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Full text of "Spinozas Religionsphilosophie"

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Religionsphilosophie 

in    Einzeldarstellungen 


Herausgegeben  von 

O.  Flügel. 


Heft  Vli. 


Spinozas 


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Religionsphilosophie 


nach 


Chr.  A.  Thilo. 


^ 


Langensalza 

Hermann  Beyer  &  Söhne 
(Beyer  &  Mann) 

Herzogl.  Sachs.  Hofbuchhändler 

—      ^  1906  "* — — 


Preis  1,25  Mark. 


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Religionsphilosophie. 


VII. 


Religionsphilosophie 

in  Einzeldarstellungen. 


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Herausgegeben 

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von 


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O.   Flügel. 


«1-,,.:^ 


Heft  VII. 


Langensalza 

Hermann  Beyer  &  Söhne 
(Beyer  &  Mann) 

Henjogl,  Sachs.  Hofbuchhändler 
1906 


nozas 


Religionsphilosophie 


nach 


\   Chr.  A.  Thilo. 


I — 

Langensalza 

Hermann  Beyer  &  Söhne 
(Beyer  &  Mann) 

Herzogl.  Sachs.  Hofbuchhändler 
1906 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Dpick  von  Horraano  Beyer  &  Söhne  (Beyer  &  Mann)  in  Lanirensalza. 


Inhalt. 


Seite 

Einleitung 1 

Ziel • 5 

Substanz  und  Attribut 6 

Beweise  für  das  Dasein  der  Substanz  oder  Gottes 10 

Bestimmtheit  ist  Verneinung 14 

Pantheismus 15 

Wie  folgt  aus  dem  Unbestimmten  das  Bestimmte? 20 

Plato  und  Spinoza  über  Kausalität 26 

Gott  und  Welt 32 

Selbstbewußtsein  Gottes 40 

Zweckursachen 44 

Der  menschliche  Geist 49 

Ethik 57 

Über  die  menschliche  Freiheit G6 

Unsterblichkeit 70 

Schlußergebnis 77 


Daruch  oder  Benedictus  de  Spinoza  ist  in  Amsterdam  1632  ge- 
boren. Er  stammt  aus  einer  portugiesisciien  jüdischen  Familie,  wird 
aber  1656  aus  der  Synagoge  ausgestoßen.  Das  Exkommunikations- 
dekret ist  aus  dem  Archiv  der  portugiesischen  Synagoge  zu  Amsterdam 
abgedruckt  in   der  Zeitschrift  für  exakte  Philosophie  Bd.  V,  S.  448. 

Spinoza  lebte  an  verschiedenen  Orten  Hollands  zurückgezogen 
ganz  seinen  philosophischen  Studien  und  erwarb  sich  seinen  Lebens- 
unterhalt durch  schleifen  optischer  Gläser.  1672  lehnte  er  einen 
Ruf  an  die  Universität  Heidelberg  ab  und  starb  im  Haag  1677  an 
der  Schwindsucht. 

Seine  Schriften:  Renati  des  Cartes  Principiorum  philosophiae 
pars  1  et  II  more  geometrico  demonstratae  per  Bened.  de  Spinoza; 
accesserunt  ejusdem  cogitata  metaphysica  1663.  (Hierin  ist  nicht 
Spinozas  eignes  System  zu  finden.)  Tractatus  theologico -politicus 
1670  enthält  vornehmlich  eine  Kritik  des  alten  und  neuen  Testamentes 
mit  einigen  Anmerkungen  des  eignen  Systems.  Ethica,  ordine  geo- 
metrico, ist  mit  den  folgenden  Schriften  nach  seinem  Tode  heraus- 
gegeben unter  dem  Titel:  Benedictus  de  Spinoza  opera  posthuma 
1677.  Dies  ist  die  Hauptquelle  für  Spinozas  System,  obgleich  dieses 
nicht  ganz  darin  enthalten  ist,  sondern  in  der  Tat  nur  die  Ethik, 
nämlich  der  Nachweis,  daß  seine  Ansicht  von  Gott  und  der  Welt  zu 
der  höchsten  Gemütsruhe  führt.  Tractatus  politicus;  tractatus  de 
intellectus  emendatione.  Epistolae  doctorum  quorundam  virorum  ad 
Benedictum  de  Spinoza  et  auctoris  responsiones.  Gesamtausgaben 
von  M.  E.  G,  Paulus:  Benedicti  de  Spinoza  opera  quae  supersunt 
omnia.  Jenae  1802—03.  C.  H.  Bruaer,  Benedicti  de  Spinoza  opera 
quae  supersunt  omnia  ex  editionibus  princ.  denuo  ed.  et  praefatus 
est  Lips  1843—46.  Die  vollständigste  Ausgabe  ist  die  von  van  Vloten 
und  Land  Hagae  1895. 

Einige  Literatur  über  Spinoza:  Baltzer,  Spinozas  Entwicklungs- 
gang, Kiel  1888.  Camerer,  Die  Lehre  Spinozas,  1877.  Camerer, 
Spinoza  und  Schleierraacher.  Stuttgart  1903.  Kuno  Fischer,  Spinozas 
Jjeben,   Werke  und  Lehre,   Heidelberg.     Freudenthal,  Spinoza.    Stutt- 

Rc  1  igionsphilosophio:  Spinoza.  •'^ 


2  Spinoza. 

gart    1904.      Sigwart,    Spinozas    neuentdeckter    Traktat    von    Gott. 
Gotha  1866. 

Für  die  Auffassung  Spinozas  und  seine  Bedeutung  in  der  neuen 
Geschichte  der  Philosophie  ist  besonders  wichtig  geworden  H.  Fr. 
Jacobis  Darstellung  der  Lehre  Spinozas  in  Jacobis  sämtlichen  Werken 
1812—25. 

Von  der  gewöhnlichen  Auffassung  weicht  K.  Thomas  ab  in 
folgenden  Schriften:  Spinozae  systema  philosophiciim  delineavit,  Re- 
giomonti  1835.  Spinoza  als  Metaphysiker.  Vom  Standpunkte  der 
historischen  Kritik.  Königsberg  1848.  Spinozas  Individualismus  und 
Pantheismus.     Königsberg  1848. 

Die  Übersetzung  der  Anführungen  aus  Spinozas  Schriften  wird 
im  folgenden  vornehmlich  gegeben  nach  0.  Baensch,  Baruch  de  Spinoza. 
Ethik.     Leipzig,  Dürr,  1905. 

Spinoza  ist  ein  für  seine  Zeit  tüchtiger,  aber  kein  origineller 
Denker.  Er  ist  ein  Schüler  des  Descartes.  Mittelbar  oder  meist  un- 
mittelbar hat  Spinoza  alle  seine  Begriffe  aus  der  Philosophie  des 
Descartes  aufgenommen.  Die  bedeutendsten  Abweichungen  in  der 
Weltansicht  von  seinen  Vorgängern  beruhen  darauf,  daß  Spinoza  den 
Substanzbegriff  des  Descartes  in  Verbindung  mit  der  Meinung  von 
der  Realität  des  Unendlichen  strenger  anwendet.  Er  setzt  nicht  mit 
Descartes  zwei  verschiedene  Bedeutungen  des  Substanzbegriffes,  eine 
für  Gott  und  eine  für  die  Geschöpfe,  sondern  nur  die  eine,  daß  die 
Substanz  das  unabhängige,  alles  Sein  in  sich  fassende  Seiende  ist. 
Dadurch  geriet  Spinoza  in  den  Pantheismus  und  damit  in  Gegensatz 
gegen  die  religiösen  Lehren  seiner  Zeitgenossen. 

Spinoza  selbst  hatte  ein  sehr  deutliches  Bewußtsein  davon,  daß 
er  mit  der  Weltanschauung,  welche  durch  die  Religion  des  alten  und 
neuen  Testamentes  herrschend  geworden  war,  gebrochen  hatte,  obgleich 
er,  wie  alle  Reformatoren  sich  an  das  Ursprüngliche  anzulehnen 
lieben,  die  Sache  gern  so  darstellte,  als  ob  er  nur  mit  den  neuern 
Christen  hinsichtlich  der  Gottesidee  in  Zwiespalt  sei,  dagegen  mit 
einigen  alten  Hebräern  und  dem  Apostel  Paulus  übereinstimmend 
lehre,  daß  alles  in  Gott  sei  und  Gott  nicht  als  die  transeunte,  sondern 
immanente  Ursache  der  Welt  angesehen  werden  müsse.  Er  beruft 
sich  dafür  auf  die  von  Paulus  einem  heidnischen  Dichter  entlehnten 
Worte  Act.  17,  28  „in  ihm  leben,  weben  und  sind  wir^  An  die 
Stelle  der  zu  seiner  Zeit  geltenden  christlichen  und  jüdischen  Religion 
will  er  also  seine  Lehre  setzen.  Denn  er  spricht  es  in  seiner  Ethik 
(IL  Teil,  Ende)  offen  aus,  daß  diese  ganz  dieselben  Aburteile  gewähre, 
wie  jene:  „Endlich  ist  noch  übrig  anzuzeigen,  Avie  nützlich  die  Kennt- 


Einleitung. 


nis  dieser  Lehre  für  das  Leben  ist.    Wir  können  das  leicht  aus  dem 
Folgenden  abnehmen.     Sie  ist  nämlich  von  Nutzen: 

Erstens  sofern  sie  uns  lehrt,  daß  wir  allein  nach  dem  Wink 
Gottes  handeln,  und  daß  wir  teilnehmen  an  der  göttlichen  Natur, 
und  dies  um  so  mehr,  je  vollkommner  die  Handlungen  sind,  die  wir 
tun  und  je  mehr  wir  Gott  erkennen.  Abgesehen  davon  also,  daß 
diese  Lehre  das  Gemüt  ganz  friedlich  stimmt,  hat  sie  auch  noch  den 
Nutzen,  daß  sie  uns  lehrt,  worin  unser  höchstes  Glück  oder  unsere 
Glückseligkeit  besteht,  nämlich  allein  in  der  Erkenntnis  Gottes,  die 
uns  anleitet,  nur  das  zu  tun,  was  Liebe  und  Pflichtgefühl  erheischen. 
Von  hier  aus  erkennen  wir  klar,  wie  weit  von  der  Schätzung  der 
wahren  Tugend  die  entfernt  sind,  die  für  ihre  Tugend  und  für  ihre 
guten  Handlungen,  wie  für  die  schwerste  Knechtschaft  von  Gott  mit 
den  größten  Belohnungen  ausgezeichnet  zu  werden  erwarten,  als  ob 
Tugend  und  Gottes  Knecht  sein  nicht  selbst  schon  das  Glück  und 
die  höchste  Freiheit  wären. 

Zweitens  sofern  sie  uns  lehrt,  wie  wir  uns  gegen  die  Fügungen 
des  Schicksals  oder  gegen  das,  was  nicht  in  unserer  Gewalt  steht, 
d.  h.  gegen  die  Dinge,  die  nicht  ans  unserer  Natur  folgen,  verhalten 
müssen,  nämlich  beiderlei  Antlitz  des  Schicksals  mit  Gleichmut  er- 
warten und  ertragen,  weil  ja  alles  nach  dem  ewigen  Beschluß  Gottes 
mit  derselben  Notwendigkeit  folgt,  wie  aus  dem  Wesen  des  Dreiecks 
folgt,  daß  seine  drei  Winkel  gleich  zwei  Rechten  sind.  Drittens  ist 
diese  Lehre  von  Nutzen  für  das  Gemeinschaftsleben,  sofern  sie  uns 
lehrt,  niemanden  zu  hassen,  gering  zu  schätzen,  zu  verspotten,  nie- 
mandem zu  zürnen  und  niemanden  zu  beneiden.  Außerdem  sofern 
sie  uns  lehrt,  daß  ein  jeder  mit  dem  Seinigen  zufrieden  und  dem 
Nächsten  behilflich  sein  soll,  nicht  aus  weibischer  Barmherzigkeit, 
aus  Parteilichkeit  oder  aus  Aberglauben,  sondern  allein  nach  der 
Leitung  der  Vernunft,  nämlich  je  nachdem  Zeit  und  Umstände  es 
erfordern,  wie  ich  im  3.  Teile  zeigen  werde. 

Viertens  endlich  ist  diese  Lehre  auch  von  nicht  geringem  Nutzen 
für  die  staatliche  Gemeinschaft,  sofern  sie  lehrt,  auf  welche  Weise 
die  Bürger  zu  regieren  und  zu  leiten  sind,  nämlich  so,  daß  sie  nicht 
als  Knechte  dienen,  sondern  freiwillig  tun,  was  das  Beste  ist.'' 

Was  kann  man  mehr  von  einer  Religion  für  dieses  Leben  ver- 
langen, als  wachsende  Veredelung  des  Gemüts  durch  Erkenntnis  und 
Liebe  Gottes,  Seelenfrieden,  ja  Teilhaben  an  der  göttlichen  Natur, 
Trost  und  Ergebung  in  jegliches  Schicksal,  Antrieb  zu  Gerechtigkeit 
und  Liebe  gegen  den  Nächsten  und  endlich  die  echte  Bürgergesinnnng, 
aus  eigener  Freiheit  für  das  Staatswohl  zu  sorgen? 

1* 


4  Spinoza. 

So  bescheiden  und  zurückhaltend  Spinoza  also  auch  mit  seiner 
Lehre  auftrat  ohne  irgend  welche  Aufdringlichkeit,  so  mußte  er  doch 
in  sich  selbst  das  Bewußtsein  haben,  daß  seine  Lehre  in  der  Tat 
eine  Religion  sei,  oder  deren  Stelle  ersetzen  könne.  Und  so  sehen 
auch  seine  Verehrer  in  seinem  theologisch -politischen  Traktat  die 
kritische  Überwindung  der  alten  Weltanschauung  und  in  der  Ethik 
die  positive  Darstellung  der  neuen  Religion  des  von  aller  Autorität 
erlösten  freien  Menschen. 

Wir  werden  indessen  auf  Spinozas  kritische  Streifzüge  gegen  das 
alte  und  neue  Testament  an  diesem  Orte  keine  Rücksicht  nehmen, 
auch  überhaupt  keine  Vergleichung  seiner  Lehre  mit  dem  Christen- 
tume  anstellen,  sondern  unserm  bisherigen  Verfahren  getreu,  uns  auf 
dem  bloßen  Boden  der  Philosophie  halten. 

Bei  der  folgenden  Kritik  werde  ich  nicht  umhin  können,  mir 
denselben  zwiefachen  Vorwurf  zuzuziehen,  welcher  gegen  Herbarts 
Kritik  des  Spinoza  —  mit  der  jedoch  die  meinige  nicht  in  allen 
Punkten  übereinstimmt  —  früher  und  aach  neuerlich  erhoben  ist, 
daß  er  nämlich  den  Spinoza  für  frivol  erkläre  und  sich  weniger  auf 
eine  Beurteilung  im  großen  und  ganzen  einlasse,  als  nur  einzelne 
logische  Fehler  kritisiere.  Wenn  die  Frivolität  darin  bestand,  daß 
Herbart  ohne  vorgefaßte  Ehrfurcht  vor  Spinoza  ihm  zu  Leibe  ging 
und  ihn  seines  Nimbus  entkleidete,  so  kann  ihm  das  nur  zum  Lobe 
angerechnet  werden;  denn  er  hat  damit  bewiesen,  daß  er  nicht  zu 
den  Schwächlingen  gehörte,  welche  unbesehens  sich  von  den  Vor- 
urteilen ihres  Zeitalters  anstecken  lassen.  Was  aber  den  andern 
Vorwurf  betrifft,  so  pflegt  eine  sogenannte  Beurteilung  eines  philo- 
sophischen Systems  im  großen  und  ganzen  ziemlich  wertlos  zu  sein. 
Sie  läuft  meistens  darauf  hinaus,  eine  Weltanschauung  gegen  die 
andere  zu  setzen  und  seinen  Wert  darnach  zu  schätzen,  ob  es  solche 
Resultate  ergibt,  welche  dem  Beurteiler  wünschenswert  sind  oder 
nicht;  oder  höchstens  einem  Systeme  einen  Platz  in  einer  vorher 
fertig  gemachten  Schablone  der  philosophischen  Entwicklung  anzu- 
weisen, oder  es  unter  den  möglichen  Gegensätzen,  die  sich  von  einem 
oft  willkürlich  genug  aufgegriffenem  Gesichtspunkte  ergeben,  einzu- 
gliedern. Auch  die  damit  verwandte  Art  der  Kritik,  die  darin  be- 
stehen soll,  daß  man  ein  System  bloß  darauf  ansieht,  ob  es  seinen 
Grundsatz  konsequent  durchgeführt  hat  und  dazu  im  stände  gewesen 
ist,  kann  ich  nicht  als  zureichend  anerkennen.  Die  Innern  Inkonse- 
quenzen können  auch  zufällige  sein,  indem  sie  auf  einzelnen  Denk- 
fehlern des  Urhebers  beruhen,  und  werden  in  diesem  Falle  nicht 
über  den  Wert  oder  Unwert  der  Grundgedanken  entscheiden.    Aller- 


Ziel. 


dings  kann  es  auch  Inkonsequenzen  geben,  welche  dem  Philosophen 
durch  die  seinen  Grundsätzen  widersprechende  Erfahrung  im  Physi- 
schen und  Ethischen  abgedrungen  sind;  allein  diese  werden  sich  von 
selbst  ergeben,  sobald  man  die  einzig  richtige  Art  der  Kritik  anwendet, 
die  Begriffe  und  deren  Zusammenhang  nach  ihrer  logisch  richtigen 
Bildung  und  nach  ihrer  durch  physische  und  ethische  Erfahrung 
bedingten  Notwendigkeit  zu  untersuchen.  Ein  System  besteht  aus 
einem  bestimmten  Zusammenhange  einzelner  bestimmter  Begriffe. 
Es  muß  also  untersucht  werden,  ob  die  einzelnen  Begriffe  richtig 
bestimmt  und  in  den  ihnen  gebührenden  Zusammenhang  gebracht 
sind.  Außerdem  gibt  es  in  der  Metaphysik,  wie  der  Ethik,  einzelne 
Begriffe,  deren  richtige  oder  unrichtige  Bearbeitung  über  das  ganze 
System  entscheidet.  Es  kann  einzelne  logische  Fehler  geben,  welche 
für  das  Ganze  von  wenig  Belang  sind,  darum  weil  die  Tragweite 
derjenigen  Begriffe,  bei  deren  Bearbeitung  sie  vorkommen,  keine 
große  ist.  Fehler  aber,  welche  bei  den  Begriffen  des  Seins,  der  Ur- 
sache, der  Materie,  des  Ich  usw.  gemacht  werden,  haben  eine  ungleich 
größere  Bedeutung  für  die  Richtigkeit  eines  Systems,  als  die  etwa 
bei  der  Erklärung  des  Magnetismus,  der  Elektrizität,  oder  einer  be- 
stimmten Art  von  Gefühlen  und  dergl.  gemacht  werden.  Wer  daher 
einer  solchen  Kritik,  wie  sie  Herbart  im  ersten  Teile  seiner  Meta- 
physik an  Spinoza  geübt  hat,  vorwirft,  sie  bleibe  am  einzelnen  kleben, 
beweist  in  meinen  Augen  damit  nur  eine  geringe  Kenntnis  in  philo- 
sophischen Dingen.     Doch  zur  Sache! 

Ziel. 

Spinoza  will  in  seiner  Ethik  nicht  etwa  ein  vollständiges  System 
der  Philosophie  geben,  sondern  in  der  Tat  nur  seine  sittlich-religiöse 
Weltanschauung  aufstellen  und  nach  zwei  Seiten  hin  begründen; 
nicht  nur  daß  sie  theoretisch  richtig  sei,  sondern  auch  eine  genügende 
Anweisung  zum  seligen  Leben  gebe,  ^)  also  in  der  Tat  das  leiste,  was 
seine  christlichen  und  jüdischen  Gegner  von  ihren  Glaubensweisen 
behaupteten.  In  Betracht  dieses  Zweckes  ist  die  Anlage  des  Ganzen 
nicht  ungeschickt  zu  nennen.  Es  wird  nämlich  zuerst  der  Begriff 
Gottes  gewonnen,  sein  Dasein  bewiesen  und  sein  Verhältnis  zur 
Welt   bestimmt;    dann    der  Begriff  des  menschlichen  Geistes   soweit 


^)  Eth.  II.  Ich  gehe  ni;nmehr  dazu  über,  auseinander  zu  setzen,  was  aus 
der  "Wesenheit  (essentia)  Gottes,  des  ewigen  und  unendlichen  "Wesens  notwendig 
folgen  mußte.  Indes  beschränke  ich  mich  auf  das,  was  uns  zur  Erkenntnis  der 
menschlichen  Seele  und  ihrer  höchsten  Glückseligkeit  gleichsam  an  der  Hand  leiten 
kann. 


6  Spinoza. 

dargelegt,  um  die  Entstehung  der  Gemütsbewegungen  und  ihre  natür- 
liche Herrschaft  über  das  menschliche  Leben  begreifen  zu  können, 
und  endlich  dargetan,  daß  durch  die  Erkenntnis  Gottes  die  Herr- 
schaft über  jene  Gemütsbewegungen  möglich  sei  und  also  Freiheit 
und  Seelenfriede  gewonnen  werden  könne. 

Um  also  den  Wert  der  Weltanschauung  Spinozas  zu  ermitteln, 
wird  unsere  Aufmerksamkeit  sowohl  auf  die  theoretische  Eichtigkeit 
der  Gedanken,  als  auf  ihren   religiösen  Wert  gerichtet  sein  müssen. 

Zunächst  wird  die  Grundlage  des  Ganzen,  der  Gottesbegriff,  in 
Frage  kommen  müssen.  Um  denselben  zu  gewinnen,  geht  Spinoza 
von  dem  der  Substanz  aus,  und  sucht  darzutun,  daß  es  nur  eine  und 
zwar  eine  absolut  unendliche  Substanz  geben  könne,  welche  er  Gott 
nennt. 

Substanz  und  Attribut. 

Unter  dem  Begriffe  der  Substanz  versteht  er  zunächst  im  allge- 
meinen das  Seiende.  Er  drückt  das  auf  seine  Weise  so  aus,  daß 
die  Substanz  das  in  sich  Seiende  sei.  Allein  dies  ist  bloß  als  ein 
verfehlter  Ausdruck  dafür  anzusehen,  daß  die  Substanz  nicht  in  etwas 
anderm  ist,  also  in  ihrem  Sein  nicht  von  anderem  abhängig  gedacht 
werden  soll;  von  dem  eigentlichen  Begriffe  des  Insichseins  der  Sub- 
stanz aber  macht  Spinoza  in  seinem  System  keinen  Gebrauch.  Daß 
diese  Auffassung  die  richtige  sei,  sieht  man  aus  der  Erklärung  des 
Zusatzes,  daß  die  Substanz  durch  sich  begriffen  werde;  denn  dies 
soll  eben  nur  bedeuten,  daß  der  Begriff  dessen,  was  Substanz  ist, 
nicht  den  Begriff  einer  andern  Sache  bedürfe,  von  dem  er  gebildet 
werden  müsse,  i) 

Hierin  liegt  ein  richtiger  Gedanke,  der  aber,  weil  er  mit  andern 
unrichtigen  Meinungen  verbunden  wird,  zu  großen  Irrtümern  führt. 
Der  Begriff  dessen,  was  Substanz  oder  was  absolut  seiend  ist,  darf 
allerdings  nicht  von  anderen  Begriffen  abhängig  gedacht  werden, 
denn  sonst  entspräche  das  als  seiend  gedachte  Was.  oder  der  Begriff, 
nicht  der  Bedingung,  daß  er  absolut  gesetzt  werden  könnte.  Wenn 
man  aber  bei  dieser  wichtigen  Erkenntnis  noch  der  andern  Meinung 
ist,  daß  unter  den  inhaltlichen  Begriffen,  welche  wir  haben,  solche 
zu  finden  seien,  welche  dieser  Bedingung  entsprächen,  so  läuft  man 
Gefahr,   die  scheinbar  unabhängigen  Begriffe,   d.  h.   die   allgemeinen. 


*)  Etil.  I^  3.  Unter  Substanz  verstehe  ich  das,  was  in  sich  ist  und  durch 
sich  selbst  begriffen  wird,  d.  h.  das,  dessen  Begriff  den  Begriff  eines  andern  Dinges 
als  Voraussetzung  nicht  bedarf. 


Substanz  und  Attribut. 


als  das  absolut  Seiende  oder  als  die  Essenz  der  Substanz  anzusehen. 
Und  dieser  Gefahr  wird  man  um  so  sicherer  erliegen,  wenn  man 
noch  eine  Spur  von  der  anderen  Meinung  hat,  als  sei  die  logische 
Abhängigkeit  der  Begriffe  voneinander  ein  wirkliches  Abbild  der 
realen  Abhängigkeit  der  Dinge  voneinander.  Daraus  folgt  dann  noch 
eine  andere  für  das  System  des  Spinoza  durchgreifende  Meinung. 
Sind  nämlich  die  inhaltlichen  Allgemeinbegriffe,  wie  z.  B,  Ausdehnung, 
der  Ausdruck  dessen,  was  die  Substanz  ist,  und  sind  sie  die  unab- 
hängigen Begriffe,  die  besonderen  dagegen,  welche  ohne  jene  allge- 
meinen nicht  gedacht  werden  können,  die  abhängigen,  so  scheint  in 
diesem  Verhältnis  logischer  Abhängigkeit  auch  das  reale  Abhängig- 
keitsverhältnis der  Wirkung  von  ihrer  Ursache  enthüllt  zu  sein.  Denn 
wenn  von  Ursache  und  AYirkung  die  Rede  ist,  so  muß  offenbar  die 
Substanz  in  die  Stelle  der  Ursache  gesetzt  werden;  darum  erscheint 
dann  das  Allgemeine  als  das  Wirkende,  die  besondern  Begriffe,  welche 
ohne  jenes  Allgemeine  nicht  gedacht  werden  können,  als  die  Wir- 
kungen. Daraus  folgt  dann  aber  der  höchst  wichtige  Satz,  daß  nur 
dasjenige  miteinander  im  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  stehen 
kann,  in  welchem  ein  und  derselbe  allgemeine  Begriff  vorkommt.  In 
allen  Begriffen  vom  geistigen  Geschehen  kommt  der  Begriff  der  Aus- 
dehnung nicht  vor;  in  allen  Begriffen  vom  körperlichen  Geschehen 
nicht  der  des  Denkens,  also  kann  es  zwischen  Ausdehnung  und  Denken 
keinen  ursächlichen  Zusammenhang  geben,  oder,  wie  Spinoza  sich 
ausdrückt,  ein  Gedanke  kann  keinen  Körper  und  ein  Körper  kann 
keinen  Gedanken  bestimmen. 

Auf  Grund  dieser  Meinungen  schließt  Spinoza  zunächst,  daß 
zwei  Substanzen,  welche  verschiedene  Attribute  haben,  nichts  mit- 
einander gemein  haben  und  folglich  auch  nicht  voneinander  die 
Ursache  sein  können.  ^)  Unter  Attribut  versteht  er  nämlich  das  Was 
der  Substanz,  dasjenige  welches  ihre  Essenz  ausmacht,  also  eben 
den  absolut  unabhängigen  inhaltlichen  Begriff,  welcher  als  absolut 
seiend  oder  als  Substanz  gesetzt  wird.  Wäre  die  obige  Meinung, 
daß  das  Bereich  der  Kausalität  einer  Substanz  sich  mit  dem  Um- 
fange ihres  Begriffs  deckte,  richtig,  so  würden  diese  Folgerungen 
unumstößlich  sein.  Hiermit  hat  Spinoza  seinen  folgenden  Hauptsatz, 
daß  keine  Substanz  von  einer  andern  hervorgebracht  werden  kann, 
von  der  Seite  vorbereitet,  daß  ein  solches  Kausalverhältnis  zwischen 
Substanzen  verschiedener  Attribute  nicht  stattfinden  kann.  Aber  es 
kann  auch  nicht  zwischen   mehreren   Substanzen   desselben  Attributs 


^)  a.  a.  0.  prop.  2.  3. 


g  Spinoza. 

der  Fall   sein,   denn   es   gibt  nur  eine  Substanz   ein   und   desselben 
Attributs.  ^) 

Diesen  für  ihn  wichtigen  Satz  (weil  er  die  letzte  Möglichkeit, 
daß  eine  Substanz  auf  die  andere  wirken  könne  ausschließt)  beweist 
er  dadurch,  daß  mehrere  Substanzen  desselben  Attributs  sich  nicht 
würden  unterscheiden  lassen,  also  in  eine  gleichsam  zusammenfallen 
müßten,  wie  ihre  Begriffe  logisch  in  ein  und  denselben  zusammen- 
fallen. 

Allein  das  ist  nur  eine  unvorsichtige  Übertragung  logischer 
Verhältnisse  auf  das  Seiende.  Logisch  fallen  allerdings  absolut  gleiche 
Begriffe  in  einen  einzigen  zusammen;  aber  wie  will  man  denn  nun 
beweisen,  daß  diesem  Einen  Begriffe  auch  nur  Ein  Gegenstand  ent- 
sprechen könne?  An  einem  andern  Orte 2)  sieht  Spinoza  selbst  das 
Richtige,  indem  er  sagt,  daß  die  Definition  einer  Sache  keine  be- 
stimmte Anzahl  der  Individuen  einschließe,  da  sie  eben  nur  die 
Natur  des  definierten  Dings  ausdrücke.  Kann  also  aus  der  Definition, 
d,  h.  bei  Spinoza  dem  Was  oder  der  Essenz,  einer  Sache  nicht  ge- 
schlossen werden,  ob  sie  auf  einen  oder  mehrere  reale  Gegenstände 
angewandt  werden  könne,  sondern  müssen  darüber  andere  Gründe 
entscheiden,  so  folgt  eben  nicht,  daß  es  nur  Eine  Substanz  ein  und 
desselben  Attributs  geben  könne;  denn  daraus,  daß  der  Begriff  nur 
Einer  ist,  folgt,  nach  Spinoza  selbst,  nicht,  daß  er  nur  auf  Einen 
realen  Gegenstand  bezogen  werden  dürfe.  Indessen  könnte  man  dies 
nur  für  einen  beiläufigen  Irrtum  halten  wollen,  den  Spinoza  zu 
seinem  Satze,  daß  keine  Substanz  von  der  andern  hervorgebracht 
werden  könne,  3)  gar  nicht  nötig  gehabt  habe.  Denn  hierfür  brauchte 
er  sich  in  der  Tat  nur  auf  den  Begriff  des  absolut  Seienden  zu  be- 
rufen; in  welchem  es  ja  hinlänglich  klar  vorliegt,  daß  das  absolut 
Seiende  nicht  von  einem  andern  in  seinem  Sein  abhängig  gedacht 
werden  darf,  weil  es  eben  dann  nicht  absolut  gesetzt  würde. 

Jener  Satz  jedoch  dient  noch  weiter  zu  dem  andern  Schlüsse, 
daß  jede  Substanz  als  solche  notwendig  als  unendlich  gedacht  werden 
müsse.*)  Denn  gibt  es  keine  zweite  Substanz  desselben  Attributs, 
so  gibt  es  auch  nichts,  wodurch  eine  Substanz  eingeschränkt  werden 
kann,  da  nur  Dinge  gleicher  Natur  einander  einschränken  oder  deter- 
minieren  können.     Aber  auch    diese   sogenannte    Unendlichkeit   der 


')  prop.  4.  5. 

*)  prop.  8.  Sohol. 

•')  prop.  6. 

■•)  prop.  8. 


Substanz  und  Attribut. 


Substanz  folgt  schon,  ohne  jenen  falschen  Beweis,  aus  der  oben  an- 
gedeuteten allgemeinen  Denkweise  dieses  Systems;  denn  danach 
muß  das  Was  der  Substanz  als  ein  absolut  Allgemeines  und  an  sich 
Unbestimmtes  in  seiner  Art  gedacht  werden,  weil  ein  Begriff, 
welcher  noch  einen  allgemeineren  über  sich  hat,  von  diesem  ab- 
hängig ist,  also  nicht  „durch  sich"  gedacht  oder  als  Substanz  gesetzt 
werden  kann. 

Alle  diese  Voraussetzungen  aber  würden  nicht  zu  dem  Ziele  der 
Einen  absolut  unendlichen  Substanz  führen,  wenn  nicht  noch  ein 
anderer  Irrtum  hinzukäme.  Denn  nach  dem  vorigen  ist  es  noch 
immer  möglich  anzunehmen,  daß  es  mehrere  Substanzen  in  der  Wirk- 
lichkeit gibt,  deren  jede  ein  verschiedenes  Attribut  hat,  und  deren 
keine  daher  auch  der  anderen  an  ihrer  Unendlichkeit  Abbruch  tut^ 
da  sie  einander  nicht  einschränken.  Warum  soll  denn  nur  eine 
einzige  Substanz  existieren? 

Die  Antwort  liegt  in  dem  Satze:  Je  mehr  Realität  oder  Sein 
eine  jede  Sache  hat,  desto  mehr  Attribute  kommen  ihr  zu.^)  Die 
Attribute  drücken  nämlich  eben  das  aus,  was  die  Substanz  ist;  also 
je  mehr  Attribute  einer  Sache  zugeschrieben  werden,  desto  mehr 
Seiendes  wird  in  ihr  gedacht,  oder  desto  mehr  Realität  besitzt  sie. 
Denkt  man  sich  also  eine  Substanz,  welche  aus  unendlich  vielen, 
d.  h.  aus  allen  möglichen  Attributen  besteht,  so  kommt  ihr  unend- 
liche Realität  zu,  außer  welcher  es  keine  mehr  geben  kann.  Folglich 
kann  es  außer  einer  solchen  Substanz  keine  andere  geben,  da  alle 
möglichen  Attribute  in  ihr  schon  vereinigt  sind.  Aber,  wird  man 
fragen:  können  denn  mehrere  Attribute  als  Eine  Substanz  existieren, 
folgt  nicht  eben  daraus,  daß  jedes  Attribut  absolut  gedacht  werden 
muß,  daß  es  wenigstens  ebensoviel  Substanzen  gibt  als  Attribute? 
Diese  Frage  ist  allerdings  auch  dem  Spinoza  aufgefallen,  aber  er 
antwortet:  das  folgt  gar  nicht,  denn  es  ist  einmal  so  die  Natur  der 
Substanz,  daß  jedes  ihrer  Attribute  für  sich  gedacht  werden  muß. 
Es  ist  also  weit  entfernt,  daß  es  ungereimt  sei,  einer  Substanz  mehrere 
Attribute  beizulegen,  daß  es  vielmehr  .lichts  Klareres  in  der  Natur 
gibt,  als  daß  jedes  Ding  unter  irgend  einem  Attribute  muß  begriffen 
werden,  und  daß  es  desto  mehr  Attribute  hat,  je  mehr  Realität  oder 
Sein  ihm  zukommt.  2)  Aus  dieser  Antwort  sieht  man,  wie  weit  er 
davon  entfernt  war,  den  Sinn  und  die  Bedeutung  jener  Frage  zu 
begreifen.     Er   sieht   nicht,    daß   der   Begriff   der   absoluten    Setzung 


^)  prop.  9. 

«)  prop.  10.  Schol. 


10  Spinoza. 

unfehlbar  sovielmal  in  Anwendung  kommen  muß,  als  man  absolute 
Qualitäten  oder  Attribute  setzt,  daß  also  nicht  Eine  Substanz,  sondern 
ebensoviele  Substanzen  (wenigstens)  gesetzt  werden,  als  absolute 
Qualitäten,  daß  es  also  ein  Widerspruch  ist  zu  sagen:  man  habe  nur 
Ein  Seiendes  gesetzt,  während  man  doch  Vieles  gesetzt  hat.  Hätte 
er  diese  einfache  Wahrheit  erkannt,  so  würde  er  auch  sofort  gesehen 
haben,  wie  unmöglich  es  sei,  die  Realität  durch  Anhäufung  von  At- 
tributen zu  vermehren.  So  aber  mit  aller  Welt  gewohnt,  der  sinn- 
lichen Erfahrung  gemäß,  Dinge  mit  vielen  Attributen  oder  zusammen- 
gesetzten Essenzen  als  seiend  anzunehmen,  erhebt  er  sich  in  seinem 
Denken  nicht  über  diese  rohen  Begriffe,  sondern  läßt  sich  noch  zu 
dem  Wahne  verleiten,  als  vermehre  die  Summe  der  Attribute  das 
Sein  eines  Dinges. 

Beweise  für  das  Dasein  der  Substanz  oder  Gottes. 

In  diesem  Wahne  bildet  er  nun  ganz  willkürlich  den  Ge- 
danken der  absolut  unendlichen  Substanz,  als  einer  solchen,  welche 
aus  unendlich  vielen  Attributen  besteht,  deren  jedes  eine  ewige  und 
unendliche  Essenz  ausdrückt,  i) 

Für  das  Dasein  dieser  Substanz,  welche  er  ebenso  Avillkürlich 
sofort  Gott  nennt,  bringt  er  nun  eine  Reihe  von  Beweisen  vor,  von 
denen  einer  so  ungereimt  ist  wie  der  andere. 

Zuerst  stützt  er  sich  auf  den  Satz,  daß  keine  Substanz  von 
einer  andern  hervorgebracht  werden  kann;  daraus  soll  folgen,  daß 
es  zur  Natur  der  Substanz  gehört  zu  existieren,  oder  daß  sie  eine 
causa  sui  sei,  dessen  Inhalt  oder  Wesenheit  notwendig  die  Existenz, 
das  Sein  in  sich  schließt.''^)  Gehört  das  also  zur  Natur  der  Substanz, 
so  muß  man  auch  notwendig  die  unendliche  Substanz  als  existierend 
denken.  —  Die  Ungereimtheit  dieses  Beweises  aber  liegt  auf  der  Hand. 
Denn  der  richtige  Satz,  daß  eine  Substanz  nicht  von  einer  andern  kann 
hervorgebracht  werden,  heißt  doch  weiter  nichts  als:  was  man  als  seiend 
denkt,  darf  seinem  Sein  nach  nicht  als  abhängig  gedacht  werden.  Dieser 
Satz  ist  eigentlich  nur  eine  Tautologie,  welche  warnen  soll,  das  was  man 
als  seiend  denkt,  nicht  wider  den  logischen  Satz  der  Identität  als  nicht 
seiend  zu  denken,  oder  solche  Begriffe  mit  dem  des  Seienden  zu  ver- 
binden, welche  die  absolute  Position  aufheben  würden;  was  allerdings 
ohne  große  Behutsamkeit  leicht  geschehen  kann,  Avie  die  Geschiciite 
der  Philosophie  sattsam  bezeugt.    Jener  Satz  sagt  aber  nicht,  daß  alles. 


*)  prop.  11. 

*)  prop.  7.  Demonstrat. 


