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Full text of "Sämtliche Werke : in chronologischer Reihenfolge"

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JOH.  FRIEDR.  HERBART's 

SÄMTLICHE  WERKE. 


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JOH.  FR.  HERBARTS 

SÄMTLICHE  WERKE. 


IN    CHRONOLOGISCHER   REIHENFOLGE 


HERAUSGEGEBEN 


KARL  KEHRBACH. 


NEUNTER    BAND. 


MICROFORMED  BY 

PI  ÄTION 

SERVICES 

DAT2      N0V  2  2  1990 


LANGENSALZA, 

VERLAG  von  HERMANN  BEYER  &  SÖHNE, 
Herzogl.  Sachs.  Hofblchhandler. 

1897. 


VORREDE 

des  Herausgebers  zu  den  Schriften  des  neunten  Bandes. 


Citierte  Ausgaben: 

-KlSch  =  J.   F.   Herbart's    Kleinere  philosophische  Schriften,    herausgegeben  von  G. 

Hartenstein. 

R  =  J.  F.  Herbart's  Pädagogische  Schriften,  herausgegeben  von  Karl  Rjchter. 

SW  =  J.  F.   Herbart's  Sämmtliche  Werke,   herausgegeben  von  G.  Hartenstein. 

W  =  J.   F.   Herbart's    Pädagogische    Schriften,    in    chronologischer    Reihenfolge 

herausgegeben  von  Otto  Willmann. 


I. 

Ueber  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  durch 
künstliche  Formen  entbehrlich  zu  machen  1831.     (S.   1  — 15.) 

Die  Rede  ist,  was  vergessen  worden  war,  auf  S.  1  der  vor- 
liegenden Ausgabe  anzugeben,  bereits  vor  Hartenstein  1831  in 
einem  von  F.  W.  Schubert  herausgegebenen  Bändchen  abge- 
druckt worden,  das  den  Titel  führt: 

Das  Krönungsfest  des  Preufsischen  Staates  gefeiert  in  der 
Königlichen  Deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg  in  den  Jahren 
1830  und  1831  durch  drei  Vorträge  von  F.  W.  Schubert  und  J.  F. 
Herbart.    Königsberg  183 1.    Bei  Aug.  Wilh.  Unger.    kl.  8°.    134  S. 

Nach  Schuberts  Mitteilung  im  Vorworte  geschah  die  Her- 
ausgabe ,,weil  vielfach  der  Wunsch  von  höchst  achtbaren  Stimmen 
geäufsert"  worden  war,  „unsere  Abhandlungen  recht  bald  gedruckt 
zu  sehen".  „Dieser  Aufforderung",  die  auch  „in  einer  hiesigen  Zei- 
tung wiederholt"  worden  war,  „länger  zu  widerstehen  oder  derselben 
uns  ganz  zu  entziehen,  schien  Mangel  an  Theilnahme  für  die  uns 
ehrende  öffentliche  Meinung  zu  verrathen,  und  konnte  uns  auch 
als  Verstofs  gegen  den  gelehrten  Verein  ausgelegt  werden,  in  dessen 
Xamen  wir  diese  Festreden  gesprochen  hatten.  Dieselben  für  den 
zweiten  Band  der  historisch -literarischen  Abhandlungen  unsrer 
Gesellschaft  zurückzubehalten  .  .  .  blieb  mifslich,  weil  diese  Vor- 
träge gerade  ein  zeitgemäfses  Interesse  haben,  und  ihre  spätere 
Bekanntmachung  den  in  ihnen  bemerkbaren  Eindruck  der  Gegen- 
wart verdunkeln  und  dadurch  ihnen  selbst  schaden  mufste.  Und 
so  geben  wir  gerne  dem  Wunsche  nach,  unsre  Festreden  an  diesen 
beiden  aufeinander  folgenden  Krönungsfesten  ohne  alle  wesent- 
liche Veränderungen  und  Zusätze  .  .  .  dem  gröfseren  Publikum 
zu  überliefern". 


VIII  Vorrede  des  Herausgebers  zum  IX.  Bande. 


Eine  nachträgliche  Vergleichung  des  Textes  der  Schubert- 
schen  Ausgabe  mit  unserem  Abdrucke,  dem  die  Ausgabe  SW 
zu  Grunde  gelegt  werden  mufste,  weil  das  Schubert  sehe  Werk 
erst  nach  Abschlufs  des  vorliegenden  Bandes  zu  erlangen  gewesen 
war,  hat  folgende  Abweichungen  ergeben.  (Hartensteins  Ab- 
weichungen in   der  Orthographie  sind  dabei   nicht  berücksichtigt.) 

S.  i  (Titel)  Sch[ubert]:  Eine  Rede,  gesprochen  .  .  .  statt .  .  .  Rede,  gehalten.  —  S.  5, 
Z.  3  v.  o.  Seh.:  Berühmte  Namen  von  Männern  .  .  .  statt  .  .  .  berühmte  Männer.  — 
S.  5.  Z.  6  v.  o.  Seh.:  anstellten,  um  —  Blut  zu  machen  .  .  .  statt  .  .  .  anstellten,  — 
um  Blut  zu  machen.  —  S.  5,  Z.  13  des  Textes  v.  u.  Seh.:  Einem  .  .  .  statt  .  .  .  einem. 
—  S.  5,  Z.  8  v.  o.  Sch.:  zu  Hülfe  .  .  .  statt  ...  zur  Hülfe.  -  S.  5,  Z.  5  v.  u.  Seh.: 
kleinern  Angelegenheiten,  in  ihren  .  .  .  statt  .  .   .  kleinen  Angelegenheiten,  bei  ihren  .  . 


IL 

Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie  1831.     (S.  17 — 338.) 

Über  Entstehung  und  Zweck  des  Werkes  unterrichtet  Her- 
bart in  der  Vorrede.  Hieraus  ist  ersichtlich,  dafs  er  eine  Ency- 
klopädie im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  nicht  hat  schreiben 
wollen.     Vgl.  auch  S.  201. 

Während  Hartenstein,  der  den  Text  der  II.  Ausgabe  (1841) 
zu  Grunde  legt,  eine  Anzahl  von  längeren  Abweichungen  der 
ersten  Ausgabe  (1 83 1)  in  einem  Anhange  vereinigt  hat,  sind  in 
vorliegender  Ausgabe  auch  die  gröfseren  Abweichungen,  hier  also, 
da  der  Wortlaut  der  I.  Ausgabe  den  Grundtext  bildet,  die  Ab- 
weichungen der  IL  Ausgabe,  sogleich  an  Ort  und  Stelle  eingefügt 
und  die  nötigen  Orientierungsmafsregeln  beigegeben  worden. 

Die  innerhalb  des  Textes  vorhandenen  Verweisungsziffern  be- 
ziehen sich  nicht  auf  die  Seiten  der  vorliegenden  Ausgabe,  son- 
dern je  nachdem  der  Text  Wiederabdruck  der  ersten  oder  zweiten 
Originalausgabe  ist,  auf  die  Seiten  dieser  Originalausgaben.  Da 
aber  im  vorliegenden  Abdrucke,  bei  dem  übrigens  immer  die  Seiten- 
zählung des  Grundtextes  in  [  ]  eingefügt  ist,  die  Abschnittsziffern 
der  II.  Ausgabe,  da  wo  sie  von  der  ersten  abweicht,  beigegeben 
worden  sind,  so  ist  ein  Auffinden  der  Stellen,  auf  die  verwiesen 
ist,  leicht  zu  ermöglichen. 

Es  seien  hier  noch  einzelne,  unbedeutende  Abweichungen  der  zweiten  Ausgabe, 
die  im  Texte  selbst  nicht  angegeben  wurden,  nachgetragen:  S.  27,  Z.  14  v.  o.  ist  mit 
der  II.  Ausg.  gesetzt  worden:    Wem  (Druckfehler)   .  .  .  statt  .  .  .  Wenn  (I.  Ausg.).  — 


II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.  IX 


S.  34,  Z.  7  v.  o.  „nicht  gleichgültig-'  II.  Ausg.  (Druckfehler)  .  .  .  statt  „nicht  gleich- 
zeitig". Auch  die  Abweichungen  hinsichtlich  des  Verbums  ,, fordern"  und  seiner  Kompo- 
sita und  Derivata  sind  nicht  besonders  im  Texte  angemerkt  werden.  Die  I.  Ausgabe 
schreibt  „fordern",  die  zweite  dagegen  „fodern".  Es  ist  in  vorliegender  Ausgabe  immei 
genau  nach  dem  jeweiligen  Grundtexte  gedruckt  worden.  —  S.  62,  Z.  1 1  v.  u.  setzt 
die  I.  Ausg.  „wann'1  ...  die  II.  aber  „wenn-.  Wo  die  I.  Ausg.  „anderer"  druckt, 
selbst  die  II.  Ausg.  andrer;  aber  nicht  consequent.  Verbindungen  wie  „nichts  anderes" 
(I.  Ausg.)  druckt  die  II.  Ausg.  „nichts  Andres-.  Einmal  druckt  die  I.  Ausg.  das  zum 
Substantiv  erhobene  Zahlwort,  „erste",  ,,zweyte"  mit  kleinen  Anfangsbuchstaben,  wo  die 
II.  Ausg.  einen  grofsen  Anfangsbuchstaben  setzt  u.  s.  w. 

Ebenso  sind  eine  Anzahl  von  Abweichungen,  Druckfehler 
und  kleinere  Abweichungen  im  Sprachgebrauch  und  die  Ab- 
weichungen in  der  Orthographie,  die  SW  gegenüber  den  Ori- 
ginalen aufweist,  im  Texte  selbst  nicht  verzeichnet  worden. 

So  druckt  SW  S.  48  Z.  löfst  .  .  .  statt  .  .  .  löset.  —  S.  105,  Z.  16.  v.  o. 
.  .  .  bleiben  .  .  .  statt  .  .  .  bleibt  —  S.  168,  Z.  3  v.  o.  Zusätze  .  .  .  statt  .  .  . 
Zustände.  —  S.  312,  Z.  21  v.  u.  .  .  .  jede  ihren  eignen  .  .  .  statt  .  .  .  jede  ihre  eignen. 
—  Die  zum  Substantiv  erhobenen  Infinitive  „Seyn",  „Werden"  hat  SW  dekliniert,  also 
..des  Seyns",  „des  Werdens'',  während  die  Originale  „des  Seyn",  „des  Werden"  schreiben. 
SW  druckt:  „Ahnung",  „derenwillen",  wo  die  Originale  setzen:  „Ahndung",  „derent- 
willen" u.  s.  w.  Auch  in  der  Deklination  der  Eigennamen  weicht  SW  von  den  Originalen 
ab,  so  lautet  der  Genetiv  von  Leibnitz  in  SW  Leibnitz's,  aber  in  O.  Leibnitzens  u.  s.  w. 
SW  druckt  Wolff,  wo    die  Originale  Wolf   (sc.   der  Philosoph  Christian   Wolf)  setzen. 

Berichtigung.  Beim  Umbrechen  des  Satzes  eines  Revisionsbogen  ist  aus  Ver- 
sehen die  Angabe  einer  kleinen  Abweichung  ausgefallen.  SW,  S.  131,  4  v.  druckt 
„seiner  Natur  nach"  .  .  .  statt  .   .  .  „seiner  wahren   Natur  nach". 

Es  sei  hier  noch  darauf  hingewiesen,  dafs  O.  Willmann  in 
seiner  Ausgabe  der  Pädagogischen  Schriften  Herbarts  (Bd.  II, 
S.  419—478)  alle  Abschnitte  der  Kurzen  Encyklopädie,  die  sich 
auf  Pädagogik  beziehen,  mit  Anmerkungen  ediert  und  dem  Ganzen 
eine  erläuternde  Vorrede  vorausgeschickt  hat. 

III. 

Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  [1831]. 

(S.  339—462.) 

Die  Handschrift  zu  den  Briefen,  die  Herbart  unvollendet 
hinterlassen  hat,  wurde  zuerst  von  G.  HARTENSTEIN  in  Kl  Seh  II 
veröffentlicht.  Als  Vorläufer  des  Werkes  sind,  was  auch  Harten- 
stein, Richter  und  Willmann  hervorheben  (Kl  Seh  I,  lxxxvii, 
SW  X,  s.  xv.  R  II,  s.  xiv  und  W  II,  s.  279)  die  beiden  in 
Band  III  vorliegender  Ausgabe  abgedruckten  Abhandlungen: 
„Psychologische  Untersuchung   über    die  Stärke   einer   gegebenen 


v  Vorrede  des  Verfassers  zum  IX.  Bande. 


Vorstellung   als  Funktion  ihrer  Dauer  betrachtet"  und   „Über  die 
dunkle  Seite  der  Pädagogik  anzusehen. 

Die  Aufschrift  „Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie 
auf  die  Pädagogik"  rührt  nicht  von  Herbart,  der  das  Manuskript 
ohne  Überschrift  hinterliefs,  sondern  von  Hartenstein  her.  Da 
dieser  Titel  auch  in  die  Ausgaben  des  Werkes  von  Richter  und 
WlLLMANN  übergegangen  und  allgemein  üblich  geworden  ist,  so 
ist  er  auch  in  vorliegender  Ausgabe  beibehalten  worden,  obwohl 
sich  statt  Hartensteins  Titel  die  Aufschrift  „Briefe  über  psycho- 
logische Pädagogik"  eher  empfohlen  haben  würde.  Wahrschein- 
lich würde  Herbart,  der  die  Bezeichnung:  „Psychologische  Päda- 
gogik" für  das  Gebiet,  das  die  Briefe  bearbeiten,  geschaffen  hat, 
diesen  Titel  ebenfalls  gewählt  haben. 

Auch  die  Zeitangabe  [183 1],  die  im  Manuskript  ebenfalls  fehlt, 
ist  in  vorliegender  Ausgabe  von  Hartenstein  übernommen  wor- 
den, da  sie  wohl  richtig  sein  dürfte.  Es  mufs  als  sicher  ange- 
nommen werden,  dafs  Herbart  als  er  an  die  Bearbeitung  des 
Stoffes  ging,  die  „Psychologie  als  Wissenschaft"  (1825)  bereits 
hinter  sich  hatte,  denn  die  Rechnungen  der  Briefe  bringen  neue 
Versuche.  Das  Werk  wird  in  den  Jahren  1826— 183 1  entstanden 
sein  und  zwar  aus  der  Herbartschen  Lehrpraxis  heraus  in  der 
letzten  Periode  seines  Königsberger  Aufenthalts  und  sicher  vor 
der  Zeit  der  Uebersiedelung  nach  Göttingen,  wo  bei  Herbart  die 
pädagogischen  Studien  wohl  in  Ermangelung  praktisch  -  päda- 
gogischer Uebungen  zurückgetreten  sind.  Warum  Herbart  das 
Werk  nicht  vollendet  hat?  Darüber  lassen  sich  nur  Vermutungen 
anstellen.  Hartenstein  deutet  zwei  Möglichkeiten  an:  „Ob  er 
diese  Untersuchung,  die  freilich  in  eine  Tiefe  blicken  läfst,  von 
welcher  die  gewöhnliche  pädagogische  Praxis  schwerlich  eine 
Ahnung  hat,  abgebrochen  hat,  weil  er  dazu  noch  weiter  fort- 
gesetzter psychologischer  Untersuchungen  zu  bedürfen  glaubte, 
wenn  man  die  mathematisch  psychologischen  Beilagen  dieser  Briefe 
mit  den  psychologischen  l  'ntersuchungen  vergleicht,  möchte  man 
dies  für  wahrscheinlich  halten,  ■  ■  oder  ob  der  Umzug  nach  Göt- 
tingen ihn  von  der  Fortsetzung  und  Vollendung  dieser  Arbeit 
abgezogen  hat,  mufs  unentschieden  bleiben"  (SW  X,  s.  XV  und 
xvi);  vgl.  auch  Kl  Seh  I,  s.  LXXXVIH  und  LXXXIX. 


III.    Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik.  XI 


Dafs  Herbart,  der  nie  an  die  Niederschrift  seiner  Arbeiten 
ging  ohne  bis  ins  Einzelne  alles  zuvor  im  Kopfe  erwogen  zu 
haben  und  der  sich  immer  vollständig  klar  war  über  den  Umfang 
des  Rüstzeuges,  das  er  brauchte,  „noch  weiter  fortgesetzter  psy- 
chologischer Untersuchungen"  für  den  Abschlufs  des  Werkes  be- 
durft hätte,  scheint  nicht  wahrscheinlich,  viel  eher  kann  man  an- 
nehmen, dafs  ein  äufserer  Grund  und  zwar  seine  Berufung  nach 
Göttingen  oder  wahrscheinlicher  schon  vorher  die  an  den  Tod 
Hegels  (14.  November  1831)  geknüpften  Hoffnungen  auf  eine 
Berufung  nach  Berlin,  den  Fortgang  des  Werkes  unterbrochen 
haben.  Das  sorgfältig  gearbeitete  Manuskript  macht  den  Ein- 
druck als  wenn  es  in  einem  stetigen  Flusse  geschrieben  worden 
wäre.  Man  kann  daher  annehmen,  dafs  Herbart,  nachdem  er  in 
den  Jahren  vorher  während  seiner  Seminarpraxis  die  Materialien 
gesammelt  und  gesichtet,  im  Jahre  1831  die  Niederschrift  be- 
wirkt hat. 

Die  „Briefe"  sind,  obwohl  auch  hierüber  eine  Angabe  im 
Manuskript  fehlt,  an  Herbarts  Freund  den  Prof.  Dr.  Griepen- 
kerl  in  Braunschweig  gerichtet.  Hartenstein,  der  in  Kl  Seh 
als  den  Adressaten  „jedenfalls  Herrn  Prof.  Griepenkerl"  be- 
zeichnet, unterläfst  in  SW  eine  hierauf  bezügliche  Mitteilung. 
Für  Richter  und  Willmann  (R  II,  S  1  und  W  11,  S.  291) 
ist  es  mit  Recht  unzweifelhaft,  dafs  die  Briefe  für  Griepenkerl 
(geb.  1782  in  Peine,  gest.  1849  als  Professor  des  Karolinums  zu 
Braunschweig)  bestimmt  gewesen  sind. 

Griepenkerl  wurde  von  Herbart,  wie  aus  der  oben  erwähn- 
ten Abhandlung  über  die  dunkle  Seite  der  Pädagogik,  die  als  ein 
Vorläufer  der  Briefe  gelten  kann,  hervorgeht,  sehr  hoch  geschätzt. 
Herbart  hofft  von  ihm  „verbesserte  und  erweiterte  pädagogische 
Einsichten"  zu  erhalten  (vgl.  Vorliegende  Ausgabe  Bd.  III,  S.  153, 
Anmerk.).  Dafs  die  Briefe  an  Griepenkerl,  dessen  Briefwechsel 
mit  Herbart  leider  verloren  gegangen  zu  sein  scheint,  gerichtet 
sind,  darf  geschlossen  werden  aus  der  Bemerkung  des  zweiten 
Briefes  — ,  „noch  ehe  Sie  in  die  Schweiz  gingen''  —  denn  Griepen- 
kerl war  längere  Zeit  bei  Fellenberg  in  Hofwyl  als  Lehrer 
thätig  und  als  in  Hofwyl  befindlich  wird  er  auch  von  Herbart 
in  der  Abhandlung  über  die   dunkle  Seite   genannt.     Auch  Her- 


XII  Vorrede  des  Verfassers  zum  IX.  Baude. 


barts  häufige  Bezugnahme  auf  Ästhetik  führt  ebenfalls  auf 
Griepenkerl  als  den  Adressaten,  denn  Herbart  verehrte  in  ihm, 
dem  Verfasser  eines  Lehrbuchs  der  Ästhetik,  eine  Autorität  in 
Fragen  der  Ästhetik.  (Siehe  unten  S.  1 1 8  Anmerkung.)  Dafs  auch 
nach  1831  innige  wissenschaftliche  Beziehungen  zwischen  Herbart 
und  Griepenkerl  bestanden  haben,  beweist  der  Umstand,  dafs  Her- 
bart seine  1836  erschienenen  Briefe  „Zur  Lehre  von  der  Freiheit 
des  menschlichen   Willens"  Griepenkerl  gewidmet  hat. 

Dem  vorliegenden  Abdrucke  hat  die  von  Herbarts  Hand  her- 
rührende sorgfältige  Niederschrift  zu  Grunde  gelegen.  Das  Manu- 
skript (Nr.  2054)  besteht  aus  274  Quartseiten.  Geändert  wurde  nur 
S.  369,  Z.  21  Untersuchungen  .  .  .  statt  .  .  .  des  Singulars  „Unter- 
suchung". Die  Abweichungen  der  Hartenstein  sehen  Ausgabe 
(SW),  deren  Text  von  Richter  und  Willmann  übernommen 
wurde,  sind  im  Texte  angegeben  worden. 

Nur  einige  offenbare  Druckfehler  und  kleinere  Abweichungen  im  Sprachgebrauch, 
Orthographie  und  Interpunktion  der  Ausgabe  SW  wurden  im  Texte  nicht  angegeben; 
z.  B.  S.  343,  S.  1  v.  o.  SW  der  Weiterkommens  .  .  .  statt  .  .  .  des  Weiterkommens 
.  .  SW  druckt  etwa  .  .  .  statt  .  .  .  etwan,  .  .  .  Piaton  .  .  .  statt  .  .  .  Plato,  .  .  .  darein, 
worein  .  .  .  statt  .  .  .  darin,  worin,  .  .  .  Gränzen  .  .  .  statt  .  .  .  Grenzen,  .  .  .  Mis  .  .  . 
statt  .  .  .  Mifs.  SW  läfst  das  e  aus,  setzt  „weitern"  .  .  .  statt  .  .  .  „weiteren",  ,,äufsern'< 
.  .  .  statt  .  .  .  ,,äufseren".  „Eingehn"  .  .  .  statt  .  .  .  „Eingehen11  u.  s.  w.  Das  h  läfst 
SW  aus  in  „hohlen'1,  „Willkühr",  „allmählig"  u.  s.  w.  Zusammengesetzte  Substantive 
schreibt  SW  in  einem  Worte,  wo  das  Original  2  Worte  bildet,  also:  Anschauungs- 
übungen .  .  .  statt  .  .  .  Anschauungs-Übungen  u.  s.  w.     u.  s.  w. 

Berlin,  im  Mai  1897. 

Prof.  Dr.  Karl  Kehrbach. 


Inhalt  des  neunten  Bandes. 


Seite 

Vorrede  des  Herausgebers  2U  den  Schriften  des  neunten  Bandes     .  V— XII 

I.  Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate   durch 

künstliche  Formen  entbehrlich  zu  machen.    Rede  gehalten  in  der 
Königlichen  Deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg  am  Krönungstage 

den   18.  Januar   1831 r      *5 

II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.     1831 i"— 338 

Erster  Abschnitt.     Elementarlehre 24—200 

Erstes  Kapitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  der  Philosophie     .      .  24—46 
Zweites  Kapitel.    Vom  Menschen  in  seiner  Gebundenheit  an  die  Natur, 

den  Staat  und  die  Kirche 46_ 57 

Drittes  Kapitel.    Von  den  Begriffen  der  Güter,  Tugenden  und  Pflichten  57—^5 

Viertes  Kapitel.     Vom  Bedürfnisse  der  Religion 66     78 

Fünftes  Kapitel.    Vom  Unterschiede  des  moralischen  und  ästhetischen 

Urteils 78—84 

Sechstes  Kapitel.    Vom  Unterschiede  der  ästhetischen  und  theoretischen  85—92 

Siebentes  Kapitel.     Von  der  Kunst  und  dem  Künstler 92 — 98 

Achtes  Kapitel.     Von  der  nützlichen  Kunst 98 — 104 

Neuntes  Kapitel.    Von  der  schönen  Kunst io5      IX° 

Zehntes  Kapitel.     Von  der  gelehrten  Kunst IJ8      125 

Elftes  Kapitel.     Von  der  Staatskunst 125  —  136 

Zwölftes  Kapitel.     Von  der  Erziehungskunst x37      I5I 

Dreizehntes  Kapitel.     Von  der  geistigen  Regsamkeit 15 l  —  *59 

Zusatz 159-163 

Vierzehntes  Kapitel.     Vom  Leben •     •      .     .  I^i      I72 

Fünfzehntes  Kapitel.     Von  der  Materie x73      x8i 

Sechzehntes  Kapitel.     Von  der  Seele  und  vom  Ich 193 — 2°° 

Zweiter  Abschritt.     Methodenlehre 2QI — 338 

Erstes  Kapitel.     Von  der  Logik 201  —  215 

Zweites  Kapitel.     Von  der  Vernunftkritik 2ID — 225 

Drittes  Kapitel.     Von  der  Fundamental-Philosophie 225 — 233 

Viertes  Kapitel.     Vom  System  der  Philosophie  im  Allgemeinen     .     .  233—244 

1  In  der  II.  Ausgabe   entspricht  dem    16.   Kapitel  das   18.  Kapitel     .  193—200 
Die   Überschriften   zu   den    eingeschobenen    Kapiteln    16    und    17    der 
II.   Ausgabe  lauten 

Sechzehntes  Kapitel.      Von  den  Imponderabilien .  182—185 

Siebzehntes  Kapitel.     Von  der  geistigen  Ausbildung 185 — 193 


XIV 


Inhalt  des  neunten  Bandes. 


Seite 

Fünftes  Kapitel.     Von  der  allgemeinen  Metaphysik 244 254 

Sechstes  Kapitel.    Von    dem  Verhältnisse  der  Metaphysik    zu   andern 

philosophischen  Wissenschaften 25c 268 

Siebentes  Capitel.     Von  der  Psychologie 269 280 

Anmerkung.  Vom  Uebergange  aus  der  Mataphysik  in  die  Psychologie  281 282 

Achtes  Capitel.     Von  der  praktischen  Philosophie 283 304 

Neuntes  Capitel.    Rückblicke,  und  Bemerkungen  über  die  Form   der 

Philosophie 304—338 

III.   Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik. 

[l83i] 339-462 

1-  Brief 341-343 

2-  Brief 343-346 

3-  Brief 346—350 

4-  Brief 350-357 

5-  Brief 357-359 

6-  Briet 359-363 

7-  Brief 363-365 

8.  Brief 365—366 

9-  Brief 366—369 

10.   Brief 369—372 

11    Brief       •  ' 372-374 

I2-  Brief 374-376 

J3-  Brief 376-377 

r4-  Brief 378—381 

J5.  Brief 381—383 

l6-  Brief 383—386 

»7-  Brief 386—389 

l8-  Brief 389  —  392 

x9-  Brief 393~394 

20.  Brief 394—396 

21-  Brief 396—400 

22-  Brief 401—403 

Beilage.    Ueber  die  zugleich  steigenden  Vorstellungen       ....  403—407 

23-  Brief 407—410 

24-  Brief 410—412 

25-  Brief 412—415 

26-  Brief 415—417 

Beylage 417—422 

27-  Brief 422—427 

28-  Brief 427—430 

29-  Brief 430-433 

3°-  Brief 433-436 

3'-  Bricf 436-437 

Beilage.     Ueber  freies  Steigen  verschmolzener  Vorstellungen      .     .  437—453 

32'  Brief 453-455 

"•  Brief 455-459 

34-  Bnef 459-461 

35-  Brief 461—462 


I. 

ÜBER  DIE 

UNMÖGLICHKEIT,  PERSÖNLICHES  VERTRAUEN  IM 

STAATE  DURCH  KÜNSTLICHE  FORMEN 

ENTBEHRLICH  ZU  MACHEN. 

REDE 

gehalten    in    der    Königlichen    Deutschen    Gesellschaft    zu    Königsberg    am 

Krönungstage  den   18.  Januar 

l83I. 

[Text  nach  SW,  Bd.  IX.  S.   221—240.] 


Bereits  gedruckt: 

KlSch  =  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften  (Bd.  II),  herausgegeben  von  G.  Harten- 
stein. 

Herbart's  Werke.     IX.  I 


Vorwort. 


Jedes  Volk  mufs  an  seine  Obrigkeit  glauben,  so  lange  es  kann;  denn 
es  bedarf  ihrer.  Der  Glaube  ist  ein  praktisches  Postulat,  das  heifst,  er 
geht  dem  Beweise  voran;  ja  er  braucht  keinen  eigentlichen  Beweis,  sondern 
nur  Bestätigung.  Die  Obrigkeit  wird  ihn  bestätigen,  indem  sie,  ohne 
Vorgunst,  alle  vernünftigen  Bestrebungen  des  Volkes  als  eine  Gesamt- 
heit auffafst,  ordnet  und  sich  denselben  in  fortwährender  Fürsorge  hilf- 
reich beweiset. 

Macht  und  Ansehen,  die  notwendigen  Grundlagen  der  Obrigkeit,  sind 
allemal  für  den  Staat  etwas  Vorgefundenes,  das,  wenn  schlecht  gehütet, 
zwar  bald  zerstört,  aber  niemals  nach  Willkür  wieder  geschaffen  werden 
kann.  Wieviel  Willkür  sich  einmischt,  soviel  ist  an  der  Macht  verdorben. 
Dasjenige  Volk,  welches  damit  experimentiert,  giebt  sich  einer  gebieterischen 
Notwendigkeit  preis,  die  nicht  lange  auszubleiben  pflegt. 

Die  Erkenntnisbegriffe  der  allgemeinen  Staatslehre  sind  sehr  ver- 
schieden von  den  Musterbegriffen.  Jene  führen  auf  allgemeine  theoretische 
Untersuchungen  über  die  Naturgesetze,  nach  denen  streitende  geistige 
Kräfte  (teils  in  einzelnen  Personen,  teils  in  der  Gesellschaft,)  sich  all- 
mählich ins  Gleichgewicht  setzen.  Dafs  die  mathematische  Psychologie  in 
die  Staatslehre  eingreift,  ist  am  gehörigen  Orte  gezeigt  worden.1  Völlig 
unabhängig  davon  bestehen  die  Musterbegriffe,  oder,  wie  man  gewöhnlich 
sagt,  die  praktischen  Ideen;  ja  sie  haben  den  Vorzug,  die  Zzuecke  zu  ver- 
deutlichen, während  jene  theoretischen,  oder  Erkenntnisbegriffe  nur  dienen, 
um  in  Verbindung  mit  der  Geschichte  und  Erfahrung  die  Mittel  zu  den 
Zwecken  leichter  aufzufinden,  und  den  Hindernissen  zu  begegnen.  Aber 
auch  unter  einander  müssen  die  praktischen  Ideen  genau  abgeson[2  24]dert 
werden,*  bevor  alsdann,  —  nicht  durch  Vermengung,  und  ebensowenig 
mit  einseitiger  Betrachtung  (gemäfs  den  gewöhnlichen  Fehlern),  —  sondern 
durch  Zusammenfassung  aller  Ideen,  das  eigentlich  moralische  Urteil  über 
Personen  und  Staaten  gewonnen  wird. 

Diese  allgemeinen  Sätze  können  zur  Vorbereitung  genügen.  Wenn 
der  Leser  schärfer  prüft,  als  vom  blofsen  Hörer  zu  erwarten  stand:  so 
wird  ihm  auch  nicht  entgehen,  dafs  der  nachstehende  Aufsatz  manches 
enthält,  was  vielleicht   nur  unter  der  Regierung   unseres  Königs,  Friedrich 


*  Allgemeine  praktische  Philosophie,  Göttingen,    1808.    Der  Verfasser  schrieb  das 
Buch,  ehe  er  noch  daran  denken  konnte,  in  den  preufsischen  Staatsdienst  zu  treten. 

1    Psychologie   als  Wissenschaft,    Teil   2,    Einleitung.     Bd.  VI    vorl.  Ausgabe.   — 
Anmerkung  d.  Herausgebers. 

T  * 


I.    Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.      183 1. 


Wilhelm    des  Dritten,    so  gedacht,    so    gefühlt   und    darum    so  geschrieben 
und  ausgesprochen  werden  konnte. 


Hohe,  Höchstgeehrte  Anwesende! 

Zurückschauend  auf  zwanzig  verflossene  Jahre,  in  welchen  mir  nicht 
ganz  selten  die  Ehre  des  öffentlichen  Wortes  an  unsern  beiden  Festtagen 
übertragen  wurde,  erinnere  ich  mich  den  Glanz  der  preufsischen  Krone 
meistens  wie  vom  heitern  Sonnenlichte  verstärkt,  doch  zuweilen  auch  wie 
aus  einem  mehr  oder  weniger  dunkeln  Hintergrunde  hervorschimmernd 
erblickt  zu  haben.  Heute  aber  scheint  sie  mir  zu  leuchten  mit  einer 
Kraft  des  eigenen,  reinen  Lichtes,  wie  niemals  zuvor.  Zwar  bemerken  wir 
etwas  von  mehr  als  gewohnter  Bewegung  unserer  Truppen ;  aber  wir  wissen, 
wir  fahlen  es  tief:  der  Grund  dieser  Bewegung  ist  nicht  bei  uns  ein- 
heimisch. Zwar  berichtet  uns  die  Zeitung  eine  unsinnige  Fabel,  deren 
Gegenstand  unsre  Stadt  soll  geworden  sein;  aber  es  scheint,  man  habe 
uns  das  Vergnügen  schaffen  wollen,  unsre  Ruhe  doppelt  angenehm  zu 
empfinden.  Wem  verdanken  wir  diese  Ruhe?  Etwa  einer  künstlichen 
Maschine,  dergleichen  man  in  andern  Staaten  zu  erbauen  versucht  hat, 
um  aus  getrennten  Gewalten  ein  Gleichgewicht  zusammenzusetzen,  das  um 
desto  ängstlicher  bewacht  wird,  weil  die  Maschine  sich  unaufhörlich  bewegen, 
und  stets  verän[225]derten  Umständen  entsprechen  mufs?  Solche  Kunst 
kennen  wir  wohl  in  der  Theorie,  aber  die  Praxis  würde  uns  neu  sein; 
und  ich  zweifle,  ob  sie  uns  erfreuen  könnte.  Es  mag  gewagt,  dreist,  un- 
zeitig scheinen,  wenn  ich  heute  gerade  diesem  Zweifel  einen  unvollkommenen 
mündlichen  Ausdruck  zu  geben  versuche;  allein  ich  hatte  nicht  lange  Zeit, 
meinen  Gegenstand  zu  wählen,  und  der  nächste  schien  mir  der  beste. 
Oder  kann  uns  etwas  näher  liegen,  als  die  Dankbarkeit,  womit  wir  unseres 
Königs  ehrfurchtsvoll  gedenken?  Eine  lebendige  Person  ist's,  die  uns  schützt; 
ein  lebendiger  Geist,  der  entfernte  Provinzen  mit  uns  vereint;  ja  ein  langes 
fleckenloses  Leben,  eine  lange  wohlthätige  Regierung  war  nötig,  wenn 
das  öffentliche  Vertrauen  den  hohen  Grad  erreichen  sollte,  durch  welchen 
in  unsrer  prüfenden  Zeit  die  preufsische  Monarchie  zusammengehalten 
wird.  Diese,  schon  durch  frühere  grofse  Herrscher  vorbereitete,  also 
keinesweges  von  selbst  vorhandene,  sondern  während  einer  langen  Jahres- 
reihe allmählich  geschaffene  Wirklichkeit  ist's,  die  mir  vorschweben  wird, 
auch  wann  ich  in  abgezogenen  Begriffen  das  Vertrauen  als  einen  Gegen- 
stand des  Denkens  zu  betrachten,  und  die  künstlichen  Formen  ihm  ent- 
gegenzustellen unternehme.  Theoriker  werden  mir  einwenden,  persönliches 
Vertrauen  setze  Personen  voraus,  denen  man  trauen  könne;  das  Vor- 
handensein solcher  Personen  aber  sei  ein  Glück,  dessen  man  sich  erfreuen 
möge,  wenn  man  es  besitze;  hingegen  der  Staat  sei  stets  da,  und  stets 
notwendig,  nun  aber  könne  man  das  Notwendige  nicht  dem  Glücke 
anvertrauen;  daher  sei  die  Aufgabe  zur  Sprache  gekommen,  ob  nicht  eine 
so  künstliche  Form  des  Staates  könne  erdacht  werden,  dafs  auch  wo  das 
Vertrauen  fehle,  dennoch  durch  Aufhebung  der  streitenden  Interessen 
mitten  aus  den  Gesinnungen  des  Eigennutzes  eine  Gesamtwirkung  hervor- 


I.    Über  die  Unmöglichkeit,    persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.      183 1. 


gehe,  ähnlich  der  eines  Staates,  in  welchem  das  Vertrauen  herrscht  und 
das  Ganze  belebt.  Von  solcher  Theorie  darf  ich  nicht  wegwerfend  reden; 
denn  es  lassen  sich  berühmte  Männer  angeben,  die  sich  mehr  oder  weniger 
ernstlich  damit  beschäftigten.  Doch  gestehe  ich,  dafs  nicht  erst  jetzt, 
sondern  schon  in  meinen  Jüngern  Jahren,  mir  immer  die  Chemiker  dabei 
einfielen,  die  allerlei  Versuche  anstellten,  —  um  Blut  zu  machen!  Eine 
künstliche  Mischung,  von  Menschenhänden  bereitet,  wie  man  jetzt  Mineral- 
wässer bereitet,  sollte  Blut  darstellen!  Was  für  Blut?  ich  weifs  es  nicht, 
aber  soviel  ist  bekannt,  dafs  zu  [226]  jeder  Art  desselben  ein  eigner 
animalisch  lebender  Leib  gehört,  und  dafs  keine  Gattung  von  Tieren  ohne 
die  höchste  Gefahr  die  Transfusion  des  Tierblutes  von  einer  fremden 
Gattung  ertragen  kann.  Das  künstliche  Blut  also,  gesetzt  auch,  dessen 
Verfertigung  wäre  gelungen,  hätte  nur  einem  künstlichen  Tiere  angehören 
können;  allen  unsern  wirklich  lebenden  Wesen  wäre  es  Gift  geworden. 
Wo  aber  ist  der  Staat,  wo  ist  das  Volk,  dem  man  infolge  blofser  Theorie 
eine  künstliche  Einrichtung  geben  könnte,  ohne  sich  um  das  wirkliche, 
lebendige,  gerade  jetzt  vorhandene  Vertrauen,  das  die  Menschen  unter  sich 
verknüpft,  zu  bekümmern?  Ich  weifs  es  nicht.  Die  fremde  Kunst,  so 
fürchte  ich,  möchte  sich  in  fremdes  Gift  verwandeln,  das  dem  wirklichen 
Staate  wäre  in  seine  Adern  eingespritzt  worden. 

Erlauben  Sie  jetzt,  höchstgeehrte  Herren !  dafs  ich  mir  den  Gegen- 
stand der  Betrachtung  mehr  in  seine  Teile  zerlegt  vergegenwärtige.  Zu- 
erst auf  den  Staat  sollen  meine  Gedanken  sich  richten.  Im  wohlgeordneten 
Staate  finden  wir  unstreitig  allemal  künstliche  Formen;  denn  seinen  Be- 
we<mno-en,  mannigfaltig  wie  sie  sind,  ist  überall  Mafs  und  Ziel  vorgeschrieben, 
durch  Gesetze,  deren  Zusammenhang  nicht  ohne  grofse  Kunst  zu  er- 
reichen steht,  und  durch  Sitten,  welche  in  den  Familien  während  eines 
langen  Laufes  der  Zeit  unter  Mitwirkung  der  Kirche  und  der  Schulen 
sich  bildeten.  Die  Gesetze  jedoch  machen  nicht  überall  durch  militärischen 
Zwang  sich  gelten;  sondern  im  starken  Kontraste  gegen  das  Kriegsheer 
sehen  wir  die  Wirksamkeit  der  Geistlichen  und  der  Arzte  sehr  abhängig 
vom  Vertrauen;  und  auch  die  Gerichtshöfe  und  die  Männer  der  Ver- 
waltung erblicken  wir  umgeben  von  einem  Vertrauen,  das,  wo  es  in  irgend 
einem  Punkte  wanken  möchte,  gleich  mit  bitterem  Schmerze  würde  ver- 
mifst  werden.  Je  höher  wir  nun  von  unten  herauf  die  Stufen  des  Staats 
hinansteigen,  desto  weniger  mögen  wir  den  Gedanken  ertragen,  dafs  irgend- 
wo das  Vertrauen  aufhören  könnte,  uns  von  dem  minder  Wichtigen  zu 
dem  mehr  Entscheidenden  und  weiter  Umhergreifenden  zu  begleiten;  und 
dafs  wohl  irgendwo  ein  Surrogat  zur  Hilfe  kommen  müfste,  um  das 
Fehlende  zu  ersetzen.  Dort  oben  kreuzen  sich  alle  Gesichtslinien;  denn 
nach  oben  hin  schauen  alle,  nach  oben  rufen  alle,  welchen  drunten,  bei 
ihren  kleinen  Angelegenheiten,  bei  ihren  ]  engern  geselligen  Kreisen,  etwas 
fehlt,  so  dafs  ihnen  Rat  und   Hilfe  nötig  wird. 

[227]  Hier  habe  ich  einen  Punkt  berührt,  aufweichen  nötig  sein  möchte, 
die  Aufmerksamkeit  für  einen  Augenblick  zu  heften.  Familien,  Gemeinden, 
Dörfer,  Städte,  Provinzen,  entstehen  nicht  aus  dem  Staate,  sondern  er  ent- 


1  kleinern  Angelegenheiten,  in  ihren  ...   Kl  Seh. 


1.    Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.      1831. 


steht    aus    ihnen,    und    sie    würden    bleiben,    sie    müfsten    ihren    innern    Zu- 
sammenhang behalten,    selbst   wenn    die  Staatsform    sich  änderte.     Es  giebt 
eine    irrige   Ansicht    der    Staatslehre,    welche    das    umzukehren    scheint,    so, 
als  ob  sich   von  oben  her  nach  unten  hin   der  Staat  bildete  und  in  solcher 
Ordnung    sich  beschreiben   liefse.     Es  giebt    einen   falschen  Gebrauch  der 
allgemeinen  Begriffe,   welchen  man  der  Logik  nachahmen  will,  die  freilich 
das  Allgemeinste    voranzustellen   pflegt,    um  demselben   ein  Merkmal    nach 
dem  andern,  stets  näher  und  näher  bestimmend,  beizufügen.    In  der  An- 
gewöhnung, das  Reale  mit  dem  Allgemeinen  zu  verwechseln,  und  die  Be- 
trachtung  des    Realen    von   den   obersten    Begriffen   anzufangen,    liegt    ein 
Hauptgrund  der  Klagen,  dafs  vielfältig  die  Theorie  nicht  zur  Praxis  passen 
wolle.     So  hat  man  unter  andern  die  Lehre    von  der  menschlichen  Seele 
bei  dem  Ich  angefangen,  in  der  Meinung,  man  könne  dieses  Ich  allmählich 
mit    allerlei  Vermögen    begaben,    und    weiter    und    weiter  bestimmend    und 
spaltend   den  Vermögen,    als    wären   sie  allgemeine  Begriffe,    andre    unter- 
ordnen;   z.  B.    dem    Erkenntnisvermögen    die    Vernunft   und   die    Sinnlich- 
keit,   der  Vernunft   die   theoretische   und   praktische,    der   Sinnlichkeit   den 
äufsern    und    innern  Sinn,    und    so    fort.      Dem  ähnlich    ist    man    auch  mit 
der  Materie  verfahren,    als  gäbe   es  erst  Materie   überhaupt,    woraus  dann 
weiter   starre    und  flüssige   Körper   hervorgingen.      So    nun    erscheint    auch 
der  Staat   wohl  manchem,    als  könnte   er   ihn    aus  einem    sogenannten  all- 
gemeinen Willen  construieren,  alsdann   die  Macht  ihm  einpflanzen,  darauf 
Gesetze   geben,    und    nun  gleichsam    aus    den  Gesetzen   die  verschiedenen 
Stände,    aus    den    Ständen   die   Menschen   erzeugen,   welche   nur    dazu   da 
wären,  um  den  solchergestalt  ausgesonnenen  Staat  zu  realisieren.     In  der 
wirklichen  Ordnung  der  Dinge  ist  das  alles  umgekehrt.    Wir  haben  früher 
einzelne  Vorstellungen,    und  ein  Zusammenwirken  derselben,  ehe  und  be- 
vor aus  diesem  Zusammenwirken  dasjenige  entsteht,  was  man,   unter  dem 
Namen  des  Anschauens  und  Denkens,  unrichtig  genug  der  Sinnlichkeit  und 
der  Vernunft  beilegt,  und  vollends  ehe  unser  Selbstbewufstsein,  unser  Ich 
möglich  ist;   —   es  giebt  früher  starre  Körper,   ehe  sich  um  dieselben   eine 
Atmosphäre    [228]    von   Luftarten    und  von  Dämpfen  sammeln  kann,    aus 
welchen  letztern  erst  der  Druck  entsteht,  der  die  Flüssigkeiten  zusammenhält. 
So  auch   fängt  in  der  Wirklichkeit  der  Staat  nicht  an  beim  allgemeinen,   auf 
ihn  gerichteten   Willen,   sondern  die  Menschen  haben   früher  Privatverhält- 
nisse, ehe  sie  an  öffentliche  Angelegenheiten  denken  können,  und   es  mufs 
früher  eine   Macht,    oder  mindestens    eine   Auktorität  da  sein,    ehe   es   den 
Menschen   einfallen  kann,   die   Macht  zu  Hilfe  zu  rufen,   wo  ihnen  in  ihren 
kleinern   Kreisen  etwas  fehlt.     Wäre  dies  nicht:  was  sollten  wir  von  einer 
Provinz  denken,  die  so  häufig  ein  Staat  dem  andern  bei  Friedenschlüssen 
überläfst,  mit  der  Anweisung  an  die  Unterthanen,  fortan  dem  neuen  Herrn, 
der   sie   zu  schützen    nunmehr   übernommen   habe,    Gehorsam   und   Treue 
zu  beweisen?   Ein  Blick  auf  die  preufsische  Monarchie  zeigt  sogleich,  dafs 
solche    neue    Glieder    allerdings    dem    Ganzen    anwachsen    können,"   sobald 
sie,    —    was    freilich    die    Bedingung    war,    —    einen    Herrn    finden,    zu 
welchem   sie    Verträum    fassen,    um   bei   ihm  Trost   und   Hilfe    zu   suchen. 
Nur    in     solchen     Fällen,     wo     das     Vertrauen    nicht    übertragen,     nicht 
gewonnen,    vielleicht    selbst   nicht    ernstlich   gesucht,    oder   auch    um   alter 


I.    Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.      1831.  7 


Erinnerungen  willen  verweigert  wird,   —   sehen  wir  Unglück  über  Unglück 
aus    mifslungener    Verschmelzung    verschiedenartiger    Provinzen    entstehen. 

Nach  diesen  Vorerinnerungen  lassen  Sie  uns  die  Hauptfrage  wieder 
ins  Auge  fassen:  ist  es  möglich,  dafs  künstliche  Formen  Ersatz  leisten, 
wenn  im  Staate  das  persönliche  Vertrauen  fehlt?  Mit  der  entschiedensten 
Überzeugung  spreche  ich:  Nein.  Vielmehr  gerade  umgekehrt,  wo  die 
Formen  weniger  ausgebildet  sind,  da  vermag  persönliches  Vertrauen  sie 
zu  ersetzen.  Diesen  letztern  Satz  wollen  wir  nun  zunächst  überlegen;  er 
wird  dann  Licht  auf  den  entgegenstehenden  werfen. 

Die  Bewegung  im  Staate  geht,  wie  vorhin  bemerkt,  ursprünglich  von 
unten    nach  oben,   und  wo   sie   von   oben  herab   kommt,    ist   sie    als    eine 
rückkehrende,    erwiedernde    zu   betrachten.     Die    Menschen    bilden    zuerst 
und  zunächst  kleinere  Kreise;   in  Familien,   Dörfern,  Städten  brauchen  sie 
Ordnung    und   Schutz;    sie   brauchen    Richter,    Geistliche,    Ärzte,    und   für 
den  Notfall  Bewaffnete;  darum  werden  ihnen  geprüfte  und  tüchtige  Männer 
hingestellt,    die    allenthalben,    in    den    kleinsten    Teilen    des    Staats,    das 
rechte    Leben    erhalten,    welches    alsdann   von   selbst   mit   einigem   Glänze 
leuchtend  in  den  höhern  Gesellschaftskreisen  hervor[2  29]tritt.    Von  einem 
verschwenderischen,  nur  für  seine  Üppigkeit  das  Land  aussaugenden  Hofe 
wissen  wir  nichts;  giebt  es  und  gab  es  anderwärts  dergleichen,  so  ist  das 
uns  fremd,    wie  es  dem  Begriffe  des  Staats  fremd  ist.     Ist  nun  jene  auf- 
und  wieder  absteigende  Bewegung  im  gehörigen  Gange,  und  wird  sie  be- 
seelt vom  Vertrauen,  so   äufsern  sich  die  Wünsche,  darauf  folgen  die  Er- 
kundigungen,   Berichte   werden  gefordert   und  erstattet,    der  aufmerksamen 
Frage  entspricht  die  offene  Antwort;  aus  der  Sammlung  aller  eingelaufenen 
Antworten  entspringt   die  Kenntnis  der  Bedürfnisse,   nämlich   der  wahren, 
sowohl    sittlichen    als    natürlichen   Lebensbedürfnisse,    wovon    die    launen- 
haften Wünsche,  die  eigensinnigen  Forderungen,  an  denen  es  niemals  fehlt, 
wo  einmal  die  Willkür  Spielraum  findet,    sorgfältig  zu  unterscheiden  sind. 
Nun  wird  überlegt,    welche  Hilfsmittel  der  Boden,    der  Fleifs,  der  Handel 
darbieten  mögen,    und    wie   sie  am  schicklichsten   können  verteilt  werden. 
Ist  die  Natur  karg,  (und  die  unsrige  spendet  ihre  Gaben  nicht  eben  frei- 
gebig!)   ist    das    Bedürfnis    grofs,     (und    die    militärische    Stellung    unsres 
Staats   gebietet   Spannung!)    so   kann    nicht   ohne    Mühe,    nicht   ohne    An- 
strengung,   nicht   ohne   Versagungen    das   Wünschenswerte    herbeikommen 
und   sich    wieder   verteilen.     Wäre   aber   die    Herrschaft    schwach,    müfste 
sie  für  sich   selbst  besorgt  sein,  könnte  sie  als  ein  Geschöpf  der   Willkih 
auch     willkürlich     verdrängt    zu     werden     Gefahr    laufen:     dann     würde 
eine   solche    Herrschaft   ihre   wahren   Bemühungen   nicht   der   bürgerlichen 
Gesellschaft   zuwenden,    sondern   nur   scheinbar   etwas   thun,   um    auf  dem 
kürzesten  Wege  die  Meinung  für  sich  zu  gewinnen.    Ein  Herrscherstamm 
mufs  stehen  wie  ein  Baum,  den  Jahrhunderte  ernährten,   prüften  und  be- 
festigten.    Er  mufs  stehen  wie  der  unsrige,  welchen,  wenn  das  Glück  ihn 
nicht   gegeben   hätte,    keine   menschliche   Weisheit   erfinden,   keine    Gewalt 
erzeugen   könnte.     Auf  einen   solchen    Herrn   aber,    wie   unser  König   ist, 
richtet   sich    das   Vertrauen,    und    es    empfängt   alsdann    soviel    Hilfe,    als 
der  Vorrat  gestattet. 

Wieviel  nun  die  vorhandenen  Formen  dazu  mögen  beigetragen  haben, 


8  I.    Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.      183 1. 

dafs  eine  so  wohlthätige  auf-  und  absteigende  Bewegung  sich  bilden  konnte, 
dies  mafse  ich  mir  nicht  an,  genau  zu  durchschauen.  Nur  soviel  glaube 
ich  zu  erkennen,  dafs  hiebei  auf  die  Zusammenwirkung  aller  Beamten, 
durch  welche  Bericht  von  den  Bedürfnissen  des  Volks  eingezogen  [230]  wird, 
das  Meiste  ankommt.  Sie  sind  die  vermittelnden  Organe  des  Verkehrs 
zwischen  dem  Herrn  und  dem  Volke.  Über  sie  werden  in  fremden 
Ländern  Klagen  genug  vernommen;  ihre  Verantwortlichkeit  sucht  man  auf 
alle  Weise  zu  schärfen;  die  Minister,  so  redet  man,  haben  das  verschul- 
det, was  man  dem  Herrn  nicht  zur  Last  legen  will.  Der  König,  so  sagen 
die  Fremden,  kann  nicht  Unrecht  thun.  Aber  um  solche  Reden  führen 
zu  können,  binden  diese  Fremden  ihren  Königen  die  Hände,  und  möchten 
sie  am  liebsten  gar  nicht  handeln  lassen.  So  stark  ist  das  Bedürfnis  des 
Vertrauens,  dafs  man  den  Schein  noch  sucht  zu  retten,  wo  man  schon 
die  Wirklichkeit  verloren  giebt,  und  sie  vielleicht  kaum  jemals  vollständig 
so  kannte,  wie  wir  sie  kennen.  Aus  solchem  Boden  kommen  die  ausländi- 
schen, spitzfindig  ersonnenen,  künstlich  unterhaltenen,  niemals  zuverlässigen 
Formen,  in  welche  sich  Minister  fügen,  die  nicht  wissen,  ob  sie  ein  Jahr 
lang  ihren  Platz  behaupten  werden,  und  keinem  ihrer  untergebenen  Be- 
amten eine  längere  Dauer  seiner  Stellung,  ja  nicht  einmal  dem  einzelnen 
unternehmenden  Bürger  die  Lage  der  Dinge  versichern  können,  worauf 
rechnend  er  seine  Einrichtungen  getroffen  hat.  Doch  wir  wollen  für  jetzt 
wenigstens  unsre  Augen  von  einer  fernen,  traurigen  Wirklichkeit  abwenden. 

Dürfte  man  sich  ein  ideales  Bild  von  der  Zusammenwirkung  aller 
Beamten  entwerfen,  so  wäre  hiemit,  unter  Voraussetzung  des  allgemeinen 
und  gegenseitigen  Vertrauens,  wenn  nicht  die  bequemste,  so  doch  die 
einfachste  Form  des  Staatslebens  gefunden.  Denn  was  will  man  mehr, 
als  treuen  und  vollständigen  Bericht  an  den  Herrn  von  den  sämtlichen 
wahren  Bedürfnissen  des  Volks?  Und  geschickte  Ausführung  der  auf 
solchen  Bericht  erfolgenden  Befehle?  Was  will  man  mehr?  Man  wird 
ja  doch  den  Herrn  nicht  zzvifigen  wollen ;  welches  die  Ungereimtheit  selbst 
wäre;  denn  gesetzt,  der  Zwang  sei  auch  nur  denkbar,  so  hebt  schon  der 
blofse  Gedanke  die  Zuverlässigkeit  der  Herrschaft  auf,  und  der  feste 
Punkt  verschwindet,  woran  alles  im  Staate  soll  angelehnt  und  angeheftet 
werden.  Zwar  hört  man  in  Theorien  von  einer  Teilung  der  Gewalt; 
aber  giebt  es  je  ein  wunderliches  Mifsverständnis,  so  ist  es  dies.  Ge- 
teilte, in  sich  selbst  mifshellige  Gewalt  wäre  gar  keine;  in  jedem  ge- 
ordneten Staate  aber  ist  notwendig  die  wahre  Gewalt  irgendwo,  gesetzt 
auch  sie  wäre  nicht  da  zu  [231]  finden,  wo  man  sie  dem  Namen  nach  sucht. 
Oder  ist  sie  nirgends  gesichert,  so  ist  der  Staat  nicht  geordnet,  und  führt 
selbst  seinen  Namen  mit  Unrecht;  denn  das  Wort  Staat  verkündet  einen 
festen  Stand  der  Gesellschaft,  und  dazu  gehört  Macht. 

Weit  treffender  könnte  man  sagen,  zum  Ideale  des  vollkommenen 
Beamtenstandes  gehöre  etwas  viel  Höheres,  als  blofs  die  Fähigkeit  und 
der  Wille,  Berichte  zu  erstatten  und  die  darauf  erlassenen  Befehle  aus- 
zuführen. Vielleicht  sollte  der  Herr  nicht  nötig  haben,  sich  um  das 
Kleinere  der  Geschäfte  zu  bekümmern;  vielleicht  sollte  er  darauf  rechnen 
können,  es  gehe  von  selbst  unter  den  Händen  der  Beamten  seinen  not- 
wendigen   Gang   infolge   der  einmal    vorhandenen  Gesetze.     Und    da  sich 


I.    Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.      1831.  o 

zwischen  dem  Kleinern  und  dem  Gröfseren  keine  feste  Grenze  ziehen 
läfst,  so  käme  man  durch  Erweiterung  jenes  Gedankens  endlich  dahin, 
dafs  dem  Herrn  nur  noch  eine  bald  da  bald  dort  eindringende  Aufsicht 
übrig  bliebe,  um  sich  zu  überzeugen,  dafs  alles  noch  fortwährend  im 
rechten  Gange  sei  und  verharre.  Oft  genug  hört  man  ja  auch  von 
solchen  Ländern,  in  welchen  ohne  besondere  Energie  des  Regenten  die 
Regierung  ruhig  und  richtig  fortgeht,  weil  eben  die  Beamten  es  im  Stillen 
übernommen  haben,  die  Geschäfte  zu  führen,  und  die  Mängel  der  Herr- 
schaft zu  decken. 

Ohne  nun  die  Sprache  des  Mifstrauens  zu  erheben,  ohne  dadurch 
die  natürliche  Wechselwirkung  des  Volks,  des  Herrn  und  der  Beamten 
zu  stören,  könnte  man  vielleicht  bemerken,  es  sei  den  Geschäften  der 
Beamten,  ja  selbst  ihrer  unmittelbar  abhängigen  Stellung  nicht  ganz  an- 
gemessen, auf  sie  allein  wegen  der  Berichte  zu  rechnen,  durch  welche  es 
dem  Herrn  stets  möglich  sein  soll,  die  genaueste  Kenntnis  von  den  Be- 
dürfnissen des  Volks  vor  Augen  zu  haben.  Die  Beamten,  könnte  man 
sagen,  geben  in  der  Regel  nur  Antwort,  nachdem  sie  gefragt  wurden; 
und  nur  die  dringendste  Not,  welcher  zu  helfen  vielleicht  viel  zu 
spät  ist,  wird  sie  dahin  bringen,  auch  das  Ungefragte  da  vorzutragen,  wo 
es  gehört  werden  sollte.  Dies  erinnert  an  die  uns  wohlbekannte  Institution 
der  Stände  und  der  Landtage;  und  die  schuldige  Ehrerbietung  fordert 
anzunehmen,  dafs  hierin  ein  bequemeres  und  vollständigeres  Mittel  sei 
gefunden  worden,  um  eben  dasselbe  zu  erreichen,  was  zuvor  einem  idealen 
Beamtenstande  zugeschrieben  wurde.  Ein  solcher  Gegenstand  liegt  aufser 
dem  Kreise  meiner  jetzigen  [232]  Betrachtung;  und  ich  erwähne  dessen 
nur,  um  das  Folgende  gegen  eine  unerwünschte  Auslegung  su  sichern. 
Für  jetzt  wird  es  genug  sein,  die  Stände  und  Landtage  als  die  mehr 
ausgebildete  Form  zu  bezeichnen,  durch  welche  bequemer  und  würde- 
voller das  nämliche  geschieht,  was  sonst  unscheinbarer,  doch  der  Haupt- 
sache nach  durch  die  Berichte  der  Beamten,  sofern  eben  sowohl  das  Volk 
als  der  Regent  ihnen  vertrauet 'e,  war  geleistet  worden. 

Ganz  anders  aber  gestaltet  sich  diese  Betrachtung,  sobald  das  Mifs- 
trauen  sich  einmischt;  das  Mifstrauen,  dessen  furchtbare  Stimme  unser 
Ohr  nicht  erreicht,  jedoch  unsre  Augen  durch  die  stummen  Zeichen  er- 
müdet, wodurch  die  öffentlichen  Blätter  zu  uns  reden.  Wen  verschont 
das  Mifstrauen?  Schont  es  den  Herrn?  Schont  es  die  Beamten?  Schont 
es  auch  nur  die,  welche  durch  Volkswahlen  als  öffentliche  Sprecher  her- 
vorgehoben wurden?  Nur  einen  Teil  verschont  es,  nämlich  den,  welchem 
es  schmeicheln  mufs,  um  doch  irgendwo  Gehör  zu  finden;  —  das  Volk. 
Und  wer  horcht  lieber  auf  die  Reden  der  Schmeichler,  als  das  Volk? 
Wenn  schon  sehr  viel  moralische  Bildung  dazu  gehört,  damit  ein  König 
sich  taub  zeige  gegen  alle  Schmeichelei,  was  für  eine  Volksbildung  wäre 
nötig,  um  ein  Volk  taub  zu  machen  gegen  die  süfse  Rede  von  seinem 
souveränen  Willen  ?  Wenn  ein  König  spricht :  der  Staat,  das  bin  ich ! 
so  erwacht  irgend  einmal  der  lebhafteste  Widerspruch;  aber  wo  ist  die 
öffentliche  Meinung,  welche  Lust  hätte,  sich  mit  Nachdruck  gegen  den 
gefährlichen  Satz  zu  erheben,  das  Volk  sei  der  wahie  Souverän?  Und 
doch    ist    dieser    Satz  gefährlich;    er   kann    nur   auf  einem   niedern,    blofs 


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juristischen  Standpunkte,  für  das  Gebiet  der  Abstraktion  mit  einigem 
Grunde  verteidigt  werden  ;  aber  man  hat  sich  noch  nicht  der  rollen,  zur 
Praxis  nötigen  Wahrheit  bemächtigt,  so  lange  man  etwa  jenen  Satz  als 
Bollwerk  gegen  die  bekannten  Meinungen  der  Stuarte  aufstellt,  welche  das 
Volk  als  einen  Gegenstand  beti achteten,  der  ihrer  Willkür  untergeben 
sei.  Nirgends  soll  Willkür  sein;  überall  soll  die  Pflicht  herrschen.  Weder 
unten  noch  oben  in  der  Gesellschaft  hört  das  Sollen  auf;  wir  alle,  ohne 
Ausnahme,  sollen  auf  unsern  Posten  stehn,  und  es  ist  durchaus  nicht  er- 
laubt, den  Staat  als  Werk  eines  beliebigen  Kontrakts  zu  beschreiben. 
Rousseau  mag  für  seine  Person  Entschuldigung  finden;  aber  für  seine 
Lehre  giebt  es  keine  halt[233]bare  Verteidigung.  Es  heifst  die  wahre 
Natur  des  Staates  auf  den  Kopf  stellen,  wenn  man  ihn  nach  Art  einer 
Handelsgesellschaft  betrachtet,  die  auf  gröfsten  gemeinsamen  Gewinn  aus- 
geht, und  die  sich  wohl  nach  Belieben  auflösen  könnte,  wenn  andre 
Hoffnung  auf  gröfsern  Vortheil  sich  ihr  eröffnete.  Man  wird  sich,  wenn 
das  eben  Gesagte  Befremden  erregt,  nur  nötig  haben  zu  erinnern,  dafs 
Frankreich  seine  Verirrung  einst  so  weit  trieb,  auch  die  Ehe  für  einen 
blofsen  bürgerlichen  Kontrakt  zu  erklären.  Dagegen  hat  sich  längst  der 
gesunde  Verstand  empört,  und  begriffen,  dafs  Verbindungen,  woran  die 
Natur  den  ordnungsmäfsigen  Zuwachs  des  menschlichen  Geschlechts  ge- 
knüpft hat,  sich  einer  strengen  Überlegung  aller  Pflichten  unterworfen 
finden,  welche  aus  solcher  Naturordnung  entspringen.  Nicht  minder  ver- 
pflichtet ist  jedes  Volk.  Es  soll  seine  Geschichte  fortsetzen.  Es  soll  in 
jedem  Moment  die  nächsthöhere  Stufe  seiner  sittlichen  Veredelung  er- 
streben, wenn  es  kann;  wo  nicht,  wenigstens  die  jetzige  als  feste  Basis 
den  Nachkommen  überliefern.  Hier  ist  nichts  von  Willkür  eines  Kontrakts, 
sondern  der  Verein  des  Volks  in  Sprache,  Kirche,  Gesetz  und  Sitte  ist 
ein  gegebenes  Werk  der  Natur,  und  das  Gebot  der  Pflicht  schreibt  die 
Bewegung  vor,  zu  welcher  man  vereinigt  ist. 

Kennt  das  Volk  die  wahre  und  volltönende  Stimme  der  Pflicht,  dann 
nur,  und  lediglich  unter  dieser  Bedingung,  vermag  es  eine  öffentliche 
Meinung  zu  bilden,  welche  im  stände  ist,  dem  Regenten  Achtung  ein- 
zuflöfsen.  Nicht  Furcht,  wohl  aber  Achtung,  kann  und  darf  dem  Herrscher, 
so  mächtig  er  ist,  Rücksichten  auf  die  Wünsche  des  Volkes  abgewinnen, 
die  noch  über  das  Gesetzliche  und  offenbar  Pflichtmäfsige  hinausgehen. 
Verdient  das  Volk,  dafs  man  es  achte,  versteht  es  ein  wahres,  gerechtes, 
kluges  Urteil  zu  fällen,  verschmähet  es  die  Vorspiegelungen  der  Schmeichler, 
durchschaut  es  die  Künste  der  Lüge,  sucht  es  in  regelmäfsiger  Arbeit  die 
Quelle  seines  Wohlstandes,  weifs  es  zu  schätzen,  was  eine  väterliche 
Regierung  ihm  leistet,  hütet  es  sich,  die  Person  wegen  solcher  Übel  an- 
zuklagen, die  aus  unabwendbaren  Umständen  entspringen,  ist  es  beharrlich 
in  seinem  Vertrauen  für  geprüfte  Männer,  tapfer  in  der  Abwehr  un- 
gerechter Angriffe,  mäfsig  und  behutsam  in  seinem  Streben  nach  Ver- 
besserung: dann  allerdings  hängt  Ehre  und  Schande  an  seinem  Urteil; 
und  mit  der  Ehre  setzen  sich  von  selbst  [234]  die  Handlungen  des 
klugen,  des  vernünftigen,  vollends  des  zartfühlenden  Machthabers  in  Ein- 
stimmung. Aber  auch  der  nur  leidlich  verständige  wird  sich  lenken 
lassen;  abgerechnet   von    unseligen  Ausnahmen,    dergleichen  allerdings  die 


I.    Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.      1831.         11 


Zeitgeschichte  uns  nicht  hätte  aufdringen  sollen.  Freilich  aufserhalb  der 
preufsischen  Grenzen  erblicken  wir  solche  Ausnahmen.  Freilich  wo  das 
Mifstrauen  in  klare,  unwiderlegliche  Überzeugung  sich  verwandelt,  da 
ist's  kein  Wunder,  wenn  auf  künstliche  Formen  gesonnen  wird,  die  ein 
Anker  in  der  Not  sein  sollen.  Wer  den  Schiflbruch  zu  fürchten  hat, 
der  sucht  sich  zu  helfen;  er  mag  froh  sein,  wenn  er  nicht  untergeht  im 
Sturme.  Aber  gesetzt,  sein  nacktes  Leben  sei  gerettet  durch  seine  Vor- 
kehrungen: vermag  er  damit  auch  die  heitere  Sonne  am  Himmel  herauf- 
zuführen?  Das  Mifstrauen  sucht  Bürgschaften;  gesetzt,  es  habe  sie  er- 
langt, so  ist  die  äufserste  Not  freilich  abgewendet;  man  fürchtet  nun 
keinen  Nero,  keinen  Caligula.  Dals  ein  Napoleon  dennoch  zu  fürchten 
wäre,  weil  einem  solchen  alle  Formen  nur  Spielwerk  sind,  mag  ich  kaum 
erwähnen.  Dafs  es  eine  Arglist  giebt,  die  sich  aus  jeder  Form  eine 
Maske  bereitet,  will  ich  nicht  auseinandersetzen.  Nur  die  einfache  Frage 
will  ich  hinstellen:  ist  derjenige  schon  reich,  schon  im  Wohlstande,  der 
nicht  mehr  die  bitterste  Armut  fürchtet? 

Die  Geschichte  führt  nicht  alle  Völker  auf  gleichem  Wege.  Einigen 
hat  sie  wirklich  so  harte  Prüfungen  auferlegt,  dafs  die  öffentliche  Meinung, 
stark  durch  bittere  Wahrheit,  strafend  eingreifen  konnte  in  offenbaren 
Mifsbrauch  der  Macht.  War  diese  bittere  Wahrheit  die  ganze  und  volle 
Wahrheit?  Nachdem  England  die  Stuarte  vertrieben  hatte,  wufste  es 
sich  zu  hüten  vor  dem  Ungeheuer  seiner  Nationalschuld?  Vor  dem 
Druck  einer  stets  wachsenden  Armentaxe?  Wufste  es  der  Bestechung, 
der  Unordnung  bei  Volkswahlen  zu  entgehen?  Erlangten  bei  ihm  die 
Wissenschaften  einen  gleichmäfsigen  Fortgang,  oder  auch  nur  eine  uneigen- 
nützige Achtung?  Verbreitete  sich  wahre  Bildung  unter  dem  niedern 
Volke?  War  man  sicher  vor  dem  Tumult,  welchen  Arbeiter  zu  erregen 
gewohnt  sind,  sobald  ihr  Fleifs  nicht  mehr  den  Unterhalt  des  Lebens 
gewinnt?  Warum  erträgt  London  keine  regelmäfsige  Polizei?  Warum 
hat  es  Diebesschulen  für  die  niedrigen,  warum  Spielhäuser,  Höllen  genannt, 
für  sehr  hohe  Personen?  [235]  Warum  duldet  England  die  Schmach,  dafs 
Irland  bleibt  wie  es  ist?  —  Warum,  bei  so  offenkundigen  Übeln,  die 
uns  unleidlich,  ja  in  solchem  Grade  unmöglich  vorkommen,  —  warum 
greift  der  König  nicht  durch?  Warum  donnern  nicht  die  Kabinettsordren, 
wie  sie  bei  uns  den  königlichen  Unwillen  aussprechen  würden?  —  Den 
Königen  von  England  hat  das  Mifstrauen  die  Hände  gebunden.  Es  über- 
hebt sie  der  Verantwortung  selbst  in  ihrem  Gewissen.  Warum  finden 
die  Ratschläge,  die  Klagen  der  weisesten  Männer  kein  Gehör?  Weil 
die  öffentliche  Meinung  sich  teilt,  und  weil  alte  Gewohnheiten  nicht 
gestört  sein  wollen. 

In  der  That,  in  frühem  Zeiten  wurde  England  durch  harte  Prüfungen 
geführt.  Die  politische  Weisheit,  welche  daraus  entstand,  pafste  zum  Teil 
auf  Frankreich,  und  wurde  dort  benutzt.  Man  versetze  doch  einmal  in 
Gedanken  den  preufsischen  Regentenstamm  nach  England  oder  nach 
Frankreich;  wer  kann  sich  einbilden,  dafs  jene,  uns  fremde,  politische 
Weisheit  die  nämliche  geworden  wäre,  wie  jetzt?  Eine  andere  Geschichte 
hätte  andere  Resultate  gegeben.  Statt  der  Klugheit  des  Mifstrauen s 
besäfse   man    dort    die    reinen  Gefühle   der   Treue,    der    Dankbarkeit,    der 


r  ~>         I.     Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.      1 83 1 . 


Ehrfurcht.  Dann  würden  wir  jetzt  andre  Zeitungen  lesen,  andre  Ein- 
drücke verarbeiten;  und  jene  grofsen,  mächtigen,  von  der  Natur  so  aus- 
gezeichnet begünstigten  Länder  würden  dann  vielleicht  verdienen,  Vor- 
bilder genannt  zu  werden,  denen  man  füglich  und  mit  Ehre  nachahmen 
könne.  Aber  wie  sie  nun  einmal  sind,  quälen  sich  die  dortigen  Nationen 
mit  einer  Kunst  der  Staatsformen,  deren  erste  unglückliche  Voraussetzung 
darin  liegt,  die  Regierung  sei  Partei,  und  man  müsse  stets  bereit  sein, 
Gegenparteien  zu  bilden.  Wäre  die  Regierung  etwa  nicht  Partei,  durch 
solche  Formen,  denen  nur  das  Mifstrauen  Leben  giebt,  müfste  sie  es 
werden,  aber  freilich  auch  dann  noch  würde  sie  klüglich,  so  viel  als 
möglich  den  Schein  vermeiden ! 

Ein    musterhafter    Staat    kann    nirgends     aufblühen,     wo    einmal    die 
Spuren  der  Furcht    vor    den    Mächtigen    sich    der    Verfassung    eingedrückt 
haben.     Die  Länder,  wo  das  geschah,  tragen  die  Narben  früherer  Wunden ; 
man  mag  sie  bedauern;  die    Nationen,    welche    das  veranstalteten,  mögen 
nach  ihrer  Lage  nicht  besser  gekonnt  haben,    aber  sie  sind   nicht  Muster 
zur  Nachahmung.     Glücklich   ist  nur  das  Volk,  bei  welchem  die  Mächtigsten 
in  der  [236]   Mehrzahl  zugleich  die  Besten  sind.     Wovor  soll  ein  solches 
Volk  sich  hüten?  —   Hüten    soll    sich  der   Gesunde   vor   dem  Arzte,  der 
ihm  Präservative    gegen    mögliche    Krankheiten    eingiebt,    das    heifst,    ihn 
krank  macht,    damit  er  nicht    krank  werde.      Sind  wir  nicht  alle  von  un- 
zähligen   Gefahren    umgeben?      Können    wir    nicht    auf    der   Strafse   von 
einem  Dachziegel   erschlagen  werden?     Kann  man  nicht  im  Studierzimmer 
das  Bein  brechen?     Wer  Lust  hat,  der  setze  sein  Leben  aus  lauter  Vor- 
sichtsmafsregeln  zusammen ;  alsdann  ist  ihm  ein  sorgenvolles,  kümmerliches 
Dasein  gewifs.     So  kümmerlich  lebt  eine  Nation,  die,  weit  entfernt  ihrem 
Könige   zu    trauen,    sich   lieber   den    Wechsel    der    Minister   gefallen  läfst, 
weil,  nachdem  man  mit   der   Zunge   und    der    Feder    den    einen   vertrieb, 
leider   die  Notwendigkeit   sich   meldet,    einen    andern   und   wieder   andern 
statt  seiner  eintreten,  das  heifst,    wählen  und  nochmals  wählen  zu  lassen  ; 
eine  Nation,  die  sich  zwar  repräsentieren  läfst,    aber  hintennach  sogar  an 
ihren  eignen  Erwählten,    und    an    den    Wahlformen    mäkelt;    eine  Nation, 
die  zwar  ein  Kriegsheer    besoldet,    aber    hintennach    einer    Nationalgarde 
bedarf,  deren  Oberhaupt  sie  mit  Sorge  betrachtet,  und  es  veranlafst,  lieber 
zurückzutreten;   —  kurz,  eine  Nation,  die  vom  Mifstrauen  ausgehend,  mit 
dem  Mifstrauen  endigt,  ganz  ähnlich  jenen  Königen,  die  zwar  eine  Polizei 
aufstellen,  aber    mit  einer   zweiten    Polizei    dahinter,    um    von    der   ersten 
nicht    betrogen    zu    werden.      Wahrlich,    wenn    einmal    der    Gesunde    an 
mögliche    Krankheit    denken    will,    so    mag    er    überlegen,    dafs    einfache 
Krankheiten,    wenn  auch  heftig,    doch  meistens  heilbar,    die  komplizierten 
aber  die  gefährlichsten  sind. 

Es  ist  eine  bekannte  Sache,  dafs  oftmals  die  Bedächtigsten,  nach 
langer  Überlegung  noch  unschlüssig,  sich  zum  Handeln  durch  einen 
augenblicklichen  Zufall  oder  Einfall  bestimmen  lassen.  So  zeigt  sich  auch 
das  politische  Mifstrauen  blind  gegen  die  dringendste  Gefahr.  In  den 
Ländern  der  Freiheit  giebt  es  herrschende  Städte.  Eine  solche  war  schon 
Athen,  und  vollends  Rom;  eine  solche  ist  offenbar  Paris,  dessen  Be- 
wegungen Frankreich  beherrschen,   eine  solche  ist  teilweise  selbst  London, 


I.    Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches   Vertrauen  im  Staate  etc.      1831.         t? 

wohin  manche  grofse  Städte  des  Reichs,  vollends  die  Kolonialländer,  nicht 
einmal  Deputierte  schicken  dürfen;  so  ist  es  sehr  wahrscheinlich  auch  in 
Nordamerika,  obgleich  dort  der  Föderatismus  eine  gröfsere  Zahl  von 
herrschenden  Städten  aufstellt,  —  und  was  die  Hauptsache  ist,  die  kurze 
Geschichte  [237]  jenes  Landes  uns  von  der  Wirkung  der  Leidenschaften 
und  der  stets  allmählich  zunehmenden  Ungleichheit  noch  keinen  Bericht  er- 
statten konnte.  Ein  System  des  Mifstrauens  aber  sollte  wenigstens  kon- 
sequent sein.  Herrschende  Städte  sind  noch  weit  gefährlicher  als 
herrschende  Personen.  Steht  eine  solche  allein  in  einem  weiten  Kreise, 
so  unterjocht  sie  diesen  Kreis  je  länger  desto  mehr,  anfangs  durch  Ge- 
wöhnung, dann  systematisch  und  durch  Kunst.  Giebt  es  mehrere 
herrschende  Städte,  die  einander  zu  erreichen  vermögen,  so  erhitzen  sie 
sich  gegenseitig  bis  zu  Vertilgungskriegen,  wie  zwischen  Athen  und  Sparta, 
Rom  und  Karthago.  Zwar  die  Schweiz  stellt  uns  ein  entgegengesetztes 
Beispiel  dar;  aber  sie  steht  nicht  allein,  sie  hat  Rücksichten  auf  äufsere 
Gefahr  zu  nehmen;  daher  ein  festerer  Bund,  und  wegen  der  Natur- 
beschaffenheit des  Landes  ein  solcher,  worin  ein  sehr  kräftiges  Landvolk 
den  Städten  das  Gleichgewicht  hält. 

Anderwärts  sind  die  Städte,  verglichen  mit  dem  Lande,  Aristokraten 
im  grofsen,  und  eine  Hauptstadt  ist  gern  ein  Monarch.  Welche  künst- 
liche Formen  will  man  ersinnen,  wenn  hier  das  Vertrauen  fehlt?  Die 
Städte  herrschen  durch  Macht  und  durch  Verführung  zugleich;  denn  ihr 
Wohlleben  lockt  an,  und  ihre  Bequemlichkeiten  sind  für  eine  beratende 
Versammlung  fast  unentbehrlich.  Gegen  grofse  Städte  aber  ist  das  Mifs- 
trauen  gerecht,  denn  ihre  Bevölkerung  weifs  sich  selten  rein  zu  halten 
von  dem  Zusätze  eines  zahlreichen,  unter  Umständen  höchst  gefährlichen 
Pöbels.  Schon  aus  diesem  Grunde  kann  man  so  ganz  volles  Vertrauen 
zu  einer  Stadt,  wie  zu  einem  würdigen  Manne,  niemals  fassen.  Aber 
noch  mehr!  Uneigennütziges  Wohlwollen  ist  in  persönlichen  Charakteren 
nichts  Seltenes,  hingegen  in  dem  Charakter  einer  Korporation,  oder  mifs- 
bräuchlich  sogenannten  moralischen  Person,  fast  unmöglich.  Denn  dieser 
Charakter  entwickelt  sich  in  gemeinsamen  Beratungen,  worin  zwar  jeder 
Einzelne  dem  Ganzen  seinen  Privatvorteil  unterordnen  soll,  aber  gerade 
nachdem  dies  geschehen,  der  Vorteil  des  Ganzen  zum  Gegenstande  des 
allgemeinen  Willens  erhoben  wird,  so  dafs  dieser,  aus  lauter  uneigen- 
nützigen Individuen  entsprungene,  Gemeinwille  dennoch  ein  vollkommen 
eigennütziger  Wille  des  Ganzen  sein  wird.  Jede  Stadt  nun  ist  ein  solches 
Ganzes;  ihr  Gemeinwille  ist  eigennützig  gegen  das  Land  und  gegen  andre 
Städte,  oder  wenigstens  würde  eine  bes[2  38]sere,  eine  edlere  Gesinnung 
hier  sehr  viel  schwerer  zu  erreichen,  sehr  viel  weniger  zu  vermuten  sein, 
als  da,  wo  zwischen  Person  und  Person,  zwischen  Mensch  und  Mensch 
ein  Verhältnifs  der  Gesinnung  in  Frage  kommt.  Dies  ist  offenbar  eine 
von  den  Ursachen,  weshalb  das  Bedürfnis  monarchischer  Formen  sich 
oftmals  mitten  im  Streben  des  Republikanismus  so  dringend  meldet,  und 
so  entschieden  gelten  macht.  Soll  aus  vielen  Städten,  Flecken,  Dörfern, 
ein  Staat  werden,  und  hat  noch  keine  Hauptstadt  sich  zu  entschiedener 
Oberherrschaft  erhoben :  so  mufs  am  Ende  der  Korporationsgeist  sich 
bequemen,  einer  wahren,  lebenden  Person  das  allgemeine  Heil  wenigstens 


1^.         I.     Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.     183 1. 

teilweise  anzuvertrauen,  weil  aus  den  vielen  eigennützigen  Gemeinwillen 
sich  wohl  ein  Kontrakt,  aber  keine  Obhut  über  den  Kontrakt  zusammen- 
setzen läfst.  Das  ist  die  bekannte  Schwäche  des  Föderatismus,  der  nur 
insofern  etwas  leistet,  als  entweder  Gefahr  von  aufsen  droht,  oder  die 
minder  mächtigen  Glieder  des  Bundes  sich  in  einem  hohen  Grade  das 
Mifsfallen  des  Ganzen  zuziehen. 

Ganz  Europa  würde  durch  die  zahllosen  Verträge  seiner  einzelnen 
Staaten  längst  ein  Föderativstaat  im  grofsen  geworden  sein,  wenn  nicht 
die  offen  erklärte  Maxime,  jeder  sorge  nur  für  sein  eigenes  Interesse,  alle 
engere  Verbindung  unmöglich  gemacht  hätte.  Hier  liegt  die  Wirkung 
des  Eigennutzes,  die  Unmöglichkeit  des  Vertrauens,  und  darum  auch  die 
Unmöglichkeit,  durch  künstliche  Formen  eine  wahre  Totalität  hervorzu- 
bringen, unverhüllt  vor  Augen.  Nun  schliefse  man  vom  Grofsen  aufs 
Kleinere  und  endlich  aufs  Kleinste.  Der  Föderatismus  in  einzelnen 
Ländern  ist  schwach  aus  demselben  Grunde;  wenn  er  jedoch  hie  und  da 
wenigstens  etwas  schafft,  und  etwas  Mehr  als  Hilfe  in  dringender  ge- 
meinsamer Gefahr:  dann  verdankt  er  dieses  Mehr  dem  einzigen  Umstände, 
dafs  ein  Band  der  Zuneigung  und  folglich  des  Zutrauens  durch  Gemein- 
schaft der  Sprache,  der  Sitten,  der  Bildung  vorhanden  ist,  vermöge  dessen 
der  Deutsche  mit  dem  Deutschen,  der  Schweizer  mit  dem  Schweizer,  noch 
jenseits  der  Privatvorteile  sich  verbrüdert  fühlt.  Der  Kontrakt  aber,  den 
sie  einst  geschlossen  haben,  ist  grofsentheils  ein  Register  von  Streit- 
punkten, die  man  niederschrieb,  weil  man  es  schwer  fand,  sich  zu  ver- 
einigen, und  über  die  man  wegen  der  Auslegung  stets  von  neuem  Ge- 
fahr läuft  sich  zu  entzweien  und  zu  erzürnen.  Wird  nun  endlich  dieser 
Be[2  3Q]griff  des  Kontrakts  auf  den  Staat  selbst  übertragen,  als  wären  in 
ihm  die  einzelnen  Bürger  nicht  vermöge  der  Notwendigkeit,  nicht  ver- 
möge ererbter  Gesetze  und  Verhältnisse,  nicht  vermöge  der  gemeinsamen 
Pflicht,  eine  frühere  geschichtliche  Reihe  von  Entwicklungen  fortzusetzen, 
sondern  in  Folge  einer  vereinigten  Willkür  verbunden:  so  findet  jeder 
seinen  Anteil  an  diesem  Kontrakte  zu  klein,  jeder  überlegt  nur  seine 
Vorteile,  man  lebt  in  der  Zukunft,  welche  vermeintlich  bevorsteht  und 
niemals  kommt;  die  Summe  der  geträumten  möglichen  Vorteile  über- 
steigt bei  weitem  die  Summe  der  wirklich  erreichbaren;  unterdessen  ziehen 
einzelne  kluge  und  glückliche  Spekulanten  den  baren  Gewinn  an  Reich- 
tum und  Macht;  die  Ungleichheit  wächst,  indem  sie  sich  verändert  und 
verlarvt,  die  Menschen  passen  weniger  zu  den  Formen  als  zuvor,  sie 
schaffen  neue  und  wieder  neue  Formen,  bis  sie  den  Formen  wie  den 
Menschen  mifstrauen;  dann  tragen  sie  den  Druck  der  Notwendigkeit, 
die  härter  geworden  ist  als  zuvor.  So  lernte  Rom  Geduld  unter  den 
Imperatoren,  so  lernte  Frankreich  Geduld  unter  Napoleon,  und  würde 
ihn  wahrscheinlich  noch  heute  dulden,  wenn  nicht  glücklicherweise  sein 
Streben   nach  europäischer  Herrschaft  ihn  gestürzt  hätte. 

Wohl  wissend,  dafs  man  niemals  den  Begriff  des  bürgerlichen  Kon- 
trakts ganz  aus  den  Abstraktionen  der  Staatslehre  wird  entfernen  können, 
glaube  ich  dennoch  durch  das  zuvor  Entwickelte  genugsam  daran  erinnert 
zu  haben,  dafs  diese  Abstraktion,  bis  zu  ivelchen  künstlichen  Formen  sie 
immer  möchte  ausgesponnen  werden,  nicht  diejenige    volle  Wahrheit  ent- 


I.    Über  die  Unmöglichkeit,  persönliches  Vertrauen  im  Staate  etc.      1831.         1^ 


hält,  welche  das  eigentliche  Fundament  der  allgemeinen  Wohlfahrt  be- 
zeichnet. Wir  haben  eine  ganz  andre  Wahrheit;  das  allgemeine  Ver- 
trauen zu  unserm  Könige,  in  welchem  wir  eine  Gabe  des  Himmels  ver- 
ehren müssen.  Wir  haben  Ursache  den  Einflufs  solcher  Lehren  fern  zu 
halten,  die,  wenn  auch  nicht  ganz  falsch,  doch  zu  einseitig  sind,  um  uns 
eine  Verbesserung  darbieten  zu  können.  Als  den  Schulmännern  Lancaster's 
Methode  des  wechselseitigen  Unterrichts  angepriesen  wurde,  da  fand  sich 
bei  unbefangener  Prüfung,  dafs  sie  in  Ländern,  wo  der  öffentliche  Unter- 
richt vernachlässigt  ist,  heilsam  sein  möge,  aber  in  unsem  Elementar- 
schulen nicht  die  schon  vorhandene  weit  bessere  Lehrart  verdrängen  dürfe. 
Dies  kleine  Beispiel  kann,  auch  im  grofsen  benutzt,  uns  warnen,  nicht 
dem  Glänze  des  Frem[2  4o]den  nachgehend  das  Einheimische  unter  seinem 
Werte  zu  schätzen.  Das  Einheimische!  Es  kostet  mich  Überwindung, 
mich  in  diesem  Augenblicke  jeder  Lobrede  zu  enthalten.  Aber  das  zuvor 
Gesagte  verträgt  keinen  solchen  Schlufs,  der  einen  falschen  Schein  darauf 
werfen  könnte.  Das  einzige  einfache  Wort  mufs  genügen:  Gott  erhalte 
den  König! 


II. 

KURZE 

ENCYKLOPAEDIE  der  PHILOSOPHIE. 

1831. 

[Text  der  I.  Ausgabe,  Halle,  C.  A.  Schwetschke,   183 i.] 


Bereits  gedruckt  in: 

I.  Ausg.  =  Erste  Ausgabe,  Halle,  C.  A.  Schwetschke  183  i,  X  u.  410.  S.  8°. 
II.  Ausg.  =  Zweyte,  vermehrte  und  verbesserte  Ausgabe,  Halle,  C.  A.  Schwetschke  1841, 
VI  u.  405  S.  8  0. 
SW  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche  Werke  (Bd.  II),  herausgegeben  von  G.  Harten- 
stein. 

Herbart's  Werke.     IX.  2 


Vollständiger  Titel  der  Originalausgaben : 
a)  der  I.  Ausg. 

*Kur5c 

aus 

praftifd]cn  (5eftd}tspuncten 

entoorfett 

uon 

f}cr  bar  t. 

il  a  i  I  e , 

<Z.  21.  Sd]tr>etfd}Fc  unb  Sotjit. 

183  {. 


b)  der  II.  Ausg. 

<£ncyHof>äMc  $cr  pbüofopbtc 

aus 

prafttfd]en  (Seficfytspuncten 

entworfen 

oon 

fj  c  r  b  a  r  t. 


gtucyte,  üermefyrte  uttb  ücrbcffcrtc  Auflage. 


£.  21.  Scr/rnctfrfjfe  unb  Soljn. 


Vorrede 

[zur  I.  Ausgabe   183 1]. 


Encyklopädische  Darstellung  der  Philosophie  ist  ein  sehr  allgemeines 
Bedürfnifs;  zwar  nicht  für  Jünglinge,  denen  Vorlesungen  zur  Einleitung 
in  die  Wissenschaft  1  offen  stehn,  aber  desto  mehr  für  Männer,  die  nicht 
von  vorn  an  ihre  Schule  machen,  jedoch  auch  die  Philosophie  nicht  aus  den 
Augen  verlieren  wollen.  Ob  indessen  eine  streng  geformte  Encyklopädie, 
vollends  wenn  sie  nur  abgekürzten  Vortrag  des  Systems  enthält,  dem  Be- 
dürfnisse hinreichend  entgegenkomme?  mag  bezweifelt  werden.  Ueber 
künstliche  Formen  läfst  sich  viel  streiten;  sie  gelten  den  praktisch  ge- 
bildeten Männern  für  Systemfesseln;  und  den  Gegenständen  selbst  wird 
dadurch  ein  Theil  der  Aufmerksamkeit  entzogen.  Man  wird  sich  also 
nicht  sehr  wundern,  wenn  hier  eine  Encyklopädie  erscheint,  die  von  der 
Sache  ausgeht,  zur  Form  nur  allmählig  fortschreitet,  auf  frühere  syste- 
matische Schriften  sich  stützt,  und  soviel  möglich  dem  praktischen  Interesse 
zu  entsprechen  beabsichtigt. 

[iv]  Um  jedoch  dem  Plane  dieses  Buches  mehr  Licht  zu  geben, 
mufs  angezeigt  werden,  dafs  mancherley  Aufforderungen  vorausgingen,  die 
sich  im  Wesentlichen  auf  zwey  Richtungen  zurückführen  lassen.  Theils 
nämlich  verlangte  man  einen  populären  Vortrag;  theils  erleichterte  Ueber- 
sicht  der  Art,  wie  die  ethischen,  metaphysischen,  naturphilosophischen, 
psychologischen  Untersuchungen  ineinander  greifen.  Jenes  Begehren  konnte 
zur  Erweiterung  früherer  Darstellungen  veranlassen;  dieses  im  Gegentheil 
schien  engeres  Zusammenziehen  nöthig  zu  machen. 

Beides  auf  einmal  zu  leisten  ist  innerhalb  gewisser  Grenzen  wohl 
möglich,  wenn  man  bedenkt,  dafs  jede  philosophische  Schrift  für  den  Leser 
das  wird,  was  er  sich  daraus  macht. 

Denjenigen,  welche  Uebersicht  verlangen,  liegen  ohne  Zweifel  die 
häufig  citirten  frühern  Werke  vor  Augen.  Sie  werden  also  nachschlagen. 
Ihnen  genügen  Winke;  und  es  mag  ihnen  nicht  beschwerlich  seyn,  die- 
selben noch  mehr  in  den  spätem,  als  in  den  vordem  Capiteln  aufzusuchen. 

Andere,  für  welche  der  Vortrag  populär  seyn  soll,  lieben  darum 
gleichwohl  nicht  die  Weitläuftigkeit;  sie  lassen  sich  Abkürzungen  bey  solchen 
Gegenständen  gefallen,  die  mehr  Schwierigkeit  als  allgemeines  Interesse 
haben.  So  durfte  manches  beynahe  ganz  wegbleiben,  was  am  gehörigen 
Orte  schon  früher  seine  völlig  hinreichende  Ausführung  erhalten  hatte. 

[v]    Elementar- Unterricht   ist   hier   nicht   zu   suchen.*     Die  gewöhn- 


5  Wissenschaften  1I.  Ausg.,a  die  im  Uebrigen  den  ersten  Abschnitt  der  Vor- 
rede d.  I.  Ausgabe  wörtlich  abdruckt  (vergl.  S.   21 —  22  vorl.  Ausg.). 

*  Ungeachtet  des  Kunstworts :  Elementarlehre,  dessen  auch  Kant  in  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  sich  zur  Ueberschrift  bediente. 


a  SW.  haben  die  Abweichung  nicht  vermerkt. 


2Q  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


liehen  Kenntnisse  des  Gelehrten  jeden  Faches,  der  mit  der  Zeit  fortschreitet 
auch  nach  der  Philosophie  sich  zuweilen  umsieht,  —  werden  hier  voraus- 
gesetzt.    Auch  die  folgenden  vier  Hauptsätze: 

die  Grundbegriffe  der  praktischen  Philosophie  sind  ästhetisch; 

die  Grundbegriffe  der  Metaphysik  sind  widersprechend; 

die  Grundbegriffe  der  Psychologie  sind  mathematisch; 

zur  Begründung  der  Naturphilosophie  gehört  Synechologie, 
sollen  wenigstens  historisch  bekannt,  und  das  Befremden,  welches  sie  wohl 
pflegen  den  Kantianern  und  den  modernen  Spinozisten  beym  ersten  Hören 
zu  verursachen,  soll  vorüber  seyn. 

Zu  dem  ersten  dieser  Sätze,  der  zahllose  Anhänger  hat,  wenn  gleich 
sie  ihn  nicht  auszusprechen  verstehen,  wird  man  den  Beweis,  und  mancher- 
ley  Erläuterung  im  Buche  finden.  Er  deutet  auf  das  wohlbekannte 
honest  um  et  turpe,  dessen  stoische  Entwicklung  zwar  beym  Cicero  wie 
ein  gerollter  Kiesel  erscheint,  doch  für  geübte  Augen  fast  so  kenntlich, 
wie  die  wahre  Logik  beym  Aristoteles.  Für  den  [vi]  zweyten  Satz  mag 
einstweilen  Hegel  als  Gewährsmann  gelten.  Zwar,  wem  die  Widersprüche 
unter  den  Füfsen  brennen,  der  sollte  sich  aufmachen,  und  herausschreiten. 
Hegel  besitzt  eine,  nicht  eben  beneidenswerthe,  Uebung  sie  zu  ertragen: 
doch  hat  er  sie  erblickt,  anerkannt,  laut  ausgesprochen,  mit  allem  Nach- 
druck darauf  hingewiesen;  ein  Verdienst,  das  weit  höher  anzuschlagen  ist, 
als  seine  Gegner  ihm  einzuräumen  pflegen.  Was  den  dritten  Satz  an- 
langt, so  findet  man  in  diesem  Buche  Psychologie  fast  überall,  aber  ohne 
Mathematik.  Die  Früchte  sind  abgepflückt.  Das  Aehnliche  gilt  von  dem 
vierten  Satze  in  Ansehung  der  kurzen  Capitel  vom  Leben  und  von  der 
Materie.  Synechologie  ist  zu  schwer  für  den  encyklopädischen  Vortrag. 
In  Vorreden  pflegt  von  Recensionen  die  Rede  zu  seyn.  Durch 
solche  haben  neuerlich  einige  treffliche  Männer  sich  im  hohen  Grade  um 
den  Verfasser  verdient  gemacht.  Diejenigen  unter  ihnen,  welche  Philo- 
sophie öffentlich  lehren,  werden  sich  vermuthlich  noch  weiter  äufsern; 
daher  Alles,  was  vorgreifend  scheinen  könnte,  hier  vermieden  wird.  Von 
Andern  wird  wenigstens  Herr  Professor  Drobisch  erlauben,  hier  genannt 
zu  werden,  da  die  Feder,  welche  die  Recension  der  Metaphysik  im  August- 
hefte der  Jenaischen  Literaturzeitung  von  1830  schreiben  konnte,  Allen 
denen  kenntlich  seyn  wird,  welche  die  Stücke  der  Leipziger  Literatur- 
zeitung vom  ioten  und  1 1  ten  November  1828  nicht  übersehen  haben. 
Wer  nun  jene  Metaphysik  lesen  will,  der  beraube  sich  nicht  der  Ueber- 
sicht,  welche  ihm  für  einen  grof[vn]sen,  und  vielleicht  für  den  schwersten 
Theil  des  Buches,  in  lichtvoller  Kürze,  ausgestattet  mit  belehrenden  Be- 
merkungen, durch  die  angeführte  Recension  dargeboten  wird.  Wer  aber 
die  Metaphysik  von  Seiten  ihrer  Verständlichkeit  möchte  angreifen  wollen, 
dem  würde  sich  die  nämliche  Recension  in  eine  warnende  Thatsache  ver- 
wandeln; gerade  so,  wie  es  früher  in  Ansehung  der  mathematisch-psycho- 
logischen Untersuchungen  der  Fall  war.  Denn  von  der  Psychologie  aus- 
gehend hat  sich  die  gütige  Aufmerksamkeit  des  Herrn  Professor  Drobisch 
ausgedehnt  bis  auf  die  Metaphysik;  so,  dafs  schon  der  blofse  Aufwand 
der  Zeit,  welche  bekanntlich  die  Mathematiker  gar  sehr  zu  schätzen  wissen, 
ein  Geschenk  ist,  welches  dem  Lehrer  eines  fremden  Faches  nicht  genug- 


Vorrede.     Vorwort.  2 1 


sam  kann  verdankt  werden.  Sollte  indessen  Jemand  Lust  haben,  aus  der 
Mücke  den  Elephanten  zu  machen;  so  fände  ein  solcher  vielleicht  Stoff 
dazu  in  einigen  kleinen  Differenzen;  über  welche  beispielsweise  (jedoch 
nicht,  um  mit  dem  Mathematiker  über  Darstellung  mathematischer  Gegen- 
stände zu  streiten,)  hier  ein  Wort  mufs  beygefügt  werden.  Nach  richtiger 
Darstellung  der  Methode  der  Beziehungen  findet  Hr.  D.  ganz  am  Ende 
noch  eine  unklare  Stelle.  Natürlich  müfste  man  erwarten,  dals  nun  bald 
umgekehrt,  wo  es  zur  Anwendung  der  Methode  auf  das  Problem  der 
Inhärenz  horarat,  der  Verfasser  einen  unklaren  Bericht  finden  würde.  Das 
Mifsverständnifs  müfste  wachsen  bey  der  darauf  gebauten  Untersuchung 
der  Hauptsache,  nämlich  des  Unterschiedes  zwischen  wirklichem  und 
scheinbarem  Geschehen.  Vollends  aber  bey  der  hievon  abhängenden 
Lehre  von  der  [viii]  Materie  würde  durch  Anhäufung  der  Fehler  die 
Finsternifs  so  arg  werden,  dafs  in  dieser  Gegend  die  Recension  nun 
endlich  wohl  so  aussehn  könnte,  wie  manche  frühere  Recensionen  der 
Psychologie  (um  nicht  noch  weiter  zurückzugehen)  wirklich  aussahen. 
Nichts  von  dem  Allen!  Der  Bericht  bleibt  treu;  der  Faden  vestgehalten ; 
die  Auswahl  treffend;  die  Präcision  so  ausgezeichnet,  dafs  man  fragen 
möchte,  ob  jemals  ein  metaphysisches  Buch  zuvor  das  Glück  gehabt  habe, 
von  seinem  Beurtheiler  so  dargestellt  zu  werden?  Aber  das  Urtheil  — 
überläfst  Herr  Professor  Drobisch  den  Männern  vom  Fache.  Er  will 
nicht  eine  Lehre  darum,  weil  er  sie  verstanden  hat,  auch  schon  für  wahr 
halten.  Nur  um  dieselbe  zu  weiterer  Prüfung  zu  empfehlen,  hat  er  so 
sorgfältig  darüber  Bericht  erstattet.  Dafs  durch  solche  Behutsamkeit  das 
Gewicht  der  Recension  nur  konnte  vermehrt  werden,  wird  unmittelbar  ein- 
leuchten. Möge  die  allgemeine  Anerkennung  so  schöne  Bemühungen 
lohnen !  Dieser  Wunsch  darf  hier  ausgesprochen  werden ;  denn  der  Scharf- 
sinn des  trefflichen  Mannes  gehört  rücksichtslos  der  Wissenschaft,  und 
wenn  sein  Beyspiel  auf  andre  Mathematiker  wirkt,  so  hat  die  Metaphysik 
viel  Licht,  aber  keine  Partheygunst  zu  erwarten. 


Vorwort 

[zur  IL  Ausgabe    1841]. 


Encyklopädische  Darstellung  der  Philosophie  ist  ein  sehr  allgemeines 
Bedürfnifs;  zwar  nicht  für  Jünglinge,  denen  Vorlesungen  zur  Einleitung  in 
die  Wissenschaften i  offen  stehn,  aber  desto  mehr  für  Männer,  die  nicht 
von  vorn  an  ihre  Schule  machen,  jedoch  auch  die  Philosophie  nicht  aus 
den  Augen  verlieren  wollen.  Ob  indessen  eine  streng  geformte  Ency- 
klopädie,  vollends  wenn  sie  nur  abgekürzten  Vortrag  des  Systems  enthält, 
dem    Bedürfnisse    hinreichend    entgegenkomme?    mag    bezweifelt    werden. 

1    Vergl.  S.   19,  Anmerk.    1. 


2  2  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

Ueber  künstliche  Formen  läfst  sich  viel  streiten;  sie  gelten  den  praktisch 
gebildeten  Männern  für  Systemfesseln;  und  den  Gegenständen  selbst  wird 
dadurch  ein  Theil  der  Aufmerksamkeit  entzogen.  Man  wird  sich  also 
nicht  sehr  wundern,  wenn  hier  eine  Encyklopädie  erscheint,  die  von  der 
Sache  ausgeht,  zur  Form  nur  allmählig  fortschreitet,  auf  frühere  systematische 
Schriften  sich  stützt,  und  so  viel  möglich  dem  praktischen  Interesse  zu  ent- 
sprechen beabsichtigt. 

Soviel  aus  der  Vorrede  zur  ersten  Ausgabe.  Mancherley  neue  Zu- 
sätze sind  jetzt  hinzugekommen,  die  jedoch  nicht  bestimmt  seyn  konnten, 
den  leichten,  fast  populären  Vortrag  schwerfällig  zu  machen.  Die  Grundlage 
bilden  immer  die  angeführten  Schriften;  auf  diese  zu  verweisen,  war  schon 
in  der  frühern  Ausgabe  unvermeidlich,  und  ist  durch  die  jetzige  Er-[iv] 
Weiterung  noch  nöthiger  geworden.  Zunächst  soll,  nach  der  Absicht  des 
Verfassers,  mit  dieser  Encyklopädie  das  (in  der  vierten  Ausgabe  gleich- 
falls erweiterte)  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie  verbunden 
werden.  Denjenigen  aber,  die  sich  mit  dem  System  beschäfftigen  wollen, 
sey  (um  nur  das  Neueste  zu  nennen)  die  Vergleichung  zweyer  vor  Kurzem 
erschienener  Bücher  empfohlen,  die  beide  den  Titel  Religionsphilosophie  tragen; 
eins  von  Drobisch,  das  andre  von  Taute.  Vom  letztgenannten  ist  zwar 
bis  jetzt  nur  der  erste  Theil  herausgekommen;  aber  dieser  bildet,  schon 
für  sich  allein,  ein  ausführliches  historisch -kritisch  es,  —  sehr  ernstes, 
strenges,  inhaltschweres  Werk;  worin  man  vieles  finden  wird,  was  dem 
ersten  Bande  der  Metaphysik  zur  Vervollständigung  dienen  kann. 


Inhalt. 


Erster  Abschnitt.     Elementarlehre. 

Erstes  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  der  Philosophie. 

Zweytes.     Vom  Menschen    in  seiner  Gebundenheit  an  Natur,    Staat  und  Kirche. 

Drittes.     Von  den  Begriffen  der  Güter,  Tugenden  und  Pflichten. 

Viertes.     Vom  Bedürfnisse  der  Religion. 

Fünftes.     Vom  Unterschiede  des  moralischen  und  ästhetischen  Urtheils. 

Sechstes.    Vom  Unterschiede  der  ästhetischen  und  theoretischen  Ansicht  der  Dinge. 

Siebentes.     Von  der  Kunst  und  dem  Künstler. 

Achtes.     Von  der  nützlichen  Kunst. 

Neuntes.     Von  der  schönen  Kunst. 

Zehntes.     Von  der  gelehrten  Kunst. 

Eilftes.     Von  der  Staatskunst. 

Zwölftes.     Von  der  Erziehungskunst. 

Dreyzehntes.     Von  der  geistigen  Regsamkeit. 

Vierzehntes.     Vom  Leben 

Fünfzehntes.     Von  der  Materie. 

1  Sechzehntes.     Von  der  Seele  und  vom  Ich. 
Zweyter  Abschnitt.  Methodcnlehre. 

Erstes.     Von  der  Logik. 
Zweytes.     Von  der  Vernunftkritik. 
Drittes.     Von  der  Fundamentalphilosophie. 
Viertes.     Vom  System   der  Philosophie  im  Allgemeinen. 
Fünftes.     Von  der  allgemeinen  Metaphysik. 

Sechstes.    Vom  Verhältnisse  der  Metaphysik  zu  andern  philosophischen  Wissen- 
schaften. 
Siebentes.     Von  der  Psychologie. 
Achtes.     Von  der  praktischen  Philosophie. 

2  Neuntes.     Rückblicke,    und  Bemerkungen  über  die  Form  der  Philosophie. 


1  II.  Ausg.:  Sechzehntes.     Von  den  Imponderabilien. 

Siebzehntes.     Von  der  geistigen  Ausbildung. 
Achtzehntes.     Von  der  Seele  und  vom  Ich. 

2  II.  Ausg.:  Neuntes.    Vom  Verhältnisse  der  allgemeinen  praktischen  Philosophie 

zu  andern  philosphischen  Wissenschaften. 
Zehntes.       Rückblicke,     und    Bemerkungen    über    die    Form    der 
Philosophie. 


Erster  Abschnitt. 

Elementarlehre. 


Erstes  Capitel. 

Vom  praktischen  Bedürfnisse  der  Philosophie. 

i.  Wie  den  Naturforscher  jede  Erweiterung  seines  Wissens  durch 's 
Erfahren  und  Beobachten  erfreut:  so  giebt  es  auch  für  den  Denker  ein 
Interesse  an  der  blofsen  Zusammenordnung  und  vollendeten  Bestimmung 
seiner  Begriffe.  •  Aus  diesem  Interesse  quillt  das  speculative  Bedürfnifs 
der  Philosophie.  Aber  oftmals  ereignet  sich's,  dafs  die  Befriedigung  eines 
Bedürfnisses  um  etwas  abweicht  von  den  Erwartungen,  mit  denen  es 
Anfangs  verbunden  war.  Das  speculative  Bedürfnifs  des  Denkers  ver- 
anlafst  gewöhnlich  die  Meinung,  aus  der  Zusammenordnung  aller  Haupt- 
begriffe werde  ein  ungetheiltes  Ganzes  hervorgehn;  dieses  Ganze  wird 
unter  dem  Namen  Philosophie  gesucht.  Hingegen  findet  man  nach  ge- 
höriger Arbeit  anstatt  des  gesuchten  Ganzen  drey  völlig  verschiedene 
Wissenschaften.  Nur  eine  derselben,  die  Metaphysik,  welche,  das  Wort 
im  weitesten  Sinne  genommen,  die  Betrachtung  über  uns  selbst,  über  die 
Aufsenwelt,  und  über  das  höchste  Wesen  in  sich  fafst,  gewährt,  theilweise 
wenigstens,  ein  Wissen.  Es  sondert  sich  aber  von  ihr,  unter  dem  Namen 
der  Logik,  eine  Reihe  von  Bestimmungen  über  Begriffe  als  solche,  über  deren 
Verhältnifs  und  Verknüpfung,  ohne  Rücksicht  auf  die  Frage,  welche 
Gültigkeit  die  Begriffe  haben  mögen.  Es  sondern  sich  ferner  mancherley 
Klassen  von  solchen  Bestimmungen,  die  blofs  einen  Werth  oder  Unwerth 
anzeigen,  ohne  Rücksicht  auf  zufällige  Neigung  und  Liebhaberey;  die 
wichtigsten  dieser  Werthbestimmungen  beziehen  sich  auf  das  Wollen  und 
Handeln;  das  System  derselben  heifst  Ethik  [2]  oder  praktische  Philosophie, 
und  begreift J  das  Naturrecht  sowohl  als  die  Politik  in  sich.  Will  man 
aber  alle  Werthbestimmungen,  ohne  Rücksicht  auf  den  Unterschied  der 
Klassen  und  Gegenstände,  zusammenfassen,  so  findet  sich  für  die  hieraus 
entspringende  Gesammtheit  kein  andrer  Name,  als  der,  der  Aestheiik, 
welcher     im    wissenschaftlichen    Sinne    auch     die    praktische    Philosophie 


1  und    begreift,    wenn    man    seine    Anwendungen    hinzunimmt,     das 
Naturrecht  ...  II.  Ausg.* 

a  SW.  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  in  der  I.  Ausg. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre,      i.  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.         2$ 


angehört.  Schon  die  Alten,  indem  sie  Logik,  Physik  und  Ethik  unter- 
schieden, hatten  die  drey  Theile  der  Philosophie  gefunden;  und  die 
Sonderung  mufs  bleiben,  weil  sonst  die  verschiedenen  Methoden  der  Unter- 
suchung sich  vermischen  und  verwirren. 

2.  In  so  fern  man  aber  die  Untersuchung  als  schon  geschehen 
voraussetzt,  ist  die  Sonderung,  wodurch  die  genannten  drey  Wissenschaften 
die  Form  von  drey  getrennten  Lehrgebäuden  annehmen,  nicht  weiter 
nöthig.  Für  jeden  willkürlichen  Zweck  pflegt  man  die  verschiedensten 
Mittel  und  Werkzeuge  an  Einen  Ort  zusammenzubringen ;  dasselbe  können 
auch  die  verschiedenen  Lehren  der  Philosophie,  sobald  jede  an  ihrem 
Orte  fertig  geworden  ist,  sich  gefallen  lassen;  wobei  sich  jedoch  die  Be- 
dingung von  selbst  versteht,  dafs,  wenn  man  irgend  eine  dieser  Lehren 
einer  neuen  Prüfung  unterwerfen  will,  sie  zuvor  an  ihren  rechten,  wissen- 
schaftlichen Ort  zurückgetragen,  und  dort  im  gehörigen  Zusammenhange 
untersucht  werden  mufs. 

3.  Nicht  blofs  können  verschiedene  philosophische  Lehren  in  eine 
Verbindung  gebracht  werden,  die  von  ihrer  systematischen  Stellung  ab- 
weicht: sondern  es  giebt  Motive,  um  derentwillen  dieses  geschehen  soll; 
und  die  praktische  Philosophie  selbst  zeigt  die  Motive  bestimmt  an,  indem 
sich  an  mehrern  Stellen  im  Laufe  ihrer  Untersuchungen  ein  praktisches 
Bedürfnifs  der  gesammten  Philosophie  zu  erkennen  giebt,  welches  durch 
blofs  systematische  Kenntnifs  derselben  nicht  würde  befriedigt  werden. 

4.  Zuvörderst  findet  sich  in  der  Ethik  die  Idee  eines  allgemeinen 
Cultnrsystems,  zu  welchem  alle  Arten  von  Kraft[3]äufserung  gesellig  ver- 
einigt seyn  sollen.*  „Wie  ein  einziges,  durchaus  vielseitig  ausgebildetes 
Vernunftwesen  sich  in  diesen  oder  jenen  Gegenstand  vertiefen,  wie  es 
aber  auch  aus  einer  und  der  andern  Vertiefung  zurückkommend  sich  be- 
sinnen, und  seine  mannigfaltigen  Begriffe,  auf  welche  Weise  sie  es  nur 
immer  gestatten,  von  einander  durchdringen  lassen  würde :  so  sollen  auch 
die  Mehrern  einander  geistig  durchdringen  können,  ohne  durch  die  Ge- 
schiedenheit der  Individualitäten  daran  gehindert  zu  werden.  Es  mufs 
also  Jeder  den  Gedankenkreis  jedes  Andern  in  sich  aufzunehmen,  und  in 
denselben  hinüberzutreten  fähig  seyn.'-  Man  erkennt  auf  den  ersten 
Blick,  dafs  Gemeinschaft  der  Sprache  die  erste  Bedingung  eines  solchen 
Cultursystems  ist;  daher  auch  für  die  sogenannte  Gelehrten-Republik, 
welche  bey  uns  die  kenntlichsten  Spuren  des  Cultursystems  in  der 
Wirklichkeit  darbietet,  die  Sprachstudien  als  Grundlage  aller  Gelehrsam- 
keit betrachtet  werden,  indem  ohne  sie  keine  Verbindung  derer,  welche 
durch  Ort  und  Zeit  getrennt  sind,  möglich  wäre.  Allein  gerade  aus  dem 
nämlichen  Grunde  mufs  die  Philosophie  noch  zu  den  Sprachen  hinzu- 
kommen. Denn  in  ihr  werden  die  Hauptbegriffe  aller  Wissenschaften  und 
die  Mittelpuncte  aller  Meinungskreise  zur  Untersuchung  gezogen;  daher 
auch  die  Sprachen  selbst  grofsentheils  durch  Philosophen  sind  ausgebildet 
worden.  Die  Worte  sind  nichts  anderes  als  Zeichen  von  Gedanken; 
die  Gemeinschaft  der  Gedanken,  und  die  Leichtigkeit  in  der  Mittheilung 
derselben,  ist  es,  welche  eigentlich    gesucht   wird.     Wie  nun  bis  jetzt   die 


*  Praktische  Philosophie,  im  elften  Capitel  des  ersten  Buchs.  [Bd.  II 3.  40 1  ff.  vorl.  Ausg.] 


26  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

unerwünschte  Mehrheit  der  Sprachen  zwar  ein  Uebel  ist,  dennoch  aber 
keineswegs  das  Sprachstudium  aufgegeben,  sondern  vielmehr  erweitert  wird: 
so  ist  auch  die  Mehrheit  und  der  Streit  der  philosophischen  Systeme 
zwar  ein  grofses  Ungemach 1 ;  aber  eben  diese  Systeme  bezeichnen  die  Haupt- 
puncte,  um  welche  auch  der  Streit  der  Meinungen  in  der  menschlichen 
Gesellschaft  sich  dreht;  und  so  gewifs  der  gesellige  Mensch  sich  in  diesem 
Meinungsstreite  mufs  orientiren  lernen,  eben  so  nöthig  ist  das  [4]  Studium 
der  Philosophie.  Offenbar  jedoch  können  hier  die  vesten  Lehrgebäude 
nicht  allein  ausreichen.  Geläufigkeit  im  philosophischen  Denken  (so  wie 
im  Sprechen)  mufs  hinzukommen;  auf  jede  philosophische  Lehre  mufs 
man  sich  schnell  zu  besinnen  wissen;  darauf  gründet  sich  das  erste 
praktische  Bedürfnifs  einer  solchen  Darstellung  der  Philosophie,  wobey 
die  systematischen  Verknüpfungen  aufgelöset  werden,  um  eine  grofse 
Mannigfaltigkeit  anderer  Verbindungen  unter  den  einzelnen  Lehren  zu 
veranlassen. 

Man  kann  hiebey  bemerken,  dals,  wenn  bey  einer  gebildeten  Nation 
die  Philosophie  in  Verfall  geräth,  dies  ein  Zeichen  ist,  sie  betrachte  den 
Streit  der  Meinungen  als  unbedeutend,  und  lasse  den  bösartigen  Streit 
der  Factionen  an  die  Stelle  treten.  Vor  solcher  Schlechtigkeit  ist  hoffentlich 
Deutschland  noch  sicher! 

5.  Während  nun  das  gesellige  Bedürfnifs,  wie  eben  gezeigt,  zwar  auf 
Philosophie,  aber  nicht  auf  deren  systematische  Gestalt  gerichtet  ist:  läfst 
sich  ein  ganz  ähnliches  Bedürfnifs  auch  für  den  einzelnen  Menschen,  sofern 
er  mitten  im  Laufe  des  Lebens  und  der  Geschaffte  begriffen  ist,  leicht 
nachweisen.  An  der  Stelle  der  Ethik,  wo  dieselbe  den  Begriff  der  Tugend 
erklärt,*  erblickt  man  als  erste  Grundlage  der  Tugend  ein  Verhältnifs 
zwischen  Einsicht  und  Wille,  welche  beide  Glieder  des  Verhältnisses  in 
Einer  Person  nicht  blofs  beysammen  seyn,  sondern  auch  im  Laufe  des 
Handelns  und  Leidens  stets  verbunden  und  einstimmend  bleiben  müssen. 
Aber  der  Wille  wird  von  der  Welt  mannigfaltig  umhergelenkt;  und  jeder 
moralische  Mensch  wird  aus  eigner  Erfahrung  wissen,  wie  schwer  es  ist, 
sich  im  Gedränge  der  Umstände  stets  der  ursprünglichen  Vorsätze  und 
Grundsätze  dergestalt  bewufst  zu  bleiben,  dafs  man  über  den  ganzen  Zu- 
sammenhang seines  Thuns  und  Lassens  sich  eine  genügende  Rechenschaft 
geben  könne.  Diejenige  Einsicht,  welche  dem  Willen  vorleuchten  soll, 
besteht  zwar  zu  [5] nächst  aus  Bestimmungen  des  Werths  und  Unwerths, 
des  Edeln  und  Unedeln,  des  Erlaubten  und  der  Schuldigkeit,  wornach  der 
Wille  sich  richten  mufs,  um  innerhalb  der  Gränzen  der  Pflicht  sich  an- 
ständig zu  bewegen;  aber  bey  den  einzelnen  Handlungen  kommt  noch 
das  Zweckmäfsige,  es  kommen  die  Mittel  und  Hindernisse,  es  kommt  die 
Kenntnifs  der  Welt  und  der  Natur  in  Anschlag,  damit  nicht  ein  thörichtes 
Verfahren  die    besten  Absichten    entstelle.     Hier    braucht   man  die    theo- 


1   zwar  ein  Ungemach  II.  Ausg.  („grofses"  fehlt.) 

*  Praktische  Philosophie,  im  ersten  Capitel  des    zweiten  Buchs  ;    man  vergleiche 
auch  die  beiden  folgenden  Capitel.     [Bd.  II,  S.   409  ff.  vorl.  Ausg.] 


1  SW.  drucken    nach  der  II.  Ausg.    ohne  Angabe  der  Abweichung   der  I.  Ausg. 


i .  Abschnitt.     Elementarlehre,      i .  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.         2  7 

retische  und  praktische  Philosophie  fortdauernd  zugleich;  und  wer  in  Einem 
Buche  Ethik,  im  andern  aber  Metaphysik  gelernt  hat,  dem  wird  manch- 
mal der  Wunsch  rege  werden,  die  einzelnen  Lehren  dieser  Wissen- 
schaften möchten  aus  ihrem  Gefüge  heraustreten,  um  eine  ganz  andere 
Verbindung  einzugehen,  welche  mehr  für  den  Dienst  des  Tages,  um  nicht 
zu  sagen  des  Augenblicks,   eingerichtet  wäre. 

6.  Mit  wenigen  Worten  gedenken  wir  schon  hier  der  Religion  und 
der  Geschichte,  weil  von  diesen  beiden  hauptsächlich  die  Bildung  des 
praktischen  Menschen  pflegt  erwartet  zu  werden.  Beide  bedürfen  der 
Auslegung;  und  die  Erfahrung  selbst  kann  lehren,  wie  sehr  mit  dem 
Wechsel  der  philosophischen  Systeme  sich  diese  Auslegung  zu  ändern 
pflegt.  Uebrigens  ist  Philosophie  nicht  für  unruhige  Köpfe,  noch  auch 
für  unruhige  Gemüther.  Jene  mögen  sich  an  Geschichte  und  Erfahrung 
halten;  diese  müssen  sich  der  Kirche  darbieten.  Wem  die  Rede  von  der 
Sünde  einen  solchen  Eindruck  macht,  dafs  sich  im  Gemüthe  ein  wunder 
Fleck  durch  einen  stechenden  Schmerz  verräth:  der  mufs  sich  bessern, 
und  um  es  zu  können,  durch  die  Bufse  hindurchgehen.  Theorien  können 
ihm  nicht  helfen,  welche  Gestalt  sie  auch  annehmen. 

7.  Das  Vorstehende  läfst  schon  erkennen,  das  praktische  Bedürfnifs 
der  Philosophie  werde  nicht  einfach  seyn,  sondern  aus  verschiedenen  Be- 
dürfnissen zusammengesetzt.  Um  es  zergliedern  zu  können,  müssen 
wir  zuerst  den  praktischen  Menschen   mehr  anschaulich    vergegenwärtigen. 

Jeder  Mensch  in  reifen  Jahren  hat  zuvörderst  eine  gewisse  Weise 
der  täglichen  Beschäfftigung  angenommen.  Er  findet  [6]  sich  ferner  durch 
Andre,  mit  denen  er  lebt,  theils  angezogen,  theils  abgestofsen;  daher  ent- 
stehen für  ihn  mancherley  Verhältnisse  der  Gesinnungen.  Dazu  kommen 
noch  Verhältnisse  der  Familie  und  des  Dienstes.  Die  weitern  Unterab- 
theilungen, welche  zu  diesen  vier  Hauptpuncten  gehören,  zeigt  folgende  Tafel : 

Die  Lebensweise  wird  bestimmt  durch 

Besch  äfft  ign  n  ge  v  : 

Arbeit, 

erhebende  Erhohlung, 

abspannende  Erhohlung. 

Gestn  n  u  ngen  F a  m  ilienverhält  nifs 

des  Verkehrs,  1  ,        ~  der  Ehegatten, 

.       „     ,  „  sammt  den  Gegen-  ,      _,.  b 

des  Beyfalls,     >  ,    ..      ö  der  Eltern, 

der  Liebe,  der  Seitenverwandten. 

Dienstverhältn  ifs  : 

Zwangsdienst, 

Lohndienst, 

Ehrendienst. 

Diese  Hauptquellen  der  Motive  für  den  praktischen  Menschen  sind  all- 
gemein; in  besondern  Fällen  verlängert  sich  die  Reihe.*  Hier  ist  das 
Nöthigste,  zu  bemerken,  dafs  die  vier  Hauptpuncte  sich  gegenseitig  bestimmen. 

*  Praktische  Philosophie,  2.  Buch,  7.  Cap.  u.  folgt,  wo  das  Verhältnifs  der  auf- 
gestellten Begriffe  und  ihre  sittliche  Bedeutsamkeit  erklärt  ist.  [Bd.  II,  S.  435  ff. 
vorl.  Ausg.] 


2  8  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

Meistentheils  sind  die  Arbeiten  vorgeschrieben  durch  den  Dienst,  es 
sey  nun  Staatsdienst  oder  Lohndienst  der  Gewerbetreibenden;  wobey  der 
Unterschied  nur  darin  liegt,  dafs  der  Staatsdiener  gebunden  ist  an  Be- 
fehle, der  Gewerbsmann  hingegen  an  die  Natur  der  Waare  und  des 
Geschäffts.  Nun  folgt  zwar  auf  Arbeit  Erhohlung,  und  hiemit  freye  Wahl; 
aber  die  Wahl  ist  gewöhnlich  bald  entschieden.  Die  Menschen  mögen 
gar  selten  allein  seyn;  sie  überliefern  sich  dem  Strome  [7]  des  Umgangs, 
sammt  allen  den  Aufmerksamkeiten  und  Rücksichten,  die  er  fordert.  Hier 
fangen  die  Gesinnungen  der  Personen  gegen  einander  ihre  Einwirkung  an. 
Nicht  Alle  passen  in  einerley  Conversation.  Es  giebt  Gesinnungen  des 
Verkehrs;  nach  diesen  ordnen  sich  die  Gruppen;  hiernach  richtet  sich 
die  gemeinsame  Erhohlung.  Rückwärts  wird  der  Umgang  gewählt,  um 
besondere  Arten  der  Erhohlung,  bestimmte  Vergnügungen  mit  einander 
zu  theilen.  Allein  es  tritt  nun  ein  grofser  Unterschied  der  Gesinnungs- 
verhältnisse hervor.  Es  giebt  etwas  Höheres  als  den  Verkehr.  Wo 
Achtung,  und  vollends  wo  Liebe  die  Menschen  zusammenführt,  oder  um- 
gekehrt, wo  Geringschätzung,  Widerwille,  Hafs,  sie  auseinanderhält:  da 
wird  nach  blofser  Beschäfftigung  und  geselliger  Erhohlung  nicht  viel  ge- 
fragt. Die  Liebhabereyen  an  solchen  oder  andern  Hülfsmitteln  der  Ab- 
spannung (etwa  Spielkarten  oder  Zeitungen)  treten  von  selbst  in  den 
Hintergrund,  wo  ächte  Freundschaft  statt  der  Abspannung  ihre  erhebende 
Erhohlung  darbietet.  Aber  nicht  alle  Gesinnungsverhältnisse  sind  so 
mächtig;  auch  ist  ihr  Unterschied  oftmals  undeutlich  und  verwischt.  Der- 
jenige, welcher  sich  die  Frage,  ob  in  seitie?n  geselligen  Leben  die  Gesinnung 
gegen  Personen  oder  das  Bedürfjiifs  nach  Erhohlung  mehr  vorherrsche? 
genau  beantworten  will,  wird  Mühe  haben,  sich  darüber  Rechenschaft  zu 
geben.  Dies  ist  aber  nur  der  Anfang  einer  Betrachtung,  welche  viel 
weiter  geht.  Denn  eben  so  fragt  sich  wohl  Mancher,  ob  er  den  Dienst 
gewählt  habe,1  weil  ihm  die  damit  verbundene  Arbeit  behagte?  oder  ob 
er  umgekehrt  sich  die  Arbeit  gefallen  läfst,  weil  der  Dienst  Lohn  und 
Ehre  einbringt?  Und  in  dies  Alles  greifen  nun  noch  die  mancherley 
Familienverhältnisse  so  tief  ein,  dafs  oft  alles  Andre  nur  ihrentwegen  und 
durch   sie  vorhanden  zu  seyn  scheint. 

Es  ist  zwar  anzunehmen,  dafs  jeder  verständige  und  wohldenkende 
Mann2  nicht  blofs  für  sich  selbst,  sondern  auch  für  Andere,  die  ihn  an- 
gehn,  die  mancherley  Rücksichten,  welche  das  Amt,  die  Familie,  der 
Umgang,  das  Geschick  zur  Arbeit,  das  Bedürfnifs  der  Erhohlung,  unter 
gegebenen  Umständen  [8]  erfordern,  erwäge  und  in  das  ihnen  gebührende 
Gleichgewicht  zu  bringen  suche;  —  wiewohl  oft  genug  dabey  zu  sehr 
nach  Aufsen  geschaut,  und  die  Rückwirkung  des  Aeufsern  auf  die  Person, 
welche  sich  im  Gedränge  aller  dieser  Rücksichten  befindet,  meist  vergessen 
oder  vernachlässigt  wird;  so  lange  wenigstens,  bis  irgend  ein  bedeutendes 
Uebel  in  ihr  selbst  hervortritt,   welchem   zu  helfen  vielleicht  schon  zu  spät 

2  Die  folgenden  Worte  „nicht  blofs  .  .  .  ihn  angehn"  setzt  die  II.  Ausg.  in 
Parenthese. a 

1  „habe"  fehlt  in  SW. 

a   SW  drucken    nach   der    II.  Ausg.    ohne  Angabe  der  Abweichung   der  I.  Ausg. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre,      i.  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.         29 


ist.  Jedenfalls  aber  wird  man  bekennen  müssen,  dafs  es  Mühe  koste,  zu 
einer  vollständigen  Ueberlegung  hierüber  zu  gelangen;  und  abermals  Mühe, 
das  Leben  selbst  nach  den  Ergebnissen  der  Ueberlegung  einzurichten. 
Wer  dies  vollbringt:  von  dem  darf  man  rühmen,  er  habe  sich  über  sich 
selbst  erhoben.  Wer  es  nicht  vollbringt:  der  wird  den  Grund,  warum  es 
mislingt,  zum  Theil  in  sich,  sehr  oft  aber  auch  grofsentheils  aufser  sich  finden. 
8.  Wir  denken  uns  zuvörderst  einen  Mann,  der  für  seine  Lebensweise 
die  angegebenen  vier  Puncte  (sammt  den  dazu  gehörigen  Unterabtheilungen) 
vollkommen  an  die  rechte  Stelle  gesetzt  hat.  In  den  Arbeitsstunden  steht 
ihm  das  Ganze  der  Arbeit  und  deren  Zweck  stets  unverrückt  vor  Augen;  wäh- 
rend er  von  den  Einzelnheiten  seines  Geschaffte  in  jedem  Augenblick  gerade 
nur  diejenige  in  Gedanken  hat,  welche  so  eben  sein  Thun  und  Denken 
erfordert.  Dagegen  vergifst  er  alle  Arbeit  zu  der  Zeit,  welche  der  Er- 
hohlung  gewidmet  ist;  es  ist  ihm  leicht,  sich  zum  Höhern  aufzuschwingen 
in  dem  edlern  Theil e  der  Erhohlung,  welche  der  Sabbath fever  entspricht; 
es  kostet  ihn  auch  keine  Ueberwindung,  zum  Geringfügigen  sich  herab- 
zulassen; und  er  hütet  sich  wohl,  in  Gesellschaft  etwa  nur  heiter  zu 
scheinen,  weil  alsdann  die  Scherze  eines  muntern  Gesprächs  im  Grunde 
nur  eine  neue  Arbeit  wären;  vielweniger  gestattet  er  den  Sorgen,  hinter 
dem  Reiter  zu  sitzen.  Uebeidies  pafst  sein  Umgang,  sofern  nicht  gerade 
eine  hohe  Achtung,  eine  innige  Liebe  ihn  beseelen,  ganz  zu  denjenigen 
Erhohlungen,  die  ihm  die  liebsten  und  erquickendsten  sind;  und  dabey 
ist  das  Glück  so  grofs,  (denn  wir  wagen  nicht,  es  ein  Verdienst  zu 
nennen!)  dafs  hiemit  auch  kein  solcher  Umgang,  welchen  einerseits  der 
Dienst,  andrerseits  die  Familienlage  vorschreibt,  [9]  vernachlässigt  wird. 
Sollen  wir  ihm  nicht  auch  noch  einige  edle  Freunde  und  eine  würdige 
Geliebte  zugesellen?  Warum  nicht?  Er  verdient  sie;  er  lebt  für  sie; 
!und  was  sich  von  selbst  versteht  —  sie  gehören  zu  seinem  Hause.  Mag 
dieses  Haus  nach  allen  Richtungen,  in  auf-  und  absteigender  Linie,  auch 
nach  den  Seitenlinien  hin,  so  grofs  gedacht  werden  wie  man  will:  unsre 
ideale  Person  trägt  aufs  genaueste  den  Stempel  dieser  Familie  in  deren 
würdevollster  Art,  und  repräsentirt  mithin  die  Ehre  des  Stammes;  nicht 
blofs-  durch  geistige  Fähigkeit,  um  alle  ruhmvollen  Erzählungen,  die  von 
den  Ahnen  überliefert  worden,  auf  gegebenen  Anlafs  von  neuem  zu  ver- 
wirklichen, sondern  (was  dabey  sehr  wesentlich  ist)  auch  durch  Wuchs  und 
Haltung  und  Kraft  des  Leibes;  denn  der  ganze  Mensch  ist  keine  blofse 
Seele!  Endlich  aber  kommen  noch  Dienste  hinzu,  welche  eben  so  viele 
Verdienste  sind:  um  die  Stadt,  die  Provinz,  den  Staat,  die  Menschheit; 
und  diese  Dienste  (wiederum  ein  sehr  wesentlicher  Punct)  finden  nicht 
blofs  Anerkennung,  sondern  auch  Lohn,  und  zwar  solchen  Lohn,  dafs 
für  die  Familie  nicht  weiter  nöthig  ist,  zu  sorgen;  dafs  also  die  Pflichten 
gegen  das  Haus  und  die  gegen  den  Staat  einander  keinen  Abbruch  thun! 
Dürften  wir  etwa  diese  Grundzüge  zur  fernem  Ausmalung  einem  —  Roman- 
schriftsteller   empfehlen?     Wohl    schwerlich!     Denn    selbst    die    Dichtung 

1  Die  folgenden  Worte  „und  was  sich  von  selbst  versteht  — "  fehlen  in  der 
II.  Ausg.  a 

a  S\V.  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  in  der  I.  Ausg. 


20  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1, 

sucht  sich  dem  wirklichen  Leben  näher  zu  stellen.  Wir  aber  können  von 
unsrer  idealen  Person  noch  Eins  rühmen:  für  sie  giebt  es  —  zwar  wohl 
ein  speculatives,  —  aber  kein  praktisches  Bedürfnifs  der  Philosophie; 
denn  was  man  ihr  bieten  könnte,   das  hat  sie  schon. 

9.  Um  das  praktische  Bedürfnifs  der  Philosophie  zu  finden,  werden 
wir  uns  den  praktischen  Menschen  etwas  bedürftiger  denken  müssen. 
Schon  längst  hat  man  durch  das  Wort  Philosophie  eine  Kunst  bezeichnen 
wollen,  mit  Ruhe  und  Anstand  zu  entbehren.  Eine  gewisse  Stärke  des 
Geistes  soll  wie  ein  Gewicht  in  die  Wagschale  gelegt  werden,  um  bey 
der  Unstetigkeit  des  Lebens  den  Gleichmuth  zu  erhalten.  Wer  [10]  so  etwas 
Philosophie  des  Lebens  nennen  will,  dem  steht  die  Wahl  des  Ausdrucks 
frey ;  nur  mufs  er,  um l  mit  den  Worten  einen  Sinn  zu  verbinden,  auch 
das  Leben  sammt  dessen  Verwickelungen  dabey  vor  Augen  haben;  sonst 
fehlt  die  Wagschale,  in  welche  ein  neues  Gewicht  deswegen  soll  gelegt 
werden,  weil  schon  andere  Gewichte  vorhanden  sind  und  wirken,  indem 
sie  das  gesuchte  Gleichgewicht  stören.  Es  wäre  freylich  hier  viel  zu  weit- 
läufig, alle  möglichen  und  selbst  gewöhnlichen  Abweichungen  von  jenem 
idealen  Bilde  des  vollständig  geordneten  Lebens,  welche  bey  einiger  Er- 
fahrung und  Lebensklugheit  nicht  weit  zu  suchen  sind,  anzugeben;  2wenn 
aber  der  Leser,  sich  aus  eignem  Vorrathe  nur  einigermafsen  die  Gegensätze 
zu  jenem  Bilde  als  bekannte  Thatsachen  vergegenwärtigen  will,3  so  wird 
er  bereit  seyn  einzuräumen:  fast  jeder  Mensch,  der  sich  über  den  Zu- 
sammenhang seiner  Beschäfftigungen,  seines  Dienstes,  seiner  Familienlage, 
seiner  Zuneigungen  und  Abneigungen  gegen  Andre,  ernstlich  Rechenschaft 
gebe,  der  finde  auch  Ursache  zu  bekennen,  dafs  ihn  etwas  drücke;  und 
dieser  Druck  werde  durch  eine  gewisse  Anstrengung  des  Denkens  zwar 
erträglicher,  aber  nicht  gehoben;  indem  vielmehr  ein  fehlerhafter  Cirkel 
dabey  zum  Grunde  liege,  worin  (weil  die  angegebenen  vier  Puncte  sich 
immer  gegenseitig  bestimmen)  mehrere  Uebel  sich  dergestalt  herumdrehen, 
dafs  jedes  derselben  sich  allenfalls  heilen  liefse,  wenn  nur  erst  das  andre 
weggeschafft  wäre,  in  der  That  aber  keins  zum  Weichen  zu  bringen  sey, 
weil4  keins  das  erste  sey,  was  man  angreifen  könne.  Oder  wäre  ja  Einer, 
der  sich  selbst  in  jenem  idealen  Bilde  zu  erkennen  meinte,  so  würde  sein 
Glück  durch  die  Frage  nach  der  Dauer  desselben  gestört  werden,  weil 
hiebey  zuviel  von  äufsem,  veränderlichen  Umständen  abhängt.  Und 
endlich :  was  er  für  sie  nicht  zu  fürchten  hätte,  das  würde  er  für  Andre 
besorgen  müssen.  Theils  schon  für  Einzelne,  besonders  aber  für  das  Ganze 
der  Gesellschaft;  an  deren  Zustand  zu  erinnern  um  desto  nöthiger  ist, 
je  öfter  auch  das,  was  den  Einzelnen  klemmt,  von  der  Gesellschaft  her- 
rührt und  durch  sie  unüberwindlich  vestgehalten  wird. 

[11]    10.  Bekanntlich  läfst  sich  jede  Gesellschaft  als  eine  Person  be- 

2 — 3  wer   aber   sich    aus    einzelnen  .   .  .  vergegenwärtigen   will,    wird 
bereit  sein  .  .  II.  Ausg.  * 
4   wenn    .    .   II.  Ausg.  b 


1  um  den  Worten  einen  Sinn  .   .  .  SW.  („mit"  fehlt). 

a   u.   b  SW.    drucken    nach    der   II.    Ausg.    ohne    die   Abweichung   der    I.  Ausg. 
anzumerken. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre,      i.  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.         31 


trachten,  und  desto  besser,  je  enger  ihr  Band  geknüpft  ist.  Ohne  aber 
hier  mehrere  Staaten  als  Personen  gegen  einander  zu  stellen,  welches  zu 
weit  führen  würde,  können  wir  im  einzelnen  Staate  sehr  leicht  die  er- 
wähnte Verwickelung  wieder  erkennen,  und  zwar  nach  vergröfsertem  Mafs- 
stabe.  Die  Grundlage  jedes  Staats  macht  das  System  von  Beschäfftigungen 
seiner  Glieder.  Die  Fähigkeit  einer  Nation  bestimmt  ihre  Arbeiten;  der 
Geschmack  der  Nation  zeigt  sich  in  der  Art,  wie  sie  ihre  Feyertage  theils 
zur  Erhebung,  theils  zur  Abspannung  benutzt.  Gesinnungen  des  Um- 
gangs oder  der  Entfernung,  der  Ehrerbietung  oder  Geringschätzung,  der 
Liebe  oder  des  Hasses  finden  sich  nicht  blofs  unter  Einzelnen,  sondern 
unter  ganzen  Massen  und  Ständen;  worauf  Unterschiede  der  ursprüng- 
lichen Volksstämme,  der  Sprache,  des  Cultus,  des  Vermögens,  der  Lebens- 
gewohnheiten, der  Studien,  —  also  auch  der  Beschäfftigungen,  bedeutenden 
Einflufs  haben.  Familienverhältnisse  werden  ein  mächtiges  Band,  das, 
indem  es  ganze  Klassen  enger  verknüpft,  dagegen  andre  durch  den  Be- 
griff der  Misheirathen  trennt;  die  Gesetzgebung  selbst  thut  das  Ihrige,, 
um  die  Eigenheiten  der  Sitte  in  diesem  Puncte  recht  merklich  zu  machen  l 
und  zu  bevestigen.  Dienstverhältnisse  bilden  im  Staate  ein  grofses  Ge- 
bäude, wodurch  den  Einzelnen  die  Wahl  des  Platzes  in  der  Gesellschaft 
bezeichnet  und  beschränkt  wird. 

Für  jeden  Zeitpunct  in  der  Geschichte  einer  jeden  Nation  soll  uns 
zwar  der  Historiker  nicht  blofs  von  der  Lage  dieser  vier  Puncte,  sondern 
auch  von  deren  gegenseitiger  Wirkung  auf  einander,  ein  deutliches  Bild 
vor  Augen  stellen.  Aber  gesetzt,  dies  wäre  geschehen :  wo  ist  der  Gesetz- 
geber, der  es  wagte,  aus  solchem  Unterricht  der  Geschichte  den  praktischen 
Nutzen  zu  ziehen?  —  Hier  zeigt  sich  bey  der  Vergleichung  des  öffent- 
lichen mit  dem  Privatleben  ein  merkwürdiger  Unterschied.  Der  Einzelne 
ordnet  mit  aller  Kraft2  die  vier  Puncte  so,  dafs  sie  möglichst  in  Harmonie 
treten;  darin  beweiset  er,  wieviel  er  von  praktischer  Lebensweisheit  und 
wieviel  von  den  wichtigsten  [12]  Geschenken  des  Glücks  besitzt.  Was 
er  nicht  erreichen  kann,  wird  bey  ihm  Gegenstand  einer  Resignation, 
deren  Ausbildung  zu  seinen  wesentlichen  Charakterzügen  gehört.  Die 
Gesellschaft  dagegen  möchte  umfassende  Betrachtungen  dieser  Art  wohl 
eher  scheuen,  als  für  brauchbar  halten.  Sie  bleibt  in  ihrem  Geleise,  und 
nimmt  die  fernere  Entwicklung  ihres  Zustandes  für  eine  Art  von  Natur- 
Nothwendigkeit,  über  welche  viel  zu  grübeln  nicht  helfen  könne.  Fehlt 
es  ihr  vielleicht  an  einer  hinreichend  sichern,  hinreichend  anerkannten^ 
acht  praktischen  Philosophie?  Zu  verwundern  wäre  das  nicht;  denn  die 
Speculationen  der  neuern  Zeit,  so  ernst  gemeint  sie  auch  waren,  hatten 
wesentlich  nur  speculative  Triebfedern;  und  selbst  diese  gelangten  in 
ihnen  noch  nicht  zur  vollen   Wirksamkeit.3 


1  in  diesem  Puncte  merklich  zu  machen  ...  II.  Ausg.  * 

2  ordnet  vielleicht  mit  aller  Kraft  so  .   .  ,  II.  Ausg.b 

3  nach  den  Worten:     „zur   vollen   Wirksamkeit"   hat  die  II.  Ausg.  folgenden 
Zusatz : 

Wie    dem    auch    seyn   möge,    und    ob    man    die  Verlegenheiten    des- 

a  u.  b  SW.  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


i2  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

11.  Wer  sich  an  die  Form  der  jetzt  gangbaren  philosophischen 
Systeme  gewöhnt  hat,  der  wird  sich  wundern,  wie  man  darauf  komme, 
in  der  engen  Sphäre  des  täglichen  Lebens  die  Anlage  zu  solchen  Unter- 
suchungen zu  machen,  welche  das  Ganze  der  Welt  und  die  Tiefe  des 
Bewufstseyns  betreffen.  Handeln  denn  nicht  die  Systeme  vom  Seyn  und 
Werden;  construiren  sie  nicht  Natur  und  Geist  aus  einem  gemeinsamen 
Mittelpuncte;  beginnen  sie  nicht  mit  der  Frage  nach  der  Möglichkeit 
alles  Wissens  überhaupt;  ist  nicht  die  Einheit  und  der  Gegensatz  der 
Objecte  und  des  Subjects  ihr  erstes  Thema?  Wer  vernimmt  denn  da 
etwas  von  der  Philosophie  als  einer  allgemeinen  Sprache  zur  Verständigung 
verschiedener  Gelehrten?  (4.)  Wer  kümmert  sich  um  die  kleinen  Motive 
der  einzelnen  Handlungen,  in  welchen  Klugheit  und  Sittlichkeit  durch 
einander  laufen?  (5.)  Was  für  Hoffnung  geben  uns  Betrachtungen  über 
Arbeit  und  Erhohlung,  Gespräch  und  Verkehr,  Haus  und  Dienst 
(7,  8  u.  s.  w.),  von  den  grofsen  Gesetzen,  wornach  *  Natur  und  Geschichte 
sich  entfalten,  etwas  verstehen  zu  lernen?  In  der  That:  das  Nächste, 
was  wir  von  Stunde  zu  Stunde  thun  oder  leiden,  ist  das  Letzte,  Unterste 
für  den,  welcher  von  den  höchsten  Abstractionen  auszugehn  sich  geübt 
hat.  Aber  die  abstractesten  Begriffe  sind  an  sich  die  leersten;  und  die 
Kunst,  durch,  'sie  das  Bestimmte,  [13]  das  Untergeordnete,  das  Wirkliche 
des  Lebens  zu  erkennen,  ist  weit  seltener,  als  die  in  den  Systemen  ver- 
tieften Philosophen  glauben  mögen.  Das  übliche  Beginnen  von  den  ab- 
stractesten Begriffen  setzt  die  Schüler  in  Gefahr,  Hohlköpfe  zu  werden; 
und  wer  auch  in  der  Gefahr  nicht  gerade  umkommt,  der  leidet  dennoch 
oft  einen  beträchtlichen  Schaden,  dessen  Gröfse  zu  schätzen  ihm  selbst 
schwerer  ist,  als  seinen  Beobachtern.  Unsre  Absicht  ist  nun  in  diesem 
Buche,  die  Sache  umzukehren;  und  recht2  geflissentlich  haben  wir  in  der 
Niederung  des  täglichen  Lebens  einen  breiten  Boden  erwählt,  ohne  uns 
um  entfernte  Bergspitzen,  die  freylich  weite  Aussichten  für  scharfe  Augen 
gewähren,  für's  erste  zu  bekümmern.  Indem  wir  anscheinend  ganz  ge- 
mächlich fortschlendern,  wird  uns  der  Zusammenhang  der  Gegenstände 
allmählich  höher  und  höher  hinaufführen;  man  wird  sehen,  dafs  sich  die 
Philosophie  von  dem  übrigen  Wissen  nicht  trennen  läfst.  Von  künst- 
lichen Systemen  ermüdet,  sucht  man  das  natürliche,  und  mit  Recht ;  denn 

Einzelnen,  oder  die  der  Gesellschaft  vorzugsweise  ins  Auge  fasse,  immer 
melden  sich  die  Fragen:  was  läfst  sich  ändern,  und  wo  sollen  die  Ver- 
änderungen beginnen?  Was  läfst  sich  nicht  ändern,  und  wie  lange  mufs 
man  es  geduldig  ertragen?  —  Immer  setzen  solche  Fragen  das  Nach- 
denken in  Bewegung  und  wofern  dies  Nachdenken  nach  den  vesten 
Puncten  strebt,  die  unabhängig  von  der  Verschiedenheit  der  Zeiten  und 
Umstände  sich  überall  gleich  bleiben,  von  denen  man  überall  ausgehen 
mufs,  um  nicht  die  Richtung  zu  verfehlen:  dann  hat  das  praktische  Be- 
dürfnifs  der  Philosophie  sich  fühlbar  gemacht. 
2   „recht"    fehlt  in  der   II.  Ausg.» 

1   wodurch  .   .   .  SW. 

a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausgabe  anzugeben. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre,      i.  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.         33 

jene  verdunkeln,  was  sie  nicht  erhellen;  sie  beschatten  das  Gewebe,  indem 
sie  einzelne  Fäden  desselben  in  ein  blendendes  Licht  hervorheben.  Aber 
es  werden  bald  einige  auffallende  Gegenstände  wie  aus  einem  Nebel  auf- 
tauchen; man  hüte  sich  alsdann,  sie  sogleich  als  Bekannte  zu  begrüfsen. 
Einige  Naturphilosophen  haben  die  schlimme  Gewohnheit,1  alles,  was  sie 
in  Begriffen  als  ein  solches  oder  anderes  vestgestellt  glauben,  nun  sogleich 
für  dies  oder  jenes  zu  erklären,  welches  in  der  Erfahrung  vorkomme, 
und  von  der  Sprache  schon  mit  Namen  belegt  sey;  dabev  gehen  arge 
Verwechselungen2  vor;  und  am  Ende  findet  sich  Misdeutung  der  Er- 
fahrung sowohl  als  der  Sprache,  ja  sogar  eine  seltsame  Misdeutung3  der 
eignen  Theorie.  Wenn  also  gleich  weiterhin  bald  Etwas,  das  man  durch 
Kant,  bald  Anderes,  das  man  durch  Fichte  schon  zu  kennen  meint,  auf- 
gefunden werden  sollte:  so  mufs  verhütet  werden,  darauf  die  Kantischen 
oder  Fichteschen  Begriffe  zu  übertragen.  In  der  Geschichte  der  Philosophie 
zeigt  sich  eine  fehlerhafte  Vegetation;  dem  Wuchern  derselben  mufs 
ein  selbstständiges  Denken  vorbeugen.4 

1  die  Gewohnheit,  alles  ...  II.  Ausg.  * 

2  dabev  gehen  Verwechselungen  ...  II.  Ausg.  b 

3  ja  sogar  Mifsdeutung  .   .  ,   II.  Ausg.c 

4  nach    „vorbeugen"   hat  die  II.  Ausg.  folgenden  Zusatz: 

Um  sich  zuvörderst  den  Unterschied  des  theoretischen  und  praktischen 
Interesse  zu  vergegenwärtigen,  kann  man  Jenem,  der  für  Geschafft,  Ge- 
sinnung, Familie,  Dienst,  die  richtige  Anordnung  sucht,  in  Gedanken  einen 
kalten,  aber  einsichtsvollen  Zuschauer  gegenüberstellen,  der  sich  um 
menschliche  Angelegenheiten,  die  ihn  selbst  nicht  berühren,  nur  in  so 
fern  bekümmert,  als  sie  ihm  Stoff  zum  Denken  geben.  Dieser  Zuschauer 
erblickt  da,  wo  Jener  Zwecke  verfolgt,  nur  Wirkungen,  welche  eintreten 
können,  —  wo  Jener  Mittel  anwendet,  und  Hindernissen  begegnet,  nur 
solche  Ursachen,  woraus  jene  Wirkungen  oder  deren  Gegentheile  hervor- 
gehn  müssen.  Durchschaut  er  den  Zusammenhang  der  Ursachen  und 
Wirkungen,  so  besitzt  er  Kenntnisse,  die  Jenem  nützlich  seyn  können. 
Solche  Kenntnisse  mufsten  aber  längst  früher  erworben  werden,  ehe  sie 
auf  gegenwärtige  Fälle  Anwendung  finden;  man  sieht  hier  den  Unter- 
schied zwischen  der  Allgemeinheit  des  an  keine  Zeit  gebundenen  Wissens, 
und  dem  besondern  Bedürfnifs  des  zeitigen  Gebrauchs.  Um  dem  Ver- 
hältnis der  Philosophie  zum  praktischen  Bedürfnifs  noch  näher  zu  kommen, 
wollen  wir  annehmen:  jener  Erste  ziehe  den  Zuschauer  wirklich  zu  Rathe: 
wird  nun  der  Rathgeber  sogleich  seine  [16]  Vorschriften  ausschütten?  — 
Vielmehr,  zuerst  wird  er  wissen  wollen,  wozu  die  Vorschriften  denn 
eigentlich  gesucht  werden?  Wozu  sie  dienen  sollen?  Was  man  damit 
erlangen  wolle?  Er  wird  fordern,  dafs  man  erst  die  Zwecke,  deren 
verschiedene  oft  genug  zugleich  und  vermengt  beabsichtigt  werden,  gehörig 
sondere  und  überlege,  bevor  man  nach  Mittsln  fragt.  Bey  solcher 
Sonderung  trennt  sich  bekanntlich  die  Sittlichkeit  von  der  blofsen  Welt- 
klugheit. 

a  b  u.  c  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausgabe 
anzugeben. 

Herbart's  Werke.     IX  3 


9i  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

[14]  12.  1  Unter  den  besondern  Arten  des  praktischen,  auf  Philosophie 
gerichteten,  Bedürfnisses,  die  wir  jetzt  näher  zu  bestimmen  haben,  ist 
die  erste  Art  ohne  Frage  dasjenige  Bedürinifs,  welches  der  moralische 
Mensch  unmittelbar  empfindet.  Mitten  unter  Geschafften  und  Erhohlungen 
nimmt  der  sittliche  Mensch  eine  Stellung  gegen  sich  selbst  an,  die  ihm 
bey  näherer  Betrachtung  zum  Räthsel  wird;  und  zwar  zu  einem  solchen 
Räthsel,  dessen  Auflösung  ihm  nicht  gleichgiltig  seyn  kann  und  darf. 
Sein  eigenes  Ich  spaltet  sich  vor  seinen  Augen  (denn  Er  selbst  beschaut 
dieses  Ich)  in  zwey  Theile,  deren  einen  man  das  Object,  den  andern 
das  Subject  nennt.  Er  findet,  dafs  er  sich  über  sich  selbst  erhoben  hat 
(7,),  indem  er  Ordnung  hält  und  wacht,  damit  in  der  gegenseitigen  Be- 
stimmung seiner  Beschäfftigungen,  Gesinnungen,  Familien-  und  Dienst- 
Verhältnisse  so  wenig  Mishelliges  als  möglich  vorkomme.  Aber  es  kommt 
dennoch  vor;  er  tadelt  nun  bald  seinen  Mangel  an  Klugheit,  bald  die 
Einseitigkeit  seines  Strebens,  bald  sogar  seine  Gemüths-Regungen  und 
deren  verborgene  Keime.  Woher  kommt  (so  fragt  er  sich)  dieser  Wider- 
wille, diese  Schlaffheit,  diese  Lüsternheit,  diese  Selbstsucht?  Indem  er 
mit  solchen  Fragen  in  die  Falten  seines  Herzens  eindringen  will:  hört  er 
die  Kirche  reden  von  der  Sünde  mit  Sündern.  Redet  sie  auch  zu  ihm  ? 
Wer  mag  es  läugnen?  —  Wer  wird  nicht  fürchten,  dafs  hinter  dem  Ge- 
meinen noch  mehr  Schlechtes  lauere,  als  dem  gewöhnlichen  Bewufstseyn 
sich  offen  darlegt?  Aber  die  Kirche  redet  weiter  von  der  Vergebung 
der  Sünden.  Wenn  nun  Gott  vergiebt:  kann  ich  darum  mir  selbst  ver- 
geben? —  Gesetzt,  darauf  erfolge  die  Antwort:  Was  Gott  verzeiht,  sollst 
Du  auch  verzeihen!  —  so  mag  wohl  der  Fromme  gehorchen,  aber  das 
Andenken  an  wirklich  begangene  Fehler  ist  damit  nicht  ausgelöscht,  die 
Sorge  wegen  der  fortdauernden  Schwäche  ist  noch  nicht  gehoben.  Soll 
man  im  Voraus  wegen  künftiger  Sünden  sich  damit  trösten:  sündige  nur! 
Du  wirst  auch  in  der  Zukunft  abermals,  und  immer  von  neuem  Ver- 
gebung erlangen?  Ein  schlechter  Trost  in  jeder  Hinsicht.  Die  Reue 
wegen  des  Vergangenen  mufs  blei[i5]ben;  sie  ist  noch  am  ersten  fähig,  gegen 
künftige  Fehltritte,  ja  gegen  tieferes  Versinken  der  Sitten  und  Gesinnungen 
einige,  wiewohl  unzuverlässige,   Bürgschaft  zu  leisten. 

Hier  tritt  Spinoza  hervor,  mit  mancher  seltsamen  Rede.  Reue,  sagt 
er,  ist  keine  Tagend,  stammt  nicht  aus  der  Vernunft;  wer  bereut,  ist  doppelt 
elend,  doppelt  ohnmächtig.  Nur  darum,  weil  die  Menschen  selten  nach 
der  Vernunft  leben,  bringen  Demuth  und  Reue  mehr  Nutzen  als  Schaden. 
Daher  freylich :  qaandoqitidcm  peccandnm  est,  in  istam  partem  potius 
peccandwn !  *  Aber  Demuth  ist  Traurigkeit ,  welche  daher  rührt,  dafs 
der  Mensch  seine  Ohnmacht  betrachtet.  Wiefern  hingegen  der  Mensch 
sich  selbst  der  Wahrheit  gemäfs  erkennt,  in  so  fern  erkennt  er  sein  Wesen, 
das  ist,  seine  Macht.  Wenn  also  der  Mensch  irgend  etwas  Kraftloses  an 
sich  bemerkt,  so   kommt   das  nicht    daher,    dafs    er   sich   selbst  erkenne* 


1  die  Worte  „Unter  den  besondern  Arten  .  .  .  Erhohlungen*'  (z.  4  v.  o.) 
fehlen  in  der  II.  Ausg.,  die  mit  dem  darauffolgenden,  etwas  veränderten,  Satze  so 
beginnt:    „Der  sittliche  Mensch  nimmt  eine  Stellung  gegen  sich  .  .  . 

*  Ethicae  Pars  IV,  propos.  54. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre,      i.  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.         ?  r 


—  Wiewohl  wir  nun  hier  auf  den  Zusammenhang  der  Lehre  des  Spinoza 
nicht  eingehn  können,  so  erinnert  doch  dieser  ermunternde  Zuruf  an  die 
eben  vorhin  bemerkte  Spaltung  im  Ich.  Das  objcctive  Ich,  —  dasjenige, 
als  welches  der  Mensch  sich  findet,  und  was  ihm  als  Gegenstand  vor- 
schwebt, mag  schwach  und    schlecht  seyn;  aber  ist  denn    dies  das   ganze 

—  ist  dies  vorgestellte  Ich  das  wahre  Wesen  des  Ich?  Der  Mensch 
wird  ja  nicht  blofs  gefunden,  sondern  Er  selbst  findet  sich.  Der  Ge- 
fundene erscheint  schwach ;  darum  tadelt  ihn  der  Findende;  dieser  Tadler 
ist  also  der  Herr  und  Meister,  welcher  stark  zum  Meistern  nur  auch 
stark  genug  seyn  sollte  zum  Handeln!     Ist  er  denn  das,  oder  nicht? 

Neue,  und  gar  viele  Stimmen  lassen  sich  hören.  Der  Mensch  ist 
frey  (so  rufen  sie),  er  kann  was  er  will.  —  Aber  weder  Spinoza  noch 
die  Kirche  stimmen  damit  überein. 

Spinoza  redet  zwar  auch  von  Freyheit;  er  meint  aber  nicht  Freyheit 
zum  Handeln,  sondern  Befreyung  von  Affecten.  Auch  hier  noch  bleibt, 
seinem  eignen  Geständnisse  zufolge,  eine  [16]  Schwäche  zurück;  wir  haben 
keine  volle  Herrschaft  über  die  Affecten*).  Der  Weise  gewinnt  nur  Ruhe, 
indem  er  die  ewige  Notwendigkeit  der  Dinge  betrachtet**),  das  heifst, 
indem   er  aufhört,   ein  praktischer  Mensch   zu   seyn. 

Die  Kirche  rechnet  gar  wenig  auf  die  Freyheit;  sie  rechnet  über- 
haupt nicht  auf  die  Werke  des  Menschen,  sondern  auf  den  Glauben. 
Durch  diesen,   spricht  sie,   sollt  ihr  selig  werden. 

Lassen  wir  nun  den  moralischen  Menschen  in  sich  selbst  einkehren. 
Was  diesen  beschäfftigt,  das  ist  nicht  zunächst,  und  nicht  ganz,  die  Sorge 
um  Ruhe  und  Trost;  sey  es  auch  die  Ruhe  des  weltbeschauenden  Weisen, 
oder  sey  es  der  Trost  des  Glaubens,  Er  sucht  zu  allererst  die  Richtig- 
keit seiner  Lebensführung;  und  hiezu  findet  er  sich  schwach  and  stark 
zugleich.  Fortwährend  erzeugt  er  aus  dem  Tadel  des  Mangelhaften 
in  seinem  Thun  eine  neue  Stärke  des  Entschlusses,  es  besser  zu 
machen;  und  wiederum  leistet  die  also  gewonnene  Kraft  niemals  voll- 
ständig was  sie  sollte.  So  hat  also  das  subjective  und  das  objective  Ich  sich 
zwar  getrennt,  aber  stets  läuft  über  die  Scheidungslinie  zwischen  beiden 
ein  Thun  und  Leiden  hin  und  her;  eine  geistige  Wechselwirkung  in  und 
mit  uns  selbst.  Etwas  derselben 1  Aehnliches  kommt  auch  in  sehr  aus- 
gebildeten Staaten  vor,  wo  unablässig  die  Regierung  beobachtet,  tadelt 
und  bessert,  indem  sie  Befehle  und  Erinnerungen  und  Strafen  nicht  spart. 

2  Das  erste  besondere  Bedürfnifs,  welches  den  praktischen  Menschen 
zur  Philosophie  hintreibt,  liegt  nun  vor  Augen.  Es  kommt  darauf  an,  von 
jener   Wechselwirkung    richtige    und    deutliche   Begriffe    zu   fassen.      Aber 


*  Spinozae  ethica,  in  praefatione  partis  V. 
**  1.  c.  propos,  42  Schol. 

1  „etwas   derselben"    fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

2  Der  Abschnitt:  „Das  erste  besondere  Bedürfnils  .  .  .  zum  Grunde." 
weicht  in  der  II.  Ausg.  folgendermafsen  ab:  Von  jener  Wechselwirkung  richtige 
und  deutliche  Begriffe  zu  fassen:  dies  ist  die    grofse,  die    innerste    Ange- 


a    SW   drucken   nach   der   II.  Ausgabe  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 

-»  * 


,ö  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

dies  Bedürfnifs  ist   noch  nicht  einfach;  vielmehr  liegen  ihm   zwey    Fragen 

zum   Grunde: 

Erstlich:     Was  tadelt  oder  lobt  eigentlich  das  betrachtende,  subjective 

Ich  an  dem  ocjectiven? 

Zweytens:  Welche  Möglichkeit  des  Wirkens  und  Leidens  verknüpft 
die  beiden  Theile  des  Ich  dergestalt,  dafs,  wenn  [17]  man  dieselbe 
genau  genug  kennte,  alsdann  mit  Absicht  und  Kunst  dieser  Wechsel- 
wirkung die  gehörige  Richtung  könnte  gegeben  werden? 

Drittens  darf1  nicht  vergessen  werden,  dafs  beide  Fragen  auch  nach 
vergröfsertem  Maafstabe  auf  die  Gesellschaft,  die  sich  selbst  beobachtet 
und  leitet,  können  übertragen  werden. 

13.  Die  so  eben  aufgestellten  Fragen  sind  nur  zu  sehr  geeignet,2 
den  Menschen  in  die  Betrachtung  seiner  Selbst  zu  versenken;  3hiemit 
aber  durch  gewöhnliche  Fehler  das  Nachdenken  in  leere  Abstractionen 
zu  verleiten;  um  dies  zu  vermeiden,  betreten  wir  von  neuem  den  be- 
kannten Grund  und  Boden  des  praktischen  Lebens.  Da  steht  nun  keines- 
weges  blofs  ein  subjectives  Ich  oben  und  ein  objectives  unten;  nicht 
einmal  den  Staat  würde  man  durch4  das  Verhältnifs  zwischen  der  Re- 
cüerung  und  den  Unterthanen  richtig  auffassen:  sondern  was  unten  steht, 
das  ist  ein  Mannigfaltiges,  nach  vielerley  Seitenrichtungen  sich  Ausbreitendes. 
Beschäfftigungen,  Gesinnungen,  Familien,  Dienste,  für  den  Einzelnen  und  in 
der  Gesellschaft!  Hier  liegen  die  Schwierigkeiten,  die  Verwickelungen.  Eine 
tüchtige  Regierung  begnügt  sich  nicht,  zu  befehlen  und  zu  strafen,  sondern 
sie  hilft,  sie  erleichtert,  sie  ordnet,  sie  schafft  durch  neue  Einrichtungen 
neue  Hülfsmittel.  Und  der  einzelne  Mensch,  wenn  er  nichts  Aehnliches 
thut,  wird  sich  selbst  allemal  schlecht  regieren,  wie  sehr  moralisch  er  auch 
seyn  mag.  Wer  nun  dies  einsieht:  wird  er  nicht,  vom  stärksten  praktischen 
Bedürfnisse   getrieben,    sich  an   die    Philosophie   um    Belehrung   wenden?0 

Es  ist  zwar  schon  oben  (7  und  9.)  anerkannt,  dafs  wir  verständigen 
und  wohldenkenden  Männern  im  Allgemeinen  die  Voraussetzung  schuldig 
sind,  sie  werden  theils  ihre  Lebensverhältnisse  ins  Gleichgewicht  zu  bringen, 
anderntheils,  was  daran  fehlt,  durch  eine  Resignation,  die  wenigstens  den 
Gleichmuth  sichert,  zu  ersetzen  suchen.  Allein  wenn  wir  auf  das  Privat- 
leben   der    Menschen    genauer    hinblicken:    so    sehn    wir    zuerst    —    dafs 

legenheit,  womit  der  sittliche  Mensch  sich  an  die  Wissenschaft  wendet, 
damit  sie  ihm  Aufschlufs  ertheile.  Aber  dies  Bedürfnifs  ist  noch  nicht 
einfach;  vielmehr  liegen  ihm  zwey  sehr  verschiedene  Fragen  zum  Grunde: 

1  Es  darf  ...  II.  Ausg.  * 

2  sind  sehr  geeignet  ...   II.  Ausg.b 

3  Der  folgende  Satz  lautet  in  der  II.  Ausg:  hiebey  aber  können  gewöhnliche 
Fehler  das  Nachdenken  in  leere  Abstractionen  verleiten;    um  dies  .  .  .  c 

4  würde  man  blofs   durch  II.  Ausg. 

5  Nach  „wenden"  hat  die  II.  Ausg.  noch  folgenden  Satz:  „Man  könnte  es 
erwarten;  aber  die  Erfahrung  zeigt  sich  solchen  Erwartungen  eben  nicht 
günstig.     Es  ist  zwar  .   .  . 

a  b  u.  c  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Angabe  der  Abweichung 
der  I.  Ausg. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre,      i.  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.         37 


Niemand  gern  ein  Sonderling  heilsen  mag.   [18]  Jeder  fügt  sich  den  Sitten, 

—  also  vollends  den  Umständen,  die  ihn  zwischen  Gewinn  und  Verlust 
stellen,  wenn  sie  nicht  ganz  unmittelbar  das  Gewissen  rege  machen.  Der 
Einzelne  wird  demnach  gar  selten  die  Philosophie  um  Rath  fragen,  wie 
er  den  Tag  und  das  Jahr  eintheilen  solle,  um  für  sich  und  Andre  auf's 
zweckmäfsigste  zu  leben.  Erst  wenn  in  gröfsem  Kreisen  irgend  ein  Motiv 
auf  die  Mehrzahl  wirkt:  dann  pflegt  sich  das  Löbliche  und  das  Bequeme 
gelten  zu  machen;  doch  auch  nur  in  Form  einzeln  stehender  Reflexionen. 
Und  wieviel  wirken  denn  diese  Reflexionen?  Was  haben  denn,  um  nur 
Ein  Beyspiel  anzuführen,  die  Betrachtungen  der  Philosophen  über  das 
Theater  vermocht?  Ist  darum  eins  mehr  oder  weniger  errichtet;  hat 
man  sich  irgendwo  entschlossen,  den  kostbaren  Opern-Pomp  zu  entbehren. 
um  für  den  ächten  dramatischen  Dichter  und  Schauspieler  Platz  zu  ge- 
winnen? Oder,  >um  aus  des  Verfassers  Erfahrung  etwas  zu  erwähnen, 
was  hat  es  geholfen,  dafs  seit  einem  Vierteljahrhundert  öfter  die  einfache 
Bemerkung  ausgesprochen  wurde,  der  anerkannte  Vorzug  der  griechischen 
Auetoren  vor  den  römischen,  und  schon  die  historische  Priorität  der 
Griechen  müsse  im  Tugendunterricht  Latein  und  Griechisch  in  umgekehrte 
Reihenfolge  stellen;  weil  die  jetzt  übliche  Folge  an  sich  die  verkehrte  ist, 
und  der  frühern  Jugend  gerade  die  besten  Eindrücke,  welche  das  Alter- 
thum  den  empfänglichen  Gemüthern  darbieten  kann,  unzugänglich 
macht  — ?  Und  doch  ist  der  Jugendunterricht  noch  bey  weitem  leichter 
abzuändern,  als  dies  in  den  Lebens-Verhältnissen  des  reifen  Alters  möglich 
ist.  Vom  Duell  —  dem  sogar  die  Gesetze  entgegentreten,  ■  -  wollen  wir 
lieber  schweigen.  Die  einzelnen  Fehler  haben  ihre  vesten  Wurzeln  im 
Ganzen  der  Sitten  und  Gewohnheiten. 

Wenn  nun  die  Frage,  was  eigentlich  in  Ansehung  der  wichtigsten 
Lebens-Verhältnisse  die  Philosophie  dem  praktischen  Bedürfnisse  zu  leisten 
habe,  und  wirklich  leiste?  noch  nicht  im  Zusammenhange  kann  beant- 
wortet werden;  wenn  z.  B.  die  Tauglichkeit  zum  Staatsdienst  noch  blofs 
durch  Prü[i9]fung  der  Kenntnisse  ausgemittelt,  die  Wirkung  der  vorge- 
schriebenen Arbeit  auf  den  Arbeiter  selbst  aber  nicht  überlegt,  sondern 
ihm  soviel  als  möglich  aufgebürdet,  und  sein  Geschafft  dabey  so  einseitig, 
wie  es  der  blofse  Begriff  desselben  mit  sich  bringt,  zugeschnitten  wird; 
wenn  die  Staatsdiener  auch  selbst,  ohne  viel  dabey  nachzudenken,  so  viel 
Last  übernehmen,  als  bezahlt  wird,  und  daneben  Erhohlung  suchen,  wo 
sie  zunächst  Gelegenheit  finden;  —  wenn  der  Ton  und  die  Form  des 
geselligen  Umgangs  zwar  überall  in  Reiseberichten  und  Journalen,  wenn 
die  mancherley  Motive  bey  Schliefsung  der  Ehen  zwar  überall  in  Ro- 
manen und  Novellen,  wenn  das  wichtige  Capitel  von  der  Freundschaft 
zwar  in  der  Regel  bey  den  alten  Philosophen  zur  Sprache  kommt,  die  neuern 
philosophischen  Werke    aber  davon  wenig  oder  nichts  zu  wissen  scheinen; 

—  wenn  höchst  selten  einer  von    den   grofsen  Denkern    sich   um  die,   in 
alle   Lebensverhältnisse  so  tief  eingreifende  National-Oekonomie  bekümmert 


1    Der   folgende  Satz  „um    aus    des  Verfassers  Erfahrung   etwas    zu    er- 
wähnen"   fehlt  in  der  II.  Ausg. 


■2$  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

hat,  wenn  die  damit  so  eng  verbundene  Lehre  von  den  Erbschaften  und 
Testamenten  fast  ganz  den  Juristen  überlassen  wird ;  so  darf  man  aus 
dieser  Unreife  der  Philosophie  nicht  auf  Unvermögen  schliefsen,  sondern 
die  Philosophie  hat  sich  zurückgezogen,  weil  man  auf  sie  nicht  hören 
wollte;  sie  hat  diejenigen  Untersuchungen  liegen  lassen,  von  denen  für 
die  Praxis  nichts  zu  erwarten  war;  sie  hat  dem  Reize  des  theoretischen 
Denkens  nachgegeben,  weil  sie  diesem  Interesse  ungestört  folgen  konnte. 
*Man  wird  aber  wohl  nicht  glauben,  das  Bisherige  gebe  den  Maafsstab 
fürs  Künftige.  Vieles  wird  Europa  von  Nord-Amerika  lernen,  sobald  dort 
die  Philosophie  zur  Blüthe  gelangt.  Vieles  wird  sich  in  Deutschland  selbst 
verändern,  sobald  man  erst  einsehn  wird,  dafs  die  Speculationen,  die  im 
engen  Kreise  der  allgemeinsten  metaphysischen  Grundbegriffe  möglich 
waren,  jetzt  durchlaufen  sind,  und  die  Wahl  zwischen  den  gemachten 
Versuchen  sich  bald  entscheiden  mufs ;  daher  auch  der  Streit  der  Systeme 
nicht  gar  lange  mehr  so  wie  bisher,  zum  Nachtheil  der  Auctorität,  welche 
der  Philosophie  gebührt,  unentschieden  schweben  kann.  Gesetzt  aber, 
man  wolle  das  Gegentheil  glauben:  so  [20]  weifs  man  wenigstens,  dafs 
manche  Ereignisse,  welche  in  neuerer  Zeit  auf  die  Philosophie  gewirkt 
haben,  sich  nicht  leicht  in  ähnlicher  Art  wiederhohlen  können.  Jener 
Taumel  der  Völker,  da  man  von  papiernen  Constitutionen  Heil  er- 
wartete, ist  vorüber.  Auch  die  Philosophen  werden  nun  nicht  mehr  die 
Frage  von  der  Staatsverfassung  herausreifsen  aus  dem  Zusammenhange, 
wohin  sie  gehört.  Sie  werden  einsehn,  dafs  einzelne  Fragepuncte  über 
eine  grofse  Verkettung  von  Ursachen  und  Wirkungen  nicht  einmal  richtig 
beurtheilt,  vielweniger  einzelne  Uebel  in  der  Wirklichkeit  mit  Erfolg  be- 
kämpft werden  können.  Als  Resultat  der  Betrachtung  können  wir 
wenigstens  dies  veststellen: 

Das  praktische  Bedürfnifs  der  Philosophie  in  Ansehung  der  Lebens- 
verhältnisse geht  dahin,  die  einzelnen  Reflexionen  darüber,  welche  für 
sich  eben  so  unwirksam  als  unbestimmt  und  schwankend  bleiben 
würden,  zu  einem  System  zu  verknüpfen,  welches  dem  wirklichen 
Ineinandergreifen  dieser  Lebensverhältnisse  entspreche,  und  sie  so  voll- 
ständig als  möglich  beleuchte. 

14.  2Es  wird  scheinen,  hier  geschehe  ein  Sprung  im  Schliefsen;  welches 
andeutet,  dafs  die   Betrachtung  mufs  fortgesetzt  werden. 

1  Der  folgende  Text  bis  zum  Schlufs  von  13  ist  in  der  II.  Ausg.  weggeblieben. 

-  Statt  der  folgenden  4  Absätze:  „Es  wird  scheinen  ...  in  welche  sie  dadurch 
geräth"  hat  die  II.  Ausg    folgenden  Text: 

14.  Um  den  Unterschied  der  theoretischen  und  praktischen  Philosophie 
anzudeuten,  haben  wir  oben  dem  um  die  richtige  Anordnung  seiner  Lebens- 
weise besorgten  Menschen  einen  kalten  Zuschauer  gegenüber  gestellt. 
Die  Kälte  mag  nun  verschwinden;  der  gleichgültige  Zuschauer  mag  sich 
in  den  theilnehmenden  verwandeln.  Die  Theilnahme  mag  nicht  blofs  die 
äufseren  Lebensverhältnisse  (7  u.  f.),  sondern  auch  das  Innere,  die 
Wechselwirkung  des  Menschen  mit  sich  selbst  (12.)  umfassen.  Aber  es 
schwell  in  Frage,  wie  viel  oder  wie  wenig  diese  Theilnahme  helfe?  Sie 
soll  sich  nicht  aufdringen,  wo  sie  nicht  gesucht,  vollends  wo  ihr  wider- 
strebt  wird.      Vorausgesetzt   nun,    die   Philosophie   ziehe   sich    zurück    vor 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre,      i.  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.         30, 


Die  Unwirksamkeit  einzelner  Reflexionen  über  praktisch-wichtige 
Lebensverhältnisse  zeigt  zwar  ihre  Schwäche;  der  Schlufs,  welcher  sich 
zunächst  darbot,  war  alsdann  dieser:  man  mufs  die  Ueberzeugungskraft 
der  nämlichen  Reflexionen  verstärken,  indem  man  sie  verknüpft,  und 
gegenseitig  durch  einander  bewährt  oder  berichtigt.  Der  Sprung  im 
Schliefsen  aber  scheint  sich  zu  verrathen,  indem  an  den  Widerstand  ge- 
dacht wird,  den  die  philosophischen  Anweisungen  finden.  Es  ist  nämlich 
die  Kraft  des  Widerstandes  keine  bestimmte  Größe,  die  man  zu  übenvinden 
hätte,  sondern  sie  wächst,  je  meh)  sie  gespannt  wird*  [21]  Jemehr  An- 
sprüche, desto  stärker  die  Zurückweisung.  Wenn  die  Argumente  systematisch 
anrücken,  so  wird  der  Sturm  des  wirklichen  Lebens  sie  desto  sicherer 
fassen  und  zerstreuen.  Wollen  die  Philosophen  sich  noch  lauter  als  bisher 
gelten  machen,  und  zwar  aufserhalb  ihrer  Schulen:  so  wird  nur  desto 
sicherer  von  dem  Geschrey,  das  sich  erhebt,  ihre  Stimme  übertönt  werden. 
Es  wäre  vergeblich,  und  es  heifst  blofs  die  Weit  nicht  kennen,  —  von 
einem  Systeme  gröfsere  Ueberzeugungskraft  zu  erwarten,  als  von  einzelnen 
Reflexionen. 

In  der  That  also  bedarf  das  vorhin  Vestgestellte  einer  nähern  Be- 
stimmung, von  der  es  sich  mufs  beschränken  lassen. 

Obgleich  die  Philosophie  ihren  Beruf,  dem  praktischen  Menschen 
zu  dienen,  anerkennt:  so  zieht  sie  dennoch  sich  vor  einem  Widerstände, 
den  sie  nicht  überwinden  kann,  zurück,  —  und  überlegt  nun  weiter  die 
Stellung,  in  welche  sie  dadurch  geräth. 

Praktisches  Bedürfnifs  nach  Lehre  und  Warnung  würde  für  uns  vor- 
handen seyn,  wenn  wir  Theil  hätten  an  den  Ereignissen  fremder  Länder; 
während  wir  aber  etwa  in  der  Zeitung  die  Erzählung  lesen  von  Dingen, 
bey  denen  wir  nichts  thun  können,  gerathen  wir  in  einen  Mittelzustand 
zwischen  Bedürfnifs  und  Gleichgültigkeit;  wir  bleiben  aufmerksame  Zu- 
schauer, unser  Interesse  hat  noch  immer  einen  praktischen  Grund,  denn 
wir  denken  uns  in  die  fremden  Angelegenheiten  hinein,  jedoch  dies 
Interesse  läfst  sich  von  einem  theoretischen  nicht  mehr  scharf  unter- 
scheiden. Und  wie  die  Natur  uns  weniger  im  Einzelnen,  mehr  durch 
ihren  grofsen  Zusammenhang  interessirt:  so  auch  lassen  wir  bey  Angelegen- 
heiten des  Lebens,  die  wir  nicht  lenken  können,  los  von  dem  Augen- 
blicklichen, und  fragen  nur:  was  wird  daraus  werden?  Wie  konnte  es 
werden?  Unser  Denken  richtet  sich  auf  Zukunft,  auf  Vergangenheit, 
auf  die  Verbindung  zwischen  beiden. 

Mit  Einem  Worte:  das  praktische  Bedürfnifs  der  Philosophie  geht 
über  in  das  Interesse  für  die  Philosophie  der  Geschichte.  Müssen  wir 
uns  abwenden  von  den  Lebensverhält[2  2]nissen,  die  sich  keine  Ab- 
änderung durch    guten    Rath    wollen   gefallen    lassen;    kann    es    wenigstens 


einem  mannigfaltigen  Widerstände,  den  sie  überwinden  weder  kann  noch 
will:  so  leitet  uns  eben  diese  Voraussetzung  dahin,  die  Gränzen  der  bis- 
herigen Betrachtung  zu  erweitern;  denn  wir  sind  hier  keinesweges  auf  das 
Gebiet  einer  unmittelbaren  praktischen  Wirksamkeit  beschränkt. 

*  Der  Leser   beliebe,   sich    diesen    Satz  vest    einzuprägen.       Es    ist  mannigfaltiger 
Gebrauch  davon  in  höhern  Untersuchungen  zu  machen. 


4Q  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

für  jetzt  nicht  lohnen,  in  Ansehung  ihrer  ein  eigentliches  System  der 
Wissenschaft  aufzustellen;  sind  vielleicht  im  Gebiete  des  Wissens  selbst 
manche  Gedanken  noch  nicht  reif  genug  dazu;  mufs  vielleicht  die  Philosophie 
selbst  ihre  Würdigkeit,  als  öffentliche  Rathgeberin  geehrt  zu  werden,  voll- 
ständiger darthun;  mufs  sie  die  Streitigkeiten  ihrer  Schulen  erst  zu  Ende 
bringen,  bevor  sie  nach  Aufsen  wirken  kann :  so  verschwindet  zwar  darum 
ihre  Theilnahme  an  den  menschlichen  Angelegenheiten  nicht;  aber  die- 
selbe dehnt  sich  weiter  aus,  kümmert  sich  weniger  um  den  Augenblick, 
betrachtet  das  Ganze  mehr  aus  der  Ferne,  umfafst  einen  gröfseren  Ge- 
sichtskreis, sucht  die  Gesetze  des  Fortgangs  und  Rückgangs  der  mensch- 
lichen Dinge  im  Allgemeinen  aufzufassen;  und  benutzt  dazu  die  That- 
sachen,  welche  die  Geschichte  ihr  darbietet. 

15.  Die  Geschichte  hat  das  Eigne,  dafs  sie  die  Handlungen  der 
Menschen,  welche  einzeln  genommen  für  frey  gelten,  als  Tropfen  in  einem 
Strome  darstellt,  der  ihnen  seine  Bewegung  ertheilt  und  sie  mit  sich  fort 
zieht.  Diejenigen  z.  B.,  welche  der  Philosophie  den  Zutritt  zu  praktischen 
Dingen  versperren,  machen  eben  dadurch  ihrer  Freyheit  Bahn ;  sie  wollen 
nur  gehorchen  wo  sie  müssen,  nicht  aber  den  machtlosen  Ansprüchen 
ungebetener  Rathgeber  sich  fügen.  Indem  sie  nun  frey  handeln,  ^  um 
möglichst  frey  zu  bleiben:  sieht  der  Philosoph  in  ihrem  Thun  nichts 
anderes,  als  einen  bleibenden  Widerstand  der  lorurt  heile,  die  zu  einem 
gröfsern  Kreise  von  Meinungen,  Partheyungen,  Privat-Interessen  gehören, 
wie  man  dergleichen  überall  in  der  Geschichte  wiederfindet.  An  den 
Ausspruch :  Sie  wissen  nicht  was  sie  thun !  wird  man  oft  genug  auch  von 
Solchen  erinnert,  welche  meinen,  sehr  genau  zu  wissen  was  sie  thun. 

Es  zeio-t  sich  aber  hier  ein  merkwürdiger  Unterschied  der  Ansicht 
bey  verschiedenen  grofsen  Denkern.  Kant  überliefs  alles  Zeitliche,  mithin 
auch  das  Treiben  der  Menschen,  so  fern  [23]  es  in  jenem  Strome 
schwimmt,  der  Natur-Nothwendigkeit ;  er  fand  die  Freyheit,  worauf  die 
menschlichen  Handlungen  Anspruch  machen,  nicht  in  dem  Handeln, 
sondern  im  Willen;  nicht  im  Sinnlichen,  sondern  im  Uebersinnlichen. 
Die  Zeit  selbst  war  in  seinen  Augen  blofse  Erscheinungsform;  das  wahr- 
haft-Seyende,  unerreichbar  nicht  blofs  unsern  Sinnen,  sondern  auch  unserm 
Verstände,  sollte  als  der  Sitz  der  Freyheit  von  allem  Grübeln  unange- 
tastet bleiben,  damit  die  Begriffe  von  Schuld  und  Verdienst,  die  Voraus- 
setzungen der  Zurechnung,  nicht  von  der  Natur-Nothwendigkeit  möchten 
verschlungen  werden. 

Was  Kant  zum  Obersten  machte,  das  stellt  Hegel  in  den  untern 
Rang.  Bey  ihm  giebt  es  vier  welthistorische  Reiche:  das  orientalische, 
griechische,  römische  und  germanische;  es  giebt  ein  Heroenrecht  zur  Stiftung 
von  Staaten;  dies  ist  das  absolute  Recht  der  Idee,  die  sich  verwirklicht, 
sey  es  nun,  dafs  die  Form  dieser  Verwirklichung  als  göttliche  Gesetzgebung 
und  Wohlthat,  oder  als  Geivalt  und  Unrecht  erscheine.  Die  Völkergeister 
haben  ihre  Wahrheit  und  Bestimmung  in  dem  Weltgciste,  um  dessen 
Thron  sie  als  Vollbringer  und  als  Zeugen  seiner  Herrlichkeit  stehen. 
Staaten,  Völker  und  Individuen  haben  zwar  ihre  Art  von  Wirklichkeit, 
deren  sie  sich  bewufst,  und  in  deren  Interesse  sie  vertieft  sind;  allein 
zugleich  sind  sie  unbewufste  Werkzeuge  des  innern  Geschäffts,  wodurch  der 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre,      i.  Capitel.     Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.  u 

Weltgeist  fortschreitet,  indem  er  bey  jedem  Uebergange  sich  seine  nächst 
höhere  Stufe  vorbereitet  und  erarbeitet.  —  Wo  bleiben  denn  hier  Ver- 
dienst und  Schuld?  „Gerechtigkeit  und  Tugend,  Unrecht,  Gewalt  und 
Laster,  Talente  und  ihre  Thaten,  die  kleinen  und  die  grofsen  Leiden- 
schaften, Schuld  und  Unschuld,  Herrlichkeit  des  individuellen  und  des 
Volkslebens,  Selbstständigkeit,  Glück  und  Unglück  der  Staaten  und  der 
Einzelnen,  haben  in  der  Sphäre  der  bewufsten  Wirklichkeit  l  ihre  Be- 
deutung und  ihren  Werth,  und  finden  darin  ihr  Urtheil  und  ihre,  jedoch 
unvollkommene  Gerechtigkeit.  Die  Weltgeschichte  fällt  aufser  diesen 
Gesichtspuncten;  in  ihr  erhält  dasjenige  nothwendige  [24]  Moment  der 
Idee  des  Weltgeistes,  welches  gegenwärtig  seine  Stufe  ist,  sein  absolutes 
Recht;  und  das  darin  lebende  Volk  und  dessen  Thaten  erhalten  ihre 
Vollführung,   und  Glück  und   Ruhm."* 

Man  sieht,  Freyheit  der  Einzelnen,  Zurechnung  der  Handlungen, 
wird  hier  untergeordnet,  die  Naturnothwendigkeit  aber,  welcher  die 
Menschen  dienen  ohne  es  zu  wissen,  ist  zum  Weltgeiste  verklärt. 

Wir  haben  nun  zwar  hier  nicht  nöthig,  uns  für  Hegel  oder  für  Kant 
zu  erklären ;  allein  wir  erblicken  hier  Versuche,  Freyheit  und  Xatur  zu 
vereinigen;  diese  Versuche  entstehen,  indem  die  menschlichen  Handlungen 
als  historische  Gegenstände  sollen  betrachtet  werden;  denn  dadurch  ver- 
wandelt sich  vor  unsern  Augen  das  Freye  ins  Natürliche;  und  das  Be- 
wufstseyn,  worin  der  Wille  sich  selbst  anschaut  und  bestimmt,  wird  ein 
Gegenstand,  der  sich  und  seinen  Platz  nicht  kennt,  nicht  weifs  wie  ihm 
geschieht,  wem  er  dient,  was  er  bedeutet  und  werth  ist.  Gerade  wie 
Menschen,  die,  ohne  es  zu  merken,  von  unsichtbaren  Obern  gelenkt 
werden. 

So  hat  sich  demnach  unser  voriger  Gesichtskreis  sehr  verändert  und 
erweitert.  Das  praktische  Bedürfhifs  der  Philosophie  wollten  wir  zergliedern. 
In  dem  Augenblick,  wo  auf  dem  Schauplatze  des  menschlichen  Lebens 
die  Philosophie  sich  recht  thätig  zeigen  sollte,  fanden  wir,  sie  habe  sich 
zurückgezogen.  Warum  ?  weil  sie  Widerstand  erleidet.  Hiedurch  trat 
an  die  Stelle  des  Bedürfnisses  ein  blofses  Interesse,  es  fand  sich  ein 
Schauen  statt  des  Wirkens;  zugleich  aber  erweitert  sich  der  Blick;  er 
dehnt  sein  Gesichtsfeld  so  aus,  dafs  die  Natur  mit  hinein  gehört. 

Hier  geschieht  ein  Schritt,  der  sich  nicht  halb  thun  läfst.  Es  gehört 
zu  den  Abstractionen,  die  als  nächste  Anlässe  zu  mancherley  Irrthum 
sollen  gemieden  werden,  wenn  man  das  Zeitliche  losreifsen  will  vom 
Räumlichen.  Alle  Geschichte  hat  \_2^\  ihren  Schauplatz;  alles  menschliche 
Leben  ist  leiblich  und  geistig  zugleich;  Familien-  und  Dienstverhältnisse 
könnten  ohne  den  Leib,  und  ohne  den  Boden,  auf  dem  er  wandelt,  nicht 
einmal  gedacht  werden.  Mag  also  immerhin  die  Naturphilosophie  dem 
praktischen  Bedürfnisse  fremdartig  scheinen:  wer  keine  zerrissene  Philosophie 
will,  der  mufs  auch  dahinein  schauen. 

16.     Die  naturphilosophischen  Fragen  hängen  nun  wieder  unter  sich 


*  Hegels  Xaturrecht,  §  344,  345,  352  u.  s.  w. 


1  haben  in  der  bewufsten  Wirklichkeit  SW.  („der  Sphäre"  fehlt). 


12  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


zusammen.  Man  kann  von  dem  menschlichen  Leibe  nichts  Gründliches 
wissen,  wenn  man  nicht  zuvor  weiis,  was  ein  starrer  Körper  ist,  und  was 
in  ihm  vorgeht,  wenn  er  flüssig  wird;  man  kann  die  Flüssigkeit  nicht  er- 
klären, wenn  nicht  die  Begriffe  von  der  Wärme  gehörig  bestimmt,  und 
die  Streitigkeiten  hierüber  wenigstens  mit  Wahrscheinlichkeit  entschieden 
sind,  u.  s.  w.  Allein  hiemit  soll  nicht  gesagt  seyn,  dafs  alle  Puncte  der 
Naturphilosophie  für  das  praktische  Interesse  in  den  gleichen  Rang  treten 
könnten,  *Sie  stehn  vielmehr  demselben  theils  näher  theils  ferner,  und 
müssen  in  dieser  Stellung  gehalten  bleiben,  wenn  nicht  der  Zweck  dieses 
Buches  soll  verrückt  werden. 

Das  leibliche  Leben  des  Menschen  ist  der  Punct,  von  wo  aus  das 
praktische  Interesse  (um  nicht  mehr  zu  sagen:  das  praktische  Bedürfnifs,)  2 
in  die  Naturlehre  hinübergreift.  Schon  dann  geschieht  eine  beträchtliche 
Erweiterung  dieses  Anfangs,  wenn  wir  den  menschlichen  Leib  als  einen 
Thierleib  im  Allgemeinen,  und  wiederum  das  Thier  neben  der  Pflanze 
als  Organismus  überhaupt  ins  Auge  fassen.  Damit  jedoch  bis  hieher 
wenigstens  das  praktische  Interesse  willig  folge,  dazu  wirkt  ein  starker 
Grund,  der  nur  braucht  genannt  zu  werden:  die  Ziveckmäfsigkeit  der 
Organismen,  und  die  Aehnlichkeit  in  ihrem  Bau,  worin  Jedermann  sogleich 
auf  den  Gedanken  Eines  Schöpfers  würde  geführt  werden,  wenn  ihm  auch 
von  Gott  nie  etwas  gesagt  wäre.  Allein  die  Philosophie  hat  in  dieser 
Sphäre,  wo  sie  vor  dem  Unbegreiflichen  still  steht,  mehr  ein  negatives, 
als  ein  positives  Geschafft.  Sie  mufs  Irrthümer  falscher  Systeme  ab- 
wehren. 3 

[26]  17.  Bisher  hatten  wir  das  allgemeine  praktische  Bedürf- 
nifs der  Philosophie  im  Auge  (7.);  welches  Statt  finden  wird,  wo  irgend 
Menschen  zusammen  ein  geordnetes  Leben  führen  wollen.  Wir  hielten 
uns  auf  einem  Standpuncte  der  Abstraction  von  den  besondren  Ver- 
hältnissen der  jetzigen  Zeit,  und  dem  daraus  entspringenden  Bedürfnisse. 
Allein  das  Besondere  enthält  neue,  oft  stärkere,  oft  auch  entgegengesetzte 
Motive,  als  das  Allgemeine.  Das  am  meisten  Besondere,  nämlich  das 
Individuelle,  enthält  die  stärksten  von  allen.  Ob  philosophisches  Talent 
bey  Diesem  oder  Jenem  in  hohem  Grade  vorhanden  ist  oder  fehlt:  darin 
liegt  für  den  Einen  und  den  Andern  der  stärkste  Antrieb  und  die  stärkste 
Abmahnung. 

Hievon  schweigend,  heben  wir  aus  dem  Besondern  des  heutigen 
wissenschaftlichen  Zustandes  das  Nöthigste  heraus;  indem  wir  die  Philo- 
sophie als  Facultätswissenschaft  neben  andern  betrachten,  mit  Rücksicht 
auf  die  sogenannten  obern  Facultäten,  der  Theologie,  Jurisprudenz,  und 
Medicin,  und  mit  Erinnerung  an  den,  in  der  That  sehr  besondern  Um- 
stand, dafs  die  Philosophie  meist  von  den  Kathedern  ausgeht. 


1  Die  folgenden  Worte  „Sie  stehn  vielmehr  .  .  .  soll  verrückt  -werden" 
fehlen  in  der  II.  Ausg. 

-  Die  Parenthese:  „(um  nicht  mehr  zu  sagen:  das  praktische  Bedürf- 
nifs,)"   fehlt  in  der  II.  Ausg. 

ä  falscher  Systeme  abwehren;  ein  Umstand,  auf  den  wir  späterhin  zu- 
rückkommen.     II.  Ausg. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre,      i.   Capitel.      Vom  praktischen  Bedürfnisse  etc.         43 

Jünglinge  werden  ermahnt,  in  die  philosophischen  Hörsäle  zu  gehen. 
Was  ist  der  ursprüngliche  Zweck?  Sollen  sie  etwa  dort  Theologie,  Juris- 
prudenz, und  Medicin  lernen?  Gewifs  nicht;  und  wenn  irgend  ein  philo- 
sophischer Vortrag  sich  davon  die  Miene  giebt,  so  entfernt  er  die  Zu- 
hörer von  ihrem  Zwecke.  Aber  ein  gewisses  Geschick,  eine  gewisse  Vor- 
übung für  jene  Studien  sollen  sie  dort  erlangen;  ein  allgemeines  Geschick 
für  alle,  und  zwar  zunächst  ohne  Rücksicht  auf  den  Unterschied  und  auf 
die  Verbindung  derselben  unter  einander.  Welches  Geschick?  Das  des 
abstracten  Denkens  auf  dessen  verschiedenen,  höhern  und  niedern  Stufen. 
Begriffe  als  solche  sollen  sie  behandeln  lernen:  sonst  kommen  sie  in  die 
Hörsäle  der  obern  Facultäten  mit  dem  rohen  psychologischen  l  Mechanismus, 
welcher,  vom  Einzelnen  nicht  loslassend,  überall  das  Bedeutende  ins 
Zufällige  versinken  läfst,  und  an  Beyspielen  klebend,  die  Hauptpuncte 
nicht  vestzuhalten  ver[2  7]mag.  Gesetzt  einmal,  die  Theologen,  Juristen, 
Aerzte,  führten  unter  sich  keine  gelehrten  Streitigkeiten,  und  zerfielen  nicht 
in  Partheyen:  dann  möchte  das  Bedürfnifs  der  Philosophie  weniger  merk- 
lich seyn;  um  aber  diese  Streitigkeiten  auch  nur  zu  verstehen,  dazu  ist 
nöthio-,  die  Puncte,  worauf  es  ankommt,  herausheben  zu  können;  anderes 
aber  bey  Seite  zu  setzen;  die  verschiedenen  Meinungen  in  gehörige  Ent- 
fernung gegen  einander  zu  stellen;  und  nun  den  Spielraum,  welcher  für 
eine  jede  noch  übrig  bleibt,  ja  die  Bewegungen,  welche  innerhalb  dieses 
Spielraums  noch  möglich  sind,  zu  bestimmen;  damit  man  sehe,  ob  die 
Partheyen  sich,  ohne  etwas  Wesentliches  aufopfern  zu  müssen,  vereinigen 
lassen,  oder  auch,  welche  Aufopferungen  des  zuvor  Behaupteten  die 
die  kleinsten  seyen,  damit  die  Vereinigung  mit  dem  geringsten  Verluste 
zu  Stande  komme.  —  Dies  ist  die  Ansicht  der  Philosophie,  welche  sich 
den  obern  Facultäten  stets  von  neuem  aufdringen  wird,  wenn  sie  ja  aus 
übler  Laune  versuchen  sollten,  die  Philosophie  für  entbehrlich  zu  erklären. 

Aber,  möchte  man  sagen,  warum  sollen  die  Schüler  der  Theologen, 
Juristen,  und  Medianer,  alle  aus  einer  gemeinsamen  Vorschule  kommen? 
Mag  doch  jede  Facultät  sich  selbst  ihre  Vorschule  einrichten;  und,  weil 
alsdann  drey  Philosophien  neben  einander  entstehen  würden,  so  mag  zur 
Vermeidung  des  zu  besorgenden  Streites  der  philosophische  Boden  im 
Voraus  getheilt  werden !  Dann  bekommen  die  Theologen  das  Uebersinnliche, 
die  Juristen  die  Gesellschaft,  die  Aerzte  die  Materie  und  das  irdische 
Leben.  —  Offenbar  hätten  solchergestalt  die  Aerzte  nicht  blofs  den  reich- 
haltigsten Stoff,  sondern  auch  das  Uebergewicht.  Denn  über  Materie  und 
leibliches  Leben,  mit  Inbegriff  des  zeitlichen  Seelenlebens,  lassen  sich  die 
weitläufigsten  Untersuchungen,  gegründet  auf  Erfahrung,  und  eben  durch 
sie  auch  zu  unsinnlichen  Dingen  fortgeführt,  anstellen;  während  die  Juristen 
lediglich  unter  Voraussetzung  des  leiblichen  Lebens  eine  Gesellschaft  vor 
sich  sehn.  Diese  Voraussetzung,  sammt  den  zu  ihr  gehörigen  Kenntnissen 
und  Nachforschungen  müfsten  also  die  Juristen  [28]  von  den  Aerzten 
entlehnen;  der  Weg  zu  ihrem  Grundstück  ginge  dann  durch  einen  fremden 
Garten.     Die  Theologen  vollends  sprechen  nur  von  dem  Verhältnifs  zwischen 


1  psychischen  n-  Ausg.a 


a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  anzugeben. 


,  ,  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


Gott  und  den  Menschen;  die  Menschen  aber  wohnen  auf  der  Erde;  die 
Erde  aber  ist  ein  Planet,  der  früher  da  war,  als  die  Menschen;  das 
Planetensystem  unserer  Sonne  aber  gehört  zum  Fixsternhimmel;  welche 
Anordnungen  aber  die  Gottheit  auf  ander 71  Sternen  getroffen  habe,  das  wissen 
die  Theologen  nicht;  ihr  Wissen  von  dem  Wirken  Gottes  ist  demnach  so 
aufserordentlich  beschränkt,  dafs,1  wenn  sie  die  Seele  des  Menschen 
im  zeitlichen  Leben  an  die  Aerzte,  und  überdies  die  geselligen  Verhält- 
nisse der  Menschen  an  die  Juristen  zur  Betrachtung  abgeben  wollten, 
ihre  Philosophie  in  jedem  Betracht  zu  kurz  kommen  dürfte!  Die  Theilung 
des  Bodens  der  Philosophie  gelingt  also  nicht;  und  wer  die  Schwierig- 
keiten, diesen  Boden  zu  bearbeiten,  nur  einigermafsen  aus  der  Geschichte 
der  Philosophie  kennt,  dem  kann  es  nicht  einfallen,  solche  Arbeit  als  ein 
Nebengeschäflt  denen  anheim  zu  stellen,  die  ohnehin  genug  zu  thun 
haben. 

18.  Aus  diesen  Gründen  würde  von  einer  Übeln  Laune  der  obern 
Facultäten  gegen  die  Philosophie  gar  kein  Gedanke  entstehen  können, 
wenn  nicht  die  Philosophen  Manches  verschuldet  hätten,  was  aus  ihrer 
Stellung  leichter  zu  erklären,  als  zu  entschuldigen  ist.  Beschäftigung  mit 
abstracten  Begriffen  macht  dieselben  zu  Objekten  des  Denkens.  Durch 
die  Vertiefung  des  Denkens  gerathen  nun  diese  Objekte  scheinbar  in  Eine 
Reihe  mit  den  gegebenen  Objecten.  Die  ganze  Geschichte  der  Philosophie 
bezeugt,  welche  eingebildete  Erkenntnifs  daraus  entspringt,  dafs  man  die 
Beziehung  des  Abstracten  auf  das  Gegebene  aus  den  Augen  verliert.  So 
bekamen  Platons  Ideen  den  Schein  von  Realität;  so  gerieth  Aristoteles 
auf  die  Frage,  welche  Stelle  den  mathematischen  Gegenständen  neben  den 
Ideen  und  den  Sinnendingen  gebühre;  so  kam  eine  reine  Vernunft  und 
ein  reines  Ich  zum  Vorschein,  und  so  mufste  ein  berühmtes  Buch,  die 
Kritik  der  reinen  Ver[2g]nunft,  geschrieben  werden,  um  zu  zeigen,  das 
Seelen-Vermögen,  genannt  reine  Vernunft,  sey  kein  Erkenntnifs- Vermögen; 
—  anstatt  zu  sagen,  die  eingebildete  reine  Vernunft  sey  nichts  anderes, 
als  ein  Abstractum,  dessen  Beziehungen  die  Psychologie  vergessen  habe. 
Friedrich  Schlegel,  der  zwar  die  ganze  Philosophie  für  eine  Art  von 
angewandter  Theologie  hielt,*  machte  gegen  das  Abstractum,  welches  man 
das  Absolute  nennt,  die  sehr  richtige  Bemerkung:  „Ich  wäre  begierig  zu 
sehen,  wie  man  aus  dem  metaphysischen  Lieblings-i&or/^"  des  Absoluten 
irgend  eine  positive  Eigenschaft  Gottes,  z.  B.  die  Geduld  oder  Langmuth 
herleiten  wollte.  Wir  dürfen  hoffen,  dafs  seine  Gerechtigkeit,  die  erste 
aller  seiner2  Eigenschaften,  nicht  unbedingt  ist,  sondern  ganz  überaus  be- 
dingt,  durch   seine  Vaterliebe,   Nachsicht  und   Güte."** 

Aus    dem  Vergessen    der  Beziehungen,    wodurch  das  Abstracte    allein 


1  dafs,  wenn    sie  den   Menschen    im   zeitlichen  Leben   mit  Leib   und 
Seele,  so  wie  die  Physiologen  es  wohl  verlangen  möchten,  an  die  Aerzte  .  .  . 

II.   Ausf,'.» 

*  Fr.  Schlegels   Philosophie  des  Lebens,  neunte  Vorlesung,  S.   263. 
**  Ebendaselbst,   dritte  Vorlesung,   S.    "8. 


a   SW  drucken    nach  der  II.  Ausg.    ohne  Angabe   der  Abweichung   der   I.   Ausg. 
2  die  erste  aller  Eigenschaften  SW.  („seiner"  fehlt). 


I.Abschnitt.   Elementarlehre.   2.  Capitel.  Vom  Menschen  in  seiner  Gebundenh.  etc         ^e 

Bedeutung  hat,  entsteht  nun  eine  Losreifsung  des  vermeintlich  selbstständig- 
zulänglichen  philosophischen  Wissens,  wie  wenn  die  nähern  Bestimmungen, 
welche  von  den  obern  Facultäten  hinzu  gethan  werden  sollten,  nicht  mehr 
nöthig  wären.  Daher  eine  Vorspiegelung  von  einstiger  Herrschaft  der 
Philosophie;  und  auch  eine  Furcht  vor  solcher  Herrschaft,  und  ein 
Widerstreben  gegen  dieselbe.  Aber  die  Theologen  werden  ihre  Scheu,  sie 
möchten  über  der  Philosophie  ihre  Theologie,  die  Juristen,  sie  möchten 
das  positive  Recht  und  dessen  historische  Entwicklung,  die  Aerzte,  sie 
möchten  die  empirische  Kenntnifs  der  Heilmittel  aus  den  Augen  verlieren, 
—  von  selbst  aufgeben,  sobald  die  Philosophie  die  mancherley  Irrthümer 
berichtigt,  welche  dem  Allgemeinen  einen  Werth  beylegen,  der  ihm  nicht  zu- 
kommt. 

ig.  Man  würde  zwar  von  einem  philosophischen  Vortrage  aus  prak- 
tischen Gesichtspuncten  wohl  erwarten,  dals  der  [30]  selbe  mit  den  allgemeinsten 
Principien  der  praktischen  Philosophie  beginnen  solle,  um  von  diesen  all- 
mählich herabsteigend  die  menschlichen  Angelegenheiten  ihnen  unterzu- 
ordnen, und  daran  die  nothwendigsten  Naturbegriffe  zu  knüpfen.  Allein 
theils  liegt  selbst  bey  den  allgemeinste//  Principien  der  Werth  nicht  in  der 
Allgemeinheit;  theils  ist  es  die  schon  erklärte  Absicht  dieses  Buchs,  der 
Gewöhnung  an  Abstractionen  entgegenzuarbeiten,  ^eberdies  redet  in 
diesem  Buche  nicht  die  Wissenschaft,  sondern  mit  dem  gelehrten  Publicum 
spricht  der  Verfasser  über  die  Wissenschaft;  und  der  geneigte  Leser, 
welchem  Fache  er  auch  angehören  möge,  wolle  gefälligst  bemerken,  dafs 
Er  es  ist,  zu  welchem  geredet  wird.  Wir  stellen  daher  die  Philosophie 
den  Wissenschaften  der  sämmtlichen  drey  obern  Facultäten  zugleich  da- 
durch gegenüber,  dafs  wir  den  Menschen  in  einer  dreyfachen  Abhängig- 
keit betrachten;  hiebey  aber  werden  uns  die  Zielpuncte  vorschweben, 
welche  wir  nach  den  obigen  Entwickelungen  (12  — 16.)  im  Auge  behalten 
sollen.  2Es  ist  zu  wünschen,  dafs  man  zum  nächsten  Capitel  einige  Ge- 
duld mitbringe,  denn  wir  müssen  auf  einen  Augenblick  ins  Dunkel  führen ; 
blofs  um  einige  Versuche,  sich  herauszufinden,  und  einige  Anspannung  des 
eignen  Denkens  zu  veranlassen.  Auf  blofses  gemächliches  Lesen  wird  ja 
doch  Keiner,  der  ein  philosophisches  Buch  in  die  Hand  nimmt,  sich 
verlassen  wollen. 


1  Die  Worte:    „Ueberdies   redet    ...   zu  welchem  geredet  wird."    fehlen 
in  der  II.  Ausg. 

2  Das  Folgende  bis  zum  Schluss  fehlt  ist  in  der  II.  Ausg. 


4  6  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

Zweytes  Capitel. 
Vom  Menschen  in  seiner  Gebundenheit  an  die  Natur,   den  Staat 

und  die  Kirche. 

^o.  Es  wäre  sehr2  unzeitig,  hier  das  bekannte  Gemälde  der  Ab- 
hängigkeit des  Menschen  von  der  Natur  aufzustellen. 3  Jeder  Staatsbürger 
hat  im  Staate  einen,  theil weise  wenigstens,  bequemen  Platz,  und  findet 
Schutz  gegen  die  Natur,  welche  vor  alter  Zeit  der  Gesellschaft  noch  nicht 
so  dienstbar  geworden  war,  wie  heute.  Nur  freylich,  Mangel,  Krankheit 
und  Tod  bedrohen  aus  der  Ferne,  —  der  letztere  gewifs  —  auch  den 
Glücklichen;  und  wer  ist  denn  glücklich,  so  lange  es  neben  ihm  Leidende 

1  Der  folgende  Abschnitt  20  wird  in  der  II.  Ausg.  Abschnitt  21.  Die  II.  Ausg. 
hat  als  Abschnitt   20  folgenden  Text: 

20.  Die  erste  der  zuvor  unterschiedenen  Fragen  (12.)  lautete  so: 
Was  tadelt  oder  lobt  eigentlich  der  Mensch  an  sich  selbst,  indem  er  sich 
zum  Gegenstande  seiner  Betrachtung  macht?  Mit  dem  Vorbehalt,  auf  diese 
Frage  im  nächsten  Capitel  zurückzukommen,  (über  die  zweyte  jener 
Fragen  wird  sich  nur  allmählig  etwas  Licht  verbreiten),  verweilen  wir  für 
jetzt  noch  bey   einer  vorbereitenden   Ueberlegung. 

Nicht  ein  roher  und  sorgloser  Mensch  ist  Derjenige,  der  seine  Lebens- 
weise in  Ansehung  der  Geschaffte,  Gesinnungen,  der  Familie  und  des 
Dienstes  auf's  beste  zu  ordnen  sucht,  (7—9.);  sondern  nur  als  einen  sehr 
gebildeten  konnten  wir  ihn  auffassen.  Aber  ein  solcher  sieht  Andre  nebem 
sich;  und  nicht  blofs  Solche,  die  ihm  gleichstehn,  sondern  eine  Mehrzahl 
von  Personen,  welche  entweder  an  Bildung  oder  an  ernstem  Streben  zum 
Bessern  hinter  ihm  zurückbleiben.  Was  diese  theils  absichtlich  treiben, 
theils  ohne  oder  wider  ihre  Absicht  bewirken,  und  wie  davon  der  Gang 
der  Dinge,  der  Zustand  der  Gesellschaft  abhängt,  ist  für  ihn  ein  Schauspiel, 
wodurch  das   praktische  Bedürfnifs  der  Philosophie  aufs  neue  fühlbar  wird. 

[3  1  ]  Die  Mehrzahl  der  Menschen  fügt  und  schickt  sich  in  enge  Ver- 
hältnisse so  gut  sie  kann ;  horcht  aber  dabey  auf  das  Wort  Freyheit,  zum 
Zeichen  des  innern  Widerstrebens  gegen  jede  Gebundenheit.  Ist  nun 
einmal  der  Gegensatz  zwischen  Gebundenheit  und  Freyheit  ein  herrschen- 
der Gedanke  geworden,  so  vermischt  sich  damit  alles  Vorziehn  und  Ver- 
werfen. Zunächst  erscheint  alles  Löbliche  als  ein  Ausdruck  von  Freyheit, 
alles  Tadelhafte  als  ein  Beschränktes,  mit  Verneinungen  Behaftetes.  Da- 
neben aber  verräth  sich  bald,  wie  wenig  die  blofse  Freyheit  aus  sich 
das  Löbliche  erzeugt;  die  Handlungen  der  Menschen,  wenn  der  Zügel 
fehlt,  zeigen  zu  oft,  wie  wenig  sie  die  Freyheit  zu  gebrauchen  wissen. 
Nicht  blofs  die  Forderung  wird  laut,  dafs  der  Mensch  sich  selbst  be- 
herrschen solle,  wenn  er  nicht  schon  beherrscht  ist,  sondern  auch  die  Art 
der  Selbstbeherrschung  ist  nicht  willkührlich,  vielmehr  wird  sie  angesehen 
als  eine  vorgeschriebene,  gebotene,  der  man  sich  nicht  entziehen  solle. 

2  „sehr"    fehlt  in  der    II.   Ausg.* 

3  Hier  schiebt  die  IL  Ausg.  folgenden  Satz  ein:  Wir  leben  nicht  mehr  im 
Naturstande;  die  künstlichen  Einrichtungen  haben  gar  manches  daran  ver- 
ändert.     [Jeder  .  .  . 

■<■   s\V    drucken    nach  der  II.  Ausg.    ohne  Angabe   der  Abweichung   der  I.  Ausg. 


I.Abschnitt.  Elementarlehre.   2.  Capitel.  Vom  Menschen  in  seiner  Gebundenh.  etc.  17 

giebt?  —  Die  Abhängigkeit  von  der  Natur  bleibt  also,  jedoch  schon  sehr 
gemildert  durch  eine  andre,  in  gewöhnlichen  Fällen  weit  eher  erträgliche 
Abhängigkeit,  nämlich  die  von  der    Gesellschaft. 

Es  könnte  nöthig  scheinen,  diese1  zweyte  Abhängigkeit  mehr  hervor- 
zuheben; denn  sie  pflegt,  wie  gelinde  sie  auch  seyn  mag,  weit  unwilliger 
geduldet  zu  werden,  als  jene  erste.  Doch  hier  genügt  eine  kurze  Er- 
innerung: erstlich  an  die  Lehre,  die  Staaten  seyen  auf  einen  Vertrag  ge- 
gründet; zweytens  daran,  dafs  eben  hiegegcn  neuerlich  stark  protestirt  wird, 
und  dafs  die  Jurisprudenz  sich  von  der  Philosophie  hinweg,  zur  Geschichte 
gewendet  hat.  Man  sieht  nämlich  auf  den  ersten  Blick,  dafs  die  Not- 
wendigkeit, sich  in  die  Ordnung  und  den  Zwang  des  Staats  zu  fügen,  zuerst 
durch  die  Vorstellung  eines  willkührlichen  Vertrags  sollte  entfernt  oder 
doch  verhüllt  werden;  dafs  sie  aber  nackt  wieder  hervortrat,  weil  man 
durch  [32]  ein  verkehrtes  Streben  nach  Freyheit  nicht  freyer  geworden 
war.  Bey  historischer  Betrachtung  verwandelt  sich  das  Freye  ins  Natür- 
liche (15.))  und  die  historische  Jurisprudenz  hat  gerade2  die  nämliche 
Richtung,  wie  die  Philosophie,  wenn  das  Nothiv  endige ,  der  Widerstand 
der  Welt,  ihr  entgegenwirkt;  daher  man  jene  Jurisprudenz  im  Grunde3 
wohl  als  Philosophie,  die  sich  zurückzieht,  betrachten  könnte.  In  der  wirk- 
lichen Welt  aber  ist  ungeachtet  aller  veränderten  Staatslehre  doch  ein 
trauriges  Denkzeichen  von  der  Ansicht,  ein  Vertrag  sey  der  Grund  des 
Staats,  und  dieser  Vertrag  könne  mit  beiderseitiger  Genehmigung  auf- 
gehoben werden,  —  übriggeblieben,  oder  vielmehr  erst  neuerlich  recht  zum 
Vorschein  gekommen:  nämlich  die  häufigen  Auswanderungen ,  gegen 
welche  selbst  die  ungünstigsten  Nachrichten  von  dem,  was  man  in  fernen 
Ländern  zu  erwarten  habe,  nicht  viel  vermögen.  Der  Auswanderer  ver- 
läfst  nicht  blols  den  Boden,  wo  er  wohnte;  er  löset  auch  das  gesellschaftliche 
Band  auf,  durch  welches  seine  Person4  mit  andern  Personen  verknüpft  war. 

Fast  eben  so  verhält  sich's  mit  den  kirchlichen  Auswanderungen,  den 
Uebertritten  aus  einer  Confession  in  eine5  andere.    Die  Kirche  wird  zwar 


So  verdunkelt  sich  die  Vorstellung  des  Löblichen.  Kant  legte  das  Sollen 
in  die  Freyheit,  und  die  Freyheit  in  das  Sollen;  aber  nicht  ihm  allein  gehört 
diese  Ansicht.  '  Anerkennung  des  Notwendigen,  Ergebung  in  das  Not- 
wendige gilt  im  Leben  für  Klugheit,  in  den  Schulen  für  Weisheit.  Der  stoische 
Weise  ist  allein  frey;  aber  was  soll  dieser  Weise?  Der  Natur  gemäfs  leben, 
also  in  der  Natur  die   Regel  suchen,    welcher  er  sich  zu  unterwerfen  hat. 

Die  Natur  ist  es  nicht  allein,  was  uns  bindet,  sondern  auch  der 
Staat  und  mehr  oder  minder  die  Kirche.  Und  mit  der  medicinischen 
Facultät  vereinigen  sich  die  juristische  und  theologische,  um  an  diese 
dreyfache  Gebundenheit  zu  mahnen. 

1  die  .  .  .  11.  Ausg.  * 

2  „gerade"  fehlt  in  der  II.  Ausgabe. b 

3  im   Grunde   ...   fehlt  in  der  II.  Ausg.c 

4  durch  welches  auch  seine  Person  mit  ...  11.  Ausg.  d 

5  II.  Ausg.  „die"  statt  „eine"e 

a — e  SW,  welche  nach  der  II.  Ausg.  drucken,  geben  die  jedesmaligen  Abweichungen 
der  I.  Ausg.  nicht  an. 


4  g  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

eben  so  wenig,  als  der  Staat,  einräumen:  sie  sey  das  Werk  eines  Vertrages; 
im  Gegen theil,  sie  allein  wagt,  was  selbst  dem  Staate  nicht  einfällt,  jedem 
einzelnen  Menschen  nicht  etwa  mit  dem  Satze:  quilibet  praesumitur  bonus, 
donec  probetur  contrarium,  sondern  mit  dem  harten  Vorwurfe:  du  bist  ein 
Sünder,  entgegenzutreten.  Sie  setzt  also  eine  unläugbare  Nothwendigkeit 
voraus,  vermöge  deren  der  Mensch  sich  eine  solche  Rede  müsse  ge- 
fallen lassen.  Noch  mehr:  wer  seine  Kirche  verläfst,  um  in  eine  andre 
einzutreten,  der  entweicht  damit  keineswegs  der  Demüthigung  durch  jenen 
Vorwurf;  vielmehr  alle  Kirchen  rufen  mit  einer  Stimme:  du  bist  ein  Sünder/ 
Nur  die  eine  verzeiht  leichter,  als  die  andre.  Allein  abgesehen  hievon, 
bleibt  es  immer  merkwürdig,  dafs  die  Natur  eines  Vertrags  sich  selbst  bey 
der  kirchlichen  Gemeinschaft,  die  das  Ein-  und  Austreten  erlaubt,  nicht 
ganz  verläugnen  läfst,  wo  es  doch  so  deutlich  hervorspringt,  dafs,  [33] 
wer  von  dem  Begriffe  eines  Vertrags  ausgehn  wollte,  dieser  nimmermehr 
auf  den  Gedanken  einer  Kirche  würde  kommen  können.  Bekanntlich  ist 
bey  der  Ehe  ein  ähnlicher  Fall;  der  Versuch,  sie  als  blofsen1  Vertrag  zu 
behandeln,  ergab  Unsinn  und  Schande;  gleichwohl  ist  sie  ganz  ohne  Ver- 
trag eben  so  wenig  zu  verstehn. 

2 An  welcher  Stelle  in  der  Philosophie  soll  nun  die  Lehre  vom  Staate, 


1  als  einen  blofsen  ...  11.  Ausg.a 

-  Alles  Folgende  bis  zum  §  24  ist  in  der  II.  Ausg.  weggeblieben,  welche  dafür 
nur  Folgendes  hat: 

22.  Nicht  die  Verträge  sind  es  allein,  bey  welchen  manchmal  das 
Befremdliche  begegnet,  dafs  sich  das  Freye  in  ein  Notwendiges,  oder 
das  Nothwendige  in  ein  Frey  es  zu  verkehren  scheint;  man  kann  auch 
andre  Beyspiele  anführen.  Man  betrachtet  es  als  Sache  des  freyen  Be- 
liebens, ein  Almosen  zu  geben  oder  zu  verweigern;  und  doch  leuchtet 
Jedem,  der  gröfsere  gesellige  Verhältnisse  zu  durchschauen  im  Stande  ist, 
die  dringende  Nothwendigkeit  ein,  für  die  Dürftigen  sogar  noch  weit  voll- 
ständiger zu  sorgen,  als  dies  durch  zerstreute  Almosen  geschehn  kann. 
Wo  bleibt  nun  hier  das  Löbliche?  Will  man  das  Freye  loben,  weil  es  frey 
ist,  während  sich  bei  näherer  Ansicht  findet,  es  sei  nothwendig?  Oder 
will  man  das  Nothwendige  loben,  weil  es  nothwendig  ist,  während  man 
doch  weifs,  wie  ganz  überflüssig  das  Lob  da  hinzutritt,  wo  das  Müssen 
schon  die  kategorische  Entscheidung  giebt? 

23.  Durch  den  Ausdruck  Sollen,  welchen  Kant  für  sein  Sitten- 
gesetz einführte,  hat  man  geglaubt  der  Verlegenheit  abzuhelfen;  und  das 
schien  um  desto  leichter,  wenn  zugleich  be[34]hauptet  wurde,  der  Mensch 
könne  eigentlich  nie  mehr  thun  als  seine  Pflicht.  Wer  nicht  thut,  was 
er  soll,  wird  getadelt;  aber  die  Erfüllung  der  Pflicht,  (so  meinte  man) 
hat  auf  Lob  keinen  Anspruch.  Unter  dieser  Voraussetzung  wäre  nun 
nicht  mehr  nöthig,   das  Löbliche  zu  erklären  und  zu  bestimmen. 

Allein  was  heifst  Sollen?  Etwan  ein  freyes  Müssen?  Also  ein  Müssen, 
was  doch  kein  rechtes   Müssen  wäre? 

Nicht  blofs  in  den  philosophischen  Schulen  braucht  man  das  Wort 
Sollen.     Auch   der   Arzt   befiehlt;    die    Obrigkeit   befiehlt;    die    Kirche   be- 

a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausgabe. 


I.Abschnitt.  Elementarlehre.   2.  Capitel.  Vom  Menschen  in  seiner  Gebundenh.  etc.         40 

von  der  Kirche,  von  der  Ehe,  abgehandelt  werden?  Im  Naturrechte?  Da 
würde  der  Begriff  des  Vertrags  vorherrschen.  In  der  Sittenlehre?  Da 
fehlt  noch  immer  die  Naturnothwendigkeit,  welche  den  ersten  Grund  ent- 
hält, dafs  der  Mensch  in  bindende  Verhältnisse  sich  einlassen  und  fügen 
mufs;  es  fehlt  das  Geschichtliche,  wodurch  jene  Naturnothwendigkeit  ge- 
rade auf  die  heutigen  Menschen  ihre  bestimmte  Wirkung  erlangt  hat.  — 
Für  einen  richtigen  Vorblick  jedoch  wird  schon  Etwas  gewonnen  sevn, 
wenn  in  Ansehung  der  Verträge  soviel  klar  ist,  dafs  in  den  Fällen,  wo 
sie  vorkommen,  noch  lange  kein  Raum  für  eine  bloße  Willkühr  geöffnet 
wird.  Darum  weisen  wir  hin  auf  die  dreyfache  Abhängigkeit  des  Menschen 
von  der  Natur,  dem  Staate,  und  der  Kirche. 

21.  Noch  ein  andrer  Grund  veranlafst  uns,  jene  dreyfache  Ab- 
hängigkeit ins  Auge  zu  fassen.  Wir  stellen  dadurch  die  Philosophie  den 
drey  obern  Facultäten,  den  Lehrern  von  der  Kirche,  dem  Staate,  und 
der  Natur,  gegenüber.  Sie  mag  deren  Dienerin  wohl  in  so  fern  seyn,  als 
sie  ihnen  die  Hauptbegriffe  vorarbeitet  (4  und  17.);  und  sie  wird  sich 
ihnen  desto  besser  anschliefsen,  je  sorgfältiger  sie  vermeidet,  das  Abstracte 
als  zum  Gebrauche  schon  hinlänglich  bestimmt  darzustellen  (18.);  allein 
dieses  ihr  Anschliefsen  mufs  auch  von  der  andern  Seite  gehörig  benutzt 
werden,  wenn  es  zu  etwas  dienen  soll;  ja  es  hätte  sollen  gefordert  werden; 
dann  wäre  die  Philosophie  an  ihre  Schuldigkeit  erinnert  worden. 

Auf  den  ersten  Blick  nun  dringt  sich  hier  eine  Bemerkung  in  An- 
sehung der  akademischen  Studien  auf,  die  seltsam  lauten  [34]  mag,  und 
doch  schwerlich  kann  geläugnet  werden.  Die  Natur  scheint  am  meisten,  der 
Staat  aber  am  wenigsten  Gewalt  zu  haben  oder  doch  zu  üben,  um  den 
Fleils  der  Menschen  zu  spannen.  Denn  am  längsten  dauern  die  Studien 
der  künftigen  Aerzte;  am  kürzesten  und  leichtesten  scheinen  juristische 
Studien  abgethan.  Der  Staat  bietet  aber  den  Aerzten  am  wenigsten  Lohn, 
hingegen  für  Juristen  hat  er  hohe  Ehrenstellen  in  Bereitschaft. 

Und  welche  Facultät  führt  die  allgemeinen  Begriffe  der  Philosophie 
am  weitesten  im  Einzelnen  aus;  welche  benutzt  sie  am  vollständigsten? 
Auch  hier  sehen  wir  die  Aerzte  vorantreten.  Bey  ihnen  wird  nicht  nach 
leeren  Allgemein -Begriffen  von  Krankheiten  und  Heilmitteln  überhaupt 
verfahren:  sondern  der  Kranke  und  die  Krankheit  ist  für  sie  ein  Indi- 
viduum, das  jedesmal  nach  allen  Rücksichten  zugleich  behandelt  werden 
mufs;  der  Heilplan  ist  nicht  eine  allgemeine  Formel,  sondern  ein  bestimmt 
abgemessenes  Wirken,  das  nach  den  Umständen  abgeändert  wird.  Und 
dabey  ist  es  die  ganze,  jedesmalige  Abhängigkeit  des  Kranken  von  der 
Natur,  so  weit  sie  auf  ihn  wirkt,  was  berücksichtigt  wird;  und  um  diese 
Rücksicht  vollständig  finden  zu  können,  werden  Studien  der  Natur- 
wissenschaften nach  allen  Richtungen  hin,  so  weit  sich  das  erreichen  läfst, 
verlangt.  Ob  die  gerichtlichen  Verhandlungen  auch  so  sorgfältig  nach 
den  Eigenheiten  der  einzelnen  Fälle  abgemessen  zu  werden  pflegen?  das 
mögen   die  Juristen   wissen.     Aufffallend   aber   ist,    dafs,    während    in   der 


fiehlt.     Alle  diese  sorgen  dafür,  dafs  man  sie  richtig  verstehe,    denn  zum 

Befehl   fügen    sie    die   Drohung.  Du   sollst   heifst   nun:    Du    mufst  wollen, 
detin  die  Strafe  thut  zvelt. 

Hbrb4Rt's  Werke.     IX.  4 


cg  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

Arzneykunst  die  ganze  Abhängigkeit  des  Menschen  von  der  Natur,  so 
weit  sie  Ein  Hufs  haben  kann,  durchforscht  wird,  dagegen  keinesweges  das 
ganze  Verhältnifs  des  Menschen  zum  Staate  durch  die  juristischen  Studien 
zu  Tage  kommt,  sondern  diese  und  jene  einzelnen  Verhältnisse,  die  sich 
etwa  zufällig  hier  oder  dort  ereignen  mögen.  Vielleicht  läfst  der  Grund 
davon  sich  finden.  Römisches  Recht  steht  im  Mittelpuncte  der  juristischen 
Studien,  und  giebt  dafür  den  Ton  an.  Aber  vom  römischen  Rechte  ist 
das  Personenrecht  gröfstentheils  Antiquität  geworden;  während  vom  Sachen- 
recht und  vom  Rechte  der  Forderungen  das  [35]  Meiste  stehen  blieb. 
Gleichwohl  mufs  gerade  durch  das  Personenrecht  klar  werden,  welche 
Stellung  der  Staat  dem  Einzelnen  giebt  oder  gestattet.  Bleibt  dieser 
Fragepunct  im  Dunkeln:  so  fällt  das  Sachenrecht  gleichsam  aus  der  Luft; 
und  das  Recht  der  Forderungen  erscheint  als  Folge  von  ganz  zufälligen 
Handlungen,  deren  Ursprung  in  der  Willkühr  lag.  Kann  man  erwarten, 
dafs  ein  solches  Studium  philosophischen  Geist  belebe?  Diesen  Mangel 
soll  nun  wohl  der  Vortrag  des  Naturrechts  decken.  Aber  das  Naturrecht 
war  zu  sehr  Liebhabeiey  der  Revolutionszeit;  eine  anerkannte,  wissen- 
schaftliche Haltbarkeit  hat  seine  Begründung  weder  damals,  noch  früher- 
hin,  noch  seitdem  gewonnen.  Weshalb  es  in  seiner  Abgerissenheit  dazu 
nicht  gelangte,  wird  bald  ins  Licht  treten,  wenn  wir  die  Verbindung,  in 
der  es  hätte  behandelt  werden  sollen,  nachweisen. 

22.  Durch  die  Theologie  soll  die  Abhängigkeit  des  Menschen  von 
der  Kirche  offenbar  werden.  Hier  kann  man  nicht,  wie  bey  den  Juristen, 
das  Treffen  des  Hauptpuncts  vermissen;  sogar  mit  der  gröfsten  Energie 
halten  die  Theologen  dem  Menschen  seine  moralische  Schwäche  vor; 
auch  sind  die  Stufen  der  Heilsordnung  genau  bestimmt.  Aber  dürfen  sie 
sich  den  Aerzten  vergleichen?  Um  die  Vergleichung  bequemer  zu  machen, 
nehmen  wir  an,  es  gäbe  statt  vieler  Heilmittel  nur  ein  Einziges  für  alle 
Krankheiten.  Dann  würden  die  Aerzte  erwägen,  dafs  dies  Eine  Mittel 
sich  der  Wirkung  nach  in  so  viele1  verschiedene  verwandeln  müsse,  als 
wie  vielfach  die  Mittel  seyen;  demnach  würden  sie'  nicht  einerley  An- 
eignung des  Uebels  einem  Jeden  für  möglich  halten ;  vielmehr  würden  sie 
in  die  Art,  es  darzureichen,  die  gröfste  Verschiedenheit  der  Formen  hinein- 
legen, zwar  nicht  nach  dem  Geschmacke  eines  Jeden,  sondern  nach  den 
Eigenheiten  jedes  Uebels;  und  die  Mannigfaltigkeit  der  Krankheiten,  ihrer 
Stufen  und  Verbindungen,  bliebe  so  wie  jetzt  das  Hauptstudium  der 
Aerzte.  Wenn  dagegen  die  Theologen  mit  stets  gleicher  Donnerstimme, 
stets  einerley  Posaunenschall  den  singularis  der  Sünde  und  der  Gnade 
ver[3ö]kündigen,  so  ist  nicht  zu  läugnen,  dafs  sie  dadurch  einen,  in  vielen 
Fällen  sehr  heilsamen  Schrecken  erregen.  Die  Aerzte  thun  ja  zuweilen 
dasselbe;  nur  freilich  nicht  bey  allen  Kranken,  sondern  bey  Wahnsinnigen. 
Wie  man  aber  dazu  kommen  könne,  von  dem  Bösen  absichtlich  mit 
Ruhe  und  Gelassenheit  zu  reden,  und  es  von  verschiedenen  Seiten  zu  be- 
sehen, das  scheinen  gerade  die  Theologen,  denen  es  am  nöthigsten  wäre, 
am  wenigsten  zu  begreifen.  Mit  einigen  psychologischen  Fabeln  von  der 
Sinnlichkeit,    dem   Verstände    und    der  Vernunft,    ist,    ihrer  Meinung  nach, 


1  in  so  viele  verwandeln  müsse  SW  („verschiedene"  Jehlt). 


I.Abschnitt.  Elementarlehre.   2.  Capitel.  Vom  Menschen  in  seiner  Gebundenh.  etc.         er 

die  Sache  abgethan,  so  weit  die  Philosophie  sich  drein  zu  mischen  hat; 
höchstes  nehmen  sie  noch  die  Phantasie  zu  Hülfe.  Friedrich  Schlegel 
ist  auf  das  merkwürdige  Resultat  gekommen,  dafs  Vernunft  und  Phantasie, 
in  ihrem  jetzigen  feindlichen  Gegensatze,  nicht  als  ursprüngliche  Vermögen 
des  menschlichen  Bewufstseyns  betrachtet  werden  können.*  In  der  That 
ein  Schritt  zur  Wahrheit! 

Von  allen  Stufen  der  Heilsordnung  aber  wird  wohl  immer  die  Besse- 
rung diejenige  bleiben,  welche  am  schwersten  zu  erklimmen  ist.  Hören 
wir  Kant  und  Fichte;  so  wird  sie  durch  einen  Sprung  erreicht,  nämlich 
durch  eine  Anstrengung,  die  man  der  Freyheit  zuschreibt.  Die  Einförmigkeit 
dieser  Theorie  mag  wohl  nicht  gerade  geeignet  seyn,  dem  verwickelten 
Gegenstande  hinlängliches  Licht  zu  geben ;  indessen  wo  eine  grofse  Mannig- 
faltigkeit von  Ansichten  nöthig  ist  und  fehlt,  da  können  zwey  verschiedene 
Einförmigkeiten  neben  einander  schon  besser  seyn,  als  eine  allein.** 

[37]  23-  Wenn  nun  die  Philosophie  den  höhern  Facultäten  zwar 
als  eine  Dienerin,  aber  als  eine  viel  zu  geschäfftige  und  deshalb  unwill- 
kommene Dienerin  erscheint:  so  liegt  von  der  Schuld  ein  grofser  Theil 
an  der  Zudringlichkeit  mancher  Philosophen,  die  sich  das  Ansehen  gaben, 
als  müfsten  sie  die  Religion,  das  Recht,  und  die  Natur  erst  erfinden;  jedoch 
ein  anderer  Theil  liegt  auch  in  mangelhafter  Benutzung  dessen,  was  die 
Philosophie  vorzuarbeiten  nicht  umhin  konnte. 

Möchten  für's  erste  doch  die  Theologen  und  Juristen  unter  einander 
in  nähere  Gemeinschaft  treten;  die  Gründe  dazu  liegen  ihnen  nicht  fern. 
Die  Kirche  ist  zwar  höher,  ausgedehnter,  dauerhafter,  als  der  Staat;  sie 
vereinigt  in  sich  Bürger  der  verschiedenen  Staaten;  allein  bestehen  kann 
sie  doch  nur  in  jedem  einzelnen  Bezirk,  worin  alle  Individuen,  also  auch 
alle  Gemeinden,  die  Regierung  des  Staats  anerkennen  müssen.  (Von 
einem  Kirchenstaate  wird  man  uns  zu  reden  wohl  erlassen,  denn  Nie- 
mand wird  ihn  als  Muster  eines  Staats  betrachten.)  Der  Staat  hin- 
wiederum ist  zwar  mächtiger  als  die  Kirche;  aber  seine  ganze  Würde, 
seine  sittliche  Vollendung  kann  er  ohne  sie  nicht  erreichen.  Wenn  nun 
diese,  Jedem  bekannten,  Verhältnisse  dennoch  weder  auf  die  Juristen,  noch 
auf  die  Theologen  einen  starken  Eindruck  machen:  so  kommt  die  Be- 
schränktheit auf  beiden  Seiten  zum  Vorschein.  Der  Jurist  sieht  im  Staate 
nur  ein  System  von  Rechtsverhältnissen;  der  Theologe  betrachtet  die 
Kirche  nur  als  Heils-Anstalt  für  Individuen;  die  ganze  Gesellschaft,  von 
welcher  die  Individuen  Bestandtheile,  die  Rechtsverhältnisse  einzelne  Be- 
stinwiungen  sind,  —  die  Gesellschaft  als  Ganzes  hat  keiner  von  beiden 
im  Auge.  Soll  denn  etwa  darum  auch  die  Philosophie  die  Augen  zu- 
drücken? Hofft  man,  sie  werde  es  jemals  thun? 


*  Fr.  Schlegels  Philos.  des  Lebens,  S.  307.  Die  kleine  Zahl  von  Theologen, 
welche  sich  zum  Spinozismus  hinneigt,  verräth  mehr  Scharfsinn,  und  ein  rühmliches 
Streben;  aber  Spinoza  ist  unfähig,  es  zu  belohnen.  Man  vergleiche  den  ersten  Band 
der  Metaphysik.     [Bd.  VII  vorl.  Ausg.] 

**  In  den  Gesprächen  über  das  Böse  findet  man  die  Lehren  des  Spinoza,  Kant 
und  Fichte  über  diesen  Punct  einander  gegenüber  gestellt.  Und  diese  Gegenüber- 
stellung ist  der  eigentliche  Zweck  jener  Gespräche.  [Bd.  IV  vorl.  Ausg.]  Es  mufs 
wohl  endlich  einmal  ausdrücklich  gesagt  werden,  dafs  die  Gesprächsform  keine  Lehrforra 
ist;  sondern  dient,  vielseitige  Ueberlegung  zu  veranlassen. 


c  i  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

[38]  Man  hofft  es  gewifs  nicht;  denn  man  hat  sogar  Politik,  Statistik, 
Staatswirthschaft,  als  besondre  Fächer  der  philosophischen  Facultät  zuge- 
wiesen. Aber  eben  dies  erinnert  an  den  Gegensatz  zwischen  der  facultas 
artium,  und  den  obern  Facultäten,  die  Alles,  was  nicht  unmittelbar  praktisch 
ist,  von  sich  abgesondert  haben.  Wenn  sie  freylich  dafür  sorgen,  das 
Gesonderte  dennoch  in  gehöriger  Gemeinschaft  mit  sich  zu  erhalten,  dann 
wird  daraus  kein  Fehler  entstehn.  Diese  Gemeinschaft  ist  der  Punct,  wor- 
auf es  ankommt. 

24.  Angenommen  nun,  die  obern  Facultäten  seyen  wirklich  unter 
sich  und  mit  der  philosophischen  darüber  einverstanden,  dafs  es  ihnen  ge- 
meinschaftlich zukomme,  den  Menschen  seine  ganze  Gebundenheit  an  Natur, 
Staat,  Kirche,  vollständig  empfinden  zu  lassen:  dann  würden  nicht  nur 
solche  Meinungen,  wie  jene:  Staat,  und  Kirche,  und  Ehe,  seyen  Werke 
von  willkührlichen,  auf  gröfsern  Vortheil  berechneten  Verträgen,  von  selbst 
verschwinden;  sondern  es  würde  jeder  Art  von  Leichtsinn  der  stärkste 
Damm  entgegengesetzt  seyn,  den  die  Wissenschaften  hervorbringen  können. 
Auch  den  Schwärmereyen,  den  übergrofsen  Empfindsamkeiten,  den  genialen 
Verirrungen  würde  der  Raum  gar  sehr  beengt;  denn  in  jeder  Lage,  in 
jedem  Augenblicke  würden  dem  Menschen  die  sämmtlichen  Motive  seines 
Handelns  mit'  einer  so  dringenden  Bestimmtheit  vorschweben,  dafs  er 
ihnen  auszuweichen  kaum  noch  wagen  möchte. 

Wenn  nun  auch  die  ächte  Wirkung  einer  vollständigen  Besinnung  an 
alle  Motive  zugleich,  nicht  mehr  Einförmigkeit  hervorbringen  würde,  als 
durch  die  Gleichheit  wiederkehrender  Verhältnisse,  bedingt  wäre,  —  wenn 
also  auch  die  Verschiedenheit  der  Umstände  und  der  Naturen  immer 
noch  ihr  Recht  behielte:  so  würde  doch  jedes  vergebliche  Widerstreben 
gegen  die  gezogenen  Gränzen  verschwinden;  und  ein  Jeder  würde  sich  in 
den  möglichst  treuen  Ausdruck  der  gesammten  Nothwendigkeit  verwandeln, 
die  auf  ihn  zvirkte.  Er  würde  nicht  blofs  [39]  seinen  Platz  unter  den 
Zeitgenossen  sehr  genau  kennen,  sondern  sich  auch  die  Zeit  selbst  historisch 
erklären;  ja  wir  mögen  wohl  freygebig  seyn  mit  der  Annahme,  dafs  ihm  die 
ferneren  Zeiten  schon  jetzt  richtig  vorschweben  können.  Demnach  würde  er 
nichts  übereilen,  sondern  das  nothwendig  Kommende  ruhig  erwarten,  das 
langsam  Werdende  nicht  ungeduldig  herbeywünschen,  aufs  Unerreichbare 
aber  verzichten.  Sollte  wohl  Jemand  einen  solchen  Zustand  der  Dinge 
für  langweilig  erklären?  Unmöglich;  denn  selbst  die  Nothwendigkeit,  der 
Langenweile  zuvorzukommen  (welche  man  bey  genauer  Kenntnifs  der 
menschlichen  Natur  voraussähe),  würde  sich  unter  den  Motiven  des  Handelns 
einen  angemessenen  Platz  schaffen.  Oder  sollte  wohl  Jemand  über  ein 
maschinetimäfsiges  Daseyn  klagen,  worin  kein  Lüftchen  der  Freyheit  mehr 
wehete?  Eben  so  unmöglich;  denn  die  Handlungen  würden  nur  von  dem 
Willen  ausgehn;  der  Wille  würde  durch  die  Einsicht,  es  müsse  so  seyn, 
gelenkt  werden;  demnach  wäre  blofs  die  zügellose  Willkühr,  welche  durch 
richtig  erkannte  Motive  soll  beschränkt  werden,  eben  durch  diese  Motive 
auch  beschränkt  worden.  Wer  etwas  Anderes  an  die  Stelle  zu  setzen 
Lust  hätte,  der  würde  eben  damit  etwas  Unvernünftiges  wollen.  Am 
wenigsten  dürfte  Jemand  behaupten,  es  fehle  bey  aller  Klugheit,  die  Sittlich- 
keit,   es  fehle   den  Motiven   die  Reinheit.     Denn  unsre  Voraussetzung   ist, 


i.  Abschnitt.  Elementarlehre.   2.  Capitel.    Vom  Menschen  in  seiner  Gebundenh.  etc.         c-i 

der  Mensch  empfinde  (unter  Mitwirkung  und  Zusammenwirkung  aller  vier 
Facultäten)  keineswegs  blofs  seine  Abhängigkeit  von  den  Naturkräften, 
sondern  auch  eben  so  seine  Gebundenheit  an  Staat  und  Kirche. 

25.  Gleichwohl  ist  zu  erwarten,  man  werde  mit  unserer1  Darstellung 
unzufrieden  seyn;  und  das  ist  sehr  gut;  denn  der  Zweck  derselben  liegt'darin, 
etwas  Künftiges  vorzubereiten,  welches,  wenn  man  es  geradezu  ausspricht, 
nicht  richtig  pflegt  verstanden,  zum  mindesten  nicht  seiner  wahren  Be- 
deutung nach  gewürdigt  zu  werden.  2Wir  wollen  demnach  verschiedene 
mögliche  Meinungen  über  den  vorliegenden  Punct  hervortreten  lassen,  je- 
doch nicht  in  der  Ausführlichkeit,  wozu  der  Gegenstand  [40]  einladet, 
denn  dazu  ist  hier  kein  Raum;  sondern  in  solcher  Kürze,  dafs  es  dem 
Leser  überlassen  bleibe,  sich  jede  einzelne  Ansicht  weiter  auszumalen.3 

Kenntnifs  der  Nothzvendigkeit,  so  nahmen  wir  an,  sey  das  treibende 
Princip,  wonach  der  seiner  Abhängigkeit  sich  völlig  bevvufste, 4  und  darüber 
gehörig  unterrichtete  Mensch,  sich  in  seinem  Thun  und  Lassen  richte.  Die 
Frage  ist,  ob  das  so  recht  und  gut,  oder  was  daran  auszusetzen  sey? 

Um  die  Frage  deutlich  hervortreten  zu  machen,  wollen  wir  die  ge- 
wöhnlichen Schranken  wegnehmen,  und  ein  Ideal  zeichnen.  Die  Noth- 
wendigkeit  der  Natur  ist  unter  allen  Notwendigkeiten  die,  welche  sich 
am  umittelbarsten  aufdringt;  jeder  Mensch  weifs,  dafs  er  nicht  durch  die 
Mauer  gehn,  nicht  nach  Belieben  aus  Krankheit  in  Gesundheit  überspringen 
könne,  u.  dergl.  m.  Darum  wollen  wir  den  Menschen  in  Gedanken  zuerst 
mit  der  genauesten  Naturkenntnifs  begaben.  Von  der  Astronomie  bis  zur 
Physiologie  soll  ihm  alles  Wissen  zu  Gebote  stehn;  seinen  eignen  Leib 
völlig  durchschauend,  und  alle  möglichen  äufsern  Einflüsse  darauf  richtig 
voraussehend,  soll  er  keines  Arztes  bedürfen,  sondern  aus  eignem  Wissen 
seine   Diät   auf's   allerzweckmäfsigste    einrichten.     Ist    man   nun    zufrieden? 

Unnütze  Mühe!  werden  die  Staatsmänner  sprechen.  Diejenige  Noth- 
wendigkeit,  welche  das  bürgerliche  Leben  beherrscht,  sollte  er  kennen. 
Will  man  schon  idealisiren,  so  begäbe  man  den  Menschen  mit  der  genauen 
Kenntnifs  aller  Gewerbe,  aller  Stände,  aller  Behörden;  damit  ihm  die  Lust 
vergehe,  sich  zu  fragen,  ob  er  in  einem  solchen  Staate  leben  wolle  oder 
nicht.     Uebrigens  genügt  schon   tüchtige  Kenntnifs  der  Geschichte. 

5 Audiatur  et  altera  pars!  Die  Vertheidiger  des  Staatsvertrages  werden 
an  die  Verschiedenheit  der  Staaten  erinnern.  In  Berlin,  werden  sie  sagen, 
merkt  man  den  Staatsvertrag  nicht,  denn  da  macht  er  sich  stillschweigend 
von  selbst,  und  wird  durch  schuldige  Gesinnungen  der  Ehrfurcht  und 
Dankbar[4i]keit  völlig  bedeckt;  anderwärts  würde  er  schon  in  Frage 
kommen,  wo  der  Staat  in   der  Mitte  der  Partheyen  nicht  so  leicht  zu  er- 

1  mit  dieser  ...   n.  Ausg.a 

2  Das  Folgende :  „Wir  wollen  ...  weiter  auszumalen."  ist  in  der  II.  Ausg. 
weggeblieben. 

4  sich  bewufste  ...  11.  Ausg. 

5  Der  ganze  Abschnitt:  „Audiatur  et  altera  pars  .  .  .  vestgehalten  be- 
harren"   (S.   54,  Z.   7  v.  o.)  ist  in  der  II.  Ausg.  weggeblieben. 

a    SW  drucken   nach    der  II.  Ausg.    ohne  Angabe    der  Abweichung  der  I.  Ausg. 

3  sich  jede  einzelne  Aussicht  weiter  ausmalen.     SW. 


-  ,  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


kennen  ist;  in  Lissabon  —  ist  freylich  an  keinen  Staatsvertrag  zu  denken. 
Was  aber  die  Belehrung  durch  Geschichte  anlangt:  ist  es  denn  unter  allen 
Umständen  ein  Unglück,  wenn  Einer  seinem  Zeitalter  vorauseilt?  Will 
man  nicht  etwan  auch  die  Erfindungen  und  die  Künste  auf  die  langsame 
Gleichförmigkeit  des  gewöhnlichen  Zeitverlaufs  beschränken?  Will  man  das 
Genie  verbieten?  Soll  die  Menge,  um  ja  nicht  lebhaft  angeregt  zu  werden, 
in  einem  chinesischen  Stillstande  vestgehalten  beharren? 

Hinweg  mit  der  Eitelkeit  Eures  irdischen  Wissens,  spricht  etwa  ein 
Theologe.  Keine  andre  Nothwendigkeit,  —  einzig  die  Furcht  des  Herrn 
soll   Euch  regieren. 

1  Durch  Furcht  und  Liebe  und  Glauben  —  spricht  etwa  ein  Stoiker 
—  regiert  man  die  Kinder.  Die  Kunst  aber,  den  Erwachsenen  im  buch- 
stäblichen Sinne  des  Worts  wieder  zum  Kinde  zu  machen,  ist  noch  nicht 
erfunden.  Naturkenn tnifs  ist  das  Rechte;  denn  man  soll  der  Natur  ge- 
treu leben. 

So  verschiedene  Meinungen  waren  schon  vorhanden,  als  Kant  auf- 
trat. Vor  ihm  unser  aufgestelltes  Princip  zu  rechtfertigen,  wäre  schein- 
bar schwer;  in  der  That  aber  leicht,  und  nun  gar  zu  leicht.  Zuerst  würde 
er  uns  fragen :  Wo  bleibt  der  gute  Wille,  der  einzig  und  allein  einen  Werth 
hat?  Wo  das  Handeln  aus  Pflicht,  welches  durch  ein  blofs  pfhchtmälsiges 
Handeln  niemals  zu  ersetzen  ist?  Wo  bleibt  die  schon  von  den  Stoikern 
und  von  Platon  geforderte  Hinwegsetzung  über  Nutzen  und  Schaden? 
Die  kluge  Nachgiebigkeit  gegen  ein  Gewebe  aus  allerley  Notwendigkeiten 
ist  davon  das  gerade  Widerspiel.  Was  bleibt  überhaupt  vom  Menschen 
noch  übrig,  wenn  ihm  der  frische  Muth  des  Willens  gebrochen  ist?  Nichts, 
als  ein  Schatten,  bleibt  übrig,  von  dessen  Werth  oder  Unwerth  zu  reden, 
keinen  Sinn  haben  würde.  Nehmt  den  Willen  hinweg,  so  verschwindet  allo- 
dings  das  Böse;  zugleich  aber  mit  ihm  das  Gute.  Erstickt  [42]  den  Geist 
durch  den  Druck  der  Notwendigkeit:  so  habt  ihr  keinen '_ Willen,  kein 
Böses,  kein  Gutes. 

Wenn  nun  Kant  sich  mit  diesen  Worten  unwillig  abwendete:  so 
möchten  weder  Aerzte,  noch  Staatsmänner,  noch  Theologen,  im  Stande 
seyn,  ihn  zurückzurufen.  Keine  der  drey  obern  Facultäten,  welches  Ge- 
wicht sie  wohl  sonst  ihren  Worten  zu  geben  verstehn,  möchte  für  jenen 
zürnenden   Geist  die  rechte   Beschwörungsformel   finden. 

Aber  er  selbst  redet  fort;  er  selbst  giebt  uns  die  Formel.  „Handle 
so,  dafs  du  wollen  könnest,  die  Maxime  deines  Handelns  sey  ein  allge- 
meines Gesetz." 

Und  woher,  fragen  wir  nun  unsererseits,  nehmen  wir  denn  wohl  die 
Maximen?  Denn  die  Maximen  sind  hier  vorausgesetzt;  ihre  Bestimmung 
ist,  den  Willen  zu  lenken;  auf  Gegenstände  ohne  Zweifel,  denn  ohne 
Gegenstände  giebt  es  kein  Wollen.  Ehe  nun  an  Maximen  konnte  ge- 
dacht werden,  hatten  schon  die  Gegenstände  dieser  Welt  den  Geist  zu 
mancherley  Neigungen  und  Abneigungen  aufgeregt;  als  die  Maximen  ent- 
standen, da  war  von  der  mannigfaltigen  Noth,  die  den   Menschen  drückt, 


1  Der  Abschnitt '„Durch  Furcht  ...  soll  der  Natur  getreu  leben"  fehlt 
in  der  II.   Ausg. 


i.  Abschnitt.  Elementarlehre.   2.  Capitel.  Vom  Menschen  in  seiner  Gebundenh.  etc.         c^ 

schon  Vieles  bekannt;  und  man  hatte  versucht,  sie  zu  bekämpfen,  zu  er- 
tragen, sich  über  sie  hinwegzusetzen.  Die  Motive  des  Willens  nun,  welche, 
sofern  sie  gleichförmig  wiederkehren,  in  Maximen  ausgesprochen  werden,  — 
diese  Motive  waren  nicht  durch  den  blofsen  Willen,  sondern  durch  sein 
Verhälnifs  zur  mannigfaltigen  Nothivendigkeit^  solche  und  keine  andern  ge- 
worden. Und  jetzt,  da  ihr  Werth  soll  bestimmt  werden,  welches  ist  das 
angegebene  Kennzeichen  dieses  ihres  Werths  ?  Die  mögliche  Allgemein- 
heit? —  In  welchem  Sinne?  Doch  nicht  so,  dafs  Alle  ohne  Unterschied 
der  Lage  einerley  Lebensweise  annehmen !  Auch  nicht  so,  dafs  Jeder  dem 
Andern  unter  Voraussetzung  de;  gleichen  Lage  Gleiches,  wie  sich  selbst, 
erlaube?  Denn  mit  seiner  Lage  entschuldigt  sich  Jeder,  und  die  Schlechten 
setzen  ohnehin  voraus,  Andre  seyen  nicht  besser  wie  sie;  darum  gerade 
[43]  möge  nun l  Jeder  sein  Glück  versuchen.  Die  Allgemeinheit  kann 
also  nur  allgemeine  Ordnung  bezeichnen.  Nun  mufs  man  bekennen,  dafs 
eine  genaue  Kenntnifs  der  ganzen  Abhängigkeit  des  Menschen  ihn  vor  ge- 
wagten Schritten,  durch  die  er  mit  Andern  zusammenstofsen  könnte,  am 
besten  hüten  wird;  und  dafs  mit  eben  dieser  Kenntnifs,  wenn  sie  nur 
vollständig  wäre,  auch  der  innere  Widerstreit  der  Motive  gedämpft  seyn 
würde,  indem  für  das  Unthunliche  kein  Platz  in  den  Gedanken,  also  auch 
nicht  im  Wollen  und  Wünschen  übrig  bliebe.  Solche  allgemeine  Ordnung 
suchen  nun  auch  der  geordnete  Staat  und  die  geordnete  Kirche,  indem 
sie  eben  dafür  die  individuellen  Aufopferungen  fordern.  Freylich  —  wenn 
aus  dem  Staate  und  der  Kirche  die  Ordnung2  entweicht:  dann  wider- 
sprechen sich  die  Antriebe,  welche  auf  einzelne  wirken;  doch  möchte 
auch  hier  noch  Einsicht  in  das  Nothwendige  zuerst  und  am  sichersten 
die   Ordnung  herstellen. 

Wir  haben  bey  dieser  KANTischen  Allgemeinheit  etwas  länger  als 
nöthig  verweilt,  weil  das  Vorurtheil  für  dieselbe  neuerlich  noch  in  ver- 
schiedenen Gestalten  wieder  auftaucht;  so  sichtbar  es  auch  ist,  dafs  hinter 
ihr,  da  sie  gar  nichts  mit  Vestigkeit  zu  bestimmen  vermag,  mancherley 
andre  Voraussetzungen  und  Forderungen  verborgen  liegen,  welche  ans  Licht 
zu  ziehn  nicht  ganz  leicht  seyn  mufs;  an  mislungenen  Versuchen  dazu  hat 
es  nicht  gefehlt.  Der  Geist  Kants  ist  ganz  ein  andrer,  als  dies  blofse 
Bestreben,  das  ganze  Leben  zu  einer  flachen  Ebene  zu  machen.  Er 
suchte  den  Werth  des  Willens ;  aber  dieser  Werth  ist  nicht  einfach,  sondern 
vielfach;  und  liegt  eben  so  wenig  in  der  Allgemeinheit,  als  in  der  Kennt- 
nifs des  Nothwendigen. 

26.  Aller  Gebundenheit  stellt  der  Mensch,  so  lange  er  sich  von  ihr 
nicht  völlig  eingeschlossen  fühlt,  seinen  Muth  entgegen;  wäre  es  auch  nur 
der  Muth,  womit  die  Maus  entschlüpft,  oder  womit  der  Gefangene  an 
seinen  Ketten  feilt.  Der  volle  Muth  der  Jugend,  welcher  dem  Alter  fehlt, 
beruht  auf  Gewandtheit  und  Kraft.  Die  muthige  That  entspringt  im  [44] 
Augenblicke,  wo  sie  geschieht,  aus  dem  Hervorstreben  einer  Vorstellung 
von  dem,  was  als  Ausweg  aus  einer  Verlegenheit  dienen  wird.    Wo  keine 

1  möge  nur  ...  II.  Ausg.a 

2  Die  feste   Ordnung  ...   n.  Ausg. 

a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


c5  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

solche  Vorstellung  ist,  etwa  in  ganz  neuen  und  unbekannten  Verhältnissen, 
oder  wo  sie  am  Hervortreten  gehindert  ist,  in  Anspannung  und  Krank- 
heit, da  fehlt  der  Muth.  Die  natürliche  Muthlosigkeit  der  Kinder  ist 
Furcht  im   Dunkeln;  ihr  ähnlich  ist  die  Deisidämonie  der  Alten. 

Jeder  Muth  will  Freyheit  gewinnen  oder  behaupten;  wäre  es  auch 
nur  freyes  Bewufstseyn,  freyes  Spiel  der  Gedanken." 

Es  giebt  nun  auch  einen  moralischen  Muth,  welcher  sich  gegen  die 
Vorstellung  sträubt,  man  könne  den  Willen  durch  blofse  Kenntnifs  des 
Nothwendigen  einengen,  ja  wohl  gar  ihn  durch  die  hieraus  entspringenden 
Motive  völlig  bestimmen.  Dieser  Muth  ist  es  hauptsächlich,  welcher  die 
Freyheit  des  Willens  mit  einem  Nachdruck  vertheidigt,  zu  welcher  die 
Lehre  von  der  Zurechnung  mehr  den  Vorwand  als  den  wahren  Grund 
hergiebt. 

Der  moralische  Muth  ist  sehr  achtungswerth ;  die  Vorstellungen  von 
der  Freyheit  führen  leicht  in  gefährliche  Misdeutung;  aus  beiden  Gründen 
ist  es  wichtig,  den  eigentlichen  Ursprung  des  moralischen  Muthes  zu  er- 
kennen, und  hiemit  zugleich  zu  erklären,  worin  das  Anstöfsige  unserer 
obigen   Darstellung  (24.)  liegen  möge? 

Dafs  im  Menschen  Etwas  lebe,  was  über  alle  Furcht  sich  erheben 
könne,  was  alle  Motive,  sofern  sie  von  aufsen  kommen,  verschmähe,  und 
sie  nur  gelten  lasse,  wenn  im  Innern  die  Bestätigung  erfolge:  diese  un- 
endlich oft  gepriesene  und  nie  genug  zu  preisende  Eigenschaft  des  Menschen 
kann  nur  daher  rühren,  dafs  er  sich  selbst  Motive  schafft,  die  keinem 
fremden  Motive  nachgeben,  und  sich  kein  Stillschweigen  auferlegen  lassen. 
Hierauf  gestützt,  erklärt  sich  der  Mensch  für  frey,  das  heifst,  für  einen 
solchen,  den  man  niemals  ganz  binden,  ganz  einschliefsen  könne,  wie 
deutlich  man  ihm  auch  seine  [45]  ganze  Abhängigkeit  von  der  Natur,  vom  Staate, 
von  der  Kirc/ie,  vor  Augen  stelle.  Hiegegen  beruft  man  sich  vergeblich 
darauf,  dafs  vom  schlechten  Staate  und  von  der  falschen  Kirche  nicht 
die  Rede  sey;  denn  auch  der  wahren  Kirche  und  dem  besten  Staate 
räumt  der  Mensch  nur  unter  Vorbehalt  seines  eignen  Anerkennens  die 
Herrschaft  ein.  Dafs  nun,  wenn  kein  Misverständnifs  dazwischen  tritt, 
hiemit  der  vollkommene  Gehorsam  gegen  Staat  und  Kirche  bestehen 
könne,  liegt  am  Tage,  da  sogar  die  noch  strengere  Herrschaft  der  Natur 
das  Freyheitsgefühl  in  dem  Verständigen  nicht  bis  zum  Ungehorsam 
gegen  sich  aufreizt.  Aber  der  Mensch  will  erst  gewonnen  seyn;  dann 
will  er  folgen. 

iWir  sollten  nun,  im  geraden  Gegensatze  gegen  das  Vorige,  von  den 
Motiven  reden,  welche  der  Mensch  sich  selber  schafft.  Wären  diese  von 
jeher  deutlich  ausgesprochen,  verstanden  und  beobachtet  worden,  so  hätte 

1  Statt  des  Abschnittes:  »Wir  sollten  nun  .  .  .  gegen  einander  brachte" 
hat  die  II.  Ausg.  folgenden  kürzeren:  Was  ist  nun  Dasjenige,  was  den  Menschen 
dergestalt  gewinnen  kann,  dafs  er  willig  ist  zu  bekennen :  er  solle,  auch 
wo  er  nicht  mufs?  Um  dies  zu  finden,  setzen  wir  einstweilen  Natur 
und  Staat  und  Kirche  bey  Seite;  erst  weit  später  mag  sich  Gelegenheit 
finden,  über  diese  grofsen  Gegenstände  etwas  Weniges  zu  sagen.3 

a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  anzumerken. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.     3.  Capitel.     Von  den  Begriffen  der  Güter  etc.         37 

die  Lehre  von  der  Freyheit  des  Willens  eben  so  wenig  im  Dunkeln  ge- 
legen, als  die  Anerkennung  des  wahren  Staats  und  der  wahren  Kirche 
Bedenken  erregt.  Und  alsdann  möchte  wohl  auch  die  innige  Verbindung 
der  obern  Facultäten  mit  der  philosophischen  weniger  zweifelhaft  geworden 
seyn.  Aber  die  praktische  Philosophie  stellt  sich  gewöhnlich  unter  der 
Form  einer  Lehre  von  Gütern,  Tugenden  und  Pflichten  dar;  hiemit  ver- 
dunkelt sie  ihren  eignen  Ursprung;  daher  sind  wir  genöthigt,  einigen 
Begriffen  nachzugehn,  die  man  durch  leere  Abstraction  verdarb,  indem 
man  ihre  Beziehungen  zerrifs,  und  sie  in  eine  falsche  Stellung  gegen 
einander  brachte. 


[46]      Drittes  Capitel. 

Von  den  Begriffen  der  Güter,   Tugenden,  und  Pflichten. 

27.  l  Schleiermacher  bemerkte,  dafs  man  die  Tugend  als  Anfangs- 
punct,  die  Güter  als  Zielpuncte,  die  Pflichten  als  vorgeschriebene  Wege 
zum  Ziel    betrachten   könne;    er   glaubte,    dafs   jeder    dieser   Begriffe  ganz 


1  Die  II.  Ausg.  hat  von  diesen  Anfang  noch  folgenden  Text  eingeschoben: 
27.  Praktische  Ideen  oder  Musterbegriffe  nennen  wir  die  ersten  Be- 
stimmungen durch  Lob  oder  vermiedenen  Tadel  in  Ansehung  des  wollenden 
Menschen.  Hieher  zielt  die  obige  Frage  (20.).  Dem  Einzelnen  gelten 
die  ursprünglichen  Ideen;  der  Gesellschaft  die  abgeleiteten  in  folgender 
Zusammenstellung  * : 

Ursprüngliche  Ideen.  Abgeleitete  Ideen. 

Innere  Freyheit  Beseelte  Gesellschaft. 

Vollkommenheit  Cultursystem. 

Wohlwollen  Verwaltungssystem. 

Recht  Rechtsgesellschaft. 

Billigkeit  Lohnsystem. 

Man  nehme  die  Worte  einstweilen  im  Sinne  des  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauchs; nur  das  Wort  Vollkommenheit  nicht  unbestimmt  für  Rühm- 
liches jeder  Art,  sondern  etymologisch  bestimmt  als  das  Kommen  zum 
Vollen,  d.  h.  Gelangen  zur  Vollständigkeit.     (Hievon  unten,  44.) 

[42]  Man  fasse  die  ursprünglichen  Ideen  zusammen  als  bestimmend 
die  Sinnesart  Einer  Person,  und  denke  diese  Person  zugleich  als  Mitglied 
einer  Gesellschaft  gemäfs  den  sämmtlichen  abgeleiteten  Ideen:  so  ergiebt 
sich  der  Begriff  der  Tugend.  Man  denke  die  Tugend  handelnd:  so 
kommt    man    auf   den    Begriff   der    Pflicht.     Die    Werke,    welche    solches- 

*  Mit  der  ausiührlichen  Darstellung  dieser  Musterbegriffe  beschäfftigt  sich  die  all- 
gemeine praktische  Philosophie.  (Man  vergleiche  dort  das  ganze  erste  Buch.)  [Bd.  II 
vorl.  Ausg.] 


-g  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


andre  Weise  zur  Uebersicht  und  Abtheilung  desselben  diene ;  wie  wenn 
ein  Geometer  eineiley  Kreisfläche  bald  in  concentrische  Kreise,  bald  in 
Sectoren  theile.*  Auf  diese  Weise  würde  die  ganze  Ethik  in  drey  ver- 
schiedenen Formen  erscheinen  können;  nämlich  als  Güterlehre,  als  Pflichten- 
lehre, und  als  Tugendlehre;  zu  ihrer  vollständigen  Kenntnifs  aber  würde 
nun  eine  „Reduction  der  Forme/u"  nöthig  seyn,  um  die  Ausdrücke  jener 
drey  Lehren  gegenseitig  in  einander  zu  übersetzen. 

Dieser  Gedanke  ist  nicht  blofs  scheinbar,  sondern  es  ist  auch  soviel 
wahr,  dafs  zum  praktischen  Gebrauche  jede  dieser  Formen  theils  oftmals 
versucht,  theils  der  Ausbildung,  so  weit  sie  gelingen  kann,  würdig  ist. 
*Aber  allen  diesen  Formen  liegt  etwas  zum  Grunde,  das  man  durch 
keine  von  ihnen,  auch  eben  so  wenig  durch  den  Begriff  der  Freyheit,  der 
blofs  die  leere  Negation  der  obigen  Abhängigkeit  enthält,  oder  durch 
jenen  KANTischen  Imperativ,  oder  durch  irgend  ein  anderes  einfaches 
Princip  darstellen  kann.  Es  ist  die  Reihe  der  zehn  [47)  praktischen 
Ideen,  die  wir  von  jetzt  an  wenigstens  als  oberflächlich  bekannt  voraus- 
setzen müssen,  ohne  uns  um  die  Art,  wie  diese  Reihe  gefunden,  noch 
wie  deren  Vollständigkeit  verbürgt  wird,  hier  schon  zu  bekümmern.  Wir 
stellen  sie  für's  erste  absichtlich  ganz  nackt  hin. 


&- 


Ursprüngliche  Idee?i.  Abgeleitete  Ideen. 

Innere  Freyheit,  Beseelte  Gesellschaft, 

Vollkommenheit,  Cultursystem, 

Wohlwollen,  Verwaltungssystem, 

Recht,  Rechtsgesellschaft, 

Billigkeit.  Lohnsystem. 

2Ueber  den  Begriff  der  Güter  bemerke  man  nun  zunächst,  dafs  er 
ein  Verhältnifs  zwischen  Sachen  und  Personen,  —  über  den  Pflichtbegriff, 
dals  er  ein  Band  zwischen  einer  Person  und  einer  andern,  —  über  den 
Tugendbegriff,  dafs  er  eine  innere  Beschaffenheit3  einer  einzigen  Person 
ursprünglich  anzeigt;  wobey  jedoch  Uebertragungen  nicht  ausgeschlossen 
sind.       Denn    wir    nennen    als    Güter,    die  wir    besitzen    oder    wünschen, 


Handeln  vollbringt,  mögen  sittliche  Güter  heifsen.  Auf  diesem  Wege  wird 
die  Leerheit  solcher  Abstractionen  vermieden,  wie  wenn  nach  Aristoteles 
die  Tugend  ein  Mittleres  zwischen  zwey  Extremen,  nach  Kant  das  all- 
gemeine Pflichtgebot  blofse  Gesetzlichkeit  seyn  sollte.  (Doch  sind  die 
Begriffe  der  Pflicht  und  der  Güter  nicht  ganz  auf  diese  Ableitung  zu 
beschränken;   wovon  weiterhin.) 

