey  hier  nur  von  Phänomenen  die  Rede;  und  zu 
dem  Sinken  der  Vorstellungen  gehöre  Zeit  in  demselben  Sinne,  als  worin 
die  Bewegung  der  Körper  Zeit  und  Raum  verbrauche.  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  in  der  Lehre  von  Raum  und  Zeit  Falsches  und  Wahres  zu 
scheiden;  oder  den,  höchst  dürftigen,  Gegensatz  zwischen  Phänomenen 
und  Noumenen  näher  zu  beleuchten. 

In  jedem  beliebigen  Augenblicke  ist  die  Notwendigkeit  des  Sinkens 
der  Hemmungssumme  so  grofs,  als  das  noch  ungehemmte  Quantum  der- 
selben. Was  wirklich  sinkt  in  diesem  Augenblicke,  ist  zugleich  dem  Augen- 
blicke und  dieser  Notwendigkeit  proportional.  Es  sey  S  die  Hemmungs- 
summe,  o  das  Gehemmte  nach  Verlauf  der  Zeit  /,   so  ist 

(S —  es)  dt  =  des. 

Kaum  wird  es  nöthig  seyn,  zu  erinnern,  dafs  man  sich  nicht  durch 
Analogie  mit  der  Mechanik  der  Kör[24Ö]per  verleiten  lassen  solle,  auch  hier  an 
ein  Fortgehen  mit  einmal  erlangter  Geschwindigkeit  zu  denken.  Die  Vor- 
stellungen streben  ihrer  Natur  nach  immer  aufwärts  ins  Bewufstseyn;  und 
ihr  Sinken  ist  keine  räumliche  Bewegung,  sondern  eine  erzwungene  Ver- 
dunkelung des  Vorgestellten.  Jedes  augenblickliche  Sinken  ist  immer  der 
unmittelbare  Ausdruck  der  Nöthigung  zum  Sinken.  Während  also  in  der 
Mechanik  der  Körper  die  Kraft  nur  das  Differential  der  Geschwindigkeit 
bestimmt,  ergiebt  sie  hier  geradezu  die  Geschwindigkeit  selbst.  Dagegen 
haben  wir  hier  gar  keine  gleichförmig  wirkende,  sondern  mir  veränder- 
liche Kräfte. 

des 


Für  / 


c 

jleichu 

mg    a 

'-*- 

—  integnrt  giebt 

/ 

=  log. 

Const. 
S—o 

o 

auch 

CS  = 

o  giebt 

Const. 

=  S,  also 

t 

=  log. 

S 

S  —  a" 

')■ 


Das  Gehemmte,   oder  a  =  S  ( i  —  e 

Noch  zu  hemmen  S  —  o  =  Se  —  l. 

Wegen  der  grofsen  Wichtigkeit  dieser  Formeln  setze  ich  für  die- 
jenigen ,  denen  eine  Gröfse  wie  e  — l  und  i  —  e  — *  nicht  geläufig  seyn 
möchte,   folgende  Werthe  derselben  her : 

=  0,7788 

=  0,6065 

=  0,3678 

=  0,1353 

-  0,0497 


Für 

4 

/  =  -'- 
2 

ist 

e       t 
e      * 

J3 

'=  1, 

>> 

e      4 

1> 

1  =  2, 

jj 

e       ' 

t  =  1, 

e      t 

1  —  e 
1  —  e 

I  —  e~ 
I  —  e' 

1  —  e  - 


=  0,221  1  . 

=  0,3934  • 
=  0,6321  . 
=  0,8646  . 
=  0,9502  . 


Hiezu  nehme  man,  was  auf  den  ersten  Blick  offenbar  ist,  dafs  für 
/  =  0,  oder  im  Anfange  des  Zeitverlaufs,  e~t=  1,  Se~~ l  —  S,  oder  die 
Hemmungssumme  noch  ganz  ungehemmt;  für  t  =  oo,  oder  nach  einem 
unendlich  langem  Zeitverlauf  (der,   wie  sich  versteht,   nur  eine  Fiction  seyn 

kann,  die  man  sich  erlaubt  anstatt  einer  äufsersten  [247]  Gränze),  e~ £=  - 


,,,: 


^O  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 

Se~t  =  S .  — ,  oder  die  Hemmungssumme  bis  auf  einen  unendlich  kleinen 

00  ° 

Rest  gehemmt,  folglich  in  gar  keiner  Zeit  die  Hemmung  schlechthin 
gänzlich  vollbracht  ist.  So  sieht  man  nun  das  Fortschreiten  der  Hem- 
mung deutlich  vor  Augen.  Anfangs  verdoppelt  sich  dieselbe  beynahe,  wenn 
die  Zeit  verdoppelt  wird ;  aber  wenn  die  Zeit  =  —  achtmal  verlaufen  ist, 

oder  für  /  =  2,  hat  sich  das  Gehemmte  jener  ersten  Zeit  noch  nicht 
vervierfacht,  denn  0,86..  ist  noch  nicht  völlig  viermal  0,22..  Weiterhin 
rückt  selbst  bey  der  längsten  Dauer  die  Hemmung  nur  äufserst  wenig,  ja 
nur  ganz  unmerklich,  dennoch  aber  unablässig  vor,  so  dafs  das  Ge- 
müth  sehr  bald   beynahe,    aber  nimmermehr  völlig  in    Ruhe  ist* 

§  75- 

Die  Hemmungssumme  ist  bekanntlich  nichts  für  sich  bestehendes, 
noch  irgend  einer  Vorstellung  insbesondre  angehöriges;  damit  also  die 
vorstehenden  Formeln  eine  reale  Bedeutung  erlangen,  müssen  wir  weiter 
nachsehen,  welche  Verdunkelungen  der  wider  einander  wirkenden  Vor- 
stellungen es  sind,  die  zusammengefafst  dem  Ausdruck :  Sinken  der  Hem- 
mungssumme,  entsprechen. 

Es  seyen  die  Hemmungs Verhältnisse  der  Vorstellungen  ausgedrückt 
durch    die    Zahlen  f,  g,  h;    so    sinkt   von    derjenigen  Vorstellung,    der    die 

Zahl   f  zugehört,    der   Bruch   — ■ — -=.<?,    nämlich    bezogen    auf  das 

y  +  S  +  h 
Ganze,  was  überhaupt  sinkt.  In  dem  Zeittheilehen  dt  nun  sinkt  über- 
haupt do=($ — o)dt=Se~tdt,  folglich  von  jener  Vorstellung  sinkt 
qSe~x  dt;  wovon  das  Integral  =  —  qSe~ l  -\-  C.  Für  t  =  o  ist  dieses 
=  0,  also  C=qS,  und  das  vollständige  Integral  =qS(l  —  e~ l)  ==  X; 
woraus 

qS 
t  —  log.  -J—,  . 
</o  —  A 

[248]  Gestattet  nun  das  Verhältnifs  der  Vorstellungen,  dafs  man  sie 
alle  in  einerley  Hemmungsrechnung  bringe :  so  ist  am  Ende  der  Hem- 
mung X=qS,  also  /  unendlich.  Das  heifst,  jede  Vorstellung  sinkt 
in  einerley  Proportion  mit  der  Hemmungssumme,  und  gelangt 
daher  sehr  bald  beynahe,   aber  nie  völlig  zur  Ruhe. 

Allein  ganz  anders  verhält  es  sich  mit  Vorstellungen,  die  unter  die 
Schwelle  fallen.  Es  sey  eine  solche  Vorstellung  =  c,  so  mufs  sie  ganz 
und  gar  gehemmt  werden,  oder  es  ist  zuletzt  X  =  c,  und  die  Zeit,  während 
welcher  sie   völlig  sinkt,   ist 

,        1  qS 

q  o — c 

Der  Nenner  ist  hier  immer  positiv,  weil  das,  was  von  ihr  hätte  sinken 
sollen,  immer  gröfser  ist  als  sie  selbst.    Demnach  die  Zeit  des  völligen 


Wegen    des  Zeitmaafses,    oder   der    Zeit-Einheit,    welche    bey    den    Rechnungen 
hinzuzudenken  ist,  vergleiche  man  unten  §   144. 


Dritter   Abschnitt.      Grundlinien  der  Mechanik  des   Geistes.  iai 

Sinkens  allemal  endlich;  obschon  niemals  =  o,    so  lange  nicht  c  selbst 

Beyspiele:  Bey  voller  Hemmung  sey  a  =  3,  £  =  2,  c=l,  wofür, 
wenn  nicht  c  unter  die  Schwelle  fiele,  das  Hemmungsverhältnifs  aus- 
zudrücken wäre    durch    die  Zahlen   2,    3,    6;    also    ^  =  — ;    ferner    S  =  2 

+  i=3>  ?S=  77,  und  t  =  log.  nat.  ~  =  0,944  .  . 

Es  sey  ferner  bey  voller  Hemmung  a  =  4,  #  =  3,  <r  =  2  ;  woraus 
die  Hemmungsverhältnisse  3,  4,   6;  und  q  =  — ;    .S"— .  5  ;   ^»S'=  — ;  also 

/  —  log.   nat.  —  =  2>oi5. 

Es  sey  endlich  bey  voller  Hemmung  a  =  10,  b=io,  r  =  y,  also 
r,    wie    bekannt,    beynahe    auf   der    Schwelle:    so    ist    das    Verhältnifs    der 


or.  nat. 


Hemmung  wie   7,   7,    10;    ?==^-  =  -l;   .S"  =  17;    £S=-|;  t  =====  loj 

85  =  4,4426.. 

Wäre  in  dem  letzten  Beyspiele  c  =  7,07  .  .  =  10  '  — -  genommen 
worden,  so  würde  die  Zeit  unendlich  grofs  geworden  sevn.  Man  sieht 
also,  dafs,  wenn,  wenn  c  seinem  Schwellenwerthe  auch  schon  sehr  nahe 
ist,  doch  eine  kurze  Zeit  hinreicht,  um  es  aus  dem  Bewufstsevn  zu  ver- 
drängen.    — 

[249]  Merkwürdig  ist  hiebey  noch  die  Veränderung  in  der  Geschwin- 
digkeit der  übrigen  Vorstellungen,  welche  in  dem  Augenblicke 
vorgeht,  da  die  schwächste  zur  Schwelle  sinkt.  Die  Hemmungs- 
summe mufs  ihrem  Gesetze  gemäfs  continuirlich  sinken;  verschwindet  nun 
plötzlich  diejenige  Vorstellung,  welche  bisher  von  der  Hemmungssumme 
am  meisten  zu  leiden  hatte,  so  müssen  in  diesem  Augenblicke  die  stärkeren 
einen  weit  beträchtlichem   Druck  erleiden,    als  sie  bisher  zu  tragen  hatten. 

In  dem  ersten  Beyspiele  ist  nach  Verlauf  der  Zeit  =0,944..  noch 
zu  hemmen  übrig  Se~ t  =  ^.e~ °>944--  =  T,  1  7  ...;  dieses  drückt,  unmittel- 
bar vor  dem  völligen  Sinken  von  o,  mit  der  Kraft  1,17..  X  —  auf  a,  und 
mit  der  Kraft  1, 17..X—  auf  b;  hingegen  unmittelbar  darnach  ändert 
sich  das  Hemmungsverhälnifs;  a  und  b  müssen  den  Rest  der  Hemmungs- 
summe allein  theilen;  es  drückt  auf  a  die  Kraft  1,17..  X  %  auf  b  die 
Kraft  1,17..  X  --•  Die  Geschwindigkeit  des  Sinkens  ist,  wie  oben  gesagt, 
allemal  der  unmittelbare  Ausdruck  der  zum  Sinken  nöthigenden  Kraft, 
und  derselben  proportional.  Sie  wird  demnach  in  unserm  Falle  plötzlich 
mehr  als   verdoppelt. 

Sind  mehr  als  drey  Vorstellungen  im  Spiele:  so  können  sich  dergleichen 
plötzliche  Aenderungen  mehrmals  ereignen ;  denn  jede  der  schwächeren 
hat  ihren  Zeitpunct,  wo  sie  zur  Schwelle  sinkt,  und  den  übrigen  die 
Theilung  der   Hemmungssumme   überläfst. 

Dies  ist  ein  leichtes  Beyspiel  von  dem,  was  keine  empirische  Psycho- 
logie jemals  hätte  wissen  können.  Ueber  den  Gegensatz  der  plötzlichen 
und  der  continuirlichen  Veränderungen  im  Bewufsteyn  kann  sie  sich  nur 
wundern,   nicht  sie   erklären. 


7.A2  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 

§     76. 

Die  Anwendung  des  Bisherigen  auf  Complexionen  und  Verschmelzungen 
kann  wohl  kaum  Schwierigkeit  finden.  Immer  beharrt  die  Hemmungssumme 
bey  dem  gleichen  Gesetze  des  Sinkens.  Aber  die  Elemente  der  Ver-[2  5o] 
bindungen  erleiden  mancherley  Beschleunigungen  und  Verzögerungen;  auf 
ähnliche  Art,  wie  deren  Gleichgewicht  durch  die  Complication  verändert  wird. 

Die  plötzlichen  Aenderungen  der  Geschwindigkeit  bey  stärkeren  Vor- 
stellungen, indem  schwächere  zur  Schwelle  sinken,  werden  gemildert  durch 
Verschmelzungen  und  unvollkommne  Complicationen.  Denn  indem  die 
schwächeren  zur  Schwelle  getrieben  sind,  haben  auch  die  Hülfen,  durch 
welche  sie  unterstützt  waren,  völlig  gehemmt  werden  müssen.  Diese 
Hülfen  rühren  von  den  stärkeren  Vorstellungen  her,  welche  schneller  sinken, 
um  die  schwächern  verschmolzenen  oder  complicirten  länger  im  Bewufst- 
seyn  verweilen  zu  machen.  Also  kann  der  Abstand  der  Geschwindigkeiten 
jetzt  nicht  so  grofs  seyn,  als  bey  unverbundenen  Vorstellungen,  wo  in 
Einem  Augenblick  der  Druck  der  Hemmungssumme  sich  ganz  auf  die 
stärkeren  wirft,  nachdem  er  unmittelbar  zuvor  diese  in  eben  dem  Ver- 
hältnis weniger,   als  die  schwächern  stärker,   angegriffen  hatte. 

Demnach,  je  weniger  Verbindung  noch  unter  den  Vor- 
stellungen statt  findet,  desto  mehr  gehen  die  Bewegungen 
des  Gemüths  stofsweise,  und  mit  harten  Rückungen;  je  mehr 
die  Verbindungen  zunehmen,  desto  gleichmäfsiger  und  sanfter 
wird  der  Flufs  der  Vorstellungen.   — 

Wesentlich  ist  noch  die  Bemerkung,  dafs  alle  Verschmelzungen  nach 
der  Hemmung,  in  ihrer  Ausbildung  eben  so  fortschreiten  müssen,  wie  die 
Hemmung  abnimmt.  Sollten  sie  erst  bey  völliger  Ruhe  entstehn,  so  ent- 
stünden sie  niemals,  weil  die  Hemmungssumme  nie  gänzlich  sinkt.  Aber 
in  wie  fern  ein  paar  Vorstellungen  einander  noch  widerstreben,  können 
sie  sich  nicht  vereinigen.  —  Demnach  seyen  die  Reste  zweyer  Vorstel- 
lungen, welche  nach  der  Hemmung  überbleiben  werden,  und  also  sich 
verbinden  können,  =  r  und  o;  so  ist  die  wirkliche  Verbindung  am  Ende 
der  Zeit  /,  nach  dem  obigen  =ro  (1 — e~~ l).  Und  so  tritt  denn  auch 
die  Ver[25i]bindung  sehr  bald  bey  nahe,  aber  niemals  völlig  ein. 
Für  Vorstellungen,  die  zur  Schwelle  sinken  sollen,  giebt  es  keine  Reste, 
also  keine  Verschmelzung  nach  der  Hemmung.  —  In  Hinsicht  der  Ver- 
Schmelzung  vor  der  Hemmung  müssen  wir  uns  die  Uebergänge  der  Zu- 
stände, die  aus  dem  Streben  zur  Vereinigung  und  den  dawider  streitenden 
Gegensätzen  hervorgehn,  eben  so  allmählig  geschehend  denken,  wie  die  bis- 
her betrachtete   Hemmung. 


Zweytes  Capitel. 

Von  den  mechanischen  Schwellen. 


*   77 


Bey  den  höchst  einfachen  Voraussetzungen,  nach  denen  wir  bis  jetzt 
gerechnet  haben,   und  womach   das  Vorstellende  nur  von  äufserst  wenigen 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  -i  i  2 

Vorstellungen  beschäfftigt  wird,  können  wir  nichts  anders  erwarten,  als 
dafs  sehr  bald  von  der  eben  vorhandenen  Hemmungssumme  nur  noch 
wenig  übrig  seyn,  dafs  also  ein  der  Ruhe  ganz  nahe  kommender  Zustand 
eintreten  werde;  aus  welchem  nur  neu  hinzukommende  Vorstellungen  das 
Gemüth  aufzuregen  vermögen. 

Zu  einem  Paar  im  Gleichgewichte  befindlicher  Vorstellungen  komme 
demnach  eine  dritte,  und  zwar  plötzlich,  d.  h.  schnell  und  stark  genug, 
damit  wir  den  Zeitverlauf  und  das  verwickelte  Gesetz  allmähliger  Wahr- 
nehmung hier  als  unbedeutend  bev  Seite  setzen  können:  es  wird  gefräst 
nach    den   Bewegungen  der  Vorstellungen,    die    daraus    entstehen    müssen. 

Die  hinzukommende  wird  eine  Hemmungssumme  bilden,  welche  sinken 
mufs.  An  diesem  Sinken  werden  auch  die  früher  vorhandenen  Theil 
nehmen;  und  zwar  werden  [252]  sie  dabey  unter  ihren  statischen  Punct 
hinabsinken,  bald  aber  wieder  zu  demselben  hinaufsteigen.  Hiebey  können 
sie  für  eine  Zeitlang  auf  die  Schwelle  des  Bewufstsevns  getrieben  wer- 
den,  welche  wir  für  einen  solchen  Fall  schon  oben  (im  §  47),  mecha- 
nische Schwelle  genannt  haben. 

Um  dies  leichter  aufzuklären:  nehmen  wir  zuvörderst  an,  zu  schon 
im  Gleichgewichte  befindlichen,  und  nach  der  Hemmung  verschmolzenen, 
a,  und  b,  komme  ein  so  schwaches  c,  dafs  es  neben  jenen  auf  die  längst 
bekannte  statische  Schwelle  sinken  müsse.  Alsdann  kann  es  in  statischer 
Hinsicht  auf  a  und  b  keinen  Einflufs  haben.  Aber  ehe  es  aus  dem  un- 
gehemmten Zustande  in  den  gehemmten  übergeht,  mufs  es  durch  a  und  b 
zum  Sinken  gebracht  werden;  dabey  wirkt  es  auf  diese  zurück  und  zwingt 
also  auch  sie,  die  schon  auf  ihrem  statischen  Puncte  waren,  unter  den- 
selben hinab  zu  sinken.  Dieses  wird  so  fortgehn,  bis  die  durch  c  ent- 
standene Hemmungssumme  völlig  niedergedrückt  ist.  Aber  hiezu  wird 
keine  unendliche  Zeit  nöthig  seyn,  denn  das  Streben  jener,  auf  ihren 
statischen  Punct  zurückzukehren,  wirkt  mit,  und  beschleunigt  alle  Be- 
wegungen. Indem  nun  a  und  b  wieder  steigen,  wird  c  zur  Schwelle  ge- 
trieben werden.  Man  bemerke  aber,  dafs  hier  die  Bewegung  nicht 
nach  einerley  Gesetze  fortdauernd  geschehn  kann.  Ein  Be- 
wegungsgesetz wird  statt  finden,  so  lange  a  und  b  sinken,  ein  anderes 
wird  eintreten,  indem  sie  anlangen  sich  wieder  zu  erheben.  Dazwischen 
kann  es  noch  ein  drittes  geben,  wofern  etwa  b  bis  zur  Schwelle  hinab- 
gedrückt, daselbst  eine  Zeitlang  verweilen  müfste,  also  nur  einen  gleich- 
förmigen Druck  gegen  die  übrigen,  ferner  sinkenden  Vorstellungen  aus- 
üben  könnte. 

Nehmen  wir  nun  die  Voraussetzung  zurück,  dafs  c  neben  </  und  b 
unter  der  statischen  Schwelle  seyn  solle:  so  wird  zwar  der  statische  Punct 
von  a  und  b  erniedrigt,  und  die  anfängliche  Bewegung  kann  von  keinem 
Zurückstreben  dieser  Vorstellungen  zu  ihrem  statischen  [253]  Puncte  be- 
schleunigt werden.  Aber  sobald  derselbe  erreicht  ist,  entsteht  ein  solches 
Streben,  und  wächst  bev  fortgehendem  Sinken;  von  da  an  ist  der  Verlauf 
des  Ereignisses  im  Allgemeinen  wie  oben,  nur  dafs  c  nicht  auf  die  Schwelle, 
sondern  bis  zu  seinem   statischen   Puncte  getrieben  wird. 

Dieses  mufs  jetzo  durch  Rechnung  näher  bestimmt  werden.  Wir 
knüpfen    dieselbe    an    eleu   §   69,    wegen  der  unfehlbar    vorhandenen  Ver- 


T.AA  XL  Psychologie  als  "Wissenschaft. 


Schmelzung  nach  der  Hemmung:  und  nehmen  auch  hier  die  abkürzende 
Voraussetzung  voller  Hemmung  an:  zwar  nicht  eben,  um  der  ziemlich 
eng  begränzten  Verschmelzung  vor  der  Hemmung  auszuweichen,  sondern 
weil  über  die  Einführung  verschiedener  Hemmungsgrade  in  die  Rechnung, 
nach  den  frühem  Auseinandersetzungen  wohl  kein  Zweifel  mehr  walten  kann. 

Es  sey  zuerst  c  neben  a  und  b  auf  der  statischen  Schwelle. 
So  ist  bev  voller  Hemmuno-  die  neu  entstehende  Hemmunorssumme  ge- 
wifs  =  c.  Die  Verhältnisse,  worin  sie  vertheilt  wird,  sind  aus  §  69,  (w.  > 
y ■■■=  c)  acß2,  bcu2,  u2  ß2.  Ist  also  nach  Verlauf  der  Zeit  /  das  Gehemmte 
=   ff,   so   wird  alsdann 

von  a  gehemmt  seyn  a  c  ß2  a  :  (acß2  -\-bcu2  -\-  u2  ß2) 
„6  „  „       bcu2o:(acß2  -\-bcu2  -j-  u2ß2) 

„      c  „  „       u2ß2o:  (acß2  -f-  bcu2  -j-  a2ß2). 

Im  Zeittheilchen  dt  drängt  zum  Sinken  erstlich  der  Rest  der  Hem- 
mungssumme, c  —  n,  dann  aber  auch  das  Wieder- Aufstreben  von  a  und  b. 
Dieses  zwar  wirkt  zunächst  nur  gegen  c,  allein  dadurch  wird  die  Spannung 
von  c  vermehrt,  und  durch  seinen  Widerstand  wirft  es  den  erlittenen 
Druck  auf  a  und  b  zurück.  Ueberhaupt  kann  das  Sinken  von  c  wohl 
beschleunigt  werden,  aber  dann  mufs  auch  das  Sinken  von  a  und  b 
rascher  gehn,  denn  die  einmal  in  den  Kräften  gegründeten  Hemmungs- 
verhältnisse können  nicht  verletzt  werden.  Nun  beträgt  das  Wieder-Auf- 
streben  von  a  und  b  so  viel  als  ihr  Gehemmtes  unter  dem  statischen 
Puncte:  und  da  sie  von  [254]  Anfang  an  schon  auf  dem  Puncte  waren, 
zu  dem  sie  zurückkehren  müssen,  so  ist  ihr  ganzes  Gehemmtes  gleich 
ihrem  Wieder-Aufstreben.      Folglich  kommt  hinzu  die  Kraft 

{acß2  -f-  bcu2)a 

acß2  -f.  bcu2  -f-  u*ß*' 

und  wir  haben  die   Gleichung 

iacß2  -\-bcu2)a       \ 
—  a-\ n    ',     7- -i — —      dt  =  du. 

'    acß2  +bcu2  -\-u2ß2) 

acß2  4-  bcu.2  u2ß2 

Es  se\-  1  — 


acß2  -\-  bcu2  -\-  u2ß2       acß2  -j-  bcu2  -f.  u2 ß2 
so  ist  (c  -  -  qa)  dt  =  d  a 


1    ,               c 
woraus  /  =  —  loo:. 


q  c  —  qa 

c 
und  0  =  —  (1  —  e~  1  *). 

Q 

Wofern    keine    mechanische    Schwelle    eintritt:    so    geht   nach    diesem 

Gesetze    das  Sinken    fort,    bis    die  ganze  Hemmungssumme  niedergedrückt 

ist.     Denn  so  lange  sich   von  ihr  noch   etwas  vorfindet,   mufs   dasselbe  auf 

alle  Vorstellungen  vertheilt  werden.     Erst  wann  nichts  mehr  zu  vertheilen 

ist,    können    a  und  //  um    so    viel    steigen,    als    um    wie    viel    sie    c   sinken 

machen. 

Man  setze  also  in  dem  Ausdrucke  für  /,   o  =  c;  so  kommt 

1  1 

/  =  —   los 


q        ^        I    —   q 

für  die  Zeit,   während  welcher  jenes  Gesetz  bestehen  kann.     Es  ist 


Dritter    Abschnitt.      Grundlinien   der  Mechanik   des   Geistes. 


345 


log  .  ==1-4-         <7-r-       q 2   -4-  —  q 3    -4-    .  .   .     daher     man 

q        e        i    —   q  ~   2     *      '      3  Y        '      4  y         ' 

leicht  übersieht,  wie  diese  Zeit  um  so  kleiner  ist,  je  kleiner  q,  das  heilst, 
je  gröfser  c,  denn  der  Zähler  von  dem  Bruche  q  ist  die  Verhältnifszahl 
der  Hemmung  für  c.  Da  q  nie  =  i  seyn  kann,  so  ist  auch  diese  Zeit 
allemal  endlich.  Es  ist  merkwürdig,  dafs  sich  die  früher  vorhandenen  Vor- 
stellungen nur  um  so  kürzere  Zeit  niederdrücken  lassen,  je  stärker  der 
Druck  ist. 

Nachdem  nun  der  Hemmung  Genüge  geschehen,  kann  c  nicht  länger 
a  und  b  zum  Sinken  zwingen.  Das  heifst,  [255]  sie  steigen,  wie  wenn 
c  nicht  wäre,  nach  ihrem  eigenen  Gesetze;  um  wie  viel  aber  be'yde  zu- 
sammengenommen steigen,  um  so  viel  mufs  c  sinken.  (Nämlich  sie  steigen 
zu  ihrem  statischen  Puncte;  dieser  aber  freylich  hängt  von  c  ab,  wofern 
nicht,  wie  hier  angenommen,  c  auf  der  statischen  Schwelle,  oder  dar- 
unter ist.) 

Die  Entfernung  vom  statischen  Puncte  bestimmt  in  jedem  Augen- 
blicke die  Kraft  und  Geschwindigkeit  des  Steigens.  Die  anfängliche  Ent- 
fernung ergeben  die  Ausdrücke  für  das  Gehemmte  von  a  und  b,  wenn 
darin  o  =  c  gesetzt  wird.  Also  für  a  ist  diese  Entfernung  =  ac2[r: 
(ac(i2  -4-  bca2  -\-  a2 ,'i2).  Sie  heifst  S';  und  nach  einer  Zeit  des  Steigens 
=  /',  habe  sich  von  a  wieder  erhoben  das  Quantum  a.  So  ist  jetzt  die 
Entfernung  vom  statischen  Puncte  =  S'  —  a\  und  hieraus  die  Zunahme 
des  Steigens 

da    =  ($'  —  o')dt' 

S' 

woraus  /'  =  log.   — ,—     — , ,   a    =   S'  (1    —   e~1'). 
S    —   es 

Es  mufs  nun  auch  b  nach  einem  ganz  ähnlichen  Gesetze  steigen. 
c  aber  nach  demselben  sinken.  Folglich  tritt  auch  hier,  wie  die  Formeln 
zeigen,  das  Gleichgewicht  nie  vollkommen  ein,  obgleich  sehr  bald  beynahe; 
die  frühern  Vorstellungen  behalten  immer  noch  eine  geringe  Bewegung  des 
Steigens,   die  späteren  des  Sinkens.   — 

Zu    einem    Beyspiele    sollen    einige    Zahlen    aus    §   69    verhelfen.      Es 

sey  a  =  b  =    1,    also    «2  =     1,5625;     u2  (i2   =    2,4414   .   .;    auch    sey 

2,4414   .   . 
c  =    -,   also  q  =  ■   =  0,61    .  .   und   /  =    1,54  .  . 

1,5625   -f   2,4414   .   . 

Um    diese    Zeit    ist   von  a    gehemmt  -  ,    nahe    0,1;    von    b   eben    so 

4 
viel;  von  c  wenig  über  0,3.  Jetzt  erheben  sich  a  und  b,  um  das  ver- 
1<  >rene  Zehntel  wieder  zu  gewinnen ;  unterdessen  wird  c  zwey  Zehntel  (be\  - 
nahe)  verlieren,  und  dann  auf  der  Schwelle  seyn,  wohin  es  jedoch  nie 
völlig  o-ebracht  wird;  obgleich  es  in  statischer  Hinsicht  unter  der  Schwelle 
ist,  [256]  und  selbst  von  noch  nicht  verschmolzenen  a  und  b  sehr  bald  würde 
zur  Schwelle  getrieben  seyn,  wäre  es  gleichzeitig  mit  a  und  b  ins  Be- 
wufstseyn  gekommen.  (Man  sehe  §  75.)  —  Vielleicht  ist  nicht  über- 
flüssig zu  erinnern,  dafs  a  und  b  ein  Zehntel  verlieren,  nachdem  schon 
ihre  eigne  gegenseitige  Hemmung  so  gut  als  vollbracht  war;  das  heifst, 
nachdem    sie    schon    halb    gehemmt    waren.       Also    ihr    niedrigster    Stand 


i5  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


ist  =  0,4;    von   da   an   erheben    sie    sich   wieder   auf  den   vorigen  Stand 
=  0,5. 

§   78. 
Auf  die   mechanische  Schwelle  wird  b  getrieben  werden,   wofern  das, 
was  von  b   zu  hemmen  ist,   dem   Reste  von   /;   aus    der  frühern   Hemmung 

eher   gleich    wird,     als    die    Zeit    /  =  —  log  . abgelaufen     ist. 

Es  sollte  von  b  gehemmt  werden  die  Gröfse  bca2a  :  (acß'-  -f-  bca2 
-\-  a2ß2).  Nach  Ablauf  der  eben  erwähnten  Zeit  ist  a  =  c.  Gesetzt 
nun,  es  sey  bc2u2  :  {acß2  -\-  bca2  -f-  a2 ß2)  gerade  gleich  dem  Reste 
von  b  aus  der  frühern  Hemmung:  so  wird  dieser  Rest  eben  in  dem 
Augenblicke  völlig  gehemmt  seyn,  da  b  sammt  a  wiederum  beginnt  zu 
steigen.  Also  stufst  gleichsam  b  nur  augenblicklich  an  die 
Schwelle,  ohne  auf  derselben  zu  verweilen.  Dieser  Fall  liegt  in  der 
Mitte  zwischen  den  beyden,  da  die  Schwelle  nicht  berührt  wird,  und  da 
die  Verweilung  auf  derselben  ein  neues  Gesetz  für  den  Fortgang  der 
Hemmung  herbeigeführt.  Von  hier  also  müssen  die  genauem  Betrach- 
tungen der  mechanischen  Schwelle  ausgehn. 

bb  ,     p 

Der  Rest  von  b  aus  der  frühem  Hemmung  ist  = — -  nach   §  44. 

a  -\-   b 

Ihm    soll    die    Gröfse    bc2a2   :   (acß2   -\-  bca2  -f-   «2 ß2)    gleich    seyn.      Wir 

haben  also 


und  daraus 


a   -f-   b  acß2  +   bca2  -f   a2 ß2 

b(aß2  -f   ba2)  bß 


(a   -f   b)a2  a   -\-   b 

[257]   Um   sich    unter    den  Bedeutungen,    welche    diese  Formel   an- 

b2a 

nehmen    kann,    eher    zu  orientiren,    setze    man    für  c2  den  Werth  — 7, 

'  a  -j-   0 

wegen  der  Voraussetzung,    dafs  es  auf  der  statischen  Schwelle  oder  unter 

b 
derselben  sey.      Alsdann  läfst  sich  durch   -  — ■ — -    dividiren;   und  man  sieht 
J  a  -\-  b 

auf  den  ersten  Blick  so  viel,    dafs  ab  >  ß2  seyn  mufs.      Bey  Vergleichung 

des  Täfelchens    im  §  69  zeigt    sich,    dafs    diese  Bedingung   ungefähr   bey 

-  .==  x  =  0,3    anfängt  in  Erfüllung  zu  gehn. 
a 

Es  sey  nun  des  Beyspiels  wegen  a  =  10,  b=  2;  demnach  a  =  10,32 ; 
ß  =  3,61;  a2  =  106,5;  fi*  =  l3>°32;  so  nndet  sich  c  =  2>766  •  •> 
welches  der  Forderung  entspricht,  neben  q  und  b  unter  der  statischen 
Schwelle  zu  seyn.  Denn  man  nehme  b  zum  Maafse  der  Gröfsen,  so  ist 
b=  i,  0  =  5,  c  =  0,883  .  .;'  aber  nach  §  49  würde  schon  c  =  0,91  .  . 
zur  Schwelle  sinken. 

Demnach  ist  es  möglich,  und  es  kann  selbst  ziemlich  viele  Fälle 
geben,    da    die   dritte,    hinzukommende   Vorstellung,    neben    zwey    frühem 


i 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


347 


(sogar  wenn  sie  unverschmolzen  wären)  zur  statischen  Schwelle  getrieben 
wird,  und  dennoch  im  Stande  ist,  während  ihres  Sinkens,  die 
schwächere  der  frühem  zuvor  auf  die  mechanische  Schwelle 
zu  bringen;  und  selbst  sie  dort  eine  kurze  Zeit  lang  aufzuhalten.  Denn 
während  das  berechnete  c,  nur  b  an  die  Schwelle  anstofsen  macht, 
würde  ein  anderes,  um  ein  weniges  stärkere,  z.  E.  c  =  0,9,  eine  kurze 
Verweilung  auf  der  mechanischen  Schwelle  bewirkt  haben.  —  In  der  That 
ist  die  Sphäre  dieser  Möglichkeit  noch  um   Etwas  gröfser,   als  wir  sie  hier 


obenhin  bezeichnet    haben.      Denn    die  Schwellenformel   c  =  b 


\  a  +b 


gilt  für  unverschmolzene  Vorstellungen;  aber  a  und  b  sind  verschmolzen, 
und  neben  ihnen  ist  auch  ein  etwas  gröfseres  c  auf  der  statischen  Schwelle; 
welches  wir  annah[2  58]men,  damit  durch  das  Hinzukommen  des  c  der 
statische  Punct  von   a  und  von   b  nicht  möge  verrückt  werden. 


&   79- 

Zweyerley  ist  noch  übrig:  erstlich,  das  Gesetz  zu  bestimmen,  nach 
welchem  sich  während  der  Zeit,  da  eine  Vorstellung  auf  der  mechanischen 
Schwelle  verweilt,  die  übrigen  bewegen;  zweytens,  die  beschränkende  Vor- 
aussetzung, dafs  c  auf  der  statischen  Schwelle  oder  darunter  sey,  zurück- 
zunehmen,  und   die   Folgen  davon  zu   erörtern. 

Ruhet  b  auf  der  mechanischen  Schwelle,  so  liegt  eben  darin  der 
Unterschied  dieser  Schwelle  von  der  statischen,  dafs  nun  gleichwohl  b  nicht 
aufhört,  Einnufs  zu  haben  auf  das  was  im  Bewufstseyn  vorgeht.  Denn 
wie  weit  es  von  seinem  statischen  Puncte  entfernt  ist,  um  so  weit  ver- 
mag es,  sich  wieder  zu  erheben,  wenn  schon  nicht  plötzlich,  sondern  erst 
nach  vorgängigem  ferneren  Sinken  der  übrigen  Vorstellungen.  Der  ganze 
Unterschied  seiner  jetzigen  Wirksamkeit  von  jener,  da  es  noch  selbst  im 
Sinken  begriffen  war,  ist  nur  dieser,  dafs  es  zuvor  an  Spannung  zunahm, 
indem  es  tiefer  sank;  jetzt  hingegen  übt  es  einen  gleichbleibenden  Druck, 
so  lance  bis  es  sich  von  der  mechanischen  Schwelle  wieder  erheben 
kann. 

Um  hiernach  die   Formel   des   §   77,   nämlich 

(c  —  qa)  dt  =  da, 
abzuändern,  bedenke  man,  dafs  q  aus  drey  Theilen  besteht,  unter  welchen 
einer  die  Wirksamkeit  von  a,  ein  andrer  die  von  b  ausdrückt.  Der  letztre 
wird  offenbar  jetzt  constant,  und  hängt  nicht  mehr  von  0  ab.  Alles  C<  in- 
stante (welches  näher  zu  bestimmen  noch  vorbehalten  bleibt)  mag  mit  c 
zu  Einer  Gröfse  zusammengefaßt  werden,  welche  C  heifse.  Auch  sey 
das  übrigbleibende  Veränderliche  ==   q  n,   so  wird  die   Formel 

(C  —   q  a)  dt  =  da, 
woraus    man    sieht,    dafs    das   Bewegungsgesetz    mit    geringer  Veränderung 
dasselbe  ist  wie  zuvor.      Um   aber  zu[2  59]erst    die  Zeit    zu    finden,    wann 
b  auf  die  mechanische  Schwelle  gesunken,    nehme  man   erst  aus  §   77   das 

von  b  Gehemmte;    dieses  dem  Rest gleich  gesetzt,  giebt 

a    -\-    b 


7aS  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 

b2  (acß2  -4-   /;r«2  -4-    u2  ß2)  __     , 

«  =    — ; ; —  , —  — ,    welcher   Werth    von    o   zu    substituiren 

{a  -\-  b)   .   bcu* 

I                         c 
ist  in  die   Formel  t  ==  —   los;  .  .     Hiedurch  beschränkt  sich  die 

Anwendung   des  vorigen  Bewegungsgesetzes,    und    ergiebt  sich  der  Anfang 
des  jetzigen. 

Diejenige  Zeit,  welche  von  diesem  Anfangspuncte  verläuft,  wollen 
wir,  zum  Unterschiede  von  der  vorigen,  mit  /'  bezeichnen,  und  daher  die 
schon  gegebene   Formel  nun  so  schreiben 

{C—q'a)dt'  =  da, 
woraus  zunächst  /' = -,  log.   (C — q ' a)  -f-  Const. 

Damit  die  Constante  bestimmt  werde,  setzen  wir  zuvörderst  den 
Werth  von  a  für  / '  =  o,   nämlich 

b2  (ac,i2  +  bcu2  -L.  a2ß2  v 

(a  -\-!>)~.  bca2)  ' 

so  wird   o  =  —     ,  log.   (C — q '— ) -|-  Const.,   und   folglich 

I  C-q'2 

t   =  —   log.   — — . 

q  C  —  q  es 

Hieraus  erfährt  man  das  Ende  des  jetzigen  Bewegungsgesetzes,  oder 
die  Zeit,  wann  b  sich  wiederum  von  der  Schwelle  erhebt,  indem  man 
o  =  c  setzt.  Denn  nicht  eher  kann  sich  b  erheben,  als  bis  nichts  mehr 
zu  hemmen  da  ist;  indem,  hätte  sich  vorher  b  nur  im  geringsten  ge- 
hoben, es  sogleich  wiederum  durch  ein  endliches  Quotum  der  Hemmungs- 
summe würde  niedergedrückt  seyn.  Nachdem  aber  diese  gesunken,  steigt 
nothwendig  b,  wie  schon  gezeigt,  zu  seinem  statischen  Puncte,  als  ob  ihm 
keine  Kraft  entgegenwirkte.  Dasselbe  gilt  von  a ;  sie  beginnen  ihre  Er- 
hebung zugleich,  und  können  sie  niemals  ganz  vollenden.   — 

[260]  Nun  haben  wir  noch  C  und  q'  zu  bestimmen.  Man  über- 
lege, wie  a  vertheilt  wird,  während  b  auf  der  mechanischen  Schwelle  ver- 
harrt. Nur  unter  a  und  c  kann  es  vertheilt  werden;  also  entsteht  hier 
eine  ähnliche  Beschleunigung  plötzlich,  wie  im  §  75  bemerkt. 
Ferner,  die  Verschmelzungshülfe  des  b  kann  dem  a  nicht  mehr  zu  Statten 
kommen,  da  von  b  nichts  mehr  zu  hemmen  ist,  allemal  aber  das  Helfende 
einen  Theil  des  Leidens  von  dem,  welchem  es  hilft  übernehmen  mufs. 
Also  a  und  c  theilen  ganz  nach  ihrem  ursprünglichen  Hemmungsverhält- 
nisse das  Quantum  der  Hemmungssumme ,  welches  in  diesem  Zeiträume 
sinkt.  Dadurch  wird  a  verhältnifsmäfsig  mehr  und  schneller  angespannt, 
als  vorhin ;  und  die  Kraft  seines  Wiederaufstrebens  folgt  jetzt  einem  neuen 
Gesetze.  Aber  von  dieser  Kraft  ist  derjenige  Theil  constant,  der  durch 
das  Sinken  des  a,  bevor  b  die  Schwelle  erreichte,  gebildet  worden.  Diesen 
finden    wir,    indem    wir    —   statt  es  in    den   Werth    des    von  a   Gehemmten 

setzen   (§   77);    es  ist  also  derselbe   =        ■ — -. —  .    Dazu  mufs  addirt  wer- 

(a  -f-  b)  u.z 

den    das   gleichfalls    constante   Gehemmte    von  b,    nämlich    der   ganze   Rest 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik   des  Geistes.  24g 


,       c  ..,  TT  b2  ,.         .  ,       <^^2  4-  b2u2) 

aus  der  frühem   Hemmung,   = ;    dies  giebt  — ! -.     Hiezu 

a  -\-  b  (a  -\-  b)  a2 

kommt  endlich  noch  c,  als  Hemmungssumme;  so  bilden  diese  drev 
Theile    zusammen   die    constante   Kraft,    welche    die  Bewesmno-  verursacht, 

baß2  4-  b2a2 

=  H , : — rr .     Mit  dieser  constanten  Kraft  ist  nun  noch  die  ver- 

[a  -f-  b)  u2 

änderliche  verbunden ;  und  sie  ist  =  der  hinzukommenden  Spannung  von 
a  seit  völliger  Hemmung  von  b,  weniger  n.  Wegen  der  Vertheilung  des 
Gehemmten  zwischen  a   und   c,   finden  wir  die  hinzukommende  Spannung 

c 
von  a,  wenn  wir  mit  dem  Bruche  dasjenige    multipliciren ,     was    ge- 

hemmt worden,   seit  b  die  Schwelle   erreicht  hat;    nämlich   o  —  2.    Die  so 

(°  —  -  )  c 

entstehende    Gröfse  -  zerleg 6  ilaren  wir  noch  in  den  constanten 

a-\-  c  _ L        J3 

—  C  CG 

Theil  — : und    den    veränderlichen .       Jener     mufs     der     obis:en 

a-\-  c  a  -j-  c 

constanten  Kraft  beygefügt  werden,  dieser  dem  veränderlichen  — o.  So 
kommt  endlich 

baß2  -f-  b2a2  2c 

—  '     1      Tl. 


(a  +  b)  a2  a  -f-  c 

und  '  =  —  - 

a  -\-  c         a  -\-  c 


%   80. 

Drey  verschiedene  Zeiträume,  jedoch  mit  einem  eigenen  Bewegungs- 
gesetze, haben  wir  schon  unterschieden;  einen  von  dem  Sinken  auf  die 
mechanische  Schwelle,  den  zweyten  während  der  Verweilung  auf  der- 
selben, den  dritten,  unendlich  langen,  während  der  Wieder-Erhebung  von 
dieser  Schwelle.  Diesen  Zeiträumen  allen  geht  ein  vierter,  oder,  wenn 
man  will,  ein  erster  voran,  wofern  c  nicht  neben  a  und  b  auf,  oder  unter 
der  statischen  Schwelle  ist.  Alsdann  wird  allemal  der  statische  Punct  von 
a  und  b  erniedrigt ;  und  so  weit  sinken  diese  Vorstellungen,  ohne  durch 
ihr  Aufstreben  in  das  Hemmungsgesetz  auf  die  vorhin  beschriebene  Art 
einzugreifen. 

Man  mufs  also  damit  anfangen,   diesen  ersten  Zeitraum  zu  berechnen. 

Das  geschieht  mittelst  der  Formel   /  =  log.  — —   -,    (§74),     indem    für    a 

o  —  o 

dasjenige   Quantum  der  Hemmungssumme  gesetzt  wird ,   welches  von  allen 

Vorstellungen    zusammengenommen    mufs   gesunken    seyn,    wann    a  und   b 

bey  ihrem  statischen   Puncte  anlangen.      Wir  nehmen  vorläufig  an,    beyde 

kommen     zugleich     auf    diesen    Punct;     die    Abänderungen     wegen    des 

Gegentheils    sollen    an    einem    Beyspiel    gezeigt    werden.      Der    erwähnte 

Werth  von   o  sev  =  —  °. 


t  -0  XI.    Psychologie  als  "Wissenschaft. 


Hierauf  beginnt  die  zweyte,  jetzt  mit  t'  zu  bezeichnende  Zeit,  bis  b 
die  mechanische  Schwelle  erreicht.  War  die  anfängliche  Hemmungssumme 
=  S,  so  ist  jetzt  [262]  von  derselben  noch  übrig  S — -°.  Was  aber  in 
der  Zeit  t'  sinken  wird,  ist  auszudrücken  durch  « —  3°.  Dasselbe  wird 
sich  in  den  gehörigen  Verhältnissen  vertheilen;  also  wird  (nach  §  77 
nur  a  —  2°  statt  a  gesetzt)  im  Verlauf  der  Zeit  /',   wenn 

acß-\-bc&  -\-o.2ß2  =D, 
von  a  gehemmt  seyn  acß2  (a  —  Z°)  :  D 
»      b  „  „       bca2{a  —  Z°):D 

„      c  „  ..       «»/9?(a  —  2>)>.D 

Demnach  wird 

[(acß2  A-bca2)   (o  —  2°)l. 
S—  2°  —  (0  —  2°)  -f-  [     '     ^ -^ -J  dt  =do 

a2ß2 
oder ,  indem  völlig  wie  oben   q  =  —fr, 


<cß2  -\-bca2 
D 


Vo 


qa  1  dt '  =■  da. 


acß2  -f  bcu2 
Es    sey   noch   zur  Abkürzung  S — •  — °  =  o  , 

so  wird  t'-  = log.  'S'  —  qn)  -\-  Const. 

b 

und  weil   für  / '  =  o,   o  =  JT°, 

1  tf-gl*         1  S'-2° 

'    =  7  bg  •  ~S'—go    =  7  ^^  ~S^=~qa 
woraus,  Falls  b  nicht  zur  mechanischen  Schwelle  sinkt,  die  Zeit  bis  zum 
Steigen  gefunden  wird  durch  Substitution  von  -S"  für  o. 

Im  entgegengesetzten  Falle  wird  zuvor  der  frühere  Rest  von  b,  oder 

= (2?°  4-  a  —  2?°) ,    indem   die  Hemmung  sowohl  während  / 

a-\-b  D     K       ~  ' 

als  während  /'  immer  nach  einerley  Verhältnifs  fortgeschritten  ist;  oder  es  ist 

bD  ^ 

(a-\-b)ca2  ' 
Es  schliefst  sich  also  die  zweyte  Zeit  mit 

I  S'-q^° 

t   =  —    log.     _,, -p=. 

q  S  —  q  21 

Nun    begiimt  die    dritte  Zeit  =  / "    während    der  Verweilung  auf  der 

mechanischen  Schwelle.    Von  der  Hemmungssumme  ist  noch  übrig  S —  J5" , 

in  der  Zeit  t"  wird  [263]  sinken  o  —  2 '.  Von  a  und  b  zusammengenommen 

•       •  „  .       ,        ,  faß*  +bcu2)   L2"  —  2°)       __ 

ist    in     der    Zeit    /      gehemmt     — I—-1 .      Von    a    wird 

0  D 

(o ^*  )  C  CS  C  ^*  c 

während    /  "    gehemmt ^ =  — ■ .        Es     sey     nun 

a  -\-  c  a  -\-  c  a  -j-  <■" 

(acß2  +  bcu2)  (-5T  — JS*)  2'c  c 

S  -\ '- ! -i-1 '- ■—  =  S   ,   und    I j =   q  , 

D  a  -f-  c  a  -\-  c 

so  ist  (S" — q'n)  dt"  =  da, 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien  der   Mechanik   des   Geistes.  i  c  i 


und  /"  = -,  log.  (S"  —  q'a)  -j-  Const. 

weil  aber  für  /"  =  o,   u  =  JSV,   so  wird 

t       ==  —      lüg.     -         — ,— . 

q  S    —  q  o 

Für    das   Ende    der    Zeit  t"   ist    hierin    a  =  S,    und    alsdann    beginnt    die 
vierte,  unendliche  Zeit  der   Annäherung  zum  statischen  Puncte. 

