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Full text of "Spiegel, Freundschaft, Spiele, studien"

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S<?S5^. 13. '^Ö 



HARVARD UNIVERSITY 




LIBRARY OF THE 

GERMAN DEPARTMENT 




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SPIEGELFREUND- 
SCHAFT • SPIELE 



STUDIEN VON ALFRED 
WALTER HEYMEL 



INSEL-VERLAG • LEIPZIG • MCMVm 



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HAJSVARD CCLi;.v.i Li:.i,...t 



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SPIEGEL 



Hugo von Htfmannsthdl 
mgeeigmt 



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DIE drei Freunde, Friedrich, Wal- 
ter und Ernst, hatten einen an- 
regenden und angenehmen Tag ver- 
lebt und sich jeder nach seiner Art 
geistig und körperlich ausgearbeitet. 
Friedrich, ein junger Maler, hatte 
in der Akademie gezeichnet und war 
dann um die Mittagszeit mit Walter, 
der eben aus der Universität kam, 
unter den vom Schnee beschwerten 
Bäumen des Parkes hindurch auf 
die Felder geritten. Beide hatten 
dort in der frischen Luft über die 
weiße Ebene hin, auf der die Mittags- 
sonne glitzerte und Roß und Reiter 
die lustigsten Schatten werfen ließ, 
ihre Pferde getummelt und nun 
waren sie, für den ganzen Tag er- 
frischt in die Stadt zurückgekehrt. 
Bei ihrem Freunde Ernst, einem 
jungen Schriftsteller, hatten sie das 
Mittagsessen eingenommen, eine 



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Schlittenpartie auf das Land hinaus 
gemacht, gelacht und gescherzt, die 
Pferde bewundert, und sich an der 
Größe der winterlichen Natur er- 
freut und erhoben. 

Nachmittags waren dann alle drei 
in eine Ausstellung japanischer Holz- 
schnitte gegangen und hatten ver- 
sucht, sich in diese fremde, leichte, 
gefällige Welt einzuleben und sich 
die Gesetze und die Reize dieser für 
sie neuen, seltsam anziehenden und 
sicheren Kunst in Gesprächen klar 
zu machen. 

So war es Abend geworden, und 
sie beschlossen, in ein Konzert zu 
gehen, da sie in der Zeitung das 
auserlesene und seltene Programm 
lasen, das man diesen Abend spielen 
würde. Es war lauter alte Musik, 
der graziöse Rameau, der heitere 
freie Mozart, der tiefe und ernste 

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Bach, und vor allem der erhabene 
und majestätische Gluck. Kein 
Wunder, daß die drei Freunde in 
der gehobensten Stimmung den 
Konzertsaal verließen. 

Beim Eingang trafen sie auf ihren 
gemeinsamen Freund Hermann, der 
sie einlud, bei ihm zu Abend zu 
essen. Die Eingeladenen gingen 
gerne zu ihm. Das Abendbrot war 
schnell verzehrt, und die drei Gäste 
erzählten ihrem Freunde von den Er- 
lebnissen und Eindrücken des Tages. 

Als Hermann bedauerte, nicht an 
der Schlittenfahrt teilgenommen zu 
haben, fragten die andern ihn, wie 
er denn den Tag verbracht habe, 
und er antwortete ihnen in einem 
Ton, der durch einen tiefen Emft 
den Zuhörern zu Herzen gehen 
mußte: »Mit dem Andenken an eine 
Verstorbene. € 



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Als man mit Obst und Dessert 
fertig geworden war, begab man 
sich an das Kaminfeuer einer ge- 
räumigen Halle, die dadurch von 
einer eigentümlichen geheimnis- 
vollen Stimmung war, daß hohe, 
etwas matte Spiegel, die nur an ein- 
zelnen Stellen von dunkelbraunen 
Nußbaumtafelungen unterbrochen 
wurden, ihre Wände bekleideten. 
Da die Spiegel sich gegenüber stan- 
den, erweiterten sie durch unend- 
liche Widerbilder die Halle zu 
einem gewaltigen gläsernen Palast 
von Spiegelsälen und bildeten so 
für die Phantasie einen seltsamen 
und wundervollen Irrgarten, in dem 
sie sich in abendlichen Träumereien 
ergehen mochte. 

Es standen in der Halle große, 
steife, schwarze Ledersofas und 
Ledersessel, von denen die Freunde 

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vier in die Nähe des Kamins rück- 
ten. Der Diener stellte auf einen 
der kleinen runden Tische, die zahl- 
reich zur Bequemlichkeit der Rau- 
chenden und Lesenden umher- 
standen, einen Punsch, schenkte ein 
und wurde dann zu Bett geschickt. 
Seit der kurzen Andeutung Her- 
manns hatte sich die Unterhaltung 
nur über gleichgültige Dinge hin- 
bewegt, und erst, als das Licht aus- 
gedreht war, und nur das offene 
Feuer die Halle erleuchtete, fing das 
Gespräch an, sich zu vertiefen. Der 
Widerschein der Flammen überzog 
die Möbel und Täfelungen, die 
braungelben Türvorhänge, die dun- 
keln Spiegelflächen, in denen sich 
hoch oben als einzige breite Hellig- 
keit die weiße Decke des Saales 
abbildete, die Gesichter, Hände und 
auch die weißen Hemdausschnitte 

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der Herren mit einem weichen gol- 
denen Ton. 

Ernst bemerkte: »Es ist etwas 
Seltsames um einen Sterbenden. Ich 
habe erst einmal einen Menschen 
in seiner letzten Stunde gesehen, 
und muß sagen, daß der Augenblick 
seines Todes den Eindruck einer 
großen, £ist berückenden Harmonie 
gab, und wenn es euch nicht lang- 
weilt, so will ich die Begebenheit 
erzählen.« 

Man bat ihn darum und er be- 
gann: »Mein Freund Christoph und 
ich waren noch auf dem Gym- 
nasium. Er war der Liebling seiner 
Lehrer und Mitschüler, denn er 
zählte zu jenen Begabten, die, ohne 
daß sie zu Hause viel arbeiten, die 
Besten ihrer Klasse sind. Wir ge- 
hörten damals beide einem Sport- 
klub an, und nicht nur beim Fuß- 

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ball war Christoph der vollendetste 
Kapitän der Jogendabteilung, son- 
dern auch bei den jährlich wieder- 
kehrenden Wettkämpfen errang er 
beim Schnell- und Hürdenlauf, beim 
Ringen und Speerwerfen, beim Rad- 
polo und Hockey immer die ersten 
Preise. Am Abend solcher Festtage 
sah mein Freund wie ein Premier- 
minister in Gala aus ; so viel Schleifen 
und Medaillen zierten seine Brust. 
Wie ihn alle kleinen Mädchen lieb- 
ten, weil er gut tanzte, ihnen für 
sein bescheidenes Taschengeld Blu- 
men und Schokolade kaufte und 
vor allem nie eine Gelegenheit ver- 
säumte, sie beim Nachhausebringen 
an winterlich dunkeln Nachmittagen 
zu küssen, so verehrten ihn seine 
Freunde und sahen wie zu einem 
unerreichbaren Ideal zu ihm empor. 
Ein leidenschaftlicher Reiter, machte 

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er nun eines Tages einen Ausritt 
über Land. Durch einen gewal- 
tigen Gewitterregen, der ihn bis 
auf die Haut durchnäßt, zieht er 
«sich eine Lungenentzündung zu, 
die mit so unheimlicher Vehemenz 
auftritt, daß man ihn schon nach 
drei Tagen aufgeben muß. Als 
seinem besten Freunde wurde es 
mir erlaubt, ihn noch einmal zu 
sehen. Er lag in dem weißen Bett, 
fiebernd, die goldigen Haare wirr in 
der Stime und seine Augen brannten 
in einem Feuer, wie ich es sonst 
an ihm nur bei einem Wettkampfe 
gesehen habe. Da hob er sich aus 
den Kissen empor und rief, ohne 
auf mich zu achten: Der Gaul geht 
durch 1 Und da er wohl fühlte, es 
würde nun etwas passieren, das er 
nicht mehr aufzuhalten vermöchte, 
rief er sich fliegenden Atems zu: 

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Sitzen, sitzen, und dann im Moment 
des höchsten Kampfes: Schenkel 
rani Sein Gesicht überflog plötz* 
lieh eine erschreckende Mattigkeit 
und wurde schneeweiß. Er zuckte 
wie verzichtend mit den Achseln, 
sank in die Kissen zurück und sagte 
leise: Nun liegt er unten. Dann 
war alles vorbei. Wir haben noch 
lange viel von ihm und seiner 
Tüchtigkeit gesprochen, so daß er 
schon jetzt, nach fünf Jahren, eine 
Art mythische Figur für die Mit- 
glieder des Vereins, die ihn nie ge- 
sehen haben, geworden ist. Sein 
Bild hängt in der Bretterbude, die 
den Spielenden als Garderobe dient, 
und wird jedemNeuaufgenommenen 
mit der Mahnung gezeigt, dem Dar- 
gestellten nachzueifern. Ist dies nicht 
auch eine Art Unsterblichkeit?c 
Der jüngste im Kreise, Walter, 

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ein frischer und natürlicher Mensch, 
der oft ohne Überlegung sprach und 
deshalb von den drei anderen, den 
Weiseren und Nachdenklicheren ge- 
neckt wurde, war ganz begeistert 
von der Erzählung und rief, als sie 
beendet war: »Welch ein herr- 
licher Tod; wie beneidenswert, 
in der Vorstellung oder gar in 
der Ausübung seiner Lieblingsbe- 
schäftigung zu sterben. Wie wun- 
dervoll denke ich es mir, bei 
einer Hetzjagd hinter^ lebendem 
Wild sich zu Tode zu stürzen. 
Das muß so schön sein, wie in den 
Armen eines Mädchens sein Leben 
auszuhauchen.« 

Friedrich und Ernst lachten, und 
Walter fühlte, daß er, wenn nicht 
eine Dummheit, doch etwa Komi- 
sches gesagt haben mußte, doch 
stimmte er gutmütig mit ein und 

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sagte: »Lieblingsbeschäftigung ging 
nur auf das Jagdreiten, c 

Alle drei stimmten in das Ge- 
lächter ein und schienen fast die 
Todesschauer, die ihnen die Er- 
zählung Emsts eingeflößt hatte, ver- 
gessen zu haben. 

Hermann jedoch verriet eine 
plötzliche heftige Erregung. Er 
fühlte sich augenscheinlich gedrängt, 
den Freunden gegenüber von dem . 
zu sprechen, womit er sich den 
ganzen Tag allein getragen hatte. 

Wird es doch jungen Leuten 
immer schwer, nicht von dem zu 
reden, was sie gerade bedrängt 
und bedrückt, was sie eben erlebt 
haben oder bald zu tun gedenken; 
und so durchbrach denn auch bei 
Hermann eine Wortflut, genährt 
von Erinnerung, Trauer, Dank- 
barkeit und Andenken, die Schran- 

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ken der Zurückhaltung und des 
Schweigens. 

Die anderen hatten, im Geftihl 
einer zurückgehaltenen Neugierde, 
längst auf diesen Ausbruch ge* 
wartet, weil sie wußten, daß er doch 
von selbst an&ngen würde, sein 
Herz auszuschütten und sich damit 
tröstlich zu erleichtem. 

Er erzählte mit halber Stimme 
und beinahe andächtig: »Eine der 
schönsten Erinnerungen meines Le- 
bens ist die an ein Rosenfest, das 
ich vor anderthalb Jahren feierte. 
Ernst, du warst dabei und mußt 
dir's nun ge&llen lassen, daß ich den 
anderen davon spreche. Ich hatte 
Antonie eben kennen gelernt, und 
war mit meinen zwanzig Jahren über 
die Ohren verliebt, auch verstanden 
wir uns gut, und so lief ich denn 
Sturm mit Blumen und kleinen 

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Aufmerksamkeiten. Da sie mir ver- 
sprochen hatte, mit zwei Freun- 
dinnen bei mir zu Nacht zu essen, 
gingen Ernst und ich daran, mein 
kleines Speisezimmer, in dem da- 
mals auch mein Flügel stand, recht 
festlich herzurichten. Die Wachs- 
kerzen in den Wand- und Tisch- 
leuchtem und in dem kristallenen 
Luster erhellten alles mit ihrem 
sanften, ruhigen licht und ver- 
mischten ihren zarten Rauch mit 
dem Duft ungezählter Rosen, der 
sich uns weich um die Sinne legte. 
Dicht unter der Decke lief eine 
Girlande und der ganze Kron- 
leuchter war mit purpurroten Rosen 
geschmückt, während auf dem 
schwarzen Flügel und in den Ecken 
des Zimmers in hohen Gläsern lang- 
gestielte La France, boskettartig ge- 
häuft, standen. An den Tür- und 

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Fenstervorhängen waren einzelne 
Rosen, mit der Blüte nach unten, 
festgesteckt, als ob sie wie im Regen 
niederfielen. Auf der runden Tafel 
lagen Marichal Niel und vereinig- 
ten ihr sanftes Gelb und Grün mit 
dem matten Weiß des Tischtuches 
und dem Glänze deis Silbers und 
Kristalles. Wenn sich Antoniens 
und meine Blicke begegneten, so 
leuchteten sie auf. Auf dich, Ernst, 
war ich damals allerdings fast eifer- 
süchtig. Du spieltest prachtvoll 
Klavier und wir glaubten alle an 
dein Talent, während einige Berufe- 
musiker behaupteten, du spieltest 
weichlich und nachempfunden. Ich 
sehe dich noch an jenem Abend 
vor mir. Du warst beim Spiel zu- 
sammengesunken und phantasier- 
test mit traurigem Gesichte über 
liebliche alte Melodien. Antonie 

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sagte zu mir: »Du, dein Freund 
macht uns noch verliebter, ak wir 
schon sind;c und sie wollte mich 
küssen. Ich fand das gar nicht, 
wehrte ab und vermochte ihr den 
Kuß nicht zurückzugeben. Es war 
mir, als führte man sie mir fort, in 
Säle, zu denen ich keine Schlüssel 
hatte, auf Berge, die ich nicht er- 
steigen konnte. Ich konnte meine 
Geliebte nicht mehr küssen. Du 
spieltest leise und die Töne schienen 
unter deinen Fingern zu schreien, 
du schlugst laut die Tasten und 
ich glaubte nichts zu vernehmen. 
Liebe, Rosenduft, Wein und auch 
Eifersucht hatten mich wie wirr 
gemacht. Da hörtest du auf, klapp- 
test den schweren Flügeldeckel zu 
und fordertest ein Glas Sekt. Ich 
schenkte dir ein, küßte Antonie 
und glaubte auch für einen Augen- 

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blick, daß du doch nicht gut 
spieltest.« 

Ernst lächelte ein wenig befremdet 
über die genauen Einzelheiten, deren 
Hermann sich noch erinnere und 
deutete an, das seien unaussprech- 
liche Gefühle und unbestimmte 
Ahnungen, wie sie ganz plötzlich 
zwischen nahestehenden Menschen 
entständen, und deren innere Über- 
windung als ein Prüfstein für wirk- 
liche Freundschaft anzusehen wäre. 
Er hätte damals nichts von der 
leichten seelischen Verstimmung des 
Freundes gemerkt und später immer 
an das Rosenfest wie an einen ganz 
harmonischen, durch nichts ge- 
störten Abend gern zurückgedacht. 