1  Der  bis  zur  Verweisungsziffer  2  reichende  Abschnitt:  „Aber  allen  diesen 
Formen  .  .  .  Lohnsystem"  welcher  zum  Theil  schon  in  dem  obigen  Abschnitt 
(„Praktische    Ideen   u.  s.  w.)  enthalten  ist,  ist  in  der  II.  Ausg.  weggeblieben. 

2  Ueber  den  Begriff  der  Güter  ist   zu  erinnern,  dafs  .  .  .  II.  Ausg. 

3  dafs  er  eine  inwohnende  Beschaffenheit  ...    II.  Ausg.a 
SCHLEIERMACHER's  Kritik  der  Sittenlehre,  gleich  vorn  im  ersten  Abschnitte  des 

zweyten   Buchs. 

a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Anmerkung  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


i.  Abschnitt.     L-lementarlehre.     3.  Capitel.     Von  den  Begriffen  der  Güter  etc.         50. 


nicht  blofs  Sachen,  sondern  auch  Geld,  Zeit,  Kenntnifs,  Geschick;  wir 
reden  überdies  von  Pflichten  gegen  uns  selbst;  ja  das  Wort  Tugend  be- 
zeichnet eigentlich  ein  Taugen,  eine  Tüchtigkeit,  die  selbst  bey  einem 
Werkzeuge,  einem  Heilmittel  vorkommen  könnte.  Ferner  bietet  sich  hier 
überall  der  Betriff  des  Mittelbaren  und  Unmittelbaren  dar.  Geld  und 
Mufse  sind  nicht  an  sich,  sondern  nur  als  brauchbare  Mittel,  hingegen 
Geniefsungen  sind  unmittelbare  Güter.  Die  Pflicht,  eine  Schuld  zu  be- 
zahlen, ist  unmittelbar  da;  aber  mittelbar  ist  es  Pflicht,  durch  Arbeit  zu 
erwerben  was  man  zahlen  soll.  Kraft  und  Milde  gehören  unmittelbar 
zur  Tugend ;   hingegen    Mäfsigkeit  und    Sparsamkeit  dienen    ihr  als   Mittel. 

!Ein  Blick  auf  die  praktischen  Ideen  wird  erinnern,  dafs  die  Sachen, 
welche  man  Güter  nennt,  in  der  Rechtsgesellschaft  sich  getheilt  zeigen, 
und  zwar  sehr  ungleich  getheilt.  In  Perioden  der  politischen  Gährung 
erhebt  sich  dagegen  die  Stimme  der  Billigkeit,  welche  gleiche  Theilung 
fordert.  [48]  Aber  die  wohlwollende  Verwaltung  zeigt  ein  andres  Ziel, 
nämlich  das  Gemeinwohl,  welchem  man,  unter  Voraussetzung  allgemein 
verbreiteten  Wohlwollens  —  das  heifst,  einer  acht  christlichen  Gesinnung, 
sich  nähert,  so  weit  die  Berechtigten  es  gestatten. 

Ferner  werde  sogleich  von  der  Pflicht  bemerkt,  dafs  der  Verpflichtete 
allemal  als  untergeordnet  einem  Höhern  erscheint ;  daher  Staat  und  Kirche 
uns  an  unsre  Pflichten  mahnen,  jener  als  Rechtsgesellschaft,  diese  als  die 
weiteste  und  höchste  beseelte  Gesellschaft.  Inwiefern  aber  der  Mensch 
den  Anspruch  macht,  durch  eigne  Zustimmung  jene  Mahnung  erst  an- 
zuerkennen (26.),  erscheint  er  im  Verhältnifs  zu  sich  selbst  als  ein  höheres 
Ich   (12.),   nämlich   als  sein   eigner    Gebieter. 

2 Von  der  Tugend  ist  sichtbar  genug,  dafs  zu  ihr,  als  Beschaffenheit 
einer  Person,  alle  fünf  ursprünglichen  Ideen  gehören,  inwiefern  sie  die 
Gesinnung  dieser  Person  zusammengenommen  bezeichnen. 

Schon  diese  vorläufigen  Betrachtungen,  die  man  leicht  fortsetzen 
kann,  werden  den  Verdacht  erregen,  dafs  wohl  schwerlich  die  drey  Lehren 
von  Gütern,  Tugenden,  und  Pflichten,  einander  nebengeordnet  werden, 
und  sich  gegenseitig  genau  entsprechen  dürften. 

28.  Der  praktische  Mensch,  den  wir  überall  im  Auge  behalten  müssen, 
ist  beschäftigt  mit  den  Angelegenheiten  des  Lebens;  er  ist  nicht,  wie  der 
Denker,  vertieft  in  die  Betrachtung  seiner  eignen  Person.  Die  Folge  hie- 
von  ergiebt  sich  in  Ansehung  dessen,  wohin  wir  zuerst  uns  zu  wenden 
haben,  sehr  leicht.  Nicht  die  Tugend  ist  unser  nächster  Gegenstand ; 
diese  legen  wir  zurück,  um  später,  wo  es  nöthig  seyn  wird,  von  ihr  zu 
reden;  denn  sie  ist  Eigenschaft  der  Person.  Hingegen  Pflichten  und 
Güter  schweben  dem  handelnden  Menschen  3 stets  vor  Augen;  da  wir 
nun  hier  nicht  Beruf  empfinden  zu  predigen:  so  setzen  wir  lieber  als  be- 

1  Der  folgende  Abschnitt:  „Ein  Blick  auf  die  praktischen  Ideen  ...  so 
weit  die   Berechtigten  es  gestatten"  ist  in  der  II.  Ausg.  weggeblieben. 

2  Die  beiden  folgenden  Abschnitte:  „Von  der  Tugend  .  .  .  genau  ent- 
sprechen  dürften"   fehlen  in  der  II.  Ausg. 

3  der  folgende  Satz  lautet  in  der  II.  Ausg.  stets  vor  Augen;]  als  bekannt  und 
zugestanden   darf  man    voraussetzen,    dafs  die  Betrachtungen  ...   II.  Ausg. 


^O  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

kannt  und  zugestanden  voraus,  dafs  die  Bestrebungen  nach  Gütern  unter- 
geordnet seyn  sollen  der  Beobachtung  der  Pflicht;  dafs  aber  auch  die 
Pflicht  kein  leerer  [49]  Begriff,  sondern  eine  Nöthigung  ist,  die  sich  mitten 
im  Verkehr  mit  Gütern  am  dringendsten  zu  erkennen  und  zu  fühlen  giebt; 
daher  wir,  um  stets  vesten  Boden  unter  den  Füfsen  zu  behalten,  und 
schwärmerische  Abstraction  zu  entfernen,  von  der  Güterlehre  zuerst 
sprechen.  Und  zwar  1'm  vollem  Ernste!  Nicht  umschaflen  wollen  wir 
den  Besrriff  der  Güter,  als  ob  es  etwa  nur  Werke  des  Weisen  wären,  die 
einen  solchen  Namen  verdienten;  denn  wir  würden  uns  dadurch  nur  in 
eine  philosophische  Gedankenwelt  verlieren,  ohne  die  wirkliche  Welt  um- 
schaflen zu  können,  und  das  nützt  dem  praktischen  Menschen  zu  nichts. 
Er  bedarf  allerdings  einer  Güterlehre,  die  mit  ihm  auf  dem  Grunde  und 
Boden  des  täglichen  Lebens  steht,  und  weil  er  ihrer  bedarf,  so  schafft 
er  sie  sich  jeden  Augenblick,  und  bildet  sie  sich  aus,  so  gut  er  kann. 
-  Wenn  man  ihm  nun  Theorien  vorträgt,  die  damit  in  keinem  Zusammen- 
hange stehn :  so  stiftet  man  durch  die  Einseitigkeit  der  Lehre  blofs  Mis- 
helligkeit  zwischen  seinem  Thun  und  Denken;  das  ist  aber  gerade  der 
Punct,  der  vermieden  werden  mufs.  Der  Mensch  soll  wissen  und  fühlen, 
dafs  er  der  Einsicht  gemäfs  handelt ;  hierin  besteht  das  Wesen  der  innern 
Freyheit.  Es  ist  nun  auch  nicht3  unsre  Sache,  einen  Epiktet  zu  lehren, 
dafs  er  in  Fesseln  frey  seyn  könne;  wer  das  kann,  der  braucht  kein  Buch. 
Dem  gewöhnlichen  Menschen  aber  müssen  wir  es  ausdrücklich  einräumen 
und  zugestehen,  dafs  er  innerhalb  gewisser  Gränzen  wohl  dran  thue, 
für  sich  zu  sorgen.  Dazu  ist  gar  keine  künstliche  Ueberlegung  von 
höherer  Art  nöthig;  er  weifs,  dafs,  wenn  er  in  Noth  geriethe,  er  Andern 
zur  Last  fallen,  und  von  ihnen  nur  kärgliche  Hülfe  erlangen,  also  stets 
elend  und  schwach  bleiben  würde.  Wir  brauchen  ihm  nicht  zu  sagen, 
dafs  er  das  nicht  solle,  es  ist  genug,  dafs  er  es  nicht  will.  Der  Staats- 
mann freut  sich  mit  Recht,  wenn  er  nur  Menschen  vor  sich  hat,  die 
soviel  Thätigkeit,  Rüstigkeit  und  Ueberlegung  besitzen,  um  sich  aus  dem 
Elend  herauszuarbeiten;  er  bedauert,  wenn  er  ihnen  Lasten  auflegen  mufs; 
lieber  giebt  er  ihnen  Unterstützung,  und  solche  Lehren,  wodurch  sie 
leichter  zum   Ziele  kommen  können. 

[50]  Dafs  Kant  der  Glückseligkeitslehre  entgegentrat,  war  ein  grofses 
Verdienst  um  seine  Zeit;  denn  damals  dünkte  man  sich  klug,  wenn  man 
der  Betrachtung  der  Pflichten  und  Tugenden  auswich,  und  sie,  mit  exem- 


1  in  vollem  Ernste!]  Will  man  den  Begriff  der  Güter  umschaffen, 
als  ob  es  etwa  nur  Werke  des  Weisen  wären,  die  einen  solchen  Namen 
verdienten;  so  läuft  man  Gefahr,  sich  in  eine  philosophische  Gedanken- 
welt zu  verlieren,  ohne  die   wirkliche  .   .  .  II.  Ausg. 

2  Die  Worte:  „Wenn  man  ihm  nun  .  .  .  der  braucht  kein  Buch" 
fehlen  in  der  II.  Ausg.,  welche  fortfährt:  Dem  gewöhnlichen  Menschen  mag 
man  statt  unbestimmter  Aufforderung  zu  höheren  Dingen,  die  er  nicht 
hinreichend  kennt,  vielmehr  ausdrücklich  einräumen  und  zugestehen, 
dafs  er  .  .  . 


8  Es  ist  nun  nicht  SW  („auch"  fehlt). 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.     3.  Capitel.     Von  den  Begriffen  der  Güter  etc.         61 


plarischem  Unsinne,  auf  Eigennutz  reducirte.  Zu  unserm  Heil  sind  diese 
Zeiten  vorüber;  wir  können  also  nun  die  Sache  ruhig  überlegen,  und  uns 
besinnen,  dafs  bey  wilden  und  rohen  Menschen,  welche  sich  von  augen- 
blicklich aufgeregten  Begierden  dahin  und  dorthin  treiben  lassen,  die 
erste  Entwilderung  darin  bestehen  mufs,  sie  zu  lehren  auf  entferntere 
Folgen  ihres  Thuns  hinausschauen,  den  Genufs  dem  Vortheile  aufopfern, 
die  Rache  dem  Richter  anheimstellen.  Sie  müssen  an  Ordnung  gewöhnt 
werden;  ihre  Beschäfftigung  muls  sich  in  Arbeit  und  Erhohlung  zerlegen; 
die  Arbeit  aber  setzt  Fleifs,  der  Fleifs  setzt  Gewinn  voraus;  dieser  Ge- 
winn darf  nicht  verachtet,  nicht  für  leicht  entbehrlich  gehalten  werden, 
sonst  schwächt  man  die  Triebfeder,  welche  dem  Fleifse  zum  Grunde 
liegt.  Aber  lassen  sich,  möchte  Jemand  fragen,  nicht  auch  schon  im 
rohen  Menschen  edlere  Gefühle  rege  machen?  —  Daran  ist  gar  kein 
Zweifel.  Noch  mehr:  es  ist  höchst  nöthig,  dafs  dies  geschehe.  Aber  es 
reicht  nicht  aus.  Dem  Sklaven  des  Augenblicks  fliegen  die  schönsten 
Momente,  die  reinsten  und  zartesten  Auffassungen  vorüber,  und  wechseln 
mit  Thorheit,  ja  mit  Bosheit,  ohne  Entscheidung,  -  oder  auch  oftmals 
mit  sehr  schlimmer  Entscheidung;  nämlich  damit,  dafs  der  Mensch  später- 
hin ausdrücklich  dem  Bösen  den  Vorrang  giebt  vor  dem  Guten!  Ihm 
wäre  besser,  er  hätte  das  Gute  nie  gekannt.  So  geht's,  wo  man  erhabene 
Lehren  predigt,  ohne  den  Boden  zu  beachten,  wohin  sie  fallen.  Mäfsiger 
Eigennutz,  wenn  er  besonnen  ist,  schadet  zum  Anfange  weit  weniger; 
denn  man  kann  ihn  beschämen;  und  die  Beschämung  haftet  besser!  Fleifs 
ist  die  Grundlage  der  guten  Sitten;  darüber  frage  man  die  Erfahrung  und 
die  Geschichte. 

Niemand  aber  wolle  dies  so  misdeuten,  als  ob  hiemit  der  Lehre 
von  Gütern  oder  vom  Glück  dergestalt  das  Wort  solle  geredet  werden, 
wie  wenn  der  Mensch  sich  ohne  Schaden  in  [51]  sie  vertiefen  könnte. 
Das  ist  ganz  unmöglich.  Und  nichts  Traurigeres  könnte  begegnen,  als 
wenn  etwa  irgend  ein  angesehener  Denker  es  nach  Kant  noch  einmal, 
aller  Warnungen  uneingedenk,  versuchen  würde,  der  Güterlehre  den  Glanz 
einer  vollständigen  Sittenlehre  zu  geben. 

Was  würde  man  da  versuchen?  Etwa  die  Heiligkeit  der  Pflicht 
läugnen?  die  Erhabenheit  der  Tugend  verspotten?  Gewifs  nicht!  denn 
das  macht  die  Geschichte  der  Philosophie  geradezu  unmöglich.  Vielmehr 
würde  man,  wie  schon  im  Vorbeygehn  erwähnt  wurde,  den  Begriff  der 
Güter  so  hoch  zu  steigern  versuchen,  dafs  er  jenen  gleich  käme.  Nur 
die  Werke  und  das  Material,  worin  Pflicht  und  Tugend  sich  zeigen  und 
darstellen  könnten,  würde  man  Güter  nennen.  Aber  wir  fragen:  welche 
Werke?  zvelches  Material?  Beginnt  nun  die  Antwort,  wie  es  natürlich  ist, 
von  der  Pflicht  und  der  Tugend,  damit  diese  den  Maafsstab  der  Tauglich- 
keit des  Materials,  den  Maafsstab  des  Werths  der  Werke  ergeben;  so  ver- 
fehlt man  die  Absicht;  alsdann  nämlich  sind  die  Güter  nicht  Prinzipien, 
sondern  sie  werden  gefolgert  aus  der  zuvor  bekannten  Natur  des  Maafs- 
stabes.  Man  mufs  also  den  Werken  und  Materialien  einen  ursprünglichen 
Werth  beylegen.  Diese  gleichgültigen  Sachen,  meint  man,  seyen  nicht 
blofs  da.  sondern  ihr  Daseyn  habe  einen  Werth!  Gewifs  haben  sie  den; 
nämlich   für  den  Willen,   der  die  Werke  machte,   und  der  die   Materialien 


02  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


noch  zu  neuen  Werken  bestimmte.  Hat  denn  dieser  Wille  auch  einen 
Werth?  —  !Er  hat  keinen.  Denn  hätte  er  einen  solchen:  so  würde  er 
hiemit  als  pflichtmäfsig,  oder  als  tugendhaft,  oder  durch  irgend  eine  von 
denjenigen  Werthbestimmungen  bezeichnet  seyn,  auf  denen  der  Begriff 
vom  Werthe  einer  Person,  das  heifst,  der  Tugend,  beruht.  Dieses  aber 
wollte  man  vermeiden!  Der  Wille  bleibt  also  völlig  werthlos.  Hingegen 
die  Dinge,  oder  Gegenstände  irgend  einer  Art,  welche  man  Güter  nennt, 
weil  sie  für  den  Willen  einen  Werth  haben,  diese  unternimmt  man  zu 
bestimmen.  Gesetzt,  das  sey  geschehen:  so  wird  man  hieraus  weiter  ab- 
leiten müssen,  was  Tugend  und  was  Pflicht  sey.  Wie  wird  man  das 
[52]  bewerkstelligen?  „Pflichten"  (wird  man  sagen)  „sind  solche  Be- 
stimmungen des  Verfahrens,  welche  der  Wille  klüglich  befolgen  mufs, 
damit  er  zu  den  von  ihm  erwählten  Gütern  gelange  und  sie  beschütze. 
Tugend  ist  diejenige  Uebung  und  Haltung  des  Geistes,  welche  für  die 
eben  beschriebenen  Pflichten  geschickt  macht.'1  Sollen  wir  das  Unwürdige 
einer  solchen  Lehre  noch  erst  zeigen?  Gewifs  nicht.  Es  ist  genug  zu 
sagen,  dals  man  die  Frage  nach  der  ersten  und  ursprünglichen  Werth- 
bestimmung  gar  nicht  erwogen, 2  sondern  diesen  Werth  in  der  Gesammtheit 
der  Dinge  und  des  Wollens  slillschzveigend  vorausgesetzt  hatte,  weil  man 
ihn  eben  nicht  genauer  kannte. 

29.  Wir  wenden  uns  zum  Begriff  der  Pflicht,  und  erinnern  daran, 
dafs  die  Pflicht  den  werthlosen,  aber  auch  schuldlosen  Willen,  welcher 
dem  Fleifse  zum  Grunde  liegt,  nicht  ohne  Noth  stören  soll ;  denn  obgleich 
die  Werke  des  Fleifses  nur  Geniefsungen  oder  Schutz  vor  Uebeln  und 
Schmerzen  seyn  mögen,  und  dann  gerade  so  werthlos  sind  als  der  Wille 
selbst,  der  sie  hervorbringt:  so  hat  doch  die  Besonnenheit  und  Ordnung 
des  Fleifses  einen  sehr  hohen  Platz  im  Gebiete  der  mittelbaren  Tugend  (27.); 
und  das  darf  zwar  bey  blofser  Speculation,  niemals  aber  in  Bezug  auf 
den  praktischen  Menschen  vergessen  werden,  dem  man  keine  gröfsere 
Last  der  Gedanken  auflegen  soll,  als  ihm  heilsam  ist. 

Unstreitig  aber  stört  die  Pflicht  oft  genug  den  Fleifsigen,  wie  den 
Unfleifsigen ;  und  das  thut  sie  am  gewöhnlichsten  dann,  wann  sie  die 
Rechte  Anderer  betrifft;  wobey  sie  sich  gerade  so  wenig  um  die  Tugend 
des  Verpflichteten,  als  um  seine  Wünsche  und  Werke  bekümmert.  Eine 
Schuld  mufs  bezahlt,  ein  versprochener  Dienst  mufs  geleistet  werden; 
wer  darin  aus  Rücksicht  auf  seine  eigne  Person  ein  Mehr  oder  Weniger 
anbringt,  der  kann  froh  seyn,  wenn  die  Pflicht  unverletzt  bleibt;  selbst 
wenn  er  dies  oder  jenes  System  der  Moral  hinzudächte,  so  wäre  dies 
eine  Auslegung  der  Pflicht,  worin  er  mit  sich  und  seinen  eignen  Ge- 
danken beschäfftigt,  also  mehr  oder  weniger  [53J  tugendhaft  wäre,  ohne 
hiedurch  auch  nur  das  Allergeringste  an  der  Pflicht  selbst  zu  ändern. 
Wer  dies  nicht   einsieht,    der  hat    noch   nicht  gelernt,    seine  Gedanken   in 

1  Vor  „Er"  hat  die  II.  Ausg.  den  Satz:  Man  wird  genöthigt  seyn  zu 
antworten: 

2  Wertbestimmung  nicht  hinreichend  erwogen  ...   II.  Ausg.a 


a  SW  drucken  nach  der   II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  1.  Ausg.  anzugeben. 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      3.   Capitel.     Von   den  Begriffen   der  Güter  etc.         63 


einer  bestimmten  Sphäre  vestzuhalten ;  und  besonders  fehlt  es  in  solchem 
Falle  an  Kenntnils  der  allerdings  etwas  eigensinnigen  Natur  des  Rechts, 
aus  welchem  die  Pflichten  schlechthin  ohne  alle  Rücksicht  auf  Tugend 
hervorgehn.  Wir  berufen  uns  hierüber  auf  die  Thatsache,  dafs  längst, 
und  mit  sehr  allgemeiner  Beystimmung,  die  Rechtspflichten  mit  dem 
Namen  der  vollkojnmenen  Pflichten  sind  bezeichnet  worden;  welches  zeigt, 
dafs  an  denselben  nichts  fehlt,  am  wenigsten  eine  systematische  Art,  sie 
abzuleiten  oder  zu  beweisen.  Sie  bestehen  vollkommen  für  sich.  Aber 
neben  ihnen  finden  sich  unvollkoimnene  Pflichten;  das  heifst,  der  Begriff 
der  Pflicht  ist  über  seinen  ursprünglichen  Sinn  hinausgetragen  und  er- 
weitert worden,  dergestalt,  dafs  die  Rücksichtslosigkeit  und  Strenge,  womit 
in  jenem  ersten  Falle  ohne  allen  Zusatz  die  Pflicht  an  sich  klar  ist,  in 
der  weitem  Bedeutung  des  Worts  nicht  mehr  kann  vestgehalten  werden. 
Unvollkommene  Pflichten  sind  näher  zu  überlegen;  der  Verpflichtete  mag 
dabey  seine  eigne  Person,  seine  Ansicht,  und,  wenn  er  will,  sein  System 
in  Betracht  ziehn. 

Schon  aus  der  Unterscheidung  der  vollkommenen  und  unvollkommenen 
Pflichten  läfst  sich  schliefsen,  wie  mifslich  es  sey,  die  ganze  Sittenlehre 
auf  den  Begriff  der  Pflicht  zu  gründen.  Ein  solcher  Begriff,  der  zuvor 
in  einem  engern  Bezirke  einheimisch  war,  dann  in  einer  gewagten  Er 
Weiterung  zu  einem  gröfsern  Gebiete  gelangte,  besitzt  nicht  mehr  die  ur- 
sprüngliche Klarheit  eines  Princips.  Das  bestätigt  sich,  sobald  man  ge- 
nauer nachforscht.  Wo  ist  der  Gebieter,  der  überlegene  Wille,  welchem 
ein  anderer  verpflichtet  seyn  soll  zu  gehorchen  ?  Welches  ist  das  Band  der 
Nöthigung,  das  auch  da  noch  Respect  fordert,  wo  die  Gewalt  fehlt?  Auf 
welchen  Punct  trifft  die  Achtung  zuerst,  welche  man  für  die  Pflicht  ver- 
langt? Denn  Pflicht,  als  Gebundenheit,  zeigt  den  Gebundenen  als  unter- 
geordnet; Er  selbst  also,  der  Untergeordnete,  kann  nicht  der  Gegenstand 
der  Achtung  gerade  in  so  fern  [54]  seyn,  als  man  sie  von  ihm  selbst  für 
die  Pflicht,  die  er  erfüllen  soll,  zu  fordern  hat.  - —  Kein  Wunder,  wenn  hier 
Minder-Geübte  den  Staat  oder  die  Gottheit  zu  Hülfe  rufen.  Aber  damit 
verfehlen  sie  gerade  den  Fragepunct.  Der  Mächtige  kann  hier  gar  nichts 
helfen;  seine  Macht  steht  ihm  im  Wege;  denn  wir  fragen  nicht  nach 
irgend  einer  Unterwürfigkeit  des  Schwachen  unter  dem  Starken,  sondern 
nach  einem  Respect  ohne  alle  Rücksicht  auf  Macht.  Dafs  nun  auch  Kant. 
der  diesen  Fragepunct  vollkommen  inne  hatte,  und  ihn  besser  als  irgend 
ein  Neuerer  hervorhob,  dennoch  die  Antwort  nicht  traf,  lag  blofs  an  dem 
Vorurtheil,  dafs  ein  einziges  Princip,  und  zwar  in  Form  eines  Satzes,  ge- 
sucht wurde,  während  mehrere  Ideen  zusammengenommen  den  Platz  ein- 
nehmen, aus  welchem  in  die  Geschaffte  des  Lebens  die  störende  Gewalt 
hervordringt,  der  sich  der  Fleifs  des  Eigemiutzes  ebensowohl  als  der  Trotz 
der  Wildheit  beugen  soll.  Das  Recht  ist  eine  von  den  Ideen,  aber  nicht 
die  einzige.  Der  Berechtigte  stellt  sich  seinem  Verpflichteten  als  die  Person 
dar,  welche  zu  fordern  hat;  aber  eine  äufsere  Persönlichkeit  ist,  was  das 
Fordern  anlangt,  weder  hier,  noch  für  die  andern  Ideen  nöthig;  denn  sie 
erzeugen  sich  in  jeder  Person,  auch  in  dem  eignen  Ich;  und  hierauf  gerade 
beruhet  jener  moralische  Muth,  welcher  es  empfindet,  dafs  es  eine  Auto- 
nomie giebt;   dafs  nicht  alle   Motive  von  aufsen  kommen   (26.).     Damit  ist 


(3^1  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

aber  keinesweges  die  KANTische  Autonomie  des  Willens  gerechtfertigt. 
Man  setze  einen  Willen  A,  welcher  gebietet  einem  andern  Willen  B; 
gleichviel  ob  A  und  B  beide  in  Einer  Person  vereinigt  vorkommen,  oder 
in  verschiedenen  Personen.  Welches  ist  nun  die  Auctorität  des  A,  und 
weshalb  ist  B  ihr  untergeordnet?  Worin  liegt  die  Verpflichtung  des  B 
gegen  A?  Ein  Unterschied  ist  hier  vorhanden,  und  nicht  blofs  ein  starker, 
sondern  gerade  derjenige  Unterschied,  auf  welchem  der  Begriff  der  Pflicht 
beruht;  so  dafs,  wenn  Pflicht  das  erste  Princip  der  Sittenlehre  seyn  soll, 
dann  eben  dieser  Unterschied  ursprünglich  klar  und  gewifs  seyn  mufs,  — 
Aber  wenn  man  auch  von  der  Er[55]zeugung  der  praktischen  Ideen  noch 
nichts  weils,  welche  dem  gebietenden  Willen  A  die  Auctorität  geben,  so 
kann  man  wenigstens  auf  der  Stelle  folgenden,  höchst  leichten  negativen 
Schlufs  machen:  Ein  Grund  des  Unterschiedes  zwischen  A  und  B  zvird  ge- 
sucht; darin  aber,  dafs  A  ein  Wille  ist,  liegt  vielmehr  die  Gleichheit  des 
A  mit  B;  denn  B  ist  auch  ein  Wille.  Nun  kann  der  Unterschied  nicht 
aus  der  Gleichheit  folgen,  also  kann  A  nicht  deshalb  die  Auctorität,  welcher 
B  sich  fügen  soll,  besitzen,  weil  A  ein  Wille  ist;  sondern  wenn  A  in  der 
That  solchen  Vorzug  hat:  so  ist  der  Grund  des  Vorzugs  kein  Wille;  er 
ist  willenlos. 

Und  allerdings  ist  die  Auctorität  der  praktischen  Ideen  eine  eben  so 
willenlose  als  machtlose;  darum  wird  auch  Niemand  sagen,  man  sey  den 
Ideen  verpflichtet.  Wohl  aber,  durch  die  Ideen  erlangt  ein  solcher  Wille, 
der  sich  ihnen  widmet,  eine  Auctorität,  welche  ihn  unterscheidet  von  jedem 
andern  Willen.  Und  wenn  jener  gebietet,  dann  soll  dieser  andre  folgen; 
das  ist  Pflicht.  Aber  eben  deshalb  ist  Pflicht  nicht  der  Grundgedanke 
der  Sittenlehre,  sondern  sie  gehört  zu  den  abgeleiteten;  sie  entspringt  aus 
den  Ideen. 

Gesetzt  nun,  es  wolle  Jemand,  der  dies  Alles  nicht  einsieht,  unter- 
nehmen, die  Pflicht  zum  Princip  zu  machen:  was  wird  dann  aus  der 
Tugend  und  aus  den  Gütern? 

Denken  wir  uns  doch  einmal  das  Ideal  eines  Menschen,  der  blofs 
gehorchender  Wille  wäre;  der  sich  begnügte,  lediglich  als  Verpflichteter 
zu  existieren.  Woher  käme  bey  einem  solchen  noch  der  Stolz  der  Tugend, 
und  der  Wunsch  nach  Gütern?  Er  würde  nichts  davon  begreifen.  „Sagt 
mir  nur  (würde  er  sprechen)  was  soll  ich  thun?  Gern  wird  es  geschehn; 
nur  bitte  ich:  plagt  mich  nicht  mit  den  Gründen  Eurer  Forderungen;  die 
verlange  ich  gar  nicht  zu  wissen." 

Dürften  wir  aber  dennoch  dem  rein  Gehorchenden  mit  Tugend  be- 
schwerlich fallen:  so  wäre  sie  eine  Art  von  innerem  Werkzeuge;  eine 
Vorbereitung  zu  den  geforderten  Leistungen.  [56]  Nichts  anderes  bleibt  übrig, 
wenn  die  Pflicht  des  Thuns  und  Lassens  an  die  Spitze  gestellt  ist.  Fällt 
auf  sie  die  ursprüngliche  Werthbestimmung :  so  behält  die  Tugend  nur  einen 
mittelbaren  Werth. 

Den  Gütern  würde  auf  solchem  Wege  nur  übrig  bleiben,  als  erlaubte 
Lückenbüfser,  oder  etwa  als  Ermunterungen  und  Belohnungen  sich  hie  und 
da  einzuschalten.  Einen  breitern  Platz  möchten  wohl  die  Uebel  bekommen, 
nämlich  als  Strafen  für  Uebertretung  der  Pflichten;  wogegen  wir  jedoch 
sehr  protestiren  müssen;  denn  für  eine  so  leichtsinnige  Behandlung,  als  ob 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.     3.  Capitel.     Von  den  Begriffen  der  Güter  etc.        65 


Strafe  jeder  Uebertretung  der  Pflicht  angemessen  wäre,  ist  der  Begriff  der- 
selben zu  wichtig.* 

30.  Da  im  Vorhergehenden  einmal  Schulfragen  mufsten  berührt 
werden,  so  ist  es  auch  nöthig,  eine  populäre  Erläuterung  beyzufügen. 
Dem  praktischen  Menschen  —  insbesondre  dem  gebildeten  Geschäffts- 
und  Kriegsmanne  sind  die  Begriffe  von  Rechten  und  von  der  Ehre  ge- 
läufiger, als  die  von  Pflicht  und  Tugend;  und  das  ist  ganz  natürlich,  denn 
der  Geschäfftsmann  lebt  gesellig,  er  sondert  sein  Privaturtheil  nicht  leicht 
ab  von  dem  Gesammturtheil  der  Gesellschaftskreise,  denen  er  angehört. 
Anstatt  also  seine  Pflicht  blofs  mit  sich  selbst  zu  überlegen,  anstatt  der 
Tugend  im  Stillen  nachzustreben,  hört  er  auf  das,  was  Andre  von  ihm 
fordern.  Es  läfst  sich  eine  entfernte  Möglichkeit  denken,  dafs  die  Vor- 
stellung des  Mannes  von  Ehre  sich  erhöhen  könnte  zum  Ideal  des  Weisen 
oder  des  Tugendhaften;  dann  nämlich,  wenn  die  Gesellschaft,  von  welcher 
die  Stimme  der  Ehre  ausgeht,  sich  so  weit  veredelte,  dafs  ihr  Urtheil 
nicht  blofs  genau  richtig,  sondern  auch  ohne  Ansehn  der  Person  völlig 
laut  würde.  Aber  schon  jetzt  kann  man  die  Frage  aufwerfen:  Erkennst 
du  deine  Ehre  aus  deinen  Pflichten?  oder  die  Pflichten  aus  der  Ehre? 
Hierauf  möchte  wohl  ziemlich  einstimmig  die  Antwort  erfolgen:  Wer  kein 
richtiges  Ehr[5  7]gefühl  hat,  dem  wird  es  durch  Aufzählung  der  Pflichten  Nie- 
mand beybringen.  Oder  soll  man  die  Dienstverhältnisse  einzeln  durch- 
mustern, den  Familienverhältnissen  nachgehn,  die  Gesinnungen  des  Um- 
gangs beschreiben,  die  Arbeiten  und  Erhohlungen  verzeichnen  (nach  7.), 
um  anzugeben,  was  Einer  zu  thun  und  zu  lassen  habe,  damit  er  seine 
Ehre  kennen  lerne?  Umgekehrt,  wenn  er  wahres  Ehrgefühl  hat,  so  breitet 
sich  dieses  allmählis;  von  selbst  durch  die  verschiedenen  Lebensverhältnisse 
aus,  um  sie,  so  gut  es  gehen  will,  zu  ordnen;  wenn  aber  dabey  Fehler 
im  Einzelnen  vorfallen,  so  sind  das  Schwächen,  die  wenigstens  nicht  das 
Ehrgefühl  überhaupt  und  als  Ganzes  in  Gefahr  setzen,  wie  sehr  sie  auch 
für  sich  allein  dem  Tadel  unterliegen  möchten.  So  nun  auch  wird  man 
von  der  Tugend  sagen  können:  ist  sie  einmal  richtig  erkannt,  so  werden 
sich  die  einzelnen  Vorschriften  für  den  Gebrauch,  also  die  Pflichten,  eher 
finden,  als  wenn  rückwärts  aus  den  Pflichten  sollte  auf  die  vorauszusetzende 
Gesinnung  und  Gemüthsbeschaffenheit  geschlossen  werden. 

Damit  ist  nicht  gesagt,  dafs  alle  Pflichten  vollständig  aus  der  Ehre 
können  hergeleitet  werden.  Denn  die  Verhältnisse  ändern  sich,  und  ins- 
besondre die  Rechtsverhältnisse,  welche  in  der  Gesellschaft  besser  und 
schlechter  geordnet  werden  können,  ohne  dafs  die  Einsicht  in  das,  was 
als  Verbesserung  oder  Verschlechterung  anzusehen  ist,  sich  aus  den  Be- 
griffen von  der  Ehre  entnehmen  liefse.  Nach  den  Rechtsverhältnissen 
aber  bestimmen  sich  diejenigen  Pflichten,  welche  man  vollkommen  nennt. 
Der  Mann  von  Ehre,  —  und  eben  so  der  Tugendhafte,  bewegt  sich  zwar 
in  diesen  Verhältnissen,  aber  sie  hängen  nicht  von  ihm  ab,  und  würden 
selbst  bey  dem  vollkommensten  Zustande  der  menschlichen  Dinge  doch 
noch  keineswegs  ganz  allein  dazu  dienen,    dafs   sich  in  ihnen  die  Tugend 


*   Man   vergleiche   in    der  praktischen  Philosophie    das   fünfte   und  neunte  Capitel 
des  ersten  Buchs.     [Bd.  II  vorl.  Ausg.] 

Herbart's  Werke.     IX.  5 


66  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 


darstellen  solle,  sondern  aus  mancherley  andern  Gesichtspuncten  zu  be- 
urtheilen  seyn;  wenigstens  so  lange  Tugend  als  Eigenschaft  einzelner 
Personen  betrachtet  wird. 

[58]  31.  Es  bleibt  also  dabey,  dafs  sowohl  eine  Güterlehre,  als  eine 
Pflichtenlehre,  als  eine  Tugendlehre  nüthig  ist;  nicht  aber  deshalb,  weil 
einerlev  Lehre  in  allen  ihren  möglichen  Gestalten  erscheinen  soll,  sondern 
umgekehrt  darum,  weil  eine  genaue  Reduction  der  drey  Lehren  auf  ein- 
ander nicht  möglich,  und  jede  derselben  nur  unter  Voraussetzung  eines 
gemeinsamen  Grundes,  nämlich  der  Ideenlehre,  zur  Ausbildung  gelangen 
kann.  Da  wir  aber  im  Vorhergehenden  den  Begriff"  des  Mannes  von 
Ehre  berührt  haben,  so  darf  auch  dieser  nicht  als  eine  leere  Abstraction 
im  Dunkeln  liegen  bleiben,  sondern  es  ist  nöthig,  ganz  kurz  die  Merk- 
male des  Begriffs  anzuzeigen,  und  bey  dieser  Gelegenheit  einiges  Licht 
auf  die  praktischen  Ideen  selbst  zu  werfen.     Der  Mann  von  Ehre  ist 

nach  der  Idee  der  Vollkommenheit:  nicht  feige. 

nach  der  Idee  des  Rechts:    unbescholten    in   Hinsicht  auf  Gewalt- 
that  und  Betrug. 

nach  der  Idee  der  Billigkeit:  nicht  befleckt  durch  verdiente  Strafe 
doloser  Handlungen  oder  schwerer  Nachlässigkeiten. 

nach  der  Idee  des  Wohlwollens:   nicht  verdächtig  der  Hartherzig- 
keit, des  Neides  und  der  Schadenfreude. 

nach  der  Idee  der  innem  Freyheit:  beharrlich  in  seinen  Vorsätzen, 
und  consequent  in  seinen  Handlungen. 
Diese  kurze  Beschreibung  kann  hier  genügen,  und  mufs  unmittelbar  ein- 
leuchten. Auf  mögliche  Künsteleyen,  die  gegebenen  Merkmale  aus  ein- 
ander abzuleiten,  können  wir  uns  eben  so  wenig  einlassen,  als  auf  einige 
nähere  Bestimmungen,  die  sich  ohne  Weitläufigkeit  nicht  würden  ent- 
wickeln lassen. 


[59]     Viertes  Capitel. 
Vom  Bedürfnisse  der  Religion. 

32.  Die  Lehren  von  Gütern,  Pflichten,  und  von  der  Tugend  ver- 
wandeln sich  im  Gebrauche  des  Lebens  nur  zu  leicht  in  Lehren  von 
Uebeln,  von  begangenen  Fehlern,  und  von  Lastern. 

Der  Mensch  sucht  umher  unter  Gütern;  sie  geben  ihm  da  und  dort 
eine  Freude;  aber  sie  sind  nie  so  beysammen,  dafs  er  fände,  was  er 
eigentlich  sucht,  nämlich  dauerndes  Glück.  Man  räth  ihm,  seine  Empfind- 
lichkeit zu  mäfsigen,  seine  Ansprüche  zu  beschränken,  seine  Kräfte  zu 
schonen,  das  Nothwendige  zu  erwerben,  es  vorsichtig  zu  hüten;  den  Egois- 
mus Anderer,  der  zum  Theil  unvermeidlich  ist,  nicht  gegen  sich  zu  reizen, 
vielmehr  sich  neben  ihnen  eine  ruhige  aber  veste  Stellung  in  der  Gesell- 
schaft  zu  suchen;    Erfahrungen    zu   sammeln    und   fremde  Erfahrungen   zu 


i.  Abschnitt.     Elementarlebre.     4.  Capitel.     Vom  Bedürfnisse  der  Religion.         67 

benutzen.     Diese   und    andre    Rathschläge   hört   der  Jüngling   vom  Greise; 
sie  helfen  Etwas,  aber  sie  bringen  keine  volle  Zufriedenheit. 

Der  Mensch  fragt  nach  seinen  Pflichten;  er  findet  deren  allenthalben, 
weit  über  die  Gränzen  der  vollkommenen  Pflichten  hinaus;  das  freye  Leben 
der  Jugend  ist  für  den  reifen  Mann  vorbey;  er  ist  umgarnt  von  allen 
jenen  Verhältnissen  der  Gesinnungen,  der  Familie  und  des  Dienstes;  die 
Zeit  reicht  nicht  hin  für  die  Arbeiten;  die  Erhohlungen  geben  die  erschöpfte 
Kraft  nicht  zurück.  Pünctliche  Ordnung  soll  helfen;  sie  wird  pedantisch. 
Strenge  Selbstbeobachtung  wird  versucht;  sie  lehrt  nicht  viel  Neues,  aber 
sie  macht  ängstlich.  Dennoch  zeigen  die  Folgen  unbewachter  Augen- 
blicke, wie  noth wendig  sie  war;  denn  Fehltritte  sind  geschehen,  ehe  man 
es  merkte.  [60]  Diese  Fehler  verrücken  die  Lebensverhältnisse;  man  be- 
müht sich  umsonst,  sie  wieder  zu  ordnen.  Aus  den  Schritten,  die  man 
gethan  hat  und  nicht  zurückthun  kann,  ergeben  sich  andre,  welche  nun 
auch  noch,  als  nothwendige  Fortsetzungen,  gethan  werden  müssen;  die 
freye  Wahl  ist  verloren.  Ringsum  ist  ein  Wald  aufgeschossen,  aus  dessen 
Irrgängen  der  Ausgang  vergeblich  gesucht  wird. 

Der  Mensch  strebt  nach  Lob  und  Ruhm;  er  fühlt  das  Edle,  er  übt 
sich,  Beschwerden  zu  ertragen;  was  ihm  gelingt,  erhebt  seinen  Muth;  was 
ihn  drückt,  reizt  seine  Kraft,  sich  dagegen  zu  stemmen.  Die  Bildungs- 
stufe der  Zeit  und  der  Umgebung  ergiebt  nach  den  Umständen  eine 
spartanische,  oder  eine  römische,  —  oder  eine  Räuber-Tugend.  Falscher 
Heroismus,  von  welcher  Art  er  auch  sey,  führt  nicht  blofs  zu  fanatischen 
Unthaten,  sondern  er  verödet  auch  das  Gemüth,  und  erstickt  die  Stimme  s 
des  Gewissens.  Dem  gewöhnlichen  Menschen  drohen  andre  Gefahren. 
Der  Sorglose  wird  leichtsinnig,  der  Unschuldige  wird  verführt;  der  Um- 
sichtige wird  zum  Nachahmer  dessen  was  Andre  thun,  und  weifs  die 
Motive  seiner  eignen  Handlungen  nicht  anzugeben.  So  fehlt  der  noth- 
wendige Widerstand  gegen  Sinnenlust  und  geselliges  Misbehagen;  es  erzeugen 
sich  einerseits  die  Laster  der  Unmäfsigkeit  und  des  Eigennutzes,  andrer- 
seits die  des  Grolls  und  des  Unmuths;  wird  nun  diesen  Lastern  endlich 
mit  vollem  Bewufstseyn  die  Herrschaft  eingeräumt,  so  steht  die  Sünde  in 
voller  Blüthe,  und  schnell  reift  ihre  böse  Aussaat. 

33.  Gesetzt,  diese  leicht  fortzusetzenden  Beschreibungen  wären  all- 
gemein richtig,  und  so  fände  die  Religion  den  Menschen:  was  hätte  sie  zu 
thun?  Dreyerley  ohne  Zweifel:  den  Leidenden  zu  trösten,  den  Verirrten 
zurechtzuweisen,  den  Sünder  zu  bessern  und  dann  zu  beruhigen. 

Hiemit  ist  ihre  dreyfache  Stellung  angezeigt;  denn  man  wird  ohne 
Mühe  bemerken,  dafs  zur  Güterlehre,  zur  Pflichtenlehre,  und  zur  Tugend- 
lehre, eine  Ergänzung  gehört,  weil  keine  Lehre  in  der  Welt  im  Stande  ist, 
den  Menschen  vor  [61]  Leiden,  vor  Uebertretungen,  und  vor  innerm 
Verderben  zu  sichern.  Das  Bedürfnifs  der  Religion  liegt  am  Tage;  der 
Mensch  kann  sich  selbst  nicht  helfen;  er  braucht  höhere  Hülfe! 

Die  Religion  setzt  das  Ewige  dem  Zeitlichen  entgegen.  So  schneidet 
sie  die  Sorgen  ab,  und  bringt  ganz  andre  Gefühle  hervor,  als  die  des 
irdischen  Leidens.  Sie  vermindert  das  Gewicht  der  einzelnen  Handlungen 
des  Menschen,  indem  sie  eine  höhere  Ordnung  der  Dinge  zeigt :  Die 
Ordnung    der    Vorsehung,    welche    mitten    unter    menschlichen    Fehltritten 

5* 


58  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

dennoch  das  Gute  fördert.  Sie  stellt  allem  falschen  Heroismus  das  Ideal 
eines  göttlichen  Leidens  (wenn  man  sich  so  ausdrücken  darf)  gegenüber, 
welches  aus  Dulden  und  Wirken  dergestalt  zusammengesetzt  ist,  dafs  jede 
menschliche  Tugend,  damit  verglichen,  als  eine  ohnmächtige  Ueber- 
spannung  erscheinen  würde.  Hiedurch  demüthigt  sie  nicht  blofs  den 
Tugendhaften,  sondern  sie  beschämt  auch  die  Sünde  in  ihrem  Innersten, 
indem  sie  dem  lüsternen  Eigennutz  die  Aufopferung,  dem  Groll  die  Liebe 
zeigt.  Wird  es  ihr  auch  gelingen,  die  Sünde  zu  erdrücken,  zu  zerstören, 
zu  vertilgen?  Das  weifs  kein  Mensch,  denn  dazu  müfste  Einer  dem 
Andern  ins  Herz  schauen  können,  und  zwar  ohne  Vergleich  tiefer,  als 
irgend  Einer  bey  der  genauesten  Selbstbeobachtung  in  sich  selbst  ein- 
zudringen vermag.  Erlösung  auf  Bedingung  der  Besserung  läfst  sie  wohl 
verkündigen;  aber  die  Frage,  ob  auch  Dieser  und  Jener  die  Bedingung 
erfülle,  mufs  man  Gott  anheimstellen. 

Selbst  die  Religion  also  vermag  das  irdische  Dunkel  nicht  ganz  zu 
erhellen.  Dennoch  ist  das,  was  sie  schafft,  unschätzbar,  und  auf  keine 
andre  Weise  zu  ersetzen.  Zwar  kann  man  das  Ideal  der  Tugend  durch 
Hülfe  der  praktischen  Ideen  sehr  bestimmt  zeichnen;  ja  es  ist  leicht  zu 
erkennen,  dafs-,  indem  wir  die  Gottheit  selbst  als  heilig,  allmächtig,  gütig, 
gerecht,  und  vergeltend  denken,  hiebey  unser  Begriff  die  nämlichen  Ideen 
zusammenfalst,  welche  der  Sittenlehre  das  Daseyn  geben.  Allein  dies 
Alles  richtet  den  gesunkenen  Menschen  nicht  empor;  ihm  mufs  sich  eine 
neue  Welt  eröffnen,  denn  [62]  seine  Welt  ist  ihm  verdorben;  seine 
Schuldbriefe  müssen  zerrissen  werden,  denn  er  kann  sie  nicht  bezahlen; 
er  mufs  wieder  anfangen,  denn  er  ist  unfähig  fortzusetzen. 

34.  Die  Verkündiger  der  Religion  sind  Menschen;  sie  selbst  bedürfen 
der  Religion.  Ihr  Geschäflt  ist  schwer;  es  ist  nicht  damit  gethan,  dafs 
sie  Griechisch  und  Hebräisch  ins  Deutsche  übersetzen;  sondern  was  in 
historischer  Ferne  schwebt,  das  sollen  sie  heute  als  Nahrung  und  Heilung 
austheilen.  Das  Erstaunen,  welches  der  Blick  in  die  höhere  Ordnung  zu 
erregen  vermag,  wirkt  auf  sie  zuerst;  und  man  darf  sich  nicht  wundern, 
wenn  ihnen  etwas  Aehnliches,  wie  den  Philosophen  so  häufig,  ebenfalls 
begegnet;  nämlich  die  Beziehungen  ihrer  Lehren  aus  den  Augen  zu  ver- 
lieren, oder  wenigstens  nicht  scharf  genug  zu  beachten. 

Man  wird  wohl  einräumen,  dafs  die  Religion  zu  den  Lehren  von 
Gütern,  Tugenden,  Pflichten,  eine  Ergänzung  bildet;  diese  Beziehung 
liegt  gar  zu  offen  am  Tage,  um  geläugnet  zu  werden.  Aber  es  ist  nicht 
genug,  dies  nur  im  Allgemeinen  einzuräumen,  sondern  die  Unterschiede 
der  besondern  Fälle  müssen  bey  jeder  Anwendung  beachtet  werden.  Er- 
gänzung setzt  einen  Mangel  voraus.  Wer  eine  Bildsäule  ergänzen  will, 
der  fängt  nicht  etwa  damit  an,  den  Mangel  zu  vergröfsern;  er  schlägt 
nicht  den  zweyten  Arm  oder  den  zweyten  Fufs  ab,  sondern  er  restaurirt 
gerade  denjenigen  Arm  und  Fufs,  dessen  Mangel  er  vorfindet.  Eben  so 
weifs  der  besonnene  Geistliche,  dafs  er  mit  dem  redlichen  Leidenden  nicht 
die  nämliche  Sprache  zu  führen  hat,  wie  mit  dem  übermüthigen,  frechen 
Sünder.  Noch  mehr:  wir  haben  angenommen,  der  nach  Gütern,  Pflicht- 
erfüllungen, und  nach  der  Tugend  strebende  Mensch  sey  in  Verwickelungen 
und   Irrwege  gerathen.      Aber  nicht  jeder  verirrt   sich  auf   gleiche  Weise; 


i    Abschnitt.     Elementarlehre.     4.  Capitel.     Vom  Bedürfnisse  der  Religion.         69 


nicht  jeder  gleich  weit;  nicht  jeder  ist  gleich  kraftlos  in  sich  selbst; 
nicht  jeder  gleich  unfähig,  sich  die  Sittenlehre  in  einer  von  jenen  drey 
Formen,  die  gerade  für  ihn  passen  mag,  wirksam  anzueignen.  Dafs 
durch  die  Sittenlehre  vieles  bewirkt  werden  kann,  zeigen  [63]  die  That- 
sachen;  es  zeigt  es  ihre  fortdauernde  Existenz;  hülfe  sie  nichts,  so  wäre 
sie  längst  verschollen.  Konnte  sie  etwas  wirken,  so  fragt  sich  in  jedem 
einzelnen  Falle,  ob  ihre  Wirkung  schon  am  Ende  sey?  oder  ob  sie  noch 
fortdauere,  oder  sich  noch  erneuern  und  verstärken  lasse?  Der  besonnene 
Geistliche  hütet  sich,  diese  Fragen  zu  überspringen;  er  hält  die  religiöse 
Hülfe  bereit,  ohne  sie  aufzudringen;  und  er  vermeidet  alle  Zudringlich- 
keit um  desto  mehr,  da  vielleicht  seine  Person  gar  nicht  mehr  nöthig  ist. 
Denn  die  Sprache  der  Religion  ist  allgemein  bekannt;  jeder  Gebildete 
hat  sie  vernommen;  und  Jeder  macht  gerade  hier  seinen  eignen  Geschmack 
gelten,  indem  die  Art  des  Vortrags  ihm  gar  nicht  gleichgültig,  sondern 
nur  auf  bestimmte  Weise  für  ihn  ansprechend  ist.  Hierüber  mit  den 
Menschen  zu  hadern,  nützt  gar  nichts;  die  Hülfe  wirkt  nur  für  den, 
welcher  gerade  diese  Hülfe  sich  aneignet. 

35.  Die  verschiedenen  Religions-Partheyen,  welche  seit  Jahrhunderten 
neben  einander  leben,  und  mit  Eifer  sich  bis  ins  Einzelne  ihrer  Ge- 
bräuche gegen  jede  fremdartige  Zumuthung  behaupten,  zeigen  deutlich, 
wie  vest  die  religiöse  Ergänzung  mit  demjenigen  verwächst,  was  durch 
sie  ergänzt  wird.  Noth  lehrt  beten!  Wo  ein  munteres  Genufsleben 
lange  Zeit  hindurch  ungestört  blieb,  da  erschlafft  der  Eifer  für  die  Ge- 
bräuche des  Cultus.  Umgekehrt:  wo  die  Geistlichen  gern  Ablafs  ver- 
kaufen, wo  es  ihnen  also  nicht  Ernst  ist,  die  Gemüther  durch  Reue  zu 
erschüttern,  wo  die  Sünde  sogar  begünstigt  wird,  damit  sie  oft  vergeben 
werden  könne,  da  wächst  und  gedeiht  der  Ceremoniendienst;  denn  mit 
seinen  erkünstelten  Pflichten  täuscht  man  die  Menschen  über  ihre  wahren 
Pflichten;  sein  Gepränge  befriedigt  die  Schaulust,  und  das  Gewissen  findet 
nicht  Zeit  zum  Reden.  Wie  ist  solche  Verkehrtheit  möglich?  Die  Heilig- 
thümer  sind  älter  als  die  Sittenlehre;  eine  dumpfe  Erfurcht  für  dieselben, 
ein  Staunen  ohne  eigentlichen  Gegenstand  wuchs  mit  den  Menschen  auf, 
ehe  die  moralischen  Begriffe  sich  entwickelten ;  es  war  also  etwas  vor- 
han[Ö4]den,  das  man  Religion  nannte,  ehe  der  Beziehungspunct  für  die- 
selbe veststand.  Und  wie  kann  solches  Uebel  gebessert  werden?  Da- 
durch, dafs  man  die  verfehlte  Beziehung  wieder  herstellt.  Die  Religion 
reinigt  sich,  sobald  die  Gesinnungen  sich  veredeln;  sie  steht  mit  ihnen 
in  Wechselwirkung.  Wird  Jemand,  der  die  Geschichte  kennt,  daran 
zweifeln  ? 

36.  Aber  hier  müssen  ein  paar  Fehler  bemerkt  werden,  welche  von 
philosophischen  Systemen  zuweilen  veranlafst  sind.  Man  hat  erstlich 
zuweilen  der  Sittenlehre  die  besondere  Ehre  erwiesen,  sie  selbst  als  den 
Kern  der  Religion  zu  betrachten;  man  hat  verlangt,  Moral  solle  den 
vornehmsten  Inhalt  der  Predigt  ausmachen,  das  heifst,  den  Beziehungs- 
punct mit  der  Ergänzung,  die  sich  auf  ihn  bezieht,  zusammenwerfen, 
folglich  die  ganze  Beziehung  aufheben.  Wer  dies  rechtfertigen  wollte, 
der  müfste  jene  Unzulänglichkeit  der  Sittenlehre  abläugnen,  von  welcher 
wir  ausgingen  (32.).     Allein    sie    liegt   offenbar    am    Tage;    darum    konnte 


7o 


11.    Ivurze   iincyKiopaaie  aer  r-imusopme.      ioji. 


das  Moralpredigen  nicht  genügen.  Der  leidende,  verirrte,  verdorbene 
Mensch  mufs  in  eine  andre  Gegend  versetzt  werden;  die  Moral  aber 
hält  ihn  auf  seinem  Standpuncte  vest;  sie  gebietet  ihm,  sich  in  seinem 
Kreise,  nur  mit  veränderter  Richtung  fortzubewegen;  und  das  gerade  ist's, 
was  der  schon  zerrüttete  Mensch  nicht  mehr  vermag.  Anders  verhält 
es  sich  mit  dem  geistig  Gesunden;  diesen  kann  die  Religion  nur  warnen, 
dafs  er  nicht  erkranke;  sie  wird  ihn  stärken  und  noch  mehr  erheitern; 
aber  das  ist  nicht  ihr  eigentlicher  Charakter;  es  erklärt  nicht  den  ernsten 
Ton,  in  welchem  sie  gewohnt  ist  zu  reden.  Und  wo  fände  sie  den  Ge- 
sunden im  strengen  Sinne?  Die  Aerzte,  des  Geistes  sowohl  als  die  des 
Leibes,  wissen,  dafs  vollkommene  Gesundheit   ein   Ideal  ist,    dem  wir  uns 

nur  annähern. 

37.    Der    zweyte    Fehler    entspringt    aus    unrichtigen,  wiewohl    nicht 
übel    o-emeinten    Speculationen.      Man   will    die    Gottheit    recht    eigentlich 
erkennen,  ja  sogar  aus  ihr  die  Natur  erklären.    Oder  vielmehr:  man  glaubt 
diese  Erkenntnifs  zu    besitzen;    man    freut    und    rühmt    sich,   den    Glauben 
in  ein  Wissen   [65]    verwandelt   zu   haben;   nachdem  zuvor  durch    andre, 
ebenfalls  nicht  ganz  richtige  Lehren,  der  Glaube  selbst  schwach  geworden 
und  als  eine  Sache  des  blofsen  reinen  Herzens  dargestellt  war.     Aber  die 
Verbesserung  bringt  ein  neues    Uebel   herbey.     Läge    das   höchste  Wesen 
im  Kreise  unseres  Wissens   als    ein    erreichbarer    Gegenstand:    so   könnte 
eben    so    wenig    die    Religion    den    zerrütteten    Menschen    in    ein    neues, 
besseres  Land  einführen,  als    im  vorigen   Falle.     Und   selbst    dem   geistig 
Gesunden  wird  der  Gedankenkreis  beengt,  die  Aussicht  benommen,  wenn 
er  die  höchste  aller  Vorstellungen,  wozu  er  sich  erheben  kann,  als  abge- 
schlossen,   oder   auch   nur    der   Hauptsache   nach    als    fertig   und    sattsam 
bestimmt,  betrachten  soll.     Wir   reden  hier  nicht   von    Widerlegung    eines 
Irrthums.     Wer  einmal  ein  unrichtiges  System  für  wahr  hält,   der  gewöhnt 
sich  daran,  und  fühlt  nicht  mehr   die    Fessel,    wogegen   Andre,    denen    er 
sie  anlegen  will,  sich  sträuben.     Aber    dann  mufs    er  wenigstens   der  Ein- 
rede Gehör  geben;  er   mufs   sich    sagen    lassen,    dafs  er   schlechten  Dank 
verdienen  würde,  wenn  er  Andre,  deren    Religion    ins    Unermefsliche    und 
durch    keine  Erkennlnifsbegriffe  Erreichbare  hinausschaut,    die    nämliche   Be- 
gränzung  aufdringen  könnte,  in  welche  sich  sein  Meinen  und  Fühlen  nun 
einmal  gefügt  hat.     Uebrigens    sorgt    die  Natur,    dafs    der    Fehler   nie   zu 
grofs    und    zu    gefährlich    werden    könne.      Sie    bleibt    immer    unbegriffen 
in    dem,    was    sie    sichtbar    Zweckmäfsiges    hat;    und    der    Urheber    dieser 
Zweckmäfsigkeit  bleibt  für  unsere  Augen  immer  ein  Fixstern,  welchen  man 
stets  weiter   in    die   Ferne   zu   setzen   genöthigt  ist,  so    oft   eine  Meinung, 
wie  viele  Millionen  oder  Billionen    von  Meilen  er  wohl  von  uns  abstehen 
könnte,  war  gewagt  worden. 

38.  Der  eben  genannte  veste  Punct  schien  wankend  zu  werden,  als 
beym  Wiederaufleben  der  metaphysischen  Speculation  die  Bemerkung  ge- 
macht wurde,  Raum  und  Zeit  seyen  Formen  unseres  Vorstellens,. welche 
nicht  unmittelbar  sinnlich  empfunden  werden  können,  sondern  sich  in  uns 
selbst  ausbilden  müssen.  Das  Zweckmäfsige  in  der  Natur  zeigt  sich  aber 
[66]  gerade  in  Bestimmungen  des  Räumlichen  und  Zeitlichen;  wie  nun, 
wenn   unser    Wahrgenommenes    kein    Zcugnifs    von    Aufsen,    sondern    in- 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.     4.   Capitel.     Vom  Bedürfnisse  der  Religion.         71 

wendig,  bewufstlos  von  uns  selbst,  erzeugt  ist?  —  Die  Frage  hätte  selbst 
bey  jener,  höchst  unreifen^  Betrachtung  über  Raum  und  Zeit  (wobey  weder 
Psychologie  noch  Metaphysik  ihre  Schuldigkeit  gethan  hatten)  dennoch 
in  ihre  Schranken  können  zurückgewiesen  werden,  sobald  man  nur  über- 
legt hätte,  dafs  man  die  Formen  der  Dinge  nicht  in  der  Gewalt  hat, 
sondern  sie  nehmen  mufs  wie  man  sie  findet.  Man  findet  also  das 
Zweckmäßige2  der  Natur;  es  läfst  sich  nicht  erfinde?i.  Aus  dem  Mangel 
dieser  Bemerkung,  die  in  einem  Strome  des  Irrthums  fortgerissen  wurde, 
mufs  man  sich  Manches  erklären.  —  Sobald  aber  die  teleogische  Natur- 
betrachtung ihren  Standpunct  wieder  einnimmt,  wird  es  offenbar,  dafs 
Religion  nicht  vom  Herzen  ausgehend  nach  dem  Herzen  könne  gemodelt 
werden;  und  dafs,  wie  freundlich  auch  der  Fixstern  uns  überall  hin  auf 
unsern  Wegen  und  Stegen  begleitet,  es  doch  Thorheit  ist,  ihn  ans  Herz 
drücken  zu  wollen.  Er  dringt  zwar  dem  Auge  seine  Entfernung  nicht 
auf;  er  wird  zwar  mit  der  unläugbarsten  Bestimmtheit  gesehen;  aber 
greifen  könnt  Ihr  ihn  doch  nicht.  Glauben  müfst  Ihr,  dafs  er  eine  Sonne 
ist,  und  nicht  blofs  ein  leuchtendes  Pünctchen;  aber  auch  dieser  Glaube 
steht  nicht  in  Eurem  Belieben,  sondern  alles  Andre,  was  Jemand  ver- 
suchen möchte  lieber  zu  glauben,  ist  ungereimt.  Diese  vest  bestimmte 
Einsicht  nun  ist  der  Religion  nicht  gleichgültig,  sondern  sie  gehört  zum 
Bedürfnifs  derselben.  Denn  jene  Tröstung,  Ermahnung,  Erhebung,  mufs 
einen  Punct  haben,  von  wo  sie  ausgeht.  Freylich  aber  mufs  sie  auch 
zum  Herzen  gelangen;  sie  mufs  innerlich  zugeeignet  werden.  Das  Ent- 
fernteste mufs  ein  völlig  Gegenwärtiges  seyn.  Hierin  liegt  der  Zauber  der 
Religion,  der  manchen  trüben  Kopf  veranlaßt,  sie  mit  ungereimten  Be- 
griffen zu  belasten,  und  sich  am  Ende  gar  einzubilden,  der  gröfste  Un- 
sinn sey  die  gröfste  Frömmigkeit. 

[67]  39-  Mit  den  vorstehenden  Andeutungen  vom  Eingreifen  der 
philosophischen  Ansichten  in  die  religiösen,  verbinde  man  die  obigen  Be- 
merkungen über  die  Verschiedenheit  der  Menschen  (34.):  so  leuchtet  ein, 
dafs  sich  das  Religions-Bedürfnifs  schon  aus  diesen  Gründen  sehr  ver- 
schieden gestalten  werde.  In  der  That  finden  sich  selten  zwey  Personen, 
die,  wenn  sie  ihre  Meinungen  über  Religion  völlig  austauschen,  sich  ganz 
in  Uebereinstimmung  setzen  können.  Unter  diesen  Umständen  möchte 
man  es  fast  bedauern,  dafs  gleichwohl  das  Keligions-Bedürfnifs  in  so 
hohem  Grade  gesellig  ist.  Jeder  klagt  gern  laut,  was  sein  Herz  drückt; 
und  wollte  er  davon  schweigen,  dennoch  würde  das,  was  ihm  an  Glück 
und  innerer  Ruhe  fehlt,  sich  selten  ganz  verbergen  lassen.  Dazu  kommt 
nun  die  offenbare  Notwendigkeit,  dafs  Geistliche  vorhanden  seyn  müssen, 
welche  den  Trost,  die  Zurechtweisung,  die  Ermahnung  überall  austheilen. 
Solche  Männer  müssen  gebildet,  angestellt,  unterhalten,  vielfach  unter- 
stützt werden.  Dazu  ist  ein  grofser  Verein  nöthig,  oder  mehrere  Vereine ; 
also  zwar  ein  Vertrag,  denn  jede  Vereinigung  der  Personen  durch  ihren 
Willen  ist  ein  solcher,  aber  nicht  ein  beliebiger  Vertrag,  sondern  ein  un- 

1    bei   jener    Betrachtung    n.  Ausg.     („höchst  unreifen"    ist  weggelassen.) 

'  also  das  Zweckmäfsigste  der  Natur  SW. 


•j2  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

vermeidlicher,  den  das  allgemeine  Bedürfnifs  herbey führt  (20.).  *  Es  ent- 
stehen also  Kirchen,  indem  die  Menge  sich  in  solche  Gruppen  sondert, 
deren  jede  es  möglich  findet,  sich  für  einverstanden  in  den  Hauptpuncten 
der  Religion  zu  erklären.  Diese  Kirchen  fordern  von  keinem  ihrer  Mit- 
glieder,  dafs  es  sich  ganz  vollständig,  und  ganz  laut,  über  alle  seine 
Meinungen  ausspreche;  im  Gegentheil,  es  liegt  ihnen  daran,  dafs  die 
Aeufserungen  der  Mishelligkeit,  des  Schwankens  und  Zweifeins  von 
Einzelnen  möglichst  zurückgehalten  werden,  um  Andre  nicht  irre  zu 
machen,  und  dadurch  das  Geschafft  der  Geistlichen  nicht2  zu  erschweren. 

Die  Kirche  nun  bezieht  sich  auf  die  Schule,  aber  sie  beherrscht  sie 
nicht.  Denn  sie  sorgt  für  die  Ergänzung  dessen,  was  in  der  Schule  von 
Gütern,  Pflichten,  Tugenden  gelehrt  wird;  die  Ergänzung  aber  setzt  das 
zu  Ergänzende  voraus.  Daher  kann  es  der  Kirche  begegnen,  von  der 
Schule  aus  re[68]formirt,  und  durch  die  Reform  gespalten  zu  werden; 
wie  solches  dem  Christenthum  begegnete,  als  in  der  Kirche  die  nöthige 
Gelehrsamkeit  war  vernachlässigt  worden,  und  diese  sich  aus  eigner  Kraft 
wiederherstellte.  Ein  trauriger  Umstand,  der  jedoch  nicht  zu  vermeiden 
steht,  wenn  das  Uebel  einmal  da  ist. 

Die  Kirche  ferner  bedarf  des  Staats;  denn  sein  ist  die  Macht, 
welche  auf  jedem  gegebenen  Boden  Ordnung  hält;  und  zwey  oder 
mehrere  wahrhaft  regierende,  sich  thätig  äufsernde  Mächte  können  nicht 
auf  Einem  Boden  neben  einander  bestehen.  Gedenken  wir  daneben  der 
Rechtsgesellschaft,  des  Cultursystems  u.  s.  w.  (27.);  nehmen  wir  noch  die 
Nothwendigkeit  hinzu,  dafs  dieselbe  Macht,  welche  im  Innern  Ordnung 
hält,  auch  gegen  äufsere  Feinde  sich  vertheidige:  so  haben  wir  hier  an 
der  Kirche,  die  von  keiner  jener  Gesellschaften  ausgeht,  sondern  un- 
mittelbar und  selbständig  aus  dem  religiösen  Bedürfnifs  entspringt,  das 
erste,  höchstwichtige  Bey spiel,  dafs  die  Frage  vom  Zwecke  des  Staats 
keine  einfache  Antwort  zuläfst,  sondern  mehrere  Gesellschaftskreise,  sofern 
sie  sich  auf  einerley  Boden  befinden,  mithin  nur  durch  einerley  Macht 
Schutz    erlangen,    zusammengenommen    den    Zweck    des    Staats    bestimmen.* 

40.  Aber  wird  denn  auch  der  Staat  den  von  ihm  verlangten  Schutz 
der  Kirchen,  soweit  sie  sich  auf  seinem   Boden  befinden,  übernehmen  ?   — 

Die  bejahende  Antwort  kann  nicht  zweifelhaft  seyn,  wofern  nur  die 
Kirche  ihrer  Bestimmung  entspricht.  Denn  die  furchtbarste,  aller  Macht 
einer  menschlichen  Regierung  überlegene  Spannung  würde  entstehn, 
wenn  die  Gemüther  ohne  Trost,  Zurechtweisung,  Erhebung,  der  natür- 
lichen Unruhe  (32.)  überlassen  blieben.  Aller  Zunder,  welchen  diese  Un- 
ruhe in  Flammen  setzen  kann,  liegt  auf  dem  Boden  des  Staats.  Hier 
sind  die  Güter,  welche,  indem  sie  den  Fleifs  [69]  beschäfftigen,  zugleich 
die  Begierden  reizen;  hier  sind  Gesinnungen  nicht  blofs  der  Achtung, 
sondern  auch  der    Geringschätzung,    nicht    blofs   der   Liebe,   sondern  auch 

1  In  der  II.  Ausg.:  (21);  da  der  Abschnitt  21  in  der  II.  Ausg.  den  Abschnitt 
20  in  der  I.  Ausg.  entspricht. 

2  „nicht"    fehlt  in  der  II.  Ausg.a 

*  Praktische  Philosophie,  im  fünften  Capitel  des  zweyten  Buchs.  [Bd.  II  vorl.  Ausg.] 


a   S\V  drucken    nach   der  II.  Ausg.    ohne   Angabe   der  Abweichung   der  I.  Ausg. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.     4.  Capitel.     Vom  Bedürfnisse  der  Religion.         n\ 

des  Hasses;  hier  sind  die  Familien  mit  allen  ihren  Ansprüchen,  hier  ist 
das  Gebäude  der  Dienstverhältnisse,  worin  zahllose  Diener  (nicht  blofs 
Officianten)  den  Lohn  ihrer  Leistungen  fordern,  nachdem  sie  nicht  Alle 
den  nöthigen  Dienst  geleistet  haben.  Hier  drängen  Alle  wider  einander, 
wenn  nicht  Jeder,  seiner  Pflicht  sich  bewufst,  in  seinen  Schranken  bleibt. 
Hier  regt  sich  die  wahre  Tugend,  aber  auch  der  fanatische  und  ge- 
heuchelte Heroismus.  Geschieht  Unrecht  in  diesem  Gedränge,  so  ist  in 
sehr  vielen  Fällen  gar  kein  Ersatz  möglich.  Obendrein  ist  es  ein  grund- 
falsches Prinzip,  als  führe  die  Idee  des  Rechts  schon  an  sich  die  Be- 
fugnifs  des  Zwanges  herbey,  welcher  genüge  zur  Abwehr  des  Unrechts.* 
De.r  Zwang  hat  Schranken  der  Billigkeit,  welche  zu  beobachten  nicht 
leicht  ist.  Diese  Schranken  lassen  sich  erweitern ;  aber  nur  unter  Be- 
dingung der  Volksbildung,  welche  höher  und  höher  mufs  gesteigert  werden, 
wenn  sich  der  Staat,  wie  es  sein  Beruf  ist,  zum  Verwaltungs-  und  Cultur- 
system  entfalten  will.  Es  ist  das  verkehrteste  aller  Vorurtheile,  zu  meinen, 
aus  den  ersten  besten,  gleichviel  wie  rohen  und  schlechten  Menschen, 
lasse  sich,  wie  aus  Steinen  ein  Gebäude,  so  der  wahre  Staat  zusammen- 
setzen. Ihm  sind  christlich  gesinnte  Bürger,  ihm  sind  wahrhaft  aufge- 
klärte und  besonnene  Männer  nöthig;  sonst  kann  seine  eigne  Macht  ihn 
erdrücken;  oder  seine  Ohnmacht  läfst  ihn  zerfallen. 

Die  Kirche  ist  das  Band,  welches  die  Menschen  auch  da  noch  zusammen- 
hält, wo  durch  irgend  ein  Unglück  die  Fugen  des  Staats  anfangen  zu  klaffen, 
oder  gar  der  Staat  selbst  zu  Grunde  geht.    Man  betrachte  das  Judenthum ! 

Und  was  wäre  im  Napoleonischen  Zeitalter  aus  den  europäischen 
Staaten  geworden,  ohne  das  Christenthum?  Europa  wäre  in  der  That  ge- 
wesen, wofür  man  es  ausgab:   ein  alternder  Welttheil. 

[70]  Aber  alle  Begriffe  vom  Nutzen  der  Kirche  können  die  Kirche 
selbst  nicht  schaffen.  Dem  Staate  ist  sie  eine  Wohlthat,  die  er  vorfindet, 
wie  er  die  Güter  des  Bodens  findet,  auf  dem  er  ruhet. 

41.  Hier  abbrechend  kehren  wir  zurück  zum  einzelnen  Menschen. 
Oben  (36.  37.)  ist  ein  Unterschied  zwischen  dem  Zerrütteten  und  dem 
geistig  Gesunden  in  Ansehung  der  Religion  bemerklich  geworden.  Den 
letztern  stärkt,  warnt,  erheitert  sie;  jenen  aber  heilt  sie,  oder  sucht  sie  zu 
heilen.  Ist  denn  dieses  Heilen  wirklich  ihr  Hauptgeschäft!  ?  So  scheint 
es  nicht  blofs  nach  unsrer  obigen  Darstellung,  sondern  nach  dem  überall 
sichtbaren  Benehmen  der  Geistlichen,  welche  zu  klagen  pflegen,  dafs  sie 
bey  Menschen,  die  sich  wohl  befinden,  ihre  Rede  nicht  so  gut  anbringen 
können,  als  bey  Kranken,  Trauernden,  Sterbenden;  und  denen  es  beson- 
ders darum  zu  thun  ist,  das  Bekenntnifs  der  Sünden  hervorzuhohlen,  wel- 
ches nicht  etwa  vorzugsweise  den  im  Leben  vielfach  Umhergeworfenen, 
sondern  den  still  und  schuldlos  Dahinlebenden  schwer  abzugewinnen  ist, 
und  im  letztern  Falle  wirklich  zuweilen  an  die  abgeprefsten  Bekenntnisse 
der  Gefolterten  erinnert.  So  sehr  wir  uns  nun  aufgefordert  finden  könn- 
ten, das  Benehmen  der  Mystiker  und  der  Eiferer  dieser  Zeit  hier  näher 
zu  beleuchten:  so  liegt  das  doch  nicht  in  unserm  Plane.  Aber  glauben 
können  wir  es  leicht,  dafs  wirklich  das  Hauptgeschäfft  der  Geistlichen,  — 


Praktische  Philosophie,  im  vierten  Capitel  des  ersten  Buchs.    [Bd.  II  vorl.  Ausg.] 


j,  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


auch  derer,  die  nicht  darauf  ausgehn  sich  wichtig  zu  machen,  —  im 
Heilen  bestehe;  und  Heilen  setzt  ja  Krankheit  voraus  \  Es  ist  nun  schon 
eingestanden  worden,  dafs  Gesundheit  ein  idealer  Zustand  sey;  dies  Ge- 
ständnifs  wollen  wir  jetzt,  wo  nicht  vollständiger  machen,  so  doch  näher 
bestimmen.  An  dem  Ideale  derjenigen  geistigen  Gesundheit  selbst,  wo- 
von jetzt  die  Rede  ist,  läfst  sich  nachweisen:  diese  Gesundheit  schivebe  not- 
wendig in  Gefahr  \  woraus  dann  folgt,  dafs  es  auch  für  sie  gut  sey,  das 
Heilmittel  stets  in  der  Nähe  zu  haben. 

Es  ist  zweckmäfsig,  vorauszusagen,  dals  die  jetzige  Betrachtung  uns 
in  die  Psychologie  hinüberzuschauen  nöthigt.  [71]  Dort  nämlich  findet 
sich  eine  Lehre  vom  Zusammenwirken  mehrerer  Vor  Stellungsmassen ;  *  sie  ist 
von  nicht  geringer  Wichtigkeit;  die  gewöhnlichen  Reden  von  der  Vernunft 
und  dem   innern   Sinne  müssen  darauf  zurückgeführt  werden.* 

Wie  denken  wir,  nach  früherer  Entwicklung,  den  geistig  Gesunden? 
Zuvörderst  als  denjenigen,  dem  das  Ganze  der  Güter,  worauf  sein  Streben 
gerichtet  ist,  in  gehöriger  Unterordnung  nicht  blofs,  sondern  auch  nach 
gegenseitiger  Abhängigkeit  derselben,  vollständig  vor  Augen  steht,  so,  dafs 
es  seinen  Fleifs  regelmäfsig  beschäfftigt.  Und  wo  finden  wir  diese  Güter? 
Der  Kürze  wegen  kann  es  genügen,  an  jene  Verhältnisse  des  Dienstes, 
der  Familie,  der  Gesinnungen,  an  Arbeit  und  Erhohlung  zu  erinnern;  nur 
damit  sich  ein  Mannigfaltiges,  von  sehr  verschiedener  Art,  vor  uns  aus- 
breite. Wir  nehmen  jetzt  an,  dafs  dem  Besitzer  der  Güter  hieraus  wirk- 
liche Zufriedenheit  erwachse,  natürlich  nur,  weil  er  sie  mit  aller  Klugheit 
verwaltet;  sonst  wäre  die  Zufriedenheit  unmöglich.  Das  Wort  Klugheit 
nun  zwar  ist  einfach;  aber  die  klugen  Gedanken  sind  vielfach,  und  lassen 
sich  nicht  in  jedem  einzelnen  Augenblicke  alle  zusammenhalten,  sondern 
auch  der  Klügste  mufs  unter  diesen  Gedanken  gleichsam  hin  und  wieder 
laufen,  damit  jeder  Theil  derselben  ihm  im  rechten  Augenblicke  zu  Ge- 
bote stehe.  Warum  denn  kann  er  sie  nicht  alle  auf  einmal,  gleichsam 
stehend^  im  Bewufstseyn  beysammen  halten?  Darauf  antwortet  die  Psycho- 
logie: weil  die  Vorstellungen  sich  unter  einander  hemmen,  sich  aus  dem 
Bewufstseyn  verdrängen.  Dennoch  hängen  die  Vorstellungen  des  klugen 
Mannes  sehr  vest  und  sehr  bestimmt,  reihenmäfsig  geordnet,  unter  sich  zu- 
sammen; sonst  könnten  sie  nicht  auf  den  Wink  in  Ordnung  hervortreten. 
Diese  sämmtlichen  Vorstellungen  nun,  welehe  sich  auf  die  Güter  und 
deren  Verwaltung  beziehn,  ergeben  schon  eine,  sehr  reiche  und  mannig- 
faltig verwebte,  [72]  Vorstellungsmasse.  Sie  ist  die  Güterlehra  selbst,  in 
ihrer  bestimmten  Anwendung  auf  die  Verhältnisse  des  einzelnen  klugen 
Mannes. 

Bedenkt  man  zweytens,  dafs  dem  geistig  Gesunden  auch  die  Pflichten- 
lehre nicht  fremd   sein  darf,   sondern  vollkommen  geläufig  sein   mufs;   und 


1  Der  folgende  Satz:   „sie  ist  von  nicht  geringer  Wichtigkeit"   fehlt  in  der 
II.  Ausg.  a 

*    Psychologie  II.   §    126,   und  §    150— 152.      [Bd.   VI   vorl.   Ausg.] 


a   SW  drucken  nach   der  II.  Ausg.    ohne  Angabe   der  Abweichung   der  I.  Ausg. 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.     4.  Capitel.     Vom  Bedürfnisse  der  Religion.         je 

dafs  die  Pflichten  gerade  in  der  Sphäre  der  Güter  vorzukommen  pflegen, 
—  dafs  jene  vier  Puncte,  sammt  ihren  Unterabtheilungen  von  der  Arbeit 
bis  zum  Lohn  und  Ehren- Dienste,  zugleich  die  gewöhnlichsten  Angelpuncte 
unsrer  Pflichten  sind:  so  ergiebt  sich  eine  ganz  anders  gegliederte  Vor- 
stellungsmasse, die  nicht  blofs  an  sich  schwerer  zu  trafen  und  zu  bewegen 
ist,  wie  die  vorige,  sondern  (worauf  es  hier  eigentlich  ankommt)  mit  ihr 
zusammengenommen  in  Einem  Geiste  bestehen  soll,  obgleich  sie  derselben 
vielfach  entgegengesetzt  ist;  so,  dafs  ein  gewöhnlicher  Mensch  oftmals, 
wie  man  zu  sagen  pflegt,  den  Kopf  verliert  im  Gedränge  seiner  Vortheile 
und  Pflichten. 

Unserm  geistig  Gesunden  müssen  wir  zu  jenen  beiden  noch  eine 
dritte  Vorstellungsmasse  zu  tragen  geben,  nämlich  die  der  Tugendlehre. 
Denn  er  soll  auch  das  Auge  auf  sich  selbst  gerichtet  haben,  auf  Erhaltung 
und  Stärkung  seiner  Kraft,  auf  seine  wahren  Gefühle,  damit  sie  sich  nicht 
verunreinigen;  kurz,  auf  das  ganze  Innere  seiner  Persönlichkeit.  Sein  eignes 
Ich  darf  ihm  nicht  verloren  gehn  im  Strudel  der  Geschaffte;  die  alke- 
meinen  Grundsätze,  welche  ihn  leiten,  soll  er  als  die  seinigen  stets  wieder- 
erkennen in  seinem  Handeln;  dazu  gehört  ein  volles,  kräftiges,  —  aber 
zugleich  ein 1  scrupulöses  Selbstbewufstseyn,  welchem  stets  an  der  Reinheit 
seiner  Motive  mehr  als  an  seinem  Thun  selbst  gelegen  ist. 

Aber  in  der  wirklichen  Welt  sieht  man  die  Menschen  nicht  blofs 
die  Pflicht  über  dem  Vortheil,  und  ein  andermal  den  Vortheil  über  der 
Pflicht,  vergessen:  sondern  man  bemerkt  auch,  dafs  Menschen,  die  viel  über 
sich  selbst  nachdenken,  weniger  in  die  geschäfftige  Welt  passen,  als  Andre, 
die  sich  in  das  vertiefen,  was  sie  eben  zu  thun  haben. 

[7$]  Hier  machen  nun  zwar  die  Moralisten  es  sich  sehr  leicht.  Sie 
sagen,  man  solle  eben  nicht  das  Eine  über  dem  Andern  vergessen.  Aber 
wenn  sie  auch  bekennen,  es  sey  schiuer,  so  vielerley  zusammenzuhalten,  so 
fällt  ihnen  doch  nicht  ein,  den  psychologischen  Grund  der  Schwierigkeit 
zu   erforschen. 

42.  Der  Schluls  aus  dem  Vorgetragenen  ist  zwar  leicht  genug  zu 
finden;  um  ihn  aber  vollständig  zu  überdenken,  wolle  man  das  vor  Augen 
haben,  was  oben  (24.  25.)  von  der  Kenntnifs  des  Nothwendigen,  von  der 
Gesammtheit  aller  Motive,  desgleichen  von  dem  moralischen  Muthe  ist 
gesagt  worden,  der  sich  die  Vorschriften  selbst  des  Staats  und  der  Kirche 
nur  in  so  fern  will  gefallen  lassen,  als  er  darin  solche  Motive  wieder- 
erkennt, die  er  sich  selbst  geschaffen  hatte.  Wir  setzen  voraus,  dafs  hier 
nicht  von  schulmäfsigen  Maximen,  sondern  von  wirklichen,  aus  dem  Leben 
entsprungenen  Motiven  die  Rede  ist;  demnach  liegen  die  Beschäfftigungen, 
Gesinnungen,  Familien,  Dienste,  und  was  noch  in  besondern  Fällen  diese 
bekannte  Reihe  verlängern  mag,  dabey  zum  Grunde.  Werden  nun  alle 
Motive  gehörig  geordnet,  so  bekommt  jedes  derselben  seinen  Plafz  theils 
in  der  Güterlehre,  theils  in  der  Pflichtenlehre,  theils  (um  das  Oberste  zu- 
letzt zu  nennen)  in  der  Tugendlehre.  Keine  von  diesen  Lehren  wird 
entbehrlich     durch    die    andre;     wenn   sie    auch    theilweise    sich    auf   ein- 

1    „ein"    fehlt  in  der  II.  Ausg.* 


a  SW  drucken  nach  der  II,  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  anzumerken. 


y5  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


ander  zurückführen  lassen.  Aber  aus  ihnen  allen  zusammen,  wenn  jede 
so  weit  als  möglich  ausgeführt  gedacht  wird,  entsteht  für  Denjenigen,  in 
dessen  Bewufstseyn  sie  stets  gehörig  zusammenwirken  sollen,  eine  so  grofse 
Last,  dafs  selbst  der  stärkste  Geist  sie  nur  mit  Mühe  wird  tragen  können. 
Die  volle  geistige  Gesundheit  läuft  Gefahr,  bey  der  ersten  äufsern  Hem- 
mung der  Gedanken,  z.  B.  bey  Kränklichkeit,  beym  übermäfsigen  An- 
dränge von  Geschafften,  bey  plötzlichem  Wechsel  der  Lage,  wodurch  Pflich- 
ten und  Vortheile  zugleich  verrückt,  und  die  auf  sie  bezüglichen  Gewohn- 
heiten gestört  werden,  bey  heftiger  Aufregung  von  Affecten,  wogegen  nie- 
mals ein  Mensch  gesichert  ist,  —  dergestalt  zu  erliegen,  dafs  der  nun- 
mehr Leidende  die  Zuversicht  verliert,  welche  dem  un[74]gebrochenen 
Muthe  eigen  war.  In  solchen  Zeitpuncten,  ja  schon  bey  der  ersten  Ahn- 
dung, dafs  sie  wohl  eintreten  könnten,  gewinnen  plötzlich  die  religiösen 
Jugend-Eindrücke,  wie  flach  sie  ursprünglich  seyn  mochten,  eine  neue, 
bis  dahin  unbekannte  Energie.  Und  ohne  Verwunderung  wird  man  oft- 
mals an  Männern  von  strengen  Grundsätzen  und  von  geordneter  Lebens- 
führung, die  keinesweges  Religion  auf  den  Lippen  zu  tragen  gewohnt  sind, 
bey  näherer  Bekanntschaft  entdecken,  dafs  sie  sich  stillschweigend  in  ihrem 
Innern  sehr  vest  an  die  Stütze  der  Religion  anlehnen;  man  wird  hören, 
wenn  sie  siph  eröffnen,  dafs  sie  dieselbe  als  ganz  unentbehrlich  betrachten, 
und  man  hat  hier  nicht  im  geringsten  Grund,  an  ihrer  Aufrichtigkeit  zu 
zweifeln;  denn  es  ist  ganz  natürlich,  dafs  sie  eben  darum,  weil  Güter  und  Pflich- 
ten und  Tugend  ihnen  theuer  sind,  zu  den  Lehren  davon  die  wesentliche 
Ergänzung  suchten,  fanden,  schätzen  lernten,  und  sich  so  vollständig  als 
möglich  aneigneten.  Das  Aneignen  aber  geschieht  in  mancherley  indivi- 
duellen Formen,  die  Keiner  giofse  Ursache  hat  dem  Andern  zu  benei- 
den,  Keiner  ein  Recht,  dem  Andern  zu  rauben  oder  zu  entstellen. 

Da  nun  dieses  sich  so  verhält,  so  wird  Derjenige,  der  das  weifs,  der 
es  an  sich  selbst  erfuhr,  und  vielfältig  an  tüchtigen  Männern,  ja  gerade  an 
den  Besten  am  bestimmtesten  und  klarsten  beobachtete,  zwar  allerdings 
vollkommen  zustimmen,  wenn  er  ein  aufrichtiges  und  verständiges  Bestre- 
ben sieht,  die  Wohlthat  der  Religion  auch  leichtern,  alltäglichen  Naturen 
der  Menschen  —  unter  Voraussetzung  eines  guten  moralischen  Unterrichts 
—  mitzutheilen  und  zu  sichern.  Aber  nicht  einstimmen  wird  er  in  die 
Aengstlichkeit  Derer,  die  da  meinen,  die  Religion  könnte  wohl  irgend  ein- 
mal verloren  gehn;  der  Atheismus  möge  wohl  irgend  einmal  nicht 
blofs  in  Worten,  sondern  in  der  That  —  zur  Sitte  werden !  Solche  Aengst- 
lichkeit ist  Schwäche,  und  verräth,  zum  mindesten,  Mangel  an  wahrer 
Menschenkenntnifs.  Giebt  es  ja  eine  solche  Gefahr :  so  wird  sie  herbey- 
geführt  durch  Priesterbetrug  und  durch  das  Ketzergeschrey  der  Zeloten; 
denn  hierdurch  wird  die  [75]  Würde  der  Religion  unkenntlich  gemacht; 
durch  Anmafsung  und  Bosheit  kann  sie  nicht  empfohlen  werden. 

43.  Mit  solcher  Darstellung  der  Religion,  dafs  sie  Ergänzung  des 
Fehlenden,  Unterstützung  des  Gebrechlichen,  des  Strauchelnden,  des  zum 
mindesten  Sorglichen  und  Bekümmerten  sey,  —  wird  Mancher  sich  noch  immer 
unzufrieden  bezeigen.  Lafst  den  Trübsinn  fahren,  (wird  man  uns  sagen,) 
wenn  ihr  die  Religion  wollt  kennen  lernen.  Sie  leistet  noch  mehr,  als 
Hülfe,    um    Lasten  besser   tragen    zu  können;    sie  befreyt   euch    von  eurer 


i.  Abschnitt.    Elementarlehre.    5.  Capitel.    Vom  Unterschiede  des  moralischen  etc.         n-j 

Last.  Sie  erheitert  unmittelbar.  An  den  Feyertagen  sollt  ihr  euch  er- 
hohlen, und  dazu  ist  nicht  nüthig  zu  seufzen.  Das  Evangelium  heifst  in 
gutem  Deutsch  freudige  Botschaft.  Die  Bibel  ist  nicht  blofs  aus  Sprüchen 
und  Sentenzen  zusammengesetzt;  sie  erzählt  Geschichten,  sie  giebt  an- 
schauliche Bilder.  Schauet  hin;  vergefst  euch  im  Schauen;  fragt  nicht 
so  ängstlich,  wer  ihr  selber  seyd.  Die  Vorfahren  haben  nicht  umsonst 
hohe  Kirchen  gebaut,  und  sie  mit  noch  höhern  Thürmen  geschmückt,  und 
die  schönsten  Bilder  darin  angebracht.  Eure  Augen  wollten  sie  öffnen. 
Nicht  umsonst  ertönt  die  mächtige  Orgel,  nicht  umsonst  schallen  Glocken 
und  Posaunen;  nicht  umsonst  hat  man  zum  Predigen  den  geübten  Redner 
auserkohren.  Eure  Ohren  sollen  sich  öffnen,  das  heifst,  eure  stillen  Be- 
trachtungen sollen  aufhören;  ihr  sollt  nicht  mehr  grübeln.  Nehmen  sollt  ihr, 
was  man  euch  giebt.  Hättet  ihr,  was  ihr  braucht:  dann  freylich  wäre 
nicht  nöthig  euch  zu  beschenken.  Aber  ihr  bekennt  eure  Armuth;  darum 
schämt  euch  nicht,  das  Geschenk  zu  empfangen.  Die  Gnade  wird  euch 
geschenkt ;  ihr  sollt  sie  und  könnt  sie  nicht  verdienen ;  nach  euren  Werken 
wird  nicht  gefragt,  sondern  nach  der  Bereitwilligkeit  eures  Glaubens.  Nur 
den  Stolz  sollt  ihr  verabschieden  zugleich  mit  den  Sorgen. 

Ja  freylich,  antworten  Andre,  wir  wissen  nur  zu  gut,  dafs  man  den 
Menschen  unthätig  und  unterwürfig  zu  machen  gedenkt,  indem  man  ihm 
die  Zeit  vertreibt.  Wir  bemerken  wohl,  dafs  zu  den  Erzählungen  der 
Bibel  noch  eine  Menge  von  [7 6]  Legenden  sind  hinzugefügt  vvorden,  da- 
mit die  Unterhaltung  recht  bunt  und  abwechselnd  seyn  möchte.  Wir 
sehen  die  schönen  Bilder,  welche  den  Sinnen  das  zeigen  sollen,  was  nur 
das  «reistüre  Au<re  sehen  kann.  Wir  merken  wohl,  wie  die  Sinnlichkeit 
das  Erhabene  in  dem  Raum,  das  Ewige  in  die  Zeit  herabzieht;  wie  ge- 
legentlich die  Lüste  sich  mitten  im  Heiligthum  das  erlauern,  was  die  ge- 
meine Welt  ihnen  versagt.  Fort  mit  diesen  bunten  Teppichen,  hinter 
denen  die  Arglist  sich  verbirgt!  Hinweg  mit  Geschenken,  die  für  den 
Sünder  gemacht  sind,  damit  sein  Gewissen  sich  vor  der  Bufse  in  Ruhe 
setze!  Das  wahre  Geschenk  der  Gnade  ist  freylich  nicht  käuflich,  dennoch 
will  es  erworben  seyn;  zwar  vermag  die  Hand  des  Arbeiters  kein  Werk 
zu  schaffen,  das  Lohn  verdiente:  aber  sie  soll  sich  reinigen,  und  wäre 
glücklich,  wenn  sie  nur  dieses  wenigstens  vermöchte,  was  nothwendig  ist, 
damit  das  reine  Geschenk  rein  bleibe. 

Sollen  wir  versuchen,  zwischen  diesen  Partheyen  Frieden  zu  stiften? 
Nein!  Wir  bekennen  uns  zur  zweiten  Parthey. 

Aber  bey  der  ersten  vermengen  sich  ganz  verschiedenartige  Dinge. 
Etwas  Wahres  liegt  zum  Grunde.  Dies x  Wahre  wird  sich  ohne  grofse 
Mühe  hervorheben  lassen,  und  zwar  am  besten  gelegentlich,  indem  wir 
von  dem  daran  geknüpften  Irrthum  ganz  schweigen. 


1    „Das"   statt   „Dies"    II.  Ausg.  a 


a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausgabe. 


7  8  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

[77J      Fünftes  Capitel. 

Vom  Unterschiede  des  moralischen  und  ästhetischen  Urtheils, 

44.  Oben  sind  die  praktischen  Ideen  aufgestellt  worden  (27.).  Das 
konnte  füglieh  ohne  besondere  Vorbereitung  geschehen ; l  denn  es  ist  daran 
wenig  Neues.  Man  kann  diese  Ideen  sehr  leicht,  beynahe  in  der  näm- 
lichen Ordnung  und  Sonderung  in  einem  alten,  sehr  bekannten,  nicht  ge- 
rade bewunderten,  aber  stets  gebilligten  und  iverth geschätzten  Buche  nach- 
weisen: in  dem  ersten  Buche  des  Cicero  de  officiis.  An  diesem  Buche 
ist  der  Titel  das  Verkehrteste, 2  denn  es  handelt  nicht  von  Pflichten,  (aufser 
in  den  Unterabtheilungen  und  Anwendungen,)  sondern  von  Tugenden,, 
und  zwar,  wie  Jeder  weifs  nach  Anleitung  eines  Stoikers.  Die  vier  so- 
genannten Cardinaltugenden,  welche  bey  den  Alten  als  stehende  Namen 
für  sehr  verschiedene  Begriffe  vorkommen,  sind  dort  so  erklärt,  dafs  die 
prudentia,  als  Einsicht,  welche  durch  Wollen  und  Handeln  soll  befolgt 
werden,  der  innern  Freyheü  entspricht;  die  iustitia  verbindet  sich  sogleich 
mit  der  betieficientia,  wöbe}'  nur  in  so  fern  die  rechte  Ordnung  gestört  ist,, 
dafs  hier  das  Wohlwollen  nicht  als  Idee  (welche  einen  reinpersönlichen 
Werth  bestimmt),  sondern  als  thätig  im  Leben,  als  wohlthuend,  erscheint; 
welches  freylich  im  Gebiet  der  Abstractionen  ein  arger  und  sehr  schäd- 
licher Fehler3  seyn  würde,  nämlich  deshalb,  weil  sich  daran  der  Irrthum 
zu  knüpfen  pflegt,  der  Werth  des  Wohlwollens  hänge  ab  von  dem  dadurch  zu 
bewirkenden  Wohlseyn;  woran,  so  lange  man  auf  dem  Standpuncte  der 
Ideen  steht,  gar  nicht  erlaubt  ist  zu  denken.  [78]  Allein  dem  Vater, 
der  für  seinen  Sohn  schrieb,  dem  Römer,  der  in  Rom  die  griechische 
Philosophie  bekannt  machen  wollte,  mufs  man  so  etwas  nicht  übel  nehmen. 
Auf  die  Ideen  des  Wohlwollens  und  des  Rechts  folgt  nun  die  fort '1 tu do,  das 
heilst,  die  Idee  der  Vollkommenheit  in  ihrer  Beschränkung  auf  intensive 
Gröfse,  also  auf  Stärke,  wobey  freylich  die  andern  Arten  der  Fülle  und 
Gröfse,  zu  denen  das  Wollen  des  Menschen  kommen  soll,  ausgelassen 
sind;  auch  ist  die  Stellung  fehlerhaft,  denn  diese  Idee  bestimmt,  gleich 
denen  der  innern  Freyheit  und  des  Wohlwollens,  unmittelbar  einen  per- 
sönlichen   Werth,    und    hat    zwischen    beiden    ihren    rechten    Platz.*     Auf 


1  zu  „geschehen"  hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung:  „Wenigstens  möchte 
hier  nicht  der  Ort  sein  für  wissenschaftliche  Pünctlichkeit.    Doch  sehe  man  unten  (171). 

2  Statt  „das  Verkehrteste"  nicht  recht  treffend  gewählt  hat  die  II.  Aus- 
gabe, a 

3  „ein  schädlicher  Fehler"   ...   H.  Ausgabe,  b 

4  In  der  II.  Ausg.  folgt  hier:  Platz]  den  man  ihr  lassen  mufs,-  um  sie 
richtig  zu  verstehen.* 

*  Die  Idee  der  Vollkommenheit  wird  leicht  unrichtig  gedeutet,  wenn  irgend  eine 
andre  Idee  ihr  vorangestellt  ist.  Sie  erscheint  nämlich  alsdann  als  vergröfsernd,  was 
an   sich    schon  löblich    oder  unlöblich  ist.     Ihren  eigentlichen  Sinn    aber   findet  man  da, 


a   u.    b   SW    drucken    nach    der   II.    Ausg.    ohne    Angabe    der   Abweichungen   der 
I.  Ausg. 


i.  Abschnitt.    Elementarlehre.    5.  Capitel.    Vom   Unterschiede  des  moralischen  etc.      -q 

diese  drey  aber  sollte  jetzt  erst  die  Idee  des  Rechts  folgen,  deren  Gegen- 
stand unmittelbar  keine  Person,  sondern  zunächst  nur  ein  Verhältnifs 
zwischen  mehrern  Personen  ist.  Zum  Schlufs  bleibt  nach  diesen  vieren 
noch  eine  übrig,  welche  die  Neuern  zu  kennen  —  vorgeben,  möchte  man 
sagen,  denn  sie  kennen  sie  gar  wohl,  und  verstecken  sie  nur, 1  als  ob  sie 
dieselbe  nicht  sehen  wollten,  so  entschieden  auch  das  Criminell -Recht, 
zvelches  von  allen  den  andern  Rechten  wesentlich  verschieden  ist,  daran  mahnt, 
weil  die  Rechts- Idee  gar  nicht  sein  Grund  und  Boden  ist.  Denn  die  Rechts- 
Idee  weifs  für  sich  allein  nicht  das  Geringste  vom  Lohn,  und  statt  der 
Straß  kennt  sie  nur  den  Ersatz;  aber  dieser  ersetzt  nicht  den  so  höchst 
nothwendigen 2  Begriff  der  Strafe,  welcher  seinerseits  vom  Begriffe  des 
Lohns  der  unzertrennliche  Zwillingsbruder  ist.  Wie  nennt  denn  Cicero 
die  fünfte  Idee,  nämlich  die  der  Billigheil  oder  Vergeltung,  womit  Lohn 
und  Strafe  zugleich  ausgesprochen  sind  ?  Verecundia,  et  quasi  quidam  ornatus 
vitae,  temperaniia,  et  modestia?  Ist  das  Vergeltung;  ist  es  Lohn  und  Strafe? 
—  Er  fährt  fort:  Hoc  loco  conlinetur  id,  quod  dici  latine  decorum  polest: 
Graece  enitn  ngenov  dicitur*  Und  hier  öffnet  sich  ihm  ein  weites  Feld,  [79] 
worin  er,  wenn  auch  nicht  von  der  Tugend,  so  doch  von  eigentlicher 
Pflicht,  dergestalt  abschweift,  dafs  man  glauben  möchte,  die  fünfte  prak- 
tische Idee  sey  auch  bey  ihm  nicht  zu  finden.  Gelegentlich  entfällt  ihm 
ein  Wort,  das  hieher  gedeutet  werden  könnte:  Obiurgationes  nonmimquam 
ineidunt  necessariae;  sed,  ut  ad  urendu?n,  et  secandum,  sie  et  ad  hoc  genus 
castiga?idi,  raro  invitique  venic?nus.*'-  Auch  hier  noch  bleibt  es  zweifelhaft, 
ob  ihn  die  Schicklichkeit  der  Strafe  an  sich,  oder  nur  die  andre  Schick- 
lichkeit, welche  der  Strafende  zu  beobachten  hat,  allein  beschäfftigt.  Jedoch 
von  seinem  Vortrage  ist  die  Spur  nicht  zu  verkennen,  welche,  durch  den 
frühern  Gang  deutlich  genug  bezeichnet,  jetzt  das  Billige  als  ein  Schick- 
liches erreichend,  nur  deshalb  fast  verschwindet,  weil  hiemit  ein  sehr  all- 
gemeiner Begriff  den  Blick  auf  einmal  in  mancherley  Richtungen  hinaus- 
lenkt, welche  früherhin  nicht  offen  lagen,  in  welche  hinauszuschauen  wir 
uns  aber  jetzt  ebenfalls  erlauben  wollen. 

45.  Es  mag  wohl  seyn,  dafs  die  Hinweisung  auf  Cicero  bequemer 
und  deshalb  willkommner  ist,  als  jeder  mehr  schulmäfsige  Vortrag;  allein 
um  einen  bestimmten  Ausdruck  zu  gewinnen,  mufs  doch  damit  noch  eine 
Rückweisung  verbunden  werden.  Bey  Gelegenheit  des  Pflichtbegriffes 
^chon  (29.)  kam  ein  kurzer  Beweis  des  Satzes  vor,  dafs  die  erste  Auctori- 

wo  das  Qualitative  noch  gänzlich  unbestimmt  ist;  das  heifst,  in  demjenigen,  was  an  sich 
gleichgültig  seyn  würde;  also  da,  wo  blofs  Kraft,  Geschick,  Tüchtigkeit,  Besonnenheit, 
Geistesgegenwart  gelobt  wird,  im  ganzen  weiten  Umfange  der  Wirksamkeit  des  Menschen 
auf  die  äufsere  Natur,  ohne  irgend  eine  Rücksicht  auf  gesellige  Verhältnisse.  Diese 
ursprüngliche  Rührigkeit  und  Rüstigkeit  im  Wollen  und  Wirken  ist  zugleich  die  Grund- 
bedingung der  Tugend,  welche  man  einem  schwachen  Stamme  nicht  einimpfen  kann.  — 
Etwas  scheinbar  Abweichendes  liegt  in  der  Idee  des  Cultursystems,  wovon  unten  (52.). 

1  Der  folgende  Satz:  „als  ob  sie  dieselbe  nicht  sehen  wollten"  fehlt  in, 
der  II.  Ausg. 

2  „so  höchst  nothwendigen"  fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

*    Cicero  de  ofßciis  I.   c.   27. 
**   Cicero  de  offieiis  I.  c.  38. 


a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  anzumerken. 


8o  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

tat,  welche  aller  Pflicht  zum  Grunde  liege,  etwas  Willenloses  seyn  müsse. 
Da  an  diesem  Beweise  viel  gelegen  ist,  so  setzen  wir  ihn  in  logischer 
Form  hieher: 

Was   in  zwey  Begriften  das  gemeinsame  und  gleiche  Merkmal  ist, 

das  kann  nicht  den  Grund  ihres   Unterschiedes  enthalten. 
Nun    ist    in    den    beiden    Begriffen    des    pflichtmäfsig   gehorchenden 
und    des    ihm    gebietenden   Willens    das    Merkmal    des    Wollens 
gleich  und  gemeinsam; 
[80]    Also   kann   das  Wollen    nicht   den  Grund   des  Unterschiedes 
zwischen   dem  pflichtmäfsigen  Gehorsam   und   dem  Gebote   ent- 
halten. 
Der   Schlufssatz   sagt   mit   andern  Worten:    die   ersten  Bestimmungen 
dessen,    was  pflichtmäfsig   zu  thun   und   zu   lassen  sey,    sind   keine  Werke 
der  Willkühr;    sondern    den  Thaten    und    den    darin    sich    äufsernden  Ge- 
sinnungen  kommt   ihr  Werth    oder    Unwerth,    das    heifst,    die   Festsetzung 
ihres  Vorzugs   oder   ihrer  Verwerflichkeit,    ursprünglich  aus  einem    unwill- 
kührlichen,   willenlosen  Vorziehn   oder  Verwerfen. 

Nun  setzt  aber  alles  Vorziehn  und  Verwerfen  zuerst  voraus,  die 
Gegenstände  desselben  seyen  wahrgenommen,  oder  wenigstens  durch  irgend 
eine  Vorstellung,  wenn  auch  nur  in  der  Einbildung,  aufgefafst  worden. 
Die  blofse  Vorstellung,  ohne  den  Zusatz  des  Vorziehns  oder  Verwerfens, 
heifst  eine  theoretische ;  bleibt  es  dabey  allein,  so  wird  der  Gegenstand 
als  ein  gleichgültige)-  vorgestellt.  Hingegen  der  Zusatz:  vorzüglich  oder  ver- 
werflich, giebt  dem  Gegenstande,  als  dem  logischen  Subjecte,  ein  Prädicat. 
Die  Verbindung  zwischen  Subject  und  Prädicat  heifst  nun  bekanntlich 
allemal  ein  Urtheil.  Diejenige  Art  von  Urtheilen  aber,  welche  das  Prädicat 
der  Vorzüglichkeit  oder  Verwerflichkeit  unmittelbar  und  unwillkürlich,  also 
ohne  Beweis  und  ohne  Vorliebe  oder  Abneigung,  den  Gegenständen  bey- 
legt,   heifst  ästhetisches    Urtheil. 

Wenn  aus  den  ersten,  willenlosen  Werthbestimmungen,  welche  un- 
mittelbar in  dem  Gedanken  irgend  eines  möglichen  Wollens  entstehen, 
ein  wirklicher  Vorsatz  sich  erzeugt  hat,  fernerhin  keiner  unlöblichen  Willens- 
regung Raum  zu  lassen:  alsdann  geben  die  nunmehr  folgenden  Begierden 
und  Handlungen  Anlafs,  sie  mit  jenem  Vorsatze  zu  vergleichen.  Indem 
sie  nun  demselben  mehr  oder  weniger  angemessen  gefunden  werden,  ent- 
steht ein  moralisches  Urtheil.  Jener  Vorsatz  nämlich  ist  ein  gebietender 
Wille ;  es  fragt  sich,  ob  demselben  gehorcht 1  werde ;  und  das  Maafs  dieses 
Gehorsams  ist  das  Maafs  des  sittlichen  Werths.  Demnach  geht  das  ästhe- 
tische [81]  Urtheil  voran;  bey  dem  moralischen  aber  wird  jenes  im 
Stillen  vorausgesetzt,  meistens  ohne  abgesondert  betrachtet  zu  werden. 

Jedermann  weifs,  dafs  die  Sphäre  der  ästhetischen  Urtheile  sehr  viel 
gröfser  ist,  als  die  der  moralischen.  In  der  That  giebt  es  solcher  Ur- 
theile, die  ein  unwillkürliches  Vorziehen  und  Verwerfen  ausdrücken,  sehr 
viele  und  von  ganz  verschiedener  Art  in  den  mancherley  Künsten.    Ihnen 


1  ob  demselben  gefolgt  werde.     II,  Ausg. 


a  SW.  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der   I.  Ausg.  anzugeben. 


i.  Abschnitt.    Elementarlehre.    5.  Capitel.    Vom  Unterschiede  des  moralischen  etc.      8l 

unterwirft  sich  der  Künstler;  und  daraus  entsteht  für  ihn  eine  eigne  Art 
des  Gewissens,  welches  ihm  Zeugnifs  giebt  von  dem  Grade  der  angewandten 
Sorgfalt  in  Ausübung  der  Kunst.  Aber  wer  nicht  Künstler  ist,  bekümmert 
sich  nicht  darum;  denn  aus  seinen  ästhetischen  Urtheilen  über  vorkom- 
mende Gegenstände  wurden  keine  Vorsätze,  daher  auch  kein  Gewissen. 
Noch  mehr:  der  Künstler  selbst  klebt  nicht  an  der  Kunst;  er  läfst  sie, 
wenn  es  ihm  beliebt,  und  ihn  sonst  nichts  treibt,  ruhen,  oder  giebt  sie 
ganz  auf.  Dafs  es  sich  mit  den  Bestimmungen  über  den  Werth  des 
Willens  ganz  anders  verhält,  liegt  am  Tage;  denn  das  Wollen  kann  man 
nicht  aufgeben;   es  ist  der  Sitz  des  geistigen  Lebens. 

Dennoch  hat  man,  wie  es  scheint,  nicht  gewufst,  dafs  ästhetische  Urtheile 
unter  andern  auch  den  moralischen  zum  Grunde  liegen.  Im  gemeinen 
Leben  braucht  man  es  nicht  zu  wissen*;  aber  wenn  die  Schulen  es  auch 
nicht  wissen,  so  gerathen  die  Systeme  in  Verwirrungen, 1  die  man  wohl  kennt. 

46.  Wir  kehren  zurück  zum  Cicero,  und  zu  seinem  decorum,  welches 
das  ngenov  der  Griechen  seyn  soll,  und  dessen  Beobachtung  bey  ihm  die 
Reihe  der  Tugenden  gerade  da  abschliefst,  wo  in  der  That  die  fünfte 
praktische  Idee,  nämlich  die  Idee  der  Vergeltung,  stellen  sollte,  nachdem 
zuvor  unter  [82]  dem  Namen  der  Tugenden,  ja  gar  unter  der  Ueberschrift: 
von  den  Pflichten,  eigentlich  die  vier  ersten  praktischen  Ideen  waren  ab- 
gehandelt worden.  Wie  kommt  Cicero  zu  einem  solchen  Verfahren? 
Welcher  Zusammenhang  der  Gedanken  lag  den  Stoikern,  denen  er  hier 
nachfolgt,   eigentlich   im   Sinne? 

Zuerst  sieht  man  gleich  soviel:   das  decorum  ist  Gegenstand  ästhetischer 
Urtheile.      Wenn    es  hier   einen  natürlichen  Platz  findeji  konnte,    so  mufs  die 
ganze  Reihe,   die  es  beschliefst,    selbst   voji   ästhetischer  Art  gewesen  seyn,    wie 
ohnehin  aus  dem  Obigen  erhellet,  und  hier  nur  bestätigt  wird. 

Aber  das  decorum  liegt  in  der  äufsern  Erscheinung  des  Menschen. 
Wie  kommt  denn  das  Acufsere  hier  in  Eine  Reihe  mit  den  Werthbestim- 
mungen  des  Willens,  welche  das  Innerste  betreffen?  Darin  liegt  offenbar 
ein  Abgleiten  vom  anfänglichen  Gegenstande.  Jedoch  auch  solches  Ab- 
gleiten pflegt  bey  geübten  Logikern,  wie  die  Stoiker  meistens  waren,  seinen 
Anlafs  im  Gegenstande  selbst  zu  haben. 

Die  natürlichste  Conjectur  nun  ist  diese:  da  die  Idee  der  Vergeltung 
am  bezeichneten  Orte  zu  erwarten  war,  —  denn  sie  allein  fehlte  noch 
in  der  Reihe  der  Ideen,  —  so  mufs  das  decorum,  oder  eigentlich  das 
tiqstioi',  wovon  jenes  nur  die  mangelhafte  Uebersetzung  ist,  wenigstens 
zum  Theil   mit  der  Vergeltung  zusammenfallen. 

Das  bestätigt  sich,  indem  man  genauer  im  Einzelnen  nachsieht.  Zwar 
noch  nicht  auf  den  Satz  wollen  wir  uns  berufen:  iustitiae  partes  sunt,  non 
violare  homines ;  vereeundiae,  non  offendere.  Denn  das  offendere  ist  noch 
sehr    unbestimmt.     Anstofs    geben    ist    vielfach    die    Folge    von    Vernach- 


*  Hiebey  noch  eine  Bemerkung.  Oftmals  werden  moralische  Forderungen  als  ein 
Druck  von  aufsen  empfunden.  Das  liegt  daran,  dafs  die  ästhetischen  Urtheile  nicht  als 
eigne  innerlich  reif,   sondern  als  fremde  Urtheile  und  Vorschriften  gelernt  wurden. 

l  Die  folgenden  Worte:    „die   man   wohl    kennt"   fehlen  in  der  II.  Ausg.  a 

a  SW,  welche  nach  der  II.  Ausg.  drucken,  geben  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  nicht  an. 
Hbrbart's  Werke.     IX.  6 


32  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

lässigung  des  Aeufsern,  und  das  trifft  den  Punct  nicht,  auf  den  es  an- 
kommt. Allein  in  folgender  Stelle  ist  derselbe  zu  erkennen:  Eos,  quorum 
vita  perspecta  in  rebus  honestis  atque  magnis  est,  be?ie  de  repiiblica  sentientes, 
ac  bene  meritos,  aut  merentes,  sicut  aliquo  honore,  aut  imperio  ajfectos, 
observare  ei  colere  debemus ;  tribuere  etiam  [83]  multum  senectuti  ;  cedere  iis, 
qui  magist  rat  um  habebunt:  habere  delectum  civis  et  peregrini ;  in  ipsoque 
peregrino,  privatimne  an  publice  venerit:  ad  summam,  ?ie  agam  de  singulis, 
communem  totius  generis  hominum  conciliationem  et  consociationem  colere,  tueri, 
servare  debemus*  Hier  zeigen  diese  Schlufsworte  deutlich,  dafs  nicht 
mehr  vom  Aeufserlich-Anständigen,  sondern  vom  innern  Werthe  die  Rede 
ist.  Denn  wer  den  Cicero  einigermafsen  l  kennt,  der  wird  ihm  sicher 2 
nicht  zur  Last  legen,  er  habe  die  allgemeine  Gesellung  der  Menschen 
mit  den  Augen  des  schlauen  Politikers  angesehn;  im  Gegentheil,  hier,  in 
dieser  allgemeinen  Gesellung,  ist  für  ihn,  wie  für  uns,  Alles,  was  auf 
Erden  einen  Werth  hat,  beysammen.  Worin  wird  nun  die  Pflicht  gesetzt? 
Zuerst  darin,  dafs  einem  Jeden  nach  Verdienst  begegnet  werde.  Das  ist 
das  Billige  im  eigentlichen  Sinne,  und  hier  findet  sich  also  die  vermifste 
praktische  Idee.  Ferner  sollen  die  Achtungsbezeugungen  gehörig  vertheilt 
werden.  Der  Begriff  der  gewöhnlich  sogenannten  iustitia  distributiva  ist 
aber  gar  kein'  Rechtsbegriff;  denn  wo  das  Recht  zum  Austheilen  gelangt, 
da  giebt  es  (wie  bey3  Erbtheilungen)  Jedem  zwar  das  Seine,  keinesweges 
aber  Jedem  das  Verdiente;  ein  Unterschied,  der  so  leicht  zu  fassen  ist, 
und  in  der  Welt  oft  so  grell  hervortritt,  dafs  man  ihn  nie  würde  verfehlt 
haben,  wenn  nicht  die  Ansprüche  der  Billigkeit  mit  den  sogenannten 
Urrechten  verwechselt  würden,  so  leicht  es  ist  auch  zu  begreifen,  dafs,  wenn 
und  wiefern  es  Urrechte  giebt,  diese  nicht  darauf  warten  können,  bis 
Jemand  sie  erwerbe,  um  sie  zu  verdienen.4 

Wir  haben  nun  gezeigt,  dafs  die  fünfte  Idee  dort,  wo  sie  vermifst 
wurde,  allerdings  wohl  zu  erkennen  ist;  nur  hält  sie  sich  beym  Cicero 
tief  versteckt  in  einem  Walde,  von  dem  man  nicht  sogleich  begreift,  wie 
sie  habe  hineingerathen  können?  —  Und  dennoch  ist  bey  einiger  logischen 
Aufmerksamkeit  nicht  eben   [84]   schwer  zu  bemerken,  wie  das  Billige  auf 


*    Cicero  de  officis  I.  cap.  41. 

1   u.    2    „einigermafsen,    u.    „sicher''  (sicherlich  SW)  lehlen  in  der  II.  Ausg. 

3  („wie  bey  den  Erbtheilungen")   ...   II.  Ausg.a 

4  zu:    „verdienen"   hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung: 

Die  Idee  der  Billigkeit  ist  unter  allen  praktischen  Ideen  am  schwersten  richtig 
zu  fassen:  nicht  blofs  weil  von  ihr  die  entgegengesetzten  Begriffe  des  Lohns  und  der 
Strafe  zugleich  abhängen,  und  dann  noch  die  Strafe  sich  nach  der  Verschiedenheit  des 
dolus  und  der  culpa  zu  theilen  scheint:  sondern  auch  besonders,  weil  sie  zur  Strafe 
zwar  die  begränzende  Bestimmung,  nicht  aber  das  Motiv  liefert,  und  hiebey  mit  ver- 
schiedenen rechtlichen  Erwägungen  in  Verbindung  tritt.  Indessen  kann  man  sich  bey 
diesem  eben  so  schwierigen  als  vielfach  hin  und  her  geworfenen  Gegenstande  -auf  einen 
Schriftsteller  beziehen,  der  in  mehr  als  einer  Hinsicht  klassisch  zu  heifsen  verdient, 
nämlich  auf  Grotius;  der  über  Strafen  so  treffend  gesprochen  hat,  dafs  man  sich  über 
manche  neuere  Einseitigkeit  zu  wundern  Ursach  finden  möchte.  Vergl.  Analytische 
Beleuchtung  des  Naturrechts  und  der  Moral,  erste  Anmerkung  zum  zweiten  Abschnitte. 


a   SW  drucken   nach  der  II.  Ausg.    ohne  Angabe  der  Abweichung   der  I.  Ausg. 


i.  Abschnitt.    Elementarlehre.     5.  Capitel.    Vom  Unterschiede  des  moralischen  etc.      83 

seinen  höhern  Gattungsbegriff",  nämlich  auf  das  Angemessene,  führte.  In 
der  That  fallen  Lohn  und  Strafe  in  die  Klasse  der  Passenden,  Schicklichen, 
was  nicht  zu  grofs  noch  zu  klein  seyn  darf.  Wer  nun  von  den  Pflichten 
schreibt,  dem  liegt  es  sehr  nahe,  alles  Passende  des  Betragens,  auch  im 
Aeulsern,  da  abzuhandeln,  wo  der  Strenge  nach  nur  von  der  ganz  be- 
sondern Art  des  Schicklichen  zu  reden  war,  welche  sich  im  Vergelten 
des  absichtlichen  Wohl-  und  Wehe-Thuns  äufsert.  Wer  aber  nicht  von 
den  Pflichten  schreibt,  sondern  bey  der  einmal  geschehenen  Ausdehnung 
eines  Begriffs  nachfragt,  wie  weit  denn  wohl  diese  Erweiterung  desselben 
gehen  könne?  der  findet,  dafs  zu  ästhetischen  Urtheilen  über  das  Ange- 
messene viel  öfter,  als  blofs  bey  der  Betrachtung  der  menschlichen  Hand- 
lungen, die  Gelegenheit  sich  darbietet.  Denn  auch  bey  geometrischen 
Figuren  kommt  eine  Congruenz  vor,  und  diese  ist  unter  dem  Namen 
der  Symmetrie  als  gewöhnliche  Bedingung  des  Schönen  im  Räume,  wo  es 
sich  von  einer  senkrechten  Mittellinie  rechts  und  linkshin  ausbreitet,  all- 
gemein bekannt,  welches  hinreicht,  um  an  einem  Beyspiele  zu  zeigen, 
dafs  ästhetische  Urlheile  innerhalb  und  au/serhalb  des  moralischen  Gebietes 
unter  einander  zusammenhängen. 

Ein  andres,  sehr  leichtes  Beyspiel  davon  giebt  die  Idee  der  Voll- 
kommenheit. Denn  das  Grofse  gefällt  neben  dem  Kleinen,  das  Starke 
neben  dem  Schwachen,  nicht  blofs  da,  wo  von  Grofsherzigkeit  und  Eng- 
herzigkeit zu  reden  ist,  sondern  auch  im  Sinnlichen,  bis  hinauf  zu  dem, 
was  als  erhaben  gelobt  wird. l 

47.  Der  Zusammenhang  unserer  Betrachtung  erfordert  jetzt,  zurück- 
zublicken auf  das  Ende  des  vorigen  Capitels.  Nachdem  dort  die  Religion 
als  Ergänzung  der  Lehren  von  Gütern,  Pflicht  und  Tugend  war  darge- 
stellt worden,  fand  sich  zuletzt,  dafs  diese  ihre  moralische  Beziehung  noch 
nicht  hinreiche,  um  ihren  Werth  und  ihr  Wirken  vollständig  zu  beschreiben. 
Denn  [85]  sie  ist  auch  Gegenstand  einer  durchaus  heitern  Betrachtung, 
und  dies  wird  am  fühlbarsten  durch  den  Eindruck  der  verschiedenen 
Kunstwerke,  denen  sie  nicht  blofs  Veranlassung  giebt,  sondern  von  welchen  2 
gerade  die  bedeutendsten,  eben  nur  in  heiligen  Hallen  den  rechten  Platz 
gewinnen.  Mit  Einem  Worte,  die  Religion  macht  aufser  dem  moralischen 
Eindruck  noch  einen  ästhetischen;  und  das  ist  ihr  so  wesentlich,  dafs, 
wenn  sie  gar  nicht  ästhetisch  wirken  sollte,  sie  auch  gar  nickt  moralisch 
wirken  könnte.  Denn  hinter  den  moralischen  Begriffen  liegen  nothwendig, 
als  erste  Grund-Voraussetzung,  ästhetische  Begriffe  verborgen. 


1    Hier    fügt    die    II.    Ausg.    das    Folgende    ein:     Wie    ALEXANDER,    CÄSAR, 

Napoleon  bewundert  werden,  so  redet  man  auch  von  majestätischen  Ge- 
birgen, Vulkanen  u.  s.  w.,  wobey  noch  zu  bemerken,  dafs  zwar  die  erste 
Auffassung  von  Affecten  begleitet  zu  seyn  pflegt,  dafs  aber  nach  dem 
Aufhören  des  Affects,  bey  wiederkehrendem  Gleichmuthe,  das  ästhetische 
Urtheil  zurückbleibt.  Aehnliches  ist  bey  ästhetischen  Gegenständen  aller 
Art  ganza  gewöhnlich. 


2  sondern  von  welchem  ü.  (Druckfehler), 
a    („ganz"  fehlt  in  SW.) 

6* 


#a  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


Aber  keinesioegs  sind  alle  ästhetische  Auffassungen  zugleich  moralisch. 
Nicht  einmal  die  ursprünglichen  praktischen  Ideen  wirken  unter  allen 
Umständen  moralisch.  Das  verrathen  Diejenigen,  (um  ein  nahe  liegendes 
Beyspiel  zu  geben,)  welche  sich  nicht  bedenken,  Gottähnlichkeit  als  Moral- 
princip  zu  verkündigen!  Ihnen  schwebt  Heiligkeit,  Vollkommenheit,  Güte, 
Gerechtigkeit  und  Vergeltung,  nach  den  praktischen  Ideen,  als  vereinigt  im 
höchsten  Wesen  vor;  hievon  empfinden  sie  den  ästhetischen  Gesammt- 
Eindruck.  Nun  meinen  sie.  wer  den  ähnlichen  Gesammt-Eindruck 
durch  den  Lauf  seines  irdischen  Lebens  hervorbringen  könnte,  der 
—  würde  Aehnlichkeit  mit  Gott  erlangen!  Machen  denn  diese  Ideen 
auch  nur  im  geringsten  das  Wirken  Gottes  begreiflich?  Oder  darf  man 
in  Gott  ein  ähnliches  Leiden  von  den  Ideen  annehmen,  wie  das  Leiden, 
was 1  der  Mensch  in  seiner  Demüthigung  empfindet,  indem  sein  Streben, 
den  Ideen  zu  entsprechen,  ihm  schlecht  gelingt?  Und  doch  ist  dies 
Gefühl  des  Leidens  und  der  Demüthigung  unzertrennlich  von  der  moralischen 
Gemüthsstimmung,  während  es  mit  jenem  ästhetischen  Gesammt-Eindruck 
nicht  das  Geringste  gemein  hat.  Wollen  wir  nicht  auch,  wenn  ein  grofses 
Genie  unsre  Bewunderung  erregt  hat,  jedem  schwachen  Kopfe  rathen,  er 
möge  sorgen,  diesem  Genie  ähnlich  zu  werden  ?  Der  Nachahmer  giebt 
es  ohnehin  genug:  sie  können  aber  nicht  was  sie  wollen;  darum  räth 
man  ihnen,  in  ihrem  [86]  Kreise  zu  bleiben.  So  nun  auch  weiset  die 
Religion  den  Menschen  an,  sich  auf  seine  guten  Werke  nicht  zu  vet- 
lassen :  die  Moral  aber  beginnt  ihre  eigentlich  i?wralischen  Lehren  da,  wo 
sie  Jeden  nach  seiner  Art  und  auf  seinem,  für  ihn  gangbareti  Wege,  sich 
im  Guten  zu  üben  auffordert.  Allerdings  also  ist  an  jenem  Moralprincip 
•etwas  Wahres;  aber  gerade  durch  das,  was  an  ihm  erhaben  seyn  soll, 
berührt  es  die  Religion  von  ihrer  ästhetischen  Seite,  und  entfernt  sich 
von  der  moralischen  Sphäre. 

Möge  nun  Jeder  das  Seinige  thun!  Die  Moralisten  haben  alle  Ur- 
sache sich  um  Psychologie  zu  bekümmern;  besonders  um  diejenige  Er- 
regung, worin  der  Mensch  durch  die  Ideen  und  durch  deren  religiösen 
Inbegriff  gerathen  kann  und  mufs,  um  sittlich  fortzuschreiten.  Die  Künstler 
hingegen  mögen  der  Religion  jeden  Schmuck  darbieten,  durch  welchen 
für  irgend  etwas  derselben  Verwandtes  ein  edler  Ausdruck  scheint  ge- 
funden zu  seyn. 


1  „das"  statt  „was"  ...  II.  Ausg.a 


a  SW.    drucken    nach  der   II.  Ausg.    ohne    die    Abweichung    der    I.  Ausg.  anzu- 
merken. 


i.  Abschnitt.    Elementarlehre.    6.  Capitel.    Vom  Unterschiede  der  ästhetischen  etc.         85 


[87]  Sechstes  Capitel. 

Vom  Unterschiede  der  ästhetischen  und   theoretischen  Ansicht 

der  Dinge. 

48.  Wir  begannen  damit,  den  Menschen  in  der  vielfachen  Gebunden- 
heit seiner  Lebensverhältnisse  aufzusuchen;  wir  dachten  ihn  abhängig  von 
der  Natur,  dem  Staate,  und  der  Kirche;  getrieben  und  beschränkt  von 
allen  den  mannigfaltigen  Motiven,  die  gewöhnlich  auf  ihn  zu  wirken 
pflegen.  Hätten  wir  davon  abstrahirt:  so  würde,  statt  der  moralischen 
Vorsätze,  Entschliefsungen,  Handlungen,  nur  jene  ästhetische  Beurtheilung, 
woraus  die  praktischen  Ideen  hervorgehn,  übrig  geblieben  seyn.  Der 
moralische  Mensch  trägt  eine  Last,  die  selbst  dem  Stärksten  nicht  leicht 
ist  (41.).  Woraus  denn  entsteht  diese  Last?  Nicht  blofs  aus  der  Lage 
der  Dinge  in  der  Natur,  dem  Staate,  und  der  Kirche;  aber  auch  nicht 
blofs  aus  den  Ideen,  welche  den  Werth  oder  Unwerth  des  Willens  an- 
zeigen ;  sondern  aus  beiden  zusammengenommen,  weil  es  schwer  ist,  in 
solcher  verivickelteti  Loge  nicht  den  Werth  des  Willens  Preis  zu  geben; 
besonders  bey  gewöhnlicher  Schwäche  und  Reizbarkeit  des  ganzen,  geistigen 
und  leiblichen   Menschen. 

Betrachten  wir  nun  einen  Factor  dieser  Last  allein,  indem  wir  durch 
Abstraction  den  andern  bey  Seite  setzen:  so  kommen  ästhetische  Urtheile 
zum  Vorschein.  Aber  durch  die  umgekehrte  Abstraction  können  wir  auch 
die  ästhetischen  Urtheile  bey  Seite  setzen :  dann  kommt  die  blofse  theo- 
retische Kenntnifs  der  Dinge  hervor,  wie  sie  sind,  oder  doch  wie  sie  uns 
erscheinen;  zu  dieser  Kenntnifs  gehört  nun  auch  das  Wissen  von  unserm 
eignen  [88]  Wollen,  als  ob  wir  ihm  zuschauen  könnten,  ohne  es  zu  loben 
oder  zu  tadeln.  Wir  können  das  nickt;  es  ist  auch  nicht  einmal  möglich, 
bey  dem  biofsen  ästhetischen  Urtheile  über  uns  selbst,  völlig  unbewegt 
stehen  zu  bleiben;  sondern  allemal  wirkt  dasselbe  moralisch,  das  heilst: 
als  eine,  wenn  auch  noch  so  schwache,  Triebfeder  auf  den  Willen;  und 
wenn  nicht  Andrer  Urtheile  und  Beyspiele  mit  eingriffen,  so  würde  diese 
Triebfeder  weit  stärker  hervortreten.  Weil  wir  nun  durch  die  Beschauung 
unsrer  selbst  allemal  zum  ästhetischen  Urtheil,  und  wiederum  durch  dies 
Urtheil  zu  einer  neuen  moralischen  Willensregung  veranlafst  werden:  so 
ist  der  Begriff  einer  blofs  theoretischen  Selbst-Beschauung  (wie  die  Psychologen 
solche  dem  innern  Sinne  zuschreiben)  nichts  als  eine  Abstraction,  in 
welcher  man  absichtlich  sich  so  stellt,  als  hätte  man  vor  dem,  was  man 
gleichsam  seitwärts  liegen  sieht,  die  Augen  zugedrückt.  Aber  solche  Ab- 
stractionen  sind  in  vielen  Fällen  sehr  nöthig,  und  besonders  zweckmäfsig 
dann,  wenn  die  aus  ästhetischen  Urtheilen  erzeugte  Willensregung  wegen 
andrer  Verhältnisse  nothwendig  wieder  verschwinden  mufs. 

49.  Die  fünf  einfachen  praktischen  Ideen  konnten  im  vorigen  Capitel 
einer  populären  Erläuterung  wohl  entbehren,  weil  ein  so  allgemein  be- 
kanntes Buch,  wie  jenes  alte  von  den  Pflichten,  sich  von  selbst  darbot, 
um   eine    grofse    Weitläufigkeit   ersparen     zu    helfen.     Etwas    anders   aber 


86  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

verhält  sich's  mit  den  abgeleiteten  Ideen,  welche  die  Gesellschaft  betreffen; 
1  hier  sieht  sich  der  Verfasser  doch  genöthigt,  auf  sein  eignes  älteres  Buch 
zu  verweisen.  * 

Um  indessen  auch  jetzt 2  die  offene  Stelle  nicht  ganz  leer  zu  lassen, 
benutzen  wir  die  Gelegenheit,  zu  dem  Gegensatze  zwischen  ästhetischer 
und  theoretischer  Betrachtungsart,  wovon  bald  in  weiterer  Ausdehnung 
die  Rede  seyn  mufs,  als  ein  passendes  und  nahe  liegendes  Bevspiel  die 
gesellschaftlichen  Ideen  aufzustellen;  welche  bey  der  Beurtheilung  des 
Staats  vorkommen,  während  Jedermann  weifs,  dals  der  [89]  Staat,  — 
das  Gröfste  und  Mächtigste  auf  Erden,  als  ein  Gegebenes,  mithin  theo- 
retisch,  mufs  aufgefafst  werden. 

Hier  aber  wollen  wir,  der  gröfsern  Deutlichkeit  wegen,  die  theoretische 
Ansicht  zuerst  erwähnen. 

50.  Ungeachtet  aller  oft  gehörten  Reden  von  angeborner  Gleich- 
heit und  Freyheit  der  Menschen,  weifs  man  nicht  blofs,  dafs  die  Natur- 
anlagen eben  so  verschieden  sind  als  die  Glücksumstände,  sondern  man 
sieht  auch  in  jeder  Gesellschaft  den  vierfachen  Unterschied  der  Dienenden, 
der  Freyen,  der  Angesehenen,  und  der  Herrschenden.  Zwar  nicht  in  dem 
Sinne,  als  ob  die  Dienenden  gerade  Leibeigene  oder  gar  Sklaven  wären; 
vielmehr  gehören  sie  bey  uns  zu  den  Freyen  im  weitern  Sinne  des  Worts; 
allein  ihre  Freiheit  hilft  ihnen  doch  nur  so  viel,  dafs  sie  den  Dienst 
wechseln,  und  die  Gunst  des  Glücks,  falls  eine  solche  erscheint,  benutzen 
können;  so  lange  sie  aber  dienen,  hängt  die  Eintheilung  ihrer  Zeit  nicht 
von  ihnen  selbst  ab;  auch  die  Art  ihrer  Arbeit  können  sie  nicht  nach 
eignem  Urtheil  bestimmen.  Man  erlaube  uns3  nun,  für  den  jetzigen 
Punct  unserer  Betrachtung  denjenigen  frey  zu  nennen,  welcher  selbst  ent- 
scheidet über  die  Anordnung  seiner  Arbeit;  denn  wer  hierin  nicht  seinem 
eignen  Plane  folgen  darf,  dessen  Gebundenheit  an  fremden  Willen  liegt 
jeden   Augenblick  am   Tage. 

Die  Freyen  aber,  so  ehrlich  sie  übrigens  seyn  mögen,  sind  darum 
noch  nicht  angesehen;  die  Angesehenen  sind  noch  nicht  Herrscher.  Hier 
mag  man  uns4  immerhin  fragen:  wo  ist  denn  die  Gränze,  welche  den 
Angesehenen  trennt  von  dem  Freyen  ohne  Ansehn?  Wir  können  freylich 
keinen  Orden  und  keinen  Titel  als  die  gesuchte  Gränzbestimmung  auf- 
weisen; müssen  vielmehr  bekennen,  dafs  dies  sehr  unvollkommne  Be- 
zeichnungen sind;  dennoch  mögen  immerhin  Orden  und  Titel  zur  Erinne- 
rung dienen,  dafs  ein  Begriff  vorhanden  ist,  den  man  gern  bezeichnen 
möchte,   wenn   es    auch  damit    nicht  ganz  gelingt.     Wirkliches  Ansehn   ist 


*  Praktische  Philosophie,  die  letzten  sechs  Capitel  des  ersten  Buchs. 

1  Die   folgenden   AVorte:     „hier    sieht    sich    ...    ZU    verweisen"    sind  in   der 
II.  Ausg.  weggeblieben. 

2  Die  Worte:    „indessen   auch  jetzt"   fehlen  in  der  II.  Ausg.a 

3  „uns"    fehlt   in   der    II.  Ausgabe,  b 

4  „uns"    fehlt  in   der    II.   Ausg.c 

a,    b    u.    u  SW   drucken    nach  der  II.  Ausg.,  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg. 
anzumerken. 


i .  Abschnitt.    Elementarlehre.    6.  Capitel.    Vom  Unterschiede  der  ästhetischen  etc.         8  7 

nach  Art  und  Stufe  sehr  ver[go]  schieden,  und  selbst  nach  Gesichtspuncten 
wandelbar;  gerade  hierin  nun  liegt  das  Wesentliche  des  Begriffs.  Denn 
zwischen  Dienenden  und  Freyen  (im  obigen  Sinne  dieses  Worts)  war  ein 
solcher  Unterschied,  der  auf  die  ivahre  Lage  der  Personen  sich  gründet; 
jetzt  aber  kommt  ein  zweyter  Unterschied  hinzu,  der  blofs  davon  abhängt, 
wie  die  Personen  erscheinen.  Und  hierin  liegt  viel  Wichtiges;  denn  man 
kann  nicht  hindern,  dafs  in  der  Gesellschaft/^  Person  allen  erscheint;  sonst 
würden  sie  nichts  von  einander  wissen,  und  die  Gesellschaft  wäre  aufgelöset. 
Die  Psychologie  zeigt  nun, 1  dafs  der  zweyte  Unterschied  gerade 2 
nach  dem  nämlichen  Gesetze  entsteht,  welches  den  ersten  hervorbringt.  * 
Sie  zeigt  ferner,  dafs  im  Gebiete  des  Erscheinens  eine  Art  von  optischer 
Täuschung  stattfindet,  wodurch  die  Unterschiede  viel  gröfser  werden,  als 
sie  an  sich  seyn  würden;  und  dafs  hiedurch  den  am  meisten  Angesehenen 
ein  sehr  grofser  Vortheil  zuwächst,  indem  sich  ihnen  alle  diejenigen, 
welche  in  der  Erscheinung  tiefer  stehen  als  in  der  Wirklichkeit,  durch 
einen  unwillkührlichen  Antrieb  zuwenden,  so  dafs  es  jenen  sehr  leicht 
wird,  über  die  letztern  Gewalt  zu  erlangen.  Das  Volk  will  den  recht 
vornehmen  Mann  gern  sehen;  es  läuft  zusammen,  wo  er  sich  zeigt;  es 
horcht,  wo  er  spricht;  weifs  er  die  Gelegenheit  zu  nutzen,  so  findet  er 
nicht  blofs   Gehör,   sondern   Gehorsam. 3 


1  „nun"  fehlt  in   der    II.   Ausgabe.  * 

2  „gerade"   fehlt  in  der  II.  Ausg.b 

*  Psychologie,  im  Anfange  des  zweyten  Bandes.     [Bd.  VI  vorl.  Ausgabe.] 

3  zu  „Gehorsam"   hat  die  II.  Ausg.  folgende  Note: 

Die  Undeutlichkeit,  welche  man  an  dieser  Stelle  gefunden  hat,  läfst  sich  hier  bey 
weitem  nicht  ganzheben;  es  ist  genug,  dafs  die  geschichtlichen  Thatsachen  vor  Augen 
liegen.  Um  indessen  an  einem  Beyspiele  zu  zeigen,  wieviel  Ueberlegung  und  Vorsicht 
nöthig  ist,  um  psychologische  Gesetze  richtig  aufzufassen  und  anzuwenden,  mag  Folgen- 
des hinzukommen. 

i)  Es  ist  hier  nicht  die  Rede  von  dem,  was  seyn  solle  oder  nicht  solle,  auch 
nicht  von  dem,  was  immer  gleichförmig  und  unabänderlich  geschähe;  sondern  von  dem, 
was  nach  Verschiedenheit  der  Umstände  höchst  verschieden  ausfällt. 

2)  Es  giebt  ein  psychologisches  Gesetz  des  Gleichgewichts ,  welches  niemals 
völlig  erreicht  wird,  sondern  wozu  eine  allmählige  Annäherung,  anfangs  schneller,  dann 
langsamer  stattfindet,  wenn  nicht  während  der  Zeit  etwas  Anderes  entgegenwirkt. 

3)  Dies  Gesetz  betrifft  ursprünglich  unsere  Vorstellungen,  in  wie  fern  sie  ent- 
gegengesetzt sind;  und  daraus  erklärt  sich,  dafs  viele  Vorstellungen,  die  wir  haben  und 
behalten,  doch  aus  dem  Bewufstseyn  verdrängt,  und  so  abwesend  sind,  als  ob  wir  sie 
jetzt  nicht  hätten. 

4)  Von  diesem  Gesetze  ist  hier  eine  doppelte  Anwendung  gemacht.  Die  erste  be- 
ruhet nur  auf  einer  Analogie,  welche  mehr  oder  minder  zutrifft,  wenn  Menschen  mit 
entgegengesetzten  Interessen  und  verschiedenen  Kräften  einander  nahe  genug  stehen,  um 
auf  einander  ungefähr  so,  wie  die  entgegengesetzten  Vorstellungen  in  Einem  Geiste,  ein- 
wirken zu  können.      Daher  die  Dienenden,   welche  ivirklich  herabsinken. 

5)  Die  zweyte  Anwendung  des  nämlichen  Gesetzes  ist  eine  directe.  Denn  unter 
den  mannigfaltigen  Vorstellungen  eines  jeden  Menschen  befinden  sich  auch  die,  welche 
er  sich  macht  von  den  andern,  ihn  umgebenden  Personen.  Sind  diese  Vorstellungen 
von  Personen  einander  entgegengesetzt,  so  wirkt  der  Gegensatz  hier  wie  überall.  Der 
Einzelne  vergifst  viele  Personen  über  wenigen. 

6)  Was  hier  vom  Einzelnen  gesagt  worden,  das  begegnet  sehr  Vielen,  wenn  einige 
wenige  Personen    der  Menge    so  gegenüber  stehn,    dafs  sie  diejenigen  sind,    welche  man 

a   u.  b    SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg- 


gg  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


Die  psychologischen  Gründe  von  dem  Allen  sind  ganz  allgemein; 
aber  sie  wirken  in  jedem  bestimmten  Falle  mit  vielen  andern  Ursachen 
zusammen.  Dahin  gehören  Klima,  Gewerbe,  Handel,  Sprache,  Cultus, 
besonders  aber  Krieg  und  Eroberung;  woraus  Mischung  verschiedener 
Volksstämme   entsteht. 

Ohne  uns  hierin  weiter  einzulassen,  erinnern  wir  nur,  dafs  laut 
Zeugnifs  der  Geschichte,  und  in  Folge  der  vorhin  angegebenen  Gründe, 
jede  menschliche  Gesellschaft  eine  Neigung  verräth,  sich  nach  oben  zu- 
zuspitzen; daher  die  Monarchie  die  [91]  gewöhnlichste  Staatsform  ist, 
worin  die  gesellschaftlichen  Kräfte  ins  Gleichgeivichl  treten;  so,  dafs  selbst 
nach  Revolutionen,  beym  Wechsel  der  Personen,  doch  gar  bald,  indem 
die  aufgeregten  Massen  zur  Ruhe  gelangen,  die  nämliche  Form  wieder 
zum  Vorschein  kommt.  Absichtlich  und  künstlich  widersetzt  sich  zuweilen 
ein  Volk  der  Monarchie;  alsdann  aber  wird  jedes  Ansehn  beaufsichtigt 
und  beargwöhnt.  Die  Aufsicht  ist  schwer,  und  der  Argwohn  ist  lästig. 
Die  republikanischen  Formen  zeigen  sich  in  kleinern  Staaten  (wenn  sie 
nicht  durch  fremden  Druck,  durch  Furcht  vor  mächtigen  Nachbarn  zu- 
sammengehalten werden)  sehr  veränderlich  und  nur  mit  Mühe  haltbar; 
in  grofsen  Staaten  kaum  ausführbar;  zum  Zeichen,  dafs  ein  natürlicher 
Mechanismus  -vorhanden  ist,  der  sich  zur  Monarchie  neigt,  und  es  sehr 
problematisch  macht,  ob  es  jemals  für  irgend  ein  Volk  auf  der  Erde  rath- 
sam  seyn  könne,  ihm  einen  künstlichen  Widerstand  entgegenzusetzen. 

Damit  ist  aber  nicht  gesagt,  dafs  jede  Monarchie  durch  ihre  bloße 
Form  dauerhafter  sey,  als  eine  Republik  seyn  würde.  Vielmehr  ist  aus 
dem  Vorigen  klar,  dafs  die  geselligen  Kräfte  ein  natürliches,  unbewufstes 
Streben  besitzen,  dem  Staate  von  innen  heraus  eine  Form  zu  geben.  Hat 
er  zugleich  eine  Form  geerbt:  so  fragt  sich,  wie  genau  die  ererbten  An- 
sprüche mit  dem  wirklichen  Ansehn  zusammentreffen;  bedeutende  Ab- 
weichungen hierin,  können,  wie  Jedermann  weifs,  im  Laufe  der  Zeiten  ge- 
fährlich werden. 

51.  Das  logische  Gegentheil  der  Abstraction  ist  die1  Determination. 
Wir  haben  vorhin  (48.)  durch  Abstraction,  welche  künstlich  bey  Seite 
setzte  was  gleichwohl  vor  Augen  lag,  dem  Menschen  ein  bloß  theoretisches 
Selbstbeschauen  seiner  Willens-Neigungen,  wie  sie  nun  eben  seyn  mögen, 
beygelegt;  als  ob  wir  nicht  wüfsten,  dafs,  wenn  er  dieselben  schon  einmal 
aufmerksam  beschaut,  er  sie  dann  auch  loben  und  tadeln,  —  und,  wenn 
er  sie  lobt  und  tadelt,  alsdann  eine  Regelung,  sie  zu  verändern,  nicht 
ausbleiben  werde.  Jetzt  [92]  wollen  wir  bey  der  eben  so  bloß  theoretischen 
Betrachtung  des  Staats,  die  uns  beschäftigte,  eine  künstliche  Determination, 
—  das  Gegenstück  jener  Abstraction,  —  anbringen;  indem  wir  ihn  als 
eine   moralische    Person   ansehen.      Dieser   bekannte    Ausdruck    bezeichnet 


von  allen  Seiten  ansieht,  während  man  die  andern  übersieht.  Daher  die  Angesehenen, 
welche  leicht  mehr  hervorzuragen  scheinen,  als  sie  wirklich  die  Ueberlegenen  sind. 
Die,  welche  zur  Menge  gehören,  übersehen  einander  gegenseitig  neben  jenen,  worauf 
Aller  Blicke  sich  richten. 

1    „die"    fehlt  in  der   II.  Ausgabe.» 


a   SW  merken  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  nicht  an. 


I.  Abschnitt.    Elementarlehre.    6.  Capitel.    Vom  Unterschiede  der  ästhetischen  etc.         3q 

zwar  im  üblichen  juristischen  Sinne  nur  so  viel,  dafs  der  Staat  ein  Sub- 
ject  von  Rechten  und  Verbindlichkeiten  seyn  könne.  Allein  geht  man 
schon  so  weit,  so  mufs  man  der  Consequenz  nach  noch  weiter  gehen. 
Ist  der  Staat  eine  Person:  so  hat  er  eine  Seele;  oder,  da  er  ohnehin 
eine  Gesellschaft  ist,  so  kann  man  ihn  mit  Recht  eine  beseelte  Gesellschaft 
(27.)  nennen.  Alsdann  beschaut  diese  Seele  des  Staats  sich  selbst  und 
ihre  eignen  innern  Triebe.  Dem  Beschauen  folgt  aber  das  ästhetische 
Urtheil;  dem  Urtheile  folgen  die  Vorsätze;  den  Vorsätzen  folgt,  indem 
ihnen  Genüge  geschieht  oder  nicht,  der  jnoralische  Werth  oder  Unwerth 
(46.);  woraus  folgt,  dafs  der  Staat  im  vollen  Ernste  eine  moralische  Person 
werden  würde,  wenn  er  Eine  Seele  hätte.  Statt  der  Einen  Seele  hat  er 
nun  wirklich  viele  Seelen,  und  diesen  geschieht  zwar  zum  Theil  das  eben 
Angezeigte;  aber  es  geschieht  nicht  ganz  und  nicht  vollständig.  Die 
ästhetischen  Urtheile  kommen  allerdings  zu  Stande;  aber  die  Moralität 
des  Staats  ist  und  bleibt  ein  Ideal. 

Dieser  Umstand  nun  ist  ganz  besonders  dazu  geeignet,  den  Unter- 
schied der  ästhetischen,  theoretischen,  und  moralischen  Urtheile  hand- 
greiflich zu  machen;  1und  weil  das  für  die  gesammte  Philosophie  ein 
Hauptpunct  ist,   so  wollen  wir  eine  kurze   Ueberlegung  daran  wenden. 

52.  Zuvörderst  wird  der  Staat  von  allen  Naturrechtslehrern  als  eine 
Rechtsgesellschaft  (27.)  dargestellt;  desgleichen  als  ein  Lohnsystem,  denn 
hierauf  allein  soll  und  darf  der  Zwang  sich  gründen,  welchen  die  Gesell- 
sellschaft anwendet,  um  ihre  Rechte  zu  schützen.  2  Gegen  den  Unsinn 
des  alten  vorgeblichen  Zwangsrechts,  nach  welchem  man  den,  welcher  der 
gelindern  Forderung  des  Ersatzes  nicht  anders  nachgeben  will,  allenfalls 
würde  todtschlagen  dürfen,  [93]  hat  ein  berühmter  Rechtslehrer  deutlich 
genug  gesprochen.*  Auch  pflegt  das  Recht  mehrerer  Staaten  gegen 
einander  nicht  unerwähnt  zu  bleiben;  so  wenig  Beruf  auch  die  Philosophen 
aus  ganz  natürlichen  Gründen  gefunden  haben,  sich  über  Dinge,  die  so 
wenig  unter  ihrer  Leitung  stehen,  ausführlich  zu  verbreiten.  Aber  vollends 
ein  System  der  Güterverwaltung  im  Grofsen,  eine  National  -  Oekonomie 
nach  reinen  Principien  des  allgemein  gegenseitigen  Wohlwollens  zu  lehren: 
wer  mag  das  wagen?  Wer  würde  Gehör  finden?  Selbst  die  mächtigsten 
Monarchen  respectiren  das  Privat-Eigenthum;  und  wenn  sie  im  Einzelnen 
zu  solchen  Veränderungen,  wie  etwa  die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft, 
oder 3  Erb  -  Unterthänigkeit,  oder  drückender  Frohndienste,  auffordern,  so 
geschieht  auch  dies  (wie  sich  gebührt)  mit  so  viel  Sorgfalt,  Niemand  möge 
mehr  verlieren,  als  er  wieder  zu  gewinnen  erwarten  darf,  —  oder  auf 
so    dringende    Antriebe    einer    unumgänglichen    Notwendigkeit,    dafs    man 


1  Die  Worte:    „und  weil  das    ...   Ueberlegung  daran  wenden"   fehlen 
in  der  II.  Ausgabe. 

2  Die  folgenden  Worte :    „Gegen  den  Unsinn  .  .  .  genug  gesprochen"  und 

die  dazu    gehörige  Anmerkung  sind  in  der  II.  Ausg.  weggeblieben. 

*  Hugo  im  Xaturrechte  §  21.    Vergl.  prakt.  Philos.  am  Ende  des  vierten  Capitels 
im  ersten  Buche.     [Bd.  II  vorliegender  Ausgabe.] 

3  „der"   statt   „oder"   in  der   II.  Ausg.* 


a   SW  drucken    nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe    der  Abweichung   der  I.  Ausg. 


QO  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


leicht  sieht:  kein  Mensch  auf  Erden  stehe  auf  dem  Standpuncte,  wo  er 
berufen  wäre,  den  Staat  völlig  der  Idee  gemäfs  einzurichten.  So  nun 
auch  verhält  sich's  mit  dem  Cultursystem,  von  welchem  die  sogenannte 
Gelehrten -Republik,  mit  aller  ihrer  Polemik,  eine  höchst  ungenügende 
Probe,  ein  schlechtes  Bruchstück  ist;  und  doch  mufs  man  zufrieden  seyn, 
dafs  nur  so  viel  doch  wenigstens  vorhanden  ist,  weil  das  Bessere,  was 
vermifst  wird,  nur  durch  ein  solches  Einverständnifs  könnte  zur  Wirklich- 
keit gelangen,  welches  zu  den  heutigen  Streitigkeiten  sich  als  deren  ge- 
rades Gegentheil  verhielte. *  Wie  lange  Jahrhunderte  hindurch  ist  die 
Platonische  Republik  sprichwörtlich  gebraucht,  um  Luftschlösser  zu  be- 
zeichnen ?  In  der  That  aber  ist  sie  nichts  anderes,  als  die  Idee  der  beseelten 
Gesellschaft,  welche,  wenn  der  von  Platon  gelieferte  allgemeine  Umrifs 
gehörig  ausgezeichnet  würde,  alsdann  gerade  das  in  sich  schlösse,  was  wir 
unter  den  vier  Namen  Rechtsgesellschaft,  Lohn-,  Verwaltungs-  und  Cultur- 
system so   eben  erwähnten. 

[94]    53.      Man    vergleiche    nun    die    beiden    Ansichten    vom    Staate 
(50  und   52.).     Jede    von  beiden  ist    so  bekannt,    dafs  man    eine    wie  die 


1  zu   „verhielte"   hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung: 

Nicht  ohne 'Absicht  wurde  gleich  anfangs  (4.)  die  Idee  des  Cultursystems  erwähnt; 
■welche  nichts  Anderes  ist  als  die  Idee  der  Vollkommenheit  in  ihrer  Anwendung  auf 
die  Gesellschaft.  Denn  gerade  hier  ist  der  bequemste  Standpunct  für  Diejenigen,  welche 
die  gesammte  praktische  Philosophie  in  ihrer  Einheit  als  Wissenschaft  aufzufassen  sich 
bestreben,  und  dabey  sowohl  die  juristische  Einseitigkeit  (blofs  nach  Recht  und  Billig- 
keit hinschauend)  als  die  theologische,  (Wohlwollen  und  innere  Freyheit  vorzugsweise 
berücksichtigend)  vermeiden  wollen.  Daraus  ist  jedoch  nicht  selten  der  Fehler  ent- 
standen, Alles  der  Gemeinschaft  unterordnen  zu  wollen,  welche  im  Cultursystem  den 
herrschenden  Gedanken  ausmacht;  als  ob  davon  nun  auch  die  andern  Ideen,  deren  jede 
gleich  ursprünglich  ist,   abhängig  darzustellen  wären. 

Eine  Schwierigkeit  von  entgegengesetzter  Art  wird  scheinbar  entstehen,  wenn  man 
die  Forderung  vestzuhalten  sucht,  deren  oben  (in  der  Note  zu  44)  erwähnt  worden, 
dafs  man,  um  die  Idee  der  Vollkommenheit  desto  sicherer  in  ihrer  Eigentümlichkeit 
zu  treffen,  von  den  geselligen  Verhältnissen  für's  Erste  nichts  einmischen  solle.  Man 
wird  nämlich  sagen :  der  einzelne  Mensch  lasse  sich  zwar  wohl  in  blofser  Wirksamkeit 
gegen  die  äufsere  Natur  als  stark,  geschickt,  behende,  planvoll  arbeitend  denken ;  hin- 
gegen die  Idee  des  Cultursystems  sey  ja  gerade  umgekehrt  eben  eine  gesellschaftliche 
Idee;    und  deshalb  von   Recht,    Billigkeit,    Wohlwollen  gar  nicht  zu  trennen.      Alsdann: 

1)  Wäre  auch  die  verlangte  Trennung  in  Bezug  auf  die  Gesellschaft  ein  blofser 
abstracter  Gedanke,  so  würde  man  dennoch  der  Wissenschaft  diese  Abstraction  schuldig 
seyn.  Denn  in  der  Wissenschaft  mufs  zuerst  jedes  ästhetische  Urtheil  einzeln  und  für 
sich  allein  erwogen  seyn,  bevor  man  es  unternehmen  darf,  aus  der  Vereinigung  aller 
das  Ideal  der  Tugend,  und  ferner  die  Begriffe  der  Pflicht,  des  Gesetzes,  und  der 
Moralität  abzuleiten.  Nun  läfst  sich  recht  gut  auch  die  Gesellschaft  als  stark,  geschickt, 
wirksam  durch  ihre  innige  Vereinigung,  mit  gebührendem  Lobe  (im  Gegenfalle  mit 
Tadel)  betrachten,  ohne  die  Qualität  ihres  Zustandes  in  Hinsicht  auf  Recht,  Billigkeit, 
und   Wohlwollen  hinzuzudenken. 

2)  Diese  Betrachtung  ist  keineswegs  eine  leere  Abstraction ;  sondern  deutlich  ge- 
nug zeigt  sich  der  Gemeinsinn,  der  Nationalstolz  sogar,  als  vorhanden  selbst  da,  wo  er 
noch  schwankt  zwischen  Klugheit  und  Rechtlichkeit,  zwischen  Eigennutz  und  Wohl- 
wollen. Der  Kern  ist  alsdann  vorhanden,  während  es  in  Frage  schwebt,  ob  er  heil- 
same oder  giftige  Blüthen  und  Früchte  bringen  werde.  Dies  gilt  von  jedem  jugendlichen 
Zustande,  der  Gesellschalt  eben  sowohl  als  des  einzelnen  heranwachsenden  Menschen. 
Auch  hier  aber  zeigt  sich,  dafs  man  nicht  die  Idee  der  Vollkommenheit  mit  dem 
Ganzen  der  Tugend  verwechseln  darf;  und  nicht  ein  ästhetisches  Urtheil  mit  dem 
?>ioralischrn. 


I.Abschnitt.    Elementarlehre.    6.  Capitel.    Vom  Unterschiede  der  ästhetischen  etc.         qj 

andre  ohne  viel  Mühe  zu  einer  langen  Abhandlung  ausführen  könnte. 
Wer  aber  dann  die  beiden  Abhandlungen  durch  einander  laufen  liefse: 
der  würde  verrathen,  dafs  seine  Gedanken  sich  ohne  Ordnung  durch- 
kreuzten; denn  die  erste  der  Abhandlungen  wäre  theoretisch  begonnen, 
die  zweyte  aber  ästhetisch;  und  jede  würde  ihren  Styl  beybehalten  müssen. 
Aber  könnte  man  denn  gar  nicht  beides  verbinden?  Liegt  denn  nicht  in 
den  Ideen  die  Aufforderung,  ihnen  gemäfs  zu  wirken?  Müssen  denn  nicht 
die  vorhandenen  Kräfte  der  Menschen,  müssen  nicht  die  Strebungen  der 
Gesellschaft  so  benutzt  werden,  dafs  man  sich  den  Ideen  wenigstens  aus 
der  Ferne  annähere?  Mufs  nicht  die  theoretische  Kenntnifs  in  den  Dienst 
der  ästhetischen  Werthbestimmungen  genommen  werden;  gemäfs  dem 
allgemeinen  Vorsatze,  den  Willen  durch  die  Einsicht  zu  lenken?  —  Wer 
mag  das  ohne  nähere  Bestimmung  bejahen  oder  verneinen !  Aber  gesetzt, 
es  geschähe  also  im  Staate,  oder  in  Ansehung  des  Staats:  so  wäre  hiemit 
ein  moralisches  Streben  in  Wirksamkeit,  —  wie  es  ohne  allen  Zweifel 
schon  längst  bey  manchen  edlen  Männern  der  Fall  war  und  ist;  und 
dies  moralische  Streben  ist  nun  ein  solches,  welchem  das  ästhetische 
Urtheil  zum  Grunde  liegt,  die  theoretische  Kenntnifs  bey  der  Ausführung 
an  die   Hand  geht. 

Es  giebt  aber  auch  sehr  moralische  Menschen,  die  von  Ideen  nichts 
hören  mögen.  Das  Beste  unter  dem  Thu  ulichen  beschäftigt  sie  ganz; 
und  eben  darum  stört  sie  jeder  Gedanke  an  das  Unthunliche.  Nach  dem 
Sprichworte:  das  Bessere  ist  der  Feind  des  Guten,  sind  jene  Männer  die 
Feinde  des  Besseren.  Wir  wollen  sie  ehren;  aber  für  die  Wissenschaft 
sind  sie  nicht  gemacht.  Nicht  darum  können  wir  die  Ideen  vermindern, 
damit  keine  Forderung  das  Ausführbare  übersteige;  sondern  das  ästhetische 
Urtheil,  welches  die  Ideen  ursprünglich  erzeugt  und  stiftet,  durchläuft 
seine  Bahn,  und  überläfst  den  Menschen,  den  Zeiten,  zu  er[g5]wägen, 
wie  weit  sie  nachkommen  können,  wo  sie  ihrem  Streben  die  Gränze 
setzen  müssen. 

Hier  haben  wir  uns  nun  in  der  That  von  dem  praktischen  Menschen 
entfernt.  Um  uns  demselben  wieder  zu  nähern,  können  wir  wenigstens 
im  Vorbeygehn  den  Nutzen  bemerken,  welchen  die  Abstractionen  in  so 
fern  gewähren,  als  sie  dienen,  Verwirrung  bey  bekannten  Streitfragen  zu 
verhüten.  Monarchien  und  Republiken  haben  ihre  Anhänger;  der  Disput 
unter  beiden  wird  niemals  aufhören.  Es  mag  scheinen,  als  wäre  das 
oben  gesagte  (50.)  eine  Empfehlung  der  Monarchie;  allein  dort  ist  noch 
lange  nicht  behauptet,  die  Monarchie  als  solche  sey  besser,  als  die  Re- 
publik; für  diesen  Satz  müfste  bewiesen  werden,  sie  sey  tauglicher,  sich  zu 
einer  beseelten  Gesellschaft  (im  vorhin  erklärten  Sinne)  zu  erheben;  mithin 
für  Recht,  Lohn,  Gemeinwohl  und  allgemeine  Cultur  tüchtiger  und  sicherer. 
Aber  gerade  diese  Tüchtigkeit  und  Sicherheit  müfsten  auch  ihrerseits  die 
Republikaner  für  sich  in  Anspruch  nehmen,  und  zwar  nicht  theilweise, 
sondern  im  Ganzen,  wenn  sie  den  Monarchisten  auch  nur  im  Gespräch 
besiegen  wollten.  Es  hülfe  ihnen  nichts,  etwa  zu  zeigen,  die  Republik 
sey  billiger,  weil  sie  bey  gröfserer  Gleichheit  Jedem  das,  was  er  Andern 
zugestehe,  leichter  vergelten  könne:  diese  Billigkeit  entscheidet  nicht  allein; 
es  fragt  sich  auch,  ob  die  Rechte  sicherer,  ob  die  Verbesserungen  leichter, 


Q2  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 


ob  der  Staat  zugleich  rüstiger,  gelenkiger  und  bildsamer  in  der  einen  oder 
der  andern  Form  seyn  werde?  Dergleichen  Untersuchungen  sind  ganz 
verschieden  von  der  Betrachtung  des  Natürlichen;  und  wenn  die  Republi- 
kaner behaupten,  die  Menschen  würden  frey  und  gleich  geboren;  wenn 
die  Monarchisten  dagegen  nachweisen,  die  Ungleichheit  der  Kräfte  und 
des  Glücks  scheide  allemal  die  Dienenden,  die  Freyen,  die  Angesehenen, 
die  Herrschenden:  so  ist  mit  solchen  Reden,  die  sich  im  Kreise  der  rein 
theoretischen  Ansichten  drehen,  über  den  eigentlichen  Werth  der  Staaten 
immer  noch  nichts  gesagt,  sondern  auf  beiden  Seiten  wird  solchergestalt 
der  Fragepunct  verfehlt.  Um  ihn  zu  finden,  mufs  man  die  theoretische 
und  ästhetische  Ansicht  anfangs  [96]  trennen,  und  am  Ende  gesetzmäfsig 
verbinden.  Das  Resultat,  dafs  weder  Monarchien  noch x  Republiken  im 
Allgemeinen,  und  ohne  nähere  Bestimmung,  Ursache  haben,  einander  ihre 
blofse  Form  gar  sehr  zu  beneiden:  dies  ^  Resultat  ist  heutiges  Tages  zu 
bekannt,  um  noch  ausgeführt  zu  werden;  eben  darum  war  das  bekannte 
Beyspiel  dienlich,  um  die  Wichtigkeit  der  angegebenen  Unterschiede  ins 
Licht  zu  setzen. 


[97]     Siebentes  Capitel. 

Von  der  Kunst  und  dem  Künstler. 

54.  Wie  wäre  es,  wenn  im  Zusammenhange  der  eben  geendeten 
Betrachtung  Jemand  sagen  wollte:  mir  gefällt  die  gothische  Baukunst  besser 
als  die  griechische;  nun  hat  die  zugespitzte  Gestalt  der  Monarchie  mehr 
Gothisches,  darum  ziehe  ich  sie  vor  —  ?  Ein  Anderer  würde  antworten: 
ich  liebe  die  hohen  Thürme  nicht;  schöner  ist's,  vom  platten  Dache  aus 
eine  freye  Aussicht  zu  haben. 

Das  wäre  Einmischung  einer  ganz  andern  Art  von  ästhetischen  Ur- 
theilen;  welche  die  nämlichen  Gegenstände  als  von  Aufsen  in  die  Sinne 
fallend  betrachtet,  die  wir  zuvor  nach  ihrem  innern  Wesen  beschaueten. 
Denn  bey  jenen  gesellschaftlichen  Ideen  lag  eine  Reihe  von  Werthbe- 
stimmungen  des  Willens  zum  Grunde;  wie  sogleich  klar  seyn  wird,  wenn 
man  (in  27.)  von  den  abgeleiteten  zu  den  ursprünglichen  Ideen  hinüber- 
blickt. Der  Wille  aber  ist  das  Inwendigste  im  Menschen  und  in  der 
Gesellschaft;  daher  können  sich  Manche  nicht  gewöhnen  an  den  Ausdruck: 
ästhetische  Beurlheilung  des    Willens.    Sie  meinen  nämlich,  alles  Aesthetische 


1    „und"    statt    „noch"    in   der    II.   Ausg. 


2  dieses  SW. 

a     SW    drucken    nach    der    II.    Ausg.     ohne    die    Angabe    der    Abweichung    der 
I.  Ausgabe. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.     7.  Capitel.    Von  der  Kunst  und  dem  Künstler.         g? 

müsse  ihnen1  wie  ein  Bild  vor  Augen  stehn.  2Der  Künstler  ist  ihnen 
Maler  oder  Bildhauer;  der  Dichter  soll  ihnen  Augenlust  auf  der  Bühne, 
oder  etwas  Aehnliches  für  die  Phantasie  schaffen:  wo  die  Musik,  wo  die 
lyrische  Poesie  bleiben  solle,  —  das  wissen  sie  wohl  selbst  nicht;  es  sey 
denn,  dafs  man  ihnen  erlaube,  in  beide  etwas  hineinzudenken,  damit  sie 
sich  einbilden  können,  dies  von  ihnen  Hineingedachte  sey  darin  nachge- 
ahmt worden. 

[98]  Wir  haben  anderwärts,  um  uns  verständlich  zu  machen,  auch 
von  Bildern  des  Willens  geredet.*  Das  bedeutete  ungefähr  so  viel,  als 
wenn  Andere,  3  deren  Psychologie  sich  ohne  Seelen  vermögen  nicht  zu 
helfen  weifs,  erst  von  der  Vernunft  die  Rede  beginnen,  als  von  einem 
Vermögen,  welches  der  Mensch  habe,  —  gleichsam  einen  Geist  in  seinem 
Geiste,  —  um  sich  davon  regieren  zu  lassen;  welches  Vermögen  aber 
das  Kind  noch  nicht  gebrauche,  —  als  ob  ein  höherer  Geist  sich  nach 
Belieben  gebrauchen  liefse,  oder  auch  nicht!  An  diesen  sehr4  stark  mytho- 
logischen Meinungen  ist  so  viel  wahr,  dafs  im  Laufe  der  Jahre  sich  all- 
mählig  ein  Unterschied  der  altern  und  neuern  Vorstellungsmassen  (41.) 
auszubilden  pflegt,  vermöge  dessen  die  jedesmal  aufgeregten  Neigungen 
und  Begierden  gleichsam  ein  tiefer  liegendes  Ich  im  Innern  antreffen, 
dem  sie  zum  Schauspiel  dienen,  so  dafs  sie  von  ihm  vorgestellt  und  be- 
urtheilt  werden.  Jener  ästhetischen  Beurtheilung  und  Werthbestimmung 
also,  wovon  im  Vorhergehenden  die  Rede  war,  schwebt  etwas  vor,  das 
man  ein  Bild  des  Willens  nennen  kann;  tväre  dieses  Bild  nicht  innerlich 
wahrgenommen  zuorde?i,  so  hätte  es  auch  flicht  beurtheilt  werden  können. 
Daher  macht  man  in  der  hergebrachten  Weise  des  Vortrags  die  Re- 
gierung des  Willens  abhängig  von  der  Vernunft,  welche  der  oberste  Theil 
des   Erkenntnifsvermögens  seyn  soll. 

5  Die  alten  Vorurtheile  und  Fabeln  von  der  Vernunft,  der  Urtheils- 
kraft,  dem  Verstände  u.  s.  w.  wären  nun  sehr  unschuldig,  wenn  sie  nicht 
überall  die  Aussicht  versperrten,  wo  man  den  natürlichen  Zusammenhang 
der  Dinge  aufsuchen  und  ihm  nachgehn  will. 

Der  wahre  Zusammenhang  aber  fordert,  dafs  man  bey  ästhetischen 
Urtheilen,  deren  es  viele  giebt,  sowohl  das  Gemeinsame  als  das  Ver- 
schiedenartige bemerke,  um  weder  Spaltungen  unter  ihnen  zu  stiften,  wo 
keine  sind,  noch  in  Verwechselungen  derselben  zu  verfallen,  wodurch  das 
Thun  der  Menschen  eine  falsche  Richtung  erhält. 


1  „ihnen"  fehlt  in  der  IL  Ausg.a 

2  Der  Abschnitt:    „Der    Künstler   ist   ihnen    .  .  .    sey   darin   nachgeahmt 
worden"   ist  in  der  II.  Ausg.  weggeblieben. 

*  Praktische  Philosophie,  in  der  Einleitung. 

3  Die  folgenden  Worte:    „Deren   Psychologie    .  .  .    nicht    zu  helfen  weifs" 
sind  in  der  II.  Ausg.  weggeblieben.  t> 

4  „sehr"   fehlt  in  der   II.  Ausg. c 

6  Der  Abschnitt:    „Die  alten  Vorurtheile  .  . .  ihm  nachgehn  will"  ist  in 
der  II.  Ausg.  weggeblieben. 

a,    b,    c    SW    drucken    nach    der   II.    Ausg.    ohne   Angabe    der   Abweichung    der 
I.  Ausg. 


Q4  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

[99]  Denn  alle  ästhetischen  Urtheile  sind  praktisch  wichtig.  Zwar  nicht 
alle  haben  den  Willen  zu  ihrem  Gegenstande;  nicht  alle  bestimmen  seinen 
Werth.  Aber  Alle  ohne  Ausnahme  werden  unter  günstigen  Umständen 
Triebfedern  des  Willens.     Alle  laden  ein  zu  irgend  einer  Kunst. 

Wo  die  Künste  nicht  blühen,  da  ist  Rohheit  und  Beschränktheit. 
Wo  der  Geist  sich  regt,  da  erweitern  sich  die  Motive  des  Handelns  all- 
mählig  so,  dafs  selbst  die  geringsten  Unterschiede  des  mehr  oder  weniger 
Zierlichen,  Glatten,  Schicklichen  und  Bequemen  irgend  eine  Thätigkeit 
hervorrufen,   die  sich  mit  ihnen   ein   Geschafft  macht. 

Eben  hiemit  aber  entstehn  auch  Gefahren,  wie  die,  wenn  Religions- 
lehren und  Staatsformen  und  Sitten  nach  denjenigen  ästhetischen  Ein- 
drücken vorgezogen  oder  zurückgesetzt  werden,  welche  aus  ihren  äufsern 
Erscheinungen,  aus  Bildern  für's  sinnliche  Auge,  der  ähnlichen  Phantasie- 
bildern hervorgehn.  Schiller  warnte  schon  vor  der  Gefahr  ästhetischer 
Sitten.  Cicero  dagegen,  in  der  angeführten  Abhandlung  über  das  decorum 
(46.),  macht  die  ästhetischen  Sitten  zur  Pflicht;  so  dafs  der  Dichter  und 
der  Denker  scheinen  würden  die  Rollen  vertauscht  zu  haben,  wenn  man 
nicht  wüfste,  was  Schiller  eigentlich  wollte.  Das  schöne  Aeufsere  sollte 
nicht  dem  häfslichen  Innern  zum  Deckmantel  dienen.  Hingegen  der 
Aesthetik  im  Namen  der  Moral  den  Krieg  zu  erklären,  konnte  Schillern 
nicht  einfallen. 

55.  Für  den  praktischen  Menschen  stellt  sich  das  Aeufserlich- 
Schöne  anfangs  in  den  Rang  der  Güter,  die  man  in  so  weit  hervorbringen, 
haben  und  geniefsen  darf,  als  nicht  die  Pflichten  darunter  leiden.  Soll 
hingegen  das  Schöne  einen  moralischen  Werth  bekommen,  so  mufs  es  sich 
als  Mittel  für  einen  moralischen  Zweck  gebrauchen  lassen;  diese  Nützlich- 
keit aber  bleibt  ihm  fremd,  und  kann  seinem  ästhetischen  Werthe  nichts 
geben  noch  nehmen.  Indessen  zeigt  sich  von  einer  andern  Seite  ein 
Vorrang  des  Schönen  vor  gemeinen  Gütern,  ungefähr  so,  wie  schon  früher 
ein  Empfehlungsgrund  für  die  [100]  Güterlehre  gefunden  wurde  (28.). 
Zur  ersten  Entwilderung  des  rohen  Menschen  gehört  Arbeit  und  Fleifs, 
also  Hoffnung  auf  Gewinn.  Eine  zweyte  Stufe  der  Entwilderung  bewirkt 
das  Schöne,  welches,  einmal  gewonnen  und  geschätzt,  die  blofse  Empfindung 
des  Genusses  weit  hinter  sich  läfst,  und  wohl  auch  über  Schmerz  und 
Uebel  dem  Menschen  hinweghilft,  —  während  es  andrerseits  die  Summe 
dessen  vermehrt,  was  der  Mensch  haben,  also  auch  verlieren  kann.  Nicht 
gerade  freyer,  nicht  unabhängiger  macht  uns  das  Schöne ;  im  Gegentheil, 
es  vermehrt  noch  unsre  Bedürfnisse;  allein  es  gewöhnt  an  eine  Schätzung 
solcher  Werthe,  die  nicht  nach  Geniefsung  und  Entbehrung  abgemessen 
werden.  Und  so  bildet  es  für  den,  welcher  sich  mit  ihm  befreundet,  eine 
Mittelstufe  zwischen  Gütern  und  der  Tugend. 

Aber  gebührt  sich's  wohl,  auf  dieser  Mittelstufe  stehen  zu  bleiben? 
Der  blofse  Künstler  oder  Kunstfreund  ist  in  moralischer  Hinsicht  nicht 
weiter  als  der  Fleifsige,  der  Ordnung  in  sein  Leben  brachte;  ja  vielleicht 
klebt  er  auf  seiner  Mittelstufe  vester  als  der  andre  auf  der  niedern  Stufe 
des  Fleifses;  eben  darum,  weil  die  Schätzung  des  Schönen  selbständig  ist, 
während  der  blofse  Gewinn  das  höhere  Bedürfnis  unbefriedigt  läfst  und 
keine  täuschende  Sättigung  erkünstelt. 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.     7.   Capitel.    Von  der  Kunst  und  dem   Künstler.         gr 

m 
Fanden  v*ir  schon  vorhin  (41.  42.)  drey  verschiedene  Vorstellungs- 
massen in  Einem  Geiste  nöthig  für  Güter,  Pflicht  und  Tugend:  so  ist  offen- 
bar, dafs  Kenntnifs  und  Uebung  irgend  welcher  Kunst  noch  eine  vierte 
Vorstellungsmasse  ergeben  wird,  die  nicht  bestimmt  seyn  kann,  für  sich 
allein  (wiewohl  sie  es  vermöchte!)  dem  Geiste  zu  genügen;  sondern  die 
sich  verbinden  mufs  mit  jenen  dreyen;  eine  Forderung,  wodurch  für  den 
moralischen  Menschen  die  Last  sich  noch  vermehrt.  Was  daraus  folgt, 
das  weifs  man  aus  dem  Vorigen.  Das  Bedürfnis  der  Religion  wird  da- 
durch gesteigert.  Es  ist  nur  Selbsttäuschung,  wenn  zuweilen  der  künstlerische 
Leichtsinn  dies  nicht  eingestehen  will.  Er  läuft  desto  eher  Gefahr,  sein 
natürliches  Heilmittel  in  religiösem  Trübsinn  finden  zu  müssen;  während 
gerade  dagegen  das  an  sich  heitere  Element  [101]  der  Kunst  ihn  hätte 
schützen  können,  wenn  ihm  das  Ganze  der  geistigen  Gesundheit  stets  am 
Herzen  gelegen  hätte. 

56.  Mehr  Licht  wird  hierauf  fallen,  wenn  wir  bemerken,  dafs  die 
Kunstwerke,  nachdem  eine  lange  Mühe  ihnen  das  Daseyn  gab,  so  oft 
nicht  zu  wissen  scheinen,  wo  sie  den  gebührenden  Platz  finden  sollen. 
Sie  irren  in  der  Welt  umher,  lassen  sich  feil  bieten,  gerathen  manchmal 
sogar  dem  Trödel  in  die  Hände,  gehn  der  Vernichtung  entgegen,  wenn 
nicht  das  gute  Glück  den  Kenner  und  Gönner  herbey führt,  um  ihnen 
die  würdige  Stelle  zu  bereiten.  Ja  manches  Kunstwerk,  z.  B.  das  drama- 
tische oder  musikalische,  bedarf  fortwährend  einer  neuen  Kunst,  damit  es 
durch  sie  zur  Darstellung  gelange.  Endlich  hat  man  nicht  immer  Zeit 
für  die  Kunst.  Wie  viele  Einladungen  zum  Hören  und  Sehen  werden 
deshalb  ausgeschlagen!  Dies  Alles  erinnert  daran,  dafs  sich  die  Kunst  nicht 
absondern  soll;  denn  ihr  ist  kein  Platz,  weder  im  Geiste  des  Kenners 
und  Künstlers,  noch  im  Räume  und  in  der  Zeit  für  ihre  Werke,  so  sicher 
beschieden,  dafs  sie  darauf  zählen  könnte,  diesen  Platz  sich  ganz  allein 
zueignen  zu   dürfen. 

Mit  Einem  Worte:  alle  ästhetische  Kunst,  auch  die  höchste,  ist  ver- 
schönernde Kunst.  Sie  verschönert  das  Leben,  aber  sie  kann  und  darf 
es  nicht  beherrschen.  Klingt  das  hart:  so  setzen  wir  willig  hinzu: 
die  Wissenschaft  befindet  sich  im  Grunde  auch  in  dem  nämlichen  Falle. 
Und  ist  es  nicht  Ehre  genug,  das  Leben  zu  verschönern?  Man  sorge  nur, 
die  Lebenskreise  überall  so  zu  erweitern,  dafs  sie  solchen  Schmuck  auf- 
nehmen können.      Dahin  mufs   Fleifs  und  Geist  zusammenwirken.  1 

57.  Im  vorigen  Capitel  ist  die  theoretische  Ansicht  der  Dinge  der 
ästhetischen  gegenüber  getreten;  natürlich  nicht  blofs  für  das  dortige 
Beyspiel,  sondern  ganz  allgemein.    Jeder  Künstler  mufs  den  Stoff,  welchen 


1  Den  Schlufs  von  56  bildet  in  der  II.  Ausg.  folgender  Abschnitt: 
Es  bedarf  übrigens  kaum  der  Erinneruno,  dafs  dieses  nicht  ein 
drückender  Gedanke  für  den  Künstler  und  Gelehrten  werden  soll.  Aesthe- 
tische  Urtheile  sind  selbstständig;  und  jeder  Zweig  der  Gelehrsamkeit 
hat  sein  unmittelbares  Interesse;  wer  sich  darin  nicht  vertiefen  könnte, 
würde  nichts  zu  Stande  bringen,  und  nichts  nach  seinem  unmittelbaren 
Weithe  zu  schätzen  wissen.  Nur  kann  die  Vertiefung  nicht  immer  dauern; 
das  Leben  fordert  auch   Besinnung. 


qq  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


er  behandeln  will,  zuvor  seiner  Natur  nach  kennen.  Der  Dichter  mufs 
die  Grammatik  der  Sprache,  worin  er  dichten  will,  eben  so  wohl  inne 
haben,  als  der  Musiker  die  Beschaffenheit  der  Instrumente,  für  die  er 
[102]  schreibt;  und  eben  so  der  Maler  die  Eigenheiten  der  Farben,  in 
welche  er  den  Pinsel  taucht.  Fragt  man,  wie  vielerley  Künste  es  wohl 
geben  könne?  so  ist  die  Antwort,  so  vielerley,  als  die  Stoffe  selbst  ver- 
anlassen, die  sich  dazu  darbieten.  Wo  irgend  unter  der  Hand  des 
Menschen  etwas  Schönes,  anfangs  ungesucht,  entsteht,  da  ist  ein  Reiz 
vorhanden,  solcher  Spur  weiter  nachzugehn;  und  was  möglich  war,  be- 
kommt im  Laufe  der  Zeit  einen  Platz  in  der  Wirklichkeit. 

Von  dieser  Seite  betrachtet  zeigt  sich  die  Kunst  in  einem  weitern 
Felde,  als  in  dem  des  Schönen.  Denn  auch  das  Angenehme  und  das 
Nützliche  macht  sich  gelten,  indem  es  den  Menschen  antreibt,  bestimmte 
Arten  des  Verfahrens  zu  ersinnen  und  zu  üben,  die  man  Künste  nennt, 
weil  aus  der  Uebung  ein  Geschick  entsteht,  etwas  hervorzubringen,  das 
sich  empfiehlt,  und  dessen  Hervorbringung  den  Ungeübten  mislingt. 

Offenbar  theilt  sich  hier  die  Betrachtung;  sie  betrifft  nicht  blofs  die 
Bildsamkeit  des  Stoffs,  sondern  auch  die  Bildsamkeit  des  Künstlers.  Mit 
jener  verknüpft  sich  die  Frage:  ob  und  woher  der  Stoff  in  hinreichender 
Menge  und  Güte  zu  erlangen?  —  mit  dieser  die  andre  Frage:  ob  der 
Künstler  neben  andern  Menschen  bestehen  könne?  in  wiefern  er  der 
Gunst,  der  Unterstützung,  bedürfe?  in  wiefern  seine  Gebilde  sich  empfehlen 
und  Abnehmer  gewinnen  mögen?  Künste  entstehen  nicht  blofs,  sie  ver- 
schwinden auch  wieder,  wo  ihnen  die  Umstände  nicht  zu  Hülfe  kommen. 
Diejenigen,  welche  neben  einander  fortdauern,  bilden  ein  System,  worin 
jeder  einzelnen  alle  übrige  die  Möglichkeit  der  Ausübung  sichern  müssen, 
indem  sie  theils  einander  in  die  Hände  arbeiten,  theils  Jeder  Vieles  von 
Andern  nimmt,  während  er  Vielen  seine  Producte  darbietet.  Wer  kennt 
nicht  das  System  des  Verkehrs,  und  die  oft  schwierige  Haltung  des  Einzelnen 
in  der  Mitte  desselben?  Wer  kennt  nicht  die  Forderung  des  freyen  Ver- 
kehrs, wobey  vorausgesetzt  wird,  die  mancherley  Motive  desselben  werden 
sich  von  selbst  in  ein  Gleichgewicht  setzen,  welches  das  Maximum  des 
Gewinns  herbeyführe,  wenn  man  [103]  nur  die  Hindernisse  entferne?  — 
Das  harte  Wort:  die  Kunst  geht  nach  Brodl!  trifft  auch  die  schöne  Kunst; 
es  trifft  selbst  die  Wissenschaft,  wo  nicht  ein  alter  Reichthum,  oder  ein 
edler  Geist  der  Gesellschaft  es  verhindert,  mindestens  erleichtert. 

58.  Von  jetzt  an  haben  wir  nicht  mehr,  wie  bisher,  blofs  über- 
haupt den  praktischen  Menschen  im  Auge,  sondern  viele  und  verschiedene 
praktische  Menschen.  Theils  schon  darum,  weil  nicht  Allen  der  Stoff 
zugänglich,  die  Gelegenheit  günstig  ist  für  beliebige  Kunstübung;  theils 
noch  aus  einem  Grunde,  der  sich  auf  die  Bildsamkeit  des  Künstlers 
bezieht. 

Zwar  manchmal  versucht  Einer,  viele  Künste  zu  lernen  -  und  zu 
treiben.  Allein  je  älter  er  wird,  desto  mehr  beschränkt  er  sich  auf  eine 
oder  wenige.  Weshalb?  Weil  es  psychologisch  unmöglich  ist,  dafs  Einer 
in  vielen  Künsten  sich  auszeichne;  und  weil  das  Mangelhafte  je  länger 
desto  weniger  genügt. 

Was   schon  oben    (41.)    von   der  Schwierigkeit   des  Zusammenwirkens 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.     7.  Capitel.     Von  der  Kunst  und  dem   Künstler.         07 

mehrerer  Vorstellungsmassen  bemerklich  wurde,  das  springt  hier  auf's 
deutlichste  in  die  Augen.  Jede  Kunst  hat  im  Geiste  des  Künstlers  ihre 
eigne  Vorstellungsmasse ;  worin  eine  besondere  Art  von  Regsamkeit,  ein 
besonderer  Rhythmus  der  Bewegung,  eine  eigenthümliche  Empfindlich- 
keit gegen  das  Rechte  und  Verkehrte,  eine  Summe  von  Gewöhnungen 
und  von  erprobten  Grundsätzen  so  beysammen  sind,  dafs  kaum  in  den 
Erhohlungsstunden  der  Geist  sich  ganz  davon  befreyen  kann  und  mag. 
Kommt  nun  zu  einer  Kunst  eine  zweyte:  wie  werden  sie  sich  vertragen? 
Vielleicht  so,  wie  Sprachen  und  Geschichte  im  Geiste  des  Gelehrten;  die 
sich  vielfach  unterstützen,  oder  wie  mehrere  Sprachen,  die  sich  vergleichen 
lassen.  Dann  wird  aus  mehreren  Vorstellungsmassen  eine  gröfsere,  die 
jene  als  ihre  Glieder  dergestalt  in  sich  fafst,  wie  jede  einzelne  Masse, 
falls  sie  geordnet  ist,  selbst  wiederum  kleinere  Glieder  besitzt,  die  sich 
bis  zu  den  kleinsten  stets  von  [104]  neuem  gegliedert  zeigen.  So  soll 
es  seyn,  so  weit  es  nur  möglich  ist ;  und  manchmal  findet  man  gerechte 
Ursache,  gegen  Trägheit  und  Unwissenheit  zu  sprechen,  falls  diese  sich 
herausnehmen,  die  Gränzen  des  Möglichen  zu  verengern.  Allein  —  sunt 
certi  denique  fines!  Dies  gilt  für  die  Künste  noch  weit  mehr  als  für  die 
eigentliche  Gelehrsamkeit.  Denn  während  das  Wissen  sich  einem  weiten, 
ebenen  Felde  wenigstens  zum  Theil  vergleichen  läfst,  macht  dagegen  jede 
Kunst  Berg  und  Thal  im  Menschen;  oder  wenn  man  will,  sie  schlägt 
Wellen,  mit  abwechselndem  Steigen  und  Sinken  der  Gedanken.  Diese  Be- 
weglichkeit leidet  von  fremdartigen  Bewegungen;  daher  ist  der  Tausend- 
künstler noch  gewisser  ein  Unding,  als  selbst  der  Polyhistor.  Will  man 
die  Kunst:  so  mufs  man  dem  Künstler  sogar  seine  Launen  verzeihen. 

59.  Nicht  blofs  Anhäufung  vieler  Künste  in  Einem  Geiste  verbietet 
die  Natur,  sondern  sie  stempelt  auch  die  Menschen  so  eigenthümlich,  dafs 
die  schwierigen  Kunstübungen  nur  bey  seltenen  Talenten  gelingen,  und 
dafs  überhaupt  die  Anlage  entscheiden  mufs,  für  welche  Kunst  ein  Jeder 
tauge.  Schon  diejenige  Aufmerksamkeit,  welchem  dem  Lernen  und  Ueben 
der  nöthigen  Fertigkeiten  entspricht,  ist  nicht  Allen  gemein;  Manche .  fassen 
nicht  scharf,  behalten  nicht  vest;  sie  stocken,  und  verstümmeln  das  Gelernte, 
wenn  es  soll  wieder  gegeben  und  angewendet  werden.  Den  bessern  Köpfen 
fehlt  oft  das  Gefühl;  oder  es  wird  unbändig,  und  läfst  sich  nicht  beherrschen, 
Andre  sind  langsam;  sie  können  ihre  Gedanken  nicht  in  Fluls  bringen;  sie 
suchen  und  künsteln,  um  aus  Fragmenten,  die  zu  einander  nicht  passen, 
ein  Ganzes  zu  bilden,  das  sich  weder  runden  noch  schliefsen  will.  Wieder 
Andre  sind  überströmt  von  Einfällen,  aber  es  fehlt  der  Geschmack.  Noch 
Andern  fehlt  die  Liebe,  der  Fleifs,  der  Muth,  sich  der  Gemächlichkeit 
zu  entreifsen.  Gar  Manches  mufs  zusammenkommen,  damit  ein  Mensch 
nur  für  Eine  Kunst  tauge;  vieles  Andre  von  Aufsen  mufs  hinzutreten, 
damit  er  sich  bilde.  Wie  sollten  so  verschiedene  Bedingungen  beym 
Einzelnen  für  mehr  als  Eine  [105]  Kunst  genügen?  —  Gewifs  sehr 
wichtig  wäre  es,  die  Eigenheiten  und  Kennzeichen  zu  ergründen,  wodurch 
das  Talent  sich  frühzeitig  offenbart;  allein  dazu  gehört  eine  psychologische 
Betrachtung  der  Künste  selbst,  um  zu  erforschen,  welche  besondere  geistige 
Thätigkeit  eine  jede  derselben  für  sich   in  Anspruch  nimmt. 

60.  Vielleicht   nicht   viel    minder   verschieden    als   die   Talente   sind 

Herbart's  Werke.     IX.  / 


gg  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


auch  die  Gemüthsstimmungen  der  ausgebildeten  Künstler.  Allein  darin 
kommen  alle  überein,  dafs  jeder  Kunst  ein  eigenthümliches  Gewissen  ent- 
spricht (45.).  Der  Künstler  lobt  sich  selbst  für  das,  was  ihm,  seiner 
Meinung  nach,  gelang.  Gesetzt  einmal,  es  werde  Einem  dies  Selbstlob 
gleichgültig :  was  wird  folgen  ?  Offenbar  dies,  dafs  er,  wie  es  nun  eben 
komme,  schlechte  oder  gute  Arbeit  liefert.  Was  aber  den  Tadel  dieses 
Künstler-Gewissens  anlangt,  so  wird  ihn  nicht  leicht  Jemand  lange  ertragen, 
falls  ihn  nicht  fremdartige  Motive  beherrschen.  Denn  hievon  abgesehen, 
was  könnte  ihn  hindern,  eine  Kunst  aufzugeben,  die  sein  Streben  nicht 
belohnt?  Hingegen  wenn  es  um  Gewinn  zu  thun  ist,  dann  tritt  beym 
ehrlichen  Manne  zu  dem  Gewissen  der  Kunst  noch  das  moralische  hinzu, 
welches  ihm  verbietet,  schlechte  Waare  für  gut  zu  verkaufen.  Nicht  aber 
blofs  in  diesem  Falle,  sondern  auch  von  äufsern  Antrieben  unabhängig, 
vereinigen  sich  beide  Arten  des  Gewissens.  Denn  die  Kunst  vermag 
auch  zu  schaden,  theils  an  Gütern,  theils  an  der  Tugend,  und  theils  dem 
Künstler  selbst,  theils  Andern. 

Alles  dies  ruft  immer  von  neuem  die  psychologischen  Fragen  herbey: 
ob  und  wie  so  verschiedene  Vorstellungsmassen  in  Einem  Geiste  neben  einander 
bestehen   und  wirken   können? 

Diese  Fragen  beziehen  sich  natürlich  bey  weitem  mehr  auf  die 
schönen  Künste,  als  auf  die  blofs  nützlichen,  welche  den  Geist  minder 
spannen  und  füllen.  Allein  es  zeigt  sich  zwischen  beiden  Gattungen  der 
Künste  eine  entfernte  Aehn[io6]lichkeit,  wenn  man,  statt  der  Einheit  des 
Bewufstseyns  im  Künstler,  nunmehr  die  Einheit  der  Gesellschaft  setzt, 
worin  die  verschiedenen  Gewerbe  neben  einander  bestehen  sollen;  denn 
es  wird  zwar  den  letztern  in  der  Regel  sehr  leicht,  sich  zusammen  zu 
schicken,  da  sie  ein  grofses  System  von  Bedürfnissen  und  Hülfsmitteln 
vorfinden;  doch  scheint  es  hierin  manchmal  an  Congruenz  zu  fehlen,  und 
dagegen  an  Reibungen  nicht  zu  fehlen.  Ohne  nun  den  Kennern  der 
Staatswirthschaft  in  den  Weg  treten  zu  wollen,  glaubt  der  Verfasser  sich 
die  wenigen  Bemerkungen  des  folgenden  Capitels  erlauben  zu  dürfen. 


[107]     Achtes  Capitel. 

Von  der  nützlichen  Kunst. 

61.  Während  die  schöne  Kunst  meistens  von  dem  Urheber  oder 
doch  von  dem  Nachschöpfer  des  Gedankens  auch  ausgeführt  wird,  (mit 
Ausnahme  der  untergeordneten  Schauspieler  und  Musiker,)  pflegt  dagegen 
die  nützliche  Kunst  durch  Gesinde  und  Gesellen  auf  Kosten  des  Herrn 
und  nach  dem  Plane  des  Meisters,  ihr  Werk  hervorzubringen.  Daher 
kann  bey  ihr  selten  die  Rückwirkung  des  Thuns  auf  den  ursprünglichen 
Willen  psychologisch  in  Betracht  gezogen  werden;  sondern  was  bey  der 
höhern  Kunst  in  Einem  Geiste  sich  drängt  und  klemmt,  das  ist  hier 
mehr    als    hinreichend    verdünnt    und    vertheilt    an    verschiedene    Personen, 


I.   Abschnitt.      Elementarlehre.      8.   Capitel.     Von  der  nützlichen  Kunst.  gq 

um  keiner  von  ihnen  beschwerlich  zu  fallen.  Desto  mehr  Spielraum  also 
ist  offen  für  die  drey fache  Ueberlegung:  ob  die  Kunst  wirklich  zum 
Nutzen  der  Verbrauchenden,  der  Arbeiter,  und  des  Herrn,  der  die 
Arbeiter  anstellt,  das  Mögliche  leiste? 

Erstlich:  was  die  Verbrauchenden  anlangt,  so  giebt  es  Fälle  genug, 
in  welchen  die  Kunst  sie  verleitet,  Geld  und  Kräfte  zu  verschwenden. 
Dahin  gehört  nicht  blofs  derjenige  Luxus,  welcher  die  zweckmässige,  theils 
eihebende,  theils  abspannende  Erhohlung  überschreitet,  sondern  haupt- 
sächlich die  offenbar  schädlichen  Genüsse,  z.  B.  des  Branntweins,  gegen 
welchen  sich  bekanntlich  in  Nordamerika 1  förmliche  Vereine  gebildet 
haben,  während  er  bey  uns2  selbst  durch  lästige  Steuern  nicht  aus  den 
Kreisen  der  Landwirthschaft  kann  vertrieben  werden.  Was  hilft's,  fragt 
man,  dagegen  zu  predigen?  Allein  wenn  die  Volkslehrer  solche  Dinge 
schweigend  ansehn,  so  mag  [108]  ihre  Predigt  wie  immer  beschaffen  seyn, 
sie  hat  keinen  Zusammenhang,  sondern  tönt  hohl,  und  überläfst  bey  allem 
Schreck  vor  der  Sünde  doch  die  Menschen  ihren  Lieblingssünden.  Auch 
ist  hier  die  Moral  desto  mehr  an  ihrer  rechten  Stelle,  je  mislicher  es 
seyn  würde,  dem  Volke  die  Versuchung  ganz  zu  ersparen  durch  Prohibitiv- 
Gesetze,  welche  den  Erwachsenen  wie  ein  Kind  behandeln;  und  deren 
Gränzen  gehörig  zu  bestimmen  nicht  viel  leichter  seyn  dürfte,  als  sie  zu 
bewachen.  Doch  giebt  es  Extreme,  denen  das  Gesetz  entgegen  tritt,  z.  B.  die 
verbotenen  Glücksspiele;  und  vielleicht  verräth  sich  hierin,  dafs  ein  voll- 
kommen geordneter  Staat,  sobald  er  sich  auf  einen  gröfsern  Theil  seiner 
Bürger  im  Puncte  der  Aufsicht  mit  der  nöthigen  Sicherheit  verlassen  könnte, 
wohl  auch  im  Verbieten  und  Verhindern  beträchtlich  weiter,  als  bisher 
gewöhnlich,  vorschreiten  würde.  Die  Frage,  wieviel  Unsittliches  der  Staat 
zu  verbieten  habe,  ist  übrigens  keinesweges  auf  die  Künste  allein  gerichtet. 

62.  Der  erste  Grundsatz  nun,  welchen  die  Gesinnung  des  Wohl- 
wollens an  die  Hand  giebt,  ist  dieser:  es  solle  aller  Vorrath,  der  sich  be- 
nutzen läfst,  aufgesucht  und  aufs  beste  verarbeitet  und  verwendet  werden. 
Das  Feld,  was  keinen  tüchtigen  Halm  bringt,  mag  Waldung  tragen,  oder 
Schaafe  und  Bienen  ernähren;  nur  öde  liegen  soll  es  nicht,  denn  die 
Wüste  klagt  den  nächsten  Nachbar  an,  der  sie  aufser  Acht  liefs,  statt  ihr 
abzugewinnen  was  sie  leisten  kann.  Bedurfte  er  dessen  nicht  für  sich, 
so  gab  es  Andere  um  ihn  her,  welche  brauchen  konnten  was  er  ver- 
schmäht. —  Zwar  wird  sich  in  solchen  Fällen  Jeder  sehr  leicht  mit  der 
Ausrede  entschuldigen:  das  gehe  ihn  nichts  an;  er  habe  der  Geschaffte  genug, 
die  ihm  näher  liegen.  Allein  so  schwer  es  seyn  mag,  den  Vorwurf  gegen 
den  Einzelnen  gelten  zu  machen,  eben  so  gewifs  mufs  die  Ausrede  irgendwo 
eine  Gränze  finden;  denn  sie  ist  nichts  als  das  Bekenntnifs  einer  Sorg- 
losigkeit wegen  des  Gemeinwohls,  welche,  wenn  sie  schon  allen  Einzelnen 
erlaubt   wäre,    doch    im  Allgemeinen    nicht    seyn   soll.      3Die  Verein-[iog] 

1  „in   Nordamerika"   fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

2  „bey   uns"   fehlt  in  der  II.  Ausg.b 

2  Der  folgende  Satz:    „Die  Vereinzelung   der  Interessen  .  .  .  gesagt  hat" 

mit  der  dazu  gehörigen  Anmerk.   fehlen  in  der  II.  Ausg. 

a  u.  b  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausgabe. 

-  * 


I OO  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

zelung  der  Interessen  aber  hängt  sehr  nahe  mit  dem  Privat- Eigen th um 
zusammen;  und  billig  sollte  unvergessen  seyn,  was  darüber  Hr.  Hofr. 
Hugo  gesagt  hat.*  Ueberdies  pflegen  sich  überall  müfsige  Hände  zu 
finden,  die  im  Nothfall  selbst  durch  Zwang,  um  nicht  lästig  und  gefähr- 
lich zu  werden,  anzuweisen  sind,  der  Natur  da  nachzuhelfen,  wo  sie  auf 
menschlichen  Fleifs  zu  warten  scheint.  Oder  will  man  lieber  in  Gefäng- 
nissen Verbrecher  nähren,  als  Müfsiggängern  zu  rechter  Zeit  Kost  und 
Arbeit  geben?  Endlich  ist  bekannt  genug,  dafs,  wo  Betriebsamkeit  einmal 
Sitte  ist,  da  nicht  leicht  eine  Arbeit  unversucht  bleibt,  wozu  Stoff  und 
Boden  irgend  eine  Möglichkeit  entdecken  lassen.  Fehlt  der  nöthige  Unter- 
richt der  Schulen,  so  ist  hier  einer  der  ersten  Puncte,  von  wo  die  Ver- 
besserung ausgehn  mufs. 

63.  Ferner,  was  die  Arbeiter  anlangt,  so  gilt  in  Hinsicht  ihrer 
der  zweyte  Grundsatz,  dafs  sie  niemals  blofs  als  Mittel  sollen  gebraucht 
werden,  sondern  dafs  eben  in  ihrer  Beschäfftigung  ein  Theil  des  ganzen 
Zwecks  enthalten  ist,  weshalb  die  Kunst  geübt  wird.  Die  Menschen  wollen 
nicht  blofs  etwas  haben,  sie  wollen  auch  etwas  treiben;  die  Sachen,  welche 
wir  als  vorhanden  zu  unserm  Dienst  betrachten,  sollen  nicht  blofs  als 
fertige  Waaren  dienen,  sondern  schon  als  Gegenstände  der  Beschäfftigung. 
Wer  aber  meint,  Menschen  könnten  etwas  Besseres  thun,  als  Handarbeit 
machen,  dem  ist  zu  wünschen,  dafs  er  in  vielen  Fällen  Recht  haben  möge; 
im  Allgemeinen  hat  er  es  nicht,  denn  viele  Menschen  taugen  nur  zur 
Handarbeit,  wenigstens  findet  sich  für  manche,  wenn  sie  auch  der  höhern 
Bildung  fähig  sind,  kein  Platz,  der  den  hiemit  verbundenen  Ansprüchen 
genügte.  Glücklicher  freylich  wäre  in  dieser  Hinsicht  der  Süden,  der 
seine  Bewohner  so  leicht  ernährt,  wenn  er  seinen  Vortheil  gebrauchte. 

Hiemit  hängt  die  Frage  von  der  Einführung  der  Maschinen,  von 
der  Benutzung  neuer  Erfindungen  zur  Abkürzung  [1 10]  langer  Arbeit 
u.  s.  w.  zusammen.  So  verkehrt  es  wäre,  solchen  Vortheilen  die  blofse 
alte  Gewohnheit  entgegenzusetzen,  so  sorglos  ist  es,  die  Nachtheile  des 
Müfsiggangs  über  die  zuvor  beschäfftigten  Arbeiter  ohne  Vorkehrung  herein- 
brechen zu  lassen. 

Eben  dahin  aber  gehört  auch  die  Prüfung  der  Menschen,  und  zwar 
der  heranwachsenden  Jugend,  in  Ansehung  der  Arbeit,  wozu  sie  taugen, 
und,  was  nicht  zu  vergessen  ist,  die  für  sie  taugt.  Hier  meldet  sich  wieder 
das  Bedürfnifs  der  Psychologie  als  Grundlage  der  feinern  Menschen- 
kenntnifs. 

04.  Mit  dem  Vorstehenden  werden  nun  drittens  die  Herren  der 
Arbeit,  welche  das  Capital  dazu  hergeben,  wenig  zufrieden  seyn.  Denn 
vorausgesetzt,  dafs  sie  nur  des  Gewinns  wegen  sich  mit  dem  Geschaffte 
befassen,  so  verlangen  sie  die  unbeschränkte  Willkühr  in  der  Vestsetzung 
sowohl  dessen,  was  gearbeitet  werde,  als  durch  welche  Mittel  der  Kunst, 
als  auch  durch  welche  Arbeiter  die  Waare  zu  Stande  kommen  solle.  Nur 
der  Kaufmannsgeist  macht  sie  zu  Fabrikanten;  und  wenn  ihre  Capitale 
in  einem  Wechselgeschäffte,  in  einem  kunstvollen  Umsatz  der  Staats- 
papiere,   besser   wuchern    können,    alsdann    steht    die   Fabrik    still,    und    die 


Hugo's  Naturrecht  §  209  u.  s.  w. 


I.   Abschnitt.     Elementarlehre.      8.   Capitel.     Von  der  nützlichen   Kunst.        JOI 


Kunst  bettelt  vor  andern  Thüren.  Wo  soll  hier  die  Verbesserung  an- 
fangen? —  Das  Leichteste,  was  sich  darbietet,  ist  der  Unterschied  der 
Ehre.  Wer  nichts  will  als  Geld,  der  kann  nur  Geld  erlangen;  aber  der- 
jenige Unternehmer,  welcher  sein  Vermögen  und  seinen  Fleifs  daran 
wendet,  Arbeiter  zu  wählen,  zu  vereinigen,  zu  üben,  um  mit  ihrem  Ge- 
winn noch  den  Nutzen  einer  vorzüglichen  Waare  zu  verbinden,  —  ein 
solcher  verdient  einen  Ehrenplatz,  welchen  gehörig  zu  schmücken  dem 
Staate  wohl  nicht  besonders  schwer  fallen  möchte. 

Allein  die  Sache  liegt  tiefer,  und  hängt  mit  der  Frage  zusammen, 
ob  die  Willkühr  im  Gebrauch  eines  grofsen,  selten  erst  erworbenen, 
meistens  zum  grofsen  Theil  ererbten  Vermögens,  immer  gesetzlich  zu- 
gestanden bleiben,  —  ob  der  Anhäufung  grofser  Güter -Massen  niemals 
irgend  eine  Gränze  entge[~i  1 1] gentreten  werde?  Oder  ob  an  Besitz  eines 
sehr  grofsen,  mehr  durch  Glück  als  durch  Verdienst  erlangten  Vermögens, 
Bedingungen  des  nützlichen  Gebrauchs  geknüpft  werden  sollen,  damit  die 
Gesellschaft,  welche  durch  grofse  Ungleichheiten  des  Eigenthums  allemal 
leidet,  dafür  einige  Entschädigung  erhalte? 

65.  Jedenfalls  pflegt  man  den  Werth  der  Quadratmeilen  für  den 
Staat  zunächst  nach  der  Menschenzahl  zu  schätzen,  die  darauf  wohnt. 
Man  würde  nun  vor  der  oft  rasch  zunehmenden  Bevölkerung  weniger  er- 
schrecken, und  die  Auswandeiungen  würden  den  Schreck  seltener  recht- 
fertigen, als  sie  leider  in  einigen  Gegenden  wirklich  thun,  —  wenn  auf 
die  Frage:  wovon  sollen  diese  Menschen  leben?  dreist  geantwortet  werden 
könnte:  von  der  auf  sie  wartenden,  für  sie  veranstalteten  Arbeit.  Die 
Macht  des  Staats  stiege  wirklich  mit  der  Bevölkerung,  und  man  könnte 
an  der  letztern  eine  reine  Freude  empfinden,  wenn  der  innere  Verkehr, 
welcher  so  sehr  viel  schätzbarer  ist  als  der  äufsere,  durch  ein  vollständiges 
System  der  Künste  sich  selbst  genügte.  Dagegen  sieht  man  selbst  in  den 
reichsten  Staaten  Ueberspannung  mit  Erschlaffung  wechseln;  und  die  ge- 
ringsten Veränderungen  der  Umstände  werden  mit  einer  Aengstlichkeit 
beobachtet,  welche  deutlich  genug  bezeichnet,  wie  wenig  sicher  die  Einzelnen 
sich  fühlen. 

Der  Kaufmannsgeist,  —  das  Gegenstück  des  Künstlergeistes,  —  ge- 
wöhnt sich  an  die  Wechsel  seines  Glücksspiels,  die  ihm,  wenn  nicht  Reich- 
thum,  so  doch  Unterhaltung  verschaffen.  Er  beobachtet  so  scharf,  dafs 
er  vielleicht  weniger,  als  irgend  ein  andrer  Stand,  sich  über  das  äulsere 
Leben  täuschen  mag;  sein  Interesse  aber  ist  das  einfachste  von  der  Welt; 
daher  weifs  er  nichts  von  Künstlerlaunen,  nichts  von  der  Gefahr,  sich  länger 
als  rathsam  in  irgend  einen  besondern  Gegenstand  zu  vertiefen.  Kein 
Geschafft  kann  weniger  selbständig  seyn,  als  das  seinige;  hat  er  aber 
einmal  daraus  die  im  höchsten  Grade  selbständige  Macht  des  Geldes  er- 
zeugt, hat  er  einen  hin[i  I2]reichenden  Theil  davon  dem  Schwanken  des 
Handels  entzogen:  dann  pflegt  Niemand  weniger  als  Er  daran  zu  denken,  dafs 
alles  Privat -Eigenthum  nur  durch  Zugeständnifs  und  Schutz  der  Gesell- 
schaft besteht;  und  dafs  sich  wohl  andre  Rechtsverhältnisse  denken  lassen, 
als  solche,  die  den  Sammlerfleifs  ohne  Rücksicht  auf  Veredelung  der 
Sachen  oder  Personen,  zur  höchsten  Stufe  des  äufserlichen  Wohlstandes 
ohne  Beschränkung  emporzusteigen  erlauben. 


102  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

Ist  denn  keine  bessere  Bedeutung  des  Kaufmannsgeistes  aufzufinden 
möglich?  Es  scheint  ja  doch;  da  man  so  viele  höchst  achtungswerthe 
Männer  im  Handelsstande  überall  erblickt.  Auch  ist  nicht  zu  verkennen, 
dafs  der  Kaufmann  die  Vermittelung  besorgt,  wodurch  Arbeit  und  Ver- 
brauch in  Berührung  kommen,  und  sich  gegenseitig  bestimmen.  Sein 
ist  die  Gefahr  dieser  Vermittelung;  sein  also  auch  der  Lohn.  Allein 
man  sehe  zu,  dafs  nicht  eine  Täuschung  sich  einschleiche.  Zwar  nicht 
in  Ansehung  der  Personen;  diese  können  von  ihrem  Reichthum  den  edelsten 
Gebrauch  machen,  ohne  dafs  darum  der  Kaufmannsgeist  in  ihnen  davon 
wüfste.  Der  reiche  Mann  jedes  Standes  kann  Wohlthaten  in  Fülle  spenden; 
er  kann  auch  der  Mäcen  der  Künstler  seyn,  er  kann  alles  Schöne  und 
Gute  lieben  und  fördern.  Zufälligerweise  mag  dieser  Reiche  nun  gerade 
Kaufmann  seyn;  so  schafft  ihm  sein  Handelsgeschäfft,  wie  eine  Maschine, 
die  Mittel  des  Wohlthuns.  Oder  genauer,  —  denn  wir  müssen  uns 
hüten,  ein  solches  Geschafft  im  Ernst  einer  todten  Maschine  zu  vergleichen, 
—  es  sind  hier  wieder,  wie  schon  öfter  bemerkt,  mehrere  Vorstellungs-Massen 
in  Einer  Person  beysammen.  Die  eine  gehört  dem  Kaufmannsgeiste ;  die 
andere  dem  fertigen  Reichen,  der  beym  Gebrauch  seiner  Güter  an  deren 
Ursprung  nicht  weiter  denkt.  Sollte  nun  jener  erstere  sich  veredeln,  so 
mufste  der  Handel  selbst,  der  getrieben  wird  als  ob  er  eine  Kunst  wäre,  wie- 
wohl das  Werk  dieser  vermeinten  Kunst  gar  nichts  besser  macht,  als  es 
ist,  sondern  blofs  Geld  häuft,  —  der  Handel  also  mufste  in  sich  selbst 
einen  höhern  Zweck  aufnehmen;  und  da  seine  Absicht  auf  Güter  gerich- 
[11 3]tet  ist,  so  mufsten  diese  Güter  ihrem  Begriffe,  dafs  sie  gebraucht 
werden  sollen,  besser  entsprechend  eingerichtet  werden.  Kann  nun  der 
Kaufmann  den  Punct  nachweisen,  wo  sein  Handel  eingreift  in  die  Förde- 
rung des  inländischen  Kunstfleises,  —  anstatt  demselben  zuwider  die  Aus- 
länderey  zu  begünstigen,  —  dann  erst  ist  in  ihm  der  Handelsgeist  selbst 
veredelt;  und  es  bleibt  nur  noch  zu  wünschen,  dafs  sein  Beyspiel  das 
Publicum  ergreife,  damit  es  ihm  hülfreich  entgegenkomme.  Vorangehn 
aber  wird  in  dieser  Hinsicht  das  Publicum  wohl  niemals.  In  dem  Augen- 
blick, wo  die  Waare  gebraucht  werden  soll,  nimmt  man  nicht  absichtlich 
die  schlechte  und  theure,  sondern  die  beste  und  wohlfeilste,  die  zu  be- 
kommen ist;  —  es  wäre  denn,  dafs  Alle  für  eine  kurze  Entbehrung  bald 
von  einheimischen  Künstlern  die  beste  zu  erhalten  sichere  Aussicht  hätten. 

66.  Ohne  Zweifel  machen  die  nützlichen  Künste,  nach  allen  ihren 
Gattungen  und  Arten,  ein  System,  welches  mit  dem  gesammten  Bedürf- 
nisse der  Gesellschaft  zusammentreffen  mufs,  um  demselben  Befriedigung 
schaffen  zu  können,  ohne  dafs  die  Kunstkraft  ungebraucht  bleibe  und  in 
sich  selbst  ersticke.  Es  mag  nun  seyn,  dafs  jeder  Versuch,  dies  System 
im  Voraus  zu  berechnen  und  gesetzlich  zu  beschränken,  noch  unsicherer 
wäre,  als  gänzliche  Freyheit,  und  dafs  man  die  Künste  sich  selbst  über- 
lassen müsse,  um  sich  ins  Gleichgewicht  mit  den  Bedürfnissen  zu  setzen. 
Aber  dem  Layen  in  der  Staatswirthschaft  wird  dann  wenigstens  erlaubt 
seyn,  die  Folgen  von  dem  Übeln  Umstände  zu  bedauern,  dafs  es  solcher 
Layen  so  viele  giebt.  Nämlich  es  scheint,  viele  Menschen  seyen  nicht 
klug  genug,  um  sich  bey  jener  allgemeinen  Freyheit  vor  Schaden  zu  hüten. 
Und   wenn   nun    fortwährend   ein   Halbkünstler   nach  dem  andern    und   ein 


i.    Abschnitt.     Elementarlehre.      8.  Capitel.     Von  der  nützlichen  Kunst.       103 


Schwindler  nach  dem  andern  aufsteigt  und  niedersinkt:  wann  wird  denn 
eigentlich  das  erwartete  Gleichgewicht  eintreten?  Doch  wohl  nicht  eher, 
als  bis  das  Publikum  jedesmal  sichere  Nachricht  bekommt,  nach  welchen 
Proben  es  denjenigen,  der  eine  Kunst  verstehen  vorgiebt,  beurtheilen  soll, 
damit  es  niemals  in  den  Fall  komme,  den  Verfertiger  der  schlechten 
[114]  Waare  zu  begünstigen.  Wie  soll  die  Existenz  der  gar  zu  wohlfeilen 
und  darum  nur  von  aufsen  sich  empfehlenden  Waare  verhütet  werden, 
so  lange  eine  übergrofse  Zahl  von  Arbeitern  jeder  Art  sich  hervordrängt, 
deren  jeder  mit  dem  andern  einen  Wettkampf  beginnen  mufs?  Dabey 
rechnet  man  so  sehr  auf  das  Triebwerk  des  Eigennutzes,  dafs  der  eigent- 
liche Geist  des  Künstlers  dabey  umkommt.  Denn  dieser  ist  allemal  auf 
die  Sache  gerichtet,  nicht  auf  Nebenbuhler.  Und  der  ächte  —  wenn 
auch  nur  mechanische  —  Arbeiter  hat  immer  eine  Art  von  Künstler- 
Gewissen,  welches,  wo  es  recht  lebendig  ist,  auch  bey  weitem  bestimmter 
die  rechte   Arbeit  hervorbringt,   als  jede  fremde  Triebfeder. 

Was  aber  wird  vollends  aus  dem  Kaufmann,  der  jeden  Augenblick 
fürchten  mufs,  unter  einer  übergrofsen  Concurrenz  zu  erliegen?  Er  preiset 
die  Wohlfeilheit  seiner  Waaren.  Diese  Wohlfeilheit  besticht  den  Käufer. 
Man  gewöhnt  sich,  Vieles  schnell  zu  verbrauchen.  Man  entwöhnt  sich 
der  wahren  Sparsamkeit,  welche  mit  alter  guter  Waare  lange  ausreichte.  Die 
Bewegungen  des  Verkehrs  werden  athemlos;  überall  wird  stets  gewonnen 
und  verloren;  das  Glücksspiel  reizt,  die  gesunde  Ueberlegung  entweicht, 
der  Trotz  verzagt,  —  und  nun  kommen  Sittenlehrer,  nun  kommen  Geist- 
liche, zu  reden  von  Tugend  und  Laster,  von  Sünde  und  Erlösung! 
Geschehen  mufs  das.     Aber  was  kann  es  frommen? 

67.  Eine  fremde  Industrie  überschwemmt  uns  mit  ihren  Producten; 
und  fremde  Theoretiker  haben  den  Grund  zu  unsrer  Lehre  von  der 
Staatswirthschaft  gelegt.  Eine  Wissenschaft,  deren  vornehmste  Grundlage 
die  Beobachtung  seyn  soll,  beruht  bey  uns  auf  englischen  und  französischen 
Thatsachen,  anstatt  auf  einheimischen!  Das  Mistrauen  dagegen  mufs  um 
desto  stärker  seyn,  je  unläugbarer  es  vor  Augen  liegt,  wie  die  Meinungen 
der  Natur-  und  Staatsrechtslehrer  sind  durch  fremde  Einflüsse  hin  und 
her  getrieben  worden.  Am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  äufserten 
Rousseau  und  Montesquieu  auf  die  gröfsten  Denker  Deutschlands,  deren 
Scharf[i  I5]sinn  jenen  unstreitig  weit  überlegen  war,  einen  sichtbaren  Ein- 
flufs.  Späterhin  hiefs  es:  „mit  unsrer  Generation  geht  die  Zeit  Riesen- 
schritte, Jahrhunderte  ziehen  sich  in  Jahrzehende  zusammen."  Und  als 
es  an  den  Tag  kam,  dafs  eines  Eroberers  Ehrgeiz  keine  Grundlage  für 
eine  dauernde  Herrschaft  über  ganz  Europa  seyn  konnte,  da  verstummte 
der  Ruhm  der  Riesenschritte,  und  es  fand  sich,  dafs  die  Rückkehr  zum 
Alten,  wo  nicht  zum  Theil  schon  Veralteten,  auch  den  Theoretikern  recht 
wohl  gefiel.  So  lange  diese  Schwäche  gegen  das  Fremde,  diese  Dienst- 
barkeit cremen  die  Umstände,  die  deutsche  Litteratur  bezeichnet,  ist  für 
deutschen  Ackerbau,  deutsche  Gewerbe  und  deutschen  Handel  wenig 
Hoffnung,  durch  einheimische  Wissenschaft  ein  hinreichend  helles  Licht  zu 
empfangen;  alles  Licht  aus  der  Ferne  aber  ist  Schimmer,  der  zwar  besser  ist 
als  Finsternifs,  aber  doch  selbst  von  neuem  beleuchtet  werden  mufs,  bevor  man 
den  rechten  Weg  vom  Irrwege  unterscheiden  kann,,  den  rechten  Weg  für 


jqi  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


deutschen    Boden,    deutsche    Verhältnisse    und    Sinnesart,    in    Dingen,    die 
kein  blofs  mercantiles,  sondern  zugleich  ein  sittliches  Interesse  haben! 

Unser  Land  ist  keine  meerbeherrschende,  von  fremden  Heeren 
längst  unberührte  Insel,  deren  Arbeit  sich  Märkte  schaffen  kann,  wo  sie 
will,  regiert  von  einer  auswärtigen  Königsfamilie,  die  sich  weislich  ihres 
deutschen  Ursprungs  erinnert.  Unser  Land  wird  auch  nicht  von  jenem 
voll-  und  heifsblütigen  Geschlechte  bewohnt,  das  sich  seit  Napoleon  nicht 
mehr  wohl  fühlt,  wenn  es  nicht  durch  Aderlassen  in  häufigen  Kriegen  sich 
abkühlen  kann.  Unser  Boden  gewährt  nur  spärlichen  Lohn  für  harte  Arbeit 
unter  einem  rauhen  Klima;  und  doch  beruht  auf  ihm  die  beste  Hoffnung, 
da  keine  andre  glänzende  Aussicht  offen  steht.  Langsam  nennen  uns  die 
Ausländer;  zum  Beweise,  dafs  sie  rasch  und  rüstig  genug  sind,  um  nach 
Vorth eilen,  die  sich  darbieten,  schneller  zu  greifen  als  wir.  Doch  wenigstens 
in  Einem  Puncte  sind  wir  glücklicher  als  jene:  bey  uns  ist  die  Regierung 
nicht  Parthey,  gegen  die  man  sich  schützen  müfste,  sondern  sie  steht  in 
der  Mitte  der  Nation;  und  der  beste  Wille  von  Oben  ist  die  erste  Voraus- 
[u6]setzung  unserer  Einrichtungen.  Was  folgt  aus  dem  Allen?  Doch 
wohl  dies:  dafs  bey  uns  die  Gesammtheit  aller  Arbeit,  von  dem  Landbau 
bis  zum  Handel,  wo  nicht  einer  Direction,  so  doch  einer  Aufsicht  und 
eines  mannigfaltigen  Antreibens  und  Aufregens  und  Ablenkens  weit  eher, 
als  bey  jenen  Nationen  fähig,  und  in  manchen  Puncten  vielleicht  bedürftig 
ist.  Falsche  Systeme  sind  Fesseln;  und  so  mag  der  alte  Zunftzwang, 
sammt  allem  Aehnlichen,  schädlich  genug  gewesen  seyn.  Aber  Diejenigen 
irren  gar  sehr,  welche  daraus  schliefsen,  es  sey  am  besten,  ohne  System 
zu   denken  und  zu  leben. 

Man  überlege  vor  allen  Dingen,  dafs  der  Werth  der  Arbeit  keines- 
weges  blofs  und  ganz  durch  ihr  Product,  als  Gewinn,  bestimmt  wird, 
sondern  dafs  sie  auch  als  Beschäfftigung,  zur  Abwendung  des  Müfsiggangs, 
als  Pfianzschule  guter  Sitten,  in  Betracht  kommt.  Ferner,  dafs  der  Ver- 
brauch nicht  ohne  Maafs  vermehrt  werden  kann,  und  nur  mit  Rücksicht 
auf  Gesundheit  und  Sitten  erweitert  werden  darf;  und  endlich,  dafs  der 
Geschmack  an  ächter,  dauerhafter  und  wahrhaft  kunstreicher  Waare  sich 
dem  richtigen  sittlichen  Gefühle  weit  näher  anschlielst,  als  die  Neigung 
zum  Behelf  mit  schlechter,  grober,  oder  mit  blofsem  Glänze  täuschender 
Waare.  Von  gesetzwidrig  eingeschwärzten  Gütern  ist  hier  am  besten  zu 
schweigen.  Was  hilft  die  Kirche,  wo  der  Reiz  zur  Sünde  stets  fort- 
dauert? —  Theorien  aber,  die  sich  auf  solche  Betrachtungen  nicht  ein- 
lassen, werden  schwerlich  den  Vorwurf  der  Einseitigkeit  vermeiden  können; 
und    in  diesem  Falle  mögen    sie  scharfsinnig  heilsen,    nur  nicht  praktisch! 


i.  Abschnitt.     Elementailehre.     9.   Capitel.     Von  der  schönen  Kunst.         105 


[117]     Neuntes  Capitel. 

Von  der  schönen  Kunst. 

68.  Auf  Arbeit  folgt  Erhohlung.  Diese  sucht  der  Gebildete  zwar 
meistens  in  der  Familie  und  bey  Freunden,  aber  mit  ihnen  gemeinschaft- 
lich in  der  schönen  Natur  oder  bey  der  schönen  Kunst.  Ihnen  kommt 
der  Künstler  entgegen,  theils  Altes  würdig  darbietend,  theils  Neues  hinzu- 
fügend. Die  Empfänglichkeit  von  der  einen  Seite,  die  Leistungen  von  der 
andern,  sollen  einander  entsprechen.  Denn  auch  hier,  wie  bey  der  nütz- 
lichen Kunst,  wird  beym  Erzeugen  schon  auf  den  Empfang  gerechnet; 
wurde  es  auch  ohne  diese  Aussicht,  aus  blofser  Begeisterung  angefangen, 
so  kommen  doch  gröfsere  Werke  nicht  ohne  Hoffnung  auf  Gönner  zur 
Ausführung,  und  geschähe  es,  so  würden  sie  bald  vergessen  seyn,  wenn 
Niemand  sie  im  Andenken  erhielte.  Die  Fortschritte  der  Kunst  sind  alle- 
mal Fortschritte  der  Zeit,   zum   mindesten  in  der  Umgebung  des  Künstlers. 

Schon  dies  erinnert,  dafs  der  Gebildete,  welcher  die  Kunst  aufsucht, 
nicht  allein  steht,  sondern  dafs  er  nur  Einer  ist  von  Vielen,  auf  deren 
Gesammtheit  der  Künstler  gerechnet  hat.  Ohnehin  aber  liegt  es  im  Wesen 
der  Kunst,  dafs  sie  ein  Band  der  Geselligkeit  ist.  Denn  das  ästhetische 
Urtheil  ist  ein  willenloses;  darauf  wurde  schon  oben  bey  Gelegenheit  der 
moralischen  Urtheile  hingewiesen  (45).  Es  ist  also  frey  von  den  Eigen- 
heiten der  Neigung  und  von  der  Spaltung  der  Interessen,  wodurch  die 
Menschen  in  ihrem  Wollen  getrennt  sind;  diese  Freyheit  meinte  Kant  bey 
seiner  moralischen  Autonomie,  obgleich  er  eine  Freyheit  des  Willens  durch 
eine  Verwech-[i  18] seiung  daraus  machte.  Das  willenlose  ästhetische  Ur- 
theil wird  nun  zwar  bei  minder  vollendeten  Kunstwerken  l  noch  oft  getrübt, 
welche  durch  ihren  Mangel  an  Präcision  verschiedenartige  Eindrücke  ver- 
anlassen, ohne  dafs  über  den  einmal  getheilten  Geschmak  zu  disputiren 
lohnen  könnte.  Aber  es  giebt  Kunstwerke,  die  man  klassisch  nennt;  das 
heifst,  die  durch  ihre  Präcision  entscheidend  wirken,  so  dafs  sie  die  Urtheile 
bestimmt  vereinigen.  Solche  Werke  stiften  eine  Gemeinschaft,  wodurch 
die  Einzelnen  auf  den  höheren  Standpunct  einer  allgemeinen  Vernuntt  er- 
hoben werden;  das  ist  die  Wohlthat,  welche  die  Kunst  ihnen  erweiset, 
ohne   Unterschied  zwischen  Poesie,  Musik,    Plastik,  und  so  ferner. 

69.  Hieraus  ergiebt  sich  die  allgemeine  Bedingung  der  Empfänglich- 
keit. Der  Zuschauer  oder  Zuhörer  mufs  fähig  feyn  abzulassen  von  seinem 
Wollen,  fahren  zu  lassen  Arbeit,  Sorge  und  Liebhaberey;  denn  er  soll  sich 
hingeben.  Das  können  die  Egoisten  nicht;  und  wer  dringende  Geschaffte 
hat,  wessen  Geist  getrübt  oder  gedrückt  ist,  der  kann  es  nur  unter  der 
besondern  Bedingung,  dafs  gerade  in  seine  Stimmung,  oder  in  seine 
Spannung,    das    Kunstwerk    eingreife,    und    ihn,    wie   er  eben  ist,    an    sich 


1   „Kunstwerken"   fehlt  in  der  II.  AusgJ 


a   SW.    drucken    nach    der   I.  Ausg.    ohne    den   Druckfehler   der   II.    Ausg.  anzu- 
merken. 


l0(y  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


ziehe.  Auf  diese  Weise  können  besondere  Empfänglichkeiten  entspringen, 
und  aus  ihnen,  wenn  sie  bey  vielen  gleichförmig  vorauszusetzen  sind,  ent- 
stehen ganze  Gruppen  von  Kunstwerken.  So  besonders  in  Kirchen  und 
Tempeln,  wo  sehr  verschiedene  Gattungen  von  Künsten  in  einerley  Stil 
zusammentreffen,  obgleich  nicht  dieser  Stil  sie  zu  Kunstwerken  macht, 
denn  sie  müssen  noch  schön  seyn  auch  für  Bekenner  eines  andern  Cultus, 
der  ihnen  nicht  die  vorausgesetzte  besondre  Empfänglichkeit  mitbringt. 
Gegenüber  stellen  liefse  sich  allenfalls  der  militärische  Stil,  wenn  für  ihn 
von  plastischen,  architektonischen  und  musikalischen  Werken  Mehr  und  l 
Gröfseres  vorhanden  wäre. 

Wie   aber  ist  die  allgemeine2  Bedingung  der  Empfänglichkeit  möglich? 
Ohne  Zweifel    so,    wie    es    möglich   ist,    dafs    Erhohlung    auf   Arbeit   folge. 
Die  Arbeit  hängt  ab  von  [119]  einer  herrschenden    Vorstellungsmasse,   welche 
eine    andre    bestimmte    Reihe    oder    mehrere    andre,    oft    sehr    verschie- 
dene,   aber    zusammengehörige   Reihen    von  Vorstellungen,    gerade    in  der 
Ordnung  und   Verbindung  ins   Bewufstseyn    treten  läfst,    wie    die    einzelnen 
succesiven     Theile    der    zu     vollbringenden     Thätigkeit     es     erfordern;     denn 
keiner  dieser    Theile     könnte    ohne    die,    ihn    bestimmende,    Vorstellung    zur 
Wirklichkeit    gelangen;     ohne     die     herrschende     Vorstellungsmasse     aber 
würde  die  Arbeit  den  Zusammenhang  verlieren,    und   folglich  nicht  Arbeit 
seyn.     Ist  nun   die  Arbeit  gethan:    so  soll  die  herrschende  Masse  sinken; 
und  sie  muß  es  thun,  falls    eine   neue  Arbeit,   und  folglich   die  neue,  ihr 
entsprechende   Vorstellungsmasse  gefordert  wird;  sie   mufs   aber  auch  dann 
sinken,  wenn  zur  Erhohlung  der  Entfchlufs  gefafst  ist.     Beym  Ungeübten, 
dem    die    Arbeit    schwer  wird,    sinkt    sie    noch    früher;    und   endlich   hält 
Niemand  aus,  beständig  fort  zu  arbeiten.    Das  liegt  zwar  theils  an  physio- 
logischer   Hemmung,    aber    es    liegt  zunächst    an    der  wachsenden    Hem- 
mungssumme, und    an    der    Gewalt,    welche  davon    die  herrschende  Vor- 
stellungsmasse leidet.*    Der  Uebergang  von  Arbeit  zur  Erhohlung  schwebt 
also  zwischen  den  Extremen  der  Ermüdung  und  des  freyen  Entschlusses. 
Aber    bey  Kindern    sieht    man   gewöhnlich    in    dem  Augenblicke,    wo    die 
Arbeit    schliefst,    eine    lärmende  Lustigkeit   eintreten,    die    von    Hingebung 
an    ein   Kunstwerk    weit  entfernt   ist.      Darin    verräth    sich    das    körperliche 
Bedürfnifs   nach    Bewegung.     Auch   dieses   also,    und   jeder    ihm    ähnliche 
Reiz  mufs   noch   hinweggedacht  werden,   wenn   die   gesuchte  Empfänglich- 
keit nicht  mangelhaft  bleiben  soll.     Mit  einem  Worte:   gar  manche,  theils 
psychologische,    theils    physiologische    Hindernisse    hat    der   Künstler   und 
sein  Werk    zu    besiegen,    und    der  Kampf  dagegen    verräth    sich   bald    an 
mancher    dagegen    getroffenen    Vorkehrung.       Das    Bild    bekommt    seinen 
Rahmen,    die    Bildsäule    ihren    Untersatz,    die    Rede    ihren    Eingang,    die 
Oper   ihre  Ouvertüre;   kurz,  der  Empfangende,    der   [120]   Zuschauer  oder 
Zuhörer,    soll    eine    Schwelle    überschreiten,    damit    unterdefs    seine    über- 
flüssigen Vorstellungen  zur  Schiuelle  des  Beivufstseyns  sinken  mögen.-**      Das 

*  Psychologie  I,  §  42,  und  II,  §   125—127.      [Bd.  V  vorl.  Ausgabe.] 
**  Psychologie  1,  §  47  u.  f. 


1  „oder"   statt  „und"  S\V. 

2  „alleinige"  statt  „allgemeine"  SW. 


I.   Abschnitt.     Elementarlehre.      9.  Capitel.      Von   der  schönen   Kunst.  107 


Kunstwerk    will    sich    absondern,   sein   Wirken    soll    rein  bleiben  und    nicht 
mit  fremdartigen   Eindrücken  zusammenfiielsen. 

70.  Alles  dies  würde  nichts  helfen,  wenn  nicht  das  Kunstwerk  schon 
gar  mancherley  ihm  Angemessenes  vorfände  im  Geiste  des  Empfängers. 
Wer  Musik  verstehen  soll,  mufs  im  Auffassen  der  Intervalle  und  Accorde 
schon  einigermafsen  geübt  seyn.  Zur  Poesie  bringt  Jeder  die  bekannte 
Sprache  mit,  aber  auch  die  bekannten  Verhältnisse  des  Lebens,  Kenntnifs 
der  Gemüthslagen,  Anschauungen  der  Naturdinge  u.  s.  w.  Selbst  die  Bild- 
säule und  das  Gemälde  würden  unverstanden  bleiben,  wenn  nicht  das 
Gebehrdenspiel  und  der  gesammte  Ausdruck  des  Geistes  im  Leibe  einem 
Jeden  durch  die  tägliche  Erfahrung  geläufig  wäre.  In  jedes  Kunstwerk 
ohne  Ausnahme  mufs  Unzähliges  hineingedacht  werden;  seine  Wirkung 
kommt  bevm  Beschauer  weit  mehr  von  innen  heraus,  als  von  aufsen 
hinein.  Darum  ist  ein  gelehrtes  Kunstwerk  sehr  mislich;  es  könnte  leicht 
zuviel  voraussetzen,   und  könnte  eher  imponiren  als  gefallen. 

Am  schnellsten,  allgemeinsten  und  sichersten  wirkt  die  plastische  Kunst. 
Denn  die  menschliche  Gestalt  ist  das  bekannteste;  Mienen  und  Gebehrden 
zu  deuten  ist  Jeder  geübt;  die  Bildsäule  stellt  mit  sinnlicher  Gewalt  das 
Ungemeine  recht  in  die  Mitte  des  Gemeinen.  In  die  Malerey  dagegen 
mufs  man  sich  erst  vertiefen,  um  deren  optische  Täuschung  in  sich  her- 
vorzubringen; das  historische  Gemälde  vollends  rechnet  auf  die  Bemühung 
des  Zuschauers,  den  dargestellten  Moment  in  Gedanken  zu  einer  fort- 
gehenden Handlung  zu  erheben;  die  Landschaft,  je  schöner  sie  ist,  ladet 
desto  mehr  das  Auge  ein,  in  ihr  spazieren  zu  gehn;  das  kostet  Zeit,  und 
der  Kunsteindruck  erwächst  nur  allmählig.  Grofse  Werke  der  Baukunst 
sind  ihr  (121)  darin  ähnlich.  Sie  wollen  abwechselnd  theils  zusammen- 
gefafst,  theils  ins  Einzelne  verfolgt  seyn;  ihre  Wirkung  beruht  desto  wesent- 
licher auf  dem  Grofsartigen,  je  weniger  dessen  ist,  was  man  hineindenken 
könnte,  denn  dieses  beschränkt  sich  zunächst  auf  die  Vorstellung  der 
schweren  Massen,  welche  nicht  blofs  mit  Sicherheit  tragen  und  getragen 
werden,  sondern  auch  im  Innern  ihrer  hohlen  Räume  Schutz  darbieten; 
später  fügt  sich  hieran  der  Begriff  vom  Zwecke  des  Gebäudes,  und  noch 
später  ein  Ueberblick  langer  Zeiten  der  Vergangenheit  und  Zukunft,  in 
welchen  es  stand  und  noch  stehen  wird ;  allein  diese  Nebenbegriffe  wirken 
wie  dunkle  Mächte;  sie  machen  selbst  eine  Ruine  interessant,  aber  nicht 
schön.  Oder  sollen  wir  noch  erinnern,  dafs,  wenn  einmal  Ruinen  für 
schön  gehalten  werden,  dies  Lob  vielmehr  der  Landschaft  gilt,  die  sich 
dem  Auge  um  sie  herum  gruppirt,  als  ihnen  selbst,  —  und  dafs  neu- 
gebaute Ruinen  ins   Lächerliche   fallen? 

Der  Eindruck  alter  Bauwerke,  die  als  Denkmäler  betrachtet  werden, 
zeigt  es  recht  deutlich,  wieviel  bey  Kunstwerken  auf  die  Apperception  an- 
komme, die  von  der  blofsen  Perception,  sammt  den  auf  ihr  allein  beruhen- 
den Kunst -Eindrücken,  weit  verschieden  ist*  Mit  welchen  Augen  sieht 
der  Historiker  eine  alte  Münze !  seine  historische  Aneignung  (und  nichts 
Anderes   heifst  Apperception)  giebt  ihr  den  Werth. 

Ein  anderes,  sehr  auffallendes  Beyspiel  giebt  das  Portrait.    Nur  auf  Die- 


*  Psychologie  II,  §   125   u.  f.     [Bd.  VI  vorl.  Ausgabe.] 


io8  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


jenigen,  welche  das  lebende  Original  kannten  oder  kennen,  thut  es  seine 
volle  Wirkung;  Andre  betrachten  es  mit  Interesse,  wenn  sie  von  der 
Geschichte  und  den  Sitten  der  dargestellten  Person  etwas  wissen;  sie 
suchen  alsdann  ihre  Meinung  mit  den  sichtbaren  Zügen  zu  vereinigen. 
Wer  den  Abgebildeten  weder  persönlich  noch  durch  Zeugnisse  kennt, 
sieht  im  Portrait  nur  ein  schönes,  oder  häfsliches,  oder  gleichgültiges 
Bild;  er  ist  der  Perception  allein  überlassen;  die  Apperception  fehlt,  und 
mit  ihr  das  stärkste  Interesse.   [122] 

Dafs  Meisterwerke,  wodurch  Personen  der  heiligen  Geschichte  ver- 
sinnlicht  werden,  einen  unschätzbaren  Werth  haben,  bedarf  nunmehr 
keiner  weitern  Erklärung.  Der  Glaube  versenkt  sich  in  deren  Betrach- 
tung; und  sie  eröffnen  ihm  das  Unendliche,  wenn  sie  ihm  gestatten,  es 
hineinzuschauen,  ohne  sich  irgendwie  zurückgestofsen  zu  fühlen. 

Mit  anderen  Augen  sahen  die  Bilderstürmer,  weil  sie  mit  gar  keinen 
Augen  sehen  wollten,  sondern  am  Begriffe  des  Unsichtbaren  vesthielten. 
Ihre  Apperception  war  so  geartet,  dafs  sie,  je  mehr  Kunst,  desto  mehr 
Aergernifs  erblickten.  Wem  von  uns  würde  anders  zu  Muthe  seyn,  wenn 
ein  Künstler  (was  kaum  denkbar  ist)  von  dem  Unsinn  ergriffen  würde, 
uns  das  höchste  Wesen  im  Bilde  zeigen  zu  wollen? 

Wie  sehr  oftmals  der  Dichter  seine  Hoffnung  des  Beyfalls  auf  die 
Apperception  des  Hörers  stützt,  liegt  am  Tage.  Jedes  Epos,  jedes  histo- 
rische Trauerspiel,  ja  sogar  die  Novellen  mit  historischer  Grundlage  zählen 
auf  das  Interesse,  was  der  Gegenstand  schon  mitbringe,  und  auf  die  An- 
strengung, womit  der  Empfänger  sich  die  ihm  dargebotenen  poetischen 
Züge  aneignen  werde,  durch  die  hervortretende  Erinnerung  an  das  schon 
Bekannte.  Doch  eine  gar  zu  genaue  historische  Kenntnifs  kommt  dem 
Dichter  ungelegen.  Lieber  ist  ihm  der  Mythus;  er  dient  als  ein  bild- 
samer Stoff.  Der  Hörer  soll  nicht  glauben,  die  Geschichte  besser  zu 
wissen;  er  soll  nur  geneigt  seyn,  sich  von  Namen  und  Zeiten,  deren 
Kunde  halb  erloschen  ist,  mehr  und  genauer  berichten  zu  lassen,  ohne 
auf  historische  Treue  zu  dringen. 

71.  Aber  je  zufälliger  die  Apperception,  desto  leichter  kann  sie  aus- 
bleiben; und  wiefern  auf  Zufälliges  beym  Kunstwerke  gerechnet  wird, 
desto  weniger  ist  es  ein  geschlossenes  Ganzes.  Die  Musik  rechnet  im 
strengen  Satze  (z.  B.  bey  der  Fuge)  nicht  einmal  auf  das  forte  und  piano, 
was  der  vortragende  Künstler,  oder  das  Instrument  (etwa  die  Orgel)  ver- 
sagen könnte;  die  Töne  sollen  nur  gehört,  ja  wohl  gar  die  Noten  nur 
gelesen  werden,  und  dennoch  gefallen.  Eben  so  [123]  sollen  Gebäude 
im  strengen  Stile  nicht  auf  Möbeln  warten,  die  man  könnte  hineintragen 
oder  auch  fehlen  lassen;  und  so  auch  bleibt  die  klassische  Poesie  halt- 
bar durch  Jahrtausende,  weil  sie  das  National  -  Interesse,  mit  dem  sie 
einst  zusammenhing,  und  selbst  die  alte  Art  des  Vortrags  gröfstentheils 
entbehren  kann,   ohne   für  uns  merklich  zu  verlieren. 

Man  sieht  hieraus,  dafs,  um  den  innern  Kunstwerth  eines  Werkes 
recht  zu  würdigen,  die  Wirkung  der  Apperception  in  so  fern,  als  sie  nicht 
wesentlich  die  Auffassung  bedingt,  bey  Seite  zu  setzen  ist.  Von  diesem 
Grundsatze  ist  es  nur  eine  besondere  Anwendung,  dafs  auf  keine  Weise 
Nachahmung    als     Princip    der    Aesthetik    darf    aufgestellt    werden.      Zwar 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.     9.  Capitel.     Von  der  schönen  Kunst.         109 

wird  der  Schauspieler  bewundert,  wenn  er,  wie  man  sagt,  seine  Rolle 
recht  natürlich  spielt;  desgleichen  der  Maler,  der  mit  dem  Pinsel  die 
Kinder  anlockt,  nach  gemalten  Früchten  zu  greifen.  Allein  das  Schöne 
liegt  nicht  in  solcher  Künstlichkeit,  und  die  Nachahmung  ist  höchstens 
eben  so  schön,  wie  das  Urbild.  Ohne  Grund  würde  man  hier  an  die 
Idee  der  innern  Freyheit  erinnern,  das  heifst,  an  die  Harmonie  der  Ein- 
sicht und  des  Willens;  denn  Verwirklichung  eines  Gedankens  ist  nicht 
Nachahmung;  und  die  doppelte  Energie  des  Denkens  und  Wollens  in 
Einer  Person  erhebt  diese  Person,  auf  deren  Einheit  es  dabey  wesentlich 
ankommt,  gänzlich  über  den  Vergleich  mit  dem  Nachahmer,  der  allemal 
ein  Zweyter  ist  für  den  vorausgehenden  Ersten. 

72.  Schwerlich  wird  sich  Jemand  gern  entschliefsen,  der  Forderung, 
dafs  alle  zufällige  oder  doch  zur  Auffassung  des  Schönen  entbehrliche 
Apperception  bey  Seite  gesetzt  werde,  vollständig  Genüge  zu  leisten.  Wer 
eine  Bildsäule  sieht,  will  wissen,  welche,  m)  thische  oder  historische,  Person 
sie  vorstellt.  Gemälde  -Gallerien  besucht  man  mit  dem  Katalog  in  der 
Hand;  zur  Oper  nimmt  man  das  Textbuch  mit;  oder  wenn  es  daran 
fehlt,  so  klagt  man,  die  Gemälde  und  die  Musik  nicht  zu  verstehen. 
Manche  Poesien  werden  aus  ähnlichen  Gründen  von  Commentaren  be- 
gleitet. Die  Kunstwerke  sollen  [124]  etwas  bedeuten;  darum  drängt  sich 
nicht  selten  die  Deuteley  ungestüm  genug  herbey,  sie  zu  Symbolen  von 
diesem  und  jenem  zu  machen,  woran  der  Künstler  nicht  gedacht  hat. 
Aber  noch  mehr!  die  Künstler  sind  gern  gefällig.  Sie  selbst  lassen  sich 
den  Text  zur  Musik,  oder  die  Gelegenheit  zum  Gedicht,  oder  den  Platz 
für  das  Bild,  also  die  Bedeutung  ihres  Werks,  von  Andern  im  Voraus 
angeben,  und  denken  wohl  gar  bey  ihren  Phantasien  etwas  hinzu,  das 
sie  ausdrücken  wollen.  Was  hat  nicht  Haydn  in  seiner  Schöpfung  und 
in  den  Jahreszeiten  durch  Töne  zu  malen  unternommen!  Glücklicher- 
weise braucht  seine  Musik  keinen  Text;  man  verlangt  höchstens  aus 
Neugier  zu  wissen,  was  er  eben  schildern  will,  denn  seine  Musik  ist 
Musik,  und  sie  braucht  gar  Nichts  zu  bedeuten,  um  schön  zu  seyn. 
Andre  wundern  sich,  wenn  der  Beyfall  ausbleibt,  da  sie  doch  sich  be- 
wufst  sind,  ihre  Werke  seyen  auch  im  hohen  Grade  charakteristisch  für  den 
Gegenstand,  den  sie  bezeichnen,  und  der  ivahre  Ergufs  des  Gefühls,  welchem 
sie  Sprache  geben  ivollten.  Wie  manchen  selbst  tüchtigen  Künstler  wird 
noch  das  Vorurtheil,  seine  Werke  müfsten  irgend  etwas  bedeuten,  vom 
rechten  Wege  ablenken!  Wie  viele  Gelehrte,  die  als  Ausleger  glänzen, 
werden  noch1  dem  ihnen  willkommenen  Vorurtheile  das  Wort  reden, 
damit  ihr  Geschafft  des  Auslegens  und  Commentirens  recht  blühen  möge! 
Die  Traumdeuter  und  die  Astrologen  haben  sich  Jahrtausende  lang  nicht 
wollen  sagen  lassen,  dafs  ein  Mensch  träume,  weil  er  schläft,  und  dafs 
die  Gestirne  sich  bald  da  bald  dort  zeigen,  weil  sie  sich  bewegen.  So 
wiederhohlen,  bis  auf  den  heutigen  Tag,  selbst  gute  Musikkenner  den 
Satz,  die  Musik  drücke  Gefühle    aus,   als    ob    das    Gefühl,   was 2  durch    sie 


1  Die  I.  Ausg.   hat    „nach"    (Druckfehler)  statt    „noch"a 

2  „das"  für  „was"  II.  Ausg.b 

a  u.  b  S\V  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  anzugeben. 


j  j  O  II.    Kurze    Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

etwa  erregt  wird,  und  zu  dessen  Ausdruck  sie  eben  deshalb,  wenn  man 
will,  sich  gebrauchen  läfst,  den  allgemeinen  Regeln  des  einfachen  oder 
doppelten  Cöntrapuncts  zum  Grunde  läge,  auf  denen  ihr  wahres  Wesen 
beruht.  Was  mögen  doch  die  alten  Künstler,  welche  die  möglichen 
Formen  der  Fuge  entwickelten,  oder  die  noch  altern,  deren  Fleifs  die 
möglichen  Säulen -Ordnungen  unterschied,  aus\l  2  ^zudrücken  beabsichtigt 
haben?  Gar  Nichts  wollten  sie  Öldrücken;1  ihre  Gedanken  gingen  nicht 
hinaus,  sondern  in  das  innere  Wesen  der  Künste  hinein;  diejenigen 
aber,  die  sich  auf  Bedeutungen  legen,  verrathen  ihre  Scheu  vor  dem 
Innern,    und  ihre  Vorliebe  für  den  äufsern  Schein.2 

73.  Der  gründliche  Musiklehrer  übt  seinen  Schüler  im  Contrapunct, 
das  heifst,  er  lehrt  ihn,  mehrere  Stimmen  so  gleichzeitig  verbinden,  dafs 
jede  derselben  dem  Hörer  eine  besondere,  in  sich  zusammenhängende 
Vorstellungsteihe  darbieten  möge.*  Dafür,  dafs  die  Reihen,  möglichst  un- 
abhängig wie  sie  sind,  doch  zusammenpassen,  mufs  Harmonie  und  Rhyth- 
mus sorgen.  Auf  ähnliche  Weise  zeichnet  der  Architekt,  wenn  er  den 
Baurifs  entwirft,  Figur  in  Figur**,  deren  jede  für  sich  ein  Ganzes  bildet, 
jede  aber  auch  in  der  andern  eine  passende  Lage  bekommt.  Schon  die 
Natur  hat  solchergestalt  im  menschlichen  Antlitz  Augen,  Nase,  Mund,  Ohren, 
in  den  Umrifs  des  Schädels  hineingezeichnet;  und  bey  schön  gebildeten 
Blumen  thut  sie  im  Kleinen  dasselbe.  Aehnlich  diesem  räumlichen 
Contrapunct,  finden  wir  der  contrapunctischen  Gebilde  genug  in  Werken 
der  Dichter,  wo  jeder  bedeutende  Charakter  seinen  Gang  geht,  seine 
Geschichte  auf  eigne  Weise  durchläuft,  mit  der  Bedingung,  dafs  diese  ver- 


2  Nach  den  Worten:  „für  den  äufsern  Schein"  hat  die  II.  Ausg.  noch  fol- 
genden Abschnitt : 

Ob  für  wahres  Künstler-Genie  die  Absicht,  etwas  auszudrücken,  ge- 
fährlich werden  könne?  diese  Frage  mag  die  Kunstgeschichte  entscheiden. 
Es  scheint  fast,  als  ob  sie  die  Frage  bejahe.  Woher  sonst  der  frühere 
Ernst  der  Künste,  und  die  spätere  Verweichlichung?  Woher  anders,  als 
daher,  dafs  man  den  Affect,  welchen  auch  das  ächte  Kunstwerk  bey 
gehörigem  Vortrage  erregt,  späterhin  zum  Zwecke  machte,  und  diesen 
Zweck  obendrein  dadurch  sichern  wollte,  dafs  man  den  nämlichen  Affect 
auch  noch  anderwärts  herhohlte,  indem  es  etwas  Anderes  bedeuten,  und 
den  dortigen  Affect  herbeylocken  sollte.  Derjenige  Affect,  welchen  das 
Werk  durch  seine  eignen,  inneren  ästhetischen  Verhältnisse  erregen  kann, 
ist  ihm  nicht  zu  misgönnen;  auch  nicht  das  Zusammentreffen  des  Ausdrucks, 
wo  verschiedene  Künste  [117]  zusammenwirken,  und  sich  gleichsam  gegen- 
seitig beleuchten;  wenn  aber  die  Kunst  etwas  aufser  ihr  portraitiren  will, 
so  mag  sie  sich  auch  mit  dem  Ruhme  des  Portrait -Malers  begnügen; 
und  sich  noch  überdies  sagen  lassen,  dafs  stark  aufgeregte  Affecte  das 
Gefühl  platt  machen,  denn  darüber  verschwindet  am  Ende  das  Bewufst- 
sein  dessen,  was  eigentlich  den  Affect  erregte.  Zum  Weinen  oder  Lachen 
kommt  man  leicht;  dazu  bedarf  es  keiner  Kunst. 

*  Psychologie  I,  §   100.      [Bd.  V  vorliegender  Ausgabe.] 
**  Ebendaselbst  II,  §    114.     [Bd.  VI  vorliegender  Ausgabe.] 

1   Das  ganze  Wort  „ausdrücken"  ist  in  SW  gesperrt  gedruckt. 


I.   Abschnitt.      Elementarlehre,     g.   Capitel.     Von  der  schönen   Kunst.         iti 

schiedenen  einzelnen  Geschichten  sich  zu  einer  ganzen  vereinigen.  Und 
in  der  Malerey  mufs  in  künstlich  verschlungenen  Gruppen  dennoch  jede 
Figur  für  sich  ihre  richtige  Zeichnung  haben;  das  Auge  mufs  sondern 
und  zusammensetzen  können  mit  Freyheit,  ja  mit  Lust,  und  mit  Unter- 
stützung durch  die  Contraste  der  Farben. 

Dem  Hörer  und  Zuschauer  wird  zugemuthet,  dafs  er  die  einzelnen 
Vorstellungsreihen,  seyen  es  Stimmen,  oder  Figuren,  oder  Charaktere 
sammt  ihrem  Handeln,  in  sich  selber  eben  so  genau  und  reinlich  gestalte, 
wie  das  Kunstwerk  sie  ihm  darbietet.  Dann  wirkt  das  Zusammentreffen 
der  verschief  1 2 6]denen  geistigen  Bewegungen  (welches  er  auf  Augenblicke 
im  Gedränge  zu  verlieren  fürchtet  und  doch  wieder  gewinnt,)  das  ächte 
Gefühl  des  eigentümlichen  Beyfalls,  welchen  das  Kunstwerk  für  sich, 
und  ohne  noch  aufser  sich  etwas  Anderes  zu  bedeuten,  hervorbringt;  und 
so  erzeugt  sich  das  Schöne,  das  aufser  der  Vorstellung  gar  nicht  existirt, 
sondern  immer  einen,  wenigstens  möglichen  Zuschauer  voraussetzt. 

74.  Es  wäre  nun  die  Sache  der  Aesthetik,  den  angehenden  Künstler 
in  dem  eignen  Contrapuncte  jedes  Faches  so  sorgfältig  von  den  alier- 
einfachsten  Uebnngen  anfangen  zu  lassen,  wie  dies  die  Musiker  in  dem  ihrigen 
zu  thun  gewohnt  sind.*  Nach  solchen  Vorübungen  thun  alsdann  Gefühl 
und  Phantasie  das  Ihrige.  Ohne  dieselben  bleiben  die  Bewegungen  un- 
sicher, ungelenkig;  die  Anstrengungen  erschöpfen  unnütz  die  Kräfte;  und 
die  Producte  halten  kein  Maafs,  passen  nicht  an  die  Stellen,  für  die  sie 
gemacht  sind,  begnügen  sich  dagegen  mit  dem  Ruhme  des  Ungemeinen, 
des  Sehnsüchtigen,  des  Gutgemeinten.  Weshalb  sonst  fehlt  es  unserm 
Theater  an  klassischen  Werken,  als  darum,  weil  die  gröfsten  Dichter  sich 
gerade  am  wenigsten  in  die  Formen  fügen  mochten,  welche  der  Dar- 
stellung wegen  zu  beachten  nöthig  sind?  Solches  geniale  Nicht-mögen 
ist  aber  verdächtig  als  Ungeschick  aus  Mangel  an  Uebung,  die  ästhetischen 
Grundfiguren  nach   Belieben    zu  gebrauchen,   ohne  in  Fehler    zu   gerathen. 

Das  gerade  Gegentheil  der  Uebungen,  die  man  anstellen  sollte,  ist 
die  gewöhnliche  Ueberfüllung  mit  Kunstwerken  aller  Art,  und  noch  oben- 
ein mit  den  drastischen  am  liebsten.  Man  lieset  den  Shakespeare,  bevor 
man  den  Homer  gründlich  studirt  hat.  Man  giebt  sich  nicht  die  Mühe, 
die  Charaktere  und  Handlungen  des  Shakespeare,  vom  Schmucke  der 
V'erse  ent[i2  7]kleidet,  wie  eine  Zeichnung  blofser  Umrisse  vor  sich  hin- 
zustellen; man  überlegt  nicht,  welche  andere  Ausfüllung  der  nämlichen 
Umrisse  wohl  entstanden  wäre,  wenn  statt  des  Schauspiels  eine  Erzählung, 
möglichst  einfach,  und  doch  mit  Beybehaltung  der  wesentlichen  ästheti- 
schen Elemente,  sollte  geliefert  werden.  Darum,  weil  solche  Uebung 
vernachlässigt  wird,  läuft  jede  Novelle,  jeder  Roman,  dem  einmal  ein 
gewisser  Ruf  zu  Theil  wurde,  nun  umgekehrt  Gefahr,  in  Form  eines 
Schauspiels    auf   die    Bühne    gebracht    zu    werden;    und   dann    mufs    erst2 


*  Man  vergleiche  z.  B.  das  bekannte  Buch  von  Albrechtsbcrger,  Anweisung  zur 
Composition  mit  ausführlichen  Exempeln.  Wie  dieses  Buch,  so  sollte  eine  gründliche 
Aesthetik  aussehn;   zum  Schrecken  für  Alle,   die  nur  Effect  machen   wollen.1 


1  Diese  Anmerkung  fehlt  in  der  II.  Ausg. 

2  und  dann   erst  mufs.    SW. 


IJ9  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


der  üble  Erfolg  lehren,  was  man  voraus  wissen  konnte.  Ueberall  wird 
verwechselt,  welche  Erfordernifse  in  dem  ästhetischen  Kern  des  Gegen- 
standes liegen,  welche  andere  von  der  Gestalt  abhängen,  die  nun  gerade 
für  das   Kunstwerk  beabsichtigt  wurde. 

Diese  Betrachtungen  möchten  unbedeutend  seyn,  wenn  nicht  eine 
so  grofse  Menge  von  Individuen  dem  Reize  nachgäbe,  sich  in  allerley 
künstlerischer  Production  zu  zeigen,  und  eine  noch  gröfsere  Menge  sich 
dazu  schaulustig  darböte,  um  krittelnd  heimzukehren. 

Uebrigens  versteht  sich  von  selbst,  dafs  Vorübungen  nicht  schon 
selbst  Kunstwerke  sind,  und  dafs  sehr  gefehlt  wäre,  wenn  Jemandem  ein- 
fiele, sie  dafür  auszugeben. 

75.  Das  Vorstehende  ist  nun  zwar  hoffentlich  deutlich  genug,  um 
Demjenigen,  der  nach  Aesthetik  fragt,  zu  sagen,  wo  er  sie  zu  suchen  hat; 
vorausgesetzt,  dafs  er,  wie  gewöhnlich,  von  Kunstwerken  herkommt,  die  er 
liebgewonnen  hat,  und  deren  ähnliche  hervorzubringen  ihn  gelüstet,  wenn 
dazu  Vorrat h  und  Bewegung  genug  in  seinem  Geiste  vorhanden  ist. 
Psychologische  Analysen  sind  es,  an  die  er  nicht  blofs  sich  wenden,  sondern 
die  er  selbst  vornehmen  mufs.  Diese  Analysen  bestehen  aber  nicht  in 
Beantwortungen  ungereimter  Fragen,  z.  B.  was  wohl  der  Sinn,  und  die 
Phantasie,  und  der  Verstand,  und  das  Gefühl  vermögen,  beym  Auffassen 
des  Schönen  thun  mögen;  wer  sich  noch  mit  diesen  Fabeln  trägt,  dem 
bleibt  die  Wahrheit  versteckt  hinter  [128]  der  Fabel.  Sondern  die  Vor- 
stellungsreihen mufs  er  aus  einander  nehmen,  welche  das  Kunstwerk  in 
einander  verwoben  hatte;  und  sie  theils  einzeln,  theils  ihre  Verknüpfung 
studiren,  so  lange,  bis  er  die  Elemente  des  Schönen,  und  dessen  Be- 
dingungen findet.     Das  macht    nun  freylich    keine  andre  Kunst   so  leicht, 

ÖD  ^ 

als  die  Musik;  denn  bey  dieser  hat  man  nur  nöthig,  Partituren  zu  lesen, 
um  Discant,  Alt,  Tenor  und  Bafs  einzeln  vor  sich  zu  haben.  So  liegt 
selbst  die  künstliche,  gewaltig  einstürmende  Fuge  bis  in  ihre  letzten  Be- 
standtheile  aufgelöset  vor  Augen ;  1  sie  vermag  nicht,  irgend  ein  Geheimnis 
zurückzuhalten:  wenn  nur  Derjenige,  der  sie  studirt,  aus  der  Statik  des 
Geistes  die  Verschmelzung  vor  der  Hemmung,  und  aus  der  Mechanik  des 
Geistes  die  Reizbarkeit  der  rhythmisch  gebildeten  Vorstellungsreihen  kennt.  * 
2  Die  Untersuchungen  hierüber  sind  zwar  erst  angefangen,  und  noch  nicht 
vollendet;  aber  die  Richtung  derselben  ist  auf's  bestimmteste  angegeben, 
und  wer  sie  verfehlt,  wird  es  sich  selbst  zuschreiben  müssen. 

Weit  schwerer  ist's,  dem  wahren  Wesen  andrer  Künste  durch  die 
psychologische  Analyse  auf  die  Spur  zu  kommen.  Die  Plastik,  einfach 
wie  sie  scheint,  breitet  ihr    Kunstwerk   im  Räume  aus;   diesen   aber  kann 


*  Psychologie  I,  §   71,   72;  und   II,    §    105. 3 

1  Die  nachfolgenden  Worte:    „sie  vermag  nicht,  irgend  ein  Geheimnis  zu- 
rückzuhalten"  fehlen  in  der  II.  Ausg. 

2  Der   folgende   Satz:    „Die  Untersuchungen  hierüber    .    .    .    selbst   zu- 
schreiben  müssen"   ist  in  der  II.  Ausg.  weggelassen,  a. 

A  Die  Note  hat  in  der  II.  Ausg.  noch  den  Zusatz:  „Weitere  Ausführung  im  ersten 
Hefte  der  psychologischen   Untersuchungen."  b 

a  b  S\V.  drucken  nach  der  II.  Ausg  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  II.  Ausg. 


I.   Abschnitt.     Elementarlehre,      q.   Capitel.      Von  der  schönen   Kunst.  in 

selbst  die  Geometrie  nimmermehr  völlig  ausstudiren.  Ueber  seinen  Reich- 
thum  an  ästhetischen  Verhältnissen  möchte  der  Mensch  kaum  urtheilen 
können.  Welche  Ueberraschung  möchte  uns  bevorstehn,  wenn  wir  die 
Organismen  andrer  Planeten  erblicken  könnten,  wo  ganz  andere  Verhält- 
nisse der  Schwere,  der  Atmosphäre,  des  Lichts  und  der  Wärme  den 
Bau  der  lebenden  Wesen  bestimmen  müssen!  Wer  mag  denn  glauben, 
die  Erde  mit  ihren  Bedingungen  trage  an  der  menschlichen  Gestalt  gerade 
den  Preis  derjenigen  Schönheit  davon,  die  sich  überhaupt  mit  dem  zum 
Leben  zweckmäfsigen  Bau  verbinden  könne?  Dennoch  sollte  der  psycho- 
logische Grund  des  Schönen  im  Räume  aus  der  Mechanik  des  Geistes 
klar  genug  seyn,  um  die  ästhetischen  [12g]  Werthe  der  uns  bekannten 
Hauptumrisse  gehörig  bestimmen  zu  können,  wenn  Einer,  mit  Geometrie 
und  Psvchologie  ausgerüstet,  die  Analyse  unternähme.  aAber  so  lange 
man  von  dem  Ursprünge  unsres  räumlichen  Vorstellens,  von  der  Reiz- 
barkeit und  Energie  der  dazu  nöthigen  Vorstellungsreihen*  keinen  Be- 
griff hatte,  wufste  man  nicht,  wornach  zu  fragen,  und  worauf  die  Unter- 
suchung zu   richten  sey. 

76.  Die  Poesie  bietet  sich  eher  zu  analytischen  Betrachtungen  dar. 
Zuvörderst  wollen  wir  das  ganze  lyrische  Element  absondern;  das,  was 
den  Dichter  ehemals  zum  Sänger  machte,  der  nicht  etwa  nach  den 
Regeln  unsrer  Tonkunst,  sondern  nach  Art  der  Vögel  sang,  Empfindung 
ausströmend  und  mittheilend.  Denn  so  mächtig  auch  der  Strom  des 
Lebens  den  gemüthlichen  Hörer  ergreift,  so  ist  doch  dies  nicht  sowohl 
Kunst  als  Natur;  die  subjectiven  Regungen  des  Mitgefühls  liegen  nicht 
im  Gebiete  des  objectiven  Schönen,  welches  mit  Ueberlegung  für  Jeder- 
mann und  für  alle  Zeiten  gültig  hingestellt  wird.  Mit  dem  Lyrischen  zu- 
gleich mag  nun  auch  Alles,  was  an  der  Poesie  nur  Sprache  ist,  beseitigt 
werden,  so  viele  wahrhaft  ästhetische  Elemente  des  Rhythmus,  des  Wohl- 
klangs, auch  darin  enthalten  sind.  Ueberdies  wollen  wir  das  Rhetorische 
oder  Didaktische  ablösen;  sein  Wesen  besteht  darin,  Ueberzeugung  mit- 
zutheilen,  so  wie  das  Lyrische  die  Empfindung  mittheilt.  Auf  diese 
Weise  haben  wir  Alles  abgesondert,  was  auf  Sympathie  kann  zurück- 
geführt werden;  es  sey  nun  Sympathie  der  Ueberzeugung  oder  Empfindung. 
Was  bleibt  nun  der  Poesie  noch  übrig?  Nur  das  rein-Objektive;  das, 
was  der  Dichter  mittheilen  kann  ohne  Sich  mitzutheilen.  Aber  wir  wollen 
ihn  auch  nicht  zum  Landschaftsmaler  machen;  darin  kann  er  dem  Pinsel, 
den  er  entbehrt,  nicht  nachkommen.  Also  nur  das  rein-Dramatische  und 
Epische  bleibt  übrig.  Auch  noch  den  Unterschied  zwischen  Beiden  lassen 
wir  hinweg;  denn  die  Grund-Elemente  des  Schönen  bleiben  die  näm- 
liehen,  ob  nun  die  Begebenheiten  als  [130]  gegenwärtig  oder  als  ver- 
gangen dargestellt  werden ;  dieser  Unterschied  ist  nicht  viel  gröfser  als  der 
zwischen  der  Bildsäule,  die  frey  hervortritt,  die  sich  als  ein  Gegenwärtiges 
betasten  läfst,  - —  und  dem  Bas-Relief,  welches  sich  dem  gröfsern  Theile 
nach  verbirgt,   während  es  eine  Menge  von  Figuren  hinter  einander  zeigt 


1  Der  folgende  Schlufssatz :    „Aber    SO   lange    ...    zu   richten    sey"   mit  der 
dazu  gehörigen  Anmerkung  fehlt  in  der    II.    Ausg. 

*  Psychologie  IL   §    110  u.   f.     [Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 

Herbart's  Werke.     IX.  8 


HA  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


und  noch  mehrere  errathen  lälst.  Das  Gemeinsame  nun  des  Epischen 
und   Dramatischen  sind    Charaktere,   Handlungen  und   Situationen. 