Um  Beyspiele  zu  haben,  vollenden  wir  die  im  §  69  geführten 
statischen  Berechnungen.  Es  sey  a  =  b  =  c  =  I.  Demnach  hier  £=  1 ; 
(nämlich  die  Hemmungssumme  zwischen  a  und  b  war  schon  gesunken,  und 
die  ganze  jetzige  Bewegung  hängt  ab  von  dem  hinzukommenden  c,  — - 
obgleich  oben  die  statischen  Puncte  mit  Hülfe  des  ganzen  Gegen- 
satzes zwischen  a,  b,  und  c  mufsten  bestimmt  werden).  Ferner  — °  zu 
finden,  mufs  man  erst  überlegen,  wie  weit  a  und  b  zu  sinken  hatten,  um 
auf  ihren  jetzigen  statischen  Punct  zu  kommen.  Der  frühere  war  =  0,5;. 
der  jetzige  ist  nach  §  69  eine  Hemmung  =  0,5614;  also  um  0,0614 
mufsten  sie  sinken.  Dies  verhält  sich  zu  dem,  was  gleichzeitig  von  c  hat 
sinken  müssen,  wie  u.2  :  «4  (indem  wegen  a  =  b  auch  u  =  ß)  oder  wie 
1  :  «2  =  1  :  1,5625.  Also  das  Gehemmte  von  c  bis  dahin  beträgt 
0,0959...      Nun    0,0614    •    -  +  °>°959   =    — °>    oder    — °  =  0,2187... 

Hieraus  S —  -°  =  0,7812  ...    und    t  =  log. =  log.  nat.  10000 

0,7812 

—   log.  nat.   7812  =  0,2469..      Dies   ist    die    erste    Zeit.    —    [-64] 

Weiter,  q  =  — --    -  =  0,4386  .  . ;  S'  =  1 ~-  .  -T°  =  0,8772  . . . 

2  -\-  (x2  2  -\-  a- 

Nun  kann  b  nicht  auf  die  mechanische  Schwelle  kommen ;  denn  der  Ausdruck 

11  °  ■     ■ 

des  von  b  Gehemmten    ist  —  -  =  -  — ,    wird  hierin  a  =  b  =  1, 

2  +  «2  3,5  •  • 

so  ist  jenes  Gehemmte  nahe  —  y-  <  — ,  welches  letztre  den  Rest  von  b 
aus  der  frühem  Hemmung  ausmacht.  Also  setzen  wir  gleich  nebst  dem 
gefundenen  q  und  S'  auch  S  für  a  in  die  Gleichung  für  /',  und  eihalten 
/'  =  1,316..  Dies  ist  die  zweyte  Zeit.  Eine  dritte  der  Verweilung 
auf  der  Schwelle  fällt  hier  weg,  indem  nun  sogleich  die  unendliche  Zeit 
des  Steigens  beginnt.  Es  ist  t  +  t'  =  1,563;  in  dieser  Zeit  sinkt  jetzt 
die  ganze  Hemmungssumme,  wozu  sonst  unendliche  Zeit  nöthig  ist.  Der 
niedrigste  Stand  von  a  und   von  b    ist  nach    der    obigen   Bemerkung    nahe 

=  1  —  (—  4-  —\  =  —  ;   ihm    gleichzeitig  ist  von    c    noch    1 —  =  — 

im  Bewufstseyn;  von  hier  an  mufs  aber  c  doppelt  so  schnell  sinken,  als 
a  und  b  steigen. 

Zwevtens  sey  a  =  i;    b  =  0,7;    c  =  1;    demnach   S  =  1 ;    um    aber 
^1o    zu   finden,    müssen    wir   zuerst    die    frühere    Hemmung    von    a    und    b 

betrachten.      Von  a  war  gehemmt       '       ;   von  b       '  ;  jenes   =  0,28823  .  . 

i,7  i»7 

dieses  =  0,41177  ..      Da  nun  c  hinzukommt,   so   ist  nach   §  69   von  a  zu 


,  -  9  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

O  J- 


hemmen  0,48814;  von  b,  0,50317  ...  Die  Differenzen  sind,  für  a,  0,1999; 
für  b,  0,0914.  Hier  zeigt  sich,  dafs  nicht  zugleich  a  und  b  auf  ihren 
neuen  statischen  Punct  von  dem  vorigen  herabsinken;  denn  gevifs  verliert 
eher  b  die  kleine  Gröfse  0,0914,  als  a  um  0,1999  herabsinkt.  Deshalb 
erstreckt  sich  jetzt  die  erste  Zeit  nur  bis  dahin,  wo  b  seinen  statischen 
Punct  erreicht;  alsdann  folgt  eine  einzuschaltende  Zeit,  bis  auch  a  den 
seinio-en  antrifft.  Was  b  verliert,  verhält  sich  zu  dem  was  a  verliert,  wie 
lu2  :  aßz  =  1,016  :  0,986;  also  während  von  /;,  0,0914,  wird  von  a 
gehemmt  0,0887.  Was  a  verliert,  [265]  verhält  sich  zum  Verluste  von  c 
wie  ac  :  a2  =  1  :  1,452;  also  während  von  a,  0,0887,  wird  von  c  ge- 
hemmt 0,1288.   Demnach  ist  J^°  =  0,0914  +  0,0887  +  0,1288  =  0,3089; 

1000 
und  S  —  — °  =  0,691.      Daraus  /  =  log.  nat.  — =  0,369  .  .      Dies 

ist    die    erste    Zeit.      In    der    nächsten    einzuschaltenden    Zeit    ist     die 

bri'.o    (o   —    S?°)  ,  , 

hemmende    Kraft    =    S  —   <>   -f-  —         — ,     daher     setze     man 

bca2     _  ,.,         .  bca2  . 

S J^o  =  *S  ,  und  1   —     — — —  =  q,  so  ist    6=1    —  0,09143 

—  0,9085  .  .  und  q  =  0,704  .  .  Am  Schlüsse  dieser  Zeit  soll  von  a  ge- 
hemmt sevn  0,1999,  wofür  füglich  0,2  kann  gesetzt  werden;  gleichzeitig 
damit  ist  nach  obigen  Verhältnissen  von  b  gesunken  0,200 1  .  .  und  von 
c  o-ehemmt  0,2904;  zusammen  =  0,6965  =  _2f .  Hieraus  findet  sich  in 
Verbindung  mit  S'  und  q  die  einzuschaltende  Zeit;  sie  ist  =  0,714  .  . 
Nach  Verlauf  derselben  beginnt  derjenige  Zeitraum,  in  welchem  a  und  b 
zusammen  wirken,  um  die  Hemmung  zu  beschleunigen:  die  obige  zweyte 
Zeit,  zu  deren  Berechnung  wir  nun  noch  einmal  die  Formel,  wodurch  die 
eingeschaltete  bestimmt  wurde,  aber  mit  andern  Bedeutungen  von  .S''  und 
q,  von  Jl"0  und  ^',  anwenden.  Was  so  eben  JT  war,  wird  jetzt  ^u, 
also  S^°  =  0,6965.  Zu  S'  mufs  jetzt  das  im  verflossenen  Zeiträume  von 
b  o-ehemmte  mit  gerechnet  werden;  denn  es  wirkt  fortdauernd  als  eine 
constante  Kraft.  Dieses  beträgt  0,2061  —  0,0914  =  0,1147.  Außer- 
dem können  wir  den  Formeln  folgen.  Demnach  wird  S'  =  0,7087;  und 
q  =  0,4169.  Endlich  JS"  =  0,074  .  .  Daraus  /'  =  0,777  .  .  Dies  ist 
die  zweyte  Zeit,  nach  obiger  Benennung.  Um  die  dritte  Zeit,  oder/" 
zu  berechnen,  mufs  wiederum,  und  aus  dem  schon  angegebenen  Grunde, 
zu  S"  die  Gröfse  0,1147  addirt  werden.  Es  findet  sich  S"  =  0,790..; 
q'  =0,5;  und  hieraus  /"  =0,087..  Dies  ist  die  dritte  Zeit,  die 
der  Verweilung  von  b  auf  der  mechanischen  Schwelle;  worauf  die  vierte, 
unendliche,  des  Steigens  folgt.  Um  zu  sehen,  wie  lange  Zeit  die  Hemmungs- 
summe [2 66]  braucht,  um  ganz  zu  sinken,  addiren  wir  die  verschiedenen 
Zeiten.      Wir  fanden 

die  erste  Zeit  =  0,300 

die  eingeschaltete  =  0.714 

die  zweyte  =  0,777 

die  dritte  =   0,087 


deren  Summe  =    1,94 7. 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der   Mechanik  des  Geistes. 


353 


Hiemit  läfst  sich  das  vorige  Beyspiel  vergleichen.  'Beydemal  war  die 
Hemmungssumme  =  i,  aber  der  Unterschied,  dafs  dort  b  =  I,  hier 
b  =  0,7;  hat  die  Zeit  des  Sinkens  der  Hemmungssumme  von  1,563  bis 
auf  1,947  verlängert.  Der  Grund  ist  nicht  schwer  zu  finden.  Die 
hemmenden  Kräfte  sind  hier  schwächer  als  oben.  Gleich  die  erste  Zeit 
findet  sich  hier  in  einem  etwas  gröfsern  Verhältnisse  gegen  das  Gehemmte 
vermehrt,  als  dort.  In  der  eingeschalteten  aber  wirkte  vollends  nur  b 
allein  zum  schleunigem  Sinken,  indem  a  noch  nicht  seinen  statischen 
Punct  erreicht  hatte,  also  auch  den  Drang  zum  Sinken  noch  nicht  ver- 
mehren konnte.  Hingegen  im  ersten  Beyspiele  waren  gleich  am  Ende 
der  ersten  Zeit  a  und  b  zugleich  auf  ihrem  statischen  Puncte,  und  wider- 
strebten gemeinschaftlich  dem  Uebermaafse  der  Hemmung,  wodurch  sie 
unter  derselben  herabgedrückt  wurden.  Dazu  kommt  noch  die  Zeit  der 
Verweilung  auf  der  Schwelle,  während  welcher  die  Spannung  von  b  nicht 
mehr  anwachsen  konnte.  Dieses  alles  mufste  in  dem  zweyten  Beyspiele 
die  Bewegung  um  etwas  langsamer  machen. 

Vergleichen  wir  aber  auch  noch  die  Zeiten  mit  dem  was  in  ihnen 
gehemmt  wird!  Dazu  ist  nur  nöthig,  die  Differenzen  JT'  —  .3°  den 
Zeiten  gegenüber  zu  stellen. 

Zu  der  Zeit  0,369  gehört  das  Gehemmte  0,309 
»      >!        »     °j7i4       »  »  »  °)3^7 

»      »       »     °>777       »  »  v  0,278 

„      „       „      0,087       »  »  „  0,025 

Hier  ist  zwar  im  Allgemeinen  noch  immer  etwas  von  allmählig  ver- 
minderter Geschwindigkeit  zu  bemerken,  aber  auch  etwas  scheinbar  im- 
regelmäfsiges,  welches  von  [267]  den  verschiedenen  Bewegungsgesetzen 
herrührt,  die  nach  einander  eintreten,  und  den  gleichförmigen  Lauf  des 
Ereignisses  nicht  weniger  als   viermal   abbrechen. 

Man  begreift  leicht,  dafs  diese  so  merkwürdigen  Abänderungen  der 
einmal  vorhandenen  Regel  der  Bewegung,  sich  noch  sehr  vervielfältigen 
müssen,  wofern  mehr  als  drey  Vorstellungen  im  Spiele  sind.  So  oft 
eine  davon  ihren  statischen  Punct,  oder  die  mechanische  Schwelle  erreicht, 
ändert  sich  das  Gesetz  des   Fortgangs  der  Bewe^uns:. 

Wir  wollen  uns  darüber  eben  so  wenig  in  Untersuchung  einlassen, 
als  über  die  Frage:  was  geschehen  müsse,  wenn  c  früher  eintrete, 
als  a  und  b  ihre  Hemmung  unter  einander  vollendet  haben? 
Nämlich  vollendet  bis  auf  einen  unbedeutenden  Rest,  da  das  eigentliche 
Ende  nie  eintritt,  wenn  sie  sich  selbst  überlassen  bleiben.  —  Dergleichen 
Fälle  liegen  in  der  Mitte  zwischen  dem  eben  abgehandelten,  und  dem 
gleichzeitigen  Zusammentreffen  dreyer  Vorstellungen.  Die  mechanische 
Schwelle  wird  alsdann  seltener  erreicht,  und  die  Verweilung  auf  der- 
selben verkürzt. 

Endlich  möchte  man  noch  fragen,  ob  nicht  ein  hinreichend  starkes 
c  im  Stande  seyn  könne,  sowohl  a  ;ils  b  auf  die  mechanische  Schwelle 
zu  treiben?  Die  Antwort  hängt  von  der  Betrachtung  der  Hemmungssumme 
ab.  Ist  c  gröfser  als  a,  so  ist  es  in  der  Regel  selbst  nicht  mit  in  der 
Hemmungssumme.  Vielmehr  ist  diese  alsdann  =  a\  weil  der  frühem 
Hemmung  die  Summe  =  b  zugehörte.     Nun  kann  a  niemals  ganz  nieder- 

Hekkart  s  Werki:.     V.  23 


354 


XI.   Psychologie  als  Wissenschaft. 


Jb 


gedrückt  werden;  denn  gesetzt,  a  und  b  seyen  zugleich  auf  der  mecha- 
nischen Schwelle,  so  tragen  sie  die  ganze  Hemmungssumme  allein;  aber 
dieses  ist  nicht  möglich,  da  nothwendig  auch  von  c  etwas  mufs  gehemmt  sevn. 
Ganz  anders  jedoch  wird  sich  dies  verhalten,  wenn  man  übergehn 
will  zu  der  Annahme,  dafs  nach  c  noch  eine  Reihe  anderer  Vorstellungen, 
</,  e,  f,  u.  s.  w.  successiv  hinzutrete.  Dadurch  wird  die  Hemmungssumme 
[268]  unfehlbar  bedeutend  wachsen;  es  mufs  aber  a  von  jeder  neu  hin- 
zukommenden leiden;  und  da  es  vorhin  schon  der  mechanischen  Schwelle 
nahe  war,  kann  es  ohne  Zweifel  sehr  leicht  vollends  auf  dieselbe  getrieben 
werden,  gesetzt  auch,  dafs  keine  der  hinzukommenden  stark  genug  sev, 
um  a  und  vielleicht  selbst  um  b  auf  die  statische  Schwelle  zu  bringen. 
Während  also  'jene  Reihe  von  Vorstellungen  noch  in  ihrem  Verlauf  be- 
griffen ist,  werden  a  und  b  fortwährend  auf  der  mechanischen  Schwelle 
bleiben;  dennoch  aber,  nachdem  die  Reihe  zu  Ende  ist,  sehr  bald  sich 
von  selbst  wieder  ins  Bewufstseyn  erheben.  So  etwas  ereignet  sich  zu 
jeder  Stunde  in  jedem  Menschen,  nur  nach  einem  weit  vergröfserten 
Maafsstabe,  bey  jeder  Störung  in  einem  Geschaffte,  das  man  vergifst,  so 
lange  die  Störung  dauert,  und  wieder  ergreift,  sobald  sie  beseitigt  ist.  Das 
unangenehme  Gefühl  der  Störung,  welches,  wenn  es  heftig  ist,  im  ersten 
Augenblicke  gleich  den  Organismus  in  Mitleidenschaft  zieht,  und  dann  den 
Affect  des  Schrecks  erzeugt,  — ■  rührt  her  von  der  Gewalt,  womit  die 
zur  mechanischen  Schwelle  getriebenen  Vorstellungen,  deren  man  sich  nicht 
bewufst  ist,  sich  denen  widersetzen,  durch  welche  sie  verdrängt  werden. 
Wirkten  die  Vorstellungen  auf  der  statischen  Schwelle  eben  so  wie  die  auf 
der  mechanischen:  so  würde  der  Mensch  sein  Dasevn  nicht  aushalten  können. 


Drittes  Capitel. 

Von  wiedererweckten  Vorstellungen  nach  der  ein- 
fachsten Ansicht. 

§.  81. 

Kaum  bedarf  es  der  Erinnerung,  dafs  das  zuletzt  betrachtete  Ereignifs 
noch  von  andern  wichtigen  Folgen  be[2ög]gleitet  seyn  müsse,  wofern  man 
nur  die  sehr  natürliche  Voraussetzung  hinzudenkt,  dafs  wohl  mehrere  ältere 
Vorstellungen,  wo  nicht  im  Bewufstseyn,  so  doch  im  Gemüthe  vorhanden 
sevn  mögen.  Um  allzu  grofse  Schwierigkeiten  zu  vermeiden,  wollen  wir 
annehmen,  es  seyen  dergleichen  neben  a  und  b  auf  der  statischen  Schwelle; 
die  also  nur  durch  a  und  b  zurückgehalten  sind,  und  sich  sogleich  regen 
müssen,  wofern  die  entgegenwirkenden  von  einer  fremden  Gewalt  leiden. 

Es  mögen  sich  drey  Vorstellungen  mit  einander  im  Gleichgewichte 
befinden.  Sinken  zwev  davon  unter  ihren  Gleichgewichtspunct  hinab:  so 
kann  die  dritte  gerade  um  so  viel,  als  jene  zusammengenommen 
verlieren,  sich  wieder  erheben.  Die  Hemmungssumme  wird  dabei  nur 
anders  vertheilt.  —  Dafs  eine  Vorstellung,  welche  steigen  kann,  auch  steigen 
werde,  leidet  keinen  Zweifel;  jedoch  giebt  es  ein  Gesetz,  nach  welchem 
sie  sich  allmählig  erhebt,  mit  abnehmender  Geschwindigkeit,  weil,  je  höher 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien  der  Mechanik  des   Geistes.  ->cc 


sie  sich  schon  gehoben,  um  so  kleiner  die  Nothwendigkeit  wird,  ihren  Zu- 
stand zu  verändern,  um  sich  vollends  ins  klare  Bewufstsein  aufzurichten. 
Plötzlich  können  die  dazu  nöthigen  Uebergänge  aus  einem  Zustande  in 
den  andern,  eben  so  wenig  geschehn,  als  eine  Hemmungssumme  plötzlich 
sinkt,  das  heilst,  als  die  gehörige  Verdunkelung  des  Vorstellens  sogleich 
vollständig  eintritt,  indem  der  Grund  dazu  vorhanden  ist.  —  Angenommen, 
die  Vorstellung  ff  sey  völlig  niedergedrückt;  auf  einmal  verschwinde  alle 
Hemmung;    nach   einer  Zeit  t  habe   sich    erhoben    das  Quantum  h;    so  ist 

dh  =  {ff  —   h)    dt,    also    /  ==   log.  —  -  -   ;    h  =  ff   (i    —  e~l).      Ver- 

ff  —  li 

schwindet  aber  nicht    alle   Hemmung:    so    giebt    es    für  die  Vorstellung  ff 

einen    Punct,    bis  zu  welchem   ihr   gestattet   ist   zu   steigen.*     Derselbe   sey 

rj ' 

ff';    so    ist    dh  =  (ff'  —  h)   dt;    t  =  log.  — , -,   h  =  ff'  (i    —  <?-*) 

ff   —  h  ^ 

Man  bemerke  wohl,  dafs  in  diesen  Ausdrücken  die  Stärke  der  [270]  Vorstellung 
ff  gar  nicht  vorkommt;  Falls  daher  ff'  nicht  von  ff  bestimmt  wird,  so 
ist  das  Steigen  dieser  Vorstellung  von  ihrer  eignen  Stärke  völlig  unabhängig. 
In  diesem  Falle  befindet  sich  die  Vorstellung  ff,  wenn  sie  darum, 
und  so  weit  sich  zu  erheben  sucht,  weil  und  wie  weit  die  andern,  von 
denen  sie  gehemmt  war,  niedersinken.  Das  Gesetz  eines  solchen  Steigens 
macht  den  Gegenstand  unsrer  nächsten  Untersuchung  aus. 


§   82. 

Neben  den  Vorstellungen  a  und  b  können  viele  Vorstellungen,  die 
ehemals  mit  ihnen  im  Conflict  waren,  zur  Schwelle  gesunken  seyn.  Alle 
diese  regen  sich  sogleich,  wenn  eine  neu  hinzukommende  a  und  b  sinken 
macht.  Aber  wie  sie  sich  regen,  treten  sie  theils  unter  einander,  theils 
gegen  die  hinzukommende,  in  gegenseitige  Hemmung;  so  dafs  diejenigen 
kaum  merklich  steigen  können,  welche  auf  solche  Weise  bedeutenden 
Hindernissen  entgegengehn.  —  Um  das  Einfachste,  und  zugleich  für  die 
aufstrebende  Vorstellung  Vortheilhafteste  vorauszusetzen,  wollen  wir  an- 
nehmen, es  sey  nur  Eine,  und  zwar  der  neu  hinzukommenden  völlig  gleich- 
artige, neben  a  und  b  auf  der  statischen  Schwelle;  diese  trete  nun,  frev 
von  den  erwähnten  Hindernissen,  wieder  ins  Bewufstsein.  Also  z.  B.  eine 
zuvor  gesehene  Farbe,  ein  früher  gehörter  Ton,  woran  eben  jetzt  nicht 
gedacht  wurde,  erscheint  oder  erklingt  von  neuem;  die  Frage  ist,  wie  die 
ältere  Vorstellung  nun  der  gleichartigen  neuen   entgegenkommen   werde? 

Die  ältere,  sich  erhebende  Vorstellung  heifse  ff.  Sie  sucht  nach  dem 
im  vorigen  §  angegebenen  Gesetze  den  Punct  zu  erreichen,  bis  zu  welchem 
sie  ungehindert  steigen  kann.  Aber  dieser  Punct  ist  veränderlich;  denn 
er  hängt  ab  vom  Sinken  jener  beyden,  a  und  b.  Die  veränderliche  Ent- 
fernung dieses  Punctes  von  der  Schwelle,  oder  das,  derselben  gleiche, 
Sinken  der  beyden,  a  und  b  zusammengenommen,  heifse  .r;  die  zugehörige 
Zeit  sey  /;  [271]  und  das  Quantum  von  ff,  welches  beym  Ablauf  von  /  sich 
schon  erhoben  hat,  sey  ==■}',  so  ergiebt  sich  die  Gleichung 

ix  —  y)  dt  =  dy. 

23* 


?  c  6  Psychologie  als  Wissenschaft. 

Nun  ist  .v  eine  Function  von  /,  welche  fürs  erste  =  //  gesetzt  werde. 
So  folgt 

ftdt  =  dy  -\-ydt 
woraus  y  =  e~ t/et .  ftdt. 

Aus  dem  vorigen  Capitel  läfst  sich  ft  näher  bestimmen.  Ist  die  neu 
hinzukommende  Vorstellung  stark  genug,  um  nicht  neben  a  und  b  auf 
die  statische  Schwelle  zu  fallen,  so  gehn  die  Bewegungen,  welche  sie  ver- 

ursacht,  nach  §   80;  wo  in   der  ersten  Zeit  die  Formel  /  =  log.  — 

gilt.  Damit  hängt  zusammen  o=S(l-  -e~~ ').  Die  beiden  Theile  von  o, 
welche,  nach  den  Hemmungsverhältnissen,  von  a  und  b  gehemmt  werden, 
fasse  man  zusammen  in  den  Ausdruck  ma==mS(l  — e~ *),  so  ist  dies 
=  x  =  ft ;  denn  um  so  viel  Freyheit  ist  nun  dem  H  eingeräumt  um  sich 
zu  erheben.  Nun  ist  mS  .fe^\\  —  e~l)  dt  =  mS  (?  —  /) -f- Const. ;  und 
dieses  mit  e~~ l  multrpficirt  ==  mS{\  — ■  t'e~ l) -J-  Ce~ *.  Für  /  =  o  ist  y 
=  o  ;   also  vollständig 

ys=mS[i  -(1+/)  e-*\ 


'o 


w^[^/2-v/3  +  i/4---] 


o 


3 

In  dieser  Formel  ist  -S  diejenige  Hemmungssumme,  welche  beym  Hinzu- 
treten der  neuen  Vorstellung  c  zu  a  und  b,  sich  zwischen  diesen  dreyen 
gebildet  hat ;  bev  voller  Hemmung  ist  sie  =  c,  wenn  c  ■<  a,  oder  im  um- 
gekehrten Falle  ist  sie  —  a.  Hiemit  nun  steht  das  Hervortreten  der 
älteren,  H,  im  einfachen  geraden  Verhältnifs;  aber  dasselbe  richtet 
sich  Anfangs  nach  dem  Quadrate  der  Zeit.  Und  der  Anfang  ist 
hier  das  wichtigste ;  denn  die  erste  Zeit  ist  gewöhnlich  sehr  kurz,  wie 
schon  die  Beyspiele  des  vorigen  Capitels  vermuthen  lassen.  Es  mufs  c 
sehr  grofs  sevn,  und  den  statischen  Punct  von  a  und  b  bedeutend  herab- 
setzen können,  wenn  [272]  die  erste  Zeit  sich  ansehnlich  verlängern  soll.    Da- 

S 

durch  nämlich  wächst«—  in  der  Formel  t  =  log  .   — ^   und    wird    dem 

Werthe  6"  nahe  kommen  können.  In  dieser  Hinsicht  mag  es  nicht  un- 
nütz seyn,  die  Gröfse  te~t,  welche  mit  dem  Minuszeichen  in  v  vorkommt, 
näher  anzusehn.      Sie  ist  =0    für  /  =  o  und    für    /  =  cc ;    und    hat    ihr 

Maximum  für  t  =  I.   nämlich  den  Werth =0,36..;   weiterhin  wird 

2,7.. 

sie  bald  ziemlich  unbedeutend,  und  kann  alsdann  den  Gang  der  Gröfse 
1  — e— ',  mit  der  sie  verbunden  ist,  nur  wenig  modificiren.  Wo  sie  den 
meisten  Einflufs  hat,  nämlich  für  /=  1,  erkennt  man  den  Werth  von  y 
sogleich   aus   der  Reihe;    es    ist   nämlich    alsdann  y  =  m S  (-£■ T  4"  T 

--  +  ■■■) 

In  den  darauf  folgenden  Zeiten  erscheint  immer  /    unter  einer  Form 

wie    /    ==  —   los.  -7 — 1    woraus   o  =  ,     folglich  ma  =  // 

q       *  S'—qo  t  q 

m  S'         m  Ce  ~  1 l',      ,        ,  .     . 

=    q  (S  —  Ce-i*).     Hieraus  y  = ; +  Ae-1    wo  A  eine 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien   der  Mechanik  des  Geistes.  3  c  7 


noch   zu   bestimmende   Constante  ist.     Für  /  =  o  sey  y  =  Y,    so    ist   nun 

m  S'   .  .,.  mC  .  . 

vollständig  v  = (1  —  e~t) -. r(^_qt   —  *_t  )  +  Y  e-*- 

q  q{l—  q)  v 

Hier   wird     zuerst     die    Gröfse    e   i1' —  e~x      unsre     Aufmerksamkeit 

anziehn.    Sie  ist  =  o   für  /'  =  o  und   für  /'  =  cc ;  und  hat  ein   Maximum 

für   /  = — — '    welcher    Ausdruck,    wie    man    sogleich    übersieht,    nur 

1  —  q 

scheinbar  negativ  ist. 

Es  ist  nun  leicht,  nach  Anleitung  des  vorigen  Capitels  für  jeden  Zeit- 
raum nach  dem  ersten,  die  gehörigen  Werthe  von  S",  q,  und  C,  in  die 
gefundene  Formel  zu  setzen.  Allein  der  Gültigkeit  der  Formel  kann  die 
eigne  Gröfse  der  Vorstellung  H,  wovon  y  ein  Theil  ist,  eine  [273]  Gränze 
setzen.  Man  mufs  sich  erinnern,  dafs  //in,  oder  das  von  a  und  b 
zusammengenommen  Gehemmte,  den  freyen  Spielraum  ausdrückt,  in 
welchem  sich  H  ausdehnen  kann.  Nur  gröfser  als  es  ist,  kann  es  durch 
die  ihm  gegebene  Freyheit  nicht  werden,  noch  zu  werden  streben.  So- 
bald daher  mo  =  H,  hört  in  der  Formel  (x — y)  dt  =  dy,  von  der  wir 
ausgingen,  x  auf,   veränderlich  zu  seyn ;   es  wird  =  H\   und 

aus  (H  —  y)  dt"  =  dy 

folgt  /"  =  log.  — , 

rl  =  y 

wenn  y  ■===  Y'  für  /"  =  o.     Zuvor  mufs  man  wissen,   wann  ma  =  H;  das 

heifst,  man  mufs  das  Ende  von  /'  wissen.    Aus  dem  Vorigen  ergiebt  sich 

sehr  leicht  die   Formel   dafür,   nämlich 

,  1  in  C 

1  ""  7  ^    mS'^TqH- 
Oder  sollte  sich  der  Fall  m  n  =  //"wegen  grofser  Schwäche  der  Vor- 
stellung H    schon    früher  ereignen,    ehe  noch  die  Zeit  /'  anfängt,   so  hätte 
man  aus  dem   Obigen  H  =  m  S  (l  —  e  ~~  l)   und  hieraus   alsdann 

m  S 
i  =  los:. 


'O* 


mS—ti 

Bis  nun  diese,  oder  die  vorbemerkte  Zeit  abgelaufen  ist, 
erhebt  sich  jede  schwache  oder  starke  Vorstellung,  die  in  dem 
Falle  von  H  sich  befinden  mag,  völlig  auf  gleiche  Weise;  erst 
in  dem  hier  bestimmten  Augenblicke,  und  zwar  plötzlich,  eig- 
net sich  eine  solche  Vorstellung  ein  Bewegungsgesetz  zu,  das 
ihrer  Stärke  (oder  vielmehr  ihrer  Schwäche)  angemessen  ist.  Die 
stärksten  thun  dies  am  spätesten.  —  Aufserdem  sieht  man  hier  noch 
ausdrücklicher,  was  eigentlich  schon  im  vorigen  §  klar  wurde:  dafs  näm- 
lich niemals  eine  wieder  hervortretende  Vorstellung  zu  einem 
völlig  ungehemmten  Zustande  zurückkehren  kann.  Sollte  dies 
geschehn,  so  müfste  in  dem  obigen  [274]  Ausdrucke  für  /",  y  =  H  werden 
können,  und  dabei  einen  endlichen  Werth  für  t"  ergeben ;  aber  /"  wird 
unendlich  für  y  =  H. 

Das  erste  Beyspiel  des  §  80  wollen  wir  hier  verfolgen.  Dort  ist 
a  =  b=  1,  und  beyde  sind  verschmolzen,  ehe  c=  1  hinzukommt.  Hiezu 
fügen  wir  jetzt  die  Voraussetzung,   eine  ältere,   dem  c  gleichartige  Vorstel- 


358  Pschologie  als  Wissenschaft. 


lung  H  =  0,88  sey  im  Gemüthe  vorhanden;  sie  kann  von  den  verschmol- 
zenen a  und  b  auf  die  statische  Schwelle  gebracht  seyn,  laut  §  70.    Es  ist 

ac  ß2  -\-  bca2 


m 


acß2  -f-  bca2  -f  a$ß2 


hier  = = . —  =  o, ^6i ;    und  5=  1 ;    also    wenn  in    ma   auch 

2  +  a2       3,56..  ° 

0  =  S,  dennoch  mo  =  0,561  .  .  immer  noch  viel  kleiner  als  H;  woraus 
folgt,  dafs  in  keiner  Zeit  die  Gröfse  von  H  auf  die  aufstrebende  Be- 
wegung desselben  Einflufs  haben  wird.  Alles  jetzt  zu  berechnende  gilt 
also  eben  so  wohl  für  jedes  H^>  0,561  .  .  . 

Die  erste  Zeit  ist  bey  ihrem  Ablauf  =  0,2469;  also  e  ~  l=  0,782  . .  , 
dies  multiplicirt  mit  I  -J-  t  =  1,2469  giebt  0,975;  daher  y  =  0,561 
X  0,024  .  .  =  0,013  .  .  am  Ende  der  ersten  Zeit;  eine  noch  sehr  kleine 
Gröfse;  ungefähr  der  zehnte  Theil  dessen  was  von  a  und  b  zusammen- 
genommen jetzt  schon  gehemmt  ist;   denn  dies  beträgt  nach  §  80  o,  1228  .  . 

Für  die  zweyte  Zeit  ist  q  =  0,4386;  S'  =  0,8772  .. ;  C  =  S'  —  q  J^° 
=  0,7812;    und    die    zweyte   Zeit   bey   ihrem    Ende    =  1,316.      Hieraus 

-(i  —  *-*)  =  0,8208: -  (e~^'  —  e~  l')  =0,5201;    Fe-* 

1  q  (1  —  q) 

=■  0,0035;  demnach  y  =  0,304  .  .  am  Ende  der  zweyten  Zeit.  Höher 
steigt  y  nicht,  weil  von  jetzt  an  sich  a  und  b  gegen  c  wieder  heben.  Es 
befindet  sich  aber  auch  jetzt  in  einem  ganz  andern  Verhältnisse  zu  dem 
Spielraum,  in  welchem  H  sich  ausdehnen  konnte.  Denn  jetzt,  da  die 
Hemmungssumme  zwischen  a,  b  und  c,  ganz  gesunken,  beträgt  die  hinzu- 
[2  75]gekommene  Hemmung  von  a  und  b,  die  obige  Gröfse  =  0,561  ; 
aber  y  =  0,304  ist  hievon  mehr  als  die  Hälfte.  Man  sieht  also  in  dem 
Beyspiel  bestätigt,  was  aus  dem  Gesetze  des  Hervortretens  vorauszusehen 
war,  dafs  die  aufsteigende  Vorstellung  Anfangs  weit  von  dem 
ihr  gesteckten,  oder  vielmehr  ihr  voranschreitenden  Zielpuncte, 
entfernt  bleiben,  nach  einiger  Zeit  aber  ihm  bedeutend  näher 
kommen,  obschon  noch  eine  gute  Strecke  zwischen  sich  und 
ihm,  offen  lassen  werde. 

Wir  haben  in  diesem  Beyspiele  nur  Eine  plötzliche  Veränderung  des 
Bewegungssgesetzes  der  hervortretenden  Vorstellung  bemerken  können;  es 
ist  jedoch  offenbar,  dafs  jeder  der  im  vorigen  Capitel  bemerkten  Ueber- 
gänge  auch  hier  Einflufs  haben  müsse.   — - 

§  83. 

Da  in  den  Bewegungen  der  Vorstellungen  a,  b  und  c  ein  wichtiger 
Unterschied  davon  abhängt,  ob  c  neben  a  und  b  auf  die  statische  Schwelle 
fallen  müsse  oder  nicht:  so  haben  wir  den  Einflufs  dieses  Umstandes  auf 
das  Hervortreten  der  altern  Vorstellung  zu  prüfen. 

Es  sey  also  jetzt  c  auf  die  statische  Schwelle  zu  sinken  bestimmt : 
so  verrückt  sich  der  statische  Punct  für  a  und  b  nicht;  ihr  Wiederauf- 
streben   beschleunigt    von  Anfang    an    das    Sinken    der    Hemmungssumme ; 

1  c 

und  für  /  gilt  gleich  Anfangs  die  Formel  t  =  —  log. nach  §  77. 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien   der  Mechanik  des   Geistes.  -i  rg 

■-■    ■  ■     — - —  ■  \  -    ■■  .  .  -    .     .     .  

Diese  aber  kann  für  eine  nähere  Bestimmung  der  im  §  82  für  die  nach- 
folgenden Zeiten  gebrauchten  angesehen  werden,  wenn  C  =  S'  =  c  gesetzt 
wird,  wobey  denn  noch  q  seinen  gehörigen  Werth  nach  den  Umständen 
des  §   77   bekommt.      Hieraus  wird 

tnc  ,  .  m  c 

y  = 1  —  e-i) , -qt_,-t. 

q  '      g{i  —  q)  ' 

Denn  Y  ist  jetzt  =  o,  weil  beym  Anfang  der  Zeit  noch  nichts  hervor- 
getreten ist.  Aber  unsre  Formel  läfst  sich  jetzt  besser  als  vorhin  zu- 
sammenziehn;   sie  wird 

r      ,-,  mc    1  — q-\~qe~t —  e~  ** 

[276]    y  = 


q  1  --p 

mc 


L2  6      I  —  q  24      I  —  q  J 

Hier  offenbart  sich  sogleich,   dafs  der  Anfang  des  Hervortretens  genau 

eben    so    geschieht,    wie    wenn    c  nicht  auf  der    statischen  Schwelle    wäre; 

nämlich  proportional  der  Hemmungssumme  =   c,  und  dem  Quadrate  der 

Zeit  (wöbe}'  noch  hier,   und  auch  im  vorigen  §  hinzuzufügen  ist,   dafs  auch 

m  mit  c  oder   6"  wächst  und  abnimmt).     Hingegen  im   Fortgange  zeigt  sich 

I  —  q2      I  —  qn 

eine  Abweichung,  die  von  den  Brüchen  , -,     näher    bestimmt 

I  —q       1  —q 

wird.    Es  ist  q  ein  ächter  Bruch;   sein  Werth  liegt  also  zwischen  o  und   1 ; 

1  —  qn  1  — ■  qn 

für  q  =  o  ist =  1 ,   für  q  =  1    wird  -         —  =  n  q  n  —  l  =  11.    Für 

I  —  q  I  —  q 

diese  letzte  Gränze  wäre   das  allgemeine  Glied  der  eingeklammerten  Reihe 

1 

=    -J_    /" 

2  .  3  . . .  (n  —  2)  .  n  ' 

I  —  q  n-1 
wozu  nämlich   der   Bruch  gehören   würde.     Genau  dasselbe  all- 

I  —  q        ° 

gemeine  Glied   folgt  im   §   82   aus  der   Entwickelung  von    1  —  (1  ~\-  l)e~x; 

also  wären  beyde   Reihen  ganz  dieselben.      Nun  aber  ist  q  niemals   ==•   1, 

I  —  qa         qn  —  1 

sondern  allemal  kleiner;   auch =  =  qn~ »    -L   q  D  — 2  .  .. 

1  —  q        q  —  1 

-j-  q  -f-  1  um  so  kleiner,  je  kleiner  q\  also  ist  in  der  jetzigen  Reihe  jedes 
Glied  nach  dem  ersten,  kleiner  als  das  entsprechende  in  der  Reihe  des 
vorigen  §;   und  unsre   Reihe  überhaupt  convergenter  als  jene. 

Im  Beyspiele  des  §  77  war  a  =  b  =  i,  c  =  — ,  q=o,6i;  und  die 
Zeit  des  Sinkens  von  a  und  b,  das  heilst  hier,  des  Steigens  von  //, 
=  1,54  .  .  .  Auch  m  =  1  —  q.  Hieraus  y  =  0,1  od  .  .  .  Dies  Bcyspiel 
läfst  sich  mit  dem  des  vorigen  §  um  so  eher  vergleichen,  da  die  Zeiten 
des  [277]  Steigens  beynahe  gleich  sind.  Im  Anfange  des  Steigens  ver- 
hält sich  das  Hervortretende  im  vorigen  Beyspiele  zu  dem  im  gegen- 
wärtigen wie  das  dortige  mS  zu  dem  jetzigen  nie,  oder  wie  0,50  1  :  o,  105; 
jenes  beynahe  das  Dreyfache  von  diesem;  nahe  so  findet  sichg  am  Ende 
wieder,  indem  dort  y  =  0,304  ;  hier  y  =  0,106  wird.  Aber  der  Unter- 
schied beyder  Beyspiele  beruht  blafs   darauf,   dafs   dort  ^=1,   hier  t  = 


ö 


60  X.I.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


gesetzt  ist.  —  Im  Verhältnifs  zu  dem  ihm  eröffneten  Spielraum  sehen 
wir  H  hier  fast  gerade  so  weit  hervortreten  wie  dort;  beydemal  nämlich 
um  ein  wenig  über  die  Hälfte  dieses  Raums.  Denn  a  und  b  sinken  im 
jetzigen  Beyspiele  zusammengenommen  beynahe  um  0,2.  Noch  wollen 
wir    wegen    des    Fortgangs    in    der    Zeit    eine  Vergleichung  anstellen.      Die 

erste  Zeit  im  §  82   war  0,246g,  nahe  ==— ;    setzen    wir    diese    in    unsre 

l     q*  l      (7  2 

jetzige  Formel,  so  ist  —  /2  =  — : =  1  -f?=  1,61;    -r-  . /3 

J       °  2  32  '      1  —  q  '  '    6       1  —  q 

nahe  = =  -    — ,  etwas  über  0,004,  die  Gröfse  in 


6.4.16  6.4.10         240 

der  Klammer  wird  demnach  nahe  0,027;  dieses  multiplicirt  mit  —.0,39 

giebt  y  =  0,0053  .  .  . ,    um    so    viel    ist    also  H  hervorgetreten  in  der  Zeit 

==— .     Aber  diese  Zeit  hat  sich  mehr  als  versechsfacht,  wann  t  =  1,54  .  . 

Dem  Quadrate  der  Zeit  gemäfs  sollte  sich  y  bis  zum  3  6  fachen  erhoben 
haben;  so  wäre  es  bis  o, iq  .  .  hervorgetreten.  Allein  für  />i  gewinnen 
die  hohem  Potenzen  von  /,  also  die  folgenden  Glieder  der  Reihe  einen 
zu  bedeutenden  Einflufs.    Endlich  der  verschiedene  Fortgang  in  dem  jetzigen 

und  dem  vorigen  Beyspiele  wird  nirgends  klärer,   als  am  Ende  der  Zeit  — 

Denn  hier  ist  das  jetzige  y  beträchtlich  mehr  als  ein  Drittheil  des  obigen 
(jenes  war  =0,013,  dieses  ist  =0,0053).  Ginge  die  Abweichung  von 
dem  Verhältnifs  3:1  so  fort;  so  würde  ein  solches  Verhältnifs  am  Ende 
nicht  mehr  zu  bemerken  seyn.  Die  Formeln  zeigen,  dafs  Anfangs  das 
jetzige  y  der  Proportionalität  mit  dem  Quadrate  der  Zeit  näher  bleibt  als 
das  obige;  aber  im  vorigen  Beyspiele  trat  sehr  bald  ein  an-[2  78]dres 
Gesetz  des  Fortgangs  ein,  während  in  dem  letzten  das  ganze  Steigen  nach 
einerley  Regel  konnte  vollbracht  werden. 

§   84. 

In  den  beyden  vorhergeh  enden  §§  haben  wir  absichtlich  einen  wich- 
tigen Umstand  aus  den  Augen  gesetzt,  der  die  erhaltenen  Resultate  einer 
Correctur  unterwirft,  den  wir  aber  erst  jetzt  ins  Licht  zu  setzen  unter- 
nehmen können. 

Da  die  ältere,  wieder  ins  Bewufstseyn  tretende  Vorstellung  H,  mit 
der  neu  hinzukommenden  c,  gleichartig  seyn  soll:  so  kann  es  nicht  fehlen, 
dafs,  in  dem  Maafse  wie  ihr  Zusammentreffen  im  Bewufstseyn  es  möglich 
macht,  bevde  mit  einander  verschmelzen.  Hierdurch  entsteht  eine  wachsende 
Totalkraft  gegen  a  und  b,  wodurch  das  Sinken  derselben  beschleunigt  wird. 
Aber  um  desto  mehr  gewinnt  die  Vorstellung  H  an  Frevheit  hervortreten 
zu  können ;  und  wiederum  desto  schneller  sinken  a  und  b,  getrieben  durch 
das  Zunehmen  jener  Totalkraft.  Man  braucht  dieses  nur  auszusprechen, 
um  fühlbar  zu  machen,  welche  Schwierigkeiten  uns  erwarten,  indem  wir 
diese  Verschmelzung  mit  in  die   Rechnung  bringen  wollen. 

Durch  eine  jede  Verschmelzung  entstehn  eigentlich,  aus  der  gegen- 
seitigen Verstärkung  beyder  Verschmelzenden,  zwey  Totalkräfte,  die  zum 
Theil   in   einander  verschränkt  sind;  wie  dieses  in  den  letzten  Capiteln  des 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien  der  Mechanik  des   Geistes.  36 1 

vorigen  Abschnittes  hoffentlich  wird  klar  genug  geworden  seyn.  In  unserm 
gegenwärtigen  Falle  wird  die  ältere  Vorstellung  verstärkt  durch  die  neue, 
und  gleichfalls  die  neue  durch  die  ältere.  Allein  die  erste  dieser  bevden 
Verstärkungen  werden  wir  nicht  in  Rechnung  zu  bringen  haben;  aus  folgen- 
dem Grunde.  H  ist  nach  der  Voraussetzung  unter  der  statischen  Schwelle 
neben  a  und  b\  es  bestimmt  also  für  sich  allein  nichts  an  dem  Zustande 
dieser  bevden  Vorstellungen.  Es  wird  auch  nichts  daran  bestimmen  können, 
so  lange  es  nicht  durch  die  erhaltene  Verstär-[2  79]kung  über  die  statische 
Schwelle  erhoben  wird.  Aber  selbst  wenn  dies  geschieht:  was  kann  da- 
von die  Folge  seyn?  Es  bekommt  nun  einen  statischen  Pünct,  zu  welchem 
es  aufstreben  sollte,  einwirkend  auf  a  und  b,  damit  diese  sinken  müfsten. 
Nun  sind  gegenwärtig  a  und  b  schon  längst  im  Sinken  begriffen  ;*  gedrängt 
durch  c,  haben  sie  dem  H  schon  weitern  Spielraum  gegeben,  als  den  es 
in  seinem  allmähligen  Steigen  benutzte.  Denn  es  erhellt  aus  den  vorigen 
Untersuchungen  offenbar,  dafs  auch  ohne  Rücksicht  auf  die  Verschmelzung 
zwischen  H  und  c,  sich  a  und  b  schneller  bewegen,  als  H  ihnen  nach- 
kommen mag.  Folglich,  was  die  Verstärkung  des  H  durch  c  bewirken 
könnte  bey  a  und  b,  das  ist  schon  geschehn  ehe  es  gefordert  wird;  und 
daher  ist  die  eine  jener  beyden  Totalkräfte  für  jetzt  als  unwirksam  zu 
betrachten. 

Es  bleibt  aber  die  andre;  es  bleibt  die  Verstärkung  des  c  durch  das 
allmählig  mit  ihm  verschmelzende  y ;  und  dadurch  wirkt  jetzt  H  allerdings 
mit  auf  a  und  b.  Dies  ists,  was  wir  bisher  aus  der  Acht  liefsen,  und 
jetzt  in  die  Rechnung  einführen  müssen.  Wie  wird  dieselbe  dadurch  ab- 
geändert werden? 

Die  Gleichung  des  §  82, 

{x—y)dt==dy 
verbleibt  in  ihrer  Kraft ;   auch  ist  noch  ferner  x  eine  Function  von  /,   aber 
nicht  von  /  allein,   sondern  zugleich  von  y  selbst. 

Nämlich  x  ist  =  ma,    dem,   was    von  a  und  b  zusammengenommen 

(aß2-\-ba2)c 

gehemmt  wird.      Nun  war  m  bisher  =  - — . — —- — , ■—  — -r-  nach   $  77. 

{aß2  -\- b a2) c -{-<  u  ß2 

Jetzo  bekommt  c  eine  Verschmelzungshülfe,  deren  Quantum  ursprünglich 
—  y,  die  aber  nur  in  dem  Verhältnifs,  in  welchem  c  nicht  gehemmt  ist, 
sich  mit  c  verbinden  kann.  (Man  sehe  §  63.)  Es  sey  z  =  demjenigen, 
was  am  Ende  der  Zeit  /  von  dem  sinkenden  c  noch  im  Bewufstseyn  gegen- 
wärtig ist,  so'  kommt  für  die  Verschmelzungshülfe  zunächst  [280]  der  Aus- 

yz 
druck  — .     Diese   mufs   dem   c,   wo   es   vorkommt,   addirt  werden.     Demnach 
c 

findet  sich  /         yz\ 


o 


(aß2    _J_3a2)^_j_^J    -\-U2ß2 


Fragen  wir  nun  nach  dem  Werthe   von  z,  so  hängt  wiederum  dieses 
selbst  von  y  ab.     Denn 


,£,->  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


u2ß2 
fi  .  


(^+*«*W,+^V+«^ 


Endlich    ist    auch    a   selbst    einer  Abänderung    zu  unterwerfen;    denn 
nach  §   77   ergiebt  sich   a  aus  der  Gleichung  (c —  qo)dt  =  dn,  und  q  = 

«2/?2  ,   zy 

'- ,    wo   ebenfalls  für  c  zu  setzen  c  A . 

(aß2  Arlane  A-«2ß2  c 

Wir  sehen  hieraus,  dafs  z  =  — - ;  welche  Bemerkung  uns  den  Weg  der 

dt 

Rechnung  bahnen  mufs.   Der  Abkürzung  wegen  sey  aß2Arba2  =  f,  u2ß2  =  g. 

dy 
Die  Gleichung  x  —  y  =  -p-  verwandelt  sich  in  folgende : 

,    dn  dy 

'    dt        "         <// 

c — 1  dt 

Was  die  erste  dieser  Gleichungen  betrifft,  so  fällt  ins  Auge,  das  sie 

von  o  und  —  fast  jranz  auf  gleiche  Weise  bestimmt  wird,  wie  von  y  und 
dt 

dv 
—     Ohne  Zweifel  sind  alle  diese  Gröfsen  Functionen  von  t;    setzen  wir 

dt 

nun   zuvörderst  y  -f  —  =//,  so  wird  y  =  *  — 4  {ffiftdt  -f-  C),    und  aus 

o  —  c  A =  //  oder  aus  a  A =/ /  +  c   wird 

'   dt      J  ~  dt 

n==e  —  t(/et  yt  _j_  C]  d/  j^_  C')  =  e  —  'f&ft dtArcArC'e  —  *; 
daher  a  =  y  —  Ce~ l -\- t  -f-  G"«  — »;    weil   aber  sowohl  a  als  ;-  =  o  für 
/=  o,  so  ist  c  =  C—  C,  daher  endlich  a  =y  +  c  (i  —  e~ l). 

Aus  der  zweyten  Gleichung  wird 

/r  +  ^J'C/'"  +  *'—/*')  =^3  +^2  *"*'* 

In    diese  Gleichung   mufs    der    eben    zuvor   gefundene   Werth    von    V 
substituirt  werden;  nämlich  y  =  a  —  c  (i  —  e      l). 

Man  setze   I  —  «  —  '  =  «,     (welches  für  /  =  o  von  selbst  =  o  wird) 
also  y  =  o  —  cu\    überdies  nehme  man  an:_ 

y  =Au  -f  #u2  +  C«3  Ar  Du*  +  .  .  . 
daher  auch 

fl  _  (j  _|_  f)  w  -f  Bu2  +  Cu3  -\-  Du*  -{-■■■ 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien   der  Mechanik  des   Geistes. 