Hermann pflichtete ihm bei und 
sagte: »So geht es auch mir, und 
die kurze Trübung meines Unter- 
gefiihls hatte wohl weniger ihren 

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Grund in deinem Spiel, als in mei- 
ner unglücklichen Veranlagung zur 
Tamour triste, zur leidenden Eifer- 
sucht und Kleinmütigkeit, woraus 
bei mir häufig ein gewisser Mangel 
an Selbstvertrauen entspringt, der 
mich gerade in gesteigerten Glücks- 
momenten beBÜlt und mich arg- 
wöhnisch und selbstquälerisch 
macht. Doch das geht schnell vor- 
über, denn ich versuche mich mög- 
lichst wenig hierin gehen zu lassen. 
Nie aber werde ich den rührenden 
Eindruck vergessen, den ich hatte, 
als ich am nächsten Morgen in das 
ZinmGier trat, denn der unbeschreib- 
lich süße und wehmütige Geruch 
verwelkender Rosen betäubte mich 
fast, und als ich einige Mar^chal 
Niel, die noch auf dem Tische 
lagen, in die Hände nahm, ließen 
sie die schweren Köpfe hängen, als 

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wären sie im Sterben. Wie die 
Blumen mir dann langsam und 
kühl entglitten und teilweise ent- 
blättert am Boden lagen, da fühlte 
ich, wie nahe uns der Tod. ist. 
Antonie ist nun auch gestorben.! 

Das Feuer im Kamin war zu- 
sanmiengesunken, als Hermann ge- 
endet haue. Nur noch die Reste 
glühten wie edles Metall und 
ließen, wenn dann und wann noch 
eine kleine, kärgliche Flamme aus 
dem sterbenden Feuer aufzuckte, 
im Hintergrunde der Halle rätsel- 
hafte Schatten entstehen und ver- 
gehen. 

Walter trat an den Kamin und 
entfachte das Feuer, indem er neue 
Holzscheite darauf legte. 

Hermann schenkte, sobald er 
geendet haue, mit etwas hastigem 
Eifer die Gläser von neuem voll. 

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Die Freunde sprachen mit vieler 
Liebe und Verehrung von der Ver- 
storbenen, die allen ein guter und 
fröhlicher Kamerad und eine kluge 
Freundin gewesen war, als sie 
plötzlich bemerkten, daß Friedrich 
eingeschlafen war und heftig, wie 
unter Beklemmungen, atmete. 

Da Hermann ihn zu wecken ver- 
suchte, fuhr er aus seinen Träumen 
empor und machte einen so ver- 
störten Eindruck, daß Walter ihn 
lachend neckte, indem er bemerkte: 
»Mußt du denn immer schlafen, 
in der Kirche, im Konzert, auf der 
Akademie, im Theater, auf dem 
Pferd, oder wo du dich sonst auch 
befinden magst? Du schläfst noch 
einmal ein, wachst aus Faulheit 
nicht wieder auf, und wir müssen 
die Begräbniskosten bezahlen; das 
könnte dir so passen, c 

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Friedrich sah ihn hst verweisend 
an und erwiderte: »Ich habe nicht 
geschlafen.« 

Als er darauf prüfend gefragt 
wurde, wovon man sich denn unter- 
halten hätte, antwortete eT< »Vom 
Tode.« Einer der Freunde meinte: 
»Das hat er so im Traume gehört.« 
Aber Friedrich sagte bestimmt: »Ich 
habe nicht geträumt«, und dabei 
schaute er sich so scheu um, daß 
die Freunde heftig erschraken und 
Hermann auf ihn zuging, ihn an- 
fitfite, sich dicht zu ihm setzte, um 
den Grund seines eigentümlichen 
Benehmens zu erfragen und ihn 
zu beruhigen mit der Ermahnung, 
er solle sich, wenn er einmal nervös 
aufgeregt sei, nicht so sehr gehen 
lassen. 

Friedrich antwortete &st ängstlich 
und mit unsicherer Stimme: »Ich 

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glaubte wahrhaftig eben, ich sei ge- 
storben und bin beinahe verwun- 
dert, daß ich noch unter euch bin, 
da ich doch eben im Palaste des 
Todes war.t 

Darauf nahm er Hermann bei 
der Hand und führte ihn vor einen 
Spiegel und fuhr fort: »Denke dir 
ein Labyrinth von noch viel mehr 
Sälen und Verwirrungen, als du 
hier siehst, durch die ich alle auf 
einem Boden von Glas, auf dem 
ich jeden Augenblick auszugleiten 
befürchtete, schritt. Es trieb mich, 
wenn schon mich eine unerklär- 
liche Furcht befallen hatte, vor- 
wärts, denn ich sah wundervolle 
Dinge. In dem dritten Saal, den du 
dort noch in der Spiegelung erblickst, 
tanzten zwischen aufgestellten Schir- 
men und mannshohen rotlackierten 
Leuchtern, auf denen schlanke, lange 

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Kirchenlichter staken, zwei Mäd* 
chen, gekleidet wie auf den japa- 
nischen Holzschnitten. Sie drehten 
und wiegten sich zu den zierlichen 
Weisen des Rameau, und das Spiel 
ihrer Hände und Hüften, das Fließen 
und Fallen ihrer &ltigen Gewänder 
war so reizend, wie das Schwanken 
schöner Blumen im Winde, wie 
das Scherzen kleiner Wellen auf 
einem See. Ihren Händen schienen 
Blumen zu entfallen, und wo ihre 
zarten Füße den Boden berührt 
hatten, quollen Rosen hervor. Ich 
konnte mich kaum von der süßen 
Erscheinung losreißen. Als ich meine 
Wanderung weiter fortsetzte, hörte 
ich immer Musik und sah. in dem 
Glase liebliche Landschaften. Bald 
spiegelte sich ein Garten mit Obst- 
bäumen in weißer und rosaroter 
Blüte, bald erweckten fremdländisch 

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gekleidete Frauen, die an Spring- 
brunnen safien oder zwischen Tul- 
pen-, Hyazinthen- und Lilienbeeten 
spazieren gingen, während sie zur 
Laute sangen, durch die Anmut 
ihrer Erscheinung und den Wohl- 
laut ihrer Stimmen mein Entzücken, 
das noch durch den Anblick des 
vornehmen Spieles zweier weißen 
Pfauen gesteigert wurde, die den 
Sängerinnen wie Verliebte folgten, 
und immer von neuem zuckend 
und ruckweise ihre bunten Schlep- 
pen zu schimmernden Fächern ent- 
fcdteten. Von stolzer Freude und 
erregter Liebeswonne wurden die 
beiden so krampfhaft durchschauert, 
daß die langen Kiele ihrer vom 
Rücken aus aufrechtstehenden Fe- 
dern leise klirrend aneinander- 
schlugen und das vibrierende Ge- 
fieder ein schwirrendes Geräusch 

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hervorrief. Eine heftige innere Be- 
wegung ließ die Tiere gar nicht 
zur Ruhe kommen. Darauf durch- 
schritt ich, wenn ich mich recht 
erinnere, ein Frauengemach, dessea 
Bewohnerinnen am Boden kauerten 
und bunte Vögel und seltene Blumen 
auf seidene Gewänder stickten. En 
großer weißer Kakadu beugte sich 
aus seinem goldenen Ring weit 
vor, als wollte er mir zurufen: 
»Köpfchen krauen. c Die gelbe Don- 
Juan-Feder auf seinem Kopfe be- 
wegte sich hin und her, und die 
weißen Federchen an seinem Halse 
spreizten sich auseinander, so daß 
der gelbe Flaum, der unter ihnen 
war, sichtbar wurde. Da ich mich 
nicht mit ihm abgab, sah mir der 
Vogel ebenso traurig nach wie seine 
Herrinnen. Als ich sie verlassen 
hatte, machte es mir viel Vergnügen, 

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zu sehen, wie hier ein fließendes 
Wasser von einem Bogen, unter 
dem der blutige Ball der scheidenden 
Sonne langsam hintersank, kühn 
überbrückt war, dort ein dünner, 
silberner WasserM wie fallender 
Tau über dunkle Felsen hinunter- 
glitt. Trotzdem verließ mich nicht 
eine tiefe Sehnsucht, wie sie uns 
auch hier auf Erden bisweilen be- 
fällt, denn mir schien, alles das sei 
noch nichts im Vergleich zu dem, 
was mir sicher noch bevorstände. 
Nur einer grotesken Szene in diesem 
anmutigen Irrganen kann ich mich 
erinnern. In einem Bambushause 
saß mit untergeschlagenen Beinen 
ein Greis, der ein hell- und dunkel- 
violett gestreiftes Gewand trug und 
einen hohen bimenförmiggewölbten 
Kahlkopf hatte. Sein glattes Ge- 
weht sah aus wie das eines Weisen 

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oder eines Schauspielers. Neben 
ihm lagen beschriebene Rollen und 
ein dickbäuchiges Musikinstrument; 
ein langer Rohrstab, den er in der 
Hand hielt, bedrohte vier Reihen 
Schüler, die, japanisch gekleidet, 
vor ihm saßen und lächerlicherweise 
meinen besten Bekannten, zum Teil 
euch, ähnlich sahen. Während die 
eifrig studierten, gestikulierte der 
Alte heftig in der Luft herum und 
schrie: Heute ist es zu heiß, viel 
zu heißl Ihr werdet nichts mehr 
in eure rauchenden Köpfe hinein- 
bringen. Ich will euch lieber etwas 
erzählen, damit ihr gescheit werdet, 
spitzt mir aber gut die Ohren, denn 
ich bin ein Gelehrter und ein 
Dichter; und nun fing er an, über 
den Tod und die Liebe zu dozieren 
und langweiliges Zeug zu schwatzen, 
wovon mir zum Glück nur einige 

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Sätze in Erinnerung geblieben sind, 
die ich euch spaßeshalber, und da- 
mit ihr erkennt, wie wunderlich 
und unklar sich alte Gelehrte bis- 
weilen auszudrücken belieben, er- 
zählen will. So lehrte er: Der 
Tod ist die Vereinigung mit der 
von Grund aus Geliebten, daher 
wissen wir erst im Tode, in dem 
letzten gesteigerten Augenblick, in 
dem unser ganzes Leben mit allen 
seinen Erinnerungen noch einmal 
sich gedrängt und überdeutlich in 
unserer Seele spiegelt, wen wir auf 
Erden, auch wenn wir uns anderes 
einbildeten, geliebt haben. Der Tod 
ist die schönste Brautnacht, und die 
wahre Liebe ist der Todl In der 
Art ging es eine Weile immer ver- 
wirrter und verwirrender weiter, 
so dafi ich mich schleunigst durch 
die Flucht rettete. Immer noch 



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suchte ich jemand, ohne ihn zu 
kennen. Meine Sehnsucht führte 
mich wieder an Flüssen, Gebirgen, 
an Theatervorstellungen und Garten 
vorbei. Von diesen öffnete sich 
einer zu einem Ausblick auf das 
ruhige Meer, das von zwei Seiten 
durchsanfte Hügelketten eingerahmt 
wurde und so eine Bucht bildete, 
in der viele bunte Schiffe hin und 
her zogen, mit armen Fischern be- 
mannt oder gefallt mit vornehmen 
Männern und Frauen, die musizier- 
ten und mit Papierschirmen sich 
gegen die Sonne schützten. Ein 
großer Schwann von müden Zug- 
vögeln näherte sich langsam der 
Terrasse des Gartens, mechanisch 
rührten sie die Flügel und ihre 
Hälse lagen sehnsüchtig vor, als 
sie doch kurz vor dem Ziel die 
Flugkraft verloren, in das Meer 

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sanken, und alsbald von den Leuten 
in den Schiffen mit leichter Mühe 
und lachend für ihre Küche ein- 
gefangen wurden. Mich aber über- 
kam ein tiefes Mitleid mit den 
Tieren, Als ich dann durch wunder- 
lich verschlungene Irrgänge und 
Glaskammem in einen ganz fernen 
Spiegelsaal, den du dir nie in der 
Phantasie eigentümlich und schön 
genug vorstellen kannst, gelangte, 
durchlief mich ein unbeschreibliches 
Gefühl. Die kristallenen Wände er- 
klangen wie Glocken, die der 
Schwengel leise berührt, unter dem 
durchsichtigen Boden sah ich zu 
meinen Füßen nie gekannte Blumen, 
wie ein Schlittschuhläufer auf einer 
vereisten Wiese. Dort fmd ich 
eine schöne Frau und starb, t 

Die drei Freunde wußten nicht, 
was sie sagen sollten, sie schauten 

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sich an und als sie in die Spiegel 
sahen, sahen sie wohl hundert 
schwarze Gestalten, aber sie er- 
kannten sich nicht mehr in ihnen. 

Das Feuer war fast niederge- 
brannt. Walter besann sich zuerst, 
drehte das Licht an und sagte: 
»Kinder, wir werden noch alle ver- 
rückt. Dieser Raum macht einen 
auf die Dauer blödsinnig. Laßt uns 
Whisky trinken und noch etwas 
Billard spielen. € 

Er zog Ernst mit sich in das 
Nebenzimmer. 