77.  Sogleich  werden  hier  dem  Leser  die  Tugenden,  Pflichten,  und 
Güter  einfallen,  welche,  wie  oben  erinnert,  sich  verhalten  wie  Grund, 
That,  und  Erfolg  (27.).  Und  wie  man  versuchte,  durch  Reduction  der- 
selben aufeinander  die  Sittenlehre  entweder  als  Lehre  von  Tugend,  oder  von 
Pflicht,  oder  von  Gütern  darzustellen,  so  auch  hat  man  bald  aus  den  Charakteren 
die  Handlungen  und  Situationen  ableiten,  bald  zu  gegebener  Handlung 
die  vorauszusetzenden  Charaktere  suchen,  endlich  für  interessante  Situationen 
die  Handlung  einrichten  wollen.  Für  die  Sittenlehre  fragt  sich:  wo  soll 
die  erste,  ursprüngliche  Werth-Bestimmung  angebracht  werden?  Bey  den 
Gütern?  bey  der  Pflicht?  bey  der  Tugend?  Für  die  Aesthetik  lautet  die 
analoge  Frage:  Wo  liegt  das  Schöne?  In  den  Charakteren,  oder  den 
Handlungen,   oder  den  Situationen? 

Wir  wollen  noch  eine  Vergleichung  herbeybringen.  Der  Contrapunct 
der  Musik  führt  mehrere  Stimmen  gleichzeitig  fort.  Jede  Stimme  hat  eine 
eigenthümliche  Bewegung,  die,  wenn  auch  nicht  gleichförmig,  doch  so  be- 
schaffen seyn  mufs,  dafs  man  .sie  als  fortgehend  und  zusammenhängend 
auffassen  könne;  sonst  würde  statt  einer  Stimme  nur  eine  Folge  von  aus- 
füllenden Noten  zum  Vorschein  kommen.  Während  aber  jede  Stimme 
ihren  eignen  Gesang  behauptet,  treffen  sie  jeden  Augenblick  in  be- 
stimmter Situation  zusammen;  das  heifst,  sie  ergeben  eine  Folge  von 
Consonanzen  und  Dissonanzen,  welche  die  Regeln  der  Harmonie  herbey- 
rufen.  Nun  wird  man  fragen,  wo  denn  für  jede  Stimme  der  eigenthüm- 
liche Charakter  [131]  bleibe?  Denn  die  Bewegungen  lassen  sich  unter 
den  verschiedenen  Stimmen  vertauschen;  sonst  gäbe  es  keinen  doppelten 
Contrapunct.  Allein  so  wahr  dies  für  die  Theorie  ist,  so  hilft  uns  doch 
die  Praxis  den  begonnenen  Vergleich  zu  Ende  zu  bringen.  Wer  zu 
Einem  Tonstück  verschiedene  Instrumente  wählt,  der  wird  nicht  das  Wald- 
horn mit  der  Geige  in  den  doppelten  Contrapunct  setzen,  ja  kaum  die 
Singstimme  mit  der  Geige;  welches  zwar  möglich,  doch  wirkungslos  wäre. 
Denn  zuviel  Charakteristisches  liegt  in  dem  eignen  Klange  jedes  In- 
struments, um  durchgehends  gleiche  Bewegung  von  ihnen  zu  fordern; 
und  selbst  für  Singstimmen  setzt  der  doppelte  Contrapunct  voraus,  dafs 
sie  nahe  von  gleicher  Güte  seyen,  und  nicht  eine  der  andern  sich  merklich 
unterordnen  müsse.  Dies  vorausgesetzt,  so  kehrt  die  vorige  Frage  zurück: 
wo  liegt  das  Schöne  der  Musik?  Liegt  es  in  dem  Charakter  jeder 
Stimme?  oder  in  ihrer  Bewegung,  das  heifst,  in  ihrer  Melodie?  oder  in 
den  harmonischen  Situationen  aller  Stimmen  zusammengenommen? 

Hier  bewährt  sich  die  vorzügliche  ästhetische  Deutlichkeit  der  Musik. 
Reine,  volltönende  Stimmen  sind  ihre  erste  Voraussetzung;  mit  schlechten 
Stimmen  kann  sie  nichts  anfangen.  Eben  so  wenig  die  Poesie  mit  un- 
reiner, schwankender  Charakterzeichnung.  Aber  die  Melodien  folgen  nicht 
aus  den  Stimmen.  Gerade  so  folgen  aus  den  Charakteren  keine  Handlungen, 
sondern  es  müssen  Umstände  hinzukommen ;  und  in  dieser  Hinsicht  ge- 
winnt die  Poesie  unendlich  durch  einen  bestimmten  historischen  Hinter- 
grund, welcher  die  Sitten  und  Gewöhnungen  angiebt,  nach  welchen  die 
Charaktere   sich   zu  äufsern   pflegen.     Endlich,   alle  noch   so  schöne  Melodie 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.     9.  Capitel.     Von  der  schönen  Kunst.         jk 


hilft  nichts,  sondern  wird  unerträglich,  wenn  sie  im  Zusammentreffen  mit 
andern,  gleichzeitigen  Melodien  die  Harmonie  verletzt.  So  leistet  auch 
die  Poesie  nichts,  weder  Episches  noch  Dramatisches,  wenn  sie  die,  wie 
immer  consequenten  Handlungen  der  Charaktere  nicht  gehörig  in  einander 
fügt,  so,  dafs  jede  Situation  für  sich  einen  Werth  habe,  oder  mindestens 
nicht  anstöfsig  werde.  Doch  bezieht  sich  dies  nicht  auf  [132]  blofse 
Uebergänge;  auch  die  Musik  hat  ihre  durchgehenden  Noten,  welche,  da 
sie  aufser  dem  Gebote  der  Harmonie  liegen,  sehr  gute  Dienste  leisten, 
um  die  einzelnen  Stimmen  gesondert  zu  halten.  Ueberdies  haben  beide 
Künste,  Musik  und  Poesie,  ein  Hülfsmittel  an  den  Pausen,  so  dafs  nicht 
immer  alle  Charaktere  und  Stimmen  in  Einer  Situation  zusammen  arbeiten, 
sondern  das  Quartett  mit  dem  Terzett  und  Duett  wechseln,  oder,  dramatisch 
ausgedrückt,  dafs  von  den  Hauptpersonen  bald  zwey,  bald  mehrere  auf 
der  Bühne  stehn. 

Die  aufgeworfene  Frage  aber,  wo  das  Schöne  der  dramatischen  und 
epischen  Poesie  liege?  ist  schon  so  gut  als  beantwortet.  Es  liegt  theils 
in  den  Charakteren,  theils  in  der  Handlung,  theils  in  den  Situationen, 
und   der    Versuch,    eins  aufs   andre  zurückzuführen,    ist   vergeblich. 

78.  Indem  wir  auf  die  Charaktere  insbesondre  unser  Augenmerk 
richten,   begegnen  uns  einige  nicht  unwichtige  nähere   Bestimmungen. 

Erstlich :  die  Charaktere  sind  in  weit  höherem  Sinne  eines  ästhetischen 
Werths  fähig,  als  jene  Stimmen;  und  es  trennt  sich  hier  die  Poesie  von 
der  Musik.  Denn  die  Charaktere  sind  Objecte  einer  sittlichen  Schätzung, 
ganz  unabhängig  von  den  Handlungen,  die  nur  als  äufsere  Zeichen  hin- 
zukommen, und  sich  im  Verlauf  der  dargestellten  Begebenheit,  nachdem 
die  Personen  hinreichend  bekannt  sind,  überflüssig  verlängern  würden, 
wenn  sie  als   Mittel  der  Charakterzeichnung  zu  betrachten  wären. 

Zweytens :  der  ästhetische  Werth  der  Charaktere  schliefst  zwar  den 
moralischen  in  sich,  allein  er  reicht  viel  weiter.  Zuvörderst  treffen  die 
praktischen  Ideen  (27.)  den  Charakter  ursprünglich,  und  nicht  erst  so, 
wie  das  moralische  Urtheil,  in  Beziehung  auf  gefafste,  entweder  befolgte 
oder  nicht  befolgte  Vorsätze.  Die  blofse  Unschuld  ist  weder  gut  noch 
böse;  aber  sie  kann  im  hohen  Grade  sittlich  schön  seyn.  Das  beruht 
auf  dem  Unterschiede  des  ästhetischen  und  moralischen  Urtheils.  Ein 
offenes,  unverstelltes  Betragen,  Züge  des  Wohlwollens,  [133]  gesunde 
Naturkraft,  bereitwillige  Auffassung  und  Beachtung  des  Rechten  und 
Billigen,  dies  Alles  entspricht  ohne  Weiteres  den  praktischen  Ideen.  Reife 
der  Tugend,  erprobtes  Pflichtgefühl  ist  etwas  Höheres;  es  bezeichnet  den 
moralisch  ausgebildeten  Charakter.  Von  diesem  und  jenem  wiederum  ver- 
schieden ist  das  decorum,  woran  der  dramatischen  Poesie  eben  so  sehr  als 
dem  im  wirklichen  Leben  hervortretenden  Menschen  gelegen  seyn  mufs 
(44.   46.). 

Drittens :  nur  die  ernste  Poesie  hat  den  Vortheil,  dafs  für  sie  der 
Werth  der  Charaktere  eine  Hauptquelle  des  Schönen  seyn  kann.  Hier 
zeigt  sich  der  Hauptgrund  von  der  Schwierigkeit  des  Lustspiels ;  wenn 
nämlich  gefordert  wird,  es  solle  den  Werth  der  Charaktere  weder  negativ 
noch  positiv  hervorheben,  um  nicht  ernst  zu  werden.  Eine  andre  Frage 
ist,    ob    die    Forderung    wohl    überlegt    ist?      Anekdoten   können    rein    be- 

8* 


jj^  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 


lustigend  seyn,  aber  sie  mischen  sich  zufällig  ins  Gespräch;  hingegen  ins 
Schauspiel  zu  gehn,  oder  ein  Buch  zur  Hand  zu  nehmen,  ist  eine  ernst- 
hafte, absichtliche  Handlung,  und  die  Anstalten  der  Bühne,  wenn  sie 
nichts  als  Possen  liefern,  werden  wohl  immer  etwas  von  dem  Eindruck 
des  gesuchten,  weit  hergehohlten  Witzes  an  sich  tragen.  Es  dürfte  daher 
besser  seyn,  der  Komödie  eine  ernste  Grundlage  zu  gestatten,  und  das 
Lächerliche  nur  stellenweise  blitzend   drein  schlagen  zu  lassen. 

Viertens:  auch  die  ernste  Poesie  macht  bey  weitem  nicht  immer 
Gebrauch  von  demjenigen  Schönen,  was l  in  den  Charakteren  liegt.  Sie 
bedient  sich  aller  moralischen  Contraste,  so  wie  aller  Mannigfaltigkeit  der 
Verhältnisse  im  Leben.  Doch  würde  das  steinharte  Böse,  ohne  den 
innem  Kampf  des  zerrissenen  Gemüths,  für  sich  allein  nicht  für  sie 
brauchbar  seyn.  Auch  im  Macbeth  noch  geht  das  Interesse  von  den 
praktischen  Ideen  aus. 

79.  Was  zweytens  die  Handlung  anlangt:  so  ist  sie  als  Ganzes  ohne 
Zweifel  zu  unterscheiden  von  der  Summe  einzelner  Handlungen  der 
Personen.  Niemand  würde  das  im  [134]  poetischen  Sinne  eine  Handlung 
nennen,  wenn  blofs  die  Absichten  einer  einzigen  Person,  auf  dem  von 
ihr  vorgezeichneten  Wege,  ohne  Hindernifs,  ohne  Einmischung  weder  des 
Zufalls,  noch  anderer  und  theils  entgegenwirkender,  theils  helfender  Kräfte, 
zur  Ausführung  gelangten.  Wer  möchte  Geduld  haben,  um  sich  so 
geraden  Weges  zum  Ziele  geleiten  zu  lassen  ?  Harmonie  zwischen  Ein- 
sicht und  Wille  ist  schön;  dehnt  sich  aber  der  Wille  in  eine  Reihe  von 
Handlungen  aus,  so  haftet  an  diesen  Plandlungen  die  Aufmerksamkeit 
nicht  länger,  sobald  der  Zuschauer  die  Regel  des  Fortgangs  zu  kennen 
glaubt;  denn  seine  Empfänglichkeit  für  diese  Auffassung  ist  nun  gröfsten- 
theils  erschöpft.*  Das  Langweilige  zu  vermeiden  ist  eine  sehr  nöthige, 
aber  nur  entfernte   Bedingung  des  Schönen. 

Natürlich  sind  nun  die  Versuche  der  Künstler,  sich  durch  Ueber- 
raschung  zu  helfen;  wohin  ursprünglich  auch  die  sogenannten  Trugschlüsse 
der  Musiker  gehören.  Allein  einestheils  ist  nicht  alle  Ueberraschung  an- 
genehm, vielweniger  schön,  wenn  sie  für  das  Erwartete,  was  versagt  wird, 
ungenügenden  Ersatz  giebt;  ja  das  Abschneiden  der  Erwartung  artet 
leicht  aus  in  Zerreifsen  des  Fadens  der  Gedanken,  und  dann  ist  das 
Kunstgefühl  getödtet.  Andemtheils,  wenn  auch  die  Ueberraschung  auf's 
glücklichste  so  gewählt  wird,  dafs  sie  als  das,  was  man  allenfalls  hätte  er- 
warten können,  mit  dem  Frühern  in  Verbindung  tritt  (wie  die  Auflösung 
eines  guten  Räthsels,  von  welcher  hintennach  Jeder  gern  bekennt,  er  hätte 
sie  finden  sollen);  so  ist  doch  der  hiemit  verbundene  Reiz  auf's  erste 
Mal  des  Sehens  oder  Hörens  beschränkt;  anstatt  dafs  das  Schöne  un- 
vergänglich seyn,  und  auch  als  solches  empfunden  werden  soll,  wenn 
dessen  Auffassung  öfter  wiederhohlt  wird. 

Was  bleibt  denn  übrig,    (möchte  Jemand   fragen,)  wenn  man  die  Er- 

1   „Das"   statt   „was"   II.  Ausg.* 

*  Psychologie  I,  §  94.    Das  Genauere  in  der  Abhandlung  de  attentionis  mensura. 
[Bd.   V  vorl.   Ausg.] 

a  SW.  drucken  nach  der  II.  Ausg.    ohne    Angabe    der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


I.   Abschnitt.     Elementarlehre.      9.   Capitel.     Von  der  schönen   Kunst.         117 

Wartungen  weder  geradezu  befriedigen,  noch  täuschen  soll?  Die  Antwort 
ist  ziemlich  leicht;  man  soll  sie  nur  [135]  nicht  ganz,  sondern  dergestalt 
befriedigen,  dafs  sie  sich  von  neuem  spannen  müsse.  So  löset  der  Musiker 
seine  Dissonanzen  nicht  alle,  und  nicht  durch  vollkommene  Schlüsse,  bis 
am  Ende.  Allein  das  Genauere  der  Antwort  ist  dies:  die  einzelnen 
Handlungen  bestimmter  Personen  sollen  aus  ihrem  Charakter  fliefsen,  und 
in  so  fern  nicht  unerwartet  seyn;  ihr  Zusammentreffen  aber  mufs  in 
Schwierigkeiten  verwickeln,  die  ein  mannigfaltiges,  unbestimmtes  Erwarten 
aufregen;  die  Umstände  müssen  hinzukommen,  damit  die  Begebenheit 
nicht  gerade  wider  die  Erwartung,  (weit  eher  noch  wider  den  Wunsch, 
wie  im  Trauerspiel,)  sondern  dergestalt  gelenkt  werde,  dafs  die  im  Einzelnen 
getäuschte  Erwartung  sich   dennoch  im   Ganzen  befriedigt   finde. 

Aber  die  Hauptfrage  bleibt  immer  noch:  worin  liegt  nun  das  Schöne 
der  Handlung?  Und  diese  Frage  ist  desto  bedeutender,  wenn  man  sich 
eiinnert,  dafs  bey  weitem  nicht  immer,  und  nicht  ganz,  die  Charaktere 
die   Fundgrube  für's  Schöne  seyn  können. 

Zuerst  gehört  hieher  die  Vorbemerkung,  dals  Raum  und  Zeit  nicht 
zwey  wesentlich  verschiedene  Formen  unseres  Vorstellens,  sondern  zu- 
sammengehörige, auf  einerley  Basis  beruhende,  oft  in  einander  übergehende, 
—  ganz  besonders  aber,  dafs  sie  nicht  (wofür  sie  ausgegeben  wurden) 
eigenthümliche  Formen  nur  des  Sinnlichen,  sondern  Formen  der  Ver- 
schmelzung unserer  Vorstellungen  überhaupt  sind,  und  als  solche  vielfach 
wiederkehren,  auch  wo  man  sie  gar  nicht  sucht. 

So  geschieht's  denn  oft,  dafs  am  Ende  eines  Zeitverlaufs  uns  die 
Reihe  der  Begebenheiten  in  der  Form  eines  Zeitraums  erscheint;  ein 
Wort,  welches  den  Philosophen  schon  längst  hätte  Stoff  zum  Denken 
geben  können.  Dadurch  aber  verwandelt  sich  die  Begebenheit  selbst  in 
ein  Räumliches;  sie  nimmt  Gestalt  an,  und  diese  Gestalt  ist  schön  oder 
häfslich. 

Rückwärts:  jede  Gestalt  wird  successiv  durchlaufen;  sie  spannt  Er- 
wartungen, und  befriedigt  sie;  eben  darum,  weil  [136]  ihre  Züge  nicht 
gerade  fortlaufen,  wohl  aber  auf  irgend  eine  Weise  zusammengefafst 
werden. 

So  ist  denn  zwischen  Zeichnung,  oder,  wenn  man  will,  Plastik  einer- 
seits, und  der  Handlung,  ja  der  ganzen  Beiuegung  und  Aufregung  eines 
Schauspiels  andrerseits,  eine  wesentliche  Analogie  vorhanden,  welcher  man 
nachgehn  mag,  um  das  Schöne  in  dem  einen  und  dem  andern  zugleich 
zu  ergründen;  denn  jedes  erläutert  das  Andre,  und  sie  stehen  beide  auf 
gleichem   Boden.  * 

80.  Mit  den  Situationen  verhält  sich's  in  der  dramatischen  Kunst 
ungefähr  wie  mit  den  Gütern  im  sittlichen  Leben.  Sind  Tugend  und 
Pflicht  erst  in  Sicherheit,  alsdann  wäre  es  thöricht,  innerhalb  der  ge- 
zogenen Gränzen  den  Genufs  der  Güter  zu  verschmähen.  Eben  so  benutzt 
der  Dichter  mit  Recht  die  Situationen,  nachdem  die  Charaktere  veststehn, 
und  für  die  Handlung  als  für  eine  richtige  und  schone  Zeichnung  gesorgt 
ist,   obgleich   er  nicht  füglich    Charaktere    und   Handlung    darauf  einrichten 


Psychologie  II.  §   114.     [Band  VI  vorliegender  Ausgabe.] 


1 1 8  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


kann,  interessante  Situationen  zu  erreichen.  Er  verschmäht  nicht  die 
Rührung,  oder  überhaupt  die  Gemüthsbewegung,  die  etwa  darum  aus 
ihnen  entsteht,  weil  der  Zuschauer  schon  Parthey  genommen  hat  für  und 
wider  die  Charaktere,  und  deshalb  sein  Mitgefühl  einigen  widmet,  andern 
aber  entzieht.  Zwar  das  Gefühl  ist  nicht  das  ästhetische  Urtheil,  und 
das  Rührende  ist  nicht  das  Schöne.  Aber  der  Zuschauer  soll  auch  nicht 
blofser  Kritiker  seyn.  Er  ist  ein  ganzer,  ungetheilter  Mensch,  dem  die 
Kritik  sein  richtiges  Gefühl  nicht  misgönnen  und  verleiden  darf.  Darüber 
würde  das  Lyrische  der  Poesie  und  Musik  seinen  wahren  Kern  verlieren, 
welcher  eben  in  der  Mittheilung  der  Empfindung  besteht,  obgleich  weder 
Poesie  noch  Musik  bloße  Lyrik  ist. 

In  der  Benutzung  der  Situationen  zeigt  sich  recht  eigentlich  das 
praktische  Talent  des  Dichters.  Läfst  er  sie  zu  schnell  [137]  vorübereilen 
und  auf  einander  folgen,  so  erkennt  man  nichts  deutlich,  nicht  einmal 
die  Contraste  der  Charaktere;  daher  alsdann  sogar  die  wesentlichsten 
ästhetischen  Elemente  entweder  im  Dunkeln  bleiben,  oder,  was  nicht  viel 
besser  ist,  nur  durch  allgemeine  Begriffe  gedacht  werden,  so  dals  man 
ein  Skelett  statt  des  Lebendigen  erblickt.  Die  klassischen  Werke  dra- 
matischer und  epischer  Kunst  entwickeln  langsam  eine  Situation  aus  der 
andern;  jede '  gleicht  einer  Bildsäule,  und  das  Ganze  einer  mimischen 
Darstellung,  welche  in  beständiger  Verwandlung  ein  Bild  aus  dem  andern 
entstehen  läfst.  Auch  der  Eindruck  einer  Reise  in  einer  schönen  Gegend 
kann  damit  verglichen  werden,  weil  liier  eine  schöne  Landschaft  sich 
allmählig  in  die  andre  verwandelt.  * 


[138]  Zehntes  Capitel. 
Von  der  gelehrten  Kunst. 

81.  Der  praktische  Mensch  ist  zwar  in  der  Regel  eben  so  wenig 
Gelehrter  als  Künstler,  und  seine  Empfänglichkeit  neigt  sich  noch  weniger 
zur  Gelehrsamkeit  hin,  als  zur  Kunst.  Der  Gelehrte  steht  ihm  gegen- 
über als  eine  Person,  welche  Respect  fordert,  ohne  denselben  eigentlich 
erzwingen  zu  können,  wenn  man  (wie  sich's  wohl  trifft)  etwa  Lust  hätte 
ihn   zu    versagen.     Aber    im    Laufe    des    Lebens    fehlt    doch    das    Wissen 

:  Zur  Vervollständigung  dieses  Capitels,  und  zu  mancher  Vergleichung,  die 
nicht  ohne  Interesse  seyn  dürfte,  kann  Griepenkerls  Aesthetik  benutzt  werden.  '  Die 
Empfehlung  des2  Buchs  ist  desto  unbefangener,  da  gerade  die  Seite  desselben,  wodurch 
Hr.  Professor  Gr.  sich  dem  Verfasser  hat  anschliefsen  wollen,  wenig  Uebereinstimmung 
zeigen  wird.  Aber  das  Buch  hat  eine  andere,  sehr  schätzbare,  doch  selten  recht  ge- 
würdigte, Eigenschaft  —   Reinheit  von  falschem  Glänze. 

1  Statt  der  Worte:  „Die  Empfehlung  .  .  .  von  falschem  Glänze"  hat  die  II.  Ausg. 
P'olgendes:  Übrigens  geht  Herr  Professor  Griepenkcrl  damit  um,  seine  neueren  An- 
sichten bekannt  zu  machen. 

2  SW  „dieses"  statt  „des". 


I.   Abschnitt.      Elementarlehre.      10.   Capitel.     Von    der  gelehrten   Kunst.       iig 

bald  hier  bald  dort;  und  Unwissenheit  streift  oft  so  nahe  vorbey  an 
Ungeschick,  dafs  die  Gelehrsamkeit  wenigstens  unter  den  nützlichen 
Dingen  einen  Platz  wieder  gewinnt.  Die  nächste  Folge  ist,  dafs  man 
den  Gelehrten  wie  ein  lebendiges  Lexicon  gebrauchen  will,  und  unge- 
halten wird,  wenn  man  erfährt,  er  habe  selbst  allerley  Lexica  unter  seinem 
Buch  er  vorrat  h. 

Hiemit  wird  schon  erklärt  seyn,  was  der  Ausdruck:  gelehrte  Kunst, 
sagen  soll.  Zwar  ist  nicht  unsre  Meinung,  das  im  Gedächtnifs  bereit 
liesende  Wissen  als  etwas  minder  Achtunsrswerthes  zu  bezeichnen:  im 
Gegentheil,  es  wäre  ohne  Zweifel  höchst  envünscht,  wenn  man  streng 
behaupten  könnte:  tantum  scimus,  quantum  memoria  tenemus.  Da  jedoch 
die  Wissenschaften  stets  wachsen,  ohne  dafs  die  Köpfe  gröfser  werden, 
so  hat  man  nicht  Alles  im  Kopfe,  sondern  manches  nur  im  Hause ;  und 
es  wird  zur  Kunst,  den  gelehrten  Vorrath  so  zu  kennen,  dafs  er  sich  nach 
Belieben  finden   lasse,   ohne  im    Wege  zu   liegen. 

[139]  Im  Grunde  ist  das  Uebel,  nicht  Alles  im  Gedächtnifs  zu 
tragen,  so  sehr  grofs  nicht,  da  man  doch  einmal  nicht  Alles  in  Gedanken 
oder  im   Bewufstseyn  halten  kann.* 

82.  Es  liegt  aber  in  dem  Ausdruck  gelehrte  Kirnst  noch  etwas  Mehr. 
Die  Analogie  mit  schöner  Kunst  entdeckt  das  sogleich.  Nicht  eigentlich 
die  Kunst  selbst  ist  schön,  sondern  sie  bringt  das  Schöne  zur  Anschauung. 
Dem  gemäfs  wird  auch  eine  Kunst  gesucht,  die  Gelehrsamkeit  für  den  Em- 
pfänglichen, für  den  Liebhaber,  zum  Nutzen,  zur  Erhohlung,  zur  ange- 
messenen Beschäfftigung  bereit  zu  stellen.  Unzählige  Schreibfedern  wett- 
eifern hierin;  und  die  Waare  wird  zu  wohlfeil,  als  dafs  dem  Streben, 
wodurch  allein  sie  zugeeignet  werden  kann,  die  rechte  Spannung  bliebe. 
Ueberlegen  wir  jedoch  die  Motive,  welche  im  Stande  sind,  auch  dem 
Geschäfftsmann  das  Interesse  für  Gelehrsamkeit  lebendig  zu  erhalten,  und 
gestehen  wir  was   wahr  ist! 

Würden  aus  dem  geselligen  Verkehr  die  Zeitungen  hinweggenommen, 
so  möchte  das  Gespräch  sich  bald  in  sehr  engen  Kreisen  der  nächsten 
Angelegenheiten  drehen.  Der  Geschäfftsmann  würde  nun  aus  dem  weiten 
Gebiete  der  Gelehrsamkeit  nur  dasjenige  sich  aneignen,  was  eben  zu 
seiner  Arbeit  behülflich  seyn  mag;  und  von  seinem  Standpuncte  betrachtet, 
zerfiele  die  Gelehrsamkeit  in  viele,  gröfsere  oder  kleinere,  nützliche  Bruch- 
stücke. Aber  alle  Welttheile  sind  in  Berührung  getreten;  der  Deutsche 
besonders  nimmt  von  Allem  Kunde.  Geographie  ist  demnach  von  allen 
Wissenschaften  die  erste,  die  seinen  Gesichtskreis   erweitert. 

Ihr  folgt  Geschichte.  Der  Erweiterung  im  Räume  folgt  die  Frage, 
wie  das  Jetzige  geworden  ist,  und  aus  welcher  Vergangenheit  man  ver- 
suchen  könne,   die  Zukunft  zu  errathen. 

Von  der  Geographie  ausgehend,  gewinnt  auch  die  Naturkunde  einen 
ganz  andern  Umfang,  als  den  sie  des  blofsen  Nutzens  wegen  erreicht 
hätte. 

[140]  Etwas  entfernter  steht  die  Literatur.  Ohne  einige  ästhetische 
Liebhaberey  möchte  sie  sich  dem  Geschäfftsmanne  nicht  so  leicht  empfehlen. 


*  Psychologie  I.  §  47.     [Band  V  vorl.  Ausgabe.] 


J20  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

Latein  wird  von  einem  alten  Vorurtheil,  mindestens  einer  alten  Sitte, 
mehr  als  durch  irgend  ein  andres  Motiv,  für  die  Jugend  auch  da,  wo 
kein  Universitäts-Studium  folgen  soll,  im  Gange  erhalten;  in  spätem  Jahren 
allermeist  vergessen   und  nicht  entbehrt. 

Das  Griechische  bleibt  dem  Gelehrten,  und  gilt  anderwärts  für  eine 
Plage.  Mathematik  wird  die  folgende  Generation  besser  kennen,  als  die 
heutige. 

83.    Zur  Vergleich ung  setzen  wir  die  Hauptklassen  des  Interesse  her.* 

Interesse 

der  Erkenntnifs :  der    Theilnahme: 

empirisches,  an  Einzelnen, 

speculatives,  an  dem  Wohl  der  Gesellschaft, 

ästhetisches.  Religiöse  Theilnahme  an  der 

allgemeinen  Abhängigkeit. 

Könnte  die  Erziehung  es  erreichen,  diese  verschiedenen  Klassen  des 
Interesse,  wie  es  eigentlich  geschehen  soll,  bey  der  Jugend  gleichmäfsig 
auszubilden :  so  würde  man  nicht  nöthig  haben,  für  die  Erwachsenen  die 
Motive  zu  gelehrten  Beschäfftigungen  von  der  Zeitung  herzuhohlen.  Denn 
die  vorerwähnten  Interessen  sind  sämmtlich  unmittelbeir,  und  sie  schliefsen 
zusammen  eine  solche  Energie  des  Lebens  in  sich,  dafs  nach  stärkern 
Antrieben  zu  suchen  thöricht  wäre. 

Die  gelehrte  Kunst  sollte  eigentlich  nur  darin  bestehn,  sämmtlichen 
vorbenannten  Interessen  die  Schätze  des  Wissens  auf's  angemessenste  be- 
reit zu  stellen.1  Und  worin  sonst  haben  denn  grofse  Schriftsteller  sie2 
gesucht?      Der   literarische   Ehrgeiz    hat   kein  andres,  würdiges  Ziel. 

[141]  Es  heifst  nun  zwar  der  Erziehung  zuviel  zumuthen,  dafs  sie  in 
Jedem,  unabhängig  von  Naturanlagen,  diese  Interessen  alle  erwecken,  vollends 
auf  die  Wege  der  gelehrten  Befriedigung  leiten  solle.  Die  Erziehung 
einzelner  Menschen  ist  niemals  unabhängig;  jedes  Individuum  steht  mit 
seinen  Eigenheiten  und  mit  seiner  Empfänglichkeit  für  äufsere  Eindrücke, 
die  man  nur  verspäten,  nicht  für  immer  vermeiden  kann,  dem  Erzieher 
als  eine  Naturgewalt  gegenüber,  die  er  vergebens  bestreitet.  Aber  eben 
weil    die  Naturen    verschieden    sind,    läfst    sich    Anderes    bey   Anderen    er- 


*   Pädagogik,  im  diitten  Kapitel  des  zweyten  Buches.     [Bd.  II  vorl.  Ausg.]. 

1  Hier  schaltet  die  II.  Ausg.  das  Folgende  ein:  „Der  freye  mündliche  Vor- 
trag wäre  für  die  Ausübung  dieser  Kunst  der  natürliche  —  der  wirkungs- 
reichste Anfang;  die  Feder  würde  ihm  zuerst  nachahmen,  später  ihn  zu 
übertreffen,  die  Kunst  mehr  auszubilden  suchen,  ohne  jedoch  vom  natür- 
lichen Zuge  der  Gedanken  sich  weit  zu  entfernen.  Denn  immer  bleibt  die 
Wärme  des  ursprünglichen  Interesse  die  Hauptsache.  Dies  zu  beleben,  — 
worin   sonst  .... 

2  „die   Kunst"   für  „sie"    II.  Ausg.a 

a   SW   drucken    nach    der  II.  Ausg.    ohne   Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre,      io.   Capitel.      Von  der  gelehrten   Kunst.       12  I 

reichen,    und    die    Gesammtwirkung    der   Erziehung    mufs    immer    die    Ge- 
sammtheit  jener  Interessen  bleiben.1 

84.  Schon  oft  haben  wir  uns  veranlafst  gefunden,  auf  die  psycho- 
logische Lehre  von  den  verschiedenen,  entweder  zugleich  oder  abwechselnd 
wirksammen,  Vorstellungsmassen  zurückzugehn.  Man  könnte  glauben,  die  eben 
vorgelegte  Unterscheidung  der  Hauptklassen  des  Interesse  weise  eben  dahin. 
Allein  das  würde  ein  nachtheiliger2  Irrthum  seyn,  3  welcher  mufs  entfernt 
werden.  Keinesweges  beschränkt  sich  eine  bestimmte  Vorstellungsmasse  auf 
eine  besondere  Klasse  des  Interesse,  sondern  jede  solche  Masse  kann  mehr- 
fach interessiren;  und  es  gehört  beym  praktischen  Menschen  zu  den  sehr 
fehlerhaften4  Einseitigkeiten,  wenn  sein  Interesse  nicht  vollständig  der 
Natur  des  Gegenstandes  entspricht.  Denn  die  Erweiterung  seines  Gesichts- 
kreises über  die,  für  sein  Geschafft  gerade  nöthigen,  Kenntnisse  hinaus, 
welchen  Zweck  kann  sie  haben  ?  Keinen  andern  als  den,  die  Energie 
seines  geistigen   Lebens  zu   vermehren.    Wir  müssen   dies  mehr  entwickeln. 

1.  Was  die  nöthigen  Geschäfftskenntnisse  anlangt:  so  stehn  sie,  da 
sie  blofs  als  Mittel  zur  Geschäftsführung  betrachtet  werden,  unter  dem 
Gesetz  aller  Mittel:  Je  einfacher,  desto  besser.  Mit  Wenigem  Viel  aus- 
zurichten, ist  löblich.  Mit  unnützem  Wissen  den  Kopf  zu  beladen,  ist 
gar  nicht  rathsam  für  die   Praxis.      Aber 

[142]  2.  Ganz  anders  verhält  sich's  mit  solchem  Wissen,  welches  un- 
mittelbar interessirt.  Dies  ist  nicht  Last,  sondern  Kraft;  denn  vom  Interesse 
des  Menschen  geht  seine  Thätigkeit  aus;  und  pafst  diese  Thätigkeit  für 
ihn  nicht  ins  Geschafft,  so  pafst  sie  in  die  Erhohlung,  wodurch  die  Kraft 
vermehrt  wird;  während  schlechte  Arten  der  Abspannung,  wie  Derjenige 
oft  sucht,   der  keine  würdige   Erhohlung  kennt,   die   Kraft  erschöpfen. 

3.  Dies  ist  besonders  wichtig  bey  einem  Leben  voll  von  Glücks- 
wechseln, denen  sich  jeder  Sterbliche  ausgesetzt  sieht.  Wer  viel  gelernt 
hat,   das  ihn  unmittelbar  interessirt,  der  findet  geistigen  Ersatz  bey  geistigem 


1  Zu    „bleiben"  hat  die  II.  Ausg.   folgende   Anmerkung: 

Die  Ordnung,  worin  die  verschiedenen  Klassen  des  Interesse  sieh  hier  zusammen- 
gestellt finden,  ist  der  Pädagogik  entlehnt  worden,  Davon  absehend  könnte  man  wegen 
der  Unterordnung  des  Aesthetischen  unter  die  Erkenntnifs  Zweifel  erregen.  Zwar  ist 
alles  Aesthetische  objectiv;  aber  es  haftet  nicht  an  der  Realität  des  Gegenstandes,  der 
immerhin  ein  blofses  Gedankenbild  seyn  darf;  auch  wird  die  Erkenntnifs  des  Gegen- 
standes in  Hinsicht  dessen,  was  er  an  sich  ist,  nicht  durch  ästhetische  Beurtheilung 
gewonnen.  Allein  hier  wird  vom  Interesse  gesprochen ;  dieses  entwickelt  sich  auf  An- 
lafs  gegebener  Gegenstände;  es  geht  aus  von  der  Kenntnifs  dieser  Gegenstände.  Wir 
wollen  also  nicht  das  Aesthetische  der  Erkenntnifs  subsumiren;  wohl  aber  betrachten 
wir  das  ästhetische  Interesse  als  ein  solches,  dessen  Erweckung  im  Kreise  derjenigen 
Darstellungen  liegt,  welche  zunächst  Erkenntnisse  vermitteln.  Anders  würde  es  sich 
verhalten,  wenn  von  demjenigen  Interesse  die  Rede  wäre,  welches  der  producirende 
Künstler  empfindet.» 

2  „nachtheiliger"    fehlt  in  der  IL  Ausg. 

3  Der  Satz:  „welcher  mufs   entfernt  werden"   fehlt  in  der  II.  Ausgabe. 

4  „sehr  fehlerhaften"  fehlt  in  der  II.  Ausg.a 


a   S\V.    drucken    nach    der    II.   Ausg.    ohne    die  Abweichung    der    I.    Ausg.    an- 
zumerken. 


122 


II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


Leiden;    während    einseitige  Gelehrsamkeit,    wofür   der  Markt  nicht   gerade 
bequem  ist,  ihren  Besitzer  drückt. 

4.  Der  Werth  des  Wissens  steigt,  wenn  dessen  unmittelbares  Interesse 
wächst;  er  fällt,  wenn  dasselbe  beschränkt  wird;  und  fällt  um  so  mehr,  wenn 
dies  Wissen  in  dem  Gedränge  der  verschiedenen  Vorstellungen  dem  Nöthi- 
geren  den  Platz  im  Bewufstseyn  und  die  Zeit  im  Gebrauche  streitig  macht. 

5.  Das  unmittelbare  Interesse  vermag  nicht  blofs  intensiv  stärker  zu 
werden,  sondern  oft  kann  es  auch  der  Art  nach  mannigfaltig  seyn.  Da 
dieses  der  Tunct  ist,  von  dem  wir  ausgingen,  so  wollen  wir  um  so  mehr  ein 
ausgezeichnetes  Beyspiel  aufstellen.  Das  Studium  der  Geschichte  interessirt 
erstlich  empirisch,  '  durch  blofse  Mannigfaltigkeit  und  Abwechselung.  Prag- 
matische Geschichtsforschung  interessirt  zweytens  speculativ,  durch  Nach- 
weisung des  Nothwendigen  im  Zusammenhange  der  Begebenheiten.  Dichtern 
und  Künstlern  ist  drittens  die  Geschichte  eine  Fundgrube  ästhetischer 
Verhältnisse;  eben  diese  nutzt  jeder  tüchtige  Geschichtschreiber  zur  an- 
ziehenden Darstellung.  Aber  das  Anziehende  liegt  viertens  noch  mehr 
in  der  Sympathie  mit  Leiden  und  Freuden  der  historischen  Personen. 
Auch  dieses  wird  fünftens  noch  überboten  [143]  durch  das  gesellschaft- 
liche Interesse,  welches  die  Schicksale  ganzer  Nationen  und  Staaten  ein- 
flöfsen.  Und  endlich  sechstem  hat  wohl  noch  nie  ein  tüchtiger  Geschichts- 
kenner gelebt,  der  nicht  vielfach  aus  dem  irdischen  Gedränge  nach  Oben 
geblickt  hätte,  getrieben  von  der  Sehnsucht  nach   Trost  und  Hoffnung. 

Allen  sechs  Klassen  des  Interesse  also  gehört  die  Geschichte  an. 
Und  in  jeder  Vorstellungsmasse,  die  auch  nur  Eine  irgend  bedeutende 
historische  Partie  umfafst,  mufs  dieses  sechsfache  Interesse  lebendig  seyn. 
1  Sonst  fehlt  etwas  an  der  Art  der  Auffassung. 

85.  Umgekehrt  vermag  Einerley  Interesse  sehr  viele  und  verschiedene 
Vorstellungsmassen  zu  durchlaufen  und  in  Verbindung  zu  setzen.  Dies 
zeigt  jede°weitläuftige  gelehrte  Nachforschung.  So  knüpft  sich  das  philo- 
logische Studium  an  das  historische;  so  wird  Grammatik  und  Metrik 
studiert,  weil  man  gewisse  Auetoren  lesen  will.  Und  wiederum:  wenn 
Jemand'  sich  unmittelbar  für  Metrik  interessirt,  so  studirt  er  ihrentwegen2  die 
Schriftsteller,  welche  ihm  verschiedene  oder  ähnliche  Versmaafse  darbieten. 

Die  Zeitungen  beleben  vorzugsweise  die  Unterhaltung;  und  für  die 
Unterhaltung  ist  das  ganze  Conversations-Lexicon  geschrieben  worden. 
Niemand  wird  ein  tieferes  speculatives,  ästhetisches,  religiöses  Interresse 
dahinter  suchen.  Das  Wesentliche  in  dem  bändereichen,  vielgebrauchten 
Werke  ist  das  empirische  und  nebenbey  das  sympathetische  und  gesell- 
schaftliche  Interesse. 

Für  den  praktischen  Menschen  ist  es,  in  Beziehung  auf  den  für  ihn 
wünschenswerthen  Antheil  an   der  Gelehrsamkeit,   äufserst2   wichtig,   dafs   er 

1  Die  Worte:    „Sonst    fehlt    etwas    an    der    Auffassung"    fehlen   in   der 

II.   Ausg.* 

2  „äufserst"   fehlt  in  der  II.  Ausg.b 


a    u.  b    SW.    drucken    nach    der    IT.   Ausg..    ohne    die    Abweichung    der    I.    Ausg. 

an7.umerken. 

a  SW  „ihrerwegen"  statt  „ihrentwegen". 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      10.   Capitel.      Von  der  gelehrten   Kunst.        123 


sich  über  diese  Verknüpfung  des  Wissens  mit  seinem  wahren,  unmittel- 
baren Interesse  so  genau  als  möglich  Rechenschaft  gebe.  x  Sonst  verirrt 
er  sich  auf  den  weiten  Feldern  des  Wissens,  und  verdirbt  sich  nicht  blofs 
Zeit,   sondern  auch,   was  mehr  ist,   Lust  und   Kraft. 

[144]  86.   Nach  der  alten2  Lehre  von  den  Seelenvermögen  würde  man 
vermuthen  müssen,   dafs  dieselben,   durch  irgend    ein  bestimmtes    Interesse 
einmal    in    Thätigkeit   gesetzt,    nicht    eher    ruhen  könnten,    als   bis    sie  alle 
Gegenstände    des   Wissens   von   der   Seite    eben   des    nämlichen    Interesse 
ergriffen     hätten.       Oder    mindestens,    das   jeder    demselben    dargebotene 
Gegenstand,  welcher  dazu  geeignet  wäre,  auch  als  passende  Nahrung  da- 
für   würde    angenommen,    angeeignet,    verabredet   werden,      Also    das    em- 
pirische Interesse,   welches  einmal  Botanik  gekostet  hätte,   würde  nun  auch 
die  alten  Sprachen  schmackhaft   finden;   den   Bildhauer  würde    sein    ästhe- 
tisches   Interesse    zur    Musik,    desgleichen    den    Mathematiker  würde    sein 
speculatives   Interesse  zur  Metaphysik,    den   Metaphysiker    zur   Mathematik 
führen.     Das  ist  aber  gerade    so    sehr  wider    die    wahre    Psychologie,    als 
wider    die    Erfahrung.      Nur    in    bestimmten  Vorstellungsmassen    erzeugen 
sich  die  ihnen  angemessenen  Interessen;   und  in  ihnen  auch  liegt  die  Kraft, 
womit    die    zu    ihnen    passenden   Kenntnisse  und   Beschäfftigungen  gesucht 
werden.      Den    Sprachkenner    interessiren  Sprachen;    den   Botaniker    inter- 
essirt  Geographie,  sofern  sie  mit  der  Pflanzenkunde  zusammenhängt.      Die 
Verknüpfungen   der  Gegenstände    sind    es,    denen    das  Interesse    nachgeht, 
um  zu  jedem   einmal  mit  Eifer  ergriffenen  Studium  die  Hülfswissenschaften 
zu   suchen.      So    mag  der  Bildhauer  wohl   Anatomie    studiren,    nämlich    als 
Mittel  zu  seinem  Zwecke;    aber  höchst  zufällig    ist's,  wenn    das    zwiefache 
ästhetische  Interesse  für  Plastik  und  für  Musik  sich  in  Einer  Person  bey- 
sammen   findet.     3Der  allgemeine  Begriff  des  ästhetischen  Interesse  vermag 
hier  eben  so  wenig,  als  das  eingebildete  Seelenvermögen,  genannt  Geschmack, 
oder    ästhetische    Urtheilskraft ,    eine    wirkliche    Kraft    in    der    menschlichen 
Seele  ist.      Irrthümer    dieser   Art  würden    dem    praktischen  Menschen    so- 
gleich schädlich  werden,   wenn  er  sich   ihrer  Leitung  auch  nur    im  gering- 
sten überliefse;   und  wirklich  sind  sie  schädlich  genug  gewesen. 

[145]  87.  Die  Verknüpfungen  dessen,  was  unmittelbar  interessirt,  mit 
vielem  Andern,  was  als  Hülfsmittel  in  Bezug  auf  jenes  ein  mittelbares  Interesse 
hat,  durchkreuzen  sich  auf's  mannigfaltigste,  wenn  man  alle  Liebhabereyen 
mit  in  Betracht  ziehn  will,  wodurch  Jemand  sich  an  Gegenstände  hängt, 
welche  für  die  grofse  Mehrzahl  gleichgültig  scheinen.  Denn  kaum  wird 
man  irgend  einen  möglichen  Gegenstand  des  menschlichen  Wissens  nennen 
können,  der  nicht  hie  und  da  seinen  Liebhaber  fände,  das  heifst,  einen 
Solchen,  welcher  für  ihn  sich   unmittelbar  interessirt. 

Die  gelehrte   Kunst  kann  daher  höchst  mannigfaltig  seyn,   indem  ihre 

1  Der  Schlufssatz:    „Sonst  verirrt  .  .  .  Lust  und  Kraft"   fehlt  in  der  II.  Ausg. 

2  „alten"    fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

3  Der  folgende  Schluß  von  86:  „Der  allgemeine  Begriff  .  .  .  schädlich 
genug   gewesen"    fehlt  in  der  II.  Ausg. 

a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.,  ohne  Angabe  der  Abweichung  der 
I.  Ausg. 


J24  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


b 


Darstellungsweise  sich  dem  verschiedenen  Zuge  der  Interessen  dienstbar 
beweiset,  und  in  einem  Falle  als  Hauptgegenstand  hervortreten  läfst,  was 
in  tausend  andern  Fällen  als  unbedeutende  Nebensache  tief  in  den  Hinter- 
grund treten  mufs.  Aber  im  Allgemeinen  wird  sie  desto  mehr  Dank  ver- 
dienen, je  mehr  sie,  von  seltenen  und  zufälligen  Liebhabereyen  sich  ent- 
fernend l  und  alles  zudringlichen  Anpreisens  des  in  der  Regel  Gleich- 
gültigen sich  enthaltend,  jedes  Einzelne  an  seinen  Ort  dergestalt  hinsetzt, 
dafs,  wer  es  sucht,  es  leicht  finden  und  gebrauchen  könne.  Dabey  ver- 
steht sich  von  selbst,  dafs  für  den  eigentlichen  Gelehrten  nichts  von  dem, 
was  sich  auf  sein  Fach  bezieht,  geringfügig  genug  sey,  um  ganz  weggeworfen 
zu  werden. 

Es  kann  nicht  fehlen,  dafs  in  diesem  Bemühen,  für  Jedes  den  rech- 
ten Ort  zu  bestimmen,  wo  man  es  suchen  und  finden  könne,  sich  die 
logischen  Gattungsbegriffe  als  Richtschnuren  gelten  machen.  Der  Vorrath 
soll  geordnet  werden;  die  Anordnung  geschieht  nach  den  Aehnlichkeiten 
und  Verschiedenheiten.  So  entstehen  aber  Verknüpfungen,  die  vom  natür- 
lichen Zuge  der  Interessen  weit  abweichen,  So  kommt  zum  Beyspiel  die 
Plastik  nicht  in  Verbindung  mit  der  Anatomie;  sondern  in  der  Aesthetik, 
welche  von  aller  schönen  Kunst  zu  handeln  verspricht,  begegnen  Musik 
und  Plastik  einander  als  Nachbarinnen,  so  unwahrscheinlich  es  auch  ist, 
dafs  der  Tonkünstler  zugleich  Bildhauer  seyn  werde,  und  umgekehrt.  Wer 
[146]  nun  Bücher  studirt,  oder  Vorträge  anhört,  bey  dem  rechnet  man 
auf  gelehrten  Fleifs,  welcher  den  natürlichen  Trieb  des  Interesse  wohl  er- 
setzen werde.  Aber  hiemit  entfernt  man  sich  aus  der  Sphäre  des  prak- 
tischen Menschen;  und  eben  deswegen  stehn  ihm  Bücher  und  Gelehrte 
als  etwas   Fremdes  gegenüber. 

88.  Nicht  ganz  selten  jedoch  findet  man  auch  bey  dem  praktischen 
Menschen  eine  solche  Offenheit  des  Blicks,  und  eine  so  bewegliche  Auf- 
merksamkeit, dafs,  indem  die  Gelehrsamkeit  ihm  als  ein  Ganzes  vorschwebt, 
er  nichts  Einzelnes  herausnehmen,  nichts  von  seinem  Interesse  ausschliefsen 
mag,  sondern  alles  zu  umspannen  wünscht.  Die  nächste  Folge  ist,  dafs 
ihn  die  Umrisse  der  Wissenschaften  beschäfftigen ;  ein  Anfang  des  specu- 
lativen  Interesse,  während  das  empirische  sich  mit  den  Einzelheiten 
begnügt. 

Der  nämlichen  Offenheit  des  Blicks  und  des  Aufmerkens  liegt  aber 
auch  die  Natur  einladend  vor  Augen ;  und  hiemit  der  Gegensatz  zwischen 
unserm  Wissen  und  Nicht -Wissen,  sammt  den  mancherlei  Wegen,  auf 
welchen  die  Bemühungen  fortschreiten,  um  unser  Wissen  zu  erweitern. 
Die  Umrisse  der  Wissenschaften  erscheinen  demnach  nicht  durchgehends 
als  vest  bestimmt,  sondern  als  veränderlich  im  Laufe  der  Zeit  durch  die 
gelehrten  Arbeiten.  Dies  gilt  besonders  den  heutigen  Naturwissenschaften, 
welche  Beobachtung  auf  Beobachtung,  Entdeckung  auf  Entdeckung  häufen; 
mit  dem  rühmlichsten  Fleifse,   dem   es  recht  angenehm  ist,   dafs'  die  Natur 

1  Die  folgenden  Worte:  „und  alles  zudringlichen  Anpreisens  des  in  der 
Regel   Gleichgültigen   .  .  .   sich   enthaltend"  fehlen  in  der  II.  Ausg.» 


a    SW   drucken  nach    der    IL   Ausg.  ohne  Angabe    der  Abweichung   der  I.   Ausg. 


i.   Abschnitt.      Elementarlehre.      II.   Capitel.     Von  der  Staatskunst.  125 


sich  niemals  will  erschöpfen  lassen,  sondern  ihm  für  eine  Arbeit,  die  er 
geendigt  hatte,   immer  zehn  neue  Aufgaben   stellt. 

Hier  aber  erhebt  die  Metaphysik  ihre  Stimme.  Sie  erklärt  Alles, 
was  Erfahrung  darbietet  und   zu  entdecken  gestattet,   für  blofse  Erscheinung. 

Die  Naturforscher  pflegen  nicht  zu  widersprechen,  wohl  aber  sich 
auf  blofse  Erscheinung  zu  beschränken,  und  dem  praktischen  Menschen 
einzuprägen,  man  bedürfe  zum  Behuf  der  nützlichen  Künste  nichts  weiter. 
Ob  sie  auch  Arzneykunst  und  Erziehungskunst  und  Staatskunst  zu  den 
nützlichen  [147]  Künsten  rechnen?  das  mufs  man  nach  solcher  Erklärung 
billig  bezweifeln.  Denn  diese  Künste  wenigstens,  die  sich  mit  dem  Lebenden 
beschäftigen,  möchten  wohl  alle  Ursache  haben,  sich  mit  blofser  Erschei- 
nung des  Lebens  nicht  zu  begnügen. 

Offenbar  ist  es  den  rüstigen  Erweiterern  der  menschlichen  Kenntnisse, 
die  sich  zu  den  gefährlichsten  Experimenten  und  Reisen  willig  hergeben, 
mit  der  freywilligen  Beschränkung  auf  blofse  Erscheinung  eben  so  wenig 
Ernst,  als  die  Fürsorge  für  das  Gedeihen  der  blofs  tiützlichen  Künste  die 
wahre  Triebfeder  ihrer  Arbeiten  ausmacht.  Die  etwas  düstere  Geschichte 
der  Metaphysik  ist's,  was  sie  schreckt;  und  sie  haben  vor  der  Zeit  den 
Muth  verloren,  weil  sie  mit  metaphysischen  Problemen  nicht  umzugehn 
wissen. 

Dieser  üble  Umstand  aber  dürfte  bis  jetzt  noch  auf  die  gesammte 
gelehrte   Kunst  einen  beschränkenden   Einfiufs  ausüben. 


[148]   Elftes  Capitel. 
Von  der  Staatskunst. 

89.  Wir  können  uns  hier  weit  kürzer  fassen,  als  die  Wichtigkeit  des 
Gegenstandes  mag  erwarten  lassen;  da  es  nur  darauf  ankommt,  zwey  sehr 
verschiedene,  anderwärts  geführte  Untersuchungen  in  die  gehörige  Verbin- 
dung zu  setzen.  Selbst  dazu  ist  schon  (im  sechsten  Capitel)  die  Vorberei- 
tung gemacht,  so  wie  hinwiederum  das  Nächstfolgende  dem  Späteren  vor- 
arbeiten wird. 

Wo  auf  Einem  Boden  menschliche  Kräfte  und  Interessen  wider  ein- 
ander wirken,  da  findet  sich  allemal  und  nothwendig  der  vierfache  Unter- 
schied der  Dienenden,  Freycn,  der  Angesehenen,  und  Herrschenden,  in  dem 
oben  angegebenen  Sinne  (50),  sobald  die  Menschen  unter  einander  ins 
Gleichgewicht  ihres  gegenseitigen  Wirkens  getreten  sind.*  Aber  die 
Menschen  wirken  nicht  blofs  wider  einander,  sondern  durch  Sprache,  Um- 
gang, Sitte,  Gewöhnung,  verschmelzen  sie  reihenförmig  mit  einander;  indem 
Jeder  seine  Bekannten  hat,  diese  wiederum  ihre  Bekannten,  die  letztern 
abermals  die  ihrigen  haben,  und  so  fort.  Jede  solche  Reihe,  und  jedes 
Gewebe    von    Reihen    hat    eine    eigenthümliche  Reizbarkeit,*5     welche    der 


*  Psychologie,    in    der  Einleitung    zum    zweyten  Bande,    wo    von    der    Statik    und 
Mechanik  des  Staats  gesprochen  wird.      [Band   VI  vorl.   Ausgabe.] 
**  Ebendaselbst. 


p^  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


besonnene  Staatsmann  wohl  kennt,    und  womit  unnöthige  und  gefährliche 
Experimente  zu  machen  er  sich  wohl   hütet. 

[149]  Dieses  erhält  nähere  Bestimmungen  zunächst  durch  die  Gesell- 
schaften, welche  auf  dem  gegebenen  Boden  der  Staat  nicht  stiftet,  sondern  vor- 
findet, oder  sich  fortwährend  neu  erzeugen  sieht,  alsdann  aber  anerkennt  und 
bekräftigt.  Dahin  gehören  zu  allererst  die  Ehen  und  die  Kirchen  (39.). 
Durch  die  Wohlthat  des  Christenthums  werden  diese  beiden  Arten  der 
Gesellschaft  auch  den  Dienenden  zu  Theil,  welche  an  sich  vereinzelt  stehn 
würden,  o-erade  so,  wie  Vorstellungen  unter  der  Schwelle  des  Bewufst- 
seins.*  Man  denke  an  die  Sklaven  der  Alten.  Es  darf  hier  nicht  ver- 
gessen werden,  dafs  die  Kirchen  sich  nicht  auf  die  Gränzen  eines  Staats 
beschränken,  so  wenig  als  einerley  Kirche  dieselben  ganz  auszufüllen 
pflegt. 

Eine  andre,  von  jenen  weit  verschiedene,  aber  gleichfalls  nicht  von 
Einem  innerhalb  des  Staats  gelegenen  Puncte  aus  gestiftete,  sondern  theil- 
weise  und  allmählig  entstandene  Gesellschaft  ist  die  Rechtsgesellschaft  in 
so  fern,  als  sie  die  Vertheilung  der  Güter  betrifft.  In  der  Regel  nämlich 
ist  jeder  Eigenthümer  als  solcher  anerkannt  von  seinen  Nachbarn,  mögen 
nun  diese  in  einem  engern,  mehr  geschlossenen  Kreise  einer  Stadt,  einem 
Dorfe,  bevsammen  wohnen,  oder  mag  in  einer  nicht  genau  begränzten 
Gegend   der  Eigenthümer  und  sein   Gut  bekannt  seyn. 

So  kann  es  noch  mehrere  Gesellschaften  auf  Einem  Boden  geben. 
Die  Seele  einer  jeden  ist  der  gemeinsame  Wille,  der  ihren  Zweck  vestsetzt. 
Der  Begriff  des  Gemeinwillens  erfordert,  dafs  kein  Einzelner  allein  den 
Zweck  wollen  könnte,  sondern  die  Möglichkeit  seines,  auf  diesen  Zweck 
gerichteten,  Privatwillens  als  bedingt  ansehn  mufs  durch  den  Verein.  Wie 
wenn  Mehrere  zu  einer  Seereise  auf  Einem  Schiffe  verbunden  sind,  wel- 
ches keiner  allein   zu  lenken  sich  auch  nur  einfallen  lassen  könnte. 

Aus  einem  solchen  Gemeinwillen  folgen  die  Formen  von  selbst.  Es  ist 
ungereimt,  die  Form  einer  Gesellschaft  als  willkührlich  anzusehn ;  denn  wer 
den  Zweck  [150]  will,  der  will  auch  die  sichersten  und  bequemsten  Mittel,  so- 
fern  dieselben  übrigens  tadelfrey  sind. 

Ferner  beruht  das  Recht  innerhalb  einer  jeden  Gesellschaft  auf  der 
Uebereinkunft  eines  Jeden  mit  Allen,  ohne  dafs  darum  der  Vertrag  als 
willkührlich  anzusehn  wäre.  Die  Kirche  ist  Bedürfnifs;  Streit  wegen  der 
Güter  soll  nicht  seyn,   u.   s.    f. 

90.  Für  die  gesammte  Geselligkeit  auf  einem  gegebenen  Boden  giebt 
es  nun  zwar  eine  wichtige,  wenn  auch  in  einzelnen  Puncten  mangelhafte, 
Bürgschaft  durch  die  in  jedem  bestimmten  Zeitpuncte  abgelaufene  Ge- 
schichte. Denn  damit  hängen  Sitten,  und  besonders  Erinnerungen  zu- 
sammen, die  sich  weder  schaffen  noch  umschaffen  lassen,  und  die  weit 
stärker  wirken,  als  ein  wörtlicher  Vertrag  zu  wirken  pflegt.  Allein  bey  der 
grofsen  Veränderlichkeit  der  Menschen  bedarf  dennoch  jede  Gesellschaft, 
so   wie  jeder  Einzelne,   eines  Schutzes  durch   Macht. 

Nun    kann    auf  Einem    Boden    nur  Eine    Macht    sich    thätig    äufsem. 


*   Psy<  Ixilogie  I.  §.  57. 


I .   Abschnitt.      Elementarlehre.      1 1 .   Capitel.     Von   der  Staatskunst.  127 


Mehrere  würden  sich  stören,  anfeinden,  mindestens  einander  das  Vertrauen 
schmälern. 

Der  Herrschende,  welcher  nicht  fehlen  wird,  wenn  das  Gleichgewicht 
der  Kräfte  eingetreten  war,  mufs  also  von  allen  Seiten  des  Schutzes  wegen 
angerufen  werden. 

Hiemit  besteht  der  Staat,  dessen  Zweck  durch  die  mancherley  ge- 
selligen Kreise,  die  er  vorfindet,  gegeben  ist;  obgleich  wegen  der  Frage: 
ob  alle  diese  Gesellungen  zugleich  geschützt  werden  können?  ob  sie  sich 
in  Ein  System  verbinden  lassen?  noch  manche  Modificationen  nöthig 
werden  mögen. 

91.  Um  nun  die  Gefahr  leerer  Abstractionen  zu  beseitigen:  denke 
man  in  den  Staat  die  gesammten  nützlichen,  schönen  und  gelehrten  Künste 
hinein,  mit  allem  Verkehr,  den  sie  in  Bewegung  setzen.  So  wird  sich 
finden,  dafs  im  Kreise  der  Freyen  die  Wurzeln  der  Geselligkeit  liegen, 
an  welcher  die  Dienenden  nur  in  so  fern,  als  es  ihnen  erlaubt  wird,  —  das 
[151]  heifst  meistens,  in  sofern  man  sie  zur  Arbeit  brauchbar  findet,  einen 
Antheil  bekommen.  Die  Angesehenen  dagegen  haben  ursprünglich  am 
wenigsten  geselligen  Geist.  Das  Ansehn  isolirt  die  Person;  denn  sie 
gilt  schon  etwas  für  sich  allein,  sie  braucht  sich  nicht  anzuschliefsen. 
Zwischen  einem  Angesehenen  und  dem  andern  spannt  sich  eine  Feder; 
denn  jeder  behauptet  dem  Andern  gegenüber  seinen  Platz.  Daher  unter 
Gebildeten  die  sorgfältige  Beobachtung  der  Höflichkeit,  welche  den  Ver- 
dacht abwenden  soll,  man  könnte  einander  zu  nahe  treten.  Daher  die 
mancherley  sichtbaren  Abstufungen  des  Ranges,  wodurch  der  Grad  des 
zugestandenen  Ansehns  abgemessen  wird.  Derjenigen  Geselligkeit  aber, 
welche  unter  den  Freyen  vorhanden  ist,  streben  die  Angesehenen  eine  Form 
zu  geben,  die  ihnen  vortheilhaft  ist,  welches  ihnen  nach  Verschiedenheit 
der  Umstände  mehr  oder  weniger  gelingt. 

Weit  weniger  Willkühr  bleibt  dem  Herrscher.  Er  fügt  nothwendig 
zu  den  vorhandenen  Formen  der  Gesellschaft  eine  neue  hinzu;  denn  ihn 
zunächst  trifft  die  Geiahr  des  Angriffs  äufserer  Feinde;  besonders  jetzt, 
da  zu  den  üblichen  Künsten  und  Kniffen  des  Angriffs  auch  diejenige  ge- 
rechnet wird,  den  Unterthanen  zu  erklären,  man  führe  den  Krieg  nicht 
gegen  sie,  sondern  nur  gegen  den  Herrn;  welchen  sie  nur  zu  wechseln 
brauchten,  um  glücklicher  zu  seyn  als  zuvor.  Die  nothwendige  Wachsam- 
keit des  Herrn  treibt  ihn  demnach,  dem  Ganzen  der  Gesellschaft  soviel 
Kriegsmacht  abzugewinnen  als  nur  möglich,  oder  wenigstens  als  irgend 
zweckmäfsig  erscheint. 

Auiserdem  ist  eine  natürliche  Spannung  vorhanden  zwischen  dem 
Herrn  und  den  Angesehensten  neben  ihm,  die  nur  dann  unmerklich 
werden  kann,  wenn  er  sich  durch  jede  Art  des  Uebergewichts  vor  ihnen 
sicher  weifs.  Im  Gegenfalle  sind  die  freyen  Bürger  seine  natürlichen 
Bundesgenossen.  Der  Wirkung  dieses  Verhältnisses  aber  können  die  An- 
gesehenen sich  sehr  leicht  entziehen,  wenn  sie,  deren  Bewegung  über- 
haupt die  ungebundenste  ist,  sich  als  Wächter  aller  Rangstufen,  mithin 
auch  als   Stützen   des   Throns,   darstellen. 

[152]  92.  Von  den  Umständen,  welche  das  Gesagte  bis  zur  Un- 
kenntlichkeit  abändern    können    (wie    wenn    der    Herrscher    fällt,    und    die 


I2g  II.    Kurze   Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


Angesehenen  seinen  Platz  nicht  wieder  besetzen  wollen;  oder  wenn  Colonien 
aus  schon  gebildeten  Ländern  an  Gesetzen  und  Sitten  hinreichende  Stützen 
der  Ordnung  zu  besitzen  glauben;  oder  wenn  der  Boden  so  weiten  Raum 
darbietet,  dafs  die  Reibung  der  Menschen  nicht  heftig  werden  kann;  oder 
endlich  wenn  ein  starkes  gemeinsames  Interesse,  etwa  des  Handels,  oder 
äufserer  Gefahr,  die  Verbindung  weit  mächtiger  werden  läfst,  als  die  Reibung): 
von  allen  solchen  Umständen  ist  hier  nicht  der  Ort  zu  reden.  Dagegen  mufs 
bemerkt  werden,  dafs,  wie  vollständig  auch  die  natürliche  Gestaltung  des 
Staats  verwirklicht  und  erhalten  seyn  mag,  sie  doch  niemals  das  reine 
Resultat  der  eben  jetzt  lebendigen  Kräfte  seyn  kann,  sondern  allemal  ein 
Residuum  früheren  Erwerbs,  früheren  Ansehns,  früherer  Meinungen,  Sitten 
und  Formen  mit  in  sich  schliefst.  Das  alte  macht  sich  zugleich  ehrwürdig 
und  unentbehrlich,  und  bevor  es  den  dringensten  Verbesserungen  im 
Einzelnen  unterworfen  wird,  hat  schon  Anderes,  das  einst  neu  hiefs, 
den  Rost  der  Jahre  erlangt;  so  dafs  niemals  die  Zeit  kommt,  wo  das 
Ganze  des  Staats  neu  wäre,  und  den  gegenwärtigen  Antrieben  vollkommen 
entspräche. 

Hier  wird  Jedem  einfallen,  dafs  nicht  immer  die  nächste  Vergangen- 
heit zur  Stütze  der  Gegenwart  taugt,  sondern  dafs  es  auch  Perioden  der 
Erschütterung  giebt,  welche  den  Staat  aus  den  Fugen  bringen,  und  ihn 
in  eine  Lage  setzen,  worin  er  nicht  bleiben  kann. 

93.  Dem  gemäfs  zerfällt  die  Staatskunst  in  die  wiederherstellende, 
erhaltende  und   verbessernde. 

Die  wiederherstellende  erfordert  einen  richtigen  Blick  für  dasjenige 
Gleichgewicht,  worin  die  Kräfte  werden  Ruhe  finden  können.  Ihre  erste 
Bedingung  ist,  dafs  die  Gegenwirkung  der  Menschen  unter  einander  in 
die  Gränzen  des  Unvermeidlichen  zurücktrete;  dafs  die  aufgeregten  Ge- 
müther sich  besänftigen,  indem  die  Bestrebungen  auf  die  wahren  Bedürf- 
nisse zu[i53]rückgewiesen  und  diese  befriedigt  werden.  Alsdann  folgt  die 
zweite  Bedingung,  alle  Verbindungen  dergestalt  enger  zu  knüpfen,  dafs 
daraus  keine  überwiegenden  neuen  Spaltungen  hervorgehn.  Endlich  mufs 
einzelnen  Unruhstiftern  Einhalt  gethan  werden. 

Dabey  entsteht  allemal  die  Frage,  was,  und  wieviel  wiederhergestellt 
werden  könne.  Hat  das  System  der  Kräfte  in  der  Gesellschaft  sich  gegen 
eine  frühere  Zeit  wesentlich  verändert;  ist  das  Verhältnifs  der  Dienenden, 
der  Freyen,  und  der  Angesehenen  nicht  mehr  das  nämliche  wie  in  einer 
frühern  Zeit:  so  hilft  kein  eigensinniges  Zurückrufen  der  alten  Formen. 
Und  selbst  das  oft  gebrauchte  Mittel,  dem  Gemeingeiste  neue  Gegenstände 
zu  zeigen,  um  ihm  neue  Richtungen  abzugewinnen,  (etwa  durch  aus- 
wärtige Kriege,)  ist  nur  ein  Palliativmittel.  Dals  ein  Staat,  wie  der  alte 
römische,  oder  auch  Frankreich  unter  Napoleon,  vermöge  beständiger  Ge- 
fahren und  Siege  eine  künstliche  Dauer  erlangt,  ist  Täuschung  über  die 
inneren  Gebrechen. 

Bevor  von  der  erhaltenden  und  verbessernden  Staatskunst  gesprochen 
wird,   mufs  an  die   praktischen  Ideen  erinnert  werden. 

94.  Bekanntlich  pflegt  auf  die  Idee  des  Rechts  allein,  oder  doch 
vorzugsweise,  die  Staatslehre  gegründet  zu  werden;  ein  grofser  Fehler  für 
Theorie    und     Praxis    zugleich.       Denn    erstlich    ist    das    Grundverhältnifs 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      II.   Capitel.     Von   der  Staatskunst.  I2Q 


zwischen  Dienenden,  Freyen,  Angesehenen  und  Herrschenden,  sammt  den 
Bewegungen  und  Verbindungen  des  Verkehrs,  überall  gar  kein  Ausflufs 
irgend  einer  Idee,  sondern  das  Werk  einer  psychologisch  zu  erörternden 
Nothwendigkeit.  Zweytens  haben  zwar  allerdings  die  praktischen  Ideen, 
in  so  weit  sie  in  den  Gemüthern  lebendig  werden,  ebenfalls  eine  sehr 
grofse  Gewalt  in  der  wirklichen  Welt;  aber  einestheils  ist  diese  wirkliche 
Macht  nach  dem  Zeitgeiste  veränderlich,  (nicht  weil  die  Ideen,  sondern 
weil  die  Menschen  sich  ändern,)  anderntheils  gewinnt  nicht  blofs  die 
Rechts-Idee  eine  Gewalt,  sondern  alle  Ideen  werden  bey  [154]  wachsender 
Bildung  mächtiger.  Das  Christenthum  hat  der  Idee  des  Wohlwollens 
grofsen  Einflufs  geschafft;  die  Idee  der  Vollkommenheit  macht  sich  Bahn 
durch  Kriegsruhm  und  durch  die  Künste;  die  Idee  der  innern  Freyheit 
regt  sich  mit  der  Vaterlandsliebe,  und  verräth  sich  durch  alle  die  lobenden 
und  tadelnden  Zeugnisse,  welche  eine  Nation  sich  selbst  giebt,  indem  sie 
sich  als  Ein  Ganzes,  als  eine  moralische  Person  betrachtet  und  beurtheilt. 
Dafs  hieraus  die  abgeleiteten  Ideen  des  Verwaltungs-Systems,  des  Cultur- 
Systems  und  der  beseelten  Gesellschaft  entspringen,  ist  schon  oben  er- 
wähnt (52.),  in  der  praktischen  Philosophie  aber  ausführlich  und  genau1 
auseinander  gesetzt  worden. 

Ebendaselbst  ist  eine  Untersuchung  über  die  natürliche  Haltbarkeit 
der  von  den  Ideen  geforderten  gesellschaftlichen  Systeme,  falls  dieselben 
in  die  Wirklichkeit  eintreten,  geführt  worden.*  Es  hat  sich  daraus  er- 
geben, dafs  die  Rechtsgesellschaft,  nebst  dem  mit  ihr  verbundenen  Theile 
des  Lohnsystems,  durch  sich  selbst  am  beständigsten,  das  Verwaltungs- 
system am  wandelbarsten,  das  Cultursystem  theil weise  kräftig,  aber  andern- 
theils grofsen  Fehlern  unterworfen,  die  beseelte  Gesellschaft  hingegen 
unter  günstigen  Umständen  fähig  ist,  einen  erhabenen  Schwung  zu  nehmen, 
wodurch  sie  jenen  Systemen  allen  zugleich  Leben  und  Stärke  giebt.  ^Am 
angeführten  Orte  nun  mufs  diese  Untersuchung  nachgesehn  werden;  die 
Folgen  daraus  lassen  sich   hier  nur  kurz  andeuten. 

95.  Von  der  erhaltenden  Staatskunst  versteht  sich  zuvörderst  von 
selbst,  dafs  sie  keinen  Schritt  thun  darf,  ohne  die  nach  psychologischen 
Gründen  vorhandene  Nothwendigkeit  des  Gleichgewichts  und  der  Be- 
wegung in  der  Gesellschaft  zu  berücksichtigen.  Hieher  gehört  gerade 
Alles  das,  was  einsichtsvolle  Staatsmänner  ohne  Theorie,  aus  blofsem 
praktischen  Blick,  der,  wie  sie  meinen,  sich  nicht  lehren  und  lernen  läfst, 
wirklich  thun;  hier  gehen  sie  der  wahren  Psychologie  [155]  voran,  so  wie 
oftmals  die  Kunst  der  Wissenschaft  voraneilt,  ohne  sich  von  ihrem  Thun 
eigentlich  Rechenschaft  geben  zu  können.  Wo  solcher  richtiger  Tact  nicht 
vorhanden  ist,  da  werden  oft  der  Gesellschaft  gewaltsam  die  Glieder  aus- 
gerenkt,   wenn    schon    in    der  besten  Absicht;    oft  auch  bleibt    die  Gesell- 


1  „ausführlich    und    genau"    fehlen   in   der  II.  Ausgabe,  a 

*  Praktische  Philosophie,  im  sechsten  Capitel  des  zweyten  Buchs.  [Band  II  vorl.  Ausg.] 

2  Die  folgenden  Worte:   „Am  angeführten  Orte   ....   nachgesehn  werden" 
fehlen  in  der  II.  Ausg.b 

a  u.  b  SW  drucken   nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 
Herbart's  Werke.     IX.  9 


tiq  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

schaff,  wie  ein  Schiff  ohne  Steuermann,   dem  guten  oder  schlechten  Wetter 
überlassen. 

Aber  die  erhaltende  Staatskunst  soll  nicht  blofs  der  Noth  dienen,  sie  soll 
auch    das  vorhandene   Gute  erkennen    und  schützen.      Hat  sie   nun  schon 
einige   Mühe,    den    rechtlichen   Zustand    durch    die  Justiz    und   Polizey   un- 
beschädigt   zu    erhalten:    so  findet    sie    noch    weit   mehr  Schwierigkeit    bey 
allen    wohlthätigen    Einrichtungen,    die    zum    Verwaltungssystem    gehören. 
Denn    hier    sollte    ihr  das    allgemein    verbreitete  Wohlwollen    als  National- 
Gesinnung    entgegenkommen.       Theils    aber    fehlt    die    Gesinnung    selbst, 
trotz  allen   Ermahnungen  der  Kirche;   theils  auch  mangelt  die  Erkenntnifs, 
wie,  und   mit  welcher  Zuverlässigkeit  die  Opfer,   welche  dem   Einzelnen  für 
das   allgemeine  Wohl  zugemuthet  werden,  zu  diesem   Ziele  treffen  werden. 
Ferner    wird    es    der   Staatskunst    zwar    im    Gänzen   leicht,    die   nützlichen, 
schönen    und    gelehrten    Strebungen    und    Künste    zu    fördern,    in    so    fern 
sich    diese  Künste    mehr    und    mehr    ausbreiten,    spalten,    und    vereinzeln; 
allein    dabey   pflegt   die  Einheit,  worin   alle   diese  Strebungen  sich  gegen- 
seitig unterstützen  sollten,  zu  leiden;  und  es  ist  schwer,  das  System  derselben 
gegen    die    schädlichen  Folgen    der  Eifersucht    zu  beschützen.      Dahin    ge- 
hört   die  ganze   Frivolität    des  Zeitgeistes;    das  ganze  Streben    nach   eitlem 
Glänze,   worin   es  Einer  dem  Andern  zuvorthun  will;   das  athemlose  Treiben, 
Drängen,   Rennen  des  zügellosen  Luxus,   was  einer  verkehrten  Staatswirth- 
schaft    wohl    gar   willkommen    zu    seyn    pflegt,    während    der  Moralist   ver- 
gebens  dagegen   eifert.     Endlich  hat  gerade   deshalb  die  Staatskunst  Mühe, 
der  Nation  den  richtigen  Tact  des   Ehrgefühls  zu  erhalten;    während   eine 
böse  Politik    es    leichter    dahin    bringt,    die   Nation   durch   Phantome  eines 
falschen    (oft   kaufmännischen    oder    militärischen)    Ehrgeizes    zu    verführen. 
[156]    Umgekehrt:   wenn  einmal  achtes  Selbstgefühl   im   Gemeingeist  eines 
Volkes  lebendig  ist,    dann  mufs  die   erhaltende  Staatskunst  diesen  gröfsten 
aller  Schätze    vor    allem   Andern  hüten;    dadurch   kann,    was    irgend   einen 
Werth  hat,  gewonnen  werden. 

96.  Ganz  ähnliche  Grundsätze  gelten  nun  auch  für  die  verbessernde 
Staatskunst.  Aber  hier  ist,  wo  möglich,  der  vorige  Unterschied  noch 
wichtiger,   um   zu  wissen,   was  man  wolle. 

Veränderungen  können  nothwendig  werden,  ohne  Verbesserungen  zu 
seyn.  Denn  zu  allererst  kommt  hier  wiederum  jene  psychologische  Noth- 
wendigkeit  in  Betracht.  Jeder  Staatsmann  weifs,  dafs  nicht  Ein  Staat  sich 
so  regieren  läfst  wie  der  andre.  Wie  nun,  wenn  der  eigne  ein  andrer 
wird?  Wenn  die  alten  Formen  nicht  mehr  passen  wollen,  so  mufs  man 
sie  zeitgemäfs  abändern.  Dieses  Müssen  ist  ganz  verschieden  von  dem 
Wunsche,  das  Bestehende  zu  veredeln.  Der  kluge  Staatsmann  wird  oft 
den  Umständen  nachgeben,  auch  wenn  er  weifs,  das  Neue  sey  nicht  das 
Bessere.  Wenn  nun  die  Menge  sich,  wie  so  oft  geschieht,  an  dem  Neuen 
ergötzt,  so  ist  das  eine  leidige  Täuschung,  die  wenigstens  nicht  in  die 
bleibenden  moralischen  Maximen  darf  aufgenommen  werden.  Eine  Anleihe, 
die  gemacht  wird,  mit  der  Absicht,  die  Schuld  dereinst,  wo  möglich,  zu 
tilgen,   darf  ohne  Zweifel   nicht  mit  reinem   Gewinn   verwechselt  werden. 

Unter   den  Gegenständen,    worauf  die  wahre  Verbesserung   kann  ge- 
richtet   seyn,    mögen    drey    Puncte    als    die    wichtigsten    hervortreten:    die 


r.  Abschnitt.     hlementarlehre.      II.  Capitel.     Von  der  Staatskunst.  r?i 

Vertheilung    der    Güter,   die    Ausbreitung    der    Einsichten,    und    die    Bürg- 
schaft gegen   Mögliche   Mifsbräuche. 

97.  Die  Vertheilung  der  Güter  ist  zwar  überall  rechtlich  bestimmt; 
auch  ist  alles  wirkliche  Recht  seiner  wahren  Natur  nach  positiv,  d.  h. 
durch  Uebereinkunft  wirklicher  Willen  vestgesetzt,  und  die  Idee  des  Rechts 
thut  dabey  nichts  Anderes,  als  der  Uebereinkunft,  im  Gegensatze  des 
Streits,  einen  Werth  bevlegen.  J  Alle  vorgeblich  angebornen  Rechte  sind 
Begriffe  ohne  wissenschaftliche  Genauigkeit,  deren  Fehler  in  vielen  Fäl-[i57] 
len  zwar  als  unbedeutend  kann  vernachlässigt  werden,  (wie  die  Mathe- 
matiker sich  ausdrücken,)  in  andern  Fällen  aber  zu  einer  enormen  Gröfse 
anwächst.  Hierüber  mufs2  die  praktische  Philosophie  nachgesehn  werden. 
—  Allein  ebendaselbst  zeigt  sich  auch,  dafs  sämmtliche  Rechte  als  Rechte 
nur  in  so  fern  einen  Werth  haben,  wiefern  sie  die  Gesinnung  des  Streits 
auslöschen.  Daher  bekommt  das  Recht  sehr  verschiedene  Werthe.  Oft 
bleibt  die  Gefahr  des  Streits,  vermöge  ursprünglicher  und  nicht  abzu- 
weisender Naturgefühle  und  Bedürfnisse.  Daraus  entstehen  Präsumtionen 
dessen,  was  Recht  sevn  solle,  d.  h.  wie  die  Uebereinkunft  geschlossen 
werden  müsse,  um  dem  Rechte  den  gröfsten  möglichen  Werth  zu  geben. 
Diese  Präsumtionen  sind  nach  den  Umständen  mehr  oder  weniger  sicher  und 
bestimmt.  Die  Beweglichkeit  der  Rechtsverhältnisse  hängt  bey  Lebenden 
vom  guten  Willen  der  Berechtigten  ab,  den  man  suchen  mufs  zu  gewinnen. 
Verstorbene  und  noch  Ungeborne  dagegen  haben  genau  genommen  gar  keine 
Rechte;  wenn  aber  die  Gesellschaft  ihnen  durch  eine  Fiction  dergleichen 
beylegt,  so  geschieht  dies  allemal  aus  Rücksicht  auf  die  jetzt  Lebenden; 
welches  Jetzt  die  Vorsicht  freylich  auch  in  die   Zukunft  hinausschiebt. 

Aufserdem  dafs  der  Werth  des  Rechts  schon  nach  der  Rechts -Idee 
steigt  und  fällt,  je  nachdem  es  mehr  oder  weniger  die  Gesinnung  des 
Streits  entfernt:  finden  sich  grofse  Unterschiede  in  dem  Werthe  der  Güter- 
vertheilung  nach  den  Ideen  des  Wohlwollens  und  der  Vollkommenheit. 
Das  heifst:  Gemeinwohl  und  Cultur  gedeihen  mehr  oder  weniger  bey 
solcher  oder  bey  anderer  Lage  der  mehr  und  minder  Berechtigten.  So  wenig 
nun  die  wahre  Staatskunst  dem  fehlerhaften  Rechte  Gewalt  entgegensetzen 
wird,  so  nothwendig  mufs  sie  alle  Gelegenheiten  benutzen,  um  seiner 
Dauer  Schranken  zu  setzen,  und  den  Motiven,  durch  die  es  vestgehalten 
wird,   andre   bessere   Motive   entgegenwirken  zu  lassen. 

98.  Die  Ausbreitung  der  Einsichten  ist  aus  verschiedenen  Gründen, 
und   ihnen  gemäfs  in  verschiedenen   Graden,   nothwendig. 

[158]    1.    Schon  beym  Criminal- Rechte   finden   sich  zwey   Gründe. 

a)  Der  Verbrecher  mufs  nicht  blofs  wissen,  wieviel  Strafe  er  ver- 
dient hat,  sondern  auch  einräumen,  dafs  er  von  seiner  Obrigkeit 
die  Vollziehung   derselben    zu   erwarten   hatte.      Er  mufste    sich  sagen : 3 


2  „mag"    statt  „mufs"    in  der  II.  Ausgabe.  * 

3  „fragen"    statt  „sagen"   in  der  II.  Ausg.b 


1  einen  "Werth   beizulegen   SW, 

a   SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.   ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  anzumerken, 
b  SW  folgen  hier  der  I.  Ausgabe  ohne  die  Abweichung  (Druckfehler)  der  IL  Ausg. 
anzumerken. 


j?2  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

Strafe  erhebe  keinen  Streit.  Sonst  verfährt  gegen  ihn  der  Staat  wie 
gegen  ein  wildes  Thier.  Hiezu  gehört  aber  soviel  Erziehung,  dafs  der 
Verbrecher  von  Jugend  auf  die  Nothwendigkeit  der  Strafgewalt  ein- 
gesehn,  und  sie  in  Beziehung  auf  seine  eigne  Sicherheit  gewollt 
habe.  * 

b)  Es  giebt  eine  Menge  von  Verschuldungen,  die  erst  in  Folge  der 
Gesetze  strafbar  werden;  die  Gesetze  nun  müssen  bekannt  und  ver- 
standen seyn.** 

2.  Einen  weit  höhern  Grad  von  Einsicht  erfordert  das  Verwaltungs- 
svstem.  Dies  verstöfst  gegen  bestehende  Rechte,  wenn  ihm  nicht  all- 
gemeines Wohlwollen  entgegenkommt.  Aber  sehr  oft  ist  das  Wohlwollen 
vorhanden;  nur  kommt  es  dennoch  nicht  entgegen,  weil  die  Einsicht  in 
den  Zusammenhang  der  Staats -Einrichtungen  fehlt.  Aufgelegte  Steuern 
betrachtet  Derjenige  als  Tyranney,  der  entweder  Verdacht  schöpft, 
ob  sie  auch  in  die  Staats -Casse  gelangen,  oder  gar  nicht  begreift,  dafs 
eine  gehörige  Staats-Einrichtung  Geld  kostet,  und  dals  ein  hereinbrechender 
Feind  mit  weit  höherer  Zahlung  würde  besänftigt  werden  müssen.  Daher  ist 
die  gröfste  mögliche  Oeffentlichkeit  der  Staats-Verwaltung  immer  wünschens- 
werth;  aber  .sie  mufs,  um  nicht  unverstanden  zu  bleiben,  mit  gehöriger 
Unterweisung  verbunden  werden. 

3.  Noch  mehr  Einsicht  verlangt  das  Cultursystem.  Diesem  liegt  vor 
Allem  an  Sprachkenntnifs;  sonst  fehlt  die  Mittheilung.  Aber  auch  das 
Ineinandergreifen  der  Künste  [159]  und  Wissenschaften  mufs  Jedem  in 
allgemeinen  Umrissen  vor  Augen  liegen.***  Dafs  der  praktische  Mensch 
kein  beschränkter  Mensch  seyn  dürfe,  wird  schon  längst  genug  ins  Licht 
getreten  seyn,  wenn  es  anders  je  bezweifelt  werden  könnte. 

99.  Bürgschaft  gegen  mögliche  Misbräuche  —  Verantwortlichkeit 
bis  zu  den  höchsten  Puncten  der  Verwaltung  —  ist  das  Thema  des 
Tages.  Bürgschaft  aber  setzt  Mistrauen  voraus;  Mistrauen  entsteht  aus 
Erfahrung.  Wo  die  Erfahrung  fehlt,  da  möchte  es  wohl  eine  überspannte 
Klugheit  seyn,  wenn  man  das  Mistrauen  voranschicken  wollte.  Die  Furcht 
könnte  das  Uebel  erzeugen. 

Wogegen  will  man  Bürgschaft?  Gegen  Versehen  und  Absichten.  Wo- 
durch will  man  sie  erreichen?  Durch  Gesetze,  Güter,  und  Personen. 

Der  Versehen  giebt  es  manche,  die  an  sich  leicht  zu  entdecken, 
doch  einer  sehr  getheilten  und  rasch  forteilenden  Aufmerksamkeit  ent- 
schlüpfen, so  dafs  es  oft  sogar  besser  ist,  auf  Verbesserung  zu  rechnen, 
als  durch  Aengstlichkeit  ein  Geschäftt  zu  verzögern.  In  Druckereyen 
übernimmt  der  Corrector  die  Bürgschaft  wegen  der  Fehler  des  Setzers; 
und  es  wäre  lächerlich,  einen  ersten  fehlerfreyen  Satz  zu  fordern.  So 
auch  die  Rechnungs- Revisoren.  Mit  Werken  des  Genies  verhält  sich's 
gerade  umgekehrt.  Hat  ein  Dichterwerk  bey  grofsen  Schönheiten  Fehler 
in  der  Anlage:  so  hilft  keine  Kritik.  Denn  in  der  Kritik  liegt  nicht  die 
umschaffende  Kunst,  welche  nach  Beseitigung  des  Fehlers  das  Werk  noch 
einmal  machen  müfste.     Fehler  der  Gerichtshöfe  dagegen  lassen  sich  ver- 


*  Praktische  Philosophie,  im  neunten  Capitel  des  ersten  Buchs.    [Bd.  II  vorl.  Ausg.] 
**  Ebendaselbst. 
***  Ebendaselbst,  im  zehnten  und  elften  Capitel. 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      II.   Capitel.     Von   der  Staatskunst.  j -2  ■? 

bessern  durch  höhere  Instanzen;  nur  die  verlorne  Zeit  kann  man  den 
Partheyen  nicht  zurückgeben.  Fehler  des  Feldherrn  sind  schwerlich  je- 
mals zu  verbessern;  wenn  nicht  günstige  Momente  wiederkehren.  Und 
Fehler  des  Staatsmanns?  —  Bekanntlich  steht  er  je  höher  desto  gefähr- 
licher. Kein  Wunder,  wenn  die  höchste  [160]  Person  es  vorzieht,  die 
Leitung  ganzer  Geschäfftszweige  Andern  zu  übergeben,  und  sich  selbst  die 
Revision  vorzubehalten;  natürlich  unter  beständiger  Beobachtung  der  Er- 
folge. Bey  aller  Kritik  aber  kommt  in  Frage,  wiefern  sie  selbst  dem  Irr- 
thum  unterworfen  sey.  Doch  pflegt  es  meistens  leichter  zu  seyn,  Fehler 
zu  entdecken,  als  zu  verbessern;  und  dann  ist  die  Entdeckung  wenigstens 
der  erste  Schritt,  um  die   Verbesserung  vorzubereiten. 

Nicht  aufser  Acht  zu  lassen  ist:  dafs  häufige  und  ungestüme  Kritik 
jedes  gröfsere  Werk  stört.  Was  wird  aus  einem  Künstler,  der  sich  viel 
um  Krittler  bekümmert?  Die  Vertheidiger  einer  ganz  ungezügelten  Presse 
hätten  Ursach,  das  zu  bedenken!  Wollen  sie  etwa,  dafs  gar  keine  Kritik 
Gehör  finde? 

Noch  schlimmer  steht  es  um  Bürgschaft  gegen  Absichten.  Denn 
Mistrauen  leitet  zur  Verstellung;  Drohung  reizt  zu  offener  Gewalt.  Und 
der  höchsten  Macht  will  man  eine  noch  höhere  entgegenstellen?  Gesetzt, 
das  sey  ausführbar:  so  ist  nichts  unglücklicher,  als  wenn  diese  höhere 
Macht  sich  gewöhnt,  handelnd  aufzutreten.  Wer  bürgt  nun  gegen  ihre 
Misbräuche?  —  Hier  bürgt  Nichts,  als  richtiges  Ehrgefühl.  1  Wo  die 
Stimme  der  Ehre  vernommen  wird  —  und  wo  sie  sich  vernehmlich,  das 
heifst,  mit  Anstand  und  Würde  ausspricht,  da  ist  Sicherheit,  und  sonst 
nirgends. 

Man  mag  hier  nochmals  auf  die  Freyheit  der  Presse  zurückschauen. 
Unsre  literarische  Welt  hat  sie  für  gelehrte  Angelegenheiten;  was  hilft's? 
Die  Namen  der  Recensenten  werden  gefordert;  was  ist  die  Folge?  Ver- 
mehrte Dreistigkeit!  So  lange  nicht  ein  Mittelpunct  der  Ehre  sich  bildet, 
vor  welchem  die  Kritik  selbst  Respect  hat,  wird  sie  nicht2  sicherer. 

ioo.  Gesetze  sollen  Bürgschaft  leisten  gegen  Willkühr.  Aber  sie 
selbst,  wodurch  erlangen  sie  Bestand,  um  nicht  vergessen,  nicht  umgangen 
zu  werden?  Personen  als  Wächter  müssen  dabev  stehn.  Güter,  die  man 
fürchtet  zu  verlieren,  müssen  Caution  machen.  Woher  die  Personen? 
Soll  das  Interesse  sie  treiben?  So  haben  sie  einen  Preis,  und  können 
[161]  bestochen  werden.  Und  die  Güter?  Oft  ist's  vortheilhaft,  sie  zu 
verlieren,   und  mit  Zinsen  wieder  zu  gewinnen.    Inventa  lege,  inventa  fraiis. 

Was  ist  das  Resultat?  Dies,  dafs  sich  das  Mistrauen  ewig  in  ver- 
geblichen Kreisen  drehen  wird,  wenn  nicht  irgendwo  ein  vester  Punct  für 
das  Vertrauen  gefunden  wird.  Einer  verdorbenen  Nation  ist  gar  nicht  zu 
helfen;  für  sie  sind  alle  Verfassungs-Künsteleyen  umsonst.  Eine  edle 
Nation,  falls  sie  das  Glück  hat,  eine  edle  Regierung  zu  besitzen,  richte 
geradezu  auf  diese  ihr  Vertrauen,  und  blicke  dankbar  gen  Himmel !  Sie 
hüte  sich,   zu  künsteln! 

Dazwischen  liegt  nun   freylich  Vielerley  mitten  inne,  auch   bleiben  im 

1   als  ein  richtiges  Ehrgefühl  SW. 
-  „nie"  statt  „nicht"  SW. 


j -3  i  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

besten  Falle  entfernte  Möglichkeiten  zu  fürchten.  Man  setzt  demnach 
seine  Hoffnung  auf  Wahlen.  Wenn  nur  nicht  das  Wählen  den  Geist  der 
Willkühr  beförderte!  Gegen  Willkühr  verlangte  man  Sicherheit.  Aber  die 
Gefahr  wird  wachsen,  wenn  die  Einbildung,  der  Staat  beruhe  auf  beliebigen 
Meinungen,  auf  irgend  welcher  Gunst,  ja  selbst  auf  irgend  welcher  Majorität 
des  willkühr] ichen  Beliebens,  sich  in  einem  gröfsern  Umfange  ausbreitet. 
Pflichtgefühl,  Aufmerksamkeit  für  Gründe,  Anerkennung  des  Nothwendigen, 
des  Rechten,  des  Guten,  des  Schönen,  des  Nützlichen,  —  keine  andern 
Anker  wird  die  Staatskunst  jemals  finden.  Vollkommene  Sicherheit  giebt 
es  gar  nicht.  Die  stärkste  mögliche  Sicherung  gegen  grofses  Unheil  liegt 
in  der  sittlichen  Bildung  der  gesammten  Nation.  Aber  eigentliches  Glück 
schafft  nur  eine  mächtige  und  wohlwollende  Regierung.  Am  besten  ein 
edler  Könis;.  —  Die  Staatskunst  hat  man  schon  in  alter  Zeit  auf  eine 
andre,  unscheinbare  Kunst  verwiesen.  Darum  ist  schon  Platons  Werk 
über  den  Staat  zugleich  eine  Pädagogik.  Aber  wir  werden  zeigen  müssen, 
dafs  die  Staatskunst  selbst  mit  der  Erziehungskunst  sich  im   Kreise  dreht. 

Alle  Untersuchung  dieser  Art  kann  nur  dazu  dienen,  den  höchsten 
sittlichen  Ernst  zu  empfehlen.  Von  ihm  mufs  die  Begeisterung  ausgehn  für 
Wissenschaft  und  That.  Und  kann  er  [162]  nirgends  einen  vesten  Ruhe- 
punct  erschauen:  so  bleibt  ihm  zur  letzten  Stütze  nur  die  Religion.  Zu 
ihr  wenden  sich  endlich  alle  Sorgen.  Wie  viele  edle  Staatsmänner  mögen 
das  schon  in  der  tiefsten  Brust  empfunden  haben,  wenn  sie  scheiden 
mufsten  von  dem  Werke  ihres  Lebens,  das  sie  noth wendig  unvollendet, 
ohne  Sicherheit  für  die  Zukunft  verliefsen!  Schwerlich  sind  solche,  die 
recht  laut  rufen  nach  Bürgschaft,  gerade  die  nämlichen,  welche  das  un- 
befriedigte Bedürfnifs  derselben  am  schmerzlichsten  fühlen.  Wohl  Mancher 
arbeitet  bis  zur  Erschöpfung  für  Staat  und  Kunst  und  Wissenschaft,  der 
nicht  erst  nöthi<r  hat,  sich  einen  Sünder  nennen  zu  hören,  um  sehnsuchts- 
voll  über  das  Irdische  zu  der  Vorsehung  hinaufzuschauen,  und  ihr  seine 
Angelegenheiten  in   Demuth  und  Ergebung  anheim   zu  stellen. 

10 1.  In  der  Zeit  des  Napoleonischen  Drucks  verbreitete  sich  ein 
lebhafter  Eifer  für  die  Erziehungkunst  aus  politischen  Gründen.  Durch 
Uebungen  des  Körpers  wie  des  Geistes  wollte  man  die  Jugend  vereinigen; 
darin  suchte  die  wiederherstellende  Staatskunst  einen  Theil  ihres  Geheim- 
nisses. Man  würde  nicht  weit  damit  gekommen  seyn.  Kein  Staatsmann 
sieht  der  Jugendbildung  gleichgültig  zu;  drückt  einmal  ein  fremdes  Joch 
den  Staat,  so  lastet  das  nämliche  auf  der  Erziehung,  wenigstens  sofern 
sie  ein  öffentliches  Schauspiel  darbietet. 

Aber  eben  deshalb  sucht  auch  jetzt  die  erhaltende  Staatskunst  einen 
Theil  ihrer  Hülfsmittel  in  den  Schulen;  und  zwar  am  merklichsten  an  den 
beiden  Extremen  der  Standes- Verschiedenheit.  In  niedern  Schulen  soll 
der  Geist  guter  Ordnung  und  eines  zur  Arbeit  tüchtigen  Fleifses.  vorbe- 
reitet werden;  in  den  höhern  Schulen  sieht  der  Staat  die  Bildungs- An- 
stalten seiner  künftigen   Beamten. 

Gesetzt  nun,  die  verbessernde  Staatskunst  wäre  im  Streite  mit  der 
eihaltenden:  so  würden  unfehlbar  die  Schulen  einen  der  wichtigsten  Streit- 
punete  ausmachen.  Eine  Parthey  würde  [163]  durch  die  Jugendbildung 
eine   neue  Epoche    vorzubereiten,    die   andre  Parthey   auf  dem    nämlichen 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      II.   Capitel.     Von  der  Staatskunst.  135 


Wege  jeder  Veränderung  vorzubeugen  suchen.     Hieran   zu  erinnern   ist  des 
folgenden  Capitels  wegen  nothwendig;   nämlich  damit  man  die  Erziehungs- 
kunst nicht  für  eine  freyere  Kunst  halten  möge,  als  sie  wirklich  ist.     Alle- 
mal werden  politische  Meinungen  und   Absichten  Einfiufs  auf  sie  ausüben; 
denn   wenn  auch    der  Staat  selbst   noch    so    ruhig  ist,    so  suchen  dennoch 
Viele    sich    dadurch    wichtig   zu    machen,    dafs    sie    ihrer  Ansicht    vom   Er- 
ziehungswesen,  wie  auch  dieselbe  beschaffen  sey,   eine  politische  Bedeutung 
beylegen;  und  Andre  schätzen  das  Werk  der  Jugendbildung  nur  in  so  fern, 
als    Tüchtigkeit    für   Staatsdienst,    oder    wenigstens    Fügsamkeit    im    Staats- 
verhältnifs,    und  Geschick,    dasselbe  zu  benutzen,   dadurch  gewonnen  wird. 
Diejenigen    aber,    welche    in    Ernst    das   Gute,    ja    das    Beste    wollen, 
mögen    sich    hüten,    in    irgend    welchem    Sinne    die    Erziehung    als    einen 
politischen  Hebel    zu    betrachten.      Aus   einem  geordneten  Privatleben  mufs 
es    von    selbst    hervorgeht!,    in    wie    fern   jeder  Einzelne  Beruf  habe,    sich 
den    geselligen    Kreisen    auf   dem    Boden    des    Staats  (89.)  anzuschliefsen; 
die  Gesellschaften    entspringen    dann    aus    den    wahren    Bedürfnissen;    der 
Staat   aber  ist   das   Resultat    dieser    Gesellschaften.      Vorzügliche    Leistungen 
für   Verwaltung    und    Cultur  können    nur    aus   vorzüglichen    Talenten    ent- 
springen; diese  kann  man  nicht  schaffen,  und  nicht  durch  eingeübte  Fertigkeiten 
ersetzen.    Die  Mehrzahl  der  Menschen   lebt  in  kleinen  Kreisen;   sie  nimmt 
nicht  mehr  Bildung  an,  als  dafür  taugt;   und  es  ist  gleich  verkehrt,  ihr  aufzu- 
dringen, was  ihr  nicht  dient,  als  ihr  zu  versagen,  was  sie  sich  aneignen  kann. 
Betrachtet    man    das  Privatleben   in   kleinen   Kreisen    als    den  Zweck 
der    Erziehung    im    Allgemeinen;     bereitet     man    daneben     den     seltenern 
Talenten     die     Gelegenheit     zur     ihrer     Entwicklung;     und      wählt     der 
Staat  für  seine    höhern   Aemter  alsdann    unter  Vielen,    die    sich    darbieten, 
nur    die,   welche    sich    auszeichnen:    so   wird    nun,    so  weit    es  seyn  kann, 
das  Erziehungsge[iÖ4]schäfft  frey  vom  Drucke  der  politischen  Rücksichten, 
und    kann    sich    alsdann,    wie    es    soll,    den    eigentümlichen    Naturen    der 
Menschen  anzuschliefsen   versuchen.     Diese  Freyheit   aber   ist  da,    wo  sie 
Statt    findet,    ein    Geschenk    des    Staats,    und   zwar    in    doppelter    Hinsicht: 
theils,   weil   die   Erziehung  wider  seinen  Willen   sehr  wenig  vermag;   theils, 
weil  ohne  seine  Fürsorge   es   ihr  an  den  nöthigen  Hülfsmitteln  fehlen  würde. 
Im  nächsten  Capitel  liegt  nun  die  doppelte  Voraussetzung  zum  Grunde: 
theils,    dafs  der  Staat  nicht  das   Mittel   für  seine  Zwecke  in   der  Erziehung 
suche;  anderntheils,   dafs  er  dennoch  ihr  grofsmüthig  seine  Hülfsmittel  dar- 
biete;    wohl    wissend,    wie    gewifs    sich    ausgezeichnete     Naturen    ihm    von 
selbst  annähern  werden,   um  in  seinem  Dienste  Glück   und  Ehre  zu  suchen. 
Soviel    Grofsmuth,    wird    man    sagen,    wäre    übertrieben.      Macht    die 
Erziehung  sich   Hoffnung  auf  die   Hülfsmittel  des  Staats:   so  mufs  sie   sich 
auch   seinem   Dienste  widmen;  sie  mufs  sich  ihm   als   Mittel   darbieten. 

Aber  man  vergifst  Etwas.  Der  Staat  drückt  auf  die  Erziehung;  er 
hat  etwas  Wesentliches  wieder  gut  zu  machen,  welches  unmittelbar  zu 
vermeiden  keiner  Staatskunst  möglich  ist.  Jener  Unterschied  der  Dienenden, 
Freyen,  Angesehenen,  liegt  so  tief  in  dem  psychologischen1  Mechanismus, 


1  „psychischen"  statt  „psychologischen"    II.  Ausg.a 


a   SW.  drucken   nach  der    II.   Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der    I.   Ausg. 


j^ö  II-    Kurze  Encyldopädie  der  Philosophie.      1831. 


worauf  der  Staat  selbst  beruht,  dafs  die  Kunst  ihn  nicht  hinwegheben 
kann,  wenn  sie  schon  wollte;  nur  Sittlichkeit  und  Aufklärung  können  ihn 
allmählig  mildern,  indem  sie  den  Ursprung  desselben  (das  widerstrebende 
Wollen  der  Menschen,  und  die  optischen  Täuschungen)  verbessern.  So 
gewifs  aber  der  Unterschied  vorhanden  ist,  wirkt  er  äufserst1  schädlich  auf 
die  gesammte  Erziehung.  Denn  die  Kinder  der  Angesehenen,  wenn  sie 
nicht  zu  den  vorzüglichen  Naturen  gehören,  bemächtigen  sich  in  Ge- 
danken der  Gunst  des  Glücks  weit  früher,  als  sie  es  sagen  und  zeigen 
dürfen;  und  sie  vernachlässigen  das,  was  Anstrengung  fordert,  dergestalt, 
dafs  die  besten  und  stärksten  pädagogischen  Kräfte,  die  in  den  höhern 
Theilen  des  Unter[i65]richts  liegen,  sie  nicht  erreichen,  wenigstens  nicht 
durchdringen  können.  Die  Kinder  der  untergeordneten  Stände  aber, 
wenn  sie  nicht  dem  Drucke  erliegen,  sind  durch  fremdartige  Principien, 
durch  Vortheil  und  Ehrgeiz,  getrieben,  sich  empor  zu  arbeiten;  wodurch 
wiederum  die  Erziehung  verdorben  wird,  indem  falsche  Triebfedern  zwar 
Leistungen,  vielleicht  glänzend  genug,  hervorbringen,  die  aber  (wie  so  Vieles 
in  der  heutigen  Bücherwelt)  blofs  dienen  sollen,  der  Person  einen  Namen  zu 
machen,  eine  bessere  Stelle-  zu  schaffen.  Solche  Arbeiten,  und  solche 
Gesinnungen,  verschmähet  die  Moral;  und  eine  Erziehung,  welche  sich 
damit  rühmt,  ist  in  ihrem  innersten  Wesen  verkehrt.  Wahre  Erziehung 
wirkt  den  falschen  Triebfedern  auf  alle  Weise  entgegen;  sie  will  keine 
Leistungen,  die  nicht  aus  der  rechten  Quelle  —  aus  achtem  Interesse, 
und  achtem  Kraft-  und  Kunst-Gefühl,  hervorgehn.  Aber  was  hilft  ihr 
Wirken?  Der  Staat  stellt  seine  Ehrenpuncte  heraus;  das  verdirbt  die  Er- 
ziehung. Der  Staat  kann  seine  Abstufungen  den  Augen  der  Kinder  nicht 
entziehn;  darum  sucht  die  Erziehung  vergebens  nach  dem  Klima,  was 
ihr  zusage.  Hiegegen  die  Augen  zu  verschliefsen,  heifst  ein  Uebel  mit 
der  Ausrede  bedecken,  dafs  es  ein  nothwcndiges  Uebel  sey.  Dennoch 
bleibt  es  immer  ein  Uebel!  Und  der  rechtliche  Staat,  wenn  er  irgendwo 
Schaden  anrichtet,  pflegt  zur  Vergütung  bereit  zu  seyn;  diese  Vergütung 
haben  wir   vorhin  Grofsmuth  genannt. 

Es  wird  nun  schon  klar  geworden  seyn,  dafs  die  Staatskunst  sich 
mit  der  Erziehungskunst  im  Kreise  dreht.  Wer  die  Mängel  der  Staaten 
betrachtet,  wer  die  Unmöglichkeit  aller  sogenannten  Bürgschaften  eingesehen, 
wer  es  begriffen  hat,  dafs  Verdienste  um  den  Staat  immer  von  verdienten 
Männern  herrühren,  deren  Existenz  ein  Zufall  ist:  der  richtet  gewöhnlich 
am  Ende  seine  Hoffnungen  auf  die  Erziehung;  wenn  nur  die  Menschen 
von  Jugend  auf  (so  meint  man)  gehörig  geleitet  wären,  dann  würde  es 
besser  stehn!  Gewifs!  Und  nun  schaffe  man  der  Erziehung  den  Boden, 
worauf  sie  frey  wirken  können!  Aber  [166]  sie  wirkt  mitten  in  der  Gesell- 
schaft, von  der  sie  unaufhörlich  leidet.  Doch  wollen  wir  bekennen,  dafs 
der  Kreis,  von  dem  wir  sprechen,  vielleicht  eher  eine  Spirale  ist;  und 
dafs  die  moralische  Macht  der  heutigen  Staaten  sich  mehr  und  mehr 
freyen  Raum  schafft,  der  ohne  Zweifel  auch  der  Erziehung  zu  Gute 
kommen  wird. 

1    „äufserst"   fehlt  in   der   II.  Ausgabe.» 

:i  s\V  drucken  nach  dei  II    Ausgabe  ohne  Angab   dei  Abweichungen  der  I.  Ausg, 


I.  Abschnitt.      Elementarlehre.      12.   Capitel.     Von  der  Erziehungkunst.        137 

[167]   Zwölftes  Capitel. 

Von  der  Erziehungskunst. 

102.  Die  Erziehung  ist  Sache  der  Familien;  von  da  geht  sie  aus, 
und  dahin  kehrt  sie  gröfstentheils  zurück.  Nur  das  Bedürfnifs  eines 
mannigfaltigen  und  kostbaren  Unterrichts  treibt  sie  hinaus  in  die  Schulen, 
in  denen  sie  gleichwohl  niemals  ganz  kann  besorgt  werden.  Aber  wie 
im  Staate,  so  giebt  es  auch  schon  in  den  Familien  oftmals  übermäfsige 
Ansprüche  an  die  Erziehung. 

Geistvolle  Männer  pflegen  in  ihre  Jugendjahre  zurückschauend  zu 
wünschen,  diejenige  Erziehung, .  weiche  sie  genossen  haben,  möchte  in 
manchen  Puncten  anders  gewesen  seyn.  Zweytens  pflegen  sie  bey  Kindern, 
die  eben  jetzt  unter  ihren  Augen  aufwachsen,  die  pädagogischen  Leistungen 
zu  beobachten  und  darüber  zu  urtheilen.  Drittens  stehn  ihnen  Erwach- 
sene vor  Augen,  an  welchen  sie  die  Früchte  einer  guten  oder  schlechten 
Erziehung  zu  erkennen  glauben.  Bey  allen  diesen  Beurtheilungen  schwankt 
die  Meinung  zwischen  dem,  was  man  der  Natur,  und  was  der  Erziehung 
zuschreiben  solle.  Ja  sie  schwankt  sogar  in  Ansehung  des  Werths,  den  ein 
gegebener  Erfolg  haben  möge.  Sind  ausgezeichete  Kenntnisse  gewonnen, 
so  fragt  man,  wozu  sie  nützen,  sobald  nicht  ein  amtlicher  oder  gewerb- 
licher Gebrauch  derselben  eintritt;  ist  die  Reinheit  des  Gemüths  der 
Jugend  so  lange  als  möglich  erhalten  worden,  so  fragt  man  wiederum, 
wozu  das  nütze,  wenn  später  dennoch,  wie  es  zu  geschehen  pflegt,  die 
Empfänglichkeit  des  Menschen  für  den  Reiz  der  Natur  und  der  Gesell- 
schaft sich  nicht  mehr  verläugnet;  ist  eine  grofse  Strenge  [168]  der  Sitten  zur 
Gewohnheit  gemacht  worden,  so  findet  darin  die  Mehrzahl  der  Menschen 
eine  unnöthige  Steifheit,  die  von  der  Welt  erst  müsse  abgeschliffen  werden. 

Unter  allen  diesen  schwankenden  Vorstellungen  möchte  noch  am 
ersten  etwas  Wahres  und  der  Beachtung  Würdiges  in  jenem  Rückblick 
auf  die  eignen  Jugendjahre  enthalten  seyn.  Denn  so  fern  die  Erinnerung 
treu  blieb,  kann  der  Mensch  sich  von  dem,  was  auf  seine  Jugendzeit 
wirkte,  ein  Zeugnifs  ablegen,  das  kein  Andrer  durch  irgend  ein,  auch 
noch  so  tiefes,  Wissen  zu  ersetzen  vemöchte.  Jeder  weifs  selbst  am  besten, 
wie  ihm  zu  Muthe  war,  was  er  verschwieg,  was  bey  ihm  am  Hervor- 
brechen verhindert  wurde,  welche  Regungen  unbenutzt,  welche  ungestraft 
geblieben  sind;  in  welchen  Puncten  er  für  seine  Entwickelung  Hülfsmittel 
gewünscht,  auf  welchen  oft  verbotenen  Wegen  er  sie  endlich  erlangt  hat, 
und  so  weiter.  Daher  pflegt  Jeder  zu  klagen,  man  habe  ihm  die  Zeit 
mit  unnützen  Dingen  verdorben;  sie  hätte  weit  zweckmäßiger  für  andre 
Uebungen  können  gebraucht  werden.  Der  jugendliche  Frohsinn  sey  in 
unmäfsigem  Zwange  erstickt,  die  natürliche  Energie  sey  unterjocht,  — 
und  wieder  ein  andermal,  den  ersten  Fehltritten  sey  nicht  der  gehörige 
Widerstand  entgegengesetzt  worden,  die  jugendliche  Schlauheit  habe  Pforten 
genug  offen  gefunden,  um  einer  mangelhaften  Wachsamkeit  zu  entschlüpfen. 
Billig  sollten  nun  Eltern,  Erzieher,  Lehrer  hinzutreten  können,  um 
ihrerseits  nachzuweisen,  welche  Absichten  sie  hegten,  wie  dieselben  ver- 
eitelt   wurden,    wie    oft    sie    Stumpfsinn    und    Gedankenlosigkeit,    wie    oft 


-j^g  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

jugendlichen  Uebermuth  da  vorfanden,  wo  Aufmerksamkeit,  Ueberlegung, 
richtiges  Gefühl  zu  erwarten  waren;  wie  manches  höchst  mühsam  Ein- 
geprägte vergessen,  wie  manche  schon  gewonnene  Fertigkeit  durch  spätere 
Vernachlässigung  eingebüfst  sey;  wie  undankbar  jetzt  die  Erfolge  der 
Aufsicht  und  Warnung  als  eigne  gute  Natur  mit  Selbstgefälligkeit  in  An- 
spruch genommen  werden  mögen,  während  es  Mühe  genug  gekostet  habe, 
das  Böse  nur  so  weit  und  so  lange  entfernt  zu  halten. 

[169]  Könnten  diese  Gegenstände  von  beiden  Seiten  zu  hinreichender 
Klarheit  erörtert  werden:  dann  bekäme  das  erzogene  Individuum  Licht 
über  sich  selbst;  nun  aber  müfste  solches  Licht  nicht  blofs  den  Einzelnen, 
sondern  zugleich  ganz  verschiedene  Naturen,  und  ihre  Jugendgeschichte 
zur  Anschauung  bringen,  wenn  die  Schwierigkeit,  die  unvermeidliche  Un- 
sicherheit der  Erziehung  deutlich  werden  sollte.  Selbsttäuschungen  der 
mannigfaltigsten  Art  würden  dabey  eben  so  wohl  zu  Tage  kommen,  als 
falsche   Ansichten  der  Erzieher. 

Um  nun  die  Verwirrung  der  Meinungen  auf  den  höchsten  Grad  zu 
steigern,  pflegt  man  die  transscendentale  Freyheitslehre  einzumengen. 
Nichts  ist  gewisser,  als  dafs  unter  Voraussetzung  derselben  alle  moralische 
Erziehung  als  durchaus  unmöglich,  das  Unternehmen  einer  solchen  als 
durchaus  thöricht  erscheinen  mufs.  falsche  Freyheitslehre  und  falsche 
Psychologie  sind  ganz  eigentlich  Schuld  daran,  dafs  anstatt  wahrer  Päda- 
gogik eine  Fluth  von  pädagogischen  Meinungen  im  Umlaufe  ist,  auf 
welcher  zwischen  den  Klippen  hindurchzuschiffen  blofs  die  Befolgung  einer 
kleinen  Regel  erfordert:  medium  tenuere  beali.  Damit  lernt  man  nun 
freylich  nicht  viel. 

103.  Statt  aller  Freyheitslehre  erinnere  sich  zuerst  der  Leser,2  wie 
viel  Mühe  es  oftmals  den  reifen  Mann  koste,  bey  einem  ausgesprochenen 
Vorsatze  Jahrelang  zu  beharren.  Es  mag  dahin  gestellt  seyn,  ob  die 
Schwierigkeit  von  zu  viel  oder  zu  wenig  Frevheit  herrührt.  Zu  viel, 
indem  während  des  Laufs  der  Jahre  der  Wille  immerfort  dauernd  frey 
bleiben  sollte;  daher  es  als  Usurpation  erscheint,  dafs  ein  schnell  ge- 
fafster,  allzu  energischer  Vorsatz  alle  Frevheit  in  einen  Augenblick  ge- 
drängt, und  den  Willen  für  die  Zukunft  gebunden  hat.  Zu  wenig,  indem 
die  Stärke  des  Vorsatzes  nicht  leicht,  sondern  mit  beständigem  Gefühl 
der  Mühe,  also  unter  beständigem  Zweifel  wegen  der  Beharrlichkeit,  den 
Willen,  der  sich  zu  neuen  Entschliefsungen  wieder  frey  machen  möchte, 
gebunden  und  gefesselt  hält. 

[170]  Wenn  nun  schon  ein  Erwachsener  sich  die  nöthige  Haltung 
nicht  ohne  Schwierigkeit  giebt:  so  wird  man  vollends  die  Forderung  an 
den  Erzieher,  er  solle  dem  Zöglinge  Haltung  für  alle  Zukunft  geben, 
als  höchst3  übertrieben  wenigstens  bis   zu  näherer  Untersuchung  beseitigen 

1  Die  folgenden  Schlußworte:  „Falsche  Freyheitslehre  ....  freylich  nicht 
viel"    fehlen  in  der  II.  Ausg. 

2  „erinnere    man    sich    zuerst"  statt  „erinnere  sich   zuerst  der  Leser" 

II.   Ausgabe. a 

3  „höchst"    fehlt  in  der  II.   Ausgabe. 

a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausgabe  ohne  Angabe  der  Abweichungen  de  r  I.  Ausg. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.      12.  Capitel.     Von  der  Staatskunst.  13g 


müssen.  Denn  wir  reden  hier  nicht  von  Idealen,  welche  der  Erzieher 
etwa  sich  selbst  aufstellt,  um  sich  ihnen  anzunähern,  oder  um  wenigstens 
durch  sie  die  Richtung  seiner  Bewegung  zu  bestimmen;  sondern  wir 
reden  von  dem,  was  im  Kreise  des  praktischen  Menschen  kann  gefordert 
werden.  Solche  Forderungen  liegen  in  der  Gegenwart;  sie  lassen  der 
Zukunft  das  Recht,  dem  Vorhandenen  allerley  zu  geben  und  zu  nehmen, 
was   man  nicht  voraussehen  kann. 

Die  einfache  Grundforderung  an  den  gegenwärtigen  Augenblick  nun 
heifst  so :  man  erhalte  dem  Zöglinge  die  Kräfte,  die  er  hat.  Einen  Menschen 
schaffen  oder  umschaffen  kann  der  Erzieher  nicht;  aber  manche  Ge- 
fahren abwenden,  und  sich  eigner  Mishandlung  enthalten,  das  kann  er, 
und  das  ist  von  ihm  zu  verlangen. 

104.  Zu  diesen  Kräften  gehört  vorzugsweise  der  natürliche  Frohsinn 
der  Jugend.  Aber  hier  dringt  sich  einem  Jeden,  besonders  bey  der 
geringsten  Erinnerung  an  den  Staat,  sogleich  auf,  dafs  der  Mensch  sich 
von  Jugend  auf  an  Beschränkungen  gewöhnen  mufs.  Daher  die  Forderung : 
Kinder  müssen  gehorchen  letnen.  Ihre  Kraft  mufs  hinreichenden  Wider- 
stand finden,   damit  sie  in  jeder  Hinsicht  den  Anstofs  verhüten. 

Sogleich  zeigt  sich  eine  neue  Schwierigkeit.  Das  leichte  Mittel,  um 
nicht  anzustofsen,  ist  Verheimlichung  und  Lüge! 

Manche  Erzieher  setzen,  um  den  Knoten  zu  zerhauen,  geradezu 
voraus,  die  Kinder  lügen,  wenn  sie  können;  also  mufs  man  sie  mit  steter 
Aufsicht  dergestalt  umstellen  und  umstricken,  dafs  ihnen  zum  Verhehlen 
keine  Hoffnung,  —  man  mufs  sie  dergestalt  vom  Morgen  bis  zum  Abend 
in  Arbeit  setzen,  dafs  ihnen  zum  Ausbrüten  listiger  Pläne  keine  Zeit 
[171]  übrig  bleibt.  Daran  ist  etwas  Wahres;  wenn  es  aber  mit  Strenge, 
oder  nur  mit  Pünktlichkeit  ausgeführt  wird,  so  mag  man  zusehn,  wie  man 
es  anfangen  will,  nicht  gegen  die  erste  Grundregel  zu  fehlen.  Die  Kräfte 
sollen  erhalten  werden!  Dazu  ist  Spielraum  nöthig.  Wer  ihn  den  Kindern 
dergestalt  beengt,  dafs  alle  ihre  Bewegungen  auf  den  Beobachter  berechnet 
sind,  der  erzieht  Wickelkinder,  die  in  spätem  Jahren  ganz  von  vorn  an  ver- 
suchen müssen,  sich  zu  regen,  und  1  ihre  Kräfte  kennen  zu  lernen,  —  und 
doch  nie  damit  zu  Stande  kommen,  stets  hinter  freven  Naturen  zurückstehn, 
lahm  und   unbehülflich  bleiben;    endlich  sich  entschädigen   wie  sie  können. 

Da  nun  ein  solches  Einengen  schlechthin2  unzulässig  ist :  so  mufs  mit 
der  Aufsicht  und  Beschäfftigung  etwas   Anderes  verbunden  werden. 

Gute  Kinder,  sagt  man  mit  Recht,  können's  nicht  über's  Herz 
bringen,  Vater  und  Mutter  zu  belügen.  Warum  nicht?  Sie  sind  an  vcr- 
trauliche  Mittheilung  gewöhnt.  Diese  giebt  den  Grundton  ihres  Lebens. 
Und  so  haben  wir  die  dritte  pädagogische  Hauptregel.  Denn  es  ist  klar, 
dafs  die  Kinder  das  Bedürfnifs  der  Mittheilung  gegen  den  Erzieher  selbst, 
und  nicht  blofs  unter  einander  zu  befriedigen  gewöhnt  seyn  müssen,  wenn 
in  ihnen  dasjenige  Gefühl  seyn  soll,  was3  unmittelbar  der  Versuchung  zu 


2  „schlechthin"  fehlt  in  der  II.  Ausgabe.  * 

3  „das"   statt  „was"    in   der  II.  Ausgabe,  b 


1   „um"  statt  „und"   SW. 

a  u.  b  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabc  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


j  .q  II     Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

lügen  sich  innerlich  entgegensetzt.  Ist  dies  Gefühl  tief  gegründet,  dann 
hilft  die  Bestrafung  einzelner  Lügen,  welche  die  Schaam  sogleich  verräth; 
und  nur  dann  ist  es  erlaubt,  strenge  Aufrichtigkeit  zu  verlangen,  während 
sonst  die  Forderung  zur  Lüge  reizt. 

105.  Das  Gesagte  läuft  darin  zusammen,  dafs  man  die  Kinder  mit 
Ernst  und  Vestigkeit  in  eine  Lage  setzen  mufs,  die  ihnen  im  Ganzen 
angenehm,   und   die   zu  geselliger  Offenheit  einladend  ist. 

Alles  Andre,  es  habe  Namen  wie  es  wolle,  ist  für  die  Erziehung 
ein  Zweites  und  Drittes,   aber  nimmermehr  das   Erste. 

[172]  Dahin  gehört  nun  der  gesammte  Utiter rieht,  von  den  Elementen 
bis  zur  höchsten  Gelehrsamkeit  hinauf.  Und  darum  sind  Schulen,  die 
ihrer  Natur  nach  das  Lehren  und  Lernen  zur  Hauptsache  machen,  keine 
Erziehungs-Anstalten,  und  können  es  nie  werden.  Sie  sind  Hülfs-An- 
stalten  für  Familien,  welche  die  angegebenen  Erfordernisse  der  Erziehung 
schon   erfüllt  haben. 

Der  Unterricht  hat  zwar  vor  der  übrigen  pädagogischen  Behandlung 
einen  Vortheil  voraus,  diesen  nämlich,  dafs  seine  Wirkung,  ein  vest  ein- 
geprägtes Wissen  und  Können,  dauerhafter  ist,  als  die  meisten  Eindrücke, 
welche  durch  Gemüths- Aufregung  bey  den  Kindern  hervorgebracht  werden. 
Gefühle  werden  durch  Gefühle  verdrängt;  und  der  reife  Mann  fühlt  ganz 
anders  als  in  seiner  Jugend;  er  ist  auch  durch  so  starke  Reizungen  der 
Aufsenwelt  hindurchgegangen,  dafs  von  den  Jugend-Eindrücken  wenig 
Bestimmtes  übrig  bleibt.  Hingegen  Kenntnisse  kleben  an;  sie  erhalten 
sich  entweder  in  ihrem  alten  Zustande,  oder  werden  die  Grundlage  neuer 
Studien  und  verbesserter  Einsicht.  Die  Psychologie  lehrt,  dafs  es  so 
seyn  müsse.* 

Daraus  folgt,  dafs  die  Erziehung,  in  so  fern  sie  wünscht,  bleibende 
Folgen  hervorzubringen,  selbst  die  Charakterbildung  hauptsächlich  durch 
den   Unterricht  suchen  mufs   zu  erreichen.** 

Aber  es  ist  hier  nicht  unsre  Absicht,  pädagogische  Vorschriften  aus 
der  Idee  zu  entwickeln;  sondern  wir  bleiben  auf  dem  Standpuncte  des 
praktischen  Menschen,  und  diesem  sind  theoretische  Einsichten  auch  dann 
wichtig,  wenn  sie  seine  Erwartungen  beschränken.  Darum  ist  hier  der 
Ort,  zu  bemerken,  dafs  in  der  Wirklichkeit  die  Hoffnung,  welche  auf  den 
Unterricht  gesetzt  wird,  bey  der  Mehrzahl  der  Individuen  um  nichts 
sicherer  ist,  als  die,  welche  sich  an  die  eigentliche  Zucht  knüpft.  Denn 
es  gehört  schon  viel  dazu,  irgend  ein  Wissen  zur  Gelehrsamkeit  zu  steigern; 
aber  es  gelingt  noch  weit  schwerer,  [173]  daran  die  Charakterzüge  eines 
Menschen  zu  bevestigen.  Hiezu  ist  nöthig,  dafs  das  Gelernte  zugleich 
empfunden  sey,  und  dafs  sehr  grofse  Massen  des  Gelernten  eine  tiefe 
Gesammt-Empfmdung  bewirken,  mit  welcher  sich  eine  logische  und 
praktische  Ausbildung  von  Begriffen,  Maximen,  und  Grundsätzen  ver- 
binden   mufs.      Nun    läfst  sich    zwar    nachweisen,    wie    der   Untenicht    ge- 

*  Psychologie  II.  §  103 — 105  und  an  vielen  andern  Orten.  [Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 
**  Pädagogik,   im   vierten   Capitel '    des  dritten   Buchs.      [Bd.   II   vorl.   Ausg.] 

1  Nach:  „des  dritten  Buchs"  steht  in  der  II.  Ausg.  folgender  Zusatz:  In  der 
zweyten  Ausgabe  des  Umrisses  pädagogischer  Vorlesungen  ist  Einiges  bestimmter 
ausgeführt. 


I.   Abschnitt.     Elementarlehre.      12.   Capitel.      Von  der  Staatskunst.  141 

staltet  werden  solle,  um  eine  solche  Wirkung  mit  möglichster  Wahrschein- 
lichkeit hervorzubringen  (und  das  ist  in  der  Pädagogik  gezeigt  worden); 
aber  wie  weit  man  sich  diesem  Ziele  nähern  werde,  hängt  von  den 
Individuen  ab. 

Wer  es  nicht  aus  Erfahrung  weifs,  nicht  in  ganz  bestimmten  Fällen 
beobachtet  hat,  wie  schnell  ein  sorgfältig  eingeprägtes,  sogar  mit  Interesse 
aufgefalstes,  und  Jahrelang  glücklich  durchgebildetes  Wissen,  bey  ver- 
änderter Lage  eines  jungen  Menschen  wieder  verschwindet,  und  kaum 
eine  Spur  seines  Daseyns  zurückläfst;  wie  leicht  ganz  entgegengesetzte 
Meinungen  und  Bestrebungen  Platz  finden;  wie  entschieden  die  Natur- 
Anlagen  das  ihnen  gerade  Zusagende  aus  der  Umgebung  an  sich  ziehn, 
ungeachtet  der  dagegen  getroffenen  Vorkehrungen:  wer  das  nicht  gesehn 
hat,  der  wird  es  sich  nicht  vorstellen,  und  kaum  glauben  wollen.  Doch 
soviel  zeigt  einem  Jeden  leicht  die  allgemeine  Erfahrung,  dafs  ein  Examen 
nur  für  den  Tag  gilt,  an  dem  es  angestellt  wurde,  und  Alles  zu  diesem 
Behuf  Gelernte  schon  am  folgenden  Tage  beginnt,  sich  wieder  zu  ver- 
abschieden. Schwer  zu  begreifen  sind  solche  Erscheinungen  freylich 
keinesweges;  sondern  das  Drängen  verschiedener  Vorstellungsmassen,  wo- 
von schon  oft  die  Rede  war,  macht  sie  völlig1  erklärlich.  2Man  wird 
jedoch  wohl  thun,  in  der  Psychologie  die  Lehre  vom  Selbstbewufstseyn 
hiemit  zu  vergleichen.*  Denn  wer  das  Ich  für  etwas  ein  für  allemal 
Bestehendes,  wohl  gar  für  die  Erkenntnifs  eines  realen  Gegenstandes  hält, 
der  wird  sich  in  jene  Veränderlichkeit,  wovon  die  pädagogischen  Er- 
fahrungen die  unwidersprechlichsten  Zeugnisse  [174]  ablegen,  immer  nicht 
recht  finden  können,  und  leicht  zu  falschen  Mitteln  greifen,  wodurch  das 
Uebel  nur  ärger  wird. 

106.  Die  vorstehenden  Bemerkungen  würden  nun  den  pädagogischen 
Werth  des  Unterrichts  —  der  im  blofsen  Wissen,  und  wäre  es  noch  so 
vest  eingeprägt,  schlechterdings 3  nicht  liegen  kann,  —  beynahe  auf  Nichts 
herabsetzen,  oder  doch  ihn  auf  eine  verhältnifsmäfsig  geringe  Minderzahl 
von  Individuen  einschränken,  wenn  nicht  ein  andrer  Umstand  hinzukäme. 
Die  Selbstständigkeit  der  meisten  Menschen  ist  viel  zu  schwach,  als  dafs 
sie  etwas  für  sich  allein  seyn  könnten.  Sie  leben  in  dem  Kreise  ihrer 
Bekannten,  ihrer  Geschaffte.  Dort  finden  sich  natürliche  Aristokraten, 
welche  den  Ton  angeben;  es  bildet  sich  ein  Uebergewicht  der  Meinungen 
und  Ehrenpuncte;  hiezu  tritt  jeder  Einzelne  in  das  ihm  angemessene 
Verhältnifs. 

Nun  entscheidet  sich  aber  nach  dem,  was  der  Mensch  gelernt  hat, 
grofsentheils  die  Frage,  welcher  Gesellschaft  er  angehören  könne.  Auch 
für  die  Empfindung,   womit  er  ursprünglich  sein  Wissen  auffafste,   schwach 


1  „völlig"   fehlt  in  der  II  Ausg.» 

2  Die  folgenden  Worte  nebst  der  Note:     „Man   wird  jedoch    ....    ZU    ver- 
gleichen.     Denn"   fehlen  in  der  II.  Ausg. 

3  „schlechterdings"    fehlt  in  der  II.   Ausgabe. b 
*  Psychologie  II.  §    132  — 138. 

au.  b  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.,   ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  anzugeben. 


I42  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

wie  sie  sevn  mag,  findet  sich  in  den  geselligen  Cirkeln  der  Resonanzboden 
Und  so  geschieht  es,  dafs  die  Kenntnisse  im  Ganzen  eine  entscheidende 
Wirkung  thun,  die  bey  den  Einzelnen  nicht  planmäfsig  erreicht  werden 
konnte.'  So  wirken  Schulen  und  Schriftsteller;  schlecht  oder  gut,  ver- 
wirrend oder  vereinend. 

Mit  gehöriger  Rücksicht  darauf,  dafs  der  empfangene  Jugendunter- 
richt sehr  stark  auf  die  Stelle  wirkt,  die  ein  Mensch  unter  den  Andern 
einnimmt,  dürfen  wir  also  immer  noch  behaupten,  dafs  der  Unterricht  zu 
den  stärksten  pädagogischen  Kräften  gehöre,  und  nach  pädagogischen 
Gründen  anzuordnen   sey. 

107.    Diejenigen  aber,   die  keine  richtigen  psychologischen  Einsichten 
haben,  begreifen  selten    etwas  von  den  pädagogischen  Regeln.     Sie  haben 
etwa    die    alte    Meinung,    in    der    Seele    seyen    gewisse    Kräfte    oder    Ver- 
mögen;  diese  müsse  man  üben,  gleichviel  woran  und  wodurch.     Ungefähr 
v.ie°gymna[i75]stische  Uebungen,  welcher  Art  sie  auch  seyen,  die  Muskeln 
des  Leibes  stärken  und  schmeidigen;   weil   es  nämlich  nur  einerley  und  die 
nämlichen1   Muskeln    sind,  und  der  Mensch    eben    keine  andern  hat.    2So 
gerade    meinen    auch    die,    welche    von    Psychologie    nichts    Gründliches 
wissen,  der  Mensch  habe  einen  Verstand,  er  habe  eine  Phantasie,  er  habe 
ein  Gedächtnifs,   er  habe  auch    einen  Willen,   er  habe  eine   Vernunft,   und 
so  ferner.     Wenn  wir  ihnen  nun  sagen,  dafs  der  Mensch  von  allen  dem 
gar  Nichts  hat,   so  verstehen  sie  uns  nicht;   wir  wollen  uns  demnach  anders 
ausdrücken,    indem    wir    statt   des   Nichts  vielmehr  Vieles    setzen.       In    der 
That    findet   sich    das,    was    man    Phantasie,    Gedächtnifs,    Verstand    nennt, 
in   jeder    einzelnen    Vorstellungsmasse;    doch    nicht    in    allen    gleichmäfsig, 
sondern    es    kann    sehr    leicht    und    sehr    gewöhnlich    in    einem    und   dem 
nämlichen    Menschen    eine    gewisse    Vorstellungsmasse    verständiger,    eine 
andre    phantasiereicher,    eine    dritte    gedächtnifsmäfsiger    ausgebildet    seyn; 
in    der    einen    kann    tiefe  Empfindung,    in    einer    andern   Kälte    herrschen, 
und  so  fort.    Daher  wäre  das,   was  die  Pädagogen  formelle  Bildung  nennen, 
ein  völliges   Unding,   wenn  es  in   einer  Uebung    solcher   Kräfte    zu    suchen 
wäre,  die  nur  in  der  Einbildung  existiren.     Aber  in   der  That3  leistet  eine 
Vorstellungsmasse     der    andern    Hülfe,    nach    allgemeinen    Gesetzen    der 
Reproduction;    ein  Gegenstand,    den    wir   hier   in    einem   Beyspiele    suchen 
müssen  vor  Augen  zu  stellen. 

Wenn  ein  Knabe  Latein  lernt:  so  hat  er  schon  seine  Muttersprache 
in  gehörige  Verbindung  mit  seinem  gemeinen  Erfahrungskreise  gesetzt, 
oder  sollte  es  wenigstens  gethan  haben.  Jetzt  bekommen  auch  die  latei- 
nischen Worte  für  ihn  Bedeutung;  dies  aber  geschieht  grofsentheils  durch 
Vocabeln,  das  heifst,  durch  Complication  der  Vorstellung  einzelner  latei- 
nischer Worte    mit    einzelnen    deutschen.     Aber    das    Ziel    dieses   Lernens 


1  „und   die   nämlichen"    fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

2  Die  lolgenden  Worte  (bis  6  Zeilen  weiter) :    „So  gerade  meinen    ....    viel- 
mehr   Vieles    setzen"    fehlen  in   der  II.  Ausg. 

3  „oftmals"    statt    „in    der   That"    II.  Ausgabe,  b 


a  u.  b  S\V  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichungen  der  I.  Ausg. 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      12.   Capitel.     Von  der  Staatskunst.  143 


liegt  in  der  Feme.  Dereinst  soll  der  Jüngling  und  Mann  lateinisch  denken; 
das  heilst,  mit  seinem  Gedankenflusse  sollen  ohne  Vermittelung  der 
Muttersprache  die  römischen  Redensarten  und  Redeformen  sich  verbinden; 
und  der  [176]  ganze  Einflufs,  welchen  eine  gebildete  Sprache  auf  die  Gedanken 
selbst  ausübt,  soll  nun  von  der  Muttersprache  unabhängig,  und  von  der 
römischen  Sprache  allein  ausgeübt  werden.  Dies  setzt  voraus,  dafs  in- 
zwischen die  Form  der  Verbindung  unter  den  Vorstellungen  sich  sehr 
bedeutend  geändert  habe.  Die  Kenntnifs  der  lateinischen  Grammatik 
wird  sich  zu  einer  eigenen  und  sehr  ausgebildeten  Vorstellungsmasse  er- 
hoben haben,  welche  jeden  Augenblick  in  die  Rede  bestimmend  eingreift. 
Die  Vorstellungen  der  lateinischen  Wortstämme  werden  überdiefs  nicht 
blofs  mit  den  Gedanken,  die  man  dadurch  bezeichnet,  sondern  auch 
unter  einander  in  die  engste  Verbindung  getreten  seyn;  sonst  wäre  eine 
geläufige  Rede  nicht  möglich,  sondern  es  würde  das  Lächerliche  begegnen, 
was  bey  allen  Anfängern,  wenn  sie  zu  früh  versuchen  zu  sprechen,  wirk- 
lich geschieht,  nämlich  dafs  mit  den  Gedanken  sich  da,  wo  ein  fremdes 
Wort  fehlt,  schnell  ein  deutsches  einschiebt,  und  die  Rede  sich  aus  den 
bunten  Lappen   verschiedener  Sprachen  zusammensetzt. 

Jetzt  werde  Französisch  oder  Griechisch  gelernt.  Dies  geht  nun 
bekanntlich  leichter,  weil,  so  rühmt  man,  die  formelle  Bildung  durch's 
Latein  vorangegangen  ist.  Was  wäre  denn  wohl  geschehn,  wenn  man  zuvor 
Französisch  oder  Griechisch  gelehrt  hätte,  und  alsdann  Latein?  Dann 
wäre,  fährt  man  fort,  die  formelle  Bildung  vom  Französischen  oder  Grie- 
chischen ausgegangen,  und  aufs  Latein  übertragen  worden.  Und  dies, 
behauptet  man  weiter,  wäre  nicht  besser  noch  schlechter  als  jenes;  es 
kommt  nur  darauf  an,  die  Kraft  zu  wecken;  über  den  Weg,  den  man 
hiezu  nimmt,  lohnt  es  nicht  zu  streiten;  der  übliche  ist  der  beste,  denn 
er  ist  einmal  eingeführt;  auf  einem  neuen  Wege  aber  könnte  man  sich 
ganz  ohne  Noth  und  Nutzen  verirren. 

Dies  letztere  mag  in  so  fern  wahr  seyn,  als  die  Philologen,  wenn 
sie  von  einer  andern  Sprache  ausgehn  sollten,  sich  erst  einige  unbequeme  l 
Mühe  geben  müfsten,  damit  ihnen  dieser  Unterricht  eben  so  geläufig 
würde,  wie  jetzt  der  lateinische,  in  welchem  alle  Schritte  abgemessen  sind. 
[177]  Was  aber  die  Kraft  anlangt,  die  man  wecken  will,  so  setzt  dies 
voraus,  es  gebe  eine  schlafende  Kraft,  die  man  wecken  könne.  *\us  der 
Rhetorik  werden  wir  zwar  den  Schlaf  und  das  Aufwecken  als  metaphorische 
Redensarten  niemals  verbannen  können,  so  wenig  wie  Aufgang  und 
Untergang  der  Sonne.  Aber  2die  Seelenvermögen  müssen  nicht  blois 
aus  der  Psychologie,  sondern  auch  aus  der  Pädagogik  entweichen;  sie 
stiften  hier  bedeutenden  Schaden. 

Jene  Behauptung,  es  sey  einerley,  ob  man  durch  Griechisch,  Lateinisch, 
Französisch,  die  Kraft  wecke,  ist  ein  Schlagbaum,  durch  welchen  man  den 
Weg  der  Untersuchung  sperrt.  Die  Frage  betrifft  nicht  Kräfte,  sondern 
Vorstellungsmassen,    und  deren    allmählige   Bildung.      Will    man    zuerst  die 


1  „unbequeme"    iehlt  in   der  II.   Ausgabe. 

2  Die  folgenden  Worte:   „die  Seelenvermögen  ....  bedeutenden  Schaden" 
fehlen  in  der  II.  Ausgabe. 


r  ,,  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


Scherben,  oder  den  Topf?  Zuerst  Französisch,  oder  Latein?  Die  Meisten 
wählen  den  Topf.  Aber  den  Topf  wollen  sie  lieber  fertig  kaufen,  als 
ihn  aus  dem  Thon  allmählig  bilden.  Wäre  nun  die  griechische  Sprache 
nichts  weiter  als  nur  der  Thon,  woraus  die  römische  Sprache  entstanden 
ist,  so  möchten  sie  Recht  haben.1  Dies  bey  Seite  setzend,  widersprechen 
wir  für  jetzt  ihrer  falschen  Psychologie,  und  der  daran  hängenden  falschen 
Pädagogik.  Die2  Vorstellungsmassen,  welche  mit  dem  Französischen,  mit 
dem  Lateinischen,  mit  dem  Griechischen  in  die  Seele  des  Zöglings  ein- 
ziehn,  sind  keineswegs  die  nämlichen.  Die  Ordnung  und  Folge,  worin 
sie  sich  nach  einander  vestsetzen,  3für  gleichgültig  zu  halten,  ist  Unwissen- 
heit. Gerade  auf  dieser  Ordnung  und  Folge  beruht  die  Construction 
und  nachmalige  Wirksamkeit  der  Vorstellungsreihen.  Und  was  man  Kraft 
nennt,  die  man  zvccken  wollte,  das  zuird  wesentlich  ein  Andeics,  tvenn  die 
Ordnung  und  Folge,  worin  ursprünglich  die  Vorstellungen  sich  verknüpfen, 
verätidert  wird. 

Ein  französischer,  ein  deutscher  und  ein  englischer  Gelehrter  sind 
drey  verschiedene  Menschen,  die  sich  ihr  Lebenlang  bemühen  können, 
einander  gleich  zu  werden,  so  wie  ihre  Wissenschaften  an  sich  gleich  sind; 
sie  werden  aber  eine  verschiedenartige  Mühe  anwenden  müssen,  und  nie 
ganz  damit  zu  [178]  Stande  kommen.  Denn  die  Muttersprachen,  von  denen 
sie  ausgingen,  und  die  damit  verknüpften  Gedankenkreise,  waren  ver- 
schieden. 

Hiemit  vergleichbar  ist  bey  recht  fähigen  Köpfen  der  Unterschied, 
ob  mit  dem  Griechischen  oder  Lateinischen  oder  Französischen  der 
Sprachunterricht  begonnen  wird.  Gerade  nun  diese  recht  Fähigen  sind 
die  Wichtigen,  die  einst  Ton-Angebenden.  Bey  den  andern  entsteht  un- 
mittelbar nur  ein  geringer  Unterschied.  Und  warum?  weil  bey  ihnen 
der  Unterricht  überhaupt  nichts  Entscheidendes  wirken  kann. 

Der  deutsche  und  der  französische  und  der  englische  Gelehrte  könnten 
mit  einander  disputiren,  welchem  von  ihnen  es  leichter  sey,  sich  zu  der 
allgemeinen  Wissenschaftlichkeit,  die  keinen  Landes-Unterschied  kennt,  zu 
erheben.  Ein  Unbefangener  würde  ihnen  sagen,  sie  alle  drey  seyen  im 
Besitz  des  Vortheils,  den  sie  suchten;  vorausgesetzt,  dafs  Jeder  in  dem 
Lande  seiner  Geburt  bleibe  und  lebe;  denn  für  Jeden  müsse  die  Wissen- 
schaft doch  einheimisch  werden,  das  aber  sey  sie  schon  geworden  durch 
den  Anfangspunct  seines  Weges.  Und  dies  würde  von  der  Wahrheit 
nicht  weit  abweichen. 

Anders  aber  verhält  sich's  bevm  Unterricht  in  alten  Sprachen.  Wir 
sind  weder  Griechen  noch  Römer;  jede  Besorgnifs,  als  könne  eine  Lehr- 
methode uns  dazu  machen  oder  auch  nur  machen  wollen,  ist  lächerlich. 
Gerade    deshalb    nun,    weil    wir  weder    in  Athen    noch    in  Rom    zu   Hause 


1  Der  folgende  Satz:  „Dies  bey  Seite  ....  Pädagogik"  fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

2  „Allein    die"    statt   „Die"    in   der   II.   Ausgabe> 

3  Statt  der  folgenden  Worte:   „für  gleichgültig  zu  halten,   ist  Unwissenheit" 
hat  die  II.   Ausgabe  „ist    nicht   gleichgültig". 

a  u.  b  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichungen  der  I.  Ausg. 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      12.   Capitel.      Von  der  Staatskunst.  i_|.=j 

sind,  kommt  alles  blofs  auf  das  Verhältnifs  zweyer  für  uns  fremder  Vor- 
stellungsmassen an,  die  wir  uns  historisch  aneignen  wollen.  Werden  sie 
Anfangs  in  eine  verkehrte  Lage  gebracht,  so  mufs  man  sie  hintennach 
umbilden;  aber  das  gelingt  nie  völlig,  denn  Vorstellungen  sind  entweder 
activ,  und  alsdann  lassen  sie  sich  nicht  wie  ein  weicher  Stoff  hin  und 
her  biegen,  sondern  widersetzen  sich,  um  ihre  einmal  angenommene  Ver- 
bindung zu  behaupten;  oder  sie  sind  passiv,  und  erscheinen  als  ein  todtes 
Wissen;  alsdann  aber  stehn  sie  auf  einer  so  niedrigen  Bildungsstufe,  dafs 
sie  für  die  Erziehung  nichts  bedeuten.  Die  Bedingungen  dieser  Activität 
und  Passivität  zeigt  die  Psycho[i  79]logie  in  den  Untersuchungen  über  die 
Schwellen   des  Bewufstseyns  und  über  die   Reproductionsgesetze. 

108.  Ein  andres  Beyspiel  von  unrichtigen  Begriffen  über  formelle 
Bildung  giebt  die  bekannte  Anpreisung  der  Mathematik,  sie  schärfe  den 
Verstand.  Kein  Wunder  bey  solcher  Lobrede,  dafs  die  meisten  Schul- 
männer zum  nämlichen  Ziele  einen  kürzern  Weg  suchen.  Wozu  die 
Figuren  und  Formeln,  wenn  die  alten  Sprachen,  die  ja  ohnehin  gelernt 
werden  müssen,  das  nämliche  leisten?  Man  studire  nur  Grammatik;  auch 
diese  schärft  den  Verstand.  Und  sogar  noch  sicherer;  denn  man  will 
bemerkt  haben,  dafs  auch  einfältige  Leute  das  Rechnen  zu  besonderer 
Fertigkeit  bringen. 

Ob  die  Grammatiker  sich  nun  gerade  als  kluge  Staatsmänner  oder 
Feldherren,  oder  sonst  auf  den  grofsen  Kampfplätzen  des  Verstandes  aus- 
zeichnen, und  ob  sie  darin  die  Mathematiker  übertreffen?  das  wollen  wir 
nicht  fragen;    ]  da  ohnehin  der  eingebildete  Verstand   ein   Hirngespinnst  ist. 

Der  Verstand  der  Grammatik  bleibt  in  der  Grammatik;  der  Ver- 
stand der  Mathematik  bleibt  in  der  Mathematik;  und2  der  Verstand  jedes 
andern  Faches  mufs  sich  in  diesem  andern  Fache  auf  eigne  Weise  bilden. 
Wenn  aber  grammatische  oder  mathematische  Begriffe  irgendwie,  auch 
nur  durch  entfernte  Verwandtschaft,  in  das  Geschafft  eingreifen,  welches 
unter  bestimmten  Umständen  etwa  dem  Feldherrn  oder  dem  Staatsmann 
obliegt:  dann  wird  sich,  was  er  früher  von  jenen  Begriffen  gefafst  hat, 
in  ihm  reproduciren,   und   seinem  Thun  zu   Hülfe  kommen. 

Grammatik  und  Mathematik  sind  demnach  keinesweges  Surrogate 
für    einander,  sondern   jede    behauptet    sich   in  ihrem   Kreise    und   Werthe. 

Kaum  als  eine  Beyspielsammlung  zur  Logik  läfst  sich  die  Grammatik 
gebrauchen;  obgleich  hier  einige  Gemeinschaft  der  Begriffe,  daher  auch 
eher  ein  pädagogisches  Zusammenwirken  möglich  ist.  Das  nämliche  gilt 
in  andern  Puncten  von  der  Logik  und  Mathematik.  Aber  wehe  dem, 
der  für  Gebrauch  [180]  und  Uebung  logischer  Lehren  in  den  höhern  Theilen 
der  Philosophie  sich  darauf  verliefse,  er  habe  fleifsig  Grammatik  und 
Mathematik  studirt!  Weder  Grammatik,  noch  Mathematik,  noch  Logik, 
machen  den  Metaphysiker;  obgleich  er  ohne  Logik  und  Mathematik  auch 
nicht  von  der  Stelle  kommt. 


1  Die  folgenden    Worte:    „da  ohnehin   ....    ein  Hirngespinnst  ist"   fehlen 
in  der  II.  Ausg.,  die  nach  „fragen"    den  Absatz  mit  einem  Punkte  schliefst. 

2  „und"  fehlt  in  SW. 

Herbart's  Werke.     IX.  IO 


I45  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

Viel  eher  kann  man  die  Geographie  als  die  Wissenschaft  nennen, 
für  welche  der  Verstand  in  andern  Wissenschaften  geweckt  wird.  Denn 
die  Begriffe  der  Mathematik,  Naturlehre  und  Geschichte  begegnen  sich  in 
ihr.  Jedoch  pflegt  gerade  die  Geographie  am  wenigsten  in  dem  Rufe  zu 
stehn,  eine  besondre  Vorübung  des  Verstandes  zu  erfordern;  vielleicht 
deshalb,  weil  sie  weder  in  mathematischer,  noch  physikalischer,  noch 
politischer  Hinsicht  im  gewöhnlichen  Unterrichte  eine  besondre  Reife  erlangt. 

109.  Wenn  nun  der  Erzieher  sich  auf  formelle  Bildung  ]gar  nicht 
verlassen  kann,  2  vielmehr  der  Begriff  derselben  durch  das  Vorurtheil  von 
den  Seelenvermögen  verunreinigt  und  deshalb  unbrauchbar  ist;  wenn  über- 
dies das  blofse  Material  der  Kenntnisse,  sofern  es  auswendig  gelernt  wird, 
für  sich  allein  gar3  keine  persönliche  Bildung  gewährt,  4und  folglich  für  die 
Erziehung  nicht  in  Betracht  kommt:  woran  soll  denn  der  Erzieher  sich  halten? 

Erstlich,   in   Ansehung  der  Wissenschaften:   an  Synthese  und  Analyse. 

Zweytens,  in  Ansehung  der  Zöglinge:  an  dem  Interesse,  sowohl  in 
Ansehung  seiner  Ausbreitung  als  Fortschreitung. 

1.  Synthesis  und  Analysis  beziehen  sich  unmittelbar  auf  die  Vor- 
stellungsreihen, die  in  den  Wissenschaften  liegen.*  Was  von  denselben 
in  gemeiner,  oder  auch  in  künstlich  veranstalteter  Erfahrung  anschaulich  her- 
beygeschafft 'werden  kann,  das  mufs  allem  wörtlichen  Unterricht  so  reichlich 
als  möglich  vorangehn.  Knaben,  die  nichts  gesehn,  nichts  beobachtet 
haben,  kann  man  nicht  unterrichten.  Alsdann  aber  mufs  es  zerlegt  und 
einzeln  benannt  werden,  [181]  damit  es  zum  wissenschaftlichen  Gebrauche 
bereit  sey.  So  verwandelt  es  sich  in  eine  Menge  von  Anknüpfungspuncten 
für  alles  das  Neue,  was  der  synthetische  Unterricht  hinzuthut.  Der  Er- 
zieher ist  allemal  auf  psychologisch  richtigem  Wege,  wenn  er  das  Gewebe 
und  den  natürlichen  Fortschritt  der  Vorstellungsreihen,  die  ihn  beym 
Unterrichte  beschäfftigen,  zugleich  analytisch  und  synthetisch  durchdenkt, 
und  dafür  sorgt,  dafs  die  Lehrlinge  ihm  ohne  Erschöpfung  der  Empfäng- 
lichkeit** und  ohne  zu  starkes  Gedränge  der  einander  hemmenden  Vor- 
stellungen***  folgen  können. 

2.  Was  das  Interesse  anlangt,  so  ist  es  schwer,  über  die  Stufen 
seiner  Fortschreitung  etwas  Allgemeines  zu  sagen;  und  am  besten,  hier- 
über auf  das  Beyspiel  grofser  Dichter  zu  verweisen,  welche  die  grüfste 
Kunst  darin  beweisen,   es  zu  fesseln  und  zu  steigern. 

Hingegen  die  Ausbreitung  des  Interesse  nach  seinen  verschiedenen 
Hauptklassen  läfst  sich  sehr    bestimmt  angeben;    es    ist    auch    schon    oben 

1  „gar"    fehlt  in  der  II.  Ausgabe.» 

2  Die  folgenden  Worte:  vielmehr  der  Begriff  ....  unbrauchbar  ist  fehlen 
in  der  II.  Ausg. 

3  „gar"    fehlt  in  der  II.  Ausgabe,  b 

4  Die  folgenden  Worte:  und  folglich  ....  in  Betracht  kommt  fehlen 
in  der  II.  Ausg. 

*  Pädagogik,  im  vierten  und  fünften  Capitel  des  zweyten  Buchs.    [Bd.  II  vorl.  Ausg.] 
**  Psychologie   I.   §   94.      [Bd.   V  vorl.  Ausg.] 
***  Psychologie  II.   §    128,   sammt  der  dort  angeführten  Abhandlung  über  das  Maafs 
der  Aufmerksamkeif.      [Bd.   VI  vorl.  Ausg.] 

a    u.  b  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.      12.  Capitel.     Von  der  Staatskunst.  147 

(83.)  geschehen;  Jund  das  Weitere  hievon  mufs  in  der  Pädagogik  nach- 
gesehen werden. 

110.  Die  Abtheilung  der  sechs  Hauptklassen  des  Interesse  dient 
nicht  blofs  dem  Lehrer  zur  Richtschnur  für  die  Mannigfaltigkeit  dessen, 
was  im  Unterrichte  neben  einander  gleichzeitig  fortlaufen  soll  (indem  das 
Interesse  möglichst  gleichschwebend  mufs  erhalten  werden);  auch  nicht 
blofs  zur  Abweisung  eines  unnützen  und  zerstreuenden  Vielerley,  während 
oftmals  einerley  Lehrgegenstand  ein  verschiedenartiges  Interesse  zugleich 
in  Anregung  zu  erhalten  hinreicht  (84.):  sondern  auch  zur  Beurtheilung 
der  gröfsern  oder  geringern  Wahrscheinlichkeit,  dafs  ein  gegebenes  Indi- 
viduum der  Erziehung  durch  den  Unterricht  wahrhaft  zugänglich  sey.  Oft 
sind  alle  [182]  Arten  des  Interesse  nur  schwach  und  flüchtig;  dann  ver- 
mögen sie  nicht,  die  Anstrengung  des  Lernens  zu  bewirken,2  wie  sie  doch 
sollten.  Oft  regt  sich  eine  oder  die  andre  Art,  aber  in  so  beschränkter 
Eigenheit,  dafs  sie  eher  dem  einseitigen  Künstler,  als  dem  ausgebildeten 
Menschen  angehört.  In  allen  solchen  Fällen,  wo  weder  Wilsbegierde  noch 
Geschmack  noch  Patriotismus  noch  Frömmigkeit  lebhaft  hervortreten,  und 
auch  bey  sorgfältigem  Unterrichte,  bey  gutem  Vortrage,  bey  zweckmässiger 
Zucht  sich  nicht  hervorlocken  lassen,  —  da  kann  die  Erziehung  in  dem 
Maischen  selbst  keinen  vesten  Punct  anbringen,  an  welchem  eine  sichere 
Hoffnung  wegen  seines  künftigen  Verhaltens  im  Laufe  des  Lebens  sich 
halten  möchte.  Es  kommt  alsdann  in  Frage,  wie  grofs  die  hieraus  ent- 
stehende Besorgnifs  werden  möge,  und  welche  Gesichtspuncte  für  den 
Erzieher  nunmehr  übrig  bleiben? 

Aufser  den  sehr  bekannten  Beobachtungen  über  die  niedere  Sinnlich- 
keit eines  Menschen,  und  über  die  Gefahren  derselben,3  treten  hier 
wiederum  die  gleich  Anfangs  (7.)  angegebenen  bestimmenden  Gründe  der 
Lebensweise  hervor.  Denn  von  diesen  allen  bezieht  sich  die  Ausbilduno- 
des  vielseitigen  Interesse  eigentlich  nur  auf  einen  einzigen,  nämlich  auf  die 
erhebende  Erhohlung.  Diese  starke  Stütze  geht  nun  freylich  verloren, 
wenn  keine  inwohnende  Kraft  der  eignen  geistvollen  Beschäfftigung  vor- 
handen ist.  Die  übrigen  Puncte  aber  können  noch  gar  sehr  in  Betracht 
kommen.  Arbeitsamkeit  ist  möglich  als  Gewöhnung,  selbst  ohne  empirisches, 
speculatives,  ästhetisches  Interesse.  Erhohlung  zu  blofser  Abspannung 
kann  mit  der  Arbeit  noch  immer  auf  eine  vorwurfsfreye,  wenn  auch  nicht 
gerade  löbliche  Weise  zweckmäfsig  abwechseln,  auch  ohne  sympathetische, 
gesellschaftliche,  religiöse  Theilnahme.  Im  Geleise  des  Umgangs  geht 
Mancher  mit  Andern  fort,  der  kein  Beyspiel  aufstellt,  aber  doch  die 
goldne  Mittelstrafse  zu  halten  weifs.  Achtung  für  Höhergebildete,  Liebe 
für  'Nahestehende,  Anhänglichkeit  an  die  Seinigen,  endlich  die  Strenge 
des  Dienstes,  trägt  Manchen  so  ganz4  leidlich  durch 's  Leben,  ohne  dafs 
eine  besondere  Kunst  der  Erziehung  an  ihm   vermifst  wird.     [183]   Wenn 


1  Die  folgenden  Worte:    „und    das    Weitere    ....    nachgesehen    werden" 
fehlen  in  der  II.  Ausg. 

2  Die  folgenden  Worte:    „wie    sie    doch   sollten"   fehlen  in  der  II.  Ausg. 

3  „desselben"  statt  „derselben"  SW. 

4  „ganz"  fehlt  in  SW. 

10* 


1^8  H>    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

also  der  Erzieher  nichts  Höheres  zu  thun  Gelegenheit  findet,  wenn  schwache 
Anlagen  ihm  nicht  weiter  vorzudringen  erlauben,  so  bleibt  ihm  noch  übrig, 
solchen  Hoffnungen,  die  freylich  nicht  glänzend  sind,  sein  Verfahren  an- 
zupassen; —  wiewohl  auch  dazu  noch  Umstände  nöthig  sind,  die  sich  bey 
manchem,  vom  Schicksal  einzeln  hingeworfenen  jungen  Menschen  nicht  finden 
oder  nicht  voraussehen  lassen.  Jedenfalls  aber  zeigt  sich  der  Erzogene  als  ein 
leidlich  Abgeschliffener,  er  wird  eine  gangbare  Münze;  während  der  Un- 
erzogene anstöfst,  abstöfst,  und,  wenn  er  fällt,  sich  meist  verlassen  findet. 
Dafs  nun  zu  dem  Abschleifen  und  Gangbar- Machen  auch  das  Verhüten 
einer  groben  Unwissenheit  gehört,  leuchtet  ein;  freylich  wird  auch  ein  guter 
Unterricht,  dem  kein  Interesse  entgegenkommt,  sie  oft  nicht  vermeiden  können. 

111.  Gelingt  hingegen  die  Entwicklung  des  vielseitigen  Interesse, 
dann  ordnet  sich  das  höhere  Werk  der  Erziehung  nach  den  praktischen 
Ideen  (27.),  die  um  so  mehr  dem  Zöglinge  mit  eignem  Lichte  leuchten 
müssen,  je  weniger  es,  wie  im  vorigen  Falle,  nöthig  ist,  ihn  im  Strome 
der  Gesellschaft  schwimmen  zu  lehren.  Dagegen  wird  es  desto  nöthiger, 
mit  der  Höhe  der  Begeisterung  durch  Religion  und  Geschichte  die  doppelte 
Strenge  des  Denkens  und  der  Selbstkritik  zu  verbinden.  Behülflich  ist 
hiebey  die  .scharfe  Unterscheidung  der  einzelnen  praktischen  Ideen.  Denn 
nicht  von  selbst  schwebt  das  menschliche  Gemüth  in  einem  solchen  Gleich- 
gewichte, dafs  ihm  Recht,  Billigkeit,  Vollkommenheit,  und  Wohlwollen  gleich 
klar  in  Begriffen,  gleich  stark  beym  Handeln  gegenwärtig  wären.  Und  die 
innere  Freyheit  sucht  oft  genug  eine  excentrische  Stellung  in  Meinungen 
und  Ansprüchen,  als  ob  eben  ein  neues  Licht  anstatt  der  alten  praktischen 
Ideen  angebrochen  wäre,  welches  man  mit  grofsen  Aufopferungen,  mit 
kühnen  Thaten  auch  umhertragen  l  müsse,  um  bey  Gelegenheit  nicht  viel 
weniger  als  eine  Märtyrerkrone  zu  erbeuten.  Das  Streben  nach  dem 
Seltenen  und  Seltsamen  liegt  im  Geiste  der  Zeit;  es  pafst  aber  nicht  zu 
unserm  Lande;  und  die  Erziehung  mufs  [184]  wachen,  um  jugendlichen 
Talenten  die  Unbefangenheit  zu  erhalten,  nicht  um  sie  durch  die  Flammen 
des  Ehrgeizes  zu  versengen. 2  Doch  diese  Andeutungen  können  hier  genügen. 

112.  Bey  Gelegenheit  des  erziehenden  Unterrichts  erwartet  man 
ohne  Zweifel  etwas  über  Humanismus  und  Philanthropinismus ;  zwey  wunder- 
liche Worte,  die  in  Betrachtungen  über  den  erziehenden  Unterricht  sind 
eingeflochten  worden.  Sie  gehören  nicht  dahin;  sondern  sie  erinnern  an 
das   Schulwesen,  wovon  noch  anhangsweise  etwas  beyzufügen  ist. 

Dafs  Schulen  als  Hülfs-  Anstalten  für  die  Familien -Erziehung,  die 
ohne  dieselben  ungenügend  zu  seyn  pflegt,  dienen  können,  ist  oben  (105.) 
eingeräumt  worden.  Daraus  folgt  gar  nicht,  dafs  alle  Schulen  wirklich 
diesen  Charakter  an  sich  trügen.  Der  Staat  braucht  Beamte  mannigfaltiger 
Art.  Der  Staat  trägt  überdies  Sorge,  dafs  ein  wandelbares  Zeitalter  nicht 
die  alten  Documente  der  Wissenschaft  und  Kunst  aus  den  Augen  ver- 
liere;   dafs  es  nicht  seinem   Leichtsinn  und  seiner  Schwärmerey  sich  ganz 

1  „ertragen"   (Druckfehler)  für   „umhertragen"   I.  Ausgabe. 

2  Der  Schlufssatz:    „Doch    diese    .  .   .    genügen"    fehlt  in   der  IL   Ausgabe,  a 

a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  (Druckfehler) 
der  I.  Ausg. 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      12.   Capitel.     Von  der  Staatskunst.  14g 

und  gar  Preis  geben,  und  nicht  wie  ein  Schiff  auf  wilden  Wogen  richtungs- 
los dahin  fahren  möge.  Diese  Betrachtungen  sind  höchst  gewichtvoll; 
aber  sie  sind  eben  so  wenig  pädagogisch,  als  das  in  altern  Zeiten  übliche, 
unstreitig  sehr  zweckmäfsige  Verfahren,  bey  neu  gesetzten  Gränzsteinen 
ein  Häuflein  Knaben  heftig  zu  prügeln,  damit  sie  sich  die  Gränzen  und 
deren  Bezeichnung  genau   merken  sollten. 

Freylich  wird  Griechisch  und  Latein  am  sichersten  im  Andenken  er- 
halten, wenn  man  fortwährend  eine  zahlreiche  Jugend  zwingt,  zur  Er- 
lernung dieser  Sprachen  ihre  beste  Empfänglichkeit  herzugeben.  Freylich 
braucht  unsre  Theologie  diese  ganze  Kenntnifs,  unsre  Jurisprudenz  und 
Medicin  wenigstens  einen  Theil  derselben.  Freylich  würde  unser  Wissen 
bald  bodenlos  werden,  und  die  sichersten  Vergleichungspuncte  für  die 
Werke  der  Redekünste  würden  in  Vergessenheit  gerathen,  wenn  jemals 
die  alten  Sprachen  uns  ungeläufig  würden.  Freylich  müssen  alle  historischen 
Fäden,  an  denen  wir  die  Herkunft  [185]  unsrer  Cultur  rückwärts  ver- 
folgen können,  auf's  behutsamste  vestgehalten  werden,  damit  sie  uns  nicht 
entschlüpfen.  Thäte  dies  keine  andre  Nation,  so  müfste  es  die  deutsche 
für  sich  und  für  die  andern  thun;  denn  geschehen  mufs  es  durchaus. 
Da  nun  diese  Motive  eben  so  einleuchtend  als  dringend  sind,  so  verderbe 
man  nicht  das  Klare  durch's  Dunkle,  nicht  das  Veste  durch's  Schwankende 
und  Zweydeutige. 

Ob  das  Studium  der  alten  Sprachen  einen  pädagogischen  Werth  habe? 
Diese  Frage  ist  längst  erhoben,  und  sie  will  gar l  nicht  verstummen,  trotz 
aller  bis  zum  Ueberdrufs2  sich  wiederhohlenden  Betheuerungen  des  so- 
genannten Humanismus.  Das  Zeitalter  macht  ganz 3  andre  Forderungen. 
Und  diese  Forderungen  erhebt  es  keinesweges  im  Namen  des  verschollenen 
Dessauischen  Philanthropins,  von  dem  man  endlich  schweigen  sollte. 

Man  sollte  froh  seyn,  wenn  es  der  Pädagogik  gelingen  kann,  sich 
unter  leichten  Bedingungen  mit  jenen,  von  ihr  gar  nicht  ausgehenden, 
und  gleichwohl  gebietenden  Gründen  für  die  Beybehaltung  der  alten 
Sprachen  dergestalt  zu  vertragen,  dafs  sie  nicht  genöthigt  werde,  über 
erlittenen  Schaden  Klage  zu  führen.  Die  Lobes-Erhebungen  der  formellen 
Bildung  durch  lateinische  Grammatik  (108.)  könnte  man  sparen;  die 
Jugend  behilft  sich  gern  ohne  diese  Bildung,  welche  eigentlich  erst  im 
männlichen  Alter  von  Denen  gewonnen  wird,  die  sich  darauf  legen.  Aber 
Latein  mufs  gelernt  werden;  folglich  auch  lateinische  Grammatik;  das  ist 
wahr,   und   das  genügt. 

113.  Für  den  erziehenden  Unterricht  der  frühern  Jugend  giebt  es 
nur  zwey  Hauptwissenschaften:  Geschichte  und  Mathematik.  Denn  wie 
früh  man  zweckmäfsig  Philosophie  lehren  könne,  darüber  fehlt  noch  hin- 
reichende Erfahrung;  und  jetzt,  da  kaum  die  oberste  Klasse  der  Gymnasien, 
für  die  Anfangsgründe  wieder  geöffnet  worden  ist,  nachdem  das  Mistrauen 
soweit  gegangen  war,   der  Philosophie  die  Gymnasien  ganz   zu  verschliefsen 

1  „gar"   fehlt  in  der  II.  Ausg.  * 

2  Die  Worte:     „bis   zum    Ueberdrufs"    fehlen  in  der  II.  Ausgabe  b 

3  „ganz"   fehlt  in   der  II.   Ausgabe  c 

a>  b  u.  c   SW  drucken  nach  d.  II.  Ausg.  ohne  Angabe  d.  Abweichungen  d.  I.  Ausg. 


ico  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


(woran  freylich  die  Universitäten  Schuld  waren):  jetzt  kann  über  das, 
was  Philosophie  dem  gesamm[i86]ten  Jugend-Unterrichte  seyn  und  leisten 
könne,  noch  gar  kein  Urtheil  Statt  finden,  sondern  das  Urtheil  darüber 
mufs   lediglich  der  Zukunft  anheim  gestellt  werden. 

Der  Geschichte  gehört  als  Hülfswissenschaft  die  gesammte  Philologie. 
Und  wo  es  sich  geschickt  ausführen  läfst,  da  ist  sehr  zu  wünschen,  dafs 
man  die  Geschichts- Kenntnisse,  die  nicht  bloß  (wiewohl  auch!)  müssen 
auswendig  gelernt  werden,  beleuchte  und  belebe  durch  das  Anschauen 
ihrer  Documente;  so  wie  bey  der  Naturgeschichte  die  Exemplare  dem 
Auge  dargeboten  werden.  Es  ist  auch  gewifs,  dafs  die  Documente  in 
den  Ursprachen  weit  tiefern  und  bestimmtem  Eindruck  machen,  als  in 
den  Uebersetzungen.  Aber  dies  ist  noch  lange  l  keine  pädagogische  Recht- 
fertigung des  Zwanges  und  Zeitverlustes  beym  Unterrichte  in  den  alten 
Sprachen;  während  aufserdem  genug  und  nur  zuviel  zu  lernen  vorhanden 
ist.  Und  die  jetzigen  Bewegungen  werden  uns  immer  weiter  selbst  von  der 
Möglichheit  entfernen,  die  Knaben  bey  den  alten  Grammatiken  sitzen  zu 
lassen,  —  mit  Ausnahme  derjenigen,  welche  Theologie,  Jurisprudenz,  Mediän, 
Philologie,  Philosophie  als  Vorstudien  für  ihre  künftigen  Aemter  betrachten 
müssen.  Diese  amtliche  Rücksicht  verändert  Alles.  Aber  unsre  Gymnasien 
sitzen  voll  von  Knaben,  die  nur  die  untern  Klassen  besuchen,  und  deren 
Eltern  nicht  einmal   die   entschiedene  Absicht  haben,   sie  studiren  zu  lassen. 

Warum  sitzen  diese  Knaben  nicht  da,  wohin  sie  gehören,  auf  den 
Bürgerschulen?  Weil  diese  sogenannten  Bürgerschulen  nicht2  sind,  was  sie 
seyn  sollten,  und  im  Laufe  der  Zeit  schlechterdings 3  werden  müssen,  näm- 
lich   Haupt-   und    Volks-Schulen. 4 

Wann  erst  dort  der  erziehende  Unterricht  ohne  alte  Sprache  getrieben 
wird  (denn  für  klassisches  Latein  ist  da  kein  Platz),  dann  auch  werden 
die  Gymnasien  ihrerseits  Freyheit  gewinnen,  durch  die  That  zu  zeigen, 
dafs  bey  nicht  überfüllten  Klassen,  bey  schon  einigermafsen  ausgewählten 
Schülern,  bey  richtiger  Methode,  es  sehr  wohl,  und  selbst  auf  glänzende, 
und  doch  für  Schüler  und  Lehrer  keineswegs  peinliche  Weise  [187]  geschehen 
kann,  den  Unterricht  in  alten  Sprachen,  stets  in  die  Geschichte  verwebt, 
zum  erziehenden  zu  machen,  und  ihm  dabey  den  strengen  Charakter  des 
gründlich-gelehrten,   der  ihm  unbezweifelt  zukommt,   zu   lassen. 

Denn  es  sind  nur5  die  langsamen,  oder  doch  für  diese  Art  der  Be- 
schäfftigung    unaufgelegten6    Schüler,    welche    die    Gymnasial  -  Arbeit    ver- 

1  „lange"    fehlt  in  der  II.  Ausgabe.  * 

2  „nicht  überall  sind"  11.  Ausgabeb 

3  „schlechterdings"    fehlt  in  der  II.  Ausgaben 

4  Zu  dem  Worte  ,,  Volks-Schulen''   hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung: 
Unleugbar    ist    in    diesem    Puncte    seit    zehn   Jahren    Manches    besser    geworden. 

Möge  nun  auch  das  Bessere  veste  Wurzeln  fassen ! 

5  „nur"    fehlt  in  der  II.  Ausgabe.*1 

G  Zwischen  „unaufgelegten  und  „Schüler"  fügt  die  II.  Ausgabe  folgende 
Worte  ein:  „und  bey  der  Aussicht  auf  eine  andre  Lebensbestimmung  ganz 
natürlich   unlustigen   Schüler"   II.  Ausg.e 


a — e  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  anzugeben. 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      13.   Capitel.      Von   der  geistigen   Regsamkeit.       ict 


bittern    und  in   die   Länge  ziehn.      Diesen  hilft    auch   keine  Methode.      Sie 
müssen   aus   den  Gymnasien   wegbleiben. 

Dann  ist  die  Methode,  welche  dem  Griechischen  den  ihm  gebührenden 
Vortritt  und  Vorrang  vor  dem  Latein  anweiset,  ohne  weitern  Einwurf; 
denn  bey  gewöhnlich,  nur  nicht  schlecht  aufgelegten  Schülern  erreicht 
man  es  ohne  besondere  Mühe,  sie  auf  diesem  Wege  zur  rechten  Zeit  an 
die  erste  Klasse  der  Gymnasien  abzuliefern;  dergestalt,  dafs  sie  mit 
der  vollständigsten  Fertigkeit  im  Lateinischen  auf  die  Akademie  abgehen 
können,  wenn  es  ihnen  selbst  darum  zu  thun  ist,  ihren  Kenntnissen  im 
spätem  Jünglingsalter  die  nöthige  Feile  zu  geben.  Ohne  dies  hilft  aller 
Unterricht  nichts. 

Wenn  aber  die  Gymnasien  zuweilen  vorschützen,  sie  könnten  das 
nicht  zu  Stande  bringen,  was  man  in  Privat- Anstalten  leiste:  so  wird  das 
wohl  nicht  Ernst  seyn.  Was  sie  bey  schwachen  Köpfen  nicht  vermögen, 
das  vermag  eine  Privat- Anstalt  noch  viel  weniger;  denn  es  ist  eine  be- 
kannte Sache,  dafs  eine  gröfsere  Masse  zwar  schwerer  zu  erwärmen  ist 
als  eine  kleine,  dafs  aber  die  kleine  weit  eher  erkaltet  als  die  grofse. 

114.  Ueberhaupt  mufs  die  Mannigfaltigkeit  der  Schulen  um  Vieles 
gröfser  werden,  als  sie  ist.  Jede  Schule  bekommt  durch  ihre  angestellten 
Lehrer  eine  gewisse  Eigenthümlichkeit;  und  das  könnte  manchmal  erwünscht 
seyn.      Nicht  Alle  passen  in   alle  Schulen. 

Einige  dürsten  nach  Gelehrsamkeit  so  sehr,  dafs  sie  niemals  gesättigt 
werden.  Für  sie  ist  ein  recht  reiches  Vorrathshaus  dieser  Waare  zu 
wünschen. 

[188]  Andre  brauchen  viel  Aufsicht.  Die  Schule  mit  strenger  Dis- 
ciplin  taugt  für  sie  am  besten. 

Noch  Andre  mögen  sich  gern  vertraulich  anschliefsen.  Schade,  wenn 
sie  nicht  Lehrer  finden,   die  ihnen  entgegen  kommen. 

Manche  sind  zum  gelehrten  Treiben  schlaff;  aber  geboren  zum  künf- 
tigen Geschäfftsleben.  Für  diese  pafst  kein  glänzendes,  wohl  aber  ein 
bescheidenes  Gymnasium,  das  nicht  in  der  Höhe  der  Kenntnisse,  sondern 
im  beständigen   Einprägen  des  Nöthigsten  sein  Verdienst  sucht. 

Besonders  aber  in  den  untergeordneten  Schulen  kann  die  Einförmig- 
keit weniger,  als  die  Mannigfaltigkeit,  erwünscht  seyn.  Denn  die  Ver- 
schiedenheit der  Naturen  und  ihrer  geistigen  Bedürfnisse  ist  überaus  grofs, 
und  bisher  eben  so  wenig  ergründet,  als  benutzt. 


[189]  Dreyzehntes  Capitel. 

Von  der  geistigen  Regsamkeit. 

115.  Das  praktische  Interesse  des  Gegenstandes,  zudem  wir  kommen, 
wird  nach  allem  Vorhergehenden  nicht  mehr  zweifelhaft  seyn.  Von  der 
geistigen   Regsamkeit  haben  wir  fortwährend  gesprochen;  was  noch  folgen 


je 2  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

sD __ _ ■   — 

wird,    ist    Ergänzung,    und    Uebergang    zu    schwerern    Gegenständen.      Auf 
einige  Anstrengung  wird  hiebey  gerechnet.1 

Jemand  höre  einen  einfachen  Ton,  oder  sehe  eine  einfache  Farbe, 
(etwa  des  blauen  Himmels,  oder  einer  ganz  einförmigen  Schneefläche):  so 
ist  er  in  einem  Zustande,  den  man  Empfindung  nennt.  Dieser  Zustand 
pflegt  mehr  wie  ein  Leiden  als  wie  ein  Thun  betrachtet  zu  werden;  und 
das  ist  natürlich  genug,  obgleich  die  Empfindung  kein  eigentliches  Leiden 
in  sich  trägt;  sie  stört  aber  die  andern  Gedanken,  und  hält  ihren  Lauf 
zurück.  Allein  wenn  Jemand  den  gestirnten  Himmel  betrachtet,  dann  sagt 
man.  er  sey  im  Anschauen  vertieft,  und  dies  Anschauen  wird  als  ein  Thun 
bezeichnet.  Es  ist  nämlich  ein  absichtliches  Sondern  und  Zusammenfassen, 
um  Sternfiguren  zu  gewinnen,  2aus  denen  endlich  wohl  gar  die  Stern- 
bilder der  Himmelskarten  werden  könnten.  Jedoch  diese  Bilder  werden 
als  Phantasien  zurückgewiesen;  dagegen  hat  jeder  Stern  seine  bestimmte 
Stelle,  wo  man  ihn  zwischen  andern,  in  bestimmten  Winkel- Abständen  findet; 
und  dies  Finden  ist  durch  eingebildete8  Formen  der  Sinnlichkeit  keinesweges 
erklärlich,  sondern  wird  durch  die  Empfindung  des  Sehens  dergestalt 
beschränkt,  dafs  man  dem  Sehen  kein  [190]  Phantasmen  unterschieben 
kann,   so   lange  man   wirklich   sieht. 

Die  einförmige  Schneelläche  konnte  die  Regsamkeit  des  Anschauens 
nicht  hervorbringen.  Ein  Gebäude  vermag  es;  aber  auf  andre  Weise,  als 
der  gestirnte  Himmel.  Die  Umrisse  des  Gebäudes  sind  faßlich,  ihre  Ge- 
stalt ist  sogleich4  gefunden;  die  Sterne  dagegen  regen  allerley  Versuche 
auf,  aus  ihnen  etwas  zu  gestalten.  Wie  machen  sie  das?  Die  Vorstellung 
jedes  einzelnen  Sterns  wird  gehemmt  durch  die  anscheinende  Schwärze  des 
dunkeln  Zwischenraums,  aber  sogleich  wieder  hervorgerufen  durch  den  An- 
blick des  nächsten  Sterns.  Ein  beständiger  Wechsel  der  Hemmung  und  Re- 
produetion  ist  die  Grund  -  Voraussetzung  dieses  und  aller  ähnlichen  innern 
geistigen  Ereignisse. 5 

Wer   länger    darüber   nachdenken    will,    mag    sich  allenfalls    mit    soge- 

1  Der  erste  Abschnitt:  „Das  praktische  Interesse  (S.  151) hiebey  ge- 
rechnet"   fehlt  in  der  II.  Ausg. 

2  Statt  der  folgenden  Worte:  „aus  denen  endlich  wohla Jedoch  diese" 

hat  die  II.  Ausgabe  wiewohl  nicht  die  Sternbilder  der  Himmelskarten.    Denn 
solche  b  .... 

3  „angenommene"   statt   „eingebildete"  II.  Ausg.c 

4  „bald"  statt   „sogleich"  n.  Ausg. 

5  Nach  den  Worten:  „geistigen  Ereignisse"  hat  die  II.  Ausg.  folgenden  Zusatz: 
Eben  dieser  Wechsel  nun  kann  auf  die  mannigfachste  Weise  näher  be- 
stimmt werden.  Sähe  man  nur  einige  wenige  Sterne,  und  diese  in  so 
regelmäfsiger  Stellung,  wie  die  Ecken  und  Kanten  eines  Gebäudes  mit 
seinen  Thüren  und  Fenstern,  so  würde  sich  das  aufgeregte  Vorstellen 
bald  zur   Ruhe  neigen. 


a    SW  „wohl  endlich"  statt  „endlich   wohl". 

b   SW  drucken:    „Denn    solche"    nach    der   II.  Ausg.    ohne   die  Abweichung  der 
I.   Ausg.:   „Jedoch  diese"  anzumerken. 

c    SW  drucken   nach   der  II.  Ausg.   ohne  Angabe  der  Abweichungen. 


I.   Abschnitt.     Elementarlehre.      13.   Capitel.     Von   der  geistigen  Regsamkeit.       je? 

nannter  sympathetischer  Dinte  mancherley  Schrift  oder  bunte  Figuren  auf 
weifses  Papier  zeichnen.  Er  wird  keine  Zeichnung  erkennen,  so  lange  das 
Mittel,  wodurch  die  Dinte  sichtbar  wird,  noch  nicht  angewendet  ist.  Die 
Zeichnung  ist  da,  sie  wird  aber  nicht  sichtbar,  so  lange  die  bezeichneten 
Stellen  des  Papiers  die  nämliche  weifse  Farbe  zeigen,  wie  das  übrige, 
Der  Fehler  liegt  nun  nicht  daran,  dafs  die  weifsen  Stellen  unsichtbar 
wären ;  gerade  im  Gegentheil,  so  lange  sie  noch  weifs  erscheinen,  sind 
sie  heller  und  folglich  sichtbarer,  als  späterhin,  wann  sie  Farbe  annehmen. 
Was  da  fehlt,  ist  nur  die  Hemmung  des  Vorstellens;  das  Auge  nimmt 
alles  Sehens  ungeachtet  keine  Gestalt  wahr,  so  lange  es  ungehindert  über 
das  gleichmäfsig  weifse  Papier  hinwegläuft.  Was  nach  der  Färbung  hin- 
zukommt, ist  Hemmung,  aber  in  genau  bestimmter  Ordnung  wechselnd  mit 
Rcproduction. 

Aus  der  Analyse  zahlloser  ähnlicher  Erfahrungen  konnte  man  längst 
wissen, l  dafs  man  hier  weder  mit  Seelenvermögen,  noch  mit  vermeinten 
Formen  derselben,  (die  für  alle  Gegenstände  einerley  seyn  würden,  und 
keinem  seine  eigne  Gestalt  anweisen  könnten,)  zu  schaffen  habe;  sondern 
mit  J'orstel[igi~]lungcn,  die,  in  ihren  einzelnen  Theilen,  weder  ein  Thun 
noch  ein  Leiden  sind,  die  aber  durch  ihren  Gegensatz  sowohl  leidend  ah 
t  hat  ig  werden. 

116.  Selbstgespräche  sind  ein  andres,  sehr  bekanntes  psychologisches2 
Phänomen.  Wozu  doch  dienen  Worte,  wenn  kein  Andrer  neben  uns 
ist,  der  zuhört?  Warum  reden  wir  mit  uns  selbst,  als  ob  wir  unsre  eignen 
Gedanken  erst  dadurch  erfahren  sollten?  —  Jedermann  weifs,  dafs  die 
Selbstgespräche  ihm  nichts  nützen;  dennoch  werden  sie  gehalten,  oft 
in  recht  zierlichen  Ausdrücken.  \be,x  die  Worte  haben  hier  keinen  Zweck; 
sie  sind  Ballast,  der  den  Gedanken  einmal  anklebt;  der  psychologische^ 
Mechanismus  bringt  eins  mit  dem  andern  ins  Bewufstseyn,  weil  einmal 
zwischen  Wort  und  Vorstellung  eine  beynahe  vollkommene  Complication 
war  gebildet  worden. 

Wodurch  war  sie  denn  gebildet?  —  Man  frage  lieber,  ob  sie  ver- 
hindert werden  konnte?  Wenn  das  Kind  zugleich  sieht  und  hört:  so 
klebt  ihm  Gesehenes  und  Gehörtes  zusammen.  Warum  ?  Beides  ist  in 
ihm,  und  noch  obendrein  gleichzeitig.  Keine  Scheidewand  aber,  um  die 
Verbindung  zu  hindern,  ist  in  ihm.  Alles  in  dem  Einen,  der  da  hört, 
sieht,  vorstellt,  würde  Ein  ungetheiltes  Vorgestelltes  werden,  wenn  nicht  aus 
den  Gegensätzen   der  Töne,   der  Farben  u.  s.  w.   Hemmungen  entstünden.* 


1  Statt  der  Worte:  „konnte  man  längst  wissen"  hat  die  II.  Ausg.  „läfst 
sich  erkennen", a 

2  „psychisches,,  statt  „psychologisches"  II.  Ausg.b 

3  „psychische"'  statt  „psychologische"  11.  Ausg.c 
*  Psychologie  II.  §    118.1 

4  Nach  Psychologie  II.  §  118  [Bd.  VI.  vorl.  Ausg.]  hat  die  II.  Ausg.  folgenden 
Zusatz:  Von  Hemmung,  und  dem  damit  zusammenhängenden  Gesetze  des  Gleich- 
gewichts, ist  schon  oben  (in  der  Note  zu  50.)  etwas  erwähnt  worden.  Aus  dem  blofsen, 
Gleichgewichte  aber  würde  noch  keine  Regsamkeit  entstehen,  wenn  nicht,  auf  gegebene 
höchst  mannigfaltige  Anlässe,   die  Reproductionen   hinzukämen. 

a  b  u.  c  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  I.  Ausg.  anzugeben. 


jr,  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


1Aus  diesen  Principien  hätten  Erzieher  und  Staatsmänner,  die  unauf- 
hörlich in  Zöglingen  und  in  ganzen  Menschenmassen  den  psychologischen 
Mechanismus  beobachten,  die  Spur  der  wahren  Psychologie  finden  sollen. 
Aber  abgesehen  von  den  Vorurtheilen  der  Schulen,  die  sich  in  den  Weg 
stellten,  fehlte  zur  wissenschaftlichen  Erkenntnifs  die  Rechnung,  ohne  die 
man  in  diesem   Felde  keinen  sichern  Schritt  gewinnt. 

Vielleicht  auch  fehlte  die  wissenschaftliche  Geläufigkeit  in  der  Logik, 
welche  zu  Hülfe  kommen  mufs,  um  theils  an  den  [192]  Maafsstab  ihrer 
Forderungen  diejenigen  Vorstellungen  zu  halten,  die  man  unter  dem  Namen 
der  Begriffe  in  den  menschlichen  Köpfen  findet,  —  während  sie  niemals 
genau  das  sind,  was  sie  als  Begriffe  seyn  sollten*  —  theils  die  Aufmerk- 
samkeit auf  den  Actus  des  Urtheilcns  su  lenken,  wodurch  die  Begriffe  nicht 
blofs  schärfer  bestimmt,  sondern  im  höhern  Nachdenken  sogar  wesentlich 
umgebildet  werden.** 

117.  Reihen  von  Vorstellungen  sucht  jeder  Lehrer  in  dem  Kopfe 
seines  Lehrlings  zu  bilden,  indem  er  ihm  eine  Reihe  von  Namen,  von 
Vocabeln  u.  dgl.  vorsagt,  und  nachsprechen  läfst,  und  zum  Auswendig- 
lernen aufgiebt.  Dafs  manchmal  auch  noch  überdies  das  Gelernte  außer  der 
Reihe  soll  aufgesagt  werden,  bleibe  der  Kürze  wegen2  unberücksichtigt;  auch 
kann  der  Actus  des  Memorirens  hier  nicht  vollständig  so,  wie  er  im  gebildeten 
Geiste  vor  sich  geht,  dargestellt  werden.  3Wir  müssen  uns  auf  das  Ein- 
fachste und  Höchstnöthige  beschränken;  denn  selbst  dies  ist  noch  ziemlich 
verwickelt,  und  kann,  wenn  man  nicht  rechnen  will,  nur  gleichnifsweise 
erklärt  werden;  ja  auch  so  nur  unter  Voraussetzung  scharfer  Aufmerksamkeit. 

Zuerst  ist  zu  merken,  dafs  jede  Vorstellung,  sobald  sie  von  einer 
Hemmung  durch  entgegengesetzte  ergriffen  wird,  zwar  im  Bewufstsein  sinkt, 
das  heifst,   verdunkelt  wird;   aber  nicht  plötzlich,  sondern  allmählig. 

Der  Lehrer  sage  dem  Knaben  etwas  vor:  so  entsteht  in  dem  Knaben 
eine  Reihe    von  Vorstellungen,    die  wir  mit  a,  b,  c,  d,  e,  f,  g  bezeichnen 

1  statt  der  Worte:  „Aus  diesen  Principien  ....  zu  Hülfe  kommen  mufs" 
(7   Zeilen  weiter)  hat  die  II.  Ausg.  Folgendes: 

Das  bisher  Erwähnte  gehört  zu  den  Anfängen  der  geistigen  Regsam- 
keit, dergleichen  man  selbst  bei  den  Thieren  annehmen  mufs,  wenn  man, 
—  die  menschliche  Sprache  und  deren  Ausbildung  bey  Seite  setzend,  — 
blofs  darauf  sieht,  dafs  Zeichen  verstanden  werden,  und  Merkmale  der 
Dinge  zu  Gesammt- Vorstellungen  eben  dieser  Dinge  verbunden  sind.  Es 
ist  noch  weit  von  da  bis  zu  derjenigen  höhern  geistigen  Thätigkeit,  welche 
die  Logik  voraussetzt,   .... 

*  Psychologie  II.   §    120.      [Band  VI.   vorl.   Ausgabe.] 
**  Ebendaselbst  §    139  —  149. 

2  „der   Kürze  wegen"   fehlt  in  der  II    Ausg.* 

3  Statt  des  lolgenden  Satzes:  „Wir  müssen  ....  scharfer  Aufmerksamkeit" 

hat  die  II.   Ausg.   Folgendes: 

Unter  dem  Lehrer  denke  man  sich,  wenn  man  will,  die  Erfahrung; 
dann  bedeutet  der  Lehrling  jeden  beliebigen  Menschen  vom  Kinde  bis 
zum  Greise.  Nur  wird  alsdann  die  Sache  ohne  Vergleich  verwickelter, 
als   wir  sie  hier  der  Kürze  wegen  annehmen. 

a   SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  II.  Ausg.  anzugeben. 


i.  Abschnitt.     Elementarlehre.      13.  Capitel.     Von  der  geistigen  Regsamkeit.      [tc 

wollen.  Sogleich,  indem  die  erste  dieser  Vorstellungen,  a,  hervortritt,  wirkt 
auf  sie  irgend  etwas  Entgegengesetztes,  woran  der  Knabe  sonst  wütde  ge- 
dacht haben,  und  welches  nunmehr,  da  es  hinweggedrängt  wird,  einen  Gegen- 
druck äufsert.  Die  Vorstellung  a  sinkt  also;  aber  nur  um  ein  Weniges. 
Denn  noch  ehe  sie  bedeutend  ver[i93]dunkelt  ist,  kommt  die  zweyte 
Vorstellung  b  hinzu.  Was  folgt  daraus?  Das  ganze  b  verschmilzt,  un- 
gehemmt wie  es  in  diesem  Augenblick  noch  ist,  mit  a;  jedoch  nicht  mit 
dem  ganzen  a,  sondern  nur  mit  a  in  so  fern  es  nicht  schon  verdunkelt,  also 
in  so  fern  es  noch  im  Beivufslsein  gegenzvärtig  ist  l  Dieses  In -so -fern 
nennen  wir  den  Rest  von  a.  Und  zwar  den  ersten  Rest.  Denn  es  steht 
bevor,  noch  einen  ziveyten,  dritten,  vierten  Rest  des  nämlichen  a  sorgfältigst 
unterscheiden  zu  müssen.  Der  Grund  davon  liegt  in  der  Verlängerung 
der  Reihe.  Auf  b  folgt  c.  In  diesem  Augenblicke  findet  sich  zweyerley 
verändert.  Erstlich  ist  a,  dessen  Hemmung  immer  fortgeht,  jetzt  schon 
mehr  gehemmt  als  vorhin.  Eben  darum  ist  nun  nicht  mehr  der  ganze 
erste  Rest  von  a  im  Bewufstseyn,  sondern  nur  der  zweyte  Rest  von  a  ist 
noch  vorhanden.  Aber  Zweytens:  b  ist  auch  von  der  Hemmung  ergriffen. 
Folglich  verschmilzt  nunmehr  das  ganze  c  mit  dem  ersten  Reste  von  b, 
lind  mit  dem  zweyten  Reste   von  a. 

Man  übersieht  ohne  Mühe,  wie  das  fortgeht.  Jede  Vorstellung  ver- 
schmilzt, indem  sie  eintritt,  mit  allen  Resten,  welche  sie  von  den  vorher- 
gehenden noch  antrifft.  Was  aber  daraus  folgt,  ist  etwas  schwerer  zu 
sagen,   und   dazu  dient  folgendes    Gleichnifs: 

118.  Einer  Menge  von  Menschen  werde  einerley  Geschäftt  aufge- 
tragen. Wären  die  Leute  alle  gleich  rüstig,  so  würden  sie  es  gleich  rasch 
angreifen,  und  zugleich  endigen.  Aber  wir  müssen  erwarten,  sie  ungleich 
stark  zu  finden.  Also,  sollte  man  meinen,  würden  die  stärksten  zuerst 
fertig.  Keineswegs!  Je  geschwinder  Einem  die  Arbeit  unter  den  Händen 
von  Statten  geht,  desto  weniger  strengt  er  sich  an.  Wenn  es  auch  nicht 
immer  in  der  Welt  so  geht,  so  pafst  es  doch  zum  Zwecke  unseres  Gleich- 
nisses, für  jetzt  an  solche  Saumseligkeit  zu  glauben.  Wenn  nun  Jeder  in 
demselben  Maafse,  wie  er  seine  Arbeit  vorrücken  sieht,  sich  zueniger  an- 
strengt: so  hat  zwar  der  Stärkste  am  raschesten  begonnen,  aber  bald  [194] 
läfst  er  merklich  nach,  und  arbeitet  nicht  geschwinder,  als  der  nächste 
nach  ihm,  der  etwas  langsamer  anfing.  Der  dritte  war  anfangs  noch 
langsamer;  nach  einiger  Zeit  aber  höhlt  er,  was  die  Geschwindigkeit  an- 
langt, den  zweyten  ein;   und  so  ferner. 

Nun  nehmen  wir  noch  hinzu,  dafs  die  Arbeit,  indem  sie  vorrückt, 
irgend  Etwas  gegen  sich  reizt,  wodurch  sie  mehr  und  mehr  in  ihrem 
Fortschritte  aufgehallen ,  ja  wieder  verdorben  wird.  Was  ist  die  Folge? 
Der  erste  Arbeiter  stöfst  am  frühesten  dergestalt  an,  dafs  er  nicht  weiter 
kann;  der  zweyte  hat  das  nämliche  Schicksal  später,  der  dritte  noch 
später,   u.  s.  f.* 

*  Dies  Gleichnifs  möchte  wohl  das  beste  seyn,  was1  sich  finden  läfst,  um  Denen, 
■die  mathematischen  Untersuchungen  nicht  folgen  können,  den  Mangel  derselben  einiger- 
mafsen  zu  ersetzen. 

1    „das"  statt  „was"   U.   Ausgabe  a 

a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausgabe  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg- 


1=6  II-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


Man  würde  sich  irren,  wenn  man  dies  Gleichnifs  auf  die  verschiedenen 
Vorstellungen,   a,   b,   c,   d  u.  s.  w.   beziehen  wollte. 

Wir  haben  nicht  ohne  Ursache  in  jeder  dieser  Vorstellungen  ver- 
schiedene Reste  gesondert,  auf  denen  ihre  Verbindung  mit  den  andern  Vor- 
stellungen beruht.  Nun  fasse  man  zuerst  die  eine  Vorstellung,  a,  ins  Auge. 
Man  versetze  sich  ferner  in  einen  andern  Zeitpunct.  Gestern  war  der 
Knabe  von  seinem  Lehrer  unterrichtet;  heute  soll  er  aufsagen.  Der 
Lehrer  ist  so  gefällig,  ihm  die  erste  Vorstellung  a  zurückzurufen.  Jetzt 
aber  strebt  a,  in  seinen  ganzen  vorigen  Stand,  mit  allen  seinen  Verbindungen 
zurückzukehren.  Dies  Streben  ruft  b,  c,  d,  e,  f,  g;  aber  nicht  auf  gleiche 
Weise.  Der  erste,  zweyte,  dritte  Rest  von  a  gleicht  nun  dem  ersten, 
zwevten,  dritten  Arbeiter.  Denn  das  Streben  nimmt  ab  an  Wirksamkeit  in 
dem  Maafse,  wie  ihm  Genüge  geschieht.  Wären  die  Reste  alle  gleich  rasch 
in  ihiem  Wirken,  so  könnte  der  Knabe  zum  Aufsagen  nicht  kommen; 
denn  er  würde  Alles  auf  einmal  herausstofsen  wollen.  Der  erste  Rest 
treibt  aber  [195]  am  schnellsten  die  Vorstellung  b  hervor;  kaum  ist  das 
Wort  dafür  ausgesprochen,  so  sinkt,  wegen  stets  widerstrebender  andrer 
Vorstellungen,  b  zurück;  c  dagegen  kommt  nun  zum  Worte.  Indem  es 
sinkt,  gelangt  d  eben  dahin.  Diese  Ordnung  und  Folge  nun  ist  die 
nämliche,  wie  die  gegebene  Reihe;  daher  hat  der  Knabe  gut  aufgesagt, 
indem  er  c  zwischen  b  und  d  stellte,  eben  so  d  zzuischeu  c  und  e,  des- 
gleichen e  Zivi  sehen  d   und   f,   und   so   ferner. 

Es  mufs  hier  genügen,  dies  von  der  Vorstellung  a  bemerklich  ge- 
macht zu  haben.  Ist  b  an  sich  stark  genug:  so  hilft  es  beym  Hervor- 
treten der  folgenden  Glieder  mit  seinen  verschiedenen  Resten,  die  nunmehr 
mit  den  vorerwähnten  Arbeitern  verglichen  werden  müssen.  Bey  näherer 
Untersuchung  wird  man  leicht  bemerken,  dafs,  wenn  zuerst,  bey  der 
Wiederhohlung,  der  Lehrer  dem  Knaben  die  Vorstellung  d  erneuert  hätte, 
alsdann  zwar  dieses  d  auf  die  folgenden  Glieder  e,  f,  g  gerade  so  wirken 
müfste,  wie  vorhin  a  wirkte  auf  b,  c,  d;  aber  ein  andres  Gesetz  der  Re- 
produetion  gilt,  wenn  man  die  Reihe  rückwärts  betrachtet.  Die  Vor- 
stellung d  wirkt  nicht  blofs  auf  die  nachfolgenden,  sondern  zugleich  auf 
die  vorhergehenden  Glieder;  jedoch  mit  dem  Unterschiede,  dafs  diese 
rückwärts  gehende  Wirkung  von  dem  ganzen  d  auf  verschiedene  Reste 
von  c,  b  und  a  ausgeübt  wird;  ein  Unterschied,  der  in  der  Psychologie 
wichtige   Folgen  hat* 

119.  Auf  die  eben  angedeutete  Untersuchung  mufs  zuvörderst  Alles 
zurückgeführt  werden,  was  irgend  veranlassen  kann,  das  Wort  Zwischen 
auszusprechen.  Dahin  gehören  die  sämmtlichen  Reihenformen:  Raum, 
Zeit,  Zahl,  Grad,  Tonlinie,  Farbenfläche,  ja  sogar  die  logischen  An- 
ordnungen der  [196]  Begriffe,  die  zwischen  höheren  und  niederen  Begriffen 
ihre  Stelle  haben.  Nicht  genug  kann  man  warnen  gegen  das  grundfalsche2 
Vorurtheil,    als  wären   Raum   und   Zeit   Formen   der  Sinnlichkeit.      Bey  Ge- 

'''  Psychologie  I.  §  IOO,  und  II.  §  109 — 116.  'Wer  diese  Untersuchungen  gering 
schätzt,  von  dem  müssen  wir  annehmen,  dafs  ihm  an  mathematischer  Psychologie  nichts 
liegt.      Dafs   man   das   übel   nehme,   hat  keine  Noth. 

1  Der   folgende  Teil  der  Anmerkung  fehlt  in   der  II.  Ausg. 

2  „grundfalsche"    fehlt  in  der  II.  Ausg. 


I.   Abschnitt.      Elementar! ehre.      13.   Capitel.      Von  der  geistigen  Regsamkeit.       je 7 


legenheit  sinnlicher  Empfindung  erzeugen  sich  vorzüglich  häufig,  vorzüglich 
vollständig,  und  mit  manchen,  daraus  hervorgehenden,  nähern  Bestimmungen 
die  Reihenformen;  das  ist  Alles,  was  an  der  Verknüpfung  der  Sinnlich- 
keit mit  dem  Räume  wahr  ist.  Aber  schon  im  neunten  Capitel  war  Ge- 
legenheit daran  zu  erinnern,  dafs  es  sehr  wichtige  Analogien  mit  dem 
Räume  im   Gebiete   des  Schönen  giebt. 

Das  räumlich  Schöne  in  der  Plastik  und  Malerey,  das  zeitlich  Schöne 
der  Melodie  und  Rhythmik,  sind  Proben  von  demjenigen  Regsamkeit  unsrer 
Vorstellungen,  welche  aus  ihrem  reihenförmigen  Gefüge  hervorgehn.  Das 
Gefühl  liegt  beym  Schönen,  (und  so  überall,)  nirgends  anders,  als  in  den 
Vorstellungen  selbst;  es  ist  ein  Zustand,  worin  sie  einander  gegenseitig 
und  zusammengenommen  versetzen.  Freylich  aber  liegt  es  eben  deshalb 
in  der  Seele,  welche  nur  Eine  ist  in  ihrem  gesammten  Vorstellen.  l  Dies 
läfst  sich  im  Allgemeinen  erkennen;  und  die  Bahn  zu  künftigen  Unter- 
suchungen über  Dinge,  die  bisher  ganz  unbegreiflich  schienen,  ist  hiemit 
geöffnet. 

120.  Ferner  hängt  hiemit  zusammen  die  Lehre  vom  sogenannten 
Begehrungsververmögen.  In  ihrer  einfachsten  Form  ist  Begierde  nichts 
anders  als  eine  Vorstellung,  die  einer  Hemmung  nicht  nachgiebt,  sondern, 
gestützt  auf  ihre  Verbindungen,  dagegen  aufdrängt  und  im  Bewufstseyn 
emporsteigt.  Allein  gerade  darum,  weil  die  Verbindung  selbst  meistens 
reihenförmig  ist,  mufs  auch  zu  diesem  Behufe  die  Reizbarkeit  der  Vor- 
stellungsreihen genauer  untersucht  werden.* 

Will  man  aber  diese  und  andre  Anwendungen  der  nämlichen  Lehre 
gehörig  überlegen:  so  ist  nöthig,  sich  nicht  blofs  einfache  Reihen  zu 
denken,  sondern  Reihen  von  Reihen,  Ge[i9/]webe  von  Reihen;  ja  sogar 
Reihen  von  Geweben  aus  Reihen,  u.  s.  f.;  kurz  das,  was  schon  oft  unter 
dem  Namen  einer  Vorstelluiigsmasse  ist  erwähnt  worden.  Der  ganz  form- 
lose Ausdruck  Masse  wird  hier  blofs  deswegen  gewählt,  weil  es  unbestimmt 
bleiben  mufs,  ob  die  jedesmal  vorhandne  Form  nicht  in  anderm  Sinne 
auch  höchst  unförmlich,  misgestaltet,  könne  genannt  werden.  Denn  der 
psychologische2  Mechanismus  bildet  sich  nur  dann  regelmässig,  wenn  Er- 
ziehung durch  Menschen,  durch  Welt  und  Schicksal  hinzukommt;  sonst 
oftmals  höchst  zweckwidrig. 

Er  wirkt  auch  nicht  immer  vollständig.  Seelenstörungen  und  Träume 
entstehn  auf  unsäglich  mannigfaltige  Weise  aus  den  physiologischen  (vom 
Leibe  ausgehenden)  Hemmungen,  wodurch  die  Regsamkeit  der  Vorstellungs- 
reihen genöthigt  wird,  sich  in  verstümmelten,  und  alsdann  wieder  falsch 
zusammengesetzten  Producten  zu  zeigen. 

121.  Alles  dies  läuft  darin  zusammen,  dafs  man  die  geistige  Reg- 
samkeit   lediglich    in    den    Vorstellungen    selbst    zu    suchen    hat;    während 


1  Die  folgenden  Schlußworte  von  119:    „Dies  läfst  sich  ....   hiemit  geöffnet 
fehlen  in  der  II.  Ausg. 

*  Psychologie  II.   §    150.      [Band   VI  vorl.   Ausgabe] 

2  „p3ychische"  statt  „psychologische"  II.  Ausgabe,  a 

a  SW  drucken  nach  der   IE.  Ausg.    ohne  Angabe  der  Abweichung    der    I.    Ausg. 


I  eg  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 


Andre  sie  in  den  Seelenvermögen,  noch  Andre  gar  im  Hirn  suchen.  Dem 
praktischen  Menschen  könnte  die  Frage  nach  dem  Sitze  und  Ursprünge 
dieser  Regsamkeit  sehr  gleichgültig  scheinen;  fast  so  gleichgültig,  wie  die 
Frage  vom  Sitze  der  Seele.  Wird  etwa  dadurch,  möchte  er  ausrufen,  die 
Regsamkeit  selbst  gröfser  oder  besser,  dafs  Ihr  Eure  Meinungen  von 
ihrem  Entstehn  verändert? 

Eben  hierin  liegt  Etwas  nicht  Gleichgültiges.  Denn  dieser  Ausruf 
veranlafst  einen  zweyten:  Werdet  Ihr  etwa  dadurch  freyer,  dafs  Ihr  von 
der  Freyheit  diese  oder  jene   Meinung  fafst? 

Ueber  den  Ursprung  der  geistigen  Regsamkeit,  also  über  die  Möglich- 
keit, dafs  Jemand  eine  gewisse  Handlung  mit  oder  ohne  bewufstes  Wollen, 
mit  oder  ohne  vorgängige  Rechenschaft,  die  er  sich  selbst  darüber  ab- 
legte, vollzogen  habe:  darüber  disputiren  heutiges  Tages  Aerzte  und 
Criminalisten  mit  nicht  geringer  Heftigkeit.  Der  Streit  hat  auch  nicht  das 
An[ig8]sehen,  bald  nachlassen  zu  wollen.  Auf  der  einen  Seite  die  fort- 
laufende Reihe  von  Criminalfällen,  auf  der  andern  das  Asyl  der  Unwissen- 
heit, welches  man  Freyheit  nennt!  Die  Criminalfälle  ängstigen  mit  Recht 
das  Gewissen  der  Richter;  die  Freyheitslehre,  übertrieben  bis  zu  der  Be- 
hauptung, auch  der  Wahnsinnige  sey  schuldig,  spornt  sie,  Handlungen  zu 
bestrafen,  die  nicht  blofs  aus  dem  rohen,  sondern  sogar  aus  dem  fremd- 
artig gehemmten  psychischen  Mechanismus  hervorgehn;  ohne  Rücksicht 
auf  den  vielleicht  unverschuldeten  Mangel  einer  höhern  Bildung  zu  sittlichem, 
klarem  Bewufstseyn.  Und  nun  stellen  sich  ihnen  Physiologen  in  den  Weg, 
die,  nach  der  andern  Seite  hin  übertreibend,  Leben  und  Seele  verwechseln! 
Folglich  auch  den  Willen  selbst  als  blofsen,  glücklich  oder  unglücklich  aus- 
fallenden Lebensactus  betrachten. 

Solche  Verwirrung  kann  zwar  hier  keine  Polemik  veranlassen,  aber 
sie  mag  erinnern,  dafs  auch  scheinbar  blofs  theoretische  Lehren  ihre  sehr 
wichtige  praktische  Seite  haben. 

1i22.  Schon  oft  ist  von  der  Zusammenwirkung  mehrerer  Vor- 
stellungsmassen die  Rede  gewesen  (41.  65  u.  s.  w.).  Diese  ist's,  welche 
zuerst  leidet,  sobald  die  geistige  Regsamkeit  im  Ganzen  gehemmt  wird. 
Daher  vertraut  man  dem  Wahnsinnigen  kein  Geheimnifs;  dem  Schlafenden 
versucht  man  es  abzufragen;  bey  sonst  keuschen  und  züchtigen  Personen 
tritt  im  Delirium  der  Geschlechtstrieb  nackt  hervor,  u.  s.  f.  Es  bedarf 
nur  der  mindesten  Ueberlegung  dieser  Beyspiele,  um  zu  bemerken,  dafs 
hier  die  höhern  Vorstellungsmassen,  welche  dem  verkehrten  Betragen 
nach  gehöriger  Apperception  (70.)  Einhalt  thun  sollten,  gelähmt  sind;  daher 
nun  die  niedern  ungehindert  zu  einer  Wirksamkeit  gelangen,  wie  sie  von 
ihnen  nicht  besser  zu  erwarten  ist.  Man  wird  demnach  ohne  viele  Worte 
begreifen,  dafs  in  dem  Zusatnmenivirken  der  verschiedenen  höhern  und 
niedern  Vorstellungsmassen  der  Sitz  derjenigen  geistigen  Regsamkeit 
ist.  welche  gemeinhin  Vernunft  genannt  wird.  Der  Name  praktische  Ver- 
nunft  aber    pafst   insbesondere  da,    wo  in   den  höhern  Vorstellungsmassen 


1  Der  §  122  nebst  dem  folgenden  „Zusatz"  fehlt  in  der  II.  Ausgabe,  die  jedoch 
Theile  des  „Zusatzes"  in  das  der  I.  Ausgabe  fehlende  Kapitel  17  abgenommen  hat. 
Siehe  Seite   160,    161,    191,    192,    193. 


i     Abschnitt.     Elementarlehre.      13.   Capitel.      Von   der  geistigen   Regsamkeit.       jen 

[199]  diejenigen  ästhetischen  Urtheile  (45.)  ihren  Wohnplatz  erhalten  und 
behauptet  haben,  die  nicht  etwa  auf  Gärten,  Häuser,  Bildsäulen,  sondern 
auf  die  innern  geistigen  Regungen  selbst  gerichtet  sind.  Als  vorzugsweise 
jene  fünf,  und  mit  ihrer  Anwendung  zehn  {2J.),  deren  Gegenstand  der 
Wille  selbst  ist. 

Jetzt  suche  man  den  Punct,  worauf  die  Untersuchung  des  Criminal- 
richters  zielt.  Zuerst  unstreitig,  was  man  den  Geschworenen  zugewiesen 
hat,  die  That.  Aber  das  reicht  nicht  hin.  Wenn  Flüsse  und  Bäume 
menschliches  Leben  verkürzen,  wenn  Thiere  Schaden  anrichten,  so  bemüht 
sich  wenigstens  heutiges  Tages  gegen  sie  kein  Criminalrichter.  Die  That 
soll  erst  gerechnet  werden  zu  einem  bösen,  oder  mindestens  nachlässigen 
Willen.  Geht  man  nun  genau  zu  Werke,  so  unterscheidet  man  noch  den 
Willen  vom  Charakter.  Es  ist  allerdings  gar  nicht  einerley,  wie  tief  einem 
Menschen  dasjenige  Wollen  sitzt,  welches  in  That  hervorgebrochen  ist. 
Wir  reden  hier  nicht  etwa  vom  Wahnsinn,  sondern  davon,  ob  in  dem 
Augenblicke,  wo  das  Schwerdt  der  Gerechtigkeit  den  Tod  bringt,  der 
Mensch  noch  Verbrecher  ist,  oder  nicht.  Denn  Fälle  genug  kann  es  geben, 
wo  die  Sünde  schon  völlig  abgewaschen  ist;  wo  sie  nichts  war,  als  ein 
'böses  Wetter.  Ging  die  That  nicht  aus  dem  bösen  Charakter,  sondern 
aus  einer  Verstimmung  hervor,  und  ist  diese  Vertimmung  heilbar:  als- 
dann reicht  das  Entsetzen  vor  dem  Vollbrachten  schon  völlig  hin,  um 
dem  Individuum,  welches  vor  sich  selbst  erschrickt,  ähnliche  Handlungen 
für  die  Folge  unmöglich   zu   machen. 

Allein  es  scheint  nicht,  dafs  die  peinliche  Rechtspflege  sich  um  diesen 
Umstand  viel  bekümmere.  Ob  der  Mensch,  welcher  Böses  that,  von 
längst  gefafsten  sittlichen  Vorsätzen  abwich,  ob  er  wohl  gar  umgekehrt 
böse  Grundsätze  mit  Consequenz  in  Ausübung  brachte,  darnach  fragt  zwar 
der  Criminalist,  allein  die  Nachweisung  dieser  Puncte  ist  doch  nicht  das 
Entscheidende.  Es  ist  ja  sogar  neuerlich  den  Psychologen  übel  genommen 
worden,  wenn  sie  bey  charakterlosen  Personen  den  Wahn  nachwiesen, 
durch's  Verbrechen  Gutes  zu  stiften.  Man  denke  nur  [200]  an  die 
Schauspielerin,  die  sich  unglücklich  fühlte,  ähnliches  Unglück  für  ihre 
kleinen  Töchter  befürchtete,  und  sie  aus  mütterlicher  Fürsorge  mit  Opium 
aus  der  Welt  schaffte.  „Sie  hat  absichtlich  gemordet,  (sagen  die  Crimi- 
nalisten,)   das  genügt." 

Wir  wollen  nun  zwar  nicht  mit  Psychologie  beschwerlich  fallen.  Der 
Fehler  liegt  in  den  ersten  Elementen  der  Ethik.  In  dem  erwähnten  Falle 
mangelt  der  Wille,  Schaden  zu  stiften;  worauf  mit  vollem  Rechte  gleich 
die   ersten   Blicke  gefallen  waren. 


Zusatz. 

In  dem  Augenblicke,  da  dieses  Manuscript  soll  abgesendet  werden, 
führt  der  Zufall  das  Septemberheft  von  Hitzig 's  Zeitschrift  für  die  Criminal- 
Rechts-Pflege  vom  Jahre  1830  herbey.  Darin  findet  sich  ein  Artikel  mit 
einem  merkwürdigen  Vorworte  des  Herrn  Herausgebers,  wodurch  der  Vor- 
wurf einer  feindlichen   Stellung  der  Zeitschrift    gesen  die  Mediän  soll   ab- 

O  OD 

gelehnt  werden.      Wie  gehört    das  hieher?  —   Es    wird    sich    gleich    zeigen. 


j  5o  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.       1 83 1 . 


„Wir  haben  es  allein  mit  solchen  Aerzten  zu  thun,  welche  Gründe  für 
ihr  Gutachten  nicht  aus  ihrer  Wissenschaft  entnehmen,  sondern  glauben, 
dafs  ein  seichtes,  sogenanntes  psychologisches  Geschwätz,  darum,  weil  das 
Physicatssiegel  darunter  steht,  dem  Richter  für  ein  technisches  Parere 
gelten  müsse." 
Hiemit,  wird  man  sagen,  ist  gründliche  Psychologie  noch  nicht  zurück- 
gewiesen. Mit  deutlichen  Worten  freylich  nicht.  Es  wird  blofs  behauptet: 
„dafs,  wenn  ein  Arzt  seine  ganze  Argumentation  durchaus  auf  eine 
nicht  mcdicinische  Basis  gründet,  der  Richter  sich  unmöglich  an  ein  solches 
Urtheil  gebunden  halten  könne." 

Ohne  weitere  Bemerkung  hierüber  kommen  wir  sogleich  auf  drey 
merkwürdige  Criminalfälle,  welche  in  dem  angeführten  Hefte  enthalten  sind, 
und  fast  dazu  ausgesucht  scheinen,  [201]  um  gerade  auf  die  Weise,  wie 
es  im  vorliegenden  Buche  beabsichtigt  wird,  dem  praktischen  Verstände 
so  wenig  abstract  als  möglich  die  Gegenstände  unsrer  Betrachtung  vor 
Augen   zu  stellen. 

1.  ^iner  zündet  sein  Haus  an,  um  die  zu  hoch  gesteigerten  Asse- 
curanzgelder  zu  gewinnen,  und  seinen  Plan  eines  bessern  Neubaues  ins 
Werk  zu  richten.  Mit  verschiedenen  Miethsleuten,  die  bey  ihm  wohnen, 
hat  er  schon  im  Voraus  von  dem  Glücke  geredet,  abzubrennen;  auch 
guten  Rath  fallen  lassen,  man  möge  für  mögliche -Fälle  die  Sachen  zum 
Fortschaffen  bereit  halten.  Er  rühmt  sich,  gelernt  zu  haben,  wie  man 
Richter  täuschen  müsse.  Er  droht,  einen  Angeber  würde  der  Brenner 
stumm  zu  machen  wissen,  oder  ihn  selbst  als  Brandstifter  verklagen.  End- 
lich, nach  der  That,  im  Gefängnisse,  horcht  er  freudig  auf  ein  vorgebliches 
Mittel,   sich   der  Strafe  zu  entziehen.1 

2.  Ein  Unglücklicher,  um  sich  den  Selbstmord  zu  sparen,  wünscht 
hingerichtet  zu  werden;  zu  diesem  Zwecke  stürzt  er  seine  vierjährige 
Tochter  in  einen  Brunnen.2  ■ —  Hier  wird  die  Psychologie  angeklagt,  schlechte 
Dienste  geleistet  zu  haben.  Denn  das  Gericht  erkennt  nur  auf  einfache, 
lebenswierige  Detention;  und  findet  den  Grund,  weshalb  der  Spruch  nicht 
auf  engstes  Gefängnifs  nebst  wiederhohlter  öffentlicher  Züchtigung  laute, 
darin,  dafs  der  Inquisit  durch  die  drückendste  Noth  der  Verzweiflung 
nahe  gebracht  worden,  und  dafs  diese  Lage  störend  auf  seinen  freyen  Willen 
und  sein    Ueberlegungsvermögen  gewirkt  habe. 

3.  Ein  melancholischer  Mensch,  übrigens  unstreitig  bey  Verstände, 
drohet  seiner  Frau,  sie  werde  ihn  am  Ende  mit  ihrer  Schlechtigkeit  (die, 
wie  es  scheint,  nur  seine  Einbildung,  wenigstens  nicht  bewiesen  ist)  noch 
so  verwirrt  machen,  dafs  es  ihm  gehe,  wie  jenem  Schneider,  der  zuerst 
seine  Frau,  dann  sich  selbst  mordete.  Bald  dald  darauf  kommt  der  Bruder 
zur  Frau,  und  erzählt  [202]  einen  Unglückstraum,  worin  das  Verbrechen 
prophezeiht  wird.  Magenkrampf,  Herzklopfen,  achttägiges  tief  in  die  Nacht 
hinein    fortgesetztes    Arbeiten    kommt    noch    hinzu;    ein   Rasiermesser    liegt 


1  Der  vorstehende  Abschnitt  1  befindet  sich  wörtlich  im   Kapitel   17   der  II.  Aus- 
gabe (s.  unten  S.    191). 

2  Der   vorstehende  Satz  von  2  befindet  sich  wörtlich  im   Kapitel   1 7   der   II.  Aus- 
gabe (s.  unten  S.    191.) 


I.  Abschnitt.      Elementarlehre.      13.   Capitel.     Von   der  geistigen   Regsamkeit.       16 1 

gerade  bereit,  —  und  die  That  wird l  nach  dem  doppelten  Vorbilde  voll- 
zogen; nur  gelingt  der  Selbstmord  nicht  ganz.  Der  Mann  wird  geheilt, 
um  sein  Urtheil  zu  empfangen;  Strafe  des  Schwerdts  mit  Schleifung  zur 
Richtstätte.2  In  dem  Gutachten  des  Physicus  findet  sich  als  Probe  von 
Psychologie  folgende  Stelle: 

„Dem  Principe  des  Sittlich  -  Guten  gegenüber,  wohnt  aber  auch  dem 
Menschen  ein  Princip  des  Bösen,  die  Sinnlichkeit,  der  Egoismus,  inne; 
mit  ersterem  im   fortwährenden   Kampfe  begriffen."* 

Ueber  die  Befugnifs  wissenschaftlicher  Psychologie  und  Ethik  (denn 
Psychologie  allein  reicht  nicht  aus),  zur  Beurtheilung  der  Verbrechen  ihren 
Beytrag  zu  geben,  —  und  zwar  nicht  blofs  durch  den  Mund  der  Aerzte, 
denn  Psychologie  ist  viel  zu  schwer,  als  dafs  ein  Doctor- Diplom  deren 
gründliche  Kenntnifs  verbürgen  könnte,  —  hierüber  eine,  der  Wichtigkeit  des 
Gegenstandes  angemessene  Auseinandersetzung  zu  liefern,  wäre  eine  grofse 
Aufgabe,  deren  Lösung  der  Zukunft  mufs  vorbehalten  werden,  wenn  auch 
eine  solche  Arbeit  nicht  auf  Dank  und  Anerkennung  zu  rechnen  hätte. 
Hier  können  nur  einige  Winke  zur  beliebigen  Benutzung  Platz  finden. 
Wir  betrachten  dabey  die  Fälle  nicht  als  Wirklichkeiten,  sondern  wie  wenn 
sie  blofs   Uebungs-Exempel   für  die  Schule   wären. 

Zuvörderst  tritt  nun  in  dem  ersten  Falle  nicht  blofs  das,  was  man 
eine  freye  Handlung  zu  nennen  pflegt,  sondern  wirklich  volle  Freyheit 
des  handelnden  Jl/cnschen  hervor.  Alle  seine  Vorstellungsmassen  erscheinen 
gleichsam  angesteckt  von  dem  bösen  Plane;  alles  Reden  und  Thun,  nach 
wie  vor  dem  [203]  Verbrechen,  zielt  dahin;  er  weifs,  dafs  die  Einwohner 
seines  Hauses  in  den  Flammen  den  Tod  finden  können;  er  zündet  es 
dennoch  an.  Hier  ist  keine  zufällige  Hemmung,  deren  Verschwinden 
einen  bessern  Menschen  darstellen  würde.  Blofs  der  Erfolg  ist  zufällig 
nicht  ganz  so  schlimm,  wie  er  seyn  konnte:  denn  man  erfährt  nicht,  dafs 
jemand   verbrannt  sey. 

Was  dagegen  den  armen  Tagelöhner  anlangt,  der  durch  Hinrichtung 
zu  sterben  wünscht,  so  würden  milde  Herzen,  hätten  sie  seine  Noth  ge- 
kannt, ihm  das  gute  Gewissen  und  seinem  Kinde  das  Leben  wahrschein- 
lich durch  eine  sehr  mäfsige  Fürsorge  und  durch  freundlichen  Zuspruch 
haben  erhalten  können.  Aber  die  Lebenswege  sind  ihm  verschlossen; 
seine  Gedanken  stocken;  das  Vatergefühl  erlischt  in  ihm,  und  seine  Hand- 
lung, ihrem  Endzwecke  nach  betrachtet,  ist  Selbstmord,  dem  nur  das 
Gelingen  fehlt.  Die  x\bsicht,  Wehe  zu  thun,  —  der  allererste  wesentliche 
Punct,  auf  welchem  der  Ursprung  des  Begriffs  der  Strafe  beruht*,  tritt 
nirgends  in  solcher  Deutlichkeit  hervor,  dafs  man  darauf  Gewicht  legen 
könnte.  Das  Wesen  des  Verbrechens  ist  kein  dolus,  wohl  aber  culpa. 
Er    hätte    sollen  den  Gedanken  des  Selbstmords    verabscheuen!      Er    hätte 


2  Der  vorstehende  Abschnitt  von  3   „Ein   melancholischer  .  .  .  Richtstätte"  be- 
findet sich  im    17.   Kapitel  der  II.   Ausg.   (s.  unten   S.    191  — 192). 

*  Es  lohnt  nicht,   solche  Reden  näher  zu  beleuchten.     Man  vergleiche,   wenn   man 
will,   Psychologie  II.   §    152,    [Bd.   VI  vorl.  Ausg.]   sammt  dem   was  vorhergeht. 

*  Praktische  Philosophie,  im  fünften    Capitel  des  ersten  Buchs. 

1   SW  ,,wird  nun"  nach  der  II.   Ausgabe   (s.   auch  S.    192.) 
Herbart's  Werke.     IX.  I  I 


IÖ2  II-    Kurze  Encyldopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


sollen  die  geringen  Hülfsmittel  seiner  Existenz  noch  möglichst  benutzen! 
Er  hätte  sollen  vor  dem  Leben  seines  Kindes  Respect  fassen !  —  Aber  die 
Wahrheit  zu  sagen,  die  Forderung  einer  meist  schon  erloschenen  Geistes- 
kraft ist,  nach  der  vorhandenen  Beschreibung  zu  urtheüen,  doch  nicht  gar 
viel  klüger,  als  wenn  man  Nachdenken  von  einem  Blödsinnigen  fordern 
wollte.  Diesem,  nicht  aber  dem  kraftvollen  Wahnsinn,  nähern  sich  solche 
Fälle,  wo  ein  Misgriff  zum  Verbrechen  wird,  weil  die  Gedanken  des 
Menschen   nicht  mehr  gehörig  zusammenwirken. 

Merklich  anders  verhält  sich  der  dritte  Fall.  Hier  ist  zwar  auch 
Verzweiflung  und  Selbstmord,  aber  zuerst  die  Absicht,  Rache  zu  üben 
wegen  vermeinter  Beleidigung;  dann  erst,  sich  selbst  für  das  Verbrechen 
zu  strafen.  Darin  liegt  klares  [204]  moralisches  Betmtfstseyn;x  und  dasselbe 
anerkannt  zu  haben,  gereicht  dem  gerühmten  medicinischen  Gutachten 
keineswegs  zu  besonderem  Lobe ;  vielmehr  verstand  sich  von  selbst,  dafs 
man  es  nicht  übersehen  konnte,  wenn  man  nicht  etwa  hätte  absichtlich 
blind  seyn  wollen.  2  Dennoch  ist  der  Zusammenhang  der  Handlung  so 
beschaffen,  dafs  er  bey  einem  charaktervollen  Menschen  tragisch  heifsen 
würde.  Finstre  Bilder,  Beispiel  und  Traum,  schweben  voran;  der  ver- 
stimmte, zerrüttete  Mensch  läfst  sich  fortschleppen  von  den  Veranlassungen 
Hier  ist  dolus  und  culpa  zugleich.  Der  dolus  liegt  in  den  Vorstellungs- 
massen, welche  handelnd  hervortreten;  die  culpa  in  den  andern,  die  sich 
zum  Widerstände  erheben  sollten,  und  wirkungslos  blieben.  Und  dennoch 
—  obgleich  die  Handlung  frey  zu  nennen  ist,  erblickt  man  keinen  freyen 
Mann.  Immer  noch  behält  das  Unglück  seinen  Theil  an  der  That;  und 
recht  eigentlich  ist  der  Thäter  ein  armer  Sünder ;  eine  Benennung,  worauf 
jener  kalt  berechnende   Brenner  keinen   Anspruch  hat. 

Keiner  von  diesen  Fällen  zeigt  den  Gipfel  der  Bosheit,  die  eigent- 
liche Tücke.  Andrerseits  sinkt  auch  keiner  bis  zu  solcher  Milderung  des 
Urtheils  herab,  wie  jene  Handlung  einer  Mutter,  die,  nach  eignem  Bey- 
spiele  ein  klägliches  Leben  für  ihre-  Töchter  fürchtend,  ihnen  lieber  einen 
sanften  Tod  giebt.      Darin  lag  ein  Misgriff  in  guter  Meinung. 

3  Sollen  wir  nun  noch  sagen,  dafs  die  Zurechnung  eine  Gröfse  hat, 
welche  wächst  und  abnimmt?  —  Und  dafs  die  Strafe  mit  der  Zu- 
rechnung wachsen  und  abnehmen  sollte?  —  Wenn  nun  schon  jenem 
armen  Sünder  die  geschärfte  Todesstrafe  zuerkannt  wird;  ja  wenn  der  Un- 
glückliche, der  die  Hinrichtung  wünschte,  zur  Strafe  ein  schmachvolles  Leben 
fortsetzen  mufs:  welche  ausgesuchte  Pein  soll  jenem  Brenner  bestimmt 
werden,  bey  welchem  die  Zurechnung,  wenn  die  übrigen  Umstände  gleich 
wären,  ohne  Vergleich  höher  steigen  müfste?  —  Ist  es  unsern  Criminalisten 
so  überaus  leicht,  die  Todesstrafe  gegen  stets  erneuerte  Einwürfe  zu  £205] 


1  Der  vorstehende  Text:  „Zuvörderst (S.  161  Z.  20  v.  ö.)  mora- 
lisches Bewufstseiir'  findet  sich  in  Kapitel  17  der  II.  Ausg.  (Siehe  unten  S.  192 
bis    193. 

2  Der  folgende  Text:  „Dennoch  .  .  v.  herab,  wie"  (14  Zeilen  weiter)  findet 
sich   wörtlich   in   Kapitel    17   der  II.  Ausg.      (Siehe  unten   S.    192  — 193.) 

3  Die  folgenden  2  Sätze:  „Sollen  wir  ....  abnehmen  sollte?"  finden  sich 
wörtlich  am  Schlufs  des   17.  Kap.  der  II.  Ausg.     Vergl.  S.    193. 


i.   Abschnitt.     Elementarlehre.      14.   Capitel.     Vom   Leben.  163 

vertheidigen,  dafs  sie  dieselbe  nicht  etwa  (wie  man  erwarten  könnte)  den 
seltenern  Fällen  einer  ganz  klaren  Zurechnung  vorbehalten,  sondern  die 
Hülfe  der  Psychologie  und  der  Ethik  von  sich  stofsen,  damit  die  Gränz- 
linien,  die  sich  zwischen  den  Verbrechen  ziehen  lassen,  ja  nicht  zum  Vor- 
schein kommen  mögen?   — 


[206]      Vierzehntes   Capitel. 

Vom  Leben. 

123.1  Empfindung,  Anschauung,  Phantasie,  Vorstellungsreihen  und  deren 
Reizbarkeit,  Fühlen,  Begehren,  Wollen,  logisches,  ästhetisches,  moralisches 
Urtheil,  der  Charakter  selbst,  —  alles  dies,  sammt  Wachen,  Schlafen,  Träumen, 
erscheint  manchen,  jedoch  nicht  allen,  Physiologen  als  eine  Summe  von 
Lebenszeichen;  wohin  dann  ferner  die  grofsen  Familien  der  Vegetation, 
der  Irritabilität,  der  Sensibilität  gerechnet  werden.  Denn  schon  die  Pflanze, 
welche  nur  wächst,  besitzt  Leben;  das  Thier,  versehen  mit  irritabeln 
Muskeln,  und  mit  Sinnes-Werkzeugen,  hat  ein  höheres  Leben;  wenn  nun 
beym  Thiere  Leben  und  Seele  einerley  wäre, 2  —  wenn  man,  um  sich  ja 
recht  süfslich  oder  doch  recht  zweydeutig  auszudrücken,  einen  beynahe 
romantisch  klingenden  Ausdruck,  die  Psyche,  beides  oder  auch  nach  Be- 
lieben abwechselnd  eins  von  beiden  bezeichnen  läfst:  warum  sollte  denn 
beym  Menschen,  der  den  Physiologen  nur  ein  Thier  ist,  mit  dem  man 
nicht  experimentiren    darf,    die    Seele    vom    Leben    unterschieden    werden? 

Jedenfalls  ist  das  Leben  ein  Erfahrungsgegenstand;  die  Seele  aber 
ganz  und  gar  nicht.  Betrachten  wir  also  für's  erste  das  Leben,  und  später- 
hin die  Seele.  Zwar  haftet  an  der  Betrachtung  der  Seele,  als  eines  selbst- 
ständigen Wesens,  ein  sehr  starkes  praktisches  Interesse,  nämlich  das  der 
Unsterblichkeit.  Allein  es  ist  an  diesem  Orte  noch  nicht  nöthig,  dasselbe 
in  Anspruch   zu  nehmen. 

[207]  Das  Leben  ist  das  Land  der  Wunder;  und  die  nüchternste 
Erfahrungsweisheit  kann  sich  hier  vom  Erstaunen  nicht  trennen.  Zwischen 
dem  Erklärbaren  und  dem  Unerklärlichen  einige  Gränzlinien  zu  ziehen, 
ist  der  nothwendige   Anfang  der  wissenschaftlichen  Abstraction. 

So  z.  B.  kann  man  bey  der  Irritabilität  die  zweckmäfsige  Einrichtung 
der  Muskeln,  welche  nur  mit  religiösem  Sinne  aufzufassen  ist,  in  Ge- 
danken absondern  von  der  Frage:  wie  die  Zusammenziehung  der  Muskeln 
an  sich  möglich  sey?  Offenbar  nämlich  ist  diese  Möglichkeit  die  erste 
Voraussetzung  kunstvoller  Anordnung  und  Verbindung  so  vieler  verschiedenen 
Muskeln  an  passenden  Orten;  aber  das  Vorausgesetzte  ist  noch  nicht  die 


1  In  der   II.   Ausgabe    12  2. 

»  Hier  fügt  die  II.  Ausg.  folgende  Worte  ein:  „warum  sollte  denn  beim 
Menschen  die  Seele  vom  Leben  unterschieden  werden?  Hierin  liegt  eine 
der  gefährlichsten  Klippen".  Dagegen  fehlen  in  der  II.  Ausg.  die  folgenden  Worte : 
„wie  man  ....  unterschieden  werden  (Schlufs  des  Absatzes). 

11* 


l()A  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

bewundernswürdige  Kunst  selbst.  Eben  so  ist  blofse  Vegetation  in  krank- 
haften Auswüchsen  nichts  zweckmäfsiges ;  aber  die  allgemeine  Frage  von 
der  Möglichkeit  der  Vegetation  trifft  die  Auswüchse  eben  so  wohl  als  die 
gesundesten  Theile  des  Leibes.  Von  der  Sensibilität  gilt  das  nämliche; 
in  den  Sinnentäuschungen  des  Kranken  bleibt  sie  stets  ein  natürliches, 
obwohl  kein  zweckmäfsiges  Ereignifs. 

1  Im  vorhergehenden  Capitel  war  von  Zweckmäßigkeit  nicht  die  Rede. 
Soll  sie  in  die  Vorstellungsreihen  gelegt  werden,  so  ist  dies  Sache  der 
Erziehung  und  geselligen  Bildung;  darnach  richtet  sich  alsdann  die  geistige2 
Regsamkeit.  Hier  aber,  wo  wir  nicht  das  sogenannte  Leben  des  Geistes, 
sondern  das  Leben  des  Leibes  bey  schlafendem  oder  wachendem  Geiste,  oder 
auch  eben  so  wohl  das  geistlose  Pflanzenleben  —  also  das  eigentliche  Leben, 
welchem  der  Geist  zufällig  ist,  im  Auge  haben:  hier  findet  sich  nicht 
blofs  ein  auffallender  Unterschied  zugleich  von  Geist  und  von  roher  Materie, 
sondern  eben  hier  auch  findet  sich  die  offenbarste  Zweckmäfsigkeit,  welche 
überhaupt  dem  Blicke  des  Menschen  erreichbar  ist. 

Wir  rechnen  in  diesem  Buche  überall  auf  die  reine  Empfänglichkeit 
des  gebildeten  Lesers,  nicht  aber  auf  Verbildung  durch  falsche  Systeme. 
Daher  ist  hier  kein  Widerstreben  gegen  die  natürliche  Auffassung  des 
Zweckmäfsigen  zu  erwarten;  [207]  sondern  wir  setzen  voraus,  man  nehme 
dasselbe  wie  es  sich  giebt;  und  knüpfe  nun,  ohne  Quälerey  mit  idealistischen 
Zweifeln,  den  religiösen  Glauben  daran,  als  an  ein  Gegebenes  und  nicht 
blofs  Postuliries.  Dann  ist  geschehen  was  sich  gebührt;  und  so  mufs  es 
bleiben;  ungetrübt  durch  Einwürfe,  gegen  welche  der  gebildete  Mann  ruhig 
die  Metaphysik  mag  wirken  lassen. 

124.  Aber  auf  allgemein  verbreitete  Vorurtheile  müssen  wir  freylich 
auch  hier  gefafst  seyn.*  Hieher  gehört  nun  zwar  nicht  ganz,  aber  doch 
nach  der  gewöhnlichen  Auffassung,  der  alte  Satz:  Der  Mensch  besteht  aus 
Leib   und  Seele. 

Und  wie  nun,  wenn  Einer  die  Seele  herausnehmen  könnte?  Dann 
wäre  der  Leib  todt? 

Haben  denn  die  Pflanzen  auch  eine  Seele?  Und  ist  an  deren  Gegen- 
wart das  Leben  der  Pflanzen  gebunden? 

Ein  Alter  sagte  scherzweise:  dem  Schwein  sey  die  Seele  gegeben 
statt  des  Salzes,  damit  es  nicht  faule.  Das  ist  schon  zuviel  gesagt.  Die 
Pflanzen  haben  keine  Seele,  und  leben  doch.  Beschneidet  man  den  Baum 
an  einem  Orte,  so  wuchert  er  desto  stärker  am  andern.  Nimmt  man  dem 
Rosenstock  die  ersten  Knospen,  so  blüht  er  später.  Keine  Blumenseele 
war  mit  den  Knospen  verloren. 


1  Hier  beginnt  in  der  II.  Ausg.    123. 

2  „geistige"    fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

*  Vielleicht  auch  auf  Leser,  die  noch  nicht  wissen,  dafs  die  Gegenstände,  von 
denen  hier  etwas  Weniges  mitgetheilt  wird,  zu  den  allerschwierigsten  gehören.  Man 
schlage  die  Metaphysik  nach,  dort  stehn  sie  ganz  am  Ende.  s 

3  Die  Anmerkung  fehlt  in  der  II.  Ausg. 


a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausgabe  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausgabe. 


I.   Abschnitt.      Elementarlehre.      14.   Capitel.      Vom   Leben.  165 


Man  schreibe  nun,  'um  ein  für  allemal  den  Unterschied  zwischen 
Seele  und  Leben  zu  merken,  jene  geistige  Regsamkeit,  von  welcher  im 
vorigen  Capitel  die  Rede  war,  der  Seele  zu:  einem  ganz  einfachen,  an 
sich  unräumlichen  Wesen,  das  mit  der  Materie,  wie  sie  den  Sinnen  er- 
scheint, gar  keine  Aehnlichkeit  hat.  Das  Leben  aber  gehört  der  Materie, 
und  findet  sich  bey  Thieren  und  Pflanzen  nur  darum  im  Ganzen,  weil 
es  in  allen  Theilen,  wiewohl  nicht  in  allen  [209]  einerley,  sondern  eben 
so  verschieden  ist,  als  diese  Theile  in  ihren  organischen  Functionen  sich 
zeigen.  So  hat  die  Lunge  ein  andres  Leben  als  der  Magen,  das  Blut 
ein  andres  Leben  als  das  Mark.  Aber  nicht  minder  die  flüssigen  Theile 
sind  belebt  als  die  vesten;  denn  zwischen  Flüssigkeit  und  Vestigkeit  schwebt 
im  lebenden  Leibe  Alles  unaufhörlich,  so  dafs  man  weder  den  Begriff  des 
starren  noch  dena  des  flüssigen  Körpers,  streng  genommen,  darauf  an- 
wenden kann. 

Jenes  unedle  Thier  hat  Leben  so  gut  wie  ein  andres.  Es  hat  über- 
dies auch  eine  Seele,  die  jedoch  den  Dienst  des  Salzes  nicht  leisten 
kann.  Sie  dient,  damit  das  Thier  nicht  eine  Pflanze  sey,  sondern  sehe 
und  höre,   sich   bewege  und  seine   Nahrung  suche. 

125.  Ehe  wir  weiter  gehn,  ist  es  zweckmäfsig,  den  Begriff  des 
Leichnams  zu  betrachten.  Dieser  ist  das  Gegentheil  des  Lebenden,  aber 
eben  so  sehr  das  Gegentheil  der  rohen  Materie,  die  niemals  gelebt  hat. 
Denn  der  Leichnam  ruhet  nicht;  er  mufs  verwesen,  wenn  es  nicht  ge- 
waltsam gehindert  wird.  Auch  ist  er  nicht  so  einfach  und  schlechtweg 
die  Negation  des  Lebenden,  dafs  zwischen  beiden  nichts  in  der  Mitte 
stünde.  Der  Scheintod  —  ein  still  stehendes  Leben  —  steht  allerdings 
in  der  Mitte;  und  zwar  nicht  blofs  bey  Kranken,  sondern  auch  bey 
Thieren  im  Winterschlafe;  bey  Eyern  und  Saamenkömern,  deren  Entwicklung 
verspätet  wird;  und  vielleicht  am  merkwürdigsten  bey  den  in  Felsen  gefun- 
denen Kröten,  welche  aus  dem  zerschlagenen  Gestein  hervorkamen,  und  von 
denen  niemand  weifs,  wie  lange  sie  dort  können  eingeschlossen  gewesen  seyn. 

Während  auf  alle3  diese  Gegenstände  der  Begriff  des  Leichnams  nicht 
kann  angewendet  werden,  pafst  er  dagegen  auf  alle  diejenige  Materie, 
welche  luährend  des  Lebens  ausgeschieden  wird.  Sie  mufs  auch  verwesen. 
Aber  bekanntlich  thut  sie  das  in  gewissen  Fällen  viel  zu  langsam  für 
unsre  Wünsche.  Der  Peststoff,  das  Blattern-  oder  Scharlach -Gift  ent- 
zündet nur  zu  lange,  nachdem  es  ausgeschieden  war,  [210]  in  gesunden 
Leibern  die   Krankheit,  wodurch  zuvor  es  selbst  erzeugt  worden  war. 

Wiederum  mag  man  hiemit  die  Kraft  des  Düngers  vergleichen,  die 
allen  Leichnamen  zukommt.  Auch  hier  zeigt  sich  ein  scheinbar  erloschenes 
Feuer  noch   o-Hmmend  und  wärmend. 

Endlich  —  damit  die  Betrachtung  den  gebührenden  Umfang  gewinne, 
—    wollen    wir   dem    Scheintode    noch    den   Schlaf   gegenüber    stellen.      In 


1  Die  folgenden  "Worte:    „um  ein  für  ....  zu  merken"  fehlen  in  der  II.  Ausg. 
3   „alle"  fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

2  „den"  fehlt   in   SW. 

a  SW.    drucken    nach    der   II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


l66  II-    Kurze  Encyklodädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

ihm  erhohlt  sich  ein  Theil  des  Leibes  von  den  ihm  zufälligen  Aufregungen 
durch  die  Seele.  Wiederum  in  der  Seele  sind  nicht  blofs  im  Schlafe  die 
Vorstellungen  gehemmt;  sondern  in  jedem  Augenblicke,  auch  während 
des  vollkommensten  Wachens,  befinden  sich  die  allermeisten  unsrer  Vor- 
stellungen im  Zustande  völliger  Hemmung.  Der  Grund  dieser  Hemmung 
liegt  in  dem   Gegensatze   der  Vorstellungen  unter  einander. 

Von  allen  den  hier  berührten  Gegenständen  kann  nun  freylich 
keiner  in  diesem  Buche  eigentlich  abgehandelt  werden.  Aber  bey  Er- 
fahrungs-Gegenständen mufs  schon  bey  der  ersten  Vorbereitung  zum  Nach- 
denken die  Aufmerksamkeit  soviel  als  möglich  über  das  Feld  dessen,  was 
sich  vergleichen  läfst,  ausgebreitet  werden;  wenn  man  sich  gegen  die  Irr- 
thümer  der  Einseitigkeit  sichern  will.  * 

126.  Es  ist  jetzt  Zeit,  zu  unterscheiden,  was  wir  wahrnehmen,  und 
was  wir  hinzudenken.  Das  Aeufsere  nehmen  wir  wahr;  ein  Inneres 
denken  wir  hinzu,  oder  sollen  es  wenigstens  hinzudenken;  2denn  Gedanken- 
losigkeit in  diesem  Puncte  ist  eine  der  schlimmsten  Blöfsen,  die  man  dem 
andringenden   Irrthum  geben  kann. 

Und   wie   denn    ist   das    Hinzugedachte   beschaffen  ?    Sind   es    Kräfte, 


1  Nach  den  Worten:  „der  Einseitigkeit  sichern  will."  hat  die  II.  Ausg. 
folgenden  Zusatz: 

Wir  verweilen  einen  Augenblick  bey  diesem  Puncte,  ohne  darum  der  Me- 
thodenlehre (welche  hier  noch  absichtlich  vermieden  wird)vorgreifen  zu  wollen. 

Die  meisten  Naturforscher  bekennen,  ihre  Ansichten  seyen  durch 
Induction,  das  heifst,  durch  Vergleichung  ähnlicher  Gegenstände  gewonnen; 
sie  bekennen  auch,  die  Induction  müsse  so  vollständig  seyn  als  möglich. 
Verfolgt  man  diesen  Grundsatz,  so  darf  man  die  Augen  nicht  gegen  einen 
Theil  der  vergleichbaren  Gegenstände  verschliefsen ;  also  auch  weder  auf 
die  lebenden  Körper  allein,  noch  auf  die  todten  Körper  allein,  sein  Augen- 
merk richten,  sondern  man  mufs  beides  verbinden,  und  die  Thatsachen 
von  beiderley  Art  gleichviel  gelten   lassen. 

Andrerseits  suchen  die  Naturforscher  mit  den  Geometern  vom  Be- 
kannten ausgehend  zum  Unbekannten  fortzuschreiten.  Da  sie  nun  viel 
glücklicher  sind  in  der  Auffindung  der  Gesetze,  wonach  sich  die  unbe- 
lebten Körper  richten,  als  in  der  Erkenntnifs  der  lebenden  Natur,  so  ge- 
wöhnen sie  sich,  das  Unbelebte,  welches  am  besten  bekannt  ist,  in  den 
Vordergrund  zu  stellen.  Noch  mehr:  weil  ihnen  die  Geometrie  vortreff- 
liche Dienste  leistet,  so  fassen  sie  die  Körper  zuerst  von  der  Seite  der 
Ausdehnung  auf,  als  ob  man  hintennach  in  den  Begriff  des  Ausgedehnten 
Alles,  was  sonst  noch  von  den  Körpern  zu  sagen  ist,  hineinpflanzen  müfste. 
Aber  sie  dürfen  sich  nicht  beklagen,  wenn  die  Naturphilosophie  sie  an 
jene  Forderung  der  Induction  erinnert,  und  sie  fragt,  ob  solche  Ansichten 
von  den  Körpern,  wonach  nur  unbelebte  Materie  begreiflich  wird,  und  wonach 
lebende  —  ja  sogar  todte,  das  heifst  eigentlich  gestorbene  Körper,  wie 
Holz,  Knochen,  u.  s.  w.  —  unerklärbar  scheinen,  wohl  richtige  Begriffe  ge- 
währen  mögen,   oder  ob   vielleicht  Vorurtheile  mit  unterlaufen? 

2  Statt  der  folgenden  Worte :  „denn  Gedankenlosigkeit  ....  geben  kann" 
hat  die  II.  Ausg.:   „die  angeführten   Unterschiede  fodern  dazu  auf." 


i.   Abschnitt.     Elementarlehre.      14.   Capitel.      Vom   Leben.  167 

welche  die  Dinge  ein-  für  allemal  haben?  Wollen  wir  der  Pflanze  eine 
Kraft  zuschreiben,  vermöge  deren  sie  grünt  und  blüht  und  Saamen  trägt? 
Gesetzt,  das  wäre  geschehen,  wo  bleibt  nun  ihre  Fähigkeit,  sich  in  Milch 
und  Blut  zu  verwandeln?  Das  Thier,  welches  sie  zum  Futter  wählt,  ver- 
wandelt sie  darin.  Der  Mensch  geniefst  etwa  das  Fleisch  [211]  dieses 
Thiers.  Er  wird  krank;  die  Pest  ergreift  ihn.  Sein  Leichnam  wird  eine 
Giftquelle.  Lag  die  Kraft  dieses  Giftes  in  den  Bestandtheilen  der  Pflanze? 
Nichts  weniger.  Der  Mensch  konnte  gesund  bleiben.  Er  konnte  andre 
Nahrung  geniefsen.  Das  Thier  konnte  andres  Futter  finden.  Die  Pflanze 
starb  alsdann  den  natürlichen  Tod  der  Pflanzen.  Nichts  von  allem,  was 
sie  nachmals  litt1   und   that,  war  in   ihr  vorbestimmt. 

Dieser  ganze  Kreis  von  Betrachtungen  zeigt  nicht  Dinge,  wie  sie 
sind,  sondern  Dinge,  wie  sie  werden.  Er  zeigt  auch  nicht  Kräfte,  als 
solche  und  keine  andern,  sondern  Thun  und  Leiden  in  Folge  des  Werdens; 
und   ein  Werden  in   folge  des  Zusammentreffens. 

2  Wir  haben  aber  noch  einen  andern  Kreis  von  Wahrnehmungen,  der 
kein  Aeufseres,  sondern  ein  Inneres  darbietet.  Man  kennt  ihn  aus  dem 
vorigen   Capitel;   und   es  ist  hier  der  Ort,   daran  zu   erinnern. 


1  nochmals    I.  Ausg.a 

2  Statt  der  Worte:  „Wir   haben    aber  ....  ZU    erinnern"   hat  die  II.  Ausg. 
Folgendes : 

Wollte  man  das,  was  die  verschiedenen  Definitionen  des  Lebens 
eigentlich  sagen  wollen  (man  denke  an  des  Hyppokrates  eingeborne  Wärme, 
Helmonts  Archäus,  Stahls  Seele,  an  des  Sylvius  Gährungsstoff,  Browns 
Erregbarkeit  u.  s.  w.),  deutlicher  aussprechen,  so  könnte  man  die  Worte 
so  fassen:  Leben  ist  ein  mannigfaltiges,  meist  in  sieh  zurücklaufendes,  ab- 
solutes Werden,  für  eine  Zeitlang  geliehen  einem  Stoffe,  welcher  früher  war, 
später  bleibt,  und  während  der  Lebensdauer  iheils  zunimmt,  theils  abnimmt. 
Zum  Unglück  ist  das  absolute  Werden  ungereimt,  das  in  sich  zurück- 
laufende absolute  Werden  noch  ungereimter,*  und  wenn  es  dem  Stoffe 
blofs  geliehen  würde,  müfste  man  ihn  für  bezaubert  halten.  Aber  der 
Stoff,  die  unzweifelhafte  Basis  des  erfahrungsmäfsig  bekannten  Lebens, 
leihet  nicht  blofs,  sondern  er  erlangt  innere  Bestimmungen,  die  ihm  auch 
nach  erloschenem  Leben  noch  bleiben;  und  wiewohl  im  gesunden  Leben 
diese  Bestimmungen  zweckmäfsig  geordnet  sind  und  zusammenwirken,  so 
sind  sie  doch  nicht  die  einzigen  möglichen,  sondern  das  kranke  Leben 
kann  sie  mannigfaltig  abändern.  Auch  läuft  das  gesunde  Leben  nur 
scheinbar  in  sich  zurück,  denn  es  bedarf  der  Nahrung,  sonst  folgt  der 
Hungertod;  und  das  kranke  Leben  weicht  aus  seinem  Kreise,  indem  der 
Kranke  geheilt  wird  oder  stirbt. 

Nach    allem    Diesen    würden    die    gesuchten    innern     Bestimmungen 

immer  noch  schwer  zu  errathen  seyn,  wenn  sie  nicht  —  ihrem  allgemeinsten 

Begriffe  nach   —   schon  bekannt   wären.      Sie  sind    angedeutet,    indem   wir 

die  Betrachtung  der  geistigen   Regsamkeit  voranschickten.      Man  vergleiche 

das  vorige   Capitel. 

*  Lehrblich  zur  Einleitung  in   die  Philosophie,   vierter  Abschnitt,   zweytes  Capitel. 

a    SW  drucken  nach  der  II.  Ausgabe  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


j(33  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


127.  Gleich  Anfangs  (115.)  fanden  wir  in  der  Empfindung  zwar  nur 
einen  innern  Zustand.  Aber  dieser  Zustand  blieb  nicht  allein;  andre,  und 
zwar  entgegengesetzte  Zustände,  gleichfalls  innere  Bestimmungen,  kamen 
hinzu.  Nun  waren  die  Entgegengesetzten  nicht  aufser  einander,  denn  wir 
setzten  Einen  Empfindenden  voraus,  der,  indem  er  spricht:  Ich  empfinde, 
die  entgegengesetzten  Empfindungen  vereinigt  und  verarbeitet;  doch  so,  dafs 
sein  Verarbeiten  sich  nach  dem  Empfinden  richtet,  indem  aus  dem  ruhigen 
Empfinden  das  bewegliche  und  regsame  Anschauen  hervorgeht.  Dabey  ist 
wohl  zu  bedenken,  was  oben  nicht  ohne  Grund  sorgfältig  entwickelt  wurde, 
dafs  nämlich  die  verschiedenen  Empfindungen  nicht  etwa  so  schlechtweg 
in  Ein  Subject  zusammenfallen,  wie  wenn  dies  Subject  ein  Gefäfs  wäre, 
worin  allerley  bunt  durch  einander  gemengt  wird;  sondern  dals,  gemäß 
der  Ordnung  und  Folge,  worin  die  Empfindungen  theils  gleichzeitig,  theils 
nach  einander  eintreten,  —  und  überdies,  geniäfs  dem  Giad  ihres  Gegen- 
sazfes,  (der  in  manchen  Fällen  auch  gleich  Null  ist,)  sich  Reihen  bilden, 
welche  [212]  Reihen  tveiterhin  die  Wirksamkeit  bestimmen,  die  in  ihnen 
jedes  einzelne  Element  gegen   die  übrigen  äufsert. 

Man  wird  wohl  thun,  sich  hiebey  der  mehrern  Deutlichkeit  wegen 
sogar  die  Reihen  von  Menschen  im  Staate  zu  vergegenwärtigen,  von  wel- 
chen oben  (89.)  bemerkt  wurde,  der  Staatskünstler  werde  sich  hüten, 
nach  Belieben  mit  ihnen  zu  experimentiren.  Jedoch,  die  Menschen  sind 
im  Staate  aufser  einander,  wenn  sie  schon  dicht  beysammen  wohnen;  ja 
sie  kennen  oft  einer  den  andern  nicht,  wenn  sie  schon  Nachbarn  sind. 
Aber  die  Empfindungen,  welche  in  Einem  Bewulstseyn  beysammen  sind, 
werden  durch  Nichts  getrennt,  aufser  in  so  fem  sie  theilweise  einer 
Hemmung  unterliegen.  Aus  der  Hemmung  entsteht  Spannung;  aus  der  Span- 
nung entsteht  unter  gewissen  Bedingungen  Wirksamkeit;  und  aus  der 
Wirksamkeit  ein  Schein  oder  vielmehr  eine  Meinung  von  allerley  Kräften, 
welche  der  Unbehutsame  für  inwohnende  Eigenschaften  der  Dinge  zu 
halten  pflegt.  l  Wir  müssen  aber  den  Leser  ersuchen,  sich  vor  solchem 
Meinen   zu  hüten. 

128.  Zwar  bey  weitem  nicht  Alles,  was  von  der  geistigen  Regsam- 
keit bekannt  ist,  aber  wohl  den  ganz  einfachen  Uebergang  von  innen/ 
Zuständen,  (welche  der  Mensch,  der  sie  in  sich  findet,  eben  deshalb  und 
in  so  fern  Empfindungen  nennt,)  — •  zu  gegenseitiger  Hemmung,  Spannung, 
und  Wirksamkeit:  diesen  Uebergang  denke  man  in  jedes  einzelne  Element 
eines  lebenden  Leibes  hinein.  Und  nun  glaube  man  vorläufig  der  Erfahrung, 
dafs  solche  Elemente,  die  räumlich  verbunden  sind,  gemäls  ihren  innern 
Zuständen  auch  ihre  äufsere  Lage  bestimmen;  so  dafs  mit  jenen  auch  diese 
sich  verändert,  also,  dafs  von  den  innern  Zuständen  auch  die  Bewegungen, 
mithin  die  räumlich  bestimmten  Erscheinungen  abhängen.  Wie  das  zugehe, 
und  warum  es  so  geschelm  müsse,  läfst  sich  im  Allgemeinen  erklären.* 
Das  offenbarste  und  bekannteste  [212]  Beyspiel  davon  giebt  die  Gewalt 
des  Willens  über  den  ihm  dienstbaren  Leib,  dessen  Nerven  dergestalt 
vom  Willen  abhängen,  dafs  in  den   zugehörigen  Muskeln   eine  mechanische 


1  Die  folgenden  Worte:   „Wir  müssen  ....  zu    hüten"   fehlen  in  der  II.  Ausg. 
*  Metaphysik  II.   §   267  —  278.   [Bd.   VIII.   vorl.   Ausg.] 


I.   Abschnitt.     Elementarlehre.      14.   Capitel.     Vom  Leben.  169 


Kraft  entsteht,  durch  welche  wir  in  der  Aufsenwelt  handelnd  auftreten. 
Es  ist  zwar  Niemandem  zu  verdenken,  wenn  er  über  diese  Verbindung 
zwischen  Leib  und  Seele  sich  wundert;  aber  dafs  man  erst  zu  wissen 
meint,  was  die  Dinge  seyen,  und  welche  Kräfte  sie  haben,  und  hintennach 
sich  wundert,  wenn  aus  diesem  Seyn  und  Haben  weder  Empfindung  noch 
Bewegung  zu  erklären  ist,  dies  zeigt  eine  falsche  Richtung  der  Gedanken, 
die  man  aufgeben,  ja  umkehren  mufs. 

Der  erste  und  allgemeinste  Grundsatz  aller  wahren  Naturphilosophie 
ist  dieser,   dafs  innere    und   äufsere   Zustände  sich  gegenseitig  bestimmen. l 

Dieser  Grundsatz  pafst  nicht  blofs  auf  Seele  und  Leib,  sondern  auch 
auf  die  Theile  des  Leibes  in  ihrem  gegenseitigen  Verhältnifs.  Er  pafst 
nicht  blofs  nicht  auf  thierische  Leiber,  sondern  auch  auf  die  Saamen  der 
Pflanzen,  welche  in  jedem  Korn  das  ganze  System  der  innern  Zustände 
enthalten,  wodurch  die  Gestalt  der  wachsenden  Pflanze  in  der  ganzen 
Reihe  ihrer  Metamorphosen  bestimmt  wird.  Er  pafst  endlich  auf  Kry- 
stalle,  auf  alle  chemischen  Verbindungen  und  Zersetzungen,  wovon  weiter- 
hin. Ehe  wir  von  der  Anwendung  dieses  Grundsatzes  sprechen,  ist  noch 
eine  Warnung  nöthig. 

129.  Nichts  ist  leichter,  nichts  verführerischer, 2  aber  auch  nichts  ver- 
kehrter und  für  alle  genauere  Untersuchungen  verderblicher,  als  bey  der 
Betrachtung  des  Lebens  sich  in  das  blofse  Wechseln  und  Werden  zu  ver- 
tiefen. Es  ist  schon  unklug,3  wenn  ein  Staatsmann  von  Gesetzen  und 
von  der  Herrschaft  der  Gesetze  redet,  ohne  zu  überlegen,  welche  denn 
die  Personen  seyen,  denen  Lust  und  Macht  inwohne,  die  Gesetze  zu  be- 
folgen und  zu  schützen.  Gesetze  sind  ein  reines  Nichts,  ohne  den  Willen, 
der  sie  in  Ausübung  bringt  und  erhält.  Es  ist  aber  noch  viel  unkluger4, 
von  Naturgesetzen  etwas  zu  erwarten  ohne  Voraussetzung  einer  vesten, 
sich  durchaus  gleich  bleibenden  Natur  der  [214]  Dinge.  Sich  selbst  gleich 
und  unwandelbar  mufs  zuerst  Etwas  seyn;  5wo  Nichts  ist,  da  wird  auch 
Nichts.  Das  Sinnloseste  aber  von  allem  wäre,  (was  leider!  zu  den  alten 
Vorurtheilen  gehört,)  Substanzen  anzunehmen,  von  denen  man  ganz  ge- 
lassen aussagen  dürfte,  sie  wären  das  Beharrliche,  was  dem  Wechsel  zum 
Grunde  läge,  und  ihn  geschehen  liefse,  ohne  sich  um  ihn  zu  bekümmern, 
und  ihn  zu  bestimmen.  In  dem  Beharrlichen  hat  die  Festigkeit  der  Ge- 
setze den  Grund  ihrer  Xothivendigkeit.  Weil  es  ein  solches  und  kein 
andres  ist,  darum  wird  der  Wechsel  von  solchen  und  keinen  andern  Ge- 
setzen regiert. 


1  Zu  dem  Worte:    „bestimmen"    hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung: 
Will  man  diesen  Satz  lieber  eine  Hypothese,  ja  selbst  eine  sehr  gewagte  Hypothese 

nennen,   so  wollen  wir  hier  nicht  darüber  streiten,   und  zwar  aus  dem   einfachen  Grunde 
nicht,   weil  es  hier  nicht  unsre  Absicht  ist,   Metaphysik  vorzutragen. 

2  Der  folgende  Satz:    „aber   auch    ....    verderblicher1    fehlt  in  der  II.  Ausg. 

3  „unpassend,"   statt  „unklug"  II.  Ausg. 

1  „unpassender",   statt  „viel   unkluger"  II.  Ausg.  a 

5    Die  folgenden  Worte :    „wo  Nichts   ist ihn    zu   bestimmen"    (5   Zeilen 

weiter)  fehlen   in  der   II.  Ausg. 

a  SW  merken   die  Abweichung  nicht  an. 


Ijq  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

Aber  hieher  gehört  auch  der  bekannte  Satz :  die  Dinge  an  sich  kennen 
wir  nicht.  Dieser  Satz  ist  richtig;*  und  auf  ihn  bezieht  sich  das  zuvor 
Gesagte:  man  möge  nicht  glauben,  zu  wissen,  was  die  Dinge  seyen  und 
welche   Kräfte  sie  haben. 

130.  Ferner  mufs  man  sich  hüten,  über  dem  Zusammenhange  der 
Natur  die  Vielheit  der  gesonderten  Dinge  aus  den  Augen  zu  verlieren. 
Die  Erfahrung  zeigt  Vieles,  und  zwar  vieles  Selbstständiges.  Die  genauere 
Naturkenntnifs  entdeckt  manche  auf  den  ersten  Blick  nicht  sichtbare  Ab- 
hängigkeit des  Einen  vom  Andern;  so  z.  B.  findet  sie,  dafs  alle  Theile 
der  Erde  durch  eine  gegenseitige  Anziehung  beysammen  bleiben;  dafs 
eben  diese  Anziehung  den  Mond  bey  der  Erde,  und  wiederum  die  Erde 
bey  der  Sonne  erhält,  u.  s.  w.  Nun  kommen  die  Systeme  mit  grundloser 
Uebertreibung.  Weil  Alles  zusammenhängt,  meinen  sie,  Alles  sey  Eins. 
Dabey  begegnen  ihnen  die  ungeheuersten  Ueberschätzungen  des  Zu- 
sammenhangs.** Denjenigen  aber,  die  sich  lieber  auf  Erfahrung  als  auf 
Systeme  verlassen,  sollte  man  gar  nicht  nöthig  haben,  mit  einer  Warnung 
über  diesen  Punct  beschwerlich  zu  fallen.  Oder  sagt  ihnen  etwa  die  Er- 
fahrung, wenn  der  Mond  einen  Fixstern  bedeckt,  dann  sey  in  der  Wirklich- 
keit eine  Wechsel  [2 1 5] Wirkung  zwischen  dem  Sterne  und  dem  Monde 
vorhanden?  Jedermann  weifs,  dals  die  ganze  Erscheinung,  die  man  Stern- 
bedeckung nennt,  sich  auf  den  Standpunct  des  irdischen  Zuschauers  be- 
zieht, und  ohne  diesen  durchaus  nichts  bedeutet.  Eben  so  können  unter 
den  zahllosen  Analogien,  welche  die  vergleichende  Anatomie  antrifft,  gar 
viele  sevn,  die  weiter  nichts  sind,  als  eben  Vergleichungen ,  das  heifst, 
Gedanken  im  Kopfe  des  Beobachters.  1  Wenigstens  liegt  darin  nichts,  was 
den  Satz,  Alles  ist  Eins,  begründen  könnte;  und  es  ist  blofse  Unwissen- 
heit, wenn  Einige  in  diesem  Puncte  den  Untersuchungen  der  Metaphysik 
vorgreifen,   die  das  gerade   Gegentheil  lehren.*** 

131.  Nach  diesen  Vorerinnerungen  wird  verständlich  seyn,  was  zur 
Anwendung  des  allgemeinen  Grundsatzes  (128.)  auf  den  vorliegenden 
Gegenstand  dient. 

Die  Bestandtheile  organischer  Leiber  können  zwar  mannigfaltig  seyn 
in  Ansehung  ihrer  ersten,  ursprünglichen  Qualität.  Wenn  aber  diese  Voraus- 
setzung zum  Grunde  gelegt  wird :  so  führt  sie  auf  den  Begriff  eines  starren 
Körpers.1"  Das  war  auch  nicht  anders  zu  erwarten.  Aus  dem  Gegensatze 
zwever  Elemente  mag,  wie  die  Chemie  in  der  Erfahrung  nachweiset,  ein 
Körper  entstehen:  so  wird  die  Beschaffenheit  dieses  Körpers  eben  so  vest 
bestimmt  seyn,  als  die  Qualitäten  der  Elemente.  Da  ist  nichts  von  Leben 
zu  spüren. 

*  Metaphysik  §   199.    200.   [Bd.   VII  vorl.  Ausg.] 

**  Ebendas.   §    155.   413. 

***  Metaphysik  II.  §  213  — 229. 

t  Metaphysik  II.  §  274.  Es  wird  sogleich  im  folgenden  Capitel  mehr  davon  ge- 
sagt werden.  Die  Ordnung,  in  welcher  die  Untersuchung  fortschreitet,  ist  hier  absichtlich 
umgekehrt.  Wir  können  hier  nicht  untersuchen,  sondern  nur  von  der  am  angeführten 
Orte  aufgestellten  Untersuchung  Bericht  erstatten,  und  noch  überdies  nur  einen  sehr 
kurzen  Bericht;   über  das   Resultat,   nicht   über  die  Gründe! 

1  Der  folgende  Satz:  „Wenigstens  liegt  darin  ....  Gegentheil  lehren" 
nebst  der  dazu  gehörenden  Anmerkung  fehlen  in  der  II.   Ausg. 