363 


^7  =  (A  +  c)  -f.  2  5«  +  3  C*  +  4  #«3  + 

und   wesren  d  t  = , 


1 


u 


da        da 
dt        die 


A  -f  c  \-  2  Bit  -f  3  Ca2  -f  4  Z>«3 
A  —  c)  u  —  2  Bti2  —  3  Cui  —  ... 


—  fBc2 


tii 


C 


Bringt  man  nun  alle  Glieder  der  Gleichung  auf  eine  Seite,  und  fängt 
an,   die   Coefficienten  zu  bestimmen  :   so  findet  sich  zuerst 

fa+gC  —  (fc2  +gc)  [A  +  c)  =  o, 
oder   c — (A-\-  c)  =  o,    das  ist,    A  =  o.     Dies  erleichtert  die  Rechnung. 
Es  findet  sich  nämlich  weiter,  wenn  fc2  -J-  gc  =  tt, 
0  = — gc2  \u — gcB  \u2  — gcC 

-^(2B-c)j      _^(3C—  2  B)  -n{AD- 

+  fc2B  \       +  fcB{2  B—c) 

+  fc2C 

—  fB(AtBc-2C2) 

—  fCc2 

Die  fernere  Rechnung  mag  sogleich  an  das  Beyspiel  des  %  77  ge- 
knüpft werden.  In  demselben  waren  a  =  b  =  1,  [282]  c  =  — ■  Hieraus 
B  =  0,097b;  C=  0,0453;  D  =  0,033;  E  =  0,0225;  f  ungefähr 
=  0,017  und  6r  =  0,014,  Da  jedoch  diese  Coefficienten  nicht  genug 
convergiren,   so   sey 


100  v 


1 

"5 

z 


—  =  9>76  +  4,53  «  +  3.3  "2  +  2,25  «3  -f-  1,7  «4  -}_  .  .  . 

und  man  suche   die  Coefficienten  der  Reihe 

2  =  Ä  -f  .ff'«  -f  CV  +... 
so  findet  sich 

z   =  0,1024  —  0,0475  u  —  °>OI25  "2   —  0,0017  iß  —  0,002  «+, 

n2 

und  v  =  — 7. 

100  z 

Die  Resultate  dieser  Rechnung,  zusammengestellt  mit  denen  des  vorig. 
§,  welche  das  gleiche  Beyspiel  ohne  Rücksicht  auf  die  Verschmelzung  dar- 
bietet,  sind  nun   folgende : 


nach  §  83 

v  =  0,0053 

y  =  0,01893 
/=  1,  y  =  0,0584 

'=1,54;    .7  =  0,106 


für  /  =  — , 
4 

„     /  =  ", 


verbessert  wegen  der  Verschmelzung 
y  =  0,0053 

v  =  0,01897 

y  =  0,05999 

für  /=  1,52  ;     y  =  0,1088 


Es  ist  von  selbst  offenbar,  dafs  im  Anfange  die  Verschmelzung  der 
wieder  hervortretenden  Vorstellung  mit  der  eben  jetzt  gegebenen  keinen 
Einllufs  haben  könne.  Dieses  zeigt  sich  in  den  Formeln  dadurch,  dafs, 
so  wie  oben  y  nur  vom  Quadrate  und  den  höhern  Potenzen  der  Zeit  ab- 
hängend gefunden  war,  auf  gleiche  Weise  auch  hier  die  Reihe  für  y  mit 
dem    Gliede    Bu2     anhebt,     indem    A  =  o   ist.      (Nämlich   «=I  — t 


oßi  XI.  Psychologie  als  "Wissenschaft. 


=  / —  t2  -4-  . .  .)      Bis  zu  /  =  —  sind  nun   die  Resultate  bevder  Rech- 

2  '  '  2  .  J 

nungen  beynahe  nicht  zu  unterscheiden  (auch  die  Zahl  0,01897  ist  in 
der  letzten  Ziffer  nicht  ganz  sicher,  weil  die  Coefficienten  hier  nicht 
scharf  genug  berechnet  sind).  Weiterhin  zeigt  sich  die  Wirkung  der  Ver- 
schmelzung zwar  merklich,  doch,  in  diesem  Beyspiele  wenigstens,  fast  un- 
bedeutend gering.  Weder  V  erhebt  sich  beträchtlich  mehr,  noch  auch 
die  Zeit  ist  um  vieles  verkürzt.  Wegen  des  letzten  Puncts  ist  zu  be- 
merken, dafs  nach  der  Formel  a=y  -\-  c  (1  —  e  — *),  [283]  für  t  =  1,52  auch 
CT  =  0,4994...  also  ganz  nahe  =-^-==£  wird;  das  heifst,  dafs  hier 
das  Ereignifs  aufhört,  indem  nun  der  Hemmung  Genüge  geschehn  ist, 
und  a  und  b  wieder  anfangen  aufzustreben.  Die  Dauer  des  Ereignisses 
zeigt  sich  jetzo  kürzer,  weil  die  Verstärkung  des  c  durch  das  ihm  ver- 
schmelzende y  mehr  Spannung  in  die  entgegengesetzten  Kräfte  bringt, 
wodurch  die  Hemmung  beschleunigt,  so  wie  das  Leiden  von  a  und  b  um 
ein  geringes  vermehrt,  und  das  von  c  um  ein  geringes  vermindert  wird. 
Um  etwas  beträchtlicher  mag  die  Wirkung  der  Verschmelzung  für  ein 
gröfseres  c  ausfallen,  welches  a  und  b  mehr  niederdrückt,  und  dadurch 
die   Verein  icuner    der    altern    und  der  neuen   Vorstellung  befördert.      Allein 


da  die  Rechnungen  äufsert  beschwerlich  werden  würden,  wenn  man  sie 
allen  denen,  in  dem  vorigen  Capitel  nachgewiesenen  Abänderungen  in  dem 
V erlauf  der  Hemmung  anpassen  wollte,  so  mufs  an  diesem  Orte  die  ge- 
gebene Probe  genügen  ;  aus  der  sich  schliefsen  läfst,  dafs  man  eine  leid- 
liche Uebersicht  über  den  Gang  der  wiedererweckten  Vorstellung  auch 
ohne  Rücksicht  auf  die  Verschmelzung,  schon  durch  das  Verfahren  der 
§$82   und  83,  erlangen  könne. 

§  85. 

Bevor  wir  die  weiteren  Folgen  des  bisher  betrachteten  Ereignisses 
überlegen,  ist  es  dienlich  zur  Vorbereitung,  einer  an  sich  geringfügigen 
Unrichtigkeit  zu  erwähnen,  welche  unter  gewissen  Umständen  sich  in  die 
eben  geendigte  Berechnung  einschleichen  könnte. 

1/  g 

Die  Verschmelzungshülfe    — -  war  der  Gegenstand  dieser  Berechnung; 

in  so  fem  sie  die  Wirkung  der  Vorstellung  c  vermehrte.  Da  nun  y  zu- 
nimmt, während  2,  das  im  Bewufstseyn  übrige  von  dem  sinkenden  c,  sich 
fortdauernd  vermindert,  so  könnte  für  das  Productj'2  ein  Maximum  ent- 
stehn.  Alsdann  wäre  dieses  Maximum  die,  ferner  nicht  mehr  veränder- 
liche Verschmelzungshülfe;    die  Unrichtigkeit   der   vorstehenden    Rechnung 

aber  bestünde  [284]  darin,  für  die  ganze  Dauer  des  Ereignisses  die  Gröfse  — 

als  Verschmelzungshülfe  zu  behandeln,  welches  sie  doch  nur  bis  zur  Er- 
reichung des   Maximum  hätte   darstellen  können. 

Bedenkt  man,  wie  langsam  Anfangs  y  zunimmt,  wie  unwahrscheinlich 
es  daher  ist,  dals  das  Maximum  bald  eintrete;  wie  kurz  die  Zeit,  auf 
welche  der  Irrthum  seinen  Einflufs  äufsern  könnte,  endlich  wie  gering  die 
Abweichung  der  Gröfsen  selbst  ausfallen  wurde:    so _ wird  man  es  schwer- 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  ?6^ 


ö 


lieh  hier  für  zweckmäfsig  halten,   diesen  Punct  einer  schärfern  Bestimmung 
zu  unterwerfen.   — 

Eine  zweite  Bemerkung  über  die  nämliche  Verschmelzungshülfe  be- 
trifft nun  schon  die  Folgen  des  HerVortretens  einer  altern  Vorstellung, 
während  die  gleichartige  neue  gegeben  wurde. 

Man  hat  gesehen,  dafs  die  hervortretende  bei  weitem  nicht  den  ganzen, 
ihr  frey  gegebenen  Raum,  während  des  Sinkens  von  a  und  b,  wirklich 
ausfüllt.  Was  wird  geschehen ,  indem  nun  a  und  b  wiederum  beginnen 
zu  steigen?  Der  Punct,  bis  zu  welchem  y  steigen  konnte,  bewegt  sich 
rückwärts ;  und  zwar  mit  einer  Geschwindigkeit,  die  gleich  Anfangs  am 
gröfsten  ist,  gemäfs  dem  schon  bekannten  Bewegungsgesetze  von  a  und  b\ 
es  wird  daher  zwar/  noch  fortfahren,  sich  um  etwas  weniges  zu  erheben, 
bis  es  jenem  ihm  vorgehaltenen  Zielpuncte  gleichsam  begegnet ;  allein  sein 
Aufstreben  erleidet  gleich  Anfangs  eine  plötzliche  Verminderung,  und  der 
schnell  verminderte  Zuwachs  mufs  sehr  bald  in  eine  rückgängige  Bewegung 
übergehen.  —  Hiezu  kommt  noch  ein  kleiner  Verlust  für  y,  in  so  fern 
es  als  zum  Theil  verschmolzen  mit  c,  auch  mit  diesem  zugleich  zum 
Sinken  genüthigt  wird. 

Aber  die  wichtigsten  Folgen  des  Hervortretens  von  y  zeigen  sich 
jetzo,  indem  es  wiederum  sinken  soll.  Da  nach  §77  sich  a  und  b  zwar 
zu  ihrem  statischen  Puncte  erheben,  aber  mit  abnehmender  Geschwindig- 
keit, so  dafs  [285]  sie  diesen  Punct  nie  völlig  erreichen:  so  würde  schon 
deshalb  y  sowohl  als  c  nie  völlig  durch  a  und  b  aus  dem  Bewufstseyn 
verdrängt  werden;  vielmehr  könnten  beyde  mit  etwa  hinzutretenden  neuen 
Vorstellungen,  so  fern  ihnen  diese  nicht  entgegengesetzt  wären,  sich  com- 
pliciren,  und  dadurch  Schutz  finden  gegen  die  Nothwendigkeit  zur  Schwelle 
zu  sinken.  —  Allein  durch  die  Verschmelzung  von  y  und  c  sind  zwey 
Totalkräfte  gebildet  worden.  Wir  haben  bis  jetzt  aus  dem,  im  Anfange 
des  §  84  angegebenem  Grunde  nur  diejenige  Verschmelzungshülfe  in  Be- 
tracht gezogen,  welche  c  erlangt.  Die  Wirkung  derselben  ward  gering 
befunden;  und  sie  wird  selten  viel  bedeutender  werden,  weil  die  Hülfe 
sich  nur  vergröfsert,  wenn  c  selbst  schon  gröfser  ist;  so  dafs  dadurch  ver- 
hältnifsmäfsig  nicht  viel  gewonnen  wird.  Nur  wenn  c  gegen  a  und  b  sehr 
nahe  den  Werth  hat,  der  es  gerade  zur  statischen  Schwelle  bestimmt, 
dann  wird  auch  eine  geringe  Verschmelzungshülfe  bedeutend,  indem  da- 
durch c  einen  statischen  Punkt  im  Bewufstsein  bekommt.  Dieser  Um- 
stand nun  ist  in  Hinsicht  des  y  immer  von  Wichtigkeit.  Wir  haben  an- 
genommen, y  sey  ein  Theil  der  Vorstellung  H,  deren  Gröfse  aber  während 
des  Steigens  von  y  nicht  in  Betracht  komme  (§§  81,  82).  Es  ist  uns 
erlaubt,  vorauszusetzen,  H  sey  zwar  unter  der  statischen  Schwelle  neben 
a    und    b,    aber    nur    um    ein    weniges;    so    wird    die    Verschmelzungshülfe 

— ,    die   es  erlangt,    es  jetzo    über    die    statische  Schwelle    erheben 

können.     Oder,  ist  H  für  diesen  Erfolg  zu  klein:  so  wächst  dagegen  der 

Werth   des   Ausdrucks  '      ,    das  heilst,   dem   kleineren    //  wird    eine  gröfsere 

Hülfe   zu   Theil,    durch   welche   es   dem  Werthe   beträchtlich    näher  gebracht 


366  XI.  Psychologie  als  "Wissenschaft. 


wird,  den  es  haben  müfste,  um  über  der  Schwelle  hervorzuragen.  Ge- 
winnt also  auch  die  wiedererweckte  Vorstellung  nicht  so  viel,  dafs  sie  sich 
im  Bewufstseyn  halten  könnte,  so  gewinnt  sie  doch  bedeutend  an  der 
Möglichkeit,  dahin  [286]  gebfacht  zu  werden.  Angenommen,  es 
komme  noch  eine  dritte,  dem  y  und  dem  c  gleichartige  Vorstellung  hinzu, 
oder  wie  wir  im  gemeinen  Leben  sagen  würden,  es  werde  die  nämliche 
Wahrnehmung  mehrmals,  kurz  hinter  einander  wiederholt  (kurz  hinter 
einander,  damit  nicht  anstatt  a  und  b  andre  widerstrebende  Vorstellungen 
eintreten) :  so  giebt  die  dritte  Vorstellung  eine  neue  Verschmelzungshülfe 
für  y,  die,  nun  wenigstens,  leicht  hinreichen  kann,  um  dem  H  wieder  eine 
Stelle  im  Bewufstseyn  zu  versichern. 

Auf  diese  Weise  werden   häufig   schwächere  Vorstellungen 

ergänzt,    ältere    angefrischt.      Nur   gar    zu    schwach    dürfen    sie    nicht 

seyn.      Wenn  H  so  klein  ist,  dafs  es  von  ma  bald  übertroffen  wird  (man 

V  z 
sehe  §82),    alsdann   vermindern  sich  in   dem  Ausdrucke' — ,  y  und  H  zu- 

gleich;  und  die  ganz  schwache  Vorstellung  erhält  auch  nur  eine  unbedeu- 
tende Hülfe.  Während  daher  solche  Vorstellungen,  die  ursprünglich  eine 
gewisse  Stärke  besafsen,  immer  fortleben,  weil  sie  immer  neue  Nahrung 
durch  jede  Wiedererweckung  bekommen:  verschwinden  andre,  die  nicht 
so  viel  Kraft  haben,  um  sich  die  Nahrung  zuzueignen;  sie  verschwinden, 
obgleich  sie  nicht  ausgetilgt  werden;  das  heifst,  sie  dauern  fort  als  Stre- 
bungen im  Grunde  der  Seele,  von  denen  aber  im  Bewufstseyn  keine 
Wirkung  erscheint. 

.Merkwürdig  ist,  dafs  die  wiederholten  Wahrnehmungen  eines  und  des- 
selben Objects  keinesweges  zu  einer  einzigen  Vorstellung  von  dem  Einen 
Objecte  zusammenfliefsen.  Wir  haben  nicht,  wie  man  im  gemeinen  Leben 
wohl  glaubt,  von  jedem  Dinge  nur  Eine  Vorstellung,  sondern  der  Vor- 
stellungen bleiben  so  viele,  als  der  Wahrnehmungen.  Denn  nur  ihrem 
kleineren  Theile  nach  verschmelzen  die  frühern  Wahrnehmungen  mit  den 
späteren;  und  nur  das  Verschmolzene  kann  für  eine  einzige,  aus 
den  mehrern  Wahrnehmungen  entsprungene  Vorstellung  gehalten 
werden.   — 

[287]  Noch  mit  einem  Worte  mufs  hier  der  minderen  Gegensätze 
und  der  Complicationen  Erwähnung  geschehn.  —  Falls  c,  und  das  ihm 
gleichartige  H,  nicht  vollen  Gegensatz  gegen  a  und  b  bilden,  so  wird  durch 
c  nur  ein  geringeres  Sinken  von  a  und  b  bewirkt;  also  auch  nur  ein  ge- 
ringeres Hervortreten  von  H  oder  von  y.  Es  scheint  also,  dafs  die,  unsern 
jetzigen  Vorstellungen  näher  liegenden,  schwerer  wieder  erweckt  werden, 
als  die  entferntem.  Dagegen  bedenke  man,  dafs  dergleichen  näher  liegende 
Vorstellungen  bey  weitem  schwächer  seyn  müssen,  wofern  sie  sich  der 
Voraussetzung  gemäfs  neben  a  und  b  auf  der  statischen  Schwelle  befinden 
sollen. 

In  Hinsicht  der  Complicationen  werde  angenommen,  es  seyen  anstatt 
a  und  b  ein  paar  Complexionen  A  und  B  im  Bewufstseyn  vorhanden; 
das  hinzukommende  c,  eine  einfache  Vorstellung,  widerstreite  nur  Einem 
Elemente    von    jeder  Complexion ;    H  und    folglich  y   seyen   dagegen    aus 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  3 6? 


einem  andern  Continuum  von  Vorstellungen;  und  mit  den  andern  Elementen 
jener  Complexionen  im  Widerstreite.  Weil  A  und  B  sinken  müssen,  in- 
dem c  eintritt,  so  entsteht  für  H  ein  ähnlicher  Spielraum  wie  oben,  und 
indem  es  sich  erhebt,  eine  Complication  mit  c.  Dieses  Ereignifs  würde 
also  dem  zuvor  betrachteten  völlig  ähnlich  seyn,  pafste  nicht  dasselbe  auf 
gleiche  Weise  auf  alle  Vorstellungen  des  gleichen  Continuum  wozu  H  ge- 
hört. Also,  zwar  irgend  welche  frühere  Vorstellungen  dieser  Reihe  müssen 
wieder  erweckt  werden,  falls  sie  nicht  Hindernisse  im  Bewufstseyn  antreffen; 
welche  es  aber  seyn  werden,  hängt  von  den  gegenseitigen  Verhältnissen 
ihrer  Stärke  ab.  Immer  werden  sie  zufälligen  Gedanken  und  Einfällen 
gleichen,  indem  sie  mit  der  erweckenden  weder  Aehnlichkeit  noch  Zu- 
sammenhang haben.  Wo  schon  Aufmerksamkeit  vermöge  gewisser  herr- 
schender Vorstellungen  gebildet  ist,  da  kommen  dergleichen  Einfälle  nicht 
weit;  und  machen  sich  kaum  bemerklich,  weil  sie  im  Entstehen  erdrückt 
werden.   — 

Endlich  noch  eine  Erinnerung  an  die  mechanischen  [288]  Schwellen. 
Wir  haben  am  Schlüsse  des  vorhergehenden  Capitels  bemerkt,  dafs  während 
eines  fortdauernden  Flusses  neu  eintretender  Vorstellungen,  die  älteren 
eine  Zeitlang  auf  der  mechanischen  Schwelle  verweilen  können.  Wird 
eine  solche  wieder  erweckt  durch  eine  ihr  gleichartige  neue,  so  mufs  ihr 
Hervortreten  eine  viel  gröfsere  Lebhaftigkeit  zeigen,  als  beym  Hervortreten 
von  der  statischen  Schwelle  vorkommen  mag.  Eigentlich  aber  ist  das 
Phänomen  von  ganz  anderer  Art  als  das  vorige.  Dort  wurde  eine  Vor- 
stellung auf  kurze  Zeit  hervorgerufen,  die  wieder  sinken  mufste;  hier  wird 
eine  Vorstellung  wieder  hergestellt,  die  nur  auf  eine  Zeitlang  aus  dem 
Bewufstseyn  verdrängt  war.  Dort,  welches«  sehr  merkwürdig  ist,  erschien 
die  gerufene  Vorstellung  sogleich,  aber  schwach,  und  mit  allmählig  an- 
wachsender Geschwindigkeit;  hier  kann  sie  nicht  sogleich  erscheinen; 
kommt  sie  aber,  so  geschieht  es  wie  mit  einem  Stofse,  dessen  Geschwindig- 
keit jedoch  nicht  anhält,  sondern  bald  abnimmt.  Dieses  einzusehn,  darf 
man  nur  die  bekannten  Bedingungen  des  Phänomens  erwägen.  Die  auf 
der  mechanischen  Schwelle  verweilende  Vorstellung  kann  sich  nicht  eher 
erheben,  als  bis  eine  gewisse  Hemmungssumme  gesunken  ist;  sobald 
dieses  geschehen,  steigt  sie  von  selbst  mit  einer  Geschwindigkeit,  die 
Anfangs  am  ffröfsten  ist  und  sich  bald  vermindert.  Durch  das  Hinzu- 
kommen  der  gleichartigen  neuen  Vorstellung  wird  jene  eigentlich  nicht 
geweckt,  es  wird  nur  das  Sinken  derer  beschleunigt,  welche  ihrem  Hervor- 
treten hinderlich  waren.  Also  nicht  eher,  als  bis  dieses  Sinken  derjenigen 
Hemmungssumme  genügt,  um  derentwillen  jene  Vorstellung  auf  der 
mechanischen  Schwelle  verweilt,  kann  die  letztere  hervortreten;  die  Ver- 
weilung dauert  noch  einige,  wenn  gleich  sehr  kleine  und  vielleicht  un- 
merkliche Zeit;  dann  springt  die  nun  befreyte  Vorstellung  hervor,  und 
verschmilzt  sehr  schnell  in  einem  bedeutenden  Grade  mit  der  neuen 
Wahrnehmung. 

Anmerkung.  Auf  den  schwierigsten  Gegenstand  dieses  Capitels, 
die  Untersuchung  des  §  84,  habe  ich  die  [289]  Rechnung  mit  Reihen, 
die  nach  Potenzen  mit  irrationalen  Exponenten  fortschreiten,  angewendet, 
welche    man    in    meiner  Abhandlung    dt  attentionis  viensura    finden    kann; 


'6 


->68  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

\J 

bey  dieser  Methode  lassen  sich  durch  Zusammenziehung  mehrerer  Glieder 
in  Eins,  noch  Vortheile  anbringen,  die  ein  Mathematiker  leicht  finden 
wird.  Allein  ich  habe  kein  auffallendes  Resultat  erhalten,  obgleich  ich  die 
Voraussetzung  dahin  abänderte,  dafs  statt  einer  einzigen,  viele  gleichartige 
Vorstellungen  zugleich  reproducirt  werden.  Die  Gegenstände  dieses,  und 
der  beyden  folgenden  Capitel  müssen  in  besondern  Monographien  be- 
arbeitet werden.  Hier  will  ich  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  nicht 
ermüden;  sondern  sie  sparen  für  das  folgende  Capitel,  worauf  aller  Fleifs 
mufs  gewendet  werden,  wenn  man  sich  den  Kern  dieses  ganzen  Buchs 
.zueignen  will.  Die  feinern  Rechenkünste  werden  von  selbst  ihren  Platz 
einnehmen,  wenn   man  erst  begriffen  hat,  wozu  sie  dienen  sollen. 


Viertes  Capitel. 

Von  der  mittelbaren  Wiedererweckung. 

§  86. 

Eine  Untersuchung  von  grofser  Wichtigkeit  steht  bevor;  die.  nicht 
blofs  dasjenige  unter  sich  befafst,  was  gewöhnlich  mit  dem  Namen  der 
Association  belegt  wird,  sondern  die  mit  ihren  Folgen  tief  in  die,  durch 
falsche  Metaphysik  verdunkelten,  Fragen  von  den  Formen  der  Er- 
fahrung hineingreift.  — 

Sey  es  nun,  dafs  eine  Vorstellung  von  der  mechanischen  Schwelle 
sich  von  selbst  erhebt,  oder  dafs  ihr  vergönnt  ist,  von  der  statischen 
Schwelle  emporzukommen,  indem  eine  hinzutretende  ihr  Freyheit  schafft; 
im[2go]mer  wird  sie  dasjenige  mitzubringen  trachten,  was  mit  ihr  durch 
irgend  welche  Verschmelzungen  und  Complicationen  verbunden  ist.  Dieses 
Verschmolzene  oder  Complicirte  wird  also  mittelbar  wiedererweckt;  und 
hier  ist  der  Ort,  auch  dieses  Phänomen  zu  untersuchen,  da  es  gewöhn- 
lich die   zuvor  betrachteten  begleiten  wird. 

Ein  ganz  einfaches  Problem  soll  zur  Vorbereitung  dienen,  das  zwar 
in  der  Wirklichkeit  niemals  so  frey  von  Nebenbestimmungen  vorkommen 
kann,   das   aber  die   Hauptpuncte  sogleich  ins   Licht  setzen  wird. 

Von  zweyen  Vorstellungen  Pund  71  seyen  verschmolzen  oder  compli- 
cirt  die  Reste  r  und  o;  beyde  Vorstellungen  mögen  darnach  auf  irgend 
eine  Weise  zur  Schwelle  gesunken  seyn.  Auf  einmal  verschwinde  für  P 
alles  Hindemifs:  so  richtet  sich  P  ins  Bewufstseyn  auf  nach  dem  im  §  Si 
angegebenen  Gesetze.  Aber  TL  empfängt  von  P  eine  Verschmelzungs- 
oder Complications -Hülfe  =    ^  (§§  63.   6g).      Diese  Hülfe  ist    eigentlich 

ein  Bestreben  der  Vorstellung  P  (oder  der  Seele,  in  so  fern  sie  das  Vor- 
stellende von  P  ist),  welches  Streben  dahin  gerichtet  ist,  U  wieder  auf 
den  Verschmelzungs-  oder  Complicationspunct  zu  erheben,  das  heifst,  von 
II  wiederum  das  Quantum  o  ins  Bewufstseyn  zu  bringen.  So  lange  dies 
Ziel  nicht  erreicht  ist,   dauert  das  nämliche  Streben   fort.      Die   eigentliche 

Stinke   desselben   ist  =  r;   aber  nur  in  dem   Grade   —     kann     es     wirken 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  ?>£>Q 

auf  77,  weil  es  nur  in  diesem  Grade  von  dieser  Vorstellung  ist  angeeignet 
worden.  Ueberdas  nimmt  das  Bestreben  ab  in  dem  Grade  wie  ihm  Ge- 
nüge geschieht;  worüber  die  Betrachtungen  der  §§  74  und  81  zu  wieder- 
hohlen sind. 

Wäre  es  nun  möglich,  dafs  die  Vorstellung  P  für  sich  allein  wirkte, 
nicht  gehindert  und  nicht  begünstigt  von  andern  Kräften:  wie  würde  das 
aus  dieser  Wirksamkeit  entspringende  Ereignifs  beschaffen  seyn? 

Erstlich,  wie  schon  erwähnt,  P  würde  sich  selbst  ins  [291]  Bewufst- 
seyn  erheben,  nach  einem  Gesetze,  welches,  wenn  p  das  wieder  Hervor- 
getretene  von    P  am    Ende    der    Zeit    /   bedeutet,    in    folgender    Gleichung 

P 

liegt:    (P  — p)  dl  =  dp;    oder  /  =   log.   — P  (1  —  e  —  l)  =  p. 

rg 

Aber    zweytens:    die    Hülfe  —    würde    zugleich    auf   77,    welches    wir 

hier  als  völlig  träge  und  passiv  ansehn,  dergestalt  einwirken,  dafs,  wenn 
das  von  II  hervorgetretene  ====  <o,  folglich  das  bis  zum  Verschmelzungs- 
puncte  noch  hervorzurufende  =  g  —  10,  alsdann  diese  Gleichung  gelten 
müfste : 


Die  Brüche   -^-    und  — sind  hier  blofse  Zahlen,  womit  die  Kraft  r 

IL  (j 

multiplicirt  wird.      Es   ergiebt  sich  nun 

(  __  rA 

">  =  Q  \ l  —  e  '     nj- 

Dieses  Resultat  zeigt  uns  vollkommen  klar,  von  10  wie  (),  ;-,  /,  und 
77  abhängt. 

Erstlich:  das  von  77  am  Ende  der  Zeit  /  Hervorgetretene,  nämlich 
(o,  verhält  sich  gerade  wie  dasjenige  Quantum  von  77,  welches  mit  P  ver- 
schmolzen war;  nämlich  wie  q. 

Zweytens:  je  gröfser  der  mit  verschmolzene  Theil  von  P,  um  so  ge- 
schwinder nähert  sich   das   Hervorgetretene   seiner  Gränze  =  p. 

Drittens:  je  gröfser  .11  selbst,  um  so  langsamer  wird  es  durch  die 
Hülfe  gehoben. 

Viertens:  die  Wirkung  der  Hülfe  endigt  nie,  obgleich  sie  ihrem  Ziele 
bald  sehr  nahe  kommen  kann. 

Wir  wollen  jetzt  die  Geschwindigkeiten  vergleichen,  jene,   mit  der  sich 

P  selbst  erhebt,   und  diese,  womit  die  Hülfe  wirkt.     Die  Geschwindigkeiten 

sind  bekanntlich   in  der  Psychologie  allemal   gleich  den  Kräften,   als  deren 

.         dp  dm 

[292]   unmittelbarer  Abdruck;    die    bevden  Kräfte    aber    sind    ■—    und         . 

dl  dt 

Nun  ist 

'  **    =   Pe    -  S   und 
dl 

1     dm  rg  ^ 

di  =  n    e     n 

Hbrbart's  Wekkk.     V.  24 


2  7o  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Man  kann  bevdes  gleich  setzen,  so  findet  sich 

n  pn 

t   =   _ log  .  —    . 

IL  —   r  j-q 

Nämlich  um  diesen  Zeitpunct  hat  die  Anfangs  weit  gröfsere  Ge- 
schwindigkeit, mit  der  P  sich  selbst  erhebt,  so  weit  nachgelassen,  dafs  die 
geringere,  aber  gleichförmiger  anhaltende,  womit  U  gehoben  wird,  jene  ein- 
hohlen, und  übertreffen  kann.  Aber  dieser  Zeitpunct  rückt  unendlich  weit 
hinaus,   falls   II  =  r,  und  er  findet  gar  nicht  statt,   wofern  r  >  IL. 

Es  sey  P=  H  =  i ;  r  ■==  q  =  — ;  so  kommt  für  die  Zeit,  da  beyde 
Geschwindigkeiten  gleich  werden,  /  =  2,77  .  .  .  Um  diese  Zeit  ist  p=~-, 
und  m  =  ~  beynahe.  Aber  die  Gränze,  oder  das  Ziel  für  p  ist  =  1 ,  und 
für  (1)  ist  es  =  — ;   also  fehlt  dort  noch  -^-,  hier  noch  4" ',  daher  die  Hülfe 

2    '  16  8    ' 

nun  mehr  eilen  mufs,  zum  Ziele  zu  gelangen;  auch  wird  ihre  Geschwindig- 
keit zuletzt  unendlich  gröfser,  als  die  mit  ihr  verglichene.   — 

Um  nun  die  Untersuchung  fruchtbar  zu  machen,  nehmen  wir  an,  es 
seyen  mit  einer  und  derselben  Vorstellung  P  viele  andre  verschmolzen  und 
complicirt;  von  verschiedener  Stärke;  auch  seyen  theils  mit  dem  gleichen  Quan- 
tum von  P  verschiedene  Quanta  jener  andern  Vorstellungen,  theils  mit  verschie- 
denen Theilen  von  P  einerley  oder  verschiedene  Theile  der  übrigen  verbunden. 

Sind  die  mit  P  Verbundenen  von  verschiedener  Stärke,  so  bekommt 
.77  verschiedene  Werthe.  Hier  mufs  man  sich  vor  einem  möglichen  Mis- 
verständnis  hüten.  Es  würde  eine  falsche  Auslegung  der  obigen  Sätze  seyn, 
[2 93] wenn  man  glauben  wollte,  gröfsere  H  würden  überhaupt  weniger  und 
schwerer  durch  die  Hülfen  gehoben,  als  kleinere.  Freylich  werden  sie  das, 
wenn  ihr  Rest,  der  mit  P  verschmolzen  ist,  gleich  geringfügig  ausfällt,  wie 
der  von  schwächeren  Vorstellungen.  Aber  es  ist  längst  gezeigt,  dafs  die 
Reste  stärkerer  Vorstellungen  in  einem  weit  gröfseren  Verhältnisse  die  Reste 
der  schwächeren  zu  übertreffen  pflegen;  als  in  welchem  Verhältnisse  die  Vor- 
stellungen selbst  verschieden  sind.  Daher  wird  unter  gleichen  Umständen 
ein  gröfseres  H  auch  ein  viel  beträchtlicheres  q  bey  sich  führen.  Und  so 
mufs  der  dritte  der  obigen  vier  Sätze  vielmehr  so  gedeutet  werden:  ein 
gröfseres  II  wird  durch  die  Hülfe  gleichförmiger  und  anhaltender 
gehoben;  eine  schwache  Vorstellung  hingegen  eilt  mehr,  und 
ersetzt  für  eine  kurze  Zeit  durch  ihre  Geschwindigkeit  den 
Mangel  der  Stärke. 

Damit  r  verschiedene  Werthe  annehmen  möge,  oder,  damit  eine  und 
dieselbe  Vorstellung  P  sich  in  verschiedenem  Grade  mit  verschiedenen  ver- 
bunden  finde :  kann  man  voraussetzen,  es  sey  P  allmählig  gesunken,  und 
während  der  Zeit  des  Sinkens  mit  mehreren  Vorstellungen,  die  nach  ein- 
ander ins  Bewufstseyn  traten,  verschmolzen.  Es  mögen  aber  auch  die 
verschiedenen  Grade  der  Hemmung  und  der  Stärke  bey  gleichzeitigen 
Vorstellungen  den  erwähnten  Unterschied  hervorgebracht  haben.  Immer 
wird  dieses  die  Folge  seyn:  Jede  der  mit  verschiedenen  Quantis 
von  P  Verbundenen,  hat  ihre  eigne  Geschwindigkeit;  das 
gröfsere  Quantum  ergiebt  die  gröfsere,  aber  auch  schneller  ab- 
nehmende Geschwindigkeit. 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  -j  7  t 

Unmittelbar  aus  der  angegebenen  Differentialgleichuno-  ist 

rt  —  IL  log.- **— 

Es  können  also  11,  p,  und  tu  unverändert  bleiben,  [294]  alsdann 
stehen    r  und  t  unter  einander  im  umgekehrten  Verhältnifs. 

Bey spiel:  Es  habe,  wie  vorhin,  die  Vorstellung  P  eine  Stärke  =  i- 
ein  Theil  von  ihr,  r  =~  sey  verschmolzen  mit  q  —  - ,    einem  Theile  von 

II==i;  aber  ein  andrer  Theil  von  P,  r  =-!,  sey  verschmolzen  mit  0'=— , 

4  t  *         2 

einem    Theile    von    einer    andern    Vorstellung   TT  =  1  ;    man    sucht  m  für 

r  =~  und  t—i,  desgleichen  10'   für  r' ==—  und  t=2.     Es  findet  sich 

(o  =  «>'  =  0,196...    In  dem  Zeitpuncte  aber,    da  w'  diesen  Werth  erlangt, 

oder  für/ =  2,  und  r  =  y,   ist  w=  0,316... 

Mit  r'  =  T  sey  überdies  noch  verschmolzen  q"  =  3,  ein  Theil  von 
JT"  =  4 ;  so  wird  für  /  =  1 ,  «)"  =  o, 1 8 1 8 . . .  Aber  für  t  =  2  wird  (0 "  = 
0,352...  Vergleicht  man  w  mit  w',  so  sieht  man,  dafs  beyde  Gröfsen  in 
ihrem  Laufe  einander  irgendwo  durchkreuzen.  Denn  für  /  =  r  ist  w  >  (»", 
aber  für  t  =  2    findet  sich   w  <  (»". 

Es  kann  also  eine  und  die  nämliche  Vorstellung  durch 
zwey  verschiedene  Hülfen  auf  zwey  andre  Vorstellungen  der- 
gestalt wirken,  dafs  von  diesen  eine,  schneller  im  Bewufstseyn 
hervortretende,  nach  einiger  Zeit  zurückbleibt  hinter  der 
andern,  die  Anfangs  langsamer  hervorgehoben  wurde. 

§    87. 

Die  hervorgehobene  Vorstellung  wurde  bisher  als  gänzlich  passiv  be- 
trachtet. Diese  Ansicht  ist  immer  dann  gültig,  wann  sich  die  erwähnte 
Vorstellung  auf  ihrem  statischen  Puncte,  also  auch,  wann  sie  sich  auf  der 
statischen  Schwelle  befindet.  Denn  die  Kraft,  womit  sie  von  diesem 
Puncte  sich  selbst  höher  heben  möchte,  wird  völlig  aufgewogen  durch  die 
entgegenstehenden  Kräfte,  mit  denen  sie  sich  ins  Gleichgewicht  gesetzt  hat 
Welches  Widerstreben  aber  die  Hülfe  zu  überwinden  habe,  davon  bald 
ein  Mehreres. 

Setzen  wir  hingegen,  die  hervorgehobene  Vorstellung  werde  zugleich 
mit  der  hebenden  von  aller  Hemmung,  [295]  oder  auch  nur  von  einem 
Theile  derselben  befreyt;  sie  steige  daher  mit  jener  zugleich,  aber  nicht 
blofs  durch  ihre  Hülfe,  sondern  auch  durch  eigene  Kraft,  von  der  statischen 
Schwelle  empor :  so  kann  man  sehr  leicht  zu  einem  Irrthume  verleitet 
werden,  der  mich  wenigstens  lange  geblendet,  und  mir  den  Zugang  zu 
einem  Hauptpuncte  in  der  Lehre  von  den  Gefühlen  versperrt  hat. 

Es  scheint  nämlich,  man  müfste  nun  zu  dem  obigen  Differential  dof 
noch  dasjenige  addiren,  welches  das  Steigen  durch  eigene  Kraft  ausdrückt; 
also  wenn  H  auf  einmal  von  aller  Hemmung  frey  wäre,   folgendermaafsen : 

—  .  {q  —  0)  dl  +  (J7  —  w)  dl  =  d(o. 

Die  Folge  hiervon  wäre,  dafs  (0  nun  geschwinder  als  sonst,  oder 
dafs  ein  gröfseres  w  in  bestimmter  Zeit  hervorträte. 

24* 


■\n 2  XL   Psychologie  als  Wissenschalt. 


Allein  es  ist  falsch,  dafs  durch  ein  Zusammentreffen  von  Kräften,  die 
nicht  schon  zuvor  eine  Gesammtkraft  gebildet  haben,  die  Geschwindigkeit 
könnte  vermehrt  werden.  Denn  jede  von  diesen  Kräften,  sey  sie  eine 
Hülfe,  oder  eigene  Energie  der  steigenden  Vorstellung,  hat  ihr  Zeitmaafs, 
in  welchem  sie  wirkt;  wie  wir  dieses  aus  dem  vorigen  §  kennen.  Wenn 
nun  das,  was  sie  in  diesem  Zeitmaafse  zu  vollbringen  im  Begriff  war, 
durch  eine  andre,  stärkere  Kraft,  geschwinder  geschieht:  so  kann  sie  zum 
Mitwirken  gar  nicht  gelangen  ;  eben  weil  in  jedem  Augenblicke  ihr  Streben 
mehr  als  befriedigt  wird.  Wirken  demnach  mehrere  solche  Kräfte  zu- 
sammen: so  bestimmt  die  stärkste  derselben  für  sich  allein  die  Ge- 
schwindigkeit des  Ereignisses;  für  alle  übrigen  aber  ist  eine  Befriedigung 
ihres  Strebens  durch  glücklichen  Zufall  vorhanden.  Und  dieser  ihr  Zu- 
stand mufs  im  Bewufstseyn  eine  Bestimmung  abgeben,  die  den  Gefühlen 
anheim  fällt,  —  ohne  Zweifel  als  ein  Lustgefühl,  —  während  in  An- 
sehung des  Vorgestellten  sich  dadurch  nichts  verändert. 

Wenn  nun  JT  zugleich  durch  eigne  Kraft  steigt,  in[2q6]dem  seinem 
Reste  o  die  Hülfe  des  Restes  r  von  P  zukommt:  so  ist  seine  eigene  Be- 
wegung  (Falls  man  nicht  r,  und  folglich  P,  sehr  grofs  annimmt),  ohne 
Zweifel  die  geschwindeste;  und  die  Hülfe,  anstatt  hiezu  mitzuwirken,  wird 
der  Sitz  eines  Lustgefühls,  dergleichen  sich  allemal  bey  rasch  fortschreiten- 
der und  leicht  gelingender  Thätigkeit  einfindet;  besonders  in  solchen  Fällen, 
wo  das  im  Grofsen  geschieht,  hundertfach  und  tausendfach  vervielfältigt 
was  wir  hier  im  Kleinen,  als  ob  nur  zwey  oder  drey  Vorstellungen  in  der 
Seele  wären,   elementarisch  untersuchen. 

§    88. 

An  der  Betrachtung  des  §  86  fehlt  noch  etwas  sehr  Nöthiges,  näm- 
lich die  Erwägung  des  Widerstandes,  den  die  hervorgehobene  Vorstellung 
finden  wird. 

Es  sey  II  auf  der  statischen  Schwelle  neben  den  im  Bewufstseyn 
gegenwärtigen  Vorstellungen  a  und  b,  so  kann  es  nicht  ausbleiben,  dafs 
eine  Hemmungssumme  entstehe,  indem  P  auf  JT  wirkt,  und  es  durch 
die  Hülfe  emporhebt.  Diese  Hemmungssumme  sey  =  « t» ,  indem  «  den 
Hemmungsgrad  des  U  gegen  a  und  b  bezeichnet  (der  nach  §  52  zu  be- 
stimmen ist),  und  01  seine  obige  Bedeutung  behält.  Das  Sinken  der 
Hemmungssumme  gleicht  jenem  im  §77,  dergestalt,  dafs  sie  verteilt  werde, 
auf  a,  b,  II,  und  die  Hülfe;  dafs  aber  auch  zugleich  das  Wieder- Auf- 
stehen von  a  und  b  zu  ihrem  statischen  Puncte  (auf  welchem  sie  Anfangs 
mögen  gewesen  seyn),  den  Verlauf  der  Hemmung  beschleunige. 

In  wiefern  II  und  die  Hülfe  zusammen  dahin  wirken,  dafs  nicht 
II  von  dem  schon  erreichten  Puncte  wieder  herabsinke,  in  so 
fern    sind    sie   anzusehn    als  eine  einzige  Kraft.     Dieselbe  heifse  VJT,  also 

\Z7  =  H -\-  -ff     Weil    a    und    b    verschmolzen    seyn  werden,    so    sind  die 

Hemmungsverhältnisse  für  die  drey  Kräfte  \/Z,  a,  und  b,  nach  §  68  zu 
bestimmen.  Diese  Verhältnisse  sind  constant,  weil  die  Kräfte  es  sind;  die 
[297]   Hemmungssumme  aber  ist  veränderlich.     Was  von    TI  zu  hemmen 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  373 


ist,  verhalte  sich  zu  dem  was  a  und  b  zusammengenommen  verlieren 
müssen,  wie  m  :  n ;  so  sind  m  und  n  beständige   Gröfsen. 

Da  die  Hemmungssumme  =  a  to,  so  ist  in  jedem  Augenblicke  zu  ver- 
theilen  aadt.  Auf  JZ  komme  via«) dt,  auf  a  und  b  zusammen  na«)  dt. 
Was  von  a  und  b  aus  dem  eben  angegebenen  Grunde  nach  Verlauf 
der  Zeit  /  gehemmt  ist,  wird  =  nafiodt.  Dies  ist  eine  Kraft,  welche 
die  Hemmung  beschleunigt  *).  Durch  sie  sinkt  in  jedem  Augenblicke 
dt  .na/ o)  dt.  Vertheilt  auf  Jl,  und  auf  a  und  b  zusammen  ergiebt  sie, 
für  jenes,  eine  Hemmung  =  md  t .  na  f  od  t;  für  diese,  eine  Hemmung 
=  ndt  .  na  f  «>dt.  Es  ist  also  die  augenblickliche  Hemmung  für  a  und  b 
zusammen,  nicht  blofs,  wie  vorhin  angegeben,  ==nacodt;  sondern  dazu 
kommt  noch  ndt  .na  /  «>  dt.  Folglich  ist  auch  nach  Verlauf  der  Zeit  / 
die  Kraft,  wodurch  die  Hemmung  beschleunigt  wird,  nicht  blofs  nuf«>dt, 
sondern  noch  darüber  n/dt.na/wdt.  Auch  die  letztre  Gröfse  bewirkt 
einen  Druck,  der  zu  vertheilen  ist;  der  die  Hemmung  von  a  und  b  ver- 
mehren wird ;  der  eben  damit  abermals  einen  Zuwachs  an  Hemmung  er- 
geben wird.  Sichtbar  sind  wir  hier  in  einen  Cirkel  gerathen,  der  eine 
unendliche  Menge  in  einander  eingewickelter  Integrale  ergiebt,  welche  zu 
berechnen  ganz  unmöglich  wäre. 

Es  ist  also,  fürs  erste  wenigstens,  nothwendig,  Annäherungen  und 
Gränzbestimmungen  zu  suchen.  Wenn  wir  annehmen,  die  Kraft  na/otdt 
drücke  nur  blofs  auf  vi2  allein,  so  machen  wir  ohne  Zweifel  du>  zu  klein; 
alsdann  aber  vermeiden  wir  den  Zuwachs  der  Hemmung  für  a  und  b,  und 
wir  bekommen  eine  Rechnung,  die  sich  ausführen  läfst.  Nehmen  wir  hin- 
gegen Rücksicht  auf  die  Vertheilung,  so  dafs  wegen  jener  Kraft  die  augen- 
blickliche Hemmung  von" FE,  =  mdt  .  nufoidt;  und  ignoriren  wir  alsdann 
den  Zuwachs  der  Hemmung  wegen  des  Druk[298]kes,  der  auf  a  und  b 
fällt:  so  machen  wir  dm  zu  grofs,  weil  die  Hemmung  zu  klein  wird.  Der 
wahre  Werth  von  da  mufs  zwischen  beyden  Gränzen  eingeschlossen  seyn. 
Die  Rechnung  für  beyde  Gränzen  ist  nur  Eine,  bey  welcher  ein  bestän- 
diger Factor  zugesetzt  und  weggelassen  wird.  Für  die  erste  Gränze  ist 
die  Gleichung 

V 

(p  —   «>) dt  —  m  u(o  dt  —  d t  f  na «t  dt  =  d(o, 


r 

n 

oder  nach  We^schaffunc;  des  Integral-Zeichens 


—  [  —  -\-  m  «)  d «>  dt  —  dd(o  =  na  dt2. 


Es    sev   —  =  P\  und  nach  der  Division  mit  dt  werde  für  das  noch 

3     dt         r 

do) 
zurückbleibende   dt  gesetzt  — ,   so  kommt 

P 

—  [ f-  ma)pd(')  —  p  d p  =  n  a  cod(o. 

Durch  die  Substitution  p  =  ui,i,  dp  =  ud<»  -}-  «> d u,  wird  nach  gehöriger 


*)  "Vergleiche  §   77. 


374  -^-1-  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Rechnung  d(o  u  d  u 


(0 


n  a  -j-  [  —  -j-  m  a  J  u  -J-  z*2 


Aus  — —  =.  p  =.  u  (<>    ist  ==  w  <f /,  und  folglich 

du 
dt= 


n  u  -j-  |  —  -|-  m  a\  n  -j-  «2 

Weil  die  Gröfsen  r,  JT,  ;«,  «,  kein  vestes  Verhältnifs  unter  einander 
haben,  ist  es  im  Allgemeinen  zweifelhaft,  ob  dieses  Differential  durch  Loga- 
rithmen, oder  durch  eine  Circular  -  Function  integrirt  werden  müsse.  Im 
ersten  Falle  kommt  das  Integral  auf  die  Form 

i  u  4-  r. 


wo  i  =  2  1/  j-^  -f-  maj    —na 
,  I  r  \         "i  /    ,  /  r 


[299]     ö^^+mo^+y^+ma)    -na. 

dio 
]\Ian    darf  keine  Constante  beyfügen.     Denn  u  =  — j-  ist  unendlich 

für  /  =  o,    indem    alsdann    auch  (0  —  o;    daher    verschwinden    >y    und    & 

u    . 
neben  7<r,    und  log.  —  ist  =  o. 

u  i 

Es  ergiebt  sich  nun  e  —  e  *  =  —  __    daher 

}]  —  Se  —  £*  d(o 

e  —  et  —  1  uidt 

r,  —  &  e  —  £  t  d«ß 

Demnach      .  dt  = . 

e  —  b  t  _  !  „>  dx 

Setzt  man  e  —  *i  =  xi  so  ist  —  ee  —  et  dt  =  dx,  also  dt  = -' 

tx 

ldx  &dx  rtdx  d~dx 

Nunistzuintegriren ; 4 ; -,  oder — r . 

f  x  (x  —  1)    '    t  (x  —  1)  4  x  (1  —  x)       t(i  —x 

Weil = 1 ,  auch   rt  —  $  =  —  1 ,  aus  den  oben  an- 

x(i—x)        x        i  —  x  }]dx 

gegebenen    Werthen    dieser    Gröfsen,     so    wird    dies    Differential    =  — — 

dx 

—  ■ ,  und  das  Integral 

I  —  x 

log.  x  —  ,  (:  _  v)  .  Const.  =  log  .  (o 
das  heifst  x*  .  (1  —  x) .  C=  o»  =  *  —  7* .  r  —  e  —  «*) .  C 


Dritter  Abschnitt.     Grandlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  3  7  5 


Um   hier    die   Constante  zu  bestimmen,    reicht  die   Forderung  to  =  o 

für  /  =  o  nicht  zu,   denn  der  Factor  1  —  e  —  et  erfüllt  dieselbe,   was  auch  C 

sevn    mag.      Allein    man    gehe    zum  Differential    zurück.      Für  /  =  o  mufs 

rp         </w 
nicht  blofs  10,  sondern  auch  fn  and  t  =  o  seyn,  also  ist  alsdann  —==—-. 