Beweise  für  das  Dasein  der  Substanz  oder  Gott.  H 

was  ich  als  Substanz  setze,  darum  auch  in  der  Tat  existiert.  Man 
kann  also  nicht  schließen:  weil  das  Seiende  als  seiend  und  nicht  als 
nicht  seiend  gedacht  werden  muß,  so  existiert  dieses  bestimmte  Was, 
welches  ich  als  seiend  setze!  und  doch  ist  der  Schluß  Spinozas  kein 
anderer  als  dieser  absurde.  Die  Ungereimtheit  liegt  eben  darin,  daß 
der  menschliche  Geist  dann  es  in  seiner  Gewalt  hätte  zu  bewirken, 
was  sein  solle  und  was  nicht,  und  er  also  in  der  Tat  der  Weltschöpfer 
wäre,  während  doch  etwas  absolut  setzen  nichts  anderes  sein  kann, 
als  das  als  seiend  anerkennen,  was  in  der  Tat  unabhängig  von  allem 
Denken  und  -Setzen,  seiend  ist. 

Der  zweite  Beweis  lautet:    Jedes  Ding  muß   eine  Ursache  oder 
einen  Grund  haben,  sowohl  weshalb  es  existiert,  als  weshalb  es  nicht 
existiert.    Wenn  also  kein  Grund  da  ist,  weshalb  Gott  nicht  existiert, 
-oder  kein  Grund,   der  seine  Existenz  aufhebt,    so   existiert  Gott  not- 
wendig.    Gäbe  es  einen  solchen  Grund,  so  müßte  derselbe  entweder 
in   der  Natur  Gottes   oder   außerhalb    derselben   liegen.     Aber   außer 
der  Natur  Gottes  kann  er  nicht  liegen,  denn  dann  müßte  er  in  einer 
Substanz    anderer   Natur   liegen;    diese    aber    hätte    mit   Gott   nichts 
gemein,   also  könnte  sie  seine  Existenz  weder  aufheben  noch  setzen. 
Also  müßte  jener  Grund  in  der  göttlichen  Natur  liegen;  dann  müßte 
sie  aber  einen  Widerspruch  in  sich  schließen,   was  von  dem  absolut 
unendlichen  und  vollkommensten  Wesen  zu  behaupten  ungereimt  wäre. 
Da  also  weder  in  noch  außer  Gott  ein  Grund  sein  kann,  weshalb  er 
nicht  existiert,  so  existiert  er  notwendig,  i)     Hier  wird  offenbar  von 
der  Möglichkeit  auf  die  Notwendigkeit  geschlossen;  denn  das  ist  eben 
das  Mögliche,  von  dem  man  keinen  Grund  angeben  kann,  warum  es 
nicht   sein  sollte,   oder   das   nicht  Unmögliche.     Sollte   das   Mögliche 
nun  notwendig  sein,   so  müßte   in   seinem  Begriffe   ein  Widerspruch 
liegen,  wenn  es  als  nicht  seiend  gedacht  würde;  was  offenbar  unge- 
reimt ist.     Was  aber  das  anbetrifft,    daß   es  ungereimt  sei,    von  dem 
absolut  unendlichen  und  vollkommenen  Wesen  zu  behaupten,  daß  es 
einen  Widerspruch  in  sich  schließe,   so  liegt  sicherlich  in   der  wirk- 
lichen Natur  des  wirklichen  Gottes  kein  Widerspruch;  aber  wir  haben 
hier  nur  den  willkürlich   gemachten  Begriff   einer  Substanz,    die  aus 
unendlich  vielen  Attributen  besteht,  vor  uns,  und  von  diesem  Begriffe 
ist  es  nicht  etwa  ungereimt,  sondern  nichts  ist  gewisser  und  klarer,  als  daß 
er  nicht  einen,  sondern  mehrere  Widersprüche  in  sich  enthält.    Denn 
sie  soll  Eine  Substanz  sein  und  besteht  doch  aus  vielem  absolut  Ge- 
setztem, welches   untereinander  nichts  gemein  hat.     Die  Einheit  ist 


^)  prop.  11.  aliter. 


12  Spinoza. 

also  nur  ein  gedachtes  Band,  welches  dieses  Viele  zusammenhalten 
soll  und  doch  nicht  kann.  Die  Attribute  sollen  ferner  unendlich 
viele  sein;  das  unendlich  Viele  kann  aber  nicht  absolut  gesetzt  wer- 
den, weil  der  Begriff  des  objektiv  unendlich  Vielen  (nicht  des  sub- 
jektiv Unermeßlichen)  die  widersprechende  Aufgabe  enthält,  eine  An- 
zahl zu  setzen,  wo  jede  bestimmte  Anzahl  verneint  wird.  Endlich 
ist  der  Inhalt  der  dem  menschlichen  Verstände  bekannten  Attribute 
dieser  Substanz  —  die  unendliche  Ausdehnung  und  das  unendliche 
Denken  —  der  Art,  daß  er  gar  keine  absolute  Position  verträgt. 
Folglich  trägt  dieser  Begriff  allerdings  wegen  seiner  Widersprüche 
den  Grund  in  sich,  weshalb  er  nicht  existiert. 

Der  dritte  Beweis  kann  eigentlich  im  Deutschen  nicht  wieder- 
gegeben werden,  weil  durch  die  Übersetzung  die  Zweideutigkeit  ver- 
loren geht,  auf  der  seine  Beweiski-aft  beruht:  Posse  non  existere,  so 
lautet  er,  irapotentia  est  et  conti'a  posse  existere  potentia  est  (ut  per 
so  notum).  Das  heißt  eigentlich:  Nicht  existieren  können  ist  Un- 
möglichkeit, existieren  können,  ist  Möglichkeit,  soll  aber  in  dem 
andern  Sinne  genommen  werden,  daß  Nichtexistieren  Ohnmacht, 
Existieren  können  aber  Macht  sei.  Wenn  daher,  fährt  Spinoza  foii;, 
das  Existierende  nui"  endliche  Dinge  wären,  so  wären  die  endlichen 
mächtiger  als  das  absolut  unendliche  Ding.  Also  existiert  entweder 
nichts  oder  das  absolut  unendliche  Ding  existiert  notwendig.  Aber 
wir  existieren,  also  usw.  Soll  man  nun  noch  diesen  Obersatz  wider- 
legen, in  welchem  das  bloß  Mögliche,  also  nicht  als  seiend  Gesetzte, 
doch  schon  als  existierend  gedacht  wird,  indem  ihm  Macht  oder 
Ohnmacht  beigegeben  wird? 

Aus  diesem  Satze  aber  leitet  Spinoza  noch  einen  vierten  Beweis 
her:  Wenn  existieren  können  Macht  ist,  so  folgt,  daß  je  mehr  Realität 
der  Natur  eines  Dinges  zukommt,  es  desto  mehr  Kräfte  von  sich  hat, 
um  zu  existieren,  daß  also  das  absolut  unendliche  Ding  oder  Gott 
eine  absolut  unendliche  Macht  von  sich  habe,  um  zu  existieren;  der 
daher  absolut  existiert.^)  Man  kann  kaum  wünschen,  daß  die  Wider- 
sinnigkeit der  causa  sui  in  deutlicheren  Worten  ausgesprochen  werde, 
als  hier  von  Spinoza  selbst  geschieht.  Das  bloß  Mögliche,  also  Nicht 
seiende  erhebt  sich  durch  eigene  Machtvollkommenheit  in  die  Existenz! 

Endlich  deutet  Spinoza  in  einem  Briefe  an  Simon  de  Vries  noch 


')  Eth.  I.  11.  Denn  da  existieren  können  Macht  ist,  so  folgt,  daß  die  Natur 
eines  Dinges  in  sich  um  so  mehr  Kräfte  hat  zu  existieren,  je  mehr  Realität  ihr 
zukommt.  Das  unbedingt,  unendliche  Wesen  oder  Gott  muß  denmach  in  sich  un- 
bedingt unendliche  Macht  (potentia)  haben  zu  existieren  und  mithin  unbedingt  exi- 
stieren. 


Beweise  für  das  Dasein  der  Substanz  oder  Gott.  13 


eine  andere  Wendung  dieses  Beweises  an.  Je  mehr  Attiibute  man 
einem  Wesen  zulegt,  desto  mehr  ist  man  gezwungen,  demselben 
Existenz  zuzuschreiben,  d.  h.  desto  mehr  begreift  man  es  unter  dem 
Gesichtspunkte  des  Wahren,  i) 

Hier  wird  unbewußt  die  Willkür  eingestanden,  mit  der  man  bei 
der  Büdung  dieses  Begriffs  vom  allen-ealsten  Wesen  verfährt;  man 
hat's  in  seiner  Gewalt,  einem  Wesen  mehr  oder  weniger  Attribute 
beizulegen.  Aber  je  mehr  Attribute  man  einem  Dinge  beilegt,  desto 
wahrer  wird  es!  Das  allerrealste  Wesen  ist  also  das  wahrste,  und 
was  nicht  ist,  ist  unwahr  und  falsch! 

Kann  man  es,  beiläufig  gesagt,  Herbart  verdenken,  daß  er  un- 
willig wurde,  wenn  er  zu  seiner  Zeit  einen  solchen  Denker,  welcher 
die  handgreiflichsten  Ungereimtheiten  mit  der  größten  Naivität  als 
mathematisch  bewiesene  Lehrsätze  vorträgt,  als  den  konsequentesten, 
tiefsten  Denker  allerorten  preisen  hörte,  dessen  System  die  einzig 
haltbare  Philosophie  sei? 

Alle  jene  Beweise  laufen  zuletzt  auf  die  eine  Ungereimtheit 
liinaus,  daß  man  das  MögHche  versteckterweise  schon  als  existierend 
dachte.  Deshalb  glaubt  man,  daß  das  Mögliche  seine  Existenz  ent- 
weder in  sich  tragen  könnte  oder  nicht,  und  deshalb  sollte  die  Macht 
zu  existieren  mit  der  Menge  der  Attribute  wachsen.  Erkennt  man 
diese  Ungereimtheit,  so  sinkt  der  Gedanke  einer  unendlichen  Sub- 
stanz, welche  aus  unendlich  vielen  Attributen  besteht,  zu  einer  völlig 
grundlosen,  willkürlichen  und  in  sich  selbst  widersprechenden  Hypo- 
these hinab,  welche  weder  in  der  Erfahrung  noch  im  Denken  irgend 
welchen  Halt  hat.  In  der  Erfahrung  nicht,  weü  diese  auf  den  Ge- 
danken, daß  das  Seiende  nur  ein  einziges  sei,  gar  nicht  hindeutet. 
Diese  weist  vielmehr  auf  eine  Yielheit  des  dem  Scheine  zum  Grande 
liegenden  Seienden  hin.  Denn  die  gegebene  Mannigfaltigkeit  des 
Scheins  kann  nicht  aus  dem  absolut  einfachen  Einen  erklärt  werden. 
Außerdem  würde  auch,  selbst  wenn  man  in  Spinozas  Weise  denken 
wollte,  die  Erfahrung  nui*  airf  eine  Substanz  mit  zwei  Attributen,  der 
Ausdehn img  und  dem  Denken,  hinweisen;  denn  die  andern  unendlich 
vielen  Attribute  sind  durch  die  Erfahrung  nicht  im  mindesten  ange- 
deutet. Im  Denken  aber  hat  jene  Substanz  ebensowenig  Halt.  Denn 
ihr  Grund  liegt  entweder  in  den  oben  augefiihrfen  Ungereimtheiten, 
oder  in  dem  ebenso  falschen  Satze,   daß   dem  absolut  vollkommenen 


*)  Ep.  27.  Je  mehr  Attribute  ich  einem  Dinge  zusclireibe,  uni  so  mehr  bin 
ich  genötigt,  ihm  selbst  die  Existenz  zuzuschreiben,  um  so  mehr  begreife  ich  es 
unter  der  Rücksicht  (ratio)  des  Wahren. 


14  Spinoza. 

Wesen  das  Sein  nicht  fehlen  dürfe,  weil  das  Sein  selbst  eine  Realität 
sei,  wie  der  ontologische  Beweis  behauptet,  oder  endlich  in  der  gleich- 
falls falschen  Meinung,  daß  Bestimmtheit  Negation  sei.  ^) 

Bestimmtheit  ist  Verneinung. 

Über    diesen    letzten    Satz    muß    noch    eine    Bemerkung   folgen. 

Spinoza  nimmt  ihn  in  einem  etwas  andern  Sinne,  als  die  modernen 

Spinozisten.     Diese   behaupten:    Bestimmtheit  ist   deshalb    Negation, 

Aveil    das    Bestimmte    eben    deshalb,    weil    es    dieses    und    nicht    ein 

Anderes   ist,,  eine  Negation  einschließt;     nun   darf  aber   das   Seiende 

nicht  als  ein  Negatives  gedacht  werden,  also  folgt,  daß  nur  das  absolut 

Unendliche  das  Seiende  sein  kann.     Spinoza  schreibt  den  Attributen 

seiner  Substanz   einen   bestimmten  Inhalt   zu,    wie  Ausdehnung   und 

Denken,   und  behauptet  nicht,   daß  etwa  die  Ausdehnung  deshalb  ein 

Endliches  sei  oder  eine  Negation  einschließe,  weil  sie  nicht  zugleich 

Denken  oder  ein  anderes  Attribut  sei.     In  diesem  Betracht  steht  er 

über  jenen  Neueren,   weil  in  diesem  Falle,   die  aus  der  willkürlichen 

Vergleichung  des  Einen  mit  dem   Anderen   entspringende  Negation: 

daß  Dieses  nicht  Jenes  sei,  nicht  in  den  Inhalt  des  Begriffs,  als  eine 

ihm  innewohnende  Verneinung  verlegt.    Er  behauptet  vielmehr  nur,  daß 

die  Bestimmtheit  deshalb  Negation  sei,  insofern  sie  etwas  verneint,  wa& 

zu  dem  Begriffe  gehört.  ^)    Er  denkt  nämlich  das  Unendliche,  z.  ß.  das 

unendliche  Denken,  als  ein  Quantum,  dem  nichts  fehlen  darf.  Ein  einzelner 

bestimmter  Gedanke  ist  nun  nicht  alles  Denken,  sondern  nur  ein  Teil 

desselben;    wenn  also  ein  bestimmter  Gedanke  gesetzt  wird,   so  wird 

in  ihm  das  übrige  Quantum  des  Denkens  nicht  gesetzt  oder  verneint. 

Die  Ausdehnung  aber  verneint  oder  begrenzt  deshalb  nicht  das  Denken, 

weil   sie   ein  disparater  Begriff  ist,   der  mit   dem  Denken  gar  nichts 

gemein  hat.     Wenn  also  Ausdehnung  gesetzt  wird,  so  wird  dadurch 

nichts  von  dem  unendlichen  Quantum  des  Denkens  verneint,  sondern 

überhaupt   niu-   vom  Denken  nichts   ausgesagt.     Aus   diesem   Grunde 

würde  also  auch  die  Substanz  unendlich  oder  affirmativ  bleiben,  auch 

Avenn  es  nur  ein  einziges  Attribut  gäbe.     Aber  gäbe  es  außer  dieser 

Substanz  noch  andere  mit  gleichen  oder  andern  Attributen,  so  würde 

sie    nicht    absolut   unendlich    sein,    weil    ihr  dann  fi'eiHch    nichts   an 

ihrem  Attribute,  wohl  aber  an  der  Realität  etwas  fehlen  Avürde.    Denn 

auch  diese  denkt  Spinoza  als  ein  Quantum. 

*)  Eth.  p.  I.  pr.  8.  Schol.  Endlichsein  ist  in  Wahrheit  teilweise  Verneinung. 
\a.  Epist.  50. 

■)  Epist.  41.  Wiewohl  z.  B.  die  Ausdehnung  den  Gedanken  über  sich  ver- 
neint, ist  dies  doch  keine  UnvoUkommenheit  in  sich  selbst. 


Pantheismus.  \  5 


Bei  Spinoza  also  gründet  sich  der  Satz,  daß  Detennination  Ne- 
gation sei,  darauf,  daß  er  die  Attiibute  und  dann  auch  die  EeaKtät 
überhaupt  als  Quanta  denkt,  von  denen  in  einer  bestimmten  einzelnen 
Sache  nur  ein  Teil  gesetzt,  also  das  übrige  verneint  wird. 

Gegen  ihn  ist  deshalb  zu  bemerken,  daß  weder  das  Sein  noch 
die  Qualität  als  ein  Quantum  gedacht  werden  darf.  Das  Sein  nicht; 
denn  es  ist  die  absolute  Position.  Entweder  ist  etwas  oder  es  ist 
nicht;  da  gibt  es  keinen  Komparativ,  noch  einen  Superlativ.  Die 
Qualität  des  absolut  Seienden  läßt  aber  ebensowenig  den  Quantitäts- 
begriff zu,  denn  dieser  Begriff  führt  notwendig  eine  Vielheit  herbei, 
welche  in  dem  absolut  Seienden  nicht  stattfinden  kann. 

Man  wird  also  von  keiner  Seite  her  auf  die  Annahme  einer  ab- 
solut unendlichen  Substanz  geführt  und  sie  bleibt  was  sie  ist.  eine 
nichtige  Hypothese. 

Pantheismus. 

Nachdem  aber  einmal  dieser  Begriff  gesetzt  war,  so  folgte  aller- 
dings notwendig,  daß  sie  das  einzige  Seiende  sei,  außer  der  nichts 
Seiendes  zu  denken  ist,  daß  also  alles  was  ist,  nur  allein  die  Substanz 
oder  Gott  ist.  Denn  in  ihrem  Begriffe  wird  eben  alles  vereinigt  ge- 
dacht, was  als  seiend  gesetzt  werden  kann.  Wenn  es  deshalb  etwas 
Wirkliches  gibt,  welches  nicht  als  Substanz  oder  Gott  gedacht  werden 
kann,  so  können  dieses  nur  die  modi  oder  die  näheren  Bestimmungen 
der  Atti'ibute  der  Substanz  sein ;  diese  sind  aber  natürlich  nicht  außer 
denselben,  sondern  in  denselben;  denn  sie  sind  eben  nur  die  mehr 
oder  weniger  bestimmten  Weisen,  wie  die  Substanz  existiert.  Diesen 
modis  kommt  also  kein  eigenes  Sein  zu,  sondern  nur  das  der  Sub- 
stanz. Denn  insofern  sie  sind,  oder  insofern  sie  etwas  Positives  sind, 
sind  sie  Substanz;  insofern  sie  besondere  Weisen  derselben  sind,  sind 
sie  nur  Negationen.  Ein  bestimmter  Gedanke  z.  B.  ist  etwas  Positives, 
insofern  er  ein  Denken  ist,  aber  weil  er  nur  dieser  besondere  Ge- 
danke ist  und  nicht  auch  zugleich  alles  andere  mögliche  Denken,  ist 
er  nur  ein  bestimmter  Teil  des  unendlichen  Denkens,  schließt  also 
eine  Verneinung  ein.  Dieser  bestimmte  Teil  des  unendlichen  Denkens 
kann  indes  nicht  für  sich  oder  außer  jenem  existieren,  so  daß  er 
wäre  und  neben  oder  außer  ihm  nun  noch  das  ganze  Quantum  des 
unendlichen  Denkens,  sondern  er  ist  in  der  Substanz;  sein  Sein  ist 
aber  nicht  ein  absolute  esse,  sondern  ein  iuesse. 

Hiermit  ist  der  Grundgedanke  des  eigentlichen  wissenschaftlichen 
Pantheismus  ausgesprochen.  Das  Seiende,  die  Substanz  ist  Gott,  die 
Weltdinge  oder  das  Daseiende  ist  nur  eine  nähere  Bestimmung  Gottes. 


16  Spinoza, 

Beti'achtet  man  danach  vorwiegend  die  Substanz  oder  Gott,  so  kann 
man  sagen:  die  Dinge  sind  in  Gott;  betrachtet  man  die  Dinge,  inso- 
fern sie  ein  Teil  der  Substanz  sind,  also  Substanz  in  sich  haben, 
kann  man  sagen:  Gott  ist  in  den  Dingen.  Und  ebenso:  betrachtet 
man  ein  Ding  nur,  insofern  es  eine  nähere  Bestimmung  der  Substanz 
ist,  so  ist  es  nicht  die  Substanz  selbst,  oder  es  ist  von  Gott  ver- 
schieden, also  nicht  Gott;  erwägt  man  aber,  daß  jeder  Teil  der 
Substanz  selbst  Substanz  ist,  weil  er  ja  sonst  Nichts  wäre,  so  ist 
er  der  Substanz  nach  mit  Gott  identisch.  Hier  sieht  man  das  Hin- 
und  Herschillernde  des  Pantheismus.  Der  menschliche  Geist  z.  B.  ist 
einerseits  von  Gott  verschieden,  also  nicht  Gott,  denn  sein  Sein  ist 
nicht  das  absolute  Sein  der  Substanz,  sondern  nui-  ein  inesse,  ein 
Getragen  werden  von  der  Substanz;  aber  insofern  der  menschliche 
Geist  dennoch  ein  Teil  des  unendlichen  Denkens  ist,  also  selbst  wirk- 
liches Denken  ist,  ist  in  ihm  die  eine  Substanz  oder  Gott  selbst,  oder 
er  ist  seinem  "Wesen  nach  mit  Gott  identisch. 

Bis  jetzt  hat  Spinoza  nur  den  allgemeinen  fomialen  Begriff  von 
Gott  gewonnen,  daß  er  die  absolute  Substanz  sei,  welche  aus  unend- 
lich vielen  Attributen  besteht.  Es  fehlt  aber  für  diese  Attribute  noch 
gänzlich  an  Inhalt.  Wie  gewinnt  er  nun  denselben?  Weder  der  all- 
gemeine Begriff  der  Substanz,  noch  der  des  Attributs  können  diesen 
Inhalt  angeben.  Nur  die  Bedingung  liegt  in  dem  Begriff  des  Attri- 
buts, daß  nur  solche  Begriffe  dazu  tauglich  sind,  welche  ohne  Hilfe 
anderer  Begriffe  gedacht  werden  können,  also  von  ihnen  absolut  un- 
abhängig sind.  Denn  die  Attribute  sind  eben  das  Wesen  der  Sub- 
stanz, Wie  findet  man  nun  solche  Begriffe?  Wenn  man  die  logische 
Natur  der  besondern  Begriffe  vor  Augen  hat,  liegen  in  ihnen  Allge- 
meinbegriffe, ohne  welche  sie  nicht  gedacht  werden  können,  abei' 
jene  allgemeinen  Begriffe  bedürfen  zu  ihrem  Gedachtwerden  nicht 
der  besonderen.  Ein  Dreieck  ist  eine  durch  drei  Linien  begrenzte 
Ausdehnung.  Es  kann  also  ohne  Hilfe  des  allgemeinen  Begriffs  Aus- 
dehnung nicht'  gedacht  werden,  wohl  aber  kann  der  Begriff  Aus- 
dehnung ohne  Hilfe  des  Begriffs:  Begrenzung  durch  die  Linien  ge- 
dacht werden.  Folglich  sind  die  allgemeinen  Begriffe  selbständiger 
als  die  besonderen,  also  können  zu  den  Attributen  nur  solche  Begriffe 
taugen,  welche  gar  kein  genus  mehr  über  sich  haben,  also  nur  die 
xibsolut  allgemeinen.  Aber  auch  nicht  alle  allgemeinen,  wie  z.  B, 
Ding,  Etwas  u.  dergl.;  denn  diese  drücken,  als  rein  formale,  keine 
Essenz  aus,  oder  sagen  nicht,  was  das  Seiende  ist.  Die  Attiibut- 
begriffe  müssen  also  solche  sein,  die  sowohl  absolut  allgemein  sind, 
als  auch  ein  wirkliches  Wesen,  oder  das  was  ist,  ausdrücken. 


Pantheismus.  17 


Sieht  man  nun  die  empirisch  gegebenen  Dinge  an,  so  zerfallen 
sie  in  zwei  große  Klassen,  in  Körper  und  Geister,  welche  unter 
keinen  höheren  Begriff,  der  noch  eine  essentia  oder  ein  Was  aus- 
drückte, zusammengefaßt  werden  können.  Alles  Körperliche  aber  ist 
eine  bestimmte  Art  der  Ausdehnung  oder  des  Räumlichen,  alles 
Geistige  eine  bestimmte  Weise  des  Denkens.  Der  Begriff  der  Aus- 
dehnung ist  also  für  alles  Körperliche  der  absolut  allgemeine  Begriff 
und  ebenso  der  Begriff  des  Denkens  füi*  alles  Geistige.  Daher  er- 
füllen diese  beiden  Begriffe  die  Anforderungen,  welche  an  den 
Attributsbegriff  gesteht  werden.  Alles  wirklich  Gegebene  fällt  ent- 
weder unter  den  einen  oder  den  andern  dieser  Begriffe,  sie  sind  also 
die  absolut  allgemeinen,  welche  ohne  Hilfe  der  besonderen  Arten  der 
Ausdehnung  und  des  Denkens  gedacht  werden  können,  ohne  welche 
aber  kein  besonderes  gedacht  werden  kann.  Beide  Begriffe  aber 
können  nicht  uuter  einen  höheren  subsuiniert  werden,  der  noch  eine 
Essenz  ausdrückte,  weil  keiner  mit  dem  andern  seinem  Inhalte  nach 
etwas  Gemeinschaftliches  hat.  Daher  setzt  Spinoza  nun  diese  beiden 
Begriffe,  die  unendliche  Ausdehnung  und  das  unendliche  Denken, 
als  den  Inhalt  zweier  Atti'ibute  Gottes.  Die  übrigen  aber  von  den 
unendlich  vielen  Attributen  Gottes  sind  dem  menschlichen  Geiste 
unerkennbar,  weil  ihm  nur  diese  beiden  Arten  von  wirklichen  Dingen, 
Körper  und  Geister,  gegeben  sind.  Daher  denn  auch  Spinoza  wohl 
hinsichtlich  dieser  beiden  Attribute  eine  adäquate  Erkenntnis  behauptet, 
nicht  aber  eine  vollkommene  Erkenntnis  von  Gott  überhaupt. 

Man  hat  es  dem  Spinoza  zum  Vorwurfe  gemacht,  daß  er  den 
Inhalt  dieser  beiden  Attribute  aus  der  Erfahrung  nehme,  da  er  doch 
viehnehr,  wenn  er  eine  intuitive  Erkenntnis  Gottes  behaupte,  denselben 
a  priori  ableiten  müsse.  AUein  Spinoza  versteht  unter  dem  dritten 
Grade  der  Erkenntnis  oder  der  intuitiven  gar  nicht  eine  solche, 
welche  also  a  priori  anschauend  verfährt,  und  also  aus  intellektueller 
Anschauung  des  Absoluten  das  Mannigfaltige  in  demselben  konstruiere, 
sondern  sie  ist  ihm  nur  eine  Erkenntnis,  welche  aus  gegebenen  Ver- 
hältnissen die  richtigen  Folgerungen  ohne  weiteres  erkennt,  die  aber, 
wenn  es  darauf  ankäme,  den  Beweis  für  die  Eichtigkeit  dieser  ihrer 
anschauenden  Erkenntnis  Liefern  kann,  obgleich  sie  selbst  der  Wahr- 
heit auch  ohne  diesen  Beweis  gewiß  ist.  i) 


')  Eth.  p.  II.  pr.  40.  Schol.  2.  Spinoza  führt  hier  ein  Beispiel  an.  um  den 
Unterschied  seiner  drei  Erkenntnisarten  zu  unterscheiden.  Es  seien  z.  B.  drei 
Zahlen  gegeben,  um  eine  vierte  zu  finden,  die  sich  zur  dritten  verhält,  wie  die 
zweite  zur  ersten.  Ein  Kaufmann  wird  sich  nicht  bedenken  und  die  zweite  n;it 
•der  dritten  multiplizieren  und  das  Produkt  durch  die  erste  dividieren,  und  dies  ent- 

Religionsphilosophio;  Spinoza.  " 


lg  Spinoza. 

Spinoza  behauptet  also  nicht  wie  Schelling  eine  solche  intellektuelle 
Anschauung  des  Absoluten,  welche  hinsichtlich  desselben  eben  das- 
selbe leisten  soll,  wie  die  sinnliche  Anschauung  hinsichtlich  des  Sinn- 
lichen. Die  sinnliche  Anschauung,  ebenso  wie  die  intellektuelle  An- 
schauung Scheilings  kann  nicht  den  Beweis  liefern,  daß  es  so  ist, 
was  sie  schaut,  sie  kann  nur  voraussetzen,  daß  jeder  dasselbe  schaut. 
Die  intuitive  Erkenntnis  Spinozas  dagegen  bedarf  zwar  für  sich  keiner 
Demonstration,  sie  kann  sie  aber  liefern.  Er  verfährt  hier  im  allge- 
meinen ganz  so,  wie  jede  richtige  Spekulation  verfahren  muß.  Wenn 
sie  den  Begriff  des  Sein  gefunden  und  daraus  die  Bedingungen  ent- 
wickelt hat,  welche  jeder  Begriff  erfüllen  muß,  um  als  seiend  gedacht 
zu  werden,  so  muß  sie  sich  dann  an  die  Erfahrung  wenden,  um  in 
ihr  das  zu  suchen,  was  als  seiend  gegeben  ist.  Der  Fehler  des  Spi- 
noza liegt  aber  darin,  daß  er  wähnt,  unter  den  empirischen  Begriffen 
solche  finden  zu  können,  welche  sich  als  absolut  seiend  denken  lassen, 
und  nicht  sieht,  daß  seine  Begriffe  Denken  und  Ausdehnung  nur 
relative  sind,  die  sich  nicht  absolut  setzen  lassen. 

So  ist  also  Spinozas  Gott  nicht  allein  eine  denkende,  sondern 
auch  eine  ausgedehnte  Substanz.  Er  fühlte  auch,  wie  auffallend  diese 
letztere  Bestimmung  sein  müsse,  und  sucht  deshalb  nachzuweisen, 
daß  sie  der  göttlichen  Natur  nicht  unwürdig  sei.  Darum  verneinte 
er  zuerst  die  Teilbarkeit  der  Ausdehnung,  i)  Wenn,  sagt  er,  die 
körperliche  Substanz  so  getrennt  werden  könnte,  daß  ihre  Teile  realiter 
unterschieden  wären,  warum  könnte  nicht  ein  Teil  vernichtet  werden, 
und  die  übrigen,  wie  vorher,  untereinander  verbunden  bleiben,  und 
warum  müssen  alle  so  zusammengepaßt  sein,  daß  kein  leerer  Kaum 
entsteht?  Dazu  sei,  meint  er,  die  Materie  überall  dieselbe  und  es 
würden  keine  Teile  in  ihr  unterschieden,  als  nur  insofern  man  sie 
auf  verschiedene  Weise  modifiziert  auffasse;  daher  würden  ihre  Teile 
nur    modaliter    nicht    aber   realiter   getrennt.      Man    müsse    nur   die 


weder,  weil  er  noch  nicht  vergessen  hat,  was  er  von  seinem  Eechenlehrer  ohne 
irgend  welchen  Beweis  vernommen  (dies  entspricht  dem  ersten  Grade,  der  Meinung 
oder  Imagination)  oder  weil  er  es  oft  bei  den  ganz  einfachen  Zahlen  erfahren  hat 
oder  auf  Grund  des  Beweises  zu  Lehrsatz  19  im  7.  Buch  des  Eukhd  nämlich  auf 
Grund  der  gemeinsamen  Eigenschaften  der  Proportional  zahlen  (dies  entspricht  dem 
zweiten  Grade,  wo  man  Gemeinbegriffe  und  adäquate  Ideen  hat  und  daraus  Erkennt- 
nisse folgert).  Allein  bei  den  ganz  einfachen  Zahlen  ist  dies  alles  nicht  nötig.  Sind 
z.  B.  die  Zahlen  1,  2,  3  gegeben,  so  sieht  jedermann,  daß  die  4.  Proportionale  6 
ist  und  zwar  viel  klarer,  weil  wir  aus  dem  Verhältnis  der  ersten  zur  zweiten  Zahl, 
das  wir  auf  Ein  Anschauen  sehen,  die  vierte  selbst  erschließen  (dies  ist  ein  Beispiel 
des  dritten  Grades  der  Erkenntnis,  wie  oben  angegeben). 
')  Eth.  p.  I.  pr.  15.  Schol. 


Pantheismus.  ]^9 


Quantität  nicht  auffassen,  wie  sie  in  der  Einbildung,  sondern  wie  sie 
im  Verstände  sei.  Mit  andern  Worten,  man  muß  den  allgemeinen 
Begriff  der  räumlichen  Ausdehnung  nehmen  und  denselben  real  als 
die  eigentliche  Materie,  das  körperliche  Seiende  setzen;  dann  folgt 
allerdings  notwendig,  daß  die  Materie  unteilbar  sei,  denn  dann  faßt 
man  sie  als  realisierten  Raum;  dann  muß  sie  notwendig  auch  überall 
dieselbe  sein  und  kann  realiter  nicht  zertrennt  werden,  weil  sonst 
die  Zwischenräume  zwischen  den  getrennten  Stücken  kein  Raum  sein 
dürften;  deshalb  kann  endlich  kein  vacuum  existieren,  weil  wo  Raum, 
auch  Materie  ist.  Diese  ganze  Ansicht  hat  aber  wieder  nur  den 
alten  Fehler  zum  Orunde,  daß  logische  Beziehungen  als  reale  gesetzt 
werden.  Der  Begriff  des  Raumes  bezieht  sich  logisch  notwendig  auf 
das  Seiende,  da  er  die  Möglichkeit  des  Zusammen-  und  Nicht- 
zusammenseins  des  Realen  darbietet;  wird  nun  diese  Beziehung  real 
genommen,  so  heißt  das:    kein  Raum  ist  ohne  Seiendes. 

Ist  die  körperliche  Substanz  unteilbar,  so  entsteht  und  ver- 
geht sie  auch  nicht  wirklich,  sondern  ist  ewig,  und  deshalb  meint 
Spinoza,  sei  es  nicht  Gottes  unwürdig,  ihn  als  körperliche  Substanz 
zu  denken,  »deshalb  darf  in  keinem  Falle  gesagt  werden,  daß  Gott 
von  etwas  anderem  leide«.  Das  also  scheint  ihm  das  für  Gott  eigent- 
lich Unwürdige  zu  sein.  Er  spricht  hiermit  beiläufig  eine  Regel  für 
die  Bildung  des  Gottesbegriffs  aus,  welcher  viel  Scheinbares  für  sich 
hat,  die  aber  konsequent  dahin  führen  muß,  in  den  pantheistischen 
Monismus  zu  verfallen.  Der  eigentliche  Sinn,  weshalb  man  Gott  als 
leidensunfähig  denkt,  ist  der,  daß  man  ihn  der  Unvollkommenheit 
entnehmen  will ;  in  seinem  Wollen  und  Handeln  durch  etwas  anderes 
gehemmt  zu  werden,  das  ist  das  Leiden  im  eigentlichen  Sinne.  ISTun 
hat  man  sich  aber  auch  namentlich  in  der  philosophischen  Sprache 
gewöhnt,  jede  Einwirkung,  die  eins  von  einem  anderen  erfährt,  ein 
Leiden  zu  nennen;  wonach  auch  schon  die  menschlichen  Sinnes- 
empfindungen ohne  allen  Bezug  auf  eine  schmerzKch  empfundene 
Hemmung  eines  Strebens  ein  Leiden  genannt  werden.  Wirft  mau 
nun  jenen  eigentlichen  Sinn  des  Leidens  mit  diesem  uneigentlichen 
zusammen,  so  wird  man  es  auch  für  Gottes  unwürdig  halten  müssen, 
in  irgend  einem  Kausalverhältnis  mit  anderem  zu  stehen.  Man  wird 
also  den  Kausalzusammenhang,  welchen  jede  rehgiöse  Ansicht  zwischen 
Gott  und  Mensch  setzt,  daß  Gott  in  seinem  Tun  durch  Rücksicht  auf 
den  Menschen  bestimmt  werde,  als  einen  bloßen  Schein  auffassen, 
und  vielmehr  sagen  müssen:  daß  Gott  in  seinem  Verhältnis  zum 
Menschen  nur-  mit  sich  selbst  im  Verhältnis   stehe,   damit   nur   nicht 

2* 


20  Spinoza. 

eine  kausale  Beziehung  zAvischen  Grott  und  solchem  sei,  das  er  nicht 
selbst  ist.     Doch  das  nur  beiläufig. 

ISTachdem  wir  nun  die  Hauptbestimmuugen  des  Gottesbegriffs  bei 
Spinoza  betrachtet  haben,  können  wir  seinen  Sinn  kui"z  dahin  zu- 
sammenfassen: die  Substanz  ist,  abgesehen  von  den  dem  Menschen 
unbekannten  Attiibuten,  einerseits  die  unendliche  unterschiedslose 
Materie,  der  real  gedachte  Raum,  worin  aber  an  ihr  selbst  keine  ver- 
schiedene Qualitäten  noch  Formen  gedacht  werden  dürfen,  sie  ist 
also  der  absolute  Körperstoff,  der  an  sich  selbst  noch  gar  keine 
andere  Bestimmung  hat,  aber  möglicherweise  alle  körperlichen  Be- 
stimmungen annehmen  kann;  auf  der  andern  Seite  ist  sie  das  abso- 
lute Denken,  oder  der  absolute  Denkstoff,  welcher  an  sich  auch 
keinerlei  bestimmte  Gedanken  enthält,  aber  fähig  ist,  alle  möglichen 
Denkformen  anzunehmen.  Gott  ist  also  in  dei-  Tat  weiter  nichts,  als 
der  Gedanke  der  Möglichkeit,  daß  eine  Körper-  und  Geisteswelt  exi- 
stiere; und  das  ist  der  wahre  Wert  dieser  unendlichen  Substanz. 

In  dem  Begriffe  der  Substanz  liegt  versteckterweise  die  Beziehung 
auf  das,  dessen  Substanz  sie  ist;  in  dem  Begriffe  des  Stoffes  die  auf 
die  bestimmten  Dinge  und  in  dem  der  Möglichkeit  die  auf  das  Wirk- 
Kche.  Denn  alle  diese  Begiiffe  haben  nur  Sinn  in  ihrer  Beziehung 
auf  die  gegebenen  wirklichen  Dinge.  Geht  man  also  in  seinem 
Denken  von  jenen  Begriffen  aus,  so  entsteht  die  Frage,  wie  denn  aus 
dem  Unbestimmten  das  Bestimmtwerden,  oder,  in  Spinozas  Sprache, 
die  Frage  nach  dem  Grunde,  aus  welchem  die  modi  der  Attribute 
folgen. 

Wie  folgt  aus  dem   Unbestimmten  das  Bestimmte? 