I.   Abschnitt.     Elementarlehre.      14.   Capitel.      Vom  Leben.  171 

Setzen  wir  also  die  Verschiedenheit  in  den  ursprünglichen  Qualitäten 
bey    Seite,    damit    ihr    Product    uns    nicht    schon    in   Gedanken    erstarren 

möge.      [2I°]- 

Statt  dieser  Verschiedenheit  können  wir  eine  andere  finden,  nachdem 
wir  uns  die  ursprüngliche  Qualität  für  mehrere  Elemente  als  gleichartig 
gedacht  haben.  Denn  in  jedes  Element  sollen  wir  mancherley  innere  Zu- 
stände, sammt  deren  Hemmung,  Spannung,  und  Wirksamkeit  hineindenken 
(127.).  Dies  Mancherley  in  Einem  Elemente  kann  sehr  verschieden  seyn 
von  dem  Mancherley  in  andern  Elementen.  Nun  sollen  die  Elemente 
räumlich  verbunden  seyn,  —  so  wie  etwa  Stickstoff,  Sauerstoff,  Kohlen- 
stoff, Wasserstoff,  in  organischen  Leibern  verbunden  sind.  Mag  dann 
immerhin  aus  Wasserstoff  und  Sauerstoff  Wasser  werden:  wenn  nur  nicht 
zugleich  aus  den  andern  Verbindungen  Kohlensäure,  oder  gar  Salpeter- 
säure entsteht!  Gerade  dies  ist's,  was  wir  vermeiden  wollten.  Verschieden- 
heit der  innern  Zustände  soll  in  gleichartigen  - —  gleichviel  welchen,  — 
Elementen  stattfinden.  Einiger  Kohlenstoff  zum  Beyspiel  mag  in  dieser, 
andrer  Kohlenstoff  in  andern  Pflanzen  schon  früher  vorhanden  gewesen 
seyn.  Und  nun  soll  es  nicht  auf  Verbindungen  zwischen  Kohlenstoff  und 
Sauerstoff  oder  Stickstoff  ankommen,  sondern  auf  Verbindungen  zwischen 
einigem  und  anderm  Kohlenstoff.  Wird  denn  daraus  das  Eigne  der 
Lebenserscheinungen  erklärlich  werden? 

Wir  könnten  eher  fürchten,  zu  viel,  als  zu  wenig  auf  diesem  Wege 
zu  erklären.  Denn  wenn  aus  allen  innern  Zuständen  eines  einzigen  Ele- 
ments solche  unruhige  Regsamkeit  hervorginge,  wie  die  geistige  ist,  die 
wir  kennen:  dann  möchten  mehrere  verbundene  Elemente  solcher  Art  aus 
ihrer  innern  Unruhe  auch  eine  sehr  unhaltbare  äufsere  Lage  erzeugen; 
und  dabey  könnte  man  eher  an  Fieberhitze,  als  an  gesundes  Leben  denken. 

Allein  nichts  nöthigt  uns  zu  solcher  Uebertreibung.  Die  geringste 
innere  Spannung  in  jedem  Elemente,  einzeln  genommen,  giebt  schon 
Wandelbarkeit  ihrer  Verbindung.  Der  einfachste  Anfang  dieser  Unter- 
suchung erfordert  eigentlich  gar  nichts  von  innerer  Spannung,  sondern  nur 
ungleich[2i7]artige  innere  Zustände  in  gleichartigen  Elementen.*  Aber 
woher  nehmen  wir    die    geforderte  Verschiedenheit    der    innem  Zustände.-' 

132.  Das  Reich  der  lebenden  Organismen  ist  bekanntlich  nicht  auf 
einmal  da;  sondern  es  erhebt  sich  stufenweise.  Wasser  und  Erde  können 
nicht  den  Menschen  ernähren.  Thiere  und  Pflanzen  müssen  schon  da 
seyn.  Aber  auch  nicht  die  schlechtesten  Pflanzen.  Vom  Grase  lebt  allen- 
falls das  Pferd,  aber  nicht  der  Mensch.  Das  Gras  schon  will  einen  frucht- 
baren Boden;  einen  Humus,  der  frühere  Vegetation  voraussetzt.  Was 
bedeutet  diese  Stufenfolge?  Nichts  andres,  als  dafs  die  feinere  Nahrung 
ihre  schon  erworbenen  innern  Zustände  mitbringen  mufs.  Diese  innern 
Zustände  bleiben  ihren  Bestandteilen  oder  Elementen,  auch  nachdem  die  or- 
ganische Structur  zerstört  ist.  Von  diesen  innern  Zuständen  hängt  einer- 
seits das  Verwesen  des  Leichnams,  aber  auch  andrerseits  die  Fähigkeit 
ab,  höhere  Organismen  zu  ernähren.  Ihre  Verschiedenheit,  theils  in  ver- 
schiedenen   Pflanzen,    theils    in    verschiedenen    Theilen    derselben    Pflanze, 


*  Metaphysik  II.  §  365  und  426  bis  zu  Ende  des  Werks. 


j-2  IL  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.     1831. 


theils    auf   verschiedenen   Stufen   der   Vegetation,    versteht   sich    ganz   von 
selbst. 

133.  Aber  wo  bleibt,  möchte  Jemand  fragen,  das  praktische  Interesse?  In 
der  That,  wohnte  nicht  die  Seele  im  Leibe,  würde  nicht  die  geistige  Reg- 
samkeit bald  gestützt  bald  gestört  durch  das  leibliche  Leben,  liefse  sich 
die  Psychologie  von  der  Physiologie,  die  praktische  Philosophie  von  der 
Psychologie  ganz  trennen:  dann  dürften  wir  dem  Leser  kaum  zumuthen, 
die  vorstehenden  Sätze  genau  zu  durchdenken.  Hat  aber  die  Sterb- 
lichkeit des  Leibes  schon  so  manche  Zweifel  gegen  die  Unsterblichkeit 
der  Seele  aufgeregt:  so  dürfte  doch  die  Bemerkung  willkommen  seyn, 
dafs  selbst  in  den  Elementen,  woraus  der  Leib  besteht,  die  innern  Zu- 
stände jede  organische  Structur  überdauern.  Der  Tod  ist  sogar  hier  nicht 
das  Ende;  und  wenn  ein  falscher  Materialismus  der  Frömmigkeit  gefähr- 
lich ist,  so  könnte  im  Gegen theil  wohl  ungesucht  ein  Licht  in  die  Physio- 
logie fallen,  wenn  man,  von  Betrachtungen  über  die  geistige  Regsamkeit 
herkommend,  die  Frage  vom  Leben  daran  knüpft,  um  alsdann  zur  Be- 
trachtung der  Materie  hinüberzugehn.  Und  jetzt 1  wird,  nach  dem  Sprich- 
wort: opposiia  iuxta  se  posita  magis  elucescunt,  die  unbelebte,  blofse  Materie 
uns  den  Dienst  leisten,  durch  ihren  Gegensatz  auch  das,  was  im  Vor- 
stehenden  etwa 2  dunkel  scheinen  konnte,  '6  fafslicher  zu  machen. 


1  „bald",    statt   „jetzt"    II.   Ausgabe.» 

2  „etwa"  fehlt  II.   Ausgabe,  b 

3  Nach  den  Worten:  „fafslicher  zu  machen"  hat  die  IL  Ausg.  folgenden 
Zusatz: 

Es  ist  indessen  nicht  blofs  die  Fafslichkeit,  welche  uns  bestimmte, 
das  Leben  früher  als  die  unbelebte  Materie  in  Betracht  zu  ziehn.  Man 
könnte  wohl  andre  Wege  finden,  den  Begriff  der  innern  Zustände,  auf  den 
es  hier  vorzüglich  ankommt,  herbeyzuführen.  Aber  vom  praktischen  Inter- 
esse sind  wir  ausgegangen;  diesem  liegt  gewifs  das  Leben  —  und  sein 
Gegentheil,  der  Tod,  -  -  sehr  nahe,  während  die  unbelebten  Körper  dem- 
selben nur  als  brauchbarer  Stoff,  oder  umgekehrt,  als  eine  Masse  von 
Hindernissen,  die  überwältigt  werden  müssen,  erscheinen.  Eine  solche 
Auffassung  ist  nicht  blofs  einseitig,  sondern  sie  kann  auch  zu  Ueber- 
treibungen  verleiten,  welche  am  Ende  dem  praktischen  Interesse  selbst 
schädlich  werden.  Darüber  soll  hier  eine  kurze  Bemerkung  eingeschaltet 
werden,   die  in   Ansehung  der  neuern   Philosophie  von   Wichtigkeit  ist. 

Fichte  liefs  sich  von  dem  Gedanken  leiten,  die  gesammte  äufsere 
Natur  sey  Etwas,  welches  dem  geistigen  Leben,  seinen  Zwecken,  seiner 
Bestimmung  gegenüber  stelle,  und  der  geistigen  Freyheit  Eintrag  zu  thun 
—    wenigstens  scheine.      Das  sollte  nun,    seiner  Meinung    nach,    nicht    so 

a  und  b  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichungen  der 
I.  Ausgabe. 


II.  Abschnitt.      Elementarlehre.      15.   Capitel.      Von  der  Materie.  173 

Fünfzehntes   Capitel. 

Von  der  Materie. 

134.  Ohne  auf  Meinungen,  Einwürfe,  insbesondere  auf  idealistischen 
Irrthum  hier  Rücksicht  nehmen  zu  können,  verfolgen  wir  den  eingeschlagenen 
Weg.  Die  Verbindung  des  Willens  mit  Nerven  und  Muskeln,  desgleichen 
das  Entstehen  der  Vorstellungen  aus  Affection  der  Sinne,  diese  Thatsachen 
sind  Bey spiele  für  den  allgemeinen  Begriff  des  Zusammenhangs  zwischen 
dem  Aeufsem  und  Innern.  Von  der  Materie  aber  erfahren  wir  nicht  das 
Innere;  daher  das  Vorurtheil,   sie  sey  blofs  träge  Masse  im   Räume. 

Bekanntlich  zieht  die  Sinnpflanze  ihre  Blätter  an  sich,  sobald  man 
eins  derselben  leicht  berührt.  Wenn  nun  andre  Pflanzen  Aehnliches  nicht 
zeigen,  so  folgt  nicht,  es  fehle  ihnen  der  Sinn,  sondern  es  fehle  ihnen 
der  Bau,  der  solche  Erscheinungen  bedingt.      Und  eben  so: 


bleiben.  Er  bezeichnete  die  Aufsenwelt  mit  dem  Namen:  Nicht-Ich;  und 
das  Verhältnifs  zwischen  dem  Ich  und  diesem  Nicht-Ich  war  der  Haupt- 
gegenstand seiner  Untersuchung.  „Die  Welt  soll  mir  werden,  was  mir 
mein  Leib  ist"  —  dieser  kurze  Ausdruck  giebt  den  Geist  seiner  Philo- 
sophie zu  erkennen.  Eine  solche  Gesinnung  trieb  ihn,  sein  System  des 
Idealismus  auszubilden,  welchem  gemäfs  die  Aufsenwelt  in  der  That  nichts 
wahrhaft  Wirkliches  seyn  sollte,  sondern  nur  eine  Erscheinung,  welche 
uns  täusche,  so  lange  wir  uns  von  ihr  bedrängt  glaubten.  Durch  seine 
Lehre  sollte  die  Täuschung  verschwinden ;  dazu  sollte  zugleich  das  Denken 
und  das  Handeln  aufgeboten  werden. 

Daraus  entstand  nun  zunächst  eine  Aufgabe  an  das  theoretische 
Denken,  die  unmöglich  ausgeführt  werden  konnte,  nämlich  diese:  die 
sämmtlichen,  von  den  Physikern  erforschten,  Gesetze,  nach  denen  die 
Körperwelt  wirkt,  in  eben  so  viele  Gesetze  des  menschlichen  Vorstellens 
umzugestalten,  als  ob  eben  nur  vom  nothwendigen  Vorstellen  diese  Ge- 
setze des  Erscheinens  (nicht  des  Seyns)  ausgingen.  Die  Unmöglichkeit, 
so  etwas  zu  leisten,  konnte  nur  Mistrauen  gegen  die  Philosophie  zur 
Folge  haben. 

Aber  auch  das  praktische  Interesse  nimmt  eine  falsche  Richtung, 
wenn  es  nach  einer  unmöglichen   Unabhängigkeit  strebt. 

Es  wird  nicht  nöthig  seyn,  dies  nach  allem  Vorhei gehenden  mit 
Bezug  auf  die  praktischen  Ideen  (27.)  noch  weitläufig  zu  entwickeln. 
Nur  darauf  ist  hier  noch  aufmerksam  zu  machen,  wie  nöthig  es  für  die 
neuere  Philosophie,  selbst  in  praktischer  Hinsicht  geworden  ist,  sich  nicht 
von  der  Naturforschung  abzusondern.  Denn  an  dem  Mangel  physikalischer 
Kenntnisse  liegt  der  Grund,  wenn  so  unrichtige  Ansichten,  wie  die  idea- 
listischen, sich  gelten  machen,  und  zu  einem  Anschein  von  Ausbildung 
gelangen,  der  noth wendig  wieder  verschwinden  mufs.  Die  Folge  davon 
ist  eine  Reaction  des  Empirismus,  der  mit  allen  ihm  anhängenden  Vor- 
urtheilen  um  desto  stolzer  sein  Haupt  emporhebt,  je  offenbarer  es  wird, 
dafs  die  Natur  sich  nur  Demjenigen  dienstbar  bezeigt,  der  sich  die  Mühe 
gegeben  hat,   nach  ihren  Gesetzen  zu  forschen. 


IJA  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

Bekanntlich  findet  die  Chemie  in  Pflanzen  und  Thieren  beynahe 
nur  Kohlenstoff,  Stickstoff,  Wasserstoff,  Sauerstoff,  Kalk,  Phosphor,  Kalium, 
Eisen  u.  s.  f.;  sehr  vieles  Andre  hingegen  findet  sie  in  den  Organismen 
nicht.  Wenn  nun  jene  Bildsamkeit,  vermöge  deren  der  Kohlenstoff  u.  s.  w. 
von  der  niedrigsten  Vegetation  beginnend  allmählig  die  Fähigkeit  erlangt, 
dem  Menschen  zur  Nahrung  zu  dienen  (132.),  sich  in  den  meisten  Erden 
und  Metallen  nicht  zeigt,  so  folgt  darum  nicht,  es  fehle  den  letztem  gänz- 
lich an  innern  Zuständen:  sondern  nur,  die  Resultate  derselben  seyen  so 
vest  bestimmt,  dafs  sie  an  der  Mannigfaltigkeit  und  Beweglichkeit  des 
Pflanzen-   und  Thierlebens  nicht  Theil  nehmen  können. 

Die  Materie  für  ein  blofs  Räumliches  und  dennoch  für  etwas  Wirk- 
liches zu  halten,  ist  völlig  ungereimt.  Der  Raum  ist  Nichts;  und  Prä- 
dicate,   die  blofs  von  ihm   entnommen  werden,   bedeuten   Nichts. 

Kräfte,  wie  Schwere,  Cohäsion  u.  dgl.  die  sich  blofs  auf  räumliche 
Verhältnisse  beziehn,  gehören  der  Erscheinung  an;  und  diese  Erscheinung 
mufs  tiefer  liegende  Gründe  haben.  ^vein  Wunder,  dafs  der  Idealismus 
sie  in  uns  selbst  sucht.  Aber  der  Idealismus  ist  falsch,*  und  die  Natur- 
forscher haben  durch  ihn  nichts  gelernt. 

135.  Dafs  die  Erfahrung  immer  Einzelnes,  Bestimmtes  zeigt,  und 
niemals  irgend  einen  Stoff,  der  blois  Materie  wäre,  liegt  vor  Augen.  Aber 
auch  die  Metaphysik,  weit  entfernt,  einen  angenommenen,  raumerfüllenden, 
beweglichen,  undurchdringlichen  Stoff  hintennach  mit  allerley  Prädicaten 
zu  begaben,  —  findet  gleich  dort,  wo  sich  ihr  der  Begriff  des  Körpers  im 
Denken  darbietet,  den  starren  Körper,  mit  bestimmter  Configuration,  Dichtig- 
keit, chemischer  Auflösbarkeit,  Elasticität;  dergestalt,  dafs  die  nähere  Bestim- 
mung dieser  Eigenschaften  von  dem  Verhältnifs  unter  den  Qualitäten  der 
Elemente  unmittelbar  abhängt.  2Was  sich  hierüber  mit  wenigen  Worten 
andeuten  läfst,   läuft  etwa3  auf  Folgendes  hinaus. 

1.  Räumliche  Trennung  pafst  zu  keinem  Causalverhältnifs;  alle  Wirkung 
in  die  Ferne  ist  abhängig  von  der  Gröfse  des  Zwischenraums;  welches 
keinen  Sinn  haben  würde,  wenn  dieser  Raum  nicht  ein  Veimittelndes 
enthielte.  Leerer  Raum,  er  sey  grofs  oder  klein,  ist  immer  Nichts,  als 
ein   Gedanken  ding. 

2.  Was  einander  die  innern  Zustände  bestimmt,  sollte  dem  gemäfs 
gar  nicht  räumlich  getrennt,  sondern  völlig  in  einander,  in  strengster 
Durchdringung  seyn.  Dann  fiele  es  in  Einen  mathematischen  Punct  zu- 
sammen. Dieser  Punct  aber  wäre  wieder  nur  unser  Gedanke;  und  da 
be[2  2i]kanntlich  ein  Punct  keinen  Raum  einnimmt,  so  wäre  auch  das, 
was  wir  in   ihn   hineindächten,   eigentlich   ganz  unräumlich   vorhanden. 

3.  Hiemit  ist  schon  angedeutet,    dafs  die   Materie    nicht    ins   Unend- 


1  Statt  der  folgenden  zwei  Schlufssätze  hat  die  II.  Ausgabe:  „die   wir   freylich 
nicht   beim   Idealismus   erfragen  dürfen". 

*   Metaphysik   II.   §  302  —  325. 

2  Der  folgende  Datz:    „Was    sich    hierüber    ....    auf   Folgendes    hinaus" 
fehlen  in  der  II.  Ausg. 


8  „dann"   statt  „etwa"   S\V. 


I.  Abschnitt.      Elementarletre.      15.   Capitel.     Von   der  Materie.  175 


liehe  fort  aus  Materie,  also  weder  aus  Moleculen l  noch  aus  Atomen, 
sondern,  nach  LEiBXiTzens  Ausdrucke,  aus  Monade//,  das  heifst  solchen 
Elementen  besteht,   die   an   sich  völlig   unräumlich  sind. 

4.  Ein  Paar  solcher  Monaden,2  wenn  sie  einander  gegenseitig  ihre 
innern  Zustände  bestimmen,  würden  zwar  sich  selbst  überlassen,  einander 
völlig  durchdringen;  3 allein  sobald  ihrer  mehrere,  das  heifst,  mehr  als  zzvey, 
im  Causalverhältnifs  seyn  sollen,  so  kann  die  Causalität,  das  heifst,  die 
gegenseitige  Bestimmung  der  innern  Zustände,  sich  nicht  völlig  ausbilden  ;* 
und  daher  1  entsteht  die  Ei  scheinung  eines  unbefriedigten  Strebens  zur  Durch- 
dringung; einer  Attraction,  die  nicht  ganz  zu  Stande  kommt,  sondern, 
durch  eine   Repulsion  begränzt,  räumliche   Gestaltung   zur  Folge  hat. 

5.  Diese  Attraction  und  Repulsion  sind  gar5  nicht  Bestimmungen  der 
Dinge  selbst,  sondern  ihres  Verhältnisses;  sie  sind  nicht  Kräfte,  sondern 
blofs  formale  Folgen  des  Zusammenseyns  der  Dinge,  die  von  den  innern 
Zuständen   nur  in   Gedanken  können   abgesondert  werden. 

6.  Dafs  aber  der  Zuschauer  sie  absondert,  ist  sehr  natürlich.  Ihm 
erscheint  schon  eine  blofse  Bewegung  als  eine  Veränderung.  So  geschieht's, 
wie  oben  bemerkt,  bey  Sternbedeckungen,  während  man  doch  weifs,  dafs 
der  Mond  mit  entfernten  Fixsternen  in  keiner  irgend  merklichen  Ver- 
bindung steht,  ja  dafs  für  sie  sogar  nicht  einmal  von  einer  Veränderung 
der  Lage  des  Mondes  die  Rede  seyn  kann.  Was  nun  dem  Zuschauer 
für  eine  Veränderung  gilt,  da[2  2  2]für  sucht  er  eine  Kraft.  Und  so  ent- 
stehn  in  seinen  Augen  Kräfte  der  Attraction  und  Repulsion,  weil  es  ihm 
nicht  gelingt,   sich  in  das  Innere  der  Dinge  hinein   zu  versetzen. 

6 Man  würde  sich  irren,  wenn  man  hoffte,  durch  Hülfe  der  Geometrie 
tiefere  Einsicht  zu  erlangen.  Die  geometrischen  Begriffe  beziehen  sich 
auf  den  leeren  Raum;  es  ist  aber  der  Grundfehler  der  falschen  Natur- 
philosophie (die  sich  noch  von  Kants  metaphysischen  Anfangsgründen  her- 
schreibt),  die   Materie  für  realisirten   Raum  zu  halten.** 

136.  Zwar  giebt  es  zu  rein  metaphysischen  Untersuchungen,  wie 
diese  hier,  keinen  andern  Weg,  als  den  durch  die  Metaphysik  selbst. 
7  Allein   dem  Anfänger  kommt  unter  den  übrigen  Wissenschaften  hier  noch 

1  Molekeln  11.  Ausg. 

2  „Elemente"  statt  „Monaden"  II.  Ausgabe.» 

3  Statt  der  folgenden  Worte :  „allein  sobald sollen,  SO"  hat  die  IL  Aus- 
gabe: „allein  sollen  ihrer  mehrere  im  Causalverhältnifs  seyn,   und" 

*  Was  dieser  Ausdruck:  nicht  völlig,  eigentlich  bedeuten  soll,  das  erklärt  der 
§  270  der  Metaphysik.8      [Die  Anmerkung  lehlt  in  der  II.  Ausgabe]. 

4  „so"   statt  „und  daher"   II.  Ausgabe. 

5  ,.garu    fehlt  in   der  II.   Ausgabe,  b 

«  Der  folgende  Absatz  mit  Anmerkung  „Man  würde  sich  irren  ....  Raum 

ZU   halten"    fehlt  in  der  II.  Ausgabe. 

**  Metaphysik  I.   §    150.   561   u.  s.  w. 

7  Statt  der  folgenden  Zeile  hat  die  II.  Ausgabe  etwas  verändert:  „Allein  unter 
den  übrigen  Wissenschaften  kommt  hier  noch   . .  .  ." c 


a,  b,  c    SW    drucken    nach  der    II    Ausg.    ohne    Angabe    der    Abweichungen    der 
I.  Ausgabe. 


I" .  i  II.    Kurze  Eucyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


am  meisten  die  Chemie  zu  Hülfe.  Indem  sie  von  Verwandtschaften  redet, 
deutet  sie  mehr  an,  als  sie  weifs;  der  Ausdruck  pafst  zu  innern  Zuständen, 
welche   daraus   entstehn,   dafs   die  Elemente   einander  nicht  gleichgültig  sind. 

Ferner:  je  ?nehr  Gegensatz  unter  den  Elementen,  desto  vestere  Ver- 
bindung; welches  metaphysisch  richtig  ist. 

Ueberdies  entdeckt  die  Chemie  in  den  meisten  Fällen  eine  starke 
Veränderung  des  Volumens,  wo   das   Entgegengesetzte  sich  vereinigt. 

Und  endlich  zeigen  sich  die  Krvstallisationen  abhängig  von  den  Ver- 
hältnissen  der  Elemente. 

Ja  sogar  die  bestimmten  Proportionen  der  Elemente,  welche  sich 
chemisch  vereinigen  lassen,  sind  lehrreich,  indem  sie  den  Gedanken  einer 
Materie  entfernen,  die  vermöge  unendlicher  Theilbarkeit  beliebig  verdünnt 
oder  verdichtet,  auf  eine  andre  einwirken,  und  sich  mit  ihr  in  Verbin- 
dung erhalten  könnte.*    JSo  wenig  nun  die  Geometrie  im  Stande  ist,  [223] 


*  Metaphysik  II.  §  421 — 424. 

1  Statt  der  folgenden  Schlufsworte :  „So  wenig  nun  ....  Lagerung  und 
Configuration"  hat  die  II.  Ausg.  Folgendes: 

Bev  weite'rm  Nachdenken  über  diese  und  ähnliche  Lehren  der  Chemie 

J 

wird  man  besonders  auf  zwey  Hauptbegriffe  aufmerksam  gemacht,  nämlich" 
auf  die  Begriffe  von  Substanz  und   Kraft. 

Ohne  zu  entscheiden,  ob  die  verschiedenen 1  Grundstoffe,  welche  die 
Chemie  annimmt  (etwa  54  an  der  Zahl),  schon  wirklich  einfach  seyen, 
weifs  man  doch,  dafs  sie  aus  sehr  verschiedenen  Verbindungen  und  Um- 
wandlungen stets  als  dieselben  zurückkehren,  und,  wie  man  es  nennt,  sich 
reduciren  lassen.  Man  sieht  nicht  blofs,  dafs  sie  noch  in  gleicher  Quantität 
da  sind,  (welches  am  Gewicht  erkannt  wird,)  sondern  auch  was  sie  sind, 
ihre  Qualität,  kehrt  unverändert  wieder;  sie  haben  in  den  mannigfaltigsten 
Umbildungen  sich  selbst  erhalten.  Sie  besitzen  die  Beharrlichkeit,  welche 
man  von  Substanzen  fodert. 

Ferner:  wenn  man  nach  den  Kräften  fragt,  so  sagt  die  Chemie  nicht, 
ein  Stoff  sey  der  thätige,  und  ein  andrer  leide  von  ihm,  sondern  die 
Stoffe  seyen  einander  verwandt;  so  dafs  man  eher  den  Begriff  einer 
Wechselwirkung  darauf  übertragen  könnte,  als  den  des  Thuns  von  einer 
und  des  Leidens  von  der  andern  Seite.  Genau  genommen  aber  sagt 
die  Chemie  auch  dies  nicht;  wenn  z.  B.  Wasserstoff  und  Sauerstoff  Wasser 
bilden,  so  lehrt  sie  nicht,  jeder  dieser  beiden  Stoffe  thue  dem  andern 
etwas  zuwider,  sondern  sie  läfst  es  dabey,  dafs  beide  sich  mit  einander 
verbinden. 

Anders  erscheint  es  in  der  Physik,  wenn  ein  Körper  den  andern 
stöfst,  ihm  seine  Ruhe  raubt,  wo  nicht  gar  ihn  zerbricht;  oder  wo  die 
Schwere,  wie  ein  unsichtbarer  Geist,  ihn  treibt;  oder  die  Wärme  ihn 
gewaltsam  ausspannt,   ein  elektrischer  Schlag  ihn  zerschmettert,   u.  dergl.  m. 

Schon  hier  wird  es  fühlbar,  dafs  die  Physik  es  uns  weniger  leicht 
macht,  uns  ihr  anzuschliefsen,  als  die  Chemie;  denn  hier  bekommen  die 
Dinge  das  Ansehn,  als  ob  einige  von  ihnen  Kräfte  besäfsen,  die  sie  gleich 

1   SW  „verschiedensten". 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      15.   Capitel.      Von   der  Materie.  177 

chemische,  oder  gar  organische  Phänomene  zu  erklären:  eben  so  wenig 
kann  sie  unmittelbar  über  die  Constitution  der  Materie  Aufschlufs  sehen. 
Ihre  Begriffe  von  unendlicher  Theilbarkeit  passen  gar  nicht,  weder  auf  die 
Bestandteile  der  Materie,  noch  auf  deren  Lagerung  und  Configuration. 
137,  Die  Menge  und  Mannigfaltigkeit  der  Materien  können  wir  in 
Gedanken  nicht  begränzen,  dürfen  sie  aber  auch  nicht  für  unendlich  er- 
klären;* sondern  das  leeie  Gedankending  der  Unendlichkeit  mufs  hier, 
wie  überall,  wo  vom  Realen  die  Rede  ist,  vermieden  werden.  Die  Er- 
fahrung zeigt  uns  Weltkörper  mit  Ungeheuern  Zwischenräumen,  das  heifst, 
sie  zeigt  mannigfaltige  Elemente  zu  grofsen  materialen  Massen  verdichtet; 
wie  es  zu  erwarten  stand,  wenn  Attraction,  oder  das  Streben  zur  Durch- 
dringung, der  Repulsion  vorangeht.  Aber  Licht  und  Schwere  (welche 
letztere  von  der  Attraction  der  Elemente  sorgfältig  zu  unterscheiden 
ist)  durchwandern  noch  die  für  leer  gehaltenen  Zwischenräume;  das  heifst 
mit  andern  Worten,  diese  Räume  sind  nicht  leer,  und  nicht  alle  Elemente 
haben  sich  zu  Weltkörpern  verdichtet.  Das  war  auch  nicht  zu  vermuthen. 
Denn  die  Verdichtung,  also  die  Attraction,  setzt  Causalität  in  Ansehung 
der  Innern  Zustände  (135.)  voraus;  dazu  gehört  aber  ein  Verhältnifs  des 
Gegensatzes  unter  den  Elementen.**  So  wenig  nun  Grund  vorhanden 
ist,  anzunehmen,  es  gebe  für  irgend  eine  Art  von  Elementen  gar  keine 
andern  ihm  entgegengesetzten;  eben  so  wenig  darf  man  doch  behaupten, 
jedem  stehe  ein  anderes,  ihm  gleichsam  widersprechendes,  gegenüber:  son- 
dern die  unbegränzte  Mannigfaltigkeit  läfst  erwarten,  dafs  Gegensätze  in 
allen  Abstufungen,  also  auch  in  sehr  geringen  Graden,  vorkommen  werden; 
woraus  alsdann  folgen  wird,  dafs  manche  Elemente  zu  einer  vesten  Ver- 
bindung mit  den  übrigen,  [224]  schon  zur  Verdichtung  gelangten,  nicht 
passend  seyen,  und  dafs  hiemit  auch  für  die  Zwischenräume  unter  den 
Weltkörpern  noch  Etwas  übrig  bleiben  werde. l 


Boten  von  sich  aussendeten,  um  andern  zu  gebieten,  und  als  ob  diese 
andern  sich  den  Befehlen  fügten,  oder  gar  einer  unerbittlichen  Gewalt 
nachgäben.  Ja  manche  Physiker  behaupten  ganz  deutlich  eine  actio  in 
distans,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dafs  einige  Wirkungen  sich  in  uner- 
mefsliche  Fernen  erstrecken,  andre  sich  aufs  Allernächste  beschränken 
sollen.  Es  hat  sogar  eine  Hypothese  Beyfall  gefunden,  nach  welcher  die 
Distanzen  zwischen  den  Molekeln  eines  Körpers  unvergleichbar  grölser 
seyn  sollen  als  die  Durchmesser  dieser  Molekel;  so  dafs  sich  das  Licht 
mit  gröfster  Leichtigkeit  in  allen  Richtungen  hindurchbewegen  könne.  Schade 
nur,  dafs  nicht  alle  Körper  durchsichtig  sind!  Die  Hauptfrage  wäre  aber 
dann  nach  der  Ungeheuern  Repulsion,  welche  ungeachtet  der  Cohäsion, 
und  allen  vorausgesetzten  Attractionen  trotzend,  die  Molekel  nicht  näher 
herankommen  liefse.  Wir  erwähnen  dieser  Hypothese  nur  des  Contrastes 
wegen;  da  gerade  umgekehrt  nach  dem  Obigen  (135.)  eine  unvollkommene 
Durchdringung;  der  Elemente,  die  also  nicht  einmal  völlig  aufser  einander 
sind,   aller  körperlichen   Massenbildung  zum   Grunde  liegt. 

*  Metaphysik  II.  §  300.     [Bd.  VIII  vorl.  Ausg.] 

**  Nämlich  damit  sie  in  einander  eingreifen.  Metaphysik  §  232  und  §  335. 
[Bd.  VII  vorl.  Ausg.] 

1    Hier    folgt   in    der    II.   Ausg.   noch  folgender   Zusatz  : 

I  2 

HfcRBARi's  Werke.     IX. 


1^8  H-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

138.  Es  liegt  nahe  genug,  hier  etwas  über  die  Imponderabilien,  Licht, 
Wärme,  Elektricität,  Magnetismus  zu  sagen;  welche  das  mit  einander  ge- 
mein haben,  dafs  ihre  Wirkungen  sich  strahlenförmig  von  Einem  Puncte 
ausbreiten.  Denn  mancherley  Elemente,  die,  wie  so  eben  bemerkt,  wegen 
eines  Mangels  an  hinreichendem  Gegensatze  gegen  die  Elemente  starrer 
Körper,  zu  einer  bleibenden  Configuration  mit  denselben  nicht  taugen, 
können  dennoch,  schon  bey  dem  geringsten  Grade  des  Gegensatzes,  ein- 
dringen, mit  dem  Beding,  sogleich  wieder  nach  allen  Richtungen  hinaus- 
geworfen zu  werden.  Anhäufung,  welcher  die  innern  Zustände  zu  entsprechen 
nicht  vermögen,  ist  hier  der  Grund  der  Repulsion;  und  es  ist  gar  nicht 
nöthig  noch  schicklich,  etwa  dem  sogenannten  Wärmestoff  (den  man 
übrigens  beyzubehalten  Ursach  hat)  eine  ursprüngliche  Repulsivkraft  zuzu- 
schreiben. Das  Aeufsere  folgt  auch  hier  aus  dem  Innern;  und  das  Innere 
läfst  sich  in  Begriffen  so  weit  construiren,  als  nöthig  ist,  um  den  zu  er- 
wartenden  Erfolg    mit  dem    in  der   Erfahrung  gegebenen    zu    vergleichen.* 


Dies  wird  jetzt,  seitdem  die  Meinungen  über  das  Licht  sich  wieder 
zur  Vibrations-Hypothese  gewendet  haben,  weniger  befremden,  als  in  etwas 
früherer  Zeit,  da  statt  des  alten  horror  vacui  eine  Art  von  Vorliebe  für  den 
leeren  Raum  zu  Gunsten  der  actio  in  distans  eingetreten  war.  Man  wird  nun, 
da  einmal  ein  Aether  angenommen  wird,  eher  dem  Gedanken  Platz  gestatten, 
dafs  wohl  der  nämliche  Aether  noch  eine  andie  Function  haben  möchte, 
nämlich,  die  Gravitation  zu  vermitteln.  Und  hierauf  wird  man  wohl  kommen 
müssen,  wenn  nicht  der  leere  Raum,  der  Nichts  ist  und  Nichts  vermag, 
zum  Träger  des  Gesetzes  der  Gravitation  soll  gemacht  werden.  Mufs  man  aber 
die  Ursache  der  Schwere  und  alles  Gewichts  im  Gebiete  des  Imponderabeln 
suchen,    so  dürfen  wir  die  Frage  danach  dem  folgenden  Capitel  zuweisen. 

Hier  aber  mag  eine  kurze  Betrachtung  über  den  historischen  Gang 
der  Naturforschung  eine  Stelle  finden.  Bekanntlich  ist  der  Aufschwung, 
welchen  die  Chemie  gewonnen  hat,  noch  sehr  neu;  weit  früher  waren 
die  Untersuchungen  über  die  Gravitation  zu  einem  hohen  Grade  von 
Ausbildung  gelangt;  und  Anziehung  aus  der  Ferne  war  ein  Lieblings- 
gedanke geworden.  Als  nun  die  chemischen  Anziehungen  sammt  den 
verschiedenen  Adhäsionen  mehr  hervortraten,  empfand  man  das  Bedürf- 
nifs,  die  später  erworbenen  Kenntnisse  an  die  frühem  zu  knüpfen;  man 
wünschte  mehr,  als  man  hoffte^  einen  Zusammenhang  zwischen  den  ver- 
schiedenen Attractionen  zu  entdecken.  Gesetzt,  der  Gang  der  Wissen- 
schaft wäre  der  umgekehrte  gewesen,  —  man  hätte  früher  die  chemischen 
Anziehungen,  später  die  Gravitation  kennen  gelernt:  so  würde  das  nämliche 
Bedürfnifs  der  Einheit  in  unserm  Wissen  sich  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung geäufsert  haben.  Es  wäre  nun  gefragt  worden,  ob  nicht  die  Schwere, 
ungeachtet  ihrer  scheinbaren  Wirkung  durch  alle  Himmelsräume,  sieh  den- 
noch bey  gehöriger  Vermittelung  auf  eine  Anziehung  in  den  unendlich 
kleinen  Distanzen,  deren  die  Chemie  zu  bedürfen  glaubt,  zurückführen 
lasse?  Demnach  wäre  die  chemische  Anziehung,  oder  etwas  ihr  Aehn- 
liches,  das  Erste;  die  Gravitation  aber  das  Zweyte.  Und  diese  Ordnung 
möchte    vielleicht  der  Naturphilosophie    annehmlicher  seyn,    als    jene,    die 

*  Metaphysik  II.  §.  349 — 361   und  §  388 — 420, 


I.  Abschnitt.     Elementarlehre.      15.   Capitel.      Von  der  Materie.  j-q 


Jedermann  weifs,  dafs  ohne  Rücksicht  auf  die  Wärme  das  Flüssige 
nicht  kann  erklärt  werden.  Man  wird  sich  also  nicht  wundern,  wenn 
Anfangs  die  Untersuchung  nur  den  starren  Körper  begreiflich  macht  (135.); 
der  Weg  zur  Betrachtung  des  Flüssigen  eröffnet  sich  später.  l 

139.  Dem  Naturforscher  kann  es  auch  willkommen  seyn,  wenn  man  ihm 
Vorschläge  macht,  die  Imponderabilien,  welche  seit  Entdeckung  der  Vol- 
taischen  Säule  wunderlicher  als  jemals  durch  einander  zu  fahren  scheinen,  in 
Begriffen  gesondert  zu  halten,*  da  es  ihm  in  der  That  nichts  hilft,  nichts 
[225]  Dunkeles  klarer  macht,  wenn  er  unternimmt,  Alles  aus  Einem  Puncte 
zu  erklären.  Die  Unterschiede  machen  sich  dennoch  gelten,  und  um  desto 
ungelegener,  je  weniger  Aufmerksamkeit  ihnen  von  Anfang  an  gegönnt  war. 

Allein  wir  reden  hier  nicht  mit  dem  Naturforscher,  welchen  ein  rein 
theoretisches  Interesse  an  seine  Untersuchungen  fesselt.  Der  praktische 
Mensch  sucht  bey  der  Naturlehre  nur  Unterhaltung;  er  will  bunte  Reihen 
von  Experimenten;  vieles  Erklären  kommt  ihm  nicht  gelegener,  als  ein 
Commentar  zu  einem  Gedicht. 


man  suchte  und  nicht  finden  konnte,  wobey  die  Gravitation  zum  An- 
knüpfungspuncte  dienen  sollte,  wie  wenn  die  Anziehung  in  kleinen  Distanzen 
nur  eine  Abänderung  derselben   wäre. 

Welche  Bedeutung  man  der  Anziehung  in  unendlich  kleinen  Distanzen 
beyzulegen  habe,   wird   sich  bald   zeigen. 

1  Der  vorstehende  §  138  hat  in  der  II.  Ausgabe  folgenden  "Wortlaut: 
138.  Ohne  uns  auf  die  Schwierigkeiten,  welche  aus  den  Widersprüchen 
des  Continuums  dann  entstehn,  wenn  man  das  .Räumliche,  eine  blofse 
Vorstellungsform,  auf  die  einzelnen,  nur  in  ihrer  Einzelnheit  realen  Ele- 
mente überträgt,  hier  einzulassen,  unterscheiden  wir  in  Ansehung  des 
schon   erwähnten  Durchdringen  (135.)   drey  Fälle: 

1.  anfangendes  Eindringen, 

2.  vollkommene  Durchdringung, 

3.  unvollkommene  Durchdringung, 

so,  dafs  die  ersten  beiden  Fälle  als  Extreme  anzusehen  sind,  zwischen 
denen  die  unvollkommene  Durchdringung,  welche  selbst  noch  ein  Mehr 
oder  Minder  zuläfst,   sich   befindet. 

Nun  sollen  die  Elemente,  von  denen  wir  reden,  einander  in  Hinsicht 
ihrer  Qualitäten  entgegengesetzt  seyn  (136.).  Sind  sie  völlig  aufser  ein- 
ander, so  hat  dieser  Gegensatz  keine  Folge,  sondern  er  ist  ein  blofser 
Gedanke.  Beym  anfangenden  Eindringen  entsteht  schon  eine  gegen- 
seitige Bestimmung  der  innern  Zustände;  sie  ist  aber  noch  unendlich 
gering,  wie  das  Eindringen  selbst.  Dagegen  entspricht  dem  zweyten  Falle 
die  vollkommene  gegenseitige  Bestimmung  der  innern  Zustände,  so  weit 
eine  solche  unter  diesen  beiden  Elementen  möglich  ist.  Also  ist  hier 
keine  Veränderung  der  Lage  nöthig;  der  äulsere  Zustand,  das  heifst,  die 
Lage,  ist  den  innern  Zuständen  völlig  angemessen.  Hingegen  im  ersten 
Falle  zeigt  sich  schon  eine  scheinbare  Attraction.  Denn,  wie  oben  gesagt 
(135.),  was  einander  die  innern  Zustände  bestimmt,  sollte  gar  nicht  räum- 
lich getrennt,   sondern  in   strengster  Durchdringung  seyn.      Dennoch  ist  in 

*  Metaphysik  IL  §  339.   [Bd.  VIII   vorl.  Ausg.] 

12* 


j  §o  II-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

Ihm  wird  es  angenehm  seyn  zu  hören,  dafs  die  Naturphilosophie, 
wenn  sie  in  das  Einzelne  der  Physik  eingeht,  bis  jetzt  nur  Wahrschein- 
lichkeiten aufsuchen  und  abwägen  kann.  Dahin  gehört  die  Behauptung, 
es  gebe  nicht,  nach  Svm.mer,  zwey  elektrische  Flüssigkeiten,  sondern,  nach 
Franklin,  nur  Ein  Elektricum;  jedoch  sey  dieses  nicht  am  Glase,  sondern 
am  Harze  zu  suchen,  mit  Umkehrung  der  Zeichen  -j-  und  — .  Eine 
solche  Behauptung*,  wenn  schon  durch  manche  sehr  verschiedene  Ver- 
suche belegt,  darf  Niemandem  üble  Laune  erregen;  denn  sie  ist  gar 
nicht  von  der  Bedeutung,  dafs  mit  ihr  das  Ganze  der  speculativen 
Untersuchung  stünde  und  fiele.  Eben  dahin  gehört  der  Versuch,  Magne- 
tismus auf  gebundene  Wärme  zurückzuführen**;  will  man  ihn  lieber 
mit  den  heutigen  Physikern  mit  der  Elektricität  in  unmittelbare  Verbin- 
dung setzen,  so  wird  dies  eben  so  wohl  als  jenes  ein  Gegenstand  der 
Meinungen  bleiben,   bis  die  Versuche   entscheiden. 

Das  aber  wird  Jeder  gern  eingestehen,  dafs  die  mancherley  Hypo- 
thesen, weit  entfernt  dem  Denker  lästig  zu  fallen,  vielmehr  sein  Interesse 
an  den  Versuchen  sehr  beleben.  Auch  gehört  es  zu  den  nützlichsten,1 
und  überdies  zu  den  leichtern  Vorübungen,  die  man  schweren  Unter- 
suchungen vorausschicken  kann,  Hypothesen  zu  verfolgen,  durchzuführen, 
oder  zu  bestreiten.  Wer  nicht  im  Stande  ist,  oder  nicht  Lust  hat,  sich 
[226]  auf  Hypothesen  einzulassen,  wie  sollte  der  bereit  seyn,  es  mit 
ganzen  Systemen  aufzunehmen?  Nur  fre>lich  soll  man  sich  nicht  von  Hypo- 
thesen blenden  lassen,  und  sie  nicht  mit  bewiesenen  Lehrsätzen  verwechseln. 

Aber  wie  es  Kinder  giebt,  die  nicht  verstehen  zu  spielen,  so  giebt 
es  Männer,  die  nicht  Sorge  tragen  mögen,  ihren  Gedanken  freye  Be- 
wegung zu  schaffen.  Solche  sind  es,  welche,  wo  ein  Vorurtheil  verschwindet, 
klagen,  man  beschränke  ihre  Freyheit.  Klagte  doch  Schiller  einst,  das 
Christenthum  habe  den  Olymp  verdorben!  Andere  lassen  sich  dergestalt 
vernehmen,  als  hätte  ihnen  Copernicus  den  Himmel  geraubt,  und  sie 
dadurch  in  poetischen  Launen  gestört.  Noch  Andre  beschweren  sich,  die 
Natur    verliere    über    der    Physik    das   Wunderbare;    als    ob    dessen    nicht 


diesem  Falle  die  Notwendigkeit,  dafs  die  Lage  sich  ändere,  d.  h.  die 
scheinbare  Attraction,  noch  unendlich  gering,  weil  die  innern  Zustände  unend- 
lich gering  sind,  und  weil  in  ihnen  einzig  und  allein  der  Grund  liegt, 
weshalb  die  Lage  sich  ändern  mufs.  Fafst  man  dies  mit  dem  vorigen 
zusammen,  so  kann  man  ohne  bedeutenden  Fehler  sagen:  im  ersten  und 
im  zweyten  Falle  ist  die  Attraction  gleich  Null.  Nur  der  dritte  Fall,  die 
unvollkommene  Durchdringung,  weicht  von  jenen  beiden  ab.  Denn  die 
Intensität  der  innern  Zustände  ist  nun  eine  endliche  Gröfse;  und  die 
Lage  ist  noch  nicht  die  rechte,  welche  jenen  entsprechen  soll.  Wie  grofs 
die  Intensität,  und  wieviel  an  der  vollkommenen  Durchdringung  fehlt,  dies 
beides  zusammen  bestimmt  die  jetzige  Stärke  der  Attraction.  Letztere, 
als  beschleunigende  Kraft  gedacht,  verändert  sich  indessen  sogleich  durch 
das  wirkliche  Fortschreiten  des  Eindringens. 
*  Metaphysik  II.  401 — 403. 
**  Ebendaselbst  i   411. 

1    „nützlichen"   SW. 


I.   Abschnitt.     Elementarlehre.      15.   Capitel.      Von   der  Materie.  18 1 

genug  übrig  bliebe.  Sie  verstehen  nur  nicht,  sich  am  rechten  Orte  zu 
wundern.*  Die  Betrachtungen  des  nächsten  Capitels  l  sind  übrigens  nicht 
hypothetisch,   und   in   praktischer   Hinsicht  nicht  gleichgültig.2 


2   Der  vorstehende   §    139  hat  in  der  II.   Ausgabe  folgenden   Wortlaut: 

139.  Es  ist  aber  schon  oben  von  mehrern  Elementen,  und  von  einer 
Repulsion  gesprochen  worden,  die  sich  alsdann  ereignen  könne,  ja  sich 
ereignen  müsse,  wenn  Materie  entstehen  solle.  Man  denke  sich  zvveyerley 
Arten  von  Stoffen,  A  und  B.  Um  die  einfachste  Voraussetzung  zu  machen, 
sey  nur  ein  Element  von  der  Art  A,  und  eins  von  der  Art  B,  nöthig, 
damit  die  Art  des  innern  Zustandes,  wozu  jedes  von  beiden  durch  das 
andre  kann  bestimmt  werden,  sich  vollständig  verwirkliche.  Ferner  werde 
angenommen,  dafs  zwey  Elemente  B  zugleich  (wenn  man  will,  von  ver- 
schiedenen Seiten  her)  in  ein  einziges  A  einzudringen  im  Begriff  sind. 
Würden  beide  vollständig  dazu  gelangen,  so  müfste  der  innere  Zustand 
des  A  eine  doppelte  Intensität  annehmen,  gegen  die  Voraussetzung.  Ist 
nun  dies  nicht  möglich,  so  liegt  zwar  nicht  in  dem  B,  wohl  aber  in  A 
der  Grund,  dafs  die  Durchdringung  unvollständig  bleiben  mufs.  Man  kann 
alsdann  sagen,  jedes  B  wirke  attractiv  auf  A,  allein  A  wirke  repulsiv  auf 
beide.  Ruhe  kann  nur  entstehn,  wenn  diese  Repulsion  sich  mit  den 
Attractionen  ins  Gleichgewicht  gesetzt  hat.  Dafs  man  übrigens  die  gemachte 
Voraussetzung  mannigfaltig  abändern  könne,   fällt   von  selbst  in   die  Augen. 

Ferner  nehme  man  dreyerley  Arten  von  Stoffen  A,  B,  C.  In  A 
sollen  nun  die  durch  B  und  C  bestimmten  innern  Zustände  sich  mit  ein- 
ander vertragen;  in  B  diejenigen,  welche  von  A  und  C  abhängen;  in  C 
solche,  wie  sie  durch  A  und  B  bestimmt  werden.  Daraus  entstehn  theils 
schon  innere  Hemmungen  und  Spannungen  (128.):  theils  ein  aus  allen 
Attractionen  und  Repulsionen  zusammengesetztes  Gleichgewicht.  Ist  hiebey 
nicht  auf  allen  Seiten  alles  gleich,  so  kann  auch  die  Durchdringung  in 
den  Paaren  AB,  BC,  AC  nicht  gleich  ausfallen;  es  mufs  eine  Configuration 
entstehn,  welche  von  den  Gegensätzen  der  Qualitäten  in  den  Paaren  abhängt. 

Hier  eröffnet  sich  der  Weg  zur  Erklärung  der  Krystalle.  Diese 
können  selbst  bey  verschiedenen  Qualitäten  gleich  ausfallen,  wenn  nur 
die  Verhältnisse   unter  den   Qualitäten   gleich   sind. 

140.  Polyedrische  Molekel  scheinen  den  Physikern  nöthig,  um  die 
Krystallbildung  zu  erklären,  nämlich  damit  die  Anziehung  nicht  von  allen 
Seiten  gleich  sey.  Durch  Schmelzung  wird  aber  die  Krystallform  auf- 
gehoben; die  Tropfenbildung  tritt  an  die  Stelle,  und  die  polyedrischen 
Molekel  würden  im  Wege  seyn,  wenn  sie  unveränderlich  wären.  Aber 
die  Molekel  bestehn  aus  Elementen,  denen  man  nur  durch  eine  not- 
wendige Fiction  eine  Ausdehnung  leihet,  und  zwar  von  sphärischer  Form, 
damit  die  Fiction  gleichartig  in  Ansehung  der  Richtungen  bleibe.  Diese 
Fiction  wird  nothwendig,  wo  dasjenige,  was  nur  einzeln  genommen  real 
ist,   einer  Zusammenfassung  soll  unterworfen  werden. 

Zugleich    sieht    man    hier    den    Unterschied    der    Adhäsion    und    der 

*  Metaphysik   II,  im  Anfang  des   fünften  Abschnitts. 

]   D.  h.  Capitel  16  der  I.  Ausg.  (=  Capitel   18  der  II.  Ausg.)    Siehe  unten  S.  193. 


jg,  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

Sechzehntes  Capitel. i 

Von  den  Imponderabilien. 

141.  Nur  um  nicht  eine  weite  Lücke  ganz  offen  zu  lassen,  er- 
wähnen wir  in  äufserster  Kürze  einige  Gegenstände,  welche  dem  praktischen 
Interesse  sehr  fern  liegen.  Caloricum,  Electricum,  und  Aether,  sind  Stoffe, 
aber  nicht  Materien;  denn  sie  kommen  und  gehen,  ohne  vermöge  ihres 
Eindringens  eine  bleibende  Configuration  zu  erlangen;  und  blofse  Elemente 
sind  noch  keine  Molekel,  wie  aus  dem  Vorigen  erhellet. 

Sehr  bekannt  ist  die  Annahme,  dafs  in  allen  Körpern  wenigstens 
zwey  jener  Stoffe,  nämlich  Caloricum  und  Electricum,  vorhanden  sind. 
AYir  folgen  dieser  Annahme,  jedoch  mit  Ablehnung  zweyer  jetzt  gangbarer 
Meinungen;  der  einen:  das  Electricum  sey  ein  Zwillingspaar,  welches  nur 
getrennt  zum  Vorschein  komme,  und  in  seiner  Vereinigung  nicht  wahr- 
nehmbar, doch  einen  nothwendigen  Glaubensartikel  ausmache;  —  der 
andern:  alle  Erscheinungen  der  sogenannten  chemischen  Verwandtschaft 
beruheten  auf  einer  elektrischen  Polarität  der  Theilchen,  wodurch  der 
Knoten   nicht  blols  verschoben,   sondern  unauflösbar  werden  würde. 

An  die  FRANKLiN'sche  Theorie  uns  wendend,  finden  wir  jedoch 
nöthig,  die  Benennungen  der  positiven  und  negativen  Electricität  der- 
gestalt umzutauschen,  dafs  die  Harzelectricität  das  wahre  Electricum 
liefert.  Mit  zwey  Worten  erinnern  wir  an  die  Electrisirmaschine ,  und 
an  die  Luftelectricität  bei  heiterm  Himmel.  Die  Maschine  zeigt  Elec- 
tricität zwischen  dem  Glase  und  dem  Reibzeuge;  das  Reibzeug  ist 
amalgamirt  und  mit  dem  Boden  durch  eine  Kette  verbunden.  Wer  nun 
nicht  künstelt,  sieht  sogleich:  die  Electricität  mufs  den  Leitern  folgen; 
sie  fährt  hinab  in  den  Boden.  Das  Glas,  derselben  entbehrend,  bietet 
sich  dem  Conductor  zum  Ersatz  dar;  und  der  Conductor  leistet  denselben 
desto  besser,  je  weiter  von  dem  geriebenen  Glase  abgewendet  er  in  die 
Luft  hinaus  ragt,  deren  Electricum  sich  an  ihn  drängt,  ohne  doch  die  Luft- 
t heile  zu  verlassen.  Nähert  man  aber  dem  Conductor  einen  Leiter,  so 
mufs  dieser  geben  anstatt  nach  gewöhnlicher  Meinung  zu   empfangen. 

Wenn  eine  isolirte  Metallstange  zum  wolkenlosen  Himmel  aufgerichtet 
wird,  so  begegnet  ihr  fast  dasselbe,  was  einer  erwärmten  Stange  begegnen 
würde.  Denn  diese  würde  sich  abkühlen,  weil  oben  freyer  Raum  und  freye 
Luft  ist.  Eben  so  giebt  jene  Stange  von  dem  Electricum,  das  sie  mitbrachte, 
etwas  ab;  obgleich  man  sie  nun,  verleitet  durch  die  Analogie  mit  der  in 
früheren  Zeiten  bekannten  Electricität  des  Glases,  positiv  electrisch  nennt. 
Dafs  hiemit  das  electrische  Licht,    desgleichen  die    bekannten  Staub- 


rhemischen  Action.  Jene  überschreitet  kaum  den  ersten  Fall  (138.),  denn 
sie  verändert  nicht  merklich  die  an  einander  hängenden  Körper;'  diese  im 
Gegentheil  nähert  sich  mehr  dem  zweyten  Fall,  so  dafs  die  Elemente  sich 
verbinden,  und  bey  günstigen  Umständen  bestimmt,  configuriren,  weil  sie 
einander  die  innern  Zusände  bestimmt  haben.  Lediglich  das  Vorurtheil 
von  der  Undurchdringlichkeit  steht  hier    der  Einsicht  im   Wege. 

1    Der  Text   der  folgenden   2  Capitel  (16  u.    17)  S.    182  —  193    findet   sich  nur  in 
der  II.  Ausgabe. 


Abschnitt.    Elementarlehre.     16.  Cap.  d.  II   Ausg     Von  den  Imponderabilien.      183 


figuren     auf    dem     Harzkuchen,     und     sehr    verschiedene     andre     Unter- 
scheidungs-Merkraale  übereinstimmen,   ist  am  gehörigen  Orte  gezeigt.* 

142.  In  neuerer  Zeit  haben  besonders  die  Zersetzungen  welche 
die  VoLTA'sche  Säule  hewirkt,  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen.  Viel- 
leicht fände  man  sie  weniger  wunderbar,  wenn  man,  nach  Beyseit- 
setzung  des  SvMMER'schen  Vorurtheils,  zwey  Umstände  in  Betracht  nähme: 
erstlich  dasjenige  Electricum,  welches  als  zur  Constitution  jedes  Körpers 
gehörig,  auch  in  dem  Körper,  welcher  zersetzt  werden  soll,  und  wiederum 
in  den  Producten  der  Zersetzung,  vorhanden  sein  mufs:  zweytens  die 
unterbrochene  und  wiederhergestellte  Geschwindigkeit  des  Electricums, 
welches  aus  einem  Metalldraht  in  das  Flüssige,  und  wiederum  aus  dem 
Flüssigen   in   einen  andern   Metalldraht  übergeht. 

Schon  aus   dem   bekanntesten   aller  Phänomene,    nämlich  denen,    die 
man   mit  dem  übel  gewählten   Namen   der  Vertheilung  belegt  hat,   erhellet, 
dafs  angehäuftes  Electricum,   selbst  wenn   es   auf  einer  Oberfläche   zurück- 
gehalten wird,   einen   Druck  in   die   Ferne  ausübt,   indem   die  Sphären   des- 
selben, welche  sich   um   die  Lufttheilchen  gebildet  haben,   abwärts  gedrängt 
werden,    wovon    die    natürlichen    Folgen    in    gegenüberstehenden    isolirten 
Leitern    sichtbar    sind.      Dieser    Druck    mufs    ohne  Vergleich    mehr  Gewalt 
erlangen,    wenn    ein    electrischer   Strom    herankommt.      Die   Elemente,    an 
welche    sich    das    in    den    Körpern    schon    befindliche  Electricum    gehängt 
hat,   müssen   wohl   in  ihrer  Cohäsion  gestört  werden,   sobald  dies  Electricum 
nicht  ruhig  bleiben  kann.      Zwar  nicht  die  Cohäsion   selbst  rührt  von  ihm 
her;  ihr   Princip  liegt  tiefer;   es   liegt  in  der  oben  bezeichneten  Attraction 
(T35>    l5%-)i  und  von  diesem   Princip  hängt  alle  Wirksamkeit  des  Electri- 
cums  selbst    ab.      Aber    hat    sich    das    Electricum    einmal    eingenistet,    so 
können    auch    seine    Bewegungen    nicht    ohne    Folgen    bleiben;    und    man 
kennt  diese   Folgen  im   Allgemeinen    recht    gut   aus    der    zerstörenden  Ge- 
walt   des   Blitzes  und    ähnlicher  Schläge.      Bewegtes   Electricum    wirkt,    wo 
nicht  zerschmetternd,  doch  auflockernd. 

Zwevtens:  aus  dem  Kupferpol  bringt  der  sogenannte  negative,  aber 
wahrhaft  positive  Draht  den  electrischen  Strom  mit  derjenigen  Geschwindig- 
keit, welcher  dem  leitenden  Metall  entspricht.  Diese  wird  verzögert  durch 
das  weit  schlechter  leitende  Flüssige;  aber  der  Druck  treibt  das  schon  vor- 
räthige  Electricum  zum  gegenüberstehenden  Drahte  des  Zinkpols.  Je 
näher  diesem  abführenden  Drahte,  desto  schneller  enteilt  dort  das  Electri- 
cum. In  der  Mitte  mufs  eine  Gegend  der  gröfsten  Langsamkeit  seyn. 
Von  dieser  Mitte  einerseits  beherrscht  das  verzögerte,  mehr  angehäufte 
Electricum  diejenigen  Stoffe,  welche  den  bessern  Leitern  ähnlich  sind,  die 
Metalle,  den  Wasserstoff,  u.  s.  w.:  ihre  innern  Zustände  müssen  sich  nach 
ihm  richten,  indem  sie  dem  Sauerstoffe  und  Aehnlichem  entfremdet  werden. 
Andrerseits,  dort,  wo  das  Electricum  enteilt,  wird  der  Sauerstoff  vor- 
herrschend; und  findet  er  nichts  Anderes,  so  ergreift  er  das  vorhandene 
Caloricum,  mit  welchem   er  sich  in   Gasform  verflüchtigt. 

Hier    haben    wir    noch    einen    Hauptpunct    ausgelassen,    nämlich    die- 

*)  Metaphysik  §  401  —403.;  wo  zunächst  das  zu  beachten  ist,  was  über  die  Un- 
gereimtheit der  SvMMER'schen  Hypothese  gesagt  worden. 


jg  ,  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.    1831. 

jenigen  innern  Zustände,  welche  das  Electricum  selbst  wechselnd  an- 
nehmen mufs,  wenn  es  durch  Metall  und  durch  andre  Elemente  geht; 
wovon  am  angeführten   Orte  das  Nähere  bemerkt  ist. 

143.  Wie  man  auch  vom  Electricum  denke,  und  wie  hoch  man 
auch  dessen  Wirksamkeit  anschlage:  weit  mehr  Gewalt  besitzt  und  übt 
das  Caloricum.  Verschwände  es,  träte  absolute  Kälte  ein,  so  würden  mit 
.Macht  die  Körper  sich  zusammenziehen;  dieser  Ungeheuern,  in  allen 
Molekeln  thätigen  Macht  wehrt  das  Caloricum;  und  beständig  sind  die 
Körper  ihm  dienstbar,  indem  sie  ihre  gröfsere  oder  geringere  Ausdehnung 
von  ihm  bestimmen  lassen.  Ja  sogar  die  Formen  des  Starren,  Tropfbaren, 
elastisch   Flüssigen  hängen   von  ihm   ab. 

Die  Lehren  vom  gebundenen  und  frei  werdenden  Wärmestoff  sind 
bekannt  genug;  sie  vereinigen  sich  mit  denen  von  den  verschiedenen 
Capacitäten,  um  anzudeuten,  dafs  die  Gewalt  des  Caloricums  doch  keine 
absolute  Herrschaft  sey,  wie  man  sie  da  vorstellt,  wo  man  es  geradezu 
als  das  Prinzip  der  Expansion  betrachtet,  und  hiemit  der  Cohäsion  ent- 
gegensetzt. Nur  einige  nähere  Bestimmungen  sind  nöthig,  um  auch  hier 
jene  Repulsion  wiederum  nachzuweisen,  welche  aller  Form  des  materiellen 
Daseyns  zum  .Grunde  liegt.  Es  läuft  auch  hier  darauf  hinaus,  dafs  unter 
gewissen  Umständen  eine  Attraction  vorausgeht,  woraus  eine  Lage  der 
Elemente  folgt,  der  dieselben  durch  ihre  innern  Zustände  nicht  entsprechen 
können;  dann  ergiebt  sich  hieraus  eine  Trennung,  die  theils  Ausdehnung, 
theils  Strahlung  nach  sich  zieht. 

Aber  die  nächsten  Vergleichungen  mit  dem  Electricum ,  welche  sich 
auf  den  ersten  Blick  darbieten,  zeigen  bey  grofser  Aehnlichkeit  eine  noch 
gröfsere  Verschiedenheit.  Beide,  Caloricum  und  Electricum,  bewirken  Auf- 
lösung; auch  das  Caloricum  besitzt  chemische  Verhältnisse,  wo  es  Einiges 
verflüchtigt  und  Anderes  zurückläfst.  Aber  eben  weil  dem  Caloricum  zu 
gefallen  die  Körper  sich  willig  ausdehnen,  können  sie  es  nicht  so  un- 
gestüm forttreiben,  wie  wenn  ein  Leiter  das  Electricum  meilenweit  von 
einem  Ende  bis  zum  andern  hinwegstöfst.  Das  Electricum  erschüttert, 
aber  es  weicht;  zum  Verflüchtigen  starrer  Körper  gelangt  es  kaum  eher, 
als  indem   es  sie  plötzlich  einbrechend   zerschmettert. 

144.  Die  Begriffe  hievon  werden  sich  mehr  aufklären,  wenn  wir  das- 
jenige, was  oben  (139.)  von  den  Stoffen  A  und  B  angenommen  wurde, 
näher  bestimmen.  Nur  um  den  einfachsten  denkbaren  Fall  zu  setzen, 
fafsten  wir  dort  Ein  A  und  Ein  B  zusammen;  man  weifs  aber,  dafs  an- 
statt dieser  Gleichheit  des  Gegensatzes  gewöhnlich  eine  Ungleichheit  statt- 
findet; so  gehören  z.  B.  nahe  8  Elemente  Sauerstoff  zu  Einem  Element 
Wasserstoff,   um   Wasser  zu  bilden. 

Ferner  weifs  man,  dafs,  ungeachtet  eines  ähnlichen  Verhältnisses  der 
Ungleichheit,  doch  Stärke  und  Schwäche  des  Gegensalzes  sehr  verschieden 
seyn  können;  so  in  dem  von  Berzelius  angeführten  Beispiele,  dafs  eine 
beynahe  gleiche  Menge  Sauerstoffs  nöthig  ist,  um  100  Theile  Eisen  in 
Oxydul,  oder  um  100  Teile  Natrium  in  Alkali  zu  verwandeln,  und  doch 
hat  der  Sauerstoff  eine  unendlich  vielmal  gröfsere  Verwandtschaft  zum 
Natrium  als  zum  Eisen;  das  heifst,  der  Gegensatz  des  Sauerstoffs  gegen 
Natrium  ist  ohne  Vergleich  grüfser  als  der  gegen  Eisen. 


i.  Abschnitt.    Elementarlehre,    i".  Cap.  d.  II.  Ausg.    Von  der  geistigen  Ausbildung,    j8: 


Nun  mufs  der  Gegensatz  des  Caloricums  gegen  alle  Materie,  die  sich 
von  ihm  gewaltsam  ausdehnen  läfst,  sehr  grofs,  —  zugleich  aber  mufs 
derselbe  äufserst  ungleich  seyn ,  sonst  würde  das  Caloricum  nicht  in 
ewiger  Strahlung  begriffen  seyn,  sondern  in  ruhiger  Connguration,  wie  die 
Elemente  der  Materien,  verharren.*  Dagegen  liegt  das  Electricum,  so  lange 
es  nicht  durch  Berührungen  angeregt,  oder  vollends  gewaltsam  angehäuft 
wird,  weit  ruhiger  in  den  Körpern;  sein  Gegensatz  ist  also  weit  weniger 
ungleich  als  jener  des  Caloricums;  hingegen  ist  er  weit  schwächer,  sonst 
müfsten  jene  beiden  Stoffe  in  Hinsicht  der  Gewalt,  die  sie  ausüben,  ein- 
ander weit  näher  kommen. 

Dies  läfst  sich  zwar  hier  nicht  weiter  ausführen;  hat  man  aber  ein- 
mal den  Unterschied  zwischen  ungleichem  und  schwachem  Gegensatze 
gefafst,  so  sieht  man  sogleich,  dafs  noch  ein  möglicher  Fall  denkbar  ist, 
nämlich  ein  solcher,  da  der  Gegensatz  eines  Stoffes  gegen  die  Körper  so- 
wohl durch  grofse  Ungleichheit  als  durch  grofse  Schwäche  bestimmt  sev. 
Giebt  es  einen  solchen  Fall,  so  kann  man  von  dem  so  beschaffenen  Stoffe 
nur  dann  grofse  Wirkungen  erwarten,  wenn  entweder  ungeheure  Massen 
seine  Wirksamkeit  bestimmen,  oder  ihm  eine  ganz  ausgezeichnete  Empfind- 
lichkeit entgegenkommt.  Das  erste  trifft  bey  der  Schwere  zu,  die  von 
ganzen  Weltkörpern  abhängt;  das  zweyte  beym  Licht,  welchem  die  Em- 
pfindlichkeit der  Organismen  und  besonders  des  Auges  seine  Wichtigkeit 
giebt.    Wir  können  hier  nur  kurz  sagen,  dafs  hiemit  der  Aether  angedeutet  ist. 

Fragt  man  endlich  nach  dem  Ursprung  des  Magnetismus,  so  schlagen 
wir  vor,  ihn  im  Caloricum  zu  suchen,  welches  in  einigen  wenigen  Körpern 
auf  eine  ganz  eigentümliche  Weise  gebunden  seyn,  und  alsdann  einen 
Druck,  ähnlich  dem  des  Electricums  (142.),  in  die  Ferne  ausüben  kann. 
Hieher  gehört  noch  die  Bemerkung,  dafs  man  wegen  der  durch  bewegte 
Magnete  erregten  Electricität,  desgleichen  wegen  des  Transversal-  oder  Cir- 
cular-Magnetismus  an  VoLTA'ischen  Leitungsdrähten,  die  nothwendige  Wech- 
selwirkung zwischen  Caloricum  und  Electricum   wird  zu   untersuchen  haben. 

Allein  wir  dürfen  hier  nicht  weiter  gehn,  sondern  müssen  in  die 
vorgezeichnete   Bahn  zurücklenken. 


Siebzehntes  Capitel. 

Von  der  geistigen  Ausbildung. 

145.  Von  der  geistigen  Regsamkeit  zu  der  allgemeinsten  Betrachtung 
des  Lebens  übergehend,  und  alsdann  auf  die  unorganische  Natur  einige 
Blicke  werfend,  haben  wir  uns  von  den  Gegenständen  entfernt,  die  ein 
unmittelbares  praktisches  Interesse  gewähren.  Die  Rückkehr  dahin  dart 
den  Zusammenhang  nicht  unterbrechen.  Er  liegt  offenbar  in  dem  Be- 
griffe der  innern  Zustände,  ohne  welchen  nicht  einmal  die  Materie  ver- 
ständlich ist.  Es  wird  aber  nun  von  selbst  auffallen,  dafs  die  Mannig- 
faltigkeit  innerer  Zustände  in  einem  und  demselben  Elemente  der  Materie  bey 

*  Metaphysik  §  339.  349.  389   [Bd.  VIII  vorl.  Ausg.] 


jgß  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

weitem  nicht  so  sehr  in  Betracht  kommt,  als  die  Mannigfaltigkeit  derjenige?! 
innern  Zustände  in  uns,  die  wir  Empfindungen  nennen.  Das  Leben,  wie 
es  in  den  Elementen  organischer  Körper  begründet  ist,  steht  hier  in  der 
Mitte  zwischen  dem  Unbelebten  und  dem  Geistigen. 

146.  Um  von  der  geistigen  Ausbildung  eine  bequeme  Uebersicht  zu 
gewinnen,  mufs  man  einen  mittlem  Standpunct  wählen,  der  mit  dem 
längst  bekannten  Unterschiede  zwischen  den  untern  und  obern  Seelen- 
vermögen —  hergenommen  von  der  Vergleichung  zwischen  dem  Menschen 
und  denjenigen  Thieren,  die  am  meisten  geistiges  Leben  verrathen,  einiger- 
mafsen  zusammentrifft.  Dieser  Unterschied  ist  zwar  sehr  schwankend; 
er  hat  aber  veranlafst,  eine  Gränzlinie  zu  suchen,  welcher  zunächst  unter- 
wärts Phantasie  und  Aufmerksamkeit,  oberwärts  Verstand  und  Bezeichnungs- 
vermögen ihren  Platz  haben  sollen.  Weiter  nach  unten  schauend  erblickt 
man  alsdann  Gedächtnis,  Sinnlichkeit,  niedere  Gefühle  und  Begehrungen, 
nach  oben  ästhetisches  Urtheil ,  theoretische  und  praktische  Vernunft. 
Alles  dies  zeigt  sich  aber  nicht  auf  einmal  gleichmäfsig;  das  Kind  scheint 
von  unten  anzufangen;  und  der  Weg  nach  oben  ist  so  weit,  dafs  ganze 
Nationen  und  Zeitalter  zurückbleiben,  und  selbst  die  hochgebildeten  kein 
Ende  finden.  'Was  die  höhern  Thiere  anlangt,  so  pflegt  man  ihnen  die 
Phantasie  nicht  ganz  abzusprechen,  (wäre  es  auch  nur,  weil  die  Hunde 
manchmal  im  Schlafe  bellen,  was  von  Träumen  herzurühren  scheint);  ihre 
Aufmerksamkeit  verrathen  sie  überdies  oft  genug.  Dagegen  ist  man  nicht 
geneigt,  ihnen  Verstand  einzuräumen;  zwar  sieht  man,  dafs  sie  Zeichen 
verstehen,  vielleicht  auch  geben  sie  Zeichen;  aber  man  findet  es  schwer  zu 
glauben,  dafs  sie  sich  derselben  in  ähnlicher  Art  nach  Willkühr  und  mit  Ab- 
sicht bedienen,  wie  der  Mensch  sich  der  Sprache,  vollends  der  Schrift  bedient. 

147.  In  den  beiden  vorigen  Capiteln,  wo  vom  Gegensatze  unter 
den  Qualitäten  der  Elemente  ausgegangen  war,  und  daraus  die  innern 
Zustände  abgeleitet  wurden,  konnten  die  Unterschiede,  die  sich  daraus 
ergaben,  neben  einander  hingestellt  werden,  also  starker  und  nahe 
gleicher  Gegensatz  für  die  Körper,  starker  und  sehr  ungleicher  Gegensatz 
für's  Caloricum,  schwacher  und  nahe  gleicher  Gegensatz  für's  Electricum, 
schwacher  und  sehr  ungleicher  Gegensatz  für  den  Aether.  Dort  sind  die 
Gegenstände  gleichzeitig  vorhanden;  daher  lassen  sich  auch  ihre  Erklärungen 
gleichzeitig  auffassen.  Nicht  also  verhält  es  sich  bey  der  Erklärung  des 
Geistigen.  Denn  hier  soll  erklärt  werden,  was  nur  allmählig  vermöge 
fortschreitender  Ausbildung  zum  Vorschein  kommt.  Zuvörderst  genüge 
ein  einziger  Schritt,  um  über  dasjenige  hinauszukommen,  was  schon  über 
die  geistige  Regsamkeit  gesagt  war;  und  was  (wie  leicht  zu  bemerken) 
sich  meistens  auf  Sinnlichkeit,  Gedächtnifs,  unteres  Begehrungsvermögen 
bezieht  (115 — 120.).  Fragt  man,  was  das  Wort  Phantasie  eigentlich  be- 
deute, so  erblicken  wir  Bilder,  in  welchen  zwar  ein  früher  schon  -gesam- 
melter geistiger  Vorrath  wieder  zu  erkennen  ist,  aber  in  Zusammen- 
setzungen, welche  einer  neuen  Welt  anzugehören  scheinen,  indem  sie  weit 
;ibweichen  von  den  Complexionen  und  Reihen,  zu  welchen  das  in  der 
Empfindung  Gegebene  ursprünglich  sich  verbunden  und  gestaltet  hatte. 
Hier  zeigt  sich  ein  Unterschied  zwischen  zugleich  sinkenden  und  zugleich 
frey  steigenden   Vorstellungen. 


I.Abschnitt.    Elementarlehre,     i ;.  Cap.  d.  IL  Ausg.    Von  der  geistigen  Ausbildung.    187 

148.  Bekanntlich  besitzen  Vorstellungen,  die  eben  jetzt  sinnlich  ge- 
geben werden,  eine  eigenthümliche  Klarheit  im  Augenblicke  des  Empfindens 

—  also  des  Sehens,  des  Hörens,  Schmeckens  u.  s.  w\,  —  welche  sie 
späterhin  niemals  wieder  gewinnen.  Sie  verlieren  diese  Klarheit  sogleich 
in  Folge  jener  früher  schon  erwähnten  Hemmung  (115.),  die  oft  so  weit 
geht,  dafs  die  Vorstellungen  völlig  aus  dem  Bewufstseyn  verschwinden,  als 
ob  sie  nicht  mehr  da  wären.  Sie  sind  gleichwohl  noch  vorhanden,  nur 
unterdrückt,  und  sie  können  aus  diesem  gedrückten  Zustande  wieder  her- 
vortreten. Dies  Hervortreten  nun  geschieht  entweder  in  Folge  andrer 
Vorstellungen,  die  ihnen  gleichartig,  wohl  auch  früher  mit  ihnen  ver- 
bunden waren,  —  oder  es  geschieht  blofs  in  Folge  dessen,  dafs  die  Ur- 
sache der  Hemmung  aufhört.  Im  letztern  Falle  nennen  wir  sie  frey 
steigende  Vorstellungen.  Das  nächste  Beyspiel  liefert  das  Erwachen,  nach- 
dem die  leibliche  Hemmung,  welche  den  Schlaf  bewirkte,  aufhört;  aber 
auch  wenn  Störungen,  wenn  nothwendige  Geschaffte  aufhören,  wenn  Mufse 
zurückkehrt  und  anziehende  äufsere  Gegenstände  fehlen,  zeigen  sich  frey 
steigende  Vorstellungen. 

Von  diesen  gilt  im  Allgemeinen,  dafs  sie  sich  unter  einander  weniger 
hemmen,  folglich  sich  gleichmäfsiger  verbinden,  als  geschehen  würde,  wenn 
die  nämlichen  Vorstellungen  gleichzeitig  aus  der  ursprünglichen  sinnlichen 
Klarheit  mit  einander  gesunken  wären.*  Kommt  die  Reproduction  durch 
Aehnlichkeiten  oder  frühere  Verknüpfungen  hinzu,  so  kann  aus  allem J 
Vorrath  sich  ein  neues  Gebilde  zusammensetzen;  anfangs  schwankend 
und  veränderlich,  später  und  nach  häufiger  Wiederhohlung  in  der  näm- 
lichen Vorstellungsmasse  mit  bestimmteren  Zügen,  die  sich  endlich  bevestigen. 

Die  Sprache  bietet  sich  dar,  um  solche  Gebilde  zu  bezeichnen  und 
zu  beschreiben,  als  wären  es  wirkliche  Gegenstände;  sie  kommen  sammt 
diesen  in  den  Kreis  geselliger  Mittheilung,  und  können  wie  diese  als 
Objecte   mannigfaltiger   Betrachtung  aufgenommen   werden. 

149.  Aus  der  Menge  dessen,  was  sich  hieraus  ableiten  läfst,  heben 
wir  nur  drey  Puncte  hervor. 

Erstlich :  es  können  Zweckbegriffe  daraus  entstehn.  Alles,  was  Jemand 
verfertigen   will,   mufs  ihm   als  Phantasie -Bild  vorschweben. 

Zweytens:  es  können  sich  ästhetische  Urtheile  darauf  richten.  Daher 
[=  Dahin]  gehören  Kunstwerke,  die  Jemand  verfertigt  hat,  und  schon 
indem   er  überlegte,   was   er  verfertigen   wolle. 

Drittens:  die  nämlichen  Phantasiegebilde  werden  Gegenstände  theo- 
retischer Ueberlegung.  Dahin  gehört  die  Frage,  ob  das  Beabsichtigte  sich 
verfertigen  lasse,  ob  man  die  Mittel  dazu  in  Händen  habe,  oder  ob  nach 
den  Mitteln  der  Plan  zu  verändern  sey?  —  Noch  eine  andre  theoretische 
Ueberlegung  trifft  die  innere  Consequenz  solcher  Gebilde;  wie  wenn 
mathematische  Figuren,  deren  Vorstellung  innerlich  erzeugt  war,  Anlals  zu 
Untersuchungen    geben,    deren  Resultat    als  Lehrsatz    ausgesprochen    wird. 

150.  Man  hat  Grund,  anzunehmen,  dafs  die  Thiere  schon  durch 
Organismus  in  Ansehung  der  frey  steigenden  Vorstellungen  sehr  beschränkt 

*  Psychologische  Abhandlungen,   zweytes  Heft. 
1  SW  „altem"  statt  „allem". 


igg  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


sind.  Denn  Seele  und  Leib  sind  einmal  verbunden;  das  heifst,  innere 
Zustände  hier  und  dort  bestimmen  sich  gegenseitig.  So  nun,  wie  die 
Empfindungen  von  den  Sinnes -Werkzeugen  abhängen,  eben  so  müssen 
rückwärts  frey  steigende  Vorstellungen  ihre  Folgen  in  Ansehung  des 
Nervensystems  haben;  und  ein  Theil  dieser  Folgen  zeigt  sich  in  den 
Bewegungen  der  Muskeln,  wo  sehr  deutlich  die  äufsere  Lage  und  Gestalt 
sich  nach  den  innern  Zuständen  richtet.  Allein  wer  sagt  uns,  dafs  die 
bewegenden  Nerven  ausschliefsend  den  Einflufs  der  geistigen  Zustände 
erfahren?  Weit  wahrscheinlicher  ist,  dafs  auch  das  Gehirn  sowohl  beym 
Empfinden  als  bey  den  Regungen  durch  frey  steigende  Vorstellungen 
afficiert  werde,  —  und  dafs  es  nun  in  Frage  komme,  in  wiefern  diese 
Affectionen,  von  entgegengesetzten  Seiten  her,  mit  einander  verträglich 
seyen?  Das  Gehirn  des  Menschen  scheint  dafür  besonders  günstig  ein- 
gerichtet zu  seyn. 

Gesetzt  aber  auch,  die  Thiere  wären  eben  so  sehr  des  frey  steigen- 
den Vorstellens  fähig,  so  fehlt  ihnen  doch  die  Sprache,  sich  mitzutheilen, 
und  die  Hand,  um  dem  Vorgestellten  gemäfs  etwas  zu  verfertigen.  Es 
fehlen  die   Hülfsmittel,   das  Vorgestellte   zu  fixiren. 

151.  An  'der  nämlichen  Gränze,  wodurch  man  unteres  und  oberes 
Vermögen  zu  scheiden  sucht,  steht  auch  die  Aufmerksamkeit,  allein  hier 
mufs  mancherley  unterschieden  werden.  Zuerst  die  unwillkührliche  und 
die  willkührliche  Aufmerksamkeit.  Jene  zerfällt  wieder  in  die  primitive 
und   die   appereipirende,    diese   in   die  reflectirende  und   die   vorsätzliche. 

Aufmerksamkeit  im  Allgemeinen  ist  die  Disposition,  einen  Zuwachs 
des  Vorstellens  zu  erlangen.  Ursprünglich  ist  der  Mensch  nicht  blofs, 
sondern  auch  das  Thier,  aufgelegt,  Vorstellungen  zu  empfangen,  sobald 
nicht  Schlaf,  Ermüdung,  oder  ein  Gedränge  schon  vorhandener  Vorstellungen 
es  hindern.  Von  dieser  primitiven  Aufmerksamkeit,  und  ihren  anderwärts* 
nachgewiesenen,  theils  positiven,  theils  negativen  Ursachen  reden  wir  hier 
nicht,  sondern  zunächst  vom  appereipirenden  Merken,  dessen  höchsten 
Grad  die  Worte  Spüren,  Horchen,  Tasten,  Spähen  ausdrücken.  Der 
Raubvogel  zeigt  es,  wenn  er  auf  seine 1  Beute  herabschiefst,  die  Bienen, 
indem  sie  den  blühenden  Baum  aufsuchen,  die  Hunde,  wenn  sie  dem 
Wilde  nachjagen.  Was  hiebey  in  den  Thieren  vorgeht,  können  wir  zwar 
nicht  beobachten ;  wenn  aber  der  Mensch  horcht  und  spürt,  so  sind 
ältere  gleichartige  oder  doch  verwandte  Vorstellungen  aufgeregt,  und  diese 
stehn  im  Begriff,  sich  anzueignen  (zu  appereipiren),  was  eben  jetzt  dar- 
geboten wird.  Manchmal,  aber  nicht  immer,  geschieht  die  Apperception 
durch  frey  steigende  Verstellungen.  Wo  nicht,  so  kommt  es  darauf  an, 
dafs  zuerst  die  verwandten  älteren  Vorstellungen  reproducirt  werden,  und 
dann  macht  es  grofse  Unterschiede,  ziie  tief  die  Reproduction  in  den 
altern  Yorrath  eingreife.  Bey  manchen  Menschen  scheint  es,  als  ob  nur 
das  Gestrige  und  Vorgestrige  sich  heute  noch  zurückrufen  liefse;  wiewohl 
nun  die-  nur  Schein  ist,  so  gewinnt  doch  die  Apperception  einen  andern 
Nachdruck,    wenn   dem   Menschen    der  Gewinn    seiner    ganzen  Vergangen- 


*  Psychologie  §  95   und   die  dort  angeführte  Abhandlung. 


'   „seine"  fehlt  SW 


I.Abschnitt.    Elementarlehre.     17.  Cap.  d.  II.  Ausg.    Von  der  geistigen  Ausbildung.    180 

heit  zu  Gebote  steht,  als  wenn  seine  Gedanken  gleichsam  auf  einer  dünnen 
Oberfläche  schwimmen,  die  von  neuen  Wahrnehmungen  kaum  durch- 
drungen werden  kann,  so  dafs  Früheres  und  Späteres  sich  nur  kümmer- 
lich verbindet. 

152.  Hier  aber  stehn  wir  auch  schon  im  Begriff,  die  angegebene 
Gränze  zu  überschreiten.  Denn  das  reflectirende  Merken,  —  welches 
da  vorkommt,  wo  Bemerkungen  sich  darbieten,  Anmerkungen  aufge- 
zeichnet werden  u.  s.  w.,  wird  man  bey  den  Thieren  nicht  suchen.  Dafs 
sie  manche  Dinge  an  deren  Merkmalen  erkennen,  ist  nicht  zu  bezweifeln ; 
aber  man  hat  nicht  Ursache  zu  glauben,  dafs  sie  sich  die  Merkmale 
auseinandersetzen.  Dies,  was  in  der  Logik  als  der  Anfang  des  deutlichen 
Vorstellens  angesehen  wird,  ist  längst  (von  Wolf)  der  Aufmerksamkeit  als 
ihr  Werk  zugeschrieben  worden.  Also  hier  beginnt  Verstand,  und  mit 
ihm  in  engster  Verbindung  das  Bezeichnungsvermögen,  welches  sich  vor- 
zugsweise im  Gebrauch  der  Sprache  äufsert.  Was  aber  ist  der  Verstand  ? 
—  Der  Kürze  wegen,  und  viel  Streit  und  Verwirrung  meidend,  unter- 
scheiden wir  sogleich  den  Verstand  im  Verstehen,  im  Denken,  im  Erkennen, 
im  Betragen.  Verstehen  bezieht  sich  zunächst  auf  Zeichen,  besonders 
auf  die  Sprache;  Denken  bezieht  sich  auf  den  Besitz  der  Begriffe,  in 
ihren  logischen  Abstufungen;  Erkennen  auf  die  Richtigkeit  der  Auf- 
fassungen, besonders  im  Gegensatz  gegen  solche  Täuschungen,  welche 
den  Träumen  ähnlich  sind;  der  Verstand  im  Betragen  endlich  weiset  hin 
auf  Klugheit,  Anstand,  Besonnenheit.  Dem  allen  liegt  Reproduction  älterer 
Vorstellungen  zum  Grunde. 

r53-  Wo  Sprache  verstanden  wird,  da  ist  jedes  Wort  das  Zeichen 
zum  Hervorrufen  einer  daran  haftenden  Vorstellung ;  und  jeder  Laut, 
jeder  Buchstabe  eines  Worts  mufs  zu  diesem  Hervorrufen  das  Seinige  bey- 
tragen.  Alle  Bedeutung  der  Rede  mufs  der  Hörer  aus  sich  selbst  her- 
geben. Wenn  vieljähriger  Unterricht  durch  Wort  und  Schrift  den 
Menschen  bildet,  so  hat  jeder  Theil  der  Rede  in  den  Vorrath,  —  und 
zwar  immer  in  denselben  Vorrath,  der  einmal  gesammelt  war,  eingegriffen; 
und  alle  gewonnene  Kenntnifs  (sofern  nicht  neue,  unmittelbare  Wahr- 
nehmung hinzukam,)  hat  nur  durch  veränderte  Zusammensetzung  dessen, 
was  die  Reproduction  darbot,  entstehen  können.  Man  darf  sich  gewifs 
nicht  wundern,  wenn  der  Unterricht  oft  Schwierigkeiten  findet,  da  ihm  die 
älteren  Verbindungen  des  nämlichen   Materials  entgegenwirken. 

154.  Man  hat  oft  den  Verstand  für  das  Vermögen  der  Begriffe  er- 
klärt, und  dabey  vorzüglich  die  Begriffe  der  Arten  und  Gattungen  im 
Auge  gehabt.  Allein  solche  Präcision  der  Begriffe,  wie  die  Logik  sie 
fodert,  findet  sich  selten,  wo  nicht  schulmäfsige  Bildung  voranging.  Ge- 
wöhnlich hat  der  Mensch  anstatt  der  allgemeinen  Begriffe  nur  Gesammt- 
Eindrücke  des  Aehnlichen,  die  man  Gemeinbilder  nennt,  sofern  sie  aus 
wiederhohlter  sinnlicher  Wahrnehmung  entstehen.  Hiebey  ist  abermals 
die  Reproduktion  vorausgesetzt,  indem  sie  bey  jeder  Wiederhohlung  ältere 
Vorstellungen  mit  neuen,  mehr  oder  minder  gleichartigen,  in  Ver- 
bindung bringt. 

155.  Was  der  Ausdruck:  Verstand  im  Erkennen,  hier  bedeuten  soll, 
zeigt  sich  am   leichtesten  durch   den  Gegensatz    des   Unverstandes.      Denn 


1QO  IL   Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

man  nennt  nicht  sowohl  Denjenigen  unverständig,  der  irgend  eine  Rede 
nicht  versteht,  oder  dem  die  Allgemeinheit  der  Begriffe  im  Denken  nicht 
zu  Gebote  steht,  —  als  vielmehr  Den,  welcher  sich  ungereimten  Ge- 
danken hingiebt.  Indem  man  das  Ungereimte,  was  er  gemäfs  seinen 
Kenntnissen  selbst  sehen  konnte,  rügt,  sucht  man  ihn  wie  aus  einem 
Traume  zu  wecken.  Denn  freylich  der  Traum  verbindet  auch  das  Un- 
vereinbare. Offenbar  aber  liegt  der  Fehler  der  Träume  in  einer  mangel- 
haften Reproduction.  Wer  aus  einem  Traum  erwacht,  findet  sogleich  das 
Unmögliche,  wo  Zeiten,  Räume,  Verhältnisse  übersprungen  waren.  Indem 
diese  wieder  eintreten,  zerreifst  das  Traumbild;  und  man  sieht,  dafs  die 
Theile  dieses  Bildes  nichts  anderes  als  verstümmelte  Reminiscenzen  ge- 
wesen waren,  die,  indem  sie  sich  wieder  ergänzen,  sich  gegenseitig  ab- 
stofsen.  Umgekehrt  liegt  das  Verständige  des  Erkennens  darin,  die  Re- 
produktionen zu  vollenden,  und  sie  nicht  anders  als  so  zu  verbinden, 
wie  sie   es  bei  vollständiger  Vergegenwärtigung  ertragen. 

Hiemit  hängt  zusammen,  dafs  man  der  Logik,  als  der  Wissenschaft 
des  Verstandes,  die  Auffassung  der  Einstimmung  und  des  Widerstreits 
(die  principia  identitatis  und  contradictionis)  zugewiesen  hat;  aus  welchen 
übrigens  sehr  wenig  werden  würde,  wenn  nicht  die  Reihenformen  (119.) 
hinzukämen,  die  wiederum  in  den  Reproductions-Gesetzen  ihren  Grund  haben. 

156.  Das  Verständige  des  Betragens  steht  zwar  in  der  genauesten 
Verbindung  mit  dem  Verständigen  im  Erkennen;  allein  hiebey  mufs  man 
überdies  auf  die  vorsätzliche  Aufmerksamkeit  (151.),  und  mit  ihr  zugleich 
auf  den  Unterschied  der  frey  steigenden  von  den  sinkenden  Vorstellungen 
zurückblicken.  Offenbar  nämlich  richtet  sich  der  Vorsatz,  aufzumerken, 
gröfstenteils  gegen  die  frey  steigenden  Vorstellungen,  welche  sehr  ge- 
wöhnlich aus  dem  Kreise  dessen,  was  zum  Aufmerken  vorliegt,  heraus- 
schreiten. Dabey  sind  ihre  Gebilde  im  beständigen  Widerstreit  gegen  die 
wirklichen  Dinge,  das  heifst,  gegen  das  Gegebene  des  Empfindens  und 
Anschauens,  und  hiemit  gegen  die  zugleich  sinkenden  Vorstellungen. 
Dieser  Widerstreit  des  Wirklichen  und  der  Gedankenwelt  setzt  das  Be- 
tragen in  Gefahr,  unverständig  zu  werden.  Das  Streben  der  frey  steigenden 
Vorstellungen  treibt  den  Menschen,  zu  handeln;  aber  die  Handlungen 
fallen  unzweckmäfsig  aus,  wenn  die  Bedingungen,  welche  das  Wirkliche 
ihm  auferlegt,  zu  spät  bedacht  werden.  Daher  zunächst  die  Behutsamkeit, 
das  blofs  Gedachte  nicht  mit  dem  Wirklichen  zu  verwechseln;  das  Ge- 
wünschte und  Erwartete  als  ungewifs  zu  betrachten;  das  Mögliche  vom 
Wirklichen  zu  unterscheiden. 

In  der  Regel  wächst  mit  zunehmender  Reife  des  Alters  die  Ruhe 
des  verständigen  Betragens.  Die  frey  steigenden  Vorstellungen  ver- 
wandeln sich  allmählig  in  solche,  die  frey  stehen  und  sich  frey  bewegen; 
sie  verbinden  sich  zu  herrschenden  Vorstellungsmassen,  während  für  sinn- 
liche Empfindung  die  Empfänglichkeit  abnimmt.*  Aber  die  Aus- 
bildung kann  auch  Verbildung  seyn,  mit  aller  Mannigfaltigkeit  der 
Unterschiede. 

157.  Im    glücklichen    Falle    nehmen    die    herrschenden    Vorstellungs- 


Psychologie  §  94.  98.    [Bd.  V  vorl.  Ausg.] 


I.  Abschnitt.    Elementarlehre.    17.  Cap.  d.  II.  Ausg.     Von  der  geistigen  Ausbildung,    igi 

raassen  das  oben  erwähnte  vielfache  Interesse  (83.)  in  sich  auf,  dessen 
Grundlage  das  Aufmerken  ist.  Die  ästhetischen  Urtheile  (45.)  behaupten 
sich  neben  der  Kenntnifs  des  Notwendigen  (25.);  mit  ihnen  die  praktischen 
Ideen  (27.  44.);  und  während  sie  das  Handeln  lenken,  ruhet  der  Mensch, 
in  Folge  seiner  ästhetischen  Ansicht  der  Welt,  im  religiösen  Glauben  (33.). 
Alsdann  darf  eine  geordnete  Lebens-Führung  erwartet  werden,  wie  sie 
gleich  anfangs  beschrieben  wurde. 

Der  minder  glücklichen  Fälle  giebt  es  unzählige.  Bald  liegt  der 
Fehler  in  den  herrschenden  Vorsteliungsmassen,  bald  darin,  dafs  sie  nicht 
stark  genug,   oder  in  ihrer  Wirksamkeit  unterbrochen  sind. 

Von  den  unglücklichen  Fällen  der  verkehrten  Ausbildung  finden  sich 
die  stärksten  Proben  in  den  Geschichten  der  Verbrechen,  deren  Be- 
urtheilung  bekanntlich  sehr  schwer  ist,  wenn  man  nicht  genau  weifs,  wieviel 
davon  der  herrschenden  Absicht,  wieviel  der  Verstimmung  eines  sonst 
bessern  Menschen,  wieviel  den  Umständen  und  selbst  den  zufälligen  Er- 
folgen soll   zugeschrieben  werden. 

Einige  Criminalfälle  sollen  hier  ganz  kurz  angeführt  werden;*  nur  um 
beyspielsweise  auf  deren  Verschiedenheit  hinzuweisen. 

1.  Einer  zündet  sein  Haus  an,  um  die  zu  hoch  gesteigerten  Assecuranz- 
gelder  zu  gewinnen,  und  seinen  Plan  eines  bessern  Neubaues  ins  Werk 
zu  richten.  Mit  verschiedenen  Miethsleuten,  die  bey  ihm  wohnen,  hat  er 
schon  im  Voraus  von  dem  Glücke  geredet,  abzubrennen;  auch  guten  Rath 
fallen  lassen,  man  möge  für  mögliche  Fälle  die  Sachen  zum  Fortschaffen 
bereit  halten.  Er  rühmt  sich,  gelernt  zu  haben,  wie  man  die  Richter' 
täuschen  müsse.  Er  droht,  einen  Angeber  würde  der  Brenner  stumm  zu 
machen  wissen,  oder  ihn  selbst  als  Brandstifter  verklagen.  Endlich, 
nach  der  That,  im  Gefängnisse,  horcht  er  freudig  auf  ein  vorgebliches 
Mittel,  sich  der  Strafe  zu  entziehen. l 

2.  Ein  Unglücklicher,  um  sich  den  Selbstmord  zu  sparen,  wünscht 
hingerichtet  zu  werden;  zu  diesem  Zwecke  stürzt  er  seine  vierjährige 
Tochter  in  einen  Brunnen;2  durch  die  drückendste  Noth  ist  er  der  Ver- 
zweiflung nahe  gebracht  worden. 

3.  Ein  melancholischer  Mensch,  übrigens  unstreitig  bey  Verstände, 
drohet  seiner  Frau,  sie  werde  ihn  am  Ende  mit  ihrer  Schlechtigkeit  (die, 
wie  es  scheint,  nur  seine  Einbildung,  wenigstens  nicht  bewiesen  ist,)  noch 
so  verwirrt  inachen,  dafs  es  ihm  gehe,  wie  jenem  Schneider,  der  zuerst 
seine  Frau,  dann  sich  selbst  mordete.  Bald  darauf  kommt  der  Bruder 
zur  Frau  und  erzählt  einen  Unglückstraum,  worin  das  Verbrechen  prophe- 
zeiht  wird.  Magenkrampf,  Herzklopfen,  achttägiges  tief  in  die  Nacht 
hinein  fortgesetztes  Arbeiten  kommt  noch  hinzu;  ein  Rasirmesser  liegt  ge- 
rade bereit,    —    und  die  That  wird   nun3  nach    dem    doppelten  Vorbilde 


*  Aus  Hitzigs  Zeitschrift,  September  1830. 

1  Der  vorstehende  Abschnitt   1.    steht  wörtlich  im  „Zusatz"  zum   13.  Capitel  der 
I    Ausg.     Vgl.  S.    160. 

2  Der  vorstehende  Satz'  von'  2.  steht  wörtlich  im   „Zusatz"   zum    13.  Capitel  der 
I.  Ausg.     Vgl.  S.   160. 


3    „nun"    fehlt    in    SW    bei    der   Wiedergabe    des    Textes    der    I.   Ausg.      (Vgl. 
S.    161,  Note   1.) 


jQ2  IL   Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

vollzogen;  nur  gelingt  der  Selbstmord  nicht  ganz.  Der  Mann  wird  geheilt, 
um  sein  Urtheil  zu  empfangen:  Strafe  des  Schwerdts  mit  Schleifung  zur 
Richtstätte.  » 

Zuvorderst  tritt  nun  in  dem  ersten  Falle  nicht  blofs  das,  was  man 
eine  freye  Handlung  zu  nennen  pflegt,  sondern  wirklich  volle  Freyheit 
des  handelnden  Menschen  hervor.  Alle  seine  Vorstellungsmassen  erscheinen 
gleichsam  angesteckt  von  dem  bösen  Plane;  alles  Reden  und  Thun,  nach 
wie  vor  dem  Verbrechen,  zielt  dahin;  er  weifs,  dafs  die  Einwohner  seines 
Hauses  in  den  Flammen  den  Tod  finden  können;  er  zündet  es  dennoch 
an.  Hier  ist  keine  zufällige  Hemmung,  deren  Verschwinden  einen 
bessern  Menschen  darstellen  würde.  Blofs  der  Erfolg  ist  zufällig  nicht  ganz 
so  schlimm,  wie  er  seyn  könnte;  denn  man  erfährt  nicht,  dafs  Jemand 
verbrannt  sey. 

Was  dagegen  den  armen  Tagelöhner  anlangt,  der  durch  Hinrichtung 
zu  sterben  wünscht,  so  würden  milde  Herzen,  hätten  sie  seine  Noth  ge- 
kannt, ihm  das  gute  Gewissen  und  seinem  Kinde  das  Leben  wahrschein- 
lich durch  eine  sehr  mäfsige  Fürsorge  und  durch  freundlichen  Zu- 
spruch haben  erhalten  können.  Aber  die  Lebenswege  sind  ihm  ver- 
schlossen; seine  Gedanken  stocken;  das  Vatergefühl  erlischt  in  ihm,  und 
seine  Handlung,  ihrem  Endzwecke  nach  betrachtet,  ist  Selbstmord,  dem 
nur  das  Gelingen  fehlt.  Die  Absicht,  Wehe  zu  thun,  —  der  allererste 
wesentliche  Punct,  auf  welchem  der  Ursprung  des  Begriffs  der  Strafe 
beruht*,  tritt  nirgends  in  solcher  Deutlichkeit  hervor,  dafs  man  darauf 
Gewicht  legen  könnte.  Das  Wesen  des  Verbrechens  ist  kein  dolus,  wohl 
aber  culpa.  Er  hätte  sollen  den  Gedanken  des  Selbstmords  verabscheuen! 
Er  hätte  sollen  die  geringen  Hülfsmittel  seiner  Existenz  noch  möglichst 
benutzen !  Er  hätte  sollen  vor  dem  Leben  seines  Kindes  Respect  fassen ! 
—  Aber  die  Wahrheit  zu  sagen,  die  Foderung  einer  meist  schon  er- 
loschenen Geisteskraft  ist,  nach  der  vorhandenen  Beschreibung  zu  urtheilen, 
doch  nicht  gar  viel  klüger,  als  wenn  man  Nachdenken  von  einem  Blöd- 
sinnigen fodern  wollte.  Diesem,  nicht  aber  dem  kraftvollen  Wahnsinne, 
nähern  sich  solche  Fälle,  wo  ein  Misgriff  zum  Verbrechen  wird,  weil  die 
Gedanken  des  Menschen  nicht  mehr  gehörig  zusammenwirken. 

Merklich  anders  verhält  sich  der  dritte  Fall.  Hier  ist  zwar  auch 
Verzweiflung  und  Selbstmord,  aber  zuerst  die  Absicht,  Rache  zu  üben 
wegen  vermeinter  Beleidigung;  dann  erst,  sich  selbst  für  das  Verbrechen 
zu  strafen.  Darin  liegt  klares  moralisches  Bewufstseyn.  Dennoch  ist  der 
Zusammenhang  der  Handlung  so  beschaffen,  dafs  er  bey  einem  charakter- 
vollen Menschen  tragisch  heüsen  würde.  Finstere  Bilder,  Beyspiel  und 
Traum,  schweben  voran;  der  verstimmte,  zerrüttete  Mensch  läfst  sich  fort- 
schleppen von  den  Veranlassungen.  Hier  ist  dolus  und  culpa  zugleich.  Der 
dolus  liegt  in  den  Vorstellungsmassen,  welche  handelnd  hervortreten;  die  culpa 
in  den  andern,  die  sich  zum  Widerstände  erheben  sollten,  und  wirkungslos 
bleiben.   Und  dennoch  —  obgleich  die  Handlung  frey  zu  nennen  ist,  erblickt 


1   Der   vorstehende  Abschnitt  3.   steht  wörtlich  im  „Zusatz"  zum    1 3.   Capilel  der 
I.  Ausgabe.     (Vgl.  S.    r6o— 161.) 

Praktische  Philosophie,  im  fünften  Capitel  des  ersten  Buchs.  [Bd.  II   vorl.  Ausg.] 


i.  Abschn.  Elementarlehre.    16.  Cap.  [II.  Ausg. :  18.  Cap.]  Von  der  Seele  und  vom  Ich.    iq^ 

man  keinen  freyen  Mann.  Immer  noch  behält  das  Unglück  seinen  Theil 
an  der  That;  und  recht  eigentlich  ist  der  Thäter  ein  armer  Sünder:  eine 
Benennung,   worauf  jener  kalt  berechnende   Brenner  keinen  Anspruch  hat. 

Keiner  von  diesen  Fällen  zeigt  den  Gipfel  der  Bosheit,  die  eigent- 
liche Tücke.  Andrerseits  sinkt  auch  keiner  bis  zu  solcher  Milderung  des 
Urtheils  herab,  wie 1  die  Handlung  einer  Mutter,  die,  nach  eignem  Bey- 
spiele  ein  klägliches  Leben  für  ihre  Töchter  fürchtend,  ihnen  lieber  durch 
Opium  einen  sanften  Tod  gab. 

2Sollen  wir  nun  noch  sagen,  dafs  die  Zurechnung  eine  Gröfse  hat, 
welche  wächst  und  abnimmt?  —  Und  dafs  die  Strafe  mit  der  Zurech- 
nung wachsen  und  abnehmen  sollte? 


Sechzehntes  Capitel.     [IL  Ausgabe:    18.  Capitel.] 

Von  der  Seele  und  vom  Ich. 

140.  [158,  IL  Ausg.]  Dem  Idealismus  ist  es  eigen,  anstatt  der  Seele 
lieber  vom  Ich  zu  reden,  wie  wenn  dadurch  die  wahre  Natur  unseres 
Geistes  erkannt  würde.  Dies  ist  ganz  falsch.*  Der  Wahnsinnige,  der  sich  selbst 
für  einen  König,  oder  gar  für  die  Gottheit  hält,  verräth  schon  deutlich  ge- 
nug, dafs  man  das  Ich  nicht  als  ein  Veststehendes,  am  wenigsten  aber  als 
ein  Reales  betrachten  dürfe.  Auch  der  Gesunde,  der  aufser  Fassung  geräth, 
ist  aufser  sich;  das  heilst,  aufser  seinem  Ich.  Ueberlegten  die  Menschen 
genau,  was  ihnen  ihr  Ich  eigentlich  bedeute,  so  würden  sie  selbst  im 
Laufe  des  ruhigsten  Lebens  bald  merken,  dafs  diese  Bedeutung  viel  zu 
mannigfaltig  und  wandelbar  ist,  um  für  ein  beharrliches  Substrat  des  geistigen 
Daseyns  gelten  zu  können.  Der  Idealist  versucht,  durch  eine  Abstraction 
das  Ich  von  allen  diesen  Zufälligkeiten  loszureifsen.  Sein  sogenanntes 
reines  Ich  pafst  alsdann  auf  Niemanden  weniger,  als  auf  ihn  selbst.  Die 
nothwendige  Folge  ist,  dafs  sich  das  eingebildete  Abstractum  gänzlich  vom 
Selbstbewufstseyn  losreifst;  und  nun  ist  er  im  Lande  der  Chimären.  Die 
genauere  Speculation  zeigt,  dafs  die  Chimären  vollkommene  Widersprüche 
sind;  über  welchen  zu  brüten  wir  dem  praktischen  Menschen  nicht  zu- 
muthen  dürfen. 

Die  Seele  ist  das  Bestehende  und  Bleibende,  welches  dem  wandel- 
baren Ich  des  Gesunden,  des  Wahnsinnigen,  des  Genesenen,  stets  auf 
gleiche  Weise  zum  Grunde  liegt.  Sie  [228]  wird  nicht  unmittelbar  erkannt, 
sondern  zu  den  Ereignissen  der  inneren  Erfahrung  mit  Unrecht  als  Kraß, 
aber   mit  Recht   als  Substanz  hinzugedacht.     Zu  der  leiblichen    Masse  der 


1  Der   vorstehende  Text:    „Zuvörderst    (S.  192,  Z.  5  v.  o.)  •  .  .  .    herab,    wie1' 
steht  wörtlich  im  „Zusatz"  zum    13.  Cap.  der  I.  Ausgabe.     (Vgl.  S.    161  — 162). 

2  Die    folgenden    2   Sätze  finden  sich  wörtlich  im   „Zusatz"    zum    13.   Capitel    der 
I.  Ausgabe.     Vgl.  S.    162. 

*  Metaphysik  II.  §.   309  —  325. 

Herbart's  Werke.     IX.  '3 


I0,  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


Arme  und  Beine,  die  man  amputiren,  des  Blutes,  das  man  aus  den  Adern 
herauslassen  und  durch  neue,  zufällig  sich  darbietende  Nahrung  ersetzen 
kann,  zu  diesem,  was  kommt  und  geht,  kann  man  die  Seele,  welche  be- 
harrt, nicht  hinzudenken;  sondern  sie  ist  davon  völlig  verschieden;  eben 
so  verschieden  als  von  den  Haaren,  die  wir  abschneiden,  und  von  den 
Zähnen,  die  wir  ausziehen  lassen,  ohne  an  unserer  Person  etwas  zu  ver- 
lieren. 

141.  [159,  II-  Ausg.]  Alle  Zweifel  an  der  Unsterblichkeit  der  Seele 
sind  aus  dem  speculativen  Ungeschick  entstanden,  mit  welchem  einerseits 
der  Begriff  des  Lebens,  welches  dem  Leibe  zukommt,  und  andererseits 
der  Begriff  der  geistigen  Regsamkeit,  die  man  auch  Leben  nennt,  ist  be- 
handelt worden.  Es  giebt  aber  eben  so  wenig  ein  allgemeines  Leben,  als 
eine  allgemeine  Materie;  sondern  jedes  wirkliche  ist  ein  besonderes;  und  die 
Seele  ist  eben  deswegen  gar  kein  Leben,  weil  sie  der  Sitz  und  Grund 
des  geistigen  Lebens  ist.  Der  Grund  jedoch  nicht  für  sich  allein,  sondern 
unter  hinzukommenden   Bedingungen. 

Dieser  Sitz  und  Grund  dauert  fort,  auch  ohne  das  leibliche  Leben. 
Ja  er  würde  fortdauern,  wenn  durch  ein  göttliches  Wunder  das  ganze, 
von  der  Geb.urt  bis  zum  Tode  entstandene,  geistige  Leben,  welches  in 
diesem  Sitze  wohnt  und  wirkt,  ausgelöscht  würde.  Aber  hiezu  wäre  eben 
ein  Wunder  nöthig;  und  ein  so  zweckloses  Wunder  mufs  von  dem  All- 
gütigen Niemand  befürchten. 

Dem  gemeinen  Verstände  hat  man  diese  Lehre  besonders  dadurch 
verdorben,  dafs  man  meinte,  die  Thiere  möchten  wohl  auch  eine  Seele 
haben,  aber  für  sie  wäre  es  zuviel  Ehre,  ihr  Unsterblichkeit  zuzutrauen. 
Das  Pferd  also  und  der  Hund  hätten  eine  Seele,  aber  eine  sterbliche! 
Diese  Weisheit  bedarf  dann  freylich  eines  Wunders  gerade  am  unrechten 
Orte,  damit  der  menschlichen  Seele  ein  so  besonderer  Vorzug,  noch  [22g] 
nach  dem  Tode  fortzudauern,  eingeräumt  werde.  Sie  hat  von  Anfang 
an  die  Seele  des  Thiers,  welche  Substanz  ist  gleich  der  des  Menschen, 
für  eine  Kraft  gehalten,  alsdann  diese  Kraft  (die  nichts  weiter  ist  als  ein 
ungereimter  Begriff)  mit  dem  Leben  verwechselt;  und  sie  verwechselt 
nun  weiter  die  Seele  des  Menschen  mit  dem  Ich.  Eins  ist  so  verkehrt 
wie  das  andre.  Die  Seelen  der  Thiere  dauern  eben  so  nothwendig,  eben 
so  ganz  von  selbst  fort,  wie  die  Seelen  der  Menschen.  Noch  mehr:  mit 
der  nämlichen  psychischen  Nothwendigkeit,  wie  beym  Menschen,  bleiben 
auch  jeder  Thierseele  ihre  Vorstellungen;  wofern  nicht  hier  abermals  ein 
göttliches  Wunder  eintritt,  dessen  Zweck  wohl  Niemand  darzuthun  unter- 
nehmen wird.  Von  selbst  können  innere  Zustände,  die  irgend  ein  Wesen, 
sey  es  welches  es  wolle,  einmal  erlangt  hat,  nicht  aufhören.  Im  Gegen- 
theil:  man  darf  glauben,  dafs  eben  diese  innern  Zustände  jedes  höher 
gebildete  Wesen  in  den  Stand  setzen,  alle  unpassende  Verbindungen, 
denen  es  nach  dem  Tode  des  Leibes  ausgesetzt  scheinen  möchte,  für 
immer  zu  vermeiden,  und  sich  ein  rein  geistiges  Daseyn  zu  erhalten,  wo- 
fern nicht  etwas  Höheres,  unserer  Speculation  nicht  Zugängliches,  über 
dasselbe  beschlossen  und  veranstaltet  wäre.  Daher  bedürfen  die  Meinungen 
von  der  Seelenwanderung  keiner  Widerlegung.  Oben  (128.  135.  136.) 
ist   schon  gelehrt  worden,   dafs   die  äufsere  Lage  und  Gestaltung  sich  nach 


i.  Abschn.  Elementarlehre.  i6.Cap.  [II.  Ausg. :  i8.Cap.]  Von  der  Seele  uDd  vom  Ich.    tqj 

den  innern  Zuständen  richtet.  Daraus  folgt  sogleich  der  negative  Satz, 
dafs  eine  Gestaltung,  die  den  innern  Zuständen  zuwider  wäre,  nicht 
möglich  ist.  Und  so  wird  sich  die  Seele  des  Menschen  wohl  hüten,  in 
einen  Thier-  oder  Pflanzen körper  hineinzuwandern;  sie  pafst  nicht  einmal 
in  den  Leib  eines  menschlichen  Kindes,  dessen  Bildung  von  vorn  an- 
fängt, wenn  sie  zuvor  schon  die  geistige  Ausbildung  einer  höheren  Stufe 
erreicht  hatte. 

In  das  Jenseits  hinter  dem  Grabe  nimmt  die  Menschenseele  ihr  aus- 
gebildetes Ich;  die  Thierseele  ihre  ungebildeten  Vorstellungen  mit  hinüber. 
Jeder  einzelne  Bestandtheil  des  Leichnams  aber,  dessen  innere  Zustände 
so  dürftig  sind,  dafs  [230]  sie  nur  kaum,  und  nur  in  der  allgemeinsten 
Abstraction  mit  der  Thierseele  dürfen  verglichen  werden,  mag  sich  dem 
Pflanzenleben  als  ein  Erweckungs-  oder  Förderungsmittel  darbieten;  wie- 
wohl auch  dieses  von  der  Nervensubstanz  schon  zuviel  behauptet  seyn 
möchte;  und  selbst  von  der  Kalkerde  und  Phosphorsäure,  die  jemals 
einen  Bestandtheil  eines  Thierleibes  ausmachte,  noch  sehr  die  Frage  ist, 
ob  sie  einen  bleibenden  Bestand  in  der  Pflanze  sich  gefallen  lasse,  oder 
vielmehr  nur  im  schnellen  Durchgange  den  Vegetationsprocess  in  Gang 
setzen   helfe. 

Durchaus  nothwendig  aber  ist  in  allen  diesen  Betrachtungen  ein 
strenger  Realismus,  der  sich  mit  den  idealistischen  Irrthümern  in  gar 
keine  Gemeinschaft  einlasse.  Sonst  sind  zahllose  Inconsequenzen  nicht 
zu  vermeiden.  Es  ist  kein  Scherz,  dafs  man  von  der  falschen  Philosophie 
der  letzten   Decennien  sich  losreifsen  mufs. 

142.  [160,  IL  Ausg.]  Zu  den  Nachlässigkeiten  der  neuern  Philosophie 
gehört  eine,  die  in  gewissem  Grade  der  Ungelehrte  fast  leichter  als  der  schul- 
gerechte Denker  verbessern  kann.  Es  ist  die  Beobachtung  der  Thiere  in 
geistiger  Hinsicht.  Diese  zeigt  unzweydeutig,  wenn  je  die  Zeichensprache  der 
Thiere  verstanden  zu  werden  Anspruch  hat,  den  Egoismus  der  Individuen, 
theils  gemildert  durch  Anhänglichkeit  an  einzelne  Andre,  theils  geschärft 
durch  Neid  und  Hals  gegen  alles  Fremde.  Man  wolle  nur  nicht  ge- 
waltsam der  Erfahrung  die  Augen  verschliefsen,  so  wird  schon  diese  Klasse 
von  Thatsachen  sich  hülfreich  beweisen,  um  die  idealistische  Einseitigkeit 
in   Ansehung  des  menschlichen   Ich  zu  vermeiden. 

Das  Ich  des  Menschen  ist  nur  in  der  Abstraction  eine  fertige  und 
abgeschlossene  Vorstellung;  jedoch  fängt  hier  die  Abstraction  nicht  erst 
in  den  Schulen  an,  sondern  schon  im  Leben.  Der  Mann,  welcher  spricht: 
was  kümmert's  mich}  stöfst  schon  irgend  etwas  von  sich  ab,  das  als  zu 
ihm  gehörig  könnte  gedeutet  werden.  In  der  Betrachtung  über  Un- 
sterblichkeit machen  wir  unser  Ich  los  von  dem  Leibe,  der  [231]  sonst 
im  gemeinen  Verkehr  als  sehr  wesentliche  Grundlage  jeder  Person  an- 
gesehen wird.  Auf  diesem  Standpuncte  des  Zurückweisens  und  der  Er- 
hebung über  das  Irdische  findet  sich  überhaupt  der  gebildete  Mensch; 
welches  anzeigt,  dafs  der  jüngere  und  unreife  manches  zu  sich  selbst  ge- 
rechnet hat,  (z.  B.  Stand  und  Namen,)  was  die  bessere  Ueberlegung  zu 
verschmähen  pflegt,  und  wovon  das  Ich  allmählig  gereinigt  wird.  Anderer- 
seits aber  bringt  die  Zeit  auch  Zusätze  zum  Ich;  die  Jahre  bringen  Ver- 
stand,  das  Alter  bringt  Weisheit;   und   solche  Zusätze  können  nicht  füglich 

13* 


jq6  II     Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

aus  dem  Ich  verwiesen  werden;  eben  so  wenig  als  die  Reihe  der  ver- 
dienstlichen Handlungen,  mit  denen  wo  möglich  jeder  neue  Tag  des 
Lebens  von  neuem  soll  bezeichnet  werden.  Dieses  fortdauernde  Reinigen 
und  Veredeln  des  Ich  macht  aber  den  wahren  Gegenstand  der  Vor- 
stellung, die  wir  von  Uns  selbst  haben,  sehr  schwankend;  und  nicht  ohne 
Grund  mag  Einer  sich  fragen:  War  ich  vor  Jahren  schon  Ich?  Seit 
wann   bin  ich,   der   Ich  bin?   und  wie  lange  werde  ich   es  bleiben? 

143.  [161,  IL  Ausg.]  Ganz  vergeblich  würden  wir  uns  bemühen,  dem 
praktischen  Menschen  das  Gewicht  der  eben  berührten  Schwierigkeiten  fühl- 
bar zu  machen.  Denn  ihm  steht  das  beste  Hülfsmittel  dagegen  zu  Gebote. 
Er  handelt;  und  im  Handeln  findet  er  Sich.  Er  läfst  sich  die  Folgen  seiner 
Handlungen  gefallen;  seyen  sie  willkommen  oder  nicht,  er  findet  Sich, 
gleichviel  ob  im  Genufs  oder  im  Leiden.  Allenfalls  würde  er  sich  auch 
mit  dem  cogito,  ergo  sum,  begnügen.  Und  warum  sollte  er  nicht?  Er 
sucht  einen  Gedanken,  um  das  Denken  als  Thatsache  zu  ertappen;  er 
hat  einen  erhascht;  sein  Thun  ist  gelungen.  Er  sieht  nun  den  Besitzer 
des  Gedankens  als  Denselben,  der  danach  suchte.  Der  Denkende  ist 
offenbar  zugleich  Inhaber  und  Erzeuger  des  Gedankens.  Der  Inhaber 
(cogitans)  denkt  nicht  blofs  irgend  Etwas,  sondern  das  gedachte  Etwas 
macht  auch  den  Ursprung  des  Gedachten,  auf  den  es  selbst  zurückweiset ', 
(nämlich  das  denkende  Subject,)  zu  seinem  Vor aus gesetzten.  So  fällt  bey 
Ge[232]legenheit  des  ersten  besten,  wenn  auch  noch  so  geringfügigen 
Gegenstandes,  indem  er  vorgestellt  wird,  das  Subject  selbst  ins  Gebiet  des 
Objectiven;  nachdem  die  Vorstellung,  das  Werk  des  Subjects,  fertig  ist, 
und  nunmehr  dem  Vorstellenden  zu  Dienste  steht.  Wie  sollte  er  nun 
noch  zweifeln,  ob  er  sey,  oder  nicht  sey?  Das  cogito  beweiset  nicht  blofs 
das  Seyn,  sondern  das  sum;  es  zeigt  gleichsam  durch  den  beliebig  ge- 
dachten Gegenstand  hindurch  auf  den  Inhaber  des  Gedankens,  als 
auf  den  Wissenden  nicht  des  Gedankens  allein,  sondern  auch  Dessen, 
von  welchem  dieser  Gedanke  ausging;  also  auf  den,  welcher  wisse 
von   Sich. 

Wie  nun  hier  der  Punct,  von  wo  der  Gedanke  kommt,  zusammen- 
fällt mit  dem  Puncte,  wo  der  Gedanke  ist,  und  wie  der  schon  zusammen- 
gefallene Doppelpunct  jetzt  (in  dem  Satze:  cogito,  ergo  sum,)  als  die  Probe 
des  Daseyns  vorgewiesen,  mithin  selbst  zum  Gegenstande  der  Betrachtung 
(zum  Objecte)  gemacht  wird,  während  er  doch  der  Ursprung  des  Ge- 
dankens (das  Subject  desselben)  war:  eben  so  verhält  es  sich  nur  noch 
deutlicher  mit  dem  Thun;  nämlich  indem  das  Vollbrachte  vor  Augen 
steht.  Der  Vollbringer  findet  zunächst  Sich  i  als  gebunden  im  Anschauen; 
(er  kann  zwar  vielleicht  das  Werk  noch  abändern,  doch  das  Geschehene 
nicht  ungeschehen  machen;  und  für  jetzt  wenigstens  macht  es  ihn  passiv, 
indem  es  ihn  zwingt,  es  so  zu  erblicken,  wie  es  nun  eben  ist.)  Aber 
auf  die  Frage:  wie  wurde  es  so?  antwortet  das  Werk,  indem  es  den 
Anschauenden  bezeichnet  als  den  Urheber,  der  Sich  darin  wieder  finden 
müsse.  So  findet  der  praktische  Mensch  sich  in  der  That  bey  jedem 
seiner    Schritte    im    Kleinen    wie    im    Grofsen    unzähligemal;    seine    Werke 

1  Sich  zunächst.  SYV. 


i.  Abschn.  Elementarlehre.  1 6.  Cap.  [II.  Ausg. :  i8.Cap.]  Von  der  Seele  und  vom  Ich.    \gj 

sind  seine  Spiegel.  Kleinliche  Menschen  dagegen,  die  kein  eigenthümlich 
bezeichnendes  Werk,  das  gerade  auf  sie  und  keinen  andern  zurückweise, 
zu  vollbringen  wissen,  schreiben  mit  besonderm  Vergnügen  ihren  Namen, 
um  sich  zu  erblicken.  Läge  ihnen  blofs  daran,  denselben  zu  lesen,  so 
könnte  ihn  wohl  eine  fremde  Hand  schreiben.  Aber  das  würde  die 
Freude  verderben.  Das  Auge  soll  gerade  die  eigne  Hand  im  [233] 
eignen  Namen  erblicken,  damit,  indem  der  Name  das  Individuum  ver- 
kündigt,  eben  dieses  Sehende  durch  das  Gesehene  hindurch  Sich  anschaute. 

Etwas  Aehnliches  gilt  im  Falle  des  Geniefsens  und  Leidens.  Denn 
die  Empfindung  weiset  zwiefach,  und  doch  auf  Einen  Punct  treffend,  hin 
auf  den  eben  jetzt  Empfindenden,  welcher  zugleich  der  sich  Hingebende 
war;  gleichviel   ob  zur  Lust  oder  zum  Schmerze.* 

144.  [162,  IL  Ausg.]  Natürlich  wird  hier  Jedem  die  Frage  einfallen, 
ob  denn  die  Auffassung  des  eignen  Ich  so  sonderbar  geartet  sey,  dafs  sie 
durchaus  l  eines  fremdartigen  Anknüpfungspuncts  bedürfe?  Wir  sind  uns  ja 
wohl  unmittelbar  unseres  Denkens  bewufst;  was  bedarf  es  denn  da  noch  eines 
zufällig  erhaschten  Gedankens,  woran  geheftet  die  Vorstellung  sowohl  des 
Inhabers  als  des  Erzeugers  eben  dieses  Gedankens  hervortrete?  Wii 
kennen  ja  unser  Begehren,  Wollen,  Wirken;  wozu  brauchen  wir  denn  noch 
ein  bestimmtes  Werk  als  das  unsrige  anzuschauen?  Wir  fühlen  ja  unser 
Fühlen;   was  soll  denn   ein   bestimmtes  Empfinden  von  Lust  oder  Schmerz? 

Wenn  es  nur  wahr  wäre,  dafs  wir  so  geradezu,  unmittelbar,  unser 
Fühlen  fühlten,  oder  unser  Wollen  wollten,  unser  Denken  dächten!  Dann 
würden  wir  ja  auch  unser  Sehen  besehen,  und  eben  so  unserm  Hören 
zuhören,  unsern  Geschmack  schmecken,  unsern  Geruch  riechen  können. 
Alle   sorglosen   Voraussetzungen  dieser  Art  sind   barer  Irrthum.** 

Und  von  dem  Ich  mufs  auf's  entschiedenste  behauptet  werden,  dafs 
ihm  ein  fremdartiger  Anknüpfungspunct  durchaus2  unentbehrlich  ist;  indem3 
der  Mangel  desselben,  den  die  unbehutsame  Speculation  sich  nur  gar  zu 
gern  gefallen  läfst,  in  die  gröbsten  Ungereimtheiten  hinabzugleiten  ver- 
anlafst. ***  Mit  andern  Worten;  das  vorgebliche  reine  Ich4  ist  ganz5  un- 
möglich; jedes  Selbstbewufstseyn  zeigt  irgend  etwas  Be[234]stimmtes,  welches 
zum  Objecte  dient,  so  dals  nun  eben0  als  ein  Solches  das  Ich  sich  finde. 

Hieraus  aber  entsteht  in  Beziehung  auf  das  menschliche  Selbst- 
bewufstseyn der  Einwurf:  man  finde  doch  keine  veste  Bestimmung  in 
demselben;  sondern  das  Ich   sey   bey  verschiedenen    Personen    nach  ver- 


*  Psychologie  II.  §   136.   [Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 

1  „durchaus"  fehlt  II.  Ausg. 
**  Psychologie  II.  §    131   u.  s.  \v. 

2  „durchaus"   fehlt  II.  Ausg.* 
***  Ebendas.  I.  §   24  —  30. 

4  Hier  fügt  die  II.  Ausgabe  ein:    „welches  eben   nur  ein  Ich  seyn  soll". 

5  „ganz"    fehlt  in  der  II.  Ausg.b 

6  „nun   eben"  fehlt  II.  Ausg. 

3  SW  ,.dem"  (Druckfehler)  statt  „indem". 

a   u.  b  SW    drucken  nach  der  II.  Ausgabe  ohne  Angabe    der  Abweichungen    vert 
der  I.  Ausgabe. 


jq8  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


schiedenen  Individualitäten  anders  und  anders;  ja  selbst  bey  dem  näm- 
lichen Menschen  zeige  sich  das,  als  was  oder  wen  derselbe  sich  anschaue 
bey  weitem  nicht  immer  gleichartig. 

Die  Antwort  auf  diesen  Einwurf  (welchen  schärfer  auszudrücken  hier 
nicht  nöthig  scheint)  ist  folgende:  das  Ich  mufs  nicht  blols  mannigfaltige, 
sondern  selbst  entgegengesetzte  Objecte  haben;  so  dafs  die  Vorstellungen, 
die  wir  von  uns  fassen,  sich  gegenseitig  auslöschen  können.  Daraus  folgt 
aber  nicht,  dafs  sie  immer,  und  ganz,  durch  einander  aufgehoben  würden: 
sondern  nur,  dafs  jede  nähere  Bestimmung  unseres  Ich  uns  zufällig  er- 
scheine. 

Hierdurch,  um  nur1  kurz  die  praktische  Seite  dieses  Gegenstandes 
hervorzuheben,  geschieht  es,  dafs  wir  uns  über  das  Gemeine,  welches 
uns  sonst  von  Jugend  auf  ankleben  würde,  erheben  können;  und  dafs 
selbst  die  Tugend  des  Menschen  nicht  von  dem  stolzen  Wahne  befleckt 
werden  kann,  wie  wenn  sie  seiner  Person  wesentlich,  und  frey  von  aller 
Gefahr  des  möglichen  Verlustes,  inwohnte.  Sie  ist  vielmehr  erworben,  und 
will  stets  gehütet  seyn;  gerade  so  wie  die  Gesundheit,  die  gegen  Krankheit 
des  Leibes  und  der  Seele  eines  beständig  sorgsamen  Schutzes  bedarf. 

145.  [163,  IL  Ausg.]  Hat  schon  ein  einzelnes,  wenn  auch  unbedeutendes, 
Werk  des  Menschen  die  Kraft,  ihn  dahin  zu  bringen,  dafs  er  nicht  blofs 
spreche:  ich  sehe,  sondern:  ich  sehe  mich,  als  den  Urheber  dieses  Werks:  so 
finden  sich  die  Bedingungen  der  Ichheit  noch  weit  vollständiger  realisiert  in 
solchen  Thaten,  die  mit  einem  bedeutenden  Bewufstseyn  von  Schuld  oder 
Verdienst,  und  vollends  noch  mit  dem  Voraussehn  der  Folgen  begleitet 
sind.  Der  Verbrecher,  der  nach  voll[235]brachter  Unthat  zwischen 
Schreck  und  Freude  und  Furcht  schwebt,  appercipirt  zuvörderst  diesen 
seinen  gegenwärtigen  affectvollen  Zustand,*  und  schreibt  denselben  sich, 
als  Individuum,  zu.**  Allein  zugleich  versetzt  ihn  der  Anblick  des  von 
ihm  mishandelten  Gegenstandes  zurück  in  die  Zeit  vor  der  That;  in  das 
Streben  zur  That.  Hier  offenbart  sich  der  stärkste  Contrast  des  frühem 
und  des  jetzigen  Gemütszustandes.  Die  gleichsam  doppelte  Person, 
welche  wir  vorhin  durch  die  Worte:  Inhaber  und  Erzeuger  des  Gedankens, 
kenntlich  machten,  tritt  hier  weit  auseinander.  Dennoch  fällt  beides  zu- 
sammen. Der  Mörder,  gezwungen  den  Leichnam  anzuschauen,  erblickt 
zugleich  Sich,   den  im   Anschauen    Begriffenen,    als  den  Nämlichen,  welchem 


hiemit  auch  die  Erinnerung  aufgedrungen  wird  an  die  Absicht  des  Mordes, 
an  die  Veranstaltungen  dazu,  an  die  Gefahren,  die  er  besiegte,  an  den 
Augenblick  der  Ausführung.  Und  noch  regt  sich  die  böse  Lust;  hätte  er  nicht 
gemordet,  noch  jetzt  wäre  er  bereit!  Dieser  letzte  Zug  vollendet  die 
Einheit  des  Ich.  Wenn  derselbe  bey  dem  reuigen  Verbrecher  fehlt,  so 
trennen  sich  Object  und  Subject;  der  Mensch  klagt  dann:  ich  begreife 
mich  selbst  nicht.  Daher  mag  man  sagen:  der  Tugendhafte  gela'nge  zur 
Ichheit  vollkommener,  als  der  Sünder.  Denn  er  ist  mit  sich  Eins  und 
in   Frieden.      Seine    That,    indem    er    sich    zunächst    als    deren    Zuschauer 


*  Psychologie  II.   §  125  —  127.      [Bd.   VI  vorl.   Ausg.] 
**  Ebendas.  §    135. 


1    „nur"  fehlt  SW. 


i.  Abschn.  Elementarlehre.  16.  Cap.  [II.  Ausg. :  18.  Cap.]  Von  der  Seele  und  vom  Ich.    i  qq 

auffafst,  —  vielleicht  als  blofsen  Zuschauer,  dem  jetzt  nicht  mehr  die 
Kräfte  zu  Gebote  stehen  würden,  die  er  ehedem  besafs,  —  versetzt  ihn 
dennoch  zurück  in  die  nämliche  Regung  des  Willens,  aus  welcher  die 
Handlung  hervorging,  da  sie  vollzogen  wurde.  Er  findet  sich  als  Den- 
selben der  Gesinnung  nach,  wie  ehedem.  Als  Zuschauer  weifs  er  von 
seinem  ehemaligen  Ueberlegen  und  Wollen;  die  jetzige  erneuerte  Ueber- 
legung  kommt  dazu;  und  es  vollendet  sich  das  Gefühl  der  Harmonie 
mit  Sich  Selbst. 

[236]  Der  Blick  in  frühere  Vergangenheit  und  spätere  Zukunft,  besonders 
das  Wissen  um  die  schon  gefafsten  Vorsätze,  schon  getroffenen  Anstalten 
zu  fernerem  Thun,  knüpft  die  Vorstellung  des  jetzigen  Ich  an  die  eines 
altern  und  eines  in  die  Zukunft  hinausschauenden,  ja  bevorstehenden,  in 
dessen  Gemüthsstimmung  man  jetzt  nur  noch  durch  Vorahnungen  ein- 
dringen könne. 

146.  [164,  II.  Ausg.]  Endlich  ist  noch  eine  Erinnerung  an  einen  oft 
berührten  Gegenstand  hier  zu  wiederhohlen.  Die  Mannigfaltigkeit  verschiedener 
Vorstellungsmassen,  deren  jede  zu  eigner  Ausbildung  gelangt  ist,  und  die  unter 
einander  in  sehr  verschiedenen  Verhältnissen  wirksam  seyn  können,  bringt 
eine  eben  so  grofse  Mannigfaltigkeit  in  die  Ichheit  hinein.  Denn  jede 
dieser  Massen  konnte  für  sich  allein  schon,  nicht  blofs  einfach,  sondern 
tausendfach  die  Ichheit  erzeugen.  Der  Mensch  fand  Sich  in  Allem  was 
er  im  Garten,  in  Allem  was  er  auf  dem  Studirzimmer,  im  Gesellschaftssaale, 
auf  einer  Reise,  in  grofsen  und  kleinen  Geschafften  und  Erhohlungen  that 
und  empfand  und  dachte.  Die  Meisten  werden  geneigt  seyn,  zu  glauben, 
in  allen  diesen  Fällen  stehe  ein  und  der  nämliche  Gegenstand ,  das 
Ich,  der  innein  Anschauung  vor  Augen;  aber  sie  irren  sich  gewaltig!  Der 
Gegenstand,  den  sie  meinen,  ist  gar  nicht  vorhanden;  und  kann  also  auch 
nicht  angeschaut  zverden.  Sondern  die  Ichheit  erzeugt  sich  aus  den  vor- 
handenen Vorstellungen  so  vielmal,  als  hinreichender  Anlafs  da  ist.  Die 
Einheit  der  Seele  aber,  und  der  Umstand ,  dafs  jede  Vorstellung  ein  be- 
harrlicher Zustand  (ungeachtet  vorübergehender  Hemmungen)  in  der  Seele 
ist,  verbunden  mit  den  Gesetzen  der  Complication  und  Verschmelzung 
unter  den  Vorstellungen :  dieses  Alles  bewirkt,  dafs  die  Ichheit  im  gesunden 
Menschen  ihren  Zusammenhang  behauptet,  und  sich  im  Laufe  der  Jahre 
nur  allmählig  verändert;  während  der  Wahnsinn,  welcher  blofs  auf  partialen 
Hemmungen  durch  starr  gewordne  (in  gewissen  [237]  körperlichen  Zuständen 
vest  gewurzelte1)  Affecten  beruht,  leider  oft  genug  auch  die  Ichheit  zer- 
splittert, und  alsdann  seltsame  Erscheinungen  darbietet,  über  die  man  sich 
bey  etwas  mehr  geläuterter  Psychologie  weniger  wundern   würde. 

In  den  sämmtlichen  Geisteszerrüttungen  liegt  ohne  Zweifel  noch 
Vieles,  das  wir  nicht  wissen;  aber  schwerlich  etwas,  das  sonderlich  be- 
fremden sollte.  Der  gesunde,  jedoch  zu  höhern  Bildungsstufen  gelangte, 
psychologische2  Mechanismus  kann  unzählig  verschiedene  Arten  von  Hemmung 


1  „gewurzelten"    I.  u.  II.  Ausgabe  (gewurzelte  SW.) 

2  „psychische"  statt  „psychologische"  11.  Ausgabe.; 


a  SW   drucken   nach   der    II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung    der  I.  Ausg. 


200 


IL  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


erleiden;  diese  in  ein  System  zu  bringen,  ist  ungefähr  ein  solches  Unter- 
nehmen, als  ob  einer  alle  möglichen  Verzerrungen  des  menschlichen  Ge- 
sichts aufstellen  und  classificiren  wollte.  Man  müfste  denn  doch  zu  diesem 
Behuf  die  sämmtlichen  Muskeln  des  Gesichts,  und  deren  mögliche  Zu- 
sammenziehungen, erst  vollständig  kennen.  Wer  falsche  Vorstellungen  über 
die  Verbindung  zwischen  Leib  und  Seele  hegt,  mag  zusehen,  was  er  bey 
Störungen  des  Ich,  oder  der  Vernunft,  denken  könne,  die  man  durch 
Arzney,  vom  Unterleibe  aus,  heilen  müsse.  Wer  sich  um  die  Apperception 
einer  Vor  Stellungsmasse  durch  die  andre  nicht  kümmern  will,  der  mag  die 
Freyheit  der  Handlungen  in  allgemeinen  Theorien  behaupten  oder  läugnen : 
er  wird  im  Einzelnen  überall  selbstgeschaffnen  Schwierigkeiten  begegnen, 
'die  man,  so  lange  die  Vorliebe  für  alte  Vorurtheile  nicht  weichen  will, 
nicht  einmal  angreifen,  viel  weniger  heben  kann.  Erst  mufs  die  natürliche 
Wirkungsweise  dessen  bekannt  seyn,  was  unter  besondern  Umständen  der 
Hemmung  unterliegt;  dann  erst  ist  es  Zeit,  die  möglichen  Arten,  wie  und 
wo  die  Hemmung  eingreifen  könne,  zu  untersuchen;  und  ganz  zuletzt  läfst 
sich  erklären,  warum  die  erfahrungsmäfsig  bekannten  Erscheinungen  der 
Hemmung  so  und  nicht  anders  ausfallen. 

2 Zum  Schlüsse  dieses  ersten  Abschnitts  sollte  noch  ein  Capitel  von 
der  Geschichte  der  Menschheit  folgen,  welches  [238]  mit  den  zuletzt  erwähnten 
Gegenständen  das  frühere  über  Moral,  Religion  und  Kunstlehre  Gesagte 
in  Verbindung  bringen  würde.  Allein  die  Geschichte  selbst  spricht  heutiges 
Tages  zu  laut,  als  dafs  über  sie  zu  reden  schicklich  genug  wäre. 


1  Die  folgenden  Worte:  „die  man,  so  lange  .  .  .  vielweniger  heben  kann" 
fehlen  in  der  II.  Ausg. 

2  Die  Schlußsätze:  „Zum  Schlüsse  .  .  .  genug  wären"  fehlen  in  der  II.  Ausg. 


Zweyter  Abschnitt. 

Methoden  lehre. 


[241]      Erstes  Capitel. 
Von  der  Logik. 


'&' 


147.  [165,  II.  Ausg.]  Zuerst  mufs  der  Unterschied  klar  werden  zwischen 
der  Encyklopädie  und  der  Einleitung  in  die  Philosophie.  Der  Etymologie 
nach  bezeichnet  das  erste  dieser  Worte  eine  Bewegung  im  Kreise;  das  andre 
einen  geraden  Gang,  der  weiter  vorwärts  führen  soll.  Die  Bedeutung  ist 
also  verschieden,  und  zwar  dergestalt,  dafs  die  Einleitung  Anfänger  voraus- 
setzt, welche  die  Absicht  haben,  weiter  zu  gehen;  die  Encyklopädie  hin- 
gegen einen  kurzen  und  übersichtlichen  Unterricht  ankündigt,  bey  welchem 
eher  Vorkenntnifs  als  fortzusetzendes  Studium  darf  angenommen  werden. 
Allein  um  dies  für  den  vorliegenden  Fall  zu  erläutern,  dazu  ist  ein  Rück- 
blick auf  den  bisherigen  V ortrag  nöthig. 

Dem  Widerwillen,  welcher  neuerlich  von  falsche?i  Systemen  auf  Systeme 
überhaupt  und  als  solche  sich  ausgebreitet  hat,  ist  im  Vorhergehenden 
weit  mehr,  als  man  wohl  bemerken  mochte,  eingeräumt  worden.  Hätte 
Einer  zum  Verdrufs  des  Verfassers  das  System  recht  bunt  durch  einander 
werfen,  das  Oberste  nach  unten,  das  Hinterste  nach  vorn  kehren  wollen: 
er  würde  es  nicht  ärger  machen  können,  als  hier  geschehen  ist.  Durch 
alle  Capitel  ist  die  Psychologie  zerstreut;  die  Metaphysik  ist  vom  letzten 
Ende  der  Naturphilosophie  angefangen,  während  ihre  Haupttheile 
ganz  im  Dunkeln  gelassen  worden;  von  der  praktischen  Philosophie  ist  der 
Anfang  ihres  letzten  Viertels  in  den  Anfang  des  ganzen  Buchs  gestellt, 
und,  um  den  Gräuel  zu  vollenden,  gar  die  Pädagogik  zur  Einlei[242] 
tung  in  die  Lehren  vom  Leben  des  Geistes  und  des  Leibes  gebraucht 
worden. 

Zur  Aufklärung  über  dies  Verfahren  kann  eine  Reihe  von  Begriffen 
dienen,  die  eigentlich  in  der  Pädagogik  einheimisch  ist,  und  dort  ver- 
schiedene Stufen  des  Unterrichts  bezeichnet.  Sie  heifst:  Klarheit,  Asso- 
ciation,   System   und   Methode. 

Wollte  Jemand  nach  Anleitung  dieser  Begriffsreihe  Philosophie  lehren: 
so  müfste  er  zuerst  die  Gegenstände  der  philosophischen  Betrachtung  aus 


,0-,  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


einander  legen,  und  sie  —  so  weit  das  möglich  ist,  —  einzeln  besehen 
lassen;  denn  Klarheit  erfordert  Entfernung  alles  dessen,  was  Eins 
das  Andre  trüben  könnte.  Dann  müfste  er  es  durch  einander  mischen, 
um  es  in  mancherley  zufällige  Verbindungen  zu  bringen;  so  lange,  bis  es 
dem  Zuhörer  zu  Gebote  stünde,  ohne  Beschwerde  von  jedem  Puncte 
zum  andern  überzugehn,  und  besonders,  bis  der  Zuhörer  sicher  wäre, 
nicht  mehr  Eins  über  dem  Andern  ganz  aus  den  Augen  zu  verlieren. 
Nun  erst  würde  der  systematische  Vortrag  eintreten,  und  auch  nun  erst 
in  seinem  Werthe,  als  Anordnung  und  Veststellung  des  Schwankenden,  er- 
kannt werden,  —  doch  aber  noch  nicht  völlig  geprüft  seyn,  bis  endlich 
die  Methode  hinzukäme,  welche  jedem  Gliede  des  Systems  die  Noth- 
wendigkeit  seiner  Stellung  nachwiese. 

Ganz  genau  so  die  Philosophie  zu  lehren,  erlauben  die  äufsern 
Verhältnisse  nicht.  Das  Gedränge  dessen,  was  gelehrt  und  gelernt,  vollends 
was  gelesen  wird,  gestattet  höchst  selten,  dafs  man  irgend  einen  Lehr- 
gegenstand in  irgend  einem  Fache  so  stufenweise  durcharbeite.  Ob  der 
Philosophie  jemals  die  Zeit  kommen  wird,  auf  diese  Weise  studirt,  und 
wahrhaft  zum  Gebrauche  zubereitet  zu  werden?  das  läfst  sich  nicht  vor- 
aussehn. 

148.   [166,  IL  Ausg.]    Jedenfalls  wenigstens  verkennt  man  auch  schon 
jetzt  die  Einleitung  in  die  Philosophie,  wenn  man  (wie  oft  genug  geschieht) 
sie    mit   der  Encyklopädie    verwechselt,   oder   dadurch    zu    ersetzen   meint. 
[243]    Die    Einleitung   steht   auf  der   Stufe   der  Klarheit;    die   Ency- 
klopädie auf  der  Stufe  der  Association.     Daher  das  vorige  Verfahren. 

Diese  allgemeine  Angabe  erfordert  aber  eine  nähere  Bestimmung. 
Einleitung  in  die  Philosophie,  bey  welcher  auf  ein  künftig  weiter  fortzu- 
setzendes Studium  gerechnet  wird,  geschieht  in  mündlichen  Vorträgen 
an  Jünglinge;  und  dazu  gehört  ein  Compendium.  Zur  Association  dagegen 
pafst  der  Compendienstil  ganz  und  gar1  nicht,  sondern  der  Feder  mufs 
hier  ein  freyer  Lauf  gegeben  werden,  in  der  Gedankenverbindung,  welche 
bequem  scheint  lür  Männer,  die  weder  Anfänger  sind,  noch  in  der 
Wissenschaft  die  Meisterschaft  erreichen  wollen.  Denn  von  solchen  ist 
zu  erwarten,  dafs  ihnen  Encyklopädie  willkommner  sey,  als  Einleitung 
oder  System. 

Ferner:  die  Einleitung  darf  nicht  auf  die  Menge  der  Zuhörer  be- 
rechnet werden,  die  sich  aus  Neugier  etwa  einfindet;  sondern  auf  die- 
jenigen, die  wirklich  eingeleitet,  oder  vorbereitet  seyn  wollen.  Ihnen  mufs 
man  das  Fort  sehreiten  möglich  machen;  daher  lehrt  man  sie  theils  das, 
was  unmittelbar  klar  ist,  theils  aber  die  Probleme,  welche  zum  fortschrei- 
tenden Denken  die  wesentlichen  Motive  enthalten.  Und  wenn  ja  am 
Ende  der  Einleitung  einige  Uebersichten  (mehr  zum  beliebigen  Lesen  als 
zum  Behufe  des  Vortrags)  beygefügt  werden,  die  man  encyklopädisch.nennen 
kann:  so  bekommen  doch  dieselben  dort  nicht  die  eigene  Form  der  Ency- 
klopädie; das  heifst,  sie  werden  nicht  zur  kurzen  und  bequemen  Ueber- 
sicht,  (mit  Auslassung  der  mehr  schweren  als  unmittelbar  wichtigen  Puncte,) 

1    „ganz    und   gar"    fehlt  in  der  II.   Ausg.* 


a  S\V  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichungen  der  I.  Ausg. 


2.  Abschnitt.    Methodenlehre.     I.   Capitel.    Von  der  Logik.  203 

also  nicht  so,  wie  es  hier  geschieht,  nämlich  associirend  dargestellt;  sondern 
sie  bezeichnen  den  Weg  des  zum  System ,  und  vi  dem  letztern  fortschrei- 
tenden Denkens,  und  berühren  deshalb  manches,  wovon  in  dem  vorliegenden 
Buche  bis  jetzt  noch  nicht  die  Rede  war,  und  auch  nur  weniges  folgen 
wird.  1 

Wir  haben  uns  nämlich  bisher  an  Dasjenige  gehalten,  was  unmittel- 
bar, und  vorzugsweise  für  den  praktischen  Menschen,  Interesse  mit  sich 
führt.  Daher  sind  namentlich  die  ab[244]stracten  Begriffe  von  der  Causalität, 
und  vom  leeren  Räume,  ganz  weggeblieben.  In  der  That  gewähren  diese 
abstracten  Begriffe  keine  Erkenntnifs  irgend  eines  wirklichen  Gegenstandes; 
vielmehr  sind  die  weitläufigen  Untersuchungen  der  Metaphysik  und  Psy- 
chologie, welche  sich  darauf  richten,  nur  Zurüstungen,  um  die  gesuchte 
Erkenntnifs   zu   erlangen. 

2 Allerdings  gehören  solche  Zurüstungen  wesentlich  zum  Verfahren, 
wodurch  man  Erkenntnisse  gewinnt;  und  davon  werden  wir  hier,  in  der 
Methodenlehre,  etwas  sagen  müssen.  Doch  erinnere  man  sich,  dafs  dies 
Buch  eben  so  wenig  für  die  Schule,  als  für  Schüler  seyn  soll. 

In  den  systematischen  Schriften  sind  überall  die  gebrauchten  Methoden 
angegeben;  zur  Erläuterung  der  letztern  müfste 3  die  genaueste  Kenntnifs 
der  systematischen  Schriften  vorausgesetzt  werden,  worauf  hier  nicht  zu 
rechnen  ist.  Der  Leser,  welcher  bis  hieher  folgte,  erwartet  ohne  Zweifel, 
das  Vorhergehende  aus  der  Zerstreuung,  worin  es  liegt,  gesammelt,  und 
in  die  Umrisse  wissenschaftlicher  Formen  gebracht  zu  sehn;  um  aber  dieses 
leisten  zu  können,  werden  wir  den  vorigen  Bruchstücken  einige,  im  System 
wichtige,  Ergänzungen  nachtragen  müssen;  welches  nur  allmählig  geschehen 
kann.  Die  ältesten  und  ersten  Ansprüche,  als  philosophische  Methoden- 
lehre erwähnt  zu  werden,  macht  die  Logik;  und  wir  wollen  ihr  wohl- 
hergebrachtes Recht  nicht  schmälern. 


1  Nach:  ..wird"  hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung:  Die  Einleitung  in  die 
Philosophie  beginnt  mit  allgemeinen  Erklärungen  und  Umrissen  der  Philosophie  und 
der  zu  derselben  gehörigen  "Wissenschaften ;  sie  zeigt  die  Bedingungen  und  das  Schwierige 
der  Untersuchung.  Alsdann  stellt  sie  die  Logik  in  den  Vordergrund;  sie  schreitet  fort 
zu  den  ethischen  und  ästhetischen  Grundbegriffen,  damit  die  Möglichkeit  und  logische 
Stellung  der  verschiedenen  Kunstlehrer,  erhelle;  sie  entwickelt  ferner  die  Probleme  der 
Metaphysik,  und  benutzt  hiezu  einige  Hauptpuncle  aus  der  Geschichte  der  Philosophie 
vor  Aristoteles;  sie  schliefst  mit  einer  kurzen  Anzeige  des  Inhalts  der  vier  Wissen- 
schaften, welche  zur  Metaphysik  im  weitern  Sinne  dieses  Worts  gerechnet  werden,  näm- 
lich der  Ontologie,  Psychologie,  Kosmologie,  und  philosophischen  Religionslehre. 
Wegen  der  hier  gebrauchten  Benennungen  ist  zu  bemerken,  dafs  der  Ausdruck  Onto- 
logie ietzt  einen  eingeschränktem  Sinn  hat,  und  die  Wissenschaft  selbst  besser  durch 
die  Worte:  allgemeine  Metaphysik,  bezeichnet  wird;  der  Name:  Kosmologie,  ist  weit 
passender  mit  dem  Worte:  Naturphilosophie,  vertauscht  worden.  Was  aber  den  Gang 
der  Einleitung  anlangt,  so  sieht  man  leicht,  dafs  er  sich  von  dem  gegenwärtigen  Vor- 
trage sehr  unterscheidet,  indem  er  weit  mehr  das  Allgemeine  und  die  Fundamente  be- 
rührt, während  ein  populärer  Vortrag  sich  vorzugsweise  an  das  Besondere  und  an  die 
Resultate  wenden  mufs.  Dennoch  wird  man  den  Zusammenhang  leicht  finden,  falls 
man  die  Mühe  des  Vergleichens  nicht  scheut. 

2  Der  folgende  Text  bis  7  Zeilen  weiter:  „Allerdings  gehören  solche  Zu- 
rüstungen  .   .   .   hier  nicht  zu  rechnen  ist."  fehlen  in  der  II.  Ausg. 


3  SW  fügen  hier  „überall"  ein. 


.qi  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


149.  [167,  II.  Ausg.]  Gleich  Anfangs  wurde  erwähnt,  dafs  die  Logik 
zwar  von  der  Zusammenstellung  der  Begriffe  handelt,  aber  ohne  sich  um 
deren  Gültigkeit  zu  bekümmern.  Ihre  nächste  Verwandte  ist  die  Com- 
binationslehre,  von  der  sie  sich  jedoch  dadurch  unterscheidet,  dafs  in  ihr 
die  mancherley  Formen,  wie  Begriffe  einander  ausschliefsen  und  einschliefsen, 
zur  Sprache  kommen.  Die  Nothwendigkeit,  hierauf  stets  die  Aufmerksamkeit 
zu  richten,  begleitet  uns  durch  alle  Wissenschaften;  daher  ist  die  Logik 
ihre   gemeinsame  Vorschule.  * 

Allein  diesen  weiten  Gesichtskreis  der  Logik  müssen  wir  für  unsern 
Gebrauch  enger  begränzen.  Aesthetik  und  Meta|>45]physik  sind  die  beiden 
grofsen  Haupttheile  der  Philosophie;  es  fragt  sich,  wie  zu  ihnen  die  Logik 
sich   verhalte? 

Zuerst  negativ.  Da  die  eigenthümliche  Gültigkeit  der  ästhetischen 
Begriffe  darin  besteht,  dafs  sie  Beyfall  und  Mis fallen  mit  sich  führen:  so 
mengt  sich  die  Logik  hierein  nicht.  Während  also  sie  selbst  von  der 
Einstimmung  und  dem  Widerstreite  der  Begriffe  redet:  mag  die  Aesthetik 
sich  hüten,  das  blofs  logische  Ja  und  Nein  schon  für  Lob  und  Tadel,  — 
und  hiemit  etwa  im  Ernste  die  bösen  Geister  für  Geister  zu  halten, 
welche  vernehmt.  Es  fehlt  in  der  Geschichte  der  Philosophie  nicht  an 
dergleichen  Misgriffen. 

Da  ferner  die  eigenthümliche  Gültigkeit  der  metaphysischen  Begriffe 
darin  besteht,  dafs  sie  Erkenntnifs  entweder  darbieten  oder  vermitteln:  so 


1  Nach  den  "Worten:  „gemeinsame  Vorschule."  folgt  in  der  II.  Ausg. 
folgender  Zusatz: 

Bekanntlich  wird  die  Logik,  abgesehen  von  den  Anwendungen,  in 
drey  Capiteln  abgehandelt,  von  den  Begriffen,  von  den  Urtheilen,  von 
den  Schlüssen.  Man  kann  aber  das  zweyte  als  den  Anfang  des  dritten 
ansehn;  alsdann  zerfällt  die  Logik  in  zwey  Theile;  sie  betrachtet 
die  Begriffe  in  den  Verhältnissen,  worin  sie  stehen,  und  worin  sie  sich 
bewegen.  Die  erste  Grundlage  ist  ein  Zusammenfassen  und  Unter- 
scheiden, welches  nicht  blofs  der  Logik,  sondern  zugleich  der  Arith- 
metik das  Daseyn  giebt.  Jeder  Begriff  läfst  sich  vielmal  denken;  die  be- 
stimmte Vielheit  giebt  eine  Anzahl;  das  Einerley  des  Vielen  ist  der  Multi- 
plicandus;  die  Bestimmung,  wodurch  dies  Einerley  der  Vielheit  gleich- 
kommt, der  Multiplicator  oder  die  Zahl.  Bestimmungen  dieser  Art  nun 
bleiben  der  Arithmetik  überlassen ;  wo  aber  das  Viele  zugleich  Vielerley  ist, 
und  sich  dennoch  l heilweise  als  Einerley  denken  läfst,  da  ist  die  Sphäre 
der  Logik.  Hier  giebt  es  Unterschiede  und  Gegensätze;  hier  giebt  es 
Unterordnung  und  Abstufungen  der  Einerleyheit,  (die  Gattungsbegriffe  sind 
in  mehreren  Gegenständen  einerley  als  die  Artbegriffe;)  hier  giebt  es 
Qualität  und  Quantität  der  Urtheile,  wenn  das  Denken  die  Begriffe  zu- 
sammenführt, und  sich  nun  ergiebt,  in  wie  fern  sie  zusammen  bestehen 
können,  oder  nicht.  Hiemit  entsteht  Ordnung  im  Denken,  indem  be- 
stimmte Distanzen  sich  zeigen  für  das  mehr  oder  minder  Entgegengesetzte, 
für  höhere  und  niedere  Begriffe,  für  das  Frühere  und  Spätere  beym  Fort- 
schreiten vom  Bekannten  zum  Unbekannten.  Wo  Ordnung  im  Denken 
gefodert  wird,   da  macht  sich   das   Bedürfnifs  logischer  Uebung  fühlbar. 


2.  Abschnitt.    Methodenlehre,     i.  Capitel.    Von  der  Logik.  2  CK 


menst  die  Logik  sich  hierein  nicht.  Während  also  sie  selbst  etwa  von 
den  Urt heilen  einige  Formen  aufstellt:  mag  der  Metaphysiker  sich  hüten,  dafs 
sich  ihm  diese  Formen  ja1  nicht  etwa  in  Kategorien  verwandeln,  2mit  der 
Einbildung,  dadurch  die  menschliche  Erkenntnifs  erweitern  oder  verengern 
zu  können.  Freylich  hat  diese  Einbildung  alle  Gewalt  eines  eben  so 
starren  als  grundlosen  Vorurtheils  erlangt;  aber  die  Logik  ist  daran 
unschuldig.  Sie  predigt3  nicht,  dafs  man  ihr  etwas  nachmachen  soll,  was 
sie  in  ihrem  Kreise  braucht;  4 sondern  solche  Nachahmerey  ist  Ungeschick 
Derer,  die  sich  auf  dem  eignen  Boden  der  Metaphysik  nicht  genug  um- 
gesehen haben,  und  den  Mangel  der  daselbst  einheimischen  Hülfsmittel 
durch  fremdes   Gut  ersetzen  wollen. 

150.  [168,  II.  Ausg.]  Allein5  positiv  betrachtet,  erscheint  die  Logik 
meistens  als  ein  Mentor,  der  mehr  warnt,  als  hilft.  Damit  sie  eine  mehr 
glänzende  Rolle  spielen  möge,  ist  sie  neuerlich  sogar  völlig6  aus  ihrer 
Sphäre  herausgetrieben  worden,  um  ihren  Namen  für  Lehren  herzugeben, 
die  ihr  geradezu  widersprechen.  Bevor  wir  mit  Mehrerem  darauf  kommen, 
überlegen  wir  doch  erst  näher,7  was  wohl  das  Positive  in  den  Forderungen 
der  Logik  zu  bedeuten  habe? 

[246]  Sie  fordert  Einstimmung  in  den  Begiiffen,  und  weiset  den 
Widerspruch  zurück.  Sie  macht  also  einen  Begriff  zum  Maafsstabe  für 
den  andern,  und  gebietet,  dafs  man  die  Zusammenfassung  des  Mannig- 
faltigen in  Einem  Gedanken  sorgfältig  durchmustere,  um  zu  sehen,  ob 
auch  jede  einzelne  Bestimmung  zu  den  übrigen  passe?  Hiedurch  fordert 
sie  auf  zum  analytischen  Denken,  dessen  Folgen  übrigens  die  Logik  nicht 
voraussieht,  da  sie  sich  nicht  darum  kümmert,  welche  eigenthümliche  Fehler 
in  jedem  Begriffe  bey  der  Analyse  zu  Tage  kommen  mögen. 

Wenn  zum  Beyspiel  der  Begriff  der  Pflicht  eine  Nothwendigkeit 
mitten  in  der  Freyheit  ankündigt:  so  ermahnt  die  Logik  blofs,  dafs  man 
hieraus  keinen  Widerspruch  machen,  also  diese  Nothwendigkeit  nicht  wie 
einen  wirklichen  Zwang  gegen  den  wirklichen  Willen  (der  als  frey  gedacht 
wird)  ansehn  solle.  Daraus  folgt  aber  sogleich,  es  müsse  ein  idealer 
Zwang  gerichtet  seyn  gegen  den  Willen  ohne  seine  Wirklichkeit,  das  heifst, 
gegen  das  Bild  des  Willens:  woraus  alsdann  die  wahre  Bedeutung  der 
sogenannten  praktischen  Vernunft,  sofern  dieselbe  als  gesetzgebend  er- 
scheint, sich    ergiebt.     Sie   ist  zwar   ein    höheres  Wollen;  was    aber   dieses 


1  „ja"    fehlt  in  der  II.   Ausg.* 

2  Statt  des  folgenden  Satzes:  „mit  der  Einbildung  ...  zu  können"  hat 
die  II.  Ausgabe:  „welche  die  menschliche  Erkenntnifs  erweitern  oder  ver- 
engern könnten. 

;J  „begehrt"   statt  „predigt"  n.  Ausg. 

4  Die  Worte:  „sondern  solche  Nachahmerey  ....  Gut  ersetzen  wollen" 
fehlen  in  der  II.  Ausg. 

5  „Allein"    fehlt  in  der  II.   Ausg. 

6  „sogar   völlig-'    fehlt  in  der  II.   Ausg.b 

7  „doch   erst  näher"   fehlt  in  der  II.  Ausg.  c 

a  b  u.  c  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichungen  der 
I.  Ausg. 


2o6  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

Höhere  emporträgt  über  gemeines  Begehren,  das  ist  kein  Wollen,  sondern 
Apperception,  verbunden  mit  ästhetischem  Urtheile;  welches  Urtheil  uner- 
bittlich  veststeht  (29.   45.). 

Oder  wenn  gefragt  wird,  ob  die  Pflicht  aus  der  Tugend,  und  rück- 
wärts, folge:  so  ermahnt  die  Logik,  nachzusehn,  ob  jenes  ästhetische 
Urtheil  über  den  Willen  sich  allemal  direct  auf  den  Werth  der  wollenden 
Person  beziehe?  Denn  bekanntlich  wird  Tugend  als  persönlicher  Werth 
betrachtet ;  wenn  nun  Einer  an  seine  Pflicht  kann  erinnert  werden,  ohne 
dafs  man  sich  um  dessen  persönlichen  Werth  bekümmert:  so  laufen  jene 
beiden  Begriffe  nicht  vermöge  einer  vollkommenen  logischen  Einstimmung 
in  einander  zurück,  wofern  nicht  noch  irgend  welche  Mittelglieder  ein- 
geschoben werden.  Etwa  so:  Gesetzt,  ein  gewisses  ästhetisches  Urtheil 
beziehe  sich  zwar  nicht  auf  den  Werth  einer  Person,  aber  auf  ein  Ver- 
hältnifs  zweyer  Perso[2  4/]nen;  und,  nachdem  dies  veslslehe,  komme  alsdann 
noch  ein  zweytes  ästhetisches  Urtheil  hinzu,  welchem  gemäfs  die  Person 
misfallen  würde,  falls  sie  jenes  erstere  Urtheil  vernachlässigen  wollte:  so 
wird  dadurch  mittelbar  eine  Beziehung  der  Pflicht  einer  Person  gegen  die 
andre  herübergeleitet  auf  den  innern  Werth  der  erstem,  also  auf  deren 
Tugend.  Man  sieht  ohne  Mühe,  dafs  hier  von  den  beiden  Ideen  des 
Rechts  und  der  innern  Freyheit  die  Rede  ist  (29.). 

151.  [169,  IL  Ausg.]  Nach  solchen  Beyspielen,  die  sich  übrigens 
vermehren  liefsen,  darf  es  wohl  dreist 1  ausgesprochen  werden,  dafs  die 
Logik  sich  ein  grofses  Verdienst  schon  durch  ihr  Antreiben  zum  analytischen 
Denken  erwirbt;  es  kommt  nur  darauf  an,  dafs  man  den  Rathschlägen  des 
Mentors  Folge  leiste;  2und  dies  gerade  ist  der  vernachlässigte  Punct! 
Logik  zu  lernen,  ist  gar  leicht ;  Logik  in  Ausübung  zu  bringen,  ist  überaus 
schwer;3  und  die  heutige  Generation  möchte  sich  in  dieser  Hinsicht  keines- 
weges  einer  besondern  Geschicklichkeit  rühmen  dürfen.  Aber4  die 
Schwierigkeit  des   Analysirens   ist  noch  nicht  die  gröfste. 

Die  Logik  fordert  Vollständigkeit  in  den  Reihen  der  Begriffe,  und 
einen  vestbestimmten,  genau  erkannten  Platz  für  jeden  Begriff  in  der  Reihe 
der  andern. 

Diese  Forderung  ist  es,  welche  zu  erfüllen  höchst  nützlich,  aber  eben 
so  schwer,  und  gemeinhin  vernachlässigt  ist. 

Als  Beyspiel  einer  nicht  vollständigen,  und  doch  an  ihrem  Orte  richtig 
bestimmten  und  geordneten  Reihe  wählen  wir  die  bekannte  der  Gründe, 
wovon  die  Lebensweise  der  Menschen  abhängt  (7.).  Um  den  Anfang 
derselben  zu  finden,  setzt  man  alles  Eigne  des  menschlichen  Daseyns 
dergestalt  bey  Seite,  dafs  nur  der  Begriff  der  Intelligenz  überhaupt  noch 
übrig  bleibt.  Eine  solche  lebt  entweder  in  Verbindung  mit  andern  In- 
telligenzen, oder  nicht.  Der  letzte  Fall  ist  der  einfachste,  und  tritt  an 
die    Spitze    der   Reihe.     Die   ganz    einzeln    stehende    Intelligenz    füllt    die 


1  „wohl    dreist"    fehlt  in  der  II.  Ausg. 

2  Der  folgende  Satz:    „und  dies  gerade  ....  Punct!"   fehlt  in  der  II.  Ausg. 

3  Die  folgenden  Worte:    ,,und  die  heutige   .  .  .    rühmen  dürfen"   fehlen  in 
der  II.  Au-^. 

4  „und"  statt  „Aber"  n.  Ausg. 


2.  Abschnitt.    Methodenlehre,     i.  Capitel.     Von  der  Logik.  207 

Zeit  durch  irgend  welche  Beschaff tigung,  —  mit  oder  ohne  eine  auf  be- 
stimmte Werke  gerichtete  Absicht,  also  entweder  arbeitend,  oder  sich  er- 
hohlend.  [248]  Der  nächste,  zweyte  Fall,  das  Zusammenleben  mehrerer 
Intelligenzen,  ergiebt  Gesinnungsverhältnisse.  Diese  vollständig  einzutheilen, 
kann  etwas  schwer  scheinen.  Man  achte  auf  folgenden  Theilungsgrund : 
die  Intelligenzen  fassen  einander  entweder  als  Personen  auf,  oder  nicht; 
der  letzte  Fall  ist  der  einfachste,  und  ergiebt  den  Verkehr  des  gemeinen 
Umgangs,  in  welcher  Jeder  Etwas  darbietet,  das  den  Andern  interessirt; 
dieses  Etwas  macht  die  Verbindung  des  Gebens  und  Nehmens,  wobey 
die  Personen  aus  dem  Spiele  bleiben  können,  denn  sie  sind  gleichgültig 
für  einander,  so  lange  es  nur  darauf  ankommt,  dafs  ein  Hörer  und  ein 
Erzähler  sich  gegenseitig  befriedigen.  Nachdem  solchergestalt  das  erste 
Glied  der  Untereintheilung  bestimmt  worden,  kommt  der  zweyte  Fall,  wo 
Jeder  den  andern  als  Person  auffafst,  zu  einer  neuen  Theilung  in  Betracht. 
Die  Auffassung  steht  entweder  unter  dem  Einflüsse  der  Neigung,  oder  sie 
ist  frey  davon.  Die  freye  Auffassung  einer  Person  aber  giebt  nothwendig 
ein  ästhetisches  Urtheil,  mithin  die  Gesinnungsverhältnisse  des  Beyfalls, 
oder  seines  Gegentheils.  Hingegen  die  Einmischung  der  Neigung  ist 
Liebe,  oder  ihr  Gegentheil;  daher  nun  die  drey  Gesinnungs- Verhältnisse 
gefunden  sind.  Das  übrige  ist  leicht.  Aus  der  Beyseitsetzung  der  mensch- 
lichen Natur  waren  die  ersten  Hauptglieder,  Beschäfftigung  und  Gesinnung, 
gewonnen  worden;  jetzt  aber  richten  wir  den  Blick  auf  den  Menschen, 
wie  die  Erfahrung  ihn  zeigt.  Jedoch  zunächst  die  allgemeine  Erfahrung, 
ohne  Unterschied  der  Orte  und  Zeiten.  Hier  finden  sich  Familien-  und 
Dienstverhältnisse.  Dafs  nun  oben  (7.)  die  Reihe  nicht  weiter  ist  geführt 
worden,  bezeichnet  nicht,  sie  sey  wirklich  geschlossen,  sondern  nur,  man 
wolle  sich  für  allgemeine  Betrachtungen  auch  mit  den  Anfangsgliedern 
begnügen;   wie    aber  würde   man    sie  fortsetzen?     Etwa  dadurch,  dafs    ein 

DO? 

Jeder  sogleich  zu  den  ganz  eignen  Umständen  seiner  persönlichen  Lebens- 
lage überspränge?  Sichtbar  würde  er  hier  den  Faden  verloren  haben. 
Denn  während  Familie  und  Dienst  aus  den  allgemeinsten  Natur-Einrich- 
tungen der  Menschheit  hervorgehn,  hat  etwas  minder  Allgemeines,  je[249] 
doch  Weitherrschendes,  Sprache,  Kirche,  Vaterland,  Zeitgeist,  —  gewifs 
in  der  logischen  Anordnung  den  Vortritt  vor  dem  Stande,  der  Gesund- 
heit, dem  Temperament  des  Individuums,  welches  etwa  diese  ganze  Be- 
trachtung auf  sich  und  seine  Lebensweise  zu  beziehen  gedenkt. 

152.  [170,  IL  Ausg.]  Es  geschah  nicht  ohne  Absicht,  dafs  wir  die  eben 
als  logisches  Beyspiel  gebrauchte  Reihe  gerade  in  den  Vordergrund  dieses 
Buchs  stellten;  und  es  kann  auch  jetzt  seinen  Nutzen  haben,  noch  einen 
Augenblick  dabey  zu  verweilen.  Denn  man  stöfst  zuweilen  auf  eine  gewisse  l 
falsche  Logik,  deren  Princip  darin  besteht,  Alles  recht  weit  herzuhohlen.  Das 
Weiteste  aber  ist  das  Universum.  Möglich  wäre,  dafs  da  oder  dort  unsere 
Reihe  für  ein  Fragment  einer  kosmischen  Reihe  erklärt  würde,  welches 
sehr  brauchbar  sey,  sobald  man  jene  Intelligenzen,  bey  denen  wir  von 
den   Eigenheiten    der  menschlichen    Natur    absirahirten,    für    etwas   Urbild- 


gewisse'1   fehlt  II.  Ausg.* 


a   S"\V    merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2oS  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

liches  erklärte,  welches  durch  eine  fortgehende  Besonderung  menschliche 
Gestalt  annehme.  Alsdann  wäre  die  Sittenlehre  sehr  bald  gefunden,  in- 
dem die  Besonderung  nur  nöthig  hätte,  sich  bis  zu  einer  vollständigen 
Gestaltung  auszubilden,  und  ihrem  ursprünglichen  Triebe  gemäfs  sich 
durch  die  scheinbar  widerstrebende,  in  der  That  aber  ohnmächtige  Natur 
hindurchzuarbeiten.  Wir  könnten  hier  leicht  in  sehr  gelehrte  Dunkel- 
heiten, —  und  noch  leichter  in  eine  starke  Polemik  hineingerathen;  allein 
man  fürchte  nichts!  Es  ist  im  Voraus  dafür  gesorgt,  dem  Leser1  in 
deutlicher  Prosa  zu  sagen,  was  in  sittlicher  Hinsicht  der  wahre  Sinn 
dieser  Reden  werden  würde.  Denn  oben  (24.)  haben  wir  schon  vor- 
geschlagen, man  möge  einmal  die  blofse  Kenntnifs  der  Notwendigkeit  als 
das  treibende  Princip  für  den  Menschen  ansehn;  und  dort  wurde  die 
Ueberlegung,  wie  schwer  es  sey,  allen  Rücksichten  des  Dienstes,  der 
Familie,  der  geselligen  Verhältnisse,  der  nöthigen  Beschäftigungen,  zugleich 
und  in  Vereinigung  Genüge  zu  leisten,  —  als  bekannt  vorausgesetzt.  Wie 
lautet  wohl  anders  die  Aufgabe,  die  sich  der  praktische  Mensch  ohne 
künstliches  Nachden[2  5o]ken  zu  stellen  pflegt,  als  so:  „Es  kommt  darauf 
an,  da/s  Jeder  seiner  Lage  entspreche. "  Die  Lage  nun  wird  bestimmt  durch 
Beschäfftigungen,  Gesinnungen,  Familie,  Dienst,  und  so  weiter,  durch  alle 
Verlängerungen  dieser  Reihe  hindurch.  Man  hätte  also  die  Pflicht  jedes 
Augenblicks,  wenn  man  die  Eine  Diagonale  finden  könnte,  welche  aus 
allen  jenen  bestimmenden  Kräften  zusammengenommen  resultirt;  und  hie- 
mit  wäre  die  Sittenlehre  auf  ein  Analogon  mechanischer  Probleme  glück- 
lich reducirt.  2Aber  wir  haben  dieser  grundfalschen  Ansicht  schon  oben 
widersprochen,  und  können  uns  jetzt  begnügen  zu  überlegen,  was  wohl 
die  Logik  dazu  sagen   möge  ? 

Ohne  Zweifel  würde  sie  nach  ihrer  behutsamen  Weise  ermahnen, 
man  solle  den  Grundbegriff,  den  man  voraussetze,  analysiren.  Also  den 
Begriff,  der  Mensch  sey  getrieben  von  Arbeiten,  von  Bekannten,  von  der 
Familie,  vom  Dienst,  und  so  weiter.  Sogleich  würde  nun  Jedem  einfallen, 
er  werde  doch  eigentlich  nur  getrieben,  sofern  er  getrieben  seyn  wolle, 
und  es  nicht  etwa  vorziehn,  alle  Bande  des  Lebens  zu  sprengen.  Die 
Logik  würde  ihn  also  erinnern,  dafs  in  letzter  Instanz  sein  Wille  selbst  das 
Bindende  sey.  Und  nun  würde  sie,  auf  die  Beweglichkeit  des  Willens 
hinweisend,  erinnern,  dafs  anderer  Wille  andre  Gebundenheit  ergebe. 
Sogleich  ferner  würde  Jedem  einfallen,  dafs  in  der  That  die  Menschen 
höchst  verschieden  sind  in  Hinsicht  dessen,  was  Jeder  'aus  seiner  Lage 
sich  macht;  daher  ein  vorsichtiger  Mann  nicht  einmal  gern  die  Rolle  des 
Rathgebers  zu  spielen  pflegt,  weil  er  fürchtet,  sich  selbst  dem  Andern 
unterzuschieben,  und  eben  hicdurch  guten  Rath  in  schlechten  zu  ver- 
wandeln,  sobald  er   ihn   von  sich  giebt.     Gerade  eben  so   vorsichtig  würde 


1  „dem    Leser"    fehlt     II.  Ausg.* 

2  Der  folgende  Schlußsatz  lautet  in  der  II.  Ausg.  etwas  verändert:  Aber  dieser 
Ansicht  ist  schon  oben  widersprochen,  und  es  bleibt  nur  noch  zu  über- 
legen,   was  wohl  die  Logik  dazu  sagen  möge. b 


a    u.   b    SW  merken   die   Abweichung   nicht  an. 


2.  Abschnitt.    Methodenlehre,     i.   Capitel.    Von  der  Logik.  2  0Q 

die  Logik  sich  erklären.  Keinesweges,  würde  sie  sagen,  verbürge  ich 
mich  für  die  Gültigkeit  Eures  Begriffs  von  Eurem  Willen.  Ihr  selbst  müfst 
wissen,  ob  Euer  Wille  in  der  That  der  letzte  Schiedsrichter  alles  Werths 
und  Unwerths  ist.  Rühren  Eure  Verlegenheiten  nur  daher,  dafs  Ihr  auf 
Beschäftigungen  und  auf  Menschen  und  auf  Verhältnisse  hier  und  da 
und  dort  so  gar  viel  Werth  legt,  und  dafs  die  vielerley  Werthe  nicht 
füglich  [251]  alle  zugleich  können  gehütet  und  verwaltet  werden:  so  be- 
sinnt Euch  doch  auf  Euern  Willen!  Wollet  nur  einmal  Euch  weniger 
daraus  machen,  so  wird  das  Alles  weniger  bedeuten;  und  Ihr  werdet 
Eurer  Plage  los  seyn. 

Wir  nehmen  nun  ein  andres  Beyspiel  vor,  das,  so  wie  das  vorige, 
die  Vollständigkeit  der  Reihen  betrifft ;  das  aber  von  jenem  sich  gerade 
hierin  unterscheidet,  indem  es  wirklich  eine  vollständige  Reihe  darstellt, 
die  jedoch  nicht  ohne   einige   Mühe  gefunden  wird. 

T53-  [l71'.  II-  Ausg.]  Die  fünf  praktischen  Ideen  haben  wir1  mit  den 
Namen:  Innere  Freyheit,  Vollkommenheit,  Wohlwollen,  Recht,  und  Billigkeit, 
bezeichnet.  Man  weifs  auch,  2  dafs  jeder  dieser  Ideen  durch  ein  ästhetisches 
Urtheil  gefunden  wird,  welches  nicht  vom  Willen  ausgeht,  sondern  über  ihn 
ergeht.  Es  kann  daher  nicht  einen  Augenblick3  zweifelhaft  seyn,  was  jene 
Beschäfftigungen,  Gesinnungen,  Familien-  und  Dienstverhältnisse  im  ethischen 
Sinne  eigentlich  bedeuten.  Sie  haben  einen  Werth  oder  Unwerth  als  Mittel 
zu  solchen  Zwecken,  die  von  den  praktischen  Ideen  vestgestellt  werden;  und 
heifsen  daher  Principien  des  Fortgangs  und  Rückgangs*  Daran  aber,  dafs 
der  Wille  ihnen  beliebig  einen  Werth  zuschreiben  oder  absprechen  könnte, 
ist  nicht  aufs  Entfernteste  zu  denken;  und  wenn  vorhin  die  Logik  dahin 
führte,   so   war   das  eine   deduetio  ad  absurdum. 

Um  nun  die  Reihe  der  fünf  Ideen  bequem  zu  überschauen,  mag 
man  sie  zuerst  in  der  Mitte  fassen.  Die  Idee  des  Wohlwollens  bezeichnet 
die  innere  Harmonie  einer  Person,  welche  mit  eignem  Willen  sich  einem 
von  ihr  vorgestellten  fremden  Willen  widmet.  Zu  bemerken  ist  hier,  dafs 
diese  Idee  von  einer  zweyten  Person  nur  die  Vorstellung  braucht,  denn 
im  Wohlwollen  wird  der  vorausgesetzte  fremde  Wille  lediglich  vorgestellt; 
und  dies  ist  so  gewifs,  dafs,  selbst  wenn  Irrthum  in  dieser  Vorstellung 
wäre,  doch  der  Werth  des  Wohlwollens  [252]  sich  gleich  bleiben  würde. 
Vollends  ist  hier  von  wohlthätigen  Handlungen  gar  nicht  die  Rede,  so 
gewifs  übrigens  dieselben  von  dem  wirklich  Wohlwollenden  unter  günstigen 
Umständen  und  bey  gehörigen  Kenntnissen  zu  erwarten  stehn.  Rechts 
und  links  vom  Wohlwollen  ausgehend  und  in  der  Reihe  fortschreitend, 
findet  man  nun  ganz  verschiedene  Verhältnisse.  Beym  Recht  und  der 
Billigkeit  sind  wirklich  mehrere  Personen  nöthig;  ja  auch  ein  Medium,  ein 
gemeinsamer  Boden,   eine  Fähigkeit,   auf  einander  einzuwirken.     Hier  finden 


1  „sind"  statt  „haben  wir"  n.  Ausg.a 

2  „auch"    fehlt  in   der  IL  Ausg.b 

3  „einen   Augenblick-'   fehlt  in  der  II.  Ausg.c 

*  Praktische  Philosophie,   im   siebenten    Capitel  des  zweyten   Buchs. 


a,   b  u.   c   SW  merken   die  Abweichungen   nicht  an. 
HuRBAhT's  Werke.     IX.  14 


9IO  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83  1 . 


wir  nicht  etwa  nur  Eine,  sondern  auf's  bestimmteste  zwey  verschiedene 
Ideen.  Diese  Thatsache  ist  schon  oben  (44.)  bemerklich  gemacht;  jetzt 
wollen  wir  den  Grund  angeben.  Zwey  Personen  treffen  in  der  ihnen  ge- 
meinsamen Welt  der  Sachen  und  des  Handels  entweder  absichtlich  zu- 
sammen, oder  unabsichtlich.  Der  logische  Werth  eines  solchen  contradic- 
torischen  Gegensatzes  besteht  bekanntlich  in  seiner  Vollständigkeit;  und 
das  ist  der  Punct,  auf  den  es  hier  ankommt.  Ergeben  sich  also  aus  den 
zwey  Gliedern  dieses  Gegensatzes  die  Ideen  des  Rechts  und  der  Billig- 
keit, (was  hier  nicht  kann  erörtert  werden,)  so  schliefsen  diese  beiden 
Ideen  zusammen  eine  logische  Sphäre  ab,  zu  welcher  kein  drittes  und 
viertes  Glied  kann  gesucht  werden.  Verhielte  es  sich  mit  dem  ersten 
Paar  eben  so,  das  heifst :  könnten  die  Ideen  der  innern  Freyheit  und 
der  Vollkommenheit  auch  durch  einen  contradictorischen  Gegensatz  ein- 
geführt werden:  so  wäre  Symmetrie  in  der  ganzen  Reihe;  allein  dies  ist 
nicht  der  Fall.  Um  den  wahren  logischen  Zusammenhang  zu  finden,  ver- 
folge man  die  Reihe  von  hinten  nach  vorn.  Recht  und  Billigkeit  kommen 
darin,  wie  schon  gesagt,  überein,  dafs  sie  eine  wirkliche  Mehrheit  von 
Personen  voraussetzen.  Das  Wohlwollen  braucht  von  der  zweyten  Person 
nur  das  Bild'  ihres  Willens.  Die  Vollkommenheit  —  ein  Ausdruck,  der 
lediglich  seiner  Etymologie  gemäfs  eine  Gröfsenvergleichung  anzeigt,  — 
kann  zwar  die  Voraussetzung  mehrerer  Personen  annehmen,  welche  neben- 
einander grofs  oder  klein  erscheinen;  allein  die  Vergleichung,  und  das 
darauf  beruhende  ästhetische  Urteil  bedarf  nicht  einer  Mehrheit  der  Per- 
sonen; sondern  [255]  es  findet  seinen  Gegenstand  schon  in  einem  Bey- 
sammenseyn  der  mehreren  Strebungen,  welche  das  mannigfaltige  Wollen 
einer  einzigen  Person  an  den  Tag  legt.  Endlich  die  innere  Freyheit 
schwebt  über  allen  andern  Ideen;  denn  sie  ist  überhaupt,  gleichviel  ob 
durch  Gröfse  oder  durch  Wohlwollen,  oder  durch  Recht  oder  durch  Billig- 
keit, —  diejenige  innere  Harmonie  einer  einzigen  Person  mit  sich  selbst, 
welche  zwischen  den  erkannten  Ideen  und  dem  Willen  Statt  findet. 

Es  versteht  sich,  dafs  hier  nicht  die  ganze,  in  der  praktischen  Philo- 
sophie längst  gelieferte  Entwickelung  kann  wiederhohlt  werden;  aber  auf 
das  logische  Verhältnifs  aufmerksam  zu  machen,  war  der  Zweck  der  so 
eben  gegebenen   Auseinandersetzung. 

154.  [172,  II.  Ausg.]  Nach  welcher  Logik  aber  ist  nun  diese  Reihe 
gebildet?1)  Die  Anweisung  wegen  des  contradictorischen  Gegensatzes  findet 
man  zwar  überall;  aber  die  Art,  ihn  zu  benutzen,  hat  keine  allgemeine 
Formel,  sondern  sie  mufs  jedesmal  dem  Gegenstande  abgewonnen  werden. 
Und  dieser  Gegensatz  liefert  zur  Ideenreihe  nur  zwey  Glieder.  Was  aber 
das  ganze  Verfahren  anlangt:  so  dient  es  gerade  in  so  fern  zum  passenden 
Beyspiel,  als  es  zeigt,  dafs  man  die  Winke  der  Logik  benutzen  mufs,  ohne 
von  ihr  die  dazu  nöthigen    Kunstgriffe  zu  verlangen. 

In  der  gesammten  Philosophie  giebt  es  vielleicht  nicht  zwey  Fälle, 
worin  die  nöthige  speculalive  Bewegung  genau  nach  einerley  Anweisung 
könnte    vollzogen    werden.      Alles    Nachahmen,    jede    unbehutsam    befolgte 


1  Der  vorstehende  Satz:   „Nach  welcher  Logik   ....    gebildet?"    fehlt  in 
der   II.   Ausgabe. 


2.   Abschnitt.    Methodenlehre.     2.   Capitel.      Von   der  Logik.  2  I  I 

Analogie  hat  den  Verdacht  gegen  sich,  dafs  es  dem  Nachahmer  an  der 
ächten,   directen   Kenntnifs  seines  Gegenstandes  mangele. 

Geradezu  lächerlich  und  thöricht  ist  die  Meinung:  wenn  man  von 
der  Philosophie  das  Princip  besitze,  so  werde  sich  das  Uebrige  wohl  rinden. 
Im  Gegentheil :  alles  Einzelne  will  Stück  für  Stück  von  neuem,  mit  einer 
ihm  besonders  angepafsten  Geschmeidigkeit  des  Denkens  untersucht  seyn; 
oder  man  umarmt  die  Wolke  statt  der  Juno. 

[254.]  Darum  verlange  Niemand  eine  allgemeine  Methodenlehre!  Sehr 
viele  Methoden  mufs  man  kennen;    aber   keiner    einzigen  sich  überlassen. 

Zur  Probe  mag  Jemand  nunmehr  versuchen,  eine  Lücke  auszufüllen, 
die  wir  in  dem  obigen  Beweise  von  der  Vollständigkeit  der  Ideenreihe 
offen  gelassen  haben.  Nach  dem  Gesagten  wird  Keiner  unternehmen, 
:icischen  die  erste  und  zweyte,  oder  zweyte  und  dritte,  oder  dritte  und 
vierte,  oder  vierte  und  fünfte,  noch  etwas  einzuschalten.  Aber  wie,  wenn 
die  Reihe  sich  verlängern  liefse  ?  Warum  giebt  es  keine  sechste  und  sie- 
bente Idee?  —  Nichts  ist  leichter,  als  diese  Frage  zu  beantworten.  Aber 
wer  da  meint,  er  werde  durch  irgend  ein  schon  gebi-atichtes  Verfahren  die 
Antwort  finden,  der  wird  bald  seinen  Scharfsinn  im  vergeblichen  Brüten 
abstumpfen. x 

Man  bequeme  sich,  aus  dem  Geleise  der  gewohnten  Logik  einen 
kleinen  Schritt  in  ein  anderes,  naheliegendes  Gebiet,  zu  thun.  Es  ist  das 
Gebiet  der  Combinationslehre.      Und  wozu  das?2 

Von  zweyen  Personen  galt  der  contradictorische  Gegensatz :  sie  treffen 
zusammen  entweder  mit  oder  ohne  Absicht.  Jenes  giebt  die  Billigkeit,  dies 
das  Recht,  (nämlich  zunächst  den  Streit,  der  vom  Rechte  soll  vermieden 
werden).  Also  mit  zwey  Personen  sind  wir  fertig.  Zu  einer  einzigen 
können  wir  nicht  zurück;  sonst  kämen  wieder  die  frühern  Glieder  der 
Reihe  zum  Vorschein.  Folglich  mufs  von  mehr  als  zweyen  Personen  die 
Rede  seyn.  Soll  nun  eine  sechste  oder  siebente  Idee  zu  finden  seyn, 
—  rein  verschieden  und  unabhängig  von  den  vorigen, 3)  wie  jene  unter 
einander  es  sind,  —  so  sind  Mehr  als  Zwey  der  Gegenstand  der  Be- 
urtheilung.  Nennen  wir  dieselben  a,  b,  c;  so  zerfällt  die  Ternion  a  b  c  in 
die  drey  Binionen  ab,  a  c,  b  c.  Diese  Binionen  führen  auf  Recht  oder 
Billigkeit,  laut  vorigem  Beweise.4  Was  also  auch  die  Ternion  abc  Neues 
bringen  möchte;  es  kann  nie  unabhängig  und  abgesondert  auftreten  von 
der  Beurteilung  jener  Binionen;  es  enthält  immer  die  Ideen  des  Rechts 
und  der  Billigkeit.  Darum,  und  in  sofern,  kann  es  keine  sechste  [255]  Idee 
mehr  geben.  Dennoch  giebt  es  wirklich  zehn  praktische  Ideen ;  man  er- 
innere sich  an  die  Rechtsgesellschaft,  das  Lohn-,  Verwaltungs-  und  Cultur- 


1  Die  vorstehenden  Worte:   „Nichts    ist    leichter    ....    im    vergeblichen 
Brüten   abstumpfen"  fehlen  in  der  II.  Ausg. 

2  Die  Worte:    „Und   wozu   das?"    iehlea  in  der  II.  Ausgabe. 

i    Statt  der    Worte:    „laut    vorigem     Beweise,,     hat   die   II.    Ausgabe:     „laut 


vorigen   Beweises."1 


A  „übrigen"   statt  „vorigen"   ....   SW. 
SW  geben  die  Abweichung  nicht  an. 


a 

~  ■■     0 — •• o   — 


2i2  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

System,  endlich  an  die  beseelte  Gesellschaft.  Sie  sind  nur  nicht  einfache, 
nicht  ursprüngliche,  nicht  von  den  vorigen  durchaus  geschiedene,  son- 
dern abgeleitete,  in  denen  die  frühern  mit  nähern  Bestimmungen  verbun- 
den sind. 

155.  [=  173  d.  IL  Ausg.]  Es  mag  nicht  überflüssig  seyn,  noch  eine 
Probe  zu  machen.  Wenn  es,  nach  unserer  Art  zu  zählen,  keine  sechste 
Idee  geben  kann,  so  wollen  wir  einmal  den  umgekehrten  Versuch  machen. 
Gehen  wir  rückwärts;  es  sey  nun  die  Idee  der  Billigkeit  die  erste,  so 
wird  die  der  innern  Freyheit  die  fünfte.  Warum  giebt  es  denn  nunmehr 
keine  sechste?    Warum  läfst  sich  die   Reihe  nicht  rückwärts  verlängern? 

Der  Anfänger  würde  noch  einmal  combiniren  wollen.  Er  würde 
nichts   herausbringen.  l     Die  Logik  würde  ihn  ebenfalls  ohne  Hülfe  lassen. 

Richten  wir  aber  unsern  Blick  nur  gerade  auf  den  Gegenstand  selbst; 
dieser  belehrt  uns  sogleich.  Rückwärts  die  Ideenreihe  durchlaufend,  kamen 
wir  zuletzt  an  die  Idee  der  innern  Freyheit,  das  heifst,  an  die  allgemeinste 
Grund- Voraussetzung  aller  sittlichen  Existenz;  nämlich  an  jene  Appercep- 
tion  sammt  dem  ästhetischen  Urtheil  (150.).  Appercipirte  nicht  der 
Mensch  sein  eigenes  Wollen,  sähe  er  nicht  das  Bild  seines  Willens ;  oder, 
sähe  er  es  mit  Gleichgültigkeit,  ohne  Beyfall  und  Tadel:  dann  gäbe  es 
gar  keine  Idee  und  keine  Sittenlehre;  eben  so  wenig,  als  eine  solche 
für  rein 2  unvernünftige  Thiere  vorhanden  ist.  Nun  beruht  nicht  blofs  die 
Idee  der  innern  Freyheit  auf  diesem  Grund- Verhältnifs  zwischen  dem 
Willen  und  dem  Anschauen  desselben:  sondern  sie  selbst  ist  dessen  voll- 
ständige Auffassung  und  Beurtheilung;  daher  wäre  der  Versuch,  sie  zu 
übersteigen,  geradezu3  ein  Versuch,  dem  Ersten  in  dieser  ganzen  Betrach- 
tung noch  ein  Früheres  voranzuschicken.  4Wer  einen  solchen  Versuch 
im  Ernste  machen  könnte,  der  müfste  von  Allem  Nichts  begriffen 
haben. 

[256.]  156.  [=  174  d.  IL  Ausg.]  Die  vorstehenden  Beyspiele  waren 
entnommen  aus  dem  ersten  Capitel  der  Logik;  Aehnliches  würden  die 
beiden  andern  Capitel  darbieten.  Immer  eine  nützliche  Anweisung;  nirgends 
eine  Formel,  die  sich  als  Werkzeug  brauchen  läfst.  Die  Logik,  weit  entfernt 
Verstand  zugeben,  redet  mit  uns  als  mit  Männern,  die  Verstand  haben; 
mit  diesem  Vertrauen  giebt  sie  guten  Rath,  und  überläfst  uns,  ihn  den 
einzelnen   Fällen  anzupassen. 

Von  der  Brauchbarkeit  des  logischen  Syllogismus  kam  oben  (45.) 
eine  Probe  vor.  Man  vergleiche  dieselbe  mit  der  frühern  Betrachtung 
des    nämlichen  Gegenstandes   (29.),    und    überlege    den  Vorzug  der   streng 


1  Statt  der  vorstehenden  2  Sätze:  „Der  Anfänger  ....  herausbringen'-'  hat 
die  II.  Ausgabe:  „Wer  noch  einmal  combiniren  wollte,  würde  nichts  heraus- 
bringen."a 

2  „rein"    fehlt  in  der  IL  Ausg. 

3  „geradezu"    fehlt  in   der  II.  Ausg.b 

4  Der  Satz:  „Wer  einen  solchen  ....  Nichts  begriffen  haben"  fehlt  in 
der  II.  Ausg. 


a   u.  b    SW  merken   die  Abweichung   nicht  an. 


2.   Abschnitt.    Methodenlehre.     I.    Capitel.     Von   der  Logik.  213 

logischen  Form.  Es  liegt  in  dieser  Form  eine  Disciplin  für  das  Denken, 
die  es  sich  ungern  gefallen  läfst,  weil  der  Lauf  der  Gedanken  in  seiner 
natürlichen  reihenfönnigen  Bewegung  (118.)  nur  durch  Eine  Prämisse  des 
Schlusses  hindurch  seinen  Weg  nimmt,  ohne  bey  der  andern,  die  er  vor- 
übereilend streift,  sich  aufzuhalten.  Die  logische  Forderung,  beide  Prä- 
missen gleich  aufmerksam  zu  betrachten,  bringt  das  Denken  dergestalt 
aus  dem  Tacte,  dafs  man  zu  den  gemeinsten  Ueberlegungen  Jahre  ge- 
brauchen würde,  wenn  sie  in  Syllogismen  sollten  angestellt  werden.  Aber 
eben  darum,  weil  die  Form  eine  Fessel  ist,  mufs  man  die  Resultate  des 
Denkens  in  ihnen  zu  bevestigen  suchen;  und  es  leidet  keinen  Zweifel, 
dafs  dies  künftig  mehr  und  mehr  geschehen  wird.  Die  Zeit,  in  welcher 
die   Logik  verachtet  wurde,  ist  schon  jetzt  vorbey. l 

157.  [=  175  d.  IL  Ausg.]  Wer  die  Reihe  der  praktischen  Ideen 
(153  — 155.)  in  ihrer  logischen  Stellung  und  Geschlossenheit  vor  Augen  hat, 
der  möchte  wohl  auf  den  Gedanken  kommen,  eine  ähnliche  Basis,  wie  hier 
für  die  praktische  Philosophie  vorhanden  ist,  auch  für  die  Metaphysik  zu 
suchen.  Das  wäre  eine  von  jenen  irre  leitenden  Analogien, 2  gegen  welche 
wir  gewarnt  haben  (154).  Metaphysik  beruht  auf  der  Erfahrung,  nämlich  auf 
dem  Bedürfnifs,  dieselbe  begreiflich  zu  finden.  Ihre  einfachsten  Principien 
sind  daher  diejenigen  Puncte,  um  welche,  als  x\ngel  [2  5/]puncte,  das 
scheinbar  Unbegreifliche  der  Erfahrung  sich  dreht.  Wollte  man  diese 
Puncte  in  eine  geschlossene  Reihe  legen,  so  würde  man  etwas  Unmögliches 
und  zugleich  Zweckwidriges  wollen.  Unmöglich  kann  man  die  Erfahrnng 
erschöpfen  und  abschliefsen;  sie  aber  ist  es  gerade,  welche  das  an- 
scheinend Unbegreifliche  aufdringt.  Zweckwidrig  wäre  es,  wenn  man 
Unbegreiflichkeiten  suchen  wollte,  wie  man  praktische  Ideen  sucht.  Jene 
sind  nicht  das,  was  man  sucht,  sondern  was,  wo  möglich,  vermieden 
wird.  Nun  läfst  sich  zwar  die  Reihe  der  metaphysischen  Anfangspuncte 
angeben:  Inhärenz,  Veränderung,  die  Materie,  und  das  Ich.  Aber  diese 
Punkte  sind  durch  die  lange  Geschichte  der  Metaphysik  als  die  Angel- 
puncte  bekannt,  um  welche  das  Nachdenken  gezwungen  ist,  sich  zu 
drehen.  Zwar  noch  nicht  lange  ist  die  Zeit  verflossen,  da  man  ver- 
suchte, alles  auf  das  Ich  zu  bauen;  —  das  heifst,  da  man  meinte:  hätte 
man  nur  erst  in  Ansehung  des  Ich  eine  hinreichende  Aufklärung,  so  würden 
die  andern  drey  Puncte  wohl  kein  eignes  Anfangen  von  einem  Jeden  der- 
selben mehr  fordern.  Allein  man  täuschte  sich.  Die  Veränderung  drängte 
sich,  wie  zu  alter  Zeit,  wieder  vor.  Die  Materie  dagegen  wollte  nicht 
hervorkommen  ans  Licht;  sie  blieb  in  ihrem  dunkeln  Winkel  sitzen.  Die 
Inhärenz  wurde  gegen  den  Vorwurf  der  Unbegreiflichkeit  mit  Machtsprüchen 
vertheidigt.  So  hatte  jedes  Problem  sein  eignes  Schicksal;  zum  Zeichen, 
dafs  es  diesen  Principien  der  Metaphysik  nicht  bestimmt  ist,  als  ein  logisch 
abgeschlossenes  Ganzes  aufzutreten. 

Dies  verhindert  jedoch  nicht  den  logischen  Fortschritt  vom  Allgemeinen 


1  Die  vorstehenden  Worte:  „Die  Zeit,  in  welcher  ....  ist  schon  jetzt 
vorbey"    fehlen    in  der  II.  Ausg. 

-  Die  folgenden  Worte:  „gegen  welche  wir  gewarnt  haben"  fehlen  in  der 
II.  Ausg. 


214  ^'    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


zum  Besondern.  Inhärenz  mehrerer  Merkmale  in  Einem,  für  real  gehal- 
tenen, Gegenstande,  den  man  eben  in  so  fern  Substanz  nennt,  ist  das 
Allgemeinste,  was  unter  nähern  Bestimmungen  wiederkehrt;  nämlich  unter 
Zeitbestimmungen  bey  der  Veränderung,  unter  Raumbestimmungen  bey  der 
Materie,  und  mit  Angabe  des  Unterschiedes  zwischen  Object  und  Subject 
beym  Ich.  Daraus  folgt,  dafs  die  Metaphysik  mit  dem  Probleme  der  In- 
härenz beginnen,  jedoch  das[2 58] selbe  nicht  als  einziges  Princip  betrachten 
darf;  denn  es  hat  neben  sich  jene  andern,  die  neben  ihm  gefunden  werden; 
und  Erfahrung  wird  immer  nur  gefunden,  niemals  geschaffen.  Die  Logik 
aber  beweiset  sich  auch  hier  als  anordnend;  wer  ihrem  Rathe  nicht  folgt, 
der  büfst  es  durch   endlose  Verwirrungen. 

158.  [=  176  d.  IL  Ausg.]  Jetzt  wäre  noch  von  einer  ganz  andern 
Stellung  der  Logik  gegen  die  eben  erwähnten  metaphysischen  Probleme  zu 
reden.  Jedes  derselben,  einzeln  genommen,  erhebt  für  sich  allein  Krieg  wider 
die  Logik.  Daraus  entsteht  in  den  Köpfen  der  Menschen  ein  Gesammt- 
Eindruck,  als  wäre  die  Metaphysik  ein  Wald  von  Ungereimtheiten,  welchen 
zu  vermeiden,  man  nur  nöthig  habe,  auf  dem  offnen  und  weiten  Felde  der 
Erfahrung  an  der  Hand  der  Logik  einherzugehn.  Sie  setzen  nämlich  voraus, 
an  der  Einstimmung  zwischen  Logik  und  Erfahrung  könne  Niemand  zwei- 
feln. l  Fehlerhafte  Bearbeitungen  der  Metaphysik  verstärken,  indem  deren 
Verkehrtheit  in  die  Augen  springt,  das  nämliche  Vorurtheil.  Auf  einer 
etwas  höhern  Stufe  der  Speculation  aber  ändert  sich  die  Sache.  Die  Logik 
wird  angeklagt,  dafs  sie  das  Wissen  wenig  fördere.  Die  Erfahrung  soll 
sich  ebenfalls  bescheiden,  ihre  Lehren  seyen  kein  wahres  Wissen,  sondern 
nur  gültig  für  Erscheinungen.  Die  Dinge  aufser  uns  werden  uns  ja  nur 
bekannt,  in  so  fem  wir  sie  uns  vorstellen!  Eine  so  wahre  Bemerkung  ver- 
leitet zu  neuem  Irrthum ;  nämlich  zu  dem  vorhin  erwähnten,  alles  Wissen 
liege  im  Ich.  Die  böse  Frage:  wie  kommt  die  Kennt nifs  eines  Dinges,  dafs 
aufser  mir  ist,  in  mich  hinein  ?  Diese  Frage  scheint  das  Ich  zu  verschonen, 
darum,  weil  es  gar  nicht  aulser  sich,  sondern  nur  in  sich  ist.  So  meint 
man,  weil  man  auf  dieser  Stufe  der  speculativen  Betrachtung  theils  von 
dem  Ich,  theils  von  der  wahren  Beschaffenheit  der  Probleme,  von  der 
Art  sie  aufzulösen,  von  dem  Zusammenhange  metaphysischer  Wahrheit 
und  Ueberzeugung  noch  keinen  richtigen  Begriff  hat.  Diejenigen  endlich, 
welche  den  [259]  metaphysischen  Problemen  zum  Gefallen  die  Logik  um- 
schaffen  wollen,  (welches  insbesondere  Hegels  Unternehmen  ist,)  kommen 
der  Untersuchung  näher.     Sie  sehen  ein,   dafs  die  Logik  nicht  dürfe  igno- 


1  Zu  dem  Worte,  „zweifeln"  hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung: 
Dafs  es  an  dieser  vorausgesetzten  Einstimmung  gerade  fehlt,  —  dafs  die  gegebenen 
Erfahrungsbegriffe  der  Logik  nicht  angemessen  sind;  und  dafs  hieraus  in  alter  und 
neuer  Zeit  die  Mishelligkeiten  der  philosophischen  Systeme,  aber  auch  die  Antriebe 
zum  weitern  Forschen  entsprungen  sind;  dies  ist  der  Hauptpunct,  welchen'  die  Ein- 
leitung in  die  Philosophie  dergestalt  ins  Licht  zu  setzen  hat,  dafs  Logik  und  Erfahrung 
einander  gegenüber  treten,  während  die  Aesthetik,  wenigstens  in  Hinsicht  ihrer  Prin- 
cipien,  von  dem  Widerstreite  zwischen  jenen  Beiden,  unangefochten  veststeht.  Dies  ge- 
hörig aufzufassen,  erfodert  nicht  blofs  deutliche  Auseinandersetzung,  sondern  auch  län- 
gere Uebung,  wozu  nicht  Jeder,  der  sich  nach  der  Philosophie  erkundigt,  sich  bringen 
läfst;  besonders  da  es  Autoritäten  genug  giebt.  welche  die  entgegenstehenden  Vor- 
theile  in   Schutz   nehmen. 


2.   Abschnitt.    Methodenlehre.     I.   Capitel.    Von   der  Logik.  215 


rirt,  ciafs  sie  vielmehr  in  Einstimmung  müsse  gesetzt  werden  mit  der  Er- 
fahrung; indem  die  eingebildete  Freundschaft  der  Erfahrung  und  der  Logik 
gerade  dasjenige  ist,  woran  es  fehlt,  und  zwar  so  sehr  fehlt,  dafs  eben 
aus  diesem,  alten,  und  stets  fortdauernden,  Fehler  die  ganze  Metaphysik 
entsprungen  ist  und  noch  jetzt  entspringt. 

Weil  nun  die  Erfahrung  und  die  Logik  über  die  ersten  Grundbegriffe 
von  dem  was  Ist  und  geschieht,  mit  einander  in  Streit  liegen,  —  indem 
die  Erfahrung  selbst  uns  widersprechende  Begriffe  aufdringt,  deren  Un- 
gereimtheit bey  der  logischen  Analyse  zum  Vorschein  kommt :  —  so  ent- 
steht   die   Frage:    wer  soll    nachgeben?    Die  Logik?    oder    die   Erfahrung? 

Hegel  sagt :  die  Logik.  Darum  hat  er  eine  neue  Logik  geschaffen, 
welche  gerade  so,  wie  die  Erfahrung,  voll  ist  von  Widersprüchen,  und, 
was  das  Merkwürdigste  ist,  diese  Widersprüche  auch  gar  nicht  verhehlt, 
nicht  umwickelt,  nicht  entschuldigt,  sondern  sie  als  bare  Wahrheit  nackt 
und   dürr  hinstellt. 

Manche  Personen  meinen  nun,  es  sey  am  besten,  Hegeln  zu  ignoriren. 
Aber  solches  Vornehmthun  ist  eitler  Dünkel.  Läge  zu  Hegels  Lehren  kein 
Grund  in  den  Formen  der  Erfahrung:  so  wäre  er  nimmermehr  auf  seine 
Paradoxa  gekommen.      Der   Kern  seiner  Logik  ist  die  Erfahrung  selbst. 

Allein  wir  müssen  für  den  jetzigen  Vortrag  die  schroffe  Seite  des 
Berges  zu  umgehen  suchen,  und  nehmen  daher  für's  erste  einen  Weg, 
welcher  eine   Aussicht  auf  das  KANTische  Gebiet  verstattet.  1 


1  Nach  den  Worten:    „auf  das    KANTische    Gebiet    verstattet"  hat    die 

II.  Ausgabe  folgenden   Zusatz: 

Um  diese  Aussicht  zu  gewinnen,  ist  es  nützlich,  noch  zuvor  einen 
Schritt  weiter  rückwärts  zu  thun.  Denn  man  darf  niemals  vergessen,  dafs 
die  Hauptschriften  Kants  sich  als  Kritiken  darstellen  ;  nämlich  als  Kritiken 
dessen,  was   zunächt  vorherging;   und   das  war  die   Wolf  sehe  Schule. 

Wolf  hat  seiner  Logik  einen  discursus  praeliminaris  de  philosophia  in 
geilere  vorgesetzt.  Darin  wird  gehandelt  von  der  dreyfachen  menschlichen 
Erkenntnifs,  der  historischen,  philosophischen  und  mathematischen;  dann 
von  der  Methode,  dem  Stil,  und  der  Freyheit  des  Philosophirens.  Sinne 
und  Aufmerksamkeit,  sammt  der  innern  Wahrnehmung,  geben  die  histo- 
rische Erkenntnifs;  die  philosophische  Erkenntnifs  liefert  die  Gründe  dessen 
was  ist  und  geschieht,  nämlich  aus  der  Erfahrung;  darum  ist  die  histo- 
rische Erkenntnifs  das  Fundament  der  philosophischen.  Alles  Endliche  hat 
eine  bestimmte  Gröfse;  die  Kenntnifs  der  Gröfsen  ist  die  mathematische. 
Definitionen  und  Demonstrationen  sind  das  Wesentliche  der  philosophischen 
Methode;  es  gelten  hier  die  nämlichen  Regeln  wie  in  der  Mathematik. 
Derjenige  Teil  der  Philosophie,  welcher  den  Gebrauch  des  Erkenntnifs- 
vermögens  lehrt,  heifst  Logik.  Dabey  wird  der  Satz  vorangeschickt,  die 
Seele  habe  zwey  Vermögen,  das  des  Erkennens  und  das  des  Begehrens. 
Die  Seele  bewegt  sich  im  Erkennen  nach  Regeln  des  Denkens,  wie  dex 
Leib  nach  Regeln  der  Statik.  Es  giebt  eine  natürliche  Disposition  der 
Seele,   ihre  Thätigkeit  im  Erkennen  jenen  Regeln  gemäfs  einzurichten;    es 


2i5  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


[260]      Zweytes    Capitel. 
Von  der  Vernunftkritik. 

159.  [=  177  d.  IL  Ausg.]  Kants  kritische  Philosophie  hat  so  viele 
Decennien  hindurch  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  beschäfftigt,  dafs  man 
eine  wenigstens  oberflächliche  Kenntnifs  derselben  bey  den  meisten  Männern 
von  gelehrter  Bildung  heut  zu  Tage  voraussetzen  darf;  so  dafs  wir  sie 
zur  Anknüpfung  für  einige  sehr  nöthige1  Bemerkungen,  die  auf  philo- 
sophische Methode  und  Systematik  den  wesentlichsten  Einflufs  haben,  recht 
füglich  benutzen  können. 2  Jedoch  müssen  wir  die  KANTische  Lehrform 
entfernt  halten;   sie  ist  nicht  klar  genug  für  unsern   Zweck. 

mufs  aber,  wie  bey  den  Bewegungen  des  Leibes,  Uebung  und  Nach- 
ahmung hinzukommen.  Diese  Disposition  heifst  natürliche  Logik ;  sie  ist 
theils  angeboren,  theils  erworben.  Wer  sich  der  natürlichen  Logik  be- 
dient, hat  eine  confuse  Vorstellung  der  Regeln;  deutliche  Erkenntnifs  der- 
selben giebt  die  künstliche  Logik.  Nicht  allen  Menschen  ist  gleichviel 
natürliche  Logik  angeboren ;  auch  im  Erwerben  der  Logik  sind  sie  un- 
gleich. Mängel  der  natürlichen  Logik  kommen  zum  Vorschein,  wenn 
Einer  nicht  die  rechte  künstliche  Logik  gelernt,  oder  sie  confufs  gefafst, 
oder  nicht  geübt  hat.  Die  Proben  der  rechten  Logik  sind:  Einstimmung 
mit  dem  Verfahren  der  alten  Geometer,  mit  der  natürlichen  Gedanken- 
folge,  mit  der  Natur  des  menschlichen   Geistes. 

So  redet  Wolf.  Wir  brauchen  ihm  nicht  Hegeln  entgegenzustellen; 
ein  paar  Zeilen  aus  Platons  Timäus  mögen  zum  Contrast  dienen.  „Nach 
meiner  Ansicht  ist  zu  unterscheiden  Das,  was  immer  ist,  und  kein  Werden 
in  sich  hat;  —  und  Das,  was  zwar  wird,  aber  niemals  ist.  Jenes  wird 
geistig  aufgefafst,  indem  es  sich  stets  gleich  bleibt;  dies  dagegen  durch 
die  Sinne  und  die  Meinung,  indem  es  entsteht  und  vergeht,  aber  kein 
wahres  Seyn  besitzt."  —  Solche  PLATONische  Lehren,  sammt  den  ähnlichen 
eleatischen,  waren  zu  Wolfs  Zeiten  in  Vergessenheit  gerathen;  und  auch 
als   Kant  sich   bildete,  noch  nicht  wieder  geläufig  geworden. 

1  „sehr    nöthige"    fehlt  in  der    II.   Ausgabe. 

2  Nach  den  Worten:  „benutzen  können"  hat  die  II.  Ausgabe  folgenden  Zu- 
satz: Man  wird  sich  erinnern,  dafs  Kant  von  den  Gegenständen  sinnlicher 
Erfahrung,  die  sich  in  Raum  und  Zeit  darstellen,  durchgehends  als  v<  >n 
Erscheinungen  redet,  welche  von  Dingen  an  sich  wohl  zu  unterschei- 
den seyen;  und  dals  er  alle  Erkenntnifs  zwar  mit  der  Erfahrung  anfangen, 
aber  nicht  ganz  ans  der  Erfahrung  entspringen  läfst.  Auf  den  ersten  Blick 
könnte  man  meinen,  er  nähere  sich  dem  Platon,  indem  er  sich  von  Wolf 
entfernt.  Allein  an  der  Stelle,  wo  er  von  den  platonischen  Ideen  redet, 
deutet  er  an,  man  könne  einen  Schriftsteller  zuweilen  besser  verstehen, 
als  er  sich  selbst  verstand.  Dies  möchte  nun  doch  wohl  ein  misliches 
Unternehmen  seyn.  Es  ist  zwar  gewifs,  dafs,  wie  Kant  sagt,  Platon  unter 
den  Ideen  etwas  verstand,  was  nicht  allein  niemals  von  den  Sinnen  ent- 
lehnt wird,  sondern  sogar  die  Begriffe  des  Verstandes,  sofern  in  der  Er- 
fahrung etwas  damit  Congruirendes  angetroffen  wird,  weit  übersteigt.     Das 


2.   Abschnitt.     Methodenlehre.     2.   Capitel.     Von  der  Vernunftkritik.  2  17 


Anaxagoras  soll  gesagt  haben,  der  Schnee  sev  schwarz.  Er  durfte 
eigentlich  nur  sagen :  die  Substanz  des  Schnees  sev  nicht  weifs.  Hier 
mag  man  bequem  anfangen,  um  über  den  Begriff  der  Substanz  nach- 
zudenken,  von  welchem  wir  zunächst  zu  reden  haben. 

Wie  entsteht  der  Begriff  der  Substanz  ?  Das  ist  eine  kritische  Frage, 
die  sich  Kant  sorgfältiger  hätte  überlegen  müssen,   als  von  ihm  geschehn  ist. 

Das  Beyspiel  des  Anaxagoras  kann  zunächst  auf  den  Gedanken  leiten: 
die  Veränderlichkeit  der  Dinge,  wenn  sie  gefrieren,  oder  schmelzen,  oder 
wie  immer  sonst  die  Gestalt  wechseln,  führe  auf  den  Begriff  ihres  Ur- 
stoffs,  der  wedet  weifs  noch  schwarz,  weder  starr  noch  flüssig  sey.  Das 
ist  wahr;  aber  es  giebt  nur  den  Begriff  des  Beharrlichen ;  ein  richtiges 
Merkmal  der  Substanz,  und  gleichwohl  noch  nicht  den  ersten,  wesent- 
lichen  Begriff  derselben. 

[261]  Ein  Ding  braucht  sich  eben  nicht  zu  verändern,  damit  man  ge- 
wahr werde,  dafs  die  mancherley  sinnlichen  Eigenschaften,  woran  es  erkannt, 
und  wodurch  es  von  andern  unterschieden  wird,  nicht  das  eigentliche 
Wesen  des  Dinges  ausmachen  können.  Es  ist  nur  nöthig,  das  Ding  zu 
beurtheilen.  Z.  B.  Der  Schnee  ist  weifs.  Der  Schnee  ist  kalt.  Der 
Schnee  ist  locker.  Der  Schnee  besitzt  eine  kristallinische  Bildung.  Das 
genügt  zuvörderst  zu  der  Frage:  Mufste  denn  das  Weifse  eben  kalt  seyn  ? 
Mufste   denn  das   Kalte    gerade    locker  seyn?      Mufsten   denn    die  kleinen 


Alles  aber  trifft  nicht  den  rechten  Punct.  Platon  behauptete  seine  Ideen 
nicht  unabhängig  von  der  Erfahrung,  sondern  wider  die  Erfahrung;  und 
dies  nicht  so,  als  hätte  Er  beliebig  die  Erfahrung  zurückgestofsen,  sondern 
Er  fand  sich  zurückgestofsen  von  ihr,  und  zwar  durch  die  Veränderlichkeit 
der  Sinnendinge.  Daher  die  am  Ende  des  vorigen  Capitels  angeführte 
Unterscheidung.  Das  Seyn  pafst  nicht  zum  Werden ;  das  Werden  nicht 
zum  Seyn.     Was  ist,  das  soll  sich  selber l  gleich  seyn  und  bleiben. 

Kant  dagegen  begnügt  sich  mit  Wolf  (wenngleich  auf  andre  Weise) 
Erfahrung  aus  Erfahrung  zu  erklären.  Er  sucht  durch  die  Verstands- 
begriffe nur  Grundsätze  der  Synfhcsis  möglicher  empirischer  Anschauungen. 
Noch  mehr:  die  Berechtigung  zu  solcher  Synthesis  liegt  nach  ihm  am 
Ende  in  der  Einrichtung  des  menschlichen  Geistes  also  ungefähr  da,  wo 
Wolf  seine  natürliche  Logik  fand;  mit  dem  Unterschiede  jedoch,  dafs  er 
weiter  tiefer  in  die  Gesetze  des  Anschauens  und  Denkens  einzudringen 
unternahm.  Und  was  ergab  sich  daraus?  —  Wiederum  Krieg;  aber  der 
Schauplatz  des  Krieges  ist  verändert.  Denn  der  Streit  ist  bey  Kant  nicht 
zwischen  den  Sinnen  und  dem  Verstände  —  der  Erfahrung  und  der  Logik, 
—  sondern  zwischen  der  Vernunft  und  dem  Verstände,  indem  jene  be- 
schuldigt wird,  die  Begriffe  des  letztem  mit  Uebertreibung  bis  zum  Un- 
bedingten auszudehnen.  Es  scheint  also,  die  beiden  höchsten  Erkenntnifs- 
vermögen  seyen  unter  einander  entzweyet.  Die  rechte  Methode  würde 
dann  erfodern,  den  Streit  unter  ihnen  beyzulegen.  Hierüber  soll  nun 
das   Nöthigste  gesagt  werden.      [Jedoch  müssen  wir  .... 

1  SW  „sich  von  selber"  statt  „sich  selber." 


2Ig  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


Schneekrvstallen  gerade  geschickt  seyn,  um  Schneebälle  daraus  zu  machen? 
Die  Begriffe  von  dem  Allen  hängen  gar  nicht  zusammen;  die  Erfahrung 
verknüpft  sie  gleichwohl  ganz  vest,  indem  wir  den  Schnee  mit  Augen 
sehen  und   mit  den   Händen  greifen. 

Aber  die  Erfahrung  kann  mit  aller  ihrer  Macht  doch  nicht  ver- 
hindern, dafs  nicht  der  Begriff  des  Schnees  aus  einander  falle  in  lauter 
Merkmale  ohne  Zusammenhang.  Der  Begriff  schmilzt  früher  als  der 
Schnee  selbst.  Und  der  Begriff  des  Eisens,  strengflüssig  wie  es  ist, 
schmilzt  gerade  so  leicht  wie  jener  des  Schnees;  nämlich  durch  die  Urtheile : 
das  Eisen  ist  grau;   das   Eisen  ist  schwer;   das   Eisen  ist  hart,  u.  s.  w. 

Was  ist  nun  der  Schnee?  und  was  ist  nun  das  Eisen?  Das  heifst: 
was  ist  das  Subject,  welchem  die  Urtheile  das  Daseyn  verdanken,  da  sie 
ohne  Subject  nicht  bestehn  können?  Denn  ihre  Prädicate  bezeichnen, 
jedes  einzeln  genommen,  nichts   Selbstständiges. 

Wer  auf  diesen  Fragepunct  gekommen  ist,  der  schaut  in  ein  Dunkel, 
worin  er  schlechterdings  nichts  zu  erkennen  vermag.  Aber  mit  dem 
Nichts  kann  er  sich  nicht  befreunden.  Wo  nichts  wäre,  da  würde  auch 
nichts  erscheinen.  Die  Erfahrung  fährt  immer  fort,  hier  Schnee  und  dort 
Eisen  zu  zeigen,  in  ganzen  Massen,  um  deren  Größe  wir  uns  jedoch 
nicht  bekümmern.  Die  Fragen:  was  sind  Schnee  und  Eisen?  zielen 
auf  die  Qualität;  diese  meint  man  zu  kennen,  aber  jeder  Versuch,  sie 
zu  beschreiben,  zerfliefst  in  die  Angabe  der  Merkmale,  zu  denen  das  Sub- 
ject fehlt. 

[262]  Das  vermifste  Subject  nun,  welches  in  unserer  Kenntnifs  fehlt , 
In   der   Natur  aber   nicht  fehlen   kann,   ist  die   Substanz.  l 

Der  Idealist  würde  sagen,  es  fehle  auch  in  der  Natur.  Er  würde 
Schnee  und  Eisen  für  Erscheinungen  erklären.  Wem  denn  erscheinen  sie? 
Ohne  Zweifel  Uns.  Anstatt  dieses  Pluralis  Uns  setz  der  Idealist  schnell 
das  Ich;  indem  wir  einander  gegenseitig  erscheinen.  Sind  denn  die 
andern  Menschen  um  Mich  her  auch  nur  Erscheinungen  für  Mich  ?  Oder 
bin  ich   nur    eine    Erscheinung    für  Sie?      Und    wer    von    Ihnen    ist  denn 


1  Zu  dem  Worte:  „Substanz"  hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung: 
AVer  die  Einleitung  in  die  Philos.  über  diesen  Punkt  vergleicht,  wird  finden,  dafs 
derselbe  dort  auf  dreyfach  verschiedene  Weise  in  Betracht  kommt.  Zuerst  zweifelnd, 
ob  die  Vereinigung  der  Merkmale,  welche  man  als  die  Prädicate  der  sinnlichen  Dinge 
zu  kennen  glaubt,  auch  wirklich  in  der  Erfahrung  gegeben  sey?  da  man  doch  eigentlich 
nur  jedes  Merkmal  für  sich  allein  wahrnimmt.  (Daselbst  §  25.)  Dann  entscheidend:  die 
Vereinigung  ist  wirklich  gegeben,  denn  man  kann  die  Merkmale  verschiedener  Dinge 
nicht  beliebig  vertauschen;  aber  7vas  nun  eigentlich  das  Ding  an  sich  sey  (die  Substanz), 
bleibt  unbekannt.  (Ebendaselbst  §  I18.I  Endlich  den  Widerspruch  anerkennend:  denn 
jede  Substanz  soll  doch  zu  bestimmen  seyn  als  eine  solche  und  keine  andre  ;  und  hier 
verwickelt  sich  das  Einerley,  was  sie  ist,  mit  der  Vielheit  des  Besitzens  der  Merkmale, 
wodurch  sie  als  eine  solche  und  keine  andre  soll  bestimmt  seyn.  (Daselbst  §  122.) 
Die  Auflösung  des  Widerspruchs,  —  nämlich  dafs  die  Substanz  an  sich  nicht  mannig- 
faltig ist.  sondern  nur  in  Folge  ihrer  mannigfaltigen  Verbindungen  und  Verhältnisse  zu 
unserer  kenntnifs  gelangt  (welches  von  jeder  Substanz  auf  besondre  Weise  gilt),  gehört 
in  die  Metaphysik;  ist  jedoch  in  der  Einleitung  kurz  angedeutet  (daselbst  §  152.).  Hat 
man  einmal  diesen  Faden  der  Untersuchung  in  der  Einleitung  gehörig  verfolgt:  so  wird 
man  auch  die  meisten  andern  Vergleichungen  der  Encyklopädie  mit  der  Einleitung  leicht 
finden  können ;  und  dies  wird  den  Gebrauch  des  vorliegenden  Buches  erleichtern. 


2.   Abschnitt.     Methodenlehre.      2.   Capitel.     Von  der  Vernunflkritik.  2  IQ 


eigentlich  Derjenige,  dem  die  andern  erscheinen  ?  Er  wäre  am  Ende  die 
wahre  Substanz.  Möge  Er  nur  nicht  auch  wieder  ein  Ding  mit  mehrern 
Merkmalen  werden,  zu  denen  das  Subject  fehlt!  1  Geholfen  wenigstens 
hat  diese,  von  Anfang  an  falsche,  idealistische  Wendung  des  Nachdenkens, 
zu  gar  Nichts.  Denn  die  Meinung  war,  Schnee  und  Eisen  sollten  nicht 
Substanzen  seyn,  damit  man  sich  nicht  genöthigt  sehe,  unbekannte  Sub- 
stanzen  einzuräumen;  das  Dunkel  ist  aber  damit  nicht  heller,  sondern  noch 
finsterer  geworden.  Nimmt  man  vollends  das  zu  Hülfe,  was  schon  oben 
über  das  Ich  gesagt  worden  (142  — 146.):  so  wird  offenbar,  dafs  der 
Idealist  in  demselben  Augenblick,  als  er  Schnee  und  Eisen  für  Er- 
scheinungen im  Ich  oder  in  Uns  erklärte,  höchst  unbehutsam  in  einen 
Sumpf  trat,  den  er  für  sichern  Boden  hielt.  Zwar  nicht  das  wirkliche 
Ich  unseres  Selbstbewufstseyns  ist  ein  Sumpf;  aber  die  idealistische  Meinung 
vom  Ich   ist  allerdings  ein  solcher. 

Diese  unsre  Behauptung  wird  dem  Leser  sehr  dreist  erscheinen. 
Kein  Wunder,  wenn  die  obigen  Citate  aus  der  Metaphysik  und  Psychologie, 
wo  die  Gründe  der  Behauptung  zu  suchen  sind,  nicht  nachgeschlagen 
wurden.  Allein  darauf  machen  wir  für  jetzt  gar  keinen  Anspruch.  Es 
kommt  hier  nicht  darauf  an,  Lehrsätze  über  die  Substanz  vestzustellen; 
sondern  von  der  Substanz  wird  hier,  in  der  Methodenlehre,  nur  zu  dem 
Ende  gesprochen,  um  Wege  der  Untersucliung  zu  zeigen,  von  denen  die 
[263]  Meisten  gar  keinen  bestimmten  Begriff  haben;  und  das  soll  nun 
eben  geschehen. 

160.  [=  178  d.  IL  Ausg.]  Auf  dem  Puncte,  wo  wir  stehen,  zeigen  sich 
zwey  Wege  mit  entgegengesetzter  Richtung.  Der  Weg  vorwärts  geht  in  die 
Metaphysik  hinein.  Was  können  wir  mit  dem  dunkeln  Begriff  der  Substanz 
anfangen?  Wie  müssen  wir  ihn  bestimmen,  ihn  mit  andern  Begriffen  ver- 
binden, welche  Folgerungen  aus  der  Verbindung  ableiten,  welche  Vorsicht 
dabey  gebrauchen,  welchen  Gewinn  für  die  Erklärung  von  Geist  und  Leib 
und  Thier  und  Pflanze  und  Wasser  und  Gestein,  —  kurz,  für  die  Erklärnug 
der  gesammten  Natur,  daraus  ziehn?  ,Hat  Jemand  frischen  Muth  genug, 
diesen  Weg  zu  gehn?  Alsdann  mufs  er  sich  gerade  in  das  Dunkel 
hineinwagen.  Allein  dazu  möchten  wir  Niemandem  rathen,  der  nicht 
schon  weit  bessere  Vorbereitungen  mitbringt,  2als  wir  ihm  hier,  in  diesem 
Buche  und  bis   zu  dieser  Stelle  desselben,   angeboten  haben. 

Auch  ist  schon  Mancher  auf  diesem  Puncte  der  Untersuchung  scheu 
geworden.  Das  Dunkel  der  Substanz  übt  eine  natürliche  Gewalt  über  die 
Menschen,  vermöge  deren  sie  sich  umdrehen,  um  nachzusehen,  ob  sie 
nicht  rückwärts  einen  Weg  finden. 

Wie  kamen  wir  denn  auf  den  Begriff  der  Substanz?  Haben  wir 
nicht  schon  irgend  einen  Fehltritt  gethan,  der  uns  jetzt  in  Verlegen- 
heit setzt? 


1  Der  folgende  Text:    „Geholfen    wenigstens    hat    diese    ....    soll    nun 
eben  geschehen"  (bis  Z.  23,  Ende  des  folgenden  Absatzes)  fehlt  in  der  II.  Ausg. 

2  Die  folgenden  Worte  lauten  in  der  II.    Ausg.:    als    ihm  hier   .  .  .    angeboten 
wurde. a 


a   SW   merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2  2Q  H-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 


Das  ist  die  Frage  der  Vernunftkritik.  Ihr  Weg  geht  rückwärts;  aber 
wohin?  —  Ganz  unvermeidlich  in  die  Psychologie.  Denn  unsre  Schritte 
in  unserm  Denken,  die  wir  bisher  gethan  haben,  und  jetzt  einer  Revision 
unterwerfen  wollen,  diese  Schritte  waren  unser  eignes  Thun;  und  wenn 
man  die  Erklärung  davon  verlangt,  so  mufs  man  die  Psychologie  zu 
Hülfe  nehmen. 

161.  [=  179  d.  IL  Ausg.]  Noch  stehen  wir  auf  dem  Puncte,  wo 
wir  standen.  Rückwärts  gewendet  überlegen  wir  nun,  dafs  zunächst  vorher 
ehe  der  dunkele  Begriff  der  Substanz  uns  irre  machte,  Alles  [264]  hell 
und  klar  schien.  Schnee  und  Eisen  haben  wir  gesehn,  betastet,  durch 
allerley  Merkmale  beschrieben.  Das  Beschreiben  durch  Urtheile  war  das 
Nächste,  was  vorherging,  ehe  die  Verlegenheit  eintrat.  Haben  wir  in 
diesem   Urth eilen  einen   Fehler  gemacht? 

Vor  dem  Urtheilen  waren  wir  vertieft  im  Anschauen.  Haben  wir 
im  Anschauen  gefehlt? 

Wie  sind  wir  dazu  gekommen,  die  vielen  Merkmale  des  Schnees 
oder  des  Eisens  zusammen  zu  nehmen,  und  jedes  Ding  als  Eins  auf- 
zufassen? Hat  uns  die  Erfahrung  dazu  berechtigt?  Sie  gab  uns  zwar 
die  Merkmale;  aber  wann  und  wie  gab  sie  das  Eine  Ding,  dem  wir  die- 
selben beylegten?  1  Diese  Einheit  müssen  wir  wohl  unvermerkt  aus  eignem 
Vorrath   eingeschoben  haben ! 

Hier  wird  Jedermann  die  KANTische  Kategorie  der  Substanz  er- 
kennen, welche  vorgeblich  zu  den  Stammbegriffen  des  menschlichen  Ver- 
standes gehören  soll.  Gesetzt,  es  gebe  eine  solche:  so  ist  noch  immer 
zweyerley  zu  fragen:  Erstlich,  wie  kommt  diese  Kategorie  dazu,  mit  den 
sinnlichen  Merkmalen  in  Verbindung  zu  treten?  Zweytens,  wie  kamen 
die  Merkmale  selbst,  deren  jedes  einzeln  gegeben  wurde,  unter  einander 
in  Verbindung?  Denn  es  scheint  ja  doch,  die  Merkmale  müfsten  erst 
mit  einander  vereinigt  seyn,  um  alsdann  jene  Kategorie  in  sich  aufzu- 
nehmen. Oder  soll  die  Kategorie  umhergehn  in  dem  Kreise  der  sinn- 
lichen Wahrnehmungen,  um  dieselben  zu  Merkmalen  Eines  Dinges  zu 
erheben?  —  Gesetzt,  die  Kategorie  unternähme  zu  diesem  Zwecke  eine 
Wanderung:  so  könnte  sie  sich  leicht  verirren.  Denn  eine  dritte  Frage 
kommt  zu  den  vorigen:  Warum,  wenn  hier  Schnee  und  dort  Eisen  liegt, 
fafst  die  Kategorie  nicht  alle  Merkmale  beider  Dinge  zusammen,  und 
macht  daraus  Ein  Ding?  —  Darauf,  möchte  Jemand  meinen,  sey  leicht 
zu  antworten.  Das  Eisen  ist  grau,  und  der  Schnee  ist  weifs;  nun  ver- 
bietet die  Logik,  Graues  und  Weifses  für  Eins  zu  erklären.  Allein 
angenommen,  die  Kategorie  gehorche  der  Logik,  —  oder,  wie  man 
vermeintlich  verbessernd  lieber  sagen  wird:  der  Verstand,  [265] 
welchem  die  Kategorie  sowohl  als  die  Logik  gehorcht,  verhüte  jede 
widersprechende  Zusammenfassung:  warum  denn  wird  nicht  die  weifse 
Farbe    des    Schnees    mit    der    Härte    des    Eisens,    warum  nicht    die  graue 


1  Der  folgende  Satz  lautet  in  der  II.    Ausg.;    Die  Einheit,  das  Substrat,  den 
Träger  der  vielen   Merkmale,   müssen  wir  wohl   .   .   .a 

a    SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.      2.   Capitel.     Von  der  Vernunftkritik.  22  1 


Farbe  des  Eisens  mit  der  lockern  Natur  des  Schnees  zu  dem  Begriffe 
eines  Dinges  zusammengefafst ?  Da  ist  kein  Widerspruch;  die  Logik  kann 
nichts  einwenden,  wenn  einmal  die  Dinge  ihre  Merkmale  vertauschen; 
sie  wird  das  weit  leichter  ertragen,  als  wenn  ein  Ding  seine  Merkmale 
verändert.  Die  Kategorie  der  Substanz  bleibt  ebenfalls  unangetastet,  wenn 
einmal  grauer  Schnee  und  weifses  Eisen  zum  Vorschein  kommen  werden. 
Einzig  und  allein  die  Erfahrung  ist's,  welche  sich  bis  jetzt  noch  auf 
weifses  Eisen  nicht  einlassen  will;  indessen  wer  weifs,  was  sie  sich  mag 
vorbehalten  haben! 

Nach  dieser  Probe  wird  schwerlich  der  Weg  der  Vernunftkritik  heller 
scheinen,   als  jener  der   Metaphysik. 

162.  [=  180  d.  IL  Ausg.]  In  der  Einleitung  zur  Philosophie  ist  es 
Pflicht  des  Lehrers,  diese  Dunkelheit  noch  gar  sehr  zu  vermehren  und  zu 
verstärken ;  hier,  in  der  Encyklopädie  suchen  wir  sie  möglichst  zu  vermeiden, 
und  beo-nüo-en  uns  mit  der  "gegebenen  Probe.  Denn  die  Einleitung  soll  den 
Bogen  der  Speculation  spannen;  und  sie  darf  den  Anfänger  nicht  schonen, 
dessen  Kräfte  für  weit  härtere  Arbeit,  als  diese  hier,  müssen  gestählt  werden. 
Hingegen  die  Encyklopädie  erinnert  einen  Jeden  an  das,  was  er  weifs,  und 
fügt  hinzu,   was  gemächlich   damit  kann   verbunden  werden. 

Wir  erwähnen  also  nur  kurz,  dafs  die  Kategorie  der  Ursache  zu  ganz 
ähnlicher  Betrachtung  Anlafs  giebt,  wenn  man  von  dem  Erfahrungsbegriff 
der  Veränderung  erst  vorwärts  in  die  Metaphysik  geht,  dann  aber,  ge- 
schreckt vom  Dunkel,  rückwärts  gewendet  den  Ursprung  des  Begriffs  der 
Ursache  aufsuchen  will.  Dasselbe  begegnet  dem,  welcher  etwa  durch  Raum 
und  Zeit  veranlafst  dem  Begriffe  der  Continuität  nachgeht.  Und  nicht 
minder  macht  auch  der  Begriff  des  Ich  [266]  doppelte  Arbeit;  obgleich  dieser 
um  die  Zeit,  da  Kant  schrieb,  noch  von  keiner  Kritik  war  berührt  worden, 
so  dafs  er  mit  ungewarnter  Dreistigkeit  benutzt  wurde,  wie  wenn  in  der 
That  das  Ich  ein  wahres  Wissen,  und  zugleich  den  wahren  Gegenstand  dieses 
Wissens  enthielte;  welches  beides  völlig  falsch  ist.  Wären  indessen  da- 
mals wenigstens  Locke's  Vorarbeiten  gehörig  benutzt,  so  hätte  die  Kritik 
in  Ansehung  der  Begriffe  von  Substanz  und  Ursache  mehr  wahre  Psycho- 
logie in  sich  aufgenommen;  und  minder  getäuscht  von  der  Kategorien- 
lehre, würde  sie  gleich  Anfangs  weit  zweckmäfsigere  Bewegungen  des 
Denkens  hervorgerufen  haben,   als  wirklich  geschah,     ^och  das  Geschehene 


1  Die  folgenden  Worte  bis  zum  Schlüsse  dieses  §  162:  „Doch  das  Geschehene 
ist  ...  .  im  Allgemeinen  zu  bemerken."  fehlen  in  der  II.  Ausg.  die  dafür 
folgenden  Text  hat: 

Um  nun  die  Absicht  und  das  Ergebnifs  der  Vernunftkritik  leichter 
aufzuklären:  denken  wir  uns  einen  Reisenden,  der  sich  verirrt  hat,  und 
zwar  in  solchem  Grade  verirrt,  dafs  er  nicht  einmal  weifs,  welches  Weges 
er  auf  den  Punct  gekommen  ist,  wo  er  sich  jetzt  befindet.  Wüfste  er 
wenigstens  dies,  dann,  meint  er,  wäre  wohl  die  Entscheidung  für  seine 
Ungewifsheit  zu  erlangen.  Gesetzt  nun,  er  würde  über  den  schon  zurück- 
gelegten Weg  belehrt:  daraus  allein  wäre  noch  immer  nicht  ein  sicherer 
Schlufs  zu  ziehen,  wohin  er  sich  nun  wenden  —  am  wenigsten  aber,  dafs 
er  hier,   wo  er  steht,   auch  still  stehen  bleiben  solle.    Andre  Indicien  müfsten 


222  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


ist  nicht  zu  ändern;  die  verlorne  Zeit  nicht  einzuhohlen;  die  Achtung, 
welche  der  Philosophie  gebührt,  ist  zum  Schaden  für  alle  Lebenskreise, 
auf  die  sie  hätte  wirken  sollen  und  können,  gesunken  und  mannigfaltig 
verletzt  worden.  Abgesehen  von  begangenen  Fehlem,  bleibt  nun  Folgendes 
im   Allgemeinen  zu  bemerken. 

163.  [=-  181  d.  IL  Ausg.]  Zu  jeder  metaphysischen  Untersuchung,  welche 
von  einem  gegebenen  Hauptbegriffe  aus  vorwärts  geht,  um  den  Kreis  des  Wissens 
zu  erweitern,  gehört  eine  psychologische  Untersuchung  des  nämlichen  Begriffs 
in  Ansehung  seines  Ursprungs*  Es  ist  offenbar,  dafs  die  beiden  entsprechen- 
den Untersuchungen  einander  nicht  parallel  laufen  können,  da  ihr  Zweck 
gänzlich  verschieden  ist;  und  dies  wird  noch  weit  einleuchtender,  wenn  man 
die  Hülfsmittel  kennt,  deren  sich  Psychologie  und  Metaphysik  bedienen 
müssen.  Betrachtet  man  den  gegebenen  Hauptbegriff  als  den  Anfangs- 
punet:  so  schaut  die  metaphysische  Richtung  in  ein  künftiges  Wissen  hinaus, 
welches  man  zu  erreichen  sucht;  die  [267]  zugehörige  psychologische  aber  be- 
trifft die  schon  abgelaufene,  nur  verdunkelte  Geschichte  des  nämlichen  Be- 
griffs. Man  kann  in  dieser  Hinsicht  die  Anordnung  bequemer  machen, 
indem  man  sie  umkehrt.  Natürlich  ist  es,  erst  zu  fragen:  wie  wurde  der 
Begriff?  wie'  entstand  er,  und  wie  hat  er  sich  vielleicht  schon  durch  ver- 
schiedene Stufen  fortgebildet,  ehe  er  so,  wie  wir  ihn  jetzt,  in  dem  vor- 
handenen Gedankenkreise  der  Menschen,  vorfinden,  aufzutreten  fähig  war? 
Denn   man   sieht  es  manchem  Begriffe,   welcher  die  Erfahrung  überschreitet, 


hinzukommen.  Wie  aber,  wenn  anstatt  derselben  eine  Täuschung  hinzu- 
käme? Dann  möchte  leicht  ein  unrichtiges  Ergebnifs  folgen.  —  Kant 
suchte  sich  durch  eine  Zergliederung  der  Erfahrungs-Erkenntnifs  zu  orientiren; 
von  den  metaphysischen  Fragen  nach  der  Seele  und  der  Materie,  der 
Welt 'und  der  Gottheit  ging  er  rückwärts  zu  den  Formen  der  Erfahrung; 
er  betrachtete  das  Unendliche,  das  Unbedingte,  das  Universum  als  die 
erweiterte  Vorstellung  des  Endlichen,  Bedingten,  durch  Erfahrung  Erreich- 
baren. „Die  reinen  Vernunftbegriffe  von  der  Totalität  in  der  Synthesis 
der  Bedingungen  (sagt  er),  sind  wenigstens  als  Aufgaben,  um  die  Einheit 
des  Verstandes,  wo  möglich,  bis  zum  Unbedingten  fortzusetzen,  nothwendig 
und  in  der  Natur  der  menschlichen  Vernunft  gegründet."  Allein  was 
konnte  sich  ergeben,  da  er  zu  finden  glaubte,  die  Formen  der  Erfahrung, 
Raum,  Zeit,  Substanz,  Causalität  u.  s.  w.,  seyen  besondere  Einrichtungen 
des  menschlichen  Geistes,  die  man  nicht  umschaffen  könne?  —  Für  ihn 
ergab  sich  die  Beschränkung  des  Erkennens  auf  die  Erfahrung,  welche 
fertig  zu  seyn  schien,  wo  sich  die  sinnlichen  Empfindungen  in  jene  Formen 
einmal  gefügt  haben.  Für  uns  ergab  sich  gerade  aus  diesem  von  ihm 
verbreiteten  Vorurtheil  die  Notwendigkeit  neuer  psychologischer  Unter- 
suchungen, mit  Beseitigung  der  Seelenvermögen,  also  auch  ihrer  vermeinten 

Streitigkeiten. 

*  Und  rückwärts,  zu  jeder  von  diesen  psychologischen  Untersuchungen  hört  die 
entsprechende  metaphysische.  Das  sey  Denen  gesagt,  welche  meinen,  Psychologie  ohne 
Metaphysik  betreiben  zu  können.  'Liebhabern  geziemt  das;  aber  der  Dilettant  mufs 
nicht  den   Kenner  spielen  wollen. 

1   Der  folgende  Schlußsatz   fehlt  in  der  II.   Ausg. 


2.   Abschnitt.     Methodenlehre.      2.   Capitel.     Von  der  Vernuuftkritik.  22\ 


6 


keineswegs  auf  den  ersten  Blick  an,  dafs  er  dennoch  ursprünglich  der  Er- 
fahrung ist  abgewonnen  worden.  Das  Beyspiel  des  Begriffs  der  Substanz 
zeigt  dies  deutlich  genug.  Nichts  ist  gewisser,  als  dafs  keine  Substanz 
gesehn,  gehört,  überhaupt  wahrgenommen  werden  kann.  Sobald  aber  jene 
Urtheile,  welche  den  Begriff  jedes  Dinges  in  seine  Merkmale  zerlegen, 
wach  geworden  sind,  steht  die  Entdeckung  bevor,  dafs  ihnen  ihr  Subject 
fehlt;  ohne  welches  sie  gleichwohl  nicht  bestehen  können.  Die  Forderung 
dieses  Subjects  nun  erzeugt  den  Begriff  der  Substanz;  er  hat  keinen  andern 
Inhalt  noch  Ursprung  als  eben  diese  Forderung;  und  in  diesem  Sinne  ent- 
springt er  dennoch  aus  der  Erfahrung,  obgleich  sein  Gegenstand  in  ihr  nicht 
kann  nachgewiesen  werden.  Unzählige  speculative  Irrthümer  finden  in 
dieser  einzigen  Bemerkung  die  ihnen  gebührende   Zurechtweisung. 

Auf  die  psychologische  Erklärung,  wie  der  Begriff  entstanden  sey, 
folgt  dann  zweytens  die  neue  Frage:  was  soll  nun  weiter  aus  ihm  werden? 
Welche  Dienste  kann  er  der  Erkenntnils  leisten?  Zum  Beyspiel:  Wie  mufs 
man  den  Begriff  der  Substanz  ausbilden,  damit  man  von  zusammengesetzten 
Substanzen,  von  Körpern,  —  oder  auch  von  den  innern  Zuständen  und 
Thätigkeiten  einer  einfachen  Substanz,  etwa  von  der  Seele,  eine  für  die 
Erklärung  der  Erfahrung  zulängliche  Einsicht  gewinne?  —  Denn  hiezu 
ist  der  Begriff,  so  wie  er  vorliegt,   noch  gar  nicht  zu  gebrauchen. 

[268J  [=  182  d.  IL  Ausg.]  164.  Ganz  natürlich  wird  hier  dem 
Leser  die  Frage  einfallen:  was  helfen  mir  zivei  Untersuchungen,  wenn  ich 
nur  eine  gebrauchen  will?  Von  der  Seele,  von  der  Materie,  will  ich  unter- 
richtet seyn;  warum  denn  haltet  Ihr  mich  auf  mit  dem,  was  ich  nicht  zu 
wissen  verlange?  Eure  Lehre  vom  Ursprünge  des  Begriffs  der  Substanz 
behaltet  für  Euch;  was  Ihr  davon  redet,  ist  verlorne  Mühe  für  mich. 
Denn  genau  denselben  Begriff,  welchen  Ihr  angebt,  und  nach  dessen 
Wurzeln  Ihr  grabt,  kenne  und  besitze  ich  längst;  jetzt  aber  eile  ich  vor- 
wärts, während  Ihr  mit  Eurer  rückwärts  gehenden  Vernunftkritik  mich  nicht 
fördert,  sondern  mir  die   Zeit  raubt. 

Diese  Sprache  ist  vollkommen  der  Sache  gemäfs.  Die  Vernunftkritik 
ist  zum  Weiterkommen  gar  nicht  nöthig;  und  man  würde  sich  nie  mit  ihr 
aufgehalten  haben,  wenn  man  verstanden  hätte,  wie  das  Weiterkommen 
anzustellen  ist.  Das  ist  so  wahr,  dafs  selbst  jene  rückwärts  gehende  Unter- 
suchung nicht  eher  mit  Erfolg  kann  vorgenommen  werden,  als  bis  die  vor- 
wärts gerichtete  dazu  die  Hülfsmittel  darbietet.  l  Locke  verdarb  die 
Speculation  für  England  und  Frankreich;  Kant  blieb  in  seinen  Kategorien 
gefangen,  und  konnte  Fichte's  Unternehmungen  nicht  hindern.  Psycho- 
logie setzt  Metaphysik  voraus;  und  ohne  Psychologie  lassen  sich  die 
Fragen  der  Vernunftkritik  gar  nicht  beantworten,  nicht  einmal  gründlich 
berühren. 

Dennoch  darf  man  gegen  Locke  und  Kant  nicht  undankbar  seyn. 
Die    menschliche    Einsicht   geht   nicht   immer    den    regelrechten    Gang    der 


1  Locke    wirkte    abspannend    auf   die   Speculation    in    England    .  .   . 
II.  Ausg.  a 


a   SW.  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2?4  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

Wissenschaft;  sie  braucht  allerley  Nachhülfe,  um  zur  Ueberzeugung  zu  ge- 
gedeihen.  Metaphysik  läfst  sich  einmal  nicht  mit  unmittelbar  eindringender 
Evidenz  dergestalt  vortragen,  dafs  ihre  Lehren  sogleich  angeeignet  werden, 
indem  sie  aufgefafst  sind.  Die  erste  Auffassung  selbst  des  Nothwendigen 
behält  dennoch  die  Unsicherheit  des  Problematischen;  die  Grundbegriffe 
wanken  Denjenigen  unter  den  Füfsen,  welche  versuchen,  etwas  darauf  zu 
bauen.  Das  liegt  nicht  in  der  Natur  der  Wissenschaft;  wohl  aber  in  [269] 
der  Natur  der  menschlichen  Köpfe.  Darum  mufs  der  psychologische  Unter- 
bau in   Ehren  bleiben. 

165.  [=  183  d.  IL  Ausg.]  Aber,  (wird  man  weiter  einwenden)  wenn 
Psychologie  selbst  von  der  Metaphysik  abhängt,  so  dreht  sich  ja  die 
Metaphysik  im  Kreise,  indem  sie  nicht  blofs  den  Aufbau,  sondern  auch 
den   Unterbau  besorgt.      Wie  kann  denn  l  dieser  Unterbau  etwas  stützen? 

Dieser  Einwurf  ist  ganz  verfehlt.  Die  Metaphysik  ist  nicht  darum 
ungewifs,  weil  sie  Diesem  und  Jenem  nicht  einleuchtet.  Sie,  als  Wissen- 
schaft, bedarf  nicht  des  Unterbaues;  sondern  sie  hat  volle  Macht,  ihn 
eben  so  wohl  als  den  Aufbau  zu  besorgen.  Dafs  sie  durch  die  sogenannte 
Vernunftkritik  ihre  eignen  Grundbegriffe  zu  unterstützen  scheint,  bezieht 
sich  auf  die'  Individuen,  welche  schwer  lernen,  weil  ihre  subjeetiven  Ge- 
danken nicht  von  selbst  vest  genug  stehn,  um  Zweifel,  die  ihnen  hinten- 
nach  und  zu  spät  einzufallen  pflegen,  aus  eigner  Kraft  zurückzuweisen. 
Ein  System  wird  von  den  Menschen  um  desto  mifstrauischer  angestaunt, 
je  höher  es  emporsteigt;  die  Erfahrungsbegriffe,  von  denen  sie  ausgingen, 
werden  ihnen  unklar  durch  die  Veränderungen,  welche  das  weiter  und  weiter 
fortschreitende  Denken  damit  vornimmt;  sie  sind  so  schwach,  dafs  sie  nicht 
verstehn,  sich  auf  die  frühern  Stufen  zurück  zu  versetzen,  und  das  ur- 
sprünglich-Gegebene, so  wie  es  war  vor  aller  systematischen  Arbeit,  stets 
im  Auge  zu  behalten.  Darum  mufs  man  ihnen  zeigen,  dafs  die  Erfahrungs- 
begriffe aus  psychologischen  Gründen  nicht  anders  gegeben  und  gefafst 
werden  konnten,  als  sc,  wie  die  Erfahrung  sie  gab  und  die  Metaphysik 
sie  in  Empfang  nahm. 

Noch  ein  andrer,  sehr  wichtiger  Umstand  kommt  hinzu.  Die  Meta- 
physik, einmal  im  richtigen  Gange  begriffen,  vergleicht  sehr  bald  ihre  ge- 
wonnenen Resultate  mit  der  Erfahrung  auch  in  solchen  Bestimmungen, 
die  ihr  Anfangs  nicht  zur  Grundlage  dienen  konnten.  Hiedurch  erlangt 
sie  fortwährend  Bestätigungen  der  mannigfaltigsten  Art,  lange  [270]  vorher, 
ehe  jener  Unterbau  sich  bildet,  den  man  Vernunftkritik  nannte,  bevor  seine 
wahre  Natur  bekannt  war.  Der  Unterbau  ist  also  in  der  That  weit  stärker, 
als  ihn  die  blofs  metaphysische  Betrachtung,  wenn  man  nicht  stets  zu- 
gleich die   Erfahrung  benutzte,   zu  Stande  bringen   würde.  2 


2  Zu  dem  Worte:  „würde"  hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung:' 
Was  /u  diesem  Unterbau  der  Verfasser  beygetragen  hat,  ist  hauptsächlich  im 
zweyten  Bande  der  Psychologie  [Bd.  VI  vorl.  Ausg.]  zu  suchen;  man  sehe  dort  §  139 
u.  s.  \v.  Man  kann  auch  das  kleine  Lehrbuch  der  Psychologie  [Bd.  IV  vorl.  Ausg.] 
vergleichen,  welches  unter  der  Voraussetzung  geschrieben  ist,  dafs  gewöhnlich  über 
!'       hologie  der  mündliche  Vortrag  früher  gehört  wird,   als  der  über  Metaphysik. 

1   „denn«'  fehlt  SW. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.      3.   Capitel.     Von   der  Fundamental-Philosophie.    2  2K 

166.  [=  184  d.  IL  Ausg.]  Nicht  ungewohnt  auch  solcher  Einwürfe, 
die  eigentlich  Niemandem  einfallen  sollten,  wollen  wir  noch  der  praktischen 
Vernunft  gedenken.  Denn  Kant  hat  ja  auch  eine  Kritik  der  praktischen 
Vernunft  geschrieben;  er  hat  sogar  von  einer  Metaphysik  der  Sitten  geredet; 
und  es  wäre  nicht  gerade  etwas  Neues,  wenn  Jemand  meinte,  die  Meta- 
physik müsse  sich  auch  dafür  einen  psychologischen  Unterbau  schaffen. 
Indem  wir  nun  die  Erfahrung,  und  das  in  ihr  Gegebene,  als  ein  solches 
bezeichnet  haben,  von  dem  die  Metaphysik  ausgehe,  und  von  wo  rückwärts 
schauend  die  Vernunftkritik  die  gegebenen  Grundbegriffe  bevestige:  möchte 
Jemand  das  so  verstehen,  als  ob  die  praktischen  Ideen  auch  der  Erfahrung 
entnommen  würden,  und  auch  durch  psychologische  Nachweisung  ihres 
Ursprungs  bekräftigt  werden  könnten. 

Es  mufs  aber  doch  wohl  dem  Leser  überlassen  bleiben,  sich  über 
solche  Dinge  selbst  Rechenschaft  zu  geben.  Kant's  kategorischer  Imperativ 
war  der  Angelpunct  seiner  Kritik  der  praktischen  Vernunft.  Wer  zu  dieser 
Formel,  die  heutiges  Tages  fast  für  veraltet  gelten  könnte,  zurückkehren 
will,  der  mag  nach  Belieben  sich  ein  kritisches  Geschafft  dazu  schaffen. 
Was  auf  die  Lehre  von  den  fünf  praktischen  Ideen  kann  gebaut  werden, 
<las  ist  nicht  so  schwerfällig,  um  noch  besonderer  Stützen  zu  bedürfen. 
Die  psychologischen  Untersuchungen  über  die  Möglichkeit  ästhetischer  Ur- 
theile  und  ihrer  Befolgung,  sind  dagegen  wirklich  schwer  und  dunkel;  und 
so  nützlich  sie  der  Pädagogik  werden  können,  so  untauglich  sind  sie,  der 
Moral  ein  neues  Licht  aufzustecken. 

Will  man  die  praktischen  Ideen  sich  geläufig  machen,  so  mufs  man 
sie  anwenden;  und  in  demjenigen,  was  von  [271]  jeher  als  richtige  Moral  ge- 
golten hat,  wieder  zu  erkennen  sich  üben.  Das  ist  nicht  schwer;  und 
metaphysische  Schwierigkeiten  sind  dabey  so  fremd,  dafs  deren  Heilmittel 
im  praktischen  Gebiete  äufserst  übel  angebracht  seyn  würden.  Ein  paar 
einzelne  Puncte  machen  eine  Ausnahme;  auf  diese  kann  jedoch  hier  nicht 
eingegangen  werden,  um  so  weniger,  da  die  Evidenz  der  praktischen  Ideen 
davon  keineswegs  abhängt. 


[272]   Drittes  Capitel. 

Von  der  Fundamental-Philosophie. 

167.  [=  185  d.  IL  Ausg.]  Die  Philosophie  war  längst  vorhanden,  war  in 
ihre  drey  Theile  zerfallen,  bestand  aus  einer  beynahe  vollendeten  Logik,  einer 
in    den   Haüptumrissen x    ziemlich    richtig   gezeichneten2    Sittenlehre   (44.), 3 


1  „Hauptgedanken"  statt  „Hauptumrissen"  II.  Ausgabe.* 

2  „richtigen"  statt  „richtig  gezeichneten"  II.  Ausgäbet 

3  Zu  dem  "Worte:     „Sittenlehre"  hat  die  II.  Ausgabe  folgende  Anmerkung: 
Man  erinnere  sich  an  die  Stoiker  und  an  Grotius. 

a  u.  b  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  1.  Ausg. 
Herbart's  Werke.     IX.  '5 


2  2Ö  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

und  der  wenigstens  von  den  *  meisten  Grundproblemen  ausgehenden  und 
sich  versuchenden  Metaphysik;  —  sie  war  schon  bezweifelt,  geschmäht, 
zerrüttet,  und  theilweise  wiederhergestellt:  als  es  neuerlich  einigen  rüstigen 
Denkern  einfiel,  ihr  ein  besseres  Fundament  unterlegen  zu  wollen,  worüber 
alsdann  die  mannigfaltigsten  Meinungen  und  Streitigkeiten  laut  wurden. 
2 Dadurch  ist  sie  für  die  heutige  Generation  dergestalt  verdunkelt  und 
aus  ihrem  natürlichen  Gefüge  gedrängt  worden,   dafs   mancher  angesehene 


1  Statt  der  Worte:  „von  den  meisten  Grundproblemen  ausgehenden  und 
sich  versuchenden"  hat  die  II.  Ausg. :  „an  den  meisten  Grundproblemen 
sich  versuchenden". a 

2  Statt  der  folgenden  Worte  bis  8  Zeilen  weiter:  „Dadurch  ist  sie  für  die 
heutige  Generation   ....   sogleich  verstehn"  hat  die  II.  Ausg.  Folgendes: 

Historisch  wichtig  ist  in  dieser  Hinsicht  vorzüglich  der  ältere  Reix- 
hold;  an  dessen  zu  sehr  vergessenen  Schriften  sich  noch  jetzt  das  prak- 
tische Interesse  für  Philosophie  erwärmen  kann.  Sehr  beredt  suchte  er 
das  Bedürfnifs  eines  einzigen  allgemeingeltenden  Grundsatzes  der  Philo- 
sophie darzustellen.  Kants  Lehre  wurde  als  richtig  vorausgesetzt;  die 
Hauptmomente  der  KANTischen  Vernunftkritik  waren  nach  Reixholds 
Ueberzeugung  die  in  derselben  entdeckten  und  vollständig  aufgezählten 
Formen  der  Anschauungen,  der  Begriffe  und  der  Ideen,  in  wiefern  sie 
in  der  Natur  der  Sinnlichkeit,  des  Verstandes  und  der  Vernunft  a  piiori 
bestimmt  seven,  und  den  Dingen  an  sich  nicht  zukommen  können.  Aber 
durch  Kants  Darstellung,  meint  er,  würden  nur  Diejenigen  überzeugt  wer- 
den, „welche  sich  die  Erfahrung  als  die  Vorstellung  der  Gegenstände  der 
sinnlichen  Wahrnehmungen  in  einem  nothwendigen  Zusammenhange  denken; 
nicht  die,  welche  der  Sinnlichkeit  keine  andern  Vorstellungen  als  des  Ver- 
änderlichen, Zufälligen,  Relativeti  zutrauen."*  An  die  Stelle  der  Berufung 
auf  die  Erfahrung  sollte  nun  folgender  Grundsatz  treten :  „Im  Bewnfstseyn 
wird  die  Vorstellung  durch  das  Subject  vom  Subject  und  Object  unterschieden 
und  auf  beide  bezogen.11  Es  ist  der  Mühe  werth,  noch  einige  der  nachfol- 
genden Sätze  beyzufügen. 

„Die  blofse  Vorstellung  ist  dasjenige,  was  sich  im  Bewufstseyn  auf 
Object  und  Subject  beziehen  läfsl,    und  von  beiden  unterschieden  wird." 

„Die  blofse  Vorstellung  läfst  sich  zwar  nicht  ohne  Object  und  Subject 
denken,  weil  sie  nur  als  etwas,  das  sich  auf  Object  und  Subject  beziehen 
läfst,  denkbar  ist.  Aber  sie  läfst  sich  auch  nur  als  etwas  von  beiden 
Unterschiedenes  denken,  und  nur  als  etwas,  welches  seiner  Natur  nach 
dem  Object  und  Subject  im  Bewufstsein  vorhergeht,  beide  zu  Bestandtheilen 
des  Bewufstseyns  erhebt,  und  das  Prädicat  ausmacht,  unter  dem  beide 
im  Bewufstseyn  gedacht  werden   müssen." 

„Sinnlichkeit,  Verstand,  und  Vernunft,  als  die  Vermögen  "der  sinn- 
lichen Vorstellung,  des  Begriffs,  und  der  Idee,  heifsen  Vorstellungsver- 
mögen,  und  das,  was  ihnen  unter  sich  gemeinschaftlich  ist,  das  Vorstel- 
lungsvermögen überhaupt." 

a  SW  drucken   nach  der  II.  Ausg.   ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.   Ausg. 
*  Reinholds  Beyträge  zur  Berichtigung  bisheriger  Mißverständnisse.  S.  286. 


2.   Abschnitt.     Methodenlehre.      3.   Capitel.     Von  der  Fundamental-Philosophie.    227 

Gelehrte  offenbar  kein  deutliches  Bild  mehr  von  ihr  besitzt,  und  ihren 
Ursprung  eher  in  einem  fabelhaften  Lande,  als  in  denjenigen  Begriffen  sucht, 
die  uns  Alle  jeden J  Augenblick  beschäftigen  und  durchaus  unentbehrlich 
sind.  Das  gröfste  Uebel  liegt  in  der  Verwechselung  zwischen  dem  Lehrgebäude 
und  dem  Faden  des  Unterrichts.  Diesen  Unterschied  wird  man  mit  Hülfe 
des  Bevspiels  von  der  Sittenlehre  sogleich  verstehn.  In  dem  Lehrgebäude2 
liegen  die  fünf  ursprünglichen  praktischen  Ideen  alle  neben  einander,  und 
bilden  zusammen  das  Fundament ;  denn  keine  derselben  läfst  sich  von 
der  andern  ableiten.  Hingegen  die  Ideen  der  Rechtsgesellschaft  u.  s.  w. 
bis  zur  beseelten  Gesellschaft  gehören  eben  deswegen,3  weil  sie  von  jenen 
abgeleitet  sind,  nicht  mehr  zum  Fundament,  sondern  schon  zum  Gebäude 
selbst.  Wohin  wird  die  Reihe  gerechnet  [273]  werden,  welche  von  den 
Beschäftigungen  bis  zu  den  Dienstverhältnissen  läuft?  Sie  ist  nicht  aus 
den  Ideen  entsprungen;  eben  deshalb  würde  sie  auch  nicht  in  die  Sitten- 
lehre gehören,  wenn  nicht  wegen  der  Anwendungen  der  Ideen,  welche 
darauf  zu  machen  sind.  Daher  kann  man  sie  nicht  zum  Fundamente, 
sondern  ebenfalls  nur  zum  Lehrgebäude   rechnen.     'Wie  aber  unterscheidet 


„Die  blofse  Vorstellung  mufs  aus  zwey  verschiedenen  Bestandtheilen 
bestehen ,  die  durch  ihre  Vereinigung  und  ihren  Unterschied  die  Natur 
einer  blofsen  Vorstellung  ausmachen.  —  Denn  da  Subject  und  Object 
unterschieden  werden,  so  mufs  auch  Dasjenige  in  der  Vorstellung,  wodurch 
sie  sich  auf's  Object,  von  dem,  wodurch  sie  sich  auf's  Subject  bezieht, 
unterschieden  werden."  Stoff  und  Form  der  blofsen  Vorstellung.  Jener  wird 
dem  Subject  gegeben,  diese  von  ihm  hervorgebracht,  Receptivität,  Spontaneität. 

Das  vorstellende  Subject  hat  kein  Vermögen  den  Stoff  —  folglich 
auch  keine  Kraft  eine    Vorstellung  (Form  und  Stoff)   hervorzubringen." 

Der  Stoff  mufs  ein  Mannigfaltiges,  die  Form  mufs  Einheit  des  Mannig- 
faltigen seyn.  Die  Form  hängt  eben  sowohl  von  der  Receptivität  (der 
Empfänglichkeit  für  den  Stoff)  als  von  der  Spontaneität  ab.u 

Verbindet  man  hiemit  noch  den  frühern  Satz:  „Die  Verwechselung 
des  vorgestellten  Objects  mit  dem  Dinge  an  sich  ist  unvermeidlich,  so  lange 
man  die  Fonnen  der  blofsen  Vorstellungen  nicht  als  solche  entdeckt  und 
die  erkannt  hat";  so  ist  die  Anschliefsung  Reinholds  an  Kant  offenbar. 

186.  Bevor  wir  diese  Probe  von  Fundamental-Philosophie  näher  be- 
leuchten, ist  nöthig  einer  Verwechselung  vorzubeugen,  nämlich  der  Ver- 
wechselung des  Lehrgebäudes  mit  dem  Faden  des    Vortrags. 

Im  Lehrgebäude  der  Sittenlehre  z.  B.  liegen  die  fünf  urprünglichen 
praktischen  Ideen  alle  neben  einander,  und  bilden  zusammen  das  Funda- 
ment, denn  keine  derselben  läfst  sich  von  der  andern  ableiten.  Hingegen 
die  Ideen a  der  gesellschaftlichen  Systeme  gehören  eben  deshalb,  weil  sie 
von  jenen  .... 

1  „in  jedem"  statt  „jeden"  II.  Ausgabe. 

2  „Im  Lehrgebäude  der  Sittenlehre"  für  „In  dem  Lehrgebäude" 
II.  Ausgabe. 

3  „Hingegen  die  Ideen  der  gesellschaftlichen  Systeme  gehören  eben 
deshalb"  II.  Ausg. 

a    Idee  II.  Ausg. ;  SW  haben  auch  „Ideen"  verbessert. 

15* 


,,g  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.     1831. 


sich  nun  vom  Gebäude  und  von  dessen  Fundamente  der  Faden  des  Unter- 
richts!   Dieser    kann    nicht  von    allen  Ideen    zugleich   ausgehn;    schon    aus 
dem  einfachen  Grunde,  weil  von  fünf  Gegenständen   auf  einmal  verständ- 
lich zu  reden  unmöglich  ist.     Nun  weifs  man  aus  dem  Obigen  (153-   156.), 
dafs  der  Faden  des   Unterrichts    bestimmt  vorgeschrieben    ist.      Man  mufs 
ihn  anknüpfen  bey  der  Idee  der  innern   Freyheit;   man  mufs  ihn,   so   fern 
er  das  Fundament' betrifft,  endigen  bey  der  Idee  der  Billigkeit;  es  giebt  hier 
keine  Willkühr,  der  man  sich  überlassen  dürfte:    denn  die  Vollständigkeit 
der  Reihe  mufs  verbürgt  werden,   und  das  ist  nicht  möglich,   sobald    man 
im  Gerino-sten1  von  der  Vorschrift  abzuweichen  sich  erlaubt.    2Wer  aber 
das  Gebäude  mit  dem  Faden  verwechselt,  der  kann  von  der  ganzen  Technik, 
welche  zur  Sittenlehre  nothwendig  ist,  nichts  verstehn.      In  dem   Gebäude 
ist  das  Fundament  der  unterste  Theil;  um  dieses  richtig  aufzufassen,  müssen 
alle  fünf  Grund-Ideen,   ohne  irgend  eine  Succession,   wie  mit  Einem  Blicke  an- 
geschaut werden.    Im  Lehrgange  aber  ist  dennoch   eine  unvermeidliche  Suc- 
cession, und  zwar  deshalb,  weil  darin  die  erste  wesentliche  Bedingung  der 
genauen  Untersuchung  besteht.    Selbst  der  Umstand,  dafs  oben  (153.)  von 
dem  Wohlwollen  angefangen  wurde,   diente  nur  hier  zur  Erleichterung;   wer 
die  praktische  Philosophie  selbst  vergleicht,  wird  finden,  dafs  der  dortige  Vor- 
trag ganz  verdorben  wäre,  sobald  eine  solche  Licenz  auf  ihn  übertragen  würde. 
168.   [=    187   d.  IL  Ausg.]   Die  Form  der  Metaphysik  ist  zwar  voll- 
kommen3  eben  so  streng  vorgeschrieben,   wie    die   der  Sittenlehre:    allein 
es  wird  etwas  schwerer  seyn,  dies  hier  sichtbar  zu  machen;  daher  [274]  nur 
wenige  Worte  über  den  ohnehin  blofs  speculativen  Gegenstand ! 4    Man  weifs 
schon,  dals  zwar  das  Fundament  der  Metaphysik  in  einer  Reihe  von  Begriffen 
besteht,  die  jedoch  nicht  durch  ästhetisches  Urtheil  erzeugt,  sondern  in  der 
Erfahrung   gegeben  werden;    daher  ihre  Zusammenstellung   den  Charakter 
der  zufälligen  Aggregation,  welcher  überhaupt  der  Erfahrung  eigen  ist,  bey- 
behalten  mufs.    Es  wäre  die  unleidlichste5  Künsteley,   und  das  sicherste0 
Zeichen  verworrener  Begriffe,  wenn  Jemand  auf  jene  Reihe:  Inhärenz,    Ver- 
änderung, Materie,  und  Ich,  irgend7   eine  solche  Regel  der  logischen  Dis- 
junction,  die  auf  Vollständigkeit  der  Glieder  ausgeht,  oder  gar  eine  noch 
höhere  Methode  der  nothwendigen  Verknüpfung  übertragen  wollte  (157.). 
Und  dennoch  findet  eine  logische  Anordnung  statt,  nach  welcher  für  den 
Faden  des  Unterrichts  beym  Probleme  der  Inhärenz  mufs  begonnen  werden. 
Nicht  als  ob  nicht  auch  von  der  Veränderung  (mit  den  Alten),  oder  vom 

1  „im   Geringsten"    fehlt  in  der  II.  Ausg.» 