Hermann und Friedrich drückten 
sich die Hände, sahen sich an und 
Hermann bemerkte: »Walter und 
Ernst haben noch nie geliebt, möge 
sie der Himmel noch lange davor 
bewahren. Liebe ist unter allen Um- 
ständen ein rechtes Unglück. Ja, ja.€ 

Darauf lächelte er über seine 

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eigene Banalität und Friedrich über- 
trumpfte diese noch, indem er sagte: 
»Oder das größte Glück.« Darauf 
lachten alle beide und gingen in 
das Billardzimmer, tranken Whisky 
und stellten später beruhigter fest, 
daß sich vorhin in dem Gehirne 
des schlafenden Friedrich alle Ein- 
drücke aus den letzten Erlebnissen, 
Gesprächen und gesehenen Bildern 
zu zusammenhängenden Vorstel- 
lungen und zu einem schönen ver- 
worrenen Traume verdichtet hätten, 
dessen tiefer und unnahbarer Sinn 
sich in mancherlei Weise ausdeuten 
lasse. 

Hermann wollte noch einmal das 
Gespräch ins Bedeutsame hinüber 
spielen und sagte ein wenig preziös : 
»Ich glaube, wir haben mit unserer 
Traumerklärung ganz recht. Jeder 
von uns kann sich bei diesen Spiegel- 

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erlebnissen etwas Besonderes denken 
und sein Persönliches sich spiegeln 
lassen; was sie aber für Friedrich 
sein werden, kann keiner von uns 
herausbringen, denn keiner versteht 
des anderen Gedanken, ja nicht ein- 
mal seine Sprache. Das ist mir 
niemals klarer gewesen, als letzten 
Sommer auf dem Landgute bei 
meiner Schwester. Sie ist vor nicht 
langer Zeit aus Indien wieder zu 
uns herüber gekommen. Ich habe 
diese junge Frau immer vorzüglich 
verehrt und geliebt, weil ich bis- 
weilen glaubte, sie verstände nicht 
nur die Sprache meines Herzens, 
sondern bediene sich ihrer, als wäre 
es ihre eigene. Oft habe ich ihr 
in Gedanken die Hände dafür ge- 
küßt. Da wurde nun letzthin nach 
dem Mittagessen ihr Baby von seiner 
hindostanischen Kinderfrau herein- 

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getragen, ich nahm es auf den 
Schoß und ließ es reiten. Auf ein- 
mal fiel mir das alte hindostanische 
Wiegenlied ein, mit dem unsere 
Mutter, die auch früher, Vaters Ge- 
schäfte wegen, in Asien gewesen 
ist, uns Kinder, wenn wir nicht 
einschlafen wollten, in den Traum 
zu singen pflegte. Die geheimnis- 
vollen Worte sind mir mit ihrem 
wunderlichen Klang und ihrer be- 
ruhigenden, eintönigen Melodie un- 
vergeßlich geblieben, da ich mir 
als Kind bei ihnen etwas besonders 
Begehrenswertes und Liebes gedacht 
und gewünscht habe, weil ich nie 
recht begriff", was sie eigentlich be- 
deuteten. Sie lauten: 

Nini, baba nini, 
Ruti, mackum, tschini. 
Nini baba, nini baba, 
Nini baba nini, 

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und heißen in der deutschen Über- 
setzung freilich bloß: 

Schlaf, Kindchen schlaf, 

Brot, Butter, Zucker. 

Schlaf, Kindchen, schlaf Kindchen, 

Schlaff Kindchen schlaf. 

Das summte ich also in der Ur- 
sprache vor mich hin, während 
das kleine Kerlchen vergnügt auf 
meinem Schöße zappelte und lachte. 
Da hättet ihr die Fremde sehen 
sollen, wie sie mich anstarrte, vor 
mir nieder fiel, meine Hände küßte 
und sich vor unsinniger Freude 
wie närrisch gebärdete. 

Glaubte sie doch, ich spräche ihre 
Muttersprache, deren geliebten Klang 
sie so lange im fremden Lande 
hatte entbehren müssen. Wie soll 
ich euch aber den enttäuschten 
Schrecken und den Jammer be- 
schreiben, der sich auf ihren braunen 

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Zügen und dunklen Augen malte, 
als die Ärmste merkte, daß die 
wenigen gesungenen Worte das 
einzige waren, was ich auf ihr ge- 
liebtes Hindostanisch wußte. Ich 
schämte mich förmlich, ihr, wenn 
auch unabsichtlich, einen sehnsüch- 
tigen Schmerz verursacht zu haben 
und mißtraute auf einmal meiner 
Schwester und meinen seelenver- 
wandten Gefühlen gegen sie, als sie 
über das seltsame Gebaren der 
Kinderfrau zu lachen anfing. Ich 
sah ihr mit Grauen in ein fremdes 
Gesicht, denn das kleine, zufällige 
Erlebnis wurde mir zum Gleichnis 
für alle menschliche Einsamkeit. € 

Hermann schwieg und hatte die 
Freunde glücklich wieder nach- 
denklich gemacht 

Das ärgerte Walter und ließ ihn 
brüsk ausrufen: »Nun ist's aber 

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genug ^mit der faden Stimmungs- 
macherei. Daß Euch der und derl 
Wir sind doch aus den Spiegehi 
heraus und sitzen in einem Jagd-, 
Trink- und Spielzimmer. Also auf! 
Ermannt Euch! Schenkt ein, nehmt 
die Billardstäbe oder mischt die 
Karten. Heißt das junges Herren- 
leben, wenn jeder in seinen heim- 
lichsten und verstaubtesten Seelen- 
winkel leuchtet und den nächsten 
mit seiner Gemütskrankheit an- 
steckt? Jetzt wird getrunken, ge- 
lacht, gespielt bis zum hellen Morgen 
und dann früh wieder an die Ar- 
beit, dann auf die Pferde und in 
den Schlitten, hinaus ins Freie im 
Galopp und Trabe. Das ist ein 
Leben nach meiner Art, das euch 
alten Nachteulen und Träumern 
auch gut tun wird.c 
Alle waren wie von einem Banne 

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befreit, sprangen auf und riefen 
durcheinander: »Der Jüngste hat 
wie immer recht It 

Und sie folgten seinen Vor- 
schlägen. 



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FREUNDSCHAFT 



Rudolf Alexander Schröder 
zugeeignet 



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BEI Walter, einem jungen Schrift- 
steller, war Gesellschaft zu Ehren 
einer berühmten Tänzerin gewesen 
und seine angebetete Clarissa hatte 
wilder und feuriger denn je getanzt 
und so die Gäste, einige Künstler 
und Schriftsteller mit ihren Damen, 
auf das Höchste entzückt. 

Einige Freunde sind noch zu- 
rückgeblieben und gehen in das 
Rauchzimmer, um noch eine Stunde 
zu trinken und zu plaudern. Jeder 
räkelt sich in einem jener großen, 
schwarzen, englischen Ledersessel, 
deren kühle, weiche Bequemlich- 
keit man nur ungern und schwer 
wieder verlaßt. 

Walter fragt die Freunde, was 
sie trinken wollen, etwa Portwein, 
Flip oder einen Cocktail, und 
bittet, nur keine Getränke zu ver- 
langen, die schwer zu bereiten sind, 

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denn seine kleine Bar ist nur auf 
wenig eingerichtet, und dann ist 
es zu spät, und er zu faul, um sich 
noch lange zu plagen. 

Man äußert seine Wünsche, und 
er mischt das Verlangte. Das nimmt 
immerhin einige Zeit in Anspruch, 
und läßt ihn der Unterhaltung der 
anderen unbeteiligt zuhören. 

Anfangs dreht sich das Gespräch 
natürlich um die Tänzerin. Der 
eine bewundert vor allem ihre un- 
erreichte Lebendigkeit, der andere 
die sichere Selbstverständlichkeit, 
mit der sie die gewagtesten Stel- 
lungen graziös erscheinen läßt und 
unästhetische Bewegungen dadurch 
zu schönen stempelt, daß sie alle 
wie selbstverständlich ohne Mühe 
lächelnd ausführt. Der eine nennt 
sie eine bedeutende Persönlichkeit. 
Ein anderer bestreitet dies, denn 

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Bedeutung habe nur der, der von 
Sehnsucht zu Sehnsucht getrie- 
ben, immer Neues schaffe oder 
anrege und so auf die Zukunft 
wirke, während sie, die Tänzerin, 
nur die Gegenwart verschönere, ja 
selbst ein erfreuliches Stück Gegen- 
wart sei, wie etwa ein schöner 
Sonnenaufgang, ein blühender 
Rosenstrauch oder ein Glas voll 
altem Chäteau d'Yquem, einem 
Weine, den er scherzhaft einen Be- 
weis und einige Gewährleistung für 
die ewige Seligkeit nennt 

Alle geben dann zu, Clarissa sei 
die graziöseste Frau der Welt, eine 
unschätzbare Künstlerin, tanze neue 
Formen und gebe der Kunst ganz 
neue Linien, der Poesie einen eige- 
nen Rh3^hmus, und was derlei Ge- 
schwätz mehr ist, das begeisterte 
junge Leute bei solchen Gelegen- 

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heiten in vorgeschrittener Stunde 
wohl einmal von sich geben können. 
Ein überschlanker junger Maler, 
der die Bewegungen eines rassigen 
Windhundes hat, erzählte dann 
von einem Rennen. Der Graf 
Wolkenbruch sei im Sattel gewesen 
und habe sich gleich kurz nach dem 
Starte den Fuß an einer Barriere ge- 
brochen, trotzdem das Rennen zu 
Ende geritten und wäre noch Zweiter 
geworden. Er wäre sehr schwach 
und einer Ohnmacht nahe gewesen, 
als man ihm vom Pferde hob. Der 
Schweiß hätte auf seiner gebleichten, 
lederfarbenen Stime gestanden. Er 
habe sich verbinden lassen, sich 
eine Zigarette angesteckt, seine Dis- 
positionen wegen der Pferde ge- 
troffen und sich dann unter der 
Bewunderung der Umstehenden 
nach Hause £ahren lassen. 

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e - 



Der Erzähler nannte dieses Be- 
nehmen unvergleichlich und hero- 
isch. So sehr den anderen die 
Selbstbeherrschung des Grafen im- 
ponierte, so konnten sie ihm doch 
nicht das Lob des Heroismus zu- 
gestehen, sondern bewunderten nur 
die gesteigerte Fähigkeit des Soldaten 
und Offiziers, sich in körperlicher 
Hinsicht zusammen zu nehmen. 

Es wurde nun viel über Herois- 
mus hin und her geredet, Beispiele 
daför angeführt, und ein junger 
Kaufmann, der einzige, der in die- 
ser Gesellschaft einen Schnurrbart 
trug, schrieb die meisten sogenann- 
ten Heldentaten der Menschen einer 
zufalligen Stimmung, der Eitelkeit 
oder dem Wahnsinn, zu. Er tat 
dies wohl mehr aus Widerspruch 
als aus Überzeugung. 

Ein aus Tiflis im Kaukasus ge- 



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hurtiger Maler, der sehr schweig- 
sam war und immer nur trank 
und trank und in eine Kristall- 
kugel starrte, die er von einem 
indischen Fakir hatte, um seine 
Gabe des zweiten Gesichts zu 
üben, hob den für seine Jahre 
viel zu alten und faltigen Kopf 
und sagte ein wenig tonlos und 
automatisch, in seiner knappen 
Art oft die Artikel weglassend und 
die »R*S€ angenehm rollend: »Die 
Tataren und Slaven glauben nicht 
an Heroismus bei Männern. Män- 
ner sind brutal und selbstisch, in 
Gefahr und Not werden sie zum 
Vieh. Nur Frauen sind Heldinnen. 
Hört, ich will Euch ein Gleich- 
nis aus meiner Heimat erzählen, 
wie unser Volk über männlichen 
Anstand denkt. *S ist die Ge- 
schichte vom kühnen Jäger Nico, 

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der eine schöne Schäferin Nina 
zur Ehe wollte. 

»Die schöne Schäferin Nina sollte 
in wenigen Tagen den kühnen Jäger 
Nico heiraten. Nina weidete wie 
gewöhnlich Schafe auf den Ab- 
hängen des Berges Gudaur, hatte 
dort gute, saftige Wiesen, denn der 
Berggeist Gudaur liebte Nina und 
ließ ihre Schafe fetter werden als 
alle anderen. Auf der Weide traf 
sie Nico, der beutebeladen von der 
Jagd kam. So standen sie neben- 
einander, wie eine zarte Birke 
neben einer starken Kiefer schauten 
sich Freude und liebe in die Au- 
gen, und merkten nicht, wie sich 
Gudaurs Haupt verfinsterte, wie 
er seine Augenbrauen, schwarze 
Wolken, zusammenzog und seine 
Augen, graue Felsen, kalt steinern, 
grausam niederblickten. Rache war 



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in dem Alten, Rache für verschmähte 
und verlorene Liebe. Mit einem 
Schlage bedeckten sich die Weiden 
mit seltsamen Blumen, eine immer 
schöner als die andere. Gudaur 
wußte, Nina liebte Blumen über 
alles. Nina sagte zu Nico: »Siehe, 
das ist unserer Liebe Lied.« Hand 
in Hand gingen sie, bewunderten, 
pflückten nie gesehene Kelche und 
je weiter sie gingen, desto herr- 
lichere standen für sie da.« 

Der Erzähler nahm einen langen 
Schluck aus dem Glase, in dem er 
viel Alkohol mit wenig Wasser ge- 
mischt hatte, sah in seine Zauber- 
kugel und fuhr fort: 

»So zog Gudaur das Liebespaar 
von Blume zu Blume, in den Be- 
reich seiner Lawinen. Da blitzten 
die Augen des Ewigen, Lawinen 
stürzten und begruben Nico und 

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Nina in ihrem Niederfalle. Gepreßt 
an Felsen und verschüttet von 
Schnee saßen sie Hand in Hand. 
Hört! Warme Liebe entströmte dem 
Herzen, schmolz den Schnee und 
machte eine Höhle. Schweigend 
saßen sie nebeneinander und fürch- 
teten sich. Hunger wurde Herr über 
Nico, traurig Nina. Ihre Liebe zu 
Nico wuchs mit jedem Herzens- 
schlage. Da erwürgte Nico, vor 
Hunger wahnsinnig geworden, seine 
Nina und schlug sein Gebiß in ihr 
Fleisch. Laut lachte Gudaur, als er 
den entsetzlichen Schrei vernahm, 
schüttelte sich vor Lachen und von 
seinen Schultern fielen ihm Felsen 
und vernichteten im Niedersturze 
alles biß weit ins Aragmatal. Heute 
noch decken Steinblöcke, lange 
schwarze Streifen, Gudaurs Abhänge. 
Gudaur hatte gelacht, c 

JS 



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Die etwas barbarische Geschichte 
war zu Ende und der Russe saß wie- 
der mit der eleganten Teilnahms- 
losigkeit da, deren Unnachahmlich- 
keit die Verzweiflung jedes jüngeren 
Semesters bildete. 