Aber  aus  dem  gefundenen  Integral  ist 

,/r„  =  C .  ( —  X  *         '  </.v  (1  —  x)  —  *  *  dx\ 
Das  erste  Glied  ist  =  0  für  t  ===  q,  denn  es  enthält  [300]  den  Factor 
1  — x;    das    zweyte    ist  =  . —  Cdx  —  -\-  Cid t.     Also    77=  £ f  =  jr 

und  hieraus    C  =-=£-.      Demnach  endlich 
ilt 

rp 

o.»  =  —  -  e  —  vHi  —  e  —  *t). 
IL  1 

Man  kann  to  noch  bequemer  durch  8    ausdrücken,    weil,  nach    dem 

obigen  ij  -f- 1  =  fo     Nämlich 

'"  P  Q.  ^ 

„__,-„_,  -»0  H 

Diese  Rechnung  gilt  der  ersten  Gränze;  sie  ergiebt  aber  auch  die 
zweyte,  wenn  man  für  n  setzt  mn,  und  darnach  die  Werthe  von  f,  >j,  #, 
abändert;  doch  ist  dies  nicht  willkührlich,  sondern  ergiebt  sich  erst,  wenn 
man  bestimmte  Zahlen  in  die   Rechnung  einführt. 

Aus  dem  so  sehr  einfachen  Ausdrucke  für  cö  läfst  sich  überdies  mit 
leichter  Mühe  f  m  d /,  ja  auch  fdt^fio  dt  finden;  und  man  wird  hieraus 
die  Correcturen  beurtheilen  können,  welche  noch  anzubringen  waren. 
Auch  ohne  genauere  Untersuchung  läfst  sich,  allenfalls  durch  Vergleichung 
mit  den  Differentialen  der  Linien,  Flächen,  und  Körper  wohl  vermuthen, 
dafs  in  der  Reihe  der  <o,  f  w  d  t,  /  d  tf  w  d  /,  u.  s.  w.  immer  die  nach- 
folgenden später  als  die  vorhergehenden  einen  merklichen  Werth  erlangen 
werden. 

Das  erste  Merkwürdige,  was  das  gefundene  Integral  uns  darbietet, 
ist,  dafs  tu  =  o  sowohl  für  /  =  o  als  für  /  =  ao  ;  daher  wir  nach  seinem 
gröfsten  Werthe  zu  suchen  haben.    Derselbe  tritt  ein  (wie  man  durch  die 

Differentiation  findet),  für  /  =  ■-   log.    — .      Offenbar   eine   kurze  Zeit,    da 

*  n 

&  nur   wenig    gröfser   wie   »7;    und    t   nicht    leicht    ein    sehr   kleiner    Bruch 
werden  kann. 

Wenn  also  eine  und  dieselbe  Vorstellung  mehrere  andre 
hervorhebt,  so  hat  nicht  blofs,  wie  vorhin  schon  gefunden, 
jede  der  hervorgehobenen  ihre  eigne  Geschwindigkeit,  sondern 
[301]  auch  ihren  eignen  Zeitpunct,  da  sie  im  Bewufstseyn  ihr 
Maximum  erreicht.  Die  Bestätigung  durch  die  innere  Erfahrung  dringt 
sich  von  selbst  auf. 


376 


XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Löset  man  (o  in  eine  Reihe  auf,  so  sind  die  ersten  Glieder: 

Da  die  verschiedenen  Potenzen  von  /  eine  nach  der  andern  bedeutend 
werden,  so  zeigt  sich  hier  der  Anfang  der  Erhebung  von  (o.  Es  be- 
stätigen sich  die  Bemerkungen  des  §  86  über  die  Abhängigkeit  des  «>  von 
p,  r,  II.    Es  verhält  sich  w  gerade  wie  q  (abgerechnet  den  geringen  Ein- 

fiufs,  welchen  g  auf  die  Gröfsen  in  und  ;/  haben  kann);  und  je  gröfser  — , 

um  so  gröfser,  aber  auch  um  so  schneller  abnehmend,  ist  die  Geschwindig- 
keit, mit  der  (o  hervortritt.  Noch  ist  zu  bemerken,  dafs  co  im  ersten  An- 
fang weder  von  m  noch  ;;,  dann  zuvörderst  von  m,  und  zuletzt  von  n  ab- 
hängig wird;  indem  n  erst  bey  ß  und  den  folgenden  Gliedern  Einflufs  be- 
kommt. 

Noch  bequemer  läfst  sich  bey  dem  Werthe  von  /,  der  zum  Maximum 
von  (o  gehört,  die  Auflösung  in  eine  Reihe  benutzen,  um  zu  sehen,  wie 
dieser  Werth  durch  die  beständigen  Gröfsen  bestimmt  wird.  — ■  Man  setze 

-f  [jL  4-  »«)  =/;    also  ;;  =/— V/2— *«,  0  =/  4-  V/*-»«, 

f 


3 


i  + 


na 


=  2  V/2 —  na;  —  = 


=J=,  Zog.  -  = 


-tf  na 


n  a\ 


f2> 


+  f(--^  +  f(-^  + 


f2 


&         i 


+f(--a+vG-3+- 


,  so  ist  jener  Werth  von  /  =  — 


Wenn  /2  nahe 


=  n  a,  so  ist  sogleich  offenbar,  dafs  die  Zeit  fürs  Maximum,  wächst,  wenn  f, 

r 
und  folglich  auch  wenn  — .  abnimmt;   und  umgekehrt.     Es  sey  nun  weiter 


n 


[302]    ~  =  ±-,  so    ist  dieselbe  Zeit  =Y7Ta  tr+f-V  +  f  "T  + 


f +-]- 


1,2 


ist  jene  Zeit  = 


Vna'  M 

ä 

VT 

"   ri— 4-  +  4- 

Mna1  J    T   5 


;    aber  wenn  /"  =  \  7z «,  ist  / 


indem   /"  gewachsen,   ist   t   kleiner  geworden.      Es   sey   ferner    —  =2,  so 


V««' 
n a 


also 


f  +. ....  •]• 


Die    eingeklammerte 


Reihe  ist  aus  der  Kreisrechnung  bekannt;  sie  ist  =  —  77  =  0,78 
tj  =  dem  Halbkreise  für  den  Halbmesser  = 


.  wenn 
1.     Also  die  gesuchte  Zeit 


=*-p=  .  1,1 1  ...    daher   nun  /  gröfser   geworden,    indem  f  abnahm.     So 
V  71  a 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  377 


r 

bestätigt  es  sich  immer,  dafs  ein  gröfseres  —  schneller,    aber    auch   minder 

anhaltend  wirkt. 

Es  sey  eine  und  dieselbe  Vorstellung  P  durch  verschiedene 
ihrer  Reste  r,  r,  r"  u.  s.  w.  verschmolzen  mit  verschiedenen 
Vorstellungen  II,  IT,  II"  u.  s.  w.  und  der  Gröfse  nach  ZT  =  II' 
=  FL"  u.  s.  f.  auch  alle  übrigen  Umstände  gleich:  so  ist  die 
Folge  der  Zeitpuncte,  worin  II,  IT,  H",  durch  die  Hülfen  zum 
Maximum  gehoben  werden,  wie  die  Folge  der  Reste  r,  r,  r" 
u.  s.  w.  vom  gröfsten  bis  zum  kleinsten. 

Die  Formel  für  jenes  /,  woraus  wir  diesen  sehr  folgenreichen  Satz 
gefunden,  ist  um  so  brauchbarer,  da  sie  allgemein  ist,  indem  sie  die  un- 
mögliche Wurzelgröfse  nicht  mehr  enthält,  welche  oben  durch  die  Inte- 
gration vermittelst  der  Logarithmen  in  dem  Falle  entsteht,  dafsy"2  >•  nu. 

Nur  für  u)  selbst  müssen  wir  noch  auf  diesen  Fall  einen  bequemen 
Ausdruck  suchen.     Oben  ergab  sich 

du 

—  dt  =  


n  u  -\-  (  —  -{-  m  u  j  u  -\-  u2 
Im  erwähnten  Falle  kommt  das  Integral  auf  folgende  Form: 


[303]    Const.   —   /  =    —   ang-   tang. 


4-   mu\   -[- 


u 


WO    i 


fnu~T\ii+  mu) 


also =  tang.  (Const.  —   et) 

und   u  =  t  tang.  (C  —   et)  —  —(.•==.  +  mu). 
d<o  2\II  J 

Da  u  = unendlich   für  /  =  o  und  w  =  o,   so  ist  C  die  Zahl, 

(od  i 

welche  den  Bogen  von  90 °  für  den  Halbmesser  ==  1  ausdrückt;  oder 
es  ist  C  =  —  n  in  der  gewöhnlichen  Bedeutung  von  n.  Aber  tang.  (—  n 
—  tt)   =  cot.  tt;   daher  wird  nun 


diu  ,  !     ( r  \ 

—    =  idt  .  cot.   tt  =  —     —   +   7>i u)  dt 

(o  2  \n  ~     J 

Es  ist  cot.  e t  = und  t dt  cos.  tt  =  d  .  sin.  1 1,  also 

sin.  tt 

C  -\-    log.   0)  =   log.   sin.   tt  —   —  I—   -(-   mu)    t 

in  j    /  r 

oder  log.  -——. = —  4-  mu 

6     C  sin.  tt  2  \n     ' 

woraus  w  ==  C  sin.  tt  .  e       V\~Ff  ~^~  ma) 


?~8  3CL    Psychologie  als  Wissenschaft. 

d(0  ,  . 

Die  Constante    mufs  wie  vorhin  aus  -—  für  t  =  o  bestimmt  werden. 

dt 

Es  ist  ^w  =   (o  .  (tdt  cos.  tt —  (—  -j-   muj  dt) 

worin  man  den  gefundenen  Werth  von  i»  substituiren  mufs.  Derselbe  ist 
=  C  sin.  tt  für  /  =  o,  weil  alsdann  die  Exponentialgröfse  =  i.  Aber 
C  sin.  tt  ist  selbst  =  o  für  /  =  o;  das  Glied  also,  worin  diese  Gröfse 
keinen  ihr  gegenübertretenden  Divisor  antrifft,  der  zugleich  auch  =  o  wird, 

mufs  wegfallen.     Hingegen  Cos.  t t  =  ist  ein  solcher  Divisor;  da- 

°  °  °  tang.  et 

her  fmdet  sich   [^04!   doj  =  edt  .   =  zdt .  C  cos.  tt 

LO      J  tang.  et 

Da  cos.  it  =    i,    für  /  =  o,    so    ist   endlich  — —   =    Ct;    welches, 

dt 

den  ro  ' 

verglichen  mit  dem  schon  bekannten  Werthe  — —  =  — ,  endlich  ergiebt 

dt  IL 

ro 

C  =     Jl  .      Demnach  ist   nun  vollständig 


rg 

sin.  t 


t  .  e      \  (—  +   muj  t. 


Es  kann  nur  zur  Rechnungsprobe  dienen,  wenn  wir  auch  hieraus  die 
Zeit  für  das  Maximum  von  w  suchen. 

-  Aus  deo  =  — ^-  (tdt   cos.  et  e—ft  —    sin.  tt   e—ft  ./dt)  =  O 

wird  i  cos.   tt  =  f  sin.  tt;  also  —  =  tang.  tt,    oder    tt  =  ang.  tang. 

—    welches  in  eine  Reihe  zu  entwickeln  ist.     So  findet  sich 
/' 

T  f-2  #4  f6 

t  =  -    --LiiJLf Li   _j-    .  .  . 

f  3     /3       '        5     fS  7    fl       ' 


Da   nun  t  =  V««  —  f2,    so  ist  — -  =    1/  - 

-T^--)+T(^--r-T(^--)3+-. 


—  —    I,   und 
/2 


i 

'  =  7 

wo  man  nur  nöthig  hat,  statt  —  f  —   —    ij  zu  schreiben  -f-  (i  —  —  j, 

um  die  vollkommene  Identität  dieses  Ausdrucks  für  t  mit  jenem  vor  Augen 

i  9- 

zu  haben,  der  sich  aus  dem  obigen  /  =  —    log.  —   ergab. 


§  89. 
Die  Berechnungen    des  vorigen  §,    wiewohl    nur  Gränzbestimmungen, 
haben    uns    die   wichtigsten   Aufschlüsse,    über    den  Einflufs    von  r,    g,  II, 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


379 


und  über  das  Maximum,  schon  gegeben;  und  es  mag  scheinen,  wir  könnten 
uns  damit  für  die  jetzige  Absicht  begnügen.  AI[305]lein  bey  einer  Unter- 
suchung, worauf  weiterhin  so  vieles  gebaut  werden  soll,  wäre  es  mindestens 
doch  unschicklich,  die  schon  nahe  liegende  Auflösung  des  Problems  nicht 
vollends  zu  erreichen.  Die  gefundenen  Gränzen  sind  zu  weit  aus  einander, 
als  dafs  sie  für  eine  Berechnung  von  <>>  gelten  könnten;  auch  die  Zeit  für 
das  Maximum  ist  noch  nicht  berechnet,  denn  die  Formel  dafür  erhält 
zwey  verschiedene  Werthe,  je  nachdem  man  sie  der  einen  oder  der  andern 
von  den   Gränzbestimmungen  anpafst,   die  für  (<>  gemacht  sind. 

Zu  der  ursprünglichen  Differentialgleichung    müssen  wir   zurückgehen, 
und  dieselbe  genauer  als  zuvor  angeben.    Aus  den  oben  bemerkten  Grün- 


den ist  eigentlich 


» 

r 


d<o   =   —   (g   —   ff;)   dt  mu.u)dt  —    mnadt  f  <odt 

.' —   mdt  .   n2u  f  dt  f  u>dt   —   mdt  .   n^u  /  dt  / dt  /  (odt 
—   mdt  .   »4«  f  dt  f  dt  /  dt  /  <»dt 
und  so  weiter  ins   Unendliche. 

Man  fasse  die  ersten  drey  Glieder  zusammen;  das  Integral  davon 
ergeben  die  Formeln  des  vorigen  §,  wenn  in  denselben  mn  statt  n  gesetzt 
wird.  Man  nehme  ferner  an  (was  aus  obigen  Gründen  zu  vermuthen,  und 
was  sich  sogleich  bestätigen  wird),  das  Integral  der  ersten  drey  Glieder 
sey,  besonders  für  eine  kleine  Zeit,  von  o>  nicht  weit  verschieden;  man 
setze  dasselbe  statt  (o  in  f  dt  f  < odt;  so  wird  man  die  Integration  des 
vierten  Gliedes  vollführen  können,  und  dadurch  eine  Verbesserung  des 
vorigen  Werths  von  ro  erhalten.  Man  verfahre  eben  so  mit  den  folgenden 
Gliedern;  man  benutze,  Falls  es  nöthig  scheint,  die  schon  gefundenen 
Verbesserungen   jedesmal  bey  den  noch  zu  suchenden. 

Dieses  schon  oben  angedeutete  Verfahren,  müssen  wir  jetzt  vollziehen, 
um  zu  sehen,   wohin  es  führen  möge. 

Den,    in    der  Formel   [_Ä\   angegebenen  Werth    von  (o    lösen  wir  der 

ro 

Bequemlichkeit  wegen  in  eine  Reihe  auf,  und  setzen  -~-  =  F,  so  ist      [306] 

W=^((#-^)/-^(^-tf)*.+  f  (5-3_^)/3_^(d4-^)>---) 

folglich 

fuuit=  F[±  (fr  _  rj)  f  _  -L  (fr*  _  f)  ,3  +  ±  (fr3  _  ,3)  *  _  J.  (fr*  _  ,,4)  /s . . 

/  dt /.odt  =  F  [L  (fr  _  ,,)  n  -  JJ-  (fr*  -  r,*)  /4  +  4_  (fr3  _  ,3)  fi  . . 

f  dt  f  dtf  ^dt  =*  F\±  (fr  -  V)  *  -  s  (*■  -  u2)  *  +  £  (^  -  v)  '6  ■  ■ 
/dt J  dt/ d}/ mdt  =  F  [£.  (fr  -   n)  ft   _   2_  (fr,   _   V)  fi  .  . 

/  dt  /  dt/  dt  /  dt  f  (odt  =  F  .   [-^  (fr   —   i,)  t6  .   .     |  u.  s.  w. 

Die  Integrale  des  vierten,  fünften,  und  sechsten  Gliedes  von  dut  sind 
also  zusammengenommen   folgende : 


•>3o  -^-I-    Psychologie  als  Wissenschaft. 


F. 


—  m  n2  u(&  —  ),)  m  n2  a  ,'  .  mn2  u 

S i't  4  -| (^-2  _  rf)  t  S - (fr  —  ?/3)  / 1 


24  120  720 

mn3  a  ,„  .  mn*  u  ,„ 

{?  -  *,)  '5  +  -— -(**  —  f  V6  ■  •  • 

120  720 

m  »'4  « 

(5-  _    ,       ,6   .  .  . 

720 

Und  dieses  ist  die  ganze  Verbesserung  für  w,  Falls  man  nicht  /  7 
und  noch  höhere  Potenzen  von  /  in  Rechnung  bringen  will.  Denn  erstlich, 
das  siebente  Glied  von  do>  ergiebt  eine  Reihe,  die  mit  ti  anfängt.  Zwey- 
tens,     will   man  f  dt fdt fi»t  aus    sich  selbst  verbessern,    so    hat   man  zu 

dem    anfänglichen  Werthe    von   o>,    noch  -/4    und    das   Folgende, 

mit  gehörigem  Zeichen  und  Coefficienten  hinzuzufügen,  und  daraus  von 
neuem  fdtfdtfwdt  zu  suchen;  wobey  denn  aufser  dem  vorigen  Werthe 
noch  ein  Glied  erscheinen  wird,  das  P  enthält.  Daraus  ist  auf  die  folgen- 
den, dieser  ähnlichen,  Verbesserungen  zu  schliefsen. 

§    90. 

Um  nun  den  Sinn  und  die  Absicht  dieser  Rechnungen  deutlicher 
zu  machen,  wollen  wir  ein  Bey spiel  durchführen.  Man  wird  sehen,  dafs 
die  Formeln,  so  fem  dadurch  bestimmte  Zahlen  gesucht  werden,  noch  sehr 
unvollkommen,  aber  für  unsem  Zweck,  das  Gesetz  eines  psychologischen 
Ereignisses  im   Allgemeinen  kennen  zu  lernen,    mehr  als  hinreichend  sind. 

Gemäfs  der  Voraussetzung  des  §  88  soll  TL  auf  [307]  oder  unter  der 
statischen    Schwelle    seyn    neben   a    und  b.      Es  sey  demnach  a  =  t>  =  1 , 

und  TL  =  0,7.     Auch  ;-=p=— .     Daraus  ergiebt  sich    'TT  =  TT -\-  —  — 

1,05714.  Die  Hemmungsverhältnisse,  also  m  und  n,  sollen  nach  §  68; 
oder,  wenn  wir  « =  1  setzen ,  indem  zugleich  nur  a  und  b  unter  sich, 
nicht  aber  mit  %_Z7  verschmolzen  sind,  nach  §  69,  bestimmt  werden.  Dem- 
nach wird  w  =  0,42496;  »=i — m  =  0,57504;  nm  =  0,24437. 

Nun   theilt   sich    die  Rechnung;    denn    es    giebt  für   sie   zwey  Wege. 

Es  ist  -M  •=  +  *»«)=/=  0,56962,  also/2  =  0,3 2 446.     Folglich/  >nm 

und<«;  daher  die  Wurzelgröfse  V7T  ~n  im  ersten  Falle,  nachdem  nm 
für  n  gesetzt  worden,  möglich,  im  andern,  wo  n  allein  stehn  bleibt,  un- 
möglich. Der  erste  Fall  gehört  für  die  Formel  A,  der  zweyte  für  die 
Formel  B.  Wir  müssen  also  beym  Gebrauch  der  ersten  Formel  überall 
m  n  für  ti  setzen. 

Man  weifs  aus  den  Entwicklungen  des  §  88,  dafs,  wenn  n  stehn 
bleibt,  d(o  zu  klein  gemacht  wird;  oder,  was  dasselbe  sagt,  dafs  wir  uns 
alsdann  die  Hemmung,  gegen  welche  die  zu  reproducirende  Vorstellung 
aufsteigen  mufs,  ein  wenig  gröfser  denken,  wie  sie  wirklich  ist.  Diese  An- 
nahme giebt  die  leichteste  Rechnung;  man  wird  wohl  thun,  sie  zuerst  zu 
brauchen,    um  gleichsam    den  Umrifs    des  psychologischen    Ereignisses   zu 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  3  8 1 

erhalten.      Es   findet   sich    für   diesen  Fall  e  —  0,50058.     Daher  aus  tt  = 

t 
ang.  fang.  — 

die  Zeit  des  Maximum  =  1,4403 

hieraus   das   Maximum  selbst  =0,20734. 
Ferner  wird  in   der  Formel  B,    o>  =  o   für  <-/=  n,    wo   n  wie  gewöhnlich, 
den  Bogen  von   1800   bedeutet.     Hieraus  ergiebt  sich 

für  0  =  o,   /  =  6,276. 
Will  man  nun  noch  dem  Steigen  und  Sinken  des  10  [308]  genauer  zu- 
sehn,  so  kann  man  dasselbe  für  willkührliche  Werthe  von  /  berechnen.   Z.  B. 
für  /  =  1        findet  sich       rr>  =  6,19374 
„        1,4403  hatten  wir  «>  =  0,20734 
„        2  wird  «)==  0,19231 

3  „  ««  =  0,12889 

4  „  «  =  0,06638 

5  „  «  =  0,02465 

6  „  w  =  0,00322. 

Allein  dies  ist  nur  die  erste  Gränzbestimmung.  Denken  wir  uns  die 
Hemmung  kleiner,  so  werden  wir  gezwungen,  die  erste  Formel  A,  sammt 
ihrer  Verbesserung  im  §  89,  anzuwenden.  Für  die  Zahlen  unseres  Bey- 
spiels  wird 

(A) 10  =  0,63  105    (e  —  0,28664  t  —  e  —  o  85260  t) 

und  die  Verbesserung  =  —  0,00269  /+  -f-  0,00023  /s  —  0,00005  /5. 

Hieraus   ergiebt  sich   z.   B.   für  t  =  T,  «0  =  0,20286 

„     /=  1,4403,  w=  0,22481 
w    /  =  3  «  =  0,06908. 

Nach  dieser  Rechnung  steigt  also  ro  etwas  höher,  und  sinkt  etwas 
schneller  als  nach  der  vorigen.  Man  darf  sich  darüber  nicht  wundern, 
denn  die  Integrale  f  adt,  fdt  ftadt  u.  s.  w.,  wodurch  «>  in  den  spätem 
Zeittheilen  vermindert  wird,  müssen  wachsen,  wenn  w  Anfangs  gröfser  ge- 
nommen  war. 

Diese  zweyte  Rechnung  ist  nun  der  Wahrheit  näher  als  die  erste ; 
aber  sie  läfst  sich  nicht  füglich  so  ausführen,  dafs  man  den  Zeitpunct  fürs 
Maximum  und  für  w  =  o  mit  Genauigkeit  angeben  könnte.  Daran  ist 
nun  auch  für  jetzt  wenig  gelegen,  genug,  wenn  wir  wissen,  dafs  es  für  die 
reproducirte  Vorstellung  ein,  von  der  Stärke  der  Vorstellungen,  dem  Grade 
ihrer  Verbindung  und  Hemmung  abhängendes  Maximum  giebt,  und  dafs 
sie,  nachdem  es  erreicht  worden,  ungefähr  noch  einmal  so  viel  Zeit  braucht, 
um  wieder  völlig  zu  sinken.  Aber  für  die  Zukunft  können  wir  nicht  be- 
stimmen, was  in  Dingen  dieser  Art  wichtig  oder  unwichtig  sey ;  denn  oft 
ist  Beach[309]tung  der  kleinsten  Umstände  nöthig,  um  die  Wahrheit  zu 
finden.    Daher  will  ich  die  Untersuchung  noch   einen  Schritt  weiter  führen. 

§  91- 
Auf    unser    Problem    pafst    in     grofser    Allgemeinheit    eine    Methode, 
welche  Euler  lehrt  in  den  institutt.  calc.  integralis    Vol.  IL   See/.  2.  cap.  2. 
Wir  wollen    uns    indessen    begnügen,    das   Verfahren    an    einer   Differential- 


382  XI.  Psychologie  als  "Wissenschaft. 

gleichung  des  dritten  Grades  zu  üben;  da  wir  von  jener,  im  §  89  aus- 
einandergesetzten Formel  für  dco,  so  viel  Glieder  nehmen  können  als  wir 
wollen.  Denn  ungeachtet  die  Methode  schön  ist  durch  ihre  Einfachheit, 
so  wird  bey  hohem  Graden  die  Anwendung  doch  beschwerlich;  theils 
wegen  der  Auflösung  einer  höhern  Gleichung,  theils  besonders  wegen  der 
Bestimmung  vieler  Constanten. 
Es  sey  aus  §  89 

r 
du  =  —  (g  —  co)  dt  —  mawdt  —  vinadt fw  dt  —  mrß  adtfdtfn  dt. 


Das  Uebrige  lassen  wir  weg,  um  nicht  über  das  dritte  Differential 
hinauszugehn.      Es  wird  nämlich  hieraus 

eß(o=  - — ■  (-^--f-  ?««]  d2(odt  —  mn&dt2 .  d(t,  —  mn2udt3 .  co 

d(o  d2  co 

oder   wenn    —  =  p,  =  q, 

dt      F    dt2        * 

■    (r     ,        \        ,    di°> 
mn2 a  co  -j-  mnu.p  -j-  I—  -\-mu\  q  -j-  — —  =  o. 

Dieser    Gleichung    genügt    die    Form   (o  =  e  *-t ;    daraus    nämlich  wird 

d$(t> 
p  =  le'-t;  q  =  X2  et- 1-   . — _  =  }.3e^t.     Die  Substitution  dieser  Werthe,  nebst 

dt* 

der  Division  der  Gleichung  durch  e^t  giebt 

mn  2u-j-  m n  u).  -\-  \y?~\~  ma)  >-  2-f-  ^ 3=  o. 

Jede  der  drey  "Wurzeln  dieser  Gleichung  kann  zur  Bestimmung  von 
Ä  dienen;  doch  jede  einzeln  würde  nur  ein  particujäres  Integral  geben. 
Allein  sie  lassen  sich  auch  alle  drey  verbinden.  Es  seyen  die  Wurzeln 
=  a°,  /.',  ).",  [310]  so  genügen  der  Gleichung  die  für  w  zu  setzenden 
Werthe  e^°t;  e''-'t\  e'-"t-y  aber  auch  der  Werth 

(o  =  Aetet  -f  Bel't  _L  Ce^'t, 
indem  aus  der  Natur  der  aufgegebenen  Gleichung  klar  ist,  dafs,  Falls  die 
aus  den  drey  Bedeutungen  von  ).  entspringenden  Werthe  oj  =  P,  «j  =  Q, 
(•  =  R,  einzeln  genommen,  derselben  angemessen  sind,  dann  auch  gesetzt 
werden  könne 

at  =  AP+£Q+  CR. 

Es  entsteht  nämlich  alsdann  eine  Summe  dreyer  Gleichungen,  deren 
jede  für  sich,   daher  auch  ihre  Summe  =  o  ist. 

So  entspringt  hier  aus  dreyen  particulären  Integralen  das  vollständige; 
zu  erkennen  an  den  drey  willkührlichen  Constanten,  deren  gerade  so  viele 
zu  einer  Differential-Gleichung  des  dritten  Grades  gehören. 

Hat  die  cubische  Gleichung  für  Ä  zwey  unmögliche  Wurzeln,  so  mufs 
die  Form  der  daraus  entspringenden  Glieder  um   etwas  abgeändert  werden. 

Es   sey   X'  =  p  -|-  v  V —  1   und  folglich  /."  =  /li  —  v  \  —  1   so  ist 

Be%t-\-  Ce^'t=^ef-t{Bevt  Y  — ■  1  -|-  Ce  —  vt  V~T). 

Es  ist  Bevt%  —  1  =B cos.  vt  -f-  B sin.  vt  V—  1 

und    Ce  vt  V  —  1  =  Ccos.  vt  —  C sin.  vt  V —  1. 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  ^8^ 

Die  Constanten  B  und    C  sind   noch   unbestimmt.      Man   nehme    an 

es  sey  2  B  =  B'  —J^t^l ;  2  C=B'  +  C  VZT7;  so  ist  B+C=B'\ 

B—C=—   C  V—  1  ;    und    BeXt  +  CeV't  =  eut  (#  cos,  r/_|.  q'  sin.  vt). 

Man  kann  die  neuen  Constanten  abermals  verändern.      Es  sey 

B'  =  B"  sin.  ff,    C'  =  B"  cos.  ff,   so   folgt : 

Belt-\-  Cel"t=  eiit.B"  sin.  (ff  +  vt) 

demnach  m  =  Ae^°t-\-  ep* .  B"  sin.  (ff  -f  vt) [C]. 

„  dir)       d2  (0 

Die  Constanten  A,  B  ,  <y>,  müssen  aus  a  ,   — ,    für    /  =  o    be- 

'  dt      dt2 

stimmt  werden.      Alsdann  nämlich  ist  aus  der  gegebenen  Gleichung 

d(<        ro    d2  m  l  r         \      rQ 

'  dt     11  dt2         [11    j    n 

[311]   Aber  aus  der  eben  gefundenen  ist  alsdann 

(o  =  A  -f-  B"  sin.  ff ; 

d  (1)  .  .,  ,, 

—  =  1°  AeWt  4.  pept  .  B    sin.  (ff  -f-  vt)  -j-  ef-t .  ß  v  cos.  r(fl  _|_  vt) 

verwandelt  sich  alsdann  in 

d(<>  ,,  ., 

—  =  X°A  -\-  fiB   sin.  (j  -f-  v B  cos.  ff 

und   endlich 

_ ^  =  )°'Ael°t  +  fi2e^t .  ß"  sin.  (ff  -\-  vt)  -f  p  e/it .  B" v  cos.  (ff  ~j-  vi) 

—  ept .  B" v2  sin.  (ff.  -f-  vi)  -(-  fiept .  ß" v  cos.  (ff  ■{-  vt) 
geht  über  in 

— ™  =  ;k°2 .4  -J-  (/< 2  -f-  j'2 )  .5"  sin.  (f  -f-  2/1  vB"  cos.  (f 

Also  haben  wir  die  drey   Gleichungen 

o  =  A  -\-  B"  sin.   (f 

a'  =  jj.=  X°A  +  11 B"  sin.  ff  -f  vB"  cos.  ff 

b'  =--  —  (--  -f  n  a  j^|  =  Ä°2  ,4  -f  (,«2  —  r2)  ,5"  «».  </  -f-  2  /<  r^""  «w.  ff 

2fia  —  b'  „    . 

woraus ; ; — -  =--  B   sin.  q<  =  —  .4 

y.°2  -|-  ,u2  -f  v2  —  2  /m  a°  ' 

b  v  —  2/1  va 

—r~, : ; TT-, ;— r  s==  tan  (f.  <i 

a  (112  —  A°2  —  v2 )  —  b  (fi  —  A°)  ö     ' 

—A-=B". 
sin.   ff 

Angewandt  auf  das  obige  Beyspiel,  ist  1  zu  suchen  aus  der  Geichung 
0,14055  +  0,2444  *  +  M392  l2  +  *3  ~  o. 
Die  mögliche  Wurzel  ist  nahe  == —  1,03375  =  Ä° 

die    beyden    unmöglichen    sind    =  —  0,05272  -j-  o, 36420.  V  - —  1 
also  (.1  =  —  0,05272,  und  v  =  0,36420. 
Es  findet  sich  A  =  —  0,33682 

'/  =  77°   5o'  45" 


184  -^-k  Psychologie  als  Wissenschaft. 

arc.   ff  =  1,35866 
.£"  =  0,34454 
demnach 

<o  =  —  0,33682  e  —  I'°337S  t  _j_  0,34454  e  ~  0<°M2  t .  sin.  ( 1 ,35866  +  0,3642  /) 
Für  /  =  1  ergiebt  sich  hieraus  ta  =  0,2032  . . .  wozu  [312]  man  aus  §  89 

Fmtäu 

die  Verbesserung -  (ir — //)/5  etc.  nehmen  mufs  (denn  die  obere 

Reihe  der  Verbesserung  ist  jetzt  in  der  Formel  schon  inbegriffen),  um  den 
Werth  ff>  =  0,202g   zu  erhalten,   der  oben  schon  gefunden  wurde. 

Für  das  Maximum  und  für  ro  =  o  die  Zeit  zu  finden,  ist  wegen  der 
Verwickelung  transcendenter  Gröfsen  in  u)  und  d(o,  nicht  ganz  leicht.  Man 
kann  jedoch  entweder  durch  Versuche,  oder  nach  Anleitung  der  obigen 
Formeln,  und  der  aus  ihnen  gefolgerten  für  den  Zeitpunct  des  Maximum, 
sich  der  Bestimmung  der  erwähnten  Zeiten  nähern,  und  alsdann  mit  Hülfe 
des  Taylor'schen  Lehrsatzes  die  Näherung  weiter  treiben. 

Was    die   Zeit    fürs   Maximum    anlangt:    so    suche    man   im    Beyspiele 

zuerst    0    für    ^=1,5;     wegen    der    Angabe    im    §   90.      Es    findet    sich 

^  =  0,2264;    etwas    gröfser    als    nach    der    obigen    Berechnung;    obgleich 

von    der    Verbesserung    nach    §    89    das    erste    Glied    mit    zugezogen   ist. 

dw  .... 

Ferner  gehört  zu  diesem  Zeitpuncte  — -  =  -\-  0,0 103..,  also  ist  hier  das 

dt 

Maximum    noch    nicht    erreicht.      Nimmt    man    nun    von    der    Reihe    des 

Taylorschen  Satzes  nur  die  ersten  beyden  Glieder,  und  setzt  —  =p  =ft, 

den  Zuwachs  der  Zeit  bis  zum  Maximum  aber  =  / ,  so  kommt 

dp 

dt' 


f  (t  +  /)  ==  o  =p  +  t' .  -?,  also 


dt 

'=-p-TP' 

woraus  /' =  0,075...  a'so  die  ganze  Zeit  bis  zum  Maximum  =  1,575  ••  • 
Dafür  wird  n>  =  0,2268.  Es  würde  leicht  seyn,  aus  mehrern  Gliedern 
der  Taylorschen  Reihe  ein  genaueres  Resultat  zu  erhalten ;  hier  kam  es 
nur  auf  kurze  Bezeichnung  einer  brauchbaren   Methode  an. 

Um  den  fernem  Gang  der  Gröfse  (<>  kennen  zu  lernen,  insbesondere 
um  zu  sehen,  ob  sie  eben  so  schnell  abnehme,  als  sie  zunahm,  ver- 
doppeln wir  die  eben  gefundene  Zeit,  und  suchen  to  für  /  =  3,i5.  Es 
findet  sich  [313]  w  =  o,n  ...  Also  hat  es  noch  ungefähr  die  Hälfte 
seines  gröfsten  Werthes. 

Allein  jetzt  ist  es  in  einem  schnellern  Abnehmen  begriffen.  Durch 
Versuche  findet  man  es  =  o  ungefähr  für  /  =  3,7  .  .  mit  welcher  An- 
gabe wir  uns  hier  begnügen  können.  Eine  genaue  Bestimmung  dieses 
Zeitpuncts  wird  immer  mühsam  bleiben. 

§  92. 

Was  von  a  und  b  zusammengenommen  -gehemmt  wird,  das  läfst  sich, 
nach  §  88  so  ausdrücken : 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  285 

na  f  (»dt  -\-  n2a  f  dt  f  (»dt  -j-«3«  f  dt  f  dt  /  (»dt  etc. 
Fragt  man  nach  dem  Maximum  dieser  Gröfse :  so  ist  offenbar,  dafs  das 
Differential  des  ersten  Gliedes  =  o  ist  für  10  =  o ,  dafs  aber  alsdann  die 
übrigen  Glieder  ihr  Maximum  noch  nicht  erreicht  haben.  Also  bis  <o  =  o 
wächst  die  Hemmung  von  a  und  b  immer  fort.  Hier  aber  ist  sie  wirk- 
lich am  gröfsten,  weil  hier  die  Bedeutung  der  Formel  aufhört,  indem  (» 
nicht  negativ  werden  kann.  — ■  Auch  ohne  Formel  folgt  es  so  aus  der 
Natur  der  Sache.  Die  hemmenden  Vorstellungen,  indem  sie  schon  m 
zum  Sinken  bringen,  müssen  doch  auch  allemal  ihren  Theil  von  der  vor- 
handenen Hemmungssumme  übernehmen.  Nur  erst,  nachdem  diese  ver- 
schwunden, das  heifst  hier,  nachdem  <»  wieder  den  Nullpunct  erreicht 
hat,  können  und  müssen  jene  sich  erheben. 

Jetzt  aber  erhält  auch  die  Bestrebung  der  Hülfe,  wodurch  (»  gehoben 
wurde,  wiederum  ihre  ganze  Spannung,  indem  sie  nun  so  unbefriedigt  ist, 
wie  zu  Anfang.  Es  kommt  daher  wirklich,  Falls  nicht  veränderte  Um- 
stände eintreten,  zu  einer  Art  von  Oscillation,  wie  es  die  Formeln  für  w 
andeuten.  Eine  kleine  Zeit  muis  verfliefsen,  während  welcher  10  auf  der 
Schwelle  bleibt,  weil  die  Gewalt,  womit  es  dahin  gebracht  ist,  und  durch 
die  es  noch  tiefer  hätte  sinken  sollen,  nicht  eher  nachlassen  kann,  als  bis 
a  und  b  sich  wieder  etwas  erhoben  haben.  In  dieser  Zeit  wird  das 
helfende  P,  auf  welches  ein  Theil  der  Hemmung  fällt,  der  schon  vor- 
handenen, nur  nicht  [314]  plötzlich  befolgten,  Nöthigung  zum  Sinken,  noch 
fortdauernd  nachgeben.  Aber  bald  mufs  der  Moment  eintreten,  wo  P 
gespannt  genug,  a  und  b  nachgiebig  genug  sind,  damit  w  wieder  gehoben 
werden  könne.  Es  mufs  jetzt  abermals  eine  endliche  Gröfse  im  Bewufst- 
seyn  erreichen,  denn  nicht  anders  kann  es  als  Hemmungssumme  einen 
neuen  endlichen  Widerstand  finden,  durch  den  es  wieder  zum  Sinken  ge- 
bracht werde.  Doch  wird  es  nicht  so  hoch  steigen  wie  das  erstemal, 
weil  es  sich  jetzo  während  einer  noch  vorhandenen  Spannung  der  wider- 
strebenden Kräfte  erhoben  hat.  So  weit  ungefähr  mögen  die  Conjecturen 
reichen,  die  man  hier  ohne  Berechnung  wagen  darf.  *  — 

Wir  sollten  jetzo  untersuchen,  was  erfolgen  müsse,  wenn  mit  einer 
Vorstellung  P,  sich  mehrere,  7T,  IT,  IT"  u.  s.  w.  verschmolzen  finden,  ja 
auch  wenn  diese  unter  einander  verbunden  sind;  oder,  wenn  IL'  nicht 
mit  P,  wohl  aber  mit  IT  verbunden  ist,  u.  dgl.  Allein  statt  dessen  müssen 
wir  vielmehr  in  dem  Geschaffte,  zu  neuen  psychologischen  Untersuchungen 
den  Grund   zu  legen,   fortfahren. 

Nur  eine  Bemerkung,  welche  bey  den  eben  angedeuteten  Unter- 
suchungen, und  noch  bey  manchen  andern  in  Betracht  kommen  wird,  soll 
hier  anhangsweise  eine  Stelle  finden. 

§  93' 
Mehrere  Vorstellungen,   die  durch  verschiedene  Ursachen  zur  Schwelle 
gesunken  waren,   können  entweder  durch  die  Wirkung  den  Verschmelzungs- 


*  Diese  Untersuchungen  mögen  Andre  fortsetzen.  Sie  können  sehr  wichtig  wer- 
den in  Hinsicht  auf  Alles,  was  sich  mit  zwischenfallendcn  Pausen  im  Gemüthe  gleich- 
mäfsig  wiederhohlt ;  auf  die  Stöfse  erneuerter  Anstrengung  ;  desgleichen  auf  Hebung  und 
Senkung  in  der  Metrik  und  Musik. 

Herbart's  Werke.     V.  25 


-g(j  XI.    Psychologie  als  Wissenschaft. 

o 


und  Complications-Hülfen,  oder  weil  sie  zugleich  frey  von  einer  Hem- 
[3i5]mung  werden,  gleichzeitig  wieder  ins  Bewufstseyn  hervortreten.  Man 
würde  sich  irren,  wenn  man  die  Hemmung,  welche  sie  jetzo  wider  einander 
ausüben,  nach  den  ersten  Grundsätzen  der  Statik  ermessen  wollte.  Dieselbe 
ist  beträchtlich  kleiner;  denn  die  Hemmungssumme  entsteht  jetzt  nur  all- 
mählig  durch  das  Steigen  der  entgegengesetzten  Vorstellungen,  während 
sie  bey  solchen,  die  zugleich  aus  dem  ungehemmten  Zustande  sinken, 
gleich  Anfangs  vollständig  vorhanden  ist,  und  ihre  volle  Wirkung  äufsert. 
Eine  ganz  kurze  Berechnung  für  zwey  Vorstellungen,  die  mit  einander 
steigen,  kann  dies  genugsam   erläutern. 

Dieselben  seyen  a  und  b;  was  von  ihnen  hervorgetreten,  heifse  « 
und  ß ;  der  Hemmungsgrad  sey  =  m.  So  ist,  wenn  a  >  b,  die  Hem- 
mungssumme nach  Verlauf  der  Zeit  /,    oder  S,   =  mß.      Davon    sinkt   im 

.  .  .     bmßdt 

Zeittheilchen  dt  der  Theil   »iß  dt;    und  dieser   ist    zu   zerlegen    in    — - — -, 

a  -\-  b 

amßdt  ,  . '       '.'  ..  ', 

welches  von  a,  und  in   — - — -,   welches  von  /;  gehemmt  wird.     JNun  würde 

a  -j-  b 

ohne   Hemmung    das  Steigen  von  b   ausgedrückt  durch   dß  =  (b  —  ß)dt; 

also  mit  der  Hemmuno: 

amßs 


*ö 


/  a»iji\ 


,        b  7  \  .       am 

woraus  8  -—  —    i  —  e  —  **]   wenn  /.  =  i  A -— . 

x   \  /  a-\-ö 

Also    ß   nähert    sich    der  Gränze    — .      Es  sey  m=i,   a  =  b,    so  ist 

/.  =  i  -| -,    und    b  und    a    können    zusammen    steigen    bis    zu  —  ihres 

Werths.  Eben  diese  Vorstellungen,  wenn  sie  aus  dem  ungehemmten  Zu- 
stande mit  einander  sinken,  müssen  sich  hemmen  bis  zur  Hälfte  ihres 
Werths.  Der  Unterschied,  der  sich  hier  zeigt,  ist  besonders  merkwürdig 
wegen  der  innigem  Verschmelzung,  die  aus  dem  gemeinschaftlichen  Steigen 
hervorgehn .  mufs.  Man  denke  an  den  Werth  häufiger  Wiederhohlung  beym 
Lernen,  erneuerter  Versuche  im  Forschen;  und  ganz  be [3 1 6] sonders  an 
den  Unterschied  der  spätem  und  der  frühern  Jahre  in  Ansehung  dessen, 
was  oftmals   wiederkehrend  bearbeitet  wird. 


Fünftes  Capitel. 

Vom  zeitlichen  Entstehen  der  Vorstellungen. 

§  94- 
Es  mag  scheinen,  dafs  dieses  Capitel  hätte  das  erste  dieses  Ab- 
schnitts seyn  sollen ;  indem  die  Vorstellungen  erst  entstehen  müssen,  ehe 
sie  da  seyn  können.  Aber  es  wird  sich  bald  zeigen,  wie  schwierig  die 
vorstehenden  Untersuchungen  ausgefallen  wären,  wenn  wir  in  ihre  Vor- 
aussetzungen den  zeitlichen  Ursprung  der  Vorstellungen  aufgenommen  hätten. 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  ^87 


Der  Gegenstand,  den  wir  jetzt  auffassen,  gehört  zunächst  der  all- 
gemeinen Metaphysik.  Man  wolle  zuvörderst  das  dritte  Capitel  des  ersten 
Abschnitts  wieder  nachlesen;  an  dessen  Ende  der  Satz  vorkam,  dafs  die 
Vorstellungen  nichts  anderes  sind  als  Selbsterhaltungen  der  Seele  in  ihrem 
eignen  Wesen;  wobey  denn  die  Mannigfaltigkeit  der  Vorstellungen  von 
der  Mannigfaltigkeit  der  Störungen  herrührt,  welchen  die  Seele  in  jeder 
Selbsterhaltung  widersteht. 

An  den  Begriff  der  Störung  knüpft  sich  in  der  allgemeinen  Meta- 
physik der  Begriff  des  Zusammen ;  welches  ein  unvollkommenes  seyn  kann, 
und  alsdann  Grade  hat,  die  auf  das  vollkommene  Zusammen  wie  Brüche 
auf  die  Einheit  müssen  bezogen  werden. 

Dem  vollkommenen  Zusammen  entspricht  die  vollkommene  Störung 
und  die  vollkommene  Selbsterhaltung,  —  welche  letztere  hier  eine  Vor- 
stellung im  Maximum  der  Stärke  seyn  würde,  dergleichen  sich  in  der  Er- 
fahrung [317]  nicht  nachweisen  läfst.  Gleichwohl,  indem  die  Grade  des  Zu- 
sammen auf  Grade  der  Störung  und  auf  Grade  der  Selbsterhaltung  hin- 
deuten, mufs  das  Maximum  der  Stärke,  die  eine  Vorstellung  erhalten 
könnte,  als  die  ideale  Einheit  angesehen  werden,  wovon  jedes  wirkliche 
Vorstellen  ein  Bruch  ist. 

Wie  die  Seele  gestört,  und  dadurch  zu  Vorstellungen  gebracht  werde, 
ist  nicht  blofs  eine  einfache  metaphysische,  sondern  zugleich  eine  höchst 
verwickelte  physiologische  Frage,  über  welche  ich  an  diesem  Orte  gänzlich 
schweigen  mufs. 

Hier  aber  bemerke  man  vorzüglich,  dafs  einmal  gebildete  Vor- 
stellungen in  der  Seele  bleiben  (sonst  könnte,  nach  den  obigen  Unter- 
suchungen, nimmermehr  ein  Selbstbewufstseyn  zu  Stande  kommen);  dafs 
also,  wenn  eine  gewisse  Störung  eine  Zeitlang  dauert,  alsdann 
das  in  jedem  Augenblick  neu  entstehende  Vorstellen  sich  an- 
sammelt, demnach  ein  Integral  ergiebt,  woran  das  augenblicklich  erzeugte 
Vorstellen  das  Differential  ist. 

Dies  Differential  nun  wäre  constant,  und  sein  Integral  verhielte  sich 
gerade  wie  die  Zeit,  wenn  die  augenblickliche  Zunahme  des  Vorstellens 
sich  immer  gleich  bliebe.  Alsdann  aber  ginge  das  ganze  Quantum  des  an- 
zusammelnden Vorstellens  ins  Unendliche,,  so  wie  die  Zeit. 

Giebt  es  hingegen  ein  Maximum  der  möglichen  Stärke  für  jede  Vor- 
stellung, so  sieht  man  auf  den  ersten  Blick,  dafs  die  augenblickliche  Zu- 
nahme, oder  jenes  Differential,  sich  verhalten  mufs  wie  die  Entfernung  vom 
Maximum.  Alsdann  nämlich  ist  ursprünglich  die  Möglichkeit,  eine  solche 
Vorstellung  zu  erzeugen,  eine  endliche  Gröfse;  und  diese  Möglichkeit 
nimmt  um  eben  so  viel  ab,  als  wieviel  das  Quantum  des  schon  erzeugten 
Vorstellens  der  nämlichen  Art,  beträgt.  Wir  werden  dieselbe  mit  dem 
Namen  der  Empfänglichkeit  bezeichnen.  Sie  sey  ursprünglich  =  <f  ; 
und  folglich  7  eine  Constante;  im  [318]  Laufe  der  Zeit  /  werde  erzeugt  ein 
Quantum  des  Vorstellens  =  z,  so.  beträgt  am  Ende  von  t  die  Empfäng- 
lichkeit noch  ff  —  z.  Ferner  die  Stärke  der  Störung  sey  =  ß  (hiebey 
denke  man  sich  die  Stärke,  mit  der  ein  sinnlicher  Eindruck  gegeben  wird, 
also    die  Helligkeit   einer    Farbe,   die    Intensität    eines  Geruchs,   eines  Ge- 

25* 


^yg  XI.   Psychologie  als  Wissenschaft. 

schmacks,  eines  Tons);    auch  bleibe  ß   der  Kürze  wegen  unverändert:    so 
haben  wir  die  Gleichung 

ß  (ff  —  z)  dt  =  dz 
woraus  z  =  ff  (i  —  e  —  ßt) 

In  unendlicher  Zeit  wird  z=  <p}  oder  erreicht  das  fortdauernd  an- 
wachsende Vorstellen  sein  Maximum. 