2  Der  folgende  Satz:    „Wer    aber    das    Gebäude   ....    nichts  verstehn", 
fehlt  in  der  II.  Ausg. 

3  „zwar  vollkommen"   fehlt  in  der  II.  Ausg.b 

i  Die  Worte:  „allein  es  wird  etwas  schwerer  ....  speculativen  Gegen- 
stand!';   fehlen  in  der  II.  Ausg. 

5  „die   unleidlichste"    fehlt  in  der  II.  Ausg.  c 

6  „ein  Zeichen"  statt  „das  sicherste  Zeichen"  II.  Ausg.d 

7  „irgend"    fehlt  in  der  II.  Aug.e 

a  SW  drucken   nach   der   II.  Ausg.    ohne  Angabe    der    Abweichung   der    I.  Ausg. 
b,  c,  d,  e  SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2.  Abschnitt,     Methodenlehre.     3.  Capitel.     Von  der  Fundamental-Philosophie.    229 


Ich  (mit  Fichte)  könnte  ausgegangen  werden ;  diese  Probleme  besitzen  volle 
Gewalt,  um  das  eigentlich  metaphysische  Denken  ursprünglich  in  Bewegung 
zu  setzen;  es  ist  nicht  nöthig,  dafs  sie  den  Antrieb  dazu  etwa  erst  von 
dem  Probleme  der  Inhärenz  herleiten:  sondern  nur  deshalb  mufs  vom 
letztern  ausgegangen  werden,  weil  die  Metaphysik  jede  Erschwerung  des 
deutlichen  Vortrags  sorgfältig  vermeiden  soll. 

Der  nachzuweisende  Unterschied  zwischen  dem  Lehrgebäude  und  dem 
Faden  des  Unterrichts,  ist  demnach  bey  der  Metaphysik  in  Ansehung  des 
Fundaments  eben  so  sichtbar,  als  vorhin  bey  der  praktischen  Philosophie. 
Inhärenz,  Veränderung,  Materie,  Ichheit,  diese  vier  Grundprobleme  müssen 
gleichzeitig,  wie  mit  Einem  Blicke,  angeschaut  werden,  damit  man  das 
Fundament,  auf  welchem,  von  aller  Form  des  Vortrags  unabhängig,  das 
Gebäude  der  Metaphysik  wirklich  ruhet,  richtig  vor  Augen  habe.  Man 
könnte  mit  einem  andern  bildlichen  Ausdrucke  sagen:  denkt  Euch  die  vier 
Grundprobleme  als  vier  Springbrunnen,  die  vor  Euren  Augen  ihre  Strahlen 
neben  einander  emporwerfend  eine  Gruppe  bilden,  ohne  sich  um  Eure 
Zählung  des  ersten,  zweyten,  [275]  dritten,  vierten,  zu  bekümmern.  Dennoch 
ist  ein  subjectiver  Grund  vorhanden,  welcher  dem  Zuschauer  die  Ordnung 
bestimmt,   wo  sein   Zählen  anfangen,  und  wie  es   fortgehn  soll. 

169.1   [=  188  d.  II.  Ausg.J    Es  ist   der  Mühe  werth,   von   dieser  Unter- 
scheidung eine  Anwendung  auf  die  drey  Haupttheile  der  Philosophie  selbst 
zu  machen.    Das  gesammte  Fundament  der  Philosophie  ist  in  der  Wahrheit 
gleichzeitig  da;  es  besteht  aus  jenen  beiden  Reihen,  deren  eine  das  Funda- 
ment der  Sittenlehre,  die  andre  das  Fundament  der  Metaphysik  ausmacht,  und 
aus  allen   dem,  was,  beiden  analog,   theils  im  Gebiete    der  ursprünglichen 
ästhetischen  Urtheile,  theils  in  der  Erfahrung  und  ihren  gegebenen,  zum  fort- 
schreitenden Denken  nöthigenden  Formen,   aufzufinden  ist.    Man  mufs  auch 
noch  jede  unmittelbare  logische  Evidenz  dahin  rechnen,  welche  mit  der  That- 
sache  zusammenhängt,  dafs  Begriffe  einander  ausschliefsen  und  einschliefsen. 
In  diesem  Allen  giebt  es  an  sich  keinen  Vorrang  und  keine  Unterordnung. 
Die  praktischen  Ideen  folgen  nicht  aus  den  metaphysischen  Problemen,  ihre 
Evidenz  hat  kaum  eine  Aehnlichkeit  mit  der  logischen;  und  eben  so  rückwärts. 
Wer  blofs  Logik  kennt,   vermuthet  keine  Aesthetik,  und  noch  weniger  eine 
Metaphysik.     Wer   sich    nur    mit    Metaphysik   beschäfftigt,    der    mag    sich 
sogar  hüten,  für  Aesthetik  nicht  stumpf  zu  werden.    Dafs  aber  Aesthetik  und 
Metaphysik  die  Logik  voraussetzen,  bedeutet  weiter  nichts,  als  dafs,  wenn 
nicht  längst  die  logische  Evidenz  bey  Gelegenheit  rein  empirischer  Gegen- 
stände oder  auch  ganz  willkührlicher  Begriffe  hervorgetreten  wäre,   man  die 
Logik   bey   Gelegenheit   der   Aesthetik   und    Metaphysik   auffinden   würde. 
Während    nun    hier    im    Gebäude    der    Philosophie    alles,    was    zum 
Fundamente    gehört,    neben    einander    liegt,    —   oder    besser,  während    die 
Philosophie  eine   Gruppe  von  drey    verschiedenen  Gebäuden  ist:   giebt  es 
dennoch  einen  Lehrfaden,   welcher  im  Unterricht  die  Logik,   Aesthetik  und 
Metaphysik    nach    einander,   und    nur  in    dieser    und    keiner    andern  Reihe 

1  Statt  des  folgenden  Satzes:  „Es  ist  der  Mühe  werth  .  .  .  selbst  zu 
machen."  hat  die  IT.  Ausg. :  Von  dieser  Unterscheidung  läfst  sich  eine  An- 
wendung auf  die  drey  Haupttheile  der  Philosophie  selbst  machen. 


2-\o  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

und  Ordnung  durchläuft.  Es  ist  zu  bedauern,  wenn  [276]  Jemand  dafür 
noch  einen  Beweis  fordert.  Man  sollte  doch  hoffen,  dafs  irgend  einmal 
die  angezeigte  Ordnung  zu  den  Dingen  gehören  werde,  die  sich  von  selbst 
verstehn.  Die  Metaphysik,  sollte  man  denken,  habe  doch  wohl  specifische 
Schwere  genug,  damit  nöthigenfalls  der  Anfänger  klüger  sey  als  der  Lehrer, 
der  ihm  aus  Vorliebe  früher  Metaphysik  als  Sittenlehre,  oder  auch  diese 
früher  als  die  Logik  würde  anbieten  wollen. 

170.  [=  189  d.  IL  Ausg.]  Bedeutete  nun  der  Ausdruck  Fundamental- 
Philosophie  weiter  nichts,  als  Angabe  des  Fundaments,  worauf  die  philo- 
sophischen Wissenschaften  ruhen:  so  wäre  eine  solche  keiner  Absonderung 
fähig  von  diesen  drey  Wissenschaften  selbst;  da  ohne  Zweifel  jede  ihr  Funda- 
ment selbst  anzeigen  mufs.  Allein  derselbe  Unterschied,  welcher  schon 
genugsam  ist  besprochen  worden,  dehnt  seinen  Einflufs  noch  weiter  aus.  So 
wie  nicht  leicht  ein  Redner  sein  Thema  ohne  vorausgeschickten  Eingang 
hinstellen  wird:  eben  so  giebt  es  für  den  philosophischen  Vortrag  gewisse 
Prolegomena,  die  sich  nie  ganz  entbehren  lassen.  Sie  sind  natürlich  theils 
psychologisch,  theils  (was  im  Wesentlichen  eben  dahin  gehört)  historisch.  Der 
praktischen  Philosophie  mufs  nothwendig  die  Scheidung  der  ästhetischen 
Urtheile  von  den  Begierden  und  Lustgefühlen  vorausgehn;  nicht  als  ob  da- 
durch die  Evidenz  jener  Urtheile  erst  entstehn  sollte,  sondern  weil  sie  durch 
Verwechselung  mit  jenen  leicht  könnte  verdunkelt  werden.  Es  mufs  ihr 
ferner  die  Warnung  vorausgehn,  nicht  den  Werth  des  Willens  in  der  all- 
gemeinen Regelmäfsigkeit  zu  suchen;  in  der  That  nur  darum,  weil  dieser 
Irrthum  häufig  vorkommt,  und  bey  dem  Zweck  der  praktischen  Philosophie, 
allgemeine  Ordnung  hervorzubringen,  sehr  natürlich  ist.  Eben  so  bedarf 
die  Metaphysik  einer  vorläufigen  Hinlenkung  der  Aufmerksamkeit  auf  den 
Zustand  unsrer  Erfahrungsbegriffe,  die  von  jeher  mancherley  Zweifel  in 
Bewegung  gesetzt  haben;  und  auf  die  oft  aufgegebenen  und  eben  so  oft 
erneuerten  Bemühungen,  derselben  mächtig  zu  werden.  Selbst  die  Logik 
läfst  sich  kaum  [277]  beginnen,  ohne  wenigstens  den  Actus  des  Denkens 
vom  Gedachten  abzuscheiden. 

Der  Umstand  nun,  dafs  Alles,  was  zum  Fundamente  der  Philosophie 
gehört,  in  dem  Kreise  unsrer  Vorstellungen  erst  aufgesucht  werden  mufs; 
und  dafs  alsdann1  dort  in  der  That  Alles  beysammen  gefunden  wird, 
kann  leicht  manche  Lehrer  veranlassen,  unter  dem  Namen  der  Fundamental- 
Philosophie  eigne  Vorträge  und  Schriften  darzubieten;  die  nun  freylich  in 
Form  und  Gehalt  von  dem  vorhandenen  Zustande  der  Psychologie  ab- 
hängen, und  Manches  in  guter  Meinung  einschwärzen  werden,  was  besser 
vermieden,  oder  wenigstens  dem  rechten  Orte  zur  Prüfung  vorbehalten 
bliebe.  Im  Wesentlichen  jedoch  läfst  sich  von  einer  solchen  Fundamental- 
Philosophie,  die  blols  für  alle  nöthigen  Prolegomena  einen  Vereinigungspunct 
darbietet,  und  das  gesammte  Fundament  der  Philosophie  zur  Uebersicht 
bringt,  wohl  kaum  etwas  Mehr  oder  Weniger  sagen,  als  dies:  sie  kann 
recht  nützlich  seyn,  wenn  sie  gut  ausgeführt  wird;  obgleich  ihre  Unentbehr- 
lichkeit   selbst  in  subjectiver   Hinsicht    schwerlich  zu  erweisen    seyn  dürfte. 

171.  [=   190  d.  IL  Ausg.]    Der  idealistische  Irrthum  der  letzten  De- 


1    „dafs    es    alsdann"  I.  Ausg.  (Druckfehler,  von  SW  nicht  vermerkt.) 


2.  Abschnitt.      Methodenlehre.      3.   Capitel.     Von  der  Fundamental-Philosophie.    2  3  1 


cennien  hat  zu  seltsamen  Meinungen  in  Ansehung  des  Fundaments  der 
Philosophie  Anlafs  gegeben.  Die  revolutionäre  Einbildung,  Alles  in  der 
Philosophie  müsse  neu  geboren  werden,  liefs  die  altern  Systeme  schwächer 
erscheinen,  als  sie  waren;  man  verkannte,  dafs  bey  aller  Unrichtigkeit  in 
den  psychologischen  und  naturphilosophischen  Lehren,  sich  dennoch  im 
Laufe  der  Zeit  durch  die  fortgehende  Thätigkeit  der  Schulen  gewisse  veste 
Umrisse  gebildet  hatten,  bey  denen  man  bleiben  muls,  während  in  ein- 
zelnen Puncten  die  Einsicht  fortschreitet;  und  die,  wenn  ja  eine  Generation 
sie  verwirft,  doch  in  der  nächsten  durch  die  Natur  der  Sache  von  selbst 
wiederkehren.     1Der  revolutionäre   Schwindel  ging  so  weit,   die  Metaphysik 


1  Statt  der  Worte  bis  zum  Schlüsse  des  Kapitels:  „Der  revolutionäre  Schwindel 
ging  soweit .  .  .  nämlich  das  Ich,  aufgegeben  wurde."  hat  die  IL  Ausg.  Folgendes: 

Der  Schwindel  entstand  nicht  plötzlich,  sondern  allmählich.  Dafs 
Reinhold  nicht  beabsichtigte,  sich  von  Kant  loszureilsen  (nämlich  in  der 
Periode  seiner  gröfsten  Wirksamkeit),  ist  oben  gezeigt ;  er  meinte  nur  die 
Form  der  Lehre,  nicht  ihren  Inhalt  zu  verändern.  Nur  allzu  gläubig 
hatte  er  von  Kant  die  Voraussetzung  angenommen,  man  könne  das 
Veränderliche,  Zufällige,  Relative  unsrer  Vorstellungen,  den  mannigfaltigen 
Stoff,  als  das  Hinzukommende  ansehn,  für  welches  gewisse  Formen  in  der 
Receptivität  (Raum  und  Zeit)  und  in  der  Spontaneität  (Kategorien)  schon 
zur  Aufnahme  bereit  stünden.  Er  wünschte  nun,  alle  Selbstdenker  zu 
vereinigen;  er  glaubte  einen  Satz  gefunden  zu  haben,  über  den  wirklich 
Alle,  ohne  es  zu  wissen,  einig  seyen ;  dieser  sollte  erster  und  einziger 
oberster  Grundsatz  seyn.  „Die  Wissenschaft  erhält  durch  ihn  ihre  Form; 
ihre  Materialien  aber  nur  in  so  fern,  als  der  Grundsatz  dazu  dient, 
Fremdes  auszuschliefsen,  und  das  noch  Fehlende  aufzusuchen.  Das  Material 
kann  nie  in  ihm  enthalten  seyn,  mufs  aber  unter  ihm  stehn.  Ein  zum 
Inhalt  einer  Wissenschaft  gehöriger  Satz  erhält  nur  dadurch  den  wissen- 
schaftlichen Rang,  dafs  er  entweder  selbst  Grundsatz,  oder  ein  unter  dem- 
selben stehender  Folgesatz  ist;  eben  so  erhält  der  Inhalt  und  Inbegriff 
aller  solcher  Sätze  nur  dadurch  den  Rang  einer  philosophischen  Wissen- 
schaft, dals  alle  diese  Sätze  genau  zusammenhängen;  dafs  die  Folgesätze 
neben  einander  und  ihren  Grundsätzen  untergeordnet,  die  niedern  Grund- 
sätze von  höhern  gemeinschaftlichen  abgeleitet,  und  diese  unter  einem 
Einzigen  obersten  begriffen  seyen.  Nur  dadurch  erhält  der  ganze  Inhalt 
die  Einheit  Einer  Wissenschaft,  dafs  jener  Grundsatz  das  allgemeine 
Prädicat  aufstellt,  das  allen  Prädicaten  und  Subjecten  im  ganzen  Um- 
fange der  Wissenschaft  zukommt,  und  wodureh  sie  in  diesen  Umfang  zu- 
sammengefafst  werden."  —  Man  halte  dies,  was  die  Form  der  Wissen- 
schaft bezeichnet,  an  jenes  (185.),  was  als  Probe  der  REiNHOLD'schen 
Fundamental-Lehre  angeführt  worden ;  so  ergiebt  sich  Folgendes : 

Reinhold  wollte  Ein verständnifs ;  er  wollte  ein  Fundament ;  er  wollte 
Einheit  des  Systems.  Wie  diese  Foderungen  zusammenhängen,  hatte  er 
nicht  gehörig  überlegt.  Wäre  die  Rede  von  einer  logischen  Eintheilung, 
so  würde  an  der  Spitze  derselben  der  einzutheilende  Begriff  erscheinen; 
alles  Uebrige  würde  unter  ihm  stehn.  Werden  aber  zu  den  Lehrsätzen 
eines  Systems  die  Prosyllogismen  gesucht,  so  ergeben  diese  ein  sehr  breites 


2^2  II-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

abschauen  zu  wollen;  ein  Beginn,    als  ob   Jemand   den   Mond   abschaffen 


Fundament;  und  schon  eine  einzige  Conclusion  erfodert  zwey  Prämissen. 
Jede  Prämisse  kann  Gegenstand  eines  Streites  werden;  und  ein  einziger 
Grundsatz  würde    zum  Einverständnifs  kaum    etwas    Merkliches  beytragen. 

Man  halte  ferner  jenen  Grundsatz,  welcher  Vorstellung,  Subject, 
Object,  in  Verbindung  setzt,  zusammen  mit  den  angegebenen  Fundamental- 
begriffen der  Ethik,  der  Metaphysik,  der  gesammten  Philosophie,  und 
man  wird  schon  hier  des  Stoffes  genug  erblicken,  der  sich  in  die  Rein- 
HOLü'schen  Formen   zu  fügen  nicht  die  mindeste   Bereitwilligkeit  zeigt. 

Dies  Alles  nun  würde  keine  grofse  Bedeutung  erlangt  haben,  wäre 
nicht  Fichte's  Energie  und  Fichte's  Ungestüm  dazu  gekommen;  gereizt 
noch  obendrein  durch  eine  äufserliche  Stellung,  welcher  zu  entsprechen 
Eile  und  Anstrengung  foderte.  Die  Schrift:  lieber  den  Begriff  der  Wissen- 
schaftslehrc  oder  der  sogenannten  Philosophie,  steht  mit  Reinholds  Bey- 
tragen zur  Berichtigung  u.  s.  w.,  woraus  obige  Stellen  entnommen  sind, 
sehr  nahe  in  Verbindung.  Gleich  auf  dem  ersten  Blatte  lieset  man: 
„Eine  Wissenschaft  hat  systematische  Form,  alle  Sätze  in  ihr  hängen  in 
einem  einzigen  Grundsatze  zusammen,  und  vereinigen  sich  in  ihm  zu 
einem  Ganzen,  —  dies  gesteht  man  allgemein  zu."  Was  aus  seiner  Arbeit 
herauskommen  würde,  wulste  Fichte  damals  noch  nicht.  Er  wufste  nicht, 
dafs  er  im  Begriff  stand,  sich  von  Kant  weit  zu  entfernen. 

Fichte  spricht  von  Einem  Satze,  der  den  übrigen  seine  Gewifsheit 
mittheile,  so  dafs,  wenn  der  Eine  gewifs,  dann  auch  der  zweyte,  —  wenn 
der  zweyte,  dann  der  dritte  gewifs  sey,  u.  s.  f.  Er  lehrt :  in  Einer  Wissen- 
schaft könne  nur  Ein  Satz  vor  der  Verbindung  mit  den  andern  gewifs 
und  ausgemacht  seyn;  denn  gäbe  es  mehrere  von  unabhängiger  Gewifsheit,. 
so  entstünden  mehrere  Wissenschaften.  Man  möchte  ihn  fragen,  ob  er 
denn  die  Beschaffenheit  eines  logischen  Syllogismus  ganz  vergessen  habe? 
ob  er  für  seine  Folgesätze  jedesmal  nur  Eine  Prämisse  brauche?  —  So 
lange  man  im  Gebiete  der  logischen  Foimen  bleibt,  geräth  man  in  Ver- 
suchung, gegen  Fichte  und  gegen  Reinhold  das  zu  wiederhohlen,  was 
vorhin  gegen  die  Verwechselung  des  Lehrgebäudes  mit  dem  Faden  des 
Vortrages  ist  gesagt  worden.  Der  Vortrag  muls  freylich  mit  Einem  Satze 
beginnen,  und  den  Vortrag  betrifft  Reinholds  Klage:  er  würde  vergebens, 
hoffen,  auch  nur  die  unbefangensten  und  hellsten  Köpfe  auf  seine  Seite  zu 
bringen,  aus  dem  einzigen  Grunde,  weil  er  von  keinem  Satze,  der  auch  nur 
unter  ihnen  allgemein  gelte,  ausgehen  könne.  Dem  Vortrage  zu  gefallen  mochte 
alsdann  Fichte  vom  Ich  als  dem  Allgemeingeltenden  ausgehn.  Aber  das  Lehr- 
gebäude  beruht  darum  noch  nicht  auf  dem  einzigen  Anfangspuncie  des  Vortrags. 

Indessen  lag  in  der  That  den  Bewegungen  des  Denkens,  welche 
durch  Reinhold  vorbereitet,  durch  Fichte  in  Gang  kamen,  etwas  ganz 
Anderes  zum  Grunde.  Es  giebt  eine  Art  von  Einheit,  die  man  durch 
keine  Logik  beschreiben  kann;  es  ist  die  Einheit  der  Beziehungen.  In 
diese  war  Reinhold  durch  sein  Subject,  Object,  Vorstellung,  hineinge- 
rathen;  in  dieser  wurde  Fichte  durch  sein  Ich  fortgetrieben;  und  dahin 
gehört  schon  Kants  berühmte  Frage :  wie  sind  synthetische  Sätze  a  priori 
möglich?      Wir  werden  später  darauf  zurückkommen. 


2.  Abschnitt.  Methodenlehre.   4.  Cap.   "Vom  System  der  Philosophie  im  Allgemeinen.    233 

wollte.  Einerseits  die  Alten,  andererseits  die  Natur  selbst,  leisten  der 
Metaphysik  Bürgschaft  für  ihre  Dauer  bis  zur  Wie[2  78]derkehr  einer  all- 
gemeinen Barbarey.  Für  einzelne  Generationen  kann  indessen  das  Uebel 
schlimm  genug  werden;  denn  während  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
der  Revolutions  -  Geist  sich  an  den  unvermeidlich  fortdauernden  Bedürf- 
nissen bricht,  lebt  dagegen  die  Welt  ruhig,  und  ohne  einen  Schaden  den 
sie  zu  schätzen  wüfste,  fort,  ob  nun  in  den  Schulen  eine  richtige  philo- 
sophische Methode  befolgt  wird  oder  nicht.  Die  Trägheit  des  Irrthums 
ist  seine  schlimmste  Seite;  man  mufs  aber  mit  der  Langsamkeit  der  Be- 
wegung,  durch  welche   er  sich  allmählich  berichtigt,   Geduld  haben. 

Die  Einheit  des  Idealismus  bringt  es  mit  sich,  Alles  in  Einem  Puncte, 
nämlich  im  Ich,  concentriren  zu  wollen.  Das  Täuschende  liegt  aber  hier 
nicht  blofs  im  Ich,  sondern  in  dem  Behagen,  eine  grofse  Masse  der  ver- 
schiedensten Gegenstände  auf  einmal  —  freylich  nur  in  der  Einbildung 
—  zu  überschauen,  und  eine  Menge  von  speculativen  Arbeiten  vermeiden 
zu  können,  —  die,  eben  weil  sie  nun  liegen  bleiben,  später  von  Andern 
nachgehohlt  werden  müssen.  Nicht  der  Idealismus,  wohl  aber  sein  hoher 
Standpunct  ist  bequem. 

Daher  geschah  es,  dafs  die  Manier  blieb,  während  das  Fundament, 
nämlich  das  Ich,  aufgegeben  wurde. 


[27g]  Viertes  Capitel. 
Vom  System  der  Philosophie  im  Allgemeinen. 

172.  [==  191  d.  IL  Ausg.]  Ist  das  Fundament  gelegt,  so  folgt  der 
Aufbau  des  Systems;  vorausgesetzt,  man  sey  vom  Werthe  einer  syste- 
matischen Ordnung  der  Gedanken  und  Bevestigung  der  Lehrsätze  über- 
zeugt, und  man  scheue  nicht  die  Mühe  einer  regelmäfsigen  Untersuchung. 
3  Allein  hier  sind  üble  Eindrücke  zu  fürchten.  Dafs  Systeme  ver- 
schrobene Köpfe  machen,  diese  Klage  ist  zu  bekannt,  um  mit  Still- 
schweigen übergangen  zu  werden. 

Diejenigen,  welche  solches  wollen  beobachtet  haben,  sollten  nur  nicht 
die  Schuld  auf  Systematik  im  Allgemeinen  werfen;  sondern  sie  sollten 
suchen  das  schädliche  Element  herauszufinden,  dessen  Folgen  ihren  Tadel 
erregen.  Das  ist  nun  vielleicht  zu  schwer  für  die,  welche  sich  nicht  be- 
rufen finden,  in  das  Innere  der  Systeme  einzudringen.  Daher  ein 
drückender  Verdacht  gegen  Alles,  was  den  Namen  und  die  Gestalt  des 
Systems  an  sich  trägt. 

Wie  wäre  es,  wenn  man  den  übrigens  verständigen  und  wahrheit- 
liebenden Männern,  die  sich  vor  Systemen  fürchten,  ein  äufseres  Kenn- 
zeichen falscher  Systeme  angeben  könnte,  welches  ihnen  um  desto  mehr 
einleuchten  mufs,  je  öfter  und  je  genauer  sie  jenes  Uebel  vor  Augen 
gesehen  haben? 

Wir  reden  hier  nicht  von  dem  anmafsenden  Tone,  dem  abstofsenden 
Betragen,    das   junge    Leute    zu   bezeichnen    pflegt,    die    in    einer    philo- 


2-24  II-   Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

sophischen  Schule  länger,  als  ihnen  gerade  dienlich  war,  verweilten.  Es 
giebt  wohl  andre  Schulen,  au[2  8p]fser  den  philosophischen,  welche  den 
Vorwurf  tragen  müssen,  dafs  bald  Ueberspannung,  bald  Dünkel,  bald  Steif- 
heit und  Unbehülflichkeit  aus  ihnen  hervorgehn.  Und  auch  die  schlechteste 
philosophische  Schule  ist  immer  noch  eine  Gegenkraft,  wodurch  wenigstens 
einigermafsen  die  gelehrte  Beschränktheit  und  Pedanterey  gemildert  wird, 
welche  aus  langer  Anstrengung  in  besondern  Fächern  bey  mäfsigen  Talenten 
nur  zu l  leicht  entsteht. 

Uebrigens  ist  die  Klage  über  anmafsenden  Ton  in  der  Regel  das 
Zeichen,  der  Klagende  habe  eben  nichts  anderes  vernommen,  als  mir 
den  Ton.  Wüfste  er  etwas  von  der  Sache,  so  möchte  er  wohl  über 
diese  zu  reden  finden.  Und  endlich  redet  Mancher  nicht  mit  seinem 
eignen,  natürlichen  Ton;  sondern  er  hat  nach  einem  Sprichwort,  das  zu 
bekannt  ist,  um  hier  angeführt  zu  werden,  in  der  Umgebung  und  den 
Verhältnissen,  worin  er  sich  nun  einmal  befindet,  eine  Stimme  annehmen 
müssen,  gemäfs  dem   Local,   worin  man  ihn  hören  soll. 

173.  [=  192  d.  IL  Ausg.]  Das  deutliche  äufsere  Kennzeichen  falscher, 
wenn  auch  sehr  scharfsinniger,  philosophischer  Systeme  besteht  in  der 
Einseitigkeit  der  Methode. 

Die  Richtigkeit  dieses  Kennzeichens  wird  wohl  nicht  bezweifelt  werden. 
Man  vergegenwärtige  sich  nur  jene  verschrobenen  Köpfe,  und  ihr  Benehmen 
im  Leben.  Es  wird  sich  finden,  dafs  ihre  Handlungen  und  Reden  zu  den 
Umständen  nicht2  passen;  einerley  einförmige  Manier  klebt  ihnen  an,  die 
sie  mit  grofsen  Ansprüchen  überall  durchsetzen  wollen.  Dafs  aber  hieran  das 
System,    was    sie   lernten,    nicht  allein  Schuld  ist,    versteht  sich    von  selbst. 

Die  verkehrten  Folgen  eines  verkehrten  Benehmens  zeigen  sich  im 
Umgange  mit  Menschen  sehr  bald,  und  warnen  denjenigen,  der  nicht  gerade 
blöde  Augen  hat.  Hingegen  eine  Wissenschaft  kann  selbst  ein  grofser 
Denker  lange  mishandeln,  ohne  die  natürliche  Strafe  zu  empfinden;  be- 
sonders wenn  er  [281]  den  Widerspruch  Anderer  entweder  zum  Schweigen 
gebracht  hat,    oder  nicht  zu  beachten  für  nöthig  findet. 

Zwar  auch  die  Wissenschaft  warnt,  wenn  man  sie  falsch  behandelt; 
aber  mit  sehr  leiser  Stimme.  Sie  läfst  merken,  dafs  die  Untersuchung 
stockt,  die  Aussicht  enger  wird  statt  sich  zu  erweitern,  dafs  der  Kreis 
der  Begriffe  dem  Erfahrungskreise,  worauf  er  passen  soll,  nicht  congruent 
ist.  Allein  es  ist  ungemein  schwer,  im  Philosophiren  sich  vor  blinder 
Gewohnheit  und  falschen  Analogien  zu  hüten;  noch  schwerer,  jedesmal 
aus  der  Eigenheit  des  „Gegenstandes  die  Methode  zu  erkennen,  die  zu 
ihm  palst.  Man  darf  geradezu  behaupten,  dafs  selbst  die  gröfsten  und 
berühmtesten  Denker,  welche  bisher  lebten,  nicht  genug  in  allen  Winkeln 
der  Wissenschaft  umher  gegangen  waren,  um  sich  von  der  Geschmeidig- 
keit des  Verfahrens  einen  Begriff  zu  machen,  welche  der  Verschiedenheit 


1  „nur   zu"    fehlt  in  der  II.  Ausg.» 

2  „nicht"    fehlt  in  der  II.   Ausg.b 


a   SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 

t>   SW  drucken  nach  der   I.  Ausg.    ohne  Angabe  der  Abweichung   der   II.  Ausg. 


2.  Abschnitt.  Methodenlehre.    4.  Cap.    Vom  System  der  Philosophie  im  Allgemeinen.    235 

der  Gegenstände  hinreichend  entsprechen  würde.  Oben  (154.)  sind  ein 
paar  Beyspiele  von  logischer  Art  vorgekommen,  welche  ungefähr  andeuten 
können,  wie  sehr  man  sich  schon  bey  den  leichtesten  und  ganz  nahe 
liegenden  Dingen  bereit  halten  mufs,  verschiedene  Hülfsmittel  jedes  am 
rechten  Orte  zu  gebrauchen.  Wer  aber  den  Geist  oder  die  Natur  durch- 
forschen will,  der  mache  sich  darauf  gefafst,  noch  in  weit  höherm  Grade 
gewahr  zu  werden,   wie  wenig  mit  Einerley  Methode  auszurichten   ist. 

Ein  Hauptgrund  der  Eintönigkeit  in  den  neuesten  Systemen  der  Zeit 
liegt  übrigens  in  dem  Bestreben,  sich  von  Anfang  bis  zu  Ende  als  durch- 
drungen von  Religion  zu  zeigen.  Mit  derjenigen  Stellung,  welche  die 
Religion  als  Ergänzung  des  empfundenen  Mangels  wirklich  hat,  wie  dieses 
oben  (33  u.  s.  w.)  deutlich  genug1  gezeigt  worden,  begnügen  sie  sich  nicht; 
den  Mangel  meinen  sie  gleich  von  vorn  herein  vermeiden  zu  können; 
die  Sättigung  soll  dem  Hunger  vorausgeschickt  werden.  Schlechte  Ver- 
dauung ist  die  Folge.  Wer  übel  vorbereitete  Religionslehren  ausstreut, 
der  säet   Religionszweifel,   und  wenn  er  es  noch   so  gut  meinte. 

Dafs  die  Religion  zugleich  einen  ästhetischen  Eindruck  macht,  genügt 
ihnen  noch  weniger.  Diese  Aesthetik  soll  als  [282]  solche  zugleich  Meta- 
physik, ja  auch  Naturphilosophie  und  Psychologie  seyn.  Alles  in  Einem! 
Solche  chaotische  Philosophie  mag  herrschen,  wo  man  Lust  hat,  ihr  zu 
dienen.  Hier  wird  sie  uns  einen  kleinen  Dienst2  leisten,  um  die  Dar- 
stellung zu  erleichtern. 

174.  [=  193  d.  IL  Ausg.]  Jedermann  kennt  die  Worte:  Grund  und 
Folge.  Diese  Ausdrücke  tragen  den  Schein  an  sich,  als  ob  sie  einen  Be- 
griff ausdrückten,  der  allen  Theilen  der  Philosophie  gemeinschaftlich  an- 
gehörte. Dadurch  ist  viel  Dunkelheit  entstanden,  die  wir  jetzt  aufhellen 
müssen.  Es  geht  nämlich  mit  manchen  Begriffen  so,  dafs  sie  leere  Ab- 
stractionen  veranlassen,  in  welchen  der  Unbehutsame  sich  vergeblich  bemüht, 
ihren  ursprünglichen,  wahren  Sinn  wieder  zu  erkennen.  Wie  wenn  Einer 
meinte,  weil  alle  Farben,  —  grün,  roth,  vveifs,  u.  s.  w.  —  sichtbar  sind, 
so  müsse  dem  allgemeinen  Begriffe  Farbe  auch  die  Eigenschaft  zukommen, 
dafs  man  ihn  mit  den  sinnlichen  Augen  sehen,  —  und  eben  so  dem 
Begriffe  des  Tons  die  Eigenschaft,  dafs  man  ihn  hören  könne,  weil  ja  doch 
alle  einzelne  Töne  hörbar  seyen.  Wie  nun  für  den  Blinden  keine  Farbe, 
und  für  den  Tauben  kein  Ton  vorhanden  ist:  gerade  so  würden  über- 
haupt die  beiden  allgemeinen  Begriffe  ohne  Werth  und  Bedeutung  seyn, 
wenn  ihnen  die  bestimmten  Farben  und  Töne  nicht  zum  Grunde  lägen. 
Beyläufig  bemerke  man,  dafs  von  dem  allgemeinen  Begriffe  des 
Schönen  genau  das  Nämliche  gilt.  Schönes  in  der  Poesie,  Musik,  Malerey, 
kennen  und  fühlen  wir,  so  wie  grün,  roth,  blau.  Der  Begriff  des  Schönen 
überhaupt  aber  giebt  Nichts  zu  fühlen;  er  ist  eine  völlig  leere  Abstraction, 
und  kein  unglücklicheres  Beginnen  läfst  sich  denken,  als  eine  allgemeine 
Theorie  des  Schönen,  ohne  Angabe  und  Berücksichtigung  der  Arten,  die 
allein  dem   Gattungsbegriffe  Bedeutung  geben. 


1    „genug"    fehlt  in   der  II.   Ausg.a 


2  „Dienst"  gesperrt  in  SW. 

a  SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2^6  II-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

Für  Diejenigen,  welche  gern  in  Einem  Zuge  vom  Wahren,  Guten, 
und  Schönen  reden,  müssen  wir  wohl  noch  ausdrücklich  hinzusetzen,  dafs 
sie  hier  auf  drey  gleich  leere  Ab[2  83]stractionen  ihr  Streben  zu  richten 
Gefahr  laufen,  wenn  sie  den  Worten  einen  Sinn  zutrauen,  der  nicht  gänz- 
lich von  den  Arten  des  Wahren  und  von  den  Arten  des  Guten  und  des 
Schönen  ausginge  und   abhinge. 

Diese  leeren  Abstractionen  sind  ein  höchst  gefährliches  Papiergeld, 
welches  schon  gar 1  manches  System  zum  Bankerot  gebracht  hat,  und  bey 
Leuten,   die  auf  Warnungen  nicht  hören  wollen,  noch  bringen  wird.2 

Der  Begriff  des  Grundes  und  der  Folge,  —  oder  eigentlich  des  Zu- 
sammenhangs zwischen  beiden,  —  befindet  sich  nun  im  nämlichen  Falle. 
Er  bedeutet  etwas  sehr  Wichtiges  in  der  Logik,  wo  er  am  kenntlichsten 
bey  den  Syllogismen  vorkommt.  Die  Vordersätze  nämlich  sind  die  Gründe; 
der  Schlufssatz  ist  die  Folge.  Derselbe  Begriff  bedeutet  etwas  Anderes 
in  der  Metaphysik,  wo  man  statt  Grund  zu  sagen  pflegt  Ursache,  und  als- 
dann statt  Folge  den  Ausdruck  Wirkung  gebraucht.  Behält  man  hingegen 
auch  in  der  Metaphysik  die  Worte  Grund  und  Folge,  so  bezeichnen  sie 
zwar  hier,  wie  in  der  Logik,  einen  nothwendigen  Uebergang  im  Denken; 
aber  bey  weitem  nicht  immer  eine  solche  Art  des  Uebergangs,  wie  die 
Logik  beschreibt.  Die  praktische  Philosophie  endlich,  sammt  den  Kunst- 
lehren, betrachtet  die  Wirkungen  als  Zwecke,  deren  Ursachen  aber  als 
Mittel,   oder  im   Gegenfalle  als  Hindernisse. 

So  hat  nun  der  Ausdruck  Grund  und  Folge  in  allen  drey  Th eilen 
der  Philosophie  einen  Sinn;  aber  für  jeden  Theil  auf  eigne  Weise.  Will 
man  hingegen  bey  den  nämlichen  Worten  etwas  Allgemeines  denken,  in 
der  Meinung,  dies  Allgemeine  durchdii7ige  die  ganze  Philosophie ,  und  mache 
wohl  gar  in  ihr  den  ersten  Haupt  gegenständ  der  Erkenntnifs  aus :  so  täuscht 
man  sich  nicht  minder,  wie  Derjenige  sich  täuschen  würde,  der,  um 
Farben  zu  sehen,   zuerst  die   Farbe  überhaupt  anschauen   wollte. 

175.  [=  194  d.  IL  Ausg.]  Im  vorigen  Capitel  gebrauchten  wir  den 
Begriff  des  Grundes;  denn  es  war  die  Rede  von  der  Fundamental-[2  84] 
Philosophie.  Zwar  das  Fundament  besteht  aus  mancherlei  sehr  ungleich- 
artigen Theilen;  3 allein  nachdem  dies  gezeigt  war  (169.),  erinnerten  wir  an 
den  vom  Ich  abgewichenen  Idealismus,  welcher  die  Einheit  behalten  will, 
um  die  Höhe  des -Standpuncts  nicht  zu  verlieren,  woran  man  sich  damals 
gewöhnte,  als  man  auf  die  Gesammtheit  aller  Dinge  von  oben  herabschauend 
sprach:  Alle  diese  Dinge  sind  nur  Erscheinungen  in  Uns  (159.).  Nach  Art 
dieses  Idealismus,  der  das  Fundament  der  Philosophie  noch  immer  als  Eins 
betrachtet,  nachdem  das  Ich  verabschiedet  ist,  wollen  wir  nun  auch  einmal 
zum  kurzen  Versuch,  blofs  um  zu  sehen,  was  wohl  daraus  entstehen  möge, 


1  „gar"    fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

2  zum  Bankerot  gebracht  hat,  und  vielleicht  noch  bringen  wird.  II.  Ausg. 

3  Die  folgenden  Worte:  „allein  ....  um  die  Höhe"  lauten  in  der  II.  Ausg. : 
allein  der  vom  Ich  abgewichene  Idealismus  will  die  Einheit  behalten,  um 
die  Höhe. 

a  SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2  Abschnitt.    Methodenlehre.    4.  Cap.    Vom  System  der  Philosophie  im  Allgemeinen.    237 

das  ganze  Fundament  der  Philosophie  in  einer  Abstraction  auffassen,  näm- 
lich als  Grund  überhaupt;  wie  wenn  zwischen  einer  Ursache,  die  etwas 
wirkt,  und  einem  Erkenntnifsgrunde ,  aus  dem  etwas  folgt,  entweder  gar 
kein  Unterschied,  oder  doch  ein  solcher  wäre,  den  man  füglich  bey  Seite 
setzen  könnte,  ohne  dafs  darum  an  der  Kraft  und  Bedeutung  des  Wortes 
Grund  etwas  verloren  ginge;  mithin  dergestalt,  dafs  immer  noch  aus  dem 
Grunde  etwas  folge,  wenn  schon  unbestimmt  bleibe,  ob  das,  was  folgt,  eine 
Wirkung,   oder  eitie  Folgerung,   oder  beides  zugleich  sey. 

Dafs  Wirkungen  Veränderungen  seyen,  daran  zweifelt  der  gemeine 
Verstand  nicht;  denn  was  er  geschehen  sieht,  das  erscheint  ihm  als  Ver- 
änderung, und  diese  eben  nennt  er  Wirkung,  indem  er  eine  Ursache  hin- 
zudenkt. Dagegen  wollen  wir  nun  für  jetzt  nicht  streiten;  denn  es  kommt 
hier  nicht  darauf  an,  den  Begriff  der  Wirkung,  —  die  freylich  in  einem 
gewissen  Sinne  keine  Veränderung  ist,    —   richtig  zu  bestimmen. 

Angenommen  also  wenigstens  für  jetzt:  alle  Wirkung  sey  Veränderimg; 
so  können  wir  das  Vorige  nun  so  aussprechen:  Es  soll  immer  noch  aus 
dem  Grunde  etwas  folgen,  wenn  schon  unbestimmt  bleibt,  ob  das,  was 
folgt,   eine    Veränderung,  oder  eine  Folgerung,   oder  beides  zugleich  sey. 

[285]  Was  wir  hier  ausgesprochen  haben,  ist  freylich  ganz  falsch. 
Allein  zur  Philosophie  gehören  falsche  Meinungen,  die  man  vermeiden 
lernen  muls,  zuweilen  so  wesentlich,  dafs  gerade  nur,  indem  sie  mit  Be- 
sonnenheit vermieden  werden,  die  Wahrheit  hervorleuchtet. 

Wäre  der  eben  ausgesprochene  Satz  wahr,  so  könnte  man  leicht  hinzu- 
setzen:  die  Veränderung,  welche  wir  oben  zum  Fundamente  der  Meta- 
physik rechneten,  als  wir  jene  Reihe,  Inhärenz,  Veränderung,  Materie,  und 
Ich  hinstellten  (1 57.),  ist  zwar  nur  ein  Bcyspiel  für  den  weit  allgemeinern 
Begriff  des  Ucbcrgehens  vom  Grunde  zur  Folge;  aber  sie  ist  doch  ein 
passendes  Beyspiel,  das  einen  besondern  Fall  in  der  Mitte  der  Erfahrung 
darstellt,  mithin  einem  Jeden,  der  Erfahrung  zu  schätzen  weifs,  sehr  will- 
kommen seyn  wird,  um  den  vor  erwähnten  dunkeln  Begriff  (dunkel  muls 
er  wohl  seyn,  da  er  falsch  ist,)  dadurch  zu  beleuchten. 

176.  [=  195  d.  IL  Ausg.]  Man  fasse  nun  das  gesammte  Fundament 
der  Philosophie  (169.)  als  ein  ungetheiltes  Eins  auf. 

„Aber  das  ist  nicht  möglich,  (möchte  Jemand  einwenden,)  das  Fun- 
dament besteht  ja  aus  ganz  ungleichartigen  und  unverbundenen  Theilen!" 

Unbekümmert  um  diesen  Einwurf,  (denn  wir  wollen  eben  etwas  Falsches 
erreichen  und  ins  Licht  stellen),  fahren  wir  fort:  aus  dem  ungetheilten 
Einen,  dem  Grunde,  woraus  die  Philosophie  folgen  soll,  lasse  man  nun 
dieselbe  nach  Einerley  Methode  sich  entwickeln. 

„Aber  eben  dagegen  (möchte  Jemand  sagen)  ist  schon  oben  (154. 
172.)   ausdrücklich  gewarnt  worden!" 

Unbekümmert  auch  hierum,  fahren  wir  weiter  fort:  die  gestickte  Eni- 
wükelung  leiste  man  nach  dem  Beyspiele  der  Veränderung,  die  aus  der  Er- 
fahrung sattsam  bekannt  ist,  und  benutze  dabey  gelegentlich  die  andern, 
in  dem  Fundamente  der  Philosophie  als  Eins  gedachten  Begriffe;  dem- 
nach die  Materie,  die  Inhärenz,  und  das  Ich;  späterhin  [286]  auch  die 
praktischen  Ideen  und  die  Erzeugnisse  ästhetischer  Urtheile  überhaupt. 

Was  wird   denn   auf  diese  Weise   zu  Stande   kommen?    Ein  System 


2?8  II-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

der  Philosophie  im  Allgemeinen,  gemäfs  der  Ueberschrift  des  Capitels,  von 
welchem  wir  nicht  füglich  behaupten  dürfen,  ein  solches  sey  unmöglich; 
denn  Hegels  System  ist  wirklich  vorhanden,  und  überdies  besitzt  es  den 
Vorzug,  das  Wesentliche  der  ScHELLiNGschen  Lehre1  mit  ungemeiner 
Präcision  vor  Augen  zu  stellen. 

177.  [=  196  d.  IL  Ausg.]  Alle  Anfänger  in  der  Philosophie  haben 
Mühe  daran  zu  glauben,  dafs  in  den  gegebenen  Formen  der  Erfahrung, 
also  in  der  Veränderung,  der  Inhärenz,  der  Materie  und  dem  Ich,  wenn 
wir  die  Begriffe  hievon  dem  Gegebenen  gemäfs  aufnehmen,  Wider Sprüche 
liegen,  die  wir  beym  Aufnehmen  nicht  vermeiden,  sondern  nur  durch  fort- 
gesetztes Nachdenken  überwinden  können.  Ohne  diese  Widersprüche  scharf 
zu  betrachten,  ist  keine  tüchtige  Methode  in  der  Philosophie  möglich ;  sondern 
das  Philosophiren  verfällt  bald  in  diesen  bald  in  jenen  Widerspruch,  wie 
in  eine  verborgene  Grube.  Aber  wir  würden  aus  dem  Tone  dieses  Buchs 
fallen,  wenn  wir  das  in  den  streng  wissenschaftlichen  Schriften  darüber 
längst  Gesagte  hier  noch  einmal  wiederhohlen  wollten.  Da  nun  der  Gegen- 
stand gleichwohl  hier  mufs  erwähnt  werden,  so  kann  das  nicht  passender 
als  auf  historische  Weise  geschehen.  Nicht  blofs  der  Verfasser  sah  diese 
Widersprüche"  schon  damals,  da  er  noch  in  Fichtes  Schule  war,  sondern 
sie  sind  seitdem  von  Allen,  die  FiCHTEn  benutzt  und  die  Alten  gehörig 
verglichen  haben,  gesehen,  —  freylich  nicht  gehoben,  sondern  wie  wenn 
sie  etwas  Vortreffliches  und  Erhabenes  wären,  verehrt,  —  von  Keinem 
aber  besser  als  von  Hegel  ausgebreitet  und  durch  alle  Theile  der  Philo- 
sophie hindurchgeführt  worden.  Darum  ist  Hegels  Lehre  eine  zwar  nicht 
neue,  aber  merkwürdige  und  vorzüglich  lichtvolle  Thatsache;  trotz  allem 
Dunkel  in  Hegels  Schriften  für  Jeden,  der  etwas  Anderes  darin  sucht, 
[287]  als  nur  gerade  diese  Thatsache  der  in  den  Erfahrungsbegriffen  ge- 
gebenen  Widersprüche. 

178.  [=  197  d.  IL  Ausg.]  Hegels  Satz:  was  ivirklich,  das  ist  ver- 
nünftig, und  umgekehrt,  vermischt  schon  praktische  Ideen  und  metaphysche 
Principien.  Wenn  er  aber  sogar  das  Sern  mit  dem  Nichts  verbindet,  so 
findet  er  für  die  Einheit  beider  kein  näher  liegendes  Beyspiel,  als  die  Ver- 
änderung, sammt  den  ihr  zugehörigen  Begriffen  Anfang  und  Ende.  Und 
hiemit  versetzt  er  sich  in  die  Mitte  der  Erfahrung,  welche  er  sogleich  als 
seinen  wahren  Grund  und  Boden  würde  anerkannt  haben,  wenn  ihm  nicht 
die  alten  idealistischen  Verkehrtheiten,  und  jene  falsche  Abstractionsweise 
(174.)  anklebten.  Von  der  Veränderung  sagt  er  ganz  richtig:  „Jeder  hat 
eine  Vorstellung  „vom  Werden,  und  wird  zugeben,  dafs  es  Eine  Vorstellung 
ist;  ferner  dafs  wenn  man  sie  analysirt,  die  Bestimmung  des  Seyn  aber  auch 
vom  schlechthin  Andern  desselben,  dem  Nichts,  darin  enthalten  ist;  ferner, 
dafs  diese  beiden  Bestimmungen  ungetrennt  in  dieser  einen  Vorstellung  sind; 
so  dafs  Werden  somit  Einheit  des  Seyns2  und  Nichts  ist."  Das  heifst, 
setzen  wir  hinzu,  der  Widerspruch  im  Werden  ist  eben  so  unleugbar  gegeben, 


1  „Lehrer"  I.  Ausg.  a 

2  „Seyn';  statt  „Seyns"  II.  Ausg.' 


U.   b   SW  merken  die   Abweichung  nicht  an. 


2.  Abschnitt.   Methodenlehre.    4.  Cap.    Vom  System  der  Philosophie  im  Allgemeinen.   239 

als  das  Werden  oder  die  Veränderung  in  der  Erfahrung  jeden  Augenblick 
gegeben  wird,  —  und  zwar  in  der  innern  Erfahrung  noch  auffallender  als  in  der 
auf sem,  da  man  ja  ganz  passend  der  Veränderlichkeit  der  Gedanken  dieSchnellig- 
keit  des  Blitzes  vergleicht;  —  hiemit  ist  gegen  die  Logik  soviel  gewonnen,  dafs 
sie  das  Auftreten  des  Widerspruchs  im  Vordergrunde  der  Philosophie  nicht 
hindern  kann,  —  denn  sonst  mülste  sie  die  Erfahrung  zum  Stillstande  bringen. 
Aber  daraus  folgt  nicht,  dafs  die  Logik  sich  dabey  beruhigen,  oder  gar  sich 
der  Erfahrung  zu  gefallen  umformen  müfste.  Sondern  die  Logik  besteht, 
und  die  Erfahrung  besteht  auch.  Die  Metaphysik  aber  mufs  beiden  zugleich 
entsprechen;  und  das  kann  sie  mit  Hülfe  der  Psychologie,  indem  diese 
letztere  dem  Ursprünge  unserer  Erfahrungsbegriffe  rückwärts  nachgehend 
[288]  (163.)  erklärt,  wie  es  zugehe,  dafs  vermöge  der  Entstehungs-  und 
Bildungsweise  unserer  Vorstellungen  die  Widersprüche,  womit  ein  genaues 
logisches  Denken  sie  behaftet  findet,   nicht  ausbleiben  konnten. 

179.  [=  198  d.  IL  Ausg.]  Eine  solche  Psychologie  kann  aber  Hegel 
nicht  gebrauchen,  denn  er  bleibt  stehen  bey  den  Widersprüchen;  sie  sind 
ihm  gerechtfertigt  eben  dadurch,  dafs  sie  vorhanden  sind;  —  der  wahre 
Charakter  des  Empirismus;  obgleich  nicht  des  gemeinen  Empirismus,  denn 
dieser  sieht  gar  keine  Widersprüche,  und  gelangt  gar  nicht  bis  zu  der  Frage, 
ob  er  sie  dulden  wolle,  oder  nicht.  Hegel  aber  —  damit  ja  Niemand 
die  Auflösung  derselben  von  ihm  begehre  —  erklärt  sie  (wunderbar  genug !) 
eben  dadurch  für  aufgehoben,   dafs   er  sie   starr  hinstellt.      Er  spricht: 

„Das  Seyn  im  Werden,   als   Eins   mit  dem   Nichts,   und   eben  so   das 
Nichts,    eins    mit    dem    Seyn,    sind   nur    verschwindende;    das    Werden 
fällt    durch    seinen    Widerspruch    in  sich,    in    die   Einheit,    in    der    beide 
aufgehoben   sind,    zusammen;    sein    Resultat    ist   somit    das  —    Daseyn ! 
Was  allein  einen  Fortgang  im  Wissen  begründen  kann,  ist,   die  Resultate 
in  ihrer  Wahrheit  —   vestzuhalten." 
Es   fällt  ihm  nicht  ein,   die  factische  Wahrheit,   dafs  Widersprüche  gegeben 
sind,   (welches  aus  psychischen  Gründen  nicht  ausbleiben  konnte,)   zu  unter- 
scheiden von  der  Wahrheit  einer  richtigen   Erkenntnifs,   die   erst  nach  ge- 
höriger Prüfung  darf  vestgehalten  werden.    Sein  Verfahren   ist  ähnlich  dem, 
als  wollte  Jemand  die   Aussage  eines   verdächtigen  Zeugen  darum  glauben, 
weil   das   Factum,    dafs  der   Zeuge  also   ausgesagt  hat,    wahr    ist    und   vest- 
gehalten werden   mufs.     Die   Procefsacten  werden  allerdings  die  geschehene 
Aussage    vesthalten;    ob    aber    der    Richter    sein   Urtheil    derselben    gemäfs 
fällen  wird,   ist  eine  andre   Frage. 
Hegel  fährt  fort: 
„Das  Daseyn  ist  die   Einheit  des  Seyn   und  des  Nichts,   in  der  die  Un- 
mittelbarkeit  dieser    Bestimmungen,    und    damit   in    ihrer    Beziehung    ihr 
Widerspruch    verschwunden  ist,    —    eine    Einheit,    in  der  sie  nur   noch 
Momente  sind." 

Das  gerade  Gegentheil  liegt  vor  Augen.  Man  betrachte  unmittelbar 
das  Seyn;  es  enthält  keinen  Widerspruch.  Man  betrachte  unmittelbar  das 
Nichts;  es  enthält  keinen  Widerspruch.  Noch  war  er  nicht  da;  aber 
nun  kommt  er:  man  betrachte  die  Einheit  beider,  indem  man  sie  zugleich 
vermittelst  des  Begriffs  vom  Seyn,  und  vermittelst  des  Begriffs  vom  Nichts 
auffafst:    nun    ist    der    Widerspruch    —    noch    nicht    verschwunden,    denn 


2  io  II-   Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

gerade  durch  die   Einheit  wird   er  erst  gebildet.    Und  so  hält  Hegel  ihn 
vest,   eben   indem  er  ihn  für  schon  verschwunden  erklärt. 

180.  [=  19g  d.  IL  Ausg.]  Aber  ist  Hegel  nicht  auch  selbst  von  der 
Erfahrung  abgewichen?  Wer  mag  das  Werden  aus  dem  Seyn  und  dem 
Nichts  zusammensetzen?  Das  Nichts  ist  kein  Gegenstand  der  Erfahrung, 
sondern  ein  Begriff.  Und  wenn  dieser  Begriff  bey  Gelegenheit  einer  be- 
obachteten Veränderung  erzeugt  wird:  so  mufs  man  ihn  sich  auf  ähnliche 
Art  deutlich  machen,  wie  wenn  Tangenten  an  die  krumme  Bahn  eines 
bewegten  Körpers  gezogen  werden.  Alsdann  nämlich  zeigen  die  Tangenten, 
als  verlängerte  Richtungen  der  Bewegung,  die  Gegenden  an,  wohin  der 
Körper  nicht  wirklich  fortgeht,  obgleich  er  im  Begriff  war,  dahin  zu  ge- 
langen. Nun  würde  aber  aus  diesem  Nicht  und  aus  dem  Dort,  wo  der 
Körper  so  eben  noch  war,  doch  die  Bewegung  nicht  können  beschrieben 
werden;  sondern  er  geht  anstatt  der  Tangente  in  einer  andern  Richtung 
fort.  So  auch  die  Veränderung.  Das  Seyn  vermählt  sich  in  ihr  nicht 
mit  dem   Nichts,  sondern   Etwas  wird  ein  Anderes! 

Wer  Hegeln  nicht  kennt,  der  möchte  auf  uns  die  Beschuldigung 
zurückwerfen,  ihn  fälschlich  des  Empirismus  angeklagt,  und  hintennach 
aus  dieser  grundlosen  Voraussetzung  den  zweyten  Vorwurf,  er  sey  von 
der  Erfahrung  abgewichen,  erst  herausgekünstelt  zu  haben.  Wir  müssen 
also  weiter  fortgehend  ihn  begleiten,  um  zu  zeigen,  da/s  der  zweyte  Vor- 
[_2C)o]7üurf  gar  nicht  ernstlich  gemeint  ist,  sondern  nur  Hegels  Verfahren  be- 
merklich machen  soll,  indem  er  vom  Seyn  und  vom  Nichts  zwar  in  Ab- 
stractionen  geredet,  aber  den  Erfahrungsbegriff  der  Veränderung  von  An- 
fang an  im  Auge  gehabt  hat.  Er  sagt  ganz  deutlich  im  §.  95.  seiner 
Encyklopädie : 

„Was  in  der  That  vorhanden  ist,  ist,  dafs  Etwas  zu  Anderem,  und 
das  Andere  überhaupt  zu  Anderem  wird." 
Bezeichnen  wir  das  Etwas  und  das  Andere  mit  a  und  b:  so  können  wir 
seinen  Gedanken  kurz  so  ausdrücken :  das  Eigentlich  -  Vorhandene  ist  das 
Uebergehn  des  a  in  b.  Dies  wird  noch  deutlicher  durch  den  kurz  vorher 
aufgestellten  Satz  (§.  93.): 

„Etwas  wird  ein  Anderes;    aber  das  Andere    ist  selbst  ein  Etwas,  also 
wird  es  gleichfalls  ein  Anderes,  und  so  fort  ins   Unendliche." 
und  unmittelbar  zuvor: 

„Etwas  ist  durch  seine  Qualität  erstlich  ejidlich,  und  zweytens  veränder- 
lich,  so  dafs  die  Veränderlichkeit  seinem  Seyn  angehört." 
Nämlich  die  Qualität  a  besteht  nicht;  sondern  ihr  hängt  die  Bestimmung 
an,  überzugehn  in  b.  Darum  ist  das  Etwas  in  seiner  Qualität  a  ein  End- 
liches, weil  sie  nicht  bleiben,  sondern  dem  b  Platz  machen  soll,  welches 
seinerseits  auch  nicht  bleibt,  vielmehr  dem  c,  d,  u.  s.  f.  weichen  mufs. 
Wie,  wird  man  fragen,  kann  denn  die  Qualität  a  ihr  eigne.s  Gegen- 
theil  in  sich  vorbestimmt  enthalten?  Das  wäre  so,  als  ob  ein  Körper 
auf  seiner  krummen  Bahn  von  der  Tangente  eben  deshalb  abwiche,  weil 
er  sich  in  ihrer  Richtung  bewegt  hat.  Aber  gerade  im  Gegentheil  gehört 
bekanntlich  eine  anziehende  Kraft  dazu,  die  Bahn  zu  krümmen;  und 
wenn   die   Kraft  fehlt,   so  krümmt  sie   sich  wirklich  nicht. 

Der  Einwurf  ist  richtig.    Aber  es  ist  ein  Beweis  des  reinen,  lauteren, 


2.  Abschnitt.   Methodenlehre.    4.  Cap.    Vom  System  der  Philosophie  im  Allgemeinen.    24 1 


ungetrübten  Empirismus,  von  solchen  anziehenden  Kräften,  oder,  um  uns 
allgemein  auszudrücken,  von  äußern  U1  sacken  keine  Notiz  zu  nehmen, 
sondern  das  [291]  Factum  aufzufassen  wie  es  liegt.  Der  Empirist  mufs 
bekennen,  dals  die  anziehende  Kraft,  wodurch  etwa  die  Sonne  jeden 
Augenblick  die  Planeten  nöthigt,  von  der  Tangente  abweichend  ihre  Bahn 
zu  krümmen,  kein  Factum  ist,  sondern  eine  bequeme  Hypothese.  In 
diesem  Puncte  also  bleibt  Hegeln  der  Ruhm  eines  ungetrübten  Empirismus 
ungeschmälert.  Die  Erfahrung  ergiebt  Veränderungen;  sie  zeigt  Pflanzen 
und  Thiere  im  Wachsthum  begriffen;  aber  wem  hat  sie  auf  seine  Frage 
nach  den  Ursachen,  die  er  hinzudachte  und  forderte,  geantwortet? 

Anders  verhält  sich's  mit  der  Logik.  Diese  sträubt  sich,  wenn  der 
Qualität  a  ihre  eigne  Verneinung  anhängen,  und  wenn  dem  Dinge,  gerade 
darum  weil  es  eben  jetzt  die  Qualität  a  besitzt,  die  Notwendigkeit  in- 
wohnen soll,  nicht  mehr  a,  sondern  ein  entgegengesetztes  b  zu  werden. 
Darum  wurde  schon  oben  (158.)  der  Streit  zwischen  der  Logik  und  der 
Erfahrung  angekündigt.  Wäre  dieser  Streit  ersonnen,  erdichtet,  erkünstelt: 
so  hätte  Hegels  Lehre  keine  Bedeutung.  Aber  er  läfst  sich  nicht  hin- 
wegläugnen,  und  daraus  ergeben  sich  die  Anfangsgründe  der  Metaphysik. 
181.  [=  200  d.  II.  Ausg.]  Man  dürfte  der  Philosophie  Glück  wünschen, 
wenn  die  andern,  von  der  Erfahrung  aufgegebenen  Probleme  bey  Hegel 
«ben  so  klar  und  rein  hervortreten,  wie  das  der  Veränderung.  Dann  hätte 
jedoch  ganz  entschieden  auf  Einheit  des  Princips  müssen  verzichtet  werden. 
Die  Inhärenz  der  Merkmale  in  Einem  Dinge,  woraus  der  Begriff  der 
Substanz  entsteht  (159.),  ist  von  aller  Veränderung  unabhängig;  und  wie 
unabhängig  der  Begriff,  eben  so  unabhängig  giebt  ihn  die  Erfahrung.  Weder 
Schnee  noch  Eisen,  um  an  die  obigen  Beyspiele  zu  erinnern,  brauchen  zu 
schmelzen,  damit  ihre  Substanz  vermifst  und  eben  im  Vermissen  voraus- 
gesetzt werde;  die  blofse  gegenseitige  Fremdartigkeit  der  Merkmale  des 
Schnees  reichen  dazu  hin,  und  dasselbe  gilt  vom  Eisen  und  von  allen 
andern  Dingen.  Das  Ich  und  die  Materie  befinden  sich  im  nämlichen 
Falle;  Geistiges  und  Räumliches  ent[292]halten  ihre  eignen  Probleme  und 
selbstständigen  Anfangspuncte  des  Denkens. 

Hegel  dagegen  ist  auch  hier  der  Repräsentant  gar  Vieler,  die  seit 
Fichte  wenig  gelernt  und  wenig  vergessen  haben.  Das  Eine  Princip, 
die  Veränderung,  mufs  sich  unter  seinen  Händen  durch  allerley  Abstrac- 
tionen  so  lange  verändern,  bis  er  von  dem  Vielen,  von  dem  Idealen,  von 
Repulsion  sogar  und  Attraction  das  Nöthige  hineingekünstelt  hat,  und 
■das  gelingt  ihm  zum  Bewundern  schnell  so  weit,  dafs  man  die  Spuren 
der  Zielpuncte,  die  er  zu  erreichen  strebt,  bemerken  kann;  nämlich  In- 
härenz, das  Ich,  und  die  Materie. 

Ein  harmloser  Begriff,  das  Für -sich- seyn,  genügt  ihm  zu  dem  Allen. 
Er  kommt  darauf  durch  Reflexion  über  die  Veränderung.  Bezeichnet  die 
Reihe  a,  b,  c,  d,  .  .  .  welche  nach  einander  von  dem  in  Veränderung 
Begriffenen  durchlaufen  werden  soll,  die  wechselnden  Qualitäten:  so  mag 
man  immerhin  mit  Hegel  sprechen: 

„Das,  in  welches  es  übergeht,  ist  ganz  dasselbe,  was  dasjenige,  ivelches 
übergeht;  beide  haben  keine  weitere  Bestimmung,  als  nur  die  eine  und 
gleiche,  ein  Anderes  zu  seyn." 

16 


Herbafi's  Weike.     IX. 


24  2  IL  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


In  der  That,  auf  dem  Faden  der  Veränderung  gereihet,  sind  a,  b,  c,  nur 
die  wechselnden  Glieder,  die  als  solche  unter  einerley  Begriff  ihres  Gegen- 
satzes fallen,  und  a  ist  im  Verhältnifs  zu  b,  dem  Anderen,  selbst  schon 
ein  Anderes  gegen  b.     Was  soll  denn  daraus  folgen? 

„Etwas,    in  seinem   Uebergehen    in  Anderes,    geht    nur    mit    sich    selbst 

zusammen.      Was    verändert    wird,    ist    das    Andre;    es    wird    das  Andre 

des  Andern.     So  ist  das  Seyn,  aber  als  Negation  der  Negation,  wieder 

hergestellt,  und  ist  das  Für -sich -seyn." 

Spräche    ein  Mensch:    ich    bin    Dir    ein  Andrer,    Du    aber    bist    auch    für 

mich   ein  Andrer,  und   eben  deshalb  bin  ich  für  mich,  weil  ich  der  Andre 

des   Andern    bin:    so  würde  man    ihn    zwar  fragen,    ob    er   denn   nicht    für 

sich  zu  seyn  gelernt  habe,   ohne  sich  erst  Andern  entgegen  zu  stemmen? 

Jedoch    könnte   [293]   man    seine    Rede    verstehen,    ohne    die    ungereimte 

Voraussetzung   zu    machen,    Er   sey   eine  Veränderung   des  Andern.     Der 

Begriff  der  Veränderung,   des   Uebergehens,   ist  hier  ganz  zufällig. 

In  Hegels  Sinne  aber  soll  das  Seyn  verneint  und  wiederhergestellt 
werden.  Das  ist  schlimm  für  ihn.  Denn  wir  könnten  zwar  das  Mit-sich- 
selbst-Zusammengehn  wohl  einräumen,  wenn  wir  an  den  Faden  der  Verände- 
rung, an  das,  Gesetz  derselben,  an  das  Beharrliche  dächten,  welches  stets 
sich  gleich  bleibend  der  Veränderung  zum  Grunde  liegt;  aber  dem  Ver- 
änderten gehn  bey  Hegel  die  Negationen  so  durch  Mark  und  Bein, 
dafs  von  ihnen  das  Seyn  getroffen  wird,  dergestalt,  dafs  man  bald  meinen 
möchte,  es  gebe  bey  ihm  gar  kein  Beharrliches.  Wiewohl  er  nun  dieses 
letztere  schwerlich  aufgeben  möchte,  so  mufs  er  doch  nicht  verlangen, 
dafs,  wenn  er  es  nicht  ausdrücklich  als  das  wahre  Substrat  absondert,  wir 
ihm  noch  irgend  ein  Selbst,  eine  Identität,  vollends  ein  Zusammengehn 
mit  sich  selbst,   einräumen   sollten. 

•'  Das  veraltete  Substrat  jedoch,  an  welchem  in  der  altern  Metaphysik 
die  Veränderungen  so  geschickt  vorübergleiten,  dafs  sie  es  nicht  im  min- 
desten beschädigen,  jetzt  noch  zu  vertheidigen,  wäre  vergeblich.1  Soll  es 
einmal  in  vollem  Ernste  eine  Veränderung  geben,  so  mufs  sie  den  Dingen 
an  die  Wurzel  gehn.  Immerhin  also  mag  die  Veränderung  sie  zerstören; 
immerhin  mag  Zerstörung  der  Zerstörung  für  Wiederherstellung  gelten. 
Also  wenn  das  Getödtete  in  neuer  Gestalt  wieder  auflebt,  mag  es  noch 
Dasselbe  seyn,  wie  zuvor:  was  gewinnen  wir  mit  dem  Allen? 

„Das    Fürsichseyende,    oder   das    Eins,  ist   das    in   sich    Unterschiedslose  ; 
und  damit  das  —  Andere  aus  sich  Ausschliefsende." 
Das  möchte  hingehn.     Aber  hieraus  entsteht  nun  sogleich  weiter: 

„Unterscheidung  des  Eins  von  sich  selbst;  Repulsion  des  Eins,  das  ist: 
Setzen  vieler  Eins.  Die  Vielen  sind  aber  [294]  das  Eine  was  das 
Andere  ist;  jedes  ist  Eins,  oder  auch  Eins  der  Vielen;  sie  sind  daher 
Eins  und  dasselbe.  Oder  die  Repulsion  an  sich  selbst  betrachtet,  so  ist 
sie  als  negatives  Verhalten  der  vielen  Eins  gegen  einander  eben  so  wesent- 
lich ihre  Beziehung  auf  einander;  und  da  diejenigen,  auf  welche  sich  das 
Eins  in  seinem  Repelliren  bezieht,  Eins  sind,  so  bezieht  es  sich  in  ihnen 


1    Zu  dem   Worte:   „vergeblich"  hat  die  II.  Ausg.  folgende  Anmerkung: 
Man   halte  diesen  Punct   vest,   wenn   man   zur  wahren   Metaphysik  gelangen   will. 


2.  Abschnitt.   Methodenlehre.   4.  Cap.    Vom  System  der  Philosophie  im  Allgemeinen     243 

auf  sich  selbst.  Die  Repulsion  ist  daher  eben  so  wesentlich  Attraction ; 
und  das  ausschliefsende  Eins  oder  das  Fürsichsevn  hebt  sich  auf." 
Nun  sehen  wir  das  Ziel.  Und  damit  man  ja  nicht  etwa  die  Ausdrücke 
Attraction  und  Repulsion  als  blols  bildlich  verstehe,  so  ist  ausdrücklich 
sogleich  von  der  Atomistik,  ja  von  der  Physik  und  ihren  Moleculen  1  die 
Rede.  Also  von  der  Materie!  Kann  so  schnell  die  Materie  ausgestrahlt 
und  zusammengezogen  werden,  so  wird  man  nach  solcher  Schöpfung  aus 
Nichts  doch  nicht  mehr  über  die  Inhärenz  der  vielen  Merkmale  in 
Einem   Dinge  in  Zweifel  und  Verlegenheit  gerathen ! 

182.  [=  201  d.  II.  Ausg.]  Hegels  Abstractionen,  denen  immerfort 
die  Veränderung  zum  Grunde  liegt,  bringen  es  zwar  an  dieser  Stelle  noch 
nicht  bis  zum  Ich,  aber  doch  bis  zu  einer  Spur,  die  dahin  führen  kann; 
nämlich  bis  zum  Ideellen.  Was  ist  denn  das  Ideelle?  Ohne  Zweifel  ein 
Bild,  oder  ein  Bildliches;  die  Erklärung  des  Bildes  aber  besteht  darin, 
dafs  es  dem  Originale  in  Allem  gleiche,  nur  nicht  dessen  Realität  besitze. 
Soll  demnach  ein  Bild  vorhanden  seyn,  so  bedarf  es  eines  zweyten  Realen, 
eines  Trägers,  wäre  derselbe  auch  nur  ein  Stück  Papier  oder  Leinwand, 
worauf  es  gemalt  sey.  Mit  einer  blofsen  Negation  irgend  eines  Realen, 
gleichviel  wie  und  unter  welchen  Bestimmungen,  hat  man  noch  lange 
kein   Bild.      Wie   wird   denn   Hegel  dahin  gelangen? 

„Etwas,    in    seinem  Uebergehen    in  Anderes,    geht   nur   mit   sich   selbst 
zusammen;    und    diese  Beziehung   im   Uebergehen,  und   im   Andern    auf 
sich    selbst,    ist    die    wahrhafte    Unendlichkeit.     Das    wahre    Unendliche 
erhält    sich;    es  ist  das  Affir[2  95]mative,   und  nur  das  Endliche  ist  das 
Aufgehobene,   —   das    Ideelle.     Im    Für  -  sich  -  seyn    ist    die    Bestimmung 
der  Idealität  eingetreten.    Das  Daseyn  zunächst  nur  nach  seinem  Seyn 
oder  seiner  Affirmation  aufgefafst,  hat  Realität;  somit  ist  auch  die  End- 
lichkeit zunächst   in   der  Bestimmung  der  Realität.     Aber  die  Wahrheit 
des    Endlichen    ist    vielmehr    seine    Indealität.      Eben    so    ist    auch    das 
Verstandes-Unendliche,    welches,   neben  das  Endliche  gestellt,  selbst  nur 
Eins  der  beiden  Endlichen  ist,  ein   unwahres,  ein  ideelles." 
Wir  zweifeln    nicht    einen   Augenblick,    dafs    das  Wahre    sich    erhalte,  und 
wollen    diesmal    nicht    darüber    streiten,    in    welchem    Sinne    es    sich    ver- 
theidigen  lasse,  wenn  das  Ständige,  Wahre,  ein  Unendliches  genannt  wird. 
Aber  dafs  die  Idealität    in   der  Nichtigkeit    des   Endlichen   gesucht    werde, 
können  wir   in  keinem  denkbaren    Sinne  hingehn  lassen.     Sey  das  Ideale 
auch   nur   das   schlechteste  aller  Bilder,   so  mufs  doch  ein   wirkliches  Ge- 
schehen   sich    ereignen,    damit    auch    nur    ein  Solches    zu  Stande    komme. 
Und  wo  bleibt  das  Original?     Vermuthlich   ist  dies   in  Rauch  und  Feuer 
aufo-eo-ansren ;    denn    wir    haben    weiter  nichts    vernommen,    als    blofs    dies, 
das  Endliche  sey  aufgehoben;  und  die  Kraft  dieser  Negation  sey  so  stark, 
dafs,  selbst  wenn  das  Unendliche  als  ein  Unwahres  betrachtet  werde,  nun 
der  Ausdruck    Ideell   das    rechte    Wort    dafür    sey.  —  Ein    falsches   Wort 
scheint    die    Täuschung    vermittelt    zu    haben.      Von    dem    Ich    mag    wohl 
Jemand  (nämlich  Fichte)  gesagt  haben:   es  sey  für  Sich.     Also  brauchte 

1  „ihren  Molekeln"  II.  Ausg.* 

*    SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der   I.  Ausg. 

16* 


244  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

nur  irgend  eine  Veranlassung  benutzt  zu  werden,  um,  gleichviel  in  welchem 
Sinne,  das  Wort  Fürsichseyn  herbeyzuziehn,  so  genügte  dies  an  sich  un- 
schuldige, aber  auch  sehr  unbestimmte  Wort,  um  verdeckterweise  die  Ich- 
heit,  hiemit  aber  das  Vorstellen,  Denken,  —  die  Idealität  zu  gewinnen. 
Ein  leichter  Kunstgriff,  um  der  Psychologie  eine  ihrer  mühsamsten  Unter- 
suchungen zu  sparen!  Aber  das  „in  sich  Unterschiedslose"  Fürsichseyn 
ist  sicher  kein  Ich,  sondern  dessen  deutliches  Gegentheil.      [296] 

£g2  r=  202  d.  II.  Ausg.]  Wir  müssen  hier  abbrechen;  denn  wir 
könnten  sonst  kaum  vermeiden,  auch  noch  der  Art  und  Weise  zu  erwähnen, 
wie  Hegel  in  den1  nämlichen  Knoten,  worin  bey  ihm  die  vier  Haupt- 
probleme der  Metaphysik  sich  verwickeln,  die  Grundbegriffe  der  Sittlichkeit 
und  Religion  hineingeschlungen  hat.  Davon  liegt  die  eigentliche  Schuld  nicht 
an  ihm,  sie  ist  weit  älter;  allein  es  ist  hier  nicht  nöthig,  ihr  nachzuforschen.* 
Geht  man  nicht  gänzlich  aus  dieser  Weise  des  Philosophirens  heraus: 
so  wird  es  Niemand  leicht  besser  machen  als  Hegel;  wohl  abei  viel 
schlechter.  Denn  vergleichungsweise  ist  seine  Präcision  zu  rühmen,  wäh- 
rend bey  Andern  der  Schwulst  alles  Nachdenken  erstickt. 

Das  Resultat  dieses  Capitels  ist,  dafs  ein  System  der  Philosophie  im 
Allgemeinen,  wovon  etwa  Logik,  Aesthetik,  Metaphysik,  vollends  Psychologie 
und  Naturphilosophie,  nur  Anwendungen  und  besondere  Richtungen  wären, 
keine  andre  als  eine  historische  Existenz  besitzt,  die  Niemandem 2  befremden 
sollte,  dem  nicht  die  Geschichte  der  Philosophie  fremd  ist.  Aber  die 
Geschichte  ist  keine  Auctorität  für  ein  speculatives  System.  Dafs  man  in 
allen  Theilen  der  Philosophie  von  Grund  und  Folge  reden  kann,  haben 
wir  erinnert  (174.)-  Aber  nicht  alle  Folgen  sind  Wirkungen;  nicht  alle 
Gründe  sind  Ursachen;  den  Widerspruch,  welcher  in  der  Veränderung 
liegt,  läfst  die  Logik  nicht  gelten,  die  Aesthetik  läfst  sich  auf  ihn  gar 
nicht  ein;  vollends  unerlaubt  wäre  es,  ihn  der  Sittenlehre  aufzudringen, 
die  sammt  der  Religionslehre  von  Zweifeln  und  verworrenen  Speculationen 
möglichst  rein  erhalten  werden  mufs,  wenn  es  der  Philosophie  Ernst  ist, 
den  Dank  der  Menschen  verdienen  zu  wollen. 


[297]  Fünftes  Capitel. 
Von  der  allgemeinen  Metaphysik. 

Grau,   theurer  Freund,  ist  alle  Theorie, 
Und  grün  des  Lebens  goldner  Baum. 

184.  [=  203  d.  II.  Ausg.]  Folgsam  dem  Spruche  des  Dichters, 
haben  wir  vorhin    (123    u.  s.  w.)   versucht,   ohne  Metaphysik   vom  Leben 

*  Uebrigens  ist  Hegels  Lehre  um  desto  merkwürdiger,  weil  sie  gleichsam  auf 
der  Spitze  der  älteren  Systeme  schwebt.  Wer  sich  durch  sie  befremdet  iindet,  der  hat 
von  der  Geschichte  der  Metaphysik  wohl  schwerlich  viel  begriffen.  Hegels  Wider- 
sprüche sind  die  alten  Probleme. 

1    „dem"   IL  Ausg.a 

-  „Niemanden"  SW. 

a   SW   drucken  nach  der  II.  Ausg.   ohne  Angabe  der  Abweichung   der   1.  Ausg. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     5.  Capitel.     Von  der  allgemeinen  Metaphysik.      245 


zu  reden.  Man  wird  nun  freylich  nicht  verlangen,  dafs  in  einer  Ency- 
ldopädie,  vollends  in  einer  kurzen,  die  goldnen  Bäume  grünen  sollen;  aber 
es  wäre  auch  zuviel  verlangt,  dafs  man  jener  kurzen  Darstellung  aufs  Wort 
glauben  solle.  Ungern  zwar  mögen  wir  den  Leser  mit  noch  mehr  Meta- 
physik  beschweren,  als  schon  geschehn  ist;  dennoch  sind  wenigstens  einige 
nähere  Hinweisungen  auf  diese  unentbehrliche  Grundlage  jener  Darstellung 
vonnöten,  um  das  Versprechen  des  Titels  zu  lösen. 

Und  in  der  That,  ein  bischen  Gewöhnung  reicht  hin,  um  das  Grauen 
vor  der  Metaphysik  zu  überwinden.  Wir  sehen  ja,  dafs  Menschen  sich 
gewöhnen  können,  mit  wilden  Tieren  umherzuziehn,  und  aus  deren  Fütte- 
rung und  Wartung  sich  das  Geschaßt  ihres  Lebens  für  niedern  Lohn  zu 
machen.  Gesetzt  nun  auch,  die  metaphysischen  Probleme  hätten  das  An- 
sehn wilder  Bestien:  so  wird  doch  wohl  irgendwo  in  diesem  Buche  Ge- 
legenheit gewesen  seyn,  einen  ziemlich  hohen  Lohn  vorauszusehn,  falls 
Jemand  Geduld  hätte,  sie  zu  zähmen;  oder,  mit  andern  Worten,  sich 
durch  die  Schwierigkeiten  einen  Weg  zu  bahnen,  und  die  Lehren  von  der 
geistigen  Regsamkeit,  vom  Leben,  von  der  Materie,  von  der  Seele,  zu 
prüfen,   und   zuvor  genau  zu  verstehen. 

iUra  dem  Leser  nicht  zuviel  Mühe  mit  dem  Aufsuchen  und  Zu- 
sammenstellen dessen,  was  über  die  metaphysischen  Probleme  schon 
vorkam,  zu  verursachen,  müssen  wir  auf  eine  leichtfafsliche  Form  denken, 
in  welche  das  Frühere  sich  bringen  und  einiges  Neue  sich  hinzufügen 
läfst.     Die  einfache  Reihe 

a,  b,  c,  d,  e,  .  .  .  . 
kann  erinnern  an  Hegels  Begriffe  vom  Seyn,  Daseyn,  Fürsichseyn.  Allein  damit 
ist  noch  nicht  viel  gewonnen.  Natur  und  Geist  sollen  erklärt  werden.  Die  Er- 
scheinungen derselben  laufen  aber  nicht  gerade  fort.  Vielmehr:  »es  geschieht 
nichts  Neues  unter  der  Sonne.«  Die  Erscheinungen  kehren  wieder;  man 
schreibt  ihnen  einen  Kreislauf  zu.    Versuchen  wir  einmal  folgende  Reihen : 


1  Der  folgende  Abschnitt:  »Um  dem  Leser  nicht  zuviel  Mühe  mit  dem 
Aufsuchen«  bis  zum  Schlufse  des  §  184  fehlen  in  der  II.  Ausg.,  die  dafür  folgenden 
Wortlaut  hat: 

204.  Ob  man  von  Hegeln  oder  vom  alten  Heraklit  den  Wider- 
spruch des  Flie/sens  und  Uebergehens  annehme,  ist  im  Wesentlichen  einer- 
lei; auch  das  Fichte  sehe  Ich  und  der  Reinhold  ische  Strudel,  in  welchem 
sich  Subject,  Object,  Vorstellung  herumdrehen,  ist  davon  nicht  frey.  In- 
dessen fühlten  Reinhold  und  Fichte  wenigstens,  dafs  die  offenbare  und 
unmittelbare  Beziehung  zwischen  Subject  und  Object  nicht  genüge;  sie 
suchten  diese  Beziehung  zu  ergänzen  durch  mittelbare  Beziehungspuncte, 
indem  Reinhold  dieMannigfaltigkeit  des  Stoffs  und  die  Einheit  der  Form 
(185.)  zur  Hülfe  rief;  und  indem  Fichte  seinem  Ich  auftrug,  sich  ein 
Nicht-Ich  zu  setzen,  und  eine  Wirksamkeit  gegen  dasselbe  sich  zuzuschreiben. 
Darin  sollten  Bedingungen  des  Selbstbewufstseyns  liegen.  Wären  diese  Lehren 
richtig,  so  läge  darin  eine  KANTische  Synthesis  a  priori.  Solche  Synthesen 
können  aber  nicht  errathen  werden,  sondern  man  soll  methodisch  danach  suchen.2 


2  Hier  schliefst  sich   in    der    II.  Ausg    der  Inhalt  von    185    (s.  S.   247  —  248)  an, 
und  zwar  als  Fortsetzung  von  204. 


A  u.  s.  w. 


246  II.    Kurze  Encyldopädie  der  Philosophie.      183 1. 

a,  b,  c,  d,  .  .  .  a,  b,  c,  d,  .  .  .  a,  b,  c,  d,  .  .  . 
oder  a,  b,  c,  d,  .  .  .  d,  c,  b,  a,  .  .  .  b,  c,  d,  .  .  .  d,  c  .  .  , 
Sollte  die  erste  von  beiden  brauchbar  seyn:  so  müfste  man  Rechenschaft 
geben  auf  die  Frage :  wann,  und  warum  vielmehr  dort,  als  früher  oder 
später,  das  Anfangsglied  wieder  eintrete  ?  Wie  es  zugehe,  dafs  durch  einen 
Sprung  die  bis  dahin  gerade  fortlaufende  Veränderung  plötzlich  von  vorn 
an  beginne?  —  Die  erste  nun  wird  Niemand  wählen,  schon  weil  sie  dem 
aus  der  Erfahrung  bekannten  Gange  der  Dinge  gar  zu  unähnlich  ist. 
Aber  die  zweyte  Reihe,  wenn  sie  auch  weniger  ungeschickt  aussieht,  da 
sie  sich  gleichsam  pendeiförmig  bewegt,  setzt  doch  in  dieselbe  Verlegen- 
heit.    Wann  und  weshalb  kehrt  sie  um? 

Noch  mehr.  Man  will  nicht  blofs  die  Veränderung,  sondern  auch 
die  Inhärenz  erklären.  Ein  Ding  zeigt  viele  Merkmale;  jedes  derselben 
ist  veränderlich.  Giebt  man  vollends  den  neuern  Systemen  nach,  die 
Alles  aus  Einem  Punkte  ableiten  wollen,  so  kann  man  die  Spaltungen 
nicht  weit  genug  treiben,  um  der  Mannigfaltigkeit  der  Natur  nach-[2g9] 
zukommen.     Zur  Andeutung  dessen  könnte  folgendes  Schema  dienen : 

b,    c,    d,    .  .   .  d,    c,    b, 

B,  C,  D,  .  .  .  D,  C,   B, 

ß,  y,  Ö,  ...  d,  y,  1% 
Das  soll  heifsen :  A  verändert  sich  nicht  blofs  einfach,  sondern  es  spaltet 
sich  zugleich  in  Vieles.  Man  wird  nun  leicht  in  Gedanken  das  Schema 
berichtigen.  Nämlich  jedes  der  Glieder  b,  B,  /?,  sollte  sich  wiederum 
spalten,  und  so  fort;  bis  allmählig  rückkehrend  die  Spaltung  sich  zu- 
sammenzöge, um,  nachdem  sie  wiederum  den  Anfangspunct  erreicht  hätte, 
den  nämlichen  Procefs  von  neuem  zu  beginnen.  Diese  Reihe  wird  an- 
wendbarer scheinen  als  die  vorige ;  allein  sie  führt  auf  neue,  gröfsere 
Schwierigkeiten.  Beym  Rückblick  auf  die  erste,  ganz  einfache  Reihe 
a,  b,  c,  d,  .  .  .  dachte  man  sich  b  als  das  verwandelte  a;  desgleichen 
c  als  das  verwandelte  b,  u.  s.  w. ;  demnach  blieb  in  allen  Gliedern  eigent- 
lich a  stehen  als  das  Verwandelte.  Oder  man  konnte  auch  als  solches 
eben  so  gut  b  betrachten,  oder  c,  oder  d,  und  so  fort;  wenn  man  näm- 
lich einmal  über  den  Widerspruch  in  der  Verwandlung  die  Augen  zu- 
drückt, und  mit  Hegel  spricht:  Etzuas,  in  seinem  Uebergehn  in  Anderes,  geht 
nur  mit  sich  selbst  zusammen.  Hingegen  wenn  nach  dem  letztern  Schema 
die  Spaltung  zugelassen  wird:  alsdann  verwandelt  sich  A  zugleich  in  b, 
B,  ß;  folglich  ist  nun  rueder  b,  noch  B,  noch  jÜ,  der  richtige  Stellvertreter 
des  A.  Die  Vielheit  ist  Schein,  und  entgegengesetzt  der  Einheit,  als  dem 
Wahren.*')  Und  nun  erfordert  das  Gesetz  der  fernem  Spaltung,  dafs  der 
Schein  iviederum  scheitle,  dafs  also  die  Unwahrheit  auf  eine  immer  höhere 
Potenz  steige,  —  bis  das  Gesetz  der  Rückkehr,  welches  es  auch  seyn 
möge,  vom  Maximum  der  Unwahrheit  durch  allmählige  Verdichtung  der- 
selben eine  Annäherung  an  die  Wahr[30o]heit,  —  ja  endlich  die  Wahr- 
heit selbst  wieder  aus  dem  aufgehobenen  Schein  hervorzaubere. 

Würde  eine  solche  Lehre  etwa  Beyfall  finden?  Selbst  Spinoza, 
Hegels  und  Schellings  Vorgänger  und  beynahe  ihr  Lehrer,  wollte  nicht, 


*  Man  halte  dies  vest,  und  vergleiche  damit  unten  §  206  am  Ende. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     5.  Capitel.     Von  der  allgemeinen  Metaphysik.      247 


dafs  die  wahre  Substanz  verdunste  und  sich  aus  dem  Dunste  wiederher- 
stelle; und  es  ist  sehr  zu  bezweifeln,  ob  die  doppelte  Negation,  wodurch 
Hegel  das  Seyn  sich  wiederherstellen  läfst,  seinen  Beyfall  gewinnen  würde. 
Diese  doppelte  Negation  hat  einen  andern  Platz,  wohin  sie  gehört. 
Spinoza  half  sich  ohne  sie  durch  den  Ausdruck  quatenus,  der  bey  ihm 
unaufhörlich  wiederkehrt.  Inwiefern  die  Substanz  unter  diesem  oder 
jenem  Attribute  betrachtet  wird,  soll  sie  nach  ihm  solches  oder  anderes 
Endliche  in  sich  enthalten.  In  der  That  darf  das  Wahre  nie  verloren 
gehn.  Die  Einheit  mufs  erhalten  bleiben  mitten  in  der  Vielheit;  die 
Gleichheit  mitten  in  der  Ungleichheit.  Wir  wollen  nun  suchen,  auch 
dieses  in  einem  neuen  Schema  anschaulich  zu  machen.  Vielleicht  trägt 
das  etwas  bey,  um  die  Gewalt  der  Täuschung,  welche  in  diesen  Vor- 
stellungsarten überall  herrscht,  zu  brechen. 

Das  Eine  soll  niemals  aufhören,  Eins  zu  seyn,  obgleich  es  sich  spaltet, 
verändert,   wiederherstellt.    Wie  anders  können  wir  das  ausdrücken,   als   so : 

b,    c,    d,    ...    d,    c,    b, 

A,  A,  A,  . .  .  A,  A,  A, 

B,  C,  D,  .  .  .   D,  C,  B, 

.  ß,  y,  tV,   . . .  tV,   y,  ,i, 

Unglücklicherweise  fällt  nun  das  Anfangsglied  A,  als  ob  es  ein  Glied  wäre 
wie  die  andern,  —  es  fällt  das  Wahre  mit  dem  Falschen  in  die  senk- 
rechten Reihen  b,  A,  B,  /?,  oder  c,  A,  C,  y,  oder  d,  A,  D,  tV,  zusammen. 
Hier  wird  uns  Hegel  an  seine  Verstandes-Unendlichkeit  erinnern.  Allein 
man  hebe  A  in  Gedanken  so  hoch  man  will:  der  Grundfehler  war  be- 
gangen, indem  man  es  für  den  Anfangspunkt  einer  Reihe,  ja  sogar  das 
Uebergehen  für  die  Idee  selbst,  [30 1]  erklärte.  Diesen  Fehler  aber  konnte  man 
nicht  vermeiden,  indem  man  einmal  nach  dem  Ursprünge  der  Reihe  und 
der  Vielheit  suchte.     Man  sprach,  wo  Spinoza  klüglich  schweigt.* 

In  der  That  ist  es  mit  dem  Uebergehn  des  Andern  in  Anderes  wohl 
schwerlich  rechter  Ernst.  Die  Spaltung  gleicht  vielmehr  einer  Multi- 
plication  von  Spiegelbildern  ohne  Wahrheit,  wobey  der  sich  abspiegelnde 
Gegenstand  durch  die  vielen  Bilder  nichts  verliert,  nichts  veräufsert.  Einen 
solchen  geht  freylich  das  Spiegeln  eigentlich  nichts  an;  denn  — -  es  rührt 
daher,  dafs  aufser  ihm,  unabhängig  von  ihm,  nun  gerade  Spiegel  vor- 
handen sind,  —  nach  denen  man  die  Systeme  nicht  fragen  mufs.  Die  Be- 
hauptungen :  Etwas  werde  ein  Anderes,  und  das  Nichts  sey  Eins  mit  dem 
Seyn,  werden  sich  mit  der  Zeit  schon  mildern.  Wo  nicht :  so  können  sie  die 
ohnehin    notwendige    Fortschreitung    der   Philosophie    nur    beschleunigen. 

185.1     Inhärenz    (das  Gegenstück  der  Spaltung),2  Veränderung,    und 

*  An  Worten  fehlt's  nicht.  Z.  B.  „Seyn  ist  eine  höhere  Abstraction,  als  Werden. 
Bey  der  Idee  ist  der  Standpunkt  des  Werden  längst  verschwunden.  Die  stete  Ver- 
nichtung des  Endlichen  ist  das  Setzen  desselben  als  eines  Negativen.  Es  ist  das  Un- 
endliche, welches  sich  verendlicht,  oder  vielmehr  verwirklicht;"  u.  dgl.  mehr.  Wer  uns 
zumuthen  möchte,  über  alle  diese  Worte  noch  Worte  zu  machen,  der  würde  seine 
Worte  verlieren. 

2  Die   eingeklammerten    Worte:    „das    Gegenstück    der    Spaltung"   fehlen   in 

der  II.  Ausg. 

1  Vgl.  Anmerkung  2  auf  S.  245. 


248  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

Erscheinung  (für  uns)  sind  einmal  in  der  Erfahrung  gegeben;  und  nur 
für  den  Erfahrungskreis  bearbeitet  die  Metaphysik  diese  Begriffe.*  Hat 
man l  nun  etwa  auf  Veranlassung  des  Vorstehenden,  sich  hinreichend  be- 
sonnen, dafs  keine  Wendung  des  Denkens  im  Stande  ist,  das  Viele  auf 
Eins  zurückzuführen:  so  ist  die  kurze  Vorschrift,  welche  der  Verfasser 
anderwärts  Methode  der  Beziehmgen  [302]  genannt  hat,  hier  kaum  nöthig; 
indessen  scheint  die  Ueberschrift :  Methodenlehre,  sie  zu  fordern,  und  ihr 
Wesentliches  kann  mit  kurzen  Worten  so  ausgesprochen  werden: 

Wenn  Euch  aufgegeben  ist,  Eins  zu  setzen,  das  Ihr  eben  so  wenig  ein- 
fach setzen  als  wegwerfen  könnt:  so  setzet  es  vielfach.  Alsdann  aber 
hütet  Euch,  das  Viele  zu  vereinzeln;  denn  dadurch  würde  die  vorige 
Schwierigkeit  zurückkehren.  Sondern  begreift,  dafs  von  dem  Vielen, 
sofern  es  in  gegenseitiger  Verbindung  steht,  möglicherweise  etwas  gelten 
kann,  welches  von  dem   Einzelnen   ungereimt  seyn  würde. 

Von  dieser  Formel,  die  gleich  de?i  logischen  Regeln  mit  Ueberlegung 
in  jedem  einzelnen  Falle  angewandt,  und  zu  diesem  Behufe  mit  neuen 
Kunstgriffen  des  Denkens  ausgerüstet  werden  mufs,  braucht  man  hier  nicht 
mehr  zu  verstehen,  als  nur  das  einzige,  dafs  in  ihr  von  einem  Vielen 
aufserhalb  aller  Verknüpfung  gar  nicht  die  Rede  ist,  sondern  die  Ver- 
einzelung durch  sie  untersagt  wird.  So  fordert  es  der  Zusammenhang 
der  Natur,  der  uns  weder  blofse  Einheit,  noch  blofse  Vielheit  zeigt.** 

In  Beziehung  auf  die  gegebenen  Widersprüche  ist  zu  merken,  dafs, 
noch  ehe  jene  Formel  bey  ihnen  angebracht  wird,  ihre  logische  Auseinander- 
setzung schon  geschehen  seyn  mufs;  alsdann  nämlich  zerfallen  die  Wider- 
sprüche in  mehrere  Glieder.  Jeder  einzelne  Widerspruch  als  solcher  hat 
deren  zwey.  Davon  ist  Eins  gemeint  in  den  obigen  Worten:  Wenn  auf- 
gegeben ist,  Eins  zu  setzen,  das  man  nicht  ein/ach  setzen,  und  auch  nicht 
wegzverfen  kann,  so  setze  man  es  vielfach. 

[303]  Statt  aller  weitern  Erläuterung  nur  eine  Frage:  Meint  man,  die 
Erfahrung  unterrichte  uns  zu  reichlich,  oder  zu  sparsam  ?  Sie  gebe  zu  viel, 
oder  zu  wenig?  Die  Natur  scheine  mehr  als  sie  ist?  Oder  sie  verhülle 
das  Meiste,   und  zeige  uns  nur  Bruchstücke? 

Giebt  die  Erfahrung  zu  viel:  so  haben  diejenigen  etwas  für  sich, 
welche  das  Viele  vermindern,  und  wo  möglich  auf  eine  verborgene  Ein- 
heit zurückführen  möchten.  Giebt  die  Erfahrung  zu  wenig  für  eine  zu- 
längliche Erkenntnifs,  dann  wird  man  den  anscheinenden  Widersprüchen 
mit   Recht  durch   eine  Multiplication  abzuhelfen  suchen. 

Doch  es  ist  kaum  passend,  die  Methode  der  Beziehungen  durch  so 
unbestimmte  Bemerkungen  bestätigen    zu  wollen.     Sie  bedarf  deren  nicht. 

*  Man  bemerke  wohl,  dafs  in  diesen  allgemeinen  Formen  die  Erfahrung  sich  zu 
allen  Zeiten  gleich  bleibt.  Daher  konnte  Metaphysik  schon  bey  den  Alten  vorkommen. 
Hingegen  ihre  Naturphilosophie  war  falsch ;  es  fehlten  ihnen  dazu  die  neuern  Ent- 
deckungen ;  also  mindestens  der  Prüfstein. 

1  Die  folgenden  Worte:  „nun  etwa  auf  Veranlassung  des  Vorstehenden," 
fehlen  in  der  II.  Ausg. 

Scheu  vor  atomistischer  Vereinzelung  war  vielleicht  das  stärkste  treibende 
Princip  bey  Schelling.  Hätte  man  früher  bemerkt,  wie  sie  zu  vermeiden  ist  (Metaphysik 
§  212.),  so  würden  schwerlich  grofse  Denker  sich  in  "Widersprüche,  die  nur  Durchgangs- 
punete  sind,  eingesperrt  haben,  als  wären  es  Gefängnisse. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     5.  Capitel.     Von  der  allgemeinen  Metaphysik.      240 

186.  [=  205  d.  II.  Ausg.]  Indem  die  Methode  zuerst  das  Problem 
der  Inhärenz  ergreift  (157.):  erweitert  und  berichtigt  sie  schon  hier  den 
Begriff  der  Causalität,  durch  welchen  der  gemeine  Verstand  sich  die  Ver- 
änderung erklärt,  und  die  Auffassung  derselben  zu  verbessern  beginnt,  jedoch 
ohne  damit  zu  Stande  zu  kommen.  Denn  gewöhnlich  wird  ein  Thätiges 
dem  Leidenden  entgegengesetzt;  eine  Vorstellungsart,  die  nicht  eher  als  in 
der  Psychologie  ihre  Stelle  findet  *,  und  die  uns  eigentlich  erst  bey  unsern 
Anstrengungen  zum  Handeln  geläufig  wird.**  Chemie  und  Mechanik  da- 
gegen kennen  nur  die  sogenannte  Wechselwirkung;  diese  aber  kommt  dem 
wahren,  ursprünglichen  Causalbegriffe,  wie  ihn  die  Metaphysik  zuerst  findet, 
ehe  er  weiter  bestimmt  wird,  am  nächsten.***  Eben  dieses  Begriffs  bedarf 
die  Psychologie  da,  wo  sie  vom  Entstehen  der  Vorstellungen  in  der  Seele 
Rechenschaft  giebt.  f  Hievon  sehr  verschieden  ist  die  Causalität  der 
Vorstellungen  unter  einander,  wenn  sie  sich  ins  Gleichgewicht  setzen  ff, 
[304]  und  kaum  eine  Aehnlichkeit  damit  haben  die  blofs  scheinbaren  Kräfte 
der  Attraction  und  Repulsion  in  der  Materie  (135.).  Man  mag  aus 
diesen  Unterscheidungen  wenigstens  obenhin  entnehmen,  wieviel  Arbeit  die 
Metaphysik  hat,  um  die  Mannigfaltigkeit  der  Causalbegriffe  zu  entwirren,  und 
jeden  an  seinem  rechten  Orte  gehörig  zu  bestimmen.  Wäre  nicht  hier  ein 
Gedränge  von  Vorurtheilen,  so  würden  die  sämmtlichen  Naturerscheinungen 
weit  weniger  befremden.  Und  hätten  die  Philosophen  den  Physikern  Ge- 
hör gegeben:  so  hätten  sie  wenigstens  manche  von  diesen  Vorurtheilen 
leichter  hinwegräumen  können.  Aber  die  Irrthümer  des  Idealismus  hatten 
hier  alle  Wege  versperrt;  und  wohl  niemals  ist  mehr  zur  Unzeit  ein 
Triumphlied  gesungen  worden,  als  zu  Kants  Zeit,  da  man  meinte,  nach 
Berichtigung  der  HuME'schen  Zweifel  sey  nun  endlich  der  wahre  Gebrauch 
des  Causalbegriffs  gefunden,  als  einer  Kategorie,  die  nicht  blofs,  als  ob 
sie  auf  alle  vorkommenden  Fälle  pafste,  ein  für  allemal  fertig  und  vest- 
gestellt,  sondern  auf  eine  Regel  der  Zeitfolge  in  den  Begebenheiten  be- 
schränkt sey.ftt 

Solchen  Lesern,  welchen  an  ernstlichem  Studium  der  Philosophie  ge- 
legen ist,  mufs  das  Nachschlagen  der  hier  angeführten  Stellen,  (deren  Er- 
läuterung ein  genaues  Zurückgehn  bis  auf  die  letzten  Gründe  erfordern 
würde,)  und  die  Sorge,  sich  vor  Verwechselungen  zu  hüten,  lediglich  an- 
heim  gestellt  werden.  Zu  vergleichen  sind  noch  die  Hauptarten  physio- 
logischer Erklärung.  *f  Die  Frage  wegen  der  Succession  der  Weltbegeben- 
heiten, und  wegen  des  für  nöthig  erachteten  regressus  in  infinitum  zur 
Erklärung  des  Späteren  aus  dem  Früheren,  gehört  ebenfalls  in  diesen 
Kreis  von   Vergleichungen.**f 


*    Metaphysik  II.    §    330;    [=  Bd.   VIII   vorl.    Ausg.]    und    Psychologie  I.    §  87. 
[=  Bd.  V  vorl.  Ausg.] 

**  Psychologie  II.  §   150.   [=  Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 
***  Metaphysik  II.   §   213  —  237.   —   f  Ebendas.   II.   §   313. 
jf  Psychologie  I.  §  41   etc. 
fff  Psychologie  II.  §    142.  —  *f  Ebendas.  §   156. 

**\  Metaphysik  II.  §  299.  Der  Regressus  in  infinitum,  wenn  man  dadurch  Weis- 
heit zu  erlangen  meint,  ist  bare  Thorheit.  Unsre  gegenwärtige  Erfahrung  giebt  uns 
zu  denken  und  zu  handeln.  Was  uns  nicht  gegeben  ist,  können  wir  auch  nicht  be- 
denken; und   Grübeln  heifst  nicht  Denken. 


2.  SO 


II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 


[305]  187.  [=  206  d.  IL  Ausg.]  Das  Problem  von  der  Materie 
kann  nicht  nach  der  Methode  der  Beziehungen  behandelt  werden.  Es 
weicht  von  den  andern  Problemen  dadurch  ab,  dafs  in  ihm  der  Raum- 
begriff eine  Hauptbestimmung  ausmacht.  Nun  ist  der  Raum  ein  leeres 
Nichts;  und  wiewohl  es  bey  ihm  an  Widersprüchen  nicht  fehlt,  (unter 
welchen  die  im  Begriff  der  Bewegung  die  bekanntesten,  aber  nicht  die 
einzigen  sind,)  so  ist  man  doch  nicht  berechtigt,  irgend  etwas  an  diesen 
Widersprüchen  zu  verändern.  Denn  die  Berechtigung,  wo  sie  Statt  findet, 
geht  allemal  von  dem  Ansprüche  aus,  welchen  das  Gegebene  macht,  ein 
Reales  wo  nicht  seiner  Beschaffenheit  nach  darzustellen,  so  doch  als 
seyend  anzuzeigen.  Diese  Berechtigung  pafst  weder  auf  den  Raum,  noch 
auf  die  Zeit,  noch  auf  Bewegung  als  solche. 

Damit  das  Problem  von  der  Materie  nach  richtiger  Methode  be- 
handelt werde,  mufs  das  wahre  und  ursprüngliche  Causalverhältnifs  schon 
aus  den  vereinigten  Untersuchungen  über  Inhärenz  und  Causalität  be- 
kannt seyn.  Ein  blofs  räumliches  Reales  ist  nicht  nur  schlechthin  unge- 
reimt, (weil  Aeufserlichkeit,  oder  Raumbestimmung  gar  kein  Prädicat  des 
Realen  seiner  Qualität  nach,  seyn  kann,)  sondern  solches  Ungereimte, 
wie  man  sich-  etwa  einen  blofsen  Stoff  denkt,  der  schon  im  Räume  vor- 
handen sey,  bevor  er  eine  Qualität  hat,  wird  in  der  That  niemals  und 
nirgends  in  der  Erfahrung  angetroffen;  vielmehr  zeigt  jede  Materie  von 
Kräften  wenigstens  einen  Schein  (mindestens  Anziehung  oder  Abstofsung), 
und  deutet  damit  auf  eine  verborgene  wahre   Causalität. 

Hier  aber  ist  im  Vorbeygehn  zu  bemerken,  dals  der  unrichtige  Be- 
griff des  blofsen  Stoffes  dennoch  dem  gemeinen  Verstände  nicht  ganz 
darf  genommen  werden.  Denn  die  sinnlichen  Dinge,  mit  ihren  erfahrungs- 
mäfsig  bekannten  Eigenschaften,  um  derentwillen  nach  ihren  Substanzen 
gefragt  wird  (159.),  entstehen  allerdings  aus  Elementen,  die  man  deshalb 
Stoffe  nennt,  weil  ihre  unbekannte,  wahre  Qualität  in  dem  Kreise  der 
sogenannten  Eigenschaften  gar  nicht  vorkommt,  mithin  anscheinend  nicht 
vorhanden  ist.  Erst  aus  der  Verbindung  [306]  solcher  oder  anderer  Elemente 
entspringen  die  sinnlichen  Merkmale,  deren  Summe  die  scheinbare  Qualität 
ausmacht;  ein  Satz,  den  man  aus  der  Chemie  wissen  würde,  wenn  ihn 
die  Metaphysik  nicht  lehrte.  Ein  sehr  schlechtes  Verdienst  aber  haben 
sich  diejenigen  erworben,  welche  den  rohen  Begriff  der  Veränderung  in  die 
Chemie  hineintragend  behaupten,  bey  der  Neutralisation  entgegengesetzter 
Stoffe  entstünde  eine  wahre  Einheit,  worin  das  Viele  zusammenginge.  Gerade 
umgekehrt!  in  der  chemischen  Verbindung  beharrt  jeder  Stoff  als  das,  was 
er  ist;  wovon  das  beharrliche  Gewicht  und  die  genaue  Reduction  auch 
Demjenigen  Zeugnifs  ablegen,   der  die   Begriffe  nicht   vestzuhalten  versteht. 

Aufser  den  vorgängigen  Untersuchungen  über  die  Causalität  erfordert 
aber  die  Materie  noch  ausführliche  Entwickelung  und  selbst  Berichtigung 
der  Raumbegriffe.  An  diesem  Orte  bleibt  hier,  in  der  Encyklopädie,  eine 
sehr  weite  Lücke  offen,  und  sogar  eine  zwiefache.  Denn  vom  Räume 
gilt,  was  von  der  Substanz  oben  gesagt  worden:  eine  richtige  Ansicht 
davon  wird  nur  dadurch  gewonnen,  dafs  man  die  beiden  Fragen :  wie  ist 
die  in  uns  vorhandene  Vorstellung  entstanden?  und:  wie  mufs  die  vorhandene 
Vorstellung   nun    weiter   ausgebildet    und   gebtaucht    werden?    von    einander 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.      5.   Capitel.      Von  der  allgemeinen  Metaphysik.      2  5  I 

trennt.  Jene  Frage  gehört  der  Psychologie;  diese  der  Metaphysik.  Der 
Grundfehler  der  KANTischen  Vernunftkritik  war,  beide  Fragen  zu  ver- 
mengen, und  eben  deswegen  keine  von  beiden  zu  beantworten.  Das  war 
aber  auch  bey  dem  damaligen  Zustande  sowohl  der  Psychologie  als  der 
Metaphysik  nicht  anders  zu  erwarten.  Die  Späteren  wufsten  vollends 
von  Mathematik  meistens  noch  weniger  als  Kant;  darum  meinten  sie  auf 
Kants  Behauptungen  fufsen  zu  können;  und  hielten  das,  was  Kant  unter 
dem  Namen  transfcendentale  Aesthetik  vorgetragen  hatte,  für  abgemachte 
Sachen.  Es  wird  zweckmäfsig  seyn,  diese  historischen  Bemerkungen  noch 
um  etwas  zu  verlängern,  bevor  wir  das  vierte  Problem,  das  Ich,  berühren. 

[307]  188.  [=  207  d.  IL  Ausg.]  Kants  Lehren  vom  Räume  hatten 
eine  doppelte  Wirkung.  Nur  erst  die  spätere  Wirkung  traf  die  Materie,  nnd 
hiemit  die  Naturphilosophie,  welche  dadurch  zwar  in  Gang  gesetzt,  aber 
zugleich  auf  eine  falsche  Bahn  geleitet  wurde.  Weit  voran  ging  eine  andre, 
frühere  Wirkung,  die  mit  dem  Namen  transfcendentaler  Idealismus  bezeichnet 
ist.  Der  Satz:  wir  kennen  nicht  die  Dinge  an  sich,  sondern  wissen  nur  von 
ihnen,  sofern  sie  erscheinen,  1  war  der  Kern  dieses  Idealismus.  Bewiesen 
sollte  er  zuerst  und  vornehmlich  dadurch  werden,  dafs  die  uns  bekannten 
Erfahrungsgegenstände  an  die  Formen  des  Raumes  und  der  Zeit  gebunden 
sind.  So  wurde  einem  wahren  Satze  ein  Fundament  untergelegt,  das 
nur  eine  halbe  Wahrheit  hat.  Man  schlofs  nämlich  so:  Raum  und  Zeit 
werden  nicht  empfunden;  also  sind  sie  nicht  durch  die  Erfahrung  gegeben, 
sondern  hineintragen.  Hiemit  bekommen  die  Dinge  einen  Stempel,  der 
nur  für  unsern  Gebrauch  gilt;  sie  sind  Erscheinungen.  Auf  Dinge  an 
sich  darf  dieser  Stempel,  welcher  das  Gesetz  unsrer  Sinnlichkeit  ausmacht, 
nicht  übertragen  werden. 

Wahr  ist,  dafs  Raum  und  Zeit  nicht  empfunden,  also  auch  nicht 
unmittelbar  durch  die  Empfindung  gegeben  werden.  Sie  sind  aber  dennoch 
mittelbar  gegeben,  sonst  könnte  man  die  Gestalten  der  Dinge  nicht  durch 
Beobachtung  bestimmen.  Wie  sie  können  mittelbar  gegeben  werden, 
wufste  man  nicht;  man  hätte  aber  sogleich  in  der  KANTischen  Periode 
danach  fragen  sollen. 

Ferner:  im  sinnlichen  Anschauen  fassen  wir,  unbewufst  warum  und 
wie?  die  Dinge  räumlich  und  zeitlich  auf.  Gesetzt,  Raum  und  Zeit  seyen 
von  uns  in  die  Erscheinung  hineingetragen:  folgt  denn  daraus,  dafs  wir 
das  Hineingetragene  bey  gewonnenem  Bewufstseyn  nunmehr  zurücknehmen 
müfsten?  —  Der  Schlufs  ist  ungefähr  so  beschaffen,  als  wenn  ein  Künstler 
mit  einer  Genialität,  die  er  selbst  nicht  begreift,  ein  Werk  schafft;  und  nun, 
nachdem  er  auf  sich  und  sein  Produciren  hintennach  refiectirte,  sagen  wollte : 
dies  Werk  bezeich[3o8]net  nur  mein  Thun  und  Streben;  also  hat  es  an 
sich    keinen  Werth,    sondern    mufs  zurückgenommen    und    zerstört  werden. 

Unsre  unwillkührlichen,  räumlichen  Gestaltungen  der  Dinge  sind 
solche  Kunstwerke.  Zwar  findet  sich  bey  genauer  Untersuchung  soviel 
wahr,    dafs    wir  die  Raumbestimmungen,    und  was  ihnen  ähnlich  ist,    nicht 


1   „sie   erscheinen"   nicht  gesperrt  in  der  II.  Ausgabe.1 


»  SW  drucken  nach  der  I.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  II.  Ausg. 


252  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

in  die  ursprüngliche  Qualität  jedes  Einzelnen  unter  den  Dingen  an  sich, 
hinein  denken  dürfen.  Aber  unser  Denken  des  Einzelnen  führt  zu  Nichts. 
Die  Dinge  an  sich  müssen  zusammengefafst  werden,  wenn  man  die  Er- 
fahrung begreifen  will.  Und  nun  findet  sich  weiter,  dafs  unvermeidlich 
das  zusammenfassende  Denken,  unabhängig  von  aller  Sinnlichkeit,  die 
nämliche  räumliche  Form  von  neuem  annimmt,  und  nach  bestimmten 
Regeln  auf  das  Zusammen  der  Dinge  übertragen  mufs;  mit  vollem  Be- 
wufstseyn  dessen,  was  und  wie  man  im  Denken  thut  und  verfährt.  Daher 
in   der  Metaphysik  die  Lehre  vom  intelligibeln  Räume. 

Die  Spätem  nach  Kant  wufsten  so  wenig  wie  er  vom  intelligibeln 
Räume.  Sie  fühlten  richtig,  Kant  habe  sie  zu  eng  beschränkt;  aber  ihr 
Drängen  gegen  diese  Schranken  war  revolutionär;  es  brachte  Verlust  statt 
Gewinn.  Noch  heute  begreifen  sie  die  Frage  nicht:  Wie  kommen  die 
räu?nliche7i  Ausdrücke:  U?)ifang,  Inhalt,  Gegenstand,  Gegensatz,  Subject, 
Substanz,  u.  s.  w.  in  Logik  und  Metaphysik  hinein?  Und  zwar  dergestalt, 
dafs  man  diesen,  scheinbar  metaphorischen  Ausdrücken  ihren  Platz  lassen 
mufs ;  ohne  durch  andre,  eigentliche  Redensarten  die  vermeinten  Metaphern 
ersetzen  zu  können? 

Diese1  Frage    klingt    den    heutigen  Schulen   so,    wie    dem   gemeinen 
Manne  die  Frage:    wie  kommt's,    dafs  der  Stein    zur  Erde    fällt?     Darauf 
antwortet   er:    je   nun,    der   Stein   ist   schwer.     Dafs   man   nach    dem    Ur- 
sprünge der  Schwere  fragen  könne,    fällt  ihm  nicht  ein.      Er  ist  gewohnt, 
den  Stein  fallen  zu  sehn;  das  genügt  ihm. 

So  genügt  unsern  Logikern  die  Gewohnheit,  vom  Umfange  und  In- 
halte der  Begriffe  zu  reden;  obgleich  ihre  Sinne  solchen  Umfang,  solchen 
Inhalt  niemals  geschauet  haben. 

[309]  189.  [=  208  d.  IL  Ausg.]  Eben  so  genügte  in  früherer  Zeit 
das  Selbstbewufstseyn,  um  vom  Ich  zu  reden,  als  ob  darüber  keine  weitere 
Frage  möglich  wäre.  Aber  hier  brachte  der  transfcendentale  Idealismus 
Kants,  indem  er  in  wahren  und  vollen  Idealismus  überzugehn  versuchte, 
doch  allmählig  einige  Verwunderung,  nnd  endlich  Besinnung  auf  das  vierte 
Hauptproblem  der  Metaphysik  hervor. 

Das  Ich  führt  den  sonderbaren  Reiz  mit  sich,  den  Begriff  der  Seele 
als  Substanz  zu  überspringen.  Wozu  sollte  man  auch  in  das  Dunkel  der 
Substanz  sich  verlieren,  wenn  die  unmittelbare  Klarheit  des  Selbstbewufst- 
seyns  eine  genügende  Anschauung  des  Gegenstandes,  wie  er  ist,  gestattet? 
Dieser  Gegenstand  aber,  nämlich  das  Ich,  scheint  eben  deswegen  über 
alle  Fragen  hinauszuliegen,  weil  er  selbst  der  Sitz  des  Fragens  ist.  Bin 
ich  der  Fragende  nicht  selbst? 

Einige  Ueberlegung  genügt,  um  diese  Superiorität  zurückzuweisen ;  und  die 
alte  Anweisung:  erkenne  Dich  Selbst!  hat  sie  schon  zurückgewiesen.  Das  Ich 
ist  sein  eigner  Gegenstand,  des  vermeinten  Wissens,  also  auch  des  Fragens. 

Was  aber  den  Begriff  der  Substanz  anlangt,  so  erinnere  man  sich, 
dafs  er  allenthalben  nothwendig  wird,  wo  ein  Gegebenes  mit  mehrern 
Merkmalen    die    Beute    der  Urtheile   wird,    die    ihn    unvermerkt    auflösen,. 


1  „Die"  statt  „Diese"  II.  Ausg.a 


a  SW  drucken    nach   der    II.  Ausg.    ohne  Angabe  der  Abweichung  der   I.  Ausg. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     5.  Capitel.     Von  der  allgemeinen  Metaphysik.      253 

indem  sie  blofs  die  Miene  haben,  ihn  zu  bestimmen  und  zur  deutlichen 
Erkenntnifs  hinzustellen  (159.)-  Die  Folge,  dafs  alsdann  das  Subject  der 
Urtheile  vermifst,  und  gerade  in  diesem  Vermissen  die  Substanz,  als  ein 
Unbekanntes,  gesetzt  wird,  weil  die  Urtheile  nicht  ohne  Subject  bleiben 
können,  —  diese  allgemeine  Folge  wird  in  Ansehung  des  Ich  von  Einigen 
bemerkt,  von  Andern  übersehen.  Der  letztere  Fall  tritt  da  ein,  wo  man 
die  sogenannten  Seelenvermögen  zu  Prädicaten  des  Ich  macht;  in  der 
gemeinen  Rede:  Wir  haben  Vernunft,  zvir  haben  Verstand,  wir  haben 
einen  Willen,  zvir  haben  eine  Sinnlichkeit,  und  so  fort.  Das  lautet  so, 
wie  wenn  vom  Golde  gesagt  wird,  es  habe  Eigenschaften  des  Glanzes, 
der  Farbe,  der  Schwere,  u.  s.  f.  Sobald  der  [310]  Begriff  von  der  Sub- 
stanz des  Goldes  gebildet  ist,  weifs  man,  dafs  diese  Substanz  unbekannt, 
mithin  weder  schwer  noch  gelb  noch  glänzend  ist.  Eben  so  weifs  man 
auf  der  nämlichen  Bildungsstufe,  dafs  ein  Wesen,  welches  Vernunft  und 
Verstand  und  Sinnlichkeit  hat,  bey  allen  diesen  Prädicaten,  die  es  besitzt, 
keins  derselben  ist,  und  seiner  Qualität  nach  durch  sie  nicht  kann  be- 
stimmt werden.  Hier  wäre  also  die  leere  Stelle,  wohinein  die  Substanz, 
als  das  Unbekannte,  sollte  gesetzt  werden. 

Aber  gerade  hier,  nachdem  von  dem  Ich  die  Seelenvermögen  eben 
sowohl  als  die  individuellen  Bestimmungen  der  einzelnen  Person  sind  hin- 
weggewiesen worden,  scheint  das  Ich  selbst  mit  einem  eigentümlichen, 
reinen  Glänze  hervorzuleuchten.  Die  Erklärung:  das  Ich  setzt  sich,  oder: 
es  ist  eben  dadurch,  dafs  es  sich  weifs,  bleibt  noch  stehn,  nachdem  das 
Individuum  sammt  aller  Vielheit  der  Prädicate  verabschiedet  wurde.  Hierin 
liegt  die  Täuschung,  nach  welcher,  im  starken  Contraste  gegen  die  un- 
bekannten Substanzen,  das  Ich  für  eine  Quelle  der  Erkenntnis  und  sogar 
des  Seyn  gehalten  wird.  Die  Täuschung  hat  einem  beträchtlichen  Theile 
der  Systeme  seit  Kant  den  Ursprung  gegeben. 

Aber  ohne  Vertiefung  in  eigentlich  metaphysisches  Denken  ist  es 
nicht  möglich,  der  Täuschung  abzuhelfen.  Wer  sich  die  Mühe  geben  will, 
kann  im  eignen  Nachdenken  die  Formel:  das  Ich  setzt  Sich  als  Ich,  leicht 
auflösen  in  die  Reihe:  das  Ich  setzt  Sich  als  dasjenige  welches  Sich  setzt 
als  dasjenige  welches  Sich  —  und  so  weiter,  denn  die  Reihe  geht  ins  Un- 
endliche. Weifs  man  denn  nun,  als  Was  das  Ich  sich  setze?  Der  Nach- 
denkende sucht  hier  das  letzte,  eigentliche  Object,  worauf  das  Wissen 
des  Ich,  indem  es  sich  weifs,  gerichtet  ist.  Er  sucht,  ohne  zu  finden. 
Das  Object  fehlt.  Mithin  ist  es  nicht  wahr,  dafs  das  Ich  blofs  als  reines 
Ich  von  sich  wisse,  sondern  ein  fremdartiger  Anknüpfungspunct  ist  nöthig. 
Aber  auch  das  genügt  für  sich  allein  keinesweges.  Das  Fremdartige  kann 
nicht  beliebig  ergriffen  werden;  sonst  wäre  eine  Kunst  des  Anknüpfens 
zu  er[3i  i]finden,  die  nicht  möglich  ist.  Und  selbst  wenn  man  sie  be- 
säfse:  so  würde  das  Fremdartige,  als  solches,  das  Ich  verunreinigen;  es 
mufs  also  wieder  ausgestofsen  werden.  Hiemit  verbinde  man  das  Obige 
(144.),  wo  zugleich  auf  die  hieher  gehörigen  Stellen  der  Psychologie  ver- 
wiesen ist. 

Angenommen  nun,  man  sey  mit  diesen  Untersuchungen  fertig:  so 
schwindet  die  Täuschung  vom  reinen  Ich,  und  das  Bedürfnifs  der  Sub- 
stanz   tritt  wieder  hervor.      Man    sollte  also  nun  wenigstens    die   Seele  an- 


2  r  4  II.    Kurze  EDcyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

erkennen;    denn    dieser  Ausdruck  sagt   nichts    Anderes,    als:  Substanz   des 
Ich  mit  seinen l  Vermögen. 

Wenn  aber  jetzt  noch  ein  unrechtmäfsiges  Sträuben  zu  spüren  ist: 
so  rührt  dies  von  der  gangbaren  Meinung  her,  für  das  menschliche  Ich 
gebe  es  gar  keine  eigne  Substanz.  Auch  hier  finden  sich  ganz  verschiedene 
Partheyen  auf  Einem  Puncte. 

Die  Physiologen,  ihrer  Meinung  nach  mit  der  Materie  sehr  wohl  be- 
kannt, wenn  sie  auch  weder  über  Raum  noch  Causalität  ernstlich  nach- 
gedacht und  gründliche  Kenntnifs  erlangt  haben,  finden  keine  Substanz 
der  Seele,   sondern  nur  ein  Gehirn. 

Höher  aufsteigend  gelangen  wir  zu  Naturphilosophen,  welche  sowohl 
Seele  als  Materie  tief  unter  sich  sehen,  denn  —  sie  haben  ihr  Absolutes 
oder  ihre  Idee;  nämlich  jenes  Seyn,  welches  Eins  ist  mit  dem  Nichts; 
wovon  oben  (177 — 185.)  das  Nöthige  gesagt  worden.  Diese  Basis  ist 
schlecht,  und  die  der  Physiologen  ist,  philosophisch  betrachtet,  gar  keine; 
daher  bleibt  es  bey  der  Substanz  der  Seele;  obgleich  dieselbe  eben  so 
wenig,  als  irgend  eine  andre,  in  Hinsicht  ihrer  ursprünglichen  Qualität 
für  unser  Wissen  zugänglich  ist. 

190.  [=  -209  d.  II.  Ausg.]  Nachdem  von  den  vier  Hauptproblemen 
der  Metaphysik  gesprochen  worden,  ist  nur  noch  nöthig,  die  vier  Theile 
der  Metaphysik  zu  benennen ;  jedoch  nach  vorausgeschickter  Bemerkung, 
dafs  man  die  Vierzahl  nicht  als  etwas  an  sich  Bedeutendes  anzusehen  habe, 
und  nicht  jedem  Probleme  ein  besonderer  Theil  zugehöre.  Die  Metho- 
dologie macht  den  [312]  Anfang.  Sie  enthält  die  Kritik  des  Gegebenen, 
und  die  Methode  der  Beziehungen.  Hier  kommt  noch  keins  der  Haupt- 
probleme vor.  Es  folgt  die  Ontologie,  mit  zwey  Problemen,  dem  der 
Inhärenz  und  der  Veränderung;  beide  in  Gemeinschaft  führen  auf  den 
Causalbegriff.  Alsdann  breitet  sich  die  Synechologie,  worin  von  der  Materie 
die  Principien  vestzustellen  sind,  mit  zwey  Abschnitten,  einen  für  den 
Raum,  den  andern  für  die  Zeit  dergestalt  aus,  dafs  dieser  dritte  Theil 
der  längste  von  allen  wird;  anstatt  dafs  er  bisher  der2  am  meisten  ver- 
nachlässigte war,  obgleich  man  sich  rühmte  eine  Naturphilosophie  zu  be- 
sitzen, an  die  ohne  Synechologie  nicht  zu  denken  ist.  Endlich  folgt  die 
Eidolologie;  worin  die  Ansprüche  des  Idealismus  durch  Untersuchung  des 
Ich  zurückgewiesen,  und  die  Grundlagen  der  Psychologie  vestgestellt  werden. 
Dies  zusammen  ist  die  allgemeine  Metaphysik,  an  welche  das  Wort  Meta- 
physik Jeden  zunächst  erinnert.  Denn  Psychologie,  Naturphilosophie  und 
Religionslehre,  welche  in  altern  Lehrbüchern  mit  vollem  Rechte  den  Platz 
der  angewandten  Metaphysik  einnahmen,  sind  ganz  natürlich  aus  einander 
getreten,  und  aus  dem  Bande  des  Namens  Metaphysik  entwichen,  weil  die 
allgemeine  Wissenschaft  selbst  ihre  Haltung  verloren  hatte.  Das  folgende 
Capitel  wird  einige  Bemerkungen  darüber  herbeyführen. 


2  „der  bisher"   statt   „bisher  der"  IL  Ausg.» 


1    SW   ,, seinem1'   statt  „seinen'-. 

a  SW   drucken    nach    der    II.  Ausg.    ohne  Angabe  der  Abweichung   der    I.  Ausg. 


2.  Abschnitt.  Methodenlehre.  6.  Capitel.  Von  dem  Verhältnisse  der  Metaphysik  etc.      255 


[313]   Sechstes  Capitel. 

Von  dem  Verhältnisse  der  Metaphysik  zu  andern  philosophischen 

Wissenschaften. 

191.  [=  210  d.  II.  Ausg.]  Schon  in  der  ältesten  Geschichte  der 
Philosophie  treten  die  metaphysischen  Betrachtungen  allen  andern  voran. 
Später  sieht  man  die  Metaphysik  in  Verlegenheit ;  nun  benutzen  die  andern 
Theile  der  Philosophie,  gleich  unruhigen  Provinzen  unter  einem  schwachen 
Herrn,  die  Gunst  der  Zeit,  sich  loszureifsen.  Sokrates  schafft  logische 
Uebung;  er  moralisirt  und  politisirt.  Aristoteles  spaltet,  was  Platon 
zusammenzubringen  suchte.  In  neuerer  Zeit  hat  die  Theologie  die  Ober- 
hand; aber  Locke  giebt  der  Psychologie  eine  unabhängige  Bewegung. 
Diese  gewinnt  durch  Kant  mehr  Schwung.  Dennoch  redet  er  von  einem 
Primate  der  praktischen  Vernunft.  Man  glaubt  ihm;  aber  seine  praktische 
Vernunft  scheint  am  Ende  den  besten  Theil  auch  des  Wissens  darzubieten, 
weil  die  theoretische  gar  zu  wenig  weifs.  Spinoza  verjüngt  sich;  die  Meta- 
physik nimmt  unter  andern  Namen  bald  ihren  alten  Vorrang  wieder  in 
Besitz.      Wird  sie  ihn  behalten? 

iEin  Rückblick  auf  das  Vorhergehende  mufs  unmittelbar  finden,  dafs 
der  Verfasser  nicht  partheyisch  für  die  Metaphysik  ist,  und  am  wenigsten 
die  Absicht  hegt,  ihr  eine  populäre  Herrschaft  zuzuwenden.  Allein  bey 
der  entschiedenen  und  reifen  Ueberzeugung,  dafs  die  Metaphysik  nicht 
zu  dem  Schicksale  verdammt  ist,  ewig  zu  schwanken,  möchte-'  leicht  die 
Meinung  emporkommen,  sie  sey  bestimmt,  zu  herrschen,  wenn  auch 
nur  [314]  in  den  Schulen.  Und  doch  verhält  es  sich  nicht  so;  Meta- 
physik kann  keine  Aesthetik,  folglich  auch  keine  Moral  und  Rechtslehre 
erschaffen,  und  darum  dieselben  eben  so  wenig  unter  sich  beugen.  Reli- 
gion aber  schliefst  sich  zwar  der  gesammten  Philosophie  an;  allein  durch 
Alter,  Ursprung,  Würde,  Allgemeinheit  des  Bedürfnisses,  Macht  der  Kirche 
und  des  Staats,  behauptet  sie  dennoch  eine  solche  Selbstständigkeit,  dafs 
die  Schule  froh  seyn  mufs,  nur  neben  ihr  eine  freye  Bewegung  für  sich 
selbst  zu  behalten. 

Geht  man  in  die  Metaphysik  selbst  zurück:  so  herrscht  auch  in  ihr 
kein  Theil  über  den  andern.  Die  Methodologie  giebt  nur  Winke.  Die 
Ontologie  benutzt  dieselben,  aber  mit  eigner  Kunst.  Die  Synechologie 
verarbeitet  zwar,  was  die  Ontologie  darbietet,  aber  das  Mittel  dazu,  die 
Reihenform  (Raum  und  Zeit),  schafft  sie  sich  selbst,  ohne  es  irgend  wo- 
her zu  entlehnen.  Die  Herrschsucht  der  Eidolologie  (und  des  Idealismus) 
wird  beschränkt;  doch  bleibt  das  Ich  eine  selbstständige  Quelle  der  Unter- 
suchung eben  deshalb,   weil  ihm   die   Realität  abgesprochen  wird. 

192.  [=211  d.  II.  Ausg.]  Wie  aber  dachte  man  sich  die  Herrschaft 
der  Metaphysik,  indem  man  sie  als  erste  Philosophie  betrachtete?  Sie  sollte 
alle  Grundbegriffe    enthalten   und   aufklären.     Unter   dieser  Voraussetzung 


1  Statt  der  folgenden  Worte:  „Ein   Rückblick  .  .  ."  bis  .  .  „Ueberzeugung" 
(3  Zeilen  weiter)  hat  die   IL  Ausg.:  „Hegt  man  die   Ueberzeugung  ..." 

2  „so   möchte"   statt   „möchte'   II.  Ausg. 


2  :(y  IL    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


:0 


konnte  sehr  leicht  der  Zweifel  entstehn,  ob  nicht  die  Psychologie  ihr  die 
Herrschaft  streitig  machen  werde.  Denn  wo  anders  findet  man  die  Grund- 
besriffe, als  im  Kreise  unserer  Vorstellungen?  Daher  das  Streben  nach 
Kategorien,  und  nach  Ausmessung  unseres  Erkenntnifsvermögens.  In  der 
That  können  die  Grundbegriffe  der  Psychologie  nicht  weggenommen  werden. 
Gäbe  es  nur  einerley  Bearbeitung  derselben,  oder  gäbe  es  keine  deutliche 
Gränzlinie  zwischen  den  beiden,  gänzlich  verschiedenen  Arten  und  Zwecken 
der  Bearbeitung  (160.):  so  träte,  wie  die  Kantianer  wollten,  Vernunft- 
kritik in  die  Stelle  der  Metaphysik,  während  Kant  selbst  von  Prole- 
somenen  zu  derselben  redete. 

[315]  Am  schädlichsten  wurde  in  dieser  Hinsicht  das  Verkennen  des 
Ursprungs  unserer  Begriffe.  Falsche  Psychologie  ist  nothwendig  herrsch- 
süchtig; der  Grund  ihrer  Ansprüche  liegt  in  der  Meinung,  man  besitze 
Begriffe  a  priori.  Weifs  man  nicht,  dafs  die  Urtheile  den  Begriff  der  Sub- 
stanz herbeyführen  (159.);  weifs  man  nicht,  dafs  in  der  Veränderung  ein 
Widerspruch  liegt  (178.),  welchem  schon  der  gemeine  Verstand  das  natür- 
liche Heilmittel  des  Causalbegriffs  erfindet,  dem  gerade  mir  da?  um  das 
Merkmal  der  Notwendigkeit  anhängt;  weifs  man  nicht,  dafs  Räumlichkeit 
und  Zeitlichkeit,  welche  sich  an  den  gegebenen  Dingen  der  Beobachtung 
darbieten  (188.),  aus  einem  allgemeinen  Reproductionsgesetze  (118.)  ent- 
springen, wovon  sie  blofs  besondere  Formen  sind*;  hat  man  sogar  von 
diesen  Untersuchungen,  und  von  ihrer  Bedeutung,  noch  nicht  die  ent- 
fernteste Ahndung:  so  mufs  man  sich  die  Herrschsucht  der  Psychologie 
unfehlbar  gefallen  lassen.  Darum  werden  die  Spinozisten  aller  Farben 
und  Klassen,  des  Kantianismus  nimmermehr  mächtig  werden,  sondern  ihn 
neben  sich   dulden  müssen. 

Aber  Herrschsucht  ist  noch  nicht  Herrschaft.  Wo  zwey  Herrsch- 
süchtige zusammenstofsen,  da  bedrängte  Einer  den  Andern.  Und  in  den 
Wissenschaften  ist  an  Sieg  für  keinen  von  beiden  zu  denken.  Unter- 
drückte Ansprüche  treten  hier  allemal  nach  kurzer  Pause  wieder  hervor. 
Die  Metaphysik  giebt  eben  so  wenig  als  die  Psychologie  die  Grund- 
begriffe weg.  Das  Vorurtheil,  als  stünden  dieselben  ein-  für  allemal  im 
menschlichen  Geiste  vest,  und  müfsten  unabänderlich  so  bleiben  und  so 
gebraucht  werden,  wie  sie  einmal  sind,  —  jenes  Vorurtheil  der  Kate- 
gorien —  findet  seine  factische  Widerlegung  unwiderleglich  in  der  Ge- 
si  hichte  der  Philosophie.  Sie  sind  ungebildet,  ja  in  den  mannigfaltigsten 
Umwandlungen  umhergeworfen  worden.  Selbst  vor  aller  Wissenschaft  hat 
schon  der  gemeine  Verstand  von  dem  Erfahrungsbegriffe  der  Veränderung, 
welche  erfahrungsmä\$  1 6]fsig  nur  Dinge  im  Werden  zeigt,  und  in  manchen, 
aber  keinesweges  in  allen  Fällen  ein  regelmäfsiges,  gewöhnliches  Voraus- 
gehn  vor  dem  Werden,  —  sich  losgerissen;  er  hat  sich  den  Causalbegriff 
als  einen  noth wendigen  erfunden,  um  dem  Widerspruche  in  der  Ver- 
änderung abzuhelfen.  Diese  Erfindung  war  Umwandlung,  die  nur  nicht 
zur  Reife  gedieh,  sondern  auf  halbem  Wege  stehen  blieb.  Die  Meta- 
physik setzt  sie  fort,  und  fügt  andre  Umwandlungen  andrer  Begriffe  hinzu. 
So  lange   ihr  Geschafft   nicht  geendet  ist,    zersplittert   sie  sich   in  Systeme 


© 


Psychologie  II.  §   109.   [=  Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 


2.  Abschnitt.  Methodenlehre.   6.  Capitel.  Von  dem  Verhältnisse  der  Metaphysik  etc.      2^7 

verschiedener  Art.  Aber  die  Systeme  haben  nicht  Ruhe,  bis  die  Arbeit 
gehörig  gethan  ist.  Sie  lassen  auch  der  Psychologie  nicht  Frieden,  so 
lange  dieselbe,  von  der  Metaphysik  losgerissen,  sich  in  Dinge  mischt, 
die  sie  nichts  angehn.  Denn  nicht  ihr  ist  es  gegeben,  von  der  Natur 
der  Seele  und  der  Materie  zu  reden.  Sie  kennt  nur  Geist  und  Gemüth; 
das  heilst,  die  Aeufserungen  und  innern  Erscheinungen  der  Seele.  Die 
Erfahrungen  hievon  mag  sie  sammeln  und  auslegen,  das  Causalverhältnifs 
der  Vorstelhmgen  unter  einander  mag  und  sollte  sie  bestimmen ;  aber  damit 
weifs  sie  noch  nichts  von  anziehenden  und  abstofsenden  Kräften;  nichts 
von  der  Verbindung  der  Muskeln  mit  dem  Willen;  nichts  von  der  Mög- 
lichkeit, dafs  leibliche  Sinnes-Organe  eine  Vorstellung  in  der  Seele  her- 
vorzubringen vermögen.  Oder  weifs  sie  es,  kennt  sie  die  Aufschlüsse 
über  diese  Räthsel,  so  hat  sie  ihre  Kenntnifs  aus  der  Metaphysik  entlehnt, 
und  ihre  Abhängigkeit  von   derselben   anerkannt. 

Es  nützt  eben  deshalb  nichts,  dafs  der  Kantianismus  sich  gegen  den 
Spinozismus  einen  Vorrang  anmafst.  Die  erste  Probe  hievon  ist  wiederum 
der  Causal begriff.  Diesen  läfst  der  Spinozismus  dem  gemeinen  Verstände 
zwar  hingehn,  aber  nicht,  um  ihn  als  eine  Verbesserung  des  Gegebenen 
gelten  zu  lassen.  Gegeben  sind  Veränderungen.  Nicht  gegeben,  sondern 
hinzugedacht  ist  die  Nothwendigkeit  der  Ursachen.  Mit  gröfster  Leichtig- 
keit zieht  sich  nun  der  Spinozismus  in  die  reine  Erfahrung  zurück,  indem 
er  die  ganze  Naturlehre  auf  ein  absolutes  Werden  gründet.  Meinte  Kant, 
der  Causalbegriff  [317]  gelte  nur  für  Erfahrung:  so  hatte  er  dem  Spino- 
zismus sogar  vorgearbeitet;  denn  dieser  läfst  den  nämlichen  Begriff  nun 
auch  nicht  einmal  als  gründliche  Erkläruno-  der  Erfahrung  oelten.  Und 
dagegen  ist  nicht  eher  etwas  einzuwenden,  als  bis  der  Spinozismus  in 
seiner  Ausbildung  Hegels  Form  annimmt.  Nun  kommt  der  Widerspruch 
des  Seyn  und  Nichtsevn  ans  Licht,  den  man  längst  vorher  hätte  sehen 
können,  um  sich  zu  überzeugen,  dafs  Beschränkung  des  Causalbegriffs  auf 
Erfahrung  gerade  das  Verkehrteste  war,  was  man  thun  konnte.  Denn 
hiemit  bleibt  der  Widerspruch  stehn,  und  die  Nothwendigkeit  des  Causal- 
begriffs ist  verkannt.  Lassen  sich,  für  ein  höheres,  die  Erscheinung  über- 
steigendes Wissen,  Veränderungen  ohne  Ursache  denken,  so  ist  der  Cau- 
salbegriff eine  unglückliche  Schranke,  und  die  Herrschaft  der  Kategorien 
eine   Tyranney,   wie  sie  schon  von   Andern  ist  betitelt  worden. 

193.  [=  212  d.  IL  Ausg.]  Wir  gehn  weiter.  Besitzt  die  Metaphysik 
eine  Herrschaft  über1  Erfahrung- Wissenschaften?  Die  Frage  erscheint  heut 
zu  Tage  fast  lächerlich.  Manche  Naturforscher  kümmern  sich  gar  nicht 
um  Metaphysik.  Andere  meinen  die  richtigen  Erfahrungsbegriffe  aus  der 
Erfahrung  selbst  am  sichersten  zu  schöpfen,  und  warten  mit  der  Umbildung 
oder  Ausbildung  derselben,  bis  die  Erfahrung  sie  dazu  veranlafst.  Nun 
können  sie  freylich  Zeitlebens  auf  Veranlassungen  warten,  wenn  sie  die 
dringenden  Aufforderungen  und  Nöthigungen,  die  schon  längst  vorhanden 
sind,  nicht  sehen  noch  hören  wollen.    Aber  sie  sind  weder  taub  noch  blind; 


1    .,über  die"  statt  „über"  II.  Ausg.a 


a  SW  drucken   nach  der  II    Ausg.   ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 
Herbart's  Werke.     IX.  17 


,,,-g  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

sie  sind  blofs  abgeschreckt  durch  die  Misgestalt  der  Naturphilosophie.    Was 
sollen  Auslegungen  der  Dinge,  was  sollen  Reden  von  dem,  was  vorgeblich  die 
Dinge   bedeuten,  bevor  man  weifs,  was  die  Dinge  sind?  Ein  spinozistischer 
Parallelismus    zwischen   Dingen    und   Ideen    ist    den  Naturforschern    aufge- 
drungen worden,   der  nirgends  hin  pafst,   und  nichts  bedeutet  als  ein  altes 
Vorurtheil.      Der    Naturforscher    braucht    Hypothesen;    diese   leiten    ihn    im 
Beobachten,  und  diese  prüft  er  durch  Beob[3  i8]achtungen  und  Versuche. 
Nichts  anders  kann  ihm   die   Metaphysik  seyn,  als   ein  Schatz   von  Hypo- 
thesen.     Bietet    sie  sich   ihm  unter    einer  andern  Gestalt   an,    so  weiset  er 
sie    zurück,    und    das    aus    dem    Grunde,    weil    er    die    Experimente    nicht 
zwingen  kann,  einer  theoretischen  Voraussetzung  zu  dienen,  sie  sey  welche 
sie  wolle.     Der  Naturforscher  mufs   sich  stets  bereit  halten,   zu  sehen,  was 
die    Erfahrung    zu    sehen    giebt;    läfst    er    sich    durch    irgend    eine  Voraus- 
setzung  blenden,    so    sieht    er    nicht    mehr    mit    offenen    Augen,    und    sein 
Bericht  wird  untreu,    er  verliert  den   Glauben,    welcher    dem   Zeugen  über 
Alles  vverth  seyn  mufs.     Mochte  er  noch    so  gewifs  vorauswissen,    was  er 
sehen  würde:   dies   Wissen   mufs   der  Zeuge  sogar  unterdrücken;    es1    ver- 
dirbt das    reine  Zeugnifs,  das    er  ablegen   soll.      Und  was    will    denn2   die 
Metaphysik  vom  Naturforscher  ?  Warum   sucht  sie   mit  ihm   in  Verbindung 
zu  treten?    Will  sie  lehren  oder  lernen?    Wenn  es  ihr  Ernst  ist,  zu  lernen, 
wäre  es  auch  nur  um  dessen,  was  sie  schon  weifs,  noch  gewisser  zu  werden ; 
so    liegt  ihr  gerade   soviel    als  jedem  Andern   an  der  Treue,    an  der  Un- 
befangenheit   seines    Zeugnisses.      Darum    hüte    sie    sich,    den    Zeugen   zu 

bestechen. 

Mit  zwey  Worten  können  wir 3  die  richtige  Gestalt,  welche  die  Natur- 
philosophie, von  der  Metaphysik  ausgehend,  bekommt  und  annehmen 
mufs,  ihrem  Hauptzuge  nach  anzeigen.  Dieser  Hauptzug  gilt  zugleich  iür 
die  Psychologie;  denn  auch  sie  ist  zum  Theil  Erfahrungs  -  Wissenschaft, 
und  als  solche  mit  der  Naturphilosophie  eng  verbunden. 

Man  unterscheide  Synthesis  und  Analysis.  Die  Metaphysik,  sobald 
sie  fertig  ist  mit  den  Grundbegriffen,  überläfst  dieselben  der  Naturphilo- 
sophie und  Psychologie,  um  daraus  Constructionen  möglicher  Fälle  zu 
bilden.  Solche  Constructionen  erfordern,  dafs  man  sich  umsehe  unter4  den 
denkbaren  Determinationen,  welche  den  allgemeinen  Begriffen  können  bey- 
gefügt  werden.  Dies  Geschafft  ist  zunächst  ein  logisches;  alsdann  aber 
geht°  es  über  in  Schlüsse,  welche  anzeigen,  was  unter  den  angenommenen, 
verschiedenen  Voraussetzungen  verschiedentlich  werde  erfolgen  müssen. 
Hierin  kann  man  ohne  [319]  Ende  fortgehn,  sobald  die  allgemeinen  Be- 
griffe so  geschmeidig  sind,  wie  sie  seyn  sollen.  Besitzen  sie  nicht  diese 
Geschmeidigkeit:  so  mufs  man  sie  in  den  Verdacht  einer  Unrichtigkeit 
ziehen,    oder   vielleicht   hat   man    auch    das    rechte  Gelenk  noch  nicht  ge- 

1    „er"    statt    „es"    II.   Ausg.  a 

-    „denn"    fehlt  in  der  II.  Ausg.b 

3  „läfst  sich"  statt  „können  wir"  II.  Ausg.c 

4  „nach"  statt  „unter"  II.  Ausg.d 


a.  b,  c,  d.    SW    drucken    nach    der  II.  Ausg.    ohne  Angabe    der  Abweichung    der 
I.  Ausg. 


2.  Abschnitt.   Methodenlehre.   6.  Capitel.  Von  dem  Verhältnisse  der  Metaphysik  etc.      2^0, 

troffen,  um  welches  sie  sich  drehen  lassen.  Wie  glücklich  aber  auch  diese 
Arbeit  von  Statten  gehen  möge:  sie  giebt  in  ihrer  ganzen  möglichen  Aus- 
dehnung immer  nur  den  synthetischen  Teil  der  Naturphilosophie  und 
Psychologie.  Sie  anticipirt  höchstens  einen  allgemeinen  Begriff  dessen, 
was  man  erfahren  könne,  und  erwarten  dürfe.  Niemals  wird  die  Er- 
fahrung selbst  anticipirt;  das   streitet  sogar  wider  ihren   Regriff. 

Eine  ganz  andre  Arbeit  mufs  von  der  Erfahrung  ausgehend  jener 
entgegenkommen.  Die  einzelnen  Data  müssen  analysirt  werden.  Das- 
selbe Verfahren,  wodurch  Hypothesen  geprüft  werden,  indem  man  mit 
ihnen  die  Beobachtungen  vergleicht,  wird  hier  nöthig,  obgleich  die  auf 
synthetischem  Wege  gebildeten  Constructionen  keine  Hypothesen  sind, 
und  durch  kein  willkührliches  Umhersinnen  hätten  errathen  werden  können. 
Je  genauer  nun  Analysis  und  Synthesis  zusammentreffen,  zwischen  denen 
man  so  lange  hin  und  her  gehen  wird,  bis  Alles  zu  passen  scheint,  um 
desto   vollkommener  wird  die   Ueberzeugung. * 

194.  [=  213  d.  IL  Ausg.]  Wie  verhält  sich  die  Metaphysik  zur 
Religionslehre?  Zuerst  negativ.  Sie  hütet  sich,  ihr  zu  nahe  zu  treten.  Sie 
weifs,  das  man  im  Denken  irren  kann ;  sie  erinnert  sich  ihres  Ursprungs  nur 
aus  Erfahrung.  Alle  irdische  Erfahrung  ist  beschränkt.  Führte  sie  auch 
wirklich  auf  Begriffe  von  der  Welt:  so  hat  doch  die  Religionslehre  nicht  auf 
Astronomie  gewartet;  viel  weniger  auf  Kosmologie.  Allerley  Beweise  sind 
versucht  und  verworfen;  was  bewiesen  werden  sollte,  stand  und  blieb  vest. 


1  Nach  dem  Worte:  „Ueberzeugung"  hat  die  II.  Ausg.  folgenden  Zusatz: 
Einzeln  stehende  Theorien,  wie  die  Physiker  deren  für  ihre  Lieblings- 
Beschäfftigungen  zu  bilden  pflegen,  hier  über  chemische  Verhältnisse,  dort 
über  Electricität  und  Magnetismus,  anderwärts  über  Lebens-Erscheinungen 
u.  s.  w.,  können  der  Philosophie  nicht  genügen.  Auch  die  Resignation, 
blofs  die  Gesetze  der  Erscheinungen  erkennen  zu  wollen,  und  sich  um 
das  Wesen  und  die  Kräfte  der  Dinge  nicht  zu  kümmern,  ist  der  Philo- 
sophie nicht  angemessen.  Die  nämliche  Metaphysik  mufs  Psychologie  und 
Naturphilosophie  tragen,  und  hiedurch  ihre  Einstimmung  mit  sich  selbst 
darthun.  An  den  gewissesten  Thatsachen  mufs  sie  sich  halten;  während 
Experimente  und  Beobachtungen  sich  ins  Unendliche  vermehren.  Es  fehlt 
nicht  an  der  Menge  von  Thatsachen,  die  von  den  verschiedensten  Seiten 
her  dargeboten  sind,  und  deren  Zusammenfassung  unter  Einen  Gesichts- 
punct  von  der  gröfsten  Wichtigkeit  ist.  Denn  die  Wichtigkeit  der  That- 
sachen wächst,  je  mehr  sie  sich  eignen,  im  Grofsen  unter  einander  in  Zu- 
sammenhang zu  treten.  —  Es  ist  schon  ein  Verdienst,  das  Bedürfnifs 
einer  Zusammenfassung  unserer  Kenntnisse  von  Natur  und  Geist  lebhaft 
aufzuregen;  und  dies  Verdienst  ist  ein  bleibender  Ruhm  Schellings.  Will 
man  aber  die  ScHEixiNGSche  Naturphilosophie  beurtheilen:  so  mag  man 
das  Unrichtige  vom  Gewagten  unterscheiden.  Das  Unrichtige  wird  sich 
gröfstentheils  auf  Kant,  Fichte,  Spinoza  zurückführen  lassen;  das  Ge- 
wagte aber  liegt  vielmehr  an  dem  Mangel  sorgfältiger  Absonderung  der 
Synthesis  und  Analysis.  Denn  ohne  solche  Sonderung  gehen  für  die 
Theorie  die  Warnungen  und  die  Hülfen  verloren,  welche  ihr  die  Erfahrung 

geben  konnte. 

17* 


260  ü-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 , 


Dafs  diese1  Vestigkeit  von  andrer  Art  ist,  als  Logik  und  Erfahrung,  liegt 
am  Tage.  Es  ist  eine  Vestigkeit  des  Glaubens,  der  mit  dem  moralischen 
Willen,  ja  mit  der  Bedürftigkeit  des  menschlichen  Lebens  zusammenhängt. 
Dieser  Glaube  ist  da;  er  braucht  nur  nicht  gestört  zu  werden.  Dafs 
[320]  Manche  ihn  wie  ein  metaphysisches  Princip,  wie  eine  Quelle  des 
methodischen  Denkens  haben  behandeln  wollen,  dieser  Misgriff  brachte 
ihn  in  Conflict  mit  den  Naturkenntnissen.  Dadurch  kann  er  selbst  eine 
nachtheilige  Rückwirkung  erleiden;  denn  die  Erfahrung  geht  ohne  ihn 
ihren  Gang.  Die  Metaphysik  mufs  also  wünschen,  dafs  er  seinerseits 
nicht  in  ihr  Feld  hinübergreife,  damit  sie  nicht  genöthigt  werde,  falsche 
Schlüsse  mit  Berufung  auf  die  Erfahrung  zurückzuweisen.  Jedermann 
weifs,  was  begegnete,  als  der  Arstronomie  Einwürfe  aus  der  Bibel  ent- 
gegentraten. 

Wozu  aber  macht  man  sich  Sorge  über  diesen  Punct?  Man  wird 
doch  keine  Metaphysik  im  Dienste  der  Priesterherrschaft  wieder  herbey- 
führen  wollen?  Man  fürchtet  weder  Naturlehre  noch  Mathematik;  diese 
thun,   was  die   Metaphysik  fortsetzt;   sie  erklären   die   Natur. 

Vielleicht  aber,  und  mit  mehr  Schein  des  Rechts,  fürchtet  man  die 
Metaphysik  wie  eine  Art  von  Poesie.  Denn  freylich  die  Poesie  pflegt 
historische  Stoffe  mit  einer  Willkühr  zu  behandeln,  als  wären  es  Mythen. 
Steht  nun  das  Factum  nicht  sehr  vest:  so  wirkt  daiauf  die  Dichtung  wie 
ein  anspülendes  Wasser;  sie  zieht  es  in  ihre  künstlichen  Wirbel  hinein, 
als  wäre  es  für  dieselben  erfunden.  Das  trojanische  Pferd  droht  aller- 
dings der  Stadt  Troja  ihre  Existenz  eben  so  zweifelhaft  zu  machen,  als  es 
selbst  ist.  Kann  ein  gewisser  Gegenstand  so  oder  anders  gedacht  werden, 
so  scheint  er  am  Ende  unter  den  Händen  zu  verschwinden;  man  nimmt 
ihn  für  ein  Hirngespinnst,  weil  er  sich  soviel  gefallen  läfst.  Dafs  es  der 
Substanz  des  Spixoza  so  gehen  könnte,  wollen  wir  nicht  in  Abrede  stellen. 
Der  Natur  aber,  und  ihrer  Zzvcckmäfsigkcit,  schien  es  einen  Augenblick 
auch  so  zu  gehn;  gerade  darum,  weil  etwas,  das  der  spinozistischen  Sub- 
stanz nicht  ganz  unähnlich  sieht,  sich  drein  mengte.*  Am  schlimmsten 
wurde  die  Sache,  da  zum  metaphysischen  Scharfsinn  ein  Ueberflufs  von 
poetischer  Laune  und  von  Kunstsinn  hinzukam,  wo[32i]durch  nicht  blofs 
die  Begriffe  in  ein  allgemeines  Schwanken  geriethen,  sondern  die  Auf- 
fassung der  Natur  selbst  das  Zweckmäfsige  mit  dem  Notwendigen  und 
das  Nothwendige  mit  dem  Zweckmäfsigen  verwirrte.  Unstreitig  setzt 
zweckmäfsiges  Wirken  Zwecke  und  Ziucckbegriffe  voraus;  wird  nun  der 
Religionslehre  ein  so  naturphilosophisches  Ansehn  gegeben,  als  schickte 
es  sich  nicht  für  das  höchste  Wesen,  nach  menschlicher  Weise  gedacht 
zu  werden  in  Ansehung  des  zweckmäfsigen  Beschliefsens  und  Wählens, 
—  ist  überdies  das  Entstehen  der  Organismen  der  allgemeinen  Natur- 
Xothwendigkeit  zugewiesen:  so  möchte  wohl  in  der  poetischen  Auffassung 
der    Dinge,    die    so   gern    das    Nothwendige    selbst    als    ein    Zweckmäfsiges 


1  „die"  statt  „diese"  II.  Ausg.* 

Metaphysik   I.  S.    119.     [Bd.   VII  der  vorl.   Ausg.] 


a    SW   drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.   Ausg. 


2.  Abschnitt.  Methodenlehre.   6.  Capitel.  Von  dem  Verhältnisse  der  Metaphysik  etc.      26 1 

gestaltet,  die  Andacht  etwas  Widerstrebendes  fühlen,  Mem  wir  nicht  be- 
rufen sind  abzuhelfen,   wohl  aber  zu  widersprechen. 

2Unsre  Weise,  die  Metaphysik  zu  behandeln,  ist  völlig  unpoetisch, 
ja  wenn  man  will,  antipoetisch.  Dies  Negative  hängt  mit  einer  sehr  posi- 
tiven Sorgfalt  zusammen.  Das  Zweckmäfsige  soll  als  ein  reines,  unzwey- 
deutiges,  unzweifelhaftes  Factum  hervorstrahlen,  nachdem  der  Hintergrund 
des  Nothwendigen  in  der  Natur  gebührend  zurückgetreten  ist.  ;J,Wir  wollen 
gar  nichts  daran  machen  noch  künsteln,  während  das  Nothwendige  in 
allen  Puncten  von  unserm  Denken  behandelt,  geformt,  geschmiedet  wird, 
als  ein  Gegenstand,  an  dem  wir  soviel  Kraft  üben,  als  wir  immer  haben. 
Der  Glaube,  welcher  von  der  Naturbetrachtung  unabhängig  schon  in  den 
moralischen  Bedürfnissen  wurzelte,  soll  eine  Bestätigung  durch  das  Zweck- 
mäfsige der  Natur  gewinnen,  für  deren  Stärke  es  gar  keinen  Maafsstab 
giebt,  noch  geben  kann.  Wer  mag  ermessen,  wie  stark  eine  feyerliche 
Stille  wirkt  nach  dem  Toben  einer  angestrengten  Arbeit  mitten  in  Streit 
und  Getümmel  ?  Nun  wohl !  Bev  der  Religionslehre  schweigen  die  Svllogis- 
men,  die  Methoden,  die  Partheyungen,  sobald  man  nur  will.  Es  kommt 
blofs  darauf  an,  dafs  man  dem  Anschauen  sich  hingebe.  Nicht  aber  dem 
mystischen  Anschauen  nach  innen,  wo  Alles  schwankt,  und  jeder  nach 
seiner  Weise  sieht,  sondern  dem  Anschauen  des  Schönen  und  Wunder- 
vollen in  der  äufsern  [322]  Natur,  welches  Allen  auf  gleiche  Weise  vor 
Augen  steht.  Zum  Anwenden  der  Religionslehre  auf  das  Zeitliche  und 
Menschliche  ist  späterhin  noch  Gelegenheit  genug;  und  alsdann  mag  auch 
gestritten  werden,   falls  man  nicht  im  Stande  ist,   sich  zu  vereinigen. 

195.  [=  214  d.  IL  Ausg.]  Wer  nun  das  Gewicht  des  eben  Gesagten 
als  ein  speculatives  und  positiv  wirkendes  empfinden  will,  der  studire  zu- 
vörderst Metaphysik  so  vollständig  und  so  gründlich  als  möglich,  sammt  allen 
Systemen,  die  sich  an  deren  Stelle  haben  setzen  wollen.  Er  sehe  zu,  wie  sie 
die  gegebenen  Formen  der  Erfahrung  behandeln.  Die  Zweckmäfsigkeit  in 
der  Natur  ist  eine  darunter,  und  zwar  unstreitig  die  am  meisten  verwickelte 
von  allen.  Deshalb  leuchtet  zu  allererst  ein,  dafs  es  ein  höchst4  leicht- 
sinniges Beginnen  ist,  über  ihre  Bedeutung  wissenschaftlich  zu  urtheilen, 
bevor  Inhärenz,  Veränderung,  Materie,  und  das  Ich,  die  rechte  zcissenschaft- 
liche  Behandlung  empfangen  haben.  5Nun  ist  aber  die  Schwierigkeit  dieser 
vier  Grundprobleme  bisher  nicht  begriffen  worden,  daher  man  die  Methode 


1  Die  folgenden  Worte :  „dem  wir  nicht  berufen  sind  .  .  .  wider- 
sprechen"  fehlen  in  der  II.  Ausg. 

':  Die  folgenden  zwei  Sätze:  „Unsre  Weise  ...  bis  ...  Sorgfalt  zusammen." 
fehlen  in  der  II.  Ausg. 

3  Statt  der  folgenden  Worte:  „Wir  wollen  gar  nichts  daran  machen  noch 
künsteln"  hat  die  II.  Ausg.:  „Daran  ist  gar  nichts  zu  machen  noch  zu 
künsteln." 

4  „höchst"    fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

5  Die  iolgenden  Worte:  „Nun  ist  aber  ....  bis  ...  .  Ungeschick"  (4  Zeilen 
weiter)  fehlen  in  der  II.  Ausg. 


a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


2Ö2  H     Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


der  Beziehungen,  welche  nur  die  allereinfachste  Kenntnifs  der  Probleme 
voraussetzt,  mit  nicht  geringem  Befremden  angesehn  hat;  ein  Beweis  von 
Unkenntnifs  des  Fragepuncts.  Bey  solchem  Ungeschick  hat  man1  den- 
noch hie  und  da  gemeint,  Organismen,  sammt  ihrer  kunstvollen  Einrichtung, 
liefsen  sich  wohl  in  den  allgemeinen  Begriff  der  Natur  dergestalt  mit 
hineinziehn,  dafs  sie  weiter  keine  Verwunderung  zu  erregen  brauchten; 
wofern  man  nur  vorher  diesen  Begriff  gehörig  darauf  eingerichtet  habe : 
als  ob  man  gegen  die  Natur  sich  ein  ähnliches  Verlahren  erlauben  dürfte, 
wie  etwa  in  einer  gemischten  Gesellschaft,  von  der  man  beym  Eintritt 
einen  Ueberblick  zu  gewinnen  sucht,  um  sich  für  seine  Person  in  ein  be- 
quemes Gleichgewicht  mit  ihr  zu  setzen ! 

Schon  das  leichteste  Problem,  das  der  Inhärenz,  ist  stark  genug,  um 
diesen  goldnen  Traum  zu  stören.  2Mit  der  gewohnten  Manier,  sich 
eine  leidliche  Ansicht  von  der  Sache  zu  bilden,  um  darüber  mitsprechen 
zu  können,  ist  hier  durchaus  [323]  nicht  durchzukommen.  Man  mufs 
kämpfen;  denn  ein  Widerspruch  ist  gegeben,  und  dieser  läfst  sich  nicht 
mit  glatten  Worten  beschwichtigen.  Sobald  man  den  Widerspruch  im 
Allgemeinen  aufgelöset  hat,  zeigt  sich  die  Theorie  der  Störungen  und 
Selbsterhaltungen*,  und  zwar  als  nothwendig,  und  keinen  Abänderungen 
nach  Bequemlichkeit  zugänglich.  Mit  ihr  lassen  sich  die  Erfahrungs- 
Begriffe  der  Chemie,  Physik,  Physiologie  vereinigen**,  aber  die  ganze 
Untersuchung  bleibt  gegen  den  Begriff  des  Zweckmäfsigen  völlig  indifferent; 
sie  spricht  weder  für  noch  gegen  ihn;  sie  weifs  von  ihm  Nichts.  Was 
ist  die  Folge?  Dies  ohne  Zweifel:  dafs  die  Schauspiele  des  Zweckmäfsigen, 
welche  die  Erfahrung  unläugbar  aufstellt,  —  gerade  so  unläugbar,  als  ein 
Mensch  die  Ziuecke  des  Andern  in  dessen  Handhingen  und  Reden  erkennt, 
—  als  etwas  gänzlich  Neues  in  die  Metaphysik  und  die  von  ihr  geleitete 
Naturphilosophie  hineintreten.  Wen  dieses  Neue  und  Fremde  nicht  über- 
rascht, —  wer  da  meint,  es  sey  kein  Wunder,  dafs  Menschen  und  Thiere 
auf  der  Erde  leben,  und  man  könne  dieselben  sogar  recht  bequem  als 
eine  nothwendige  Ergänzung  der  Erde  und  ihres  sogenannten  Lebens 
deduciren:  —  der  streite  mit  unserer  Metaphysik;  denn  sie  zeihet  seine 
Lehren  von  Anfang  bis  zu  Ende  der  Uebereilung  und  des  gänzlichen 
Verkennens  selbst  ihrer  einfachsten  Probleme. 

196.  [=  215  d.  IL  Ausg.]  Nun  aber  wird  man  uns  zur  Rede  stellen, 
warum  denn,  wenn  wir  die  Inhärenz,  die  Veränderung,  die  Materie,  das  Ich, 
ja  sogar  den  Raum  und  die  Zeit,  einer  sorgfältigen  Untersuchung  werth 
hielten,  das  Schauspiel  der  Zweckmäfsigkeit,  welches  wir  doch  auch  für  ge- 
geben anerkennen,  weniger,  oder  vielmehr  gar  nicht  der  systematischen 
Kurist  und  Nachforschung  sey  unterworfen  worden?  Wir  wollen  die  Ant- 
wort nicht  schuldig  bleiben.  Gewarnt  hat  uns  zuvörderst  die  [324]  Schwierig- 
keit, das  Zweckmäfsige  da,  wo  Jedermann  ohne  die  geringste  Ausnahme  es 


1  „Man  hat"  statt  „hat  man"  II.  Ausg. 

-   Der   folgende   Satz:    „Mit  der  gewohnten  Manier  ....  nicht  durchzu- 
kommen."     fehlt  in  der  II.  Ausg. 

*  Metaphysik  II.  §  236.   [=  Bd.  VIII  vorl.  Ausg.] 
**  Ebendas.   §  331   bis  zu  Ende. 


2.  Abschnitt.   Methodenlehre.   6.  Capitel.   Von  dem  Verhältnisse  der  Metaphysik  etc.      263 

anerkennt,  nämlich  in  den  Handlungen  und  Reden  der  Menschen,  wissen- 
schaftlich zu  erklären.  Wir  bezweifeln  nicht  im  geringsten  das  vernünftige 
Denken  und  Wollen  der  Menschen;  aber  wir  kennen  aus  langer  An- 
strengung und  Uebung  die  Schwierigkeit  der  psychischen  Anthropologie; 
nämlich  die  Unsicherheit  und  Mangelhaftigkeit  der  Schlüsse  von  dem,  was 
wir  in  uns  beobachten,  auf  andre  Menschen  andrer  Zeiten,  Orte,  und 
Culturstufen.  Gewarnt  haben  uns  ferner  die  Thiere.  Man  sollte  meinen, 
die  zweckmäfsigen  Handlungen  derselben,  die  frevlich  nicht  schwer  zu 
verstehen  sind,  liefsen  sich  wohl  leicht  erklären,  wenn  man  schon  die 
Psychologie  und  Physiologie  des  Menschen,  als  des  Höhern,  durchge- 
arbeitet habe;  allein  hier,  wo  der  leichte  Schlufs  vom  Gröfsern  zum 
Kleinern  sich  darzubieten  scheint,  sind  uns  die  Thatsachen,  welche  den 
Hund  und  das  Pferd,  die  Spinne  und  die  Biene  betreffen,  viel  zu  un- 
vollständig gegeben,  als  dafs  wir  über  ganz  allgemeine,  und  darum  sehr 
leere  Begriffe  hinauszukommen  wüfsten.  Gewarnt  haben  uns  endlich  die 
Gestirne.  Wir  begreifen,  dafs  es  lächerlich  wäre,  die  Erde  für  besonders 
ausgezeichnet  und  begabt  auch  nur  in  unserm  Sonnensystem  zu  halten; 
eben  darum  sehen  wir  eine  ungeheuer  weit  offene  Lücke  in  unserer  Er- 
fahrungskenntnifs;  während  Derjenige,  der  von  Gott  in  theoretischen  Be- 
griffen zu  reden  unternimmt,  doch  wissen  soll,  dafs  er  hier  mit  einer 
Theologie  für  Erdenbürger  nicht  ausreichen  kann.  Gewarnt  hat  uns  noch 
zu  allem  Ueberflufs  das  Böse  und  das  Gemeine.  Dafs  hiedurch  das  Gute 
und  Schöne  nicht  aufgehoben,  nicht  vom  Wunderbaren  entkleidet  wird,  liegt 
am  Tage;  auch  reichen  die  bekannten  Betrachtungen  der  Thodicee  voll- 
kommen hin,  um  gegen  Religionszweifel  den  Glauben  zu  schützen.  Aber 
ein  Princip  theoretischer  Wissenschaft,  aus  welchem  man  Erkenntnisse 
schulgerecht  ableiten  will,  mufs  gleichförmig  gi geben  seyn,  wie  die  Inhärenz, 
die  Veränderung,  und  das  Ich.  Dagegen  würde  schon  das  vierte  Problem, 
das  von  der  Materie,  uns  zu  viel[32  5]gestaltig  für  eine  regelrechte  Unter- 
suchung dünken,  wenn  nicht  die  drey  andern  Probleme  uns1  auch  für 
dieses  auf  die  Bahn  geholfen  hätten.  Um  sich  davon  zu  überzeugen, 
blicke  man  nur  in  die  Metaphysik  hinein,  und  sehe  nach,  wo  und  wie 
dort  die  Materie  mit  den  im  Voraus  schon  gewonnenen  Hülfsmitteln, 
welche  nicht  eben  leicht  zu  gewinnen  waren,  der  Wissenschaft  zugänglich 
wird.  —  Und  wogegen  hat  denn  Kant  gewarnt,  wenn  nicht  gegen  das 
Transfcendente  der  speculativen  Theologie?  die  den  Glauben  nicht  reinigt, 
sondern  verdirbt,  und  ihn  mit  Schwierigkeiten  behelligt,  in  welche  der 
Mensch  sich  gar  nicht  verwickeln  darf,  wenn  er  nicht  Trost  und  Ruhe 
entbehren  soll.  -Es  ist  nur  Schonung,  wenn  wir  der  von  Kant  zurück- 
gewiesenen Scholastik,  die  man  dennoch  wieder  auf  die  Bahn  gebracht 
hat*,  nicht  ausführlich  gedenken. 


1    ,,uns"    fehlt  in   der  II.  Ausg. a 

-)  Der  folgende  Satz:  „Es  ist  nur  ....  nicht  ausführlich  gedenken."  nebst 
der  dazu  gehörenden  Anmerkung  fehlt  in   der  II.   Ausg. 

*  Wie  war  das  möglich?  Sie  hielt  und  gab  sich  nicht  für  Scholastik,  sondern  — 
für  Naturphilosophie.  Darin  liegt  ein  bedeutender  Wink.  Nur  durch  wahre  Natur- 
philosophie wird   die  falsche  zum    Weichen  gebracht  werden. 

a  SW    drucken    nach    der   II.  Ausg.    ohne  Angabe    der  Abweichung  der  II.  Ausg. 


264  U-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

197.  [=  216  d.  IL  Ausg.]  Aber  wovon  redet  denn  unsere  irdische 
Theologie?  Sie  redet  nicht  blofs  von  Gott,  sondern  auch  vom  hilfsbe- 
dürftigen Menschen.  Sie  redet  von  einem  Verhältnisse  des  Menschen  zu 
Gott.  Hier  kommt  die  Sache  anders  zu  stehn  als  vorhin;  denn  hier  ist 
wenigstens  das  eine  Glied  des  Verhältnisses,  nämlich  der  Mensch  und  sein 
Bedürfnifs,  zugänglich  für  die  Erkenntnifs.  Und  nun  wollen  wir,  um  das 
Aeufserste  zu  wagen,  uns  einmal  einbilden,  das  andre  Glied  träte  uns  — 
etwa  im  künftigen  Leben  nach  dem  Tode  —  näher  als  jetzt:  welche 
Form  würde  dann  die  Untersuchung,  oder  was  immer  dafür  gehalten  werden 
möchte,   wohl  annehmen? 

Die  Antwort  ist  bekannt.  Man  müfste  auch  hier  den  synthetischen 
Theil  der  Betrachtung  trennen  vom  analytischen.  Jener  erstere  ferner 
hätte  ein  Verhältnifs  aus  zwey  Gliedern  zu  [326]  construiren.  Das  eine 
Glied  wäre  Gott,  (beynahe  versagt  uns  die  Feder  den  Dienst,  indem  wir 
das,  was  für  unsern  Erdenzustand  eine  wahre  Frechheit  ist,  in  Beziehung 
auf  den  eingebildeten  höhern  Zustand  auch  nur  problematisch  hinschreiben,) 
das  andre  Glied  wäre  der  Mensch.  Aus  diesen  Gliedern  zusammengesetzt, 
wäre  nun  das  also  bestimmte  Verhältnifs  noch  immer  nicht  für  sich  allein 
fähig,  eine  zulängliche  Religions-Wissenschaft  zu  gewähren.  Denn  in  allen 
Fällen  einer  ähnlichen  Untersuchung,  wie  in  der  Psychologie  und  Natur- 
philosophie, hilft  der  synthetische  Teil  für  sich  allein  noch  nichts,  wenn 
nicht  der  analytische  sich  mit  ihm  verbindet.  Man  würde  also  noch  immer 
nicht  wissen,  was  eigentlich  Gott  für  den  Menschen  gethan  oder  be- 
schlossen habe,  wenn 1  nicht  die  vorhandenen  Data  hiemit  einzeln  ge- 
nommen,  Punct  für  Punct  betrachtet,   zusammenstimmten. 

Das  Verhältnifs  zwischen  Synthesis  und  Analysis  liegt  in  der  be- 
kannten Religionslehre,  da  wo  es  nöthig  ist,  deutlich  am  Tage.  Den  syn- 
thetischen Theil  bildet  die  praktische  Philosophie,  den  analytischen  das 
Christenthum.  Diese  entsprechen  einander  wirklich,  und  darauf  stützt  sich 
der  christliche  Glaube.  Hätte  nun  Christus  auch  Astronomie,  Chemie, 
Phvsiologie  gelehrt:  dann  möchten  die  Theoretiker,  deren  Treiben  keine 
Gränzen  kennt,  immerhin  nachsehn,  wie  diese  Offenbarung,  die  uns  fehlt, 
mit  unsern   Rechnungen   und  Theorien  zusammenstimme. 

Wie  aber  jetzt  die  Sachen  liegen,  mag  man  das  Böse,  welches  die 
Theologie  so  sehr,  und  mit  vollem  Rechte  beschäfftigt,  aus  der  Psychologie 
und  praktischen  Philosophie  zu  erkennen  suchen;  nämlich  das  Böse  im 
Menschen^  denn  ein  anderes  ist  nicht  gegeben;  und  zwar  in  seinen  mannig- 
faltigen Gestalten :  denn  auf  einen  leeren  Allgemeinbegriff,  nach  Art  der 
oben  gerügten  (174.),  kann  und  darf  man  sich  nicht  verlassen.  Sondern 
das  Böse  ist  vielförmig  und  vieltheilig  zuvörderst  schon  deswegen,  weil 
das  Gute  nach  allen  praktischen  Ideen  mufs  bestimmt  werden;  dann  aber 
vollends  deswegen,  [327]  weil  seine  psychischen  Ursprünge  und -Stufen 
weit  verschieden  sind.* 


1    „weil"   statt   „wenn"   II.  Ausg.* 

*  Psychologie  II,  §   152.   [Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 


a  SW  drucken  hier  nach  der  I.  Ausg.  ohne  Angabe  der  Abweichung  der  II.  Ausg. 


2.  Abschnitt.  Methodenlehre.  6.  Capitel.  Von  dem  Verhältnisse  der  Metaphysik  etc.      265 

Hiemit  mufs  das  Christentum  verglichen  werden,  in  welchem  das 
Beyspiel  Christi  selbst  deutlich  genug  zeigt,  dafs  nicht  alle  Individuen,  die 
schwachen  wie  die  starken,  die  bessern  wie  die  schlechtem,  auf  einerley 
Weise  sollen  angeredet,  ermahnt,  und  gehoben  werden,  sondern  dafs  die 
Heilung  sich  der  Krankheit  anpassen  mufs.  Und  nun  wolle  der  Leser 
sich  dasjenige  zurückberufen,  was  schon  oben  (32  u.  f.)  über  Religion 
und  deren   Bedürfnifs  ist  gesagt  worden. 

198.  [=  217  der  II.  Ausg.]  War  es  Metaphysik,  die  uns  den  Weg 
zur  Religion  bahnte?  Sprachen  wir  etwa  vom  ens  realissimum,  diesem 
scholastischen  Wesen,  wobey  die  Realitäten,  die  man  atis  der  Erfahrung 
zu  kennen  meint,  (während  man  sie  nicht  kennt,)  wider  alle  Erfahrung 
auf  einen  Haufen  gebracht  werden,  um  entweder  den  Begriff  des  Seyn, 
der  keiner  Steigerung  fähig  ist,  dennoch  zum  Superlativ  zu  erheben,  oder 
den  Begriff  der  Qualität,  wie  im  Empirismus,  von  einer  Mannigfaltigkeit  an- 
zufüllen, ohne  nach  deren  Einheit  zu  fragen  ?  —  Die  mindeste  Kenntnifs 
des  Problems  der  Inhärenz,  womit  die  Metaphysik  ihre  x\rbeit  beginnt, 
konnte  dagegen  warnen. 

Oder  sprachen  wir  von  einem  Grunde  der  Existenz,  welcher  voll 
Sehnsucht,  sich  selbst  hervorzubringen,  der  Realität  vorausgehend  schon 
real  sey  und  doch  noch  nicht  sey?  Sprachen  wir  von  einer  Identität, 
welche  bekennt,  aus  entgegengesetzten  Gliedern  durch  ein  willkührliches 
Zudrücken  der  Augen  herausgekünstelt  zu  seyn?  Von  einem  Unendlichen, 
welches,  damit  doch  Etwas  aus  ihm  werde,  das  Nichts  zu  Hülfe  ruft,  um 
sich  dagegen  zu  stemmen,  wie  wenn  in  der  That  das  Nichts  Etwas  wäre? 
—  Alles  dies  verbietet  sich  selbst.  Und  die  Metaphysik  verhütet  durch 
ihre  Behandlung  des  zweyten  Problems,  nämlich  der  Veränderung,  dafs 
uns  [328]  so  Etwas  nicht  einfallen  könne,  wenn  es  sich  nicht  als  ein 
historisch  Gegebenes  uns  in  den  Weg  stellt. 

Oder  plagte  uns  etwa  die  Substanz,  welche  vorgiebt,  Einheit  des 
Ausgedehnten  und  Denkenden  zu  seyn;  nach  der  Manier  der  Anthro- 
pologen, die  nicht  Leben  und  Seele  unterscheiden  können?  — ■  Die 
Synechologie  hat  uns  über  das  Ausgedehnte,  die  Eidolologie  über  das 
Denkende  unterrichtet;  beide  Theile  der  Metaphysik  setzen  uns  über  jene 
spinozistische  Substanz  völlig 1  hinweg. 

Die  ganze  Metaphysik,  von  Anfang  bis  zu  Ende,  wirkt  also  dahin 
zusammen,  dafs  es  uns  nicht  begegnen  möge,  die  Religion  in  jenen  Be- 
hausungen alter  und  neuer  Scholastik  zu  suchen.  Gerade  das  wollte 
Kant.  Wenn  man  die  Fehler  im  Einzelnen,  welche  ein  minder  geübtes 
Zeitalter  verrathen,  hinwegdenkt,  so  ist  seine  Kritik  der  reinen  Vernunft 
eine  Warnung  vor  aller  speculativen  Theologie;  und  seine  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  ein  richtiges  Vesthalten  am  sittlich-religiösen  Glauben. 
Auch  Jakobi,  Bouterweck,  Friedrich  Schlegel,  und  wie  viele  Andre, 
deren  religiöses  Streben  man  vergebens  würde  bezweifeln  wollen,  haben, 
jeder  auf  seine  Weise,  die  deutlichsten  Zeugnisse  des  Widerwillens  gegen 


1   „völlig"   fehlt  in  der  II.  Ausg.a 


a   SW  drucken   nach    der  II.  Ausg.    ohne  Angabe    der  Abweichung  der  I.  Ausg. 


266  H-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


jene  Scholastik  abgelegt.  Hätte  Kant  nur  im  geringsten  vorausgesehn, 
dafs  sein  halber  Idealismus,  durch  welchen  er  den  alten  Verkehrtheiten 
zu  steuern  gedachte,  dieselben  wieder  herbeyführen  würde:  so  darf  man 
wohl  annehmen,  dies  würde  ihm,  als  seiner  Absicht  gerade  zuwider,  für 
die  stärkste  Widerlegung,  für  eine  wahre  deductw  ad  absurdum  gegolten 
haben.  Der  idealistische  Zug  in  seiner  Lehre  aber  ist  allein  Schuld  an 
seiner  schädlichen  Geringschätzung  der  Teleologie;  und  diese  Geringschätzung 
mufs  ohne  Weiteres  von  selbst  aufhören,  sobald  jener  falsche  Zug  ver- 
schwindet. 1  Andererseits  kann  man,  ohne  Prophet  zu  sevn,  mit  der 
gröfsten  Bestimmtheit  weissagen,  dafs,  so  lange  jenes  Brüten  über  Religion, 
welches  vom  metaphysischen  Scharfsinn  das  gerade  Gegentheil  ist,  sein 
unheilvolles  Treiben  nicht  lassen  will,  die  Spaltungen  in  Hinsicht  kirch- 
licher Meinungen  nicht  besänftigt  [32g]  werden  können,  sondern  noch 
immer  gefährlicher  anwachsen  werden.* 

199.  [=218  d.  IL  Ausg.]  Es  war  uns  auch  nicht  in  den  Sinn  ge- 
kommen, die  fünf  praktischen  Ideen,  deren  vollständige  Reihe  vor  uns  liegt 
(153.),  in  der  Metaphysik  zu  suchen.  Wie  hätte  sie  dorthin  kommen  sollen? 
Sie  müfste  sich  erst  in  die  Mitte  der  Erfahrungsbegriffe,  durch  welche  allein 
etwas  zu  erkennen  gegeben  wird,  verirrt  haben.  Etwa  durch  Beyspiele  von 
Tugenden,  durch  Erinnerung  an  sündliche  Handlungen,  durch  Aussichten 
auf  Genufs  oder  Gefahren  ihn  zu  verlieren?  Es  ist  aber  eine  längst  be- 
kannte Sache,  dafs  man  auf  solchem  Wege  stets  nur  Halbheiten  im 
moralischen  Gebiete  zu  Gesichte  bekommt;  auch  war  die  Erfahrung  nicht 
nöthig,  um  uns  den  Weg  zu  weisen,  auf  welchem  eine  Idee  nach  der 
andern  gefunden  wird.  Konnte  aber  die  Erfahrung  bey  diesem  Geschaßte 
nichts  helfen,  so  war  an  Metaphysik  vollends  nicht  zu  denken;  denn 
diese  sorgt  nur,  dafs  aus  Erfahrungen  Erkenntnisse  werden.  Auf  Hirn- 
gespinste, und  wenn  es  die  schönsten  Dichtungen  wären,  läfst  sie  sich 
nicht  ein.  Sie  thut  ihre  Schuldigkeit  da,  wo  sie  von  der  Erfahrung, 
deren   Begriffe  einer  Berichtigung  bedürfen,  herbeygerufen  wird. 

Warum  aber  hier  der  praktischen  Ideen  Erwähnung  geschehe,  das 
wird  hoffentlich  Niemand  fragen.  Die  Rede  war  und  ist  von  Religion. 
Und  diese  Rede  kann  ohne  Hülfe  der  praktischen  Ideen  gar  nicht  an- 
gefangen werden.  Man  redet  Worte  ohne  allen  Sinn,  wenn  man  von 
Gott  spricht,  ohne  ihn  sogleich  in  demselben  Augenblicke  zu  denken  als 
den  Heiligen,  dessen  Wille  zur  Einsicht  stimmt;  als  den  Erhabenen,  dessen 
Macht  sich  am  Sternenhimmel  und  in  dem  Wurm  offen[33o]bart;  als  den 
Gütigen,  welchen  das  Christentum  schildert;  als  den  Gerechten,  der  schon 
in  den  mosaischen  Geboten2  erkannt  wird;  als  den  Vergelter,  vor  welchem 


1  Der  folgende   Schlufssatz :     „Andererseits    kann    man    ....    anwachsen 
werden"    nebst  der  dazu  gehörenden  Anmerkung  fehlt  in  der  II.  Ausg. 

Warum  ist  Christus  nicht  schon  vor  hunderttausend  Jahren  geboren  worden  ? 
Ein  Knabe  würde  meinen,  sehr  klug  zu  antworten:  weil  es  damals  keine  Menschen 
gab.  Aber  warum  gab  es  keine  Menschen?  Der  Mann  soll  wissen,  dafs  die  zweyte 
Frage  in  der  ersten  liegt ;  und  dafs  die  erste  Frage  Unsinn  ist,  wie  alle  Fragen,  deren 
Unbeantwortlichkeit  man   voraussehen   mufs. 

2  „Gesetzen"  statt  „Geboten"  II.  Ausg. 


a 


SW   drucken    nach    der  II.  Ausg.   ohne  Angabe    der    Abweichung    der   1.  Ausg. 


2.  Abschnitt.  Methodenlehre.  6.  Capitel.  Von  dem  Verhältnisse  der  Metaphysik  etc.      267 

der  Sünder  sich  fürchtet,  so  lange  ihm  nicht  Gnade  verkündigt  wird. 
Hier,  und  sonst  nirgends,  ist  der  Sitz  der  Religion.  Wäre  in  jenen  Reden 
vom  allerrealsten  Wesen,  vom  Absoluten,  von  der  Einheit  des  Ausge- 
dehnten und  Denkenden,  ein  religiöser  Sinn,  so  müfste  er  in  der  ver- 
steckten Voraussetzung  der  praktischen  Ideen  liegen,  die  allerdings  oft 
genug  vorausgesetzt  werden,  wenn  sie  auch  nicht  bestimmt  unterschieden, 
vielweniger  als   eine   Reihe,   wie  sich's  gebührt,   construirt  sind. 

Wie  aber  wird  aus  den  Ideen  Eins,  da  sie  doch  keineswegs  Eins, 
auch  eben  so  wenig  aus  Einem  Puncte  hervorgegangen,  sondern  gerade 
Fünf,  und  jedes  von  den  Fünfen  durchaus  keinem  Andern  unterthänig  sind, 
sondern  selbst  die    Quelle  der  moralischen  Auctorität  ausmachen  ? 

Zuerst  betrachte  man  hier  den  Begriff  der  Tugend;  oder,  was  das- 
selbe sagt,  den  Begriff  vom  Werthe  einer  Person.  Persönlichkeit  hat  ohne 
Zweifel  das  Merkmal  der  Einheit.  Wenn  nun  der  Werth  der  Person  von 
fünf  verschiedenen,  unter  einander  schlechthin  unabhängigen  Ideen  mufs 
bestimmt  werden;  (und  das  ist  unvermeidlich,  denn  jede  derselben  ist  für 
sich  eine  Urquelle  des  Lobes  und  Tadels,  die  Niemand  verstopfen  kann;) 
so  leuchtet  ein,  dafs  keine  einzelne  Idee  den  Werth  der  Person  für  sich 
allein  entscheiden  kann.  Das  Lob  der  Stärke  kann  sich  verbinden  mit 
dem  Tadel  der  Ungerechtigkeit;  das  Lob  des  charaktervollen,  von  der 
Einsicht  streng  geleiteten  Lebens  stöfst  oft  genug  mit  dem  Tadel  eines 
lieblosen,  kalten  Herzens  zusammen.  Die  Person  kann  keinen  solchen 
Tadel  ablehnen;  er  ist  ein  Flecken,  der  an  ihr  haftet.  Aber  nicht  blofs 
fleckenlos,  sondern  löblich  soll  sie  seyn.  Und  wie  die  Fleckenlosigkeit, 
die  Reinheit,  die  Unschuld,  als  Eins  gedacht  wird,  so  auch  das  Lob,  an 
dem  nichts  vermifst  werden  darf,  weil  schon  der  Mangel  ein  Flecken  seyn 
würde.  So  entsteht  der  Begriff  der  Tugend;  und  nichts  Anderes,  als 
gerade  nur  dies,  bestimmt  seinen  wesentlichen  Inhalt.  Die  [331]  mittel- 
baren Tugenden,  der  Keuschheit,  Sparsamkeit,  und  dergleichen,  sind  zwar 
für  den  Menschen  wichtige  Zusätze,  aber  ihre  Wichtigkeit  ist  die  des 
Mittels  zum  Zwecke.  Dagegen  darf  von  den  praktischen  Ideen  nicht  eine 
einzige,  ja  selbst  keine  von  ihren  Anwendungen  auf  die  Gesellschaft  fehlen, 
wenn  nicht  der  Begriff  der  Tugend  soll  falsch  gebildet  werden.  Und 
dieses  Bilden  aus  dem  schon  Vorgefundenen,  das  Zusammenfassen  der 
mehrern  praktischen  Ideen,  in  die  Einheit  des  Tugendbegriffs,  kann  man 
mit  Recht  der  praktischen  Vernunft  als  ihr  Werk  beylegen.  Das  ist 
wenigstens  dem  Sprachgebrauche  gemäfs. 

200.  [=  2  iq  d.  IL  Ausg.]  Jetzt  erinnere  man  sich,  dafs,  laut  Zeug- 
nifs  der  Geschichte,  die  religiösen  Begriffe  der  Menschen  niemals  höher 
stehn,  als  ihre  moralischen.  Vielmehr,  sie  bleiben  gar  leicht  um  ein  merk- 
liches hinter  denselben  zurück;  wovon  die  homerischen  Götter  zur  Probe 
dienen  können,   die  sichtbar  schlechter  sind   als  die  Menschen. 

Es  ist  also  keine  Frage,  dafs  die  Tugend  als  Ideal  vorangeht,  nämlich 
in  der  Zeit,  vor  der  klaren  und  vollständigen  Idee  von  Gott.  Wiederum 
diese  Idee  mufs  vorangehn,  bevor  man  de  natura  Deorum  schreibt,  zweifelt, 
und  Beweise  versucht. 

Von  hier  an  aber  zeigt  sich  auch  beständig  das  Schauspiel,  dafs  die 
Beweise  zwar  gesucht,  aber  stets  zugleich  als  überflüssig  betrachtet  werden. 


268  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


Das  Bewiesene  stand  immer  schon  vest  vor  dem  Beweise:  ungefähr  wie 
bev  den  Mathematikern  die  Theorie  der  Parallellinien,  oder  das  Parallelo- 
gramm der  Kräfte.  Niemand  zweifelt  daran;  wohl  aber  zweifelt  man 
weo-en  der  Schärfe  der  Beweise;  zum  Zeichen,  dafs  man  blofs  darum  ver- 
legen ist,  den  Grund  des  Glaubens  deutlich  auszusprechen. 

Was  nun  ein  solcher  Glaube  eigentlich  braucht,  das  liegt  am  Tage. 
Beweise  braucht  er  nicht;  diese  würden  ihn  nicht  schaffen,  wenn  sie  auch 
befunden  würden.  Beweise  für  die  Theorie  der  Parallelen  sind  der  offen- 
barste  Luxus,  der  in  der  Mathematik  nur  kann  gedacht  werden.  Aber 
das  rechte  Wort  [332]  ist  hier  nicht  Beweis,  sondern  Bestätigimg.  Diese 
mufs  von  Proben  im  Einzelnen,  oder  in  Anwendungen  ausgehn. 

Daher  ist  für  die  Religion  die  Physikotheologie  von  unendlicher 
Wichtigkeit,  weil  sie  unzähliche  Proben  darbietet,  an  denen  eine,  wohl 
oder  übel  angebrachte,  Dialektik  blofs  das  tadeln  kann,  dafs  man  nicht 
den  Zuschnitt  eines  abgeschlossenen  Systems  durch  jene  zu  gewinnen  ver- 
mag. Es  wäre  ein  Unglück,  wenn  der  Mensch  dahin  gelangte.  Aus 
tiefer  Noth  ruft  er  gen  Himmel;  wie  nun,  wenn  er  sich  vermälse,  die 
Zweckmäfsigkeit  der  Hülfe,  die  er  begehrt,  zu  bestimmen?  Entweder 
würde  er  sie  'fordern,  als  eine  Schuldigkeit,  oder  sie  voraussetzen,  als 
einen  unfehlbaren  Naturerfolg,  oder  sich  den  Gedanken  daran  als  etwas 
Unmögliches  aus  dem  Sinne  schlagen.  Wo  bliebe  da  die  religiöse  Ge- 
sinnung? Wo  bliebe  die  demüthige  Bitte,  welche  auf  Versagung  gefafst  ist? 

Die  Anwendungen  aber,  wodurch  die  Religion  bestätigt  wird,  liegen 
im  Handeln  der  Menschen,  und  in  der  Ausbildung  der  Charaktere.  Ben- 
der Religion  gedeiht  die  moralische  Gesundheit;  durch  sie  erhöhet  sich 
die  moralische  Würde.  Ohne  sie  ist  der  Mensch  schwach,  und  muthlos 
zum  Guten. 

iWill  man  noch  eine  Bestätigung?  Priesterherrschaft  ist  das  gröfste 
aller  Uebel.  Denn  gerade  das  Edelste,  die  Religion,  wenn  es  verzerrt 
wird,  verwandelt  sich  ins2  Abscheulichste  und  Verderblichste. 

Am  Ende  dieses  Capitels  sollte  noch  von  dem  Verhältnifs  der  Meta- 
physik zur  praktischen  Philosophie  die  Rede  seyn;  allein  dazu  wird  sich 
späterhin  eine  bequemere  Gelegenheit  finden. 


1  Die  folgenden  zwei  Absätze.   „Will   man  noch  ....   Gelegenheit  finden." 
fehlen  in  der  II.  Ausg. 

-  „in  das  für  „ins"  SW. 


2.   Abschnitt.      LUethodenlehre.      ".   Capitel.     Von   der  Psychologie.  260 

[333]      Siebentes   Capitel. 

Von  der  Psychologie. 

x20i.  So  unnütz  es  wäre,  gegen  unbeugsame  Vorurtheile,  die  sich 
den  nothwendigsten  Verbesserungen  der  Psychologie  blind  entgegenstellen, 
in  Disput    einzutreten;    so    können    dieselben    doch    hier    nicht    ganz  unbe- 


1  §  201  und  §  202  bis  zu  den  Worten:  „nicht  unmittelbar  in  die  Sinne 
fallen."  (S.  274  Z.  4  v.  o.)  lauten  in  der  II.  Ausgabe  (teilweise  mit  der  ersten  über- 
einstimmend) folgendermafsen  : 

220.  Die  Psychologie  hat  eine  besondere  "Wichtigkeit  für  die  ency- 
klopädische  Übersicht  der  Philosophie,  weil  sie  mit  allen  Theilen  der 
philosophischen  Forschung  in  der  unmittelbarsten  Wechselwirkung  steht. 
Jeder  will  seine  Voraussetzungen  durch  Etwas  belegen,  das  irgendwie  im 
Bewufstseyn  sich  ankündigen  soll.  Wenn  nun  das,  was  Jedermann  in  sich 
unzweydeutig  findet,  einer  gehörigen  wissenschaftlichen  Bearbeitung  unter- 
worfen wird  —  dazu  aber  ist  Rechnung  unentbehrlich,  —  alsdann  er- 
geben sich  Resultate,  wodurch  die  gesammte  Philosophie  in  ein  andres 
Licht  gestellt  wird.  So  ist  die  Psychologie  passiv  und  activ;  wie  man 
in   diesem   Buche  schon  in   vielen  einzelnen   Puncten  bemerken  konnte. 

221.  In  altern  Zeiten,  welche  an  der  Logik  das  einzige  Organ  der 
Untersuchung  zu  besitzen  glaubten,  war  es  natürlich,  dafs  man  die  Be- 
wegung der  Vorstellungsmassen,  die  bald  zusammenwirken,  bald  einander 
mit  allem  in  ihnen  liegenden  Denkt?;,  Füllten  und  Begehren  aus  dem  Be- 
wufstseyn  verdrängen,  keiner  bestimmten  Untersuchung  zugänglich  achtete. 
Man  hielt  sich  an  den  Inhalt  der  Vorstellungsmassen;  diesen  konnte  man 
einer,  freylich  sehr  rohen,  Classification  unterwerfen ;  und  die  Täuschungen, 
welche  von  da  ausgingen,  waren  um  desto  mächtiger,  da  man  nicht 
ahndete,  dafs  die  Bewegung  den  Inhalt  erzeugt,  und  dafs  durch  gesellige 
Ueberlieferung  solcher  Erzeugnisse  im  Laufe  der  Jahrtausende  sich  endlich 
Producte  bilden,  deren  Geschichte  sich  in  keinem  einzelnen  menschlichen 
Kopfe  nachweisen  läfst,  und  die  schon  deshalb  als  ein  ursprünglich  Ge- 
gebenes erscheinen.2  Was  nun  die  Bewegung  der  Vorstellungen  anlangt: 
so  unterscheide  man  die  sinkenden,  die  frey  steigenden,  die  frey  stehen- 
den, und  die  reproducirten,  welche  letztern  wiederum  in  die  unmittelbar 
und  mittelbar  reproducirten  zerfallen.*  Zu  den  sinkenden  gehören  die 
augenblicklichen  sinnlichen  Wahrnehmungen,  welche  sogleich  von  ihrer  ur- 
sprünglichen Klarheit  etwas  verlieren.  Unter  den  frey  steigenden  (148.) 
suche  man  diejenigen,  welche  gewöhnlich  der  Einbildungskraft  zugeschrieben 
werden ;  diese  sowohl  als  die  im  Sinken  schon  begriffenen  können  den  frey 
stehenden  (die  eine  vorzügliche  Stärke  besitzen  müssen)  begegnen;  und  hier 
hat  der  wichtige  Procefs  seinen  Sitz,  welcher  Apperception  oder  Aneignung 
genannt  wird.  Denkt  man  nun  die  mancherley,  meistens  gedächnifsmäfsigen 
Reproductionen  hinzu,   welche   die  Apperception  veranlafst,    so    erhält  man 

:    Von  frey  stellenden  wird  nur  vergleichungsweise  gesprochen ;  an  ein  vollkommenes 
Stillstehen  ist   weder  nach  Theorie  noch  nach  Erfahrung  zu  denken. 

2  bis   „erscheinen."    stimmt  die  II.  Ausg.  mit  der  ersten  überein. 


■  ~0  II.   Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


rührt  bleiben.  Schon  deswegen  nicht,  weil  es  nicht  scheinen  darf,  als  ob 
ihnen  irgend  etwas  eingeräumt  würde.*  Aber  auch  an  sich  selbst  hat  die 
Psychologie  eine  besondere  Wichtigkeit  für  die  encyklopädische  Ueber- 
sicht  der  Philosophie,  weil  sie  mit  allen  Theilen  der  philosophischen 
Forschung  in  der  unmittelbarsten  Wechselwirkung  steht.     Jeder    will   seine 


wenigstens  die  ersten  Grundzüge  zu  einem  Gemälde  —  nicht  von  psy- 
chischen Seltenheiten,  sondern  von  dem,  was  ganz  gewöhnlich  im  täglichen 
Leben  sogleich  in  uns  vorgeht.  Unsere  Vorstellungen  gestalten  sich  über- 
dies gemäfs  den  Verbindungen,  die  sie  eingehen  oder  schon  eingegangen 
sind,  zu  Bildern  wirklicher  und  möglicher  Dinge;  und  indem  ihre  Be- 
wegungen sich  theils  begünstigen,  theils  erschweren  und  hindern,  entstehen 
die  mannigfaltigen   Gemüthszustände,   die   Gefühle  und   Begierden. 

Dies  vorausgesetzt,  so  mag  man  nun,  zu  einer  kurzen  Uebersicht 
der  psychologischen  Methodenlehre,  drey  Fragen  aufstellen:  Was  soll  er- 
klärt werden?  woraus  ist  es  zu  erklären?  und  in  welcher  Ordnung  und 
Folge  sollen  die  Gegenstände  der  Erklärung  zur  Untersuchung  gezogen 
werden?  Die  letzte  Frage  setzen  wir  einstweilen  noch  bey  Seite.  Erstlich 
also:  Was  soll' erklärt  werden?  Die  natürliche  Antwort  ist,  das  Gegebene 
der  innern  Wahrnehmung,  nach  Abzug  dessen,  was  von  zufälligen  Um- 
ständen der  Lage  und  des  Augenblicks  abhängt.  Aber  dieser  Abzug  darf 
nicht,  wie  bey  Reinhold,  irre  führen,  als  ob  nach  Beseitigung  des  Stoffs 
der  Vorstellungen  noch  Seelenvermögen  und  deren  Formen  (185.)  übrig 
blieben ;  also,  als  ob  das  Ich  erst  die  Vermögen  hätte,  und  die  Vermögen 
den  Stoff  bearbeiteten.  Vorstellungen,  die  durch  andre  passiv  reproducirt 
werden,  erscheinen  als  Stoff;  das  ist  die  Folge  ihrer  relativen  Schwäche;  sie 
bedürfen  nur  einer  Verstärkung  oder  eines  günstigem  Verhältnisses,  um 
selbst  activ  zu  werden.  Gegeben  sind  Vorstellungen  und  Gemüthszustände, 
aber  keine  Formen  ohne  Stoff,  und  keine  Handlungen  der  Seelenvermögen. 

Zweitens:  Woraus  soll  erklärt  werden?  Die  kürzeste  Antwort  wäre: 
aus  der  allgemeinen  Metaphysik.  Aber  anstatt  dieser  unbestimmten  Ant- 
wort können  wir,  der  Sache  näher  tretend,  sagen:  aus  dem  Gegensatze 
der  Vorstellungen  in  Einer  Seele.  Wird  diese  Antwort  gehörig  entwickelt: 
so  ergeben  sich  die  sinkenden,  steigenden,  appercipirenden,  reproducirten, 
von  denen  so  eben  die  Rede  war,  und  hiemit  der  Anfang,  wovon  alles 
Uebrige  nur  Fortsetzung  ist. 

Unterwirft  man  die  Bewegung  der  Vorstellungen  auch  nur  hypothetisch, 
unter  den  einfachsten  denkbaren  Voraussetzungen,  der  mathematischen  Be- 
trachtung: so  gewinnt  man  sogleich  positive  Resultate,  die,  wie  es  nun- 
mehr öffentlich  genug  bekannt  ist,  von  Mathematikern  ohne  Metaphysik 
(wiewohl  nicht  ohne  philosophischen  Geist!)  können  verstanden,  und  mit 
den  bekanntesten  Erfahrungen   so  weit  verglichen  werden,   dafs   die  Allein- 

*  Als  der  Verfasser  seine  Untersuchungen  bekannt  machte,  fanden  sich  vorlaute 
Redner,  die  nicht  einmal  warten  konnten,  bis  über  '  Rechnungen  ein  Mathematiker  ge- 
sprochen hatte.  Die  Platze  in  den  kritischen  Zeitschriften  wurden  dergestalt  besetzt 
von  solchen  Rednern,  dafs  es  Jahrelang  schien,  als  sollte  für  gründliche  Prüfung  gar 
kein  Raum  offen  bleiben. 

1  bis  über  die  Rechnungen  SW. 


2.   Abschnitt.     Methodenlehre.      7.   Capitel.     Von   der  Psychologie.  271 

irrigen  Voraussetzungen  durch  Etwas  belegen,  das  irgendwie  im  Bewufst- 
seyn  sich  ankündigen  soll;  und  die  einfache  Widerlegung,  dafs  Andre  in 
ihrem  Bewufstseyn  dergleichen  nicht  gefunden,  oder  es  sogleich  anders 
ausgelegt    haben,    wird    mit    der    Anmaafsitvg   zurückgewiesen,    man    habe 


herrschaft    der  alten    Meinung    von    den    Seelenvermögen   ein-   für  allemal 
vcrbey  ist. 

1Läfst  man  sich  hingegen  von  der  logischen  Classification  des  Inhalts 
leiten,  welchen  die  Vorstellungsmassen  darzubieten  pflegen,  und  zu  welchem 
jene  Seelenvermögen  sind  hinzugedichtet  worden:  so  findet  sich  eine  Masse 
von  negativen  Resultaten,  welche  verrathen,  dafs  die  Logik  durch  ihr 
Coordiniren  und  Subordiniren  das  Mancherley,  was  sich  der  innern  Wahr- 
nehmung darbot,  aus  seinem  wahren  und  natürlichen  Zusammenhange 
mufste  gerissen  haben.* 

Man  sollte  nun  zwar  glauben,  Niemand  werde  ohne  Noth  in  einem 
Walde  von  Negationen  umherirren  wollen,  die  blofs  zeigen,  der  rechte 
Weg  sey  hier  nicht  zu  finden,  wenn  sich  von  einem  andern  Puncte  aus 
die  gerade  und  breite  Strafse  sogleich  erkennen  und  betreten  läfst.  Aber 
diese  Strafse  erfodert  den  synthetischen  Gang;  jene  Negationen  hingegen 
entstehen  aus  Analvsen,  die,  wenn  der  gute  Wille  fehlt,  noch  durch  aller- 
ley  Vorwände  können  hintertrieben  werden,  wie  die  Erfahrung  zeigt,  denn 
sonst  hätte  ein  gebildetes  Zeitalter  schon  längst  den  alten  Fabeln  den 
Abschied  gegeben. 

222.  Beide  Fragen:  was  soll,  und  woraus  soll  erklärt  werden?  setzen 
das  Bedürfnifs  der  Erklärung  als  anerkannt  voraus.  Wenn  diese  Aner- 
kennung fehlt,  so  ist  Gefahr,  dafs  sich  das  Was  und  das  Woraus  von 
einander  trenne,  und  dafs  der  Schein  entsteht,  als  ob  es  zweyerley  Psycho- 
logie gebe.  In  der  That  ist  oft  genug  das  Gegebene  der  innern  Wahr- 
nehmung als  vorbereitend  auf  weiteres  Studium  abgesondert  dargeboten,  und 
die  nachzuliefernde  Erklärung  unbestimmt  aufgeschoben  worden.  Mehr 
und  mehr  machte  sich  die  Meinung  gelten,  dafs  die  Psychologie  in  zwey 
verschiedenen  Formen  erscheinen  könne;  sie  waren  mit  den  Namen 
empirische  und  rationale  Psychologie  unterschieden  worden.  Aber  nicht 
so  deutlich  war,  dafs  jene  analytisch,  diese  synthetisch  verfahren,  und 
dafs  beides  verbunden  bleiben  müsse.  Die  empirische  Psychologie  meinte 
fertig  zu  seyn,  wenn  sie  den  Vorrath  der  Wahrnehmungen  sammelte, 
welche  der  Mensch  darbietet,  sofern  er  mehr  ist  als  ein  blofser  Leib;  dafs 
sie  suchen  müsse,  durch  die  Oberfläche  dieser  Wahrnehmungen  hindurch, 
das  Gewebe  derselben  bis  in  seine  kleinsten  Theile  auflösend,  in  die  ver- 
borgene Tiefe  zu  dringen,  das  wufsten  Leibnitz  und  Locke  besser  als 
Wolf  und  Kant.  **  So  ging  durch  die  beiden  Letztern  der  analytische 
Charakter,   welchen  die  empirische  Psychologie  besitzen  soll,   verloren.    Die 

*  Lehrbuch  der  Psychologie,  im  zweyten  Theile  an  vielen  Stellen.  [Bd.  IV  vorl. 
Ausg.] 

"**  Psychologie  I,  §   17  —  20.     [Bd.  V  vorl.  Ausg.] 


1  Der  Text  der  folgenden  Absätze  („Läfst  man"  bis  „Abschied  gegeben") 
stimmt  in  beiden  Ausgaben  überein;  nur  die  zum  ersten  Absatz  gehörige  Anmerkung 
(*)  ist  verschieden. 


-j  II.   Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


schärfer  beobachtet  als  die  Andern,  und  stehe  auf  einem  höhern  Stand- 
puncte.  Umgekehrt:  wenn  das,  was  Jedermann  in  sich  unzwey deutig  findet, 
einer  gehörigen  wissenschaftlichen  Bearbeitung  unterworfen  wird  —  dazu 
aber  ist  Rechnung,  und  der  Fleiß  der  Rechnung,  unentbehrlich,  —  als- 
dann ergeben  sich  Resultate,  wo[334]durch  die  gesammte  Philosophie  in 
ein  andres  Licht  gestellt  wird.  So  ist  die  Psychologie  passiv  und  activ; 
wie  man    in  diesem   Buche    schon    in    vielen   einzelnen  Puncten    bemerken 

konnte. 

In  altern  Zeiten,  welche  an  der  Logik  das  einzige  Organ  der  Unter- 
suchung zu  besitzen  glaubten,  war  es  natürlich,  dafs  man  die  Bewegung 
der  Vorstellungsmassen,  die  bald  zusammenwirkten,  bald  einander  mit 
allem  in  ihnen  liegenden  Denken,  Fühlen  und  Begehren  aus  dem  Bewufstseyn 
verdrängen,  keiner  bestimmten  Untersuchung  zugänglich  achtete.  Man 
hielt  sich  an  den  Inhalt  der  Vorstellungsmassen;  diesen  konnte  man  einer, 
freylich  sehr  rohen,  Classification  unterwerfen;  und  die  Täuschungen, 
welche  von  da  ausgingen,  waren  um  desto  mächtiger,  da  man  nicht  ahn- 
dete, dafs  die  Bewegung  den  Inhalt  erzeugt,  und  dafs  durch  gesellige 
Überlieferung  solcher  Erzeugnisse  im  Laufe  der  Jahrtausende  sich  endlich 
Producte  bilden,  deren  Geschichte  sich  in  keinem  einzelnen  menschlichen 
Kopfe  nachweisen  läfst,  und  die  schon  deshalb  als  ein  ursprünglich  Ge- 
gebenes erscheinen.1  So  erzählt  Kant,  (um  nur  eins  der  auffallendsten 
und  bekanntesten  Beyspiele  anzuführen,)  der  Raum  weide  als  eine  un- 
endliche gegebene  Gröfse  vorgestellt;  er  sey  wesentlich  einig;  das  Mannig- 
faltige in  ihm,   mithin   auch  der  allgemeine  Begriff  von  Räumen  überhaupt, 


beruhe  lediglich  auf  Einschränkungen.*  Damit  war  alle  psychologische 
Untersuchung**  im  Voraus  unmöglich  gemacht.  Vorstellungen  des  Räum- 
lichen erzeugen  sich  aus  abgestufter  Verschmelzung;  hingegen  die  Vor- 
stellung des  unendlichen  Raums  existirt  factisch  nur  in  Menschen  von 
höherer  Bildung.  Der  letztere  Umstand  wenigstens  hätte  nicht  verkannt 
werden  sollen;  aber  der  Fehlschlufs  vom  Räume  als  einer  nothwendigen 
Vorstellung,  welcher  gegen  die  erste  aller  syllogistischen  Regeln  zivey 
Mittelbegriffe  hat,***  bevestigte  die  Täuschung. 

[335]    Unterwirft    man    die    Bewegung    der    Vorstellungen    auch    nur 


tionale  Psychologie,  hinwegkritisirt  von  Kant,  hätte  zwar  wieder  zum 
Vorschein  kommen  sollen,  als  der  Fortgang  zeigte,  die  todtgeglaubte 
Metaphysik  sey  noch  nicht  todt.  Aber  da  sie  bey  Wolf  aus  bloßer, 
noch  obendrein  sehr  fehlerhafter  Metaphysik  stammte,  war  ihr  synthetischer 
Stempel  nicht  deutlich.  2Die  Synthesis  erfodert  hier  mehr  als  blofs  Meta- 
physik; sie  erfodert  Mathematik,  und  gelenkige  Köpfe,  die  Mathematik 
nicht  blofs  gelernt  haben,  sondern  zu  brauchen  wissen;  auch  dann,  wann 
ihnen  die  Gröfsenbegriffe,  welche  den  Gegenstand  der  Rechnung  aus- 
machen, nicht  unmittelbar  in  die  Sinne  fallen. 
*  KANTS  Kritik  d.  r.  Vernunft,  §  2. 
**  Psychologie  II.  §    106  u.  s.  f.    -   ***  Ebendas.  §    144. 

1  Vgl.   Anm.   2  auf  S.   269. 

2  Der   folgende  Schluß    dieses  Absatzes     („Die    Synthesis    ....    bis    in    die 
Sinne    fallen";    stimmt  in  beiden  Ausgaben  überein. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.      7.   Capitel.     Von   der  Psychologie.  273 


hypothetisch,  unter  den  einfachsten  denkbaren  Voraussetzungen,  der  mathe- 
matischen Betrachtung:  so  gewinnt  man  sogleich  positive  Resultate,  die, 
wie  es  nunmehr  öffentlich  genug  bekannt  ist,  von  Mathematikern  ohne 
Metaphysik  (wiewohl  nicht  ohne  philosophischen  Geist!)  können  verstanden, 
und  mit  den  bekanntesten  Erfahrungen  so  weit  verglichen  werden,  dafs 
die  Alleinherrschaft  der  alten  Meinung  von  den  Seelenvermögen  ein-  für 
allemal  vorbey  ist. 

1Läfst  man  sich  hingegen  von  der  logischen  Classification  des  Inhalts 
leiten,  welchen  die  Vorstellungsmassen  darzubieten  pflegen,  und  zu  welchem 
jene  Seelenvermögen  sind  hinzu  gedichtet  worden:  so  findet  sich  eine 
Masse  von  negativen  Resultaten,  welche  verrathen,  dafs  die  Logik  durch 
ihr  Coordiniren  und  Subordiniren,  das  Mancherley,  was  sich  der  innern 
Wahrnehmung  darbot,  aus  seinem  wahren  und  natürlichen  Zusammen- 
hange mufste  gerissen  haben.* 

Man  sollte  nun  zwar  glauben,  Niemand  werde  ohne  Noth  in  einem 
Walde  von  Negationen  umher  irren  wollen,  die  blofs  zeigen,  der  rechte 
Weg  sey  hier  nicht  zu  finden;  wenn  sich  von  einem  andern  Puncte  aus 
die  gerade  und  breite  Strafse  sogleich  erkennen  und  betreten  läfst.  Aber 
diese  Strafse  erfordert  den  synthetischen  Gang;  jene  Negationen  hingegen 
entstehen  aus  Analysen,  die,  wenn  der  gute  Wille  fehlt,  noch  durch  aller- 
ley  Vorwände  können  hintertrieben  werden,  wie  die  Erfahrung  zeigt,  denn 
sonst  hätte  ein  gebildetes  Zeitalter  schon  längst  den  alten  Fabeln  den 
Abschied  gegeben. 

202.  Dafs  die  Psychologie  in  zwey  verschiedenen  Formen  erscheinen 
könne,  wufste  man;  sie  waren  mit  den  Namen  em{$$<j}f>irische  und  rationale 
Psychologie  unterschieden  worden.  Aber  nicht  so  deutlich  war,  dafs  jene 
analytisch,  diese  synthetisch  seyn  müsse.  Die  empirische  Psychologie 
meinte  fertig  zu  seyn,  wenn  sie  den  Vorrath  der  Wahrnehmungen  sammelte, 
welche  der  Mensch  darbietet,  sofern  er  mehr  ist  als  ein  blofser  Leib; 
dafs  sie  suchen  müsse,  durch  die  Oberfläche  dieser  Wahrnehmungen  hin- 
durch, das  Gewebe  derselben  bis  in  seine  kleinsten  Theile  auflösend,  in 
die  verborgene  Tiefe  zu  dringen,  das  wufsten  Leibnitz  und  Locke  besser 
als  Wolf  und  Kant.**  So  ging  durch  die  beiden  letztern  der  analytische 
Charakter,  welchen  die  empirische  Psychologie  besitzen  soll,  verloren.  Die 
rationale  Psychologie,  hinwegkritisirt  von  Kant,  hätte  zwar  wieder  zum 
Vorschein  kommen  sollen,  als  der  Fortgang  zeigte,  die  todtgeglaubte  Meta- 
physik sey  noch  nicht  todt.  Aber  da  sie  bey  Wolf  aus  blofser,  noch 
obendrein  sehr  fehlerhafter  Metaphysik  stammte,  war  ihr  synthetischer 
Stempel  nicht  deutlich;  und  alle  neuen  Benennungen,  die  man  ohne  Noth 
der  Metaphysik  gab,  um  nur  nicht  sagen  zu  müssen,  man  stelle  das  Alte 
wieder  her,  konnten  der  Psychologie  nichts  helfen.     2Die  Synthesis  erfordert 


*  Lehrbuch  zur  Psychologie,  im  ersten  Theile  an  vielen  Stellen.  [Bd.  VI  vorl. 
Ausg.]  Dieses,  von  der  Analysis  anhebende  Lehrbuch  genau  zu  vergleichen,  war  das 
Mindeste,  was  diejenigen  Beurtheiler  hätten  leisten  sollen,  die  sich  in  den  synthe- 
tischen  Gang    des  Hauptwerks  nicht  finden  konnten. 

**  Psychologie  I,   §    17 —  20. 

1  Vgl.  Anm.  *  aul  S.   271.  —   -  Vgl.  Anm.   2  auf  S.   272. 
Herbart  s  Werke.     IX.  '" 


274  *-"■■    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 


hier  mehr  als  blofs  Metaphysik;  sie  erfordert  Mathematik,  und  gelenkige 
Köpfe,  die  Mathematik  nicht  blofs  gelernt  haben,  sondern  zu  brauchen 
wissen;  auch  dann,  wann  ihnen  die  Gröfsenbegriffe,  welche  den  Gegen- 
stand der  Rechnung  ausmachen,   nicht  unmittelbar  in  die  Sinne  fallen. 

Also  keinesweges  eine  vorgebliche  Beobachtungsgabe,  die  ohne  künst- 
liche Werkzeuge  dennoch  feiner  seyn  müfste,  als  sie  je  ein  Mensch  besessen 
hat  und  besitzen  kann;  eben  so  wenig  eine  vorgeblich  geniale  Schöpfung 
neuer  Ideen,  die  bey  Lichte  besehen,  nichts  als  alte,  rohe  Vorurtheile 
sind :  —  wohl  aber  ein  Fortschritt  im  Gebiete  des  mathematischen  Denkens, 
welches  Gebiet  seiner  Natur  nach  unbegränzt  ist,  dieser  Fortschritt  fördert 
die  Psychologie,  indem  er  das  Geheimnifs,  das  [337]  bisher  über  dem 
Zusammenhange  der  geistigen  Ereignisse  schwebte,   allmählig  aufdeckt. 

Allmählig!  nicht  aber  nach  Belieben  des  praktischen  Interesse!  Wenn 
die  Wissenschaften  Aufschlüsse  geben,  so  fangen  sie  nicht  gerade  damit 
an,  uns  diejenigen  Fragen,  die  uns  am  meisten x  am  Herzen  liegen,  zu  be- 
antworten. Schon  Mancher  hat  die  Geometrie  sehr  trocken  gefunden, 
weil  sie  ihn  zwang,  früher  den  Pythagoräischen  Lehrsatz  zu  lernen,  ehe 
vom  Feldmessen  und  von  andern  praktischen  Dingen  die  Rede  war.  Die 
Schwellen  des  Bewufstseyns ,  die  Verschmelzungen  vor  und  nach  der 
Hemmung,  sind  eben  so  trocken;  und  wir  dürfen  den  Leser  dieses  Buchs 
nicht  damit  plagen. 

203.  [=  223  d.  IL  Ausg.]  Der  Name:  psychische  Anthropologie,  ist 
neuerlich  in  solchem  Grade  üblich  geworden,  dafs  die  Erwähnung  desselben 
hier  nicht  fehlen  darf;  und  zwar  um  desto  weniger,  weil  dadurch  eine  Be- 
gränzung  ausgedrückt  wird,  die  zwar  für  manche  Vorträge  bequem  seyn 
kann,*  die  aber  zu  den  wissenschaftlichen  Formen  zu  rechnen  eben  so 
verkehrt  seyn  würde,  als  wenn  wir  etwa  die  Form  der  gegenwärtigen  Ency- 
klopädie uns   einfallen  liefsen  der  Philosophie  selbst  anbieten  zu  wollen.** 

Anthropologie  ist  der  rechte  Name  für  populäre  Vorträge,  worin  man 
die  Frage:  wie  Leib  und  Seele  ein  Ganzes  bilden  können,  nicht  ernst- 
lich untersuchen  will.  Der  Leib,  als  materiale  Masse,  liegt  zu  platt  auf 
der  Oberfläche  der  Sinnen [3 3 8] weit,  —  die  Seele,  als  Substanz,  welcher 
die  geistige  Regsamkeit  inwohnt,  liegt  zu  tief  in  dunkler  Metaphysik,  als 
dafs  man  nicht  zwischen  beiden  eine  Mitte  für  gemüthliche  und  gemäch- 
liche Leute  suchen  sollte,    2  denen  schon  solche  geringe  Anstrengung,    wie 


1  „am   meisten"   fehlt  in  der  II.  Ausg.a 

*  Dafs  in  jeder  Form  viel  Treffliches  kann  gesagt  werden,  ist  bekannt.  Wenn 
ein  aufmerksamer,  ruhiger  Beobachter  sowohl  der  Natur  als  der  wechselnden  Systeme, 
der  aber  zu  scharfsinnig  ist,  um  sich  von  falschen  Systemen  fangen  zu  lassen,  seine  Re- 
sultate unter  dem  Titel:  psychische  Anthropologie,  mittheilt,  so  versteht  sich  von  selbst, 
dafs  man  über  das  Wort  nicht  mit  ihm  streitet. b 

**  Es  ist  vielleicht  nicht  überflüssig  daran  zu  erinnern,  dafs  in  diesem  Buche  die 
systematische  Form  gerade  so  sorgfältig  vermieden  werden  mufste,  als  in  guter  Prosa 
der  Vers  vermieden  wird.     Man  suche  das  System  in  den  systematischen  Schriften,  c 

2  Die  folgenden  Worte:  „denen  schon  ....  zu  beschwerlich  fällt."  fehlen 
in  der  II.   Ausg. 

a  SW    drucken   nach  der    IL  Ausg.    ohne  Angabe  der  Abweichung  der    I.  Ausg. 
b  Die   vorstehende   Anmerkung  fehlt  in   der  II.  Ausg. 
c  Die  vorstehende  Anmerkung  fehlt  in   der  II.   Ausg. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     f.  Capitel.     Von  der  Psychologie.  275 


wir  oben  unsern  Lesern  zumutheten  (115 — 146.),  zu  beschwerlich  fällt. 
Man  verspricht  also  sich  selbst  und  Andern,  den  ganzen  Menschen,  und 
nur  den  Menschen,  erfahrungsgemäfs  von  seinem  Mittelpuncte  aus  zu  be- 
schreiben; und  dieser  Mittelpunct  ist  natürlich  das  Leben,  in  seiner 
Doppelgestalt,  dem  innem  und  dem  äufsern  Leben.  Eine  richtige  Ahnung 
des  Satzes:  dafs  innere  und  äu/sere  Zustände  einander  gegenseitig  bestimmen 
(128.),  schimmert  durch;  aber  die  natürliche  Frage:  Zustände  Wessen? 
bleibt  unbeantwortet.  Denn  der  Eine  und  ganze  Mensch,  welchen  man 
voraussetzte,  ist  ein  Ideal,  von  dem  sich  viel  Schönes  sagen,  aber  wenig 
Wahres  lehren  läist;  und  die  vielen  wirklichen  Menschen,  von  denen  Er- 
fahrung und  Geschichte  reden,  haben  an  leiblicher  und  geistiger  Nahrung 
so  viel  Fremdes  genossen,  dafs  man,  um  sie  zu  beschreiben  wie  sie  nun 
eben  sind,  ins  Unendliche  hinausgetrieben  wird.  Kein  Wunder,  dafs  die 
Naturphilosophen,  wenn  sie  den  Menschen  beschreiben  wollen,  gern  vom 
Unendlichen  beginnen.  Man  hat  die  Wahl,  entweder  den  leeren,  ab- 
stracten  Begriff  des  Unendlichen  zum  Grunde  zu  legen,  —  alsdann  mufs 
ihn  die  Phantasie  wieder  ausfüllen;  oder  beym  Ausfluge  ins  Unendliche 
Alles,  was  man  von  soliden  Naturkenntnissen  besitzt,  mitzunehmen,  um 
nicht  ins  Leere  zu  gerathen;  alsdann  aber  ist  die  Fülle  zu  grofs;  man 
mufs  das  Einzelne  Stück  für  Stück  besehen,  ja  kritisch  untersuchen;  und 
hiemit  befindet  man  sich  wieder  zu  Hause;  der  Ausflug  war  eine  Reise 
im  Traume. 

Zwischen  beiden  Untersuchungen,  der  einen  über  die  geistige  Reg- 
samkeit, der  andern  über  die  Materie  (115— 120  und  135 — i37-)>  giebt 
es  allerdings  eine  Mitte,  und  dort  befindet  sich  in  der  That  der  Begriff 
des  Lebens,  (123 — 133.);  aber  diese  Mitte  ist  für  die  Untersuchung  kein 
Princip,  sondern  ein  Resultat.  Sie  ist  der  Sammlungspunct,  worin  zwey 
[339]  Untersuchungen  zusammenstofsen,  die  unter  einander  gerade  so  dis- 
parat sind,  wie  Leib  und  Seele  nur  immer  mögen  gedacht  werden.  Sie 
lassen  sich  auch  nicht  errathen,  nicht  aus  der  Ferne  sehen,  sondern  man 
mufs  sie  anstellen,  um  sie  zu  kennen  und  alsdann  zu  verbinden. 

So  lange  nun  an  mathematische  Psychologie  und  an  Synechologie 
nicht  gedacht  wurde,  war  es  leicht,  sich  zu  überreden,  Leib  und  Geist 
seyen  nur  zwey  Seiten,  von  welchen  eine  unbekannte  Einheit  —  der 
wahre  Mensch  selbst  —  sich  zeige.  Man  wollte  jedoch  von  dem  Unbe- 
kannten etwas  lehren;  und  das  Lehren  trieb  in  bekannte  Gegenden  zu- 
rück. Man  hob  demnach  aus  Einer,  untheilbaren,  aber  leider  unbekannten 
(und  irrig  vorausgesetzten)  Anthropologie  hier  und  dort  einen  bekannten 
Theil  heraus.  So  kamen  Psychologie  und  Physiologie  stets  wieder  als 
zwey  völlig  verschiedene  Wissenschaften  zum  Vorschein;  nur  mufste  sich 
die  erstere  den  neuen  Namen:  psychische  Anthropologie,  gefallen   lassen. 

Was  hatte  man  nun  gewonnen?  Durch  den  Namen  gar  nichts.  Aber 
verloren  gab  man  die  Substanz  der  Seele,  die  man  nicht  metaphysisch  zu 
rechtfertigen  wufste;  und  aus  den  Augen  verlor  man  durch  Schuld  der 
falschen  Form  die  Thiere,  welche  für  wahre  Psychologie  noch  merkwür- 
diger sind,  als  die  Geistes  -  Zerrüttungen  des  Menschen;  wäre  es  auch  nur 
deshalb,  weil  der  Traum  und  die  Wuth  eben  sowohl  beym  Hunde  und 
beym    Rinde    zu  Tage    kommen,    als    beym    Menschen;    so    dafs   man    hier 

18* 


276  U-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


wenigstens  lernen  kann,  sich  der  Einbildung  von  einer  zeiriltteten  Vernunft 
zu  erwehren,  indem  das  Rind  keine  Vernunft  zu  verlieren  hatte.  J  Wer 
aber  den  psychologischen  Mechanismus  nicht  von  unten  auf, 2  so  wie  er 
Thieren  und  Menschen  erfahrungsmäfsig  gemein  ist,  studiren  will,  der  wird 
ihn  niemals  kennen  lernen. 

Jene   psychischen   Anthropologen   nun,    denen   die    Thiere    zu   gering 
waren,    um    auf   sie   Rücksicht   zu   nehmen,    hätten  wohl    näher    überlegen, 
mögen,  was  man  zu  leisten  habe,  um  für  einen  guten  Empiriker  zu  gelten. 
Dieser  Ruhm  pflegt  nicht  dadurch  zu  wachsen,  dafs  man  geflissentlich  die 
Sphäre    [340]    seiner  Beobachtung    ins  Enge   zieht.     Aber   unläugbar   liegt 
der  Contrast  vor  x\ugen,   dafs  in  dem  nämlichen  Zeitalter,   worin  die  ver- 
gleichende  Anatomie   sich   ausdehnte,    so   weit   sie   konnte,    (wie   es   guten 
Beobachtern  geziemt,)  die  Psychologie  nur  noch  vom  Menschen  hören  wollte! 3 
204.   [=  224    d.  II.  Ausg.]   Ihrer  wahren  Natur  nach   ist  Psychologie  die 
Lehre  von  den  innern  Zuständen  ein/acher  Wesen.    Bey  diesen  Zuständen  giebt 
es  Verschiedenheiten  der  Stärke,  des  Hemmungsgrades,  und  der  Verbindung. 
Daraus  entstehen  mancherley  Producte,  deren  Ursprung  die  mathematische 
Untersuchung  deutlich  macht,  nachdem  das  einfache  Wesen,  die  Seele,  durch 
Metaphysik  gerechtfertigt  ist.     In  der  innern  Erfahrung  lälst  sich  die   Seele 
nicht  beobachten,  wohl  aber  treten  abwechselnd  jene  Producte  im  Bewufst- 
seyn    mehr    oder  minder  deutlich  hervor,*    und  sind  alsdann  Gegenstände 
einer  flüchtigen,  sehr  unvollkommenen,  der  Alisdeutung  im  hohen  Grade  unter- 
worfenen,  jedoch    für  den  gemeinen  Gebrauch    des  täglichen  Lebens  hin- 
reichenden Beobachtung,  worauf  die  gesammte  sogenannte  Menschenkennt- 
nifs  beruht.     Diese  Menschenkenntnifs  vervollständigt  sich  im  Umgange  und 
durch  die  Geschichte;  ihre  Mängel  aber  verrathen  sich,  sobald  ungewöhnliche 
Umstände  eintreten,  seyen  dieselben  nun  historischer  oder  physiologischer  Art; 
daher  bald  die  Höhe,  bald  die  Niedrigkeit  des  Menschen  Erstaunen  erregt. 
Wie   nun  die  Mängel    unserer  Selbstbeobachtung   uns    nicht   hindern, 
uns  in  andere  Menschen  hineinzudenken,  und  wie  uns  die  Gedanken  und 


1  Der  folgende  Schlufssatz:  „Wer  aber  ....  niemals  kennen  lernen."  fehlt 
in  der  II.  Ausg. 

:'  Hier  schiebt  die  II.  Ausg.  noch  folgenden  Zusatz  ein:  „Hieher  pafst,  was 
schon  früher,  bey  Gelegenheit  der  lebenden  und  der  unbelebten  Materie, 
erinnert  wurde  (125).  Will  man  prüfen,  ob  man  einen  haltbaren  Begriff 
von  Körpern  gefafst  habe:  so  mufs  die  Aufmerksamkeit  gleichmäßig  auf 
belebte  Körper  wie  auf  unbelebte  gerichtet  seyn;  und  eben  so,  will  man 
wissen,  ob  man  sich  die  geistige  Regsamkeit  richtig  denke:  so  darf  man 
das  Feld  der  Erfahrung  nicht  auf  die  Menschen  beschränken.  Wo  In- 
duration gelten  soll,  da  mufs  man  nicht  ein  Verfahren  wählen,  welches  ihrer 
Vollständigkeit  Abbruch  thun  würde. 

Anders  verhält  es  sich,  wenn  eine  Untersuchung  vom  Bekannten  zum 
Unbekannten  fortschreiten  soll.  Von  der  Stellung,  welche  dem  gemäfs 
den  psychischen  Thatsachen  zukommt,  wird  weiterhin  Etwas  folgen. 

*  Was  aber  (-wird  man  fragen)  ist  das  Bewufstseyn  selbst,  und  AVer  ist  der  Be- 
obachter? Diese  Frage  ist  oben  (146.)  schon  bevonvortet. 

-  SYV  „herauf"  statt  „auf". 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     7.  Capitel.     Von  der  Psychologie.  277 


Gesinnungen  derselben  hiedurch  wenigstens  theilweise  deutlich  werden: 
eben  so  überträgt  die  Wissenschaft  das,  was  sie  von  den  innern  Zuständen 
der  Seele  weifs,  auf  Veranlassung  der  Erfahrung  auch  versuchsweise  auf 
[341]  andre  einfache  Wesen,  und  gewinnt  hiemit,  wie  der  Erfolg  zeigt, 
Licht  über  die  sonst  im  hohen  Grade  räthselhaften  Erscheinungen  des 
eigentlichen  Lebens  (128.    131.). 

Um  aber  für  das  Innere  der  Psychologie  selbst  Licht  zu  gewinnen, 
stelle  man  drev  Puncte  zusammen,  welche  in  diesem  Buche  an  verschiedenen 
Orten  vorgekommen  sind.  Ob  man  alsdann  die  Hauptschlüssel  der  wahren 
Psychologie  bey  einander  habe,  das  kann  man  nur  durch  längern  Gebrauch 
und  gehörige   Uebung  lernen. 

Erstlich  mufs  man  sich  völlig  vertraut  machen  mit  dem  schon  oben 
(117 — 120.)  so  populär  als  möglich  dargestellten  Reproductionsgesetze,  aus 
welchem  die  Reizbarkeit  und  Wirksamkeit  der  Vorstell ungsreihen  erkannt  wird. 

Zweitens  mufs  man  die  Erzeugung  des  Begriffs  der  Substanz  kennen 
(159  u.  f.),  wodurch  das  Gebiet  des  Sinnlichen  überschritten  wird.  Hierauf 
werden  wir  noch  zurückkommen. 

Drittens  erinnere  man  sich  an  die  verschiedenen  Vorstellung?*- Massen, 
deren  Wechsel  oftmals  ganz,  öfter  theilweise,  das  Gesichtsfeld  des  Bewufst- 
seyns  verrückt;  deren  Zuscwimetnvirken  schwierig,  aber  nothwendig  ist  für 
jede  höhere  Bildung  des  Geistes  und  der  Gesinnung  (41.  55.  58.  65. 
69.   70.   7S-   84-    105-    107.). 

205.  [=  225  d.  IL  Ausg.]  Dieser  Zusammenstellung  soll  eine  andre 
der  Hauptschwierigkeiten1  folgen,  woran  jeder  Bearbeiter  der  Psychologie 
stofsen  wird. 

Erstlich:  die  Logik  veranlafst,  dafs  allgemeine  Begriffe  als  eine  ganz 
eigne  Art  von  Vorstellungen  vorausgesetzt  werden.  Aber  die  Ablösung 
der  specifischen  Differenzen  untergeordneter  Arten  von  den  Gattungen  ist 
vielmehr  eine  Vorschrift  dessen  was  geschehn  soll,  als  dessen  was  geschieht. 
Man  befolgt  die  Forderung,  indem  man  die  Differenzen  verneint,  aber 
das  Verneinen  ist  noch  immer  nicht  ein  Aufhören  des  Setzens;  gerade 
so  wenig,  als  der  Vorsatz,  eine  Linie  ohne  Breite  und  Dicke,  oder  den 
Raum  unendlich  zu  denken,  je[342]mals  rein  ausgeführt  wird.  Allgemeine 
Begriffe  sind  Ideale;  sie  kommen  nie  f actisch  zu  Stande. 

Zweytens:  Metaphysik,  oder  wenn  man  will,  transscendentale  Logik,  setzt 
Kategorien,  übersinnliche  Erkenntnifsbegriffe  im  menschlichen  Geiste  voraus. 
Hier  fehlt  die  Kenntnifs  von  der  Erzeugung  des  Begriffs  der  Substanz  (159.)- 

Drittens:  die  Moral  setzt  Freyheit  des  Willens  voraus.  Sie  sucht 
die  Autonomie  am  unrechten  Orte  (29.),  und  macht  den  Willen  wider 
ihre  eigne  Absicht  zum   Herrn,   statt  ihn  zu  unterwerfen. 

Viertens:  die  Physiologie  betrachtet  den  Menschen  wie  ein  Natur- 
produet,  welches  lebt  und  stirbt  gleich  andern.  Sie  verkennt  die  Seele, 
so  lange  sie   die   Materie-  nicht  kennt. 


1  Statt   „der  Hauptschwierigkeiten"  hat  die  II.  Ausg.  „einiger  Schwierig- 
keiten".11 

-    „Materie"    nicht  gesperrt  in  der  II.   Ausg> 


a  u.  b  SW  geben  die  Abweichung  nicht  an. 


278  II"   Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

Fünftens:  das  Ich  erscheint  als  beharrlicher  Gegenstand  innerer  An- 
schauung.* Dieses  Ich  ist,  je  nachdem  man  es  behandelt,  entweder  das 
fruchtbarste  Princip,  oder  aber  der  gefährlichste  Feind  der  Psychologie. 
Das  verlorne  oder  zersplitterte  Ich  der  Wahnsinnigen  giebt  eine  nützliche 
Warnung  (140  u.   f.). 

Sechstem:  Staatsmänner  schaffen  sich  aus  der  Geschichte  eine  Psycho- 
logie wie  sie  können.  Aber  praktische  Interessen  sind  keine  Erkenntnifs- 
gründe,  und  schützen  nicht  gegen  Vorurtheile. 2 

3 206.  Da  die  Psychologie  vom  Verfasser  in  zwey  verschiedenen 
Formen  ist  dargestellt  worden:  so  müssen  hier  darüber  noch  wenige  Worte 
gesagt  werden. 


*  Dahin  gehört  der,  in  der  vorigen  Note  erwähnte,  beständige,  aber  als  beständig 
und  stets  sich  gleich,  nur  eingebildete  Beobachter!  sammt  seinem  vermeinten  Bewufstsein.  l 

2  Hier  hat  die  II.   Ausg.  folgenden  Zusatz : 

Solche  Schwierigkeiten  lassen  sich  hier  nur  kurz  anzeigen.  Mehr  ist 
zu  sagen  über  eine  schon  berührte  Hauptfrage  in  Ansehung  des  metho- 
dischen Fortschritts  der  Untersuchung. 

3  An  Stelle  des  §  206  bis  „ist  bestimmt  worden"  (S.  280  Z.  27  V.  o.)  ist  in  der 
II.  Ausg.  folgender  §  getreten: 

226.  Neben  jenen  Fragen:  was  und  luoraus  soll  erklärt  werden? 
wurde  als  dritte  Frage  erwähnt:  in  welcher  Ordnung  und  Folge  sollen  die 
zu  erklärenden  Gegenstände,  also  die  psychischen  Thatsachen,  zur  Unter- 
suchung gelangen?  —  Die  allgemeinste  Antwort  wäre:  in  derjenigen  Folge, 
worin  aus  dem  Bekannten  das  Unbekannte  sich  finden  läfst. 

Allein  wir  setzen  hier  den  synthetischen  Theil  der  Psychologie  schon 
voraus;  denn  nur  in  wieweit  dieser  der  Analyse  vorarbeitet,  läfst  sich  hoffen, 
dafs  man  eine  tiefer  gehende  Analyse,  als  die  der  frühern  Zeiten,  werde 
in  Gang  setzen  können. 

Die  eigentümliche  Schwierigkeit  der  Beobachtung  psychischer  That- 
sachen ist  bekannt.  Was  wir  in  uns  wahrnehmen,  das  ist  im  Kommen 
und  Gehen  begriffen;  es  hält  nicht  still,  es  läfst  sich  nicht  aufser  uns 
hinstellen,  nicht  mit  Genauigkeit  Andern  mittheilen;  wir  selbst  behalten 
davon  nur  unbestimmte,  schwankende  Gesammt- Eindrücke.  Je  gröfser 
diese  Schwierigkeit  desto  mehr  entziehen  sich  die  Thatsachen  einer  genauem 
Untersuchung,  wo  es  darauf  ankommt,  sie  mit  der  schon  vorhandenen 
Theorie  zu  vergleichen. 

Umgekehrt  also,  solche  Thatsachen,  bey  denen  diese  Schwierigkeit  der 
genauen  Beobachtung  die  kleinste  ist,  müssen  vorantreten,  wenn  es  darauf 
ankommt,  die  Theorie  durch  Vergleichung  mit  der  Erfahrung  zu  sichern 
und  näher  zu  bestimmen. 

Nun  giebt  es  allerdings  einige  Thatsachen,  bey  denen  weniger  nöthig 
ist,  sie  zu  beobachten,  indem  sie  geschehen:  weil  sie  veste  Produkte' zurück- 
lasse?!, worin  sie  zu  erkennen  sind.  Dahin  gehören  schon  die  Fälle,  in 
denen  Einer,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  in  Gedanken  gehandelt  hat.  Der 
Erfolg  der  Handlung  ist  vorhanden,  und  bezeugt  ein  Vorstellen  und  Be- 
gehren, wovon  keine   Erinnerung  übrig  blieb. 

Ohne  Vergleich    wichtiger  jedoch,    als   alles  Individuale,    sind   solche 

1  Die  vorstehende  Anmerkung  fehlt  in  der  II.  Ausgabe. 


2.   Abschnitt.      Methodenlehre.      7.   Capitel.      Von   der  Psychologie.  279 


Dem  praktischen  Interesse  wird  diejenige  Form  am  meisten  ent- 
sprechen, welche  im  Lehrbuche  zur  Psychologie  [Bd.  IV  vorl.  Ausg.]  ist 
befolgt  worden.  Die  Erfahrung,  welche  der  praktische  Mensch  nie  aus  den 
Augen  lassen  darf,  bildet  darin  eine  breite,  kritisch  beleuchtete  Grundlage; 
die  Metaphysik  tritt  nur  durch  Lehn[343]sätze,  die  mathematische  Be- 
arbeitung nur  durch  ihre  Resultate  hinzu.  Die  Analyse  geht  der  Synthesis 
voran ;  und  die  Wissenschaft  erscheint  genauer  als  im  Hauptwerke  zerlegt 
in  ihre  kleinern  Theile,  dergestalt,  dafs  eine  bequeme  Uebersicht  derselben 
hervorgeht,  die  man  nicht  hätte  vermissen  sollen,  denn  sie  war  längst  gegeben ! 

Das  Hauptwerk  hingegen  dient  dem  theoretischen  Interesse;  die  grofsen 
Hauptzüge  dessen,  was  in  der  gesammten  Philosophie  abhängt  von  der 
Psychologie,  mufsten  darin  verfolgt  werden,  mit  Beyseitsetzung  vieler 
praktisch  wichtigen  Einzelnheiten.  Es  ging  der  Metaphysik  voran,  in  einem 
Zeitälter,  welches  einmal  gewohnt  war  und  gröfstentheils  noch  gewohnt  ist, 
Vernunftkritik  als  Vorarbeit  zur  Metaphysik  zu  betrachten.  Es  wird  von 
denen,  die  den  mathematischen  Untersuchungen  nicht  folgen  können,  am 
leichtesten  und  richtigsten  aufgefafst  werden,  wenn  sie  mit  Hülfe  des  be- 
kannten Fadens  der  Vernunftkritik  sich  darin  orientiren.  Aber  diesem 
Verfahren  wird  eine  scheinbare  Schwierigkeit  entgegentreten,  gegen  welche 
zu  warnen  leicht  ist,  wenn  man  der  Warnung  Gehör  geben  will,  und  das 
schon  Vorgetragene  (163.)  dabey  vesthält. 

An  zwey    ziemlich    weit  getrennten  Orten    wird    erstlich   vom   Begriffe 

Producte,  worin  die  geistige  Thätigkeit  unzähliger  Menschen  verschiedenen 
Alters,  Standes,  Geschlechts,  selbst  verschiedener  Zeiten,  sich  spiegelt;  und 
in  dieser  Hinsicht  möchte  man  dem  Bau  der  Sprachen,  mit  ihren  Wort- 
stämmen, Flexionen,  Derivationen,  Präpositionen,  Conjunctionen,  den  ersten 
Rang  anzuweisen  geneigt  seyn.* 

Noch  zugänglicher  für  die  Untersuchung  sind  diejenigen  Thatsachen 
des  ästhetischen  Urtheils,  welchen  unsre  heutige  Tonkunst  ihre  Grundlage 
verdankt;  Thatsachen,  bey  denen  sich  die  sogenannte  Akustik  benutzen 
läfst,  jedoch  nach  Beseitigung  dessen,  was  vielmehr  die  Schwingungen 
tönender  Körper,  als  das  Hören  und  vollends  das  musikalische  Denken 
angeht.**  Unter  diesen  Thatsachen  ist  der  gröfsere  Theil  so  beschaffen, 
dafs  er  nur  durch  die  äufserste  Unachtsamkeit  für  erklärbar  durch  physi- 
kalische Gründe  konnte  gehalten  werden. 

Diesen  Thatsachen  zunächst  stehen  die,  welche  die  ursprüngliche 
Auffassung  des  Zeitmaafses,  das  Gefühl  vom  Tact  und  Rhythmus  betreffen.*** 
Die  gesammte  Metrik  gehört  hieher.  Dem  Zeitmaafse  analog  ist  das 
Augenmaafs  für  Längen  und  Verhältnisse  der  Linien  im  Räume.  Dabey 
ist  noch  an  das  räumliche  Schöne  und  Häfsliche  zu  erinnern,  welches 
von  den  Psychologen  viel  zu  wenig  beachtet  wird.  Auch  da,  wo  kein 
bestimmtes    ästhetisches    Urtheil    hervortritt,     wird    das    Räumliche    beym 

*  Eine  Probe  davon  giebt  das  zweyte  Heft  der  psychologischen  Untersuchungen, 
in  dem  Aufsatze:  über  Kategorien  und  Conjunctionen. 

**  M.  vergl.  das  erste   Heft  der  psychologischen  Untersuchungen. 
***   Psvchol.  Unters,    erstes   Heft.      Zu  der  Abhandlung    über  die  Tonlehre    hat  der 
Hr.  Professor  Griepenkerl  die  dortigen  schätzbaren  thatsächlichen  Bemerkungen  zu  liefern 
die  Güte  gehabt,  S.    120. 


2 Sit  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie. 

des  Dinges,  als  einer  Kategorie,  nämlich  von  der  ovoia  des  Aristoteles, 
geredet;  späterhin  vom  Begriffe  der  Substanz,  mit  Locke.*  Dies  kann  als 
Unordnung  oder  Weitläuftigkeit  erscheinen;  weil  man  gewöhnt  ist  an  Kants 
Kategorie  der  Substanz.  Aber  das  Ding  ist  keine  Substanz,  und  die 
Substanz  ist  kein  Ding.  Im  Begriffe  des  Dinges  sind  die  Merkmale,  welche 
dasselbe  als  ein  solches  oder  andres  bestimmen,  noch  zusammengefafst; 
erst  durch  deren  Trennung,  und  Entgegensetzung  gegen  die  Einheit,  entsteht 
der  Begriff  der  Substanz  (159.).  Bey  Kant  ist  hier  eine  Anhäufung  von 
Fehlern.  Erstlich  kennt  er  den  psychologischen  Mechanismus  der  Compli- 
cationen  nicht,  welche  ohne  [344]  alle  Handlung  der  Synthesis  das  Viele 
der  Merkmale  a/s  Eins  vorstellen.  Dieses  Viele  als  Eins  vorgestellt,  macht 
aber  gerade  den  Widerspruch;  und  hier  ist  der  Punct  seines  Entstehens, 
hier  ist  seine  Quelle.  Zweytens  bringt  Kant  den  Begriff  der  Substanz, 
welcher  in  gemeiner  Erfahrung  nicht  vorkommt,  in  die  Reihe  der  Kategorien, 
oder  Erfahrungsbegriffe,  wohin  er  nicht  pafst.  Drittens  weifs  Kant  nichts 
vom  Widerspruch  im  Begriffe  der  Substanz;  wie  natürlich,  da  er  die  höhere 
Stufe  des  Denkens,  worauf  allein  vom  letztern  Begriffe  Gebrauch  gemacht 
wird,  von  der  nieder;/  der  gemeinen  Erfahrungsbegriffe  nicht  unterscheidet. 
Durch  diesen'  Fehler  wird  die  Entdeckung  des  Widerspruchs  verhindert; 
denn  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Inhärenz  wird  gar  nicht  erhoben; 
und  hiemit  verliert  viertens  die  KANTische  Darstellung  das  Nöthigste  der 
Vernunftkritik,  nämlich  Bedeutung  für  die  Metaphysik,  in  welcher  auf  den 
Begriff  der  Substanz  Alles  ankommt.  Solche  Fehler  mufsten  durch  die  an- 
gegebene Trennung  des  Dinges  von  der  Substanz  verbessert  werden,  dergestalt, 
dafs  die  scheinbare  Unordnung  das  wahre  Princip  der  Ordnung  wird, 
wodurch  vorzugsweise  jenem  Werke,  da  es  der  Metaphysik  vorarbeiten 
sollte,  seine  Gestalt  ist  bestimmt  worden. 


Wahrnehmen  zugleich  gefühlt;  selbst  entfernte  Ähnlichkeiten  und  Ab- 
weichungen  werden  fühlend  unterschieden. 

Viel  später  kommen  für  die  analytische  Psychologie  solche  Unter- 
suchungen an  die  Reihe,  deren  Gegenstand  lediglich  in  der  innern  Wahr- 
nehmung zu  finden  ist;  z.  B.  die  Untersuchung  des  Selbstbewufstseyns, 
in  welchem  der  Mensch  sich  bald  als  ein  Object  in  der  Mitte  der  Dinge, 
als  ein  Mancherley  und  Vielerley,  als  einen  Fremden,  den  er  anredet, 
ermahnt,  lobt,  tadelt,  —  bald  als  reines  Subject  betrachtet,  welches  allen 
Objecten  vorauszusetzen  sey,  und  die  strengste  Einheit  besitze;  während 
wiederum  zu  andrer  Zeit  Object  und  Subject  in  eine  und  dieselbe  Person 
zusammenzugehn  scheinen,  wie  wenn  die  Unterscheidung  beider  gar  nicht 
nöthig  gewesen  wäre.  Bey  solchen  Untersuchungen  mufs  man  die  deutlichsten 
Contraste  zu  Hülfe  nehmen;  wohin  besonders  die  anomalen  Zustände  des 
Traums  und  Wahnsinns  gehören.  Das  Alles  sollte  billig  als  Vorbereitung 
für  die  höchst  wichtigen  Fragen  dienen,  welche  sich  auf  die  Verschieden- 
heit der  Anlagen,  der  Talente  und  ihrer  Ausbildung,  auf  die  Möglichkeit 
des  sittlichen  Fortgangs  und   Rückgangs  beziehen. 

*  Psychologie  II.  §   124  [Bd.  VI  vorl.  Ausg.],  zu  vergleichen  mit  §    141. 


2.   Abschnitt.     Methodenlehre.     7.  Capitel.     Von  der  Psychologie.  281 

Anmerkung. 

Vom  Uebergange  aus  der  Metaphysik  in  die  Psychologie. 

Denjenigen,  welche  des  Verfassers  Metaphysik  und  Psychologie  vor 
Augen  haben,  wird  folgende  kurze  Erläuterung  dargeboten,  damit  sie  den 
Zusammenhang  zwischen  den  Paragraphen  232  bis  238.  der  Metaphysik, 
und  dem  §.41    der  Psychologie,  leichte:   finden  mögen. 

1)  Zuerst  vom  Begriffe  der  Selbsterhaltung,  der  auf  jedes  einfache 
Wesen,  mithin  auch  auf  die  Seele,  pafst. 

[345.]  Jeder  kennt  den  Satz  A  =  A.  Jeder  weifs  auch,  dafs  zwey 
gleichartige  Negationen  einander  aufheben.  Daher  läfst  sich  statt  A  setzen: 
non  nonA  mithin   A   =   non  non  A. 

2.  Ferner  weifs  man,  dafs  jeder  conträre  Gegensatz  einen  contra  - 
dictorischen  in  sich  schliefst.  Und  überdies:  dafs  die  conträren  Gegen- 
sätze unbestimmt  mannigfaltig,  ja  unendlich  mannigfaltig  seyn  können. 

3.  Man  denke  sich  nun  statt  des,  dem  A  contradictorisch  entgegen- 
gesetzten non  A  ein  conträr  entgegenstehendes  E.  So  mufs  die  Ver- 
neinung dieses  B  sich  nach  B  richten.  Die  Bedeutung  des  leeren  all- 
gemeinen Satzes  A  =  non  non  A  wird  nun  jedesmal  eine  andre  und 
wieder  andre,  so  oft  statt  nonA  ein  andres  und  wieder  andres  B  ge- 
setzt wird. 

Nun  bedeute  A  die  Seele.  Ihre  ursprüngliche  Qualität  ist  uns  zwar 
schlechthin  unbekannt;  allein  soviel  ist  klar,  dafs,  wenn  sie  sich  im  Ver- 
hältnils zu  einem  conträr  entgegengesetzten  B  wirklich  befindet,  sie  alsdann 
auch,  um  zu  bleiben  was  sie  ist,  einen  innern  Zustand  annehmen  mufs, 
welcher  diejenige  Verneinung,  die  B  in  ihr  setzen  würde,  gerade  aufhebt. 
Dieser,  durch  B  bestimmte  Zustand  ist  ihre  Selbsterhaltung.  Setzt  man 
ferner  C,  D,  E  u.  s.  w.  statt  B:  so  kommen  andre  und  andre 
Selbsterhaltungen. 

4.  Jetzt  versetzen  wir  uns  in  die  Mitte  unsrer  Erfahrung.  Wir 
brauchen  das  Wort  Empfindung  für  innere  Zustände,  die  wir  in  uns  finden ; 
nämlich  dann,  wann  dergleichen  eben  jetzt  eintreten;  und  wenn  sie  frey 
sind  von  Lust  und  Unlust;  denn  im  letztern  Falle  heifsen  sie  Gefühle, 
wovon  hier  nicht  die   Rede  ist. 

Das  Eintreten  der  Empfindung  ist  aber  allemal  mit  einer  Veränderung 
in  unserm  gerade  gegenwärtigen  Vorstellen  verbunden.  Daher  nennen 
wir  die  Empfindung  ein  Leiden,  und  denken  uns  äufsere  Gegenstände  als 
die  thätigen,  welche  dies  Leiden  verursachten,  nach  dem  Begriffe  der 
causa  transiens. 

Hier  ist  Irrthum  und  Verwechselung.  Gesetzt,  wir  hätten  im  Augen- 
blicke des  Empfindens  gar  keinen  Kreis  von  Vor[3 46] Stellungen  gegen- 
wärtig gehabt,  so  wäre  diejenige  psychologische  Causalität,  welche  mit 
dem  Eintreten  der  Empfindung  deshalb  verbunden  ist,  weil  unsre  eben 
gegenwärtigen  Vorstellungen  von  ihr  leiden,  völlig  weggefallen.  In  der 
Empfindung  selbst  liegt  kein  Leiden,  sondern  sie  ist  die  reine  Selbst- 
erhaltung der  Seele.  Und  an  eine  causa  transiens,  die  hier  den  Namen 
des  infiuxus  physicus  bekommen  würde,  ist  nicht  zu  denken.  Denn  die 
empfindende    Seele   nimmt   nichts    von    außen    her    auf,    sondern    sie   besteht 


2ÖJ  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

gegen  dasselbe.  Eben  so  wenig  aber  gehört  zum  Empfinden  eine  besondre 
causa  immanens,  welche  den  Namen  des  Einpßndnngs- Vermögens  be- 
kommen würde;  denn  das  Empfinden  braucht  kein  Thun  und  kein  Leiden, 
weil  es  ein  blofses   Bestehen  ist. 

5.  Dieser  metaphysische  Causalbegriff  nun  ist  lediglich  deshalb  schwer 
zu  fassen,  weil  unsre,  im  Leben  und  Handeln  vorkommenden  Causalbegriffe 
aus  einem  ganz  andern  Kreise  hervorgehn.  Der  Uebersicht  und  ■  Unter- 
scheidung   wegen    zähle    man    wenigstem   drey    verschiedene    Causalbegriffe. 

a)  Die  Causalität  nach  dem  metaphysischen  Begriffe  ist  nur  Selbsterhaltung. 
Die  Seele,  ein  reales  Wesen,  erhält  sich. 

b)  Die  Causalität  nach  dem  einfachsten  psychologischen  Begriffe  ist 
Hemmung.  Die  Vorstellungen,  welche  nicht  reale  Wesen,  sondern 
nur  Zustände  desselben  sind,  zvidersireben  einander,  falls  ein  Gegen- 
satz zwischen  ihnen  stattfindet. 

c)  Hievon  weit  verschieden  sind  diejenigen  Anstrengungen,  in  denen 
wir  uns  mitten  im  Leben  thätig  finden.  Denn  diese  beruhen  darauf, 
dafs  nicht  blofs  die  Vorstellungen,  einzeln  und  für  sich,  der  Hem- 
mung widerstreben,  sondern  dafs  sie  auch,  soweit  immer  sich  ihre 
reihenförmigen  Verbindungen  erstrecken,  sich  in  diesselbe  Lage,  so- 
fern es   möglich  ist,  aus  jeder  Veränderung  zurückversetzen. 

[347]  Die  Verwechselung  dieser  drey  Puncte,  in  Verbindung  mit 
dem  oben  bemerkten  Fehler  in  Ansehung  der  Substanz  (206),  ist  Schuld, 
wenn  man  es  schwer  findet,  sich  in  der  Metaphysik  und  in  der  Psychologie 
zu  orientiren.  Kants  Behandlung  der  Begriffe  von  Substanz  und  Ur- 
sache verräth  ein  Zeitalter,  worin  man  die  Metaphysik  kurz  abzuthun  ge- 
dachte. Metaphysik  läfst  sich  jedoch  ihr  Recht  nicht  nehmen;  will  man 
mit  ihr  kurz  verfahren,   so  macht  sie  sich  desto  länger. 

6.  Wollte  Jemand  die  vorige  Gedankenreihe  fortsetzen:  so  müfste 
er  sowohl   rückwärts  als  vorwärts  gehn. 

Um  vorwärts  zu  gehn,  hätte  er  zuerst  die  weite  Lücke  auszufüllen 
zwischen  den  Begriffen  der  Hemmung  und  der  Anstrengung.  Die  Ent- 
fernung zwischen  diesen  Begriffen  ist  nicht  viel  kleiner,  als  man  sie  zwischen 
den  Paragraphen  41  und  150  der  Psychologie  finden  wird.  Denn  wenn 
auch  Einiges  anders  gestellt  werden  könnte,  so  würde  doch  schwerlich 
etwas  dabey 1  gewonnen  sevn.  Der  Begriff  von  unserer  Thatkraft,  die  wir 
uns  im  angestrengten  Handeln  beweisen,  würde  nur  desto  leerer,  un- 
bestimmter, schwankender  ausfallen,  je  mehr  von  den  vorangeschickten 
Untersuchungen  man  wegliefse. 

7.  Wer  aber  rückwärts  zu  gehn  versucht,  dem  wird  sogleich  einfallen, 
das  für  die  Seele,  die  wir  vorhin  mit  A  bezeichneten,  kein  einzelnes,  be- 
stimmtes, mit  C  und  D  abwechselndes  B  kann  nachgewiesen  werden,  wo- 
nach ihre  Selbsterhaltungen  sich  richten.  Sondern  die  Seele  wohnt  im  Leibe, 
und  zwar  nicht  in  den  Armen  und  Beinen,  sondern  in  der  Gegend,  wo 
Gehirn    und   Rückenmark  zusammenhängen;    ungeachtet    des    idealistischen 


„dabei"   fehlt  in  der  II.  Ausg.< 


a  SW  drucken  nach  der  II.  Ausg.    ohne  Angabe  der   Abweichung  der    I.  Ausg. 


2.   Abschnitt.      Methodenlehre.      8.   Capitel.     Von  der  praktischen  Philosophie.      283 

Irrthums,  der  vom  Sitze  der  Seele  nichts  wissen  will.  Dort  aber,  wo  sie 
eingekörpert  ist,  findet  sich  keine  rohe  Materie,  sondern  Nervensubstanz, 
von  welcher  jedes  Element  selbst  schon  seine  mannigfaltige  innere  Bildung 
hat  (128.).  Wollte  man  sich  nun  über  den  Procefs  des  Empfindens  eine 
vervollständigte  Rechenschaft  geben:  so  müfsten  diejenigen  Untersuchungen, 
welche  in  der  Metaphysik  die  allerletzten  und  schwersten  sind,  (dort  im 
§  363 — 377  und  §  426  [348]  bis  zu  Ende,)  hier  vorgeschoben  werden. 
Sie  lassen  sich  aber  nicht  vorschieben,  ohne  völlig  unverständlich  zu 
werden. 

Wohin  deutet  dies?  Dahin,  dafs  der  Gang  der  Natur,  die  wir  zu 
erkennen  suchen,  ganz  ein  andrer  ist,  als  der  Gang  der  Untersuchung, 
wodurch  die   Erkenntnifs  gewonnen  wird. 

Das  ist's,  was  der  Dogmatismus,  der  die  Dinge  und  Ereignisse  an- 
schauen will,  so  wie  sie  sind  und  geschehen,  immer  von  neuem  vergifst. 
Kein  Wunder,  dafs  er  am  Ende  gar  vom  Urheber  unseres  Daseyns  be- 
ginnt, und  hier  ein  Wissen  erzwingen  will,  welches  uns  ein-  für  allemal 
versagt  ist.  Mit  vollem  Recht  ergänzt  der  Glaube  das  Wissen;  aber  mit 
grofsem  Unrecht  verwandelt  man   die  Ergänzung  in   ein  Erkenntnifsprincip. 

Alles  Treiben  des  Dogmatismus  hindert  dasjenige  Forschen  nicht, 
welches  vom  Gegebenen  ausgeht.  Zwar  sucht  er  es  in  seinen  Kreis  zu 
ziehen ;  aber  es  pafst  nicht  hinein,  sondern  bleibt  immer  frey  in  seiner 
eigenen  Bewegung,  so  lange  es  pünctlich  denjenigen  Antrieben  folgt,  die 
es  im  Gegebenen  findet.  Die  Mühe,  welche  sich  Diejenigen  machen,  die 
einmal  durch  das  vermeinte  Anschauen  der  Natur  verwöhnt  sind,  ist  zu 
bedauern.  Sie  müssen  sich  das  Angewöhnte  wieder  abgewöhnen;  das  ist 
die  Bedingung,  unter  welcher  allein  sie  zur  gründlichen  Untersuchung  ge- 
langen können.  Ihr  ganzer  speculativer  Gedankenkreis  ist  verschoben;  es 
ist  ihre  Sache,  ihn  wieder  in  die  rechte  Lage  zu  bringen,  damit  sie  in 
ihrem  Nachdenken  von  demjenigen  ausgehn  lernen,  was  uns  Allen  wirk- 
lich unbestreitbar  gegeben  ist.  Und  von  den  Schwierigkeiten,  die  sich  im 
Gegebenen  finden,  dürfen  sie  sich  nicht  abschrecken  lassen;  sonst  werden 
sie  auf  halbem  Wege  stehen  bleiben. 


[349].     Achtes  Capitel. 

Von  der  praktischen  Philosophie.*) 

207.  [=  227  d.  IL  Ausg.]  Um  die  Methode  der  praktischen  Philo- 
sophie zu  überschauen,  stelle  man  den  Syllogismus,  welcher  den  Ursprung 
der  Pflicht  aus  ästhetischen  Urtheil  nachweiset  (29  und  45.),  in  die  Ein- 
leitung; bilde  alsdann  aus  der  Lehre  von  den  praktischen  Ideen  [27.)  nach 

*)  Man  würde  sehr  irren,  wenn  man  in  diesem  Capitel  einen  Auszug  aus  einem 
andern  Buche  erwartete.  Das  unter  dem  Titel:  praktische  Philosophie  [=  Bd.  II  vorl. 
Ausg.],  geschriebene  Buch  will  selbst  gelesen  und  studirt  seyn;  es  kann  und  soll  nicht 
durch  ein  andres  ersetzt  werden. 1 

1  Die  vorstehende  Anmerkung  fehlt  in  der  II.  Ausgabe. 


284  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

der  gegebenen  Anleitung  (153.)  den  ersten  Haupttheil  der  Wissenschaft;  um 
aber  den  zweyten  Haupttheil  zu  finden,  mufs  man  den  Menschen  und  die 
Gesellschaft  als  bekannt  voraussetzen.  Schon  die  allgemeinste  Kenntnifs  aus 
täglicher  Erfahrung  reicht  hin,  um  zu  wissen,  dafs  der  Mensch  nicht  von 
selbst  den  Ideen  gemäfs  denkt  und  will  und  handelt;  dafs  also  ein  persönlicher 
Werth  und  Unwerth  desselben  zu  unterscheiden  ist,  und  dafs  unzählige  Ab- 
weichungen vom  richtigen  Handeln  unaufhörlich  neuen  Anlafs  geben,  ihn 
auf  den  rechten  Weg  zurückzurufen.  Hieraus  entsteht,  als  Anfang  des 
zweyten  Haupttheils  der  Wissenschaft,  einerseits  die  Betrachtung  des  mo- 
ralischen Bewufstseyns  gehaltener  oder  nicht  gehaltener  Vorsätze,  welchem 
die  Tugend  (199)  als  Ideal  vorschwebt;  andrerseits  der  Begriff  der  Pflicht, 
aber  zwiefach  unter  den  wenig  passenden  Namen  der  [350]  vollkommenen 
und  unvollkommenen,  worüber  wir  zuvörderst  eine  kurze  Bemerkung  ein- 
schalten. 

Ursprünglich  drücken  die  praktischen  Ideen  nichts  andres  aus,  als 
ästhetische  Urtheile  über  irgend  einen  Willen.  Es  ist  gar  nicht  nöthig,  dafs 
dieser  Wille  gerade  der  eigne  Wille  der  urtheilenden  Person  sey.  Kinder, 
die  nach  aufsen  schauen,  beurtheilen  oft  mit  ungemeiner  Schärfe  die 
Handlungen  'andrer  Menschen,  ohne  nur  daran  zu  denken,  dafs  solche 
Forderungen,  wie  sie  gegen  Andre  aufstellen,  auf  sie  selbst  zurückfallen 
werden.  Da  sieht  man  das  nackte  ästhetische  Urteil,  noch  ohne  moralische 
Gesinnung.  Wer  aber  schon  von  Pflicht  redet,  der  macht  aus  den  prak- 
tischen Ideen  eine  Regel;  er  bleibt  nicht  mehr  beym  ästhetischen  Urtheile 
stehn,  welches  sich  auf  gegenwärtige  Bilder  des  Willens  lobend  oder 
tadelnd  richtet;  sondern  er  läfst  Gegenwart  und  Vergangenheit  hinter  sich, 
um  die  zukünftigen  Gesinnungen  und  Handlungen  an  Vorschriften  zu  binden. 
Die  Zukunft  findet  ihren  Ausdruck  in  dem  Worte  Sollen.  Und  schon 
diese  einzige  Zeitbestimmung  kann  hinreichen,  damit  die  oft  verwechselten  Be- 
griffe klar  werden.  Spricht  Jemand  von  einer  Handlung,  die  da  hätte  ge- 
schehen sollen  oder  nicht  sollen :  so  versetzt  er  sich  in  die  Vergangenheit, 
und  betrachtet  nun  die  Handlung  als  bevorstehend,  so  dafs  in  Ansehung 
derselben  dem  Handelnden  eine  Vorschrift  könne  ertheilt  werden.  Das 
ist  aber  nicht  die  Stellung  des  Kenners  vor  einem  Bilde.  Damit  der 
Kenner  sein  Urtheil  spreche,  mufs  das  Bild  gerade  jetzt  gegenwärtig  vor 
ihm  stehn;  und  diese  Stellung  in  der  Gegenwart  war  die  erste,  die  ur- 
sprüngliche, des  eigentlichen  Lobes  oder  Tadels,  das  heifst,  des  ästhetischen 
Urtheils.  Hingegen  damit  Jemand  etwas  solle,  und  Pflichten  habe,  mufs 
sich  ein  Wille  erheben,  der  sich  den  Zweck  setze,  das  Löbliche  zur  Aus- 
führung zu  bringen,  und  sich  dem  Tadelnswerthen  zu  widersetzen.  Ist 
nun  der,  welcher  die  Pflichten  auferlegt,  und  das  Sollen  ausspricht,  eine 
andre  Person,  als  der,  welcher  soll ;  so  fragt  dieser  zweyte  den  ersten :  was 
hast  Du  mir  zu  befehlen?  Ist  hingegen  der  befehlende  Wille  in  d^r  eignen 
Person  [351]  des  Sollenden,  so  kann  diese  Frage  nicht  mehr  im  Ernste 
erhoben  werden;  vielmehr  hat  nun  der  Sollende  sich  verpflichtet,  er  hat 
die  Pflicht  anerkannt. 