Ein anderer junger Herr, ein an- 
gehender Dichter, der erstvor kurzem 
das Gymnasium verlassen hatte und 
noch voll von historischen Bildern, 
frischen Schulkenntnissen, Idealen 
und anderer Meinung war, meinte: 
»Seht doch auf die Geschichte großer 
Männer derVergangenheit,die durch 
ihren Heroismus berühmt geworden 
sind. Zum Beispiel bewundere ich 
vor allem den Themistokles. Denn 
als er vom Großkönig zum Ober- 
befehlshaber seiner Armee ernannt, 
mit Macht und Vollmacht ausge- 
stattet, das Mittel in der Hand hatte, 
sich an einem Lande zu rächen, das, 

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eine echte Republik, ihn, den einsti- 
gen Führer und Retter des Volkes, 
wie eine abgenutzte Galeere hatte 
verkommen lassen wollen, beschloß 
er, Hand an sich zu legen, um nicht 
gegen sein Vaterland zu Felde ziehen 
zu müssen und starb so, fünfiind- 
sechzig Jahre alt. Als der Groß- 
könig dieses vernahm, stieg seine 
Verehrung für Themistokles fest 
noch höher als zuvor. In Magnesia 
errichtete man ihm ein prächtiges 
Grabdenkmal. Die Athener suchten, 
wie so oft zu spät, das wieder gut 
zu machen, was sie an einem ihrer 
größten Männer verschuldet hatten. 
Beim Piräus, in der Nähe des alten 
Alkimostempels, an einer ruhigen 
Stelle, errichteten sie ihm ein Keno- 
taphion, welches ein späterer Dichter 
mit den Versen besingt: 

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Hoch ragt der Hügel seines Grabes auf 
an schönem Ort 

Und grüßt nach allen Seiten hold das 
Schiffervolk. 

Auch wurden die Nachkommen des 
Themistokles in Magnesia wie in 
Athen hoch geehrt, t Der Erzähler 
schloß mit den Worten: »Wer so zu 
handeln vermag, beim Herkules, den 
nenne ich einen Heroen, c 

Man lachte über seinen Eifer und 
Walter konnte nicht umhin, zu be- 
merken: »Donnerwetter! Hast du 
noch viel aus der Geschichtsstunde 
behalten.! 

DerGeneckte antwortete errötend: 
»Ganz abgesehen davon, daß ich 
erst kürzlich wieder in meinem Lieb- 
lingsschriftsteller Plutarch gelesen 
habe, wollte ich auch ganz früher 
einmal eine Themistokles -Tragödie 
schreiben: Drei Akte waren in der 

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Sekunda schon fertig. Jetzt weiß 
ich nur noch einen Vers daraus, 
den ich Euch spaßeshalber mitteilen 
will. Ich ließ nämlich denThemi- 
stokles, als er von einem Priester 
verraten wird, ausrufen: »Du Hund, 
du Lump, verfluchter Schweine- 
priester, t Dann hieß es weiter in 
den szenischen Anmerkungen: — 
»blaugewürgt, klatschte der fette 
Priester auf die Fliesen des Tempels, t 

Die Gesellschaft lachte unbändig 
über die Derbheit dieses Jugend- 
werkes. 

Der Poet stimmte in das Gelächter 
ein und Walter nahm wieder das 
Wort: »An den Edelmut des The- 
mistokles kann ich nun einmal nicht 
recht glauben. Schon im Altertum 
waren die Ursachen des Todes des 
Themistokles so gut wie unbekannt. 
Mir will die Erzählung seines letzten 

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edelsten Entschlusses nicht recht zu 
dem ehrgeizigen und leidenschaft- 
lichen Charakter dieses Halbatheners 
passen. Ich glaube viehnehr, daß er 
von einem Sklaven, der ihn haßte, 
oder einem vaterlandsliebenden 
Athener ermordet worden oder 
eines plötzlichen natürlichen Todes 
gestorben ist.« 

Wilhelm, der beste Freund Wal- 
ters, sagte, indem er sich nach der 
Bar hinwandte, an der dieser immer 
noch geschäftig einschenkte, Eier 
öflFnete, mischte, klapperte und 
rührte, halb scherzend, halb spottend : 
»Du phantasierst dir ja wieder was 
Schönes zusammen, Ideen und 
Schlüsse ohne inneren logischen 
Zusammenhang. < 

Walter war sichtlich etwas ver- 
letzt, besonders, weil seit einiger 
Zeit bei den beiden Freunden eine 

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gewisse Entfremdung eingetreten 
war, die im folgenden ihren Grund 
hatte: Wilhelm, der Ältere, Ver- 
ständige, Ruhige und Besonnene, 
hatte sich in den Kopf gesetzt, den 
unruhigen, sehr jugendlichen und 
hitzigen Walter nicht nur durch 
mahnende Reden zu mildem, son- 
dern hatte häufig in die Reden und 
Taten des jüngeren Freundes in 
der guten Absicht, eine Dummheit, 
ein unüberlegtes oder taktloses Wort 
zu verhindern, eingegriffen, und so 
hatte er Walter, der sich seines 
Fehls ganz gut bewußt war, durch 
zur Schau getragene Schärfe mehr 
erzürnt als genützt. Er blieb je- 
doch in der festen Überzeugung, wo 
er Schmerzen verursachen mußte, 
wie ein guter Arzt auch da Segen 
zu stiften, bei dieser Art, Walter 
zu behandeln und war sein ewiger 

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Mentor oder Präzeptor. Der andere 
aber wollte sich das durchaus nicht 
sehr gefallen lassen und lieber selbst 
trübe und heitere Erfahrungen 
machen, und so sah Wilhehn sich 
in der betrüblichen Lage, mehr und 
mehr einen Freund, den er wie 
sich selbst liebte, zu verlieren. Er 
trug dieses Geschick mit wahrhaftem 
Heroismus und ging auf dem fiir 
den Freund nützlich erkannten Wege 
weiter, allerdings oft weiter, als es 
nötig war. 

Walter war also wieder einmal ver- 
stimmt, Wilhelm aber schien dies 
nicht zu beachten, selbst als der 
unfreundliche Wirt den eben fertig 
gewordenen Sherry Brandy, Flip 
mit einer fast ungezogenen Bewe- 
gung vor ihn niederstellte und da- 
bei sagte: »Ich hoffe, es ist nicht 
zuviel Zucker drin. Du verwöhnst 

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einen auch nicht grade mit Süßig- 
keit! 

Wilhehn erwiderte nichts darauf, 
sondern wendete sich an die kleine 
Gesellschaft: »Wenn Ihr genau 
wissen wollt, wie Themistokles ums 
Leben gekonmien ist, so will ich 
es Euch wahrheitsgetreu erzählen, c 

Sofort fiel ihm Walter naseweis 
ins Wort: »Bist du vielleicht da- 
bei gewesen? Was wir nicht wissen 
und niemand weiß, weißt du auch 
nicht.« 

Der also AngegriäFene sagte dar- 
auf ruhig: »Das würde ich nicht 
so schroi9f hinstellen. Einige Leute 
wissen eben, wie es in der Welt 
zugeht und wie es in der Welt zu- 
gegangen ist; aber, wenn ich er- 
zählen soll, so bitte ich um fänf 
Minuten Ruhe, und ob Ihr meinen 
Worten glaubt oder nicht, ist mir 

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gleichgültig. Walter, selbst du in 
deiner Würde als Wirt, darfist den 
Mund halten. 

Der Gemaßregelte war unzufrie- 
den und gekränkt und warf sich 
der Länge auf ein Ledersofa, das 
in der Ecke stand und reckte sich 
ostentativ gelangweilt. 

Wilhelm begann: »Tödlich belei- 
digt, schmachvoll verurteilt, halb zu 
Tode gehetzt, findet Themistokles 
am persischen Hofe nicht nur Unter- 
kommen, sondern wird auf das 
höchste geehrt, wie ein Priester be- 
handelt und erster Ratgeber des 
mächtigen Perserfursten, dem er 
Hilfe gegen die doppelten Todfeinde, 
die Athener, versprechen muß. Der 
König gibt ihm fünf Städte für 
Brot, Wein, Zugemüse, Bett und 
Kleidung. Er wird ganz zum Asia- 
ten und vertauscht das einfache, edle 

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Peplon mit orientalischen Pracht- 
gewändem. Nach einigen Jahren 
fällt Ägjrpten unter Beihilfe der 
Athener ab, und zu Themistokles 
kommt ein Bote, bringt einen Brief 
von Xerxes mit der Mahnung : »Jetzt 
sind die griechischen Angelegen- 
heiten in Angriff zu nehmen und 
deine Versprechungen zu erfüllen, c 

Der junge Dichter bemerkte hier 
leise: »So steht es ungefilhr im 
Plutarch.« 

Wilhehn fahr fort: »Da ging es 
an ein starkes Rüsten. Neue Schiffe 
wurden gebaut, alte wieder ausge- 
bessert. Tausend und abertausend 
Bogenschützen und ein ganzer Heu- 
schreckenschwarm leichter Reiterei, 
lange Züge von schwerbewaffneten 
Fußsoldaten waren im Innern aus- 
gehoben worden und wälzten sich 
nach der Küste, um ihren Ober- 
es 



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befehlshaberThemistokles, von dem 
man die endliche Unterwerfung des 
kleinen Griechenvolkes erhofite, 
jubelnd zu begrüßen. Und der war 
nur zu sehr gewillt, seinen erbitter- 
ten Haß an seinen Mitbürgern und 
seiner Vaterstadt zu kühlen.« 

Walter unterbrach ihn mit dem 
Ausruf: ^Seht Ihr wohl? Was habe 
ich gesagt? Themistokles hat nie 
im Leben sich selbst getötet.« 

Wilhelm tat nichts dergleichen 
und ließ sich nicht stören: »In 
einigen Tagen sollte die Flotte in 
See stechen, und Themistokles war 
noch geschäftiger als einst vor der 
Schlacht bei Salamis, zu ordnen, 
zu ermahnen, anzufeuern, Lob den 
Fleißigen und Tadel den Säumigen, 
Strafe denen, die sich widersetzten, 
zu spenden. Seit einigen Jahren 
war er ständig begleitet von einem 

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jungen Athener, Agathonmit Namen, 
der aus jugendlicher Schwärmerei 
Haus und Heimat verlassen hatte, 
um sich dem berühmten Manne, 
dessen trauriges, durch den Undank 
der Vaterstadt veranlaßtes Mißge- 
schick ihm zu Herzen gegangen war, 
anzuschließen. Er erhoffte von ihm 
gute Lehren, Förderung in den 
Staatswissenschaften und eine kräf- 
tige Stärkung in allen bürgerlichen 
Tugenden. Als er nun sah, daß 
Themistokles fest entschlossen war, 
gegen sein Vaterland zu Felde zu 
ziehen und somit seinen erworbenen 
Ruhm im letzten Augenblicke zu 
nichte zu machen, beschwor er den 
Freund zu verschiedenen Malen, 
von seinem den Göttern und Men- 
schen verhaßten Plane abzustehen 
und suchte seinen Bürgersinn durch 
Erinnerung an seine einstigen glor- 

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reichen Taten und früheren Tro- 
phäen neu zu beleben. Doch ver- 
gebens. Da reifte denn in Agathon ein 
ebenso furchtbarer wie heroischer 
Entschluß. Der Name seines Ab- 
gottes, sein ungeheurer Ruhm mußte 
rein und womöglich noch gesteigert 
auf die Nachwelt kommen. Kurz vor 
dem Abmärsche begleitete er den 
Themistokles, der ausging, Truppen 
zu besichtigen. Sie waren den gan- 
zen Tag bei der glühendsten Sonne 
unterwegs und der Feldherr, der 
durstig geworden war, trank aus der 
Flasche, die dpx Schwertträger ihm 
reichte. Bald von einem plötzlichen 
Unwohlsein ergriflfen, mußte er nach 
Hause zurückkehren, wo er nach 
wenigen Stunden in den Armen 
seines mörderischen Freundes ver- 
schied. In dem Wein war ein 
schnell wirkendes Gift gewesen. Aga- . 

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thon fuhr noch in derselben Nacht 
mit einer schnellen Galeere nach 
Athen und verbreitete dort, Themi- 
stokles habe sich selbst das Leben 
genommen, um nicht gegen seine 
Vaterstadtzu Felde ziehen zu müssen. 
Die Athener feierten ihn nach seinem 
Tode wie einen Halbgott. Der junge 
Athener, der den wundervollsten 
und heroischsten Beweis einer 
musterhaften und echten Freund- 
schaft geliefert hatte, indem er, um 
dem Freunde zu nützen, ihn um- 
brachte, verschwand spurlos und hat 
sich wahrscheinlich das Leben ge- 
nonmien.« Wilhelm schwieg. 

Der Maler, der sich während der 
Erzählung einen Kognak nach dem 
anderen eingeschenkt hatte, sagte: 
»Das ist gar nichts im Vergleiche 
zu Graf W-w-w-wolkenbruchs ab- 
gebrochenem Fuß.« 

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Der Russe nahm keinen Anteil 
und trank weiter. Der Dichter starrte 
Wilhehn ganz verzückt an und 
meinte: »Wenn ich das in Sekunda 
gehört hätte, so wäre mein Themi- 
stokles mit dem guten Schlußge- 
danken sicher fertig geworden und 
aufgeführt. Ach, in Sekunda schon 
aufgeführt.! 

Der Kaufmann, der sich noch 
einen Lehnsessel zur Bequemlich- 
keit seiner Füße herangezogen hatte, 
lachte leise vor sich hin und wie- 
derholte: »Du Hund, du Lump, 
verfluchter Schweinepriester t, und 
blies mit der Zigarette Ringe in die 
Luft. 