Ungeachtet  der  physiologischen  Dunkelheiten  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung werden  wir  die  eben  gefundene  Formel  ferner  zum  Grunde 
legen.  Sie  enthält  das  einfachste  Gesetz  über  den  Anwachs  eines  gleich- 
artigen Vorstellens  während  der  Dauer  einer  sinnlichen  Affection,  was  wir 
annehmen  können,  wenn  wir  nicht  diesen  Anwachs  der  Zeit  proportional 
glauben  wollen.  Dem  widerspricht  aber,  nicht  blofs  der  allgemein  -  meta- 
physische Grundsatz,  dafs  in  jedem  Wesen  jede  Selbsterhaltung,  die  aus 
dem  vollkommenen  Zusammen  dieses  Wesens  mit  einem  andern  Wesen 
hervorgeht,  anzusehen  ist  als  die  Einheit  und  zugleich  als  das  Maximum, 
wonach  die  minderen  Selbsterhaltungen  beym  unvollkommnen  Zusammen 
der  nämlichen  Wesen,  abzumessen  sind:  — -  sondern  auch  die  Erfahrung; 
welcher  gemäfs,  erstlich,  zwar  jede  Wahrnehmung  eine  kleine  Zeit  erfordert, 
wenn  das  durch  sie  gewonnene  Vorstellen  einen  endlichen  Grad  von  Stärke 
unter  den  übrigen  Vorstellungen  erlangen  soll;  aber  auch  zweytens,  eine 
Wahrnehmung,  über  eine  gewisse  mälsige  Zeit  hinaus  ver- 
längert, keinen  Gewinn  für  die  dadurch  entstandene  Stärke  des 
Vorstellens  mehr  spüren  läfst.  Beydes  wird  man  durch  die  eben 
gefundene  Formel  ausgedrückt  finden.  —  Man  bemerke  noch,  dafs  aus 
derselben  [3  1 9]  die  Stärke  des  augenblicklichen  Anwachses  des  Vorstellens  oder 

dz 

§  95- 

Aus  dem  Vorigen  versteht  sich  von  selbst,  dafs  eine  Vorstellung,  die 
nicht  gerade  die  erste  ihrer  Classe  ist,  für  das  vorstellende  Wesen,  schon 
andere  entgegengesetzte  im  Bewufstseyn  antreffen  wird;  und  dafs  sie  von 
der  Hemmung  durch  dieselben  zu  leiden  hat,  schon  während  der  Zeit 
ihrer  allmähligen  Erzeugung.  Dieses  ergiebt  die  wichtige  Folge,  dafs  die 
successiv  erzeugten  Elemente  des  Vorstellens  nicht  vollständig 
verschmelzen  können;  dafs  also  die  aus  ihnen  entspringende 
Totalkraft  bey  weitem  nicht  gleich  kommt  der  ganzen  Summe 
des  Vorstellens. 

Und  hiemit  haben  wir  nun  den  Gegenstand  unsrer  nächsten  Unter- 
suchung. Es  fragt  sich  nämlich:  wie  grofs  ist  am  Ende  der  Zeit  /  der 
eigentliche  Gewinn  der  Wahrnehmung,  die  aus  den  unendlich  kleinen  Ele- 
menten erwachsene  endliche  Stärke  der  gegebenen  Vorstellung?  —  Um 
dieses  zu  beantworten,  müssen  wir  vor  Allem  den  Verlauf  der  Hemmung 
des  Wahrgenommenen  während  der  Wahrnehmung,  näher  betrachten. 

Zunächst  ist  die  veränderliche  Hemmungssuinme  zu  bestimmen.  Die- 
selbe sey  =  >',    so  nimmt  sie  im  Zeittheilchen  d/,    wegen    der   wirklichen 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien  der  Mechanik  des   Geistes.  3&9 


Hemmung  ab  um  vdt.  Sie  nimmt  aber  auch  zu  um  n  ß  (p  e  —  ß(  dt,  wenn 
7i  der  Hemmungsgrad  des  Wahrgenommenen  gegen  die  schon  vorhan- 
denen Vorstellungen.  Denn  ßqe—ßt  ist  die  Stärke  des  augenblicklichen 
Anwachsens  (§  94),  und  es  ist  kein  Zweifel,  dafs  die  erst  entstehende 
Vorstellung,  welche,  Anfangs  wenigstens,  die  schwächste  von  allen  ist,  selbst 
mit  in  die  Hemmungssumme  eingehe;  obgleich  dieses  weiterhin  sich  ändern 
kann.      (Man  vergleiche  §   52.)      Demnach 

[320]      di'=nß(fe~  ß*dt  _  vdt 

woraus    v  =  -^-^ e~  ?f  +  Ce  ~  *. 
1  — ß 

Es  können  nun  die  früher  im  Bewufstseyn  vorhandenen  Vorstellungen 
beym  Anfange  der  Wahrnehmung  noch  von  ihrem  statischen  Puncte  um 
etwas  entfernt  seyn*;  alsdann  ist  für  /  =  o  nicht  v  =  o,  sondern  v  =  S, 
wo  ^  den  Rest  bedeutet,  der  von  einer  früheren  Hemmungssumme 
noch  vorhanden  ist.     Folglich 

S~T^ß+C 


und     ,=  ±I^.e-fl'  +  (S-^L) 

1  —  ß  \  1  —<f) 


e-ßt_e-t 

Nur  für  ß  =  1    ist =  — ,   daher 

'  1   —  ß  ° 

alsdann   v  =  n  ß  q  t  e      t  -\-  Se  ~  t. 

Das  Hemmungsverhältnifs  ist  ebenfalls  veränderlich;  und  zwar,  wenn 
man  die  Sache  genau  nehmen  will,  auf  eine  höchst  verwickelte  Weise. 
Denn  erstlich:  die  frühem  Vorstellungen,  noch  in  gegenseitiger  Hemmung 
begriffen,  sind  in  einem  Mittelzustande  angefangener  und  noch  nicht  vollen- 
deter Verschmelzung.  (Vergl.  §§  68,  69  und  76.)  Zweytens:  diese  Ver- 
schmelzung wird  aufgehalten,  und  selbst  vermindert,  durch  die  hinzu- 
kommende Wahrnehmung,  welche  den  Conflict  vermehrt.  Drittens:  das 
Wahrgenommene  ist  eine  veränderliche  Kraft,  die  gegen  d.ie  Hemmung 
einen  veränderlichen  Widerstand  leistet. 

Unsre  Aufmerksamkeit  ist  jedoch  hier  nur  auf  den  letzten  Umstand 
gerichtet;  daher  wir  jene  beyden  ganz  ignoriren,  welches  um  so  eher  er- 
laubt ist,  weil  statt  der  schon  geschehenen  Verschmelzung  die  vorhandenen 
Vorstellungen  etwas  gröfser  mögen  gedacht  werden;  die  während  der  Wahr- 
nehmung noch  zunehmende  Verschmeiß 2  ijzung  aber  kaum  bedeutend 
seyn  kann,  eben  wegen  des  vermehrten  Conflicts. 

Bey  nahe  stehenden  Vorstellungen  hätten  wir  auch  noch  die  Ver- 
schmelzung vor  der  Hemmung  in  Betracht  zu  ziehn  (§  J2).  Allein  wir 
können  gröfsere  Hemmungsgrade  voraussetzen,  um  auch  diesen  Umstand 
zu  beseitigen. 


*  Dieses  ist  genau  genommen  immer  der  Fall,  weil  niemals  die  Hemmungssummen 
ganz  sinken.     Vergl.  §  74. 


^QO  XL    Psychologie  als  Wissenschaft. 

Da  wir  nun  blofs  den  veränderlichen  Widerstand  des  Wahrgenommenen 

ins    Auge    fassen:    so    sey    die    Kraft,    welche    dasselbe    dem    Druck    der 

Hemmungssumme  entgegensetzt,  vorläufig  =  x;  alsdann  läfst  sich  der  Bruch, 

welcher  das  von  dem  Wahrgenommenen  zu  hemmende  Quotum  bezeichnet, 

c 

durch  — —  ausdrücken,    wenn  c  und    c  ein  paar  Constanten  sind,  die 

ex  -\-  c 

man  aus  den  frühem  Vorstellungen  und  den  zugehörigen  Hemmungsgraden 

herleiten  mufs.    (Man  vergleiche  §   54,  und  daselbst  für  drey  Vorstellungen 

die  Formel,    welche    das  Gehemmte  der  schwächsten  Vorstellung    anzeigt. 

Dieses  ist  = ; ,— ,    das    dortige    ab  fr   heifse   hier  V,    das 

bei  -\-  ac  rt  -j-  ab  fr 

dortige  be-\-arp  womit  die  schwächste  Vorstellung,  dort  c,  hier  x,  multi- 
plicirt  ist,   —  wird  jetzo  durch  c  bezeichnet.) 

Nun  aber  tritt  die  gröfste  Schwierigkeit  hervor.  Was  soll  x  seyn? 
Es  wäre  =  z  oder  =  q>  ( 1  —  e~  ^  0 ,  wenn  am  Ende  der  Zeit  /  alles 
während  derselben  Gegebene  als  eine  Gesammtkraft  wirken,  und  sich  der 
Hemmung  widersetzen  könnte.  Aber  die  Hemmung  hat  vom  Anfang  an 
das  Wahrgenommene  verdunkelt;  sie  hat  nur  eine  mangelhafte  Verschmel- 
zung des  später  mit  dem  früher  gegebenen  gestattet.  Hätte  sie  jedes 
Element  des  Vorstellens,  so  wie  es  erzeugt  war,  auch  vollständig  auf  die 
Schwelle  des  Bewufstseyns  niederdrücken  können,  so  wäre  gar  kein  Wider- 
stand vorhanden,  denn  die  Summe  aller  vereinzelten,  unendlich  kleinen 
Elemente,  vermag  gar  nichts  wider  die  vorhandenen  endlichen  Kräfte. 
Irgend  etwas  von  Totalkräften  mufs  durch  Verschmelzung  jener  [322] 
Elemente  gebildet  worden  seyn.  Aber  wiederum  nicht  Eine  Total- 
kraft; denn  auch  was  schon  verschmolzen  war  zu  einer  endlichen 
Gröfse,  das  mufste  dennoch  fortdauernd  sinken,  wenn  schon  während  des 
Sinkens  noch  in  stets  vermindertem  Grade  verschmelzend  mit  dem  Nach- 
folgenden. 

Wir  nehmen  hier  zu  Gränzbestimmungen  unsere  Zuflucht.  Nämlich  x 
ist  kleiner  als  z,  aber  gröfser  als  z  —  Z,  wenn  Z  das  Gehemmte  vom 
Wahrgenommenen  am  Ende  der  Zeit  /  bedeutet.  Es  wäre  x  =  z  —  Z, 
wenn  blofs  z  —  Z  verschmolzen  wäre,  und  eine  Totalkraft  gebildet  hätte. 
Wegen  der  vor  Ablauf  der  Zeit  /  schon  zu  Stande  gekommenen,  aber 
unter  sich  nicht  vollkommen  vereinigten  endlichen  Kräfte,  die  einen  eben 
so  unvollkommen  concentrirten  Widerstand  gegen  die  Hemmung  leisten, 
mufs  x  etwas  gröfser  seyn,  denn  es  soll  sie  alle  repräsentiren.  Indessen 
ist  offenbar  die  Voraussetzung  x  =  z  —  Z  weniger  unrichtig  als  x  =  z. 
Nun  würde  die  letztere  Annahme  geben: 

V  v  dt 


hingegen  die  erstere  giebt 


■■  +  ' 

V  vdt 


=  dZ 


=  dZ 


c(z  —  Z)-\-\ 
das  heifst  Vr d t  =  ezd Z  —  cZd Z  +  \d Z. 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien   der  Mechanik   des   Geistes.  tqi 

\rdt 
Nun  läfst  sich  zwar r-r-  =■  d  Z  am    leichtesten    integriren;    allein 

cz-\-  i  ° 

bey    der   minder   richtigen    Annahme    wollen    wir    uns    hier    gar    nicht  auf- 
halten. * 

Die  Differential -Gleichung   könnte   Glied   für    Glied    integrirt   werden, 
wenn    nicht    czdZ  bey    gehöriger    Substi[323]tution    sich    verwandelte    in 
(fdZ  =  cq>e  —  ßf  dZ,     in    welchem    letztern    Gliede    die    veränderlichen 
Gröisen   vermengt  sind. 

Verlangt    man    keine    grofse    Genauigkeit    (dergleichen    die    Rechnung 
ihrer  ganzen   Anlage  nach  nicht  zuläfst),   so  kann  man  in  cye  —  ßt  d Z  an- 

"cvdt 
statt  d  Z  setzen 


c  z  -j-  V 
Folgendes  ist  alsdann  der  Gang  der  Rechnung. 

_  a  f         c  v  dt 
Erstlich  mufs   man   cue       "     .  -       — -—  integriren.     Durch  Substitution 

'  cz-\-  c 

der  Werthe  für  v  und  z  entsteht  hieraus 

c  n S(i  e-2Pfdt      .  \  l—ß 

c<r  •  — ~  ■  — ; zrtir  —  +  c<p 


i—ß      c(f(i  —e-ßf)-\-'c  c<p{i--e  —  P*)'+\ 

—  d*' 
Es  sev  e  —  ßt  =  x,  woraus  dt  === — - ;   so  folgt 

1  ßx 

e~2ßtdt  — xdx  — xdx 


wenn  r  = 


cq>  +  "c' 

Das  Integral,  so  genommen,  dafs  es  für  t  =  o  verschwinde,  ist 

(c<p  -f  7)_l      r         '    r2      *       r—il 


femer 


ß 

1 

e>-(i  +  ß)*dt  -xJdx 


Cfp^j  _>-£')  _|_V         ß  ■  («f  +V0  (1  -->'xj 
Hier  mufs  für  ß  ein  Werth  in  Zahlen  angenommen  werden.    Es  sey 
ß  =  — .     So  wird  das  Integral 
2 


C(P  ~\~  c 


2  —  1  x  —  1  1  rx  —  1 

2  r  '         r2         '     r3      ö       r  —  I 


*  Schon  im  dritten  Heft  des  Königsberger  Archiv  für  Philosophie  u.  s.  w.  habe 
ich  die  gegenwärtige  Aufgabe  behandelt,  und  dort  die  Rechnungen  ausführlicher  als  liier 
dargestellt,  auch  einige  Erörterungen  und  Folgerungen  umständlicher  entwickelt;  indessen 
wolle  man  lieber  die  neue  Bearbeitung  in  der  Abhandlung:  de  attrntionis  »nnsur«, 
vergleichen. 


39; 


XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Nach    dieser  Vorbereitung   nehme  man  die  ganze  vorgegebene  Diffe- 
rentialgleichung.    Sie  ist 

^^Le-ßtdt  +  \{s-^L\e-tdt  = 
I  —  ß  ~    \       I  —  ßj 

(c (f,  _|_  V)  dZ—cye-^dZ—  cZdZ. 
[324]  Danun//?^~^^=i-^  und  /  e~  fdt=  1  —  x2,  (das 
letztere  wegen  ß  =  —);  so  kommt 

(^,  +  Y>Z-  i-,#_ 

2Vrrr/)  (1  — *)-{-V  (5 — n(f)  (l  —  x2) 

1 


-J-  2  VyTf|; 


1  r# 

(^  —  1 )  H —  log.  — 

r  r  - 


x2 


-  +  - 


-j-  2  ^C  (S  7l(f) 

oder  nach  Weglassung  dessen  was  sich  aufhebt: 


ZI  +  1  A* .   ^ 

r         '     r2  r —  1  J 


2  c 
r 


1    5—  Ä9^    1         1 
Tief  -f  -  -I   log.    — 


2 

rx 


(S  71  (f)    (  I   X) 


Um  Beyspiele  zu  berechnen,  setzen  wir  zuvörderst  y=io  (obgleich 
eigentlich  q>  als  Einheit  zu  betrachten,  die  aber  durch  ihren  zehnten  Theil 
gemessen  werden  mag),  auch  sey  c  =  io,  V  =  25  (welche  Zahlen  man 
unter  andern  erhalten  kann,  wenn  man  ein  paar  frühere  Vorstellungen 
a  und  3,  jede  =  5,  und  alle  Hemmungsgrade  gleich  annimmt),  endlich 
5=i,   n  =  1 ;   so  wird 


■T_|_V=i25;  -^=5;r  =  -f;  —  =  62,5;  5  —  7ty  =  —  9; 


,5 —  TT«)  1  —  rx  c<p  , 

na  4 =  —  1,25  ;  -=5—4*;  endlich    —  =  4,    und  log. 

'  r  1  —  r  c 

nat.  4=  1,38629...     Demnach  wird  die  Formel: 

Z2  —  2s Z=i 2,5  [1,25  log.  (5  —  4*)—  9(1  —  *)]. 

Man  sieht  sogleich,  dafs  für  /  =  00  ,  Z  einen  endlichen,  sehr  mäfsigen 
Werth  erlangt.  Derselbe  ist  =  4,199  ..  .  Aber  diesem  Werthe  nähert 
sich  Z  sehr  bald.  Schon  für  t  =  3  ist  Z  =  2,964  . . .  Für  /  =  ^-findet 
sich  Z=  0,1085. 

In  der  ersten  der  oben  angeführten  Abhandlungen  habe  ich  aus  der 

Kcvdt  . 

Differentialgleichung,    ohne    dZ= —  in  dieselbe  zu  setzen,    aut  eine 

cz  -j-  C 

hie  von  ganz  verschiedene,  sehr  mühsame  Weise,  ein  kleines  Täfelchen  be- 
rechnet, worin  die  zusammen  gehörigen  Werthe  von  z,  Z,  und  z  —  Z  sich 
bey  einander  finden.     Es  ist  folgendes: 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


393 


[325] 

'            2 

*■-* 

*-'- 7 

ß  =   1 

•S"  =  3.125 

S  =  0 

5  =   1 

•S"  =  3,125 

71     =     0,78l25 

TT    =     0,78125 

n  =    1 

n  =   0,78125 

2 

2    =    2,2119 

Z  =   1,3824 

2    =    2,212 

Z  =  0,253 

0  =    2,212 
Z  =  0,652 

2  =   3,93 
Z  =   1,24 

0,8295 

1.959 

1,560 

2,69 

t     =      I 

*  =  3.9347 
Z  =  2,4592 

^    ==    3,935 

Z  «  0,671 

*  =  3,935 
Z  =   1,330 

2    =    6,32 
Z   =    2,12 

L4755 

3,264 

2,605 

4,20 

/    =    2 

z  =  6,3211 

z  =  6,321 

2  =  6,321 

z  =  8,65 

^  =  3.95°7 

Z  =   1,390 

Z  =  2,530 

Z  =  3,21 

2,3704 

4,931 

3,791 

5,44 

'  =  3 

z  =  7,7686 

z  =  4,8554 

2  =  7,77 
Z  =   1,89 

2  =  7.77 
^  =  3.33 

2  =  9,50 

z=  3,71 

2,9132 

5,88 

4,44 

5.79 

t  =  4 

2  =  8,6466 

Z  =  5.4041 

2  =  8,65 
Z  =  2,20 

2  =   8,65 
Z  =  3,84 

z  =  9,81 
Z  =  3,92 

• 

3,2425 

6,45 

4,81 

5,89 

/  =  00 

2  =   10 

z  =    10 

2  =    10 

2  =    10 

Z  =     6,25 

Z  =     2,7 

Z  =     4,64 

Z  =     4,1 

3,75 

7.3 

5,36 

5.9 

Zu  diesem  Täfelchen,  welches  unter  den  oben  erwähnten  Gränz- 
bestimmungen  diejenige  ergiebt,  die  der  Wahrheit  am  nächsten  kommt, 
gehört   noch    folgendes,    minder   vollständige,    zur  Andeutung    der    andern 

Gränze,    aus  dZ  —  - — — . 

cz  -f-   c 


[326] 

f-T 

*-T 

1            2 

/»  =   1 

■S  =  3,125 

5  =  0 

6'  =   1 

S=  3,125 

71    =    0,78l25 

71     =     0,78125 

71     ==      I 

TT     =     0,78l25 

2 

Z  =    1,138 

Z  =  0,244 

Z  =  0,599 

Z  =   1,066 

/     =       I 

Z  =    1,845 

Z  =  0,614 

Z  =   1,180 

Z  =    1,756 

/     =      4 

Z  =  3,486 

Z  =   1,918 

Z  =  2,957 

z  =  3.177 

/     r=     00 

z  ==  3.915 

■?  =3?   2,334 

Z  =  3.494 

Z  =  3.333 

->q  i  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Vergleicht  man  mit  beyden  Täfelchen  die  vorhin  gefundenen  Werthe 

von  Z.    so  sieht  man,    dafs    dieselben    zwischen  den  Gränzen  liegen;    wie 

natürlich,    indem  bey  der  hier  gebrauchten  Methode  beyde  Gränzen,    ver- 

\vdt 

möge  der  gemachten  Substitution,  dZ  =  :— — -,    gewissermaalsen    ver- 

00  cz  -\-   c 

mischt  worden. 

Diese  Methode  giebt  also  wahrscheinliche  Werthe;  nur  ohne  Be- 
stimmung, wie  weit  man  fehlen  könne.  In  Hinsicht  der  letztern,  und 
überhaupt  wegen  der  sorgfältigem  Behandlung  dieses  Gegenstandes,  be- 
ziehe ich  mich  auf  die  angeführte  Abhandlung. 

§  9ö. 
Man   kann   fordern,    die  Gröfse  ß   solle  veränderlich  seyn,    d.  h.  die 
Wahrnehmung  solle  an  Stärke  zu-  oder  abnehmen.     Nur  kurz  wollen  wir 
diesen  Gegenstand  hier  berühren. 

In  der  Gleichung  ß  (ff  —  z)  dt  =  dz  (man  sehe  §  94),  sey  ß  =  t't, 
eine  Function  der  Zeit;  so  kommt 

dz  +  z/t  dt  =  ffftdt 
woraus  z  =  e— fftdt  .   (/  e fftdt  (fftdt  -f    C). 
Nun  kann  man  überlegen,  welche  Form  man  der  Function  von  /  geben 
wolle,  damit  nicht  schon  diese  erste  Integration  erschwert  werde. 

Es  sey  ft  —  f-    -,  welcher  Form  man  durch  Ab[32  7]änderung 

m   -j-   71 1 

der  Werthe  von  p,  ?n,  n,  mannigfaltige  Bedeutungen  geben  kann.  (Die 
Buchstaben  p,  m,  n,  haben  hier  nicht  mehr  die  Bedeutung,  wie  im  vorher- 
gehenden §.)     So  ist  /  //  dt  =  —  log.  (m   -f-  nt)  und 

P_  P_ 

efftdt  =  {m  _)_  „/)  ";  ferner  (ff  efftdt  ftdt  ==  (f  (vi    -\-    nt)  n> 


—     (  —  \ 

"   .   [cf   (m   +   «/)«+   Q) 


daher  z  ==  (m  -\-  nt) 

_  L 
=  (p  -\-    C  (m  -f-   nt)       n 
oder  endlich,  damit  z  =  o  für  /  =  o, 

z  =  y  \i    —   mn  .  (m   -f   nt)      n) 

nt 

für  p  =  n  wird  hieraus  z  =  a<  .  : — 

T       m   -\-  nt 

mint  4-   n2 12 

für  p  =   2n  wird  2  =  a  .  —. -^ — -r— -,  u.  s.  w. 

(m   -\-  nt)2 

Wird  /  =  00,  so  ist  ß  =  — —  ,    und   z    gelangt   zu    seiner   Gränze 

n   00 

=  <f.     Das  Gesetz  der  abnehmenden  Empfänglichkeit  bewirkt, 

dafs  bey  verminderter  sowohl  als  bey  gleichbleibender  Stärke 

der  Wahrnehmung  in  unendlicher  Zeit  doch  einerley  Quantum 

des  Wahrgenommenen  herauskommt. 


Dntter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  ?gr 

Soll  aber  die  Stärke  der  Wahrnehmung  wachsen:  so  mufs  n  negativ 

P 

seyn.     Alsdann   gilt   die    Formel  ß  = , nur  bis  m  =  —  n t,  oder 

m   -}-   nt 

m 

bis    /  =   —  — ,    wofür  ß  unendlich  wird.      Es  kann    aber  in  grofs  genug 

genommen   werden,  damit  diese  Zeit  sich  erstrecke  so  weit  man  will. 

Setzt  man  nun  p  =   —   n,  so  wird  z  =  -£-=—.    Für  /= 

m  n         p 

({  P 
ist  wiederum  z  =  a.     Zugleich  ist  dz  =  —  dl.     Demnach :   unter  der 

tn 

jetzigen  Voraussetzung  erreicht  z  [328]  seine  Gränze  in  einer  endlichen 
Zeit,  und  sein  Differential  ist  constant.  Wir  haben  also  hier  auch  rück- 
wärts dasjenige  Gesetz  der  anwachsenden  Stärke  der  Wahr- 
nehmung gefunden,  vermöge  dessen,  ungeachtet  der  abnehmen- 
den Empfänglichkeit,  das  Quantum  des  Wahrgenommenen  der 
Zeit  proportional  bleibt. 

Erneuern  wir  nun  die  obige  Frage  nach  dem  Verlauf  der  Hemmung 
des  Wahrgenommenen  während  der  Wahrnehmung:  so  ist  allgemein 

dv  =   np(f--m  n    (m   +   nt)      v "  '   dt   —    vdt 

(  L   ■        -(-  +  ■) 

v==e—t\fet,np  (f  m  n    (jn  _|_M/)  \n  I  dt  -  -   Cj 

P 
Man  setze 1-  1  =  g,  so  kömmt  es  nun  darauf  an,  et  (m  -X-n{\  —  qdt 

zu  integriren.     Zur  Umformung  sey  ef  =  x,   so  bekommt   das  Differential 

diese  Gestalt: 


Es  ist  d 
folglich     ^ 


(m  -\-  n  log.  x)  ?  ' 

x  dx  an dx 


(in  -\-  n Ix)  «        {tu  -j-  n Ix)  «        (in  -\-   nix)  a -\-  1 
dx  1  x  1      r         dx 


x  1      r 

n-lx)a  an  J  ( 


(m  -\-  nix)  «  +  1  an  '  (tn  -\-  n-lx)a  an  J  (111  -\-  nix)  « 

Hieraus    kann    eine    Reductionsformel    gebildet    werden,    die    bis    «  =    1 
herabläuft.      Und 

dx  1  m       .      m 

—  —  e  li  .  e       "1  e 

m-\-nlx         n  n  n 

Hier  bedeutet    li  so    viel    als    Integrallogarithmus*;    und    es    ist 

/dx 
.     Die    eben    angegebne  Formel    findet    man   auf   folgende 

Weise:     Es  ist 


*  Von  den  Integrallogarithmen  sehe  man  Soi.DNER's  theorie  et  tables  d'une  nouvelle 
fonction  transcendante,  ä  Afunic.  1809;  und  Herrn  Professor  Bessel's  Aufsatz  im  ersten 
Stück  des  Königsberger  Arclnv's  für  Naturwissenschaft  und  Mathematik. 


9g5  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

r      dx               r    et  dt            i     f    et  dt  . 

n 2 q\    / ; =-  =  I  : =  —  / ;    und  es  ist  zugleich 

J  m  +  nlr       J  m  +  w/        n  J   m    i 

w  4-  2 
«*  —    '  m 

~  +  t        en         dt  —       et  dt 

d  .li  .e   n  =- =  e 


m     .  m     . 

-.+  /  -  +  / 

n  71 

Doch  genug  um  ermessen  zu  lassen,  in  welche  Schwierigkeiten  sich 
die  Berechnung  von  Z  und  z  —  Z  für  abnehmende  Stärke  der  Wahr- 
nehmung   verwickeln    würde.     Hingegen    der    oben   bemerkte  Fall  der  zu- 

(fpt 
nehmenden  Stärke ,    wo  z  =  - — ,  ist  leichter  zu  behandeln.    Für  diesen  ist 

m 

n  qp 
dv  =  — f—  dt  —  vdt, 
m 

m 

Um   nun   der  Differential  -  Gleichung  \vdt  =  czdZ — cZdZ  -\-"cdZ 

einen  bequemen  und  wahrscheinlichen  Ausdruck  abzugewinnen,  setzen  wir, 

c  v  dl 

wie    vorhin,    in  c z dZ  wiederum  dZ  — -— ;  und  suchen  zuerst  Je z dZ. 

ez-\-  e 

.     ,         ......  ,    .-       ^l)e-')äl 

cz  .   cvdt                     \   7ii          \            ml          I 
Es  ist  j-r—  = -. : wovon  das 

c  "'  ftf  +  v) 

_            e\n<f2p2tdt     ,  .  ,  .  _ 

erste  Glied  — : — ; r-  leicht  zu  integnren  ist.    Denn 


M-I-+(* 


m 


(cypt  -\-m  c 


I. 


ltdt  \t  v 


los. 


fll-\-V  [u  (l2  (.lt-\-V 

welches  =  o  für  /  —  o.     Mehr  Mühe  macht  das  zweyte  Glied 


Scypis  —  ltlz\  e  —  ttdt 


ceppt  -\-  nie 

te  —  tdi 
Denn    die   Form führt  auf  Integrallogarithmen. 

r       -i  twt      ,.  ,                 te  —  tdt      .      .,                                   i     te—tdt 
330    Nämlich  anstatt  , schreibe  man  zuvörderst — . . 

Nun  ist  ferner 


tli  .  e        \  el=dtU.e~\il 


d.tli.e~~\     '     tl  =dlU  .  e~~\     '     e  /   -{-  e  ~  T .  iLll— 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  397 


,■"-">'      tL     -('+t)     „„.    A'  +  t) 

also  /-       —  =  '     •  L"'-'  •l—fitk.t 

J         t    — 1—    

Die  Exponentialgröfse  *        \         *  '  —  e        \        c<fP!   ist  äufserst  klein, 
sobald    man,    um  i  nicht    in  zu   enge  Gränzen  einzuschliefsen ,    m  einiger- 

m 

maafsen    grofs    nimmt  (indem  nach   dem  obigen  /  höchstens  =  — ).      Aber 

die  Integrallogarithmen  ganz  kleiner  Gröfsen  verstatten  einen  sehr  bequemen 

/'  dx  x  f  dx 

abgekürzten  Ausdruck.     Es  ist  allgemein   U .  x  =   I  --    _j_  —  _j_  /  -^- ; 

eine  Auflösung,  die  man  beliebig  fortsetzen  kann,  und  wobey  für  kleine 
x  allemal  das  am  Ende  zurückbleibende  Integral  viel  kleiner  seyn  mufs, 
als  die  entwickelten  Glieder.     (Man  stelle  sich,  wie  schon  Herr  Soldner 

erinnert,    die  Differentiale    - -  ,  -J— ,  -y*-,  u.  s.  w.  als  Differentiale  einer 

Ix    {Ix)2     (lx)i 

I        I 
Fläche  vor,    welche  bestimmt  wird  von  den  Ordinaten   — ,      .  u.   s.  w. 

so   ist    offenbar  die  Fläche    /—  für  ein  kleines  x  eine  sehr  kleine  negative 

J    Ix 

Gröfse;    aber   /       *     ist  noch  viel  kleiner,    und  kommt  neben  -,  —    wenig 
J  (/*)*  lx 

oder  gar  [331]  nicht  in  Betracht.)      Es  sey  nun  e  6     =y,  daher 

(-I  =  —  dt,  so  ist  f  dtli  .  e        ^  E'  =  / H  .  y.    Setzen  wir  hier 

y  y 

abkürzend    li .  y  =  —-,   so  haben  wir  /  —  -y-    oder  —   li  .  y ;      und    dem 

ly  ty 

zufolge 


/ 


ie  —  t  dt  ee  —■('  +  -) 

=  —  .  (t  -\-   1)  li.  e         \  «/ 


worin,    wie    bekannt,    (  =  Cq>pt     und    t]  =  vic.       Auch    ist    noch    mit 
c'ccfp    IS  —   —  :  j  zu  multipliciren,    um    das    zweyte    Glied    von  fczdZ 

zu  haben. 

Jetzt  ist  /"er dt  zu  bestimmen.      Und  es  findet  sich 

revdt  =  ^^-  (t  4.  e  -  *)  -  KcSe-t 

m 

Zusammen  genommen  ergiebt  sich 


398 


XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


UZ? 

2 


vz= 


\S{e  —  t  —  i)  — 


'  71  (f'P 


m 


+ 


c  Cny  2p 


vi 


+ 


cyp       c   'f2p 


log- 


0 


VI  c 


Capt- 


in c 


+  V    5 


?rqp/ 


;« 


(/+!)//.« 


c9/    _ 


/z'.<? 


17  <Pl> 


Zum  Gebrauche  dieser  Formel   bedarf  es  zuvörderst  einer  Bemerkung 

über    die    Gröfse     S.       Nämlich     die    Stärke    der    Wahrnehmung,     oder 

p  ... 

ß  =   ,    ist    während    des    gröfsten    Theils    der    Zeit    sehr   gering, 

tn  —  pt 

wenn  vi  grofs    ist   gegen  p.     Allein    im   Anfange    der  Wahrnehmung,    also 

für  t  =  o    ist    das    Gehemmte    =   Sdt\    während    das    Wahrgenommene 

=  ßydt.     Jenes  darf  nicht  gröfser  seyn  als  dieses,  also  S  nicht   >   ßy. 

Soll  daher  das   Wahrgenommene  von  Anfang  an  zum  Theil  verschmelzen, 

und  eine  endliche  Gröfse  erlangen,  so  mufs  bey  der  jetzigen  Untersuchung 

S  entweder  sehr  klein,  oder  =  o  genommen  werden.     Der  Kürze  wegen 

geschehe  hier  das  Letz[332]tere.    Auch  sey  p  =  i,  und  vi  =  ctp;  über- 

y 

dies  werde  bey  den  Integrallogarithmen  die  obige  Abkürzung  h'.jr=  — — 

angewendet;    so    können    wir    die  Formel    auf   folgende  Weise  zusammen- 
ziehn : 


Z*  — 


2    C 


Z  = 


2ir  c 


+  V  log. 


+ 


/-f  V 

Setzt  man,  wie  oben,   (f  =    io,  c  =   io,    c  = 
sich  zusammen : 

für  t  =      i  für  t  =     4  für  t  =      io 

Z    =    0,1  3    =    0,4  2=1 

Z  =  0,036  Z  =  0,294  Z  =  0,91 


('+!)« 

/  +  \ 


—  t 


25- 


7i   1  ;   so  findet 


für  t  =      15 

^  =  i>57 
—  0,07. 


0,004  0,106  0,09 

Offenbar  ist  der  letztere  Werth  von  Z  unbrauchbar,  denn  das  Ge- 
hemmte kann  nicht  gröfser  seyn  als  das  Wahrgenommene.  Aber  er  ver- 
räth,  dafs  irgendwo  der  Rest  des  Wahrgenommenen  ein  Maximum  hatte, 
und  weiterhin  =  o  wurde,  ungeachtet  die  Summe  der  elementarischen 
Wahrnehmungen  nicht  blofs  zunimmt,  sondern  sogar  die  Stärke  der  Wahr- 
nehmung im  Wachsen  begriffen  ist.  Dies  erklärt  sich  aus  der  vermehrten 
Spannung  der  entgegenwirkenden  Vorstellungen.  Rückwärts,  aus  der  an- 
fänglich äufserst  geringen  Spannung  der  letzteren  ist  einzusehn,  wie  es 
überhaupt  möglich  war,  dafs  bey  den  angenommenen  Gröfsen  noch  irgend 
ein  positives  z  —  Z  herauskommen  konnte.  Der  Annahme  c  =  IO, 
\  =  25,  entsprechen  ein  paar  gegenwirkende  Vorstellungen  a  und  b, 
jede  =   5 ;    aber    die  Stärke    der  Wahrnehmung,  oder  ß,    ist  bey  /  =  o, 

nur  —  ;  bey  t  =    1 5  noch  nicht  mehr  als 


85' 


*  Die  Untersuchung   dieses  §  gebe   ich    unvollendet,    wie    sie   ist;    weil  sie,    ohne 
mir  besonders  wichtig  zu  seyn,  Andre  veranlassen  kann  weiter  zu  gehn. 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


399 


§  97- 

Die  Untersuchungen  des  zweyten  und  dritten  Capitels  beruheten  auf 
der  Voraussetzung,  dafs  eine  neue  [333]  Vorstellung  plötzlich  zu  den 
schon  vorhandenen  hinzutrete.  Diese  Voraussetzung  kann  der  Wahrheit 
nahe  kommen,  da,  wie  wir  jetzt  sehen,  bey  etwas  bedeutender  Stärke  der 
Wahrnehmung  eine  sehr  geringe  Zeit  hinreicht,  um  eine  mäfsig  starke 
Vorstellung  entstehen  zu  machen.  (Man  setze  z.  B.  im  §  95,  ß  =  3, 
oder  gar  =  10;  und  man  wird  sehen,  wie  wenig  Zeit  nöthig  ist,  damit 
sich  eine  Stärke  des  Vorstellens  erzeuge,  die  den  Beyspielen  des  zweiten 
und  dritten  Capitels  entsprechen  könne.  Es  versteht  sich,  dafs  hier  von 
Verhältnissen  der  neuen  Vorstellung  gegen  die  vorhandenen  die  Rede 
ist,  da  wir  für  das,  was  Wenig  oder  Viel  sey,  keinen  andern  Maafsstab 
haben;  was  aber  das  Zeitmaafs  anlangt,  so  wird  darüber  erst  im  zweyten 
Theile  etwas  können  gesagt  werden,  woraus  zu  erkennen  ist,  dafs  man 
sich  die  Zeit-Einheit,  im  Vergleich  mit  unsern  Minuten  und  Secunden,  als 
eine  nicht  ganz  kleine   Gröfse  zu  denken  hat.) 

Es  kann  aber  auch  begegnen,  und  begegnet  meistens,  dafs  eine 
schwächere  Wahrnehmung  erst  durch  längere  Dauer  eine  Vorstellung  zu 
ihrer  Energie  erhebt;  und  alsdann  entsteht  die  Frage,  welche  Abände- 
rungen daraus   für  jene  früher  betrachteten  Ereignisse  entspringen? 

Zuvörderst,  dasjenige  Sinken  der  schon  vorhandenen  Vorstellungen, 
welches  die  Hemmung  des  Wahrgenommenen  begleiten  mufs,  ist  aus  den 
vorhergehenden  Formeln  leicht  zu  berechnen.  Die  ganze  Hemmungssumme 
war  =  »',  das  Gehemmte  in  jedem  Augenblick  =  rdt\  das  Gehemmte 
am  Ende  der  Zeit  /  ist  =fvdt;  folglich  fvdt  —  Z  ist  dasjenige,  was 
von  den  früher  vorhandenen  Vorstellungen  zusammengenommen  gehemmt 
wird,  und  welches  man  nur  nach  den  Hemmungsverhältnissen  vertheilen 
mufs,  um  das  Sinken  jeder  einzelnen  von  diesen  Vorstellungen  zu  be- 
stimmen. 

Ferner,  hieraus  ergiebt  sich  auch  das  Gesetz  für  eine,  dem  Wahr- 
genommenen gleichartige,  ältere  Vorstellung,  die  sich  jetzo,  da  sie  von  der 
Hemmung  frey  wird,  wieder  ins  Bewufstseyn  erhebt.  Wir  verweilen  hie- 
bey  we[334]nigstens  in  so  fern,  als  nöthig  ist,  um  den  Anfang  dieser 
Wieder -Erhebung  kennen  zu  lernen,  der  sich  nach  §  82  verhält  wie  das 
Quadrat  der  Zeit.  Die  dortige  Formel  (x  • — y)dt=dy  wird  uns  auch 
hier  leiten;  jedoch  ohne  Rücksicht  auf  die  im  §  84  erwogene,  schwer  zu 
berechnende,  aber  ziemlich  unbedeutend  gefundene,  Wirkung  der  Ver- 
schmelzungshülfe.  Auch  werde  eine  gleichförmig  beharrende  Stärke  der 
Wahrnehmung  vorausgesetzt,  also  die  Rechnung  an  jene  des  §  95  an- 
geknüpft. 

Hier  nun  würden  wir  auf  jeden  Fall  die  Formel  für  Z  viel  zu  ver- 
wickelt finden,  um  sie  in  einen  fernem  Calcül  einzuführen,  böte  sich  nicht 
ein  Abkürzungsmittel  dar.  Man  habe  nämlich  eine  Reihe  berechneter 
Werthe  von  Z  vor  sich,  etwa  wie  das  Täfelchen  jenes  §  sie  angiebt.  Als- 
dann ist  leicht  zu  erkennen,  dafs  Z  sich  nahe  durch  2  ausdrücken  läfst; 
wenn  man  die  Zeit  t  nicht  zu  grofs  nimmt;  hier  aber  kommt  es  uns  blofs 
auf  den   Anfang  der  Zeit  an.     Es  sey  Z  =  C  -J-  az  -J-  Kbz2.    So  ist  gewifs 


400 


XI.  Psychologie  als   Wissenschaft. 


C  =  o ,  denn  Z  und  z  sind  zugleich  =  o.  Man  braucht  also  nur  ein 
paar  berechnete  Werthe  von  Z  nebst  den  zugehörigen  z,  um  hieraus  die 
nöthigen  Constanten  "a  und  "b  zu  bestimmen,  so  wird  die  Formel  sehr 
nahe  auch  die  zwischenfallenden  Werthe  von  Z  aus  den  ohne  Mühe  zu 
findenden  z  herleiten  helfen. 

Dies  vorausgesetzt,  so  ist  nun  / vdt  —  "az  —  b"z2  an  die  Stelle  jenes  x 
im  §  82  zu  setzen,  das  die  Entfernung  desjenigen  Punctes,  wohin  y  strebt, 
von  der  Schwelle  des  Bewufstseyns ,  bezeichnete;  indem  y,  das  Hervor- 
tretende der  älteren  Vorstellung,  sich  gleichsam  in  dem  Räume  auszu- 
dehnen strebt,  welcher  frey  wird  durch  das  Zurückweichen  der  Kräfte,  von 
denen  es  gehemmt  war.     Und  so  haben  wir  nun  anstatt  (x — y)dt  =  dy 


folgende  Gleichung: 


az 


sbz2  —  y)  dt  =  dy. 


{/vdt 
Zuerst  folgt  hieraus 

y  =  e      *  f  et  \_fvdt —  "az  =  "bz:]dt. 
[335]    Man  nehme  nun   v  aus  §   95;  nämlich 


»  +  (*-*$ 


daher  f  v  dt 


71  q 


ß 


71  ßq 


{i-e-P^  +  lS 


nßq>\g_t 


l-ß. 

71  ß  q 


•  c 


'), 


ferner  z  =  q  (1  — e      &*),   also 

"az^-"bz2  =  "aq~\-"bq2  —  (aq  -f  2"bq2)e~ ^ 
Hieraus  wird  nach  gehöriger  Rechnung: 


y  = 


TT  ff 

l-ß 

+  s- 

Tißq 
l—ß 

—  tW 

=  "bq2> 

-        bq2 

TT  (f 


(!-'-")  + 


aq  -\-  2"bq2 


(«" 


2ßt  _ 


() 


l-ß 


s  — 


.{e-Pt-e-t) 


nßq 


te 


—  t 


l   —  2ÖX  \  l   —  ß) 

Es  verlohnt  sich,    diesen  Ausdruck  in  eine  Reihe  zu  entwickeln,    um 
zu   sehen,    wie    die  verschiedenen  Potenzen  von  t  mit  ihren  Coefficienten 
nach  einander  bedeutend  werden.     Es  ist 
(?—  e-t)=*t  —  -p+  \p-  ... 

e-ßt_e-t=(i-ß)t-^(i  -ß*)t2+-\(i  -/?3)/3_... 
e   -  2ßt  —  e-t  =  (l  -  2  3)t-±.  (,  —  4^>)^4-i(i— »/»»)*  — ... 

te  -  t  =  t  —  t2  +  —  V  —  ■  .  . 

Man  sieht  nun  sogleich,  dafs  der  Coefficient  von  t  bey  gehöriger  Zu- 
sammenfassung =  o  wird.  Um  den  zweyten  Coefficienten  näher  kennen 
zu  lernen,  mufs  man  zu  der  Annahme:  Z  =  "az  -}-  "bz2  zurückgehn.  Aus 
derselben  ist  dZ  —  (a  =  2"bz)dz,    also  für  t  =  o  ist  dZ  =  "adz.     Aber 

aus  der  Grundformel  — ^—  — ,    ===  dZ  ist  für  /=  o,  dZ  =  vdt  =Sdt, 


c{z-Z)+c 


iZ 


und    ebenfalls    für    i  =  o  ist  dz  =  ß  q  dt-    daher  — ,    =  "a  =  — - 

r  '  dz  ßq 


Ver- 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


401 


mittelst  dieser  Substitution  wird  auch  der  zwevte  Coefficient  =  o.  Es 
lieben  sich  unter  einander  alle  Glieder  desselben,  welche  £  enthalten; 
ferner  alle,  welche   ,7,  und   endlich   alle,   die  b  </ 2   enthalten. 

[330]  Erst  der  Coefficient  für  ß  bekommt  einen  realen  Werth.  Da- 
mit ist  der  merkwürdige  Satz  bewiesen,  dafs  die  Bewegung  der  wieder 
hervortretenden  Vorstellung  sich  Anfangs  verhält  wie  der  Cu- 
bus  der  Zeit;  so  dafs  sie  weniger  scheinen  mufs  hervorzutreten  als 
vielmehr  hervorzuspringen. 

Es  ist  übrigens  sehr  natürlich,  dafs  durch  eine  fortdauernde  Wahr- 
nehmung, die  ihr  gleichartige  ältere  Vorstellung  mehr  hervorgeschnellt 
wird,  als  durch  den  Stofs,  welchen  eine  plötzlich  hinzukommende,  dann 
gleich  von  der  Hemmung  ergriffene,  neue  Vorstellung,  auszuüben  vermag. 
Aus  dem  Stofse  erfolgt  eine  im  ersten  Zeittheilchen  schnellere,  aber  nicht 
so  sehr  beschleunigte  Bewegung  (obgleich  auch  da  noch  eine  Beschleuni- 
gung statt  findet,  da  wir  oben  sahen,  dafs  die  Bewegung  sich  Anfangs 
nach  dem  Quadrate  der  Zeit  richtet).  Die  eben  gefundene  Erhebung  der 
älteren  Vorstellung,  gemäfs  dem  Cubus  der  Zeit,  geht  in  den  ersten  Zeit- 
theilchen langsamer,  weil  die  hervorrufende  Wahrnehmung  sich  nur  all- 
mählig  bildet;  jedoch  bald  um  so  geschwinder,  weil  jeder  Augenblick  die 
Begünstigung  vermehrt,  vermöge  welcher  die  zuvor  unterdrückte  Kraft  sich 
jetzo  in   einem   freyern  Räume  ausbreitet. 


Sechstes  Capitel. 

Ueber  Abnahme  und  Erneuerung  der  Empfänglichkeit. 

§  98. 

Jedes  Continuum  möglicher  Vorstellungen  ist  zugleich  ein  Continuum 
möglicher  Selbsterhaltungen  der  Seele.  Und  zu  solchen  Vorstellungen,  die 
unendlich  nahe  sind,  gehören  Selbsterhaltungen  fast  von  völlig  gleicher 
Art,  deren  [337]  eine  also  nur  eine  unendlich  geringe  Modification  der 
andern  ist.  Etwas  entfernteren  Vorstellungen  entsprechen  minder  gleich- 
artige Selbsterhaltungen,  doch  nicht  eher  als  beym  vollen  Gegensatz  der 
Vorstellungen  können  völlig  verschiedene  Selbsterhaltungen   Statt  finden. 

Um  dieses  gehörig  zu  verstehen,  bedenke  man,  dafs  Selbsterhaltungen 
der  Seele,  und  Vorstellungen,  völlig  Eins  und  dasselbe  sind,  nur  in 
verschiedenen  Beziehungen ;  ungefähr  so  wie  Logarithmen  und  <  Potenz- 
Exponenten. 

Durch  das  Wort  Vorstellungen  deuten  wir  zunächst  auf  das 
Phänomen,  sofern  es  sich  im  Bewufstseyn  antreffen  läfst :  hingegen  der 
Ausdruck  Selbsterhaltung  der  Seele,  bedeutet  den  realen  Actus,  der  un- 
mittelbar das  Phänomen  hervorbringt  Dieser  reale  Actus  ist  nicht  Gegen- 
stand des  Bewufstseyns,  denn  er  ist  die  Thätigkeit  seil  ist,  welche  das  Be- 
wufstsevn  möglich  macht.  So  gehören  Selbsterhaltung  der  Seele  und 
Vorstellung    zusammen  wie  Tlnin   und   Geschehen.    — 


Herbart's  Werke  V. 


26 


402  XL    Psychologie  als  Wissenschaft. 

Dies  vorausgesetzt:  so  ist  offenbar,  dafs  die  Abnahme  der  Empfäng- 
lichkeit, deren  Gesetz  im  vorigen  Capitel  angegeben  wurde ,  sich  nicht 
blofs  auf  völlig  gleichartige ,  sondern  auch  auf  zum  Theil  ungleichartige 
Vorstellungen  erstrecken  mufs.  Eine  Selbsterhaltung,  sofern  sie  schon 
vollzogen  ist,  und  fortdauernd  geschieht,  kann  nicht  noch  einmal  geschehn : 
darauf  beruht  die  Abnahme  der  Empfänglichkeit.  Folglich,  wenn  eine 
Selbsterhaltung  oder  Vorstellung  der  andern  zum  Theil  gleich- 
artig ist,  so  wird  durch  die  erste  auch  die  Empänglichkei  t 
der  andern  zum  Theil  erschöpft.  Hieraus  haben  wir  nun  die  näch- 
sten  Folgerungen  zu  ziehen. 

Zwey  Wahrnehmungen  des  nämlichen  Continuums  können  entweder 
gleichzeitig  statt  finden,   oder  einander  nachfolgen. 