Jetzt  aber  betrachtet  er  sich  als  verantwortlich,  und  zwar  auf  ver- 
schiedene Weise,  gemäfs  der  verschiedenen  Natur  der  Ideen.  Verant- 
wortlich überhaupt  ist  er  demjenigen,  der  ihn  zur  Rede   stellen  kann;   denn 


2.   Abschnitt.      Methodenlehre.      8.    Capitel.      Von   der  praktischen  Philosophie.      285 


die  Antwort  richtet  sich  nothwendig  dorthin,  woher  die  Frage  kommt.  Er 
hatte  nun  sich  selbst  versprochen,  den  Ideen  gemäfs  zu  leben,  um  rein  zu 
bleiben  von  Flecken.  Im  Gegenfalle  liegt  der  Ankläger  in  ihm  selbst;  er 
hat  Unrecht  erlitten,  indem  seine  Reinheit  befleckt  wurde;  ihm  ist  das 
gegebene  Wort  gebrochen  worden;  freylich  von  keinem  Andern,  sondern 
von  ihm  selbst.  Dieses  innere  Verhältnifs,  dessen  Grund  in  dem  früher 
anerkannten,  die  Zukunft  vorausbestimmenden  Sollen  klar  vor  Augen  liegt, 
hat  eine  eben  so  offenbare  Analogie  mit  dem  Rechtsverhältnifs  zwischen 
zwey  Personen.  Wird  ein  Recht  verletzt:  so  klagt  der  Verletzte;  und 
man  ist  wegen  der  Antwort  verlegen.  Diese  Verlegenheit  ist  Bewufstseyn 
der  Schuld.  Man  weifs,  dafs  man  Unrecht  that.  Der  Aufrichtige  legt  nun 
das  vollkommene  Bekenntnifs  dem  Andern  laut  ab.  Unvollkommen  aber 
bleibt  die  Sprache  derjenigen  Bekenntnisse,  welche  blofs  im  Innern  ab- 
gelegt werden,  weil  nur  die  eigne  Reinheit,  und  keine  zweyte  Person,  um 
deren  Klage  man  sich  zu  bekümmern  braucht,  verletzt  wurde. 

Hieraus  ergiebt  sich  nun  nicht  blofs  der  Unterschied  der  sogenannten 
vollkommenen  und  unvollkommenen  Pflichten,  sondern  auch  die  Ver- 
stärkung der  Moial  durch  die  Religion  tritt  ins  Licht;  indem  dadurch  eine 
neue  und  starke  Verantwortlichkeit  entsteht. 

Alles  dies  aber  sind  Worte  ohne  Sinn,  wofern  nicht  die  praktischen 
Ideen  schon  als  bekannt  vorausgesetzt  werden.  Hat  man  nicht  dorthin 
zuerst  seine  Aufmerksamkeit  gerichtet:  so  ist  nichts  Klares  gegeben,  dafs 
oder  weshalb  man  sich  zu  verantworten  hätte;  mithin  verlieren  die  Verhält- 
nisse zwischen  den  Personen,  welche  Verantwortung  fordern  und  ab- [3  5  2] 
legen,  ihr  Licht;  und  sie  können  in  Verdacht  gerathen,  überall  nichts  zu 
bedeuten.  Das  ist  die  Folge ;  man  möge  nun  die  Vernunft  oder  den  Staat 
oder  Gott  als  den  Gebieter  darstellen,  von  wo  die  Pflicht  ausgehe.  Mit 
dem  Befehlen,  mit  dem  Imperative  darf  man  nicht  anfangen,  wenn  nicht 
die  ganze  Sitten-  und  Rechts -Lehre  ihre  Haltung  verlieren  soll.  Glück- 
licherweise warten  die  praktischen  Ideen,  nicht  auf  die  Schulen,  sondern 
erzeugen  sich  unaufhörlich  von  selbst  in  jeder  menschlichen  Brust.  * 

208.    [=  228  d.  IL  Ausg,]    Hieraus  ist  zu  ersehen,  was  es  bedeutet, 

1  Hier  hat  die  II.  Ausg.  folgenden  Zusatz :  Ueberall  schätzt  und  preiset  man 
zuerst  die  Kraft,  die  Stärke,  die  Tapferkeit,  Beharrlichkeit,  das  planvolle 
Wirken.  Ueberall,  wo  nur  die  erste  Rohheit  und  Wildheit  sich  legt,  lobt  und 
liebt  man  neben  der  Stärke  auch  die  Milde,  die  Güte,  das  Wohlwollen; 
ja  man  erkennt  in  der  Güte  den  besten  Kern  des  Guten.  Und  wenn 
irgendwo  eine  Spur  von  geselliger  Ordnung  sich  den  Lebens-Gewohnheiten 
vest  und  deutlich  eingeprägt  hat,  dann  versteht  man  auch,  was  das  Wort: 
suum  cuique,  sagen  will;  und  neben  ihm  jenes  andre  Wort:  quod  tibi  non 
vis  fieri,  alteri  ne  feceris.  So  hat  man  die  vier  praktischen  Grund-Ideen, 
zu  welchen  die  fünfte  —  in  wissenschaftlicher  Anordnung  die  erste,  — 
hinzutritt  wie  die  Besinnung  zu  den  Vertiefungen.  Die  Schulen  brauchen 
das  Alles  nur  nicht  zu  verkünsteln;  sie  haben  für  den  allgemeinen,  ab- 
stracten  Ausdruck  und  für  dessen  formale  Richtigkeit  zu  sorgen,  und  da- 
hin zu  sehen,  dafs  mit  gleich  vertheilier  Aufmerksamkeit  die  verschiedenen 
Ideen  neben  einander  vestgehalten  werden. 


2g6  H-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


wenn  der  Begriffe  von  Tugend,  Pflicht,  und  Gütern  schon  in  der  Einleitung 
zur  praktischen  Philosophie  Erwähnung  geschieht.  Abgehandelt  werden 
können  sie  dort  nicht;  ihr  Platz  ist  erst  im  Vordergrunde  des  zweyten  Theils 
der  Wissenschaft,  wo  sie  sammt  ihren  mancherley  Gegentheilen  erörtert 
werden  müssen.  Aber  die  Einleitung  knüpft  an  beym  gemeinen  Verstände. 
Unter  den  Namen  Tugend  und  Pflicht  verstecken  sich  die  ästhetischen 
Urtheile,  deren,  abstracte  Aufstellung  zwar  der  Schule  anzumuthen  ist,  aber 
für's  tägliche  Leben  nie  eine  gebräuchliche  Form  werden  kann.  Die  ästhetischen 
Urtheile  sind  die  wahre  Substanz  der  Sittenlehre;  aber  Substanzen  pflegen 
sich  als  Kräfte  zu  äufsern;  und  dieses  Gleichnifs  pafst  hier  vollkommen. 
Denn  es  ist  die  Kraft  des  Gewissens,  worin  jene  Urtheile,  verschmolzen 
mit  dem  Ich  (143.)  sich  ankündigen;  und  damit  vermischt  der  psychologische1 
Mechanismus  noch  die  Verantwortung,  in  welche  der  Mensch  gegen  Staat 
und  Kirche  verfällt,  die  zu  den  Ermahnungen  selbst  Drohungen  hinzufügen. 
So  vermengt  findet  der  Sittenlehrer  die  moralischen  Vorstellungen ;  2und  es 
kostet  nicht  wenig  Mühe,  das  Gewirre,  worin  alle  Unterscheidung  der 
einzelnen  Ideen  völlig  untergegangen  ist,  so  zu  zersetzen,  dafs  klare  Be- 
griffe herausgefunden  werden  mögen.3 

Statt  dessen  verwickeln  sich  die  Systeme  in  die  Frage  nach  dem 
Princip  der  Sittenlehre;  und  da  sie  keins  finden  können,  (denn  es  giebt 
keine  Monarchie  der  Ideen,  sondern  nur  [353]  eine  Aristokratie,)  so 
bleiben  Philosophen,  Juristen  und  Theologen  getrennt,  indem  sie  an  die 
Personen,  gegen  welche  man  wegen  der  Pflicht  verantwortlich  ist,  also  an 
die  eigne  Vernunft,  an  den  Staat  und  an  Gott,  sich  wenden,  um  von 
dort  her  sich  den  ersten  Befehl  zu  hohlen,  den  man  befolgen  solle.  Dafs 
vor  allem  Befehlen,  vor  allem  Sollen,  dasjenige  schon  veststehn  mufs,  was 
dem  Gebote  seine  Würde,  dem  Gehorsam  seine  Achtbarkeit,  der  Tugend 
ihren  Ruhm,  der  Pflicht  ihre  Verbindlichkeit  ertheilt,  und  den  Vorwurf 
des  Despotismus  und  der  Knechtschaft  abwehrt,  —  das  pflegen  sie  nicht 
zu  bemerken.  Sie  streiten  demnach  untereinander  auf  eine  Weise,  wobey 
sie  alle  gleichviel  Recht  und  gleichviel  Unrecht  haben.  Denn  weifs  man 
nur  erst  den  Inhalt  der  Gebote,  so  versteht  sich  freylich  von  selbst,  dafs, 
wenn  man  dreyfach,  durch  die  Vernunft,  durch  den  Staat,  und  durch  die 
Gottheit,  daran  gemahnt  wird,  man  auch  die  dreyfache  Züchtigung  des 
Gewissens,  der  zeitlichen  und  der  ewigen  Strafe  erwarten  möge,  und  dafs  es 
nichts  helfen  könne,  die  Verantwortlichkeit  in  irgend  einem  dieser  Puncte 
ablehnen  zu  wollen.  Die  Wahrheit  der  Ermahnung  ist  die  Hauptsache, 
und  wenn  ein  Höherer  die  Wahrheit  ausspricht,  so  kann  man  ihm  nicht 
widerstreiten.  Aber  der  weite  Raum,  worin  Jemand  seinen  Befehl  kann 
erschallen  lassen,  giebt  dem  Imperativ  keine  Würde.  Der  Umfang  des 
Gebots  ist   flicht  sein   Inhalt. 


1  „psychische"  statt  „psychologische"  IL  Ausg.* 

2  Statt  der  Worte:    „und    es  kostet   nicht  wenig    Mühe"    hat   die  II.    Ausg.: 
„und  es  kommt  nur  darauf  an".b 

:l  Die  II.  Ausg.  setzt  hier  noch  hinzu;  „die  nämlichen,  welche  ursprünglich 
zum   Grunde  lagen.0 

a,  b,  c,   s\V  meiken  die  Abweichung  nicht  an. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     8.   Capitel.      Von  der  praktischen  Philosophie.      287 

209.    [=  229  d.  IL  Ausg.]   Leider!1   Hier  ist  der  Punct,   wo  alle  mög- 
lichen2 Irrthümer  ihren  Sammelplatz  haben,  während  die  Wahrheit,  die  ihnen 
gegenüber  steht,  keinesweges  neu  und   verborgen  ist.    Die   fünf  praktischen 
Ideen  machen  den   Inhalt  des  Gebots.      Zwar  nicht    mit  der  gebührenden 
Genauigkeit  (153.).   aber  doch   mit  einer  verständigen   Popularität,   ist,  wie 
früher  bemerkt,    die  wahre  Ideenlehre   in   den  meisten    ihrer  Hauptpuncte 
schon  in  dem  allbekannten  Buche  des  Cicero  von  den  Pflichten  aller  Welt 
gepredigt  worden.     Dennoch  hat  Kant,    sich  verlierend  von  dem  Gebote 
zum    Gebieter,    von    dem    Lobe   und  Tadel    zur    leeren    Logik,    die    blofse 
Hülse    der    Allgemeinheit    als    das    [354]    Werk    der    praktischen    Vernunft 
angepriesen.      Und    es   fehlte    nicht    an    solchen,    welche    meinten,    sie    be- 
säfsen  nun   das  Schwerdt,    weil   man  ihnen  die   Scheide  in  die   Hand  gab. 
Noch  nicht  genug!    3 Statt  wahrer  Menschenkenntnifs,   wahrer  Psychologie, 
und  wahrer  Metaphysik,  welche,  ausgehend  von  der  Stellung  des  Menschen 
in    der  Mitte    seiner    Beschäfftigungen,    seiner  Dienst-    und  Familien-    und 
Gesinnungs-Verhältnisse   (7.),     fortschreitend    durch    genaue    Untersuchung 
seines  Ich   und  seiner  Persönlichkeit  (143  — 146.),  die  Begriffe4  von  Tugend 
und  Laster    mit    den    ursprünglichen    sowohl    als    den   hievon    sorgfältig   zu 
unterscheidenden    psychologischen    Causalbegriffen    (186.)     in    die     gehörige 
Verbindung  setzen,5  hiebey  aber  die  leeren  Abstractionen  von  Grund  und 
Folge   überhaupt    (174.)    ganz   vermeiden   mufste;6   verwickelte   sich  Kant 
in  den   unlautersten  aller  Causalbegriffe,    der  an    der  Zeitlichkeit  vestklebt; 
und  um  diesem  zu  entkommen,  ersann  er,  als  ein  Nothmittel  in  der  äufsersten7 
Bedrängnifs,   seine  transscendentale  Freyheit.      Aber  nicht  als  ob   er  wisse, 
es  gebe  eine  solche,    —    so  arg   konnte    der    scharfsinnige   Mann    sich    nicht 
täuschen;    sondern  mit  allen  Zeichen  ängstlicher  Verlegenheit  windet    und 
dreht  er  sich  mit  Sophismen,   die  kaum   im  Stande  sind  ihn  selbst  zu  über- 
reden;  in   der  Kritik  der  reinen  Vernunft  hin   und  her,   um  nur  soviel  zu 
erzwingen,    dafs  für   die  transscendentale   Freyheit,    die  freylich    kein  mög- 
licher   Gedanke    ist,    doch    die    Glaublichkeit    eines    Glaubens- Artikels    er- 
langt werde.     Was    geschah?    Die  Nachfolger   begriffen    bald    nichts    mehr 
von    der  Verlegenheit  eines   Kant.      Anstatt  ihr  abzuhelfen,    wie  es  durch 
Metaphysik    und    Psychologie    hätte    geschehen    müssen,    nahmen    sie    das 
enge   Plätzchen    eines    Glaubensartikels    für    den    sehr   weiten    Raum    eines 
eingebildeten  Wissens.    Fin  Leichtsinn,  ähnlich  dem,   welcher  den  Staat  für 
blofses  Werk  eines  Vertrags  nimmt,   wie  wenn  das  Werk  der  Notwendig- 
keit und  der   Pflicht  sich  nach  der  Willkühr  (gleichviel  ob  eines  Despoten 


1  „Leider!"    fehlt  in  der  II.  Ausg. 

2  Die  II.  Ausg.  setzt  „die"  statt  „alle  möglichen". 

3  Die  folgenden  Worte  bis  4  Zeilen  weiter:    „Statt   wahrer   Menschenkennt- 
nifs,  ....   seiner  Persönlichkeit  (143  — 146.)"  fehlen  in  der  II.  Ausg. 

4  „Anstatt  die  Begriffe"  II.  Ausg. 

5  „zu  setzen"  II.  Ausg. 

6  „zu  vermeiden":   statt  „vermeiden  mufste"  II.  Ausg. 

7  „äufsersten"    fehlt  in  der  II    Ausg.a 


a  SW  geben  die  Abweichung  nicht  an. 


2§8  H-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83  T . 

oder  eines  souverainen  Volks)  bequemen  könne  und  dürfe,  setzte  sieh  über 
die  Frace  hinweg:  wie  denn  wohl  die  vom  Zeitverhältnisse  entbundene  trans- 
scenden[355]tale  Freyheit  es  machen  solle,  im  Laufe  der  Zeit  irgend  Eins 
—  gleichviel  welches  —  von  den  Hülfsmitteln  zur  Besserung,  von  den 
Heilmitteln   des  Irrthums  und  der  Sünde  sich  anzueignen? 

Das  ist  die  Frage!  Die  erste  und  wichtigste  aller  Fragen,  welche  der 
Mensch  für  sich,  für  Andre,  für  den  Staat,  für  die  Erziehung,  für  die 
Welt,  ja  sogar  in  Beziehung  auf  Vorsehung  und  Erlösung  aufwerfen  kann, 
ist  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  des  Besserwerdens. 

Und  das  offenbarste  aller  Hindernisse  ist  die  Unzugänglichkeit  der 
Gemüther  für  das  Bessere. 

Und  das  Unzugänglichste  wäre  jene  Freyheit,  wenn  sie  nämlich 
überhaupt   wäre. 

Ohne  das  zu  merken,  kommen  die  rationalistischen  Theologen  mit 
ihrer  gratia  Dei  resistibilis.  Denn  die  Möglichkeit  des  Widerstandes  liegt 
ja  in  der  Freyheit!  Aber  während  sie  von  einem  ehrlichen  Pelagianismus 
reden,  kommt  von  der  andern  Seite  jetzt  August  in  wiederum  zur  Herr- 
schaft. Statt  der  Erbsünde  hatte  ja  schon  Kant  das  radicale  Böse;  es  drang 
sich  ihm  auf,'  dafs  er  durch  eine  reine,  ungefärbte  Freyheit  den  Menschen, 
wie  er  uns  Allen  in  der  Erfahrung  vor  Augen  steht,  nicht  beschreiben 
könne.  Die  Freyheit  würde  sich  weder  hierhin  noch  dorthin  vorzugsweise 
neigen;  sie  würde  aller  Wahrscheinlichkeit  gemäfs  gerade  so  oft,  und,  was 
die  Hauptsache  ist,  —  gerade  so  leicht,  —  die  eine  als  die  andre  Rich- 
tung zeigen.  1Aber  die  Erfahrung  widerspricht  der  falschen  Theorie;  sie 
lehrt  unwidersprechlich,  dafs  dem  Menschen  das  Gute  schwer  wird. 

Allein  damit  das  hier  Gesagte  nicht  dergestalt  misdeutet  werde;  als 
wollte  der  Verfasser,  der  nicht  gelehrter  Theologe  ist,  sich  in  theologische 
Partheykämpfe  mischen,  mufs  für  diejenigen  Rationalisten,  die  mehr  und 
besser  sind  als  Partheymänner,  noch  eine  nähere  Erläuterung  über  den 
philosophischen  Gegenstand  hinzugefügt  werden,  den  sie  nicht  genug  zu 
kennen  scheinen.  Bey  gehöriger  Ueberlegung  können  sie  sich  leicht  in 
Kenntnifs  von  der  schlüpfrigen  Stelle  setzen,  bey  der  [356]  sie  Gefahr 
laufen  auszugleiten.  Nur  das  Nöthigste  über  die  Berührung  der  Metaphysik 
und  der  praktischen  Philosophie  soll  hier  gesagt  werden.  Vielleicht  finden 
beide  theologische  Partheyen  darin  Stoff  zum  Nachdenken,  und  zur  Er- 
wägung der  Vortheile  und  Nachteile,  worin  sie  sich  gegenseitig  gesetzt 
haben. 

210.  [=  230  d.  IL  Ausg.]  Kein  Theologe  wird  läugnen,  dafs  die  Bibel 
zur  Erbauung  dient.  Die  transscendentale  Freyheit  aber,  wenn  es  eine 
solche  gäbe,  würde  keiner  Erbauung  bedürfen.  Noch  mehr,  sie  würde  davon 
ganz  unberührt  bleiben.  Dafs  sie  der  Gnade  Gottes  widerstehen  könne,  wäre 
eine  unpassende  Rede;  denn  wo  keine  Berührung,  da  ist  auch  kein  Wider- 
stand. Die  Bibel  redet  zwar  vom  Ewigen ;  aber  sie  selbst  ist  in  der  Zeit  irgend 
einmal  geschrieben;  und  sie  erzählt  Begebenheiten,  die  sich  zugetragen 
haben.     Dabey  hat  sie  einer  frühern  Zeit  sich  angepafst,   und  ihre  Wirkung 


1  Der  nun  folgende  Schlufs  dieses  §  209  „Aber  die  Erfahrung  ....  gegen- 
seitig  gesetzt    haben"    fehlt  in  der  II.   Ausg. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     8.  Capitel.     Von  der  praktischen  Philosophie.      280 

geht  in  die  Zukunft.  Die  Menschen  waren  schlechter;  sie  sollen  besser 
werden.  Und,  was  die  Hauptsache  ist:  nachdem  sie  gebessert  sind,  sollen 
sie  auch  gebessert  bleiben.  Ein  Wechsel  also  soll  vor  sich  gehn.  Dieser 
Forderung  widerstreitet  es,  wenn  die  Freyheit  in  die  Substanz  der  Seele 
hineingesetzt  wird;  denn  kein  Wechsel  ist  möglich  im  Beharrlichen.  Aber 
später,  nachdem  das  Geforderte  geschehen^  soll  ein  von  jetzt  an  vorhandener 
Zustand,  nämlich  die  geivonnene  Besserung,  ein  Gewinn  für  immer  sein;  er 
soll  beharren.  Dieser  Forderung  widerstreitet  es,  wenn  die  Freyheit  in  ein 
ewiges  Gesetz  des  Werdens,  oder  gar  des  Lebens,  hineinversetzt  wird; 
denn  kein  Beharren  ist  möglich  im  Wechsel;  er  reifst  den  Gewinn  mit 
sich  fort,   er  bringt  zwar  Blüthen  und  Früchte,  aber  auch   den   Tod. 

Die  Theologen  mögen  sich  also  hüten  vor  zwey  Klippen. 

Erstlich:  vor  dem  metaphysischen  Begriffe  des  Seyn.  Dieser  leistet 
ihnen  gar  wenig.  Er  ist  starr,  und  von  allem  Lobe  und  Tadel  völlig  leer. 
Zeitlich  darf  man  ihn  gar  nicht  fassen.  Zu  ihm  pafst  unmittelbar  kein 
Begriff  vom  Schlecht 5 7] tern,  welches  war,  und  vollends  keiner  vom  Bessern, 
welches  seyn   werde. 

Zweytens:  vor  dem  pantheistischen  Begriffe  des  Werden.  Dieser 
taugt  den  Theologen  nur  scheinbar,  indem  er  ihnen  ein  beständiges,  gleich- 
förmig fortgehendes  Besserwerden  vorspiegelt.  Denn  Besserwerden  ist  eine 
Zusammensetzung  aus  Besser  und  Werden,  das  heifst,  aus  einem  ethischen 
und  einem  metaphysischen  Begriffe.  Aber  der  metaphysische  Theil  be- 
steht für  sich,  und  giebt  keine  Bürgschaft  für  den  andern,  in  ihn  hinein- 
gepfianzten  Theil.  Läge  das  Besser  schon  im  Werden:  so  brauchten  sie, 
die  Theologen,  sich  gar  nicht  zu  bemühen;  es  würde  dann  ohne  ihr 
Zuthun  von  selbst  besser. 

Nun  mögen  sie  drittens  überlegen,  was  sie  mit  der  Freyheit  eigent- 
lich meinen  und  wollen.  Sie  meinen  aber,  dafs  sie  durch  ihre  Lehren 
das  Leben  der  Menschen  von  Grund  aus  bessern  wollen.  Der  Mensch, 
sagen  sie,  ist  ohne  uns  auf  schlechtem  Wege.  Der  Mensch  lebt  aber,  und 
Leben  ist  Werden.  Dieses  Werden  hat  eine  Richtung;  darin  geht  es,  sich 
selbst  überlassen,  immer  fort.  Jetzt  soll  es  eine  andre  Richtung  bekommen. 
Soll  es  sich  etwa  diese  andre  Richtung  von  selbst  geben?  Warum  nicht? 
Der  Mensch  ist  ja  frey !  —  Wozu  denn  die  Religionslehre  ?  Lasse  man 
die  Freyheit  doch  machen !  —  Nein,  sprechen  sie,  der  Mensch  ist  ein 
Sünder. 

Und  an  dieser  Stelle  hilft  ihnen  Kant.  Die  Freyheit,  spricht  er, 
ist  übersinnlich,  das  heifst,  unzeitlich.  Nicht  erst  heute  oder  gestern 
wurde  der  Mensch  ein  Sünder,  sondern  er  ist  es  von  jeher.  Er  hat  sich 
dazu  gemacht;  nicht  irgend  einmal,  sondern  absolut,  das  heifst  zeitlos,  und 
gleichbedeutend  für  alle  Zeit.  —  Wann  denn  soll  der  Mensch  sich  bessern? 
Wann  denn  durch   Besserung  sich  die  Erlösung  zueignen  ? 

^Diese  Frage  wird  in  alle  Ewigkeit  keine  Freyheitslehre  beantworten. 
Nach  ihr  ist  alle  Zeit  schon  besetzt.    Denn  für  alle  Zeit  hat  der  Mensch 


1  Der  folgende  Absatz:   „Diese  Frage   ....  gleich    unnütz"    fehlt  in  der 
II.  Ausg. 

Herbart's  Werke.     IX.  19 


2qo  II-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

sich  frey ,  das  heilst,  ohne  Unterschied  der  Zeit,  zum  Sünder  gemacht. 
Lehre  und  Erlösung  ist  hier  gleich  unnütz. 

[358].  Aber,  sprechen  sie,1  jeden  Augenblick  ist  der  Mensch  frey; 
also  eben  jetzt  kann  er  sich  bessern. 

Da  sind  sie  von  der  kantischen,  transscendentalen  Freyheit  abgesprungen. 
Sie  haben  die  Freyheit  in  die  Zeit  versetzt. 

Unsre  biblische  Lehre,  sprechen  sie,  soll  ihn  bessern. 

Da  sind  sie  abermals  von  Kant  abgesprungen.  Denn  sie  setzen  ein 
Causalverhältnifs  zwischen  sich  und  dem  Menschen.  Die  transscendentale 
Freyheit  soll  aber,  ihrem  wesentlichsten  Grundmerkmale  nach,  aufserhalb 
des  Bereichs  aller  Causalität  liegen. 

2  Mögen  sie  nun  dies  zvenigstens  einräumen  und  vesthalten,  dafs  sie 
im  Puncte  der  Freyheit  nicht  Kantianer  seyn  können  und  dürfen.  Jetzt 
aber  mögen  sie  sich   hüten,  nicht  in  neue   Fehler  zu  verfallen. 

Sie  haben  die  Freyheit  in  die  Zeit  versetzt.  Nicht  3als  ob  die 
Freyheit  erst  in  diesem  Augenblicke  entstanden  wäre;  auch  nicht  als  ob 
sie  im  nächsten  Momente  schon  aufhören  sollte.  Denn,  der  Mensch, 
sprechen  sie,    ist  immer    frey,    immer    zugänglich    für  unsre   guten  Lehren. 

Also  wenn  er  heute  drauf  hört,  so  kann  er  morgen  schon  das 
Heutige  wieder  vergessen  haben!  Darauf,  in  der  That,  rechnen  sie  stark; 
denn  sie  predigen  heute  und  morgen  und  alle  Tage.  Sie  wundern  sich, 
wenn  Einer  von  der  Lehre  einmal  voll  wird,  und  eben  deshalb  nicht 
weiter  hören  kann,  was  er  sich  jeden  Augenblick  selbst  sagt. 

Gleichwohl  kann  ihr  Lehren  keinen  andern  Zweck  haben,  als  eben 
den,  eine  so  heilsame  Sättigung  hervorzubringen.  Denn  es  gebührt  sich, 
dals  der  Mensch  einen  moralischen  Charakter  habe.  Aus  dem  zuvor  Be- 
weglichen ist  alsdann  ein  Beharrliches  geworden.  *  Dieses  gewordene  Beharr- 
liche ist  [359]  sehr  weit  verschieden  von  jeder  Substanz;  dem  an  sich  und 
ursprünglich  Beharrlichen.  Die  Substanz  beharrt  schlechthin;  das  Erworbene, 
der  Charakter,  ist  nicht  schlechthin  zuverlässig;  sondern  der  Mensch  behält 
immer    nur  zuviel  Grund,    in  sich  selbst  Mistrauen   zu    setzen.      5Dennoch 


1  ,Jetzt,  sprechen  sie,  und"  statt  „Aber,  sprechen  sie,"  II.  Ausg. 

2  Der  folgende  Absatz:  „Mögen  sie  nun  ....  Fehler  zu  verfallen"  fehlt 
in  der  II.  Ausg. 

:;  „als  wäre  die  Freyheit  erst  in  diesem  Augenblicke  entstanden"  statt 
„als  ob  die  Freyheit  erst  in  diesem  Augenblicke  entstanden  wäre";  II.  Ausg.  * 

*  Gerade  bey  diesem  höchst  wichtigen,  alle  Metaphysik  überschreitenden,  aber 
durch  die  Causalbegriffe  der  mathematischen  Psychologie  in  volles  Licht  gesetzten  Gegen- 
stande möchte  man  populär  schreiben;  aber  es  hilft  nichts,  wo  das  mathematische  Ge- 
schick fehlt.* 

4  Die  vorstehende  Anmerkung  fehlt  in  der  II.  Ausg. 

5  Für  den  nun  folgenden  Schlufs  dieses  sowie  für  den  ersten  Absatz  des  folgenden 
Paragraphen:  „Dennoch  ist  die  erworbene  Beharrlichkeit  ....  die  darin  liegt, 
wird  vergessen"  (bis  S.  292  Z.  7  v.  o.)  hat  die  II.  Ausg.  mehrfach  mit  211  der 
I.  Ausg.  übereinstimmend : 

Hieher  gehört  die  Unterscheidung  des  Charakters  überhaupt  vom 
moralischen  Charakter;    ferner    die  höchst  nöthige  Sonderung  des  objeetiven 


a   SW   merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     8.  Capitel.    Von  der  praktischen  Philosophie.      201 


ist  die  erworbene  Beharrlichkeit  in  praktischer  Hinsicht  unendlich  viel 
wichtiger  als  die  ursprüngliche,  welche  den  Gegenstand  der  metaphysischen 
Betrachtung  ausmacht.  Nichts  Unglücklicheres  aber  kann  begegnen,  als 
wenn  die  eine  mit  der  andern  verwechselt  wird;  das  heifst,  wenn  Meta- 
physik schon  für  sich  allein  als  die  Quelle  der  Ethik  angesehn  wird. 
Schon  darum  wollen  wir  uns  nicht  wundern,  dafs  die  Religionslehrer  uns 
immer  von  neuem  auffordern,  auf  sie  zu  hören.  Sie  haben  im  Ganzen 
recht,  wenn  auch  einzelne   Uebertreibungen  nicht  vermieden  werden. 

211.  Um  nun  kurz  zu  seyn,  (denn  wir  gedenken  den  Leser  nicht 
mehr  lange  aufzuhalten,)  überschlagen  wir  die,  an  diesem  Orte  sehr  wichtige, 
Unterscheidung  des  Charakters  überhaupt  vom  moralischen  Charakter;  ferner 
die  höchst  nöthige  Sonderung  des  objectivcn  und  subjectiven  Theils,  in 
welche  beide  Theile  der  Charakter  nach  Analogie  des  Begriffs  vom  Ich 
mufs  zerlegt  werden,  damit  der  natürliche  Wille  von  den  hinzukommenden 
Vorsätzen,  die  ihn  zu  beherrschen  unternehmen,  getrennt,  zur  Untersuchung 
komme.  Alle  Hauptbegriffe  hierüber  sind  schon  vor  langen  Jahren  am 
gehörigen  Orte  geliefert  worden.*  Wir  übergehen  endlich  die  nähern  Be- 
stimmungen, welche  aus  der  Psychologie  sich  schöpfen  lassen,  sobald  man 
begreift,  dals  der  natürliche  Wille  und  die  hinzugekommenen  Vorsätze  nicht 
etwa  blofs  in  zwey,  zusammen  oder  wider  einander  wirkenden,  [360]  Vor- 
stellungsmassen ihren  Sitz  und  ihre  Kraft  haben,  sondern  dafs  es  solcher 
Massen  sehr  viele,  und  mit  grofsen  Unterschieden  der  Menge  und  der 
Beschaffenheit,  in  verschiedenen  Individuen  giebt;  daher  das  moralische 
Leben  der  Menschen  sich  äufserst  vielförmig  zeigt,  und  eben  so  ver- 
schiedene Behandlung  erfordert,  nicht  blofs  in  der  Erziehung  der  Kinder, 
sondern  auch  in  der  Selbstbildung  und  Selbst-Beaufsichtigung  des  reifen 
Mannes.  Wollten  wir  in  dies  weite,  ja  unübersehliche  Feld  der  schwersten 
praktischen  Untersuchungen  tiefer  hineinschreiten:  wo  fänden  wir  das 
Ende?  Und  für  wen  würden  wir  uns  bemühen?  Von  allen  Seiten  würden 
die  Ungeduldigen  und  Ermüdeten,  die  alle  Untersuchung  scheuen, 
uns  alles  Protestirens  ungeachtet  immer  wieder  das  eine  Wort:  Freyheit ! 
Freyheit!    zurufen.      Denn    dazu    gerade   scheint    das    Wort    erfunden,    dafs 

und  subjectiven  Theils,  in  welche  beide  Theile  der  Charakter  nach  x\nalogie 
des  Begriffs  vom  Ich  mufs  zerlegt  werden,  damit  der  natürliche  Wille  von 
den  hinzukommenden  Vorsätzen,  die  ihn  zu  beherrschen  unternehmen, 
getrennt,  zur  Untersuchung  komme.  Der  natürliche  Wille  und  die  hinzu- 
gekommenen Vorsätze  haben  nicht  etwa  blofs  in  zicey,  zusammen  oder 
wider  einander  wirkenden,  Vorstellungsmassen,  ihren  Sitz  und  ihre  Kraft, 
sondern  es  giebt  solcher  Massen  sehr  viele,  und  mit  grofsen  Unterschieden 
der  Menge  und  der  Beschaffenheit,  in  verschiedenen  Individuen;  daher 
das  moralische  Leben  der  Menschen  sich  äufserst  vielförmig  zeigt,  und 
eben  so  verschiedene  Behandlung  erfodert,  nicht  blofs  in  der  Erziehung 
der  Kinder,  sondern  auch  in  der  Selbstbildung  und  Selbstbeaufsichtigung 
des  reifen  Mannes. 

*  Pädagogik,  im  Anfange  des  dritten  Buchs.  Nicht  eher,  als  bis  diese  päda- 
gogischen Begriffe  auf's  genaueste  mit  der  mathematischen  Psychologie  verglichen  werden, 
kann  über  die  allerdringensten  Angelegenheiten  des  Menschen  ein  gründliches  Nach- 
denken Statt  linden,  während  sie  jetzt  dem  gröbsten  Empirimus  anheim   fallen. 

19* 


2Q2  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

man  sich  von  der  Mühe  des  Nachdenkens  über  die  allerwichtigsten  An- 
o-eleoenheiten  des  sittlichen  Lebens  befreven  und  lossagen  könne.  Dafs 
dies  Wort  nichts  als  eine  Negation  aussagt,  dafs  die  Allermeisten,  wenn 
man  sie  im  äufsern  Leben  frey  hinstellt,  nichts  mit  ihrer  Freyheit  anzu- 
fangen wissen,  dafs  sie  sich  sogleich  in  alle  Unfreyheit  der  Thorheit 
und  des  Lasters  zu  stürzen  pflegen:  das  weifs  zwar  Jeder  aber  die 
Warnung,   die  darin  liegt,   wird  vergessen. 

An  die  erste  Haupt-  und  Grund -Frage  wie  ist  der  moralische  Cha- 
rakter möglich?  knüpft  sich  sogleich  die  zweyte  Frage:  genügt  der  Mensch 
sich  selbst?  Oder  rnufs  er  aufser  sich  Hülfe  suchen?1 

Nun  wird  zwar  schwerlich  irgend  ein  heutiger  Theologe  mit  Fichte 
sprechen:  Mein  ganzer  Trieb  geht  auf  absolute  Unabhängigkeit  und  Selbst- 
ständigkeit.* Aber  die  supranaturalistischen  Theologen  sind  diejenigen, 
welche  ihm  entschieden  und  aufs  lebhafteste  widersprechen.  Und  die 
[301]  Wahrheit,  welche  in  diesem  Widersprechen  liegt,  dürfte  wohl  eine 
ihrer  stärksten  Stützen  ausmachen.** 

Die  Rationalisten  aber  mögen  sich  zuvörderst  die  historische  Be- 
lehrung, was  aus  der  kantischen  transscendentalen  Freyheit  damals,  da  der 
eben  so  redliche  als  scharfsinnige  Fichte  sie  bearbeitete,  geworden  ist,  in 
des  Letztern  eigner  Sittenlehre  aufsuchen;  auch  dabey  Fichte's  spätere 
Schriften  vergleichen,  um  die  etwa  vorgefallene,  nachmalige  Veränderung 
zu  beobachten. 

Alsdann  ferner  mögen  sie  das  Buch  der  Lebens-  und  Amts -Er- 
fahrungen aufschlagen.  Haben  sie  dort  etwa  die  eine  und  gleiche  Frey- 
heit des  Willens,  die  sie  allen  Menschen  beylegen,  angetroffen?  Oder  hat 
sich  ihnen  die  gröfste  Mannigfaltigkeit  im  Empfangen  des  göttlichen 
Wortes,  und  in  dessen  Wirkung,  aufgedrungen?  Welche  Individuen  waren 
die  Empfänglichsten?  Etwa  Diejenigen,  die  am  meisten  auf  Freyheit 
drangen?    Oder  die  Andern,    welche  den  Mangel    in   sich  selbst    fühlten? 

Und  wie  lauteten  die  Ermahnungen,  etwa  zum  Genuls  des  heiligen 
Abendmahls,  die  sie  selbst,  die  Geistlichen,  aussprachen?  Waren  es  Worte 
zum  Ruhm  der  Willensfreyheit?  —  Gewiß!  werden  sie  erwiedem,  denn 
es  waren  keinesweges  Ermahnungen  zum  knechtischen    Gehorsam! 

Jetzt  mögen  sie  die  Reihe  der  praktischen  Ideen  durchlaufen.  Sind 
etwa  diese  tauglich,  zum  knechtischen  Gehorsam  zu  ermahnen?  2Das  wird 
Niemand  zu  behaupten  wagen.  Es  sind  ja3  Vorbilder  des  Willens,  dem 
sie  Lob  oder  Tadel  weissagen,  je  nachdem  er  sich  so  oder  anders  wenden 
werde.  Die  Frage  ist  nur  nach  der  Kraft  des  Motivs,  welches  davon 
ausgehn  kann. 

[362]   Eine  strenge  und  genaue  Freyheitslehre  setzt  diese  Kraft  ganz 

1  Hier  hat   die  II.  Ausg.   den  Zusatz:    Die    Frage    beschäftigt    Theologen 

und  Philosophen. 

*  Fichte's  ganze  Sittenlehre  ist  von  diesem  Satze  voll  und  durchdrungen. 

**  Grofsentheils  ist  der  heutige  supranaturalistische  Eifer  eine  natürliche  Reaction 
gegen  den  überhandnehmenden  Spinozismus.  Aber  diese  Reaction  gebührf  der  Philo- 
sophie, welche  jetzt  das  Versäumte  nachhohlen  mufs. 

2  Der  folgende  Satz:  „Das  wird  Niemand  zu  behaupten  wagen"  fehlt  i.  d. 
II.  Ausg.  und    ::  „ja"  fehlt  in  d.  II.  Ausg.  (SW  merken  diese  Abweichungen  nicht  an.) 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     8.  Capitel.     Von  der  praktischen  Philosophie.     2  93 

bey  Seite.     Man  glaube  ja  nicht,  dafs  eine  solche  den  Motiven  die  Ehre 
lassen    würde,    den  Willen   zu    bestimmen.     Dieser   Punct   war   schon    der 
Gegenstand  des  Streits  zwischen  Leibxitz  und   Clarke.     Letzterer  spricht: 
„der  ganze  Irrthum   rührt  daher,    dafs  man  das  Motiv  mit  dem  Princip 
des  Handelns  verwechselt;  und  dafs  man  meint,  der  Geist  habe  aufser 
dem  Motive  kein  Princip  des  Handelns.     Eine  Wage  kann  bey  gleichen 
Gewichten  sich  nicht  bewegen;   aber  ein  freyes  Wesen  mag  sich  immer- 
hin   zwey    vollkommen    gleich    vernünftige    Handlungsweisen    vorstellen, 
(when  there  appear  two,   or  more,  perfectly  alike  reasonable  ways  of  acting,) 
es  hat  dennoch  in  sich  selbst  das  Vermögen  zu  handeln;   denn  es  besitzt 
das  Vermögen,   absolut  anzufangen  (by  virtue  of  its  Seif- Motive  Principle)." 
Diese    Stelle    ist    aus    Clarke's    fünfter    Gegenschrift;    nachdem    also 
Leibnitz,    der  weit  gröfsere  Denker,  nicht  weniger  als  fünfmal,  und  zwar 
jedesmal    stärker    und    ausführlicher   geschrieben    hatte;    vergebens    bemüht, 
seinen  Gegner  zu  überzeugen!    :Auch  heute  noch   droht  man  der  mathe- 
matischen  Psychologie    im    Namen    der   Freyheit    mit   „Strichen   durch    die 
Rechnung";  die  jedoch  wohl  nur  Luftstreiche  seyn  dürften. 

Denn  von  dem  Vermögen,  absolut  anzufangen,  gilt  Alles,  was  von 
den  Seelenvermögen  überhaupt  zu  sagen  ist.  Und  wenn  alle  Motive, 
welche  nach  den  praktischen  Ideen  zu  beurtheilen  sind,  hinweggenommen 
werden,  so  mag  man  zusehn,  wieviel  Werth  die  Handlungen  aus  jenem, 
von  den  Motiven  vorgeblich  unabhängigen  Princip  noch  besitzen  mögen! 
Was  wäre  eine  Tugend,  die  aus  Liebe  zur  Freyheit  sich  weigern  würde, 
das  Gute  um  des  Guten  willen  zu  thun?  Den  Geist  des  Widerspruchs 
gegen  jedes  Sollen  kennt  man  längst. 

Die  Extreme  berühren  sich.  Augustins  unbedingter  Rathschluis  legt 
der  Gottheit  eine  Wahl  ohne  Motiv  bey.  Warum  wollen  Diejenigen, 
welche  im  Menschen  jenes  Princip  zu  [363]  handeln,  das  von  den  Motiven 
frey  seyn  soll,  unbedenklich  finden,   der  Gottheit   -weniger  einräumen? 

Unstreitig  sollen  die  praktischen  Ideen  die  Motive  des  eigentlich 
moralischen  Handelns  seyn,  welches  Kant  als  ein  Handeln  nicht  blofs 
der  Pflicht  gemäfs,  sondern  aus  Pflicht,  2ganz  richtig  und  mit  vieler 
Würde  beschrieben  hat.  Aber  zum  Unglück  hat  der  Mensch  neben  den 
moralischen  Motiven,  ohne  sie  gerade  auszuschliefsen,  noch  andre  Motive; 
und  dazu  kommt  das  zweyte  Unglück,  dafs  die  Stärke  und  Wichtigkeit, 
womit  ein  Motiv  im  Nachdenken  erscheint,  weit  verschieden  ist  von  dem 
Gewicht  und  der  Spannung,  womit  im  Augenblick  des  Handelns  die  That 
geschieht.  Wir  brauchen  kaum  noch  daran  zu  erinnern,  dafs  im  Nach- 
denken die  Vorstellungsmassen  auf  eine  Weise  thätig  sind,  die  ein  ganz 
andres  Verhältnifs  im  Handeln  anzunehmen  pflegt.  Aber  hier  kommt  es 
darauf  an,    den  psychologischen  Mechanismus  genauer   zu  studiren.*     Die 


1  Die  Worte:  „Auch  heute  noch  ....  zu  sagen  ist.  Und"  (4  Zeilen 
weiter)  fehlen  in  der  II.  Ausg. 

2  Die  folgenden  Worte:    „ganz   richtig   und"    fehlen  in  der  II.  Ausg. 

*  Wir  wollen  hier  das  einzige  Wort  darüber  sagen,  dafs  beynahe  (obgleich  nicht 
ganz)  wie  die  Substanz  der  Seele  zu  den  in  der  Zeit  erzeugten  Vorstellungen,  so  die 
Vorstellungen  sich  zum  Wollen  verhalten;  welches  erst  Vestigkeit  erlangt  in  dem 
Maafse,  wie  die    Verbindung  der  Vorstellungen  sich  bevestigt. 


2Q4  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

gemeine  Psychologie  läfst  ihre  Seelenvermögen,  die  ein  für  allemal  eine  ge- 
schlossene Gesellschaft  bilden,  und  als  eine  solche  bey  einander  sind  und 
bleiben,  eine  gar  schlechte  Rolle  spielen.  Beym  ruhigen  Denken  (sagt 
sie)  ist  die  Vernunft  thätig;  aber  im  Augenblicke  des  Thuns  wird  von 
der  Aufsenwelt  die  Sinnlichkeit  gar  zu  mächtig  aufgeregt;  daher  zieht  die 
schwache  menschliche  Vernunft  sich  zurück,  und  so  bleiben  die  besten 
Vorsätze  unausgeführt.  Aber  diese  schwache  menschliche  Vernunft  ist 
nichts  andres,  als  eine  schwache  menschliche  Erfindung.  Wären  da  wirk- 
lich zwey  Seelenvermögen,  genannt  Vernunft  und  Sinnlichkeit,  deren  Natur 
es  so  mit  sich  brächte,  dafs  sie  im  Handel  zusammenwirkten:  so  würde 
einerley  Gelegenheit  sie  beide  zugleich,  und  in  gehörigem  Verhältnisse,  in 
Wirksamkeit  setzen.  Wie  kommt's  denn,  dafs  bey  der  Gelegen[364]heit, 
wo  die  Sinnlichkeit  sich  hervorthut,  die  Vernunft  weniger  das  Ihrige  thut, 
dafs  sie  sich  zurückzieht?  —  iDas,  was  sich  da  zurückzieht,  und  noch 
viel  weiter  wird  zurückziehn  müssen,  ist  kein  wirkliches  Ding,  sondern  eine 
grundfalsche   Hypothese. 

Man  kennt  nicht  etwa  den  Menschen  durch  die  gemeine  Psychologie, 
sondern    man  verkennt  ihn  ganz  und  gar.      Und  wehe  dem,   der  nach  ihr 
sich  richten  würde,  wo  es  darauf  ankommt,  Menschen  zu  behandeln!  Da- 
mit sie  nur  nicht  in   den  offenbarsten  Widerstreit  mit  der  Erfahrung  sich 
versetze,    hat   man    sie   mit   solchen  Inconsequenzen   belasten  müssen,    wie 
jene,    dafs    von    zwey   Vermögen,    denen    zugleich    Veranlassung    gegeben 
wird,  ihrer  Natur  gemäfs  zu  wirken,   das   eine  vortritt  und  das  andre  rück- 
wärts geht.    Vor  lauter  moralischem  Bedauern  merkt  man  den   Fehler  der 
Theorie  nicht,    der  um  desto  ärger   ist,    wenn    sogar    die   Freyheit,   welche 
doch  der  schwachen  Vernunft  zum  Succurs  herbeyeilen  sollte,   sich  in  den 
meisten    Fällen    nicht    regt    noch    rührt.      Oder    welche    Rolle    spielt    diese 
Freyheit,  deren  der  Mann  sich  rühmt,  in  dem  gemeinen  sinnlichen  Menschen, 
in    gewöhnlichen  Kindern,    und  Frauen,   und  Greisen?    Sie  schläft!    Denn 
das    kostet    der   gemeinen  Psychologie   nichts,    die   Freyheit   als   schlafend, 
das  heißt,    als  unfrey,  zu   denken.      Der  Mensch,  sagen  sie,   hat  Freyheit; 
es    ist    seine  Schuld,    wenn    er    sie    nicht   braucht.      Also  dieses  Grundver- 
mögen,   welches    alle   andern  Vermögen    haben   und  brauchen  sollte,   wird 
selbst  gehabt    und    gebraucht   oder   nicht  gebraucht.     Wer   denn  ist  Der- 
jenige, der  es  hat  und  braucht?  Vermuthlich  das  Ich!    Man  löse  erst  die 
Widersprüche   im  Begriff  des  Ich;    man   verhehle    sich  nicht  länger,    dafs  in 
den  Wissenschaften  Derjenige  zu  kurz  kommt,  der  einen  gordischen  Knoten 
mit  dem  Schwerdte  wegschaffen,  -    -  oder,  was  dasselbe  ist,  ignoriren  will. 
22i2.     Es   ist   im   gelehrten  Deutschland  überhaupt  nicht  Sitte,    dafs 
ein  Praktiker  seine  Studien  auf  das  das  allernächste  Bedürfnifs  der  Praxis 

1   Die  folgenden  Worte:'  „Das,   was  sich  zurückzieht rückwärts  geht" 

(10  Zeilen  weiter)  fehlen  in  der  II.  Ausg. 

'  Statt  des  §  212  steht  in  der  IL  Ausg.  folgender  §: 

231.   Mögen  nun  die  vorstehenden  Betrachtungen  *  nicht  blofs  zeigen, 

sondern  lebhaft  fühlbar  machen,  wie  nothwendig  die  praktische  Philosophie, 

falls   sie   wahrhaft   praktisch   werden   soll,    sich    mit   wahrer  Psychologie  in 

Ausführlicheres  in  einer  neuern  Schrift  des  Vfs. :    Zur  Lehre  von  der  Freyheit 

des  menschlichen    Willens. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     8.   Cap.     Von  der  praktischen  Thilosophie.      205 

beschränke.  Man  darf  also  voraus[365]setzen,  dafs  die  Theologen,  Medianer 
und  Juristen  hören  werden,  wenn  man  ihnen  im  Namen  der  Philosophie 
etwas  zu  sagen  hat.  Ihr  Widerwille  gegen  neue  Systeme  wird  sich  mäfsigen 
müssen,  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  sie  nicht  im  Stande  sind,  die 
Fortschritte    der  Philosophie   zurückzuhalten,    und  ihnen  das  Zurückbleiben 


Verbindung  setzen  mufs.  Die  Wichtigkeit  dieser  Verbindung  wird  dereinst 
noch  weitergreifend  befunden  werden,  je  mehr  man  einsehen  wird,  dafs 
sich  die  psychischen  Gesetze  nicht  blofs  im  einzelnen  Menschen,  sondern 
auch  im  Staatsleben  gelten  machen;  und  dafs  hierauf  die  wahre  Philosophie 
der  Geschichte  beruhet.  Für  jetzt  müssen  wir  uns  begnügen,  die  Hin- 
weisung auf  Psychologie  als  das  Wesentlichste  zu  bezeichnen,  was  über 
Methode  der  praktischen  Philosophie  zu  sagen  ist;  nämlich  vorausgesetzt, 
daß  die  Sonderung  und  richtige  Bestimmung  der  praktischen  Ideen  bereits 
geschehen,  und  in  ihren  nächsten  Folgen  gehörig  erkannt  sey\  denn  was 
daran  fehlt,  läfst  sich  durch  nichts  Anderes  ersetzen.  In  der  That  aber 
mahnt  die  transscendentale  Freyheit,  von  der  nur  eben  zuvor  gesprochen 
worden,  an  eine  andre  Art  von  Freyheit,  die  sich's  wohl  gefallen  liefs, 
mit  jener  in  Verbindung  tretend  einen  bedeutenden  Theil  der  praktischen 
Philosophie  zu  beherrschen,  nämlich  die  Rechtslehre;  so  dafs  eine  Methode 
begünstigt  wurde,  welche  der  Sonderung  der  praktischen  Ideen  eben  nicht 
förderlich  ist. 

Nichts  scheint  fafslicher,  als  der  Unterschied  zwischen  innerer  Frey- 
heit und  äufserer  Freyheit.  Der  Mensch  hört  gern  von  der  innern  Frey- 
heit seines  Willens,  aber  noch  lieber  von  der  äufsern  Freyheit  seines 
Handelns.  Dafs  diese  beiden  Freyheiten  vollkommen  disparat  seyen, 
haben  wohl  die  Wenigsten  von  Denen  begriffen,  welche  sich  gern  die  Kantische 
Lehre  von  der  äufsern  Freyheit  für's  Naturrecht,  neben  der  innern  Frey- 
heit für  die  Moral,  gefallen  liefsen.  Und  doch  soll  (wie  oben  schon  er- 
innert) die  innere  Freyheit  unzeitlich  seyn,  und  der  intelligibeln  Welt  an- 
gehören, während  die  äufsere  Freyheit  in  der  Zeit  und  im  Räume,  also 
mitten  in  der  Welt  der   Erscheinungen,  ihr  Reich  ausbreitet. 

Die  Trennung  des  Naturrechts  von  der  Moral,  welche  von  gehöriger 
Unterscheidung  und  Verbindung  aller  fünf  praktischen  Ideen  sehr  weit 
entfernt  ist,  geschah  zwar  zu  einer  Zeit,  wo  noch  nicht  an  Kantische 
Lehren  zu  denken  war.  Allein  die  fafsliche  Rede  von  der  äufsern  und 
innern  Freyheit  pafste  vortrefflich  zu  den  Zwangsrechten  der  Juristen,  und 
den  Gewissenspflichten  der  Theologen;  so  dafs  nun  unwiderruflich  die 
praktische  Philosophie  in  zwey  Theile  zerlegt  schien.  Die  Studirenden 
der  Jurisprudenz  brauchten  nun  keine  wissenschaftliche  Moral;  und  die 
Theologen  bekümmerten  sich  nicht  um's  Naturrecht. 

Möge  denn  wenigstens  die  Philosophie  mit  sich  selbst  in  Ueber- 
einstimmung  bleiben.  Aber  auf  der  einen  Seite  Kantischer  Rigorismus, 
der  kein  sittlich -Schönes  kennt,  vielmehr  behauptet,  der  Mensch  könne 
nie  mehr  thun  als  seine  Pflicht,  —  auf  der  andern  Seite  ein  Naturrecht, 
welches  ausgeht  von  Rechten  die  Jemand  habe,  als  ob  es  Güter  wären; 
und  sich  herabläfst  auf  den  Standpunct  des  Privatmannes,  wie  wenn  die 
Motive   des    rechtlichen    Verhaltens    gleichgültig,    und   blofs   die   Sicherheit 


2q6  II-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

hinter  den  Fortschritten  der  Zeit  unfehlbaren  Naehtheil  bringt.  Es  hilft 
ihnen  nichts,  dafs  sie  etwa  meinen,  Hegel  ignoriren  zu  dürfen,  weil  sie 
freylich  das,  was  er  ihnen  darbietet,  unmittelbar  so  wie  es  ist,  wenig  ge- 
brauchen können.  Durch  Hegel  ist  ein  Fortschritt  geschehn,  indem  durch 
ihn  die  Widersprüche  in  den  Erfahrungsformen,  die  schon  die  Alten  zum 


der  äufsem  Verhältnisse  von  Bedeutung  wäre,*  —  das  pafst  nicht  zu- 
sammen. Der  Eudämonismus,  durch  ein  kategorisches  Gebot  verbannt, 
hält  durch  das  offene  Thor  eines  solchen  Naturrechts  im  Triumph  seinen 
Einzug.  Denn  wie  willkommen  der  Arzt,  eben  so  sehr  und  noch  mehr 
willkommen  ist  der  Anwalt,  der  die  Schäden  des  Vermögens  und  des 
Ansehens  in  rechtlicher  Form  zu  heilen  oder  zu  verhüten  verspricht. 
Rauh  klingt  die  Rede  von  den  Pflichten,  aber  lieblich  die  von  den  Rechten. 
Es  kann  begegnen,  dals  über  beiden  der  eigentliche  Sinn  des  Rechts,  was 
über  Allen  schwebt,  vergessen  wird. 

Die  Idee  des  Rechts  ist  in  der  Reihe  der  praktischen  Ideen  weder 
die  erste  noch  die  letzte.  Sie  steht  unter  fünfen  an  der  vierten  Stelle; 
und  an  dieser  Stelle  darf  sie  nicht  fehlen;  sonst  wird  sie  nicht  blofs  im 
Gerichtshofe  •vermifst,  sondern  auch  im  Gewissen. 

„Das  Naturrrecht  besitzt  eben  so  wenig  die  Macht  des  Staats,  und 
der  in  ihm  geltenden  positiven  Rechte,  als  die  philosophische  Tugend- 
und  Pflichtenlehre  im  Stande  ist,  den  mächtigen  Einflufs  der  Kirche  auf 
die  Gemüther  auszuüben.  Das  Naturrecht,  wenn  es  irgend  auf  Un- 
abhängigkeit vom  positiven  Rechte  Anspruch  macht,  kann  nur  durch  Gründe 
wirken ;  auf  Gründe  aber,  mit  Beyseitsetzung  des  Vortheils  und  der  Stärke, 
hört  nur  der  moralische  Mensch.  Daher  darf  es  sich  von  der  Moral 
nicht  dergestalt  absondern,  als  ob  es,  ohne  sie,  Eingang  finden  könnte. 
Denn  es  ist  weder  bestimmt,  dem  Stärkern  zu  schmeicheln,  noch  den 
Schwachem  aufzureizen."** 

Nachdem  aber  Kant  gelehrt  hatte,  die  rechtliche  Gesetzgebung  ver- 
lange nicht,  dafs  die  Idee  der  Pflicht  Bestimmungsgrund  der  Willkühr 
sey;  behauptete  Fichte  vollends  gar,  auf  dem  Gebiete  des  Naturrechts 
habe  der  gute  Wille  nichts  zu  thun;  das  Recht  müsse  sich  erzwingen 
lassen.  Die  Nemesis  blieb  nicht  aus ;  bald  darauf  erklärte  Schleiermacher 
das  Naturrecht  für  eine  Unform,  welche  von  einer  rechten  Ethik  müsse 
zerstört  werden. 

Das  gröfste  Uebel  bey  dieser  Confusion  lag  darin,  dafs  man  die 
Staatslehre  nun  zum  Naturrecht  zog,  und  was  darüber  hinausgeht,  einer 
blofsen  Klugheitslehre  unter  den  Namen  Politik  zuwies,  an  welcher  natürlich 
die  Psychologie  fehlte;  denn  die  alten  Seelenvermögen  haben  einen  Politiker 
wenig  oder  nichts  zu  sagen. 

Den  Staat,  —  die  mit  Macht  bekleidete  bürgerliche  Gesetzgebung, 
—  erachtete  Kant  so  nöthig  selbst  für's  Eigenthum,  dafs  er  im  Natur- 
stande nur  ein  provisorisches  Mein  und  Dein  wollte  gelten  lassen.  Im 
Falle  des  Streits  sollte  Jedem  erlaubt  seyn,    den  Andern  zu  nothigen,    dafs 


*  Analytische  Beleuchtung  des  Naturrechts  und  der  Moral,  §.  92  u.  s.  f. 
**  Analytische  Beleuchtung  des  Naturrechts  etc.  §.  27. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     8.  Capitel.     Von  der  praktischen  Philosophie.      207 


Theil  sehr  deutlich  sahen,  der  heutigen  Zeit  wieder  kund  geworden  sind: 
ein  Fortschritt,  welcher  freylich  nicht  der  letzte  seyn  wird;  denn  mitten 
in  Widersprüchen  kann  man  nicht  stehen  bleiben.  Der  philosophische 
Apparat,  dessen  sich  jene  Facultäten  zu  bedienen  gewohnt  sind,  mufs  jetzt 


er  mit  ihm  in  eine  bürgerliche  Verfassung  trete.  Aber  keine  Macht  steht 
sicher,  so  lange  es  Krieg  geben  kann.  Also  —  ewiger  Friede!  Aber  der 
ewige  Friede  ist  nach  Kant  selbst  eine  unausführbare  Idee.  Schlimm 
für's  Mein  und  Dein! 

Wenn  dagegen  die  praktischen  Ideen  als  Ideen  wissenschaftlich  dar- 
gestellt und  gesondert  werden,  so  findet  man  weder  im  Rechte  die  Be- 
fugnifs  des  Zwanges,  noch  kann  bey  dem  Zwange  gleich  auch  von  der 
zwingenden  Macht  gesprochen  werden,  sondern  alles  dies  steht  weit  genug 
aus  einander. 

Man  unterscheide  (um  nur  eine  kurze  Andeutung  zu  geben)  Recht, 
Befehl,  Zwang,  und  Macht.  Das  Recht  gehört  der  Lehre  von  den  ein- 
fachen, ursprünglichen  Ideen;  der  Befehl  kommt  dem  Richter  zu,  und 
gehört  in  die  Rechtsgesellschaft;  der  Zwang  (etwa  im  Falle  des  Un- 
gehorsams gegen  den  Befehl)  bedarf  zu  seiner  Begründung  der  Idee  der 
Billigkeit,  und  gehört  ins  Lohnsystem;  von  diesem  Allen  weit  verschieden 
aber  ist  die  Lehre  von  der  wirklichen,  zwingenden  Macht  im  Staate,  deren 
Betrachtung  gar  nicht  in  die  Ideenlehre  kann  gezogen  werden ;  denn  wirk- 
liche Dinge  sind  keine  Ideen,  sondern  richten  sich  nach  Gesetzen  der 
Natur  und  des  Geistes,  das  heilst  hier,  grofsenteils  nach  dem,  was  die 
Psychologie  zu  untersuchen  hat. 

Die  praktische  Philosophie  ist  zwar  bey  weitem  leichter  als  die 
Metaphysik  sammt  den  von  ihr  abhängenden  Wissenschaften;  sie  verlangt 
nicht  eine  so  grofse  Mannigfaltigkeit  verschiedenartiger  Methoden  und 
Hülfsmittel;  aber  sie  fodert  doch,  dafs  man  ihre  verschiedenen  Partieen 
aus  einander  halte,  und  jedem  Begriffe  seinen  Platz  anweise. 

Grotius,  etwas  freygebig  mit  Beschränkungen  des  Eigenthums,  will 
überdies,  dafs  Länder,  Flüsse,  Meere,  bei  gerechter  Ursache  zum  Durch- 
gange offen  stehen  sollen,  für  Vertriebene,  oder  des  Handels  wegen;  er 
will  keine  Zölle;  er  verlangt  Erlaubnifs  zu  Wohnsitzen,  zur  Occupation 
leerer  Plätze.  Fichte  behauptet  Jim  Naturrechte,  Jedermann  solle  von 
seiner  Arbeit  leben  können;  der  Arme  habe  ein  absolutes  Recht  auf  Unter- 
stützung; das  Eigenthum  der  Objecte  besitze  Jeder  nur  so  weit,  als  er 
dessen  für  die  Ausübung  seines  Geschäffts  bedürfe,  u.  s.  w.  An  ähnlichen 
Behauptungen  leidet  unsre  Zeit  keinen  Mangel;  nur  Schade,  dafs  man  nicht 
überlegt,  wohin  sie  gehören.  Die  Begriffe  gerathen  in  Verwirrung,  und 
können  ihre  Dienste  nicht  leisten,  wenn  man  vom  Rechte  da  redet,  wo 
von  höherer  Cultur,  von  Veredelung  der  Gemüther,  von  Billigkeit  und 
gegenseitigem  Wohlwollen  zu  reden  wäre.  Das  Recht  bezieht  sich  auf 
Vermeidung  und  Schlichtung  des  Streits;  nicht  selten  aber  begegnet  es 
Denen,  welche  das  Recht  verbessern  wollen,  dafs  es  sie  unsicherer  stellen, 
als  es  zuvor  stand;  und  dafs  sie  den  Saamen  der  Streitigkeiten,  den  sie 
wegschaffen  sollten,   erst  recht  aussäen  und  verbreiten. 

Gegen    solches    Uebertreiben    und  Uebereilen   dessen,    was   nur   sehr 


2q8  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


verändert  werden;  er  ist  nicht  blofs  rostig,  sondern  vom  Roste  zerfressen, 
und  man  würde  umsonst  versuchen,  ihn  von  neuem  zu  poliren. 

Diesen  philosophischen  Apparat  brauchen  zwar  die  Theologen  nicht 
auf  der  Kanzel,  die  Juristen  nicht  im  Gerichtshofe,  die  Medianer  nicht 
am  Krankenbette.  Aber  der  Theologe  ist  auch  nicht  blofs  Kanzelredner, 
der  Jurist  nicht  blofs  Richter,  der  Medianer  nicht  blofs  Arzt.  Sie  sind 
sämmtlich  Gelehrte,  und  führen  gelehrte  Streitigkeiten;  sie  theilen  sich  in 
Partheyen.  Welche  Parthey  nun  in  der  Philosophie  zurückbleibt,  diese 
wird  gar  bald  neben  sich  eine  andre  Parthey  erblicken,  deren  Anfälle  ihr 
unbegreiflich  vorkommen,  daher  sie  dieselben  anfangs  gering  achtet, 
während  sie  doch  mehr  und  mehr  von  jener  bedrängt  wird,  je  leichter 
sie  mit  abgenutzten  Formeln  Alles  gethan  und  abgethan  zu  haben  meint. 
Dabey  kommen  die  offenbarsten  Misgriffe  vor.  Zufällig  bietet  sich  eine 
ganz  neue  Probe  dieser  Art  dar,  welche  beyspielsweise  hier  mag  ange- 
führt werden.      Eine  theologische  Recension  beginnt  so: 

[366]    „Wenn    die  Empiriker  in  der  Philosophie  die   Frage  aufstellten: 
ob   auch   die   Idealisten    für   Philosophen    zu   halten   seyen,    was   würde 


man  sagen? 


Der  Ungenannte,  welcher  so  schreibt,  weifs  ohne  Zweifel,  was  Idealis- 
mus ist.      Kurz   darauf  redet  er  weiter: 

„Unbegreiflich   ist  es,    wie  man    die  Vernunft  (die  doch  etwas  Anderes 
ist,  als  der  abstrahirende  Verstand,)  zurückweisen  will;  deren  Forschung 
nothwendig  ist,  um  Gewifsheit  zu  erlangen,  welches  die  Aussprüche  der 
göttlichen   —  und  nicht  Wahngebilde  der  menschlichen,   durch  Sinnlich- 
keit getrübten  —  Vernunft  seyen." 
Was   wird   nun   der   Gegner   sagen?    Er   wird    sich   nicht   lange   besinnen; 
die  Antwort  ist  ihm  in  den  Mund  gelegt.    Ihr  räumt  ein,   (wird  er  sagen,) 
die  menschliche  Vernunft  sey  durch  Sinnlichkeit  getrübt,  also  seyd  ihr  ge- 
fangen.      Denn    mit    Eurer   getrübten   Vernunft    könnt   ihr    die    ungetrübte 
nicht  erkennen;    und    Eure    Vertheidigung    ist   nichts    als    ein    Bekenntnifs, 
dafs    ihr  vom   Idealismus  redet,    ohne    ihn  zu  verstehn.      Schlagt  Fichte's 
Schriften  nach;   seht  zu,  ob  dort  noch  Vernunft  und  Verstand  und  Sinn- 
lichkeit an  derselben  Stelle  stehn,  wie  Eure  Reminiscenzen  aus  Wolf  und 
Kant  es  Euch  vorspiegeln. 


langsam  gedeihen  kann,  warnt  die  Wissenschaft,  wenn  man,  wie  sich's 
gebührt,  erst  vom  ästhetischen  Standpuncte  aus  jede  praktische  Idee 
einzeln  und  nach  ihrer  Eigenthümlichkeit,  unbekümmert  um  die  andern, 
betrachtet;  dann  die  Gesammtheit  der  Ideen  zu  den  Begriffen  der  Tugend 
und  Moralität  verknüpft;  endlich  mit  Hülfe  der  Psychologie,  der  Geschichte, 
der  Menschcnkenntnifs,  den  notwendigen  Bildungsgang  untersucht,  durch 
welchen  die  Annäherung  an  das  Gefoderte  möglich  ist.  Dies  giebt  drey 
Regionen  der  Wissenschaft,  eine  der  Sonderung,  die  zweyte  der  Ver- 
einigung, die  dritte  der  Anwendung;  deren  jede  ihre  Gränzen  hat,  und 
innerhalb  welcher  man  stets  orientirt  seyn  mufs,  wofern  man  sich  nicht 
in  mishelligen  Meinungen  verwickeln,  ja  wohl  gar  vom  Treiben  der  Par- 
teyen will  fortreifsen  lassen. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     8.  Capitel.     Von  der  praktischen  Philosophie.      299 


Wollten  wir  nach  ähnlichen  Probestücken  suchen*,  wir  würden  sie 
zu  hunderten  in  Büchern  und  Zeitschriften  antreffen.  Allein  weshalb 
sollten  wir  suchen?  Die  Religion  leidet  nicht  bey  den  Redensarten  des 
gemeinen  Lebens,  zu  dessen  Angelegenheiten  sie  ohnehin  sich  herablassen 
mufs;  es  ist  nur  der  Gelehrte,  welcher  leidet,  wenn  er  unter  Gelehrten 
eine  Sprache  führt,  die  zur  Sache  nicht  pafst.  Was  jener  Gelehrte  eigent- 
lich sagen  wollte,  der  die  Vernunft  wie  ein  getrüb[3Ö7]tes  Glas  beschrieb, 
das  konnte  auch  ungetrübt  durch  falsche  Psychologie,  ja  es  konnte  ohne 
alle  Psychologie  gesagt  werden;  und  er  hat  es  wirklich  gesagt,  indem  er 
von  dem  Unterschiede  der  innern  und  änfsern  Beweise  für  das  Christen- 
thum  redet.  Wollte  er  indessen  mit  Bestimmtheit  die  Anerkennung  der 
innern  Beweise  beschreiben,  so  gehörte  auch  mehr  dazu,  als  folgende  Fort- 
setzung jener  Rede: 

„Der  Streit  dreht  sich  um  die  Frage:    ob  in  Sachen    der  Religion,  be- 
sonders einer  positiven,  von  der  Vernunft  blofs  ein  formaler  oder  auch 
ein  materialer,  halber  oder  ganzer  Gebrauch  zu  machen  sey." 
Hiebey    entsteht    sogleich    die   Frage,    Wer   denn    Derjenige   sey,    der   die 
Vernunft,    wie  ein  Werkzeug  gebrauchen  solle?    Der  Mensch  vermuthlich. 
Wer  ist  denn    dieser  Mensch?    Ist   er  Leib  oder  Seele?    Der  Leib  kann 
die  Vernunft    nicht    gebrauchen;    die  Seele    ist   eine  unbekannte  Substanz, 
an  welche  der  Befehl,  irgend  etwas  zu  gebrauchen,   auf  keinem  unbekannten 
Wege   kann    abgesendet  werden.     Es  wird    also  wohl,    damit  doch  irgend 
Jemand    die  Botschaft  dieses  Befehls  in  Empfang  nehmen  möge,  das  Ich 
hervortreten    müssen;    wie    in    dem    Ausdrucke,    Du    sollst   Deine    Vernunft 
gebrauchen,   vorausgesetzt  wird.    Wer  nun  vom  Idealismus  redet,   der  sollte 
wissen,    in    welche    Widersprüche    das    Ich   gerade    durch    den    Idealismus, 
der   darauf  bauen   wollte,    ist   verwickelt   worden.     Aber    auch   abgesehen 
hievon:    was    war    denn    die    eigentliche  Absicht    der    Rede?    Doch    wohl 
dies,   dafs  man  in  sich  nichts  andres  über  die  Vernunft  stellen  könne,   dafs 
es    keinen  Herrn  gebe,    welchem    die  Vernunft    zum    beliebigen  Gebrauch 
diene,    sondern    dafs    sie   selbst,    überall    wo    von    ihr  gesprochen  wird,    als 
das   Active    gedacht   wird,    welches   braucht,    nicht   aber   als   das    Passive, 
welches  sich  brauchen  läßt.     Jene  Rede  lautet  femer  also: 

„Wenn  der  Stifter  des  Christenthums  von  einem  Innewerden,  von  einer 
Gnosis  seiner  Lehre  spricht,  wenn  er  kühn  Jeden  auffordert,  ihm  einen 
Irrthum  nachzuweisen;  wenn  er  Glauben  fordert,  darum  weil  er  die 
[368]  Wahrheit  rede:  so  fordert  er  ja  offenbar  Vernunft- Erkenntnifs, 
und  behauptet,  dafs  Jedermanns  Vernunft  mit  der  seinigen  überein- 
stimmen, dafs  Jeder  in  seiner  Vernunft  dasselbe  finden  werde,  was  er 
in  der  seinigen.  Wir  überzeugen  uns  aber  nur  dann  von  einer  Lehre, 
wann  wir  finden,  dais  die  Aussprüche  der  Vernunft  eines  Andern  auch 
Aussprüche  unserer  Vernunft,  dafs  beide  identisch,  mithin  Aussprüche 
der    Vernunft   überhaupt  sind." 

Man    wird    hier    wohl    nicht    veranlafst,     die     Vernunft    überhaupt    in 


*  Dafs  nach  dem  vorstehenden  nicht  erst  gesucht  ist,  wird  man  leicht  glauben; 
denn  es  steht  ganz  nahe  neben  der  meisterhaften  Recension  der  Metaphysik,  wodurch 
Herr  Professor  Drobisch  sich  ein  neues  Verdienst  um  den  Verfasser  erworben  hat. 
(Jen.  A.  L.  Z.  August    1830.) 


tqo  U-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

einem  pantheistischen  Sinne  zu  nehmen;  obgleich  schon  in  diesem  Puncte 
die  Rede  hätte  vorsichtiger  lauten  können.  Aber  jenes  Innewerden,  jene 
Gnosis,  der  Vernunft  beyzulegen.  ist  wiederum  eine  Blöfse,  die  man  den 
Gegnern  giebt.  Wer  wird  das  Innewerden  bezweifeln?  Ohne  Zweifel  soll 
die  Religion  (werden  sie  sagen)  nicht  draufsen  bleiben,  sondern  hinein- 
dringen. Damit  ist  aber  keineswegs  zugestanden,  dafs  Jeder  in  seiner 
Vernunft  die  Religion  finden  werde,  als  ob  sie  schon  darin  gewesen  wäre, 
und  nur  noch  mit  dem,  was  sich  von  aufsen  darbietet,  brauchte  verglichen 
und  als  identisch  anerkannt  zu  werden.  Solche  Sprache  verwirrt  blofs 
den  Streit,  statt  ihn  aufzuklären.  Man  zeige  zuerst  die  Vernunft,  deren 
Aussprüche  man  rühmt.  Was  ist  sie?  Welche  Einheit  des  vorgeblichen 
materialen  und  formalen  Gebrauchs  derselben  kann  man  nachweisen? 
Erschlichen  ist  diese  Einheit;  und  der  Begriff  derselben  ist  nichts  weiter, 
als  eine  grobe  Analogie  mit  den  Dingen  der  Sinnenwelt,  an  denen  man 
ganze  Summen  von  disparaten  Merkmalen  aufzählt,  welche  beym  ersten 
metaphysischen  Blick  von  der  Substanz  müssen  verneint  werden,  anstatt 
dafs  dieselbe  durch  ihre  vorgeblichen  Attribute  sollte  bekannt  geworden 
seyn.  Nichts  als  Empirismus  konnte  einen  Begriff  der  Vernunft  erzeugen, 
der  nicht  die  erste  aller  metaphysischen  Proben  bestehen  kann. 

Anders  kommt  theilweise  die  Sache  zu  stehen,  wenn  die  praktischen 
Ideen  zu  Hülfe  gerufen  werden.  Diese  sind  und  waren  vorhanden,  noch 
ehe  die  Lehren  der  Religion  hinzu[36g]kommen.  Nicht  ohne  Absicht 
haben  wir  oben  des  Cicero,  das  heilst,  der  Stoiker,  Erwähnung  gethan, 
die  wiederum  auf  Platonische  Quellen  zurückweisen.  Wer  die  praktischen 
Ideen  mit  den  Eigenschaften  der  Gottheit  vergleicht,  der  hat  allerdings 
zweyerley,   dessen   Identität  sich  leicht  darthun  läfst  (199.). 

Es  ist  aber  Vernachlässigung  der  Genauigkeit,  die  man  so  wichtigen 
Gegenständen  schuldig  ist,  wenn  die  praktischen  Ideen  der  Vernunft  bey- 
gelegt  werden.  Wir  haben  gezeigt,  dafs  sie  aus  ästhetischen  Urtheilen 
entspringen  (45.)-  Auf  diesen  beruht  das,  was  an  dem  oben  gerühmten 
Innewerden  wahr  ist.  Von  dort  bis  zur  Vernunft  ist  noch  eine  weite 
Strecke  zurückzulegen.  Die  ästhetischen  Urteile  sind  oftmals  bey  Kindern 
völlig  wach  und  klar ;  daher  sie  alsdann  auch  sehr  leicht  der  Eeligiofi  inne 
werden.  Vernunft  aber  ist  nicht  der  Ruhm  des  kindlichen  Alters;  dazu 
gehört  mehr.  Vernunft  ist  reife  Ueberlegung,  in  welcher  die  praktischen 
Ideen  aus  der  Vermengung  mit  andern  ästhetischen  Producten,  und  über- 
dies mit  den  sämmtlichen  andern  Triebfedern  des  Willens,  herausgehoben 
werden.  Vernunft  ist  die  Mutter  der  Moralität,  welche  durch  die  blofsen 
Ideen  noch  gar  nicht  gegeben  war.  Nicht  in  der  Vernunft  wird  Etwas- 
(es  sey  was  es  wolle)  gefunden,  sondern  sie  selbst  mufs  als  diejenige  be- 
zeichnet werden,   welche  findet,   ordnet  und   dadurch  herrscht 

Hinwiederum  schafft  dieselbe  keine  vollständige  Erkenntnifs.  Der 
Glaube,  den  sie  hervorbringt,  würde  gar  sehr  schwanken,  wenn  nichts 
von  aufsen  hinzukäme.  Darum  haben  wir  oben  der  Proben  gedacht, 
welche  die  Natur  darbietet,  um   den  Glauben  zu  bestätigen   (200.). 

Die  Fehler,  welche  durch  den  beständigen  Fortgebrauch  der  alten 
Psychologie  entstehen,  wären  minder  auffallend,  wenn  die  philosophische 
Untersuchung  sich    erst  neuerlich    ihrem  verführerischen  Einflüsse   zu  ent- 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     8.  Capitel.     Von  der  praktischen  Philosophie.    30 1 

ziehen  angefangen  hätte.  Aber,  wie  vorhin  bemerkt,  der  Idealismus 
Fichte's  störte  schon  das  Reich  der  Seelenvermögen.  Die  vorgebliche 
Receptivität  [370]  der  Sinnlichkeit  verschwand  schon  vor  der  Annahme 
einer  produktiven  Einbildungskraft;  und  was  mehr  ist,  Fichte's  ganze  Me- 
thode, unrichtig  wie  sie  war,  konnte  doch  zur  Entwöhnung  von  den  alten 
Vorurtheilen  dienen.  Aber  der  Starrsinn,  welcher  durchaus  nichts  Neues 
an  sich  kommen  läfst,  ist  so  grofs  gewesen,  dafs  nach  allem  Wechsel  der 
Systeme  selbst  das  an  sich  Unhaltbarste  noch  auf  der  alten  Stelle  steht. 
Was  meinen  denn  Hegels  Gegner,  die  von  den  Widersprüchen  in  seinem 
Systeme  den  baldigen  Untergang  desselben  erwarten?  Meinen  sie,  die  zum 
materialen  und  formalen  Gebrauche  eingerichtete  Vernunft  sey  überzeugender, 
als  Hegels  Zusammensetzung  des  Seyn  und  des  Nichts?  Was  sie  bey  ihren 
Worten  denken,  mag  Wahrheit  enthalten;  bleibt  man  aber  bey  den  Be- 
griffen, welche  zunächst  durch  die  Worte  bezeichnet  werden,  so  findet  man 
jene  Vernunft  so  unhaltbar,  wie  diese  Zusammensetzung;  nur  diese  scharf- 
sinniger, jene  platter.  So  erscheint  der  Unterschied.  In  den  härtesten 
Widersprüchen  kann  sich  grofser  Scharfsinn  zeigen,  aber  freylich  nur,  wenn 
sie  mit  Besonnenheit  aufgestellt  und  behandelt  werden.  Wer  das  nicht 
glauben  will,  der  frage  die  Mathematiker.  Was  aber  das  Reich  der  alten 
Vorurtheile  anlangt:  so  scheint  unser  Zeitalter  eben  nicht  sehr  gelaunt,  es 
noch  lange  zu  dulden.  Nicht  blofs  die  politische,  sondern  auch  die  lite- 
rarische Welt  hat  ihre  Erfahrungen;  wenn  man  nämlich  darauf  wartet, 
anstatt  zur  rechten  Zeit  zuvorzukommen. 

Vom  Rationalismus  der  Theologen  ist,  in  Betreff  seines  philosophischen 
Ausdrucks,   Einiges  gesagt  worden;   man  könnte  sich  nun  veranlafst  finden, 
von    dem    der   Juristen    und    der    Mediciner   zu    fragen,    ob    er   glänzender 
sey  vertheidigt  worden,  (im  philosophischen  Sinne,)   als  jener  theologische. 
Es    scheint   nicht;    denn    wir    sehen    da    und    dort   den    Empirismus    zum 
Uebergewichte  gelangt.      Was  nun  die  Juristen  anlangt;  so  darf  man  sich 
zuvörderst  nicht  wundern,   dafs  jenes  Naturrecht,  welches  über  die  positiven 
Rechte  hinaus    sich    eine   Auctorität  anmafsen    wollte,    (ungefähr   wie  wenn 
ein  alter  Wald,  auf  einmal  umgehauen,   durch  lauter  junge  Bäume  könnte 
ersetzt  werden,)  [371]  bey  ihnen  in  Übeln  Ruf  gekommen  ist.    Die  Juristen 
sind  zunächst  verpflichtet,   das  Bestehende  zu  erhalten,   so  wie  es  besteht. 
Wahre    Rechtsphilosophie  ist    die  Freundin    des    Bestehenden,    in    so    fern 
die  gegenwärtige  Generation  der  Menschen  einmal  darauf  eingegangen  ist. 
Es    ist   nur    schlimm,    dafs    immer    eine   Generation    nach    der  andern  zum 
Vorschein  kommt,  und  dafs,    wenn  für    die  Zufriedenheit  der  neuen  nicht 
im  Voraus  die  möglichste  Sorge  getragen  wurde,  alsdann  Explosionen    zu 
erfolgen  pflegen,  gegen  welche  die  gesammte  Jurisprudenz  nicht  mehr  ver- 
mag,  als    Processionen   gegen    einen    brennenden    Vulcan.     Aber   die  Ge- 
setzgebung,   wird    man    sagen,    hat    diese  Sorge    zu  tragen!    In    der   That. 
wohl  uns,  dafs  sie  es  thut!    Auch  ist,  wenn  man  blofs  die  abstracten  Be- 
griffe  erwägt,   nichts  einzuwenden  gegen   Unterscheidung  und  Absonderung 
der  Jurisprudenz    von    der  Gesetzgebung    und    von  der  Staatsgewalt  über- 
haupt.     Die  Gerichtshöfe,    sammt   allem,    was    ihnen   anhängt,    haben    nur 
eine  bedingte  Existenz.    Sie  sollen  das  Gesetz  nicht  machen,  sondern  das 
gegebene,   dessen  Schutz  ihnen  anvertraut  wurde,   in  Anwendung   bringen. 


,0,  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

Kämen  neue  Gesetze:  sie  würden  nach  den  neuen  Gesetzen  Recht 
sprechen,  wie  jetzt  nach  den  alten!  Warum  denn  aber  steht  die  historische 
Jurisprudenz  in  so  hohen  Ehren?  Es  scheint  doch,  die  Juristen  seyen 
sich  eines  Einflusses  bewufst,  den  sie,  wenn  nicht  für  Neuerungen,  als- 
dann desto  mehr    wider   dieselben    in  Anwendung   zu    bringen  gedächten. 

Das  ist  ihnen  nun  gar  nicht  zu  verdenken.  Sie  wissen  wohl,  dafs 
ein  weiser  Herrscher  guten  Rath  gern  hört,  und  dafs  neue  Gesetze  niemals 
ohne  vorgängige  Rücksprache  mit  den  Sachkundigen  zu  erscheinen  pflegen. 

Aber  noch  mehr!  Die  Jünglinge,  welche  Jurisprudenz  studiren,  haben 
nicht  blofs  den  engbeschränkten  Wirkungskreis  des  eigentlichen  Sach- 
walters und  Richters  im  Auge.  Sie  wissen  wohl,  dafs  aus  ihrer  Mitte 
gerade  die  einflufsreichsten  Staatsämter  sollen  besetzt  werden.  Sie  wissen, 
dafs  mit  solchen  Stellen  im  Staate  noch  etwas  mehr,  als  eine  blofs  amt- 
liche Wirksamkeit  verbunden  ist.  Das  Amt  giebt  Ansehn;  und  [372] 
der  Angesehene  findet  am  leichtesten  Gehör.  Die  öffentliche  Meinung, 
wiewohl  keinem  einzelnen  Stande  dienstbar,  hängt  dennoch  vorzugsweise 
ab  von  dem  Reden  und  Thun  derer,  die  an  der  Spitze  stehn.  Sie  läfst 
sich   von  ihnen  gewinnen   oder  zurückstofsen. 

Und  Diejenigen,  welche  in  den  höhern  Staatsämtern  stehen,  wornach 
bilden  sie  ihre  Meinung  von  dem,  was  besteht,  und  was  sich  ändert? 
Wenn  nicht  nach  der  Philosophie,  um  welche  sie  sich  nicht  viel  kümmern, 
dann  vielleicht  nach  der  Geschichte.  Aber  das  Buch  der  Geschichte  ist 
noch  viel  weitläuftiger  und  schwerer  zu  verstehen,  als  die  Bibel;  es  wird 
weit  weniger  sorgfältig  gelesen  als  diese,  und  noch  weit  mannigfaltiger 
interpretirt.  Auch  hat  in  jedem  Augenblicke  die  Geschichte  eine  starke 
Nebenbuhlerin  an  der  neuesten  Zeitung,  und  an  den  Gesprächen,  welche 
dadurch  veranlagt  werden. 

Mag  nun  die  Jurisprudenz  die  Vorzeit  loben,  mag  sie  in  der  Ge- 
schichte studiren;  —  die  Juristen  sind  nicht  immer  die  Freunde  des  Be- 
stehenden; man  will  Beyspiele  haben,  dafs  gerade  sie,  wenigstens  ihrer 
Meinung  nach,  die  Geschicktesten  gewesen  seyen,  mit  dem  Strome  der 
Zeit   zu  schwimmen,  ja  selbst  ihn  zu  lenken. 

Dafs  nun  in  solchen  Fällen  zuweilen  die  Metaphysik  die  Ehre  ge- 
habt hat,  citirt  zu  werden  von  Leuten,  die  nicht  die  ersten  Anfangsgründe 
der  Metaphysik  kennen,  ist  kein  Wunder.  Unbesonnene  Neuerer  plaudern 
gerade  am  liebsten  von  dem,  was  sie  nicht  verstehn.  Inhärenz,  Ver- 
änderung, Materie,  Ichheit,  —  wenn  man  will,  Raum  und  Zeit,  und  über- 
haupt Continuität:  das  sind  die  Gegenstände  der  Metaphysik.  Sie  sind 
keiner  Behörde  behülrlich  oder  gefährlich.  Das  Problem  der  Veränderung 
möchte  man  allenfalls  in  Verdacht  haben;  allein  selbst  hier  hat  die  Meta- 
physik nur  das  Geschafft,  das  Bestehende  gegen  alle  vermeinte  innere 
Revolution  zu  vertheidigen.  Darin  liegt  jedoch  kein  Verdienst '  um  den 
Staat;  denn,  die  Wahrheit  zu  sagen,  die  Metaphysik  denkt  gar  nicht  an 
den  Staat,  sondern  an  die  Natur. 

[373]  Sehr  viel  passender  wäre,  hier  auf  die  Psychologie  das  Augen- 
merk zu  richten.  Diese  betrachtet  allerdings  den  Staat  als  Phänomen, 
in  welchem  die  Gesetze  des  psychologischen  Mechanismus  sich  auf's 
klarste  spiegeln;  so  dafs  man,  um  dieselben  dem  Unkundigen  ohne  Rech- 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     8.  Capitel.     Von  der  praktischen  Philosophie.      303 

nung  begreiflich  zu  machen,  wirklich  nichts  Besseres  thun  kann,  als  ihn 
auf  das  vom  Staate  stets  dargebotene  Schauspiel  verweisen.  Auch  ist 
wahre  Interpretation  der  Geschichte  nicht  möglich  ohne  Psychologie.  * 

Allein  das  dringendste  philosophische  Bedürfnifs  des  Juristen  geht 
auf  die  praktische  Philosophie.  So  lange  von  den  verschiedenen  prak- 
tischen Ideen  auch  nur  Eine  im  Dunkeln  bleibt,  schwanken  immerfort 
die  gangbaren  Vorstellungen  über  Moral  und  Naturrecht,  wo  man  Gränzen 
gezogen  hat,  die  weder  moralisch  noch  rechtlich  sind.  Doch  hierüber 
wollen  wir  nicht  jetzt,  noch  am  Ende  dieses  Buchs,  den  Streit  eröffnen, 
der  im  Vorhergehenden  sorgfältig  ist  vermieden  worden,  in  der  Hoffnung, 
ihn  durch  unmittelbare  Darlegung  des  wahren  Verhältnisses  der  Ideen 
(wie  sie  theils  hier,  theils  längst  in  der  praktischen  Philosophie  gegeben 
ist,)  vielleicht  unnöthig  zu  machen. 

An  Diejenigen  sind  noch  einige  Worte  zu  richten,  welche  mehr  Ge- 
walt über  Leben   und  Tod  besitzen,    als  selbst   die  Juristen.     Schon  oben 
(21.)  haben  wir  bereitwillig  anerkannt,  dafs  den  Aerzten  in  Ansehung  des 
Ernstes,  den  sie  den  philosophischen  Studien   (zvenn  sie  einmal  darauf  ein- 
gehn)  zuzuwenden  pflegen,  der  Vorzug  gebührt.**    Sie  wissen  am  besten, 
[374]   wieviel  ihnen  fehlt,   und  suchen  am  sorgfältigsten  nach  allen  Hülfs- 
mitteln,  wodurch  ihr  schweres  Studium  kann  erleichtert,  ihre  schwere  Ver- 
antwortung  wegen   der  gefährlichen   Praxis    gemildert  werden.      Mit   ihnen 
nun  dürfte  man  nicht  blofs  von  praktischer  Philosophie    und  Psychologie, 
sondern    auch    von    Metaphysik   reden.     Scheuen    sie    das  Wort:    so    liegt 
die  Schuld  an  jener  Naturphilosophie,  die  aus  dem  Schoofse  des  Idealismus 
emporzusteigen  gedachte,   anstatt   dessen  Vorurtheile   von  sich   zu  werfen. 
Damals  verwirrte  sich  die  ganze   Kunstsprache  der  Philosophie;    und  man 
bildete   sich   ein,    die   Metaphysik    sey    nicht  mehr  nüthig,    während  nichts 
weiter    geschehn  war,    als    dafs   sich    der  vierte  Theil    dieser  Wissenschaft 
(die  Eidolologie)    von   hinten,    wohin    er  gehört,    nach  vorn  gekehrt  hatte. 
Jene  Zeit  des  philosophischen  Tumults  ist  vorüber;   mit  der  Logik  hat  auch 
die    Metaphysik    ihren    alten   Platz    wieder    eingenommen.      So    nothwendig 
aber  schon  deshalb  die  Metaphysik  den  Aerzten  ist,  weil  in  ihr  der  Grund- 
begriff  der  Materie  vestgestellt  wird  (135.):    so  haben    wir  doch    die   Be- 
trachtung  des   Lebens,    worauf  unmittelbar   der  Blick   des  Arztes   gerichtet 
ist,   vorangehn  lassen,    um  ihn  an  die   Begriffe  von  der  geistigen   Regsam- 
keit, welche  der  Psychologie  gehören,    anknüpfen  zu  können.     Darin  liegt 
die  Andeutung,    dafs   Metaphysik    für    sich  allein,    ohne  Psychologie,    dem 
Arzte    so  wenig    als    dem  Juristen    und   Theologen,    wird    nützen    können. 
Das  Leben   ist  das  Mittelglied   zwischen  Materie  und  Geist.     Es  mufs  als 


*  Aber  was  soll  man  von  solchen  Juristen  denken,  die  da  meinen,  man  wolle 
ihnen  durch  Psychologie  das  Schwerdt  der  Gerechtigkeit  aus  der  Hand  winden?  Ver- 
muthlich  sind  sie  bey  solchen  Philosophen  in  der  Schule  gewesen,  die  theoretische  und 
praktische  Philosophie  aus  einem  Princip  hervorwachsen  lassen.  Dann  freylich  ist  die 
Verwirrung  nicht  zu  vermeiden.     Principiis  obsta! 

**  Dafs  hiemit  nicht  den  gewöhnlichen  Ansichten  der  Aerzte,  als  sey  etwa  Seele 
und  Leib  die  doppelte  Erschcinungsfown  Eines  Princips  —  das  Wort  geredet  wird, 
versteht  sich  von  selbst.  In  den  Meinungen  der  Aerzte  spiegelt  sich  die  Zeitphilosophie. 
Ihnen  kann  man  nicht  zumuthen,  dafs  sie  dieselben  verbessern,  und  schärfer  als  die 
Philosophen  untersuchen  sollten. 


tq4  H-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1 . 

verminderter  Geist  in  einer,  über  ihre  chemische  Constitution  erhobenen 
Materie  gedacht  werden.  Die  Verminderung  liegt,  wie  sich  von  selbst 
versteht,  nur  in  dem  Laufe  unseres  Denkens,  indem  wir  von  den  psycho- 
logischen Begriffen,  die  uns  vorher  klar  seyn  müssen,  zu  den  physiologischen 
übergehen;  jedoch  in  der  Voraussetzung,  man  wisse  nun  schon,  was  Materie 
sey,  oder  man  sey  doch  auf  dem  Puncte,  es  zu  erfahren;  denn  Leben 
ohne  Materie  ist  [375]  ein  uneigentlicher  Ausdruck,  so  sehr  üblich  er  auch 
geworden  ist.  Uebrigens  sollen  die,  in  diesem  Buche  gegebenen  Notizen 
von  der  Metaphysik  (welche  Wissenschaft  dem  praktischen  Interesse 
am  wenigsten  zusagt)  keinen  Anspruch  auf  besondere  Aufmerksamkeit  der 
Aerzte  begründen;  eine  blofs  encyklopädische  Darstellung  würde  ihnen, 
selbst  wenn  sie  beträchtlich  weitläufiger  wäre,  nicht  genügen  können. 

Endlich  mögen  alle  drey  obern  Facultäten  sich  selbst  sagen,  dafs 
die  Philosophie  keiner  von  ihnen,  einzeln  genommen,  angehören  kann, 
sondern  ihnen  allen  zugleich  vorarbeiten  mufs.  Und  während  jene  sämmt- 
lich  der  Praxis  zugewendet  sind,  für  welche  sie  ihre  Lehrlinge  bilden 
sollen,  hat  die  Philosophie  noch  andere,  theoretische  Angelegenheiten.  Sie 
mufs  sich  mit  den  Mathematikern  und  Naturforschern  in  Gemeinschaft 
setzen.  Dem  Philosophen  fiel  das  schwere  Loos,  nach  allen  Richtungen 
schauen  zu  müssen,  während  jeder  andre  Gelehrte  seinen  Kreis  so  eng, 
als  ihm  bequem  dünkt,  um  sich  zusammenzieht. 


[376]     Neuntes  Capitel.1 

Rückblicke,   und  Bemerkungen  über   die   Form   der  Philosophie. 

213.      [=   236  der  IL  Ausg.]     Für  das  praktische  Interesse  ist  dies 
Buch    mit    dem  vorigen  Capitel  völlig  geschlossen;    2und  wollte   man  sich 


1  Das  9.  Cap.  der  I.  Ausg.  ist  in  der  II.  Ausg.  10.  Capitel  geworden.  Als 
Neuntes  Capitel  hat  die  II.  Ausg.  den  folgenden  Text : 

Neuntes  Kapitel. 

Von  dem  Verhältnisse   der   allgemeinen   praktischen   Philosophie 
zu  andern   philosophischen  Wissenschaften. 

232.  Die  beiden  angewandten  Theile  der  praktischen  Philosophie, 
nämlich  Politik  und  Pädagogik,  sind  Verbindungen  der  allgemeinen  prak- 
tischen Philosophie  mit  der  Psychologie;  bey  welcher  letztem  die  Er- 
fahrung schon  vorausgesetzt  wird.  Aehnliches  gilt  aber  auch  von  der 
philosophischen  Religionslehre,  die  man  eben  so  füglich  zur  angewandten 
praktischen  Philosophie  als  zur  angewandten  Metaphysik  rechnen  könnte, 
wenn  nicht  letzteres  passender  wäre,  um  die  Betrachtung  eines  Realen  an- 


2  Statt  der  folgenden  Worte:  „und  wollte  man  sich  denken  ....  in  dem 
Worte  Encyklopädie.  Eine  solche",  (n  Zeilen  weiter)  hat  die  II.  Ausgabe: 
und  von  dem,  was  aufser  dem  Kreise  desselben  liegt,  kann  hier  nur  sehr 
Weniges  anhangsweise  berührt  werden.     Eine  Encyklopädie. 


2    Abschnitt.     Methodenlehre.     9.  Capitel.      Rückblicke,  und  Bemerkungen   etc.      305 

denken,  die  Schrift  sey  verwandelt  in  mündliche  Rede,  die  einzelnen  Capitel 
in  eben  so  viele  Vorlesungen  vor  einer  gemischten  Versammlung:  so  liefse 
sich  annehmen,  die  Mehrzahl  der  Zuhörer  habe  sich  nun  entfernt;  ein 
kleines  Häuflein  aber  sey  etwa  noch  zurückgeblieben,  um  sich  mit  kritischen 
Bemerkungen    zu  unterhalten,    welche  natürlich    bey  so  leichten  Vorträgen 


zukündigen.  Hier  wenigstens  können  wir  uns  füglich  erlauben,  die  Religions- 
lehre, nachdem  sie  im  sechsten  Kapitel  als  in  die  Metaphysik  eintretend, 
—  nämlich  so  wie  das  Zweckmäfsige  in  das  blofs  Natürliche  eintritt  — 
bezeichnet  worden,  jetzt  auch  von  einer  andern  Seite  anzusehen;  nämlich 
so,  dafs  zu  vorhandenen  religiösen  Vorstellungsarten  die  praktische  Philo- 
sophie teils  bestätigend,  teils  berichtigend  hinzutrete.  Diese  Betrachtung 
wird  Kirche  und  Staat  berühren;  sie  mag  demjenigen  vorangehn.  was 
weiterhin  von  Politik  und  Pädagogik  soll   erwähnt  werden. 

Bekannt  ist  das  alte:  timor  fecit  Deos;  allein  dies  trifft  nicht  den 
Hauptpunct.  Allgemeiner  ist  die  Neigung,  von  jeder  plötzlichen  Auf- 
regung, nicht  blofs  in  der  Aufsenwelt,  sondern  auch  im  eignen  Innern, 
den  Grund  in  einem  Lebenden  vielmehr  als  im  Todten  zu  suchen.  Und 
nicht  blofs  Bakchus  und  Ceres  traten  an  die  Stelle  des  Weins  und  Ge- 
traides,  sondern  so  oft  sich  der  Mensch  über  eine  Veränderung  seiner 
Gemütslage,  über  einen  plötzlich  in  ihm  aufsteigenden  Gedanken  wunderte, 
eben  so  oft  glaubte  er  sich  von  einer  unsichtbaren  Kraft  berührt;  wovon 
ganz  deutlich  noch  in  den  homerischen  Gedichten  die  Spuren  uns  über- 
all entgegenkommen.  Die  Frömmigkeit  erlaubt  dem  Dichter  nicht,  irgend 
eine  bedeutende  Handlung  einem  Menschen  zuzuschreiben,  wenn  nicht 
eine   Gottheit  innerlich  und  äufserlich  mitwirkt,  ja  den  Anstofs  giebt. 

Dies  vorausgesetzt:  so  konnte  es  nicht  fehlen,  dafs  der  Mensch  nicht 
blofs  fürchtend  und  bittend,  sondern  auch  dankend  sich  demüthigte,  so 
oft,  was  wohl  that  oder  ein  Wehe  abwendete,  ihn  dazu  aufforderte.  Kam 
geselliger  Gemeingeist  hinzu,  so  wurde  der  Dank  wie  die  Bitte  zur  öffent- 
liehen  Handlung;  und  solches  Handeln  wurde  mehr  und  mehr  zur  öffent- 
lichen Sitte,  welche  mancherley  öffentliche  Einrichtungen,  und  hiemit 
Foderungen  an  die  Mitglieder  der  Gesellschaft  nach  sich  zog. 

Dafs  man  hierin  zu  weit  ging,  war  auf  niedern  Stufen  der  Bildung 
natürlich  und  unvermeidlich;  später  mufsten  Rückschritte  erfolgen.  Man 
hatte  Menschenopfer  gebracht;  es  mufste  ausgesprochen  werden,  dafs  die 
Gottheit  keine  Menschenopfer  begehre.  Man  hoffte  noch,  durch  Opfer 
die  Gottheit  zu  gewinnen  und  zu  versöhnen;  es  mufste  ausgesprochen 
werden,  dafs  Sünden  nur  durch  Besserung  aufzuwiegen  seyen,  und  dafs 
die  Vorsehung  nicht  auf  Bitten  warte.  Man  hatte  blofse  Naturerfolge  ver- 
kannt;  es  mufste  klar  werden,   dafs  die  Natur  gesetzmäfsig  wirkt. 

Man  ging  aber  wiederum  andrerseits  zu  weit,  indem  man  in  Allem, 
auch  im  Zweckmäfsigen,  den  blofsen  Mechanismus  vermuthete.  Davon 
ist  oben  gesprochen;  und  wir  brauchen  hier  nicht  noch  den  Übermuth 
zu  tadeln,  welcher  sich  an  die  Stelle  der  frühern  Demüthigung  setzt,  wenn 
der  Mensch,  der  blind  wirkenden  Natur  gegenüber,  nichts  Anderes  als 
sich  und  seinen  eignen  Geist  anerkennen  will. 

Aus  der  Psychologie  soll  man  wissen,   dafs  keinesweges  die  psychischen 

Herbart's  Werke.     IX.  2° 


,q5  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 


mehr  die  Form  als  die  Sache  betreffen,  und  in  Vergleichungen  mit  ander- 
wärts beliebten  Formen  übergehn  würden. 

Dals  nun  der  Verfasser  zurückkehrt,  um  sich  bey  diesen  Herren  noch 

Gesetze  den  Grund  enthalten  können,  weshalb  uns  in  der  äufsem  Natur 
das  Zweckmäfsige  begegnet;  dafs  keinesweges  hier  in  blofsen  Erscheinungen 
ein  Spiegelbild  der  eignen  Vernunft  zu  suchen  ist.  Aus  der  Natur- 
philosophie soll  man  wissen,  dafs  ganz  und  gar  nicht  alles  Leben  sich 
schon  als  Leben  zweckmäfsig  entwickeln  und  gestalten  müsse;  den  Traum 
von  der  Einheit  der  Lebenskraft  in  jedem  Organismus  soll  man  aufgegeben 
haben.  Irrthümer  dieser  Art  unterhalten  den  Übermuth;  und  nur  durch 
bessere  Untersuchung  kann  er  verschwinden. 

Allein  dies  Alles  zeigt,  dafs  Religions-Ansichten  nicht  auf  einmal  vest 
stehen  können,  dafs  sie  vielmehr  mit  dem  Ganzen  des  menschlichen 
Meinens,  Denkens,  Forschens  in  einem  innigen  Zusammenhange  stehen. 
Darum  mufs  man  Geduld  haben,  Nachsicht  üben,  sich  selbst  und  Andern 
Zeit  zur  Überlegung  gönnen.  Man  mufs  Toleranz  üben,  und  sich  nicht 
schämen,   auch  wiederum  Toleranz  anzunehmen. 

Befragen  wir  nun  die  praktische  Philosophie:  so  sagt  sie  uns  sogleich, 
dafs  dem  Wohlwollen  Dank,  dem  höhern  Verdienst  Ehrerbietung  ge- 
bühre; dafs  Dank  und  Demuth  wachsen  müssen,  wie  das  Verdienst  und 
die  Güte  wachsen;  dafs  also  auch  der  Gemeingeist  sich  richtig  äufserte, 
wenn  er  öffentlich  dankte  und  sich  demüthigte  vor  Dem,  welcher  der  Ge- 
sellschaft den  Boden  und  die  ganze  Möglichkeit  ihrer  Existenz  verschaffte. 
So  war  es  nicht  blofs,  sondern  so  ist  es,  so  soll  es  seyn,  und  so  mufs 
es  bleiben.  Zum  Staate  gehört  die  Kirche;  zur  Kirche  gehört  Einheit;1 
nur  darf  diese   Einheit  die  Toleranz  nicht  ausschliefsen. 

Die  Kirche  macht  jedoch  ihrer  Natur  nach  Anspruch,  ohne  Ver- 
gleich gröfser  zu  seyn  als  der  Staat,  auf  dessen  Boden  sie  steht.  Sie 
kann  sich  nicht  begnügen  mit  einem  Nationalgott,  wenn  schon  ihre  Ein- 
richtungen nur  innerhalb  Eines  Staats  und  seines  Machtgebiets  zur  Aus- 
führuno- kommen.  Dieselbe  Verehrung,  welche  sie  dem  Allerhöchsten 
widmet,  gebührt  demselben  überall;  der  Idee  nach  darf  nichts  aufserhalb 
der  Kirche  bleiben. 

Wendet  aber  die  Kirche  Mittel  an,  die  nicht  im  Stande  sind,  die 
Gemüther  zu  vereinigen;  macht  sie  wegen  der  Glaubenspuncte  Bedingungen, 
die  zur  Spaltung  der  Meinungen  führen:  so  entstehen  mehrere  Kirchen 
statt  Einer;  und  jede  derselben  läuft  Gefahr,  kleiner  zu  werden  als  der 
Staat  der  sie  neben  einander  nur  in  so  weit  schützen  kann,  als  sie  sich 
unter  einander  vertragen.  Nun  kommt  unvermeidlich  eine  Unterordnung 
des  geistlichen  Ansehens  unter  die  weltliche  Macht  zum  Vorschein,  welche 
der  religiöse  Gemeingeist  ursprünglich  nicht  kannte.  Kein  Wunder,  wenn 
die  Kirche  fühlt,  dals  sie  in  eine  für  sie  eigentlich  nicht  passende  Stellung 
gerathen  ist.  Die  Frage  nach  dem  Ucbergewicht  hätte  gar  nicht  ver- 
anlafst  werden  sollen;  in  der  ursprünglichen  Neigung  der  Gesellschaft, 
sich  gemeinschaftlich  vor  dem  Allerhöchsten  zu  demüthigen,  liegt  nichts 
von    einem     Unterschiede     zwischen     Kirche     und    Staat;      der    Staat    ist 

1  gehört  die  Einheit  SW. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre,     g.  Capitel.     Rückblicke,    und    Bemerkungen  etc.      307 

von  neuem  Gehör  zu  erbitten,  hat  seinen  Grund  zunächst  in  dem  Worte 
Eticyklopädie.  Eine  solche,  nach  theoretischen  Gesichtspuncten  entworfen, 
würde  ganz  anders  aussehn,  als  dieses  Buch;  sie  würde  aber  dennoch  von 
den  üblich  gewordenen  Formen  weit  abweichen,  und  zwar  deswegen,  weil 

es  selbst,  der  sich  auf  kirchliche  Weise  offenbart.  Selbst  dafs  die  Kirche 
den  Staat  überschreitet,  führt  an  sich  kein  Uebel  herbey;  käme  sonst 
nichts  dazwischen,  so  wäre  einerley  Kirche  in  mehreren  Staaten  nur  wie 
in   mehrern  Exemplaren  vorhanden. 

Und  hiebey  dürfen  wir  nicht  unterlassen,  des  höchst  wohlthätigen 
Einflusses  zu  gedenken,  welchen  die  Kirche,  sofern  sie  in  mehr-ern  Staaten 
Eine  ist,  gegen  den  Streit  der  Staaten  ausübt.  Sie  ist  es  vorzugsweise, 
welche  im  Kriege  zum  Frieden  mahnt,  und  die  Gemüther  zur  Ver- 
söhnung stimmt. 

Eben  so  ist  es  innerhalb  des  Staats  die  Kirche,  welche  das  Drückende 
der  Standesverschiedenheit  mildert. 

Allein  solche  Wohlthaten  vermag  die  Kirche  nur  zu  spenden,  wofern 
sie  sich  hütet,  selbst  ein  Princip  des  Streits  zu  werden.  Will  sie  mehr 
als  ermahnen,  so  wird  sie  beherrscht.   — 

Andre  Ansprüche  macht  die  Kirche  dann,  wenn  sie  mehr  wissen 
will,  als  die  Naturforschung  erreichen  kann.  Wie  oft  wird  man  noch  an 
den  Unterschied  zwischen  Glauben  und  Wissen  erinnern  müssen !  Wie 
schwer  wird  es  gefafst,  dafs  die  Zuversicht  des  Glaubens  wesentlich  ver- 
schieden ist  von  der  Schärfe  einer  Demonstration,  und  dafs  der  Glaube 
an  seine  eigne  Kraft  nicht  glaubt,  wenn  er  die  Demonstration  mit  einer 
Art  von  Eifersucht  betrachtet! 

Der  Glaube  ist  nun  einmal  nicht  Naturwissenschaft;  er  kann  es  und 
soll  es  nicht  seyn.  Ein  supranaturalistischer  Grundzug  liegt  in  ihm,  und 
wird  ihm  willig  zugestanden,  so  lange  er  nicht  Ansprüche  macht  ähnlich 
jenen,  da  er  die  Astronomie  nicht  wollte  neben  sich  aufkommen  lassen. 
Naturphilosophie  und  Psychologie  ziehen  sich,  wie  schon  oben  bemerkt, 
von  selbst  zurück,  wo  sie  im  Gegebenen  eine  Kunst  voraussetzen  müssen, 
die  alle  menschliche  Erklärung  übersteigt.  Alle  Kunst,  die  wir  begreifen, 
setzt  den  Gebrauch  der  Organe  voraus;  alle  Bildung  des  Geistes,  die  wir 
kennen,  geschieht  unter  Bedingung  des  sinnlichen  Wahrnehmens;  für  eine 
Kunst  und  für  eine  geistige  Macht,  die  vom  Organismus  den  ersten  Grund 
enthält,  fehlt  uns  jede  Analogie;  es  ist  unvermeidlich,  hier  bewundernd 
still  zu  stehen  vor  Dem,  der  unendlich  über  uns  ist.  Dies  um  so  mehr, 
wenn  wir  bedenken,  dafs  wir  das  Wirken  solcher  Kunst  nicht  auf  die 
kurze  Spanne  Zeit,  von  der  wir  eine  Geschichte  haben,  auch  nicht  auf 
die  Erde,  die  kein  Vorrecht  vor  andern  Weltkörpern  hat,  beschränkt  er- 
achten durften ;  dafs  vielmehr  eine  Unendlichkeit  offen  liegt,  worin  unser 
Forschen  sich  verlieren  würde.  Verzichtleistung  auf  alles  Erklären  ist  hier 
der  Grundzug  einer  Welt-Ansicht,  die  nicht  mehr  theoretisch,  sondern 
nur  ästhetisch  seyn  kann. 

An  einer  andern  Stelle  aber  behauptet  die  Psychologie  ihre  Rechte. 
Die  Religionslehre  kann  nicht  umhin,  den  Menschen  in  Hinsicht  seiner 
Bestimmung  in   Betracht  zu  ziehen;    und  hier    soll  sie  sich    nicht  mit  un- 

20* 


oq8  II-  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 

überall  in  der  Philosophie  die  Form  dem  Gegenstande  dienen,  und  niemals 
über  ihn  herrschen   soll. 

Gehn    wir  dagegen  zurück    in    den  Anfang    der   neuern  Systeme,  — 
das   heifst,    ins  Jahr   1795,    oder   noch   etwas  früher:    so  finden    wir   dort 


bestimmten  Begriffen  vom  Guten,  nicht  mit  mythischen  Vorstellungsarten 
vom  Bösen  begnügen;  selbst  wenn  solche  zur  blofsen  Ermahnung  passend 
seyn  möchten.  Man  wird  sich  hier  einigen  Unterschied  der  Volkslehre 
von  der  Einsicht  der  Gebildeten  müssen  gefallen  lassen;  denn  für  die 
letztere  kommt  es  darauf  an,  dafs  man  die  Möglichkeit  des  Besserwerdens 
erkenne.  * 

Immerhin  mag  man  nun  auch  die  Einsicht  als  fortschreitend  und 
wachsend  denken;  niemals  wird  solcher  Fortschritt,  solches  Wachsen  in 
irgend  einem  angeblichen  Verhältnisse  zu  jener  Unendlichkeit  des  Un- 
begreiflichen stehen ;  —  immer  wird  in  praktischer  Hinsicht  der  erste  not- 
wendige Grundbestandteil  dieser  Einsicht  in  Demjenigen  liegen,  was  wir 
uns  nur  gemäfs  den  Ideen  der  praktischen  Philosophie  deutlich  machen 
können. 

2 33-  Von  der  Politik  wird  man  wohl  einräumen,  dafs  sie  nicht  füglich 
dabey  stehen  bleiben  könne,  sich  aus  einigen  Rechtsbegriffen  und  historischen 
Reflexionen  zusammenzusetzen;  unser  Zeitalter  strebt,  sie  wissenschaftlich 
zu  construiren.  Vielleicht  wird  man  auch  das  einräumen,  dafs  sie  Jeden, 
der  sich  ihr  zu  nähern  sucht,  in  Versuchung  setzt,  zwischen  zweyerley 
Auffassungen  zu  schwanken;  der  einen,  da  man  sich  in  Gedanken  als 
Lenker  des  Staats  betrachtet,  der  Alles  allein  anzuordnen  hätte,  und  dem 
unbedingte  Folgsamkeit  entgegenkäme;  (etwa  so,  wie  in  alter  Zeit  zuweilen 
ein  weiser  Mann  gebeten  wurde,  Gesetze  zu  geben,  die  man  von  ihm 
annehmen  wolle,  ohne  es  auf  eine  Majorität  ankommen  zu  lassen);  der 
andern,  da  die  ganze  Gesellschaft  als  begriffen  in  Bewegung  erscheint, 
und  es  nun  in  Frage  kommt,  wie  man  die  Gesammtrichtung  erkennen 
werde,  welche  allen  Bewegungen  am  nächsten  entspreche? 

Bleibt  man  bey  der  ersten  Auffassung,  so  merkt  man  keine  besondere 
Schwierigkeit,  die  wissenschaftliche  Gestaltung  der  Politik  anzugeben.  Zu- 
erst sagen  dann  die  praktischen  Ideen:  der  Staat  soll  seyn  eine  Rechts- 
gesellschaft, ein  Lohnsystem,  Verwaltungssystem,  Cultursystem;  ist  er  dies 
Alles,  so  verdient  er  den  Namen  einer  beseelten  Gesellschaft  (2/.).  Ferner 
ist  sehr  leicht  hinzuzusetzen:  alle  Hülfsmittel  und  Einrichtungen,  alles  Zu- 
sammenwirken der  verschiedenen  Stände,  ja  die  Jugendbildung  und  die 
Kirche,  sollen  dahin  zielen,  jene  Ideen  zusammengenommen  zu  realisiren. 
Um  diese  Foderung  auszuführen,  mag  eine  reiche  Erfahrung  und  eine 
grofse  Gelehrsamkeit  nöthig  seyn;  allein  die  Art  der  Ueberlegung  bleibt 
immer  die  nämliche:  sie  sucht  immer  das  Verhältnifs  der  Mittel  und 
Hindernisse  zum  vestgestcllten   Zwecke. 

Aber  die  zweyte  Art  der  Auffassung  gestattet  nicht,  dafs  man  von 
einem  vestgestcllten  Zwecke  ausgehe.  Wie  nun,  wenn  die  Gesellschaft 
jenen  Zweck  entweder  nicht  anerkennt,  nicht  will,  nicht  einmal  recht  be- 


Analytischc  Beleuchtung  d.  Naturr.  u.  d.  Moral,  §    135  — 142. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     9.  Capitel.     Rückblicke,    und  Bemerkungen  etc.      309 

Schellings  erste  Schrift:  über  die  Möglichkeit  einer  Form  der  Philosophie. 
Darin  wird  gleich  Anfangs  eine,  allen  einzelnen  Formen  zum  Grunde 
liegende  Urform,  und  ein  nothwendiger  Zusammenhang  derselben  mit  den 
einzelnen,   von  ihr  abhängigen  Formen,  ohne  Weiteres   [377]  vorausgesetzt. 


©reift,  —  oder  von  einer  Macht  beherrscht  wird,  die  ihr  nicht  erlaubt, 
an  einen  selbstgewollten  Zweck  zu  denken?  Dann  kommen  politische 
Betrachtungen  von  ganz  anderer  Art  zum  Vorschein.  Es  fragt  sich  nun: 
was  ist  vorherzusehen?  was  ist  zu  erwarten,  wofern  die  thätigen  Kräfte 
so  fortwirken,  wie  jetzt?  —  Der  Politiker  wird  nun  froh  seyn,  wenn  er 
mit  Wahrscheinlichkeit  einen  Zeitpunct  von  fern  erblickt,  in  welchem  über- 
haupt nur  irgend  etwas  Zweckmäfsiges  geschehen  könne.  Der  Schmeichler 
hingegen  (sey  es  des  Volks  oder  der  Höheren)  sucht  eben  jetzt  im  Trüben 
zu  fischen;  jeder  gelegene  Augenblick  ist  für  ihn  dieses  Jetzt,  denn  eine 
Zukunft  kennt  er  nicht.     Apres  nous  le  dcluge ! 

Will  man  beiderley  Auffassungen  verbinden,  so  findet  sich,  dafs  die 
erste  nichts  helfen  kann,  wenn  die  zweyte  es  nicht  zuläfst.  Es  scheint 
also,  eine  wissenschaftliche  Politik  werde  für  besondere  Fälle  von  der 
zweyten  ausgehn  müssen;  es  mag  nicht  ganz  überflüssig  seyn,  den  Gang, 
welchen  die  Gedanken  alsdann  nehmen  können,  etwas  näher  zu  be- 
zeichnen. 

Schon  oben  (50.)  ist  die  Unterscheidung  der  Dienenden,  Freyen, 
Angesehenen,  Herrschenden,  berührt  worden.  Der  psychologische  Grund 
dieser  Unterschiede  findet  sich,  wenn  man  den  Druck  beachtet,  welchen 
die  Menschen  (meistens  wegen  streitender  Interessen)  wider  einander  aus- 
üben; und  dieser  Druck  ist  analog  den  Hemmungen  unter  den  Vor- 
stellungen, von  denen  die  Psychologie  zu  reden  hat  (115.)-  Angenommen, 
man  hätte  die  Wirkungen  solches  Drucks  hinreichend  untersucht:  so  würde 
nun  die  Psychologie  daran  erinnern,  dafs  nach  geschehener  Hemmung  die 
Reste  sich  verbinden.  Und  die  Erfahrung  würde  zu  Hülfe  kommen, 
indem  sie  zeigt,  dafs  die  Menschen  sich  aus  vielen  Gründen  eingeladen 
und  selbst  angetrieben  finden,  sich  unter  einander  so  eng  und  so  mannig- 
fach als  möglich  zu  verbinden;  ja  dafs  eigentlich  Keiner  allein  leben  mag 
und  kaum  allein  leben  kann.  Was  sich  dem  Politiker  zur  _  Beobachtung 
darbietet,  das  sind  zwar  Conflicte,  aber  weniger  zwischen  Einzelnen,  viel- 
mehr durchgehends  zwischen  Verbindungen  hier  und  Verbindungen  dort; 
und  die    Kräfte   dieser  Verbindungen    sind   es,    deren   Resultate    er  sucht. 

Blofs  zur  Probe  erwähnen  wir  ferner  die  auffallendsten  aller  Ver- 
bindungen in  ihrem  Gegensatze  gegen  die  mehr  vereinzelten  Menschen; 
nämlich  die  Städte,  gegenüber  den  Landleuten. 

In  den  Städten,  wo  die  Einwohner  sich  fortdauernd  berühren,  treiben, 
unterstützen,  wo  Jeder  sich  am  Andern  mifst,  übt,  reibt,  wo  der  Erwerb 
mannigfaltig,  oft  leicht  ist  und  immer  gehofft  wird,  wo  die  Glückswechsel 
häufig  sind  und  zuweilen  fast  zur  Gewohnheit  werden:  hier  bildet  sich 
der  politische  Geist,  der  immer  zum  Gleichgewicht  strebt,  und  bey  stets 
veränderten  Kräften  es  doch  niemals  erreicht;  der  Geist,  der  die  An- 
gesehenen empor  zu  tragen  pflegt,  doch  manchmal  auch  sie  beneidet, 
beargwöhnt,  herabdrückt,  und  mehr  und  mehr  nach  demokratischer  Gleich- 


3IO  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


Die  Voraussetzung  ist  seitdem  ein  mächtiges  Vorurtheil  geworden.  Jenes 
Ich,  welches  gesetzt  ist,  weil  es  selbst  das  Setzende  ist,  sollte  die  Forde- 
rung erfüllen,  dafs  in  dem  Einen,  obersten  Grundsatze  Form  und  Inhalt 
sich  wechselseitig  begründen;  „die  Form  (sagt  Schelling)  kann  durch  nichts 


heit  trachtet.  Anders  verhält  sich  das  Land,  dessen  Bearbeitung  einen 
gleichförmigen  Kreislauf  von  Geschafften,  und  zu  deren  Besorgung  einen 
gesicherten  äufsern  Zustand  fodert,  wobey  die  Menschen  in  weit  kleinerer 
Anzahl  sich  berühren,  und  die  Distanz  der  grofsen  Gutsherren  von  den 
eigentlichen  Bauern  eben  so  bedeutend  als  beharrlich  ist.  Die  Erfahrung 
lehrt,  dafs,  wo  Neuerungen  versucht  werden,  die  Städte  ihnen  hold,  die 
Landleute  abhold  sind.  Die  Provinzen  aber  bestehen  aus  Städten  und 
dem  Lande;  der  Staat  besteht  aus  Provinzen.  Der  Staatsmann  sieht  den 
verschiedenen  Geist,  der  antreibend  von  einer  Seite,  mäfsigend  und  zu- 
rückhaltend von  der  andern  auf  das  Ganze  wirkt;  mit  Uebergewicht  hier 
oder  dort  nach  den  Umständen, 

Wenn  er  nun  dies,  und  noch  Vieles  von  ähnlichen  Folgen,  wenn 
schon  aus  andern  Gründen,  wahrnimmt:  so  begreift  er,  dafs  seine  Pläne, 
wofern  sie  gelingen  sollen,  in  den  vorhandenen  Trieb  der  Kräfte,  und  in 
die  Resultante  ihrer  Richtungen  hineinpassen  müssen;  und  dafs  er  sich  in 
weit  abweichender  Richtung  zu  bewegen  vergebens  versuchen  würde.  Er 
sieht,  dafs  seine  Fügsamkeit  oft  sogar  die  Bedingung  der  Ruhe,  zuweilen 
das  erste  Erfordernifs  ausmacht,  um  die  schon  gestörte  Ruhe  wieder  her- 
zustellen. Soll  alsdann  seine  Politik  sich  probehaltig  zeigen,  so  mufs 
Menschenkenntnifs  in  ihr  vorherrschen,  das  heifst,  sie  mufs  schon  längst 
(nicht  erst  jetzt)  durch  richtige  psychologische  Ansichten  bestimmt  seyn; 
während  vielleicht  viel  daran  fehlt,  dafs  sie  auf  einen  idealen  Zielpunct 
könnte  gerichtet  werden. 

"Will  man  noch  etwas  weiter  in  die  Psychologie  hineinschauen,  so 
mag  man  der  Reproductionen  gedenken,  die  sich,  wie  im  Einzelnen,  so 
oft  genug  auch  in  der  Gesellschaft  wirksam  erweisen.  Alte  Staaten  haben 
eine  lange  Geschichte;  junge  Staaten  nur  eine  kurze;  aber  diese  wie  jene 
schauen  bey  zweifelhaften  Fällen  in  ihre  Vergangenheit  zurück,  und  finden 
darin,  was  fortzuführen,  was  zu  erneuern,  was  zu  vermeiden  ihnen 
wünschenswerth  scheint.  Es  ist  ein  Unglück,  wenn  die  Vorzeit  keine 
heilsamen  oder  keine  passenden  Beyspiele  darbietet;  es  ist  ein  grofser 
Vortheil,  wenn  es  Denkmale  der  Vergangenheit  giebt,  wohin  Aller  Augen 
sich   richten. 

Je  mehr  aber  alle  Ueberlegung  darin  zusammenläuft,  dafs  psychische 
Gesetze  den  Gang  der  menschlichen  Angelegenheiten  oft  nur  zu  streng 
beherrschen :  desto  mehr  wird  der  Staatsmann  zu  vermeiden  suchen,  was 
ihre  Gewalt  noch  vermehren  könnte.  Insbesondre  also  wird  er  'verhüten, 
dafs  nicht  die  Willkühr  der  Menge  sich  noch  mehr,  noch  zügelloser  und 
ungestümer  als  schon  geschehen,  erhebe;  sich  noch  eigensinniger  an  die 
Stelle  sittlicher  Beurtheilung  dränge.  Konnten  praktische  Ideen  nicht 
das  Ziel  setzen,  so  mufs  Beschämung  der  Willkühr  wenigstens  das  Uebel 
mildern;  und  niemals  darf  ein  Zustand  gepriesen  werden,  worin  die 
Majorität  der  Stimmen   das  höchste  Gesetz,    die  oftmals   bessere  Minorität 


Abschnitt.     Methodenlehre.     9.  Capitel.     Rückblicke,    und  Bemerkungen   etc.      ?n 


anderes,  als  durch  das  Ich,  und  das  Ich  selbst  nur  durch  die  Form  ge- 
geben seyn."  Eben  dieses  idealistische  Ich,  welches  zu  seiner  Zeit  das 
von  Reinhold  angeregte  Streben  nach  einer  bessern  Form  der  Kantischen 
Philosophie    (deren    Inhalt    dadurch    nur    bestätigt    und    bekräftigt   werden 


aber  blofs  darum,  weil  sie  Minorität  ist,  zu  schweigendem  Gehorsam  ver- 
wiesen wird.  Je  gröfser  die  Menge  Derer  ist,  welche  sprechen:  stat  pro 
}-atione  volunias,   desto   schlechter  ist  der  öffentliche  Zustand. 

234.  Dafs  Politik  und  Pädagogik  stammverwandt  sind,  braucht  kaum 
noch  gesagt  zu  werden.  Einerley  praktische  Philosophie  zeigt  beiden  das 
Ziel;  einerley  Psychologie  beiden  die  Mittel  und  Hindernisse;  ohne  prak- 
tische Philosophie  und  Psychologie  sind  beide  nichts  als  Routine,  die, 
wenn  auch  grofsen  und  genialen  Künstlern  nachgeahmt,  sich  doch  nicht 
zu  allgemeiner  Wissenschaft  erhebt.  Aber  auch  jene  zwiefache  Auffassung, 
da  sich  der  Staatsmann  bald  als  allvermögenden  Lenker  des  Staats,  bald 
als  blofsen  Beobachter  dessen,  was  ohne  ihn,  und  unbekümmert  um  ihn, 
durch  die  vorhandenen,  in  Wirksamkeit  schon  begriffenen  Kräfte  geschieht 
und  geschehen  wird,  betrachtet,  —  diese  Verschiedenheit  des  Gesichtspuncts 
kann  auch  der  praktische  Erzieher  nicht  abweisen.  Daher  mufs  die  Wissen- 
schaft einerseits  ein  hohes  Ziel  aufstecken,  und  alles  Thun  als  dorthin 
gerichtet  bezeichnen;  andrerseits  bekennen,  dafs  sehr  oft  das  Mögliche 
viel  mehr,  als  das  was  seyn  soll,  in  Frage  kommt,  damit  die  Beobachtung 
lehre,  was  man  thun  könne,  und  was  man  dagegen  nicht  unternehmen 
solle,   um  nicht  die  Zeit  zu  verderben. 

Indessen  bey  allem  Parallelismus  zwischen  Politik  und  Pädagogik 
läfst  sich  doch  auch  ihre  bedeutende  Verschiedenheit  nicht  verkennen. 
Zwar  der  Erzieher  regiert  im  Kleinen  und  Kleinsten,  der  Staatsmann  im 
Grofsen  und  im  Gröfsten;  allein  die  Regierung  hat  das  Gegenwärtige  im 
Auge ;  wenn  nun  dies  dem v  Staatsmann  viel,  dem  Erzieher  weit  weniger 
Sorge  macht,  so  liegt  der  Grund  nicht  blofs  in  dem  verschiedenen  Um- 
fange eines  sehr  grofsen,  und  des  andern  ohne  Vergleich  kleinern  Wir- 
kungskreises, sondern  die  pädagogische  Thätigkeit  hat  auch,  ihrem  gröfsern 
Theile  nach,  eine  andre  Richtung.  Zwar  beide  haben  aufser  der  Gegen- 
wart, die  ihren  Blick  nicht  beschränkt,  auch  die  entfernte  Zukunft  zu  be- 
denken; allein  der  Staatsmann  weifs,  dafs  auch  die  kommenden  Jahre  und 
Jahrhunderte  ihre  Staatsmänner  haben  werden;  hingegen  die  Erziehung 
hört  irgend  einmal  auf,  und  was  in  reifern  Jahren  der  Zögling  aus  sich 
selbst  machen  werde,  machen  könne,  eben  dies  soll  durch  die  Erziehung 
vorbereitet  seyn.  Dazu  dient  vorzugsweise  der  Unterricht,  welcher  den 
Gedankenkreis  des  Zöglings  ordnet  und  bereichert.  Die  Politik  wird  hiezu 
kaum  ein  passendes  Seitenstück  aufweisen  können  und  wollen;  der  Ge- 
dankenkreis ganzer  Staaten  ist  eines  höhern  Bildungsprocesses,  als  dafs 
Jemand  denselben  planmäfsig  vorzeichnen  könnte.  Daher  überwiegt  nicht 
für  die   Politik,    wohl  aber  für  die   Pädagogik,    die  Sorge    um   die  Zukunft. 

Dies  nun  wurde  in  früherer  Zeit  von  den  Pädagogen  nicht  gehörig 
erkannt.  Darum  galt  entweder  die  Zucht  mehr  als  der  Unterricht  — 
und  dabey  wurde  sie  mit  der  Regierung  der  Kinder  vermengt  und  ver- 
wechselt,   —    oder    den    Unterricht    behandelte    man    als    eine    Sache    des 


7.12  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.     183 1. 


sollte)  und  nach  dem  obersten,  herrschenden  Grundsatze  aller  philo- 
sophischen Disciplinen,  zu  befriedigen  bestimmt  war:  dieses  Ich  hat  sich 
späterhin  nicht  nur  in  Schellings  Absolutes  und  in  Hegels  Idee  verwandelt, 
sondern  überall  seinen   Einflufs  in  den  Systemen  geäufsert,  und  Ansprüche 


Wissens  viel  mehr  als  der  Bildung.  So  lange  die  Psychologie  an  den 
sogenannten  Seelenvermögen  klebte,  konnte  sie  nicht  viel  dagegen  aus- 
richten. Ihr  zufolge  hätte  man  diese  Seelenvermögen  in  die  Schule 
nehmen  müssen;  danach  konnte  man  Bücher  abtheilen,  aber  nicht  eine 
wirkliche  Praxis  anordnen. 

Vergleicht  man  nun,  was  über  Politik  und  Pädagogik  gesagt  worden, 
mit  dem,  was  oben  über  Religionslehre  zu  bemerken  war,  so  ergiebt  sich 
eine  ganz  verschiedene  Stellung  der  Psychologie  zur  praktischen  Philo- 
sophie. Bey  der  Religionslehre  hat  die  Psychologie  zunächst  nur  die 
religiösen  Vorstellungsarten  zu  beleuchten;  die  praktische  Philosophie  da- 
gegen, in  Verbindung  mit  der  Naturbetrachtung,  kommt  bestätigend  und 
berichtigend  hinzu.  Anders  gestaltet  sich  das  Verfahren  dort,  wo  zuerst 
die  Ideen  den  Zielpunct  vestsetzen,  der  entweder  soll  erreicht  oder  doch 
so  wenig  als  'möglich  verfehlt  werden.  Da  tritt  die  praktische  Philosophie 
voran;  die  Psychologie,  welche  bey  der  Religionslehre  sehr  bald  in  den 
Hintergrund  zurückweicht,  erbietet  sich  für  Politik  und  Pädagogik  zum 
Dienst;  und  es  findet  sich,  dafs  sie  mehr,  als  man  wünschen  möchte,  zu 
leisten  hat,  wenn  Umstände  der  wirklichen  Welt,  wie  sie  vorzukommen 
pflegen,  das  Streben  nach  Idealen  nicht  begünstigen.  So  leicht  diese  Be- 
merkung ist,  so  kann  sie  doch  einigen  Nutzen  haben,  indem  sie  von 
neuem  an  das  längst  zuvor  Gesagte  erinnert,  dafs  nämlich  sorgfältig  ver- 
hütet werden  mufs,  einerley  Verfahren  in  verschiedenen  Wissenschaften 
zuzulassen,  deren  jede  ihren  eignen  methodischen  Forderungen  zu  ent- 
sprechen sich  zur  Pflicht  machen  soll. 

235.  Es  bleibt  noch  übrig,  von  dem  Verhältnifs  der  praktischen 
Philosophie  zur  Metaphysik,  und  zu  dem,  was  man  gewöhnlich  Aesthetik 
nennt  —  die  Lehre  von  den  schönen  Künsten,  —  etwas  beyzulügen. 
Von  dem  Letzten  fangen  wir  an;  das  Erste  ergiebt  sich  dann  leicht  von 
selbst. 

Die  praktische  Philosophie  ist  selbst  ein  Theil  der  Aesthetik,  wenn 
dieser  Ausdruck  den  Umfang  für  seine  Bedeutung  gewinnt,  welcher  ihm 
wissenschaftlich  zukommt.  Um  dies  leicht  einzusehn,  überlege  man  vor- 
läufig die  Mannigfaltigkeit  der  schönen  Künste.  Wer  diese  von  der  Seite 
ihrer  Ausübung  und  der  damit  zusammenhängenden  Lebensweise  der 
Künstler  betrachtet,  der  wird  kaum  begreifen,  wie  so  vielerley  Verschiedenes 
dazu  komme,  von  einerley  Wissenschaft,  die  man  Aesthetik  nennt,  ge- 
leitet zu  werden.  Oder  was  hat  denn  das  Thun  der  Maler,  die"  an  der 
Staffeley  sitzen,  der  Architekten,  welche  auf  den  Baugerüsten  wandern 
und  klettern,  der  Musiker,  welche  blasen  und  geigen,  der  Dichter,  welche 
bequem  lustwandeln  oder  schreiben,  —  mit  einander  gemein?  Etwa  einer- 
ley Idee  des  Schönen?  Man  zeige  diese  Idee,  und  man  weise  sie  nach 
als  die  nämliche  in  Farben,  Figuren,  Gebäuden,  Tönen,  in  den  durch 
Worte  dargestellten  Phantasieen.     So    lange  man  einerley   Gutes  statt  der 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.      9.  Capitel.     Rückblicke,   und  Bemerkungen   etc.      ?i? 

an   eine  Systematik  erzeugt,    die,    wie    ein   Irrlicht,    Jedem   vorschwebt  und 
sich  von   Niemandem  erreichen  läfst. 

Solche,    von  Einem  Puncte  ausgehende,    mit  drey    oder  vier  Strahlen 
sich    verbreitende,    und    aus    jedem    Strahle    wiederum    baumähnlich    fort- 


fünf  praktischen  Ideen  suchte,  mochte  man  allenfalls  auch  nach  einerley 
Schönheit  in  gänzlich  heterogenen  Gegenständen  suchen;  wir  können  uns 
auf  diese  Träumerey  weiter  nicht  einlassen.  Das  aber  ist  richtig,  dafs 
überall  das  Schöne  in  Verhältnissen  liegt;  eben  darum  läfst  der  eine  Name 
Aesthetik  sich  rechtfertigen;  und  wieder  eben  darum  gehören  die  prak- 
tischen Ideen,  die  sich  auf  Willens-  Verhältnisse  beziehen,  zur  Aesthetik. 
Wenn  nun  eine  allgemeine  Aesthetik,  wie  sie  soll,  die  sämmtlichen 
Grundverhältnisse,  welche  Beyfall  oder  Misfallen  ursprünglich  erwecken, 
sammt  demjenigen,  was  sich  noch  ohne  Rücksicht  auf  den  künstlerisch  zu 
behandelnden  Stoff  aus  ihnen  ableiten  läfst,  zusammenstellte:  so  würden 
sich  die  praktischen  Ideen  vergleichen  lassen  mit  den  übrigen  Grund- 
verhältnissen; und  man  würde  Aehnliches  und  Abweichendes  leicht  er- 
kennen. So  viel  aber  ist  von  selbst  klar,  dafs  die  praktischen  Ideen  nicht 
zum  successiven,  sondern  zu  dem,  weit  einfachem,  simultanen  Aesthe- 
tischen  gehören;  dafs  man  sie  eher  harmonisch  und  disharmonisch  als 
melodisch  nennen  kann;  dafs  sie  sich  aber  mit  dem,  was  auf  räumliche 
oder  zeitliche  Weise  schön  oder  häfslich  ist,  nur  sehr  entfernt  vergleichen 
lassen.  Denn  das  räumliche  Schöne  erscheint  zwar  auch  simultan;  dennoch 
ist  die  Auffassung  desselben  nicht  frey  von  Succession,  wie  die  Psychologie 
von  aller  Raum-Auffassung  darthut.  Bey  krummen  Linien  verweilt  der 
Blick;  gerade  Linien  schnellen  ihn  fort;  in  verwickelten  Figuren  findet 
er  Arbeit;  mit  dem  Einförmigen  ist  er  bald  fertig;  alles  dies  deutet  auf 
Succession;  und  bey  schönen  Gegenständen  liegt  in  der  Einladung  zu 
mannigfaltigem  Hin-  und  Herwandeln  des  Auges  etwas  Aehnliches,  wie 
in  Spielen,  die  ebenfalls  mehr  oder  weniger  einen  ästhetischen  Charakter 
an  sich  tragen,  obgleich  sie  nicht  selbst  Kunstwerke,  sondern  eben  nur 
Einladungen  sind,  etwas  Kunstreiches  zu  thun.  Dieser  Zweig  des  Aesthe- 
tischen,  der  sich  dem  Spiele  nähert,  weicht  am  weitesten  ab  von  dem 
Ernste  des  Sittlichen;  allein  er  ist  weder  der  einzige  noch  der  vor- 
herrschende; und  man  mufs  das  weite  Gebiet  der  Aesthetik  sehr  schlecht 
kennen,  um  ihn  dafür  zu  halten.  Die  Künste  selbst  verstehn  recht  gut, 
streng  zu  seyn;  nur  die  Poesie  ist  bisher  noch  so  unvollständig  durch- 
dacht, dafs  es  scheint,  für  sie  sey  keine  Schule  möglich.  Seltsam,  dafs 
es  Kritik  geben  soll,  wo  keine  Schule,  also  keine  vesten  Grundsätze  an- 
erkannt sind.  Danach  läfst  sich  das  Ganze  der  Aesthetik  nicht  beur- 
theilen;  die  Poesie  selbst  ist  etwas  so  Vielfaches  und  Verschiedenartiges, 
dafs  man  ihr  grofses  Unrecht  thäte,  wenn  man  ihr,  weil  sie  spielen  kann, 
den  Ernst,  —  und  weil  sie  ihrer  Regeln1  sich  wenig  bewufst  ist,  die 
Regel mäfsigkeit  abspräche.  Wo  sie  die  Regel  kennt,  da  pflegt  sie  dieselbe 
nicht  gering  zu  schätzen.  Sie  legt  sich  selbst  gern  die  Fesseln  des  Sylben- 
maafses  an,  und  mag  nicht  als  poetische  Prosa  erscheinen. 


1  „Regelmäfsigkeit"  statt  „Regeln"  SW. 


,I;,  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

wachsende  Systematik  ist  nun  weder  in  dieser,  noch  in  irgend  einer  von 
den  Schriften  des  Verfassers  auch  nur  versuchsweise  zu  finden;  und  zwar 
deswegen,  weil  sie  zugleich  mit  dem  idealistischen  Ich  in  die  Verbannung 
mufs  geschickt  werden. 

Alles  Reden  von  der  Möglichkeit  einer  Form,  bevor  man  den  Inhalt 
kennt  und  reiflich  erwogen  hat,  ist  blofs  eine  Vorbereitung,  um  Luft- 
schlösser zu  bauen.  Die  Philosophie  ist  dadurch  nicht  erbaut,  sondern 
in  allen  ihren  Disciplinen  von  Grund  aus  erschüttert  worden.  Das  sollte 
man  nun  endlich  aus  dem  Erfolge  gelernt  haben;  wenn  man  es  nicht 
voraus  gesehen  hatte. 

214.  [=  237  der  IL  Ausg.]  Der  rein  theoretische  Vortrag,  welcher 
jetzt  noch  soll  nach  allgemeinen  Gesichtspuncten  über  das  Verfahren  in 
der  Philosophie,  und  über  die  daraus  entstehende  Form,  —  also  über 
philosophische  Kunst,  —  gehalten  werden,  mufs,  wie  [378]  überall  in 
diesem  Buche,  vom  Leichtern  anfangen,  und  zum  Schwerern  fortschreiten; 
dabev  aber  auf  frühere  Schriften  verweisen.  rEs  wird  scheinen,  als  ob 
wir  von  hinten  anfingen. 

Aus  der  Logik*  soll  die  Lehre  von  den  Classificationen  bekannt 
seyn.  Sie  setzt  voraus,  es  seyen  mehrere  Reihen  von  Begriffen  gegeben. 
Wenn  eine  Menge  von  Gegenständen  vorliegt,  deren  Classification  man 
sucht:  so  finden  sich  allemal  die  Begriffsreihen,  indem  die  Merkmale  der 
Gegenstände  geordnet  werden.  Der  Botaniker  findet  sie  in  den  Pflanzen, 
der  Mineral og  in  den  Fossilien,  der  Grammatiker  in  den  Sprachformen, 
u.  s.  w.  Das  Geschäft  des  Classificierens  beginnt  da,  wo  die  Reihen  der 
Merkmale  welche  durch  Abstraction  gesondert  waren,  nunmehr  durch  Deter- 
mination wieder  verbunden  werden  sollen.  Hier  entsteht  gewöhnlich  die 
Einseitigkeit,  dafs  nur  einige  wenige  von  den  Formen,    welche   die  Deter- 


Wäre  nun  die  praktische  Philosophie  ein  Baum;  so  könnte  man 
sagen,  dieser  Baum  wurzelt  im  ästhetischen  Boden,  wo  es  neben  ihm 
mancherley  anderes  kleineres  Gewächs  giebt;  aber  seine  Zweige  hängen 
hinüber  in  ein  benachbartes  Gebiet,  nämlich  in  das  psychologische,  welches 
mit  einem  allgemeinem  Namen  auch  das  metaphysische  heifst.  Dies 
Gleichnifs  bedarf  keiner  weitern  Erklärung.  Jedermann  weifs,  dafs,  wo 
es  gilt  zu  handeln,  nicht  blofs  Ideen  in  Frage  kommen,  sondern  auch  die 
Natur  des  Menschen  und  der  Dinge.  Wir  wollen  also  nicht  die  prak- 
tische Philosophie  von  der  Metaphysik  losreifsen,  indem  wir  ihre  Principien 
trennen;  es  kommt  nur  darauf  an,  dafs  man  die  Methoden  sondere,  also 
nicht  Widersprüche,  an  denen  die  Metaphysik  ihre  Arbeit  findet,  in  die 
praktische  Philosophie  hinein  versetze,  und  nicht  ästhetische  Urtheile, 
welche  bestimmen  was  seyn  solle,  zu  Kriterien  dessen  mache  was  seyn 
kann   und   seyn  mufs. 

1  Statt  des  folgenden  Satzes  „Es  wird  scheinen  ....  anfingen"  hat  die 
II.  Ausg.    Das  Leichteste  ist  die  Logik;  und  sie  soll  nicht  ganz  übergangen 

werden. a 

*  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie,  §  48.     [Bd.  IV  vorl.  Ausg.] 

a   SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     9.  Capitel.     Rückblicke,    und  Bemerkungen    etc.      ?  t  c 

mination  annehmen  kann,  bemerkt,  und  wohl  gar  streitend1  einander 
gegenüber  gestellt  werden;  während  das  Geschafft  seiner  Natur  nach  com- 
binatorisch2  ist,  und,  wenn  es  ganz  vollzogen  wird,  eine  grofse  Menge 
möglicher  Classificationen  zur  Auswahl   darbietet. 

Will  man  die  angewandten  Theile  der  Philosophie  bis  ins  Einzelne 
durchführen:  so  giebt  es  auch  in  ihnen  mancherley  Begriffsreihen,  die 
combinatorisch  in  einander  greifen.  Das  ausgeführteste  Beyspiel  dieser 
Art  findet  sich  in  der  Pädagogik,  wo  die  Hauptklassen  des  Interesse, 
welche  oben  (83.)  angeführt  sind,  mit  den  formalen  Grundbestimmungen 
der  Lehrkunst  verbunden  werden.*  Man  könnte  sich  hier  ein  Beyspiel 
schaffen,  wenn  man  die  Reihe  der  praktischen  Ideen  (27.)  mit  den  Prin- 
cipien  des  Rückgangs  und  Fortgangs  (7  und  151.)  in  Verbindung  setzen 
wollte.  Dabey  würden  aber  noch  andre  Reihen  mit  einzuflechten  seyn. 
Die  Andeu[379]tung  davon  findet  man  in  den  letzten  Capiteln  der  prak- 
tischen Philosophie**,  deren  Form  noth wendig  auf  dieser  Methode  beruht. 

Der  Vortrag  nach  dem  combinatorischen  Schema  wird  aber  allemal 
beschwerlich.  Die  Systematik  soll  hier  nicht  etwa  ihre  Schwingen  glanz- 
voll aus  einander  breiten;  sondern  sie  soll  dem  Schriftsteller  einerseits, 
dem  Leser  andrerseits  zur  Leitung  dienen,  um  im  Stillen  alle  Verbindungen 
zu  überschauen,  und  die  wichtigsten  auszuheben,  falsche  Formen  der 
Untersuchung  aber,  die  sich  ohne  sie  leicht  einschleichen  würden,  zu  verhüten. 

215.  [=  238  der  IL  Ausg.]  Wie  nun  hier  die  Logik  auf  gleiche 
Weise  die  Reihen  der  Begriffe  verbinden  lehrt,  gleichviel  ob  von  empirischen, 
oder  ethischen,  öder  metaphysischen  Begriffen  die  Rede  sey:  so  gleichgültig 
ist  sie  überhaupt  gegen   den  Ursprung  und  gegen  den  Werth  der  Begriffe. 

Sie  selbst,  die  Logik,  hat  ihren  Sitz  nicht  im  Ich,  nicht  im  Absoluten, 
nicht  in  irgend  einer  Idee;  sondern  sie  wird  Bedürfnis,  wo  man  über 
Begriffe  streitet,  und  erzeugt  sich  aus  den  dabey  entstehenden  Bemerkungen 
über  das  Verhältnifs  und  die  mögliche  Verbindung  der  Begriffe.  Nun 
streitet  man  aber  nicht  etwa  blofs  und  allein  in  den  Schulen  der  Philo- 
sophen, sondern  man  streitet  auch  in  den  Gerichtshöfen,  und  bey  allen 
öffentlichen  Verhandlungen.  Man  stritt  in  Athen,  in  Rom;  man  streitet 
in  London,  in  Paris.  Dort  braucht  man  bestimmte  Begriffe;  dort  fällt 
man  Urtheile;  dort  zieht  man  Schlüsse.  Dafs  manches  in  diesen  Ge- 
schafften besser  gelingen  würde,  wenn  man  Ethik  und  Metaphysik  dazu 
mitbrächte,  mag  seyn;  aber  noch  weit  gewisser  ist's,  dafs  es  ungleich  besser 
gehn  würde,  wenn  die  empirische  Kenntnifs  der  Dinge,  die  man  behandelt, 
vollständig  vorläge.  Daraus  wird  aber  Niemand  schliefsen,  die  Logik  hänge 
von  der  Erfahrung  ab.  Eben  so  wenig  nun  gründet  sie  sich  auf  Ethik 
oder  Metaphysik;  und  es  ist  lediglich  ein  Misgriff  falscher  Syste-[38o] 
matik,    die    Logik,    die    seit   zweytausend  Jahren    da    ist,    an    Streitpuncte 


2  nur  combinatorisch  II.  Ausg.  statt  combinatorisch.  a 
*   Pädagogik,  im  fünften   Capitel  des  zweyten  Buchs.      [Bd.   II  vorl.    Ausg.] 
**  Praktische   Philosophie,    im    achten,    neunten,    zehnten    und   elften    Capitel    des 
zweyten  Buchs.     [Bd.  II  vorl    Ausg.]  

1  „streitend"  fehlt  SW. 

a   SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


,j6  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 


heutiger  Schulen  knüpfen  zu  wollen,  um  welche  die  Mathematiker  sich  so 
wenig  kümmern,  als  die  Staatsmänner.  Die  Reflexion  des  Logikers  irrt 
von  ihrem  Gegenstande  ab,  wenn  sie,  statt  des  Begriffs,  den  Begreifenden 
ins  Auge  fafst,  dessen  Person  und  Ursprung  sie  in  keinem  möglichen 
Sinne  etwas  angeht,  sondern  den  sie  gerade  bey  Seite  setzen  soll. 

216.  [=  239  der  II.  Ausg.]  Die  nähere  Betrachtung  der  logischen 
Formen  wird  uns  nun  zuerst  auf  den  Unterschied  des  philosophischen 
und  des  mathematischen  Forschens  führen,  womit  die  Forderung  einer 
anschauenden,  statt  einer  discursiven  Erkenntnifs,  die  man  oft  gemacht,  aber 
schlecht  entwickelt  hat,   auf's  engste  verbunden  ist. 

Die  Trennung  der  kategorischen  von  den  hypothetischen  Urtheilen 
war  ein  Grundirrthum 1  der  Logik,  2  welcher  zuerst  fortgeschafft  werden 
mufste,    wenn   über   den  erwähnten  Unterschied    ein  Licht   aufgehn   sollte. 

Alle,  der  Sprachform  nach  kategorischen  Urtheile,  sind  ihrer  logischen 
Natur  nach  hypothetisch.  Der  Satz:  A  ist  B,  heifst  nichts  anders,  als: 
zuenn  der  Begriff  A  gedacht  wird,   so  kommt  ihm   das  Prädicat  B  zu.* 

Hiebey  versteht  sich  von  selbst,  dafs  auch  der  disjunctive  Satz: 
A  ist  entweder  B  oder  C,  nichts  anderes  heifst,  als:  Wenn  A  gedacht 
wird,   so  kommt  ihm   B  zu,    wenn  nicht  C,   und  C,   ivenn  nicht  B. 

Dies  vorausgesetzt:  so  sieht  man,  dafs  allen  Lehren,  denen  die  Ur- 
theilsform  wesentlich  ist,  eine  hypothetische  Natur  anklebt;  und  dafs  um- 
gekehrt diejenigen  Forschungen,  zuelche  die  hypothetische  Beschaffetiheit  nicht 
ertragen,   auch  nicht  ursprünglich  auf  Urtheile  gerichtet  werden  dürfen. 

Nun  ist  aber  die  ganze  reine  Mathematik  ihrem  Wesen  nach  hypo- 
thetisch. Wenn  eine  gewisse  Construction  A  (Kreis,  [38 ij  Dreyeck, 
Gleichung,  Differential,  u.  dgl.  m.)  gemacht  ist:  so  kommt  ihr  das  Merk- 
mal B  zu.  Wenn  ein  rechtwinklichtes  Dreyeck  gedacht  wird,  so  gilt  der 
Pythagoräische  Lehrsatz.  Wenn  eine  kubische  Gleichung  aufgesetzt  wird, 
so  hat  sie  entweder  eine  oder  drey  mögliche  Wurzeln,  u.  s.  w. 

Die  Construction  selbst  ist  hier  niemals  eine  Erkenntnifs,  sondern 
nur  das  Urtheil  ist  eine  solche. 

In  der  altern  Metaphysik  der  Schulen  wurde  diese  Form  von  Be- 
griffen, die  man  definirte,  als  ob  man  sie  gleich  den  mathematischen  be- 
liebig construirt  hätte,  und  von  Urtheilen,  als  ob  es  nur  nöthig  wäre, 
der  Construction  einige  neue  Bestimmungen  zu  geben,  den  Mathe- 
matikern nachgeahmt.  3Das  war  in  formaler  Hinsicht  der  Grund  ihres 
Verderbens. 

1  Irrthum  statt  „Grundirrthum"  II.  Ausg.  * 

2  Die   folgenden    Worte:     „welcher    zuerst    fortgeschafft    ....    aufgehn 

sollte"    fehlen  in  der  II.  Ausg. 

*  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie,  §  53.     [Bd.  IV  vorl.  Aus.g.] 

3  Statt  der  folgenden  zwei  Sätze :  „Das  war  in  formaler  ....  eine  an- 
schauende   forderte"   hat  die  II.  Ausg.: 

In  neuerer  Zeit  wurde,  um  diesen  Fehler  zu  vermeiden,  statt  der 
discursiven  Erkenntnifs  durch  Urtheile  und  Syllogismen,  eine  anschauende 
gefedert.     Aber 

a   S\V  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     9.  Capitel.     Rückblicke,    und  Bemerkungen    etc.      2  17 

Aber  es  war  eben  so  verkehrt,  als  man  in  neuerer  Zeit,  um  diesen 
Fehler  zu  vermeiden,  statt  der  discursiven  Erkenntnifs  durch  Urtheile  und 
Syllogismen,  eine  anschauende  forderte.  Anschauungen  können  rvir  nicht 
machen.  Dagegen  haben  wir  Anschauungen;  und  diese  Anschauungen 
würden,  blofs  theoretisch  betrachtet,  uns  genügen,  wenn  die  Begriffe,  worin 
sie  nach  Beyseitsetzung  der  zufälligen  Zeitlichkeit  des  Empfindens  und  Re- 
producirens  sich  verwandeln,  als  Begriffe  genügen  könnten.  Dies  ver- 
hindern die  Widersprüche,  die  in  ihnen  liegen  (177.).  Und  aus  diesem 
■einzigen  Grunde  giebt  es  eine  Metaphysik  als  theoretische  Wissenschaft. 
Die  Forschungen,  wodurch  sie  zu  Stande  kommt,  richten  sich  weder  auf 
Urtheile,  noch  auf  Anschauungen,  sondern  auf  verbesserte  Begriffe,  als  auf 
ihren  Zielpunct. 

Was  die  praktische  Philosophie  anlangt:  so  ist  sie  zwar  der  Meta- 
physik im  höchsten  Grade  unähnlich;  schon  deshalb,  weil  sie  nicht  von 
der  Erfahrung  ausgeht,  sondern  in  Vorschriften  für  eine  künftige  Er- 
fahrung durch  den  Begriff  des  Sollens  übergeht.  Dennoch  trifft  sie,  was 
die  logische  Form  ihrer  ersten  Hauptgegenstände  anlangt,  einigermafsen 
mit  der  Metaphysik  zusammen.  Sie  sucht  zwar  Urtheile;  aber  nicht  durch 
Schlüsse.  Sie  sucht  ästhetische  Urtheile  über  den  Willen.  Das  heifst, 
zu  den  Prädicaten  löblich  und  schändlich1  [382]  sucht  sie  die  Subjecte; 
nämlich  Bilder  des  Willens,  worin  er  gelobt  oder  getadelt  werde.  Diese 
Subjecte,  blofs  für  sich,  und  theoretisch  betrachtet,  sind  Begriffe.  Erst 
das  ästhetische  Urtheil  erhebt  sie  zu  Ideen.  Aber  das  ästhetische  Urtheil 
wird  nicht  gesucht,  sondern  es  kommt  ganz  von  selbst,  sobald  man  seine 
Gegenstände  gefunden  hat.  Die  Technik  des  methodischen  Verfahrens, 
wovon  (153.)  gesprochen  worden,  bezieht  sich  blofs  auf  das  Finden  der 
Reihe  von  Verhältnissen,  worin  der  Wille  gedacht  werden  inufs ,  um 
Gegenstand  des  ästhetischen  Urtheils  zu  seyn.  Die  Begriffe  dieser  Ver- 
hältnisse sind  das  Gesuchte.  Also  auch  hier  ist  die  discursive  Erkenntnifs 
und  Forschungsweise  des  Mathematikers  weit  entfernt. 

Dafs  nun  dennoch  der  Vortrag  in  der  Form  von  Sätzen,  also  von 
Urtheilen,  fortschreitet,  ist  die  Wirkung  der  Sprache,  welche  beständig  den 
Gedanken  Gewalt  anthut,  sobald  man  sie  mittheilen  will.  Eben  so  ver- 
wandelt sich  die  Anschauung  eines  Zeugen  in  Beschreibung;  aber  die 
logische  Form  der  Beschreibung  ist  nicht  die  Form  des  Bildes,  welches 
ihm  von  den  beobachtenden  Dingen  und  Ereignissen  innerlich  vorschwebt. 
Der  Leser  eines  philosophischen  Buches  ist  niemals  eher  mit  dem  Buche 
fertig,  als  bis  er  die  Sprachform  vergessen  hat;  so  wie  mit  Beschreibungen 
der  "Leser  nicht  eher  fertig  ist,  als  bis  er  das  Bild  des  beschriebenen 
Gegenstandes  innerlich  anschaut. 

Sowohl  die  verbesserten  metaphysischen  Begriffe  mit  ihren  mannig- 
faltigen Beziehungen,  als  die  praktischen  Ideen,  schweben  dem  Denker, 
indem  er  sie  anhaltend  betrachtet,  so  vor,  als  wären  sie  anschauliche 
Gegenstände.    Diese  Aehnlichkeit  der  Contemplation  mit  der   Anschauung 


-  „tadelhaft"  statt  „schändlich"  II.  Ausg.* 


a   SW.  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


ojg  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

gereicht  Denen,  welche  im  Ernste  Anschauung  in  der  Philosophie  forderten, 
zu  einiger  Entschuldigung  ihres  Irrthums, x  den  sie  freylich  hätten  sorg- 
fältiger vermeiden  sollen. 

217.  [=  140  der  IL  Ausg.].  Wir  haben  bisher  von  den  Begriffen, 
als  von  den  vorhandenen  oder  gesuchten  oder  gefundenen  Gegenständen 
[383]  des  philosophischen  Denkens  gesprochen.  Wie  aber  verhält  es 
sich  mit  dem  Suchen  und  Finden?  Diese  Frage  zerfällt  in  drey  sehr 
verschiedene  Fragen.  Erstlich:  wie  sucht  und  findet  man  die  Erklärung 
solcher  Begriffe,  die  längst  im  Umlauf  sind,  und  deren  Sinn  man  nicht 
verändern  will?  Zweytens:  wie  findet  man  die  richtige  Bestimmung 
solcher  Begriffe,  die  zwar  im  Gebrauche  sind,  aber  aus  praktischen  Gründen 
von  diesem  Gebrauche  nicht  abhängen  dürfen  ?  Drittens :  wie  macht  man 
es,  neue  Begriffe  zu  erzeugen,  wo  die  alten  nicht  ausreichen? 

Der  erste  Fall  ist  der  einer  blofsen  logischen  Analyse.  Der  zweyte 
bezieht  sich  auf  die  praktischen  Ideen,  und  deren  Anwendung.  Der  dritte 
kommt  bey  den  metaphysischen  Begriffen  vor.  Im  ersten  Falle  wendet 
man  sich  an  den  Sprachgebrauch,  im  zweyten  zunächst  an  das  ästhetische 
Urtheil,   im  dritten  an  die   Motive   des  fortschreitenden  Denkens. 

218.   [=  241   der  IL   Ausg.].     Zum  ersten    Falle    gehören    ein    paar 
wichtige  Beyspiele  aus  der    praktischen    Philosophie   und  der    Psychologie. 
In  der  praktischen  Philosophie    findet   sich  nothwendig   ein    einziges, 
rein    theoretisches    Capitel.*     Es    ist    das    über    den    Begriff    des    Staats. 
Diesen    Begriff    liefert    die    Geschichte.       Und    da    man    sie    als    ein    Ge- 
gebenes  auffassen    mufs :    so    ist  es   in  so  fern    auch    nicht    erlaubt   ihn    zu 
verändern,   als    er   eben    das    Gegebene    darstellen    soll.     Zwey    Merkmale 
nun  ragen  hervor:    Gesellschaft,   und  Macht.     An    dieselben   knüpfen  sich 
die     Untersuchungen:     wie    ist     Gesellschaft    möglich?      Und    worauf   be- 
ruht die  Natur  der  Macht?     Beide  Fragen  lassen  sich  aufwerfen,  ohne  dafs 
man  im    geringsten    eine    praktische    Bestimmung    dessen   was    seyn    solle, 
drein  mische.      Und    sie    müssen  untersucht   werden,    damit    man    nur  erst 
den  Gegenstand    habe,    an    welchen    die    praktischen    Bestimmungen   an- 
zubringen   sind.     Denn    mit   einem   blofsen    Gedankendinge    sich    zu    be- 
schäfftigen,   nützt  der  Staatslehre  zu  nichts.     Verbindungen  von   Men-[384] 
sehen  sind  gegeben,    die  man    von   jeher  Staaten    genannt   hat.      Freylich 
standen  nicht  alle  Staaten  vest;   und  es  mag  wohl  seyn,   dafs   eine  gewisse 
Gebrechlichkeit    in    ihnen    lag,    die    man    schon    im    blofsen    Begriffe    des 
Staats  würde    erkannt   haben,   wenn   man    das  Verhältnifs  der  Macht  zur 
Gesellschaft    gehörig   erwogen   hätte.     Diese    Erwägung   sieht   einer   meta- 
physischen   (noch    immer    rein    theoretischen)    Untersuchung    ähnlich;    und 
sie  geht  allerdings  aus  von  einem  Widerspruche  im  Begriffe  des  Staats.*1 
Allein  es  ist  nicht   einerley    Geschafft,    diesen  Widerspruch   zu  behandeln, 
und  jene  logische  Frage,  was  heißt  Staat?  zu  beantworten,  welches  noth- 
wendig das  erste  seyn  mufs.     Von  beiden  wiederum  völlig  verschieden  ist 


1  Die  folgenden  Worte:  ,,den   sie  freylich   .  .  .   vermeiden  sollen"   fehlen 
in   der  II.  Ausg. 

*  Praktische  Philosophie,  fünftes  Capitel  des  zweyten  Buchs.    [Bd.  II  vorl.  Ausg.] 
**  Praktische  Philosophie,  am  Ende  des  sechsten  Capitels  im    zweyten    Buche. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     9.  Capitel.     Rückblicke,   und  Bemerkungen   etc.      -21g 

die  praktische  Bestimmung  des  Staats  nach  allen  Ideen  zugleich.  Aus 
der  Vermengung  dieser  Fragen  und  Untersuchungen  ist  in  der  Staatslehre 
das  gewöhnliche  Unheil  aller  Vermengung  entstanden,  dafs  man  nämlich 
keine  einzige  derselben  mit  der  gebührenden  Genauigkeit  behandelt  hat, 
sondern  sich  aus  dem  Begriff  in  die  Idee  verliert  (wie  Rousseau),  und 
wiederum  aus  blofs  idealen  Constructionen  (wie  bey  Platon  und  Fichte) 
die  wirkliche  Natur  eines  so  schwer  zu  behandelnden  Dinges,  wie  der 
Staat  ist,  zu  erkennen  gemeint  hat.  Lauter  Verirrungen  von  sehr  gefähr- 
licher Art!* 

Das  zweyte  Bey  spiel  giebt  der  Unterschied  zwischen  Verstand  und 
Vernunft.  Wir  wollen  hier  nicht  fragen,  ob  solche  Seelenvermögen  vor- 
handen sind,  sondern  nur:  was  heifst  beydes,  und  warum  gebraucht  man 
nicht  beide  Worte  als  gleichbedeutend?  Was  nun  bey  Kant  und  Wolf 
Verstand  und  Vernunft  heifse,  mag  man  in  ihren  Schriften  nachsehn; 
wir  aber  fragen  die  allgemein  übliche  Sprache,  welche  vom  Verstehen, 
von  verständigen  Männern,  von  unverständigen  Träumen  redet;  desgleichen 
von  vernünftigen  Handlungen,  [385]  Entschliefsungen,  Urtheilen,  von  un- 
vernünftigen Thieren.  Dabey  ist  nicht  gemeint,  welche  Begriffe  der  Ver- 
stand, und  welche  Ideen  die  Vernunft  habe;  obgleich  hinten  nach  die 
Philosophen  ihre  Begriffe  in  den  Verstand,  und  ihre  Ideen  in  die 
Vernunft  hineinsetzen,  weil  sie  eben  keinen  andern  Ort  dafür  wissen.  Der 
Umstand,  dafs  Einer  in  seinem  Verfahren  sehr  verständig, 1  und  doch 
dies  Verfahren  selbst  unvernünftig  seyn  kann,  zeigt  deutlich  den  Verstand 
als  ein  gelingendes  Denken  innerhalb  einer  gewissen  Sphäre;  die  Vernunft 
aber  als  ein  Hinzukommendes.  Jenes  mislingt  dagegen  im  Traume ; 
diese  fehlt  im  Thiere.  Beide  aber,  Verstand  und  Vernunft,  kommen  nach 
allgemeiner  Behauptung  erst  mit  den  Jahren,  —  lange  nachdem  die  so- 
genannten Kategorien,  und  die  Ideen  sammt  der  Religion,  im  Bewufstseyn 
gerade  so  vollständig  entwickelt  sind,  als  sie  bey  den  verständigsten  und 
vernünftigsten  Menschen,  die  nur  nicht  in  eine  philosophische  Schule  gehn, 
im  Laufe  des  ganzen  Lebens  überhaupt  zur  Entwicklung  zu  gelangen 
pflegen.  Hier  nun,  wo  es  auf  Wortbestimmungen  ankommt,  soll  man  sich 
an  den  Sprachgebrauch  halten;  und  eben  deswegen  nicht  den  Kindern 
und  Jünglingen,  so  lange  sie  unmündig  sind,  weil  man  ihnen  keine  Reife 
des  Verstandes  und  der  Vernunft  zutraut,  darum  auch  Klarheit  der  Kate- 
gorien und  Ideen  und  der  Religion  absprechen;  welches  offenbar  nach 
den  Erklärungen,  welche  die  meisten  Philosophen  von  Verstand  und  Ver- 
nunft geben,  unvermeidlich  seyn  würde.  Das  Weitere  hievon  suche  man 
am  gehörigen  Orte. 

219.  [=  242  der  IL  Ausg.]  Im  zweyten  und  dritten  Falle  (217.) 
sucht  man  neue  Begriffe,  oder  doch  neue  Bestimmungen  und  Bevestigungen 
derselben. 


*  Für   dies  Beispiel  sowohl    als   für   das  folgende    vergleiche    man    die  Einleitung 
zum  zweyten  Bande  der  Psychologie.     [Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 
1  vollständig  statt  verständig  II.  Ausg.* 


a   SW.  drucken  nach  der  I.  Ausg.  ohne  die  Abweichung  der  II.  Ausg.  anzumerken. 


t?o  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

o 

Wir  können  nicht  umhin,  uns  hier  der  doppelten  Art  von  Systematik 
zu  erinnern,  die  wir  vorfinden.  Die  eine  legt  die  Begriffe  neben  einander, 
die  andre  hinter  einander.  Jene  hat  Alles,  auch  das  was  ihr  fehlt;  diese 
findet  Alles,  auch  das  was  man  längst  hat.  Jene  breitet  ihre  Schätze  aus, 
diese  übt  ihre  Kraft  an  Allem  was  vorkommt.  Von  besondern  [386] 
Entdeckungen,  welche  die  eine  oder  die  andre  gemacht  hätten,  wird  eben 
nichts  Bedeutendes  aufzuzeigen  seyn;  die  Entdeckung,  selbst  die  Erzeugung 
des  Irrthums,  pflegt  nicht  nach  allgemein  vorgeschriebenen  Regeln  zu  ge- 
schehen. Bey  jenen  beiden  getrennten  Arten  von  Systematik,  deren  eine 
nur  den  linken  Fufs,  die  andre  nur  den  rechten  zu  besitzen  scheint,  ist 
das  natürlich;  denn  auf  Einem  Fufse  kann  man  nicht  gehen;  zum  Ent- 
decken aber  gehört  freye   Bewegung  nach  allen  Richtungen. 

Beyspiele  würden  in  den  Lehrbüchern  zweyer  entgegengesetzten 
Schulen  anzutreffen  seyn;  wir  begnügen  uns,  an  die  Kategorientafel  zu 
erinnern,  deren  viereckige  Gestalt 

Quantität 

Qualität  Relation 

Modalität 

in  die  lineare  Reihe:  Qualität,  Quantität,  Modalität,  und  Relation,  zu 
bringen,  uns  fast  verdacht  worden  ist;  vielleicht  mit  Recht,  denn  an  der 
Kategorientafel,  man  mag  sie  psychologisch  oder  metaphysisch  betrachten, 
ist  jede  Verbesserung  verschwendet.1  Soll  aber  doch  einmal  das  alte 
Vorurtheil  einer  geschlossenen  Reihe  von  allgemeinen  Hauptbegriffen  fort- 
bestehn,  als  hätten  Metaphysik  und  Psychologie  keine  neuen  Begriffe,  die 
aufserhalb  der  Kategorientafel  liegen,  zu  erzeugen,  nöthig  gehabt,  —  so 
wäre  es  doch  das  Mindeste,  was  man  verlangen  könnte,  dafs  den  Quan- 
titätsbegriffen des  Mehr  und  Minder  die  sogenannte  Qualität  des  Posi- 
tiven und  Negativen  vorausgehe;  denn  alle  Welt  nennt  die  Plusgröfsen 
positiv,  die  Minusgröfsen  aber  negativ;  ferner  dafs  Möglichkeit,  Wirklich- 
keit, und  Notwendigkeit,  so  lange  dieser  Klimax  des  gemeinen  Verstandes 
noch  einen  Platz  in  der  Wissenschaft  behält,  unmittelbar  auf  die  Quan- 
titätsbegriffe folge,  damit  doch  das  Bekenntnis  des  Klimax,  nach  welchem 
die  Wirklichkeit  eine  Steigerung  des  Möglichen,  und  das  Nothwendige 
noch  vornehmer  als  das  Wirkliche  seyn  soll,  deutlich  [387]  hervortrete;** 
—  und  endlich,  wenn  man  einmal  keinen  andern  Begriff  von  der  Sub- 
stanz hat,  als  dafs  Attribute  in  ihr  wirklich,  und  Accidenzen  in  ihr  mög- 
lich sind,  —  desgleichen  die  Accidenzen  durch  Kräfte  aus  der  Möglich- 
keit nothwendig  zur  Wirklichkeit  emporsteigen,  —  dann  sollte  man  so 
aufrichtig  seyn,  diese  Voraussetzung  der  Modalitäts-Begriffe  bey  der  Sub- 
stanz und   Ursache    auch    in    der   That  voranzusetzen,    und    sich    des  Aus- 

1   Hier  schiebt    die    II.    Ausg.    folgenden  Zusatz    ein:     wenn    sie    nicht    in    ein 
viel  weiteres   Gebiet  von   Untersuchungen   versetzt  wird.* 

*    Man   vergleiche    den  Aufsatz   über  Kategorien   und  Conjunctionen,    im  zweyten 
Hefte  der  psychologischen  Untersuchungen.     [Bd.   III  vorl.  Ausg.] 

Der  erste  Band  der  Metaphysik  ist  voll  von  Proben  und  Formen  des  alten 
Unsinns,  der  aus  diesem  Klimax  zu  entstehen  pflegt,  und  den  selbst  Kant  nicht  ganz 
vermieden  hat. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     9.   Capitel.     Rückblicke,    und  Bemerkungen    etc.      32 1 

drucks  nicht  zu  schämen,  wenn  man  nicht  lernen  will,  behutsamer  zu 
Werke  zu  gehn. 

Es  ist  gar  nicht  gleichgültig,  in  welcher  Ordnung  eine  Reihe  von 
Begriffen  aufgestellt  wird.  Die  Bedeutung  erhellet  aus  der  Stellung;  und 
hier  gerade  liest  die  Beantwortung  der  Frage  unseres  zweyten  Falles. 
Will  man  die  Bedeutung  eines  schwankenden  Begriffes  veststellen,  —  und 
liegt  der  Fehler  nicht  etwa  (wie  bey  Substanz  und  Ursache)  an  innern 
Widersprüchen,  (in  welchem  Falle  man  nicht  anders  als  durch  Erzeugung 
neuer  Begriffe  fertig  wird,)  —  so  erlangt  man  seinen  Zweck  dadurch,  dafs 
man  die  Nachbarn  im  Gebiete  der  Begriffe  zu  Hülfe  ruft,  welche  den 
schwankenden  gehörig  begränzen  werden. 

Nur  beyspielsweise  wollen  wir  hier  des  schwersten  Puncts  in  der 
ganzen  praktischen  Philosophie  erwähnen,  nämlich  der  Bestimmung  des 
Rechtsbegriffs,  der  durch  Occupation  und  Formation,  durch  Sachenrechte 
und  Urrechte,  durch  abwechselnde  Berufung  auf  die  Natur  und  auf  den 
Staat,  so  weit  aus  seiner  eigentlichen  und  ersten  Bedeutung  herausgetrieben 
wird,  dafs  man  bey  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  wohl  Ursache  hätte, 
davor  zu  erschrecken.  Aber  das  schwankende  Schiff  liegt  vest  an  zwey 
Ankern,  sobald  man  rechts  den  Begriff  der  Billigkeit,  und  links  den  Be- 
griff des  Wohlwollens  daneben  stellt.  Die  Abgränzung  durch  beide,  und 
die  Nothwendigkeit,  die  Rechtslehre  von  der  Verurteilung  des  Streits 
[388]  zu  beginnen,  tritt  alsdann  so  deutlich  hervor,  dafs  man  weiterhin 
sich  nur  der  natürlichen  Fortbewegung  der  Wissenschaft  von  den  ein- 
fachsten zu  den  mehr  und  mehr  zusammengesetzten  Verhältnissen  zu  über- 
lassen braucht,  um  die  Verwirrung  zu  lösen. 

220.  [=  243  der  II.  Ausg.]  Die  Betrachtung  des  zweyten  Falles 
läfst  sich  füglich  dergestalt  erweitern,  dafs  sie  bis  zu  dem  wichtigen  Ver- 
hältnisse zwischen  der  Synthese  und  Analyse  fortlaufe,  und  zugleich  das. 
was  über  den  dritten  Fall  zu  sagen  ist,  vorbereite. 

Zurückblickend  auf  die  beiden  vorhin  erwähnten  Manieren  der  Syste- 
matik, wollen  wir  zuvörderst  anerkennen,  dafs  die  Bemühung  schon  vor- 
handene Begriffe  von  neuem  zu  finden,  um  sie  bey  der  Gelegenheit  in 
ihrem  urspiünglichen  Sinn  zu  bestimmen,  immer  noch  den  Vorzug  ver- 
dient, vor  der  Steifheit,  welche  selbst  das,  was  nur  im  fortschreitenden 
Denken  entstehen  kann,  —  was  nur  als  ein  Werk  desselben  seine  Be- 
deutung hat,  gleich  Anfangs  wie  ein  Fertiges  hinstellt,  und  sich  des  Mon- 
strirens  rühmt,  um  die  Arbeit  des  Demonstrirens  zu  sparen.  Freylich 
begegnet  es  jener  Manier  oft  genug,  bekannte  Worte  zum  Gefäfs  zu 
brauchen,  wohinein  das  Gefundene  passen  soll,  wenn  es  auch  mit  dem 
Inhalte,  den  das  Gefäfs  schön  hatte,  nicht  richtig  zusammentrifft.  Aber 
die  Gedanken  sind  doch  in  Bewegung;  und  Bewegung  läfst  sich  eher 
verbessern,  als  Trägheit. 

Damit  jedoch  der  eben  erwähnte  Fehler,  den  Worten  einen  Sinn 
aufzudringen,  den  sie  nicht  annehmen  können,  vermieden  werde,  mufs  zu  L 
der  Synthesis,  die  den  alten  Begriff  neu  finden  und  erzeugen  wollte,  das 
analytische  Geschafft  hinzukommen,    welches  von  dem  alten  Begriffe   aus- 


]    Die  II.  Ausg.  hat  statt    „zu"    „in",   was  wohl   auch   richtiger  ist. 
Herbart's  Werke.     IX. 


-122  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

geht,  indem  es  ihn  in  der  Sprache,  oder,  wenn  von  Naturgegenständen 
die  Rede  ist,  in  der  Erfahrung  aufsucht.  Pafst  nun  nicht  genau  das  Alte 
zum  Neuen,  so  bedarf  die  Synthesis  entweder  einer  Revision,  oder  auch 
einer  Fortsetzung,  bis  sie  genau  die  bekannte  Stelle  trifft.  Letzteres  kann 
sehr  oft  der  Fall  seyn,  wo  Unkundige  voreilig  Fehler  zu  entdecken  glauben, 
weil  sie  nicht  [389]  die  leichtesten  Schritte,  die  man  ihnen  vielleicht  in 
gutem    V ertrauen  überliefs,  selbst  zu  machen  verstehen. 

Zu  den  vergeblichen  Ermahnungen  aber,  die  man  zuweilen  zu  hören 
bekommt,  gehört  auch  die,  man  solle  von  der  Analyse,  die  für  sicherer 
gehalten  wird,  anfangen,  und  die  Synthese  lieber  darauf  folgen  lassen. 
Oder  noch  lieber,  (fahren  wir  fort,)  die  Synthese  ganz  weglassen!  Das  ist 
das  wahre  und  probate  Mittel,  um  gar  nicht  von  der  Stelle  zu  kommen, 
im  alten  Meinungskreise  stecken  zu  bleiben,  und  höchstens  zu  wissen,  dafs 
man  nichts  weifs,  und  nichts  zu  finden  vermag.  Für  Leute,  die  ihre  Ruhe 
finden,  wäre  das  der  allerbeste  Rath.  Die  regressiven  Tendenzen  des 
Zeitalters  befinden  sich  wohl  dabey. 

Es  ist  übrigens  nicht  wahr,  dafs  die  Analyse  sicherer  ist.  Ihr  drohen 
alle  Gefahren  der  Erschleichung.  Und  diese  lassen  sich  selbst  in  der 
empirischen  Physik  nicht  ohne  Mühe,  nicht  ohne  Zusammenwirkung  vieler 
geübten  Forscher  vermeiden.  Wieviel  schwerer  in  der  Mitte  philosophischer 
Partheyen!  Jede  Parthey  sieht,  was  sie  sehen  will.  Die  Synthesis  aber, 
besonders  wenn  sie  Rechnung  zu  Hülle  nimmt,  sieht,  was  herauskommt, 
und  wird  dadurch  aus  dem  Kreise  blofser  Einbildungen  herausgetrieben; 
statt  dafs  der  analytische  Spiegel  den  Einbildungen  ihr  eignes  Bild  zurück- 
strahlt,  und   die  Verführung  der  Selbstbejahungen  veranlafst. 

221.  [=  244  der  IL  Ausg.]  Die  Synthesis  gehört  dem  dritten 
Falle;  denn  sie  ist  es,  welche  neue  Begriffe  erzeugt.  Hier  können  wir 
uns  nicht  mit  Bey spielen  begnügen,  sondern  müssen  geradezu  die  Haupt- 
punete  anzeigen,  nämlich  die  Begriffe  von  der  Causalität  und  vom  *  Räume. 

Dem  Widerspruche  im  Begriffe  der  Veränderung  (178.)  schafft  der 
gemeine  Verstand  eine  vorläufige  Hülfe,  indem  er  die  Schuld,  sich  selbst 
ungetreu  zu  seyn,  von  dem  veränderten  Dinge  abwälzt,  und  behauptet, 
etwas  Anderes  müsse  dem  Dinge  die  Veränderung  angethan  haben.  Hier 
ist,  psychologisch  betrachtet,  der  Sitz  des  Causalbegriffs  mit  der  ihm  an- 
[3 90] hängenden  Notwendigkeit,  wobey  der  Weg  des  Denkens  nicht  von 
der  Ursache  zur  Wirkung,   sondern  von   der  Wirkung  zur  Ursache  geht.* 

Einfach,  wie  der  Begriff  der  Veränderung,  erscheint  nun  auch  der 
Causal begriff.  Und  als  wäre  er  in  der  That  einfach,  so  ist  er  von  Hume 
und  Kant  behandelt,  2diese  Behandlung  aber,  obgleich  sie  von  Fehlern 
strotzt,  von  den  Spätem  gepriesen  worden.  Falsche  Systematik  hat  diese 
wichtigste    aller   metaphysischen    Untersuchungen    in    Grund    und    Boden3 

*  Psychologie  II,   §    142.     [=  Bd.  VI  vorl.  Ausg] 

2  Statt  der  folgenden  Worte:  „diese  Behandlung  aber,  obgleich  sie  von 
Fehlern   strotzt"  hat  die  II.  Ausg.   „und   diese   Behandlung." 

:1  Die  Worte:    „in    Grund   und    Boden"   fehlen  in  der  II.  Ausg.a 


1  „dem"  statt  „vom"  SW. 

a  SW   merken  die  Abweichung   nicht  an. 


2.   Abschnitt.     Methodenlehre.      9.   Capitel.     Rückblicke,    und    Bemerkungen    etc.       ?  2  "• 

verdorben.  Schon  als  Leibxitz  sein ptincipium  Talionis  sufficientis  in  drevfacher 
Bedeutung  als  Axiom  aussprach,  war  das  Verderben  im  vollen1  Gange. 
In  der  Anmerkung  zum  Capitel  von  der  Psychologie  (206.)  haben 
wir  ganz  kurz  den  Begriff  der  Selbsterhaltung  erwähnt,  dessen  Deduction 
in  der  Metaphysik  mufs  nachgesehn  werden.  Dieser  sagt  nicht,  dafs  ein 
Ding  als  Ursache  thätig,  ein  andres  leidend  sey,  und  von  jenem  eine  Ver- 
änderung annehme;  sondern  er  sagt,  dafs  jede  Substanz  bleibt  was  sie  ist. 
Es  ist  also  darin  nicht  der  gemeine  Causalbegriff  zu  finden,  und  das  darf 
auch  nicht  seyn,  weil  im  Thun  und  Leiden  sowohl  Thätiges  als  Leidendes 
aus  sich  herausgehn,  sich  in  ihrer  wahren  Natur  umkehren,  und  den  Vor- 
wurf der    Untreue  gegen  sich  selbst  nicht  vermeiden   würden. 

Ebendaselbst  ist  ferner  der  psychischen  Causalität  erwähnt,  welche 
nicht  unmittelbar  zwischen  einem  Dinge  und  einem  andern,  wohl  aber 
zwischen  entgegengesetzten  innern  Zuständen  einer  und  der  nämlichen 
Substanz  vorkommt.  Der  Erfolg  dieser  Causalität  wird  uns  in  der  innern 
Erfahrung  zunächst  durch  die  Verdunkelung  unsrer  Vorstellungen  gegeben. 
Endlich  ist  daselbst  von  der  Anstrengung  gesprochen,  welche  wir  mit 
dem  Bewufstseyn  des  Kraftgefühls  innerlich  vornehmen;  dergestalt,  dafs 
der  gemeine  Verstand  veranlafst  wird  zu  glauben,  den  Dingen,  die  Ge- 
walt gegen  [391]  andre  Dinge  üben,  müsse  ungefähr  so  zu  Mut  he  seyn,  wie 
uns,   wenn   wir  uns  anstrengen. 

Nun  füge  man  zu  diesen  drey  ganz  verschiedenen  Causalbegriffen 
noch  die  ganz  oder  doch  theilweise  räumlichen  Naturkräfte  der  Attraction 
und  Repulsion,  der  Arzneyen  und  Gifte,  und  wie  sie  weiter  heifsen:  so 
wird  man  sich  bald  in  einem  solchen  Walde  von  allerley  Causalitäten  be- 
finden, dafs  der  allgemeine  Gattungsbegriff:  Causalität,  sich  in  seiner  wahren 
Natur  bey  der  mindesten  Ueberlegung'2  verrathen  mufs.  Er  ist  für  die 
Wissenschaft  nichts  weiter  als  eine  leere  Abstraktion;  gerade  wie  der  all- 
gemeine Begriff  des  Grundes  und  der  Folge  (174.),  der  noch  eine  Stufe 
über  jenem  einnimmt,  nämlich  im  Gebiete  der  leeren  Begriffe,  an  denen 
gar  Mancher  die   Mühe  seines   Denkens  verliert. 

Gesetzt,  es  wollte  ein  Systematiker,  wie  sie  wohl  gewöhnlich  nach 
blofser  Logik,  ohne  genaue  Erwägung  der  Eigenheit  des  Gegenstandes,  zu 
verfahren  pflegen,  unsre  Darstellung  verbessern:  so  würde  er  uns  etwa 
folgendermafsen  belehren : 

„Nach  logischer  Regel  gebührt  sich's,  das  Allgemeinste  an  die  Spitze 
zu  stellen;  es  zu  definiren,  und  alsdann  einzutheilen.  Setzet  also  den 
allgemeinen  Begriff  des  Grundes  obenan,  mit  gehöriger  Erklärung. 
Ordnet  ihm  die  species,  welche  man  Ursache  nennt,  unter;  und  als- 
dann, wiederum  untergeordnet,  lafst  Eure  manch erley  Causalitäten, 
wie  sie  nun  eben  seyn  mögen,  folgen;  diese  aber  müssen  coordinirt 
werden.  So  wird  man  eure  Lehre  übersehen  können;  dafs  ihr  aber 
in  der  Metaphysik  von  den  Selbsterhaltungen,  in  der  Psychologie  von 
den   Hemmungen  und  den   Anstrengungen,    und  alsdann    gar  wiederum 

1   „vollen"   fehlt  in  der  II.  Ausg.a 

-   Die  Worte     „bey    der    mindesten   Ueberlegung"    fehlen  in  der  II.  Ausg. 


SW  merken    die  Abweichung  nicht  an. 

21 


^24  H'    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

in  der  Metaphysik  von  den  Attractionen  und  Repulsionen,  —  endlich 
aber  in  diesem  Buche  von  der  Freyheit  redet,  die  doch  ein  negativer 
Causalbegriff  ist ,  mithin  auch  der  allgemeinen  Abhandlung  von  der 
Causalität  zugehört:  das  ist  arge  Unordnung,  die  euch  schwerfällig  und 
dunkel  macht. ' 

[392]  Was  darauf  zu  antworten  ist,  beurtheile  man  aus  dem  Folgenden. 
222.  [=245  der  II.  Ausg.]  Erstlich:  alle  abstracten  Begriffe  werden 
unbrauchbar,  sobald  man  die  Abstraction  so  weit  getrieben  hat,  dafs  die 
Merkmale,  worauf  es  bey  der  Untersuchung  ankommt,  verschwunden  sind. 
Das  ist  bey  der  Causalität  der  Fall,  sobald  man  nicht  mehr  weifs,  ob  man 
sie  zwischen  mehrern  Substanzen,  oder  zwischen  den  mehrern  innern  Zu- 
ständen eines  und  des  nämlichen  Wesens  suchen  soll;  und  im  ersten 
Falle,  ob  dabey  die  Erscheinung  im  Räume  in  Betracht  kommt,  oder 
nicht;  im  zweyten,  ob  die  innem  Zustände  vermöge  der  gegenseitigen 
Hemmung,  oder  vermöge  der  Verbindung,  oder  durch  beides  zugleich 
auf  einander  zu  wirken  bestimmt  sind. 

Zweytens:  die  verschiedenen  Causalitäten  als  coordinirt  in  eine  Reihe 
zu  legen ,  mag  in  einer  Encyklopädie ,  für  die  willkührliche  Reflexion, 
allenfalls  erträglich  seyn.  Man  sieht  dann  wenigstens  den  Unterschied, 
dafs  Substanzen  in  Wechselwirkung  bestehen  als  das  was  sie  sind,  innere 
Zustände  hingegen  sich  hemmen  und  dadurch  in  ein  Streben  verwandeln, 
welches  Streben  nur,  wenn  die  Hemmung  ganz  entwiche,  eine  völlige 
Reproduction  des  Zustandes,  wie  er  war,  ergeben  würde.  In  solcher  Ver- 
gleichung  mag  man  von  den  innern  Zuständen  sagen,  ihr  Streben  zur 
Reproduction  sey  eine  Art  von  Surrogat,  wodurch  sie  mit  dem  Bestehen  der 
Substanzen   eine  entfernte  Aehnlichkeit  erreichen. 

Drittens:  im  systematischen  Vortrage  die  verschiedenen  Causalbegriffe 
zu  coordiniren,  kann  Niemandem  einfallen,  der  von  der  Art,  wie  die  Be- 
griffe derselben  erzeugt  und  gefunden  werden,  nur  einige  Kenntnifs  hat. 
An  das  übliche  Ausgehn  von  Einem  Princip  ist  dabey  gar  nicht  zu  denken. 
Die  Selbsterhaltung  der  Substanzen  wird  gefunden  aus  den  Problemen 
der  Inhärenz  und  der  Veränderung.  Die  Hemmung  der  innern  Zustände 
würde  man  daraus  nur  problematisch  und  schwankend  ableiten;  aber  sie  er- 
giebt  sich  mit  grofser  Be[393]stimmtheit  aus  der  Untersuchung  des  Ich.  Fafst 
man  endlich  die  beiden  Untersuchungen  zusammen:  so  tritt  jene  voran; 
denn  es  zeigt  sich  nun,  dafs  erst  die  Substanzen  in  Wechselwirkung  be- 
stehen, ehe  die  innern  Zustände  da  sind,  die  sich  unter  einander  theils 
hemmen,  theils  verbinden.  Die  räumlich  erscheinenden  Causalitäten  einer- 
seits, die  innern  Anstrengungen  andrerseits,  sind  vollends  entfernte  Folgen; 
jene  vom  Bestehen  der  Substanzen,  diese  vom  Streben  und  von  den  Ver- 
bindungen innerer  Zustände. 

Im  Systeme  hat  jeder  Begriff,  den  man  neu  erzeugen  mufste,  seine 
Stelle  da,  wo  er  gefunden  wird.  Die  willkührliche  Reflexion,  die  wir  uns 
hier  erlaubten,  um  einmal  zur  Vergleichung  das  Entlegenste  zusammen- 
zurücken, würde  dort  zu  den  weit  ausschweifenden  Digressionen  gehören; 
während  selbst  näher  sich  darbietende  Digressionen  zuweilen  schon  die 
Klage  veranlassen,  man  störe  den  Leser,  indem  man  ihm  eine  Hülfe 
leisten  wollte.      Hierüber  noch  folgende  Bemerkung. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     9.   Capitel.     Rückblicke,    und  Bemerkungen    etc.      325 

225.  [=  2%6  der  II.  Ausg.]  Wäre  die  Philosophie  nicht  genöthigt, 
sich  aus  dem  Irrthum  zur  Wahrheit  hervorzuarbeiten;  bezeugte  nicht  ihre 
Geschichte,  dafs  der  Reiz,  eigne  Meinungen  zu  haben,  jeden  Augenblick 
durch  mancherley  mögliche  Vorstellungsarten  kann  befriedigt  werden,  in 
welche  der  Leser  nur  auszuweichen  braucht,  um  sich  der  Führung  zu 
entziehen,  die  ihm  angeboten  wird:  so  wäre  nicht  nöthig,  ihn  beständig 
an  dies  und  jenes  zu  erinnern,  was  er  theils  berücksichtigen,  theils  ver- 
meiden solle.  Aber  in  der  Philosophie  gilt  es,  nicht  blofs  durch  den 
Wald  zu  gehen,  sondern  stets  die  Augen  rechts  und  links  zu  haben,  um 
auch  die  Orte  zu  sehen,  wohin  man  nicht  gehen  kann,  ohne  den  vesten 
Boden  und  die  Richtung  des  Weges  zu  verlieren.  Hierauf  bezieht  sich 
die  Kunst  der  Darstellung*  welche  zu  der  systematischen,  im  eignen  Denken 
nüthigen  Kunst,   beym  Vortrage  hinzukommen  mufs. 

Der  philosophische  Vortrag  macht  nur  zu  oft,  und  zu  natürlich,  den 
Eindruck  problematischer  Meinung,  ungeachtet  der  strengen  Nothwendig- 
keit,  die  in  den  Motiven  des  fortschrei [3 94] tenden  Denkens  liegt.  Jeder 
nimmt  sich  gern  Zeit,  erst  einmal  zu  versuchen,  ob  er  nicht  auch  noch 
andre  Wege  finden  könne?  Er  will  den  Sumpf,  gegen  den  man  ihn 
warnt,  aus  eigner  Erfahrung  kennen  lernen.  Die  Gefahr,  zu  ertrinken, 
ist  ja  nicht  dringend !  Haben  es  doch  Andre  vor  uns  eben  so  gemacht, 
und  sind  nicht  davon  gestorben!  Haben  doch  die  Behutsamsten  lieber 
alle  Bewegung  des  Denkens  vermieden,  und  sind  berühmte  Männer  dabey 
geworden!  Mit  Einem  Munde  sprechen  die  Juristen  und  die  Physiker, 
und  wer  weifs  wie  viele  sonst:  —  diejenigen,  zvelche  nicht  philosophiren, 
schreiben  die  gelehrtesten  Bücher,  voll  von  Citaten  und  von  Beobachtungen. 
Also  mufs  man  den  Motiven  des  fortschreitenden  Denkens  ja  nicht  nach- 
geben!  In  der  That:  die  Anstrengung,  die  es  kostet,  sich  diesen  Motiven 
zu  widersetzen,  ist  unter  allen  möglichen  Anstrengungen  für  die  Mehr- 
zahl der  Menschen  die  kleinste. 

Die  Philosophen  nun,  welche  wissen,  wie  schwer  es  hält,  Gehör  zu 
erlangen,  pflegen  das  Praktische  mit  dem  Theoretischen  so  innig  als 
möglich  zu  verbinden,  um  ihren  Worten  Gewicht  zu  geben.  Das  stört 
aber  wirklich  die  Untersuchung,  und  darf  in  systematischen  Schriften  über 
Psychologie,  vollends  über  Metaphysik,  nur  selten  vorkommen. 

Umgekehrt,  wo  das  praktische  Interesse  vorherrschen  soll,  da  können 
die  theoretischen  Gegenstände  nur  wie  in  einer  perspectivischen  Ver- 
kürzung erscheinen.  So  ist's  in  diesem  Buche,  auf  dessen  Gang  wir  jetzt 
zurückblicken  wollen. 

224.  [=  247  der  IL  Ausg.]  Dem  strengen  Idealismus  (i/i-)>  und 
nur  ihm  allein,  können  wir  verzeihen,  wenn  er  dem  täuschenden  Bilde 
einer  Urform  und  Einheit  alles  Wissens  (213.)  nachgeht,  und  dem  gemäfs 
seine    svstematische    Architektonik    einrichtet.      Von    dieser    Architektonik 

ml 

des  idealistischen  Zeitalters  kann  aber  jetzt  gar  Nichts  übrig  bleiben. 
Darum  haben  wir  gleich  Anfangs  die  sämmtliche  Bearbeitung  der  Be- 
griffe, das  heifst,  alle  Philosophie,  als  dreyfach  verschieden  anerkannt. 
Denn  verschieden  ist  die  blofse  Anordnung  und  Verknüpfung  unserer 
Be[395]griffe,  das  heifst,  unseres  Gedachten,  da,  wo  sie  ohne  Zusatz  und 
ohne   Hindernifs,   mithin  blofs  logisch  geschieht,   von  den  beiden  Arbeiten, 


-,?A  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie. 

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deren  eine  aus  hinzutretenden   ästhetischen  Urtheilen,    das  heifst,    Werth- 
bestimmungen  ohne  Willkühr,  die  andre  aber  aus  metaphysischen  Schwierig- 
keiten, welche  die  Hoffnung    des   Erkennens    zu  vereiteln    drohen,   hervor- 
geht.     Von  der  Logik    haben    wir  nun    überhaupt  nur   als   von  einem   be- 
kannten  Hülfsmittel   dieser    beiden    grofsen    Arbeiten    reden    können;   denn 
ihr  eignes  theoretisches  Interesse  ist  an  sich  schwach,  und  dem  praktischen 
völlig  fremd.     Dafs   aber  das  praktische   Interesse  uns  unmittelbar  auf  das 
ästhetische    Gebiet    versetze,    durfte    Anfangs    im    Dunkeln  bleiben.      Dem 
praktischen    Menschen    schweben    die    Gege?istätide  vor,    die    er   bearbeitet, 
und   die    Umstände,    die    er    berücksichtigt;    und  dabey  sondert   sich  das 
praktische   Urtheil  noch  nicht  genau  ab   vom  theoretischen  Auffassen  und 
Beurtheilen.      Auch    in   den    allgemeinen    Begriffen    und    gangbaren  Lehren 
der  Moral,  worin  Pflichten  und  mittelbare  Tugenden  die  Hauptrolle  spielen, 
liegt    das   gewöhnliche    menschliche    Leben,    wie    es   ist,    vor  Augen;    und 
selbst  Ideale    steigern    nur  das    Gemeine    zum    Ungemeinen,    ohne    die  Art 
der   Betrachtung    zu    ändern.      Diesen    Blick   auf   Gegenstände,    ohne    alle 
Form  des  Systems,  eine  Zeitlang  zu  unterhalten,  war  uns  wichtig,  um  über 
die   Form  nicht  streiten   zu  müssen.      Aber  die  gebieterische   Notwendig- 
keit, worin  bl'ofse  Gegenstände    durch    ihre   Natur    den   Menschen    zu  ver- 
setzen  scheinen,   mufste   gelüftet   werden,   und   so    kamen   nun   allmählich 
Tugend  und  Religion,   mit  beiden   aber   ästhetische    Urtheile  zur  Sprache. 
Von  ihnen  die  theoretische  Auffassung   scharf  zu  scheiden,  und    zwischen 
beiden    die    Stellung    des    moralischen   Urtheils    richtig    zu    erkennen,    darf 
nicht  für  leicht  gehalten  werden,  da  es  vielen  Denkern  des  ersten  Ranges 
bald  mehr  bald  weniger  mislungen  ist.     Es  war    eine  Hauptrücksicht,  die 
unsere   Darstellungen    leitete,    Betrachtungen   des    Staats,    der    Kunst,    und 
der   Erziehung   so  zu    benutzen,    dafs   in    voller   Besinnung    an    diese    be- 
kannten Gegenstände  diejenigen  Fehler  möchten  leicht  vermieden  werden, 
welche  sonst   [396]   an  den  Abstraktionen  zu  kleben,  und  mit  ihnen  sich 
einzuschleichen   pflegen.     1  Allein    solche    Bemühung   gelingt  jedem    Buche 
nur   in    so   fern,   als    sein    Leser    nachhilft,    oder   vielmehr    in   eigner   An- 
strengung den  gegebenen   Reiz  in  sich  aufnimmt  und  wirken  läfst. 

Die  aufgeregte  politische  und  pädagogische  Besinnung  wurde  nun 
ferner  dazu  benutzt,  den  Leser  in  die  Psychologie  zu  versetzen.  Freylich 
nicht  gleich  zu  den  metaphysischen  Fragen  nach  der  Seele  und  dem  Ich. 
Diese  schwierigen  Gegenstände  kennt  der  Staatsmann  und  Erzieher  viel 
zu  wenig,  um  darüber  urtheilen  zu  dürfen.  Aber  er  kennt  die  geistige 
Regsamkeit  besser,  als  die  gemeine  empirische  Psychologie,  -die  sich  alle 
Mühe  giebt,  sie    recht    systematisch    zu   verkennen.     3Dies   ist    ein    Punct, 


1   Der  folgende  Satz     „Allein  solche  Bemühung  ....   wirken  läfst".  fehlt  in 

II.  Ausg. 

■-'    Der   folgende   Satz   lautet    in    der    II.   Ausg.:     „die    sich    Mühe    ZU    geben 

scheint,  sie  systematisch  zu  verkennen.1 

;!  Die    folgenden    Sätze:     Dies  ist    ein    Punct, seh vvierigern    Gegen- 
ständen   mitbringt   (S.  327,  Z.  9  v.  o.)  fehlen  in  der  II.  Ausg. 


a   SW   merken  die  Abweichung  nur  teilweise  an. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     9.   Capitel.     Rückblicke,    und  Bemerkungen    etc.      327 

worin  der  Verfasser  keineswegs  gesonnen  ist,  mit  seinen  Gegnern  Friede 
zu  machen;  und  wenn  die  Kriegslist,  aus  der  Politik  und  Pädagogik  in 
die  Psychologie  mit  Einem  Schritte  hinüberzutreten,  hier  nicht  vollständiger 
ausgeführt  ist,  so  liegt  der  Grund  zum  Theil  an  der  Kürze  dieses  Buchs, 
anderntheils  aber  an  dem  schon  zuvor  bezeichneten  Umstände.  Alle  solche 
Wendungen  nämlich  helfen  nur  dem  Leser,  der  sie  benutzt;  das  heifst 
hier  dem,  welcher  die  ganze,  zuvor  angeregte  Thätigkeit  seines  im  Lebai 
selbst  vorgeübten,  praktischen  Verstandes  beybehält,  und  sie  zu  den 
schwierigem  Gegenständen  mitbringt.  Die  sehr  interessanten  Erfahrungs- 
gegenstände, welche  sich  der  geistigen  Regsamkeit  zunächst  anreihen,  das 
Leben  und  die  Materie,  haben  uns  fast  umsonst  den  schönsten l  Stoff  dar- 
geboten, um  naturphilosophische  Untersuchungen  auf  eine  populäre  Weise 
zu  besprechen,  2die  jetzt  in  den  Winkeln  der  Metaphysik  vergraben  bleiben 
werden.  Ausführlichkeit  in  solchen  Dingen  drängt  eine  Encyklopädie  zu 
sehr  aus  einander,  und  verhindert  ihren  Endzweck,  der  in  der  Zusammen- 
fassung besteht.  Die  Metaphysik  durfte  überhaupt  unserer  Elementarlehre 
nur  wenige  Beyträge  liefern;  denn  ihre  Gegenstände  liegen  für  den 
praktischen  Menschen  nicht  hell  genug  am  Tage.  Hatten  wir  das 
sinnliche  Ding,  die  Materie,  einmal  genannt,  so  mufste  freylich  auch 
das  ganz  unsinnliche,  die  Seele,  schon  deshalb  genannt  werden, 
damit  [397]  ihr  nicht,  wie  zu  geschehen  pflegt,  das  Ich  untergeschoben 
werde.  Denn  in  diesem  Puncte  ist  eine  seltsame  Eintracht  und  Ver- 
brüderung zwischen  Idealismus  und  Empirismus;  der  Eine  empfiehlt  das 
Ich  als  Urquelle  alles  Wissens;  der  andre  nimmt  die  Empfehlung  an, 
zwar  nicht  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung,  aber  doch,  um  die  ihm  lästige 
Substanz  der  Seele  los  zu  werden. 

Bey  Gelegenheit  der  Materie  und  des  Lebens  wurde  nun  zwar  von 
zusammengehörigen  innern  und  äufsern  Zuständen  gesprochen;  es  wurde 
erwähnt,  dafs  die  Wechselwirkung  unter  mehrern  Substanzen  nichts  anderes 
ist,  als  eine  gegenseitige  Bestimmung  ihrer  innern  Zustände;  und  dafs 
danach  die  äufsere  Lage  sich  richten  mufs.  Auch  war  die  Hemmung  und 
Verbindung  der  mehrern  innern  Zustände  Einer  Substanz  schon  bey  der 
Betrachtung  der  geistigen  Regsamkeit  nicht  blofs  berührt,  sondern  so,  wie 
sie  in  einer  populären  Psychologie  müfste  ausführlich  beschrieben  werden, 
mit  einigen  Grundstrichen  bezeichnet  worden.  Allein  hiebey  ist  absichtlich 
von  aller  systematischen  Form  abgewichen.  Freye  Bewegung  im  vesten 
Systeme  —  diese  war  zu  zeigen,  in  Folge  der  gleich  Anfangs  angegebenen 
Zwecke.  Angenommen  nun,  der  Leser3  wolle  nicht  blofs  die  Gegenstände 
der  Philosophie  besehen,  sondern  auch  von  deren  regelmäfsiger  Unter- 
suchung etwas  hören:  so  kam  die  wissenschaftliche  Form  an  die  Reihe. 
Daher  trat  die  Methodenlehre  ein.  Nicht  aber,  um  Grundrisse  von  Lehr- 
gebäuden zu  zeigen,  die  man  als  äufsere  Gegenstände  anzuschauen  liebt, 
wenn  sie  auch  nur  Hirngespinnste  sind;  sondern  um  von  dem  Verfahren  zu 


2  Die  folgenden  Worte:    die  jetzt  ....  bleiben  werden  fehlen  in  der  II.  Ausg. 

3  „man"  statt  „der  Leser"  II.  Ausg.* 

1  „schönen"  statt  „schönsten"  SW. 

a  SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


•3  2  8  II-    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

reden,  durch  welches  etwa  ein  Lehrgebäude  entstehen  könne.  Hier  mufste 
zwar  von  vorn  angefangen  werden,  jedoch  nicht  in  schwer  verständlichen 
Abstraktionen,  sondern  mit  Anknüpfung  an  das  Vorhergegangene;  dem- 
nach so,  dafs  nunmehr  fast  gleichzeitig  sowohl  vom  Aufbau  der  theo- 
retischen als  der  praktischen  Philosophie  die  Frage  war;  weil  man  schon 
mit  beiden  sich  zuvor  beschäfftigt  hatte.  Allmählich  mufste  sogar  die 
Metaphysik  in  den  Vordergrund  treten,  weil  sie  in  den  philosophischen 
Schulen  die  stärkste  und  vorherrschende  Geschäfftigkeit  veranlafst,  wenn 
[398]  auch  unter  andern,  oft  gewechselten  Benennungen.1  Wer  nun 
etwa  erwartete,  der  Verfasser  würde  jetzt  wenigstens  die  systematischen 
Umrisse  seiner  eignen  Metaphysik  in  ein  helles  Licht  stellen,  der  wird 
sich  wenig  befriedigt  gefunden  haben.  Es  ist  von  aufsen  wenig  daran  zu 
sehen;  auch  im  Innern  ist  kein  Schmuck  zum  Vorzeigen.  Eher  hätte  die 
Psychologie  einige  Versuchung  erregen  können,  von  ihr  eine  ausführliche 
Beschreibung  zu  machen.  Allein  das  kleine  Lehrbuch  ist  vorhanden  für 
Diejenigen,  denen  das  gröfsere  Werk  zu  schwerfällig  seyn  möchte.  Selbst 
die  Zusammenstellung  der  Psychologie  und  Naturphilosophie  ist  schon  im 
Lehrbuche  zur  Einleitung  in  die   Philosophie  zu  finden. 

225.  Wiewohl  es  scheinen  möchte,  dafs  hiemit  Alles  Nöthige  gesagt 
wäre;  so  kann  es  doch  Leser  geben,  welche  sich  befremdet  finden,  dafs 
die  Encyklopädie  der  Philosophie  andre  Umrisse  zeige,  als  die  Philosophie 
selbst;  und  welche  klagen,  sie  hätten  noch  immer  nicht  die  Wissenschaft 
gleichsam  mit  ihren  Augen  angeschaut.  Dieses  nun  halten  sie  wohl  für 
leichter  als  es  ist;  verführt  durch  allerley  Ansichten,  denen  keine  wahre 
Untersuchungen  zum  Grunde  liegen,  denn  solche  lose  Waare  ist  heutiges 
Tages  häufig  auf  dem  Markte.  Jedoch,  um  die  Resultate  der  ganzen 
Betrachtung  kenntlicher  vor  sich  hinzustellen,  können  sie  nochmals  die 
verschiedenen  philosophischen  Wissenschaften  ganz  kurz  durchmustern. 

Zuerst  kommt  alles  darauf  an,  ob  sie  sich  überzeugt  haben,  dafs 
praktische  Philosophie  und  Metaphysik  zwey  völlig  disparate  Wissen- 
schaften sind?  Haben  sie  daran  noch  den  geringsten  Zweifel:  so  bleibt 
nichts  übrig,  als  auf  die  beiden,  unter  jenen  Namen  vorhandenen,  frühern 
Schriften  zu  verweisen,  welche  so  lange  verglichen  werden  müssen,  bis  der 
Unterschied   unmittelbar  ins   Auge  springt.* 

1  Statt  der  folgenden  Worte;  Wer  nun  etwa  erwartete  ....  Ist  dies  ge- 
sichert:   (S.  329,  Z.   1   v.  o.)  hat  die  II.  Ausg.: 

Was  nun  ferner  über  das  Verhältnis  der  allgemeinen  Metaphysik 
und  praktischen  Philosophie  zu  andern  Wissenschaften,  und  über  das 
Verhältnifs  der  Psychologie  zu  beiden,  gesagt  worden,  das  kann  schon 
zur  Bezeichnung  des  systematischen  Zusammenhangs  in  der  gesammten 
Philosophie  in  den  Hauptzügen  dienen;  indessen,  um  die  Resultate  der 
ganzen  Betrachtung  kenntlicher  hinzustellen,  können  wir  nochmals  die  ver- 
schiedenen philosophischen  Wissenschaften  ganz  kurz  durchmustern. 

248.  Zuerst  kommt  Alles  darauf  an,  dafs  praktische  Philosophie 
und   Metaphysik  zwey  völlig  disparate  Wissenschaften  sind. 

Ist  die  Ueberzeugung  in  diesem  Hauptpuncte  gesichert: 

f  Insbesondere  vergleiche  man  Metaphysik  I.  §124  [=  Bd.  VII  vorl.  Ausg.]  und 
das  dort    Vorhergehende. 


Abschnitt.     Methodenlehre.     9.   Capitel.     Rückblicke,   und   Bemerkungen    etc.      329 


Ist  dies  gesichert:  so  überlege  man  die  Stellung,  welche  zunächst 
die  Logik  dadurch  bekommt,  dafs  sie  für  jene  beiden  [399]  disparaten1 
Disciplinen,  und  für  jeden  andern  Zweig  der  Gelehrsamkeit  die  gemein- 
same Vorschule  seyn  mufs.  Das  Gemeinsame  kann  sich  auf  die  Unter- 
scheidungsmerkmale seines  Untergeordneten  nicht  einlassen.  Daher  ge- 
hört Nichts  von  Allem,  was  die  Methoden  betrifft,  nach  denen  hier 
ästhetische  und  dort  widersprechende  Begriffe  müssen  behandelt  werden, 
in  die  Logik.  Alle  Versuche,  die  Logik  in  einem  ausgedehnteren  Sinne, 
als  bisher,  zur  Methodenlehre  zu  erheben,  müssen  aufgegeben  werden. 
Jede  besondere  Methode  gehört  dahin,  wo  ihre  Probleme  vorkommen. 
Die  Sphäre  ihrer  Anwendbarkeit  aber  reicht  so  weit,  als  man  mit  mehr 
oder  weniger  Sicherheit  der  Bedingungen  wiederfindet,  die  sie  voraus- 
setzt.* [400]  Die  sogenannte  transscendentale  Logik  aber,  welche  vorgiebt, 
ursprünglich    eingeborne    Begriffe    oder   Erkenntnifsformen   des   Verstandes 


1  disparaten    fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

*  Daher  gehört  die  Methode  der  Beziehungen  in  die  Metaphysik ;  denn  dort  liegen 
die  Probleme,  durch  welche  sie  geiordert  wird;  nämlich  gegebene  Widersprüche,  die 
dennoch  Erkenntnifsbegriffe  eines  Realen  sind.  Wendet  man  die  Methode  anders  an: 
so  geschieht  dies,  weil  in  die  Stelle  der  eigentlichen  Realität  eine  factische  Wirklichkeit 
tritt,  und  zwar  eine  solche,  die  ein  Merkmal  an  sich  trägt,  dessen  Nothwendigkeit 
nicht  gleich  einleuchtet.  Das  leichteste  Beyspiel  hievon  giebt  das  ästhetische  Urtheil, 
welches  objektiv  ist,  d.  h.  einen  theoretisch  erkennbaren  Gegenstand  hat,  während  die 
Gefühle  des  Angenehmen  rein  subjektiv  sind.  Zugleich  sieht  man  ohne  Mühe,  dafs 
solche  Gegenstände  Verhältnisse  in  sich  tragen;  als  da  sind  Verhältnisse  des  Umrisses 
an  der  Bildsäule,  der  Charaktere  im  Drama,  der  Töne  in  den  Accoiden  der  Musik. 
Nun  fragt  sich:  ist  es  nothwendig,  ist  es  allgemein,  dafs  jedes  ästhetische  Urtheil  auf 
den  Verhältnissen  seines  Gegenstandes  beruhen  mufs  ?  Dies  weifs  man  nicht.  Die  Noth- 
wendigkeit läfst  sich  nur  durch  die  Unmöglichkeit  des  Gegenteils  beweisen.  Dafs 
heifst:  wenn  der  ästhetische  Gegenstand  keine  Verhältnisse  in  sich  trüge,  so  wäre  im 
Begriffe  desselben  ein  Widersprach.  Und  so  ist  es.  Denn  zu  der  theoretischen  Auf- 
fassung mufs  etwas  hinzukommen,  damit  sie  übergehe  in  eine  ästhetische.  Zu  dem  Gegen- 
stande soll  aber  nichts  hinzukommen;  sondern  er  mufs  so  wie  er  ist,  ohne  Weiteres, 
unmittelbar,  (nicht  etwa  vermöge  eines  Beweises,)  gefallen  oder  ausfallen.  Also  wäre  die 
unmittelbare  Auffassung  des  Gegenstandes  zugleich  theoretisch  und  ästhetisch.  Aber 
das  widerspricht  sich.  Die  theoretische  (etwa  des  Geometers,  der  die  Bildsäule  als 
einen  blofsen  raumerfüllenden  und  bestimmt  gestalteten  Körper  betrachtet,)  ist  gleich- 
gültig, d.  h.  nicht  ästhetisch.  Die  nämliche,  stets  unmittelbare  Auffassung  des  Gegen- 
standes wäre  also  ästhetisch  und  nicht  ästhetisch  zugleich,  ohne  irgend  einen  Grund 
des  Unterschiedes.  Nun  sind  gleichwohl  die  ästhetischen  Gegenstände  factisch  vor- 
handen ;  und  dies  Factum  erträgt  keinen  Widerspruch  in  sich  selbst.  Wendet  man  die 
Methode  der  Beziehungen  an:  so  erfährt  man  das,  was  man  schon  wufste;  nämlich: 
man  soll  nach  ihr  den  Gegenstand  nicht  einfach,  sondern  vielfach  setzen;  und  in  der 
Vielfachheit,  im  Zusammen  des  Vielen,  soll  das  Gefallende  und  Misfallende  liegen,  das 
heifst:  in  den  Verhältnissen.  Dieses  eben  wufste  man;  aber  man  wufste  nicht,  es 
müsse  nothwendig  so  seyn.  Die  Nothwendigkeit  lehrt  die  Methode.  Und  das  ist  in 
der  praktischen  Philosophie,  nachdem  schon  bekannt  war,  dem  moralischen  Urtheil  liege 
ein  ästhetisches  zum  Grunde  (45.),  der  Fingerzeig  geworden,  welchem  gemäfs  die  ganze 
Reihe  der  Verhältnisse  gesucht  wurde,  in  denen  der  Wille  Gegenstand  des  Lobes  oder 
Tadels  werden  kann.  2  Vor  mehr  als  zwanzig  Jahren  sind  diese  Dinge  in  der  prak- 
tischen Philosophie  gelehrt  worden. 

2  Der  folgende  Satz:  „Vor  mehr  als  zwanzig  Jahren  ....  gelehrt  worden."  fehlt 
in  II.  Ausg. 


a    SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


00 


O  II.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83  r . 


nachzuweisen,  ist  nichts. Anderes,  als  ein  mishandeltes  1  Capitel  der  Psycho- 
logie;  und  auf  diese  allein   mufs  deshalb  verwiesen  werden. 

Jetzt  wenden  wir  uns  zur  praktischen  Philosophie.  Was  von  dieser 
nicht  in  seinen  mannigfaltigen  Einzelheiten  konnte  vor  Augen  gelegt 
werden,  das  ist  der  Kreis  von  Rechtsbegriffen,  welche  man  Naturrecht 
nennt.  2Es  hätte  zu  nichts  geholfen,  wenn  wir  darauf  hier  eingetreten 
waren;  denn  der  Zusammenhang  unter  den  Hauptteilen  der  Philosophie 
hängt  nicht  davon  ab.  3Nur  der  Hauptpunct,  dafs  nämlich  der  Grund- 
begriff des  Rechts  unter  den  praktischen  Ideen  die  vierte  Stelle  einnimmt, 
mufste  gezeigt  werden;  und  dies  ist  geschehen  (153.).  Auch  die  Nach- 
weisung, dafs  in  gröfsern  geselligen  Verhältnissen  sich  Recht  und  Billig- 
keit stets  beysammen  finden  müssen,  ist  nicht  übergangen  worden  (154.); 
woraus  folgt,  dafs  beide  sehr  leicht  verwechselt  werden;  und  dies  ist  in 
so  hohem  Grade  der  Fall  gewesen,  dafs  der  Name  Billigkeit,  (obgleich 
ihn  schon  das  Sprichwort:  was  dem  Einen  [401]  recht,  ist  dem  Andern 
billig,  in  seiner  Bedeutung  veststellen  konnte,)  seinen  wahren  Sinn  bey- 
nahe  verloren  hat,  wodurch  nun5  auch  die  wahre  Natur  des  Rechts,  das 
jenen  durchaus  heterogenen  Begriff  mit  in  sich  aufnehmen  sollte,  im  hohen 
Grade  verdunkelt  wurde.  In  praktischer  Hinsicht  das  Wichtigste  aber 
ist,  dafs  auf  bloße  Begriffe  des  Rechts  durchaus13  keine  brauchbare  Staats- 
lehre kann  gegründet  werden;  welche  vielmehr  dereinst  ihrem  gröfsten 
Theile  nach  auf  Psychologie,  unter  Beyhülfe  der  Geschichte  wird  zurück- 
zuführen seyn  (50,  und   89 — 101.). 

Da  die  ästhetische  Grundlage  des  moralischen  Urtheils  hier  als 
bekannt  vorausgesetzt  wird:  so  bleibt  in  systematischer  Hinsicht  für 
Denjenigen,    der   die    Umrisse    der   philosophischen   Disciplin    richtig   auf- 


1  „mislungenes  statt  mishandeltes  II.  Ausg.* 
Die  folgenden  Worte:   Es  hätte  zu  nichts  ....  eingetreten  wären;  denn 
fehlen  in  der  II.  Ausg.b 

'  Statt  der  folgenden  Sätze :  Nur  der  Hauptpunct,  ....  im  hohen  Grade 
verdunkelt   wurde   (11    Zeilen  weiter)  hat  die  II.  Ausg.: 

Dafs  der  Grundbegriff  des  Rechts  unter  den  praktischen  Ideen  die 
vierte  Stelle  einnimmt:  dafs  in  gröfseren  geselligen  Verhältnissen  sich  Recht 
und  Billigkeit  stets  beysammen  finden  müssen;  dafs  beide  sehr  leicht  ver- 
wechselt werden;  dafs4  der  Name  Billigkeit,  (obgleich  ihn  schon  das  Sprich- 
wort :  was  dem  Einen  recht,  ist  dem  Andern  billig,  in  seiner  Bedeutung 
veststellen  konnte,)  seinen  wahren  Sinn  beynahe  verloren  hat;  dafs  hie- 
durch  auch  die  wahre  Natur  des  Rechts,  welches  jenen  durchaus  heterogenen 
Begriff  mit  in  sich  aufnehmen  sollte,  im  hohen  Grade  verdunkelt  wurde: 
dies  ist  im  Vorhergehenden  theils  angegeben,  theils  sehr  leicht  -aus  dem 
Gegebenen  zu  schliefsen. 

,;   „durchaus"   fehlt  in  der  II.  Ausg.c 


a,  b  u.  c  SW  merken  die  Abweichungen  nicht  an. 
*  „dafs"  fehlt  SW. 
6  „nun"  fehlt  SW. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     9.  Capitel.     Rückblicke,    und  Bemerkungen   etc.      ly 


zufassen  und  zu  vergleichen  wünscht,  nach  allem  Vorhergehenden*  eigent- 
lich nur  eine  Vorsicht  zu  empfehlen  übrig;  diese  nämlich,  dafs  man  die 
Bewegung  des  Denkens,  welche  in  der  systematischen  Form  gleichsam 
starr  wird,  ja  nicht  für  gleichartig  in  der  praktischen  Philosophie  und  in 
der  Metaphysik  halte,  und  sich  hier  vor  übereilten  Analogien  sorgfältig1 
hüte.  Liegt  einmal  das  Fundament  der  praktischen  Philosophie  gehörig 
vest,  nämlich  die  praktischen  Ideen:  so  kann  zwar  die  alsdann  folgende 
Anwendung  auf  den  Menschen  und  seine  Verhältnisse,  im  Einzelnen  noch 
Schwierigkeiten  machen,  die  meistens  von  mangelhafter  Psychologie  her- 
rühren werden;  allein  im  Allgemeinen  ist  doch  eine  solche  Anwendung 
den  gewöhnlichen  logischen  Regeln  unterworfen,  2wovon  oben  (§  214.) 
das  Nöthige  gesagt  worden.  Die  Geschichte  der  Philosophie  giebt  dies 
deutlich  zu  erkennen.  Man  hat  von  jeher  weit  mehr  über  die  Be- 
gründung der  Ethik,  als  über  die  Ausführung  gestritten.  Das  absicht- 
liche3 Verkennen  der  ästhetischen  Grundlage,  (weil  man  zu  Imperativen 
forteilte,  um  mit  der  Kirche  und  dem  Staate  gleiche  [402 J  Sprache  zu 
führen,)  war  Schuld  an  aller4  Verwirrung;  und  das  Wesentlichste  der 
Systematik  besteht  hier  in  derjenigen  Heuristik,  die  vom  Begriffe  der 
Pflicht  ausgehend  (29.),  auf  ästhetische  Urtheile  hingewiesen,  mit  Hülfe 
des  Satzes:  dafs  solche  Urtheile  nur  auf  Verhältnisse  gehen  können,  den 
Willen  in  allen  seinen  Verhältnissen  betrachtet,  und  die  Reihe  derselben 
vollständig  darstellt. 

Hiebev  entsteht  nun  die  Frage:  ob  die  andern  Theile  der  Ästhetik 
nach  dem  Vorbilde  der  praktischen  Philosophie  können  gezeichnet  werden? 
welche  Frage  mufs  verneint  werden.  Denn  in  ihnen,  wenn  sie  auch  von 
den  Eigenheiten  der  Apperception  (70.)  sorgfältig  rein  gehalten  werden, 
überwiegt  doch  das  successive  Schöne  (nach  Art  der  Melodie)  bey  weitem 
das  simultane  (die  Harmonie),  und  die  aus  Raum  und  Zeit  entspringenden 
Verhältnisse  sind  von  ganz  andrer  Art,  als  diejenigen,  in  welchen  der 
Wille  sich  dem  sittlichen  Urteile  darstellt.  In  dem  Capitel  von  der 
schönen  Kunst  ist  soviel,  als  hier  Platz  fand,  darüber  gesagt  worden. 
Besonders  achte  man  auf  die  Absonderung  dessen,  was  nicht  streng  zum 
objeetiven  Schönen  gehört  (nach  76.).  Die  mühsamste  Arbeit  aber  ist 
hier  analytisch;  und  die  Bewegung  des  Denkens,  indem  sie  Verschieden- 
artiges trennt,  den  Aehnlichkeiten  aber  nachfolgt  (46.),  geht  weit  mehr  in 
die  Breite,  als  in  die   Tiefe. 


*  Insbesondre  nach  dem,  was  oben  über  Vernunftkritik,  Fundamentalphilosophie, 
und  über  ein  vorgebliches  allgemeines  System  ist  gesagt  worden,  1  denn  das  soll  hier 
unvergessen  seyn. 

1  Die  folgenden  Worte  ,,denn  das  soll  hier  unvergessen  seyn"  fehlen  in  der 
II.  Ausg. 

2  „sorgfältig"   fehlt  in  der  II.  Ausg.  a 

3  Die  folgenden  Worte:  wovon  oben  ....  gesagt  worden  fehlen  in  der 
II.  Ausg. 

4  „absichtliche"   fehlt  in  der  II.  Ausg.b 

5  der   statt    aller   II.  Ausg. 


a  u.  b  SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 


Ti2  n.  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      1831. 

Ganz  anders  verhält  sich's  mit  der  Metaphysik.  Wer  in  dieser  das 
Prinzip  absolut  setzen  will,  der  macht  die  ganze  Wissenschaft  zum  Kirn- 
gespinnst.  Ihr  Grund  und  Boden  ist  das  Gegebene.  xAber  wer  da 
meint,  Gegebenes  und  Vorgefundenes  nur  blofs  gleich  Mauersteinen  an 
einander  fügen  und  auf  einander  legen,  oder  gar  den  gegebenen  Gründen 
andre  Begründungen  unterschieben  zu  dürfen:  der  hat  vom  System  der 
Metaphysik  nicht  den  geringsten  Begriff.  Die  Bewegung  des  Denkens 
mufs  hier,  nachdem  sie  durch  unzählige  Schwierigkeiten  auf  den  Satz: 
Alles  Gegebene  ist  mir  Erschei7inng !  zurückgedrängt  wurde,  von  dem  so- 
gleich folgenden  Satze:  Aller  Schei?i  deutet  aufs  Seyn,  wieder  vordringend, 
jeden  Begriff  von  vorn  an  schaffen;  dazu  [403]  aber  müssen  die  Motive 
des  fortschreitenden  Denkens  in  voller  Kraft  wirksam  seyn;  das  heifst: 
die  Widersprüche  in  den  Begriffen  der  Inhärenz,  der  Veränderung,  der 
Materie,  und  des  Ich,  müssen  klar  vor  Augen  liegen.  -So  lange  man 
sich  dieselben  nicht  gestehen  wollte,  war  Metaphysik  so  viel  werth,  als 
sie  dem  Publicum  galt,  das  heifst:  Nichts.  Je  mehr  man  von  Ontologie 
redete,  desto  deutlicher  kam  zu  Tage,  dafs  man  das  wahre  Seyn  vor  dem 
zerstörenden  Wechseln  und  Scheinen  nicht  zu  retten  wufste. 

Die  Logik  schafft  zwar  auch  in  der  Metaphysik  bedeutende  Er- 
leichterungen, aber  diese  sind  noch  immer  nicht  leicht,  und  überdies  sind 
sie  nicht  das  Wesentliche. 

So  hat  man  die  Methode  der  Beziehungen  in  abstracto  schwierig  ge- 
funden. Was  ist  aber  diese  Methode?  Nichts  als  der  Ausdruck  für  die- 
jenige Richtung  des  Denkens,  welche  durch  gegebene  Widersprüche  noth- 
wendig  wird.  Hätte  nun  Heraklit  unter  den  Alten,  hätte  Fichte  unter 
den  Neuern,  diesen  Ausdruck  gekannt:  so  wäre  wenigstens  ihr  Denken 
vor  seiner  falschen  Wendung3  gewarnt  worden.  4Sie  hätten  alsdann  eine 
unsägliche  Mühe  sparen  können.  Der  logisch  allgemeine  Ausdruck,  welcher 
anzeigt,  was  bey  Widersprüchen,  die  Realität  prätendiren,  zunächst  zu 
thun  sey,  ist  eine  sehr  grofse  Erleichterung  desjenigen  Nachdenkens,  was 
sonst  in  jedem  einzelnen  Falle  von  vorn  an  beginnen  müfste,  und  ge- 
wöhnlich ganz  verfehlt  wird.  Gleichwohl  wäre  es  zuviel  behauptet,  wenn 
man  sagen  wollte,  die  Methode  der  Beziehungen  sey  durchaus  unentbehr- 
lich. Man  nehme  sie  hinweg:  die  Metaphysik  wird  noch  immer  die 
nämlichen5    Resultate    liefern,    vorausgesetzt,    dafs   man   das   Problem    der 


1  Der  folgende  Satz:  „Aber  wer  da  meint,  ....  nicht  den  geringsten 
Begriff"    fehlt  in  der  II.  Ausg.* 

2  Statt  der  folgenden  Sätze:  So  lange  man  sich  ....  nicht  zu  retten 
wufste  hat  die  II.  Ausg.:  Es  kommt  alsdann  darauf  an,  das  wahre  Seyn 
vor  dem   zerstörenden  Wechseln  und  Scheinen  zu  retten. 

3  Die  Worte:   vor   seiner   falschen   Wendung   fehlen  in  der  II.  Ausg.b 

4  Der  folgende  Satz:  Sie  hätten  alsdann  eine  unsägliche  Mühe  sparen 
können    fehlt  in  der  II.  Ausg. 

a  SW  dnicken  nach  der  II.  Ausg.    ohne  Angabe  des   Zusatzes  der  I.  Ausg. 
b    SW  merken  die  Abweichung  nicht  an. 
6  „dieselben"  statt  „die  nämlichen"  SW. 


2.  Abschnitt      Methodenlehre.      9.  Capitel.     Rückblicke,    und  Bemerkungen  etc.      333 

Inhärenz,  der  Veränderung,  und  des  Ich,  jedes  einzeln  genommen  richtig 
zu  behandeln  verstehe.  Möglich  ist  das;  denn  jedes  dieser  Probleme 
enthält  das  Motiv  des  fortschreitenden  Denkens  vollständig  in  sich  selbst. 
Aber  hier  wäre  ein  Fehler  in  der  Systematik,  wofern  versäumt  wäre, 
durch  die  Methode  der  Beziehungen  dasjenige  zuvörderst  im  allgemeinen 
Ausdrucke  voran[40-i]zuschicken,  was  in  der  nothwendigen  Behandlung 
eines   jeden    von  jenen    drey  Problemen   als   das   Gemeinsame   vorkommt. 

Uebrigens  werden  Diejenigen,  welche  die  Methode  der  Beziehungen 
schwer  finden  vollständig  zu  verstehen,  doch  bekennen  müssen,  dafs  sich 
soviel  davon,  als  wir  für  gut  fanden1  hier  darüber  zu  sagen  (185.),  sehr 
Jeicht  begreifen  läfst.  Es  kommt  nur  darauf  an,  dafs  man  sich  der  frucht- 
losen Hartnäckigkeit  begebe,  mit  welcher  Manche  es  lieben,  in  Wider- 
sprüchen stecken  zu  bleiben,  und  dieselben  entweder  mit  Hegel  offen- 
herzig zu  beichten,  oder  aber  sie,  2was  weit  schlimmer  und  tadelnswerther 
ist,  künstlich  zu  läugnen  und  zu  verschleyern,  während  es  frey  stand,  zur 
offenen  Thür  hinaus  zu  gehen.  Der  Hauptgedanke:  dafs  ein  zusammen- 
gefafstes  Vieles  Aufschlüsse  darbieten  kann,  die  ein  für  einfach  Gehaltenes 
nimmermehr  würde  er rathen  lassen,  ist  ganz  leicht.  Es  fragt  sich  nur  noch, 
ob  man  ihn  zu  brauchen  wisse? 

Und  hier  hätten  die  zufälligen  Ansichten,  welche  in  der  Mathematik  aus 
Beyspielen  bekannt  sind,  einigen  grofsen  Denkein  wohl  zu  Hilfe  kommen 
können,  wenn  sie  sich  am  rechten  Orte  darauf  besonnen  hätten. 

3  Allein  wir  haben  in  diesem  Buche  nicht  nöthig  gehabt,  Metaphysik 
eigentlich  zu  lehren.  Dafs  allgemeine  Metaphysik,  ehemals  Ontologie  ge- 
nannt, der  Psychologie,  Naturphilosophie  und  Religionslehre  vorausgehn 
mufs,  ist  eben  so  wahr,  als  längst  bekannt.  Dafs  zur  allgemeinen  Meta- 
physik, aufser  der  Methodologie,  noch  drey  Theile  gehören,  nämlich  eigent- 
liche Ontologie,  Synechologie,  und  Eidolologie,  haben  wir  angezeigt  (190.). 
Was  nun  der  Leser  vermissen  wird,  ist  die  Beschreibung  des  systematischen 
Zusammenhangs  dieser  Theile.  Darüber  läfst  sich  freylich  negativ  leicht 
soviel  sagen ,  dafs  die  Gegenstände  derselben ,  Substanz  und  Ursache, 
Raum  und  Zeit,  Subject  und  Object,  keinesweges  also  neben  einander  auf- 
treten, wie  etwa  die  Capitel  in  der  Vorkantischen  Metaphysik,  die  davon 
handeln;  oder  wie  die  Formen  der  Sinnlichkeit,  des  Verstandes,  und  der 
Vernunft,  in  Kants  Kritiken;  oder  wie  [405]  bey  uns  die  fünf  praktischen 
Ideen.  Auch  das  könnte  Jeder  nach  dem  Vorhergehenden  sich  selbst 
sagen,   dafs  an  Ausstrahlung  aus  Einem  Princip  dabey  nicht  zu  denken  ist. 

Wir  haben  am  gehörigen  Orte  versucht,  dem  Leser  aus  der  Meta- 
physik etwas  zu  erzählen.  Diese  Erzählung  lautet  zwar  wie  eine  positive 
Nachricht:  aber  damit  hat  man  noch  keineswegs  einen  Begriff  von  dem 
worauf  es  ankommt:    nämlich    von    der  Bewegung    des   Denkens    in  jedem 


1  „als  passend  schien"   statt   „als  wir  für  gut   fanden"  II.  Ausg.* 

2  Die  folgenden  Worte:    „was  weit  schlimmer  ....  künstlich"   fehlen  in  der 
II.  Ausg.b 

3  Der  folgende  Satz:    Allein  wir  haben  ....  zu  lehren  fehlt  in  der  II.  Ausg. 


a  u.  b  SW  merken  die  Abweichungen  nicht  an. 


334  ü-    K-urze   Encyklopädie  der  Philosophie.      1 83 1. 


Puncte  der  Metaphysik.  Sie  aber  ganz  allein  ist  hier  das  Wesen  der 
Systematik.  Aus  ihr  nur  läfst  sich  erkennen,  dafs  die  vier  Theile  der 
Wissenschaft  nicht  dürfen  in  eine  andre  Stellung  und  Folge  gebracht,  viel- 
weniger durch  einander  gemengt  oder  auf  ein  einziges  Princip  reducirt 
werden,  wie  man  so  oft  versucht  hat;  dafs  sie  vielmehr  gerade  so  stehn 
bleiben  müssen,  wie  sie  stehn,  ohne  mögliche  Gefälligkeit  gegen  irgend 
ein  Meinen,  Wünschen,  Seufzen  oder  Zürnen,  wie  wir  dergleichen  oft  ge- 
nug vernommen  haben  und  noch  jetzt  vernehmen.  Hierüber  Denjenigen 
näher  zu  belehren,  der  nicht  die1  Metaphysik  selbst  zur  Hand  nehmen 
will,  darauf  müssen  wir  Verzicht  thun;  wohl  wissend,  dafs  Jeder  so  lange 
Skeptiker  seyn  und  bleiben  wird,  wie  lange  er  nicht  durch  eigne  An- 
strengung sich   durchgearbeitet  hat. 

Den  einzigen  Vortheil  hat  die  Metaphysik,  —  nämlich  die  allgemeine, 
welche  eine  geschlossene  Wissenschaft  ist,  ohne  mögliche  Erweiterung  ihres 
Umfangs,*  —  vor  der  Psychologie  voraus,  dafs  sie,  gerade  ihres  Dunkels 
wegen,  nicht  mit  so  vielem  falschen  Lichte  leuchtet,  wie  die  letzt  genannte, 
die  gar  Manche  anlockt,  und  bald  zu  Wagstücken  verleitet,  bald  durch 
Plattheiten  scheinbar  befriedigt. 

Es  ist  unmöglich,  in  der  Psychologie  die  Bewegung  des  Denkens  so 
streng  vorzuschreiben,  wie  in  der  praktischen  Philosophie  und  Metaphysik. 
Daher  wird  noch  lange  die  systematische  Form  der  Wissenschaft  schwanken, 
und  mancherley  [406]  fruchtlose  Versuche  veranlassen.  Sondert  man  den 
empirischen,  mathematischen,  und  metaphysischen  Theil  streng  von  einander : 
so  ist  keiner  von  ihnen  für  sich  allein  zu  gebrauchen.  Verbindet  man 
sie,  wenn  auch  durch  die  gewählteste  Verknüpfung,  so  leidet  doch  am 
Ende  die  logische  Deutlichkeit.  Daher  mufs  hier  die  Form  des  Vortrags 
vom  System  unterschieden  werden.  Darf  man  indessen  gebildete  Männer 
voraussetzen,  denen  schon  Menschenkenntnifs  und  geübte  Selbstbeobachtung 
eigen  ist,  so  behält  das  System  der  Psychologie  diejenige  Form,  welche 
oben  bezeichnet  wurde.  Der  mathematische  Theil,  welcher  synthetisch  von 
den  einfachsten  denkbaren  Annahmen  ausgeht,  und  an  Aufschlüssen,  die 
sich  nicht  errathen  lassen,  am  reichsten  ist,  tritt  voran;  entweder  an  die  Eido- 
lologie  der  Metaphysik  geknüpft,  oder,  falls  man  es  für  sicherer  hält,  zuerst 
blofs  hypothetisch.  Der  empirische  Theil  in  seinen  Hauptumrissen  folgt 
nach,  um  Analysen  darzubieten,  die  sich  mit  jener  Synthesis  vereinigen  und 
sie  bestätigen.  Aber  keiner  von  beiden  Theilen  läfst  sich  vest  begränzen; 
sowohl  die  Synthesis  als  die  Analysis  sind  immer  noch  der  Erweiterung 
fähig.  Dazu  kommt,  dafs  die  Psychologie  als  ein  Vorrath  von  Kenntnissen 
mannigfaltig  benutzt  werden  mufs;  bald  für  die  Metaphysik  in  Form  der 
Vernunftkritik,  bald  für  die  sämmtlichen  Theile  der  praktischen  Philosophie 
und  der  gesammten  Aesthetik.  Hier  brechen  wir  ab;  da  sich  die  Natur- 
philosophie in  diesem  Buche  ganz  im  Hintergrunde  halten  mufste. 


1   „die"   fehlt  II.  Ausg.» 

N  Geschlossen?  Wenn  die  Principien  nur  ein  zufälliges  Aggregat  (157.)  bilden? 
So  wird  der  aufmerksame  Leser  fragen.  Es  wird  ihm  auch  nicht  zugemuthet,  dafs  er 
die  Geschlossenheit  voraus   >ehe.     Er  studire  die  Metaphysik,  so  wird  er  sie  finden! 

a  S\\"   merken   die  Abweichung  nicht  an. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.      9.   Capitel.      Rückblicke,    und   Bemerkungen   etc.       ^^ 

226.  x Sind  nun  hiemit  die  vesten  Hauptumrisse  der  Philosophie  ver- 
zeichnet: warum  denn  sind  nicht  eben  sie  zugleich  die  Umrisse  des 
Buchs?  Warum  ist  nicht  der  Raum  desselben  unter  Logik,  Ethik,  Aesthetik. 
Metaphysik,  Psychologie,  Naturphilosophie,  und  Religionslehre  gleichmäfsig 
vertheilt?  Warum  ist  nicht  die  Gestalt  jeder  Wissenschaft  in  verjüngtem 
Maafsstabe   beibehalten  worden  ? 

Es  mag  etwas  mislich  seyn,  die  Beantwortung  zu  übernehmen.  Be- 
richt über  die  Philosophie  war  versprochen.  Wer  [407]  Berichte  annimmt, 
behält  sich  vor,  nach  eignem  Gutfinden  darauf  zu  verfügen,  oder  doch 
sie  beliebig  zu  benutzen.  Das  dazu  nöthige  richtige  Urtheil  traut  man 
sich  zu.  Wird  man  geneigt  seyn  anzuhören,  dafs  in  Ansehung  der  Philo- 
sophie das  eigne,  selbstvertrauende  Urtheil  leicht  täuschen  könne?  Und 
doch  mufs  diese   Antwort  gegeben  werden. 

Dem  Leser  wurde  soviel  Ueberzeugung  gewünscht,  als  eine  Encv- 
klopädie  gewähren  kann.  Von  derjenigen  vollständigen  Ueberzeugung, 
welche  nur  aus  einem  beharrlichen  Studium  der  Philosophie  entspringt, 
darf  hier  nicht  die  Rede  seyn.  Oberflächlich  angesehen  aber  schaffen  die 
kunstgerechten  Formen  der  Wissenschaft  gar  keine  Ueberzeugung;  so  wenig 
als  etwa  ein  physikalischer  Apparat,  dessen  man  sielt  nicht  zum  Experi- 
mentiren bedient.  Sie  befremden  nur!  Lange  genug  ist  die  Philosophie 
als  eine  Summe  paradoxer  Meinungen  betrachtet  worden,  nur  dazu  taug- 
lich,  unnützen  Streitigkeiten   stets   frische   Nahrung  zu  geben. 

Ueberzeugung  mufs  haften  an  den  geselligen  Lebensverhältnissen,  und 
an  demjenigen  Nachdenken,  welches  dadurch  schon  längst  in  Bewegung 
gesetzt,  längst  in  täglichen  Gebrauch  gekommen  war.  Von  diesen  Lebens- 
verhältnissen, diesem  Nachdenken  gingen  wir  aus.  Die  Vestigkeit  der 
Anknüpfung  eines  langen  Gedankenfadens  an  den  Punct  des  Ausgehens 
läfst  sich  freylich  nicht  verbürgen;  manches  früher  Angeregte  mag  wieder 
hinweggedrängt  seyn  durch  den  nachfolgenden  Vortrag.  Dann  aber  wird 
desto  eher  eine  Warnung  Platz  finden,  man  möge  die  Aneignung  der 
Philosophie  nicht  für  leicht  abgethan  halten.  Sie  erfordert  ganz  andre 
Uebungen,  als  die  Uebung  im  Schnelllesen  und  im  Geltenmachen  eigner 
Meinung  gegen  das  gelesene  Buch.  Häufig  zu  den  Hauptpuncten  zurück- 
kehrendes Denken,  wobey  sich  neue  und  wieder  neue  Seiten  und  Ver- 
knüpfungen der  Gegenstände  entdecken,  —  wobey  die  Anfangs  loseren 
Verbindungen  sich  allmählig  bevestigen,  —  während  das  Entgegenstehende 
mehr  und  entschiedener  sich  trennt,  —  dies  hebt  am  bequemsten  die 
Abstraction  von  Stufe  und  Stufe,  und  gewährt  dabey  das  Bewufstseyn,. 
dafs  man  [408]  stets  vesten  Boden,  ja  sogar  eine  breite  Basis  behalte. 
Jedoch  dazu  gehört  Geduld,  die  es  nicht  übel  empfindet,  dafs  manchmal 
Schwierigkeiten,  die  Anfangs  absichtlich  vertheilt  waren,  späterhin  näher 
zusammenrücken  und  eine  vermehrte   Anstrengung  erheischen. 

Uebrigens  wird  wohl  jeder  Schriftsteller,  der  öfter  misdeutet  wurde, 
endlich  dahin  kommen,   einen  Unterschied  zu  machen  zwischen  den  Formen 


1    Von  §    226   [=249  der  II.   Ausg.]    fehlen    die  ersten   fünf  Absätze    (Sind    nun 
hiemit  ....   Mittheilung  passend  scheinen)  in  der  II.  Ausg. 


336  II.    Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1 . 

und   Hülfsmitteln,   deren   er  für  sich   zum  Erfinden  und  Prüfen  bedarf,   und 
andern  Formen,  die  mehr  zur  Mittheilung  passend  scheinen. 

Man  erwartet  vielleicht,  dafs  am  Ende  dieses  Buchs  noch  etwas  über 
die  Geschichte  der  Philosophie  gesagt  werde.  Wenige  Worte  müssen 
genügen.  Für  Diejenigen,  welche  Metaphysik  gründlich  studiren  wollen, 
ist  Geschichte  der  Philosophie  ein  nothwendiges  Uebel.  Sie  müssen  den 
Umfang  des  Irrthums  kennen  lernen,  aus  dessen  Mitte  die  Wahrheit  als 
nothwendig  hervortritt.  Sie  werden  finden,  dafs  die  Motive  des  fort- 
schreitenden Denkens,  welche  in  den  gegebenen  Formen  der  Erfahrung 
liegen,  sich  schon  längst,  schon  in  sehr  alter  Zeit  geregt  haben;  aber 
ohne  durchzudringen,  weil  es  bald  an  Entschlossenheit,  bald  an  Fleifs, 
bald  an  unbefangener  Wahrheitsliebe,  bald  —  und  in  der  Vorzeit  durch- 
gehends,  —  an  den  nöthigen  Hülfsmitteln  fehlte. *  So  lange 2  die  höhere 
Mathematik  nicht  zum  bequemen  Gebrauche  ausgebildet  war,  konnte  die 
Psychologie  nicht  gedeihen;  so  lange  die  Psychologie  nicht  in  den  rechten 
Gang  der  Untersuchung  kam,  lag  sie  der  Metaphysik  im  Wege;  ja  sie 
stellte  sich  ihr  recht  absichtlich  in  den  Weg!  So  ist  es  dahin  gekommen, 
dafs  noch  heute 3  Metaphysik  mit  Naturlehre  des  menschlichen  Erkennens 
verwechselt  wird;  welches  nicht  klüger  ist,  als  ob  Einer  Ostindien  und 
Westindien    verwechselte.     Zu    solchem    Irrthum    würde    Kant,    dem    die 


1  Hier  hat  die  II.  Ausg.  folgenden  Absatz  eingeschoben: 

Woran  es  dem  Aristoteles  eigentlich  gefehlt  habe,  —  ihm,  der 
mehr  als  irgend  ein  Andrer  während  vieler  Jahrhunderte,  auf  die  philo- 
sophischen Schulen  wirkte,  —  darüber  genauer  zu  sprechen  ist  hier  nicht 
der  Ort;  allein  das  darf  man  seinen  heutigen  Verehrern  sagen,  dafs  sie 
nicht  Mehr  aus  ihm  heraus  lesen  werden  als  in  ihm  liegt.  Platon  hatte 
es  ihm  leicht  genug  gemacht,  für  die  praktischen  Ideen  den  ästhetischen 
Standpunkt,  für  die  Metaphysik  den  Widerspruch  des  absoluten  Werden 
vestzuhalten ;  er  hat  beides  nicht  benutzt.*  Dem  Schaden  nachzuspüren, 
welchen  sein  Einfiufs  den  spätem  Systemen  gebracht  hat,  wird  für  künftige 
Bearbeiter  der  Geschichte  der  Philosophie  ein  Haupt- Augenmerk  seyn 
müssen.  Unter  den  neuern  berühmten  Denkern  ist  vielleicht  Locke  allein 
von  diesem  Einfiufs  frey  geblieben ;  und  hieraus  vorzugsweise  mag  sich's 
erklären,  dafs  Locke  so  mächtig  auf  sein  Zeitalter  wirkte;  während  man 
nicht  von  ihm  rühmen  kann,  er  sey  der  philosophischen  Probleme  mächtig 
geworden. 

.Man  vergleiche  den  Schlufs  des  ersten  Bandes  der  Metaphysik,  und  die  eisten 
Blätter  der  analytischen  Beleuchtung  des  Naturrechts  und  der  Moral.  Ganz  neuerlich 
hat  Hr.  Prof.  Hartenstein  eine  Abhandlung  geschrieben:  de  psychologiae  vulgaris 
origine  ab  Aristotelc  repetenda.  Die  Abhandlung  schliefst  mit  folgenden  Worten : 
Aristoteles  ea  quidem  disquisitionis  incitamenta,  quae  in  notionibus  rci _per  varias 
qualitates  tanquam  suas  cogitandae,  et  rei  mutatae  insunt,  et  quae  etiam  Aristotclis 
placitis  tacite subsunt,  ita  abcondidtt,  utpermulta  saecula  metaphysicam  et  psycho  logiam, 
ei'us  exemplum  secutam,  magis  in  verbis,  fingendis  quam  in  notionibus  corrigendis 
patam  conspü  iamus. 

-  „So  lange  übrigens"  statt  „So  lange"  II,  Ausg. » 
,, neuerlich"  statt   „heute"  II.  Ausg.t» 


u.  b  SW  merken  die  Abweichungen  nicht  an. 


2.  Abschnitt.     Methodenlehre.     9.  Capitel.     Rückblicke,    und   Bemerkungen  etc.      537 

Verehrung  aller  Zeiten  gewifs  ist,  keine  Veranlassung  gegeben  haben, 
wenn  ihm  die  rechten  Hülfsmittel  zu  Gebote  gestanden  hätten.  Ihm 
fehlte  sogar  theilweise  das,  wovon  wir  reden;  die  Geschichte  der  Philo- 
sophie, die  erst  nach  ihm,  und  in  Folge  der  von  ihm  gegebenen  Auf- 
regung des  gesamm[409]ten  philosophischen  Studiums,  mit  Geist  und  Ge- 
schmack, und  in  ihrem  gehörigen  Umfange  bearbeitet  wurde.  Das  ist  ein 
Hauptgrund,  weshalb  heutiges  Tages  die  Rückkehr  zu  Kant  nicht  mög- 
lich ist. 1 

Wäre  in  diesem  Buche  Metaphysik  die  Hauptsache  gewesen:  so 
müfsten  wir  allerdings  auf  Geschichte  der  Philosophie  uns  einlassen.  Da 
jenes  nicht  der  Fall  war,  so  ist  auch  dies  nicht  nöthig;  sondern  es  reicht 
hin,  auf  den  ersten,  historisch-kritischen  Theil  der  Metaphysik  zu  ver- 
weisen, 2  worin  der  Verfasser  für  die  Mehrzahl  der  heutigen  Philosophen 
dasjenige  niedergelegt  hat,  was  sie  am  wenigsten  hören  wollen. 

Blofse  Liebhaber  der  Philosophie  müssen  gegen  das  Studium  der 
Geschichte  derselben  eher  gewarnt  als  dazu  ermuntert  werden.  Sie  laufen 
Gefahr,  die  Wissenschaft  aus  den  Augen  zu  verlieren  über  den  Personen, 
die  man  Philosophen  nennt.  Zwar  wird  jede  gutgeschriebene  Geschichte 
sie  dagegen  zu  schützen  suchen;  aber  der  Eindruck  von  Verwirrung, 
welchen  die  Systeme  machen,  die  als  eben  so  viele  streitende  Personen 
auftreten,  läfst  sich  durch  keine  Schreibart  vermeiden.  Dals  die  erofsen 
Denker  der  frühern  Jahrhunderte  schon  oft  sehr  nahe  daran  waren,  das 
Rechte  zu  treffen;  dafs  eine  kleine  Erinnerung,  wäre  sie  im  Augenblicke 
der  Meditation  dargeboten  worden,  gar  vielem  späterhin  lang  aus- 
gesponnenem Irrthum  hätte  vorbeugen  können;  dals  überhaupt  der  meta- 
physische Irrthum  mehr  vielgestaltig  als  mannigfaltig  ist,  weil  Metaphysik 
im  engern  Sinne  (allgemeine  Metaphysik)  nur  einen  kleinen  Kreis  von 
Begriffen  hat,  in  welchem  sie  alle  möglichen  Bewegungen  versucht,  bevor 
sie  gerade  aus  gehen  lernt:  dieses,  und  so  vieles  Andre,  was  man  wissen 
mufs,  um  zu  begreifen,  woran  es  lag,  dafs  auf  Fortschritte  wieder  Rück- 
schritte folgten,  kann  man  dem  blofsen  Liebhaber,  der  zum  anhaltenden 
Studium  die  nöthige  Mufse  nicht  hat,  unmöglich  ins  gehörige  Licht 
stellen. 

Ihm  ist  höchst  nöthig  zu  bemerken,  dafs  Philosophie  nicht  Geschichte 
ist.     Wer  viel    umherhorcht,    was    Andre   gesagt   haben    oder   noch  sagen, 


1    Hier  hat  die  II.  Ausg.  folgenden  Zusatz: 

Es  giebt  freylich  der  Gründe  mehrere;  wie  dies  bey  einer  Lehre, 
welcher  verschiedene  kritische  Ansichten  zu  Grunde  liegen,  nicht  ganz  un- 
erwartet seyn  kann,    so  sorgfältig  auch    ihr   Mannigfaltiges  veibunden  ist.* 

*  Aufser  demjenigen,  was  in  der  Metaphysik,  der  Psychologie,  der  analytischen  Be- 
leuchtung d.  N.  u.  d.  M.  an  verschiedenen  Stellen  gesagt  worden,  kann  noch  auf  den 
letzten  Aufsatz  im  zweyten  Hefte  der  psychol.  Untersuchungen  hingewiesen  werden. 
Uebrigens  darf  hier  das  historisch  -  kritische  Werk  des  Dr.  Taute,  die  Religions- 
philosophie (erster  Theil)  nicht  unerwähnt  bleiben.  Die  dortige  sehr  strenge  Kritik 
über  die  neuern  Systeme  möchte  doch  in  einem  mildern  Lichte  erscheinen,  wenn  man 
abrechnete,  was  Aristoteles  einerseits,  was  Spinoza  andrerseits,  zu  verantworten 
haben. 

-  Die  folgenden  Worte:  „worin  der  Verfasser  ....  hören  wollen."  fehlen 
in  der  II.  Ausg. 

Herbart's  Weike.     IX.  2  2 


Tig  IL  Kurze  Encyklopädie  der  Philosophie.      183 1. 

wer  darauf  wartet  was  sie  wohl  sagen  [410]  werden:  der  wird  zwar 
Mancherley  zu  hören  bekommen,  aber  philosophische  Einsicht  kann  er 
auf  diese  Weise  nicht  erhorchen.  Diese  beruhet  auf  der  Deutlichkeit  der 
Begriffe,  und  auf  der  Arbeitsamkeit,  womit  man  die  von  ihnen  geforderte 
Bewegung  des  Denkens  vollführt.  Geschichte  aber  läfst  sich  als  Auctorität 
für  alle  mögliche  Meinungen  gebrauchen;  sie  giebt  der  Wahrheit  Licht, 
aber  auch  dem  Irrthum,  und  läfst  Denjenigen  schwankend  stehn,  der  nicht 
am   Ende  selbst  zu  entscheiden  weifs. 

Für  praktische  Gegenstände  besitzt  der  praktisch  gebildete  Mensch 
hinreichendes  Licht  in  sich  selbst,  um  ohne  lange  geschichtliche  Vor- 
bereitung eine  richtige  Darstellung  aufzufassen  und  sich  anzueignen.  Hat 
er  die  Hauptpuncte  begriffen,  so  hat  er  hiemit  auch  den  Maafsstab, 
wornach  er  die  Wahrheit  oder  Wahrscheinlichkeit  dessen  was  man  ihm 
sonst  noch  vorträgt,  für  seinen  individualen  Gebrauch  bestimmen  mufs. 
Die  Einsicht,  die  man  bietet,  mufs  ihm  dienen;  fördert  sie  ihn  in  seinem 
Thun  und  Denken,  so  ist  sie  gut  für  ihn;  findet  sich  das  Gegentheil,  so 
mufs  er  die  Entscheidung  schwieriger  Puncte  den  geübtem  Denkern  an- 
heimstellen.   • 


III. 
BRIEFE 

UEBER  DIE 

ANWENDUNG  der  PSYCHOLOGIE 

AUF  DIE 

PAEDAGOGIK. 

[Unvollendet.] 

[I83I.] 

[Text  nach  dem  Msc.   2054  der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Bereits  gedruckt  in: 

SW  =  J.    F.    Herbart's    Sämmtliche    Werke    (Bd.    X),     herausgegeben    von    G. 
Hartenstein  . 
KlSch  =  J.    F.    Herbart's    Kleinere    Schriften    (Bd.    II),    herausgegeben    von    G. 
Hartenstein. 
R   =  J.   F.   Herbart's  Pädagogische  Schriften  (Bd.  II),  herausgegeben  von  Karl 
Richter. 
W.  =  J.  F.  Herbart's  Pädagogische  Schriften  (Bd.  II),  herausgegeben  von  Otto 
Willmann. 

22* 


I. 

Zu  lange  nach  so  vieljähriger  Erfahrung,  mein  theurer  Freund! 
schieben  Sie  es  auf,  die  Ergebnisse  Ihres  pädagogischen  Denkens  und 
Beobachtern  zu  sammeln,  und  öffentlich  mitzutheilen.  Fürchten  Sie  etwa 
kein  Gehör  zu  finden?  Vergessen  Sie  diese  fast  allgemeine  Gefahr,  und 
richten  Sie  Ihren  Blick  auf  das  Zeitalter,  das  so  wenig  weife,  was  es  will ! 
Schon  Ihr  ruhiger  und  gehaltener  Ton  ist  wohl  geeignet,  wenigstens 
hie  und  da  Ueberlegung  zu  veranlassen,  wo  Vorurtheile  mit  einander 
streiten.  Und  da  wir  in  Grundsätzen  übereinstimmen,  so  erlauben  Sie 
mir  die  Hoffnung,  dafs  auch  Ihre  Erfahrungen  mir  nicht  widerstreben. 
Vielleicht  steht  es  in  Ihrer  Hand,  mir  schätzbare  Belege  und  Erläuterungen 
zu  demjenigen  herbeyzuschaffen,  was  ich,  nach  meiner  Gewohnheit,  in  all- 
gemeinen  Begriffen  hinstellen   werde. 

Nicht  blofs  aber  um  Sie  zu  mahnen,  schreibe  ich  diese  Briefe.  Auch 
mir  liegt  etwas  im  Sinne,  das  ich  eine  alte  Schuld  nennen  würde,  wenn 
es  mehr  wäre,  als  ein  Versprechen,  das  ich  vor  vielen  Jahren  mir  selbst 
gegeben  habe.  Sie  kennen  meine  allgemeine  Pädagogik.  Sie  wissen,  das 
Buch  blieb  unvollständig,  weil  es,  wie  der  Titel  besagt,  zwar  aus  dem 
Zwecke  der  Erziehung  abgeleitet  wurde,  aber  der  Psychologie  ermangelte, 
die  ich  damals  erst  suchte.  Seitdem  —  haben  wir  über  und  wider  meine 
Psychologie  so  mancherley  gelesen,  dafs,  wenn  sie  noch  nicht  davon  ge- 
storben ist,  sie  billig  ein  Lebenszeichen  von  sich  geben  sollte;  wäre  es 
auch  nur,  damit  nicht  Personen,  die  viel  jünger  sind  als  wir  beyden, x  uns 
alte  praktische  Pädagogen  in  die  Schule  ihrer  empirischen  Psychologien 
nehmen  mögen.  Aber  in  meinen  Jahren  liebt  man  die  Bequemlichkeit. 
Nun  errathen  Sie  wohl  das  Uebrige.  Briefe  an  Sie  zu  schreiben,  ist  mir 
sehr  bequem ;  auch  kann  es  vollkommen  hinreichen,  nicht  blofs,  um  der 
Psvcholosie  einige  Nachträge  zu  liefein,  sondern  auch  um  so  eine  un- 
eigentliche  Schuld,  wie  jene  pädagogische,  zu  tilgen. 

Ein  System  in  Briefen  —  wäre  fast  so  lächerlich  als  ein  System  in 
Versen,  jedoch  ganz  ohne  systematischen  Apparat  möchten  Sie  vielleicht 
mich  auch  nicht  gern  kommen  sehen;  denn  formlos  über  Pädagogik  zu 
plaudern,  ist  oder  scheint  wenigstens  gar  zu  leicht,  als  dafs  ich  Ihnen  so 
etwas  anbieten  dürfte.  Je  mehr  die  Erziehung  im  Kreise  der  täglichen 
Erfahrung  sich  als  etwas  Alltägliches  darstellt,  desto  nöthiger  ists,  das 
Nachdenken  darüber  in  eine  bestimmte  Ordnung  zu  bringen,  und  es  daran 
zu  binden,  damit  es  nicht  im  Strome  der  Meinungen  sich  verliere.  Frey- 
lich verhielte  es  sich  ganz  anders,  wenn  meine  Absicht  auf  irgend  welche 
sogenannte  Methoden,  und  auf2  deren  Empfehlung  im  Publicum  gerichtet 
wäre.      Dann  aber  schriebe  ich  nicht  Briefe  an  Sie. 


1  „Beide"  SW. 
„auf"  fehlt  SW. 


s42      HI.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

Lassen  Sie  uns  sogleich  beginnen  mit  einer  Abstraction,  die  keinen 
andern  Werth  hat,  als  nur  den,  einen  Begriff  deutlich  zu  machen,  und 
eine  Untersuchung  vorzuzeichnen. 

Durch  die  Zweckbegriffe  des  Erziehers  ist  die  Pädagogik  an  die 
praktische  Philosophie  geknüpft.  Durch  die  Erwägung  der  Mittel  und 
Hindernisse  wird  sie  hingewiesen  auf  Psychologie.  Jene  erste  Anknüpfung 
nun  werden  Sie  nicht  mehr  verlangen;  was  zu  solchem  Behuf e  an  meinen 
früheren  Schriften  etwa  den  Worten  nach  zu  ändern  wäre,  das  wird  sich 
Ihnen  bey  der  mindesten  Aufmerksamkeit  von  selbst  darbieten.  Aber 
das  Psychologische  der  Pädagogik  ist  so  schwierig  und  so  bunt,  dafs  wir 
wohl  thun  werden,  uns  fürs  erste  einmal  mit  dem  blofsen  Allgemeinbegriff 
desselben  zu  beschäfftigen,  und  ihn  ganz  nackt  auszuziehen,  selbst  un- 
bekümmert darum,  welche  Misgestalt  uns  zu  Gesicht  kommen  möge. 

Denken  Sie  Sich  einen  grauen  Diplomaten,  dessen  steinernes  Antlitz 
keinen  Zug  von  Theilnahme  für  das  Wohl  und  Wehe  verräth,  um  welches 
er  wie   ein  Wahrsager  befragt  wird.     Er  merkt,  woher  der  Wind  kommt; 
und  dieht  seine  Fahne  darnach.     Hierin 1  finde  ich  ein   Bild  für  die  blofs 
psychologische    Pädagogik.      Sie    durchschaut    die    Möglichkeit,    dafs    ein 
heranwachsender  Mensch  unter    Umständen    ein  solcher  oder  ein  anderer 
werde.     Dem  schlechten  wie  dem  guten  Erzieher  weifs  sie  zu  sagen,  was 
er  wirke;  jedem  ist  sie  brauchbar  für   beliebige  Zwecke;   nach   ihrer  An- 
leitung kann  der  eine  bessern,    der  andere   verderben.  —  Giebt  es  denn 
eine    solche    blofs    psychologische    Pädagogik?      Wäre    sie    wenigstens    zu 
wünschen?     Vielleicht;  nämlich  um  schlechten  Erziehern  den  Spiegel  vor- 
zuhalten.     Und  wenn  wir    sie  besäfsen:    was  könnte    uns  hindern,   sie  für 
edle  Zwecke  um  Rath  anzusprechen?    Wir  besitzen  sie  nun  freylich  nicht 
vollständig;  eben  so  wenig  als  eine  solche  Philosophie  der  Geschichte,  wie 
etwa    die    neu-spinozistischen    Schulen    gern    hätten,    welche    meinen,    die 
notwendigen    Umgestaltungen   des  Weltgeistes  aufzählen  und    in  den  Er- 
eignissen   nachweisen    zu    können.      Doch    wollen    wir    einmal    überlegen, 
welche   Form  wohl,  falls  uns  eine  solche  Wissenschaft   als  ein  zusammen- 
hängendes  Ganzes  zu  Theil  würde,   an  ihr  zu  bemerken  seyn  möchte. 

Wo  irgend  wir  ein  Wirkendes  gegenüber  einem  Leidenden  erblicken, 
da  erscheint  uns  eine  zwiefache  mannigfaltige  Möglichkeit  dessen,  was 
wohl  das  Leidende  aus  sich  machen  lassen  könnte,  und  was  durch  das 
Wirkende  geschehen  möchte;  leichter  oder  schwerer,  je  nachdem  zum 
Leidenden  besser  das  Wirkende  pafste,  oder  zum  Wirkenden  besser  das 
Leidende  taugte.  Nähere  Bestimmungen  kommen  hinzu,  wenn  ein 
Drittes  jene  beyden  in  Verbindung  setzt,  und  dadurch  aus  beyden 
Möglichkeiten  eine  wirkliche  Begebenheit  hervorhebt.  Sie  errathen  schon, 
dafs  ich  an  die  Bildsamkeit  des  Zöglings  dachte,  ferner  an  die  Hülfs- 
mittel  der  Bildung,  die  wir  anzuwenden  pflegen,  und  drittens  an  die 
Veranstaltungen  der  öffentlichen  oder  Privat-Erziehung ,  wodurch  die 
Bildungsmittel  in  Wirksamkeit  treten.  Es  ist  sichtbar,  dafs  eine  psycho- 
logische Pädagogik  zuerst  die  mannigfaltige  Bildsamkeit  der  Zöglinge,  — 
owohl  die  Natur-Anlagen  als  die  auf  jeder  Altersstufe  erworbenen  Fähig- 

1  „Hier1  statt  „Hierin"     SW. 


2-  Brief-  343 

keiten  des  Weiterkommens,  —  erwägen  würde;  dals  sie  alsdann  von 
Büchern  und  Apparaten,  von  Ermunterungen  und  Zwangsmittel  zu  reden 
hätte,  um  diesen  gewisse  ideale  Zöglinge  gegenüber  zu  beschreiben,  wie 
sie  beschaffen  seyn  müfsten,  wenn  aus  jedem  Bildungsmittel  die  ihm  eigen- 
thümliche  Wirkung  in  voller  Stärke  hervorgehn  sollte;  und  dafs  endlich 
von  Schulen,  Seminarien  u.  d.  gl.  die  Rede  seyn  müfste. 

Aber  Sie,  mein  geschmackvoller1  Freund!  lächeln  Sie  etwa  schon 
über  das  Svstem  in  Briefen,  was  wie  eine  graue  Regenwolke  heran- 
gezogen kommt?  Greifen  Sie  nicht  zu  eilig  nach  einem  Schirm!  Eine 
Abtheilung  habe  ich  Ihnen  vorgeschlagen;  aber  eine  Abhandlung  habe 
ich  nicht  versprochen.  Sie  werden  schon  sehen,  wie  eigennützig  ich  meine 
Bequemlichkeit  ins  Auge  gefafst  habe,  da  ich  die  zwanglose  Briefform  wählte. 