Er  antwortet  darauf:  Aus  der  Notwendigkeit  der  göttlichen  Natur 
muß  Unendliches  auf  unendliche  "Weise  folgen,  d.  h.  alles,  was  unter 
einen  unendlichen  Yerstand  fallen  kann,  i)  Dieser  Satz,  meint  er, 
muß  einem  jeden  offenbar  sein,  wenn  er  nur  darauf  achtet,  daß  aus 
der  gegebenen  Definition  eines  jeden  Dinges  der  Yerstand  mehrere 
Eigenschaften  schließt,  welche  in  der  Tat  aus  ihr,  d.  h.  eben  aus  der 
Essenz  des  Dinges,  notwendig  folgen;  und  desto  mehr,  je  mehr 
Realität  die  Definition  eines  Dinges  ausdrückt,  d.  h.  je  mehr  Realität 
die  Essenz  des  definierten  Dinges  einschheßt.  Da  aber  die  göttliche 
Natur  absolut  unendlich  viele  Attribute  hat,  deren  jedes  eine  unend- 
liche Essenz  in  ihrer  Art  ansdiückt,  so  muß  also  aus  der  Notwendig- 
keit derselben  Unendliches  auf  unendliche  Weise  folgen. 


')  Eth.  p    T.  pr.   10.  Dem. 


"Wie  folgt  aus  dem  Unbestimmten  das  Bestimmte?  21 


Gegen  diesen  Beweis  wurde  schon  dem  Spinoza  selbst  die  Ein- 
wendung gemacht:  wenn  aus  einer  Definition  mehrere  Eigenschaften 
gesucht  würden,  so  müsse  man  sie  notwendig  auf  anderes  beziehen; 
dann  gingen  aus  dieser  Verbindung  der  Definition  neue  Eigenschaften 
hervor;  mau  könne  aber  nicht  einsehen,  wie  aus  einem  Attribute  an 
und  für  sich  betrachtet,  z.  B.  aus  der  Ausdehnung,  sich  eine  unend- 
liche Menge  von  Körpern  ableiten  lasse,  i)  Spinoza  gibt  hierauf  zu, 
daß  man  aus  dem  Begriffe  der  Ausdehnung  allein  die  Mannigfaltig- 
keit der  Dinge  nicht  beweisen  könne,  daß  man  aber  eben  deshalb 
die  Ausdehnung  definieren  müsse  als  ein  Attribut,  welches  ein  un- 
endliches und  ewiges  Wesen  ausdrückt;  und  behauptet,  daß  man  bei 
realen  Dingen  aus  der  Definition  viele  Eigenschaften  (proprio tates) 
schließen  könne.  »Denn  allein  daraus,  daß  ich  Gott  definiere  als  ein 
Wesen  (ens),  zu  dessen  Wesenheit  (essentia)  die  Existenz  gehört, 
schließe  ich  auf  mehrere  seiner  Eigenschaften,  nämlich,  daß  er  not- 
wendig existiert,  daß  er  einig,  unveränderlich,  unendlich  usw.  sei.«  2) 

Aber  möchte  er  noch  so  viele  Eigenschaften  aus  seiner  Definition 
Gottes  schließen,  so  handelt  es  sich  hier  gar  nicht  um  dergleichen, 
sondern  um  Modifikationen  der  göttlichen  Substanz.  Jene  Eigen- 
schaften, wie  Ewigkeit,  Unendlichkeit,  Einzigkeit,  sind  nämlich  gar 
keine  modi,  keine  näheren  Bestimmungen  der  unendlichen  Ausdehnung 
und  des  unendlichen  Denkens,  sondern  sind  nur  äußere  Bestimmungen 
des  BegTiffs,  welche  aber  nicht  zur  Essenz  Gottes  gehören,  weshalb 
auch  Spinoza  sie  nicht  unter  die  Attribute  Gottes  aufnimmt  (und 
hierin  beiläufig  viel  richtiger  verfährt  als  die  gewöhnlichen  Dog- 
matiker,  welche  solche  proprietates  mit  den  Attributen  durcheinander 
werfen).  Eben  deshalb  aber  beweist  er  damit,  daß  aus  einer  Definition 
dergleichen  Eigenschaften  folgen,  gar  nicht,  daß  auch  Modifikationen 
der  Attribute  daraus  folgen.  Im  65.  Briefe  hatte  ihn  jemand  nach 
dem  gefi-agt,  was  Gott  unmittelbar  hervorgebracht  habe.  Spinoza 
antwortet  im  66.:  Im  Denken:  die  absolut  unendliche  Erkenntnis;  in 
der  Ausdehnung:  Bewegung  und  Ruhe.  Hätte  er  nun  zeigen  wollen, 
daß  aus  der  Definition  des  Attributs  der  Ausdehnung  unendliche 
modi  folgten,  so  hätte  er  also  z.  B.  zuerst  beweisen  müssen,  daß  aus 
der  realen  unendlichen  Ausdehnung  notwendig  Bewegung  folge,  d.  h. 
daß  der  Begriff  derselben  einen  Widerspruch  in  sich  enthalte,  wenn 
sie  nicht  mit  dem  modus  der  Bewegung  gedacht  werde.  Aber  so 
oft  sich   auch  Spinoza   auf  seinen   16.   Satz   des  ersten  Teils  benift, 

')  Epist.  71. 
2)  Epist.  72. 


22  Spinoza. 

wird  man  in  seinen  Schriften  vergeblich  auch  nur  nach  dem  Ansätze 
zu  solch  einem  Beweise  suchen. 

Und  jedenfalls   wäre   auch   ein   solcher   Versuch   vergeblich  ge- 
wesen.    Denn  aus  keiner  Definition  lassen  sich  Folgerungen  ziehen, 
wenn  sie  nicht  auf  einen  andern  Gedanken   bezogen  wird;    und  nur 
nach  der  Yerschiedenheit  solcher  Gedanken   oder  Gesichtspunkte  er- 
geben  sich   verschiedene  Folgen.     Nach   Spinoza  ist   z.  B.   ein  Ki-eis 
eine  Figui",  die  durch  die  Bewegung  einer  an  einem  Ende  festliegen- 
den,  an   dem   andern   Ende   beweglichen   Linie   entsteht.     Wie   folgt 
nun  aus  dieser  Definition,   daß  der  Mittelpunkt  gleichweit  von   allen 
Punkten  der  Peripherie  entfernt  sei?    Offenbar  nur  dadurch,  daß  ich 
den   in   der  Definition   nicht   unmittelbar   ausgedrückten   Begriff   der 
Entfernung   herbeibringe   und   nach   diesem  Gesichtspunkte    das  Ver- 
hältnis  des  Mittelpunkts   zur  Peripherie  bestimme.     Aber  möchte   es 
dem  Spinoza  auch  erlaubt  gewesen  sein,  seine  absolute  Substanz  oder 
deren  Attribute  auf  allerlei  formale  Begriffe,   wie  Zahl,  Zeit,   Ganzes 
und  Teil  u.  dergl.,  zu  beziehen  und  daraus  mancherlei  Eigenschaften 
zu  schließen,    so   handelt   es   sich  hier  gar  nicht,    wie    schon    gesagt, 
um  solche  formale  Folgen,  sondern,  wie   man  aus  den  Corollarien  zu 
jenem    16.  Satze  sieht,    um   reelle  Wirkungen  Gottes.     Denn   es   soll 
daraus   folgen:    »Daß    Gott   die   bewirkende  Ursache   aller  Dinge   ist, 
die   Objekt  des  unendlichen  Verstandes  sein  können;    daß   Gott  Ur- 
sache durch  sich  selbst  ist,  nicht  Ursache  durch  Zufall  (per  accidens); 
daß  Gott   die  unbedingt  erste  Ursache  ist.     Wie  aber  in  aller  Welt 
soll    denn   das   aus   jenem   Beweise   folgen?    Sind    denn  Folgen   und 
Wirkungen  einerlei?    Eine  Wirkung  ist  doch   ein  reelles  Geschehen, 
ein  reeller,  von  aUem  Gedachtwerden  unabhängiger  Zustand  in  einem 
Seienden,    welcher    ohne    eine  Ursache    nicht  sein  würde,    ohne   daß 
darum,  d.  h.  wenn  jene  Wirkung  nicht  wäre,  auch  dasjenige  Seiende, 
welches  als  Ursache  gesetzt  wird,  nicht  wäre.    Folgen  aber  sind  Be- 
stimmungen nicht  eines  einfachen  Seienden,  sondern  eines  Komplexes 
von  Verhältnissen,  welche  als  besondere  Folgen  nur  durch  das  Denken 
herausgehoben  werden,  aber  in  der  Tat  immanente  Verhältnisse  sind, 
ohne  welche  dieser  Komplex  gar  nicht  sein  würde.     Die  Gesamtheit 
der  Folgen    ist   nur   der    nach    allen    möglichen    Innern    und   äußern 
Verhältnissen   dargelegte  Begriff,    und   in    der  Tat   sind   alle   Folgen 
schon  mitgesetzt,  sobald  der  Begriff  gesetzt  ist.    Die  Wirkungen  eines 
Dinges   sind   aber   nicht   eo  ipso   gesetzt,    sobald\das   Ding   existiert. 
Denn  mit  seiner  Existenz  ist  es  noch  nicht  in  alle  möglichen  reellen 
Verhältnisse  zu  andern.  Dingen  gesetzt.    Es  könnte  ja  möglicherweise 
völlig  isoliert  existieren,  dann  hätte  es  gar  keine  Wirkungen. 


"Wie  folgt  aus  dem  ünbestimmtea  das  Bestimmte  V  23 


Wo  also  sollen  die  Wirkungen  Gottes,  der  einzigen  Substanz, 
außer  welcher  es  nichts  gibt,  herkommen?  Yielleicht  aus  den  Innern 
reellen  Yerbältnissen  der  unendlich  vielen  Attribute?  Aber  obwohl 
diese  Attribute  in  ein  und  derselben  Substanz  vereinigt  sind,  so  haben 
sie  eben  nach  Spinoza  selbst  nichts  miteinander  gemein,  stehen  also 
miteinander  in  gar  keinem  Kausalverhältnis.  Die  Ausdehnung  soll 
nicht  das  Denken,  und  das  Denken  nicht  die  Ausdehnung  bestimmen. 
Die  Wirkungen  jedes  Attributs  müssen  sich  aus  ihm  allein  ergeben. 
Aber  wo  ist  nun  die  Ursache  zu  finden,  daß  die  unendliche  überall 
gleiche,  in  sich  unterschiedslose  Ausdehnung  oder  Materie  sich,  sei 
es  durch  unendliche  oder  endliche  Modifikationen,  näher  bestimme 
und  also  verschiedene  Formen  annähme?  Außer  ihr  ist  nichts  vor- 
handen und  in  ihr  selbst  kann  man  auch  keinen  finden.  Oder  sollte 
Spinoza  gemeint  haben,  das  Seiende  als  solches  müsse  notwendig 
auch  als  ein  Wirkendes  gedacht  werden?  Man  könnte  das  aus  der 
oben  angeführten  Äußerung  vermuten,  daß  zwar  aus  dem  bloßen 
Begriffe  der  Ansdehnimg  die  mannigfaltigen  Körper  nicht  geschlossen 
werden  könnten,  daß  man  aber  eben  deshalb  die  Ausdehnung  als 
ein  ewiges  und  unendliches  Wesen  definieren  müsse. 

Aber,  wie  schon  oft  erinnert  ist,  das  absolute  Seiende  kann 
und  darf  nicht  an  sich  als  notwendig  wirkend  gefaßt  werden.  Denn 
das  würde  heißen:  das  Seiende  ist  ohne  seine  Wirkung  in  sich  wider- 
sprechend; es  würde  also  dann  nicht  absolut  an  sich,  sondern  nur 
in  Beziehung  auf  seine  Wirkung  gesetzt.  Hätte  Spinoza  auf  diese 
Weise  die  unendliche  Tätigkeit  seiner  Substanz  beweisen  wollen,  so 
hätte  er  nachweisen  müssen,  daß  das  Wesen  der  Substanz  in  Wahr- 
heit innerlich  widersprechend  sei,  und  dieser  innere  Widerspruch 
es  sei,  der  sie  treibe,  besondere  Modifikationen  anzunehmen.  Dann 
wäre  er  auf  die  Spur  Hegels  geraten.  Aber  weder  dieser  Yersuch, 
aus  dem  im  Wesen  des  einen  Seienden  vorhandenen  Widerspruche 
das  Werden  der  besonderen  Formen  oder  das  Leben  und  Wirken 
der  Substanz  zu  erklären,  noch  ~  und  noch  viel  weniger  —  die 
richtige  Erkenntnis,  daß  nicht  im  W'^sen  des  Seienden,  sondern  in 
den  unwillkürlichen  Begriffen  vom  Gegebenen  Widersprüche  vor- 
handen sind,  welche  das  Triebrad  der  Spekulation  sind,  kann  vom 
Spinoza  und  seiner  Zeit  erwaitet  werden.  Dazu  mußten  erst  die 
Widersprüche    in    den   Begriffen    vom    Gegebenen    wieder    entdeckt 

werden. 

Spinoza  hat  also  gar  keinen  rechtmäßigen  Grund,  von  einem 
Tun  und  Wirken  der  absoluten  Substanz  zu  reden.  Denn  in  den 
Begriffen,   unter  welchen  er  die  absolute   Substanz   denkt,   liegt  gar 


24  Spinoza. 

keine  Notwendigkeit,  daß  in  ihr  besondere  Zustände  oder  Deter- 
minationen entstehen.  Freilich  hat  die  unendliche  Ausdehnung  und 
das  unendliche  Denken  keinen  Sinn,  wenn  diese  Attribute  nicht  auf 
besondere  Körper  und  Gedanken  bezogen  werden.  Aber  diese  not- 
wendige Beziehung  sah  Spinoza  nicht,  und  hätte  er  sie  gesehen,  so 
hätte  er  solche  ihrem  Wesen  nach  relative  Begriffe  nicht  für  das 
absolute  Was  des  Seienden  ausgeben  dürfen.  Er  täuscht  sich  da- 
durch, daß  er  meint,  weil  er  aus  seinem  Begi'iffe  von  der  Substanz 
allerlei  logische  Denkbestimmungen  folgern  könne  und  die  Substanz 
unendlich  sei,  also  imendlich  viele  Folgerungen  aus  ihrem  Be- 
griffe gezogen  werden  könnten,  so  würden  sich  auch  unendlich  viele 
Wirkungen  aus  ihr  ergeben.  Er  ist  also  in  der  gewöhnlichen  Yer- 
wechslung  zwischen  Ursache  und  Grund,  Wirkung  und  Folge  be- 
fangen, und  denkt  sich  in  der  Tat,  wie  wir  sofort  sehen  werden,  die 
Wirkungen  nach  Art  der  logischen  Folgen. 

Nach  diesem  Ergebnis  ist  also  die  ganze  nachfolgende  Rede  von 
der  Wirksamkeit  Gottes  oder  der  Substanz  rein  erschlichen  und  hat 
damit  an  sich  gar  keinen  wissenschaftlichen  Wert.  Indessen  müssen 
wir  ihm  darin  noch  weiter  folgen,  wobei  dieser  gänzliche  Unwert  sich 
in  immer  hellerem  Lichte  offenbaren  wird. 

Da  die  Substanz  oder  Gott  das  einzige  Seiende  ist,  so  folgt 
natürlich,  daß  sie  auch  die  einzige  Ursache  ist,  und  daß  sie  nur 
nach  ihren  eigenen  Gesetzen  und  von  niemand  gezwungen  oder  deter- 
miniert wirkt.  Er  nennt  dies:  Gott  sei  allein  eine  freie  Ursache. i) 
Aber  dies  Prädikat:  fi'ei  hat  bei  ihm  gar  keine  andere  Bedeutung, 
als  daß  jeglicher  Einfluß  einer  andern  Ursache  damit  abgewiesen 
wird.  Er  selbst  verwahrt  sich  gegen  die  Meinung  anderer,  welche 
Gott  darum  frei  nennten,  weil  sie  glaubten,  Gott  könne  bewirken, 
daß  das,  was  in  seiner  Macht  stände,  auch  nicht  geschehe.  Das, 
meint  er,  sei  dasselbe,  als  ob  man  sage,  Gott  könne  bewirken,  daß 
aus  der  Natur  des  Dreiecks  nicht  folge,  daß  seine  Winkel  gleich  zwei 
Rechten  seien.  Er  habe  klar  genug  in  der  16.  Proposition  gezeigt, 
daß  aus  der  Macht  Gottes  alles  notwendig  ausgeflossen  sei,  oder 
immer  mit  derselben  Notwendigkeit  folge;  wie  aus  der  Natur  des 
Dreiecks  von  Ewigkeit  und  in  alle  Ewigkeit  folgt,  daß  seine  drei 
Winkel  gleich  sind  zwei  Rechten.  2) 

Aus  diesen  Aussprüchen  folgt  aber  zunächst,  daß  die  Tätigkeit 
Gottes  nicht  in   einem  geistigen  Sinne  fi-ei  genannt  wird.     Denn  in 

')  Eth.  p.  I.  prop.  17.  Coroll. 
•')  Ibid.  Schol. 


Wie  folgt  aus  dem  Unbestimmten  das  Bestimmte?  25 

diesem  SiDiie  ist  nur  das  Tun  ein  freies,  welches  durch  bewußte 
Gründe  bestimmt  wird,  und  im  höchsten  Sinne  ist  es  frei,  wenn 
diese  Motive  wahr  und  gut  sind.  Also  ein  wertvolles  Prädikat  ist 
die  Freiheit  für  den  Spinozischen  Gott  nicht,  sondern  nur  die  gleich- 
gültige theoretische  Bestimmung,  daß  er  allein  wirke.  Sodann  aber 
sieht  man  hier  deutlich,  wie  Spinoza  das  Wirken  Gottes  eben  nach 
der  Art  notwendiger  logischer  Folgen  denkt.  Er  vergleicht  selbst 
das  Ausfließen  aller  Dinge  aus  der  Macht  Gottes  mit  der  Weise,  wie 
aus  der  Natur  des  Dreiecks  folge,  daß  seine  Winkel  =  2  R.  sind. 
Daraus  ergibt. sich  aber  weiter,  daß  dann  auch  alle  Wirkungen  Gottes 
ewig,  d.  h.  zeitlos  und  unveränderlich,  alle  zumal  und  zugleich  ohne 
irgend  einen  zeitlichen  Verlauf  und  ohne  alle  Veränderung  vorhanden 
sein  müssen;  wie  wir  schon  oben  darauf  aufmerksam  gemacht  haben, 
daß  alle  Folgen  eines  Begriffs  eo  ipso  mit  ihm  selbst  gesetzt  sind, 
mögen  sie  nun  für  unser  Denken  besonders  hervorgehoben  sein 
oder  nicht. 

Hiermit  zeigt  sich  aufs  neue  von  einer  andern  Seite,  daß  die 
wirkliche  gegebene  Welt  nicht  mit  Spinozas  absoluter  Substanz  zu- 
sammenpaßt. Denn  in  dieser  ist  Veränderung,  Wechsel,  Succession 
gegeben;  in  der  Welt  aber,  welche  aus  Spinozas  Substanz  folgen 
könnte,  müßte  alles  ohne  irgend  welche  denkbare  Succession  zeitlos 
und  unveränderlich  feststehen.  Damit  ist  alle  Entwicklung,  alle  Ge- 
schichte verneint;  damit  aber  auch  aller  mögliche  Widersti'eit  unter 
den  Dingen;  denn  ebensowenig  wie  die  notwendigen  Folgen  aus 
einem  wahren  und  vollkommenen  Begriffe  miteinander  streiten  oder 
gar  einander  aufheben  können,  dürfen  es  auch  die  Folgen  oder 
Wirkungen  jener  Substanz.  Wollte  man  aber  den  Spinoza  damit 
verteidigen,  daß  er  selbst  die  Zeit  unter  die  modi  imaginandi  setze, 
welchen  keine  objektive  Wahrheit  zukomme,  daß  er  also  ähnlich  wie 
Kant  das  zeitliche  Nacheinander  bloß  für  eine  subjektive  mensch- 
liche Einbildung  halte,  so  ist  auch  diese  subjektive  Einbildung  nicht 
mit  jener  Substanz  und  ihren  Folgen  verträglich.  Denn  diese  sub- 
jektive Form  ist  ohne  ein  wirkliches,  objektives  Nacheinander  gar 
nicht  denkbar.  Denn  wären  unsere  Gedanken  wirklich  alle  ohne 
Ausnahme  zeitlos  zumal  vorhanden,  folgten  sie  nicht  wirklich  nach- 
einander, so  w^ürde  die  Erscheinung  des  Nacheinander  gar  nicht  vor- 
handen sein.  Denn  wenn  man  auch  sich  dazu  entschließen  wollte 
zu  sagen,  sie  seien  in  Wirklichkeit  ohne  Succession  vorhanden,  das 
Nacheinander  sei  nur  in  ihrer  Apperzeption,  nun  so  wäre  doch  in 
dieser  Apperzeption  selbst  ein  wirkliches  Nacheinander.  Nun  aber 
müßte   diese   successive   Apperzeption   doch  auch  eine  AVirkung   der 


26  Spinoza. 

Substanz  sein;  das  aber  ist  unmöglich.  Denn  wenn  alle  Wirkungen 
Gottes  zeitlos  aus  seiner  Macht  fließen,  so  ist  eine  Succession,  es  sei 
welche  sie  wolle,  damit  gänzlich  unverträglich. 

Plato  und  Spinoza  über  Kausalität. 

Je  größer  sonst  der  Gegensatz  zwischen  Plato  und  Spinoza  ist, 
um  so  mehr  verdient  es  hervorgehoben  zu  werden,  wie  genau  beide 
übereinstimmen  im  Begriff  der  Kausalität.  Beide  denken  hier  die 
logischen  Folgerungen  als  reale  Folgen,  sehen  die  logischen  Verhältnisse 
unter  den  Gedanken  für   reale  Yerhältnisse  unter  den  Dingen  an.i) 

N"ach  Plato  haben  die  Ideen  streng  genommen  keine  Kausalität, 
sie  sind  und  bleiben  sich  selbst  genug.  Die  den  Ideen  im  Phädo 
beigelegte  Kausalität  reduziert  sich  in  Wahrheit  auf  eine  logische 
Unterordnung  des  Besondern  unter  das  Allgemeine.  Dadurch  ist 
etwas  schön,  oder  groß  oder  zwei  usw.,  daß  sich  in  ihm  der  allge- 
meine Begriff  der  Schönheit  oder  der  Größe  oder  der  Zweiheit  usw. 
findet.  Wie  und  wodurch  aber  diese  sogenannte  Teilnahme  geschieht, 
davon  redet  Plato  im  Phädo  nicht,  denn  er  sagt  mit  keinem  Worte, 
daß  sie  durch  eine  Tätigkeit  der  Ideen  entstehe.  Da  ihm  aber  die 
allgemeinen  Begriffe  das  wahrhaft  Seiende  sind,  so  entsteht  ihm  der 
Schein,  daß  das  Sein  derselben  die  Bedingung  ist,  unter  welcher 
allein  die  allgemeinen  Qualitäten  in  den  besonderen  Dingen  enthalten 
sein  können :  gäbe  es  überhaupt  kein  an  sich  Schönes  oder  Großes  usw., 
so  könnten  diese  Qualitäten  sich  auch  nicht  in  den  voi'handenen 
Dingen  finden. 

Die  späteren  Platoniker  liielten  zwar  die  Realität  der  allgemeinen 
Begriffe  fest,  aber  nicht  den  strengen  Begriff  des  wahrhaft  Seienden, 
in  welchem  weder  ein  Tun  noch  Leiden  enthalten  ist,  sondern 
meinten,  das  Seiende  ohne  weiteres  als  ein  Wirkendes  setzen  zu 
müssen,  zumal  Plato  in  seinen  Meinungen  über  die  Idee  des  Guten 
ebenso  verfahren  war,  und  es  dem  nicht  tiefer  N'achdenkenden  über- 
haupt scheint,  daß  von  dem,  was  der  gemeine  Yerstand  als  seiend 
setzt,  Wirkungen  auf  anderes  auszugehen  scheinen.  Da  nun  das 
Yerhältnis  des  Allgemeinen  zum  Besonderen  ein  logisches  ist,  so 
werden  in  dieser  Ansicht  die  logischen  Folgen  unwillkürlich  reale 
Folgen  oder  Verui'sachuugen,  indem  man  von  dem  Realen  auf  die 
Erscheinungen  wie  vom  Allgemeinen  auf  das  Besondere  zu  schließen 
versuchte.  ^ 

1)  Über  den  Begriff  der  Kausalität  bei  Plato  und  Spinoza.     lu  Zeitschrift  für 
exakte  Philosophie  XIX.  304. 


Plato  und  Spinoza  über  Kausalität.  27 

Kein  bekannter  Philosoph  hat  diese  Ansicht  so  deutlich  und 
konsequent  durchgeführt  als  Spinoza.  In  seinem  tractatus  de  intel- 
lectus  emendatione  sagt  er:  die  ewigen  Dinge,  welche  von  Natur  alle 
zugleich  und  die  wahrhaften  Bedingungen  der  veränderlichen  sind, 
sind  in  Wahrheit  singulare  Dinge,  aber  wegen  ihrer  Allgegenwart 
und  weithin  sich  erstreckenden  Macht  verhalten  sie  sich  für  uns  wie 
üniversalien ;  und  ferner:  die  Ideen  (Gedanken,  Begriffe),  welche 
eine  Unendlichkeit  ausdrücken,  bildet  der  Verstand  absolut,  die  be- 
stimmten aber  bildet  er  aus  diesen.  Was  also  der  gewöhnliche  Ver- 
stand, welchen  Spinoza  emendieren  wül,  für  bloße  Allgemeiubegriffe 
hält,  das  sind  ihm  evnge  (d.  h.  zeitlose)  Dinge  und  als  solche  singu- 
lare, da  das,  was  man  als  seiend  ansieht,  überhaupt  einzelne  Dinge 
sind.  Aus  diesen  unendlichen  (d.  h.  unbestimmten)  Dingen  büdet 
der  Verstand  die  bestimmten,  also  die  besonderen  Dinge,  wie  es  ja 
in  der  logischen  Determination  geschieht.  Die  Allgegenwart  und  die 
sich  weithin  ersti'eckende  Macht  ist  die  Übersetzung  logischer  Ver- 
hältnisse ins  Reale,  die  Allgemein  -  Begriffe  sind  in  den  Besonderen 
als  ihre  Merkmale  enthalten,  also  in  ihnen  gegenwärtig,  und  die 
Macht  jener  ist  der  Umfang  der  allgemeinen  Begriffe.  Je  größer 
dieser  ist,  desto  größer  ist  jene  Macht,  und  mit  der  Macht  auch  die 
Realität  des  allgemeinen  Begriffes.  Derjenige  Begriff,  in  dessen  Um- 
fange alle  besonderen  Begriffe  hegen,  ist  also  der  absolut  mächtige 
und  vollkommene.  Diesen  Begriff  findet  Spinoza  in  der  einen  un- 
endlichen Substanz,  welche  er  Gott  nennt:  deus  est  omne  esse,  sine 
quo  datur  non  esse.  (Gott  ist  alles  Sein,  ohne  den  es  kein  Sein  gibt.) 
Dieser  ist  daher  auch  die  alleinige  Ursache  der  Welt  der  vorhandenen 
bestimmten  oder  besonderen  Dinge.  Diese  sind  nur  Modifikationen 
jener  Substanz,  also  nähere  Bestimmungen  des  allgemeinsten  Begriffs, 
welcher  in  ihnen  allen  enthalten  ist.  Daher  ist  der  Gott  allen  Dingen 
immanent.  jSTun  hält  Spinoza  jedoch  nicht  alle  möglichen  AUgemein- 
begriöe  für  real,  sondern  nur  diejenigen,  welche  eine  Qualität  der 
vorhandenen  Dinge  ausdrücken.  Von  diesen  sind  ihm  die  allge- 
meinsten die  Ausdehnung  und  das  Denken,  welche  daher  auch  die 
beiden  uns  allein  bekannten  Attribute  der  einen  Substanz  sind. 

Daß  die  Metaphysik  Spinozas  in  Wahrheit  nur  den  Wert  einer 
logischen  von  oben  herabsteigenden  Klassifikation  hat,  zeigt  sich  be- 
sonders deutlich  in  seinen  Bestimmungen  über  die  Kausalität.  Die 
Kenntnis  der  Wirkungen  hängt  von  der  Kenntnis  der  Ursachen  ab. 
Dasjenige,  was  nichts  miteinander  gemein  hat,  kann  nicht  durch- 
einander erkannt  werden.  Daher  muß  der  Begriff  der  Ursache  immer 
in  dem   der  Wirkung  enthalten   sein.     Diese   Gesetze   sind  für   eine 


28  Spinoza. 

logische  Klassifikation  vollkommen  richtig;  ein  besonderer  Begriff 
kann  nur  einem  solchen  allgemeinen  untergeordnet  werden,  der  in 
ihm  als  Merkmal  zu  finden  ist.  Da  Spinoza  aber  diese  logischen 
Gesetze  auf  das  Reale  anwendet,  so  bedeutet  die  Überordnung  eines 
Begriffs  soviel  wie  seine  Kausalität  und  der  untergeordnete  ist  dessen 
Wirkung.  Daraus  folgt  konsequent,  daß  die  Ausdehnung  und  das 
Denken  nicht  aufeinander  wirken  können,  weil  in  ihnen  kein  gemein- 
sames Merkmal  enthalten  ist.  Aus  dem  logischen  Satze,  daß,  jemehr 
ein  Begriff  allgemein  ist,  desto  größer  sein  Umfang  ist,  folgt  ins 
Reale  übersetzt,  daß  der  größere  Umfang  eine  größere  Macht  be- 
deutet; je  kleiner  sein  Umfang  aber  ist,  desto  kleiner  ist  diese.  Da- 
her sollen  die  ersten  Produktionen  der  unendlichen  Substanz  voll- 
kommener d.  h.  mächtiger  sein,  als  die  nachfolgenden,  wie  man  ja 
auch  in  der  vom  Allgemeinsten  beginnenden  Klassifikation  zu  immer 
mehr  Besonderem  herabsteigt.  Da  endlich  eine  solche  bloß  logische 
Unterordnung  nur  zeigen  kann,  daß  ein  besonderer  Begriff  unter 
einen  allgemeinen  fällt,  nicht  aber  woher  ihm  die  Merkmale  kommen^ 
die  in  dem  allgemeinen  nicht  enthalten  sind,  weil  das  ihr  Greschäft 
nicht  ist,  da  sie  bloß  die  vorhandenen  Begriffe  ordnen  will,  so  kann 
Spinoza  nicht  sagen,  und  sagt  es  auch  nicht,  woher  es  überhaupt 
kommt,  daß  in  der  unendlichen  Substanz  solche  besondere  Deter- 
minationen derselben  vorhanden  sind.  Daher  kümmert  er  sich  auch 
nicht  um  einen  Beweis,  daß  z.  B.  die  obersten  Modifikationen  des 
Attributs  der  Ausdehnung  Ruhe  und  Bewegung  und  die  des  Denkens 
Verstand,  Wille  sind,  sondern  er  nimmt  diese,  wie  alle  andern  Modi- 
fikationen einfach  aus  der  Erfahrung  auf. 

Es  ist  mir  schon  längst  auffällig  gewesen,  daß  Herbart  in  seiner 
sonst  so  lehrreichen  Kritik  Spinozas  (Met.  1,  §  40  ff.)  diese  Über- 
setzung des  Logischen  ins  Metaphysische  nicht  berührt  hat,  obgleich 
er  diesen  Fehler  der  früheren  Metaphysik  neben  den  übrigen  sehr 
wohl  kennt  und  ihn  auch  (1.  c.  S.  81),  aber  fi-eilich  nur  in  einer  An- 
merkung anführt.  Hätte  er  Spinoza  unter  diesem  Gesichtspunkte 
betrachtet,  so  würden  manche  seiner  kritischen  Bemerkungen  meiner 
Ansicht  nach  eine  andere  Gestalt  bekommen  haben. 

So  findet  er  in  dem  Satze,  daß  zwei  Substanzen  nichts  gemein 
haben,  wenn  ihre  Attribute  verschieden  sind,  eine  gefährliche  Zwei- 
deutigkeit. Nichts  gemein  haben,  könne  bedeuten,  unähnlich  sein, 
aber  auch,  daß  dadurch  alle  Gemeinschaft  und  Wechselwirkung  aus- 
geschlossen würde,  und  er  sieht  darin  eine  Mißdeutung  jenes  Satzes, 
daß  Spinoza  dieses  letztere  daraus  schließt  (§  48,  Anm.  2).  Allein 
dieser  mißdeutet  hier  nichts,  sondern  wendet  die  logische  Regel,  daß 


Plato  und  Spinoza  über  Kausalität.  29 

der  allgemeinere  Begriff  in  jedem  ihm  untergeordneten  Begriffe  ent- 
halten sein  muß,  auf  das  Reale  an.  Weil  das  Allgemeine  für  ihn 
das  Reale  ist,  und  die  ihm  untergeordneten  Begriffe  dessen  Wir- 
kungen sind,  so  versteht  sich  ihm  von  selbst,  daß  zwei  Substanzen 
oder  auch  deren  Attribute,  welche  keinen  gemeinsamen  Begriff  als 
ihr  Merkmal  haben,  auch  nicht  aufeinander  wirken  können.  Auf 
dieser  Übersetzung  des  Logischen  in  das  Metaphysische  beruht  eben 
die  das  ganze  System  Spinozas  charakterisierende  Annahme,  daß  die 
beiden  Attribute  der  Substanz  Ausdehnung  und  Denken,  weil  sie 
keinen  gemeinsamen  Begriff  miteinander  haben,  weder  sie  selbst, 
noch  ihre  Folgen  oder  Wirkungen  aufeinander  wirken  können.  Weder 
das  Ausgedehnte,  die  Körper,  noch  das  Denkende,  die  Geister,  stehen 
miteinander  in  Wechselwirkung,  sondern  nur  in  einem  angeblichen 
Parallelismus,  weil  Ausdehnung  und  Denken  die  Attribute  der  einen 
Substanz  sind. 

Einen  anderen  Satz:  diejenige  Wirkung  ist  die  vollkommenste, 
welche  unmittelbar  von  Gott  ausgeht,  jemehr  Mittelursachen  aber 
nötig  sind,  desto  unvollkommener  ist  das  Bewirkte,  leitet  Herbart 
davon  ab,  daß  dem  Spinoza  der  Versuch,  alle  Wertbestimmungeu  zu 
verbannen,  mißlungen  sei.  Hätte  er  die  Konsequenz  seiner  Lehre 
aushalten  können,  so  hätte  er  die  letzten  Wirkungen  Gottes  als 
ebenso  natürlich  anerkennen  müssen,  wie  die  ersten,  und  er  würde 
begriffen  haben,  daß  man  die  Natur  niemals  als  müde  und  matt  dar- 
stellen müsse;  aber  er  hätte  nicht  begriffen,  daß  nach  seiner  Lehre 
alles,  was  ist,  auf  gleiche  Weise  ohne  irgend  eine  Verminderung,  in 
Gott,  mithin  göttlich  sein  müsse  (1.  c).  —  Allein  jener  angegriffene 
Satz  folgt  mit  Notwendigkeit  aus  der  richtig  verstandenen  Lehre 
Spinozas  und  keineswegs  aus  der  von  Herbart  angenommenen  Quelle, 
sondern  aus  dem  ins  Reale  übersetzten  logischen  Satze,  daß,  je  all- 
gemeiner die  Begriffe  sind,  desto  größeren  Umfang,  und  je  weniger 
allgemein,  desto  kleineren  Umfang  sie  haben.  Sieht  man  nun  in 
dem  logischen  Umfange  eine  wirkliche  Macht,  deren  Größe  sich  nach 
der  des  Umfangs  richtet,  so  folgt  jener  Satz  notwendig.  Denn  in 
der  logischen  Determination,  welche  von  dem  Allgemeinsten  beginnt, 
folgen  zuerst  die  Begriffe,  welche  einen  größeren  Umfang  haben, 
und  dann  stufenweise  die  von  immer  kleinerem  Umfange.  Hätte 
Herbart  jenen  Satz  unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachtet,  so  hätte 
er  die  Konsequenz  desselben  anerkennen  müssen,  und  brauchte  sich 
nicht  zu  dem  Vorwurfe  zu  versteigen,  daß  Spinoza  nicht  begriffen 
habe,  daß  nach  seiner  Lehre  alles,  was  ist,  ohne  Verminderung  in 
Gott,   mithin   göttlich   sein  müsse.     Denn  dieses  letztere  hat  Spinoza 


'^Q  Spinoza. 

nie  geleugnet,  wenn  auch  nicht  alles  eine  gleiche  Portion  des  gött- 
lichen Wesens  ist.  Herbart  ist  hier  nur  darin  in  seinem  vollen 
Rechte,  es  zu  tadeln,  daß  in  einer  rein  theoretischen  Wissenschaft 
der  Wert  eines  Dinges  nach  der  Größe  seiner  Macht  bemessen  wird, 
zumal  wenn  unter  dieser  Macht  in  Wahrheit  nur  der  logische  Um- 
fang verstanden  werden  muß. 