Sind  die  gleichzeitigen  zum  Theil  gleichartig  (wie  roth  und  violett, 
oder  wie  ein  paar  Töne  der  nämlichen  Octave),  so  ist  die  Empfänglich- 
keit, die  sie  erschöpfen,  [338]  zum  Theil  die  nämliche.  Man  mufs  hier  die 
Zerlegungen  der  Vorstellungen  in  Gleiches  und  Entgegengesetztes  (nicht 
in  der  Wirklichkeit  sondern  im  Denken)  wieder  anwenden,  die  schon  oben 
in  den  §§67,  71,  ~t2  vorkamen.  Sofern  die  Wahrnehmungen  gleichartig 
sind,  in  so  fem  geschieht  in  beyden  nur  einerley  Selbsterhaltung,  Anfangs 
mit  verdoppelter  Intensität;  die  aber  nur  um  so  schneller  abnimmt,  je 
stärker  sie  im  ersten  Beginnen  war.  Hingegen  wiefern  die  Vorstellungen 
einander  entgegen  sind,  in  so  fern  liegt  in  den  Selbsterhaltungen  etwas 
Verschiedenartiges;  dieses  beginnt  mit  geringerer  Intension,  und  die  Ab- 
nahme der  Empfänglichkeit  kann  in  Hinsicht  dessen  nicht  so  schnell  fort- 
schreiten. Daraus  folgt,  erstlich,  dafs  die  Quantität  des  Vorstellens,  gleich- 
sam die  Masse  desselben,  minder  grofs  ausfällt,  als  sie  seyn  würde,  wenn 
jede  der  beyden  Vorstellungen  besonders,  und  mit  unversehrter  Empfäng- 
lichkeit gebildet  werden  könnte.  Zweytens,  dafs  des  Gleichartigen  für  beyde 
zusammengenommen,  verglichen  mit  dem  Entgegengesetzten,  verhältnifs- 
mäfsig  weniger  ist,  als  in  der  Summe  beyder  seyn  sollte,  wenn  sie  ab- 
gesondert entstanden  wären.  Drittens :  nichts  desto  weniger  sind  bevde 
Vorstellungen  genau  die  nämlichen ,  die  sie  abgesondert  seyn  würden. 
Denn  des  Gleichartigen  entsteht  während  der  gleichzeitigen  Wahrnehmung 
beyder  Vorstellungen  nur  in  so  fern  weniger,  als  es  schon  vorhanden  ist; 
vorhanden  als  Gemeingut  für  beyde  Vorstellungen  in  der  Einen  Seele, 
und  hinreichend  vorhanden,  damit  bevde  Wahrnehmungen  in  ihrer  eigcn- 
thümlichen  Qualität  fortdauern  können. 

Hier  mufs  man  zurückrufen,  was  schon  im  §  72  bemerkt  wurde.  In 
den  Rechnungen,  welche  sich  auf  das  Verhältnifs  des  Gleichartigen  zum 
Gegensatze  in  ein  paar  Vorstellungen,  beziehn,  kommt  das  Gleichartige  nur 
als  Eins  in  Betracht,  wenn  es  schon  in  beyden  Vorstellungen,  und  also 
zwevmal  vorhanden  ist.  Denn  Gleichartigkeit  ist  nichts  was  einer  Vor- 
Stellung  allein  zukäme :  sie  liegt  blofs  in  dem  Grade  von  Einerleyheit  eines 
man[33ö]nigfaltigen  Thuns  in  der  Seele.  Eben  darum  auch  ist  es  in 
dieser  Hinsicht  einerley,  ob  eine  der  beyden  Vorstellungen  stärker  oder 
schwächer  seyn  möge:  wovon  sonst  auch  das  Quantum  des  Gleichartigen, 
im   V ergleich   mit  dem   Entgegengesetzten,  abhängen  müfste. 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien  der  Mechanik  des   Geistes. 


403 


Nur  wenn  von  der  Masse  der  Kraft  die  Rede  ist,  welche  jene  bey- 
den,  in  gleichzeitiger  Wahrnehmung  entsprungenen  Vorstellungen,  einer 
andern  Kraft  im  Bewufstseyn  entgegenzustellen  haben,  dann  kommt  es  in 
Betracht,  wie  grofs  die  Stärke  sey,  die  ihnen  beyden  zusammen,  als  einer 
unzertrennlichen  Einheit,  angehören  möge.  Diese  Kraft  wird,  nach  den 
eben  aufgestellten  Sätzen,  gröfser  ausfallen  wenn  die  Vorstellungen  weniger 
gleichartig  sind.  Allein  es  ist  nicht  aufser  Acht  zu  lassen,  dafs  die  minder 
gleichartigen,  also  mehr  entgegengesetzten,  sich  schon  während  der  Wahr- 
nehmung um  so  mehr  hemmen,  daher  die  Elemente  der  Wahrnehmung 
sich  weniger  zu  Totalkräften  vereinigen  können.  Dieser  Umstand  mag 
sich  mit  jenem  ungefähr  aufheben.  Es  könnte  hierüber  eine  Rechnung 
angestellt  werden,  die  den  Berechnungen  des  vorigen  Capitels  analog  seyn 
würde,   und   die  wir  eben  deshalb  hier  übergehen. 

Eher  mag  es  sich  verlohnen,  über  successive  Wahrnehmungen  in 
Rechnungen  einzutreten. 

Die  Wahrnehmung  z'  gehe  voran  der  Wahrnehmung  2";  ihr  Hem- 
mungsgrad sey  =1  —  «,  damit  wir  den  Grad  der  Gleichartigkeit  —  u 
setzen  können.  Man  denke  sich  2 "  =  u  -\-  a> ,  so ,  dafs  u  das  Quantum 
des  Gleichartigen,  was  die  Vorstellung  2"  enthalten  wird,  hingegen  ta  das 
Entgegengesetzte  bedeute.  So  bieten  sich  folgende  Gleichungen  dar: 
[«  (//•  —  z')  —  u\  ßdt—  du;   [(1  —  «)  (j  —  to]  ßdt  = dto 

Nämlich  die  Empfänglichkeit  </  zerfällt  in  die  Theile  aq,  und  (1  — u)  y,. 
sofern   2"  zerlegt  wird  nach   u  und    1  —  «;    aber    die    Empfänglichkeit  utf 
ist    vermindert    um    z" ,    sofern    darin    Gleichartiges  mit  2"  liegt,    d.  h.  um 
az'.     Wie  zuvor  bedeutet  hier   ß    die  Stärke  der  Wahrnehmung,    die   wir 
als    beständig  ansehn,  daher  ß  als  eine  Constante  zu  behandeln  ist. 

Aus   den  beyden  Gleichungen   ergiebt  sich 

u  =  a  (r^  —  2')    (1  —  e  —  ßl ;   m  =  (i  —  «)   r/>  (1  —  e  —  ß{) 
u  -4-  ((  =  z" *=  (cp  —  uz)   ( 1  —  e  —  ß*) 
welches  letztere    Resultat    sich  vorher  sehn   liefs,    da  z   =  </  .  (1  — e—§1) 
nach  §   94. 

Es  folge  weiter  eine  dritte  Wahrnehmung  =2"',  die  wir  in  Gleich- 
artiges und  Entgegengesetztes  auf  doppelte  Weise  zerlegen  müssen;  sowohl 
im  Vergleich  mit  2'  als  mit  2".  Zur  Erleichterung  führen  wir  noch  die 
Voraussetzung  ein,  dafs  alle  drey  Vorstellungen  in  der  gleichen  Linie 
liegen  (wie  in  der  Tonlinie),  oder  dafs  ihre  Verschiedenheit  blofs  auf  dem 
Mehr  oder  Minder  des  Gegensatzes  beruhe.  Alsdann  läfst  sich  z" 
selbst  durch  eine  Linie  darstellen,  die  man  nur  nicht  für  eine  Darstel- 
lung des  linearischen  Continuums  halten  mufs,  von  welchem  z" '  sowohl 
als  z"  und  z'  nur  einzelne  Puncte   sind. 


7  1 


«  I  —   u 

Die  ganze  Linie  bedeutet  die  Vorstellung  z " '.  Ihre  Qualität  sey 
in  Rücksicht  auf  2'  zu  zerlegen  in  Gleichartiges  =v«  und  Entgegengesetztes 
=  1  — \< ;  in  Rücksicht  auf  2"  aber  in  Gleichartiges  ==  y  und  Entgegen- 
gesetztes =  1  —  y.  Das  Gleichartige  =  y  zerfällt  in  gemeinsam  Gleich- 
artiges =   u  und  in  besonderes   Gleichartiges   y —  u.     Daher  sind   eigent- 

26* 


404  -^-  Psychologie  als  Wissenschaft. 

lieh  drey  Theile  vorhanden,  nämlich  u,  y  —  a  und  1  — y;  auch  ist  yz" 
=  uz'  -["  (7  — \t)  z".  In  Rücksicht  auf  den  Theil  a  ist  nun  an  der 
Empfänglichkeit  für  z' "  nicht  nur  durch  z'  sondern  auch  durch  z"  etwas 
verloren  gegangen;  nämlich  zusammengenommen  uz'  -\-  "uz".  In  Rück- 
sicht auf  den  Theil  y  —  sa  ist  nur  verloren  (y — s<z)z".  In  Rücksicht 
auf  den  dritten  Theil  1  —  y  ist  die  Empfänglichkeit  noch  unversehrt. 
Daher  folgende  drey  Gleichungen,  worin  die  drey  quantitativen  Theile 
von  2,  welche  dem  u,  y — K<z,  und  1  —  y  entsprechen,  mit  u,  v,  «,  be- 
zeichnet sind: 
[341]  [_«  (<jp  —  2'   —   z")   —   u\   ßdt  =  du; 

[(/'   —   V«)   {'f    —  2")   —    '']   ßdt  =   dv; 
[(1    —  y)   7   —  w]  /W/  =  <A</. 
Woraus  nach  der  Integration  u  -j-   v  -\-   10  oder 

III  /  \  I  H\       /  3  4. 

z      =  (rp   —    «s    —  yz  )  (1    ■ —  «  —  pf). 
Für  eine  vierte  Wahrnehmung  z""  findet  man 

z       =   (f/>   —     «2    —    yz     —   dz    )  (1    —   e—pt) 
und  so  läfst  sich  die  Reihe  ohne  Mühe  fortsetzen. 

Substituirt  man  die  Werthe  von  z ,  z",  z" ,  und  setzt  für  einen  be- 
stimmten Zeitabschnitt  (1    —   e  —  ßt)  =  f,  so  kommt 

z    —   (f  f 

z"  =   <p   (/■  -   aP) 

z"  =  9  (/  -  C«  +  7)  f2  +  r«/"3) 

z""  =   9)  (/■  -  f«  +  V  +  0)/2  +  («V  +  W  +  yd)  f*  -  aydß) 
u.  s.  f. 

§  99- 

Verwandt  hiemit  ist  folgende  mehr  verwickelte  Aufgabe:  Eine  Wahr- 
nehmung durchlaufe  unabgesetzt  und  im  gleichförmigen  Zuge 
ein  Continuum  von  Vorstellungen;  es  soll  das  ganze  Quantum 
des  hiedurch  entstandenen  Vorstellens  gefunden  werden. 

P 1 -| Q 

M  R 

Hier  soll  nun  die  Linie  PR  nicht,  gleich  jener  vorhin  gebrauchten 
Linie,  eine  einzige  Vorstellung,  sondern  das  zu  durchlaufende  Continuum 
möglicher  Vorstellungen  bedeuten;  und  zwar  das  ganze  Intervall  zwischen 
zweyen  solchen  Vorstellungen,  die  im  vollen  Gegensatze  stehen.  R  sey 
fürs  erste  ein  fester  Punct  an  einer  beliebigen  Stelle.  M  dagegen  ein  Punct, 
der  von  P  nach  R  hin  vorrückt.  Auch  sey  PQ  =  A,  MR  =  x,  RQ 
=  m.  T  sey  die  Zeit,  in  welcher  von  der  wandelbaren  Wahrnehmung 
das  ganze  Intervall  A  durchlaufen  wird.  Während  der  veränderlichen 
Zeit  /  sey  der  Raum  PM  =  [342]  A  —  x  —  m  durchlaufen.  Wegen 
gleichförmiger  Bewegung  ist  nun 

/  :   T  =  (A  —  x  —  m)  :  A 

x  =  A  f  I    —  — J   —  m. 

In  dem  Zeittheilchen  dt,  während  welches  die  fortrückende  Wahr- 
nehmung sich  im  Puncte  M  befindet  (d.  h.    diejenige  Vorstellung   hervor- 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


405 


bringt,  welche  in  dem  ganzen  Continuum  die  Stelle  M  einnimmt),  wird 
zugleich  ein  Quantum  von  R  gegeben  (nämlich  von  der  Vorstellung,  wel- 
cher die  Stelle  R  zukommt).  Denn  R  hat  gegen  M  den  Hemmungsgrad 
x,  folglich  mit  ihm  einen  Grad  der  Gleichartigkeit  =1  —  x)  oder  A  —  x, 
in  so  fem  die  Einheit  der  Gleichartigkeit  denselben  Ausdruck  ihrer  Gröfse 
bekommt  wie  die  Einheit  des  Gegensatzes.  Da  dieses  in  allen  Zeittheilchen 
Statt  gefunden,  während  welcher  das  von  P  ausgegangene  Wahrnehmen 
bis  zu  der  jetzigen  Stelle  gekommen  ist;  so  giebt  es  ein  Integral,  welches 
ausdrückt,  wieviel  von  R  schon  vorher,  als  enthalten  in  den 
frühern,  dem  R  zum  Theil  gleichartigen  Vorstellungen.,  ge- 
geben ist,  ehe  der  veränderliche  Punct  M,  oder,  wenn  man 
will,  ehe  der  veste  Punct  R  selbst,  erreicht  wird.  Dieses  Integral 
zu  bestimmen,  ist  eine  nothwendige  Vorbereitung  zur  Auflösung  unserer 
Aufgabe. 

Für  bekannte  Bedeutungen,  von  </,  ß}  z,  haben  wir  folgende  Gleichung: 
(r/    —  z)  ß  {A  —  x)  dt  =  dz 

_  (At     ,        \                     dz 
oder  ß  I  —   -\-  vi     dt  = 


T     ■       J  cp 


woraus  —  ß  A  —  -j-  ßmt   —  log. 


1  (f      —     Z 


und  z  =  (p 

Nun  rücke  der  Punct  M  vor,  bis  er  in  R  eintrifft;  alsdann  ist 

,    T 
t  =   (A   —   f/i)  — ,   und 
A 

[343]  (        _U{A2-m2)\ 

z  =  (f\i  —  e     2Ä  ) 

So  viel  ist  von  derjenigen  Vorstellung,  die  dem  Puncte  R  entspricht, 
schon  gegeben,  ehe  die  fortrückende  Wahrnehmung  den  Punct  R  selbst 
erreicht;  um  eben  so  viel  ist  also  die  Empfänglichkeit  für  diese  Vorstel- 
lung schon  im  Voraus  erschöpft.  Dies  abgezogen  von  der  ursprünglichen 
Empfänglichkeit,  läfst  nun  die  Bestimmung  zurück:  wie  viel  an  neuer 
Wahrnehmung  eben  in  dem  Augenblick  erzeugt  werden  könne, 
da  das  wandelbare  Wahrnehmen    sich    in  dem  Puncte  R  selbst 

befindet.     Es  ist  nämlich  dieses  =  ß  (q z)dt,    w  z    in  der  so  eben 

gefundenen  Bedeutung  genommen  wird.  Allein  hier  war  z  eine  Constante; 
statt  dessen  mufs  es  eine  veränderliche  Gröfse  werden,  indem  nun  der 
Punct  R  als  wandelbar,  und  damit  auch  vi  als  veränderlich,  und  zwar  als 
eine  Function  von  /  betrachtet  wird.  Denn  nur  dadurch  werden  wir  das 
verlangte  ganze  Quantum  des  allmählig  entstandenen  Vorstellens  finden, 
wenn  wir  dessen  Differential,  das  was  durch  jede  augenblickliche  Wahr- 
nehmung in  jedem  Puncte  des  Continuums  gegeben  wird,  integriren.  Daher 
mufs  jeder  Punct  durch  R  angedeutet  seyn  können,  indem  R  das  ganze 
Continuum   von   P  bis    Q  durchläuft. 

Aus  der  Proportion  /  :  T=  (A  —  vi)  :  (A  folgt  m  =  All  ■-  —  j ;  da- 
durch wird 


406  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

—  8A  [t—  ^A 
ß((f  —  z)dt  =  ß(fe  V  zTl   dt. 

Wir  können  hier  A  wiederum  =  i  setzen;  es  war  nur  vorhin  zu 
mehrerer  Deutlichkeit  besonders  bezeichnet  worden. 

Die  Integration  scheint   am  leichtesten    von  Statten   zu   gehn,    indem 

t2 
man  / =  —  T  ( i  —  u 2)    setzt.      Daraus    wird    /  =  T  ( i   —  u )  ■ 

_   rjr  2  \  /  \  '  , 

—  —Tß  .  {1—112) 
dt  = —  TV«,    also   das  ganze  Differential  = —  T3(fe       2 

1+ Tß  —  Tßu* 

du  =  —  Tßqe     2  .   e2  du.     [344]  Die  Form  e  >>"2  </#  läfst  sich 

bequem  durch  Entwicklung  in  eine  Reihe  integriren,  sobald  l,  hier  —  Tß 

nicht  zu  grofs  genommen  wird.     Denn  aus 

ein*  =  1  4.  iu*  _j_  ^- A2?;4  _)_  J_;k3W6  _|_^_x*«8  -|-  . ..  wird  fe  *>k*  du= 

u  4-  —Xu3  4-  — X2«S  _J_-^;t37<7  _L_  i-X4«9  4-  -!-  ÄS«"  ...  4-  Co»j/. 
1       2  '      10  42  2I°  1320 

Das  Integral  mufs  =  o  werden  für  /  =  o;  aber  für  /  =  o  ist  u  =  1. 
Es  sey  ß  =  —,  T=  4,  also  Ä  =  1,  so  ist  Const.  =  —  (1  -j-  ~~h_ — h 
—  -{-...*=  1,4626  ..  .).     Demnach  das  ganze  Integral 

=   7,3576...    X    (1,4626  —  U  —  j-  u3—±-u5  —  ±-u7...) 
t 

wo  u  =  1  —  — .     Für  t  =  T  aber  ist  u  =  o  also  das  ganze  Quantum  des 

gewonnenen  Vorstellens,  vermöge  einer  Wahrnehmung,  die  während  der 
Zeit  T=  4  das  Intervall  voller  Hemmung  gleichförmig  durchläuft,  ist 
=  10,761.     Dies»  Resultat  bleibt  das  nämliche,  so  lange  das  Product    Tß 

unverändert  bleibt,  z.  B.  für  ß=  1,    T=  2.    Zur  Vergleichung  sey  /==—  T, 

so  kommt  6,5446;  mehr  als  die  Hälfte,  wie  natürlich  wegen  der  ab- 
nehmenden Empfänglichkeit,  die  in  der  zweyten  Hälfte  der  Zeit  nicht 
noch  ein  gleiches  Quantum  des  Vorstellens  hervorzubringen  erlaubt.    Noch 

halte  man  hiemit  zusammen  das  erste  Täfelchen  des  §  95,  wo  für  ß  =  -    , 

2  =  8,646...  wenn  /  =  4,   und  2  =  6,321...    wenn  /  =  2,  oder  =—  T, 

nach  unserer  jetzigen  Annahme,  gefunden  wird.  Die  jetzigen  Werthe  sind 
beydemal  gröfser,  weil  die  Empfänglichkeit  bey  veränderlicher  Qualität  der 
Wahrnehmung  weniger  leidet,  als  bey  gleichbleibender. 

So  viel  von  der  Abnahme  der  Empfänglichkeit.  Da  die  Erfahrung 
dieselbe  schon  in  einer  Minutenlangen  Wahrnehmung  deutlich  genug  spüren 
läfst,  indem  das  Gemüth  sich  bald  unbeschäfftigt  findet,  und  andre  zurück- 
gedrängte Vorstellungen  sich  wieder  erheben,  zum  Zeichen,  dafs  die 
zurückdrängende  Kraft  nicht  mehr  wächst:  so  dürfen  wir  die  noch 
unbestimmt  ge[345]bliebene  Zeit-Einheit  gar  nicht  für  besonders  grofs 
nach  unserem  Zeitmaafse  halten;  und  daraus  entsteht  denn  die  wichtige 
Frage,  ob  die  einmal  erschöpfte  Empfänglichkeit  immer  so  schwach  bleibe, 
oder  ob  es  für  sie  eine  Erneuerung  gebe?  Und  wie  eine  solche  sich 
denken  lasse? 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


407 


Dafs  die  Empfänglichkeit  sich  erneuere,  mufs  man  schon  der  Er- 
fahrung gemäfs  höchst  wahrscheinlich  finden.  Wenige  Stunden,  vollends 
Tage,  müssen  nach  den  bisherigen  Betrachtungen,  die  ursprüngliche  Em- 
pfänglichkeit zwar  nicht  im  strengsten  Sinne  ganz  erschöpfen  (hievon  lehren 
die  Formeln  das  Gegentheil),  aber  doch  sie  auf  einen  äufserst  kleinen, 
mit  ihrer  ursprünglichen  Stärke  kaum  vergleichbaren,  Bruch  herabbringen, 
der  selbst  noch  immer  abnimmt,  und  bald  wiederum  mit  seiner  eignen 
früheren  Gröfse  fast  nicht  zu  vergleichen  ist.  Dies  auf  die  menschliche 
Lebensdauer  angewendet,  so  müfste  die  erste  kindliche  Empfänglichkeit 
schnell  verschwinden,  bis  auf  beynahe  Nichts,  der  Empfänglichkeit  reifer 
Jahre  aber  müfste  man  eine  undenkbare  Kleinheit  beylegen,  —  wenn  sie 
ein  für  allemal  verbraucht  wäre. 

Allein  auch  wie  die  Empfänglichkeit  sich  erneuere,  läfst  sich  begreifen 
und  näher  bestimmen,  sobald  man  sich  nur  hütet,  die  metaphysischen 
Gründe  ihrer  Abnahme  nicht  über  die  gehörigen  Schranken  auszudehnen. 
Jede  Selbsterhaltung  der  Seele,  also  jede  Vorstellung,  hat  ein  Aeufserstes, 
bey  welchem  sie  vollbracht  seyn  würde,  wenn  sie  es  erreichte.  Sie  kann 
nur  wachsen,  wiefern  sie  zu  diesem  Aeufsersten  noch  nicht  gelangt  ist. 
Die  Empfänglichkeit  nimmt  ab,  in  wiefern  das,  was  durch  die  Wahr- 
nehmung in  der  Seele  geschehen  soll,  schon  geschehen  ist.  —  Rückwärts 
also,  die  Empfänglichkeit  nimmt  nicht  ab,  in  wiefern  das,  was 
geschehen   soll,   eben  jetzt  noch   nicht  geschieht. 

Hieraus  könnte  man  schliefsen,  die  Empfänglichkeit  erneuere  sich 
schon  dadurch,  dafs  die  in  früherer  Wahrnehmung  gebildeten  Vorstellungen 
gehemmt  werden;  welches  doch,  ohne  nähere  Bestimmung  ausgesprochen, 
[346]  zu  viel  geschlossen  wäre.  Denn  so  lange  jene  Vorstellungen  nur 
zum  Theil  gehemmt,  so  lange  sie  noch  in  einer  fortgehenden  Hemmung 
begriffen  sind,  eben  so  lange  wirken  sie  noch  im  Bewufstseyn,  und  es 
richten  sich  nach  ihnen  die  Zustände  der  übrigen  Vorstellungen.  Allein, 
wenn  sich  eine  Vorstellung  auf  der  statischen  Schwelle  befindet,  alsdann 
ist,  wie  wir  längst  wissen,  alles  was  im  Bewufstseyn  vorgeht,  von  ihrem 
Einflüsse  unabhängig.  Ja  sogar  in  dem  Augenblicke,  wo  sie  die  Schwelle 
erreicht,  tritt  ein  neues  Bewegungsgesetz  für  die  noch  im  Bewufstseyn  vor- 
handenen Vorstellungen  ein,  welches  der  Ausdruck  und  Erfolg  dieser  Un- 
abhängigkeit ist  (§  75).'  Nun  strebt  zwar  die  Seele  fortdauernd,  auch  diese 
Art  der  Selbsterhaltung,  oder  diese  Vorstellung,  wieder  herzustellen.  Allein 
sie  ist  in  diesem  Streben  völlig  gebunden;  ja  dieses  Streben  ist  eine  iso- 
lirte  Modification  der  Seele,  indem  es  die  wirkliche  Thätigkeit,  die  Zustände 
des  Bewufstseyns,  nicht  im  mindesten  abzuändern  und  nach  sich  zu  ge- 
stalten vermag.  Also  ist  hier  wirklich  der  Fall,  wo  die  Empfänglichkeit 
nicht  vermindert  seyn  kann.  Die  frühere  Vorstellung  befindet  sich  nicht 
unter  den  wirklichen  Thätigkeiten  der  Seele,  weder  unmittelbar  als  Vor- 
stellung, noch  mittelbar  durch  ihre  Einwirkung  auf  die  Zustände  des  Be- 
wufstseyns. Vielleicht  noch  einleuchtender  wird  dies  durch  die  Ver- 
gleichung  mit  Vorstellungen  auf  der  mechanischen  Schwelle  (§  79).  Diese 
sind  ebenfalls  aus  dem  Bewufstseyn  völlig  verschwunden,  aber  nur 
um  so  vollständiger  ist  auch  die  Spannung,  mit  der  sie  dasjenige  be- 
stimmen   helfen,    was    im    Bewufstseyn    vorgeht.      Von    ihnen     also    dürfen 


aqS  XL  Psychologie  als  "Wissenschaft. 


wir  nicht  sagen,  dafs  in  Hinsicht  ihrer  die  Empfänglichkeit  unvermindert 
seyn  werde. 

Wohl  aber  dürfen  wir  den  Satz  aufstellen:  die  Empfänglichkeit 
für  eine  gewisse  Wahrnehmung  erneuert  sich,  indem  die  frühere, 
gleichartige  Vorstellung  auf  die  statische  Schwelle  getrieben 
w  i  r  d. 

[347]  Und  hiedurch  mufs  sich  die  Empfänglichkeit  vollständig  und 
plötzlich  erneuern.  Nichts  desto  weniger  sind  hiebey  Umstände  zu  be- 
merken, welche  dieser  Behauptung  nur  eine  augenblickliche  Gültigkeit  ge- 
statten. 

Indem  eine  neue  Wahrnehmung  eintritt,  beginnt  auch  jede  frühere 
gleichartige  Vorstellung  (ja  selbst  die  nur  zum  Theil  gleichartigen),  sich  zu 
erheben,  weil  die  vorhandenen  hemmenden  Kräfte  zurückwichen  (§81 
u.  s.  w.).  Sogleich  also  verschwindet  die  Bedingung,  unter  der  eine  voll- 
ständig erneuerte  Empfänglichkeit  vorhanden  seyn  konnte. 

Jedoch  verschwindet  dadurch  die  erneuerte  Empfänglichkeit  bey  weitem 
nicht  ganz.  Man  mufs  hier  die  Untersuchungen  des  dritten  Capitels  zu- 
rückrufen. Diesen  zufolge  erhebt  sich  die  ältere  gleichartige  Vorstellung 
im  ersten  Anfange  nur  langsam;  sie  übt  dabey  gar  keine  eigne  Wirkung 
gegen  die  widerstrebenden  Kräfte;  blofs  als  Verschmelzungshülfe  verbindet 
sie  sich  mit  der  neu  eintretenden  Wahrnehmung  in  dem  geringen  Grade 
des  wiedererweckten  Vorstellens.  Also  ändert  sich  der  Zustand,  in  wel- 
chem sich  diese  Vorstellung  auf  der  statischen  Schwelle  befand,  nur  all- 
mählig  und  nicht  um  gar  Vieles.  Dem  gemäfs  verliert  auch  die  vollständig 
erneuerte   Empfänglichkeit    nur    allmählig    und    nur  ein  mäfsiges   Quantum. 

Hierauf  können  nun  wieder  Nebenumstände  Einflufs  haben.  Gesetzt, 
die  wiedererweckte  Vorstellung  sey  durch  eine  Menge  von  Verschmelzungs- 
und Complications-Hülfen  verbunden  mit  den  im  Bewufstseyn  vorhandenen 
Vorstellungen;  sie  sey  nur  so  eben  erst  durch  eine  andringende  entgegen- 
wirkende Kraft  aus  dem  Bewufstseyn  verdrängt:  so  läfst  sich,  wenn  sie 
auch  schon  wirklich  auf  der  statischen,  und  nicht  etwa  nur  auf  der  mecha- 
nischen Schwelle. sich  befand,  dennoch  wohl  denken,  dafs  die  Zusammen- 
wirkung vieler  Kräfte  ihr  jetzt,  da  sie  durch  eine  gleichartige  Wahrnehmung 
wieder  geweckt  wird,  eine  Geschwindigkeit  und  Lebhaftigkeit  ertheilen, 
wodurch  [348]  die  erneuerte  Empfänglichkeit  schnell  und  beträchtlich  leidet. 

Aber  nicht  blofs  diese  Nebenumstände,  sondern  ein  allgemeiner  Grund 
bewirkt  eine  Abänderung  in  dem,  was  zuvor  über  den  geringen  Verlust 
der  erneuerten   Empfänglichkeit  bemerkt  wurde. 

Freylich,  wenn  nur  Eine  ältere,  gleichartige  Vorstellung  in  der  Seele 
ruhet,  deren  Erwachen  der  neuen  Wahrnehmung  Abbruch  thun  kann:  als- 
dann gilt  das  zuvor  Gesagte;  und  es  ist  leicht  zu  übersehen,  dafs  die 
zwar  verminderte  Empfänglichkeit  dennoch  eine  beträchtliche  Stärke  des 
Vorstellens  durch  die  jetzige  Wahrnehmung  zu  erzeugen  vermag.  Es  ge- 
schehe nun  wirklich  also;  und  nicht  blofs  einmal,  sondern  vielemal  wieder- 
holet :  so  werden  bev  jedem  künftigen  Eintreten  einer  neuen .  gleich- 
artigen Wahrnehmung,  sich  alle  jene  einzelnen,  zuvor  gebildeten  Vor- 
stellungen durch  eigne  Kraft,  und  zum  Theil  verstärkt  durch  ihre  Ver- 
bindungen   unter    einander,    zumal    hervorheben.      Offenbar    bilden    sie  auf 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien   der  Mechanik  des   Geistes. 


40Q 


diese  Weise  eine  Summe,  die  immer  beträchtlicher  wird,  und  wodurch 
die,  zwar  vollständig  erneuerte,  Empfänglichkeit  doch  immer  schneller  ver- 
mindert, ja  endlich,  bey  sehr  häutiger  Wiederhohlung  der  nämlichen  Wahr- 
nehmung, beynahe  plötzlich  von  ihrer  ersten  Stärke  auf  einen  aufseist  ge- 
ringen Grad  kann  herabgebracht  werden.  In  diesem  Falle  befinden  wir 
uns  mit  den  Dingen,  die  wir  täglich  um  uns  sehn,  und  die  eben  deshalb 
keinen  merklichen  Eindruck  auf  uns  machen. 

Unter  solchen  Umständen  ergiebt  sich  dann  von  selbst,  dafs  unmög- 
lich die  einzelnen,  aus  den  wiederhohlten  Wahrnehmungen  gewonnenen, 
Vorstellungen,  sich  ins,  Bewufstseyn  hoch  erheben  können.  Denn  die 
Summe  des  wirklichen  Vorstellens  kann  nicht  jenen  äufsersten  Grad  über- 
steigen, in  welchem  die  volle  und  ganze  Selbsterhaltung  dieser  Art  be- 
stehen würde.  Desto  gröfser  und  anhaltender  aber  kann  die  Anstrengung 
seyn,  [349]  mit  welcher  sich  eine  Gesammtheit  gleichartiger  Vorstellungen 
im   Bewufstseyn   behauptet. 


Siebentes  Capitel. 

Von  den  Vorstellungsreihen  niederer  und  höherer  Ord- 
nungen; ihrer  Verwebung  und  Wechselwirkung. 

§  100. 

Wir  dürfen  jetzt  freyere  Blicke  wagen.  Bisher  waren  wir  eng  ein- 
geschlossen durch  die  Nothwendigkeit,  die  Vorstellungen  als  einzelne  zu 
betrachten,  um  die  Elemente  ihrer  Wirksamkeit  kennen  zu  lernen.  Jetzt 
fange  der  Leser  damit  an,  sich  alles  Vorhergehende  gleichsam  nach  einem 
gröfseren  Maafsstabe  ausgeführt  zu  denken.  Tausende  oder  Millionen  von 
Vorstellungen,  die  auf  einmal  im  Bewufstseyn  sind,  und,  sich  gegenseitig 
hemmend,  ins  Gleichgewicht  treten!  Complexionen,  die  nicht  entweder 
vollkommen  oder  unvollkommen  seven,  sondern  in  welchen  mit  zehn 
oder  zwanzigen  völlig  verbundenen,  noch  unzählige  andere  mit  allen  mög- 
lichen Abstufungen  minder  und  minder  zusammenhängen!  Statt  zweyer 
oder  dreyer  Töne,  deren  musikalische  Intervalle  wir  in  der  Lehre  von 
der  Verschmelzung  vor  der  Hemmung  im  Auge  hatten,  denke  man 
sich  jetzt  eine  Menge  unendlich  nahe  stehender,  zusammenfliefsender  ein- 
facher Empfindungen;  so  wird  in  der  unauflöslichen  Mischung  aller,  zwar 
nicht  ein  scharf  bestimmtes  ästhetisches  Urtheil,  aber  ein  Gefühl  des  Au- 
genehmen oder  Unangenehmen  entspringen.  Auch  die  Bewegungen  der 
Vorstellungen  bey  ihrer  mittelbaren  oder  unmittelbaren  Reproduction  seyen 
dergestalt  mannigfaltig,  dafs  die  Hemmungssummen,  während  sie  abnehmen, 
schon  wieder  neue  Zusätze  [350]  bekommen;  und  dafs,  indem  aus  neuen 
Verbindungen  stets  neue  Gesammtkräfte  entstehn,  auch  die  <  ileichgewichts- 
Puncte,  wohin  das  ganze  System  sich  neigt,  stets  verrückt  werden,  folglich 
die  Bewegung  nie  zur  Ruhe  komme,  sondern  in  immer  neuen  Richtungen 
fortlaufe.  Doch  dies  letzte  ist  noch  nicht  verständlich  genug;  wir  sind 
jetzt  im   Begriff,   die   Gründe  davon   anzuzeigen. 


4  I  o  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 


Man  gehe  zurück  ins  vierte  Capitel,  von  der  mittelbaren  Reproduction. 
Dort  haben  wir  (§88)  den  grofsen  Hauptsatz  gefunden,  aus  welchem  sich 
der  Ursprung  der  Reihenbildung  in  den  Vorstellungen   erklärt. 

Nun  sey  nicht  blofs,  wie  dort,  eine  Vorstellung  P  mit  verschiedenen 
II,  II',  H",  u.  s.  w.  verschmolzen :  sondern  es  sey  a  mit  b,  c,  d,  e,  .  .  . 
und  eben  so  b  mit  c,  d,  e,  .  .  .  und  gleichfalls  c  mit  d,  e,  .  .  .  u.  s.  w. 
verschmolzen:  so  wird  das  dort  (a.  a.  0.)  gefundene  Gesetz  der  Repro- 
duction nicht  blofs  einmal,  sondern  so  vielmal  zur  Anwendung  kommen,  • 
als  wie  viele  Vorstellungen  zu  der  Reihe  gehören.  Dies  wird  sich  voll- 
ständiger entwickeln  lassen,  wenn  wir  erst  die  beyden  Bedingungen  er- 
wägen, unter  denen  sich  eine  solche  Reihe  bilden  kann.  Die  eine  hängt 
von  der  Zeit  ab,   die  andre  von  der  Qualität  der  Vorstellungen. 

i .  Wenn  zuerst  a,  dann  gleich  darauf  b  gegeben  (durch  Wahrnehmung 
producirt)  wird:  so  wird  zuvörderst  a  sogleich  von  der  Hemmung  durch 
andre,  eben  vorhandene,  ihm  entgegengesetzte  Vorstellungen  ergriffen.  Hie- 
durch  sinke  es  bis  auf  den  Rest  r;  jetzt  trete  b  hinzu;  so  verschmilzt  b 
mit  dem  Reste  r  von  a  (wir  wollen  nämlich  hier  die  Hemmung  zwischen 
a  und  b  bey  Seite  setzen ;  denn  wenn  auch  eine  solche  vorhanden  ist,  so 
wird  dadurch  nur  die  Gröfse  r  um  etwas  vermindert,  und  auch  b  ver- 
schmilzt dann  nicht  ganz  mit  r;  dadurch  wird  die  Sache  nicht  wesent- 
lich verändert,  sondern  erhält  nur  eine  leichte  Modification).  Es  sinke 
weiter  sowohl  a  bis  auf  den  Rest  r',  als  b  bis  auf  den  Rest  R;  jetzt 
komme  c  hinzu;  so  verschmilzt  das  ganze  c  mit  r  und  R.  Nun  [351] 
sinke  a  bis  auf  den  Rest  r",  B  bis  auf  den  Rest  R',  c  bis  auf  den  Rest  q, 
jetzt  mögen  alle  diese  Reste  mit  dem  eben  eintretenden  d,  verschmelzen. 
Man  sieht  wie  dies  fortgeht,  nach  folgendem  Schema: 
a 


d 

x,  u.  s.  w. 


r(«)  R{n —  1)  f)(n  —  2)   r("  — 3)      u.  s.  w. 

Gesetzt,  alle  diese  Vorstellungen  werden,  nachdem  sie  in  solche  Ver- 
knüpfung mit  einander  geriethen,  auf  die  Schwelle  des  Bewufstseyns  ge- 
drückt; nachmals  aber  finde  sich  Gelegenheit,  dafs  eine  von  ihnen  sich 
wieder  erheben  könne ;  so  wirkt  sie  auf  alle  übrigen  reproducirend.  Wie 
dies  geschehe :  ist  in  dem  Falle,  dafs  a  sich  zuerst  erhebe,  unmittelbar  klar 
aus  §  88  ;  es  reproducirt  nämlich  nach  der  Reihe  am  schnellsten  b,  minder 
schnell  c,  noch  langsamer  d,  u.  s.  f.  Wäre  es  aber  c,  das  sich  zuerst  er- 
höbe, so  würde  dieses  mit  seiner  eignen  ganzen  Kiaft  und  Ge- 
schwindigkeit die  Reste  R  und  r  reproduciren,  und  dann  erst  würde 
es   die   Reihe  d,   e,  f,  u.   s.   w.   ablaufen  machen. 

2.  Die  Vorstellungen  a,  b,  c,  d,  u.  s.  f.  brauchen  nicht  nach  ein- 
ander gegeben  zu  werden;  wenn  sie  dagegen  in  wachsenden  Hem- 
mungsgraden  unter  einander  stehn,  und  einander  an  Stärke  gleich  sind, 


r 

b 

r 

R 

c 

1  / 
r 

R' 

Q 

111 
r 

R" 

9 

Dritter  Abschnitt.      Grundlinien   der  Mechanik  des   Geistes. 


411 


so  wird  ihre  Verbindung  und  die  davon  abhängende  Wirksamkeit  gerade 
die  nämliche  wie  vorhin.  Ist  nämlich  c  mehr  als  b,  d  mehr  als  beyde, 
u.  s.  f.  dem  a  entgegengesetzt,  und  kann  die  Verschmelzung  ungehindert 
dem  Grade  des  Gegensatzes  umgekehrt  gemäfs  erfolgen  (d.  h.  so  dafs 
je  weniger  Gegensatz,  desto  mehr  Verschmelzung),  so  [352]  entsteht  eine 
Vorstellungsreihe,  deren  Anordnung  durch  die  Qualität  der  Vorstellungen 
bestimmt  ist. 

Im  analytischen  Theile  werden  wir  auf  diesen  Gegenstand  seiner 
grofsen  Wichtigkeit  wegen,  zurückkommen,  und  ihn  dort  nochmals  in  Ver- 
bindung mit  seinen  Anwendungen  auf  die  Erklärung  der  psychologischen 
Phänomene  in   Betracht  ziehn. 

Hier  wollen  wir,   damit  der  Leser  sich  in  die  Sache  hineindenke,   nur 
irgend    eine    Vorstellung    aus    der    Mitte    einer    Reihe,    ins    Auge 
fassen.    Es   gilt  von  ihr  der  merkwürdige  Satz,   dafs  ihr  ein  Weiterstreben 
bey wohnt,    wodurch  sie    eine  Wirkung    wider    sich    selbst   ausübt,    um 
anderen  Platz  zu  machen;   unter  der  Voraussetzung,   dafs   zwischen  den  ihr 
in  der  Reihe  vorhergehenden  und  nachfolgenden,   Gegensatz  vorhanden  sey. 
Man  betrachte  noch   einmal  das  obige  Schema,   und   in   ihm   die  Vor- 
stellung c.     Es  ist  ihr,   vermöge  der  eingegangenen  Verbindung,  wesentlich, 
dafs    mit    ihr   der  Rest  R   von  b,    und    der  Rest    r     von  a  zugleich    im 
Bewufstseyn  gegenwärtig  sey;    hierauf  ist  ihr  Streben    in  demselben  Grade 
gerichtet,    womit  sie  sich  selbst  im  Bewufstseyn  zu    erhalten,    oder    sich    in 
dasselbe   zu    erheben    sucht;     denn    das   ganze    c   ist    mit  R   und  r    ver- 
schmolzen.   Aber  es  ist  ihr  auch,  wenn  gleich  in  abnehmendem  Grade, 
wesentlich,  dafs  sie  allmählig  das  ganze  d,  das  ganzem   das  ganze/", 
u.  s.   w.   hervorrufe.    Wenn  nun  d,  e,  f,  dem   b  und  a  entgegengesetzt  sind, 
so  ist  ein  Streben,    d,   e,  f  zu  erheben,    zugleich    ein  Diuck    auf  b    und  q, 
folglich   auch  auf  das  mit  ihnen  verbundene  c  selbst.      Also  wirkt   c  wider 
sich  selbst;   und  man  würde  sich  irren,    wenn  man  glaubte,    diese 
Wirkung  zerstöre    sich    selbst.      Denn    angenommen,    c    sinke    wirklich 
bis  auf  den  Rest  q,   so  verliert  es   damit  noch  nichts  an  seinem  Vermögen, 
//  zu  erheben;  mit  welchem   es  gerade  nur  durch  seinen  Rest  q  verbunden 
war.     Erst  wenn   es  tiefer,   als  bis  auf  diese  Gröfse  q  niedergedrückt  wird, 
kann    seine    Wirkung    auf  d   abnehmen.      Gesetzt:    es    sey    nun    [353]    bis 
auf  seinen  zweyten  Rest  o'  gesunken:   so  wirkt  es  noch  eben  so- stark  wie 
Anfangs,   um  e  zu  heben;   und   eben  so  wird   f  von  dem  Reste  q",  g  von 
(/",   u.  s.  w.  immer  gleich   stark  wider  a  und  b  gehoben,   so  lange  nicht  c 
unter  q  ,  q"  ,  q"  .  .  .  successiv  herabgedrückt  ist. 

Was  nun  hier  von  c  gesagt  worden,  das  gilt  eben  so  von  d  in  Be- 
ziehung des  ihm  Vorhergehenden  und  Nachfolgenden,  desgleichen  von 
£,/,...  mit  einem  Worte,  von  jedem  mittlem  Gliede  einer  Reihe;  nur 
nicht  vom  ersten  und  vom  letzten.  Denn  das  erste  Glied,  indem  es  die 
nachfolgenden  successiv  hebt,  überschreitet  weder  hierin  den  Grad  von 
Verbindung,  den  es  mit  den  nachfolgenden  eingehn  konnte  (und  darin 
gleichen  ihm  auch  die  mittlem  Glieder),  noch  hat  es  solche  Vorher- 
sehende, denen  die  Nachfolgenden  zuwider  wären;  das  aber  ist  eben  der 
Umstand,  weswegen  die  mittlem  sich  selbst  niederdrücken.  Was  das 
letzte  Glied    anlangt :    so    ist    es    der   natürliche   Ruhepunct    für    die   ganze 


a\2  XL  Psychologie  als  Wissenschaft. 

Reihe ;  es  hat  nichts  mehr  hinter  sich ,  wodurch  es  wider  das  vorher- 
gehende wirken  könnte  ;  und  seinem  inwohnenden  Streben  geschieht  Ge- 
nüge, so  lange,  bis  alle  vorhergehenden  auf  den  Punct  der  mit  ihm  ein- 
gegangenen Verschmelzung  herabgesunken  sind;  ist  alsdann  noch  ein 
fremdartiger  Grund  zur  fernem  Hemmung  vorhanden,  so  verliert  sich 
allmählig  die  ganze  Reihe  aus  dem  Bewufstsevn. 

Sollte  nun  in  dem,  was  hier  vorgetragen  worden,  noch  irgend  etwas 
dunkel  scheinen  :  so  liegt  es  an  mangelhafter  Auffassung  des  vierten 
Capitels ;  welches  man  übrigens  bey  weitem  noch  nicht  ganz  zu  verstehen 
braucht,  um  das  gegenwärtige  zu  fassen.  Alles  kommt  darauf  an,  dafs 
man  vollkommen  einsehe,  weshalb  eine  Vorstellung  ihre  Nachfolgenden 
ganz,  aber  successiv,  hingegen  ihre  Vorhergehenden  partial  und  ab- 
gestuft, aber  simultan,  hervorzuheben  trachtet.  Hieraus  ergiebt  sich 
das  Uebrige  von  selbst. 

Jetzt  ist  noch  ein  wichtiger  Umstand  zu  erwägen,  der  von  der  Länge 
der  Reihen  abhängt.  Wir  wollen  [354]  hiebey  die  Reihe  als  gleichartig 
betrachten,  das  heifst,  die  Reste  r,  R,  q,  .  .  .  gleich  setzen,  desgleichen  die 
Unterschiede  r  —  r" ,  R'  - —  R"  u.  s.  f.,  so  dafs  die  r,  r ,  r"  .  .  .  u.  dgl. 
eine  gemeine  arithmetische  Reihe  bilden ;  folglich  in  der  Vorstellungsreihe 
die  Distanz  der  Glieder  allein  den  Grad  der  Verbindung  bestimme.  Als- 
dann kommt  es  nur  noch  auf  die  Gröfse  der  Differenz  r  —  r  an ;  sie 
wird  bestimmen,  mit  wie  vielen  folgenden  eine  jede  vorhergehende 
Vorstellung  verschmelze;  ob  z.  B.  a  schon  ganz  gesunken  sey,  ehe  die 
Vorstellungen  g,  h,  i,  k,  hinzukommen,  während  die  Reihe  sich  bildet: 
oder  ob  vielleicht  x,  y,  z,  noch  etwas  von  a  im  Bewufstsevn  antreffen, 
womit  sie  verschmelzen  können.  Wenn  nämiich  während  des  Entstehens 
der  Reihe,  sich  a  noch  mit  x,  y,  z,  verbindet,  so  wird  es  sie  auch  bey 
der  Reproduction  wieder  zu  heben  suchen  ;  erreicht  aber  a  nicht  einmal 
g,  h,  z',  k,  so  geht  auch  ein  Streben  andre  hervorzurufen,  nicht  bis  in 
diese  Entfernung  hinaus.  Unterschiede  dieser  Art  haben  einen  wesent- 
lichen Einfiufs  auf  die  Kraft  der  ganzen  Reihe,  sich  geordnet  zu  re- 
produciren,  oder  kurz,  auf  ihr  Evolutions- Vermögen ;  und  dies  ists, 
was  wir  jetzt  untersuchen  wollen. 

Wir  nehmen  an,  die  Reihe  sey  eine  Zeit  lang  ganz  aus  dem  Be- 
wufstsevn verschwunden  gewesen ;  jetzt  könne  sie  sich  wieder  erheben ; 
aber  es  sey  gleich  viel  Grund  zu  dieser  Erhebung  für  alle,  in  der 
Reihe  enthaltenen,  Vorstellungen  vorhanden:  nun  fragt  sich,  ob  dennoch 
die  Reihe  geordnet  hervortreten  werde?  Es  ist  nämlich  klar,  dafs  wenn 
auch  nur  das  erste  und  das  vierte  —  oder  überhaupt  das  ;«te  und  das 
7/te  Glied  —  zugleich  ins  Bewufstsevn  kämen,  alsdann  Verwirrung  ent- 
stehn  müfste ;  denn  das  vierte  würde  die  folgenden  schon  reproduciren, 
die  vorigen  schon  herabdrücken,  während  das  erste  noch  im  Streben  zur 
Repioduction  des  zweyten  und  dritten  begriffen  wäre. 

Um  die  Sache  leichter  zu  übersehen,  wollen  wir  uns  abermals  ein 
Schema  entwerfen.  Die  einzelnen  Vorstel[355]hingen  in  der  Reihe  sollen 
durch  Linien  angedeutet  werden ;  und  eben  so  die  Verschmelzungshülfen, 
die  sie  von  andern  Vorstellungen  empfangen.  Man  wird  leicht  folgende 
Bezeichnung  verstehn : 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes. 


413 


B 

Die  Linie  AB  soll  die  erste  Vorstellung  oder  das  Anfangsglied  in 
der  Reihe  bedeuten.  Die  erste  Linie  rechts  neben  ihr  zeigt  die  Ver- 
schmelzungshülfe,  welche  ihr  die  zweyte  Vorstellung  derselben  Reihe 
leistet ;  die  folgenden  Linien  deuten  auf  die  immer  geringeren  Strebungen 
der  nachfolgenden  Vorstellungen,  wodurch  sie  das  Anfangsglied  im  Be- 
wufstseyn  zu  rufen  wirken.  Also  die  ganze  Figur  bezeichnet  die  Ge- 
sammt kraft,  womit  das  Anfangsglied  hervorgehoben  wird.  Dem  ähnlich 
würden  wir  das  Endglied  so  ausdrücken : 


Dabey  ist  nun  gleich  zu  bemerken,  dafs,  wenn  auch  das  Endglied 
eben  so  viele  Verschmelzungshülfen  durch  die  ihm  vorangehenden  Vor- 
stellungen bekömmt,  wie  das  Anfangsglied  durch  die  ihm  nachfolgenden, 
die  Wirkung  dennoch  nicht  gleichartig  ist;  denn  auf  das  Anfangsglied 
wirken  alle  Hülfen  simultan ;  hingegen  auf  das  Endglied  dergestalt  successiv, 
dafs  es  durch  seine  schwächere  Hülfen  langsamer,  als  durch  die  stärkeren 
gehoben  [356]  wird.  Eins  der  mittlem  Glieder  aber  kann  so  bezeichnet 
werden  : 


Ein  Glied  in  der  Gegend  der  Mitte  erhält  nämlich,  Falls  die  Reihe 
lang  genug  ist,  eben  so  viele  Hülfe  von  seinen  vorhergehenden  und  nach- 
folgenden, als  das  Anfangs-  und  das  Endglied  zusammen  genommen.  Soll 
dies  nicht  geschehn:  so  mufs  die  Reihe  kürzer  seyn;  und  man  sieht 
sogleich,  dafs  dies  die  Bedingung  des  Evolutions- Vermögens  ist. 
Denn  wenn  die  Mitte  durch  eine  gleiche,  simultan  wirkende  Kraft  ge- 
hoben wird,  wie  der  Anfang,  so  ist  unmöglich ,  dafs  die  Reihe  geordnet 
ablaufe,   dafs  alsdann  Mitte  und  Anfang  zugleich  ins  Bewufstseyn   kommen. 