Walter lag noch immer faul auf 
dem Sofa und sagte gar nichts und 
dachte bloß: das ging wieder mal 
auf mich; gut, daß die eigentlichen 
Pointen in den benebelten Köpfen 

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der anderen sich auflösten, wie ein 
Ring aus Zigarettenrauch in dem 
Tabakdunste dieses Zimmers. Wil- 
hehn ist doch ein langweiliger do- 
zierender Querkopf. Dann sprang 
er auf und rief: »Es ist zu viel 
Rauch in der Stube, wir müssen die 
Fenster öflfnen.t 

Wilhehn schützte Müdigkeit vor, 
verabschiedete sich und firagteWalter, 
der ihn höflichkeitshalber bis zur 
Türe geleitete: »Wo und wann ißt 
du morgen? Wir wollen zusammen 
speisen.« 

Walter gab mürrisch Zeit und 
Restaurant an und setzte bitter scher- 
zend hinzu: »Aber bitte, halte mir 
keine Reden und gib mir keinen 
giftigen Wein zu trinken, an mir 
ist ja doch nichts zu retten.« 

Wilhelm sah ihn hilflos lächelnd 
an und wünschte Gute Nacht. 

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Ein ausdrucksloses Gute Nacht 
entgegenbrummend ging Walter ins 
Rauchzimmer zurück. Dort gebär- 
dete er sich plötzlich munter und 
ausgelassen, als wäre er von einem 
schweren Drucke befreit. 

Es wurde noch tüchtig getrunken, 
und die zurückgebliebenen vier 
Freunde schwatzten rechtschaffenen 
Unsinn über Tänzerinnen, Rennen, 
Liebesabenteuer. Bei Leibe nicht 
Heroismus, der danach angetan war, 
ihnen die bequemsten großen eng- 
lischen Ledersessel ungemütlich zu 
machen. 

Der befreite Wirt führte das 
große Wort. Spät trennte man sich, 
und der Kaufinann drückte jedem 
mit den Worten die Hand: i Schlaf 
gut, du Hund, du Lump, verfluch- 
ter Schweinepriester, f Der junge 
Dichter freute sich über seine Po- 

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pularität und da£ seine Verse im 
Munde der Leute waren. 

Zwischen Walter und Wilhelm 
aber steigerte sich für viele Jahre, 
durch dieses harmlose Gespräch über 
Themistokles die bereits bestehende 
Entfremdung zu völligem Mangel 
an Vertrauen und Intimitat. Und 
erst nach langer Zeit, als das Leben 
die Freunde verschiedene Wege ge- 
führt hatte, wich der Bann und ein 
viel festeres Band innersten Ver- 
ständnisses und gegenseitiger Billi- 
gung verknüpfte nun die gegen- 
sätzlichen Naturen bis an ihren 
Lebensabend. 



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SPIELE 



Max Grafen Beikusy-Huc 
zugeeignet 



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TTtTALTER bestellte beim Diener 
▼ ▼ noch eine Orangeade und 
zündete sich die letzte Zigarette an. 
In dem kleinen, vornehmen Klub- 
zimmer mit den schweren, laut- 
losen Teppichen wurde nur noch 
an einem grünen Bakkarattisch ge- 
spielt, den eine messingene Hänge- 
lampe scharf aus der dänmiemden 
Umgebung des schon verdunkelten 
Saales heraushob. 

Walter gab rechts und links die 
Karten. Ihm gegenüber strich der 
Croupier immer von neuem die 
gesetzten Münzen und Noten mit 
einem langen, schwertfischartigen, 
dünnen Holzmesser für ihn ein 
und ordnete sie zu Haufen. 

Die Spieler und Spielerinnen 
waren eigentlich alle müde und be- 
neideten im stillen die anderen, die, 
gewinstreich oder nicht, schon den 

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guten Einfall und die Entschluß- 
fähigkeit gehabt hatten, nach Hause 
zu gehen. Übrig geblieben waren 
fast nur noch Spieler geringeren 
Grades. Das Bewußtsein ihrer Ver- 
luste hielt sie wie mit einem Bann 
an den Tisch gefesselt und sie setzten 
mechanisch ihr Geld, um immer 
noch einmal ihr Glück zu ver- 
suchen, obgleich im stillen auch sie 
überzeugt sein mochten, daß es ver- 
geblich sei. Max, der viel gewonnen 
und längst die Karten niedergelegt 
hatte, trat an Walter heran und 
fragte ihn leise, wann er endlich 
aufstünde, es sei fünf Uhr Morgens, 
die Sonne strahle am Himmel, es 
sei Zeit, nach Hause zu fahren. 

Walter antwortete, nach dem er- 
sten Verlust werde er aufhören. Es 
dauerte nicht lange, so schlug das 
Glück um und wandte sich gegen 

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ihn. Er erhob sich unter dem 
Murren der Gegner, die jetzt ge- 
rade gern weitergespielt und von 
ihm die verlorene Habe zurückge- 
wonnen hätten; er aber zeigte sich 
unerbittlich, wechselte das viele Gold 
in Banknoten um, gab rechts und 
links Trinkgelder an die Angestellten 
und Kniehosenträger in reich be- 
treßter Livree und verließ mit seinem 
Freunde Arm in Arm den Klub. 

Im offenen Wagen mußten sie 
sich gegen die MorgenfHsche 
schützen und schlössen mit hoch- 
gezogenen Mantelkragen für einen 
Augenblick die Augen, denn der 
Übergang vom Halblicht des Spiel- 
zimmers zur Helligkeit des er- 
wachenden Tages war schmerzhaft. 

Die Sonne, noch nicht sehr weit 
aus dem Meer heraus, versilberte 
mit ihren kalten, schrägen Strahlen 

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die graue Fläche und ließ die rosa, 
blauen und gelben Fronten der 
südlichen Häuser grell und deut- 
lich hervortreten, während ein dunk- 
les Violett als Schatten auf den noch 
nicht angeschienenen Bergen im 
Hintergrunde lagerte. 

Über dem nahen Vulkan stieg 
eine nach oben verbreiterte Rauch- 
wolke empor und Max bemerkte, 
daß diese Nacht die glühenden Lava- 
massen weiter als gestern den Berg 
hinabgedrungen seien. 

»Hast du alte, unverbesserliche 
Spielratze wenigstens gewonnen?« 
fragte er den Freund, worauf dieser 
erwiderte: »Selber einel Ich gebe 
gewiß zu, daß ich gern spiele, und 
zwar in jedem Sinne, denn es macht 
mir fast ebensoviel Freude zu ge- 
winnen, mich von den Glückswellen 
heben und tragen zu lassen, mich 

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als Glückskind zu fühlen, als es 
mich innerlich stählt, im Unglück 
auszuharren, ganz dumpf und bei- 
nahe teilnahmlos zu werden und 
nur aufzupassen, wann der un- 
günstige Wind imischlagen wird, 
um wieder einmal in mein Segel zu 
blasen. Du kennst ja mein System, 
vielleicht das einzig richtige, das, 
wenn es auch nicht den Gewinn 
sichern kann, fast immer größere 
Einbußen verhindert. Spiele ich 
doch im Glück rücksichtslos und 
hoch, im Verlust ängstlich und mit 
geringen Einsätzen, falls ich nicht, 
wenn es ganz schlimm kommt, für 
diesen Tag überhaupt meinen Hut 
nehme und ^ le. Heute nach- 
mittag war ich im Verlust. Der 
Doktor Kruterius hielt die Bank und 
gewann. Dann löste ich ihn als 
Bankhalter ab, er setzte gegen mich 

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und gewann wieder. Ich spiele 
überhaupt ungern gegen diesen 
Menschen, denn er scheint mir 
dieses Jahr im Glück zu sein. Weißt 
du etwas von seinem früheren 
Leben? Er hat wohl allerhand 
durchgemacht. Sein glattrasiertes, 
verwittertes Gesicht verheimlicht 
zwar sein Alter, doch gleicht es 
dem Inhaltsverzeichnis einer recht 
spannenden Räubergeschichte. Ka- 
pitel eins: Blatterspuren, Kapitel 
zwei: die rote Narbe am Hals und 
so fort. Außerdem sehen seine 
Lippen aus, als wenn sie durch eine 
etwas verkniflFene Schweigsamkeit 
die verräterische Geschwätzigkeit 
zweier feuriger Augen wieder gut 
machen wollten, t 

iDu hast rechtf, fiel Max ein, 
imich zieht dieser Mensch auch 
wider Willen an. Er spricht viele 

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Sprachen und sah aller Herren 
Länder. Ich weiß nur von ihm, 
daß er bei einer Schiffahrtsgesell- 
schaft hier im Hafen vor vielen 
Jahren angestellt war, später aus 
unaufgeklärten Gründen seine Stel- 
lung aufgab und in Madagaskar und 
Kalifornien als Minen-Ingenieur mit 
großem Erfolge nach Gold grub. 
Wie ein verborgenes Wasser auf 
Wünschelruten, so wirkten Gold- 
adern und Goldnester auf seine 
Spürkraft und er nahm mit seinen 
Leuten fast immer die Arbeit an 
schatzreichen Stellen auf.c 

lUnd seine Narbe ?€ warf Walter 
ein. 

»Die soll er schon vor dieser 
Zeit gehabt haben, woher weiß ich 
nicht, aber es muß ein ordentlicher 
Schnitt gewesen sein, denn heute 
noch könnte man, wenn man ihn 

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von der Seite ansieht, sich einbil- 
den, sein Kopf wäre zum Abneh- 
men. Lustig ist es mir immer, die 
erschreckten Gesichter von Fremden 
zu beobachten, wenn ihren Augen 
zum erstenmal dieser infame rote 
Strich bei einer der brüsken Kopf- 
wendungen des Doktors unter dem 
bergenden Wall seines Halskragens 
sichtbar wird. In AustraUen ist es 
ihm einmal schlecht ergangen. Er 
hatte eine große Gesellschaft ge- 
gründet, um Minen unter einem 
Flußbette anzulegen. Man wurde 
fandig und schaffte große Massen 
reiner Kömer zutage, als der Fluß 
mit einem Male von oben herein 
brach und sich auch dort als Be- 
sitzer ankündigte, wo man gedacht 
hatte, ihm seine Schätze unter der 
Hand entwinden zu können. Ober 
den Verlust von Menschenleben 

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hätte man sich da draußen wohl 
getröstet,^ aber die elementare Zer- 
störung war so groß, daß nicht 
einmal an eine Bergung der Arbeits- 
materialien, geschweige denn an 
eine Wiederaufnahme der Gold- 
wäsche gedacht werden konnte. Die 
Kurse der Gesellschaft stürzten auf 
Null. Doktor Kruterius soll unter 
den merkwürdigsten Begleiterschei- 
nungen für Monate seinen Verstand 
verloren haben. Er hielt sich für 
Jesus Christus, rannte wie ein Amok- 
läufer nächtUcherweile, wenige Tage 
nach dem Unglücke, in der rechten 
Hand ein Küchenmesser, durch die 
Straßen der Minenstadt und suchte 
unter unsinnigem Gebrüll den Erz- 
engel Gabriel, der seine Frau — die 
der Doktor, Notabene, nie besessen, 
zum mindesten nicht legitim — ver- 
führt und zu einem Mordversuch 

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gegen ihn angestiftet hätte. Man 
legte den Tobsüchtigen in Ketten 
und brachte ihn in eine Anstalt. 
Unverwüstliche Lebenskräfte taten 
dann das ihre, stellten ihn her und 
verwandelten unseren au%eregten 
Jesus Christus wieder in einen ge- 
wöhnlichen Doktor Kruterius. Dar- 
auf ging er nach Amerika zurück, 
machte sich aufs neue ein großes 
Vermögen und lebt nun als Samm- 
ler von Kunstwerken und Spieler 
größten Stiles. Er wandert Jahr 
für Jahr nach denjenigen Städten 
und Badeplätzen Europas, wo seiner 
Leidenschaft gehuldigt wird. Er 
spielt wie eine Uhr nach der Zeit, 
nachmittags von fünf bis acht und 
nachts von zwölf bis drei, und ist 
von der Höhe seiner Gewinste 
und Verluste, die ihn bei seinen 
Mitteln gleichgültig lassen können, 

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scheinbar unberührt. Sonst weiß 
ich nichts von ihm, als daß er un- 
verheiratet ist, nie mit Frauen ver- 
kehrt und außerdem das bewußte 
Medaillon mit einem weiblichen 
Bildnisse auf dem Busen tragen 
soll, das bei einer so romantischen 
Persönlichkeit, wie Doktor Krute- 
rius, eigentlich so selbstverständlich 
ist, daß man es nicht besonders zu 
erwähnen braucht. Solltest du we- 
gen dieses Umstandes noch Zweifel 
hegen, so habe ich dafür die Autori- 
tät meines Kammerdieners. Woher 
dieser es hat, wissen die Götter, c 
Auf die Bitte, er möge doch end- 
lich sagen, ob er im ganzen ge- 
wonnen habe, antwortete Walter: 
»Gewiß, mein Freund. Nach Dok- 
tor Kruterius' Fortgehen machte 
ich Schlag auf Schlag erst im klei- 
nen, dann im großen, meine Ver- 

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luste gut und kann jetzt Gott sei 
Dank mit einem hübschen Gewinste 
vor meine Frau treten; und das ist 
gut, denn fiir uns verantwortungs- 
reiche Ehemanner gilt noch heute 
die Weisheit des guten, alten, wun- 
derlichen Simpli^dssimi: 

Eichel, Schellen, Grün und Hen 
Bring;en dir bald Freud, bald Schmerzt 
Bald geht's: Jetzt habe ich gewonnen! 
Bald heißt's: Mein Geld ist zerronnen I 
Sag's nur meiner Frauen nicht. 
Was hier bei dem Spiel geschieht. 
Sie möcht* treten sonst ins Mittel 
Und mir lesen ein Kapitel, c 

Max lachte über das glücklich an- 
gebrachte Zitat und dann dämmerten 
die Freunde so vor sich hin. 