Ebendaselbst  bemerkt  er:   Wenn  die  Substanz  sich  in  unendlich 
vielen  Gestalten  zeigen,   unzählige  Modifikationen  annehmen  muß,  so 
verrät  sie,   daß  einfaches  ursprüngliches  Sein  ihr  nicht  genügt;    daß 
vielmehr  etwas  hinzukommen  und  werden  und  wechseln  muß,  damit 
das  vorgebliche  Sein  durch  ein  Geschehen   ergänzt  werde.   —   Allein 
so   ausgedrückt   sind    das    dem   Spinoza    ganz   fremdartige   Gedanken, 
wenn  auch  der  wahre  Grund  für  das  Folgen  unendlich  vieler  Modi- 
fikationen   darin   sich   dunkel   ausgedrückt  findet.     Der  von   Spinoza 
selbst  vorgebrachte  Beweis  ist  allerdings  nichtig.     Er  sagt  nämlich, 
deshalb   folge  aus  der  Substanz  Unendliches,  weil   der  Verstand  aus 
der  Definition  jedes  Dinges  viele  Eigenschaften  schließe,  die  aus  der 
Essenz    desselben   notwendig   folgen.     Damit  ist   indessen    nicht   be- 
wiesen, daß   viele  Dinge   aus   derselben  folgen.     Aus  der  Natur  des 
Dreiecks  folgt  allerdings,    daß  seine   drei  Winkel  =  2  K  sind,   aber 
es  folgt  nicht  aus   der  Substanz,   daß   es  Dreiecke  gibt.     Der  eigent- 
liche Grund,   weshalb   die  Substanz  Folgen   haben   muß,   liegt  darin, 
daß  die  allgemeinen  Begriffe  nur  unter  der  Bedingung  allgemein  sind, 
daß  sie  untergeordnete  Begriffe  haben.    Daher  muß  das  real  gesetzte 
Allgemeine  notwendig  Ursache  und  zwar  eine  immanente  sein,  d.  h. 
der  Begriff  muß  in  allen  ihren  Wirkungen  als  Merkmal  enthalten  sein. 
In  Bezug  auf  die  immanente  Ursache  sagt  Herbart,  bei  Leibniz 
und  Spinoza  liege  der  Grund  der  prästabilierten  Harmonie  zwischen 
den  Dingen  und  ihren  Vorstellungen  in  der  Absicht,  die  causa  tran- 
siens  zu  vermeiden  (1.  c.  §  56).     Bei  Leibniz  ist  diese  Absicht  offen- 
bar; denn  er  hat  den  Widerspruch,   welcher  in  dem  Begriffe  des  in- 
fluxus  physicus  liegt,  erkannt.    Hätte  Spinoza  denselben  Grund   dafür 
gehabt,  so  würde  er  als  Philosoph  einen  viel  höheren  Rang  einnehmen, 
als  ihm  zukommt;  aber  es  findet  sich  bei  ihm  keine  Spur  dieser  Ab- 
sicht.    Der  Grund,   daß   bei  ihm   Gott  oder   die  Substanz    nur  eine 
immanente  Ursache   sein   kann,  liegt  darin,  daß  sie   außerhalb  nicht 
wirken  kann,  weil  außerhalb  derselben  nichts  existiert;  und  in  einem 
etwas    anderen    Grunde,    weil   der  Begriff  dessen,    was   als   Ursache 
gelten  soll,  in  der  Wirkung  enthalten  sein  muß.     Dies  gilt  jedoch  bei 
ihm  nur  hinsichtlich  der  ewigen  Dinge.     Denn  unter  den  besonderen 
Begriffen,  welche  denselben  allgemeinen  Begriff  enthalten,  läßt  er  die 


Plato  und  Spinoza  über  Kausalität.  31 

causa  externa  zu.  Denn  diese  determinieren  einander,  ja  sie  erhalten 
durch  diese  gegenseitige  Determination  ihre  Existenz.  Jedes  einzehie 
Ding,  welches  eine  endliche  und  bestimmte  Existenz  hat,  kann  nur 
durch  eine  andere  auch  endliche  und  bestimmte  Ursache  zum 
Existieren  und  Handeln  determiniert  werden,  und  diese  wiederum 
durch  eine  eben  solche  und  so  fort  ins  Unendliche.  Freilich  ist  jedes 
Ding  zum  Existieren  und  Wirken  von  Gott  determiniert;  aber  was 
eine  endliche  und  bestimmte  Existenz  hat,  konnte  nicht  von  der  ab- 
soluten Natur  eines  Attributes  Gottes  hervorgebracht  werden,  weil  es 
dann  ewig  und  unendlich  wäre;  sondern  es  konnte  nur  aus  einem 
Attribute  Gottes  folgen,  insofern  dieses  durch  eine  endliche  und  be- 
stimmte Modifikation  modifiziert  ist.  —  Hier  findet  sich  also  gar 
keine  Ähnlichkeit  zwischen  Leibniz  und  Spinoza,  weder  in  dem 
Grunde  noch  in  den  Folgen. 

Vergleicht  man  Plato  und  Spinoza,    so  stimmen  beide  allerdings 
in    der   Annahme,   daß    das   Allgemeine    real   ist,    überein,   aber   der 
Grund  derselben  ist  bei  ihnen  durchaus  verschieden.     Plato  sucht  das 
absolut  Seiende,   um  die   Widersprüche   die   im   absolut  Werdenden 
liegen,  zu  vermeiden   und   weil   er  der  Meinung  ist,   daß   die  wahre 
Qualität  desselben  erkennbar  sei,  kann  er  unter  den  gegebenen  Vor- 
stellungen keine  anderen    finden,    welche  jene   Qualität  ausdrücken, 
als  die  allgemeinen  Begriffe,   da   diese    unwandelbar  ewig   dieselben 
sind.     Spinoza  dagegen  hat  zu  dieser  Annahme  keinen  weiteren  Grund 
als  den  hergebrachten   scholastischen   Realismus.     Jener  setzt  ferner 
nicht  ein  einziges  Seiende,   sondern    viele,   weil  viele  allgemeine  Be- 
griffe vorhanden  sind,  dieser  setzt  dagegen  nur   ein  Seiendes.     Jener 
setzt  in  seinem  Wissen  die  Seienden  nicht   als  wahrhaft  bewirkende 
Ursachen,   sondern  nur  insofern   sie  die   Bedingungen  sind,    daß   in 
den  einzelnen  gegebenen  Dingen   die  Qualitäten  der  seienden  Ideen 
sich  finden,   ohne  aber   die   dies    bewirkenden   Ursachen    anzugeben, 
weil  er  sie  nicht  begreifen  kann.     Erst  in  seinen  Meinungen  läßt  er 
die  Idee  des  Guten  als  eine  wirkende  Ursache  hervortreten,  die  aber 
im  Grunde  nicht   alles  ohne  Ausnahme  wirkt,   sondern  nur  das,   was 
richtig  und  schön  ist.     Denn  das  Gute  wirkt  notwendig  nur  das,  was 
seiner  Natur  entspricht.     In  diesem  letzteren  Gedanken  kommt  er  mit 
Spinoza   zusammen,    dessen  Substanz    oder   Gott    auch    nur  nach  der 
Notwendigkeit  seiner  Natur  handelt,  nicht  aber  aus  Einsicht  und  mit 
Willen,  da  Verstand   und  Wille  nicht  zur  natura  naturans,   sondern 
zur   natura   naturata   gehören.     Spinoza   ist  in   dieser  Hinsicht   kon- 
sequenter als  Plato,  da  nach  diesem  im  Timäus  der  gute  Gott  in  be- 
wußter Absicht  die  Welt  so  vollkommen  als  möglich  schafft.    Diese  Ein- 


32  Si)iuoza. 

scbränkung  setzt  er,  weil  er  außer  dem  wirkenden  Gott  noch  eine 
Materie  kennt,  —  welche  notwendig  an  der  Herstellung  des  voll- 
kommenen Guten  hindert,  während  Spinoza  konsequent  die  Ausdehnung 
als  ein  Attribut  Gottes  setzt.  In  der  Konsequenz  der  Ansicht  mag 
also  dieser  jenem  überlegen  sein.  Dagegen  ist  Plato  von  dem  me- 
taphysischen Grundfehler  Spinozas  frei,  welcher  Grade  des  Seins  je 
nach  der  größeren  oder  kleineren  Macht  der  Dinge  annimmt,  die 
Plato  in  seinem  Wissen  nicht  kennt.  Und  hierin,  daß  Plato  den 
richtigen  Begriff  des  Seienden  festhält,  und  nicht  wie  seine  Nach- 
folger das  Seiende  ohne  weiteres  als  verursachend  und  wirkend  setzt, 
liegt  seine  große  Überlegenheit  gegen  Spinoza  und  die  übrigen, 
welche  die  Begriffe  des  Seins  und  Geschehens  zusammenwerfen,  und 
eben  deshalb  das  Seiende  als  ein  absolut  Werdendes  setzen,  und 
diesen  ünbegriff,  gegen  welchen  Plato  seine  Ideenlehre  erfand,  sogar 
wider  seine  deutlichen  Worte  ihm  wieder  in  die  Schuhe  schieben. 
Der  größte  Unterschied  endlich  zwischen  beiden  liegt  darin,  daß 
Plato  eine  absichtlich  wirkende  causa  finalis  kennt,  wogegen  Spinoza 
die  vorhandenen  Dinge  nur  durch  eine  blind  wirkende  causa  efficiens 
entstehen  läßt.  — 

Dieser  Gegensatz  gegen  Plato  zeigt  sich  besonders  im   folgenden. 

Gott  und  Welt. 

Es  handelt  sich  hierbei  besonders  um  die  bei  Spinoza  auf  die 
Freiheit  Gottes  folgende  Lehre  von  dessen  Immanenz.^)  Denn  alles, 
was  ist,  ist  in  Gott  und  muß  durch  Gott  begriffen  werden  und  außer- 
halb Gottes  existiert  keine  Substanz,  die  außer  ihm  in  sich  selbst 
sei.  Da  nämlich  nach  Spinoza  der  Begriff  der  Wirkung  den  der  Ur- 
sache einschließt,  so  muß  in  allen  Begriffen  von  den  Dingen  der 
Begriff  Gottes,  d.  h.  eines  oder  mehrerer  seiner  Attribute  sich  finden. 
Gott  unter  dem  Attribut  der  Ausdehnung  gedacht  oder  die  ausge- 
dehnte Substanz  ist  also  in  allen  Körpern,  wie  der  Begriff  des 
Denkens  in  allem  geistigen  Geschehen;  oder  was  dasselbe  ist:  Jeder 
Körper  ist  ein  bestimmtes  Quantum  der  unendlichen  Ausdehnung  und 
jeder  Gedanke  ein  bestimmtes  Quantum  des  unendlichen  Denkens. 
Die  Substanz  existiert  also  nicht  außer  und  neben  den  wirklichen 
Körpern  und  Geistern,  und  diese  nicht  außer  der  Substanz,  sondern 
sie  selbst  sind  die  Substanz,  und  die  Substanz  ist  diese  Körper  und 
Geister,  insofern  sie  nämlich  als  auf  eine   bestimmte  Art  und  Weise 


')  propr.  18.     Gott  ist  die  ininiauente  aber  nicht  die  transieiite  Ursache  aller 
Diuge. 


Gott  und  Welt.  33 


determiniert  gedacht  wird.  Dasselbe  wird  nun  mit  andern  Worten 
gelehrt,  wenn  es  heißt,  Gott  sei  nicht  nur  die  wirkende  Ursache  der 
Existenz  der  Dinge,  sondern  auch  ihrer  Essenz,  weil  die  Essenz  der 
Dinge  nicht  ohne  Gott  begriffen  werden  kann,  also  der  Begriff  Gottes 
in  ihrer  Essenz  enthalten  ist.  Daraus  folgt  dann,  daß  die  Dinge 
nichts  sind  als  die  Affektionen  der  Attribute  Gottes,  oder  modi,  durch 
welche  die  Attribute]  auf  eine  bestimmte  und  begrenzte  Weise  aus- 
gedrückt werden.^)  Dies  also  ist  der  eigentliche  und  wahre  Sinn 
der  Immanenz  Gottes  in  der  Welt.  2) 

Man  sieht  leicht,  daß  wenn  einmal  eine  absolute  Substanz,  außer 
welcher  nichts  ist  und  sein  kann,  und  wenn  einmal  eine  Welt  end- 
licher Dinge  gegeben  ist,  auch  die  Annahme  notwendig  wird,  daß 
der  Substanz  allein  das  Sein  im  wahren  und  eigentlichen  Sinne  zu- 
kommt, und  daß  die  einzelnen  Dinge  nur  bestimmte  Weisen  der 
Substanz  sein  können,  in  denen  sie  existiert. 

Allein  hier  erhebt  sich  die  Frage  wieder,  wie  folgen  nun  die 
endlichen  Dinge  aus  der  Substanz?  denn  aus  ihr  müssen  sie  doch 
folgen,  wenn  Gott  ihre  Ursache  sein  soll. 

Die  bisher  betrachteten  Äußerungen  des  Spinoza  über  seine  ab- 
solute Substanz:  daß  sie  die  immanente  und  alleinige  wirkende  Ursache 
sowohl  der  Essenz  als  der  Existenz  aller  Dinge  sei,  zeigen  nur  soviel, 
daß,  wenn  einmal  endliche  Dinge  gegeben  sind  und  wenn  man  ein- 
mal eine  absolute  Substanz  angenommen  hat,  auch  die  Annahme  not- 
wendig ist,  daß  der  Substanz  allein  das  Sein  zukommt  und  daß  die 
einzelnen  Dinge  nur  bestimmte  Weisen  sein  können,  wie  die  Substanz 
existiert.  Allein  mit  dem  allen  ist  die  Frage  noch  nicht  beantwortet: 
wie  denn  die  absolute  Substanz  dazu  komme,  in  solchen  endlichen 
und  bestimmten  Weisen  zu  existieren,  oder  wie  aus  den  unendlichen 


^)  propr.  25  und  Coroll. 

')  Gegenwärtig  rühmen  sich  viele  christlichen  Theologen  der  Erkenntnis,  daß 
"Gott  der  "Welt  immanent  sei ;  aber  schwerlich  werden  sie  den  obigen  Begriff  beibehalten 
haben.  Man  meint  eigentlich  nur,  daß  Gott  stetig  in  der  Welt  wirke,  —  was  mau 
früher  einfacher  und  richtiger  die  Aligegenwart  nannte,  —  schmückt  aber  diese 
alte  Lehre  mit  dem  neuen  Namen  der  Immanenz.  Denn  dieser  Begriff  hatte  in 
den  Zeiten,  als  der  moderne  Spinozismus  unter  der  Herrschaft  Schellings  und  Hegels 
blühte,  und  man  durch  deren  Lehren  den  christlichen  Glauben  in  eine  wissenschaft- 
liche Erkenntnis  verwandeln  zu  können  wähnte,  einen  bedeutenden  Nimbus  erlangt, 
so  daß  es  noch  jetzt  wohllautet,  davon  zu  reden,  und  den  Schein  einer  tiefern  Er- 
kenntnis und  höherer  Wissenschaftlichkeit  gewährt.  Andere,  welche  die  Danaer- 
geschenke des  Spinozismus  verschmähen,  jnüssen  sich  deshalb  den  Namen  Deisteu 
gefallen  lassen.  Über  die  Immanenz  Gottes  vgl.  0.  Flügel,  Zur  Philosophie  des 
Christentums.     1899.     S.  73. 

Religionsphilosophie:  Spinoza.  3 


34  Spinoza. 

Attributen  Gottes  die  endlichen  Dinge  folgen?  Auf  die  Beantwortung 
dieser  Frage  muß  man  aber  um  so  gespannter  sein,  als  Spinoza  aus- 
drücklich gelehrt  hat,  daß  aus  der  absoluten  Natur  eines  Attributs 
nur  Ewiges  und  Unendliches  folgen  kann,  i) 

Auf  diese  Frage  aber  wird  man  in  allen  Schriften  Spinozas  keine 
andere  Antwort  finden,  als  welche  die  berühmte  28.  Proposition  des 
ersten  Teils  seiner  Ethik  enthält:  Jedes  Einzelne  oder  jedes  Ding, 
das  endlich  ist  und  eine  bestimmte  Existenz  hat,  kann  nur  existieren 
und  zum  Wirken  bestimmt  werden,  wenn  eine  andere  Ursache  es 
zum  Existieren  und  Wirken  bestimmt,  die  gleichfalls  endlich  ist  und 
eine  bestimmte  Dauer  hat;  und  diese  Ursache  wiederum  kann  auch 
nur  existieren  und  zum  Wirken  bestimmt  werden,  wenn  eine  andere, 
die  gleichfalls  endlich  ist  und  eine  bestimmte  Dauer  hat,  sie  zum 
Existieren  und  Wirken  bestimmt,  und  so  weiter  ins  Unendliche. 

Aber   ist   denn   das   eine  Antwort?    Wenn  es  in  dem   Beweise 

dieses  Satzes  heißt:   „Was  zum  Existieren  und  Wirken   determiniert 

ist,  ist  von  Gott  so  determiniert;   aber  das  Endliche   konnte  von  der 

absoluten  Natur  eines  Attributes  Gottes  nicht  hervorgebracht  werden 

—    weil    daraus   nur   Unendliches   und    Ewiges   folgen   kann    — ;    es 

mußte   aus   einem   Attribute   Gottes   folgen,    insofern   dieses   Attribut 

durch    eine    Modifikation,    welche    eine    endliche    und    determinierte 

Existenz  hat,  modifiziert  war.    Diese  Ursache  aber,  oder  dieser  modus, 

mußte  wiederum  aus  demselben  Grunde  von  einem  andern  endlichen 

modus  determiniert  werden,  und  dieser  letzte   wiederum  von  einem 

andern  endlichen  und  sofort  ins  Unendliche",  —  so  ist  dieser  Beweis 

vollkommen  richtig,  wenn  bewiesen  werden  sollte,  daß  die  unendliche 

Substanz  gar  nicht  als  auf  endliche  Weise  modifiziert  gedacht  werden 

dürfe,  denn  aus  der  absoluten  Natur  der  unendlichen  Substanz  folgen 

die  endlichen  Dinge  nicht ;  eine  andere  Ursache  derselben  aber  kann 

es  nicht  geben;   denn  diese  müßte  in  einer  andern  Substanz  außer 

jener  liegen;  eine  solche  aber  gibt  es  nicht,  da  die  absolute  Substanz 

allein   existiert.     Also  kann   diese  gar  nicht  endlich   modifiziert  sein, 

und  es  kann  gar  keine  endliche  Dinge  geben,   d.  h.  das  Gegebensein 

der  endlichen  Dinge  und  die  Annahme  jener  absoluten  Substanz  sind 

absolut  unvereinbar.    Dasselbe  Resultat  ergibt  sich,  wenn  man  darauf 

achtet,   daß   die   Existenz   der    endlichen  Dinge   einen  progressus  in 

infinitum  (Fortschritt  ins  Unendliche)  von  Ursachen  in  aufsteigender 

Linie  voraussetzt.    Einen  solchen  progressus  aber  setzen  oder  sagen: 

es  gibt  gar  keine  solche  Ursachen  und  solche  Wirkungen,  ist  völlig 


')  Eth.  p.  ].  Prop.  21. 


Gott  und  Welt.  35 


dasselbe.  Denn  jede  dieser  Wirkungen  existiert  nur,  insofern  die 
vorhergehende  existiert;  nun  kommt  man  aber  in  einer  unendlichen 
Keihe  niemals  zu  der  letzten  und  eigentlichen  Ursache,  welche  die 
ganze  Reihe  determiniert;  fehlt  aber  die  letzte  Ursache,  so  fehlen 
auch  alle  Wirkungen,  i) 

Spinoza  gesteht  also  im  Grunde  selbst  ein,  daß  gar  keine  Möglich- 
keit da  ist,  zu  begreifen,  wie  die  endlichen  Dinge  aus  der  Substanz 
gefolgt  sein  können ;  daß  also  hier  eine  unausfüllbare  Kluft  in  seinem 
Systeme  vorhanden  ist.  Und  diese  allein  reicht  schon  hin,  um  es 
gänzlich  unbrauchbar  zu  machen.  Aber  er  scheint  diese  Kluft  gar 
nicht  gesehen,  sondern  sich  dabei  beruhigt  zu  haben,  daß,  da  auf  der 
einen  Seite  die  endlichen  Dinge  vorhanden  sind,  und  auf  der  andern 
die  Eine  absolute  Substanz  notwendig  (nach  seiner  Meinung)  an- 
genommen werden  muß,  auch  die  endlichen  Dinge  auf  irgend  eine 
Weise  aus  ihr  folgen  müssen,  da  er  ja  bewiesen  zu  haben  glaubte, 
daß  aus  der  unendlichen  Substanz  Unendliches  auf  unendliche  Weise 
folgen  müsse. 

Vielleicht  möchte  man  zur  Entschuldigung  des  Spinoza  darauf 
hinweisen  wollen,  daß  er  sich  doch  hier  nur  mit  aller  menschlichen 
Wissenschaft  in  demselben  Falle  befinde.  Denn  noch  niemand  hat 
die  Schöpfung  der  Welt  begreifen  können.  Allein  der  Eali  liegt  doch 
bei   Spinoza   ganz    anders.      Wenn    etwa    eine    theistische   Religions- 


^)  Man  könnte  sich  vielleicht  versucht  fühlen,  hiergegen  einzuwenden:  dieser 
Beweis  des  Spinoza  sei  nur  darin  ungeschickt,  daß  er  sich  auf  eine  unendliche  Eeihe 
voneinander  voraussetzenden  Ursachen  und  Wirkungen  einlasse.  Seine  eigentliche 
Meinung  sei  doch  vielmehr,  daß  alle  Determinationen  gleichsam  mit  einem  Schlage 
vorhanden  seien;  wenn  man  aber  alle  zumal  setze,  so  habe  man  nicht  nötig,  die 
eine  gleichsam  auf  die  andere  warten  zu  lassen,  weil  sich  nun  alle  zumal  gegenseitig 
determinieren.  Auf  diese  Weise  sucht  z.  B.  Lotze  (Mikrokosm.  Bd.  3,  S.  468)  dem 
Einwände  gegen  seine  ähnliche  Ansicht  auszuweichen,  daß  nämlich,  wenn  das  Sein 
jedes  Dinges  das  Sein  des  anderen  voraussetzt,  keins  sein  kann,  ehe  sein  Fundament, 
das  andere,  ist.  Er  meint:  waram  denn  die  weltschaffende  Macht  so  einarmig  sein 
müsse,  um  immer  nur  ein  Element  auf  einmal  zu  setzen?  Hiermit  will  er  offenbar 
andeuten,  jener  Einwurf  werde  verschwinden,  wenn  man  nur  denke,  daß  jene  ein- 
ander voraussetzenden  Dinge  alle  auf  einmal  und  zugleich  vorhanden  seien.  Allein 
diese  Ausflucht  ist  nur  scheinbar.  Denn  man  setzt  dann  unvermerkt  die  Dinge 
jedes  selbständig  an  sich  ohne  eine  Beziehung  auf  die  andern,  und  vergißt  dabei 
seine  eigene  Behauptung,  daß  das  Was  eines  jeden  Dinges  nur  in  den  Beziehungen 
zu  den  andern  bestehen  soll.  Sollen  sich  endliche  Dinge  einander  determinieren, 
so  müssen  sie  notwendig  an  sich  etwas  sein,  ohne  diese  gegenseitige  Determinationen, 
denn  sonst  ist  nichts  da,  das  sich  determiniert.  Setzt  man  das  Was  der  Dinge  nur 
in  die  gegenseitigen  Beziehungen,  so  setzt  man  notwendig  Beziehungen  ohne  Be- 
zogenes und  versucht  das  Sein  aus  dem  Nichts  zu  weben.  Über  Lotze  vgl.  Zeit- 
schrift für  exakte  Philosophie  VIII,  36. 

3* 


3ß  Spinoza. 

Philosophie  bekennt,  die  Schöpfung  der  Welt  durch  Gott  nicht  zu  be- 
greifen, so  wird  sie,  wenn  sie  irgend  besonnen  ist,  schwerlich  damit 
sagen  wollen :  Ich  habe  eine  adäquate  Erkenntnis  von  Gott  und  dieser 
mein  adäquater  Begriff  Gottes  enthält  die  Unmöglichkeit,  daß  Gott 
die  Welt  geschaffen  habe;  vielmehr  wird  sie  bekennen,  daß  sie  gar 
nicht  die  Mittel  hat,  vom  Wesen  und  Wirken  Gottes  einen  so  exakten 
Begriff  zu  erlangen,  um  in  deutlicher  Erkenntnis  das  Wie  der  Schöpfung 
einsehen  zu  können;  sie  wird  also  diese  Unmöglichkeit  in  der  für 
alle  Menschen  gemeinsamen  subjektiven  Dunkelheit  der  Gotteserkenntnis 
finden.  Spinoza  dagegen  behauptet  einen  adäquaten  Begriff  von  Gott 
zu  haben,  und  dieser  exakte  Begriff  ist  es  eben  selbst,  welcher  ver- 
bietet, die  Welt  des  Endlichen  zu  setzen. 

Ebenso  nichtssagend  würde  die  andere  Ausflucht  sein,  daß  alle 
die  endlichen  Bestimmungen,  durch  welche  die  Dinge  diese  und  keine 
andern  sind,  ja  nur  Negationen  seien,  von  denen  natürlich  das  Posi- 
tive (die  Substanz)  die  Ursache  nicht  sein  könne.  Denn  damit  sagt 
man  eben  selbst,  daß  es  unmöglich  sei,  zu  begreifen,  wie  die  positive 
Substanz  dazu  komme,  mit  allerlei  Negationen  behaftet  zu  sein.  Die 
Meinung  aber,  als  ob  bloß  der  menschliche  Verstand,  also  eine  be- 
schränkte Erkenntnis,  diese  Negationen  schaffe,  daß  eine  vollkommene 
Erkenntnis  dagegen  nur  das  Positive  schauen  würde,  ist  nicht  allein 
dem  Spinoza  völlig  fremd,  der  die  endlichen  Dinge  unabhängig  vom 
menschlichen  Verstände  wirklich  existieren  läßt;  sondern  vergißt  auch, 
daß  diese  endliche,  abstrakte  Erkenntnis,  die  selbst  eine  Negation  ist, 
doch  auch  in  der  absoluten  Substanz  vorgehen  muß,  und  also  immer 
die  Frage  übrig  bleibt:  woher  die  Negationen  in  dem  absolut  Posi- 
tiven? 

Die  letzte  Schuld  dieses  Mißgeschicks,  welches  hier  den  Spinoza 
trifft,  liegt  an  seinem  Kausalbegriffe,  welcher,  wie  gezeigt  ist,  weiter 
nichts  ist,  als  das  als  real  gedachte  logische  Verhältnis  der  Über-  und 
Unterordnung  der  Begriffe.  Das  Allgemeine  wird  als  Ursache,  das 
Besondere  als  Wirkung  angesehen.  Nun  aber  liegt  das  Spezifische 
des  Besonderen  nicht  in  dem  Allgemeinen,  also  kann  es  auch  nicht 
aus  ihm  folgen.  Das  hätte  Spinoza  -mit  nur  einiger  Aufmerksamkeit 
schon  selbst  sehen  müssen;  da  es  aus  seinem  eigenen  Axiom,  daß 
die  Wirkung  den  Begriff  der  Ursache  in  sich  schließen  müsse,  un- 
mittelbar folgt.  1)  Denn  nimmt  man  z.  B.  den  Begriff  eines  Vierecks, 
so  ist  in  ihm  wohl  der  Begriff  der  Ausdehnung  enthalten,  und  es 
könnte  danach  das  Attribut  der  Ausdehnung  als  seine  Ursache  ange- 

^)  Eth.  p.  1.  Ax.  4. 


Gott  und  Welt.  37 


sehen  werden;  aber  der  Begriff  Vier  enthält  nicht  den  Begriff  der 
Ausdehnung,  also  kann  diese  Figur  in  ihrer  besonderen  Bestimmtheit, 
als  Viereck  nicht  eine  Folge  jenes  Attributs  sein.  Hätte  also  Spinoza 
seinen  eigenen  Sätzen  schärfer  nachgedacht,  so  hätte  er  finden  müssen, 
daß  sein  Kausalbegriff  überhaupt  nichts  taugte,  um  eine  Wirkung  aus 
ihrer  Ursache  zu  erklären. 

Nachdem  er  nun  auf  diese  Weise  die  Welt  des  Endlichen  ge- 
wonnen hat,  beweist  er  weiter,  daß  es  in  derselben  nichts  Zufälliges 
gibt,  sondern,  daß  alles  aus  der  Notwendigkeit  der  göttlichen  Natur 
bestimmt  ist,  auf  gewisse  Weise  zu  existieren  und  zu  handeln,  i)  Diese 
Annahme  folgt  natürlich  aus  seiner  ganzen  Ansicht  vom  Kausal- 
zusammenhange. Denn  wenn  man  das  Verhältnis  von  Ursache  und 
Wirkung  ansieht,  wie  ein  sich  Ergeben  der  Folgen  aus  ihren  Gründen 
beim  Erkennen,  so  muß  man  eine  absolute  Notwendigkeit  in  jenem 
Zusammenhange  annehmen.  Die  Folge  liegt  also  notwendig  in  ihrem 
Grunde,  oder  sie  ist  gar  keine.  Denn  wäre  es  möglich,  aus  ein  und 
demselben  Grunde  zwei  entgegengesetzte  Folgen  zu  ziehen,  so  wären 
beide  gar  keine  Folgen.  Wäre  es  z.  B.  möglich,  daß  einige  Eadien 
eines  Kreises  länger  wären  als  andere,  so  würde  aus  dem  Begriffe 
des  Kreises  weder  folgen,  daß  sie  gleich,  noch  daß  sie  ungleich  lang 
wären.  —  Wird  also  die  Kausalität  der  Substanji  so  gedacht,  wie  ein 
Begründen  von  Folgen,  so  ist  es  nur  konsequent,  alle  Möglichkeit  des 
Andersseins  in  der  Welt  zu  leugnen. 

Hierbei  läßt  sich  Spinoza  auf  eine  Polemik  gegen  die  gewöhn- 
liche Ansicht  ein,  daß  die  Welt  durch  den  freien  Willen  Gottes  ge- 
schaffen sei.  Diese  Polemik  ist  aber  für  uns  von  großer  Wichtigkeit, 
weil  sich  bei  ihrer  Gelegenheit  die  Unvereinbarkeit  der  spinozischen 
absoluten  Substanz  mit  einem  religiösen  Gottesbegriffe  in  deutliches 
Licht  stellt. 

Als  Vorbereitung  für  seinen  Beweis,  daß  in  Gott  gar  kein  freier 
Wille  gedacht  werden  dürfe,  führt  er  den  Unterschied  zwischen  der 
natura  naturans  und  natura  naturata  ein.  Jene  besteht  aus  solchen 
Attributen  der  Substanz,  welche  eine  e\7ige  und  unendliche  Wesen- 
heit ausdrücken,  oder  sie  ist  —  Gott,  insofern  er  als  freie  Ursache 
betrachtet  wird.-)  Diese  Freiheit  aber  besteht  darin,  daß  Gott  bloß 
nach  der  Notwendigkeit  seiner  eigenen  Natur  handelt,  und  sie  ist  ein 
unterscheidendes  Merkmal  Gottes:    er   allein  ist  eine  freie  Ursache.  3) 


M  a.  a.  0.  Prop.  29. 

')  a.  a.  0.  Prop.  29.  Schol. 

=*}  Prop.  17.  Coroll.  2. 


38  Spinoza. 

Wenn  man  also  einen  Unterschied  zwischen  Gott  und  seinen  Er- 
zeugnissen oder  der  "Welt  machen  will,  so  ist  die  natura  naturans 
und  was  zu  ihr  gehört,  allein  Gott;  alles  aber,  was  zur  natura  naturata 
gehört,  muss  zu  den  Erzeugnissen  Gottes  oder  zur  Welt  gerechnet 
werden;  denn  diese  natura  naturata  besteht  aus  allen  modis  der  Attri- 
bute Gottes,  sofern  sie  als  Dinge  betrachtet  werden,  die  in  Gott  sind 
und   die   ohne   Grund   weder   sein   noch  begriffen    werden  können,  i) 

Zu  dieser  natura  naturata  gehören  nun  aber  aller  Verstand  und 
Wille.  Denn  sie  sind  nicht  das  absolute  Denken  selbst,  sondern  nur 
modi  desselben,  welche  sich  von  andern  modis,  wie  Begierde,  Liebe 
u.  dgl. ,  unterscheiden.  '^)  Deshalb  kann  kein  Wille  eine  freie,  sondern 
nur  eine  notwendige  oder  gezwungene  (coacta)  Ursache  genannt  werden, 
denn  als  ein  modus  kann  der  Wille,  wie  jeder  andere  modus,  nur 
dadurch  existieren,  dass  eine  andere  Ursache  vorhanden  ist,  durch 
welche  er  determiniert  wird.  Wenn  Gott  also  auch  aus  der  Freiheit 
seines  Wesens  handelt,  so  doch  nicht  aus  der  Freiheit  des  Willens.  3) 
Denn  der  Wille  gehört  eben  nicht  zur  natura  naturans,  d.  h.  zur 
Natur  Gottes,  wenn  man  ihn  im  Unterschiede  von  seinen  Erzeugnissen 
als  die  alleinige,  höchste  und  freie  Ursache  auffaßt.  Spinoza  sagt 
deshalb  ausdrücklich:  Wille  und  Verstand  verhalten  sich  zur  Natur 
Gottes  so  wie  Bewegung  und  Ruhe  und  überhaupt  alles  Natürliche, 
was  von  Gott  zum  Existieren  und  Wirken  auf  gewisse  Weise  de- 
terminiert werden  muß.  Und  wenn  auch  aus  einem  angenommenen 
(data)  Willen  oder  Verstände  Unendliches  folgte,  so  könnte  doch 
deshalb  nicht  mit  größerem  Rechte  gesagt  werden,  Gott  handle  aus 
der  Freiheit  des  Willens,  als  deswegen,  weil  aus  Bewegung  und  Ruhe 
Unendliches  folgt,  gesagt  werden  kann,  Gott  handle  aus  der  Freiheit 
der  Bewegung  und  Ruhe;  deshalb  gehört  der  Wille  nicht  mehr  zur 
Natur  Gottes  als  Bewegung  und  Ruhe  und  alles  Übrige,  was  aus  der 
Notwendigkeit  der  göttlichen  Natur  folgt. '^) 

Also,  schließt  Spinoza  aus  dem  allen,  konnten  die  Dinge  auf 
keine  andere  Weise  und  in  keiner  andern  Ordnung  von  Gott  ge- 
schaffen werden,  als  sie  geschaffen  sind.  Wenn  wir  daher  die  Dinge 
zufällig  nennen,  so  geschieht  es  nur,  weil  wir  die  Ordnung  derselben 
nicht  erkennen.  5) 


')  Prop.  29.  Schol. 

'')  Prop.  32. 

")  Ibid.  CoroU.  1. 

*)  a.  a.  0.  Prop.  32.  CoroU. 

'')  Prop.  33. 


Gott  und  Welt.  39 


Insofern  Spinoza  hier  diejenigen  bestreitet,  welche  alles  einer 
absolut  indifferenten  Willkür  Gottes  unterwerfen,  wird  man  ihm  bei- 
stimmen müssen;  denn  jene  heben  mit  ihrer  Behauptung  in  der  Tat 
alle  Vernunft  und  Weisheit  in  Gott  auf.  Allein  jene  sind  nicht  seine 
eigentlichen  Gegner;  diese  findet  er  vielmehr  in  denen,  welche  an- 
nehmen, daß  Gott  mit  Rücksicht  auf  das  Gute  handle.  „Ich  gestehe, 
daß  diese  Meinung,  die  alles  einem  indifferenten  Willen  Gottes 
unterwirft  und  von  seinem  Gutdünken  alles  abhängen  läßt,  weniger 
von  der  Wahrheit  entfernt  ist,  als  die  Meinung  derer,  die  behaupten, 
Gott  tue  alles  im  Hinblick  auf  das  Gute.  Denn  diese  nehmen  damit 
etwas  außerhalb  Gottes  an,  was  von  Gott  nicht  abhängt,  auf  das  Gott 
beim  Handeln  wie  auf  ein  Vorbild  hinblickt  oder  auf  das  er  wie 
auf  ein  bestimmtes  Ziel  hinstrebt.  Dies  heißt  in  der  Tat  nichts  als 
Gott  dem  blinden  Schicksal  unterwerfen,  und  etwas  Ungereimteres 
kann  man  von  Gott  nicht  behaupten.-' i)  Und  allerdings  ist  diese 
zuerst  von  Plato  vertretene  Weltansicht  der  spinozischen  unvereinbar 
entgegengesetzt.  Denn  für  diese  sind  die  Dinge,  Zustände  und  Vor- 
gänge der  Welt  in  der  Art  absolut  notwendig,  dass  sie  durchaus 
unabsichtliche  Folgen  aus  den  Attributen  Gottes  sind,  an  denen  durch 
keine  Einsicht  und  keinen  Willen  irgend  etwas  geändert  werden  kann. 
Daß  ich  existiere,  und  dieses  oder  jenes  vornehme  oder  denke,  ist 
ebenso  absolut  notwendig,  als  daß  ein  Dreieck  drei  Winkel  hat. 
Diese  Ansicht  ist  aber  eine  notwendige  Folge  davon,  daß  Spinoza  den 
Kausalzusammenhang  als  einen  als  real  gedachten  Zusammenhang 
von  Gründen  und  Folgen  auffaßt.  Ebendeswegen  ist  es  für  ihn  un- 
möglich, Einsicht  und  Willen  in  die  Reihe  der  Ursachen  mitauf- 
zunehmen, denn  sonst  müßte  er,  wie  er  meint,  auch  zulassen  können, 
daß  ein  A^erstand  und  Wille  die  Ursache  sei,  daß  ein  Dreick  drei 
und  nicht  vier  Winkel  habe.  Freilich  unterwirft  er  mit  dieser  seiner 
Ansicht  seinen  Gott  nicht  dem  fatum,  denn  die  Notwendigkeit  ist 
eine  Notwendigkeit  Gottes  selbst,  aber  dafür  ist  dieser  Gott  selbst 
das  fatum,  die  absolute  Vorherbestimmtheit  ohne  allen  Zweck,  Der 
Einwand  aber  gegen  die  platonische  Ansicht  ist  offenbar  töricht. 
Denn  die  Meinung,  daß  Gott  durch  Rücksichtnahme  auf  das  Gute 
einem  fatum  unterworfen  werde,  setzt  voraus,  daß  man  die  Muster- 
bilder des  Guten,  auf  welche  er  schaut,  als  reale  Ursachen  denkt, 
welche  außer  Gott  vorhanden  sind,  und  daß  dieselben  auf  Gott 
physisch  einwirken,  so  daß  er  durch  sie  ohne  alles  Mittel  eines  be- 
wußten AVoUens  bestimmt  werde.    Selbst  Plato  hat  die  Realität  seiner 


1)  a.  a.  0.  Prop.  33.  Schol.  2. 