Wenn  wir  zurückschauen  in  jene  Zeit,  da  wir  zuerst  mit  einander 
die  allgemeine  Pädagogik  durchdachten,  —  noch  ehe  Sie  in  die  Schweiz 
gingen,  —  so  finden  wir  im  Vergleich  gegen  jetzt,  weniger  verändert,  als 
man  nach  Verlauf  eines  Viertel-Jahrhunderts  erwarten  könnte.  Niemeyers 
Grundsätze  der  Erziehung  galten  schon  damals;  sie  waren  allgemein  ver- 
breitet, und  wurden  wohl  sorgfältiger  befolgt  als  jetzt,  nachdem  Deutsch- 
land so  vielfach  ist  aufgerüttelt  und  verjüngt  worden.  Schwarz  fing  an 
zu  wirken;  Jean  Paul  folgte  bald.  Vom  erziehenden  Unterricht  habe 
ich,  glaube  ich,  zuerst  angefangen  zu  reden.  Sie  werden  Sich  erinnern, 
dafs  wir  gerade  darauf  das  meiste  Gewicht  legten,  der  Unterricht  werde 
zu  sehr  als  das  zivcyte  bey  der  Erziehung  betrachtet;  er  sey  es  gleich- 
wohl, der  am  meisten  dauerhaft  wirke,  weil  erworbene  Kenntnisse  bleiben, 
während  Gewohnheit  und  Sitte  sich  ändern. 

Das  Wort:  erziehender  Unterricht,  ist  mir  späterhin  aus  dem  Munde 
genommen,  und  sehr  gegen  meine  Absicht  gebraucht  worden.  Indessen 
liegt  am  Worte  nicht  viel,  wenn  nur  die  Sache  zur  Wirklichkeit  kommt. 
Ob  nun  der  heutige  Unterricht  den  Namen  des  erziehenden  durchgehends 
verdiene?  An  Vollständigkeit  wenigstens  hat  er  gewonnen.  Jene  Halb- 
heit der  philologischen  Bildung,  welche  das  Griechische  neben  dem  Latein 
vernachlässigte,  ist  zwar  noch  nicht  verschwunden,  doch  sehr  gemildert. 
Die  Mathematik  hat  weit  mehr  Raum  erlangt,  und  schwerlich  wird  heute 
noch  vorkommen,  was  mir  damals,  während  ich  die  Klassenzimmer  eines 
berühmten  Gymnasiums  durchging,  begegnete,  —  an  der  schwarzen  Tafel 
nämlich  stand  eine  höchst  einfache  Gleichung  des  ersten  Grades  an- 
geschrieben, und  auf  die  Frage;  das  ist  wohl  Tertia?  bekam  ich  zur 
Antwort,  nein,  es  ist  Prima.  —  Die  Thätigkeit  der  Gymnasien  ist  un- 
gemein erhöhet;  vornehme  Familien  haben  sich  darin  ergeben,  dafs  ihre 
Söhne  sich  anstrengen  müssen,  wenn  sie  zur  Universität  reifen  sollen. 

Die  Pestalozzischen  Unternehmungen,  worauf  in  unserer  frühern  Zeit 
Aller  Augen  gerichtet  waren,  kennen  Sie  genauer  als  ich.  Sie  mögen 
beurtheilen,   ob   die  Sache  so  werthlos  war,  wie  man  dieselbe  seitdem  dar- 


1  „geschmackvoller"  fehlt  SW.  Im  Original  ist  das  Wort  mit  Bleistift  durch- 
strichen (wahrscheinlich  von  Hartenstein),  während  sonst  Ausstreichungen  und  Ver- 
änderungen mit  Tinte  angebracht  sind.     Anm.  d.  Herausg. 


344      II1-  B"efe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 


gestellt  hat.  Wenigstens  schäme  ich  mich  noch  heute  nicht  meiner  An- 
schauungs-Übungen, deren  Idee  mir  Pestalozzi  darbot;  vielmehr  sind  sie 
bey  mir  noch  jetzt  im  Gebrauch.  Freylich  mufs  Alles,  was  mit  Ueber- 
spannung  und  Schwärmerey  verkündigt  und  betrieben  wird,  nothwendig 
sinken;  es  hat  seine  Wirkung  gethan,  nachdem  es  die  Schlaffheit  und 
Trägheit,  welcher  es  zuerst  entgegentrat,  in  Thätigkeit  und  Sorgfalt  um- 
gewandelt hat.  Könnten  wir  nur  von  den  philosophischen  Schulen  jener 
Zeit  eben  so  rühmlich  sprechen!  Sähen  wir  nur  hier  nicht  Schlaffheit  als 
Folge  der  Ueberspannung !  und  theilweise  eine  Fieberhitze,  die  zur  Auf- 
lösung führt! 

Von  der  Pädagogik  dürfen  wir,  meines  Erachtens,  die  günstige  An- 
sicht fassen,  dafs  sie  seit  Locke  in  beständigem  Fortschreiten,  wenn  auch 
nicht  auf  ganz  geradem  Wege,  begriffen  ist.  Vieles  bleibt  freylich  zu 
wünschen;  ja,  vieles  mufs  sich  ändern  nach  Zeit  und  Umständen.  Schriebe 
Niemeyer  erst  heute :  er  würde  aus  einem  ganz  andern  Erfahrumrskreise 
schöpfen,  als  aus  dem,  welcher  seinem  berühmten  Werke  zum  Grunde 
liegt.  Gleichwohl  würden  die  Grund-Gedanken  die  nämlichen  seyn;  sie 
würden  nur  für  die  Anwendung  neue  Bestimmungen  aufnehmen.  Die 
Pädagogik  ändert  sich  langsam;  sie  folgt  niemals  blofs  der  Speculation; 
auch  niemals  blofs  der  Erfahrung;  wohl  aber  empfängt  sie  Wirkungen  von 
beyden  Seiten,  die  sich  gegenseitig  mildern  und  berichtigen. 

Ob  Sie,  mein  theurer  Freund !  wohl  den  Kopf  schütteln,  während 
Sie  lesen  was  ich  soeben  schrieb?  Wahrlich,  ich  möchte  es  wissen,  doch 
weifs  ich  es  nicht  genau.  Ueber  das,  was  sich  in  der  Zeit  verändert  hat, 
pflegen  immer  die  Ansichten  etwas  Ungleiches  zu  haben.  Soviel,  denke 
ich,  werden  sie  mir  einräumen:  der  heutige  Unterricht,  besonders  auf 
den  Gymnasien,  hat  eine  Fülle  und  einen  Glanz,  den  unsere  Jugendzeit 
nicht  kannte;  und  es  könnte  uns  wohl  die  Lust  anwandeln,  noch  einmal 
wieder  jung  zu  werden,  um  den  Gymnasial- Cursus  so  vollständig  zu 
machen,  wie  man  ihn  jetzt  den  empfänglichen  Köpfen  darbietet.  Ohne 
Zweifel  empfinden  auch  die  heutigen  Lehrer,  wie  sehr  sie  geschätzt 
werden,  und  so  kann  sich  Lust  und  Liebe  zum  Werke  weit  länger  halten 
als  ehemals.  Die  Lehrer  bleiben  länger  brauchbar;  und  Reife  des  Alters, 
der  Erfahrung,  des  Urtheils  verbindet  sich  besser  mit  der  mehr  geschonten 
Fähigkeit,  davon  die  praktische  Anwendung  zu  machen.  Gewifs  ein  grofser 
Vortheil  gegen  die  frühere  Zeit,  die  natürlich  den  schlechter  gestellten 
und  weit  minder  geachteten  Lehrer  auch  viel  früher  abnutzte,  während 
sie  ihn  dennoch  fortdauernd  nutzen  wollte,  wenn  er  zu  nichts  Anderem 
zu  gebrauchen  war. 

Käme  uns  nun  noch  einmal  der  Jugendtraum,  durch  Verbesserung 
des  Unterrichts  etwas  Bedeutendes  wirken  zu  wollen:  würden  wir  auch 
dann  noch  so  sehr,  wie  ehemals,  darauf  dringen,  man  solle  dem 
Griechischen  neben  dem  Latein,  der  Mathematik  neben  den  Sprachen, 
einen  breiteren  Platz  anweisen?  —  Fast  glaube  ich,  die  herrschende  Richtung 
unsrer  pädagogischen  Wünsche  würde  nunmehr  eine  andre  seyn,  eben 
deshalb,  weil  ein  grofser  Theil  dessen,  was  wir  ehemals  wünschten,  erfüllt 
ist,  wenn  auch  in  mancher  Hinsicht  freylich  anders,  als  wir  es  nach 
unsrer  Ansicht  hätten  ordnen  mögen. 


2.  Brief. 


345 


Aber  still  vom  Wünschen;  wenigstens  für  jetzt!      Es  liegt  uns  näher, 
zu  überlegen,   was  als  wahrscheinlicher  Erfolg  zu  erwarten  sey. 

Als  die  neuern  Erweiterungen  des  Unterrichts  vor  nunmehr  zwanzig 
Jahren  in  Gang  gesetzt  wurden,  da  äufserte  ein  grofser  Theil  des  Publi- 
cums  seine  Unzufriedenheit  mit  der  Last,  welche  man  der  Jugend  auflege; 
und  mit  den  schwerern  1  Bedingungen,  an  die  jetzt  das  Eintreten  in  Staats- 
Aemter  geknüpft  werde.  Etwas  später  fand  sichs,  dafs  die  Last  noch  er- 
träglich, und  für  gute  Köpfe  der  Gewinn  bedeutend  sey.  Nun  wuchs 
der  Muth;  die  Eltern  legten  mehr  und  mehr  Werth  auf  den  Unterricht 
der  Gymnasien.  Sie  selbst,  das  wufsten  sie,  waren  weit  mangelhafter 
unterrichtet  worden;  desto  mehr  schätzten  sie  das  Geschenk,  was  ihren 
Kindern  sich  darbot.  Es  ist  aber  nicht  schwer  in  eine  Zukunft  zu 
schauen,  welche  nothwendig  das  Verhältnifs  der  Schulen  zum  Publicum 
etwas  verändern  mufs.  Die  Zeit  wird  bald  kommen,  wo  Diejenigen  in 
reifen  Jahren  stehen,  denen  die  Schulen  ihre  Gelehrsamkeit  nach  Kräften 
beygebracht  haben.  Alsdann  werden  die  Eltern  zufrieden  seyn  müssen, 
wenn  ihre  Kinder  eben  so  viel  lernen,  als  sie  selbst  gelernt  haben;  denn 
das  Quantum  des  Unterrichts  läfst  sich  nicht  mehr  steigern.  Mit  der 
Rührung,  die  jetzt  wohl  oftmals  ein  Vater  empfindet,  indem  er  sieht, 
wieviel  weiter  sein  Sohn  es  bringt  als  er  selbst,  wird  es  alsdann  so 
ziemlich  vorbey  sevn.  Dagegen  wird  eine  andre,  schon  längst  nicht  un- 
erhörte Sprache  öfter  sich  erneuern;  nämlich  die  Trostrede  erfahrner 
Väter,  die  ihren  Söhnen  versprechen,  ihre  Jugendfreuden  sollen  nicht  so 
arg  verdorben  werden  durch  das  Unnütze,  womit  man  ehedem  gequält 
sey,  ohne  im  spätem  Leben  auf  die  Frage:  cui  bono?  irgend  eine  ge- 
nügende Antwort  erlangt  zu  haben.  So  nämlich  werden  diejenigen  sprechen, 
an  welche  der  jetzige  gelehrte  Gymnasial-Unterricht  gebracht  wird,  ohne 
mit  ihren  natürlichen  Fähigkeiten  in  das  rechte  Verhältnifs  treten  zu 
können;  denen  die  Bahn  zu  Staatsämtern  durch  tüchtigere  Mit-Bewerber, 
bey  der  heutigen  grofsen  Concurrenz  zu  spät  geöffnet,  wo  nicht  ganz  ver- 
schlossen wurde,  und  welche  dann  hintennach  dem  Landleben,  dem 
Militär,  den  Gewerben  höherer  oder  niedrigerer  Art  sich  gewidmet  haben. 
Sollte  ich  mich  darin  irren?  Liefert  uns  nicht  die  Mehrzahl  der 
Abiturienten prüfungen  neben  vielem  sehr  Erfreulichem  auch  eine  und  die 
andre  traurige  Probe,  wie  schwer  es  den  Gymnasien  wird,  solche  Sub- 
jecte  wieder  los  zu  werden,  welche  nicht  aufzunehmen  besser  gewesen  wäre, 
als  sich  mit  ihnen  zu  plagen?  Wenn  Leute  der  Art  einigen  praktischen 
Verstand  haben,  so  werden  sie  sich  hüten,  ihre  Kinder  der  nämlichen 
Gefahr,  der  sie  unterlagen,  ohne  gehörige  Prüfung  dessen  was  die  Natur 
verlangt  und  zurückweiset,  blofs  zu  stellen.  Die  Gymnasien  werden  ihre 
Verehrer  zwar  behalten;  aber  nur  solche,  denen  sie  nützlich  wurden;  und 
die  Verehrung  wird  sich  etwas  abgekühlt  haben;  denn  Leistungen,  die 
jetzt  noch  Bewunderung  erregen,  werden  mehr  und  mehr  in  den  Kreis 
des  Gewöhnlichen  eintreten. 

Sie,  mein  Freund!    waren   damals    dem  PESTALOZZischen    Strom  und 


1  „schweren"  SW 


2^6      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 

Strudel  nahe,  als  das  heutige  Gymnasial- Wesen  sich  vorbereitete;  aber  Sie 
dürfen  nur  einen  Blick  werfen  in  Fichtes  Reden  an  die  deutsche  Nation, 
um  Sich  zu  vergegenwärtigen,  was  Sie  vielleicht  nicht  bestimmt  genug 
Selbst  beobachten  konnten.  Es  gab  eine  Zeit,  da  das  Geschlecht  der 
Männer  von  reifem  Alter  an  sich  selbst  beynahe  verzweifelte.  Die  Hoft- 
nung  richtete  sich  auf  die  Jugend,  —  aber  auf  eine  in  Deutschland 
noch  vermifste  National-Jugend!  Dafs  Hauslehrer  nicht  taugten,  eine 
solche  zu  bilden,  lag  am  Tage.  Möchten  sie  weit  tüchtiger  seyn,  als  sie 
gewöhnlich  sind,  dennoch  sind  sie  im  besten  Falle  die  Gehülfen  des 
Familiengeistes;  und  statt  der  Vereinzelung  in  Häusern  und  Familien 
wollte  man  allgemeine  Aufregung  gegen  den  Napoleonischen  Despotismus. 
Darum  wurde  die  Untüchtigkeit  der  Hauslehrer  so  stark  als  möglich  an- 
geschuldigt; und  die  öffentliche  Schule  dagegen  empor  gehoben. 

3- 

Zwar  nicht  Sie,  aber  mancher  Andre  hat  mir  verblümt  oder  deutlich 
gesagt,  dafs  ich  mich  um  meine  Gegner  zu  wenig  bekümmere.  Für  dies 
Vergehen  einmal  Bufse  zu  thun,  dazu  kann  ich  mich  wohl  bequemen. 
Demnach,  um  die  Gelegenheit  wahrzunehmen,  will  ich  einen  Momus  zu 
meinem  vorigen  Briefe  hinzudenken;  der  mein  gänzliches  Ungeschick  ver- 
spotte. Denn  thörichter  lasse  sich  nichts  denken,  als  eine  Pädagogik  so 
anzukündigen:  sie  sey  nicht  Staats-Pädagogik.  In  unsern  Zeiten,  wo  vom 
Staatsleben  alle  Köpfe  voll  sind,  verstehe  sichs  von  selbst,  dafs  Niemand 
erziehe  und  Erziehung  fördere,  aufser  gerade  nur  um  dem  Staate,  — 
oder  doch  irgend  einer  Parthey  in  ihm  zu  dienen.  Momus  wird  auch 
leicht  einen  Thrasymachus  gegen  mich  aufbieten,  der  mir  etwa  folgende 
Dialektik  entgegenstelle: 

Das   Recht  ist  der  Vortheil  des   Stärkeren. 

Nun  ist  der  Staat  weit  stärker  als  die  Familie. 

Also   ist  das  Recht   mehr   der  Vortheil    des  Staates    als    der  Familie. 

Nun  braucht  man  nur  dem  Rechte  noch  die  rechte  Erziehung  zu 
subsumiren,   so  ist  der  Schlufs   fertig: 

Die  rechte  Erziehung  ist  zveit  mehr  der  Vortheil  des  Staats  als  der 
Familie.  Folglich  mufs  sie  hierauf  eingerichtet  werden ;  sonst  ist  sie  nicht 
die  rechte. 

Solche  tolle  Logik  ist  immer  noch  nicht  zu  schlecht  für  den  grofsen 
Haufen  derer,  die  nur  die  Stärke  bewundern,  lieben,  ehren,  anpreisen : 
und  die,  nachdem  zuerst  ihr  Urtheil 1-  verdorben  war,  nun  klüglich  dem 
Starken  sich  anschliefsen,  und  dabey  eben  so  schwer  zum  Erröthen  zu 
bringen  sind,  als  jener  Platonische  Thrasymachus;  eine  Figur,  die  man 
auch  in  Deutschland  oft  genug  unverschleiert  zu  sehen  bekommen  wird, 
wenn  das  heillose  Kunststück  gelingt,  die  politischen  Leidenschaften  in 
Harnisch  zu  bringen.  Oder  wie  weit  ist  noch  von  der  Bewunderung 
Napoleons  bis  zu  der  Annahme  des  Satzes:  das  Recht  sey  der  Vortheil 
des  Stärkeren  ?     Der  Glanz  der  Macht,    der  Prunk    des  Sieges   gegenüber 

'   „Ursprung"  statt  „Urtheil"  SV. 


3-  B"ef. 347 

dem  Elende  des  Besiegten  — ■   dies  Schauspiel  verrückt  die  Köpfe  bis  zur 
schaamlosen   Behauptung   des  rechtswidrigsten   Unsinns. 

Es  braucht  aber  noch  lange  nicht  bis  dahin  zu  kommen,  um  dem 
zweydeutigem  Satze :  die  rechte  Erziehung  ist  der  Vortheil  des  Staats, 
Beyfall  zu  verschaffen.  Denn  zuvörderst,  dafs  es  dem  Staate  vortheilhafter 
sey,  wenn  in  ihm  gut  erzogene  Bürger  leben,  als  wenn  schlecht  erzogene, 
—  daran  zweifelt  Niemand.  In  unserm  Zeitalter  der  Verwechselungen 
und   Paralo<rismen   aber  stehen   die  beiden   Sätze: 

Dem   Staate  bringt  die  richtige   Erziehung  Vortheil,   —   und : 

Die  Erziehung  ist  um  desto  richtiger,  je  mehr  Vortheil  sie  dem  Staate 

bringt, 
einander  viel  zu  nahe,  als  dafs  nicht  der  eine  wahre  mit  dem  an- 
deren falschen,  in  den  Köpfen  der  Menschen  wie  sie  sind,  häufig  genug 
zusammenfliefsen  sollte.  Wer  hat  denn  Schulen  eingerichtet?  Der  Staat? 
Für  wen  hat  er  sie  eingerichtet?  Für  sich.  Wer  benutzt  aber  die 
Schulen?  Die  Familien.  Also  fällt  hier  der  Nutzen  der  Familien  der- 
gestalt in  den  Zweck  des  Staats  hinein,  wie  etwa  bey  dem  Postwesen. 
Denn  zuerst  soll  die  Post  den  Behörden  ihre  Dienste  leisten;  alsdann 
aber  wird  auch  dem  Publicum  angeboten,  sowohl  die  Bequemlichkeiten 
als  die  Kosten  der  Anstalt  zu  theilen. 

Wer  ist  denn  der  Staat?  Zwischen  der  berühmten  Antwort:  l'etat 
c'est  moi,  und  dem  andern  Extrem,  der  Staat  sey  ein  Verein  aller  Familien, 
liegt  mancherley  Schwankendes  in  der  Mitte.  Das  aber  giebt  sehr  be- 
stimmt die  tägliche  Erfahrung,  dafs  Staatswohl  und  Familienwohl,  Staats- 
geschäfte und  Familiengeschäfte,  Begeisterung  für  den  Staat  und  Sorge 
um  die  Familie,  ganz  verschiedene  Dinge  sind.  An  den  Vortheilen  des 
Staats  haben  Einige  mehr  Antheil,  Andere  minder;  und  in  diesem  Mehr 
und  Minder  herrscht  ein  beständiger  Wechsel,  den  keine  Staatskunst, 
wenn  sie  schon  wollte,   zur   Gleichförmigkeit  bringen  kann. 

Allerdings  ist  der  Staat  ein  Verein  aller  Familien;  aber  nicht  un- 
mittelbar; sondern  so,  dafs  die  Familien  erst  nach  Ständen  und  Lebens- 
Arten,  nach  Vermögen,  Ansprüchen,  Bedürfnissen,  in  verschiedene  Klassen 
zerfallen,  und  solchergestalt  Klassenweise  dem  Ganzen  angehören.  Die 
eine  Klasse  soll  nach  der  Absicht  des  Staates  lernen  was  zum  Gewerbe, 
die  andre  was  zur  Landes-Vertheidigung,  eine  dritte,  was  zum  Beamten- 
stande, eine  vierte,  was  zur  Cultur  der  Wissenschaften  und  Künste  ge- 
hört. Nach  solchen  Gesichtspuncten  werden  verschiedene  Schulen  ge- 
stiftet. Aber  die  Verschiedenheit  der  Individuen  liegt  tiefer,  als  dafs  sie 
nach  diesen  Betrachtungen  blofser  Tauglichkeit  könnte  richtig  aufgefafst 
werden;  und  wenn  die  Väter  durch  die  Sorge  für  das  Fortkommen  ihrer 
Söhne  sich  verleiten  lassen,  hiernach  die  Anlagen  der  Ihrigen  zu  be- 
urtheilen,  so  mufs  die  Pädagogik  sie  vollständiger  belehren.  Sie  kann 
sie  zuvörderst  erinnern,  dafs  der  Staat  sich  um  den  minder  Tauglichen 
auch  minder  bekümmert.  Seine  Schulen  sollen  ihm  die  Subjecte  liefern, 
die  er  braucht.  Er  wählt  die  Brauchbarsten;  die  Uebrigen  mögen  für 
sich  sorgen ! 

Jedoch  angenommen,  der  Staat  sey  so  grofsmüthig,  auch  von  seinen 
Bedürfnissen  abgesehen   sich    um    die  Bildung    der  Einzelnen    verdient   zu 


■5/1  8      EX  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 

machen,  damit  Jeder  werde  was  er  werden  kann:  so  geht  es  dennoch,  wie 
bey  Wohlthätigkeits- Vereinen.  Man  bringt  die  Hülfe  dort  an,  wo  sie  am 
wirksamsten  ist.  Man  verlangt,  dafs  Jeder  sich  selbst  helfe,  so  weit  er 
kann. 

Sollen  die  Schulen  für  das  Bedürfnifs  der  Familien  Hülfe  schaffen, 
so  müssen  diese  dafür  sorgen,  dafs  die  dargebotene  Hülfe  den  rechten 
Punct  treffe.  Dem  sehr  beschäfftigten  oder  zu  nachsichtigen  Vater  kommt 
die  Strenge  der  Schuldisciplin  wohl  zu  Statten  bey  starken,  aber  nicht 
bey  schwachen  und  zarten  Naturen;  sie  nützt,  wenn  Aufsicht  in  Neben- 
stunden, in  Ferien  und  an  Feyertagen  nicht  fehlt;  sie  wirkt  schief,  wenn 
ein  junger  Mensch  Auswege  findet,  und  sich  wegen  des  erlittenen  Zwanges 
schadlos  zu  halten  weifs.  Der  trägere  Schüler  gewinnt  an  Munterkeit, 
Fleifs  und  Ordnung  durch  das  Beyspiel  der  Mitschüler,  wenn  er  fähig  und 
willig  ist,  aufgegebene  Arbeit  zu  machen,  aber  nicht,  wenn  ihm  der  Unter- 
richt zu  rasch,  oder  zu  mannigfaltig  ist;  auch  nicht,  wenn  Lust  und  Talent 
ihn  schneller  nach  andern  Richtungen  treibt.  Einseitigkeit  wird  im  öffent- 
lichen Unterricht  beschämt,  aber  nicht  immer  geheilt;  es  ist  oftmals  un- 
vermeidlich, ihr  nachzugeben,  um  doch  Etwas  zu  erreichen;  und  das 
fodert  besondere  Lehrstunden.  Mittelmäfsige  Köpfe  treiben  lange  Zeit 
mechanisch  fort,  was  man  von  ihnen  verlangt;  sie  werden  gelobt,  er- 
freuen sich  der  schönen  Zeugnisse,  wissen  aber  den  gesammelten  Vor- 
rath  nicht  zu  brauchen,  und  verlieren  ihn  sobald  sie  dürfen.  Nicht  ge- 
ringe Täuschung  haftet  an  der  Summe  des  Wissens,  die  jährlich  von  den 
Schulen  ausgeht;  nicht  wenig  davon  verfliegt  schon  in  den  Universitäts- 
Jahren  wie  leere  Spreu.  Die  Lehrer  an  öffentlichen  Anstalten  erwerben 
sich  eine  grofse  Summe  von  Beobachtungen  der  mannigfaltigsten  Schüler; 
aber  nur  von  der  Oberfläche,  die  sich  in  der  Schule  zeigt;  und  nur  in 
Beziehung  auf  Disciplin  und  Lernen;  mit  seltener  Ausnahme  solcher 
Schüler,  die  ihr  Inneres  willig  öffnen.  So  sieht  ein  Historiker  die  Menschen 
in  Bezug  auf  die  Begebenheiten;  er  sieht  wohl  Massen  und  deren  Be- 
wegungen; was  keine  historische  Folgen  hat,  das  sieht  er  nicht,  und  mag 
es  nicht  beachten.  Menschenkenntnifs  erwerben  auch  die  Schüler,  die 
einander  nahe  stehen;  besser  wäre  für  Manchen,  er  bliebe  in  diesem 
Puncte  noch  lange  unwissend.  Einen  geselligen  Geist  erzeugen  sie  unter 
sich;  einige  lernen  gehorchen,  wo  sie  nicht  sollten,  andere  herrschen,  wo 
es  ihnen  nicht  gebührt.  Starke  Muskeln  schaffen  dem  Einen,  dreistes 
Auftreten  schafft  dem  Andern  die  Herrschaft;  der  schlaue  Knabe  weifs 
andere  vorzuschieben,  damit  sie  seine  Anschläge  ausführen;  und  alle  zu- 
sammen halten  auf  Ehrenpuncte,  auf  Heimlichkeit  und  gegenseitige  Hülfe 
in  Verlegenheiten.  Je  gröfser  eine  solche  Knaben-Gesellschaft,  um  desto 
strenger  mufs  sie  beherrscht  und  beargwöhnt  werden;  aber  je  mehr  Aehn- 
lichkeit  mit  despotischen  Maafsregeln,  desto  mehr  verborgener  Ingrimm; 
und  desto  mehr  Neigung  und  Hoffnung,  dereinst  selbst  despotisiren  zu 
können.  Glaubt  man,  solchen  Uebeln  zuvorkommen  oder  abhelfen  sey 
leicht,   wenn   die   Einwirkung  des   Familiengeistes  verschmäht  ist? 

Sie,  mein  Freund!  werden  das  sicher  nicht  glauben;  denn  Sie  be- 
sitzen pädagogische  Erfahrung.  Aber  was  Fichte  träumend  von  seiner 
neuen  Erziehung,  „deren  Zöglinge,  abgesondert  von  der  schon  erwachsenen 


3-  Brief.  349 

Gemeinheit,  dennoch  unter  einander  selbst  in  Gemeinschaft  leben,  und  so 
ein  abgesondertes  und  für  sich  selbst  bestehendes  Gemeinwesen  bilden 
sollen"*  im  Jahre  1808  vortrug,  das  verdiente  wohl  noch  heute  eine 
schärfere  Kritik,  als  es  mit  Rücksicht  auf  die  Zeit,  da  er  so  sprach, 
scheint  gefunden  zu  haben.  Ehrwürdig  war  der  Mann,  der  im  gefahr- 
vollen Augenblick  den  Muth  hatte,  irgend  einen  Vorschlag  zur  Rettung 
der  Nation  laut  und  nachdrücklich  zur  Sprache  zu  bringen.  Aber  ein 
Vorschlag,  der  in  der  bedenklichsten  Lage  mit  aller  Würde  des  feyer- 
lichsten  Ernstes  einer  ganzen  Nation  ans  Herz  gelegt  wurde,  hätte  nicht 
der  Ueberlegung  ermangeln  sollen.  Ueberlegt  nun  war  hier  keinesweges 
das  Unheil,  was  der  rohe  psychische  Mechanismus  in  jedem  grofsen 
Haufen  von  Knaben  wie  von  l  Männern  anrichtet,  die  ohne  die  mildernde 
Einwirkung  des  Familiengeistes  ihre  Kräfte  an  einander  messen,  bis  Einige 
unterliegen,  Andre  sich  behaupten,  und  die  Meisten  sich  fügen.  Solcher 
Kampf  trägt  nicht  die  mindeste  Bürgschaft  in  sich,  dafs  etwa  das  Bessere 
siegen  würde.  Bey  den  zusammengehäuften,  abgesondert  lebenden  Knaben 
hätten  sich  von  vorn  an  alle  bösen  Gesinnungen  der  Barbarey  daraus 
erzeugen  müssen;  und  selbst  nachdem  barbarische  Strenge  des  männ- 
lichen Zwanges  dazwischen  gefahren  wäre,  hätten  sich  die  Gesinnungen 
nur  versteckt,  ohne  gebessert  zu  seyn.  Bewaffnete  Banden  für  den  Ge- 
birgskrieg,  geschickt  in  Schluchten  und  Wäldern  zu  kämpfen,  hätten  auf 
die  Art  heranwachsen  können;  gefährlich  zuerst  dem  Feinde,  dann  dem 
eignen  Lande.  Die  Nation  brauchte  ganz  andre  Retter;  und  sie  hat 
sie  gefunden.  Aber  eine  Vorliebe  für  die  Schulen  ist  geblieben;  als  ob 
Reibung  vieler  Schüler  an  einander  keine  Gefahr,  ja  Heil  brächte;  als  ob 
die  Witzigung,  welche  daraus  entsteht,  schon  Besserung,  als  ob  die  Ver- 
brüderung, die  daraus  erwächst,  frey  vom  Partheygeiste,  —  als  ob  der 
Unterricht  schon  Erziehung,  die  Disciplin  schon  Charakterbildung,  als  ob 
überhaupt  die  Jugendbildung  ein  Geschafft  wäre,  das  im  Grofsen,  wie 
Fabriken  durch  Maschinenwerk,  ohne  Berücksichtigung  der  Individuen, 
mit  Vortheil  könnte  betrieben  werden.  Hüten  wir  uns,  diese  Ansicht  zu 
begünstigen;  sonst  möchten  wir  zwar  die  Schwärmer  für  uns,  aber  die 
erfahrnen  Männer  wider  uns  haben,  besonders  solche,  deren  sittliche  Be- 
griffe zur  gehörigen   Läuterung  gelangt  sind. 

Ein  ruhmwürdiges  Bestreben  und  Wirken!  aber  es  trug  die  Farbe 
einer  verflossenen  Zeit. 

Scheint  es  vielleicht,  als  ob  ich  den  Hauslehrern  ihre  goldene  Zeit 
zurückwünschte?  Gewifs  wenigstens  nicht  auf  Kosten  der  Schulen.  Aber 
das  wissen  Sie,  dafs  ich  in  Sachen  der  Erziehung  jedes  Niederdrücken 
des  Familiengeistes  als  höchst  tadelnswerth  betrachte;  und  dies  gerade  ist 
der  Punct,  für  welchen  in  Ihnen  jetzt  eine  etwas  verlängerte  Aufmerksam- 
keit abgewinnen  möchte.  Der  gelehrte  Eifer,  die  erhöhete  Besoldung,  die 
vermehrte  Achtung  des  Lehrstandes,  die  Prüfungsgesetze,   die  patriotischen 


*   Reden  an   die  deutsche  Nation,   S.   76  und  an  vielen   Stellen. 


1   „xmäu  statt  „wie  von"  SW. 


350      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 


Antriebe,  die  Eröffnung  der  Aussichten  auf  mancherley  Beförderung  von 
Seiten  des  Staats:  —  das  Alles  mag  zusammenwirkend  die  Jugend  mittel- 
bar und  unmittelbar  in  Bewegung  setzen :  es  ergiebt  etwas  Anderes  als 
Erziehung,  wenn  der  Familiengeist  entweder  gar  nicht,  oder  in  einer  davon 
verschiedenen  Richtung  wirkt.  Es  giebt  Verbrüderung  der  Mitschüler, 
oder  deren  Gegentheile,  theils  Unterordnung  des  Schwächern  unter  den 
Stärkeren,  theils  Spannung  unter  denen,  die  gleiche  Ansprüche  machen. 
Ohne  Zweifel  kann  man  der  Aristokratie  der  besten  Köpfe,  und  der  noth- 
wendigen  Bescheidenheit  aller  Andern,  welche  ihre  natürlichen  Gränzen 
frühzeitig  kennen  lernten,  mancherley  Lobreden  halten:  aber  das  sind 
politische  Lobreden;  keine  pädagogischen.  Der  Erzieher  vergleicht  seinen 
Zögling  nicht  mit  Anderen;  er  vergleicht  ihn  mit  sich  selbst;  er  vergleicht 
das,  was  der  junge  Mensch  wird,  mit  dem,  was  derselbe  vermuthlich 
werden  konnte.  Er  ist  mit  keinem  zufrieden,  der  hinter  sich  selbst  zurück- 
bleibt; und  mit  keinem  unzufrieden,  welcher  soviel  wird  als  man  ver- 
muthlich von  ihm  erwarten  durfte.  Wo  soll  nun  der  Antrieb  liefen,  der 
den  Menschen  aus  sich  heraus  nach  seinem  eignen  Maafse  entwickelt? 
Jeder  hängt  'an  den  Seinigen  zuerst  und  am  entschiedensten.  Was  aber 
macht  man  mit  solchen  Zöglingen,  die  als  Waisen  oder  durch  ein  anderes 
Unglück  dahin  kamen,  nicht  zu  wissen,  wem  sie  angehören?  —  Wie 
schwankend  hier  die  Erziehung  wird,  —  das,  mein  theurer  Freund,  kann 
sich  Ihrer  Erfahrung  ebensowenig  entzogen  haben  als  der  meinigen.  Doch 
genug  für  den  Augenblick,  wenn  Sie  darüber  mit  mir  nicht  unzufrieden 
sind,  dafs  ich  von  Familienverhältnissen  zu  reden,  im  Gegensatze  gegen  jede 
offen  oder  versteckt  politisirende  Pädagogik,  gleich  Anfangs  weit  passender 
und  nöthiger  glaubte,  als  eine  Berufung  auf  Principien  der  praktischen 
Philosophie  und  der  Psychologie.  Das  Systematische,  woran  wir  uns  ge- 
wöhnt haben,  wird  uns  noch  früh  genug  beschleichen ;  wenigstens  steht  es 
zu  unserm  Gebrauche  bereit;  und  auch  ungebraucht  dient  es  zur  Stütze 
meiner  Hoffnung,  dafs  ich  eine  fragmentarische  Arbeit  bey  Ihnen  zur 
Sichtung  und  gefälligen  Benutzung  und  Förderung  ohne  Umstände  nieder- 
legen  dürfe. 

4- 

Schon  oftmals,  mein  theurer  Freund!  bemerkte  ich  mit  Verwunderung, 
wie  schnell  und  wie  bestimmt  die  Zöglinge  während  der  Ferienreisen 
durch  kurzen  Aufenthalt  bey  den  Ihrigen  sich  einen  merklichen  Zuwachs 
an  Familien-Aehnlichkeit  aneigneten.  Wäre  die  Fortdauer  des  Besondern 
in  Sitte,  Sprache,  Interesse,  so  wie  es  sich  in  manchen  Häusern  kenntlich 
vestsetzt,  einerley  mit  jenem  Familiengeiste,  welchem  ich  das  Uebergewicht 
über  dem  Staatsgeiste  in  der  Erziehung  wünsche:  dann  brauchte  man 
nicht  mehr  zu  wünschen  was  sich  von  selbst  macht.  Oder  ginge  auch 
nur  die  Anhänglichkeit  eines  Jeden  an  den  Seinigen  gleichen  Schritt  mit 
der  Familien-Aehnlichkeit:  so  wäre  diese  letztere  darum  schon  eines 
Wunsches  werth,  weil  das  Streben  des  Sohnes,  seinen  Eltern  zur  Freude 
zu  leben,  gewifs  der  haltbarste  Mittelpunkt  ist,  um  welchen  man  bey  ihm 
die  sittlichen  Antriebe  sammeln  und  gleichsam  verdichten  kann. 

Allein  weder  Sie  noch  mich  will  ich  mit  Erörterungen  hierüber  lang- 


4-  Brief-  351 

weilen.  Lassen  wir  überhaupt  für  jetzt  die  frommen  Wünsche!  Wir  Beyde 
mufsten  ja  lernen  die  Dinge  zu  nehmen  wie  sie  sind;  und  wenn  die 
Frage:  warum  sie  so  seyen,  auch  nur  unsre  Contemplation  beschäfftigt, 
so  kann  uns  wenigstens  daraus  eine  angenehmere  Unterhaltung  erwachsen, 
als  aus  der  Betrachtung  dessen  was  anders  seyn  sollte,  und  was  wir  doch 
nicht  ändern  können. 

Die  Familien- Aehnlichkeit  erinnert  mich  an  das  Individuale  der 
mancherley  Gestalten,  die  sich  in  die  Form  eines  allgemeinen  Erziehungs- 
plans niemals  fügen  wollen;  also  auch  an  die  Mannigfaltigkeit  päda- 
gogischer Erfahrung,  die  wir  machen,  indem  wir  bey  unserm  Thun  die 
Zurückwirkung  eines  Jeden  nach  seiner  Art  erdulden  müssen.  Das 
Angeborne  ist  ein  Erbstück,  das  Angewöhnte  der  frühesten  Jahre  ist 
häusliche  Mitgift;  —  entschuldigen  Sie  mit  dieser  Analogie,  wenn  es 
nöthig  scheint,  den  Gedankensprung,  welchen  ich  zu  machen  im  Begriff  stehe. 

Warum  wirkt  einerley  Erziehung  so  verschieden  auf  Verschiedene? 
Worin  liegt  das  Eigne,   was  sich  uns  meistens  unabänderlich  entgegenstellt? 

—  Es  bedarf  keiner  materialistischen  Physiologie,  um  uns  zu  erinnern, 
dafs  körperliche  Verschiedenheiten  sich  in  den  geistigen  Aeufserungen 
spiegeln  müssen,  und  es  wird  Sie  nicht  verdriefsen,  wenn  ich  Sie  ersuche, 
selbst  über  die  Physiologie  hinaus  ein  Blick  in  die  Medicin  zu  werfen, 
damit  uns  nicht  blofs  das  Allgemeine  der  Verbindung  zwischen  Seele  und 
Leib,  (dies  Allgemeine  ist  nicht  der  Gegenstand  unsrer  Frage,)  sondern 
die  Grundzüge  der  möglichen  Verschiedenheit  zu  Gesicht  kommen  mögen. 
Helfen  Sie  mir  schöpfen  aus  den  höchst  geistreichen  Schriften  meines 
verehrten  Collegen  Sachs;  von  welchem  aufser  den  kleineren,  zwey  grofse 

—  leider  noch  nicht  vollendete  Werke  vor  mir  liegen.*  Indem  ich  Sie 
dazu  einlade  bitte  ich  Sie  zuweilen  in  meine  Ihnen  wohl  bekannte  Natur- 
philosophie** zurückzublicken,  damit  aber  die  Verknüpfung  mit  unserm 
jetzigen  Zwecke  besser  einleuchte,  erlauben  Sie  mir  eine  kurze  Vor- 
erinnerung. 

Die  Namen:  Sensibilität,  Irritabilität,  Vegetation,  sind  bekannt.  Kann 
daran  eine  medicinische  Zusammenstellung  der  Krankheiten  sich  knüpfen, 
so  dürfen  wir  erwarten,  es  werde  selbst  innerhalb  des  Zustandes  der 
Gesundheit  ähnliche  Abweichungen  von  der  allgemeinen  Norm  geben, 
deren  entferntere  Folgen  dem  Erzieher  als  Hindernisse  seines  Thuns 
fühlbar  werden,  und  die  ihn  desto  mehr  befremden,  je  weniger  ihm  die 
Begriffe  zu  Gebote  stehen,  auf  die  er  sie  zurückführen  müfste,  um  sie  zu 
begreifen.  Zwar  wissen  Sie,  dafs  es  mir  nicht  einfallen  kann,  Psychologie 
in  Physiologie  zu  verwandeln;  aber  wo  uns  der  wirkliche,  ganze  Mensch 
entgegen  kommt,  haben  wir  da  ein  reines  Ergebnifs  der  Psychologie? 
Gewifs  nicht;  sondern  wir  sehen  geistige  Thätigkeiten  beschränkt  und  ge- 
fördert durch  stetes  Mitwirken  des  Leibes;  und  die  Mannigfaltigkeit  des 
letzteren  in  ihren  grofsen  Umrissen  zu  überschauen,  mufs  uns  wichtig 
seyn,     auch     wenn    sich     finden    sollte,    dafs    die    Ausbeute    solcher    Be- 


*  L.  W.  Sachs.  Grundlinien  zu  einem  System  der  praktischen  Medicin.  1  Thl. 
Leipz.  1821.  Derselbe.  Handbuch  des  natürlichen  Systems  der  praktischen  Medicin. 
1.  Bd.   1.  u.  2.  Abth.     Leipz.   1828,  29. 

**  Allgem.  Metaphysik  nebst  den  Anfängen  der  philos.  Naturl.  Bd.  II. 


■jc2      HL  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

trachtungen  für  Pädagogik  nur  gering  seyn  könne.  Suchen  Andre 
mehr  als  billig  im  Leibe,  und  verkennen  sie  den  Geist:  so  ist  für  uns 
selbst  das  negative  Resultat,  man  habe  hier  weit  mehr  als  dort  zu  suchen, 
indem  dort  weniger  zu  finden  sey,  als  man  meinte,  —  immer  noch  von 
Wichtigkeit,  um  eine  minder  fruchtbare  Nachforschung  zu  beschränken, 
und   für  die  bedeutendere   den   Raum  offen  zu  halten. 

Eine  ganz  leichte  Unterscheidung  wird  die  Bahn  der  Betrachtung 
eröffnen;  die  Scheidung  des  Quäle  vom  Quantum.  Wenn  Nerv  und 
Blut  der  Art  nach  verändert  sind ,  so  mufs  eine  andre  Klasse  von 
Krankheit  —  oder  überhaupt  von  Abnormität  entstehen,  als  wenn  blofs 
die  Verhältnisse  der  Quantität  eine  Abweichung  vom  Rechten  erleiden. 
Als  Beyspiel  der  ersten  Art  könnte  ich  die  Gicht  nennen*;  aber  es 
giebt  ein  anderes,  welches  als  häufiges  Uebel  der  Kinder,  in  unsern  päda- 
gogischen Gedankenkreis  nur  zu  tief  eingreift;  nämlich  die  Skrophelsucht.** 
Für  den  zweyten  Fall  hingegen,  wo  blofs  oder  doch  zunächst  ein  Ver- 
hältnifs  der  Quantität  in  Betracht  kommt,  —  und  das  Nächste  oder  Ur- 
sprüngliche ist  für  uns  allein  von  Bedeutung,  da  wir  nicht  mit  ausgebildeten 
Krankheiten,'  sondern  nur  mit  Krankheits- Anlagen  zu  thun  haben,  — 
für  den  zweyten  Fall  also  ist  eine  neue  Unterscheidung  nöthig,  um  die 
Hauptklassen  der  Krankheiten  zu  bestimmen.  Wir  alle  kennen,  wenigstens 
oberflächlich,  diejenige  Aufregung  des  Gefäfs-Systems  (des  Herzens,  der 
Arterien  und  Venen,)  welche  man  Fieber  nennt.  Unser  Führer***  befiehlt 
uns,  hiebey  die  Thätigkeit  des  Nervensystems  als  gehemmt  zu  betrachten, 
—  während  er  das  sogenannte  Wechselfieber  in  eine  ganz  andere  Stellung 
bringt;  so  dafs  sich  die  ganze  Klasse  der  eigentlichen  Fieberkrankheiten 
auf  Synocha,  Nervenfieber  und  Faulfieber  reducirt.  Nun  aber  bleibt  noch 
eine  grofse  Hauptklasse  übrig,  nachdem  wir  sämmtliche  Fieber  bey  Seite 
gesetzt  haben.  Soll  nämlich  das  Nervensystem  jetzt  nicht  mehr  als  ge- 
hemmt betrachtet  werden,  so  müssen  wir  darauf  rechnen,  dafs  mit  ihm 
verbunden  zugleich  das  Gefäfssystem  und  die  ganze  Vegetation  in  kranker 
Aufregung  begriffen  seyn  werde;  dafs  also  der  ganze  Organismus  sich 
wider  die  vorhandene  Krankheits-Ursache  zu  behaupten  suche.  Und  dieses 
nun  giebt  eigentlich  die  erste  der  drey  Hauptklassen;  die  ich  jedoch  zu- 
letzt nannte,  um  desto  bequemer  aus  den  vor  mir  liegenden  Werken  be- 
richten zu  können.  Es  zerfällt  Dämlich  die  erste  Hauptklasse  in  drey 
Ordnungen,  je  nachdem  die  allgemeine  Aufregung  des  Organismus  Vorzugs* 
weise  in  den  Nerven,  oder  im  Gefäfs-Systeme,  oder  im  Gebiete  der  Vege- 
tation ihren  Sitz  hat.  Vor  aller  weitern  Betrachtung  ist  hier  schon  sicht- 
bar, dafs  diese  Klasse  uns  am  meisten  interessiren  werde.  Denn  bey 
gesunden,  oder  doch  gesund  scheinenden  Zöglingen  setzen  wir  natürlich 
voraus,  die  Verbindung  der  Grundsysteme  des  Organismus  sey  nicht 
wesentlich  verletzt;  und  gewifs  werden  wir  uns  auf  Nervenfieber  und 
Faulfieber    nicht    einlassen,    sondern   deren    Behandlung    dem  Arzte    über- 


*    Sachs  und  DULK,  Handwörterbuch  der  praktischen  Arzneymittcllehre.    Zweyter 
Theil.     Artikel:   Colchicum. 

**  A.  a.   O.    1.   Band,   Artikel  baryta  muriatica. 

■  '  H  .    Handbuch    des    natürlichen   Systems    der   praktischen    Median ;     erster 
Band,   §45. 


4-  Brief-  353 

weisen.  Dagegen  kommt  uns  viel  darauf  an,  ob  in  einem  Individuo  das 
Nervensystem  oder  das  Blutsystem  sammt  der  Irritabilität,  oder  endlich 
die  blofse  Vegetation  vorherrsche;  die  geringsten  Verschiedenheiten  hierin 
müssen  -wir  gefafst  seyn  in  unsern  Erfahrungen  einflufsreich  zu  finden. 
Besonders  nahe  steht  uns  das  Nervensystem ;  jedoch  am  nächsten  das 
Gehirn;  nicht  ganz  so  nahe  das  Rückenmark;  und  auf  den  ersten  Blick 
möchten  wir  das  Gangliensystem,  wenigstens  denjenigen  Theil  desselben, 
der  im  Unterleibe  wohnt  und  herrscht,  wohl  geneigt  seyn  ganz  zu  igno- 
riren;  doch  würde  gar  bald  die  Ueberlegung  zurückkehren,  dafs  solche 
Nerven ,  welche  den  geistigen  Thätigkeiten  keinen  unmittelbaren  Dienst 
leisten,  ihnen  vielleicht  desto  mehr  Hindernisse  in  den  Weg  legen  könnten. 
Auch  in  Ansehung  des  Blutsystems  darf  uns  der  Unterschied  nicht  ent- 
gehen, ob  dessen  Aufregung  leichter  in  dem  arteriellen  Theile  der  Ge- 
fäfse,   oder  in   Venen  und   Haargefäfsen  merklich  werde. 

Fragen  Sie  mich  nun,  ob  die  vorliegenden  Unterscheidungen  etwas 
Pädagogisches  darbieten  können:  so  will  ich  versuchen  Ihnen  Einiges  zu 
weiterm  Nachdenken  vorzuschlagen. 

i.  Die  ganze  grofse  Klasse  von  Krankheits- Anlagen,  wobey  der 
Grundfehler  in  einer  verdorbenen  Qualität  des  Organismus  liegt,  scheint 
auf  den  ersten  Blick  alle  Erziehung  so  offenbar  fruchtlos  zu  machen,  dafs 
Niemand  in  die  Versuchung  gerathen  werde,  sie  überall  nur  zu  beginnen; 
oder  zu  veranstalten.  Oder  wer  möchte  sich  mit  der  Erziehung  eines 
Blödsinnigen  befassen?  ein  Fall,  der  ohne  Zweifel  hieher  gehört.  Und 
doch  könnte  ich  daran  erinnern,  dafs  der  Blödsinn  verschiedene  Grade 
hat;  dafs  Eltern  die  Hoffnung  einiger  günstigen  Veränderung  nicht  zu 
früh  aufgeben  dürfen,  u.  s.  w.  Allein  weit  auffallender  ist  jenes  schon  er- 
wähnte Beyspiel  der  Skrophelsucht;  die  uns  mahnt,  wie  leicht  der  Er- 
zieher in  die  Lage  gerathen  könne,  sich  bey  einem  Geschafft,  das  er 
nicht  ablehnen  darf,  schmerzliche  Täuschungen  zu  bereiten.  Nicht  selten 
nämlich  ist  mit  skrophulöser  Anlage  eine  ausgezeichnete  Regsamkeit  des 
Geistes  verbunden;  der  Unterricht  schlägt  an;  er  scheint  sich  reichlich  zu 
belohnen,  —  und  hebt  dennoch  vielleicht  nur  ein  unglückliches  Wesen 
empor,  das  von  der  erreichten  Höhe  nothwendig  wieder  herabsinken  mufs, 
mit  dem  traurigen  Bewufstseyn,  sich  nicht  halten  zu  können.  Vielleicht! 
Denn  auch  das  Gegentheil  kann  sich  ereignen.  Die  Krankheit  verliert 
oder  verlarvt  sich  in  den  Jahren  der  körperlichen  Ausbildung,  wemi  alle 
Bedingungen  derselben  (Bewegung,  reine  Luft,  gewählte  Nahrung,  Haut- 
cultur)  gehörig  zusammenwirken.  Der  Erzieher  wird  demnach  einen  un- 
sicheren Versuch  wagen;  ein  Fall,  den  wir  ohnehin  nur  zu  oft  und  zu 
vielfach  eintreten  sehen.  Aber  möchten  wir  wohl  einen  Knaben,  dessen 
Familien- Verhältnisse  den  Wunsch,  er  möge  studiren,  nicht  ganz  von  selbst 
herbevführen,  bey  ausgezeichneter  Fassungskraft,  aber  mit  Skropheln  oder 
ähnlichen  Uebeln  behaftet,  aus  der  Lage  worin  er  geboren  wurde  hervor- 
ziehn,  während  wir  befürchten  müfsten,  der  gebildete  Geist  werde  dereinst 
den  Mangel  einer  vesten  körperlichen  Stütze  drückend  empfinden?  Daran 
zweifle  ich  für  Sie  und  für  mich;  vielmehr  glaube  ich,  wir  würden  bey 
einem  Solchen  die  Gesundheit  als  das  Erste,  die  Geistesbildung  als  das 
Zweyte  betrachten. 

Herbart's  Werke.     IX.  23 


zka      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 

2.  Mögen  alle  Fieber,  welcher  Art  sie  auch  seyen,  aus  der  Er- 
ziehungssphäre wegbleiben;  es  ist  schlimm  genug,  wenn  sie  häusliche  Sorge 
verursachen.  Allein  die  Bemerkung  will  ich  nicht  unterdrücken,  dafs  für 
den  Satz,  in  Fiebern  seyen  die  Nerven  gehemmt,  meine  pädagogische 
Erfahrung  einige  Bestätigung  darbieten  möchte.  Denn  ich  erinnere  mich 
an  Individuen,  welchen  das  Fieber  auch  während  sie  gesund  sind,  doch 
niemals  recht  fern  zu  stehen  scheint.  Ihre  Gefäfse  haben  eine  auffallende 
Reizbarkeit;  sie  werden  blafs  und  roth  ohne  besondern  Grund;  Verlegen- 
heit bey  Prüfungen,  brennend  heifse  Wangen  bey  mäfsigen  Anstrengungen 
oder  Vorwürfen,  mühsam  unterdrücktes  Weinen  bey  geringfügigen  Ver- 
sagungen, —  dabey  Unfähigkeit  oder  wenigstens  grofse  Anstrengung,  sich 
wieder  zu  sammeln,  wann  einmal  der  Affect  erregt  worden:  —  diese  und 
ähnliche  Zeichen  lassen  schliefsen,  dafs  dem  Nervensystem  zwar  die  Fähig- 
keit zu  reizen,  aber  kein  hinreichender  Widerstand  gegen  die  Rück- 
wirkungen des  Gefäfssystems,  also  nicht  die  Macht  zu  herrschen  und 
bändigen,  in  solchen  Individuen  beywohne.  Wenn  nun  auch  Witz,  Ge- 
schmack, Gewandtheit  dem  Erzieher  guten  Muth  machen:  dennoch  wird 
er  seine  Hoffnung  beschränken  müssen.  Denn  selbst  bey  blühender  Ge- 
sundheit schimmert  bey  dieser  Neigung  zum  fieberhaften  Zustande  eine 
Schwäche  durch,  die  nicht  erlauben  wird,  etwas  Zusammenhängendes  zu 
vollbringen.  Man  darf  also  auch  nicht  auf  diejenige  Sammlung  rechnen, 
die  nöthig  ist,  um  durchs  Lernen  eine  veste  Grundlage  des  Wissens  zu 
gewinnen.  Man  mufs  erwarten,  Vieles  bald  vergessen,  anderes  entstellt 
zu  finden;  —  und  dies  Uebel  wird  nicht  eher  aufhören,  als  bis  vielleicht 
eine  glückliche  Stärkung  des  Gefäfssystems  eintritt,  sey  sie  nun  ein  Ge- 
schenk der  Natur,  oder  des  Zufalls,  oder  ein  Werk  der  sorgfältigen 
diätetischen  Behandlung. 

Vergleichen  wir  nun  diesen  Fall  mit  dem  vorigen:  so  erblicken  wir 
in  beyden,  Misverhältnisse  des  Nervensystems;  in  beyden  auch  einige 
Hoffnung  zum  Besserwerden ;  aber  unter  sehr  verschiedenen  Nebenbe- 
stimmungen. Die  Skrophelsucht  wird  weniger  nachtheilig  auf  den  Zu- 
sammenhang der  geistigen  Thätigkeit  einwirken;  sie  wird  erlauben,  ein 
höheres  Gebäude  der  geistigen  Ausbildung  aufzuführen;  aber  sie  droht 
ihm  den  schlimmeren  Sturz,  je  höher  es  sich  erhob.  Die  Reizbarkeit  des 
Gefäfssystems  wird  mehr  einzelne  Störungen  anrichten,  sie  wird  weniger 
Gelehrsamkeit  zulassen;  dagegen  wird  sie  den  Affecten  mehr  Mannigfaltig- 
keit, den  Gefühlen  mehr  Spielraum  geben,  und  das  Wohl  und  Wehe 
beyder  herbeyführen.  Die  schlimmeren  Fälle  der  torpiden  Skrophelsucht, 
oder  des  wirklichen  Kränkeins  aus  übergrofser  Gefäfsreizung  mögen  hier 
unerwähnt  bleiben. 

3.  Wollen  wir  zu  der  angemessenen  Voraussetzung  aller  -Erziehung 
übergehn,  der  Körper  sey  gesund:  so  müssen  wir  unstreitig  annehmen, 
dafs  im  Falle  des  Eintritts  irgend  eines  Fremdartigen,  welches  Krankheit 
verursachen  könnte,  sogleich  der  ganze  Organismus  eine  Reaction  auszu- 
üben bereit  seyn  würde,  wobei  nicht  blols  Hirn,  Rückenmark  und  Ganglien, 
sondern  mit  dem  Nervensystem  auch  das  Blut  sammt  den  Organen  die 
es  lenken  und  läutern,  ja  selbst  die  Vegetation  sammt  den  ihr  vorarbeitenden 
■Werkzeugen  der  Verdauung,   —  jedes  das  Seinige  zu  thun  bekäme.      Ich  _ 


4-  Brief^  _  3  55 

sage  absichtlich,  im  Falle  des  Eintritts  eines  Fremdartigen,  welches  Krank- 
heit verursachen  könnte!  Denn  so  lange  keinem  Organe  zugemuthet  wird, 
den  gewöhnlichen  Kreis  seiner  Thätigkeit  zu  verlassen,  und  einem  fremd- 
artigen Reize  zu  entsprechen,  gehört  es  gerade  umgekehrt  zu  den  Kenn- 
zeichen und  Erfordernissen  der  Gesundheit,  dafs  die  Organe  abgesondert 
ihre  Verrichtungen  nach  den  jedesmaligen  Umständen  vollführen,  ohne 
sich  eins  ums  andre  zu  bekümmern.  Zwar  auch  bey  den  besten  Schrift- 
stellern lesen  wir  den  Satz:  der  Lebensact  des  Gesammt-Organismus  sey 
nur  ein  einziger.  Allein  es  bedarf  kaum  der  Erinnerung,  dafs  hierin  ein 
Residuum  der  spinozistisch -idealistischen  Naturphilosophie  zu  erkennen 
ist.  Wir  können  uns  mit  den  allerbekanntesten  Erfahrungen  begnügen. 
Nichts  ist  gewisser,  als  dafs  der  wahrhaft  gesunde  Mensch  seinen  Körper 
nicht  fühlt.  Die  berühmte  Entgegensetzung  des  Ich  und  Nicht-Ich  ge- 
schieht ganz  unbefangen;  auch  der  Idealist,  als  ein  Gesunder,  hält  die 
Frage  nach  dem  Vermittler  zwischen  Uns  Selbst  und  der  Aufsenwelt,  — 
dem  Leibe,  —  so  lange  für  eine  Querfrage,  bis  es  ihm  hintennach  etwan 
einfällt,  Luft  und  Licht  nach  seiner  Manier  zu  deduciren;  aber  er  deducirt 
weder  das  verlängerte  Mark  noch  die  cauda  equina,  weder  die  pia  mater 
noch  die  dura  mater,  denn  —  weil  er  nichts  davon  lernte,  so  weifs  er 
auch  nichts  davon;  und  darf  nichts  davon  wissen,  oder  er  würde  auf- 
hören gesund  zu  seyn.  Kein  Organ  darf  seine  besondere  Existenz  ver- 
rathen;  keins  darf  sein  Thun  oder  Nicht-Thun  anzeigen;  ■ —  das  heilst, 
keins  darf  dadurch  in  dem  Zustande  der  Sinnes-Nerven  einen  Unterschied 
hervorbringen.  Während  der  Magen  verdaut,  mufs  das  Gehirn  dem 
Denken  nachgeben;  und  was  aus  dem  ganzen  Denkgebiete  nun  gerade 
den  Denker  beschäfftige ,  das  mufs  dem  Magen  eben  so  gleichgültig 
seyn,  als  die  Verschiedenheit  der  Speisen,  die  nun  gerade  verdauet  werden, 
dem  Gehirne  gleichgültig  seyn  soll.  Kommt  es  schon  dahin,  dafs  eine  ge- 
wählte Diät  beobachtet  werden  mufs;  wird  es  wohl  gar  nöthig,  die  Zeit 
nach  der  Mahlzeit  als  untauglich  zum  Studiren  von  den  Arbeitsstunden 
abzusondern:   dann  ist  keine  reine  Gesundheit  mehr   vorhanden. 

Sie  werden  mich  nicht  so  misverstehen,  als  ob  ich  hiemit  den  be- 
kanntesten Vorsichts- Regeln  der  Lebensordnung  widersprechen  wollte. 
Wer  wird  zu  wissentlicher  Unvorsichtigkeit  rathen?  Krankheit  droht  immer; 
sie  drohet  auch  dem  Gesundesten.  Absolute  Gesundheit  ist  ein  Ideal;  die 
Annäherung  zu  demselben  bezeichnet  den  Grad  der  jedesmal  vorhandenen 
relativen  Gesundheit.  Und  vergleichungsweise  gesund  durfte  ich  mich  ohne 
Zweifel  in  meinen  Jugendjahren  nennen,  da  ich  täglich  unmittelbar  vor 
der  Schulstunde  mein  Mittagsbrod  bekam,  dann  eilig  eine  Strafse  hinab- 
lief, um  auf  der  Schulbank  zu  lernen!  Welcher  organische  Procefs  geht 
leichter  von  Statten,  welcher  stört  weniger  das  Ganze  des  übrigen  organischen 
Daseyns,  als  im  Jünglings- Alter  der  Verdauungs-Procefs!  Und  wieviel  ist 
dagegen  im  späteren  Mannes- Alter  dabey  zu  bedenken  und  zu  verhüten! 
Jahrzehende  lang  habe  ich  diejenigen  ausgelacht,  die  mir  warnend  sagten, 
es  sey  nicht  gesund,  während  des  angestrengten  Denkens  rasch  zu  gehen. 
Meilenweit  bin  ich  gegangen,  recht  eigentlich  um  desto  bequemer  inner- 
lich zu  botanisiren.     Und  jetzt  —   doch  still  davon! 

Kurz:  je  entfernter  derjenige  Zustand  bleibt,  worin  die  verschiedenen 

23* 


c6      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 


Theile  des  Nervensystems  einander  zur  Gesammtwirkung  auflodern,  ja 
wohl  gar  das  Gefäfssystem  erregen  und  am  Ende  selbst  die  Vegetation 
ins  Spiel  ziehn:  desto  besser  steht  es  um  das,  was  wir  als  Erzieher  Ge- 
sundheit nennen.  Der  Knabe  soll  still  sitzen  können;  er  soll  auch  laufen 
können,  je  nachdem  er  will  oder  Befehl  empfängt;  ohne  Ungemach  weder 
für  das  Hirn  noch  für  das   Rückenmark  mit  seinen  Nerven. 

4.  So  nun  finden  wir  es  nicht  immer.  Sehr  oft  zeigt  sich  bey 
denen,  die  gern  still  sitzend  arbeiten  möchten,  ein  Bedürfnifs  der  Be- 
wegung; sie  wechseln  die  Haltung  des  Körpers;  sie  strecken  Arme  und  Beine 
hierhin  und  dorthin.  Ohne  Zweifel  eine  Reizung,  die  vom  Gefäfssysteme 
ausgehend  sich  dem  System  der  Ganglien  und  dem  Rückenmarke  mit- 
theilt. In  seltenern  Fällen  sind  jüngere  Knaben  so  gänzlich  quecksilbern, 
dafs  sie  während  der  angenehmsten  Erzählungen  und  Gespräche  nicht 
einen  Augenblick  still  halten  können.  Die  Erfahrung  sagt,  dafs  alsdann 
in  spätem  Jahren  eine  Dumpfheit  des  Geistes,  ein  Stocken  der  geistigen 
Fortschritte,  verbunden  mit  unwillkommenen  und  voreiligen  Aufregungen 
des  Gefälssystems  zu  erwarten  steht.  Wer  wird  solche  Fälle  verwechseln 
mit  der  Munterkeit  lebhafter  Köpfe,  die  sich  zwar  auch  sehr  behende 
zeigen  im  Laufen  und  Springen,  und  sehr  rührig  um  etwas  zu  fassen, 
zu  heben,  zu  behandeln,  aber  stets  mit  einer  Absichtlichkeit,  die  vom 
Geiste  ausgeht;  anstatt  dafs  jenes  Quecksilber  im  Blute  lag,  und  sich 
geltend  machte  wider  das  Gehirn.  Hätte  man  dem  Blute  seinen  Willen 
gethan,  und  vom  Hirn  weniger  verlangt:  vielleicht  hätte  man,  bey  übrigens 
etwas  knapper  Kost,  die  Gefäfse  ruhiger  gestimmt,  und  der  spätem  geistigen 
Bildung  mehr  vorgearbeitet.  Doch  bekenne  ich,  ein  wesentliches  Um- 
ändern solcher  Naturen  sehr  bezweifeln  zu  müssen. 

5.  Ohne  Vergleich  besser  gelingt  es  der  körperlichen  Pflege,  denen 
aufzuhelfen,  bey  welchen  Schwäche  des  Gefäfssystems  und  die  dadurch 
entstandene  Abspannung  des  Geistes  merklich  wird.  Sorgfältige  Lebens- 
ordnung und  gute  Nahrung  helfen  allmählig  den  Mangel  ersetzen;  und 
alsdann  wirkt  auch  der  Unterricht  besser.  Doch  in  dieser  Hinsicht  ist 
es  nöthig,  das  nächstvorhergehende  zu  vergleichen.  Jene  quecksilbernen 
Naturen  sind  nicht  gerade  schwer  zu  unterrichten  —  bis  in  die  Jünglings- 
jahre; alsdann  aber  verwüstet  der  Blutsturm  die  angebauten  Felder;  der 
Gewinn  des  Unterrichts  geht  grofsentheils  verloren.  Hingegen  die  blassen, 
blutlosen  Kinder  sah  man  lange  stocken  in  geistiger  Thätigkeit,  sie  kauten 
an  den  Worten,  gaben  regelmäfsig  einige  falsche  Antworten,  bevor  die 
wahre  zum  Vorschein  kam;  allein  wie  das  Blutleben  sich  hob,  gewann 
auch  ihr  Gedankenflufs ;  und  wenn  die  frühern  Knabenjahre  wenig  ge- 
schafft hatten,  so  brachten  spätere  Jahre,  die  sich  dem  Jünglingsalter 
nähern,  dafür  Ersatz. 

Doch  das  wichtige  Verhältnifs  zwischen  Blutsystem  und  Nerven  er- 
innert mich  an  einen  Gegenstand  von  solcher  Wichtigkeit  für  jeden  Lehrer, 
dals  daneben  oft  genug  alles  Uebrige  gering  geschätzt  wird;  —  an  das  Ge- 
dächtnifs;  das  erste  aller  Seelenvermögen,  auf  welches  jeder  Unterricht, 
der  beste  wie  der  schlechteste,  seine  Hoffnungen  bauet.  Denn  weder  die 
Sinne  noch  der  Verstand  noch  das  Gefühl  helfen  dem  Lehrer  irgend  ein 
merkliches  Stückchen    Arbeit    zu    vollbringen,    wenn    heute    vergessen    ist, 


5-  Brief.  357 

was   gestern  gelernt  —  gleichviel  ob  gesehen,  oder  begriffen,  oder  gefühlt 
wurde. 

5- 

Sie  sehen,  mein  Freund!  es  ist  auch  mir  begegnet,  vom  Gedächtnifs 
als  einem  Seelenvermögen  zu  reden.  Mufste  ich  nicht  darüber  erschrecken? 
Wenigstens  legte  ich  die  Feder  weg,  als  mir  einfiel,  wie  oft  auch  Sie,  in 
der  Mitte  pädagogischer  Erfahrungen,  in  diesem  Punkte  Mühe  gehabt 
haben  mögen,  Ihr  gütiges  Vertrauen  zu  meinen  psychologischen  Unter- 
suchungen aufrecht  zu  erhalten.  Denn  sehen  wir  es  nicht  vor  Augen, 
dafs  einige  Knaben  von  Natur  ein  treffliches  Gedächtnifs  haben,  andre 
nicht?  Sehen  wir  nicht,  dafs  hiebey  der  Unterschied  des  guten  Willens 
gar  wenig  in  Betracht  kommt?  Die  stärksten  Anstrengungen  des  Schülers 
und  des  Lehrers  vermögen  diesen  schneidenden  Unterschied  nicht  zu  ver- 
wischen. Auch  die  andern  Seelenvermögen  (sehen  Sie  wie  freygebig  ich  bin!) 
machen  hiebey  keinen  Umstand  begreiflicher.  Kein  besonderer  Verstand 
oder  Unverstand  kündigt  sich  dadurch  an,  dafs  der  eine  leicht  aufsagt, 
was  der  andre  vergilst;  selbst  der  Mangel  an  Interesse  hindert  jenen 
nicht  am  Behalten,  während  freylich  dieser  um  so  leichter  vergifst  was  er 
nicht  nöthig  findet  sich  einzuprägen.  Doch  die  Phänomene  des  Gedächt- 
nisses sind  mir  zu  bunt,  um  sie  auf  einmal  zu  sondern  und  zu  beleuchten; 
wir  werden  öfter  darauf  zurückkommen  müssen.  Fürs  erste  mag  es  ge- 
nügen,  sie  nur  im  Zusammenhange   des  vorigen  Briefes  zu  überlegen. 

Das  Gedächtnifs  hängt  ab  von  der  Bildung  und  von  der  unver- 
änderten Reproduction  der  Vorstellungsreihen.  Die  Hindernisse  liegen 
also  entweder  in  der  anfänglichen  Reihenbildung  oder  in  der  Reproduction. 
Welche  Fehler  im  Reproduciren  liegen,  diese  kann  man  gröfstentheils  ent- 
fernt halten,  wenn  man  keine  oder  nur  sehr  geringe  Zeit  verstreichen  läfst 
zwischen  Lernen  und  Aufsagen.  Denn  was  man  eigentlich  Vergessen  nennt, 
das  braucht  Zeit;  andre  Gedanken  müssen  sich  einschieben  zwischen  dem 
Memoriren  und  dem  Wiedergeben;  auch  das  schlechteste  Gedächtnifs 
pflegt  nach  einer  Viertelstunde  noch  treu  zu  seyn.  Und  doch  —  vergifst 
nicht  mancher  Knabe  dieselbe  Vocabel  schon  jetzt,  die  er  nur  vor  ein 
paar  Minuten  im  Lexicon  aufschlug?  Wer  nicht  an  den  Gebrauch  der 
Logarithmen-Tafeln  gewöhnt  ist,  der  wird  kaum  sieben  Ziffern  wohlbe- 
halten aus  dem  Buche  aufs  Papier  bringen,  ohne  mehr  als  einmal  nach- 
zusehen, und  seine  Arbeit  stückweise  zu  vollführen.  Dennoch  werden 
wir  die  Beobachtung  dessen,  worauf  es  ankommt,  wenigstens  reiner  an- 
stellen, wenn  wir  die  Zeit  verkürzen,  während  welcher  das  Aufgefafste  soll 
behalten  werden.  Es  kommt  dann  wenigstens  Etwas  von  dem  so  eben 
Vernommenen  wieder  zum  Vorschein,  aber  entstellt,  wenn  schon  die 
Reihenbildung  fehlerhaft  gewesen  war.  Entstellt  entweder  durch  ver- 
änderte Reihenfolge,  oder  durch  Auslassen,  oder  durch  Einschieben  fremder 
Zusätze.  Der  zweyte  dieser  Fehler  ist  der  einfachste;  der  erste  und 
dritte  mag  einer  falscher  Reproduction  einstweilen  zugerechnet  werden,  ob- 
gleich beyde  recht  füglich  auch  während  des  Auffassens  selbst  entstehen 
konnten. 

Was   nun  das  Auslassen  anlangt,    —   diese  reine  Negatation  des  Be- 


tc8      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

haltens,  —  so  liegt  es  am  nächsten,  zu  fragen,  ob  denn  das  Ausgelassene 
überall  nur  sey  aufgefafst  worden?  Hat  eine  Lehrstunde  dem  Schüler  zu 
lange  gedauert,  so  bemerkt  man  bald,  dafs  er  nun  so  viel  wie  nichts  mehr 
vernimmt.  Kein  Wunder,  dafs  er  nichts  behält;  auch  nicht  für  eine 
Minute.  Dieser  Vorgang  kann  zwar  im  Allgemeinen  psychisch  seyn, 
nämlich  nach  Anhäufung  vieler  sehr  neuer  Vorstellungen;  aber  wir  be- 
merken oft  genug,  dafs  die  ermüdeten  Schüler  auch  das  Bekannteste  nicht 
mehr  von  sich  geben  können;  sie  scheinen  Alles  vergessen  zu  haben, 
auch  was  sie  am  nächsten  Tage  wieder  wissen.  Hört  man  noch  nicht 
auf  zu  lehren  (was  freylich  längst  vorher  Zeit  gewesen  wäre),  so  verräth 
sich  endlich  die  körperliche  Verstimmung  ganz  unverkennbar  —  und 
zwar  als  liegend  im  Gefäfssystem.  Miene  und  Gesichtsfarbe  ermahnen 
uns,  den  Schüler  aufstehen  zu  heifsen,  damit  er  sich  —  Bewegung  mache, 
das  heifst,  damit  der  Blutumlauf  wieder  frey  werde.  Es  war  ein  Affect 
entstanden,  für  den  es  vielleicht  keinen  passenden  Namen  giebt,  der  aber 
offenbar  die  zwey  Bestandtheile  jedes  Affects,  —  Reizung  der  Gefäfse 
durch  die  Nerven,  und  rückwärts  Hemmung  der  Nerven  von  Seiten  des 
Gefäfssystems,  —  in  sich  trägt.  Dieser  Affect  will  Zeit  haben,  um  wieder 
zur  Ruhe  zu  kommen. 

Ist  dieselbe  Reizung  und  Hemmung  immer  ein  Hindernifs  fürs  Lernen? 
Man  wird  uns  erinnern  an  so  Manches,  was  mit  Thränen  und  Schluchzen 
gelernt,  —  aber  doch  gelernt  und  behalten  wurde.  Wie  mancher  Baum 
schon  ist  gewaltsam  gebogen,  und  hat  alsdann  fortwachsend  die  Stellung 
behalten,  die  man  ihm  aufzwang!  Und  wie  ungern  wir  es  aussprechen 
möo-en:  es  giebt  einen  sehr  gesunden  jugendlichen  Frohsinn,  den  man 
durchaus  brechen  mufs,  wenn  er,  gutartig  wie  er  ist,  nicht  baldige  Laster 
oder  mindestens  bleibende  Unwissenheit  ankündigen  soll.  Allein  diese 
Art  von  Gedächtnifsschwäche  —  ich  möchte  sie  die  übermüthige  nennen, 
weil  sie  von  einer  vorhandenen  Energie  abhängt,  die  voreilig  in  ihrer 
Richtung  bestimmt,  aus  ihrer  Bahn  getrieben  werden  mufs,  um  besser  ge- 
leitet zu  werden,  —  dieses  in  frühern  Jahren  leicht  heilbare  Uebel  können 
wir  für  jetzt  bey  Seite  setzen;  denn  es  ist  keinesweges  die  wahre  Schwäche, 
sondern  nur  deren  täuschendes  Bild. 

Hievon  abgesehen  nun,  können  wir  es  aussprechen:  das  rechte  Ver- 
hältnifs  zwischen  Gefäfs-  und  Nerven-System  ist  die  erste  sehr  wesentliche 
Bedingung  des  guten  Gedächtnisses. 

Denn  derjenige  Zustand  des  Gehirns,  in  welchen  es  sich  während 
des  Auffassens  versetzt,  darf  im  geringsten  nicht  gestört  werden,  wofern 
nicht  die  Vorstellung,  welche  eben  jetzt  gewonnen  ist,  sogleich  eine 
Hemmung  erleiden  soll,  die  zu  plötzlich  ist,  um  der  gehörigen  Ver- 
schmelzung mit  dem  was  vorherging  und  folgt,  die  verlangte  Ausbildung 
zu  gestatten.  Kann  also  das  Gefäfssystem  irgend  wie  dazu  gelangen,  den 
Zustand  des  Gehirns  nach  sich  zu  bestimmen,  ohne  durch  eine  über- 
legene Rückwirkung  von  dorther  besiegt  zu  werden:  so  verdirbt  es  — 
nicht  etwan  die  Reproduction,  die  zu  andern  Zeiten  gelingen  würde,  — 
sondern  gleich  die  erste  Reihenbildung;  das  Behalten  wird  im  Keime 
erstickt,  nämlich  im  Auffassen. 

Es    ist    noch    nicht   nöthig,    dafs   wir    hier  schon    vom  Auffassen   das 


==  6-  Brie{-  359 

Einprägen  oder  eigentliche  Memoriren  unterscheiden;  genug  dafs  diese 
weit  höher  stehende  psychische  Thätigkeit  gewifs  auch  sehr  leiden  mufs, 
wenn  schon  das  Gehirn  seine  Zustände  mufs  Preis  geben  an  die  Störung 
durch  andringende  Blutwellen  oder  durch  Stocken  desjenigen  Blutes  (oder 
derjenigen   Lymphe)   wovon  eben  jetzt  das  Gehirn  sich  befreyen  sollte. 

Wenden  wir  unsern  Blick  auf  die  Erfahrung:  so  wird  es,  glaube  ich, 
hier  an  Bestätigungen  nicht  fehlen.  Zuvörderst  mag  uns  das  ganz  Be- 
kannte einfallen,  dafs  grofse  Geister  oft  in  auffallend  kleinen  Leibern  ge- 
wohnt haben,  deren  Blutsystem  also  keinen  vorherrschenden  Trieb  des 
Wachsens  bewirkt  hatte;  solche  grofse  Männer  aber,  wie  Friedrich,  wie 
Napoleon,  sind  gerade  ihres  Gedächtnisses  wegen  berühmt,  welches  die 
Grundlage  ihrer  übrigen  geistigen  Thätigkeit  darbot.  Umgekehrt  schweben 
mir  Individuen  vor,  deren  frühzeitiges  Wachsen,  nicht  blofs  in  die  Höhe, 
sondern  zugleich  in  die  Breite,  mit  allgemeiner  Gedächtnifs-Schwäche  ver- 
bunden war.  Und  wenn  dies  nicht  als  Regel  angesehen  werden  kann: 
so  möchte  ein  besonders  günstiger  Bau  des  Gehirns,  und  sichtbar  schon 
der  Stirn,  den  Nachtheil  des  starken  Wachsens  bey  blutreichen  Körpern 
soweit  vergüten,  als  eben  nöthig  um  die  Gedächtnifs-Schwäche  nicht  auf- 
fallend hervortreten  zu  lassen. 

Sehr  nöthig  aber  ist  hier,  auch  der  beyden  andern  Nervensysteme, 
aufser  dem, Gehirn,  zu  gedenken.  Denn  zuvörderst  hängt  das  Gehirn  mit 
dem  übrigen  Organismus  sehr  wesentlich  durchs  Rückenmark  zusammen; 
und  andrerseits  hängt  die  Blutbewegung  grofsentheils  ab  vom  Ganglien- 
svteme;  daher  sich  sehr  verwickelte  Verhältnisse  erzeugen  können,  welche 
durch  ihre  Mannigfaltigkeit  vermuthlich  Schuld  sind,  wenn  die  allgemeine 
Erfahrung  nicht  schon  längst  auf  durchgreifende  Bemerkungen  über  diesen 
Gegenstand  führte. 

6. 
Ihnen  anheimstellend,  zu  versuchen,  ob  Sie  aus  medicinischen  Schriften 
mehr  Belehrung  über  psychische  Eigenheiten,  die  vom  Blute  abhängen, 
zu  schöpfen  Gelegenheit  finden  können:  mufs  ich  Sie  jetzt  an  meine 
Naturphilosophie  erinnern,  worin  ich,  wie  Sie  wissen,  die  Begriffe  der 
Irritabilität  und  Sensibilität  enger  begränzt  habe,  als  jetzt  gewöhnlich  ist; 
indem  ich  mehr  an  Hallern  vesthielt,  weil  ich  mich  nicht  überzeugen 
konnte,  dafs  die  Erweiterung  seiner  Benennungen  zu  wahrer  Aufklärung 
der  Sache  verhelfe.  Für  jetzt  will  ich  die  physiologischen  Fragen  nicht 
weiter  berühren.  In  pädagogischer  Hinsicht  ist  die  von  der  Betrachtung 
der  Störungen,  welche  ein  Blutstrom  dem  Gedankenlaufe  zufügen  kann, 
völlig  verschieden  von  der  Rücksicht  auf  starke  oder  schwache  Muskeln, 
durch  welche  das  Mehr  oder  Weniger  der  körperlichen  Rüstigkeit  und 
Thätigkeit  unsrer  Zöglinge  bestimmt  wird;  und  für  uns  könnte  nur  Ver- 
wirrung entstehn,  wenn  wir  Jenes  und  Dieses  durch  das  blofse  Wort: 
Irritabilität,  in  Verbindung  bringen  wollten.  Eben  so  ist  eine  Sensibilität 
des  Gangliensystems,  solange  dadurch  keine  Sensationen  ins  Bewufstseyn 
gelangen,  für  uns  etwas  ganz  Anderes  als  die  offenen  Sinne  und  die 
Leichtigkeit  des  Anschauens,  woran  uns  für  die  Erziehung  unmittelbar 
o-eleo-en  ist.     Wundern  Sie  sich  also  nicht,  wenn  ich  gar  Manches,  woran 


?6o      III-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 


wir  bey  der  Irritabilität  und  Sensibilität  zu  denken  uns  nicht  veranlafst 
finden,  von  jetzt  an,  lediglich  der  Vegetation,  als  dem  dritten  Factor  des 
thierischen  Lebens,  zuweise;  und  das  wie  es  mir  scheint,  selbst  nicht  ohne 
physiologischen  Grund.  Denn  gewifs  vegetiren  auch  die  Nerven  und 
die  Muskeln.  Gewifs  haben  auch  sie  ihre  vegetative  Gesundheit  und 
ihre  Veeetations-Krankheit.  Sie  müssen  wachsen,  wie  alle  andern  Theile 
des  Leibes;  und  da  sie  zunehmen,  so  ist  höchst  wahrscheinlich,  dafs  sie 
auch  abnehmen,  also  einen  Stoffwechsel  erleiden,  der  eben  die  wesentliche 
Grundbedingung  aller  Vegetation  ausmacht.  Hingegen  bey  der  Irritation 
und  Sensation  kommt  dieser  Stoffwechsel  nicht  in  Betracht ;  Muskeln  und 
Nerven  wirken  hier  als  etwas  Vorhandenes  und  nicht  erst  Werdendes. 
Dabey  könnte  ich  gleichnifsweise  an  die  Grundbegriffe  der  Mechanik  er- 
innern. Beschleunigende  Kräfte  erzeugen  Geschwindigkeiten;  aber  das 
erste  Differential  des  Weges  hängt  nicht  von  den  Kräften,  sondern  nur 
von  der  schon  vorhandenen  Geschwindigkeit  ab. 

Von  hier  an  also  verstehe  ich  unter  Irritabilität  nichts  Anderes  als 
Fähigkeit  zur  willkührlichen  Bewegung;  unter  Sensibilität  nichts  anderes 
als  Fähigkeit  zu  empfinden;  alles  Uebrige  des  leiblichen  Lebens  befasse 
ich  unter  dem  Ausdrucke  Vegetation;  die  meinethalben  unter  andern 
auch  eine  Vegetations  -  Bestimmung  der  Muskeln  und  Nerven  seyn  mag. 
Dies  vorausgesetzt:  so  läfst  sich  nun  eine  Untersuchung  auf  combi- 
natorischem  Wege  einleiten.  Während  immer  noch  Vegetation,  Irritabilität 
und  Sensibilität  die  Grundlage  ausmachen,  über  welcher  das  geistige  Da- 
seyn  sich  erhebt:  können  wir  die  Beschränkungen,  welche  für  dieses  von 
dorther  zu  befürchten  sind,  auf  sieben  denkbare  Fälle  zurückführen.  Denn 
entweder  leidet  nur  Einer  ,von  jenen  Factoren  des  leiblichen  Lebens; 
oder  zwey,  oder  alle  drey.     Also: 

1.  Es  leide  blofs  die  Vegetation;  jedoch  nicht  in  dem  Grade  und 
in  der  Art,  dafs  daraus  für  Bewegung  und  Empfindung  ein  merklicher 
Verlust  entstünde.  So  sehen  wir  unsern  Zögling  in  voller  Thätigkeit  des 
Leibes  und  des  Geistes;  wir  sehen  ihn  im  Laufen  und  Tragen,  im  An- 
schauen und  Denken  tüchtig  und  aufgeregt,  —  aber  dennoch  verstimmt, 
wie  einen,  der  gesund  scheint,  und  von  verborgener  Krankheit  gedrückt 
oder  geneckt  ist. 

Auf  diesen  Fall  glaube  ich  manche  sehr  üble  Erscheinungen  zurück- 
führen zu  müssen,  welche  den  Erzieher  in  die  gröfste  Verlegenheit  setzen. 
Die  Erfahrung  zeigt  unleugbar  Geister,  die  verneinen;  sie  zeigt  „deren  schon 
im  frühen  Knabenalter.  Es  giebt  Kinder,  denen  nichts  recht  ist,  die  in 
Alles  einen  bitteren  Tropfen  hineintragen;  überall  tadeln,  schmähen,  ver- 
läumden ;  weil  sie  überall  eine  Kehrseite  erblicken  und  selbst  im  Genüsse 
nie  eigentlich  froh  werden.  Das  Böse  keimt  bey  ihnen  so  leicht  und  so 
früh,  dafs  man  unwillkührlich  an  Erbsünde  erinnert  wird.  Zuweilen,  doch 
nicht  immer,  läfst  sich  etwas  Disharmonisches  in  ihrem  Körperbau  nach- 
weisen; dafs  aber  ein  solches  auch  tief  verborgen  liegen  könne,  —  wen 
wird  das  wundern?  Jeder  tüchtige  Erzieher  wird  solche  Subjecte  zwar 
unter  strenge  Regierung  nehmen,  ihnen  Respect,  ja  Furcht  einflöfsen;  da- 
bey sich  hüten,  sie  unnöthig  zu  reizen,  und  am  wenigsten  mit  ihnen 
scherzen.     Aber  das  sind  Palliative.     Sorgfältige  Diät,    strenges  Maafs  im 


6.  Briet.  36 1 

Lernen    und   Geniefsen,   vielleicht  Arzeney,  ist   ihnen  nöthig;    Erheiterung, 
wenn   man  diese  nur  auf  unschuldige  Weise  schaffen  kann,   ist  heilsam. 

Damit  contrastiren  Andre,  welchen  von  früher  Jugend  an  bis  ins 
spätere  Leben  die  glückliche  Neigung  beywohnt,  Alles  im  Rosenlichte  zu 
sehen.  Zu  ihrem  Schaden  für  ihr  Denken  und  Handeln  sind  sie  unauf- 
gelegt, durch  Kritik  zur  Wahrheit  zu  gelangen;  heitere  Täuschung  ist  das 
Element  ihres  Lebens.  Mit  ihnen  hat  der  Erzieher  keine  Noth,  höchstens 
als  Lehrer,  wenn  er  ihnen  das  Auge  schärfen  mufs.  Der  Arzt  wird 
schwerlich  einräumen,  diese  seyen  gesunder  als  jene.  Wenn  nur  alles 
Krankseyn  sich   dem  Arzte  offenbarte! 

Möchte  es  wenigstens  dem  Erzieher  nicht  an  Diagnostik  fehlen,  um 
bey  jenen  Ersten  sich  vor  der  Verwechselung  mit  scheinbar  ähnlichen, 
aber  weit  eher  heilbaren  Subjecten  zu  hüten,  bey  welchen  falsche  Be- 
handlung in  den  frühesten  Jahren  den  Grund  des  Uebels  ausmacht.  Dahin 
gehört  Strenge  des  Vaters  bey  heimlicher  Nachsicht  der  Mutter,  früh 
durchschaute  Kniffe  der  Umgebung  sammt  gelungener  Nachahmung 
schlechter  Beyspiele.  Schwer  ist  auch  hier  die  Besserung;  aber  sie  liegt 
doch  im  Kreise  des  Erziehers,  der  nicht  in  die  Nothwendigkeit  gesetzt 
wird,   den  Arzt  mehr  zu  fragen   als  dieser  beantworten  kann. 

Um  dem  angegebenen  ersten  Falle  einen  Namen  zur  künftigen 
Bezeichnung  zu  geben,  wollen  wir  uns  an  die  bekannte  Unterscheidung 
der  Temperamente  erinnern.  Der  Cholericus,  dessen  verborgenes  Uebel 
einst  in  der  Galle  gesucht  wurde,  dem  man  jedoch  Regsamkeit  des  Körpers 
und  Geistes  genug  zugestand,  leidet  an  Verstimmung  ohne  hinreichenden 
äufseren  Grund;  er  mag  für  jene  verneinenden  Naturen  den  Namen  her- 
geben. 

2.  Blofs  die  Irritabilität  sey  der  Sitz  des  Fehlers.  So  erkennen  wir 
den  lebensfrohen  guten  Kopf;  dem  aber  bey  seiner  Muskelschwäche  mehr 
innere,  als  äufsere  Thätigkeit  eigen  ist.  Unter  seinen  Genossen  ist  er 
sogleich  zu  erkennen,  indem  er  durch  Leistungen  geistiger  Art  für  die- 
jenige Ehre,  welche  die  Jugend  so  gerne  in  der  Gymnastik  sucht,  Ersatz 
zu  gewinnen  trachtet. 

Nach  Piaton  ist  Musik  das  Gegenstück  der  Gymnastik;  wir  wollen 
also  diesen  hier  den  Musikus  nennen.  Was  der  Erzieher  thun  werde, 
ihm  zu  helfen,  liegt  am  Tage;  er  wird  ihm  Bewegung,  mäfsige  Leibes- 
Uebung,  Bäder,  —  wo  möglich  das  Seebad  verordnen;  und  ihm  die  Bücher 
zuweilen  wegnehmen. 

3.  Blofs  die  Sensibilität  sei  mangelhaft.  Aber  dieser  Factor  des 
leiblichen  Daseyns  ist  uns  in  psychischer  Hinsicht  so  wichtig,  dafs  wir  uns 
auf  Unterabtheilungen  einlassen  müssen. 

a)  Es  giebt  eine  Sensibilität,  welche  die  gewöhnlichen  dem  inneren 
Sinne  zuschreiben  würden.  Fehlt  diese:  so  merkt  der  Mensch  wenig 
von  seinem  eignen  Zustande.  Seine  Gedanken  können  wechseln,  er 
kommt  darum  nicht  aus  der  gewohnten  Ruhe.  Er  weifs,  dafs  ihm  die 
Wechsel  des  Lebens  Freude  oder  Trauer  gebracht  haben;  er  weiß  es 
zwar,  aber  es  erfolgt  keine  besondere  Bewegung  des  Gemüths;  am  wenigsten 
eine  solche  Aufregung,  die  man  Affect  zu  nennen  pflegt.  Der  Grundton 
seines  Fühlens  bleibt  im  Ganzen  der  nämliche.     Wir  wollen  ihm  das  so- 


362      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 


genannte  böotischc  Temperament  zuschreiben;  allein  ich  mufs  bemerken, 
dafs  ich  es  in  der  Erfahrung  nur  da  sehr  kenntlich  angetroffen  habe,  wo 
es  zugleich  mit  einiger  Stumpfheit  der  äufsern  Sinne  verbunden  war. 
Vielleicht  ist  die  Möglichkeit  desselben  an  einen  Zusatz  solcher  Art  ge- 
bunden, wo  es  nämlich  als  Natur-Anlage  und  nicht  als  blofse  Folge  sehr 
einförmiger  Lebensweise  hervortreten  soll.  Denn  an  eine  organische  An- 
lage zum  innern  Sinne,  welche  vorhanden  seyn  oder  fehlen  könnte,  zu 
denken,  —  das  ist  gänzliche  Unkunde  der  wahren  Psychologie.  Hinder- 
nisse lassen  sich  allerdings  denken;  aber  auch  schon  die  äufsern  Sinne 
können  mehr  oder  weniger  das  gesammte  Nervenleben  anregen,  und  hie- 
mit  einen  gröfsern  oder  geriiigeren  Wechsel  des  Lebensgefühls  zur  Ge- 
wohnheit machen.  Es  kann  seyn,  und  ist  selbst  wahrscheinlich,  dafs 
schon  der  Geschwindigkeit,  womit  die  Sensationen  sich  durch  das  Nerven- 
system fortpflanzen,  verschiedene  Grade  zukommen;  und  dafs  vermöge 
der  Verzögerung,  welche  die  sonst  hinreichende  Sinnes-Thätigkeit  in  manchen 
Menschen  erleidet,  der  ganze  Nervenzustand  eine  Art  von  Beharrlichkeit 
erlangt,  die  er  auch  da  behauptet,  wo  sonst  vermöge  der  innern  Apper- 
ception  lebhafte  Affecten  zu  entstehen,  und  das  Ganze  des  Gemüths  ■ — 
das  heifst,  die  sämmtlichen  Vorstellungsmassen,  nach  sich  zu  bestimmen 
pflegen. 

Von  dem  Falle,  wo  einzelne  unter  den  äufsern  Sinnen  schwach  sind, 
wollen  wir  nicht  besonders  reden;  wohl  aber  nunmehr  eines  Misverhält- 
nisses  erwähnen,  worin  die  beyden  Hauptzweige  der  Sensibilität  gegen 
einander  treten  können. 

b)  In  der  Regel  soll  die  Sensibilität  des  Gehirns  sehr  grofs  seyn 
gegen  die  des  Ganglien-Systems.  Dieses  Verhältnifs  kann  verrückt  werden, 
und  zwar  nicht  blofs  durch  Fehler  der  Vegetation,  sondern  auch  gerade 
umgekehrt  durch  ihr  starkes  Gedeihen,  während  damit  das  Gehirn  nicht 
gleichen  Schritt  hält.  Hier  finden  wir  Sangiäniais,  der  sein  Wohlseyn, 
aber  auch  den  geringsten  Mangel  desselben  gar  zu  sehr  fühlt;  und  dieses 
Gefühls   durchs  Denken  und  Wollen  nicht  mächtig  werden  kann. 

Der  Sanguinicus  steht  dem  Booten  naher,  als  es  scheinen  mag.  Bey 
ernsten  Angelegenheiten  zeigt  sich  der  eine  leichtfertig,  der  andre  ge- 
duldig; das  heifst,  beyde  sind  sorglos,  wenn  nicht  der  Augenblick  drängt. 
Doch  wenn  es  gilt,  wird  der  eine  sich  schneller  rühren,  der  andre  mehr 
leisten.  Nur  lassen  beyde  die  Sachen  an  sich  kommen,  so  lange  beim 
Sanguinicus  das  augenblickliche  Wohlseyn,  beym  Booten  die  Ruhe  vor- 
herrscht. 

Beyde  machen  dem  Erzieher  Noth  genug;  wiewohl  der  Boote  fleifsig 
und  regelmäfsig  lernt,  was  ihm  aufgegeben  ist,  während  der  Sanguinicus 
nur  im  Fluge  erhascht  was  ihn  nicht  lange  plagt,  ■ —  oder  wartet,  bis  hier 
erzwungen  und  dort  versüfst  wird,  was  man  von  ihm  fodert.  Was  hilfts, 
wenn  der  Boote  lernt  und  behält?  Er  fühlt  nichts;  Alles  läfst  ihn  gleich- 
gültig; hat  er  aufgesagt,  so  ist  er  fertig.  Was  frommts,  wenn  der  Sangui- 
nicus leicht  falst,  was  er  gleich  vergifst?  Auch  das  Zwingen  und  das  Ver- 
süfsen  wirkt  nur  auf  eine  Zeitlang;  bald  wird  er  eilen,  sich  in  den  Strudel 
des  Vergnügens  zu  stürzen.  Dem  einen  wie  dem  andern  bleibt  das 
höhere  geistige  Leben  fremd. 


7-   Brief.  363 

Einige  habe  ich  abwechselnd  für  böotisch  und  für  sanguinisch  ge- 
halten. Ist  das  ein  Wunder?  Die  höhere  Sensibilität  fehlt.  Fragt  man, 
warum  sie  fehle?  so  erblickt  man  oft  gar  keinen  Grund,  sondern  den 
blofsen  Mangel;  zu  andern  Zeiten  liegt  eine  Behaglichkeit  am  Tage,  die 
sichs  vollends  bequem,  oder  auch  die  sich  lustig  machen  will.  Bald  eine 
unbegreifliche  Geduld,  Verweise  anzuhören,  und  das  hundertfach  Wieder- 
hohlte  nochmals  zu  wiederhohlen;  bald  die  entschiedenste  Ungeduld,  die 
vom  persönlichen  Respect,  aber  nicht  vom  Gegenstande,  zwar  noch 
zum  Sitzen,  aber  nicht  mehr  zum  Hören  und  zum  Nachdenken  bewogen 
wird. 

Und  oft  genug  steckt  wirklich  hinter  dem  Booten  der  Sanguinicus 
verborgen;  auch  ist  umgekehrt  der  Sanguinicus,  bey  allem  äufsern  Leben, 
böotisch  genug  in  seinem   Innern. 

Die  zweyte  und  dritte  Hauptklasse  werden  uns  weniger  aufhalten. 
Denn  wo  schon  mehr  als  ein  Factor  des  leiblichen  Lebens  fehlt,  da  ist 
der  Geist  nicht  blofs   eingekörpert,  sondern  wahrhaft  gefangen. 

4.  Vegetation  und  Irritabilität  fehlen  zugleich  in  merklichem  Grade. 
So  lebt  der  Melancholie  us,  oder  das  kränkelnde  Weib;  verstimmt,  und 
schlaff;  hülfsbedürftig,  und  unfähig  sich  nach  Hülfe  umzusehen.  Doch 
wenn  die  Sensibilität  noch  wacht,  so  findet  eine  sehr  gütige  Fürsorge  der 
Erziehung  hier  Gelegenheit,  sich  Verdienste  zu  erwerben;  und  öfter  als 
man  glauben  möchte,  findet  sie  sich  belohnt,  wofern  sie  nur  nicht  auf 
glänzende  Erfolge  ausgeht.  Dafs  die  Erziehung  in  solchem  Falle  zugleich 
körperlich  und  geistig  seyn  mufs,  dafs  sie  nicht  blofs  stärken,  sondern 
auch  erheitern  und  erfreuen  mufs,  liegt  am  Tage. 

5.  Vegetation  und  Sensibilität  fehlen  zugleich  in  merklichem  Grade. 
Nur  die  Irritabilität  ragt  noch  hervor.  Was  kann  sie  denn  schaffen?  — 
Sie  kann  noch  zerstören;  wenigstens  schaden.  Der  böotische  Cholericus 
—   der  türkische  Dummkopf  fällt  in  diese   Klasse. 

6.  Es  mangelt  zugleich  an  Irritabilität  und  Sensibilität;  die  Vegetation 
gedeiht  noch.  Also  nähern  wir  uns  dem  Pflanzenleben;  der  Pflegmaticus 
vegetirt.  Der  höhere  Grad  des  Pflegma  streift  schon  an  die  folgende 
letzte  Klasse. 

7.  Der  Fehler  ist  dreyfach;  es  fehlt  an  Vegetation,  Irritabilität  und 
Sensibilität  zugleich.  Das  ergiebt  Blödsinn.  Von  den  drey  letzten 
Klassen  in  pädagogischer  Rücksicht  noch  insbesondere  zu  sprechen,  das 
hiefse  die  Geduld  meines  geehrten   Freundes  misbrauchen. 

/  • 
Die  Namen  der  Temperamente  haben  sich  schon  manche  Auslegungen 
gefallen  lassen;  gleich  den  vier  Cardinaltugenden  der  Alten,  die  auch  den 
Worten  nach  die  nämlichen  blieben  bey  grofser  Verschiedenheit  der  Be- 
griffe. Selbst  an  meine  Psychologie  könnten  Sie  mich  erinnern;  wo  das 
sanguinische  und  melancholische  Temperament  auf  den  Unterschied  der 
Gefühle,  hingegen  das  cholerische  und  pflegmatische  auf  den  Grad  der 
Erregbarkeit  zu  Affecten,  ist  zurückgeführt  worden.  Und  wo  blieb  denn 
damals  das  böotische  Temperament?  Lassen  Sie  uns  immerhin  hiebey 
anknüpfen,  um   das  Uebrige  alsdann  ebenfalls  ins  Licht  zu  setzen. 


7.ÖA      HI-    Bvieie  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

Das  böotische  Temperament  oder  das  bäurische,  —  welcher  Name 
gefällt  Ihnen  besser?  Beyde  sollen  einerley  bedeuten.  Aber  wie  ist  das 
möglich?  Gesetzt  einmal,  die  Böotier,  ein  Volksstamm,  hätten  eine  eigne 
ungünstige  Organisation  gehabt,  als  einen  gemeinsamen  Erbfehler:  haben 
denn  die  Bauern  durchgehends,  aufserhalb  Böotien,  den  nämlichen  Fehler? 
Sie  bemerken  leicht  die  Verwechselung  zweyer  völlig  verschiedener  Be- 
griffe: angeborne  Eigenheit  eines  Stammes;  und  erworbene  Eigenheit 
eines  Standes.  Das  ist  der  Punct,  auf  welchen  es  auch  bey  den  übrigen 
Temperamenten  ankommt. 

Alan  kann  ein  Kind,  ja  selbst  einen  Mann,  zum  Cholericus  machen, 
durch  häufige  Neckerey,  welcher  sich  zu  widersetzen  er  genöthigt  ist. 
Vielleicht  war  er  ursprünglich  der  sanfteste  Mensch.  Man  kann  ihn  durch 
Tyranney  bis  zur  Melancholie  herabdrücken,  wenn  er  ursprünglich 
Sanguinicus  war.  Den  nämlichen  Wechsel  des  Temperaments  erfährt  Mancher 
durch  eigne  Schuld,  indem  er  sich  in  Unglück  und  Reue  stürzt.  Und 
der  Bauer,  mit  geübten  Muskeln,  abgehärteter  Haut,  angewöhntem  Kreis- 
lauf zwischen  Erndten,  Säen,  und  wieder  Erndten,  gleichförmigem  Leben, 
ohne  Aussicht  auf  Ehre  und  Reichthum,  —  wird  an  jedem  Puncte  der 
Erde  zum  Booten,  sein  natürliches  Temperament,  sey  welches  es  wolle. 
Was  bedeutet  es  nun,  wenn  Jedermann1  sich  rühmt,  er  sey  cholerisch- 
sanguinisch ?  Gewifs  nicht  der  Widerspruch,  welcher  nach  meiner  obigen 
Auslegung  darin  liegen  würde,  wenn  die  Vegetation  zugleich  des  Mangels 
und  des  Uebermaafses  beschuldigt  würde;  auch  nicht  die  Auflösung  des 
Widerspruches,  die  Jemand  versuchen  könnte,  indem  er  die  Vegetation 
als  ungestüm  treibend,  und  gerade  darum  disharmonisch  in  ihren  ver- 
schiedenen Theilen  ansähe.  Vielmehr  cholerisch-sanguinisch  soll  heifsen : 
thätig  und  glücklich;  denn  Niemand  hält  es  für  ehrenvoll,  pflegmatisch, 
das  heifst  träge,  zu  seyn;  und  Niemand  liebt  es,  melancholisch,  also  in 
kläglicher  Stimmung  zu  leben. 

Wegen  solcher  Verwechselungen  aber  konnte  die  Unterscheidung  der 
vier  Temperamente,  wenn  auch  in  der  Psychologie  die  Gefühle  von  den 
Affecten  gebührend  unterschieden  wurden,  (Sie  wissen,  wie  hier  Alles  pflegt 
durcheinander  zu  fallen,)  der  Pädagogik  noch  immer  nichts  nützen.  Denn 
in  der  Erziehung  ist  der  Unterschied  zwischen  dem  Angebornen,  was  in 
dem  Organismus  haftet,  und  dem  Erworbenen,  was  immer  noch  auf 
Besserung  zu  hoffen  gestattet,  sehr  bedeutend  ;  und  so  lange  solche  Be- 
griffe noch  in  Verwirrung  liegen,  kann  die  Praxis  kein  Licht  von  der 
Theorie  empfangen.  Wenn  ich  mir  in  der  Psychologie  erlaubte,  die  Worte 
nach  gewöhnlichem  Sprachgebrauche  zu  nehmen,  und  bey  der  Gelegenheit 
bemerklich  zu  machen,  dafs  Gefühle  nicht  Affecten,  und  Affecten  nicht 
Gefühle  sind,  —  so  darf  mich  das  jetzt  nicht  hindern,  die  Temperamente 
Sämmtlich  als  Naturfehler  zu  bezeichnen,  sobald  in  ihnen  nur  auf  das 
Angeborne  gesehn  wird;  dergestalt  dafs  ein  Zögling,  wie  wir  ihn  wünschen 
müssen,  gar  kein  Temperament  habe,  gerade  weil  die  drey  Factoren  des 
leiblichen  Lebens  in  ihm  vollständig  und  in  gehörigem  Verhältnils  zu- 
sammenwirken sollen. 


SW  setzen  (wohl  richtiger)  „Jemand"  statt  „Jedermann". 


8.  Briei.  365 


8. 

Eben  komme  ich  zurück  von  meinem  Ausfluge  nach  !  **.     Dort  war 
noch  ein   Rest  der  Gesellschaft  beysammen;   unter  andern   einige   Fremde, 
die    einander   in    Erinnerungen    an    entfernte    Bekannte   gerne    begegneten. 
Die  Rede  kam  auf  Landwirthschaft ;  und  auf  Gegenden,  wo  sie  in  vorzüg- 
licher Blüthe  steht.     Man   verweilte   im  Gespräch  bey    einem  Herrn,  der, 
als  er  zum  Besitz  seiner  Güter  gelangt  war,    nur   Sumpf,   Sand,  und  halb- 
verbrauchte Waldung   vorgefunden,    aber    durch    Fleifs   und    Ordnung   ein 
Paradies    daraus    geschaffen    hatte.     Man  gedachte    seiner    Strenge    gegen 
jede,  auch  gegen    die  kleinste    Nachlässigkeit;    dabey   jedoch    auch    seines 
völligen  Gleichmuths  gegen  unverschuldeten  Verlust  durch  Naturereignisse. 
Man  rühmte  besonders  seine    Kunst,   die    Menschen    zu    regieren;    freylich 
oft  mit  grofser  Härte,  nach  dem    Grundsatze:   aus  der  Strenge  müfse  sich 
die  Liebe  erzeugen.     Man  rühmte   überdiefs   seinen   Geschmack,    und  die 
Eleganz  seines  geselligen  Lebens;  die  Liberalität,  womit  er  den  Besuchenden 
das  Sehenswerthe  gezeigt,  die  Gunst,    die  Verehrung,    die  er   bey    Hohen 
und    Niedern    gewonnen    habe.      Kurz:    man  beschrieb    einen  Mann,    dem 
ich,  nach  der  obigen  Auseinandersetzung,  vermuthlich  gar  kein  Temperament 
würde  beylegen  können;   der  aber  in  der  gewöhnlichen  Sprachweise   wohl 
zuerst   cholerisch,  dann    aber   nebenbey   auch    noch    sanguinisch    mag    ge- 
heifsen  haben. 

Auch  von  den  Söhnen  dieses  Mannes  war  die  Rede;  jedoch  ziemlich 
so,  wie  meistens  die  Söhne  sehr  reicher  Eltern  von  sich  zu1  reden  machen. 
Hatte  etwa  die  eifrig  betriebene  Oekonomie  den  Herrn  zu  sehr  be- 
schäfftigt,  um  an  Erziehung  zu  denken?  O  nein!  Es  waren  viele  Lehr- 
meister gehalten  worden.  Hatte  es  an  weiblicher  Mitwirkung  gefehlt? 
Auch  das  nicht.  Mutter  und  Vater  lebten  für  ihre  Kinder.  Woran  es 
eigentlich  gefehlt  habe,  darüber  erlangte  ich  keine  Nachricht,  sondern 
blieb  meinem  Verniuthen  überlassen. 

Uns  beyden,  verehrter  Freund!  liegt  wohl  am  nächsten  der  Gedanke, 
dafs  die  vielen  Lehrmeiser  etwas  verdächtig  sind.  Denn  gesetzt  auch, 
Einer  darunter  sey  als  Erzieher  verantwortlich  gewesen,  ja  dieser  Eine 
habe  wenigstens  Niemeyers  Grundsätze  gekannt  und  beherzigt,  und  sey 
für  seine  Person  darüber  hinaus  gewesen,  von  dem  Glänze  eines  reichen 
Hauses  geblendet  und  verlockt,  mehr  zu  geniefsen  als  zu  wirken:  so  ist 
immer  noch  die  Frage,  ob  ihm  die  Andern  zu  gehöriger  Mitwirkung  bey- 
geordnet  und  willig  waren;  —  also  ob  durch  Religion  das  Gemüth  so  er- 
hoben, durch  Geschichte  so  in  die  Vergangenheit,  durch  Geographie  so 
in  die  Ferne  gelenkt  sey,  wie  es  nothwendig  war,  um  dem  Besitz  einer 
glänzenden  Umgebung,  die  nur  zum  Genufs  auffoderte,  das  Gleichgewicht 
zu  halten?  Dabey  überlasse  ich  Ihrem  Ermessen,  ob  auch  vielleicht  die 
Frage  umzukehren  sey?  Denn  man  könnte  gerade  im  Gegentheil  an- 
nehmen, die  Hinweisung  auf  das  Entfernte,  auf  das  Vergangene,  und  in 
solcher  Verbindung  selbst  auf  das  Höhere,  möge,  falls  sie  nicht  tief  ein- 
drang eine  Art  von  Zerstreuung  bewirkt,    und    den  praktischen  Sinn    von 


1  „zu"  fehlt  SW. 


^66      HI.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183  i). 

den  nächsten  Angelegenheiten  abgezogen  haben.  Sonst  hätte  ja  dem 
trefflichen  Oekonomen  wenigstens  die  Freude  werden  können,  dafs  seine 
Söhne  in  seine  Fufsstapfen  tretend,  gleich  ihm  Feld  und  Wiese  und 
Wald   nach    den  Regeln  der  Kunst  zu  bewirthschaften    sich  geübt  hätten. 

Anstatt  diesen  Gedanken  hier  weiter  zu  verfolgen,  mufs  ich  Ihnen 
Rechenschaft  darüber  geben,  weshalb  ich  nach  den  vorigen  Betrachtungen 
über  die  Temperamente  etwas  scheinbar  fremdartiges  folgen  lasse.  Gewifs 
nicht  in  der  Meinung,  als  stünden  die  Söhne  jenes  Herrn  nach  der  mir 
gewordenen  Mittheilung  im  Verdacht  irgend  eines  jener  Naturfehler,  die 
ich  zuvor  mit  den  Namen  der  Temperamente  bezeichnete.  Vielmehr 
können  wie  annehmen,  sie  seyen  cholerisch  wie  er,  nur  nicht  mit  so  zweck  - 
mäfsiger  Strenge  wir  der  Vater,  hart  gegen  die  Untergebenen.  Wir  mögen 
hinzudenken,  die  Söhne  seyen  vielleicht  noch  etwas  von  dem  gewesen,  was 
man  sanguinisch  nennt;  ohne  dafs  wir  nöthig  hätten  hiebey  an  meine 
obigen,  vom  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  abweichenden  Bedeutungen 
jener  Worte  zu  denken. 

Meine  Absicht  war,  daran  zu  erinnern,  dafs  in  der  Reihe  der  Fehler, 
an  welchen  'die  Erziehung  leiden  kann  und  sehr  häufig  zu  leiden  pflegt, 
auf  Erwähnung  der  Naturfehler  jetzt  die  Betrachtung  der  Misverhältnisse 
folgen  müsse,  worin  auch  die  gesundesten  Naturen  sich  oft  genug  der- 
gestalt verwickeln,  dafs  treffliche  Eltern  und  tüchtige  Erzieher  und  Lehrer 
doch  am  Ende  keine  Freude  an  ihrem  Werke  erleben.  Ihre  Erfahrungen 
werden  Ihnen  gesagt  haben,  was  wir  die  meinigen,  dafs  selbst  da,  wo 
der  Reichthum  nicht  zur  Ueppigkeit,  der  höhere  Stand  nicht  zur  Schmeiche- 
ley  veranlafst,  gesunde  Kinder  dennoch  mit  den  Zeichen  der  Verwöhnten 
und  Verzogenen  heranwachsen;  vielleicht  einzig  darum,  weil  sie,  im  Schoofse 
des  Glücks,  bey  befriedigten  Bedürfnissen  und  wegen  der  Zukunft  sorglos, 
keinen  hinreichenden  Antrieb  zu  angestrengter  Arbeit  empfanden.  Die 
nordische  Pflanze  ist  dann  zu  ihrem  Unheil  im  Süden  geboren.  Ob 
wohl  in  Fällen  dieser  Art  die  Strenge  unserer  heutigen  Gymnasien  mit 
ihrer  furchtbaren  Abiturienten  -  Prüfung,  eine  wahre  Hülfe  leistet?  Ober- 
flächliche Beobachter  werden  das  ohne  weiteres  bejahen ;  und  ich  möchte 
wohl  einräumen,  dafs  wenigstens  eine  bedeutende  Milderung  des  Uebels 
durch  die  freylich  sehr  vorübergehende  und  keinesweges  gründliche  Hülfe 
erlangt  wird. 

Mit  innigem  Bedauern  werden  wir  uns  hier  des  Gegenstücks  erinnern; 
nämlich  der  südlichen  Pflanzen,  welche  verkümmern,  weil  sie  im  nördlichen 
Klima  geboren  wurden.  Aber  das  ist  zu  bekannt,  um  hier  dabey  zu  ver- 
weilen; denn  wir  können  dem  nicht  helfen.  Ueberhaupt  wollte  ich  an 
die  äufsern  Misverhältnisse  nur  erinnern;  nicht  aber  Sie  dabey  aufhalten; 
vielleicht  wünsche  ich  Ihre  Geduld  für  Gegenstände  aufzusparen,  deren 
Beleuchtung  uns  mehr  Mühe  kosten  wird. 

9- 

Ihr  Nachdenken  wird  mir  zuvorgeeilt  seyn;  und  mich  dünkt,  ich  höre 
Sie  schon  fragen:  wie  kann  es  denn  südliche  und  nördliche  Naturen 
geben?  Wie  könnte  es  anders  wohl  äufsere  Misverhältnisse  geben,  wenn 
nicht    auch    diese  wiederum    auf   innere  Verschiedenheiten    zurückführten? 


9-  Briet.  367 

Verhältnisse  sind  allemal  Andeutungen  von  der  Beschaffenheit  ihrer  Glieder; 
und  wenn  hier  der  Sohn  des  Handwerkers  besser  gedeihen  würde  im 
Schoofse  des  Wohlstandes,  dort  hingegen  dem  jungen  Grafen  zu  wünschen 
wäre,  er  möchte  lieber  als  Sohn  eines  Pächters  geboren  seyn,  so  mufs  der 
Grund  davon  am  Ende  doch  in  einer  Verschiedenheit  liegen,  die  wir, 
falls  die  Erziehung  frey  ist  von  Schuld,  nur  in  den  Anlagen  suchen 
können.  Diese  Betrachtung  führt  uns  zunächst  auf  das  Gebiet  der  em- 
pirischen Psychologie;  indem  wir  solche  Unterschiede,  welche  vorhin  an 
die  physiologischen  Grundbegriffe  der  Sensibilität,  Irritabilität,  und  Vege- 
tation geknüpft  wurden  jetzt  bey  Seite  setzen. 

Nicht  blofs  von  Hörensagen,  sondern  aus  eigner  jahrelanger  Be- 
obachtung und  pädagogischer  Erfahrung  kenne  ich  die  schon  im  Knaben- 
alter deutlich  hervortretenden  Unterschiede,  welche  der  eben  so  gangbaren 
als  irrigen  Lehre  von  den  Seelenvermögen  die  stärkste  Stütze  leihen. 
Theils  ragt  oftmals  eine  besondere  Leichtigkeit  des  absichtlichen  Memorirens 
oder  Auswendig-Lernens  hervor;  die  man  dem  Gedächtnifse  zuzuschreiben 
pflegt,  obgleich  sie  vom  unwillkührlichen  Behalten  des  Gesehenen  und  Ge- 
hörten weit  verschieden  ist.  Theils  findet  sich,  obgleich  sehr  viel  seltener, 
eine  frühe  Disposition,  bei  abstracten  Sätzen  und  Begriffen  zu  verweilen 
(z.  B.  in  die  grammatischen  Pegeln  einzudringen,)  wegen  welcher  der 
Verstand  gelobt  wird,  obgleich  dies  Talent  von  der  Klugheit,  Schlauheit, 
Umsicht,  Besonnenheit,  himmelweit  entfernt  liegt.  Theils  kommt  eine  auf- 
fallende religiöse  Stimmung  bei  Kindern  vor,  wodurch  der  Religions- 
Unterricht  einen  Werth  erhält  und  Eindrücke  macht,  wie  man  sie  bey 
der  grofsen  Mehrzahl  vergeblich  zu  erreichen  sucht;  dann  wird  die 
praktische  Vernunft  gerühmt,  obgleich  Ehrlichkeit,  Wahrheitsliebe,  Rechts- 
gefühl, sich  zwar  gern  damit  verbindend,  doch  oft  genug  auch  bey  Denen 
zu  bemerken  sind,  welche  mit  ihren  Gedanken  in  der  irdischen  Sphäre 
zu  Hause  bleiben.  Eine  grofse  Vestigkeit  des  Willens  sieht  man  im 
Knabenalter  zwar  selten,  doch  zuweilen;  ich  habe  sie  bey  übrigens  sehr 
verschiedenen  Charakteren  gefunden ;  zwar  allemal  mit  Spuren  dessen 
was  als  Eigensinn  pflegt  getadelt  zu  werden,  und  meistens  mit  einer  ge- 
wissen Zurückhaltung  verbunden,  die  sich  nicht  gleich  und  nicht  Jedem  öffnen 
mochte;  jedoch  mit  sehr  verschiedenem  Zusätze  hier  von  innerer  Ehrlich- 
keit, dort  von  Verschlagenheit.  Hiebey  ist  indessen  zu  bemerken,  dafs 
der  ganze  Unterschied,  wenn  ich  das  Bild  solcher  Erfahrungen  vollständig 
zurückrufe,  auf  frühzeitige  Eindrücke  der  Umgebung  in  den  ersten  Kinder- 
jahren mit  grofser  Wahrscheinlichkeit  konnte  zurückgeführt  werden;  so  dafs 
diese  Anlage,  obgleich  der  sorgfältigen  Erziehung  sehr  bedürftig,  doch 
immer  zu  den  Vorzüglichen  zu  rechnen  ist,  wofern  sie  nur  nicht,  (was 
auch  vorkommt,)  mit  einer  böotischen  Unempfänglichkeit  für  jede  Art  des 
Unterrichts  verbunden  ist;  denn  in  diesem  Falle  läfst  sie  sich  vom  Er- 
zieher kaum  erreichen.  Solchen  Naturen  gegenüber  zeigen  sich  die  so- 
genannten offenen  Köpfe,  die  Alles  leicht  fassen,  aber  nichts  streng  vest- 
halten;  angenehm  plaudern,  aber  wenig  dabey  denken;  den  Genufs  zu  er- 
haschen suchen,  wo  sie  ihn  finden  können;  eben  deshalb  auch  in  den 
Lehrstunden  sich  dem  Unterricht  anbequemen,  um  die  Zeit  so  wenig  un- 
angenehm   als    möglich    hinzubringen ;    Ermahnungen    sich  gefallen    lassen, 


?68      HI.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  ',1831). 

weil  es  sich   für  den  Augenblick  nicht  vermeiden  läfst;  übrigens,  wenn  sie 
bald   Lob    bald    Tadel    anhören    müssen,    in    ihren    Gedanken    das   Lob 
phantastisch  vergröfsern  und   den  Tadel  verkleinern;   weil  im   Grunde  kein 
wahres  Interesse  und  kein  wahrer  Wille  in  ihnen  ist,   sondern  das  Gefühl 
bey  ihnen  vorherrscht,  und  zwar    das    Gefühl   des  Moments,    welchem  sie 
keine  ernste  Absicht  entgegen   zu  setzen    haben.     Jeder  Erzieher,    der  in 
seinen    Erfahrungskreis    zurückschaut,    wird     auf   solche    Weise    bey    den 
Worten    Gedächtnifs,    Verstand,    Vernunft,    Wille,    Gefühl,    mancherley    zu 
denken  finden;  und  wenn  er  sich  mit  oberflächlicher  Betrachtung  begnügt, 
wird    er   glauben,    die    Annahme    verschiedener    Seelenvermögen    sey    nun 
durch  die  unläugbarsten  Thatsachen  bewährt.    Versucht  er  aber,  die  Sache 
umzukehren,   so  wird  eine  arge  Kehrseite  zum  Vorschein  kommen.     Denn 
ausgehend  von  jenen  Seelenvermögen,   als  den   vorausgesetzten  Realgründen 
der  erfahrungsmäfsigen  Verschiedenheiten,  wird  er  nirgends  bestimmte  Auf- 
schlüsse erlangen.     Wo  Gedächtnifs,  Verstand,  Vernunft,  vorhanden  ist,  da 
sollte  Alles,    was    diesen  Vermögen    als    ihre    eigenthümliche    Function    zu- 
geschrieben wird,  auch  als  deren  Thun  und  Wirken  zum  Vorschein  kommen. 
Und   es  lautet   ganz    artig,   ja  selbst    eindringlich,    wenn  nun  der  Erzieher 
dem  jungen  Menschen,  der  schon  in  kleinen  Komödien  seine  Rolle  fertig 
aufsagt,   etwan  so  zuredet:   sehn  Sie,  mein  Lieber,  wie  gut  Ihr  Gedächtnifs 
sich  gezeigt  hat!      Warum  denn    behalten  Sie  nicht  Vocabeln  und   Gram- 
matik?    Weshalb  bleiben   Sie    stets  zurück    in   der  Chronologie   und  selbst 
in   der  Geographie?     Der  junge   Mensch  wird   nichts  zu  antworten  wissen; 
wenn  aber  der  Erzieher  in  vollem  Ernste  so  redet,  und  nicht  tiefer  schaut, 
so  ist  er  zu    bedauern.      Vollends    lächerlich   aber   wäre    die  Anrede:   Ge- 
fühl haben  Sie,  das  sieht  man,   wenn  Sie  Sich  springend  und  jubelnd   der 
Lust  hingeben;   ja  sogar,    wenn  Sie    empfindlich    werden    gegen  Verweise, 
wenn  Sie  thun,  als   besäfsen  Sie  schon   eine  Art  von  Ehre,  die  man  nicht 
antasten    dürfte;    warum    haben    Sie    denn    so    wenig    Pflichtgefühl?     Der 
Zögling,   den  man  so  anredete,   würde  wohl  Mühe  haben  zu  errathen,   wie 
Jemand  dazu  kommen  könne,   Pflichtgefühl  mit  dem  augenblicklichen   Ge- 
fühl der  Lust  und  Unlust  in  Eine  Klasse  zu  setzen;  und  aus  dem  Grunde, 
weil  er  dieses  habe,  auch  jenes  von  ihm  zu  fodern. 

In    Büchern    und    Zeitschriften    können    Sie,    mein    Verehrtester!    es 
täglich  bemerken,  wie  sich  diejenigen  benehmen,  denen  man  das  Theoretisch- 
Mangelhafte,    und,    was    die  Hauptsache  ist,    das    Praktisch  -  Unbrauchbare 
und  Irreleitende  der  Meinung  von  den  Seelen-Vermögen  bemerklich  macht. 
Zuerst    werden    mit  grofser  Leichtfertigkeit    die  gesonderten  Vermögen,   — 
als   ob   keine  erfahrungsmäfsige  Veranlassung,   an  solche   zu  glauben,    vor- 
handen  gewesen   wäre,    —    uns  Preis   gegeben.     Man   wisse  schon    längst 
(heifst  es)  dafs  alle  Vermögen  zusammen  im  Grunde  nur  Eine  Kraft  des 
Geistes  seyen.    Antworten  wir  nun,  dafs  mit  solcher  Ausflucht  die  unleug- 
bare   Verschiedenheit    der    Köpfe    noch    unbegreiflicher,    und    der   meta- 
physische Fehler  im  Begriffe  der  vorgeblichen  Einen  Kraft,  welche  gleich 
seyn  soll   vielen    Vermögen,  noch   ärger  werde  als  zuvor:  so  bekommen  wir 
eine  andre  Rede  zu  hören.     „Still  von  Metaphysik!    Wer  wollte  sich  um 
Metaphysik  bekümmern!    Wer  wollte    gar    der  Psychologie   wegen   Mathe- 
matik studiren!  Wir  pochen  auf  Erfahrung!  Unsrc  Erfahrung  müfst  Ihr  uns 


io.  Brief. 


369 


lassen."  So  reden  Leute,  deren  Erfahrung  auf  dem  Studierzimmer  ge- 
sammelt wurde.  Nun  lehren  sie  im  Namen  der  empirischen  Psychologie 
Jeden  das,  was  er  schon  weifs;  und  was,  falls  er  es  etwa  nicht  schon 
wüfste,  ihm  unverständlich  seyn  würde.  Kommt  es  aber  an  den  Tag, 
dafs  solches  Lehren  und  Lernen  überaus  langweilig  ausfällt:  dann  wandert 
man  zu  den  Irrenhäusern;  und  stellt  sich,  als  wäre  Psychologie  eine  medi- 
cinische  Wissenschaft.  Lassen  wir  das!  Unser  pädagogischer  Erfahrungs- 
kreis ist  uns  zu  schätzbar,  als  dafs  wir  ihn  gegen  die  hundertfach  wiederhohlten 
und  einander  aus  ganz  begreiflichen  Gründen  stets  ähnlichen  Erzählungen 
von  Wahnsinn  und  Tobsucht  zu  vertauschen  geneigt  seyn  könnten;  was 
aber  die  Hauptsache  ist,  —  uns  drängt  das  praktische  Bedürfnifs,  für  eine 
Jugend  zu  sorgen,  die  noch  gar  nicht  in  den  Jahren  ist,  wo  Wahnsinn  und 
Tobsucht  auch  nur  möglich  sind.  Und  zum  grofsen  Heil  der  Menschheit 
haben  wir  auch  nicht  Ursache  zu  glauben,  dafs  hinter  der  Mehrzahl  der 
Zöglinge  die  uns  Sorge  machen,  Etwas  von  Wahnsinn  oder  irgend  einer 
Geistes-Zerrüttung  verborgen  läge.  Möchten  nur  Skropheln  und  Fieber 
und  Krämpfe  uns  eben  so  fern  liegen !  während  selbst  die  Skrophulösen, 
und  von  frühzeitigen  Krämpfen  Geplagten  in  unsrer  Sphäre  nur  als  Aus- 
nahmen vorkommen,  wie  wenig  Beruf  haben  wir,  uns  um  künftig  mög- 
lichen Wahnsinn  zu  bekümmern;  und  wie  glücklich  wären  wir,  wenn  nur 
erst  bey  uns  die  Reihe  der  Untersuchungen  bis  an  die  Ausnahmen  vor- 
geschritten wäre,  anstatt  dafs  selbst  das  Gewöhnlichste  uns  noch  oft  genug 
die  grofsen  Mängel  unseres  Wissens,  und  die  grofse  Schwierigkeit  der  aller- 
nöthigsten  Untersuchungen  empfinden  läfst!  Was  endlich  die  Theologen 
anlangt,  denen  die  Frage  nach  dem  Ursprünge  des  Bösen  schwer  auf  dem 
Herzen  liegt,  so  wissen  Sie,  mein  theurer  Freund,  dafs  ich  mit  diesen 
zwar  allerdings  den  Ernst  der  Frage  gemein  habe;  auch  ihre  Reden 
ohne  Vergleich  passender  zur  Sache  finde,  als  das  von  der  gegen- 
über stehenden  Parthey  stets  wiederhohlte  Gerede  über  die  Freyheit, 
welches  in  pädagogischer  Hinsicht  nichts  anders  bedeutet  als  völlige  Un- 
wissenheit, die  zu  störrig  ist  um  etwas  lernen  zu  wollen;  —  allein  von 
jenen  Theologen  irgend  eine  brauchbare  Aufklärung  zu  erlangen  über  das 
was  wir  zu  thun  haben,  dazu  ist  leider  gar  keine  Hoffnung.  Solche  Zög- 
linge, die  von  theologischen  Heilmitteln  erreicht  werden  können,  mögen 
immerhin  dergleichen  annehmen;  falls  gegen  den  pharisäischen  Stolz  Deren, 
die  sich  vorzugsweise  fromm  nennen,  gebührend  vorgebauet  ist.  Wir 
wissen  nur  zu  gut,  dafs  die  Zahl  Derer,  welchen  man  auf  diesem  Wege 
nicht  beykommen  kann,  die  bey  weitem  gröfsere  ist  und  stets  bleiben 
wird. 

10. 

Wie  wäre  es,  mein  Theurer!  wenn  wir  uns  bequemten,  einen  Rück- 
schritt zu  machen?  —  Aufrichtig  gesagt,  ich  habe  der  Psychologie  im 
nächstvorhergehenden  früher  gedacht,  als  für  ernstliche  Untersuchung  auf 
diesem  Gebiete  schon  die  rechte  Stelle  erreicht  scheint.  Es  war  mir  um 
eine  vorläufige  Uebersicht  dessen  zu  thun,  was  in  Frage  kommen  müsse; 
allein  die  Erinnerung  an  vorhandene  Schwierigkeiten  wirft  uns  zurück  auf 

Herbart's  Werke.     IX.  4 


.  ?q      TTT,  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aut  die  Pädagogik  (183 1). 

die  zuvor  berührten  phvsiologischen  Betrachtungen.  Denn  gerade  die- 
jenigen Unterschiede  der  Anlagen,  welche  bald  dies  bald  jenes  einzelne 
m  _en  recht  hervorstechend  für  den  oberflächlichen  Beobachter 
zu  Tage  fördern,  lassen  sich  aus  reiner  Psychologie  gar  nicht  erklären; 
sie  gehören  nicht  der  Seele,  nicht  den  Vorstellungen,  nicht  den  Reihen, 
die  sich  daraus  bilden,  nicht  den  hohem  Producten  und  Wirkungsweisen 
derselben.  —  sondern  der  Einkörpening.  welcher  die  Seele  in  diesem  oder 
jenem  Individuo  unterworfen  ist.  Gar  Manches  wird  für  psychologisch 
gehalten,  was  der  Wahrheit  nach  physiologisch  ist;  und  solcher  Irrthum 
giebt  hintennach  Veranlassung,  auch  das  wahre  und  reine  geistige  Leben1 
für  ein  leibliches  zu  halten. 

Aber  von  den  Gegenständen,  die  so  recht  auf  der  Gränze  zwischen 
Psvchologie  und  Physiologie  hegen,  haben,  habe  ich  eben  so  wenig  bey 
den  Phvsiolosren  eine  gehörige  Aufklärung  gefunden  als  bev  denen,  die 
-  h  für  Psvchologen  ausseben.  Vielmehr  bin  ich  hier  weit  mehr  als  mir 
heb  ist,  meinen  eigenen  Versuchen  überlassen  geblieben.  Nehmen  Sie 
vorlieb  mit  dem  Wenigen,  was  ich  darzubieten  wag 

Schon  'dort,  wo  ich  abbrach  bey  den  Temperamenten,  streiften  wir 
vorbev  an  den  Affecten:  und  Sie  werden  die  Erwähnung  derselben  zu 
flüchtig  gefunden  haben.  Zwar  nicht  hier  konnten  Sie  den  eigentlich 
psvchologischen  Begriff  derselben  —  Abweichung  der  Vorstellungen  von 
ihrem  Gleichgewichte  —  vermissen;  denn  das  ist  eine  Abstraction;  und 
die  vollständig  ausgebildete  Erscheinung  des  Affects,  wie  wir  ihn  bey  Kindern 
beobachten,  umfalst  weit  mehr.  Kinder  lachen  und  weinen:  dabey  sind 
Gefäfse  und  Muskeln  so  sichtbar  als  möglich  aufgeregt;  ja  nicht  selten 
tritt  bev  ihnen  schon  wieder  die  Sonne  hervor,  während  es  noch  regnet: 
und  ein  andermal  will  das  Lachen  gar  nicht  aufhören,  während  unser 
Drohen  schon  die  Furcht  herbevruft  Kurz:  der  Affect  ist  offenbar  nicht 
blofs  psychisch  sondern  auch  physisch;  —  nur  nicht  ganz  und  durchaus 
. ichzeitig!  Vielmehr  palst  hier  die  Vergleichung  mit  dem  Meere,  welches 
vom  Sturme  allmählig  aufgeregt,  noch  eine  Weile  fortbrauset,  und  die 
nächste  Luftschicht  beunruhigt  wenn  schon  die  Atmosphäre  still  ist. 
wird  vom  Geiste  zuerst  der  Leib  erschüttert;  dann  aber  dauert  in  diesem 
die  Bewegung  fort  und  ge-  ttet  nun  ihrerseits  dem  Geiste  nicht  sogleich, 
die  natürliche  Lage  und  Thätigkeit  wiederzugewinnen.  Oder  wissen  wir 
etwa  nicht  aus  eigener  Erfahrung,  dafs.  wenn  einmal  ein  Verdrufs  unserer 
mächtig  wurde,  alsdann  der  Schmollwinkel  unsre  beste  Zuflucht  ist,  um 
den  Sturm  austoben  zu  lassen?  In  Fällen,  wo  wir  das  nicht  dürfen,  droht 
unserer  Gesundheit  ein  längeres  und  zuweilen  ernstes  Leiden.  — 

Nun  hören  Sie  meine  Hypothese!  Das  eben  beschriebene  Verhältnils 
möchte  wohl  nicht  blofs  zwischen  Geist  und  Leib  überhaupt,  sondern 
näher  bestimmt  zuerst  in  der  Wechselwirkung  des  Geistes  und  der  Nerven, 
dann  ferner  zwischen  den  verschiedenen  Theilen  des  Nervensystems  1  Ge- 
hirn, Rückenmark,  Ganglien),  weiter  zwischen  diesen  und  dem  Gefäfssystem 
sammt  dem  Blute  und  den  übrigen  Säften,    endlich   zwischen   den  Säften 


ach  das  reine  wahre  und  geistige  Leben"    statt   „auch   das    wahre    und    reine 
geistige  Leben-  SW. 


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W  -  s 


->j2      HI.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aul  die  Pädagogik  (183 1). 

neten,  heiteren  Thätigkeit  erfreuen,  gar  bald  in  einen  Taumel  stürzen,  worin 
sie  sich  selbst  nicht  wieder  erkennen,  oder  in  Schlaffheit  versinken,  aus 
der  sie  sich  nicht  zu  helfen  wissen,  wenn  sie  zu  lange  ohne  Aufsicht 
bleiben.  „In  jenem  Hause"  (sagt  man  uns  oft,)  „ist  der  Knabe  nicht 
mehr  der  nämliche  wie  hier."  Wir  wissen  zwar  auch,  dafs  Jünglinge,  die 
eine  Zeitlang  ein  wüstes  Leben  führten,  späterhin  zu  besserer  Besinnung, 
und  dann  zu  eigenem  bessern  Entschlüsse  zu  kommen  pflegen;  —  aber  in 
der  Regel  nur  dann,  wenn  etwas  Besseres  vorausging,  woran  sie  sich  be- 
sinnen können;  ungefähr  wie  gesunkene  Nationen,  wenn  sie  sich  wieder  auf- 
richten, in  historischen  Erinnerungen  eine  Stütze  suchen,  aber  sich  nicht  zu 
helfen  wissen,  wenn  diese,  leider  oft  gebrechliche  Stütze  sie  nicht  tragen  kann. 

Wir  wissen  endlich  auch,  wie  arg  das  Verkehrte  wieder  auftaucht, 
was  vor  dem  Beginn  einer  sorgfältigen  Erziehung  in  die  Kinder  hineinkam. 

Was  ist  nun  dies  Verkehrte?  Vorstellungen  ohne  allen  Zweifel;  aber 
nicht  blofse  Vorstellungen.  Solche  würden  nach  den  Gesetzen  des  psycho- 
logischen Mechanismus  sich  überwinden  lassen  durch  andre  Vorstellungen. 
Ueberdies  bieten  dieselben  Gegenstände  sich  Vielen  zugleich  dar;  die 
nämlichen  Beyspiele  stehen  Vielen  vor  Augen;  die  Gelegenheit,  sie  an- 
zueignen, ist  oftmals  für  mehrere  Brüder  von  nahe  gleichem  Alter  genau 
die  nämliche;  doch  wirken  sie  verschieden.  Unter  solchen  Umständen 
würden  auch  Gefühle  und  Begierden,  sofern  sie  in  den  Vorstellungsmassen 
und  aus  ihnen  sich  erzeugen,  die  gleichen  seyn,  wenn  nicht  ein  starker 
Grund  des  Unterschiedes  vorhanden  wäre.  Dieser  Grund  haftet  am  In- 
dividuum; er  liegt  in  seinem  Organismus.  Mit  diesem  verändert  er  sich 
zuweilen  im  Laufe  der  Jahre;  der  Jüngling  lacht,  wo  der  Knabe  weinte; 
der  Mann  bleibt  kalt,  wo  der  Jüngling  gerührt  war.  —  Dennoch  ist  wenig- 
stens in  dem  reifen  Manne  noch  der  Knabe  wieder  zu  erkennen. 

Mit  dem  Organismus  ist  ein  System  von  Affecten  gegeben,  die  in 
ihm  möglich  sind.  Der  Lauf  der  Jahre  führt  die  Gelegenheiten  herbey, 
sie  whklich  zu  machen.  Gute  Erziehung  verspätet  den  Ausbruch  der 
meisten  unter  ihnen.  Das  reifere  Alter  vermindert,  besonders  im  männ- 
lichen Geschlechte,  die  ursprüngliche  Möglichkeit  derselben;  dadurch,  dafs 
sich  die  organischen  Systeme  der  Selbstständigkeit  annähern.  Kommt  nun 
eine  gründliche  Geistesbildung  hinzu:  alsdann  leistet  der  Gedankenkreis 
seinen  Widerstand  gegen  den  innern  Aufruhr;  und  es  wird  gewonnen, 
was  man  im  engem,  sittlichen  Sinne  Freyheit  des  Willens  nennt.  Fehlt 
es  daran,  so  kommt  zwar  auch  ein  Wille  zu  Stande,  aber  nur  der,  wel- 
cher im   Kreise  der  frühzeitig  erregten  Affecten  seinen  Sitz  hat. 

1 1. 

Es  ist  doch  eine  eigne  Sache  um  Briefe,  auf  die  man  keine  Ant- 
wort bekommt!  Unbequemer  als  ich  Anfangs  dachte!  Zwar  Ihre  Antwort, 
mein  Theurer,  empfange  ich  gewifs  irgend  einmal ;  aber  ich  möchte  jetzt 
gleich  wissen,  was  Sie  zu  dem  Vorstehenden  sagen.  Wären  Sie  blofs 
Pädagoge,  so  schriebe  ich  dreist  fort;  aber  Sie  sind  zugleich  ein  eifriger 
Freund  der  Psychologie;  und  Sie  haben  oft  genug  den  Wunsch  geäufsert, 
dafs  ich  auch  so  mancherley,  was  gegen  meine  Psychologie  gesagt  worden, 
selbst  antworten  möchte,  während  ich   der  Meinung  bin,   Sie  könnten  das 


II.   Briet. 


373 


in  mancher  Hinsicht  mit  mehr  Erfolg  übernehmen  als  ich  selbst.  Eben 
fällt  mir  nun  ein,  dafs  Manche  sich  in  meine  Unterscheidung  der  Affecten 
von  den  Gefühlen  nicht  haben  finden  können.  Fast  möchte  ich  es  Ihnen 
zuschieben,  mich  deshalb  zu  vertheidigen.  Aber  ich  besorge,  Sie  werden 
mich  beschuldigen,  Ihnen  dies  gerade  durch  das  Vorstehende  noch  er- 
schwert zu  haben.  Was  dort  von  den  Affecten  gesagt  ist,  wird  von  Jenen 
auf  die  Gefühle  gedeutet  werden;  und  da  es  doch  offenbar  auch  von  den 
Affecten  gilt,  so  wird  man  gerade  deshalb  uns  auf  den  alten  Satz  zurück 
weisen :  Affecten  seyen  eben  nichts  Anderes  als  stärkere  Gefühle.  Nicht  wahr  ? 

Hoffen  Sie  nur1  ja  nicht,  ich  wolle  nun  meine  Zumuthung  zurück 
nehmen!  Gerade  in  solchen  Dingen,  die  nicht  eben  Rechnung  erfodern, 
verlasse  ich  mich  auf  Sie,  und  auf  Ihre  logische  Uebung.  Wollen  Sie 
mir  damit  aushelfen,  so  ists  gut;  wollen  Sie  nicht,  —  nun  so  heifst  das 
so  viel,  als:  Sie  finden  es  nicht  für  nöthig;  und  dann  mag  auch  meinet- 
halben Jedermann  bey  seiner  Meinung  bleiben.  Denn  wahrlich!  ich  sehe 
gar  nicht  ein,  wodurch  ich  verpflichtet  wäre,  Anderer  Meinungen  zu  be- 
richtigen, nachdem  ich  die  wissenschaftlichen  Hülfsmittel,  deren  ich  selbst 
mich  zu  bedienen  pflege,  längst  schon  zum  öffentlichen  Gebrauche  dar- 
geboten habe. 

Indessen  —  wiewohl  ich  hier  kein  psychologisches  Capitel  einschalten 
will,  so  finde  ich  doch  in  meinen  Papieren  einen  Satz,  dem  ich  eigent- 
lich eine  andre  Stelle  zugedacht  hatte;  der  aber  hier  füglich  dazu 
dienen  kann,  jeden  Schein  von  Verwirrung  in  meinem  vorigen  Briefe  zu 
heben;  und  der  überdies  eben  so  sehr  ein  pädagogischer  Satz  ist,  als 
ein  psychologischer.      Der  Satz  lautet  also : 

Affecten  machen  das  Gefühl  platt.  Für  Sie,  mein  Theurer,  ist  der 
Satz  gewifs  kein  Räthsel.  Sie  kennen  eben  so  genau  als  ich  selbst  die 
verschiedenen  praktischen  Ideen.  Was  hat  denn  die  Unterschiede  unter 
diesen  Ideen  so  lange  versteckt  gehalten?  Die  Einerleyheit  des  Affects, 
welcher  entsteht,  wenn  nach  irgend  einer  von  den  Ideen  —  gleichviel 
nach  welcher  —  Jemand  sich  selbst  lobt  oder  tadelt.  Böses  Gewissen 
thut  weh;  und  in  diesem  Schmerze  merkt  man  nicht,  wie  er  entstehe; 
fast  so  wenig,  als  Jemand,  der  sich  gestochen  fühlt,  davon  merkt,  ob  ihn 
ein  Dorn  sticht  oder  eine  Nadel.  Darum  sage  ich,  das  Gefühl  ist  platt 
geworden.  Aber  war  es  denn  ursprünglich  eben  so  platt?  Wenn  wir 
uns  die  Idee  des  Wohlwollens  denken,  so  fühlen  wir  deren  Schönheit; 
wenn  wir  statt  deren  uns  die  Idee  des  Rechts  vergegenwärtigen,  so  fühlen 
wir  deren  Strenge.  Ist  nun  jenes  Gefühl  und  dieses  einerley?  Gewils 
nicht!  Erst  indem  das  Gefühl  der  ersten  und  das  der  zweyten  Art  sich 
mischt  mit  dem,  hiemit  gar  nicht  nothwendig  verbundenen,  Gefühl  des 
Selbst-Lobes  oder  Selbst-Tadels,  fängt  die  Eigenthümlichkeit  des  einen 
und  des  andern  gewöhnlich  an  zu  verschwinden;  kommt  aber  der  Affect, 
—  wird  dem  Menschen  heifs  und  kalt  in  dieser  Selbstbetrachtung,  —  als- 
dann ist  Nerv  und  Blut  in  Aufregung,  und  was  der  Mensch  nun  fühlt, 
das  unterscheidet  er  kaum  noch  von  irgend  einer  durch  fröhliche  oder 
traurige  Botschaft    erregten  Wärme   oder  Kälte.     Daher  konnte  sogar  die 


„nun"  statt  „nur"  SW. 


■2  74      m*  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

Glückseligkeits-Lehre  mit  der  Moral  vermengt  werden;  an  Unterscheidung 
der  ersten   Gründe  alles  Sittlichen  war  dann   vollends  nicht  zu  denken. 

Wollen  Sie,  dafs  ich  über  dergleichen  Dinge  noch  viel  Worte  mache? 

Besser  ists,  wir  wenden  jenen  Satz  pädagogisch  an.  Vorhin  bemerkten 
wir,  es  sey  die  Wohlthat  der  guten  Erziehung,  den  Ausbruch  vieler 
Affecten  zu  verspäten.  Dies  zeigt  sich  in  einem  neuen  Lichte,  wenn  wir 
jetzt  hinzufügen,  dafs  die  Gefühle  Gefahr  laufen,  durch  die  Affecten  nicht 
veredelt,  nicht  gesondert  und  geläutert,  sondern  ins  Gemeine  herabgezogen 
zu  werden.  Sie,  als  ästhetischer  Kritiker,  billigen  gewifs  nicht  die  so- 
genannten Rührspiele;  und  warum  nicht?  Doch  wohl  deshalb,  weil  da, 
wo  es  Thränen  regnet,  bald  Niemand  mehr  weifs,  worüber  eigentlich  ge- 
weint wird,  ungefähr  so  wie  im  Gezanke  der  philosophischen  Schulen  die 
Fragepuncte  verschoben  und  allmählig  vergessen  werden.  Würden  Sie 
die  pädagogischen  Rührspiele  mehr  billigen?  —  Hiemit,  denke  ich,  ist 
schon  der  unrichtige  Gedanke,  als  ob  es  rathsam  wäre,  Affecten  durch 
andre  und  entgegengesetzte  Affecten  zu  bekämpfen,  gelegentlich  ab- 
gewendet; wiewohl  nähere  Bestimmungen  die  Sache  verändern  können. 
Doch  davon  ist  hier  nicht  nöthig  zu  reden. 

12. 

Da  wir  noch  auf  der  Gränze  stehen  zwischen  Physiologie  und 
Psychologie,  so  pafst  es  sich,  einen  Blick  auf  die  Thiere  zu  werfen,  und 
den  besondern  Unterschied  des  ersten  Aftects  zu  beachten,  den  unsre 
beyden  gewöhnlichsten  Hausthiere  zeigen,  sobald  etwas  Neues  in  ihre  ge- 
wohnte Sphäre  kommt.  Die  Katze  fürchtet  sich,  und  läuft  davon;  der 
Hund  zürnt  und  bellt.  Nach  einem  Weilchen  aber  verschwindet  dieser 
Unterschied;  sie  verrathen  nun1  ihre  Neugier,  jene  von  fern,  dieser  ganz 
nahe  und  dreist. 

Im  Allgemeinen  freylich  ist  die  Furcht  vor  dem  Menschen  bey  allen 
Thieren  vorherrschend,  sofern  sie  nicht  gereizt  sind,  entweder  durch  Be- 
leidigung oder  durch  Hunger.  Auch  der  Hund  läfst  sich  bekanntlich  in 
Furcht  setzen,  sobald  er  aufser  dem  Bezirke  sich  befindet,  den  er  als  sein 
Eigenthum  betrachtet;  besonders  in  der  Mitte  vieler  Fremden.  Sein  Zorn 
also,  den  er  auf  seinem  Boden  dem  Ankömmlinge  so  laut  verkündet,  ist 
die  Ausnahme.  Furcht  ist  die  Regel.  Da  jedoch  die  Ausnahme  das 
ganze  Hundegeschlecht  befafst,  so  mufs  sie  auf  der  Organisation  dieses 
Geschlechtes  beruhen. 

Beyde  Affecten  zeigen  den  Zusammenhang  zwischen  Nerven  und 
Gefäfsen.      Furcht  treibt  das   Blut  nach  innen;  Zorn  nach  aufsen. 

Was  meinen  Sie.  wenn  wir  die  Sache  umkehrten;  und  so  sprächen: 
wo  sich  das  Blut  nach  innen  treiben  läfst,  da  ist  Furcht;  wo  aber  das 
Herz  so  tüchtig  ist,  den  Andrang  zurückzutreiben,  da  entsteht  Zorn! 
Wäre  das  etwas  richtiger?  Wenigstens  wäre  es  im  Geiste  der  Physiologen, 
die  aus  dem  Leibe  den  Geist  ableiten. 

Aber  der  Hund,  indem  er  fern  vom  Hause  sich  umhertreibt,  nimmt 
sein  Herz    mit;    nur    seine    Herzhaftigkeit    blieb   zu    Hause.     Er   weifs   wo 

1  „nur"  SW. 


12-  Briet. 375 

er  ist,  und  nach  diesem  Wissen  richtet  sich  der  Affect.    Vom   Organismus 
also    können   wir    die  Erklärung   nicht    anfangen;    eben    so    wenig    als  wir 
ohne    ihn    damit    zu  Ende   kommen.      Zuerst    wird    der  Hund    gestört    in 
seinem   bekannten    Vorstellungskreise,    und    eben    dieser    Vorstellungskreis, 
so    lange    die    Anschauung    der   gegenwärtigen    Umgebung   ihm    zur  Stütze 
dient,   —   das  heifst,  wenn  der  Hund  zu  Hause  ist,   —  leistet  den  ersten 
Widerstand,    gegen    den    unwillkommenen    Störer.      So   hält    sich  auch  der 
turgor  vitalis,  ja  er  wächst,   und  dringt  vor  mit  Ungestüm.    Wo  aber  die 
vorhandenen  Vorstellungen  sich  zurückdrängen  lassen,  da  schwindet  auch 
das    rege  Leben,    und    das    Blut    entflieht    in    die    grofsen    Gefäfse,    als    in 
blofse  Behältnisse,  während  seine  eigentliche  Bestimmung,  nämlich  die  Er- 
nährung, gehemmt  ist.      Dieses  nun  gilt  auch  umgekehrt.     Ist  das  Gefäfs- 
System    schwach,    und    zu  wenig  selbstständig,    —    wie  bey  dem  stärksten 
Manne  nach  einem  Verluste  von  Blut  und  Säften,  oder  wie  bey  Kindern, 
und   oft  bey  Frauen,    —    dann    unterliegen  Blut   und  Nerven    schon   dem 
ersten  Stofse,  welchen  die  Vorstellungen  empfingen  und  weiter  gaben;  und 
nun    folgt    sogleich    der  zweyte  Act   des   Affects:    der    gestörte  Organismus 
hemmt   rückwärts   den  Geist;    Furcht   ist    schon   da,   bevor  der  Zorn  sich 
ausbilden  konnte. 

Wenn  nun  die  gröfste  Katze  eher  davon  läuft,  als  der  kleinste  Hund : 
so  werden  wir  allerdings  schliefsen,  der  Hund  besitze  mehr  Selbstständigkeit 
des  Gefäfssystems;  folglich  könne  er  den  ersten  Stofs,  welchen  sein  Vor- 
stellungskreis, und  darum  auch  Nerven  und  Blut,  beym  Anschaun  des 
fremden  Gegenstandes  erleiden  mufste,  besser  ertragen  und  besser  darauf 
zurückwirken.  Bey  der  Katze  dagegen  leidet  das  Gefäfssystem,  und  ver- 
wickelt in  dies  Leiden  auch  die  Nerven  und  den  Vorstellungskreis.  Doch 
läuft  nicht  jede  gleich  weit;  manche  dreht  sich  bald  um,  und  schaut  er- 
wartend, was  wohl  weiter  geschehn  werde?  zum  Zeichen,  dafs  nun  auch 
die  Vorstellungen  ihre  Spannung  wieder  gewinnen. 

Fiat  applicatio !  Es  ist  von  grofser  Wichtigkeit,  den  ersten  Affect  der 
Kinder  beym  Eintreten  neuer  Gegenstände  zu  beobachten;  aber  weder 
Furcht  noch  Zorn  sind  willkommen.  Hirn  und  Gefäfssystem  sollen  im 
Menschen  so  wenig  als  möglich   von  einander  abhängen. 

Vergessen  wir  nur  nicht,  dafs  beym  Hunde  nicht  eher  Zorn  entsteht, 
als  bis  ein  rein  psychischer  Procefs  voranging  und  sich  hinreichend  aus- 
bildete. Er  mufste  erst  seinen  Boden,  seinen  Herrn  und  dessen  Ge- 
nossen kennen  lernen;  ja  sogar  erst  diesen  Kreis  abschliefsen,  um  die 
Fremden  zu  unterscheiden.  Ganz  junge  Hunde  sind  nicht  zornig;  und 
die  sehr  klugen  Hunde,  die  nach  ihrer  Art  die  Welt  kennen,  sind  es 
weniger,   als  das  kleine  Völkchen  was  den  Ofen  nicht  weit  verhefs. 

Diesen  Brief  werde  ich  Ihnen  wohl  handschriftlich  senden  müssen, 
damit  ihn  diejenigen,  welchen  Physiologie  soviel  ist  als  Anthropologie,  nicht 
zu  sehen  bekommen.  Und  vollends,  damit  sich  die  Feyerhchen  unter  den 
Päda^oo-en  nicht  darüber  entsetzen,  welche  stets  von  der  Wurde  des 
Menschen  in  erhabenen  Phrasen  declamiren,  während  ihnen  die  Zöglinge 
entschlüpfen  Wir  wollen  sehen;  wenn  ich  nicht  nöthig  finde,  mich  aui 
das  hier  Gesagte  zu  berufen,  so  nehme  ich  den  Brief  aus  dieser  Sammlung 
heraus. 


xjb      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  ant  die  Pädagogik  (1831). 


Der  vorige  Brief  bleibt;  aber  die  Anwendung  finden  Sie  sogleich 
von  selbst. 

Es  kann  Ihnen  nicht  entgangen  seyn,  dafs  nicht  alle  Kinder,  Knaben, 
Jünglinge,  einander  gleich  sind  in  Ansehung  der  Art,  wie  sie  das  Neue 
aufnehmen,  was  sich  darbietet.  Vielmehr,  es  finden  sich  darin  Ver- 
schiedenheiten, hinter  denen  sich  Spuren  eines  zwar  nicht  heftigen,  jedoch 
einflufsreichen  Affects  bemerken  lassen.  Der  Deutlichkeit  wegen  könnte 
ich  mich  hier  zuerst  auf  das  Weinen  der  kleinen  Kinder  berufen,  sobald 
sie  nur  eine  Weile  an  einem  fremden  Orte  allein  gelassen  werden;  des- 
gleichen an  die  Furcht  im  Finstern,  die  selbst  Erwachsene  noch  anwandelt. 
Hiebey  werden  Sie  sogleich  an  die  Hemmung  denken,  welche  der  vor- 
handene Vorstellungskreis1  erleiden  mufs,  wenn  der  Sinn  einen  unge- 
wohnten Gesammteindruck  empfängt.  Wir  selbst  würden  auf  Reisen  eine 
ähnliche  Hemmung  empfinden,  wenn  wir  in  Gegenden  kämen,  wo  Alles 
anders  aussähe  als  bey  uns;  während  dem  Reisenden  auf  der  ganzen 
Erde  nur  selten,  ja  vielleicht  nie  solche  Orte  vorkommen,  die  nicht 
wenigstens  im  Allgemeinen  mit  bekannten  Gegenständen  Aehnlichkeit 
zeigen.  Aber  solche  Beyspiele  liegen  unserer  jetzigen  Betrachtung  zu  fern. 
Nöthiger  ist,  zu  bemerken,  dafs  die  Neugier,  welche  wir  gewöhnlich  bey 
Kindern  hervortreten  sehn  wo  sich  etwas  Neues  darbietet,  keineswegs  all- 
gemein, und  am  wenigsten  der  erste  Affect  ist,  welchen  der  fremde  Gegen- 
stand, als  solcher  zu  erregen  geeignet  war.  Manchmal  wird  die  Scheu  da 
merklich,  wo  wir  auf  die  Neugier  hofften;  manchmal  auch  die  Abneigung, 
während  wir  die  Aufmerksamkeit  zu  erregen  wünschten.  Und  nicht 
selten  geht  der  Knabe  an  dem,  was  wir  hinstellen,  damit  er  es  betrachten 
möge,  gleichgültig  vorüber,  als  an  Dingen,  die  ihn  nichts  angehn,  um  die 
er  nicht  nöthig  habe  sich  zu  kümmern.  Das  Entgegenkommen  der  Kinder 
kann  in  der  Lehrstunde  den  Unterricht  sehr  leicht  machen,  aber  weil  es 
so  oft  mangelt,  darum  Befehl,  Verdrufs,  Drohung!  Wir  suchen  die  Lehr- 
methode zu  verbessern,  —  dann  stofsen  wir  auf  eine  frühere  ähnliche 
Schwierigkeit.  Der  Unterricht,  sagen  wir,  soll  anknüpfen  an  Bekanntes 
aus  Erfahrung  und  Umgang;  —  ja,  hätten  die  Kinder  nur  soviel  Erfahrung, 
als  zu  sammeln  ihnen  Gelegenheit  wurde!  Aber  das  Entgegenkommen 
hat  schon  längst  gemangelt;  nur  die  guten  Köpfe  sahen  und  hörten;  die 
andern  liefsen  die  Dinge  an  sich  vorübergehn,  ohne  darauf  zu  merken. 
Sie  sehn,  mein  theurer  Freund!  dafs  hier  Umstände  verborgen  liegen, 
welche  ins  Licht  zu  setzen  von  grofsem  Interesse  seyn  müfste.  Die  ge- 
ringsten Verschiedenheiten  des  Affects,  der,  wenn  er  hundertfach  und  tausend- 
fach vergröfsert  würde,  dann  erst  kenntlich  genug  seyn  möchte,  um  die 
Namen  Furcht  oder  Zorn  sich  anzueignen,  —  können  hinreichen,  um  das 
Auffassen,  theils  des  absichtlichen  Unterrichts,  theils  schon  der  gemeinsten 
Erfahrungsgegenstände  zu  verderben.     Diese  Affecten,   wo  sie  vorkommen, 


1   „Vorstellungstrieb"  statt  „Vorstellungskreis"  SW. 


13.  Brief.  377 

haben  ohne  Zweifel  physische  Ursachen ;  aber  es  wird  sich  zeigen,  dafs 
auch  selbst  die  rohe  Gleichgültigkeit,  welche  öfter  merklich  wird,  physio- 
logisch zu  erklären  ist. 

Jetzt  nähern  wir  uns  dem  Puncte,  von  wo  an  wir  mit  Bestimmtheit 
an  die  einzelnen  psychologischen  Untersuchungen  zurückdenken  müssen. 
Dabey  wird  das  Physiologische  dergestalt  in  den  Hintergrund  treten,  dafs 
wir  es  unter  den  ganz  allgemeinen  Begriff  eines  Hindernisses  fassen,  welches 
dem  psychologischen  Mechanismus  zwar  selten  einen  völligen  Stillstand 
oder  eine  gänzliche  Verkehrtheit  aufnöthigt,  (denn  vom  Schlafe  und  vom 
Wahnsinn  wollen  wir  nicht  reden,)  wohl  aber  ihn  verzögert  und  seinen 
Rhythmus  verändert.  Um  aber  die  Mannigfaltigkeit  der  Erfolge,  welche 
daraus  entstehn  können,  zu  überschauen,  ist  es  nöthig,  die  psychischen 
Processe  selbst  vor  Augen  zu  haben;  denn  in  ihnen  liegt  das  Mancher- 
ley  und  das  Verschiedene,  welches  durch  jenes  Hindernifs  umgestaltet  wird. 
Das  Nächstvorhergehende  nun  war  schon  der  Anfang  dieser  Betrachtung. 
Bevor  ich  es  weiter  entwickele,  mufs  ich  die  Lücke  andeuten,  die  un- 
vermeidlich offen  bleibt. 

Der  Zusammenhang  zwischen  den  verschiedenen  Theilen  des  Hirns 
unter  einander  und  mit  dem  Rückenmarke  und  dem  sympathischen  Nerven- 
system, ferner  zwischen  diesem  allen  und  den  Gefäfsen,  endlich  der  Vege- 
tation mit  der  Sensibilität  und  Irritabilität,  —  ist  bisher  viel  zu  wenig 
von  den  Physiologen  erforscht,  als  dafs  die  Mannigfaltigkeit  der  Affecten 
nach  ihren  Realgründen  klar  sein  könnte.  Allein  schon  der  oben  an- 
gegebene allgemeine  Begriff  des  Affects,  nach  welchem  er  allemal  in  zwey 
Perioden  zerfällt,  —  eine  der  Beschleunigung  des  einen  Systems  durch 
ein  anderes,  dann  die  zweyte  der  Rückwirkung  des  Beschleunigten,  wobey 
nun  das  zuvor  Beschleunigende  passiv  wird,  —  dieser  Begriff,  bezogen  auf  die 
verschiedenen  Organe,  welche  der  Sensibilität,  Irritibilität,  und  Vegetation 
angehören,  läfst  erwarten,  dafs  die  Mannigfaltigkeit  der  Afiecten  aufserordent- 
lich  grofs  seyn  müsse.  Andererseits,  je  vollkommener  sich  der  menschliche 
und  besonders  der  männliche  Organismus  ausbildet,  —  schon  im  spätem 
Knaben-  und  anfangenden  Jünglings- Alter,  —  um  desto  weniger  kann  von  allen 
diesen  Affecten  in  der  Sphäre  der  pädagogischen  Beobachtung  sichtbar  wer- 
den; daher  wir  wenig  dabey  verlieren,  wenn  wir  die  Rückwirkungen  der 
Leber,  der  Lunge,   des  Magens  u.  s.  w.  nicht  genau  unterscheiden  können. 

Das  Hindernifs,  welches  den  Rhythmus  des  psychologischen  Mecha- 
nismus verändert,  mag  kommen  woher  es  will :  uns  interessiert  nur  die 
Folge,  die  es  hervorbringt,  und  wodurch  es  der  Erziehung  Schwierigkeiten 
in  den  Weg  legt. 

Nur  noch  die  einzige  Vorerinnerung,  dafs  nicht  immer  die  Gegen- 
wirkung des  Leibes  gegen  die  geistige  Thätigkeit  sich  auf  blofse  Verhinde- 
rung beschränkt,  sondern  dafs  zuweilen  ein  wirkliches,  positives  körper- 
liches Leiden  eintritt.  Dann  thut  das  Lernen  weh;  ja  mir  sind  Beyspiele 
bekannt,  wo  es  Krämpfe  erregte,  die  wegen  häufiger  Wiederhohlung  end- 
lich die  geistige  Anstrengung  untersagten.  Gewifs  wird  in  andern  Fällen  zu- 
weilen der  Schmerz  überwunden ;  weit  öfter  aber  geht  der  Erziehung  eine 
kostbare  Zeit  verloren,  bis  es  gelingt,  die  Nerven  zu  stärken,  damit  sie 
dem  Geiste  besser  zu  Dienste   stehen. 


■zj8      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aut  die  Pädagogik  (183 1). 


14. 

'Wünschen  Sie  etwa,  dafs  wir  uns  nun  sogleich  auf  das  schon  oben 
(9)  berührte  Feld  der  empirischen  Psychologie  versetzen,  und  die  so- 
genannten Seelenvermögen  nach  einander  durchmustern?  —  Ich  denke, 
jene  Erwähnung  des  Gegenstandes  reicht  schon  hin,  damit  es  an  einer 
ungefähren  Übersicht  dessen,  was  in  Frage  kommt,  nicht  gänzlich  mangele. 
Sie  mein  Freund!  möchten  es  mir  wohl  nicht  danken,  wenn  ich  gerade 
Linien  auf  einem  Felde  abstecken  wollte,  wo  jeder  einzelne  Punct  des 
Bodens  eine  besondere  Bearbeitung  erfordert.  Solche  logische  Künste 
haben  lange  genug  mit  dem  leeren  Schein  des  Wissens  getäuscht;  über- 
lassen wir  sie  Denen,  die  zu  ernstlicher  Forschung  einmal  nicht  auf- 
gelegt sind;  benutzen  wir  lieber  die  Vorarbeit,  die  wir  haben!  Lassen  wir 
das  Höhere  so  lange  weg,  bis  wir  das  Niedere,  wovon  jenes  abhängt,  so- 
weit als  unsre  jetzige  Kenntnifs  reicht,  zum  Behuf  der  Pädagogik  werden 
erwogen  haben!  Setzen  wir  demnach  für  jetzt  alles  bey  Seite,  was  sich 
auf  allgemeine  Begriffe,  auf  Urtheil,  Sprache,  Reflexion,  Zusammenwirken 
mehrerer  Vorstellungsmassen,  endlich  auf  das  Selbstbewufstseyn  bezieht; 
denn  von  diesem  Allen  können  wir  noch  nichts  Gründliches  in  päda- 
gogischer Hinsicht  sagen,  bevor  die  mehr  elementaren  Gegenstände  wer- 
den erörtert  seyn. 

Sie  erwarten  ohne  Zweifel,  dafs  ich  die  Reihenbildung  der  Vorstel- 
lungen in  Betracht  ziehen  wolle?  —  Bald!  aber  auch  dies  noch  nicht 
gleich!  Es  giebt  noch  etwas  Früheres  zu  bedenken,  was  mit  dem  vorigen 
Briefe  zusammenhängt. 

Nicht  erst  die  mittelbare  Reproduction ,  worauf  die  Reihenbildung 
beruht,  sondern  schon  die  unmittelbare  veranlafst  Bemerkungen,  die  wir 
nicht  übergehen  dürfen. 

Zuvörderst  bitte  ich,  aus  der  Psychologie  den  Begriff  eines  physio- 
logischen Hindernisses  zurückzurufen.  Sie  wissen,  dafs  ein  solches,  wenig- 
stens beym  gesunden  Menschen,  nicht  als  unfähig  alles  Nachgebens,  nicht 
starr,  sondern  als  ein  solches  mufs  gedacht  werden,  welches,  indem  es 
die  Vorstellungen  hemmt,  auch  seinerseits  der  Hemmung  durch  jene  zu- 
gänglich ist*  Sonst  würde  der  Schlaf,  das  bekannteste  Phänomen,  wel- 
ches aus  solcher  physiologischen  Hemmung  entspringt,  nicht  überwunden 
werden  können.  Starkes  Geräusch,  starkes  Licht,  und  jeder  starke  Sinnes- 
Eindruck  ist  aber  fähig,  uns  selbst  aus  dem  tiefsten  Schlafe  zu  wecken. 
Das  heifst:  es  kommt  bev  demselben  auf  das  Verhältnifs  an,  welches 
zwischen  der  Energie  des  Vorstellens,  und  der  physiologischen  Hemmung 
Statt  findet. 

Dies  vorausgesetzt,  so  lassen  Sie  uns  aus  derjenigen  Rechnung,  welche 
die  unmittelbare  Reproduction  betrifft,  den  Begriff  des  freyen  Raums 
hervorheben.*'  Gesetzt,  eine  Vorstellung  würde  plötzlich  von  aller  Hem- 
mung frey,  so  wäre  der  freye  Raum  so  grofs  als  das  ganze  bisher 
gehemmte    Quantum    dieser  Vorstellung;    sie    würde    aber    dennoch  nicht 


*  Psychologie  II,  §    160.     [Bd.  VI  vorl.  Ausg.] 
**  Ebenda  I,  §  85.     [Bd.  V  vorl.  Ausg.] 


M-  Briet.  379 

plötzlich  ihren  gehemmten  Zustand  in  den  ungehemmten  verwandeln, 
sondern  nur  allmählig,  nach  einem  mathematisch  bestimmten  Gesetze, 
sich  dem  ungehemmten  Zustande  annähern,*  oder,  wie  wir  uns  auch  aus- 
drücken können,   den  ihr  gegebenen  freyen  Raum  nur  allmählig  ausfüllen. 

Der  Deutlichkeit  wegen  zähle  ich  nun  die  einzelnen  Puncte  auf, 
worauf  es  bei  der  unmittelbaren  Reproduction  ankommt;  und  dabey  werde 
ich,  damit  Sie  die  Psychologie  desto1  leichter  vergleichen  können,  die  dort 
gebrauchten  Bezeichnungen  auch  hier  anwenden.     Also: 

i.  Es  giebt  eine  ältere  Vorstellung  H,  welche  eben  jetzt  soll  wieder 
erweckt  werden.  So  nämlich  drückt  man  sich  gewöhnlich  aus;  als  ob  die 
Vorstellung  schliefe:  und  diese  Analogie  des  Schlafs  ist  ganz  2  richtig ;  nur 
mit  der  Nebenbestimmung,  dafs,  wenn  wir  schlafen,  alsdann  alle  unsere 
Vorstellungen  aus  physiologischen  Gründen  gehemmt  sind;  wenn  wir  aber 
vollkommen  wachen,  alsdann  kein  physiologisch  zu  erklärendes  Hindernils, 
sondern  lediglich  der  Druck  anderer  Vorstellungen  den  Grund  enthält, 
warum   die   Vorstellung  H   für  jetzt  schläft. 

2.  Da  sie  schläft,  so  müssen  irgend  welche  andre  Vorstellungen 
wachen,  oder,  was  dasselbe  sagt,  im  Bewufstseyn  gegenwärtig  seyn;  deren 
Druck  eben  den  Grund  enthalten  soll,  weshalb  jene  schläft,  und  mit  ihr 
unzählige  andre  auch  schlafen.  Die  jetzt  wachenden  Vorstellungen  mögen 
mit  a  und  b  angedeutet  werden,  obgleich  es  deren  eine  Menge  geben 
kann.  Wie  manchmal  ein  dramatischer  Dichter,  wenn  er  einen  Charakter 
braucht,  der  einer  unbestimmten  Menge  von  Personen  zukommt,  denselben 
repräsentiren  läfst  durch  ein  paar  Individuen,  so  werden  auch  hier  ein 
paar  Vorstellungen  a  und  b  in  Rechnung  gesetzt,  weil  dies  genügt,  um 
die  allgemeinen  Gesetze  zu  finden,  auf  die  es  zunächst  ankommt. 

3.  Solange  nun  a  und  b  wachen,  mufs  H  schlafen.  Also  umgekehrt, 
damit  H  erweckt  werde,  müssen  a  und  b  gehemmt  werden.  Dies  ge- 
schieht am  einfachsten  und  leichtesten,  wenn  eine  neue  Vorstellung  hinzu- 
kommt, nämlich  in  der  Wahrnehmung  oder  durch  Sinneseindruck,  welche 
den  a  und  b  entgegenwirkt,  nicht  aber  zugleich  dem  H;  denn  im  letztem 
Falle  würde  H  dadurch  eben  in  so  fern,  als  es  von  diesem  Gegensatze 
getroffen  wäre,  keinen  freyen  Raum  erlangen.  Also  kurz:  wir  nehmen  an, 
eine  neue  Vorstellung  c  werde  gegeben,  welches  c  aber  dem  H  gleich- 
artig ist,  so  dafs,  wenn  H  die  Empfindung  des  Süfsen  war,  dann  auch 
c  das  nämliche  Süfs,  -  wenn  aber  H  grün  war,  dann  auch  c  grün  ist. 
Oder  wollen  Sie  lieber,  so  sey  H  die  Vorstellung  einer  bekannten  Person; 
und  wenn  diese  nämliche  Person,  an  die  wir  so  eben  nicht  dachten,  uns 
nun  beo-e<met,    so  ist  die   neue  Anschauung   dieser  Person   das    eben   ge- 

nannte  c.  .  .        . 

4.  Jetzt  erwacht  die  gleichartige  Vorstellung  H.  Aber  nicht  auf  einmal 
cranz  und  gar!  Sondern  nur  ein  Quantum  y,  welches  ein  Theil  von 
H  ist  (oder  doch  für  jetzt  so  angesehen  werden  mag,  obgleich  es  eigentlich 

*  Psychologie  I.  §  81.     [Bd.  V  vorl.   Ausg.] 


1  „desto"  fehlt  SW. 

2  „auch  ganz"  statt  „ganz"  SW. 


?8o      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aui  die  Pädagogik  (1831). 

ein     Grad    des    Vorstellens    ist)    tritt    hervor   in    der    Zeit  t;    so    dafs    bey 
längerer  Zeit  (wenn  t  wächst),  auch  y  wachsen  wird. 

5.  Dieses  y  richtet  sich  in  Hinsicht  seiner  Gröfse,  die  es  in  jedem 
Augenblicke  hat,  gar  sehr  nach  dem  freyen  Raum,  der  dem  H  gegeben 
wurde.  Und  was  ist  dieser  schon  vorhin  erwähnte,  jetzt  genauer  zu  be- 
stimmende freve  Raum?  Nichts  anderes  als  die  Möglichkeit,  dafs  H  sich 
in  so  weit  erheben  und  gleichsam  erhohlen  könne,  als  der  Druck  durch 
a  und  b  wegfällt.  Heifst  nun  der  freye  Raum  x:  so  ist  dieses  x  gerade 
so  grofs  als  Dasjenige,  was  von  a  und  b  zusammengenommen  durch  c 
aus  dem  Bewufstseyn  verdrängt  wurde.  —  Das  Alles  haben  Sie,  mein 
theurer  Freund!  nun  freylich  in  meiner  Psychologie  schon  in  einem 
Dutzend  Zeilen  gelesen  ;  entschuldigen  Sie  demnach  meine  Weitläuftigkeit 

—  die  nicht  Ihnen  *  gilt,  und  doch  Ihnen  irgend  einmal  behülflich  seyn 
kann.      Sie  verstehn  mich  wohl! 

6.  Bisher  war  noch  von  keinem  physiologischen  Hindernisse  die 
Rede,     jetzt  wollen  wir  ein  solches  einführen,  und  mit  P  bezeichnen. 

Von  diesem  Drucke  P  gilt  nun  die  oben  erwähnte  Voraussetzung. 
Nämlich  was-  auch  der  Ursprung  dieses  Druckes  seyn  möge,  in  den 
Nerven  zunächst,  und    früher    vielleicht   im  Blute  oder   in  der  Vegetation 

—  so  mufs  doch  zwischen  dem  Leibe  und  Geiste  schon  Wirkung 
und  Gegenwirkung  statt  gefunden  haben,  ja  auch  zwischen  beyden 
schön  eine  Art  von  Gleichgewicht  —  wo  nicht  völlig  eingetreten,  so 
doch  dergestalt  bestimmt  seyn,  dafs  es  eintreten  sollte.  Also  der 
Druck  P  würde  gröfser,  wenn  a  und  b  kleiner;  oder  wenn  a  und  b 
gröfser,  dann  würde  P  kleiner  seyn.  Sie  werden  Sich  nämlich  erinnern, 
dals  wir  mit  a  und  b  dasjenige  Vorstellen  bezeichneten,  was  eben  jetzt 
im  Bewufstseyn  (ganz  oder  theilweise)  gegenwärtig  ist.  Gegen  dieses  hatte 
sich  der  leibliche  Zustand  ins  Gleichgewicht  gesetzt  oder  setzen  sollen; 
nicht  aber  etwa  gegen  H,  welches  schlief,  oder  auf  der  statischen 
Schwelle  war.* 

7.  Was  geschieht  nun,  indem  c  hinzukommt?  Es  leiden  davon 
a  und  b;  sie  sinken  im  Bewufstseyn.  Die  Kraft,  welche  gegen  P  wirkte, 
wird  geschwächt.  Anstatt  also,  dafs  die  nächste  Folge  hätte  seyn  sollen 
ein  hervortretendes  y,  indem  H  freyen  Raum  bekam,  —  erhebt  sich  zu- 
nächst P,  welches  soviel  bedeutet,  als  eine  Verminderung  des  Vorstellens 
überhaupt.  Es  ist  nun  nichl  mehr  wahr,  dafs  der  freye  Raum  für  H  so- 
grofs  sey,  als  das  was  von  a  und  b  zusammengenommen  sinkt;  sondern 
es  kommt  noch  darauf  an,  in  welches  Gleichgewicht  P  treten  werde  gegen 
a,  b,  und  c  zusammengenommen. 

8.  Wenn  aber,  wie  gewöhnlich,  die  Vorstellung  c  nicht  auf  einmal, 
sondern  in  fortdauernder  Wahrnehmung  gegeben  wird,  so  verliert  sie  selbst 
an  Energie  durch  den  Druck  P.  Denn  jede  Vorstellung,  die  aus  dem 
allmähligen  Empfinden  oder  Wahrnehmen  entsteht,  büfst  fortdauernd  etwas 


Psychologie  I,  §  47.      [Bd.  V  vorl.  Ausg.] 


1  „Ihnen  nicht"  statt  „nicht  Ihnen"  SW. 


14-  Brief. 3  8 1 

ein  durch  die  Hemmung,  der  sie  von  Anfang  an  schon  unterworfen  ist.* 
Was  daraus  folgt,  liegt  am  Tage.  Durch  c  sollten  a  und  b  gehemmt,  durch 
diese  Hemmung  sollte  dem  H  freyer  Raum  geschafft  werden.  Wenn 
nun  c  kleiner  ausfällt  wegen  des  Druckes  P,  so  leiden  a  und  b  weniger 
Hemmung.  Das  ist  ein  neuer  Grund,  weshalb  die  Reproduction  des  H 
schlechter  gelingt.  Und  da  der  vorige  Zustand  des  Geistes  eben  darauf 
beruhete,  dafs  a  und  b  im  Bewufstseyn  waren:  so  wird  eben  dieser  Zu- 
stand nun  weniger  verändert;  es  bleibt  mehr  beym  Alten;  und  die  merk- 
lichste Veränderung  besteht  in  der  Verdüsterung  des  Geistes,  welche  wir 
schon  vorhin  durch  das  Wachsen  des   P  bezeichnet  haben. 

9.  Wofern  nun  eine  ganze  Reihe  von  neuen  Wahrnehmungen  dar- 
geboten wird,  —  sey  es  durch  Unterricht  oder  durch  die  Erfahrung  und 
Umgebung,  —  so  wiederhohlt  sich  jedesmal  das  zuvor  Beschriebene.  Die 
Verdüsterung  nimmt  zu;  die  Reproductionen ,  —  das  heifst,  die  An- 
knüpfungen an  das  früher  Bekannte,  gelingen  schlecht;  der  alte  Traum 
wird  fortgeträumt,  oder  doch  nur  wenig  gestört. 

Erkennen  Sie  wohl  hierin,  was  Ihnen  und  mir  unendlich  oft  be- 
gegnet ist  bey  schläfrigen,  ermatteten  oder  gleichviel  weshalb  übel  auf- 
gelegten  Lehrlingen  ? 

15- 

Jetzt  einige  Nachträge.  Es  konnte  Ihnen  keine  Mühe  kosten,  an 
die  Stelle  des  obigen  c  Ihren  Unterricht,  an  die  Stelle  des  H  den  Vor- 
rath  früherer  Kenntnisse,  bey  denen  angeknüpft  werden  soll,  an  die  Stelle 
der  a  und  b  die  unzeitigen  Gedanken  in  den  Köpfen  der  Lehrlinge  zu 
setzen,  die  sich  jeden  Augenblick  vordrängen,  sobald  der  Unterricht  eine 
Pause  macht,  und  die  man  wenigstens  im  Anfange  der  Lehrstunde  bey 
Kindern  fast  immer  vorfindet.  Ob  aber  das  vorige  P  jedesmal  eine  all- 
gemeine   Negation  des  Vorstellens    überhaupt  sey?    darnach    kann  gefragt, 

—  und   durch   eine   Abänderung  hierin  kann  die   Bedeutung    des  Vorigen 
noch  erweitert  werden. 

P  sey  jetzt  ein  partieller  Druck;  nicht  auf  alles  Vorstellen  über- 
haupt, sondern  auf  solche  Vorstellungsmassen,  die  einen  bestimmten  Affect 
zu  erregen  geeignet  sind.  Sie  haben  zum  Beyspiel  einen  Lehrling  vor 
sich,  der  mit  mühsamen  Fleifse  Grammatik  lernte;  mit  dieser  Beschäftigung, 
(die  ihren  eigenthümlichen  Affect  in  sich  trägt,)  hat  sich  seine  Unlust 
bereits  ins  Gleichgewicht  gesetzt.  Jetzt  wollen  Sie  ihn  durch  Geschichte 
oder  durch  Poesie  beleben;  Sie  suchen  ihm  diese  neuen  Gegenstände 
nahe  zu  bringen,  indem  Sie  dieselben  möglichst  seinem  Leben,  seinen 
Verhältnissen,  seiner  eigenen  Erfahrung  angemessen  auswählen  und  dar- 
stellen. Was  geschieht?  Indem  Sie  ihn  für  jetzt  aus  seiner  gewohnten 
grammatischen  Beschäftigung  herausversetzen,   erhebt  sich  in  ihm  die  Unlust 

—  gerade  das  nämliche  unbehagliche  Gefühl,  welches  bisher  durch  die  gram- 
matische Aemsigkeit  pflegte  im  Zaume  gehalten  zu  werden.  Die  sanfteren 
Töne,  die  Sie  angeben,  wollen  nicht  ansprechen;  keine  Resonanz  kommt 
Ihnen  aus   dem   Innern   entgegen.     Und    am  Ende    findet    sich,    dafs  die 


Psychologie  I,  §  95.     [Bd.  V  vorl.  Ausg.] 


^82      III-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

Grammatik  fester  sitzt  als  Sie  dachten.  Zwar  ohne  Liebe  betrieben,  wird 
sie  doch  leidlich  befunden;  hingegen,  was  Sie  darboten,  gewinnt  weder 
Dank  noch  Erfolg. 

Wollen  wir  etwa  das  Beyspiel  umkehren?  Jemand  hat  ohne  die 
Gunst  der  Musen  Geschichte  gelernt;  jetzt  heifst  man  die  Geschichte  bey 
Seite  setzen;  Grammatik  wird  auf  die  Lehrstunden  verlegt,  die  zuvor  jener 
gewidmet  waren.  Man  glaubte  eine  Last  hinwegzunehmen;  aber  das 
vorige  Misbehagen  tritt  nur  deutlicher  hervor,  da  es  von  dieser  Last  nicht 
mehr  ein  Gegengewicht  empfängt.  Man  hoffte  ein  Studium  an  die  Stelle 
des  andern  setzen  zu  können;  aber  die  Grammatik  will  nicht  munden; 
sie  bleibt  fremd,  es  kommt  ihr  nichts  entgegen,  und  die  frühere  Be- 
schäftigung ist  nicht  so  leicht  verdrängt  als  es  schien. 

Sollte  wohl  damit  das  seltsame  Benehmen  einer  Völkerschaft  Aehnlich- 
keit  haben,  die  sich  eben  einer  Regierung  entzogen  hat,  mit  der  sie  un- 
zufrieden war,  und  die  nun,  nachdem  eine  andre  Herrschaft  an  die  Stelle 
getreten,  sich  ihrer  Unzufriedenheit  nur  noch  mehr  hingiebt,  anstatt  sich 
dem  neuen   Herrn  anzuschliefsen  ? 

In  der-That  fürchte  ich  sehr,  dafs  die  angestellte  Betrachtung  viel 
weiter  reicht,  als  man  auf  den  ersten  Blick  glauben  möchte.  Wer  über  irgend 
ein  Unwohlseyn  klagt,  der  merkt  selten,  dafs  es  aus  mehrern  Affectionen, 
welche  mit  einander  ins  Gleichgewicht  traten,  zusammengesetzt  ist;  er 
hofft,  durch  irgend  ein  Mittel  das  frühere  gesunde  Leben  wieder  auf- 
zureden; wenn  nun  die  Wirkung  dieses  Mittels  nur  den  einen  Theil  des 
zusammengesetzten  Uebels  trifft,  so  erhebt  sich  nicht  zunächst  und  nicht 
allein  die  bessere  Lebensregung,  sondern  der  andre  Theil  des  Uebels 
tritt  stärker  heraus,  und  vereitelt,  indem  er  um  sich  greift,  allmählig  selbst 
in  Beziehung  auf  den  ersten  Theil  die  Wirkung  des  Mittels. 

Die  Versuchung  ist  grofs,  hievon  selbst  in  Hinsicht  leiblicher  Uebel 
eine  Anwendung  zu  machen;  besonders  da  diese  zum  wenigsten  eben  so 
sehr  auf  innern  Zuständen  als  auf  äufsern  beruhen.*  Wir  haben  nicht 
nöthig,  hiebey  an  bestimmte,  von  den  Aerzten  mit  Namen  benannte 
Krankheiten  zu  denken,  wiewohl  auch  diese  schwerlich  so  einfach  seyn 
mögen,  wie  es  ein  bestimmter,  einzelner  Name  anzudeuten  scheint.  Aber 
was  man  relative,  mithin  unvollkommene  Gesundheit  zu  nennen  pflegt, 
das  ist  gewifs  nicht  einfach,  sondern  es  ist  ein  Zustand  des  Gleichgewichts 
unter  vielerley,  sich  gegenseitig  verlarvenden  Uebeln;  von  denen  nach 
Umständen  bald  das  eine,  bald  das  andere  mehr  hervortritt,  keins  aber 
eigentlich  gehoben  wird,  wenn  schon  ein  Mittel  darauf  wirkt,  das  an  sich 
für  einfache  Zustände  Heilung  hätte  hervorbringen  können. 

Indessen  wollen  wir  dergleichen  Ausdehnungen  des  Vorigen,  welchen 
mehr  Präcision  zu  geben  hier  nicht  möglich  ist,  gern  fallen  lassen;  und 
uns  in  die  pädagogische  Sphäre  zurückziehn.  Sind  Ihnen  nicht  schon 
die  Verlegenheiten  des  Erziehers  bey  verdorbenen  Subjecten  eingefallen? 
Ein  junger  Mensch  hat  Neigung  zum  Kartenspiel,  zu  den  Vergnügungen 
der  Wirthshäuser.  Sie  verbieten  ihm  diese.  Was  geschieht?  Andre,  ge- 
heime   üble    Neigungen,    die    durch   jene    Zerstreuungen    noch    im  Zaume 

*  Metaphysik  II,  §  438  nebst  dem,  was  vorhergeht  und  was  folgt.  [Bd.  VIII  vorl.  Ausg.] 


ib.  Briet.  r> g? 

gehalten  waren,  verstärken  sich;  das  Edlere,  was  Sie  an  die  Stelle  setzen 
wollten,  was  aber  freylich  gröfstentheils  von  innen  her  hätte  entgegen- 
kommen müssen,  bleibt  aus;  selbst  dann  bleibt  es  aus,  wenn  es  vermöge 
früherer  Jugend-Eindrücke  vorhanden  ist,  die  nur  nöthig  hätten  von  ihren 
Hindernissen  befreyt,  und  mit  neuer  Nahrung  versorgt  zu  werden.  Das 
Neue,  was  Sie  darbieten,  mufs  verkümmern,  noch  ehe  es  konnte  gehörig 
aufgenommen  werden  von  dem  vorhandenen  Gedankenkreise.  Daraus  ent- 
steht die  Folge,  dafs  sehr  bald  auch  Kartenspiel  und  Wirthshausbesuch 
wieder  an  die  Tages-Ordnung  kommt;  denn  der  Mensch  war  im  Innern 
nicht  verändert  worden. 

Nun  bitte  ich  Sie  damit  die  pädagogischen  Vorschriften,  wie  man 
sie  in  den  Büchern  meistens  findet,  zu  vergleichen.  Die  Fehler  der  Zög- 
linge haben  ihre  Namen  bekommen;  gegen  jeden  Fehler  finden  Sie  ein 
Heilverfahren  angegeben;  ■ —  einige  Bände  des  CAMPEschen  Revisions- 
Werkes  haben  mich  oft  an  die  altern  medicinischen  Schriften  erinnert, 
welche  voll  stecken  von  Recepten,  so  dafs  man  meinen  sollte,  man  habe 
einen  eben  so  reichen  als  sichern  Arzneyschatz,  vor  sich;  und  es  werde 
nur  darauf  ankommen,  unter  so  vielen  Mitteln  die  vortheilhafteste  Wahl 
zu  treffen.  Hier  nur  mag  man  mit  vollem  Rechte  klagen,  dafs  die  Bücher- 
welt gar  weit  verschieden  ist  von  der  wirklichen  Welt.  Aber  wie  kam 
das?  Hatten  jene  Pädagogen  etwa  keine  Erfahrung? 

Oja!  Erfahrung  besafsen  sie  wohl;  aber  sie  wufsten  sich  nicht  darin 
zu  orientiren.  Die  Fehler  der  Zöglinge,  als  Gegenstände  pädagogischer 
Reflexion,  sollten,  wie  billig,  aus  der  Psychologie  erklärt  werden.  Die 
Psychologie  bot  sich  dar,  wenn  man  seine  Gedanken  ordnen,  wenn  man 
ein  Buch  schreiben  wollte.  Was  bot  sich  dar?  Die  wahre  Psychologie? 
Nein,  sondern  die  alte  Meinung  von  den  Seelenvermögen.  Da  sollte  und 
mufste  hier  die  Phantasie  krank  seyn,  dort  der  Verstand,  ein  andermal 
der  Wille,  und  wieder  einmal  die  praktische  Vernunft.  Nicht  ärger  konnte 
der  wahre  Zusammenhang  der  Dinge  verlarvt,  und  die  eingesammelte  Er- 
fahrung unnütz  gemacht  werden,  als  in  Theorien,  denen  von  den  Gesetzen 
des  psychischen  Mechanismus  selbst  der  erste  Begriff  fehlt,  und  so  gänz- 
lich fehlt,  dafs  sogar  die  heutigen  Psychologen  ihn  noch  nicht  zu  fassen 
im  Stande  sind,  wegen  der  vollkommenen  Unmöglichkeit,  ihn  mit  ihren 
angewohnten  Vorurtheilen  zu  vereinigen. 

Und  was  thun  unsre  heutigen  Schulmänner  dabey?  Sie  schreiben 
Archive  für  Philologie  und  Pädagogik.  Wer  wird  solche  der  Philologie 
misgönnen?   — 

16. 

Jeder  Andre,  aufser  Ihnen,  mein  theurer  Freund,  möchte  nun  von 
mir  verlangen,  ich  solle  sagen,  was  der  praktische  Erzieher  in  solchen 
Verlegenheiten,  wie  die  vorerwähnten,  zu  thun  habe? 

Darum  schreibe  ich  Briefe  an  Sie.  Mögen  Sie  in  meinem  Namen 
weiter  sprechen.  Sie  wissen,  dafs  kein  praktischer  Erzieher  einzeln  steht; 
dafs,  wenn  Hülfe  möglich  seyn  soll,  diese  allgemein  seyn  mufs.  Wird 
die  öffentliche  Meinung  falsch  geleitet  von  Denen,  die  für  einsichts- 
voll gelten,  so  wirkt  sie  mehr  als  jedes  einzelne  Uebel,  dem  Erzieher  ent- 


•384      m~  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aul  die  Pädagogik  (1831). 

gegen.  Wie  lange  schon  hätte  ich  über  Pädagogik  die  vor  einem  Viertel- 
jahrhundert bey  Seite  gelegte  Feder  wieder  zur  Hand  genommen,  wenn 
ich  nicht  wüfste,  dafs  zu  besserer  Erziehung  gründliche  Pädagogik,  zur 
Pädagogik  aber  Psychologie  nöthig  ist,  und  dafs,  wenn  diese  irgend  ein- 
mal gedeiht,  alsdann  Pädagogik  und  praktische  Erziehung  sich  schon  ein- 
stellen werden;  vorausgesetzt,  dafs  man  sie  vor  Allem  zuerst  in  den 
Familien  suche  und  ins  Werk  richte;  denn  so  lange  man  sich  über  diesen 
Punct  täuscht,  giebt  keine  Wissenschaft  gründliche   Hülfe. 

Kehren  wir  nun  dorthin  zurück,  wo  wir  den  eisten  Affect  in  Be- 
tracht zogen,  welchen  das  Neue  erregen  kann.  Allgemein  ist  es  Furcht; 
seltener  Zorn;  —  doch  gegen  diese  sonst  natürlichen  Affecten  schüzt  die 
menschliche  Organisation,  wenn  sie  gesund,  und  wenn  der  neue  Eindruck 
milde  genug  ist,  so  sehr,  dafs  bey  dem  gesunden  Kinde  gewöhnlich  die 
Neugier,  die  sonst  auf  Furcht  und  Zorn  folgen  würde,  (12)  schnell  genug 
hervortritt,  damit  jene  Affecten  unmerklich  werden,  —  denn  die  Zeit, 
deren  sie  bedürften1,  um  sich  auszubilden,  wird  unendlich  kurz.  Aber  wir 
haben  uns2  schon  gestanden,  dafs  diese  Neugier  doch  nicht  allgemein 
sey,  (13)  sondern  oft  genug  eine  stumpfe  Gleichgültigkeit  an  die  Stelle 
trete;  wobey  das  Neue  nicht  eindringt,  das  ihm  analoge  Alte  sich  nicht 
gehörig  reproducirt,  der  eben  vorhandene  Zustand  des  Bewufstseyns  sich 
wenig  verändert,  und  die  Veränderung  fast  nur  in  einer  Verdüsterung  be- 
steht, welche  zwar  schnell  vorüber  geht,  wofern  des  Neuen  nicht  zuviel  wird, 
alsdann  aber  den  Menschen  beynahe  so  zurückläfst  wie  er  war,  ohne  dafs 
man  sagen  könnte,  er  sey  von  der  Stelle  gekommen.  Hievon  nun  konnten 
wir  uns  den  psychologischen  Grund  angeben,  ohne  aus  der  Physiologie 
mehr  als  nur  den  Begriff  eines  Hindernisses  zu  entlehnen.  Sollte  dagegen 
Furcht  oder  Zorn  merklich  werden,  so  mufsten  wir  die  Erklärung  in  dem 
Verhältnisse  des  Nerven-  und  Gefäfssystems  suchen.  Dafs  nun  Etwas 
von  dem  Allen ,  auch  da  wo  es  nicht  in  auffallenden  Zeichen  her- 
vortritt, dennoch  in  der  That  bey  manchen  Individuen  vorkomme;  dafs 
Eins  mit  dem  Andern  in  verschiedenen  Verbindungen  stehe,  dafs  die 
Verschiedenheit  der  Anlagen,  die  wir  zu  untersuchen  angefangen  hatten,  hier- 
auf grolsentheils  beruhe,  das  werden  Sie  wohl  nicht  zu  leugnen  geneigt  seyn. 

Oder  möchten  Sie  (um  nun  das  Einzelne  näher  zu  besehen)  zu- 
vörderst von  der  Furcht  bezweifeln,  dafs  dieselbe  sich  oftmals  der  Auf- 
nahme des  Neuen  in  den  Weg  stelle. 

Natürlich  rede  ich  hier  nicht  von  solcher  Furcht,  die  in  Gefahren, 
bey  drohenden  Uebeln,  aus  der  Ungewifsheit  dessen  was  etwa  kommen 
möge,  hervorgehn  kann.  Derjenige  Erzieher,  der  eine  so  begreifliche 
Furcht,  wo  sie  auf  Unkenntnifs  der  Gegenstände  beruhet,  nicht  auf  ähn- 
liche Weise  zu  behandeln  weifs,  wie  man  ein  scheues  Pferd  an  di'e  Gegen- 
stände heranführt,  vor  denen  es  erschrickt,  —  ermangelt  zu  sehr  der 
gemeinen  Lebensklugheit,  als  dafs  Theorien  ihm  helfen  könnten. 

Aber  diejenige  verborgene  Furcht  habe  ich  im  Sinn,  die  den  Schein 
der  Verdrossenheit  und  Trägheit  im   Lernen  und   Arbeiten  annimmt;    und 


1  „bedürfen"  SW. 

2  „uns"  fehlt  SW. 


i6.   Bnef.  385 

wobey  der  Geist  davon  läuft,  während  der  Leib  ruhig  vor  Uns  sitzt.  Vor 
fremden  Namen,  vor  griechischen  Buchstaben,  vor  algebraischen  Zeichen, 
vor  geometrischen  Figuren  erschrecken  Manche,  welche  dem  Affect  der 
Furcht  ein  ganz  artiges  Mäntelchen  umzuhängen  wissen;  indem  sie  sich 
geschmackvolle,  geistreiche  Beschäftigungen  ausbitten,  während  man  gerade 
Anstalt  macht,   ihren  Geist   und   Geschmack  zu  bilden. 

Diese  Furcht  ists,  statt  deren  sich  bey  den  rüstigen  Naturen  ein 
verhaltener  Zorn  innerlich  regt.  Sie  nehmen  es  übel,  dafs  man  sie  mit 
Ansprüchen  an  ihre   Aufmerksamkeit  belästigt. 

Soll  ich  das  Gegenmittel  gegen  diese  Furcht  angeben?  Nur  ein  gründ- 
liches ist  mir  bekannt,  welches  zu  spät  gebraucht,  sehr  wenig  bequem 
und  kaum  noch  anwendbar  ausfällt.  Es  ist  geduldiger,  äufserst  langsam 
fortschreitender  Unterricht  in  ganz  frühen  Kinderjahren.  Frauen,  Mütter, 
denen  ernstlich  daran  gelegen  ist,  die  fernere  Erziehung  vorzubereiten, 
pflegen  mit  bewunderungswürdiger  Geduld  die  Kinder  im  Hause  und  im 
Garten  umherzuführen,  sie  lesen  und  zählen  zu  lernen.1  So  fortfahrend 
wird  man  ganz  allmählig  die  gefährliche  Neuheit  der  Gegenstände  ver- 
meiden, welche  später  zusammengehäuft  einen  unheilbaren  Schreck  vor 
der  Schule  erzeugen  könnten.  Dagegen,  wo  ein  Lehrer  mit  ganzen  Massen 
von  fremdklingenden  Worten  und  Zeichen  vor  dem  unvorbereiteten  Schüler 
auftritt,  wird  selbst  wohl  guten  Köpfen  angst;  und  bey  jungen  Leuten,  die 
in  glänzenden  Verhältnissen  leben,  ist  späterhin  keine  Gewalt  und  keine 
Ermahnung  mehr  im  Stande,  das  innere  Zurückfliehen  der  Gedanken  zu 
überwinden. 

Wenn  unwissende  Jugendlehrer  die  langsame,  zuweilen  scheinbar 
spielende  Art  des  Verfahrens  im  frühesten  Unterricht,  mit  wirklicher  Spielerey 
ohne  Zweck  und  Zusammenhang  verwechseln,  so  geben  sie  eben  so  sehr 
zu  falschen  Urtheilen  über  die  sogenannte  Spielmethode  Anlafs,  als  wenn 
das  scheinbare  Spielen  zur  allgemeinen  Methode  erhoben,  und  nun  auch 
bey  solchen  Naturen  angebracht  wird,  die  dessen  nicht  bedürfen,  weil  das 
Neue  sie  nicht  drückt,  ihnen  weder  Furcht  noch  Zorn  erregt.  Nur  allein 
bey  jenen,  aus  physiologischen,  übrigens  unbekannten  Gründen  allzu  be- 
weglichen Individuen,  welche  das  Neue  zurückstöfst  (besonders  wo  es 
nicht  irgendwie  versüfst  wird,)  mufs  man  durch  ein  langsames  Verfahren 
das  Neue  künstlich  vertheilt  allmählig  herbeyführen.  Die  klaren  und  vesten 
Naturen  gewinnt  man  dagegen  am  besten  durch  eine  Raschheit,  die  sie 
auf  einmal*  in  die  Mitte  einer  bald  anziehenden  Beschäftigung  versetzt.  Ohne 
Unterscheidung  der  Individualitäten  aber  ist  hier  gar  keine  Regel   möglich. 

Glücklich,  wenn  jene  Beweglichen  nur  nicht  zugleich  düstere  Köpfe  sind! 
Trifft  dies  Uebel  mit  dem  vorigen  zusammen:  so  wird  man  nie  weit  kommen. 

Bey  den  blofs  düstern  Köpfen  aber,  falls  sie  durchaus  willig,  das 
heifst,  furchtlos  und  zornlos  sind,  wird  man  durch  streng  anhaltendes  Ar- 
beiten am  weitesten  kommen.  Ich  habe  deren  gekannt,  die  nicht  eher 
fafsten,  als  bis  ihnen  die  Wangen  roth  glüheten.  Das  physiologische 
Hindernifs  läfst  sich  in  solchem  Falle  durch  den  erregten  Affect  über- 
winden; daher  läfst  sich  die  bekannte  Behauptung,  dafs  Ruthe  und  Stock 


1   „lehren"  SW. 
Herbart's  Werke.     IX. 


2  86      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 


die  besten  Lehrmeister  seyen,  mit  manchen  Beyspielen  belegen,  ohne  doch 
allgemein  wahr,  und  vollends  allgemein  empfehlungswerth *  zu  seyn.  Ge- 
wifs  aber  sind  diejenigen  Individuen  selten,  denen  nicht  zuweilen  wenigstens, 
und  damit  sie  in  der  Selbstüberwindung  sich  üben,  ein  eifriger  Lehrer 
recht  heilsam  wäre.  Der  Zwang  darf  nicht  ganz  verbannt  werden;  sonst 
erfahren  es  Manche  gar  nicht,  wieviel  sie  nöthigenfalls  aushalten,  und  sich 
selbst  zumuthen  dürfen. 

Wie  aber,  wenn  das  physiologische  Hindernifs  sich  hartnäckig  zeigt? 
Wenn  es  sich  entweder  gar  nicht,  oder  nicht  oft,  nicht  ohne  Gefahr 
für  die  Gesundheit,  für  die  Sinnesart,  für  die  äufsern  Verhältnisse,  durch 
strenges  Anhalten  überwinden  läfst?  —  Bleibt  dann  noch  etwas  Anderes 
übrig,  als  dies,  die  Masse  des  Neuen,  was  Eingang  finden  soll,  zu  vermin- 
dern? Und  von  den  Reproductionen,  auf  die  man  der  Anknüpfung  wegen 
rechnen  mufs,  nur  die  leichtesten  und  geläufigsten  zu  fodern;  auf  schwere 
und  entfernte  aber  Verzicht  zu  leisten?  —  Und  was  heifst  das?  Doch  wohl 
nichts  Anderes,  als,  dem  ursprünglichen  Gedankenkreise  des  Individuums 
so  nahe  als  möglich  zu  bleiben;  die  Gelehrsamkeit  aber  zu  beschränken.  Ja 
selbst  bey  der  einseitigsten  Gelehrsamkeit  bleibt  noch  die  gefahrvolle  Frage, 
ob  das  Uebel  der  Verdüsterung  im  Laufe  der  Jahre  abnehmen,  oder  zu- 
nehmen werde?  Bey  robusten  Naturen  kann  man  allenfalls  das  Erstere 
hoffen;  bey  schwächlichen  ist  das  zweyte,  der  Erfahrung  gemäfs,  nur  zu 
sehr  zu  fürchten;  besonders  nach  geistiger  Ueberspannung. 

17- 

Eins  bleibt  noch  übrig  zu  betrachten;  nämlich  der  günstigere  Fall,  die 
Neugier  der  Kinder.  Eine  sonderbare  Gier!  Wie  kann  das  Neue  schon 
Gegenstand  des  Begehrens  seyn?  Es  heifst  sonst,  und  mit  Recht:  ignoti 
nulla  cupido. 

Also  kurz,  (denn  mit  dialektischen  Wendungen  darf  ich  Sie  nicht  lange 
aufhalten,)  das  Neue  ist  nicht  der  Gegenstand  der  Begierde,  sondern  das 
Alte,  welches  in  verworrenen  Erwartungen  hervorstrebt,  und  der  Wahr- 
nehmung bedarf,  um  geordnet  zu  werden. 

Wie  sah  das  aus?  Wie  ging  es,  wie  geschah  es  .  ?  —  So  fragt  die 
Neugier;  und  die  Kinder  fragen  sogar  bey  Mythen  und  Fabeln:  Warum 
that  er  das?  Warum  fing  er  es  nicht  lieber  so  oder  so  an?  Denn 
die  Illusion  ist  beym  Kinde  stark  genug,  um  selbst  die  Puppe  zu  beleben 
und  den  Stock  in  ein  Reitpferd  zu  verwandeln;  vollends  also,  um  einer 
erdichteten  Person  ins  Herz  schauen  zu  wollen.  Wäre  der  Dichter  nicht 
im  Stande,  auch  uns  noch  wieder  in  Kinder  umzuschaffen,  wie  brächte 
er  es  wohl  dahin,  uns  durchs  Epos  oder  Drama  zu  fesseln? 

Jetzt  wünschte  ich,  Sie  möchten  Sich  der  Ausdrücke  Wölbung  und 
Zusjiitztmg  erinnern ;  die  ich  öfter  nöthig  haben  werde.  Sind  Ihnen  die- 
selben entfallen,  so  ists  meine  eigne  Schuld;  denn  die  Worte  stehn  in 
meiner  Psychologie  nicht  an  einer  günstigen  Stelle ;  und  von  den  damit, 
bezeichneten  Begriffen  ist    zu   selten  Gebrauch  gemacht.*     Jede  unmittel- 

*  Psychologie  I  §   100,  Anmerkung,  B.     [Bd.    V  vorl.  Ausg.] 


1  „empfehlenswerth"  SW. 


17-  Brief.  387 

bare  Reproduction  kann  dazu  Gelegenheit  geben.  Um  das  zu  zeigen, 
komme  ich  auf  die  obige  Vorstellung  H  zurück,  (14)  welche  erweckt 
wurde,  indem  a,  und  b,  —  das  jetzt  im  Bewufstseyn  vorhandene,  sich 
einer  Hemmung  durch  c  unterwerfen  mufsten.  Wir  wollen  jetzt  annehmen, 
es  gebe  noch  andre,  dem  H  sehr  nahe  ähnliche,  also  auch  dem  c  bey- 
nahe  gleichartige,  ältere  Vorstellungen ;  so  wird  von  diesen  fast  dasselbe 
gelten,  was  von  H  gilt;  nämlich,  indem  die  Hemmung  sich  vermindert, 
können  sie  sich  erheben;  und  weil  sie  es  können,  so  thun  sie  es  wirklich. 
Allenfalls  können  Sie  hier  die  Buchstaben  H  und  c  für  die  Namen  zweyer 
musikalischer  Töne  nehmen,  wiewohl  ich  diese  Bedeutung  ursprünglich 
nicht  beabsichtigte.  Schreiben  wir  einmal  h  statt  H;  so  wird  nun  freylich 
h  nicht  mehr,  wie  vorhin  angenommen,  gleichartig  mit  c;  aber  es  liegt 
doch  nahe  dabey;  und  Sie  werden'  nicht  lange  zweifeln,  dafs,  wenn  Sie 
den  Ton  c  hören,  dann  etwas  von  h,  und  von  Allem  was  zwischen  h 
und  c  hörbar  ist,  aus  dem  Vorrathe  Ihrer  Ton- Vorstellungen  sich  ins 
Bewufstseyn  empor  arbeitet.  Wäre  das  nicht :  so  hätte  der  Ton  h  nimmer- 
mehr den  Namen  ces  bekommen.  Denn  ces  heifst  ein  erniedrigtes  c, 
folglich  kann  c  als  verändert  bis  in  ces  aufgefafst  werden.  Gleichwohl, 
da  der  Ton  h  keinesweges  der  nächste  mögliche  an  c,  sondern  um  eine 
sehr  merkliche  Distanz  auf  der  Tonlinie  vom  Puncte  c  entfernt  ist,  so 
versteht  sich  von  selbst,  dafs  jede  Vorstellung,  die  sich  als  ein  zwischen 
c  und  h  liegender  Punct  betrachten  läfst,  auch  in  demselben  Grade  leichter 
empor  steigt,  wie  sie  dem  c  näher  liegt;  und  dafs  dieses  eben  so  wohl 
für   Töne  zwischen  c  und  eis  gilt,   als  für  die  zwischen  c  und  h. 

Nehmen  wir  nun  das  Beyspiel  weg!  Jede  unmittelbar  sich  repro- 
ducirende  Vorstellung  wird  andre  neben  sich  haben,  die  mit  ihr  zugleich 
von  der  bisherigen  Hemmung  mehr  oder  minder  frey  werden,  und  folglich 
anfangen  sich  zu  erheben.  Aber  wie  weit  können  sie  damit  kommen? 
Wenn  der  Ton  c  jetzt  eben  wirklich  erklänge,  so  würden  Sie  je  länger 
desto  weniger  h  im  Bewufstseyn  behalten.  Wenn  eine  bestimmte  Empfindung 
fortdauernd  gegeben  wird,  so  erheben  sich  zwar  ihre  Nachbarn,  aber  eben 
hiemit  erhebt  sich  eine  wachsende  Hemmungssumme,  das  heifst,  eine 
wachsende  Notwendigkeit,  wieder  zu  sinken.  Einzig  und  allein  diejenige 
ältere  Vorstellung,  welche  der  jetzigen  Wahrnehmung  vollkommen  genau 
gleichartig  ist,  macht  davon  eine  Ausnahme;  sie  braucht  nicht  wieder  zu 
sinken,  sondern,  wieviel  von  ihr  sich  erhoben  hat,  soviel  vereinigt  sich 
ohne  Weiteres  mit  der  durch  Wahrnehmung  eben  jetzt  producirten  Vor- 
stellung. 

Sind  die  Worte  Wölbung  und  Zuspitzung  jetzt  deutlich?  Wölbung 
ist  das  Steigen,  Zuspitzung  das  Sinken  aller  Nachbarn  zusammen  genommen. 
Denn  was  sich  erhebt,  dies  Alles  zusammen  bildet  gleichsam  eine  Figur, 
wie  wenn  ein  Gewölbe  sich  erhöbe;  beym  Sinken  aber  steigt  die  Mitte 
fortdauernd  empor,  während  ringsum  die  Nachbarn  sich  senken;  und  der 
mittlere  Punct  bildet  gleichsam  eine  Spitze,  die  immer  schärfer  herausragt, 
je  länger  dieser  ganze  Procefs  dauert. 

Es  wäre  zu  wünschen,  dafs  hievon  einmal  eine  mathematische  Dar- 
stellung geleistet  würde;  wozu  ich  bis  jetzt  nicht  gekommen  bin,  und  um  desto 
weniger  kommen  werde,  da  es  ähnlicher  Wünsche   sehr  viele  giebt,   zum 

25* 


^88      HL  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

Theil  mit  weit  gröfseren  Ansprüchen.  Für  unsern  nächsten  Gebrauch 
kann  das  Vorstehende  völlig  hinreichen. 

Die  Neugier  der  Kinder  war  unser  Gegenstand.  Unter  einer  so 
allgemeinen  Benennung  ist  nun  freylich  so  Vielerley  auf  einmal  enthalten, 
dafs  in  verschiedenen  Fällen  die  mannigfaltigsten  Nebenbestimmungen 
hinzutreten  können;  allein  es  bedarf  kaum  noch  der  Auseinandersetzung, 
dafs  dabey  die  eben  beschriebene  Wölbung  und  Zuspitzung  die  Grund- 
lage ausmacht.  Wenn  sich  ein  buntes  und  bewegliches  Object  dem  Kinde 
darbietet,  oder  eine  Erzählung  den  Knaben  reizt,  so  ist  freylich  nicht 
etwan  nur  ein  einziger  Punct  c,  und  eine  einzige  Vorstellung  H  mit  ihren 
Nachbarn  im  Spiele;  auch  geschieht  nicht  immer  die  Zuspitzung  so  voll- 
ständig in  dem  Puncte  wo  sie  anfing,  als  ob  die  Wahrnehmung  still  hielte 
bis  jene  fertig  ist;  sondern  die  Wölbung  beginnt  an  allen  einzelnen 
Puncten  des  Wahrgenommenen  zugleich,  und  die  Spitzen  verschieben  sich 
jeden  Augenblick,  während  die  Begebenheit  vorschreitet.  Aber  dergleichen 
versteht  sich  von  selbst,  und  es  wäre  lächerlich,  wenn  man  bey  Be- 
trachtungen, die  der  mathematischen  Psychologie  angehören,  darüber  noch 
viel  Worte' machen  oder  verlangen  wollte. 

Nur  eine  einzige  Frage  mag  uns  hier  einen  Augenblick  beschäftigen; 
nämlich:  wiefern  ist  in  der  Neugier  eine  Begierde,  und  deren  Befriedigung 
in  dem  Anschauen  des  neuen  Gegenstandes,  zu  erkennen? 

Ueber  die  Thorheit  Deren,  die  sich  ein  besonderes  Begehrungs- 
vermögen, wohl  gar  ein  Aus-  und  Eingehn  des  Begehrens  und  der  be- 
gehrten Gegenstände  einbilden,  —  die  nicht  begreifen,  dafs  alles  Be- 
gehren und  alle  Befriedigung  lediglich  im  Kreise  der  Vorstellungen  sich 
ereignet,  indem  es  den  Zustand  derselben  verändert,  —  darüber  ist  hier 
nicht  zu  reden. 

Sondern  das  ist  zu  bemerken,  dafs  nicht  in  der  unmittelbaren  Re- 
production  der  Grund  der  Begierde  mufs  gesucht  werden;  denn  in  dem 
blofsen  Steigen  oder  Sinken  der  Vorstellungen  liegt  nichts  von  dem  Ge- 
fühle, welches  mit  der  Entbehrung,  vielweniger  also  von  dem  was  mit  der 
Befriedigung  verbunden  ist.*  Sehr  häufig  aber  verbindet  sich  die  mittel- 
bare Reproduction  mit  der  unmittelbaren.  Das  heifst:  es  steigt  nicht  blofs 
jede  Vorstellung  durch  eigne  Kraft,  sondern  auf  dem  erreichten  Puncte 
gehalten  und  getragen  wird  sie  auch  durch  diejenigen,  mit  denen  sie  zum 
Theil  verschmolzen  ist.     Verweilen  wir  einen  Augenblick  hiebey. 

Vorhin  habe  ich  von  Nachbarn  geredet.  In  grofsen  Städten  kennen 
sich  die  Nachbarn  oft  gar  nicht;  dann  bewegt  sich  jeder  für  sich  und 
von  jenen  unabhängig.  Solch  grofsstädtisches  Benehmen  habe  ich  vorhin 
beschrieben;  die  Nachbarn  kamen  von  selbst,  und  gingen  dann  auch  ohne 
Weiteres,  als  sie  wieder  nach  Hause  geschickt  wurden.  Kehren  wir  aber 
nunmehr  in  eine  kleine  Stadt  ein,  wo  Jeder  den  Andern  kennt,  so  halten  auch 
die  Nachbarn  besser  zusammen;  und  sie  empfinden  es,  wenn  einer  vom 
Andern  soll  getrennt  werden.  So  machen  es  auch  die  benachbarten  Vor- 
stellungen, welche  zugleich  hervorkamen,  wenn  sie  nämlich  zuvor  schon 
unter  sich  verschmolzen  sind. 


*  Psychologie  §   104.     [Bd.   V  vorl.  Ausg.] 


18.  Brief.  38g 

Bey  dem  Neugierigen  nun  strebt  nicht  blofs  Vielerley  auf  einmal, 
sondern  auch  vieles  Verbundene  hervor.  Der  Gegenstand  aber,  der  die 
Neugierde  befriedigt,  erregt  fürs  erste  dadurch  eine  Spannung,  dafs  er 
Einiges  zuläfst,  Anderes  verweigert.  Dann  fügt  er  noch  Manches  hinzu, 
welches  unerwartet,  mithin  ganz  eigentlich  neu,  nämlich  neu  in  solcher 
Verbindung  ist,  worin  es  sich  jetzt  zeigt.  Dadurch  gewährt  er  den  auf- 
geregten Vorstellungen  neue  Haltungspuncte  und  in  diesen  stärkere  Ver- 
knüpfungen; und  in  demselben  Augenblicke  wo  solches  geschieht,  wird 
das  Emporstreben  gegen  die]  vorhandenen  Hemmungen  begünstigt ;  das 
heifst,  die  Neugierde  wird  befriedigt,  indem  die  Fragen,  worin  sie  sich 
ausspricht  oder  doch  aussprechen  könnte,  nun  beantwortet  sind.  Gewifs- 
heit  statt  des   Zweifels  ist  im  Allgemeinen   Befriedigung. 

Im  engern  Sinne  befriedigend  heifst  der  Gegenstand,  wenn  er  die 
Erwartungen  erreicht  oder  selbst  übersteigt;  letzteres  streift  schon  an 
ästhetisches  Urtheil,  wovon  wir  jetzt  nicht  reden. 

18. 

Werden  wir  wohl  verlangen,  dafs  die  Kinder  allem  dem  Neuen, 
was  sich  ihnen,  oder  was  wir  ihnen  darbieten,  neugierig  entgegenkommen 
sollen?  —  Die  Neugier  ist  oft  ungelegen,  oft  nicht  möglich  und  nicht 
nöthig. 

Sie  ist  ungelegen  oft  nur  der  Umstände  wegen,  in  denen  wir  uns 
befinden;  das  ist  jedoch  kein  Fehler  der  Anlage.  Manchmal  aber  zeigt 
sie  einen  solchen,  indem  sie  Lüsternheit  verkündigt.  Dann  liegt  der 
Fehler  noch  immer  nicht  in  der  Neugier  als  solcher,  sondern  in  dem 
Affect,  der  in  den  altern,  jetzt  aufgeregten  Vorstellungen  seinen  Sitz,  und 
im  Organismus  seinen  Grund  hat.  Wir  werden  also  diesen,  nicht  aber 
die  Neugier  selbst  tadeln. 

Beym  Unterricht  ist  die  Neugier  in  ihrer  ausgebildeten  Gestalt  nur 
da  möglich,  wo  schon  Verbindung  genug  in  den  altern  Vorstellungen  — 
das  heifst  hier,  in  den  Vorkenntnissen,  gewonnen  ist.  Da  bezeichnen 
wir  sie  durch  den  Ausdruck  Interesse,  wiewohl  dem  letztern  noch  mehrere 
Bestimmungen  zu  kommen.  Nöthig  aber  für  den  gedeihlichen  Unterricht 
ist  nur  jene  erste  Grundlage  der  Neugier,  welche  wir  als  Wölbung  und 
Zuspitzung  sinnbildlich  bezeichnet  haben.  Ohne  diese  fehlt  es  theils  an 
Verknüpfung  des  Neuen  mit  den  Vorkenntnissen,  theils  an  Präcision  der 
Auffassung.  Die  Wölbung  vermittelt  die  Anknüpfung;  und  in  der  Zu- 
spitzung liegt  die  Präcision,   Schärfe,   Bestimmtheit,   Genauigkeit. 

Lassen  Sie  uns  nun  noch1  auf  den  Fehler  der  Anlage  zurückblicken, 
welchen  wir  im  Gegensatze  hiemit  antreffen  werden,  wo  uns  das  früher 
betrachtete,  physiologisch  zu  erklärende  Hindernifs  im  Wege  steht.  \\  lr 
können  ihn  mit  dem   Worte   Steifheit  de?  Köpfe  bezeichnen. 

Stand  schon  das  Hindernifs  der  einfachen,  unmittelbaren  Reproduction 
entgegen  (14,15,)  so  wird  es  noch  weit  mehr  die  Wölbung  verkümmern, 
die  nichts  anderes  ist  als  eine  schwächere  und  folglich  leichter  zu  ver- 
hindernde Reproduction. 


1  „noch"  fehlt  SW. 


oqo      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831) 

Was  ist  die  Folge?  —  Diejenigen  altern  Vorstellungen,  welche  zu 
erregen  o-elungen  ist,  (wenn  schon  in  minderem  Grade  als  es  beabsichtigt 
war,)  bleiben  fast  nackt  stehen.  Sie  haben  nicht  die  Bekleidung  mit- 
gebracht, von  der  sie  sollten  umgeben  seyn.  Sie  stehn  schon  spitz  da; 
und  können  also  nicht  mehr  zugespitzt  werden;  daher  bleibt  die  Bewegung 
aus,  die  man  erwartete;  und  mit  ihr  das  Gefühl,  welches  darin  würde 
gelegen  haben.  Es  wird  also  mechanisch  etwas  gelernt ;  nämlich  in  jedem 
Augenblick  gerade  das,  was  der  Lehrer  oder  die  Erfahrung  hinreichend 
einprägt.  Gleichgültig,  wie  es  aufgenommen  war,  wird  es  auch  dem 
Zurücksinken  aus  dem  Bewulstseyn  Preis  gegeben.  Von  allen  dem  Gleich- 
gültig- Aufgenommenen  bleibt  allmählig  etwas  Weniges  haften;  dies  tritt 
in  Verbindung;  und  wenn  im  Laufe  der  Zeit  die  Verbindung  zu  be- 
deutender Energie  gelangt,  so  erstarrt  sie,  und  läfst  nichts  Neues  mehr 
zu.  Hierin  giebt  es  verschiedene  Grade.  Der  eine  lernt  mit  Mühe  die 
Muttersprache;  aber  eine  fremde  Sprache  findet  daneben  nicht  mehr 
Platz.  Der  andre  lernt  zwar  noch  Latein;  aber  mit  dem  Griechischen 
darf  man  ihn  nicht  mehr  plagen.  Französisch  klingt  ihm  wie  ein  ver- 
dorbenes Latein,  Englisch  vollends  wie  ein  verdorbenes  Latein  und 
Deutsch.  Freylich  nicht  ohne  Grund;  aber  was  hilft  das  ihm,  der  sich 
der  neuern  Sprachen  beraubt? 

In  spätem  Jahren  gleichen  die  Köpfe  solcher  Menschen  fast  Beuteln 
mit  Steinen  oder  Steinchen  oder  Sand,  je  nachdem  in  der  Jugend 
der  mechanische  Fleifs  grofs  war  oder  klein  oder  gar  nicht  vor- 
handen. Für  die  Fleifsigen  giebt  es  viele  Fächer,  und  in  den  Fächern 
verschiedene  Lehrmeister.  Denjenigen  Zusammenhang,  den  sie  in  den 
Wissenschaften  vorfinden,  fassen  sie  auf;  und  erlauben  darin  später  keine 
Veränderung.  Die  UnÖeifsigen  lernen  nichts  Zusammenhängendes,  und 
finden    auch   selbst   keine   Verknüpfung,    wenn   sie    gleich   Vieles  Einzelne 


wissen. 


Das  Gegenstück  dazu  sind  Diejenigen,  welche  als  philosophische 
Köpfe  erscheinen,  weil  ihnen  Alles  bei  Allem  einfällt.  Die  Wölbung  ist 
dann  vorhanden.  Wenn  es  aber  an  der  Zuspitzung  fehlt,  so  entsteht 
eher  Affect,  ja  Enthusiasmus,  als  Kritik.  Dahin  gehören  Die,  welche  durch- 
aus eine  Philosophie  aus  Einem  Gusse  fodern,  und  denen  man  vergebens 
sagt,  dafs  Logik,  Ethik,  Physik  drey  verschiedene  Wissenschaften  sind. 

Damit  wir  nicht  in  Verwechselungen  verfallen,  bitte  ich  Sie,  die  eben 
beschriebene  Steifheit  mit  dem  früher  erwähnten  böotischen  Temperamente 
zu  vergleichen.  Beydes  ist  zuweilen  verbunden,  aber  keinesweges  immer, 
vielmehr  können  und  werden  sehr  oft  die  steifen  Köpfe  neben  den  böo- 
tischen Temperamenten  vergleichungsweise  noch  als  sehr  gute  Köpfe  er- 
scheinen. Wo  liegt  wohl  der  Unterschied?  Bey  den  böotischen 'Menschen 
fanden  wir  einen  Mangel  an  Sensibilität,  wenn  auch  vielleicht  nicht  immer 
in  den  äufsern  Sinnen,  sondern  nur  in  der  Reizbarkeit  einer  Vorstellungs- 
masse gegen  die  andre.  Die  herrschenden  Massen,  die  gerade  vorhandenen 
Vorstellungen  lassen  sich  alsdann  nicht  aus  ihrer  Lage  bringen  durch  das, 
was,  gleichviel  ob  von  innen  oder  von  aufsen  dazu  kommt.  Aber  bey 
den  steifen  Köpfen  ist  der  ursprüngliche  Fehler  von  anderer  Beschaffen- 
heit.    Sie    empfangen,    was    sich    darbietet;    sie    lernen    von    aufsen    und 


i8.  Brief.  30,1 

empfinden  von  innen.  Nur  wo  die  Regung  von  innen  kommen  sollte,  — 
wo  in  grofser  Breite  das  vorhin  beschriebene  Gewölbe  aufsteigen  und  dann 
erst  sich  zuspitzen  sollte,  da  ist  der  innerste  Grund  nicht  beweglich  genug, 
und  deshalb  wird  den  appereipirenden  Vorstellungsmassen  zu  wenig  ge- 
geben. Wir  Männer  finden  uns,  glaube  ich,  oft  genug  in  diesem  Puncte  nach- 
theilig gestellt  im  Vergleich  gegen  kluge  Frauen,  denen  die  Auflösung  eines 
Räthsels  eher  einfällt  als  uns,  und  welche  eben  deshalb  gewandter  sind, 
um  in  geselligen  Verhältnissen  zu  merken,  zu  spüren,  zu  berücksichtigen, 
was  sich  nur  kaum  verräth,  und  was  uns  leicht  entgeht.  Böotisch  sind  wir 
nicht;  denn  wir  fühlen  wohl,  was  wir  verfehlt  haben,  wenn  es  hintennach 
klar  an  den  Tag  kommt;  aber  wir  waren  steif,  als  wir  unser  geistiges  Auge 
in  die  gehörige  Richtung  bringen  sollten,  um  es  zu  erkennen.  Wie  unsre 
Bücher  uns  körperlich  kurzsichtig  machen,  so  hat  auch  die  mannigfaltige 
Anstrengung  unseres  Lesens  und  Denkens  —  wer  weifs  was?  an  unserm 
Gehirn  verdorben,  dergestalt,  dafs  der  Vorrath  unserer  Vorstellungen  seine 
natürliche  Elasticität  oft  gar  nicht,  oft  zu  spät  erst  gelten  machen  kann. 
Es  kommt  uns  Beyden  nun  hier  nicht  darauf  an,  das  Gehirn  zu  er- 
kennen, und  seine  möglichen  Fehler  physiologisch  zu  ergründen.  Aber 
wohl  ist  es  nöthig,  dafs  wir  psychologisch  unterscheiden,  ob  das  Hinder- 
nifs  dort  wirkt,  wo  Vorstellungen  von  der  Schwelle  des  Bewufstseyn  s  auf- 
streben, oder  dort,  wo  die  schon  im  Bewufstseyn  vorhandenen  Vor- 
stellungen sich  einige  Hemmung  durch  das  Hinzukommende  sollen  ge- 
fallen lassen. 

Welcher  von  diesen  beyden  Fällen  mag  wohl  ein  gröfseres  Hinder- 
nifs  voraussetzen?  Das  läfst  sich  schätzen  nach  der  Energie,  welche  von 
dem  Hindernisse  getroffen  und  zurückgehalten  wird.  Wenn  schon  Vor- 
stellungen im  Bewufstseyn  zusammen  kamen,  die  eine  Hemmungssumme 
ergeben,  so  gehört  ein  Hindernifs  von  sehr  derber  Natur  dazu,  um  der 
Hemmungssumme  das  Sinken,  und  hiemit  der  ganzen  Gemüthslage  die 
entsprechende  Abänderung  zu  verwehren.  Ganz  anders  verhält  es  sich, 
wenn  blofs  an  der  Wölbung  etwas  soll  gehindert  werden.  Sie  kennen 
aus  meiner  Psychologie  den  Satz:  die  reproducirten  Vorstellungen  richten 
sich  Anfangs  nach  dem  Quadrate  der  Zeit;  ja  gar  nach  dem  Cubus  der 
Zeit,  wenn  die  erweckende  neue  Wahrnehmung,  wie  gewöhnlich,  eine 
kleine  Weile  braucht,  um  nur  bemerlich  zu  werden.  Was  heifst  das,  und 
worauf  bezieht  sich  der  Satz?  Erstlich  heifst  es  soviel  als:  in  den  ersten 
Augenblicken,  oder  für  eine  sehr  kleine  Zeit,  mufs  man  diese  Kleinheit 
doppelt  und  dreyfach  derjenigen  Energie  beylegen,  womit  die  reproducirte 
Vorstellung  sich  regt.  Also  ist  es  sehr  leicht,  eine  so  kleine,  so  geringe 
Energie  zu  hindern.  Aber  eigentlich  bezieht  sich  der  Satz  auf  diejenige 
reproducirte  Vorstellung,  welche  der  neuen  Wahrnehmung  vollkommen  gleich- 
artig ist.  Diese  nun  hat  immer  noch  mehr  Energie,  als  ihre  Nachbarn, 
welche  das  bilden  sollen  was  wir  oben  das  Gewölbe  nannten  Folglich 
wird  um  desto  leichter  auch  ein  geringes  Hindernifs  die  Wölbung  ver- 
derben oder  wenigstens  verunstalten  können,  indem  sie  nicht  in  allen 
Puncten  gleichmäfsig  erfolgt.  Daher  finden  wir  sehr  natürlich  die  Steil- 
heit weit  öfter,  als  das  böotische  Temperament,  welches  eine  viel  grolse 
Abweichuno-  vom  Normalzustande  voraussetzt. 


■2Q2      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 


19. 

Eine  geringe  Abänderung  in  der  bisherigen  Annahme  des  Hinder- 
nisses wird  uns  jetzt  in  eine  ganz  andere  Gegend  unseres  pädagogischen 
Erfahrungskreises  versetzen;  und  wir  werden  ein  Beyspiel  gewinnen,  wie 
nahe  verwandt  oftmals  die  Ursachen  sind,  wo  die  Wirkungen  eine  weite 
Verschiedenheit  zeigen.  Solche  Beyspiele  sind  wichtig  zur  Warnung,  dafs 
man  nicht  in  der  Ferne  suche,  was  vor  den  Füfsen  liegt;  und  vor  Allem,  dafs 
man  nicht  in  Erstaunen  gerathe,  wo  die  einfachsten  Erklärungen  zureichen. 

Ohne  allen  Zweifel,  mein  theurer  Freund,  kennen  Sie  eine  Klasse 
von  Köpfen,  die  recht  dazu  geschaffen  zu  seyn  scheinen,  um  den  Er- 
zieher mit  falschen  Hoffnungen  hinzuhalten  und  zu  täuschen.  Lebhafte, 
freundliche,  leicht  fassende,  fein  bemerkende,  gewandte  und  rüstige  Naturen, 
die  man  zwar  Mühe  hat  im  Zaum  zu  halten,  die  sich  aber  doch  lenken 
lassen,  und  bey  denen,  so  lange  man  sie  beaufsichtigt,  und  Verkehrtes 
abschneidet,  das  Rechte  und  Gute  freywillig  in  mancherley  erwünschten 
Zeichen  hervortritt.  Nur  Schade,  am  Ende  will  sich  Nichts  verdichten 
und  bevestigen;   sondern  das  Fleisch  ist  und  bleibt  mächtiger  als  der  Geist. 

Die  alte  Psychologie  wird  sagen:  Seht  da  die  Sinnlichkeit!  und  seht 
den  Unterschied  des  Verstandes  und  der  Vernunft!  Seht  den  klugen  Kopf, 
der,  sobald  von  Pflicht  die  Rede  ist,  alsdann  die  Vernunft  der  Sinnlich- 
keit unterordnet! 

Liefse  sich  die  Thatsache  mit  so  groben  Zügen  richtig  zeichnen,  so 
würden  wir  nun  freylich  uns  mit  der  ein  für  allemal  untergeordneten  Ver- 
nunft keine  Mühe  geben,  sondern  nichts  Besseres  erwarten,  als  einen 
durchweg  egoistischen  Verstand,  wie  er l  auf  dem  Theater  oft  genug  und  in 
Romanen,  glaube  ich,  noch  öfter  gezeichnet  wird.  Denn  die  poetischen, 
oder  nach  der  alten  Psychologie  zugeschnittenen  Charaktere  sind  ungemein 
consequent;  aber  in  wirklicher  pädagogischer  Erfahrung  schillert  und 
schimmert  oft  eine  so  mannigfaltige  Färbung  durch  einander,  dafs  man 
doch  etwas  mehr  Mühe  hat,  um  die  Begriffe  zu  finden,  welche  den  That- 
sachen  hinreichend  entsprechen. 

Was  zuvörderst  den  Verstand  der  angedeuteten  Menschenart  anlangt, 
so  ist  er,  genau  betrachtet,  nicht  von  der  besten  Art,  wenn  er  gleich  oft 
genug  leuchtet  und  blitzt.  Ganz  abgesehen  von  Pflicht  oder  Genufs,  zeigt 
er  sich  springend  und  planlos;  daneben  bemerkt  man  ein  eben  so  wunder- 
liches Gedächtnifs,  welches  für  eine  Menge  von  Einzelheiten  vortrefflich, 
aber  dem  Zusammenhängenden  ganz  abhold  ist;  so  dafs,  um  mit  der 
alten  Psychologie  zu  reden,  in  den  Lehrstunden  der  Verstand  vieles  auiser- 
ordentlich  schnell  fafst  und  begreift,  wovon  das  Gedächtnifs  wenig  oder 
nichts  behalten  will.  Ich  sage  mit  Fleifs,  behalteti  will;  denn  so  scheint 
es,  als  ob  das  sonst  gute,  ja  ausgezeichnete  Seelenvermögen  förmlich  eigen- 
sinnig wäre.  Daher  entsteht  eine  natürliche  Täuschung  beym  Erzieher. 
Er  untersucht:  Hat  der  junge  Mensch  Übeln  Willen?  Nein;  er  weifs  nicht 
einmal  recht,  was  er  will;  jedenfalls  fügt  sich  sein  Wollen  nach  den  Um- 
ständen; warum  sollte  man  ihm  denn  nicht  soviel  und  auf  so  lange  Zeit 
guten  Willen  abgewinnen  können,  als  nöthig  ist,  um  das  zu  behalten  und 

1  „er"  fehlt  SW. 


19-  Brief.  3Q3 

=  m 


sich  ein  für  allemal  einzuprägen,  was  mit  dem  Verstände  schön  hinreichend 
gefafst  war?  Er  behält  ja  doch  so  vieles  Einzelne;  warum  sollte  er  das 
Zusammenhängende  wieder  los  lassen,  nachdem  er  es  einmal  richtig  er- 
griffen hatte? 

Wenn  die  aus  der  Erfahrung  geschöpften  Züge  meiner  Beschreibung 
Ihnen,  mein  verehrter  Freund!  deutlich  genug  hervorgehoben  erscheinen, 
so  werden  Sie  nun  schon  wissen,  wie  ich  dazu  komme,  diesen  Gegen- 
stand dem  vorigen  anzureihen.  Zwar  auf  den  ersten  Blick  kann  nichts 
unähnlicher  seyn,  als  die  Gewandtheit,  von  der  ich  jetzt  spreche,  und 
die  Steifheit,  die  mich  im  vorigen  Briefe  beschäftigte.  Allein  Sie  werden 
schon  bemerken,  dafs  gerade  hinter  der  Gewandtheit  sich  eine  eigen- 
thümliche  Art  von  Steifheit  verbirgt,  die  keinesweges  vom  Willen  abhängt 
und  ausgeht,  wohl  aber  sehr  stark  und  nachtheilig  auf  den  Willen  ein- 
fliefst.  Es  fehlt  nämlich  in  dem  jetzt  betrachteten  Falle  gerade  wie  im 
vorigen  am  Zusammenhange.  Hier,  wie  dort,  haben  sich  die  Auffassungen 
vereinzelt,  zerstückelt;1  und  statt  der  continuirlichen  Uebergänge  entstehn 
Sprünge  und  Risse. 

Und  worauf  deutet  denn  wohl  diese  Klasse  von  Phänomenen?  Viel- 
leicht hätte  ich  das  gleich  aussprechen  sollen. 

Jenes   Hindemifs,    welches  uns  schon    so    lange    beschäftigt,    ist   nicht 
allemal   ein  fortdauerndes,  sondern   es   entsteht  und  vergeht.    Der  Organis- 
mus   erträgt    einen    gewissen    Grad    oder    eine    gewisse    Dauer    der    An- 
spannung   von    Seiten  des  Geistes;     aber    nicht    mehr    und    nicht    länger, 
wofern  er  nicht  feindlich    zurückwirken    soll.      Das    ist    bekannt    genug   in 
allen     den    Fällen,    wo    eine    geistige    Anstrengung    absichtlich     zu    lange 
fortgesetzt   wird.     Jetzt    denken  Sie   Sich  Menschen,   die   alle  Minute   eine 
kleine  Erhohlung  nöthig  haben;  und   deren  Organismus  sich  diese  Freyheit 
wirklich  schafft,  noch   ehe  sie  es  selbst  merken    und    beschliefsen.      Gleich 
darauf  sind  sie  wieder  frisch,   wohl  aufgelegt,  geistig  thätig;  aber  der  Ge- 
dankenfaden ist  während  der  Pause,  welche   eben  vorher  ging,  zerschnitten 
und  verändert.    Solche  können  alles  erreichen,  was  sich  im  Fluge  erreichen 
läfst;  sie  scheinen  selbst  reich  an  Gedanken,  wenigstens  an  Einfällen;  und 
sie  sind  noch  reicher  an  Worten.     Aber  ein  böser  Umstand  verräth  ihre 
Schwäche:    sie    mögen    nicht    allein  seyn.      Immer  mufs   Gesellschaft,    oder 
mindestens2  ein  Buch,  ihnen  zu   Hülfe    kommen.      Und  nur  nicht  gar   zu 
ernste  Gesellschaft;  kein  systematisches  Buch;  das  nennen  sie  trocken  und 
langweilig,    so  bald  sie  sich  offenherzig  äufsern.     Doch  nicht   immer   sind 
sie  offen;    nicht  immer  unfähig  zur  Selbstüberwindung;    vielmehr,   eine  be- 
stimmte Absicht,  oder  ein  bestimmtes  Verhältnifs  gewinnt  ihnen  manchmal 
Anstrengung  genug  ab,    um    ihre  Schwäche    zu   verdecken.      Kommt   man 
ihnen  durch  Abwechselungen  zu  Hülfe,  indem  man  sie  von  verschiedenen 
Seiten  her  öfter  auf  denselben  Punct  zurückführt:    so   gewinnen  ihre  Ge- 
danken leicht  eine  scheinbare  Haltung,   einen  augenblicklichen  Zusammen- 
hang läfst  man  sie  aber  allein,  so  reihen  sie  flüchtige  Einfälle  an  einander; 
dann'  misfallen   sie   sich   selbst,    und   suchen    Zerstreuung   oder    eigentlich 


1  „verstückelt"  statt  „zerstückelt"  SW. 

2  „wenigstens''  statt  „mindestens"  SW. 


■iQA      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 


Aufregung.  Daher  ein  Schein  von  vorherrschender  Sinnlichkeit,  die  oft 
gar  nicht  durch  sanguinisches  Temperament,  gar  nicht  durch  ungewöhnlich 
starke  Vegetation  kann  nachgewiesen  werden,  sondern  nur  deshalb  an- 
geklagt wird,  damit  der  Fehler  einen  Namen  bekomme,  auf  welchen  man 
durch  entfernte  Folgen  geleitet  wird.  Was  für  Böses  ist  nicht  schon  der 
Sinnlichkeit  angedichtet  worden,  in  Fällen  wo  sie  sehr  unschuldig  ist! 

Aber  warum  haben  diese  Menschen  ein  schlechtes  Gedächtnifs  neben 
dem  vortrefflichen?  Ein  schlechtes  für  den  Zusammenhang,  ein  gutes  für 
Einzelheiten?  Warum  selbst  da  noch,  wo  ihr  Nachdenken  schon  in  den 
Zusammenhang  eingedrungen  war,  ein  schlechtes  Gedächtnifs?  —  Eine 
vorläufige  Antwort  ist  leicht.  Sie  schienen  in  den  Zusammenhang  einzu- 
dringen, weil  sie  die  äufsersten  Enden  der  Gedankenfäden  zusammen- 
knüpfen konnten;  aber  das  Frühere  war  ihnen  entfallen  und  das  Spätere 
noch  nicht  vorausgesehen,  als  sie  einem  bündigen  Unterricht  für  den 
Augenblick  folgten.  Ihr  Geist  erzeugte  also  auch  keinen  Zusammenhang; 
sondern  man  führte  sie  über  schmale  Brücken,  auf  denen  sie  in  jedem 
Moment  gerade  nur  die  Puncte  sahen,   die  sie  nun  eben  betreten  sollten. 

Eben  so  wenig,  als  man  bey  diesen  Naturen  die  Sinnlichkeit  oder 
das  Gedächtnifs  anzuklagen  hat,  liegt  bey  ihnen  die  Wurzel  des  Uebels 
im  Willen.  Sie  gleichen  keinesweges  jenen  verneinenden  Geistern,  die  wir 
oben  als  behaftet  mit  dem  cholerischen  Temperament  bezeichneten;  sie 
sind  zu  windig  dazu.  Dennoch  nehmen  sie  im  Jünglings- Alter  gern  etwas 
Stachlichtes  an,  was  zwischen  Eitelkeit  und  Rechthaberey  schwebt;  indem 
sie,  falls  es  ihnen  einmal  gelingt,  einen  Gedanken  vestzuhalten  und  eine 
längere  Folgenreihe  daran  zu  knüpfen,  hierauf  im  Gefühl  ihrer  gewöhn- 
lichen Schwäche  einen  besondern  Werth  legen;  so  gern  sie  übrigens  dem 
Wahne  nachhängen,  sie  könnten  das  strenge  Denken  und  das  genaue 
Wissen  füglich  Andern  überlassen,  da  sie  es  ja  nicht^nöthig  hatten! 

20. 
Kehren  wir  nun  zurück  zu  den  Begriffen  der  Wölbung  und  Zu- 
spitzung! Die  Wölbung  soll  eigentlich  so  grofs  seyn,  dafs  sie  alle  diejenigen 
Vorstellungen  umfafst,  welche  irgend  einen  Grad  von  Freyheit,  irgend 
einen  freyen  Raum,  (wie  ich  es  früher  nannte)  durch  das  gegebene  Neue 
erlangten.  Das  obige  Beyspiel  (17)  mag  dies  erläutern.  Sie  wissen,  dafs 
ich  auf  der  Tonlinie  die  Distanz  der  Octave  als  diejenige  betrachte,  welche 
durchlaufen  werden  mufs,  bevor  man  zu  dem  Puncte  des  vollen  Gegen- 
satzes* gelangt.  Dies  vorausgesetzt,  so  sollte,  wann  der  Ton  c  vernommen 
wird,  Alles,  was  von  Ton- Vorstellungen  innerhalb  der  obern  und  der 
untern  Octave  jemals  war  gehört  worden,  in  Aufregung  versetzt  werden. 
Die  Basis  des  Gewölbes  müfste  also  nicht  weniger  als  zwey  Octaven  um- 
fassen. Es  ist  aber  gewifs,  dafs  bey  weitem  der  gröfste  Theil  dieses  Ge- 
wölbes, wofern  die  Wahrnehmung  des  eben  jetzt  erklingenden  Tons  c 
nur  die  geringste  Dauer  gewinnt,  sehr  schnell  wieder  niedergedrückt  wird, 
wegen  des  Gegensatzes  zwischen  c  und  den  übrigen  Tönen.  Dies  Nieder- 
drücken gehört  schon  der  Zuspitzung   an;    welche  jedoch   eine   merkliche 

*  Psychologie  I,  §  41.     [Bd.  V  vorl.  Ausg.] 


20.  Brief. 


395 


Zeit  verbrauchen  wird,  um  sich  zu  vollenden.  Versucht  Jemand,  den 
eben  gehörten  Ton  c  nachzusingen,  und  singt  er  falsch,  während  er  glaubt, 
den  Ton  richtig  zu  treffen,  so  hat  sich  bey  ihm  die  Zuspitzung  sicher 
nicht  vollendet. 

Ohne  uns  nun  um  dies  Beyspiel  weiter  zu  bekümmern,  bemerken 
wir  hier  zwey  Begriffe,  von  sehr  allgemeinem  Gebrauche;  nämlich  aufser 
jenem  von  der  Basis  des  Gewölbes  noch  den  von  der  Zeit,  deren  die 
Zuspitzung  bedarf,   um  einen  bestimmten  Grad  von  Genauigkeit  zu  erlangen. 

Ferner  nehmen  wir  hinzu,  dafs,  wenn  eine  gegebene  Wahrnehmung 
nicht  einfach  ist,  alsdann  auch  die  von  ihr  veranlafste  Wölbung  mannig- 
faltig, 1  —  und  dafs,  wenn  viele  Wahrnehmungen  einander  schneller  folgen, 
als  die  zugehörigen  Zuspitzungen  geschehen  können,  alsdann  auch  der 
hieraus   entspringende   Procefs  sich  sehr  verwickeln  mufs. 

Es  ist  der  Mühe  werth,  hier  der  Sprache  und  des  Verstehens  der- 
selben zu  gedenken.  Jedes  Wort  (ja  eigentlich  jeder  Buchstabe  eines 
jeden  Wortes)  bewirkt  die  ihm  angehörige  Wölbung  und  Zuspitzung;  das 
Verstehen  eines  ganzen  Satzes  geht  von  allen  diesen  Puncten  aus,  und 
ist  das  Gesammt-Resultat,  welches  dadurch   erst  möglich  wird. 

Um  nun  den  vorigen  bildlichen  Ausdruck  beybehalten  zu  können, 
müssen  wir  in  Gedanken  gar  viele  Gewölbe  in  einander  hineinzeichnen, 
die  in  beständiger  Bewegung  des  Steigens  und  Sinkens  begriffen  sind,  bis 
das  volle  Verstehen  zu  Stande  kommt. 

Wer  wird  sich  wundern,  dafs  ein  solcher  Procefs  leicht  verletzlich  ist? 
Gesetzt,  wir  sprächen  ganz  fehlerfrey :  so  würde  dennoch  schwerlich 
Einer  unsrer  Zuhörer  uns  ganz  genau  verstehen.  Es  zeigen  sich  aber 
jetzt  gleich   drey   Quellen  möglicher  Fehler: 

1.  In  dem  Grunde   selbst,   aus  welchem  die  Wölbung  aufsteigen  soll; 

2.  In  der  Verhinderung  der  Wölbung,   und 

3.  in  der  Unterbrechung  der  Zuspitzung. 

Die  beyden  letzten  Fehler  können  von  dem  physiologisch  zu  erklären- 
den Hindernisse  abhängen,  mag  es  nun  anhaltend  oder  abwechselnd  ein- 
treten; der  erste  Fehler  aber,  —  wenn  die  Vorstellungen,  die  sich  er- 
heben sollten,  selbst  nicht  die  rechte  Construction  haben,  weiset  zunächst 
auf  die  Psychologie  zurück;  auch  mufs  er  von  älterem  Datum  seyn,  indem 
der  Grund  und  Boden,  welchen  die  Gesammtheit  der  vorhandenen  Vor- 
stellungen bildet,  ohne  Zweifel  früher  da  war,  als  zur  Reproduction  Ge- 
legenheit eintrat. 

Sie  sehn  nun  schon,  mein  th eurer  Freund,  dafs  ich  Sie  bald  ein- 
laden werde,  mit  mir  in  der  Betrachtung  mehr  in  die  Tiefe  zu  gehn; 
da  ich  jetzt  nicht  blofs  die  Reproduction  selbst,  indem  sie  geschieht,  son- 
dern auch  die  Construction  dessen  in  Frage  bringe  was  schon  da  seyn 
mufs,  ehe  es  zum  wirklichen  Reproduciren  kommt. 

Vergessen  darf  ich  aber  nicht,  dafs  eine  Bemerkung  über  die  Form, 
welche  das  Zu-Reproducirende  annehmen  konnte,  ganz  in  der  Nähe  liegt. 
War  ein  Hindernifs  von  abwechselnder  Art,  welches  Pausen  in  seiner 
Wirksamkeit    macht,    im    Organismus    von    der    Geburt    an    begründet: 


1  mannigfaltig  sein,   —   und SW. 


■iqf)      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

konnte  selbst  die  Reihenbildung  der  Vorstellungen,  die  wir  nun  bald  in 
Betracht  ziehen  müssen,  nicht  umhin,  unter  einem  solchen  Einflüsse  zu 
leiden.  Durchgehends  mufsten  die  Gedankenfäden  kurz  ausfallen,  wenn 
sie  häufig  abgeschnitten  wurden.  Hatten  sie  in  jenen  Pausen  sich  ge- 
bildet, so  kam  das  wieder  eintretende  Hindernifs  des  Vorstellens  gleich- 
sam wie  eine  Scheere,  und  machte  ein  Ende,  wo  der  Sache  nach  das 
Ende  noch  nicht  eintreten  sollte.  Die  Gedanken  mufsten  dann  ausfallen, 
wie  eine  falsch  interpungirte  Schrift.  So  fallen  sie  ja  bey  zerstreuten  Zu- 
hörern allemal  aus.  Gleicht  nun  auch  die  Erfahrung  und  der  Unterricht 
manchmal  einem  Buche,  welches  gestattet,  dafs  man  die  Lesung  wieder- 
hohle, so  ist  dies  nicht  immer  der  Fall;  auch  wird  das  nöthigste  Wieder- 
hohlen oft  versäumt.  Im  Allgemeinen  also  werden  wir  einen  Unterschied 
antreffen  zwischen  Menschen,  deren  Gedankenreihen  kurz,  und  andern, 
bey  denen  sie  länger  sind.  Wo  nun  aus  kurzen  Reihen  etwas  kann  zu- 
sammengesetzt werden,  da  können  jene  etwas  leisten;  aber  wo  lange 
Reihen  durch  die  Natur  des  Gegenstandes  gefodert  werden,  da  werden 
sie  zurückbleiben  und  ihre  Unfähigkeit  verrathen.  Sollten  Sie  zufällig  hie- 
bey  schon  an  griechische  und  lateinische  Auetoren  denken,  und  an  deren 
theils  innerlich  verwickelte,  theils  durch  allerley  Bindungsmittel  an  ein- 
ander hängende  Perioden;  —  oder  auch  an  den  Zusammenhang  mathe- 
matischer Demonstrationen,  oder  an  historischen  Pragmatismus:  so  würde 
mir  eine  solche  Nebenbetrachtung  gar  nicht  ungelegen  scheinen,  wie- 
wohl ich  sie  jetzt  nicht  verfolgen  kann. 

21. 

Wenn  Sie  Sich  von  mir  liefsen  spazieren  führen,  so  würden  Sie  schon 
erlauben,  einmal  seitwärts,  blofs  einer  interessanten  Aussicht  wegen,  vom 
rechten  Pfade  abgelenkt  zu  werden.  Auch  jetzt  bitte  ich  um  einen  Gang 
zur  Seite,  einer  psychologischen  Aussicht  zu  gefallen,  die  ja  wohl  irgend 
einmal,  wie  ohne  Ausnahme  alles  Psychologische,  auch  eine  Bedeutung 
für  Pädagogik  wird  zu  erkennen  geben,  wenn  ich  schon  für  jetzt  eine 
solche  nicht  darzuthun  wüfste. 

Wölbung  und  Zuspitzung  haben  wir  bis  jetzt  immer  als  einen  zu- 
sammenhängenden Procefs  betrachtet;  und  doch  sind  nicht  blofs  die  Be- 
griffe gerade  entgegengesetzt,  sondern  wir  wissen  auch,  dafs  eins  nach 
dem  andern  geschehen  mufs.  Sollten  sich  denn  diese  Zwillinge  nicht 
trennen  lassen?   Vielmehr,   die   Möglichkeit  liegt  klar  vor  Augen. 

Sähen  Sie  irgend  wo  plötzlich  einen  Lichtschein,  einen  Blitz,  ent- 
stehn  und  schwinden,  was  würde  sich  in  Ihnen  ereignen?  Wölbung! 
Sähen  Sie  ihn  noch  einmal,  gerade  so,  und  an  derselben  Stelle,  was 
würde  erfolgen?    Zuspitzung! 

Belieben  Sie  nur  zu  erwägen,  dafs  selbst  eine  völlig  momentane 
Empfindung,  falls  es  wirklich  dergleichen  gäbe  (was  niemals  kann  nach- 
gewiesen werden,)  keinesweges  einen  solchen  Effect  haben  würde,  der 
lediglich  auf  den  Augenblick  des  Empfindens  beschränkt  wäre.  Betrachten 
wir  noch  einmal  jene  Vorstellung  H,  von  welcher  ein  Theil  y  hervortritt! 
(14.)  Zu  diesem  Hervortreten  gehört  allemal  Zeit,  wenn  auch  wirklich  die 
Hemmung    durch  a   und  b  plötzlich   verschwinden  könnte;   aber   auch  das 


2  1.   Brief.  ^Q7 

kann  nicht  seyn,  denn  die  Hemmungssumme  (zwischen  a  und  b  einer- 
seits und  c  andererseits,)  sinkt  nur  allmählig,  wenn  schon  c  eine  momentane 
Empfindung  wäre  oder  dafür  gelten  könnte.  So  gerade  nun,  wie  y  all- 
mählig wächst,  erheben  sich  auch  die  Neben- Vorstellungen,  deren  Er- 
wachen dasjenige  ausmacht,  was  wir  die  Wölbung  nennen.  Und  der  zu- 
nächst liegende  Unterschied,  zwischen  der  jetzigen  und  der  früheren 
Voraussetzung,  zeigt  sich  darin,  dafs  die  Wölbung  frey  bleibt  von  dem, 
worauf  sonst  die  Zuspitzung  beruht;  so  lange  nämlich,  bis  dieselbe  Empfindung 
zum  zweytenmale  eintritt.  Denn  alsdann  erst  beginnt  die  Hemmung  der 
Nebenvorstellungen  durch  diese1  Empfindung,  der  sie  nicht  völlig  gleichartig 
sind.  Dagegen  würde  die  früher  betrachtete,  fortdauernde  Empfindung 
schon  während  ihrer  ganzen  Dauer  zuspitzend  gewirkt  haben.   (17.) 

Aber  Sie,  mein  trefflicher  Kenner  der  Aesthetik!  sollten  Sie  nun 
wohl  schon  errathen ,  zu  welcher  Untersuchung  ich  Sie  hiemit  einlade? 
Zwar  nicht  zu  einer  ästhetischen ;  denn  in  der  Beurtheilung  des  Schönen 
und  Häfslichen  verändert  sich  nicht  das  Geringste,  man  möge  nun  die 
Möglichkeit  solches  Urtheils  psychologisch  einsehen  oder  nicht.  Aber 
interessant  möchte  es  Ihnen  doch  seyn,  wenn  ich  etwa  im  Stande  wäre, 
Ihnen  das  Räthsel  der  Auffassung  des  Zeitmaafses  zu  lösen,  welches  in 
der   Poesie  wie  in  der  Musik  so  höchst  wichtig  ist! 

Sehen  wir  einmal  nach,  ob  wir  —  ich  will  noch  nicht  sagen,  die 
Lösung,  —  aber  doch  eine  Vorkenntnis  zu  dieser  Lösung  gewonnen 
haben?  Denken  Sie  Sich  inzwischen  andre  Beyspiele,  als  das  vorige  vom 
Lichtschein,  was  ich  nur  deshalb  wählte,  damit  die  nachfolgenden  be- 
quemeren Beyspiele  nicht  einsam  stehen,  und  den  Gesichtskreis  nicht  auf 
eine  nachtheilige  Weise  beschränken  möchten. 

Die  Glocke  schlägt.  Oder:  Sie  hören  die  Tropfen  fallen  von  einer 
Dachrinne.  Oder:  Sie  trommeln  tactmäfsig  auf  dem  Tische;  oder  was 
sonst  Ihnen  beliebt,  um  eine  Reihe  von  Empfindungen  zu  haben,  welche 
gleichartig  sich  nach  gleichen   Pausen  wiederhohlen. 

Hier  fällt  Ihnen  nun  gewifs  das  ein,  was  in  der  Metrik  und  Musik 
durch  die  Worte  Hebung  und  Senkung  (Arsis  und  Thesis)  bezeichnet  wird. 
Ich  nehme  hier  Hebung  für  gleichbedeutend  [mit  Wölbung,  Senkung  für 
gleichbedeutend  mit  Zuspitzung;  und  durch  diese  Erklärung  wird  nicht  blofs 
der  mögliche  Mis verstand  der  Worte  vermieden,  sondern  auch  die  Sache 
selbst  beleuchtet  seyn.  Durch  den  ersten  Schlag,  den  Sie  vernehmen,  wird 
Ihre  ältere  Vorstellung  des  nämlichen  Tons  saramt  allen  benachbarten  ge 
hoben;  durch  den  zweyten  werden  die  Nachbarn  zurückgewiesen  oder  gesenkt. 

Aber  das  Zeitmaafs!  wo  bleibt  das?  —  Offenbar  können  Sie  das 
erst  mit  dem  dritten  Schlage  vernehmen,  falls  dessen  Zeitdistanz  vom 
zweyten  gerade  dieselbe  ist,  wie  die   Zeitdistanz   des  zweyten  vom  ersten. 

Also  müssen  wir  die  Betrachtung  fortsetzen.  Der  zweyte  Schlag 
wirkte  nicht  blofs  senkend  auf  die  Nachbarn,  sondern  zuspitzend  auf  die 
Hauptvorstellung.  Hatte  der  erste  Schlag  Sie  dahin  gebracht,  dafs  Sie 
horchten,  ja  vielleicht  sich  fragten:  was  höre  ich?  so  giebt  der  zweyte 
Schlag  Ihnen    die   Antwort,    indem  Sie    nunmehr   den  Ton    ganz  bestimmt 


1  „die-'  statt  "„diese"  SW. 


■jqS      HI»  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

als  diesen  und  keinen  andern  erkennen.  Allein  das  ist  nicht  Alles.  Die 
Senkung  beym  zweyten  Schlage  bezog  sich  nur  auf  die  Nebenvorstellungen; 
was  aber  die  Hauptvorstellung  anlangt,  so  wirkt  das  zweyte  c  gerade 
wie  das  erste  c  dahin,  dem  älteren  gleichartigen  H  freyen  Raum  zu 
schaffen;  also:  beym  zweyten  c  wird  der  zuvor  schon  durchs  erste  ge- 
wonnene freye  Raum  für  H  plötzlich  gröfser;  und  es  ist,  als  bekäme  da- 
durch H  einen  Stofs,  damit  der  Theil  von  ihm,  den  wir  y  nannten, 
plötzlich  wachse,  oder  genauer  gesagt,  plötzlich  einen  Zusatz  an  Ge- 
schwindigkeit des  schon  vorhandenen  Wachsens  bekomme. 

Wüfsten  wir  jetzt  nur,  was  das  eigentlich  sey,  was  wir  ein  Vorstellen 
der  Zeit  nennen!  Zwar  der  metaphysische  Begriff  der  Zeit  hülfe  uns  hier 
nichts.  Sondern  was  wir,  und  mit  uns  jeder  Soldat,  der  nach  Commando 
marschirt,  oder  jeder  Trommelschläger,  welcher  seine  Kunst  versteht,  — - 
was  wir  alle  uns  als  Pause  zwischen  zweyen  nächsten  Schlägen  vorstellen, 
indem  wir  den  Tact  wahrnehmen  oder  abmessen,  —  was  dieses  Vor- 
gestellte sey,  das  ists,  wornach  ich  jetzt  frage.  Unbekannt  wie  es  ist,  mufs 
es  doch  jedenfalls  ein  Quantum  seyn,  welches  wir,  die  wir  in  der  Auf- 
fassung des  Tactes  geübt  sind,  gröfser  und  kleiner  nehmen  können,  um 
ein  Adagio  oder  Allegro  nach  Belieben  zu  spielen.  Schon  zwischen  dem 
ersten  und  zweyten  Schlage  mufs  dies  Quantum  abgeschnitten  seyn,  da- 
mit es  alsdann  zwischen  den  zweyten  und  dritten  eintretend  anzeige,  der 
dritte  Schlag  erfolge  genau  im  rechten  Moment.  Aber  was  hier  als  Maafs- 
stab  dient,  das  mufs  in  der  That  ein  allmähliges  Geschehen  in  uns  selbst 
seyn,  welches  sich  eben  in  dem  Augenblick  vollendet,  wo  wir  den  dritten 
Schlag  fodern  und  als  richtig  eintreffend  anerkennen. 

Was  nun  auch  das  Material  seyn  möge,  von  welchem  ein  gröfseres 
oder  kleineres  Quantum  hier  zum  Mafsstabe  wird:  soviel  ist  klar,  dafs 
der  erste  Schlag  das  Material  mit  dem  vorgenannten  y  hervorhob,  der 
zweyte  es  abschnitt  und  zugleich  wiederum  von  vorn  an  hervorhob,  der 
dritte  aber  es  nochmals  gerade  an  der  Stelle  abschnitt,  wo  es  zuvor  schon 
abgeschnitten  war;  welches  bestimmte  Abschneiden  dann  auch  der  vierte 
und  jeder  folgende  gleichzeitige  Schlag  erneuern  wird. 

Dafs  die  genauere  Untersuchung  dieses  Materials  uns  in  die  Lehre 
von  der  Reihenbildung  der  Vorstellungen  hineinweisen  wird,  sehn  Sie  ohne 
Zweifel  voraus.  Zwar  wenn  wir  von  der  Zeit  sprechen,  —  das  heifst, 
im  zusammenfassenden  Denken,  —  da  brauchen  wir  nicht  länger  bey  dem 
Gedanken  einer  Stunde,  als  einer  Minute,  uns  aufzuhalten;  und  wiederum 
von  der  Minute  sprechen  wir  eben  so  geläufig,  wie  von  einer  Secunde. 
Aber  —  möchten  Sie  wohl  ein  Orchester  dirigiren,  wenn  ein  Musikstück 
aufzuführen  wäre,  worin  lediglich  nur  lange  Noten,  jede  von  der  Dauer 
einer  Minute,  vorkämen?  Wenn  Sie  das  auch  könnten  —  -ich  für 
mein  Theil  hätte  nicht  Lust  zuzuhören;  und  zwar  deswegen  nicht,  weil 
ich  für  eine  Minute  zwar  den  Begriff,  nämlich  sechzig  Secunden,  habe; 
hingegen  mein  Zeitmaals,  vermittelst  dessen  ich  unmittelbar  den  Tact  auf- 
fasse, nicht  einmal  sechs,  vielweniger  also  gar  sechszig  Secunden  erreicht; 
während  ich  mit  Leichtigkeit  ganze,  halbe  und  viertel  -  Secunden  '  abmesse. 

1  ,,Viertelsecunden"  SW. 


2i.  Brief.  399 

Im  Bezirke  dieser  bequemen  Zeitmaafse  nun  geschieht  in  uns  ein  wirklich 
successives  Vorstellen,  welches  gerade  soviel  Zeit  verbraucht  als  es  ab- 
zumessen dient;  und  dafs  für  die  wirkliche  Succession  dieses  Vorstellens 
das  Gesetz  und  die  ganze  Möglichkeit  in  der  Lehre  von  der  Reihenbildung 
müsse  gesucht  werden,  dies,  mein  Freund!  brauche  ich  Ihnen  nicht  erst 
zu  sagen.  Später  werden  ich  Sie  daran  ausführlich  genug  erinnern.  Fassen 
wir  nun  das  Bisherige  zusammen,  um  zu  sehen,  wie  weit  es  uns  führt! 
Irgend  eine  Reihenbildung  —  die  wir  noch  nicht  näher  kennen  —  hat 
uns,  schon  längst,  mit  einem  gewissen  Material  versorgt,  von  welchem 
der  erste  Schlag,  indem  er  den  Theil  y  von  H  reproducirt,  ein  unbe- 
stimmtes Quantum  successiv  hervorhebt.  Der  zweyte  Schlag  giebt  dem 
y  eine  plötzliche  Beschleunigung;  hiemit  wird  jenes  Quantum,  genau  so 
grofs,  wie  es  bis  zu  dem  Momente  des  zweyten  Schlages  angewachsen 
war,  plötzlich  mehr  hervorgehoben,  indem  das  beschleunigte  y  es  mit  sich 
hebt.  Dadurch  gerade  wird  nun  dieses  Quantum  abgeschnitten,  und  los- 
getrennt von  dem  folgenden  Theile  des  Materials,  welcher  eben  im  Be- 
griffe war,  hervorzutreten;  und  auf  welchen  jetzt  eine  solche  Hemmung 
wirkt,   wie  jene,  die  wir  als  den  Grund  der  Zuspitzung  kennen. 

Doch  hier  mufs  ich  mich   deutlicher  machen.      Unterscheiden  Sie: 
i.  von    dem    Material,    was    als    Zwischenzeit,    als    Pause    vorgestellt 
wird,    die    Nebenvorstellungen,    welche    in    der    Senkung    eine    Hemmung 

erleiden. 

2.  von  der  Reproduction  des  y  die  Reproduction  des  ersten  c  durch 
das  zweyte  c;  und  überhaupt  diejenige  der  sämmtlichen  vorhergehenden 
c  durch  das  nun  folgende  c. 

Nämlich  jenes,  als  Zwischenzeit  vorgestellte  Material  darf  gerade  in  so 
fern,  als  die  Zeit  gemessen  wird,  keine  Senkung  erfahren;  denn  das  hiefse 
soviel,  als:  die  Vorstellung  des  Maafsstabes  wird  gehemmt;  gerade  gegen  den 
Sinn  unserer  Betrachtung.  Es  ist  aber  auch,  wenn  Sie  zurückblicken,  nicht 
schwer,  den  Unterschied  zu  fassen.  Was  waren  das  für  Nebenvorstellungen, 
welche  sollten  gesenkt  werden?  Die  Nachbarn;  die  Sie  in  unserm  obigen 
Beyspiele  (20)  fanden,  wenn  Sie  von  c  eine  Octave  aufwärts  und  abwärts 
durchliefen.  Aber  jenes  Material,  was  sich  für  uns  in  die  Vorstellung  einer 
Pause,  einer  leeren  Zeit  verwandelt,  kann  unmöglich  etwas  so  bestimmtes 
seyn ;  sonst  liefse  sich  eben  dadurch  bestimmen,  was  das  sey,  das  wir  in  die 
Zeitdistanz  hineinschieben,  um  sie  damit  auszufüllen  und  abzumessen.  Aber 
unser    Zeitmaafs   hat  keinen  Ton,   so  wie  unser  Augenmaafs  keine  Farbe. 

Ferner:  beym  zweyten  und  jedem  folgenden  Schlage  geschieht 
zweyerley  Reproduction  zugleich.  Erstlich:  die  ältere  Vorstellung  H,  welche 
schon  in  dem  Vorrath  unserer  Vorstellungen  lag,  bekommt  einen  neuen  An- 
lafs  zur  Reproduction;  oder:  ihr  reproducirter  Theil  y  wird  gröfser.  Aber 
zweytens:  auch  das  erste,  und  überhaupt  jedes  vorhergehende  c  erhebt 
sich  beym  Eintreffen  des  zweyten  und  jedes  folgenden  c. 

Nun  bemerken   Sie  noch,  dafs  während  y  das  ihm  anhängende  Zeit- 
Material    schon    beym    ersten    Schlage    anfing    mit    sich    empor   zu   heben, 
hiedurch  Gelegenheit    gegeben    wurde,    dafs    sich    das    erste   c  mit   diesen 
Material    verbinden,    verschmelzen,    compliciren  kann;    nämlich  geraden 
soviel  von  demselben,  als  wieviel  zwischen  dem  ersten  und  zweyten  Schlage 


400      in.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831V 

hervortreten  kann.  Beym  zweyten  Schlage  nun  wird  vermöge  der  ent- 
standenen Verbindung  auch  gerade  das  Verbundene,  aber  nicht  Mehr,  in 
Reproduktion  durch  das  erste  c  gesetzt.  Käme  also  der  dritte  Schlag  zu 
spät:  so  würde  zwar  diejenige  Reproduction,  welche  von  y  ausgeht,  noch 
mehr  von  dem  unbestimmten  Material  mitbringen;  aber  die  andre  Re- 
production, welche  vom  ersten  c  anhebt,  würde  nicht  weiter  folgen;  denn 
sie  reicht  nicht  weiter;  und  wo  sie  abbricht,  da  veranlalst  sie  das  be- 
kannte Gefühl  von  Leere,  welches  wir  empfinden,  wenn  wir  die  Glocken- 
schläge zählen,  und  während  es  unsrer  Meinung  nach  schon  acht  Uhr 
seyn  sollte,  die  Glocke  uns  sagt,  es  sey  erst  sieben  Uhr. 