Der Wagen fuhr auf der breiten, 
weißen Straße, die gegen das Meer 
durch große steinerne Mauern ge- 
sichert war, im schnellen Trabe 
und brachte seine Insassen von 

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Straßenbiegung zu Straßenbiegung 
um viele Felsen herum, bog dann 
links vom Meere ab, durchquerte 
einen staubigen graugrünen Oliven- 
hain und passierte kleine Dörfer 
mit ungezählten bunten Blumen- 
beeten, wo schon in dieser Morgen- 
frühe blinde und zwergenhafte Bett- 
ler auf das Pferdegetrappel horchten 
und erwartungsvoll ihre mageren 
Hände den Schlafenden entgegen- 
streckten, enttäuschter Hoffnung 
aber Verwünschungsgebärden hinter 
den scheinbar Geizigen und Gefühl- 
losen hermachten. 

Man fuhr in eine große Hafen- 
stadt, deren Straßen schcm erwacht 
und belebt waren. Handkarren mit 
vorgespannten Hunden und brau- 
nen, halbnackten, muskulösen Män- 
nern, Ponywagen und Maultierge- 
spanne rollten hin und her und 

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brachten Eßwaren von Haus zu 
Haus. 

Unsere Freunde fuhren in das 
vornehme Viertel, wo in einem 
Palmenhaine, auf halber Höhe über 
der Stadt, ihr Gasthof mit grenzen- 
losem Blick aufs Meer lag. 

Drei Stunden Schlaf, das Früh- 
bad und der Morgenkaffee hatten 
ihre Nerven erfrischt, als sie ihre 
Gattinnen um zehn Uhr in der 
Hotelhalle harmlos, doch mit halb 
schlechtem Gewissen, begrüßten. 

Die Frauen sahen übernächtiger 
und müder als ihre Ehemänner aus. 
Unvermittelte Windstöße und Er- 
schütterungen hatten nächtlicher- 
weile die Türen und Fenster des 
Gasthofs erklirren und aui&pringen 
lassen und ihre Ängstlichkeit er- 
schreckt; dazu war das ungemüt- 
liche Gefühl gekommen, von den 

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Männern im Hotel allein gelassen 
zu sein. Sie hatten sich gefurchtet 
vor Dieben, vor dem tückischen 
Nachbar, dem feuerspeienden Berge, 
dessen Einfluß auf die Witterung 
man die nächtlichen Sturmeszeichen 
zuschrieb, und hatten für die Un- 
vernunft und den Leichtsinn ihrer 
spielenden Männer gebangt. Sie fühl- 
ten sich vernachlässigt, brutalisiert 
und ungeliebt. Eine steigerte die an- 
dere in ihr eingebildetes Leid hinein. 

Da standen nun die Sünder, die 
durch Schmollen und Gleichgültig- 
keit gestraft werden sollten. Beides 
aber löste sich bald in Wohlgefallen 
auf, als die schlauen Missetäter die 
Höhe ihrer Gewinste nannten. 

Man neckte sich gegenseitig und 
die Herren behaupteten, die Damen 
seien ungerecht gegen sie, wie 
Fürsten gegen ihre Minister bei 

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Staatsakdonen mit zweifelhaftem 
Ausgange; nur den Erfolg ließen 
sie gelten, während sie bei einem 
möglichen Verluste inuner vom 
Spiel abgeraten haben wollten. 

Dann konnte man sich nicht 
einigen, was mit dem heutigenTage, 
dessen au%ehender Sonne man 
nicht recht trauen durfte, geschehen 
solle, denn das Wetterglas war ge- 
fallen und an der schwarzen Tafel 
im Portal stand zu lesen, daß die 
Wetterwarte starke Reizbarkeit des 
Erdbebenmessers anzeige. 

Eine geplante Landpartie unter- 
blieb dieser unbehaglichen Anzei- 
chen wegen und man streifte in der 
Stadt umher, besuchte die über- 
füllten Kirchen, in denen die Jung- 
frau Maria und die guten Heiligen 
bestürmt wurden, einen Ausbruch 
des Vulkans zu verhindern. 

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Man kaufte ein, ließ an Bekannte 
und Freunde zu Hause Obst, Blumen 
und junge Kartoffeln senden, besah 
das Aquarium mit seinen Tiefsee- 
wundem: die bei jedem Atemzuge 
elektrisch aufleuchtenden Quallen, 
die dicken Panzer- und Plattfische, 
die wütend wie zornige Oberlehrer 
aussahen, ekelhafte unheimliche 
Pulpen und prachtvolle Pfauen- 
augenfische, an denen man die 
haushälterische Sparsamkeit der Na- 
tur bewunderte und lobte, die ihre 
besten dekorativen Ein&lle gleicher- 
weise bei den Federn der Vögel, 
Flügeln der Schmetterlinge und 
Rückenflossen der Fische benutzt. 

Die Damen wollten plötzlich von 
einem fliegenden Händler lächer- 
liche Aflen kaufen. Die Gatten 
protestierten, schon aus Mitleid mit 
den Tierchen, denen man im gegen- 

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wärtigen Reisezustand doch keine 
ernsthafte Pflege angedeihen lassen 
konnte, wurden aber durch den 
Enwurf mundtot gemacht: »Wenn 
ihr die ganze Nacht spielt, wollen 
wir wenigstens von dem gewon- 
nenen Gelde etwas abbekommen 
und wir möchten gerade diese Affen 
kaufen, um wenigstens jemanden 
bei uns zu haben, wenn ihr euch 
wieder nachts herumtreibt, c 

Also wurden die Affen gekauft. 
Ein kreuzfideler, behender, gleich 
zutraulicher Uistiti und ein gold- 
gelbes Löwenäffichen, das sich ftircht- 
sam bei jedem Annäherungsver- 
suche in die Ecke seines Holzkäfigs 
flüchtete, vor Angst und Zorn vogel- 
ähnliche Singtöne ausstieß und alle 
Viere abwehrend und steif von sich 
streckte. 

Schließlich wanderte man noch 

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einmal durch ein Ausgrabungs- 
museum, stand staunend vor den 
ganz einfachen, zweckmäßigen, 
edlen antiken Geräten und Gefäßen, 
um sich klar zu werden, wie weit 
unsere Zeit von der Reinheit und 
Schönheit dieser Dinge entfernt ist. 
Vor den alten Wandgemälden 
und Mosaiken traf man dann den 
Doktor Kruterius, der unseren 
Freunden die Zusammenhänge der 
zweitausendjährigen alten Malereien 
mit den Geheimnissen der neuesten, 
impressionistischen Malweise er- 
klären wollte, ohne auf sonderliches 
Interesse zu stoßen, denn die Damen 
wären vom vielen Herumwandeln, 
Sehen und Bereden gleich wieder 
müde geworden, den Männern 
steckte die schlaflose Nacht in 
den Knochen, und ein der Landes- 
sitte entsprechendes Frühstück, das 

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aus vielerlei Fischen, Gemüsen und 
Früchten bestand, mußte die Ge- 
sellschaft erfrischen. 

Doktor Kruterius saß am Neben- 
tisch, setzte sich beim Kaffee zu 
unserer Gesellschaft und lud sie 
zum Motorbootrennen ein, wies 
aber gleich darauf hin, daß die Be- 
setzung nicht stark sein werde, da 
manche Boote, die in den letzten 
Tagen konkurriert hätten, bereits 
wegen des wahrscheinlich aus vul- 
kanischer Ursache unberechenbar 
erregten Meeres nach Hause gesandt 
seien. 

Man ging zusanmien am Quai 
entlang und erstieg eine kleine, von 
allerhand blühenden und duftenden 
Bäumen umschattete, angenehme 
Anhöhe, auf der ein Vergnügungs- 
kasino mit vieler Geschmacklosig- 
keit und großem Pompe erbaut 

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war. Ein Fahrstuhl führte auf eine 
kleine Landzunge herunter, die 
sonst zum Taubenschießen diente, 
heute aber als Zuschauerplatz be- 
nutzt wurde. 

Das Rennen sollte trotz der ge- 
ringen Beteiligung unter recht gün- 
stigen Bedingungen vor sich gehen, 
da die See sich für Stunden be- 
ruhigt hatte. 

Die Wasserrennbahn war mit 
Flaggen, wie man sie auf dem grü- 
nen Rasen der Rennplätze benutzt, 
abgesteckt. Sie waren auf veranker- 
ten Tonnen befestigt und schwank- 
ten im leichten Winde. In weni- 
gen Minuten sollte ein Böllerschuß 
das Zeichen zum Anfang geben. 
Schon knatterten und pafiten die 
von Menschen erfundenen Meer- 
ungetüme hin und her und machten 
einen wahren Höllenlärm. 

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Am meisten gewettet wurde auf 
den Sieger vom Tage vorher, ein 
gelbes französisches Boot, das durch 
drei Motore vorwärts getrieben 
wurde, während sein gefähriichster 
Gegner, ein grauschwarzes engli- 
sches Fahrzeug, schlank und schmal, 
aus dem Hafen fuhr. 

Unaufhörlich rasten und fauchten 
die beiden Boote um die Start- 
flaggen herum, sowie auch viele 
andere kleinere, die, je nach ihrer 
Größe und Bauart, wie Frösche, 
Schildkröten oder Pantoffeln aus- 
sahen, und die bei diesem Rennen 
Statistenrollen zu spielen hatten. 

Man mußte nämlich, um einen 
guten Start zu erwischen, die Boote 
vorher schon in Gang bringen, da 
das Anstellen der Motore zuviel 
Zeit in Anspruch genommen hätte. 

Das Meer wurde unter ihnen auf- 

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gewühlt wie der Sand der antiken 
Arena von den Viergespannen. 

Da erdröhnte der Schuß. Der 
Franzose war gerade hinter den 
Flaggen und sauste mit voller Kraft 
zwischen ihnen dahin. Der Eng- 
länder aber, geführt von einem 
langen, dürren, blonden Steuermann 
in schwarzem Gummimantel und 
gleichem Lotsenhute, mußte noch 
wenden und verlor eine Viertel- 
minute, sprang dann aber wie ein 
Vollblüter mit großen Sätzen ab 
und machte sich auf die Verfol- 
gung. Niemand achtete auf die 
anderen. 

Die wildgewordenen Ungeheuer 
stürzten unaufhaltsam vorwärts, 
pflügten die Fluten des Meeres und 
bestickten sein blaues Gewand wie 
mit Spitzen, indem sie ungeheure 
Sturzseen aufwarfen, die immer 

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von neuem über den hochau%e- 
richteten Steuerieuten zusammen- 
schlagen. 

Der Engländer machte Boden 
gut, wie es beim Pferderennen heißt, 
und schon bei der dritten Runde 
nahm er geschickt die Innenseite. 
Bei dieser Wendung lag er so schief, 
daß man sein Umschlagen befürch- 
ten mußte. Hinter ihm entstand ein 
tiefes Wellental und zeigte noch 
lange den zurückgelegten Weg. So 
kam er viel besser um die Wende- 
flagge als der Franzose, gewann 
einen großenVorsprung und sicherte 
sich den Sieg. 

Die Zuschauer, die bezahlt hatten, 
und die Zaungäste, die überall auf 
den Dächern der Häuser, auf den 
zu halber Höhe belegenen Straßen, 
ja wie in einem kolossalen Theater 
die Hügel hinan saßen, schrieen 

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vor Erregung auf und brüllten tau- 
sendstimmig Beifall. 

Kurze Zeit schien man über dem 
nahen entfesselten Wasserkampfe zu 
vergessen, was ein anderes Element 
im Hintergrunde bedrohlich vor- 
bereiten mochte. Vielen rollten 
Tränen der Erregung über die 
Wangen, einige, die in der Span- 
nung des entscheidenden Momentes 
aufgesprungen waren und das Eisen- 
gitter umÜammert hatten, ließen 
es los und setzten sich. Nur Dok- 
tor Kruterius, der den Engländer 
unsinnig hoch gewettet hatte, blieb 
unbeweglich und strich sich einmal 
leicht mit der flachen Hand über 
die Halsnarbe, eine nervöse Ge- 
pflogenheit, der er bei Aufregungen 
nicht entging. 

Unsere Freunde verabschiedeten 
sich von ihm und nahmen einen 

lOI 



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Wagen. Die Damen setzten ihren 
Männern mit übertriebenen Vor- 
würfen hart zu, als ob sie von ihnen 
brotlos gemacht würden, da beide 
auf das besiegte Boot kleinere Sum- 
men verloren hatten. 

Diese Anstellereien waren ärger- 
lich und das allgemeine Mißbehagen 
steigerte sich, als der Wagen plötz- 
lich auf öffentlichem Platze inmitten 
eines Volksgedränges zum Still- 
stehen gezwungen wurde. 

Vor einem Kirchenportal stand 
auf erhöhten Stufen ein Priester. 
Er predigte laut und eindringlich 
mit dröhnender, auf die Nerven 
fallender Stinune, wie wir sie uns 
den alten Propheten eigentümlich 
denken. Während seiner Aufforde- 
rung zur Buße erschauerten die 
Hörer im Bewußtsein ihrer Sünden. 
Seine Gesten waren bedeutend wie 

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die eines großen Mimen. Er wies 
mit hagerer Hand auf den feuer- 
speienden Berg und nannte ihn den 
Rächer Gottes. Er verfluchte alle 
Welt- und Sinnenlust, die überall 
in dieser verlotterten Stadt offene 
Herberge &nde. Er drohte mit 
den Fäusten gegen das Theater, 
schmähte den Tanz, die Schauspiel- 
kunst, den Gesang und schrieb der 
Bühne die Hauptschuld an dem 
gänzlichen Verfall der Sitten zu. 
Das sinnliche Treiben der modischen 
Vergnügungslokale schilderte er in 
glühenden Bildern und malte einem 
kindlichen Volke mit wahrer Wol- 
lust und Seelengrausamkeit die 
Strafen der Hölle und die Foltern 
Sauns aus, die den Sünder erwarten. 
Inmier ekstatischer wurde sein 
Gebaren und es erreichte den 
Höhepunkt der Überspanntheit, als 

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er delirantisch schrie: »Wohl war 
auch ich ein Diener des Fleisches, 
aber Gott rührte an mein Herz und 
hieß mich reden zu euch, und euch 
verwarnen, daß die Erde sich nicht 
auftue, euch zu verschlingen, daß 
der Berg dort drüben, der feurige 
Rachen der Hölle, nicht eure Häuser 
über euch Men lasse, denn eure 
Greuel stinken gen Hinmiel und 
der Kerker spie seine Verdammten 
aus und läßt sie unter euch wandeln. 
Wehe über die Schauspielerinnen 
und Tänzerinnen der Lust. Von 
ihnen kommt alles Unheil und sie 
fordern noch heute, wie einst Sa- 
lome, die Häupter der Heiligen.« 
Es schien, als ob er mit den 
letzten Worten auf eine bestimmte 
Persönlichkeit ziele, denn unter der 
Menge erhob sich ein Gemurmel, 
das scheinbar einen bestimmten 

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Namen beständig wiederholte. Von 
den Lippen der Nächststehenden 
meinten unsere Reisenden die Worte 
»Filomela«, »er meint die Filo- 
mela« zu vernehmen. 