40  Spinoza. 

Ideen  nicht  auf  diese  Weise  gedacht,  und  heutzutage  wird  sich 
noch  viel  weniger  ein  Besonnener  eine  solche  Vorstellung  von  der 
AVirksamkeit  und  Kealität  der  ästhetischen  und  ethischen  Ideen  machen. 
Dieser  ausdrückliche  Gegensatz  aber  und  die  offenbare  Gering- 
schätzung der  platonischen  Weltanschauung  zeigen  mit  großer  Deut- 
lichkeit, wie  wenig  Spinoza  daran  denkt,  seinem  Gotte  das  zuzu- 
schreiben, was  sonst  für  das  charakteristische  des  vernünftigen  Selbst- 
bewußtseins geachtet  wird,  das  bewußte  Handeln  nach  Erkenntnis. 
Folgerichtig  kann  auch  gar  nicht  daran  gedacht  werden,  daß  Spinoza 
seinem  Gotte,  der  absoluten  Substanz,  ein  bewußtes  Wollen  und 
Handeln  zugeschrieben  habe.  Denn  zu  der  natura  naturans,  der 
Substanz  oder  dem  Gotte  als  solchen,  gehört  nur  das  absolute  Denken 
und  die  absolute  Ausdehnung;  folglich  ebensowenig  ein  bestimmter 
Gedanke  als  ein  bestimmter  Körper.  Der  Verstand  (intellectus) 
und  der  Wille  also,  welche  als  wirkliche  nur  aus  besonderen 
Ideen  und  deren  Verbindung  untereinander  bestehen,  können 
nicht  zur  Essenz  der  Substanz,  sondern  nur  zu  deren  Folgen, 
oder  zu  den  Wirkungen  Gottes  gerechnet  werden.  Daher  sagt 
Spinoza  selbst:  Wenn  zum  ewigen  Wesen  Gottes  Verstand  und 
WMlle  gehören,  so  muß  unter  diesen  beiden  Attributen  etwas  ganz 
anderes  verstanden  werden,  als  die  Menschen  gewöhnlich  zu  tun 
pflegen.  Denn  ein  Verstand  und  Wille,  welche  das  Wesen  Gottes 
bildeten,  müßten  von  unserem  Verstände  und  Willen  unendlich  weit 
verschieden  sein,  und  könnten  in  keiner  Sache,  als  bloß  im  Namen 
übereinstimmen:  so  wie  das  Sternbild  Hund  und  das  bellende  Tier 
Hund  dem  JSFamen  nach  übereinstimmen.  ^)  Hierbei  ist  zum  richtigen 
Verständnis  zu  bemerken,  daß  Spinoza  nicht  von  dem  intellectus 
infinitus  Dei  (unendlichen  Verstände  Gottes)  spricht,  von  dem  unser 
Verstand  ein  Teil  ist  —  denn  dieser  intellectus  ist  eine  Wirkung 
des  Attributs  des  unendlichen  Denkens  — ,  sondern  nur  von  einem 
hypothetisch  angenommenen  Verstände  und  Willen,  welche  nicht 
Wirkungen  oder  modi  eines  Attributs,  sondern  Attribute  selbst  wären. 
Diese  würden  natürlich  nur  den  Namen  mit  unserem  Verstände  und 
AVillen  gemein  haben  können;  denn  jene  könnten  als  Attribute  Gottes 
gar  kein  Denken  sein,  weil  jedes  Attribut  Gottes  nur  einmal  existiert. 

Selbstbewußtsein  Gottes. 

Hier  wird  der  Ort  sein,  noch  mit  einigen  Worten  die  Frage  zu 
besprechen,  ob  Spinoza  wenn  auch  inkonsequent,  seinem  Gotte  Selbst- 

')  a.  a.  0.  Prop.  17.  Schol. 


Selbstbewußtsein  Gottes.  4]_ 


bewußtsein  zugeschrieben  habe.  Manche  Stellen  der  Ethik  scheinen 
diese  Annahme  zu  begünstigen,  namentlich  die  bekannte:  In  Gott 
gibt  es  notwendig  eine  Idee  von  seiner  Wesenheit  und  von  allem, 
was  aus  seiner  Wesenheit  notwendig  folgt. 

Die  Idee  Gottes,  aus  der  unendlich  vieles  auf  unendlich  viele 
Weisen  folgt,  kann  nur  eine  einzige  sein. 

Wir  haben  gezeigt,  daß  Gott  mit  derselben  Notwendigkeit  handelt, 
mit  der  er  sich  selbst  erkennt,  d.  h.  sowie  aus  der  Notwendigkeit  der 
göttlichen  Natur  folgt  (wie  alle  einstimmig  annehmen),  daß  Gott  sich 
selbst  erkennt,  so  folgt  auch  mit  derselben  Notwendigkeit,  daß  Gott 
unendlich  vieles  auf  unendlich  viele  Weisen  tut.  i)  Allein  weder  das 
„in  Gott  gibt  es"  noch  das  ,,er  erkennt  sich  selbst",  zwingt  dazu,  ein 
solches  Selbstbewußtsein  Gottes  anzunehmen,  das  nicht  mit  dem 
Wissen  von  Gott,  welches  in  der  Welt  ist,  ein  und  dasselbe  wäre. 
Denn  bei  Spinoza  ist  alles  in  Gott,  und  alles  Erkennen  Gottes, 
welches  in  der  Welt  ist,  kann  von  ihm  als  ein  Sichselbsterkennen 
Gottes  bezeichnet  werden.  Außerdem  aber  führt  Spinoza  diese 
Sätze  gar  nicht  an,  um  von  einem  überweltlichen  Selbstbewußt- 
sein Gottes  zu  reden,  sondern,  wie  aus  der  sofort  folgenden 
Proposition  hervorgeht,  um  den  Grund  zu  dem  Beweise  zu  legen, 
daß  die  Ideen  Gott  nur  zur  Ursache  haben,  insofern  er  ein  denkendes 
Wesen  ist. 

Am  scheinbarsten  könnte  dieses  Selbstbewußtsein  Gottes  auf  die- 
selbe Weise  aus  Spinozas  Sätzen  zu  folgen  scheinen,  wie  das  mensch- 
liche Selbstbewußtsein.  Wie  es  nach  ihm  nämlich  notwendig  eine 
Idee  der  Idee  des  menschlichen  Körpers,  oder  eine  Idee  des  Geistes 
gibt,  und  die  Idee  ein  wirkliches  Denken,  nicht  bloß  ein  Bild  ist, 
diese  Idee  aber  des  menschlichen  Geistes  mit  ihm  notwendig  ver- 
bunden ist,  2)  so  könnte  man  schließen  wollen,  muß  es  auch  von  den 
unendlich  vielen  Attributen  Gottes  von  jedem  eine  Idee  geben  und 
namentlich  auch  eine  Idee  des  Attributs  des  Denkens.  Alle  diese 
Ideen  müssen  nun  notwendig  in  der  Einen  Substanz  ebenso  vereinigt 
sein,  als  die  Attribute  in  derselben  vereinigt  sind,  und  wie  die  Sub- 
stanz die  Einheit  aller  Attribute  ist,  so  muß  es  auch  ein  Zusammen- 
fassen oder  eine  Einheit  aller  dieser  Ideen  der  göttlichen  Attribute 
geben,  welche  eben  das  göttliche  Selbstbewußtsein  ist. 

Allein  der  Schluß  ist  falsch.  Freilich  sind  alle  Attribute  in  der 
einen    Substanz   insofern    vereinigt,    als    sie    alle   nur  Eine  Substanz 


1)  Eth.  p.  2.  Prop.  3.  4  und  Scliol.  zu  Prop.  3. 
-)  Eth.  p.  2.  Prop.  20.  21. 


42  Spinoza. 

ausmachen;  allein  das  ist  dennoch  keine  reale  Yereinigung.  Kein 
Attribut  geht  das  andere  etwas  an,  jedes  ist  für  sich  isoliert;  aus 
jedem  folgt  gleichsam  eine  Welt  für  sich,  die  zwar  mit  den  andern 
übereinstimmt,  aber  in  gar  keinem  Kausalzusammenhang  mit  der  andern 
steht:  daher  stehen  auch  die  Ideen  der  verschiedenen  Attribute  nicht 
miteinander  in  Verbindung,  wie  Spinoza  selbst  sagt.i)  Die  Ideen  der 
verschiedenen  Attribute  sind  daher  ebenso  isoliert,  wie  die  Attribute 
selbst,  und  können  deshalb  nicht  in  die  Einheit  eines  Selbstbewußt- 
seins zusammengefaßt  werden,  weil  sie  dadurch  in  Gemeinschaft  mit- 
einander treten  würden.  Freilich  redet  auch  an  dieser  Stelle  Spinoza 
wiederum  von  einem  unendlichen  Verstände  Gottes.  Aber  dieser 
intellectus  infinitus  üei  darf  nicht  mit  dem  Selbstbewußtsein  identifi- 
ziert werden.  Er  besteht  aus  den  unendlich  vielen  Ideen,  deren 
Objekte  nicht  allein  die  Attribute  der  Ausdehnung  und  des  Denkens 
mit  ihren  unendlich  vielen  Modifikationen  sind,  sondern  auch  alle 
andern  unendlich  vielen  Attribute  Gottes,  Avelche  uns  unbekannt  sind. 
Diese  unendlich  vielen  und  unendlich  qualitativ  und  quantitativ  ver- 
schiedenen Ideen  bilden  den  intellectus  Dei  infinitus  selbst;  nicht  ist 
er  ein  Denken,  welches  diese  Ideen  zu  seinen  Objekten  hätte,  sondern 
sie  selbst  sind  der  göttliche  Verstand. 

Nun  sind  aber  diese  Ideen  selbst  die  mentes  oder  Geister  der 
einzelneu  Dinge,  oder  die  modi  der  Attribute,  und  sind  mit  den 
Dingen,  deren  Geister  sie  sind,  ein  und  dieselbe  Sache;  sie  sind  also 
Gedanken,  welche  selbst  denken,  oder  ihre  Objekte  erkennen.  Daraus 
erklärt  sich,  wie  Spinoza  den  menschlichen  Geist  einen  Teil  des  un- 
endlichen Verstandes  Gottes  nennen  kann;  denn  der  menschliche 
Geist  ist  eine  der  unendlich  vielen  Ideen,  aus  denen  der  göttliche 
Verstand  besteht.  Nun  sind  freilich  alle  diese  Ideen  auch  wiederum 
Gegenstände  des  Denkens,  oder  von  jeder  Idee  gibt  es  wiederum  eine 
Idee.  Allein  auch  aus  diesen  Ideen  zweiter  Ordnung  kann  kein 
Selbstbewußtsein  Gottes  folgen.  Denn  die  Möglichkeit  alles  Selbst- 
bewußtseins beruht  darauf,  daß  eine  Apperzeption  von  Gedanken 
anderen  Inhalts  als  der  apperzipierenden  Gedanken  geschehen  kann. 
Denn  indem  ich  im  wirklichen  Selbstbewußtsein  denke:  diese  Ge- 
danken a,  b,  c  usw.  sind  meine  Gedanken,  so  ist  dieses  Denken,  daß 
sie  meine  Gedanken  sind,  offenbar  noch  von  einem  andern  Inhalt  als 
die  bloßen  Gedanken  a,  b,  c  usw.  Ebensowenig  als  die  Vorstellung 
dieses  viereckigen  Tisches  dieser  Tisch  selbst  ist,  kann  der  Gedanke, 
mit   welchem    ich    denke,   daß    diese   Vorstellung    eines    viereckigen 


')  Epist.  68. 


Selbstbewußtsein  Gottes.  43 


Tisches  meine  Yorstellung  ist,  die  Vorstellung  dieses  Tisches  selbst 
sein.  Nach  Spinoza  aber  haben  die  Vorstellungen  der  zweiten  Ordnung, 
oder  die  Ideen  der  Ideen,  gar  keinen  andern  Inhalt,  als  die  Vor- 
stellungen der  ersten  Ordnung.  Daher  kann  auch  aus  ihnen  kein 
Selbsbewußtsein  entstehen,  welches  gleichsam  über  jenen  Ideen  erster 
Ordnung  schwebte  und  dem  sie  sich  vorstellten  als    seine  Gedanken. 

Deshalb  kann  auch  in  Wahrheit  nicht  einmal  das  menschliche 
Selbsbewußtsein  daraus  erklärt  werden,  daß  nach  Spinoza  mit  dem 
menschlichen  Geiste  die  Idee  desselben  so  verbunden  ist,  wie  der 
Geist  mit  dem  menschlichen  Körper.  Man  kann  das  schon  daraus 
sehen,  daß  es  aus  demselben  Grunde  auch  eine  Idee  der  Idee 
des  menschlichen  Körpers,  also  eine  Idee  der  dritten  Ordnung 
und  so  fort  ins  Unendliche,  also  eine  unendliche  Reihe  von  Selbst- 
bewußtsein in  Wirklichkeit  geben  müßte. 

Die  Unmöglichkeit  aber,  daß  in  der  Konsequenz  der  spmozischen 
Ansicht  ein  wirkliches  Selbstbewußtsein  Gottes  liege,  erhellt  auch  aus 
folgender  Betrachtung.  Nach  dem  Satze:  Ordnung  und  Zusammen- 
hang der  Dinge  ist  derselbe  wie  der  der  Ideen  ^)  muß  jedem  modus 
eines  Attributs  ein  modus  eines  andern  Attributs  entsprechen.  Nun 
würde  das  Selbsbewußtsein  Gottes  auch  ein  modus,  nicht  aber  ein 
Attribut  selbst  sein,  und  zwar  ein  solcher  modus,  welcher  ähnlich 
wie  der  menschliche  Geist  aus  vielen  einzelnen  Ideen  oder  modis 
bestände,  welche  er  in  eine  Einheit  zusammenfaßte.  Wie  nun  dem 
menschlichen  Geiste  ein  modus  der  Ausdehnung,  der  menschliche 
Körper,  entspricht,  der  aus  ebenso  vielen  einzelnen  Körpern  zu- 
zusammengesetzt ist,  als  der  Geist  aus  einzelnen  Ideen,  so  müßte  dem 
göttlichen  Geiste  auch  ein  modus  der  Ausdehnung  entsprechen,  in 
welchem  die  einzelnen  Körper  ebenso  zu  einer  wirklichen  Einheit 
sammengefaßt  wären,  wie  die  Teile  des  menschlichen  Körpers  in 
diesem  vereinigt  sind.  Das  könnte  nun  allenfalls  das  ganze  Uni- 
versum der  Welt  sein.  Allein  gesetzt  auch,  man  könnte  in  Spinozas 
Geiste  das  ganze  Universum  für  einen  ebenso  organisch  verbunde- 
nen Leib  halten,  wie  den  menschlichen  Leib  und  ihm  eben  eine 
solche  Einheit  zuschreiben,  so  würde  daraus  doch  noch  kein  göttliches 
Selbstbewußtsein,  keine  mens  divina,  folgen,  sondern  nur  eine  Seele 
der  ausgedehnten  Welt.  Für  die  übrigen  unendlich  vielen  Attribute 
Gottes  und  die  aus  ihnen  folgenden  Welten  müßten  dann  auch  ebenso 
viele  Weltseelen  angenommen  werden.  Alle  diese  Weltseelen  aber 
zusammengenommen  würden  doch  kein  einheitliches  Selbstbewußtsein 


')  Etil.  p.  2.  Pr.  7. 


44  Spinoza. 

Gottes  ergeben,  weil  jede  derselben  nach  oben  angeführten  Gründen 
völlig  von  den  andern  isoliert  wäre. 

Aber  gesetzt  auch,  Spinoza  wäre,  wie  viele  seiner  modernen 
Nachfolger,  inkonsequent  genug  gewesen,  Gott  als  absolute  Person  zu 
denken,  so  würde  er  damit  einer  religiösen  Weltansicht  um  nichts 
näher  gerückt  sein.  Denn  dieses  Selbstbewußtsein  Gottes  wäre  ein 
vollkommen  müßiges,  welches  sozusagen  nur  das  bloße  Zusehen 
hätte.  Denn  von  ihm  könnte  gar  keine  Kausalität  ausgehen  und  in 
der  Welt  würde  durch  dasselbe  nicht  das  Mindeste  bestimmt  werden. 
Möchte  dieser  Gott  selbstbewußt  sein  oder  nicht,  die  Dinge  würden 
demnach  aus  derselben  blinden,  unabänderlichen  Notwendigkeit  folgen. 
Denn  es  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  bei  Spinoza  aus  den  göttlichen 
Attributen  alles  mit  derselben  Notwendigkeit  folgt,  als  aus  dem  Be- 
griffe des  Dreiecks  folgt,  daß  seine  Winkel  gleich  zwei  Rechten  sind. 
Verhalten  sich  Ursache  und  Wirkung  gerade  so  wie  Grund  und  Folge, 
so  sind  die  Wirkungen  mit  zeitloser  Notwendigkeit  in  der  Ursache 
enthalten  und  kein  Denken  und  Wollen  kann  irgend  etwas  daran 
ändern.  Das  bewußte  und  absichtliche  Denken  und  Wollen  ist  also 
aus  dem  Reiche  der  Kausalität  verbannt,  und  das  eben  ist  das  Un- 
erträgliche dieser  Ansicht,  namentlich  in  religiöser  Hinsicht.  Es 
kommt  daher  alles  darauf  an,  daß  man  sich  von  der  Unrichtigkeit 
jener  Meinung,  die  in  der  sechzehnten  Proposition  des  ersten  Teils 
der  Ethik  offen  hervortritt,  überzeuge  und  eine  solche  Erkenntnis 
vom  Geschehen  und  seiner  Gesetze  zu  gewinnen  suche,  welche  dem 
bewußten  Denken  und  Wollen  seinen  gebührenden  Platz  im  Reiche 
der  Kausalität  zurückzugeben  im  stände  ist. 

Zweckursachen. 

Dieselbe  verkehrte  Ansicht  vom  Kausalnexus  mußte  nun  auch 
den  Spinoza  zu  einem  abgesagten  Feinde  aller  Zweckursachen  machen, 
Im  Anhange  zum  ersten  Teile  seiner  Ethik  spricht  er  mit  großer 
Verachtung,  ja  mit  Bitterkeit,  von  der  teleologischen  Weltansicht. 
Freilich  findet  man  dort  noch  einen  andern  Grund  seines  Wider- 
willens dagegen.  Er  redet  gegen  diejenigen,  welche  meinen,  Gott 
habe  die  Welt  der  Menschen  wegen  geschaffen,  die  Menschen  aber, 
damit  sie  ihn  ehren.  Die  Menschen,  sagt  Spinoza,  tun  alles  wegen 
eines  Zwecks,  nämlich  des  Nutzens  wegen,  den  sie  erstreben.  Daher 
betrachten  sie  alle  Dinge  in  der  Welt  nur  als  Mittel  zu  irgend  einem 
Zwecke,  und  erdichten  einen  oder  mehrere  Weltlenker,  dem  sie  die- 
selbe Denkweise  zuschreiben.    Wie  die  Menschen  alles  aus  Eigennutz 


Zweckursachen.  45 


tun,  so  auch  ihr  Gott.  Die  Begünstigungen  der  Natur  sehen  sie  als 
Belohnungen  an,  die  Übel  als  Strafen  des  erzürnten  Gottes. 

Aber  wenn  man  es  ihm  auch  nicht  verdenken  kann,  daß  sein 
besseres  sittliches  Gefühl  —  welches  jedoch  auch  bei  ihm  selbst  nur 
ein  sehr  unklares  geblieben  ist  —  sich  gegen  solche  der  Selbstsucht  ent- 
sprungene Weltansicht  empört,  so  war  es  doch  nicht  nötig,  überhaupt 
alle  und  jede  teleologische  Ansicht  zu  verwerfen;  denn  es  sind  auch 
andere  als  eigennützige  Zwecke  möglich.  Freilich,  wenn  alles  mit 
unabänderlicher  logischer  Notwendigkeit  aus  den  Attributen  Gottes 
folgt,  so  ist  damit  jede  Absicht  als  Ursache  unverträglich. 

Jedoch  beruft  sich  Spinoza  in  jenem  Anhange  nicht  bloß  auf 
seine  sechszehnte  Proposition,  sondern  führt  auch  noch  andere 
Gründe  an. 

Er  sagt  zunächst:  die  Wirkung  ist  die  vollkommenste,  welche 
von  Gott  unmittelbar  hervorgebracht  wird,  und  je  mehr  etwas  der 
Zwischenursachen  bedarf,  um  hervorgebracht  zu  werden,  desto  unvoll- 
kommener ist  es.  Wenn  aber  die  Dinge,  welche  unmittelbar  von 
Gott  hervorgebra'cht  sind,  deshalb  gemacht  wären,  damit  Gott  seinen 
Zweck  erreichte,  so  wären  notwendig  die  letzten,  um  derentwillen  die 
vorhergehenden  gemacht  sind,  von  allen  die  vorzüglichsten. 

Dieser  Einwurf  ist  in  seiner  ganzen  theoretischen  Ansicht  tief 
begründet.  Zunächst  ist  bei  dem  Worte  Vollkommenheit  nicht  an 
eine  sittliche  oder  ästhetische  Vollkommenheit  zu  denken,  sondern 
nur  an  die  Größe  der  Realität.  Unter  Realität  und  Vollkommenheit 
verstehe  ich  dasselbe.  ^)  Gemäß  seiner  Anschauung  denkt  er  sich  das 
Sein  als  ein  Quantum.  Die  unendliche  Substanz  ist  das  ganze  Quantum, 
die  unmittelbaren  Folgen  derselben  sind  unendliche  modi,  so  im 
Denken:  das  Erkennen  überhaupt;  in  der  Ausdehnung:  Ruhe  und 
Bewegung.  Diese  Allgemein- Begriffe  enthalten  zwar  weniger  Realität, 
als  die  absolute  Substanz  selbst  (weil  ihr  logischer  Umfang  geringer 
ist),  aber  mehr  als  die  ihnen  untergeordneten  spezielleren  Begriffe. 
Dem  Erkennen  z.  B.  fehlen  bloß  die  anderen  modi  des  Denkens,  wie 
der  Wille,  es  umfaßt  aber  alle  mögliche  Arten  von  Erkenntnis;  da- 
gegen einer  besonderen  Art  der  Erkenntnis,  z.  B.  der  mathematischen, 
fehlen  nicht  bloß  die  übrigen  modi  des  unendlichen  Denkens,  sondern 
auch  die  anderen  modi  des  Erkennens,  z.  B.  die  ethische,  psycho- 
logische usw.,  also  ist  in  der  mathematischen  Erkenntnis  ein  geringeres 
Quantum  des  Erkennens  und  darum  auch  weniger  Realität  und  Voll- 
kommenheit   enthalten,    als    im   Erkennen    überhaupt.      Deshalb    hat 


1)  Eth.  p.  2.  Ax.  6. 


46  Spinoza. 

Spinoza  auf  seine  Weise  recht  zu  behaupten,  daß  die  von  Gott 
unmittelbar  hervorgebrachten  Dinge  mehr  Realität  oder  Yollkommen- 
heit  haben,  als  die,  welche  noch  anderer  Zwischenursachen  bedürfen, 
denn  diese  Zwischenursachen  sind  bei  ihm  die  anderen  modi  des 
Attributs,  welche  jenes  Ding  einschränken,  also  ihm  fehlen.  Je  be- 
stimmter also  ein  Ding  ist,  desto  weniger  oder  desto  unvollkommener 

ist  es. 

Da  nun  diese  ganze  Art  der  Beurteilung  darauf  hinauskommt^ 
die  YoUkommenheit  nach  dem  logischen  Umfange  eines  Begriffs  ab- 
zumessen, so  können  wir  sie  getrost  beiseite  schieben.  Wir  suchen 
die  Vollkommenheit  der  Welt  in  ganz  anderen  Verhältnissen,  und 
uns  verschlägt  es  wenig,  ob  die  in  einem  logischen  Begriffssystem 
zuerst  oder  zuletzt  vorkommenden  Begriffe  die  größte  oder  kleinste 
Vollkommenheit  ausdrücken. 

Zweitens  aber  erhebt  Spinoza  gegen  die  teleologische  Ansicht  den 
Einwurf,  daß  sie  die  Vollkommenheit  Gottes  aufhebe;  denn  wenn 
Gott  wegen  eines  Zweckes  handele,  so  begehre  er  notwendig  etwas, 
dessen  er  entbehre.  Dies  «ist  der  scheinbarste  Einwurf,  denn  ein 
Wollen  geht  immer  auf  etwas,  was  noch  nicht  ist  oder  geschieht 
Ein  ens  realissimum  also,  in  welchem  alles  mögliche  Sein  und  Ge- 
schehen ewig  und  unveränderlich  vorhanden  ist,  kann  nichts  wollen 
und  nichts  beabsichtigen,  denn  ihm  kann  nichts  mangeln.  Solange 
man  also  an  diesem  Begriffe  des  ens  reaüssimum  festhält,  ist  dieser 
Einwurf  auch  nicht  zu  widerlegen;  dann  werden  alle  Reden  vom 
göttlichen  Wollen  eben  nur  Redensarten  sein,  die,  genauer  besehen^ 
keinen  Sinn  haben. 

Es  ist  schon  bei  Gelegenheit  der  Kantischen  Religionsphilosophie 
darauf  hingewiesen,  wie  sehr  die  Theologie  mit  diesem  ihrem  Begriffe 
vom  allerrealsten  Wesen  über  ihr  eigenes  Ziel  hinausschießt.^)  Es 
bedarf  daher  hier  nur  einer  kurzen  Erörterung  darüber,  daß  der  Be- 
griff des  absichtlichen  Handelns  nicht  notwendig  einen  solchen  Mangel 
in  einer  Person  voraussetzt,  welcher  eine  tadelnde  Beurteilung  der- 
selben hervorrufen  müßte.  Das  menschliche  Handeln  allerdings  setzt 
beim  Begehren  (von  dem  der  Kürze  halber  hier  allein  die  Rede  sein 
soll)  immer  eine  gegen  Hindernisse  im  Bewußtsein  aufstrebende  Vor- 
stellung voraus,  und  das  Handeln  besteht  eben  in  dem  Wegräumen 
dieser  Hindernisse  oder  in  der  Herbeischaffung  von  Hilfen,  um  jene 
Vorstellung  zum  vollendeten  Vorstellen  zu  bringen;  jene  Hemmung 
der  aufstrebenden  Vorstellung  aber  wird  immer,   wenn  auch  in  sehr 


>)  I.  Heft.  S.  21.  51. 


Zweckursachen.  47 


vielen  Fällen,  von  einem  kaum  merklichen  Gefühl  der  Unlust  be- 
gleitet sein.  In  diesem  Vorgänge  liegt  allerdings  eine  ünvollkommen- 
heit;  denn  das  mühsame  Aufstreben  gegen  Hindernisse  bezeichnet 
einen  Grad  von  Schwäche  des  Wollens,  oder  jener  zur  vollen  Ent- 
faltung aufstrebenden  Vorstellung.  Aber  auch  schon  beim  mensch- 
lichen Handeln  köunen  Verhältnisse  eintreten,  welche  die  Möglichkeit 
einer  Abänderung  dieses  Verhältnisses  andeuten. 

Wenn  etwa  ein  Künstler  klagt,  daß  er  in  seiner  Darstellung 
hinter  dem  in  seinem  Geiste  schwebenden  Ideale  zurückbleibe,  so 
setzt  diese  Klage  jenes  Ideal  nicht  voraus,  insofern  es  erst  im  Ge- 
müte  aufstrebt,  sondern  insofern  es  darin  schon  ausgebildet  ist  und 
angeschaut  wird.  Die  Unvollkommenheit  liegt  hier  nicht  sowohl  in  der 
Vorstellung,  welche  er  darstellen  will,  sondern  darin,  daß  es  ihm 
nicht  gehngt,  die  Hindernisse  zu  überwinden,  welche  der  bleibenden 
und  vollen  Festhaltung  des  angeschauten  Bildes  in  seinem  Gemüte 
entgegenstehen.  Gesetzt  nun,  man  dächte  sich  ein  künstlerisches 
Gemüt,  in  welchem  das  Bild  schon  bis  ins  einzelnste  ausgeführt  und 
vollendet  schwebte,  so  daß  dieses  gleichsam  in  sinnlicher  Klarheit 
angeschaut  würde,  denke  man  sich  auch  den  Mangel  hinweg,  daß 
dieser  Künstler  fürchten  müßte,  dieses  Bild  aus  seinem  Gemüte  wieder 
zu  verlieren;  er  brauchte  nicht  zu  streben,  es  für  sich  durch  äußere 
Darstellung  festzuhalten;  er  wüßte  vielmehr,  so  oft  er  nur  wollte, 
könnte  er  sich  dasselbe  ohne  alles  Hindernis  in  vollendete  geistige 
Anschauung  zurückrufen:  könnte  dann  in  solchem  Falle  kein  Wille 
in  ihm  sein,  dieses  Bild  auch  äußerlich  darzustellen?  Freilich  nicht 
in  Rücksicht  auf  ihn  selbst,  um  einem  eigenen  Mangel  abzuhelfen; 
aber  warum  nicht  in  Rücksicht  auf  andere  intelligente  Wesen?  Er 
würde  darstellen,  um  andere  zu  erfreuen  und  zu  veredeln.  Ihm  selbst 
mangelte  nichts,  aber  anderen  mangelte  etwas.  Das  Wohlwollen  also, 
die  reine  Güte,  der  selbst  nichts  mangelte,  würde  ihn  zur  Darstellung 
bewegen. 

Aber  scheint  nicht  dennoch  hier  wieder  ein  persönliches  Bedürfnis^ 
also  ein  Mangel  einzutreten,  welcher  iLn  zum  Darstellen  treibt?  Das 
Wohl  des  andern  ist  die  in  ihm  aufstrebende  ^Vorstellung  und  das 
Nochnichtsein  desselben  ist  der  Mangel,  welchen  er  in  sich  fühlt, 
und  um  diesem  seinem  Mangel  abzuhelfen,  handelt  er!  Allein  möchte 
auch  diese  Auffassung  den  im  wirklichen  menschlichen  Gemüte  sich 
ereignenden  Vorgang  beim  Handeln  aus  Wohlwollen  richtig  bezeichnen, 
so  kann  man  doch  auch  diesen  Mangel  wegdenken,  und  dennoch  das 
Handeln  aus  Wohlwollen  behalten.  Denn  im  vollendeten  Wohlwollen 
wird  das  Handeln  nicht  durch  einen  als  persönliche  Unlust  empfundenen. 


48  Spinoza. 

Mangel  hervorgerufen,  sondern  durch  die  bloße  Vorstellung  des 
Mangels  des  andern.  Das  volle  Ideal  eines  Wohlwollenden  wäre 
also  ein  allgenugsamer  Geist,  der  nicht  seinen  eigenen  Mangel  er- 
gänzen will,  dem  also  aus  persönlicher  Rücksicht  gar  kein  Wollen 
entstände,  Avenn  er  nicht  dem  vorgestellten  Mangel  anderer  abhelfen 
wollte.  In  ihm  würden  nicht  gegen  Hindernisse  aufstrebende  Vor- 
stellungen zu  denken  sein,  die  sich  mühsam  emporarbeiteten,  sondern 
in  vollkommener  Klarheit  im  Bewußtsein  schwebende  Vorstellungen 
würden  mühelos  die  andern  Gedanken  herbeirufen,  welche  zu  ihrer 
Darstellung  im  Äußeren  tauglich  wären.  Denkt  man  sich  also  einen 
solchen  unbeschränkten  Geist,  so  würde  man  allerdings  ihn  nicht  wie 
einen  unendlichen  Bildersaal  vorstellen  dürfen,  in  welchem  absolut 
alle  möglichen  Vorstellungen  in  zeitlos  unbeweglicher  vollendeter 
Klarheit  vorhanden  wären;  damit  würde  allerdings  alles  Leben  und 
Wollen  unverträglich  sein;  sondern  man  Avird  sich  auch  in  ihm  einen 
Unterschied  zwischen  herrschenden  und  dienenden  Vorstellungen 
denken  müssen;  und  während  jene  herrschenden  in  unverrückter 
Klarheit  sein  ewiges  Bewußtsein  ausmachen,  werden  sie  mühelos  die 
sämtlichen  dienenden  Vorstellungen  so  bewegen,  wie  es  die  Darstellung 
der  ewigen  ethischen  und  ästhetischen  Ideen  im  Äußeren  verlangt, 
ohne  daß  dabei  irgend  welches  Suchen,  Schwanken,  Nichtwissen  und 
dergleichen  vorzukommen  braucht. 

Danach  ist  also  gar  wohl  ein  bewußtes  Wollen,  welches  auf  einen 
noch  nicht  ausgeführten  Zweck  geht,  möglich,  ohne  damit  zugleich 
einen  Mangel  in  dem  wollenden  Geiste  annehmen  zu  müssen,  dessen 
Ergänzung  der  Zweck  des  Wollens  sei. 

Setzt  man  freilich  die  Vollkommenheit  in  die  unendliche  Quantität 
des  Seins,  und  die  Unvollkommenheit  darein,  daß  etwas  nicht  zugleich 
alles  andere  ist,  muß  man  deshalb  dann  auch  leugnen,  daß  neben 
oder  außer  dem  vollkommenen  Wesen  etwas  anderes  existiert,  so  wird 
man  allerdings  unrettbar  dem  Spinozismus  verfallen  und  zu  der  An- 
nahme eines  Wesens  getrieben  werden,  welches  zeitlos  alle  seine 
Folgen  zumal  in  sich  ausgeführt  enthält,  in  welchem  aber  eben  des- 
wegen auch  kein  bewußtes  Wollen  und  damit  keine  Zwecktätigkeit 
und  keine  ethische  Eigenschaft  gedacht  werden  darf.  Und  außerdem 
wäre  ein  Geist,  der  diese  unvollkommene  Welt  als  vollkommen,  diese 
werdende  Welt  als  fertig  dächte,  ein  irrender  Geist,  der  diese  Welt 
falsch  auffaßte.  \ 


Der  menschliche  Geist.  49 

Der  menschliche  Geist. 

Wir  haben  im  bisherigen  nachzuweisen  versucht,  daß  der  spino- 
zische  Gottesbegriff,  die  absolute  Substanz,  auf  theoretisch  falschen 
Grundlagen  ruht,  daß  sie  ihren  Zweck  als  absolute  Ursache  der  Welt 
gedacht  zu  werden,  nicht  erreicht  und  daß  die  Einwürfe  Spinozas 
gegen  einen  andern  Gottesbegriff  nicht  stichhaltig  sind.  Ehe  aber 
über  den  religiösen  Wert  jenes  Gottesbegriffs  vollkommen  geurteilt 
werden  kann,  müssen  wir  vorab  fortfahren,  den  theoretischen  Wert 
auch  der  übrigen  Lehren  Spinozas,  welche  auf  seine  religiöse  Ansicht 
Bezug  haben,  zu  untersuchen. 

Wir  folgen  ihm  daher  zunächst  in  seine  Lehre  vom  menschlichen 
Geiste,  ohne  welche  sein  ethisches  Prinzip  und  das,  was  bei  ihm  die 
Stelle  der  Frömmigkeit  vertritt,  die  Lehre  von  der  Erhebung  über  die 
Affekte,  nicht  zu  verstehen  ist. 

Die  Grundlage  seiner  Ansicht  vom  menschlichen  Geiste  ist  die, 
daß  dieser  ein  modus  des  göttlichen  Attributs  des  absoluten  Denkens 
ist,  und  als  solcher  zwar  nicht  mit  dem  Leibe,  einem  modus  der 
absoluten  Ausdehnung,  im  Kausalzusammenhange  stehen  kann,  daß 
aber  die  geistigen  und  leiblichen  Vorgänge  dessenungeachtet  einander 
notwendig  vollkommen  entsprechen. 

Ein  Kausalzusammenhang  zwischen  Seele  und  Leib,  und  über- 
haupt zwischen  den  Attributen  des  Denkens  und  der  Ausdehnung, 
kann  nämlich  von  Spinoza  deshalb  nicht  angenommen  werden,  weil 
nach  seinem  Kausalbegriffe  eine  ursächliche  Verknüpfung  nur  da  sein 
kann,  wo  ein  und  derselbe  allgemeine  Begriff  waltet.  Denn  die 
Ursache  verhält  sich  nach  ihm  zur  Wirkung,  wie  ein  allgemeiner 
Begriff  zu  den  ihm  untergeordneten.  Ebensowenig  wie  ein  Gedanke 
ein  körperliches  Ding  ist,  also  nicht  dem  Begriffe  Körper  unter- 
geordnet werden  kann,  kann  auch  gedacht  werden,  daß  ein  Körper 
oder  ein  ausgedehntes  Ding  die  Ursache  eines  Gedankens  sei.  Des- 
halb sagt  Spinoza:  die  modi  jedes  Attributs  haben  Gott  zur  Ursache 
nur  sofern  er  unter  diesem  Attribut,  dessen  modi  sie  sind,  nicht  aber 
sofern  er  unter  einem  andern  Attribut  betrachtet  wird.^)  Dennoch 
aber  passen  die  Seelen  zu  den  Leibern,  oder  die  sämtlichen  Ideen 
zu  sämtlichen  Körpern,  denn  die  Ordnung  und  Verbindung  der 
Ideen  ist  dieselbe,  wie  die  Ordnung  und  Verbindung  der  Dinge.  2) 

Diesen  für  ihn  höchst  wichtigen  Satz  beweist  Spinoza  kurz  durch 
den  andern,  daß  die  Idee  des  Verursachten   von  der  Erkenntnis  der 


')  Eth.  p.  2.  Pr.  6. 
2)  Prop.  7. 
Religionsphilosophio:  Spinoza. 


50  Spinoza. 

Ursache,  dessen  Wirkung  es  ist,  abhängt.  Wie  also  die  wirklichen 
Dinge  ursachlich  verknüpft  sind,  ebenso  müssen  auch  die  Ideen  der- 
selben untereinander  verknüpft  sein.  Allein  dieser  Beweisgrund  ist 
nicht  genügend,  denn  er  würde  bloß  dartun,  daß  nur  dann  eine  Er- 
kenntnis der  Ursachen  und  AVirkungen  der  Dinge  vorhanden  sei, 
wenn  die  Ideen  derselben  auf  dieselbe  Weise  wie  die  Dinge  ver- 
bunden sind;  es  wird  also  damit  nur  eine  ideale  Forderung  an  das 
Denken  gestellt,  nicht  aber  ein  Beweis  geliefert,  daß  notwendig  und 
unausbleiblich  die  Ordnung  und  Verbindung  der  Ideen  mit  der  der 
Dinge  zusammentreffe,  und  das  ist's  doch  eigentlich,  was  Spinoza 
will  und  wollen  muß,  um  durch  den  Gedanken  der  prästabilierten 
Harmonie  zwischen  Leib  und  Seele  die  Annahme  eines  Kausal- 
zusammenhanges zwischen  denselben  überflüssig  zu  machen. 