Es  wird  Ihnen  nun  von  selbst  einfallen,  dals  beym  dritten  Schlage 
es  einen  wichtigen  Unterschied  macht,  in  welchem  Grade  der  Stärke  der- 
selbe im  Verhältnifs  gegen  den  ersten  und  besonders  gegen  den  zweyten. 
erfolgt.  Soll  nämlich  nach  der  Senkung,  welche  der  zweyte  verursachte, 
eine  neue  Hebung  eintreten,  so  gehört  dazu  ein  ictits ;  aber  was  kann 
dieser  wirken  ?  —  Fragen  wir  nur  zuerst,  was  er  wirken  mufs  ?  so  bietet 
sich  aus  dem  Vorigen  von  selbst  die  Antwort  dar:  eine  neue  Wölbung; 
denn  ohne  -diese  giebt  es  keine  Hebung.  Nun  läfst  sich  wohl  denken, 
dafs  der  erste  Schlag  zu  schwach  gewesen  sey,  um  die  ganze  Wölbung, 
welche  überhaupt  möglich  war,  zu  veranlassen;  der  zweyte  aber  noch 
schwächer,  also  unfähig  die  Wölbung  zu  vergröfsern;  alsdann  kann  ein 
stärkerer  dritter  Schlag  sie  unstreitig,  falls  er  nur  noch  mehr  freyen  Raum 
schafft,  vervollständigen.  Wenn  dagegen  der  dritte  sammt  dem  zweyten 
Schlage  beyde  schwach  sind  im  Vergleich  mit  dem  ersten,  so  vereinigen 
sich  beyde  in  der  Zuspitzung,  also  in  der  Senkung.  Hiebey  liegt  die 
Beziehung  auf  den  Daktylus  und  dessen  Unterschied  vom  spondäischen 
Metrum  am  Tage;  desgleichen  in  der  Musik  der  Unterschied,  ob  der 
dritte  Schlag  im  Dreyvierteltakt  der  letzten  Taktnote  angehört,  oder  ob 
mit  ihm,  wie  im  Zweyvierteltakt,  nun  schon  der  folgende  Takt  beginnt. 
Allein  in  der  Anwendung  auf  die  Künste  dürfen  wir  nicht  die  Qualität 
dessen  was  dem  Gehör  dargeboten  wird,  vergessen.  Keine  Musik  und 
keine  Poesie  wird  uns  blofse  Trommelschläge,  oder  gar  den  Klang  des 
einförmigen  Tropfenfalles  einer  Dachrinne  zu  vernehmen  geben;  sondern 
es  kommen  Abwechselungen  der  Worte,  der  Melodie  und  Harmonie 
hinzu,  welche  uns  an  die  psychologische  Untersuchung  über  die  Ab- 
nahme der  Empfänglichkeit  erinnern  müssen. l  Wenn  der  Musiker  uns 
mit  dem  Eintritte  des  neuen  Tactes  auch  eine  neue  Harmonie,  oder  nur 
einen  Fortschritt  der  Melodie  bringt,  so  liegt  ein  Theil  der  nöthigen 
Kraft,  um  eine  neue  Wölbung  zu  erzeugen,  schon  in  der  frischen  Em- 
pfänglichkeit, die  er  jetzt,  nachdem  die  vorige  meist  erschöpft  war,  in  An- 
spruch nimmt;  und  solchergestalt  fortfahrend  bewirkt  er  mit  geringer  Bey- 
hülfe  des  ictus  den  Wechsel  zwischen  Hebung  und  Senkung,  dessen  die 
Kunst  bedarf.  Noch  mancherley  wird  sich  Ihnen  hiebey  von  selbst  auf- 
dringen, allein  für  mich  ist  es  Zeit,  diesen  langen  Brief  und  die  darin 
enthaltene  Abschweifung  zu  schliefsen. 


*  Psychologie  I,  §  94 — 99.     [Bd.  V  vorl.  Ausg.] 


22 •  Briet- 401 


22. 


Dafs  eine  Sache,  die  man  nicht  finden  kann,  sich  an  einem  Orte 
finden  läfst,  wo  man  sie  bisher  nicht  suchte,  —  dies  gehört  zwar  zu  den 
täglichen  Erfahrungen.  Aber  die  Anwendung  hievon  auf  die  Psychologie 
verfehlen  nicht  blofs  Diejenigen,  welche,  wenn  sie  von  mathematischer 
Psychologie  hören,  sich  der  Affecten  der  Furcht  und  des  Zorns  nicht 
ganz  erwehren  können,  —  sondern  auch  mir,  der  ich  seit  so  langen 
Jahren  weifs,  dafs  in  der  Mathematik  die  Schlüssel  zur  Psychologie  zu 
suchen  sind,  haben  sich  oft  die  leichtesten  Sachen  verborgen  gehalten, 
die  ich  plötzlich  einmal  fand,  wenn  mir  die  rechte  Stunde  kam,  um  am 
rechten  Orte  darnach  zu  suchen. 

Noch  nicht  viel  über  ein  Jahr  wird  verflossen  seyn,  seitdem  Sie 
mir  Glück  wünschten,  dafs  ich  nun  endlich  zur  Untersuchung  der  zugleich 
steigenden  Vorstellungen  den  Faden  der  Rechnung  fand;  wodurch  die 
in  meiner  gedruckten  Psychologie  enthaltene  Betrachtung  der  zugleich 
sinkenden  das  nöthige  Seitenstück  erhält.  Sie  bemerkten  damals,  dafs 
auf  den  zugleich  steigenden  sowohl  die  Wirkung  des  Unterrichts,  als  die 
Selbsttätigkeit  des  Zöglings,  unmittelbar  beruhen  müsse;  daher  brauche  ich 
Ihnen  von  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  keine  ausführliche  Nach- 
weisung zu  geben;  und  nur  darüber  ist  ein  Wort  nöthig,  weshalb  hier  der 
Ort  sey,  davon  zu  reden. 

Zuvörderst  nun  war  schon  die  Wölbung,  die  uns  bisher  beschäftigte, 
ein  gemeinsames  Steigen;  und  wenn  Sie  jetzt  von  der  Veranlassung  dieses 
Steigens,  nämlich  der  Reproduction  des  H  durch  das  gleichartige  c,  ab- 
strahiren  wollen,  so  sind  Sie  schon  bey  dem  Begriffe  des  Problems,  mit 
welchem  ich  Sie  nun  beschäftigen  mufs;  daher  ich  nur  noch  zu  bemerken 
habe,  dafs  die  Gröfse  des  Hemmungsgrades,  welche  bey  der  Wölbung 
als  sehr  wesentlich  in  Betracht  kommt,  (weil  die  Nachbarn  des  H  es  eben 
sind,  die  sich  emporwölben,)  in  meinen  sogleich  zu  erwähnenden  Rech- 
nungen bey  Seite  gesetzt  wird;  nicht  etwan  als  unbedeutend  an  sich,  sondern 
um  vorläufig  den  Mechanismus  des  Calculs  von  einer  lästigen  Ver- 
wickelung zu  befreyen.  Von  der  mathematischen  Psychologie  mufs  man 
nicht  Alles  auf  einmal  verlangen,  sondern  man  soll  froh  seyn,  wenn  nur 
überhaupt  da,  wo  bisher  weder  Weg  noch  Steg  zu  sehen  war,  die  Möglich- 
keit eines  regelmäfsigen  Fortschreitens  sich  aufthut. 

Ferner  müssen  wir,  um  unsre  Kenntnisse  der  verschiedenen  Anlagen 
zu  vervollständigen,  das  schon  oft  erwähnte  physiologische  Hindernifs  noch 
von  einer  neuen  Seite  betrachten;  nämlich  in  wiefern  es  dem  Rhythmus 
der  zugleich  steigenden  Vorstellungen  verändert.  Doch  es  bedarf  keiner 
weitern  Gründe  zur  Rechtfertigung,  dafs  ich  Ihnen  eben  jetzt  Etwas  mit- 
theile, wovon  Sie  längst  nähere  Nachricht  wünschten. 

Belieben  Sie  nun  zuvörderst  den  §.  93  meiner  Psychologie  aufzu- 
schlagen. Dort  finden  Sie  für  die  Voraussetzung,  dais  zwey  Vorstellungen 
a  und  b  zugleich  steigen,  den  ersten  Grundgedanken;  nämlich  den,  dafs 
beyde  Vorstellungen  zusammen  steigend,  einen  höhern  Grad  der  Klarheit, 
oder  einen  höhern  Standpunct  erreichen  können,  als  denjenigen,  auf  welchen 

26 

Herbart's  Werke.     IX. 


402      HI.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  am  die  Pädagogik  (183 1). 

sie,  aus  dem  ungehemmten,  ursprünglichen  Zustande  zugleich  sinkend, 
einander  herabzudrücken  genöthigt  sind.  Die  Ursache  hievon  wird  Ihnen 
ohnehin  erinnerlich  seyn;  nämlich  dafs  die  Hemmungssumme  beym 
gemeinsamen  Steigen  erst  allmählig  entsteht,  welche  beym  Sinken 
gleich  Anfangs  vollständig  vorhanden  ist.  Ein  paar  streitende  Kräfte,  die 
neben  einander  emporstreben,  setzen  zwar  jede  der  andern  eine  Gränze, 
welcher  sie  sich  nur  annähern  kann,  ohne  dieselbe  zu  übersteigen;  und 
daher  gelangt  keine  zu  der  vollen  Wirksamkeit,  die  jeder  einzelnen,  ihrer 
natürlichen  Stärke  nach,  eigen  gewesen  wäre.  Allein  gesetzt,  beide  Kräfte 
seyen  in  voller  Wirksamkeit  begriffen,  indem  jede  der  andern  begegnet, 
so  thun  sie  einander  noch  beträchtlich  mehr  Abbruch;  eben  weil  der 
Streit  gleich  Anfangs  mit  voller  Gewalt  beginnt.  Hüten  Sie  Sich  aber, 
Sich  hier  von  dem  gemeinen  falschen  Begriffe  der  Kraft  beschleichen  zu 
lassen!  Sie  wissen,  dafs  Vorstellungen  nur  in  so  fern  als  Kräfte  wirken, 
wiefern  sie  einander  entgegengesetzt  sind.  Der  Grad  des  Gegensatzes 
nun  soll  jetzt,  wie  vorhin  gesagt,  nicht  beschränkt  werden;  blofs  um  die 
Rechnung  nicht  zu  belästigen.  Mit  andern  Worten,  es  wird  volle  Hem- 
mung angenommen;  also  in  dem  angeführten  §  der  Psychologie  setzen 
Sie  m  =  1 ,  so  fällt  es  aus  der  Rechnung  weg. 

Durch  die  Buchstaben  a  und  ß  ist  dort  das  Quantum  von  a  und  b 
bezeichnet,  welches  sich  im  Laufe  der  Zeit  t  ins  Bewufstseyn  emporhebt. 
Man  soll  nun  durch  Rechnung  bestimmen,  wie  «  und  ß  abhängen  von 
a,  b,  und  t.  Sehr  leicht  war  es,  dieses  für  ß,  den  hervorgetretenen  Theil 
der  schwächeren  Vorstellung  b,  zu  leisten;  daher  finden  Sie  am  angeführten 
Orte  schon  die  Formel 

ß  =  \  (i-e-*)* 

a 
wenn  k  =  1  -j- 


a+b 

Den  Sinn  dieser  Formel  werden  Sie  sich  erst  vergegenwärtigen. 
Nämlich  ß  erhebt  sich  anfangs  zwar  mit  der  ihm  eignen  Kraft;  (wie  Sie 
beym  Differentiiren  der  Formel  sogleich  übersehen;)  aber  seine  Geschwin- 
digkeit nimmt  ab;  dergestalt,  dafs  selbst  wenn  zum  Steigen  unendliche  Zeit 
vergönnt   wäre,    (wobey    die    Exponentialgröfse    e~  kt    völlig    verschwände, 

die  schon   in    kurzer    Zeit    sehr    klein    wird,)    doch  ß  =.—-     der   äufserste 

k 

Werth  sein  würde,  welchen  ß  erreichen  könnte.  Einen  solchen  äufsersten 
Werth  werde  ich  künftig  die  Erhebungsgränze  nennen;  sie  wird  nie  völlig 
erreicht;  aber  die  Annäherung  dahin  geht  schnell,  falls  nicht  eine  ent- 
gegengesetzte  Bewegung  eintritt. 

Hätten  wir  nun  eine  ähnliche  Formel  auch  für  die  stärkere  Vorstel- 
lung a,  so  wüfsten  wir  Alles  was  von  zwey  zugleich  steigenden  Vorstel- 
lungen zu  fragen  ist.  Dabey  wird  Ihnen  wohl  einfallen,  dafs  beym  Sinken 
zweyer    Vorstellungen    der    Procefs    sehr    einfach,    hingegen,    wo     deren 

b  -^ 


22.  Brief.  403 

drey  zugleich  sinken,  die  Sache  weit  verwickelter  ist,  indem  hier  gar  leicht 
die  schwächste  von  dreyen  auf  die  Schwelle  des  Bewufstseins  kann  ge- 
worfen werden;  und  zwar  auf  die  statische  Schwelle,  welches  so  viel  heifst 
als:  sie  verschwindet  nicht  blofs  völlig  aus  dem  Bewufstseyn,  sondern  auch 
'"sie  schläft  so  vest,  dafs  sie  auf  das,  was  nun  noch  ferner  im  Bewufstsein 
vorgeht,  gar  keinen  Einflufs  hat.  Wie  aber  (werden  Sie  fragen,)  wenn 
drey  Vorstellungen  von  verschiedener  Stärke  zugleich  steigen  ?  Alsdann 
wirken  sie  ja  einander  weit  minder  entgegen,  als  beym  Sinken!  Also  wer- 
den wohl  auch  ihrer  drey,  deren  eine  von  den  beyden  andern  beym  ge- 
meinschaftlichen Sinken  auf  die  Schwelle  getrieben  war,  dann  zusammen 
bestehen  können,  wenn  alle  drey  zugleich  von  der  Schwelle  sich  erheben? 
welches  natürlich  voraussetzt,  dafs  zuvor  aus  irgend  einem  Grunde  alle 
drey  waren  völlig  gehemmt  worden. 

Bey  einiger  Ueberlegung  läfst  sich  ungefähr  errathen,  was  die  Rech- 
nung lehren  wird.  Nämlich  es  können  zwar  drey  Vorstellungen  zusammen 
steigen,  auch  wenn  die  schwächste  neben  den  beyden  andern  sehr  ge- 
ringe Kraft  besitzt.  Allein  bald  kommt  ein  Zeitpunkt,  wo  sie  zurück- 
getrieben wird,  während  die  andern  fortfahren  zu  steigen.  Und  nun  giebt 
es  verschiedene  Fälle.  Entweder  die  dritte,  wieder  im  Sinken  begriffene, 
würde  selbst  in  unendlicher  Zeit  nicht  ganz  zurückgetrieben  werden. 
Oder,  dies  könnte  geschehen,  würde  aber  unendliche  Zeit  brauchen,  und 
geschieht  deshalb  nicht.  Oder  endlich,  es  geschieht  wirklich,  und  zwar  in 
kurzer  Zeit. 

Diese  Vorerinnerungen  können  genügen.  Von  der  Sache  selbst  wird 
Ihnen  ein  kurzer  mathematischer  Aufsatz  Bericht  erstatten,  den  ich  zu 
lesen  bitte,  sobald  Sie  Mufse  und  Laune  haben. 

B  e  y  1  a  g  e. 
Ueber  die  zugleich   steigenden  Vorstellungen. 

I. 

Von  a  und  b  sollen  in  der  Zeit  t  die  Quanta  a  und  (i  ins  Be- 
wufstseyn hervortreten,  nachdem  beyde  auf  der  Schwelle  waren;  auch  soll 
keine  andre  Kraft  auf  sie  wirken,  als  nur  ihr  eigner  voller  Gegensatz. 
Nach  den,  hier  als  bekannt  vorauszusetzenden  Elementen  der  Statik  und 
Mechanik  des  Geistes  ist 

d/^b^-^dt 

also  ß  =~  (1—  e  -kt),   wo  k  =  1  +  ^-^  [A] 

ferner  eben  so 

b/5f   \   J 

d  u  =  (a—  « f—r     d  t. 

v  a  +  b/ 

In  dieser  Gleichung  substituire  man  den  schon  gefundenen  Werth 
von  ß;  so  findet  sich  durch  Integration,  die  sich  nun  vollziehen  läfst, 

«  =  (a-}').(.-e-')+^(.-e-*) 

26* 


404      m>  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aui  die  Pädagogik  (1831). 

oder  «  =  (a ).(i— e"4)-] ß  [B] 

a   /  a 

Die  Integration  geschieht  nach  bekannten  Regeln ;  und  von  der  Richtig- 
keit wird  man  sich  sogleich  durch  Differentiiren  überzeugen,  wobey  man 
nur  den  Wert  von  k  im  Auge  haben  mufs. 

IL 
Von  drey  Vorstellungen  a,  b,  c,  sollen  in  der  Zeit  t  die  Quanta  «, 
ß,  y,    ins    Bewufstsein   hervortreten.      Unter  Voraussetzung   vollen   Gegen- 
satzes ist  die  Hemmungssumme  =  ß-\-y,  die  Hemmungsverhältnisse*  sind 

bc 

71' 


b< 

;  -\-  ac 
ac 

+ 

ab 

bc 

-f-  ac 
ab 

+ 

ab 

TV 


TV" 

bc  -f-  ac  -f-  ab 
mithin  bekommt  man  folgende,  den  vorigen  analoge  Gleichungen: 

d«  =  (a- «— n'lß  +  yj)  dt 

d/?=(b— ß— 7i"[ß  +  Yl)  dt 

dy  ===  (c— y — 71'"  [ß  +  7])   dt 

Man  addire  die  zweyte  und  dritte  Gleichung,  so  geht  hervor 

d  (ß  +  7)  =  (b  +  c— (/?i  +  y)—(n"  +  W")  .  {ß  +  y)  dt 

woraus  /i  +  y  =  ^—  ■  ( 1  — e~kt)  [C] 

K 

,„  bc  -(-  2ac  -\-  2  ab 

wo  k  =  1  +  n"  -j~  57=  — : j — 

1  '  bc  -\-  ac  -J-  ab 

Den  Werth  von  ß  -f-  y  substituire  man  in   die  drey  Gleichungen  für 

d«,  d/i,  und  dy,  so  findet  sich  nach  der  Integration 

«  =  (a--)  •  (i-e-t)  +\C  (i-e-kt)  [D] 

a  /  aK 

/?=(b-  c)  .  (i-e-*)+  £  (i-e-kt)  [E] 

y  =  (c-b)  .  (i-e-t)  +  -|  (1  -e-kt)  [F] 

Nun  sey  c  die  schwächste  der  drey  Vorstellungen:  so  ist  c — b  eine 
negative  Gröfse;  und  es  ist  offenbar,  dafs  y,  nachdem  es  wuchs,  wieder 
abnehmen,  und  für  gewisse  Werthe  von  a,  b,  c,  auch  gleich  Null  werden 
kann.  Dann  aber  hört  die  Bedeutung  der  drey  ursprünglichen  Gleichungen 
auf;  denn  es  hat  keinen  Sinn,  dafs  y  negativ  würde.  Um  also  den  Um- 
fang der  Brauchbarkeit  für  diese  sämmtlichen  Gleichungen  zu  bestimmen, 
mufs  man  denjenigen  Werth  von  y  suchen,  wofür  es  =  o  wird,  falls  ein  sol- 
cher vorhanden  ist. 


*  Psychologie  §  44. 
1  „b"  SW. 


22-  Briet- 405 

Zuvörderst  bemerke  man,  dafs  für  unendliche  Zeit  die  beyden  Ex- 
ponentialgröfsen  verschwinden ;  und  dafs  sie  sehr  bald  unbedeutend  werden. 

Es  wird  also  sehr  bald  beynahe :  y  = b  -f-  c  [G] 

Ferner  ist  nahe  k  =  2 ;  indem  durch  a  die  stärkste  der  drey  Vor- 
stellungen bezeichnet    wird.     Also  nahe  y  =  c b,  welches  gleich  Null 

ist,    wenn  c  nahe  =  —  b.      Doch    ist    der    Grenz werth    von   y   ein    wenig 

2  ' 

gröfser;  weil  k  <  2. 

Da  sich  die  Gleichung 

o=(c— b)   .  (1—  e-t  +  y-  (1—  e~kt) 

wegen    der   Exponentialgröfsen   nicht   unmittelbar   auflösen    läfst:    so    mufs 
man  für  e~kt,  welches  zuerst  dem  Verschwinden  nahe  kommt,  einen  vor- 
läufig anzunehmenden  Werth  suchen;  und  dieser  findet  sich  folgendermafsen : 
Wenn  e— *  =  x  gesetzt  wird,  so  hat  man  für  k  =  2 

o  =  c b  4-  (b — c)x bx2 

2  2 

b — c         c 

woraus  x  = \-  — 

b      —  b 

b —  2  c 

oder  vielmehr  x  = ,    denn   das    positive   Zeichen  vor    dem    letzten 

b 

Gliede  gäbe  x  =  1    und  folglich  t  =  o,  was  auch  b  und  c  seyn  möchten. 

Findet  sich,   dafs  x   oder  e— l  sehr  klein  ist,   so  ist  e— kt  noch  viel  kleiner, 

und  kann  weggelassen  werden;   alsdann  ist 

k  (b — c)  -. 

t  =  log.  nat.  K         '  LH] 

k  (b — c) — b 

Hat  aber  e—t  einen  mäfsigen  Werth,  so  mufs  dessen  Potenz  k  in  obige  Glei- 
chung gesetzt  werden,  oder  zu  vorläufiger  Uebersicht  nur  die  zweytePotenz. 
Was  das   Maximum  der  Gröfse  y  anlangt:  so  findet  sich  aus 

^1  =  be-kt  -  (b  — c)   e-'  =0 
dt  v        ; 

t  = .  log.  nat. [I] 

k— 1  b — c 

Diese  Gröfse  ist  immer  möglich;  also  giebt  es  allemal  ein  Maxi- 
mum. Gerade  im  Gegentheil  wird  man  bey  näherer  Betrachtung  der  Glei- 
chung H  finden,  dafs  dieselbe  oftmals  auf  einen  unmöglichen  Werth  von 
t  führen  könne;  nämlich   wenn  k  (b — c)  <  b. 

Um  nun  den  Gegenstand  gehörig  aufzuklären,    gehe    man  zurück   zu 

der  Gleichung,  für  den  Grenzwerth  von  y.      Dieser  war  (nach  G): 

b  .  (bc  4-  ac  4-  ab)        ,     . 
' —  b  -4-  c; 

bc  -{-  2  ac  +  2  aD* 

indem  für  k  sein  Werth  gesetzt  worden.     Man   versuche   nun,   ob  dieser, 


*  ab  statt  2  ab  SW. 


406      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aut  die  Pädagogik  (183 1). 

erst  in  unendlicher  Zeit  zu  erreichende  Gränzwerth  sich  =  o  setzen  lasse  ? 
Und  es  findet  sich  dafür 


ab  1/        a2b2  ab2 

2   (b  +  2a)"1"    I7   4  (b  +  2a)2  ~1~b-f-2a  L    J 

wo  sich  von  selbst  versteht,  dafs  vor  der  Wurzelgröfse  kein  Minuszeichen 
brauchbar  ist,   weil   c  nicht  negativ  sein  kann. 

Diesen  Werth  von  c  mufs  man  für  angenommene  a  und  b  zuerst 
aufsuchen.  Zwar  nicht,  als  ob  ein  kleineres  c  sich  neben  jenen  nicht  er- 
heben könnte;  im  Gegentheil,  die  Gleichung  I  ergab  ein  jedenfalls  mög- 
liches Maximum.  Aber  nachdem  das  Maximum  erreicht  worden,  mufs  y 
wieder  sinken;  und  nun  fragt  sich,  ob  es  in  endlicher  Zeit  gleich  Null 
werde?  Das  geschieht  allemal,  wenn  c  kleiner  ist  als  die  Gleichung  K 
anzeigt.  Aber  es  geschieht  nicht,  wenn  c  gröfser  ist,  vielmehr  führt  als- 
dann der  Ausdruck  für  y  =  o  auf  unmögliche  Gröfsen;  wie  schon  der 
abgekürzte  Werth  (in  H)   deutlich  genug  zeigt. 

Sucht  man  übrigens  Genauigkeit  in  Zahlen,  was  bey  psychologischen 
Rechnungen  selten  einen  Zweck  haben  kann,  so  bietet  sich  hier  die  sehr 
bequeme  Hülfe  des  TAYLORschen  Lehrsatzes  an;  weil  die  Differential- 
quotienten von  y  äufserst  einfach  ausfallen. 

Vergleichungen  dieser  Rechnungen  für  steigende  Vorstellungen  mit 
der  in  der  Psychologie  geführten  für  sinkende,  und  für  die  Schwellen  des 
Bewufstseyns,  werden  sich  dem  aufmerksamen  Leser  ohne  Mühe  darbieten. 
Aber  einige  Beyspiele  zur  Erläuterung  dürften  nicht  überflüssig  seyn. 

1 .  Es  sey  a  =  b,  so  ergiebt  die  Gleichung  K,  wenn  a  =  1  gesetzt  wird, 

=  0,4342   .  .  .  ;  dagegen  für 


6 
a  =  2,  b  =  1,  c  =  -  =  0,4633 


Vn 


V  93  —  3 

a  =  3,  b  =    1,  c  = =  0,4745 

V2  3  "5  —  5 

a  =   10,  b  =    1,  c  =  — — =  0,491 

21 


V9—  1 
a  =   oc,  b  =    1,   c  = =  0,5. 

4 
2.  Nimmt  man  nun  beliebige  Werthe  für  a,  b  und  c  an:  so  wird 
sich  entscheiden  lassen,  ob  dafür  y  ■=  o  werden  könne  oder  nicht.  Ge- 
setzt z.  B.  es  sey  a  =  4,b  =  3,c  =  2,  so  bringe  man  zuvörderst 
diese  Werthe  auf  das  Maafs  der  oben  angenommenen  Einheit-  zurück. 
Es  sey  also  für  alle  drey  Vorstellungen  das  Maafs  ihrer  ursprünglichen 
Stärke  drey  mal  so  grofs,  so  werden  die  Verhältnifszahlen  dreymal  so  klein; 
das  hcifst,  man  setzt  nun  a  =  i/:i,  b  =  I,  und  c  =  2/3.  Nun  läfst 
sich  der  Fall  mit  dem  vorstehenden  Täfelchen  vergleichen;  er  liegt  zwischen 
a  =  1  und  a  =  2,  also  müfste  ein  entsprechendes  c  liegen  zwischen 
c  =  0,43  und  c  =  0,46.  Aber  c  =  2/3  =  0,666  ...  ist  weit  gröfser; 
mithin   kann    in    diesem    Falle  y   niemals  =  o   werden.     Eben   das   zeigt 


23.  Brief. 


407 


die  Gleichung  H ;  denn  für  b  =  3  und  c  =  2  wird  k  (b— c)  nicht 
völlig  =  2:  also  k  (b — c)  — b  wäre  negativ;  folglich  würde  die  Zeit,  in 
welcher  7  =  o  werden  soll,  durch  einen  unmöglichen  Logarithmen  gegeben; 
das  heifst,  es  kann  in  keiner  Zeit  y  =  o  werden.  Hiebey  bemerke  man 
jedoch,  dafs  die  Gleichung  nur  den  Begriff  dieser  Unmöglichkeit  kurz  an- 
deuten soll;  die  genaue  Bestimmung  würde  sie  nicht  geben,  weil  in  ihr 
die  Gröfse  e  ~  kt  ausgelassen  ist. 

Statt  dieses  Falles  wollen  wir  nun  setzen  a  =  4,  b  =  3,  und  c  =  1 ; 
oder  für  dreyfach  gröfseres  Maafs, 

a  =  %  b  =   1,  o  =  73 
welcher  Fall    eben  dort,   wo   der  vorige,    zu   suchen   ist.     Nun  zeigt   sich, 
dafs  c  =   1/3   =  0,333   •  •  •  •  weit  kleiner   ist  als  c  =  0,4;    also  mufs  y 
in  endlicher  Zeit  =  o  werden,  die  noch  überdies  sehr  klein  ausfällt;  denn 

b — 2  c  1 

nach  gehöriger  Rechnung  findet  sich  zuvörderst  x  =  =  — , 

3 

und  hieraus  durch  Anwendung  des  TAYLORschen  Satzes 

t  =   1,384 

Aber  dabey  wird  einem  Jeden  die  Frage  einfallen,  was  das  wohl  bedeuten 
möge:  t  =  I?  Ob  diese  Einheit  ein  Jahr,  oder  eine  Stunde,  oder  eine 
Minute  oder  Secunde  bedeute? 

Gesetzt  nun,  es  liefse  sich  darauf  gar  nichts  antworten:  so  würde 
man  sich  inzwischen  begnügen,  Verhältjiisse  der  Zeit  zu  bestimmen.  Die 
nächste  Veranlassung  dazu  liegt  schon  in  der  Gleichung  für  das  Maximum 
(I).  Im  vorliegenden  Beyspiele  findet  sich  daraus  t  =  0,481  .  .  .  welches 
zeigt,  dafs  die  Vorstellung,  welche  mit  c  bezeichnet  worden,  beynahe 
doppelt  so  viel  Zeit  zum  Sinken  braucht,  als  zum  Steigen.  Denn  1,384 
ist  nahe  an  dreymal  0,481. 

Ferner  können  wir  diesem  Beyspiele  andre,  soviel  man  will,  gegen- 
über stellen,   es  wird  aber  an  zweyen  genug  seyn. 

a  =  10,  b  =  9,  c  =■  1  giebt  t  =  0,0 ig  ...  fürs  Maximum,  und 
t   =  0,280   ....  für  }'  =   o. 

a  =  10,  b  =  9,  c  =  3,956  .  . .  giebt  t  =  0,150  . .  .  fürs  Maxi- 
mum,  aber  t  =  9,50  ....   für  y  =  o. 

Im  letztem  Beyspiele  zeigt  die  ungewöhnlich  lange  Zeit  des  Sinkens, 
dafs  ein  nur  wenig  gröfseres  c  in  gar  keiner  Zeit  hätte  zum  völligen 
Sinken  können  gebracht  werden.  In  der  That  ist  das  Beyspiel  darnach 
gewählt  worden,  gemäfs  der  Formel  K. 

23- 
Nicht  länger  als  nöthig,  mein  theurer  Freund,  sollen  Sie  durch  Rech- 
nungen aufgehalten  werden.  Sie  Selbst  haben  ohne  Zweifel  schon  hinzu- 
gedacht, dafs  von  vier,  fünf,  oder  mehreren  Vorstellungen  etwas  Aehnliches 
gelten  müsse  wie  von  dreyen.  Alle  können  zugleich  steigen,  —  allein 
die  Zeit  des  Steigens  wird  sich  für  die  meisten  schwächeren  so  sehr  ver- 
kürzen, dafs  nichts  Merkliches  davon  übrig  bleibt.  Andrerseits  wird  der 
Druck,  welchen  die  Vorstellungen  gegen  einander  ausüben,  gar  sehr  ver- 
mindert werden,  sobald  die  Hemmungsgrade  kleiner  sind;  denn  das  Vor- 
stehende   bezog  sich    auf   den   gröfsten    möglichen  Hemmungsgrad.     Was 


j.o8      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 

aber  die  Verbindung,  Complication  oder  Verschmelzung  der  Vorstellungen 
darin  abändern  möge,  das  zu  betrachten  müssen  wir  uns  noch  vorbehalten; 
während  wir  längst  wissen,  dafs  alle  die  Bilder  von  Gegenständen,  die 
man  im  gemeinen  Leben  Vorstellungen  nennt,  aufserordentlich  mannig- 
faltig zusammengesetzt  sind.  Lassen  wir  das  für  jetzt;  und  seyn  Sie  nun  so 
gefällig,   mir  zu  dem  was  zunächst  liegt,   mit  Ihrer  Aufmerksamkeit  zu  folgen. 

Was  wird  wohl  geschehen,  wenn  jenes  aus  physiologischen  Gründen 
zu  erklärende  Hindernifs,  von  dem  wir  so  oft  schon  geredet  haben,  sich 
in  den  eben  beschriebenen  Procefs  einmischt?  Um  dies  zu  finden,  bitte 
ich  Sie  zuvörderst  Sich  das  Steigen  solcher  Vorstellungen,  wie  vorhin  a 
und  b,  ja  auch  c  in  den  Fällen,  wo  es  nicht  merklich  sinkt,  recht  deut- 
lich zu  denken.  Die  Formel  I  zeigt  Ihnen,  dafs  wenn  c  fast  gleich  grofs 
ist  wie  b,  alsdann  die  Zeit  des  Steigens  auch  für  die  schwächste  der  drey 
Vorstellungen  sich  sehr  verlängert;  so  dafs  der  ganze  Procefs  für  alle  drey 
ziemlich  gleichartig  ausfällt;  wenigstens  so  lange,  bis  die  Exponentialgröfse 
e —  kt  als  verschwunden  kann  betrachtet  werden.  Aber  so  einfach  wird 
die  Sache  nicht  bleiben,  wenn  eine   fremde   Hemmung  dazu  kommt. 

Sie  erinnern  Sich,  dafs  wir  diese  fremde,  feindliche  Kraft  als  nach- 
giebig auch  von  ihrer  Seite  gegen  den  Druck  des  Vorstellens,  aber  eben 
hiedurch  einer  Anspannung  zu  stärkerem  Gegenwirken  fähig,  uns  denken 
müssen.  Anfangs  werden  ihr  ohne  Zweifel  die  schwächsten  der  steigen- 
den Vorstellungen  am  meisten  nachgeben.  Also  zuerst  verliert  c;  dann  b, 
endlich  a  in  merklichem  Grade.  Hiedurch  versetzt  sich  die  fremde  Kraft 
in  Spannung  gegen  a,  von  welchem  sie  am  meisten  leidet.  Aber  dadurch 
gewinnt  bald  c  freyen  Raum;  indem  nun  diejenigen  Energien,  von  welchen 
es  gedrückt  war,  sich  gegen  einander  gekehrt  haben;  und  sich  nicht  eher 
wieder  aufrichten  können,  als  bis  zwischen  ihnen  die  Hemmungssumme 
gesunken  ist.  Wofern  b  der  Stärke  nach  bedeutend  hinter  a  zurücksteht, 
so  hat  auch  dieses  wenig  Antheil  an  dem  Zurückdrängen  des  Hinder- 
nisses, und  je  minder  es  im  Streite  wider  dasselbe  befangen  ist,  um  desto 
eher  kann  und  wird  es  bald  nach  c  den  entstandenen  freyen  Raum  be- 
nutzen. So  treten  c  und  b  wieder  hervor;  aber  das  Gleichgewicht  ist 
damit  nicht  hergestellt,  sondern  die  stärkeren  Kräfte  müssen  aufs  Neue 
ihren  Vorrang  geltend  machen,  —  meistens  aber  wird  nun  schon  der 
Zustand  des  Nervensystems  selbst  in  eine  Schwankung  gerathen  seyn, 
welche  nach  Art  der  Affecten  fortwirkt.  Ohne  uns  jedoch  hierauf  einzulassen, 
wollen  wir  nur  bemerken,  wie  das  Aufsteigen  der  Vorstellungen,  welches 
sich  einer  durch  die  obigen  Gleichungen  bestimmten  Gränze  nähern  sollte, 
statt  dessen  in  einen  Wechsel  hineingeräth,  wobey  bald  die  eine  bald  die 
andre  Vorstellung  sinkt  und   steigt. 

Also:  gleichförmig  anhaltende  Klarheit  der  stärksten  Vorstellungen 
können  wir  da  nicht  erwarten,  wo  das  Steigen  derselben  mit  dem  fremden 
Hindernisse  zu  kämpfen  hat.  Und  umgekehrt,  wo  wir  statt  einer  stetigen 
Besonnenheit  einen  unruhigen  Wechsel,  und  besonders  ein  Anschwellen 
der  schwächern  und  deshalb  unhaltbaren  und  flüchtigen  Gedanken  häufig 
wahrnehmen:  da  werden  wir  gerade  in  dieser  Succession  dessen  was  sich 
bleibend  veststellen  sollte,  das  Zeichen  eines  Hindernisses  erkennen,  was 
in  der  organischen  Anlage  des  Nervensystems  seinen  Grund  hat,    —  einen 


23-  Briet.  ]0g 

Grund,  mit  welchem  vielmehr  die  physische  als  die  intellectuale  Er- 
ziehung zu  kämpfen  hat,  falls  überhaupt  derselbe  sich  überwinden  läfst. 
Wenn  nun  die  physische  Erziehung  das  geleistet  hat,  was  sie  konnte, 
—  wenn  der  Knabe  munter  spielt,  gut  verdaut,  gehörig  wächst,  und 
dennoch  die  stetige  Besonnenheit  fehlt:  werden  wir  nun  gar  nichts  weiter 
zu  thun  haben?  Werden  wir  uns  begnügen,  die  Sprache  der  Mütter 
zu  führen,  welche  über  Leichtsinn  klagen?  Eine  alte,  sehr  allgemeine 
Klage,  die  wohl  selbst  da  vernommen  wird,  wo  man  eher  über  Tiefsinn 
klagen  sollte! 

Gleich  zunächst  wird  Ihnen  auffallen,  dafs  ich  hier  gar  nicht  etwan  be- 
sonders schlechte  Köpfe  beschrieben  habe.  Von  zugleich  steigenden  Vorstel- 
lungen war  die  Rede.  Wiefern  dadurch  Jemand  charakterisirt  werden  kann, 
in  so  fern  ist  er  wenigstens  ein  selbstthätiger  Kopf;  und  das  bleibt  er  noch, 
wenn  auch  statt  ruhigen  Gleichgewichtes  entgegengesetzter  Vorstellungen 
vielmehr  ein  Wechsel  der  Entgegengesetzen  vorherrscht. 

Mit  solchen  Köpfen  läfst  sich  immer  noch  arbeiten ;  wenn  man  gleich 
das  Uebel,  woher  ihre  Beschränkung  rührt,  nicht  heben  kann.  Es  kommt 
nur  darauf  an,  zu  erforschen,  was  und  wieviel  sich  unter  vorhandenen 
beschränkenden  Umständen  noch  thun  läfst;  —  die  erste  Bedingung  aber 
hievon  ist,  dafs  man  das  Uebel  richtig  erkenne  und  von  andern,  die  etwa 
äufserlich  ähnlich  seyn   mögen,  gehörig  unterscheide. 

Schon  früher  haben  wir  von  sogenannten  guten  Köpfen  gesprochen, 
die  gleichwohl  stark  beschränkt  sind.  (19)  Vergleichen  wir  einmal  jene 
dort  mit  diesen  hier!  Jene  standen  den  steifen  Köpfen  nahe,  ungeachtet 
eines  Scheines  von  Gewandtheit.  Wir  sahen  die  Steifheit  begründet  im 
Mangel  der  Wölbung,  also  in  der  Nacktheit,  womit  bey  der  Reproduction 
ältere  Vorstellungen  durch  Erfahrung  und  Umgang  gerade  immer  nur  das 
hervortritt,  woran  eben  direct  erinnert  wird;  ohne  die  natürliche  Um- 
gebung des  Naheliegenden,  was  dem  bessern  Kopfe  zugleich,  wenn  auch 
dunkel,  vorzuschweben  pflegt.  Solche  Steifheit  nun  (bemerkten  wir)  sey 
oftmals  dergestalt  vorhanden,  dafs  sie  Pausen  mache,  und  dafs  in  glück- 
lichen Augenblicken  Vieles  richtig  gefafst  werden  könne,  woran  jedoch 
der  Zusammenhang  fehle,  so  dafs  nur  ein  kraftloses  Resultat  hervorgehe; 
daher  ein  Schein  von  Gewandtheit,  hinter  welchem  sich  die  geistige  Armuth 
verberge,  die  nach  vielem  Lehren  und  Lernen  endlich  als  trauriges 
Resultat  hervortreten  müsse. 

Wo  liegt  nun  der  Unterschied  zwischen  dort  und  hier?  —  Zu- 
vörderst, die° Vorstellungen,  von  welchen  wir  reden,  sind  dort  ganz  andre, 
als  hier.  Dort  nämlich  war  eine  Reproduction  vorausgesetzt,  während 
unsre  Formeln  in  der  Beylage  sich  gar  nicht  auf  irgend  eine  Reproduction 
durch  neues  Wahrnehmen,  sondern  vielmehr  auf  solche  Vorstellungen 
beziehen,  wie  sie  jeden  Morgen  beym  Erwachen  von  selbst  emporsteigen, 
ohne  dazu  irgend  eines  vorgängigen  Hörens  und  Sehens  zu  bedürfen. 
Dort  dachten  wir  an  Schwierigkeiten,  welche  der  Lehrer  beym  Unterrichte 
findet  wenn  er  das  Alte  weckt,  um  Neues  daran  zu  knüpfen.  Hier  im 
Geeentheil  versetzen  wir  uns  ins  Anschaun  der  geistigen  Selbsttätigkeit, 
—  wir  denken,  wenn  Sie  wollen,  uns  den  Menschen  als  sinnend  oder 
träumend    vielleicht   aber  auch  als  handelnd  nach  eignen  Gedanken;  hie- 


4io     HL  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 


bey  aber  vermissen  wir  die  Besonnenheit,  welche  sich  gleich  bleiben 
sollte,  und  finden  dagegen  einen  Wechsel  von  Einfällen,  die,  wofern  sie 
handelnd  hervortreten,  planlose  Versuche  seyn  werden.  Und  was  das 
Hindernifs  anlangt,  aus  welchem  beyderley  Uebel  entspringt,  so  ist  es  dort 
als  abwechselnd  eingreifend,  hier  aber  als  fortwährend  betrachtet  worden. 

Noch  mehr!  Im  vorigen  Falle  war  es  die  Wölbung,  welche  ver- 
dorben wurde,  also  waren  es  die  zunächstliegenden  Vorstellungen,  deren 
Gesammt-Erhebung  mislang.  Hier  aber  sprechen  wir  von  entgegen- 
gesetzten, ja  möglichst  stark  entgegengesetzten  Vorstellungen,  deren  gleich- 
zeitiges Steigen  nicht  etwan,  wie  dort,  geradezu  verhindert,  sondern  in 
eine  successive  Bewegung,   in  ein  Schwanken  versetzt  wird. 

Sollten  aber  wohl  beyderley  Fehler  zugleich  vorkommen  können? 
Jeder  Mensch,  der  nicht  völlig  zu  den  Stumpfsinnigen  gehört,  hat  einen  ge- 
wissen, wenn  auch  nur  engen,  Kreis  von  Vorstellungen,  in  denen  er  selbst- 
thätig  ist.  Findet  sich  nun  in  seinem  Nervensystem  ein  Hindernifs, 
welches  bey  Reproductionen  die  Wölbung  verkümmert,  so  wird  noch  viel 
eher  dieses  nämliche  Hindernifs  beym  eignen  Denken  und  Handeln  das 
ruhige  Ueberschauen  des  Entgegengesetzten,  welches  zusammengefafst 
werden  sollte,  sehr  erschweren,  wo  nicht  unmöglich  machen.  Aber  die 
steifen  Köpfe,  unschlüssig  wie  sie  manchmal  sind,  werden  doch  eine  Art 
von  Vortheil  vor  jenen  Gewandten  haben.  Wer  gleichförmig  beschränkt 
ist,  der  gelangt  in  seinem  engen  Kreise  allmählig  zur  Stetigkeit;  er  ver- 
sucht nicht  leicht  mehr,  was  über  seine  Kräfte  geht;  er  giebt  es  auf,  zu- 
sammenzufassen, was  er  nicht  zusammenhalten  kann.  Wo  aber  das 
Hindernifs  oft  nachläfst,  oft  ganz  aussetzt,  da  fühlt  sich  das  Individuum 
manchmal  dem  wirklich  guten  Kopfe  ähnlich;  es  beschliefst  und  unter- 
nimmt, was  nur  ein  solcher  würde  ausführen  können,  woraus  dann  Ver- 
wickelungen der  unangenehmsten  Art  entstehen. 

24. 

Auf  den  Leichtsinn  kamen  wir  vorhin :  auf  denjenigen  Fehler,  welcher 
vor  andern  häufig  der  Jugend  pflegt  vorgeworfen  zu  werden.  Wie  er- 
kennt man  den  Leichtsinn  ?  In  die  Bewegung  der  Vorstellungen  pflegen 
die  gewöhnlichen  Erzieher  nicht  eben  tief  hineinzuschauen ;  aber  aus 
Reden  oder  überhaupt  aus  Handlungen  (wozu  ja  die  Reden  auch  ge- 
hören) schliefsen  sie  auf  Leichtsinn. 

Uns  brachte  umgekehrt  die  Betrachtung  schwankender  Vorstellungen 
auf  den  Gedanken  an  das  nicht  blofs  innere  geistige,  sondern  auch  äufsere 
körperliche  Handeln.  Und  dadurch  wird  sich  die  vorige  Betrachtung  in 
der  That  sehr  erweitern.  Die  Jugend  kennt  noch  wenig  Zurückhaltung; 
das  jüngere  Kind  besonders  spricht  was  ihm  einfällt,  und  greift  nach 
Allem  was  es  erreichen  kann.  Wo  nun  Gelegenheit  ist,  den  innern 
Wechsel  der  Vorstellungen  äufserlich  handelnd  zu  verkörpern,  da  zieht 
sich  im  Allgemeinen  der  geistige  Procefs  in  die  Länge;  so  dafs  man  ihn  wie 
durch  ein  Vergröfserungsglas  erblicken  kann.  Denn  die  Aufsendinge  setzen 
mehr  oder  weniger  Widerstand  in  den  Weg;  und  während  das  Anschauen 
die  vorhandene  Vorstellung  verstärkt,  verzögert  sich  im  Handeln  der  Fort- 
schritt, welchen  der  psychische  Mechanismus  zu  machen  im  Begriff  stand. 


24-  Brief.  4 1  1 

Daher  läfst  sich  die  Jugend  in  Handeln  hierhin  und  dorthin  ziehen; 
und  dies  um  desto  mehr,  je  weniger  von  ruhiger  Besonnenheit  vorhanden 
ist;  und  je  gewisser  vollends  in  der  Gesellschaft  vieler  Kinder  die  Un- 
ruhe des  Einen  sich  den  Andern  mittheilt. 

Sind  denn  aber  alle  Kinder  unbesonnen?  Gerade  im  Gegentheil, 
man  findet  deren,  wiewohl  selten,  die  frühzeitig  schon  in  dem  engen 
Kreise  ihres  Wissens  und  Könnens  sehr  auffallend  planmäfsig  handeln. 
Diese  waren  also  im  Stande,  das  Mannigfaltige  zusammenzuhalten,  ohne 
dafs  die  Gegensätze  der  einzelnen  Vorstellungen  einen  unruhigen  Wechsel 
der  Gedanken  zur  Folge  gehabt  hätten. 

Das  ist  die  Probe  davon,  dafs  nicht  in  dem  reinen  psychischen 
Mechanismus  die  Phänomene  des  Leichtsinns  begründet  sind.  Sonst 
würden  ohne  Zweifel  die  Vorstellungen,  welche  einer  gewissen  Sphäre  des 
Handelns  entsprechen,  in  allen  Köpfen  das  gleiche  Spiel  treiben;  und  so 
mochte  man  fragen,  wer  denn  am  Ende  planmäfsig  handeln  solle?  — 
Doch  von  den  Vorzügen  des  reiferen  Alters  ist  hier  noch  nicht  die  Rede. 
Aber  wie  nur  wenige  Menschen  schön,  und  vielleicht  nur  wenige  vollkommen 
gesund  geboren  werden,  so  wird  auch  nur  Wenigen  gegönnt,  einen  ganz 
freyen  psychischen  Mechanismus  in  sich  walten  zu  lassen.  Wenn  vollends 
diese  Freyheit  des  Mechanismus  von  natürlicher  Hemmung  verwechselt 
wird  mit  erworbener  Freyheit  des  sittlichen  Wollens:  —  was  wird  dann 
aus  der  Pädagogik? 

Vielleicht  werden  Sie  mir  antworten:  in  diesem  Puncte  sey  der  Irr- 
thum  unschädlich.  Denn  am  Ende  müsse  doch  die  Freyheit  der  sitt- 
lichen Entschliefsung  aufgeboten1  werden  gegen  das  Handeln  aus  Leicht- 
sinn; wenn  also  der  Erzieher  den  Leichtsinn  gleich  einer  Unsittlichkeit 
tadele,  so  sey  daran  nicht  viel  verloren;  es  komme  nur  darauf  an,  die 
moralische  Achtsamkeit  und  Selbstbeherrschung  zu  stärken.  —  Ohne  hier 
im  Allgemeinen  zu  widersprechen,  (denn  es  ist  etwas  Wahres  daran,)  frage 
ich  zweyerley.  Erstlich:  wird  der  Erzieher  mit  solchem  Tadel  durch- 
dringen, und'  mufs  er  nicht  oftmals  fürchten,  durch  vergeblich  angewandte 
Heilmittel  das  Uebel  schlimmer  zu  machen?  Zweytens:  sind  Sie  über- 
zeugt, alle  Selbstbeherrschung,  mithin  auch  die,  welche  nach  häufigem 
Tadel  des  Leichtsinns  vielleicht  gewonnen  wird,  sey  eben  deshalb  auch 
moralisch?   —  Letzteres  werden  Sie  gewifs  nicht  behaupten. 

Doch  genug  für  jetzt,  wenn  Sie  meinen  neulich  mitgetheilten  mathe- 
matischen Formeln  einräumen,  der  Leichtsinn  bestehe  in  einer  Abweichung 
von  dem  durch  jene  dargestellten  regelmäfsigen  Procefs.  Indessen  will 
ich  Ihnen  nicht  anmuthen,  zuviel  einzuräumen.  Wenn  wir  uns  zu  dem 
allgemeinen  Namen  Leichtsinn  ein  Bild  entwerfen,  so  tragen  wir  un- 
streitig noch  eine  Menge  andrer  Züge  hinein;  genug  also,  wenn  jene 
Abweichung  als  Grundlage  des  Bildes  mag  anzusehen  seyn. 

Gern  möchte  ich  ein  passendes  Gegenstück  des  Leichtsinns  auffinden. 
Versuchen  Sie,  ob  Ihnen  folgendes  zusagt:  die  ächte  ästhetische  Auf- 
fassung eines  gröfseren  Kunstwerkes.  Sie  wissen,  wie  die  Meisten  ein 
Stückln  Stücke    zerfallen    lassen;    Sie    bemerken   leicht,   dafs  kein  Dämon 


1  „aufgehoben"  SW. 


412      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aui  die  Pädagogik  (1831). 

dabey  im  Spiele  ist,  der  etwan  ein  neckendes  Wunder  thäte;  sondern 
dafs  im  Kunstwerke  mancherley  Entgegengesetztes  liegt,  welches  die  ächte 
ästhetische  Auffassung  zusammenhält;  jedoch  nur  unter  der  Bedingung, 
dafs  sie  ungestört  bleibe.  Von  Kindern,  mit  denen  wir  die  Odyssee  lesen, 
werden  wir  nicht  verlangen,  dafs  sie  dem  Versinken  ins  Einzelne  sich 
entziehen  sollen;  vielmehr  verlangen  wir  Theilnahme  für  die  einzelnen 
dargestellten  Personen  und  Begebenheiten.  Eben  so  wundern  wir  uns  ja 
nicht,  wenn  in  der  schönsten  Landschaft  der  Knabe  nur  eine  Menge  von 
Thürmen,  Hügeln,  Bäumen,  Gewässern  wahrnimmt.  Freylich  wird  ein 
solcher  Knabe  schwerlich  Künstler  werden.  Auch  wird  ihn  unsre  Päda- 
gogik dazu  nicht  machen  können,  noch  machen  wollen;  denn  eines 
organischen   Hindernisses  kann  sie  nicht  mächtig  werden. 

Fragen  Sie  mich,  weshalb  ich  statt  der  ästhetischen  nicht  vielmehr 
die  ächte  speculative  Auffassung  genannt  habe  ?  so  erwiedere  ich :  weil  die 
speculative  eine  nothwendige  Bewegung  des  Vorstellens  in  sich  schliefst, 
wobey  das  Vorgestellte  sich  ändert;    und  das  liegt  weit  ab  vom  Vorigen. 

Eher  könnte  ich  die  ächte  empirische  Auffassung,  etwa  des  tüchtigen 
Geographen  und  Historikers  anführen.  Aber  darin  liegt  Raum  und  Zeit, 
mithin  Reihenbildung,  und  Bewegung  des  Vorstellens  durch  Reihen.  Das 
war  noch  nicht  unser  Gegenstand,  — ■  jedoch  er  soll  es  nun  werden. 

25- 

Dafs  ich  Ihren  Glückwunsch  zu  der  endlich  begonnenen  Untersuchung 
über  die  zugleich  Steigenden  so  ernsthaft  nahm,  und  ihn  sogar  noch  jetzt 
im  Gedächtnifs  habe:  —  ob  Sie  wohl  ein  wenig  lachen  werden,  wenn 
Sie  das  lesen?  Wer  weifs!  Ihre  Freundschaft  möchte  mich  dagegen  schwer- 
lich schützen.  Eher  wohl  schützt  mich  Ihre  Sachkenntnifs,  Ihre  Einsicht 
in  den  Ernst  des  Gegenstandes. 

In  der  reinen  Mathematik  ist  ein  Lehrsatz  fertig,  wenn  er  bewiesen 
ist;  in  der  angewandten,  wohin  die  Psychologie  gehört,  mufs  man  erst 
Proben  haben,  wie  weit  die  Anwendung  reicht  und  wohin  sie  führt; 
nirgends  aber  vielleicht  mag  es  so  nöthig  seyn,  die  ganze  Sphäre  der  mög- 
lichen Fälle,  welche  eine  Formel  unter  sich  befafst,  zu  durchsuchen,  als 
gerade  in  der  Psychologie.  Und  wie  sehr  uns  dazu  die  Pädagogik  auf- 
fodert,  das,  mein  Freund,  wissen  Sie  so  gut  als  ich.  Diese  kurze  Er- 
innerung, und  die  daran  geknüpfte  Bitte  um  Ihre  Aufmerksamkeit,  zu- 
gleich aber  um  Ihre  Nachsicht  mit  der  bis  jetzt  noch  unvermeidlichen 
Unvollkommenheit  dessen  was  nun  folgen  soll,  mag  immerhin  die  Stelle 
einer  Anrufung  der  neun  Musen  vertreten. 

Käme  es  zuvörderst  darauf  an ,  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes 
mit  Einem  Worte  zu  bezeichnen:  so  würde  ich  um  das  Wort  nicht  ver- 
legen seyn;  es  heifst:  Gestaltung.  Dies  Wort  pafst  auf  ästhetische,  mathe- 
matische, logische,  wie  auf  empirische  und  rein  sinnliche  Gestalten.  Und 
wenn  wir  auch  nicht  von  unsern  Zöglingen  im  Allgemeinen  fodern  dürfen, 
dafs  sie  etwas  Neues  gestalten  sollen,  so  müssen  sie  doch  selbstthätig  das- 
jenige nachbilden,  was  wir  schon  gestaltet  ihnen  darbieten.  Wir  aber 
sollten  billig  den  Procefs  des  wichtigen  geistigen  Handelns,  das  wir  Ge- 
staltung nennen,    vollständig  psychologisch  begreifen,  bevor  wir  denselben 


25.   Briet.  .}  13 

in  den  Köpfen,  die  wir  zu  bilden  haben,  auch  nur  einzuleiten  unter- 
nehmen. 

Das  einfachste  Element  jeder  Gestaltung  ist  eine  Reihe,  denn  während 
in  einer  Gestalt  auf  sehr  mannigfaltige  Weise  Eins  zwischen  Anderem 
liegt:  zeigt  sich  das  Zwischen  ganz  einfach  da,  wo  in  einer  Reihe  etwas 
den  Platz,  den  es  einnimmt,  sich  bestimmen  läfst  durch  ein  vorhergehendes 
Glied  und  durch  ein  folgendes.  Die  Begriffe,  Rechts,  Links,  Oben,  Unten, 
sind  hievon  nur  nähere  Bestimmungen.  Hierüber  müfste  ich  Sie  auf  meine 
Psychologie  verweisen,  wenn  Sie  das  nicht  längst  wüfsten;  auch  können 
wir  uns  hier  auf  die  entgegenstehenden  alten  Vorurtheile  nicht  einlassen; 
wir  haben  nicht  hinter  uns,  sondern  vorwärts  zu  schauen.  Ob  uns  Andre 
nachkommen  können,  oder  nicht,  das  ist  ihre  Sache,  und  geht  uns 
nichts  an. 

Zu  einer  vorläufigen  logischen  Sonderung  der  Fragepuncte  dient 
Folgendes. 

1.  Die  Reihen  unterscheiden  sich  schon  ihrer  Länge  nach.  Wenn  die 
Vorstellung  a  verschmolzen  ist  mit  b,  und  minder  mit  c,  noch  minder  mit  d, 
u.  s.  w.  so  sey  p  das  letzte  Glied,  womit  a,  bevor  es  aus  dem  Bewufst- 
seyn  verdrängt  wurde,  möglicherweise  noch  verschmelzen  konnte.  Diese 
Länge  von  a  bis  p  wollen  wir  die  Normallänge  nennen.  Alsdann  zeigt 
sich,  dafs  eine  Reihe,  welche  von  a  bis  r  oder  s  reicht,  nicht  mehr  durch 
a  zusammengehalten  wird,  sondern  durch  die  Verschmelzung  des  b,  oder  c, 
oder  d,  u.  s.  w.  mit  den  folgenden  Gliedern.  Soll  nun  eine  Reihe,  welche 
über  die  Normallänge  hinausgeht,  im  Bewufstseyn  reproducirt  werden,  so 
kann  die  Kraft  dieser  Repioduction  nicht  in  a  allein  gesucht  werden,  und 
da  wir  nicht  die  Thorheit  begehen  werden,  diese  reproducirende  Kraft 
im  Gedächtnifs  oder  einem  andern  Seelenvermögen  zu  suchen,  so  müssen 
wir  sie  in  b,  oder  c,  oder  d,  u.  s.  w.  voraussetzen.  Das  ist  nun  zwar 
möglich,  aber  es  verwickelt  die  Untersuchung.  Wir  betrachten  zunächst 
die  Reproduction  der  Reihe  nur  in  so  fern  als  sie  von  dem  ersten  Gliede 
ausgeht;  folglich  beschränken  wir  uns  auf  die  Normallänge;  und  damit  der 
Unterschied  des  ersten  reproducirenden  Gliedes  von  den  folgenden  reprodu- 
cirten  uns  nicht  entschlüpfe,  wollen  wir  das  erste  mit  P,  alle  folgenden 
aber  mit  LT,  LT',  LT",  LT"  u.  s.  w.  andeuten;  welche  Bezeichnung  Ihnen 
aus  der  Psychologie  geläufig  seyn  wird. 

2.  Der  Grad  der  Verbindung  unter  den  Reihengliedern  ist  stärker 
oder  schwächer.  Wenn  a  im  Bewufstseyn  schnell  sank,  während  nach 
einander  b  c,  d,  u.  s.  w.  gegeben  wurden,  so  mufsten  die  Reste  von  a, 
welche  mit'  den  nachfolgenden  Gliedern  verschmolzen,  sämmtlich  kleiner 
ausfallen,  als  wenn  a  langsam  sinkt.  Die  Reihe  mufste  demnach  schlechter 
gerathen;  und  kein  Seelenvermögen  kann  den  Fehler  ersetzen.  Wohl 
aber  wird  dem  Erzieher  das  alte  Sprichwort:  repetitio  est  mater  studiorum 
einfallen;  denn  bey  der  Wiederhohlung  wächst  der  Grad  der  Verbindung 
unter  den  Reihengliedern.  Mit  Rücksicht  auf  eine  Zeichnung,  die  Sie 
im  §  100  meiner  Psychologie  finden,  will  ich  die  schiechter  verbünd, 
Reihen  steil,   die  besser  verbundenen  flach  nennen;  und  die  Flachheit  wird 

hier  ein  Lob  bezeichnen. 

3.  Die  Reihen  können  gleichartig  seyn  oder  ungleichartig;  und  zwar 


6 


AlA      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

sowohl  in  Ansehung  ihres  Verbindungsgrades  als  auch  der  Stärke  ihrer 
einzelnen  Glieder.  Bey  den  ungleichartigen  können  entweder  am  Anfange, 
oder  am  Ende,  oder  irgendwo  in  der  Mitte  die  stärkeren  Glieder  ihren 
Platz  haben.  Wollen  Sie  hiebey  schon  auf  den  Rhythmus  sehen,  in  welchem 
eine  Reihe  (etwa  poetisch  oder  auch  musicalisch)  gegeben  wurde :  so 
haben  die  stärkeren  Glieder  ihren  Vorzug  entweder  durch  Energie  oder 
durch   Dauer  erlangt. 

4.  Oftmals  gelten  viele  Reihen  für  eine.  Was  zehnmal  wiederhohlt 
wurde,  das  mufs,  wenn  es  eine  Reihe  in  sich  schliefst,  diese  Reihe  zehn- 
fach ins  Bewufstseyn  bringen,  wobey  die  vorigen  Verschiedenheiten  Statt 
finden  können.  Wenn  z.  B.  Ihr  Zögling  ein  langes  und  schweres  Wort 
sich  einprägen  soll,  so  werden  Sie,  da  er  es  das  erstemal  nicht  recht  be- 
hält, es  langsamer  sprechend  wiederhohlen.  Nun  ist  aber  das  Wort  eine 
Reihe  von  Vocalen  und  Consonanten.  In  Folge  Ihres  Sprechens  bildet 
sich  diese  Reihe  im  Kopfe  des  Lehrlings  anders  und  anders.  Die  daraus 
entspringende  Reproduction,  wenn  er  das  Wort  nun  endlich  gelernt  hat, 
erscheint  Ihnen  als  einfach,  während  sie  wirklich  der  Complexus  aller 
derjenigen  R'eproductionen  ist,  welche  eben  so  vielen  Auffassungen  der 
nämlichen   Reihe  entsprechen. 

5.  Die  Reproduction  kann  unter  verschiedenen  Umständen  geschehen. 
Es  begegnet  uns  oft,  dafs  ein  Knabe  heute  scheint  vergessen  zu  haben, 
was  er  morgen,  ohne  es  von  neuem  gelernt  zu  haben,  dennoch  wieder 
weifs.  Und  die  Naturen  unterscheiden  sich  gar  sehr  in  Ansehung  der 
Reproduction,  so  dafs  Mancher,  der  eine  gröfsere  Intensität  seiner  Vor- 
stellungen innerlich  besitzt,  dennoch  äufserlich  schwächer  scheint,  als  ein 
Anderer,  dem  die  Reproduction  leichter  gelingt.  Dahin  gehören  die 
Klagen,  dafs,  wer  leicht  lerne,  nicht  lange  behalte. 

6.  Um  uns  jetzt  den  zusammengesetzten  Reihen  zu  nähern,  wollen 
wir  zunächst  uns  erinnern  an  Reihen,  die  in  sich  zurücklaufen,  indem 
entweder  ihr  Anfangsglied  sich  wiederhohlt,  oder  eins  der  folgenden.  Das 
kommt  vor  bey  Allem,  was  als  rund  in  irgend  einem  Sinne,  oder  als 
periodisch  soll  aufgefafst  werden. 

7.  Bey  ungleichartigen  Reihen  bilden  oftmals  einige  hervorragende 
Glieder  wiederum  unter  sich,  und  herausgehoben,  eine  Reihe.  So  bey 
Classificationen,  wo  die  Gattungsbegriffe  unter  sich  coordinirt  sind.  Die 
grofse  Erleichterung,  welche  dem  Behalten  durchs  Classificiren  zu  Theil 
wird,   beruhet  hierauf. 

8.  Bey  zusammengesetzten  Reihen  hat  oftmals  ein  Glied,  oder  es 
haben  mehrere  Glieder  eine  Seitenreihe,  d.  i.  eine  solche,  deren  Verlauf 
den  Fortschritt  in  der  Hauptreihe  nicht  fördert.  So  in  Gleichungen,  wo 
die  Coefficienten  selbst  Reihen  bilden.  Denken  sie  etwa  an  den  Haupt- 
satz von  den  algebraischen  Gleichungen,  und  an  die  Zusammensetzung 
der  Coefficienten  aus  den  Wurzeln.  Wollen  Sie  die  Reihe  verfolgen, 
welche  zur  Bildung  eines  Coefficienten  gehört,  so  steht  Ihr  Denken  so 
lange  still  bey  derjenigen  Potenz  der  unbekannten  Gröfse,  wozu  der 
Coefficient  gehört.  Dabey  geschieht  dem  psychischen  Mechanismus  eine 
Gewalt,  die  unangenehm  empfunden  wird,  und  viel  zu  dem  beyträgt, 
was  in   den   Wissenschaften  schwer  und  trocken  zu  heifsen  pflegt. 


26.  Brief. 


l'.S 


9.  Es  kann  aber  auch  einerley  Glied  mehrere  Seitenreihen  haben, 
die  strahlenförmig  von  ihm  ausgehn.  So  in  der  Geschichte  eines  grofsen 
Staats  der  Moment  seines  Zerfallens  in  viele  kleinere;  oder  die  Wirksam- 
keit eines  grofsen  Mannes  nach  verschiedenen  Richtungen. 

10.  Die  Seitenreihen  können  unter  einander  communiciren.  So  die 
Radien  eines  Kreises  durch  die  Sehnen. 

11.  Bey  Complexionen  von  Vorstellungen  (dergleichen  alle  unsre 
Begriffe  von  Sinnen -Gegenständen  sind,)  kann  jedes  Element  der  Com- 
plexion  (jedes  sinnliche  Merkmal)  Anfangspunct  einer  Reihe  (z.  B.  von 
Veränderungen)   seyn. 

12.  Es  können  Reihen,  die  einfach  anfingen,  weiterhin  gleichsam 
einmünden  in  eine  Complexion.  Ein  brennender  Schwefelfaden,  der  am 
Ende  eine  Mine  entzündet,  kann  hier  als  Symbol  dienen.  Endlich  giebt 
es  Reihen,  deren  eine  die  Umkehrung  der  andern  ist;  wie  bey  allem, 
was  als  räumlich  aufgefafst  wird.  Doch  die  bisherige  Sonderung  mag 
einstweilen  genügen,  um  die  grofse  Mannigfaltigkeit  dessen  anzudeuten, 
worauf  die  Untersuchung  der1  Reihenbildung  Einfiufs  hat;  so  dafs  der 
Lehrer,  der  sie  nicht  kennt  und  nicht  einmal  darnach  fragt,  nirgends 
recht  weifs  was  er  thut,  indem  er  dem  Zöglinge  solche  Reihenbildung 
und  deren  Repröduction  zumuthet. 

26. 
Sie  erwarten  hoffentlich  nicht,  dafs  ich  die  im  vorigen  Briefe  gesonderten 
Puncte  nun  einzeln  abhandeln  werde.  Das  sey  ferne !  Ihrem  Nachdenken 
habe  ich  ein  Feld  bezeichnen  wollen,  worin  es  für  Sie  gewifs  viele  schon 
längst  wohlbekannte  Stellen  giebt,  die  Sie  jedoch  vielleicht  noch  nicht  in 
solchem  Ueberblick  zusammengefafst  hatten.  Allein  das  blofse  Sondern 
und  Zusammenfassen  hilft  nicht  hinweg  über  die  gewöhnliche  Empirie; 
also  auch  nicht  über  die  gewöhnlichen  Bekenntnisse,  man  wisse  eben  nicht, 
wie  es  zugehe,  dafs  ein  Schüler  das  Eine  leicht,  das  Andre  schwer  fafst, 
dafs  der  °eine  hier,  der  andre  dort  stockt;  und  es  sey  eben  so  wenig 
klar,  was  eigentlich  für  den  Lehrer  und  Erzieher  dabey  zu  thun  sey. 
Ohne  Ihnen  nun  grofse  Aufklärungen  zu  verheifsen,  kann  ich  Ihnen  wohl 
eine  Uebung  unseres  Nachdenkens  über  dergleichen  Fragen  anbieten,  — 
wenn  Sie  nämlich  noch  einige  mathematische  Geduld  haben.  Denn  ohne 
solche  wird  zuverlässig  Niemand  den  Eingang  in  dies  Gebiet  der  Unter- 
suchung finden.  „ 

Im  §  86  meiner  Psychologie  erblicken  Sie  die  Buchstaben  I  und  U 
in  dem  oben  erwähnten  Sinne  gebraucht;  nämlich  so.  dafs  P  allemal 
die  reproducirende  Vorstellung,  17  aber  die  reproducirte  bedeutet.  Gesetzt, 
Sie  fragen  einen  Knaben,  wie  heifsen  die  römischen  Könige?  und  er 
antwortet  nun  vom  Romulus  bis  zum  Tarquinius  hin,  so  ist  der  Ge- 
danke der  römischen  Könige  im  Kopfe  des  Knaben  unser  P;  hingegen 
Romulus,  Numa,  Tullus  u.  s.  w.  sind  unsere  77,  JT'  IT",  u.  s  w 

Am  angeführten  Orte  der  Psychologie  erblicken  Sie  auch  den  Buch- 
staben w,  welches  einen  Theil  von  n  bedeutet;  desgleichen  »•,  einen  Theil 


1  „Untersuchung  der"  fehlt  SW. 


416      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

von  77';  to",  einen  Theil  von  77",  u.  s.  f.  Nämlich  von  77  soll  in  der  Zeit 
t  der  Theil  u>,  von  77'  in  der  Zeit  t'  der  Theil  w',  von  77"  in  der  Zeit 
t"  der  Theil  ew"   ins   Bewufstseyn  getreten  seyn. 

Warum  sind  denn  nicht  alle  diese  Theile  gleich?  Was  bestimmt  die 
Vorstellung  P,  dafs  sie  nicht  Romulus,  Numa,  Tullus,  u.  s.  w.  alle  auf 
einmal  gleich  weit  ins  Bewufstseyn  vorrücken  läfst?  Wirklich  antwortet  Ihnen 
der  Knabe,  der  schlecht  lernte,  alles  durcheinander;  er  spricht  etwa: 
Romulus,  Ancus,  Tullus,  Tarquinius,  Numa,  u.  s.  w.  Wenn  er  nun 
so  spricht,   woran  liegt  das?    und  was  soll  in   seinem   Kopfe  sich  ändern? 

Sie  wissen  es!  Der  Fehler  mufs  in  der  Verschmelzung  der  Vor- 
stellung P  mit  den  verschiedenen  77  liegen.  Hatte  Ihnen  der  Knabe  da- 
mals, da  Sie  von  Römischen  Königen  kurz  erzählten  (bey  ausführlichem, 
darstellenden  Unterrichte  in  der  Geschichte,  wie  er  sich  für  jüngere 
Knaben  eigentlich  gebührt,  wird  jener  Fehler  nicht  leicht  sich  erzeugen,) 
abwechselnd  bald  gut  bald  schlecht  zugehört:  so  war  die  Vorstellung  eines 
römischen  Königs  in  seinem  Bewufstseyn  bald  auf  bald  abgestiegen,  unter 
mancherley  Zerstreuungen  und  Hemmungen.  So  konnte  es  geschehen, 
dafs  nicht  blofs  die  kurz  genannten  Namen  unter  emander  sehr  wenig 
verschmolzen,  sondern  dafs  auch  ein  gröfserer  Theil  von  P  mit  II"  als  mit 
77",  und  mit  diesem  mehr  als  mit  77'  verschmolz;  und  dann  kam  die 
Reproduction  in  verkehrter  Ordnung  ganz  natürlich  zum  Vorschein. 

Denn  es  sind  ja  die  Reste  r,  r,  r"  u.  s.  w.  auf  welche  Alles  an- 
kommt! Diese  Theile  der  Vorstellung  P  mufsten  in  solcher  Ordnung 
einander  folgen,  wie  es  bey  völliger  Aufmerksamkeit  geschehen  wird,  wenn 
Jemand  hört:  Römische  Könige  sind  Romulus,  Numa,  Tullus,  . . .  Tar- 
quinius Superbus.  Alsdann  nämlich  sinkt  die  Vorstellung  des  Römischen 
Königs  allmählig,  während  die  Namen  genannt  werden.  Freylich  darf  sie 
nicht  so  tief  sinken,  dafs  am  Ende,  wo  Tarquinius  Superbus  genannt 
wird,  der  Begriff  eines  Römischen  Königs  ganz  verschwunden  wäre,  wie 
es  so  oft  Denen  geht,  die  am  Ende  einer  zu  langen  Reihe  nicht  mehr 
wissen  wovon  die  Rede  ist.  Darum  sprach  ich  vorhin  von  einer  Normal- 
länge; die  in  Fällen,  wie  das  vorliegende  Beyspiel  darstellt,  schon  viel  zu 
lang  seyn  würde.  Aber  noth wendig  mufs  eine  Abstufung  eintreten,  ver- 
möge deren,  wenn  von  Römischen  Königen  gesprochen  wird,  dem  Knaben 
früher  Romulus  einfällt  als  Numa,  und  wiederum  die  Vorstellung  des 
Numa  eher  zum    Worte  gelangt  als  die  des  Tullus,  u.  s.  f. 

Und  welches  ist  diese  Abstufung?  —  Von  der  Vorstellung  P  sind 
die  Reste 

r  mit  71 

r'   mit  77' 

r"  mit  77"  u.  s.  w. 

damals  verschmolzen,  als  die  Reihe  sich  bildete.  Aber  in  der  Psychologie 
steht  die  Formel 

o)  =  q\i — e  / 

daher  ich  nicht  vergessen  darf,  dafs  nicht  nothwendig  die  ganzen  77,  77', 


26.  Brief.  ,  j  -j 

Jl"  u.  s.  w.  brauchen  verschmolzen  zu  seyn,  sondern  dafs  von  77  ein 
Rest  p,  von  77'  ein  Rest  p',  von  77"  ein  Rest  p"  mit  den  entsprechenden 
Resten  r  der  Vorstellung  P  kann  verschmolzen  seyn. 

Jedoch  dies  Alles  sollte  ich  hier  als  bekannt  voraussetzen;  desgleichen 
auch  die  Bedeutung  der  Formel,  welche  anzeigt,  dafs  w  sich  der  Gränze 
p  nähert,  und  zwar  schnell,  jedoch  ohne  sie  völlig  zu  erreichen;  oder  mit 
andern  Worten,  dafs  die  Vorstellung  P  allemal  die  geschlossene  Verbindung 
mit  irgend  welchem  72  so  weit,  aber  nicht  weiter,  strebt  wieder  herzu- 
stellen,  als  wie  weit  die  Verbindung  zu  Stande  gekommen  war. 

Jetzt  aber  wollen  wir  nicht  gleich  die  schwierigem  Rechnungen  be- 
rühren, welche  in  der  Psychologie  am  angeführten  Orte  folgen:  sondern 
wir  wollen  ein  leichtes  Gegenstück  zu  jener  Formel  aufsuchen,  dessen 
Voraussetzung  hier  ganz  in  der  Nähe  liegt.  Denn  sprachen  wir  nicht 
früher  schon  von  steifen  Köpfen?  In  solchen  findet  natürlich  die  Repro- 
duction  ein  Hindernifs,  welches  in  der  Regel  mehr  oder  weniger  nach- 
giebig ist.  Setzen  Sie  aber  den  äufsersten  Fall:  es  sey  gar  nicht  zum 
Weichen  zu  bringen.  Das  dürfen  Sie  Sich  freylich  nicht  so  denken,  als 
ob  darin  eine  absolute  Negation  des  Vorstell ens  läge,  sonst  wäre  ja  der 
Mensch,  von  dem  wir  reden,  ganz  im  Schlafe!  Nur  soviel  soll  das  Hinder- 
nifs wirken,  dafs  eine  Vorstellung,  welche  eben  jetzt  zu  anderen  ins  Be- 
wüfstseyn  tritt,  die  ganze  Hemmungssumme,  die  sie  herbeyführt,  allein  tragen 
müsse.  Was  daraus  folgen  wird,  sage  ich  Ihnen  der  Hauptsache  nach 
voraus:  die  Gränze  p,  welcher  sich  w  sonst  annähert,  wird  erniedrigt;  die 
Annäherung  an  dieselbe  aber  beschleunigt.  Da  ich  wünsche,  dafs  Sie 
dies  Resultat  erst  genauer  kennen  und  durchdenken  mögen,  bevor  ich  fort- 
fahre, so  breche  ich  hier  ab;  schalte  aber  einen  kurzen  mathematischen 
Aufsatz  ein,  dem  Sie  eine  beliebige  Aufmerksamkeit  gönnen  mögen. 

Beylage. 

Im  §  88  der  Psychologie  wird  untersucht,  was  die.  Folge  davon  seyn 
müsse,  dafs  im  Bewufstseyn  jederzeit  irgend  etwas  den  reproducirten  Vor- 
stellungen Entgegengesetztes  anzutreffen  seyn  werde?  Es  entsteht  nämlich, 
in  wiefern  der  Hemmungsgrad  dieses  Entgegengesetzten  durch  a  aus- 
gedrückt worden,  aus  dem  durch  Reproduction  hervorgetretenen  w  die 
Hemmungssumme  «  «).  Sie  soll  sich  in  jedem  Zeittheilchen  dt  vertheilen 
zwischen  dem  Entgegengesetzten,  was  eben  vorhanden,  und  zwischen  der 

r  p 

hervorgehobenen    Vorstellung    II    sammt    ihrer    Verschmelzunghülfe    — . 

Am  angeführten  Orte  sind  die  Buchstaben  m  und  n  gewählt,  um  das 
Verhältnifs  dieser  Verth eilung  auszudrücken;  so  zwar,  dafs  m  den  Theil 
m a  m  dt  der  Hemmungssumme  bezeichne,  der  nach  Ablauf  der  Zeit  t 
eben  jetzt  von  der  reproducirten  Vorstellung  Tl  gehemmt  wird;  n  «  w  dt  da- 
gegen das,  was  jenes  Entgegengesetzte  verlieren  soll. 

Wenn  nun  eine  gewisse  Steifheit  vorhanden  ist,  die  nicht  leicht  irgend 
eine  Veränderung  in  dem  vorhandenen  Zustande  der  Vorstellungen  gestattet, 
so  wird,  je  grölser  diese  Steifheit,  um  desto  kleiner  n;  folglich  um  desto 
gröfser  m;  denn  m  -\~  n  =  i,  das  heifst,  die  Hemmungssumme  «  w  sinkt 

Herbart's  Werke.    IX.  ' 


ai  8      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

nothwendig  in  diesem  Augenblick  um  a  ca  dt ,  ihre  Vertheilung  sey 
nun,  welche  sie  wolle.  Setzt  man  durch  eine  Fiction  ein  Maximum  der 
Steifheit,  so  wird  n  =  o ;  das  heifst,  von  dem  Entgegengesetzten  läfst 
sich  gar  nichts  hemmen.  Also  wird  m  =  1 ;  das  heifst,  die  Hemmungs- 
summe u  (o,  welche  aus  der  Reproduction  des  o)  entsteht,  mufs  gänzlich 
dem  (o  selbst  zur  Last  fallen. 

Man  fragt,  wie  unter  solchen  Umständen  das  Steigen  des  u>  bestimmt 
werden  möge?  Und  die  Antwort  ergiebt  sich  von  selbst,  dafs  man  a  to  dt 
von  d  o)  abzuziehen  habe.  Also  am  angeführten  Orte  der  Psychologie 
kommt : 

r 
—  (q  — ■  w)  dt  —  u  ü)  dt   =   d  oj. 

/  r  +  a  II 

und  daraus  (0  =  — ; — *"— =.  I  1  —  e 
x  -\-  a  IL  \ 

Es  nähert  sich  also  jetzt  w  nicht  mehr   der  Gränze  q,    sondern   der 

r 
Bruch  — ; — '——  zeigt  an,  um  wieviel  dieselbe  ist  erniedrigt  worden, 
r  -\-  a  IL 

an 

Man   differentiire  diesen  Bruch   nach   r,    so  kommt   d  r 


(r  +  «  IT)2 

daher,  wenn  r  grofs  ist,  ein  kleiner  Unterschied  in  demselben  nur  wenig 
an  der  Gränze  verändert,  bis  zu  welcher  sich  o  erheben  könnte;  allein 
je  kleiner  r  schon  ist,  um  desto  näher  dem  Verhältnisse,  worin  r  abnimmt, 
wird  auch  die  Gränze  erniedrigt. 

Wiewohl  nun  die  jetzige  Annahme  das  Gegenstück  ist  zu  der  andern, 
als  ob  den  reproducirten  gar  Nichts  im  Bewufstseyn  entgegenstünde:  so 
haben  doch  beyde  Annahmen  das  gemein,  dafs  (o  einer  Gränze  sich  nähern 
soll,  die  es  nie  ganz  erreicht,  obgleich  es  fortwährend  im  Steigen  begriffen 
ist.  Allein  der  Deutlichkeit  wegen  mag  eine  Angabe  bestimmter  Zahlen 
hinzukommen,  damit  der  Unterschied  klärer  werde. 

Giebt  es  gar  kein   Hindernifs,   so  ist  die  Formel  bekanntlich 

w  =  Q  \i  —  e  / 

Es  sey  JT  =  5,  q  =  4,1,  und  r  durchlaufe  die  Werthe  der  ganzen 
Zahlen  von  10  bis  1,  so  würde  in  allen  Fällen  <o  =  4,1;  wenn  ihm  un- 
endliche Zeit  gestattet  wäre.  Da  nun  hierin  kein  Unterschied  ist,  so 
wollen  wir,  um  doch  einen  solchen  zu  zeigen,  die  Frage  so  stellen:  wie- 
viel Zeit  braucht  o>,  um  =  4  zu  werden?    Die  Formel  giebt: 


für  r  = 

10, 

t  =     1,856 

r  = 

9, 

t  =     2,063 

r  = 

8, 

t  =     2,321 

r  = 

7> 

t  =     2,652 

r  = 

6, 

t  =    3.094 

rall     \ 

*.« 

s\v. 

ii  — e 


26.  Brief. 


419 


für  r  =  5,  t  =  3,713 

r  =  4,  t  =  4,642 

r  =  3,  t  =  6,189 

r  =  2,  t  =  9,284 

r  =  1,  t  =  18,568 

Während  nun  hier  die  äufserste  Gränze  =  4,1  immer  die  nämliche 
bleibt,  wie  schnell  oder  wie  langsam  auch  Anfangs  die  Annäherung  zu  ihr 
geschähe :   ändert  sich  im   andern  angenommenen  Falle  die  Gränze 


(0 


folgendergestalt  für  n  = 


r  +  «  n 

0  =  4,    1;  u  =    1. 


für  r  =    10  ist  die  Gränze   2,7 


00 


so  müiste  man  r 


r  =  9  „  „  2,635 

r  =  8  „  „  „  2,523 

r  =  7  „  „  „  2,391 

r  =  6  „  „  „  2,236 

r  =  5  „  „  „  2,05 

r  =  4  „  „  „  1,822 

r  ===     3    »     ')  »        Iö37 

r  ==     2    „     „  „        1,171 

r  =     1    „     „  „       0,683 

Sollte    aber    nach    dieser  Formel  w  =  p    werden, 
unendlich  grofs  nehmen. 

Beyde  Annahmen  sind  nun  selbst  nur  Gränzbegriffe,  zwischen  denen 
dasjenige  liegt,  was  wirklich  vorkommt,  aber  schwerer  durch  Rechnung  darzu- 
stellen ist.  Setzt  man  statt  der  vorerwähnten  Steifheit  nur  die  geringste 
Beweglichkeit:  so  wird  w  in  endlicher  Zeit  etwas  höher  steigen,  dann  aber 
wieder  sinken;  wie  in  der  Psychologie  am  angeführten  Orte  gezeigt  ist, 
ohne  dafs  dort  die  Reihenbildung  ganz  ins  Licht  gesetzt  wäre.  Man 
stöfst  nämlich  beym  Gebrauch  der  dortigen  Formeln  auf  eine  Schwierig- 
keit, die  sich  nach  vorstehender  Rechnung  für  die  Gränze  von  w  schon 
hätte  vermuthen  lassen.  Die  Maxima,  bis  zu  welchen  diese  Gröfse  sich 
hebt,  fallen  bey  abnehmendem  r  so  niedrig  aus,  dafs  man  aus  der  in  der 
Psychologie  gegebenen  Entwicklung  eher  auf  ein  Hinzukommen  einer  Vor- 
stellung zu  einer  andern,  als  auf  Zurücktreten  der  früheren  Glieder,  um 
den  folgenden  Platz  zu  machen,  schliefsen  würde. 

Mit  der  vorhergehenden  Zahlenreihe  lassen  sich  nachstehende  Rech- 
nungen vergleichen.  , 

Man  setze  n  =  5;  0  =  4,  IJ  «  =  *>  und>  um  eine  sehr  8ennSe  _ 
weglichkeit  der  altern  Vorstellungen  anzudeuten,  n  =  o,oi;  folglich  m  — 
09*9  Man  lasse  ferner  den  wirksamen  Rest  der  reproducirenden  Vor- 
stellung welcher  mit  r  bezeichnet  worden,  dergestalt  sich  verändern,  dafs 
sein  Werth  =  10  abnehme  bis  9,  oder  sein  Werth  =  6  abnehme  bis 
S  oder  sein  Werth  2  bis  1.  Um  dies  darzustellen,  sind  sechs  Formeln 
nöthig,  die  man  aus  der  Hauptformel  [A]  im  §.  88  der  Psychologie  abzu- 
leiten hat.      Es  sind  folgende: 

27* 


420      in.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie    auf  die  Pädagogik  (1831). 


,9866t") 


1.  wenn  r  =  10 
(o  =  2,7487   (e-0-0033St  _  e- 

2.  wenn  r  =  9 

(0  =  2,652   (e-°'0036t  _e-2>7864t) 

3.  wenn  r  =  6 

w  =  2,2546  (e-0'o°4St  —  e-2'1^*) 

4.  wenn  r  =  5 

(o  =  2,0707   (e-0'00?*  —  e-1^8*1) 

5.  wenn  r  =  2 

«  =  1,1921   (e-^^^t  _  e -'.3828t) 

6.  wenn  r  =  1 

—  1,1816t 


™  =  0,69895   (e-°'oo838t  —  e 


) 


Um  das  Feld  der  Vergleichung  noch  zu  erweitern,  setzen  wh  gerade 
umgekehrt  eine  grofse  Nachgiebigkeit  dessen,  was  der  Reproduction  ent- 
gegenwirkt, voraus ;  indem  wir  n  =  0,9 ;  m  =  o,  1  nehmen,  in  nachstehen- 
den Formeln,  wo  die  übrigen  Werthe  den  vorigen  gleich  sind: 

7.  wenn  r=  10 

ro  =  4,0748  (e-°>°438t  —  e-2'°s62t) 

8.  wenn  r  =  9 

(o  =  4,103   (e-°>°486t  —  e-1'8«11) 

9.  wenn  r  =  6 

<o  =  4,2662  (e-°>°73t  —  e"1-2261) 
1  o.  wenn  r  =  5 

w  =  4,447 1  (e-0-08?4  —  e-1'010?*) 

1 1 .  wenn  r  =  2 

(o  =  9,8897  .  sin.  0,16583  t  .  e_0'25t 

1 2 .  wenn  r  =  1 

0)  =  3,1562  .  sin.  0,25981 1  .  e-0'^1 
Letzte  beyde  Formeln  aus  der  Hauptformel  [B]  am  angeführten  Orte. 
Aus  diesen  Formeln   ergeben  sich  nun    vorzüglich    die   Zeiten,    wann  jede 
der  reproducirten  Vorstellungen  im  Bewufstseyn  ihr  Maximum  erreicht;  des- 
gleichen diese  Maxima  selbst;  nach  folgender  Tafel: 


für  n  =  0,0 

[;  m  =  o,99 

für  n  =  0,9; 

m  =  0. 1 

Zeit  des 
Maximum 

Maximum 

Zeit  des 
Maximum 

Maximum 

r*=  10 

2,2768 

2,7247 

1,9126 

3,6719 

r  =  9 

2,3902 

2,6259 

2,0191 

3,623 

r  =  6 

2,831 

2,22l6 

2,442 

3,3571 

r=  5 

3,0222 

2,0345 

2,6357 

3,2l65 

r  =  2 

3,825 

1,1542 

3,53H 

2,267 

r  =  1 

4,218 

0,67007 

4,0307 

i,493 

1  =  io,    1=9,   1=6  u.  s.  w.  statt  r  =  10,  r  =  9,  r  =  6  u.  s.  w.     SW. 


26.  Briet.  42I 

Jetzt  läfst  sich  die  Frage  leicht  beantworten,  ob  nach  dem  hier  zum 
Grunde  liegenden  Gesetze  der  Reproduction  eine  Reihe  ablaufen  könne? 
Dann  müfste  von  zwey  nahe  gleichen  Resten  der  zweyte  nicht  blofs 
später  das  Maximum  der  Reproduction  bewirken  als  der  erste;  (und  so 
verhält  es  sich  nach  allen  diesen  Rechnungen  wirklich):  sondern  das 
zweyte  Maximum  müfste  auch  kälter  liegen  als  der  gleichzeitige  Stand  der 
vorhergehenden  Vorstellung  im  Bewufstseyn;  welche  zwar  sinkt,  aber  nicht 
blofs  überhaupt  sinken,  sondern  tief  genug  herabsinken  sollte,  um  der  fol- 
genden alsdann,  wenn  sie  am  höchsten  steht,   Platz   zu  machen. 

Um  zu  untersuchen,  ob  dies  geschehe,  setze  man  die  Zeit  für  das 
folgende  Maximum  in  die  nächstvorhergehende  Gleichung,  um  dort  den 
zu  dieser  Zeit  gehörigen  Werth  von  o>  zu  finden. 

•     Also    I.  t  =  2,39   m  die  Gleichung    i.      Es  ergiebt   sich 
w  =  2,7246  >  2,6259 

2.  t  =  3,0222   in  die  Gleichung  3.     Giebt 
to  =  2,2206  >  2,0345 

3.  t  =  4,2i8   in   die  Gleichung  5.      Giebt 
w=  1,1534  >  0,67007 

4.  t  —  2,0191    in   die  Gleichung   7.      Giebt 
(ü  =  3,6628  >  3,623 

5.  t=  2,6357   m  die  Gleichung  9.     Giebt 
™  =  3>35°7  >  3,2165 

6.  t — 4,0307  in  die  Gleichung   11.     Giebt 
0^  =  2,238  >  1,493. 

Das  heifst:  es  findet  sich  in  allen  diesen  Fällen,  die  ein  beträcht- 
liches Gebiet  der  möglichen  Fälle  zwischen  sich  einschliefsen,  dafs  die  vor- 
hergehende Vorstellung  zu  der  Zeit,  wo  die  nachfolgende  ihren  höchsten 
Stand  erreicht,  noch  immer  dieselbe  überragt;  und  ihr  nicht  also  weicht, 
wie  in  einer  Reihe  das  vorhergehende  Glied  dem  folgenden  weichen  mufs. 
Vielmehr  zeigt  sich,  dafs  jede  Vorstellung  kurz  nachdem  sie  ihr  Maximum 
erreicht  hatte,  nur  sehr  langsam  sinkt;  wie  sich  auch  erkennen  läfst,  wenn 
man  die  Gleichungen  differentiirt. 

Für  den  Umfang  der  Geltung  dieser  Rechnungen  ist  noch  zu  be- 
merken, dafs,  wofern  das  Verhältnifs  zwischen  r  und  11  das  nämliche,  auch 
«,  m  und  n  gleich  bleiben,  alsdann  w  in  gleichem  Verhältnisse  mit  q 
wächst  und  abnimmt. 

Hieran  knüpft  sich  ein  Umstand,  der  nicht  unbeachtet  bleiben  darf, 
dessen   Darlegung  aber    einen   Rückblick    auf   die  Verhältnifszahlen  m  und 

n  fodert. 

Wir  haben  dieselben  hier,  wo  nur  ein  Rechnungs- Gebiet  sollte  ab- 
gesteckt werden,  willkührlich  angenommen.  In  der  Wirklichkeit  aber  er- 
giebt sich  das  damit  ausgedrückte  Verhältnifs  aus  den  übrigen  Gröfsen. 
Obgleich  eigentlich  in  dem  Reste  r  die  erhebende  Kraft  liegt,  wodurch  die 
mittelbare  Reproduction  der  Vorstellung  TI  geschieht:  so  erhält  sich  doch 
gegen  den  Widerstand,  der  sie  wieder  herabzudrücken  strebt,  dieselbe 
Vorstellung  zum  Theil  durch  ihre  eigne  Energie;  so  dafs  die  Verhältnifs  - 

zahl  m  abhängt  von  JT  -f  ^;   denn  dies  ist   die  Gröfse,   welcher  m  um- 


A22      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 


gekehrt  proportional  ist.*  Folglich:  je  gröfser  q,  desto  kleiner  wird  m, 
das  heilst,  desto  günstiger  gestaltet  sich  jenes  Verhältnis  für  die  Repro- 
duction  des  dazu  gehörigen  II. 

Ferner  ist  aus  den  ersten  Elementen  der  mathematischen  Psychologie 
bekannt,  dafs  die  Reste  in  weit  grösserem  Verhältnisse  wachsen,  als  die 
Vorstellungen  selbst,   denen  sie   entnommen  sind. 

Endlich  erinnere  man  sich,  dafs  in  den  vorigen  Rechnungen  stets 
II  =  5  gesetzt,  —  oder  dafs  die  zu  reproducirenden  Vorstellungen  immer 
als  gleich  stark  angenommen  wurden. 

Von  solchen  also  ist  gesagt,  dafs  niemals  die  zweyte,  durch  ein 
schwächeres  r  hervorgehobene,  werde  die  vorige  übersteigen  können. 

Hingegen  wenn  II'  gröfser  als  II,  und  II"  gröfser  als  TT,  und  IL' 
gröfser  als  II"  genommen,  so  mögen  immerhin  die  zugehörigen  r,  r',  r", 
r'"  eine  fallende  Reihe  ausmachen :  es  können  dennoch  die  verschiedenen 
IT,    indem    sie    successiv  hervortreten,    einander    übersteigen.     Denn    die 

Gröfse  II  -| =y   wird  wachsen,   sobald    man   II  gröfser  nimmt,   weil  unter 

übrigens  gleichen  Umständen  $  einen  weit  bedeutenderen  Werth  bekommt, 
wenn  ein  gröfseres,  als  wenn  ein  kleineres  II  der  Hemmung  damals  unter- 
worfen war,  als  der  Rest  q  von  U  bestimmt  wurde. 

Also  kurz:  Reihen  mit  wachsenden  Gliedern  können  sehr  viel  leichter 
ablaufen,   als  solche,   deren   Glieder  von  gleicher  Stärke  sind. 

Was  aber  die  gleich  starken  TL  anlangt:  so  haben  wir  im  Vorigen 
für  sie  eigentlich  noch  zu  günstig  gerechnet.  Denn  wir  liefsen  r  ab- 
nehmen, ohne  dem  gemäfs  m  und  n  zu  ändern.  Wenn  aber  einerley  x 
Vorstellung  P,  zwey  Reste,  r  und  r',  mit  TL  und  IT  verschmolzen  hat, 
so  mufs    die    oben    erwähnte   Gröfse,    wornach  m   und  n    sich    richten,    — 

nämlich  IL  -f-  —    —    offenbar    abnehmen,    während   statt  r  das   kleinere  r1 

gesetzt  wird.  Also  wächst  m,  das  heifst,  das  Verhältnis  wird  ungünstiger 
für  die  Reproduktion  des  IT.  Ohnehin  aber  fanden  wir  schon,  TL'  könne 
U  nicht  übersteigen;  und  dies  gilt  nun  um  so  mehr  wegen  des  hier  nach- 
träglich angegebenen   Umstandes. 


2-j. 

„Aber  was  in  aller  Welt  gehn  solche  Berechnungen  den  praktischen 
Erzieher  an?  Soll  etwan  aller  Unterricht  in  steigenden  Reihen  ertheilt 
werden?  Wie  wäre   das  möglich!" 

So  höre  ich  Sie  reden,  mein  theurer  Freund!  und  verhehle  mir 
nicht,  dafs  der  sonst  starke  Faden  Ihrer  Geduld  doch  wohl  endlich  könne 
gerissen  seyn.  Wird  es  mir  etwas  helfen,  wenn  ich  Sie  auf  das  vielbe- 
deutende Wort:    Gestaltung,   zurückzuschauen  bitte?    — 


*  Psychologie  §  88. 


„von  einerley"  statt  ,, einerley"  SW. 


27.  Brief.  423 

Haben  Sie  denn  auch  wirklich  den  vorstehenden  Aufsatz  gelesen? 
Wo  nicht,  so  lassen  Sie  ihn  noch  ein  Weilchen  liegen.  Vielleicht  dient 
er  Ihnen  künftig.  Für  jetzt  müssen  wir  den  nämlichen  Gegenstand  an 
einem  andern   Puncte   angreifen.      Dafs  Sie  die  Gleichung 


(,i  =  o  \i  —  e 

noch  in  Gedanken  haben:  daran  wenigstens  darf  ich  nicht  zweifeln;  denn 
ohne  diese  giebt  es  nun  einmal  für  mich  keine  Psychologie,  und  soviel 
mufs  ich  schon  als  von  Ihnen  zugestanden  voraussetzen.  Wie  wäre  es, 
wenn  wir  einmal  auf  den   Differentialquotienten   derselben,  nämlich 

rt 

d  ( 0       r  0  Yt 

—  —  —     p       *  *■ 

dt        II  • 

unsre  Aufmerksamkeit  richteten?  Sie  wissen  schon  aus  der  Psychologie 
(dort  §.  86),  was  dieser  Quotient  zu  bedeuten  hat.  Er  zeigt  nämlich  die 
Geschwindigkeit,  oder  was  hier  dasselbe  ist,  die  Energie  des  augenblick- 
lichen Hervortretens  an;  und  die  Exponentional-Gröfse  mit  dem  negativen, 
von  t  abhängenden  Exponenten  sagt  so  deutlich  als  irgend  eine  Sprache 
es  ausdrücken  kann,  dafs  diese  Energie  mit  der  Zeit  abnimmt,  ohne 
jemals  völlig  aufzuhören. 

Nun  beschäftigt  uns  aber  für  jetzt  nicht  irgend  ein  einzelnes  10, 
sondern  es  müssen  deren  zum  mindesten  zwey  zugleich  in  Betracht  gezogen 
werden,  damit  wir  sehen,  ob  dieselben  als  Glieder  einer  Reihe  können 
nach    einander    ins    Bewufstseyn    kommen.      Zwar  das    blofse    Nach- 

einander macht  uns  schon  längst  keine  Schwierigkeit  mehr;  darüber  sprechen 
vielmehr  unsre  Rechnungen  klar  und  offen.  Nur  schwebt  noch  in  Frage, 
unter  welchen  Umständen  das  zuerst  ins  Bewufstseyn  getretene  Glied  dem 
nachkommenden  weichen,  und  Platz  räumen  möge?  Diese  Frage  aber 
läfst,  wie  Sie  nun  sehen  werden,  keine  einfache  Antwort  zu.  Nothwendig 
mufs  dabey  ein  Punct  ins  Auge  gefafst  werden,  der  bey  Allem,  was  Be- 
wegung heifsen  kann,  das  zunächst  Entscheidende  ausmacht,  und  das 
ist  die  Geschwindigkeit;  die  wir  nun  für  zwey  verschiedene  w  zu  ver- 
gleichen haben.  Zu  w  und  co'  denken  Sie  die  zugehörigen  r  und  r',  U 
und  J7',  Q  und  tV  hinzu.  Nun  mag  die  anfängliche  Geschwindigkeit  des 
co  gröfser,  ja  immerhin  viel  gröfser  gewesen  seyn,  als  die  des  co':  so  kann 
ich  doch  fragen,  ob  es  nicht  irgend  eine  Zeit  geben  werde,  worin  sie 
beyde  gleich  werden?  Um  dies  zu  entscheiden,  setze  ich  versuchsweise 
folgende  Gleichung  an: 

rt  r't 


woraus  folgt 


rp       "  n     ry     -    n 

ro  r'o'  /r         r' \ 

log.   nat.  Jl-  log.  nat.   -^  =  ^[ff- ff) 

So   schreibe   ich    fürs   erste   der  Deutlichkeit    wegen.     Aber   der  Be- 
griff des  Verhältnisses  zwischen  r  und  II,    den  man,   wäre  nicht  ein  Mis- 


424      m>  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1\ 

verständnifs    zu    befürchten,    beynahe    als    den    Begriff    des    Verhältnisses 

zwischen  Kraft  und  Last  ansehen  möchte,   —   dieser  Begriff  verdient  wohl 

ein    eignes    Zeichen,    welches    zur    Abkürzung    dienen    kann.      Wir    wollen 

r 
also    schreiben:    —  =g;  so  haben  wir 


log  gso  —  log  gy  =  t  (g— g') 

oder  _±-   (log4  +  log^)  =  t 

ff— K'    V         £  Q'l 


Ö         Ö         x  o 


Es  wird  Ihnen  nun  sogleich  einfallen,  dafs  t  nicht  negativ  seyn 
könne;  denn  die  Zeit  geht  immer  vorwärts;  und  wir  können  sie  in  der 
Pädagogik  eben  so  wenig  als  in  der  Politik  rückwärts  schieben.  Wenn 
also  die  Formel  sagt,  etwas  würde  in  einer  negativen  Zeit  geschehen,  so 
geschieht  es  sicher  gar  nicht. 

Setzen  wir  nun  fürs  erste  q  =  q\  so  bleibt  t  jedenfalls  positiv,  wenn 
gleich  g'  gröfser  wäre  als  g.  Also  giebt  es  dann  allemal  einen  Augen- 
blick, in  welchem  die  beyden  Geschwindigkeiten  gleich  werden.  Um 
dieses  genauer  zu  erwägen,  wollen  wir  bedenken,  dafs  im  ersten  Augen- 
blick, in  welchem  t  noch  =  0  ist,  die  beyden  Vorstellungen  mit 
den  Geschwindigkeiten  g  q  und  g'  q'  sich  erheben;  also  g  und  g',  wenn 
wir  beyde  q  gleich,  und  =  1  annehmen.  Welche  von  beyden  nun  auch 
die  geschwindeste  sey,  ihre  Erhebung  wird  sich  verzögern,  und  zwar  so 
sehr,  dafs  die  andre  sie  nicht  blofs  einhohlt,  sondern  übertrifft;  nämlich  an 
Geschwindigkeit,  womit  freylich  noch  kein  Einhohlen  in  Ansehung  des 
Standpunctes  im   Bewufstseyn  verbunden  ist. 

Anders  kann  sichs  ereignen,  wenn  zwar  g'  <  g,  aber  zugleich  q'  so 
grofs  ist,  dafs  dennoch  g'  q'  >  g  q;  diesen  Fall  setzen  wir  für  jetzt  bey 
Seite. 

Allein  wenn  auch  t  positiv  ist,  so  kann  sich  doch  die  Zeit  des  Ein- 
hohlens  an  Geschwindigkeit  mehr  oder  weniger  in  die  Länge  ziehn. 
Nehmen   wir  q   =  q',  so  ist  unsre   Formel 

logi=t 


g  —  g' 


er' 

o 


wobey    wir    uns   zuerst    an  die  früher   gebrauchten  Werthe    von  r  und  II 

10     9      6      5      2      1 
erinnern,  welchen  gemäfs  solche  Brüche,  wie  — ,  — ,   — ,   — ,  — ,   ■ — ,   durch 

5  5  5  5  5  5 
g  oder  g'  ausgedrückt  werden.  Für  diese  g  und  g'  wollen  wir  nun 
erstlich  das  erste  Paar  Brüche,  dann  das  zweyte  Paar  setzen,  dann  das 
dritte.  Das  giebt,  1.  t  =  0,5268.  2.  t  =  0,9116,  und  3.  t  =  3,465. 
Wenn  Sie  diese  gefundenen  Werthe  von  t  rückwärts  durchlaufen, 
so  wird  Ihnen  auffallen,  dafs  0,51  ...  kaum  mehr  ist  als  das  Umgekehrte 

10  .  100  99  . 

von  -— .      Hätten    wir  g  =  und  s'    =         ,    also    noch    näher    bei- 

5  5  5 

10        ,    9  ,       .  . 

sammen,   als   vorhin  -       und  —  genommen,    was   möchte  herausgekommen 

0  0 

seyn?   Vermuthlich        -?    Ta,    so    ists;    nämlich    genauer    0,0502517.      Sie 

100 


27.  Briet.  425 

werden   Sich  nicht  irren,   wenn   Sie  hieraus  den   Schlufs   ziehen,  dafs   für  g 

1        n 


=  g'  allemal 


und  dafs  dieses  —  zugleich    der    kleinste  Werth    ist,    welchen    die    Formel 

er 

o 

für  t  annehmen  kann;  wobey  Sie  bedenken  mögen,  dafs  Sie  eine  ganz 
vollkommene  Gleichheit  zweyer  reproducirten  Vorstellungen  in  Ansehung 
des  Kraftverhältnisses,  wodurch  dieselben  gehoben  werden,  nicht  behaupten 
können.  Der  allermindeste  Unterschied  aber  braucht  schon  einige  Zeit,  um 
in  völlige   Gleichheit  der  Geschwindigkeiten    überzugehn. 

Wenn  Sie  nun  fragen,  was  ich  mit  dem  Allen  wolle:  so  werden  Sie 
wohl  veranlafst  seyn,  einen  Blick  in  meinen  vorstehenden  mathematischen 
Aufsatz  zu  thun;  und  zwar  auf  das  Täfelchen,  worin  die  Maxima  und 
deren  Zeiten  angegeben  sind.  Dort  sieht  man,  dafs  die  Zeiten  für  die 
Maxima  später  einzutreffen  pflegen,  als  die  jetzt  eben  betrachteten,  worin 
die  Geschwindigkeiten  gleich  werden.  Doch  wir  wollen  uns  bey  diesem 
wichtigen  Puncte  nicht  übereilen.  Nicht  blofs  um  dies  zu  verhüten,  sondern 
auch  um  uns  überhaupt  den  Gegenstand  geläufiger  zu  machen,  wollen 
wir  einmal  die  Rechnung  etwas  anders  wenden.  Wir  können  füglich 
zwischen  II  und  II'  einen  Verhältnifs  -  Exponenten  annehmen,  der- 
gestalt dafs 

n  =  m  .  w 

wo  m    eine  beliebige    positive  Zahl    seyn   wird.      Alsdann    ergiebt  sich  aus 


dem  obigen 

log. 

r  .  p       ,       r'  .  p'              /  r           r'  \ 

v        loo-.        ^     =   t     „     -  z=r)  sogleich 
11           °     II'              l/T       77'/      b 

r  p               r  —  r'  m 

lnrr                ^                                                        t 

lug                               ,-,-         •    L 

m   r'   p'              m  IL' 

r  —  r'  m 
1^1    7T'                                               t 

oüei  11    — :            .                        •  l 
m  log         r  p 

m  r'  o' 
wo  ins  Auge  fällt,  dafs  t  und  77'  mit  einander  in  geradem  Verhältnisse 
wachsen  und  abnehmen,  wenn  man  die  übrigen  Gröfsen  gleich  bleiben 
läfst.  Ist  uns  also  daran  gelegen,  uns  Fälle  zu  erdenken,  in  welchen  die 
Zeit,  bis  zu  welcher  die  Geschwindigkeiten  gleich  grofs  worden,  länger  sey 
als  früher  gefunden,  so  gelangen  wir  sehr  leicht  dazu,  sobald  wir  ein 
gröfseres  77'  als  bisher  annehmen.  Dann  wird  II  noch  gröfser,  wofern  m 
eine  ganze  Zahl  oder  ein  unächter  Bruch  ist. 

Jene  andre  Zeit  hingegen,  wodurch  das  Maximum  der  Vorstellungen 
im  Bewufstseyn  bestimmt  wird,  wächst  keinesweges  mit  dem  Werthe,  den 
wir  für  77  annehmen.* 


*  Wenn  77  grofs  ist,  mufs  m  klein  werden;  nämlich  dasjenige  m,  welches  in  dem 
Ausdrucke  m««dt  die  Hemmung  anzeigt,  die  auf  77  fällt.  Alsdann  wird  ,m ,  §  88 
4er   Psychologie    auch  f   klein,    und    n«    dagegen   grofser,    so  dafs  a.  a.  O.  die  *ormel 


426      HL   Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die   Pädagogik   (1831). 


Wir  dürfen  also  nicht  sicher2  darauf  zählen,  dafs  unter  allen  Um- 
ständen die  Vorstellungen  früher  zur  Gleichheit  der  Geschwindigkeit,  als 
zu  ihrem  Maximum  gelangen;  sondern  wir  müssen  darauf  gefafst  seyn, 
dafs  in  vielen  Fällen,  besonders  bey  grofsem  Werthe  von  II  und  II',  die 
Maxima  früher  eintreten,  als  die  Geschwindigkeiten  gleich  wurden.  Dies 
veranlafst  nun  endlich  folgende  Betrachtungen  zweyer  wesentlich  ver- 
schiedenen  Klassen  möglicher  Fälle. 

1.  Wenn  einerley  Widerstand  auf  zwey  in  der  Reproduction  jetzt 
begriffene  Vorstellungen  hindernd  einwirkt:  so  erleiden  beyde  in  dem 
Augenblicke,  da  ihre  Geschwindigkeiten,  oder,  was  hier  dasselbe  ist,  die 
Energien  ihrer  Hervortretens  gleich  sind,  auch  gleich  starken  Druck.  War 
aber  vor  diesem  Augenblicke  die  Geschwindigkeit  der  einen  hervortretenden 

r 

wegen    eines    gröfsern    —  die  gröfsere:   so  wird  sie  von  nun  an  die  kleinere. 

Das  heifst,  sie  vermag  nun  dem  fortdauernden  Drucke  weniger  Haltung 
entgegenzusetzen.  Dagegen  wird  der  Druck,  den  sie  leidet,  vermehrt,  in- 
dem ihn  die  andre,  jetzt  mit  mehr  Energie  vordringende,  in  gröfsere  Spannung 
setzt.  So  kann  es  in  vielen  Fällen  geschehen,  dafs  die  beyden  Vorstellungen  als 
Glieder  einer  Reihe  einander  folgen;  indem  die  zweyte  Vorstellung  gerade 
deshalb,  weil  sie  ihrem  Zielpuncte  sich  langsamer  genähert  hat,  jetzt  noch 
Energie  genug  besitzt,  um  das  gemeinsame  Hindernifs  wider  die  erste  zu 
drängen,  und  solchergestalt  dieselbe  zum  Sinken  zu  bringen,  noch  ehe 
das  derselben  eigentlich  bestimmte  Maximum  erreicht  ist.  Gilt  nun  dieses 
von  der  ersten  und  zweyten  Vorstellung,  so  gilt  es  ebenso  von  der  zweyten 
und  dritten;  dann  wiederum  von  der  dritten  und  vierten,  und  so  fort  von 
einer  ganzen   Reihe. 

Um  aber  den  Grundgedanken,  welcher  als  der  Schlüssel  des  Räthsels 
vom  Ablaufen  der  Vorstellungsreihen  hier  dargeboten  ist,  scharf  zu  fassen, 
müssen  wir  uns  erinnern,  dafs  die  Reste  r  und  r',  wodurch  die  in  Re- 
production Begriffenen  gehoben  werden,  einer  und  der  nämlichen  Vor- 
stellung P  angehören;  und  besonders,  dafs  der  Rest  r'  nicht  etwan  ein 
abgeschnittenes  Stück  von  P  ist,  welches  verschieden  wäre  von  einem  an- 
dern Stücke  r;  (gegen  solchen  Misverstand  ist  in  der  Psychologie  genug 
gewarnt  worden.)  Vielmehr,  die  Energie  des  kleinern  r'  liegt  ganz  und 
gar  in  dem  gröfsern  r;  und  wenn  wir  sagen,  das  kleinere  dränge  von  dem 
Augenblicke  an,  da  die  Geschwindigkeiten  gleich  wurden,  den  gemeinsamen 
Widerstand  gegen  das  gröfsere,  so  liegt  die  Gemeinsamkeit  gerade  darin, 
dafs   eigentlich  immer  die    nämliche   Vorstellung   P   die    reproducirende    ist, 


1  s 

B    mufs    gebraucht    werden ,     womit     t  =  —  ang.    tang  —  zusammenhängt.      Hier   wird 

t  =l'n« — f'-'  nicht  viel  kleiner  seyn  als  =  1,  falls  nicht  etwan'  der  Hemmungsgrad  a 
sehr  klein  genommen  wurde.  Der  Winkel  einer  Tangente,  welcher  t  angiebt,  kann  nie 
sehr  grofs  seyn.  Es  scheint  nicht  nöthig,  die  möglichen  Fälle  genauer  zu  sondern, 
welches  weitläuftige   Rechnungen   erfodern  würde. 


1  „etwan"    iehlt  SW.     Desgl.    das  Gleichheitszeichen   (=)    hinter  dem  e  am  An- 
fang dieser  Zeile. 

2  „sehr"  statt  „sicher"  SW. 


28.  Briet.  427 

und  dafs  sie  nur  die  Art  und  Weise  wechselt,  gegen  den  Widerstand  vor- 
zudringen, indem  sie  von  jenem  Augenblicke  an  mehr  Energie  in  die 
Reproduction  des  FL1  als  das  JT  hineinlegt.  Allerdings  aber  trifft  die  Hem- 
mung durch  den  Widerstand  nicht  blofs  die  Hülfe  der  Vorstellung  P, 
sondern  auch  die  Vorstellung  JT  selbst,  denn  der  Widerstand  giebt  in  soweit 
nicht  nach,  als  statt  seiner  noch  irgend  etwas  Anderes  zum  Weichen  kann 
gebracht  werden. 

2.  Das  Vorstehende  fällt  weg,  wenn  für  ein  paar  Vorstellungen  der 
Augenblick,  in  welchem  sie  frey  steigend  zur  Gleichheit  der  Geschwindig- 
keiten gelangen  würden,  so  spät  kommt,  dafs  sie  wegen  des  Druckes,  unter 
welchem  sie  wirklich  steigen,  schon  früher  das  Maximum  erreichen,  wel- 
ches die  Gränze  bestimmt,  die  sie  nicht  übersteigen  können.  Dann  ist 
an  kein  Ablaufen  einer  Reihe  mehr  zu  denken,  sondern  beyde  sinken 
nun  langsam;  jedoch  so,  dafs  die  erste  der  beyden  immer  höher  im  Be- 
-wufstseyn  steht  als  die  zweyte;  eben  so  die  zweyte  höher  als  die  dritte, 
•die  dritte  höher  als  jede  folgende. 

28. 

Sehr  gern,  mein  theurer  Freund,  möchte  ich  Ihnen  nun  die  päda- 
gogische Bedeutung  der  gefundenen  Resultate  in  ein  helles  Licht  setzen; 
aber  ich  gehe  mit  einiger  Schüchternheit  an  den  Versuch.  Nicht  etwan, 
als  ob  es  mich  schwer  dünkte,  Sie  aus  den  Buchstaben  unserer  Formeln 
heraus,  und  wieder  in  den  Kreis  des  gewohnten  pädagogischen  Denkens 
zu  führen:  sondern  darin  hegt  die  Schwierigkeit,  dafs  mir  jene  Formeln 
als  ein  Schatz  erscheinen,  der  an  Folgerungen  unerschöpflich  ist;  und  dafs 
ich  mir  nicht  zutraue,  einen  Gegenstand,  der  mir  selbst  noch  ziemlich 
neu  ist,  schon  für  die  Darstellung  hinreichend  in  der  Gewalt  zu  haben. 
Verlangen  Sie  deshalb  ja  keine  pünktliche  Ordnung!  Es  mufs  mir  erlaubt 
seyn,  zuerst  das  anzufassen,  was  am  handgreiflichsten  ist;  mit  dem  Vor- 
behalt, später  zurückzukommen  auf  Bemerkungen,  die  eigentlich  näher  lagen. 

Wir  gedachten  früherhin  oft  und  lange  der  verschiedenen  Anlagen 
und  Eigenheiten,  welche  dem  praktischen  Erzieher  bald  als  unüberwind- 
liche Hindernisse  entgegen stehn,  bald  aber  auch  ihm  Vortheile  darbieten, 
die  er  benutzen  soll.  Zu  diesen  Eigenthümlichkeiten  der  Zöglinge  gehört 
unstreitig  ihre  verschiedene  Disposition  zum  äulseren  Handeln.  Die  einen 
sitzen  geduldig,  die  andern  können  nicht  ruhen;  manche  können  keinen 
Gegenstand  erblicken,  den  sie  nicht  stofsen,  drehen,  irgendwie  in  Be- 
wegung setzen  müfsten.  Einige  sind  maulfaul,  andere  gesprächig;  einige 
unbehültiich,  andre  behende,  gelehrig,  geschickt.  Diese  Fähigkeit  zum 
äufsern  Handeln  ist  nicht  etwan  einfach,  so  dafs  man  kurz  und  gut  sagen 
könnte  sie  sey  in  einem  gewissen  Grade  vorhanden  oder  nicht:  sondern 
aar  sehr  vielfach  und  verschieden,  so  dafs  eine  Art  derselben  vorhanden 
seyn  kann,  wo  die  andre  fehlt.  Dafs  nun  dieses  äufsere  Geschick  einen 
sehr  grofsen  Einflufs  auf  die  Bildsamkeit  der  Zöglmge  hat,  weiis  Jeder- 
mann Sollten  wir  aber  nicht  genauer  ausforschen  können,  welche  Be- 
wandnifs  es  damit  eigentlich  habe?  . 

Gleich  zuerst   fällt    Ihnen    gewifs    ein,  dafs    doch    das  Geschick    kein 
blofs  und  lediglich  äufseres  seyn  könne.     Vielmehr  werden  Hände,  Füfse, 


428      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

Sprachorgane,  alle  bewegliche  Theile  des  Leibes  doch  erst  durch  den 
Geist  in  eine  solche  Bewegung  gesetzt,  die  man,  wenn  auch  nur  in  der 
allerniedrigsten  Bedeutung,  als  zweckmäfsig  und  geschickt  zu  irgend  Etwas 
soll  ansehn  können.  Wo  aber  Einer  ungeschickt  ist,  da  klagt  er  ge- 
wöhnlich :  ich  weifs  nicht,  wie  ich  das  anfangen  soll.  Und  was  antwortet 
etwa  der  Erzieher?  Den  Anfang  will  ich  dir  zeigen,  oder  für  dich  machen; 
versuche  nun,  fortzufahren! 

Und  Sie,  mein  Freund!  sehen  nun  wenigstens,  wie  dies  mit  dem 
obigen  zusammenhängt.  Wer  nicht  anzufangen  oder  nicht  fortzufahren 
weifs,  in  dessen  Wissen  liegt  ein  Fehler,  und  zwar  ein  Fehler  oder 
wenigstens  ein  Mangel  in  Ansehung  der  Reihenbildung.  Und  wenn  der 
Schüchterne  vor  Blödigkeit  nicht  fort  kann,  so  mislingt  ihm  für  dasmal 
die  Reproduction  einer  schon  gebildeten  Reihe. 

Mir  aber  liegt  für  jetzt  nicht  daran,  dasjenige,  was  zuvor  über  die 
Reihenbildung  gesagt  worden,  auf  das  äufsere  Handeln  anzuwenden; 
sondern  von  dem  äufsern  Handeln  rede  ich  deshalb,  weil  es  etwas  Sicht- 
bares, in  die  Augen  Fallendes  ist ;  so  dafs,  wenn  ich  vielleicht  dieses- 
hinreichend  Sichtbare  an  den  wohl  noch  ziemlich  unsichtbaren  Sinn  meiner 
obigen  Formeln  anknüpfen  könnte,  ich  einen  guten  Handgriff  gewönne, 
um  hervorzuziehen  was  sich  noch  im  Dunkel  versteckt  hält. 

Zu  diesem  Zwecke  müssen  wir  jedoch  zuerst  überlegen,  welchen  Ein- 
flufs  wohl  das  äufsere  Handeln  auf  die  Vorstellungs-Reihe  ausüben  möge, 
durch  die  es  in  Bewegung  gesetzt  wird?  Dafs  ganz  gewöhnlich  eine 
starke  Veränderung  in  unserem  Vorstellen  bewirkt  wird,  sobald  wir  ver- 
suchen zu  thun,  was  wir  uns  ausgesonnen  hatten;  dafs  wir  sehr  häufig 
das  Bekenntnifs  ablegen,  Erfahrungen  gemacht  zu  haben,  weil  die  Dinge 
nicht  so  gingen,  wie  wir  meinten,  sondern  ganz  anders,  —  davon  will 
ich  hier  nicht  sprechen;  vielmehr  mag  immerhin  das  äufsere  Handeln  ein 
geläufiges  und  gelingendes  seyn;  ich  fiage  nur,  welchen  Einflufs  es  auf 
die  Vorstellungsreihe  in  ihrem  Ablaufen  ausübe,  auch  da,  wo  es  sie  nicht 
berichtigt? 

Die  nächste  Antwort  ist  ohne  Zweifel:  es  ändert  ihren  Rhythmus; 
und  setzt  ihre  Glieder  weiter  aus  einander.  Denn  das  Handeln  geht  in 
der  Regel  nicht  so  geschwind,  als  das  Denken. 

Allein  auch  das  will  ich  bey  Seite  setzen;  denn  es  ist  noch  immer 
nicht  das  erste  Wesentliche,  was  in  den  psychischen  Mechanismus  ein- 
greift. Sondern  darauf  kommt  es  zuerst  an:  dafs  durchs  Handeln  etwas 
geschieht,  was  eine  neue  Anschauung  darbietet.  Diese  Anschauung  ist 
eben  jetzt,  indem  sie  entsteht,  den  Gesetzen  des  psychischen  Mechanismus, 
unterworfen.  Die  Vorstellung,  welche  sich  im  Anschauen  erzeugt,  ver- 
schmilzt nicht  blofs  sogleich  mit  der  schon  gegenwärtigen,  das  Handeln 
regierenden,  gleichartigen  Vorstellung:  sondern  sie  wird  auch  von  der 
Hemmung  durch  die  andern,  welche  im  Bewulstseyn  sind,  vergriffen,  und 
mufs  sogleich  sehr  beträchtlich  sinken;  wie  es  in  der  Psychologie  (§.  77) 
ist  beschrieben  worden,. 

Oftmals  freylich  stockt  nun  das  Handeln,  und  verwandelt  sich  in  ein 
Betrachten,  verliert  sich  in  den  Eindruck  dessen,  was  soeben  war  ge- 
schaffen worden.     Dann    ist    die    Vorstellungsreihe   noch    wenig    energisch 


28.  Brief.  429 

im    Vergleich    gegen    den    Sinnes-Eindruck ;    oder    für    ihn    ist    noch    eine 
grofse    Empfänglichkeit  vorhanden  (Psychologie  §   94 — 99). 

Aber  bey  weiterer  Ausbildung  verwandelt  sich  das  Gethane  ins  Ab- 
gethane,  was  uns  nun  nicht  mehr  in  Thätigkeit  setzen  kann,  sondern  neben 
welchem  die  Vorstellung  dessen  hervordringt,  was  jetzt  zunächst  zu  thun  ist. 

Nehmen  wir,  um  die  Sache  bequemer  zu  betrachten,  das  einfachste 
oder  doch  für  den  Erzieher  gewöhnlichste  Beyspiel.  Der  Zögling  spricht. 
Welches  Wort  er  ausspricht,  das  hört  er.  Das  Wort  ist  nun  heraus; 
darum  mufs  ein  anderes  folgen. 

Hier  sehen  Sie  ein  Handeln,  was  so  leicht  gelingt,  dafs  gar  nicht 
erst  die  Vorstellung  des  Gegenstandes,  welcher  durch  das  Wort  bezeichnet 
wird,  zu  ihrem  Maximum  vorzudringen  braucht,  damit  das  Aussprechen 
erfolge ;  vielmehr  die  mindeste  Regung  des  Gedankens  —  falls  nur  nicht 
ein  Grund  der  Zurückhaltung  im  Spiele  ist,  —  genügt  schon,  um  den 
Mund  in  volle  Thätigkeit  zu  setzen. 

Wie  aber,  wenn  die  Vorstellungen,  welche  das  Wort  verlangen, 
schneller  hervordringen,  als  der  Mund  sprechen  kann  ?  Dann  kann  uns 
der  Zögling  nicht  antworten;  er  verstummt  nicht  aus  Unwissenheit,  sondern 
aus   Fülle  der  Gedanken. 

Dies  mahnt  uns  an  den  Gegensatz  und  die  Hemmung,  welche  statt 
findet  unter  den  Worten,  sofern  sie  theils  gesprochen,  theils  gehört  werden. 
Das  erste  Wort  wird  zurückgestofsen  vom  zweyten,  das  zweyte  vom 
dritten,  und  so  weiter.  Mit  den  Worten  aber  sind  die  Vorstellungen  ver- 
knüpft; auch  diese  also  empfinden  den  Stofs,  und  müfsen  in  der  näm- 
lichen Ordnung  einander  wo  nicht  ganz,  so  doch  hinreichend  weichen, 
damit  die  Reihe  ablaufen  könne;  deren  Glieder  nun  alle  in  ungefähr 
gleicher  Höhe  erscheinen,  weil  sie  bis  zum  Aussprechen  gelangt  waren. 
Dafs  etwas  Aehnliches  bey  jedem  andern  Handeln  vorkomme,  versteht 
sich  von   selbst. 

Aber  ich  bitte  zu  bemerken,  dafs  die  Glieder  nur  in  gleicher  Höhe 
erscheinen!  Daraus  folgt  noch  nicht,  dafs  in  den  Gedanken  eines  Menschen 
eben  so  wenig  Berg  und  Thal  sey,  als  in  seinem  Reden  und  Thun;  und 
wir  wissen  sehr  gut  das  Gegentheil.  Denn  Sie  und  ich,  die  wir  beyde 
gewohnt  sind,  in  stundenlangen  Vorträgen  unsere  Gedanken  zu  verlaut- 
baren: wie  übel  wären  wir  dran,  wenn  der  dünne  Faden  der  Worte,  den 
wir  aus  dem  Munde  gehen  lassen,  ein  Bild  von  der  Construction  unserer 
Gedanken  abgäbe ! 

Der  praktische  Erzieher  soll  nun  niemals  vergessen,  dafs  auch  in 
dem  Kopfe  seines  Zöglings  ein  ganz  anderes  Gebäude  oder  Gewebe  von 
Vorstellungen  ist  und  seyn  soll,  als  das,  welches  in  der  Reihenfolge  der 
Worte  liegt,  die  man  etwan  abfragen  kann.  Doch  aber  mufs  jeder  kleinste 
Theil  dieses  Gewebes  dadurch  theils  geschaffen,  theils  geprüft  und  be- 
richtigt werden,  dafs  man  es  lehrend,  oder  fragend  und  antwortend  in 
Form  einer  Reihe  hervorzieht,  und  an  diese  Reihe  die  nöthigen  Be- 
richtigungen anbringt.  Während  also  das  Ablaufen  der  Reihen  bey  weitem 
nicht  das  Wichtigste,  noch  viel  weniger  das  Ganze  ist,  was  wir  unter  dem 
allgemeinen  Namen  der  Reihenbildung  in  Betracht  zu  ziehen  haben;  mufs 
uns  doch  an  der  Möglichkeit  dieses  Ablaufens  viel  gelegen  seyn,  weil  es 


a?0     HI.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik   (183 1). 

die  allgemeine  Bedingung  des  Lehrens,  wie  des  Lernens,  des  Ermahnens, 
wie  des  Handelns  ausmacht.  Und  besonders  wird  Ihnen  auffallen,  wie 
genau  hiemit  die  Wichtigkeit  der  Sprachbildung,  ja  der  articulirten  Sprache 
selbst,   zusammenhängt. 

Zu  dem  Ganzen  der  Reihenbildung  gehört  eben  sowohl  das  Hinzu- 
kommen einer  Vorstellung  zur  andern,  wovon  ich  in  der  mathematischen 
Beylage  (zu  26)  sprach,  als  das  Zuriicktreten  der  frühern  Glieder,  um  den 
folgenden  Platz  zu  machen.  Hingegen  das  Ablaufen  der  Reihen  ist  nicht 
möglich  ohne  dieses  Zurücktreten.  Nun  war  aber  von  dem  Zurücktreten 
in  der  Psychologie  nicht  hinreichende  Rechenschaft  gegeben;  und  es  zeigt 
sich  jetzt,  dafs  sich  der  Gegenstand  auch  nicht  mit  wenigen  Worten  auf- 
klären liefs.  Denn  oftmals  ist  das  Ablaufen  der  Reihen  kein  reines 
psychisches  Phänomen.  Wir  sahen  eben,  wie  die  Worte  einander  zurück- 
stofsen,  während  die  Gedanken  vielleicht  nur  einer  zum  andern  hinzu- 
gekommen wären1.  Sie  mögen  Sich  hiebey  noch  der  grofsen  Erleichterung 
erinnern,  welche  dem  Rechnen  durchs  Schreiben  zu  Theil  wird;  und 
des  Umstandes,  dafs  selbst  das  Kopfrechnen  gröfstentheils  auf  einer 
Uebung  beruhet,  sich  die  Zahlen,  als  ob  sie  geschrieben  stünden,  vorzu- 
stellen. Liefse  man  statt  der  successiven  Arbeit  im  Rechnen  die  Ge- 
danken blofs  zu  einander  hinzukommen,  so  würden  sie  sich  sehr  bald 
einander  erdrücken,  und  vermöge  ihrer  inwohnenden  Hemmungssumme 
so  gut  als  ganz  aus  dem  Bewufstseyn  verschwinden,  r 

Allein  das  Schon-Gesagte  wird  Sie  noch  auf  eine  andre  Bemerkung 
führen,   die  ich   dem  folgenden   Briefe   vorbehalte. 

29. 

Es  ist  der  Gegensatz  der  Vorstellungen  unter  einander,  die  eine 
Reihe  bilden,  also  der  verschiedenen  TT,  worauf  wir  nun  unsre  Aufmerk- 
samkeit zu  richten  haben.  Denn  es  giebt  einen  kurzen  Zeitraum,  inner- 
halb dessen  vermöge  dieses  Gegensatzes  die  vorhergehenden  von  den  nach- 
kommenden können  zurückgetrieben  werden.  Lassen  Sie  mich  aber  noch 
einen   Rückblick  auf  das   Vorige  werfen. 

Jede  Vorstellung  ist  am  nachgiebigsten  dann,  wenn  sie  ihr  Maximum 
erreicht  hat.  Denn  alsdann  ist  sie  am  wenigsten  im  Zustande  des 
Strebens,  welcher  Zustand  das  gerade  Gegentheil  des  wirklichen  Vor- 
stehern ausmacht.  Schafft  sich  nun  eine  Vorstellung  11  durch  äufseres 
Handeln,  durch  Sprechen,  o.  dgl.  eine  ihr  entsprechende  Anschauung, 
so  wird  sie  dadurch  schnell  zum  Maximum,  ja  vielleicht  über  das  im 
Vorigen  berechnete,  durch  Gegendruck  bestimmte,  Maximum  gehoben. 
Desto  gewisser  mufs  sie  sinken,  sobald  die  nachfolgende  Vorstellung  sich 
durch  ihr  Wirken  eine  ihr  angemessene  Anschauung  geschafft  hat,  die 
jener  ersten  entgegentritt.  Dies  aber  fällt  weg,  wofern  das  äufsere  Handeln 
fehlt;  und  es  kommt  nun  darauf  an,  ob  noch  in  hinreichendem  Grade 
die  Bedingungen  vorhanden  sind,  unter  denen  der  blofse  Gegensatz,  der 
in  den  Vorstellungen  selbst  liegt,  das  Ablaufen  der  Reihe  bewirken  kann. 
Denn  dafs   von  ihm,   falls  er  stark  genug  ist,   eine  ähnliche  Wirkung  zu  er- 


,, waren"  statt  „wären"  SW. 


29.  Brief.  43  i 

warten  steht,  wie  von  dem  Gegensatze  unter  jenen  äufsern  Anschauungen, 
liegt  vor  Augen;  während  doch  andererseits  nicht  Alles  von  ihm  allein 
abhängt,   daher  ich  im   Vorigen  davon  geschwiegen  habe. 

Um  über  diesen  Gegenstand  mich  deutlich  zu  machen,  halte  ich  für 
nöthig  folgende  Ueberlegung,  die  sich  mit  Zahlen  beyspielsweise  belegen 
läfst,  hier  einzuführen. 

In  der  mathematischen  Beylage  (zu  26)  finden  sich  zu  den  dortigen  co 
die  Maxima  und  deren  Zeiten  berechnet.  Es  versteht  sich  von  selbst, 
dafs  in  dem  Augenblicke,  wo  eine  Vorstellung  ihr  Maximum  erreicht,  ihre 
Geschwindigkeit  =■  o  ist;  denn  sonst  stiege  sie  noch  höher.  Gesetzt 
aber,  wir  wollten1  für  den  Augenblick,  da  die  eine  ihr  Maximum  hat,  die 
Geschwindigkeit  der  andern  wissen,  die  jetzt  noch  im  Steigen  begriffen 
ist,  —  wie  würden  wir  verfahren?  Ohne  Zweifel  würden  wir  den  Differential- 
quotienten  für  diese  andre  suchen,  und  in  denselben  für  t  diejenige  Zeit 
setzen,  welche  uns  als  gehörig  zu  dem  Maximum  der  ersten  bekannt  ist. 
So  will  ich  nun  einmal  mit  den  dortigen  Gleichungen  2.)  und  8.)  verfahren; 
indem  ich  in  deren  Differentialquotienten  die  Zeit  fürs  Maximum  aus  1. 
und  7.)  setze.     Im  ersten  Falle  finde  ich,  dafs 

d  (o 

für    2.)    um   die  Zeit  t    =    2,2768    sich    ergiebt    — —  =  0,0034 

xmd  im  zweyten  Falle 

d  co 
für    8.)  um  die   Zeit  t    =    1,9126    sich    ergiebt    —    =   0,0392 

Die   beyden   angegebenen  Zeiten    sind   aus   der   angeführten  Beylage 
bekannt,    als    diejenigen,    worin  r  =    10    unter    den    dortigen    Umständen 

d  (o 
Tl  =   5   zum  Maximum   erhebt.      Die  gefundenen  Geschwindigkeiten  — 

sind  für  die  Wirkung  von  r  =  9  zu  jenen  Zeitpuncten  noch  vorhanden. 
Aus  dem  vorigen  Briefe  aber  wissen  Sie,  dals  für  t  =  0,5168  die  beyden, 
von  r  =  10  und  r  =  9  erzeugten  Geschwindigkeiten  gleich  waren;  und  auf 
diese  Zeit  kann  der  Druck,  der  erst  allmählig  durch  das  Hervortreten 
der  Vorstellungen  selbst  sich  erzeugt,  nur  wenig  Einflufs  haben.  Also  von 
t  =  0,5  bis  t  =  2  ungefähr  hatte  die  zweyte  Vorstellung,  die  durch  r 
=  9  gehoben  wurde,  fortdauernd  einigen,  wenn  auch  nur  geringen  Vorzug 
an  Geschwindigkeit  vor  der  erstem,  die  ihr  Anfangs  voran  geeilt  war. 
Wie  nun,  wenn  gemäls  der  frühern  Entwicklung  die  gröfsere  Energie, 
welche  sich  in  der  gröfsern  Geschwindigkeit  zeigt,  den  gemeinschaftlichen 
Druck  auf  die  erstere  Vorstellung  hindrängt?  Alsdann  mufs  das  Maximum 
der  erstem  früher  eintreten,  und  auf  einem  niedrigem  Standpuncte,  als 
dem  zuvor  berechneten;  dagegen  wird  die  zweyte  Vorstellung  sich  höher 
hervorarbeiten,   indem  sie  den   Druck  besser  überwindet. 

Hiemit  nun  kann  sich  noch  der  Gegensatz  der  zweyten  Vorstellung  gegen 
die  erstere  vereinigen;  nur  ist  zu  bedenken,  dafs  von  diesem  Gegensatze 
nothwendig  beyde  Vorstellungen  leiden;  und  das  um  so  mehr,  je  stärker 

derselbe  ist. 

Wie  lange  aber  kann   der  Vorzug   der   zweyten  Vorstellung    vor  der 


1  „wollen"  SW. 


AX2      HI-  Briete  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 


erstem,  wodurch  sie  als  zweytes  Glied  der  Reihe  neben  oder  nach  jener 
sich  gelten  macht,  wohl  dauern?  Höchstens  doch  nur  bis  zu  dem  Augen- 
blicke, wo  sie  selbst  ihr  Maximum  hat,  und  nun  anfängt  zu  sinken.  Denn 
alsdann  findet  sich  gewifs,  dafs  sie  im  Grunde  von  der  schwächeren 
Energie  emporgetragen  wurde;  und  die  Ordnung  in  der  Reihe  hört  auf, 
während  beyde  zusammen  sinken. 

Dies  letztere  nun  ist  der  Umstand,  auf  den  ich  vorzugsweise  den 
praktischen  Erzieher  aufmerksam  machen  würde,  der  es  nur  zu  leicht  ver- 
gifst,  wie  bald  die  Fluth,  mit  der  er  schiffen  will,  sich  in  Ebbe  verwandeln  wird. 

Sie  wissen,  mein  theurer  Freund,  dafs  mir  meine  Amtsverhältnisse 
Gelegenheit  verschafft  haben,  die  Lehrweise  mancher,  besonders  junger 
Lehrer,  zu  beobachten.  Von  den  Fehlern,  welche  im  zusammenhängenden 
Vortrage  begangen  zu  werden  pflegen,  will  ich  hier  nicht  sprechen;  nur 
deren  will  ich  hier  gedenken,  die  sich  äufsern,  während  es  darauf  an- 
kommt, den  Lehrling  in  den  rechten  Zug  der  Arbeit  zu  bringen,  ihn  darin 
zu  erhalten  und  zu  unterstützen;  so  wie  es  etwa  beym  Uebersetzen,  oder 
beym  Rechnen  vorkommt.  Hier  ists,  wo  ich  oft  bemerkt  habe,  wie  wenig 
die  Lehrer  von  dem  psychischen  Mechanismus  zu  begreifen  pflegen,  an 
dessen  Thätigkeit  ihnen  am  allermeisten  sollte  gelegen  seyn.  Denn  wäh- 
rend sie  demselben  nachhelfen  sollten,  pflegen  sie  ihn  bald  mit  Wieder- 
hohlen, bald  mit  Corrigiren  ohne  dringende  Noth,  oftmals  mit  Querfragen, 
oft  durch  Aeufserungen  übler  Laune  zu  stören;  zu  anderer  Zeit  aber 
sorgen  sie  gar  nicht  einmal  ihn  in  den  rechten  Gang  zu  versetzen,  son- 
dern lassen  den  Zögling  sich  unnütz  quälen  mit  Dingen  die  er  nun  ein- 
mal nicht  weifs  und  nicht  trifft.  Das  Alles  zeigt,  dafs  sie  von  dem  Rhyth- 
mus, in  welchem  eine  Vorstellungsreihe  sich  entwickeln  kann,  und  der  so 
sorgfältig  als  möglich  mufs  geschont  werden,  keinen  Begriff  haben.  Daher 
dann  so  häufig  eine  Gewohnheit  zu  stocken,  zu  stottern,  sich  und  Andre 
zu  martern,  die  oft  nicht  blofs  ganze  Schulklassen,  sondern  ganze  Schulen 
von  der  untersten  bis  zur  obersten  ergriffen  hat,  und  dergestalt  beherrscht, 
dafs  an  ein  geschmackvolles  Lesen  und  Erklären,  an  ein  gehöriges  Zu- 
sammenfassen des  ganzen  Sinnes  nun  vollends  nicht  zu  denken  ist.  Wäre 
nur  erst  irgend  ein  Begriff  davon  vorhanden,  dafs  es  überhaupt  einen 
psychischen  Mechanismus  giebt,  der  seine  eigentümliche  Geschwindigkeit, 
seinen  bestimmten  Rhythmus  hat,  worin  allein  er  sich  geläufig  bewegen 
kann,1  —  und  dafs  die  verlorne  und  verdorbene  Zeit  der  ungelegenen 
Störungen  und  der  unterlassenen  Nachhülfen  sich  nicht  ersetzen  läfst; 
weil,  nachdem  einmal  die  Vorstellungen  ins  gemeinsame  Sinken  gerathen 
sind ,  die  Reproduction  wenigstens  für  dasmal  schwerlich  noch  wieder  in 
den  rechten  Flufs  kann  gebracht  werden;  —  wäre  nur  erst  die  Beobach- 
tung dessen,  was  hierüber  die  Erfahrung  einem  Jeden  sagen  kann,  der 
auf  sie  hören  will,  zur  gehörigen  Achtsamkeit  gestimmt:  so  würde  manches 
Ungeschick  der  Lehrer  und  Schüler  von  selbst  verschwinden,  womit  sie 
jetzt  einander  gegenseitig  plagen;  und  mancher  Lehrgegenstand,  den  man 
jetzt  für  zu  schwer  hält,  würde  sich  leicht  genug  behandeln  lassen,  um 
seine  Wirkung  früh  genug  zu  thun.    Jedoch  unsre  Absicht  war  noch  nicht,. 


1  worin  er  allein  sich  bewegen  kann  SW. 


3°-  Briet-  433 

praktische  Regeln  vestzustellen;  sondern  die  Bildsamkeit  der  Zöglinge,  und 
zwar  zunächst  in  Beziehung  auf  die  natürlichen  Anlagen,  wollten  wir  unter- 
suchen.     Lassen  Sie  uns   dahin  zurückkehren. 

30. 

Zuerst  gingen  wir  aus  von  der  Annahme  einer  völligen  Steifheit  dessen, 
was  der  sich  erhebenden  Reproduction  einer  Reihe  entgegenwirkt.  Eine 
solche  Steifheit  kann  von  den  im  Bewufstseyn  gerade  gegenwärtigen  Vor- 
stellungen, für  sich  allein  genommen,  nicht  herrühren;  sie  sind  allemal  in 
gewissem  Grade  nachgiebig;  und  der  von  ihnen  herrührende  Widerstand 
geräth  erst  allmählig  in  Spannung  gegen  das,  was  sich  im  Bewufstseyn  re- 
producirt.  Aber  wenn  ein  Hindernifs  nach  physiologischer  Art  hinzu- 
kommt: alsdann  läfst  sich  wohl  denken,  dafs  auch  die  darein  gleichsam 
verwickelten,  eben  jetzt  gegenwärtigen  Vorstellungen,  nicht  zum  Weichen 
zu  bringen  sind;  wovon  die  Beyspiele  des  Lüsternen,  des  Schwelgers,  des 
zu  Affecten  Gereizten  sich  leicht  genug  darbieten.  Was  nun  daraus  in 
Ansehung  der  Reproduction  folgen  werde,  haben  wir  gesehen.  Nämlich 
in  der  mathematischen  Beylage  zeigte  sich  zuerst,  dafs  die  reproducirten 
Vorstellungen  sich  alsdann  einer  niedrig  stehenden  Gränze  nähern,  und 
dafs  sie,  was  hier  hauptsächlich  bemerkt  werden  mufs,  an  dieser  Gränze  zu 
einander  hinzukommen ,  keinesweges  aber  eine  vor  der  andern  reihen- 
förmig  weichen.  Eher  würde  die  ganze  Masse,  worin  sich  nun  die  Reihe 
verwandelt  hätte,  saramt  der  sie  reproducirenden  Vorstellung,  die  wir  mit 
P  bezeichneten,   wieder  aus  dem   Bewufstseyn  vertrieben  werden. 

Bey  natürlich  stumpfen  Köpfen  nun  sehen  wir  etwas  Aehnliches  ge- 
schehen, so  oft  wir  sie  mit  Dingen  beschäftigen  wollen,  deren  Vorstellungen 
bey  ihnen  noch  zu  schwach  sind,  um  sich  selbstständig  im  Bewufstseyn 
zu  halten.  Bev  allem  Lernen  oder  auch  Beobachten  dessen,  wohin  nicht 
gerade  ihr  Sinn  steht,  bey  allem,  was  sich  an  früher  vestgestellten  An- 
knüpfungspuncten  (an  solchen  P,  wie  wir  oben  voraussetzten)  halten,  und 
mit  ihnen  wieder  hervortreten  müfste,  um  überhaupt  hervortreten  zu  können: 
sehen  wir  die  Reproduction  sehr  häufig  mislingen;  wovon  als  Beyspiel 
schon  die  Worte  einer  fremden  Sprache  dienen  können,  die  schwer  ge- 
lernt wird.  Denn  was  sind  diese  Worte?  Es  sind  Reihen  von  Buchstaben 
oder  Sprachlauten,  geknüpft  an  ein  Wort  der  Muttersprache.  Diese  Reihen 
müssen  leicht,  und  genau  in  der  Ordnung  der  Buchstaben  reproducirt 
werden,  wenn  es  darauf  ankommt,  die  Sprache  zu  lernen.  Beyspiele  von 
höherer  Art  würden  sich  eben  so  mannigfaltig  als  reichlich  darbieten;  ich 
will  dabey  nicht  verweilen. 

Wie' aber,  wenn  das  Lernen  der  Muttersprache  selbst  mislingt?  wel- 
ches aus  ähnlichen  Ursachen  leicht  geschehen  kann,  denn  hier  sollen  sich 
diejenigen  Reihen,  welche  an  Begriffe  und  Anschauungen  geknüpft,  die 
Worte  der  Muttersprache  bilden,  sicher  und  genau  durch  den  Gedanken 
reproduciren.  Alsdann  fehlt  selbst  das  gewöhnlichste  Hülfsmittel  aus  dem 
Gebiete  des  äufsern  Handelns,  von  dem  wir  oben  (28)  sahen,  wie  wich- 
tige  Dienste  zur   Evolution  der  Reihen   es   leistet. 

-  Kein  Wunder  also,   dafs  die   Erzieher  zuerst  nach  der  Sprachbikiui 

Herbaki's  Weike.     IX. 


a-ia      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

die   ein   Knabe  schon  gewonnen  hat,    sowohl  die  natürliche   Fähigkeit,    als 
auch  die  fernere  Bildsamkeit  zu  beurtheilen  pflegen. 

Unstreitig  aber  mufs  bey  dieser  Schätzung  der  natürlichen  Fähigkeit 
auch  das  übrige  äufsere  Handeln,  sowohl  nach  seinen  Richtungen  als 
nach   dem  darin  hervortretenden  Geschick,  in   Anschlag  kommen. 

Ferner  werden  Sie  bemerken,  dafs  unsre  Betrachtung  der  Bildsamkeit 
der  Zöglinge  hier  ganz  von  selbst  Gelegenheit  findet,  von  den  angebornen 
Anlagen  überzugehen  zu  dem,  was  von  der  Benutzung  der  frühern  Jahre 
abhängt.  Denn  nicht  alle  Reihen  sind  so  construirt,  dafs  sie  sich  mit 
gleicher   Leichtigkeit  reproduciren  könnten. * 

Unsre  Formeln  machen  uns  gar  sehr  aufmerksam  auf  das  Verhältnifs 
zwischen  den  Gröfsen  r  und  II.  Was  heifst  das?  Zu  einer  vorläufigen 
Erläuterung  könnte2  ich  sagen:  es  deutet  auf  die  Wichtigkeit  der  An- 
knüpfung alles  Unterrichts  an  Erfahrung  und  Umgang;  wiewohl  damit  der 
Gegenstand  keinesweges  erschöpft  ist. 

Wollen  Sie  diese  Erläuterung  durch   einen,   Ihnen  gewifs  durch   eigne 
Praxis  höchst  geläufigen,  pädagogischen  Hauptsatz,  Sich  aneignen:  so  ver- 
setzen  Sie   vor   allen    Dingen   erst   die    oft   erwähnte   reproducirende    Vor- 
stellung   P   (25,   26,)    in    den   Erfahrungskreis    des    Zöglings.      Wir    wollen 
hoffen,  dafs  Sie  dort  nicht  etwan  blofs  ein  solches  P,  sondern  deren  recht 
viele    und    tüchtige    finden;    sonst   können   wir    nichts    mit    ihm    anfangen. 
Alle    diejenigen    Hauptvorstellungen    des    Zöglings    gehören    dahin,    welche 
mit  langen  Reihen   anderer   schwächerer  Vorstellungen  verschmolzen   sind; 
alle,  die  als  Haltungs-  und  Angelpuncte  seiner  übrigen  Gedanken  können 
angesehen    werden;    alle    die,    welche   ihm   das    Heimweh   vergegenwärtigt, 
falls  er  lange  Zeit  von  Hause  abwesend  ist.    Die  obigen  r,  r',  r",  u.  s.  w. 
sind  Theile  oder  Reste  jener  P;  je  gröfser,  desto  besser;  denn  bekanntlich 
sind  sie  in  den  Reproductionen  die  wirksamen  Kräfte.     Nun  aber  lehren 
die  Formeln  und  die  Untersuchungen,  dafs  die  daran  geknüpften  II,  TI',  FL", 
u.  s.  w.    nicht    gar    zu   grofs    gegen  die  r  seyn    dürfen;    und    vollends,   dafs 
für    abnehmende    r    die    Reihe    der  TT    nicht    gleichfalls    abnehmen,    son- 
dern  eher  wachsen  mufs,  wenn   die   Reproduktion  gelingen  soll.      (Beylage 
zu  26,  am  Ende.)    Worauf  bezieht  sich  das?  Ohne  Zweifel  auf  jeden  Unter- 
richt,   welchen  man  jenen   Erfahrungen,   als    der   nothwendigen   Grundlage, 
hinzufügte.     Dahin  gehört  z.  B.   dafs   Unterricht  in   fremden  Sprachen  vor 
allem  Vestigkeit  in  der  Muttersprache  voraussetzt,  wenn  nicht  eine  so  heillose 
Confusion  entstehn    soll,    wie    man    sie  bey   Kindern,   die  Plattdeutsch  und 
Hochdeutsch,  oder  Französisch  und  Deutsch  durcheinander  plauderten,  ehe 
sie    noch   eine    eigentliche  Muttersprache   besafsen,    wohl   findet,    —    oder 
wie    ich    sie    einst   bei    einem  jungen   Engländer    antraf,    der   früh   in    eine 
deutsche  Pension  gethan,  dort  das  allerschlechteste  Deutsch  gelernt,    dar- 
über sein  Englisch  grofsentheils  vergessen  hatte,  und  nun  eigentlich   in  gar 
keiner  Sprache  konnte   unterrichtet  werden,   bis  ihm  durch  eine  besondere 
Fürsorge  sein   Englisch  einigermaafsen  wieder  zurecht  gestellt  war. 

Allein    unsre    Betrachtung    reicht    weiter.      Sie    sagt    uns,    dafs    über- 


1  ,, können"  SW. 

2  „konnte"  statt  „könnte"  SW. 


3°-  Brief-  435 

haupt  und  überall,  wo  es  um  Erweiterung  des  Gedankenkreises,  ums 
Lernen  im  weitesten  Sinne,  zu  thun  ist,  erst  gewisse  starke  Stützpuncte 
müssen  vestgestellt,  und  alsdann  die  anzuknüpfenden  Kenntnisse  in  mög- 
lichster Zerlegung,  aber  zugleich  in  möglichst  dichter  Folge  beygefügt 
werden;  ohne  jedoch  lange  Reihen  zu  bilden.  Warum  das?  Erstlich 
sollen  die  II  nicht  gröfser  seyn  als  nöthig,  —  also  sollen  es  nicht  grofse 
Massen,  sondern  durch  die  Zerlegung  verkleinerte  Theile  der  an  sich  zu- 
sammenhängenden Ganzen  seyn.  Zweytens  sollen  dieselben  mit  möglichst 
grofsen  Resten  der  Hauptvorstellungen  P  verbunden  werden;  welches 
nicht  gelingen  könnte,  wenn  diese,  eben  jetzt  hervorgerufenen  Haupt- 
vorstellungen in  bedeutend  langen  Pausen  Zeit  zum  Sinken  gewönnen; 
daher  mufs  die  Reihe  der1  II  eine  dichte  Folge  bilden,  um  mit  möglichst 
grofsen  r,  r',  r",  u.  s.  w.  sich  zu  verbinden.  Drittens  sollen  die  Reihen 
nicht  lang  seyn;  —  aus  demselben  Grunde;  weil  nämlich  je  länger  sie 
werden,  um  desto  mehr  die  Hauptvorstellung  P  wird  gesunken  seyn,  — 
jedoch  ist  dies  lediglich  relativ;  denn  falls  die  Hauptvorstellung  im  Be- 
wufstseyn  vestgehalten  wird,  so,  dafs  sie  nur  sehr  allmählig  sinkt,  alsdann 
wird  sie  einer  weit  längern  Reihe  zur  hinreichenden  Stütze  dienen  können 
als  im  Gegenfalle.  Ueberdies  versteht  sich,  dafs  die  Hemmungsgrade 
der  einzelnen  Glieder  nicht  so  grofs  seyn  dürfen,  um  das  aufzuführende 
Gebäude  zum  Einsturz  zu  bringen;  doch  ist,  falls  nur  die  Reihe  sich  zu- 
sammenhängend bilden  konnte,  die  Reproduction  derselben  zum  Ablaufen 
der  Reihe  gerade  durch  Hemmung  der  einzelnen  Glieder  unter  einander 
desto  geschickter;  daher  die  letztere  eher  gesucht  als  vermieden,  jedoch 
nicht  übertrieben  werden  mufs. 

Sollten  Sie  wohl  in  diesen  Zügen  etwas  von  Homers,  oder  von 
Herodots  Erzählungsweise,  wieder  erkennen?  Doch  die  Erinnerung  an 
die  klassische  Art  des  Vortrags  kommt  wahrscheinlich  noch  zu  früh;  denn 
es  fehlt  an  der  bisherigen  Untersuchung  noch  zu  vielerley,  um  darüber 
schon  psychologische  Rechenschaft  zu  geben. 

Aber  an  Gegenstücken  fehlt  es  gewifs  nicht.  Solche  entstehen  überall 
da,  wo  der  frühere  Unterricht  Fehler  aufgehäuft  hat.  Wie  oft  unge- 
schickte Lehrer  die  Anknüpfung  an  das  Veste  im  Erfahrungskreise  des 
Zöo-lings  versäumen,  oder  ohne  gehörige  Zerlegung  ganze  Massen  des 
Unbekannten  auf  einmal  einpfropfen;  öder  ihren  eignen  Vortrag  nicht  in 
zusammenhängenden  Flufs  bringen  können,  —  wie  oft  sie  selbst  für  ihr 
eignes  Lehren  nicht  einmal  darauf  bedacht  sind,  gewisse  Hauptpuncte  ge- 
hörig vestzustellen,  an  welche  sich  das  Folgende  lehnen,  und  anreihen 
könne:  —  ebenso  oft  finden  wir  als  Product  solches  Verfahrens  auch  die 
Unfähigkeit  zu  reproduciren  selbst  bey  guten  Köpfen.  Die  Kenntnisse 
sind  chaotisch  in  einander  geflossen,  und  wir  klagen,  indem  wir  nun 
weiter  fortschreiten  wollen,  über  Mangel  an  gründlicher  Vorbildung. 

Hiebey  aber  kommt  nun  noch  ganz  besonders  in  Frage,  wiefern  das 
äufsere  Handeln  des  Zöglings,  und  sein  Geschick  dazu,  sey  benutzt  worden. 
Also  zu  allernächst:  in  wiefern  man  ihn  angehalten  habe,  selbst  während 
der  Lehrstunde  zu  sprechen?    Denn    dafs    ein  Unterricht,    der  den  Lehr- 

i  „der"  fehlt  SW. 

28* 


436      HI.   Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 


ling  stumm  macht,  —  wie  ein  Katheder- Vortrag  thut,  —  für  die  frühere 
Jugend  nichts  taugt,  ist  allbekannt.  Allein  überhaupt  mufste  die  äufsere 
Thätigkeit  des  Zöglings  nach  Möglichkeit  benutzt  werden,  —  er  selbst 
mufste  zeigen,  aufschlagen,  nachweisen,  zusammensetzen,  was  irgend  sich 
so  behandeln  liefs,  so  lange  man  sich  auf  seine  innere  Geistesthätigkeit 
nicht  ganz   verlassen  konnte. 

3.1- 

Wohl  Mancher  möchte,  beym  Anblick  so  bekannter  Dinge,  tragen: 
ist  das  Alles?  Sollen  uns  die  psychologischen  Rechnungen  nicht  weiter 
führen,  als  bis  zu  Wiederhohlungen  dessen,  was  jeder  geübte  praktische 
Erzieher  schon  weifs? 

Möge  er  es  wissen,  und  darnach  thun!  Aber  Sie,  mein  th eurer 
Freund,  während  Sie  mich  entschuldigen  werden,  dafs  ich  in  bekannten 
pädagogischen  Vorschriften  die  Probe  der  Wahrheit  meiner  psychologischen 
Untersuchung  nachweise:  —  haben  vielleicht  eine  gewichtvollere  Bedenk- 
lichkeit im  Sinne.  Ist  denn  die  vorstehende  Zeichnung  richtig?  Hängt 
alle  Reproduction  an  einer  einzigen  Hauptvorstellung?  Und  ist  diese 
Hauptvorstellung  immer  als  erstes  Glied  einer  Reihe  anzusehen?  Wo 
bleibt  da  die  früher  erwähnte  Gestaltung?  Geht  etwan  alle  wirkliche  Ge- 
staltung von  einem  einzigen  Puncte  aus;  gleich  den  nunmehr  veraltenden 
Philosophieen  nach  FiCHTEscher  Weise? 

Angenommen,  dafs  Sie  geneigt  wären,  so  zu  fragen:  so  würde  meine 
nächste  Zuflucht  in  der  Erinnerung,  dafs  ich  nichts  Vollständiges  ver- 
sprochen habe,  leicht  genug  gefunden  werden. 

Da  wir  jedoch  Beyde  gleich  gern  die  Einseitigkeit  vermeiden,  und 
da  die  bisherige  Betrachtungsart  der  Reihenbildung  wirklich  zu  Übeln 
Einseitigkeiten  führen  könnte:  so  machen  Sie  Sich  nun  darauf  gefafst, 
etwas  Anderes  zwar,  aber  gerade  auch  etwas  recht  sehr  Unvollständiges 
hier  folgen  zu  sehen. 

Jene  Untersuchung  über  die  zugleich  steigenden  Vorstellungen  (in 
der  Beylage  zu  22),  veranlafst  die  Frage,  ob,  falls  unter  frey  steigenden 
Vorstellungen  Verschmelzung  statt  fände,  dadurch  eine  Ordnung  und  Folge 
des  Steigens  gemäfs  den  Abstufungen  der  Verschmelzung  entstehen  könne? 
Dieses  würde  das  Seitenstück  darbieten  zu  der  früheren  Auffassung  des 
Gegenstandes,  nach  welcher  die  hervor  gehobenen  Vorstellungen  nicht  frey 
steigen,  sondern,  während  ihre  eigne  Energie  durch  Hemmung  am  Her- 
vortreten gehindert  ist,  ihre  ganze  Bewegung  von  den  Resten  einer  sie 
reproducirenden  Vorstellung  abhängt.  Uns  alten  Praktikern  im  Lehr- 
geschäffte  schwebt  zwar  zunächst  die  grofse  Menge  der  Gegenstände  vor,  wo- 
mit die  Lehrlinge  sich  nur  gerade  so  lange  und  in  so  fern  beschäfftigen,  als 
sie  lernen;  und  dabey  ist  noch  an  kein  freyes  Steigen  ihrer  Vorstellungen, 
—  mithin  auch  an  kein  selbstständiges  Bilden  und  Gestalten  zu  denken. 
Allein  unsre  Lehrlinge  mögen  nun  wohl  oder  übel  gedeihen,  so  erzeugt 
sich  doch  endlich  auch  in  ihnen  ein  Kreis  solcher  Gedanken,  in  welchem 
sie  nach  eignem  Sinnen,  Meinen,  Wollen  thätig  sind;  und  von  wo  aus 
auch  ihr  äufseres  Thun  seine  Bestimmung  empfängt.  Auch  der  Ge- 
lchrteste  hat  den   gröfsten   Theil  seines  Wissens   in   Büchern,  oder  was  er, 


31.  Briel.  (.37 

wie  man  sagt,  im  Gedächtnisse  mit  sich  trägt,  davon  steigen  ihm  die  Er- 
innerungen nur  auf  gegebenen  Anlafs  hervor,  —  jedoch  nicht  Alles  kann 
solchergestalt  ein  passiver  Vorrath  in  ihm  seyn ;  sonst  wäre  kein  Lebens- 
princip  vorhanden,  von  welchem  der  Gebrauch  dieses  Vorraths  abhängt 
und  seine  Richtung  empfängt.  In  dem  verhältnilsmäfsig  nur  kleinen 
Kreise  nun,  worin  die  Selbstthätigkeit  ihren  Sitz  hat,  wollen  wir  jetzt  nach- 
sehen, ob  es  auch  dort  eine  Reihenbildung  geben  möge.  Sie  finden  hier 
zu  solchem  Zwecke  wieder  einen  mathematischen  Aufsatz. 

Beylage. 

Ueber  freyes  Steigen  verschmolzener  Vorstellungen. 
Obgleich  Reihenbildung  das  Gegentheil  ist  vom  Zugleich-Steigen, 
so  mufs  doch  die  obige  Untersuchung  über  die  zugleich  steigenden  Vor- 
stellungen hier  zum  Grunde  gelegt  werden.  Es  ist  nöthig,  hiebey  die 
Rücksicht  auf  den  Hemmungsgrad*  nicht  ganz  auszuschliefsen;  um  jedoch 
schwierige  Verwickelungen  zu  vermeiden,  soll  angenommen  werden,  der 
Hemmungsgrad  sey  unter  allen  Paaren  der  zugleich  Steigenden  der  näm- 
liche; und  =  m,  welches  bekanntlich  ein  ächter  Bruch,  oder  höchstens  =  1 
ist.      Alsdann  verwandeln   sich  die    obigen  Differentialformeln  in  folgende: 

d«  =  (a  —  «  —  n'  m  \ß  -\-  >])  dt 

d  ß  =  (b  —  ß  —  n"  m  [ß  +  )'])  dt 

dy  =  (c  —  y  —  n •"  m  [ß -f-  y])  dt 
weil  nun  nicht  die  ganze  vorige  Hemmungssumme,  sondern  nur  derjenige 
Theil  von  ihr,  welcher  durch  den  Bruch  m  angezeigt  wird,  den  auf  die 
verschiedenen  Vorstellungen  zu  vertheilenden  Druck  hervorbringt.  Oder 
mit  andern  Worten:  die  jetzige  Hemmungssumme  ist  gleich  der  vorigen 
multiplicirt  mit  m. 

Da  es  hier  blofs 1  darauf  ankommt,  eine  Untersuchung  zugängli  h 
zu  machen,  so  mögen  der  gröfsern  Erleichterung  wegen  a  =  b  ==  c, 
sämmtlich  =  1  gesetzt  werden;  daher  auch  u,  ß,  y  einander  gleich  seyn 
müfsten,  wenn  keine  Verschmelzung  einen  Unterschied  hervorbrächte. 
Unter  dieser  Voraussetzung  wäre  dann  die  Formel 

/»+r=--:^-c-('~e-k') 

bc  -{-  2ac  -f-  2ab 

für  k  =  — : ; {— 

bc-f-  ac  +  ab 

zu  verändern  in 

3-|-  2  m 


«=/?=y= 


.  t 


1  —  e 


3  -f-  2m  , 
Offenbar    läfst    sich    dies    sehr   leicht   auf   mehrere    Vorstellungen 

weitern.      Bey  vieren  käme 

_  4  -f  3  m 

«  =  /?  =  y  =  <?  = 


4  + 3m 


*  Psychologie  §  52. 


1  „blofs"  fehlt  SW. 


4^8      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  ("1831). 

Bey   fünfen 

5  +  4  ™ 


+  4m 


- 


-  3                           - 

Es    ist  nämlich  k   erst  =  1  ^ m,  dann   1  -j m,  femer  1 -| m, 

3  4                            - 
u.  s.  w. 

Allein   die   einfachste   aller    Voraussetzungen  ist   die   von   zwev   Vor- 

Stellungen ;  wo  k  =    r  -j m,  und 

2  -f-  m 


«  =   3 


2  -f-  m 

An  diese  Voraussetzung  müssen  wir  hier  anknüpfen;  indem  wir  sie 
auf  folgende  Weise  abändern: 

Es  sollen  a  und  b  nicht  gleichmäfsig,  sondern  dergestalt  steigen, 
dafs  dabey  ihre  Verschmelzung  in  Betracht  komme.  Auch  diese  Ver- 
schmelzung soll  dergestalt  ungleich  seyn,  dafs  von  a  nur  ein  Theil  =  a' 
mit  b  verschmolzen  ist.  Man  mag  annehmen,  es  sey  a  im  Sinken  be- 
griffen gewesen,  als  b  zuerst  gegeben  wurde;  dann  konnte  das  von  a  noch 
übrige  a'  mit  b  verschmelzen,  soweit  es  die  gegenseitige  Hemmung  des  a 
und  b  erlaubte.  Die  bekannte  Hemmungsrechnung*  erforderte  dann  statt 
der  Hemmungs  -  Summe  mb  eine  kleinere,  nämlich  ma',  und  zwar  deshalb 
weil  nur  der  Theil  a'  in  Hemmung  trat  gegen  b.    Daraus  mufste  folgende 


Hemmungsrechnung  entstehen: 


** 


(a  +  b)  : 


b 

=  ma' 


fma'b 


a-{-b 
ma'a 


la-f  b 


woraus  die  beyden  Reste 

ma'b  mä'a 

a' ; — ,  und  b ; — -  oder  nach  unsrer  jetzigen  Voraussetzung,  dafs 

a  -\-  b  a  -j-  b 

a  =  b  sey: 

m  a'         ,  ma' 

a' ,  und  a 

2  2 

Wir  nehmen  nun  diese  Hemmung,  und  die  nach  ihr  bestimmte  Ver- 
schmelzung als  geschehen  an:  so  ist  die  Verschmelzungshülfe***,  welche 
jede  der  beyden  Vorstellungen  von  der  andern  empfängt, 


(*-?)■(-?) 


*  Psychologie  5   54. 
"  Ebendaselbst  §  63  und  69. 


(a  +   b):    Jj=ma'  ...   SW. 


3*-  B"et. 439 

woraus  zunächst  die  Wirkung  zu  bestimmen  ist,  welche  dadurch  eine  vi  in 
der  andern  Vorstellung  empfangen  kann. 

Jede  Verschmelzungshülfe  wirkt  nur  bis  zum  Verschmelzungspuncte.* 

111  M ' 

Also  a  kann  von  b  nur  gehoben   werden    bis  a' :  ;  und  b  kann  von  a 

2 

ii                i                       ma' 
gehoben  werden  bis  a ;    wo    der   Unterschied    zwischen    a    und    a' 

2 

ergiebt,  dafs  b  höher  von  a,  als  a  von  b  werde  ins  Bewufstseyn  gebracht  werden. 

Wenn  nun  diese  Verschmelzungshülfen  zur  Wirksamkeit  gelangen,    so 

ist  nach  bekannten  Grundsätzen  der  Mechanik  des  Geistes,   ganz  ähnlich 

ro      o  —  co1 

der  Formel  — —  .  .dt  =  dw,    wo    sich  p    im  Nenner   und  Zähler 

IL  Q 

hebt,   hier 

da  i      /  ma'\     /  ma' 

dt  a  '  \    _       2   )     \  ~2~ 

d  ;  i      /  ma'\     /  ma' 

und   —   =  —  .    a' .    a ß 

dt  a     V  2   )     \  2 

wobey  sogleich  mag  bemerkt  werden,   dafs,  weil  für  t  =  o  auch  u  und  ß 

=  o  sind,  im   ersten  Beginn   der  Hebung,   falls   dieser  wirklich  durch  die 

Verschmelzungshülfen  geschähe,   d«  und  dß  gleich  seyn  würden;  hingegen 

ma'  . 

weiterhin  ist  d,j  allemal  gröfser;   indem  der  Factor  a' «  sich  der 

ma' 
Null  schneller  nähert  als  a ß. 

2 

Jetzt  aber  kommt  in  Frage,  ob  denn  die  Geschwindigkeit,  womit  a 
und  b  sich  erheben,  von  der  Verschmelzungshülfe  überall  könne  bestimmt 
werden?  Die  Bewegung  der  steigenden  Vorstellungen  geschieht  immer, 
wenn  mehrere  Gründe  dafür  zusammentreffen,  nach  dem  Rhythmus  des- 
jenigen Grundes,  welcher  die  gröfste  Geschwindigkeit  hervorbringt;  die 
andern  Antriebe  aber  können  alsdann  nur  gegen  Hindernisse  Widerstand 
leisten,  jedoch  nicht  beschleunigen.**  Folglich  wird  in  unserm  Falle  die 
Verschmelzung  nicht  eher  helfen,  bis  etwa  das  freye  Steigen  jeder  Vor- 
stellung durch  sich  selbst,  seinem  Zielpuncte  so  nahe  gekommen  ist,  dafs 
es  langsamer  wird  als  diejenige  Bewegung,  welche  von  der  Verschmelzungs- 
hülfe kann  bewirkt  werden.  Ob  ein  solches  Nachlassen  des  freyen 
Steigens,  und  ein  Uebertreffen  desselben  durch  die  Hülfe  möglich  sey, 
mufs  nun  untersucht  werden. 

Zu  diesem  Zwecke  versuchen  wir,  was  herauskomme,  wenn  beyde 
Geschwindigkeiten,  die  des  freyen  Steigens  und  die  von  der  Hülfe  be- 
wirkte, gleich  gesetzt  werden?   —   Demnach 

i.    Anstatt  der  Gleichung 


*  Psychologie  §  86. 
**  Ebendaselbst  §87. 


1     r_ZT^"    s\V. 


■>•> 


e 


440      HI.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 


d«  =  (a  —  a  —  7i'm  {ß -\- y)  dt  schreiben  wir  jetzt,  da  nur  zwey 
Vorstellungen  in  Betracht  gezogen  werden,  auch  a  =  b,  und,  solange 
die    Verschmelzung    unwirksam    ist,    gewifs    a    =    ß    seyn    mufs,    d«    = 

(a  —  I  1  -| mj  u)  dt;  indem,   wie  schon   oben  bemerkt,   k  =  1  -| m. 

So  wird,   indem  die  Geschwindigkeiten  für  irgend  -ein  a  gleich  werden  sollen, 

da                  /            1       \                 1      /          ma'\     /  ma' 

=  a  —  11  — 1 m     a  =  —  .  I  a .    a'  - 


dt  \  2      /  a\  2    J  '  \  2 

oder  u 


1       \      /  ma' 

a  —  a'i m.i 


1  \        /  ma' 

2  /        \  2a/J  2      /     \  2  a, 

Nun  kann  aber  a  nicht  kleiner  seyn   als  a',   welches   ein  Theil  von  a 

seyn    soll.      Setzen    wir   beyde   gleich:    so    kommt    «  =  a    1 ml,  ein 

unbrauchbarer  Werth,  weil,  wofern  a  so  grofs  werden  mufs,  damit  die  Ge- 
schwindigkeiten gleich  werden,  es  die  Höhe  übersteigen  würde,  wohin  es 
durch  die  Verschmelzung  kann  gehoben  werden,   denn  diese  ist,   wie  schon 

gezeigt,  a'  (  i m  j.    Also  steigt  a  fortwährend  frey,   das  heifst,   mit  der 

Geschwindigkeit,   deren  Grund  in  ihm  selbst  liegt. 

2.     Anstatt     der    Gleichung    d/i=(b —  ß  —  n"  m  [ß  -\-  y])    dt    gilt 

ebenfalls,     so     lange     b    durch    eigne    Kraft     steigt,     die    Formel    dß  = 

1 

i-| m 

2 

weil  dadurch   die  zweyte  Vorstellung  soll  bezeichnet  werden;   während  doch 

der  Gröfse  nach  b  =  a  gesetzt  ist.  Sollen  nun  hier  die  Geschwindig- 
keiten gleich   seyn,   so  hat  man 

dß  (  1      \  1     /  ma'\  /  ma'  \ 


/j    dt;   wo  der  Buchstabe  b  nur  deshalb  gebraucht  wird, 


oder  ß 


I  +  7ra)-f(I-7m 


--T'-7-H'-3 


Hier  ist  zwar  der  Theil  rechter  Hand  des  Gleichheitszeichens  völlig 
der  nämliche  wie  im  vorigen  Falle,  da  b  —  a  seyn  soll;  allein  der 
Coefficient    von   ß   ist   gröfser,    sobald    a    gröfser    genommen    wird    als    a\ 

Gesetzt,    es   wäre  b  =  ( 1  -j mj.fa j,    so    könnte   die  Gleichung 

dividirt  werden  durch  den  Coefficienten  von  ß,  nämlich  durch  (  1  -| ml 

a'  /            1       \                                                                             ma' 
—  I  1 ml;    und   es  fände  sich  alsdann  ß  =  a ,  welches  ge- 
rade die  Höhe  ist,    wohin  b  von  a  kann  gehoben  werden.     Es  sey  aber 


b  kleiner,  nämlich 


/      .     I      \*    /  ma' 

a  =  b<^i+-mj    .(a-- 


(1  =  im)  statt  (1  +.-1)  SW. 


3^  Brief.  ,  ,  x 

so  mufs  seyn  m   <  2  .  ( —  ■ —  1  ],  oder  a'  <  — - 

\  a'  /  2-fm 

Diese  Annahmen    sind  zulässig;    und    zeigen,    dafs    es  Fälle   gebe,    in 

welchen    für    ein   solches   ß   die  Geschwindigkeiten   gleich    werden    können, 

dessen    weitere    Erhebung    von    der    Verschmelzungshülfe  abhängen    wird. 

Hätte    man    auf   den    vorigen  Fall    eine    ähnliche    Betrachtung    übertragen 

wollen ,    so    wäre    für    a  =  a'  (  1 m ]  .  ( 1  -| ml    herausgekommen 

«  =  a' ( 1 ml,  und   zu   dieser  Höhe  könnte   a   durch  die  Hülfe  ge- 
hoben werden;    aber   a  =  a'  I  1 m2     ist  ungereimt,    da    a'    ein    Theil 

von  a  seyn  soll. 

Bis  zu  der  Zeit  nun,  wo  die  Verschmelzungshülfe  anfängt  zu  wirken, 
steigen  u  und  ß  ganz  auf  gleiche  Weise  nach  obiger  Formel. 

2  +  m.t) 


m 


«=Ä  =  — =—    i-c  ^  /   [I] 


1 
Hingegen  von  diesem   Zeitpuncte  an  gilt  das   Integral  von 

dß         1     /  ma'\     /  ma' 

dT  =  7'la'-—  )■(»-  —  -" 

nämlich  fl-  (a  -  5*\  .  (.  -  e  ~  »  ('  _  T  "> ''  M 


Bevor  man  jedoch  von  diesem  Integral  Gebrauch  macht,  mufs  man 
zuvörderst  in  dessen  Sprache  den  erwähnten  Zeitpunct  übersetzen;  als  ob 
durch  die  Verschmelzungs-Hülfe,  ß  wäre  dahin  erhoben  worden,  den  zuvor 
bestimmten  Werth  zu  erlangen,  für  welchen  die  Geschwindigkeiten  gleich 
geworden  sind. 

Bev spiel:    a  =  b=  1;  a'  =  —  ;m  =  — ;    giebt  für  dasjenige  ß,   bey 
-  r  2  10 

welchem  die  Geschwindigkeiten  gleich  werden,   den  Werth  0,93369.    £ 
man  diesen  in  die  Formel  I,  so  findet  sich  für  den  Zeitpunct  der  erwähnten 
Gleichheit  t  =  3,7433;  hingegen  nach  der  Formel  II  würde  dazu  fast  die 
doppelte   Zeit   nöthig   gewesen   seyn,   nämlich   t  =  6,6559.     Nehmen    wir 
:etzt  t=7    in    der   zweyten    Formel    so    bedeutet   dies   nur   den   Zuwachs 
an  Zeit  7  -  6,6559  =  °>344i  5    es    findet  sich  aber  dafür,  das  heifst  für 
die  wahre  Zeit  3,7433  +  0,3441  =  4,o874,  der  Werth  von  /?=  0,96 
Hätte    statt    dessen    noch    die    erste   Formel    ihre    frühere  Geltung,    so  er- 
gäbe   sie    für    den    nämlichen    Zeitpunkt    ß   ==    9,9392.      Dieser   letz 
Werth    ist    richtig    für    «,    welches    in    seinem    Gange    durch    die    Ver- 
schmelzungshülfe   nicht   abgeändert   wird,    folglich   nach   Verlauf   1        Zeit 
t  =  l  7zm     hinter   ß   um    etwas    zurückbleibt.      Die    Gränze,    welch- 
sich    in    diesem    Beyspiele   nähert,    ohne   sie   jemals    völlig   zu    erreichen, 

ist  39  =  9,975.      Hingegen    «  nähert    sich  der  Gränze  —=0,95238. 
40 


442      in.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aul  die  Pädagogik  (1831). 

Vor  tieferem  Eingehn  in  die,  etwas  verwickelte  Untersuchung  wird 
es  zweckmäfsig  seyn,  noch  ein  andres  Beyspiel  dem  vorigen  gegenüber 
zu  stellen.  Man  behalte  a  =  b  =  1 ;  m  =  x/io  >  a^er  es  seY  nun  a' 
===  0,65.  So  findet  sich  der  Zeitpunct,  wo  die  Geschwindigkeit  der  Ver- 
schmelzungshülfe  anfängt  die  eigne  Bewegung  von  b  zu  übertreffen,  bey 
dem  Werthe  ß=  0,93081;  alsdann  nämlich  ist  t  =  3,6060,  nach  der 
Formel  I.  Hingegen  hätte  die  Verschmelzungshülfe,  um  diesen  Werth 
von  ß  hervorzubringen,  nach  der  Formel  II  hiezu  eine  Zeit  =  5,2991 
gebraucht.  Man  setze  nun  eine  etwas  gröfsere1  Zeit  t  ==  5,7 ;  in  die 
Formel  II,  so  bedeutet  dies  nur  den  Zuwachs  an  Zeit  5,7  —  5,2991 
=  0,4009;  dafür,  das  heifst  für  die  wahre  Zeit  3,6060  -\-  0,4009  =4,0069 
Avird  alsdann  /i  =  0,93886.  Für  die  nämliche  Zeit  gäbe  die  Formel  I 
einen  etwas  kleineren  Werth,  ^=0,93818,  welches  der  jetzige  Werth 
von  a  ist. 

Vergleicht  man  dies  Beyspiel  mit  dem  vorigen:  so  zeigt  sich,  dafs 
a'  =  0,65  ein  wenig  früher  anfängt,  sein  b  zu  beschleunigen,  als  a'  =  o,5; 
dagegen  mag  man  es  befremdend  finden,  dafs  für  t  =  4,0069  der  Werth 
von  ß  noch  nicht  gröfser  ist  als  0,93886.  Dies  erinnert  an  eine  für  die 
jetzige  Untersuchung  wesentliche  Frage,  nämlich  nach  dem  Zeitpuncte, 
wann  die  später  beginnende  Beschleunigung  durch  ein  kleineres  a'  wohl 
die  vorige  einhohlen  würde,    wenn  bey  de  zugleich  wirkten  ? 

Fingen    beyde    Verschmelzungshülfen    ihre    Wirksamkeit    zugleich    an, 

so   hätte  man  eine  Gleichung  von  folgender  Form: 

ß  =  p  (1  —  e  -i1)  =  p'  (1  —  e  -i'') 

p         1  —  e  —  i'1 

also  —  = 

p'         1  —  e  -  il 

p  e-qt    _  Q-q't  !    e  (q  -  q')  t 

oder 1  = ■; —  =  e  —  i* . — 

p'  1  —  e  - 1'  1  —  e  - 1' 

/p  \  1  _  e(q-q')t 

folglich  log.  nat  . 1)  =  —  qt  -4-  log.  nat. 

0  °  \p'  /  h  -r     O  !  _e-qt 

woraus  wenn  der  Werth  von  t  schon  nahe  bekannt  ist,   und  vorläufig  in 

1  e  (q  —  q')  * 

den    Bruch  = kann    gesetzt    werden,    sich    dasselbe    genauer 

finden  läfst. 

Allein  wegen  der  imaginären  Zeiten,  worin  die  Verschmelzungshülfen 
würden  gewirkt  haben,  während  in  der  That  die  Vorstellungen  durch 
eigne  Kraft  empor  stiegen,  bedarf  das  angegebene  Verfahren  einigei  Ab- 
änderung, die  sich  am  bequemsten  an  den  schon  gebrauchten  Beyspielen 
zeigen  läfst.  Es  kommt  nämlich  darauf  an,  die  imaginären  Zeiten,  nach 
■welchen  das  Wirken  der  Verschmelzungshülfen  mufs  berechnet-  werden, 
gehörig  zusammenzufassen;  als  ob  eine  nach  der  andern,  aber  jede  von 
vorn  an  ihr  Wirken  begonnen  hätte. 

Man  nenne  0,5  =  a';  aber  0,65  =  a";  so  entspricht  der  wahren 
Zeit  3,606  für  a"  die  imaginäre  Zeit  5,2991;  und  der  wahren  Zeit 
3,743     für    a'    die    imaginäre    Zeit    6,6559.       Der    Unterschied    beyder 


1  „höhere"  S\V 


31.  Brief.  443 

wahren  Zeiten  ist  0,137.  Hätte  nun  die  imaginäre  Zeit  5,2991  ablaufen 
müssen,  um  ß  durch  Wirkung  der  Verschmelzungshülfe  zu  dem  Werthc 
0,93081  zu  heben:  so  käme  alsdann  zu  ihr  der  wirkliche  Interschied 
0,137  hinzu;  und  gäbe  eine  Zeit  =  5,4361.  Am  Ende  dieser  Zeit 
wäre  für  a'  seine  imaginäre  Zeit  6,6559  abgelaufen.  Es  ist  aber  6,6559 
—  5,4361  =  1,2198.  Um  so  viel  früher  also  müfste  die  Wirkung  des 
a'  begonnen  haben,  als  die  des  a";  und  nach  dieser  Voraussetzung  mufs 
die  so  eben  in  allgemeinen  Ausdrücken  gezeigte  Rechnung  abgeändert 
werden,  um  das  Fortwirken  der  Verschmelzungshülfen  in  derjenigen  Zeit 
zu  bestimmen,   da  ß  als  von  ihnen  abhängig  zu  betrachten  ist. 

-r,  ,,.  ma'  a'  X\  r 

Es  sey  nun  das  obige  p  =  a >q  =  --  •  (l m)>    so    muls 

2  a  2 

dieses  q  nicht  mit  t,   sondern  mit   1,2198  -f-  t  multiplicirt  in  die  Formel1 

,    ,  •  ma"  ,  a"  x 

gesetzt  werden;  alsdann  ist  p'  =  a — ,  und  q'= —    .   (1  —  -  -  m). 

2  a  2 

Wird  hiernach  die   Rechnung  abgeändert,  so  findet  sich 

p  1  _  gi-MigS  +  Cq-qOt 

log.  nat.  \—  —  I  j  =  -  -  q  (1,2 198  +  t)  +  log.  nat.  -    1  _  e-q(,,„9g+o 

Nun  war   für    die  wahre  Zeit  4,087,  und  für  a'  =  — ,     der    Werth 

von  ß==  0,9618;  aber  für  die  wahre  Zeit  4,0069,  und  für  a"  =  0,65, 
der  Werth  von  ^  =  0,93886.  Die  Zeiten  sind  einander  sehr  nahe;  und 
die  Beschleunigung  durch  a"  fängt  früher  an  als  die  durch  a';  folglich 
mufs  der  Zeitpunct,  wofür  man  aus  beyden  Rechnungen  einerley  ß  erhalten 
hätte,  schon  vorüber  seyn;  und  es  mufs  dafür  t  gröfser  als  3,743»  aber 
kleiner  als  4,0069.  Die  imaginäre  Zeit  5,7  entspricht  der  wahren  4,0069; 
man  setze  demnach  etwa  t=5,5;  um  vorläufig  den  von  t  abhängenden 
Logarithmen  zu  berechnen,  während  t  in  der  Gröfse  —9(1,2198  +  0 
noch  als  unbekannt  betrachtet  wird.  So  findet  sich  dieses  1  =  5,5634: 
eine  imaginäre  Zeit,  die  sich  sogleich  auf  die  wahre  zurück  führen  läfst, 
indem  man  überlegt,  dafs  zu  der  imaginären  Zeit  5,4361  die  wahre  3,743 
gehört.  Es  ist  nämlich  der  Unterschied  5>5634  —  5>4301  =  °>12 73, 
welcher  zu  der  wahren  3,743  addirt  ergiebt  3,8703-  Und  dies  liegt,  wie 
voiausgesehen  war,  zwischen  3,743  und  4,0069.  Also  kann  es  nicht 
mehr  befremden,  daß  die  früher  begonnene  Beschleunigung  sehr  bald  hinter 
der  später  eingetretenen   zurückbleibt. 

Man  sieht  in  dem  Beyspiele,  dafs  es  leicht  ist,  einen  vorläufigen 
Werth  von  t  zu  treffen,  der  die  Näherangs  -  Rechnung  einleiten  kann: 
sonst  möchte  dieselbe  weit  mühsamer  ausfallen. 

Der  Schlufs  aber  von  beyden  Beyspielen  auf  andre  Werthe  von  a' 
kann  leicht  irre   führen,  wenn  nicht  eine  neue  Betrachtung  mit  der  vorigen 

verbunden  wird.  Ar 

Um  den  Werth  zu  bestimmen,  wobey  ß  anfängt  von  der  Ver- 
schmelzungshülfe abzuhängen,  ist  oben  die  Gleichung  aufgestellt: 


1  „Formeln"  statt  „Formel"  SW. 

ä  „verändert"  statt  „veränderlich"  SW. 


444      m-  Briefe  ürjer  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 


ä 


.i.(i-.i-n 


a'  /           I       \     /  ma' 

b 1 m 


a  \  2      /•   \  2 

Man  setze  hierin,  wie  zuvor,  a  =  b=  1,  und  suche  nun,  wie  ß  von 
a'  abhängt;  indem  man  a'  als  veränderlich2  betrachtet,  und  nach  dem- 
selben differentiirt.  Es  wird  sich  finden,  dafs  alsdann  dß  könne  =  0  ge- 
setzt werden,  welches,  wie  die  Umstände  zeigen,  ein  Minimum  von  ß  er- 
geben mufs  für 


a' 


I_|__m_l/Am_ 


4 


m 


=  0,69419   für  den  vorhin  angenommenen   Werth  von  m  =  — .      Hätten 

10 

wir  also  im  Vorhergehenden  a'  =  0,7   oder  noch  gröfser  gesetzt:   so  wäre 

dasjenige    ß,    welches    anfängt    von    der    Verschmelzungshülfe    bestimmt    zu 

werden,  nicht  kleiner,  sondern  gröfser  gefunden  werden.     Z.  B.  für  a'  =  o,9 

erhebt  sich   b  durch   eigne   Kraft  bis  ^=0,9409,    und  von  hier    an    erst 

wird   es  durch  die  Verschmelzungshülfe  beschleunigt;  jedoch  durch  dieselbe 

nur  der  Gränze  0,955   angenähert.     Der  Zeitpunct,  wo   die  Beschleunigung 

beginnt,   ist  t  =  4,208.      Dagegen    fand  sich  für  a'=— ,     derselbe    Zeit- 

2 

punct  bey  1  =  3,743;  es  war  alsdann  /i  =  0,93369;  und  für  t  —  4,0874 
fand  schon  der  Werth  ß=  0,9618  statt.  Demnach  ergiebt  sich  für  solche 
a',  welche  gröfser  sind  als  0,69419,  nur  eine  späte  und  geringe  Erhe- 
bung des  ß. 

Wäre  mit  einer  Vorstellung  a  =  I  für  alle  möglichen  Reste  =  a'  eine 
Menge  von  b,  sämmtlich  =  1,  verbunden,  und  hinge  die  Beschleunigung 
dieser  b  lediglich  von  a  ab,  so  würde  dasjenige  a',  welches  =0,69419,  die 
Beschleunigung  des  ihm  angehörenden  b  zuerst  beginnen;  darauf  würden  zu 
bey  den  Seiten  eben  dieses  nämlichen  a'  die  Beschleunigungen  der  zugehörigen 
b  allmählig  gleichsam  zun  sich  greifen ;  mit  dem  Unterschiede  jedoch,  dafs 
für  gröfser e  a'  dieselben  minder  bedeutend,  für  kleinere  dagegen,  wenn 
auch  später  begonnen,  doch  weiter  fördernd  ausfielen.  Für  a'  =  o,l  be- 
ginnt die  Beschleunigung  erst  bey  /tf"  =  0,94814  und  1  =  5,1656;  aber 
sie  reicht  bis   zu  der  Gränze  ß=  0,995. 

Für   andre  Weithe    von    m    würde  jenes    Minimum    von   ß  auch    ein 

andres  a'  erfordern.     Für  m=  1    findet  man  a' =  0,3544;  da  aber,  wie 

2  a 
oben    erwähnt,   a'  kleiner    seyn  mufs,    als  -,    so    fällt    der    oben    an- 

2  -|-  m 

gegebene  Punct  doch  nicht  ganz  in  die  Mitte  der  Gegend,  worin  Be- 
schleunigung statt  findet,  sondern  nach  derselben  Seite  hin  wie  zuvor; 
denn  diese  Gegend  fängt  hier  erst  an  bey  a'  =  0,66  .  .  .  Hingegen  für 
m  =  o  würde  sich  das  erwähnte  Minimum  des  ß  bey  a'  =  1 ,  also  am 
äufsersten  Endpuncte  befinden.  Ist  m  nicht  o,  aber  sehr  klein,  so  läfst 
der  Ausdruck 


3I-  Brief-  445 


i+-m-l/ini  +  -  m2 


i 
i m 


sich  sehr  abkürzen;   es  kann  nämlich  neben  der  Quadratwurzel  von  m   die 
erste   Potenz  vernachlässigt  werden;  also 


I  — 


1/ Äm  =  i  — 1,2247!/ 


I 


Z.  B.   wenn  m  = ,   so  ist  nahe  a'  =  0,0^877. 

400  'vo    '  ' 

Der  Vergleichung  wegen  wollen  wir  auf  beyde  zuletzt  erwähnte  Fälle 
noch  einen  Blick  werfen. 


1.  Es  sey  m  = 


400 

Man  nehme  a'  =  o,cj;  so  beginnt  das  Wirken  der  Hülfe  erst  bey 
ß  =  0,9749;   und  für  1=3,725. 

Man  setze  a '  =  o,  1 ;  so  wirkt  die  Hülfe  nicht  früher  als  für  ß  = 
0,9986;  und  t  =  9,104. 

2 .   Es  sey  m  =  1 . 

Man  nehme  a'  =  0,3.  Jetzt  wirkt  die  Hülfe  schon  von  dem  Werthe 
,#=0,6463   an,  und  1  =  2,3278. 

Für  a' =  0,1  findet  sich  /i=  0,6569,  und  t=  2,8194.  Im  ersten 
dieser  Fälle,  nämlich  für  a'  =  0,3  nähert  sich  die  Erhebung  des  ß  der 
Gränze  0,85.     Hingegen  für  a'  =  0,1    der  Gränze  0,95. 

Die  Hülfen  sind  hier  gleichsam  auf  einen  engen  Raum  beschränkt, 
aber  innerhalb  dieses  Raumes  desto  wirksamer.  Es  läfst  sich  daraus  ver- 
muthen,  was  geschehen  würde,  wenn  die  frey  steigenden  Vorstellungen,  bey 
geringer  gegenseitiger  Hemmung  (also  bei  geringen  Werthen  von  m)  irgend 
einen  Widerstand  gegen  sich  in  Spannung  setzen.  1  Je  mehr  sie  dadurch 
am  Steigen  gehindert  würden,  desto  mehr  würde  die  Wirkung  der  Hülfen 
hervortreten,  obgleich  die  Gränzen,  denen  sich  dieselbe  nähert,  erniedrigt 
werden  möchten.  Denn  was  bey  kleinen  Hemmungsgraden  diese  Wirkung 
verspätet,  das  ist  nur  das  freye  Steigen  selbst,  welches  erst  so  weit  nach- 
lassen  mufs,   bis  die   Hülfen  merklich  werden   können. 

Versucht  man  nun,  das  Bisherige  auf  mehr  als  zwey  Vorstellungen  aus- 
zudehnen, unter  der  Voraussetzung  gleicher  Stärke  und  gleichen  Hemmungs- 
grades: so  ist  zuvörderst  bekannt,  was  gleich  Anfangs  gezeigt  worden,  dafsje 
mehr  der  Vorstellungen  sind,  um  desto  niedriger  die  Gränze  steht,  welcher 
jede  im  freyen  Steigen  sich  nähert;  und  auch  die  Bewegung  dahin  desto 
weniger  gleichmäfsig  ist;  indem  sie  zuerst  rascher,  allein  desto  eher  verzögert 
wird.  Die  Wirksamkeit  der  Hülfen,  welche  dadurch  nicht  vermindert  werden, 
tritt  also  eher  hervor.  Aber  jede  Vorstellung  wirkt  auf  die  nachfolgenden; 
dergestalt,  dafs  c,  d,  u.  s.  w.  sich  nicht  von  a  sondern  von  b  beschleunigt 
finden,    falls    dessen    Wirksamkeit    eher    eintritt.      Bis    zu  jenem    Minimum 


1  „setzen-'  statt  „setzten"     SW. 


446      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (1831). 

hin,  wo  a  zuerst  anfing  ß  zu  beschleunigen,  statt  dessen  man  jetzt  y  oder 
S  setzen  mag,  kann  nun  die  zunächst  auf  a  folgende  Vorstellung,  die  jetzt 
b  heifsen  wird,  nicht  vorgreifen;  aber  weiterhin  fortgehend  in  der  Reihe 
können  wir  erwarten,  dafs  die  von  b  abhängende  Beschleunigung  auf 
solche  Glieder  treffen  wird,  bey  denen  sie  der  von  a  ausgehenden  Wirkung 
zuvorkommt.  Jedoch  diese  Beschleunigung  nimmt  ab,  und  für  a  wird  noch 
eine  Nachwirkung  übrig  bleiben,  vermöge  deren  am  Ende  jedes  spätere 
Glied  die  vorigen  überragen  wird,  ohne  sie  darum  zurückzudrängen.  Es 
ist  also  auch  hier  eine  Reihenbildung  vorhanden,  wiewohl  kein  eigentliches 
Ablaufen  einer  Reihe,   weil  die  früheren  Glieder  nicht  zurücktreten. 

Anders  wird  sich  dies  verhalten,  wenn  irgend  eine  Hemmung,  deren 
Grund  aufserhalb  der  Reihe  liegt,  sich  einmischt.  Denn  alsdann  wird  aus 
früher  entwickelten  Gründen  allerdings  in  den  vordem  Gliedern  die  Nach- 
giebigkeit gröfser  seyn.  als  in  den  hinteren,  bey  welchen  die  Energie  des 
Steigens  noch  stärker  ist;  und  so  wird  ein  eigentliches  Ablaufen  der  Reihe 
erfolgen  können.  Nur  ist  dabey  nicht  zu  vergessen,  dafs  die  Bildung  der 
Reihe  nicht  _  lediglich  von  der  Zeitfolge  abhängt,  worin  die  Glieder  der- 
selben ursprünglich  gegeben  wurden,  sondern  dafs  jeder  Grund,  wodurch 
die  gröfsere  oder  geringere  Verschmelzung  je  zweyer  Glieder  bestimmt 
wurde,  sich  hier  gelten  macht. 

Die  nächste  Frage  wäre  nun:  was  geschehen  werde  bey  ungleichen 
Hemmungsgraden?  Wenn  z.  B.  drey  Vorstellungen  so  beschaffen  sind,  dafs 
ihre  Hemmungsgrade  in  gerader  Linie  liegen;  wie  auf  der  Tonlinie,  wo 
allemal  zwey  Hemmungsgrade  addirt  den  dritten  ausmachen?  Es  ist  ein- 
leuchtend, dafs  beim  freyen  Steigen  der  Ton- Vorstellungen  c,  e,  g,  die 
mittlere  weniger  gehemmt  wird,  als  die  äufsersten,  welche  von  ihrem  Gegen- 
satze unter  einander  (dem  gröfsten  Hemmungsgrade)  am  meisten  leiden. 
Setzen  wir  nun  dieses  c  und  e  in  die  Stelle  der  zuvor  betrachteten  a 
und  b,  so  kann  in  solchen  oder  ähnlichen  Fällen  die  eigne  Geschwindig- 
keit des  c  wohl   übertroffen  werden  durch   die   Wirkung    der  Hülfe  des   e. 

Es  kommt  jetzt  noch  darauf  an,  den  Umfang  der  vorhergehenden 
Untersuchung  auf  die  Voraussetzung  zu  erweitern,  dafs  a  und  b  von  un- 
gleicher Stärke  seyn  mögen.  Hier  sind  mehrere  Fälle  zu  unterscheiden. 
Es  sey  immer  a  die  stärkere  Vorstellung;  diese  aber  kommt  entweder 
nur  für  ihren  Teil  a'  in  Verbindung  mit  b,  oder  es  ist  umgekehrt  ein 
Theil  b'  von  b,  welcher  mit  dem  ganzen  a  Gemeinschaft  hat.  (Den  Fall, 
wo  nur  Theile  von  beyden  in  Verbindung  getreten  wären,  lassen  wir  un- 
berührt.) In  der  ersten  Annahme  liegen  wiederum  zwey;  es  ist  nämlich 
entweder  a'  kleiner  als  b,   oder  gröfser. 

I.  Es  sey  a'  kleiner  als  b;  wobey  hinzugedacht  werden  mag,  dafs 
etwan  das  im  Sinken  begriffene  a  bis  auf  den  Theil  a'  aus  dem  Bewufst- 
seyn  verschwunden  war,  als  b  gegeben  wurde.  Die  Hemmungssumme 
war  alsdann  =  ma',  wie  in  den  frühern  Rechnungen;  und  die  Ver- 
schmelzungshülfe  für  b,   welche  sich   daraus   ergab,  war 

1      /  ma'b\     /  ma'a\ 

bT-i+bMb-r+bj' 

folglich,    wenn    deren    Wirkung    für    irgend    einen    Werth    von    ß    gleich 
werden  soll  der  Geschwindigkeit,  womit  b  von  selbst  steigt,  so  mufs  seyn 


3i.  Brief. 


447 


dß 
dt 


i 


a' 


ma'b 
a  +  b 


ma 


a  + 


-4 +=£}-?(■ 


a  +  b' 
Wäre    nun    b 


mb 

a~+l 
am 


'a  \  /  am  \ 

mb 
ä~+b 


b-_(i 


+ 
b- 


ma'a\ 
ä+b/ 


i  +-     — )•  (b ,  so  liefse  sich  durch  den 

k   ^a  +  b/   V  a  +  b/ 

Coefficienten  von    ß  dividiren;    und   man   hätte  ß  =  b r-,    folglich 


J     0 

—  =  o.     Also  mufs  b  kleiner  seyn,  woraus  folgt,   dafs 

LI  C 

aa'm 

<  b  —  a',  oder 


a  +  b' 


a+b 


m  < 


(b  —  a')  (a  +  b) 


und  a'  < 


aa' 

b  (a  +  b) 


a  +  b  +  am 

Differentiirt  man  ß  nach  a'  zu  dem  schon  bekannten  Zwecke,  so  findet  sich, 

nachdem  das  Differential  ■■    ■-  o   gesetzt   worden,    das    Minimum  von  ß  für 

b 


.  (a  +  b  +  am  — |/(a  +  b) .  (2  a  +  b) .  m  +  a2m  2)  1 


a  +  b  —  bm 
welches  für  ein  grofses  a  beynahe  wäre 

a'   =  b   (1  +  m  —  V2  m  +  m2) 
Hingegen  für  a  =  b  =   1   verwandelt  sich  die  Formel  in 


a' 


= .  (2  +  m  —  i/o  m  +  m2) 

2  —  m  '  ' 


-m.(i+-m 


]'Am  +  Am2) 

2  A  1 


oder  =    1 
wie  oben  für  diesen  Fall  schon  gefunden  worden. 

IL  Es  sey  a'  gröfser  als  b.    Alsdann  war  die  Hemmungssumme  =  mb;. 
die  Verschmelzungshülfe  für  b  ist  daher 

I      /  mb2  \    /.  raab 

b"-la'-a~+bV 

und  folglich  das  gesuchte 

+  b/    V         a  +  b  /  V      '    a  +  b/ 

1  2/  mb2  m  1    /  mb2x  /  mab 


-)*.' 


also 


1  + 


a  +  b        b  ia'  ~  rfb)J  =  b  -  b  -(a'-a-+b)  lb  -  aTb)' 
Hier  kann  man  nun  freylich  nicht  setzen 

/  am   \   /  am  \ 


a  +  b/ 


a  +  b/ 


a2m2 


Denn    gewifs    ist    (j  —        .   ,   J    b    kleiner    als    b;    allein    eben    deshalb 


a+b  —  bm 


a  +  b  +  am  — V....)  SW. 


2  4.      SW. 
b 


_i  18      III.   Briefe  über  die   Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 


setze  man 

/  am  \    /,  amb  \  a2m2b     , 

b  =  ('  +  ^Fb)-(b-^+i;)  +  (7+b)-2-b 

so  findet  sich 

amb     ,  a2m2b 

ß  =  b-— r-r  + 


a  +  b   '    (a  +  b)2 


am  1     /  mb2 


a  -j-  b        b     \  a  +  b'- 

welches    zwar    auf    einen    Augenblick    widersinnig    scheinen    kann,    da    ß 

nicht   vollends    ==  b — -  seyn,    vielweniger  diese  Gröfse  übersteigen 

a  +  b 

darf.      Allein  der  Divisor  des  letzten   Gliedes  ist  negativ.      Statt 

am  1     /  mb2  \ 

1  J a' schreibe  man 

~a  +  b        b    \  a  +  b/ 

am  a'     .       mb  .  a'  .  . 

t  _J =   1  4-  m  . ,  so  ergiebt  sich,  dafs 

x^a  +  b        bTa4-b  ^  b'  b 

a'  . 

seyn  müsse.     Unter  dieser  Voraussetzung  ist,  besser  geschrieben, 

am         a2m2b 
1  — 


3  =  b 


a  +  b  ~(a  +  b)2.(a'  — (1  +m).b)J 
Aber  nun  fragt  sich:  bevor  dieser  Werth  von  ß,  und  mit  ihm  die  Gleich- 
heit der  Geschwindigkeiten  eintritt,  welche  Geschwindigkeit  ist  gröfser, 
die  eigne  des  b?  Oder  vielmehr  die  der  Hülfe?  Dann  hebt  sie  die  Vor- 
stellung b  bis  zum  jenem  Werthe  von  ß;  nun  aber  überläfst  sie  dieselbe 
ihrem  eignen  langsamem  Fortschritt;  welches  von  dem  früher  be- 
trachteten  Vorgange    das    Umgekehrte    ist.       Der    genauem    Bestimmung 

a' 
wegen  setze  man  —  =  i-fmx,  und  suche  nun,  wie  grofs  x  sein  müsse, 

damit  Anfangs,  für  $  =  o,  die  Geschwindigkeiten  gleich  seyen. 

Es    ist    nämlich    zuerst,    indem    noch    ß—o,    wofern  jetzt    die    Ge- 
schwindigkeit gleich  seyn  sollen, 

'z'  mb  \   /  ma 


a  -}-  b'  "\  a  -f-  b 

-    (\er\    Werth 
b 


a' 
hierin   statt  —  den  Werth    i-fmx  gesetzt,  giebt 


ma  mb      ,      m2ab 

— I— : — — —  =    I 


/  ma  \ 


a~+~bV  ^  T-      ■  "  a  +  b  "  "  a  +  b  ^  (a  +  b)* 

/  ma  \  m2ab 

oder  m     1  —   — r—   x  ==  m  —  - — j— rrr 

\  a  +  b/  (a  +  b)2 

(a  +  b)2  —  mab 


das  heifst  x  = 


(a  +  b)2  —  mab  —  ma2 
Sobald  also   x    gröfser   genommen   wird,    ist  die  Verschmelzungshülfe 

Anfangs  die  geschwindere;    und  b  wird  von  ihr  schneller  gehoben,  als  es 

durch   eigne   Kraft  steigen  konnte. 

Um   nun   vor  unpassenden  Voraussetzungen  möglichst  sicher  zu  seyn, 


31-  Brief.  , 

bestimme  man  zuerst  willkührlich  die  Werthe  von  a  und  b;  prüfe  alsdann, 
welches  m  dazu  taugt,  damit  nicht  x  so  grofs  werde,  dafs  a'  = 
b(l-f-mx)  den  angenommenen  Werth  von  a  übersteige.  Ist  nun  ä'  ge- 
hörig bestimmt,  so  geben  alsdann  die  Formeln  sowohl  die  Anfangs-Ge- 
schwindigkeit, als  auch  den  Werth  von  ß,  wobey  der  Wechsel  des  Be- 
wegungsgesetzes eintritt. 

z.    B.    Es   sey    a  =  g,  b=i,  so  ist  x  = 

i  oo  —  9  m  —  8 1  m 

Wollte  man  hier  m=i  setzen,  so  würde  x  =  9,i,  woraus  ferner 
a'=io,i,  welches  unmöglich,  weil  a'  ein  Theil  von  a  seyn  soll.     Wählt 

man   statt    dessen  m  =  — ;  so  folgt  x  =  -    -.     Es  sey   nun  x  ein  wenig 

2  °  11  J  ° 

gröfser,     etwa  =  2 ;     alsdann     ist     auch     a'  =  2  ;     und     daraus     Anfangs 

dß 

TT  =  I,°725  vermöge  der  Verschmelzungshülfe;  aber  das  obige  ß  =  0,145. 

Bis  dahin  hebt  also  die  Hülfe ;  weiterhin  ist  b  seinem  freyen  Steigen  über- 
lassen.     Man    konnte  jedoch    auch  für  m  =  —     füQ-lich     a'  =  8     setzen  : 

2 

woraus  Anfangs  --  =  4,3725,  und  jenes  /?=  0,5188.     Endlich  war  nicht 

durchaus  nothig,  den  Werth  von  m  auf  die  Warnung  des  zuerst  gefundenen 

1  8 

x  so  tief,   bis  auf  — ,  herabzusetzen.     Es    sey  m  =  — .       Daraus     ergiebt 

sich  für  x  =  5  und  a' =  5,444  die  Anfangs-Geschwindigkeit  =  1,07  1 1 ; 
immer  noch  ein  wenig  gröfser  als  das  anfängliche  Steigen  des  b  durch 
sich  selbst  seyn  würde  (da  b=  1  genommen  war):  allein  hier  sind  wir 
hart  an  der  Gränze  der  brauchbaren  Werthe,  denn  ß=o,02  ist  der  sehr 
geringe  Werth,   über  welchen  hinaus  die   Hülfe  nicht  mehr  wirkt. 

Uebrigens  zeigen  die  Formeln  sogleich,  dafs  für  ein  sehr  kleines  m 
die  Anfangsgeschwindigkeit  beynahe  =  a',  und  jener  Scheidewerth  von  ß 
beynahe  b  selbst  ist. 

Wäre  a'  =  b  oder  diesem  Werthe  nahe,  so  könnte,  wie  schon  ge- 
zeigt, die  Gleichheit  der  Geschwindigkeiten  nicht  statt  finden.     Der  Aus- 

/  mb    \ 

druck     für     die     Verschmelzungs  -  Hülfe     wird     alsdann       1 : — -I  • 

D  \  a  -f-  b 

( 1 Ü^L. ) .  b  welches  offenbar    kleiner   ist  als  b ;    Anfangs  also  steigt  b 

\  a-j-  b' 

aus    eigner   Kraft,    und    dabey    bleibt    es  unter    der  jetzt    angenommenen 

Voraussetzung  auch  fernerhin. 

Es  spaltet  sich  also  der  Fall  II  in  drey  Fälle;  nämlich,  wenn  man 
sich  a'  denkt  als  allmählig  wachsend,  dergestalt,  dafs  zuerst  die  Hülfe  un- 
wirksam ist;  dann,  dafs  ihre  Wirkung  erst  eintritt,  nachdem  aus  eigner 
Kraft  b  schon  den  vorhin  bezeichneten  Werth  ß  erreicht  hat;  und  endlich, 
dafs  die  Hülfe  gleich  Anfangs  die  Vorstellung  b  mit  sich  bis  zu  einen 
gewissen  Puncte  empor  hebt.      Um  der  Frage  willen,    ob  noch   der  vierte 

2Q 
Herbart's  Werke.     IX. 


a  KO      HI.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aut  die  Pädagogik  (183 1). 

Fall,   wo    die  Wirkung   der   Hülfe    immer   fortdauern    würde,    vom    nächst 

vorhergehenden    unterschieden   werden    müsse,    setzen   wir    a  und  a'    sehr 

grofs ;  alsdann  fällt  a  aus  dem  Scheidewerthe  von  ß  heraus,  aber  es  bleibt 

/                    m2b\  ,     m2b 

/?=bli  — m — I;  und    wenn   man   auch   — —    wegläfst,    so     bleibt 

noch  immer  der  Scheidewerth  ß  =  (1  — m)  b,  wie  lange  aber  ein 
solcher  noch  statt  findet,  mufs  eingeräumt  werden,  dals  sich  b  aus 
eigner  Kraft  um  etwas  höher  heben  könne,  wie  wenig  es  auch  seyn 
möchte.     Nämlich  ohne  Verschmelzung   ist  für  zwey  Vorstellungen  a  und 

b  bekanntlich  ß  =  —  ( 1  —  e  ~~  kt),    also    ß  nähert   sich   der  Gränze  — ,  wo 
k  k 

am 

k  ==  1  — | — -,  welches,  wenn  b  neben  einem  grofsen  a  wegfällt,  ergiebt 

a  — f —  d 

k=  1  -j-m;    es    ist  aber  — — —  =  b  (1  — rn  -\-  m2  u.  s.  w.)   also    gröfser 

als  jenes  ß  =  (i  — m)  b. 

Was  die   Scheidepunkte    zwischen    den  verschiedenen  Fällen  anlangt, 

a' 
so  ist    derjenige,  wo  —  =  1  -f-  m,    noch    nicht    der  erste,   denn  es  würde 

dafür  der  Scheidewerth  von  ß  einen  unendlich  grofsen  negativen  Wert 
erlangen. 

Man  setze  aber 

am  a2  m2  b    • 

1  =  a~+~b  +  (a  +  b)2.(a'  —  [1  +  m]  .  b) 

a2  m2  b  1    /      1       \    1 

woraus  a'  =  - — — — ; — r-r-r  -f-  (1  -j-  m)  .  b 

(a  -f-  b)2   —  am  (a  -f-  b)       v 

man  nehme  ferner  a  ==  a',  als  den  höchsten  Werth,  welchen  a'  haben 
könnte,  also 

b         am2  b 
1  —  (1  -h  m)  -  ==  (a  +  b)2_am(a_|_b) 

So  wird  sich  nach  willkührlicher  Annahme  des  a  und  b  der  höchste 
brauchbare  Werth  für  m  bestimmen  lassen,  da  m  mit  a'  wächst.  (Die 
allgemeine  Formel  wird  unbequem  weitläuftig.)  Da  nun  dieses  voraus- 
setzt, ß  sey  =  o,  so  wird  ein  gröfseres  a  und  a'  diejenigen  Fälle  herbey- 
führen,  worin  der  Scheidewerth  von  ß  stattfindet. 

III. 
Es  sey  von  b  aus  ein  Theil  b'  mit  a  in  Verbindung  getreten.     Als- 
dann   war    die    Hemmungssumme  =  m  b ' ;     die    Verschmelzungshülfe     ist 

/  mb'  b\     /,  mb'  a.       1  .  .  ,        , 

I  a 1  .    b' ; — \  .  —  und  es  fragt  sich,  ob 

\  a-fbyV  a-j-bjb 

mb'  b\     r  mb'  a 

a--bj 


/  mb'b\     I  mb'a        /lf       1         .         /      .       am   v 

a .     y ; ß1    .  —  =  b  —    I  +  — r-^r)  ß  sein  könne? 

I  a  +  bj     [  a+b       '    .     b  [    ^  a  +  b)  ' 


a  +  b/     L  a+b 

Der  früher  gebrauchte  Kunstgriff  würde  blofs  zeigen,  dafs 

1  „b"  S\V. 


31-  Brief.    4-, 

.       am  i   /  mb'  bv  m  a 

1  +  a~+  b  -  b  ia  ■  "  T+b)  -  l  +  rf  "b  *  (a  +  b °  " "  b  nCgativ  S6yn 

müsse ;  mithin  a  gröfser  als  —  m  b  4-  1/  —  m 2  b '-  -4-  b  -  m  b '  b ;  wofern  die 

2  f    4 

angenommene  Gleichung  stattfinden  solle. 

Jedenfalls  mufs  also  a  beträchtlich  gröfser  seyn  als  b  und  dies  um 
so  mehr,  je  gröfser  m  und  b'  genommen  werden. 

Setzen  wir  a  sehr  grofs,  so  wird  die  Gleichung  nahe 

£  .  [b'  (i-m)  -  ß]  =  b  —  (i  -f  m)  ,S,  oder 

ß  [i-j-m —\  =  b  —  T-'3'  ^ — m)'  oc*er 

ß   (£_(i+m))=£b'(i-m)-b, 

wo    man,    nachdem    schon    b    neben   a    wegfiel,    noch    weiter    abkürzend 
schreiben  kann 

ß  =  b'  (i— m). 

Die  obige  Gleichung  ist  also  für  ein  hinreichend  grofses  a  zulässig. 
Wenn  nicht  b'  oder  i — m  sehr  klein  sind,  so  wird  die  Anfangs-Geschwin- 
digkeit von  der  Hülfe  abhangen;  mithin  von  letzterer  b  bis  zu  einem,  dem 
eben  angegebenen  Q  nahe  kommenden  Werthe  gehoben,  dann  aber  sich 
selbst  überlassen  werden. 

Nach  dieser  Betrachtung  der  drey  Fälle  ist  nun  zu  erwägen,  wie  sie 
vorkommen  können.  Vorzüglich  starke  Vorstellungen  müssen  es  seyn,  die 
dazu  Anlafs  geben  sollen;  aufserdem  wäre  kein  freyes  Steigen  möglich. 
Ist  unter  diesen  eine  beträchtlich  stärker,  als  die  übrigen,  und  der  Hem- 
mungsgrad nicht  so  grofs,  um  die  schwächeren  auf  die  statische  Schwelle 
zu  bannen:  so  mögen  einestheils  von  den  minder  starken  einige  voran- 
gegangen, und  noch  im  Sinken  begriffen  seyn,  indem  die  stärkste  eintritt: 
alsdann  ereignet  sich  für  sie  der  Fall  III;  und  zwar  so,  dafs  von  den 
früher  vorausgegangenen  kleinere  Reste,  die  wir  b'  nannten,  mit  a  in 
Verbindung  geriethen.  Anderntheils  mögen  einige  schwächere  nachfolgen: 
so  giebt  es  für  jede  derselben  einen  Rest  a',  der  ihr  Steigen  bestimmen 
kann.  Gelangen  nun  späterhin  diese  Vorstellungen  zum  freyen  Steigen, 
so  ereignet  sich  mit  dem  Falle  III  zugleich  der  Fall  II;  indem  a  sowohl 
die  verschiedenen  b',  als  auch  die  nachfolgenden  b  durch  seine  verschie- 
denen a'  hervorheben  wird,  wofern  die  in  den  Rechnungen  angegebenen 
Bedingungen  statt  finden.  Um  zu  sehen,  wie  dies  auf  Reihenbildung 
führen  könne,  ist  noch  nöthig,  auf  die  Zeitbestimmung  des  Steigens  zu 
achten. 

Wenn  nämlich  im  Falle  III,  a  grofs  genug  ist,  damit  die  Anfangs- 
Geschwindigkeit   von   der   Verschmelzungs- Hülfe   abhänge:    so   findet   sich 

r         _  ±  /    _  mb'bv 

,      /  ma    \  b  \  a  -4-  bJ 

ß  =  b'     i r—    .  ^ 

l  a  -f-  b/     Li  — e 

woraus  sogleich  klar  ist,  dafs  gröfsere  b'  bey  hinreichend  starkem  a  und 

29* 


4C2      ni.  Brieie  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (183 1). 

nicht  zu  grofsem   m  (so  dafs  gering  sey  neben  a)  in  gleichen  Zeiten 

a  — \—  b 

höher  gehoben  werden,  folglich   die  Abstufung  grofsentheils  von  den  ver- 
schiedenen b'  abhängt. 


Ferner  ist  für  den  Fall  II 


,    /  ma   \    1 

c-"  ,--jr+bH.- 


mb2 


a^-bj   \i—  e  / 


woraus  hervorgeht,  dafs  gleiche  b  geschwinder  gehoben  werden,  wenn  sie 
mit  gröfsern  a'   in   Verbindung  traten. 

Dies  zusammengenommen  zeigt  eine  starke  Analogie  mit  demjenigen 
Reproductions  -  Gesetz ,  nach  welchem  Vorstellungen  von  der  statischen 
Schwelle  durch  andere  stärkere  hervorgehoben  werden;  und  es  kommt 
hiezu  noch  Folgendes,  welches  die  Analogie  vollständiger  macht. 

Man  weifs  schon  (aus  der  Beylage  zu  22),  dafs  jede  Vorstellung,  die 
sich  als  die  dritte  zu  zweyen  stärkeren  betrachten  läfst,  folglich  gewifs 
auch  jede  vierte,  fünfte,  u.  s.  w.  ein  Maximum  hat,  bis  zu  welchem  sie 
steigt,  um  alsdann  durch  die  bey  frey  steigenden  Vorstellungen  stets  wachsame 
Hemmungssumme  wieder  zum  Sinken  gedrängt  zu  werden.  Sind  also  die 
schwachem  Vorstellungen  bis  gegen  jenen  Scheidewerth  hin  reihenförmig 
gehoben,  so  werden  sie  auch  in  der  Ordnung,  wie  sie  gehoben,  wieder 
sinken,  nachdem  die  Wirkung  der  Hülfe  soweit  nachläfst,  um  der  an- 
gewachsenen Hemmungssumme  die  Herrschaft  zu  überlassen;  wiewohl 
hiebey  manche  noch  nicht  untersuchte  Modificationen  vorkommen  mögen. 

Andererseits  zeigt  sich  die  angeführte  Analogie  doch  auch  sehr  be- 
schränkt. Vorstellungen  von  nahe  gleicher  Stärke  erheben  sich,  wie  gleich 
im  Beginn  dieser  Untersuchung  klar  wurde,  anfangs  nicht  reihenförmig 
sondern  massenweise;  und  erst  gegen  das  Ende  ihres  Steigens  nehmen 
sie  mit  sehr  geringer  Bewegung  die  Reihenform  an,  wobey  sie  vielmehr 
zu  einander  hinzukommen,  als  vor  einander  weichen.  Hieraus  mufs  eine 
unendliche  Mannigfaltigkeit  entspringen,  wenn  jede  von  den  nahe  gleich 
starken  Vorstellungen  andre  schwächere  mit  sich  empor  hebt,  deren  Reihen- 
Entwickelung  die  Hemmungssumme  jeden  Augenblick  verändert. 

Über  die  ganze  hier  geführte  Untersuchung  ist  endlich  noch  zu  be- 
merken, dafs  die  Verschmelzungen  gemäfs  der  ursprünglichen  Hemmung 
beym  Sinken  gegebener  Wahmehmungs- Vorstellungen,  (Empfindungen)  sind 
bestimmt  worden.  Öfteres  gemeinsames  Steigen  aber  vermehrt  die  Ver- 
schmelzung, und  wird  also  auch  die  Wirksamkeit  der  Verschmelzungs- 
hülsen vermehren.  Hiemit  wird  sich  die  mannigfaltigste  Veränderung  der 
reihenförmigen  Anordnung  einstellen,  weil  alle  Abweichungen  von  der  ur- 
sprünglichen Folge  der  Empfindungen,  mögen  solche  nun  aus  den  durch 
die  Rechnung  schon  bestimmten,  oder  aus  Nebengründen  herrühren,  sich 
bey  jeder  Wiederhohlung  des  gemeinsamen  Steigens  von  neuem  gelten 
machen,  und  jede  schon  abgeänderte  Verbindung  hiemit  der  Grund  einer 
weitern  Abänderung  werden  mufs.  Dies  geht  so  fort,  bis  die  grüßte  mög- 
liche Verschmelzung  erreicht  ist.  Dann  aber  entsteht  ein  Product,  welches, 
wofern  nichts  Neues  hinzukommt,  sich  nicht  mehr  ändert;  selbst  durch  Zu- 


32.  Briet.  ======        453 

Sätze  aber  nur  mit  Schwierigkeit  einer  Umformung  nachgiebt,  weil  die 
einmal  geschehenen  Verschmelzungen  nicht  wieder  aufgehoben,  sondern 
höchstens  in  ihrer  Wirkung  aufgewogen  werden  können,  welches,  um  merk- 
lich zu  werden,  eine  bedeutende  Gegenkraft  erfodert. 

32- 

Wo  sind  wir  nun,  mein  theurer  Freund?  Ich  denke,  wir  sind  im 
Gebiete  der  Phantasie  und  des  Glaubens;  weil  doch  einmal  bekannte 
Namen  müssen  genannt  werden,  um  uns  nach  der  Windrose  der  alten  soge- 
nannten empirischen  Psychologie  zu  Orientiren.  Freylich  haben  wir  damit 
nicht  die  Sphäre  des  Gedächtnisses  verlassen;  vielmehr  ergab  sich  aus  der 
Rechnung,  dafs  selbst  frey  steigende  Vorstellungen  noch  grofsentheils  die  Ana- 
logie mit  der  Reproduction  nach  der  Zeitfolge  des  Gegebenen  beybehalten. 
Allein  wie  bunt,  wie  abenteuerlich  auch  manchmal  die  Bildungen  der 
Phantasie  seyn  mögen,  immer  besteht  das  Neue  aus  alten  Stücken,  und 
jedes  solche  Stück  enthält  eine  Menge  kleiner  und  kleinster  Partial -Vor- 
stellungen, die  wenig  oder  gar  nicht  aus  ihren  alten  Fugen  sind  gerückt 
worden,  also  den  Stempel  des  Gedächtnisses  in  der  That  auch  noch  bey- 
behalten; daher  die  Phantasie,  wäre  sie  etwa  vornehmer  als  das  Gedächt- 
nifs,   doch  dessen  nützliche  Dienste  nicht  verschmähen  dürfte. 

Wie  kommt  aber  der  Glaube  in  die  Gesellschaft  der  Phantasie? 
Sollte  ich  wohl  in  diesem  Puncte  Einwürfe  von  Ihnen  zu  erwarten  haben? 
Im  Gegentheil,  Ihre  Kenntnifs  der  Mythologie,  worin  Sie  mir  weit  über- 
legen sind,  würde  mich  zurechtweisen,  wenn  ich  nicht  durch  Rechnung 
und  pädagogische  Erfahrung  schon  genug  gewarnt  wäre,  um  nicht  die 
Phantasie  eines  heutigen  Romanschreibers  für  ein  ursprüngliches  Seelen- 
vermögen zu  halten.  Wer  irgend  etwas  mit  Willkühr,  und  wissend  um 
diese  Willkühr,  erdichtet,  der  freylich  mag  lange  lügen,  bevor  er  es  dahin 
bringt,  an  seine  eignen  Lügen  zu  glauben.  Hingegen  das  ursprüngliche 
Phantasiren  endigt  von  selbst  mit  dem  Glauben,  in  wiefern  nicht  Be- 
obachtung und  Erfahrung  sich  widersetzen.  Die  letzten  Worte  des 
vorstehenden  Aufsatzes  sprechen  hoffentlich  deutlich  genug  von  dum 
Product,  womit  die  fortgehende  Verschmelzung  der  oftmals  frey  steigenden 
Vorstellungen  endigt.  Dies  Product  ist  ein  nothwendiges,  wofern  der  Kreis 
von  Vorstellungen,  aus  welchem1  er  entspringt,  geschlossen  ist,  und  der 
Anlafs  zum  freyen  Steigen  sich  oft  und  mannigfaltig  genug  erneuert,  damit 
aus  den  gegebenen  Vorstellungen  werde  was  daraus  werden  kann.  Als- 
dann schwebt  dies  Product  im  Bewufstseyn  gleich  den  Vorstellungen 
Erfahrungsgegenständen;  es  wird  für  ein  Reales  gehalten  wie  das  was  man 
hört  und  sieht;  oder  mit  einem  andern  Worte,  es  wird  daran  geglaubt. 
So  etwas  Fertiges,  oder  doch  beynahe  fertig  Gewordenes,  nur  noch  theil- 
weise  einer  absichtlichen  Ausschmückung  Zugängliches,  ist  im  Grofsen  der 
Mythenkreis  eines  jeden  Volkes. 

Allein  wir    sprechen  hier    nicht  von    Völkern,    sondern  von   Kindern. 
Wie  nothig    diesen  der    Religions-Unterricht   ist,  und    zwar    in  jedem 

Alter   gerade    in    dem  Maafse,    als    die  Gefahr   nahe    ist,    dafs   sie  außer- 
dem sich  aus  eigner  Macht   etwas  Götzenhaftes  schaffen  würden,    —    das 

1  „welchen"  statt  „welchem"  SW. 


454      m*  Bri^  aber  die  Anwendung  der  Psychologie  aut  die  Pädagogik  (1831). 

bedarf  hier  keiner  Entwickelung ;    denn  Niemand  zweifelt  daran,  und  Sie 
am  wenigsten. 

Schon  bey  kleinen  Kindern,  sobald  sie  sprechen  können,  bemerken 
wir  oft  mit  Erstaunen,  zuweilen  mit  Besorgnifs,  wie  sie  phantasirend  nicht 
blofs  plaudern,  als  ob  sie  ihrem  Erfahrungskreise  entrückt  wären,  sondern 
auch  dabey  lachen  und  weinen,  sich  selbst  Lust  und  Schmerz  bereitend. 
Denn  die  Reizbarkeit  des  Organismus  mengt  sich  hinein;  und  mancher 
Affect  gräbt  sich  ein  Bett,  gleich  einer  Quelle,  von  welcher  ein  Bach  aus- 
geht, um  dereinst,  mit  anderen  Bächen  vereinigt,  zum  mächtigen  Strome 
heranzuwachsen.  Hier  ist  der  Schoofs,  in  welchem  die  geistige  Indi- 
vidualität erzeugt,   und   durch  die  leibliche  bestimmt  wird. 

Indessen  die  frühesten  Producte  der  Phantasie  bleiben  nicht  lange 
Gegenstände  des  Glaubens;  sie  werden  bey  gesunden  Sinnen  von  der 
Erfahrung  zurückgestolsen ;  und  durch  neues  Phantasmen  meist  vollends 
verdrängt.  Der  zehnjährige  Knabe  erzählt  schon  lachend,  was  er  alles 
geglaubt  habe,  da  er  noch  klein  war.  Er  weifs  nicht,  wie  oft  es  ihm  noch 
bevorsteht,  gröfser,  und  in  seinen  eignen  Augen  weiser  zu  werden.  Neue, 
und  abermals  neue  Formationen  der  Phantasie  lagern  sich  über  einander; 
und  nicht  selten  bereitet  sich  daraus  ein  vulkanischer  Boden,  dessen  Er- 
schütterungen Alles  durch  einander  zu  werfen  bestimmt  sind. 

Die  Gefahr  ist  um  desto  geringer,  je  besser  der  Knabe,  in  dem 
Alter  wo  er  schon  nicht  mehr  Kind  heilst,  es  sich  selbst  sagt,  dafs  er 
spielt,  während  er  sich  den  Illusionen  hingiebt;  dafs  er  im  Gegentheil 
mit  ernsten  Versuchen  beschäftigt  ist,  wenn  er  einen  Erfahrungs-Gegen- 
stand behandelt,  der  ihn  durch  guten  oder  schlechten  Erfolg  belehren 
wird.  Hier  kommen  wir  auf  die  höchst  wichtige  Wechselwirkung  zwischen 
dem  innern  Thun,  wodurch  sich  der  Mensch  die  Grundlage  seiner 
geistigen  Persönlichkeit  schafft,  —  dem  Phantasmen,  —  und  dem  äufseren, 
wodurch  er  zuerst  lernt,  dafs  er  zurecht  gewiesen  werden  kann  und 
mufs.  Das  Verbindungsglied  zwischen  bey  den  —  die  Aufmerksamkeit,  — 
werden  wir  bald  genauer  in  Betracht  ziehen ;  allein  zuvor  ist  ein  Rückblick  auf 
die  Beschränktheit  der  Individuen  nöthig,  die  uns  schon  so  oft   beschäftigte. 

Die  allermeisten  Menschen  glauben  das,  was  ihnen  mit  Nachdruck 
gesagt  und  versinnlicht  wird.  Warum?  Die  nächste  Antwort  ist,  weil  sie 
nicht  Phantasie  haben,  die  es  bis  zu  fertigen  Producten  bringen  könnte. 
Aber  was  heifst  denn  das,  Phantasie  haben  oder  nicht  haben?  Wir 
sahen  im  Vorigen,  dafs  zugleich  steigende  Vorstellungen  desto  vester  ver- 
schmelzen, je  öfter  sie  steigen,  und  desto  gewisser  ein  reihenförmiges 
Ganzes  bilden,  je  mehr  sie  verschmelzen.  Phantasie-Bilder  sind  eben 
nichts  Anderes  als  das  Vorgestellte  solcher  verschmolzenen  Vorstellungen. 
Demnach  hat  Jedermann  Phantasie  in  dem  Kreise  seiner  frey  steigenden 
Vorstellungen,  falls  er  nicht  daran  gehindert  ist.  Die  Phantasie  des  Kauf- 
manns mag  freylich  eine  andre  seyn  als  die  eines  Hirten,  oder  eines 
Soldaten;  aber  die  Verschiedenheit  der  Gegenstände,  gemäfs  den  Be- 
schäftigungen, erklärt  kein   Mehr  oder  Weniger. 

Dafs  es  überhaupt  frey  steigende  Vorstellungen  gebe,  das  versteht 
sich  nicht  von  selbst.  Die  meisten  Thiere  scheinen  durchgehends  von 
leiblichen  Zuständen  dergestalt  bestimmt,  dals  sie  nur  selten  etwas  anderes 


33.  Briet.  455 

vorstellen,  als  was  im  Kreise  ihrer  augenblicklichen  Begierden  und 
Affecten  liegt.  Der  träge  Wilde,  der  mülsig  ruhet,  sobald  er  satt  ist, 
unterscheidet  sich  wenig  von  ihnen.  Und  der  ausgebildete  Egoist,  — 
welche  andre  Vorstellungen  gelangen  in  ihm  zur  freyen  Regung,  aufser 
denen,  die  sein  begränztes  Interesse  angehen?  Von  da  aus  werden  seine 
Gedanken  geformt;  dort  ist  die  Herrschaft,  die  nichts  von  unnützen  Künsten 
neben  sich  aufkommen  läfst. 

Will  man  pädagogische  Beobachtung,  so  mufs  man  vor  allem  die 
Kinder  in  den  frühen  Jahren  beobachten,  wo  die  Herrschaft  einen  be- 
stimmten Egoismus  sich  noch  nicht  gebildet  hat.  Um  diese  Zeit  auch 
verheimlichen  sie  am  wenigsten;  ihr  Sprechen  und  Handeln  ist  der  un- 
mittelbare Ausdruck  ihrer  Phantasien.  Würden  den  Lehrern  der  späteren 
Jahre  aus  jener  frühen  Zeit  unbefangene  und  genaue  Beobachtungen  mit- 
getheilt:  dann  sähe  man  eher  und  sicherer,  was  von  der  Geistes- Richtung 
und  Thätigkeit  der  Zöglinge  zu  erwarten  stehe.  Statt  dessen  concentrirt 
sich  sehr  lange  diejenige  Beobachtung,  welche  der  Lehrer  des  heran- 
wachsenden Knaben  anstellen  kann,  auf  die  bessere  oder  schlechtere  An- 
eignung des  Neuen,  was  der  Unterricht  darbietet;  aber  es  dauert  Jahre, 
bis  in  dem  Kreise  des  Lehrers  und  Lernens  frey  steigende  Vorstellungen 
sichtbar  werden.  Das  Meiste  selbst  von  dem,  was  gut  gelernt  wird,  er- 
hebt sich  lange  Zeit  nicht  ohne  Bücher  und  Fragen  ins  Bewufstseyn. 
Darum   ist  der  Schüler  zu  Hause   ein  Andrer,  als  in  der  Schule. 

Betrachten  Sie,  wenns  gefällig  ist,  den  Anfang  der  Beylage  zum 
vorigen  Briefe.  Dort,  wo  am  wenigsten  von  Herrschaft  einiger  über- 
nächtiger Vorstellungen,  wo  so  viel  wie  nichts  von  Analogie  mit  dem 
Gedächtnifs  zu  spüren  ist,  wo  unter  den  Vorstellungen  Freyheit  und 
Gleichheit  statt  findet;  —  sehen  wir  da  das  Erwachen  der  einzelnen  ab- 
hänrior  von  anderen?  Nein;  sie  kommen  massenweise;  und  erst  zuletzt, 
wenn  sie  schon  hoch  ins  Bewufstseyn  empor  gestiegen  sind,  nehmen  sie 
Form  an.  Was  ist  nun  die  Folge,  wenn  irgend  ein  fremder  Druck  — 
sey  es  das  früher  oft  besprochene  Hindernifs  aus  physiologischen  Gründen, 
oder  die  Auctorität  eines  Lehrers,  oder  was  immer  für  eines  geselligen 
Einflusses,  —  die  letzten  Entwickelungen  des  bis  dahin  massenweise 
empor  gestiegenen  Vorstellungen  hindert?  Natürlich  bleibt  die  Formung 
aus;  und  der  Mensch  wird  desto  weniger  Er  Selbst,  je  mehr  fremde 
Form  ihm  aufgedrungen  oder  auch  nur  dargeboten  wird.  Verhehlen  wir 
es  uns  nicht :  je  mehr  Schule,  desto  phantasieloser  die  Zeit.  Je  mehr 
Muster,  desto  weniger  eignes  Erzeugnifs.  Und  dann  klagt  man  noch 
über  das  Langweilige  dessen  was  sich  stets  eintönig  wiederhohlt. 

Mancher    hat  bey    mir  weniger  Schule   gefunden,    als  erwartet  wurde. 
Warum?  ich  wollte  den  Menschen   so  viel  wie  möglich  ihr  eigenes  Gesicht 
lassen.      Freylich    schade,    wenn    nun    von    ihnen   wenig   hervortritt! 
ich    liebe    nun    einmal    denjenigen    Unterricht    nicht,    der    an    den  freyen 
Vorstellungen  mehr  hindert  als  fördert. 

33- 
Es  ist  durchaus   nöthig,   und    es   kann  gewifs    mit   Ihrer    Bewilligung 
geschehen,  dafs  wir  uns  noch  etwas  mehr  in  die  Psychologie  vertiefen,  als 


4^6      HI.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aut  die  Pädagogik  (183 1). 

schon  durch  das  Vorhergehende  zu  erreichen  stand.  Was  ist  dem  Päda- 
gogen wichtiger,  als  die  Aufmerksamkeit  ?  Diese  habe  ich  nur  eben  zu- 
vor berührt;  und  zwar  nicht  die  willkührliche,  auch  nicht  die  ursprüngliche, 
wovon  in  meiner  Abhandlung  de  attentionis  mensura  die  Rede  war,  — 
sondern  die  appercipirende,  welche  für  den  praktischen  Erzieher  wo 
möglich  noch  wichtiger  ist  als  jene  beyden  Arten.  Das  appercipirende 
Merken  aber,  wenn  Sie  alte  Namen  wollen,  ist  eine  Zusammensetzung  aus 
der  Phantasie,  die  von  innen  her  wirkt,  und  der  Sinnlichkeit,  welche  mit 
äufsern  Eindrücken  dazu  kommt.  Mit  andern  Worten:  es  treten  dabey 
die  frey  steigenden,  und  die  dem  Sinken  bis  zu  völliger x  Hemmung  an- 
heim  fallenden  Vorstellungen  in  Wechselwirkung.  Gemerkt  wird  vermöge 
der  Apperception  auf  dasjenige  Gegebene,  welches  sich  selbst  überlassen 
würde  vergessen  werden.  So  geschiehts,  wenn  der  aufmerksame  Schüler 
dem  Unterrichte  oder  auch  der  Erfahrung,  die  man  ihm  bietet,  entgegen- 
kommt. Seine  Fragen  verrathen  sein  Phantasiren;  nur  bleibt  dies  nicht 
frey,  es  bildet  keine  fertigen  Producte,  sondern  es  unterwirft  sich  der 
Lehre  zur  Berichtigung  und  zugleich  zur  Erweiterung.  Ein  Andrer  als  Sie, 
mein  Freund,' möchte  mir  einwerfen:  der  fragende  Schüler  phantasire  nicht, 
sondern  er  denke.  Sie  aber  werden  einen  solchen  Gegensatz  wohl  sicher 
nicht  machen.  Könnten  die  Gedanken  der  Phantasie  nicht  die  Form 
von  Begriffen  und  Urtheilen  annehmen:  wo  bliebe  dann  wohl  die  Poesie? 
Vor  tieferem  Eingehen  in  die  Untersuchung  lassen  Sie  nur  überlegen, 
welche  Vorstellungen  denn  wohl  als  frey  steigende  zu  betrachten  seyn? 
Setzen  wir  einmal  den  im  Laufe  unseres  Erdenlebens  unmöglichen  Fall, 
dafs  keine  Umgebung  durch  Sinnes-Eindrücke,  kein  im  leiblichen  Zustande 
wurzelnder  Affect,  keine  fremde  Bestimmung  irgend  einer  Art  sich  in  die 
Wirkung  und  Gegenwirkung  der  Vorstellungen  einmischte:  dann  würden 
in  der  völlig  isolirten  Seele  alle  vorhandenen  Vorstellungen  allmählig  mit 
einander  ins  Gleichgewicht  treten;  sie  würden  sich  also  gleichsam  an- 
einander messen;  und  die  allerstärksten,  sammt  deren  Verbindungen, 
würden  ihre  Oberherrschaft  gelten  machen.  So  etwas  kommt  in  unserm 
jetzigen  Zustande  nicht  vor.  Der  leibliche  Zustand  und  die  Umgebung 
bereiten  jedesmal  eine  bestimmte  Beschränkung,  vermögen  deren  grofse 
Massen  und  Klassen  von  Vorstellungen  jetzt  nicht  frey  steigen  können. 
Hiemit  fällt  der  Druck  weg,  welche  eben  diese,  für  jetzt  ausgeschlossenen 
Vorstellungen  würden  ausüben  können,  wenn  es  auf  ihre  Stärke  allein 
ankäme.  Also  setzt  sich  derjenige  Vorrath  von  Vorstellungen,  der  für 
jetzt  keine  allgemeine  Hemmung  erleidet,  in  Bewegung,  —  die  aller- 
meisten, welche  zu  steigen  gleichsam  versuchen,  gelangen  unmerklich  zu 
einem  sehr  niedrigen  Maximum ,  weil  die  in  ihnen  selbst  begründete 
Hemmungssumme  sich  schnell  anhäuft,  und  sie  sogleich  wieder  'zurück- 
drängt. Dennoch  haben  sie  durch  ihr  Gesammtwirken  einen  bedeutenden 
Einflufs  auf  den  leiblichen  Zustand,  den  sie  noch  mehr,  als  zuvor,  für 
sich  disponiren.  Inzwischen  geschieht  etwas  innerhalb  der  Umgebung; 
die  einzelnen  Objecte  derselben,  —  das  was  man  gerade  hört  und  sieht, 
—   sind  mehr  oder  minder  zudringlich,   und   in  dieser  Zudringlichkeit  mehr 

1   ,,zur  völligen"  statt  „zu  völliger"  SW. 


33-  Briei.  ,  -  - 

oder  weniger  flüchtig.  Daraus  entstehen  vorübergehende  partielle  Hem- 
mungen innerhalb  der  allgemeinen  dauernden  Hemmungs-Sphäre  der  ganzen 
Umgebung;  so  werden  manche  Vorstellungen,  die  im  Begriff  waren  zu 
steigen,  auf  der  mechanischen  Schwelle  gehalten,  (Sie  wissen  aus  der 
Psychologie  was  das  heifst).  Allein  nach  kurzer  Frist  treten  sie  hervor, 
sammt  ihrem  Anhange,  und  in  dem  Rhythmus,  welchen  die  Verschmelzungs- 
und Complications-Hülfen  bestimmen. 

Dies  ist  nur  der  Hintergrund  für  ein  Gemälde,  was  wir  jetzt  zu  ent- 
werfen haben;  es  kam  fürs  erste  mir1  darauf  an,  zu  bemerken,  wie  sehr 
relativ  der  Begriff  der  frey  steigenden  Vorstellungen  ist.  Denn  die  Stärke, 
welche  als  Bedingung  der  Freyheit  mufs  vorausgesetzt  werden,  ist  nicht 
etwa  die  absolute,  eigne  Stärke,  sondern  das  Verhältnifs,  wodurch 
sie  bestimmt  wird,  empfing  eine  vorläufige  Begränzung  durch  die  Um- 
gebung und  den  leiblichen  Zustand,  wodurch  der  Einflufs  sehr  vieler 
andern  Vorstellungen  entfernt  wird.  Daher  gelingen  Arbeiten  im  Studir- 
zimmer,  welche  nicht  gedeihen  im  Gesellschafts-Saale:  ja  es  giebt  bekannt- 
lich Personen,  denen  Schlafrock  und  Tabackspfeife  zu  Hülfe  kommen 
müssen,  wenn  sie  wissenschaftlich  denken  sollen.  Nicht  ganz  so  arg 
machte  es  einer  meiner  Zöglinge,  der  sich  in  den  Ferien  an  kubischen 
Gleichungen  hatte  üben  sollen,  und  bey  der  Rückkehr  bekannte,  das  sey 
wohl  bey  mir  möglich,   aber  nicht  im  Vaterhause. 

Für  unsern  Zweck,  das  appereipirende  Merken  zu  beleuchten,  müssen 
wir  Gegenstände  voraussetzen,  die  sich  darbieten  um  bemerkt  zu  werden. 
Was  heifst  nun  dies  Bemerken?  Da  wir  von  der  ursprünglichen  Auf- 
merksamkeit —  der  Möglichkeit,  dais  unser  Vorstellen  einen  Zuwachs 
erlange,  ohne  Rücksicht  auf  Apperception,  —  hier  nicht  reden  wollen, 
so  bezeichnen  wir  mit  dem  Worte  Bemerken  die  von  innen  vordringende 
Thätigkeit,  durch  welche  dieser  Gegenstand,  der  sich  eben  darbietet,  vor- 
zugsweise  vor  andern,  die  sich  auch  darbieten,  ergriffen  wird,  so  dais 
die  Auffassung  desselben  mehr  Stärke  und  mehr  Dauer  erlangt,  dafs  der 
Gegenstand  gerade  als  ein  solcher  und  kein  anderer  betrachtet,  und  — 
vielleicht,  —  gelobt  und  getadelt  wird,  welches  letztere  sehr  in  der  Nähe 
liegt,  obgleich  es  auch  fehlen  kann.  Dabey  wird  bekanntlich  jede 
änderung  und  Bewegung,  also  jede  Abweichung  des  Gegenstandes  von 
sich  selbst,  mit  besonderer  Genauigkeit  wahrgenommen ;  auch  Vergleichungen 
mit  andern,  ähnlichen,  früher  wahrgenommenen  bleiben  nicht  aus.  Ein 
solches  Merken  wird  ferner  sehr  begünstigt  durch  vorgängige  Ankündigung 
oder  Beschreibung,  wodurch  dem  Merken  das  Erwarten  vorausgeschickt 
war.  Das  Alles  verräth,  dafs  hiebey  eine  Reproduction  älterer,  gl. 
artiger   Vorstellungen  in  Thätigkeit  ist. 

Diese   Reproduction  nun,    wäre  sie  blos  die    in    der  Psychologie 
trachtete,   von  der  Ihnen  der  Satz:   sie  geschehe  Anfangs  proportional   dem 
Quadrate   oder  noch  öfter  dem  Cubus  der  Zeit,  erinnerlich  seyn   wird,   — 
möchte    dem    Begriff   des    scharfen   Aufmerkens    wenig   genügen, 
wir    auch    in    unsern    Lehrstunden    froh    seyn    müssen,     wenn    wenigs 


i 


4? 8      HI-  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aut  die  Pädagogik  (1831). 

solches  Merken  unsern  Vortrag  begleitet,  so  schlägt  doch  das  keine  Funken, 
woran  sich  ein  Licht  entzünden  könnte. 

Sondern  jene  frey  steigenden  Vorstellungen  sind  es,  an  die  wir  uns 
wenden  müssen.  Zwar  werden  Sie  fragen:  warten  denn  die  frey  steigen- 
den Vorstellungen,  bis  sie  reproducirt  werden?  Darauf  antworte  ich  durch 
die  schon  geschehene  Hinweisung  auf  die  mechanischen  Schwellen.  Gar 
mancher  Vorstellung  ist  das  Steigen  ganz  nahe,  und  sie  kommt  doch 
nicht  dazu,  weil  das  Vorübergehende,  was  von  aufsen  oder  selbst  von 
innen  her  ins  Bewufstseyn  tritt,  obgleich  einzeln  genommen  unhaltbar,  doch 
in  einer  so  langen  Reihe  fortläuft,  dafs  die  mechanische  Schwelle  sich 
scheinbar  in  eine  statische  verwandelt.  Wofern  aber  jetzt  der  bekannte 
Gegenstand,  dessen  Vorstellung  dem  freyen  Vortreten  nahe  war,  neu  ge- 
geben wird,   so  beginnt  der  Procefs  des  appercipirenden   Merkens. 

Er  beginnt,  indem  die  reproducirte,  vielleicht  gar  schon  durch  vor- 
gängiges Erwarten  theilweise  ins  Bewufstseyn  gerufene  Vorstellung  nun 
vollends  losschnellt,  und,  indem  sie  sich  mit  dem  gleichartig  Gegebenen 
vereinigt,  dagegen  das  Ungleichartige  kräftig  zurückstöfst.  Dieses  Zurück- 
stofsen  anderer,  zugleich  und  ebenso  stark  dargebotener  Anschauungen  ist 
das  Charakteristische  des  appercipirenden  Merkens.  Darin  liegt  das  Heraus- 
heben, Losreifsen,  Isoliren  des  Bemerkten  aus  seiner  Sphäre,  seiner  Gesellschaft. 

Von  hieraus  erklärt  sich  nun  sogleich  das  scharfe  Wahrnehmen  der 
geringsten  Veränderung,  wenn  der  Gegenstand  sich  rührt,  oder  von  seiner 
früheren  Erscheinung  abweicht.  Es  ist  der  Kampf  der  reproducirten 
Vorstellung  mit  derjenigen,  die  sich  aus  dem  Gegebenen  erzeugt. 

Jedoch  dies  bedarf  einer  Erläuterung,  indem  wir  zuerst  darauf  achten, 
wie  der  Erfahrung  gemäfs  das  appercipirende  Merken  beschränkt  ist.  Der 
Herrschsüchtige  und  zugleich  Eitle,  berauscht  von  seiner  Hoheit,  sieht 
nicht  die  Zeichen  der  nahenden  Gefahr.  Der  Schriftsteller  zeigt  manch- 
mal in  Antikritiken,  wie  genau  er  die  wenigen  Worte  des  Lobes  aus 
misfälligen  Recensionen  herauszufischen  verstand,  und  unsre  Zöglinge 
fassen  die  kleinsten  Zeichen  des  Beyfalls,  während  der  Tadel  ihre  Ohren 
kaum  berührt.  Eltern  sehen  Genies  in  ihren  Söhnen;  für  die  Fehler 
sind  sie  blind.  Im  Alterthum  sah  man  gar  die  Bildsäulen  der  Götter 
mit  den  Augen  winken  und  den  Kopf  schütteln.  Solche  Erschleichungen 
erlaubt  sich  das  appercipirende  Merken,  um  einseitige  Beobachtungen  zu 
ergänzen.  —  Wenn  nun  dagegen  der  Empfindliche  umgekehrt  nicht  den 
kleinsten  Zweifel  an  seinem  Werthe  erträgt,  der  Grammatiker  jeden  un- 
gewöhnlichen Ausdruck  rügt,  der  Hypochondrische  sogar  mitten  unter 
Freunden  allerley  Stimmen  hört,  die  ihn  verspotten  und  beschimpfen: 
welcher  Unterschied  liegt  in  der  Apperception  ?  Jedenfalls  ein  solcher, 
welcher  verräth,  dafs  die  appercipirende  Vorstellung  nicht  einfach  war; 
und  dafs  von  ihrer  Zusammensetzung,  nebst  den  Verschmelzungen  wor- 
auf diese  Zusammensetzung  beruht  der  ganze  Erfolg  abhängt.  Zum 
wirklichen  Beobachten  gehört  nicht  blols  die  einfache  Reproduction,  sondern 
jene  schon  früher  beschriebene  Wölbung;  (17)  die  wir  jedoch  hier  noch 
etwas  näher  zu  bestimmen  Ursach  haben.  Denn  die  Gestalt  des  gleich- 
förmigen Gewölbes  möchte  wohl  selten  dem  appercipirenden  Merken  ge- 
nau angemessen  seyn;  die  mathematische  Betrachtung  hat  uns   auf  einen 


34-  Brief. 

schärferen  Begriff  geführt.  Wir  sahen,  dafs  die  frey  steigenden  Vor- 
stellungen, in  Folge  ihrer  Verschmelzung,  dahin  streben,  sich  auf  bestimmte 
Weise  zu  gestalten.  Nun  begegnet  dieser,  im  Innern  erzeugten  Gestaltung 
eine  andre  davon  unabhängige,  nämlich  die  der  sinnlichen  Wahrnehmung. 
Von  dem  Verhältnifse  zwischen  beyden  hängt  der  Erfolg  ab.  Ist  die 
innere  Gestaltung  übermächtig,  so  wird  die  Beobachtung  einseitig,  mangel- 
haft, oder  geht  gar  in  Erschleichung  über.  Bietet  sich  dagegen  von  innen 
her  eine  schon  früher  mannigfaltig  begründete  Übung,  so  oder  anders  zu 
gestalten,  zur  Anschauung  dar,  dann  wird  der  äufsere  Gegenstand  als 
ein  solcher  und  kein  anderer,  wie  er  gerade  ist,  wahrgenommen,  unter- 
schieden, fixirt  und  eingeprägt.  Hiebev  ist  die  Vielseitigkeit  des  Be- 
obachtens  wesentlich,  welche  darauf  beruht,  dafs  nachdem  eine  Apper- 
ception  geendet  war,  eine  andre  beginnt,  die  von  andern  Puncten  des 
Gegenstandes  ausgeht;  wie  wenn  ein  Knabe  den  ihm  neuen  Gegenstand 
von  allen  Seiten  dreht  und  wendet,  die  Beweglichkeit  desselben  erforscht, 
ihn  umher  wirft  und  so  fort.  Das  weiset  ebenfalls  auf  eine  frühere  Reihen- 
bildung hin,  vermöge  deren  zu  der  Vorderseite  eine  Kehrseite,  zur  Ober- 
fläche ein  Inneres,  zur  vesten  Stellung  mancherley'  mögliche  Bewegung 
hinzugedacht  und  dabey  vorausgesetzt  wird.  Der  Knabe,  wenn  er  solcher- 
gestalt Hände  und  Sinne  braucht,  thut  wesentlich  nichts  Anderes  als  der 
Chemiker,  der  ein  neues  Gestein  durch  eine  Reihe  von  Proben  mit  allen 
ihm  als  wirksam  bekannten  Reagentien  herdurchführt.  Der  ganze 
Unterschied  liegt  hier  in  den  appercipirenden  Vorstellungs-Massen;  da- 
gegen ist  die  Apperception   ihrer  Form  nach  die  nämliche. 

Und  wie  nun,  wenn  das  schon  rasch  besprochene  Hindemifs  aus 
physiologischem  Grunde  sich  auch  hier  einmischt?  Dann  haben  wir  Fälle, 
die  sich  dem  Blödsinn  nähern.  Nur  ist  nicht  jeder  blöde  Knabe  blödsinnig, 
und  nicht  jeder  Unwissende  darum  unfähig.  Das  mag  uns  erinnern,  wie 
verschieden  der  Grund  seyn  kann,  wo  die  gewünschte  Apperception  aus- 
bleibt. Den  blöden  Knaben  drückt  nur  die  neue  Gesellschaft;  hat  er 
sich  in  ihr  erst  orientiert,  so  wird  er  in  ihr  nicht  blofs  appercipiren, 
sondern  auch  dem  gemäfs  sprechen  und  handeln.  Der  Unwissende  wird 
fähig  werden  zum  Appercipiren,  sobald  er  gehörig  lernt,  und  durchs  Lernen 
sich  die  appercipirenden  Vorstellungen  anschafft. 

34- 

Sollten  wir  wohl  jetzt  einer  psychologischen  Erkenntnifs  des  Zu- 
Standes, worin  gewöhnlich  Zöglinge  und  Lehrlinge  sich  befinden,  und  hie- 
mit  auch  der  Orientirung  unter  den  vorkommenden  Verschiedenheiten, 
auf  der  Spur  sevn?  Lassen  sie  uns  versuchen! 

Mit  dem  appercipirenden  Merken  ist  allemal,  so  weit  die  Umstände 
es  gestatten,  ein  äufseres  Handeln  verbunden.  Sprechen,  wo  nicht  Gründe 
der  Zurückhaltung  eintreten,  ist  das  Mindeste;  aber  Laufen,  Werfen,  Her- 
beyhohlen,  wohl  auch  Hohlen-Lassen,  ja  selbst  Fangen  und  Schiefsen,  ge- 
hört eben  dahin;  die  ganze  Freude  an  gymnastischer  Übung  desgleichen 
Auch  das  Vergnügen  an  der  Bearbeitung  irgend  eines  Stoffes  beruhet 
der  Wechselwirkung  zwischen  dem  Beobachten  des  Werkes  wie  es  wird,  und 
dem  Fortarbeiten  gemäfs  der  innern  Gestaltung,  die  sein  Werden  vorzeichnet. 


460      III.  Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aut  die  Pädagogik  (183 1). 

Aber  unsere  Zöglinge  realisiren  nicht  die  ganze  Weite  dieses  Be- 
griffs. Das  "Werk  und  der  Wirkende  begränzen  sich  gegenseitig.  Wo 
Einer  sein  Geschick  spürt,  da  ist  er  geschäfftig,  anderwärts  desto  unlustiger. 
Steckt  den  Jünglingen  die  Jagd  im  Kopf,  oder  den  Knaben  eine  Dar- 
stellung von  Taschenspielern  und  Seiltänzern,  so  ist  sonst  nicht  viel  mit 
ihnen  anzufangen. 

Und  was  wird  aus  den  Lehrstunden?  Hier  glänzen  die  Knaben  mit 
starkem  Gedächtnifs.     Was  ist  dies  Gedächtnifs  ? 

Sie  werden  mir  sogleich  sagen:  es  ist  auch  eine  Art  von  apper- 
cipirendem  Merken.  Was  für  eine  Art  denn?  Durch  frey  steigende  Vor- 
stellungen? Wie  wäre  das  möglich  bey  Gegenständen,  zu  denen  nicht 
schon  sehr  reife  Vorkenntnisse  mitgebracht  wurden.  —  Die  Fälle,  wo  der 
Schüler  mit  Fragen  entgegenkommt,  sind  die  seltenern;  wie  könnte  er  das 
bey  fremden  Sprachen,  bey  Thatsachen,  Jahreszahlen,  selbst  bey  mathe- 
matischen Formeln?  Diese  letztern  zeigen  die  Sache  am  klarsten.  Der 
junge  Mensch,  dem  ich  heute  einen  neuen  Lehrsatz  beweise,  ver- 
steht mich  so  vollständig,  dafs  man  glauben  könnte,  er  habe  apper- 
cipirt  durch  frey  steigende  Vorstellungen;  vielleicht  gelingt  es  ihm  sogar 
noch  nach  einigen  Stunden,  das  Gelernte  zu  wiederhohlen;  aber  ist  eine 
Woche  dahin,  so  weifs  er  kaum  noch,  wovon  die  Rede  war.  Wo  sind  da 
frey  steigende  Vorstellungen  ?  —  Glücklich,  wenn  hie  und  da  ein  An- 
knüpfungspunct  von  solchem  Werthe,  etwa  durch  Beyspiele,  konnte  benutzt 
werden.  Aber  dasjenige,  für  den  Unterricht  so  wichtige  Arbeiten  des 
Schülers,  was  man  Memcriren  nennt,  und  in  dessen  Leichtigkeit  aller- 
meistens  das  glänzende  Gedächtnifs  seinen  Sitz  hat,  läfst  sich  durch  frey 
steigende  Vorstellungen  nicht  erklären.  Eher  durch  deren  Abwesenheit; 
denn  sie  stören  das  Memoriren.  Die  meisten  Menschen  sind  zu  unruhig, 
um  jener  anderen  Reproduction,  die  von  der  statischen  Schwelle  empor- 
steigt, Zeit  zu  lassen,  damit  schwache  Vorstellungen  in  neue  Verbindung 
vest  eingefugt  werden.  Und  doch  besteht  eben  hierin  das  Memoriren. 
Der  Lehrer  oder  das  Buch  sagen  Worte  vor,  die  man  einzeln  schon 
kannte,  —  oder  wenn  nicht  die  ganzen  Worte,  so  doch  deren  Bestand- 
theile,  die  einzelnen  Sprachlaute.  Diese  an  sich  schwachen  Vorstellungen 
werden  nun  in  neue  Verbindung  eingeführt ;  und  die  Verbindungen  müssen 
haltbar  genug  seyn,  uns  sich  später  auf  Erfodern  unversehrt  wieder 
darzubieten.  Hier  stellt  das  Bewufstseyn  sich  uns  dar,  gleich  einer  Ebene, 
auf  der  niedriges  Kraut  wächst;  hohe  Berge  und  tiefe  Ströme  dürfen  nicht 
in  der  Nähe  seyn,  —  wofern  nicht  eine  neue  Energie,  die  willkührliche 
Aufmerksamkeit,  von  der  wir  bisher  noch  nicht  redeten,  zur  Mitwirkung  gelangt. 

Das  Memoriren  erfodert  gar  nicht,  dafs  die  einzelnen  Vorstellungen 
hoch  ins  Bewufstseyn  emporsteigen.  Thäten  sie  dies:  so  würden  sie 
eine  desto l  gröfsere  Hemmungssumme  bilden ;  ja  sich  in  Folge  ihrer 
frühern  Verbindungen  seitwärts  ausbreiten:  nichts  aber  ist  dem  Memoriren 
nachtheiliger,  als  Nachgiebigkeit  gegen  den  Zug  der  eignen  Gedanken. 
Auch  der  Gegenstand  mufs  gleichgültig  seyn,  oder  als  solcher  behandelt 
werden;  die  Gefühle,  die  er  aufregen  könnte,  würden  nur  schaden.    Nicht 

1  ..desto"  fehlt  SW, 


35-  Brief. 46 1 

zu  schnell  darf  das,  was  memorirt  werden  soll,  einander  folgen;  sonst  hat 
die  Reproduction,  welche  von  innen  entgegenkommen  soll,  nicht  Zeit,  sich 
zu  erheben;  nicht  zu  langsam  darf  es  gegeben  werden,  sonst  versinkt  das 
Vorige  zu  tief,  bevor  das  Folgende  dazu  kommt. 

Wenn  man  die  ans  Wunderbare  gränzenden  Erzählungen  lieset  von 
Solchen,  deren  Gedächtnifs  bis  zur  Virtuosität  ausgebildet  war:  so  wird 
man  geneigt  zu  glauben,  es  sey  dabey  ein  thätiges  Mitwirken  des  Organis- 
mus im  Spiele.  Und  worin  müfste  dies  Mitwirken  denn  wohl  bestehen? 
Lediglich  im  Vesthalten  desjenigen  Zustandes,  welchen  die  Vorstellungen 
bewirken.  So  etwas  läfst  sich  denken,  ohne  materialistische  Thorheit. 
Das  Wirken  der  Seele  auf  den  Leib  ist  bekannt;  unstreitig  entspricht  jeder 
Aufregung  von  Vorstellungen  ein  bestimmter  Zustand  des  Gehirns  oder 
der  Nerven.  Kann  dieser  durch  irgend  eine  Anstrengung  fixirt 
werden:  so  werden  rückwärts  die  nur  schwach  reproducirten  Vor- 
stellungen in  dieser  Stellung  sich  länger  halten,  und  in  längern  Reihen 
verschmelzen,  als  der  psychische  Mechanismus,  sich  allein  überlassen,  es 
hätte  leisten  können.  Umgekehrt,  das  geringste  Hindernifs  (etwa  durch 
Aufregung  des  Gefäfssystems)  was  der  Reproduction  schadet,  verdirbt  un- 
fehlbar das  Memoriren. 

Erfahrungsmäfsig  steht  das  Memoriren  in  gar  keinem  vesten  Ver- 
hältnifs  zur  übrigen  geistigen  Fähigkeit:  daher  ist  es  einer  der  ersten 
Puncte,  worauf  die  pädagogische  Beobachtung  sich  richtet,  wie  bey  den 
gegebenen  Individuen  jedesmal  dies  Verhältnifs  beschaffen  sey;  also,  wie 
lange  Reihen  ein  Knabe  auswendig  behalten  kann,  wieviel  Zeit  er  braucht, 
und  wie  bald  er  vergifst.  Hiemit  ist  jedoch  keineswegs  das  Ganze  er- 
forscht, was  man  Gedächtnifs  nennt;  denn  nicht  alles  mufs  erst  memorirt 
werden,  um  für  immer  gefafst  zu  seyn;  —  es  wäre  schlimm,  wenn  Er- 
fahrung, Umgang,  Uebung,  Interesse,  nicht  kräftiger  wirkten.  Auch  täuscht 
man  sich  durchaus,  wenn  man  aus  der  Masse  dessen  was  memorirt  worden, 
solche  Wirkungen  erwartet,  wie  sie  den  Gegenständen  entspriefsen  könnten, 
falls  das  ihnen  gebührende  Interesse  wach  gewesen  wäre.  Wer  kennt 
nicht  Gelehrsamkeit  ohne  Geist  und  Geschmack?  Dennoch  läfst  man  sich 
immer  von  neuem  durch  den  Glanz  des  memorirten  Wissens  blenden. 

35- 

Nun  mein  gütiger  Freund!  möchte  ich  mir  fast  Ihren  Beyfall  ver- 
sprechen für  die  Uebersicht,  die  Sie  aus  der  Zusammenfassung  des  Vor- 
stehenden schon  gewonnen  haben,  oder  leicht  gewinnen  können. 

Die  Sonderung  der  frey  steigenden  Vorstellungen  einerseits,  der  Re- 
production von  der  statischen  Schwelle  andrerseits,  war  der  Stützpunct  unserer 
Betrachtung.  Wir  verknüpften  mit  beydem 1  die  Auffassung  des  Gegebenen. 
Dann  fanden  wir  auf  der  einen  Seite  das  appercipirende  Merken  mit 
doppelter  Gestaltung,  und  meistens  mit  äufserem  Handeln;  auf  der  andern 
Seite  aber  das  so  eben  besprochene  Memoriren.  Jenseits  des  Gegebenen 
endlich  erblickten  wir  die  Producte  der  Phantasie,  gelagert  in  mancherley 
Formationen  über  einander,  und  getragen  durch  den  Glauben. 


1  „beiden"  SW. 


462      HL   Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  aul  die  Pädagogik  (183 1). 

Vergleichen  Sie  nun  damit  den  Gegensatz  des  Lebens  und  der 
Schule  bey  der  Jugend,  so  werden  Sie  sehn,  wie  die  verschiedenen  Naturen 
einander  gegenüber  stehen.  Gesunde,  rüstige  Knaben  gehn  allenfalls 
ohne  Widerwillen  zur  Schule;  jedoch  lieber  sind  sie  draufsen,  jeder  in  der 
Sphäre  seines  appercipirenden  Merkens  und  der  davon  abhängigen  äufseren 
Thätigkeit.  Ein  Stoff  wird  ergriffen  und  geformt.  Ballschlagen  und  Sol- 
datenspielen, Jagen,  Reiten,  Turnen,  das  belebt  den  Knaben;  auch 
manchem  Handwerker  möchte  er  nachahmen,  wäre  die  Arbeit  nicht  zu 
lang,  und  forderte  sie  nicht  zu  viel  Ausdauer  und  Pünktlichkeit.  Der 
Kreis  dieses  Merkens  und  Thuns  ist  oftmals  eng,  seltsam,  jedenfalls  be- 
schränkt; anhaltende  Nöthigung,  aus  ihm  heraus  zu  gehn,  wird  meistens 
peinlich  empfunden.  Aber  die  Schulstunde  schlägt;  die  Schul -Arbeit 
drängt.  Hier  zeichnen  sich  zwey  verschiedene  Gattungen  von  Schülern 
vor  der  Menge  aus;  die,  welche  leicht  memoriren,  die  andern,  welche 
Nahrung  finden  für  Phantasie  und  Glauben.  Glücklich  der  Seltene,  der 
beydes  vereint. 

Zweyerlei  werden  Sie  nun  sogleich  vermissen:  Reflexion  und  Gefühl. 
Vielleicht  auch  die  willkührliche  Aufmerksamkeit.  Indessen  errathen  sie 
wohl,  weshalb  diese  Gegenstände  bis  jetzt  aufser  der  Sphäre  meiner  Be- 
trachtung blieben;  deshalb  nämlich,  weil  wir,  als  praktische  Erzieher,  schon 
längst  gewarnt  sind,  ja  nicht  Zuviel  zu  fodern  von  dem,  was  der  Reife  des 
Erwachsenen  wesentlich  angehört.  Die  jugendlichen  Knospen  sind  noch 
grün,  noch  unentwickelt,  noch  gar  sehr  den  äufsern  Einflüssen  unter- 
worfen. Wenn  der  Erzieher  das  vergifst,  wenn  er  nicht  sehr  sorgfältig 
sich  auf  die  niedern  Bildungsstufen  zurück  versetzt:  wie  will  er  es  an- 
fangen, der  Jugend  die  Hand  zu  reichen?  Jedoch  räume  ich  gern  ein, 
dafs  jene  drey  Puncte  uns  nothwendig  noch  beschäfftigen  müssen;  allein 
auch  jetzt  schon  werden  Sie  den  Hauptgedanken,  der  mich  längst  im 
Stillen  beschäfftigte,  nicht  verkennen;  die  Frage  nämlich:  was  wird  wohl 
aus  den  Schulen  ohne  Sonderung  der  verschiedenen  Naturen?  Haben  wir 
etwa  eine  pädagogische  Universal-Methode,  und  können  wir  jemals  hoffen, 
dafs  eine  solche  sich  finden  lasse?  Oder  zeigen  unsre  psychologischen 
Untersuchungen  so  viele  Puncte,  wo  vermöge  unübersteiglicher  Hinder- 
nisse eine  genügende  Bildung  vereitelt,  eine  richtige  verschoben  wird,  dafs 
wir  Beobachtung  der  verschiedenen  Naturen  zur  Grundlage  aller  prak- 
tischen Thätigkeit  eines  Erziehers  machen  müssen  ? 

Wenn  aufs  Sorgfältigste  regelrecht  bestimmt  wird,  wieviel  ein  Primaner, 
Secundaner,  Tertianer,  u.  s.  w.  wissen  müsse:  glauben  Sie,  das  stehe  in 
irgend  einem  bestimmbaren  Verhältnisse  zu  der  im  Vorhergehenden  er- 
wähnten Verschiedenheit  des  Phantasirens,  des  appercipirenden  Merkens, 
und  des  Memorirens,  sammt  dem,  was  weiter  daraus  hervorgeht  ?.  Aber 
freylich,  war  das  Klassenziel  der  Tertianer  bestimmt,  so  kann  nun  da- 
nach der  Lehrer  in  Secunda  seinen  Lehrplan  ordnen;  daran  ist  nicht  zu 
zweifeln.  Und  wenn  das  Abiturienten  -  Zeugnifs  die  Kenntnisse  des 
Primaners  genau  bezeugt,  so  erfährt  der  akademische  Lehrer,  wessen  er 
sich  bey  den  Studirenden  zu  versehen  hat!  Wirklich?  Ist  etwa  die  Uni- 
versität eine  höhere  Schulklasse,  und  verbürgt  das  Memorirte  wohl  die 
Selbstthätigkeit  des  Studirenden?    Soll  es  auch   nur.  so   seyn?    —    —    — 


Druck  von  Hermann  Beyer  &  Sohne  in  Langensalza. 


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