Der Priester oben vor der Kathe- 
drale stand einen Augenblick still 
und schien von seinem Erfolge be- 
friedigt. Dann warf er die Arme 
plötzlich in die Luft, seine Augen 
traten aus den Höhlen, Schaum 
stand vor seinem Munde. Er stürzte 
zu Boden und schlug in epilepti- 
schen Krämpfen um sich. 

Das Volk war bestürzt und lief 
auseinander. Ein altes, buckliges 
Weib nickte dem Kutscher auf dem 
Bocke freundlich zu und sagte: »Ja, 
ja, es ist schon so, wie sie sagen, 
er meint die Filomela. Sie ist wieder 
frei und wird uns alle verderben, t 

Die beiden Ehepaare hatten mit 

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wachsendem Interesse diesem öffent- 
lichen Schauspiele zugesehen und 
waren in ihrer nordischen Art bei- 
nahe ergriffen, denn das leiden- 
schaftliche Pathos und die südliche 
Beredsamkeit des abgehärmten Ant- 
litzes verfehlte vielleicht um so 
weniger ihre Wirkung auf sie, als 
der Vulkan jetzt wirklich wie eine 
Drohung des Himmels erschien; 
denn trotz des hellen Tagesglanzes 
sah man Flammen vermischt mit 
Rauch aus dem Berge schlagen. 
Der Kutscher, der sich den Frem- 
den gegenüber als Freigeist auf- 
spielen wollte, drehte sich heftig ge- 
stikulierend um und schalt den 
Bußprediger einen Volksbetrüger 
und Schwätzer, meinte, er solle sich 
nur selbst beim Ohre nehmen, denn 
in seiner Jugend sei er »dieser Filo- 
melac weidlich nachgestiegen, wie 

io6 



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jedermann wisse. Freilich, wenn 
die jetzt frei henimliefe, könne 
man sich noch auf allerhand ge- 
&ßt machen, fügte er noch bedenk- 
lich hinzu. Mehr war nicht aus 
ihm herauszubringen, auch sprang 
er vom Wagen, um seinem kleinen 
Pferde das Berganziehen zu er- 
leichtem. 

Beim Abendessen drehte sich das 
Gespräch wieder um das Spiel und 
Walter, der gern alle Beschäftigun- 
gen und Taten der Menschen ver- 
innerlichte und in sie etwas hinein- 
zugeheimnissen suchte, behaup- 
tete, er spiele darum so gern, weil 
er im Glücksspiele, trotzdem es 
zweifellos eine Torheit, ja ein Laster 
zu nennen sei, dennoch für gewisse 
Charaktere einen erziehlichen Wert 
sehe. Es unterweise die Menschen, 
den Schicksalsschlägen des Lebens 

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ruhig und kalt gegenüber zu treten 
und lehre sie im kleinen, als Bild 
des ganzen Lebens, das Glück mann- 
haft auszunutzen, im Unglück aber 
sich zu ducken, klein zu werden, 
zu warten. Auch zeige es deut- 
lich, wie man, solange man noch 
lebe und über irgendwelche Kräfte 
verfuge, niemals verzweifeln dürfe, 
denn oft gewänne man mit dem 
letzten Goldstück nicht nur den 
ganzen Verlust von Tausenden zu- 
rück, sondern ginge bereichert nach 
Hause. So entzücke ihn beim Spiel 
vor allem ein gesteigertes Gefühl 
der unmittelbaren Nähe des Schick- 
sals, und das um so mehr in fried- 
lichen Zeiten, wo niemand das 
Kriegsglück mit seinen wechselnden 
Launen kennen lernen dürfe. 

Diesen abenteuerlichen Ansichten 
wurde von den Damen lebhaft wider- 

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sprechen und haushälterische und 
moralische Einwürfe gemacht 

Max hielt natürlich zu dem an- 
deren Manne und behauptete, die 
Liebe zum Spiele sei ein allen 
MenscheQ eingeborener Naturtrieb. 
Er erinnerte an die alten Germanen, 
die Haus und Hof und schließlich 
sich und ihre Weiber in die Leib- 
eigenschaft verspielt hätten. Die 
ostasiatischen Völker hätten eine 
große Menge von verschiedenen 
Glücksspielen, ja sogar die rück- 
ständigsten Negerstämme spielten 
mit Steinen, die sie nach ganz be- 
stimmten Gesetzen hin und her 
schoben und in kleine Erdlöcher 
legten, ohne daß je ein Europäer da- 
hinter gekommen wäre, wie eigent- 
lich die Regeln dieses Spieles seien. 
Dann fuhr er fort: »Ich hasse den 
Spielsaal mit seinen unerschütter- 

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liehen Roulettemaschinen, die keine 
Nerven haben, wohl aber mich regel- 
mäßig durch das Klappern der rol- 
lenden Kugeln und die langen Aus- 
zahlungspausen entnerven. Ich lasse 
mich gehen und gebe Zeichen der 
Freude über einen Gewinst und 
des Ärgers über einen Verlust von 
mir, weil ich mich unter zweifel- 
hafter Gesellschaft unbeobachtet 
fühle. Im Klub, beim Bakkarat, ist 
das alles anders. Ich spiele mit 
Menschen, die auf gleicher Gesell- 
schaftsstufe mit mir stehen, die ich 
kenne und denen gegenüber ich 
mich beherrsche, ich bekomme 
selber die Karten in die Hand, und 
der große Unsinn hat etwas Per- 
sönliches und wächst sich nicht 
selten zum Zweikampfe, zur Kraft- 
probe aus. Nur unter dem Gesichts- 
punkte eines Trainings zur äußeren 

HO 



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Selbstbeherrschung kann ich das 
Glücksspiel billigen und lieben. Die 
Hauptsache aber ist und bleibt: 
Gewinnen. Das interessiert mich 
hier entschieden mehr als deine 
seelischen und schöngeistigen Er- 
regungen, mein Bester, c 

»Daß ihr auch inmier geistvolle 
Entschuldigungen für eure Laster 
und Fehler bereit habt und mit 
Nachdruck vortragen könnte, murr- 
ten die Gattinnen. 

Ein sich entspinnender Zwist 
wurde noch glücklich verhindert, 
da man mit einem Male auf der 
Straße Harfengeklimper hörte. 

Die Herren, die in Ruhe ihren 
Kaffee nehmen wollten, schalten 
auf die in diesem Lande unver- 
meidliche lärmende, jede Ruhe 
störende Straßenmusik und fanden 
es unerklärlich, wie sie sich nur zu 

III 



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Hause im kalten Norden oft mit 
romantischer Sehnsucht an die bun- 
ten und fröhlichen Straßensänger 
hätten erinnern können. 

Die Harfe wurde bald von einer 
weiblichen Stimme übertönt, die 
durch gehaltenen Vortrag und die 
zaghafte Reinheit ihrer Töne auf- 
fiel. 

Die Damen gingen auf den Bal- 
kon und riefen nach kurzer Zeit 
die Herren zu sich. 

Mürrisch gesellten sich Walter 
und Max zu ihnen und warfen einen 
Blick auf die Straße. Einer sagte 
verächtlich: »Die Person ist ja ganz 
alte, worauf man ihm entrüstet 
Stillschweigen gebot, was nicht 
mehr nötig gewesen wäre, denn 
schon wurde ihre Auftnerksamkeit 
gefesselt und sie auf das tie£ste und 
seltsamste berührt. 

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Die Straßensängerin war in Lum- 
pen gekleidet. Weiße Haare hingen 
ihr wirr in die Stirn. Ihr Gesicht 
verriet eine ehemalige große Schön- 
heit. Die ga2ellen£2Lrbenen Augen- 
sterne sahen immer noch kindlich 
erstaunt aus einem früh verwelkten 
Antlitze. Ihre Hände waren zart 
und ausdrucksvoll, wie die eines 
jungen Mädchens aus gutem Hause. 

Als Begleiter hockte ein gleich- 
falls zerlumpter alter Harfenschläger 
neben ihr am Böden, der nur dann 
den Blick von ihr wandte, wenn 
eine schwierige Passage seine Acht- 
samkeit auf das Instrument lenkte. 

So stand dieses phantastische 
Paar gegen das Meer wie eine Sil- 
houette, zur Seite der Vulkan, der 
inmier heftiger Rauch und Staub- 
massen in die Luft warf, so daß der 
Glanz der untergehenden Sonne 

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durch einen gelblichgrauen Schleier 
gebrochen schien. 

Was auffallen mußte, war der 
Umsund, daß die beiden nicht von 
Straßenjungen und herumlaufendem 
Volke wie gewöhnlich umringt und 
begafit wurden. Hatte eine Weibs- 
oder Mannsperson in der Nähe des 
Hotels zu tun, so huschte sie so 
schnell wie möglich an der Sängerin 
vorbei, schlug das Kreuz oder 
streckte in abergläubischer Furcht 
den kleinen und den Zeigefinger 
der rechten Hand gegen sie aus, 
ein Verfahren, das gegen den bösen 
Bück schützen sollte und unseren 
Freunden von ihren südlichen Auf- 
enthalten her bekannt, aber noch 
nie in so ungescheut beleidigender 
Form vor Augen gekommen war. 

Ein Hotelbeamter, den sie be- 
fragten, was es damit für eine Be- 

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wandtnis habe, bestätigte ihnen, die 
Alte sei eine Jettatrice, d. h. sie habe 
den bösen Blick. 

Er wollte noch mehr erzählen, 
aber unsere protestantischen Nord- 
länder hatten von dem Pröbchen 
südlichen Aberglaubens genug und 
wandten sich wieder der Alten zu, 
die unglaublich schOn zu singen 
fortfuhr. 

Sie selber schenkte ihren Lands- 
leuten keinerlei Beachtung und sah 
nur auf die vielen wohlgekleideten 
Hotelgäste auf den Baikonen und 
der Terrasse, die alle entzückt dem 
sich immer steigernden und auf- 
schwellenden Gesänge zuhörten. 

Sie sang Gounods Schmuckarie, 
und das au&ierksam lauschende 
Publikum ließ ihre Bewegungen 
freier, ihre Gesten größer werden; 
sie warf den Kopf wie auf der 

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Bühne zurück und tragierte zum 
Schluß, aller ihrer Mittel teilhaftig, 
gemessen und andeutend wie auf 
einem großen Theater. 

Es laßt sich nicht genau sagen, 
wodurch der ungeheure Eindruck 
verursacht wurde, den sie hervor- 
rief. 

Vielleicht lag es darin, daß man, 
ohne zu wissen warum, das Schau- 
spiel des Hervorbrechens oder neuen 
Erwachens einer großen künstleri- 
schen Persönlichkeit erlebte; den 
Adelungsvorgang einer Bänkel- 
sängerin zur Primadonna, eines 
armen, zerlumpten Weibes zur 
großen Dame. 

Der BeiM wollte nicht enden. 
Man warf in den Hut des Alten 
soviel Geld, als man in den Taschen 
fand, ja einige Damen schenkten 
der Sängerin kleine Schmuckstücke, 

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die sie gerade trugen, und alle diese 
Geschenke nahm die Alte erfreut 
und königlich dankend an, als wäre 
sie von alters her solche Ovationen 
gewöhnt. 

Der Doktor Kruterius stand bei- 
seite und starrte auf die Sängerin 
wie auf eine Erscheinung. Sie sah 
ihn einen Augenblick an, doch 
schien sie mit keiner Miene ein 
Einverständnis zu verraten. 

Die Sonne war untergegangen und 
die Alte machte sich mit ihrem Harfe- 
nisten davon, nachdem man sie auf 
das Dringendste aufgefordert hatte, 
den nächsten Abend wieder vor dem 
Hotel zu singen. Lange noch sah man 
den beiden, die dicht aneinander ge- 
drängt den Berg langsam hinunter 
schritten, nach und zerstreute sich 
dann, um dem Spiel zu fröhnen 
oder in ein Theater zu fahren. 

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Die nächsten Abende verstrichen, 
zum Leidwesen der Fremden, ohne 
die gewünschte Wiederkehr des 
musikalischen Genusses. 

Doktor Kmterius schien am 
meisten unter dieser Enttäuschung 
zu leiden, zeigte sich nervös, wort- 
karg und von einer geradezu un- 
heimlichen Zerstreutheit, gesellte 
sich zu niemandem und spielte im 
Klub noch steinerner und siimloser 
als vorher, sah sich aber bald inmier 
Wenigeren gegenüber, bis auch die 
letzten ihn im Stiche ließen, ab- 
reisten und ihn so zwangen, für 
sich allein schwierige Patiencen zu 
legen. 

Denn viel unheimlicher als dieser 
Doktor wurde von Tag zu Tag der 
feuerspeiende Berg. Immer dunkler 
und höher warf er seinen Aschen- 
regen. Er erregte die Lüfte und er- 

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schüttelte die Erde und den Meeres- 
boden. Der glühende Schlamm 
seiner Lava kroch und wälzte sich 
unaufhaltsam todbringend zu Tale. 

Schon drang dieSchreckenskunde 
in die Stadt, daß einzelne Gehöfte, 
Weingüter und Ölberge von dem 
feurigen Strom erreicht und auf- 
gefressen seien. 

Die Regierung tat alles, um die 
ge&hrdeten Dörfer zu leeren. Die 
Einwohner aber leisteten Wider- 
stand und wollten sich nicht von 
der geliebten Heimat trennen. Die 
Kirchen waren Tag und Nacht laut 
vom Beten und Singen. Unauf- 
hörlich hüllten Weihrauchwolken 
die Knieenden ein. Das Brausen 
der Orgel benebelte ihre Sinne und 
die Priester füllten ihre Kirchen- 
kassen mit Almosen und Ablässen, 
die das geängstigte Volk willig 

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opferte. Lange Prozessionen durch- 
zogen Stadt und Land gegen den 
Vulkan hin, um dessen finstere 
Mächte zu beschwören. 