In  diesem  Sinne  erläuterte  er  auch  diesen  Satz  durch  die  Er- 
innerung daran,  daß  die  denkende  und  die  ausgedehnte  Substanz 
ein  und  dieselbe  ist,  welche  bald  unter  diesem  bald  unter  jenem 
Attribut  begriffen  wird.  Deshalb  sind  auch  die  modi  der  Ausdehnung 
und  die  des  Denkens,  also  die  Ideen  jener,  ein  und  dieselbe  Sache, 
nur  auf  verschiedene  Weise  ausgedrückt;  z.  B.  der  wirklich  existierende 
Kreis  und  die  Idee  desselben  sind  ein  und  dieselbe  Sache.  Mögen 
wir  also  die  Natur  unter  dem  Attribut  der  Ausdehnung  oder  des 
Denkens  oder  unter  irgend  einem  andern  begreifen,  so  werden  wir  finden,, 
daß  ein  und  dieselbe  Ordnung  und  Verbindung  der  Ursachen  oder 
eben  dieselben  Dinge  auseinander  folgen.  So  kann  man  daher  die 
Ordnung  der  ganzen  Natur  sowohl  durch  das  bloße  Attribut  der 
Ausdehnung  als  auch  eben  dieselbe  ganze  Natur  bloß  durch  das 
Attribut  des  Denkens  erklären  und  dasselbe  gilt  von  allen  Attributen. 
Also  ist  Gott  in  Wahrheit  die  Ursache  der  Dinge,  wie  sie  an  sich 
sind,  insofern  er  aus  unendlichen  Attributen  besteht.^) 

Allein  dennoch  ist  dies  Ganze  nur  eine  selbst  im  System  des 
Spinoza  unbegründete  Hypothese.  Geht  man  nämlich  davon  aus,  daß 
die  Attribute  das  absolute  Was  der  unendlichen  Substanz  sind,  — 
und  man  muß  davon  ausgehen,  da  Spinoza  von  den  Attributen  aus- 
drücklich alle  Inhärenz  vorneint,  —  so  wird  man  gar  keinen  Grund 
entdecken  können,  weshalb  die  modi  der  voneinander  durchaus 
unabhängigen  Attribute  einander  entsprechen  müssen.  Was  geht  es 
das  Denken  an,  wie  die  Ausdehnung  eingeteilt  ist,  und  umgekehrt: 
warum  kann  nicht  jedes  Attribut  seine  eigene  Einteilung  haben? 
Will    man    darauf  antworten:    aber   diese   Attribute  sind   ja  nur  ein 


•)  Ibid.  Prop.  7.  Sohol. 


Der  menschliche  Geist.  5]^ 


und  dieselbe  Substanz,  die  sie  bloß  auf  verschiedene  Weise  aus- 
drücken, und  eben  weil  sie  nur  solche  Ausdrücke  ein  und  derselben 
Substanz  sind,  können  sie  auch  allein  auf  dieselbe  Weise  modifiziert 
sein,  so  daß  an  sich  jedes  Ding  derselbe  modus  aller  unendlich  vielen 
Attribute  ist,  und  also  eine  Intelligenz,  welche  das  Ganze  durchschaute, 
das  Ding,  welches  wir  menschlichen  Leib  und  menschliche  Seele 
nennen,  nicht  bloß  als  einen  modus  des  Denkens  und  der  Ausdehnung, 
sondern  auch  als  einen  modus  aller  der  unendlich  vielen,  uns  leider 
unbekannten  Attribute  Gottes  anschauen  würde;  will  man  die  Sache 
auf  diese  Weise  erklären,  so  versetzt  man  unbemerkt  die  Attribute 
an  die  Stelle  der  modi,  welche  der  Substanz  innewohnen.  Man  setzt 
dann  als  das  absolut  Seiende  ein  einfaches  Was,  welches  die  absolute 
Substanz  selbst  ist,  und  die  Attribute  werden  dann  nur  die  qualitativ 
verschieden  modifizierten  Ausdrücke  dieses  Einen  Was.  Dann  aber 
muß  man  nach  dem  Grunde  oder  der  Ursache  der  Attribute  fragen, 
wie  es  nämlich  komme,  daß  das  einfache  Was  der  Substanz  sich 
solche  unendlich  viele  qualitative  Ausdrücke  gebe?  Das  aber  ist 
wider  die  erste  Voraussetzung  des  Systems,  nach  welchem  die  Attri- 
bute das  in  sich  und  in  keinem  andern  Existierende  sind;  denn  sie 
sind  nicht  in  der  Substanz,  sondern  sie  selbst  sind  die  Substanz. 
Attribut  ist  das,  was  der  Verstand  an  der  Substanz  als  deren 
Wesenheit  ausmachend  wahrnimmt;  und  somit  muß  es  durch  sich 
selbst  begriffen  werden,  i) 

Was  aber  durch  sich  selbst  begriffen  werden  muß,  das  ist  auch 
in  sich  selbst  und  nicht  in  einem  Andern.  2)  Wenn  man  also  der 
ursprünglichen  Ansicht  treu  bleibt,  daß  jedes  Attribut  das  absolut 
Seiende  ist,  so  hat  jener  Satz:  Die  Ordnung  und  Verbindung  der 
Ideen  ist  dieselbe  wie  die  Ordnung  und  Verbindung  der  Sachen  im 
Systeme  gar  keinen  Halt;  diesen  gewinnt  er  nur,  wenn  die  Attri- 
bute zu  modis  oder  affectionibus  eines  unbekannten  einfachen  Was 
der  absoluten  Substanz  herabgesetzt  werden.  Da  dies  aber  an  unserer 
Stelle  von  Spinoza  offenbar  geschieht,  so  ergibt  sich  nur,  daß  er  mit 
seiner  Substanz  und  ihren  Attributen  der  Dialektik  des  Dinges  mit 
mehreren  Merkmalen  unbewußt  erliegt;  indem  bald  die  Merkmale 
selbst  das  Seiende  sein  sollen  (in  welchem  Falle  die  Einheit  des 
Dinges  verschwindet),  bald  aber  ihnen  unter  dem  Namen  der  Sub- 
stanz eine  Einheit  untergeschoben  wird,  von  deren  eigentlichem  (uns 
unbekanntem)  Was  die  Attribute  nur  Modifikationen  sind. 


')  Eth.  1.  Pröp.  10. 
')  Eth.  1.  Def.  3. 


52  Spinoza. 

Zugleich  aber  ergibt  sich  an  diesem  Orte  die  andere  damit 
zusammenhängende  Inkonsequenz  des  Spinoza,  daß  er  nämlich  die 
beiden  Attribute  Gottes:  das  Denken  und  die  Ausdehnung,  nicht  bloß 
das  Denken,  dem  menschlichen  Geiste  bekannt  sein  läßt.  Spinoza 
erliegt  nämlich  derselben  Unvollendetheit  des  Denkens,  an  dem  seine 
ganze  Zeit  (Leibniz  so  gut  als  die  Occasionalisten)  leidet.  Man  sah 
nicht,  daß  man  sich  in  Wahrheit  schon  in  einer  Art  Idealismus 
befand,  sondern  glaubte  noch  realistisch  zu  denken,  obgleich  man 
sich  selbst  allen  Grund  abgeschnitten  hatte,  eine  reale  Welt  außer 
dem  menschlichen  Geiste  anzunehmen.  Denn  indem  man  den  gegen- 
seitigen Kausalzusammenhang  zwischen  Geist  und  Körper  leugnete, 
weil  Körper  und  Geist  als  völlig  disparate  Wesen  nicht  aufeinander 
wirken  könnten,  so  behielt  man  auch  nicht  den  Schatten  eines  Grundes, 
eine  solche  Körperwelt  anzunehmen,  mit  deren  Harmonie  in  Bezug 
auf  die  Geisterwelt  man  sich  auf  unsägliche,  aber  ganz  nutzlose 
Wei.-o  abquälte.  Man  hätte  auf  diesem  Standpunkte  einsehen  müsseu, 
daß  die  sogenannte  Harmonie  des  Denkens  mit  der  Außenwelt  nur 
als  Schein  anzusehen  sei,  in  Wahrheit  aber  nur  ein  Passen  einiger 
Gedanken  zu  andern  Gedanken  sei.  Anstatt  dessen  stellt  Spinoza  es 
unbedenklich  als  ein  Axiom  hin:  Wir  nehmen  wahr,  daß  der  Körper 
durch  viele  modi  affiziert  wird^);  und  setzt  also  ohne  weiteres  voraus, 
daß  eine  körperliche  Welt  außer  dem  Geiste  existiere;  nach  seinen 
Prämissen  hätte  er  vielmehr  behaupten  müssen,  daß  der  Geist  gar 
nichts  von  einer  Körperwelt  wissen  könne,  da  diese  dem  Geiste  ihre 
Existenz  auf  keine  Weise  kund  tun  könne.  Daraus  folgte  dann  aber 
auch  hinsichtlich  des  Gottesbegriffes,  daß  dem  menschlichen  Geiste 
nur  ein  Attribut  der  absoluten  Substanz,  das  Denken,  bekannt  sein 
konnte,  denn  was  hier  der  menschliche  Geist  ist,  ist  nur  das  Denken; 
die  Körperwelt  ist  nur  eine  Vorstellung  in  ihm,  der  eine  wirkliche 
Existenz  zuzuschreiben   auf   diesem    Standpunkte   völlig  grundlos  ist. 

In  völliger  Unbekanntschaft  mit  diesen  Überlegungen  setzt  Spi- 
noza vielmehr,  daß  das  Denken  sich  auf  die  Ausdehnung  beziehe, 
oder  daß  dasjenige,  welches  das  wirkliche  Sein  des  menschlichen 
Geistes  bildet,  die  Idee  einer  wirklich  existierenden  Sache  sei; 
das  Objekt  dieser  Idee  ist  ihm  der  Leib  oder  ein  wirklich  existierender 
modus  der  Ausdehnung  und  nichts  anderes.  ^)  Denn  wir  haben  Ideen 
von  den  Affektionen  des  Körpers,  wie  die  Erfahrung  zeigt,  also  muß 
der  Leib  das  Objekt  des  Geistes  sein.  \ 


')  Eth.  p.  2.  Ax.  4.     . 
')  Etil.  p.  2.  Prop.  11.  13. 


Der  menschliche  Geist.  53 


Diese  Idee  aber,  welche  das  wirkliche  Sein  des  menschlichen 
Geistes  ausmacht,  ist  nicht  einfach,  sondern  aus  sehr  vielen  Ideen  zu- 
sammengesetzt. Denn  der  menschliche  Leib  ist  aus  sehr  vielen  sehr 
zusammengesetzten  Individuen  zusammengesetzt,  und  von  jedem 
körperlichen  Individuum  muß  es  notwendig  eine  Idee  geben,  da  zu 
jedem  modus  der  Ausdehnung  ein  entsprechender  des  Denkens  ge- 
hört. Also  muß  die  Seele  aus  so  vielen  Ideen  bestehen,  als  es  Teile 
des  Körpers  gibt,  welche  als  Individuen  betrachtet  werden  können,  i) 
Daher  muß  auch  von  allem,  was  sich  im  Körper  ereignet,  eine  Idee 
im  menschlichen  Geiste  sein,  oder  er  muß  es  perzipieren.  2)  Daraus 
würde  folgen,  daß  alle  Vorgänge  im  menschlichen  Leibe  dem  Geiste 
bekannt  seien  und  alle  Teile  des  Körpers  somit  den  Ereignissen  m 
ihnen  jenem  unmittelbar  in  vollständiger  und  klarer  Erkenntnis  vor- 
liegen. Allein  weil  das  der  Erfahrung  zu  sehr  widerstreitet,  so  weiß 
Spinoza  die  Sache  doch  so  zu  drehen,  daß  er  nur  eine  inadäquate 
und  verworrene  Kenntnis  der  Seele  sowohl  von  ihr  selbst  als  von 
ihrem  Leibe  samt  dessen  Affektionen  heraus  bekommt.^) 

Der  Beweis  dafür  beginnt  mit  dem  Satze:  ,,Die  menschliche 
Seele  erkennt  den  menschlichen  Körper  und  weiß  um  seine  Existenz 
nur  durch  die  Ideen  der  Affektionen,  die  der  Körper  erleidet. 

Die  menschliche  Seele  ist  nämlich  die  Idee  oder  Erkenntnis  des 
menschlichen  Körpers"  und  schließt  mit  dem  gerade  entgegengesetzten: 
„Die  menschliche  Seele  erkennt  den  menschlichen  Körper  nicht."  4) 
Allein  dennoch  hat  Spinoza  im  Ganzen  seines  Systems  nur  recht 
und  mehr  recht,  als  er  selbst  glaubt  und  will,  wenn  er  für  den 
menschlichen  Geist  nur  eine  inadäquate  Erkenntnis  seiner  selbst  und 
des  Leibes  herausbringt. 

Für  imsern  gegenwärtigen  Zweck  interessiert  uns  nicht  das  Ein- 
zelne seiner  Psychologie,  sondern  nur  seine  Lehre  von  den  inadä- 
quaten und  adäquaten  Ideen  überhaupt,  da  auf  ihr  die  Richtigkeit 
oder  Unrichtigkeit  alles  Eolgenden  beruht.  Wir  übergehen  daher 
seine  speziellen  psychologischen  Lehren  und  halten  uns  nur  an  das 
Allgemeine  derselben. 

Wir  haben  oben  schon  gesehen,  daß  Spinoza  den  menschlichen 
Geist  als  einen  Teil  des  unendlichen  göttlichen  Verstandes  betrachtet. 
Wenn  man  daher  sagt,    meint   er,   daß   der  menschliche  Geist  dieses 


1)  Ibid.  Prop.  15. 

2)  Prop.  12. 

8)  Prop.  19.  23.  24  ff. 
*)  Prop.  19.  Dem. 


54  Spinoza. 

oder  jenes  wahrnimmt,  so  sagt  man  nichts  anderes,  als  daß  Gott,  niclit 
inwiefern  er  unendlich  ist,  sondern  inwiefern  er  durch  die  Natur  des 
menschlichen  Geistes  erklärt  wird,  oder  inwiefern  er  das  Wesen  des 
menschlichen  Geistes  ausmacht,  diese  oder  jene  Idee  habe;  und  wenn 
wir  sagen,  Gott  habe  diese  Idee,  nicht  bloß  inwiefern  er  die  Natur 
des  menschlichen  Geistes  ausmacht,  sondern  inwiefern  er  zugleich 
mit  dem  menschlichen  Geiste  auch  die  Idee  einer  andern  Sache  hat, 
dann  sagen  wir,  daß  der  menschliche  Geist  die  Sache  zum  Teil  oder 
inadäquat  wahrnehme,  i)  Denn  dann  liegt  diese  Idee  des  göttlichen 
Verstandes  nur  zum  Teil  im  menschlichen  Geiste,  zum  Teil  aber 
außer  ihm  in  der  Idee  der  andern  Sache.  Der  menschliche  Geist 
hat  von  ihr  also  keine  vollständige,  sondern  nur  eine  verstümmelte, 
also  auch  unklare,  oder  eine  inadäquate  Erkenntnis. 

Erinnern  wir  uns  nun  daran,  daß  die  endlichen  Dinge  nicht  un- 
mittelbar aus  der  absoluten  Substanz  folgen,  sondern  daß  sie  nur  da- 
durch sind,  daß  sie  von  einem  andern  endlichen  Dinge  und  dieses 
wiederum  von  einem  andern  und  so  ins  Unendliche  fort  determiniert 
werden,  so  folgt  notwendig,  daß  nur  in  dem  Falle  eine  adäquate  Er- 
kenntnis eines  endlichen  Dinges  möglich  wäre,  wenn  der  menschliche 
Geist  diesen  ins  Unendliche  gehenden  Kausalzusammenhang  durch- 
schaute. Die  Idee  jedes  einzelnen  Dinges  ist  nur  dann  eine  voll- 
ständige, wenn  zugleich  die  Ursache  desselben  erkannt  wird;  denn 
nur  durch  seine  Ursache  ist  es  eben  dieses  bestimmte;  diese  Ursache 
aber  kann  auch  nur  vollständig  erkannt  werden,  wenn  wiederum  ihre 
Ursache  erkannt  wird  und  so  fort  ins  Unendliche.  Der  endliche 
menschliche  Geist  also  kann  die  einzelnen  Dinge  nur  inadäquat  er- 
kennen. Aber  es  folgt  auch  wider  Spinozas  Absicht  daraus,  daß 
selbst  im  unendlichen  göttlichen  Verstände  keine  adäquate  Erkenntnis 
der  endlichen  Dinge  sein  kann,  denn  auch  er  wird  mit  derselben  nie 
zu  Stande  kommen,  da  die  Reihe  der  Ursachen  ins  Unendliche  fort- 
läuft. Das  Unendliche  aber  entläuft  jedem  Begriffe,  auch  dem  göttlichen, 
da  es  eben  seine  Natur  ist,  nicht  zusammengefaßt  werden  zu  können. 

Wie  kommt  denn  nun  aber  der  menschliche  Geist  zu  adäquaten 
Ideen  und  welche  sind  sie?  Nach  der  Konsequenz  des  Systems 
scheint  ihre  Möglichkeit  gänzlich  ausgeschlossen  zu  sein.  Allein  Spi- 
noza glaubt  dennoch  einen  Platz  für  sie  gefunden  zu  haben.  Was 
allem  gemeinsam  ist,  sagt  er,  was  ebenso  im  Teile,  wie  im  Ganzen 
ist,  macht  nicht  die  Essenz  irgend  eines  einzelnen  Dinges  aus;  dieses 
allem  Gemeinsame  ist  aber  der  Gegenstand  der  adäquaten  Ideen,  denn 


^)  Ibid.  Prop.  11.  C!oroiI. 


Der  menschliche  Geist.  55 


es  kann  nur  adäquat  begriffen  werden,  i)  Denn  die  Idee  desselben 
wird  notwendig  in  Gott  adäquat  sein,  sowohl  insofern  er  die  Idee 
des  menschlichen  Körpers  hat,  als  die  Idee  von  dessen  Affektionen, 
welche  sowohl  die  Natur  des  menschlichen  Körpers  als  die  der  äußeren 
Körper  einschließen.  Die  Idee  dieses  Gemeinsamen  wird  also  in  Gott 
adäquat  sein,  insofern  er  den  menschlichen  Geist  bildet,  oder  der 
menschliche  Geist  erkennt  es  adäquat.  Daraus  folgt  dann  weiter, 
daß  es  gewisse  Begriffe  gibt,  welche  allen  Menschen  gemeinsam  sind, 
weil  alle  Körper  in  gewissen  Dingen  übereinstimmen,  z.  B.  in  der 
Möglichkeit  der  Bewegung  und  der  Ruhe,  welche  also  von  allen 
adäquat  oder  klar  und  deutlich  begriffen  werden  müssen;  und  daß 
endlich  der  Geist  desto  fähiger  zu  umfassender  adäquater  Erkenntnis 
ist,  je  mehr  sein  Körper  mit  andern  Gemeinsames  hat.  ^)  Kurz,  die 
allgemeinen  Begriffe  sind  die  adäquaten.  Daher  kann  es  denn  auch 
nicht  verwundern,  daß  der  menschliche  Geist  eine  adäquate  Idee  von 
dem  spinozischen  Gott  hat.  Denn  jedes  wirklich  existierende  Wesen 
schließt  die  ewige  und  unendliche  Idee  dieses  Gottes  ein,  weil  er 
eben  weiter  nichts  ist  als  der  Komplex  der  allgemeinsten  Begriffe, 
welche  sich  in  dem  Existierenden  finden,  der  absolut  allgemeine  Be- 
griff des  Denkens  und  der  Ausdehnung.  Es  ist  daher  auch  ganz  in 
der  Ordnung,  wenn  Spinoza  geradezu  sagt,  daß  die  unendliche  Essenz 
Gottes  allen  bekannt  sei.  ^) 

Hiermit  hängt  nun  auch  beiläufig  sein  dritter  Grad  der  Er- 
kenntnis oder  die  intuitive  Erkenntnis  genau  zusammen.  Diese  be- 
steht nämlich  darin,  daß  das  Erkennen  von  den  Attributen  Gottes 
ausgeht  und  von  ihnen  aus  die  Essenz  der  Dinge  erschließt.-^)  Ver- 
mittels dieser  Erkenntnis  glaubt  er  sehr  viele  adäquate  Erkenntnisse 
ableiten  zu  können,  weil  alles  in  Gott  ist  und  durch  Gott  begriffen 
wird.^)  Der  erste  Grad  der  Erkenntnis  nämlich  schließt  aus  absti-akten 
Begriffen,  die  wir  aus  den  einzelnen  inadäquaten  Begriffen  bilden 
und  gibt  bloß  Meinung  und  Einbildung.  Der  zweite  schließt  aus 
Allgemeinbegriffen  und  den  adäquat  erkannten  Eigenschaften  der 
Dinge,  und  liefert  allerdings  richtige  Erkenntnis.  Der  Vorzug  des 
dritten  Grades  aber  besteht  darin,  daß  es  keines  Schlußverfahreus  be- 
darf, sondern  daß  man  die  Folge  vermittels  der  Intuition  erkennt; 
wie    man    z.  B.    bei    den    Proportionen    aus    den   einfachsten   Zahlen 


')  Ibid.  Prop.  37.  38. 
'■')  Ibid.  Prop.  39.  Coroll. 
•')  Ibid.  Prop.  47.  Schol. 
*)  Prop.  40.  Schol.  2. 
°)  Prop.  47.  Schol. 


56  Spinoza. 

1  :  2  =  3  :  6  das  vierte  Glied  auf  einen  Blick  aus  dem  einfachen 
Verhältnis  1  :  2  erschließt.^)  —  Es  bedarf  danach  wohl  kaum  der 
Bemerkung,  wie  dürftig  diese  intuitive  Erkenntnis  ausfallen  wird. 

Von  größerer  Wichtigkeit  ist  die  Frage,  wie  denn  die  allge- 
meinen Begriffe,  also  die  adäquate  Erkenntnis,  im  menschlichen  Geiste 
entstehen  können?  Darauf  antwortet  Spinoza:  Ich  sage  ausdrücklich, 
daß  der  Geist  weder  von  sich  selbst  noch  von  seinem  Körper,  noch 
von  äußeren  Körpern  eine  adäquate,  sondern  nur  eine  konfuse  Er- 
kenntnis hat,  so  oft  er  nach  der  gemeinen  Ordnung  der  Natur  die 
Dinge  wahrnimmt,  d.  h.  so  oft  er  äußerlich  aus  dem  zufälligen  Ent- 
gegenkommen (occursu)  der  Dinge  bestimmt  wird  dieses  oder  jenes 
zu  betrachten,  nicht  aber  so  oft  er  innerlich  bestimmt  wird  (disponi- 
tur),  dadurch,  daß  er  mehrere  Dinge  zugleich  betrachtet,  ihre  Über- 
einstimmungen, Unterschiede  und  Gegensätze  einzusehen;  denn  so  oft 
er  auf  diese  oder  andere  Weise  innerlich  disponiert  wird,  dann  be- 
trachtet er  die  Dinge  klar  und  deutlich.  2) 

Fragen  wir  nun  aber  weiter,  woher  diese  innerliche  Disponierung 
des  Geistes  komme?  so  fehlt  alle  Antwort,  und  muß  im  System  des 
Spinoza  fehlen,  denn  die  Möglichkeit  der  Bildung  der  Allgemeinbe- 
griffe kann  in  ihm  nur  ein  zu  den  Grundsätzen  nicht  passendes  Ein- 
schiebsel aus  der  Erfahrung  sein.  Was  entspricht  in  der  Körperwelt  etwa 
dem  Allgemeinbegriff  Obst  oder  Getreide?  Nach  dem  Satze,  daß  die 
Ordnung  und  Verbindung  der  Ideen  der  der  Dinge  entspricht,  muß  das 
geistige  Geschehen  in  strenger  und  unabänderlicher  Parallele  mit  dem 
körperlichen  stehen;  alle  Vorgänge  im  Körper  müssen  sich  gleichsam 
in  der  Seele  abspiegeln  und  umgekehrt  kann  sich  in  der  Seele  nichts 
ereignen,  was  sich  nicht  auch  in  entsprechender  Weise  im  Körper 
ereignet.  Nun  ergeben  sich  aber  doch  alle  Ereignisse  im  Körper 
aus  der  gemeinen  Ordnung  der  Natur,  folglich  müssen  sich  auch  alle 
Ereignisse  in  der  Seele  aus  derselben  gemeinen  Ordnung  ergeben. 
Und  gesetzt,  die  Seele  könnte  einen  allgemeinen  Begriff  bilden,  etwa 
den  der  unendlichen  Ausdehnung,  welcher  körperhche  Vorgang  könnte 
dann  nun  wohl  diesem  allgemeinen  Begriffe  entsprechen?  Diese  inner- 
liche Disponierung  des  Geistes  zur  Bildung  der  adäquaten  Ideen  würde 
also  den  Geist  aus  dem  strengen  Parallelismus  mit  dem  Körper  los- 
lösen, damit  aber  die  Konsequenz  der  Ansicht  völlig  durchbrechen. 
Denn  wird  dieser  Parallelismus  nicht  festgehalten,  so  fällt  für  Spinoza 
alle  Möglichkeit  der  Erkenntnis  und  Behandlung  der  Außenwelt  hin- 
weg, die  bei  ihm  nur  auf  jenem  Parallelismus  beruhen  kann,   da  er 

0  1-  c. 

*)  P.  2.  Prop.  29.  Schol. 


Ethik.  57 

das  eigentliche  Kausalverhältnis  zwischen  Seele  und  Leib  aufgehoben 
hat.  Die  richtige  Eonsequenz  aber  unterwirft  den  Geist,  wie  den 
Körper  nur  dem  gemeinen  Laufe  der  Natur,  und  dieser  liefert  nur 
inadäquate  Ideen. 

Hiermit  bricht  aber  das  System  des  Spinoza  wiederum  in  zAvei 
unvereinbare  Stücke  auseinander.  Denn  auf  den  adäquaten  Ideen 
beruht,  wie  wir  sofort  sehen  werden,  das  eigentliche  und  wahre 
Handeln  des  Menschen  und  darauf  wiederum  die  Möglichkeit  der 
Glückseligkeit,  dieses  letzten  Zieles,  auf  welches  Spinoza  mit  seiner 
ganzen  Ethik  zusteuert. 

Ethik. 

Seine  Lehre  von  den  Affekten  oder  vom  Handeln  und  Leiden 
des  Menschen  beginnt  er  daher  mit  dem  Satze:  daß  der  Mensch  in- 
sofern handelt;  als  er  adäquate  Ideen,  und  insofern  leidet,  als  er  in- 
adäquate hat.  Denn  der  Mensch  handelt,  wenn  in  ihm  oder  außer  ihm 
etwas  geschieht,  von  dem  er  die  adäquate  Ursache  ist,  d.  h.  wenn  das 
Geschehen  aus  unserer  Natur  allein  klar  und  deutlich  erkannt  werden 
kann,  und  dies  stimmt  allerdings  zu  dem  Satze,  daß  die  adäquaten 
Ideen  solche  sind,  welche  Gott  hat,  insofern  er  durch  die  Essenz 
unseres  Geistes  allein  erklärt  wird.  Hieraus  folgt,  daß  der  Geist  desto 
mehr  den  Leidenschaften  unterworfen  sein  wird,  je  mehr  inadäquate 
Ideen  er  hat.  ^)  —  Da  wir  nachgewiesen  haben,  daß  er  auch  niemals 
adäquate  Ideen  haben  kann,  so  folgt,  daß  er  auch  niemals  handelt, 
sondern  nur  leidet.  Diese  Konsequenz  liegt  auch  in  der  Definition 
vom  Handeln^  welche  er  aufstellt.  Denn  da  die  Natur  unseres  Geistes. 
als  eines  endlichen  Wesens,  nicht  aus  sich  selbst  erklärt  werden  kann, 
sondern  nur  aus  dem  unendlichen  Zusammenhange  der  endlichen 
Dinge ,  so  kann  auch  kein  Geschehen  aus  unserer  Natur  allein  er- 
klärt werden,  sondern  immer  nur  aus  ihr  in  ihrer  Verbindung  mit 
andern  Dingen.  Wir  sind  also  von  allem  nur  die  teilweise  Ursache, 
und  darin  besteht  eben  nach  Spinoza  das  Leiden. 

Es  ist  beiläufig  gesagt  ein  merkwürdiger  Umstand,  daß  Spinoza 
hier  von  einer  eigenen  Natur  der  Seele  redet,  als  ob  sie  ein  Reales 
wäre,  das  ist  was  es  ist,  ohne  durch  anders  bedingt  zu  sein.  Er 
kann  nicht  umhin,  es  zuweilen  zu  vergessen,  daß  nach  seinen  Grund- 
sätzen das  Einzelne  nur  in  und  mit  der  unendlichen  Eeihe  seiner 
Bedingungen  Halt  und  Bestand  hat,  und  sofort  verschwindet,  wenn 
es  von  dieser  unendlichen  Reihe  der  Bedingungen  losgelöst  betrachtet 


')  Eth.  p.  3.  Def.  1.  2.  Prop.  1.  CoroU. 


58  Spinoza. 

werden  soll.  Aber  so  oft  er  das  Kichtige  sieht,  so  oft  bricht  er  auch 
mit  seinem  eignen  Systeme. 

Zu  dieser  Bemerkung  wird  uns  sofort  wieder  Gelegenheit  gegeben, 
wenn  wir  nach  der  Ursache  fragen,  die  ein  Handeln,  also  überhaupt 
ein  Streben,  hervorruft.  Spinoza  erkennt  sehr  gut,  daß  kein  Streben 
sein  kann  ohne  einen  zu  überwindenden  Widerstand.  Daher  stellt 
er  sofort  den  Satz  auf,  daß  die  Dinge  einander  entgegengesetzt  sein 
und  sich  gegenseitig  zerstören  können,  und  indem  er  hierin  die  Vor- 
aussetzung des  Handelns  gefunden  hat,  erklärt  er  für  das  Gemeinsame 
alles  Handelns  das  Streben  sich  selbst  zu  erhalten.^)  Jedes  Ding 
nämlich  ist  ein  bestimmter  modus  des  göttlichen  "Wesens  und  also 
auch  der  göttlichen  Macht,  es  hat  also  auch  ein  bestimmtes  Quantum 
Kraft,  mit  welcher  es  gegen  die  entgegengesetzten  Dinge  reagiert  und 
sich  selbst  zu  erhalten  strebt. 

Aber  leider  ist  die  Störung  der  Dinge  durcheinander  und  also 
die  Veranlassung  zum  Handeln  im  Zusammenhange  des  Systems  nur 
erschlichen.  Erinnern  wir  uns  daran,  daß  nur  die  modi  ein  und  des- 
selben Attributs  miteinander  im  Kausalzusammenhange  stehen,  daß  also 
die  modi  verschiedener  Attribute  nicht  aufeinander  weder  hemmend 
noch  fördernd  einwirken  können  und  sodann  daran,  daß  das  unendlich 
Viele,  was  aus  einem  Attribute  folgen  soll,  nur  den  logischen  Folgen 
einer  Definition  gleichen  soll.  Unter  diesen  aber  kann  es  keinen  Wider- 
streit geben,  wenn  nicht  die  Definition  selbst  einen  Widerspruch  enthält, 
—  eine  Annahme,  die  sich  Spinoza  in  Bezug  auf  seine  absolute  Sub- 
stanz ausdrücklich  verbeten  hat.  Woher  soll  also  der  Widerstreit 
und  damit  die  Veranlassung  zui  Selbsterhaltung  iü  diesem  Systeme 
kommen?  Gehen  wir  namentlich  auf  die  28.  Proposition  des  ersten 
Teils  zurück,  wo  zuerst  das  Endliche  auftritt,  so  sieht  man,  daß  in 
dem  übrigen  Endlichen  nur  der  Grund  zu  suchen  ist,  warum  dieses 
Ding  gerade  dieses  und  kein  anderes  ist;  das  übrige  Endliche  ent- 
hält also  nur  den  Grund  des  Seins,  nicht  aber  des  Nichtseins  dieses 
bestimmten   Dinges.     Außerdem   muß    diese  Reihe    der  Bedingungen 


«T 


ewig  dieselbe  sein,  ohne  die  Möglichkeit  eines  Wechsels,  ebeusoweni 
als  in  den  Folgen  aus  einer  Definition  ein  Wechsel  möglich  ist. 
Die  Möglichkeit  einer  Störung  oder  gar  Zerstörung  ist  da  gänzlich 
ausgeschlossen,  folglich  auch  jeder  conatus  in  suo  Esse  perseverandi 
(Versuch  in  seinem  Sein  zu  beharren). 

Auf  dieser   erschlichenen   Grundlage   des   Selbsterhaltungstriebes 
ruht  nun  die  Lehre  von  den  Affekten.    Auf  die  Einzelnheiten  dieser 


')  r.  3.  Trop.  U. 


Ethik.  59 

sehr  weitschweifig  ausgeführten  Lehre  verlohnt  sich  nicht  der  Mühe 
näher  einzugehen.  Es  wird  genügen,  die  leitenden  Grundgedanken 
herauszuheben. 

Da  das  Streben  sich  selbst  zu  erhalten  das  Wesen  des  mensch- 
lichen Geistes  ist  (als  Ausdruck  seiner  Macht;  die  Macht  ist  aber 
wiederum  das  Wesen  selbst),  der  menschliche  Geist  aber  sowohl 
adäquate  als  inadäquate  Ideen  hat,  so  strebt  er  auf  beide  Weise  sich 
zu  erhalten.  Insofern  er  sich  mit  inadäquaten  Ideen  zu  erhalten 
strebt,  ist  er  den  Passionen  unterworfen,  deren  Hauptarten  Freude 
und  Traurigkeit  und  dann  weiter  Liebe  und  Haß  sind.  Die  Handlungen 
aber,  welche  aus  den  adäquaten  Ideen  hervorgehen,  bilden  die  Tapfer- 
keit mit  ihren  Unterarten  des  Mutes  und  der  Großmut.  Die  Macht 
der  Leidenschaften  beruht  also  auf  Unwissenheit  und  Irrtum;  die 
Kraft  des  Handelns  aber  auf  Erkenntnis.  Denn  der  Mensch  handelt 
eben  nur  dann,  wenn  er  durch  adäquate  Ideen  bestimmt  wird;  alles 
andere  Handeln  ist  nur  ein  Scheinhandeln,  in  Wahrheit  ein  Leiden, 
Insofern  aber  der  Mensch  adäquate  Ideen  hat,  besitzt  er  Einsicht 
oder  Vernunft;  das  eigentliche  Handeln  besteht  also  im  Erkennen; 
was  wir  aus  Vernunft  erstreben,  ist  nichts  anderes  als  Erkennen,  i) 
Das  Höchste  aber,  was  der  Mensch  einsehen  kann,  ist  Gott,  das  ab- 
solut unendliche  Wesen.  Also  besteht  das  eigentliche  Handeln,  wo- 
durch der  Mensch  sich  selbst  erhält,  in  der  Erkenntnis  Gottes.  2) 

Mit  dem  Begriffe  des  Strebens,  sich  selbst  zu  erhalten,  sind  wir 
auch  zugleich  bei  der  Grundlage  der  spinozischen  Sittenlehre  an- 
gelangt. Denn  die  Grundlage  der  Tugend  ist  eben  das  Streben  nach 
Erhaltung  des  eigenen  Seins.  ^)  Die  Selbsterhaltung  ist  der  einzige 
Zweck  alles  Handelns  und  Leidens,  sie  ist  das  absolut  Gute  und 
zwar  allein ;  denn  alles  andere  erhält  seinen  Wert  nur  durch  sie,  und 
wird  nur  gelobt  oder  getadelt,  je  nachdem  es  der  Selbsterhaltung 
förderlich  oder  hinderlich  ist.  Je  mehr  daher  jemand  seinen  Nutzen 
suchen  kann,  d.  h.  sein  Sein  zu  erhalten  strebt  und  es  auch  vermag, 
desto  mehr  ist  er  mit  Tugend  begabt,  dagegen,  insofern  jemand  seinen 
Nutzen,  d.  h.  seine  Selbsterhaltung  vernachlässigt,  ist  er  ohnmächtig.  ^) 
Hierbei  ist  jedoch  nicht  sofort  an  den  gewöhnlichen  Eigennutz  zu 
denken.  Denn  das  eigentliche  Wesen  des  menschlichen  Geistes,  als 
eines  modus  des  Denkens,  ist  das  intelligere;  daher  handelt  nur  der- 
jenige   oder   ist   nur   der   mit  Tugend    begabt,    welcher   nicht  durch 


1)  P.  4.  Prop.  26. 

^)  Ibid.  Prop.  28. 

')  Prop.  32.  CoroU.  u.  p.  4.  Prop.  18. 

*)  Prop.  20. 


gQ  Spinoza. 

inadäquate  Ideen  oder  durch  Passionen,  wie  Zuneigung  oder  Ab- 
neigung, Liebe  und  Haß,  zum  Handeln  bestimmt  wird,  sondern  den 
vielmehr  Einsicht  und  Vernunft,  die  sein  eigenes  Wesen  ausmachen, 
zum  Handeln  treiben.  Also  je  mehr  der  Mensch  vernünftig  ist,  Ein- 
sichten hat,  desto  mehr  erhält  er  sein  eigenes  Wesen,  oder  desto 
mehr  ist  er  mit  Tugend  begabt;  nun  aber  besteht  die  höchste  Ein- 
sicht in  der  Erkenntnis  Gottes;  folglich  ist  diese  die  höchste  Tugend 
und  Kraft  des  Menschen,  oder  sein  höchstes  Gut;  denn  je  mehr  der 
Mensch  Gott  erkennt,  desto  besser  kann  er  sich  selbst  erhalten.  Das 
Höchste,  was  die  Seele  erkennen  kann,  ist  Gott  d.  h.  das  unbedingt 
unendliche  Wesen,  ohne  das  nichts  sein  noch  begriffen  werden  kann ; 
und  mithin  ist  der  höchste  Nutzen  für  die  Seele  oder  das  höchste 
Gut  die  Erkenntnis  Gottes,  i)  Also  kein  gemeiner  Eigennutz,  aber 
dennoch  nichts  mehr  als  Eigennutz.  Denn  die  Erkenntnis  Gottes 
wird  zuletzt  nur  deshalb  als  das  höchste  Gut  wert  geschätzt,  weil  sie 
der  höchste  Nutzen  des  Menschen  ist,  d.  h.  am  meisten  seinem  Streben 
sich  zu  erhalten  dienlich  ist. 

Vermittels  dieser  Grundbestimraungen   wird   man  sich  leicht  in 
der  Anlage   der  spinozischen  Ethik   orientieren  können.     Denn   eine 
Ethik,   d.  h.   ein  Vorbild    des  Handelns,   will   er   wirklich   aufstellen, 
wenn   auch   noch   nicht  im    dritten   Teile,   in   welchem    er   nur   eine 
Theorie  der  Affekte  als  Vorbereitung  gibt,  so  doch  im  4.  und  5.  Teile 
seines   Werks,   in   denen   er   de   Servitute   und   de   libertate    humana 
(von   der   menschlichen   Knechtschaft   und  Freiheit)  handelt.     Er   er- 
klärt sich  darüber  im  Eingange   des  4.  Teils  ziemlich  deutlich.     Die 
Begriffe  gut  und  böse,  sagt  er,  zeigen  zwar  nichts  Positives  in  den 
Dingen  an,  insofern  man  sie  an  sich  betrachtet,  sie  sind  bloße  raodi 
cogitandi,    welche    aus  der  Vergleichung  der  Dinge  entspringen   (sie 
sind  also  keine  Erkenntnisbegriffe,  was  vollkommen  richtig  ist).    Aber 
obgleich   es   sich   so  verhält,   so  müssen  wir  doch  diese  Worte  bei- 
behalten.   Weil  wir  eine  Idee  des  Menschen  zu  bilden  beabsichtigen, 
als   das   Musterbild   der   menschlichen   Natur,   auf   das  wir  hingehen 
sollen,  wird  es  für  uns  von  Vorteil  sein,   dieselben  Wörter  in  dem 
erwähnten    Sinn    beizubehalten.      Er    will    also    ein    Musterbild    des 
Menschen  aufstellen,  auf  welches  geschaut  werden  soll.     Daher  fährt 
er  fort:  Unter  gut  werde  ich  das  verstehen,  wovon  wir  gewiß  wissen, 
daß  es  ein  Mittel  ist,  dem  Musterbilde  der  menschlichen  Natur,  das 
wir  uns  vorsetzen,   näher  und   näher  zukommen;    unter  schlecht  da- 
gegen   das,   wovon   wir   gewiß   wissen,   daß    es   uns  hindert,   diesem 


')  P.  4.  Prop.  28.  Dem. 