Wir  wollen  nun  die  Reihe  kürzer  nehmen ;  und  zwar  dergestalt,  dafs 
sich  das  Anfangsglied  gerade  noch  beym  Verschwinden,  also  durch  seinen 
kleinsten  Rest,  mit  dem  Endglied  verbunden  habe.  Alsdann  mufs  unsre 
Figur  für  das  Mittelglied  sowohl  rechts  als  links  etwas  verlieren ;  denn 
die    ganze  Basis   derselben    mufs  jetzt  nicht  doppelt,    sondern  nur  einfach 


4 1 4  2Q-  Psychologie  als  Wissenschaft. 

so  lang  seyn,  wie  die  des  Anfangs-  oder  Endgliedes.  Die  Figur  besteht 
nunmehr  nicht  aus  zwey  an  einander  gestellten  rechtwinkliehten  Drey- 
ecken,  wie  vorhin,  sondern  aus  zwey  Trapezien.  Der  Inhalt  eines  jeden 
dieser  Trapezien  liegt  sogleich  vor  Augen,  wenn  die  Figur  als  ein  Con- 
tinuum,  oder  die  Menge  der  Vorstellungen  in  der  Reihe  unendlich  grofs, 
und  die  Verschmelzung  continuirlich  abnehmend  gedacht  wird.  Die  Höhe 
der  Figur  sey  =  a,  ihre  halbe  Basis  =  b,  so  ist  jedes  Trapezium 

1  Z  I  '  Z.  I  S  7 

=  —  ab a  .  —  b  .  —  =  -%-  ab; 

2  2  2  2  8 

und  dies  ist  die  ganze,  simultan  wirkende,  Kraft  zum  Hervorhe[357]ben 
der  mittlem  Vorstellung;  die  successiv  wirkende,  welche  das  andre  Tra- 
pezium darstellt,  kommt  hier  nicht  in  Betracht.  Da  nun  das  Anfangs- 
glied mit  der  Gesammtkraft  —  .  ab  simultan  gehoben  wird,  wie  unmittelbar 

einleuchtet :  so  hebt  es  sich  um  ^r  ab  stärker  als  die  Mitte ;  es  tritt  dem- 
nach hervor,  und  bestimmt  das  geordnete  Ablaufen  der  Reihe. 

Es  ist  leicht,  dies  allgemeiner  zu  fassen.  Ein  unbestimmter  Theil 
der  Linie  b  sey  die  Basis  unseres  Trapeziums;  diesen  Theil  nennen  wir 
bx;  so  findet  sich  die  kleinere,  auf  der  Basis  senkrechte  Seite  des  Trape- 
ziums durch  die  Proportion 

b  :  a  —  (b  —  b  x)  :  a  (i  —  x). 

Folglich   das  kleine  Dreyeck,    durch  dessen  Wegnahme  vom  gröfsern 

das  Trapezium   entsteht,  ist  nun 

a  p  1 1  x) 2 

=  _L  a  .  ( i  —  x) .  l>.  ( i  —  x)  = ;  und  das  Trapezium  selbst  = 

—  ab  (2x  —  x2).    Wenn  nun  die  Reihe  nicht  zu  lang  ist:  so  entsteht  das 

Ganze  der  Verschmelzungshülfe  für  das  Anfangsglied  aus  allen  ihm  nach- 
folgenden Gliedern,  in  so  weit  es  mit  ihnen  verschmolzen  ist;  aber  für  das 
mittelste  Glied  nur  aus  denen,  die  ihm  folgen  (so  fern  von  der  simultan 
wirkenden  Kraft  geredet  wird).  Die  eben  gefundene  Formel  gilt  demnach 
zwar  für  beyde;  allein  x  ist  in  ihr  halb  so  grofs  für  das  mittelste  Glied 
als  für  das  erste;  dies  Riebt  für  die  Mitte  eine  Kraft  =  —  <*&  {x —  —  x2). 

'  o  24' 

Also  verhält    sich    die   Kraft   für  das   Anfangsglied   zu  der  für  das  mittlere 

wie   2  —  x  zu    1 -x.      Und    nimmt    man    x   unendlich  klein,    oder  die 

4 

Reihe  unendlich  kurz:  so  hat  man  das  Verhältnifs  2:1,  das  heifst,  der 
Anfang  besitzt  zum  Hervortreten  doppelt  so  viel   Kraft  wie  die  Mitte. 

Man  sieht  hieraus,  dafs  die  Reihen  desto  mehr  Evolutions- 
Vermögen   besitzen,  je  kürzer  sie  sind. 

Hat  dagegen  eine  Reihe  durch  ihre  Länge  —  oder  durch  irgend 
welchen  andern  Grund,  —  sich  einmal  der[358]gestalt  verwirrt,  dafs  ihre 
Glieder  näher  verschmelzen  als  es  ihre  Anordnung  mit  sich  bringt,  so 
ist  die  Reihe  verdorben;  weil  sie  jetzt  verschiedenen  in  ihr  entstandenen 
Reproductionsgesetzen,  die  unter  einander  unverträglich  sind,  zugleich  Genüge 
zu  leisten  strebt.  (Hieher  gehören  falsche  Gewöhnungen  in  Allem,  was 
durch   Wiederhohlung  und   Uebung  gelernt  werden  soll.) 

Weit  besser  als  lange  Reihen,  sind  Reihen  von  Reihen,  oder  auch 
Reihen    aus    Reihen    von    Reihen    u.    s.    f.,    dergleichen  vielfältig  und 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien  der  Mechanik  des   Geistes. 


415 


in  sehr  bunten  Zusammensetzungen  beym  geordneten  Denken  vor- 
kommen. (Auch  gehört  aller  Rhythmus  hieher;  denn  er  beruht  auf 
Hauptreihen  mit  weit  entfernten  Gliedern,  deren  jedes  eine  kurze, 
untergeordnete  Reihe  zwischen  einschaltet.)  Die  Glieder  solcher  Reihen 
können  selbst  verwickelte  Complexionen  seyn. 

Ganz  vorzüglich  wird  die  Verwebung  mehrerer  Reihen  zu  weitern 
Untersuchungen  Stoff  geben. 

Es  ist  das  Wesentliche  der  Verwebung,  dafs  in  Einem  Puncte  mehrere 
Reihen  sich  kreuzen;  oder  auch,  dafs  man  von  demselben  Puncte  an- 
fangend, mehrere  Reihen  z u g  1  e i c h  durchlaufe ;  dieses  Zugleich  aber  be- 
deutet, dafs  diese  Reihen  nicht  etwan  successive  Glieder  einer  höhern 
Reihe  seyen,  sondern  wenn  sie  ja  als  ein  Früheres  oder  Späteres  gedacht 
würden,  die   Succession  unter  ihnen   sich   auch  umkehren  liefse. 

Gegen  die  psychologische  Möglichkeit  solcher  Verwebung  lassen  sich 
Zweifel  erheben.  Mag  a  der  gemeinsame  Anfang  zweyer  Reihen  seyn, 
die  durch  b,  c,  d,  und  durch  ß,  y,  d,  fortlaufen:  so  scheint  es,  die  Reihen 
könnten  nicht  zwey  geschiedene  bleiben,  sondern  es  müfsten  Com- 
plexionen bß,  cy,  dö  entstehn,  indem  der  Rest  r  von  a  sowohl  b  als  ß, 
der  Rest  r  von  a  sowohl  c  als  y,  der  Rest  r"  von  a  sowohl  d  als  ■> 
durch   einen  untheilbaren  Act  der  Reproduction  hervorrufe. 

Wir  wollen  uns  nun  hier  nicht  auf  die  Thatsache  berufen,  dafs  zwey  Ra- 
dien eines  Kreises,  indem  sie  durch  {359]  alle  concentrische  Kreise  laufen, 
wirklich  zwey  solche  Reihen  darstellen :  sondern  es  zeigt  sich  hier  die  Noth- 
wendigkeit  dessen  was  die  Thatsache  vor  Augen  legt ;  nämlich  dafs  b  und  ß, 
wenn  sie  geschieden  bleiben  sollen,  etwas  zwischen  sich  schieben 
müssen,  wodurch  und  um  wie  viel  sie  getrennt  sind.  Allerdings  ist  hier 
ein  Streben  zur  Vereinigung  vorhanden;  und  die  Vereinigung  mufs 
wirklich  zu  Stande  kommen,  wenn  nicht  ein  Widerstreben  wegen  der 
Reproduction  des  Zwischenliegenden  hinzutritt.  Gerade  hierin  nun  be- 
steht die  Verwebung  der  Reihen,  dafs,  indem  ihrer  mehrere  ablaufen,  zu- 
gleich nicht  nur  jedes  Glied  eine  von  ihm  ausgehende  Reihe  anregt,  son- 
dern dafs  auch  die  secundären  Reihen  sich  nach  einer  Regel  in  andern 
Reihen  Glied  für  Glied  vereinigt  finden;  so  dafs  die  Vereinigungspuncte 
jedesmal  mehrfach  gegeben  sind,  und  dafs  die  Construction  unendlich 
vielfach  in  sich  selbst  zurücklaufe,  ohne  mit  sich  selbst  in  Mishellig- 
keit  zu  gerathen.  Das  Product  solcher,  sich  gegenseitig  hervorrufender 
Reihen  ist  allemal  ein  Räumliches,  obgleich  nicht  nothwendig  eins  im 
sinnlichen  Weltraum. 

(Denkt  man  sich  die  drey  Hauptfarben  Roth,  Gelb,  Blau,  sammt 
allen  Zwischenliegenden,  die  aus  ihnen  gemischt  oder  in  sie  zerlegt  werden 
können :  so  erscheint  das  ganze  System  nothwendig  als  ein  gleichseitiges 
Dreveck,  —  gleichseitig,  weil  gleichviel  Verschiedenheit  der  möglichen 
Mischung  zwischen  Roth  und  Blau,  Blau  und  Gelb,  Roth  und  Gelb  liegt.*) 
Auf  dem  Inhalte   dieses   Drevecks,   der  eine  vollständige   Fläche  ausmacht, 


*  Diese  Voraussetzung  gegen  mögliche  Einwürfe  zu  rechtfertigen,  ist  hier  nicht 
nöthig.  Andre  Voraussetzungen  werden  andre  Constructioncn  ergeben,  auf  deren  Gestalt 
hier  nichts  ankommt. 


,  j5  VI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


angefüllt    von    allen    Mischungen    aus    dreven  Farben,    kann   man   in    Ge- 
danken    alle    möglichen    Figuren    zeichnen,    darunter    auch    ähnliche,    oder 
gleiche,  mit  den  bekannten  geometrischen  Eigenschaften.     Dieses  Farben- 
dreveck   hängt    mit    [360]    dem    sinnlichen    Weltraum    durchaus   nicht   zu- 
sammen :  hat  auch  mit  ihm  kein  gemeinsames  Maafs,   sondern  seine  Maafse 
müssen  aus  ihm  selbst  genommen  werden;   z.  E.  ein  Zehntheil  der  Distanz 
zwischen  Roth  und   Blau:    dies    ist    eine    völlig   bestimmte    Gröfse    für   das 
Farbendreveck,   und  ein  zulängliches  Maafs   für  alle  darauf  zu  entwerfenden 
Figuren.      Wollte    man    aber  das   Farbendreveck  aufs   Papier  zeichnen,    so 
könnte    es    eben    so  gut  ein   Differential -Dreveck  sevn,    als   eine  Quadrat- 
Meile  im   sinnlichen  Weltraum  einnehmen.    —   Es  giebt  noch   andre  Ver- 
anlassungen,   Raum    zu    eonstruiren;    der   intelligible   Raum    in    der  Meta- 
physik  gehört   hieher.      Genau   genommen,    liegen    auch    die  Gegenstände 
der   reinen    Geometrie    nicht    im    sinnlichen  Weltraum;    dieser    letztere    ist 
theils  von  Körpern  erfüllt,    theils    liegt    es    leer   zwischen    ihnen;    die  geo- 
metrischen Kreise,   Quadrate,  Polygone  aber  sind  nirgends  in  ihm,   haben 
in  ihm  nicht  einmal  Platz,   wurden  auch  nicht  durch  Begränzung  aus  ihm 
herausgehoben,    sondern    der  Geometer  macht  jeden   von  ihnen  ganz  von 
vorn  an,   und  würde  aus  jedem  derselben  einen  ganz  vollständigen  Raum, 
als  dessen  Umgebung,  produciren,  wenn  ihm  daran  gelegen  wäre,  so  dafs 
auch    dieser    Raum    gar   keine    bestimmte  Lage   gegen    oder  in  dem  sinn- 
lichen Weltraum  hätte,    sondern    man    einen    davon   sich    aus    dem  Sinne 
schlagen  müfste,  um  den  andern  zu  denken.     Bequemer  ist  es,  die  Con- 
structionen,  die  nicht  noth wendig  geschieden  bleiben  müssen,  in  einander 
fallen    zu    lassen;    eigentlich  aber  ist  zwischen  dem   Kreise  des  Geometers 
imd    den    sämmtlichen    sinnlich    wahrnehmbaren    Kreisen    das    Verhältnifs 
einer  platonischen  Idee  zu  ihren  Nachahmungen;   wobey  man  sich  erinnern 
wird,   dafs  eine  solche  Idee  durchaus  nicht  selbst  einen  Platz  in  der  Sinnen- 
welt hat,  wo  sie  könnte  gefunden  oder  auch  nur  dürfte  gesucht  werden.  — 
ja  sogar  der  sinnliche  Weltraum  ist  nicht  ursprünglich  nur  Einer;   sondern 
Auge,  und  Gefühl  oder  Getast,  haben  unabhängig  von  einander  Ge- 
legenheit zur  Production  des  Raums  gegeben;  später  ist  bey[3Öi]des  ver- 
schmolzen und  erweitert.    —    Man  kann  nicht  oft  genug  gegen  das  Vor- 
urtheil  warnen,   als  gebe  es  nur  Einen  Raum,   den  des  sinnlichen  Weltalls. 
Es  giebt  ganz  und  gar  keinen  Raum;   aber  es  giebt  Veranlassungen,   dafs 
Systeme  von  Vorstellungen  ein  Gewebe  von  Reproductions-Gesetzen  durch 
ihre  Verschmelzung  erzeugen,  dessen  Vorgestelltes  nothwendig  ein  Räum- 
liches   —    nämlich  für  den  Vorstellenden    — ■    seyn  mufs,    und  solcher 
Veranlassungen  finden  sich  mehrere,   die  nicht  alle  gleichen  Erfolg  haben; 
denn  manche  angefangene  Raum-Erzeugung  bleibt  unvollendet  im  Dunkeln 
liegen.    Das  Vorurtheil  aber,   von  dem  hier  die  Rede  ist,   reicht  schon  für 
sich    allein    zu,    alle   Metaphysik  zu  verderben.      Dagegen    ist  jeder  Licht- 
strahl, der  auf  die  Lehren  vom   Räume  fällt,   der  Metaphysik  im   Ganzen 
wuhlthätig.      Wie  viel  hat  Kaxt  nicht  schon  allein  dadurch  gewirkt,    dafs 
er    zu    neuer    Untersuchung    über    den    Raum    wenigstens    die    erste    An- 
regung gab!) 

Obgleich  wir  hier  mehr  und  mehr  auf  Gegenstände  kommen,   die  sich 
ohne  Hülfe  des  analytischen  Theils  der  Psychologie  kaum  deutlich  machen 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  417 

lassen :  so  mufs  doch  wenigstens  mit  kurzen  Worten  angemerkt  werden, 
dafs    die  Reihenbildung  unter  den  Vorstellungen  auch  auf  die  Hemmuno-, 

O  CT  C" 

und  auf  die  Schwellen  des  Bewufstseyns,  einen  sehr  starken  Einflufs  aus- 
übt. Im  Allgemeinen  läfst  sich  dieses  leicht  einsehn.  Gesetzt,  eine  Wahr- 
nehmung reproducire  eine  früher  gebildete  Reihe,  zugleich  aber  gebe  sie 
Anlafs  zur  Verknüpfung  ihrer  Partial -Vorstellungen  in  eine  andre  Reihe: 
so  mufs  nothwendig  eins  das  andre  stören.  Allein  hier  ist  an  keine 
vestbestimmte  Hemmungssumme ,  und  eben  so  wenig  an  ein  fixirtes 
Hemmungsverhältnifs,  zu  denken:  denn  die  Reproductions  -  Gesetze 
wirken  allmählig,  und  eben  so  allmählig  gerathen  sie  in  Conflict.  Damit 
ist  aber  nicht  gesagt,  dafs  sich  Gegenstände  dieser  Art  niemals  würden 
der  Rechnung  unterwerfen  lassen;  vielmehr  haben  wir  schon  im  fünften 
Capitel  sowohl  veränderliche  Hemmungssum[3Ö2]men  als  auch  veränder- 
liche Hemmun2;sverhältnisse  in  die   Rechnuno;  eingeführt. 

CT  OO 

Dies  ist  jedoch  nicht  Alles.  Wo  Hemmung  wegen  der  Gestalt 
(so  nenne  ich  kurz  diesen  Conflict  der  Reproduktionen)  Statt  findet,  da 
giebt  es  auch  Begünstigung  wegen  der  Gestalt,  oder  das  Gegen- 
theil;  und  wo  dieser  psychologische  Procefs  durch  die  Auffassung  eines  ge- 
wissen Gegenstandes  herbevgeführt  wird,  da  heifst  in  gewöhnlicher  Sprache, 
die  nur  das  Vorgestellte  bezeichnet,  von  dem  verborgenen  Act  des  Vor- 
stellens  aber  nichts  aussagen  kann,  —  der  Gegenstand  schön  oder 
häfslich.  Will  man  jemals  über  das  Schöne  im  Räume  nähere  Kennt- 
nifs  erlangen:  so  wird  man  die  Mechanik  des  Geistes  bis  hieher  fortführen 
müssen. 

Alle  Vorstellungen  im  engern  Sinne,  das  heifst,  solche,  die  ein 
Bild  sind  von  irgend  einem,  gleichviel  ob  wirklichen,  oder  scheinbaren, 
oder  erdichteten  Gegenstande,  sind  Gewebe  von  Reihen,  die  in  einer 
schnellen  Succession  unmerklich  fortfliefsend ,  durchlaufen  werden.  Der 
Schwung  durch  die  Partial -Vorstellungen  läfst  einen  Gesammt  -  Eindruck 
zurück,  der  jeden  Augenblick  auf  die  geringste  Veranlassung  wieder  in 
irgend  eine  innere  Bewegung  gerathen  kann.  Man  betrachte  drev  Puncte; 
sollte  die  Anschauung  gleichmäfsig  auf  diesem  Bilde  ruhen,  so  müfste  das 
Auge  auf  den  Mittelpunct  des  Kreises  gerichtet  werden,  der  das  Dreyeck 
umschliefst;  allein  dies  geschieht  gewifs  nicht  bey  solchen  Drevecken,  die 
vom  gleichseitigen  bedeutend  abweichen;  hier  giebt  es  einen  andern  Punct, 
in  welchen  das  Maximum  des  Z  ugleich- Auffassens  der  sämmtlichen 
Winkelpuncte  fallen  würde.  Aber  auch  da  ruhet  das  Auge  nicht ,  .  eben 
deswegen,  weil  hier  noch  immer  Ungleichheit  Statt  findet,  indem  einer  von 
den  Puncten  am  meisten,  ein  anderer  am  wenigsten  gesehen  wird;  nur 
ein  successives  Sehen  kann  dies  ausgleichen.  Was  nun  vom  Vorstellen 
dreyer  Puncte  (aufs  Sehen  mit  dem  leiblichen  Auge  kommt  hier  [363] 
nichts  an),  das  gilt  um  so  mehr  von  vielen  Puncten,  von  ganzen  Figuren 
und   Körpern. 

Durch  diesen  Schwung  im  Vorstellen  wird  nun  die  Hemmung  zwischen 
den  Theilen  des  Bildes  bey  weitem  weniger  merklich  als  sie  sonst  sevn 
würde.  Was  wir  schnell  (aber  doch  nicht  ganz  gleichmäfsig,  sondern  mit 
successivem  Vorherrschen  einzelner  Theil- Vorstellungen)  übersehen  können, 
das  gilt  uns   für  eine   simultane   Wahrnehmung;   nur  dürfen   die   darin   ent- 

Herhart's   Wkrkk.     V.  27 


_j.  i  8  XI.  Psychologie  als  "Wissenschaft. 

haltenen  Reihen  sich  nicht  verwirren;  sonst  trübt  sich  das  Bild  wegen  der 
wider  einander  strebenden  Reproductionen,  durch  welche  jeder  Punct  auf 
die  übrigen  führt. 

Anmerkungen. 

Gegen  das  Ende  des  vorhergehenden  Paragraphen  wird  der  Leser 
eine  Dunkelheit  bemerkt  haben,  die  sich  nicht  hinwegräumen  Iäfst.  Sie 
liegt  nicht  in  der  Sache,  aber  in  der  notwendigen  Form  des  Vortrags. 
Wir  nähern  uns  dem  Ende  des  synthetischen  Theils ;  es  kommt  darauf 
an,  dafs  derselbe  sich  mit  dem  folgenden,  analytischen,  gehörig  verbinde. 
Wird  dafür  nicht  im  Voraus  gesorgt:  so  steht  der  synthetische  Theil  zu 
nackt,  und  späterhin  wird  die  Anknüpfung  zu  schwer.  Hier  mufs  der 
Leser  mit  eignem  Denken  dem  Buche,  welches  an  diesem  Orte  nur  An- 
deutungen der  analytischen  Betrachtung  geben  kann,  zu  Hülfe  kommen. 
Er  mufs  sich  dabey  vor  Uebereilungen  hüten;  sonst  entstehen  Deuteleven, 
wodurch  das  Gegebene  entstellt,  und  die  Theorie  auf  falsche  Wege  ge- 
leitet wird;  wovon  die  Beyspiele  in  unserer  neuesten  Philosophie  (da,  wo 
sie  irgend  welche  Naturgegenstände  deducirt  zu  haben  glaubt)  nur  zu 
reichlich  vorhanden  sind. 

Wollte  man  die  Gegenstände,  welche  des  analytischen  Verfahrens  zur 
deutlichen  Darstellung  bedürfen,  im  synthetischen  Theile  noch  ganz  uner- 
wähnt lassen :  so  würde  noch  eine  andre  Unbequemlichkeit  entstehn. 
Manches,  das  in  den  psychologischen  Erscheinungen  auf  ver[36-).]schiedene 
Weise  zum  Vorschein  kommt,  und  deshalb  im  analytischen  Theile  an 
verschiedenen  Orten  seinen  Platz  hat,  ist  gleichwohl  einfach  für  die  syn- 
thetische Betrachtung,  denn  es  ist  ein  und  derselbe  Grund  für  eine  Mehr- 
heit von  Folgen,  die  unter  verschiedenen  nähern  Bestimmungen  daraus 
entspringen.  Um  es  in  dieser  Einheit  darzustellen,  mufs  es  im  synthe- 
tischen Theile  mit  aufgeführt  werden.  Deshalb  will  ich  hier  noch  neben- 
her ein  paar  wichtige  Puncte  berühren,  die  mit  den  übrigen  Gegenständen 
dieses  Capitels  nicht  in  gerader  Linie  liegen,  und  daher  in  den  Paragraphen 
selbst  nicht  füglich  ihre  Stelle   erhalten  konnten. 


■r 


A.  Involution  der  Vorstellungs-Reihen.  Es  ist  im  Vorher- 
gehenden vom  Ablaufen  der  Vorstellungs-Reihen,  und  von  ihrem  Evolutions- 
Vermögen  gehandelt  worden.  Man  weifs,  dafs  hiebe}"  alles  auf  die  ver- 
schiedene Wirksamkeit  der  Reste  ;-,  r ,  r",  u.  s.  f.  ankommt,  wodurch  jede 
einzelne  Vorstellung  in  verschiedenem  Grade  mit  den  andern  Vorstellungen 
verknüpft  ist.  Damit  aber  diese  Verschiedenheit  irgend  eine  Folge  habe, 
mufs  eine  solche  Vorstellung  im  Bewufstseyn  wenigstens  so  hoch  hervor- 
gehoben seyn,  als  der  gröfste  jener  Reste  anzeigt.  Wäre  z.  B.  von  der 
Vorstellung  a  wohl  das  kleinere  Quantum  r"  im  Bewufstseyn  gegenwärtig, 
nicht  aber  der  gröfsere  Rest  r  und  noch  weniger  der  gröfste,  r :  so  würde 
die  mit  r"  verbundene  Vorstellung  d  gerade  so  geschwind  gehoben,  als 
die  mit  r  verknüpfte  c,  und  die  mit  r  verschmolzene,  b.  Folglich  könn- 
ten nun  b,  c,  d,  nicht  als  Glieder  einer  Reihe  auseinander  treten :  und 
dieser  Theil  der  Reihe  a,  b,  c,  d,  e,  /',  g,  wäre  demnach  eingewickelt ; 
während  die  nachfolgenden  Glieder  e,  /,  g,  zwar  wohl  unter  sich  zur  Evo- 
lution   bereit    wären ;    aber    deshalb    einem    andern  Nachtheil    unterworfen 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  4 IQ 

seyn  würden,  weil  b,  c,  d  nicht  gehörig  nach  einander  ihr  Maximum  er- 
reicht hätten  und  von  da  wieder  herabgesunken  wären,  also  gewissermaafsen 
noch  im  Wege  stünden,   und  das   Bewufstseyn   anfüllten. 

[365]  Befinden  sich  nun  die  Vorstellungsreihen  im  Zustande  der  In- 
volution (und  das  ist  immer  der  Eall,  wenn  ein  besonderer  Grund  zu 
ihrer  hinlänglichen  Aufregung  wirkt),  so  ist  die  Mehrheit  und  Verschieden- 
heit ihrer  Glieder  unbemerkbar;  sie  gelten  alsdann  für  Einheiten,  wie  z.  B. 
die  Vorstellung  eines  Buches,  eines  Flusses,  eines  Beweises;  wo  die  Mannig- 
faltigkeit der  Beyspiele  deutlich  zeigt,  dafs  aus  der  Lehre  von  der  In- 
volution sich  Folgerungen  ergeben  müssen,  die  an  ganz  verschiedene  Orte 
des  analytischen  Theils  hinzuweisen  sind.  Es  ist  übrigens  von  selbst  klar, 
dafs  unsre  Vorstellung  eines  Buches  nichts  anderes  enthält,  als  die  einzel- 
nen Vorstellungen  von  dem,  was  auf  den  verschiedenen  Blättern  desselben 
nach  einander  zu  lesen  steht,  sammt  der  entsprechenden  Reihe  von  Ge- 
danken und  Gefühlen  während  des  Lesens;  und  so  auch  in  den  andern 
Beyspielen,  die  man  ohne  Mühe  vervielfältigen  kann.  Man  denke  nun 
an  eine  Bibliothek,  eine  Stromkarte,  und  eine  systematische  Theorie;  so 
so  wird  man  sogleich  gewahr,  dafs  hier  Bücher,  Flüsse,  Beweise,  wiederum 
einzelne  Glieder  von  Reihen  und  von  Geweben  aus  diesen  Reihen  ge- 
worden sind;  gerade  so,  wie,  noch  weiter  fortschreitend,  wir  einer  Bibliothek 
einen   Platz  in  der  Reihe   der  Merkwürdigkeiten  einer  Stadt  anweisen. 

B.  Wölbung  und  Zuspitzung  der  reproducirten  Vorstel- 
lungen. Was  ich  durch  diese  figürlichen  Ausdrücke  bezeichne,  das  hat 
einen  noch  viel  gröfsem  Umfang  als  das  Vorige,  und  ist  in  der  Erfahrung 
nicht  so  leicht  aufzufinden.  Man  erkennt  es  jedoch  an  dem  so  wichtigen 
Unterschiede  der  schärfern  oder  stumpferen  Auffassungen,  von  denen  der 
Grad  der  Bestimmtheit  im  Wahrnehmen  und  im  Denken  abhängt.  Um 
von  der  synthetischen  Seite  her  den  Gegenstand  deutlich  zu  machen, 
wollen  wir  uns  fürs  erste  zurückversetzen  zu  ganz  einfachen  Vorstellungen, 
etwa  zum  Hören  eines  Tons,  oder  zum  Sehen  einer  Farbe;  die  Anwen- 
dung auf  die  Vorstellungsreihen  wird  alsdann  leicht  seyn. 

[366]  Wenn  eine  Vorstellung  eben  jetzt  erzeugt,  oder,  wie  man  zu 
sagen  pflegt,  durch  die  Sinne  als  Empfindung  gegeben  wird :  so  reprodu- 
cirt  sie  nicht  blofs  die  völlig  gleichartigen,  sondern  man  kann  sie  mit  einem 
Lichte  vergleichen,  das  einen  Schein  ringsumher  verbreitet.  Denn  indem 
die  neue  Vorstellung  alles  ihr  Entgegengesetzte  zurückdrängt,  was  sich  so 
eben  im  Bewufstseyn  findet,  wird  auch  alles  das,  worauf  dieses  Entgegen- 
gesetzte hemmend  wirkte,  mehr  oder  weniger  frey.  Es  erhebt  sich  also, 
wenn  wir  z.  B.  einen  Ton  hören,  nicht  blofs  die  völlig  gleichartige  ältere 
Vorstellung  eben  dieses  Tones,  sondern  beynahe  in  gleichem  Falle  mit 
ihm  befinden  sich  die  nächst  höheren  und  niedrigeren  Töne;  daher  streben 
sie  gleichfalls  empor  ins  Bewufstseyn ;  und  so  geht  das  in  abnehmendem 
Grade  auf  die  entfernteren  Töne  fort.  Also  kommt  eine  ganze  Tonmasse,  oder 
in  einem  andern  Beyspiele  eine  ganze  Farbenmasse  in  Bewegung;  nur  nicht 
so  merklich,  als  ob  alle  diese  Töne  und  Farben  wirklich  wahrgenommen 
würden.  —  Jetzt  kommt  es  aber  darauf  an,  ob  die  Empfindung  des  wirk- 
lich gehörten  Tones  länger  anhalte.  Wenn  das  geschieht:  so  stöfst  diese 
Empfindung  mehr    und    mehr    die    nicht  völlig  gleichartigen  Vorstellungen 

27* 


A20  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 

wieder  zurück;  und  hiebey  wird  der  innere  Widerstreit  um  desto  stärker, 
je  mehr  die  älteren  Vorstellungen  unter  sich  verschmolzen,  und  je  ge- 
neigter sie  deshalb  sind,  alle  in  Gesellschaft  ins  Bewufstseyn  zu  kommen. 
Vergleicht  man  nun  die  ganze  aufgeregte  Masse  der  Vorstellungen  mit 
einem  Gewölbe :  so  kann  man  fortfahren  zu  sagen,  das  Gewölbe  werde 
vom  äufsem  Umfange  gegen  die  Mitte  hin  mehr  und  mehr  niedergedrückt; 
und  endlich  müsse  es  sich  dergestalt  zuspitzen,  dafs  gerade  nur  die,  der 
neuen  Wahrnehmung  völlig  gleichartige  ältere  Vorstellung  hervorrage.  So 
geschieht  es,  so  oft  wir  einen  Gegenstand  bestimmt  als  diesen  und 
keinen  andern  auffassen;  denn  hierin  liegt  offenbar  ein  Actus  der 
Ausschliefsung  [367]  dessen,  was  wegen  der  nähern  oder  fernem  Aehn- 
lichkeit  ins  Bewufstseyn  mit  hervorgetreten  war. 

Die  Uebertragung  des  hier  Gesagten  auf  unvollkommene  Complexionen 
und  auf  Reihen  ist  sehr  leicht.  Wird  ein  einzelnes  Glied  derselben  neu 
gegeben:  so  regt  sich  der  Verbindung  wegen  die  ganze  Complexion  oder 
die  ganze  Reihe;  und  im  letztern  Falle  ist  nun  die  Reihe  im  Begriff  ab- 
zulaufen. Damit  aber  tritt  eine  Hemmungssumme  ins  Bewufstseyn,  welche 
wieder  sinken  mufs;  unter  der  Voraussetzung  nämlich,  die  neue  Auffassung 
dauere  noch  fort,  und  die  gleichartige  ältere  Vorstellung  könne  daher 
ihrem  Weiter-Streben  nicht  nachgeben. 

Man  erinnere  sich  hiebey  des  Gefühls,  welches  entsteht,  wenn  eine 
Folge  von  Vorstellungen  langsamer  als  gewöhnlich,  dargeboten  wird.  Z.  B. 
wenn  eine  Reihe  von  Wagen  vorüberfährt  beym  Leichenzuge;  oder  wenn 
Jemand  sehr  langsam  spricht;  oder  wenn  eine  bekannte  Melodie  auffallend 
langsam  gesungen  wird.  Alles  Langsame,  wenn  es  nicht  aus  andern  Grün- 
den widrig  ist,  nähert  sich  dem  Feyerlichen;  es  stöfst  die  schneller  fort- 
eilenden Vorstellungsreihen  zurück.  So  gerathen  wir  ins  Gebiet  der  ästhe- 
tischen Beurtheilung.  Hier  versteht  sich  von  selbst,  dafs  das  Langsame 
nicht  matt  und  schwach  seyn  mufs,  sondern  energisch  genug,  um  den 
Flufs  des  Vorstellens  wirklich  anzuhalten,  und  das  Vordrängende  zurück 
zu  zwingen. 

Andererseits  kommt  es  darauf  an,  ob  der  Mensch  sich  Zeit  lasse, 
und  ob  in  ihm  der  Drang  der  Vorstellungen  von  zufälligen  Hemmungen 
frey  sey.  Schwache  und  langsame  Köpfe  sind  nicht  aufgelegt  zu  scharfen, 
wohlbegränzten  Auffassungen.  Der  beschriebene  Procefs  erfordert  nämlich, 
dafs  Energie  in  der  Reproduction  sey;  sonst  kommt  es  gar  nicht  zum 
Anstofsen  an  eine  Gränze,  welches  allemal  das  innere  Streben  voraussetzt, 
dieselbe  zu  überschreiten,  es  kommt  also  nicht  zu  dem  Conflict  von  dem 
wir  reden.  Die  Complexionen  und  Reihen  müs[3ö8]sen  auf  inniger  Ver- 
bindung ihrer  Glieder  beruhen;  sonst  ruft  nicht  eine  Vorstellung  die  andere 
so  lebhaft  auf,  dafs  dadurch  eine  starke  Zurückstofsung  könnte  veranlafst 
werden.  Aber  auch  deshalb  kann  die  letztere  unmerklich  werden,  weil 
ihr  nicht  Zeit  gelassen  wird.  Uebereilung  ist  das  Gegentheil  des  Scharf- 
sinns, auch  bei  sonst  lebhaften  Naturen.  Verweilung  bei  jedem  einzelnen 
Puncte  ist  die  psychologische  Bedingung  des  genauen  Denkens;  sonst 
lassen  sich  Verwechselungen,  sammt  allen  ihren  Täuschungen,  nicht  ver- 
meiden; die  Vorstellungen  wölben  sich  wohl,  aber  zum  Zuspitzen  gelangen 
sie  nicht,  das  heifst,  die  Gedanken  kommen  nicht  zur  Reife. 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der   Mechanik  des  Geistes.  42  I 


§  101. 

Da  es  an  diesem  Orte  nicht  blofs  noch  darauf  ankommt,  die  Ver- 
bindung zwischen  dem  synthetischen  und  dem  analytischen  Theile  der 
Psychologie  zu  vermitteln:  so  werde  ich  auch  einige  andre,  an  sich  höchst 
wichtige  Gegenstände,  hier  nur  so  betrachten,  wie  sie  sich  als  Folgen 
aus  dem  bisher  Vorgetragenen  gleichsam  aus  der  Ferne  zeigen  lassen. 

Ursprünglich  fällt  jede  Vorstellung,  indem  sie  entsteht,  in  mehr  als 
Eine  Reihe.  Sie  verknüpft  sich  zum  Theil  mit  denen,  die  sie  eben  im 
Bewufstseyn  vorfindet;  theils  mit  gleichzeitig  gegebenen;  theils  mit  den- 
jenigen, deren  Reproduction  sie,  erst  unmittelbar,  dann  mittelbar,  veran- 
lafst.  Geht  man  den  reproducirten  weiter  nach,  so  sind  diese  ehemals 
auf  ähnliche  Weise,  seltener  oder  öfter,  Verbindungen  mit  anderen  ein- 
gegangen. Daher  finden  sich  in  der  dritten  von  jenen  drey  Arten  der 
Verknüpfung  mancherley  nähere  Bestimmungen,  die  nur  allmählig  ent- 
wickelt werden  können.  Vermöge  der  ersten  Art  bekommt  die  Vorstel- 
lung eine  Stelle  in  der  Zeit;  vermöge  der  zweyten  einen  Ort  im  Räume; 
vermöge  der  dritten  einen  Platz  im   Reiche  der  Begriffe. 

Bey  jeder  neuen  Reproduction  strebt  die  Vorstellung,  alles  Verbun- 
dene theils  simultan,  theils  successiv  (§  100)  ins  Bewufstseyn  zu  bringen; 
hierin  wird  sie  theils  begün[3ÖQ]stigt,  theils  gehindert;  und  sofern  die 
Reproduction  wirklich  zu  Stande  kommt,  ist  sie  das  Resultat  des  Zusammen- 
wirkens vieler  zugleich  strebender  Vorstellungen.  In  der  Regel  kehren 
diejenigen  Vorstellungen  am  leichtesten  wieder,  die  erst  kurz  vorher  im 
Bewufstseyn  waren ;  denn  die  Zeitreihe,  in  der  sie  liegen,  hebt  sich  von 
zwey  Puncten  aus,  vom  jetzigen  und  von  jenem  früheren;  diese  Zusammen- 
wirkung wird  bey  längeren  Zwischenzeiten  unwirksam,  wenn  nicht  gewisse 
hervorragende  Momente  in  der  Zeitreihe  (die  man  Epochen  nennen 
kann),  unter  sich   eine  stärkere  Verbindung  eingegangen  waren. 

Wir  wollen  nun  annehmen,  einerley  Vorstellung  sey  schon  sehr  oft 
gegeben  worden:  so  wird  sie  mit  sehr  Vielem  verbunden  seyn;  und  dies 
Viele  wird  in  mancherley  Gegensätzen  stehn;  daraus  werden  vielerley  theils 
materiale  Hemmungen  (wegen  der  Beschaffenheit  der  einzelnen  Partial- 
Vorstellungen),  theils  formale  (Hemmungen  wegen  der  Gestalt,  nach 
vorigem  §)  entspringen.  Nun  sollte  zwar  die  oftmals  gegebene  Vorstellung 
eine  grofse  Gesammt-Kraft  besitzen;  allein  ihr  Verbundenes  steht  sich 
und  ihr  im  Wege;  es  verdunkelt  sich  gegenseitig,  und  sie  wird  dadurch 
im  Aufstreben  gehindert. 

Hiebey  ist  insbesondere  zu  merken,  dafs  wegen  der  successiven 
Reproductionen  (nach  §  88)  das  Verbundene  jener  Hauptvorstellung  nur 
allmählig  mehr  und  mehr  ins  Bewufstseyn  treten  sollte;  die  Folge  davon 
läfst  sich  leicht  einsehn.  Nämlich  wenn  die  Hauptvorstellung  mit  vielen 
Reihen  verbunden  ist,  diese  Reihen  aber  unter  einander  entgegengesetzt 
sind,  so  mufs  die  Wirksamkeit,  womit  sie  einander  widerstreben,  noth- 
wendig  wachsen,  indem  die  Zeit  verläuft;  denn  während  dieses  Zeit- 
verlaufs sollen  die  Reihen  sich  im  Bewufstseyn  entwickeln.  Weil  sie  sich 
nun  daran  gegenseitig  mehr  und  mehr  hindern,  je  weiter  ihre  Entwickelung 
nach  dem  Reproductionsgesetze   fortschreiten  müfste:   so  leidet  die  Haupt- 


422  XL   Psychologie  als   "Wissenschaft. 


Vorstellung  selbst  hiedurch  einen  wachsenden  Wi[3 7 o]d erstand;  sie  kann 
sich  im  Bewufstseyn  nicht  lange  halten,  sondern  erliegt  gar  leicht  unter 
der  Last  ihrer  Verbindungen. 

(Dies  ist  die  eigen thümliche  Schwierigkeit,  welche  sich  bei  Menschen 
ohne  wissenschaftliche  Bildung  dann  äufsert,  wann  sie  allgemeine  Begriffe 
vesthalten  sollen.  Die  Gedanken  vergehn  ihnen ;  sie  wissen  gar  bald  nicht 
mehr,  wovon  die  Rede  ist;  sie  werden  müde  und  gähnen.  Umgekehrt 
erhellet  hieraus  die  Kraft  der  Bevspiele,  das  Denken  zu  unterstützen,  in- 
dem jedes  derselben  eine  bestimmte  Reihe  veststellt,  und  den  Widerstand 
der  übrigen   abwehrt.) 

Gleichwohl  bereitet  sich  durch  den  eben  erwähnten  Hemmungs-Procefs 
ein  wichtiger  Fortschritt  in  der  geistigen  Bildung.  Ist  nämlich  die  Haupt- 
vorstellung nur  gehörig  gebildet  worden,  durch  möglichst  vollständiges  Ver- 
schmelzen ihrer  früheren  Theile  mit  den  späteren,  so  oft  sie  gegeben  wurde 
(vergl.  §  85),  und  hat  nur  nicht  irgend  ein  physiologisches  Hindernifs  diese 
Verschmelzungen  verkümmert  (wie  bey  Kranken,  bey  Blödsinnigen,  oder 
schon  bey  schwachen  Köpfen),  so  giebt  ihr  die  häufige  Wiederhohlung 
unter  verschiedenen  Umständen  dennoch  Kraft  genug,  um  in  der  Mitte 
andrer  Vorstellungen  einen  Platz  zu  behaupten.  Zugleich  erscheint  sie 
nun  beinahe  isolirt,  weil  das  Ablaufen  der  ihr  anhängenden,  sich  unter 
einander  hemmenden,  Reihen  nicht  merklich  ist.  Sie  ist  also  abgelöset 
von  ihren  zufälligen  Verbindungen  nach  Zeit  und  Ort.  Mehrere  Vorstel- 
lungen dieser  Art  können  nun  unter  sich  in  solche  Verbindungen  treten, 
die  von  ihnen  selbst,  von  ihrem  Inhalte,  ihrem  Vorgestellten,  abhängen: 
kurz,  sie  können  sich  nach  ihrer  Qualität  verknüpfen.  In  so  fern  aber 
werden  sie  dem  Verstände   zugeschrieben  und   heifsen  Begriffe. 

Man  kann  von  den  Begriffen  auch  sagen,  sie  seyen  die  Vorstellungen 
in  dem  Zustande,  worin  sie  unmittelbar  an  die  Sprache  geknüpft  seyen; 
und  von  der  Sprache:  sie  sev  ganz  eigentlich  das,  was  verstanden  oder 
nicht  verstanden  werde,  so  dafs  hieraus  sich  die  ursprüngliche,  obgleich 
nicht  die  ganze  Bedeutung  des  Wortes  Verstand  ergebe.  Hierauf  wer- 
den wir  sogleich  zurückkommen;  zuerst  müssen  wir  aus  der  Lehre  von 
den  Vorstellungsreihen  noch   eine  andre   Betrachtung  ableiten. 

Eine  Complexion  aus  den  Vorstellungen  A  und  B  sey  im  Begriff 
sich  zu  bilden.  Wenn  sie  zu  Stande  kommen  soll,  so  müssen  die  Reihen, 
welche  von  A  ausgehn,  und  die,  welche  an  B  geknüpft  sind,  einander 
nicht  dergestalt  hemmen,  dafs  ihr  ferneres  Ablaufen  dadurch  unmöglich 
würde;  sonst  wirkt  die  Hemmung  auf  A  und  B  zurück,  und  die  Com- 
plication  mufs  unterbleiben.  Aber  gesetzt,  die  Evolution  der  Reihen  bis 
zu  dem  Puncte  ihres  Zusammenstofsens  würde  aufgehalten,  so  würde  die 
Complexion  sich  dennoch,  wenigstens  vorläufig  bilden,  und  so  lange  dauern, 
bis  jene  Gegenwirkung  der  Reihen  hervortrete  und  sie  zerstörte.  Dafs 
diese  Art  der  vorläufigen,  aber  unhaltbaren  Complication,  das  Wesentliche 
des  Traums  ausmacht,  läfst  sich  leicht  übersehen;  dasselbe  ist  beym 
Wahnsinn  der  Fall,  nur  so,  dafs  hier  das  Ablaufen  der  Reihen  sich  bis 
zur  Heilung  des  Kranken  verzögert,  während  die  Träume  nur  des  Auf- 
wachens bedürfen,  um  ihrer  Ungereimtheit  überführt  zu  werden;  so  wie  der 
Unverstand  der  Kinder,   deren  Vorstellungsreihen  noch  kurz,  und  mangel- 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien   der  Mechanik  des   Geistes.  4^3 


haft  verknüpft  sind,    durch   zunehmende   Erfahrung  und   durch   reifere   Ge- 
danken-Verbindung allmählig   verscheucht  wird. 

Erinnern  wir  uns  nun  der  Sprache:  so  sehn  wir  sogleich,  dafs  jedes 
gesprochene  Wort  für  den  Hörer  ein  Anfangspunct  von  Reihen  ist,  welche 
sich  alle  in  einander  verweben  müssen,  wofern  die  Rede  soll  verstanden 
werden.  Alles,  was  diesen  Procefs  der  Verwebung  hindert,  macht  die 
Rede  unverständlich. 

Aber  die  Sprache  liegt  nicht  blofs  in  den  Worten,  sondern  auch  in 
den  Dingen.  Der  Verständige  erräth  das  Verborgene ,  indem  er  den  Zu- 
sammenhang ergänzt;  und  er  verwirft  die  thörichten  Meinungen  und  Pläne, 
in[372]dem  er  den  Lauf  der  Begebenheiten  vorwärts  und  rückwärts  in 
Gedanken  verfolgt.  Es  ist  klar,  dafs  hiebey  alles  auf  das  Zusammen- 
wirken seiner  Vorstellungsreihen  ankommt;  gleichviel  ob  vom  praktischen 
oder  vom  theoretischen  Verstände  die  Rede  ist.  Man  kann  dem  Ver- 
stände zwey  Dimensionen  zuschreiben:  Weite  und  Tiefe.  Die  Weite 
hängt  ab  von  der  Menge  und  Mannigfaltigkeit  solcher  Reihen,  deren  Par- 
tial-Vorstellungen  möglichst  genau,  und  ohne  Verwirrung,  verschmolzen  und 
geordnet  seyen;  die  Tiefe  bezieht  sich  auf  die  Reproduction  der  gleich- 
artigen Vorstellungen,  wodurch  sie  Begriffe  sind.  Oberflächliche  Menschen 
reproduciren  heute  nur  das  Gestrige  und  Vorgestrige;  bey  tiefen  Charak- 
teren  bewegt  jeder  Gedanke  den  Stamm  des  ganzen  früheren  Lebens. 

Für  die  Sprache  sind  alle  Begriffe,    als  solche,   Substantiva;   das  Gehen 
und  Stehen    ebensowohl    als   der  Baum    und    das   Haus;    das   Wenn    und 
das  Aber  eben  so  gut  wie  das  Süfse  und  das  Kalte.    Aber  keine   unserer 
Vorstellungen  ist  blofs  und   ursprünglich    ein   Begriff;    eine   jede,    wie    sehr 
sie  auch  isolirt  zu  seyn  scheine,    hängt    noch    immer    in    allen  ihren,    wie 
sehr  auch   verdunkelten,   Verbindungen;    darum  liegt  in  jeder  ein   mannig- 
faltiges   Weiterstreben,    so    wie    es    oben    (im    vorigen    §)     beschrieben 
wurde.      In    diesem   Weiterstreben    müssen    die    Gedanken    sich    gegenseitig 
tragen  und  halten;   darum  biegt   die  Sprache  ihre  Worte,   und  baut   daraus 
Perioden.      Hiezu  dienen  ihr  vorzüglich   ihre    verba    activa    und   passiva ; 
ohne  uns  aber  bey  den  Worten   aufzuhalten,   müssen  wir  noch  einen  Blick 
werfen  auf  die   Begriffe  des  Thuns   und   Leidens;   und  wir  werden  dar- 
auf sogleich  kommen,   nachdem  wir  noch   zuvor  angemerkt  haben,   dafs  die 
Bildung  der  Periode  auf  dem  Gegensatze  des  J  a  und   Nein   (auf  der  so- 
genannten Qualität    des   Urtheils)    beruht,    und    dieses    wiederum    ein 
mögliches   Schweben    zwischen   Ja    und   Nein  voraussetzt.      Das   Nein, 
welches  gewifs  kein   Erfahrungsbegriff  seyn   [373]   kann,   da   alle  Erfahrung 
nur  Positives  giebt,    ist  nichts   anderes  als   eine   veste   Hemmung,    wogegen 
eine   Vorstellungsreihe    anläuft.      Absolut  vest  braucht  die   Hemmung  nicht 
zu  seyn;   nur  so  vest,   wie  die  Aufsenwelt  sich  uns  zeigt,   wenn  sie,   unserti 
Wünschen  und   Bemühungen  trotzend,   uns   fortwährend   einerley  Wahr- 
nehmung erneuert;   so   dafs  dagegen  unsre  Wünsche  vergeblich   anlauten, 
und   hiedurch   verneint  werden.    Dafs  auch   diese   Art  von   relativer  Vestig- 
keit  nicht    ursprünglich    in    den    einzelnen   Vorstellungen   liegt:    weifs    man 
aus    den    ersten    Elementen    der    Statik    des    Geistes,    bey    fortschreitender 
Ausbildung    aber   kann    sehr  leicht    in    einem    Systeme    von    Vorstellungen 
eine  Wirksamkeit  entstehn,   die  sich  gegen  ein   anderes  eben  s<  >  6  artwShrend 


A2A  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


erneuert,   wie   die  äufeere  Anschauung  gegen  die  von  innen  hervordringen- 
den  Gedanken. 