Die Eisenbahnzüge waren von Ab- 
reisenden überfüllt, teils aus diesem 
Grunde, teils aus Neugierde und Sen- 
sationslust blieben unsere Bekann- 
ten in dem unheilbedrohten Ort. 

Eines Tages versuchte man, so- 
weit es nicht lebensgefihrlich war, 
sich dem Flammenberge zu nahem; 
als er aber Steine aus sich heraus 
beinahe in den Wagen schleuderte, 
mußte diese Forschungsreise der 
erschreckten Frauen wegen aufge- 
geben werden. 

Nachts durchstreiften Walter und 
Max die ausgestorbene Vergnügungs- 
stadt und besuchten die Lokale und 
Wirtschaften, wo sonst die Halb- 
welt Europas mit wilden Zigeune- 

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rinnen und wüsten Negerweibem 
lüstern und verschmitzt aufreizende 
exotische Tänze um die Wette zur 
Schau gebracht hatte. Sie fanden 
alles verlassen, denn die internatio- 
nalen Stars waren längst mit sämt- 
lichen verfügbaren Blitzzügen aus 
der allzu brenzlichen Schwefelluft 
in gesegnetere Gefilde abgedampft. 
Auch die Einheimischen hielten 
sich zu Hause oder krochen in den 
Kirchen zu Kreuze, da die Predi- 
ger inmier und immer wieder das 
Schicksal Sodoms und Gomorrhas, 
zum Vergleiche mit dieser Stadt, 
herangezogen. 

Daß unser Pater Angelico einer 
der Rüstigsten hierbei war, versteht 
sich von selbst. Jeden Tag be- 
schwor er an einer anderen Stelle 
der Stadt mit geblähten Nasen- 
flügeln das Gericht Gottes. 

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Nun kamen verhältnismäßig ruhi- 
gere Tage und die Ge£ihr schien 
minder bedrohlich, obgleich der 
Vulkan immer noch, wenn auch 
mit geringerer Heftigkeit, seinen 
tödlichen Unrat in die Lüfte spie. 

Während eben dieser Tage füllten 
Walter und Max mit einem Segel- 
boot aufs Meer hinaus, um vom 
Wasser aus das elementare Feuer- 
werk beobachten zu können. 

Sie passierten eine kleine Felsen- 
insel, auf der ein großes steinernes 
Haus kahl und finster stand. Schril- 
les, eintöniges Geschrei, wie von 
großen Raubvögeln, tönte über das 
Wasser zu ihnen herüber und ent- 
setzte sie. Aus den Gitterfenstern 
dieses Irrenhauses starrten verzerrte 
und furchtsame Gesichter, die mit 
verstelltem Munde unsinnige Ton- 
folgen ausstießen. In verschiedenen 

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Stimmlageii und mit regelmäßigen 
Zwischenräumen wiederholten sie 
sich und gaben ein höllisches, fürch- 
terliches Konzert. Die Elektrizität 
in der Luft, die Erschütterung der 
Erde und der nächtliche Feuerglanz 
vom Berge her erregte und äng- 
stigte die unstäten Geister derart, 
daß sie Tag und Nacht in ihrer 
Seelennot nicht Ruhe gaben und sich 
ihre Herzenswirmis nur durch den 
abscheulichen Lärm von der leise 
betenden Verzweiflung des auch 
schon halb närrischen Volkes in 
der Stadt unterschied. 

Unsere etwas leichtsinnigen 
Freunde drehten um und beschlos- 
sen endlich, ernstlich beunruhigt, 
mit ihren Frauen so bald wie mög- 
lich aus diesem Hexenkessel abzu- 
reisen, denn die animalisch instink- 
tive Angst der ahnungsvollen Halb- 

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tiere machte ihnen mehr Eindruck 
und ließ sie eher an ein wirkliches 
Unheil glauben, als das Gerede der 
profitlichen P£siffen und das papa- 
geienhafte Nachplappern der von 
ihnen Beeinflußten. Im Hotel wurde 
schleunigst gepackt und die Abreise 
beraten. 

Trotz der vielen Aufregungen 
hatte man die Alte mit ihrem Ge- 
sänge noch nicht vergessen, sprach 
vielerlei Vermutungen über sie aus 
und reimte sich Halbgehörtes und 
Halbverstandenes zu einer bewegten 
Novelle zusammen, der das Leben 
nur zu bald einen fürchterlichen 
Abschluß geben sollte. Hörte man 
doch eines Abends, daß eine durch 
Furcht und Aberglauben fimatisierte 
Bittprozession die Sängerin in der 
Nähe der trag bergab fließenden 
Lava gefunden und mit Knütteln 

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und Steinen erschlagen habe, nach- 
dem ihr alter Harfenspieler, der 
sich zwischen die Wahnwitzigen 
und die Bedrohte warf, halbtot fort- 
gezerrt war. 

Zugleich klarte sich auch das 
letzte Geheimnis, das um ihren er- 
grauten Kopf schwebte, auf und 
man erkannte in ihr die Trägerin 
eines großen, seltsamen Schicksals. 

In ihrer Jugend war Filomela 
die erste Sängerin und Schönheit 
der Großen Oper in dieser nun 
vom Zorn des Hinmiels heimge- 
suchten Stadt. 

Die vornehmen und schönen, 
die geistvollen und reichen Jüng- 
linge und Männer bemühten sich 
dermalen um ihre Gunst, sie aber 
lebte, wie ihre großen Berufsge- 
nossinnen aus der Zeit des bei 
Canto, nur ihrer Kunst und wider- 

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stand, von ihrer Mutter behütet, 
allen Verlockungen der Männer. 

Zu ihren glühendsten Verehrern 
zählte damals ein böses Stadtge- 
schrei einen jungen Priester mit 
Namen Angelico, der dann auch, 
soweit es Amt und Stand erlaubten, 
jeglichen Abend im Theater saß 
und sie anstarrte. 

Ihr Ruhm und ihre Gagen 
wuchsen von Monat zu Monat, und 
der Liebreiz ihrer Erscheinung war 
gleich der Gewalt und Schule ihrer 
Stimme. Die vielen abgewiesenen 
Liebhaber aber sprachen erklärlicher- 
weise, wo sie konnten, nur Schlech- 
tes von ihr und ihrer Kunst, die 
allerdings bei der großen Masse 
der Bevölkerung nicht ganz so be- 
liebt war, wie man hätte annehmen 
sollen. 

Die Galerie befSriedigte ihr Spiel 

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und Vortrag nicht. Filomelens ganze 
Art hatte etwas Vornehmes, ein 
wenig Kaltes, etwas rein Künst- 
lerisches. Sie machte wenige Be- 
wegungen und verharrte oft längere 
Zeit in ein und derselben statuari- 
schen Pose zum Entzücken der 
Gebildeten, zum Ärger der großen 
Zahl, die ja immer gewohnt ist, 
Unruhe und Kulissenreißerei fär 
Leidenschaft und Feuer zu nehmen. 
Sang sie eine Arie, so lösten sich 
die ersten ganz reinen Töne lang- 
sam wie zum Versuche und reihten 
sich erst allmählich fehlerfrei und 
rund wie Perlen zu einer wunder- 
vollen Kette. Nach und nach, als 
wäre die Sängerin erst jetzt ihres 
Könnens ganz sicher, kam mehr 
Gang und Drängen in ihren Vor- 
trag, bis sie sich und das Publikum 
vergessen hatte und die gereihten 

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Töne, die immer voller ihrem 
Munde entströmten, vor Schmerz 
zitterten, vor Liebe taubenhaft gurr- 
ten, vor Freude schluchzten und 
trillerten. Schloß einer die Augen 
und hörte nur auf die Stinmie, 
so war es ihm unbegreiflich, daß 
diese schwingenden, kristallklaren 
Laute einer Kehle von Fleisch und 
Blut entquellen sollten; vielmehr 
glaubte er, reinste Flöten und seelen- 
volle Violinen erklängen zum Lobe 
aller unsterblichen Kunst. So war 
für den Verständigen, dem beim Zu- 
hören wohl ein leises, beglücktes 
Weinen ankommen mochte, die 
geklärte Leidenschaftlichkeit ihres 
Gesanges, die sich bis zum Schluß 
eines Liedes in unerklärlicher Weise 
steigerte, sich vom Persönlichen, 
Menschlichen frei machte und wie 
aus einer geistigen Welt zu kommen 

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schien, die Quelle unauslöschlichen 
Genusses. 

Für gewöhnlich hatte sie etwas 
Scheues, vielleicht auch Hochfahren- 
des. Sie sah mit fremden Augen 
nicht immer freundlich in die Welt. 
Manchmal schien sie sich zu fürch- 
ten oder mehr zu sehen als die, die 
um sie waren; und dieses Wesen, 
verbunden mit herrischem, hoch- 
fahrendem Temperament, mochte 
ihr das Ansehen einer Kassandra, 
die Fürchterliches vorher weiß, ver- 
leihen und ihr beim Volke den üblen 
Ruf der Jettatrice eintragen. 

Einige Unglücksfalle, die sich an 
ihre Person zu ketten schienen, 
bestätigten dieses Vorurteil in leicht- 
gläubigen Herzen. Ein feister Schau- 
spieler, der in einer Oper ihr Part- 
ner war, wird beim Absingen eines 
Duetts mit ihr vom Schlage ge- 

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troJBFen. En andermal brennt ein 
Theater, in dem sie spielt, ab. Ein 
Kind wird auf der abschüssigen 
Straße ihrer Vaterstadt v rem 

zum Theater eilenden Wagen oeim 
Spielen überfahren. 

Am höchsten aber stieg die Er- 
bitterung gegen ihre Person, als 
sich folgendes ereignete: 

Filomela hatte sich endlich ein- 
mal verliebt und sich einem schwär- 
merischen Ingenieur, einem Aus- 
länder, zum nicht geringen Neide 
der einheimischen Verehrer, er- 
geben. 

Dann kam das Rätselhafte. In 
einem Anfall von Eifersucht, die, 
wie sich später bei der Verhandlung 
herausstellte, ganz grundlos gewesen 
war, öffnete sie dem Schlafenden 
mit einem gräßlichen Schnitt die 
Schlagader am Halse. Als das ge- 

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liebte Blut ihr entgegensprang, holte 
sie selber den Arzt und ihr Geliebter 
blieb durch wochenlange Pflege am 
Leben erhalten. 

Vor Gericht gestellt, wurde sie, 
trotzdem sie alles mit einfachen, 
klaren Worten zugab, mit der 
ganzen Schärfe des Gesetzes ver- 
urteilt. Niemand nahm ihre Partei 
und sagte freundlich für sie aus. 
Die Richter und Schöffen waren 
voreingenonmien, und das tobende 
Volk forderte vor den Türen des 
Justizpalastes sogar ihren Kopf 
Wenige Tage vor Ausbruch des 
Vulkans hatte sie ihre Haft abge- 
büßt und versuchte, begleitet von 
ihrem früheren, inzwischen selbst 
verarmten Kapellmeister, durch 
Straßengesang ihren Unterhalt zu 
verdienen. Jedoch abergläubische 
Bevölkerung, vielleicht auch alter 

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persönlicher Haß duldete sie nicht 
in der Stadt ihres Leidens und ihrer 
Triumphe, und trieb sie nach dem 
letzten Erfolge ihrer neu erwachten 
Kunst mit Drohungen und Stein- 
würfen vor die Tore. 

Die Kunde ihres Schicksais lief 
inmier vor ihr her und machte sie 
überall heimatlos. Als die in ihrer 
Todesangst tierisch gewordene 
Menge während einer Prozession, 
die Pater Angelico fahrte, Filo- 
melens in der Nähe des unholden 
Berges ansichtig wurde, genügte 
es, daß einer unter ihnen den Ver- 
dacht aussprach: die Jettatrice habe 
die Eingeweide des Berges durch 
Zaubersprüche aufgerührt. Flüche 
wurden laut und viehisch vollzog 
man an ihr ein eingebildetes Straf- 
gericht. Zerfleischt und unkennt- 
lich ließ man sie liegen, bis der 

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Lavastrom sich der armen Nieder- 
gemetzelten annahm und ihr ein 
feuriges Grab bereitete. 

In den Tagen, wo dieses traurige 
Geschehnis zwischen den neuesten 
Nachrichten über die verheerenden 
Fortschritte des Vulkans und das 
Auftauchen von Räuberbanden in 
der Stadt in den Zeitungen stand 
und von halbwüchsigen und johlen- 
den Straßenbuben als Reklame für 
ihre Journale ausgerufen wurde, 
verschwand Doktor Kruterius auf 
rätselhafte Weise. Zuletzt wollte 
man ihn in der Nähe des Vulkans 
gesehen haben. 

Unsere vier Bekannten verließen 
schon durch eine leichte, stetig 
vermehrte Aschenschicht hindurch 
in einem für unerschwingliche 
Summen gemieteten Kraftwagen er- 
schüttert und schweigend die Stadt. 

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Ganz im stillen beneideten die 
beiden kleinen ordentlichen Frauen 
aus ihrem gesicherten Leben heraus 
die Sängerin um ihr Schicksal und 
wünschten auch eine solche Fülle 
von Leidenschaft rund um sich her 
erwecken zu können. 

Die Aschenregen hörten bald auf, 
und die Stadt kam diesmal noch 
mit dem Schrecken davon, während 
in ihrer Umgebung fruchtbare und 
angebaute Landstriche mit vielen 
Ortschaften auf lange Zeit hinaus 
zerstört blieben. 



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INHALT 

Spiegel 5 

Freundschaft 45 

Spiele • • 75 



13s 



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Im Insel -Verlage ist erschienen 

ZEITEN. Ein Buch Gedichte von 
Alfred Walter Heymel. MitTitel- 
vign§)tte von Rudolf Alexander 
Schröder. Geheftet M 4. — , in 
Pappband M 5. — . 



Der Druck erfolgte in der Offizin 
von Friedrich Richter in Leipzig 



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The borrower must retum this item on or before 
the last date stamped below. If anotfaer user 
places a rec|^^^^ item, fhejtorrower wj^ 

be notified of the need for an earlier retum. 

Non-receipt ofoverdue notices does not exempt 
the borrower from overdue fines. 



Harvard College Widener Library 
Cambridge, MA 02138 617-495-2413 







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please handle with care. 

Than K you for he lping to preserve 
Ijj^ ' ' "H?/ard. 



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