Ethik.  ßl 

Musterbild  zu  entsprechen.  Wenn  er  also  in  dem  Folgenden  darstellt, 
daß  der  MeDSch  sich  am  besten  selbst  erhält,  welcher  nur  nach  adä- 
quaten Ideen  handelt,  oder  Gott  erkennt,  und  er  also  die  Erkenntnis 
Gottes  das  höchste  Gut  nennt,  so  ist  offenbar,  daß  er  hiermit  den 
Inhalt  jenes  Musterbildes  der  menschlichen  Natur  angeben  will. 
Daraus  ist  auch  zu  verstehen,  wie  er  unter  der  Erkenntnis  des  Guten 
und  Bösen  nichts  anderes  als  den  Affekt  der  Freude  und  der  Traurig- 
keit, sofern  wir  uns  desselben  bewußt  sind,  verstehen  will,  i)  Was 
nämlich  unsere  Macht  oder  Tugend  vermehrt,  erregt  uns  Freude,  das 
Gegenteil  aber-  Trauer.  Also  wird  das  höchste  Gut,  die  Erkenntnis 
Gottes,  uns  auch  die  höchste  Freude  erregen,  und  also  die  Seligkeit 
iu  dieser  Erkenntnis,  oder  was  dasselbe  ist,  in  der  intellektuellen 
Liebe  zu  Gott  bestehen. 

Hält  man  sich  nun  mehr  an  den  Klang  dieser  Worte,  als  an  den 
Sinn,  welchen  sie  im  Systeme  des  Spinoza  allein  haben  können,  so 
ist  es  leicht  erklärlich,  daß  diese  Ethik  viele  Verehrer  gefunden  hat, 
welche  die  hohe  Reinheit  derselben  nicht  genug  zu  rühmen  wissen, 
denn  daß  die  Erkenntnis  Gottes  das  höchste  Gut  sei,  und  die  Seligkeit 
in  der  intellektuellen  Liebe  zu  Gott  bestehe,  lautet  vortrefflich  genug. 
Aber  leider  kann  sich  dieser  günstige  Schein  vor  einer  genaueren 
Untersuchung  nicht  halten! 

Zunächst  ist  nicht  aus  den  Augen  zu  lassen,  daß  das  Streben, 
sich  selbst  zu  erhalten,  das  alleinige  absolut  Gute  in  dieser  Ethik 
ist,  oder  *das  Prinzip,  von  welchem  alles  Lob  und  aller  Tadel  aus- 
geht. Nur  aus  diesem  Grunde  wird  die  Erkenntnis  Gottes  als  das 
höchste  Gut  gelobt,  weil  sie  dem  Menschen  zu  seiner  Selbsterhaltung 
am  nützlichsten  ist.  Nur  deshalb  wird  der  Mensch  streben,  daß  auch 
andere  nach  der  Führung  der  Vernunft  leben,  weil  sie  unter  dieser 
Bedingung  ihm  am  nützlichsten  sind,  also  am  meisten  zu  seiner 
Selbsterhaltuug  beitragen.  2)  Nur  deshalb  ist  der  Haß  schlecht,  weil 
er  eine  Art  von  Traurigkeit  ist,  und  die  Traurigkeit  eine  Passion  ist, 
durch  welche  der  Geist  zu  geringer  Vollkommenheit  übergeht,  also 
weniger  fähig  wird,  sich  selbst  zu  erkalten  u.  s.  f.  Damit  ruht  also 
diese  ganze  Ethik  auf  der  Selbstsucht,  wie  auch  ziemlich  unverblümt 
gesagt  wird:  Niemand  strebt  sein  Sein  eines  andern  Dinges  wegen 
zu  erhalten.  Denn  wenn  der  Mensch  eines  andern  Dinges  wegen 
sein  Sein  zu  erhalten  strebte,  dann  würde  jenes  andere  Ding  die  erste 
Grundlage  seiner  Tugend  sein.  ^) 

')  P.  4.  Prop.  8. 

»)  Prop.  37.  Dem. 

*)  P.  4.  Prop.  25  u.  Dem. 


62  Spinoza. 

Weiter  aber    ist   dieses    Streben   sich   selbst  zu  erhalten,    nichts 
anderes,  als  das  wirkliche  Wesen  oder  die  Macht  eines  jeden  Dinges, 
und  aus  seinem  Wesen  folgen  alle  seine  Handlungen  mit  Notwendig- 
keit. 1)    Ein  jedes  Ding  sucht  sich  also  mit  Notwendigkeit  zu  erhalten, 
soviel   an  ihm   liegt   und  in   seiner  Macht  steht.     Was  also  als   gut 
oder  böse  bestimmt  wird,  muß  sich  nach  diesem  Streben  oder  dieser 
Begierde  richten,  die  unwillkürlich  in  der  Natur  des  Menschen  liegt. 
Nicht   ein   vom    Wollen  oder   Begehren    des  Menschen  unabhängiges 
Prinzip  entscheidet   über  das,   was   gut   oder  böse  ist,  sondern  diese 
Begierde  selbst  gibt  diese  Entscheidung.    Aus  diesem  allen  geht  hervor, 
daß    wir  nach    nichts  streben,   nichts  wollen,   nichts   erstreben  noch 
begehren,   weil    wir   es  als  gut  beurteilen,  vielmehr   umgekehrt,   daß 
wir  etwas   als    gut  beurteilen,   weil   wir  darnach  streben,   es   wollen, 
erstreben,  begehren.  -}    Die  Begierde  ist  also  die  absolute  Herrscherin 
im  Reiche  dieser  Ethik,  sie  ist's,  welche  billigt  und  verwirft.    Aller- 
dings kann  über  einzelne,    besondere   Begierden    auch  ein  Urteil  er- 
gehen, je  nachdem  sie  der  allgemeinen  Begierde  nützlich  oder  schäd- 
lich sind,  allein  dieses  Urteil  steht  selbst  im  Dienste  jener  allgemeinen 
Begierde  nach   Selbsterhaltung.     Aber   dieses   Urteil  kann   den    ein- 
zelnen Willensstrebungen   nicht   das  Prädikat  gut  und  böse,   sondern 
nur  des  guten  und  schlechten,  d.  h.  des  nützlichen  und  weniger  nütz- 
lichen anheften:    ein  absolutes  Urteil  der  Billigung  oder  Verwerfung 
ist  nicht  möglich.    Denn  jede  Begierde,  sie  sei  welche  sie  wolle,  hat 
die  Selbsterhaltung   des   Menschen  zu  ihrem  Zwecke;    auch  die  Pas- 
sionen, die  aus  inadäquaten  Ideen  entstehen;  weil,  wie  oben  gezeigt 
ist,   der   Mensch    sich    nicht  bloß  insofern  zu  erhalten  strebt,    als  er 
adäquate,   sondern  auch  als  er  inadäquate  Ideen  hat.     Jede  Begierde 
ist   daher   an    sich  gut,   nur  die  eine  mehr,    die  andere  weniger,   je 
nach  ihrer  Stärke  oder  Macht,  die  Selbsterhaltung  wirklich  zu  erreichen. 
Es  gibt  daher  in  dieser  Ethik  keinen  absoluten  Gegensatz  gegen  das 
Gute.     Dieser,  das  absolut  Verwerfliche  oder  das  Böse,  wäre  die  ab- 
solute Ohnmacht,  das  Nichtexistieren.     Jedes  aber,  was  existiert,  hat 
einen  Teil   an    der  Realität,   also    auch   an  der  Vollkommenheit,  der 
Macht,  der  Tugend,  und  jede  Äußerung  seines  Willens  und  Strebens 
ist  ein  Zeichen  dieser  Vollkommenheit,  Macht  und  Tugend,  sie  sei  so 
groß  oder  klein  wie  sie  wolle.   Das  Böse  ist  also  in  dieser  Ethik  nur 
das,   was    niemand   will   und  niemand    kann.    Diese  ethische  Ansicht 
mußte  für  Spinoza  um  so  verführerischer  sein,  je  mehr  sie  in  Harmonie 


')  P.  3.  Prop.  7  u.  Dem. 
')  P.  3.  Prop.  9.  Schol. 


Ethik.  63 

mit  seiner  theoretischen  Weltanschauung  stand  und  die  volle  Kon- 
sequenz derselben  ihm  verborgen  blieb. 

Wir  haben  schon  früher  gesehen,  daß  seine  ganze  Weltanschauung 
unter  dem  Quantitätsbegriff  steht.  Die  absolute  Substanz  mit  ihren 
unendlich  vielen  Attributen  ist  das  volle  Quantum  der  Realität,  Voll- 
kommenheit und  Macht;  daher  auch  das  absolut  Unabhängige  und 
Freie,  welches  allein  nach  seinen  eigenen  Gesetzen  handelt.  Sie 
erscheint  daher  auch  als  das  Vorzüglichste  und  Würdigste,  solange 
man  nämlich  vergißt,  daß  ihr  gar  kein  -wirkliches  Wollen  zugeschrieben 
werden  kann,  sondern  sie  nur  der  Komplex  der  höchsten  Allgemein- 
begriffe ist,  unter  welche  alles  Wirkliche  subsumiert  werden  kann. 
Denn  nur  aus  einem  solchen  Vergessen  ist  es  zu  erklären,  daß  man 
das  Sein,  die  Realität,  die  Größe  der  Wirkung  oder  die  Macht  mit 
dem  sittlich  Guten  identifiziert,  abgesehen  davon,  daß  diese  Größe 
das  geistige  Auge  dergestalt  blendet,  daß  es  die  übrigen  sittlichen 
Ideen  nicht  sehen  kann.  Ist  nun  dieses  ens  realissimum  das  volle 
Maß  der  Vorzüglichkeit,  so  werden  natürlich  die  modi  desselben, 
oder  die  einzelnen  Quanta,  in  welche  es  eingeteilt  ist,  an  ihm  ge- 
messen, und  ihnen  je  nach  ihrer  Größe,  oder  nach  dem  Quantum  der 
Realität  und  Macht  Tugend  und  Vorzüglichkeit  beigelegt.  Spinoza  sagt 
das  selbst  mit  deutlichen  Worten  in  der  Vorrede  zum  vierten  Teile  der 
Ethik:  Wir  pflegen  nämlich  alle  Individuen  in  der  Natur  auf  eine 
Gattung  zurückzuführen,  die  wir  die  allgemeinste  nennen:  auf  den 
Begriff  des  Wesens,  der  sich  auf  alle  Individuen  in  der  Natur  über- 
haupt erstreckt.  Sofern  wir  daher  die  Individuen  in  der  Natur  auf 
diese  Gattung  zurückführen,  sie  dann  miteinander  vergleichen  und 
dabei  bemerken,  daß  die  einen  mehr  Seinsgehalt  oder  Realität  haben, 
als  die  andern ,  insofern  sagen  wir,  daß  die  einen  vollkommener  sind 
als  die  andern.  —  Es  ist  dies  freilich  ein  anderer  und  in  Wahrheit 
ein  einem  Teile  der  richtigen  ethischen  Beurteilung  näher  liegender 
Gesichtspunkt,  als  der,  welcher  vom  Prinzip  der  Selbsterhaltung  aus- 
geht. In  ihm  zeigt  sich  wenigstens  ein  Ansatz  zu  einer  Beurteilimg, 
die  nicht  im  Dienste  der  Begierde  steb^;  die  Größe  der  Macht  wird 
hier  unmittelbar  gelobt,  während  sie  vom  Prinzipe  der  Begierde,  sich 
selbst  zu  erhalten,  nur  mittelbar,  als  ein  für  die  Begierde  Nütz- 
liches, gelobt  wird.  Allein  wo  dieser  Unterschied  der  absoluten  und 
relativen  Wertschätzung  noch  nicht  scharf  genug  erkannt  wird,  da 
verschwimmen  beide  natürlich  leicht  ineinander,  zumal  wenn  wie  hier 
der  Erfolg  derselbe  ist,  und  von  dem  einen  wie  dem  andern  Prinzip 
aus  das  Lob  auf  dasselbe,  auf  die  Realität  oder  die  Macht,  fällt. 

Bei  alledem  würde  Spinoza  aber  doch  sein  System  selbst  ver- 


54  Spinoza. 

worfen  haben,  wenn  sich  ihm  die  volle  Konsequenz  desselben  offen- 
bart hätte.  Nach  dem  Satze :  Die  Ordnung  und  Verbindung  der  Dinge 
ist  dieselbe  als  der  Ideen,  und  dem  andern,  daß  Geist  und  Körper 
ein  und  dieselbe  Sache  ist,  nur  unter  verschiedenen  Attributen  be- 
trachtet, muß  folgerichtig  die  Kraft  des  Körpers  sich  selbst  zu  er- 
halten derselben  Kraft  des  Geistes  genau  entsprechen.  Im  stärksten 
Körper  muß  die  stärkste  Seele  wohnen;  und  daraus  folgt  auf  Grund 
der  Gleichung  zwischen  potentia  (Macht)  und  virtus  (Tugend),  daß 
der  Körper,  welcher  sich  am  besten  erhalten  kann,  auch  die  tugend- 
hafteste, vernünftigste  Seele  hat.  Krankheit,  Schwäche  u.  dergl.  sind 
sichere  Kennzeichen  einer  schlechten,  tugendiosen,  wenig  vernünftigen 
Seele.  Ja  man  ist  berechtigt,  noch  häßlichere  Folgen  daraus  zu 
ziehen.  Derjenige,  welcher  dem  andern  an  Körperkraft  überlegen  ist, 
ist  ihm  auch  an  geistiger  Tugend  überlegen.  Der  Mörder,  welcher 
einen  andern  erschlägt,  ist  tugendhafter,  als  der  Ermordete,  denn 
jener  erhält  sich  selbst,  dieser  hat  nicht  die  Macht  dazu.  Freilich 
wird  Spinoza  dem  Mörder  inadäquate  Ideen  zuschreiben  und  sein 
Handeln  für  ein  Leiden  ausgeben,  und  etwa  dem  an  Körper  schwachen 
Weisen  wegen  seiner  adäquaten  Ideen  mehr  Tugend  beilegen,  als 
seinem  Mörder.  Allein  darin  liegt  eben  die  Inkonsequenz.  Denn 
wenn  es  auch  gelingen  möchte,  die  Handlung  des  Mordens  für  ein 
Leiden  auszugeben,  so  wird  man  doch  schwerlich  mit  aller  Kunst 
herausbringen,  daß  das  passive  Ermordetwerden  eines  Weisen  eine 
Handlung  desselben  ist,  oder  daß  sich  darin  der  Parallelismus  der 
körperlichen  und  geistigen  Kraft  offenbart.  In  der  Konsequenz  des 
Systems  liegt  immer,  daß  die  Kraft  des  Geistes  und  des  Körpers  sich 
selbst  zu  erhalten  dieselbe  sein  muß,  denn  Geist  und  Körper  sind 
ein  und  dieselbe  Sache.  In  gewisser  Hinsicht  spricht  auch  Spinoza 
diese  Konsequenz  selbst  aus,  wenn  er  sagt:  Wer  einen  Körper  hat, 
der  zu  sehr  vielerlei  fähig  ist,  der  hat  eine  Seele,  deren  größter  Teil 
ewig  ist  1)  (d.  h.  hat  die  meisten  adäquaten  Ideen) ;  er  denkt  hier  aber 
wahrscheinlich  nur  an  den  Unterschied  des  menschlichen  und  tierischen 
Körpers  und  an  den  eines  durch  Übung  in  Kunst  und  Wissenschaft 
ausgebildeten  und  eines  ungeschickten  und  ungeübten  Körpers. 

Abgesehen  von  dieser  unglücklichen  Konsequenz,  welche  dem 
Spinoza  nur  deshalb  widerfahren  ist,  weil  er  seine  Ethik  auf  eine 
verunglückte  Metaphysik  baute;  abgesehen  auch  von  der  gänzlich 
falschen  Begründung  der  gesamten  ethischen  Anschauung  auf  den 
Selbsterhaltungstrieb,  ist  endlich  auch  dasjenige,  was  er  als  das  ethisch 


^)  Eth.  p.  5.  Prop.  39. 


EthiL 65 

Höchste  preist,  die  Einsiciit  oder  die  intellektuelle  Liebe  zu  Gott, 
durchaus  ungenügend.  Denn  unter  dieser  intellektuellen  Liebe  Gottes 
dart  man  nicht  etwa  dasselbe  verstehen  wollen,  was  etwa  im  Christen- 
tum die  Liebe  zu  Gott  bedeutet,  sondern  nur  die  Freude  an  der 
theoretischen  Erkenntnis.  Wir  freuen  uns  an  dem,  sagt  er,  was  wir 
vermittels  des  dritten  Grades  der  Erkenntnis  einsehen,  und  zwar  in- 
dem die  Idee  Gottes,  als  die  Ursache  dieser  Freude,  sie  begleitet. 
Aus  diesem  dritten  Grade  der  Erkenntnis  entspringt  notwendig  die 
intellektuelle  Liebe  zu  Gott;  denn  die  Freude,  welche  von  der  Idee 
Gottes,  als  ihrer  Ursache  begleitet  wird,  ist  die  Liebe  zu  Gott,  nicht 
inwiefern  wir  uns  einbilden,  Gott  sei  uns  gegenwärtig,  sondern  in- 
wiefern wir  einsehen,  daß  Gott  das  ewige  Sein  ist.  i)  Es  ist  also  nur 
die  Freude  an  dieser  theoretischen  Erkenntnis,  welche  das  meta- 
physische System  Spinozas  bietet;  an  der  Erkenntnis  also  jener 
unendlichen  Substanz,  aus  welcher  Unendliches  auf  unendliclie  Weise 
mit  absoluter  Notwendigkeit  folgt. 

Nun  ist  allerdings  eine  wirklich  theoretische  Einsicht  und  noch 
vielmehr  die  ethische  Einsicht  ein  sehr  hohes  und  wertvolles  Gut, 
weil  sie  eine  von  den  Bedingungen  ist,  um  einen  vollendet  sittlichen 
Willen  in  der  Wirklichkeit  zu  ermöglichen;  auch  gewährt  sie  ohne 
alle  Frage  eine  reine  und  hohe  Freude  und  Befriedigung  in  ihrer 
Art;  allein  weder  dieses  ihr  Resultat  noch  ihre  Eigenschaft  als  Be- 
dingung zum  wirklichen  sittlichen  Wollen  können  sie  zu  dem  absolut 
Guten  oder  Lobenswerten  selbst  machen.  Sie  leuchtet  doch  gleich- 
sam nur  mit  fremdem  Glänze;  mit  dem  Glänze  nämlich,  welchen  der 
absolut  gute  Wille,  als  ihr  Zielpunkt,  ihr  leiht.  Wir  können  nur 
mit  dem  Apostel  Paulus  sprechen:  Und  wenn  ich  wüßte  alle  Ge- 
heimnisse und  hätte  alle  Erkenntnis  und  hätte  der  Liebe  nicht,  so 
wäre  ich  nichts. 

Die  Ethik  des  Spinoza  ist  daher,  wie  Herbart  zwar  mit  hartem, 
aber  doch  nicht  ungerechtem  Worte  sagt,  unter  aller  Kritik.-)  Denn 
ihr  fehlt  eben  das,  was  das  eigentlich  Ethische  in  der  Ethik  ist,  die 
Aufstellung  der  Ideen,  welche  den  absolut  guten  Willen  charakterisieren; 
sie  kennt  gar  nicht  den  Gedanken  eines  an  sich  guten  AYollens,  das 
absolut  um  seiner  Beschaffenheit  willen,  von  allem  Erfolge  und  Werke 
desselben    abgesehen,    gelobt   werden   müsse.     Sie   kennt   in   der  Tat 


^)  P.  5.  Prop.  32,  Coroll. 

2)  Hei-bart  im  5.  Brief  über  die  Freiheit  des  menschl.  Willens,  109.   Harteiist. 
IX.  310,  Kehrbach  X.  258. 

Religionsphilosophie:  Spinoza.  •-' 


QQ  Spinoza. 

nur  die  nackte  Begierde  der  Selbsterhaltiing  und  einige  Regeln,  nach 
denen  diese  Begierde  am  sicliersten  befriedigt  wird. 

Das  sind  der  Vorwürfe  genug,  und  es  ist  nicht  nötig,  ihnen  den 
nicht  ganz  gerechten  hinzuzufügen,  daß  Spinoza  die  Begriffe  des 
Guten  und  Bösen,  Schönen  und  Häßlichen  in  die  Reihe  der  bloßen 
Vorteile  stelle.  Allerdings  sind  die  Äußerungen  im  Anhange  zum 
ersten  Teile  der  Ethik  etwas  unvorsichtig. 

Allein  es  ist  nicht  zu  übersehen,  daß  er  dort  gegen  diejenigen 
streitet,  welche  durch  die  Begriffe,  gut,  böse,  Ordnung,  Verwirrung, 
warm,  kalt,  Schönheit,  Häßlichkeit  die  Natur  der  Dinge  erklären 
wollen,  und  daß  er  dort  die  aus  einem  ganz  gemeinen  Eudämonis- 
mus  entsprungenen  ethischen  und  ästhetischen  Begriffe  vor  Augen 
hat.  Darin  aber  werden  wir  ihm  im  allgemeinen  recht  geben 
müssen,  daß  die  ethischen  Begriffe  nicht  Erkenntnisbegriffe  sind, 
oder  wie  er  sagt,  nichts  Positives  von  den  Dingen  an  sich  betrachtet 
aussagen;  daß  sie  vielmehr  aus  einer  A^ergleichung  entspringen.  Nur 
ist  Spinoza  allerdings  unendlich  weit  davon  entfernt  zu  wissen,  was 
und  wie  verglichen  werden  muß,  oder  welche  Verhältnisse  aufgesucht 
werden  müssen,  um  die  absoluten  Urteile  über  das,  was  böse  und 
gut  ist,  zu  finden. 

Die  Ethik  des  Spinoza  ist  von  jeher  anstößig  gewesen.  Aber 
wir  möchten  den  Grund  des  Absehens,  welchen  man  vor  ihr  gehabt 
hat  weniger  ihrem  Eudäraonismus  zuschreiben.  Denn  darin  mußten 
sich  die  meisten  ethischen  Philosophen  mit  ihm  verwandt  fühlen, 
wenn  es  ihnen  auch  nicht  gelang,  denselben  so  rein  und  nackt  aus- 
zusprechen. Dieser  Eudämonismus  war  die  Philosophie  jenes  ganzen 
Zeitalters.  Das  eigentlich  Abschreckende  war  dagegen  der  Fatalismus, 
das  Fehlen  dessen,  was  man  als  Freiheit  des  menschlichen  Willens 
mehr  mit  dunklem  Gefühle  pries,  als  mit  deutlichen  Begriffen  erkannte. 
Und  doch  hat  Spinoza  gesucht,  auch  diese  mit  in  sein  System  auf- 
zunehmen, wie  sein  fünfter  Teil  der  Ethik  bezeugt,  welcher  über  die 
Macht  des  Verstandes  oder  die  menschliche  Freiheit  handelt. 

Wir  werden  daher  etwas  näher  nachzusehen  haben,  wie  sich  die 
Sache  eigentlich  verhält. 

Über  die  menschliche   Freiheit. 

Gehen  wir  auf  die  Grundzüge  seines  Systems  zurück,  so  ist 
offenbar,  daß  eine  solche  Freiheit  des  Willens,,  wie  sie  etwa  Kant 
verlangte,  das  Vermögen,  einen  absolut  neuen  Anfang  in  den  Kausal- 
reihen zu  machen,  mit  der  spinozischen  Ansicht  absolut  unverträglich 
ist.     Ist  alles  Geschehen  in  der  Welt  nur  ein  notwendiges  Abfließen 


über  die  menschliclie  Freiheit.  (37 


der  Folgen  aus  ihren  Gründen,  oder  geschiebt  alles  mit  derselben 
Notwendigkeit,  mit  welcher  in  einem  Dreiecke  die  Winkel  gleich  zwei 
Rechten  sind,  wie  Spinoza  oft  genug  wiederholt,  und  ist  jedes  einzelne 
Ding  in  seinem  Sosein  durch  die  unendliche  Eeihe  der  andern  Dinge 
bestimmt,  so  bleibt  für  den  Gedanken,  daß  in  diesem  festzusammen- 
gefügten Universum  möglicherweise  etwas  anders  sein  könnte,  als  es 
nun  gerade  ist  und  geschieht,  kein  Raum  übrig.  Gott  allein  ist  eine 
freie  Ursache,  aber  nicht  weil  er  die  Wahl  hätte  anders  zu  handeln, 
sondern  weil  er  allein  nach  den  Gesetzen  seiner  Natur  handelt;  wes- 
halb auch  die  Dinge  auf  keine  andere  Weise  von  Gott  hervorgebracht 
werden  konnten,  als  sie  hervorgebracht  sind.  Jede  endliche  Ursache 
aber,  also  auch  jeder  Wille,  ist  eine  gezwungene,  unfreie;  denn  sie 
wird  von  einem  andern  modus  der  absoluten  Substanz,  also  von 
einer  fremden  Ursache  zum  Sein  und  Handeln  bestimmt.  ^)  Ebenso- 
wenig wie  Gott  aus  der  Freiheit  des  Willens  handelt,  handelt  auch 
der  Mensch  aus  einer  solchen.  Er  handelt  und  kann  nur  handeln 
gemäß  derjenigen  Bestimmung,  welche  seine  Natur  nun  einmal  hat. 
Aber  mitten  in  dieser  Bestimmung,  nach  welcher  der  Mensch  der 
gemeinsamen  Ordnung  der  Natur  unterworfen  ist  und  also  der  blinden 
Notwendigkeit  gehorcht,  sucht  Spinoza  dennoch  für  die  Freiheit,  d.  h. 
für  die  Macht  und  Herrschaft  der  Yernunft  über  die  Begierde,  Raum 
zu  gewinnen. 

Zu  dem  Ende  behauptet  er,  daß  jeder  Affekt,  welcher  eine 
Passion  ist,  aufhört  eine  solche  zu  sein,  sobald  man  eine  klare  und 
deutliche  Idee  desselben  bildet.  Nun  kann  man  aber  von  allen 
Körperaffektionen  eine  klare  und  deutliche  oder  adäquate  Idee  bilden, 
da  diese  Affektionen  etwas  Gemeinsames  sind,  und  die  Begriffe  dessen, 
was  allen  gemeinsam  ist,  adäquat  sind.  Ein  jeder  hat  es  also  in 
seiner  Gewalt,  sich  und  seine  Affekte,  wenn  auch  nicht  absolut,  so 
doch  zum  Teil  klar  und  deutlich  einzusehen,  und  dadurch  zu  be- 
wirken, daß  er  von  den  Passionen  weniger  leidet.-)  Ferner  leidet 
der  Geist  weniger  von  den  Passionen,  wenn  er  erkennt,  daß  alle 
Dinge  notwendig  sind.  '^)  Denn  wenn  er  ein  Ding  frei  betrachtet,  so 
denkt  er,  es  sei  allein  die  Ursache  des  Affekts  und  hat  daher  gegen 
dasselbe  allein  entweder  Liebe  oder  Haß;  sieht  er  aber  ein,  daß  es 
nicht  frei  ist,  sondern  durch  andere  Ursachen  bestimmt  ist,  ihn  zu 
affizieren,  so  vermindert  sich  gegen  dasselbe  sein  Affekt.    (Liebe  oder 


')  Eth.  p.  1.  Prop.  32. 
2)  P.  5.  Prop.  3.  4.  Schol. 
=»)  Prop.  6. 


68  Spinoza.  ^ 

Hass  wird  sich  also  auf  die  andern  Ursachen  mit  verteilen;  wenn 
man  also  etwa  einsieht,  daß  das  ganze  Universum  mitwirkt,  um  uns 
irgend  ein  Leid  oder  eine  Freude  anzutun,  so  wird  sich  der  Haß 
oder  die  Liebe  auf  das  ganze  Universum  verteilen  und  also  gegen 
das  einzelne  Ding  unendlich  klein  werden.)  Dazu  kommt  noch,  daß 
der  Geist  in  diesem  Falle  eben  durch  den  Affekt  bestimmt  wird,  an 
mehrere  Dinge  zu  denken,  er  also  durch  denselben  nicht  am  Denken 
gehindert  wird.  Damit  aber  verschwindet  das  Übel  des  Affekts;  denn 
dieser  ist  nur  insofern  ein  Übel,  als  der  Geist  durch  ihn  am  Denken 
gehindert  wird.^) 

Erkennt  man  endlich  in  klaren  und  deutlichen  Begriffen,  daß 
ein  Affekt  aus  dem  notwendigen  Zusammenhange  aller  Dinge  ent- 
steht, so  bezieht  man  eben  dadurch  denselben  auf  die  Idee  Gottes.  2) 
Daraus  aber  erwächst  dem  Geiste  Freude.  Denn  diese  ist  überhaupt 
eine  unzertrennliche  Begleiterin  der  adäquaten  Erkenntnis,  da  der 
Geist  in  derselben  seiner  eigenen  Macht  inne  wird.  Erkennt  nun 
der  Geist  adäquat,  daß  Gott  die  Ursache  seiner  Affekte  ist,  so  freut 
er  sich,  indem  er  in  dieser  Freude  die  Idee  Gottes,  als  die  Ursache 
dieser  Freude  hat;  er  liebt  also  Gott.  Bezieht  folglich  der  Mensch 
alle  seine  Affekte  auf  Gott,  so  bewirkt  er  dadurch,  daß  die  Liebe  zu 
Gott  seinen  Geist  am  meisten  einnimmt;  ^)  denn  dann  ist  diese  Liebe 
ja  mit  allen  Affekten  verbunden,  und  wird  also  selbst  der  beständigste 
aller  Affekte  sein.  ^)  Da  nun  aber  die  Ordnung  und  Verbindung  der 
körperlichen  Affektionen  sich  nach  der  Ordnung  und  Verbindung  der 
Ideen  richtet,  so  hat  hiernach  also  die  Vernunft  die  Affekte  in  ihrer 
Gewalt  und  kann  bewirken,  daß  der  Geist  sich  über  dieselben  erhebt. 

Ohne  uns  bei  der  Dürftigkeit  des  Inhalts  dieser  Sätze,  durch 
welche  die  Macht  der  Vernuft  über  die  Affekte  dargestellt  werden 
soll,  hier  aufzuhalten,  da  es  ohnehin  auf  der  Hand  liegt,  daß  hier 
alles  auf  eine  Ergebung  in  das  absolut  Unvermeidliche  und  Unver- 
änderliche hinauslaufen  muß,  bemerken  wir  vielmehr,  daß  Spinoza 
nicht,  unrecht  haben  würde,  mitten  in  seinem  Determinismus  von 
einer  durch  die  Macht  der  Vernunft  zu  erlangenden  Freiheit  zu 
reden,  wenn  er  nur  irgendwo  in  seinem  ganzen  System  die  Ursache 
nachweisen  könnte,  durch  welche  die  adäquaten  Ideen  im  Geiste  des 
Menschen   entstehen.     Wir   haben   oben  nachgewiesen,  daß  nach  der 


^)  Prop.  9.  dem. 
^  Prop.  14. 
=0  Prop.  16. 
*)  Prop.  20.  Schol. 


über  die  menschliche  Freiheit.  69 

ganzen  Anlage  des  Systems  der  endliche  Geist  nur  inadäquate  Ideen 
haben  kann.  Denn  der  endliche  Geist  besteht  nur  aus  den  Ideen 
der  Teile  des  Körpers,  dessen  Idee  er  ist.  Diese  Teile  des  Körpers 
aber  sind  in  ihrem  Sosein  durch  andere  Körper  bestimmt,  die 
nicht  zu  jenem  Körper  gehören,  deren  Ideen  also  auch  nur  insofern 
als  sie  den  Körper  bestimmen,  also  nur  partiell,  in  dem  Geiste  sein 
können.  Also  ist  jede  einzelne  Idee  im  Geiste  notwendig  inadäquat; 
denn  um  sie  adäquat  zu  denken,  müßte  die  ganze  unendliche  Reihe 
ihrer  Ursachen  mitgedacht  werden. 

Und  hier  — ■  nicht  in  der  Leugnung  einer  indeterministischen 
Freiheit  —  sondern  in  der  Unmöglichkeit,  eine  Ursache  nachzuweisen, 
daß  im  menschlichen  Geiste  vernünftige  Einsicht  entstehe  and  sich 
vermehre,  oder  in  der  völligen  Gebundenheit  des  menschlichen  Geistes 
an  den  gemeinen  Lauf  der  Natur  liegt  das  Ungenügende  und  Ab- 
stoßende des  spinozischen  Systems. 

Steht  das  geistige  Geschehen  auf  allen  Stufen  seiner  Ausbildung 
in  strenger  Parallele  mit  dem  Geschehen  im  menschlichen  Leibe,  so 
ist  gar  keine  Möglichkeit  abzusehen,  wie  eine  vernünftige  Einsicht 
und  ein  sittliches  Wollen  im  menschlichen  Geiste  entstehen  können, 
worin  sich  nach  den  Gesetzen  dieser  Einsicht  und  dieses  Wollens 
Antriebe  zum  Handeln  erzeugen  könnten,  die  von  den  körperlichen 
Affektionen  und  deren  Verkettung  unabhängig  wären.  Und  das  ist 
das  Eigentliche,  was  man  durch  die  Behauptung  eines  freien  Willens 
retten  will,  und  was  man  in  den  Systemen  vermißt,  die  man  des 
Fatalismus  beschuldigt. 

Hiermit  hängt  endlich  noch  der  alle  religiöse  Hoffnung  ver- 
nichtende Umstand  zusammen,  daß  in  der  Welt  des  Spinoza  durch 
sittliches  Handeln  weder  etwas  gebessert,  noch  durch  unsittliches 
etwas  verschlechtert  werden  kann,  oder  mit  andern  Worten,  daß  sein 
System  alle  sittliche  Weltentwicklung  ausschließt.  Zwar  in  dem  ein- 
zelnen Menschen  oder  auch  in  dieser  oder  jener  begrenzten  mensch- 
lichen Gemeinschaft  mag  es  möglich  sein,  wenn  es  die  Ordnung  der 
Natur  so  mit  sich  bringt,  daß  sich  ein  größeres  Quantum  von  Realität, 
Vollkommenheit,  Macht  oder  Tugend  anhäufe,  oder  daß  die  intellek- 
tuelle Liebe  zu  Gott  die  Affekte  bändige;  aber  damit  wird  für  das 
Ganze  nichts  gewonnen;  denn  je  mehr  Realität  oder  Tugend  an  dem 
einen  Orte  ist,  desto  weniger  muß  davon  an  einem  andern  sein,  weil 
das  absolute  Quantum  der  Realität,  die  absolute  Substanz,  nicht  ver- 
mehrt noch  vermindert  werden  kann.  Jeder  endliche  modus  ist  ein 
bestimmtes  Quantum  der  Substanz,  und  alle  die  unendlich  vielen 
modi  zusammengenommen  enthalten  das  ganze  Quantum  der  Substanz 


70  Spinoza. 

oder  der  Realität.  Würde  also  die  Realität  des  einen  modus  vermehrt, 
ohne  daß  zugleich  die  eines  oder  einiger  andern  vermindert  würde, 
so  wäre  die  ganze  Summe  der  Realität  größer  geworden ,  oder  die 
Realität  der  absoluten  Substanz  wäre  gewachsen.  Da  dies  nun  un- 
möglich ist,  so  muß  die  Vermehrung  der  Realität  des  einen  modus 
die  Verminderung  desselben  in  andern  zur  Folge  haben.  Alle  Welt- 
geschichte und  Weltentwicklung  ist  also  ein  eitles  Bemühen;  denn 
im  großen  und  ganzen  bleibt  immer  dasselbe  Quantum  von  Realität 
also  auch  von  Einsicht,  Tugend  und  Gottesliebe. 

Unsterblichkeit. 

Nachdem  wir  den  Gottesbegriff  und  die  ethischen  Prinzipien  bei 
Spinoza  untersucht  haben,  bleibt  uns  noch  die  Frage  nach  dem  dritten 
Faktor  einer  Religionsphilosophie  übrig:  die  Frage  nach  der  Unsterb- 
lichkeit des  menschlichen  Geistes. 

Nachdem  Spinoza  die  gesamten  Heilmittel  der  Affekte,  wie  sie 
oben  aufgeführt  sind,  glaubt  angegeben  zu  haben,  fährt  er  merkwürdiger- 
weise also  fort:  Es  ist  an  der  Zeit,  zu  dem  überzugehn,  was  die 
Dauer  der  Seele  ohne  Beziehung  auf  den  Körper  betrifft,  i)  Kein 
Wort  kann  in  dem  Systeme  des  Spinoza  unerwarteter  kommen! 
Wenn  ein  modus  der  Ausdehnung  und  die  Idee  dieses  modus  ein 
und  dieselbe  Sache  ist,  nur  auf  zwei  verschiedene  Weisen  ausge- 
drückt,-) so  muß  auch  der  menschliche  Körper  und  der  Geist  dieses 
Körpers,  der  ja  eben  als  die  Idee  desselben  erklärt  ist,  ein  und  die- 
selbe Sache  sein,  nur  auf  zwei  verschiedene  Weisen  ausgedrückt. 

Wie  kann  denn  nun  von  der  Dauer  des  menschlichen 
Geistes  ohne  Bezug  auf  den  Körper  die  Rede  sein;  dann  müßten  ja 
der  Geist  und  sein  Körper  nicht  ein  und  dieselbe  Sache,  sondern 
zwei  verschiedene  Sachen  sein,  die  nur  zufällig  miteinander  verbunden 
wären ! 

Unser  Staunen  wächst,  wenn  wir  weiter  lesen,  daß  der  Geist  zwar 
nichts  sich  vorstellen  (imaginari),  noch  sich  einer  Sache  erinnern  kann, 
wenn  nicht  der  Körper  vorhanden  ist;  daß  aber  in  Gott  notwendig 
sich  eine  Idee  findet,  welche  die  Essenz  dieses  oder  jenes  Körpers 
sub  aeternitatis  specie  (Unter  dem  Gesichtspunkt  der  Ewigkeit)  aus- 
drückt, weil  Gott  nicht  nur  die  Ursache  der  Existenz,  sondern  auch 
der  Essenz  desselben  ist,  daß  also  der  menschliche  Geist  nicht  mit 
dem  Körper  absolut  vernichtet  werden  kann,  sondern  etwas  von  ihm 


^)  Eth.  p.  5.  Prop.  20.  Schol.  infim. 
')  P.  2.  Prop.  7.  Schol. 