§     I02. 

Die  Lehren  der  Mechanik  des  Geistes  sind  so  allgemein,  dals  sie 
auch  dann  noch  gelten  müfsten,  wenn  wir  in  einer  ganz  anderen  Natur, 
als  in  der  wirklichen,  lebten ;  so  wie  die  Mechanik  der  vesten  Körper  sich. 
mutatis  mutandis,  ohne  besondre  Schwierigkeit  auch  auf  eine  Astronomie 
würde  übertragen  lassen,  deren  Grundgesetz  eine  ..Anziehung  verkehrt  wie 
der  Würfel  der  Entfernung  seyn  möchte.  Damit  würden  aber  die  Er- 
scheinungen der  Himmelskörper  keineswegs  zusammenstimmen;  will  der 
Astronom,  während  er  rechnet,  die  Thatsachen  nicht  ganz  aus  den  Augen 
verlieren,  so  mufs  er  innerhalb  solcher  Voraussetzungen  bleiben,  die  zu 
den  Thatsachen  passen.  Eben  so:  wollen  wir  allmählig  uns  vorbereiten, 
die  Mechanik  des  Geistes  mit  dem  zu  verknüpfen,  was  wir  in  uns  fühlen, 
und  aus  der  Erfahrung  von  uns  wissen:  so  ist  es  nöthig,  dafs  wir  uns, 
nun  bestimmter,  als  zuvor,  an  unsre  Welt,  das  heifst,  an  die  eigenthüm- 
lichen  Beschaffenheiten  solcher  Yorstellungsreihen  erinnern,  die  sich  im 
menschlichen  Geiste  unter  [374]  den  vorhandenen  menschlichen  Verhält- 
nissen unwillkührlich   bilden. 

Hier  kommen  uns  nun  zuerst  die  Unterschiede  des  Thätigen  und 
Leidenden  entgegen.  Viele  Complexionen  wahrgenommener  Merkmale, 
—  oder,  in  unserer  gewöhnlichen  Sprache,  viele  Dinge,  —  zeigen  sich 
und  ihre  Veränderungen  in  der  Regel  nur  als  Endpuncte  von  Reihen, 
die  von  andern  Dingen  ausgehn;  oder  doch  nur  in  so  fern  als  x\nfangs- 
Puncte,  wie  fern  sie  zuvor  Endpuncte  früherer  Reihen  waren.  Weit  sel- 
tener sind  die  andern  Dinge,  von  denen  eben  so  oft  Reihen  ausgehn, 
als  bey  ihnen  anlangen.  Jene  erstem  nun  werden  als  Stoff,  als  Materie, 
die  mit  sich  machen  läfst,  bezeichnet;  diese  letztern,  so  fem  sie  von 
vielen  verschiedenen  Reihen  die  möglichen  Anfangspuncte  sind,  denkt  man 
als   thätig,   als   Quelle  und  Ursprung  von  Ereignissen. 

Man  unterscheide  hier  sorgfältig,  was  die  Worte:  Thun  und  Leiden, 
eigentlich  bedeuten  sollten,  von  dem,  was  sie  in  gemeiner  Sprache  wirk- 
lich bedeuten.  Jenes  ist  eine  metaphysische  Frage,  deren  Gewicht  der 
gemeine  Verstand  gar  nicht  empfindet,  und  deren  Beantwortung  nicht 
hieher  gehört;  aber  die  zweyte,  psychologische  Frage  ist  schon  vollständig 
beantwortet  durch  das,  was  oben  von  den  Vorstellungsreihen  gelehrt 
wurde.  Wer  sich  ein  Thun  denken  will,  der  versetzt  sich  in  einen  Zu- 
stand, als  ob  in  ihm  eine  Reihe  dergestalt  abliefe,  dafs  sie  vorzugsweise 
durch  das  reproducirende  Streben  des  Anfangsgliedes  hervorgehoben  würde; 
um  den  Verlauf  der  Reihe  bekümmert  er  sich  dabey  nicht.  Deshalb  ist 
eine  Quelle  das  natürliche  Symbol  des  Thätigen;  obgleich  sich  bey 
näherer  Betrachtung  finden  würde,  dafs  auch  hier  alles,  was  das  sinnliche 
Auge  wahrnimmt,  sich  lediglich  leidend  zeigt,  indem  ja  tlie  Einfassung  der 
Quelle  ruhet,  und  das  ^'asser  blofs  hervortritt,  um  fortzufiiefsen,  ohne 
irgend  etwas,  wenn  nicht  zufällig,  zu  ergreifen  und  abzuändern.  Aber 
unsern  eigenen  Gemüths[375]zustand,  indem  eine  Vorstellung  die  von  ihr 
ausgehende    Reihe    hervorzuheben    strebt,    leihen    wir    der    Quelle;    darum 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien    der  Mechanik  des  Geistes.  425 

belebt  sie  sich  für  uns,  als  ob  auch  in  ihr  etwas  wäre,  welches  sich  an- 
strengte, das  Wasser  zu  heben  und  zu  fördern.  Ueberhaupt  bedeutet  im 
gemeinen  Sprachgebrauche  die  Redensart:  das  kommt  davon,  genau  so 
viel  als:  dies  hier  ist  die  Wirkung  von  jener  Ursache  dort;  und  wenn 
hiemit  der  gemeine  Verstand  noch  ein  dunkles  Gefühl  des  Widerspruchs 
verbindet,  der  in  dem  Leidenden  entstanden  wäre,  wenn  es  sich  selbst 
verändert  hätte,  so  geht  er  schon  weiter  als  die  Kantische  Schule  ihn 
führen  würde,  die,  freylich  seltsam  genug,  in  dem  Causal  -  Begriff  auch 
nichts  anderes   zu  finden   wufste,   als  den  Anfang  einer  Reihe. 

Ein  zweyter  Umstand,  den  wir  aus  unserm  Verhältnisse  zur  Aufsen- 
welt  hervorheben  müssen,  ist  die  Beweglichkeit  des  Menschen  in 
seiner  Umgebung.  Ohne  diese  würden  die  Anschauungen  der  Dinge 
stets  für  die  Dinge  selbst  gehalten  werden;  dadurch  aber,  dafs  der  Mensch 
einen  Unterschied  des  Abwesenden  und  des  Gegenwärtigen  fafst,  lernt  er, 
dafs  den  Gegenständen  ihr  Erscheinen  oder  Nicht-Erscheinen  zufällig  ist. 
Die  Gegenstände  bekommen,  so  lern  sie  vest  stehn,  auch  veste  Plätze  in 
seinen  sich»allmählig  bildenden,  ordnenden,  und  verknüpfenden  Vorstellungs- 
reihen, worin  die  Reihenfolge  der  Anschauungen  aufbewahrt  wird.  Ihr 
Erscheinen  aber  (ihre  Sichtbarkeit,  Hörbarkeit  u.  dergl.)  wird  ihnen  wie 
eine  Art  von  Ausstrahlungs-Sphäre  zugeschrieben,  die  mit  wachsender  Ent- 
fernung an  Stärke  abnimmt.  Sie  selbst,  die  Gegenstände,  werden  betrachtet 
als  das,  woher  das  Erscheinen  kommt;  und  der  Mittelpunkt,  in  welchem 
die  Strahlen  des  Erscheinens  sich  von  allen  Seiten  her  vereinigen  und 
kreuzen,  legt  den  Grund  des  Ich,  welches  zu  seiner  Ausbildung  noch 
der  innern  Welt  bedaif,  die  in  der  Mitte  der  Aufsenwelt  oder  des  Nicht- 
Ich  sich  umherbewegend,  nicht  blofs  Reihen  in  sich  aufnimmt  und  endigt, 
sondern  auch  andre  Reihen  theils  von  [376]  sich  aussendet,  theils  auszusenden 
im  Begriff  ist,  durch  welche  sie  den  einströmenden  begegnet;  dergestalt, 
clafs  man  nicht  sagen  kann,  ob  das  Ich  mehr  activ  oder  passiv  erscheine, 
indem  fast  stets  beydes  zugleich  und  nahe  in  gleichem  Maafse  Statt  findet. 
Die  innere  Welt  aber,  oder  die  Welt  der  innern  Wahrnehmung,  ist  in 
steter  Fortbildung  begriffen,  und  nach  der  Art  ihrer  Bildung  höchst  ver- 
schieden; sie  erscheint  anders  dem  Dichter,  anders  dem  Philosophen,  und 
beyden  anders  als  dem  schuldbewufsten  Sünder,  oder  als  dem  Tugend- 
haften, der  sich  in  fromme  Selbstbetrachtung  versenkt.  Jedesmal  aber  baut 
sie  sich  aus  nach  ähnlichen  Formen  wie  die  Aufsenwelt;  so  dafs  auch  in 
ihr  das  Ich  wie  ein  umhervvandelnder  Punct  erscheint,  dem  bald  diese 
bald  jene  Gegend  in  ihr  mehr  sichtbar  wird;  und  will  man  sie  zerlegen, 
so  wird  man  finden,  dafs  sie  gerade  so  wie  unsre  Aufsenwelt,  aus  Vor- 
stellungsreihen besteht ;  mit  dem  Unterschiede,  dafs  in  ihr  die  Gesetze  der 
Wirksamkeit  und  Reizbarkeit  dieser  Reihen  mehr  selbstständig  regieren, 
als  in  der  Aulsenwelt,  in  welche  wir  jeden  Augenblick  neue  Vorstellungen 
aufnehmen  müssen,  weil  unser  Verhältnifs  zu  dem,  was  wirklich  aufser 
uns   existirt,   sich    unaufhöilieh   ändert. 

Bei  dieser  Gränze  wollen  wir  stehen  bleiben.  Nicht  als  ob  die  innere 
Wahrnehmung  nicht  in  die  Mechanik  des  Geistes  gehörte.  Unstreitig 
mufs  eine  Zeit  kommen,  wo  man  auch  das  Verhältnifs  derjenigen  Vor- 
stellungs  -  Massen,   die  sich  zu  verschiedenen  Zeiten  unter  verschiedenen 


2  5  XI.   Psychologie   als  Wissenschalt. 


Umgebungen  und  Umständen  bildeten,  auf  synthetischem  Wege  vollständiger 
untersuchen  wird,  wie  es  auf  analytische  Weise  geschehen  kann.  Viel- 
leicht wird  man  selbst  mit  der  Genauigkeit  der  Rechnung  einige  von  den 
Gesetzen  erkennen,  nach  welchen  von  den  stärkeren  und  älteren  jener 
A'orstellungsmassen  die  schwächern  appercipirt  werden;  ähnlich  der  An- 
eisrnuno;  neuer  Wahrnehmungjen  des  äufsern  Sinnes  durch  die  älteren  Vor- 
Stellungen,  während  wir  anschauen,  und  das  Angeschaute  [377]  beurtheilen. 
Die  Aufforderung,  Untersuchungen  dieser  Art  anzustellen,  ist  von  der 
dringendsten  Art;  denn  es  kommt  darauf  an,  die  Bedingungen  der  Selbst- 
beherrschung zu  finden,  von  welcher  offenbar  die  Apperception  des  eignen 
Inneren  die  erste  Voraussetzung  ist.  Es  kommt  darauf  an,  die  praktische 
Vernunft  zu  ergründen,  welche  man  durch  die  praktische  Philosophie 
allein  noch  nicht  hinreichend  kennen  lernt.  Denn  die  Vernunft  ist  kein 
blofses  Sollen,  sie  ist  auch  ein  wirkliches  Handeln;  sie  vollzieht  alle- 
mal in  einigem  Grade  das,  was  sie  gebietet;  es  bewegt  sich  allemal  durch 
sie  der  innere  Mensch,  wenn  er  auch  nur  erschüttert,  und  nicht  von  der 
Stelle  gerückt  wird. 

Sollen  aber  die  synthetischen  Untersuchungen  so  weit  fortgeführt 
werden:  so  müssen  die  Elemente,  welche  ich  hier  vortrug,  erst  geprüft, 
dann  vollständiger  ausgearbeitet  werden.  Diese  Mühe,  wer  wird  sie  über- 
nehmen? Ohne  Zweifel  der  Erste,  dem  dies  Buch  begegnet,  wenn  er  so 
viel  Mathematik  versteht,  als  nöthig  ist,  und  wenn  er  sich  in  das  Ganze 
meiner  Lehre  zu  finden  weifs.  Allein  damit  pflegt  es  nach  meinen  Er- 
fahrungen etwas  lange  zu  dauern.  Manchmal  habe  ich  bemerkt,  dafs  Zu- 
hörer, die  ungefähr  auf  dem  Puncte  standen,  wohin  ich  den  Leser  jetzt 
geführt  habe,  nun  erst  irre  wurden  an  dem  Ich;  nun  erst  bemerkten,  mit 
welchem  schwierigen  Probleme  sie  von  Anfang  an  beschäftigt  gewesen 
waren;  nun  erst  in  die  Stimmung  des  Nachdenkens  geriethen,  worin  sie 
vom  ersten  Anfang  an  hätten  seyn  sollen,  Wohl  denen,  die,  wenn  auch 
spät,  doch  wenigstens  irgend  einmal  dazu  gelangen,  sich  zum  ernstlichen 
Forschen  aufgeregt  zu  fühlen ! 


Nun  erst  werden  auch  diejenigen  Untersuchungen  gelingen  können, 
mit  welchen  sich  das  philosophische  Publicum  in  den  letzten  Zeiten  ver- 
gebens beschäfftigt  hat. 

[378]  Kant  begann  ein  preiswürdiges  Unternehmen,  indem  er  den 
frühern  Dogmatismus  durch  Kritik  des  Erkenntnifsvermögens ,  —  das 
heifst:  durch  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  des  Erkennens,  —  er- 
schütterte, und  neue  Anstrengungen  des  Denkens  hervorrief.  Aber  in  so 
fern  er  damit  ein  neues  System  begründen  wollte,  fehlte  es  ihm  selbst  am 
Grunde  und  Boden.  Dem  starken  Geiste  fehlten  die  nothwendigen  Hülfs- 
mittel  und   Vorarbeiten. 

Es  liegt  mir  ob,  im  zweyten  Theile  dieses  Werks  die  Möglichkeit  des 
Erkennens  aus  psychologischen  Principien  zu  erklären  und  zu  begränzen. 
Dort  aber  wird  sich  diese  Absicht  meiner  Bemühungen  vielleicht  zu  sehr 
unter    den    übrigen    verlieren;    daher,    und    um    einigen  Lesern    mehr  An- 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien   der  Mechanik  des   Geistes. 


427 


knüpfungspuncte  darzubieten,  will  ich  hier  noch  anhangsweise  einige  Be- 
merkungen über  die  Kant'sche  Lehre,  sofern  sie  Kritik  seyn  soll,  hinzu- 
fügen. Dabey  könnte  ich  mich  auf  den  Erfolg  berufen,  und  diesen  gegen 
Kant  gelten  machen.  Die  Sätze,  dafs  Räumliches  und  Zeitliches  blofse 
Erscheinung,  Substanzen  und  Ursachen  nur  unsre  Gedanken,  Einheit  und 
Regierung  der  Welt  nur  Ideen  der  Vernunft  seyen,  haben  bekanntlich  die 
Nachfolger  verleitet,  sich  die  Welt  a  priori  zu  construiren ;  und  sich  in 
sich  selbst  zu  versenken,  um  die  Dinge  wie  sie  sind,  aus  der  Idee  hervor- 
gehen zu  lassen.  Diese  ganz  unkritische  Art  zu  philosophiren  setze  ich 
fürs  erste  bey  Seite,  denn  sie  war  nicht  Kant's  Absicht,  der  vielmehr  das 
Wissen  vom  Glauben  trennen,  und  es  auf  Erfahrung  beschränken  wollte. 
Was  aber  mich  eigentlich  beschäfftigt,  das  ist  das  Unkritische  der  Kant- 
schen   Kritik  selbst. 

Kann  man  das  Erkenntnifsvermögen  kritisiren,  wenn  man  den  Procefs 
des  Erkennens  ganz  und  gar  verkennt  ?  wenn  man  nicht  einmal  nach 
diesem  Processe  fragt;  wenn  man  unterläfst,  die  Nachforschung  auf  ihn 
zu  richten  ? 

„Was  sind  Raum  und  Zeit  ?"  So  stellt  Kant  die  Frage  seiner 
transscendentalen  Aesthetik.  Er  macht  also  [379]  den  Raum  und  die 
Zeit  zu  Objecten  seines  Denkens.  Kein  Wunder,  dafs  seine  Antworten  sich 
auf  den  Weltraum  beziehn,  der  übrig  bleibt,  wenn  die  Körper  weggedacht 
werden;  und  auf  die  Zeit,  worin  die  Weltbegebenheiten  geschehn ;  der- 
gestalt, dafs  dieser  Raum  und  diese  Zeit  die  notwendigen  Voraussetzungen 
der  Sinnenwelt  selbst  auszumachen  scheinen.  So  wird  das  Leere  dem 
Vollen  vorausgeschickt;  das  Nichts  wird  zur  Bedingung  des  Etwas.  Gewifs 
die  seltsamste  und   ungereimteste   aller  Täuschungen  ! 

In  der  That  aber  ist  der  Raum  nur  die  Möglichkeit,  dafs  Körper  da 
seyen,  und  die  Zeit  nur  die  Möglichkeit,  dafs  Begebenheiten  geschehen. 
Diese  Möglichkeiten  lassen  sich  nicht  mehr  ableugnen,  nachdem  einmal 
wirkliche  Körper  wirklich  als  ein  Räumliches,  Ausgedehntes  und  Be- 
gränztes  aufgefafst,  und  nachdem  einmal  wirkliche  Begebenheiten  als 
dauernd  eine  bestimmte  Zeit,  und  als  solche,  die  gerade  nicht  früher  ein- 
traten und  nicht  später  endigten,  sind  vorgestellt  worden.  Gerade  dasselbe 
gilt  von  allem,  was  sich  jemals  in  der  Wirklichkeit  vorgefunden  hat.  Man 
denke  einmal  alle  wirklichen  Töne  und  Laute,  alles  Hörbare  hinweg  ! 
Das  kann  man  ;  aber  die  Möglichkeit,  dafs  Töne  gehört  werden  könnten, 
kann  man  nicht  leugnen.  Folglich  bleiben  auch  alle  Regeln  der  Musik 
gerade  so  unwandelbar  stehn,  wie  die  Geometrie  ohne  Körperwelt.  Das 
Verhältnifs  der  Terzen,  Quinten,  Octaven ;  die  Notwendigkeit,  den  Leitton 
nach  oben,  die  kleine  Septime  aber  nach  unten  hin  aufzulösen,  dies  alles 
steht  vest  a  priori,  ob  nun  in  diesem  Augenblick  wirkliche  Saiten  und 
Ohren  vorhanden  sind  oder  nicht.  Desgleichen  denke  man  alle  Farben 
hinweg:  aber  die  Möglichkeit  der  Farben  kann  man  nicht  leugnen;  folg-, 
lieh  auch  nicht  den  Satz,  dafs  das  Farbendreyeck  zwei  Dimensionen,  hin- 
gegen die  Tonlinie  nur  eine  Dimension  habe.  Nichts  desto  weniger  be- 
ziehen sich  alle  diese  Sätze  auf  vorausgesetzte  Töne  und  Farben,  die 
wirklich  gehört  und  gesehen  werden  könnten;  und  eben  [3 80]  so  bezieht 
sich    das  Aufser- Einander    auf   irgend    ein    a  und  b,    welches   könnte  eins 


428  -^-I-  Psychologie  als  Wissenschaft. 

hier  und  das  andre  dort  sevn ;  und  das  Nach-Einander  auf  ein  «  und 
[i,  wovon  eins  früher  und  ein  andres  später  kommen  soll.  Die  Form  der 
Zusammenfassung  ist  freylich  losgerissen  vom  Zusammengefafsten ;  sie  ist 
über  dasselbe  hinaus,  ins  Unendliche  erweitert  worden,  weil  die  Erweite- 
rung, nachdem  sie  einmal  in  Gang  kam,  durch  keine  Gränze  aufgehalten 
wurde;  das  heifst,  weil  eine  Unmöglichkeit  des  weitern  Aufser- 
und  Nach-Einander  nirgends  anfängt.  Gerade  so  fanden  wir  oben 
das  Ich  losgerissen  von  allen  individuellen  Bestimmungen.  Aber  nichts 
desto  weniger  bezieht  sich  das  Ich  auf  die  Individualität,  der  Raum  auf 
das  Räumliche,  die  Zeit  auf  das  Zeitliche ;  und  die  Kantische  Untersuchung, 
die  eher  vom  Raum  als  vom  Räumlichen  redet,  behandelt  die  leere  Form 
als  eine  Sache,  zerreifst  Beziehungspunct  und  Bezogenes;  kehrt  das 
Hinterste  nach   vornen,   und  klebt  an  nichtigen   Hirngespinnsten. 

Was  geschieht  in  mir,  indem  ich  a,  b,  c,  d  neben  und  aufser  ein- 
ander denke  ?  Denn  vom  Anschauen  mit  dem  leiblichen  Auge  ist  hier 
nicht  nöthig  zu  reden.  Welche  Modification  erleidet  mein  Vorstellen  des 
a  dadurch,  dafs  sich  mit  ihm  das  Vorstellen  des  b,  C,  d  durch  die  Be- 
stimmung verbindet,  b  liege  zwischen  a  und  c,  und  wiederum  c  zwischen 
b  und  d?  Warum  ist  mein  Vorstellen  im  Uebergange  von  a  zu  d,  oder 
von  d  zu  a  begriffen,  und  warum  geschieht  dieser  Uebergang  nicht  sprung- 
weise ?  Da  alle  diese  Vorstellungen  in  mir  sind,  nehmen  sie  denn  auch 
in  mir  einen  Raum  ein  ?  Etwa  so,  wie  die  eingebildeten  materialen  Ideen, 
das  heifst,  Gehirn-Eindrücke,  in  verschiedenen  Theilen  der  Gehirnmasse 
neben  einander  liegen  sollten?  Wenn  dies  eine  lächerliche  Hypothese 
ist,  wie  geht  es  denn  zu,  dafs  mein  Vorgestelltes  sich  aufser  einander,  und 
reihenförmig  darstellt,  während  doch  die  Acte  des  Vorstellens  hiebey 
schlechterdings  nicht  auseinander    gerissen  werden  dürfen  ? 

[381]  Das  sind  die  Fragen,  die  beantwortet  werden  müssen.  Sie 
passen  auf  die  Landkarte  von  Utopien  eben  so  gut,  als  auf  die  von 
Europa ;  und,  mit  gehöriger  Abänderung  auf  die  Zeit  übertragen,  eben  so 
wohl  auf  die  Geschichte  von  Udepoten,  als  auf  die  vom  Erdball  und  vom 
Sonnensystem.  Die  Antworten  darauf  müssen  eben  so  wohl  die  Raum- 
vorstellungen des  Hundes  und  des  Hasen  erklären,  als  die  des  Menschen, 
obgleich  von  den  Thieren  schwerlich  jemand  glauben  wird,  sie  stellten 
Raum  und  Zeit  als  unendliche  gegebene  Gröfsen  vor.  Wo  und  wie 
irgend  ein  Räumliches  oder  Zeitliches  gedacht,  oder  gedichtet,  oder  ge- 
träumt, oder  gesehen,  oder  gefühlt,  oder  als  Symbol  gleichnifsweise  zur 
Erläuterung  unsinnlicher  Gegenstände  gebraucht  und  gestaltet  wird,  in  diesen 
und  allen  erdenklichen  Fällen  mufs  das  Vorgestellte  darum  geordnet  aus- 
einander treten,  weil  in  dem  Vorstellen  ein  geordnetes  Streben  ist,  ver- 
möge dessen  jede  kleinste  Partial  -  Vorstellung  alle  die  andern  in  be- 
stimmter Reihenfolge  nach  sich  zieht,  und  in  sie  hinüberfliefst  Zu  er- 
klären, wie  dieses  Streben  und  Wirken  in  die  Vorstellungen 
komme,  das  war  die  Aufgabe;  aber  ein  paar  unendliche  leere  Gefäfse 
hinzustellen,  in  welche  die  Sinne  ihre  Empfindungen  hineinschütten  sollten, 
ohne  irgend  einen  Grund  der  Anordnung  und  Gestaltung,  das  war  eine 
völlig  gehaltlose,   nichtssagende,   unpassende   Hypothese. 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  42  0, 

Eben  so  unkritisch  war  die  Uebereilung,  darum,  weil  Raum  und  Zeit 
Formen  unseres  Anschaueiis  sind,  zu  behaupten,  sie  wären  nicht  Formen 
der  Auflassung  unsinnlicher  Gegenstände,  oder  mit  andern  Worten,  sie 
kämen  den  Dingen  an  sich  nicht  zu.  Gerade  umgekehrt !  Dieselben 
Gründe,  derentwegen  das  Farbige  und  das  Fühlbare  sich  räumlich  ordnet, 
kehren  mit  geringer  Veränderung  auch  dort  wieder,  wo.  die  Mannigfaltig- 
keit des  unsinnlichen  Realen  im  zusammenfassenden  Denken  soll  über- 
schauet werden.  Wir  schauen  freylich  blofs  mit  den  Sinnen,  wenn 
Schauen  eine  formale  Modifikation  des  [382]  Empfindens  seyn  soll. 
Aber  die  Form  des  Anschauens  hat  eine  viel  weitere  Sphäre;  sie  ist 
Form  des  geordneten  Zusammenfassens  überhaupt,  der  Gegenstand  sev 
welcher  er  wolle.  Nur  allein  da,  wo  alle  Zusammenfassung  wegfällt;  da, 
wo  man  das  primitive  Reale  einzeln  betrachten  will:  hier  gilt  auch  keine 
Form  der  Zusammenfassung ;  hier  müssen  Raum  und  Zeit  verneint  wer- 
den. Räumliches  und  Zeitliches  ist  seinem  Begriffe  nach  ein  Relatives; 
jedes  Reale  an  sich  betrachtet  ist  ein  Absolutes;  darum,  und  aus  keinem 
andern   Grunde,   ist  das   Reale  an   sich  unzeitlich  und  unräumlich. 

Ungeachtet  aller  Mängel  behält  gleichwohl  die  KANTsche  transscenden- 
tale  Aesthetik  immer  noch  ihr  grofses  Verdienst  durch  die  einfache  Be- 
merkung, dafs  Raum  und  Zeit  Formen  des  Vorstellens  sind.  Dasselbe 
Verdienst  besitzt  auch  die  transscendentale  Logik  in  Ansehung  der  so- 
genannten Kategorien;  indessen  ist  längst  bemerkt  worden,  dafs  dieser 
Theil  der  Kant  sehen  Lehre  noch  viel  hohler  und  verworrener  ist  als 
jener.  Man  würde  ein  weitläufiges  Werk  schreiben  müssen,  um  die  un- 
geheure Masse  von  Fehlern  aller  Art,  welche  sich  hier  aufgehäuft  findet, 
auseinander  zu  setzen;  und  niemals  hat  sich  die  Blindheit  der  Sectirer 
auffallender  gezeigt,  als  an  den  Kantianern,  die  viele  hundertmal  diese 
Fehler  nachgebetet,  und  der  Welt  als  hohe  Weisheit  angepriesen  haben.* 
Nichts  in  diesem  ganzen  Abschnitte  der  Vernunftkritik  ist  gesund;  von 
dem  eingebildeten  Leitfaden  zur  Entdeckung  der  reinen  Verstandesbegriffe, 
der  in  einer  falschen  Tabelle  der  logischen  Functionen  bestehn  soll,  bis 
zu  der  dreisten  und  völlig  grundlosen  Behauptung  einer  Wechselwirkung 
aller  Substanzen,  wobey  das  Zugleichseyn  der  Dinge  für  eine  objeetive 
Bestimmung  [383]  derselben  ausgegeben  wird  (als  ob  daraus,  dafs  der 
Jupiter  im  Zeichen  der  Zwillinge  steht,  und  dort  mit  den  Sternen  dieses 
Zeichens  zugleich  wahrgenommen  wird,  ein  Causalverhältnifs  zwischen  diesem 
Planeten  und  jenen  Fixsternen  folgte),  ist  hier  Alles  leere  System-Künsteley, 
und  Mishandlung  der  wichtigsten  metaphysischen  Grundbegriffe.  Von 
dieser  meiner  Behauptung,  die  ich  im  Nothfalle  durch  einen  ausführlichen 
Commentar  belegen  werde,  kann  ich  hier  nur  den  einen  Punct  näher  be- 
leuchten, welcher  den  obigen  Fehlern  der  transscendentalen  Aesthetik  ana- 
log ist. 

Was  ist  Einheit  und  Vielheit?  Was  Realität  und  Negation?  Was 
Substanz  und  Ursache?     Was  Möglichkeit  und  Notwendigkeit?     Sind    es 


*  Die  Starrheit  mancher  Kantianer  ist  so  grofs,  dafs  sie  als  drofsc  etwas  Achtungs- 
werthes  bekommt.  Auch  haben  diese  Männer  darin  Recht,  dafs  sie  nicht  mit  den 
rüstigen  Führern  der  Zeit  vorwärts  eilen  wollten;  aber  sehr  unrecht,  wenn  sie  vom 
Standpuncte   Kants  auch  nicht  weiter  rückwärts  gehen   wollen. 


aoq  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


leere   Gefäfse,    aufgestellt    im    menschlichen  Verstände,    in    welche  die  Er- 
fahrung ihre  Anschauungen  hineinschütten  und   bunt  durch  einander  werfen 
soll?    Auf  welche  Anschauung  (die  als  solche  allemal  positiv  ist)  pafst  die 
Kategorie   der  Negation;    und    wann    ist    von    irgend    einem   anschauenden 
Wesen    ein  Negatives  unmittelbar  wahrgenommen  worden?      Welche    Sub- 
stanz,   in    ihrem    Gegensatze    als    letztes    Subject   gegen    ihre   Prädicate, 
Attribute    und    Accidenzen,    und    als    Beharrliches   gegen    das  Mancherley 
was  an  ihr  wechselt,    ist  jemals  ins  Reich  der  Erscheinungen   eingetreten? 
Welche  Kraft  hat  je  die  Nothwendigkeit,  womit  aus  ihr  die  Wirkung  folgt, 
den  Sinnen  dargeboten?     Welche  Möglichkeit,  in  ihrem  Gegensatze  gegen 
das  Wirkliche,   hat  jemals  ihren   Platz  mitten  unter  den  Erfahrungen,   die 
als    solche    lauter  Wirklichkeiten   sind,    eingenommen    und    behauptet?    — 
Wenn  nun  die  Anschauung,  unmittelbar  und  für  sich  allein,  ganz  unfähig 
ist,    sich    der    zu    ihr  gehörigen  Kategorien  zu  bemächtigen:    wie  kommen 
denn  diese  dazu,    sich   jener    zu    bemächtigen?     Durch   den  Verstand? 
Also  hat  der  Verstand  die  Realität  früher  als  das  Reale,  die  Substantialität 
früher    als    bestimmte  Substanzen,    die   Causalität    eher    als  bestimmte  Ur- 
sachen, die  Wirklichkeit  eher  als  wirkliche  [384]  Dinge!    Gerade  so  hatte 
die  Sinnlichkeit  eher  die  leeren  Undinge,   Raum  und  Zeit,   als  das  Räum- 
liche und  das  Zeitliche !    Aber  Realität,  Substantialität,  Wirklichkeit  u.  s.  f., 
sind  nichts  als  abstracte,  und,  wie  die  Geschichte  der  Metaphysik  bezeugt, 
sehr  dunkle  Begriffe,    die,    wenn  sie  zu  den  Anschauungen   gleichsam  als 
eine  fremde  Zuthat  hinzukämen,  ihnen  den  sehr  schlechten  Dienst  leisten 
würden,    sie    zu    verfinstern  und  zu  verwirren,    anstatt  sie  zu  ordnen  und 
verständlich   oder  verständig  zu  machen.     Ist  der  Verstand  ein  Vermögen, 
die   Anschauungen   zu  verderben  ?     Ihrer  Klarheit  ein   trübes  Element  bey- 
zumischen  ?     Dafs  für  ihn   zu  fürchten  sey,   er  werde  im  Vergleich  mit  der 
Sinnlichkeit  verlieren,  scheint  Kant  gefühlt  zu  haben;  denn  sonst  lag  ihm 
die  Versuchung  sehr  nahe,  seine  transscendentale  Logik  und  Aesthetik  ganz 
analog    und    parallel    abzufassen.      Den    bekannten    vier  Sätzen    der    meta- 
physischen  Erörterung   über  Raum    und    Zeit    wären    dann    folgende    vier 
Behauptungen  gegenüber  getreten : 

1.  Damit  gewisse  Empfindungen  als  Attribute  auf  eine  Substanz,  als 
Wirkungen  auf  eine  Kraft  u.  s.  w.  bezogen  werden,  dazu  müssen  die  Vor- 
stellungen von  Substanz,   Kraft  u.  s.  f.,  schon  zum  Grunde  liegen. 

2.  Substanz,  Kraft,  Reales,  Nothwendiges  u.  s.  f.,  sind  nothwendige 
Vorstellungen  a  priori.  Man  kann  sich  niemals  eine  Vorstellung  davon 
machen,  dafs  gar  Nichts  sey  und  wirke,  obgleich  man  sich  ganz  wohl  denken 
kann,   dafs  jedes  einzelne  Ding,  jede  einzelne  Thätigkeit  aufgehoben  würde. 

3.  Substanz,  Realität,  Kraft  u.  s.  w.,  sind  keine  discursiven,  allgemeinen 
Begriffe,  sondern  reine  Anschauungen.  Denn  erstlich  kann  man  sich  nur 
eine  einzige  Substanz  vorstellen;  und  wenn  man  von  vielen  Substanzen 
redet,  so  verstehet  man  darunter  nur  Theile  einer  und  derselben  alleinigen 
Substanz.  Diese  Theile  können  auch  nicht  vor  der  einigen  allbefassenden 
Substanz  gleichsam  als  deren  Bestandtheile  (daraus  ihre  Zusammensetzung 
m(">g[385]lich  sey),  vorhergehen,  sondern  nur  in  ihr  gedacht  werden.  Sie 
ist  wesentlich  einig;  das  Mannigfaltige  in  ihr,  mithin  auch  der  allgemeine 
Begriff'  von  Substanzen  überhaupt,    beruhet  lediglich  auf  Einschränkungen. 


Dritter  Abschnitt.      Grundlinien   der  Mechanik  des  Geistes.  43 1 


Hieraus  folgt,  dafs  in  Ansehung  ihrer  eine  Anschauung  a  priori  allen  Be- 
griffen von  derselben  zum  Grunde  liegt.  So  werden  auch  alle  naturphilo- 
sophische Grundsätze,  z.  E.  dafs  alle  Substanzen  in  der  Welt  in  Wechsel- 
wirkung stehn,  niemals  aus  allgemeinen  Begriffen  von  Substanz  und  Welt, 
sondern  aus  der  Anschauung,  und  zwar  a  priori,  mit  apodictischer  Ge- 
wifsheit  abgeleitet. 

4.  Die  Substanz  wird  als  eine  unendliche  gegebene  Gröfse  vorgestellt. 
Diese  Unendlichkeit  bedeutet  Nichts  weiter,  als  dafs  alle  bestimmte  Gröfse 
von  Substanzen  nur  durch  Einschränkungen  einer  einzigen  zum  Grunde 
liegenden  Substanz  möglich  sey.  Daher  mufs  die  ursprüngliche  Erkennt- 
nis der   Substanz   als  uneingeschränkt  gegeben  seyn. 

Wer  Kants  Kritik  aufschlägt,  wird  sehn,  dafs  ich  hier  mit  geringer 
Veränderung  wörtlich  abgeschrieben  habe.  In  diesen  Sätzen  spiegelt  sich 
aber  die  heutige  sogenannte  Naturphilosophie  so  klar,  dafs  Niemand  mir 
die  veränderte  Lesart  als  meine  Erfindung  zurechnen  wird. 

Nun  hat  Kant,  obgleich  er  die  Symmetrie,  die  er  hier  so  leicht  er- 
langen konnte,  nur  gar  zu  sehr  liebte,  doch  nicht  für  gut  befunden,  sich 
selbst  in  der  Lehre  von  den  Kategorien  also  abzuschreiben.  Er  läfst  es 
sich  vielmehr  eine  saure  Mühe  kosten,  seine  Kategorien  als  Formen  der 
Verknüpfung  darzustellen,  wodurch  das  Mannigfaltige  der  Erfahrung, 
nicht  blofs  so,  wie  es  in  der  Zeit  zufällig  zusammenkomme,  sondern  wie  es 
in  der  Zeit  objeetiv  sey,  zu  einer  Erkenntnifs  von  Objecten  zusammen- 
trete. Die  Substantialität  ist  daher  bey  ihm  keine  Substanz,  die  Realität 
kein  Reales,  die  Causalität  keine  Kraft,  sondern  es  sollen  erst  Substanzen 
reale  Gegenstände,  Kräfte  u.  s.  w.,  in  der  zeitlichen  Erfahrung  gefunden 
werden;  und  nach  seiner  ausdrücklichen  Versiche[386]rung  „hat  die  Kate- 
gorie keinen  andern  Gebrauch  zur  Erkenntnifs  der  Dinge,  als  ihre  An- 
wendung  auf  Gegenstände  der  Erfahrung." 

Kant  sähe  also  ein,  dafs  in  Ansehung  der  wahren  Bedeutung  der 
Kategorien  alles  auf  die  Frage  ankomme:  wie  bildet  sich  unsre  Er- 
fahrung? 

Wenn  er  nun  dies  einsah:  wie  mag  es  zugegangen  seyn,  dafs  er  in 
einer  so  wichtigen  Untersuchung  die  einfachsten  Zeugnisse  der  Erfahrung 
selbst  überhörte  ? 

Es  ist  nämlich  klare  Thatsache:  dafs  in  Ansehung  des  Gebrauchs, 
den  wir  von  den  Kategorien  zu  machen  haben,  die  Erfahrung 
noch  bey  weitem  nicht  vollständig  bestimmt,  dafs  sie  nichts 
Fertiges,   sondern  im   Werden  und  im   Schwanken  begriffen  ist. 

Das  Universum,  ist  es  Eins?  Oder  ist  die  Welt  nur  eine  Summe 
von  ursprünglich  Vielem?  Darüber  ist  Streit!  Das  geistige  Erdenleben  des 
Menschen,  ist  es  eine  Realität,  oder  eine  Negation,  und  blofse  Ein- 
schränkung eines  höheren  Daseyns  ?  Darüber  ist  Streit!  Die  Imponde- 
rabilien, Licht,  Wärme,  Elekricität  u.  s.  w.,  ja  die  Seele  selbst,  sind  es 
Substanzen  oder  Accidenzen?  Darüber  ist  Streit!  Die  sogenannten 
freyen  Handlungen  der  Menschen,  sind  sie  zufällig  oder  nothwendig? 
Darüber  ist  Streit ! 

Wie  sollen  diese  Streitfragen  zu  ihrer  Beantwortung  gelangen  ?  Durch 
die   Kateo-orien?    Allerdings  müfste  es    so  geschehen,    wenn    dieselben  den 


±7.2  Xi  Psychologie  als  Wissenschaft. 

vollständigen  Grund  ihrer  Anwendung  auf  Erfahrungsgegenstände  in  sich 
selbst  enthielten.  Warum  aber,  wenn  die  Kategorien  in  jedem  mensch- 
lichen Verstände,  die  nämlichen,  wenn  die  Verfahrungsarten  und  Gesetze 
des  Verstandes  in  uns  Allen  die  gleichen  sind,  warum  finden  wir  nicht 
alle  die  Beantwortung  dieser  Fragen  auf  gleichlautende  Weise?  Ohne 
Zweifel  darum,  weil  weder  unser  Nachdenken  vollendet,  noch  unsre  Wahr- 
nehmung und  Beobachtung  vollständig  ist. 

[387]  Noch  weit  weniger  vollendet  ist  die  Erfahrung  des  gemeinen 
Mannes,  so  wie  er  sie  sich  denkt.  Er  empfindet  jeden  Augenblick  Wärme 
oder  Kälte;  aber  die  Fragen:  Ist  die  Wärme  eine  Substanz?  Mufs 
man  die  Kälte  blofse  Negation  der  Wärme,  oder  umgekehrt  die 
Wärme  als  Aufhebung  der  Kälte  betrachten?  —  Diese  Fragen 
fallen  ihm  nicht  ein.  Er  hält  von  Jugend  auf  das  Wasser  für  eine  Sub- 
stanz; aber  bey  weiterer  Ausbildung  läfst  er  sich  geduldig  belehren:  das 
Wasser  sey  nur  eine  Verbindung  des  Eises  mit  der  Wärme,  das  Eis  aber 
nur  eine  Form,  wie  Sauerstoff  und  Wasserstoff  verbunden  sich  in  der  Er- 
scheinung darstellen.  Seine  Kategorien  haben  ihn  nicht  belehrt,  und 
widersetzen  sich  der  Belehrung  nicht;   sie  verhalten  sich   blofs  passiv! 

Die  kritische  Untersuchung  des  Verstandes,  was  will  sie  nun  eigent- 
lich wissen?  Die  Anzahl  der  ursprünglich  vorhandenen  Kategorien?  An- 
genommen, es  gäbe  dergleichen  ursprüngliche  Denkformen  wirklich :  so  sind 
dieselben  für  sich  allein  nur  leere  Begriffe,  aber  kein  wirkliches  Denken 
und  Erkennen;  dasjenige  aber,  was  wir  kritisiren  wollten,  um  es  besser 
zu  leiten,  war  eben  das  wirkliche  Erkennen.  Die  Bewegung,  welche  in 
uns  vorgeht,  während  wir  denken,  die  Aufregung,  die  Erregbarkeit, 
selbst,  welche  dabey    vorausgesetzt   wird,    diese   mufste  untersucht  werden. 

Hat  aber  diese  Bewegung  bestimmte  Gesetze,  denen  sie  mit  Not- 
wendigkeit folgt:  so  können  auch  die  Kategorien  Erzeugnisse  des 
Denkens  sevn;  und  zwar  unvollendete  Erzeugnisse  eines  noch  weiter 
fortzusetzenden  Denkens.  Die  Notwendigkeit,  welche  einigen  Lehr- 
sätzen über  dieselben  bevwohnt,  ist  alsdann  zwar  nicht  empirisch,  sondern 
a  priori]  jedoch  auf  eine  Weise,  die  mit  präformirten  Begriffen  nicht  die 
geringste  Aehnlichkeit  hat.  Hierüber  schweigen  aber  die  Argumente  der 
Kant  sehen  Schule  gänzlich,  und  das  ist  sehr  natürlich,  denn  sie  hat  vom 
Mechanismus   des  Denkens  keine   Kenntnifs. 

[388]  Kant  dachte  sich  seine  Kritik  als  Propädeutik  zu  einem  künftigen 
System.  Hinwiederum  seine  Lehre  von  den  Formen  der  Sinnlichkeit  und 
des  Verstandes  sollte  die  Vorbereitung  ausmachen  zur  Kritik  der  Vernunft 
im  engem  Sinne.  Allein  ich  glaube  jetzt  hinreichend  gezeigt  zu  haben, 
dafs  noch  etwas  ganz  anderes,  nämlich  die  Hauptansichten  der  Statik 
und  Mechanik  des  Geistes,  vorausgehn  müssen,  wenn  selbst  das,  was 
Kant  als  seine  Elementarlehre  betrachtete,  zum  Gegenstande  einer  gründ- 
lichen Untersuchung  soll  gemacht  werden.  Im  Allgemeinen  hat  man 
längst  erkannt,  dafs  der  Kant  sehen  Kritik  irgend  etwas  vorangeschickt 
werden  müsse.  Aber  man  wird  sich  nicht  verhehlen  können,  dafs  Reix- 
hold,  Fichte  und  Schelling  sich  in  ihren  Bemühungen,  die  Kant  sehen 
Untersuchungen  besser  zu  begründen,  sehr  weit  von  diesem  Gegenstande 
entfernten;    während    Fries,    Krug   u.    a.    der  Darstellung   ihres  Meisters 


Dritter  Abschnitt.     Grundlinien  der  Mechanik  des  Geistes.  433 


so  nahe  blieben,  dafs  eigentlich  nur  die  Form  des  Vortrags  geändert  wurde. 
Die  deutsche  Philosophie  befindet  sich  nun  noch  immer  in  einer  solchen 
Lage,  dafs  Kants  Schriften  die  Hauptwerke  sind,  welche  Jeder  lesen  mufs, 
um  sich  zu  orientiren;  dafs  also  auch  der  Gang,  welchen  Kant  einmal 
eingeschlagen  hat,  eine  ganz  entschiedene  historische  Wichtigkeit  behauptet, 
wie  man  auch  übrigens  darüber  urtheilen  möge.  Daher  können  wir  diese 
Lehren  von  den  Formen  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  weder  bey 
Seite  setzen,  noch  sie  mit  allen  ihren  Fehlem  so  lassen  wie  sie  sind;  es 
bleibt  nichts  anderes  übrig,  als  sie  genauer  zu  prüfen.  Wollen  nun  einige 
Leser  dieses  Buchs  sich  vorläufig  selbst  versuchen,  ob  sie  aus  dem,  was 
hier  vorgetragen  worden,  sich  Rechenschaft  über  den  Ursprung  unserer 
Vorstellungen  von  Raum,  Zeit,  und  den  Kategorien  herleiten  können:  so 
wird  dies  für  sie  eine  zweckmäfsige  Vorbereitung  auf  den  zweyten  Theil 
dieses  Werks  seyn;  obgleich  meine  Absicht,  indem  sie  die  ganze 
Psychologie  umfafst,  sich  beträchtlich  weiter  erstreckt. 

Durch  Fichte,  und  ganz  unstreitig  schon  durch  sei[3 Schnell  Vor- 
gänger Kant,  war  die  Philosophie  auf  den  Weg  des  Idealismus  gerathen; 
hier  stand  ihr  ein  theoretischer,  höchst  durchgreifender  Irrthum  im  Wege, 
und  sie  konnte  nicht  von  der  Stelle  kommen.  Später  sind  die  Dinge  des 
Wissens  und  des  Glaubens,  die  Kant  sorgfältig  geschieden  hatte,  wieder 
durch  einander  gemengt  worden;  daher  ist  der  Untersuchungsgeist  gelähmt; 
der  Nebel  der  Mystik  hat  sich  überall  ausgebreitet;  und  die  Philosophie 
liegt  wiederum  still.  Den  Idealismus  zerstört  die  Untersuchung  über  das 
Ich,  schon  in  der  noch  unvollendeten  Gestalt,  wie  ich  sie  hier  (mit  dem 
Vorbehalte,  sie  im  zweyten  Theile  dieses  Werkes  wieder  aufzunehmen) 
fürs  erste  liegen  lasse.  Damit  die  Mystik  sich  von  der  Wissenschaft  zu- 
rückziehe, braucht  nur  die  Verbindung  zwischen  Mathematik  und  Philo- 
sophie, die  ich  hier  wieder  angeknüpft  habe,  gehörig  benutzt  zu  werden. 
Daher  schliefse  ich  diesen  Theil  mit  der  Ueberzeugung,  schon  jetzt  das 
Nothwendige  geleistet  zu  haben,  um  die  Wissenschaft  von  ihren  Hinder- 
nissen zu  befreyen.  Nur  guter  Wille  mufs  hinzukommen;  diesen  kann  ich 
nicht  schaffen,  ich  kann  ihn  nur  wünschen,  nicht  mir  sondern  der  Wissen- 
schaft. Wenn  man  nicht  nachdenken  will,  so  gehn  nicht  blofs  meine 
Bemühungen  verloren,  sondern  jeder  Andere,  der  Aehnliches  versucht, 
wird  gleiches  Schicksal  haben.  Glaubt  dies  heutige  Geschlecht,  es  dürfe 
nur  mit  alten  Formen  und  Gebräuchen  auch  alte  Meinungen  und  Irrthümer 
wieder  auf  die  Bahn  bringen;  versinkt  es  in  den  Wahn  von  einer  goldenen 
alten  Zeit,  die  Einige  in  die  Jahre  unserer  Väter,  Andre  ins  Mittelalter, 
noch  Andre  in  eine  vorhistorische  Periode  hineindichten;  kennt  es  keine 
andre  Weisheit  als  den  Empirismus,  und  liebt  es  kein  geistiges  Wohlseyn 
aufser  Träumen  unci  Ahnungen;  so  wird  der  psychologische  Mechanismus, 
der  in  der  Weltgeschichte  wie  im  Einzelnen  wirkt,  die  nächsten  Jahr- 
hunderte so  fortführen,  wie  er  die  vorhergehenden  geführt  hat;  man  wird 
abwechselnd  von  Freyheit  und  von  Gesetzmäfsigkeit  reden,  und  weder 
Eins  [390]  noch  das  Andre  erreichen;  die  Literatur  wird  die  Bibliotheken 
sprengen;  aber  aus  allem  Schreiben  und  Lesen,  ja  aus  allem  Beobachten 
und  Versuchen  wird  kein  wahres  Wissen  hervorgehn.  Einer  spätem  Zeit 
aber  ist    es    alsdann  vorbehalten,    sich  das  Licht,    was  man    hatte  ausgeht) 

2B 


,?a  XI.  Psychologie  als  Wissenschaft. 


lassen,  noch  einmal  anzuzünden.  Was  geschehen  kann,  das  geschieht 
irgend  einmal  gewifs.  Dem  menschlichen  Geiste  ist  es  möglich,  seine 
wahre  Natur  zu  erkennen;  darum  wird  er  sie  erkennen;  alsdann  werden 
die  Wege  des  Lebens  sich  erhellen;  der  Mensch  wird  wissen  was  er  thut, 
er  wird  seine  Kräfte  nutzen,  und  nicht  mehr  blindlings  sein  Heil  zer- 
stören. 


u 


DEC  1  5  1983