Unsterbliclikeit.  ^  1 


übrig  bleibt,  was  ewig  ist. ^)  Dieser  Teil  des  Geistes  aber,  welcher 
übrig  bleibt  (quae  reraauet),  ist  der  Intellekt,  der  Teil  aber,  welcher 
mit  dem  Körper  untergeht,  ist  die  Imagination  (das  Vorstellen  und 
das  Gedächtnis).-) 

Ob  sich  Spinoza  den  Schein  geben  wollte,  daß  auch  er  von  einer 
Unsterblichkeit  des  menschlichen  Geistes  zu  reden  habe,  oder  ob  er 
sich  selbst  getäuscht  und  gemeint  hat,  die  Ewigkeit  des  Geistes  auf 
bessere  Art  zu  verstehen,  als  die  gewöhnliche  Meinung,  nach  welcher 
das  Gedächtnis  nach  dem  Tode  übrig  bleiben  solle,  können  wir  da- 
hin gestellt  sein  lassen.  Offenbar  ist,  daß  er  sich  hier  in  den  gröb- 
sten Selbstwidersprüchen  umhertreibt. 

Der  Eingang  zu  dieser  Lehre  läßt  erwarten,  daß  er  von  der 
Dauer  (duratio)  der  Seele  ohne  Körper  reden  will.  In  der  Tat  aber 
redet  er  von  „einer  ewigen  Existenz,  die  durch  die  Zeit  nicht  bestimmt 
noch  durch  die  Dauer  erklärt  werden  kann''. 3)  Denn  er  sagt:  Ob- 
gleich wir  uns  nicht  erinnern,  daß  wir  vor  dem  Körper  existiert  haben, 
so  sind  wir  uns  doch  bewußt  (sentimus),  daß  unser  Geist  ewig  sei 
und  diese  seine  Existenz  nicht  durch  die  Zeit  bestimmt  oder  durch 
die  Dauer  nicht  erklärt  werden  könne.  Diese  Ewigkeit  der  Existenz, 
welche  er  wie  eine  ewige  Wahrheit  auffaßt,  unterscheidet  er  aber  sonst 
ausdrücklich  von  der  Dauer,  auch  selbst  wenn  diese  ohne  Anfang 
und  Ende  gedacht  wird.-*)  Er  redet  also  in  Wahrheit  nur  von  der 
Ewigkeit  oder  zeitlosen  Geltung,  wie  sie  den  Begriffen  zukommt. 
Hiermit  ist  aber  für  das  Übrigbleiben  des  Geistes  nach  Auflösung  des 
Körpers,  also  für  eine  von  der  Existenz  des  Körpers  unabhängige 
Existenz  des  Geistes  gar  nichts  gewonnen.  Hätte  Spinoza  aber  diesen 
seinen  Sätzen  keine  andere  Bedeutung  beilegen  wollen,  als  daß  sie 
die  Zeitlosigkeit  des  Begriffs  der  Seele  dartun  sollten,  warum  redet 
er  denn  nicht  auch  von  der  Ewigkeit  des  Körpers?  Diese  folgt  ja 
auch  auf  dieselbe  Weise  aus  seineu  Voraussetzungen.  Denn  wenn  der 
Geist  deshalb  ein  ewiger  modus  des  unendlichen  Denkens  ist,  weil 
die  Essenz  des  Körpers,  dessen  Idee  er  ist,  mit  ewiger  Notwendigkeit 
aus  der  Essenz  Gottes  folgt,  so  ist  aus  demselben  Grunde  auch  der 
Körper  ein  ewiger  modus  der  unendlichen  Ausdehnung  Gottes.  Daß 
aber  Spinoza  mehr  als  bloß  die  Zeitlosigkeit  oder  ewige  Notwendigkeit 
des  Begriffs  beweisen    will,   geht   endlich  auch   aus  folgendem  Satze 


')  Eth.  p.  5.  Prop.  21—23. 
iä)  Prop.  40.  Coroü. 
•')  P.  ö.  Prop.  23.  Schul. 
^)  P.  1.  Def.  8.  Explic. 


72  Spinoza. 

hervor:  die  Seele  ist  den  Affekten,  die  zu  den  Leidenschaften  gehören, 
nur  unterworfen,  solange  der  Körper  dauert,  i)  zu  welchem  er  das 
CoroUarium  hinzufügt:  hieraus  folgt,  daß  keine  andre  Liebe  ewig  ist, 
als  die  geistige  Liebe.  Mit  dem  Tode  des  Körpers  hören  also  die 
Affekte  und  mit  ihnen  die  Einbildung  und  das  Gedächtnis  auf,  und 
es  bleibt  nur  der  reine  Verstand ,  oder  die  intellektuelle  Liebe  zu 
Gott  übrig. 

Wie  sehr  Spinoza  mit  diesem  allen  aus  seiner  Rolle  fällt,  ist 
offenbar.  Die  einfache  Konsequenz  seiner  Lehre  war  die  Auflösung 
des  menschlichen  Geistes  mit  der  Auflösung  des  Körpers.  Der  Geist 
ist  die  Idee  des  Körpers  und  besteht  aus  soviel  einzelnen  Ideen  als 
der  Körper  aus  Körperteilen.  Hört  also  die  Verbindung  der  Körper- 
teile auf,  welche  sie  zu  diesem  menschlichen  Körper  macht,  so  muß 
auch  die  Verbindung  der  einzelnen  Ideen  aufhören,  welche  sie  zu 
diesem  menschlichen  Geiste  macht;  so  fordert  es  der  strenge  Paral- 
lelismus zwischen  den  modis  der  Ausdehnung  und  des  Denkens,  und 
der  Satz,  daß  Geist  und  Körper  ein  und  dieselbe  Sache  ist,  nur  unter 
verschiedenen  Attributen  angesehen.  Diese  strenge  Identität  des  Geistes 
und  Körpers  verließ  Spinoza  aber  schon  an  dem  Punkte,  wo  er  mit 
einer  kurzen  Behauptung  die  Möglichkeit  der  adäquaten  Ideen  er- 
schlich, und  hier  scheint  er  sie  gänzlich  vergessen  zu  haben,  wo  er 
von  einem  Übrigbleiben  des  Geistes  nach  Aufhören  des  Körpers  redet. 
Daß  Spinoza  aber  trotzdem  verleitet  werden  konnte,  von  einer  ewigen 
Existenz  des  menschlichen  Geistes  zu  reden,  hängt  mit  einem  der 
tiefsten  Schäden  seines  ganzen  Systems  zusammen.  Wir  haben  ge- 
sehen, wie  nach  der  reinen  Konsequenz  der  10.  Proposition  im  ersten 
Teile  alle  Folgen  der  unendlichen  Substanz  mit  ewiger,  unveränder- 
l'icher  Notwendigkeit  sich  ergeben;  wenn  ihnen  also  eine  Existenz 
zugeschrieben  wird,  so  muß  dies  eine  zeitlose,  ewige  sein.  Da  hier- 
aus sich  aber  die  wirklich  in  Zeit  und  Raum  erscheinende  und  ver- 
änderliche Welt  nicht  erklären  läßt,  so  mußte  die  Ursache  dieser 
endlichen  Existenz  in  der  unendlichen  Reihe  der  endlichen  .Dinge, 
die  sich  einander  bedingen,  gesucht  werden.  Hiermit  entstand 
nun  der  Schein,  als  ob  die  Dinge  auf  zweierlei  verschiedene  Weisen 
existierten,  wie  Spinoza  das  auch  mit  deutlichen  Worten  sagt:  die 
Dinge  werden  von  uns  auf  zweierlei  W^eisen  als  wirklich  begriffen: 
entweder  sofern  wir  sie  als  mit  Beziehung  auf  eine  gewisse  Zeit  und 
einen  gewissen  Ort  existierend  begreifen,  oder  sofern  wir  sie  in  Gott 


')  P.  5.  Prop.  34. 


Uri  Sterblichkeit.  73 


enthalten  und  aus  der  Notwendigkeit  der  göttlichen  Natur  folgend 
begreifen.  ^) 

Wenn  nun  diese  beiden  Existenzweisen,  welche  sich  miteinander 
ebensowenig  vertragen  als  die  unendliche  Substanz  mit  den  endlichen 
modis,  dennoch  miteinander  in  Verbindung  gebracht  werden,  so  kann 
der  Schein  entstehen,  als  ob  die  endliche  Existenzweise  z.  B.  des 
menschlichen  Geistes  in  Zeit  und  Kaum  gleichsam  nur  ein  Abschnitt 
auf  der  unendlichen  Linie  der  ewigen  Existenzweise  sei,  so  daß  diese 
jener  begrenzten  Existenz  sowohl  vorhergeht,  als  auch  nachfolgt. 
Und  wir  haben  ja  auch  gesehen,  wie  Spinoza  es  zu  erklären  bemüht 
ist,  daß  wir  uns  unserer  Präexistenz  nicht  bewußt  sind,  und  wie  er 
dann  Avieder  die  reine  Existenz  des  menschlichen  Geistes  „sofern  er 
erkennt",  oder  als  reinen  Verstandes  nach  dem  Aufhören  des  Leibes 
beginnen  läßt. 

Aber  ebenso  wie  diese  Unterbrechung  der  ewigen  Existenz  des 
Geistes  durch  seine  zeitliche,  oder  vielleicht  genauer:  dieses  zeitweilige 
Li-  und  Miteinandersein  der  ewigen  und  zeitlichen  Existenz  desselben 
völlig  unbegreiflich  und  widersprechend  ist,  so  ist  es  auch  völlig  ohne 
Zweck  und  Sinn^  da  der  Geist  durch  diese  zeitliche  Existenz  gar 
nichts  gewinnt;  denn  ebenso  wie  nach  derselben,  so  ist  er  auch  vor 
derselben,  derselbe  ewige  modus  des  Denkens,  dem  ja  eben  weil  er 
ewig,  d.  h.  zeitlos  ist,  kein  Wechsel,  also  auch  keine  Vermehrung  oder 
Verminderung  seiner  Realität  oder  Vollkommenheit  zugeschrieben 
werden  darf.  Damit  streitet  auch  nicht,  daß  Spinoza  annimmt,  der 
nach  dem  Tode  übrig  bleibende  Teil  des  Geistes  werde  bei  Ver- 
schiedenen verschieden  ausfallen.  Er  sagt  geradezu:  wer  einen  zu 
sehr  vielem  geschickten  Körper  hat,  der  hat  einen  Geist,  dessen  größter 
Teil  ewig  ist, 2)  und  fügt  hinzu:  ,,Und  in  der  Tat,  wer  einen  Körper 
hat,  wie  ein  Kind  und  ein  Knabe,  der  zu  sehr  Wenigem  geschickt 
ist,  und  sehr  viel  von  äußeren  Ursachen  abhängt,  hat  einen  Geist,  der 
an  sich  betrachtet,  kaum  seiner  selbst,  noch  Gottes,  noch  der  Dinge  be- 
wußt ist.'-  —  Aber  der  starke  Geist,  dessen  größter  Teil  aus  Vernunft 
oder  Gottes-  und  Welterkenntnis  besteh^,  wird  auch  ewig  eine  größere 
Portion  vom  unendlichen  Denken  sein  müssen,  als  der  schwache  Geist, 
und  deshalb  auch  einen  stärkern  Körper  haben.  Stirbt  also  z.  B.  je- 
mand als  Kind,  so  wird  dessen  Seele  ein  geringes  Quantum  des  gött- 
liche q  Denkens  von  Ewigkeit  her  gewesen  sein,  und  auch  ewig  bleiben. 
Die  Entwicklung   aber   eines  stärkeren  Geistes   zu   höherer  Vernunft 


')  P.  5.  Prop.  29.  Schol. 
-)  P.  5.  Propr.  39. 


74  Spinoza. 

kann  danach  nur  eine  scheinbare  sein;  es  tritt  viehnehr  darin  nur 
die  ewige  und  unveränderliche  Kraft  desselben  mehr  aus  Tageslicht. 
Freilich  bleibt  die  Frage  dabei  gänzlich  unbeantwortet,  wie  es  denn 
komme,  daß  der  ewige  modus  des  Denkens,  dieser  Teil  des  göttlichen 
Verstandes  dazu  komme,  sich  in  einem  anfangs  schwachen  Körper  mit 
allerlei  Imaginationen  oder  inadäquaten  Vorstellungen  zu  verhüllen. 
Der  übrig  bleibende  Teil  des  Geistes  also  ist  bloß  der  intellectus; 
alles  Übrige,  die  inadäquaten  Vorstellungen  und  mit  ihnen  die 
Passionen,  aber  auch  das  Gedächtnis,  vergehen.  Das  Gedächtnis  näm- 
lich kann  nicht  bleiben,  weil  es  sich  nicht  auf  das  ewig  Gleich- 
bleibende, die  ewigen  Wahrheiten,  die  das  Eigentum  des  Verstandes 
sind,  bezieht,  sondern  nur  auf  die  einzelnen  Körperaffektionen.  Es 
ist  ja  nichts  anderes  als  eine  Verkettung  von  Ideen,  welche  die 
Natur  von  Dingen,  die  außer  dem  menschlichen  Leibe  sind,  ein- 
schließen, und  diese  Verkettung  geschieht  im  Geiste  nach  der  Ordnung 
und  Verkettung  der  Affektionen  des  menschlichen  Körpers."  i)  Folg- 
lich kann  es  nach  dem  Tode  nicht  zurückbleiben,  sondern  gehört  zu 
dem,  was  vergeht.  Nur  schade,  daß  mit  dem  Gedächtnis  auch  not- 
wendig das  Selbstbewußtsein  des  Menschen  verloren  geht.  Da  nun 
aber  aller  Wert  der  Unsterblichkeit  des  menschlichen  Geistes  für  uns 
darauf  beruht,  daß  die  Identität  des  Selbstbewußtseins  bewahrt  bleibt, 
so  kann  es  uns  ziemlich  gleichgültig  sein,  ob  die  Portion  Verstand, 
welche  in  unserm  Geiste  gewesen  ist,  bleibt  oder  nicht,  wenn  sie  nicht 
eben  unser  Verstand  bleibt. 

Aus  diesem  Grunde  ist  auch  die  Lehre,  mit  welcher  Spinoza  sein 
Werk  schließt,  von  wenig  Wert  für  die  religiöse  Hoffnung  auf  ein 
nach  dem  Tode  sich  zu  vollendeter  Heiligkeit  und  Erkenntnis  ent- 
wickelndes Leben.  Er  lehrt  nämlich,  daß  die  intellektuelle  Liebe  zu 
Gott  ewig  sei,  diese  Liebe  zu  Gott  aber  sei  ein  Teil  der  Liebe,  mit 
welcher  sich  Gott  selbst  liebt  und  zugleich  auch  die  Menschen  liebt, 
und  in  dieser  Liebe  bestehe  eben  die  Seligkeit.  -')  —  Diese  Lehre 
aber  besitzt  nicht  allein  keinen  Wert,  sondern  auch  keine  Wahrheit 
im  Systeme  des  Spinoza.  Denn  in  diesem  kann  die  Liebe,  mit 
welcher  Gott  sich  liebt,  nur  eine  Phrase  sein,  und  gründet  sich  auch 
nur  auf  eine  Phrase. 

Man  lese  nur  den  Beweis:  Gott  ist  unbedingt  unendlich  d.  h. 
Gottes  Natur  erfi'eut  sich  unendlicher  Vollkommenheit  und  zwar  unter 
Begleitung    der  Idee   ihrer  selbst  d.  h.    der  Idee  ihrer  Ursache;    und 

')  Eth.  p.  2.  Prop.  IS.  Schol. 
-)  P.  5.  Prop.  :i.^.  3().  Scliol. 


Unsterbliclikeit.  75 


dies  ist  es,  was  wir  in  coroll.  prop.  82  als  geistige  Liebe  bezeichnet 
haben. ^)  Dieser  ganze  Beweis  ruht  offenbar  auf  dem  Worte:  ,,er 
erfreut  sich  unendlicher  Vollkommenheit."  Nun  kann  aber  Spinoza 
im  Ernste  seinem  Gott  keine  „Freude"  (gaudium)  zuschreiben;  denn 
Freudigkeit  (gaudium)  ist  Freude  (laetitia),  begleitet  von  der  Idee  eines 
vergangenen  Dinges,  das  unverhofft  eingetroffen  ist;-)  auch  keine  Liebe 
(amor),  denn  Liebe  ist  Freude  (laetitia),  begleitet  von  der  Idee  einer 
äußern  Ursache,  ^)  auch  keine  Laetitia  überhaupt,  denn  diese  ist  Über- 
gang von  geringerer  zu  größerer  Yollkommenheit,  *)  noch  endlich  über- 
haupt einen  Affekt,  der  bei  dem  unendlichen  Wesen,  außer  welchem 
nichts  ist,  undenkbar  ist,  weshalb  auch  Spinoza  selbst  sagt:  Eigent- 
lich zureden  liebt  oder  haßt  Gott  niemanden.  5)  Daher  hat  jenes 
Wort:  Gott  freut  sich  einer  unendlichen  Vollkommenheit,  eben  soviel 
Wert,  als  wenn  man  etwa  sagt:  dieser  Baum  erfreut  sich  eines 
schönes  Wuchses.  Deshalb  haben  auch  die  —  von  andern  hoch- 
gepriesenen  —  Sätze,  daß  die  intellektuelle  Liebe  des  Geistes  zu  Gott 
ein  Teil  der  unendlichen  Liebe  Gottes  zu  sich  selbst  sei,  und  daß 
Gott,  insofern  er  sich  selbst  liebt,  auch  die  Menschen  liebt,  nur  den 
Wert  einer  der  Sache  selbst  sehr  unwürdigen  Spielerei. 

Von  einem  ethischen  Verhältnis  aber  zwischen  Gott  und  den 
Menschen  ist  hier  nicht  im  entferntesten  die  Rede.  Wer  dergleichen 
hier  finden  wollte,  würde  damit  nur  sein  völliges  Mißverständnis  des 
Spinoza  verraten.  Denn  die  sogenannte  intellektuelle  Liebe  des 
Geistes  zu  Gott  ist  an  sich,  wie  schon  oben  gezeigt  ist,  nur  die  Freude, 
welche  das  theoretische  Wissen  mit  sich  bringt;  diese  Liebe  aber  ist 
der  Liebe  Gottes  zu  sich  selbst  gleich,  weil  die  Summe  der  Liebe  zu 
Gott,  welche  in  allen  einzelnen  Geistern  zusammengenommen  ist, 
eben  das  Ganze  jener  intellektuellen  Freude  ist,  welche  überhaupt  in 
der  Substanz  vorhanden  ist. 

Alle  Teile  zusammengenommen  lieben  das  Ganze  heißt  soviel 
als  das  Ganze  liebt  sich  selbst;  oder  auch  das  Ganze  liebt  alle  seine 
Teile,  aus  denen  es  besteht.  Daher  ist  die  Liebe  Gottes  zu  sich  selbst 
und  zu  den  Menschen  ein  und  dieselbe  Sache.  Spinoza  hätte  aber 
noch  hinzufügen  müssen,  daß  auch  die  Summe  aller  Liebe  der 
Menschen  zu  sich  selbst  gleich  sei  der  Liebe  Gottes  zu  sich  selbst 
und    seiner  Liebe   zu    den   Menschen,    wodurch    denn    für   seine  Be- 


')  P.  5.  Prop.  35.    Demoustr. 

2)  P.  3.  Del  16. 

«)  P.  3.  Def.  6. 

*)  Ibid.  Def.  2. 

^)  P.5.  Prop.  17.  Coroll. 


76  Spinoza. 

wunderer  die  vollkommene  Einheit  der  Gottesliebe,  der  Liebe  zu  den 
Menseben  und  der  Liebe  zu  sich  selbst  hoffentlich  im  scharfen  Lichte 
gestanden  hätte. 

In  dieser  Liebe  zu  Gott,  d.  h.  also  in  der  Freude  am  theore- 
tischen Erkennen  besteht  die  Seligkeit;  diese  Seligkeit  aber  ist  selbst 
die  Tugend.  Denn  das  Erkennen  ist  das  wahre  Wesen  des  Geistes 
oder,  was  dasselbe  ist,  seine  Macht,  und  die  Macht  ist  die  Tugend. 
Deshalb  ist  diese  Seligkeit  oder  Tugend  oder  Erkenntnis  auch  nicht 
die  Folge  von  der  Bezwingung  der  Leidenschaften ,  sondern  die  Ur- 
sache der  Herrschaft  über  dieselben.  Der  Weise  also,  insofern  er 
als  solcher  betrachtet  wird,  ist  sich  seiner  selbst  und  Gottes  und 
der  Welt  mit  ewiger  Notwendigkeit  bewußt  und  genießt  immer  die 
wahre  Seelenruhe.  ^) 

Sehen  wir  nun  nach,  was  dies  alles  im  Systeme  Spinozas 
eigentlich  bedeuten  kann,  so  findet  sich  folgendes  Ergebnis:  der 
Weise,  als  solcher,  ist  derjenige,  welcher  vernünftig  denkt;  ver- 
nünftig denken  aber  heißt  adäquate  Ideen  haben;  adäquate  Ideen 
sind  aber  nur  allgemeine  Begriffe.  Der  Geist  des  Weisen,  als 
solchen,  besteht  also  nur  aus  einem  Systeme  von  Aligemeinbegriffen, 
und  weiter  ist  als  Inhalt  seines  Geistes  gar  nichts  z.u  denken.  Denn 
alles  andere,  etwa  persönliche  Beziehungen  zu  andern  Menschen 
und  besondern  Wesen  überhaupt  und  damit  verknüpfte  Willens- 
und Gefühlsregungen  gehören  in  das  Gebiet  der  inadäquaten  Ideen, 
und  sofern  diese  im  Geiste  smd,  ist  er  unvernünftig,  erkennt  er  nicht 
das  Allgemeine  und  Ewige. 

Denkt  man  sich  nun  einen  Geist  nur  mit  allgemeinen  Begriffen 
erfüllt,  also  gleichsam  als  eine  menschgewordene  Wissenschaft,  so  ist 
es  natürlich,  daß  in  demselben  keine  Leidenschaften  sind,  sondern 
daß  er  einer  ewigen  und  unveränderlichen  Kühe  genießt.  Das  Ideal 
des  Spinoza  ist  also  der  Mensch  als  reine  Intelligenz,  welche  aber 
von  allem  Wollen  und  also  auch  von  allen  Willensverhältnissen 
durchaus  entblößt  ist.  Es  erinnert  dieses  Ideal  lebhaft  an  die'  Götter 
des  Aristoteles,  welche  deshalb  die  glückseligsten  sind,  weil  sie 
nicht  handeln,  sondern  nur  schauen  oder  erkennen.  Die  Glück- 
seligkeit aber  mit  Aristoteles  und  Spinoza  in  das  theoretische  Er- 
kennen setzen  ist  sowohl  ein  unbrauchbares,  als  ein  die  Sittlichkeit 
alifhebendes  Ideal.  Denn  um  dasselbe  zu  erreichen,  müßte  sich  der 
Mensch  aller  persönlichen  Beziehungen  zu  der  menschlichen  Gemein- 


')  P.  5.  Prop.  42.    Demonstr,  Schol. 


Schlußergebnii5.  77 


Schaft  entäußern  und  völlig  isoliert  für  sich   leben,  um  alles  "Wollen 
in  sich  ertöten  zu  können. 

SchlußergebnJs. 

Zum  Schluß  wollen  wir  die  Hauptergebnisse  unserer  Unter- 
suchung zusammenfassen,  um  überschauen  zu  können,  ob  dem 
Spinoza  sein  Vorhaben  gelungen  ist.  eine  solche  Weltansicht  aufzu- 
stellen, aus  welcher  sich  die  sittliche  Veredelung  und  der  Frieden 
des  Gemüts  ergibt,  ob  sie  also  der  Art  ist,  daß  sie  sich  einer  wahr- 
haft religiösen  an  die  Seite  stellen,  ja  deren  Stelle  einneimien  kann. 

Wir  haben  gefunden,  daß  der  Gottesbegriff  des  Spinoza  nur  ein 
dürrer  theoretischer  Begriff  ist,  welcher  an  wirklichem  Inhalt  nichts 
anderes  hat,  als  die  allgemeinen  Begriffe  der  Ausdehnung  und  des 
Denkens,  d.  h.  die  bloße  Möglichkeit  einer  Körper-  und  Geister- 
Welt.  Das  Handeln  aber  oder  Wirken  dieses  Gottes  hat  sich  darauf 
beschränkt,  daß  alles  aus  ihm  mit  derselben  Notwendigkeit  folgen 
soll,  wie  logische  Folgen  sich  aus  ihren  Gründen  ergeben.  Dieser 
Gottesbegriff  ist  also  notwendig  von  allen  sittlichen  Eigenschaften  ent- 
blößt und  mit  solchen  durchaus  unvereinbar,  und  auch  Spinoza 
selbst  kann  ihm  in  seinem  eigenen  Sinne  gar  nichts  Ethisches  bei- 
legen, da  das  Bemühen,  sein  Sein  zu  erhalten,  diese  einzige  Grund- 
lage der  Tugend,  der  einzigen  absoluten  Substanz,  außer  welcher 
nichts  ist,  nicht  zugeschrieben  werden  kann.  Aus  demselben  Grunde, 
weil  alles  mit  logischer  Notwendigkeit  aus  seinem  Gotte  folgen  soll, 
mußte  Spinoza  auch  alle  teleologische  Tätigkeit  Gottes  verwerfen. 
Wo  nun  aber  alles  wirkliche  Wollen  Gottes  geleugnet,  und  wo  ihm 
deshalb  auch  jedes  sittliche  Ziel  bei  der  Weltschöpfung  abgesprochen 
wird,  da  kann  auch  unmöglich  eine  religiöse  Gesinnung  auf  Gott 
bezogen  werden;  weder  die  Liebe  zu  Gott,  oder  ein  reines  ethisclies 
Wohlgefallen  an  ihm,  noch  Dank,  noch  Vertonen.  Bloß  die  Demut 
bleibt  übrig;  aber  auch  diese  kann  hier  nicht  das  Bewußtsein  der 
sittlichen  Nichtigkeit  vor  Gott  sein,  sondern  nur  das  Gefühl  der 
Ohnmacht,  an  den  mit  unabänderlicher  Notwendigkeit  aus  der  abso- 
luten Substanz  sich  ergebenden  Folgen  etwas  ändern  zu  können; 
also  eine  willenlose,  apathische  Ergebung  in  die  eiserne  Notwendig- 
keit des  Weltlaufs.  Wie  dieses  einzige  Gefühl,  was  bei  Spinoza 
eine  entfernte  Ähnlichkeit  mit  einem  religiösen  haben  kann,  ein 
freudiges,  erhebendes  und  den  Menschen  veredelndes  sein  könne, 
ist  schwerlich  abzusehen.  Diese  blinde,  durch  keine  bewußte  Ver- 
nunft   geleitete    Notwendigkeit    lastet    aber    um    so    drückender    auf 


78  Spinoza. 

dieser  Weltansicht,  als  es  eine  völlig  iinbegriffeue  und  unbegreifliche 
Notwendigkeit  ist.  Spinoza  behauptet  nämlich  bloß,  daß  alles  mit 
Notwendigkeit  aus  der  absoluten  Substanz  folge,  aber  er  weist  nir- 
gends und  von  keinem  Dinge  diese  Notwendigkeit  nach;  sein  ein- 
ziger Beweis  ist  der  verunglückte  formale  im  sechszehnten  Satze 
des  ersten  Teils.  Auch  kann  er  keinen  Beweis  führen,  denn  aus 
den  bloß  abstrakten  Begriffen  der  Ausdehnung  und  des  Denkens 
läßt  sich  natürlich  nicht  beweisen,  daß  gerade  diese  und  keine 
anderen  Dinge  und  in  dieser  und  keiner  andern  Ordnung  und  Ver- 
bindung existieren  müssen. 

Böte  er  dagegen  eine  wirkliche  Erkenntnis  der  Notwendigkeit, 
mit  der  alles  geschieht  so  daß  man  ihre  Gründe  einsehen  könnte, 
so  möchte  sich  damit  noch  eher  eine  wirklich  beruhigende  Ergebung 
verbinden  lassen.  So  aber  sinkt  diese  unbegriffene  Notwendigkeit 
zu  einem  bloßen  Glauben  an  das  fatum  herab.  Ein  Glaube  aber, 
der  so  unwillkommen  und  unerträglich  wie  dieser  ist,  wird  immer 
den  Zweifel  aus  sich  gebären  und  damit  nie  zur  Ruhe  führen 
können.  Die  Weltansicht,  in  welcher  der  Mensch  wahrhaft  ausruhen 
soll,  muß  ihm  einerseits  die  Überzeugung  bieten,  daß  der  Weltlauf 
von  einer  vernünftigen,  d.  h.  mit  Absicht  wollenden  und  sittlich  be- 
stimmten Macht  gelenkt  werde,  andrerseits  ihm  aber  auch  nicht  die 
Möglichkeit  verschließen,  selbsttätig  mit  eigenem  vernünftigen  Willen 
in  sein  Schicksal  eingreifen  zu  können.  Eine  solche  Ansicht  aber 
ist  nicht  möglich,  wenn  die  Welt  die  Notwendigkeit  einer  logischen 
Folgerung  aus  der  absoluten  Substanz  hat,  und  die  Vernunft  in  der 
Welt  immer  nur  das  Zusehen  haben  kann,  weil  ohne  sie  alles  unab- 
änderlich bestimmt  ist. 

Ein  weiteres  Erfordernis  einer  befriedigenden  Weltansicht 
ist,  daß  in  ihr  die  Möglichkeit  einer  vernünftigen  Ausbildung  des 
menschlichen  Geistes  begriffen  werden  könne.  Diese  ist  aber  bei 
Spinoza,  wie  gezeigt  ist,  nur  empirisch  aufgenommen,  widerspricht 
jedoch  seinem  Systeme,  nach  welchem  folgerecht  der  menschliche  Geist 
nur  inadäquate  Ideen  haben  kann.  Indes  auch  zugegeben,  daß  der 
Mensch  zu  vernünftiger  Einsicht  komme,  was  kann  er  denn  nun  nach 
diesem  Systeme  erkennen  ?  Es  lautet  ganz  schön ,  daß  das  höchste 
Objekt  der  Erkenntnis  Gott  sei.  Allein  in  diesem  Gottesbegriffe  be- 
steht leider  der  einzige  Inhalt  in  den  beiden  Attributen  der  Aus- 
dehnung und  des  Denkens;  das  Donken  aber  hat  zu  seinem  Objekte 
die  Idee  der  ausgedehnten  und  denkenden  Dinge,  und  die  denkenden 
Dinge,  die  Geister,  haben  als  ihren  Inhalt  und  Objekt  wiederum  nur 
die  ausgedehnten  Ding-e;   so   daß  die  Körperwelt  das  eigentliche  Ob- 


Schlußergebnis.  79 


jekt  des  Denkens  ist  und  nichts  anderes.  Nun  aber  können  aus 
dem  Begriffe  der  Ausdehnung  —  wenn  wir  freigebig  sein  wollen 
—  nur  verschieden  eingeschränkte  Ausdehnungen,  d.  h.  quantitativ 
verschiedene  Formen,  nicht  jedoch  qualitativ  bestimmte  Dinge  folgen. 
Solche  qualitativ  bestimmte  Dinge  dürfte  es  eigenthch  gar  nicht 
geben;  denn  sie  folgen  weder  aus  der  Ausdehnung  noch  dem  Denken. 
Wenn  sie  aber  einmal  da  sind,  so  ist  wenigstens  keine  vernünftige 
Erkenntnis  von  ihnen  möglich.  Folglich  beschränkt  sich  die  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  der  körperlichen  Dinge  auf  das  rein  Mathe- 
matische. Die  Mathematik  ist  die  ausgeführte  Erkenntnis  des  einen 
Attributs  Gottes,  der  Ausdehnung.  Wird  von  dem  mathematischen 
Inhalte  abgesehen  und  werden  die  Denkbestimmungen,  welche 
sich  bei  Gfelegenheit  der  Mathematik  ergeben,  rein  und  abstrakt  be- 
trachtet, so  ergibt  sich  eine  zweite  Wissenschaft,  die  der  bloßen 
Denkbestimmungen,  die  formale  Logik,  und  diese  ist  die  ausgeführte 
Erkenntnis  des  andern  göttlichen  Attributs,  des  Denkens.  In  Wahr- 
heit also  ist  nach  Spinoza  die  Erkenntnis  Gottes  die  mathematische 
und  logische  Erkenntnis,  und  die  Liebe  zu  Gott  besteht  in  der  Liebe 
zu  mathematischen  und  logischen  Studien,  —  allerdings  höchst 
nötige  und  edle  Studien,  aber  schwerlich  wird  man  sie  als  die  ein- 
zigen Betätigungen  der  Liebe  zu  Gott  betrachten  können.  Die  Ge- 
winnung der  Gemütsruhe  endlich  besteht  darin,  daß  man  seinen 
Geist  nur  mit  logischen  und  mathematischen  Studien  nährt.  Auf 
dies  dürftige  Resultat  läuft  die  ganze  Ethik  des  Spinoza  hinaus. 
Denn  die  eigentliche  Selbsterhaltung  besteht  in  der  Erkenntnis,  dem 
vernünftigen  Denken,  und  der  Inhalt  desselben  ist  die  Erkenntnis 
Gottes;  was  nach  Spinoza  der  einzig  mögliche  Inhalt  der  Gottes- 
erkenntnis sei;  haben  wir  eben  gesehen.  Mathematik  und  Logik 
sind  es  also,  in  denen  die  Tugend  des  Menschen  allein  bestehen 
kann. 

Aller  andere  Inhalt,  welcher  bei  Spinoza  der  Liebe  zu  Gott  und 
der  Tugend  gegeben  werden  mag,  ist  erschlichen  und  folgt  nicht  aus 
den  Grundbegriffen.  Die  Unsterblichkeit  des  Geistes  aber,  also  alle 
Vervollkommnung  desselben  in  intellektueller,  ästhetischer  und  ethischer 
Hinsicht  über  die  engen  Grenzen  hinaus,  welche  derselben  auf 
Erden  gezogen  sind,  ist  endlich  mit  der  Konsequenz  des  Systems 
völlig  unvereinbar. 

Die  Ansprüche  der  spinozischen  Lehre  also,  dasselbe  zu  leisten 
wie  die  Religion,  sind  null  und  nichtig.  Es  fehlt  ihr  alles  dazu. 
Es  fehlt  ein  Gott,  der  dieses  Namens  würdig  ist;  denn  die  blinde 
Notwendigkeit  ist  kein  Gott;   es  fehlt  ein  Ziel,  welches  die  Welt  er- 


30  Spinoza. 

reichen  soll:  es  fehlt  gänzlich  eine  sittliche  Lehre;  denn  die  dürftige 
Anweisung,  die  Affekte  durch  Erkenntnis  zu  bändigen,  hat  an  und 
für  sich  gar  keinen  sittlichen  Inhalt;  es  fehlt  endlich  die  Möglichkeit 
für  die  Gesamtheit,  wie  für  den  einzelnen,  zu  wahrer  Geistes- 
vollendung sich  zu  erheben.  Es  ist  nichts  vorhanden  als  die  blinde 
Notwendigkeit  und  das  Streben,  für  diese  kurze  Zeit  des  Erdenlebens 
durch  die  Erkenntnis  dieser  Notwendigkeit  sich  in  dieselbe  zu  ergeben. 
Indessen  wenn  denn  doch  diese  Lehre  die  alleinige  Wahrheit  ent- 
hielte? Ja  freilich,  dann  müßte  man  sich  in  dieselbe  ergeben.  Aber 
sie  ist  nicht  allein  sittlich  und  religiös  ungenügend,  sondern  sie  ist 
auch  theoretisch  falsch.  Alle  ihre  metaphysischen  Begriffe,  auf  welche 
sie  sich  stützt,  sind,  wie  gezeigt  ist,  unrichtig  bestimmt;  die  absolute 
Substanz  mit  unendlich  vielen  Attributen,  aus  der  Unendliches  auf 
unendliche  Weise  mit  logischer  Notwendigkeit  folgen  soll,  ist  nicht 
allein  eine  völlig  grimdlose,  sondern  auch  eine  ungereimte  Hypothese. 


-..^.-j^ 


Verlag  von  Hermann  Beyer  &  Söhne  (Beyer  &  Mann)  in  Langensalza. 

Flügel,  Otto,  Abriß  der  Logik  und  die  Lehre  von  den  Trugschlüssen. 

4.  Aufl.     1901.    XVI  u.  120  Seiten.     Preis  1,60  M,  eleg.  geb.  2,30  M. 
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221  Seiten.     Preis  3  M,  geb.  3,80  M. 
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1902.     VII  und  218  Seiten.     Preis  3  M,  geb.  3,80  M. 

Herbart  und  Strümpell.     (Päd.  Mag.  235.)     1904.     Preis  65  Pf. 

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des  Individuums  und  der  Völker.     1905.     VI  u.  40  Seiten.    Preis  75  Pf. 

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1  M  80  Pf.  .     , 
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Wille.     1899.     16  Seiten  gr.  8«.     Preis  0,60  M. 

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Falsche  und  WiJire  Apologetik.     (Päd.  Mag.  236.)    1904.     Preis  75  Pf. 

Die  Reli-ionsphilosophie  in  der  Schule  Herbarts.    (Päd.  Mag.  51.) 

1894.     Preis' 0,50  M, 
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VII  u.  65  S.     Preis  1,20  M.     Heft  II:  Fr.  H.  Jacobi.     1905.     XX  u.  54  Seiten. 

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Baumann,  Dr.  Jul.,    ordentl.  Prof.  der  Phil.  a.  d.  Univ.  Göttingen,    Über  Reli- 
gionen und  Religion.     1905      VI  u.  186  S.     Preis  3,60  M. 
Burk,  Dr.  G.,  Sozial-Eudämonismus  und  Sittliche  Verpflichtung.     Em 

Beitrag  zur  modernen  Geistes-   und  Sozial-Reform.     63  Seiten.     Preis  1,20  M. 
Nahlowsky,  Dr.  Jos.  W.,   Grundzüge   zur  Lehre   von   der  Gesellschaft 

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Die   ethischen  Ideen   als   die  waltenden  Mächte  im  Einzel-  wie 

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Schilling,  Dr,  Gustav,  Prof.  an  der  Univ.  Gießen,   Beiträge  zur  Geschichte 

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